Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf
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Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf
Christina Holtz-Bacha (Hrsg.)
Die Massenmedien im Wahlkampf Das Wahljahr 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Barbara Emig-Roller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Jacob Leidenberger, Paris Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17414-3
Inhalt
Christina Holtz-Bacha Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? ...................................... 7 Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl oder doch eine europäische Kampagne ? ................................................. 22 Harald Schoen Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009. Eine Analyse auf der Basis einer Onlinebefragung ................................. 42 Eva-Maria Lessinger & Christina Holtz-Bacha "Wir haben mehr zu bieten". Die Plakatkampagnen zu Europa- und Bundestagswahl ..................................................................... 67 Melanie Leidecker Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf – effektiv oder riskant? Ein Experiment aus Anlass der SPD-Europawahlplakate 2009 ......... 117 Christina Holtz-Bacha & Eva-Maria Lessinger Auge in Auge mit Kandidatinnen und Kandidaten. Emotionale Reaktionen auf Politikerplakate .......................................... 140 Christina Holtz-Bacha Politik häppchenweise. Die Fernsehwahlwerbung der Parteien zur Europa- und Bundestagswahl ............................................................ 166
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Inhalt
Eva Schweitzer Normalisierung 2.0. Die Online-Wahlkämpfe deutscher Parteien zu den Bundestagswahlen 2002-2009 ...................................................... 189 Reimar Zeh Wie viele Fans hat Angela Merkel? Wahlkampf in Social Network Sites ........................................................ 245 Jörg-Uwe Nieland "Unterhaltend, nicht repräsentativ" – die Bundestagswahl 2009 als Politshow auf Pro7 ............................................................................... 258 Christoph Tapper & Thorsten Quandt "Ich beantworte die Fragen so, wie ich mir das vorgenommen habe...". Eine dialoganalytische Untersuchung der Fernseh-Duelle im Wahlkampf 2009 ................................................................................... 283 Winfried Schulz & Reimar Zeh Die Protagonisten in der Fernseharena. Merkel und Steinmeier in der Berichterstattung über den Wahlkampf 2009 ............................. 313 Jürgen Wilke & Melanie Leidecker Ein Wahlkampf, der keiner war? Die Presseberichterstattung zur Bundestagswahl 2009 im Langzeitvergleich .................................... 339 Autorinnen und Autoren ........................................................................... 373
Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? Christina Holtz-Bacha
Wo bitte geht's hier zum Wahlkampf? Diese Frage steckte in den vielen Klagen über die Langeweile des Bundestagswahlkampfes 2009. Vor einer Europawahl sind die Erwartungen an das Engagement der Parteien ohnehin nicht allzu groß, aber vor einer Bundestagswahl soll dann doch etwas los sein. Von "Kuschel-Kampagne" war die Rede (Reißmann, 2009), von Wahlkampf im "Stand-by-Modus" (Wittrock, 2009). Sogar die ausländische Presse nannte die Kampagne "zutiefst uninspiriert" (zitiert in: Wergin, 2009), "schläfrig", "langweilig" und die Kanzlerkandidaten "harmoniesüchtig" und "hölzern" (alle zitiert in: Friedrichs, 2009), schließlich auf die Spitze gebracht mit: "Yes, we gähn!" (So zerreißen..., 2009; Yes, we gähn!, 2009). Dass schließlich die Tigerente – ein possierliches Holztier mit Rollen, das andere Janosch-Tiere am Faden hinter sich her ziehen – im Bundestagswahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol eines Wahlkampfes sein, von dem offenbar viele den Eindruck hatten, dass er kaum einer war. Kein Parteitag mit Krönungsmesse. Kein Kanzlerkandidat, der öffentlich die Liebe zu seiner Frau beschwor. Das Fernsehduell eher ein Duett. Harmonie statt "Ich oder der". Was wir von Europawahlkampagnen schon kennen, dass nämlich eine unauffällige Vorstellung von Seiten der politischen Akteure bei den Medien nur wenig Resonanz zu erzielen vermag, zeigte sich nun auch beim Bundestagswahlkampf. In den Medien spiegelte sich die Unzufriedenheit mit einem Wahlkampf, dem die notwendigen Spannungsmomente fehlten. In der Qualitätspresse gab es 2009 nur halb so viele Beiträge zu den Kanzlerkandidaten wie 2002 und 2005 (vgl. Wilke & Leidecker, in diesem Band), und in den Fernsehnachrichten hatten Beiträge mit Bezug zur Bundestagswahl einen so geringen Anteil an der Berichterstattung über deutsche Politik wie seit 1990 nicht mehr (vgl. Schulz & Zeh, in diesem Band). In einem solchen Umfeld greifen die Medien dankbar auf, was ein bisschen Farbe in die beklagte Langeweile zu bringen verspricht.
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Hatte es in anderen Wahljahren Klagen über die allzu offensichtlichen Inszenierungen im Dienste des Stimmenfangs gegeben (vgl. Langenbucher, 1983), schien es, als fühlten sich Medien und Wählerschaft 2009 um einen anständigen Wahlkampf betrogen. Offenbar hat man sich nicht nur daran gewöhnt und betrachtet womöglich sogar mit einem gewissen Amüsement, dass im Wahlkampf alles nur Theater ist, sondern es wird geradezu erwartet, dass die Politikerinnen und Politiker auch etwas tun für die Wählerstimme: "Wer allzusehr über Langeweile klagt, muss sich fragen, ob er nicht in Wahrheit auf unterhaltsam-betrügerische Weise genasführt und belogen werden will." (Prantl, 2009). Dabei waren die Erwartungen an das Wahljahr 2009 groß gewesen. 2008 hatte die Kampagne von Barack Obama im US-Präsidentschaftswahlkampf Furore gemacht. Hierzulande verfestigte sich der Eindruck, Obama hätte seinen Erfolg vor allem dem Einsatz der so genannten neuen Medien und insbesondere des Web 2.0 und der social networks zu verdanken. "In den USA wirkt das Web bereits wahlentscheidend", vermeldete Spiegel online, nur um dann sogleich enttäuscht festzustellen: "In Deutschland ist die Politik noch nicht so weit" (pat/dpa). Allenthalben hatte man sich mehr erhofft vom neuartigen Netzwahlkampf. Auf der Kommunikationsplattform politikdigital zog Gievert (2009) Bilanz zum Webwahlkampf und befand: "[…], so mitreißend oder innovativ wie Barack Obamas Kampagne war er nicht". In der FAZ kam Tomik (2009) zu einem ähnlichen Befund: "CDU, SPD, Grüne, FDP und Linkspartei tun es ihm [Obama] nun nach – wenn auch gemächlicher und in geringerem Umfang". Die Verdrossenheit der Beobachter über den Online-Wahlkampf in Deutschland spiegelt zum einen, dass die Obama-Kampagne, deren Einsatz von Internet und social networks und erst recht die Wirksamkeit des online geführten Wahlkampfes geradezu zu einem Mythos geworden sind; zum anderen wird damit deutlich, dass sich die Überzeugung festgesetzt hat, die Art und Weise, wie in den USA Wahlkampf betrieben wird, müsse ein Vorbild für andere Länder sein und sei auch ohne weiteres zu übertragen. Seit Jahrzehnten schon ist in Deutschland die Rede von einer 'Amerikanisierung' der Wahlkämpfe (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 103), und in jedem Wahljahr finden die deutschen Medien erneut Anlass für die Frage, ob und wie weit sich die Kampagnen dem Beispiel der USA annähern würden. Umso größer war die Enttäuschung, als das Wahljahr 2009 nicht hielt, was sich viele davon versprochen hatten, und die
