Manfred Holodynski Emotionen – Entwicklung und Regulation
Manfred Holodynski
Emotionen – Entwicklung und Regulation ...
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Manfred Holodynski Emotionen – Entwicklung und Regulation
Manfred Holodynski
Emotionen – Entwicklung und Regulation Unter Mitarbeit von Wolfgang Friedlmeier
Mit 32 Abbildungen und 16 Tabellen
1 23
Professor Dr. Manfred Holodynski Abt. für Psychologie Universität Bielefeld Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld
Professor Dr. Wolfgang Friedlmeier Dept. of Psychology Grand Valley State University 2177, Au Sable Hall Allendale/MI 49401 USA
ISBN-10 ISBN-13
3-540-24585-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg 978-3-540-24585-8 Springer Medizin Verlag Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Annette Allée, Dinslaken Design: deblik Berlin SPIN 11391470 Satz: medionet AG, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
Dieses Buch ist Dorothee Seeger gewidmet.
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Vorwort von Joseph J. Campos Den Leser dieses Buches erwartet ein seltener intellektueller Genuss. Nur etwa alle 20 bis 25 Jahre erscheint eine Arbeit, die das Wissen eines Fachgebiets nicht nur integriert, sondern darüber hinaus auch einen wesentlichen Fortschritt auf diesem Gebiet darstellt. Vor zwei Jahrzehnten lieferte Nico Frijda (1986) ein solches Meisterwerk mit seinem Buch »The emotions«: Ein herausragender obgleich ausgewählter Überblick der Emotionsliteratur, sowie eine starke eigenständige theoretische Position über die Natur von Emotionen. Frijdas Buch konnte sowohl als Lehrbuch über Emotionen als auch als theoretische Abhandlung verwendet werden und bot in jeder Hinsicht einen Gewinn. Mit dem vorliegenden Werk haben Holodynski und Friedlmeier – wie ich meine – einen zu Frijda vergleichbaren Beitrag geleistet. Die Arbeit umfasst sowohl einen gelungenen Überblick über das emotionale Geschehen bei Neugeborenen und Kindern als auch eine kühne und faszinierende Erklärung der Emotionsentwicklung. Diese Erklärung der Emotionsentwicklung ist entstanden aus einer gründlichen und wohldurchdachten Zusammenfassung der bisherigen metatheoretischen Herangehensweisen an das Problem der Emotionsentwicklung. Holodynskis Überblick überzeugt durch die Stichhaltigkeit, mit der jede Metatheorie behandelt wird, sowie durch die genaue Herausarbeitung der Stärken und Schwächen eines jeden Ansatzes. Diese wissenschaftliche Diskussion der metatheoretischen Positionen bereitet den Weg für das eigene Modell des Autors auf eine Art und Weise, die dessen gesamte Originalität noch klarer in Erscheinung treten lässt. Mit derzeit bestehenden Ansätzen zur Emotionsentwicklung stimmen Holodynski und Friedlmeier insoweit überein, als sie Emotionen als relational verstehen, d.h. als eine Beziehung, die notwendigerweise den Menschen und die physische und soziale Umwelt als die Pole eines Feldes miteinander verbindet. Damit wird die traditionelle intrapersonale und intrapsychische Sichtweise von Emotionen verworfen. Ihre Betonung, dass eine Emotion
eine Beziehung verkörpert, legt auch den Grundstein für eine der größeren theoretischen Innovationen des Modells: Die Entwicklung von Emotionen als wechselseitiger Gestaltungsprozess durch Spiegelung bzw. Übertreibung des kindlichen Ausdrucks durch die Bezugsperson einerseits sowie das Mimikry und Nachahmen des Säuglings andererseits. Holodynski und Friedlmeier betrachten Emotionen auch als funktional, d.h. als entscheidend für die Befriedigung der Bestrebungen und Ziele eines Menschen. Sie argumentieren überzeugend gegen die Existenz von universellen Ausdrucksstrukturen (z.B. Gesichtsprototypen) als biologisch vorgegebene und invariable Ausdrucksmuster, wie sie oft in Studien postuliert werden, die auf der Universalität des Wiedererkennens von emotionalen Gesichts- oder Sprachausdrücken beruhen, die durch Schauspieler nachgestellt wurden. Demgegenüber betonen die Autoren die Situationsangemessenheit von emotionalen Reaktionen. Die Betonung der Funktionalität von Emotionen weist der Emotionskomponente des Gefühls eine fundamental andere Rolle zu, als in den zeitgenössischen Theorien typischerweise vorgeschlagen. Gefühle sind nicht Ursprung emotionalen Verhaltens, sondern werden als Regulationssignale begriffen, die die Qualität des nachfolgenden Verhaltens modulieren, intensivieren oder gänzlich verändern. Aus Sicht der Autoren sind Gefühle als Signale für Regulationsbedarf somit eine entscheidende Komponente von Emotionen. Auch hier, im Gegensatz zu herkömmlichen Ansätzen, stellen die Vorschläge von Holodynski und Friedlmeier weder Gefühle als Ursprung emotionalen Verhaltens dar, noch ignorieren sie Gefühle; um es noch einmal zu sagen: Gefühlszustände dienen als Signale, die zur Auswahl von Handlungen führen. Diese Grundannahmen führen zu einigen verblüffenden Voraussagen und außergewöhnlichen Heuristiken in der Theorie von Holodynski. Man beachte, dass der Ausgangspunkt der Emotionsentwicklung in biologisch gegebenen Vorläuferemotionen mit prototypischen Ausdrucksmustern gese-
VIII
Vorwort von Joseph J. Campos
hen wird, die noch nicht auf einen situativen Anlass gerichtet sind; und nicht in einem Set von vollständig ausgeformten Emotionen, wie es in der Differentiellen Emotionstheorie von Izard (1991) angenommen wird. Diese Vorläuferemotionen stellen das Rohmaterial dar, das in kulturspezifische kontextabhängige Ausdrucksmuster geformt wird. Die Herausbildung der kindlichen Emotionen wird in der Interaktion mit Hilfe des stilisierten Spiegelns und Nachahmens des kindlichen Ausdrucks durch die Bezugsperson erreicht; das wiederum führt durch die Nachahmung auf Seiten des Kindes zu einer allmählichen Verschiebung seines Ausdruckverhaltens in Richtung der kulturspezifischen Muster. Indem die Autoren aufzeigen, wie nicht nur biologische, sondern auch kulturelle Einflüsse zur Herausbildung der emotionalen Ausdrucksmuster beitragen, machen sie gleichzeitig deutlich, inwiefern Emotionen relational und funktional sind. Die gleiche Argumentationsfigur wird auch verwendet, um zu zeigen, wie Ausdrucksmuster und Gefühle letztendlich zusammenhängen. Nach Holodynski ist das Erleben an körperliche Empfindungen und deren mentales Feedback gebunden – eine Sichtweise, die zunächst wie die Wiedergeburt der James-Lange Theorie klingt, angewendet auf die kindliche Entwicklung. Diese Theorie ist jedoch keine herkömmliche Feedbacktheorie. Der Autor entlehnt von Damasio (1994) die Vorstellung, dass über die Zeit solche Feedbackschleifen, die ursprünglich von peripheren Sinnesempfindungen abhängen, zu rein zerebralen Prozessen »kurzgeschlossen« werden können, die kein skeletal, vegetativ-autonom oder endokrin vermitteltes Feedback mehr benötigen. Diese Sicht von sogenannten mentalen Gefühlen resultiert in einer der kühnsten und provokantesten Heuristiken, die Holodynski in dem Buch vorlegt – nämlich der Interorisation von Emotionsausdrücken. Der zunächst ausschließlich nach außen gerichtete Gefühlsausdruck wird zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr miniaturisiert und nachfolgend zum inneren Erleben, das von außen nicht mehr wahrnehmbar ist. Diese Verinnerlichung stellt eine Hauptkomponente der reifen Emotionsregulation dar. Durch die Verinnerlichung von Emotionen wird eine neue Ebene der willentlichen Emotionsregulation ermöglicht. Erst Emotionen als
mentale Prozesse können durch das Kind willentlich manipuliert werden und auch die Koordination von solchen mentalen emotionalen Prozessen wird erleichtert. Eine solche Koordination ermöglicht die Hemmung einer Emotion, die Sequenzierung von zwei oder mehr Emotionen, die Vermischung von Emotionen zu neuartigen Kombinationen oder die Reorganisation resultierender Verhaltensweisen, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Die Vorhersagen des Autors zur Verinnerlichung des Emotionsausdrucks sind sowohl kühn als auch erfrischend. Es gibt wenige Ideen in der zeitgenössischen Literatur, die so originell wie sachverständig sind zur Erklärung, wie flexibel Emotionen im Regulationsprozess wirksam werden. Holodynski geht nicht davon aus, dass ein noch vollständig verkörpertes emotionales Ausdrucksverhalten eines Kindes ohne Zwischenschritte zu einem vollständig verinnerlichten emotionalen Erleben übergehen kann. In Übereinstimmung mit dem Konzept der erfahrungsabhängigen Verhaltensformung schlägt der Autor einen faszinierenden Vermittlungsprozess vor. Dieser Prozess ist die Symbolisierung des Emotionsausdrucks. Die Kluft vom noch vollständig verkörperten zum verinnerlichten mentalen Emotionsausdruck wird durch einen Schritt überbrückt, bei dem Teile des Emotionsausdrucks in Ausdruckszeichen transformiert werden. So ist z.B. ein mürrischer Blick nicht zwangsläufig ein Prädiktor für eine unabwendbare feindselige Handlung. Das Ausdruckszeichen ist zunächst ein Indikator für das Entstehen einer Feindseligkeit. Ein äußeres Ausdruckszeichen ist jedoch rudimentärer als ein interiorisiertes Ausdruckszeichen, da es nicht die Handlungsflexibilität ermöglicht, die eine volle Verinnerlichung von Ausdruckszeichen zulässt (Eine solche Flexibilität würde Schlichtung, Resignation oder offene Feindseligkeit als mögliche Ergebnisse beinhalten). Die vorgestellten Ideen gipfeln im Kapitel zur Emotion und Kultur. Hier rekapitulieren die Autoren die Theorie, stellen einige die Theorie unterstützende Arbeiten vor, beschreiben wichtige eigene Studien zur Kultur und Emotion und geben aufschlussreiche Hinweise für zukünftige Forschungen. Das Buch – genau wie das Studium der Emotionsentwicklung – ist eine Arbeit im Prozess. Es
Vorwort von Joseph J. Campos
gibt viele Lücken in den von den Autoren vorgestellten Argumenten; viele der Vorschläge sind noch kontrovers und müssen zweifellos modifiziert werden. Zudem ist das Buch, obwohl ein intellektueller Genuss, kein leicht verdaulicher Stoff. Der Leser muss arbeiten, um dem Argumentationsgang zu folgen. Trotzdem, im Unterschied zu vielen Abhandlungen über Emotionen entsteht bei der Lektüre dieses Buches zu keiner Zeit Langeweile. Der Leser fühlt sich mit jeder Seite bereichert und wird Emotionsentwicklung anders betrachten als zuvor. Kreative Ideen, enthusiastisches Schreiben und herausfordernde Gedanken – was kann ein Leser mehr von einem wissenschaftlichen Beitrag verlangen? Joseph J. Campos University of California, Berkeley
IX
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Vorwort der Autoren Vor 13 Jahren begegneten wir uns zum ersten Mal auf einer Tagung der deutschen Entwicklungspsychologie. Der eine (WF) betrachtete die ontogenetische Entwicklung aus einer kulturvergleichenden Perspektive. Er stellte eine Studie zur Entwicklung von Empathie und Distress im Vorschulalter vor, bei der es um die Frage ging, inwiefern Kinder verschiedener Kulturen mit unterschiedlichen Emotionen und Regulationsstrategien auf vergleichbare Anforderungen reagieren. Der andere (MH) betrachtete die ontogenetische Entwicklung unter einer Internalisierungsperspektive, wie ursprünglich soziale Prozesse, die zwischen Personen verteilt sind, in mentale Prozesse innerhalb einer Person transformiert werden. Dazu stellte er eine Studie zur Entwicklung der Emotionen Stolz und Scham im Vorschulalter vor. Können die kulturvergleichende und die Internalisierungsperspektive auch die Schlüssel zum Verständnis anderer zentraler Fragen der Emotionsentwicklung liefern, wie: Welche Bedeutung haben Emotionen in der Tätigkeitsregulation einer Person? Was entwickelt sich eigentlich genau, wenn man von Emotionsentwicklung spricht? Gibt es eine soziale Genese emotionaler Prozesse? Und welche Bedeutung haben dabei die frühen sozialen Interaktionen zwischen Kind und seinen Bezugspersonen und die augenscheinliche Tatsache, dass Menschen in ganz unterschiedlichen Kulturen heranwachsen und leben? Die Sichtung der einschlägigen Literatur zeigte, dass es – im Gegensatz zu anderen Funktionsbereichen der Entwicklung – kein spezifisches Buch zur Emotionsentwicklung über die Lebensspanne gab. Forscher, die die Emotionen Erwachsener analysierten, schienen sich kaum für Entwicklungsfragen zu interessieren, und Entwicklungspsychologen schienen sich jeweils nur für ganz umgrenzte Altersbereiche zu interessieren. Ein erster Schritt, diese Lücke zu füllen, war die Herausgabe des deutschsprachigen Buches Emotionale Entwicklung. Funktion, Regulation und soziokultureller Kontext von Emotionen (1999) beim Spektrum Akademischer Verlag in Heidelberg.
Aus dem Anliegen, die darin zusammengetragenen Erkenntnisse auch in englischer Sprache zu publizieren, entstand ein neues ambitionierteres Projekt: Die theoretischen Annahmen, die unseren entwicklungs- und emotionspsychologischen Arbeiten zugrunde liegen, sollten zu einer umfassenden Entwicklungstheorie der Emotionen ausformuliert werden, die auch die Fragen behandelt, wie Emotionen mit anderen psychischen Regulationsprozessen verbunden und wie sie in den soziokulturellen Kontext eingebettet sind. Die Erwartung, dass dies relativ schnell gelingen könnte, erwies sich als trügerisch. So verselbständigte sich das Projekt und die Arbeit an dem Buch gestaltete sich weitaus schwieriger und langwieriger. Der Versuch, einen konsistenten theoretischen Rahmen für die Analyse der Emotionsentwicklung aufzustellen, verlangte (1) sich mit den bestehenden Theorietraditionen der Emotionsforschung auseinanderzusetzen (MH), (2) darauf aufbauend ein tragfähiges Emotionsmodell zu entwerfen, das Internalisierungsmodell der Emotionen (MH); (3) die bereits in der Habilitation von MH vorgetragene Idee präziser auszuarbeiten, den Emotionsausdruck als kommunikative Zeichen zu konzeptualisieren und ihre Aneignung und Internalisierung im Laufe der Ontogenese nachzuzeichnen (MH); den Zusammenhang zwischen Emotionsregulation und Emotionsentwicklung auszuarbeiten (MH/WF) und (4) die Bedeutung des kulturellen Kontextes nachzuzeichnen (WF/MH). Indem Kinder kulturell geprägte Ausdruckszeichen und Regulationsstrategien mit ihren kulturspezifischen Bedeutungen übernehmen und internalisieren, entwickeln sie auch kulturspezifische Emotionen und Regulationsmuster. Kernthese des hier vorgestellten Internalisierungsmodells ist, dass bei der menschlichen Emotionsentwicklung den emotionalen Ausdruckszeichen und Regulationsstrategien in den Interaktionen zwischen Bezugspersonen und Kind eine herausgehobene Vermittlungsfunktion zukommt: Ausdruckszeichen stellen die wesentlichen Kommunikationsmittel dar, mittels derer die Beteili-
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Vorwort der Autoren
gten insbesondere in der frühen Ontogenese ihre Emotionen kommunizieren; (elterliche) Regulationsstrategien bestimmen zum erheblichen Teil, wie gut Emotionen in die individuelle und soziale Tätigkeitsregulation integriert werden können. Dabei lässt sich zeigen, dass Ausdruckszeichen und Regulationsstrategien auch das Produkt kulturgeschichtlicher Symbolbildungsprozesse sind. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir unserem Anspruch nur zum Teil genügen konnten. Weder konnten wir alle Facetten dieses Themas behandeln noch den unzähligen Studien in ihrer Fülle gerecht werden. Die Leitlinie des Buches ist denn auch, das Internalisierungsmodell in seinen Grundzügen vorzustellen, seine theoretischen Prämissen offen zu legen und solche Studien, die als empirischer Beleg für oder wider das Modell sprechen, zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen führte auch zu einigen spekulativen Überlegungen, die noch einer empirischen Überprüfung bedürfen. Dennoch ist zu hoffen, dass das hier vorgestellte Entwicklungsmodell für den Leser nachvollziehbar und anregend ist, dass es Zustimmung und Kritik auslöst und dass es vor allem inspirierend auf weitere empirische Forschungen wirken kann. Dieses Buch wäre nicht ohne die Mithilfe und Unterstützung von vielen anderen Personen möglich gewesen. An erster Stelle ist hier Dorothee Seeger zu danken. Sie hat die Arbeit von den ersten Anfängen an wohlwollend und kritisch begleitet. So manche Textversion wurde aufgrund ihrer kritischen Rückmeldungen verworfen und neu verfasst. Auf diese Weise hat sie sehr viel zur Klarheit der Gedankenführung und des Schreibstils beigetragen. Wir möchten auch Joseph Campos für seine ermutigende Unterstützung danken. Seine Begeisterung für das Buchprojekt hat uns gerade in den Phasen Mut gemacht, in denen wir zu zweifeln begannen, ob das Buch tatsächlich zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann. Des Weiteren ist Bettina Janke sowie den Mitgliedern der Forschungsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld „Emotions as Bio-Cultural Processes“ für ihre nützlichen Hinweise und Kommentare zu danken. Uschi Baaken war so liebenswert und hat uns Bilder von ihrem
gerade geborenen Sohn Merlin und seinen Emotionen zur Verfügung gestellt. Für die redaktionellen Arbeiten möchten wir uns bei Elisabeth Wolter bedanken, die das Literaturverzeichnis und den Index sorgfältig gesichtet und korrigiert hat, ebenso bei Sabine Peglow. Und last but not least möchten wir auch Renate Scheddin als Lektorin des Verlages Springer unseren Dank für die engagierte Betreuung des Buchprojekts aussprechen, ebenso auch Annette Allée und Renate Schulz für die verlagsseitige redaktionelle Bearbeitung des Buchmanuskripts und ihre wertvollen Hinweise für die Textgestaltung. M. Holodynski und W. Friedlmeier Bielefeld, Deutschland, und Allendale, Michigan, USA, Herbst 2005
XIII
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Wie entwickeln sich die Emotionen eines Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betrachtungsweisen der Emotionsentwicklung. Vorläufiges Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Paradigmen der Emotionsforschung . . . . . . Strukturalistisches Emotionsparadigma: Emotion als spezifischer psychischer Zustand . . Prämissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionalistisches Emotionsparadigma: Emotion als spezifische psychische Funktion . . Prämissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefühl als reales oder mentales Feedback von Ausdrucks- und Körperreaktionen . . . . . . Differenzierung der Regulationsebenen . . . . . Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dynamisch-systemisches Emotionsparadigma: Emotion als evolvierendes System . . . . . . . . . Prämissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziokulturelles Paradigma: Emotion als sozial konstruierte psychische Funktion. . . . . . . . . . Prämissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 . . . .
1 2 4 5
.
9
. . . .
11 12 13 14
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3
. 15 3.4.4 . . . .
16 17 19 19
. 20 . 23
4 4.1 4.1.1 4.1.2
. 25 . . . .
27 27 30 31
4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1
. 32
4.2.2
. . . .
33 33 34 36
4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.3
. 37
4.3.1 4.3.2
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2
Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion als funktionales psychisches System . . . Komponenten des Emotionssystems . . . . . . . . Interaktion der Komponenten als Feedbackmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion des Feedbackmodells des Gefühls . . . Feedback von Ausdrucks- und Körperreaktionen und Internalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der interpersonalen zur intrapersonalen Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 41 41 44 49
4.3.3 4.3.4 4.4
56
4.4.1 4.4.2 4.4.3
58
4.5
Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein Ausdruckszeichen? (Semantik) . . . . . Wozu dient ein Ausdruckszeichen? (Pragmatik). . Wie entstehen neue Ausdruckszeichen? . . . . . . Wie lassen sich Ausdruckszeichen kombinieren? (Syntax) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebenen der Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungen und volitionale Handlungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operationen und habituelle Handlungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen und emotionale Handlungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Metahandlungen« und reflexive Emotionsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 60 64 68 70 72 73 73 76 76 77
Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Präadaptation von Säugling und Bezugsperson . 86 Emotionen des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . 87 Sensomotorische Fähigkeiten zur interpersonalen Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Intuitive elterliche Didaktik. . . . . . . . . . . . . . . 94 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen im Säuglings- und Kleinkindalter . . . . . . . . . . . 96 Entstehung zeichenvermittelter Emotionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Entstehung der volitionalen Handlungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Vorläufer der reflexiven Emotionsregulation. . . . 111 Interindividuelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . 114 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Entstehung der intrapersonalen Regulation im Kleinkind- und Vorschulalter . . . . . . . . . . . . . . 120 Entstehung der intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Entstehung der intrapersonalen volitionalen Handlungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Entstehung der intrapersonalen reflexiven Emotionsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel ab dem 6. Lebensjahr . . . . . . 144 Internalisierung von Ausdruckszeichen . . . . . . . 145 Internalisierung von Sprechzeichen . . . . . . . . . 152 Entwicklung des Symbolverständnisses auf der Ebene der reflexiven Emotionsregulation . . . 153 Mentale Emotionen und Emotionsregulation im Erwachsenenalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
XIV
4.5.1 4.5.2 4.6
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2
5.3.3
5.3.4 5.3.5
Inhaltsverzeichnis
Belege für miniaturisierte und internalisierte Ausdruckszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Entwicklung der reflexiven Emotionsregulation . 165 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
Kultur und Emotionsentwicklung. . . . . . . . . . 169 Inwiefern sind Emotionen kulturell geprägt? . . . 171 Kultur, Artefakte und psychische Entwicklung. . . 171 Rekonstruktion der phylogenetischen Entwicklung von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . 171 Ethnotheorien als kulturspezifische Deutungsmuster emotionaler Phänomene . . . . 173 Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext . . . 178 Präadaptation von Säugling und Bezugsperson als universeller Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . 179 Entstehung zeichenvermittelter Emotionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Entstehung der intrapersonalen emotionalen Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Internalisierung von Ausdruckszeichen . . . . . . . 197 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . 202 Kulturvergleichende Studien zum ontogenetischen Ausgangspunkt der Entwicklung . . . . . . . . . . . 204 Kulturvergleichende Studien zur Entstehung zeichenvermittelter Emotionen im Säuglings- und Kleinkindalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Kulturvergleichende Studien zur Entstehung der intrapersonalen Regulation in der frühen Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Internalisierung von Ausdruckszeichen . . . . . . 207 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
1 Wie entwickeln sich die Emotionen eines Menschen? 1.1
Betrachtungsweisen der Emotionsentwicklung – 2
1.2
Vorläufiges Fazit
1.3
Aufbau des Buches
–4 –5
2
Kapitel 1 · Wie entwickeln sich die Emotionen eines Menschen?
5
Die Beantwortung dieser scheinbar einfachen Frage erfordert eine wissenschaftlich recht komplexe und breit angelegte Vorgehensweise. Kurz gesagt: man vergleicht die emotionalen Prozesse des Säuglings mit denen des erwachsenen Menschen, beschreibt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, entwirft eine Theorie, die erklären kann, wie in der Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen Modifikationen entstehen und Kontinuität aufrechterhalten wird, und untermauert schließlich die theoretischen Postulate mit empirischen Studien.
6
1.1
1 2 3 4
7
Betrachtungsweisen der Emotionsentwicklung
Emotionsentwicklung auf den ersten Blick
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Wer mit Kindern intensiver zu tun hat, weiß, wie unvermittelt und lebhaft sie ihre Emotionen ausleben. Ein charakteristisches Merkmal von Emotionen fällt bei Kindern besonders auf: Emotionen werden als Widerfahrnisse erlebt, die sich einer direkten, willentlichen Kontrolle entziehen, die die ganze Person erfassen und nach Ausdruck drängen. Dies gilt für positive Emotionen wie Freude, Stolz oder Zuneigung ebenso wie für negative Emotionen wie Ärger, Kummer oder Angst. So sehr ein Kind vollständig in der Freude über eine neue Entdeckung aufgehen kann, so sehr lässt es sich durch Unbekanntes ängstigen, so dass die Eltern eingreifen müssen, um dem Kind die intensive Angst zu nehmen. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene erleben zuweilen heftige Emotionen. Auch sie sind manchmal hingerissen vor Freude, geraten außer sich vor Wut oder werden von panischer Angst gepackt. Allerdings besteht ein deutlicher Unterschied: In der Regel treten diese Emotionen bei Erwachsenen nicht so häufig und intensiv wie bei Kindern auf, wie Brown und Kozak (1998) anschaulich vor Augen führen: It is widely accepted that when development, in general, goes well, both the frequency and the intensity of emotional reactions decrease. If, as is the case in certain personality disorders, an individual reaches adulthood without achieving the expected diminution in the frequency and intensity of emotional re-
actions, he or she is considered maladapted or sick. For the parent, teacher, friend, or clinician who has to deal with people having the emotional constitution of a 3-year-old and the executive powers of an adult, the experience can be overwhelming (Brown u. Kozak 1998, p. 150). Diese Abnahme der Häufigkeit und Intensität von Emotionen könnte man dahingehend interpretieren, dass Emotionen mit zunehmendem Alter an Bedeutung verlieren. Im Widerspruch dazu steht aber die Beobachtung, dass Erwachsene und ältere Kinder Emotionen erleben, die Säuglinge und Kleinkinder noch nicht kennen, wie z. B. Mitgefühl, Schuldgefühl, Stolz und Dankbarkeit. Demzufolge sind mit zunehmendem Alter neue Emotionsqualitäten beobachtbar, während gleichzeitig die Häufigkeit und Intensität der Emotionen im Allgemeinen abnimmt (vgl. auch Malatesta 1981a). Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Was ist seine Ursache? Forschungen, die diese Analyseperspektive einnehmen, fokussieren auf einzelne Emotionsqualitäten.
Emotionsentwicklung auf den zweiten Blick Bei näherer Betrachtung des Emotionsgeschehens bei Kindern und Erwachsenen werden zwei weitere Unterschiede offensichtlich: 1. Erwachsene erleben u. a. deshalb weniger und schwächere negative Emotionen, weil sie einiges an Vorsorge und Planung aufwenden, um von solchen Gefühlszuständen möglichst wenig überwältigt zu werden. Sie versuchen, ihr Handeln an willentlich gesetzten Zielen auszurichten. Dabei stützen sie sich auf ihr (bewusstes) Wissen und Können, um Erfolg versprechende Wege zum Ziel einzuschlagen, und antizipieren mögliche emotionale Reaktionen. Diese zunehmende Handlungsplanung hat zugleich weniger und schwächere positive Emotionen zur Folge: Da die Erfolge vorhersehbar geplant werden, lösen sie nicht so intensive positive Emotionen aus wie unerwartete Erfolge. Was sich demnach im Verlauf der Ontogenese grundlegend ändert, ist die Art und Weise der alltäglichen Tätigkeitsregulation. Kleinkinder lassen sich in ihrem Handeln noch fast ausschließlich von Emotionen leiten.
1.1 · Betrachtungsweisen der Emotionsentwicklung
Mit zunehmendem Alter verstehen es Kinder dann immer besser, sich nicht mehr nur ihren Emotionen hinzugeben, sondern diese auch zu regulieren, um ein bestimmtes Handlungsziel zu erreichen. In diesem Entwicklungsprozess entsteht das Selbstsystem als regulierende Instanz. 2. Erwachsene lassen außen stehende Beobachter nicht im gleichen Maße wie Kinder an ihren Emotionen teilhaben. Während man das emotionale Erleben von kleinen Kindern am jeweiligen Emotionsausdruck deutlich erkennen kann, verfügen Erwachsene über eine private Gefühlswelt, die nicht zu jeder Zeit an ihrem Ausdrucksverhalten ablesbar ist. Es scheint sich demnach im Laufe der Ontogenese – zumindest in westlichen Kulturen – eine Entkoppelung von Emotionsausdruck und Emotionserleben zu vollziehen. Malatesta und Haviland (1985) sprechen von einer »Desomatisierung« der Emotionen. Dies führt zur Frage, ob Erwachsene den authentischen Ausdruck ihrer Gefühle »unterdrücken«, wie es im Darbietungsregelansatz (Ekman 1972) angenommen wird, oder ob der Entstehung dieser wachsenden privaten Gefühlswelt noch andere Entwicklungsmechanismen zugrunde liegen, die mit dem zunehmenden Zeichengebrauch (z. B. in Form von Ausdrucks- und Sprechzeichen) und der Entstehung einer mentalen Ebene des Ausdrucks, Sprechens und Handelns zusammenhängen. Bei der Emotionsentwicklung auf den zweiten Blick stellen sich demnach neue Fragen: Inwiefern wandelt sich die Bedeutung von Emotionen für die individuelle Tätigkeitsregulation? Wie entwickelt sich die Regulation der Emotionen? Gibt es eine Desomatisierung von Emotionen und wie entwickelt sie sich? Im Unterschied zur Emotionsentwicklung auf den ersten Blick beziehen sich diese Fragen nicht ausschließlich auf einzelne Emotionsqualitäten, sondern zielen auf die Art und Weise ab, wie Emotionen in die individuelle Tätigkeit eingebunden sind und wie sich diese Einbindung im Laufe der Ontogenese qualitativ und quantitativ entwickelt. Forschungen, die diese Analyseperspektive einnehmen, fokussieren auf die Rolle der Emotionen im System der Tätigkeitsregulation.
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1
Emotionsentwicklung auf den dritten Blick Die bisher skizzierten Entwicklungstrends vom Säugling zum Erwachsenen weisen noch eine weitere Besonderheit auf: Die individuelle Entwicklung vollzieht sich in einem kulturhistorischen Kontext. Es ist ein artspezifisches Merkmal des Menschen, seine Umwelt in sozialer Kooperation mittels kulturell geschaffener Artefakte in Form von Werkzeugen und Symbolen für seine eigenen Zwecke und Bedürfnisse umzugestalten und über die kulturelle Traditionsbildung an die nachfolgenden Generationen weiter zu geben. Diese können sich die kulturellen Artefakte und ihre Bedeutungen zu eigen machen und für ihre Tätigkeitsregulation nutzen (Cole 1996; Tomasello 1994; Tomasello et al. 1993). Bei Tieren findet man zwar artspezifische Anpassungen an ökologische Systeme, aber die Möglichkeiten der individuellen Verhaltensanpassung und die aktiven Umgestaltungsmöglichkeiten der Umwelt sind beschränkt (Lorenz 1977). Verschiedene Kulturen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer historisch herausgebildeten Weltbilder, kulturellen Praktiken und zwischenmenschlichen Beziehungsformen und den damit verbundenen emotionalen Reaktionen, die im Prozess der Sozialisation an die nächste Generation weitergegeben werden. Die Vermittlung kulturspezifischer Bedeutungsmuster durch die Bezugspersonen kanalisiert die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes, ohne sie zu determinieren. Damit lassen sich noch zwei weitere Trends festmachen: 1. Jedes Individuum kann als ein sich selbst entwickelndes System betrachtet werden, das in dem jeweiligen kulturellen Kontext einen individuellen Entwicklungspfad einschlägt. Sind sich zwei Neugeborene in ihrer emotionalen Tätigkeitsregulation noch vergleichsweise ähnlich – es gibt noch nicht so viele psychische Parameter, auf denen sie sich unterscheiden könnten – so werden sie sich im Verlauf ihrer Ontogenese in dem Maße, wie sich ihre Interaktionen mit ihrem spezifischen kulturhistorischen Kontext unterscheiden, auch in der emotionalen Regulation ihres Verhaltens immer stärker voneinander unterscheiden: Was sie ängstigt oder erfreut, inwiefern sie überhaupt mit Ärger oder vielmehr mit Scham reagieren, wie sie ihre Emotionen regulieren, wel-
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Kapitel 1 · Wie entwickeln sich die Emotionen eines Menschen?
che Beachtung sie ihrer privaten Gefühlswelt schenken, usw. Im Laufe der Ontogenese erfolgt somit eine Individualisierung der Emotionsentwicklung einer Person. 2. Die Emotionsentwicklung vollzieht sich in einem kulturellen Kontext mit der Folge, dass Emotionen und ihre Regulation an die im Laufe der Entwicklung erworbenen kulturell geprägten Bedeutungen und Bewertungen gebunden werden, die man den Ereignissen zuschreibt. Dabei ist noch näher zu bestimmen, inwiefern sich aufgrund der gemeinsamen biologischen Grundausstattung sowie aufgrund universeller Anforderungen und Lebensereignisse (z. B. Verlust einer geliebten Person) im emotionalen Bereich auch universale Merkmale feststellen lassen. Die kulturellen Einflüsse auf die emotionale Entwicklung werden maßgeblich durch das Selbstsystem, das eine Person aufbaut, vermittelt. So unterscheiden Markus und Kitayama (1991) eine independente und eine interdependente Selbstauffassung. Im ersten Fall sieht sich die Person als einzigartige Persönlichkeit unabhängig vom sozialen Kontext und bestimmt sich vor allem durch interne Merkmale und Eigenschaften. Eine Person mit einer interdependenten Selbstauffassung sieht sich hingegen mit wichtigen anderen Personen eng verbunden – sie sind ein Teil ihres Selbst –, und sie bestimmt sich durch situative Kontextmerkmale. Diese unterschiedlichen Auffassungen variieren kulturspezifisch sehr deutlich und führen u. a. zu unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen emotionaler Reaktionen. So werden im Fall einer independenten Selbstauffassung Emotionen, die die Unabhängigkeit fördern (z. B. Glück oder Stolz) oder verteidigen (z. B. Ärger oder Frustration) als »natürlich«, »gut« und »richtig« angesehen. Hingegen werden diese Bewertungen im Fall einer interdependenten Selbstauffassung vor allem auf solche Emotionen gerichtet, die die Verbundenheit fördern und aufrechterhalten (z. B. Mitleid oder Bescheidenheit) oder beeinträchtigen (z. B. Scham oder Verlustangst) (Kitayama u. Markus 1994). Bei der Emotionsentwicklung auf den dritten Blick ergeben sich somit weitere Fragen: Wie kann man den Prozess der Individualisierung im kul-
turhistorischen Kontext konzeptualisieren? Vollzieht sich die Emotionsentwicklung gemäß eines biologischen Entwicklungsplans oder in Interaktion mit dem soziokulturellen Kontext gemäß eines kulturellen Entwicklungsplans? Gibt es tatsächlich kulturspezifische Emotionen und Regulationsformen oder sind dies nur »vernachlässigbare« Abweichungen eines ansonsten gleich ausgestatteten emotionalen Apparates? War die Emotionsentwicklung auf den ersten Blick ausschließlich auf einzelne Emotionsqualitäten gerichtet, so erweitert der zweite Blick die Perspektive auf die Analyse der Emotion im System der Tätigkeitsregulation. Der dritte Blick schließlich betrachtet das System der Tätigkeitsregulation im kulturhistorischen Kontext und dessen Folgen für die emotionale Entwicklung.
1.2
Vorläufiges Fazit
Die Einführung zeigt, dass es bei der Analyse der Emotionsentwicklung noch eine Vielfalt an erklärungsbedürftigen Phänomenen und offenen Fragen gibt. Angesichts dessen erscheint das vorgeschlagene Vorgehen, eine Theorie der Emotionsentwicklung zu konzipieren, die diese Phänomene und deren Entstehung im Verlauf der Ontogenese berücksichtigt und zu erklären versucht, ein unmögliches Unterfangen zu sein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Forschung der vergangenen 20 Jahre reduktionistisch vorgegangen ist. So beschränken sich die meisten der entstandenen Emotionstheorien auf die Analyse von Teilaspekten der genannten Phänomenvielfalt, wie z. B. auf die Beschreibung der Reihenfolge, in der einzelne Emotionsformen auftreten, oder auf die Entwicklung der Emotionsregulation. Oder es werden Entwicklungsphänomene für eng umgrenzte Altersabschnitte, vornehmlich für das Säuglingsund Kleinkindalter, analysiert. Die Emotionalität des Erwachsenen wird in entwicklungspsychologischen Emotionstheorien nur selten betrachtet (vgl. aber z. B. Carstensen u. Charles 1998; Magai u. McFadden 1996). Aussagen hierzu findet man zwar in allgemeinpsychologischen Emotionstheorien, die aber ihrerseits die Frage nach der Genese der emotionalen Prozesse nicht thematisieren.
5
1.3 · Aufbau des Buches
Die unterschiedlichen Einschränkungen des Phänomenbereichs innerhalb der einzelnen Theorien führen auch dazu, dass die Definitionen von Emotionen stark variieren und zum Teil auch widersprüchlich sind. Jede Emotionstheorie hat ihre eigene Definition (vgl. Goller 1992; Kleinginna u. Kleinginna 1981; Mascolo u. Griffin 1998a). Es gibt keine allgemein geteilte Definition, die alle notwendigen und hinreichenden Kriterien zur Bestimmung einer Emotion enthält. Begriffe, die in der einen Theorie als etwas Fundamentales angesehen werden, werden in einer anderen Theorie als etwas Abgeleitetes betrachtet und umgekehrt. So sind z. B. mimische Ausdrucksmuster in der differenziellen Emotionstheorie von Izard (1977) für Emotionen etwas Fundamentales, während sie in der Emotionstheorie von Lewis und Michalson (1985) etwas Gelerntes und damit Abgeleitetes darstellen. Die entwicklungspsychologische Emotionsforschung der letzten 20 Jahre ähnelt so eher einer unkoordinierten »Patchworkarbeit« mit vielen verschiedenen Theorien, die eine Vielzahl interessanter empirischer Einzelbefunde, jedoch kein schlüssiges und widerspruchsfreies Gesamtbild der Emotionsentwicklung des Menschen vom Säugling bis zum Erwachsenen erzeugt hat. Ein Grund dafür ist sicherlich darin zu sehen, dass es in der Psychologie der Emotionen kein einendes Paradigma gibt, wie z. B. in der Biologie das Paradigma der phylogenetischen Evolution, das den einzelnen Arbeiten der Forschungsgemeinschaft eine konzeptuell einheitliche Ausrichtung geben könnte. Auch wenn das einende Paradigma zur Untersuchung emotionaler Prozesse noch aussteht, lassen sich zwei allgemeine Kriterien formulieren, denen eine Theorie über die Emotionsentwicklung des Menschen genügen muss. 1. Eine Entwicklungstheorie muss die gesamte Zeitspanne betrachten, in der die Entwicklung ihres Gegenstandes möglich ist. Emotionen sind über die gesamte Lebensspanne des Menschen mit dem Neugeborenen als Ausgangspunkt und dem Erwachsenen als Endprodukt der Entwicklung zu betrachten. Dabei ist auch die Entwicklung bis ins hohe Erwachsenenalter einzuschließen (vgl. Magai u. McFadden 1996).
1
2. Eine Entwicklungstheorie muss die Struktur ihres Gegenstands zu verschiedenen Alterszeitpunkten beschreiben: Wie kanalisiert eine gegebene psychische Struktur den emotionalen Prozess zu einem gegebenen Alterszeitpunkt? Darüber hinaus muss sie die Entstehung und Veränderung der psychischen Strukturen erklären und somit auch Prozesse von Übergängen beschreiben: Wie ist die gegebene Struktur zu einem Alterszeitpunkt aus früheren Strukturen hervorgegangen? Dabei sind im Grundsatz zwei divergierende Entwicklungsperspektiven möglich: Im einen Fall geht man davon aus, dass sich die psychische Struktur im Laufe der Ontogenese in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht verändert: Das Neugeborene wäre in psychischer Hinsicht bereits ein »kleiner« Erwachsener. Eine solche Position ist in den meisten evolutionär ausgerichteten Emotionstheorien zu finden, wenn von einem biologisch vorgegebenen Set an Basisemotionen ausgegangen wird (z. B. Ekman 1992). Emotionale Entwicklung beschränkt sich dann auf den Zeitverlauf, wann die einzelnen Basisemotionen erstmals auftreten, und auf quantitative Veränderungen, z. B. wie sich die Häufigkeit und Intensität des Auftretens sowie das Ausmaß der Kontrolle von Emotionen entwickeln. Im anderen Fall geht man davon aus, dass sich die emotionalen Reaktionen zwischen Säuglingen und Erwachsenen so gravierend unterscheiden, dass man von qualitativen Veränderungen dieser Struktur ausgehen muss. Diese Perspektive wird z. B. in dynamisch-systemischen Theorien (vgl. Dickson et al. 1998; Lewis 1995) oder kontextualistischen Theorien (vgl. Campos et al. 1996; Sroufe 1996) aufgegriffen.
1.3
Aufbau des Buches
Ziel des Buches ist es, eine kontextualistisch inspirierte Theorie zur Entwicklung von Emotionen und ihrer Regulation zu entwerfen, die die wesentlichen Entwicklungsphasen vom Säugling zum Erwachsenen und die ihnen zugrunde liegenden Entwicklungsmechanismen beschreiben kann. Der Aufbau des Buches sieht wie folgt aus:
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Kapitel 1 · Wie entwickeln sich die Emotionen eines Menschen?
Kapitel 2 Dieses Kapitel beginnen wir mit der Frage, welche Dimensionen sich in der Emotionsentwicklung überhaupt entwickeln können. Damit wird der Phänomenbereich umrissen, den eine integrative Theorie in seiner Entwicklung zu beschreiben und zu erklären hätte. Diese Dimensionen dienen zugleich als Maßstab, um die vielfältigen Theorien in der Emotionsforschung auf ihren Erkenntnisbeitrag für eine integrative Theoriebildung zu prüfen. Diese Theorien werden gemäß ihren Vorannahmen über den Gegenstand zu vier paradigmatischen Theoriefamilien zusammengefasst, und zwar in 5 strukturalistische, 5 funktionalistische, 5 dynamisch-systemische und 5 soziokulturelle Theorien (vgl. auch Mascolo u. Griffin 1998a). Jede dieser Theoriefamilien wird in ihren Grundannahmen und den wichtigsten empirischen Befunden skizziert sowie Probleme und offene Fragen herausgearbeitet. Es wird aufgezeigt, dass jeder dieser vier Ansätze die formulierten Entwicklungsdimensionen in unterschiedlicher Ausführlichkeit behandelt. Aufgrund dessen erscheint eine Integration sinnvoll, wenn man die Entwicklungsphasen des emotionalen Systems im Zusammenhang mit den anderen Teilsystemen der individuellen Tätigkeitsregulation über den gesamten Entwicklungszeitraum vom Säugling zum Erwachsenen betrachten will.
Kapitel 3 Die Auseinandersetzung mit den bisherigen Ansätzen mündet in der Frage, wie eine solche integrative Theorie aussehen könnte. In 7 Kap. 3 wird der Entwurf eines solchen Modells vorgestellt. Als ein erstes Fazit aus der Diskussion der skizzierten Emotionsparadigmen wird eine Emotionsdefinition entworfen und dem Modell zugrunde gelegt: Eine Emotion wird als ein dynamisches psychisches System innerhalb der ganzheitlichen Tätigkeitsregulation einer Person betrachtet. Eine Emotion hat die Funktion, die Handlungen in ihren motivrelevanten Aspekten zu regulieren. Sie setzt sich aus vier Komponenten zusammen, aus der Appraisal-, der motorischen, der Körperregu-
lations- und der Gefühlskomponente. Ihren funktionalen Zusammenhang konzipieren wir in Form eines modifizierten Feedbackmodells. Präziser gefasst ist eine Emotion ein sich selbst organisierendes psychisches System, das 1. interne bzw. externe kontextgebundene Anlässe in ihrer Bedeutung für die eigene Motivbefriedigung einschätzt, 2. adaptive emotionsspezifische Ausdrucks- und Körperreaktionen auslöst, die 3. über das Körperfeedback als Gefühl subjektiv wahrgenommen und mit dem Emotionsanlass in Zusammenhang gebracht werden, so dass 4. motivdienliche Handlungen ausgelöst werden (können), sei es bei der Person selbst oder beim Interaktionspartner. > Beispiel Bei der Emotion Stolz besteht die motivrelevante Bewertung darin, dass die Person einen Wertmaßstab durch eigenes Tun erfüllt hat. Dies äußert sich in Ausdrucks- und Körperreaktionen der Selbsterhöhung (z. B. aufgerichtete Körperhaltung, Impuls, sich anderen zu präsentieren, Körperspannung). Deren Körperfeedback stellen die subjektiven somatischen Marker (Damasio 1994) des Stolzgefühls dar, die auf den Anlass des Stolzes gerichtet sind (z. B. auf eine erfolgreich bestandene Prüfung) und Handlungen auslösen, die das Stolzerleben andauern lassen (z. B. sich anderen präsentieren, damit diese applaudieren).
Als ein zweites Fazit aus der Diskussion der Emotionsparadigmen ergibt sich, dass in der ontogenetischen Entwicklung zwischen einem Ausgangszustand, bei dem das Gefühlssystem reale Feedbacks des motorischen und Körperregulationssystems verarbeitet, und einem entwickelten Zustand, bei dem das Gefühlssystem auch rein mentale Repräsentationen dieser Feedbacks verarbeiten kann, zu unterscheiden ist. Eine der zentralen Modellannahmen lautet, dass im Laufe der Ontogenese aufgrund einer Internalisierung der motorischen und körperregulativen Prozesse eine mentale Verarbeitung von Körperfeedbacks entsteht. Daher bezeichnen wir unser Modell als Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung. Wir sehen darin Gemeinsamkeiten zu Damasios (1994) Konzept der
1.3 · Aufbau des Buches
»Als-ob-Gefühle«, Churchs (1982) Idee, Emotionen als internalisierte Handlungen zu konzipieren, und der Idee von Malatesta und Haviland (1985), nach der im menschlichen Lebenslauf eine Desomatisierung der Emotionen stattfindet. Wir denken, dass das vorgeschlagene Internalisierungsmodell eine Reihe an bislang widersprüchlichen Befunden und Theorien bezüglich der Emotionen Erwachsener integrieren kann, indem es die Charakteristika der Emotionen Erwachsener durch eine entwicklungsbezogene Analyse ihrer Genese im menschlichen Lebenslauf zu fassen sucht. Eine Desomatisierung von Emotionen ist an Entwicklungsvoraussetzungen gebunden. Die wichtigste Voraussetzung besteht darin, dass Menschen kulturelle Artefakte erschaffen haben, die nicht nur aus Werkzeugen und Sprechzeichen, sondern auch aus Ausdruckszeichen bestehen. Wir gehen davon aus, dass Ausdruckszeichen für die Emotionsentwicklung eine vergleichbar herausgehobene Stellung einnehmen wie die Sprechzeichen für die kognitive Entwicklung. Damit ergibt sich ein völlig neuer Zugang zur Frage, wie Emotionen durch kulturelle Prozesse geprägt werden und wie kulturübergreifende und kulturspezifische Emotionen entstehen können. Ein drittes Fazit aus der Diskussion der Emotionsparadigmen ist, dass Emotionen nur eine von mehreren Regulationsebenen menschlichen Handelns darstellen. Damit wird die Frage bedeutsam, wie die emotionale Regulationsebene in die ganzheitliche Tätigkeitsregulation des Menschen eingebunden ist und welche Rückwirkungen diese Einbindung auf die emotionale Handlungsregulation hat. Vier Ebenen der Regulation lassen sich unterscheiden, und deren Beschreibung schließt das dritte Kapitel ab.
Kapitel 4 In diesem Kapitel beschreiben wir die Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation. Als erstes beschreiben wir den ontogenetischen Ausgangspunkt. Er ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass die Regulationsfunktion von Emotionen auf zwei Personen verteilt ist (interpersonale Regulation). Wir erläutern die psychischen Kompetenzen des Neugeborenen, sein angeborenes Repertoire an Vorläuferemotionen und die Präadap-
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1
tation von Säugling und Bezugsperson für diese interpersonale Regulation. Im Weiteren konzentrieren wir uns auf den prototypischen Entwicklungsverlauf und thematisieren interindividuelle Unterschiede nur am Rande. Für die einzelnen ontogenetischen Phasen werden die Entwicklungsaufgaben benannt, die ein Kind in seiner Emotionsentwicklung meistern sollte, und die Entwicklungsmechanismen beschrieben, die im Interaktionsprozess zwischen dem Kind und seinen Mitmenschen die Entwicklung seiner Emotionen und ihrer Regulation vorantreiben. Dabei gehen wir beim jetzigen Stand der Modellentwicklung von fünf Entwicklungsphasen aus: In der ersten Entwicklungsphase – Säuglingsund Kleinkindalter – entstehen zeichenvermittelte Regulationsebenen. In dieser Phase stellt sich dem Kind die Aufgabe, in der interpersonalen Regulation mit seinen Bezugspersonen ein differenziertes, durch Ausdruckszeichen vermitteltes Emotionsrepertoire aufzubauen und sich ein Repertoire an Bewältigungshandlungen anzueignen. Dabei stellen wir die These auf, dass die Ausdruckszeichen in der Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson eine wesentliche Vermittlerrolle dafür einnehmen, welche Emotionsqualitäten herausgebildet werden. Denn die Bezugsperson deutet die noch ungerichteten kindlichen Ausdrucks- und Körperreaktionen auf dem Hintergrund ihrer kulturell geprägten Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster, spiegelt sie in ihrem eigenen Ausdruck in Form prägnanter Ausdruckszeichen und reagiert prompt mit motivdienlichen Bewältigungshandlungen. Auf diese Weise vervollständigt die Bezugsperson die kindlichen Vorläuferemotionen zu voll funktionsfähigen motivdienlichen Emotionssystemen und trägt zu ihrer Differenzierung bei. So entsteht z. B. aus dem Distressschreien des Neugeborenen die Ärgeremotion des Kleinkindes. Das Distressschreien wird durch physikalische Reizeigenschaften ausgelöst, ist noch ungerichtet und braucht Zeit, um sich aufzuschaukeln. Die Ärgeremotion des Kleinkindes wird durch die subjektive motivrelevante Bedeutung eines Anlasses induziert, ist auf den Anlass gerichtet und umfasst eine prompte, wohlorganisierte Ausdrucksreaktion (vgl. Stenberg u. Campos 1990). In der zweiten Entwicklungsphase – Kleinkind- und Vorschulalter – entstehen intrapersona-
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Kapitel 1 · Wie entwickeln sich die Emotionen eines Menschen?
le Regulationsebenen. Zu Beginn der Ontogenese dominieren interpersonale Regulationsniveaus: Es
sind die Bezugspersonen, die die Ausdrucksreaktionen des Säuglings deuten und die jeweils motivdienlichen Handlungen, z. B. Füttern, Wickeln, Beruhigen und Anregen, für ihn ausführen. Es wird beschrieben, wie das Kind zunehmend fähig wird, die motivdienlichen Handlungen auch selbstständig ohne soziale Unterstützung auszuführen und die Befriedigung seiner Motive mit seiner sozialen Umwelt und mit den situativen Anforderungen zu koordinieren, d. h. intrapersonale Regulationsebeneaufzubauen. Dabei spielen die Entstehung selbstbewertender Emotionen wie Stolz, Scham und Schuld, sowie die Entstehung symbolischer Emotionsregulationsstrategien eine wesentliche Rolle. Hierzu werden wir eigene Studien berichten. In der dritten Entwicklungsphase etwa ab dem 6. Lebensjahr beginnt die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel. Es entsteht eine mentale Ebene des Ausdrucks, Sprechens und Handelns. Sie ermöglicht, subjektive Gefühle zu erleben, die auf keinem Körperfeedback von realen Ausdrucksund Körperreaktionen mehr beruhen, sondern auf deren mentalen Repräsentationen. Hierzu berichten wir ebenfalls eine Reihe eigener Studien. Da zum Jugendalter keine eigenen Forschungen und Modellausarbeitungen vorliegen, haben wir diese vierte Entwicklungsphase ausgespart. Wir gehen jedoch davon aus, dass auch in dieser Phase die Heranwachsenden weitere Fortschritte in der Entwicklung von Emotionen und der Emotionsregulation erzielen. Die Entwicklungsaufgaben in diesem Altersabschnitt sind u. a., die bereits erworbenen Selbststeuerungskompetenzen auch auf die ferne Zukunft auszuweiten und das Handeln im Hier und Jetzt an den Konsequenzen für die zukünftige Motivbefriedigung und die Zukunft der sozialen Gemeinschaft (und der Umwelt) bewerten und die angemessenen Entscheidungen treffen zu können. Erst dies kennzeichnet eine Tätigkeitsregulation, wie sie für verantwortungsbewusste Erwachsene als die tragenden Mitglieder einer Kultur charakteristisch ist. Die Entwicklung im Erwachsenenalter umfasst die fünfte Entwicklungsphase.
Kapitel 5 In diesem Kapitel erweitern wir die Perspektive auf die Frage, wie die Entwicklung von Emotionen und der Emotionsregulation in den kulturellen Kontext eingebunden ist und wie sich kulturübergreifende von kulturspezifischen Aspekten abgrenzen lassen. Unsere Darstellung der Emotionsentwicklung in der Ontogenese war bislang auf die westliche Kultur beschränkt. Ziel des 7 Kap. 5 ist es, die Rolle der Kultur in den Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen und anhand bestehender theoretischer Konzeptionen und empirischer Befunde die kulturellen Merkmale herauszuarbeiten, die für die individuelle Emotionsentwicklung bedeutsam sind. Darüber hinaus ist auch die Frage nach der Universalität und kulturellen Relativität emotionaler Merkmale aufzugreifen.
2 Paradigmen der Emotionsforschung 2.1
Strukturalistisches Emotionsparadigma: Emotion als spezifischer psychischer Zustand – 11
2.1.1
Prämissen – 12
2.1.2
Empirische Befunde – 13
2.1.3
Diskussion – 14
2.1.4
Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz – 15
2.2
Funktionalistisches Emotionsparadigma: Emotion als spezifische psychische Funktion – 16
2.2.1
Prämissen – 17
2.2.2
Empirische Befunde
2.2.3
Diskussion – 19
2.2.4
Gefühl als reales oder mentales Feedback von Ausdrucks- und
– 19
Körperreaktionen – 20 2.2.5
Differenzierung der Regulationsebenen
– 23
2.2.6
Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz – 26
2.3
Dynamisch-systemisches Emotionsparadigma: Emotion als evolvierendes System – 28
2.3.1
Prämissen – 28
2.3.2
Empirische Befunde
2.3.3
Diskussion – 31
2.3.4
Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz – 32
2.4
Soziokulturelles Paradigma: Emotion als sozial konstruierte psychische Funktion – 33
2.4.1
Prämissen – 33
2.4.2
Empirische Befunde – 34
2.4.3
Diskussion – 36
2.4.4
Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz – 37
– 30
10
Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
1
Everybody knows what an emotion is, until asked to give a definition (Fehr u. Russell 1984, p. 464)
2
Will man den Phänomenbereich der emotionalen Entwicklung abstecken, ist die Frage zu beantworten, die Mascolo und Griffin (1998a) zum Titel ihres Buches gemacht haben: What develops in emotional development? Trotz aller Unterschiede in den existierenden Theorieansätzen dürfte allgemein Konsens darüber bestehen, dass Emotionen sowohl einen Formaspekt als auch einen Funktionsaspekt haben. Der Formaspekt zielt auf die Frage, anhand welcher Indikatoren sich eine Emotion identifizieren lässt. Der Funktionsaspekt zielt auf die Frage, welche (adaptiven) Funktionen Emotionen im menschlichen Handeln im Zusammenspiel mit anderen Teilfunktionen wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Motivation etc. ausüben. Darüber hinaus dürfte auch Konsens darüber bestehen, dass die menschliche Entwicklung von Geburt an durch das Wechselspiel zwischen Anlage und Umwelt gekennzeichnet und immer schon in einen Kontext eingebettet ist, der im Unterschied zum natürlichen Kontext der Tiere ein kulturell geschaffener Kontext ist. Somit lassen sich folgende fünf Aspekte für die Emotionsentwicklung bestimmen: 5 die Qualität einer Emotion, 5 die Form einer Emotion, 5 die Funktion einer Emotion in der individuellen Tätigkeitsregulation, 5 die Beziehung der Teilfunktion »Emotion« zu anderen psychischen Teilfunktionen in der Tätigkeitsregulation, 5 der kulturelle Kontext.
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Qualität einer Emotion. Im Laufe der mensch-
lichen Entwicklung bilden sich augenscheinlich neue Emotionsqualitäten heraus. Der Erwachsene verfügt über eine Reihe von Emotionen, die ein Säugling noch nicht hat. Zieht man Lazarus‘ Emotionsliste (1991) heran, sind dies Scham, Schuld, Neid, Eifersucht, Stolz, Erleichterung, Hoffnung und Mitgefühl. Diese Emotionen bilden sich erst im Laufe des Kleinkind- und Vorschulalters aus. Sroufe (1996) nimmt sogar an, dass auch andere Emotionen wie Ärger, Furcht, Traurigkeit, Freude und Liebe erst im ersten Lebensjahr aus zunächst ungerichteten sog. »precursor emotions« entste-
hen. Eine zentrale Frage dabei ist, durch welche spezifischen Merkmale sich eine Emotionsqualität auszeichnet. Basieren diese Merkmale auf einer besonderen Form oder einer besonderen Funktion in der individuellen Tätigkeitsregulation? Nach Auffassung vieler Emotionsforscher manifestiert sich eine Emotion in einer beobachtbaren Konfiguration von (peripher)physiologischen Veränderungen, Ausdrucksund Erlebensformen (z. B. Ekman 1984; Izard u. Malatesta 1987; Meyer et al. 1993, pp. 22–34; Scherer 1990). Die zentrale Frage ist, ob sich im Laufe der Entwicklung die Konfiguration dieser Emotionsformen verändert – und wenn ja, ob sich mit einer Veränderung ihrer Form auch ihre Funktion verändert.
Form einer Emotion.
Funktion einer Emotion in der individuellen Tätigkeitsregulation. Will man die Funktion eines
psychischen Prozesses ergründen, benötigt man ein Strukturmodell des Gesamtsystems, in das der Teilprozess eingebettet ist. Dieses Gesamtsystem ist die individuelle Tätigkeitsregulation. Die Funktion von Emotionen besteht nach allgemein geteilter Ansicht darin, dass sie die Beziehung zwischen den Motiven und bedeutsamen Anliegen (»concerns«) einer Person und ihrer (sozialen) Umwelt signalisieren und das nachfolgende Handeln motivdienlich beeinflussen (vgl. Campos et al. 1989; Frijda 1986). Hier stellt sich die Frage, inwiefern sich im Laufe der Entwicklung die emotionsrelevanten Beziehungen zwischen Person und Umwelt verändern oder gar neue Beziehungen und damit neue Emotionen entstehen und inwiefern mit einer Veränderung der emotionsrelevanten Beziehungen auch eine Veränderung der Emotionsformen einhergeht. Beziehung der Teilfunktion »Emotion« zu anderen psychischen Teilfunktionen in der Tätigkeitsregulation. Die einzelnen psychischen Teilfunk-
tionen bilden zu jedem Entwicklungszeitpunkt ein aufeinander abgestimmtes System mit einer inneren Ordnungsstruktur, die eine adaptive Regulation von Handlungen ermöglichen soll. Die Frage ist, inwiefern sich im Laufe der Entwicklung die Beziehungen zwischen den Emotionen und den anderen Teilfunktionen verändern. Bei dieser Frage
11
2.1 · Strukturalistisches Emotionsparadigma
kann man sich streiten, ob sie noch Gegenstand einer Theorie der Emotionsentwicklung oder eher einer Theorie der Tätigkeitsregulation ist. In der aktuellen Emotionsforschung wird diese Thematik jedoch unter den Stichworten »Emotionsregulation« (vgl. Cole et al. 2004; Denham 1998; Friedlmeier 1999a, b; Underwood 1997;Walden u. Smith 1997) und »levels of processing« (van Reekum u. Scherer 1997) intensiv untersucht. Kultureller Kontext. Emotionen basieren auf Bewertungen, die beim Menschen im Laufe der Entwicklung durch symbolbasierte Bedeutungssysteme vermittelt werden, die Produkte der kulturellen Entwicklung sind (Averill u. Nunley 1992; Harré 1986a; Mesquita et al. 1997; Oatley 1993; Ratner 2000; Rubin 1998). In den Interaktionen mit den Sozialisationspartnern werden kulturelle Bewertungen vermittelt, die zu kulturspezifischen Ausformungen von Emotionen führen können (Friedlmeier 2005b). Die Frage ist, welche kulturellen Merkmale besondere Relevanz für die emotionale Entwicklung haben, wie diese Merkmale vermittelt werden und welche Konsequenzen sie für die individuelle Entwicklung haben. Innerhalb des kulturellen Kontexts vollzieht sich Entwicklung in einem je spezifischen Kontext in Wechselwirkung mit dem aktiv handelnden Individuum, was zur Herausbildung interindividueller Unterschiede führt. Sowohl der Prozess der Individualisierung als auch die Rolle des kulturellen Kontextes auf die Emotionsentwicklung ist als Entwicklungsdimension zu berücksichtigen. Die verschiedenen Theorien zur emotionalen Entwicklung behandeln die fünf aufgeführten Entwicklungsaspekte in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Die Theorien, die sich mit den Emotionsqualitäten und ihren Funktionen befassen, thematisieren in der Regel nicht Fragen der Emotionsregulation – also Fragen nach der Entwicklung der innersystemischen Beziehungen der Tätigkeitsregulation. Theorien, die die Universalität menschlicher Emotionen fokussieren, vernachlässigen in der Regel den kulturellen Kontext. Im Folgenden werden die Theorien anhand ihrer metatheoretischen Prämissen über die »Natur« der Emotionen geordnet. Dabei werden die Ansätze in ihren Grundaussagen skizziert und der Er-
2
kenntnisgewinn des jeweiligen Ansatzes in Bezug auf die oben genannten fünf Entwicklungsdimensionen analysiert. Die entwicklungspsychologischen Emotionstheorien lassen sich anhand ihrer Prämissen zu vier Theoriefamilien bzw. Emotionsparadigmen gruppieren, die Gemeinsamkeiten zu allgemeineren erkenntnisleitenden Forschungsparadigmen aufweisen (vgl. Holodynski u. Friedlmeier 1999): 1. das strukturalistische Emotionsparadigma, 2. das funktionalistische Emotionsparadigma, 3. das dynamisch-systemische Emotionsparadigma und 4. das soziokulturelle Emotionsparadigma. Mascolo und Griffin (1998a) sind zu einer vergleichbaren Einteilung gekommen. Während bei diesen Autoren die Selbstbeschreibungen der Theorien im Vordergrund stehen, findet hier eine kritische Auseinandersetzung mit den Forschungsperspektiven anhand der vorgegebenen Kriterien statt mit dem Ziel, die wichtigsten Aspekte für einen integrativen Theorieansatz herauszuarbeiten. Wir sind uns bewusst, dass die einzelnen Emotionstheorien nicht vollständig in den genannten paradigmatischen Zuordnungen aufgehen und unsere Diskussion dem Reichtum an konkreten Forschungsergebnissen der einzelnen Theorien nicht gerecht werden kann. Nichtsdestotrotz sind wir überzeugt, dass eine Integration dieser Perspektiven ein vollständigeres Bild der Emotionsentwicklung ergeben kann als die bestehenden Teile.
2.1
Strukturalistisches Emotionsparadigma: Emotion als spezifischer psychischer Zustand
Im strukturalistischen Paradigma wird Emotion als ein spezifischer Zustand des Organismus betrachtet, der eine Reaktion auf einen emotionsspezifischen Anlass darstellt. Folglich besteht die wissenschaftliche Aufgabe darin, erstens diesen Zustand durch eindeutige und objektiv messbare Kriterien von anderen psychischen Zuständen abzugrenzen und zweitens die diskreten Emotionsformen, wie z. B. Freude, Stolz, Ärger, durch eindeutige und
12
1 2 3
Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
objektiv messbare Kriterien zu klassifizieren und emotionsspezifischen Anlässen zuzuordnen. Allgemein lässt sich sagen, dass Theorien einer strukturalistischen Perspektive auf den Formaspekt emotionaler Prozesse fokussieren (vgl. die Diskussion bei Campos et al. 1989; Lazarus 1991, pp. 42–44; Sroufe 1996, pp. 26–34).
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noch das Blickverhalten, das Verhalten im Raum und das Berühren hinzu. Der Ausdruck ist über Fremdbeobachtung erfassbar. Die subjektive Komponente besteht aus dem subjektiven Gefühl, das nur über Introspektion zugänglich ist. Bei der Erfassung der subjektiven Komponente hat man sich in der Regel auf das kategoriale Urteil der Person beschränkt und abgefragt, welche Emotion sie aktuell erlebt.
2.1.1 Prämissen > Beispiel
Eine erste Prämisse strukturalistisch orientierter Theorien besagt, dass jede Emotion eine subjektive und eine objektive Komponente hat. Letztere wird nochmals unterteilt in eine Ausdrucks- und eine Körperkomponente (vgl. Ekman et al. 1972; Izard 1977). Die Körperkomponente wurde ursprünglich von James (1884) ausschließlich durch viszerale Reaktionen definiert, später auf vegetative Erregungen des autonomen Nervensystems erweitert, und in neuerer Forschung werden auch endokrinologische Prozesse mit eingeschlossen (vgl. Panksepp 1998). Diese Körperprozesse sind in der Regel durch (peripher)physiologische Messungen erfassbar, wie z. B. durch die Messung des Herzschlags, der Hautleitfähigkeit oder des Cortisolspiegels, ein Hormon, das bei Stress ausgeschüttet wird. In der aktuell rasch expandierenden neuropsychologischen Analyse von Emotionen wird nach neurophysiologischen Korrelaten von Emotionen geforscht (vgl. Panksepp 1998; Rolls 1999). Da zentralnervöse Prozesse allen Emotionskomponenten zugrunde liegen, auch den Ausdrucks- und Gefühlsprozessen, rechnen wir sie nicht zur Körperkomponente, sondern betrachten die neurophysiologische Analyseebene als gegenüber der psychologischen Systemebene eigenständig, so dass diese Systemebenen nicht aufeinander reduzierbar sind (7 Abschn. 3.1.1). Bei der Ausdruckskomponente hat sich die Forschung in Folge der Facial-Feedback-Theorie (Izard 1977; Tomkins 1962) vor allem auf Mimikmuster konzentriert. Allerdings umfasst die Ausdruckskomponente das gesamte nonverbale Verhalten, zu dem auch die Körperhaltung und Körperbewegung, sowie die Gestik und der vokale Klang der Stimme zählen. Collier (1985) zählt auch
Erlebt eine Person die Emotion Stolz, kann dies ein Betrachter dadurch erkennen, dass er die für Stolz spezifischen Ausdrucksreaktionen »geschwellte Brust«, »Triumphgesten« bzw. »Triumphausruf« beobachtet und zusätzlich die Körperreaktion »erhöhter Herzschlag« messen kann (objektive Komponente). Die subjektive Komponente, was die Person aktuell fühlt, lässt sich nur dadurch erfassen, dass die Person Auskunft über ihre aktuelle Gefühlsqualität und -intensität gibt. Fragt man sie darüber hinaus nach ihren Empfindungen, erfährt man, dass Personen, die Stolz fühlen, in der Regel »eine Spannung im Körper« empfinden und die Neigung, »sich groß zu machen« und »sich anderen zu präsentieren«.
Jede Emotion sollte sich nach dem strukturalistischen Paradigma demnach durch eine spezifische Konfiguration von Ausdrucks-, Körper- und Gefühlsindikatoren beschreiben lassen. Eine zweite Prämisse bestand in der Annahme, dass es eine gesetzmäßige Verknüpfung zwischen der subjektiven und der objektiven Komponente gibt, nach der das subjektive Gefühl auf der internen Wahrnehmung der objektiven Komponente beruhen sollte. In der James-Lange-Theorie (Lange u. James 1922/1967) ist das die subjektive Wahrnehmung vegetativer Veränderungen. In der Theorie von Schachter (1964; Schachter u. Singer 1962) ist die vegetative Erregung eine notwendige Bedingung und in der Facial-Feedback-Theorie ist es die propriozeptive Wahrnehmung spezifischer Mimikmuster (Izard 1977; Tomkins 1962), wie in . Abb. 2.1 dargestellt. Neuere Definitionen zum Strukturaspekt von Emotionen sind in dieser Richtung vorsichtiger, sprechen sie doch nur noch von einer (gewissen)
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2.1 · Strukturalistisches Emotionsparadigma
2
Person Emotion als angeborenes Programm einer Konfiguration von Anlass
Angeborener Bewertungsmechanismus
Ausdruck
Gefühl als mimisches Feedback
Handlung
Physiologische Reaktion
. Abb. 2.1. Emotion in der Sichtweise des strukturalistischen Paradigmas, hier die differenzielle Emotionstheorie von Izard (1977)
Synchronisation der beteiligten Subsysteme, die während einer Emotionsepisode zusammenwirken (vgl. Scherer 1990, 2001).
2.1.2 Empirische Befunde Die Forschungsgeschichte hat erhebliche Zweifel an beiden Prämissen aufkommen lassen: Zum einen ließen sich bislang keine empirischen Belege dafür finden, dass bestimmte Ausdrucksmuster und/oder Körperprozesse entweder notwendig vorliegen müssen oder für sich genommen hinreichend wären, um eine diskrete Emotion zweifelsfrei zu diagnostizieren (Camras 1992; Ortony u. Turner 1990; Reisenzein 2000; Russell 1994). Zwar gibt es empirische Studien, in denen sich prototypische Konfigurationen von Gefühls-, Ausdrucks- und Körperprozessen überzufällig bestimmten Emotionen zuordnen lassen (Ekman 1994; Izard 1994). Jedoch zeigen andere Studien, dass diese Konfigurationen in den alltäglichen Emotionsepisoden von Erwachsenen und auch von Kindern nicht die Regel sind, sondern gleiche Emotionsqualitäten auch durch ganz andere Konfigurationen gezeigt werden (Demos 1982a, b; Fridlund 1994). > Beispiel Eine Person kann ihren Ärger durch gebleckte Zähne und einen drohenden Blick ausdrücken, eine andere durch entsprechende Stimm- und Atemmodulation und Stirnrunzeln, ein dritter
durch zusammengepresste Lippen und dem impulsiven Zerstören eines Gegenstands. Camras (1992) fand z. B. bei Alltagsbeobachtungen ihrer Tochter im ersten Lebensjahr, dass diese den Ausdruck von Überraschung (hochgezogene Augenbrauen mit/ohne geweiteten Augen und offenem Mund) auch in Situationen ohne Überraschungsanlass zeigte, in denen sie lediglich zu einer Person aufschaute.
Zum anderen stellte man in umfangreichen Experimenten fest, dass auch die angenommene Kopplung zwischen subjektivem Gefühlserleben und objektiven Ausdrucks- bzw. Körperprozessen nicht in dem Maße bestand, wie es in den Theorien angenommen wurde: Personen berichteten, Gefühle zu erleben, ohne dass zugleich emotionsspezifische Anzeichen im Ausdruck oder im Körperzustand beobachtet werden konnten (vgl. zusammenfassend Bermond u. Frijda 1987; Fridlund 1994). Und nicht immer, wenn bei Personen expressive oder vegetative Anzeichen auftraten, bestätigten sie im Selbstbericht, das dazugehörige subjektive Gefühl erlebt zu haben (vgl. zusammenfassend für die Diskussion der Facial-Feedback-Theorie: Izard 1994; Manstead 1988; McIntosh 1996 und die Diskussion der James-Lange-Theorie und ihre Modifikationen Cannon 1929; Reisenzein 1983).
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
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Studie
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Studien gegen die Facial-FeedbackTheorie
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Schmidt-Atzert (1993) untersuchte erwachsene Probanden, inwiefern sie mit einem emotionstypischen mimischen Ausdruck auf emotionsinduzierende Bilder reagierten. Im Einzelversuch zeigte er ihnen Dias sowohl mit lustigen als auch mit Ekel erregenden Szenen. Zugleich maß er mittels EMG-Ableitungen die Aktivität des Zygomaticusmuskels, der einen Lächelausdruck hervorruft, und des Corrugatormuskels, der Stirnrunzeln – eine typische negative Ausdrucksreaktion – hervorruft. Anschließend sollten die Probanden angeben, inwiefern sie sich jeweils gefreut bzw. geekelt hatten. Bei den lustigen Dias gab es zwar einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen den gemessenen Lächelreaktionen und den subjektiv berichteten Freudegefühlen; aber nur bei einem von fünf Ekel erregenden Dias wurde ein positiver Zusammenhang zwischen Stirnrunzeln und berichteten Ekelgefühlen festgestellt. Bemerkenswert ist, dass die Probanden in etwa der Hälfte der Fälle keine sichtbare Lächelreaktion zeigten, obwohl sie angaben, sich belustigt zu fühlen. Bei den Ekel erregenden Dias zeigten sie sogar in 86% Prozent der Fälle kein Stirnrunzeln, obwohl sie angaben, sich angeekelt zu fühlen. Demnach können Personen Emotionen subjektiv fühlen, ohne dass parallel ein entsprechender Emotionsausdruck beobachtet werden kann.
Studien gegen die James-Lange-Theorie
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Ein klassisches Experiment, das als Widerlegung der James-Lange-Theorie gewertet wurde, ist die Arbeit von Cannon (1929) an Katzen. Er durchtrennte die Nervenbahnen ihres autonomen Nervensystems, so
dass keine Nervenimpulse aus der Peripherie mehr in das Gehirn gelangen konnten. Cannon argumentiert nun, dass die Katzen keine emotionalen Ausdrucksreaktionen mehr hätten zeigen dürfen, wenn Emotionen ein Produkt des autonomen Körperfeedbacks wären. Im Widerspruch dazu zeigten sie aber auf einen aggressionsinduzierenden Stimulus (einen bellender Hund) nach wie vor emotionstypische Drohgebärden wie Fauchen, Zähne entblößen, Ohren zurücklegen und Krallen ausstrecken. Allerdings muss gegen Cannon eingewendet werden, dass James’ präzisierte Feedbacktheorie sich auf das subjektive Gefühl bezieht und nicht auf den Ausdruck einer Emotion. Inwiefern die Katzen auch Wut gefühlt haben mögen, lässt sich nicht feststellen, denn dies lässt sich nur introspektiv und damit nur beim Menschen über Selbstberichte erfassen (vgl. Meyer et al. 1993, S. 103 ff.). Daher hat man querschnittsgelähmte Personen, bei denen durch die Verletzung bedingt kaum noch Reaktionen des autonomen Nervensystems von der Peripherie ins Gehirn zurückgemeldet werden können, über ihr Gefühlserleben befragt. Sie berichteten keine nennenswerten Beeinträchtigungen ihres Gefühlserlebens. Dies traf allerdings nur auf die Personen zu, die ihre Querschnittslähmung psychisch bewältigt hatten. Die anderen berichteten Formen von Gefühlsarmut, was aber als Anzeichen einer mangelnden Krankheitsbewältigung gewertet wurde (Chwalisz et al. 1988). Die Autoren interpretieren diese Befunde dahingehend, dass es möglich zu sein scheint, Gefühle zu erleben, auch wenn keine peripherphysiologischen Reaktionen erlebt werden können (vgl. hierzu auch 7 Kap. 3.1.3)
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2.1.3 Diskussion Aus den Befunden lassen sich im Wesentlichen zwei Schlussfolgerungen ziehen: 1. Eine Emotion kann sich augenscheinlich in einer Vielfalt an unterschiedlichen Emotionsformen zeigen. In der emotionsbezogenen Prototypenforschung hat man für die einzelnen
Emotionen eine Vielzahl an Indikatoren zusammengetragen, die zwar nicht beliebig, aber doch große interindividuelle Unterschiede aufwiesen (vgl. Fahrenberg 1965; Frijda et al. 1989; Nieuwenhuyse et al. 1987; Rimé u Giovannini 1986; Scherer u. Tannenbaum 1986; Scherer et al. 1986; Shaver et al. 1987). Diese Vielfalt scheint menschenspezifisch zu sein, denn
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2.1 · Strukturalistisches Emotionsparadigma
bei Tieren, selbst unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, kann das Spektrum an beobachtbaren Ausdrucksformen relativ eindeutig bestimmten Emotionsqualitäten zugeordnet werden (vgl. die Beschreibungen von Bard 1998; de Waal 1996, 2000; van Lawick-Goodall 1968; van Hooff 1972). 2. Zwischen den subjektiven und objektiven Emotionskomponenten scheint es keine eindeutige Beziehung zu geben. Es ist somit unklar, inwiefern Ausdrucks- und Körperprozesse überhaupt für das Gefühlserleben notwendig sind. Eine Konsequenz dieser Diskussion war, die postulierten subjektiven und objektiven Komponenten und deren Verbindungen nicht mehr als notwendige und hinreichende Kriterien zu definieren, sondern als Set von prototypischen Merkmalen, die nur noch mehr oder weniger gegeben sein müssen. Eine solche sog. explikative Emotionsdefinition stammt von Schmidt-Atzert (1996): Eine Emotion ist ein qualitativ näher beschreibbarer Zustand, der mit Veränderungen auf einer oder mehreren der folgenden Ebenen einhergeht: Gefühl, körperlicher Zustand und Ausdruck (Schmidt-Atzert 1996, S. 21). Es ist offensichtlich, dass eine solche Definition der Beliebigkeit Tür und Tor öffnet, worauf auch Fridlund (1994) in seiner Polemik hinweist. Sie hat auch keine orientierende Wirkung für die weitere Forschung mehr. Daher stellt sich die Frage, ob die Modellannahmen eines strukturalistischen Emotionsparadigmas unzureichend sind, wenn menschliche Emotionen nur unter dem Gesichtspunkt der einzelnen Emotionsformen untersucht werden.
2.1.4 Schlussfolgerungen für einen
integrativen Theorieansatz Im Folgenden wird eine Möglichkeit aufgezeigt, wie der Zusammenhang zwischen subjektiven und objektiven Emotionskomponenten bestimmt werden könnte, der mit den abweichenden empirischen Befunden kompatibel wäre. Dies unterstreicht zu-
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gleich die Bedeutsamkeit des strukturalistischen Paradigmas. Es ist in der wissenschaftlichen Emotionsforschung bislang für selbstverständlich erachtet worden, Emotionen aus einer Beobachterperspektive heraus zu analysieren. Für die Psychologie und insbesondere die Emotionsforschung kann es aber sehr aufschlussreich sein, Emotionen aus der Akteursperspektive heraus zu analysieren. Es ist vorstellbar, dass aus der Akteurserspektive die angenommene Synchronizität von Erlebens-, Ausdrucks- und Körperprozessen bestehen bleibt, auch wenn dies aus einer Beobachterperspektive heraus nicht der Fall ist. Der Ausdruck einer Emotion, der für andere wahrnehmbar ist, und die vegetative Erregung, die durch entsprechende Messgeräte erfasst wird, können prinzipiell auch von der Person selbst wahrgenommen werden, und zwar über die propriozeptiven Rückmeldungen aus den Muskeln und den entsprechenden interozeptiven Rückmeldungen, die in den somatosensiblen Gehirnarealen verarbeitet und gespeichert werden (Damasio 1994; Vaitl 1995). Diese emotionsspezifischen Rückmeldungsmuster sind nach Meinung einiger Emotionstheoretiker (Damasio 1994; Gellhorn 1964; Izard 1977) der »sinnliche Stoff«, aus dem im subjektiven Gefühl die Emotionen bestehen. Damasio (1994) hat dafür den Begriff der somatischen Marker geprägt. Diese »Sinnlichkeit« einer Emotion ist insofern bedeutsam, als es einen Unterschied geben muss zwischen einer Situation, in der eine Person aufgrund des Anlasses lediglich weiß, dass sie eine bestimmte Emotion gefühlt hat bzw. fühlen würde, und einer Situation, in der sie die Emotion aktuell tatsächlich fühlt. > Beispiel Dieser Unterschied zwischen dem Wissen um eine Emotion und dem Fühlen einer Emotion besteht nicht in der Reflexion über den emotionalen Anlass, sondern im Wahrnehmen interner Signale, die für die entsprechende Emotion typisch zu sein scheinen und ihr eine spezifische Sinnlichkeit geben: Magenschmerzen, das leichte und luftige Gefühl von Entzücken, die zugeschnürte Kehle, der Schauer von Angst, der über den Rücken läuft, oder die Schmetterlinge im Bauch bei Verliebtsein.
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
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Diese spezifische Sinnlichkeit sehen wir als ein wesentliches Definitionskriterium des subjektiven Gefühls an. Eine wichtige Frage ist dann, ob diese internen Rückmeldungen notwendigerweise immer, d. h. auf allen Entwicklungsstufen, aufgrund tatsächlich ablaufender körperlicher und/oder expressiver Prozesse zustande kommen müssen oder ob es sich auch um gehirninterne Repräsentationen handeln kann, die ohne ein solches Körperfeedback zustande kommen können. Dass solche Phantomempfindungen subjektiv als reale Körperprozesse erlebt werden, ist aus der Schmerz- und Psychosomatikforschung hinlänglich bekannt (Melzack 1989). Übertragen auf das Gefühlserleben ließe sich fragen: Ist es möglich, dass eine Person auf einen emotionsspezifischen Anlass hin berichtet, die entsprechende Emotion zu erleben, man aber weder einen entsprechenden Ausdruck beobachten noch eine entsprechende Körperreaktion messen kann? Die Person selbst verspürte hingegen einen emotionsspezifischen Ausdruck sowie eine vermeintliche physiologische Erregung.
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> Beispiel
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Emotion gehen – mit dem Unterschied, dass es sich nicht um objektive, sondern um subjektiv wahrgenommene Emotionsformen handelt. Wir werden in 7 Abschn. 3.1.4 weiter ausführen, unter welchen Umständen dies möglich ist. Ebenso werden wir in 7 Abschn. 3.1.3 die Experimente einer kritischen Revision unterziehen, die die angenommene Konvergenz zwischen Ausdruck und Gefühl bzw. zwischen vegetativen Erregungen und Gefühl widerlegt haben wollen und in 7 Kap. 4.5 eigene Studien hierzu vorstellen. In der Forschungsgeschichte hat jedoch die vermeintlich gefundene Unabhängigkeit zwischen objektiven und subjektiven Emotionsformen dazu geführt, die Suche nach notwendigen und hinreichenden Formen einer Emotion nicht weiter zu verfolgen, sondern ein anderes Definitionskriterium für eine Emotion heranzuziehen, das eindeutiger ist. Dieser Weg ist im Rahmen des funktionalistischen Emotionsparadigmas beschritten worden.
2.2
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Für diese Person könnte ein Anzeichen von Ärger sein, dass sie nicht laut, sondern nur innerlich flucht, dass sie Stirnrunzeln fühlt, ohne dass dies bereits von außen sichtbar wäre oder dass sie eine innere Erregung spürt, die in peripherphysiologischen Messungen nicht erfassbar ist.