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Wahlkämpfe(r) allen Trends, die man in den letzten Jahren erkannt zu haben meinte, zu widersprechen schienen. Professionalisierung Amerikanisierung, Modernisierung, Professionalisierung – diese Schlagwörter beherrschten die Diskussion über die Entwicklung von Wahlkämpfen der letzten Jahre. Wenn es um die Organisation von Wahlkämpfen geht, hat sich insbesondere 'Amerikanisierung' als der Begriff hervorgetan, der vermutlich aufgrund seiner Assoziationskraft vor allem unter den Wahlkampfbeobachtern aus den Medien Popularität erlangt hat. Amerikanisierung ist geeignet, schnell Bilder zu wecken, die aus dem Fernsehen bekannt sind und US-Wahlkämpfe auszumachen scheinen: orchestrierte Kandidatenauftritte, durchgeplante Fernsehdebatten, Fähnchen schwenkende Parteitagsdelegierte, Babys küssende Kandidaten, der Einsatz aller Familienmitglieder, mächtige Kampagnenberater. Die Popularität des Begriffs, der die USA zum Maßstab auch für deutsche Wahlkampagnen macht, scheint ungebrochen. Das ignoriert indessen die wissenschaftliche Analyse der Begrifflichkeit bzw. der Organisation von Wahlkämpfen, die zum einen gezeigt hat, dass die Diagnose 'Amerikanisierung' keineswegs neu ist, sondern seit Jahrzehnten mit jedem Wahlkampf lediglich aufs Neue belebt wird, und zum anderen, dass 'Amerikanisierung' einen Kaugummi-Begriff darstellt, der – wenn überhaupt – ungenügend definiert ist und für alles passend gemacht wird, was von einem Jahr zum anderen in einem Wahlkampf als neu empfunden wird. Viele Kriterien sind genannt worden, die vermeintlich für eine Angleichung deutscher Wahlkämpfe an das US-amerikanische Vorbild stehen (vgl. Holtz-Bacha, 2000a, S. 43-44). Eine umfassende Definition und gar ein Instrument, mit dem sich Amerikanisierung, zumal in der Dynamik, die in dem Begriff enthalten ist, messen ließe, liegen jedenfalls nicht vor. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Wahlkämpfen – wie auch mit der Entwicklung von politischer Kommunikation unabhängig von Wahlen – vermeidet daher mittlerweile den Begriff Amerikanisierung und spricht bevorzugt von Professionalisierung. Allerdings gilt auch dann, dass 'Professionalisierung' oftmals als Schlagwort daherkommt und keine Definition erfährt,
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bzw. dass die Versuche, 'Professionalisierung' zu definieren, bislang nicht zu einer befriedigenden und allgemein akzeptierten Definition geführt haben. Es ist nicht klar, wann in der Kampagnenforschung erstmals von Professionalisierung die Rede war. Es liegt nahe, dass der Begriff in diesem Zusammenhang mit der zunehmenden Prominenz politischer Berater und der Untersuchung ihrer Rolle in Wahlkämpfen aufkam. Spätestens mit dem Buch "The selling of the president" des Journalisten Joe McGinnis (1969), das die Nixon-Kampagne von 1968 zum Gegenstand hat und im Anhang Notizen verschiedener Kampagnenmanager zu den Werbestrategien dokumentiert, zeigt sich in den USA, dass Wahlkampf zunehmend geschäftsmäßig betrieben wird. Ebenfalls auf den Wahlkampf 1968 bezieht sich Kampagnenberater Joe Napolitan (1972) in "The election game and how to win it" und vermittelt einen Blick hinter die Kulissen der Beratungsbranche. Er ist auch Initiator der American Association of Political Consultants, deren Gründung 1969 für die Etablierung eines neuen Berufszweiges steht, der den 'Verkauf' von Politik zum Geschäft macht. Wenn dann Larry Sabato in seinem Buch 1981 von "The rise of political consultants" spricht, hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass das Kampagnenmanagement einen Professionalisierungsprozess erlebt. Der Begriff 'Professionalisierung' verbreitete sich mit den Analysen des "modern publicity process" (Blumler, 1990) und der damit verbundenen Überzeugung, dass ein am amerikanischen Vorbild orientiertes Wahlkampfmanagement weltweit Verbreitung finden (Gurevitch & Blumler, 1990, S. 311) und so die Amerikanisierung vollzogen würde. Die Unzufriedenheit angesichts der heterogenen und unzureichenden Definitionen von Amerikanisierung und nicht zuletzt die Erkenntnis, dass der Begriff die Veränderungen der politischen Kommunikation unzutreffend fasste, startete die Suche nach einer besseren Bezeichnung und führte dazu, dass anstatt von Amerikanisierung nun oftmals von 'Modernisierung' und 'Professionalisierung' die Rede war (z. B. Holtz-Bacha, 2000a; 2004; Mancini & Swanson, 1996; Schulz, 1998). Ursprünglich stammt der Begriff Professionalisierung aus der Arbeitssoziologie und beschreibt, wie sich aus Tätigkeiten Professionen entwickeln. Nach Wilensky (1964) vollzieht sich dieser Prozess in mehreren Phasen, von der Entwicklung zur Vollzeittätigkeit über die Akademisierung, die Gründung von Berufsorganisationen, die Regelung der Berufszulassung bis zur Formulierung von professionellen Standards und deren Niederlegung in
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einem Ethikcode. Als wesentliche Merkmale von Professionen hebt Wilensky die Bedeutung eines spezifischen Fachwissens und das Dienstleistungsideal hervor. Zu den klassischen Professionen gehören Ärzte, Anwälte und das Militär. Als der Begriff in der Analyse moderner Wahlkämpfe auftauchte, blieb von dem soziologischen Konzept nicht viel übrig. Stattdessen diente 'Professionalisierung' oftmals der Beschreibung US-amerikanischer Wahlkämpfe, wo die Consultants längst die Regie von Kampagnen übernommen hatten, und machte diese damit zu einem Modell für die Wahlkampfführung in anderen Ländern. Als Margaret Scammell (1997) Mitte der neunziger Jahre die soziologischen Professionalisierungskriterien (kontrollierter Berufszugang, Standesethik; spezialisiertes Wissen, eine bestimmte Ausbildung mit entsprechendem Zertifikat; Vollzeitberuf; formale Organisation) auf Kampagnenberater in den USA anwandte, musste sie allerdings feststellen, dass es mit deren Professionalisierung nicht weit her war. Sie fand nur einige Anzeichen für Professionalisierung wie die Herausbildung einer gemeinsamen Identität, Fachwissen, die Entwicklung einer spezifischen Ausbildung und die Niederlegung eines Ethikcodes, folgerte aber, dass die Kampagnenberater ihre Tätigkeit eher als Kunst, denn als Wissenschaft verstünden und diese auf "folk wisdom" beruhte. Jedenfalls sah Scammell keinen Grund dafür, Professionalisierung als ein Kennzeichen moderner Wahlkampagnen nach dem Vorbild der USA und diese als Modell für professionalisiertes Wahlkampfmanagement zu betrachten. Rund 15 Jahre später kommt Grossmann nach einer Befragung von Kampagnenberatern in den USA zu dem Schluss, dass sie "closely match the self-image of an ideal-typical professional community" (2009, S. 100). Die Berater entwickeln ihre Kampagnenstrategien aufgrund von spezifischem Wissen, das Erfahrungen aus dem Marketing und politischen Strategien verbindet. Sie vertreten ein Dienstleistungsideal und sie streben bewusst nach einer Professionalisierung ihres Berufs. Dennoch, so gesteht auch Grossmann ein, fehlen den Kampagnenberatern manche Merkmale, die eine Profession ausmachen, und er bezweifelt, dass sich daran etwas ändern wird. Das soziologische Professionalisierungskonzept, auf das Scammell und Grossmann ihre Untersuchungen stützten, führt mehrere Kriterien ein, die erfüllt sein müssen, um von professionellem Handeln sprechen zu können. Häufiger noch ist Professionalisierung im Zusammenhang mit Wahlkämpfen jedoch geradezu schlagwortartig in einem einfachen, eindimensionalen
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Sinne gebraucht worden und bezeichnete dann lediglich den Trend, die Organisation von Wahlkämpfen in die Hände von externen Beratern zu legen. Diese Sichtweise setzt Professionalisierung wiederum mit der vermeintlichen Anpassung von Wahlkämpfen an das US-Modell gleich und behandelt Professionalisierung als Synonym für Amerikanisierung. Eine solche Herangehensweise macht Professionalisierung von Wahlkämpfen jedoch allein an dem Einsatz von Beratern aus der PR- und Werbebranche fest und setzt damit voraus, dass diese auch adäquate, den Anforderungen an einen modernen Wahlkampf entsprechende Instrumente mitbringen. Die Fokussierung auf die Kampagnenberater hat den Vorteil, dass sich auf sie das soziologische Professionalisierungskonzept anwenden lässt, verengt aber die Analyse von Veränderungen in der politischen Kommunikation auf den Einsatz gerade derjenigen, die nicht aus der Politik kommen, und blendet die "Hauptdarsteller" (Radunski, 1981, S. 31), das heißt die Politikerinnen und Politiker, aus. Erst neuerdings haben Gibson und Römmele (2009) ein elaboriertes und über die Fixierung auf die Berater hinausgehendes Instrument entwickelt, das es erlauben soll, die Professionalisierung von Wahlkampagnen zu messen und Unterschiede zwischen den Parteien zu erklären. Die Skala basiert auf ihrer parteizentrierten Theorie professioneller Wahlkampfführung (Gibson & Römmele, 2001), die Professionalisierung auf Veränderungen in den Parteien zurückführt und dann auch bei den Parteien ansetzt. Den Übergang zu professioneller Kampagnenführung erwarten sie entsprechend zuerst bei Parteien, die finanziell gut ausgestattet sind, auf die breite Wählerschaft zielen, eher im rechten Parteienspektrum anzufinden sind, über eine zentralisierte innere Machtstruktur verfügen und vor einiger Zeit eine schwere Wahlniederlage erlitten und/oder aus der Regierung ausgeschieden sind (Gibson & Römmele, 2001, S. 37). Zwar definieren sie Professionalisierung nicht, machen diese aber fest am Einsatz bestimmter moderner Strategien und Instrumente. Ihr 30 Punkte umfassender CAMPROF-Index beruht auf zwölf beobachtbaren Kampagnenpraktiken und kombiniert objektiv messbare und subjektiv festzustellende Variablen (Gibson & Römmele, 2009). Zu der ersten Gruppe gehören der Einsatz von Telemarketing, Direktwerbung und Email-Newsletters, die Einrichtung eines internen Kommunikationssystems (Intranet), der Aufbau einer externen Kampagnenzentrale sowie ein kontinuierlicher Wahlkampf, letzteres daran gemessen, ob eine Partei "was deploying the full range of professionalized campaign
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activities at a point in time well outside the official or 'hot' campaign period" (Gibson & Römmele, 2009, S. 271). Die subjektiv festzustellenden Variablen umfassen den Einsatz von PR- und Medienberatern, den Einsatz von elektronischen Datenbanken, Meinungsumfragen und Gegnerbeobachtung. Zehn dieser Kriterien gingen in eine Analyse der Bundestagswahlkampagnen 2005 von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ein, für die die Informationen vorrangig durch Telefoninterviews mit den Kampagnenmanagern der Parteien eingeholt wurden. Gemessen an den Kriterien des Indexes erwies sich die damalige SPD-Kampagne als die am stärksten professionalisierte, dicht gefolgt von der Union auf Rang zwei und schließlich der FDP an dritter Stelle, während die Kampagne der Grünen als die am wenigsten professionalisierte erschien (Gibson & Römmele, 2009, S. 284-295). Für eine Untersuchung der schwedischen Parlamentswahl im Jahr 2006 entwickelte Jesper Strömbäck (2009) eine weiter differenzierte Version des CAMPROF-Indexes, für die er einige Operationalisierungen modifizierte, um sie den schwedischen Gegebenheiten anzupassen, und unter den Professionalisierungsvariablen den Einsatz von Fokusgruppen sowie gewissermaßen als Gegenstück zur Gegnerbeobachtung die Analyse der eigenen Partei bzw. Kampagne anfügte. Seine Befunde unterstützen das Modell von Gibson und Römmele. So begrüßenswert der Versuch ist, Professionalisierung messbar zu machen, und ohne auf die im Einzelnen nicht unproblematische Operationalisierung einzugehen, kann dieser Zugang dennoch nur bedingt zu einem für politische Kommunikation passenden Konzept von Professionalisierung beitragen. Zum einen richtet sich der CAMPROF-Index lediglich auf Wahlkampagnen und ist nicht anwendbar auf politische Kommunikation generell. Zwar nehmen Gibson und Römmele auch nichts anderes in Anspruch für ihren Ansatz, aber damit bleibt offen, ob und wie sich die Professionalisierung von politischer Kommunikation außerhalb von Wahlkämpfen, etwa in der Regierungskommunikation, vollzieht. In dieser Hinsicht erweist sich die Fixierung auf Parteien ebenfalls als hinderlich, weil sie nicht die einzigen Kommunikatoren sind, die in der politischen Kommunikation auftreten und potenziell einem Professionalisierungsprozess unterliegen. Auch bezogen auf Wahlkämpfe ist fraglich, ob der parteienzentrierte Index zum Einsatz in kandidatenzentrierten Kampagnen bzw. Wahlsystemen geeignet ist. Zum anderen, und das erkennt auch Strömbäck (2009, S. 113), ist der Index, ins-