Damasio (1994) bezeichnet diese Form des Gefühls als »Als-ob-Gefühle« (»as-if-feelings«). Auch Izard (1977) räumt eine solche Möglichkeit von mikromomentanen Ausdrucksbewegungen ein (vgl. auch Church 1982), Holodynski (1997) spricht von mentalen Ausdruckszeichen. In der Akteursperspektive scheinen solche mentalen Ausdruckszeichen ein vergleichbares Erlebensmuster wie gezeigte Emotionen zu erzeugen. Das würde aber bedeuten, dass die Synchronizität von Körper- und Ausdrucksprozessen im subjektiven Gefühl bestehen bleiben könnte, auch wenn in der Beobachterperspektive Gefühl und Ausdruck dissoziiert wären. Wenn dem so wäre, dann könnte man erneut auf die Suche nach notwendigen oder zumindest hinreichenden Formen einer
Funktionalistisches Emotionsparadigma: Emotion als spezifische psychische Funktion
Die Schwierigkeiten, eindeutige Belege für die strukturalistischen Modellannahmen zu finden, haben zu einer Erweiterung der wissenschaftlichen Analyse geführt. Die Analyse von Emotionen als spezifischer psychischer Zustand wurde um die Analyse der Funktion von Emotionen erweitert. Zwar gab es schon in den 60er und 70er Jahren funktionalistisch orientierte Emotionstheorien (z. B. Arnold 1960; Lazarus 1966; Leont‘ev 1978), aber die Trendwende erfolgte erst in den 80er Jahren. Dies lässt sich an einem deutlichen Wandel der Emotionsdefinitionen ablesen (s. Campos et al. 1989). In der entwicklungspsychologischen Emotionsforschung markieren vor allem die Arbeiten von Campos (Campos u. Barrett 1984) und Sroufe (1979) diese Wende. In der allgemeinpsychologischen Emotionsforschung wird diese neue Perspektive vor allem durch das Buch The emotions von Frijda (1986) repräsentiert.
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2.2 · Funktionalistisches Emotionsparadigma
2.2.1 Prämissen Unter einem funktionalistischen Forschungsparadigma wird eine Emotion nicht mehr als eine Konfiguration von Emotionsformen definiert, sondern über die Funktion, die sie im System der individuellen Tätigkeitsregulation einnimmt (Frijda 1986; Lazarus 1991). Damit erweitert sich die Analyseebene, denn für die Bestimmung von Emotionen reicht eine elementaristische Betrachtung einer isolierten psychischen Teilfunktion nicht mehr aus. Vielmehr erfordert sie eine Analyse der Tätigkeitsregulation eines Individuums in seiner Umwelt. Erst in einer solchen systemischen Analyse erschließt sich die Funktion einer Emotion. Wie lässt sich dieses System der Tätigkeitsregulation skizzieren? Der Mensch wird als ein Wesen angesehen, das zu einem gegebenen Zeitpunkt eine Reihe verschiedener Anliegen, Motive und persönlicher Ziele (»concerns«) in sich trägt, die es im Kontakt mit seiner Umwelt zu befriedigen bzw. zu erreichen trachtet. The term concern refers to major goals and motives, likes and dislikes, and norms and values (Frijda et al. 1992, p. 67). > Beispiel So kann sich eine Person Nahrungsmittel verschaffen, um ihr Nahrungsbedürfnis zu befriedigen; sie kann den Kontakt zu Bezugspersonen suchen, um ihr Bindungsbedürfnis zu befriedigen, oder sie strebt danach, einmal ein berühmter Schauspieler zu werden, um ihr Leistungsmotiv zu befriedigen.
Im System der Tätigkeitsregulation sind die psychischen Teilprozesse wie Wahrnehmung, Kognition, Gedächtnis, Emotion und Motivation zu einer funktionalen Einheit verbunden. Darin kommen den Emotionen zwei besondere Funktionen zu: die motivrelevante Einschätzung der Situation und die Auslösung einer Handlungsbereitschaft.
Motivrelevante Einschätzung der Situation Die auf die Person einströmenden externen und internen Reize in Form von (realen oder vorgestellten) Gegenständen, Personen und Ereignissen werden fortlaufend daraufhin eingeschätzt, inwie-
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fern sie für die Befriedigung der individuellen Motive und relevanten Anliegen förderlich, hinderlich oder abträglich sind (Frijda 1986). Diese Einschätzungsprozesse (»appraisals«) lösen die emotionale Handlungsbereitschaft aus. Ärger z. B. beinhaltet nach Malatesta und Wilson (1988) die Einschätzung, dass die Erreichung eines bedeutsamen Ziels (Motivs) blockiert ist.
Auslösen einer Handlungsbereitschaft Die durch die Bewertung ausgelöste Handlungsbereitschaft (»action readiness«) soll die Beziehung zur Umwelt in motivdienlicher Weise verändern. Diese kann in Form einer erlebten Handlungsbereitschaft vorliegen, etwas Bestimmtes tun bzw. unterlassen zu wollen, oder in Form eines Ausdrucks, mit dem ein Kommunikationspartner in motivdienlicher Weise beeinflusst werden soll. Dies kann z. B. eine Drohgebärde sein, wenn die Quelle eine andere Person ist, die durch die Drohung zur Aufgabe der Zielblockade veranlasst werden soll (vgl. Malatesta u. Wilson 1988). Die Handlungsbereitschaft kann auch in Form einer physiologischen Reaktion des autonomen Nervensystems erfolgen, die den Körper auf die initiierten Handlungs- und Ausdrucksprozesse vorbereiten soll. Ärger verändert die Handlungsbereitschaft dahingehend, die Quelle der Zielblockade beseitigen zu wollen. Die Handlungsbereitschaft führt zur Auswahl von geeigneten Verhaltensweisen, die die Motivbefriedigung unter den gegebenen Kontextbedingungen sicherstellen sollen. Beim Menschen bestehen diese Bewältigungshandlungen aus zielgerichteten Handlungen, die er willkürlich wählen kann. Sie werden im Laufe der Ontogenese gelernt und bilden Systeme flexibel kombinierbarer Handlungen. > Beispiel Zur Illustration der regulativen Funktion von Emotionen stelle man sich folgende Situation vor: Der fünfjährige Max führt seinem besten Freund Timo voller Stolz sein neues Rutschauto vor, lässt ihn jedoch (zunächst) nicht fahren, obwohl Timo diesen Wunsch zum Ausdruck bringt. Je nachdem wie Timo diese Situation in Bezug auf seinen Wunsch (Rutschautofahren) einschätzt, werden sich unterschiedliche Emotionen zeigen, die spezifische
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
Handlungsimpulse und letztlich auch unterschiedliche Bewältigungshandlungen nach sich ziehen: Schätzt Timo die Situation allein als Nichterfüllung seines Wunsches ein, wird er mit der Emotion Frustration reagieren, einen Schmollmund und den Handlungsimpuls »sich zurückziehen« zeigen und als resultierende Bewältigungshandlung sich vielleicht zum Trösten an seine Mutter wenden. Schätzt Timo die Situation so ein, dass Max seine Wunscherfüllung absichtlich verweigert und er sich gegen Max zur Wehr setzen kann, wird Timo mit der Emotion Ärger reagieren, um Max z. B. durch eine aggressive Drohgebärde zum Herleihen des Rutschautos zu bewegen. Steht statt dessen der Zwiespalt im Vordergrund, dass der Max etwas besitzt, das er auch gern besitzen würde, aber nicht hat, dann würde Timo mit Neid reagieren und als Bewältigungshandlung versuchen, auf irgendeine Weise in den Besitz eines Rutschautos zu kommen. Während die Frustration »nur« auf die Nichtbefriedigung des Wunsches orientiert, orientiert der Ärger auf die Ursache, die ungerechtfertigte Verweigerung des Wunsches durch den anderen, und der Neid auf das begehrte Objekt selbst, das man nicht hier und jetzt nur einmal benutzen, sondern besitzen möchte. Der Ärger verschwindet, wenn Max seinen Freund Timo mit dem Auto fahren lässt. Dies wäre beim Neid nicht der Fall, da er auf den Besitz gerichtet ist.
Wie in diesem Beispiel verdeutlicht, bedingt die Art der Situationseinschätzung eine je unterschiedliche Emotion, und je nach Emotion wird eine unterschiedliche Auswahl an motivdienlichen Handlungen vorgenommen.
Die Qualität einer Emotion hängt somit von der Bedeutung ab, die das Individuum dem aktuellen Ereignis in Bezug auf die eigene Motivbefriedigung zuweist. Sie führt zu einer spezifischen Beziehungsbedeutung (»relational meaning« nach Lazarus, 1991) und löst eine dieser Beziehungsbedeutung entsprechende Handlungsbereitschaft (»action readiness« nach Frijda 1986) aus (. Abb. 2.2). Eine spezifische Konfiguration von motivrelevanten Einschätzungsprozessen ist demnach ein notwendiges Definitionskriterium für eine Emotion in funktionalistischen Ansätzen. Diskutiert wird jedoch, ob man die Einschätzungsprozesse als vorauslaufende Bedingung oder als genuinen Bestandteil einer Emotion auffassen sollte. In jedem Fall werden die Verbindungen zwischen Einschätzungsmuster und Emotionsqualität als gesetzmäßig angenommen (vgl. Lazarus 1991). Die Anzahl unterschiedlicher Emotionsqualitäten ist damit abhängig von der Anzahl unterscheidbarer Einschätzungsmuster (Appraisalmuster).
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Regulationsprozesse
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Emotionsbezogene Handlung
Emotion Kontext
Anlass
Kontext
Motive/Ziele Erwartungen
Wahrnehmen
Handlungsimpuls
Appraisal
Gefühl
Umsetzen in Handlung
Physiologische Reaktion
20 . Abb. 2.2. Emotion in der Sichtweise des funktionalistischen Paradigmas
Ausdruck Problembezogene Handlung
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2.2 · Funktionalistisches Emotionsparadigma
2.2.2 Empirische Befunde Die Forschungsbemühungen allgemeinpsychologisch orientierter Emotionstheorien richteten sich in erster Linie auf Fragen, wie diese Appraisalmuster im Einzelnen aufgebaut und wie sie zu klassifizieren sind. Dies wird von Theorie zu Theorie unterschiedlich konzeptualisiert (Frijda 1986; Lazarus 1991; Leventhal u. Scherer 1987; Ortony et al. 1988; Roseman 1991; Scherer 1993; vgl. auch Roseman u. Smith 2001; Scherer 1988 für einen Überblick). Die Klassifikationsversuche enthalten jedoch keine Aussagen über die ontogenetische Entwicklung dieser Appraisalmuster. Entwicklungspsychologisch orientierte Theorien haben sich zumeist auf die Entwicklung der Appraisalmuster einzelner Emotionen konzentriert, wie z. B. auf die Appraisalentwicklung bei Stolz und Scham (Barrett 1998; Mascolo u. Harkins 1998; Stipek 1995; Tangney u. Fischer 1995), auf selbstbewertende Emotionen (Geppert u. Heckhausen 1990) oder auf die Entwicklung der Appraisals bei Ärger (Mascolo u. Griffin 1998b). Die Ansätze von Sroufe (1979, 1996) und Campos und Barrett (1984) stellen erste umfassende Entwicklungsmodelle von Appraisalmustern dar.
2.2.3 Diskussion So elegant und eindeutig eine funktionalistische Emotionsdefinition ist, so wirft sie ein neues nicht unerhebliches Problem auf, nämlich die Unterscheidung zwischen Wissen (»knowledge«) und Einschätzung (»appraisal«) (vgl. Lazarus 1991, pp. 144–149). Der funktionalistischen Perspektive auf Emotionen wird vorgeworfen, zu kognitionslastig zu sein, so dass der Unterschied zwischen einer »cold cognition« und einer »hot emotion« verloren zu gehen scheint. Dem Menschen ist die einmalige Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation der Welt (einschließlich seiner selbst und seiner Beziehung zur Welt) gegeben, so dass er nicht nur »fühlend« und »handelnd« durch das Leben geht, sondern vor allem auch »wissend«. Und dieses Wissen, wie die Dinge im Allgemeinen und im Besonderen funktionieren,
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was sie zu bedeuten haben, ist unabdingbar, um angemessen handeln zu können. > Beispiel Als Erwachsener weiß man in der Regel um die Bedeutung der Emotionen, dass z. B. der Tod einer geliebten Person Trauer auslöst, weil man die geliebte Person durch ihren Tod unwiederbringlich verliert.
Stellt aber die wissensbasierte Vergegenwärtigung der Beziehungsbedeutung von Emotionen bereits einen Appraisalprozess dar? Vertreter einer funktionalistischen Perspektive würden sagen, dass ein Wissen nur dann zu einer emotionsauslösenden Einschätzung wird, wenn ein Ereignis eine Bedeutung für die Person, für ihr persönliches Leben bekommt. > Beispiel Was ist aber mit folgendem Gedankenexperiment? Man stelle sich den Fall vor, dass eine Person, deren Tante gestorben ist, sagt, dass sie ihre Tante wie eine Mutter geliebt habe und ihr Tod ein schmerzlicher Verlust für sie sei. Sie hat verbal somit die Bewertung vorgenommen, die für die Auslösung von Trauer maßgeblich sein soll. Kann man daraus zweifelsfrei schließen, dass im Moment ihrer verbalen Aussage auch die Emotion Trauer aktualisiert ist? Das müsste ja der Fall sein, denn der Tod ihrer geliebten Tante bedeutet für die Person tatsächlich einen unwiederbringlichen Verlust. Man würde ohne Zweifel zustimmen, wenn die Person dabei weinen oder andere Ausdrucks- oder Körperzeichen von Trauer zeigen würde. Man würde sicherlich nicht zustimmen, wenn sie die verbale Aussage macht, ohne im Moment Trauer zu fühlen oder zu zeigen, z. B. dann, wenn die Person einem Vorgesetzten davon erzählte. Man würde dann mit Lazarus (1991, p. 144) sagen, dass es sich um »cold cognition«, nicht aber um »hot emotion« handelt.
Das Gedankenexperiment verdeutlicht, dass die Form, in der sich die Bewertung eines Ereignisses abspielt, doch nicht beliebig zu sein scheint. Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch in der funktionalistischen Emotionsdefinition wider, nach der ei-
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
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ne Emotion zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend durch den motivbezogenen Einschätzungsprozess definiert ist. Hinzu kommen muss die durch den Einschätzungsprozess ausgelöste Handlungsbereitschaft in Form von Gefühls-, Ausdrucks- oder Körperprozessen. Die entscheidende Frage ist aber, an welchen Indikatoren eine solche Handlungsbereitschaft ablesbar ist. Reicht es z. B. für das Erleben von Trauer aus, eine Antriebsarmut zu verspüren oder den Impuls weinen zu wollen, ohne dass zugleich Ausdrucks- oder Körperprozesse beobachtbar sind? Die Frage nach den hinreichenden Bedingungen für eine Emotion stellt sich auch für die subjektive Perspektive: Wann kann eine Person sicher sein, dass sie eine Emotion tatsächlich fühlt und nicht nur glaubt, sie zu fühlen? Dieses Problem ist nicht nur von theoretischer Relevanz, sondern es hat auch praktische Konsequenzen: Denn Menschen können in ihrem alltäglichen Handeln Appraisal und Wissen verwechseln, sei es dass man Emotionen fälschlicherweise zu erleben glaubt, oder umgekehrt, dass man um tatsächliche Emotionen unangemessen oder gar nicht weiß, und sie damit nur unzureichend in die eigene bewusste Handlungsregulation einbinden kann. Das kann fatale Folgen für die eigene Lebensführung bis hin zu psychischen Störungen nach sich ziehen.
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> Beispiel
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Wenn Kinder in Stresssituationen von ihren Eltern immer wieder mit Essen abgelenkt und durch das sich einstellende angenehme Sättigungsgefühl beruhigt werden, anstatt situationsangemessene Bewältigungshandlungen vermittelt zu bekommen, kann das zu einer Form von Fettleibigkeit führen. Diese Kinder missinterpretieren dann negative Körperempfindungen als Hungeranzeichen und reagieren darauf mit Essen, anstatt sie als Anzeichen von Frustration oder Ärger zu erkennen und mit problemlösenden Bewältigungshandlungen zu reagieren.
Mittlerweile kümmert sich ein ganzer Berufszweig, die Psychotherapeuten, um diese Folgen. Durch die genauere Analyse der funktionalistischen Emotionsdefinition sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Argumentation angekom-
men: Offensichtlich reicht es nicht aus, Emotionen als zwei Funktionen für die Tätigkeitsregulation eines Individuums in seiner Umwelt zu definieren; nämlich 1. als Appraisals (Einschätzung der Ereignisse der Umwelt für die Verwirklichung der persönlichen Motive) und 2. als Handlungsbereitschaft (Veränderung der Person-Umwelt-Beziehung mit dem Ziel der Verwirklichung der persönlichen Motive). So einleuchtend diese beiden Funktionen auch scheinen, so zeigt sich doch, dass damit die alten Probleme einer strukturalistischen Emotionsdefinition nicht überwunden sind. Denn, ob tatsächlich eine Emotion erlebt wird oder ob nur etwas gewusst wird, hängt nicht allein von der Bewertung der Situation ab, sondern auch davon, in welcher Form die Handlungsbereitschaft vorliegt, ob als Gefühl, wahrnehmbarer Ausdruck und/oder Körperprozess. So nimmt z. B. Lazarus (1991, p. 59) an, dass peripherphysiologische Prozesse eine notwendige Bedingung seien, und sei es, dass sie nur in sehr schwacher Form vorliegen. Somit enthält auch eine funktionalistische Emotionsdefinition einen Formaspekt und damit auch die alten ungelösten Probleme: Gibt es invariante Verbindungen zwischen Gefühl, Ausdruck und Körperreaktionen, die für eine spezifische Emotionsqualität notwendig und hinreichend sind? Kann wie in unserem Gedankenexperiment eine Person eine Emotion erleben, ohne dass durch einen Beobachter Ausdruckszeichen wahrnehmbar sind und ohne dass peripherphysiologische Reaktionen gemessen werden können? Dreht man sich bei der Suche nach einer wissenschaftlich exakten Definition von Emotionen im Kreis?
2.2.4 Gefühl als reales oder mentales
Feedback von Ausdrucks- und Körperreaktionen Einen möglichen Lösungsweg aus diesem Dilemma haben wir bereits bei der Diskussion des strukturalistischen Paradigmas skizziert, als wir die Möglichkeit in Betracht gezogen haben, dass subjektives Gefühl auch in Form von sog. mentalen Emo-
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2.2 · Funktionalistisches Emotionsparadigma
tionszeichen vorliegen könnte. Wir wollen unsere Position hier um die Entwicklungsperspektive erweitern und die Konsequenzen für eine empirische Forschung verdeutlichen. Im Unterschied zum reinen Wissen haben Emotionen im System der Tätigkeitsregulation unzweifelhaft die Funktionen, externe und interne Reize in motivdienlicher Weise zu bewerten und die Person-Umwelt-Beziehung in motivdienlicher Weise zu verändern. Woran aber merkt ein Individuum, dass es eine Emotion erlebt und damit äußere Ereignisse bezüglich ihrer persönlichen Motive bewertet? Hier richtet sich unser Augenmerk wieder auf die Emotionsformen: Das entscheidende Kriterium für das Aktualisiertsein einer Emotion besteht darin, dass es im subjektiven Gefühl einer Person eine notwendige bzw. hinreichende Konfiguration von emotionsspezifischen Ausdrucksund Körperreaktionen geben muss. Eine Person fühlt nur dann eine Emotion, wenn spezifische Ausdrucks- und Körperempfindungen aktualisiert sind. Wir behaupten demnach, dass es im subjektiven Gefühl einer Person auch dann eine Einheit von Gefühl, Ausdruck und Körperzeichen geben muss, wenn weder Ausdruck von Außenstehenden beobachtbar ist noch Körperreaktionen peripherphysiologisch messbar sind. Aber in welcher Form kann man sich die Existenz dieser Einheit von Gefühl, Ausdruck und Körperreaktionen vorstellen? Wir nehmen an, dass sich im Verlauf der Ontogenese die Form der Ausdrucks- und Körperreaktionen dahingehend ändert, dass mentale Ausdruckszeichen und mentale Körpersensationsmarker (»somatic marker«) (Damasio 1994) entstehen, die im Gedächtnis gespeichert werden. Demnach kann das subjektive Erleben von Ausdrucks- und Körperreaktionen im Verlauf der Ontogenese durch zwei verschiedene Formen zustande kommen: 1. Subjektives Erleben von Ausdrucks- und Körperreaktionen entsteht durch die introspektive Wahrnehmung realer interozeptiver und propriozeptiver Rückmeldungen aus dem Körper, die durch Appraisalprozesse ausgelöst worden sind. Diese Ausdrucks- und Körperreaktionen können mit Hilfe einer Fremdbeobachtung des Ausdrucks und peripherphysiologischer Messungen erfasst werden.
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Studie Fühlen ohne Ausdruck In einer eigenen Studie (Holodynski et al. 2001) wurden Personen auf eine Phantasiereise geschickt, die sie u. a. an eine freudige Episode (Wiedersehen mit einem alten Freund) erinnerte. Manche Personen zeigten während dieser Erinnerung ein deutlich wahrnehmbares Lächeln und berichteten auch, dass sie propriozeptiv ein intensives Lächeln empfunden hätten. Mit diesen Ausdrucksempfindungen begründeten sie, dass sie die Freude tatsächlich gefühlt und sich nicht nur daran erinnert hatten. Dies ist ein Beispiel, wie ein Freudegefühl durch ein reales Körperfeedback des Lächelausdrucks entsteht. Im gleichen Experiment zeigten andere Personen während der Erinnerungsphase keinen Emotionsausdruck. Dennoch berichteten auch diese, dass sie propriozeptiv ein intensives Lächeln empfunden und sie dies auch als Freudegefühl erlebt hätten. Bat man diese Personen, ihren propriozeptiv empfundenen Lächelausdruck noch einmal nachzustellen, dann waren sie überzeugt, dass dieser Ausdruck für Außenstehende wahrnehmbar sei. Entsprechend verblüfft waren sie, als sie vor dem Spiegel feststellen mussten, dass das propriozeptiv empfundene Lächeln von außen nicht wahrnehmbar war. Dies ist ein Beispiel, wie ein Freudegefühl durch ein zentralnervös gespeichertes Feedback eines Lächelausdrucks entstehen kann.
2. Subjektives Erleben von Ausdrucks- und Körperreaktionen entsteht durch die introspektive Wahrnehmung zentralnervös gespeicherter interozeptiver und propriozeptiver Rückmeldungen, die durch die Appraisalprozesse ausgelöst worden sind. Dabei handelt es sich um mentale Emotionszeichen (s. auch folgende Studienbox). Gemeinsam ist beiden Erlebensformen das subjektive Empfinden emotionsspezifischer Ausdrucksund Körperreaktionen, ihre Gerichtetheit auf den
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
Anlass und ihre Unwillkürlichkeit, mit der sie im Erleben auftauchen. Ihr Erleben ist nicht das Produkt einer willkürlichen Anstrengung. Allerdings ist es möglich, sich willkürlich in Situationen zu bringen oder sich solche vorzustellen, so dass daraufhin diese Emotionszeichen unwillkürlich ausgelöst werden. Eine solche Behauptung ist nicht einfach ein »theoretischer Trick«, um die strukturalistische Definition nach notwendigen und hinreichenden Emotionsformen zu retten, sondern eine solche Lösung scheint realiter möglich zu sein und erfüllt unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten einen adaptiven Zweck. Die Frage ist nämlich, ob die Ausdrucks- und Körperprozesse, die man mit Emotionen in Verbindung bringt, immer in Form objektiv messbarer Prozesse vorliegen müssen, um ihre Funktion der Handlungsbereitschaft erfüllen zu können. Oder gibt es Funktionen der Handlungsbereitschaft, die in Formen vorliegen können, die nur für die Person selbst im Erleben wahrnehmbar sind, nicht aber für einen externen Beobachter, und die dennoch vollständig diese Funktion erfüllen können, ja sogar effizienter erfüllen können?1 Dazu sollte man sich von der bislang üblichen Vorstellung lösen, dass die Emotionsformen ausschließlich instrumentelle Funktion für die Handlungsbereitschaft haben (z. B. den Körper auf eine Gefahr hin fluchtbereit zu aktivieren). Statt dessen sollte man sich mit der Vorstellung vertraut machen, dass Emotionsformen auch ausschließlich eine semiotische Funktion, eine Zeichenfunktion, haben können (z. B. die Gefahr nur signalisieren, ohne eine Fluchtbereitschaft zu aktivieren). Nur unter der Bedingung, dass Emotionsformen ausschließlich als Zeichen für die Person selbst benutzt werden, ist es prinzipiell möglich, dass sie in ihrem subjektiven Gefühl Körper- und Ausdruckszeichen
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Dabei sei klargestellt, dass auch die subjektiven Erlebensformen immer an objektiv messbare hirnphysiologische Prozesse gebunden sind. Mit Ausdrucks- und Körperreaktionen sind solche Prozesse gemeint, die durch Fremdbeobachtung des Ausdrucks und durch peripherphysiologische Messungen für einen außenstehenden Beobachter messbar sind. Solche Prozesse sind in den strukturalistischen Definitionen angesprochen – und nicht deren hirnphysiologischen Korrelate.
verspürt, ohne dass ein Beobachter diese wahrnehmen kann. > Beispiel Ein Student erhält per Post die Benachrichtigung, dass er durch das Examen gefallen ist. Er ist allein, als er den Brief liest. Er reagiert mit Scham auf diesen Misserfolg, was er an seinen Körper- und Ausdrucksempfindungen ablesen kann: Es zieht eine Spannung durch seinen Bauch; ihm steigt Hitze in den Kopf; er verspürt eine Verspannung um seinen Mund; er fühlt sich klein und getroffen; ihm schießen Gedanken durch den Kopf, dass er unfähig sei, und stellt sich vor, dass seine Kommilitonen mitleidig oder abfällig über ihn denken werden. Da er allein ist, besteht kein Anlass, sich anderen mitzuteilen, also sichtbare Ausdruckszeichen zu zeigen. Auch haben die beschriebenen Ausdrucks- und Körperreaktionen keine nachvollziehbare instrumentelle Funktion. Sie dienen ausschließlich als Zeichen für die Person, um sie darauf zu orientieren, dass ihr Ich-Ideal verletzt ist und Bedarf besteht, diesen Misserfolg wieder gutzumachen.
Zeichen können im Unterschied zu instrumentellen Akten ihrer materialisierten Form entkleidet werden, ohne dass ihre handlungsregulierende Funktion beeinträchtigt wird – vorausgesetzt den unterschiedlichen Zeichenformen wird die gleiche Bedeutung zugewiesen. Wir werden in 7 Abschn. 3.1.4 diesen Zusammenhang ausführlicher erläutern. Wenn man diese Lösungsmöglichkeit verfolgt, stellen sich neue Fragen für die Analyse der Ontogenese: Wie entwickeln sich Emotionsformen als Zeichen? Unter welchen Bedingungen werden sie als Zeichen für andere Menschen und wann als Zeichen nur für sich selbst benutzt? Wandeln sie sich im letzteren Fall tatsächlich in mentale Emotionszeichen? Offensichtlich wäre dies nicht der Ausgangspunkt der Entwicklung beim Säugling, sondern ein späterer Entwicklungszustand, der eher Erwachsene kennzeichnet.
2.2.5 Differenzierung der
Regulationsebenen Im Rahmen des funktionalistischen Paradigmas sind noch zwei weitere wichtige Erkenntnisse gewonnen worden, die für die oben behandelte Frage im Besonderen, aber auch für die emotionale Entwicklung im Allgemeinen bedeutsam sind: die Differenzierung der Regulationsebenen (»levels of processing«) und die Analyse der Emotionsregulation.
Regulationsebenen Leventhal und Scherer (1987) weisen darauf hin, dass sich die Entwicklung des individuellen Handlungssystems nicht nur in horizontaler Richtung vollzieht, indem sich unterschiedliche Emotionen und Handlungsbereitschaften ausdifferenzieren. Sie vollzieht sich auch in vertikaler Richtung, und zwar als Aufbau einer Hierarchie von Regulationsebenen (»levels of processing«) (. Tabelle 2.1). Die Autoren gehen von einer basalen sensomotorischen Regulationsebene aus. Erste Bewertungsprozesse basieren auf weitgehend angeborener Merkmalserkennung und Reflexen, die für die Verarbeitung spezifischer Reizmuster spezialisiert sind. So löst z. B. eine Substanz mit saurem Geschmack im Mund bei Neugeborenen eine Ekelreaktion aus: Nase rümpfen, Zunge vorstrecken,
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2.2 · Funktionalistisches Emotionsparadigma
eventuell würgen, um die Substanz aus dem Mund zu entfernen. Darauf baut sich sukzessive eine zweite hierarchisch übergeordnete Regulationsebene in der Ontogenese auf, nämlich eine schemabasierte Ebene. Auf dieser Ebene werden die spezifische Beziehung von Reiz und Subjekt motivbezogen eingeschätzt und adaptive Handlungsbereitschaften ausgelöst. Diese Einschätzungsmuster (Appraisals) sind das Produkt der individuellen Lerngeschichte, die abstrakte Repräsentationen gelernter Reaktionen auf spezifische Reizmuster darstellen (Levental u. Scherer 1987). Auf dieser Ebene ist vor allem Lernen durch klassisches und operantes Konditionieren wirksam. Manche Personen haben z. B. eine Vorliebe für sauren Grapefruitsaft oder für besonders scharf gewürzte Speisen entwickelt. Doch auch diese zweite Ebene ist noch nicht hinreichend, um den emotionalen Prozess vollständig abzubilden. Auf der schemabasierten Ebene baut sich sukzessive eine weitere Regulationsebene auf, die konzeptbasiert ist. Sie umfasst propositional organisierte Wissensstrukturen über Emotionen sowie Mechanismen und Prozeduren, wie man dieses Wissen intentional einsetzen kann, um seine Emotionen beeinflussen und regulieren zu können (. Abb. 2.2 s. S. 18). In Bezug auf Ekel bedeutet das, die eigenen Nahrungsvorlieben und -abneigungen zu kennen, zu wissen, wie sich Ekel
. Tabelle 2.1. Regulationsebenen der Appraisalprozesse nach Leventhal und Scherer. (Aus Leventhal u. Scherer 1987, S. 17, übersetzt von M. Holodynski) Neuheit
Angenehmheit
Ziel/Bedürfnisdienlichkeit
Copingpotenzial
Norm/Selbstkompatibilität
Konzeptuelle Ebene
Erwartungen: Ursache und Wirkung, Wahrscheinlichkeitsschätzung
Erinnerte, antizipierte oder abgeleitete positive bzw. negative Bewertungen
Bewusste Ziele, Pläne
Fähigkeit zum Problemlösen
Selbstideal, moralische Bewertung
Schemaebene
Vertrautheit: Schemapassung
Erlernte Präferenzen/Aversionen
Erworbene Bedürfnisse, Motive
Körperschema
Selbstschema, soziale Schemata
Sensomotorische Ebene
Plötzliche, intensive Stimulation
Basale Bedürfnisse
Verfügbare Energie
(Empathische Adaptation?)
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
anfühlt, und Vorkehrungen treffen zu können, um intensiven Ekel nicht wirklich erleben zu müssen. Zu einer vollständigen Beschreibung des emotionalen Prozesses sind demnach die sensomotorische, schema- und konzeptbasierte Regulationsebene und deren komplexe Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Ihr jeweiliger Differenzierungsgrad ist ein Produkt der Ontogenese.
Emotionsregulation
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Leventhal und Scherer (1987) haben ihr Drei-Ebenen-Modell vor allem hinsichtlich der Einschätzungsprozesse auf den unterschiedlichen Ebenen spezifiziert. Was jedoch fehlt, ist eine differenzierte Betrachtung der Bewältigungshandlungen, die auf die emotionale Handlungsbereitschaft folgen. Bislang wurde angenommen, dass eine Emotion eine geeignete Bewältigungshandlung initiiert und die Ausführung dieser Handlung die Person-UmweltBeziehung in motivdienlicher Weise verändert. Lazarus und Folkman (1984) haben eine grundlegende Unterscheidung der Bewältigungshandlungen vorgenommen: Eine Bewältigungshandlung kann auf den Kontext gerichtet sein und ihn in motivdienlicher Weise modifizieren. > Beispiel So kann der Ärger über eine unaufmerksame Bedienung im Restaurant zu einer Beschwerde führen, in der Hoffnung, dass sich die Bedienung bessert.
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Eine Bewältigungshandlung kann aber auch auf die eigene Emotion gerichtet sein und die Bewertungsprozesse modifizieren.
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> Beispiel
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Dann würde man im genannten Beispiel seinen Ärger über die unaufmerksame Bedienung dahingehend umdeuten, dass die Bedienung sicherlich einen anstrengenden Tag hinter sich hat, worauf man Rücksicht nehmen sollte.
Die Folge einer solchen Umdeutung wäre, dass der Ärger sich in Mitgefühl verwandelt und sich auf diese Weise die Qualität der Emotion verändert, ohne dass sich an den situativen Bedingungen etwas geändert hätte. Die erste Bewältigungsform nennen
Lazarus und Folkman (1984) problembezogenes, letztere emotionsbezogenes Coping (. Abb. 2.2). Die Beobachtung, dass die Bewältigungshandlung auch auf die Emotion selbst Einfluss nehmen kann – Lazarus und Folkman (1984) sprechen von »reappraisals« – bedeutet, dass Emotionen nicht nur die Handlungen des Individuums regulieren, sondern auch umgekehrt Emotionen durch die Handlungen des Individuums reguliert werden können. Diese Rückkopplungsmöglichkeit zwischen Bewältigungshandlung und Emotion zeigt den interdependenten Charakter von Emotionen und Handlungen (Campos et al. 1983). Emotionsregulation umfasst alle Prozesse, die bei der Herstellung, Aufrechterhaltung und Modulierung von emotionalem Geschehen beteiligt sind (Bridges u. Grolnick 1995). In der entwicklungspsychologischen Emotionsforschung ist dieser Aspekt unter dem Stichwort »Entwicklung der Emotionsregulation« erst in den 90er Jahren zum Gegenstand intensiver Forschung geworden (vgl. Bridges u. Grolnick, 1995; Campos et al. 1989; Garber u. Dodge 1991; Thompson 1990, 1994).
Hierarchisierung von Emotionen Mit dem Gebrauch von Regulationsstrategien kann sich im Entwicklungsverlauf eine neue Qualität der Tätigkeitsregulation entwickeln: Sie versetzt das Individuum in die Lage, nicht mehr nur seinen Emotionen und den damit verbundenen Handlungsbereitschaften zu folgen, sondern selbst aktiv Einfluss auf die Wirkung der eigenen Emotionen zu nehmen und sie hierarchisieren zu können.
> Beispiel So wird man ein Verwandtschaftstreffen, bei dem nur »langweilige« Personen kommen, mit denen man sich nichts zu erzählen hat, dennoch besuchen und seine Langeweile nicht zum Ausdruck kommen lassen, weil man seine Eltern, die sich auf das Treffen freuen, nicht vor den Kopf stoßen möchte. Das Mit- und Pflichtgefühl den Eltern gegenüber obsiegt über die Langeweile. Allerdings ist die Strategie, seine Langeweile nur zu unterdrücken, nur eine suboptimale Strategie, da die Langeweile als Gefühl bestehen bleibt. Emotional angenehmer ist eine Strategie, das Ereignis so für sich umzudeuten, dass sich sogar positive Emotionen einstellen können.
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2.2 · Funktionalistisches Emotionsparadigma
Diese Fähigkeit, seine Emotionen nach Maßgabe des Kontextes und der eigenen Motive willentlich beeinflussen zu können, unterscheidet kindliche von erwachsenen Reaktionen. Ein Grundschulkind mag die gleichen Emotionen haben wie als Vorschulkind, aber die Tatsache, dass es jetzt seine Emotionen beeinflussen kann, macht es reifer und flexibler in seiner Handlungsregulation.
Klassifizierung von Regulationsstrategien Ist die Existenz solcher Regulationsstrategien eine unbestrittene Tatsache, so bleibt unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive die Frage zu klären, welche Regulationsstrategien zu einer solchen Umzentrierung der Tätigkeitsregulation befähigen und durch welche Mechanismen sie im Verlauf der Ontogenese entstehen. Es gibt in der Literatur zur Entwicklung der Emotionsregulation eine Reihe von Klassifikationsversuchen. So unterscheidet u. a. Thompson (1990) sieben Strategieklassen: 5 Lenkung der Aufmerksamkeit, 5 zentralnervöse Erregungs- und Hemmungsprozesse, 5 (Um-)Deutung emotionaler Anlässe, 5 Deutung und Beeinflussung internaler Erregungsprozesse, 5 Zugang zu externen Bewältigungsressourcen, 5 antizipierte Auswahl von Kontexten und 5 Auswahl von Reaktionsalternativen. Bridges und Grolnick (1995) unterscheiden vier Strategieklassen: 5 Aufmerksamkeitsregulation, 5 Selbstberuhigungsstrategien, 5 interaktive Regulationsstrategien und 5 symbolische bzw. sprachliche Strategien. Mittlerweile gibt es eine breite Forschung, in welchem Alter Kinder welche Strategien in der Regel erlernen und einsetzen, wobei es große interindividuelle Unterschiede gibt (vgl. Denham 1998; Eisenberg u. Fabes 1992; Friedlmeier 1999a; Murphy et al. 1999).
2
2.2.6 Schlussfolgerungen für einen
integrativen Theorieansatz Die Ausdifferenzierung der emotionalen Regulationsebenen sowie die Berücksichtigung der Emotionsregulation als Komponente emotionaler Entwicklung liefern wichtige Grundlagen für eine Theorie der Emotionsentwicklung, die auch qualitative Veränderungen beinhaltet und konzeptualisieren kann. Zugleich halten wir es aber für erforderlich, die bislang vorgestellten Konzepte zu modifizieren: 1. In dem von Leventhal und Scherer (1987) vorgeschlagenen Modell der Regulationsebenen werden symbolische Prozesse, die die Aneignung kultureller Bedeutungssysteme möglich machen, erst auf der konzeptbasierten Ebene eingeführt. Es spricht aber einiges dafür, dass diese symbolische Vermittlung bereits auf der schemabasierten Ebene wirksam ist. Denn mit dem Beginn des Spracherwerbs werden den wahrgenommenen Dingen und Sachverhalten nicht einfach Worte, sondern eine an das Wort geknüpfte, kulturell geschaffene Bedeutung zugeschrieben. Diese kategoriale Bedeutung strukturiert und schematisiert die Wahrnehmung und die Interpretation des Wahrgenommenen, womit sie auch die Einschätzungsprozesse (Appraisals) vorstrukturiert. Darauf ist gerade in kokonstruktivistisch orientierten Emotionstheorien hingewiesen worden (vgl. Harré 1986a; Lewis u. Michalson 1982). > Beispiel Die Abhängigkeit der Appraisalprozesse von kulturell vermittelten Bedeutungssystemen sei an einem Beispiel verdeutlicht (vgl. Averill u. Nunley 1992): In westlichen Kulturen ist das Bedeutungssystem »Liebe zwischen gegengeschlechtlichen Personen« im Wesentlichen durch die Vorstellung der romantischen Liebe geprägt, die u. a. in unzähligen Hollywoodfilmen als Liebesideal den Zuschauern »vorgelebt« wird. Dazu gehört, dass es nur eine Person gibt, in die man verliebt sein kann, dass das Verlieben plötzlich und unwillkürlich geschieht, die erotische Anziehung im Mittelpunkt steht, man dabei intensive »Schmetterlinge« im Bauch fühlen muss, dass sie kei-
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
ne Statusgrenzen kennt etc. Übernimmt man als Jugendlicher und Erwachsener dieses kulturelle Bedeutungssystem, wird man nach Personen Ausschau halten, die genau solche Gefühle auslösen; dagegen Personen, die andere Formen der gegenseitigen Attraktivität und Zuneigung auslösen, gar nicht erst als Liebespartner in Betracht ziehen. Auch wird man eine romantische Liebesbeziehung dann wieder abbrechen wollen, wenn das Verliebtheitsgefühl verflogen ist. Einen ganz anderen Inhalt hat demgegenüber die Liebesvorstellung in solchen Kulturen, in denen die Paare durch ihre Eltern verheiratet werden. Hier soll sich die Liebe darauf gründen, dass die Personen vom Status und Charakter zueinander passen, dass dies von den Eltern arrangiert wird, dass die Liebe erst mit der Zeit wächst und das verheiratete Paar (im besten Fall) erst durch das Zusammenleben eine emotionale und sexuelle Zuneigung zueinander aufbaut. Anflüge spontaner Verliebtheit zwischen Jugendlichen werden als seelische Verirrungen gebrandmarkt (vgl. RöttgerRössler 2002). Liebesfilme aus Bollywood, dem indischen Pendant zum amerikanischen Hollywood, leben dieses statusbezogene Liebesideal den Zuschauern vor.
2. Des Weiteren lassen sich die Regulationsmöglichkeiten, die sich aus einer solchen hierarchischen Gliederung des individuellen Tätigkeitssystems ergeben, weiter präzisieren: Die konzeptbasierte Ebene umfasst nicht nur deklaratives Wissen, sondern insbesondere auch prozedurales Wissen, wie man in den emotionalen Prozess eingreifen kann. Dieses prozedurale Wissen beinhaltet auch symbolvermittelte Regulationsstrategien. Es kann gezielt dazu genutzt werden, Emotionen nach Maßgabe bewusster Zielvorgaben zu beeinflussen und damit die Handlungsregulation zu optimieren. Diese Aspekte werden in der aktuellen Diskussion unter dem Stichwort »emotionale Intelligenz« bzw. emotionale Kompetenz thematisiert (vgl. Saarni 1999; Salovey u. Sluyter 1997; von Salisch 2002).
> Beispiel Kleinkinder wollen in der Regel ihre Bedürfnisse hier und jetzt erfüllt bekommen, was die Pläne ihrer Bezugspersonen durchkreuzen und entsprechend Ärger bei ihnen auslösen kann. Zum Beispiel greift ein Kind im Supermarkt einfach nach den Süßigkeiten an der Kasse und will sie essen. Drückt der Vater seinen Ärger dem Kind gegenüber aus, löst das beim Kind ebenfalls Ärger aus, und der Konflikt kann eskalieren. Will der Vater das verhindern und seinen Ärger regulieren, kann man sich z. B. in die Rolle des Kindes hineinversetzen und dabei feststellen, dass das Kind gar nicht anders kann, als die Süßigkeiten essen zu wollen. Durch dieses Reappraisal verwandelt sich der Ärger des Vaters in Mitgefühl, was ihm den Einsatz z. B. von Ablenkungs- oder Beruhigungsstrategien ermöglicht. Das Wissen um diese Zusammenhänge kann den Vater dazu führen, solche Konflikte vorherzusehen und rechtzeitig entsprechende Vorbeugemaßnahmen zu ergreifen.
3. Für die Klassifikation von Regulationsstrategien halten wir eine Einteilung, die der Funktionalität der Strategien für die Emotionsregulation und ihrer ontogenetischen Entstehung stärker Rechnung trägt, für sinnvoller. Wir werden dies in 7 Abschn. 3.4.4 näher ausführen. 4. Um den vierten Punkt zu erläutern, müssen wir etwas weiter ausholen: Funktionalistischen Theorien ist die Auffassung gemeinsam, dass im Laufe der Ontogenese neue Emotionsqualitäten und neue Formen der Emotionsregulation entstehen. Es sind eine Reihe von Theorien vorgelegt worden, die den Entwicklungsprozess beschreiben sollen, wie sich Emotionen ausdifferenzieren (vgl. u. a. Bertenthal et al. 1994; Campos et al. 1996; Sroufe 1996). Dabei wird Entwicklung als ein kontinuierlicher Prozess angenommen, d. h. spätere neue Emotionsqualitäten gehen aus früheren bestehenden hervor. Im Entwicklungsverlauf müssen sich demnach Übergänge ausfindig machen lassen, bei denen sich ausgehend von bisherigen Strukturen und Prozessen etwas Neues heraus-
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2.3 · Dynamisch-systemisches Emotionsparadigma
bildet. Eine Entwicklungstheorie sollte genau diese Übergänge modellieren können. Bei näherer Betrachtung funktionalistischer Forschungsergebnisse fällt auf, dass Entwicklungsstufen und ihre Reihenfolge in der Ontogenese beschrieben werden. Es werden z. T. auch die Voraussetzungen spezifiziert, ab wann eine neue Entwicklungsstufe erklommen werden kann und ein allgemeiner Lernmechanismus angegeben, wie sich der Übergang vollzieht. Was jedoch fehlt, sind Modelle, die den Prozess, die Veränderung von einer Qualität in eine andere, beschreiben können; die genau das beschreiben, was im Übergang von der einen zur anderen Stufe abläuft. Wie kann aus Altem Neues entstehen, wenn das Neue nicht schon existent ist? Mit der fehlenden Modellierung des Entwicklungsprozesses ist eine zweite Leerstelle funktionalistischer Theorien verbunden: Die Forschung beschreibt Entwicklungsstufen und konzentriert sich vor allem auf das, was allen Kindern der entsprechenden Stufe gemeinsam sein soll. Die Theorien beschreiben das Allgemeine, während das Einzelne, die individuelle Besonderheit als unwesentliche Variation des Allgemeinen angesehen wird. Aber das Allgemeine zeigt sich stets in einer individuellen Besonderheit, jeder hat seine persönliche Geschichte, die ihn zur einmaligen Persönlichkeit macht. Diese Individualisierung, die sich in der Ontogenese vollzieht, wird nicht hinreichend berücksichtigt. Beide Leerstellen, die Modellierung der Übergänge zwischen Entwicklungsstufen und das Problem der Individualisierung, das Verhältnis zwischen allgemeinen Entwicklungsschritten und den individuellen Konkretisierungen, sind insbesondere im dynamisch-systemischen Emotionsparadigma aufgegriffen worden. Dies ist ein Paradigma, das durch seine metatheoretischen Grundlagen wie geschaffen für die Ausfüllung dieser Leerstellen zu sein scheint.
2.3
2
Dynamisch-systemisches Emotionsparadigma: Emotion als evolvierendes System
Das dynamisch-systemische Paradigma ist ein disziplinenübergreifendes Paradigma, das zu erklären sucht, wie sich Systeme entwickeln (Haken 1977; Kauffman 1993; Prigogine u. Stengers 1984). Dabei wird angenommen, dass sich aus dem z. T. zufallsbedingten und vor allem rekursiven Zusammenwirken der zahlreichen Systemelemente eine kohärente Systemstruktur aufbaut und dieser selbstorganisierende Prozess im Laufe der Entwicklung weitere komplexere Strukturen entstehen lässt. Ihren Ursprung hat dieses Paradigma nicht in der Psychologie, sondern in solchen Naturwissenschaften, in denen die Dynamik komplexer Systeme erforscht wird, wie z. B. in der Meteorologie die Beschreibung des chaotischen Wetterverlaufs, in der Physik die Beschreibung turbulenter Strömungen oder in der Biologie die Entstehung lebender Systeme. Das Paradigma soll sich aber auf alle dynamischen Systeme anwenden lassen. Es war daher nur eine Frage der Zeit, dass es auch auf das Emotionssystem übertragen wurde. Denn eine Emotion lässt sich ebenfalls als ein dynamisches System betrachten, das aus der Wechselwirkung einer Vielzahl von Komponenten besteht und im Laufe seiner Entwicklung neue Ordnungsstrukturen hervorbringt (vgl. Lewis u. Granic 2000).
2.3.1 Prämissen Prinzipien der Selbstorganisation Lewis (2000) fasst die allgemeinen Prinzipien der Selbstorganisation wie folgt zusammen: Systeme bestehen auf mikroskopischer Ebene aus vielen einzelnen Elementen, die miteinander in Wechselwirkung stehen, d. h. der Output des einen Elements ist der Input des anderen und umgekehrt, so dass wechselseitige Aufschaukelungs- bzw. Abschwächungsprozesse in Gang gesetzt werden. Das Resultat dieser unzähligen rekursiven Wechselwirkungen ist, dass auf der makroskopischen Systemebene eine Ordnungsstruktur entsteht, die auf die mikroskopische Ebene zurückwirkt, indem sie die Wechselwirkungen der Elemente in strukturerhal-
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
tender Weise kanalisiert. Diese sich selbst organisierende Ordnung wird mit dem Begriff »Selbstorganisation« belegt. Attraktoren als stabile Systemzustände. Das Produkt dieser zirkulären Kausalität zwischen der Mikro- und Makroebene ist ein stabiler Systemzustand, der Attraktor genannt wird. Die Ordnungsstruktur auf der Makroebene stabilisiert sich selbst. Wird das System durch Einwirkung von außen gestört, bewegt es sich mehr oder minder zügig durch die Kopplung der Systemelemente wieder auf den Attraktor zu. Lebende Systeme haben in der Regel viele koexistierende Attraktoren und kennzeichnen sich durch Multistabilität. Phasenübergänge zwischen Systemzuständen.
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Selbstorganisierende Systeme werden im Laufe der Zeit geordneter und diese Geordnetheit entwickelt sich spontan, d. h. ohne Programmierung oder Anweisung. Die Geordnetheit ist auf eine geringe Anzahl stabiler Zustände begrenzt. Daher erreicht das System immer wieder Schwellen der Instabilität auf dem Weg von einem geordneten Muster zum nächsten. Dies heißt, dass selbstorganisierende Systeme sich weniger graduell oder linear verändern, sondern eher sprunghaft zu neuen geordneten Mustern übergehen. Diese Sprünge, die als Phasenübergänge bezeichnet werden, tauchen dann auf, wenn das System zusammenbricht, wenn die Sensitivität für Störungen anwächst und neue Muster der Organisation sich schnell selbst verstärken.
lungszeitpunkt anfälliger für Störungen als zu späteren Zeitpunkten. Dieses Axiom wird als »sensitive dependence on initial conditions« (Lewis, 2000, p. 39) bezeichnet. Zunehmende Systemkomplexität. Selbstorganisierende Systeme werden komplexer. Ihre zunehmende Geordnetheit ermöglicht ihnen eine kompliziertere Abstimmung zwischen den wechselwirkenden Elementen und Prozessen.
Emotionspsychologische Theorien auf dynamisch-systemischer Grundlage Es gibt mittlerweile eine Reihe an emotionspsychologischen Theorien, die eine dynamisch-systemische Perspektive zugrunde legen. In dem Buch von Lewis und Granic (2000) ist ein erster Überblick dokumentiert. Darin sind sowohl allgemeinpsychologisch orientierte Ansätze, die auf die Aktualgenese einer emotionalen Episode fokussieren, als auch entwicklungspychologische Ansätze, die sich mit dem ontogenetischen Aufbau neuer Emotionsstrukturen befassen, beschrieben. Trotz gemeinsamer metatheoretischer Grundlagen unterscheiden sich die Konzeptualisierungen des emotionalen Systems der verschiedenen Theorien deutlich:
Entwicklungsmodell der EmotionsKognitions-Kopplung
Selbstorganisierende Systeme werden deterministischer; sie beginnen mit vielen Freiheitsgraden und werden im Laufe der Entwicklung spezifischer mit weniger Freiheitsgraden. Die Ergebnisse eines Wachstumsprozesses begrenzen die Bedingungen für weiteres Wachstum. Es tritt somit fortschreitende Beschränkung auf, weil jeder Knoten einer konvergierenden Ordnungsstruktur die Möglichkeiten für den nächsten Zustand einschränkt und spätere Veränderungen mit der Geordnetheit, die bereits zugrunde liegt, kompatibel sein müssen.
Lewis und Douglas (1998) gehen von einem Basisemotionsansatz aus, den sie um eine dynamisch-systemische Perspektive erweitern. Emotionen werden als modulare, angeborene Systeme angesehen: 1. Sie beinhalten eine spezifische Gefühlsqualität; 2. sie sind physiologisch und phänomenologisch über Individuen und Kulturen ähnlich; 3. sie werden durch spezifische Anlässe, die mit den Zielen des Organismus verbunden sind, aufgrund von Wahrnehmung und kognitiven Aktivitäten, die mit diesen Situationen korrespondieren, ausgelöst und 4. sie rufen eine bestimmte Reaktionsklasse auf diese Situationen hervor und erleichtern kognitive Aktivitäten, die diese Reaktionen unterstützen.
Selbstorganisierende Systeme sind zu einem frühen Entwick-
Emotion und Kognition werden als getrennte modulare Systeme angesehen, die im Laufe der Onto-
Zunehmende Determinierung.
Abnehmende Störungsanfälligkeit.
2.3 · Dynamisch-systemisches Emotionsparadigma
genese in fortlaufende, sich selbst organisierende Wechselwirkungen treten. Emotionen fördern die Kopplung konzeptueller Elemente, insbesondere deren Integration in größere Einheiten, die semantisch bedeutungsvoll sind. In Folge dieser unablässigen Selbstorganisationsprozesse bilden sich stabile bedeutungshaltige Interpretationsmuster situativer Gegebenheiten, sog. emotionale Interpretationen aus, die zu Attraktoren werden. Zur Unterstützung der theoretischen Annahmen dieser Emotion-Kognition-Kopplungen werden Übereinstimmungen bzw. Analogien mit neurophysiologischen Befunden herangezogen (Damasio 1994; Freeman 1995; Harkness u. Tucker 2000; Schore 1997). Dieser Ansatz soll zwei Sachverhalte erklären, die sich mit einem strukturalistischen Basisemotionsansatz nicht hinreichend fassen lassen und auch über den funktionalistischen Ansatz hinausweisen: 1. die Entwicklung persönlichkeitsspezifischer Muster emotionaler Reaktionen und 2. die kumulative Wirkung der einzelnen Emotionsepisoden auf die weitere Entwicklung. Um Entwicklung erklären zu können, unterscheidet Lewis (2000) drei Zeitskalen emotionaler Selbstorganisation: 5 Die mikrogenetische Entfaltung einer Emotionsepisode erfolgt innerhalb von Sekunden und Minuten. 5 Der mesogenetische Verlauf von Stimmungen umfasst mehrere Stunden oder Tage. Stimmungen entstehen dadurch, dass bestimmte Attraktoren verstärkt werden und andere abgeschwächt. Als mögliche Ursache wird die fehlende Umsetzung einer Emotion in Handlung angesehen; der Zustand dauert an und ist oftmals der Person selbst nicht bewusst. Auch hierfür gibt es neurophysiologische Befunde (Freeman 1995). 5 Die dritte Zeitskala ist die makrogenetische Entwicklung der Persönlichkeit. Sie vollzieht sich in größeren Zeiträumen (Monate und Jahre) und ist durch die Kristallisierung bestimmter Attraktoren charakterisiert, die sich durch wiederholte emotionale Erfahrungen und Stimmungen herausbilden (Harkness u. Tucker 2000).
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2
Aufgrund der dynamischen Wechselwirkung zwischen Zielen, Plänen und emotionalen Interpretationen ist die Emotionsentwicklung zwar nicht vorhersehbar, aber es lassen sich dennoch bestimmte Phasenverläufe bestimmen, wie Lewis und Douglas (1998) am Beispiel der Abwehr negativer emotionaler Zustände aufzeigen.
Systemkomponentenmodell der Emotionsentwicklung Mascolo, Harkins und Harakal (2000) konzeptualisieren in ihrem Systemkomponentenmodell (»component systems approach«) der Emotionsentwicklung im Unterschied zu Lewis ein noch offeneres Entwicklungsmodell. Drei Grundannahmen bilden das Kernstück ihrer Theorie (. Abb. 2.3): 1. Emotionale Zustände, die sich auf eine ganze emotionale Episode beziehen, und emotionale Erfahrungen, die sich auf die phänomenalen Aspekte eines emotionalen Zustands beziehen, setzen sich aus multiplen Komponentenprozessen zusammen. Dazu zählen sie Appraisals als motivrelevante Interpretationen, affektauslösende Systeme wie zentrales und autonomes Nervensystem und Körperreaktionen, die die Gefühlstönung erzeugen, und das offene Handlungssystem, das sich aus unwillentlichen mimischen und vokalen Reaktionen sowie willentlichen Handlungen zusammensetzt. 2. Emotionale Erfahrungen entwickeln sich durch wechselseitige Regulation der Komponentensysteme über die Zeit und in spezifischen sozialen Kontexten. 3. Komponentensysteme sind kontextsensitiv, d. h. sie passen sich nicht nur untereinander an, sondern passen sich auch den kontinuierlichen Veränderungen im sozialen Kontext an. As such, emotional experiences self-organize ... into a series of more or less stable patterns or attractors that yield a large number of minor variations (Mascolo et al. 2000, p. 127). Daher gibt es keinen einheitlichen Plan für die Organisation einer Klasse von Emotionen, und keine einzelne Komponente ist für die Genese und die Herstellung der Emotion primär.
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
1
Gefühl
Emotion Selbst
Autonomes NS
2
Zentrales NS Körperprozesse
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Kontext
Appraisal
Offenes Verhalten
Repräsentational Anlass
Sens.-Perzeptiv Motivational
Kontext
Emotion Anderer
Handlung
Gefühl Autonomes NS
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Zentrales NS Körperprozesse
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Ausdruck
Offenes Verhalten Ausdruck
11 12
Appraisal Repräsentational Sens.-Perzeptiv
Handlung
Motivational
13
. Abb. 2.3. Dynamisch-systemisches Emotionsmodell von Mascolo et al. (2000)
14
Ein ähnlich offenes Entwicklungsmodell vertreten auch Fogel, Nwokah, Dedo et al. (1992). Im Unterschied zu Mascolo et al. (2000) fokussieren sie noch stärker auf den sozialen Kontext und sprechen daher auch von einem sozialen Prozessmodell der Emotionen (»social process theory of emotion«):
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Emotions are ... socially constructed, dynamically created out of the interaction between contextual variables and component synergies, without the benefit of a central executive control agent (Dickson et al. 1998, p. 256). Dabei fokussieren Dickson et al. insbesondere die emotionale Entwicklung im ersten Lebensjahr innerhalb der Bezugsperson-Kind-Dyade.
2.3.2 Empirische Befunde Die dynamisch-systemische Perspektive fokussiert auf die Modellierung von Übergängen, sei es aktualgenetisch der Verlauf einer Emotionsepisode oder ontogenetisch die Entstehung neuer Emotionsqualitäten. Für Letztere wären einzelne Systeme, z. B. eine Bezugsperson-Kind-Dyade, über viele Messzeitpunkte wiederholt zu untersuchen, um zu zeigen, dass es einerseits Phasen mit einer sehr stabilen Struktur gibt, bei denen Störungen von außen immer wieder auf etablierte Attraktoren zurückreguliert werden, sowie Phasen, bei denen solche Störungen zu chaotischen Reaktionen des Systems führen. Bei Letzteren würde sich das System in den Phasenübergang hineinbewegen, und es wäre zu zeigen, wie sich aus diesem chaotischen Verhalten
2.3 · Dynamisch-systemisches Emotionsparadigma
eine neue Struktur stabilisiert. Diese Perspektive erfordert eine neue Methodologie, wie z. B. Zeitreihenanalysen mit nonlinearer Auswertungstechnik. Es gibt inzwischen eine Reihe an empirischen Studien zur Entwicklung von Emotionen wie z. B. von Lewis und Douglas (1998) zur Emotionsregulation zwischen Mutter und Säugling während einer Trennungsepisode, von Mascolo und Griffin (1998b) zur Ärgerentwicklung, von Mascolo und Harkins (1998) zur Stolzentwicklung und von Dickson, Fogel und Messinger (1998) zur Entwicklung des Lächelns im ersten Lebensjahr. Diese Studien bedienten sich allerdings noch weitgehend eines linear-statistischen Methodenrepertoires, wobei jedoch die Analyse individueller Verläufe im Vordergrund stand.
2.3.3 Diskussion Das Ziel einer dynamisch-systemischen Perspektive ist die Beschreibung und Erklärung, wie aus vorhandenen Systemstrukturen neue entstehen können. Auf einer metatheoretischen Ebene ist ein begriffliches Werkzeug vorhanden, das die Entstehung von neuen Systemstrukturen und -eigenschaften sowie die Individualisierung der Systeme im Laufe ihrer Entwicklung beschreiben kann. Ihre Anwendung auf den Gegenstandsbereich der emotionalen Entwicklung steckt jedoch noch in den Anfängen. Im Wesentlichen lassen sich zwei kritische Anmerkungen machen:
Eine terminologische Reformulierung bekannter Begrifflichkeiten? Die Anwendung der dynamisch-systemischen Begrifflichkeiten zur Beschreibung der emotionalen Entwicklung führt zunächst nur zu einer Reformulierung bekannter Sachverhalte, wie Lewis und Douglas (1998, p. 162) selbst einräumen. Die psychologischen Begrifflichkeiten, die z. B. Lewis (2000) heranzieht, sind im Wesentlichen bestehenden Theorien entnommen und nur marginal umformuliert. Das »Neue« besteht lediglich darin, diese bekannten psychologischen Begrifflichkeiten ihres gegenstandsspezifischen Inhalts zu entkleiden und den metatheoretischen Begrifflichkeiten des dynamisch-systemischen Paradigmas zuzuordnen:
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2
Emotionen als stabile Konfigurationen von Emotionsformen werden Attraktoren genannt, so wie es Attraktoren in der Wetterkunde (Hoch- und Tiefdruckgebiete) gibt. Übergänge zwischen Entwicklungsstufen werden »phase transitions« genannt. Die Zurückführung gegenstandsspezifischer Begriffe auf allgemeinere metatheoretische Begriffe erklärt aber den Sachverhalt noch nicht.
Noch ausstehende empirische Belege Ein Nachweis über die Angemessenheit einer dynamisch-systemischen Perspektive ist auf rein begrifflicher Ebene nicht zu leisten, sondern es müssen empirische Belege angeführt werden. Zur Gewinnung von empirischen Belegen wären aktualbzw. ontogenetische Zeitreihenanalysen mit nonlinearer Auswertungstechnik und/oder Computersimulationen notwendig. Solch aufwendige Methodik wurde jedoch bislang nur vereinzelt eingesetzt (vgl. Eid 2001; Lewis u. Douglas 1998; Wehrle u. Scherer 2001). Um den selbstorganisierenden Charakter eines Systems überhaupt empirisch belegen zu können, bedarf es einer kontinuierlichen engmaschigen Beobachtung des Entwicklungsverlaufs eines Systems über einen längeren Zeitraum. Anhand solcher Daten müsste dann gezeigt werden können, dass sich die Systemstruktur unter bestimmten Randbedingungen stets auf stabile Attraktoren zubewegt, dass unter anderen Randbedingungen die Systemstruktur chaotische Züge annimmt, sich aber unter weiter veränderten Randbedingungen in neuen Attraktoren stabilisiert. Ohne empirische Belege wird das Prinzip der Selbstorganisation zu einem Deus ex Machina: Statt den Prozessverlauf präzise modellieren zu können, sei es empirisch oder mit Hilfe von Computersimulationen, wird mit dem Hinweis auf die komplexen und unzähligen Wechselwirkungen der Systemelemente die Ordnungsbildung einer wundersamen Selbstorganisation zugewiesen, die genau die Ordnungsstruktur entstehen lässt, die man zu erklären wünscht. Was aber ist genau der »Kontrollparameter«, der z. B. nach Dickson, Fogel und Messinger (1998) die verschiedenen Formen des Lächelns beim Säugling entstehen lässt? Wie genau entstehen die unterschiedlichen Ärgerformen, die Mascolo und Griffin (1998b) anhand ihrer Clusteranalyse der Ärgerformen eines Kindes unter-
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
schieden haben? Wie genau entstehen nach Lewis (2000) aus einer rekursiven Aufeinanderfolge einzelner Emotionsepisoden länger andauernde Stimmungen? Was genau ist der oder sind die Kontrollparameter in der Ausbildung neuer Emotionsqualitäten? Im Moment sind im Rahmen dynamischsystemischer Ansätze nur abgrenzbare Entwicklungsstufen in der Entwicklung einzelner Emotionen konzeptualisiert worden. Soweit sind allerdings andere Ansätze auch ohne eine dynamischsystemische Begrifflichkeit gekommen (vgl. Barrett u. Campos 1987; Campos et al. 1996; Sroufe 1996). Das eigentlich Neue, die Modellierung von Übergängen, steht noch aus.
7 2.3.4 Schlussfolgerungen für einen
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integrativen Theorieansatz
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Dynamisch-systemische Ansätze gehen davon aus, dass sich emotionale Entwicklung auf der Grundlage des dynamischen Zusammenspiels einer Vielzahl von Systemkomponenten vollzieht, die sowohl interne psychische Prozesse als auch die Wechselwirkung mit dem sozialen Kontext umfassen. Dies ist die Basis für eine Individualisierung der emotionalen Reaktionen in der Ontogenese. Insbesondere Prozesse der Habituierung bzw. der Kristallisation aufgrund wiederholter Erfahrungen sind dabei als wesentlich anzusehen. Es ist allerdings fraglich, ob ein derart hoher Auflösungsgrad der Komponenten und deren komplexe Wechselwirkungen für eine Theorie emotionaler Entwicklung notwendig ist. Innerhalb der dynamisch-systemischen Ansätze sind u. E. zwei wesentliche Aspekte noch genauer zu analysieren: 1. Die bisherigen Ansätze bestimmen die Kontrollparameter zu ungenau, unter denen sich das System verändern soll. Selbst wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch ein artspezifisches Entwicklungspotenzial mitbringt, um diese differenzierte Emotionalität auszubilden, so erfolgt die Ausbildung neuartiger Systemstrukturen nicht von selbst, sondern nur unter bestimmten Randbedingungen. Zuweilen lässt der Rekurs auf die Selbstorganisation diese Voraussetzung in Vergessenheit geraten (vgl. aber
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Lewis u. Granic 1999). Angewendet auf die Emotionsentwicklung hieße das: a. Was genau ist der oder sind die Kontrollparameter in der Ausbildung neuer Emotionsqualitäten? b. Welche Ausprägungen müssen diese Kontrollparameter annehmen, damit sich eine neue Emotionsqualität herausbildet, also z. B. aus Freude am Effekt Stolz über einen Erfolg wird oder aus Enttäuschung oder Ärger über einen misslungenen Effekt Beschämung über einen Misserfolg? c. Unter welchen Voraussetzungen ändert sich überhaupt der Kontrollparameter, also die Randbedingungen des Systems? 2. Die bisherigen Ansätze bestimmen die Potenziale des Systems »Mensch« nur unzureichend, denn die Entwicklungskomponenten, die dem System »Mensch« zugeschrieben werden, existieren bereits bei Primaten. Aber nicht jedes System produziert aus sich selbst heraus neue Ordnungsstrukturen. Dazu muss es aufgrund seines artspezifischen Entwicklungspotenzials in der Lage sein. So ist es in der Emotionsforschung zunehmend Konsens, auch den Säugetieren – und erst recht unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, – Emotionen zuzusprechen, und zwar mit all den genannten Komponenten wie Appraisalprozessen und Handlungsbereitschaft in Form von Erleben, Ausdruck und physiologischen Reaktionsmustern (Bard 1998; Suomi 1984). Es ist aber offensichtlich, dass selbst Schimpansen und Bonobos im Unterschied zum Menschen über ein weitaus geringeres Emotionsinventar verfügen, das sich zudem in artspezifisch sehr stabilen Emotionsformen äußert, was beim Menschen gerade nicht der Fall zu sein scheint (vgl. de Waal 1996, 2000; van Lawick-Goodall 1968). Wie erklärt sich dieser gravierende Unterschied? Man wird sicherlich die Kapazität des Menschen zur symbolischen Repräsentation ins Feld führen, aber inwiefern kann genau dieser Unterschied derart große Unterschiede hervorbringen? Eine Antwort darauf erfordert eine Ausweitung der Perspektive auf den Menschen als kulturschaffendes Wesen.
2.4 · Soziokulturelles Emotionsparadigma
2.4
Soziokulturelles Paradigma: Emotion als sozial konstruierte psychische Funktion
In den bisher beschriebenen Paradigmen wurden Emotionen vorrangig aus einer intrapsychischen Perspektive betrachtet: Im strukturalistischen Paradigma fokussiert die Emotionsanalyse auf intrapersonale Prozesse, die nicht über die körperlichen Grenzen eines Individuums hinausgehen. Das funktionalistische Paradigma erweitert die Analyseeinheit, indem die Funktion von Emotionen für die Handlungsregulation einer Person betrachtet wird, beschränkt sich jedoch in erster Linie auf die Handlungen einer einzelnen Person. Dabei zeichnen sich einige entwicklungspsychologische Ansätze im Rahmen des funktionalistischen Paradigmas auch dadurch aus, dass sie den sozialen Kontext, insbesondere die Bezugsperson-Kind-Interaktion in der frühen Kindheit als wesentliches proximales Entwicklungsmerkmal betrachten (Saarni et al. 1998; Sroufe 1996). Auch die dynamisch-systemische Perspektive bezieht den sozialen Kontext mit ein (vgl. Mascolo et al. 2000), aber der Rekurs auf die Selbstorganisation lässt diese Voraussetzung oftmals in den Hintergrund treten. Die Antwort auf die Frage nach den distalen Bedingungen, die eine Erweiterung des menschlichen Tätigkeitssystems ermöglichen, ist aber nicht innerhalb dieses Verständnisses von »sozialem Kontext« zu finden. Deshalb ist es erforderlich, den Blickwinkel auf einen »soziokulturellen Kontext« zu erweitern und den Menschen als kulturschaffendes Wesen mit seinen kulturellen Errungenschaften zu betrachten.
2.4.1 Prämissen Die Einbeziehung des sozialen und kulturellen Kontextes in die Emotionsanalyse ist insbesondere im Rahmen des soziokulturellen Paradigmas vorgenommen worden. Danach werden Emotionen und ihre Regulationsformen in der zwischenmenschlichen Interaktion gemeinsam konstruiert (Gordon 1989; Harré 1986b; Lewis u. Michalson 1983; Saarni 1999). Daher spricht man auch vom kokonstruktivistischen Paradigma. Welche Gründe sprechen für diese nochmalige Perspektivenerweiterung?
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In der genetischen Ausstattung des Menschen ist ihm auch eine Fähigkeit gegeben, die auf den vorangegangenen Evolutionsstufen noch nicht verfügbar war. Gemeint ist die Fähigkeit des Menschen, Kultur zu schaffen, die Natur nach Maßgabe seiner Zwecke umzugestalten und sich dazu selbstgeschaffener Artefakte in Form von Werkzeugen und Zeichen zu bedienen, die er als kulturelles Erbe von Generation zu Generation tradiert. Das menschliche Kulturgut ist damit zu einem zweiten Erfahrungsspeicher herangewachsen, der nicht genetisch, sondern durch Lernen »vererbt« wird (Cole 1996; Donald 1993; Leontiev 1981; Valsiner 2003; Vygotsky 1931/1997; vgl. auch Lorenz 1977). Dieser Erfahrungsspeicher besteht nicht nur aus technischen Instrumenten und Handlungsverfahren, die den Austausch mit der Natur betreffen, sondern auch aus sozialen Instrumenten und Handlungsverfahren, die das Miteinander der Menschen durch ein System von Normen und Werten regeln (Matsumoto 2000). Zu diesen kulturellen Bedeutungssystemen zählen auch Erfahrungen bezüglich der Bedeutsamkeit und Wirksamkeit einzelner Emotionsformen, -funktionen und Bewältigungshandlungen und auch Regeln bezüglich ihrer kontextspezifischen Angemessenheit. Sie beziehen sich sowohl auf die Regulierung der zwischenmenschlichen Beziehungen als auch auf die intrapersonale Handlungsregulation. Diese kulturellen Bedeutungssysteme existieren zum einen als gelebte emotionale Praxis von Menschen in Form mimetisch kodierter Bedeutungssysteme wie z. B. in Konventionen, religiösen bzw. spirituellen Praktiken (vgl. Donald 1993; Raeithel 1994; 7 Kap. 3.3) und neuerdings auch in (pseudo)wissenschaftlichen Selbstregulationspraktiken. Zum anderen existieren sie in sprachlich kodiertem Wissen, seien es alltagspsychologische Weisheiten, Mythen, moralische Imperative oder neuerdings auch (pseudo)wissenschaftliche Theorien. Diese Bedeutungssysteme sind mehr oder minder zutreffende Rekonstruktionen der gelebten emotionalen Praxis. Mit ihrer Hilfe kann sich das Individuum reflexiv mit der eigenen Emotionalität auseinandersetzen, Anlässe, Wirkmechanismen und Konsequenzen erkennen und dadurch bewusst in die eigene emotionale Handlungsregulation eingreifen.
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
Die Externalität der menschlichen Entwicklung eröffnet auch der Emotionsentwicklung eine neue, eine kulturelle Dimension. Unter dieser Perspektive erscheint der kulturelle Kontext nicht mehr nur als Bedingung, an die sich die »naturgegebenen« Emotionsfunktionen und -formen anpassen. Vielmehr beinhaltet Kultur auch Vorlagen und Bedeutungsmuster, welche Emotionen anhand welcher Ausdrucksformen unterschieden werden, welche Mittel zur Regulation verfügbar und angemessen sind, die von Generation zu Generation tradiert und kumuliert werden. Der kulturelle Kontext ist die distale Bedingung, die individuelle Vielfalt und Variabilität der Emotionsformen und -funktionen ermöglicht und eine qualitativ neue Art der Emotionsregulation, nämlich eine symbolvermittelte, bereithält, die jedes Kind erst in sein persönliches Bedeutungssystem integrieren muss. > Beispiel Die Emotion Ärger wird gemeinhin als universale Emotion angesehen, die mit der individuellen Durchsetzung eigener Ziele in Zusammenhang steht. Sie signalisiert, dass die Person an ihrer Zielerreichung gehindert oder ungerecht behandelt wird und führt zur Handlungsbereitschaft, diese Hindernisse zu beseitigen (Barrett u. Campos 1987). Bei genauer Analyse stellt man allerdings fest, dass Häufigkeit, Anlass, Ausdruck und Regulation von potenziell Ärger auslösenden Situationen kulturellen Besonderheiten unterliegen, die mit den in einer Kultur vorherrschenden Selbstauffassungen zusammenhängen. In so genannten kollektivistischen Kulturen, in denen die Menschen vorwiegend eine interdependente Selbstauffassung haben wie z. B. in Japan oder China, ist das Zeigen und Fühlen von Ärger wenig erwünscht, da diese konfrontative Emotion die Harmonie der sozialen Bezugsgruppe gefährdet. Personen dieses Kulturkreises meiden eher Ärger auslösende Situationen und fokussieren nicht auf die andere Person, die die Zielbehinderung herbeigeführt haben könnte. Sie ziehen sich stattdessen schneller zurück und versuchen, ihre Ärgerreaktion abzuschwächen, indem sie sich ablenken; oder sie unterstellen dem Gegenüber erst gar nicht, absichtlich zur Zielbehinderung beigetragen zu haben, und reagieren dementsprechend
nicht mit Ärger, sondern mit Gleichmut (Miyake u. Yamazaki 1995; vgl. auch Briggs, 1970). Demgegenüber wird in sog. individualistischen Kulturen, in denen die Menschen vorwiegend eine independente Selbstauffassung haben wie z. B. in den USA, Ärger eher als angemessen und funktional eingeschätzt, da er die Entwicklung der Einzigartigkeit, der Selbstständigkeit und des Selbstausdrucks einer Person fördert. Ärger wird toleriert im Interesse der Selbstbehauptung und des Schutzes der individuellen Rechte und Freiheiten, solange er in sozial angemessener Weise ausgedrückt wird (Stearns u. Stearns 1986). Daher suchen westliche Kulturmitglieder Ärger auslösende Situationen eher auf und bleiben ärgerlich, solange dies für die Durchsetzung eigener Interessen nützlich erscheint (vgl. dazu ausführlicher 7 Kap. 5.2.3).
Eine solche Betrachtungsweise führt zu einer Perspektive, die auf den ersten Blick paradox erscheinen mag: Etwas zutiefst Persönliches und Intrapsychisches, wie es Emotionen sind, hat einen kulturellen Ursprung. Beim Menschen haben wir es offensichtlich mit dem Phänomen zu tun, dass die entwickelten Emotionsformen, -funktionen und Regulationsmechanismen ihren Ursprung nicht im biologischen Erbe des Individuums haben, aus dem sie durch Reifung hervorgehen, sondern im kulturellen Erbe, in sprachlich und mimetisch tradierten Bedeutungssystemen, aus denen sie das Kind erst in der Interaktion mit seinen Mitmenschen zu etwas Persönlichem und Intrapsychischem transformieren muss (. Abb. 2.4).
2.4.2 Empirische Befunde Averill und Nunley (1992) illustrieren in ihren kulturhistorischen Studien, dass das, was Menschen unter den jeweiligen Emotionen wie z. B. »Liebe« oder »Wut« verstehen, und wovon sie sich in ihren Handlungen leiten lassen, durch konstitutive Regeln bestimmt ist, die gesellschaftliche Ursprünge und Funktionen haben. Damit verbunden sind auch Regeln über die kulturell angemessenen Emotionsanlässe, Ausdrucksformen und Bewältigungshandlungen, die sich mit dem gesellschaftlichen Kontext wandeln. Dies zeichnen die Autoren exem-
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2.4 · Soziokulturelles Emotionsparadigma
2
Kind Aufbau kultureller Bedeutungssysteme Bedürfnisse Kontext Ausdruck Anlass
Wahrnehmen
Gefühl
Kontext Physiologische Reaktion
Erwachsener Netzwerk kultureller Bedeutungssysteme
Deuten
Bedürfnisse Kulturelle Situationsdeutungen
Emotion Ausdruck Handlung
Gefühl
Bewerten
Wahrnehmen
Physiologische Reaktion
. Abb. 2.4. Emotion in der Sichtweise des soziokulturellen Emotionsparadigmas. Kind übernimmt in der Interaktion mit Erwachsenen die emotionsrelevanten Deutungs- und Reaktionsmuster einer Kultur
plarisch an der gesellschaftshistorischen Entwicklung der konstitutiven Regeln der romantischen Liebe vom Mittelalter bis in die heutige Zeit nach. Es gibt eine Vielzahl weiterer Studien, die detailliert beschreiben, dass sich gerade im alltäglichen sozialen Umgang kulturspezifische Emotionsqualitäten unterscheiden lassen (vgl. Briggs 1970; Lutz 1986). Nur unter Einbeziehung des jeweiligen kulturellen Bedeutungskontextes lassen sie sich angemessen interpretieren, und entsprechend lassen sich sinnvolle Vorhersagen über das individuelle Handeln treffen (vgl. Harré 1986b; Harré u. Parrott 1996; Ratner 2000; Trommsdorff u. Friedlmeier 1999). Die Auswahl von Bewältigungshandlungen wird nicht automatisch durch die aktualisierte
Emotion bestimmt, sondern hängt von kulturellen Wertvorstellungen ab. So zeigten sich in verschiedenen Studien kulturspezifische Bevorzugungen unterschiedlicher Bewältigungshandlungen, die z. B. mit der kulturell variierenden Selbstauffassung der Personen zusammenhängen (z. B. Frijda et al. 1995; Kitayama u. Markus 1994). Eine wichtige Frage dabei ist, wie Kultur auf die emotionale Entwicklung einwirken kann. Dies lässt sich am Beispiel der sozialen Ängstlichkeit (Schüchternheit) illustrieren: > Beispiel Längsschnittstudien in den USA wiesen nach, dass soziale Ängstlichkeit im Vorschulalter mit frühkindlicher Verhaltenshemmung, einem biolo-
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
gisch determinierten Merkmal, in Zusammenhang steht und hohe intraindividuelle Stabilität über die Schulzeit in der Weise aufweist, dass sich diese Kinder durch geringe soziale Kontakte, geringe Selbstbehauptung und ein negatives Selbstbild auszeichnen (Kagan, Reznick & Snidman, 1987). Eine analoge Studie in China mit verhaltensgehemmten und später sozial ängstlichen Kindern wies hingegen ein völlig entgegengesetztes Entwicklungsmuster auf (Chen, Rubin & Li, 1995). Diese Kinder entwickelten ein positives Selbstbild, hatten viele soziale Kontakte und bewerteten auch ihre Beziehungen zu anderen positiv. Diese deutlichen Unterschiede lassen sich nur durch Bezugnahme auf den soziokulturellen Kontext erklären. Während westliche Erzieher (Eltern, Lehrer) aufgrund der Wertschätzung von Selbstsicherheit und Durchsetzungsfähigkeit auf das Verhalten ängstlicher Kinder negativ reagieren und soziale Ängstlichkeit als Problemverhalten ansehen, hat schüchternes Verhalten für chinesische Erzieher keine negativen Auswirkungen auf die Gruppe und wird daher positiv bewertet. Das Kind wird in seinem Verhalten von den Erziehern sogar ermutigt und als kompetent gesehen, weil es leistungsorientiert ist und schulisch erfolgreich ist. Damit gewinnt es auch die Anerkennung der Gleichaltrigen.
Diese Befunde sind ein Beispiel dafür, dass die gleichen emotionalen Aspekte in der frühen Kindheit in Abhängigkeit vom soziokulturellen Kontext völlig unterschiedliche Entwicklungspfade nehmen können. Dies erfordert die Konzeptualisierung kulturpsychologischer Theorien, welche Emotionsfunktionen und -formen und welche Bewältigungshandlungen den Mitgliedern einer Kultur überhaupt zur Verfügung stehen und welche gesellschaftliche Wertschätzung oder Geringschätzung ihnen zugesprochen wird. Damit rückt die Frage ins Zentrum, wie diese kulturspezifischen Emotionsqualitäten im Sozialisationsprozess von einer Generation auf die nächste übertragen werden. Eine Vermittlung von Mensch zu Mensch ist nur möglich, wenn sie an kommunizierbare Zeichen gebunden sind. Im Wesentlichen ist hierbei die Sprache und die durch sie
ausgedrückten Regeln, Mythen, Theorien in den Blick genommen worden und die durch Sprache geschaffenen dialogischen Bedeutungsstrukturen. Entscheidend sind die durch Sprache vermittelten Geschichten, die über einen Sachverhalt, eine Beobachtung, eine Reaktion erzählt und überliefert werden (Harré 1986b; Harré u. Parrott 1996; Heelas 1986; Wierzbicka 1999).