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besondere durch die Betonung der Online-Kommunikation, zeitgebunden, das heißt, er ist nicht geeignet, um Professionalisierung über Zeit zu verfolgen: Der Bundestagswahlkampf 2005 mag professionalisiert gewesen sein – der Bundestagswahlkampf 1998 konnte es demnach nicht sein, weil die in den CAMPROF-Index eingehenden Instrumente teilweise noch gar nicht zur Verfügung standen. Für 2009 ist vermutlich eine Revision notwendig, um den Einsatz der social networks zu berücksichtigen. Die für den Index verwendeten Indikatoren erlauben insofern keinen Vergleich über Zeit und können daher den Prozesscharakter von Professionalisierung nicht abbilden. Professionalisierung in diesem Sinne, verstanden als intensiver Einsatz einer Vielzahl von Kampagneninstrumenten, weist eine starke Ressourcenabhängigkeit auf, die sich damit womöglich als entscheidende Variable herausstellt und für kleinere und daher meist weniger finanzkräftige Parteien bedeutet, dass ihnen das Erreichen eines befriedigenden Ausmaßes an Professionalisierung kaum möglich ist. Die genannten Professionalisierungskonzepte, die einerseits bei den externen Kampagnenberatern und andererseits bei den Parteien ansetzen, vernachlässigen die aus der Politik stammenden Akteure, das heißt zum einen die Kampagnen- bzw. Kommunikationsexperten innerhalb der Parteien und andererseits die Kandidatinnen und Kandidaten bzw. die Politikerinnen und Politiker. Die Erfahrung auch der letzten Jahre zeigt, dass Wahlkämpfe in Deutschland der Vielzahl externer Berater zum Trotz nach wie vor zu großen Teilen aus den Parteien heraus organisiert werden. Deren 'Professionalisierungsgrad' lässt sich noch weniger als derjenige der externen Berater anhand der Indikatoren des aus der Berufssoziologie stammenden Professionalisierungskonzeptes messen. Noch 1996 hat Radunski in seinem Plädoyer für die Amerikanisierung auch der deutschen Wahlkampagnen angemahnt, die personellen Stäbe der Parteien ebenfalls den Erfordernissen eines professionellen Kommunikationsmanagements anzupassen: "Dieser letzte Schritt der Amerikanisierung im personellen Bereich von Wahlkampfkommunikation und Management steht in Deutschland noch bevor." (S. 52) Ebenso problematisch ist es, die zentralen Akteure eines Wahlkampfes nicht zu berücksichtigen. Die viel diskutierte Personalisierung im Zusammenhang mit Wahlkämpfen umfasst neben der entsprechenden Fokussierung der Medien sowie der Wählerschaft ebenso die Personenzentrierung der Kampagnen, wie sie zum Beispiel an den Werbematerialien der Parteien abzulesen ist. Die Konzentration der Wahlkampagnen auf die Spitzenkandi-
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daten, die diese " zugleich [zum] Hauptdarsteller und Regisseur seiner Kampagne" (Radunski, 1981, S. 31) macht, erfordert ebenfalls deren 'Professionalisierung', und zwar zuerst im Umgang mit den Medien: "Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit des elektronischen Mediensystems hat nämlich längst dazu geführt, das man auch auf Seiten der Medien dankbar ist, wenn man professionell von seiten der Politikern[sic!] bedient wird, was ebenso Kosten wie Mühen und Energie sparen hilft." (Radunski, 1996, S. 51) Nicht umsonst haben sich die Spitzenkandidaten für die Kampagnen längst auch persönliche Berater zugelegt, die sie beim Impression Management und zur Pflege ihres Markenwertes unterstützen. Ein Konzept von Professionalisierung, das sich für Wahlkampagnen, erst recht aber für politische Kommunikation generell zur Anwendung bringen lässt, müsste also umfassender sein als die bisherigen Ansätze, und es müsste der Dynamik gerecht werden, die dem Begriff Professionalisierung inhärent ist. Nur dann wäre auch gewährleistet, dass ein solches Konzept die Zeit überdauert und den Vergleich über (Wahl-)Kampagnen hinweg erlaubt. Das bedeutet das Lösen von dem Konzept, wie es aus der Arbeitssoziologie übernommen wurde, weil sich dieses nur für die externen Consultants anwenden lässt, hier aber ebenso an Grenzen stößt, wie sich das auch im Journalismus gezeigt hat und daher nach einer kurzen Blütezeit dort ebenfalls kein Thema mehr ist (vgl. z. B. Kepplinger & Vohl, 1979). Ebenso fehlt aber einem nur an Parteien orientierten Ansatz, wie ihn Gibson und Römmele (2001, 2009) vorgelegt haben, die allgemeine, über parteienzentrierte Systeme, technologischen Wandel und Wahlkampagnen hinausreichende Anwendbarkeit. Die Lösung liegt daher wohl eher in einem Konzept von Professionalisierung, das die bisherigen Ansätze, Professionalisierung fassbar zu machen, integriert und ergänzt. Die Entwicklung von Parteien und Parteiensystem wäre dann jedoch nur eine Erklärung für Professionalisierung der politischen Kommunikation, fügt sich in den größeren Zusammenhang des gesellschaftlichen Wandels, der als Modernisierung bezeichnet wird, und steht neben den Herausforderungen, wie sie sich aus dem technologischen Wandel bzw. den Veränderungen des Mediensystems ergeben haben. Der Prozesscharakter von Professionalisierung liegt demzufolge in der bestmöglichen Anpassung an solche, sich weiterhin wandelnden Bedingungen für die politische Kommunikation. Dieser Anpassungsprozess erfordert auf Seiten der politischen Akteure den Einsatz aller strategischen und technologischen Instrumente, um in der Informationsflut sowie in der Konkurrenz zu attrak-
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tiveren (medialen) Angeboten zu bestehen und die in der Demokratie für politisches Handeln erforderliche Legitimation einzuholen. Es versteht sich von selbst, dass die Politik dafür 'professionelles' Know-how in Anspruch nimmt. Das ist jedoch keine ganz neue Entwicklung: Bereits für den Bundestagswahlkampf 1949 ließ sich die SPD von der Partei nahestehenden Werbefachleuten unterstützen (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 91). Im Laufe der Zeit differenzierten sich die Aufgaben, und die Parteien engagierten mehrere und spezialisierte Berater und Agenturen, die ihnen bei Werbe- und Mediakampagne, Direktmarketing, Event- und Personality-Management sowie Meinungsforschung zur Seite stehen. 2009 arbeitete nun auch die FDP mit einem "Kampagnenverbund" aus zehn Agenturen und baute auf die "Idee der 'wisdom of crowds'" (FDP startet..., 2009). Zusammen mit den Wahlkampfspezialisten innerhalb der Parteien konzipieren sie die Kampagne im war room, eigens eingerichteten Strategiezentralen wie 1998 die Kampa der SPD, die Arena der CDU für den Wahlkampf 2002 oder 2009 die Nordkurve der SPD. Mit ihrem Erfahrungswissen, aus der Marketing- und Marktforschungsbranche die einen, aus früheren Parteikampagnen die anderen, und unter Heranziehung der dort bewährten Instrumente bemühen sie sich um solche Strategien, die dem längerfristigen gesellschaftlichen, politischen und medialen Wandel gerecht werden und der Situation des jeweiligen Wahlkampfes gemäß sind (vgl. auch Holtz-Bacha, 2000a; ebenso Negrine, 2008, S. 2-3). Wichtiger Faktor dieser Planung sind die jeweiligen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten, auf die die Kampagnen mehr oder weniger zugeschnitten sind. Solange nicht Marketingaspekte die Kandidatenkür bestimmen und die Professionalisierung nicht zur Voraussetzung für die Auswahl von Topkandidatinnen und -kandidaten gemacht wird, sind diese gewissermaßen gesetzt, und die Kampagnenstrategen können nur versuchen, ihre Konzepte danach zu richten. Dieser Prozess betrifft nicht nur Wahlkämpfe, wiewohl sich die Professionalisierungsdiskussion bislang fast ausschließlich auf den Zusammenhang von Wahlen bezogen hat. Das ist insofern nicht überraschend, als es bei Wahlen um die Verteilung von Macht geht und politische Akteure daher ein besonderes Interesse an einer Kampagne nach allen Regeln der Kunst haben. Die Herausforderungen gelten jedoch in gleicher Weise für politische Kommunikation, die nicht im Dienste des Wahlkampfes steht. Schließlich stehen Parteien, Regierungen, Parlamente und andere Institutionen in der Demokratie unter ständigem Druck der Kommunikation zum Zwecke der
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Legitimation ihrer Entscheidungen. Es sieht allerdings so aus, als verliefe die Professionalisierung der Wahlkampfkommunikation schneller als im täglichen Routinegeschäft der politischen Kommunikation. Wahlkampf 2009 Vor dem Hintergrund der wiederkehrenden Diagnose 'Professionalisierung' in Bezug auf Wahlkämpfe stellt sich die Frage, ob der Bundestagswahlkampf 2009, über den viele klagten, er sei langweilig oder gar keiner gewesen, dieses Etikett verdient. Das bedeutet aber zugleich zu fragen, ob Professionalisierung einen andauernden und kontinuierlichen Prozess darstellt, oder ob es sich um einen diskontinuierlichen Prozess handelt, bei dem eben nicht von Wahljahr zu Wahljahr Steigerungen zu verzeichnen sind. Die Enttäuschung darüber, dass sich die deutschen Wahlkämpfer so wenig von der Obama-Kampagne abgeguckt hatten, ließe sich als ein Hinweis darauf verstehen, dass der Bundestagswahlkampf 2009 einen Professionalisierungsschritt verpasst hat. Zwar findet Wahlkampf in Deutschland längst auch online statt, und 2009 brachten Parteien und Kandidaten außerdem die social networks zum Einsatz, die Analysen (vgl. Schweitzer sowie Zeh, in diesem Band) zeigen aber, dass die Online-Kampagnen ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Hier gilt stattdessen, was wir auch aus anderen Wahlkämpfen und bezüglich anderer Kampagneninnovationen schon kennen: Dabei sein, darüber reden und (sich) als modern verkaufen, lautet die Strategie. Die Kampagnenorganisationen in den USA setzen die computervermittelte Kommunikation vorrangig für Email ein, um Fundraising zu betreiben sowie um freiwillige Helferinnen und Helfer zu mobilisieren. In deutschen Wahlkämpfen ist das bislang weniger wichtig, daher ist durchaus verständlich, dass die Parteien in diesen Bereichen nicht viel investieren. Der erfolgreiche Einsatz in den USA und zuletzt speziell in der Obama-Kampagne hat den Online-Wahlkampf geradezu zu einem Mythos werden, zugleich aber vergessen lassen, dass die klassischen Kampagnenkanäle damit keinesfalls ihre Bedeutung verlieren. Wenn also in deutschen Wahlkampagnen Zurückhaltung auszumachen ist, könnte das gerade auf der Erkenntnis beruhen, dass die deutsche Wählerschaft (noch) nicht so gut online zu anzusprechen ist bzw. sich der Online-Wahlkampf für solche Funktionen besonders eig-
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net, die in Deutschland weniger wichtig sind als in den USA. Als verzögerte Professionalisierung ließe sich das allerdings nicht bezeichnen. Damit richtet sich der Blick wiederum auf die Organisation der Kampagne und den Einsatz der herkömmlichen Kampagneninstrumente. Was 2005 nicht gefiel und gegenüber den Wahlkämpfen von 2002 und erst recht 1998 als wenig gekonnt erschienen war, hatte sich auf den unerwartet vorgezogenen Wahltermin und die kurze Kampagne zurückführen lassen. Es fehlte schlicht die Zeit für ein ausgeklügeltes Wahlkampfkonzept. Insbesondere in der Union hatte es nach der Wahl 2005 und angesichts des Wahlergebnisses Kritik an der Kampagne gegeben, die sich speziell auch auf Angela Merkel richtete. Ihr Beispiel unterstreicht dann auch, wie wichtig die Professionalisierung der Spitzenkandidaten für die Kampagne ist. 2005, in ihrem ersten Bundestagswahlkampf als Kanzlerkandidatin, musste Merkel gegen den medienversierten Gerhard Schröder antreten. Mittlerweile haben die Profis aus PR und Journalismus Merkel ebenfalls zur 'Medienkanzlerin' befördert (vgl. z. B. Küchen, 2006; Schwennicke, 2008). Geschickt bediente sie im Wahlkampf 2009 die Medienlogik, spielte in der Wahlwerbung mit Emotionen (vgl. Holtz-Bacha, Politik…, in diesem Band), gab nun auch Privates preis (Wittrock, 2009), und beharrte in Interviews ebenso wie im Fernsehduell auf ihrer eigenen Linie (vgl. auch Tapper & Quandt, in diesem Band). Das Wahljahr 2009 hat gezeigt, wie stark die kurzfristigen, situationsgebundenen Faktoren den Wahlkampf beeinflussen, und dafür sorgen, dass jeder Wahlkampf anders ausfällt und die Professionalität der Kampagne eines Jahres nicht unbedingt geeignet ist, daraus Prognosen für die nächste Kampagne abzuleiten. Der Europawahlkampf folgt ohnehin eigenen Gesetzen und droht in einem Jahr, in dem nur wenige Wochen später eine Bundestagswahl ansteht, erst recht in deren Schatten zu geraten, entweder indem er zum Übungsfeld für die Bundestagswahlkampagne wird oder die Parteien sich ihre Mittel für diejenige Wahl sparen, bei der sie wirklich etwas zu gewinnen haben. Die Medien, so kann man aus der Dauerklage über die Langeweile der Kampagne und die schwache Präsenz des Wahlkampfes in Presse und Fernsehnachrichten nur folgern, machen sich mit ihrer Berichterstattung auch bei einer Bundestagswahl abhängig davon, ob ihnen die Politik eine gute Show bietet. Die Bundestagswahlkampagne konnte indessen schwerlich so spannend ausfallen, wie es sich offenbar mancher gewünscht hatte. Die wichtigsten Player kamen aus einer großen Koalition