2.4.3 Diskussion In dem Bemühen, kulturspezifische Emotionsqualitäten zu belegen, hat sich die kokonstruktivistisch orientierte Emotionsforschung zunächst darauf konzentriert, die emotionsbezogenen Besonderheiten in den verschiedenen Kulturen zu dokumentieren. Man wollte damit die Haltlosigkeit emotionsbezogener Universalien nachweisen, wovon die strukturalistisch orientierte Emotionsforschung ausgeht. Man versuchte nachzuweisen, dass die jeweiligen begrifflichen Emotionskonzepte kulturspezifische Bedeutungen haben, die es in anderen Kulturen so nicht gibt (z. B. Goddard 1997, zum Begriff »surprise« im Englischen, Morsbach u. Tyler 1986, zum Begriff »amae« im Japanischen; Wierzbicka 1998, zum Begriff »Angst« im Deutschen). Diese Radikalität der Kontextabhängigkeit ist z. T. so weit getrieben worden, dass jegliche allgemeine Gesetzmäßigkeiten negiert und einem kulturellen Relativismus das Wort geredet wurde. Aus der Tatsache, dass die Emotionsentwicklung der Individuen kontextabhängig ist, lässt sich nicht schlussfolgern, dass sich keine Verallgemeinerungen mehr ableiten lassen. Wie bereits bei der Analyse der Eigenschaften dynamischer Systeme hervorgehoben, ist es zwar nicht möglich, das konkret-einmalige Entwicklungsergebnis in allgemeinen Kategorien zu beschreiben, weil sich dynamische Systeme in der Auseinandersetzung mit ihren Kontexten zunehmend individualisieren. Was aber an allgemeinen Aussagen möglich ist, ist eine Charakterisierung der zugrunde liegenden Entwicklungsmechanismen, die es dem Kind ermöglichen, die kulturspezifischen Ausprägungen und Besonderheiten der jeweiligen Emotionen und Bewältigungshandlungen in persönlich wirksame Emotionen und Bewältigungshandlungen zu trans-
2.4 · Soziokulturelles Emotionsparadigma
formieren und auf diese Weise seine Individualität zu entwickeln. Kulturrelativistische Ansätze beschränkten sich in der Regel darauf, die Sprache und die sprachlich vermittelten Bedeutungssysteme als Ursache für die Entstehung kultureller Unterschiede anzusehen. So hat Wierzbicka (1999) nachzuweisen versucht, dass die – für westliche Emotionsforscher so selbstverständlichen – englischsprachigen Emotionsbegriffe wie Angst, Ärger, Freude etc. nicht universale Emotionszustände bezeichnen, sondern kulturspezifische Bedeutungen beinhalten. So lassen sich diese englischsprachigen Begriffe nicht ohne weiteres in Begriffe anderer Sprachen übersetzen, z. T. fehlen vergleichbare Begriffe, z. T. haben sie andere, zusätzliche Konnotationen. Emotionale Universalien ließen sich nur dadurch bestimmen, indem man eine kulturübergreifende Metasprache (Natural Semantic Metalanguage, NSM) entwickelt, der in alle Sprachen übersetzbar ist. Dann kann man mit Hilfe eines solchen universellen Metacodes prüfen, welche emotionalen Appraisalprozesse sich damit ausdrücken lassen. Diese sind dann nach Auffassung von Wierzbicka (1999) tatsächlich universell. So naheliegend es ist, die Sprache als die Ursache für die Entstehung von kulturellen Unterschieden anzunehmen, so enthält diese Annahme doch einen Widerspruch in sich: Die sprachlichen Bedeutungssysteme müssen an etwas ansetzen, dass durch sie bezeichnet wird. Und auch die Regulationsprozesse, die vermeintlich unerwünschte Emotionen kanalisieren und erwünschte verstärken, müssen an etwas Unerwünschtem und etwas Erwünschtem ansetzen, dass nicht selbst kulturelles Produkt ist. Dies sind die Emotionsformen, die ein Mensch zeigt (s. auch: Lyon, 1995). Die Frage ist, welchen Status diese Emotionsformen haben. Die zweite Schwierigkeit hängt mit der ersten zusammen: Die sprachlich vermittelte Bedeutungszuschreibung kann erst mit dem Erlernen der Sprache ab dem zweiten Lebensjahr beginnen. Was passiert im ersten Lebensjahr und den im ersten Lebensjahr vom Kind gezeigten Emotionsformen? Sie können ja überhaupt noch gar nicht über sprachliche Vermittlungsprozesse geformt werden.
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2
2.4.4 Schlussfolgerungen für einen
integrativen Theorieansatz Gemäß der soziokulturellen Perspektive sind Emotionen keine ausschließlich personspezifischen Erfahrungen, sondern sie haben auch einen kulturellen Ursprung. Die Person transformiert im Prozess der Enkulturation die in ihrer Kultur vorgezeichneten Emotions- und Regulationsmuster zu etwas Persönlichem. Die kulturelle Variation emotionaler Bewertungen, Ausdrucksformen, Gefühle etc. ist in vielen kulturvergleichenden Studien aufgezeigt worden, ebenso allerdings auch kulturübergreifende Universalien (vgl. zusammenfassend Matsumoto 2001; Mesquita u. Frijda 1992; Mesquita et al. 1997; Ratner 1999). Emotionen haben nicht nur die Funktion einer »inneren« Passung, d. h. einer Passung zwischen Kontext und Person im Hinblick auf die aktuellen Motive und Anliegen, sondern sie erfordern auch eine »externe« Passung: Es gibt einen kulturspezifischen Erwartungshorizont, wie, wann und wo Emotionen erlebt, ausgedrückt und reguliert werden, so dass die externe Bewertung der emotionalen Reaktion einer Person in zwei verschiedenen kulturellen Kontexten im Extremfall einmal als funktional und einmal als dysfunktional angesehen wird, wie es im Beispiel der sozialen Ängstlichkeit aufgezeigt wurde (Chen et al. 1995). Studien zum Verhältnis zwischen Kultur und Emotion fokussierten meist auf Erwachsene und vernachlässigten eine entwicklungspsychologische Analyse der Genese kultureller Unterschiede (Matsumoto 2001; Mesquita et al. 1997; s. auch Friedlmeier 2005a, b; Friedlmeier & Trommsdorff 2002). Bislang ist eine Analyse der soziokulturellen Entwicklungsmechanismen, wie Emotionen kulturspezifische Formen und Funktionen annehmen können, nur in Ansätzen ausgearbeitet. Wir wollen dazu in diesem Buch ein Modell vorschlagen, das auf folgendem Gedanken basiert: Innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft wird nicht nur der sprachlichen Bezeichnung einer Emotion Bedeutungscharakter zugesprochen, sondern bereits den vorsprachlichen Ausdrucksreaktionen einer Emotion – unabhängig von ihrer sprachlich belegten Bedeutung. Damit können bereits Emotionsformen (insbesondere der Emo-
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Kapitel 2 · Paradigmen der Emotionsforschung
tionsausdruck) als kulturelle Mittler fungieren (s. Lyon 1994, 1995), und zwar als eigenständiges mimetisches Bedeutungssystem, das eine kulturelle Tradierung vor und neben jeder sprachlich vermittelten Tradierung möglich macht. > Beispiel Wenn man ein jämmerlich weinendes Kind sieht, wird man unwillkürlich den Appell verspüren, es zu trösten; wenn es vor Vergnügen quietscht, steckt es einen an, mitzulachen. Dabei ist es nicht notwendig, sich mit Worten verständigen zu können. Die Art des nonverbalen Ausdrucks legt gewisse komplementäre bzw. gleichgerichtete nonverbale Reaktionen nahe, so dass sich ein Wechselspiel an kontextbezogenen Ausdrucksreaktionen auch ohne vermittelnde Worte ergeben kann. Im Pantomimentheater ist dieses Wechselspiel in stilisierter Form kultiviert, die für den Zuschauer zweifelsfrei zu interpretieren ist. Es wäre allerdings interessant zu analysieren, inwiefern im Pantomimentheater unterschiedlicher Kulturen kulturspezifische Episoden und Ausdrucksmuster enthalten sind.
Donald (1993) nennt dies »mimetische Kultur« (vgl. auch Raeithel 1994). Diese Tradierung beginnt vom ersten Lebenstag an, da Ausdrucksreaktionen vom ersten Tag an als kommunikative Zeichen in der Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind dienen. Zu fragen ist, wie die wechselseitigen Übergänge funktionieren. Dabei ist auch im soziokulturellen Paradigma vornehmlich die Richtung betrachtet worden, wie Individuen die Regeln der Kultur übernehmen, weniger die umgekehrte Richtung, wie Individuen durch ihre Handlungen die bestehenden Regeln modifizieren und sogar neue Regeln implementieren können. Gerade für offene Gesellschaften, deren Regeln starkem Wandel unterworfen sind, ist letztere Frage interessant. Bei der Bestimmung von Entwicklungsmechanismen rückt unter der soziokulturellen Perspektive die Frage nach der Vermittlung kultureller Muster und damit die Rolle der Enkulturation und Erziehung in den Vordergrund. Bei der Suche nach den Entwicklungsmechanismen liegt ein wesentlicher Aspekt in der Analyse von Interaktionen
zwischen dem Kind und seinen Sozialisationspartnern, die sich gegenseitig, koregulativ (Fogel 1993), beeinflussen. Daher erscheint es sinnvoll, für diese Fragestellungen auf kontextualistische Theorien zurückzugreifen, die den sozialen Kontext als wesentliches Entwicklungsmerkmal einschließen, wie dies z. B. bei Sroufe (1996) oder Campos, Kermoian und Witherington et al. (1996) der Fall ist (vgl. auch Saarni et al. 1998). Wir haben die zentralen Paradigmen der Emotionsforschung kritisch analysiert und können jetzt dazu übergehen, die wesentlichen Schlussfolgerungen für einen integrativen Theorieansatz in einem eigenen Modell zusammenzuführen. Dieses Internalisierungsmodell der emotionalen Entwicklung werden wir im nächsten Kapitel vorstellen.
3 Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung 3.1
Emotion als funktionales psychisches System
3.1.1
Komponenten des Emotionssystems
3.1.2
Interaktion der Komponenten als Feedbackmodell – 44
3.1.3
Diskussion des Feedbackmodells des Gefühls – 49
3.1.4
Feedback von Ausdrucks- und Körperreaktionen und Internalisierung
– 41
– 41
– 56
3.2
Von der interpersonalen zur intrapersonalen Regulation – 58
3.3
Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen – 59
3.3.1
Was ist ein Ausdruckszeichen? (Semantik) – 60
3.3.2
Wozu dient ein Ausdruckszeichen? (Pragmatik)
3.3.3
Wie entstehen neue Ausdruckszeichen? – 68
3.3.4
Wie lassen sich Ausdruckszeichen kombinieren? (Syntax)
3.3.5
Zusammenfassung – 72
3.4
Ebenen der Regulation – 73
3.4.1
Handlungen und volitionale Handlungsregulation – 74
3.4.2
Operationen und habituelle Handlungsregulation – 76
3.4.3
Emotionen und emotionale Handlungsregulation – 76
3.4.4
»Metahandlungen« und reflexive Emotionsregulation – 77
– 64 – 70
40
Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
4
In diesem Kapitel wird ein Modell der emotionalen Entwicklung vorgestellt, das die einzelnen Schlussfolgerungen integriert, die wir im vorigen Kapitel aus der Diskussion der vier Emotionsparadigmen gezogen haben. Eine Emotion verstehen wir als ein funktionales psychisches System innerhalb des individuellen Tätigkeitssystems mit der Funktion, die Handlungen in ihren motivrelevanten Aspekten zu regulieren.
5
Emotion als funktionales psychisches System. In
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diesem Unterkapitel werden als Erstes die Regulationsfunktion sowie die systemischen Komponenten einer Emotion beschrieben, und zwar das Appraisalsystem, das motorische System, das Körperregulationssystem und das Gefühlssystem. Als Zweites stellen wir das Zusammenspiel dieser vier Komponenten in Form eines modifizierten Feedbackmodells dar. Dabei unterscheiden wir zwischen einem Ausgangszustand, bei dem das Gefühlssystem reale Feedbacks des motorischen und Körperregulationssystems verarbeitet, und einem entwickelten Zustand, bei dem das Gefühlssystem auch rein mentale Repräsentationen dieser Feedbacks verarbeiten kann. Eine zentrale Modellannahme ist, dass die mentale Verarbeitung von Körperfeedbacks im Laufe der Ontogenese aufgrund einer Internalisierung der motorischen und körperregulativen Prozesse entsteht. Daher bezeichnen wir unser Modell als Internalisierungsmodell der emotionalen Entwicklung. Als Drittes werden Argumente und empirische Belege für und wider eine solche entwicklungspsychologische Feedbackkonzeption diskutiert. Als Viertes werden die Bedingungen spezifiziert, unter denen einerseits ein Körperfeedback notwendig ist und andererseits eine Internalisierung des Körperfeedbacks möglich ist. Eine Bedingung für eine Internalisierung ist – so unsere These –, dass das reale Feedback ausschließlich eine Zeichenfunktion in der intrapersonalen Handlungsregulation annimmt. Zeichen können im Unterschied zu instrumentellen Reaktionen ihre Form ändern, ohne ihre Funktion einzubüßen; und eine intrapersonale Handlungsregulation ist im Unterschied zu einer interpersonalen Handlungsregulation auf rein mentaler Ebene möglich.
Ausdrucks- und Körperreaktionen müssen eine intrapersonale Zeichenfunktion einnehmen, um internalisiert werden zu können. In den beiden folgenden Unterkapiteln wenden wir uns der Frage zu, unter welchen Bedingungen eine solche Internalisierung im Laufe der Ontogenese möglich wird. Von der interpersonalen zur intrapersonalen Regulation. Die Ausdifferenzierung der intraper-
sonalen aus der interpersonalen Regulation halten wir für die erste zentrale Bedingung der Internalisierung (7 Kap. 3.2). Ontogenetisch primär ist die interpersonale Regulation zwischen Säugling und Bezugsperson. Darin nehmen Ausdrucksreaktionen eine zentrale Vermittlungsfunktion ein, und zwar als Ausdruckszeichen, die die interpersonale Regulation zwischen Kind und Bezugsperson vermitteln. Aus dieser interpersonalen Handlungs- und Emotionsregulation differenziert sich erst im Laufe des Vorschulalters die intrapersonale Handlungs- und Emotionsregulation aus. Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen. Wir nehmen an, dass die zweite Bedin-
gung der Internalisierung in der kulturspezifischen Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen, die auch symbolisch benutzt werden können, besteht (7 Kap. 3.3). Das heißt, fähig zu werden, mit Hilfe von Ausdruckszeichen eine Emotion zu kommunizieren, die aktuell gar nicht gefühlt wird. Ausdruckszeichen werden nicht nur über das Körperfeedback Gegenstand des subjektiven Gefühls, sondern über die soziale Interaktion auch zum Gegenstand der kulturellen Symbolbildung und Tradierung. Das vielfältige und komplexe System menschlicher Ausdruckszeichen besteht nur noch zum geringen Teil aus angeborenen Ausdrucksreaktionen. Zum überwiegenden Teil besteht es aus kulturell geschaffenen Ausdruckszeichen, die als sinnlicher Ausdruck der kulturellen Differenzierung von Emotionsqualitäten geschaffen worden sind. Über das intern gefühlte Feedback der Ausdruckszeichen und die kulturelle Differenzierung der Emotionsqualitäten hält die Kultur Einzug in die Entwicklung – und nicht erst durch die sprachliche Klassifizierung von Emotionen und ihre Einbindung in sprachliche Bedeutungssysteme.
41
3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
Die aufgeführten Entwicklungsbedingungen machen deutlich, dass Ausdruckszeichen eine herausgehobene Bedeutung für den Internalisierungsprozess bekommen. Daher werden wir uns im Wesentlichen auf die Analyse der Ausdruckszeichen beschränken und die Entwicklung der Körperreaktionen nur ansatzweise behandeln. Ebenen der Regulation. Die menschliche Tätigkeitsregulation besteht nicht nur aus der durch Emotionen vermittelten Handlungsregulation, wie wir bereits bei der Diskussion der unterschiedlichen Regulationsebenen im Rahmen des funktionalistischen Emotionsparadigmas in 7 Abschn. 2.2.5 erwähnt hatten. Vielmehr ist die emotionale Handlungsregulation auf menschlichem Niveau in eine Hierarchie von drei weiteren Regulationsebenen eingebunden, die sich erst im Laufe der Ontogenese herausbilden und die mit der emotionalen Handlungsregulation in vielfältiger Weise interagieren. Die wesentliche Frage ist dann, wie die emotionale Regulationsebene in die anderen Regulationsebenen der menschlichen Tätigkeit eingebunden ist und welche Rückwirkungen diese Einbindung auf die emotionale Handlungsregulation hat. Dieser Frage wird unter dem Begriff der »Emotionsregulation« als eine aktive Beeinflussung und Modifikation der eigenen Emotionen intensiv nachgegangen (vgl. Campos et al. 1989; Campos et al. 2004; Cole et al. 2004; Thompson 1990). Wir werden in Kap. 3.4 die vier Regulationsebenen beschreiben und skizzieren, wie die emotionale Regulationsebene darin eingebunden ist.
3.1
Emotion als funktionales psychisches System
Menschliche Tätigkeit lässt sich als eine Folge von Handlungen beschreiben. Eine Handlung ist ein auf ein Ziel ausgerichtetes Verhalten. Das Ergebnis einer Handlung ist bereits zu Beginn als (mehr oder minder) vage Vorstellung repräsentiert, die den Handlungsvollzug ausrichtet. Dabei ist das ausrichtende Potenzial von Zielvorstellungen kein automatisch sich vollziehender Akt. Es entsteht vielmehr in einem langwierigen ontoge-
3
netischen Lernprozess, in dem die Erreichung von Zielen durch Handlungen ausprobiert und zunehmend optimiert wird. So braucht ein Kind aufeinander aufbauende Lernerfahrungen, um z. B. das Ziel, mit Messer und Gabel zu essen, selbstständig ausführen zu können. Bei dieser Optimierung der Zielerreichung und bei der Zielauswahl spielen Emotionen eine wesentliche Rolle. Worin besteht ihre Funktion? Die Funktion von Emotionen ist es, die eigenen Handlungsziele, -ergebnisse und -folgen und ihren situativen Kontext in ihrer Beziehung zum Grad der Befriedigung der eigenen Motive einzuschätzen und durch die Initiierung geeigneter Bewältigungshandlungen die Befriedigung der Motive sicherzustellen (s. Frijda 1986, p. 465 f.). Dabei definieren wir Motiv zunächst nur als einen erwünschten Zustand der Person, den diese bestrebt ist zu erreichen, ohne damit schon eine bestimmte Quelle dieser Motivation oder ihre Bewusstheit oder Willkürlichkeit zu verbinden. Emotionen regulieren demnach die Handlungen einer Person in ihren motivrelevanten Aspekten, womit sie eine äußerst komplexe Funktion in der menschlichen Tätigkeitsregulation übernehmen.
3.1.1 Komponenten des
Emotionssystems Die beschriebene Funktion einer Emotion kann schwerlich als eine stofflich abgrenzbare Entität realisiert sein, die man in einem bestimmten Hirnareal wie z. B. der Amygdala lokalisieren oder mit einem bestimmten Verhalten wie z. B. einem Lächeln identifizieren kann. Eine Emotion ist vielmehr ein funktionales psychisches System, das aus dem synchronen Zusammenspiel mehrerer Subsysteme besteht. Man kann eine Emotion – im Sinne der dynamisch-systemischen Perspektive – als ein sich selbst organisierendes System umschreiben (vgl. Scherer 2000). Folgende vier Subsysteme sind daran beteiligt: 5 Appraisalsystem, 5 motorisches System, 5 Körperregulationssystem und 5 Gefühlssystem.
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Appraisalsystem Dieses Subsystem umfasst die Einschätzung (Appraisal) der eigenen Handlungsziele, -ergebnisse und -folgen und ihren situativen Kontext in Bezug auf die eigene Motivlage. Die (realen oder vorgestellten) Handlungen und ihr Kontext werden mit den Erwartungen, die sich die Person, aufbauend auf ihren Lebenserfahrungen, über die (realen oder vorgestellten) Handlungsergebnisse und -folgen bildet, verglichen und auf ihre motivrelevanten Aspekte eingeschätzt (vgl. Sroufe 1996, p. 56–60). So löst z. B. die unerwartete Blockierung eines antizipierten Handlungsziels Frustration aus, weil damit auch die anvisierte Motivbefriedigung blockiert wird. Der Appraisalprozess ist zum einen von einem reflexhaften Bewertungsprozess abzugrenzen (Scherer 1994). Bei einem Reflex ist eine spezifische Reizkonfiguration, für die der Organismus spezialisierte Wahrnehmungsdetektoren hat, mit einer ebenso spezifischen adaptiven Reaktion unmittelbar verkoppelt. Die angeborene Fähigkeit zur Wahrnehmung dieser Reizkonfiguration ist bereits der Appraisalprozess. Es wird keine Beziehung zwischen dem Reiz und den eigenen Erwartungen konstruiert (Sroufe 1996, p.60). > Beispiel Ein plötzlicher, ohrenbetäubender Schuss aus einer Pistole löst den Schreckreflex aus – und keine Überraschungsemotion. Diese Emotion könnte höchstens als Folge des Schreckreflexes einsetzen, wenn z. B. unklar bliebe, wie sich der Schuss lösen konnte (Ekman et al. 1985).
18
Zum anderen ist der emotionale Appraisalprozess von einer bewusst vollzogenen Bewertung der motivrelevanten Person-Umwelt-Beziehung zu unterscheiden. Bei Letzterer wird der abgelaufene emotionale Appraisalprozess nachträglich mit Hilfe sprachlich gestützten Wissens rekonstruiert (Lazarus 1991, p. 144).
19
> Beispiel
16 17
20
Ein Schüler hat eine gute Note in einer Klassenarbeit geschrieben, ärgert sich aber über einen Mitschüler, dass dieser eine bessere Note geschrieben hat als er, obwohl es an der Leistung des Mit-
schülers nichts auszusetzen gibt. Im Nachsinnen über die Episode erkennt er, dass sein Ärger daher rührt, dass er selbst der Klassenbeste sein möchte und der Mitschüler diesen Wunsch vereitelt hat.
Zu einer solchen reflexiven Bewertung ist nur der Mensch fähig; und sie entsteht erst im Laufe des Vorschulalters (7 Kap. 4.3). Hingegen werden emotionale Appraisalprozesse bereits Säugetieren, insbesondere Menschenaffen, zugesprochen (vgl. Panksepp 1998; Schneider u. Dittrich 1990). Eine kontrovers diskutierte Frage ist, wie dieses Appraisalsystem aufgebaut ist, welche Einschätzungsdimensionen ihm zugrunde liegen und wie der Appraisalprozess abläuft (vgl. Scherer et al. 2001). Dazu zählt auch die Frage, inwiefern die Appraisalprozesse nicht nur erwartungsabhängig, sondern auch motivspezifisch sind – eine Diskussion, die bereits von McDougall (1928/1969) angestoßen wurde.
Motorisches System Dieses Subsystem umfasst zum einen motorische Ausdrucksprozesse (z. B. um Hilfe schreien) und zum anderen motorische Handlungsbereitschaften (z. B. fliehen wollen) (vgl. Frijda 1986). Beide Reaktionsformen fassen wir im Folgenden unter dem Begriff »Ausdrucksreaktionen« zusammen. Sie setzen die eigentliche Bewältigungshandlung in Gang, die die aktuelle Person-Umwelt-Beziehung in motivdienlicher Weise transformieren soll (z. B. sich durch Weglaufen aus der Gefahrenzone bringen). Eine Emotion ist also durch eine Entkopplung von Ausdrucksreaktion und Bewältigungshandlung charakterisiert, wodurch die Art der Bewältigungshandlung von den Lernerfahrungen der Person und dem situativen Kontext abhängig gemacht werden kann. Damit ermöglicht eine Emotion eine flexiblere Handlungsregulation als ein Reflex (vgl. Scherer 1994). Da die Bewältigungshandlung nicht nur von der Person selbst, sondern auch von einer anderen Person »stellvertretend« ausgeführt werden kann (z. B. die andere Person beseitigt die Gefahr), kann eine Ausdrucksreaktion sowohl an sich selbst als auch an eine andere Person gerichtet sein (vgl. 7 Kap. 3.2).
43
3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
Des Weiteren kann die Initiierung einer Bewältigungshandlung auf zweierlei Weise erfolgen (vgl. Frijda 1986, p. 11–15): Die instrumentelle Initiierung führt zu einer direkten Veränderung der PersonUmwelt-Beziehung. So bringt z. B. das (ängstliche) Zurückweichen bei der Wahrnehmung von Gefahr die Person aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Die kommunikative Initiierung führt zu einer indirekten Veränderung der Person-Umwelt-Beziehung, indem der anderen Person signalisiert wird (z. B. durch einen Hilfeschrei), die motivdienliche Handlung auszuführen (7 Kap. 3.3). Wir fassen – im Unterschied zu Scherer (2001) – die Ausdrucksreaktionen und Handlungsbereitschaften in einem Subsystem zusammen, da sie die gleichen instrumentellen und kommunikativen Initiierungsfunktionen einnehmen und auch willkürlich produziert werden können (vgl. dazu ausführlicher 7 Kap. 3.3).
Körperregulationssystem Dieses Subsystem umfasst alle Körperreaktionen, die durch Prozesse im autonomen Nervensystem sowie durch endokrinologische Prozesse ausgelöst werden und weitestgehend unwillkürlich ablaufen. Es stellt die Körperfunktionen, wie z. B. Herzschlag, Atmung etc., auf die Transformation der Person-Umwelt-Beziehung ein. > Beispiel Angst wird als Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit erlebt. Die Funktionalität des Körperregulationssystems zeigt sich u. a. in der autonomen Reaktion des Schwitzens, so dass die Haut weniger anfällig für Verletzungen wird, und im Abzug des Blutes aus den Gliedmaßen, so dass es bei Verletzungen nicht zu großem Blutverlust kommt (vgl. Collier 1985).
Inwiefern die ausgelösten Körperreaktionen bei allen Emotionsanlässen tatsächlich adaptiv sind, ist eine Frage der kulturellen und ontogenetischen Entwicklung.
Gefühlssystem Dieses Subsystem umfasst die intern wahrnehmbaren Empfindungen, die eine Emotion begleiten.
3
> Beispiel Man empfindet im Angesicht eines unbeaufsichtigten zähnefletschenden Kampfhundes sein erstarrtes Gesicht, kalten Schweiß, eine Gänsehaut, stockenden Atem.
Wir bezeichnen diese Empfindungen im Weiteren mit dem Begriff »Gefühl« in Abgrenzung zum Begriff »Emotion«, der das Zusammenspiel aller vier Subsysteme kennzeichnet. Im Unterschied zu Ausdrucks- und Körperreaktionen ist das Gefühl nicht mit objektiven Messverfahren zu erfassen, sondern ausschließlich über Introspektion, da es nur für den Akteur existiert. Das bedeutet qua Definition eine Einschränkung der üblichen objektiven Kriterien wissenschaftlicher Forschung. Nichtsdestotrotz ist es aus Akteursperspektive ein reales Phänomen. Das Gefühl hat eine Überwachungs- und Selbstkontrollfunktion innerhalb der emotionalen Regulation: Der Anlass, der die Emotion auslöste, wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt; die ablaufenden Ausdrucksreaktionen werden in situativ angepasste Bewältigungshandlungen umgesetzt; und der gesamte Prozess der Person-UmweltTransformation wird gegebenenfalls nachreguliert (vgl. Clore 1994; Scherer 1990). Erst dieser kontinuierliche Selbstregulationsprozess lässt die Emotion als System reibungslos funktionieren: Denn sowohl die emotionsauslösenden Handlungs- und Kontextkonstellationen als auch die motivdienlichen Bewältigungshandlungen sind (bis auf wenige Ausnahmen) nicht angeboren, sondern werden erst im Laufe der Ontogenese erlernt. Bei jeder Emotionsepisode müssen daher von neuem der Emotionsanlass, die ausgelösten Ausdrucks- und Körperreaktionen und die verfügbaren Bewältigungshandlungen zeitgleich im Gefühlssystem repräsentiert werden, um sie möglichst optimal aufeinander abstimmen zu können.
Hirnorganische Grundlagen und deren Relevanz Alle vier emotionalen Subsysteme haben eine hirnorganische Grundlage (vgl. Damasio 1994; Rolls 1999; Scherer 2001): Das Appraisalsystem sowie das Gefühlssystem sind in spezifischen kortikalen und subkortikalen Arealen lokalisiert. Das moto-
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
rische System basiert auf dem motorischen Kortex und dem somatischen Nervensystem. Die organische Grundlage des Körperregulationssystems liegt im autonomen Nervensystem sowie in subkortikalen Strukturen, die auch endokrinologische Prozesse umfassen. Der Einbezug sämtlicher Nervensysteme in das emotionale Geschehen verdeutlicht die »Mächtigkeit« von Emotionen. Sie umfassen die ganze Person. Wir gehen davon aus, dass hirnorganische und psychische Prozesse unterschiedlichen Systemebenen angehören, die nicht aufeinander reduziert werden können. Hirnorganische Prozesse sind vielmehr der materielle Zeichenträger, der auf einen außerhalb seiner selbst liegenden Referenten verweist, dem eine lebensrelevante Bedeutung zugewiesen wird. Psychische Prozesse sind demnach als semiotische Prozesse zu konzeptualisieren.
auch in der organischen Struktur wiederfinden und welche Konsequenzen Schädigungen bestimmter Hirnstrukturen für die psychische Handlungsregulation haben können.
3.1.2 Interaktion der Komponenten als
Feedbackmodell Wir haben vier Subsysteme als wesentliche Komponenten einer Emotion identifiziert. Die zentrale Frage ist nun, wie diese Subsysteme miteinander interagieren, so dass eine Emotion entsteht. Es gibt unterschiedliche Auffassungen über diese Interaktionsbeziehungen (s. Bischof 1989; Panksepp 1998, chap. 2). Wir möchten zunächst eine weithin geteilte Konzeption darstellen, die unmittelbar einleuchtend erscheint: das Modell der Parallelverarbeitung (s. Panksepp 1998, p. 33).
> Beispiel So kann die Emotion »Angst« nicht mit neuronaler Aktivität in der Amygdala gleichgesetzt werden. Angst signalisiert vielmehr eine drohende Gefahr, der sich die Person z. B. durch Flucht zu entziehen trachtet.
Daher ist das subjektiv erlebte Gefühl der Angst nicht identisch mit den das Gefühl tragenden hirnorganischen Prozessen, weil die hirnorganischen Prozesse für sich genommen nur elektrische und chemische Prozesse darstellen, die keine Bedeutung haben (vgl. Mausfeld 2003). Diese wichtige Unterscheidung lässt sich auch durch folgende Analogien illustrieren: Die Bedeutung eines Wortes kann nicht durch die Analyse seines akustischen Klangbildes erfasst werden, und ein Softwarealgorithmus kann nicht durch die Messung elektrischer Impulse im Mikroprozessor verstanden werden. Vielmehr muss man auch hier jeweils eine Funktions- und Bedeutungsanalyse des Klangbildes bzw. der elektrischen Impulse vornehmen. Eine Analyse neuronaler Aktivierungsmuster ist daher nur in Kombination mit der Analyse ihrer psychischen Zeichenfunktion sinnvoll. Die Analyse hirnorganischer Prozesse kann allerdings wertvolle Belege darüber liefern, inwiefern sich postulierte psychische Funktionen und Verarbeitungsschritte
Modell der Parallelverarbeitung Im Modell der Parallelverarbeitung löst das vorgeschaltete Appraisalsystem in allen drei nachgeschalteten Subsystemen zeitgleich und parallel emotionsspezifische Reaktionen aus. Sie benutzen sich nicht wechselseitig als Input oder Output. Die subjektiv erlebte Gefühlsqualität wird dabei ausschließlich als direktes Produkt der zentralnervösen Appraisalprozesse angesehen (. Abb. 3.1). Rolls (1999) formuliert das wie folgt: The orbitofrontal cortex and amygdala, and brain structures that receive connections from them, are likely places where neuronal activity is directly related to the felt emotion (Rolls 1999, p. 73). Auch Lazarus (1991, p. 210) hat in seiner Modellskizze ein Parallelverarbeitungsmodell dargestellt.
Internalisierungsmodell Im Folgenden werden die Besonderheiten unseres Internalisierungsmodells in Abgrenzung zum Modell der Parallelverarbeitung herausgearbeitet. Die zentrale Annahme im Internalisierungsmodell, dass emotionales Erleben einer Entwicklung unterliegt, macht die Unterscheidung von einem Ausgangszustand und einem entwickelten Zustand notwendig.
45
3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
3
Person Emotion Kontext
Anlass
Kontext
Motive/Ziele Erwartungen
Wahrnehmen
Ausdruck
Appraisal
Umsetzen in Handlung
Gefühl
Handlung
Körperregulation
. Abb. 3.1. Modell der emotionalen Parallelverarbeitung von Ausdruck, Gefühl und Körperregulation
Ausgangszustand: Gefühl als internes Feedback realer Ausdrucks- und Körperreaktionen
Das Internalisierungsmodell lehnt sich an die Theorie der somatischen Marker von Damasio (1994) an. Danach entstehen Gefühlsempfindungen nicht parallel zu Ausdrucks- und Körperreaktionen, sondern sie werden durch diese verursacht. Die motivbezogene Einschätzung der Person-Umwelt-Beziehung im Appraisalsystem löst im motorischen und im körperregulativen Subsystem eine emotionsspezifische Handlungsbereitschaft aus, die in Form einer internen Rückkopplungsschleife als Input für das Gefühlssystem dient (. Abb. 3.2). Die Person wird sich ihrer autonomen Körperprozesse über interozeptive Empfindungen gewahr und der motorischen Ausdrucks- und Handlungsimpulse durch propriozeptive Empfindungen. Erstere bezeichnen wir im Weiteren als Körperempfindungen, Letztere als Ausdrucksempfindungen. Sie stellen die sinnliche Substanz (qualia) des subjektiven Gefühls dar (vgl. auch Janke 1998, 2005b). > Beispiel Man empfindet das eigene vor Angst erstarrte Gesicht, den Schweißausbruch, den Kälteschauer.
Diese Ausdrucks- und Körperempfindungen betrachten wir als notwendige Gefühlsindikatoren (. Abb. 3.2). Aber Ausdrucks- und Körperempfindungen sind nicht hinreichend, um ein Gefühl zu erleben. Denn es fehlt ihnen ihre gegenständliche Gerichtetheit auf den Emotionsanlass, der die Emoti-
on ausgelöst hat. In der Regel ist dieser Anlass für die Person zeitgleich in ihrer sinnlichen Wahrnehmung des (realen oder vorgestellten) Ereignisses repräsentiert. Man hat den Gegenstand, von dem die Gefahr ausgeht, z. B. als visuelles Abbild eines zähnefletschenden Hundes, vor Augen. Erst eine solche zeitliche Korrespondenz zwischen der Repräsentation eines (realen oder vorgestellten) Emotionsanlasses in der sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt einerseits und der Repräsentation emotionsspezifischer Ausdrucks- und Körperreaktionen in den Ausdrucks- und Körperempfindungen andererseits stellt ein vollständiges subjektives Gefühlserleben dar (. Abb. 3.2, Pfad 5). > Beispiel Wir fühlen uns traurig, weil wir vom Tod einer geliebten Person erfahren und zeitgleich eine beklemmende Körpersensation und unser Weinen empfinden.
Dabei steht die Ausdrucks- und Körperempfindung in Juxtaposition zur Wahrnehmung des Emotionsanlasses: Der wahrgenommene Anlass wird erst durch eine solche Empfindung in emotionsspezifischer Weise markiert und eingefärbt. Daher spricht Damasio (1994, pp. 173–174) von »somatischen Markern«. Ein Wahrnehmungsbild ohne eine solche Empfindung wäre eine »kalte Kognition«:
46
Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Person
1
Motive
2 3 4
Kontext
Anlass
Emotion
Ziele Erwartungen Wahrnehmen
Gefühl als bewusste Emotion Gefühl als Feedbackempfindung
Appraisal
IF
PF
Umsetzen in Handlung
Handlung
Kontext
5
Körperregulation
6 7 8 9
Ausdruck
. Abb. 3.2. Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung: Ausgangszustand. Die Abbildung enthält in vereinfachter Form die am Emotionsprozess beteiligten Komponenten: 1 Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Appraisalkomponente nach Maßgabe der aktuellen Motive, Ziele und Erwartungen. 2 Weiterleitung des Wahrnehmungsinputs zur Appraisalkomponente. 3 Auslösung der Körper- und Aus-
drucksreaktionen. 4 Feedback der Körper- und Ausdrucksreaktionen als interozeptive (IF) und propriozeptive (PF) Empfindungen. 5 Zeitgleiche Repräsentation des Emotionsanlasses und der Ausdrucks- und Körperempfindungen als bewusstes Gefühl. 6 Körper- und Ausdrucksreaktionen und bewusstes Gefühl legen motivdienliche Handlungen nahe
> Beispiel
teraktionsmuster ist basal und ontogenetisch primär. Es trifft insbesondere für die frühen ontogenetischen Phasen der emotionalen Entwicklung und für intensive Emotionen zu, nicht jedoch für die Neugeborenenphase (7 Abschn. 4.1.1).
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Man weiß um den traurigen Anlass, ohne etwas zu fühlen, wie im Beispiel vom Tod der geliebten Tante (7 Abschn. 2.2.3): Die Person war sich durchaus bewusst, dass sie ihre geliebte Tante für immer verloren hatte, aber sie fühlte keine Trauer, als sie darüber ihren Vorgesetzten in Kenntnis setzte.
Eine Ausdrucks- oder Körperempfindung ohne Wahrnehmung eines passenden Emotionsanlasses, wie man sie z. B. durch experimentelle Manipulation der Mimik (vgl. Manstead 1988) oder des Adrenalinspiegels (Maranon 1924) zu erzeugen versucht hat, löst in der Regel statt eines »echten« Gefühls »kalte« Erregung oder »Als-ob-Gefühle« aus. Man empfindet etwas, ohne genau zu wissen, was eigentlich der Fall ist (vgl. aber Levenson et al. 1990). Es sei denn, die Empfindung kann eindeutig einer Ursache zugeschrieben werden, wie z. B. ein körperliches Erregungsgefühl einer traurigen Erinnerung oder einem übermäßigen Konsum von Kaffee zugeschrieben werden kann oder das Schwitzen einer aktuellen körperlichen Anstrengung. Das Gefühl entsteht somit aus dem Feedback realer Ausdrucks- und Körperreaktionen. Dieses In-
Entwickelter Zustand: Gefühl als internes Feedback internalisierter Ausdrucks- und Körperreaktionen
Für die Beschreibung der späteren Phasen der ontogenetischen Emotionsentwicklung ist eine wichtige Zusatzannahme aufzustellen, die auch Damasio (1994) in sein Modell der somatischen Marker aufgenommen hat: Die zusätzliche Existenz sog. »körperloser« Emotionen. Hierbei handelt es sich um Emotionen, bei denen keine oder nur noch geringe Ausdrucks- und Körperreaktionen gemessen werden können, bei denen die Person aber nichtsdestotrotz behauptet, ein Gefühl zu erleben. > Beispiel So berichteten Personen mit Querschnittslähmungen, dass sie Gefühle erleben, auch wenn sie aufgrund ihrer Verletzung gar keine interozeptiven Körperempfindungen mehr erleben konn-
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3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
ten (Chwalisz et al. 1988). In der Studie von Friesen (1972, zit. nach Fridlund 1994, p. 289) gibt es eine Reihe von Personen, die keinen Ekelausdruck zeigten, aber dennoch angaben, Ekel empfunden zu haben.
Für ein Modell der Parallelverarbeitung sind solche »körperlosen« Gefühlserlebnisse relativ problemlos zu erklären: Man nimmt an, dass das motorische und das körperregulative Subsystem »abgeschaltet« werden kann, während das Gefühlssystem angeschaltet bleibt. Für ein Feedbackmodell stellt ein »körperloses« Gefühlserleben ein Problem dar, da Ausdrucksund Körperempfindungen als notwendige Kriterien für das Gefühlserleben angesehen werden. Wie lässt sich dieser Widerspruch lösen? Wir nehmen an, dass im Laufe der Emotionsentwicklung eine sog. Internalisierung von Ausdrucks- und Körperreaktionen stattfindet. Sie führt dazu, dass unter Bedingungen, die wir in 7 Kap. 3.1.4 näher beschreiben, die äußerlich messbaren Ausdrucks- und Körperreaktionen verschwinden können, weil auf zentralnervös gespeicherte Repräsentationen emotionsspezifischer Empfindungen zurückgegriffen werden kann. Auf diese Weise kann eine Person Ausdrucks- und Körperempfindungen subjektiv erleben, ohne dass diese zugleich als obPerson Motive
Kontext
Anlass
Emotion
Ziele Erwartungen
Wahrnehmen
3
jektiv messbare Ausdrucks- und Körperreaktionen vorliegen müssen (. Abb. 3.3). Einen analogen Gedanken haben Malatesta und Haviland (1985, p. 110) geäußert, die von einer »Desomatisierung der Emotionen« im Laufe der Ontogenese sprechen, in dem Ausdruckszeichen durch internale Repräsentationen ersetzt werden (vgl. auch Church 1982). > Beispiel Die Existenz mentaler Repräsentationen von Körperempfindungen zeigt sich unzweifelhaft bei Phantomschmerzen. Die Person erlebt Schmerzen in einem Körperteil, der faktisch gar nicht mehr existent ist. Objektiv gesehen kann das Schmerzerleben somit nicht auf einem körperlichen Feedbacksignal beruhen. Im subjektiven Erleben besteht aber kein Unterschied zwischen einem Phantomschmerz und einem »echten« Schmerz. Beides wird als realer Schmerz erlebt (Melzack 1989; Ramachandran 1994).
Wir haben in eigenen Studien (Upmann 2000; von Olberg 1999) bei der Induktion von Freude und Stolz zeigen können, dass die Probanden emotionsspezifische Ausdrucksempfindungen subjektiv erlebten wie z. B. Lächeln, aufgerichtete Körperhaltung, Triumph- bzw. Begrüßungsausrufe, ohne
Gefühl als bewusste Emotion
Gefühl als Feedbackempfindung
PF
Appraisal
IF
Körperregulation
Ausdruck
Umsetzung in Handlung
Handlung
Kontext
. Abb. 3.3. Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung: Entwickelter Zustand. Der Unterschied zum Ausgangszustand in Abb. 3.2 besteht in Folgendem: 4 Körper- und Ausdrucksreaktionen können durch mentale Repräsentationen der interozeptiven (IF) und propriozeptiven (PF) Empfindungen kurzgeschlossen werden. 6 Die Körper- und Ausdrucksempfindungen und das bewusste Gefühl legen motivdienliche Handlungen nahe
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
dass vergleichbare Ausdrucksreaktionen objektiv gemessen werden konnten (7 Kap. 4.5). Dabei kann die Internalisierung auch unvollständig erfolgen: Eine Person fühlt innerlich intensive Körperempfindungen, aber es sind nur noch schwache Ausdrucks- und Körperreaktionen äußerlich messbar. Ausdrucks- und Körperreaktionen verschwinden demnach nicht völlig, wie man im Modell der Parallelverarbeitung annehmen würde. Sie werden vielmehr internalisiert. Die über Erfahrung gewonnenen emotionsspezifischen Empfindungen werden als mentale Repräsentationen abgespeichert, die vom Appraisalsystem direkt, d. h. ohne Umweg über die »Körperschleife« aktiviert werden können. Körperlose Gefühle sind jedoch erst ein sekundäres Produkt der ontogenetischen Entwicklung. Sie dürften eher bei Jugendlichen und Erwachsenen zu finden sein (vgl. dazu ausführlich in 7 Abschn. 4.4.1). Die Internalisierung emotionsspezifischer Ausdrucks- und Körperreaktionen ist nach unserer Auffassung ein zentraler ontogenetischer Entwicklungsmechanismus. Er führt zum Entstehen einer privaten Gefühlswelt analog zur Entstehung einer privaten Gedankenwelt, zu der andere nicht mehr oder nur noch sehr indirekt Zugang haben. In dieser Hinsicht fügt sich die Emotionsentwicklung in den übergreifenden ontogenetischen Entwicklungstrend einer zunehmenden Mentalisierung psychischer Prozesse, wie er bereits von Vygotskij (1931/1997) beschrieben worden ist. Daher halten wir im Unterschied zu Izard (1977) solche körperlosen Emotionen und ihre Vorformen nicht für eine pathologische Randerscheinung, sondern für eine entwickelte Emotionsform. Sie ermöglicht eine flexiblere und vor allem zukunftsbezogene Handlungsregulation, bei der auch ferne Handlungsziele, die zunächst nur auf der Vorstellungsebene existieren, auf ihre motivrelevanten Aspekte bewertet werden können.
Wechsel der Forschungsperspektiven Um das hier skizzierte Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung weiter ausarbeiten und angemessen empirisch prüfen zu können, ist ein zweifacher Perspektivenwechsel im methodologischen Vorgehen notwendig:
Von der Beobachter- zur Akteursperspektive. Insbesondere bei der Analyse des Gefühlssystems halten wir einen Wechsel von einer Beobachterperspektive zu einer Akteursperspektive für erforderlich. Erst dann erschließt sich die Möglichkeit, dass eine Person subjektiv – also aus der Akteursperspektive – Körper- und Ausdrucksempfindungen fühlen kann, auch wenn aus einer Beobachterperspektive die entsprechenden Ausdrucks- und Körperreaktionen objektiv nicht gemessen werden können. Von der allgemeinpsychologischen zur entwicklungspsychologischen Perspektive. Eine allge-
meinpsychologische Perspektive verleitet dazu, ausschließlich die Modellierung des fertigen, ausgereiften Endzustands eines Emotionssystems in den Blick zu nehmen und die einzelnen Systemelemente nur nach ihrer aktuellen Funktionalität zu beurteilen und auszuwählen. Die Modellierungen werden aus der Perspektive eines »Ingenieurs« vorgenommen, der die Freiheit hat, ein Produkt nach ausschließlich aktuellen Funktionalitäten »am Reißbrett« zu konzipieren. Jedes lebende System ist aber das Produkt einer Entwicklungsgeschichte, bei dem nicht nur die aktuelle Funktionalität der Systemelemente zu berücksichtigen ist. Vielmehr waren eine Vielzahl an Systemelementen bereits durch die phylogenetische und ontogenetische Vorgeschichte gegeben, die zum Ausgangsmaterial für nachfolgende phylogenetische und ontogenetische Transformationsprozesse wurden (Griffiths 1997). Angemessener ist daher eher die adaptivhistorische Perspektive eines »Pflanzenzüchters«, der bei der Züchtung einer neuen Pflanzenart immer von bereits gegebenen Vorformen ausgehen muss. Ein anderes Beispiel ist das folgende: > Beispiel Dass z.B. ein Delphin Flossen hat, erklärt sich zwar aus ihrer Funktionalität für das Leben im Wasser – es erklärt aber nicht, warum die Flossen aus Knochen gebildet sind. Das erklärt sich nur aus der Rekonstruktion ihrer phylogenetischen Vorgeschichte.
Die allgemeinpsychologisch fokussierte Argumentation, dass emotionale Feedbackprozesse beim Er-
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3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
wachsenen eher dysfunktional und überflüssig erscheinen (vgl. Rolls 1999, p. 52), ignoriert ihre ontogenetische und auch phylogenetische Entwicklungsgeschichte. Nur unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive erschließt sich die Möglichkeit, dass die nur noch aus der Akteursperspektive wahrnehmbaren emotionalen Feedbackprozesse beim Erwachsenen aus realen (auch für Beobachter wahrnehmbaren) Feedbackprozessen beim Säugling und Kleinkind hervorgegangen sein können. Auf diese Weise kann eine Person das subjektive Gefühl einer Emotion über die Ontogenese hinweg als »gleich« empfinden – wovon Izard und Malatesta (1987) ausgehen –, auch wenn die begleitenden objektiven Feedbackprozesse verschwinden.
3.1.3 Diskussion des Feedbackmodells
3
> Beispiel Die Differential Emotion Scale (DES) von Izard (1982, dt. Übersetzung: Merten u. Krause 1993) ist ein häufig eingesetztes Verfahren, um den aktuellen Gefühlszustand einer Person zu erfassen. Es ist ein Selbstrating, das wie ein semantisches Differenzial aufgebaut ist. Für jede der zehn Basisemotionen nach Izard (Angst, Ekel, Freude, Interesse, Scham, Schuld, Trauer, Überraschung, Verachtung und Wut) gibt es drei Adjektive, die einen Gefühlszustand beschreiben und die jeweils auf einer Skala von 1 (gar nicht) bis 5 (sehr stark) eingestuft werden sollen. Die 30 Adjektive werden in zufälliger Reihenfolge vorgegeben. Die Person muss damit ihr aktuelles Befinden diesen 30 Emotionskategorien zuordnen und jeweils eine rationalskalierte Quantifizierung ihrer Intensitäten vornehmen.
des Gefühls Ein Wechsel der Forschungsperspektiven zu einer Akteurs- und entwicklungspsychologischen Perspektive führt uns zu Argumenten und empirischen Belegen, die für die Adaptivität der vorgeschlagenen Feedbackkonzeption des Gefühls sprechen. Dabei werden auch kritische Argumente und Studien mit gegensätzlichen Auffassungen berücksichtigt.
Diese Unzulänglichkeit lässt sich anhand der Ausdrucksanalyse von Emotionen beispielhaft aufzeigen, denn auch hier können Beobachter nicht eineindeutig ein kategoriales Emotionsurteil fällen. Auf diese Problematik des Vorgehens haben verschiedene Emotionsforscher (z. B. Ekman u. Friesen 1982) hingewiesen: > Beispiel
Argumente für eine Feedbackkonzeption Phänomenologische Plausibilität von Körper- und Ausdrucksempfindungen als Gefühlszeichen In der Emotionsforschung ist es üblich, das Gefühlserleben einer Person durch ihren Verbalbericht zu erfassen: Die Person soll ihre erlebte Gefühlsqualität anhand von Emotionskategorien klassifizieren und ihre Gefühlsintensität auf einer vorgegebenen Skala quantifizieren. Dieses Verfahren ist zwar praktikabel und ökonomisch, beinhaltet aber aus der Akteursperspektive auch Unzulänglichkeiten: Nur aus einer Beobachterperspektive heraus erscheint es so, als ob Personen Emotionskategorien und Intensitätseinschätzungen eineindeutig und unmittelbar ihrem subjektiven Gefühl zuordnen könnten. Jedoch für die Person selbst sind diese Verbalberichte Abstraktionsleistungen, die die eigentlich interessanten Phänomene verdeckt lassen.
Beobachter »sehen« nicht eine Emotion wie z. B. Freude. Sie »sehen« lediglich bestimmte mimische Bewegungen, die sie aufgrund ihrer gelernten Erfahrungen als emotionale Ausdruckszeichen einer Person in einem gegebenen Kontext interpretieren, z. B. ein Lächeln nach dem Erhalt eines Geschenks. Daraus erschließen sie die erlebte Emotion, in unserem Beispiel die Emotion Freude.
Subjektive Verbalberichte, die Emotionsklassifikationen benutzen, sind demnach ebenfalls nur sprachliche Zeichen des Gefühlserlebens und damit Abstraktionen, denn der Akteur hebt aus seinem wahrgenommenen ganzheitlichen Eindruck bestimmte Indikatoren hervor, während er andere unberücksichtigt lässt. Die entscheidende Frage, die bei diesem methodischen Vorgehen ausgeblendet wird, ist die Frage nach den im Gefühl gegebenen Anzeichen, die die Person aus der Akteursperspektive heraus zu ihrem Emotionsurteil kommen lässt.
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Was aber könnten diese emotionsspezifischen Gefühlsanzeichen sein? Es könnte sich hierbei um spezifische Muster von Körperempfindungen handeln, die man aus der Akteursperspektive als intero- und propriozeptives Feedback von Ausdrucks- und Körperreaktionen wahrnimmt. Aus der Akteursperspektive betrachtet hat daher die Theorie somatischer Marker eine phänomenologische Plausibilität, auf die schon James (1890/1950) in einem Gedankenexperiment hingewiesen hat: Wenn wir alle subjektiv empfundenen Ausdrucks- und Körperempfindungen aus dem Erleben entfernen würden, bliebe nur ein »neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung« (p. 451) übrig. Welche Art von Furcht übrigbleiben würde, wenn weder die Empfindung eines schnelleren Herzschlags noch die eines flachen Atems, weder die Empfindung zitternder Lippen noch die der Gliederschwäche, weder die Empfindung der Gänsehaut noch die der Aufruhr der Eingeweiden vorhanden wäre, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen (James 1890/1950, p. 451 f., dt. Übersetzung nach Meyer et al. 1993). Um diese These zu prüfen, müsste man eine Person ihr Gefühlserleben somit nicht nur in Emotionskategorien einschätzen lassen, sondern sie zusätzlich befragen, anhand welcher Anzeichen sie zu ihrem Urteil gekommen ist. Genau dazu gibt es jedoch bislang nur wenige Studien (7 Kap. 4.5). So hat Janke (1998, 2003, 2005a, b) als eine der Ersten systematisch untersucht, wie Kinder ihr Wissen über Körperempfindungen, die mit Emotionen wie Angst, Traurigkeit, Ärger und Freude einhergehen, entwickeln.
Gefühlserleben als Widerfahrnis Körperbezogene Feedbackprozesse sind auch konsistent mit dem subjektiven Eindruck, dass das emotionale Gefühlserleben nicht aktiv erzeugt wird, wie man eine willkürliche gedankliche Vorstellung z. B. von einer Herbstlandschaft erzeugt, sondern dass sie passiv als Widerfahrnis erlebt wird. Gefühlserleben tritt somit unvermittelt auf (vgl. Ulich u. Mayring 1992, S. 56), und die Person fühlt sich zu unwillkürlichen Reaktionen gedrängt (Frijda 1986, p. 240). Dies kommt auch in der von
Frijda (1986, p. 232) beschriebenen subjektiven Repräsentation der emotionsspezifischen Handlungsbereitschaft als »persistent tendency to act in given ways or of persistent absence of such tendency« zum Ausdruck. Subjektiv erlebt eine Person nicht den Akt der Einschätzung, also den internen Konstruktionsprozess einer Emotion im Gehirn, sondern nur die aus der Einschätzung resultierende Handlungsbereitschaft, in der sie sich zum Zeitpunkt ihres Gefühls bereits befindet. Sie erlebt ihr Gefühl in Form von Ausdrucks- und Körperempfindungen als etwas real Angetroffenes und nicht als etwas subjektiv Konstruiertes. Ebenso erlebt eine Person die äußere Realität um sie herum in Form von visuellen, auditiven und taktilen Sinnesempfindungen auch als Widerfahrnis, als etwas real Angetroffenes und nicht als etwas im Gehirn Konstruiertes. Wie beim Gefühl lassen die visuellen und auditiven Sinnesempfindungen die repräsentierten Gegenstände der Außenwelt nicht dort erscheinen, wo sie entstehen, nämlich im Gehirn, sondern dort, wo sie in der Realität angetroffen werden (vgl. Leont‘ev 1978).
Schädigungen der somatosensiblen Hirnareale beeinträchtigen das Gefühlserleben Die somatosensiblen Hirnareale in der rechten Hirnhemisphäre bilden die neurologische Basis für die angenommenen Ausdrucks- und Körperfeedbacks (Damasio 1994). Das somatosensible System ist sowohl für das äußere Tast-, Temperatur- und Schmerzempfinden als auch für die inneren Körpersinne zuständig, zu denen die interozeptiven Rückmeldungen der autonomen und endokrinologischen Prozesse und die propriozeptiven Rückmeldungen über Gelenk- und Muskelstellungen und damit auch über Ausdrucksreaktionen gehören. Insofern existiert eine reale Rückkopplungsschleife zwischen den durch eine Emotion ausgelösten Körper- und Ausdrucksreaktionen und ihren subjektiven Empfindungen. Auf diese Weise verfügt eine Person jederzeit über ein aktuelles Zustandsbild ihres Körpers, auf das sie bei Bedarf zugreifen kann bzw. das sich ihr im Falle einer intensiven Emotion aufdrängt.
3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
Wenn die in den somatosensiblen Hirnarealen repräsentierten Ausdrucks- und Körperrepräsentationen die Basis des Gefühlserlebens verkörpern, dann müsste eine Schädigung dieser Hirnareale auch das aktuelle Gefühlserleben beeinträchtigen. Genau das scheint der Fall zu sein (Anderson u. Tranel 1989; Damasio 1994, pp. 62–70; Woodward u. Armstrong 1979):
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lungsbereitschaft übereinstimmen oder interferieren kann. So macht die Auslösung von Ärger und die damit verbundene Ganzkörperaktivierung eine andere Handlungsbereitschaft notwendig, wenn der Körper geschwächt oder erschöpft ist. In der Feedbackschleife über den Körper wäre die Auswirkung dieses Körperzustands auf die emotionale Handlungsbereitschaft unmittelbar im Gefühl repräsentiert.
> Beispiel Patienten, bei denen die somatosensiblen Hirnareale durch einen Schlaganfall oder einen Tumor zerstört waren, zeigten u. a. eine völlige Fehleinschätzung ihrer subjektiven Befindlichkeit. Obwohl sie aufgrund der Hirnschädigung schwere körperliche Beeinträchtigungen hatten, schätzten sie ihre subjektive Befindlichkeit als normal oder sogar als gut ein. Diese Störung wird auch als Anosognosie bezeichnet: als Unfähigkeit, eine Krankheit bei sich selbst zu erkennen. Durch die Schädigung der somatosensiblen Hirnareale scheint der aktuelle Zugriff auf die propriozeptiven Repräsentation des veränderten körperlichen Zustands unterbrochen zu sein. Den Patienten bleibt nur noch die Erinnerung an ihren Körperzustand vor der Schädigung, als die somatosensiblen Hirnareale und auch die anderen Körperfunktionen noch funktionsfähig waren (vgl. Damasio, 1994, S. 153–154).
Insofern scheinen die somatosensiblen Hirnareale die neurologische Basis für das subjektive Gefühl zu sein.
Adaptivität eines realen Körperfeedbacks Damit das Gefühl seine Überwachungsfunktion bei der Handlungsregulation angemessen ausführen kann, kommt es darauf an, dass die tatsächlich im Körper vorhandene und nicht nur die durch das Appraisalsystem ausgelöste Handlungsbereitschaft subjektiv repräsentiert ist (Damasio 1994, pp. 143– 146, 155–160). Zum einen haben vollzogene Handlungsbereitschaften reale Folgen, die subjektiv repräsentiert sein müssen, um sie situationsangemessen und wirkungsvoll nachregulieren zu können. Zum anderen trifft eine aktuell ausgelöste emotionale Handlungsbereitschaft immer schon auf einen existierenden Körperzustand, der mit dieser Hand-
Evolution des Gefühlssystems: Feedbackprozesse als »sparsamere« Konstruktion Die Evolution einer Feedbackschleife als Träger des subjektiven Gefühls scheint eine »sparsamere« Konstruktion zu sein als die Evolution eines gänzlich neuartigen, parallel arbeitenden Gefühlssystems (vgl. Panksepp 1998, pp. 56–57). Betrachtet man die phylogenetische Entwicklung von Emotionen, dann sind das Körperregulationssystem und das motorische System in ihren Ausdrucksreaktionen phylogenetisch ältere Systeme als das Appraisal- und das Gefühlssystem. Sie dienten und dienen auch anderen Regulationsfunktionen wie der kontinuierlichen Aufrechterhaltung der Körperhomöostase und der innerartlichen Kommunikation. Diese vorhandenen Systeme müssten für die Evolution eines Gefühlssystems, das auf einem Feedbacksystem beruht, lediglich um die Funktion erweitert werden, dass die Ausdrucks- und Körperreaktionen in Form von proprio- und interozeptiven Rückmeldungen intern als Empfindungen repräsentiert werden. Damit können sie als sinnliche Basis für das subjektive Gefühl dienen und ihrer Überwachungsfunktion nachkommen, die emotionsspezifischen Ausdrucks- und Körperreaktionen situationsangemessen nachjustieren zu können. Dieser Ansatz ist »sparsamer« im Vergleich zur Annahme der Evolution eines gänzlich neuartigen, parallel arbeitenden Gefühlssystems, das zusätzlich zur Evolution der proprio- und interozeptiven Empfindungen entstanden sein müsste. Denn im Gegensatz zu dem Feedbacksystem müssen in dem letztgenannten Ansatz Transformationsregeln zwischen dem subjektiven Gefühl und den parallel ablaufenden Körper- und Ausdrucksprozessen postuliert werden, damit die Überwachungsfunktion geleistet werden kann.
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Entwicklungspsychologische Perspektive: Ausdrucksempfindungen der interpersonalen Regulation sind auch für die intrapersonale Regulation nutzbar Auch aus der ontogenetischen Entwicklungsperspektive erscheint die vorgeschlagene Feedbackkonzeption eine »sparsamere« und zugleich multiadaptive Konstruktion zu sein. So ist der Säugling darauf angewiesen, den aktuellen Befriedigungsstand seiner Motive seinen Bezugspersonen mit Hilfe von Ausdrucksreaktionen zu signalisieren, damit diese stellvertretend für die Befriedigung seiner Motive sorgen können. Erst mit zunehmenden Alter kann ein Kind auch selbstständig für sich sorgen. Bei einem Feedbackkonzept sind die emotionalen Ausdruckszeichen, die andere beeindrucken sollen, z. B. ein Schmollmund oder ein Quengeln, propriozeptiv als Ausdrucksempfindungen repräsentiert. Diese Empfindungen können aber ebenso auch zur intrapersonalen Regulation herangezogen werden: Die Person lässt sich durch ihre eigenen Empfindungen beeindrucken mit der Folge, dass sie selbst die motivdienlichen Bewältigungshandlungen ausführt. > Beispiel Als eine Person nach Fertigstellung eines längeren Textes diesen abspeichern will, stürzt das Computerprogramm ab, so dass der geschriebene Text verloren ist und die bisherige Arbeit damit umsonst war. Sie flucht und beschimpft den Computer heftig und wird sich darüber gewahr, wie sehr sie sich auch über sich selbst ärgert, dass sie Textteile nicht zwischendurch gespeichert hat. Sie nimmt sich dies in Zukunft vor und beginnt mit dem erneuten Schreiben des Textes.
Aus der Akteursperspektive bedient sich demnach die intrapersonale Regulation in Bezug auf Ausdrucksreaktionen der gleichen subjektiven Gefühlszeichen wie die interpersonale Regulation (. Tabelle 3.1). Denn der Feedbackprozess lässt in beiden Fällen Ausdrucksempfindungen entstehen. Damit ist ein unkompliziertes Umschalten zwischen einer inter- und einer intrapersonalen Regulation möglich ohne zusätzliche Regeln, wie äusserer Aus-
druck in inneres Gefühl transformiert wird (s. ausführlicher 7 Abschn. 3.3.2).
Ausdruck und Eindruck bedienen sich gleicher Ausdrucksempfindungen Ein Feedbackmodell kann auch die Wirkungsweise des motorischen Mimikry erklären, bei dem Ausdrucksreaktionen einer anderen Person (mehr oder minder) unwillkürlich nachgeahmt werden (Bavelas et al. 1987): Der nachgeahmte Ausdruck löst über das Körperfeedback Ausdrucksempfindungen aus, die dem gleichen Gefühlszustand der nachgeahmten Person entsprechen und dadurch vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern eine Gefühlsansteckung auslösen können (Hatfield et al. 1994; Saarni et al. 1998). > Beispiel Field et al. (1982) konnten zeigen, dass 2 Tage alte Neugeborene mimische Ausdruckszeichen von Emotionen nachahmen können, nämlich das Lächeln, das Runzeln der Stirn, das Schürzen der Lippen. Wenn die Mutter ihren Säugling einfach mit einer finsteren Miene (Stirnrunzeln und heruntergezogenen Mundwinkeln) anschaut, ohne dass etwas Negatives vorgefallen ist, verfinstert sich auch die Miene des Säuglings, und er fängt an zu weinen; wenn sie ihn intensiv anlächelt, lächelt er zurück.
Wenn beim Mimikryprozess nicht nur eine Nachahmung des Ausdrucks erfolgt, sondern auch eine Übernahme der Wahrnehmungsperspektive der nachgeahmten Person, dann können die Ausdrucksempfindungen auch einem entsprechenden Emotionsanlass zugeordnet werden. Infolge dessen könnte ein emotionsspezifischer Appraisalprozess ausgelöst werden, der weitere Ausdrucks- und Körperreaktionen auslöst. Auf diese Weise könnte der Mimikryprozess sukzessive alle emotionalen Subsysteme anstoßen und synchronisieren. Die nachahmende Person hätte sich vollständig von der Emotion der nachgeahmten Person anstecken lassen. Wenn sich die nachahmende Person beim Ausdrucksmimikry allerdings bewusst ist, dass das wachgerufene Gefühl eigentlich ein stellvertretendes Mitfühlen mit der Emotion der anderen Per-
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3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
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. Tabelle 3.1. Emotionskomponenten aus der Beobachter- und Akteursperspektive Emotionskomponente
Beobachterperspektive (Fremdwahrnehmung)
Akteursperspektive (Selbstwahrnehmung)
Motorisches System Ausdruck
5 Mimik z. B. Lächeln
Propriozeptive Empfindungen der eigenen Ausdrucksreaktionen
5 Gestik 5 Körperduktus 5 Berührung 5 Verhalten im Raum 5 Klang der Stimme
5 Hören der eigenen Stimme
Beobachtbare Handlungsimpulse wie z. B.
Propriozeptive Empfindungen der Handlungsimpulse wie z. B.
5 Umarmen (vor Freude)
5 Handlungsimpuls zu umarmen
5 Weglaufen (vor Angst)
5 Handlungsimpuls wegzulaufen
Beobachtbar oder messbar z. B.
Interozeptive Empfindungen z. B.
5 Atmungsveränderungen
5 Kurzatmigkeit
5 Erröten
5 Wärme steigt in den Kopf
5 Hautleitwiderstand
5 Schweißausbruch
5 Pulsfrequenz
5 Herzklopfen
Situativer Kontext
Beobachtung eines passenden Emotionsanlasses
Wahrnehmung eines passenden Emotionsanlasses
Wissensebene
Kategoriale Zuordnung der Beobachtungen zu einer Emotionsqualität und -intensität durch den Beobachter
Kategoriale Zuordnung der Empfindungen zu einer Emotionsqualität und -intensität durch den Akteur
Handlungsbereitschaft
Körperregulationssystem
In den Forschungen zur Feedbackthese wurden im Wesentlichen Informationen aus den grau unterlegten Feldern herangezogen. Zur Prüfung der um Als-ob-Gefühle erweiterten Feedbackthese müssten auch Ausdrucks- und Körperempfindungen (rechte weiß unterlegten Felder) erfasst werden. Nur so lässt sich prüfen, ob Ausdrucks- und Körperempfindungen fühlbar sind, die nicht von beobachtbaren Ausdrucks- und Körperreaktionen begleitet werden.
son darstellt, geht die Gefühlsansteckung in Empathie über (Friedlmeier 2003). Wir nehmen an, dass diese doppelte Verwendbarkeit von Ausdrucksempfindungen bei der inter- und intrapersonalen Handlungsregulation sowie bei der Ausdrucks- und Eindrucksbildung ein zentraler Selektionsmechanismus ist, der phylogenetisch, kulturhistorisch und auch ontogenetisch zur Entstehung und Differenzierung von Emotionen beigetragen hat und beiträgt (s. ausführlicher 7 Abschn. 4.2.1).
Einwände gegen eine Feedbackkonzeption Die Idee vom Körperfeedback als Grundlage des Gefühlserlebens blickt auf eine lange Forschungstradition seit James‘ erster Veröffentlichung im Jahre 1884 zurück. In dieser Zeit sind auch eine Vielzahl an konzeptionellen und empirischen Einwänden gegen eine Feedbackkonzeption des Gefühls vorgetragen worden. Dies hat dazu geführt, dass die Feedbackthese unter dem Eindruck empirischer Gegenbeweise mehrmals ad acta gelegt wurde – allerdings nur um unter dem Eindruck neuerer For-
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
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schungsergebnisse in modifizierter Form wieder aufzuerstehen (vgl. Meyer et al. 1993; Reisenzein 1993). Die letzte Renaissance hat die Idee eines Körperfeedbacks in den 90er Jahren durch Damasios (1994) Arbeiten erfahren, auf die wir uns auch hier stützen (vgl. auch LeDoux 1996). In diesem Ansatz wird ein Großteil der Einwände zumindest auf der Ebene der Theoriebildung zu entkräften versucht. Diese Einwände richteten sich gegen die eingeengte Konzeption in der Theorie von Lange und James (1922/1967), in der nur viszerale Feedbackprozesse als Grundlage des Gefühls herangezogen wurden, und der Facial-Feedback-Theorie (Tomkins 1962; Izard 1977), in der nur mimische Feedbackprozesse herangezogen wurden. Wir werden daher im Folgenden den Stand der Forschung skizzieren, der für das hier vorgeschlagene erweiterte Feedbackmodell relevant ist.
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1. Einwand: Undifferenziertheit des autonomen und mimischen Feedbacks
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Der erste Einwand besagt, dass das autonome und mimische Feedback zu undifferenziert sei. Dieselben autonomen und somatischen Veränderungen treten bei sehr unterschiedlichen emotionalen und nicht emotionalen Zuständen auf. Dieser Kritikpunkt würde nach Grossmann (1967) nur dann stichhaltig sein, wenn gezeigt werden könnte, dass das jeweilige Gesamtmuster (!) an autonomen (und mimischen) Veränderungen bei unterschiedlichen Emotionen unverändert bliebe und auch in nichtemotionalen Situationen aufträte. Ein solcher Beweis ist bislang noch nicht erbracht worden. Zudem gibt es zahlreiche empirische Studien, die die Annahme emotionsspezifischer Erregungsmuster des autonomen Nervensystems zu stützen scheinen (Ekman et al. 1983; Stemmler 1989; vgl. auch Levenson 1988 für einen Überblick). Des Weiteren weiß man inzwischen, dass bei emotionaler Erregung nicht nur Adrenalin, sondern auch Steroid- und Peptidhormone wie z. B. Cholecystokinin bei Panikattacken (Harro et al. 1995) von den inneren Organen ausgeschüttet werden und mit dem Blutfluss ins Gehirn gelangen. So könnte die Induktion verschiedener Emotionen im Gehirn unterschiedliche Muster der Hormonausschüttung von inneren Organen nach sich ziehen, womit wiederum unterschiedliche Muster an chemischem Feed-
back entstehen würden, die ein emotionsspezifisches Gefühl hervorrufen. Des Weiteren nehmen wir mit Damasio (1994) an, dass sich das Körperfeedback nicht nur aus den Rückmeldungen des autonomen Nervensystems oder der mimischen Muskulatur zusammensetzt, sondern aus dem gesamten Muster an interozeptiven und propriozeptiven Empfindungen der Ausdrucks- und Körperreaktionen. Dies ermöglicht ein unermesslich differenziertes Körperfeedback. Diese Theoriemodifikation birgt allerdings die Gefahr in sich, die Feedbackthese gegen empirische Widerlegungen zu immunisieren, da sich solche komplexen Muster nur sehr schwer empirisch nachweisen bzw. widerlegen lassen.
2. Einwand: Gefühlserleben ohne Körperreaktionen Der zweite Einwand besagt, dass es ein Gefühlserleben ohne begleitende Körperreaktionen gibt. Dazu hat man querschnittsgelähmte Personen, bei denen durch Unfall die Nervenverbindungen zwischen Gehirn und Körper getrennt wurden, bezüglich ihres Gefühlserlebens befragt. Die ersten Studien von Hohmann (1966) zeigten, dass bei Patienten mit sehr schweren Schädigungen die Bandbreite ihres Erlebens vermindert schien. Demgegenüber ergaben Befragungen von Chwalisz, Diener und Gallagher et al. (1988), die in Rechnung stellten, wie erfolgreich die Personen ihre Verletzung verarbeitet hatten, dass Querschnittsgelähmte keine Beeinträchtigungen im Gefühlserleben aufwiesen. Gegen die bislang vorgenommenen Studien an Querschnittsgelähmten lassen sich allerdings einige methodische Einwände vortragen: So ist anzumerken, dass bei diesen Patienten der Informationsfluss zwischen Gehirn und Körper nie völlig unterbrochen ist. So bleiben zumindest die Nerven, die Rückmeldungen vom Gesicht senden können, erhalten, ebenso der Fluss von Hormonen und Peptiden zwischen Gehirn und Körper und damit ein Rest an Körperfeedback. Des Weiteren ist das Gefühlserleben dieser Personen in den bisherigen Studien nur retrospektiv und kategorial erfasst worden: Sie sollten sich an Emotionsepisoden nach ihrer Querschnittslähmung erinnern und nur die Art des Gefühls und seine Intensität angeben. Damit bleibt unklar, inwiefern sie tatsächlich intero-
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3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
und propriozeptive Empfindungen erlebten, die ja die Grundlage für das Gefühlserleben sein sollen (. Tabelle 3.1). Gegen ein erweitertes Feedbackmodell würden insbesondere solche Befunde sprechen, bei denen die Probanden eine Emotion aktuell durchleben, keine dieser Empfindungen spüren und dennoch angeben würden, das jeweilige Gefühl zu erleben. Wenn Querschnittsgelähmte dabei Empfindungen spüren würden, die sie mit ihrer Querschnittslähmung gar nicht real spüren dürften, weil die Nervenbahnen unterbrochen sind, dann wäre das ein Beleg für die Existenz sog. mentaler Erlebenszeichen (Als-ob-Gefühle), die wir als entwickelte Form des Gefühlserlebens bezeichnet hatten. Bei ihnen greift das Gehirn auf mentale Repräsentationen des jeweiligen emotionsspezifischen Körperfeedbacks zurück. Solche Studien sind uns bislang nicht bekannt. In die gleiche Richtung zielt der Einwand gegen die mimische Feedbackthese, dass es augenscheinlich ein Gefühlserleben ohne begleitende mimische Ausdrucksreaktionen gibt. In einer Reihe an Studien, bei denen Emotionen in nichtkommunikativen Situationen zumeist durch Imaginationsverfahren induziert wurden, berichteten die Probanden, ein Gefühl zu erleben, ohne dass sie zugleich Ausdrucksreaktionen zeigten (Fridlund 1994). Fridlund hat diese Befunde dahingehend interpretiert, dass der Ausdruck ausschließlich kommunikative Funktion habe und damit unabhängig vom Gefühlserleben gesteuert werde. Dies spräche gegen eine Feedbackkonzeption. Die Befunde sprechen aber nicht gegen die Existenz mentaler Ausdruckszeichen. Denn auch bei den zitierten Studien wurde lediglich die kategoriale Gefühlsqualität und -intensität erfasst, nicht aber nach möglichen Ausdrucksempfindungen der Probanden gefragt (. Tabelle 3.1). Ein Gegenbeweis gegen die Existenz mentaler Ausdruckszeichen wäre, wenn Probanden ein Gefühl erleben, ohne dass sie zeitgleich Ausdrucksempfindungen erleben würden. Wir haben in unserem Labor solche Studien durchgeführt (von Olberg 1999; Upmann 2000), bei denen Probanden während ihres Gefühlserlebens keine Ausdrucksreaktionen zeigten, aber dennoch über Ausdrucksempfindungen berichteten, die sie als Indikatoren für ihr Gefühlserleben her-
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anzogen (vgl. ausführlicher 7 Abschn. 4.5.1). Das spricht für die Existenz mentaler Feedbackprozesse, wie wir sie mit Damasio (1994) angenommen haben.
3. Einwand: Künstlich induzierte Ausdrucksund Körperreaktionen führen nicht zu echten Gefühlen Der dritte Einwand gegen ein Feedbackmodell besagt schließlich, dass das künstliche Herbeiführen der für Emotionen typischen viszeralen und mimischen Veränderungen nicht zum Auftreten dieser Gefühle führe. Hier sind in erster Linie Studien durchgeführt worden, bei denen den Probanden Adrenalin gespritzt wurde, ein Hormon, das im Körper wie eine Entladung des sympathischen Nervensystems wirkt und das auch bei emotionaler Erregung ausgeschüttet wird (s. Studienbox). Hierbei zeigte sich, dass sich durch Adrenalininjektion erzeugte unspezifische Erregung nicht in beliebige Gefühle transformieren lässt. Schachter und Singer (1962) hatten dies in ihrer Zweifaktorentheorie angenommen, doch ließ sich dies letztlich nicht bestätigen (vgl. Reisenzein 1983).
Studie Echte Gefühle bei künstlich induzierten Körperreaktionen Maranon (1924) injizierte 210 Personen unterschiedliche Dosen von Adrenalin und beobachtete ihre Reaktionen. Die meisten Personen (ca. 70%) berichteten körperliche Empfindungen, wie sie starke Emotionen begleiten, allerdings als »kalten« Erregungszustand oder Als-ob-Gefühle. Die übrigen Personen berichteten hingegen, ein authentisches Gefühl, zumeist Ärger oder Trauer, zu erleben, wobei Trauer mit zusätzlichen Körperreaktionen wie Weinen und Schluchzen begleitet war. Teilweise hatten sich die Probanden an ärgerliche bzw. traurige Erlebnisse erinnert. Wurden die Probanden aufgefordert, sich nach der Adrenalininjektion an traurige Erlebnisse zu erinnern, erhöhte dies den Anteil an authentischen Gefühlserlebnissen.
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Auch hier lässt sich anmerken, dass sich die einzelnen negativen Gefühle augenscheinlich aus mehr als einer Körperempfindung zusammensetzen und nicht nur aus Erregungsempfindungen, die durch Adrenalin hervorgerufen werden. In zahlreichen Experimenten ist auch die Mimik manipuliert worden (vgl. zusammenfassend Izard 1990; Manstead 1988; McIntosh 1996; Soussignan 2002). Das Resümee dieser Studien ist, dass die Manipulation der Mimik zwar die Intensität des Gefühls beeinflussen konnte – kongruente Mimik verstärkte die Gefühlsintensität, inkongruente Mimik schwächte sie ab –, aber nicht die Qualität des Gefühls. Die Studien zeigen, dass das mimische Feedback allein nicht das Gefühlserleben erzeugen kann. Zu bedenken ist allerdings, dass auch bei diesen Studien nur einzelne Komponenten des emotionsspezifischen Feedbackmusters manipuliert wurden. Es kann daher möglich sein, dass den Probanden noch andere Empfindungen zur Verfügung standen, um die Qualität ihres Gefühls einschätzen zu können. Des Weiteren sind auch bei diesen Studien nur die kategoriale Gefühlsqualität und -intensität erfragt worden, nicht aber die intero- und propriozeptiven Empfindungen, die Aufschluss über weitere subjektiv herangezogene Gefühlsindikatoren hätten geben können. Entscheidend für das Erleben eines Gefühls sind demnach weniger die realen Ausdrucks- und Körperreaktionen, die sich aus einer Beobachterperspektive objektiv messen lassen, sondern der subjektive Eindruck, was eine Person aus der Akteursperspektive zu empfinden glaubt (vgl. Valins 1966, 1974). Insgesamt ergibt sich ein sehr differenziertes Bild über den Stand der Forschung zu den einzelnen empirisch prüfbaren Facetten einer Feedbackkonzeption. Aufschlussreich dürfte die Erkenntnis sein, dass man subjektive Ausdrucks- und Körperempfindungen nicht mit real messbaren Ausdrucksund Körperreaktionen in eins setzen kann, sondern zwischen beiden unterscheiden muss. Das eröffnet die Möglichkeit, dass Erwachsene auch mentale Gefühlszeichen heranziehen können. Um die Existenz solcher mentaler Gefühlszeichen nachzuweisen, genügt es nicht, das Gefühlserleben durch ein kategoriales Gefühlsurteil zu erfassen. Es muss ergänzt werden um die Erfassung der subjektiven Ausdrucks- und Körperempfindungen. Nur so lässt
sich abschätzen, welche Bedeutung den realen und den mentalen Körperfeedbacks zukommt.
3.1.4 Feedback von Ausdrucks-
und Körperreaktionen und Internalisierung Wir gehen wie Damasio (1994) davon aus, dass mental gespeicherte Ausdrucks- und Körperempfindungen beim Erwachsenen unter bestimmten Voraussetzungen ein »natürliches« ontogenetisches Entwicklungsprodukt darstellen. Um diese These zu begründen, wenden wir uns noch einmal den Funktionen zu, die objektiv beobachtbare Ausdrucks- und Körperreaktionen im aktualgenetischen Emotionsverlauf einnehmen können. Dabei wird deutlich, dass bei einer spezifischen Funktion Ausdrucks- und Körperreaktionen unerheblich sind und das reale Feedback durch ein mentales Feedback ersetzt werden kann, ja dass diese Ersetzung sogar zu einer höheren Wirksamkeit der emotionalen Handlungsregulation beitragen kann.
Bei welchen emotionalen Regulationsfunktionen sind Ausdrucks- und Körperreaktionen notwendig? Drei Funktionen lassen sich anführen: 1. Ausdrucks- und Körperreaktionen sind notwendig, wenn sie für sich genommen instrumentelle Reaktionen verkörpern, die unmittelbar der Außen- und Innenregulation dienen. > Beispiel Bei starkem Ärger wird der Muskeltonus erhöht, um einen Angriff vorzubereiten; oder bei Ekel wird die Zunge vorgestreckt und gewürgt, um unangenehme Speisen auszuspeien.
2. Ausdrucksreaktionen sind notwendig, wenn mit der Emotion eine andere Person beeindruckt werden soll, damit diese in motivdienlicher Weise reagiert. > Beispiel Nehmen wir den Fall, dass eine Person durch eine andere Person beleidigt wurde. Der Är-
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3.1 · Emotion als funktionales psychisches System
gerausdruck der beleidigten Person in Form einer geballten Faust, scharfen Stimme und eines bedrohlichen Näherkommens soll den Beleidiger dazu veranlassen, seinen Affront zurückzunehmen und sich zu entschuldigen.
3. Ausdrucks- und Körperreaktionen sind notwendig, wenn sie im Wesentlichen über die visuellen, auditiven und taktilen Sinneskanäle wahrgenommen werden und weniger über ihre proprio- oder interozeptiven Rückmeldungen. > Beispiel In einer angespannten Situation spürt man seine kalten, schweissnassen Hände durch Selbstberührung der Hände und wird daraufhin gewahr, dass man sich ängstigt, oder bei Erleichterung hört man den eigenen Stoßseufzer.
Unter den drei genannten Bedingungen ist die Ausführung der realen Ausdrucks- und Körperreaktionen notwendig. Sie realisieren die emotionale Handlungsbereitschaft, indem sie die Person-Umwelt-Beziehung in motivdienlicher Weise transformieren.
Bei welchen emotionalen Regulationsfunktionen sind Ausdrucks- und Körperreaktionen nicht notwendig? Die dritte Bedingung nimmt eine Zwitterstellung ein, denn in diesem Fall dienen die Ausdrucks- und Körperreaktionen als Zeichen, und zwar nicht für andere, sondern für die Person selbst. Gerade bei Erwachsenen haben die den Ausdrucks- und Körperempfindungen zugrunde liegenden Ausdrucksund Körperreaktionen in vielen Emotionsepisoden keine nach außen gerichtete instrumentelle oder kommunikative Funktion. Sie dienen ausschließlich der Selbstkommunikation, in der der Person über die Feedbackschleife die aktuell wahrgenommene motivrelevante Person-Umwelt-Beziehung signalisiert wird und die Person es ist, die die angemessene Bewältigungshandlung einleitet.
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> Beispiel Eine Person arbeitet am Computer, der plötzlich abstürzt, so dass die laufende Arbeit abrupt unterbrochen wird. Sie wird mit Frustration reagieren. Aber weder Drohgebärden noch die Erhöhung des Muskeltonus oder der aggressive Impuls, den Computer zerstören zu wollen, wären für sich genommen funktional, um die Handlungsunterbrechung aufzuheben. Diese Reaktionen können allerdings als Zeichen dienen, die Aufmerksamkeit auf die Handlungsunterbrechung zu lenken und Gedanken und Handlungen zu mobilisieren, wie man den Rechner wieder ans Laufen bekommt. Ausdrucks- und Körperreaktionen hätten in dem Fall ausschließlich Zeichenfunktion, ja das Ausleben z. B. des aggressiven Impulses wäre sogar dysfunktional.
Schlussfolgerung Die Schlussfolgerung aus der skizzierten Funktionsanalyse haben wir bereits als eine zentrale Annahme unseres Internalisierungsmodells genannt: Unter der Bedingung, dass Ausdrucks- und Körperreaktionen ausschließlich eine intrapersonale Zeichenfunktion einnehmen, kann eine Transformation der Ausdrucks- und Körperreaktionen und ihres realen Feedbacks in mentale Ausdrucksund Körperempfindungen erfolgen. Diesen Transformationsprozess von einer äußerlich wahrnehmbaren Zeichenform in eine mentale Zeichenform, die nur noch im subjektiven Gefühl existiert, haben wir als Internalisierung bezeichnet. In dem Fall sprechen wir auch von »mentalen Ausdrucks- bzw. Körperzeichen«, zusammengefasst von »mentalen Gefühlszeichen«. Dabei kann das Ausmaß der Internalisierung variieren: 1. Die Referenten der Gefühlszeichen, die Ausdrucks- und Körperreaktionen, können soweit miniaturisiert werden, wie ihre Wirksamkeit als regulierende Zeichen aufrecht erhalten bleibt. Die Emotion ist durch eine (mehr oder minder) abgeschwächte Ausdrucks- und Körperreaktion charakterisiert, aber im Gefühl bleibt die emotionsspezifische Bandbreite an Empfindungen von Mimik, Körperduktus, Stimme und Handlungsimpulsen bestehen.
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> Beispiel
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Anstelle eines lauten Triumphgeschreis kann ein leises In-sich-Hineinfreuen die gleiche Überwachungsfunktion des Gefühls erfüllen.
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
2. Die Gefühlszeichen koppeln sich von ihren Referenten vollständig ab und repräsentieren sie »nur« noch. Sie sind damit zu Gefühlssymbolen geworden ganz in dem Sinne, wie ein gesprochenes Wort als Symbol seinen Referenten repräsentieren kann. Eine solche Internalisierung von Ausdrucks- und Körperzeichen kann man in der Tat als eine qualitative Veränderung der Emotionsformen bezeichnen. Danach wäre die subjektiv gefühlte Form einer Emotion doch nicht so beliebig, wie es die empirische Analyse der äußerlich wahrnehmbaren Ausdrucks- und Körperreaktionen und ihre Korrespondenz zum innerlich wahrnehmbaren Gefühl zunächst nahegelegt hat (vgl. 7 Abschn. 2.2.2; Bermond u. Frijda 1987; Fridlund 1994; Izard 1994; Manstead 1988; McIntosh 1996).
3.2
Von der interpersonalen zur intrapersonalen Regulation
Nach dem Internalisierungsmodell werden zu Beginn der Ontogenese nur reale emotionsspezifische Ausdrucks- und Körperreaktionen ausgelöst, weil sie ausschließlich instrumentelle und kommunikative Regulationsfunktionen erfüllen. Erst im Verlauf der Ontogenese übernehmen sie auch intrapersonale Zeichenfunktionen, so dass sie in dem Fall zu mentalen Ausdrucks- und Körperzeichen transformiert werden können. Wie lässt sich diese Annahme begründen? In allgemeinpsychologischen Emotionstheorien (z. B. Frijda 1986; Lazarus 1991; Scherer 2001) wird in der Regel davon ausgegangen, dass eine Emotion die Handlungen desjenigen reguliert, der die Emotion erlebt. Der Adressat der Emotion ist die Person selbst, die dann die motivdienlichen Handlungen ausführt. Die Handlungsregulation erfolgt intrapersonal. Die Funktion wird daher als intrapersonale Regulationsfunktion bezeichnet.
Man könnte meinen, dass dies bei Erwachsenen die Regel ist. Doch Tagebuchstudien (Holodynski 1997, Studie II) an jungen Erwachsenen, bei denen sie an 4 Tagen einer Woche vom Aufstehen bis zum Schlafengehen jede Emotionsepisode protokollieren sollten, haben ergeben, dass die Probanden fast doppelt so viele Gefühle in direktem sozialem Kontakt (M = 1.9 pro Stunde), in dem die interpersonale Regulation dominant ist, erlebten als in Alleinsituationen (M = 1.1 pro Stunde), in denen die intrapersonale Regulation dominant ist. Unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive betrachtet, rückt eine andere Möglichkeit in den Vordergrund: Beim Säugling ist es augenscheinlich, dass seine Emotionen in erster Linie die Funktion haben, die Handlungen seiner Bezugsperson zu regulieren. > Beispiel Das Schreien eines Säuglings als Ausdruck von Distress führt zu keinen Bewältigungshandlungen auf Seiten des Säuglings. Es veranlasst vielmehr die Bezugsperson, die erforderliche motivdienliche Handlung für den Säugling auszuführen. Das besondere Kennzeichen dieser Regulation ist, dass sie auf die Beeinflussung der anderen Person gerichtet ist, damit diese stellvertretend motivdienlich handeln soll.
Der Adressat der Emotion ist eine andere Person, die Regulation erfolgt »interpersonal« und wird daher als interpersonale Regulationsfunktion bezeichnet. Die Unterscheidung in eine intra- und interpersonale Funktion gilt für jede einzelne Emotionsqualität. > Beispiel Ärger kann eine Person veranlassen, der anderen Person nur zu drohen, damit sie von sich aus aus dem Wege geht (interpersonale Regulation). Ärger kann aber auch dazu veranlassen, die andere Person tätlich anzugreifen und aus dem Weg zu räumen (intrapersonale Regulation). Trauer kann eine Person veranlassen, sich jemanden zu suchen, der tröstet. Trauer kann aber auch dazu veranlassen,
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3.3 · Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
allein vor sich hin zu weinen und sich selbst zu trösten.
Aus entwicklungspsychologischer Perspektive stellt die interpersonale Regulationsfunktion die dominante Ausgangsform dar. Fogel (1993) spricht von »co-regulation« und Tronick (1989) von »mutual regulation«, um die wechselseitige Verflochtenheit der Regulationsprozesse von Bezugsperson und Säugling zu verdeutlichen. Der ontogenetische Entwicklungsverlauf zeigt, dass die intrapersonale Regulationsfunktion aus der interpersonalen Regulationsfunktion hervorgeht. Sroufe (1996) beschreibt dies folgendermaßen: ... the general course of emotional development may be described as movement from dyadic regulation to self-regulation of emotion. Moreover, dyadic regulation represents a prototype for self-regulation; the roots of individual differences in the self-regulation of emotion lie within the distinctive patterns of dyadic regulation (Sroufe 1996, p. 151). Die Handlungsregulation verwandelt sich im Laufe der Entwicklung von der völligen Abhängigkeit des Neugeborenen von der dyadischen (interpersonalen) Regulation in die selbstständige (intrapersonale) Regulationsfähigkeit des älteren Kindes. Dieser Übergang vollzieht sich aufgrund eines allgemeinen psychologischen Grundgesetzes der Entwicklung der höheren psychischen Funktionen. Nach Vygotskij (1992) tritt jede höhere psychische Funktion zunächst als soziale Handlung, d. h. als interpersonale Funktion, und erst danach als individuelle Handlung, d. h. als intrapersonale Funktion auf: Auf den Prozeß bezogen bedeutet »äußerlich« für uns »sozial«. Jede höhere psychische Funktion war äußerlich, … bevor sie eine innere, im eigentlichen Sinne psychische Funktion wurde. Sie stellte zuerst eine gesellschaftliche Beziehung zwischen zwei Menschen dar. Das Mittel der Einwirkung auf sich selbst ist ursprünglich ein Mittel der Einwirkung auf andere oder ein Mittel der Einwirkung anderer auf einen selbst (Vygotskij 1992, S. 235 f.).
3
Die Entwicklung von der interpersonalen zur intrapersonalen Regulation wird in 7 Kap. 4.3 ausführlich beschrieben. Dieser Entwicklungsmechanismus bestimmt auch die Entwicklung der Ausdrucksreaktionen. Wenn Emotionen zu Beginn der Ontogenese im Wesentlichen eine interpersonale Regulationsfunktion haben, dann werden Ausdrucksreaktionen zu den zentralen Vermittlungsgliedern in der kindlichen Handlungsregulation, und zwar in ihrer semiotischen Funktion als Zeichen für andere. Die Güte der Ausdruckszeichen und die Fähigkeit der Bezugspersonen, sich von den Ausdruckszeichen ihrer Kinder beeindrucken zu lassen, treten damit ins Zentrum der Analyse.
3.3
Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
Emotionale Ausdrucks- und Eindrucksprozesse in zwischenmenschlichen Interaktionen beruhen nicht ausschließlich auf angeborenen Mechanismen. Vielmehr gehen wir davon aus, dass kulturelle Einflüsse die Entwicklung dieser interpersonalen Ausdrucks- und Eindrucksprozesse maßgeblich bestimmen. Im Folgenden wird die These näher ausgeführt, dass die Entwicklung der Ausdrucks- und Eindrucksprozesse aneinander gekoppelt ist: Die Entstehung differenzierter Ausdruckszeichen auf der Ausdrucksseite verläuft Hand in Hand mit der Entstehung differenzierter Gefühlsqualitäten auf der Eindrucksseite. Die kulturell geschaffenen Ausdruckszeichen repräsentieren motivrelevante Person-Umwelt-Beziehungen und tragen sie über den Feedbackmechanismus in das Fühlen des Kindes hinein. Die kulturell vermittelte Entwicklung der Ausdrucksreaktionen wird damit zum Träger der kulturell vermittelten Entwicklung neuer kulturspezifischer Emotionsqualitäten und ihrer Regulation. Der Ausdruck ist eine der vier Emotionskomponenten. Er beinhaltet nicht nur die Mimik, sondern auch den Körperduktus (als Resultante von Körperhaltung und -bewegung), die Gestik, den vokalen Klang der Stimme, das Blickverhalten, das
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Verhalten im Raum und das Berühren (vgl. Collier 1985). Ausdrucksreaktionen sind Verhaltensweisen, die eine spezifische Form des Kontaktes mit Aspekten der Umwelt herstellen oder verstärken, abschwächen oder unterbrechen oder darauf abzielen, dieses zu tun (Frijda 1986, p. 13). Diese Veränderung kann auf zweierlei Weise geschehen: 1. Ausdrucksreaktionen verändern die PersonUmwelt-Beziehung direkt. Als prototypisches Beispiel nennt Frijda (1986, p. 11) den Ekelausdruck. > Beispiel Die Ausdrucksreaktion des Ekels (Würgen, Mundöffnen, Vorstrecken der Zunge, Rümpfen der Nase) reduziert den Kontakt mit unangenehm schmeckender Speise und führt zum Ausspeien der Speise.
2. Ausdrucksreaktionen verändern die PersonUmwelt-Beziehung indirekt, indem sie das Verhalten eines Interaktionspartners so beeinflussen, dass dieser die Beziehung in motivdienlicher Weise verändert. > Beispiel Der Ekelausdruck des Säuglings beim Essen kann der fütternden Person signalisieren, dass er nicht mehr essen mag und sie daher mit dem Füttern aufhören soll.
eine Zwitterstellung einnehmen (vgl. de Waal 1996, 2000; Ladygina-Kohts 1935/2002; Plooij 1984). Die Zeichenfunktion des Ausdrucks ist in den bislang entwickelten Emotionstheorien nur unzureichend berücksichtigt worden. Ausdruckszeichen haben u. E. eine vergleichbare Bedeutung für die emotionale Entwicklung wie Sprechzeichen für die kognitive Entwicklung. Wesentliche Erkenntnisse der semiotischen Analyse von Sprechzeichen lassen sich auf die Analyse von Ausdruckszeichen übertragen. Wir vertreten die These, dass die Ausdrucksreaktionen und ihre Bedeutung für die emotionale Entwicklung nur dann angemessen konzeptualisiert werden können, wenn man sie unter einer semiotischen Perspektive analysiert: Ausdrucksreaktionen haben in erster Linie die Funktion von Zeichen und weniger von instrumentellen Handlungen. Für eine solche semiotische Analyse des Ausdrucks benötigt man Verfahrensweisen, wie sich einzelne Ausdruckszeichen identifizieren und wie sich ihre Bedeutung und Funktion aufdecken lassen. Hierfür können Erkenntnisse aus der Semiotik, der Wissenschaft von den Zeichen, genutzt werden (Buchler 1940; Heeschen 1990; Lang 1992; Schönrich 1990; vgl. auch Ekman u. Friesen 1969; Trevarthen u. Logotheti, 1987). Im Folgenden werden die Grundzüge einer solchen semiotischen Analyse von Ausdruckszeichen skizziert. Die Ausarbeitung dieser Skizze bedarf noch umfangreicher konzeptioneller und empirischer Studien.
Der Ausdruck wird in diesem Fall zum Ausdruckszeichen.
3.3.1 Was ist ein Ausdruckszeichen? Die Ausdruckszeichen, die Erwachsene benutzen, sind nicht mehr nur Elemente eines angeborenen Ausdruckssystems. Vielmehr sind sie Elemente eines eigenständigen mimetischen Zeichensystems (Donald 1993; Raeithel 1994). Dieses Ausdruckssystem unterscheidet sich vom sprachlichen Zeichensystem dadurch, dass nur die motivrelevanten Aspekte der Person-Umwelt-Beziehungen einer Kultur kodifiziert sind. Aber als Zeichensystem stehen die Ausdruckszeichen des Menschen den Sprechzeichen näher als den Ausdruckszeichen der Säugetiere. Dabei dürften die überaus differenzierten Ausdruckssysteme der Schimpansen und Bonobos
(Semantik) Ein Ausdruckszeichen besteht aus einer Abfolge von Ausdrucksbewegungen, die man objektiv beschreiben kann, z. B. mit den »Action Units« des Facial Action Coding System (FACS), wenn es sich um ein mimisches Ausdruckszeichen handelt (Ekman u. Friesen 1978). Es lässt sich aber nicht auf die Beschreibung von Bewegungsmustern reduzieren, ebenso wie sich ein Sprechzeichen nicht auf eine Abfolge von vokalen Klangmustern reduzieren lässt. Vielmehr ist ein Ausdruckszeichen ein funktionelles System en miniature.
61
3.3 · Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
Symbol (Ich tue so, als ob es so ist) Symptom (So ist es) Appell (Lass das andauern) Wie wird das Zeichen benutzt? (Pragmatik)
3
a) Ich fühle mich gut b) Ich möchte das andauern lassen Kulturelle Bedeutung des Ausdrucksmusters (Semantik)
k lä rt B
rt Z we ck
→
←
Interpretant
ed
←
Person lächelt
g→
Ausdrucksmuster
tun
klä
eu
J
Ausdruckszeichen
→ verweist auf →
Referent
a) Gefühlszustand der Person b) Handlungsbereitschaft der Person
. Abb. 3.4. Ausdruckszeichen als triadische Relation von Ausdrucksmuster, Referent und Interpretant
Die triadische Struktur eines Ausdruckszeichens Ein Zeichen umfasst nach Peirce (vgl. Buchler 1940; Trevarthen u. Logotheti 1987) eine triadische Relation (. Abb. 3.4), bestehend aus der wahrnehmbaren Form (Muster) des Zeichens, dem Referenten, auf das das Zeichen verweist, und dem Interpretanten, der die Beziehung zwischen Zeichen und Referent mit Bedeutung füllt: 1. Ausdrucksmuster: Ein wahrnehmbares Ausdrucksmuster ist eine spezifische Kombination einzelner Elemente der nonverbalen Verhaltenskanäle, z. B. ein Lächeln, ein Schrei, eine geballte Faust, ein Niederknien vor jemandem, eine Umarmung, ein Anstarren etc. Auch Handlungen mit Gegenständen, denen eine symbolische Bedeutung zugewiesen ist, sollten ebenfalls mit einbezogen werden, wie z. B. das Tauschen von Ringen bei der Eheschließung, das Schwenken von Fahnen bei Aufmärschen oder das Tragen von Trikots der Lieblingsmannschaft. Die Beispiele zeigen, dass man das ganze Spektrum an Ausdruckszeichen verkennen würde, wenn man sich allein auf die Mimik beschränkte.
2. Referent: Der Referent ist der Gegenstand (Sachverhalt, Phänomen), auf den das Zeichen verweist. Während Sprechzeichen auf das ganze Universum an realen und vorgestellten Phänomenen und Sachverhalten verweisen, verweisen Ausdruckszeichen in der Regel »nur« auf zwei Arten von Referenten1: Zum einen auf das Gefühl, das die Person aktuell erlebt; zum anderen auf die aktuelle Handlungsbereitschaft der Person. Welche Bedeutung mit den beiden Zeichen-Referent-Beziehungen (Ausdruckszeichen-Gefühl bzw. AusdruckszeichenHandlungsbereitschaft) verknüpft ist, wird erst durch den Interpretanten spezifiziert. 3. Interpretant: Trevarthen und Logotheti (1987, p. 67) benutzen für Peirce‘ Begriff »interpretant« den Begriff »motive«. Das ist die invariante Bedeutung, die mit der jeweiligen Zeichen-Referent-Beziehung in einer gegebenen Kultur verknüpft ist. Sie ist relativ überdau1
Die Zeichen der Gebärdensprache für Taubstumme sind hier nicht integriert. Diese Zeichen stellen ein dem Sprechen analoges universales Zeichensystem dar, das nicht auf emotionale Zustände beschränkt ist.
62
ernd, d. h. sie verändert sich in historischen Zeiträumen, aber nicht von Situation zu Situation wie die pragmatische Bedeutung eines Zeichens (7 Abschn. 3.3.2). Sie kann daher in einem Lexikon abgelegt werden (. Tabelle 3.2). Hierbei geht es um eine semantische Bedeutungsanalyse – im Unterschied zur pragmatischen Bedeutungsanalyse (s. u.). Jedes Ausdruckszeichen hat in Bezug auf seine beiden Referenten (Gefühl, Handlungsbereitschaft) eine unterschiedliche Bedeutung: Beim Gefühl geht es um die motivrelevante Bewertung der aktuellen Person-Umwelt-Beziehung, die sich als »relational meaning« bezeichnen lässt (vgl. Lazarus 1991). In der aktuellen Emotionsforschung wird in den Appraisaltheorien vornehmlich auf diese Zeichen-Referent-Beziehung und ihre Bedeutung fokussiert (vgl. Scherer et al. 2001). Hinsichtlich der Handlungsbereitschaft geht es um die aktuellen Handlungsintentionen der Person2. Mit dieser Zeichen-Referent-Beziehung und ihrer Bedeutung beschäftigt sich vor allem die Ethologie, die das Ausdrucksverhalten von Tieren analysiert (Leyhausen 1967a, b), und die Humanethologie (Eibl-Eibesfeldt 1984).
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Die beiden Zeichen-Referent-Beziehungen sollen an einem Beispiel aufgezeigt werden: > Beispiel
14
Ein Kleinkind bekommt ein Spielzeug geschenkt und lächelt. Zieht man als Referenten des Lächelns das aktuelle Gefühl des Kindes heran, dann lässt sich das Lächeln so interpretieren, dass das Kind einen bedeutsamen Fortschritt bei der Zielerreichung gemacht hat (s. Lazarus 1991, p. 267): Mit dem Geschenk kann es nun etwas sein eigen nennen, das es sich gewünscht hat. Nach Wierzbicka (1999, p. 189) würde das Kind zum Ausdruck bringen: »I feel something good now«. Zieht man als
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
2
Der Begriff »Intention« bezieht sich in diesem Kontext auf die »Gerichtetheit« eines Aktes (»aboutness«, vgl. Dennett 1987), und nicht auf seine übliche psychologische Definition im Sinne eines Versprechens oder einer geäußerten Absicht. Nach dieser Definition müssen weder Menschen noch Tiere um das wissen, was sie intendieren.
Referenten des Lächelns die aktuelle Handlungsbereitschaft des Kindes heran, dann lässt es sich so interpretieren, dass es die Situation andauern lassen möchte: Es wird daher das Spielzeug allen zeigen, es ausführlich betrachten und damit spielen (. Tabelle 3.2).
Das Beispiel macht auch deutlich, dass die beiden Referenten eines Ausdruckszeichens und seine Bedeutungen nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern sie stellen die beiden Funktionsaspekte einer Emotion dar: die Einschätzung (Appraisal) und die Handlungsbereitschaft (»action readiness«). Ein Ausdruckszeichen repräsentiert somit nicht nur ein Gefühl oder eine Handlungsbereitschaft, sondern eine Emotion. Diese vereinfachte Analyse soll unsere Idee illustrieren. Analysiert man das Verhältnis von Emotionen und Ausdruckszeichen eingehender, dann stellt man fest, dass eine Emotion in der Regel nicht durch eine einzige Ausdrucksbewegung, sondern durch eine Konfiguration zum Ausdruck gebracht wird, wie sie z. B. im EMFACS (Emotion Facial Action Coding System) von Ekman und Friesen (1978; Ekman 1988, S. 223 f.) oder im MAX (Maximally Discriminative Facial Movement Coding System) von Izard (1979) zusammengestellt sind. Wie die Analysen von Scherer (1992a), Smith und Scott (1997) und Wierzbicka (1999) nahe legen, lassen sich diese Ausdruckskonfigurationen in elementarere bedeutungstragende Ausdruckszeichen zerlegen. Das eröffnet die Möglichkeit, die elementaren Ausdruckszeichen wiederum zu neuartigen bedeutungshaltigen Konfigurationen zusammenzusetzen, die weit über ein stereotypes Repertoire hinausgehen und eine differenzierte Ausdruckssprache erkennen lassen (7 Abschn. 3.3.4). Dieser Komponentenansatz der Ausdrucksanalyse erscheint sehr vielversprechend zu sein (vgl. auch Wierzbicka 1995). Darüber hinaus lassen sich für die semantische Bedeutungsanalyse Anleihen bei der Analyse linguistischer Bedeutungen machen. So können z. B. die Konzepte der semantischen Invarianz, der Polysemie oder der semantischen Komponente angewendet werden. Wierzbicka (1995, 1999) hat hierzu wichtige Arbeiten beigetragen.
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3.3 · Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
3
. Tabelle 3.2. Semantik ausgewählter mimischer Ausdruckszeichen. (In Anlehnung an Wierzbicka 1999, 7 Kap. 4) Ausdrucksmuster
Gefühlszustand
Handlungsbereitschaft
Lächeln
Ich fühle mich gut.
Ich will die laufende Handlung bzw. Interaktion fortsetzen. Ich will mich dir anschließen.
Heruntergezogene Mundwinkel
Ich fühle mich schlecht und ich weiß, dass ich nichts tun kann.
Ich will gar nichts mehr tun.
Gebleckte Zähne
Ich fühle mich bedroht, aber ich kann mich zur Wehr setzen.
Ich will jetzt dem Gegenüber etwas Schlimmes antun. Ich bin bereit zum Angriff.
Augenbrauen zusammenziehen (Stirnrunzeln)
Ich will jetzt etwas tun, ich denke, dass ich es nicht tun kann, und ich denke nicht, dass es (von allein) passiert.
Ich will mein Ziel weiterhin erreichen.
Augenbrauen hochziehen (mit/ohne geweitete Augen)
Das Wahrgenommene ist für mich im Moment neu bzw. unerwartet.
Ich will explorieren, mehr Informationen bekommen.
Aufgerissene Augen mit starren Augenbrauen
Das Wahrgenommene ist für mich bedrohlich, ich kann aber nichts dagegen tun.
Ich will mehr Informationen, kann aber jetzt nichts tun.
Sprachliche Labels für Ausdruckszeichen
Universalität und Kulturspezifik
Die Bedeutung des Lächelns des Kindes im vorherigen Beispiel wurde sehr umständlich und aufwändig beschrieben. Man kann daher fragen, warum man den Sachverhalt nicht dadurch vereinfacht, dass man die Bedeutung des Lächelns als Ausdruck von »Freude« beschreibt. Allgemeiner stellt sich somit die Frage, warum man nicht einfach sprachliche Gefühlskategorien als Beschreibung für die Ausdrucksbedeutung einsetzen kann. Ein solches Vorgehen erscheint zwar intuitiv einleuchtend, führt aber zu keiner Lösung, denn dabei wird ein Ausdruckszeichen nur durch ein Sprechzeichen ersetzt, ohne dass die Bedeutung präzise beschrieben wird. So bleibt offen was denn nun die Bedeutung von »freudig« sei oder wie Wierzbicka (1995) es formuliert:
Darüber hinaus sind, wie Wierzbicka (1999) anmerkt, einige der Ausdruckszeichen, wie z. B. das Lächeln, kulturübergreifend, während es Sprechzeichen wie z. B. »Freude« oder »joy« und die damit verbundene sprachliche Bedeutung in der Regel nicht sind. Aufgrund dessen kann man nicht davon ausgehen, dass die Bedeutung eines kulturübergreifenden Ausdruckszeichens mit der kulturspezifischen Bedeutung des englischen Wortes »joy« genau identisch ist. Der terminologische Begriffswechsel ersetzt nicht die semantische Analyse. Um daher kulturübergreifende und kulturspezifische Ausdrucksbedeutungen klarer identifizieren zu können, schlägt Wierzbicka (1999) vor, für die semantische Analyse eine kulturübergreifende Metasprache (»natural semantic metalanguage«) zu benutzen. Diese enthält ausschließlich solche Bedeutungen, die in allen Sprachen anzutreffen sind. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass Bedeutungskonnotationen, die nur in einer besonderen Sprachkultur anzutreffen sind, vorschnell als universale Bedeutungen ausgegeben werden, wie dies bei der Zuordnung von mimischen Aus-
The meaning of even a relatively simple gesture such as, for example, a handshake or a hug is very complex, and that to be portrayed adequately it has to be portrayed in terms of an ordered set of sentences (comparable to those which explicate the meaning of speech act verbs ...), not in terms of any short global labels (Wierzbicka 1995, p. 209).
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
1
druckszeichen zu Basisemotionen anhand englischsprachiger Begriffe erfolgt ist.
2
> Beispiel
3 4
Die in Tabelle 3.1 zusammengestellten Gefühlszustände sind in Anlehnung an eine solche Kultur übergreifenden Metasprache beschrieben. Fessler (1999) bedient sich ebenfalls einer solchen Beschreibung, um die Einschätzungsprozesse von Stolz und Scham zu definieren:
5 6 7 8 9 10
1. 2. 3. 4. 5.
Ego erfüllt erfolgreich eine Norm Ego ist sich seines Erfolgs bewusst Ein Anderer weiß ebenfalls um Egos Erfolg Ego weiß um das Wissen des Anderen Der Andere zeigt gegenüber Ego entweder (i) eine positive Bewertung und Zuneigung (Bewunderung), oder (ii) eine positive Bewertung und Feindseligkeit (Neid) (oder Ego nimmt an, dass der Andere (i) oder (ii) gegenüber Ego empfindet) (Fessler 1999, p. 79 f., Übersetzung von Holodynski)
6. Ego empfindet Stolz.
11 12 13 14 15 16 17 18
Andere Klassifikationsschemata gehen nicht von den Ausdruckszeichen, sondern von den möglichen Beziehungsbedeutungen (»relational meanings«) bzw. Appraisalprozessen aus, die durch Ausdruckszeichen signalisiert werden. Man kann prüfen, inwiefern sich abgrenzbare Appraisalprozesse identifizierbaren Ausdruckszeichen zuordnen lassen. Diesen Weg hat Scherer (1992a) vorgeschlagen; Kaiser und Wehrle (2001) führen empirische Belege anhand mimischer Ausdruckszeichen an. Während eine semantische Analyse bei den Sprechzeichen bereits gesicherter Wissensbestand ist, steht eine semantische Klassifikation von Ausdruckszeichen erst am Anfang.
3.3.2 Wozu dient ein Ausdruckszeichen
(Pragmatik)?
19 20
Neben der semantischen Analyse, deren Ziel es ist, die invariante Bedeutung der Zeichen-Referent-Beziehung zu beschreiben, ist auch eine pragmatische Analyse notwendig. Letztere zielt auf die Funktion,
d. h. auf den Verwendungszweck eines Zeichens in einem spezifischen kommunikativen Kontext. Die kontextspezifische Einbettung eines Zeichens – auch aufgrund der Kombination mit anderen Zeichen – kann ihm eine modifizierte, ja sogar völlig entgegengesetzte Bedeutung verleihen. In seiner pragmatischen Bedeutung kann ein einzelnes Zeichen äußerst vieldeutig sein. Allerdings wird die tatsächlich intendierte Bedeutung durch den Kontext wiederum eindeutig gemacht, außer die Person beabsichtigt eine Mehrdeutigkeit. Ein Ausdruckszeichen kann vielen pragmatischen Zwecken (Funktionen) dienen, wie Kaiser und Wehrle (2001) am Beispiel der Mimik veranschaulicht haben. Scherer (1992b) hat vorgeschlagen, den kommunikativen Verwendungszweck von Ausdruckszeichen in Analogie zu einem Sprechzeichen zu konzeptualisieren, wobei er sich auf das Organonmodell von Karl Bühler (1934/1984) bezieht. Gemäß diesem Modell kann ein Zeichen als Symptom, Appell und Symbol benutzt werden.
Symptomfunktion: Gefühl und Handlungsbereitschaft werden mitgeteilt Ein Ausdruckszeichen kann als Symptom benutzt werden. Die Person teilt anhand des Ausdruckszeichens ihrem Interaktionspartner ihr aktuelles Gefühl und ihre Handlungsbereitschaft mit. So ist das Schreien eines Säuglings Ausdruck seines aktuellen Distress-Erlebens. Das Ausdruckszeichen hat dabei eine inhärente »First-person and present-tenseOrientierung« (Wierzbicka, 1999, p. 185): Es wird keine Aussage über eine externe Sache getroffen, sondern über die Person, die den Ausdruck zeigt, und zwar über ihr gegenwärtiges Gefühl und die damit verbundene gegenwärtige Handlungsintention.
Appellfunktion: Das Gegenüber soll zum Handeln veranlasst werden Die ethologische Forschung (Leyhausen 1967a; vgl. auch Fridlund 1994) hat darauf hingewiesen, dass der Ausdruck in der Evolution der Arten als Mittel der Verhaltenssteuerung anderer entstanden ist und damit in erster Linie in seiner Wirksamkeit als sozialer Appell und nicht als Symptom eines internen psychischen Zustands. Ein Zeichen wird demnach in der Erwartung benutzt, den Interaktions-
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3.3 · Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
3
partner zu beeindrucken, so dass er in ausdrucksspezifischer Weise reagiert. Die Appellfunktion verweist auf den relationalen Charakter des expressiven Verhaltens (Frijda 1986). Ohne ein Gegenüber, das sich von dem Zeichen in vorhersehbarer Weise beeindrucken lässt, bleibt jedes Zeichen als Zeichen nutzlos. Das setzt voraus, dass das Gegenüber auch fähig ist, sich durch die Zeichen beeindrucken zu lassen. Die Appellfunktion von Ausdruckszeichen lässt sich am Beispiel des Distressschreiens von Säuglingen eindrücklich demonstrieren:
nur am Rande beschäftigt (vgl. Hinde 1985; Malatesta u. Haviland 1985; Smith 1985; Zivin 1982, 1985).
> Beispiel
> Beispiel
Wenn Eltern das Schreien von Säuglingen hören, dann zeigen sie mit zunehmender eigener Untätigkeit physiologische Stresssymptome (Boukydis u. Burgess 1982), und sie verspüren den unbändigen Drang, dem schreienden Säugling zu helfen, damit er aufhört zu schreien (Gustafson u. Harris 1990).
Fridlund (1994, S. 129) hat die appellative Bedeutung einiger klassischer mimischer Ausdruckszeichen zusammengestellt, wobei er allerdings die Appellfunktion (Pragmatik) mit der signalisierten Handlungsbereitschaft (Semantik) vermischt. Für die Ausdruckszeichen, deren semantische Bedeutung wir bereits in . Tabelle 3.2 beschrieben haben, ist in . Tabelle 3.3 ihre Appellfunktion zusammengestellt. Eine umfassende Klassifikation der appellativen Bedeutungen von Ausdruckszeichen steht allerdings noch aus. Insbesondere die entwicklungspsychologische Forschung hat sich mit dieser Frage
Symbolfunktion: Man tut so, als ob man so fühlt bzw. handlungsbereit ist Eine Person kann Ausdruckszeichen auch dazu benutzen, dem Gegenüber lediglich zu suggerieren, dass sie das entsprechende Gefühl aktuell erlebt bzw. in dieser Weise handlungsbereit ist. Dann steht das Ausdruckszeichen stellvertretend für seinen Referenten, für das es durch kulturelle Übereinkunft ein Symbol ist.
Wenn man sich für ein Geschenk freundlich lächelnd bedankt, obwohl man eigentlich darüber enttäuscht ist, dann wird der Ausdruck in pragmatischer Hinsicht nicht als Symptom, sondern als Symbol der Freude verwendet.
Das Ausdruckszeichen steht dann stellvertretend für das Gefühl, das aktuell nicht erlebt wird – so wie ein Wort stellvertretend einen Gegenstand repräsentieren kann, der aktuell nicht zugegen ist. Im Folgenden verwenden wir den Begriff »Ausdruckssymbol« ausschließlich um anzuzeigen, dass ein Ausdruckszeichen auch in seiner Symbolfunktion benutzt werden kann (. Abb. 3.5a,b). Den Ausdruck auch in seiner Symbolfunktion verwenden zu können, ist eine Fähigkeit, die zwar in Ansätzen bereits bei Primaten beobachtet werden kann (de Waal 2000; Mitchell 1993), die sich aber erst beim Menschen vollständig entfaltet hat. Die Symbolbildung beginnt nicht erst mit dem
. Tabelle 3.3. Appellfunktion ausgewählter mimischer Ausdruckszeichen Ausdruckszeichen
Appellfunktion
Lächeln
Lass uns spielen. Lass uns Freunde sein.
Heruntergezogene Mundwinkel
Kümmere dich um mich. Mach alles wieder gut.
Gebleckte Zähne
Zieh dich zurück, gib nach oder ich greife an.
Zusammengezogene Augenbrauen (Stirnrunzeln)
Hör auf, mein Ziel zu blockieren.
Hochgezogene Augenbrauen mit/ohne geweitete Augen
Gib mir mehr Informationen.
Aufgerissene Augen mit starren Augenbrauen
Tue mir nichts, ich unterwerfe mich. Hilf mir aus der Gefahr (gegenüber vertrauten Personen)
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
1 2 3 4 a
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b . Abb. 3.5 a. Betrachtet man nur die Mimik des Jungen, dann würde man aufgrund der gebleckten Zähne annehmen, er wäre sehr ärgerlich. b Betrachtet man den Kontext, dann erkennt man, dass der Junge Fechten spielt und der Ärgerausdruck zum Spiel gehört, er also nicht tatsächlich ärgerlich ist. Er setzt seinen Ärgerausdruck symbolisch ein, um seinen Spielgegner zu drohen und einzuschüchtern. (Aus Molcho 1992, S. 111)
Sprechen, sondern bereits mit der Benutzung von Ausdruckszeichen in ihrer symbolischen Funktion. Bereits Kleinkinder sind dazu fähig, wenn sie z. B. den ausgestreckten Zeigefinger als Zeigegeste einsetzen oder wenn sie den Gesichtsausdruck ihrer Bezugspersonen bei der sozialen Bezugnahme (Klinnert et al. 1986) symbolisch interpretieren als Appell, wie sie in einer Situation mit ihrer eigenen Unsicherheit umgehen sollen. Dazu sind Kinder fähig, noch bevor sie Sprechzeichen benutzen. Wir betrachten die Transformation von Ausdrucksreaktionen in symbolisch verwendbare Zeichen als den zentralen Mechanismus, der nicht nur die interpersonale Regulation, sondern vor allem auch die Internalisierung von Ausdruckszeichen in der intrapersonalen Regulation ermöglicht. Diese beiden Aspekte werden im Folgenden näher beschrieben.
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Ausdruckszeichen in der interpersonalen Regulation
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In der emotionspsychologischen Literatur wurden bislang die Phänomene »Täuschung« (Lewis u. Saarni 1993; Sommer 1992) und »Befolgen
von Darbietungsregeln« (Ekman 1972; Matsumoto 1990) näher analysiert und der Appellcharakter nur unzureichend berücksichtigt. So kann das Lächeln bei einem enttäuschenden Geschenk als Täuschung bzw. als Befolgen einer kulturellen Darbietungsregel interpretiert werden (Saarni u. von Salisch 1993). Erst wenn man die Appellfunktion des symbolisch verwendeten Ausdrucks berücksichtigt, erschließen sich auch die Möglichkeiten, die der symbolische Gebrauch von Ausdruckszeichen für die Regulation sozialer Beziehungen eröffnet. Eine Person täuscht bzw. befolgt eine Darbietungsregel vor allem deshalb, weil sie dadurch einen bestimmten Effekt beim Gegenüber hervorrufen will. > Beispiel Im Fall eines enttäuschenden Geschenks, bei dem sich der Beschenkte beim Schenkenden dennoch freundlich bedankt, will der Beschenkte die Beziehung zum Schenkenden nicht beschädigen, indem er dessen Geschenk abweist.
Die Arbeiten zur Selbstdarstellung (»impression management«) (vgl. DePaulo 1991, 1992; Goff-
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3.3 · Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
man 1958, 1967; Hochschild 1990; Laux u. Weber 1993; Mummendey 1990) beschäftigen sich mit der durch Ausdruckszeichen erzeugten Eindrucksbildung in zwischenmenschlichen Interaktionen. Viele Kulturanthropologen haben die spezifische Symbolik des nonverbalen Verhaltens in unterschiedlichen Kulturen analysiert (Eibl-Eibesfeldt 1984; Lee et al. 1992; Poyatos 1988; Wierzbikka 1995). Einen kulturhistorischen Abriss der Zivilisationsformen der Emotionen und ihres körperlichen Ausdrucks liefert Vowinckel (1989). Äußerst aufschlussreich sind auch die Arbeiten im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution«, in dem es auch um die historische Entwicklung kulturell generierter symbolischer Ausdruckszeichen geht (Stollberg-Rilinger 2004). Diese Analysen werden erst allmählich in ihrer Bedeutung für die Emotionsforschung erkannt. Diese Betrachtungen legen die Schlussfolgerung nahe, dass es sich beim menschlichen Ausdruckssystem und seiner Nutzung nicht um ein »natürliches«, ausschließlich spontan eingesetztes Kommunikationsmittel handelt. Vielmehr handelt es sich um ein kulturell geschaffenes Mittel, das gezielt zur Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen eingesetzt wird. Es soll allerdings auch in seinem symbolischen Gebrauch auf das Gegenüber durchaus emotional, d. h. »spontan« und »natürlich« wirken. So wie man mit Hilfe von Sprechzeichen wechselseitige motivdienliche Absprachen treffen kann, so geht dies auch mit Ausdruckszeichen – ohne dass die durch die Ausdruckszeichen repräsentierten Emotionen auch tatsächlich aktuell gefühlt werden.
Ausdruckszeichen in der intrapersonalen Regulation Die Ausdruckszeichen auch symbolisch einsetzen zu können, stellt in unseren Augen die zweite Bedingung für die Entstehung mentaler Ausdruckszeichen dar. Die erste Bedingung ist die Ausdifferenzierung der intrapersonalen aus der interpersonalen Handlungsregulation (7 Kap. 3.2). Mit mentalen Ausdruckszeichen können »private« Gefühle entstehen, denen keine für Außenstehende mehr wahrnehmbaren Ausdrucksreaktionen zugrunde
3
liegen, sondern statt dessen mentale Repräsentationen dieser Ausdrucksreaktionen. Warum ist die Fähigkeit, Ausdruckszeichen auch symbolisch verwenden zu können, für die Internalisierung eine notwendige Bedingung? Wenn man ein Zeichen als Symbol benutzt, ist man fähig, das Zeichen von seinem Referenten trennen und als Repräsentant des Referenten auch dann einsetzen zu können, wenn der Referent nicht zugegen ist. Damit tritt das Zeichen, seine Form und Wirkung, in den Aufmerksamkeitsfokus der beteiligten Personen und ermöglicht es, die Zeichen zu konventionalisieren und neue Zeichen für die gleichen Referenten einzuführen. So kann man Sprechzeichen in Schriftzeichen übersetzen, ohne dass sich ihr kommunikativer Gehalt verändert. Ebenso kann man den kommunikativen Gehalt von Ausdruckszeichen in Sprechzeichen übersetzen. Eltern von Kleinkindern bemühen sich, ihren Kindern beizubringen, nicht mehr zu quengeln und zu gestikulieren, wenn sie etwas haben wollen, sondern ihren Wunsch sprachlich auszudrücken. Die Funktion eines Zeichens ist demnach nicht notwendig an eine bestimmte Form gebunden. Eine andere Zeichenform kann für den Zeichennutzer die gleiche Funktion erfüllen. Im Falle der Selbstregulation, also der Kommunikation mit sich selbst, kann noch eine weitere Transformation der Zeichenform erfolgen: Es ist nicht mehr notwendig, dass die Zeichen eine für Außenstehende wahrnehmbare Qualität besitzen müssen, sondern es reicht aus, dass sie für die Person selbst in hinreichender Eindeutigkeit existieren, d. h. die Zeichen müssen für die Person als hinreichend abgrenzbare, bedeutungstragende Körperempfindungen repräsentiert sein. Somit können aus materialisierten Zeichen, die objektiv wahrnehmbar sind, mentale Zeichen werden, die nur noch subjektiv wahrnehmbar sind. > Beispiel Aus einem hörbaren Fluchen wird ein Fluchen in Gedanken, aus einem sichtbaren Lächeln wird ein In-sich-hinein-Lachen, aus einem Naserümpfen mit Würgeimpuls wird die Vorstellung, man würde würgen.
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Bei der Benutzung von Sprechzeichen geschieht dies in der Transformation des äußeren Sprechens in das innere Sprechen, bei dem man innerlich zu sich selbst spricht, ohne dass es nach außen gehört werden kann (vgl. Diaz u. Berk 1992; Vygotskij 1934/1987). Wir gehen davon aus, dass sich bei der Entwicklung der Ausdruckszeichen eine homologe Internalisierung vollzieht, wie dies Vygotskij für die Entwicklung der Sprechzeichen aufgezeigt hat. Ob Ausdruckszeichen für die intrapersonale Regulation eine vergleichbar herausgehobene Bedeutung einnehmen wie die Sprechzeichen, ist bislang noch nicht erforscht.
Zusammenfassung der pragmatischen Funktionen eines Ausdruckszeichens Ein Zeichen, das die Aufmerksamkeit des Empfängers auf den Sender lenkt, hat Symptomfunktion. Ein Zeichen, das die Aufmerksamkeit des Empfängers auf sich selbst lenkt, hat Appellfunktion, und ein Zeichen, das die Aufmerksamkeit des Empfängers auf die Gegenstände und Sachverhalte außerhalb der Zeichensituation lenkt, hat Symbolfunktion. Bei komplexen Ausdruckszeichen treten diese drei Funktionen in wechselnden Dominanzverhältnissen zusammen auf. Das Ausdruckszeichen ist Symptom für ein aktuelles Gefühl aufgrund seiner Abhängigkeit vom Sender. Es besitzt Appellcharakter aufgrund der Eindrucksbildung, die beim Empfänger hervorgerufen wird, und beeinflusst somit dessen nachfolgendes Verhalten. Und es kann als Symbol verwendet werden aufgrund der Zuordnung des Zeichens zu emotionalen Sachverhalten, die es stellvertretend repräsentiert.
3.3.3 Wie entstehen neue
erzeugten mimetischen Systems an Ausdruckssymbolen wird möglich, da sowohl universale als auch kulturspezifische Person-Umwelt-Beziehungen in ihren motivrelevanten Aspekten kodifiziert sind und über die kulturelle Tradierung an die nachfolgende Generation weitergegeben werden.3 Zur Erklärung des Prozesses, wie Ausdruckszeichen kulturell geschaffen werden, bedarf es einer näheren Betrachtung der Beziehung zwischen Ausdruckszeichen und Referent. Dabei geht es um die Kodierform des Zeichens. Peirce (Buchler 1940; Trevarthen u. Logotheti 1987) unterscheidet drei Kodierformen: 5 Index, 5 Ikon und 5 Symbol. Auch Morris (1946), auf den sich Ekman und Friesen (1969) beziehen, nimmt eine vergleichbare Einteilung vor.
Index Ein Index steht mit seinem Referent in instrumenteller Weise in Verbindung und dient einem instrumentellen Zweck. > Beispiel Das Würgen verbunden mit dem Öffnen des Mundes, dem Vorstrecken der Zunge und dem Rümpfen der Nase dient dazu, ungenießbare Speise auszuspucken.
Eine Verhaltensweise bzw. Körperreaktion wird zu einem Index, wenn sie Außenstehende als Zeichen für die Handlungsbereitschaft des Ausdrückenden bzw. für seinen Gefühlszustand heranziehen und ihre eigenen Handlungen gegebenenfalls darauf abstimmen.
Ausdruckszeichen? Ausdruckszeichen in ihrer Symbolfunktion verwenden zu können ist nicht nur auf angeborene Ausdruckszeichen beschränkt. Diese Fähigkeit eröffnet darüber hinaus auch die Möglichkeit, differenziertere und sogar neue Ausdruckszeichen zu schaffen, durch die kulturell neuartige motivrelevante Person-Umwelt-Beziehungen ausgedrückt und reguliert werden können. Die Schaffung eines kulturell
3
Der Symbolgebrauch von Zeichen eröffnet darüber hinaus auch die Möglichkeit, den ursprünglichen engen Bedeutungsrahmen der Ausdruckszeichen zu erweitern und – analog zur Sprache – auf beliebige Gegenstände auszudehnen, wie dies in der Gebärdensprache für Taubstumme eindrucksvoll demonstriert ist. Ein solcher symbolischer Gebrauch von Ausdruckszeichen setzt nicht den Gebrauch von Sprechzeichen voraus (Messing 1999).
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3.3 · Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
> Beispiel So können Eltern das Würgen ihres Säuglings als Index für das Erleben von Ekel interpretieren und sich veranlasst sehen, mit dem Füttern aufzuhören.
Auch andere Verhaltensweisen, die im Rahmen einer instrumentellen Handlung auftreten, können für Außenstehende zu Indices werden, wie z. B. die geballte Faust kurz vor dem Zuschlagen als Index für erlebte Wut. Die emotionsbegleitenden Körperreaktionen des autonomen Nervensystems, die eigentlich der Anpassung des Organismus an die mit der Emotion verbundenen Handlungskonsequenzen dienen (vgl. Collier 1985), können ebenfalls als Index genutzt werden, soweit sie für einen Außenstehenden wahrnehmbar sind, wie z. B. Erröten als Index für Scham.
Ikon Ein Ikon steht nicht in instrumenteller, sondern in einer explizit semiotischen Beziehung zu seinem Referent, d. h. es wird explizit zum Zwecke der Kommunikation verwendet. Ein Ausdrucksikon verweist auf die Handlungsbereitschaft des Senders mit dem Ziel, den Empfänger zu Verhaltensweisen zu veranlassen, die dem Appellcharakter des Zeichens entsprechen. Ein Ikon trägt die Hinweise zu seiner Dekodierung in sich selbst, weil es eine Ähnlichkeit mit dem aufweist, was es bedeutet.
durch Indices eingesetzt hat, kann durch Selektionsprozesse ihre Umwandlung in Ikons beginnen, bei der die Zeichen für die Eindrucksbildung optimiert werden. Für die phylogenetische Entwicklung hat Huxley (1966) den Begriff der Ritualisierung geprägt. Doch dürfte diese Umwandlung auch für die kulturhistorische und ontogenetische (Fridlund 1994) Entwicklung von Ausdruckszeichen von Bedeutung sein.4 Es ist anzunehmen, dass vielen ikonischen Ausdruckszeichen eher eine kulturübergreifende Bedeutung zukommt, da ihre Beziehungsbedeutung bereits im Ausdruckszeichen selbst verkörpert ist. Wird ein Zeichen in einer Kultur nicht beobachtet, weist das noch nicht auf seine Kulturspezifik hin. Es kann vielmehr sein, dass die Bedeutung dieses Ausdruckszeichens kulturübergreifend gilt, aber in einer Kultur nicht benutzt wird. Dies kann daran liegen, dass es eine motivbezogene Person-UmweltBeziehung repräsentiert, die in der Kultur nicht vorkommt oder verpönt ist (vgl. Wierzbicka 1995). > Beispiel In den egalitär verfassten Kulturen Europas ist kein Kniefall oder Fußfall mehr zu beobachten, während diese Ausdruckszeichen im Zeitalter des Absolutismus zum bekannten Ausdruckssystem europäischer Kulturen gehörten. Der Kniefall und mehr noch der Fußfall drücken starke soziale Rangunterschiede aus, wie sie zwischen Herrscher und Untertan, nicht aber zwischen gleichberechtigten Bürgern anzutreffen sind. Man findet aber diese Ausdruckszeichen nach wie vor im Zusammenhang mit religiösen Praktiken, bei denen die betende Person ihre Demut gegenüber Gott ausdrückt.
> Beispiel Viele ikonische Zeichen sind verkürzte bzw. stilisierte instrumentelle Handlungen, die ihrer ursprünglichen instrumentellen Einbindung entkleidet sind, wie z. B. die geballte Faust oder das Blecken der Zähne als Ikon für Ärger oder das Rümpfen der Nase als Ikon für Ekel.
Die Phylogenese von Ausdruckszeichen setzt zuerst auf der Beobachterseite an, indem seine Eindrucksfähigkeit für bestimmte Indices geschärft wird (Leyhausen 1967a). Der Beobachter (Artgenosse) nutzt dann wahrnehmbare indexikalische Begleiterscheinungen des Senderverhaltens als Zeichen für dessen Handlungsbereitschaft und stimmt sein Verhalten darauf ab. Erst wenn eine Eindrucksbildung
3
Kulturspezifisch wäre also ein Ausdruckszeichen erst dann, wenn gezeigt werden kann, dass es in zwei Kulturen eine unterschiedliche Bedeutung repräsentierte.
4
Als erster hat Darwin (1872) mit seinem zweiten phylogenetischen Prinzip der Ausdrucksentwicklung »the principle of serviceable associated habits« diesen Zusammenhang thematisiert. Allerdings hat er die neu selektierte appellative Funktion der Ausdruckszeichen nicht angemessen berücksichtigt (vgl. Griffiths 1997, p. 64–69).
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Symbol Beim Symbol ist die Beziehung zwischen Zeichen und Referent arbiträr, d. h. willkürlich hergestellt (Ekman u. Friesen, 1969). Es beruht auf Konvention und benutzt keine Ähnlichkeiten zwischen Zeichen und Referent. Ein solches Zeichensystem ist nicht aus sich heraus verständlich, sondern man muss in seinen Gebrauch und seine Bedeutung explizit eingeführt werden. Sprechzeichen sind bezüglich ihrer Kodierform Symbole. Ihre Bedeutungszuweisung erfolgte durch Konvention, und ihre Klangstruktur hat keine Ähnlichkeit zu ihrer Bedeutung, wenn man von sog. lautmalerischen Worten wie z. B. »Quietschen« oder »Krachen« absieht. > Beispiel Auch Ausdruckszeichen können in einer symbolischen Kodierform vorliegen wie z. B. das Victoryzeichen als Ausdruckssymbol für Stolz und Triumph: der erhobene Arm mit zum »V« gespreizten Zeige- und Mittelfinger der nach außen gerichteten Hand (. Abb. 3.6). Hier treten allerdings deutliche kulturelle Unterschiede auf: In Australien z. B. hat dieses Zeichen die Bedeutung, die in den USA dem gestreckten Mittelfinger entspricht – allerdings ist in Australien die Hand nach innen gewendet.
gangenen Abschnitten behandelt: die Semantik, die sich auf die Bedeutung, und die Pragmatik, die sich auf die Nutzung eines Zeichens bezieht. Ein drittes Kriterium, das bislang noch nicht erwähnt worden ist, betrifft die Kohärenz der Zeichen. Das betrifft die Frage, nach welchen Regeln sich Zeichen miteinander kombinieren lassen. Beim Sprachsystem wird dies als Syntax bezeichnet. Um von einem mimetischen System von Ausdruckszeichen sprechen zu können, müssen die Ausdruckszeichen untereinander nach definierten Regeln zu komplexeren Bedeutungseinheiten zusammengesetzt werden können. Nach welchen Regeln können Ausdruckszeichen zusammengesetzt werden? Da es hierzu bislang kaum Forschung gibt, haben die folgenden Ausführungen vorläufigen Charakter. Die gesprochene Sprache besitzt eine Syntax, die die Zusammensetzung der Sprechzeichen zu komplexeren Bedeutungen regelt. In diesen Regeln
Um einer begrifflichen Verwirrung vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass nicht nur Symbole als Symbole in der Kommunikation dienen können, sondern auch Ikons. Man kann Lächeln (Ausdrucksikon), ohne sich zu freuen (Nutzung als Symbol), ebenso das Victoryzeichen (Ausdruckssymbol) zeigen, um seinen realen Stolz zu signalisieren (Nutzung als Symptom). Wenn ein Kind erst einmal die Möglichkeit, Ausdruckszeichen auch symbolisch zu nutzen, entdeckt hat, dann kann es dies auf weitere Ausdruckszeichen erweitern und auch auf Sprechzeichen übertragen.
3.3.4 Wie lassen sich Ausdruckszeichen
kombinieren (Syntax)? Zwei wesentliche Kriterien des menschlichen Ausdruckssystems haben wir bereits in den vorange-
. Abb. 3.6. Das Victoryzeichen als Ausdruckssymbol für Stolz und Triumph
71
3.3 · Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen
der Sprache spiegelt sich eine Syntax des Handelns – auch im übertragenen Sinne – wider: Wer tut was womit wie gegenüber wem wo wann warum? Diese Syntaxregeln sind allerdings nur begrenzt auf Ausdruckszeichen übertragbar. Denn mit Letzteren soll nur ein bestimmter Ausschnitt des Handelns dargestellt werden, nämlich die motivrelevanten Aspekte der aktuellen Person-Umwelt-Beziehung in Form des Gefühls und der Handlungsbereitschaft der Person. Damit vereinfacht sich die mögliche Kombinierbarkeit der Ausdruckszeichen zu einer Beziehungssyntax im Hier und Jetzt, die rein prädikativen Charakter hat: 1. Nicht jede zulässige Kombination von Ausdruckszeichen ergibt eine sinnvolle Ausdrucksbotschaft in dem Sinne, dass sie eine motivrelevante Beziehung verkörpert. Das ist analog zum Sprachsystem, bei dem es auch grammatisch zulässige Kombinationen von Worten gibt wie z. B. »harte Flüsse hacken Rotwein«, die aber keine sinnvolle Bedeutung transportieren. Aber ebenso wie man davon ausgeht, dass eine Person keine sinnlosen Sätze spricht, gehen Ausdrucksempfänger davon aus, dass Ausdruckssender keine sinnlosen Ausdrucksbotschaften senden. In der Regel versucht man aus einer zunächst unverständlichen Botschaft mit Hilfe des Kontextes und seines Vorwissens eine sinnvolle Botschaft zu konstruieren (vgl. Hörmann 1994). 2. Ausdruckszeichen lassen sich zu komplexeren Bedeutungen zusammensetzen, und zwar sowohl dynamisch als zeitlich aufeinander folgende Kombinationen – analog den Sätzen beim Sprechen – als auch strukturell als zeitgleiche Kombination mehrerer Ausdruckszeichen. Dadurch lässt sich die Bedeutung eines Ausdruckszeichen modifizieren, sei es im Sinne einer Verstärkung, Abschwächung, Neutralisierung, Maskierung oder in der Schaffung neuer Bedeutungen. 3. Ausdruckszeichen kodifizieren ausschließlich eine aktuelle Beziehung zwischen Ausdruckssender, Ausdrucksanlass und Ausdrucksempfänger. Das Subjekt der Ausdrucksbotschaft ist nicht durch Ausdruckszeichen kodifiziert, sondern der Ausdruckssender ist zugleich das Subjekt, dessen Emotion dargestellt
3
werden soll. Auch der Anlass der Ausdrucksbotschaft ist nicht durch Ausdruckszeichen kodifiziert, sondern er existiert als Gegenstand, auf den die Ausdruckszeichen in raum-zeitlicher Gestalt Bezug nehmen, wie z. B. im Zurückschrecken vor der angstauslösenden Spinne. Der Ausdrucksempfänger, der durch die Botschaft zum Handeln veranlasst werden soll, ist durch Ausdruckszeichen ebenfalls nicht kodifiziert, sondern er existiert als Person, an die die Ausdruckszeichen in raum-zeitlicher Gestalt adressiert sind, wie z. B. das Anklammern des ängstlichen Kindes an seine Mutter beim Anblick der Spinne. Dabei können Ausdrucksanlass und Ausdrucksempfänger in einer Person zusammenfallen wie z. B. bei einer Drohgebärde, die durch den Provokateur veranlasst, aber auch an ihn als Reaktion adressiert ist. Und schließlich sind auch Ort und Zeit der Ausdrucksbotschaft nicht kodifiziert, denn die Botschaft bezieht sich immer auf das Hier und Jetzt. 4. Die horizontale Orientierung, auf der Ausdruckszeichen zwischen Sender und Empfänger ausgetauscht werden, hat eine eigenständige Bedeutung, die die verwendeten Ausdruckszeichen modifiziert: Austausch auf gleicher Höhe verkörpert gleichen Status, auf unterschiedlicher Höhe entsprechend ungleichen Status (Wierzbicka 1995). > Beispiel Ein Beispiel ist die Kombination des Ausdruckszeichens »Lächeln« mit den Ausdruckszeichen »Aufrichten des Körpers« oder »Zusammensinken des Körpers«: Ersteres signalisiert Stolz, das eigenständige Erfüllen eines Tüchtigkeitsmaßstabs bzw. eines normativen Standards; Letzteres verkörpert Verlegenheit und den Versuch zu beschwichtigen. Andere Beispiele sind Wangenkuss, Handkuss, Fußkuss, die unterschiedliche Grade der Ehrerbietung anzeigen.
5. Die beschriebene Basiseinheit von Ausdruckssender, -anlass, -zeichen und -empfänger lässt sich durch die Kombination mit anderen Zeichen erweitern:
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
a. Erweiterung des Ausdruckssenders: Mit Hilfe zusätzlicher sprachlicher oder anderer Zeichen kann der Ausdruckssender kenntlich machen, dass das Ausdruckszeichen nicht seine aktuelle Emotion signalisieren soll, sondern seine vergangene oder seine zukünftige Emotion. Der Ausdruckssender kann auch durch zusätzliche Zeichen kenntlich machen, dass das Ausdruckszeichen nicht seine eigene Emotion repräsentiert, sondern die einer anderen Person, die man stellvertretend nachspielt. Dieser Subjektaustausch muss jedoch explizit kenntlich gemacht werden. Aus den Ausdruckszeichen selbst ist er nicht ersichtlich. b. Erweiterung des Ausdrucksempfängers: Der Empfänger der Ausdrucksbotschaft muss nicht immer eine real anwesende Person sein. Sie kann bloß vorgestellt sein oder sich reflexiv an die eigene Person richten. Das Gegenüber kann aber auch ein Symbol für etwas sein, das anderweitig nicht repräsentierbar ist, wie dies z. B. bei religiösen Gefühlen der Fall ist: Die Demut gegenüber Christus drückt sich z. B. in einem Kniefall oder sogar einem Fußfall vor dem Altar in der Kirche aus. Ebenso kann der Ausdrucksempfänger ausgetauscht werden, wenn er nicht der aktuelle Interaktionspartner sein soll. Auch dies muss durch sprachliche oder andere Zeichen explizit zum Ausdruck gebracht werden. Das mimetische System weist demnach eine Kohärenz der Ausdruckszeichen untereinander auf, die gewissen Kombinationsregeln zu gehorchen scheinen. Allerdings steht die Forschung hier noch am Anfang. Wir nehmen an, dass das Ausdruckssystem aufgrund seiner Kohärenz auch produktiv ist, wie das beim menschlichen Sprachsystem ebenfalls der Fall ist: Mit einer begrenzten Anzahl an Worten und syntaktischen Regeln lässt sich eine fast unbegrenzte Anzahl an Bedeutungen erzeugen. Da es sich beim Ausdruck auch um ein Zeichensystem handelt, lässt sich in einem Analogieschluss annehmen, dass auch das mimetische Zeichensystem aufgrund seiner Kohärenz produktiv ist und sich mit
einem begrenzten Repertoire an Ausdruckszeichen und Kombinationsregeln eine fast unbegrenzte Anzahl an motivrelevanten Person-Umwelt-Beziehungen, d. h. Emotionen, ausdrücken lässt. Aufgrund dieser Produktivität kann das mimetische System durch die Entwicklung neuer kulturspezifischer Motive erweitert werden und den neuen motivrelevanten Person-Umwelt-Beziehungen Ausdruck verleihen. Dies gilt sowohl in kulturhistorischer als auch in ontogenetischer Perspektive.
3.3.5 Zusammenfassung Bislang wurden zwei wesentliche Entwicklungsbedingungen der Internalisierung von Ausdruckszeichen beschrieben. Die erste Bedingung ist die Ausdifferenzierung der intrapersonalen aus der interpersonalen Handlungsregulation. Ontogenetisch
primär ist die interpersonale Regulation zwischen Säugling und Bezugsperson, in der von außen wahrnehmbare Ausdruckszeichen notwendig sind. Aus dieser interpersonalen Handlungsregulation differenziert sich im Laufe des Vorschulalters die intrapersonale Handlungsregulation aus. Erst dann sind mentale Ausdruckszeichen überhaupt sinnvoll, weil die Person ihre Handlungen nun selbstständig reguliert. Die zweite Bedingung der Internalisierung ist die kulturbedingte Transformation von Ausdrucksreaktionen in Zeichen, die auch symbolisch genutzt werden können. Ausdruckszeichen sind Gegenstand des subjektiven Gefühls und zugleich Gegenstand der kulturellen Symbolbildung und Tradierung. Das mimetische System von Ausdruckszeichen stellt ein eigenständiges Zeichensystem dar, das nur noch zum geringen Teil aus angeborenen Ausdrucksreaktionen besteht. Zum überwiegenden Teil besteht es aus kulturell geschaffenen Ausdruckszeichen, die als sinnlicher Ausdruck der kulturellen Differenzierung von Emotionsqualitäten als motivrelevante Person-UmweltBeziehungen geschaffen worden sind. Über das intern gefühlte Feedback der Ausdruckszeichen und die kulturelle Differenzierung der Emotionsqualitäten hält die Kultur Einzug in die Emotionsentwicklung.
3.4 · Ebenen der Regulation
Die erste Entwicklungsbedingung spielt sich auf der Ebene der emotionalen Handlungsregulation ab. Die zweite erfordert aber bereits das Zusammenspiel von zwei Regulationsebenen der menschlichen Tätigkeit. Diese verschiedenen Regulationsebenen sollen im folgenden Abschnitt beschrieben werden.
3.4
73
3
tigkeit thematisiert (vgl. auch Holodynski u. Oerter 2002). Menschliche Tätigkeit hat eine artspezifische Struktur, die u. E. mindestens vier unterscheidbare Regulationsebenen umfasst (. Abb. 3.7): 1. die habituelle Handlungsregulation, 2. die emotionale Handlungsregulation, 3. die volitionale Handlungsregulation, 4. die reflexive Emotionsregulation.
Ebenen der Regulation
Die Evolution blieb nicht auf die Entwicklung eines mimetischen Systems von Ausdruckszeichen beschränkt (Donald 1993). Menschen benutzen in der Regel nicht die Gebärdensprache, sondern die gesprochene Sprache. Damit ist in der Phylogenese eine weitere Ebene des Zeichengebrauchs entstanden: die der Sprechzeichen. Diese ermöglichen eine neue Form von Regulation, nämlich eine volitionale Handlungsregulation, die nur dem Menschen zukommt. Volitionale Prozesse erlauben nicht nur eine Regulation von Handlungen, die alternativ zur emotionalen Regulation von Handlungen erfolgen kann, sondern sie ermöglichen auch einen Eingriff in den Ablauf der emotionalen Handlungsregulation. Die letztgenannte Thematik ist unter dem Stichwort »Emotionsregulation« Gegenstand umfangreicher Forschungen in den letzten 10 Jahren geworden (vgl. Bridges u. Grolnick 1995; Campos et al. 1994; Cole et al. 2004; Friedlmeier 1999a, 2005a; Gross 1999; Thompson 1990; Underwood 1997, Walden u. Smith 1997). Wir erinnern daran, dass der Begriff »Emotionsregulation« die Regulation von Emotionen durch Handlungen bezeichnet, während emotionale Handlungsregulation (abgekürzt: emotionale Regulation) die Regulation von Handlungen durch Emotionen bezeichnet (im Sinne der Action-Readiness-Funktion). Die wesentliche Frage ist hierbei, wie die Ebene der emotionalen Handlungsregulation in die anderen Regulationsebenen menschlicher Tätigkeit eingebunden ist und welche Rückwirkungen diese Einbindung auf die emotionale Handlungsregulation selbst hat. Wir haben diesen Aspekt bereits in 7 Abschn. 2.2.5 bei der Diskussion des funktionalistischen Emotionsparadigmas und der unterschiedlichen Regulationsebenen menschlicher Tä-
Die Niveaus sind in vielfältigen Rückkopplungsschleifen miteinander verbunden. Diese Struktur halten wir für universal in dem Sinne, dass sie jedem Menschen als artspezifisches Merkmal zukommt. Allerdings sind die vier Regulationsebenen nicht von Geburt an vorhanden, sondern werden im Laufe der Ontogenese in Auseinandersetzung mit der kulturellen Umwelt ausgebildet. Voraussetzung ist, dass der Mensch in einer kulturellen Umwelt aufwächst, die ihm die für die Ausbildung der jeweiligen Regulationsebenen erforderlichen Entwicklungsbedingungen anbietet. Diese Entwicklungsangebote sind nur zum Teil genetisch abgesichert. Zum überwiegenden Teil bestehen sie aus kulturell geschaffenen Regulationsmitteln, die auf die spezifische Lebensweise einer Kultur abgestimmt sind. Im Folgenden werden die vier Regulationsebenen skizziert. Dabei werden wir zeigen, wie jeder Regulationsebene ein bestimmter psychischer Prozess zugeordnet werden kann, der sich spezifischer Mittel bedient.
3.4.1 Handlungen und volitionale
Handlungsregulation Handlungen und die mit ihnen verbundene volitionale Regulation stellen die typisch menschliche Form der Tätigkeitsregulation dar, die man bei keiner anderen Spezies findet. Menschliche Tätigkeit besteht in einer Folge von Handlungen (7 Kap. 3.1). Eine Handlung ist ein auf ein Ziel ausgerichteter Prozess. Das Ergebnis der Handlung ist bereits zu Beginn als (mehr oder minder vage) mentale Vorstellung repräsentiert, die den Handlungsvollzug ausrichtet (Leont‘ev 1978; Maasen et al. 2003). Dieses ausrichtende Potenzial von Zielvorstellungen ist kein sich automatisch vollziehender Akt,
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
1
Person Reflexive Regulationsprozesse
2
R2 R1
V2
3
E5
4 5 6 7
Emotion
Motive
10 11 12
E6
R2
V3
E5 Kontext
Ziele Erwartungen E1
E1 Anlass
Gefühl als Feedbackempfindung
V1
Wahrnehmen E2
IF
Appraisal
PF
Problembezogene Handlung Umsetzen in Handlung
E4 Kontext
H
E6
E3 Körperregulation
8 9
Vorsatz Gefühl als bewusste Emotion
Emotionsbezogene Handlung
Ausdruck
. Abb. 3.7. Vier Ebenen der Regulation: Habituelle Handlungsregulation: H Gelernte Routinen steuern die Handlung. Volitionale Handlungsregulation: V1 Motive und Situationswahrnehmung legen bestimmte Ziele und Erwartungen nahe. V2 Dies führt zu dem Vorsatz, ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen. V3 Der Vorsatz setzt zieldienliche Handlungen in Gang. Emotionale Handlungsregulation: E1 Sensibilisierung der Wahrnehmung und der Appraisalkomponente nach Maßgabe der aktuellen Motive, Ziele und Erwartungen. E2 Weiterleitung des Wahrnehmungsinputs zur Appraisalkomponente. E3 Auslösung der Körper- und Ausdrucksreaktionen mit ihrem
Feedback als interozeptive (IF) und propriozeptive (PF) Empfindungen. E4 Überbrückung der Körper- und Ausdrucksreaktionen durch mentale Repräsentationen. E5 Zeitgleiche Repräsentation des Emotionsanlasses und der Ausdrucks- und Körperempfindungen als bewusstes Gefühl. E6 Körper- und Ausdrucksreaktionen und bewusstes Gefühl legen motivdienliche Handlungen nahe. Reflexive Emotionsregulation: R1 Emotionen können durch Modifikation der Ziele und Erwartungen verändert werden. R2 Durch willentliche Vorsätze können Emotionen in ihren Wirkungen modifiziert werden
sondern es entsteht in einem langwierigen ontogenetischen Lernprozess, in dem die Erreichung von Zielen durch Handlungen ausprobiert und zunehmend optimiert wird. Um solche mentalen Zielvorstellungen eines zukünftigen Zustands produzieren zu können, bedarf es zweier Bedingungen: 5 den Gebrauch eines universalen Zeichensystems und 5 die Existenz eines Selbstsystems (Bischof-Köhler 1998; Holodynski u. Oerter 2002).
unabhängig von den aktualisierten Motiven des Individuums sind (Leontiev 1981).
13 14 15 16 17 18
> Beispiel Für einen Menschen bleibt ein Hammer ein Werkzeug, unabhängig davon, ob er einen Nagel einschlagen will oder nicht. Für den Schimpansen hingegen wird ein Stein nur dann zum Werkzeug, wenn er Nüsse knacken will. Nach der Befriedigung seines Hungers wirft er den Stein weg (Boesch u. Boesch 1984).
Universales Zeichensystem
19 20
Für die Ausführung zielgerichteter Handlungen ist eine kategoriale Repräsentation der Welt mit Hilfe von Zeichen erforderlich, in der die wahrgenommenen Gegenstände und Geschehnisse eine verallgemeinerte Bedeutung angenommen haben, die
Der Gebrauch von Zeichensystemen ermöglicht es, Handlungsresultate mental vorwegzunehmen und Lösungswege für ein Problem mental zu simulieren, weil anstelle einer Manipulation der realen Gegenstände eine Manipulation der Zeichen, die die-
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3.4 · Ebenen der Regulation
se Gegenstände repräsentieren, getreten ist. Dieses universale Zeichensystem liegt als menschliches Sprachsystem vor. Die Manipulation von Zeichen hat aber nicht nur eine darstellende, sondern auch eine appellative Funktion, denn sprachliche Anweisungen dienen zugleich als Mittel der Auslösung und Ausrichtung von Handlungen. Dieser Übergang von der reinen Vorstellung zur Realisierung dieser Vorstellung ist gemeinhin durch einen Entschluss, einem willkürlich getroffenen Vorsatz markiert, das vorgestellte Ziel anzustreben. Da dieser Sachverhalt mit dem Begriff »Volition« umschrieben wird (Heckhausen et al. 1987; Kuhl 1996; Maasen et al. 2003), bezeichnen wir diese Form der Tätigkeitsregulation auch als volitionale Handlungsregulation. Die Verwendung von Sprechzeichen und anderer Zeichen als Appell stellt den Beginn der volitionalen Handlungsregulation dar (vgl. Luria 1961). Ebenso wie sprachliche Aufforderungen andere Personen zu bestimmten Handlungen veranlassen können, so kann auch das Sprechen zu sich selbst als Handlungsaufforderung wirken. Dieses selbstinstruierende Sprechen ist als privates und inneres Sprechen bezeichnet worden (vgl. Diaz u. Berk 1992; Vygotsky 1934/1987).
Selbstsystem Das mentale Probehandeln erfordert auch, sich selbst in Beziehung zu den Gegenständen und anderen Personen vorstellen zu können. Die Person erkennt und erlebt sich selbst zum einen als aktiv handelnd, als Einheit, die sich willkürlich Ziele setzt und diese auch erreicht. Das Selbst repräsentiert dabei die integrierende psychische Instanz. Zum anderen erfordert die Realisierung von Zielen immer auch, die Gegebenheiten in der sozialen und physikalischen Umgebung zur Kenntnis zu nehmen, um angemessene Anpassungen durchzuführen (vgl. Deci u. Ryan 1986). Insbesondere Ziele, die im Zusammenhang mit anderen Menschen verfolgt werden, erfordern eine wechselseitige Abstimmung hinsichtlich der Ziele, Erwartungen, Wünsche und Absichten der anderen. Dabei lassen sich Ziele auf zweierlei Weise realisieren (Heckhausen 1997; Markus u. Kitayama 1991; Rothbaum et al. 1982): Man setzt die eigenen Ziele unbeirrt durch, indem man aktiv auf ande-
3
re Personen (z. T. auch gegen ihren Widerstand) und die sächliche Umwelt einwirkt. Oder man versucht, die eigenen Ziele viel stärker an die der sozialen Bezugsgruppe anzupassen, um sie auf diese Weise leichter und ohne großen Widerstand realisieren zu können. Die Art und Weise, wie dieser Person-Welt-Bezug in den sozialen Beziehungen der Menschen untereinander organisiert ist, unterscheidet sich in verschiedenen Kulturen. Insbesondere kulturspezifische Selbstauffassungen und die damit in Zusammenhang stehende Kontrollorientierung sind hier wesentlich. Die Person kann sich als unabhängige und in sich abgeschlossene Einheit (independent) erleben oder als Teil einer sozialen Gruppe (interdependent). Im letzten Fall liegt eine hohe Identifikation mit bedeutsamen anderen Personen vor, die als Teil des Selbst erlebt werden. Die Erreichung selbst gesteckter Ziele um ihrer selbst willen steht für eine Person mit independenter Selbstauffassung im Vordergrund und damit auch der Versuch, die Umwelt möglichst den eigenen Zielen gemäß zu verändern (primäre Kontrollorientierung). Für eine Person mit interdependenter Selbstauffassung haben soziale Ziele, wie z. B. Harmonie, Akzeptanz und Anerkennung in der sozialen Bezugsgruppe, hohe Priorität. Selbst gewählte Ziele werden nur dann aktiv umgesetzt, wenn sie in Einklang mit dem sozialen Kontext stehen (sekundäre Kontrollorientierung). Entsprechend diesen Unterschieden sind die kulturspezifischen Person-Welt-Bezüge in den Zeichensystemen unterschiedlich repräsentiert. Die Beziehungen erfordern einen unterschiedlichen Umgang miteinander. > Beispiel So ist in Japan als Kultur, in der interdependente Selbstauffassungen vorherrschen, das wechselseitige Austauschen von Geschenken ein Zeichen für gute Nachbarschaft. Dabei zählt der Akt des Schenkens und nicht der Wert des Geschenks selbst. In Deutschland als Kultur, in der independente Selbstauffassungen vorherrschen, werden Geschenke zwischen Nachbarn eher selten ausgetauscht; die Bedeutung liegt nicht so sehr im Akt des Schenkens, sondern darin, ob sich darin die Besonderheit der beschenkten Person, ihr besonderer Geschmack etc. ausdrückt.
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Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
Diese kulturspezifischen Selbstauffassungen haben auch entsprechende Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung und die sich ausbildende emotionale Handlungsregulation (7 Kap. 5).
3.4.2 Operationen und habituelle
Handlungsregulation
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Handlungen haben nicht nur einen intentionalen Aspekt, welches Ziel erreicht werden soll, sondern auch einen operativen Aspekt, wie das Ziel erreicht werden soll. Dieser operative Aspekt ist nicht vom Ziel, sondern von den Mitteln und Bedingungen abhängig, unter denen das jeweilige Ziel gegeben ist (Leont‘ev 1978).
8
> Beispiel
5 6
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Beim Auto mit Gangschaltung und beim Motorrad muss man die Gänge manuell einlegen, allerdings sind dazu völlig unterschiedliche Operationen erforderlich, da ein Auto eine Handschaltung und ein Motorrad eine Fußschaltung hat.
Die Auslösung von Operationen ist nicht von einem willkürlichen Vorsatz abhängig, sondern wird von den wahrgenommenen Bedingungen gesteuert. Die Mittel dieser Regulationsform sind aktuell wahrgenommene sensorische Reize, die mit entsprechenden adaptiven Reaktionen des Individuums zu Reiz-Reaktions-Ketten verknüpft werden. Nach Abschluss dieses Lernprozesses kann der operative Aspekt einer zielgerichteten Handlung habituell ablaufen. So ist es möglich, beim Schalten der Gänge auf den Verkehr zu achten und sich mit dem Beifahrer zu unterhalten. Operationen haben einen unterschiedlichen Ursprung. Sie können angeborene Reflexe auf bestimmte Auslösereize sein, wie z. B. das Zurückzucken der Hand von einer heißen Herdplatte. Die überwältigende Zahl an Operationen entsteht jedoch erst durch Lernen. Diese gelernten sensomotorischen Koordinationen können soweit habitualisiert werden, dass sie den Charakter von reflexhaften Reaktionen annehmen. Ein großer Teil der menschlichen Tätigkeitsregulation des Erwachsenen besteht in einem abgestimmten Zusammenspiel der volitionalen und der
habituellen Regulation. Der Mensch baut sich im Laufe seiner Entwicklung mit Hilfe von Zeichen eine Repräsentation seiner Welt auf und handelt gemäß seinen Erwartungen. Viele Abläufe müssen nicht volitional kontrolliert werden, so lange die gelernten Erwartungen über den Ablauf genau mit den Bedingungen übereinstimmen, die während des Handlungsvollzugs tatsächlich eintreten. In diesen Fällen gibt es keine Emotionen oder Volitionen.
3.4.3 Emotionen und emotionale
Handlungsregulation Die Beschreibung der volitionalen und habituellen Regulationsebene kann den Eindruck erwecken, als ob der menschliche Handlungsvollzug die meiste Zeit ohne Emotionen auskommt. Das hat einige Emotionsforscher dazu verleitet, Emotionen als überflüssig oder sogar als dysfunktional zu klassifizieren (vgl. Hillmann 1960). Das ist jedoch nicht der Fall. Handlungen und gelernte Operationen sind »motivblind«. So haben zwar manche Handlungen einen Motivbezug, wie z. B. das Essen von Speisen für das Nahrungsmotiv oder das Aufsuchen der Bezugsperson für das Bindungsmotiv, aber die Handlung für sich genommen enthält keine Anzeichen, inwiefern damit im Hier und Jetzt ein Motiv der Person befriedigt wird. Die meisten Handlungen können sogar in mehrere Motivsysteme eingebunden werden: So kann das Essen auch ein kommunikatives Motiv befriedigen, sofern es im gemeinschaftlichen Kreis erfolgt. Ebenso kann sich eine Person eine Vielfalt an Zielen vorstellen und sich dazu entschließen, sie realisieren zu wollen. Was aber gewährleistet, dass sich die vielfältigen Ziele nicht gegenseitig blockieren oder gar zu volitionalen Entscheidungen führen, die nicht motivdienlich sind? Ebenso garantiert das reibungslose Abspulen von Operationen nicht per se die Befriedigung von Motiven, wenn man von Schutzreflexen absieht, die der körperlichen Unversehrtheit dienen. Die Frage bleibt daher bei der volitionalen und habituellen Handlungsregulation virulent: Woher nimmt eine Person die Gewissheit, dass eine be-
77
3.4 · Ebenen der Regulation
stimmte Handlung und Operation motivrelevant und motivbefriedigend ist, und zwar nicht im Allgemeinen, sondern im Hier und Jetzt in einer konkreten Situation? Diese motivleitende Funktion hatten wir in Einklang mit funktionalistischen Emotionstheorien den Emotionen zugewiesen (vgl. Frijda 1986; Scherer 2001). Darin besteht die stammesgeschichtliche Kontinuität in Bezug auf die Funktion von Emotionen. Gerade weil der Mensch potenziell eine unendliche Vielfalt an vorgestellten Zielen realisieren kann, ist die Emotionalisierung seiner Handlungen in gleichem Maße gewachsen, um die motivbezogene Abstimmung der volitionalen und habituellen Handlungsregulation zu ermöglichen.
3.4.4 »Metahandlungen« und reflexive
Emotionsregulation In den bisherigen Analysen sind wir davon ausgegangen, dass Motive durch Routinehandlungen oder durch emotional oder volitional initiierte Handlungen befriedigt werden. Diese Formen der Handlungsregulationen stoßen dann an ihre Grenzen, wenn Motivkonflikte auftreten: Die Person muss sich zwischen der Befriedigung zweier Motive entscheiden; ein Motiv lässt sich aufgrund der situativen Gegebenheiten aktuell nicht befriedigen; zwei Motive widersprechen sich in ihren Realisierungswegen. Im Alltagsleben lassen sich unzählige Beispiele finden, bei denen die kurzfristige Befriedigung des einen Motivs zur langfristigen Unerfüllbarkeit eines anderen Motivs führen kann und umgekehrt. > Beispiel Wenn man seinem drängenden Wunsch nachgibt, Freunde zu treffen und das schöne Sommerwetter zu genießen, anstatt die Zeit zum Lernen für Abschlussprüfungen zu nutzen, kann das zu so schlechten Examensnoten führen, dass man auf dem Stellenmarkt keine Chancen mehr hat, in seinem Wunschberuf eingestellt zu werden. Dann hat man zwar kurzfristig sein Anschlussmotiv befriedigen können, aber sich langfristig die Möglichkeit verbaut, seinen Wunschberuf ausüben zu können.