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und konnten sich kaum über die Aktivitäten der letzten vier Jahre angreifen und ebenso wenig im Kontrast dazu Versprechungen für die nächsten vier Jahre machen. Es fehlte die inhaltliche Polarisierung, die vor allem die 'großen' Parteien brauchen, um sich gegenüber der Wählerschaft als Alternativen zu präsentieren, und es fehlte ebenso die personelle Polarisierung, die bei kaum noch wahrgenommenen Differenzen in den Positionen wenigstens über die Kandidaten eine Unterscheidung hätte herbeiführen können; der populären Kanzlerin konnte der Vizekanzler nicht viel anhaben. Obendrein war den Parteien im Wahljahr 2009 die sonst strategisch betriebene Themensetzung aus der Hand genommen, weil die schwelende Finanzkrise das wichtigste Thema bereits gesetzt hatte. Kein Wunder, wenn dann der Wahlkampf allgemein als mau empfunden wurde, und den Medien das schwarzgelb gestreifte Spielzeug nur allzu gelegen kam, um ihm etwas Farbe einzuhauchen. Literatur Blumler, J. G. (1990). Elections, the media and the modern publicity process. In M. Ferguson (Hrsg.), Public communication. The new imperatives. Future directions for media research (S. 101113). London: Sage. FDP startet mit Kampagnenverbund in die Bundestagswahl 2009. Portal Liberal. Abgerufen am 1. September 2009 von http://www.liberale.de/FDP-startet-mit-Kampagnenverbund-in-die-Bundestagswahl-2009/2779c3751i1p42/index.html Friedrichs, H. (2009, 23. September). Zeit online. Abgerufen am 26. September 2009 von http://www.zeit.de/politik/deutschland/2009-09/wahlkampf-presseschau?page=all Gibson, R. K., & Römmele, A. (2001). A party-centered theory of professionalized campaigning. The Harvard Journal of Press/Politics, 6(4), 31-43. Gibson, R. K., & Römmele, A. (2009). Measuring the professionalization of political campaigning. Party Politics, 15, 265-293. Gievert, S. (2009). "Und alle so Yeaahh" – Die Webwahlkampfbilanz. politik-digital. Abgerufen am 1. Oktober 2009 von http://www.politik-digital.de/bundestagswahl-onlinewahlkampf-bilanz-2009 Grossmann, M. (2009). Going Pro? Political campaign consulting and the professional model. Journal of Political Marketing, 8, 81-104. Gurevitch, M., & Blumler, J. G. (1990) Comparative research: The extending frontier. In D. L. Swanson & D. Nimmo (Hrsg.), New directions in political communication. A resource book (S. 305-325). Newbury Park, CA: Sage.
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Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl oder doch eine europäische Kampagne? Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger
Als 1979 das Europäische Parlament zum ersten Mal direkt gewählt wurde, verband sich damit eine gewisse Euphorie: Europa würde für seine Bürgerinnen und Bürger greifbarer, und die Wahl könnte so zu einer stärkeren Integration der seinerzeit neun Mitgliedstaaten beitragen. Obwohl das Parlament im Vergleich zu Kommission und Ministerrat damals noch eine eher schwache Rolle im europäischen Entscheidungsprozess spielte, wurde es mit der Wahl zum ersten und bis heute einzigen Organ der Gemeinschaft, das eine echte demokratische Legitimation aufweist. Das Parlament konnte so nicht nur auf eine Steigerung seiner Bekanntheit, sondern zumindest auch auf eine symbolische Aufwertung hoffen. Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments gilt aber auch die Klage, der Europawahlkampf sei wenig europäisch, sondern vielmehr national geprägt. Das ist ein Grund, warum sich die Hoffnung nicht erfüllt hat, dass die in allen EUMitgliedstaaten gleichzeitig abgehaltene Wahl des Europäischen Parlaments dem Zusammengehörigkeitsgefühl einen Schub geben würde. Das Reglement für die Europawahlen trägt dazu bei, dass es das Europäische an der Wahl so schwer hat. Auf ein einheitliches Verfahren für die Wahl haben sich die Mitgliedstaaten nicht einigen können. Es gibt lediglich einige gemeinsame Bestimmungen, dazu gehört die Festlegung auf eine Verhältniswahl. Ansonsten folgt jedes Land einem eigenen Wahlsystem. Es sind keine europäischen Parteien, die um Stimmen werben, sondern auf dem Wahlzettel stehen die von nationalen Urnengängen vertrauten Parteinamen. Ebenso entstammen die Kandidatinnen und Kandidaten der nationalen Politikerriege, internationale europäische Bewerber gibt es nicht. So stellt sich schließlich alle fünf Jahre die Frage, ob wenigstens die Themen des Wahlkampfes europäisch sind oder ob doch die nationale Agenda die Kampagne bestimmt. Nicht zuletzt, weil die Europawahl in Deutschland neben der Bundestagswahl die einzige andere nationale Wahl ist, wird ihr gerne der Charakter
Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl?
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eines Stimmungstests zugeschrieben. Das gilt erst recht in einem Jahr wie 2009, in dem die Europawahl nur 16 Wochen vor der Bundestagswahl stattfand. Liegt das Wahlergebnis vor, verweisen dann meist nur noch die Parteien, die gut abgeschnitten haben, auf den Testcharakter, während die anderen hervorheben, dass die Europawahl nicht zuletzt wegen der üblicherweise erheblich niedrigeren Wahlbeteiligung kaum geeignet sei, um die Stärke der Parteien etwa bei der nächsten Bundestagswahl vorherzusagen. Damit können sie sich allerdings gegenüber einer entsprechenden Kommentierung in den Medien nur schwer durchsetzen, so dass die Wahlverlierer die Zeichen fürchten müssen, die in das Ergebnis der Europawahl hineininterpretiert werden. Die Vertreter der Unionsparteien, wie CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla und der hessische Ministerpräsident Roland Koch, werteten das Wahlergebnis 2009 dann auch als ein deutliches Signal für die anstehende Bundestagswahl; schließlich gingen CDU und CSU mit annähernd 38 Prozent als stärkste Kraft aus der Europawahl hervor und inszenierten sich trotz ihres Verlustes von 6,6 Prozent der Wählerstimmen im Vergleich zur 2004 als Wahlsieger ("Das hätte ich...", 2009; Kanzlerin Merkel…, 2009). Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hingegen trat gleich nach Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse vor die Mikrofone und betonte, dass die Europawahl eben nicht als Testwahl missinterpretiert werden dürfte, und führte das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten insbesondere auf die geringe Wahlbeteiligung zurück ("Das Spiel ist...", 2009). Die Parteivorsitzende der Grünen, Claudia Roth, stellte am Abend der Europawahl ebenfalls fest: "Die Bundestagswahl ist am heutigen Tag definitiv nicht entschieden" ("Das hätte ich...", 2009). Auch die Medien selbst gaben sich in dieser Hinsicht ambivalent. So fanden sich beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Süddeutschen Zeitung Vermerke, die im Zusammenhang mit der Europawahl von einem "Stimmungstest" sprachen oder in den Ergebnissen einen bundespolitischen Trend abgebildet sahen (Freude bei der FDP…, 2009; Prantl, 2009). Mit ihrer Schlagzeile "Wer kriegt heute einen Denkzettel?" unterstrich auch die BILD (Thewalt, 2009), dass bei der Europawahl durchaus nationale Aspekte eine wichtige Rolle spielen, und stilisierte diese zu einer Art Abrechnung mit der Politik der jüngeren Vergangenheit hoch. Es fanden sich jedoch andererseits ebenso Hinweise, dass sich die Wahlergebnisse der bei der Europawahl angetretenen Parteien nicht einfach auf die Bundesebene übertragen lassen. Wenngleich die innenpoliti-