3
In diesen Fällen ist eine Regulation erforderlich, die diese widrigen Umstände ins Kalkül zieht und durch diesen Rückbezug eine neue, nämlich reflexive Ebene der Regulation eröffnet: Sie richtet sich nicht darauf, im Hier und Jetzt ein Motiv zu befriedigen, sondern Erkenntnisse über die Art und Weise der eigenen Regulation zu gewinnen. Diese reflexiven Handlungen werden auch als Metarepräsentationen bezeichnet (Bischof-Köhler 2000, S. 22). Sie richten sich auf eine Vergegenwärtigung dessen, wie die eigene psychische Regulation abläuft. Bischof-Köhler (ebd.) spricht auch von der Vergegenwärtigung des Vergegenwärtigten. In dem Maße, wie sich diese Repräsentationen auf die Vergegenwärtigung der emotionalen Regulationsprozesse richten, werden sie Gegenstand des Emotionswissens. Gehen sie über die Funktion der Wissensrepräsentation hinaus und werden sie handlungswirksam, werden sie Gegenstand der Emotionsregulation (Campos et al. 1994, 2004; Cole et al. 2004; Friedlmeier 1999b; Gross 1999; Thompson 1990; Walden u. Smith 1997). Diese Form der Regulation bezeichnen wir als reflexive Emotionsregulation, weil zwischen Ziel und Ausführung Phasen der Überlegung, des Abwägens und Planens, also Phasen der Reflexion, geschaltet sind. Die Fähigkeit zur Emotionsregulation versetzt eine Person in die Lage, ihren Emotionen und den damit verbundenen Handlungsbereitschaften nicht mehr nur ausgeliefert zu sein, sondern aktiv Einfluss auf die Wirkung der eigenen Emotionen nehmen zu können (vgl. auch Campos et al. 1989; Campos et al. 2004; Thompson 1990). Wir hatten dieses Phänomen der Emotionsregulation im Einleitungskapitel als ein wesentliches Phänomen der emotionalen Entwicklung des Menschen gekennzeichnet. Wir unterscheiden demnach eine emotionale Handlungsregulation, bei der Emotionen motivdienliche Handlungen auslösen und regulieren (Lazarus‘ [1991, p. 120] problembezogene Handlungen), und eine reflexive Emotionsregulation, bei der die Emotion durch Handlungen reguliert wird. > Beispiel Wenn man sich in einem Restaurant darüber ärgert, dass man ungebührlich lange auf das Essen warten muss, kann man entweder seinem Är-
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1 2 3 4
Kapitel 3 · Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung
ger dem Kellner gegenüber Luft machen und sich lauthals beschweren – mit dem Ziel, dass das Essen dann schneller gebracht wird (emotionale Handlungsregulation). Man kann aber auch sich vornehmen, die Situation umzudeuten und sich zu sagen, dass der Kellner überlastet sei und man ihm keinen Vorwurf machen könne – mit dem Ziel, seinen Ärger in Gleichmut oder Mitgefühl umzuwandeln, um das Warten erträglich zu machen (reflexive Emotionsregulation).
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Im realen Handlungsvollzug sind beide Regulationsformen verwoben, da eine reflexive Emotionsregulation nicht nur nach dem Auslösen einer Emotion einsetzen kann, sondern bereits während oder sogar vor dem Auslösen. Bei der Emotionsregulation nach dem Auslösen einer Emotion werden Handlungen aktiviert, die die Emotion nach Maßgabe übergeordneter Motive abschwächen, verstärken oder sogar durch andere Emotionen ersetzen, insofern sie motivdienlicher sind. Dies sind die emotionsbezogenen Bewältigungshandlungen sensu Lazarus (1991, p. 120). Eine Emotionsregulation kann schon während einer Emotion einsetzen z. B. durch eine Modulation des Ausdrucks. Sie kann aber auch schon vor dem Auftreten einer Emotion einsetzen, wenn man bestimmte emotionsauslösende Kontexte vermeidet, damit man erst gar nicht in die Verlegenheit gerät, die Emotion regulieren zu müssen. Das ist das vorgreifende motivorientierte Planen der eigenen Handlungen.
Zeitbewusstsein als Voraussetzung Die Realisierung dieser reflexiven Emotionsregulation ist an Voraussetzungen gebunden, die über die Fähigkeit, Zeichen symbolisch zu gebrauchen und zwischen Selbst und Anderen zu unterscheiden, hinausgeht. Sie setzt die Fähigkeit zum Zeitbewusstsein voraus (Bischof-Köhler 2000, vgl. auch Suddendorf u. Corballis 1997): Das Kind muss in der Lage sein, nicht nur aktuelle, sondern auch zukünftige Motive mit Hilfe von Emotionen widerspiegeln zu können. Es muss in der Lage sein, sich in Relation zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sehen, wozu es einer symbolischen Repräsentation dieser Sachverhalte bedarf. Es muss sich vorstellen, dass aktuell nicht zu befriedigende Motive
zu einem späteren Zeitpunkt (eventuell sogar unter anderen Bedingungen) befriedigt werden können. Ein solches Zeitbewusstsein entsteht erst im Laufe des Vorschulalters mit 4 bis 6 Jahren (vgl. Bischof-Köhler 2000). Damit erklärt sich, dass Kleinkinder zwar durchaus schon zu einer gewissen volitionalen Regulation ihrer Handlungen in der Lage sind. Aber eine motivkoordinierte reflexive Regulation ihrer Emotionen tritt erst im Laufe des Vorschulalters auf, wie Forschungen zum Belohnungsaufschub gezeigt haben (Mischel 1971; Patterson u. Mischel 1976). Bischof-Köhler (2000) hat zudem zeigen können, dass eine Korrelation zwischen Zeitbewusstsein und Belohnungsaufschub besteht. Die reflexive Emotionsregulation stellt die höchste Regulationsebene dar. Erst auf dieser Ebene können die volitionale, emotionale und habituelle Handlungsregulation in ein aufeinander abgestimmtes System überführt werden, bei dem nicht nur die Befriedigung aktueller Motive sichergestellt wird, sondern die Befriedigung des Systems der Motive in einer zeitlich koordinierten Form. Wie erfolgreich die reflexive Emotionsregulation ist, hängt zum einen von den kulturell verfügbaren Strategien und Wissensbeständen ab, wie sich Emotionen beeinflussen und modifizieren lassen, zum anderen vom ontogenetischen Lernstand: inwiefern er auf das eigene sich entwickelnde Motivsystem und den sich wandelnden Befriedigungsbedingungen abgestimmt ist.
Klassifikation von Emotionsregulationsstrategien Die Aneignung von Strategien, mit denen sich Emotionen in ihrer Qualität, Intensität, Dauer und Häufigkeit modifizieren lassen, stellt eine wesentliche Entwicklungsaufgabe dar. Es gibt, wie wir in 7 Abschn. 2.2.5 beschrieben haben, eine Reihe an Klassifikationsversuchen solcher Strategien. Wir möchten im Folgenden eine Klassifikation vorschlagen, die der Funktionalität dieser Strategien für die Emotionsregulation und ihrer ontogenetischen Entstehung stärker Rechnung trägt. So werden von Thompson (1990) sowie von Bridges und Grolnick (1995) die interaktiven bzw. externen Regulationsstrategien von den übrigen abgegrenzt. Aber die interaktiven Strategien unterscheiden sich vom Inhalt her nicht von den ande-
3.4 · Ebenen der Regulation
ren Strategien. Wenn ein Kind sich von seiner Bezugsperson Regulationsbeistand holt, also externe Bewältigungsressourcen nutzt, dann setzt die Bezugsperson dem Kind gegenüber eine der übrigen aufgezählten Regulationsstrategien ein, die man sich selbst gegenüber anwenden kann: Sie lenkt das Kind ab, beruhigt es oder bietet eine andere Deutung des Ereignisses an. Der Unterschied besteht also lediglich darin, wer wem gegenüber die Strategie einsetzt: die Person gegenüber sich selbst (intrapersonale Emotionsregulation) oder jemand anderes stellvertretend für die Person (interpersonale Emotionsregulation), wobei Letzteres durch den anderen oder durch die Person selbst initiiert werden kann. Alle Strategieformen sind sowohl intrapersonal wie interpersonal anwendbar. Des Weiteren setzen die einzelnen Strategien unterschiedliche Regulationsebenen (»levels of processing«) voraus. So gibt es Aufmerksamkeitsund Selbstberuhigungsstrategien auf einem sehr basalen Niveau: Neugeborene verfügen bereits über reflexartige Regulationsstrategien wie das Abwenden der Aufmerksamkeit von einer zu intensiven Reizquelle (Mangelsdorf et al. 1995) oder das Saugen als Beruhigungsstrategie (Blass u. Ciaramitaro 1994). Andererseits kann die Aufmerksamkeitslenkung auf »höchster« Regulationsebene angesiedelt sein, wenn man sich aufgrund bewusster Reflexion mit Hilfe von Selbstinstruktionen dazu entscheidet, sich gezielt abzulenken, um eine negative Emotion abklingen zu lassen. Des Weiteren verlangen die von Thompson (1990) aufgezählten Strategien »(Um)-Deutung emotionaler Anlässe«, »Deutung und Beeinflussung internaler Erregungsprozesse« und »die antizipierte Auswahl von Kontexten« symbolische Vermittlungsprozesse. Und auch die übrigen Strategien »Aufmerksamkeitslenkung« und »Auswahl von Reaktionsalternativen« können erst durch eine symbolische Vermittlung richtig effektiv eingesetzt werden. Daher erscheint uns eine Klassifikation der Strategien nach zwei Entwicklungsdimensionen gegenstandsangemessener zu sein: Die erste Dimension unterscheidet, wer reguliert – die Person selbst oder eine andere Person; die zweite Dimension unterscheidet, ob die Strategie symbolvermittelt ist oder nicht. Innerhalb der damit aufgespannten
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3
Kreuztabelle lassen sich dann weitere Untergruppen bilden (. Tabelle 4.3 in 7 Abschn. 4.3.3). Unsere Hypothese ist, dass die ontogenetische Entwicklung der Regulationsstrategien von der interpersonalen zur intrapersonalen Regulation verläuft und dass erst die Ausbildung einer sprachlich vermittelten Repräsentationsebene die Möglichkeit eröffnet, die Emotionsregulation effizient und vor allem antizipativ einsetzen zu können. Dies entspricht der Annahme von Scherer (2001), dass Emotionen auf der konzeptbasierten Ebene – in unserer Terminologie der volitionalen Regulationsebene – weitgehend durch willentliche (volitionale) Prozesse beeinflusst werden. Allerdings stellt Scherer dabei keinen Bezug zur Entwicklung des Sprechens und seiner Bedeutung für die Handlungsregulation her. Die Sprache ist jedoch das wesentliche Medium der Kommunikation sowie der Vergegenwärtigung und Nutzung von Wissen. Wir werden in 7 Abschn. 4.2.2 und 4.3.2 näher ausführen, inwiefern das Sprechen das wesentliche Medium einer volitionalen Handlungsregulation ist. Wir haben jetzt die wesentlichen Grundbegriffe unseres Internalisierungsmodells beschrieben und dabei versucht, die im zweiten Kapitel zusammengetragenen Schlussfolgerungen aus den Diskussionen der bestehenden Emotionsparadigmen zu berücksichtigen. Dem Modell liegt eine systemische Emotionsauffassung zugrunde, die Emotionen als dynamische selbstregulierende funktionale Systeme ansieht, die selbst wiederum »nur« eine von mindestens vier Regulationsebenen im Gesamtsystem der menschlichen Tätigkeit darstellen. Wir gehen davon aus, dass die Analyse des Wechselspiels zwischen diesen Regulationsebenen wesentlich zum Verständnis der emotionalen Handlungsregulation und seiner Entwicklung beitragen kann. Wir wollen dies im nächsten Kapitel dem Leser nahe bringen, in dem wir die Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation beschreiben und ihre zugrunde liegenden Entwicklungsmechanismen erläutern.
4 Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation 4.1
Präadaptation von Säugling und Bezugsperson
4.1.1
Emotionen des Neugeborenen
4.1.2
Sensomotorische Fähigkeiten zur interpersonalen
– 87
– 87
Regulation – 92 4.1.3
Intuitive elterliche Didaktik – 94
4.1.4
Zusammenfassung – 95
4.2
Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen im Säuglings- und Kleinkindalter – 96
4.2.1
Entstehung zeichenvermittelter Emotionssysteme – 96
4.2.2
Entstehung der volitionalen Handlungsregulation – 108
4.2.3
Vorläufer der reflexiven Emotionsregulation – 111
4.2.4
Interindividuelle Unterschiede – 114
4.2.5
Zusammenfassung – 119
4.3
Entstehung der intrapersonalen Regulation im Kleinkind- und Vorschulalter – 120
4.3.1
Entstehung der intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation – 122
4.3.2
Entstehung der intrapersonalen volitionalen Handlungsregulation – 132
4.3.3
Entstehung der intrapersonalen reflexiven Emotionsregulation – 135
4.3.4
Zusammenfassung – 143
4.4
Die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel ab dem 6. Lebensjahr
– 144
4.4.1
Internalisierung von Ausdruckszeichen
– 145
4.4.2
Internalisierung von Sprechzeichen
4.4.3
Entwicklung des Symbolverständnisses auf der Ebene
– 152
der reflexiven Emotionsregulation – 153
4.5
Mentale Emotionen und Emotionsregulation im Erwachsenenalter – 157
4.5.1
Belege für miniaturisierte und internalisierte Ausdruckszeichen – 157
4.5.2
Entwicklung der reflexiven Emotionsregulation – 165
4.6
Zusammenfassung – 166
4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
Die wichtigsten Entwicklungstrends, deren ontogenetischer Verlauf durch ein Entwicklungsmodell zu erklären ist, haben wir bereits in 7 Kap. 1 skizziert: a) Emotionen nehmen im Laufe der Ontogenese in ihrer Vielfalt zu, d. h. neue Emotionen entstehen; b Häufigkeit und Ausdrucksintensität von Emotionen nehmen ab; c) Emotionen »desomatisieren«, d. h. ihre korrespondierenden Ausdrucks- und Körperreaktionen können für Außenstehende unsichtbar werden, und d) Emotionen können zunehmend reguliert, d. h. in Intensität, Dauer und Qualität willkürlich modifiziert werden. Das Ziel dieses Kapitels ist es, diese Entwicklungstrends in eine ontogenetische Abfolge einzuordnen, die zugrunde liegenden Entwicklungsmechanismen zu beschreiben und empirische Befunde anzuführen, die die Modellannahmen des hier vorgestellten Internalisierungsmodells zum Entwicklungsverlauf und zu den Entwicklungsmechanismen belegen. Das Kapitel ist dem ontogenetischen Verlauf folgend in fünf Unterkapitel gegliedert. Darin werden wir die einzelnen Annahmen ausführlicher begründen und empirische Befunde auch in Form eigener Studien anführen. Nach der Darstellung des ontogenetischen Ausgangspunkts (7 Kap. 4.1) erfolgt die Beschreibung der ersten Entwicklungsphase mit der Entwicklung einer zeichenvermittelten interpersonalen Regulation zwischen Kind und Bezugsperson (7 Kap. 4.2). Daran schließt sich die Beschreibung der zweiten Entwicklungsphase mit der Entstehung der intrapersonalen Regulation an (7 Kap. 4.3). Dann wird die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel in der intrapersonalen Regulation als zentrale Thematik der dritten Entwicklungsphase skizziert (7 Kap. 4.4), und abschließend wird ein Ausblick auf das Erwachsenenalter gegeben (7 Kap. 4.5). Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um den Entwurf einer Entwicklungstheorie und nicht um ein fertiges Theoriegebäude. Es ist der Versuch, die Schlussfolgerungen, die wir bei der Diskussion der Emotionsparadigmen in 7 Kap. 2 gezogen haben, in einem kohärenten Ent-
83
4
wicklungsmodell zu integrieren. Ziel dabei ist es, vor allem allgemeine und prototypische Merkmale der Entwicklung der einzelnen Regulationsebenen in den jeweiligen Phasen zu betonen. Da die Konzepte und Befunde vorwiegend aus USA und Europa stammen, beschränken wir uns hier auf die westliche Kultur. Eine Ausweitung der kulturellen Perspektive erfolgt in 7 Kap. 5.
Begriffsklärung Emotionale Handlungsregulation In erster Linie behandelt dieses Kapitel die Entwicklung der emotionalen Handlungsregulation. Wir bevorzugen diesen Begriff gegenüber dem gebräuchlichen Begriff »Entwicklung der Emotionen«. Wir wollen damit kenntlich machen, dass sich Emotionen nicht als abgeschlossene Entitäten, sondern nur im Zusammenhang mit ihrer psychologischen Funktion entwickeln, die in der motivbezogenen Regulation von Handlungen besteht. Unsere Analyseeinheit ist daher nicht die »Emotion an und für sich«, sondern die Einheit »Anlass-Emotion-Handlung«. Eine Emotion ist ein psychisches System, das interne bzw. externe kontextgebundene Anlässe in ihrer Bedeutung für die eigene Motivbefriedigung bewertet, adaptive emotionsspezifische Ausdrucks- und Körperreaktionen auslöst, die über das Körperfeedback als Gefühl subjektiv wahrgenommen und mit dem Emotionsanlass in Zusammenhang gebracht werden, so dass motivdienliche Bewältigungshandlungen ausgelöst werden (können), sei es durch die Person selbst oder durch den Interaktionspartner (7 Kap. 3.1 und 3.2). Gemäß dieser Emotionsdefinition lassen sich beim Neugeborenen im strengen Sinne keine funktionstüchtigen Emotionssysteme finden, sondern nur Vorläuferemotionen (»precursor emotions«) (Sroufe 1996). Daher geht es bei der Beschreibung der emotionalen Entwicklung um die Frage, wie aus den Vorläuferemotionen des Neugeborenen eine Vielfalt an funktionstüchtigen Emotionssystemen werden, die zwei Eigenschaften aufweisen: 5 Sie können sowohl die Handlungen der Interaktionspartner als auch die eigenen motivdienlich regulieren (Funktionsaspekt). 5 Die zugehörigen Ausdruckszeichen und Körperreaktionen können internalisiert werden, so dass sie durch Außenstehende nicht mehr
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
wahrnehmbar, aber subjektiv auf einer mentalen Repräsentationsebene als bewusstes Gefühl erlebbar bleiben (Formaspekt).
Reflexive Emotionsregulation In zweiter Linie ist auch der komplementäre Prozess zu analysieren, nämlich die Entwicklung der Regulation von Emotionen durch Handlungen, die wir reflexive Emotionsregulation genannt haben (7 Abschn. 3.4.4). Hierbei geht es um die Frage, wie die Person die Fähigkeit erwirbt, unerwünschte Konsequenzen ihrer Emotionen einzudämmen und sie nach Maßgabe ihrer (antizipierten) Motive und Zukunftserwartungen zu regulieren. Sie ist damit nicht mehr ihren Emotionen und deren Handlungsbereitschaften unvermittelt ausgeliefert (Campos et al. 2004; Cole et al. 2004; Friedlmeier 1999a; Thompson 1994; Walden u. Smith 1997). Für diese Emotionsregulation eignen sich insbesondere sprachliche und volitionale Mittel, wie z. B. die Antizipation von Zielen, sprachliche Selbstinstruktionen und Willensentscheidungen (Kuhl 1996; Kuhl u. Kraska 1992). Diese Mittel eignet sich das Kind innerhalb der volitionalen Handlungsregulation an (7 Abschn. 3.4.1), die zunächst parallel zur emotionalen Handlungsregulation entsteht (Bloom 1993; Luria 1961). Die Entwicklung der volitionalen Handlungsregulation wird dabei nur in den für diese Thematik relevanten Ausschnitten behandelt. Wir sind der Auffassung, dass die Entwicklung der Emotionen (bzw. der emotionalen Handlungsregulation) ohne den Einbezug der reflexiven Emotionsregulation und der volitionalen Handlungsregulation nicht hinreichend zu erklären ist. Weder ließe sich erklären, wie eine Person im Laufe der Ontogenese ihre Emotionen zu beherrschen und zu modifizieren lernt noch wie die absolute Häufigkeit und Intensität von Emotionsepisoden insgesamt abnehmen können.
Entwicklungsphasen Die emotionale Entwicklung lässt sich nach dem Internalisierungsmodell in fünf Entwicklungsphasen einteilen. Wenn wir im Folgenden den Begriff »Entwicklungsphase« verwenden, dann in dem Sinne, dass die beschriebenen Entwicklungsschritte in diesem Altersbereich erstmals auftreten.
1. Entwicklungsphase: 1.–2. Lebensjahr In dieser Phase stellt sich dem Kind die Aufgabe, in der interpersonalen Regulation mit seinen Bezugspersonen ein differenziertes, durch Ausdruckszeichen vermitteltes Emotionsrepertoire aufzubauen und sich ein Repertoire an Bewältigungshandlungen anzueignen. Dabei bezeichnet der Begriff interpersonale Regulation den Prozess, in dem sich die Entwicklung vollzieht: Die einzelnen Komponenten eines Emotionssystems (Appraisal, Körperreaktion, Ausdruck, Gefühl) und ihre kontextuelle Einbettung (Anlass, Bewältigungshandlung) sind beim Neugeborenen nur in Vorläuferformen vorhanden (Sroufe 1996). Damit sie ihre entwickelte Form annehmen und als funktionsfähiges System zusammenwirken können, ist es notwendig, dass die Bezugsperson die zunächst fehlenden bzw. unentwickelten Teile ergänzt. Erst dadurch, dass die Bezugsperson die noch ungerichteten kindlichen Ausdrucks- und Körperreaktionen angemessen deutet, sie in ihrem eigenen Ausdruck in Form prägnanter Ausdruckszeichen spiegelt und prompt mit motivdienlichen Bewältigungshandlungen reagiert, vervollständigt sie die kindlichen Vorläuferemotionen zu voll funktionsfähigen motivdienlichen Emotionssystemen. Das kindliche Emotionssystem ist demnach anfänglich auf Kind und Bezugsperson aufgeteilt. Diese Aufteilung der Systemkomponenten auf zwei Personen bezeichnen wir als interpersonale Regulationsform. Kind und Bezugsperson agieren als ein koreguliertes System, wozu beide Seiten präadaptiert sind. Auf Seiten der Bezugsperson zeigt sich die Präadaptation in einer intuitiven elterlichen Didaktik (Papoušek u. Papoušek 1987), auf Seiten des Kindes in Form einer angeborenen Sensibilität für zeitliche, sensorische und räumliche Kontingenzen (Gergely u. Watson 1999) und der Fähigkeit zum motorischen Mimikry (Meltzoff u. Moore 1988). Daher ist die elterliche Sensitivität und Responsivität gegenüber den kindlichen Verhaltensweisen für eine erfolgreiche (emotionale) Entwicklung bedeutsam. Auf diese Weise wird aus dem Neugeborenen ein Kleinkind mit differenzierten Emotionen, das seine Motive mittels prägnanter emotionsspezifischer Ausdruckszeichen seinen Bezugspersonen signalisiert, so dass diese prompt mit dar-
4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
auf abgestimmten motivdienlichen Bewältigungshandlungen reagieren können. Diese emotionale Handlungsregulation ist aber nach wie vor interpersonal organisiert, weil die Emotionen auf die andere Person ausgerichtet bleiben. Sie veranlassen das Kleinkind noch nicht (oder nur sporadisch) dazu, die motivdienlichen Handlungen selbstständig auszuführen, auch wenn es sie bereits gelernt hat. Auch kann es seine Emotionen noch nicht nach Maßgabe höherer Motive kontrollieren und z. B. die Befriedigung eines Motivs zeitlich aufschieben, d. h. auch die reflexive Emotionsregulation übernehmen nach wie vor seine Bezugspersonen.
2. Entwicklungsphase: 3.–6. Lebensjahr Darin stellt sich dem Kind die Aufgabe, die allumfassende Unterstützung durch seine Bezugspersonen zu reduzieren und sowohl zu einer intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation als auch zu einer intrapersonalen reflexiven Emotionsregulation fähig zu werden (vgl. Sroufe 1996; Walden u. Smith 1997). Aus dem Kleinkind, das bei jeder Emotionsepisode noch der Unterstützung seiner Bezugsperson bedarf, wird ein Kind, das seine Handlungen mittels seiner Emotionen und Volitionen selbstständig regulieren kann, ebenso wie es auch seine Emotionen bereits willkürlich in gewissen Grenzen beeinflussen kann. In diesem Zusammenhang entstehen auch die das Selbst bewertenden Emotionen Stolz, Scham und Schuld, die das Handeln des nunmehr »selbstbewusst« gewordenen Kindes an die kulturellen Normen und Regeln des sozialen Umgangs binden. Es lernt, seine Motive nicht immer nur im Hier und Jetzt durch hilfreiche andere befriedigt haben zu wollen, sondern die Motivbefriedigung mit seinem sozialen Umfeld zu koordinieren. Dabei lernt es, sich an die kulturellen Normen und Regeln des Miteinanders zu halten und gegebenenfalls seine Motive zu hierarchisieren und ihre Befriedigung aufzuschieben oder ganz zu unterlassen.
3. Entwicklungsphase: ab dem 6. Lebensjahr In dieser Phase erfolgt ein Formwechsel der psychischen Regulationsmittel (der Ausdrucks- und Sprechzeichen), die das Kind für seine intrapersonale Regulation einsetzt. Die Ausdrucks- und
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4
Sprechzeichen des Kindes passen sich mit seiner zunehmenden Selbstständigkeit der neuen intrapersonalen Regulationsfunktion an, indem sie internalisiert werden. Aus materialisierten Ausdrucks- und Sprechzeichen, die für Außenstehende (Beobachterperspektive) wahrnehmbar sind, werden mentale Ausdrucks- und Sprechzeichen, die im Extremfall nur noch für die Person selbst (Akteursperspektive) wahrnehmbar sind: Aus dem hörbaren Fluchen wird ein inneres Fluchen, aus dem sichtbaren Lächeln wird ein inneres mikromomentanes Lächeln, aus dem hörbaren Sprechen ein inneres Sprechen. Daher verschwinden die Ausdrucks- und Sprechzeichen nicht, sondern sie werden internalisiert. Es entsteht eine mentale Ebene des Ausdrucks, Sprechens und Handelns. Es entwickeln sich »Als-ob-Gefühle« (Damasio 1994), d. h. Gefühle, die auf keinem Körperfeedback von realen Ausdrucks- und Körperreaktionen mehr beruhen, sondern auf deren somatosensiblen Repräsentationen (7 Abschn. 3.1.2). Voraussetzung für eine solche Internalisierung ist zum einen, dass die Ausdrucks- und Körperreaktionen keine instrumentelle, sondern nur (noch) eine semiotische Regulationsfunktion haben. Sie dienen dann nur noch als innere Signale, die der Person die ausgelöste emotionale Handlungsbereitschaft anzeigen, so dass sie die angemessenen Bewältigungshandlungen auswählen kann. Zeichen können ihre Form ändern, ohne dadurch ihre handlungsregulierende Funktion zu verlieren, was bei instrumentellen Reaktionen nicht funktioniert (7 Abschn. 3.3.2). Zum anderen nehmen wir an, dass ein Kind explizit zwischen subjektiv erlebbaren Gefühlsindikatoren und den realen Ausdrucks- und Körperreaktionen unterscheiden können muss. Erst dann kann es auch mentale Ausdruckszeichen als hinreichende Gefühlsindikatoren interpretieren und sich von ihnen leiten lassen. Sich konzeptuelles Wissen über Emotionen anzueignen wird somit zu einem integralen Bestandteil der emotionalen Entwicklung (vgl. Janke 2002). Eine solche Internalisierung der psychischen Regulationsmittel bringt eine weitere Optimierung der Handlungsregulation mit sich. Sie führt zu einer Ökonomisierung des Handlungsablaufs: So wie eine Idee schneller und komplexer gedacht als sie in Worten ausgesprochen ist (vgl. Vygotsky
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
1934/1987), so ist eine Emotion schneller und komplexer gefühlt als in Ausdrucks- und Körperreaktionen ausgedrückt. Des Weiteren ermöglicht die Internalisierung eine Optimierung der Ausdruckskontrolle. Dadurch, dass eine Person ihre Emotion mittels mentaler Ausdruckszeichen fühlen kann, kann sie ihren äußerlich sichtbaren Ausdruck kultur- und situationsspezifischen Erfordernissen anpassen, ohne ihr Gefühl in dessen motivbezogenem Informationsgehalt zu beeinträchtigen. Diese mentalen Ausdruckszeichen ermöglichen auch, Gedankenspiele über zukünftige Handlungsszenarien emotional einzufärben und damit motivbezogen zu bewerten.
4. Entwicklungsphase: Jugendalter Aufgabe dieser Entwicklungsphase ist es, eigene Handlungen und Emotionen nicht nur für die Gegenwart und nahe Zukunft vorauszusehen und zu regulieren, sondern diese Selbststeuerungskompetenz auch auf die ferne Zukunft ausweiten zu können. Das bedeutet, sein Handeln im Hier und Jetzt auch an seinen Konsequenzen für die zukünftige Motivbefriedigung bewerten und die angemessenen Entscheidungen treffen zu können. Das zeigt sich z. B. darin, sich im Hier und Jetzt mit längeren Lernanstrengungen und weniger Freizeit begnügen zu können, um in der Zukunft einen guten Schulabschluss zu schaffen. Der Ausdruck von Emotionen wird immer feiner auf die jeweiligen Interaktionspartner und den Kontext abgestimmt, und das emotionale Geschehen immer klarer als Teil des Selbst erkannt. So ist es für die Entwicklung des Selbstwertgefühls wichtig, die eigenen Gefühle als wichtige motivrelevante Zeichen zu akzeptieren. Zugleich nimmt der Sozialisationsdruck insofern zu, als die Bewertung emotionaler Reaktionen gerade auch durch Peers, deren Anerkennung dem Jugendlichen viel bedeutet, für die individuelle Entwicklung wichtig wird. Das Internalisierungsmodell ist bezüglich der Jugendphase zu wenig ausgearbeitet, weshalb wir sie in diesem Kapitel nicht weiter berücksichtigen.
lung dar. Auf sie ist die mehr oder minder bewusst vollzogene emotionale Erziehung der Heranwachsenden in einer Gesellschaft ausgerichtet. Daher müssten sich bei Erwachsenen die Ergebnisse der emotionalen Entwicklung in besonders prägnanter Weise zeigen, so dass sich Studien an Erwachsenen auch dafür eignen, die Hypothesen des Internalisierungsmodells über eine entwickelte emotionale Handlungsregulation und reflexive Emotionsregulation zu überprüfen. Dies werden wir in Bezug auf die Modellannahme, dass Ausdruckszeichen internalisiert werden und eine mentale Repräsentationsebene der emotionalen Regulation entsteht (die sogenannten Als-ob-Gefühle), in diesem Kapitel tun. Inwiefern die Emotionen Erwachsener und ihre Regulation von Kultur zu Kultur unterschiedlich sind und damit auch die Ausrichtung der Erziehungs- und Sozialisationsprozesse, werden wir in 7 Kap. 5 näher beleuchten. Hier im Ontogenesekapitel sind die Erwachsenen westlicher Kulturen, speziell des angloamerikanischen und europäischen Kulturraums, die Bezugsgrößen unserer Modellannahmen. Wie die sozioemotionale Selektionstheorie von Carstensen (1993) und die Lebenslauftheorie der Kontrolle von Heckhausen und Schulz (1995) nahe legen, ist die Funktionsfähigkeit der emotionalen Handlungsregulation und gerade auch der reflexiven Emotionsregulation bis ins hohe Erwachsenenalter gegeben, da die zeichenvermittelte Regulationsform von Emotionen anscheinend unabhängig von körperlichen Abbauprozessen funktioniert. Allerdings können sie durch hirnorganische Abbauprozesse beeinträchtigt werden. Auf die Erwachsenenphase werden wir nur kursorisch eingehen, weil sich unsere Forschungen auf die erste bis dritte Phase beziehen und bislang auch nicht viele Studien zur emotionalen Entwicklung im Jugend- und Erwachsenenalter vorliegen (vgl. Carstensen et al. 1998; Magai u. McFadden 1996).
4.1
Präadaptation von Säugling und Bezugsperson
5. Entwicklungsphase: Erwachsenenalter Die Emotionen des Erwachsenen und seine Art der reflexiven Emotionsregulation stellen die Bezugsgrößen für die Ausrichtung der Emotionsentwick-
Das ontogenetische Ausgangsniveau der emotionalen Entwicklung lässt sich als wechselseitige Präadaptation der Kompetenzen des Neugebore-
4.1 · Präadaptation von Säugling und Bezugsperson
nen und seiner Bezugspersonen beschreiben, die den schrittweisen Aufbau des Emotionssystems sicherstellen sollen. Dabei lassen wir die intrauterine Entwicklung unberücksichtigt (vgl. dazu Brazelton 1983; Soussignan u. Schaal 2005). Dieses Ausgangsniveau ist das Produkt der phylogenetischen Artentwicklung, das bei der menschlichen Art auf eine kulturelle Umwelt hin adaptiert ist. Es ist genetisch verankert und monomorph in dem Sinne, dass es allen Menschen zukommt. Diese zwei Aspekte werden oft mit dem Begriff »angeboren« gleichgesetzt und daraus zuweilen der Schluss gezogen, dass alle Kompetenzen, die nicht bereits bei Geburt vorhanden sind, ausschließlich gelernt und damit kulturell bedingt sein müssten (vgl. Ratner 2000). Griffiths (1997, pp. 55–64) hat die Unzulänglichkeit dieser simplifizierenden Dualität zwischen »angeboren« und »gelernt« detailliert diskutiert. Auch wenn bislang die komplexen Wechselwirkungen zwischen genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen nicht annährend aufgedeckt sind, so lässt sich aus den bisherigen Forschungen doch der Schluss ziehen, dass auch ontogenetisch später auftretende psychische Prozesse eine genetische Grundlage haben und zur universalen Ausstattung eines jeden Menschen gehören können, wie z. B. der Spracherwerb oder ein Set an basalen Emotionen. Ihre Entstehung setzt jedoch voraus, dass das Individuum in einer artspezifischen sozialen Umwelt Erfahrungen machen kann und Lerninputs erhält, auf die das angeborene Potenzial präadaptiert ist (vgl. Griffiths 1997). Der menschliche Säugling ist nach Prechtl (1993) eine »physiologische Frühgeburt«. In Bezug auf seine neurophysiologische Reife ist er im Vergleich zu den Neugeborenen verwandter Säugetierarten zu früh geboren. Diese Verkürzung der intrauterinen Entwicklung hat zur Folge, dass das Neugeborene in seinen motorischen Fähigkeiten sehr retardiert und unreif ist (vgl. Thelen 1984). Es beherrscht noch nicht die Handlungen, die seine Bedürfnisse befriedigen können. Daher ist das Neugeborene darauf angewiesen, dass sich seine Bezugspersonen durch seinen emotionalen Ausdruck veranlasst fühlen, für seine Bedürfnisbefriedigung zu sorgen. Diese Unreife seiner motorischen Fähigkeiten kompensiert der Säugling jedoch durch eine beson-
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dere Anpassung an eine interpersonale Handlungsund Emotionsregulation, die aus angeborenen Vorläuferemotionen und sensomotorischen Kompetenzen bestehen. Komplementär dazu sind Bezugspersonen mit einer intuitiven elterlichen Didaktik ausgestattet, die auf die Kompetenzen des Neugeborenen abgestimmt ist und eine progressive Entwicklung des Kindes im Rahmen der interpersonalen Regulation ermöglicht. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden.
4.1.1 Emotionen des Neugeborenen Gemessen an unserer systemischen Emotionsdefinition (7 Kap. 3.1) lassen sich beim Neugeborenen im strengen Sinne keine Emotionen, sondern nur Vorläuferemotionen (»precursor emotions«, Sroufe 1996) finden, an denen die interpersonale Regulation ansetzen kann. Diese werden durch absolute physikalische Reizschwellen und nicht durch eine Bedeutungszuschreibung ausgelöst (vgl. aber Soussignan u. Schaal 2005). Die Ausdrucks- und Körperreaktionen sind noch nicht auf den Emotionsanlass und situativen Kontext hin abgestimmt und zum Teil reflexhaft. So konnten Erwachsene den mimischen Ausdruck von Neugeborenen, den man in fünf emotional unterschiedlichen Situationen videografiert hatte (vor dem Stillen, erzwungene Bewegung, im Arm der Mutter, von der Mutter wegnehmen, Spritze geben), nur nach den globalen Dimensionen Aktivation und Valenz korrekt einstufen, nicht aber bezüglich der Situation oder der spezifischen Emotionsqualität (Galati u. Lavelli 1997). Indem allerdings die Bezugsperson die noch ungerichteten kindlichen Ausdrucks- und Körperreaktionen motivangemessen deutet, sie in ihrem eigenen Ausdruck in Form prägnanter Ausdruckszeichen spiegelt und prompt mit motivdienlichen Bewältigungshandlungen reagiert, vervollständigt sie die kindlichen Vorläuferemotionen zu funktionsfähigen motivdienlichen Emotionen. Die Ausdrucksund Körperreaktionen des Säuglings im Zusammenspiel mit den Deutungen, Ausdruckszeichen und Bewältigungshandlungen der Bezugsperson bilden eine präadaptierte interpersonale Einheit. Beim Neugeborenen lassen sich die Vorläuferemotionen
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Distress, Ekel, Erschrecken (»fright«) sowie Interesse und »endogen bewirktes« Wohlbehagen (»endogeneous pleasure«) konsistent beobachten (vgl. Izard 1978). Dabei dienen die ersten drei Vorläuferemotionen im Wesentlichen dazu, bedürfnisbezogene Mangelzustände bzw. Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zu signalisieren, während Interesse und Wohlbehagen dem Aufbau psychischer Repräsentationen der externen und internen Umwelt dienen (Sroufe 1996).
angewiesen, die Bezugsperson auf seine Bedürftigkeit aufmerksam zu machen. Entsprechend erlebt die Bezugsperson das Schreien des Säuglings als einen an sie gerichteten Hilfeappell. Es löst messbare psychophysiologische Erregung aus (Boukydis u. Burgess 1982) und die Bereitschaft, die Ursache des Schreiens zu finden und zu beheben, sowie eine Reihe von intuitiven Handlungen, die das Ziel haben, den Säugling zu beruhigen (Papoušek 1990). Demnach bilden das Schreien eines Säuglings als Hilfeappell und das Gefühl der Bezugsperson, dem Hilfeappell Folge leisten zu müssen, eine präadaptierte Einheit.
Ekel und Naserümpfen (. Abb. 4.2) Distress und Schreien (. Abb. 4.1) Distress ist eine anfänglich motivunspezifische Emotion, deren Anlass ein Mangelzustand ist, wie z. B. Mangel an Nahrung, an körperlicher Unversehrtheit (Unterkühlung, Schmerz, Überstimulation) oder an externaler Stimulation (Körperkontakt, sensorische Anregung). Die charakteristische Ausdrucks- und Körperreaktion ist ein langsam sich steigerndes, ungerichtetes Schreien mit quadratisch geöffnetem Mund und geschlossenen Augen, dem motorische Unruhe vorausgeht. Die Schreiqualität enthält zunächst keinen Hinweis auf den Emotionsanlass (Lester 1984; Malatesta, 1981b; Papoušek 1989). Sie hat ausschließlich eine Zeichenfunktion für die Bezugsperson: Aufgrund seiner motorischen Unreife ist der Säugling darauf
Ekel kann durch einen bitteren (Steiner 1977) oder sauren Geschmack (Fox u. Davidson 1984, p. 365) ausgelöst werden (vgl. auch Rosenstein u. Oster 1988; Soussignan u. Schaal 2005). Die reflektorische Basis ist der Würgereflex (Fridlund 1994). Die charakteristische Ausdrucksreaktion ist das Senken der Unterlippe, das Hochziehen der Oberlippe und das Naserümpfen, die beim Ausspeien durch das Öffnen des Mundes und das Vorstrecken der Zunge hervorgerufen werden (vgl. Izard 1979, p. 73). Die intrapersonale Funktion dieses Ausdrucks ist instrumentell und dient dem Ausspeien ungenießbarer Speisen. Der Ekelausdruck kann allerdings von der Bezugsperson auch als Zeichen interpretiert werden, z. B. mit dem Füttern aufzuhören oder eine andere Speise zu wählen.
. Abb. 4.1. Distressausdruck eines Neugeborenen
. Abb. 4.2. Ekelausdruck eines Neugeborenen
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Erschrecken und Zusammenzucken (. Abb. 4.3)
Interesse und gerichtete Aufmerksamkeit (. Abb. 4.4)
Erschrecken erfolgt insbesondere beim Verlust des Körpergleichgewichts, aber auch auf andere plötzliche und starke Reizveränderung wie z. B. plötzlicher Krach. Die reflektorische Basis des Erschreckens ist der Moro-Schreckreflex in Form eines Zusammenzuckens, dem Prechtl (1993) zwar keine instrumentelle Funktion mehr zuordnet, der aber Zeichenfunktion für die Bezugsperson hat. Die Schreckreaktion für sich genommen kann man eher als Reflex klassifizieren (vgl. Ekman et al. 1985). Sie ist aber Ausgangspunkt für die Emotion Furcht (Sroufe 1996). Bleibt die starke Reizveränderung bestehen, wie z. B. beim plötzlichen Eintauchen in Wasser beim Baden, treten charakteristische Ausdruckszeichen von Furcht hinzu, wie z. B. ein Aufreißen der Augen als Zeichen von Sympathikotonie, ein A-förmiger Mund und Fäusteln (Papoušek u. Papoušek 1999, S. 151). Bei anhaltender Überstimulation geht die Reaktion in Distress bzw. Schreien über.
Interesse kann man als eine motivspezifische Emotion ansehen, die durch Neuartigkeit externer Stimulation ausgelöst wird und der Suche nach Kontingenzen in der Wahrnehmung der Umwelt dient. Diesem aktiven Explorationsverhalten wird eine eigenständige motivationale Basis zugesprochen, nämlich die Neugiermotivation (Hunt 1965). Auch hierbei ist die »Neuartigkeit« der Stimulation zunächst an physikalische Reizeigenschaften gebunden, und zwar an solche, die markante sensorische Kontingenzen hervorrufen. Hierzu zählt insbesondere das »sprechende« und sich langsam bewegende Gesicht einer Person, während sie das Kind auf dem Arm hält (Langsdorf et al. 1983). Die reflektorische Basis des Interesses ist der Orientierungsreflex (vgl. Sokolov 1963). Die charakteristischen Ausdrucksreaktionen sind Hinwendung zur Reizquelle, visuelle Fixierung, Hemmung ungerichteter motorischer Aktivität und zuweilen ein geöffneter Mund (Langsdorf et al. 1983). Diese Ausdrucksreaktionen haben die instrumentelle Funktion, die sensorischen Systeme für die Analyse des Neuen zu öffnen. Ihre semiotische Funktion be-
. Abb. 4.3. Erschrecken eines Neugeborenen bei plötzlichem, lautem Geräusch
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. Abb. 4.4. Interesseausdruck eines Neugeborenen beim Betrachten des mütterlichen Gesichts
steht darin, dass sie der Bezugsperson Aufnahmebereitschaft für Stimulationen signalisieren (Malatesta u. Wilson 1988). Der Zustand des Interesses und die Anleitung durch Bezugspersonen ist für den Aufbau psychischer Repräsentationen der internen und externen Umwelt äußerst bedeutsam. Sroufe (1996) hat in seiner Spannungsmodulationstheorie (»tension modulation hypothesis«) ein Modell vorgelegt, wie Interesse, Wohlbehagen und Distress zusammenspielen, um mit Hilfe der Bezugsperson psychische Repräsentationen aufzubauen. Danach erzeugt jede Verarbeitung neuartiger Stimulation neben den bereits aufgezählten Reaktionen auch eine Anspannung (vgl. Berlyne 1969), die im Grenzbereich noch tolerierbarer Stimulation auch zu einer Erhöhung des Muskeltonus führt. Papoušek (1967) berichtet, dass operantes Lernen von Säuglingen auch mit erhöhter Anspannung und Fäusteln einhergeht, bevor sie eine Reiz-Reaktions-Kontingenz aufbauen. Motorische Unruhe und Anspannung signalisiert Bezugspersonen den Grenzbereich externer Stimulation mit dem Appell, die Stimulation zu begrenz-
en, bevor sie in Distress übergeht. Kann hingegen der Säugling die Stimulation assimilieren, hat dies Entspannung zur Folge, die mit einem Lächeln verknüpft ist.
Wohlbehagen und Lächeln (. Abb. 4.5) Die Frage, ob Neugeborene bereits mit der Emotion Wohlbehagen reagieren können, wird kontrovers diskutiert. Denn im Unterschied zu den anderen hier angeführten Vorläuferemotionen gibt es beim Wohlbehagen keine Koinzidenz zwischen der emotionstypischen Ausdrucksreaktion, dem Lächeln, und einem externen beobachtbaren Anlass. Das Lächeln tritt beim Neugeborenen während des REM-Schlafs auf (Emde u. Koenig 1969). Fogel und Thelen (1987) ziehen daraus den Schluss, dass das Lächeln noch funktionslos und noch nicht systematisch mit Motivationszuständen assoziiert sein dürfte. Sroufe (1996) gibt demgegenüber mit seiner Spannungsmodulationshypothese eine Erklärung, die die bestehenden Theorien und Befunde zum Lächeln und Lachen (vgl. Rauh 1995) zu einer konsistenten Theorie zusammenführen kann.
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. Abb. 4.5. Ausdruck von Wohlbehagen (endogenes Lächeln) eines Neugeborenen
Danach soll bereits das endogene Lächeln die Folge einer Entspannungsreaktion sein, die den Abschluss eines Anspannungs-Entspannungs-Zyklus markiert. Der Zyklus wird beim Neugeborenen jedoch zunächst durch subkortikal erzeugte Spannung in Gang gesetzt. Die Entspannungs-Lächel-Reaktion ist aber darauf angelegt, durch eine angestrengte Assimilation von externen Stimulationen ausgelöst zu werden und damit den Abschluss eines erfolgreichen Aufbaus psychischer Repräsentationen emotional zu markieren (vgl. Kagan 1971; Sroufe 1996). Das Wohlbehagen dient dazu, dass der Säugling auf die lernförderliche Situation orientiert bleibt. Zugleich wird der Bezugsperson über das Lächeln signalisiert, dass sich der Säugling wohlfühlt und sie die Situation andauern lassen bzw. wiederholen soll (vgl. Malatesta u. Wilson, 1988). Je nach Niveau dieser Assimilation und den dazugehörigen Ausdrucks- und Körperreaktionen lassen sich unterschiedliche positive Emotionen wie Wohlbehagen, Freude, Vergnügen, Stolz (Sroufe 1996, p. 68) klassifizieren.
Gefühle als ungerichtete Körperempfindungen Zu einem vollständigen Emotionssystem gehören neben den bereits skizzierten Komponenten Appraisal, Ausdruck und Körperreaktionen auch die Gefühlskomponente. Die Frage, ob Neugeborene
bereits fühlen können, stößt allerdings auf ein methodisches und ein inhaltliches Problem. Das methodische Problem besteht darin, dass Gefühle per definitionem nicht objektiv messbar sind, da sie die subjektive Repräsentation des eigenen emotionalen Zustands beinhalten. Darüber kann nur der Akteur Auskunft geben, sofern er über symbolische Kommunikationsmittel verfügt, um sie mitteilen zu können. Eine solche Mitteilung ist jedoch nicht mit dem Gefühl identisch. Es handelt sich eben nur um seine subjektive Rekonstruktion mit Hilfe von Symbolen. Da Neugeborene (und auch Säuglinge) noch keine symbolischen Kommunikationsmittel beherrschen, ist dieser methodische Zugang versperrt. Nach dem Internalisierungsmodell gibt es allerdings einen zweiten indirekten Weg, das Gefühl zu erschließen. Ein Gefühl ist als proprio- und interozeptives Feedback der Ausdrucks- und Körperreaktionen definiert (vgl. auch die differenzielle Emotionstheorie von Izard u. Malatesta 1987). Daher müsste ein Neugeborenes dann ein Gefühl empfinden, wenn die neuronalen Afferenzen der Ausdrucks- und Körperreaktionen bereits bei Geburt funktionstüchtig sind und entsprechende Feedbackempfindungen in den somatosensiblen Hirnarealen hervorrufen. Uns sind dazu allerdings keine Befunde bekannt. Das inhaltliche Problem besteht darin, zu erfassen, was man genau unter »Gefühl« versteht. Wir haben ein Gefühl als das subjektive Gewahrwerden
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der emotionsspezifischen Ausdrucks- und Körperempfindungen definiert, die auf einen Emotionsanlass ausgerichtet sind (7 Abschn. 3.1.2). Die vorher beschriebenen Ausdrucksreaktionen, z. B. Schreien und exogenes Lächeln, bauen sich nach den vorliegenden Befunden nur langsam auf und ab (vgl. Stenberg & Campos 1990; Sroufe 1996), und sie sind nur rudimentär auf den Emotionsanlass ausgerichtet (Malatesta 1981b). Daher besteht das ausgelöste Gefühl vermutlich aus den viszeralen und propriozeptiven Körperempfindungen der ausgelösten Körper- und Ausdrucksreaktion. Es handelt sich aber nicht um ein Gewahrwerden im Sinne eines kategorial gegliederten und auf einen Anlass bezogenen Gefühls, mit dem sich der Emotionsverlauf überwachen und Bewältigungshandlungen auslösen ließen, wie dies für Erwachsene charakteristisch ist. The set of internal (visceral as well as proprioceptive) cues that are activated when being in and expressing an emotion state are, at first, not perceived consciously by the infant, or, at least, are not grouped together categorically in such a manner that they could be perceptually accessed as a distinctive emotion state (Gergely u. Watson 1999, p. 110). Man kann sich die Wahrnehmung der Körperempfindungen analog zur Wahrnehmung der äußeren Umwelt vorstellen: Natürlich nimmt ein Neugeborenes seine äußere Umwelt wahr, allerdings nicht als kategorial gegliederte Gegenstände, sondern als relativ unorganisiertes Vielerlei an sinnlichen Eindrücken mit nur wenigen präformierten Wahrnehmungskontingenzen (vgl. Stern 1992, pp. 74–82). Das bedeutet, dass ein Neugeborenes eine subjektive Repräsentation seines emotionalen Zustands haben dürfte, allerdings nur in Form ungerichteter Körperempfindungen. Wir werden in 7 Abschn. 4.2.1 zeigen, wie diese Körperempfindungen in ein emotionsspezifisch gegliedertes und auf einen Anlass bezogenes Gefühl transformiert werden.
4.1.2 Sensomotorische Fähigkeiten zur
interpersonalen Regulation Neben den mimischen Ausdruckszeichen der Vorläuferemotionen existieren noch eine Reihe weiterer mimischer Ausdrucksmuster, die das Neugeborene vornehmlich im REM-Schlaf zeigt. Sie weisen Ähnlichkeiten zu den prototypischen mimischen Ausdruckszeichen von Überraschung (hochgezogene Augenbrauen), Traurigkeit (Flunschmund) und Ärger (Stirnrunzeln) auf. Diese Ausdrucksmuster sind recht flüchtig. Malatesta und Haviland (1982) haben festgestellt, dass der mimische Ausdruck bei dreimonatigen Säuglingen durchschnittlich alle sieben Sekunden wechselte. Daraus haben sie den Schluss gezogen, dass der Säugling sehr affektlabil sei. Gegen diese Interpretation spricht, dass diese Ausdrucksreaktionen nicht konsistent mit äußeren Emotionsanlässen kovariieren (Camras 1992). Auch lassen sich die mimischen Muster von Ärger und Traurigkeit nicht reliabel von globalen Distressreaktionen abgrenzen (Oster et al. 1992). Dies spricht dafür, dass die Ausdrucksmuster zwar angeborene motorische Muster darstellen, dass sie aber in der Verhaltensorganisation des Neugeborenen noch nicht als emotionale Ausdruckssymptome dienen, sondern diese Funktion erst im Laufe des ersten Lebensjahres in der interpersonalen Regulation übernehmen (vgl. Camras 1992; Fogel u. Thelen 1987; Lewis u. Michalson 1985). Weitere sensomotorische Fähigkeiten des Neugeborenen sind speziell auf eine Face-to-face-Interaktion mit sensitiven Bezugspersonen präadaptiert. So ist sein anfänglicher Seherfahrungsraum auf menschliche Gesichter, die in der Nähe mit ihm interagieren, spezialisiert: Der Säugling kann zunächst nur in einer Entfernung von 20–25 cm scharf sehen und er bevorzugt gesichtsähnliche Formen (Umiltá et al. 1996) sowie bewegte Objekte, denen er bei langsamer Bewegung folgen kann (vgl. Brazelton 1983). Bezüglich des Hörsinns bevorzugt er den Frequenzbereich der menschlichen Sprache oder etwas höhere Frequenzen, und bezüglich Klangmustern bevorzugt er vor allem die menschliche Stimme (Papoušek 1994).
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Sensibilität für Kontingenzen Darüber hinaus bringt das Neugeborene eine besondere Sensibilität und eine Suche nach zeitlichen, sensorischen und räumlichen Kontingenzen mit (Stern 1992, pp. 66–68). Gergely und Watson (1999) gehen davon aus, dass der Säugling über ein sog. »Kontingenzentdeckungsmodul« verfügt. Solche Kontingenzen in der Wahrnehmung der internen und externen Umwelt zu entdecken und für die eigene Verhaltensorganisation nutzbar zu machen, stellen die elementaren Bausteine der vielschichtigen psychischen Umweltrepräsentationen dar, die der Säugling sukzessive aufbaut. Dabei ist allerdings strittig, inwieweit insbesondere sensorische
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Kontingenzen tatsächlich erst durch wiederholte kontingente Erfahrungen »entdeckt« werden müssen. Man hat nämlich festgestellt, dass Säuglinge zu einer intermodalen Wahrnehmung fähig sind. Dabei können sie die in einer bestimmten Sinnesmodalität aufgenommenen Informationen in eine andere Sinnesmodalität übersetzen und den entsprechenden sensorischen Eindrücken dieser Sinnesmodalität zuordnen, ohne dass sie dazu eine tatsächliche Kontingenz zwischen den beiden Sinnesmodalitäten hätten erleben müssen (Meltzoff 1981; Meltzoff u. Borton 1979; Stern 1992).
Motorisches Mimikry Eine besondere Form der intermodalen Wahrnehmungsfähigkeit stellt das motorische Mimikry dar.
Studie Intermodale Wahrnehmung Meltzoff und Borton (1979) führten ein Experiment mit drei Wochen alten Säuglingen durch, denen die Augen verbunden worden waren und denen einer von zwei unterschiedlich geformten Schnullern in den Mund gesteckt wurde: Der eine war glatt und kugelförmig, während die Oberfläche des anderen mit Knubbeln versehen war. Die Säuglinge konnten nun einige Zeit an einem der Schnuller nuckeln; d. h. sie sahen den Schnuller nicht, sie berührten ihn nur mit Mund und Zunge. Dann nahm man ihnen den Schnuller weg und nahm die Augenbinde ab. Die beiden unterschiedlich geformten Schnuller lagen so vor den Säuglingen, dass sie beide anschauen konnten. Nach kurzem visuellem Vergleich betrachteten die Säuglinge den Schnuller länger, an dem sie vorher im Mund genuckelt hatten, obwohl sie keinerlei Vergleich zwischen haptischem und visuellem Wahrnehmungseindruck des Schnullers hatten vornehmen können. Diese Präferenz für den bereits haptisch bekannten Schnuller wird dahingehend interpretiert, dass sie den Schnuller wieder erkannten. Um zu einer solchen Wiedererkennensleistung fähig zu sein, mussten die Säuglinge ihren haptischen Wahrnehmungseindruck vom Schnuller amodal, d. h. modalitätsunspezifisch, abgespeichert haben, so dass sie ihn beim ersten Sehen sofort ohne Lernerfahrung wieder erkennen konnten.
> Beispiel Bereits Neugeborene sind in der Lage, mimische Bewegungen der Bezugspersonen wie das Herausstrecken der Zunge oder das Öffnen des Mundes sowie deren Kopfbewegungen nachzuahmen (Meltzoff u. Moore, 1988, 1989). Field et al. (1982) konnten sogar zeigen, dass zwei Tage alte Neugeborene auch mimische Ausdruckszeichen von Emotionen nachahmen können: das Lächeln, das Runzeln der Stirn, das Schürzen der Lippen.
Neugeborene können demnach visuell wahrgenommene motorische Muster in die zugehörigen propriozeptiven Muster übersetzen. Hatfield, Cacioppo und Rapson (1994) nehmen an, dass das motorische Mimikry einen primitiven Mechanismus darstellt, wie eine Person von den Gefühlen seines Interaktionspartners angesteckt werden kann, ohne dass die angesteckte Person einem »echten« Emotionsanlass ausgesetzt wäre. Der Mechanismus ist insofern »primitiv«, als motorisches Mimikry in der Regel unbewusst abläuft. Er setzt zudem keine kognitiven Prozesse im Sinne einer Perspektivenübernahme voraus, bei der sich eine Person in die Situation einer anderen hineinversetzt und dadurch die Emotion nachempfindet. Wir nehmen an, dass das motorische Mimikry bei der Differenzierung der Emotionen in der interpersonalen Regulation eine herausragende Rolle spielt. Es ermöglicht, die Ausdrucksreaktionen zwischen Bezugsperson und Säugling und ih-
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re entsprechenden propriozeptiven Körperempfindungen zu synchronisieren (vgl. auch Saarni et al. 1998) und auf diese Weise die Ausdruckszeichen emotionsspezifisch zuordnen zu können. Die Fähigkeit zum motorischen Mimikry korrespondiert mit der komplementären Fähigkeit der Bezugsperson, die Ausdrucksreaktionen ihres Säuglings in ihrem eigenen Ausdruck zu spiegeln und auch betont prägnante Ausdruckszeichen dem Säugling gegenüber einzusetzen, um sein Verhalten zu regulieren. Diese Zusammenhänge werden in 7 Abschn. 4.2.1 näher erläutert. Beim jetzigen Stand der Forschung kann nicht geklärt werden, ob das motorische Mimikry von emotionsspezifischen Ausdruckszeichen auch schon bei Neugeborenen die entsprechenden Gefühle auslösen kann oder ob es sich zunächst nur um eine motorische Nachahmung handelt, die erst mit der Ausdifferenzierung der entsprechenden Emotionen zu einer Gefühlsansteckung führt. Der einzige offensichtliche Fall, bei dem sich bereits Neugeborene durch den Gefühlsausdruck anderer anstecken lassen, scheint eher nicht durch ein motorisches Mimikry ausgelöst zu werden: Setzt man Neugeborene dem Schreien anderer Neugeborene aus, fangen sie selbst an zu schreien (Sagi u. Hoffman 1976; Simner 1971). Dabei erwies sich das Schreien anderer Neugeborener als besonders gefühlsansteckend im Vergleich zu anderen Schreiformen wie das eigene Schreien, das Schreien älterer Säuglinge oder von Schimpansen (Martin u. Clark 1982). Diese Anlassspezifik spricht eher dafür, dass das Schreien anderer Neugeborener ein unkonditionierter Auslösestimulus für das Distressschreien ist (vgl. auch Thompson 1987). Denn gerade das eigene Schreien müsste besonders gut imitiert werden können, aber sie imitieren es nicht. Des Weiteren scheint es funktional zu sein, beim Schreien anderer Neugeborener besonders intensiv zu schreien, damit nicht nur die anderen bereits schreienden Neugeborenen von der Bezugsperson beachtet werden.
Vorläuferstrategien der Emotionsregulation Als Vorläuferstrategien der Emotionsregulation lassen sich bei Geburt das Saugen (Blass u. Ciaramitaro 1994) und das Abwenden des Blickes von einer überstimulierenden Reizquelle (vgl. Mangels-
dorf et al. 1995) beobachten. Letzteres dient der Begrenzung der Anspannung, wenn eine mit Interesse betrachtete Reizquelle nicht hinreichend assimiliert werden kann. Beide Verhaltensweisen beruhigen den Säugling innerhalb eines begrenzten Spannungsspektrums. Interne oder externe Reize, die in ihrer Stärke über dieses Spektrum hinausgehen, erfordern die interpersonale Regulation durch die Bezugspersonen.
4.1.3 Intuitive elterliche Didaktik Die fürsorglichen und erzieherischen Handlungen von Bezugspersonen lassen sich als notwendige und entwicklungsförderliche Ergänzung der noch unvollständigen emotionalen Handlungsregulation des Säuglings betrachten. Auf diese komplementäre Aufgabe sind Bezugspersonen präadaptiert (s. Studienbox). Die intuitive elterliche Didaktik beinhaltet nicht nur die Fähigkeit, für die aktuellen Bedürfnisse des Kindes zu sorgen, sondern auch eine Fähigkeit, dem Kind Kontingenzerfahrungen zu ermöglichen, und zwar sowohl in der Auseinandersetzung mit der sächlichen Umwelt als auch in der interpersonalen emotionalen Regulation. Papoušek und Papoušek (1999) beschreiben drei verschiedene Prozesse, bei denen die Eltern unterschiedliche Fertigkeiten einsetzen:
Studie Das Intuitive an der elterlichen Didaktik In Beobachtungsstudien von Interaktionen zwischen Säuglingen und Bezugspersonen fanden Papoušek u. Papoušek (1987), dass Eltern wichtige Signale ihrer Säuglinge kompetent wahrnahmen sowie facettenreich und angemessen reagierten, ohne dass sie darüber in anschließenden Befragungen Auskunft geben konnten. Papoušek und Papoušek schlossen daraus, dass es sich bei diesen Interaktionen um eine biologisch determinierte Grundlage elterlicher Kompetenz handelt, die viele intuitive Verhaltensweisen umfasst.
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4.1 · Präadaptation von Säugling und Bezugsperson
Eltern als Koregulatoren der kindlichen Emotionen Die Eltern erfassen den Zustand des Säuglings und seine Interaktionsbereitschaft und stimmen ihre Stimulation, ihr mimisches, stimmliches und gestisches Verhalten darauf ab. > Beispiel Durch Öffnen der Händchen oder des Mundes des Säuglings können sie den Muskeltonus testen. Ein schlaffer Tonus verweist darauf, dass der Säugling müde ist.
Die elterliche Feinfühligkeit (Sensitivität), d. h. Ausdruckszeichen als Gefühlsindikatoren adäquat zu deuten und prompt mit angemessenen Bewältigungshandlung zu reagieren, sind wesentliche Fertigkeiten in diesem Prozess. Das umfasst auch eine direkte Regulation der kindlichen Emotionen, indem Eltern durch angemessene Aktivierung oder durch Beruhigung den Säugling auf einem optimalen Erregungslevel halten. Säuglinge sind allgemein empfänglich für ablenkende Bewältigungshandlungen der Bezugspersonen, die das Schreien und die motorische Unruhe mildern. > Beispiel Das Betrachten eines Gesichts, das Lauschen einer Stimme und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit bei motorischer Unruhe, indem man das Kind auf den Arm nimmt und wiegt, hat eine beruhigende Wirkung auf die psychische Spannungsmodulation des Säuglings. Umgekehrt lässt sich die Spannung des Säugling durch die gleichen, aber intensiver ausgeführten Stimulationen der Bezugspersonen erhöhen.
Emotionale Ausdrucksmuster der Bezugsperson in der Steuerung kindlichen Verhaltens Bezugspersonen bieten dem Baby in ihrer Sprechund Ausdrucksweise Modelle an und unterstützen das Imitationsverhalten, indem sie kontingent mit positiven Emotionen reagieren. Aufgrund der gefühlsansteckenden Wirkung des elterlichen Ausdrucksverhaltens kann beim Säugling eine vergleichbare emotionale Reaktion ausgelöst werden,
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so dass der Emotionsausdruck der Eltern als Verstärker kindlichen Verhaltens wirkt. > Beispiel Insbesondere die Verwendung prägnanter Ausdruckszeichen in der interpersonalen Regulation durch Übertreibung des Gesichtsausdrucks oder der Stimmmodulation in der Ammensprache sind wichtige Ausdrucksmittel, die zur Gefühlsansteckung und zur Transformation der Ausdrucksreaktionen in Ausdruckszeichen und bewusste Gefühle dienen.
Diese Prozesse werden in 7 Abschn. 4.2.1 näher ausgeführt.
Emotionale Ausdrucksmuster des Kindes in der interpersonalen Regulation Positive Rückkopplungssignale wie visuelle Aufmerksamkeit, Lächeln, ruhige Vokalisationen oder Anschmiegen als Reaktion auf elterliche Interventionen wirken als Belohnung und Quelle positiver emotionaler Erlebnisse für die Bezugspersonen und als Bestärkung ihrer Kompetenz. Indem sie alles tun, um positive Reaktionen hervorzurufen und negative zu vermeiden und abzustellen, richten sie sich intuitiv an den Bedürfnissen des Kindes aus und fördern sein Lernverhalten. Auf diese Weise sind die emotionalen Reaktionen des Kindes und die intuitive elterliche Didaktik in einer positiven Rückkopplungsschleife miteinander verbunden.
4.1.4 Zusammenfassung Der Säugling kommt mit einem Repertoire an emotionsrelevanten Fähigkeiten auf die Welt. Er verfügt über eine Reihe emotionaler Ausdrucksreaktionen, die seine aktuellen Bedürfnisse kongruent anzeigen, über eine interaktionsspezifische sensomotorische Fähigkeit, wozu insbesondere das motorische Mimikry gehört, und über die Fähigkeit zur Kontingenzbildung. Diese basalen Fähigkeiten ermöglichen allerdings nur eine äußerst begrenzte intrapersonale Regulation. Dafür ist der Säugling aber bestens auf eine interpersonale Regulation im Kontakt mit einer sozialen Umgebung vorbereitet, die seine Ausdrucksreaktionen angemes-
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
sen interpretieren und in motivdienliche Bewältigungshandlungen umsetzen. Betrachtet man die Form der Ausdrucksreaktionen, die der Neugeborene einsetzt, so fällt auf, dass es zunächst globale, undifferenzierte positive oder negative Reaktionen sind, die auf kein spezifisches Objekt gerichtet sind, die sich z. T. langsam aufbauen und (mit Ausnahme des Erschreckens) noch keinen spezifischen Appell enthalten. Es ist Aufgabe der Bezugsperson, auch ungerichtete Zeichen als Appell zu interpretieren, von sich aus den Anlass des Distress oder des Lächelns ausfindig zu machen und bei Distress den Anlass zu beheben und beim Lächeln den Anlass zu wiederholen oder andauern zu lassen. Diese ungerichteten und undifferenzierten Ausdrucksreaktionen stellen den Ausgangspunkt für die weitere Differenzierung der Emotionskomponenten dar. In diesem Prozess interpretieren die Bezugspersonen nicht nur die kindlichen Ausdrucksreaktionen als an sie gerichtete Appelle und reagieren mit der angemessenen Fürsorge. Sie versuchen darüber hinaus auch, den Säugling auf einem für Lernprozesse optimalen Erregungsniveau zu halten. Dabei ermöglichen sie ihm, zeitliche, sensorische und räumliche Kontingenzen zu erfahren, die die elementaren Bausteine psychischer Repräsentationen darstellen. Sie spiegeln die kindlichen Ausdrucksreaktionen in ihrem eigenen Ausdruck in prägnanter und prototypischer Weise wider, wodurch das Kind auch Kontingenzen zwischen Ausdruck und Gefühl erfährt (vgl. Gergely u. Watson 1999; Stern 1992). Sie passen sich in ihrer Kommunikation den oben beschriebenen Wahrnehmungsbeschränkungen des Säuglings intuitiv an, indem sie ihre Kommunikation in der Komplexität soweit reduzieren und in der Botschaft prägnant machen, bis sie kontingente Reaktionen des Säuglings hervorrufen können. Daher sprechen Papoušek und Papoušek (1987) von einer intuitiven elterlichen Didaktik.
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Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen im Säuglings- und Kleinkindalter
4.2.1 Entstehung zeichenvermittelter
Emotionssysteme In der ersten Entwicklungsphase im Säuglings- und Kleinkindalter stellen sich dem Kind zwei Aufgaben: 1. in der interpersonalen Regulation mit seinen Bezugspersonen differenzierte, durch Ausdruckszeichen vermittelte Emotionssysteme wie Frustration, Ärger, Traurigkeit, Freude, Furcht, Verlegenheit etc. aufzubauen und 2. sich ein Repertoire an Bewältigungshandlungen anzueignen. Mussten die Bezugspersonen die Vorläuferemotionen des Neugeborenen noch zu funktionsfähigen Emotionen ergänzen, so optimieren sich in der interpersonalen Regulation alle Emotionskomponenten (Einschätzung, Ausdruck, Körperreaktion und Gefühl) und ihr Zusammenspiel in einer Weise, dass differenzierte, zeichenvermittelte Emotionssysteme entstehen. Mit ihnen kann das Kleinkind einen zunehmend gleichwertigen Anteil in der interpersonalen Regulation übernehmen und seine Bezugspersonen präzise und prompt in der Befriedigung seiner Motive orientieren und lenken. Dabei spielt die intuitive elterliche Didaktik eine wesentliche Rolle. Allerdings bleiben die Emotionen des Kleinkindes nach wie vor auf die andere Person gerichtet. Sie veranlassen das Kind noch nicht (oder nur sporadisch) dazu, bereits erlernte Bewältigungshandlungen für die Befriedigung seiner Motive selbstständig auszuwählen und einzusetzen. Der emotionale Beistand bleibt auch beim Kleinkind noch wichtig. Im Folgenden beschreiben wir in drei Thesen, aufgrund welcher Entwicklungsmechanismen sich nach dem Internalisierungsmodell die Emotionskomponenten entwickeln.
4.2 · Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen
These 1: Die Differenzierung der Einschätzungs- und Ausdruckskomponente erfolgt in einem interdependenten Prozess Die Differenzierung der Einschätzungsmuster und ihrer korrespondierenden Ausdrucks- und Körperreaktionen ist ineinander verflochten. Sie ist in die interpersonale Regulation zwischen Bezugsperson und Kind eingebettet. Dabei schafft die Bezugsperson durch ein sensibles und promptes Fürsorgeverhalten Kontingenzen zwischen den Emotionsanlässen, den kindlichen Ausdrucks- und Körperreaktionen, den motivbezogenen Deutungen der Bezugsperson und ihren motivdienlichen Bewältigungshandlungen. Auf diese Weise werden die Komponenten zu anlassspezifischen funktionsfähigen Emotionssystemen integriert.
Differenzierung der Einschätzungsmuster In funktionalistisch orientierten Emotionstheorien wird die Entwicklung der erfahrungsabhängigen Einschätzungsmuster als der treibende Motor angesehen, der neue Emotionen entstehen lässt (vgl. Barrett u. Campos 1987; Tangney u. Fischer 1995; Sroufe 1996). In den erfahrungshabängigen Einschätzungsmustern wird eine Beziehung zwischen den Situationsmerkmalen und den motivrelevanten Erwartungen und Deutungen hergestellt, die das Kind in seinen Interaktionen mit der Umwelt aufgebaut hat (vgl. Sroufe 1996, pp. 56–57). Dadurch verwandeln sich die Vorläuferemotionen des Neugeborenen (Distress, Ekel, Erschrecken, Interesse und endogenes Wohlbehagen), die durch das Über- oder Unterschreiten von Schwellenwerten interner oder externer Schlüsselreize ausgelöst werden, in die »eigentlichen« einschätzungsgesteuerten Emotionen, die von der persönlichen Bedeutung des wahrgenommenen Reizes ausgelöst werden. Die Analyse der emotionalen Entwicklung konzentriert sich dann in den funktionalistisch orientierten Emotionstheorien darauf, die entscheidenden Entwicklungsmeilensteine im Aufbau der kindlichen Bedeutungsstrukturen zu identifizieren und zu prüfen, ob mit dem Aufbau der jeweiligen Bedeutungsstruktur auch die entsprechende Emotion im Repertoire des Kindes auftaucht (vgl. Dickson et al. 1998, pp. 254–255). Ein erster Entwicklungsmeilenstein besteht darin, dass der Säugling in den auf ihn einströmenden
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externen Reizen Kontingenzen wiedererkennt. In der Regel ist dies das Wiedererkennen der Bezugsperson in der Face-to-face-Interaktion. Nach Sroufes (1996) Spannungsmodulationshypothese geht dem Wiedererkennen eine Phase angestrengter Assimilation der externen Reize voraus. Sie führt zu einem Anstieg der inneren Spannung, die im Moment des Wiedererkennens eine Entspannung und ein Lächeln auslöst. Dadurch bleibt der Säugling auf die Situation orientiert und veranlasst die Bezugsperson, die Stimulation fortzusetzen bzw. zu wiederholen. Diesen emotionalen Zustand bezeichnet Sroufe als »echtes« Wohlbehagen. Der Beginn des sozialen Lächelns markiert für Sroufe den Wendepunkt, an dem nicht mehr die Reizeigenschaften per se, sondern ihre Bedeutung für den Säugling zum wesentlichen Anlass für das Wohlbehagen wird. Mit zunehmender Erfahrung erkennt der Säugling auch andere Kontingenzen, wie z. B. die visuelle und auditive Kontingenz einer klingenden Spieluhr. Das Wahrnehmen und Wiedererkennen der Spieluhr erzeugt dann ebenso einen Anspannungs-EntspannungsZyklus, der in einem Lächeln mündet, das auf die Spieluhr gerichtet ist. Funktionalistisch orientierte Emotionstheorien erklären demnach die Entstehung neuer Emotionen ausschließlich durch die Bildung von Kontingenzen zwischen vorauslaufendem Anlass, bereits aufgebauten Bedeutungsstrukturen und nachfolgender Bewältigungshandlung. Ausdrucks- und Körperreaktionen spielen dabei nur insofern eine Rolle, als man sie als Indikatoren für die zugrunde liegenden Einschätzungsmuster heranzieht, da diese sich nicht direkt beobachten lassen. Es handelt sich per definitionem um psychische Prozesse (Barrett 1998). In methodischer Hinsicht werden damit die Ausdrucks- und Körperreaktionen ausschließlich als abhängige Variable konzeptualisiert, die durch vorauslaufende Einschätzungsmuster verursacht werden. Damit können die Ausdruckszeichen nichts zur Differenzierung der Einschätzungen beitragen.
Differenzierung der Ausdruckszeichen Im Internalisierungsmodell wird demgegenüber davon ausgegangen, dass die Entstehung der Einschätzungsmuster untrennbar mit der Differenzierung der Ausdrucks- und Körperreaktionen verbunden
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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ist. Bei den entwickelten Emotionen von Erwachsenen geht zwar der Einschätzungsprozess den Ausdrucks- und Körperreaktionen voraus, so dass man in dem Fall von einer Ursache-Wirkungs-Beziehung sprechen kann. Aber bei der Entstehung neuer Emotionen liegt eher eine wechselseitige Beeinflussung vor. Die Wirkung von beiläufig gezeigten Ausdrucksreaktionen des Säuglings auf das Fürsorgeverhalten der Bezugsperson kann auch Anstoß zur Ausbildung eines neuen Einschätzungsmusters sein. Auch für Erwachsene mag es noch völlig neuartige Situationen geben, zu denen zunächst keine eindeutigen Bewertungen ausgelöst werden. Dann können die Einschätzungsmuster auch ein Produkt der realisierten Ausdrucks- und Körperreaktionen und die darauf erfahrenen Wirkungen sein.
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> Beispiel
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Dies lässt sich am Lächeln verdeutlichen: Bezugspersonen suchen in der Regel aufgrund ihres intuitiven elterlichen Verhaltens vom ersten Moment an Kontakt zu ihrem Säugling. Sich so zu positionieren, dass wechselseitiger Blickkontakt möglich wird, ist das erste und einfachste Mittel dazu. Dabei werden Bezugspersonen den Säugling nicht teilnahmslos anschauen, sondern ansprechen und anlächeln, um eine Reaktion zu provozieren. Da bereits Neugeborene auch mimische Ausdruckszeichen imitieren können (Field et al. 1982), kann es möglich sein, dass das erste auf die Bezugsperson gerichtete Lächeln aufgrund von Imitation und nicht aufgrund gebildeter Kontingenzen zustande kommt. Es könnte also ein Lächeln ohne inneren Anspannungs-Entspannungs-Zyklus sein. Für die Bezugsperson ist aber das erste Anlächeln durch ihr Kind ein sehr erhebender Moment. Fühlen sich doch die meisten Mütter erst durch den intensiven Blickkontakt und das beginnende Lächeln ihrem Kind ganz persönlich und positiv verbunden (Robson u. Moss 1970). Sie werden daher diese Momente durch eine Steigerung ihres Zurücklächelns und ihrer Vokalisationen kontingent markieren. Auf diese Weise schaffen sie ideale Bedingungen, dass der Säugling Kontingenzen aufbaut, so dass der Anspannungs-Entspannungs-Zyklus des Wohlbehagens mit »echtem« Lächeln in Gang gesetzt wird.
Studie Vom Distress zum Ärger Stenberg und Campos (1990) haben eine vergleichbare kontinuierliche Entwicklung der Ausdruckszeichen für Ärger in ihrer Studie an 1, 4 und 7 Monate alten Säuglingen zeigen können. Den Säuglingen wurden die Arme festgehalten, um eine negative emotionale Reaktion zu induzieren. Einmonatige Säuglinge reagierten mit einer Reihe undifferenzierter negativer Mimikmuster, bevor sie zu schreien anfingen. Ihr Blickverhalten war ungerichtet. Demgegenüber zeigten vier- und siebenmonatige Säuglinge einen klaren Ärgerausdruck (zusammengezogene Augenbrauen, quadratisch geöffneter Mund z. T. mit verengten Augen). Ihr Kopf war zu Beginn der Prozedur auf die festhaltende Hand oder das Gesicht der festhaltenden Person gerichtet. Die Säuglinge lokalisierten demnach bereits die Quelle der Beeinträchtigung. Während viermonatige Säuglinge ihren Kopf mit Beginn ihres Ärgerausdrucks der Hand oder dem Gesicht des Festhaltenden zugewandt ließen, wendeten sich die siebenmonatigen Kinder ihrer dabeisitzenden Mutter zu. Dies kann als Hilfeaufforderung an die Mutter interpretiert werden. Der Ärgerausdruck hat einen sozial gerichteten Appellcharakter bekommen. Camras et al. (1992) konnten darüber hinaus in ihrer Studie an fünf- und zwölfmonatigen Säuglingen beobachten, dass der Ärgerausdruck bei den fünfmonatigen Säuglingen noch einige Zeit brauchte, um sich aufzubauen, während die zwölfmonatigen Säuglinge prompt und unverzüglich auf das Armfesthalten reagierten.
Für einen solchen bidirektionalen Einfluss der Ausdruckszeichen spricht, dass das Lächeln in den ersten Wochen nicht als eine prompte Aus-An-Reaktion auftritt. Es entwickelt sich von einem zarten Heben der Mundwinkel beim Neugeborenen, das erst mit ca. 7 Sekunden Verzögerung auf den Anlass hin und z. T. mit geschlossenen Augen auftritt, zu einem aktiven Grinsen mit Vokalisationen beim dreimonatigen Säugling, das prompt auf den An-
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lass hin erfolgt und darauf ausgerichtet ist (Sroufe 1996, p. 81). In den ersten drei Lebensmonaten gibt es unzählige Face-to-face-Interaktionen, bei denen die Bezugsperson den Säugling anlächelt und damit nicht nur Gelegenheiten für die Entdeckung von Kontingenzen, sondern auch Gelegenheiten für ein motorisches Mimikry schafft. Gerade die Ausdruckszeichen nehmen in den ersten beiden Lebensjahren eine rasante Entwicklung. Es tauchen nicht nur neue Ausdruckszeichen auf, sondern sie werden auch in ihrer Dynamik und ihrem Kontextbezug wohlorganisierter, gerichteter und prompter (s. Studienbox). Zusammenfassend lässt sich zur Entwicklung der Ausdruckszeichen somit Folgendes feststellen: Aus den ungerichteten, z. T. noch unorganisierten Ausdrucksreaktionen des Neugeborenen, die einige Zeit benötigen, um sich aufzubauen, werden auf den Anlass gerichtete, emotionsspezifisch organisierte Ausdruckszeichen. Letztere folgen prompt auf den Anlass, sind in ihrem Timing und ihrer Ausrichtung auf den jeweiligen Kontext abgestimmt, werden durch abgestimmte Körperreaktionen in ihrer Wirkung unterstützt und können gezielt motivdienliche Bewältigungshandlungen – in der Regel bei der Bezugsperson – auslösen.
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tionen an die physikalische Umwelt, sondern auch als indexikalische und ikonische Zeichen, die die Bezugsperson beeindrucken (7 Abschn. 3.3.3). Bezugspersonen erschließen anhand der Koinzidenz von situativen Merkmalen, Personenwissen über das Kind und seinen aktuellen Ausdrucks- und Körperreaktionen dessen Emotionen und Intentionen und reagieren mit Bewältigungshandlungen, die auf diese Deutung des kindlichen Ausdrucks abgestimmt sind. Den Erfolg bzw. Misserfolg ihrer Bewältigungshandlungen leiten sie wiederum vom Verlauf der kindlichen Ausdrucks- und Körperreaktionen ab. Diese Koregulation ist in der Bindungsforschung als (mütterliche) Sensitivität bezeichnet worden (Ainsworth et al. 1978). Ikonische Kodierung der Ausdruckszeichen. In diesem Koregulationsprozess zwischen Säugling und Bezugsperson lassen sich jedoch nicht beliebige Kombinationen zwischen Einschätzungsmuster und Ausdruckszeichen erzeugen. Denn Ausdruckszeichen sind zum Großteil ikonisch kodiert, d. h. sie ähneln der Handlungsbereitschaft, die durch das Einschätzungsmuster ausgelöst wird (7 Abschn. 3.3.3). > Beispiel
Ausdruckszeichen als Mittler zwischen Kind und Bezugsperson Die wechselseitige Beeinflussung von Einschätzungsmustern und Ausdrucksreaktionen wird durch den besonderen Kontext erzeugt, in dem sich die kindlichen Emotionen entwickeln: Das ist die interpersonale Regulation mit den Bezugspersonen. Fogel (1993) spricht explizit von Koregulation und betont damit die Interdependenz der kindlichen und elterlichen Verhaltensweisen. Deutung der Ausdrucksreaktionen durch die Bezugsperson. Ein Säugling baut die emotionsspe-
zifischen Einschätzungsmuster nicht nur in einem physikalischen, sondern auch in einem semantischen Raum auf, bei dem seine emotionalen Erlebnisse durch die Deutungen der Bezugspersonen vermittelt werden. Für das Zustandekommen dieser Deutungen spielen die kindlichen Ausdrucksreaktionen eine wesentliche Vermittlungsrolle, und zwar nicht nur als instrumentelle Anpassungsreak-
Die Wahrnehmung einer Zielblockade durch eine andere Person (Ärgereinschätzung) erfordert die Mobilisierung der Körperkräfte als Ausdrucks- und Körperreaktion, um für eine aggressive Auseinandersetzung gerüstet zu sein. Dazu gehören auch instrumentelle Handlungen wie das Kratzen und Beißen, die auch schon Kleinkinder einsetzen, um das Gegenüber tätlich zur Aufgabe der Zielblockade zu bewegen. Aus den instrumentellen Aggressionshandlungen können dann ikonische Drohgebärden entstehen, um die eigene Kampfbereitschaft dem Gegenüber zu signalisieren, damit er die Zielblockade eventuell auch ohne Kampf aufgibt. Daher ist die Erhöhung des Muskeltonus als ärgerspezifische Körperreaktion angemessener als ein Erschlaffen. Ebenso sind in diesem Zusammenhang ikonische Ausdruckszeichen von Aggressionshandlungen wie das Zähnefletschen oder das Faustballen unmissverständlicher als ikonische Ausdruckszeichen von Beschwichtigungen wie ein Lächeln oder ein Sich-klein-Machen.
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Wir gehen davon aus, dass die ikonische Kodierform der Ausdruckszeichen und die instrumentelle Nützlichkeit vieler Körperreaktionen der beliebigen Kombinierbarkeit von Ausdruckszeichen und Einschätzungsmustern Grenzen setzt. Diese Eingrenzung kann auch erklären, warum einige mimische Ausdruckszeichen kulturübergreifend in gleicher Weise gedeutet und benutzt werden. Das bedeutet aber nicht, dass diese Ausdruckszeichen nicht dennoch erst in der interpersonalen Regulation erlernt oder feinjustiert werden. Im Vergleich zur Ausdrucks-EinschätzungsKombination ist die Kombination zwischen Sprechzeichen und den durch sie bezeichneten Begriffen offensichtlich beliebig, da Sprechzeichen symbolisch kodiert sind, d. h. Zeichen und Begriff sind aufgrund von Konventionen willkürlich kombiniert (7 Abschn. 3.3.3). Ausnahmen sind lautmalerische Worte wie z. B. »wau-wau« für Hund. Koregulationsprozess. In
der interpersonalen Regulation können Bezugspersonen auf eindeutig emotionsspezifisch verankerte Ausdrucksreaktionen ihres Säuglings reagieren wie z. B. auf das Schreien. Sie können aber auch eher beiläufig gezeigte Ausdrucksreaktionen emotionsspezifisch deuten und die für angemessen erachteten Bewältigungshandlungen ausführen, wie dies am Beispiel der ersten kindlichen Lächelreaktionen gezeigt wurde (s. o.). Indem die zunächst beiläufigen Ausdrucksreaktionen des Kindes einen Eindruck auf die Bezugsperson machen und diese kontingent darauf reagiert, kann auch über die Ausdrucksreaktionen ein Anstoß für die Ausbildung passender emotionsspezifischer Einschätzungsmuster gegeben werden bzw. können sich beide Komponenten im Sinne einer positiven Rückkopplungsschleife verstärken. Wenn die Bezugsperson demnach sensibel, prompt und konsistent auf die kindlichen Ausdrucksreaktionen reagiert, entstehen aus der Perspektive des Säuglings zeitliche Kontingenzen zwischen Anlass, eigene/fremde Einschätzung, eigenem Ausdruck und fremder Bewältigung. Bestimmte Ausdrucksreaktionen erweisen sich in diesen Kontingenzabfolgen als motivdienlicher als andere, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie zukünftig in einer ähnlichen Situation wieder
benutzt werden – und der Koregulationsprozess setzt sich auf entwickelterem Niveau fort. Aus Ausdrucksreaktionen werden Ausdruckszeichen.
Affektreflektierendes Spiegeln und motorisches Mimikry Der besondere Entwicklungsmechanismus der beschriebenen Koregulation zwischen Bezugsperson und Kind lässt sich nunmehr näher bestimmen. Das Zusammenspiel zwischen dem affektreflektierenden Spiegeln der kindlichen Ausdrucksreaktionen auf Seiten der Bezugsperson (Gergely u. Watson 1999) und dem motorischen Mimikry auf Seiten des Säuglings (Meltzoff u. Moore 1988; Field et al. 1982) führt zur Ausdifferenzierung kontextangepasster, emotionsspezifischer Ausdruckszeichen und zur Differenzierung der emotionsspezifischen Appraisalmuster. Wie wir bereits im vorigen Kapitel erwähnt haben, gehört es zur intuitiven elterlichen Didaktik (Papoušek u. Papoušek 1987), dass Bezugspersonen die emotionalen Ausdrucksreaktionen ihrer Säuglinge in ihrem eigenen Ausdruck kontingent spiegeln, wobei sie in der Regel die jeweiligen markanten Ausdruckszeichen der erschlossenen Emotion verwenden. Das führt zu dem affektiert wirkenden Ausdruckshabitus von Eltern ihren Säuglingen gegenüber. Wir gehen davon aus, dass dieses kontingente affektreflektierende Spiegeln der Bezugsperson in Verbindung mit dem motorischen Mimikry der Säuglinge eine präadaptierte Einheit darstellt, die die Herausbildung emotionsspezifischer Ausdruckszeichen unterstützt. Dabei sollte man sich die kindliche Imitation nicht als genau spiegelbildlich, sondern eher als angedeutete, rudimentäre Ausdrucksimitation vorstellen, die von sensiblen Bezugspersonen aufgegriffen und durch weiteres markantes affektreflektierendes Spiegeln salient gemacht wird (. Abb. 4.6). Auf diese Weise tragen Kind und Bezugsperson zu einer emotionsspezifischen Synchronisierung der Ausdruckszeichen im Sinne eines sich selbst optimierenden Systems bei. Hierfür lassen sich eine Reihe an Studien anführen, die diesen Zusammenhang belegen (s. Studienbox S. 101). Zusammenfassend lassen sich aus den referierten Studien folgende Schlüsse ziehen:
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Studie Motorisches Mimikry und affektreflektierendes Spiegeln In der Studie von Haviland u. Lelwica (1987) konnte gezeigt werden, dass das motorische Mimikry von emotionsspezifischen Ausdruckszeichen, das Field et al. (1982) bei Neugeborenen beobachtet hatten, auch bei 2 ½ Monate alten Säuglingen funktioniert. Die Mütter sollten ihrem Säugling gegenüber die mimischen und stimmlichen Ausdruckszeichen für Freude (»happiness«), Trauer (»sadness«) und Ärger (»anger«) in einer vordefinierten zufälligen Reihenfolge zeigen. Der Ausdruck der Säuglinge wurde mit der MAX-Skala von Izard (1979) analysiert. Sie zeigten auf Freudeausdruck vermehrt Freudeausdruck und auf Ärgerausdruck vermehrt Ärgerausdruck. Auf Trauerausdruck reagierten sie nicht mit Trauerausdruck (Mundwinkel nach unten, Flunsch, innere Augenbraunen nach oben), sondern mit deutlichen Saug- und Lippenbewegungen (»mouthing«). Die Autoren interpretierten die Reaktionen der Säuglinge dahingehend, dass es sich nicht nur um ein motorisches Mimikry, sondern um eine Gefühlsansteckung handeln würde. Bezugspersonen haben in ihren eigenen Ausdruckszeichen demnach Modellfunktion für ihre Säuglinge. In der Studie von Malatesta und Haviland (1982) konnte gezeigt werden, dass Mütter in der Interaktion selektiv auf die emotionsspezifischen Ausdrucksreaktionen ihrer drei- bzw. sechsmonatigen Säuglinge reagieren und sie intuitiv in ihrem eigenen Ausdruck spiegeln. In einer Spielepisode und in einer Wiedervereinigungsepisode, nachdem Mutter und Säugling zuvor kurz getrennt wurden, reagierten die Mütter auf den Interesseausdruck ihrer Säuglinge vermehrt mit eigenem Interesseausdruck, auf Freude vermehrt mit Freude, auf Überraschung vermehrt mit Überraschung – jeweils mit der MAX-Skala von Izard (1979) gemessen. Der Ausdruck negativer Emotionen wie Trauer und Ärger wurde nicht so häufig, aber dennoch überzufällig häufig gespiegelt, wobei der Ärgerausdruck z. T. nur mit Stirnrunzeln gespiegelt wurde und die negativen Ausdrucksreaktionen recht schnell durch positivere ersetzt wurden. Hingegen wurde der Ausdruck von Distress ebenso wie einfaches Stirn-
runzeln (»knit brows«) ignoriert. Die Autoren lassen offen, ob die beobachteten kindlichen Ausdrucksreaktionen tatsächlich jeweils Emotionen oder nur wechselnde Ausdrucksmuster widerspiegeln. Für Letzteres spricht die hohe Fluktuationsrate des kindlichen Ausdrucks, das etwa alle 7–9 Sekunden wechselte und dem jeweils keine passenden externen Emotionsanlässe zugeordnet werden konnten. Das Kind bietet demnach in der Face-to-faceInteraktion seiner Bezugsperson eine Vielfalt unterschiedlicher Ausdrucksmuster an, wobei sie insbesondere die emotionsspezifischen positiven Ausdrucksmuster spiegelt. Für den Einfluss des selektiven affektreflektierenden Spiegelns spricht, dass bei den sechsmonatigen Säuglingen im Vergleich zu den dreimonatigen Säuglingen diejenigen Ausdrucksreaktionen abnahmen, die von den Bezugspersonen nicht gespiegelt wurden wie das Stirnrunzeln. Ebenso fluktuierten die kindlichen Ausdruckszeichen bei den Sechsmonatigen weniger als bei den Dreimonatigen. Demgegenüber nahm die Korrelation zwischen den kindlichen und mütterlichen Ausdrucksmustern zu. Es findet demnach eine Synchronisation der Ausdruckszeichen zwischen Bezugsperson und Säugling statt. Diese Entwicklungstrends konnten Malatesta et al. (1986) auch in einer Längsschnittstudie an Säuglingen im Alter von 2 ½, 5, und 7 ½ Monaten bestätigen. Darüber hinaus deutete das Kreuzkorrelationsmuster zwischen dem ersten und zweiten Messzeitpunkt darauf hin, dass das kontingente mütterliche Spiegeln der kindlichen Ausdruckszeichen zu einer erhöhten kindlichen Expressivität insbesondere der positiven Ausdruckszeichen führt. Das Kreuzkorrelationsmuster zwischen dem zweiten und dritten Messzeitpunkt belegt sogar emotionsspezifische Imitationseffekte: Danach bestanden für den Emotionsausdruck von Freude und Interesse Imitationseffekte von der Mutter zum Kind, während es allerdings für den Überraschungs- und Ärgerausdruck Imitationseffekte vom Kind zur Mutter gab. Des Weiteren konnten Legerstee und Varghese (2001) mit einem ausgeklügelten Experiment an zwei- bis dreimonatigen Säuglingen nachweisen, dass Säuglinge das kontingente affektreflektieren6
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de Spiegeln ihrer Bezugspersonen erkennen können und – in Reaktion darauf – ein solches kontingentes Spiegeln dann auch von ihren Bezugspersonen erwarten, quasi als Teil einer synchronen, bidirektionalen Face-to-face-Interaktion. Sie teilten die Mütter anhand einer Face-to-face-Interaktion mit ihren Säuglingen in hoch und niedrig affektreflektierende Mütter ein. Anschließend konnten die Säuglinge über einen Fernsehschirm einmal live mit ihren Müttern interagieren, so dass die Mütter kontingent auf die Reaktionen der Kinder eingehen konnten. Das andere Mal sahen die Säuglinge auf dem Fernsehschirm lediglich die Aufzeichnung einer früheren Interaktion mit ihrer Mutter, so dass keine Kontingenz zwischen kindlichem und mütter-
lichem Verhalten gegeben war. Die Kinder der hoch affektreflektierenden Mütter zeigten in der Live-Bedingung erhöhtes Lächeln und Vokalisierungen, nicht aber in der Replay-Bedingung. Sie konnten demnach kontingente und nichtkontingente Bedingungen unterscheiden, was die Säuglinge der niedrig affektreflektierenden Mütter nicht konnten: Sie lächelten und vokalisierten in beiden Bedingungen vergleichbar wenig. Die Interaktionserfahrungen mit dem affektreflektierenden Spiegeln ihrer Mütter führte bereits bei zwei- und dreimonatigen Säuglingen zu deutlichen Unterschieden in ihrer Sensibilität bezüglich des hoch bzw. niedrig kontingenten affektreflektierenden Spiegelns ihrer Mütter.
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. Abb. 4.6. Affektreflektierendes Spiegeln und motorisches Mimikry zwischen Mutter und Säugling
1. Bezugspersonen spiegeln intuitiv die emotionalen Ausdrucksreaktionen ihrer Säuglinge in ihrem eigenen Ausdruck.
2. Die Säuglinge registrieren das kontingente Spiegeln recht früh und erwarten es dann auch von ihren Bezugspersonen. 3. Die Säuglinge imitieren die Ausdruckszeichen ihrer Bezugspersonen.
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Studie Ausdruck von Säuglingen depressiver Mütter Field et al. (1988) zeigten anhand der Face-toface-Interaktionen zwischen depressiven Müttern und ihren Säuglingen, dass depressive im Vergleich zu nichtdepressiven Müttern weniger mimische Ausdruckszeichen, Vokalisierungen, imitatives und kontingentes Verhalten zeigten und sich diese Unterschiede auch in weniger mimischen Ausdruckszeichen und Vokalisationen bei ihren Säuglingen niederschlugen. Dieses gedämpfte Ausdrucksverhalten der Säuglinge generalisierte sogar auf die Interaktion mit nichtdepressiven Fremden. Pickens und Field (1993) stellten darüber hinaus auch emotionsspezifische Effekte fest. So zeigten Säuglinge depressiver Mütter mehr Ärger- und Trauerausdruck und weniger Interesseausdruck als Säuglinge nichtdepressiver Mütter.
4. Das Zusammenspiel von elterlichem affektreflektierendem Spiegeln und kindlichem Ausdrucksmimikry führt zu einer Synchronisation der verwendeten Ausdruckszeichen, bei der sich neben universalen auch dyadenspezifische Ausdruckszeichen herausbilden. Die Bedeutung des affektreflektierenden Spiegelns wird auch durch Studien an depressiven Müttern gestützt: Diese Studien zeigen, dass bei ihnen das prompte Reagieren auf das kindliche Ausdrucksverhalten reduziert ist (s. Studienbox). Die vorgetragenen Befunde sprechen für die Interdependenz zwischen der Ausdifferenzierung der emotionsspezifischen Einschätzungsmuster und der korrespondierenden Ausdruckszeichen, wie dies im Internalisierungsmodell angenommen wird, und nicht für ein einseitiges Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen Einschätzung und Ausdruck.
These 2: Ausdruckszeichen können symbolisch benutzt werden Mit der emotionsspezifischen Differenzierung der Ausdruckszeichen geht eine weitere Transformation einher: Ausdrucksreaktionen werden durch ih-
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re emotionsspezifische Konventionalisierung in der interpersonalen Regulation in Ausdruckszeichen transformiert. Als konventionalisierte Zeichen verweisen sie auf die verallgemeinerten emotionsspezifischen Handlungsbereitschaften und die damit korrespondierenden subjektiven Gefühlszustände (7 Abschn. 3.3.1). Ein Ausdruckszeichen verweist nicht nur auf eine zeitgleich aktualisierte Emotion (als Symptom), sondern kann dann auch wie ein Wort als Stellvertreter dieser Emotion (als Symbol) eingesetzt werden. Damit kann es auch intentional genutzt werden, sei es zur Affektabstimmung, zur sozialen Bezugnahme, zum Spiel oder zur Täuschung des Interaktionspartners. Nach Lewis und Michalson (1985) werden die als Mimikmuster von Basisemotionen aufgefassten Ausdrucksreaktionen über den Prozess der Konventionalisierung zu Ausdruckszeichen, die auch symbolisch benutzt werden können.
Symbolische Verwendung von Ausdruckszeichen Ausdruckszeichen in der sozialen Bezugnahme.
Die Konventionalisierung des Ausdrucks und seine Nutzung als Symbol, zeigt sich am klarsten bei der sozialen Bezugnahme (»social referencing«) von Säuglingen ca. ab dem 10. Lebensmonat (vgl. Klinnert et al. 1983; Hirshberg u. Svejda 1990; Walden u. Baxter 1989; Walden 1991). Der Säugling, der sich bei seiner Mutter rückversichert, nimmt den Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht als Spiegelung seines eigenen Zustands wahr, sondern als Symbol für eine emotionale Handlungsbereitschaft. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: > Beispiel Ein Säugling steht vor einer für ihn unbekannten Situation, z. B. will die dem Kind noch fremde Oma ihm im Beisein der Mutter ein Milchfläschchen geben. Der Säugling blickt zunächst seine Mutter an und liest an ihrem Gesichtsausdruck ab, wie er sich verhalten soll. Lächelt die Mutter, ergreift er erfreut das Fläschchen, zeigt sie ein ängstliches Gesicht, nimmt er es nicht (. Abb. 4.7a,b). Dies ist eine enorme Verständigungsleistung eines zehnmonatigen Säuglings: Er hat gelernt,
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. Abb. 4.7a,b. Soziale Bezugnahme eines Säuglings. a Mit prüfendem Blick zu seiner Mutter vergewissert sich das Kind, ob es das Fläschchen, das ihm die Oma anbietet, trinken soll. b Als die Mutter lächelt, greift das Kind freudig zum Fläschchen, um zu trinken. (Aus Molcho 1992, S. 33)
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5 dass man mit Hilfe eines fragenden Blicks die Aufmerksamkeit der Mutter lenken kann. 5 dass man diese Aufmerksamkeit auch auf Gefühle richten kann – in diesem Fall auf seine eigene Unsicherheit, was er tun soll. 5 dass die Mimik Auskunft über Gefühle gibt.
Diese Fähigkeiten sind durch das affektreflektierende Spiegeln aufgebaut worden. 5 dass die Mimik der Mutter in der betreffenden Situation nicht den Gefühlszustand der Mutter signalisiert und auch nicht seinen eigenen Gefühlszustand spiegelt, sondern eine Antwort
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4.2 · Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen
auf seine »Anfrage« ist. Lächeln bedeutet: Es ist alles gut, du kannst es tun. Sorgenvoller Blick bedeutet: Vorsichtig, tue es nicht. Und das alles erfolgt ohne jegliches Sprechen, sondern nur mit der Verwendung von Ausdruckszeichen als Symbole.
Dieses Beispiel zeigt, dass bereits im Alter von 10 Monaten Ausdruckszeichen als Symbole für einen Handlungsappell aufgefasst werden. Das Ausdruckszeichen »Lächeln der Mutter« wird nicht als Anzeichen eines aktuell vorhandenen Gefühlszustands der Mutter genommen, sondern als ein davon losgelöstes Symbol. Allerdings ist dieser erste Symbolgebrauch noch völlig in den situativen Handlungskontext eingebunden und hat zunächst nur indikativen Charakter. Er verweist auf Annäherung bzw. Vermeidung. Das Ausdruckszeichen hat für den Säugling noch nicht die vielschichtige verallgemeinerte Bedeutung, die es für Erwachsene hat. Das ist aber beim Gebrauch der ersten Worte nicht anders (vgl. Luria 1982, S. 51–70, 7 Abschn. 4.2.2). Ausdruckszeichen als mimische Embleme. Der
symbolische Gebrauch von Ausdruckszeichen ist nicht nur bei der sozialen Bezugnahme zu beobachten. Demos (1982a) beobachtete, dass alle Kinder in ihrer Studie bereits mimische Embleme (Ekman u. Friesen 1969) zeigen. Embleme sind konventionalisierte Mimikzeichen, denen eine bestimmte Bedeutung zukommt und die in dieser Bedeutung zur Regulation der Interaktion genutzt werden. > Beispiel Demos beobachtete z. B. die hochgezogenen Augenbrauen als Ausdruck einer Frage, die das Kind an sein Gegenüber richtete. Auch übertriebene Ausdrucksformen wie z. B. ein verlängertes Naserunzeln, um Aufregung auszudrücken, oder das Gesichterschneiden, das die Kinder sehr intentional einsetzten, sind solche konventionalisierten Ausdruckszeichen. Auch ein Schreien, das Kleinkinder zuweilen prompt anstellen können, wenn ihnen ein Wunsch verweigert wird, und ebenso prompt wieder abstellen können, wenn der Wunsch dann doch gewährt wird, ist zutreffender als intentional eingesetztes Ausdruckssymbol
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zu charakterisieren, denn als authentisches Ausdruckssymptom für intensiven Distress.
Ebenso beginnen Kleinkinder damit, Emotionen im Symbolspiel darzustellen, indem sie den prototypischen Ausdruck nachahmen, z. B. wenn sie beim Mutter-Kind-Spiel das Jammern und Schreien eines Babys imitieren oder den trostspendenden Habitus von Eltern nachahmen.
Affektreflektierendes Spiegeln und Symbolbildung Um Ausdruckszeichen auch symbolisch nutzen zu können, ist es notwendig, dass der Säugling Kontingenzen zwischen Anlass, Ausdruck und Bewältigung erlebt und subjektiv repräsentiert. Auf diese Weise nehmen Ausdruckszeichen eine motivbezogene Beziehungsbedeutung an. Darüber hinaus muss noch eine zweite Kontingenzreihe aufgebaut werden, damit ein Ausdruckszeichen von der konkreten Emotionsepisode abgelöst und als Symbol, also als Stellvertreter einer Emotion benutzt werden kann: Dies ist die Kontingenz zwischen den Empfindungen des Kindes, die durch seine eigenen Ausdruckszeichen erzeugt werden, und den Ausdruckszeichen der Bezugsperson, die die kindlichen Ausdruckszeichen in prägnanter konventionalisierter Weise spiegelt. Der gespiegelte Ausdruck wird damit zum Zeichen, das auf den aktuell erlebten Gefühlszustand verweist (Referent des Zeichens), das für den Säugling durch die wiederholt erlebte Kontingenz zwischen Anlass, Gefühl und Bewältigung eine emotionsspezifische Bedeutung bekommen hat (Interpretant des Zeichens) (7 Abschn. 3.3.1). > Beispiel Das Lächeln, durch das die Bezugsperson das Lächeln des Säuglings spiegelt, verweist auf dessen propriozeptiv empfundenes Lächeln, das für ihn mit weiteren emotionstypischen Empfindungen verknüpft ist, z. B. Entspannungsempfindungen, sowie mit einem Anlass, z. B. das Wiedersehen der Bezugsperson, und mit deren Bewältigungshandlung, die bei der Emotion Freude darin bestehen, den Zustand andauern zu lassen bzw. wiederholt zu erzeugen.
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
Das affektreflektierende Spiegeln des kindlichen Ausdrucks durch die Bezugsperson, bei der sie markante konventionalisierte Ausdruckszeichen einsetzt, ist demnach auf einer späteren Entwicklungsstufe – ab ca. dem 9. Lebensmonat – auch der Entwicklungsmechanismus, durch den ein Kind lernt, Ausdruckszeichen auch in ihrer Symbolfunktion benutzen zu können. Man kann das affektreflektierende Spiegeln der Bezugspersonen mit der stützenden Sprache (Bruner 1983) bei der Sprechentwicklung ihrer Kinder vergleichen. Auch hier nehmen sie das noch unfertige Zeichen, die geplapperten Protoworte des Kindes (»ma-ma«, »hei-hei«) auf und wiederholen sie in ihren konventionalisierten prototypischen Formen (»Papagei« für »hei-hei«). Dabei stellen sie einen Bezug zum Objekt her, auf das das Wort verweist. So wie auf diese Weise aus den geplapperten Protoworten des Säuglings die begriffsgestützten Sprechzeichen werden, so werden aus den Ausdrucksgrimassen des dreimonatigen Kindes in den Face-to-face-Interaktionen mit seiner Bezugsperson die emotionalen Ausdruckszeichen des Kleinkindes. Ebenso wie ein Kind sprachliche Anregungen und Modelle braucht, um sein angeborenes Sprachpotenzial auch tatsächlich im Erlernen einer Sprache verwirklichen zu können, so braucht ein Kind auch expressive Anregungen und Modelle, um sein angeborenes Emotionspotenzial im Erlernen einer – zum Teil universalen – Ausdruckskultur entfalten zu können. In der Entwicklung normaler Kinder vollzieht sich die Symbolbildung ab dem ersten Lebensjahr insbesondere bei den Sprechzeichen. Sie ist aber nicht auf die Sprache beschränkt. Im Rollenspiel nutzen Kinder auch verkürzte Handlungsschemata als Symbole für diese Handlungen, wenn sie z. B. auf dem Stuhl sitzend so tun, als ob sie Auto fahren. Sie nutzen auch Ausdruckszeichen, um Emotionen darzustellen. Wenn der auditive Kanal durch sensorische Beeinträchtigungen gestört ist, dann kann sich die Symbolbildung auf die Gebärdensprache als Medium verlagern oder bei taubblinden Kindern auf das Daktylalphabet (vgl. Aprauschev 1988). Vorausgesetzt ist dabei aber eine soziale Umwelt, die diese alternativen Zeichensysteme dem Kind gegenüber verwendet und durch eine stüt-
zende Gesten- bzw. Fingersprache dem Kind den Einstieg in dieses System ebnet.
These 3: Emotionsbegleitende Körperempfindungen werden in bewusste Gefühle transformiert Das affektreflektierende Spiegeln bringt noch eine weitere bedeutende Transformation hervor, die die Gefühlskomponente der Emotion betrifft: die Entstehung bewusster Gefühle. Sie ist die Kehrseite der Entstehung von symbolisch nutzbaren Ausdruckszeichen: Ohne symbolisch nutzbare Zeichen kein Bewusstsein (Vygotsky 1931/1997), ohne symbolisch nutzbare Ausdruckszeichen keine bewussten Gefühle.
Affektreflektierendes Spiegeln und Körperfeedback Gemäß dem Internalisierungsmodell entsteht das Gefühl aus dem intero- und propriozeptiven Feedback der Körper- und Ausdrucksreaktionen. Das affektreflektierende Spiegeln führt dazu, dass aus dem unbewussten Empfinden dieses Körperfeedbacks beim Neugeborenen ein bewusstes Fühlen beim Kleinkind entsteht. Das ganzheitliche ungegliederte Empfinden der bei einer Emotion induzierten Körper- und Ausdrucksreaktionen wird in ein kategorial gegliedertes Gefühl transformiert. Letzteres ist dadurch gekennzeichnet, dass aus der Vielzahl an zeitgleichen intero- und propriozeptiven Empfindungen die für die jeweilige Emotion kennzeichnenden Empfindungen herausgehoben und durch ein Ausdruckszeichen symbolisiert sind. > Beispiel Beim Gefühlszustand der Freude ist das Lächeln das Ausdruckszeichen, das auch propriozeptiv empfunden wird. Zugleich werden weitere Feedbackempfindungen wie z. B. Entspannungs- und Wärmeempfindungen, vokales Glucksen und Juchzen, überschwängliche Bewegungsempfindungen gefühlt, die das subjektive Gefühl der Freude kennzeichnen, während andere aktuelle Feedbackempfindungen zwar intern repräsentiert, aber nicht dem Freudegefühl zugeordnet werden, wie z. B. ein Jucken am Bein.
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4.2 · Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen
So wie die Symbolbildung bei den Sprechzeichen die Wahrnehmung der Außenwelt kategorisiert und strukturiert, so bündelt und strukturiert die Symbolbildung der Ausdruckszeichen die Wahrnehmung der Innenwelt, also der intero- und propriozeptiven Empfindungen. Um diesen Transformationsprozess zu verstehen, verwenden Gergely und Watson (1999) die Analogie des Biofeedback, das in Therapien mit Erwachsenen verwendet wird. Dabei werden interne Körperreaktionen wie z. B. Herzschlag external wiedergegeben. Dieses externe Spiegeln führt dazu, dass die Person für diejenigen interozeptiven Körperempfindungen sensitiver wird, die ihre eigene Körperreaktion subjektiv repräsentieren. Dadurch kann sie auch eine gewisse willkürliche Kontrolle über diese Körperreaktion erlangen (Dicara 1970; Miller 1978). Elterliches affektreflektierendes Spiegeln stellt eine Art natürliches Biofeedback-Training für Säuglinge dar. Die emotionalen Ausdrucks- und Körperreaktionen erlebt der Säugling zunächst nur als ganzheitliche ungegliederte proprio- und interozeptiven Empfindungen. Die Bezugspersonen stellen durch ihr affektreflektierendes Spiegeln eine kontingente externale Repräsentation der kindlichen Ausdrucksreaktion dar. Da der Säugling sehr empfänglich für Kontingenzen ist, wird er früher oder später auch diese Kontingenz zwischen seinen internen Empfindungen und der externen Ausdrucksrepräsentation entdecken. Stern (1992) hat diese »Entdeckung« als Resultat der elterlichen Affektabstimmung beschrieben.
Übertreibung der Ausdruckszeichen Wie kann der Säugling aber erkennen, dass der emotionale Ausdruck der Bezugsperson seinen eigenen Gefühlszustand spiegelt und nicht den Gefühlszustand der Bezugsperson, denn schließlich haben auch Bezugspersonen Emotionen, die sich in ihrem Ausdruck zeigen? Der Unterschied besteht nach Gergely und Watson (1999) darin, dass Bezugspersonen beim affektreflektierenden Spiegeln einen übertriebenen Ausdruck der darzustellenden Emotion verwenden. Er entspricht den konventionalisierten Ausdruckszeichen, die in der jeweiligen (Sub)Kultur verwendet werden, die aber aufgrund ihrer ikonischen Kodierung eine hinrei-
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chende Ähnlichkeit zu den realen Ausdrucksreaktionen behalten. > Beispiel Malatesta und Haviland (1982) berichten in ihrer Studie über die Interaktion von Müttern mit ihren drei- bzw. sechsmonatigen Säuglingen, dass die Mütter z. B. den Ärger ihrer Kinder in der Regel in einer mimisch überzogenen Spielform von Ärger (»mock anger«) bzw. nur mit dem prägnanten Ausdruckszeichen des Stirnrunzelns spiegeln. Papoušek und Papoušek (1987) berichten, dass Eltern vornehmlich übertriebene Ausdruckszeichen ihren Säuglingen gegenüber einsetzen. Der übertriebene affektierte Habitus der sogenannten Ammensprache ist allgemein bekannt.
Diese Markiertheit der gespiegelten Ausdruckszeichen und die zeitliche Kontingenz zwischen eigenem Empfinden und gespiegeltem Ausdruck wiederholt sich für den Säugling in vielen Emotionsepisoden. Das führt mit der Zeit dazu, dass der Säugling die gespiegelten Ausdruckszeichen der Bezugsperson nicht mehr auf die Bezugsperson attribuiert, sondern auf sich selbst und sie als Ausdruckszeichen für das eigene aktuelle Gefühl interpretiert. Gergely und Watson (1999) nennen ersteren Vorgang referenzielles Entkoppeln und letzteren Vorgang referenzielles Verankern. In diesem Prozess wird der Säugling allmählich sensitiver für diejenigen proprio- und interozeptiven Empfindungen, die seinen jeweiligen emotionsspezifischen Ausdrucks- und Körperreaktionen entsprechen. Er lernt, diese Empfindungen mittels der Ausdruckszeichen emotionsspezifisch zu gruppieren und mit den entsprechenden Anlässen und Bewältigungshandlungen in Beziehung zu setzen und sich auf diese Weise seiner Gefühle gewahr zu werden. Aus den unvermittelten ungerichteten Körperempfindungen sind bewusste, auf den Anlass gerichtete Gefühle geworden.
Affektabstimmung Das Phänomen der Affektabstimmung passt ebenfalls zu dieser Interpretation. Stern (1992) benutzt diesen Begriff, um eine besondere Form der Eltern-Kind-Interaktion zu beschreiben, die ab ca. dem 9. Lebensmonat beobachtet werden kann: Da-
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
. Abb. 4.8. Die Mutter stimmt ihren mimischen Ausdruck auf das protestierende Weinen des Jungen ab und spiegelt damit seinen ärgerlichen Gefühlszustand in ihrer Mimik (Flunschmund und Stirnrunzeln) wider. (Aus Molcho 1992, S. 66)
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bei spiegelt die Bezugsperson den Duktus der Ausdruckszeichen des Säuglings in einer anderen Sinnesmodalität wider. Diese Affektabstimmung wäre nach dem Internalisierungsmodell nur eine Fortsetzung des affektreflektierenden Spiegelns mit besonderen Mitteln, nämlich mit intermodal gespiegelten Ausdruckszeichen (. Abb. 4.8). > Beispiel Stern (1992) führt für das Phänomen der Affektabstimmung einige eindrückliche Beobachtungen an:
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Ein neun Monate altes Mädchen gerät beim Anblick eines Spielzeugs in helle Aufregung und streckt die Hand nach ihm aus. Als sie es ergreift, lässt sie ein verzücktes, stolzes »Aaaah!« vernehmen und blickt ihre Mutter an. Die Mutter erwidert den Blick, zieht die Schultern hoch und führt mit dem Oberkörper einen prächtigen Shimmy auf, wie eine Go-go-Tänzerin. Der Shimmy dauert nur etwa so lange wie das »Aaaah« des Mädchen, ist aber von der gleichen Erregung, Freude und Intensität erfüllt (S. 200).
Bei Stern (1992) zielt die Affektabstimmung darauf ab, dass der Säugling Intersubjektivität erlangt, also Ausdruckszeichen als Mittel deutet und einsetzt, um Intentionen und Gefühle mit anderen teilen zu können. Die geteilte Aufmerksamkeit zwischen Bezugsperson und Kind kann auf diese Weise nicht nur auf äußere Objekte gerichtet sein, wie sich dies sinnfällig in der Zeigegeste äußert, sondern auch auf die eigenen Gefühle und die anderer Personen. Allerdings geht Stern (1992) davon aus, dass der Säugling bereits über ein bewusstes Gefühlserleben verfügt, das er durch die Affektabstimmung nur auf andere Personen erweitert. Wir gehen hingegen mit Gergely und Watson (1999) davon aus, dass sich in der Affektabstimmung bzw. im affektreflektierenden Spiegeln beides herausbildet: die Bewusstheit über fremde und über eigene Gefühle. Ein bewusstes kategoriales Gefühl existiert zunächst immer nur als ein über Zeichen mitteilbares und damit mit anderen teilbares Gefühl. Es ist eine, wenn man so will, »öffentliche« Entdeckung, die das Kind in der Interaktion mit anderen macht, und keine »private«, die das Kind in Alleinsituationen macht.
4.2 · Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen
Wir nehmen an, dass bewusst gewordene Gefühle nicht nur die Ausdrucks- und Körperreaktionen motivdienlich nachregulieren können, sondern dass sie auch einen ersten Schritt in Richtung auf eine reflexive Emotionsregulation darstellen. Die Bewusstwerdung von Gefühlen setzt demnach nicht erst mit dem symbolischen Gebrauch von Sprechzeichen und damit mit der sprachlichen Symbolbildung ein, sondern mit dem symbolischen Gebrauch von Ausdruckszeichen bereits viel früher (vgl. Lewis u. Michalson 1985; Malatesta u. Izard 1984).
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4.2.2 Entstehung der volitionalen
Handlungsregulation Das Internalisierungsmodell geht davon aus, dass die Symbolisierung der Ausdruckszeichen die Symbolbildung mit Hilfe von Sprechzeichen vorbereitet und dass erst die Sprachentwicklung eine volitionale Handlungsregulation ermöglicht. Wie bereits in 7 Abschn. 3.4.1 erläutert, kann man den Willensprozessen die Funktion zuordnen, zukünftige Situationen der Motivbefriedigung als Ziele zu antizipieren, die aktuellen Handlungen durch Selbstinstruktionen auf diese Zukunft hin auszurichten und von konkurrierenden Handlungsimpulsen abzuschirmen (Kuhl 1996). Dazu bedarf es eines symbolischen Mediums, mit dem sich zukünftige, noch nicht existente Ereignisszenari-
Studie Ausdruck und Sprechen werden anfänglich komplementär benutzt In einer Längsschnittstudie beobachtete Bloom (1993) 6 Mädchen und 6 Jungen in einer einstündigen Spielinteraktion mit ihren Müttern im monatlichen Abstand vom 9. bis zum 21. Lebensmonat. Dabei verglich sie das Sprech- und Ausdrucksverhalten der Kinder zum Zeitpunkt des ersten eindeutigen Gebrauchs konventioneller Wörter mit dem Verhalten, das die Kinder zum Zeitpunkt des Vokabelspurts zeigten. Dies ist eine Phase, in der Kleinkinder einen rasanten Entwicklungssprung im Erlernen neuer Wörter machen. Der erste Wortgebrauch setzte im Durchschnitt mit 12.8 Lebensmonaten ein, der Vokabelspurt mit 19.2 Lebensmonaten. Dabei zeigte sich Folgendes: 1. Der prozentuale Anteil des emotionalen Ausdrucks an der gesamten Beobachtungszeit in dieser Entwicklungsphase blieb gleich, während der Anteil der Sprechens von fast Null auf das Niveau des emotionalen Ausdrucks anstieg. Demnach wurden die Ausdruckszeichen nicht durch Sprechzeichen ersetzt. 2. Die Kinder sprachen ihre ersten Worte vornehmlich dann, wenn sie keinen Ausdruck zeigten, sie sich also in einem neutralen
emotionalen Zustand befanden. Demgegenüber benutzten sie zum Zeitpunkt des Vokabelspurts bereits signifikant mehr Wörter, während sie einen leicht positiven Emotionsausdruck zeigten, nicht aber bei negativen oder höheren positiven Ausdrucksintensitäten. Dies waren vor allem solche Wörter, die sie am besten kannten. Demnach wurden Ausdrucks- und Sprechzeichen anfänglich unabhängig voneinander eingesetzt. Erst mit dem Einsetzen des Vokabelspurts begannen die Kinder, Sprech- und Ausdruckszeichen miteinander zu verbinden, und emotional getönte Wörter zu sprechen. Dies kann man als eine zunehmende Integration der emotionalen und der volitionalen Regulationsebene deuten. 3. Bei Kindern mit hohem Anteil an Emotionsausdruck setzte der erste Wortgebrauch und der Vokabelspurt erst merklich später ein. 4. Die Kinder setzten bis zum Zeitpunkt des Vokabelspurts ihre Wörter in erster Linie indikativ ein, um zu bezeichnen, was sie gerade taten bzw. was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, nicht aber um ihre Mutter zu beeinflussen, etwas Bestimmtes für sie zu tun, also im Sinne eines instrumentellen Wortgebrauchs.
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
en willkürlich darstellen und manipulieren lassen. Dieses Medium ist in erster Linie die Sprache, doch gehören dazu auch Gesten oder Ausdruckszeichen. Damit stellt die Verwendung von Sprechzeichen und anderer Zeichen den Beginn der volitionalen Regulation von Handlungen und Emotionen dar. Auch diese Willensprozesse entstehen interpersonal innerhalb der Sprachentwicklung im Laufe des Kleinkindalters. Dabei lässt sich der Beginn der Sprachentwicklung bis in die frühen intentionalen Lautäußerungen des Säuglings zurückverfolgen (vgl. Papoušek 1994). Im Kleinkindalter bis etwa dem dritten Lebensjahr sind zwei Meilensteine in der Sprachentwicklung für die volitionale Handlungsregulation von Bedeutung: 5 die anfängliche Komplementarität von emotionaler und volitionaler Handlungsregulation und 5 der Einsatz von Sprechzeichen als Handlungsappelle.
Komplementarität von emotionaler und volitionaler Handlungsregulation Beide Regulationsformen scheinen anfänglich komplementär benutzt zu werden, wie Bloom (1993) in ihren Untersuchungen beobachtet hat (s. Studienbox): Die ersten Sprechzeichen gebraucht das Kind fast ausschließlich in einem neutralen emotionalen Zustand, der von den beobachteten Ausdruckszeichen her auch den emotionalen Zustand des Interesses umfasst. Sobald andere Emotionen induziert sind, wie z. B. Ärger oder auch Freude, wird die Interaktion wieder mit Hilfe von Ausdruckszeichen reguliert. Pointiert ausgedrückt: Entweder spricht das Kind oder es hat Emotionen, beides zugleich kommt nicht vor. Blooms (1993) Ergebnisse, dass Kleinkinder ihre ersten Worte vornehmlich indikativ benutzten, hatte auch Luria (1982, S. 56–63) in seinen Studien beobachtet. Die Kinder zeigten der Bezugsperson Gegenstände oder machten sie auf diese aufmerksam und sprachen dazu ein mehr oder minder passendes Wort. Die Bezugsperson wiederholte das Wort – spiegelte es – und stellte ebenfalls einen Bezug zum Gegenstand her, indem sie z.B. mit dem Gegenstand eine typische Handlung oder ein typisches Geräusch vorführte. Diese Verhaltensbeobachtungen lassen den Schluss zu, dass Säuglinge,
im Unterschied zu älteren Kindern und Erwachsenen, Sprechzeichen noch nicht als universales Mittel zur Regulation von Beziehungen einsetzen. Das scheint noch den Ausdruckszeichen vorbehalten zu sein.
Intersubjektive Verständigung Demnach scheinen die ersten Worte zunächst nur einem eingeschränkten Zweck zu dienen, nämlich der intersubjektiven Verständigung: Durch den indikativen Gebrauch der Worte fordert das Kind die Bezugsperson auf, an seinen Wahrnehmungen Anteil zu nehmen und die Richtigkeit der Indikation zu bestätigen bzw. bei »Fehlern« zu korrigieren. Durch dieses spiegelnde Anteilnehmen der Bezugsperson – analog zur Affektabstimmung bei den Ausdruckszeichen – wird eine Intersubjektivität über den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, den durch das Wort bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt, hergestellt. Die Zeichennutzung erfolgt also nicht als wechselseitiger instrumenteller Appell, den anderen im Dienste der eigenen Motivbefriedigung zu benutzen, sondern im Sinne einer wechselseitigen Verständigung über die eigene Weltsicht. So fasst Bloom (1993) ihre Beobachtungen zum frühen Spracherwerb wie folgt zusammen: Children learn language in the first place because they strive to maintain intersubjectivity with other persons – to share what they and other persons are feeling and thinking. (Bloom 1993, p. 245, Hervorhebung durch Bloom). Man kann dies als ein soziales Rückversichern interpretieren, das auf den Wortgebrauch verallgemeinert wird. Dieses Streben nach Intersubjektivität lässt sich als ein Motiv nach sozialer Verständigung über die eigene Weltsicht charakterisieren. Wir nehmen an, dass dieses selbstzweckhafte Kommunikationsmotiv ein grundlegendes Motiv des Menschen ist. Aufschlussreich dürfte in diesem Zusammenhang die Beobachtung von Primatenforschern sein, nach der man Schimpansen zwar auch den Gebrauch von Symbolen beibringen kann, sie diese aber zum allergrößten Teil nur im Zusammenhang mit instrumentellen Verhaltensweisen der Bedürfnisbefriedigung wie z. B. Nah-
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4.2 · Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen
rungssuche einsetzen, jedoch nur sehr selten als Mitteilung oder gar Verständigung über die eigenen Wahrnehmungen (vgl. Fouts 1997). Demnach scheinen Schimpansen noch kein genuines Kommunikationsbedürfnis zu verspüren.
Sprechzeichen als Handlungsappelle Ein zweiter Meilenstein in der volitionalen Entwicklung ist die Erkenntnis, dass sich Sprechzeichen universell als Handlungsappelle gegenüber anderen benutzen lassen, nicht nur um Intersubjektivität herzustellen, sondern auch um andere Menschen zu motivdienlichen Handlungen in Bezug auf alle anderen Motive zu veranlassen. Das schließt auch den Appell ein, das Kind gewähren zu lassen, was mit den Worten »Ich will...« oder »selber« nachdrücklich signalisiert wird (vgl. Geppert u. Küster 1983). Im gleichen Zuge beginnen Kleinkinder, sich durch Sprechzeichen zu Handlungen auffordern zu lassen. Dabei hat das Sprechen zunächst nur handlungsauslösenden Charakter. Kinder im Alter von einem
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bis zwei Jahren können ohne weiteres sprachliche Anweisungen ausführen, wie z. B. in die Hände klatschen, Winke-Winke machen, aber diese Anweisungen lösen nur Reaktionen aus, die nicht reguliert oder gehemmt werden können (s. Studienbox). Zweijährige sind noch nicht in der Lage, ihre Reaktion durch eine Selbst- oder Fremdinstruktion zu kontrollieren oder gar zu stoppen. Daher stellt es für Kinder diesen Alters eine kognitive Überforderung dar, wenn man ihnen sprachlich etwas verbietet – es sei denn der nonverbale Anteil des »Nein!« ist emotional so beeindruckend, dass das Kind aufgrund der induzierten Emotion von seinem Vorsatz absieht. Es ist ein langwieriger Lernprozess, bis tatsächlich der Bedeutungsgehalt des Gesprochenen handlungswirksam wird und damit Selbstinstruktionen effektiv zur eigenen Handlungsregulation eingesetzt werden können (vgl. Luria 1982).
4.2.3 Vorläufer der reflexiven
Emotionsregulation Studie Sprechen als handlungsinitiierende Fremdinstruktion Luria (1961) berichtet von einer Studie an zweijährigen Kindern, die den Auftrag bekamen, eine Gummiblase beim Auftreten eines Lichtsignals zu drücken, um es wieder auszuschalten. Bei der Anweisung »Wenn das Licht erscheint, drückst du den Ball« begannen die Zweijährigen sofort zu drücken und wiederholten diese Reaktion immer wieder (. Abb. 4.9a). Wenn es eine unmittelbare Kontingenz zwischen Reaktion (Drücken) und Reiz (Licht aus) gab, konnten sie ihr Verhalten aufgabenbezogen kontrollieren (. Abb. 4.9b). Aber auch die Aufforderung »nicht drücken« oder »genug!« löste die Reaktion des Drückens aus. Darüber hinaus führten die Kinder die Aufgabe schlechter aus, wenn das Licht z. T. auch unabhängig vom Balldruck verlosch. Demnach funktioniert das Sprechen auf dieser Stufe ausschließlich als handlungsinitiierender Appell durch andere – unabhängig von der Bedeutung des Gesprochenen.
Die Entwicklung der emotionalen Handlungsregulation kann man angemessener verstehen, wenn man auch den komplementären Prozess betrachtet, nämlich die Entwicklung der Fähigkeit, die eigenen Emotionen regulieren zu können. Im Säuglings- und Kleinkindalter erweitern Kinder ihr Repertoire an Emotionsregulationsstrategien, die als Vorläufer einer reflexiven Emotionsregulation angesehen werden können.
Säuglingsalter Ein Säugling verfügt über zwei angeborene Strategien, seine Emotionen in Intensität und Dauer, nicht aber in ihrer Qualität zu modifizieren: das Blickabwenden und das Saugen (7 Abschn. 4.1.2). Allerdings sind diese Strategien nur innerhalb eines relativ engen Erregungsniveaus erfolgreich einsetzbar. Daher entwickelt sich auch die Emotionsregulation in erster Linie in Form einer interpersonalen Regulation zwischen Kind und Bezugsperson. Zunächst übernehmen es die Bezugspersonen, den Säugling bei Anzeichen von Desinteresse zu aktivieren oder bei Anzeichen von Distress zu beruhigen und ihn auf diese Weise auf einem optimalen
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. Abb. 4.9a,b. Kontrolle von inadäquaten Überschussreaktionen (ÜR) durch exterozeptives Lichtsignal mit Feedbackeffekt. a Sprachkommando »auf Lichtsignal Ball drücken« ohne Feedbackeffekt: ÜR treten auf. b Exterozeptives Feedback (Druck auf Ball löscht Licht) hemmt ÜR. Kind 2;2 Jahre alt. (Nach Luria 1961, S. 109)
Erregungsniveau zu halten (Papoušek u. Papoušek 1987). Hierbei kann die Bezugsperson unmittelbar an die angeborenen Strategien anschließen und Strategien wie Aufmerksamkeitslenkung, Beruhigung oder Gefühlsansteckung anwenden. Sie kann allerdings auch vorausschauend geeignete motivdienliche Kontexte auswählen (antezedente Emotionsregulation), um eine zu starke oder zu schwache Stimulation des Säuglings von vornherein auszuschließen (vgl. Thompson 1990). Das Kind lernt in der Interaktion mit seinen Bezugspersonen, sich bei Emotionen gezielt an seine Bezugsperson zu wenden (vgl. Bridges u. Grolnick 1995). Denn diese reagiert in der Regel prompt mit Maßnahmen, um negative Emotionen abklingen und positive andauern zu lassen. Der Säugling hat zunächst keine Bewusstheit darüber, ob die Bezugsperson auf seine Emotionen mit problem- oder mit emotionsbezogenen Handlungen reagiert. Erstere dienen dazu, das angeregte Motiv zu befriedigen, Letztere dazu, die Emotion auch ohne Motivbefriedigung zum Abklingen zu bringen (Lazarus u. Folkman 1984). > Beispiel Der Vater kann auf die Frustration seines kleinen Sohnes mit einer emotionsbezogenen Handlung reagieren: Er kann z. B. durch eine gezielte Ablenkung mit Hilfe eines neuen Spielzeugs die Aufmerksamkeit seines Sohnes so zu fesseln versuchen, dass dieser seine ursprüngliche Frustration vergisst, dass ihm sein Vater den Füllfederhalter weggenommen hatte, weil er damit nicht spielen durfte.
Da Säuglinge noch sehr stark dem Augenblick verhaftet sind und noch keine überdauernden Intentionen oder Erwartungen aufgebaut haben, lassen sich ihre Emotionen recht leicht durch Lenkung der Aufmerksamkeit beeinflussen.
Kleinkindalter Die interpersonale Emotionsregulation ändert sich im Laufe des 2. Lebensjahres, wenn das Kleinkind Selbst und Andere bewusst zu unterscheiden lernt, sich seiner eigenen Intentionen und Erwartungen und die der anderen bewusst wird und beide als getrennt wahrzunehmen beginnt. Diese neu erworbene Fähigkeit führt zu einer qualitativen Veränderung in der Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind: Mit der bewussten Unterscheidung zwischen Selbst und Andere beginnt die selbstständige Regulation der eigenen Handlungen und Emotionen. Dabei ist die dominierende Regulationsebene die emotionale Handlungsregulation, d. h. Ziel ist die unmittelbare Motivbefriedigung. Instrumentelle Bewältigungshandlungen zur Eliminierung einer Quelle für eine negative Emotion nehmen im 2. Lebensjahr deutlich zu (Stansbury u. Sigman 2000). In Studien zur Emotionsregulation werden diese instrumentellen Handlungen als emotionsregulierende Strategien angesehen (z. B. Grolnick et al. 1996; Parritz 1996; Stansbury u. Sigman 2000). Da diese Handlungen jedoch mit dem Ziel der Motivbefriedigung ausgeführt werden und nicht mit dem Ziel, die Emotion abklingen zu lassen, sind sie nach unserem Internalisierungsmodell als problembezogene Handlungen anzusehen, die auf der Ebene der emotionalen Handlungsregulation liegen und nicht
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als emotionsbezogene Handlungen, die auf der Ebene der reflexiven Emotionsregulation liegen. Dies trifft auch dann zu, wenn die problembezogenen Handlungen das eigentliche Ziel nicht erreichen, wie dies in Studien zum Belohnungsaufschub der Fall ist: Auf das zu erwartende Geschenk starren, es berühren oder es zu erlangen versuchen sind problembezogene Handlungen von Kleinkindern, das erwünschte Geschenk zu erlangen. Sie sind kaum geeignet, die aktuelle Begehrlichkeit auf das Geschenk im Zaum zu halten und den Aufschub der Belohnung auszuhalten. Daher können Kleinkinder in der Regel Belohnungen noch nicht selbstständig aufschieben (Raver 1996).
Strategien der Emotionsregulation Dennoch eignen sich Kinder in den ersten beiden Lebensjahren auch einzelne Strategien an, mit denen sie ihre Emotionen in gewissen Grenzen eigenständig, d. h. intrapersonal, in Intensität und Dauer regulieren können. Dabei können u. a. Handlungsschemata, die das Kind für eine problembezogene Bewältigung bereits verwendet hat, auch als emotionsbezogene Strategien eingesetzt werden. Das Repertoire emotionsbezogener Strategien umfasst am Ende des 2. Lebensjahres Strategien der Beruhigung, der Ablenkung und erste symbolische Strategien (kognitive Umdeutung), die im Folgenden kurz skizziert werden. Beruhigungsstrategien. Das angeborene Saugen wird erweitert durch das Nuckeln am Schnuller, Daumenlutschen oder das Sich-Einkuscheln in der Bettdecke. Bridges und Grolnick (1995) sprechen von körperlicher Selbstberuhigung. Nach Mangelsdorf, Shapiro und Marzolf (1995) werden diese Strategien sehr früh eingesetzt und ihr Einsatz nimmt gegen Ende des 2. Lebensjahres ab. Ablenkungsstrategien. Während junge Säuglinge auf eine Überstimulation nur durch Blickabwenden von der Reizquelle reagieren können, so erweitern Kleinkinder aufgrund ihrer erworbenen Bewegungsfähigkeit ihre Handlungsmöglichkeiten durch Weglaufen, Vermeiden oder »Aus dem Felde gehen«. Sie haben damit einen größeren räumlichen Radius der Spannungsregulation (Mangelsdorf et al. 1995). Das Manipulieren mit Gegenstän-
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den lässt sich ebenfalls als emotionsbezogene Bewältigung einsetzen, wenn es als Ablenkung von einem negativen Reiz verwendet wird. Bridges und Grolnick (1995, p. 196) beobachteten diese letztgenannte Strategie in einer Studie zum Belohnungsaufschub bei Zweijährigen und sprechen von »active engagement with a substitute toy«. Symbolisch vermittelte Strategien. Dies sind z. B.
kognitive Umdeutungen, die erst mit der Entwicklung der Symbolfunktion möglich werden und bei Kleinkindern noch sehr selten zu finden sind (vgl. Bridges und Grolnick 1995). Aufgrund des Entwicklungsstandes der Kinder werden sie auch von den Bezugspersonen kaum verwendet (vgl. ausführlicher 7 Kap. 4.2.2). > Beispiel Ein Kleinkind fürchtet sich vor einem Hund, der auf es zuläuft und schnuppern will. Der Erwachsene wird versuchen, das Kind durch beschwichtigende Worte und Gesten zu beruhigen. Man kann zusätzlich durch Umdeuten der Situation versuchen, dem Kind die Furcht vor dem Hund zu nehmen, indem man dem Kind positive Situationseinschätzungen nahe legt. Dies geht nicht ohne sprachliche, d. h. durch Sprechsymbole vermittelte Erläuterungen auf einem kindgerechten Niveau: Der Hund will doch nur spielen. Schau mal, wie der sich freut, der lacht dann nicht, der wackelt dann immer mit dem Schwanz. Hunde können doch nicht »Guten Tag« sagen wie wir Menschen, die tun das durch Schnuppern. Guck mal, der schnuppert auch bei mir. Guten Tag, lieber Hund.
Antezedente Strategien. Sie beinhalten die gezielte Auswahl und Kontrolle von Kontexten, indem Situationen aufgesucht werden, die positive Emotionen auslösen, und solche vermieden werden, die negative Emotionen auslösen (vgl. Thompson 1990). Diese Strategien werden ausschließlich von der Bezugsperson eingesetzt, da sie eine volitionale Repräsentation zukünftiger Situationen erfordern, zu der Kleinkinder noch nicht fähig sind. Zusammenfassung. Die von den Kindern gezeigten emotionsbezogenen intrapersonalen Strategien gehen aus interpersonalen Regulationserfah-
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rungen hervor. Alle aufgezählten Strategieformen sind sowohl inter- als auch intrapersonal einsetzbar. So können die Bezugspersonen durch Herstellen des körperlichen Kontakts (umarmen, wiegen, auf den Schoß nehmen, streicheln) beruhigend auf das Kind einwirken. Sie können das Kind ablenken oder versuchen, eine Umdeutung der Situation anzubieten. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Kinder nicht unmittelbar von einer inter- zu einer intrapersonalen Regulation übergehen, sondern dass sie in einem ersten Entwicklungsschritt von sich aus eine interpersonale Regulation initiieren und die Unterstützung anderer aktiv aufsuchen (vgl. Walden 1991). So kann das Kind aktiv die Bezugsperson aufsuchen, um beruhigt und getröstet zu werden. Es kann gemeinsame Aktivitäten initiieren (Mosier u. Rogoff 1994) mit dem Ziel, sich von der Quelle einer negativen Emotion abzulenken (Bridges u. Grolnick 1995). Und es kann schließlich durch Zeigegesten oder Frageembleme, die es an die Bezugsperson richtet, eine interaktive Umdeutung des Anlasses in Gang setzen.
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4.2.4 Interindividuelle Unterschiede
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Bislang wurde angenommen, dass Bezugspersonen in der Lage sind, den Ausdruck des Säuglings adäquat zu spiegeln, seine Appelle angemessen zu interpretieren und ihnen Folge zu leisten. Damit bieten sie ihm optimale Bedingungen, sein emotionales Regulationsrepertoire zu entwickeln. Auch wenn Bezugspersonen in der Regel ziemlich effizient im »Lesen« des emotionalen Ausdrucks sind, treten dennoch interindividuelle Unterschiede auf. Auf Seiten der Bezugspersonen zeigen sie sich in der Sensitivität gegenüber den kindlichen Signalen. So stimmen sensitive Mütter ihre Reaktionen noch besser auf die Zustände des Säuglings ab als weniger sensitive Mütter (Malatesta et al. 1989; Tronick 1989). Auf Seiten des Säuglings bestehen individuelle Unterschiede in dispositionellen Emotionsbereitschaften, die es ihren Bezugspersonen mehr oder weniger leicht machen, ihren Emotionsausdruck zu interpretieren und ihre Emotionen motivangemessen zu regulieren. Diese dispositionellen Emotionsbereitschaften werden dem kind-
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lichen Temperament zugerechnet (vgl. Zentner 1999).
Temperamentsunterschiede Auch wenn es bislang keine einheitliche Definition des Temperaments gibt, so lassen sich die verschiedenen Temperamentskonzepte nach Kagan (1994) doch auf einen gemeinsamen Nenner bringen: »Temperament conventionally refers to stable behavioral and emotional reactions that appear early and are influenced in part by genetic constitution« (p. 40). Über die Anzahl und Ausrichtung der Temperamentsfaktoren herrscht zwischen den verschiedenen Forschungsrichtungen und Theorien nach wie vor Uneinigkeit. So nehmen z. B. Buss und Plomin (1984) nur drei Faktoren an: 5 Emotionalität (»emotionality«), 5 Aktivität (»activity«), 5 Geselligkeit (»sociability«), wobei sie in ihrem Fragebogen noch den Faktor Schüchternheit (»shyness«) erfassen. Demgegenüber kommen Martin, Wisenbaker und Huttunen (1994) in ihrem Überblick über Studien zum Temperamentsmodell von Thomas und Chess (1977) zu dem Schluss, dass sich sieben Faktoren reliabel und valide identifizieren lassen: 5 Annäherung/Vermeidung (»approach/withdrawal«), 5 Aktivität (»activity level«), 5 negative Emotionalität (»negative emotionality«), 5 Aufmerksamkeit/Ausdauer (»distractibility/ persistence«), 5 Anpassungsfähigkeit (»adaptability«), 5 Regelmäßigkeit biologischer Funktionen (»regularity«), 5 sensorische Reizschwelle (»sensory threshold«). Vergleicht man die verschiedenen Konzepte und ihre empirischen Operationalisierungen, zeigen sich bei einzelnen Faktoren Überschneidungen (vgl. auch Goldsmith et al. 1987; Kohnstamm et al. 1989). Für unseren Zusammenhang interessant ist die Beobachtung, dass die Temperamentsfaktoren in typischen Clustern oder Syndromen auftreten, die
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4.2 · Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen
für den Aufbau einer effektiven interpersonalen Regulation von Bedeutung sind. Thomas et al. (1968) haben bei Säuglingen erstmals drei Syndrome von Temperamentsfaktoren identifiziert, die mittlerweile von anderen Forschergruppen teilweise bestätigt werden konnten: Robins et al. (1998) unterscheiden die Kinder in 5 Ich-starke (»ego-resilient«), 5 überkontrollierte (»overcontrolled«) und 5 unbeherrschte (»undercontrolled«). Erstere stellen ca. zwei Drittel aller Kinder dar, die anderen beiden Gruppen ca. 15–20 Prozent. Ich-starke Kinder sind extravertiert, verträglich und belastbar, wodurch sie für ihre Bezugspersonen relativ unkompliziert zu erziehen sind. Die überkontrollierten Kinder erscheinen sozial gehemmt und ängstlich. Doch auch diese Kinder lassen sich von ihren Bezugspersonen vergleichsweise unkompliziert erziehen, da sie gegenüber vertrauten Personen aufgeschlossen und verträglich sind. Demgegenüber sind die unbeherrschten Kinder hochaktiv und impulsiv, sie haben unregelmäßige Ess- und Schlafgewohnheiten (»low regularity«), sie versuchen neue Menschen und Situationen zu meiden (»withdrawal«), passen sich an Veränderungen z. B. im Tagesablauf oder bezüglich Speisen nur langsam an (»low adaptability«) und reagieren bei Frustrationen sehr heftig (»high negative emotionality«). Diese dispositionellen Temperamentseigenschaften erschweren den sensitiven und fürsorglichen Umgang mit diesen Kindern. Eltern, Kinderärzte und Kleinkinderzieherinnen berichten in den meisten Fällen, dass sie Mühe haben, die Emotionen dieser Kinder angemessen zu regulieren und sie auf einem optimalen Spannungsniveau zu halten. Diese Kinder entwickeln auch am ehesten psychische Störungen. Der Umgang mit den unbeherrschten Kindern erfordert von den Bezugspersonen eine besondere Anpassungs- und Regulationsleistung, wenn der Aufbau einer effektiven interpersonalen Regulation gelingen soll. In neueren Temperamentskonzepten (vgl. Zentner 1998, 1999) wird daher nicht das Temperament für sich, sondern die Passung zwischen dem Temperament des Kindes und den Erwartungen, Wahrnehmungen und Reaktionen der Bezugspersonen als die entscheidende Größe für eine gelingende bzw. misslingende Entwicklung angesehen.
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Elterliche Sensitivität und Bindungsqualitäten Sensitivität der Bezugspersonen Die Sensitivität der Bezugsperson ist ein zentrales Merkmal, das zur Entstehung interindividueller Unterschiede in der Qualität der emotionalen Handlungsregulation beiträgt. Unter Sensitivität versteht man, dass die Bezugsperson Signale, die das Kind über seinen Emotionsausdruck und seine Handlungen aussendet, wahrnimmt, sie richtig interpretiert und darauf prompt und angemessen reagiert (Ainsworth et al. 1978). Eine sensitive (feinfühlige) Bezugsperson ist in der Lage, auch die teilweise sehr unspezifischen und subtilen Ausdrucksformen ihres Säuglings angemessen wahrzunehmen und auf dieser Grundlage die Bedürfnislage des Kindes auch unabhängig von den eigenen augenblicklichen Motiven angemessen zu erschließen. Somit ist Sensitivität eine wichtige Bedingung für den ungestörten Ablauf der intuitiven elterlichen Didaktik (s. Studienbox). Bell u. Ainsworth (1972) berichten, dass Säuglinge, deren Mütter auf ihr Weinen in den ersten Lebensmonaten sehr feinfühlig reagiert hatten, zum Ende des 1. Lebensjahres viel weniger weinten und auch über differenziertere Kommunikationsfähigkeiten verfügten (s. a. Ainsworth u. Bell 1974).
Studie Kinder feinfühliger Eltern erleben weniger Stress In einer Längsschnittstudie haben Spangler, Schieche, Ilg, Maier und Ackermann (1994) Säuglinge im Alter von 3, 6 und 9 Monaten in einer freien Spielsituation mit ihrer Mutter beobachtet und sowohl die Ausdrucksreaktionen (Ausmaß negativer Vokalisationen und motorischer Unruhe) als auch eine wichtige Körperreaktion, nämlich die Konzentration des Hormons Cortisol im Speichel, erfasst. Die Ausschüttung von Cortisol ist ein physiologischer Indikator für Stressreaktionen. Die negativen Ausdrucks- und Körperreaktionen der Kinder feinfühliger Mütter fielen zu allen drei Messzeitpunkten niedriger aus als bei den Kindern mit weniger feinfühligen Müttern.
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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Eine sensitive Bezugsperson wirkt nicht nur beruhigend auf das Kind ein, sondern fördert durch affektreflektierendes Spiegeln die Entwicklung der kindlichen Emotionen. Sie vermittelt dem Kind auch die Erfahrung, dass der Ausdruck positiver und negativer Emotionen »nützlich« ist, weil er bei der Bezugsperson eine angemessene Reaktion hervorruft, die für das Kind motivbefriedigend wirkt. In einer eigenen Studie mit Zweijährigen konnten wir beobachten, dass die Kinder von sensitiven Müttern in einer emotional belastenden Situation deutlich stärkeren negativen emotionalen Ausdruck im Vergleich zu Kindern mit weniger sensitiven Müttern zeigten (Friedlmeier u. Trommsdorff 2001). Allerdings ist Sensitivität nicht allein als Persönlichkeitsmerkmal der Bezugspersonen anzusehen. Es hängt auch von internen und externen Bedingungen ab, inwieweit Bezugspersonen in den Interaktionen mit ihren Kindern tatsächlich feinfühlig sind. So können unerwünschte Schwangerschaften oder eine Wochenbettdepression der Mutter die intuitive elterliche Didaktik und die damit verbundene Sensitivität negativ beeinflussen (vgl. Field et al. 1988). Ebenso können sich Regulationsstörungen auf Seiten des Säuglings bezüglich Schlafen und Essen, sowie exzessives Schreien oder ein sog. »unbeherrschtes Temperament« (s. o.) hemmend auf die gezeigte elterliche Sensitivität auswirken (Papoušek u. Papoušek 1997).
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Bindungsqualitäten als differenzielle emotionale Regulationsmuster
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Bindung wird als primäres Bedürfnis konzeptualisiert, Nähe und Kontakt zur Bezugsperson herzustellen, um das Bedürfnis nach Geborgenheit, Kontakt und Zuneigung zu befriedigen. Seine adaptive Funktion wird darin gesehen, dem Kind durch die Nähe zur Bezugsperson Schutz vor Gefahren und Möglichkeiten zum Lernen zu gewähren (vgl. Bowlby 1969). Die Bindung eines Kindes zu seinen Bezugspersonen entwickelt sich im Laufe des ersten Lebensjahres. Dabei hat die Sensitivität der Bezugspersonen erheblichen Einfluss auf die Qualität der Bindungsbeziehung. Dies ist in vielen Studien belegt worden (Ainsworth et al. 1978; Grossmann et al. 1985; Spangler et al. 1996).
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Die Qualität der Bindung korrespondiert mit spezifischen Mustern der emotionalen Ausdrucksfähigkeit und emotionalen Handlungsregulation, wie sie prototypisch im Fremde-Situation-Test zum Ausdruck kommen (Spangler 1999). Diese FremdeSituation ist so angelegt, dass beim Kind zunächst Explorationsverhalten angeregt und anschließend sein Bindungsmotiv aktiviert wird, indem es zweimalig von seiner Mutter getrennt und mit einer fremden Person konfrontiert wird (Ainsworth u. Wittig 1969). Die Bindungsqualität des Kindes erschließt man anhand seiner Verhaltens- und Ausdrucksreaktionen in den beiden Trennungs- und Wiedervereinigungsepisoden. Es lassen sich generell vier Bindungsqualitäten unterscheiden (Ainsworth et al. 1978; Main u. Solomon 1990): 5 sicher, 5 unsicher-ambivalent, 5 unsicher-vermeidend und 5 desorganisiert gebunden. Spangler (1999) hat diese Bindungsqualitäten unter einer emotionspsychologischen Perspektive analysiert und sie als differenzielle Muster der interpersonalen emotionalen Handlungsregulation zwischen Bezugsperson und Kind reinterpretiert, bei denen die Emotionskomponenten Ausdruck und Körperreaktion (Abschn. 3.1.1) in unterschiedlicher Weise zusammenwirken. Dieses Zusammenspiel der Emotionskomponenten scheint in erheblichem Maße durch die Erfahrungen in der Bezugsperson-Kind-Interaktion bedingt zu sein. Daher lassen sich die differenziellen Befunde in das Internalisierungsmodell der emotionalen Entwicklung einordnen: Emotionen sind keine starren Reaktionsmuster, sondern die Ausdifferenzierung und das Zusammenspiel ihrer Komponenten werden erst durch die frühen Interaktionserfahrungen in der interpersonalen Regulation erzeugt. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden, indem die unterschiedliche »Orchestrierung« der Emotionskomponenten, die Spangler (1999) bei den Bindungsqualitäten in der Fremde-Situation gefunden hat, und ihre Genese näher beschrieben werden. Emotionale Regulationsmuster sicher gebundener Kinder. Das emotionale Ausdrucksmuster die-
ser Kinder ist in den einzelnen Phasen der Fremde-
Situation situationsangepasst und hat klaren Appellcharakter gegenüber der Bezugsperson: In Anwesenheit der Mutter zeigen diese Kinder Explorationsverhalten und sie drücken ihre positiven Emotionen deutlich aus als ein Zeichen, die Beziehung und die gemeinsame Aktivität aufrechtzuerhalten (vgl. Cassidy 1994). Tritt eine fremde Person hinzu, reguliert das Kind mögliche Irritationen durch soziale Bezugnahme zur Mutter. Verlässt die Mutter das Kind, drückt es seinen Kummer über das Alleingelassenwerden klar aus: Es beginnt zu weinen und versucht der Mutter zu folgen. Kehrt die Mutter zurück, sucht es aktiv den (körperlichen) Kontakt zur Mutter, lässt sich von ihr aufnehmen und durch ihr trostspendendes Verhalten relativ zügig beruhigen, so dass es sich von neuem dem Spielen zuwenden kann. Der Emotionsausdruck hat einen klaren Symptom- und Appellcharakter angenommen, der die Bezugsperson prompt und unmissverständlich auf den Bedarf des Kindes orientiert, so dass sie ebenso prompt motivdienliche Handlungen einleiten kann. Ein solches interpersonales Regulationsmuster haben wir in den vorangegangenen Kapiteln als adaptiv und »normal« bezeichnet. Körperreaktionen. Die z. T. hohe negative Aus-
drucksintensität in den Trennungs- und Wiedervereinigungsphasen wird allerdings nicht von einer vergleichbaren Intensität der autonomen Körperreaktionen begleitet. Zwar stellten Spangler und Grossmann (1993) fest, dass die Herzschlagfrequenz der Kinder während der Trennungsphase zunahm,
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4.2 · Entstehung zeichenvermittelter Regulationsebenen
was als Anzeichen für Anspannung gedeutet werden kann. Aber Cortisol als physiologischer Indikator für Stressreaktionen wurde nicht vermehrt ausgeschüttet (Gunnar et al. 1996; Hertsgaard et al. 1995; Spangler u. Grossmann 1993; Spangler u. Schieche 1998). Es zeigte sich auch keine Korrelation zwischen der Intensität des negativen Ausdrucks und der Cortisolausschüttung (Spangler u. Schieche 1998; . Tabelle 4.1). Interaktionsmuster der Emotionskomponenten. Erklärt wird dieses Muster durch die Interaktionserfahrungen, die sicher gebundene Kinder mit ihren sensitiven und fürsorglichen Bezugspersonen machen konnten: Sie haben in vielen Distressepisoden erfahren, dass ihre Bezugspersonen auf ihren Distress- und Kummerausdruck in der Regel prompt und motivdienlich reagiert haben – mit der Folge, dass die kindlichen Motive befriedigt und positive Emotionen ausgelöst wurden. Die Ausdruckskomponente der Emotionen hat sich bezüglich ihrer Appellfunktion erfolgreich entwickelt, und es ist keine endokrinologische Anpassung an die Stresssituation erforderlich. Dies bedeutet, dass die emotionale Reaktion keinem starren Erregungsmodell folgt, bei dem die Trias von Ausdruck, Körperreaktion und Gefühl stets gleichgerichtet aktiviert wird, sondern einem erfahrungsabhängigen Regulationsmodell, bei dem die Emotionskomponenten entsprechend ihrem relativen Erfolg ausdifferenziert und aktiviert werden (vgl. Spangler 1999).
. Tabelle 4.1. Korrelationen zwischen Cortisolreaktion und negativem Ausdruck während der Trennungs- und Wiedervereinigung in der Fremde-Situation im Alter von 12 Monaten. (Nach Spangler u. Schieche 1998) Bindungsqualität Sicher gebunden
Unsicher vermeidend
Unsicher ambivalent
Desorganisiert
Cortisol
T
W
T
W
T
W
T
W
Nach 15 min
–.08
–.10
–.07
.00
.23
.88**
.22
.71**
Nach 30 min
.16
–.04
.13
.69**
.14
.89*
.23
.51**
T = negativer Ausdruck in Trennungsepisode, W = negativer Ausdruck in Wiedervereinigungsepisode. *p Beispiel Ein Kleinkind will nachts nicht allein ein- und durchschlafen, stattdessen schreit es ununterbrochen und lässt sich nur sehr schwer beruhigen. Es raubt den Eltern dadurch ihren Schlaf und lässt sie dem Kind gegenüber aggressiv statt fürsorglich werden. Wenn Eltern diese aggressiven Impulse nicht kontrollieren können, kann dies zur Eskalation führen, bei der Eltern ihre Kinder aus Verzweiflung durchaus schlagen oder anderweitig misshandeln.
In Bezug auf die reflexive Emotionsregulation besteht daher ein großes Ungleichgewicht in der interpersonalen Regulation zwischen Bezugsperson und Kleinkind. Dieses Ungleichgewicht aufzuheben und die Kinder zu einer intrapersonalen Regulation ihrer Handlungen und auch Emotionen zu befähigen, ist die große Entwicklungsaufgabe des Kleinkind- und Vorschulalters. Dabei muss das Kind lernen, die Befriedigung seiner Motive mit seinem sozialen Umfeld zu koordinieren, sie gegebenenfalls zu hierarchisieren und ihre Befriedigung aufzuschieben oder ganz zu unterlassen. Diese Aufgabe stellt an das Kind ganz neue Anforderungen. Es reicht nicht mehr aus, dass sich das Kind von seinen Emotionen leiten lässt und seine Motive je nach Kontext, »Bequemlichkeit« und Verfügbarkeit anderer Personen selbstständig befriedigt oder von anderen die Befriedigung einfordert. Es verlangt die Fähigkeit, einer emotionalen Handlungsbereitschaft nicht nachzugehen, also die Hemmung einer Emotion, und statt dessen Handlungen auszuführen, zu denen aktuell keine spontane emotionale Handlungsbereitschaft besteht. Diese Aufgabe verweist auf eine grundsätzliche Eigenart der menschlichen Motivbefriedigung, die bislang noch nicht thematisiert worden ist, die aber für die Entwicklung einer eigenständigen Regulation von Handlungen und Emotionen auch bei Erwachsenen von zentraler Bedeutung ist. Die Motivbefriedigung eines Menschen ist kein individueller Akt, sondern immer eingebunden in ein Netzwerk an sozialen Beziehungen. Das Individuum ist in vielen Handlungen, die für seine Motivbefriedigung notwendig sind, auf die Abstimmung mit anderen Menschen und deren Motive angewiesen. Nur allein um an die notwendigen
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Nahrungsmittel für seinen Hunger zu gelangen, bedarf es der Koordination mit anderen Menschen. Die Gestaltung und Koordinierung dieser sozialen Beziehungen ist nicht beliebig variabel, sondern folgt in jeder Kultur sowohl Sachzwängen als auch tradierten kulturellen Normen und Regeln, die vorschreiben, wie diese soziale Koordinierung der individuellen Motive erfolgen soll und welche individuellen Gestaltungsspielräume bestehen. Zu einer erwachsenen emotionalen und volitionalen Handlungsregulation gehört daher nicht nur, dass man differenzierte Emotionen und Volitionen hat, sondern auch, dass man sie mit den kulturellen Normen und Anforderungen in Einklang bringen kann. Um diese Entwicklungsaufgabe zu meistern, ist eine weitere qualitative Veränderung der drei Regulationsebenen erforderlich. Das geht auch mit einer Veränderung der Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind einher. Früher oder später beginnen die Bezugspersonen, nicht immer nur für das Kind zu sorgen, sondern von ihm stetig wachsende Selbstständigkeit in der Regulation seiner Handlungen und Emotionen zu fordern und seine Handlungen an den kulturellen Normen und Regeln zu bewerten. Dabei gibt es wiederum einen großen kulturellen und individuellen Spielraum, wie diese Selbstständigkeitsforderungen dem Kind nahe gebracht werden. Doch alle Wege zu mehr Selbstregulation knüpfen an die folgenden drei Entwicklungspfade an: 1. Auf der Ebene der emotionalen Handlungsregulation gehen Bezugspersonen dazu über, das Kind darin zu ermutigen und zu unterstützen, die in der interpersonalen Regulation erworbenen Ausdruckszeichen sowie die emotions- und problembezogenen Bewältigungshandlungen für eine intrapersonale Regulation zu benutzen. Sie sollen ihre Ausdrucksappelle nicht mehr nur als Appell an andere Personen verstehen, die dann für die Motivbefriedigung sorgen, sondern als Appell an sich selbst und die erforderlichen Bewältigungshandlungen selbstständig ausführen. Des Weiteren können Bezugspersonen darauf hinwirken, dass das Kleinkind neue Motive ausbildet, die auf die Einhaltung kultureller Normen gerichtet sind, z. B. das Motiv, so
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
sein zu wollen wie wertgeschätzte Andere (Holodynski 1992) oder etwas leisten zu wollen (Heckhausen 1985). Im Zuge dieser normorientierten Motive entstehen auch neue Emotionen, die das Selbst im Lichte kultureller Normen und Regeln bewerten, normwidrige emotionale Handlungsbereitschaften kontrollieren und in normgerechte Bahnen umlenken. Hierzu gehören die Emotionen Stolz, Scham, Schuld und Empörung (vgl. Buss 1980; Geppert u. Heckhausen 1990; Holodynski 1992; Mascolo u. Fischer 1995; Sroufe 1996; Stipek 1995; Stipek et al. 1992). 2. Auf der Ebene der volitionalen Handlungsregulation gehen Bezugsperson und Kind aufgrund der wachsenden kindlichen Sprachkompetenzen mehr und mehr dazu über, sprachliche Instruktionen und Aufforderungen zur wechselseitigen Handlungsregulation zu benutzen. Der Bedeutungsgehalt der Sprache wird handlungswirksam; und die Kinder beginnen, das Sprechen auch zur Selbstinstruktion und damit zur intrapersonalen Handlungsregulation zu nutzen. Das private Sprechen entsteht (Diaz u. Berk 1992; Vygotsky 1934/1987). Bezugspersonen erwarten nunmehr, dass ihr Kind viele seiner bislang mittels Ausdruckszeichen durchgesetzten Appelle als sprachliche Appelle formuliert: Statt die Hand nach dem Keks auszustrecken und laut zu quengeln, soll es jetzt eine sprachlich formulierte Bitte äußern. Das erfordert die weitere Entwicklung des Sprechens in ihren handlungsregulierenden Aspekten und in manchen Aspekten ein z. T. langwieriges Umlernen von Ausdruckszeichen in Sprechzeichen. 3. Auf der Ebene der reflexiven Emotionsregulation können Bezugspersonen anfangen, die neu erworbene Fähigkeit des Kindes zur Symbolbildung auch dazu zu benutzen, um symbolische Strategien der Emotionsregulation einzusetzen und das Kind durch Umdeutung, Imagination oder durch eine zeitliche Hierarchisierung von Motiven dazu zu bringen, seine eigenen Emotionen zu regulieren und seine widerständige Intention zumindest aktuell aufzugeben. Das setzt aber ein gewisses Niveau
der Symbolbildung in Form einer Theory-ofMind und eines Zeitbewusstseins und der volitionalen Regulation voraus, die erst im Laufe des Vorschulalters erreicht wird (BischofKöhler 2000), so dass diese Strategien nach den Veränderungen in der emotionalen Handlungsregulation einsetzen. Wie sich die Entwicklung der intrapersonalen Regulation auf allen drei Regulationsebenen vollzieht, wird im Folgenden näher ausgeführt.
4.3.1 Entstehung der
intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation Intrapersonale Regulation als Zone der nächsten Entwicklung Die intrapersonale Regulation entsteht, indem das Kind das, was bislang die Bezugspersonen stellvertretend für seine Motivbefriedigung getan haben, selbstständig ausführt: Das Kleinkind verfügt schon über differenzierte Emotionen, die allerdings darauf gerichtet sind, den anderen zu regulieren. Ebenso verfügt es über eine Reihe an motivdienlichen Bewältigungshandlungen, die es aber noch nicht konsequent für die eigene emotionale Handlungsregulation einsetzt. Aufgabe des Kindes ist es nun, nicht bei jeder Emotionsepisode die Unterstützung des anderen einzufordern, sondern selbstständig geeignete Bewältigungshandlungen auszuwählen und auszuführen. Zunächst wird es diese Aufgabe eher zufällig und implizit meistern. Der Übergang vollzieht sich nicht als ein abrupter Übergang, sondern eher als ein langsames Ausblenden der Interventionen der Bezugsperson. > Beispiel Ein Kind will ein Spielzeug aus einer Schublade holen, das Spielzeug hat sich aber verklemmt. Das Kind beginnt sich zu ärgern und schaut den Vater auffordernd an. Statt das Spielzeug für das Kind zu holen, könnte sich der Vater mit einem aufmunternden Appell an das Kind begnügen, es noch einmal mit Kraft zu versuchen und dazu eine veranschaulichende Körperbewegung machen. Das Kind könnte diesem Hinweis folgen, mehrere Male
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4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
kräftig an dem Spielzeug ziehen und es tatsächlich allein herausholen. Die Bewältigungshandlung der Bezugsperson besteht hier darin, den an sie gerichteten Appell an das Kind zurückzugeben, seinen emotionalen Impuls zu spiegeln, so dass sich das Kind aufgefordert fühlt, selbst zu handeln.