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sche Situation mitentscheidend für die Stimmabgabe war, so kam dennoch eine Reihe anderer Gründe für das Ergebnis der Europawahl hinzu, so das Fazit. Die geringe Wahlbeteiligung und die schwache Mobilisierung vor allem der SPD tauchten dabei als Hauptgründe auf, warum die Ergebnisse nicht die allgemeine Wählerstimmung abzubilden vermögen. Die zeitliche Nähe der beiden Wahlen ließ erwarten, dass die Bundestagswahl ihre Schatten vorauswerfen und die Strategien in der Europawahlkampagne beeinflussen würde. In Anbetracht dessen, dass für die Parteien bei einer Bundestagswahl erheblich mehr auf dem Spiel steht als bei der Wahl zum Europäischen Parlament, war 2009 zu vermuten, dass sie mit ihrem Einsatz für Europa eher zurückhaltend sein und mit ihren finanziellen und kreativen Kräften haushalten würden. Die Aussichten für einen engagierten und europäisch geprägten Wahlkampf waren also 2009 in Deutschland nicht besonders gut. Da der Urnengang bei Europawahlen noch weniger selbstverständlich ist als bei Bundestagswahlen und die Wahlbeteiligung im Laufe der Zeit deutlich zurückging, bedürfte es jedoch besonderer Anstrengungen auf Seiten der Politik – und der Medien, um die Wählerinnen und Wähler über die Wahl zu informieren und für die Stimmabgabe zu motivieren. 1
Wechselwirkungen
Seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament hat sich gezeigt, dass das Engagement von Politik, Medien und Wählerschaft in einem Wechselverhältnis steht. Bleibt die Politik zurückhaltend mit ihren Kampagnenbemühungen, sind auch die Wählerinnen und Wähler schwer zu motivieren. Um diese anzusprechen, ist die Politik weitgehend auf die Medien angewiesen. Deren Engagement bestimmt sich allerdings überwiegend durch den Input aus der Politik; die Medien berichten, wenn ihnen etwas geboten wird, und das im doppelten Wortsinne, denn die Medien berichten, was ihnen berichtenswert erscheint; der Input muss auch etwas hergeben, also den Aufmerksamkeitskriterien der Medien entsprechen. So hat sich gezeigt, dass die Berichterstattung über die Europawahlkampagne dort umfangreicher ausfällt, wo die EU-Politik umstritten ist und das Thema Europa Konfliktcharakter hat (vgl. de Vreese, Banducci, Semetko & Boomgarden, 2006).
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Aufgrund des Wechselverhältnisses von Politik, Medien und Wählerschaft tendieren Europawahlen dazu, mit einer low key campaign auch eine low key response zu prädestinieren (vgl. Holtz-Bacha, 2005). Als Wahlen dritter Ordnung (Reif, 1997), also nachrangige Wahlen, die keine Regierung hervorbringen, leiden Europawahlen darunter, dass für alle Beteiligten weniger auf dem Spiel steht als bei Wahlen erster Ordnung (less-at-stakeDimension). Europawahlen finden außerdem unter besonderen politischen und institutionellen Bedingungen statt (specific-arena-Dimension). Dazu gehört, dass das Europäische Parlament trotz Machtzuwachs immer noch eine im Verhältnis zu Kommission und Rat etwas schwächere Position innehat und 2009 in Deutschland obendrein die Bundestagswahl kurz bevor stand. Aus den genannten Gründen kommt bei solchen Wahlen den Kampagnenbemühungen (Kampagnen-Dimension) eine noch größere Bedeutung zu als bei Wahlen erster Ordnung. (Vgl. Reif & Schmitt, 1980) Die Sorge darüber, dass die Kampagnen zur Europawahl lediglich "second-rate" (de Vreese, 2009) ausfallen, besteht seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments. Brandts, van Praag und Nol-Aranda (1983), die das Engagement von politischen Akteuren und Rundfunkanstalten im Europawahlkampf 1979 untersuchten, stießen damals auf eine Mischung aus Verwirrung und Unsicherheit: Diese führten sie auf das Vorliegen gegenläufiger Einflüsse zurück, die sich aus den je professionellen Überzeugungen von Politikern und Medienvertretern einerseits und ihrem Common Sense andererseits ergaben. Das heißt, gerade bei der ersten Direktwahl war allen die Bedeutung dieses Ereignisses bewusst, und sie fühlten sich daher auch in der Pflicht, dafür etwas zu tun. Dem stand jedoch das Gefühl entgegen, dass sich nicht zuletzt in der Öffentlichkeit das Interesse an der Wahl in Grenzen halten würde (Brandts, van Praag, & Nol-Aranda, 1983, S. 140). Die Symbolkraft der ersten Direktwahl sorgte indessen dafür, dass das Fernsehen in den Mitgliedstaaten die Wahl überwiegend als ein europäisches Ereignis behandelte. Im Vergleich zu den Politikern fiel die Berichterstattung jedoch etwas stärker national orientiert aus, was wiederum den professionellen Produktionsroutinen der Journalisten geschuldet schien, die so meinten, dem Interesse ihres Publikums entgegenzukommen. (Vgl. Siune, 1983, S. 237239) Eine Analyse der zentralen Wahlkampfaussagen (Slogans) zur Europawahl des Jahres 1999 (Gerstlé, Semetko, Schoenbach & Villa, 2000), die rund neun Monate nach der Bundestagswahl stattfand und damit den Cha-
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rakter eines Stimmungstests für die 1998 neu gebildete rot-grüne Koalitionsregierung annahm, aber auch durch die Debatte zur Politik gegenüber dem Kosovo überschattet wurde, bescheinigte den Parteien insgesamt eine schwache Europäisierung. Während die Grünen eine wirklich europäische Kampagne organisierten, die die Europäische Union als eine Möglichkeit hinstellte, um übergreifende Probleme zu lösen, vermischte die SPD Innenund Europapolitik, und die Union rief zur Denkzettelwahl gegenüber der rot-grünen Regierung auf (S. 105-106 ). 