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also nicht problem- oder emotionsbezogene Bewältigungshandlungen aus, sondern sozialbezogene. Ihre Handlungen sind darauf gerichtet, zunächst den Kontakt zu einem (ver-
Studie Das Spiegeln des Appells zeigt den Mechanismus, wie man sich die intrapersonale Regulation nach dem Vorbild der interpersonalen Regulation vorstellen kann. Der Appell wird als Appell an die eigene Person aufgefasst und der andere ist als Spiegel nicht mehr nötig. In diesem Prozess ist das Kind zunächst auf die Anleitung und Ermutigung eines kompetenten Anderen angewiesen, was sich auch in der häufigen sozialen Rückversicherung bei ihren Bezugspersonen zeigt. Die intrapersonale Regulation ist noch die Zone ihrer nächsten Entwicklung und noch nicht die Zone ihrer aktuellen Entwicklung (Vygotsky 1998, p. 201) Die Zone der nächsten Entwicklung meint dasjenige Entwicklungsniveau eigener Handlungen, das ein Kind nur in Zusammenarbeit mit einem (wertgeschätzten) kompetenten Interaktionspartner erreicht, die Zone der aktuellen Entwicklung dasjenige Entwicklungsniveau, das es allein ohne fremde Unterstützung bzw. ohne Anwesenheit anderer erreichen kann (vgl. Griffin u. Cole 1984). Ob ein Kind zu einer gänzlich eigenständigen intrapersonalen Regulation fähig ist, lässt sich genau genommen nur feststellen, wenn es allein ist und eine Emotionsepisode durchlebt, ohne sozialen Beistand zu holen. Dieser Verselbstständigungsprozess lässt sich in drei Etappen aufteilen: 1. Kleinkinder bleiben in der Regel erst gar nicht allein. Es ist ihnen ein Bedürfnis, dass die Bezugsperson verfügbar ist, auch wenn sie aktuell gar nicht mit ihr interagieren, sondern etwas anderes tun. Es muss aber im gleichen Raum stattfinden. Falls ihre intrapersonale Regulation versagt, können sie sofort auf die interpersonale Regulation mit ihrer Bezugsperson zurückgreifen. 2. Drei- bis Vierjährige bleiben durchaus schon kurzzeitig allein und beschäftigen sich selbstständig. Aber wenn sie eine Emotion erleben, suchen sie sozialen Beistand. Ihre Emotion löst
Wann Kinder lernen, Emotionen allein zu bewältigen In einer Querschnittstudie, an der jeweils 20 vier-, fünf- und sechsjährigen Kinder (jeweils zur Hälfte Jungen und Mädchen) teilnahmen, bekamen die Kinder eine Münze, mit der sie sich aus einem Automaten eine Süßigkeitsschachtel herausholen konnten (Holodynski 1997, Studie V). Dabei waren sie allein – und die Süßigkeitsschachtel war leer. Auf einer bipolaren Ratingskala mit den Polen »Freude« und »Enttäuschung« gaben 80.7% aller Kinder an, enttäuscht zu sein. Dabei nahm die Sozialorientierung (den Versuchsleiter aufsuchen) von 47.1% bei den Vierjährigen auf 10% bei den Sechsjährigen ab. Mit einer zusätzlich ausgehändigten Münze konnten die Kinder daraufhin eine volle Süßigkeitsschachtel ziehen. Alle Kinder gaben an, sich zu freuen. Die Sozialorientierung nahm von 78.9% bei den Vierjährigen auf 10% bei den Sechsjährigen ab. In einer Längsschnittstudie (Holodynski u. Upmann 2003b) an 8 Jungen und 10 Mädchen, die im Alter von 4, 5 und 6 Jahren im Jahresabstand mit dem gleichen Versuchsdesign untersucht wurden, konnte das Ergebnis repliziert werden. Die induzierte Freude und Enttäuschung veranlasste die Kinder mit fortschreitendem Alter immer weniger dazu, in Alleinsituationen den Versuchsleiter aufzusuchen und Unterstützung einzufordern: Sozialbezogene Handlungen sanken vom 4. zum 6. Lebensjahr bei Enttäuschung von 44.4% auf 0% und bei Freude von 50.0% auf 16.7% ab. Demgegenüber nahmen bei Enttäuschung problembezogene Handlungen (z. B. »in Aufgabe fortfahren«) von 22.2% auf 61.1% und emotionsbezogene Handlungen (z. B. »sich belustigen«, »Kontrolle des Ausdrucks« oder »Verlagerung der Aufmerksamkeit« von 16.7% auf 44.4% zu (. Abb. 4.10).
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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Prozentsatz der Kinder
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60 50 problembezogen 40 sozialbezogen
30 20
emotionsbezogen
10 0 4 Jahre
5 Jahre
6 Jahre
. Abb. 4.10. Durch Enttäuschung ausgelöste Handlungen in Alleinsituationen bei Kindern im Alter von 4 bis 6 Jahren im Längsschnitt (N=18)
trauten) Interaktionspartner aufzunehmen, der dem Kind bei der Bewältigung der Emotionsepisode zur Seite stehen kann. 3. Mit zunehmender Sicherheit und Eigenständigkeit der intrapersonalen Regulation suchen Kinder immer weniger soziale Anteilnahme und Beistand; sie können zunehmend mehr Emotionsepisoden allein durchleben. In zwei eigenen Studien sind wir dieser zunehmenden Verselbstständigung im Laufe des Vorschulalters nachgegangen (s. Studienbox). Da in Vorversuchen dreijährige Kinder sich so häufig weigerten, allein zu bleiben, haben wir die Studien erst mit Vierjährigen begonnen. Die Emotionsanlässe in den Studien waren aus ethischen Gründen vergleichsweise harmlos gehalten, so dass sich die Befunde nur auf schwache Emotionsintensitäten in Alleinsituationen generalisieren lassen. Es ist davon auszugehen, dass Kinder bei intensiveren Emotionsintensitäten auch noch mit 6 Jahren soziale Anteilnahme suchen – wie es letztlich auch Jugendliche und Erwachsene noch tun, wenn sie sich von der Wucht einer Emotionsepisode überwältigt fühlen und sozialen Beistand suchen.
Internalisierung kultureller Normen durch selbstbewertende Emotionen Selbstbewertende Emotionen ermöglichen es dem Kind, sein Selbst nicht nur in Beziehung zu Gegen-
ständen und Personen zu setzen, sondern auch zu den Normen, die das Zusammenleben bestimmen. Auch eine selbstständige intrapersonale Regulation bleibt nach wie vor in einen sozialen Kontext eingebunden, ohne den erfolgreiches Handeln gar nicht möglich wäre. Selbstständiges Handeln funktioniert letztlich nur, weil es kulturelle Normen gibt, an die sich die Personen im Allgemeinen halten. Auf diese Weise wird die soziale Koordination vorhersehbar und damit das eigene Handeln planbar. Durch selbstbewertende Emotionen bewertet eine Person ihre Handlungen nach Maßgabe der kulturellen Normen: Sie fühlt Stolz, wenn sie sich im Einklang mit diesen befindet; Beschämung oder Schuld, wenn sie diese verletzt (Barrett 1995); Empörung – als eine besondere Form des Ärgers, wenn andere sich über diese Normen hinwegsetzen (Mascolo u. Griffin 1998b). Solche selbstbewertenden Emotionen garantieren, dass die intrapersonale Regulation des Kindes in die übergreifende soziale Koordination der individuellen Handlungen und Lebenspläne eingebunden bleibt und sich nicht konträr dazu entwickelt. Diese Einbindung des neu erwachten kindlichen Willens in die soziale Koordination der Motivbefriedigung ist eine bedeutsame Entwicklungsaufgabe. Auf diese Weise entsteht auf der emotionalen und motivationalen Ebene eine neue Balance zwischen den neu erwachten Autonomiebestrebungen des Kindes und seinen Bindungsbestrebungen, zu einer sozialen Gruppe gehören und sich dort hei-
4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
misch fühlen zu wollen (vgl. Oerter 1999). Aufgrund der herausgehobenen Stellung der selbstbewertenden Emotionen Stolz und Scham für die Verankerung der intrapersonalen Regulation im kulturellen Kontext behandeln wir im Folgenden die Entstehung von Stolz und Scham ausführlicher. Klein- und Vorschulkinder erleben Stolz und Scham zunächst nur in sozialen Interaktionen gegenüber einem Erwachsenen (Holodynski 1992, 2005). Sind sie hingegen allein, zeigen sie nur effektorientierte Emotionen wie Freude, Frustration oder Enttäuschung. Erst im Laufe des Grundschulalters reagieren sie auch mit Stolz und Scham, wenn sie allein sind, wie man dies auch von Erwachsenen kennt. Junge Kinder benötigen augenscheinlich noch die soziale Interaktion, in der ein Erwachsener die Normen durch seine Anwesenheit dem Kind gegenüber repräsentiert, um statt Freude über einen Effekt Stolz über einen Erfolg und statt Enttäuschung oder Frustration über einen misslungenen Effekt Scham über einen Misserfolg oder eine moralische Verfehlung zu erleben (vgl. auch Stipek 1995). Dabei gehen wir davon aus, dass auch die selbstbewertenden Emotionen durch das Zusammenspiel von affektreflektierendem Spiegeln auf Seiten der Bezugsperson und dem motorischen Mimikry auf Seiten des Kindes entstehen (7 Abschn. 4.2.1). Bezugspersonen stellen in Koregulation mit ihrem Kind emotionsspezifische Kontingenzen zwischen Anlass, sozialer Bewertung, Ausdrucks- und Körperreaktionen und Bewältigungshandlungen her. Sie spiegeln kindliche Ausdrucksreaktionen in ihrem eigenen Ausdruck, und sie geben in ihrem eigenen Verhalten Ausdruckszeichen als Modelle vor. Dieses affektreflektierende Spiegeln korrespondiert mit der kindlichen Sensitivität für Kontingenzen und ihrer Fähigkeit, sich über ein motorisches Mimikry von den Gefühlen des Gegenübers anstecken zu lassen. Für die Entstehung der selbstbewertenden Emotionen ist maßgeblich, wie Bezugspersonen ihre Wertschätzung und Missbilligung gegenüber dem Kind und seinen Handlungen einsetzen (vgl. auch Stipek et al. 1992; Trudewind et al. 1989). Die Entstehung selbstbewertender Emotionen lässt sich in vier Phasen beschreiben:
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Phase 1: Die informative und affektive Wirkung sozialer Bewertung Zu Beginn des 3. Lebensjahres meistert das Kind mit der bewussten Selbst-Andere-Unterscheidung einen wesentlichen Entwicklungsmeilenstein. Es wird sich seiner selbst als handelndes Subjekt mit eigenen Intentionen und Erwartungen bewusst und kann diese von den Intentionen und Erwartungen der anderen abgrenzen. Sinnfällig wird diese Fähigkeit mit dem Gebrauch des Wortes »ich«. Stern (1992) nennt dies die Geburt des verbalen Selbst. Das Erzeugen von selbst verursachten Effekten wird ein starkes Motiv, nämlich das Selbermachenwollen (Geppert u. Küster 1983). In diesem Stadium richtet sich das kindliche Selbermachenwollen nicht an der elterlichen Reaktion, sondern noch ausschließlich am produzierbaren physikalischen Effekt aus. Dieser muss unmittelbar wahrnehmbar sein, um Freude bei gelungenen Effekten und Frustration oder Enttäuschung bei misslungenen Effekten hervorzurufen. Die Bewertung dieser vom Kind erzeugten Effekte durch die Bezugsperson wirkt dabei auf unterschiedlicher Weise: Harter (1978) hat darauf hingewiesen, dass der sozialen Bewertung nicht nur eine Anreizwirkung zukommt, in dem Sinne, dass das Kind Belohnung oder Bestrafung antizipiert. Der sozialen Bewertung kommt auch eine informative und affektive Wirkung zu. Auf dieser Entwicklungsstufe ist die soziale Bewertung noch ein Mittel, welches das kindliche Selbermachenwollen orientiert und ausrichtet, und noch kein Anreiz, den Kleinkinder um seiner selbst willen anstreben. Soziale Wertschätzung als Ausgangspunkt des Stolzes. Die informative Wirkung der sozialen Be-
wertung besteht darin, dass insbesondere durch die Wertschätzung (aber auch durch die Missbilligung) gegenüber bestimmten kindlichen Handlungen bzw. Handlungsresultaten diese markiert und für das Kind als etwas Beachtenswertes hervorgehoben werden. Das sind vor allem solche Handlungsresultate, die Bezugspersonen wertschätzen, weil sie den kulturellen Normen entsprechen oder kulturell geschätzte Leistungen verkörpern. Viele dieser Resultate sind von ihren physikalischen Effekten so unspektakulär, dass sie von sich aus gar nicht die Aufmerksamkeit des Kindes fes-
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
seln würden. Doch verbergen sich hinter ihnen komplexe Gegenstandslogiken, die für die weitere kindliche Entwicklung aus Elternsicht von Bedeutung sind. > Beispiel Das erstmalige Vervollständigen eines einfachen Puzzles ist für das Kind kein besonderer Effekt. Mangels Erfahrung kann es noch gar nicht abschätzen, dass Puzzeln eine Wahrnehmungsleistung darstellt und sich hinter dem einfachen Puzzle eine komplexe Welt an herausfordernden Aufgaben und Leistungen öffnen lässt. Für Erwachsene markiert es jedoch den Beginn einer neuen Fähigkeitsentwicklung. Das bringen sie in der Regel auch zum Ausdruck, indem sie eine Verbindung zwischen der kindlichen Leistung und der Leistung der »Großen«, der Erwachsenen, ziehen: Das Kind kann schon etwas, was die Erwachsenen können. Damit lenken sie die Aufmerksamkeit von den Dingen auf die Menschen, die mit diesen Dingen etwas Bestimmtes tun, und signalisieren dem Kind, dass es in diesem Punkt bereits so ist wie die Erwachsenen.
Wenn nun Bezugspersonen durch ihre Wertschätzung solche zunächst unspektakulären Handlungsresultate in konsistenter Weise markieren, entstehen für das Kind Kontingenzen zwischen seinen Handlungen und den elterlichen Reaktionen. Das Kind bemerkt, dass es mit bestimmten Handlungen emotionale Effekte im Erwachsenen hervorrufen kann. Die affektive Wirkung der sozialen Bewertung besteht darin, dass die Bezugsperson ihre Wertschätzung durch prägnante, übertriebene Ausdruckszeichen des Stolzes kommuniziert. > Beispiel Sie reagiert auf die Leistung nicht nur mit Lächeln und freudiger Vokalisation, sondern auch mit Ausdruckszeichen der Bewunderung und Präsentation: Sie lässt sich das Geleistete zeigen und bestärkt das Kind darin, sich groß zu machen und zu fühlen, sie wirft sich in die Brust, äußert Ausrufe der Bewunderung.
Diese Ausdruckszeichen der Bezugsperson kann das Kleinkind durch seine Fähigkeit zum Aus-
drucksmimikry aufnehmen und sich von dem Stolz anstecken lassen – ohne bei den ersten Gelegenheiten vielleicht so recht zu wissen, worüber es sich denn »stolz« zeigt. Die Wertschätzung der Bezugsperson wirkt gefühlsansteckend. Die durch den Erwachsenen markierten Effekte haben also den angenehmen Effekt, dass sie im Kind eine soziale Form der Effektfreude anstoßen. Sie hebt sich von der »einfachen« Effektfreude insofern ab, als bei letzterer die Freude auf den Effekt gerichtet ist, während bei der durch soziale Bewertung hervorgerufenen Effektfreude die Bezugsperson das Kind mit seiner Leistung in den Mittelpunkt stellt. Sie macht es zum Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit, um herauszustellen, dass das Kind in diesem Moment durch seine Leistung über sich selbst hinausgewachsen ist und es »den Großen« gleichgetan hat. Eine solche Person-Umwelt-Beziehung lässt sich sinnfällig in Ausdruckszeichen des Großmachens und des Präsentierens demonstrieren, wie sie kennzeichnend für Stolz sind (Barrett 1995; Mascolo u. Fischer 1995). Sozialer Ausschluss als Ausgangspunkt der Scham. Die negative Seite der sozialen Bewertung
ist die Missbilligung, die im Resultat zur Entstehung der negativen selbstbewertenden Emotionen Scham und Schuld führt. Sie entstehen an den Konfliktstellen, an denen das kindliche Selbermachenwollen auf die entschiedene Missbilligung der Bezugspersonen stoßen, weil das Kind entweder etwas tut bzw. tun will, was es nicht tun soll, oder etwas tun soll, was es prinzipiell schon tun kann, was es aber im Moment nicht tun will. Im ersten Fall wird das Kind von der Bezugsperson mit einer Verbotsnorm konfrontiert, nach der man nicht alles, was man tun kann, auch tun darf. In dem Fall geht es um eine Hemmung des eigenen Handlungsimpulses. > Beispiel Will ein Kind die Tapete mit Farbe beschmieren, wird dies mit einem Verbot belegt. Widersetzt sich das Kind dem Verbot, kann die Bezugsperson ihre größere Macht nutzen und dem Kind z. B. die Malstifte wegnehmen, so dass das Kind seine Handlungen definitiv nicht weiterführen kann, selbst wenn es protestiert.
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4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
Diese Umgangsweise ist für die zweite Konfliktform – bei den normativen Geboten – unwirksam, wenn das Kind etwas tun soll, was es tun kann, aber nicht tun will. Dabei geht es um Handlungen, die das Kind bereits beherrscht, die es aber nur nach Lust und Laune ausführt und nicht in einer gewünschten normgeleiteten Form, z. B. soll es mit dem Löffel selbstständig den Brei essen. Es kann aber dem Kind statt dessen in den Sinn kommen, mit dem Löffel im Brei herumzuspielen, weil dies viel effektvoller ist. Dem kindlichen Selbermachenwollen sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Diese Grenzen werden allerdings von der Bezugsperson gesetzt. In dem Maße, wie ein Kind selbstständig bestimmte Fähigkeiten vor allem im Bereich der Selbstbedienung beherrscht, gehen Bezugspersonen früher oder später, sanfter oder schroffer dazu über, es nicht mehr als zu pflegenden Säugling zu sehen, sondern als Kind, das bereits etwas kann, und daher die Handlungen, die es kann, auch tun soll. Damit konfrontieren sie das Kind mit der Anforderung, so zu sein wie Erwachsene, wie »große« Kinder und sich auch so zu verhalten – auch wenn es sich im Moment nicht so verhalten will. Brisant wird dieser Konflikt dadurch, dass das Kind mit der bewussten Selbst-Andere-Unterscheidung jetzt auch erkennen kann, wann seine Intention durch die Intention des anderen behindert oder gar vereitelt werden soll. Weil es erkennt, dass die andere Person etwas anderes will als es selbst, wird es sich nicht mehr so leicht durch Aufmerksamkeitslenkung von seinen Intentionen abbringen lassen. Aus der Perspektive des Kindes gibt es keinen Anlass, von seinem Tun abzulassen. Stattdessen wird es seinen Ärger über die elterliche Zielvereitelung weiter verstärken bis hin zu massiven Trotzanfällen, um seinerseits die Bezugsperson zum Aufgeben ihres Ziels zu bewegen. Ein »Verhandeln« ist noch nicht möglich, weil dies symbolische Regulationsstrategien voraussetzt, die das Kind noch nicht besitzt (s. u.). Daher können Bezugspersonen noch nicht an die »Vernunft« des Kindes appellieren, an seine konzeptuelle Einsicht in die Legitimität der geforderten Norm, auch wenn dies viele Mütter und Väter im Erziehungsalltag – vergeblich – versuchen.
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Welches »letzte« Mittel kann eine Bezugsperson einsetzen, um ihr Kind dazu zu bringen etwas zu tun, was es tun kann, aber nicht tun will, was es aber tun soll. Das ist das Mittel des Beziehungsabbruchs, sei es dadurch, dass die Bezugsperson das Kind allein lässt oder dass sie es buchstäblich vor die Tür setzt, es sozial ausschließt und ihm dadurch zu verstehen gibt, dass sie das Kind jetzt nicht mehr »lieb« habe. > Beispiel Ein Kleinkind will seinen Brei selbstständig mit dem Löffel essen. Nach einiger Zeit fängt es an, mit dem Löffel den Brei herumzuschmieren. Ermahnungen helfen nicht, worauf der Vater dem Kind den Löffel wegnimmt. Das Kind reagiert mit Ärger (Ärgerausdruck, Hauen, Wegstoßen des Tellers etc.), was wiederum den Vater ärgerlich macht. Versuche, das Kind zu beruhigen scheitern, so dass sich der Vater nicht anders zu helfen weiß, als das Kind in sein Zimmer zu tragen und die Tür zuzumachen, d.h. das Kind von weiterem Kontakt auszuschließen. Das Kind fängt daraufhin heftig und jämmerlich an zu weinen. Den Teller mit dem Brei hat es jetzt ganz vergessen, es ist außer sich und will zurück zum Vater oder zur Mutter, um sich trösten zu lassen.
Warum ist aber ein solcher Ausschluss so wirkungsvoll? Dazu muss man die Akteursperspektive des Kindes einnehmen. Aus seiner Perspektive erscheint der Ausschluss durch die Bezugsperson zunächst nicht punktuell zu sein, sondern grundsätzlich. Es unterstellt der Bezugsperson zu Recht, dass es mit Absicht ausgeschlossen wird. Zugleich wird es gerade von derjenigen Person ausgeschlossen, an die es sich in Notsituationen bislang wenden konnte, um Beistand zu erhalten. Sein Bindungsmotiv ist in höchstem Maße aktualisiert, aber gerade die Bindungsperson verweigert jegliche Hilfe. Das macht den Ausschluss durch die Bezugsperson so existenziell. Das Kind ist der Situation allein und hilflos ausgeliefert und erlebt sich als Objekt der elterlichen Willkür, die gegen seine Person als Ganzes gerichtet ist. Denn das Kind wird ja als Person ausgeschlossen. Entsprechend heftig fallen die kindlichen Reaktionen aus, in denen es durch heftiges, trotziges oder auch flehentliches Schreien
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
die Wiederherstellung der Bindungsbeziehung einklagt. Früher oder später wird die Bezugsperson dem Kind die Rückkehr gewähren. Dabei hängt die Intensität der kindlichen Ohnmacht im Angesicht wertgeschätzter Anderer davon ab, wie heftig der Ausschluss und wie kaltherzig die Art der Wiederaufnahme der Bindungsbeziehung durch die Bezugsperson ausfällt. Sie kann von einer warmherzigen Versöhnung mit Trostspenden bis zu einer abweisenden Duldung der Wiederkehr reichen. Im Kern jedoch hat das Kind erfahren müssen, dass es in der Situation gegenüber seiner Bezugsperson klein, verstoßen und ohnmächtig war. Es ist unklar, wie viele solcher Ausschlussepisoden ein Kind erleben muss, um daraus die Erfahrung zu extrahieren, dass es nicht mehr vorbehaltlos wertgeschätzt wird, sondern dass es den Forderungen der Bezugsperson entsprechen muss. Nur so kann es die Wertschätzung wieder erlangen – andernfalls droht ihm der Bindungsabbruch (vgl. auch Barrett 1995, p. 47; Buss 1980; Lewis 1971). Wir gehen davon aus, dass solche Ausschlusserfahrungen die Basis für die Entstehung von Scham darstellen. Buss (1980; p. 157) interpretiert Scham als soziale Angst, als Angst vor der sozialen Vertreibung, vor dem Verlassenwerden durch die Eltern. Lewis (1971) spricht von der Scham als der Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe und Wertschätzung (vgl. auch Piers u. Singer 1953; Wurmser 1981). Nach solchen Ausschlusserfahrungen reicht es dann in Situationen, in denen das Kind wiederum eine Norm verletzt oder nicht erfüllt, schon aus, dass die Bezugsperson mit einem erneuten Ausschluss droht. Das Kind wird sich prompt im Zentrum einer missbilligenden Bewertung seiner selbst fühlen und versuchen, dem drohenden Ausschluss durch Ausdruckszeichen der Blickvermeidung, des Sich-klein-Machens und Versteckens auszuweichen. Darin besteht die intrapersonale Regulationsfunktion schambezogenen der Ausdruckszeichen (vgl. Barrett 1995, p. 42). Zugleich kann man diese Ausdruckszeichen auch als Beschwichtigungsgesten gegenüber der Bezugsperson interpretieren. Denn das Kind inszeniert in seinem Ausdrucksverhalten in ikonischer Weise einen Selbstausschluss, so dass die Bezugsperson nicht mehr zum tatsäch-
lichen Ausschluss greifen muss. Darin besteht die interpersonale Regulationsfunktion der schambezogenen Ausdruckszeichen. Da es sich bei der Scham um eine besondere Form der Angst handelt, treten auch Körperreaktionen der Angst auf (vgl. ebd., p. 42). In der einen oder anderen Weise dürfte jedes Kind diese Erfahrung machen, dass sein eigenwilliges Selbermachenwollen in den Fällen, in denen es normative Standards verletzt, zu einem Ausschluss bzw. Beziehungsabbruch von der Bindungsperson führen kann, so dass es in nachfolgenden Situationen mit Scham auf vergleichbare Missbilligungen reagiert. Eine ähnlich wirksame Methode der Beschämung ist es, wenn man Kinder für ihr normverletzendes Verhalten lächerlich macht und ihnen damit zu verstehen gibt, dass sie in dem, wie sie sich verhalten, gerade nicht (!) wie Erwachsene handeln, sondern noch wie ein kleines Baby, das dafür gehänselt wird. Auch dieses Lächerlichmachen ist letztlich ein Ausschluss aus der Gemeinschaft, auf den die Kinder mit Scham reagieren.
Phase 2: Die Suche nach positiver sozialer Bewertung Die informative und die affektive Wirkung der sozialen Wertschätzung trägt einen neuen Inhalt in das Selbermachenwollen des Kindes hinein: dasjenige selber machen zu wollen, was Bezugspersonen/Erwachsene wertschätzen und damit die positive soziale Bewertung im Erwachsenen auszulösen. Damit spaltet sich das Selbermachenwollen in zwei Motive auf: Das eine ist nach wie vor am gegenständlichen Effekt orientiert. Man kann es mit White (1959) als Effektmotiv bezeichnen. Das andere orientiert sich am sozialen Effekt, wodurch es den Inhalt der sozialen Normen und Regeln aufnimmt. Man kann diese Motivform auch als Identifikationsmotiv – so sein zu wollen wie die wertgeschätzten Erwachsenen – bezeichnen (vgl. Holodynski 1992). In den Begriffen einer Theorie des Selbst würde man von der Herausbildung des IchIdeals sprechen (Allport 1937; Erikson 1959/1973). Eine Verselbstständigung dieser beiden Motivformen ist dann erreicht, wenn Kinder ausprobieren, welche Effekte im Erwachsenen diese positiven Bewertungen auslösen können. Zu erkennen an
4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
dem typischen Kleinkindverhalten, alles Mögliche dem Erwachsenen vorzuzeigen – in der Erwartung einer positiven Bewertung, z. B. zeigt ein Kind sein undefinierbares Bauwerk oder seine Kritzelzeichnung ganz erwartungsvoll der Mutter, wobei es Blickkontakt aufnimmt und auf ein großes Lob von ihr wartet. Die soziale Bewertung hat Anreizfunktion erlangt (vgl. Harter 1978). In diesem Prozess des Ausprobierens kristallisieren sich für das Kind erste positiv besetzte Normmaßstäbe heraus, die es zu erreichen sucht. Damit geht eine weitere »Entdeckung« der Kinder einher: Waren sie zunächst noch auf die funktionellen Eigenschaften der alltäglichen Gegenstände fixiert (was lässt sich alles damit tun?), so entdecken sie zunehmend, dass sich die Gegenstände und die damit verbundenen Handlungen zu Handlungszusammenhängen verknüpfen lassen, die zu bestimmten Erwachsenen gehören. Die Kinder beginnen, die Welt als eine Welt von sozialen Rollen zu erschließen: Die Mutter füttert und umsorgt das Baby, der Bäcker backt Brot, der Arzt behandelt Kranke etc. Auch durch diese Entdeckungen werden Kinder sensibel für die Normen und Regeln einer kulturellen Gemeinschaft. Sie schlagen sich in rollengebundenen Handlungsskripten nieder und werden im erwachenden Rollenspiel der Kinder nachgespielt (vgl. Elkonin 1980; Oerter 1993).
Phase 3: Stolz und Scham als an Öffentlichkeit gebundene Selbstbewertungen Wenn Kinder nicht mehr die Bewertung des Erwachsenen abwarten, sondern gleich nach einem Erfolg mit Stolz bzw. nach einem Misserfolg mit Scham reagieren, bewerten sie bereits ihr Handeln an normativen Maßstäben. Es ist dann keine Reaktion mehr auf die explizite Wertschätzung bzw. Missbilligung durch die Bezugspersonen, sondern eine Vorwegnahme dieser Reaktionen durch das Kind. Stipek (1995; Stipek et al. 1992) hat in Studien mit leistungsthematischen Aufgaben festgestellt, dass bereits Dreijährige mit schambezogenen Reaktionen (Blickvermeidung, abgewandte Körperhaltung wie Kopf und Kinn gesenkt oder Körper zur Seite gewandt oder gewunden, geschlossene Körperhaltung wie Arme/Hände vor dem Gesicht, Schultern hochgezogen) eher auf Misserfolge als auf Erfolge
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und mit stolzbezogenen Reaktionen (offene Körperhaltung wie Hände oder Arme in die Luft, Kopf oder Kinn erhoben, geschwellte Brust, aufrecht sitzen) eher auf Erfolge als auf Misserfolge reagierten. Da sie vom 3. bis zum 5. Lebensjahr keinen Trend in der Intensität oder Häufigkeit dieser Reaktionen beobachten konnten, zogen sie daraus den Schluss, dass bereits Dreijährige normative Standards internalisiert hätten: »Self-evaluative emotions ... become independent of the anticipation of others‘ approval or disapproval« (Stipek, 1995, p. 249). Eine solche Schlussfolgerung erscheint uns jedoch verfrüht. Denn bei den Experimenten war stets ein Versuchsleiter zugegen. Daher müssen die kindlichen Stolz- und Schamreaktionen nicht durch eine internalisierte Selbstbewertung ausgelöst worden sein, sie können auch durch die Anwesenheit des Erwachsenen induziert worden sein. Um die Selbstbezüglichkeit dieser Emotionen zu prüfen, ob sich also ein Kind aus freien Stücken Normmaßstäben verbunden fühlt, wäre eine Analyse des kindlichen Aufgabenverhaltens in Alleinsituationen erforderlich. Erst wenn ein Vorschulkind auch hier mit Stolz bzw. Scham auf seine Erfolge bzw. Misserfolge reagiert, kann dies als eindeutiger Beleg interpretiert werden, dass bereits Vorschulkinder zu einer normbezogenen Selbstbewertung fähig sind, die nicht mehr durch soziale Prozesse vermittelt ist. Prüft man die Studien zur Genese der selbstbewertenden Emotionen, zeigt sich, dass in allen Studien ausschließlich sozialbezogene Settings verwendet wurden: Es wurde entweder Wetteiferverhalten untersucht – ein per se soziales Setting – (Heckhausen u. Roelofsen 1962), oder es war ein Versuchsleiter zugegen, demgegenüber das Kind zeigen sollte, ob es die gestellte Aufgabe meistern konnte (Heckhausen u. Wagner 1965; Lewis et al. 1992; Schneider u. Unzner 1992; Stipek et al. 1992). Holodynski (1992) hat demgegenüber 36 Kinder im Vorschulalter auch in Alleinsituationen untersucht (s. Studienbox). Die Befunde dieser Studie sprechen dafür, dass die selbstbewertenden Emotionen Stolz und Scham im Vorschulalter zunächst fast ausschließlich in Anwesenheit von anderen Personen gezeigt werden. Die Wertmaßstäbe scheinen für Vorschulkinder gerade noch nicht hinreichend von der direkten
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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Studie
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Stolz und Scham brauchen die Blicke der anderen
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In der Studie von Holodynski (1992) wurden 18 Mädchen und 17 Jungen im Vorschulalter (Mittelwert M = 62.0 Monate, Standardabweichung SD = 10.1) mit der Turmbauaufgabe von Heckhausen und Wagner (1965) konfrontiert. Dabei sollten die Kinder Türme mit Holzklötzen von vorgegebener Höhe bauen, und zwar nicht nur in Gegenwart eines Versuchsleiters, sondern auch für sich allein. Geprüft wurde, inwiefern die Kinder mit Stolz auf ihre Erfolge bzw. Scham auf ihre Misserfolge reagierten. Als Entscheidungsbasis dienten die emotionsbezogenen Ausdruckszeichen von Stolz und Scham sowie von Freude, Verlegenheit, Enttäuschung und Ärger – Emotionen, die man ebenfalls auf Erfolg und Misserfolg zeigen kann (vgl. . Tabelle 4.2). Dreizehn Kinder (37.1%) zeigten Stolz bei erfolgreichem Turmbauen und Scham beim Zusammenkrachen des Turms nur in Gegenwart des Versuchsleiters, aber nur in einem einzigen Fall in der Alleinsituation. Dies spricht gegen eine Selbstbezüglichkeit von Stolz und Scham in diesem Altersabschnitt. Allerdings reagierten 22 Kinder (62.9%) weder mit Stolz noch mit Scham, wohl aber mit Freude, Verlegenheit, Ärger und Enttäuschung. Daher wurde ein zweites Experiment durchgeführt, bei dem die
emotionale Selbstbewertung bezüglich der Aufgabe durch ein leistungsthematisches Verhalten des Versuchsleiters systematisch angeregt und eine weniger effektorientierte Aufgabe verwendet wurde – die Kinder (N = 38; M = 61.5 Monate, SD = 10.3) sollten aus Puzzleteilen Quadrate mit aufsteigender Schwierigkeit zusammensetzen (Holodynski in Druck). Mit Stolz reagierten 26 Kinder (68.4%) und mit Scham 15 Kinder (39.5%), nur 5 Kinder (13.2%) zeigten keine der beiden Emotionen. Damit war gewährleistet, dass die Kinder in Bezug auf diese Aufgabe bereits mit selbstbewertenden Emotionen reagiert hatten. Im nachfolgenden Hauptversuch sollten die Kinder einen weiteren Satz an Quadratpuzzeln lösen, und zwar zum einen allein und zum anderen in Gegenwart eines Versuchsleiters, der dem Kind in einer abwartend-neutralen Haltung zusah. Bei den zwei für die Kinder nicht lösbaren Puzzles fragte der Versuchsleiter das Kind nach einigen vergeblichen Versuchen: »Kannst du das nicht?« In der Alleinbedingung zeigten drei Kinder (7.9%) Stolz auf ihren Erfolg und zwei Kinder (5.3%) Scham auf ihren Misserfolg. Stattdessen zeigten sie effektorientierte Emotionen wie Freude, Ärger oder Enttäuschung (. Tabelle 4.3). Demgegenüber reagierten in der Sozialbedingung 22 Kinder (57.9%) mit Stolz und 26 Kinder (68.4%) mit Scham.
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sozialen Interaktion mit einer wertgeschätzten Person abgespalten zu sein, als dass sie schon für sich selbst tüchtig sein wollen. Sie benötigen noch den Erwachsenen als leibhaftigen Repräsentanten von Wertmaßstäben, dem gegenüber sie zeigen wollen, dass sie bereits tüchtig im Sinne dieser Maßstäbe sind. Die selbstbewertende Reaktion mit Stolz bzw. Scham gehört auch noch im Vorschulalter zur »Zone ihrer nächsten Entwicklung« und noch nicht zur »Zone ihrer aktuellen Entwicklung«.
Phase 4: Stolz und Scham als internalisierte Selbstbewertungen Eine internalisierte Selbstbewertung, bei der Kinder für sich allein mit Stolz und Scham reagieren,
scheint sich erst im Grundschulalter herauszubilden und nicht bereits mit dem 3. Lebensjahr, wie dies Stipek (1995) oder auch Heckhausen (1985) behaupten. In einer Nachfolgestudie zum zuvor beschriebenen Experiment von Holodynski (in Druck) wurde ein Teil der Probanden im Grundschulalter erneut untersucht (s. Studienbox). Danach reagierten erst Grundschulkinder auch in Alleinsituationen in gehäuftem Maße mit selbstbewertenden Emotionen auf Erfolg und Misserfolg. Dass die Internalisierung von Leistungsnormen und damit eine genuine Selbstbewertung mit dem Übergang in die Grundschule einhergeht, ist nicht verwunderlich. Werden doch die Kinder
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4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
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. Tabelle 4.2. Emotionsbezogene Ausdruckszeichen von Freude, Stolz, Verlegenheit, Scham, Enttäuschung und Ärger Emotion
Ausdruckszeichen
Freude
(1) Lächeln mit/ohne geöffnetem Mund, (2) keine körperbezogenen Merkmale
Stolz
(1) Lächeln mit/ohne geöffnetem Mund, (2) Kopf erhoben, (3) Körper aufgerichtet, (4) Triumphierende Gestik wie Arme in die Luft, Arme in die Hüfte, »Beckerfaust«, in die Hände klatschen, (5) Triumphausruf, (6) auffordernder Blick zum Gegenüber nach Aufgabenlösung, (7) Präsentieren der Aufgabenlösung (drei Merkmale notwendig)
Verlegenheit
(1) Gestelltes, angespanntes Lächeln, (2) Verlegenheitsgesten wie Finger nesteln, sich kratzen, sich streicheln, Beine verdrehen oder schaukeln, (3) fluktuierende Blickab- und -zuwendungen (zwei Merkmale notwendig)
Scham
(1) Gesenkte Mundwinkel, (2) auf Lippe beißen oder eingerollte Lippen, (3) zusammengesunkene Körperhaltung, (4) hochgezogene Schulter, (5) Gesicht in Händen verbergen, (6) negative verbale Selbstbewertung wie z. B. »ich kann das nicht«, (7) (längerer) gesenkter Blick, (8) Blickvermeidung gegenüber Beobachter (drei Merkmale notwendig)
Enttäuschung
(1) Innere Augenbrauen hochgezogen, (2) Mundwinkel gesenkt, (3) Blick gesenkt, (4) Kopf auf Arme gestützt, (5) Stimme hat traurigen Tonfall (zwei Merkmale notwendig)
Ärger
(1) Augenbrauen zusammengezogen, (2) Zähne gebleckt, (3) Lippen gepresst, (4) Nase gerümpft, (5) Energische Körperbewegung wie z. B. Faust, Hand schlägt auf Tisch, (6) Stimme hat energischen, missmutigen Tonfall (zwei Merkmale notwendig)
. Tabelle 4.3. Prozentsatz an Kindern im Alter von 4–6 Jahren mit Stolz- und Freudereaktionen auf Erfolge und Scham-, Ärger- und Enttäuschungsreaktionen auf Misserfolge (N = 38) Kontext Allein für sich Verlegenheit
Mit Versuchsleiter
0%
76.3%
7.9%
57.8%
34.2%
86.8%
5 Scham
5.3%
68.4%
5 Ärger
39.5%
44.7%
5 Enttäuschung
47.4%
84.2%
Erfolg bei Puzzleaufgaben 5 Stolz 5 Freude Misserfolg bei Puzzleaufgaben
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
1
Studie
2
Stolz und Scham als internalisierte Selbstbewertungen
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Mit 30 der 38 Vorschulkinder aus dem oben beschriebenen Experiment von Holodynski (in Druck) wurde 2 ½ Jahre später im Grundschulalter (M = 94.0 Monate, SD = 11.9) erneut eine Untersuchung mit den Quadratpuzzeln durchgeführt. Jetzt zeigten in der Alleinbedingung bereits 7 Kinder (23.3%) Stolz auf das erfolgreiche Lösen der Puzzles und 15 Kinder (50.0%) Scham beim Misslingen und in der Sozialbedingung 27 (90.0%) Stolz und 29 (96.7%) Scham (Holodynski 2003).
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in der Schule erstmals – jedenfalls in Deutschland – systematisch mit Leistungsmaßstäben konfrontiert und auch untereinander in ihren Leistungen verglichen, so dass Erfolg und Misserfolg bedeutsam werden. Der Inhalt, worauf sich Stolz und Scham beziehen, differenziert sich allerdings auch in den nachfolgenden Lebensjahren. Mascolo und Fischer (1995) haben dazu eine Entwicklungsfolge der Einschätzungsmuster von Stolz und Scham konzipiert. Ein Sonderfall normverletzenden Handelns stellen Situationen dar, in denen ein Kind durch sein Verhalten einer anderen Person Schaden zugefügt hat. Auf diese Situationen können Bezugspersonen unterschiedlich reagieren: Sie können das Kind auf den Schaden und die dadurch ausgelösten negativen Gefühle (Trauer, Schmerz) des Geschädigten orientieren und Anstalten unternehmen, den Schaden wieder gut zu machen. Solche Strategien dürften eher die Entstehung von Schuld begünstigen (vgl. Barrett 1995). Sie können aber auch die Normverletzung in den Vordergrund stellen, gerade wenn sie absichtsvoll erfolgte, und mit dem sozialen Ausschluss drohen, wodurch solche Episoden eher Scham auslösend wirken.
Zusammenfassung Der Entstehungsprozess von Stolz und Scham lässt sich in vier Phasen unterteilen: 1. In der ersten Phase zeigen Kinder nur effektorientiertes Handeln und effektorientierte
Emotionen von Freude über einen intendierten Effekt und Frustration oder Enttäuschung über einen misslungenen Effekt. In dieser Phase tragen Bezugspersonen durch ihre wertschätzenden und missbilligenden Reaktionen die normativen Maßstäbe in die Interaktion mit dem Kind hinein. Auf diese Weise werden Kinder sensibel für die Wirkungen, die ihr effektorientiertes Handeln in den Bezugspersonen auslösen: stellvertretende Stolzreaktionen über normgerechtes Verhalten, die auch auf Tüchtigkeitsmaßstäbe bezogen sind, und sozialer Ausschluss aufgrund normwidrigen Verhaltens. 2. Diese Erfahrungen führen in einer zweiten Phase dazu, dass Kleinkinder ihre Handlungen darauf anlegen, Wertschätzungen in ihren Bezugspersonen auszulösen. Beim normwidrigen Verhalten reicht es bereits aus, dem Kind mit dem sozialen Ausschluss zu drohen, um bei ihm die soziale Angst vor einem erneuten Ausschluss zu aktivieren. 3. In der dritten Phase sind die Normwerte bereits soweit übernommen, dass die Anwesenheit wertgeschätzter anderer, insbesondere Erwachsener, ausreicht, Stolz bzw. Scham bei normkonformem bzw. normwidrigem Handeln hervorzurufen. 4. Erst in einer vierten Phase ab dem Grundschulalter scheinen Kinder normorientiertes Handeln soweit internalisiert zu haben, dass sie auch vor sich selbst – oder zumindest vor einem imaginierten anderen – aber ohne reale Anwesenheit eines anderen mit Stolz bzw. Scham auf normrelevante Handlungsresultate reagieren.
4.3.2 Entstehung der
intrapersonalen volitionalen Handlungsregulation Der Übergang von der Benutzung der Sprache als interpersonales Regulationsmittel zu einem intrapersonalen, selbstbezüglichen Regulationsmittel ist ein komplexer und vielschichtiger Prozess (vgl. Luria 1980). Für unseren Zusammenhang möchten wir nur den Entwicklungsstrang herausgreifen,
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4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
wann Sprechzeichen eine handlungsregulierende Funktion ausüben können – ein Aspekt, der für die willentliche Kontrolle emotionaler Handlungsimpulse entscheidend wird (7 Abschn. 4.3.3). Denn erst mit der Zeit kann ein Kind einem gefassten Plan auch gegen widrige situative Gegebenheiten und entgegenstehende emotionale Handlungsimpulse treu bleiben und seine angestoßenen Handlungen durch Selbstinstruktionen korrigieren. Eine Hemmung des eigenen Verhaltens durch Sprache – also etwas »nicht (!)« zu tun – wird erst im Laufe des Vorschulalters möglich. Es ist also ein langwieriger Lernprozess, bis tatsächlich der Bedeutungsgehalt des Gesprochenen handlungswirksam wird und damit sprachliche Instruktionen effektiv zur Handlungsregulation eingesetzt werden können. Luria (1961, 1980) hat in seinen Studien drei Entwicklungsstufen unterschieden:
Fremdinstruktion als Impuls zur Handlungsinitiierung In 7 Abschn. 4.2.2 wurde gezeigt, dass zweijährige Kinder noch nicht in der Lage sind, Handlungsimpulse aufgrund von verbalen Anweisungen zu hemmen. Auf dieser Stufe funktioniert das Sprechen als handlungsinitiierender Appell an andere, der nur vage mit der Bedeutung des Gesprochenen verbunden ist. Fremdinstruktionen, d. h. verbale Anweisungen an Kinder dieses Alters, die nicht durch situative oder aktionale Hinweise unterstützt werden, können anscheinend nur Reaktionen auslösen, können sie aber nicht hemmen oder in ihrem Verlauf regulieren (Luria 1961).
Selbstinstruktion als Impuls zur Handlungsinitiierung Luria (1961) hat das Lichtsignalexperiment (7 Abschn. 4.2.2) für Kinder im Alter von 3 und 4 Jahren auf Selbstinstruktionen ausgeweitet (s. Studienbox, . Abb. 4.3). Das Experiment von Luria zeigt, dass Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren motorische Reaktionen durch eigenes Sprechen initiieren können. Allerdings dient auch hier die Sprache zunächst nur als Handlungsimpuls, denn im obigen Experiment löste auch die negative Selbstinstruktion »nicht drücken!« beim Kind als Antwort das Drücken aus.
4
Studie Sprechen als handlungsinitiierende Selbstinstruktionen Im Lichtsignalexperiment von Luria (1961) erhielt das Kind die Aufgabe, bei einem roten Lichtsignal eine Gummiblase zu drücken und bei einem grünen Lichtsignal nicht zu drücken. In Bedingung a gaben sich die Kinder keine Selbstinstruktionen. Entsprechend machten sie viele Fehler (. Abb. 4.11). In Bedingung b sollten sich die Kinder eine doppelte Instruktion geben, und zwar bei rot die initiierende Anweisung »drücken« und bei grün die – von ihrer Bedeutung her hemmende – Anweisung »nicht drücken«. Auch die Anweisung »nicht drücken« führte zum regelmäßigen Drücken der Gummiblase. Nur das handlungsinitiierende Einfachkommando »bei rot drücken« in Bedingung c führte zur optimalen Regulierung. Ließ man, wie in Bedingung d, die Sprachkommandos wieder weg, erhöhte sich die Fehlerzahl erneut.
Selbstinstruktion als bedeutungsgesteuerte Handlungsregulation Auf dieser Stufe wird die Bedeutung der sprachlichen Symbole auch unabhängig von situativen oder aktionalen Hinweisreizen beachtet, eine Handlungshemmung durch Sprechen wird möglich. Mit 5 bis 6 Jahren gewinnt der Bedeutungsgehalt der Selbstinstruktion handlungsregulierende Funktion. Wenn Kinder diesen Alters die obige zweifache Instruktion gegeben wird, formulierten sie häufig selbst ihre Aufgabe in Form einer zweifachen Selbstinstruktion: »Wenn das rote Licht kommt, muss ich drücken, beim grünen darf ich nicht drücken.« Nach kurzer Zeit führten sie die Reaktion (auch ihre Hemmung) richtig aus, ohne dies noch durch lautes Sprechen zu begleiten. Eine neue willkürlich erzeugte Routinehandlung war ausgebildet. Aber noch im Erwachsenenalter passiert es, dass Personen bei schwierigen Handlungsketten, wie z. B. beim Befolgen einer Gebrauchsanweisung oder bei den ersten Autofahrten in der Fahrschule, lautes Sprechen zu Hilfe nehmen, um ihre Handlungen zu regulieren.
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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b
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c
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d
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. Abb. 4.11a–d. Impulsgesteuerte, inadäquate Drückreaktionen (Pfeile in a, b und c markieren Fehler) auf ein Lichtsignal (R = rot, G = grün). a Lautlose Reaktion: bei rot drücken, bei grün nicht drücken. b Dasselbe verstärkt bei sprachlichem Doppelkommando »drücken« und »nicht drücken«. c Adäquate Reaktion auf positive Kommandogebung (ausschließlich Kommando »drücken«). d Reaktionen ohne verbales Kommando. Erneut inadäquate Reaktionen (vgl. Pfeile). (Aus Luria 1961, p.112)
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Eine weitere Bedeutung gewinnen Sprechzeichen in der interpersonalen Regulation, indem Kinder Aufgaben, die sie vormals mit Hilfe von Ausdruckszeichen gemeistert hatten, in zunehmendem Maße mit Hilfe von Sprechzeichen bewältigen. Früher oder später fordern die Bezugspersonen das Kind auf, viele seiner bislang mittels Ausdruckszeichen eingesetzten Appelle nun als sprachliche Appelle zu formulieren: Statt die Hand nach dem Keks auszustrecken und laut zu quengeln, soll es jetzt eine sprachlich formulierte Bitte äußern.
Das Kleinkind geht zunehmend dazu über, seine Wünsche und Absichten sprachlich zu äußern. Kopp (1992) hat diesen Übergang an der Reduktion des kindlichen Schreiens vom 1. zum 4. Lebensjahr aufgezeigt (vgl. auch Kenny 1985). Man kann diese Transformation von Ausdrucks- in Sprechzeichen auch als eine Form der Emotionsregulation ansehen, da das Kind die Ausdruckskomponente einer Emotion modifizieren soll (vgl. Thompson 1990).
4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
4.3.3 Entstehung der intrapersonalen
reflexiven Emotionsregulation Im Alter zwischen 3 und 6 Jahren meistern Kinder einen wesentlichen Meilenstein in der Entwicklung ihrer reflexiven Emotionsregulation. Sie werden zunehmend fähig, einen aktuell drängenden emotionalen Handlungsimpuls willentlich zu hemmen und ihm nicht hier und jetzt, sondern zu einem späteren passenderen Zeitpunkt nachzugehen. Diese Fähigkeit zur reflexiven Emotionsregulation ist für eine sozialkoordinierte Form der Motivbefriedigung unerlässlich. Denn wie wir bereits zu Beginn des 7 Kap. 4.3 ausgeführt haben, lassen sich die meisten Motive nicht immer hier und jetzt befriedigen. Man muss die geeigneten Situationen aufsuchen, die passenden Zeitpunkte abwarten, sich darüber mit den Menschen abstimmen, die zur Motivbefriedigung beitragen, und das eine Motiv zugunsten eines anderen zurückstellen. In gewisser Weise kann man die gesamte Entwicklung bis zum Erwachsenenalter als einen permanenten Aufschub von Motiven und den mit ihnen verbundenen emotionalen Handlungsimpulsen betrachten. Kinder müssen lernen zu warten, bis sie an die Reihe kommen, bis sie einen begehrten Gegenstand geschenkt erhalten (Weihnachten, Geburtstag), bis sie alt genug sind. Situationen, in denen vom Kind ein Belohnungsaufschub verlangt wird, sind dafür prototypisch. Mischel und Mitarbeiter (Mischel 1971; Patterson u. Mischel 1976) haben die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub als eine der ersten Forschergruppen systematisch untersucht. Sie verwendeten ein experimentelles Paradigma, bei welchem dem Kind die Alternative angeboten wird, eine kleine Belohnung sofort oder eine große Belohnung nach einer Zeit des Wartens zu erhalten. Die Studien zeigen, dass Kinder ab etwa 4 Jahren begannen, sich für einen Belohnungsaufschub zu entscheiden, und dies auch durchhielten. Bereits Kindergartenkinder wussten auf Nachfrage, dass der Belohnungsaufschub eigentlich die »klügere Wahl« sei, aber ein Großteil neigte dennoch dazu, mit der kleineren, aber sofortigen Belohnung vorlieb zu nehmen (Nisan u. Koriat 1977). Eine Nachuntersuchung der von Mischel getesteten vierjährigen Kinder im Alter von 15 bzw.
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18 Jahren zeigte, dass diejenigen Kinder, die bereits mit 4 Jahren der »Versuchung widerstanden« hatten, als Jugendliche über eine größere soziale Kompetenz verfügten als dasjenige Drittel an Kindern, das der Versuchung erlag. Erstere waren u. a. frustrationstoleranter, selbstsicherer und hatten auch bessere Schulnoten (Shoda et al. 1990). Das spricht für die Bedeutung der reflexiven Emotionsregulation in der ontogenetischen Entwicklung.
Entwicklung von verhaltensorientierten Regulationsstrategien In . Tabelle 4.4 sind verhaltensorientierte, symbolische und antezedente Regulationsstrategien zusammengestellt, die sich Kinder im Laufe des Klein- und Vorschulalters aneignen. Dabei lässt sich der Einsatz dieser Regulationsstrategien auch danach unterscheiden, wer sie initiiert und wer sie ausführt: 5 Die Bezugsperson kann die Emotion des Kindes interpersonal für das Kind regulieren und z. B. durch Ablenkung mit einem fesselnden Spielzeug dessen Frustration zum Verschwinden bringen. 5 Das Kind kann seine Bezugsperson nonverbal um Beistand auffordern, indem es z. B. mit seiner Frustration zur Bezugsperson kommt und diese zu einem gemeinsamen Spiel veranlasst, so dass seine Frustration aufgrund der Ablenkung nachlässt. 5 Das Kind kann selbst zu Regulationsstrategien greifen und z. B. seine Frustration durch Ablenkung mit einem Spiel abklingen lassen. Welche Regulationsstrategien setzen nun Kinder ein, um einen Belohnungsaufschub zu meistern, und welche altersspezifischen Veränderungen lassen sich beobachten? In einer Studie von Bridges und Grolnick (1995) wurde der Einsatz von Ablenkungsstrategien bei Kindern zwischen 1 und 4 Jahren untersucht (s. Studienbox). Demnach setzen Kinder dieser Altersgruppe zunehmend Ablenkungsstrategien selbstständig ein, die die Vierjährigen zudem kontextspezifisch variieren können: Wenn die Mutter mit einer Aufgabe beschäftigt ist, dann setzen sie viel weniger interpersonale Ablenkungsstrategien, die auf die Mutter gerichtet sind, und mehr intrapersonale
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1
Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
. Tabelle 4.4. Strategiearten der reflexiven Emotionsregulation und wer sie initiieren kann. BP = Bezugsperson Initiator der Emotionsregulation
2
BP initiiert interpersonale Regulation fürs Kind
Kind initiiert interpersonale Regulation durch BP
Kind initiiert intrapersonale Regulation
Beruhigung
Wiegen, Streicheln, beruhigender Sprechduktus, Körperkontakt
Kind sucht die Nähe der BP auf, um sich beruhigen zu lassen
Kind beruhigt sich selbst durch Handlungen wie Saugen, Streicheln, sich Einkuscheln
Lenkung der Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit auf ein anderes Objekt lenken
Kind fordert BP zu einem Spiel auf
Blickabwendung von der Erregungsquelle, Kind wendet sich anderem Objekt zu, geht spielen
Flucht, Rückzug
BP nimmt Kind aus der Situation
Kind appelliert an BP, es aus der Situation zu nehmen
Kind flieht aus der Situation, auch sozialer Rückzug
Beruhigung, Trost
Verbaler Trost und Beruhigung
Verbale Aufforderung an BP zu trösten
Kind beruhigt sich durch (positive) Selbstinstruktionen
Lenkung der Aufmerksamkeit
Über ein anderes Thema sprechen
Kind wechselt das Thema, stellt Fragen zu einem anderen Thema
Kind lenkt sich gedanklich ab, z. B. denkt es an etwas Schönes
Umdeutung (z. B. Bagatellisierung, Abwärtsvergleich, Schuldabwehr, Leugnung)
Umdeutung der Emotionsepisode, eine plausible Erklärung geben
Kind stellt BP Fragen zur Emotionsepisode, sucht nach Erklärung, initiiert Rollenspiel
Eigene Umdeutung der Emotionsepisode im Rollenspiel und in Gedanken
Zeitliche Hierarchisierung von Motiven
Eltern vertrösten Befriedigung der kindlichen Motive auf einen späteren Zeitpunkt
Kind appelliert an BP, Befriedigung seiner Motive zu versprechen
Kind stellt sich Befriedigung des Motivs zu einem späteren Zeitpunkt vor
Aufsuchen
Positive Emotionsepisoden herstellen
Kind fordert BP auf, positive Emotionsepisoden herzustellen
Kind sucht positive Emotionsepisoden auf
Vermeidung
BP bewahrt das Kind vor potenziell negativen Emotionsepisoden
Kind fragt BP bezüglich negativer Valenz von Situationen
Kind meidet potenziell negative Emotionsepisoden
Diskurs über Regulation von Emotionen
BP spricht mit Kind über Emotionen und ihre Regulation
Kind fragt BP über Emotionen und ihre Regulation
Gedankliche Auseinandersetzung über potenzielle Emotionsepisoden
Art der Strategie
3 4
Verhaltensstrategien
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Symbolische Strategien
15 Antezedente Strategien
16 17 18 19 20
4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
Studie Von der inter – zur intrapersonalen Emotionsregulation Bridges und Grolnick (1995) untersuchten 5 Altersgruppen (12, 18, 24, 32 und 45 Monate alt) in zwei Situationen mit Belohnungsaufschub. Zum einen wurde ein begehrter Snack (Cracker in Tierformen) und zum anderen ein schön eingewickeltes Geschenk in Aussicht gestellt. Das Kind musste jeweils aber noch warten, ehe es das »begehrte« Objekt erhielt, da die Versuchsleiterin aus einem vorgeschobenen Grund nochmals den Raum verlassen musste. Dabei wurde das Objekt innerhalb des Blickfeldes, aber außerhalb der Reichweite des Kindes hingestellt. Die Mutter war im Raum anwesend, jedoch wurde für das Kind die Verfügbarkeit seiner Mutter variiert: In der passiven Versuchsbedingung wurde sie angehalten, Zeitschriften zu lesen, in der aktiven Versuchsbedingung war sie nicht beschäftigt und damit für das Kind verfügbar. Mit zunehmendem Alter benutzten die Kinder immer häufiger selbstinitiierte intrapersonale Ablenkungsstrategien, wie z. B. das Spielen mit anderen Gegenständen, vor allem wenn die Mutter nicht verfügbar war. So zeigten 13% der 12 Monate alten, 25% der 32 Monate alten und 61% der 45 Monate alten Kinder solche Strategien. Selbstinitiierte interpersonale Ablenkungsstrategien, bei denen das Kind die Mutter in ein Spiel oder ein Gespräch einbezog (durch Lächeln, Spielsachen zeigen, verbale Aufforderung zum Spiel), stiegen ebenfalls deutlich an, vor allem in der aktiven Bedingung, in der die Mutter verfügbar war, und zwar von 1% der 12 Monate alten zu 4% bei den 32 Monate alten und 25% der 45 Monate alten Kinder. Demgegenüber verringerten sich in der passiven Bedingung die Beruhigungsstrategien, bei der die Kinder Trost und Unterstützung bei der Mutter suchten, und zwar von 28% bei den 32 Monate alten Kinder auf 1% bei den 45 Monate alten Kindern.
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Ablenkungsstrategien ein, als wenn die Mutter verfügbar ist. Diese altersspezifischen Veränderungen beziehen sich nicht nur auf Situationen mit Belohnungsaufschub, sondern allgemein auf Anlässe, die negative Emotionen auslösen (vgl. Stansbury u. Sigman 2000). Letztere Studie zeigte darüber hinaus, dass die von den Müttern bevorzugten Regulationsstrategien auch von ihren Kindern bevorzugt eingesetzt wurden. Dies spricht für dyadenspezifische Lernprozesse. Bislang blieb ungeklärt, wie erfolgreich die jeweiligen Strategien für die Kinder sowohl hinsichtlich der Regulation der eigenen Emotionen als auch hinsichtlich der gewünschten Zielerreichung waren. Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, nicht nur die kindlichen Regulationsstrategien, sondern auch den Emotionsverlauf zu erfassen. In einer eigenen Studie gingen wir dieser Frage nach (Friedlmeier u. Trommsdorff 2001). Dabei wurden zwei- und dreijährige Mädchen in einer Frustrationssituation beobachtet (s. Studienbox). Angesichts der Beobachtung, dass bei dreijährigen Mädchen die interpersonale Regulation noch dominiert und damit die altersangemessene Strategie ist, wäre zu erwarten gewesen, dass eine interpersonale Regulation auch zu einem schnelleren Abklingen der negativen Reaktion bei Frustrationen führt. Das Gegenteil war der Fall. Dieses Ergebnis kann man auf zwei verschiedene Ursachen zurückführen: 1. Interindividuelle Unterschiede der Kinder bedingen den Effekt: Dreijährige, die noch die Nähe zur Mutter suchen, haben Mühe, ihre emotionale Reaktion angemessen zu regulieren. Sie lassen sich daher nicht so leicht beruhigen. 2. Interindividuelle Unterschiede der Mütter in ihrem Interaktionsverhalten bedingen die Unterschiede: Mütter von Dreijährigen, die interpersonal regulieren, regen in der Frustrationssituation einen offeneren Austausch über den Anlass und die ausgelöste Emotion an. Dadurch wird der negative Ausdruck über längere Zeit aufrecht erhalten, als wenn das Kind intrapersonal reguliert. Eine weitere Unterstützung dieser Deutung lieferte eine analoge Beobachtung einer Mutter-Kind-In-
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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Studie
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Emotionsausdruck und Regulationsstrategie bei 2- und 3-Jährigen
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
In der Studie von Friedlmeier und Trommsdorff (2001) wurden 20 zweijährige und 35 dreijährige Mädchen einer »Frustrationssituation« und einer »Empathiesituation« ausgesetzt und im Rahmen einer Mutter-Kind-Interaktion dabei beobachtet: In der Frustrationssituation betrat eine fremde Person den Raum, nahm das Spielobjekt, mit dem sich das Kind gerade beschäftigte, weg und verließ den Raum wieder. Die Intensität des negativen emotionalen Ausdrucks wurde anhand von Mimik, Gestik und Körperhaltung zu vier Zeitpunkten auf einer sechsstufigen Skala kodiert: a) Baseline – vor Wegnahme des Spielzeugs; b) 10 Sekunden nach Wegnahme; c) eine Minute später und d) zwei Minuten später. Nach zwei Minuten kam die Versuchsleiterin wieder und brachte das Spielobjekt zurück. Um die von den Mädchen präferierte Regulationsstrategie zu ermitteln, wurden sie in eine Empathiesituation gestellt, in der sie ein Missgeschick und die darauf folgende traurige Reaktion einer Spielpartnerin miterlebten. Die anwesenden Mütter wurden angewiesen, sich zunächst passiv, aber verfügbar zu halten, so dass die Initiative zur Regulation im Unterschied zur oben geschilderten
Frustrationssituation vom Kind ausgehen musste. Drei Arten von Strategien wurden unterschieden: 5 körperliche Nähe zur Mutter suchen, 5 Aufnahme von Blickkontakt, 5 keine Unterstützungssuche bei der Mutter. Die ersten beiden Formen entsprechen einer vom Kind initiierten interpersonalen Regulation, Letztere einer intrapersonalen Regulation Die Ergebnisse zu den vom Kind gewählten Regulationsstrategien bestätigen die Zunahme intrapersonaler Strategien mit dem Alter. Der Prozentsatz an Kindern, die ausschließlich intrapersonale Strategien zeigten, war bei den Dreijährigen mit 21% tendenziell höher als bei den Zweijährigen mit 12%. Dominant war aber die körperliche Kontaktaufnahme zur Mutter mit 53% bzw. 44% gefolgt vom Blickkontakt mit jeweils 35%, wobei es keine Alterstrends gab. Interessant war nun die Frage, ob Kinder mit intra- vs. interpersonaler Regulation in der Empathiesituation auch in der Frustrationssituation vergleichbar reagierten. Bei den Zweijährigen zeigten sich keine Unterschiede, hingegen bei den Dreijährigen: Die Mädchen mit interpersonaler Regulation in der Empathiesituation zeigten den stärksten Emotionsausdruck in der Frustrationssituation, die darüber hinaus bei ihnen länger anhielt als bei Kindern, die intrapersonal regulierten.
4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
Studie Kinder sensitiver Mütter zeigen länger andauernden Frustrationsausdruck Die letztgenannte Interpretation, nach der interindividuelle Unterschiede der Mütter für die Unterschiede im Interaktionverhalten der dreijährigen Mädchen in der Frustrationssituation verantwortlich sind, wird durch die Ergebnisse zum mütterlichen Interaktionsverhalten gestützt. Dazu wurde die Sensitivität der Mutter gegenüber ihrer Tochter während der Frustrationsepisode erfasst, und zwar mit Hilfe je einer sechsstufigen Skala zur mütterlichen Wärme und zur Responsivität. Aufgrund ihrer hohen Korrelation in beiden Altersgruppen wurden beide Skalen zu einer zusammengefasst und für jede Altersgruppe mittels eines Mediansplits eine hoch sensitive und eine wenig sensitive Gruppe von Müttern gebildet. Es zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Sensitivität der Mütter und dem zeitlichen Verlauf der Frustrationsintensität (Friedlmeier u. Trommsdorff 2001): Die anfängliche Emotionsintensität der Mädchen war vergleichbar stark, nahm aber bei den Mädchen sensitiver Mütter weitaus weniger ab als bei den gleichaltrigen Mädchen weniger sensitiver Mütter. In Dyaden mit weniger sensitiven Müttern wurde augenscheinlich stärker daraufhingewirkt, eine negative Emotion schnell zu beenden. Demgegenüber schenkten sensitivere Mütter der negativen Emotion ihres Kindes mehr Aufmerksamkeit, wodurch sie langsamer abklang (. Abb. 4.12).
teraktion mit Fünfjährigen (Trommsdorff u. Friedlmeier 1999), bei denen die Kinder der oben skizzierten Frustrationsepisode ausgesetzt wurden und das Regulationsverhalten ihrer Mütter kodiert wurde. Die sensitiven im Vergleich zu den weniger sensitiven Müttern fokussierten nicht so sehr darauf, die Frustration abklingen zu lassen, sondern sie thematisierten ausführlich den Anlass der Frustration und die emotionale Reaktion des Kindes (7 Abschn. 5.2.3). Diese Art des Umgangs kann auch als ein affektreflektierendes Spiegeln der kindlichen Emoti-
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onen durch die Mütter angesehen werden. Sie werden nur nicht mit Hilfe von Ausdruckszeichen gespiegelt, sondern mit Hilfe von Sprechzeichen. Indem Eltern die Emotionen ihrer Kinder nicht einfach »wegregulieren«, sondern sie als Gelegenheit nutzen, um über Emotionen zu sprechen, erhält das Kind die Gelegenheit, sich der emotionalen Anlässe, Ausdrucksformen, Konsequenzen und Regulationsstrategien bewusst zu werden und eine Verbindung zwischen volitionaler und emotionaler Handlungsregulation herzustellen. Gottman (1997) empfiehlt in seinem Elternratgeber diesen Erziehungsstil, den er »Emotionstrainer« nennt. Denn in ihrer Längsschnittstudie konnten Gottman et al. (1997) zeigen, dass Eltern, die einen solchen Erziehungsstil praktizierten, Kinder hatten, die über ein größeres Emotionswissen verfügten, emotional ausgeglichener und bei ihren Klassenkameraden beliebter waren (s. u.).
Entwicklung von symbolischen Regulationsstrategien Kinder setzen schon recht früh Ablenkungsstrategien ein, um einen Belohnungsaufschub zu meistern. Allerdings ist dies nicht immer von Erfolg gekrönt und z. T. auch mit großer willentlicher Anstrengung verbunden, die sie daran hindert, irgendetwas anderes zu tun, als zu warten und zu versuchen sich abzulenken. Symbolische Regulationsstrategien (vgl. . Tabelle 4.4) sind demgegenüber Erfolg versprechender, weil sie stärker willentlich eingesetzt und kontrolliert werden können. Eine symbolische Strategie hat sich dabei als besonders erfolgreich erwiesen, um Motivkonflikte und Wartesituation zu meistern: die zeitliche Hierarchisierung von Motiven. Diese symbolische Strategie beruht auf der Fähigkeit zur »mentalen Zeitreise«, die eine zeitliche Hierarchisierung von Motiven und emotionalen Handlungsimpulsen ermöglicht (vgl. Bischof-Köhler 2000). Sie wird als Fähigkeit verstanden, sich vergangene und zukünftige Motive zu vergegenwärtigen und bei der Handlungsorganisation zu berücksichtigen. Als Voraussetzungen für diese Fähigkeit hat Bischof-Köhler (2000) das Vorhandensein einer Theory-of-Mind und eines Zeitverständnisses identifiziert. Eine Theory-of-Mind (vgl. Wimmer u. Perner
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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3 4 5 6 7 8
Ausmaß negativen Emotionsausdrucks
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4,75 4,50 4,25 4,00 3,75 3,50 3,25 3,00 2,75 2,50 2,25 2,00 Baseline
Frustration
eine Minute später zwei Minuten später
zweijährige Mädchen
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sensitivität der Mütter gering hoch
dreijährige Mädchen Sensitivität der Mütter gering hoch
. Abb. 4.12. Zeitlicher Verlauf der negativen Ausdrucksintensität (1 »kein negativer Ausdruck« bis 6 »sehr deutlicher negativer Ausdruck«) bei zwei- und dreijährigen Mädchen in Abhängigkeit von der Sensitivität der Mutter. (Aus Friedlmeier u. Trommsdorff 2001)
1983) beinhaltet u. a. das Wissen, dass andere Personen eine falsche Überzeugung bzw. ein falsches Wissen (»false belief«) haben können, das nicht mit den Fakten übereinstimmt (s. Studienbox). Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich zwei Intentionen, die eigene und die des Gegenübers, vergegenwärtigen und als unterschiedlich wahrnehmen zu können. Diese Leistungen verlangen den Umgang mit Bezugssystemen in der Vorstellung. Man muss zwei Bezugssysteme zugleich repräsentieren: die Situation, wie sie sich tatsächlich darstellt, und die Vorstellung, die sich eine Person davon macht und die falsch sein kann. Das Zeitverständnis als zweite Voraussetzung für eine mentale Zeitreise fußt nach Bischof-Köhler (2000) zunächst auf der Übertragung räumlicher Kategorien auf die Zeit (vor und nach, Gleichsetzung von Raum- und Zeitstrecke), also auf der Nutzung des Raumes als Modell für die (unanschauliche) Zeit. Allmählich können frühere und jetzige
Ereignisse in der Vorstellung einander gegenüber gestellt werden (s. Studienbox). Das zeitliche Zusammentreffen von Theoryof-Mind und Zeitverständnis führt zur Fähigkeit, sich gedanklich auf Zeitreise zu begeben und eine Handlungsorganisation zu vollführen, die verschiedene Motive und Emotionen koordiniert, indem sie zeitlich koordiniert werden: Man kann das eine Motiv jetzt und das andere später befriedigen. Allerdings reichen rein mentale Leistungen nicht aus, es bedarf auch einer »exekutiven Kontrolle«, die impuls- und anreizgesteuertes Handeln bremsen kann und die Aufmerksamkeit darauf richtet, motivdienliche Handlungen zu planen. Dazu gehört auch die in 7 Abschn. 4.3.2 beschriebene Entwicklung der Sprechzeichen als Mittel einer handlungsregulierenden Selbstinstruktion. Die Fähigkeit zur mentalen Zeitreise ist also eine reflexive Strategie zur Regulation von emotionalen Handlungsimpulsen, die sehr effizient ist und die verhaltensorientierten Regulationsstrate-
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4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
4
Studie
Studie
Wann Kinder eine »Theory-of-Mind« erwerben
Zeitverständnis hilft beim Belohnungsaufschub
Beim klassischen Experiment von Wimmer und Perner (1983) zum Verständnis falscher Überzeugungen (»false belief«) wurde den Kindern eine Geschichte von Maxi und seiner Mutter erzählt. Die Geschichte wird mit Puppen und einer Puppenhausküche inszeniert. In der Küche gibt es nur zwei Schränke, einen grünen und einen blauen. Maxi und seine Mutter kommen nach dem Einkaufen nach Hause. Maxi hilft beim Auspacken der Einkäufe. Dabei legt er die Schokolade in den grünen Schrank, was er sich gut merkt, um sich später etwas Schokolade holen zu können. Dann geht er zum Spielen nach draußen. Während er zum Spielen weg ist, holt seine Mutter die Schokolade aus dem grünen Schrank, nimmt etwas zum Backen und legt sie zurück in den blauen Schrank. Sie verlässt dann die Küche, um Eier zu holen. Dann kommt Maxi zurück vom Spielen und möchte Schokolade essen. Testfrage: »Wo wird Maxi die Schokolade suchen?« Hat das Kind bereits eine Theory of mind bezüglich des Verständnisses falscher Überzeugungen, dann wird es antworten, dass Maxi im grünen Schrank suchen wird, dort nämlich wo Maxi die Schokolade deponiert hatte. Hat es ein solches Verständnis noch nicht, wird es antworten, dass Maxi im blauen Schrank sucht. Denn es geht davon aus, dass Maxi das weiß, was es selbst weiß, dass sich nämlich die Schokolade jetzt im blauen Schrank befindet. Ergebnis dieser Studie war, dass fast alle dreijährigen Kinder auf die Testfrage mit »im blauen Schrank« antworteten, sie also noch kein Verständnis falscher Überzeugungen haben. Sie können noch nicht ihr Bezugssystem wechseln und beide Perspektiven, ihre und die von Maxi, zueinander in Beziehung setzen. Richtige Antworten (»im grünen Schrank«) nehmen mit dem Alter kontinuierlich zu. Fast alle Sechsjährigen geben die richtige Antwort.
Bischof-Köhler (2000) hat 55 Mädchen und 56 Jungen im Alter von 3 bis 5 Jahren bezüglich ihres Zeitverständnisses und ihrer Theory-of-Mind getestet: Bei Ersterem sollten die Kinder die Zeitdauer von Handlungsabläufen einschätzen, bei Letzterem sog. False-belief-Aufgaben meistern. Des Weiteren mussten die Kinder eine Aufgabe mit Belohnungsaufschub, nämlich auf ein Geschenk warten, und einen Motivkonflikt meistern. Bei Letzterem hatten sie die scheinbare Wahl, aus einer Maschine, die in unregelmäßigen Abständen Smarties freigab, die Smarties mit der Hand aufzufangen und essen zu können oder im Nebenraum einen Zeichentrickfilm im Fernsehen zu sehen. Sie konnten aber auch unter die Smartiemaschine eine Auffangschale stellen, derweil im Nebenraum fernsehen, danach zurück zur Smartiemaschine gehen und die Auffangschale mit den Smarties leeren. Das Zeitverständnis nahm von nahe Null bei den Dreijährigen bis zu etwa 90% bei den Fünfjährigen zu, ebenso die Fähigkeit, die False-belief-Aufgaben korrekt zu beantworten, nämlich von ca. 20% bei den Jüngsten bis zu 100% bei den Ältesten. Besonders aufschlussreich ist das Ergebnis beim Belohnungsaufschub und der Motivkonfliktaufgabe: Von 21 Kindern, die beim Belohnungsaufschub ein fixiertes Warteverhalten zeigten (fortlaufend auf die Sanduhr mit der restlichen Wartezeit starren), verfügten nur 5 Kinder (23.8%) über Zeitverständnis und Theory-of-Mind. Demgegenüber verfügten von den 24 Kindern, die ein flexibel reguliertes Warteverhalten zeigten (lenken sich entspannt durch ein Spiel ab und schauen nur gelegentlich zur Vergewisserung auf die Sanduhr), 21 Kinder (87.5%) über ein Zeit- und Theory-of-Mind-Verständnis. Bei dem Motivkonflikt verfügten von 56 Kindern mit Pendelstrategie (zwischen Smartiemaschine und Fernsehen pendeln und damit beides verpassen) 19 (33.9%) über Zeit- und Theory-ofMind-Verständnis. Demgegenüber verfügten von 45 Kindern mit Planungsstrategie (Auffangschale für die Smarties nutzen, dann in Ruhe fernsehen, schließlich die Auffangschale leeren) 32 (71.1%) über Zeit- und Theory-of-Mind-Verständnis.
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
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gien wie Ablenkung erst angemessen zum Einsatz kommen lässt.
Studie
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Spiel und Emotionsregulation
Das Rollenspiel als Mittel der Emotionsregulation
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Abschließend ist noch zu erwähnen, dass Kinder diesen Alters die Strategien für eine reflexive Emotionsregulation nicht nur durch das unmittelbare Erleben emotionaler Ereignisse erwerben, sondern sie können auch im Spiel den Gebrauch dieser Strategien üben und weiter vervollkommnen (Galyer u. Evans 2001). Das »So tun als ob« im Spiel erlaubt es, Realität nach eigenen Vorgaben umzudeuten. Damit wird es z. B. im Rollen- und Konstruktionsspiel möglich, unbefriedigte Motive imaginativ zu befriedigen, bedrückende Erfahrungen in Richtung auf eine motivdienlichere Lösung spielerisch umzudeuten und beeindruckende Erfahrungen spielerisch wiederholen zu können (vgl. Oerter 1993, s. Studienbox). Im Regelspiel lernt das Kind, Misserfolge und die dabei auftretenden negativen Emotionen auszuhalten und zu regulieren.
Wie Kinder Regulationsstrategien lernen Kinder erlernen diese beschriebenen Strategien der Emotionsregulation in der Regel durch ihre Eltern und Freunde (vgl. auch Friedlmeier 1999b). Thompson (1990) nennt vier mögliche Lernpfade, die parallel auftreten und sich wechselseitig ergänzen – aber auch widersprechen können: 1. Direkte Anweisungen: Eltern verwenden in den Situationen, in denen ihr Kind seine Gefühle regulieren soll, direkte sprachliche Anweisungen, die das Kind befolgen soll wie z. B. »beruhige dich«, »hör auf zu quengeln«, »guck mal, was hier ist« (um einen attraktiven Spielgegenstand als Ablenkung einzuführen). 2. Angebote zur Umdeutung des Anlasses: Wenn ihr Kind seine Emotion verändern soll, nehmen Eltern eine Umdeutung des Anlasses bzw. der Situation vor und bringen das Kind dazu, diese Umdeutung zu übernehmen – in der Hoffnung, dass sich seine Emotion verändert. > Beispiel Eltern können z. B. durch Bagatellisieren oder durch soziale Abwärtsvergleiche dem Kind eine Umdeutung des Anlasses nahe legen, indem sie sagen: »Es hätte noch viel schlimmer
Oerter (1993, S. 233) berichtet aus seiner Spielstudie von einem Räuber-und-Gendarm-Spiel, das ein fünfjähriger Junge während eines Hausbesuchs gespielt hat. Es ist ein treffendes Beispiel, wie Kinder bedrückende Erlebnisse durch Rollenspiel für sich bewältigen können: Er spielt mit seiner jüngeren Schwester Verreisen. Das Auto, bestehend aus Stühlen, wird sorgfältig bepackt, wobei Campingtisch und -stühle nicht fehlen. Der Junge setzt sich danach ans Steuer und platziert die Schwester hinter sich. Nach einiger Zeit des Fahrens, das durch Steuern und Imitation des Motorgeräusches simuliert wird, hält das Auto. Es wird eine Rast eingelegt, bei der die Kinder die Campingmöbel aufbauen und ein Picknick machen. Da erscheint ein Räuber, der die beiden überfällt und ausraubt. Der Junge spielt nun den Polizisten, der den Räuber jagt und schließlich fängt. Er tanzt herum und ruft dabei: »Juhu, der Räuber ist gefangen, der Räuber ist gefangen!« Die Mutter berichtet, dass der Überfall tatsächlich so während ihres letzten Campingurlaubs stattgefunden habe. Allerdings konnte der Räuber nicht festgenommen werden. Der Junge hat diese Szene bereits öfters gespielt. Augenscheinlich versucht er, durch wiederholtes Spielen dieses traumatische Erlebnis zu bewältigen, wobei er die Rolle des Polizisten übernimmt und dem Verlauf einen positiven Ausgang verleiht. Er legt damit die Opferrolle, die er in der Realität innehatte, ab und nimmt im Spiel die mächtige Rolle an, die das Böse besiegt. Auch Erwachsene nutzen diese imaginative Bewältigungsform, allerdings nicht im realen Spielen, sondern im reinen Gedankenspiel von Tagträumereien, wenn sie bedrückende und erniedrigende Erlebnisse gedanklich noch einmal durchspielen und sich dabei Ereignisverläufe mit positiverem Ausgang vorstellen.
4.3 · Entstehung der intrapersonalen Regulation
kommen können. Dein Spielzeug hätte ganz verschwunden sein können, jetzt hat es nur eine Macke. Das ist doch nicht so schlimm«, »Dem Paul geht es noch schlechter als dir. Dessen Spielzeug ist ganz kaputt«. Bagatellisierung und soziale Abwärtsvergleiche sind vergleichsweise erfolgreiche Emotionsregulationsstrategien. Eltern könnten auch eine zeitliche Hierarchisierung der Motive anregen: »Morgen wird alles wieder gut sein«, »Wir gehen nachher auf den Spielplatz, jetzt räumen wir erst auf«.
3. Modellernen: Eltern geben in ihrem eigenen (mehr oder minder kommentierten) Regulationsverhalten dem Kind Modelle vor, wie man Emotionen regulieren kann, die es für sich ausprobieren und übernehmen kann. > Beispiel Wenn Eltern im Beisein ihrer Kinder eigene negative Emotionen erleben, die nicht auf ihre Kinder gerichtet sind, können sie ihre eigenen Regulationsstrategien laut denkend dem Kind demonstrieren, so dass es mitbekommt, wie sie vorgehen, um ihre negative Emotion zu beeinflussen.
4. Diskurs über Emotionen: Eltern tauschen sich mit ihren Kindern darüber aus, wann man welche Gefühle wie ausdrückt und erlebt bzw. ausdrücken und erleben sollte, welche Konsequenzen Gefühle nach sich ziehen, wie man Gefühle bei sich und anderen beeinflussen kann etc. Auf diese Weise eignen sich Kinder ein Emotionswissen an, das sie für die Regulation von Gefühlen nutzen können (vgl. Gottman et al. 1997; Janke 1999). > Beispiel Eltern können sich mit ihren Kindern über zurückliegende oder zukünftige Emotionsepisoden unterhalten, z. B. warum der Peter im Kindergarten so böse war und die anderen immer haut und was man dagegen tun kann, oder über das enttäuschende Geschenk vom Onkel, der sich doch Mühe gegeben hat, und dafür
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sollte man doch »Danke« sagen und sich nicht einfach darüber beschweren.
Ein weiterer Lernpfad, den Thompson (1990) nicht erwähnt, besteht im Spielen von Emotionen während gemeinsamer Rollenspiele zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Kindern. Dabei inszenieren Eltern u. a. auch Emotionen mit ihren spezifischen Anlässen, Ausdrucksformen etc. In der Studie von Galyer und Evans (2001) war ein wichtiges Ergebnis, dass Kinder, die häufiger Gelegenheit zum Symbolspiel mit den Bezugspersonen hatten, ein angemesseneres Ausdrucksverhalten in einer induzierten Frustrationssituation zeigten. Bei der Anwendung dieser Strategien gibt es große Unterschiede zwischen den Familien. Studien zeigen, dass Kinder aus Familien, die ihren Kindern diese Lernpfade in großem Ausmaß zur Verfügung stellten, auch eine erfolgreichere emotionale und volitionale Regulationskompetenz besaßen als Kinder aus Familien, in denen das nicht der Fall war (vgl. Gottman et al. 1997). Diese Thematik wird aktuell unter dem Begriff »Erziehung zur emotionalen Kompetenz« (Saarni 1999; von Salisch 2002) bzw. »Erziehung zur emotionalen Intelligenz« (vgl. Goleman 1997; Saarni 1999; Salovey u. Sluyter 1997) diskutiert.
4.3.4 Zusammenfassung Im Unterschied zur ersten Entwicklungsphase, in der die Bezugspersonen bemüht sind, prompt und angemessen die emotionalen Reaktionen und die damit verbundenen Motive ihrer Kinder unmittelbar zu befriedigen, fordern die Bezugspersonen von ihren Kindern in der zweiten Entwicklungsphase eine zunehmende selbstständige Regulation ihrer Handlungen und Emotionen. Die Entwicklungsaufgaben im Kleinkind- und Vorschulalter bestehen aus drei Anforderungen: 1. Das Kind soll die emotionale Handlungsregulation selbstständig ausführen. Dabei wird es ermutigt, die in der interpersonalen Regulation erworbenen Ausdruckszeichen sowie Bewältigungshandlungen für eine intrapersonale Regulation zu benutzen. Der emotionale Ausdruck soll auch als Appell an sich selbst ver-
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
standen werden, die erforderlichen Bewältigungshandlungen selbstständig auszuführen. 2. Darüber hinaus wird von dem Kind jetzt auch gefordert zu lernen, dass seine aktuellen Motive nicht immer unmittelbar befriedigt werden können, sondern dass die Befriedigung seiner Motive mit seinem sozialen Umfeld zu koordinieren ist. Dies erfordert die Fähigkeit, Motive zu hierarchisieren, ihre Befriedigung aufzuschieben oder darauf ganz verzichten zu können. Bezugspersonen setzen Verhaltensstandards und fordern, dass das Kleinkind neue Motive ausbildet, die auf die Einhaltung dieser Standards gerichtet sind. Mit diesen normorientierten Motiven entstehen auch neue Emotionen, wie Stolz, Scham und Schuld. Ein Kleinkind macht in diesen Stolzund Schamepisoden die Erfahrung, dass es seine individuellen Motive nur dann realisieren kann, wenn es die soziale Einbindung seiner Handlungen berücksichtigt und daran ausrichtet. Das ist die Fähigkeit, sich mit den Augen der wertgeschätzten anderen zu sehen und sein eigenes Handeln auf die Verhaltensnormen abstimmen zu können. Dieses normgerechte Handeln erfolgt durch die Emotionen Stolz und Scham, durch die die Erfüllung bzw. Bedrohung des Ich-Ideals signalisiert wird. Sie erfolgt noch nicht qua Willensentscheidung aufgrund einer konzeptuellen Einsicht über die Legitimität der Norm. Im Laufe des Kleinkindalters gehen Kinder dazu über, sich an den Reaktionen der Erwachsenen zu orientieren und positive Antworten auf ihren Erfolg zu suchen und solche zu meiden, bei denen ihnen der Ausschluss droht, also bei denen sie beschämt werden könnten. Selbstbewertung wird durch externe Bewertung angestoßen. Der Erwachsene fungiert als Inkarnation der kulturellen Normmaßstäbe. Am Ende des Vorschulalters haben die Kinder begonnen, die Bewertung zu internalisieren. Sie bewerten ihre Leistung unabhängig von einer äußeren Bewertung und orientieren sich ausschließlich an Erfolg und Misserfolg. 3. Die zunehmende Sprachkompetenz des Kindes führt zu der Anforderung, dass Ausdruckszeichen jetzt als sprachliche Appelle formuliert
werden. Insbesondere auf der Ebene der reflexiven Emotionsregulation setzen Bezugspersonen immer mehr symbolische Strategien ein, und die verbale Kommunikation wird für die Regulation immer wichtiger.
4.4
Die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel ab dem 6. Lebensjahr
Zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr können Kinder zunehmend die allumfassende Unterstützung durch ihre Bezugspersonen reduzieren. Sie können ihre Handlungen mittels Emotionen und Volitionen selbstständig regulieren und auch ihre Emotionen bereits in gewissen Grenzen willkürlich modifizieren. Damit sind Kinder grundsätzlich fähig geworden, ihre Motive selbstständig und in Abstimmung mit ihrem sozialen Umfeld befriedigen zu können. Die intrapersonale Handlungs- und Emotionsregulation hat sich aus der interpersonalen Handlungsund Emotionsregulation herausgebildet. Das Kind kann je nach kontextspezifischen Anforderungen eine der beiden Regulationsformen einsetzen. Der nachfolgende Meilenstein der dritten Entwicklungsphase – etwa ab dem 6. Lebensjahr – besteht nach dem Internalisierungsmodell in einem Formwechsel der psychischen Regulationsmittel (der Ausdrucks- und Sprechzeichen), die das Kind für seine intrapersonale Regulation einsetzt. Die Ausdrucks- und Sprechzeichen des Kindes passen sich mit zunehmender Verselbstständigung der neuen intrapersonalen Regulationsfunktion an, indem sie internalisiert werden: Aus Ausdrucks- und Sprechzeichen, die für Außenstehende wahrnehmbar sind (Beobachterperspektive), werden mentale Ausdrucks- und Sprechzeichen, die im Extremfall nur noch für die Person selbst (Akteursperspektive) wahrnehmbar sind. Aus realen Handlungen wird ein inneres Probehandeln in gedanklichen Vorstellungsbildern. Es entsteht eine mentale Ebene des Ausdrückens, Sprechens und Handelns, auf der eine Person agieren, sich beliebige Szenarien vorstellen und auch ein emotionales Gefühl zu diesen gedanklichen Szenarien entwickeln kann. Dabei behalten die mentalen Regulationsmittel im subjektiven Gefühl, d. h. in der Akteursperspekti-
4.4 · Die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel
ve, ihre Ähnlichkeiten zum äußerlich wahrnehmbaren Ausdruck, zum lauten Sprechen und zum realen Handeln. Eine zentrale These des Internalisierungsmodells ist die, dass sich die Ausbildung dieser mentalen Ebene (die Internalisierung) nicht nur im Bereich des Sprechens und Handelns vollzieht, sondern dass diese Internalisierung auch im Bereich des emotionalen Ausdrucks stattfindet. Sprechzeichen und auch Ausdruckszeichen verschwinden nicht, sondern sie werden internalisiert und existieren auf einer mentalen Ebene als mentale Ausdruckszeichen weiter. Diese Idee ist das gänzliche Neue, das das Internalisierungsmodell zu einer Theorie der emotionalen Entwicklung beisteuert. Dementsprechend beschreiben wir in 7 Abschn. 4.4.1 den ontogenetischen Beginn dieser Ausdrucksinternalisierung im Altersabschnitt zwischen 6 und 10 Jahren und referieren eigene Studien über ihren Verlauf. Fragen, die das Phänomen der Ausdrucksinternalisierung bei Erwachsenen betreffen, werden in 7 Abschn. 4.5 behandelt. In 7 Abschn. 4.4.2 wird die Internalisierung der Sprechzeichen kurz skizziert, um die Parallelitäten im Internalisierungsprozess zwischen den Sprechzeichen bei der volitionalen Handlungsregulation und den Ausdruckszeichen bei der emotionalen Handlungsregulation herauszuheben. In 7 Abschn. 4.4.3 gehen wir ausführlicher auf die Bedingungen ein, die für eine Internalisierung von Ausdruckszeichen gegeben sein müssen und die ein Kind erst im Laufe der Ontogenese sukzessive erfüllt. Dazu gehört – so die Annahme des Internalisierungsmodells – auch die Entwicklung des Symbolverständnisses, das erst im Laufe des »five to seven year shift«, dem Übergang zum »age of reason« (Sameroff u. Haith 1996; White 1996), in einer solch ausgereiften Weise entwickelt wird, dass es die Internalisierung unterstützen kann. In der Terminologie des Internalisierungsmodells und seiner Regulationsebenen betrifft diese Entwicklung die Ebene der reflexiven Emotionsregulation. Wir gehen in diesem Kapitel ausschließlich auf die intrapersonale Regulation ein. Es gibt auch eine fortschreitende Entwicklung der interpersonalen Regulation, die wir hier aus Platzgründen nicht weiter behandeln (vgl. dazu Feldman 1982; Josephs 1993; Lewis 1993; Saarni 1999; Saarni u. Weber 1999;
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4
Zivin 1985). Hierzu gehört, dass Kinder weitere Darbietungsregeln, welche Emotionen in welchen sozialen Situationen wem gegenüber mit welchem Ausdruck zu zeigen sind, erwerben und anwenden. Ebenso lernen sie, den Gebrauch von Ausdruckssymbolen und Emotionsregulationsstrategien für die motivdienliche Interaktion mit anderen zu vervollkommnen (vgl. auch Goffman 1958, 1967).
4.4.1 Internalisierung von
Ausdruckszeichen Das Internalisierungsmodell nimmt an, dass etwa ab dem 6. Lebensjahr eine sog. Internalisierung von Ausdruckszeichen stattfindet. Sie führt dazu, dass unter bestimmten Bedingungen die äußerlich wahrnehmbaren Ausdrucksreaktionen einer Emotion verschwinden können, weil das emotionale System auf zentralnervös gespeicherte Repräsentationen emotionsspezifischer Ausdrucksempfindungen zurückgreift (7 Abschn. 3.1.2). Auf diese Weise kann eine Person Ausdrucksempfindungen subjektiv fühlen und sie als subjektives Gefühl einer Emotion deuten, ohne dass die Ausdrucksempfindungen zugleich als Ausdrucksreaktionen objektiv messbar sein müssen. Für die Körperkomponente von Emotionen nehmen wir auch eine Internalisierung an, wenn die genannten Bedingungen erfüllt sind. Wir führen dies jedoch im Folgenden nicht weiter aus, da wir dazu keine eigenen empirischen Studien durchgeführt haben. Malatesta und Haviland (1985) sprechen von einer »Desomatisierung der Emotionen« im Laufe der Ontogenese, bei der Ausdruckszeichen durch internale Repräsentationen ersetzt werden. Magai und McFadden (1995) beziehen sich auf das ontogenetische Interiorisationskonzept von Vygotsky (1934/1987), auf das wir ebenfalls zurückgreifen, wenn sie schreiben: Emotion socialization is seen as ... learning to transfer overt expressive behavior into the internal world of elaborated representation (the interiorization process) (Magai u. McFadden 1995, p. 142).
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
Bedingungen für die Internalisierung von Ausdruckszeichen Eine Internalisierung von Ausdruckszeichen ist an notwendige Bedingungen geknüpft (vgl. auch 7 Abschn. 3.1.4 und 3.3.2): 1. Ausdruckszeichen dienen der Kommunikation mit sich selbst und nicht mit anderen. Dies ist bei der intrapersonalen Handlungsregulation der Fall, die sich gegenüber der interpersonalen bis zum 6. Lebensjahr verselbstständigt, wie sich in zwei Studien zeigen ließ (Holodynski 1997, Studie V; Holodynski u. Upmann 2003b). Während vierjährige Kinder in emotionsgeladenen Alleinsituationen noch den Handlungsimpuls zeigten, eine vertraute Person aufzusuchen, konnten Kinder ab 5 Jahren selbstständig motivdienliche Handlungen ausführen. Dabei zeigten sie deutliche Ausdruckszeichen, die aber jetzt ausschließlich der Kommunikation mit sich selbst dienten. Über das Ausdrucksfeedback wird die aktuelle motivrelevante Person-Umwelt-Beziehung signalisiert, und es veranlasst das Kind, motivdienlich zu handeln. 2. Ausdruckszeichen erfüllen im Regulationsprozess ausschließlich Zeichenfunktion. Bei mimischen und vokalen Ausdrucksreaktionen scheint die semiotische Funktion als nonverbales Kommunikationsmittel auf der Hand zu liegen (vgl. Ellgring 1987). Allerdings behauptet z. B. Ekman (1988), dass der Überraschungsausdruck in Form von hochgezogenen Augenbrauen, weit geöffneten Augen und Mund auch eine instrumentelle Funktion habe, nämlich die sensorischen Kanäle für die Informationsaufnahme zu öffnen. In dem Fall wäre eine Internalisierung dysfunktional. Allerdings konnte diese instrumentelle Funktion des Überraschungsausdrucks bislang nicht hinreichend belegt werden (vgl. Bruckschen 2002; Camras 2000; Reisenzein 2000; Reisenzein et al. 2005). Die Ausdrucksreaktionen müssten demnach internalisierbar sein. Bei Ausdruckszeichen in Form elementarer emotionsspezifischer Bewältigungshandlungen, wie z. B. Annäherung bei Zuneigung oder Flucht bei Angst, erscheint die instrumentelle Funktion plausibel zu
sein. Dies gilt auch für das Lachen mit der Funktion, aufgebaute Spannung abzubauen (Sroufe 1996), in Grenzen wohl auch für das Weinen (vgl. Vingerhoets et al. 2000). Doch kann bei ihnen auch die semiotische Funktion im Vordergrund stehen. Wir nehmen an, dass die instrumentelle Funktion vor allem bei starken Emotionsintensitäten im Vordergrund steht, wenn eine Emotion so überwältigend ist, dass die Person keine differenzierteren Bewältigungshandlungen zur Verfügung hat, wie z. B. in Paniksituationen oder bei ekstatischen Glücksgefühlen.
Hypothesen zum Formwechsel Der Formwechsel von äußerlich wahrnehmbaren zu mentalen Ausdruckszeichen lässt sich unter zwei Aspekten operationalisieren und empirisch prüfen: Miniaturisierungshypothese. Zum einen bezieht
sich der Formwechsel auf die beobachtbare Intensität des Ausdrucks. Sie müsste mit zunehmendem Alter der Kinder schwächer werden, und zwar in Situationen, in denen Emotionen eine intrapersonale Regulationsfunktion haben, also die Person selbst die motivdienlichen Handlungen ausführt wie z. B. in Alleinsituationen. Die Intensität des Ausdrucks kann sich dabei soweit miniaturisieren, dass kein Ausdruck mehr beobachtbar ist, obwohl die betreffende Person glaubhaft versichert, eine Emotion zu erleben. Internalisierungshypothese. Zum anderen bezieht sich der Formwechsel auf das Verhältnis zwischen Ausdruck und Gefühl. Das Internalisierungsmodell behauptet, dass der Ausdruck nicht einfach verschwindet, sondern internalisiert wird: Im subjektiven Gefühl hat die Person nach wie vor Ausdrucksempfindungen, obwohl dem im Extremfall keine objektiv beobachtbaren Ausdrucksreaktionen zugrunde liegen. Dieser Aspekt ist empirisch erheblich schwieriger zu erfassen und zu belegen. Wir haben dazu Studien an Erwachsenen durchgeführt. Daher werden wir die Diskussion um eine Internalisierung gegenüber einer bloßen Miniaturisierung des Ausdrucks in 7 Abschn. 4.5.1 führen.
4.6 · Die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel
Studien zur Miniaturisierungshypothese Um die Hypothese zum Intensitätsaspekt der Internalisierungshypothese zu prüfen, ist ein spezielles Versuchsdesign sinnvoll: Die Kinder müssen Emotionen in einer Situation erleben, in denen die intrapersonale Regulation dominant ist. Dies ist in der Regel in Alleinsituationen der Fall. Dabei muss im Altersabschnitt etwa zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr mit zunehmendem Alter die Ausdrucksintensität schwächer werden. Um auszuschließen, dass die abnehmende Ausdrucksintensität nicht durch eine Abnahme der Emotionsintensität verursacht wird, ist es eine Möglichkeit, die Kinder bezüglich der erlebten Gefühlsintensität zu befragen. Kinder dieses Alters haben aber noch Probleme, ein valides intervallskaliertes Intensitätsrating vorzunehmen. Daher kann man als zweite Möglichkeit eine Kontrollbedingung einführen. Dabei wird der gleiche Emotionsanlass in einer Kommunikationsbedingung vorgegeben, bei dem eine dem Kind vertraute Person anwesend ist, dem das Kind seine Emotionen mitteilen und zeigen kann. Hier wird also eine interpersonale Regulation nahegelegt. Die
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Vertrautheit ist insofern wichtig, als Studien an Erwachsenen zeigten, dass bei Anwesenheit einer fremden Person der Ausdruck abgeschwächt wird (Hess et al. 1995; Wagner u. Smith 1991). Aufgrund des gleichen Emotionsanlasses müsste die Emotionsintensität in der Allein- und der Kommunikationsbedingung gleich stark sein. Gemäß dem Internalisierungsmodell müssten Kinder bis etwas zum 6. Lebensjahr in beiden Bedingungen eine vergleichbar starke Ausdrucksintensität zeigen. Denn das Kind bedarf noch des realen Körperfeedbacks seiner Ausdrucksreaktionen, um die induzierte Emotion zu fühlen. Demgegenüber müsste zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr der Ausdruck in der Kommunikationsbedingung vergleichbar stark bleiben, während er in der Alleinsituation schwächer werden müsste. In dem Fall lässt sich die abnehmende Ausdrucksintensität in der Alleinbedingung als Indikator einer zunehmenden Ausdrucksminiaturisierung interpretieren und kann nicht auf eine Abnahme der Emotionsintensität zurückgeführt werden. Solche Versuchsdesigns sind in empirischen Studien bislang nicht realisiert worden. Daher ha-
Studie Experiment 1: Ausdruck von Vorschulkindern und Erwachsenen in Alleinsituationen In dieser Studie (Holodynski 1995) sollte geprüft werden, ob bei Erwachsenen ein Miniaturisierungseffekt in Alleinsituationen zu beobachten ist, während er bei Vorschulkindern noch nicht auftritt. Es nahmen 18 Mädchen und 18 Jungen im Alter zwischen 3.6 und 6.9 Jahren (M = 5.19, SD = 0.85) und ebenfalls 18 männliche und 18 weibliche Studierende als Erwachsene am Versuch teil. Ihnen wurde eine Aufgabe in einer Allein- und einer Kommunikationsbedingung gestellt, bei der sie Erfolg und Misserfolg haben konnten und entsprechend Freude bzw. Enttäuschung fühlen sollten. Die Kinder sollten mit Holzklötzen Türme von aufsteigender Höhe aufstapeln. In der Kommunikationsbedingung saß ein dem Kind vertrauter Versuchsleiter dabei. Die Studierenden sollten mit den sieben Teilen eines
Tangrampuzzles sechs vorgegebene Figurenumrisse mit aufsteigender Schwierigkeit nachlegen. In der Kommunikationsbedingung meisterten sie dies zusammen mit einem ihnen vertrauten Freund. Beide Kommunikationsbedingungen waren demnach so konstruiert, dass der Proband seine Gefühle spontan dem Gegenüber mitteilen konnte. Bei den Studierenden wurde die Gefühlsintensität im Anschluss an den Versuch erhoben: Sie schauten sich die Videomitschnitte ihrer Erfolge und Misserfolge an und sollten rekapitulieren, wie sie sich währenddessen jeweils gefühlt hatten. Die Probanden gaben bei Erfolg gleich starke Gefühlsintensitäten für die Allein- (M = 5.2) und die Kommunikationsbedingung (M = 5.1) an. Das gleiche galt für Misserfolg (MAllein = 4.1 und MKommunikation = 4.4). Die Erfolgs- und Misserfolgsszenen der Kinder und Studierenden wurden so videografiert, dass Ober6
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
körper und Gesicht sichtbar waren. Zur Beurteilung des Ausdrucks wurden die Videoszenen der Kinder und Studierenden in zufälliger Reihenfolge auf einem Videoband zusammengeschnitten. Jeweils fünf naive Beurteiler sahen die Erfolgs- bzw. Misserfolgsszenen mit Ton und schätzten die Ausdrucksintensität auf einer zehnstufigen Skala und die Ausdrucksdauer in Sekunden ein. Die Interraterreliabilität (Cronbachs Alpha) betrug bei den Erfolgsszenen .88 für die Ausdrucksintensität und .76 für die Ausdrucksdauer, bei den Misserfolgsszenen .83 und .75. Die Ergebnisse bestätigten den ontogenetischen Miniaturisierungseffekt (. Abb. 4.13 und 4.14): Der Ausdruck der Erwachsenen in der Alleinbedingung war deutlich schwächer und dauerte auch deutlich kürzer als der Ausdruck der Vier- bis Sechsjährigen, und zwar sowohl für die Erfolgs- als auch für die Misserfolgsepisoden. Der Ausdruck der Erwachsenen in der Alleinbedingung war auch gegenü-
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ber der vergleichbaren Kommunikationsbedingung deutlich schwächer. Mit Hilfe einer Kovarianzanalyse, bei der die Erlebensintensität als Kovariate eingeführt wurde, konnte bei den Erwachsenen gezeigt werden, dass die geringere Ausdrucksintensität in der Alleinbedingung nicht durch eine verringerte Erlebensintensität bedingt war. Das Erleben war in beiden Bedingungen vergleichbar intensiv. Demgegenüber zeigten die Kinder bei den Erfolgsepisoden eine vergleichbare Ausdrucksintensität, aber eine kürzere Ausdrucksdauer in der Allein- gegenüber der Kommunikationsbedingung. Bei den Misserfolgsepisoden war es umgekehrt. Allerdings war der Unterschied zwischen Allein- und Kommunikationsbedingung bei weitem nicht so deutlich wie bei den Erwachsenen. Das spricht dafür, dass der Ausdruck bei Vorschulkindern nicht bzw. nicht so stark miniaturisiert war wie bei Erwachsenen.
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Ausdrucksintensität
10 4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0
3 ,8 3 ,2
3 ,3
2 ,5 2 ,1
2,1
2
Kinder Erwachsene
0 ,8
Sozial
Allein
Sozial
Allein
positive Emotionsepisoden negative . Abb. 4.13. Mittelwerte der Ausdrucksintensität für positive und negative Emotionsepisoden als Funktion von Altersgruppe (Vier- bis Sechsjährige und Erwachsene) und Kontext (Kommunikations- und Alleinbedingung). Ausdrucksskala von 0 bis 9 = extrem starker Ausdruck
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ben wir eine Reihe eigener Experimente durchgeführt, die in den folgenden Studienboxen dargestellt werden. Zur Frage, ab welchem Alter eine Miniaturisierung des Ausdrucks beginnt, führte Chapman (1973) eine Studie an 140 achtjährigen Kindern durch, in der er die Sozialität des Kontextes systematisch variierte. Die Kinder hörten über Kopfhörer lustige Geschichten, die Erheiterung induzieren sollten, wobei vier Versuchsbedingungen mit
zunehmendem Sozialbezug realisiert wurden. In der ersten Bedingung (ohne Sozialbezug) hörte jedes Kind die Geschichten allein, in der vierten Bedingung (stärkster Sozialbezug) hörten zwei Kinder die Geschichten gemeinsam. Die Lach- und Lächeldauer nahm von der ersten bis zur vierten Bedingung linear zu. Demnach zeigte sich bei den Achtjährigen bereits eine klare Ausdrucksminiaturisierung in der Allein- gegenüber der Kommunikationsbedingung.
4
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4.6 · Die Internalisierung der psychischen Regulationsmittel
Kommunikationsbedingung
a
c
Mädchen: 4,7 Jahre
Erwachsene: 23 Jahre Alleinbedingung
b
d
. Abb. 4.14a–d. Prototypischer Ausdruck eines Freudegefühls bei einem vierjährigen Mädchen (a, b) und einer Erwachsenen (c, d) in einer Allein- und einer Kommunikationsbedingung
Studie Experiment 2: Miniaturisierung des Ausdrucks bei Sechs-bis Achtjährigen Wir haben eine weitere Querschnittstudie in der Altersspanne zwischen 6 und 8 Jahren durchgeführt (Holodynski 2004), um zu prüfen, ob in diesem Altersabschnitt bereits eine merkliche Ausdrucksminiaturisierung zu beobachten ist. Jeweils 20 Kinder mit 6, 7 und 8 Jahren bedienten in einer Allein- und einer Kommunikationsbedingung einen Süßigkeitsautomaten, aus dem sie mit zwei Münzen jeweils eine Süßigkeitsschachtel herausholen konnten.
Die erste Schachtel enthielt eine Süßigkeit; das sollte schwache Freude auslösen. Die zweite Schachtel war leer, obwohl die Verpackung eine Süßigkeit suggerierte. Das sollte Enttäuschung auslösen, da das Kind keine weitere Münze mehr besaß. Daraufhin wurde dem Kind eine dritte Münze ausgehändigt, mit der es sich eine neutral gestaltete Schachtel wiederum mit einer Süßigkeit ziehen konnte. Das sollte nach der leeren Schachtel eine starke Freude induzieren. In der Kommunikationsbedingung war wiederum ein dem Kind vertrauter Ver6
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Kapitel 4 · Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation
suchsleiter zugegen, der für das Kind ansprechbar war. Im Anschluss an die Emotionsinduktionen sollte jedes Kind seine Gefühlsintensität auf einer bipolaren siebenstufigen Skala von sehr enttäuscht (–3) über neutral (0) bis sehr fröhlich (3) einschätzen. Bei der leeren Schachtel gaben die Kinder eine negative Gefühlsvalenz an (M = –1.13, SD = 1.58), bei den vollen Schachteln eine positive Valenz (M = 2.54, SD = 0.60). Die starke Freudeinduktion löste einen intensiveren Ausdruck aus als die schwache Freudeinduktion, was die Kovariation von Anlass, Ausdruck und Gefühl belegt. Die Ausdrucksintensität nahm bei den beiden Freude- und der Enttäuschungsinduktion in der Alleinbedingung vom 6. zum 8. Lebensjahr ab, nicht aber die Gefühlsintensität. Des Weiteren blieb die Ausdrucksintensität in der Kommunikationsbedingung über die Altersgruppen gleich intensiv (. Abb. 4.15). War der Ausdruck bei den Sechsjährigen in den beiden Versuchsbedingungen noch vergleichbar, war er bei den Achtjährigen in der Allein- gegenüber der Kommunikationsbedingung bereits signifikant schwächer. Dieser Befund belegt klar die vom Internalisierungsmodell prognostizierte Ausdrucksminiaturisierung mit zunehmendem Alter.
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Experiment 3: Miniaturisierung des Ausdrucks im Längsschnitt Eine Längsschnittstudie mit einem vergleichbaren Versuchsdesign sollte prüfen, inwiefern die zunehmende Ausdrucksminiaturisierung auch intraindividuell auftritt (Hirte 2003; Holodynski u. Upmann 2003a). Dabei haben wir Kinder viermal untersucht, als sie 6, 7, 8 und 10 Jahre alt waren. Auch hier bedienten sie dreimal den Süßigkeitsautomaten jeweils in einer Allein- und einer Kommunikationsbedingung. Allerdings wurden die Emotionsinduktionen leicht abgewandelt, um Reihenfolgeeffekte besser kontrollieren zu können. Um schwache Freude auszulösen, wurde eine einzige Süßigkeit in die Schachtel gelegt; um starke Freude auszulösen,
zwei Süßigkeiten, so dass die Schachtel prall gefüllt war. Für Enttäuschung blieb die Schachtel leer bzw. es wurde leeres Süßigkeitspapier eingelegt. Die Reihenfolge der Versuchsbedingungen und der Emotionsinduktionen variierte systematisch. Nach den Emotionsepisoden sollten die Kinder ihre Gefühlsintensität auf einer bipolaren siebenstufigen Skala per Knopfdruck eingeben. Die videografierten Emotionsepisoden wurden auch hier in zufälliger Reihenfolge zusammengeschnitten und von zwei Beurteilern bezüglich der Ausdrucksintensität ausgewertet, wobei Bild und Ton genutzt wurden. Die Interraterreliabilität (Cronbachs Alpha) betrug .91 für die ganzheitliche Ausdrucksintensität. Die Längsschnittstudie erbrachte die folgenden Befunde (. Tabelle 4.5): 1. Die starke Freudeinduktion erzeugte sowohl ein intensiveres Gefühl (F(1, 24) = 113.47, p Beispiel Die beiden Beispiele für den unterschiedlichen Stellenwert der Emotion »Trauer« haben Auswirkungen auf die Erfahrungen von Kindern in der je-
Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
Nach diesen Vorklärungen zum Verhältnis von Kultur und Emotion können wir nun die Frage angehen, was nach dem Internalisierungsmodell in der Emotionsentwicklung in allen Kulturen beobachtet werden kann und worin kulturelle Unterschiede bestehen. Die oben angeführten Ethnotheorien sind »durchschnittlich« geteilte Überzeugungen einer kulturellen Gemeinschaft, die von Person zu Person durchaus Variationen aufweisen können. Diese Erziehungseinstellungen leiten Eltern in ihrem Erziehungsverhalten gegenüber ihren Kindern (Trommsdorff u. Friedlmeier 2004). Wir nehmen mit Greenfield et al. (2003) an, dass der individualistische bzw. kollektivistische soziokulturelle Hintergrund und die damit verbundenen Ethnotheorien zu zwei idealtypischen Entwicklungspfaden führen: eine stark individualistisch orientierte Kultur dürfte die Entwicklung von Individuation und Unabhängigkeit (»independence«) betonen; eine stark kollektivistisch und wenig individualistisch orientierte Kultur die Entwicklung von Gruppen-
179
5.2 · Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
zugehörigkeit und sozialer Verbundenheit (»interdependence«). Die Aktualisierung und Tradierung von Ethnotheorien durch die elterlichen Erziehungspraktiken ist ein zentraler Aspekt in einem theoretischen Modell, das kulturspezifische Pfade der emotionalen Entwicklung beschreiben und erklären will. Mit Bezug auf diese bedeutsamen Ethnotheorien hat ein solches Modell auch die kulturellen Interaktionsregeln und kulturellen Ideale bezüglich der Eltern-Kind-Beziehung zu berücksichtigen (vgl. Trommsdorff u. Friedlmeier 2004). Diese beiden Aspekte werden im Folgenden bei der Diskussion der Entwicklungsphasen des Internalisierungsmodells einbezogen und herausgearbeitet. Der Kulturvergleich wird in den folgenden Abschnitten exemplarisch an einem Vergleich zwischen USA bzw. Deutschland einerseits und Japan bzw. China andererseits illustriert, da für diese Länder die meisten empirischen Befunde vorliegen und auch eigene Studien durchgeführt worden sind. Diese Länder repräsentieren auf der einen Seite unterschiedliche Normen hinsichtlich der Dimensionen Individualismus und Machtdistanz (Hofstede 2000). Auf der anderen Seite weisen Japan, Deutschland und USA Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihres industriellen Entwicklungsstands auf, so dass kulturelle Unterschiede stärker auf soziale und weniger auf sozioökonomische Faktoren zurückgeführt werden können. Diese Länder sind politisch als demokratische Staaten organisiert. Die heutige japanische Kultur ist trotz Globalisierung und Amerikanisierung immer noch durch konfuzianisches und buddhistisches Denken mit einer hohen Wertschätzung für die Harmonie und die Einbindung des Einzelnen in seine soziale Bezugsgruppe geprägt. Deutschland und USA als westliche Kulturen stehen demgegenüber in der Tradition des christlich-abendländischen Denkens, das in der Entfaltung des Individuums einen hohen Wert sieht. Diese kulturellen Unterschiede können als relevante Kontextbedingungen für die Emotionsentwicklung angesehen werden. Im Folgenden wird für die Entwicklungsphasen, die das Internalisierungsmodell postuliert, diskutiert, welche kulturübergreifenden und kulturspezifischen Entwicklungsmuster sich identifizieren lassen. Aufgrund der geringen empirischen Befundlage werden auch spekulative Überlegungen angestellt.
5
5.2.1 Präadaptation von Säugling und
Bezugsperson als universeller Ausgangspunkt Die universelle psychische Ausstattung, mit der Neugeborene unterschiedlicher Kulturen auf die Welt kommen, ist ein Produkt der phylogenetischen Entwicklung. Sie ist auf ein Leben in einer kulturell geprägten Welt hin adaptiert. Dazu zählt die allgemeine Fähigkeit, sich kulturell tradiertes Können und Wissen in der sozialen Interaktion aneignen zu können, was wiederum eine besondere Sensibilität für soziale Interaktionen und ihre emotionale Regulation voraussetzt. In Bezug auf die emotionale Regulationsebene haben wir bereits in 7 Kap. 4.1 die wesentlichen Präadaptationen aufgezählt. Wir gehen davon aus, dass sie universell sind, d. h. jedem Neugeborenen in allen Kulturen zukommen: Säuglinge sind für zeitliche, sensorische und räumliche Kontingenzen empfänglich, verfügen über die Fähigkeit zum motorischen Mimikry, und auch das Saugen und das Blickabwenden kommen als Vorläuferstrategien der Emotionsregulation universell vor. Weiterhin lässt sich die Fähigkeit, Kontingenzen zwischen Anlass, Einschätzung (Appraisal) und Ausdruck aufzubauen, als universell annehmen. Und wir gehen auch davon aus, dass sich bei allen Neugeborenen die Vorläuferemotionen Distress, Ekel und Erschrecken sowie Interesse und »endogen bewirktes« Wohlbehagen (»endogeneous pleasure«) konsistent beobachten lassen (vgl. Izard 1978). Dabei dienen die ersten drei Vorläuferemotionen im Wesentlichen dazu, bedürfnisbezogene Mangelzustände bzw. Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zu signalisieren, während Interesse und Wohlbehagen dem Aufbau psychischer Repräsentationen der externen und internen Umwelt dienen (Sroufe 1996). Uns sind keine Studien bekannt, die Gegenteiliges festgestellt hätten. Jedoch gibt es zur Klärung der Frage nach der universellen Grundausstattung von Neugeboren kaum kulturvergleichende Studien.
Temperament Neben dieser universellen Ausstattung sind auch dispositionelle Emotionsbereitschaften, die unter dem Begriff »Temperament« gefasst werden (vgl.
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Kapitel 5 · Kultur und Emotionsentwicklung
Martin et al. 1994; Zentner 1998), für die Emotionsentwicklung bedeutsam. Dazu gehören: 5 die negative Reaktivität oder Emotionalität (»negative reactivity«, »negative emotionality«, »irritability«), die die Schwelle für das Auslösen von Distress bestimmt; 5 die Anpassungsfähigkeit (»adaptability«, »manageability«), die bestimmt, wie problemlos sich ein Kind wechselnden Umweltgegebenheiten anpassen kann; 5 die Annäherung/Vermeidung (»approach/ withdrawal«), die die Kontaktfreudigkeit gerade gegenüber weniger vertrauten Personen bestimmt und die man auch als Schüchernheit (»shyness«) bezeichnet. Andere Temperamentsfaktoren, wie z. B. das Aktivitätsniveau (»activity level«), die sensorische Reizschwelle (»sensory threshold«) oder die Regelmäßigkeit biologischer Funktionen (»biological rhythmicity«), sind indirekt für die Emotionsentwicklung bedeutsam, da sie an die Bezugspersonen unterschiedliche Regulationsanforderungen stellen. Unter einer kulturvergleichenden Perspektive stellt sich die Frage, ob sich in allen Kulturen die gleichen Temperamentsfaktoren finden lassen und ob sich die Ausprägungen der Temperamentsfaktoren bei den Kindern in allen Kulturen gleich verteilen.
Temperamentsfaktor »Negative Reaktivität«
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Bereits vorliegende Studien über kulturelle Unterschiede hinsichtlich des Aktivitätsniveaus und der negativen Reaktivität lassen keine eindeutigen Schlüsse zu. So fand Freedman (1974), dass europäisch-amerikanische Neugeborene eine höhere negative Reaktivität und Aktivität während unangenehmer Testprozeduren beim Brazelton-Test zeigten als japanische Neugeborene, und diese waren wiederum emotional reaktiver und aktiver als chinesische. Allerdings konnte Kosawa (1980) diese Befunde nicht replizieren. Kagan et al. (1994) berichten wiederum, dass 4 Monate alte chinesische Kinder insgesamt eine geringere negative Reaktivität (weniger Schreien, weniger Vokalisationen) bei der Konfrontation mit visuellen, auditorischen und olfaktorischen Reizen als europäisch-amerikanische Kinder zeigten. Zwei bis sechs Monate al-
te japanische Säuglinge vokalisierten und schrien weniger beim Impfen (Lewis et al. 1993) und reagierten auf das Armfesthalten erst deutlich später als europäisch-amerikanische Säuglinge des gleichen Alters (Camras et al. 1992). In nicht belastenden Interaktionssituationen zeigten amerikanische Säuglinge mehr positive Emotionen als japanische (Caudill u. Weinstein 1969; Fogel et al. 1988). Otaki, Durrett, Richards, Nyquist und Pennebaker (1986) konnten jedoch keine Unterschiede feststellen. Unklar bleibt, ob sich die gefundenen kulturellen Unterschiede darauf beziehen, dass die Reize eine andere Bedeutung und Qualität für die Säuglinge hatten, oder ob sich die Unterschiede nur auf die Art der Reaktion bezogen. So zeigte sich z. B. in der Studie von Lewis (1989), dass die japanischen Säuglinge bei einer Impfung signifikant höhere Cortisolwerte, die als Indikator für Stressbelastung herangezogen werden können, als die amerikanischen Säuglinge aufwiesen. Obwohl die negative emotionale Reaktion der japanischen Säuglinge auf der physiologischen Ebene stärker ausfiel, zeigten sie weniger mimischen und vokalen Ausdruck von Distress. Zusammengenommen sprechen die Befunde eher dafür, dass europäisch-amerikanische Säuglinge emotional reaktiver und aktiver als japanische und chinesische Säuglinge sind. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass die Bezugspersonen ebenfalls auf diese Unterschiede einwirken, sie eventuell durch ihr kulturspezifisches Interaktionsverhalten erst hervorbringen. Denn es ist die alltägliche Aufgabe der Bezugspersonen, die Emotionen ihrer Säuglinge durch ihr Eingreifen zu regulieren, und es ist bekannt, dass sich Säuglinge recht gut den von ihren Bezugspersonen gesetzten Verhaltenskontingenzen anpassen können. So berichten Dong und Pang (1995), dass asiatische Kinder durch das häufige Tragen am Körper und durch ihre spezifischen Kleidungspraktiken in ihren motorischen Bewegungen stärker beschränkt werden als amerikanische Säuglinge. Aus anderen Studien ist bekannt, dass diese Praktiken unruhige Säuglinge effektiv beruhigen können. Studien mit älteren Säuglingen weisen allerdings keine Unterschiede mehr bezüglich der negativen Reaktivität auf. Camras et al. (1998) berichten, dass sich japanische und europäisch-ameri-
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5.2 · Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
kanische Säuglinge im Alter von 11 Monaten nicht mehr in der Schnelligkeit unterschieden, mit der sie bei der Armhalteprozedur mit einem Frustrationsausdruck (promptes heftiges Schreien) reagierten.
Temperamentsfaktor »Annäherung/Vermeidung« In Bezug auf diesen Schüchternheitsfaktor lässt sich mittlerweile recht klar nachzeichnen, wie genetisch beeinflusste Verhaltensmerkmale und soziokulturelle Einflüsse miteinander interagieren und zu unterschiedlichen Entwicklungsresultaten in der sozialemotionalen Kompetenz der Kinder führen können, wie dies im Passungsmodell des Temperaments (vgl. Zentner 1998) konzeptualisiert worden ist. So gibt es auf der einen Seite starke Hinweise auf eine genetische Komponente der Schüchternheit und damit auf ihre biologische Verankerung: In einer Metaanalyse konnten Goldsmith, Buss und Lemery (1997) zeigen, dass eineiige Zwillinge sich in ihrem Annäherungsverhalten sehr ähnelten, während dies für zweieiige Zwillinge nicht der Fall war. Des Weiteren konnten Kagan und Snidman (1991a, b, s. Studienbox) in einer Längsschnittstudie die Vorläuferindikatoren dieser Temperamentseigenschaft bei Neugeborenen identifizieren, da sich bei ihnen Schüchternheit noch gar nicht beobachten lässt. Auf der anderen Seite konnten die Autoren in Längsschnittstudien nachweisen, dass Schüchternheit nur dann negative Konsequenzen für die Entwicklung der sozialemotionalen Kompetenz in Kindheit und Jugend nach sich zieht, wenn der soziale Kontext diese Kinder chronisch stresst. Diese Wechselwirkung zwischen Temperamentseigenschaften und soziokulturellem Kontext lässt sich auch im interkulturellen Vergleich an der Studie von Chen, Rubin und Li (1995) an sozial ängstlichen chinesischen Kindern illustrieren. In dieser Studie wurden 480 Kinder (2. Klasse: n=261, Altersdurchschnitt: 8 Jahre; 4. Klasse: n=219, Altersdurchschnitt: 10 Jahre) untersucht. Auch die Mütter und Lehrer wurden befragt. Es handelt sich um eine repräsentative städtische Stichprobe aus Shanghai mit Familien aus gehobenen (27%) und einfachen sozialen Schichten (Bauern und Arbeiterfa-
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Studie Die Wurzeln der Schüchternheit In der Studie von Kagan und Snidman (1991a, b) verhielten sich Kinder, die im Alter von 14 Monaten eine starke soziale Ängstlichkeit und wenig Explorationsverhalten zeigten – also als schüchtern klassifiziert werden konnten, im Alter von 4 Monaten gegenüber einer Testbatterie visueller, auditorischer und olfaktorischer Stimulation hoch reaktiv (heftiges Bewegen und Schreien). Demgegenüber zeigten die Kinder, die mit 4 Monaten wenig reaktiv waren, mit 14 Monaten auch wenig soziale Ängstlichkeit und starkes Explorationsverhalten. Diese interindividuellen Unterschiede konnten bei den untersuchten Kindern auch noch im Alter von 4 1/2 Jahren beobachtet werden, was auf ihre Stabilität über die Zeit hinweist (Kagan 1997).
milien: 73%) und einem hohen Anteil von Einzelkindern (84%). Der Begriff »Hai Xin« in Mandarin bezeichnet eine ängstliche und zögerliche Reaktion auf neue Situationen oder soziale Bewertungen und ist damit mit der Begriffsbedeutung von »Schüchternheit« in westlicher Literatur identisch. Chen et al. (1995) konnten nachweisen, dass sozial ängstliche Kinder aus China in der frühen und mittleren Kindheit eher von Gleichaltrigen akzeptiert wurden und keine Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen, während sozial ängstliche Kinder aus westlichen Kulturen weniger Akzeptanz bei Gleichaltrigen genossen und auch verhaltensauffälliger waren. Diese interkulturellen Unterschiede lassen sich durch die kulturell unterschiedlichen Erwartungen der Erzieher gegenüber den Kindern erklären (s. auch Chen et al. 1999): Die amerikanischen Erzieher erwarten selbstsicheres und kompetitives Verhalten, das für individualistische Gesellschaften charakteristisch ist. Sie zeigen sich enttäuscht über das Sozialverhalten eines verhaltensgehemmten Kindes und reagieren mit Zurückweisung und Bestrafung mit der Folge, dass das Kind in der Gleichaltrigengruppe weniger akzeptiert wird. Demgegenüber sind soziale Orientierung und zwischenmenschliche Harmonie zentrale Normen
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Kapitel 5 · Kultur und Emotionsentwicklung
der traditionellen und gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft. Individuen werden ermutigt, ihre persönlichen Bedürfnisse im Interesse der Bedürfnisse und Wünsche der Gruppe zu beschränken (Ho 1986). Die Sozialisation hat daher das Ziel, dass Kinder lernen, das Eigeninteresse zu reduzieren und gruppenorientierte Überzeugungen zu entwickeln. Kinder werden bereits ab 4 Jahren dazu angehalten, ihre Emotionen und Verhaltensweisen in diesem Sinne zu kontrollieren. Diese kollektivistischen Vorstellungen werden in der Schulzeit in der Weise vermittelt, dass Kinder an außerschulischen Gruppen teilnehmen. Dabei werden sie ermutigt zu kooperieren und harmonische Beziehungen mit Gleichaltrigen aufzubauen. Die Bewertung des individuellen Verhaltens durch Erzieher orientiert sich an den Interessen der Gruppe, wobei die Bewertungen öffentlich gemacht werden, z. B. durch Aushang an einem Schwarzen Brett. Diese Vorgehensweise fördert die Herausbildung eines Schamgefühls, das den Einzelnen dazu bringt, seine Leistung und seinen Beitrag zu verbessern, dabei aber zurückhaltend und bescheiden zu sein. In einem solchen Kontext wird sozial ängstliches und gehemmtes Verhalten als zurückhaltendes Verhalten und damit als sozial reif und kompetent bewertet. Die Kinder erfahren Zuwendung und Akzeptanz bei den Erziehern. Dies fördert die Akzeptanz in der Gleichaltrigengruppe. Darüber hinaus entstehen aufgrund der geringen Mobilitätsrate in China – die Kinder verbringen ihre gesamte Schulzeit am gleichen Ort – vertraute soziale Netze, die es den sozial ängstlichen Kindern erleichtern, erfolgreich zu interagieren. Denn soziale Ängstlichkeit bezieht sich vor allem auf den Umgang mit neuen Situationen. Chen, Rubin, Li und Li (1999) untersuchten diese Kinder nochmals nach 4 Jahren in der 6. und 8. Klasse (s. Studienbox). Die Ergebnisse dieser Studie verweisen auf die kritische Rolle der Sozialisationspartner, die in Abhängigkeit ihrer kulturell geprägten Werthaltungen und Erziehungsvorstellungen auf das gleiche Verhalten unterschiedlich reagieren, wodurch die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder sehr unterschiedliche Pfade einschlagen kann.
Studie Kulturspezifische Entwicklungspfade schüchterner Kinder In der Folgestudie erfassten Chen et al. (1999) die Selbstwahrnehmung der Kompetenz, das Selbstwertgefühl sowie auch die Beliebtheit und die soziale Position in der Gleichaltrigengruppe. Ziel der Längsschnittstudie war es, langfristige Konsequenzen von Schüchternheit in der mittleren Kindheit auf das Jugendalter zu überprüfen. Von den 480 Kindern der ersten Studie nahmen 4 Jahre später noch 162 Kinder teil. Die Kinder waren jetzt zwischen 12 und 14 Jahre alt. Neben einer Befragung der Kinder wurden auch Klassenkameraden, die Mutter und Lehrer befragt sowie weitere Kriterien (z. B. Schulleistung, Führungspositionen und Ehrenauszeichnungen für besondere Leistungen) einbezogen. Während in amerikanischen Studien sozial ängstliche Kinder als Jugendliche sozioemotionale Anpassungsprobleme, u. a. Schulversagen, negative Selbstwahrnehmung und wenig Akzeptanz bei Gleichaltrigen hatten (Rubin et al. 1993, 1995), wurden die sozial ängstlichen chinesischen Kinder auch im Jugendalter von Gleichaltrigen akzeptiert, und sie erreichten gute Leistungen sowie Führungspositionen in der Schule. Sie hatten eine positive Selbstwahrnehmung und ein positives Selbstwertgefühl, und ihre Lehrer bewerteten sie auch weiterhin als kompetent.
5.2.2 Entstehung zeichenvermittelter
Emotionssysteme Gemäß dem Internalisierungsmodell ist die Transformation der Vorläuferemotionen des Neugeborenen in zeichenvermittelte Emotionen des Kleinkindes als universell anzusehen. Damit eine solche Transformation gelingt, bedarf es jedoch der intensiven Interaktion des Säuglings mit seinen Bezugspersonen: Bezugspersonen deuten die noch ungerichteten kindlichen Ausdrucks- und Körperreaktionen auf dem Hintergrund emotionsbezogener Ethnotheorien, spiegeln sie mehr oder minder im eigenen Ausdruck in Form prägnanter Ausdruckszeichen und reagieren prompt mit mo-
5.2 · Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
tivdienlichen Bewältigungshandlungen. Wir gehen davon aus, dass das affektreflektierende Spiegeln und das stellvertretende Regulationsverhalten auf Seiten der Bezugspersonen in allen Kulturen auftreten. Allerdings ist unter Berücksichtigung der kulturspezifischen Ethnotheorien über Emotionen (7 Kap. 5.1.3) zu erwarten, dass das affektreflektierende Spiegeln selektiv auf einzelne Emotionen fokussiert und manche Reaktionen des Säuglings ignoriert oder durch elterliche Ablenkungsstrategien nicht weiter hervorgehoben werden. Je weniger die Bezugspersonen einen bestimmten Emotionsausdruck ihrer Kinder spiegeln, desto weniger kann sich für das Kind aus seiner emotionalen Reaktion ein kategorial abgrenzbarer Gefühlszustand entwickeln. Hier könnte also der Beginn einer kulturspezifischen Differenzierung für den Ausdruck und das Gefühl einzelner Emotionsqualitäten liegen. Des Weiteren ist zu erwarten, dass die Regulationsstrategien der Bezugspersonen, mit denen sie die wahrgenommenen Emotionen ihrer Kinder gemäß den kulturspezifischen Ethnotheorien zu regulieren versuchen, unterschiedlich sind. Dies könnte dazu beitragen, dass sich kulturspezifische Unterschiede auch in Häufigkeit und Intensität einzelner Emotionsqualitäten herausbilden. Zentrale Fragen für kulturvergleichende Studien sind daher, ab wann und in welchem Ausmaß Eltern unterschiedlicher Kulturen ein affektreflektierendes Spiegeln der emotionalen Ausdruckszeichen ihrer Kinder vornehmen und in welcher Weise sie die Emotionen ihrer Kinder interpersonal regulieren und zu welchen Effekten dies führt. Um diese Fragen beantworten zu können, benötigt man folgende Informationen: 1. Wie entwickeln sich in den ersten beiden Lebensjahren in den verschiedenen Kulturen die Ausdrucksreaktionen und die Regulationsstrategien der Kinder in emotional relevanten Situationen? 2. Wie reagieren die Bezugspersonen in diesen Situationen: In welchem Ausmaß spiegeln sie die Ausdruckszeichen ihrer Kinder? Welche Strategien setzen sie für die Regulation der kindlichen Emotionen ein? Inwiefern setzen sie das Kind überhaupt emotionsauslö-
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senden Situationen aus bzw. inwiefern vermeiden sie bereits im Voraus solche Situationen, indem sie antezedente Regulationsstrategien einsetzen? Es gibt u. W. bislang keine Studien, die diese Fragen systematisch untersucht haben. Allerdings lassen sich indirekte Hinweise zusammentragen, die im Folgenden im Lichte des Internalisierungsmodells interpretiert werden sollen.
Ausdruckszeichen von Ärger und Furcht bei einjährigen Kindern im Kulturvergleich Zur Frage nach kulturellen Unterschieden in den Ausdrucksreaktionen, die Kinder in den ersten beiden Lebensjahren zeigen, liefert die Studie von Camras et al. (1998) einen wichtigen Beitrag (s. Studienbox, S. 184). Unter Rückgriff auf die Emotionen und die Appelle, die durch die Ausdruckszeichen signalisiert werden (vgl. auch . Tabelle 3.2 und 3.3), lassen sich die Ergebnisse dieser Studie wie folgt interpretieren: Amerikanische Kinder zeigten in den Baselinebedingungen mehr Freude und damit Appelle der Kontaktaufnahme (»Lass uns spielen«) als die beiden anderen Gruppen. In der Armhaltebedingung, in der Ärger provoziert werden sollte, zeigten sie mehr Ärger und damit Appelle an das Gegenüber, die Zielblockade aufzugeben. Demgegenüber zeigten die japanischen Kinder mehr Traurigkeit und damit Appelle nach Hilfe und Fürsorge. In der Gorillabedingung zeigten japanische und chinesische Kinder häufiger Überraschung statt Furcht. Insgesamt produzierten chinesische Kinder die geringste Ausdrucksdauer, Ausdrucksvariabilität und Ausdruckslabilität, während es zwischen japanischen und amerikanischen Kindern diesbezüglich keine oder nur geringe Unterschiede gab. Leider fokussierte diese Studie ausschließlich auf die Reaktionen der Säuglinge. Obwohl die Mütter direkt neben dem Säugling saßen, wurde nichts darüber berichtet, inwieweit sich die Kinder den Müttern zuwandten und ihr Ausdrucksverhalten als gerichtete Appelle an ihre Bezugspersonen eingesetzt haben. Es wurde auch nicht analysiert, inwieweit die Mütter ihrerseits mit einem affektreflektierenden Spiegeln reagierten. Diese Ana-
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Kapitel 5 · Kultur und Emotionsentwicklung
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Studie
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Kulturelle Unterschiede im Emotionsausdruck von Säuglingen
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Camras et al. (1998) haben den Emotionsausdruck bei chinesischen, japanischen und amerikanischen 11 Monate alten Kindern (jeweils N=24) in zwei Situationen analysiert, die gemäß früheren Studien mit Säuglingen aus westlichen Kulturen Furcht und Ärger auslösen. Ärger sollte durch das Festhalten der kindlichen Arme und Furcht durch einen Gorillakopf ausgelöst werden, der auf einem Tisch stehend ferngesteuert auf das Kind zukrabbelte und unangenehme Töne von sich gab. Die Mütter saßen neben dem Kind, waren aber angehalten, nicht in das Geschehen einzugreifen. Es wurde ausschließlich die Mimik der Kinder analysiert, nicht aber das Verhalten der Mütter. Neben globaleren Maßen wie Lächeln und Schreien wurden auch einzelne Ausdrucksbewegungen unter Verwendung des Baby-FACS (Facial Action Coding System) analysiert. Die Kodierung erfolgte sowohl für die beiden Baseline- als auch für die Reizbedingungen. Kodiert wurden die Ausdrucksdauer (Anteil innerhalb des beobachteten Zeitraums), die Ausdrucksvariabilität (Anzahl unterschiedlicher Ausdruckskonfigurationen) und die Ausdruckslabilität (Häufigkeit der Ausdruckswechsel). Ein erster wichtiger Befund ist, dass den Kindern aus allen drei Kulturen das gleiche Ausdrucksrepertoire zur Verfügung stand: So wurden 21 von den insgesamt 22 kodierten Action Units (AU) mindestens von einem Kind in jeder Kulturgruppe gezeigt.
Sieben Action Units tauchten häufig auf und wurden weiter analysiert: 5 Lachmund (»smile mouth«): Merkmal für Freude, 5 Schreimund (»mild-to-intense cry mouth«): Merkmal für negative Emotion, 5 zusammengezogene Augenbrauen (»brow lowered«): Merkmal für Ärger, Ekel, 5 nasolabiale Furche (»nasolabial deepen«): Merkmal für Traurigkeit, 5 gehobene und zusammengezogene Augenbrauen (»brow raised and contracted«): Merkmal für Furcht, 5 gehobene Augenbrauen (»brow raised«): Merkmal für Überraschung. In den Baselinebedingungen zeigten amerikanische Kinder häufiger einen Lachmund als japanische und diese mehr als chinesische. In der Armhalteund Gorillabedingung zeigten amerikanische Kinder häufiger einen Schreimund als chinesische Kinder und häufiger zusammengezogene Augenbrauen als japanische und chinesische Kinder. Demgegenüber zeigten japanische Kinder wiederum häufiger einen Schreimund und eine nasolabiale Furche als chinesische Kinder. Keine Unterschiede ergaben sich für gehobene und zusammengezogene Augenbrauen, aber japanische und chinesische Kinder zeigten häufiger gehobene Augenbrauen als amerikanische Kinder (chinesische Kinder vor allem in der Gorillabedingung).
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lysen bleiben demnach zukünftigen kulturvergleichenden Studien vorbehalten.
Universelle Eindrucksfähigkeit von Säuglingen für das Ausdrucksverhalten ihrer Bezugspersonen Säuglinge aus unterschiedlichen Kulturen besitzen augenscheinlich die Fähigkeit, für die Ausdrucksreaktionen ihrer Bezugspersonen empfänglich zu sein. Für diese Annahme spricht eine kulturvergleichende Studie an chinesischen und kanadischen Säuglingen (Kisilevsky et al. 1998, s. Studienbox,
S. 185), bei der die kindliche Eindrucksfähigkeit mit dem sog. »Still-face-Paradigma« als experimentellem Untersuchungssetting geprüft wurde. Diese Studie ist ein erster Hinweis, dass nicht nur Säuglinge aus westlichen Kulturen für die Ausdrucksreaktionen ihrer Bezugspersonen sensibel sind.
Kulturspezifische Unterschiede im Interaktionsverhalten der Bezugspersonen Es gibt Hinweise, dass sich Bezugspersonen aus asiatischen und westlichen Kulturen im Ausmaß ihres
5.2 · Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
Studie Die kulturübergreifende Wirkung des Still-face-Paradigmas Das Setting des Still-face-Paradigmas besteht aus drei Phasen (s. Weinberg u. Tronick 1996): 1. Face-to-face-Interaktion: Die Mutter beschäftigt sich mit ihrem Säugling in direkter Interaktion von Angesicht zu Angesicht. 2. Still-face-Interaktion: Nach ca. 2–3 Minuten setzt die Mutter einen neutralen Emotionsausdruck in Mimik und Stimme auf, so dass sie nicht mehr prompt und feinfühlig auf die kindlichen Ausdruckszeichen reagiert. In zahllosen Studien in westlichen Kulturen zeigte sich, dass dieses Verhalten der Mutter bei über drei Monate alten Säuglingen motorische Unruhe und negative Ausdruckszeichen auslöst, die darauf gerichtet sind, die Mutter wieder zu einem responsiven Interaktionsverhalten zu bewegen. Da die Mutter laut Versuchsinstruktion auch diese kindlichen Appelle ignorieren soll, führt dies schließlich zu erhöhter Blickabwendung von der Mutter. 3. Erneute Face-to-face-Interaktion: Die Mutter kehrt zu einem responsiven Interaktionsverhalten zurück. Die Säuglinge reagieren dann einerseits mit Ausdruckszeichen von Freude (Lächeln und positive Vokalisationen), aber auch noch weiterhin mit negativen Ausdruckszeichen. Ihr Verhalten in der zweiten und dritten Phase zeigt, dass die Säuglinge die Veränderung im Ausdruck ihrer Mütter registrieren und mit entsprechenden Ausdruckszeichen zu beeinflussen suchen. Dieser »Still-face-Effekt« konnte in der kulturvergleichenden Studie von Kisilevsky et al. (1998) sowohl bei den sechs Monate alten kanadischen als auch chinesischen Kindern durch das beschriebene mütterliche Interaktionsverhalten induziert werden.
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affektreflektierenden Spiegelns in der Weise unterscheiden, dass chinesische und japanische Mütter den emotionalen Ausdruck bei ihren Säuglingen eher wenig zu spiegeln und zu bestärken scheinen: So scheint z. B. amerikanischen Müttern chinesischer Herkunft der Freudeausdruck ihrer Kinder nicht so wichtig zu sein, so dass sie ihre Kinder auch nicht darin bestärken, ihn zu zeigen, indem sie den kindlichen Freudeausdruck im eigenen Ausdruck spiegeln (Kagan et al. 1978). Es gibt auch Hinweise, dass sich Bezugspersonen aus asiatischen und westlichen Kulturen in ihren Regulationsstrategien unterscheiden, mit denen sie insbesondere negative Emotionen ihrer Kinder zu regulieren versuchen. Dies scheint auch die Häufigkeit, mit der ihre Kinder negative Emotionen zeigen, zu beeinflussen. Wie aus Selbstberichten japanischer Mütter hervorgeht, reagieren diese stärker auf negative Emotionen ihrer Kinder als auf positive Emotionen. Sie würden ihrem Kind gegenüber selten Ärgerausdruck zeigen und versuchen, kindliches Weinen und Schreien möglichst zu verhindern (Doi 1973; Lebra 1976; Miyake et al. 1986). Mit diesen Präferenzen korrespondieren Befunde aus einer Fragebogenstudie von Rothbaum und Morelli (2005) an japanischen und US-amerikanischen Müttern (s. Studienbox, S. 186). Zu der proaktiven Sensitivität japanischer Mütter, die negative kindliche Reaktionen möglichst zu vermeiden versuchen, passt auch, dass sie das Verhalten ihrer Kinder weniger auf externe Umgebungsstimuli orientieren (Bornstein et al. 1992). Sie führen auch weniger Veränderungen und neue Reize in die Interaktion mit ihrem Kind ein und sie versuchen auch die Aufmerksamkeit ihres Kindes weniger zu manipulieren als amerikanische Mütter (Kuchner 1989; zit. n. Camras et al. 1998). Diese Befunde lassen sich dahingehend interpretieren, dass japanische Mütter Anlässe vermeiden, die ihre Kinder überstimulieren und damit negative Emotionen hervorrufen könnten. Sie schaffen damit aber auch weniger Anlässe, bei denen ihre Kinder neue Effekte entdecken und aktiv herbeiführen können, was positive Emotionen auslösen und ihre Selbstständigkeit und intrapersonale Regulation fördern würde. Diese Unterschiede könnten zur Folge haben, dass japanische Säuglinge insgesamt weniger Emo-
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Kapitel 5 · Kultur und Emotionsentwicklung
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Studie
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Proaktive vs. reaktive Sensitivität im Kulturvergleich
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In der Studie von Rothbaum und Morelli (2005) wurde u. a. nach dem Zeitpunkt gefragt, ab dem die Mütter eingreifen würden, um die Emotionen ihrer Kinder zu regulieren: Im Unterschied zu USamerikanischen Müttern versuchten japanische Mütter in stärkerem Maße, dass ihre Kinder erst gar keine negativen Emotionsepisoden durchleben; entsprechend intervenierten sie bereits proaktiv im Vorfeld möglicher negativer Emotionsepisoden. Ein solches Interaktionsverhalten wird »proaktive Sensitivität« genannt (vgl. auch Trommsdorff u. Friedlmeier 1993). Demgegenüber herrscht bei Müttern aus westlichen Ländern eine reaktive Sensitivität vor, bei der Mütter erst dann regulierend eingreifen, wenn das Kind schon eine negative Emotion erlebt. Die meisten der befragten Mütter in beiden Kulturen (79% resp. 90%) stimmten darin überein, dass eine proaktive Sensitivität akkomodative Verhaltenweisen (z. B. Empathie, Zustimmung) stärker fördern würde als individualistische Verhaltensweisen (z. B. Exploration, Selbstständigkeit, Selbstbehauptung), während dies bei reaktiver Sensitivität umgekehrt sei (93% resp. 100%).
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tionsanlässen – negativen, aber auch positiven – ausgesetzt sind als amerikanische Säuglinge und sie auch weniger Erfahrungen im Umgang mit neuen Objekten haben. Dies könnte erklären, dass japanische Säuglinge auf den Gorillakopf in der Studie von Camras et al. (1998), der eigentlich Furcht einflößen sollte, mit einem Ausdruck reagiert haben, der auf Überraschung hindeutet (s. o.). Ein Überraschungsausdruck signalisiert, dass man mit dem Explorieren eines zwar ungewöhnlichen Objekts beschäftigt ist, das aber noch nicht als bedrohlich eingeschätzt wird. Demgegenüber reagierten die amerikanischen Säuglinge bereits mit einem Furchtausdruck, weil sie den Gorillakopf bereits als Bedrohung wahrnahmen. Eine interkulturelle Längsschnittstudie könnte klären, ob zum einen sowohl japanische als auch amerikanische Kinder auf solche ungewöhnlichen
Objekte zunächst mit Überraschung und dann mit Furcht reagieren und ob zum anderen diese ontogenetische Abfolge in Japan zeitlich später auftritt als in den USA. Des Weiteren könnte man in solchen Studien prüfen, inwiefern japanische Mütter mehr proaktive Sensitivität zeigen und diese in der Folge zu weniger negativen Emotionen auf Seiten ihrer Kinder führt. Im Unterschied dazu müssten Mütter aus westlichen Kulturen mehr reaktive Sensitivität zeigen mit der Folge, dass ihre Kinder mehr negative Emotionen erleben müssten.
5.2.3 Entstehung der intrapersonalen
emotionalen Regulation Beim Übergang von einer interpersonalen zu einer intrapersonalen Regulation haben Kinder im Wesentlichen zwei Entwicklungsaufgaben zu bewältigen: Zum einen sollen sie lernen, die motivdienlichen Handlungen selbstständig auszuführen. Zum anderen sollen sie lernen, ihre Emotionen und die durch sie angestoßenen Handlungen aus der Perspektive ihrer Mitmenschen zu betrachten und die Befriedigung ihrer Motive mit den Motiven der anderen zu koordinieren. Diese Anforderungen sind nach dem Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung universelle Entwicklungsaufgaben dieser Phase, die sich somit Kindern aller Kulturen stellen. Kulturspezifische Unterschiede dürften dann zu Tage treten, wenn man fragt, wie stark sich die Motive der Kinder individualisieren dürfen und welche Konsequenzen das für die emotionale Regulation von Handlungen nach sich zieht. Hier dürften sich deutliche kulturelle Unterschiede zwischen kollektivistisch und individualistisch orientierten Kulturen ergeben, wie sie bereits in 7 Abschn. 5.1.3 bei der Beschreibung der emotionsbezogenen Ethnotheorien in diesen Kulturen angesprochen worden sind. Im Internalisierungsmodell werden drei Aspekte thematisiert, in denen sich kulturspezifische Unterschiede zeigen können: 1. Zu welchem Alterszeitpunkt erlernen Kinder unterschiedlicher Kulturen motivdienliche Handlungen selbstständig auszuführen und welche sind dies? Wie stark ist die soziale Kooperation in den einzelnen Kulturen über-
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5.2 · Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
haupt darauf angelegt, dass ihre Mitglieder die motivdienlichen Handlungen selbstständig ausführen? 2. Welche Rolle spielen die selbstbewertenden Emotionen Stolz, Scham und Schuld bei der Ausrichtung der kindlichen Motive und Handlungen auf die Werte und Normen der jeweiligen Kultur? So zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen kollektivistischen und individualistischen Kulturen in der Häufigkeit und Thematisierung von Scham bei Erwachsenen. Dabei ist unklar, ob Schamepisoden in individualistischen Kulturen nur weniger öffentlich sichtbar sind (vgl. Scheff 1988) als in kollektivistischen oder tatsächlich weniger vorkommen. Es gibt aber keine systematischen kulturvergleichenden Studien darüber, wie diese Emotionen im Kindesalter sozialisiert werden und welche Erziehungspraktiken dabei zur Anwendung kommen. Hier könnten interkulturelle Längsschnittstudien wichtige Erkenntnisse zu Tage fördern. 3. Welche Emotionsregulationsstrategien werden in den unterschiedlichen Kulturen präferiert und zu welchem Alterszeitpunkt werden sie erlernt? Für eine intrapersonale Regulation ist es auch erforderlich, emotionsbezogene Regulationsstrategien zu beherrschen, um in Emotionsepisoden, in denen die Motivbefriedigung blockiert wird, die eigenen negativen Emotionen kontrollieren und neutralisieren zu können. Inwiefern Kinder einen kulturspezifisch angemessenen Umgang mit frustrierenden Ereignissen lernen, ist bislang in interkulturellen Studien nur unsystematisch untersucht worden.
Eigene Studien zu interkulturellen Unterschieden in der Emotionsregulation Wir haben uns in eigenen kulturvergleichenden Beobachtungsstudien auf diesen Themenkomplex konzentriert und sind der Frage nachgegangen, inwiefern Kinder und Mütter auf frustrierende Ereignisse, die entweder dem Kind oder einem Spielpartner des Kindes zustoßen, in kulturspezifischer Weise reagieren und wie sich diese möglichen Unterschiede entwickeln (vgl. Friedlmeier 2003, 2005a; Friedlmeier u. Trommsdorff 1999; Trommsdorff
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1995; Trommsdorff u. Friedlmeier 1999). Es wurden zwei- und fünfjährige deutsche und japanische Mädchen und ihre Mütter untersucht (s. folgende Studienbox, S. 190–195). Im Einzelnen sind wir folgenden Fragen nachgegangen: 1. Lassen sich bei japanischen und deutschen Kindern mit zunehmendem Alter kulturspezifische Unterschiede in ihren Reaktionen auf frustrierende Ereignisse beobachten? 2. Zeigen japanische und deutsche Mütter kulturspezifische Präferenzen in den Emotionsregulationsstrategien (problem- vs. emotionsbezogene), die sie in Frustrationssituationen ihrem Kind gegenüber einsetzen? 3. Zeigen sich bei Kindern kulturspezifische Unterschiede in der Entwicklung von Empathie in solchen Situationen, in denen eine Spielpartnerin des Kindes eine Frustration erlebt? 4. Setzt die Entwicklung zur selbstständigen Ausführung von motivdienlichen Handlungen in den beiden Kulturen zu verschiedenen Alterszeitpunkten ein?
Hypothesengenerierung Zu diesen Fragen lassen sich unter Rückgriff auf die in 7 Abschn. 5.1.3 beschriebenen emotionsbezogenen Ethnotheorien und kulturspezifischen Werthaltungen Hypothesen formulieren, in welcher Weise sich kulturspezifische Unterschiede zwischen den japanischen und deutschen MutterKind-Dyaden beobachten lassen müssten.
Individualistische Kultur Wenn es in einer Kultur erwünscht ist, dass ihre Mitglieder ihren eigenen persönlichen Wünschen und Motiven nachgehen können und auch sollen, wie dies in der deutschen Kultur als Beispiel einer individualistischen Kultur der Fall ist, dann ist es sinnvoll und notwendig, wenn Kinder u. a. folgende Fähigkeiten ausbilden: 1. Präzise Gefühlswahrnehmung auch von Ärger:
Kinder sollten lernen, ihre Emotionen vergleichsweise präzise als subjektive Gefühle wahrzunehmen, die anzeigen, inwiefern die situativen Gegebenheiten ihre Motive befriedigen. Dazu gehört auch die Ausbildung von Ärger als einer Emotion, bei der eingeschätzt wird, inwiefern andere Personen die Befriedigung der
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Kapitel 5 · Kultur und Emotionsentwicklung
eigenen Motive behindern und dies womöglich absichtlich. Die zum Ärger gehörigen Ausdruckszeichen dienen im Wesentlichen dazu, dem anderen zu drohen, um ihm von seiner Zielblockade abzubringen. Die Ausbildung von Ärgerreaktionen ist demnach funktional und auch sozial akzeptiert – soweit die Person damit ungerechtfertigte Zielblockaden anderer Personen abwehren kann und der Ausdruck angemessen bleibt. 2. Problembezogene Bewältigungshandlungen lernen: Kinder sollten insbesondere problembe-
zogene Bewältigungshandlungen (bzw. primäre Kontrollstrategien) lernen. Mit ihnen versucht eine Person, ihr sächliches und soziales Umfeld so zu beeinflussen, dass ihre individuellen Motive befriedigt werden können.
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3. Emotionsbezogene Bewältigungshandlungen lernen: Darüber hinaus sollten Kinder auch
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emotionsbezogene Bewältigungshandlungen lernen, um ihre negativen Emotionen in den Fällen abschwächen zu können, in denen sich die durch diese Emotionen signalisierten Motive nicht befriedigen lassen. 4. Empathie erlernen: Für die geforderte soziale Koordination der eigenen Motive sollten Kinder auch fähig werden, Empathie (»sympathy«) zu empfinden, d. h. die Emotionen einer anderen Person nachempfinden können (vgl. Eisenberg 1986; Friedlmeier 1993). Eine Vorläuferfähigkeit der Empathie ist die Gefühlsansteckung (»emotional contagion«): Säuglinge lassen sich vom Emotionsausdruck einer anderen Person in der Weise anstecken, dass sie in den gleichen Emotionszustand fallen, den der Interaktionspartner ausdrückt (vgl. Hoffman 1982, 2000). Ein Säugling, der das Missgeschick eines Interaktionspartners und dessen Frustrationsreaktion miterlebt, lässt sich von dessen Frustration anstecken und beginnt mit Distress zu reagieren. Eine Reaktion mit Empathie statt mit ausschließlicher Gefühlsansteckung setzt die Entwicklung eines globalen Selbstkonzepts voraus, das eine bewusste Selbst-Andere-Differenzierung erlaubt. Dies entwickelt sich im Alter von 18–24 Monaten (Bischof-Köhler 1989). Sie fördert im Fall einer misslichen Lage des Gegenübers eher prosoziales Verhalten, während Distressreakti-
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onen prosoziales Verhalten in der Kindheit eher hemmen (Friedlmeier 1993; 2003; Trommsdorff 1995; Trommsdorff u. Friedlmeier 1999).
Kollektivistische Kultur Wenn es in einer Kultur allerdings erwünscht ist, dass ihre Mitglieder dem Wohl der sozialen Bezugsgruppe und der Befriedigung der gemeinschaftlich geteilten Wünsche und Motive nachgehen sollen, wie dies in der japanischen Kultur als Beispiel für eine kollektivistisch orientierte Kultur der Fall ist, dann ist es sinnvoll und notwendig, wenn Kinder u. a. folgende Fähigkeiten ausbilden: 1. Ärger kontrollieren: Sie sollten in den Fällen, in denen Mitglieder ihrer sozialen Bezugsgruppe die Befriedigung ihrer Motive blockieren, nicht mit Ärger reagieren oder zumindest ihren Ärger relativ schnell dämpfen können, da diese Emotion in ihrem Ausdruck konfrontierend wirkt und damit die Harmonie der Bezugsgruppe stört. Erlaubt wären solche negativen Emotionen, die die Situation weniger konfrontativ einschätzen wie z. B. Frustration oder Distress. Bei Frustration würde die Situation so eingeschätzt, dass ein Hindernis in der Zielerreichung aufgetreten und damit die eigene Motivbefriedigung blockiert ist, dass dies aber nicht absichtlich durch eine andere Person verursacht wurde. Entsprechend ist der aktivierende Handlungsimpuls nicht auf eine andere Person gerichtet. Bei Distress würde man die Situation noch unspezifischer einschätzen und nur feststellen, dass im Moment ein Motiv nicht befriedigt wird, und der Handlungsimpuls wäre ein unspezifischer Appell nach Beistand und Hilfe. 2. Problembezogene Bewältigungshandlungen lernen: Kinder sollten problembezogene Bewäl-
tigungshandlungen erlernen, um ihre Motive auch selbstständig befriedigen zu können. Allerdings ist es in einer kollektivistisch orientierten Kultur nicht vordringlich, dass Kinder eine solche Selbstständigkeit möglichst früh erlernen. Daher ist anzunehmen, dass Kinder aus einer solchen Kultur den Übergang zu einer intrapersonalen Regulation zu einem späteren Alterszeitpunkt lernen als Kinder aus einer individualistisch orientierten Kultur.
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5.2 · Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
3. Insbesondere emotionsbezogene Bewältigungshandlungen lernen: Da in einer kollektivistisch
orientierten Kultur die Passung zwischen individuellen und gemeinschaftlich geteilten Wünschen und Motiven so bedeutsam ist, sollten Kinder lernen, besonders diejenigen Emotionen, die mit diesen sozialen Anforderungen nicht kompatibel sind, abschwächen oder ganz neutralisieren zu können. Das erfordert in viel stärkerem Maße das Erlernen von emotionsbezogenen Regulationsstrategien (bzw. sekundären Kontrollstrategien), insbesondere solchen, die die Qualität einer Emotion verändern können, wie z. B. Ablenkungs- und Umdeutungsstrategien. 4. Empathie erlernen: Gerade in kollektivistisch orientierten Kulturen müsste die Entwicklung von Empathie einen hohen Stellenwert einnehmen, da Empathie eine Person für die Emotionen der anderen sensibilisiert und entsprechende Hilfehandlungen induziert. Entsprechend dieser Annahme sollte man meinen, dass Kinder aus solchen Kulturen möglichst früh empathische Reaktionen lernen würden. Dem steht allerdings entgegen, dass eine empathische Reaktion bereits ein gewisses Maß an selbstreguliertem Handeln im Umgang mit negativen Emotionsepisoden erfordert. Die enge Mutter-Kind-Beziehung bei japanischen Dyaden schirmt die Kinder aber von der Erfahrung negativer Emotionen weitgehend ab und fordert erst relativ spät eine intrapersonale Regulation. Daher ist anzunehmen, dass japanische Kinder erst zu einem späteren Alterszeitpunkt fähig werden, auf den Distress einer anderen Person empathische Reaktionen zu zeigen.
Hypothesen zur Emotionsentwicklung im interkulturellen Vergleich Aus den Ausführungen lassen sich die folgenden Hypothesen ableiten: 1. Japanische Kinder reagieren in einer Frustrationssituation mit zunehmendem Alter mit einem schwächeren negativen Emotionsausdruck, während der Emotionsausdruck bei deutschen Kindern mit dem Alter nicht abnimmt.
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2. Japanische Mütter setzen gegenüber ihren Kindern in einer Frustrationssituation vor allem emotionsbezogene Regulationsstrategien ein, während bei deutschen Müttern die problembezogenen Regulationsstrategien dominieren. 3. Japanische Kinder reagieren auf die negative emotionale Reaktion einer Spielpartnerin mit stärkerem Distress als deutsche Kinder. Empathische Reaktionen zeigen japanische Kinder erst zu einem späteren Alterszeitpunkt als deutsche Kinder. Die Methodik und Ergebnisse der Studien sind in der Studienbox (S. 190–195) ausführlich beschrieben.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Angesichts der wenigen Studien, die den Übergang von einer inter- zu einer intrapersonalen Regulation untersucht haben, bleiben übergreifende Überlegungen und Interpretationen noch sehr spekulativ und erfordern eine empirische Überprüfung durch weitere kulturvergleichende Studien. Dennoch geben die in der Studienbox bechriebenen Studien einen ersten Einblick in kulturspezifische Prozesse. So sind die in den Beobachtungsstudien aufgedeckten Verhaltensweisen der Kinder und Mütter offensichtlich kulturspezifisch adaptiv: Im Prozess der interpersonalen Emotionsregulation findet eine kulturspezifische Ausformung der Emotionen statt.
Regulationsmuster in einer individualistischen Kultur In einem individualistisch orientierten Kulturkontext wie in Deutschland sind die Bezugspersonen – also in erster Linie die Mütter – darauf eingestellt, dass sie und ihr Kind eigenständig und autonom sind, wobei sie durchaus unterstützend in die Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes eingreifen. Ein offener negativer Emotionsausdruck von Kindern wird als ein Zeichen für die Authentizität der Gefühle und die Güte der Beziehung angesehen, dass nämlich die Beziehung so gut ist, dass auch negative Gefühle gezeigt werden dürfen (s. Trommsdorff u. Friedlmeier 1999). Daher wird in Deutschland ein lebhafter Emotionsausdruck bei Enttäuschung oder Frustration eher gefördert. In emotional belastenden Situationen des
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Kapitel 5 · Kultur und Emotionsentwicklung
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Studie
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Die Entwicklung der Emotionsregulation im Kulturvergleich
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In unseren Studien (vgl. Friedlmeier 2003, 2005a; Friedlmeier u. Trommsdorff 1999; Trommsdorff 1995; Trommsdorff u. Friedlmeier 1999) wurden insgesamt 90 zwei- und fünfjährige deutsche und japanische Mädchen und deren Mütter untersucht. Aufgrund des umfangreichen Beobachtungsdesigns konnte keine große Stichprobe erhoben werden. Da Geschlechtsunterschiede zu erwarten waren, wurde das Geschlecht konstant gehalten und nur Mädchen berücksichtigt. Sie wurden in zwei Situationen – Erleben eigener Frustration und Miterleben der Frustration einer Spielpartnerin – beobachtet. Dabei wurden die emotionalen Reaktionen der Kinder, ihre Regulationsstrategien sowie die Regulationsstrategien ihrer Mütter kodiert. Unabhängige Variablen waren 1. die kulturelle Gruppe (deutsch und japanisch), 2. das Alter der Kinder (zwei- und fünfjährige Mädchen), 3. die Art des Frustrationsereignisses (selbst erlebte Frustration vs. miterlebte Frustration einer Spielpartnerin) und 4. die Sensitivität der Mütter in der Situation, in der das Kind Frustration erlebte.
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Mütterliche Sensitivität kann als universelles Merkmal angesehen werden, das angibt, wie präzise eine Bezugsperson die kindlichen Ausdrucksappelle wahrnimmt und wie angemessen sie darauf reagiert (7 Abschn. 4.2.4). Es ist anzunehmen, dass je sensitiver eine Bezugsperson ist, sie desto erfolgreicher ihr Kind regulieren kann. Daher sollten gerade bei Kindern sensitiver Mütter die unterschiedlichen kulturell adaptiven Reaktionsmuster besonders deutlich zum Ausdruck kommen.
Frustrationssituation. Bei der Frustrationssituation spielten die Zweijährigen mit einem Puppenhaus, das plötzlich von einer fremden Versuchsleiterin weggenommen wurde. Die Fünfjährigen sollten ein Bild in einer vorgegebenen Zeit zusammenkleben, und eine fremde Versuchsleiterin nahm vorzeitig das noch unfertige Bild mit. In beiden Fällen
war eine andere Person die Ursache der Zielblockade, so dass die Voraussetzungen für eine Ärgerreaktion vorlagen. Nach zwei Minuten kam die Versuchsleiterin wieder und gab das Puppenhaus bzw. das Bild zurück, und zwar mit einer Entschuldigung, dass es sich um ein Versehen gehandelt habe. Als abhängige Variablen wurden erhoben: 1. Verlauf der Ausdrucksintensität: Die Ausdrucksintensität wurde anhand von Mimik, Gestik und Körperhaltung jeweils in einem Zeitintervall von 10 Sekunden auf einer 6-stufigen Skala von 1 (kein negativer Ausdruck) bis 6 (sehr starker negativer Ausdruck) kodiert. Die Ausdrucksintensität wurde an vier Zeitpunkten gemessen und ihr Verlauf analysiert: a. Baseline – vor dem frustrierenden Ereignis, b. unmittelbar nach dem frustrierenden Ereignis, c. nach ca. einer Minute und d. nach ca. zwei Minuten (unmittelbar vor der Rückkehr der Versuchsleiterin). . Interpersonale Regulationsstrategien der Mutter: Als emotionsbezogene Strategien wurden gewertet: a. Beruhigen in Form eines beschwichtigenden Lächelns, b. Ablenken z. B. durch Aufforderung zu einem anderen Spiel und c. Umdeuten als verbale Kommentare, um die Frustration zu reduzieren. Als problembezogene Strategie wurde nur eine Kategorie kodiert: Erklärungen, die sich auf das emotionale Ereignis bezogen, oder Äußerungen, die sich auf den emotionalen Zustand des Kindes richteten. Die Strategien wurden dichotom kodiert (0 – tritt nicht auf; 1 – tritt auf ). 3. Sensitivität der Mutter: Die mütterliche Wärme und Responsivität wurden jeweils auf einer 6stufigen Skala bewertet, und »Sensitivität« wurde als aggregiertes Maß verwendet, da die beiden Teilskalen in allen vier Gruppen hoch korrelierten. Anhand eines kultur- und altersgruppenspezifischen Mediansplits wurde für jede Gruppe zwischen weniger sensitiven und sensitiven Müttern unterschieden. 6
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5.2 · Emotionsentwicklung im kulturellen Kontext
Negative Ausdrucksintensität
Empathiesituation. Die Mädchen erlebten ein Missgeschick und den dadurch ausgelösten Trauerausdruck einer vertrauten erwachsenen Spielpartnerin in einer Spielsituation. Als kultur- und altersangemessene Auslöser von Empathie bzw. Distress riss bei den Zweijährigen ein Arm des Teddybärs ab, als die Spielpartnerin ihn zum Baden ausziehen wollte. Bei den Fünfährigen platzte das Luftballonmännchen der Spielpartnerin, das sie für sich parallel zu einem Luftballonmännchen für das Kind gebastelt hatte. Bei den Zweijährigen waren die Mütter anwesend, aber angewiesen, sich passiv zu verhalten. Bei den Fünfjährigen war die Mutter nicht anwesend. Als abhängige Variablen wurden erhoben: 1. Die Intensität des Distress- und Empathieausdrucks wurde jeweils auf einer 6-stufigen Skala von 1 (keine Ausdrucksmerkmale vorhanden) bis 6 (sehr deutliche Ausdrucksmerkmale) kodiert. Die mimischen und gestischen Merkmale wurden in Anlehnung an Eisenberg et al. (1988) festgelegt. 2. Regulationsstrategien der Zweijährigen: Da bei dieser Altersgruppe die Mütter anwesend und zugleich angehalten waren, sich passiv zu verhalten, wurde für diese Altersgruppe die Regulationsstrategie des Kindes kodiert. Dabei wurden drei Formen der Regulation unterschieden:
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a. sucht physische Nähe zur Mutter, b. Blickkontakt zur Mutter ohne Annäherung (»social referencing«) und c. keine Kontaktaufnahme zur Mutter. Die ersten beiden sind interpersonale, die letzte eine intrapersonale Strategie.
Ergebnisse zum Emotionsausdruck in der Frustrationssituation Für das Ausmaß der Ausdrucksintensität unmittelbar nach dem Ereignis zeigten sich ein signifikanter Alterseffekt, F(1, 821)=8.70, p