2004 galt eine ähnliche Klage. Wüst und Roth (2005) nannten die Europawahl für alle Beteiligten eine "Pflichtübung", bei der Europathemen noch am ehesten in den Wahlprogrammen der Parteien zu finden sind, aber sogar in der Selbstdarstellung der Parteien in ihren Wahlspots weiter zurücktreten, weil sie diese für die Abrechnung mit der Regierung nutzen. Auch Niedermayer kam in seiner Untersuchung der heißen Wahlkampfphase 2004 zu dem Fazit, Europa sei für die Politik nur ein Randthema gewesen. Schuld daran wären jedoch auch die Medien, indem sie den Parteien einerseits vorwarfen, die Europawahlkampagne für ihre nationalen Interessen zu missbrauchen, aber andererseits durch den nationalen Fokus ihrer Berichterstattung selbst dazu beitrugen (Niedermayer, 2005, S. 74). Die Parteien müssten also besondere Anstrengungen unternehmen, um die Wählerinnen und Wähler für die Stimmabgabe zu motivieren. Mehr noch als bei einer Bundestags- oder Landtagswahl geht es bei der Europawahl darum, die Bedeutung dieser Wahl, bei der es scheinbar um nichts geht, herauszustellen und den Wahlberechtigten das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Stimme zählt. Zwar sind die Einstellungen zur Europäischen Union in Deutschland überwiegend positiv, aber die Bürgerinnen und Bürger sind wenig überzeugt, dort Gehör zu finden: Während 2008 64 Prozent der Deutschen die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU als "eine gute Sache" bezeichneten und 58 Prozent meinten, die Mitgliedschaft bringe Deutschland Vorteile, hatten lediglich 34 Prozent das Gefühl, dass ihre Stimme zählt in der EU, und gar nur 23 Prozent gaben sich überzeugt, dass ihre Meinung bei den Mitgliedern des Europäischen Parlaments Berücksichtigung findet (alle Zahlen: Hegewald & Schmitt, 2009, S. 15-17). Es wäre also Aufgabe der Kampagne, der Stimmabgabe einen Sinn im europäischen Kontext zu verleihen und die Wählerinnen und Wähler so für den Urnengang zu gewinnen: "[...] political actors, namely candidates, parties and EU officials have to put more effort into making it clear to the voter that voting makes a
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difference, and into informing and mobilizing them", bekräftigt dann auch Wessels (2007, S. 227) aufgrund einer Analyse der Einflussfaktoren auf die Beteiligung an der Europawahl 2004. Allerdings ist die Politik bei der Ansprache der Wählerschaft weitgehend auf die Medien angewiesen, muss also ihre Kampagnenbemühungen so einrichten, dass diese Resonanz in der Berichterstattung finden. Auch wenn die Medien, zumal in der politischen Berichterstattung, nicht nur auf den Input von Parteien und Kandidaten reagieren, scheinen sie sich im Fall der Europawahl doch vom Kampagnengeschehen abhängig zu machen. Sie verweisen auf das geringere Engagement der Politik und ziehen dieses zu ihrer Rechtfertigung für den eigenen Umgang mit der Europawahl heran. Das hat sich zuletzt wieder im Europawahlkampf 2004 bei einer Befragung von Rundfunkjournalisten bestätigt: Mehrheitlich erwarteten sie, dass das Interesse der Politiker an der Europawahl geringer sein würde als bei Bundestagswahlen. Außerdem glaubten die meisten auch, dass das schwächere Interesse der Politik Auswirkungen auf den Umgang der Medien mit dem Wahlkampf und den Umfang ihrer Berichterstattung haben würde (Urban, 2004; vgl. dazu auch: de Vreese, 2003). Für die Europawahl des Jahres 20091 bietet sich ein ähnliches Bild: In einer während des Europawahlkampfes 2009 durchgeführten Befragung von Europakorrespondenten bzw. solcher Journalistinnen und Journalisten, die in den Redaktionen von Rundfunk und Presse auf Europa spezialisiert sind, gingen annähernd alle Befragten (94%) von einem geringeren Engagement der Parteien bei den Europawahlen als bei der Bundestagswahl aus. Auch wenn wegen eines schlechten Rücklaufs bei der online durchgeführten Befragung nur 34 Fragebögen zu verwerten waren, so ist die starke Übereinstimmung in diesem Punkt dennoch auffallend. Weiterhin vermuteten etwas weniger als zwei Drittel der Befragten (62%), dass die Intensität der Berichterstattung von Engagement der Parteien abhängig ist. Für das Engagement der Medien sind aber wohl auch noch andere Faktoren ausschlaggebend. So zeigte sich, dass sich die Europakorrespondenten mehr Berichterstattung wünschen würden, als sie tatsächlich stattfindet. Auch hier lässt sich aus den Antworten ein starker Trend ablesen: Fast alle Befragten (94%) wünschten sich in den Medien eine starke Aufmerksamkeit für die Europawahl, aber weniger als ein Drittel (29%) glaubte, dass die Berichterstattung die Wahl 1
Die Autoren bedanken sich bei Robert Nehr für die Auswertung der Daten sowie bei Felix Stumpf und Stefan Wehner für die Erstellung des Online-Fragebogens
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entsprechend berücksichtigen würde. Offenbar kommen also die Europaspezialisten in ihren Redaktionen mit ihren Themen nicht so zum Zuge, wie sie es gerne hätten. Außerdem sehen sie die Europawahl auch nicht gerade als ein Thema, das auf Interesse bei ihrem Publikum stößt: Keiner der 34 Journalisten glaubte an ein sehr starkes oder starkes Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Europawahl. Geradezu vernichtend ist das Urteil der Journalisten gar hinsichtlich des Wissens der Bevölkerung zu Europa: Alle 34 befragten Journalisten glaubten, dass es schlecht (29%) bis sehr schlecht (71%) um die Kenntnisse hinsichtlich der europäischen Institutionen steht. Tatsächlich ist das Wissen über Europa und Europawahl in Deutschland nicht besonders gut. In einer Eurobarometer-Umfrage im Herbst 2007 (Citizens' views..., 2007) wussten nur 47 Prozent der Deutschen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt gewählt werden. Lediglich 13 Prozent konnten korrekt angeben, wann die nächste Europawahl stattfinden sollte. Schließlich wiesen sie mit einem Anteil von 40 Prozent mehrheitlich dem Europäischen Parlament die größte Entscheidungsmacht zu, während 16 Prozent sie bei der Kommission und lediglich 10 Prozent beim Rat sahen. Auch das Interesse der Bevölkerung an der Wahl war nicht sehr ausgeprägt. Bei einer Eurobarometer-Umfrage im Herbst 2008 (Europeans and the..., 2008) sagten 54 Prozent der Deutschen, sie seien an der für Juni 2009 angesetzten Europawahl nicht interessiert. Zwar zeigten sich immerhin 45 Prozent der Befragten interessiert, allerdings erfolgte keine weitere Differenzierung nach der Intensität des Interesses. Es ist also davon auszugehen, dass insgesamt das Interesse an der Europawahl in der deutschen Bevölkerung eher schwach war. Die während des Europawahlkampfes 2009 befragten Journalistinnen und Journalisten sahen dann auch fast alle die Medien (88%) und noch mehr die Politik (94%) stark bis sehr stark in der Pflicht, die Kenntnisse der Bürgerinnen und Bürger über die europäischen Institutionen zu verbessern. Nach Meinung der Journalisten sollte die Europawahlberichterstattung nicht so sehr dazu dienen, eine Hilfestellung bei der Stimmabgabe zu geben (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 50%) oder über die Programme der antretenden Parteien zu informieren (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 56%), sondern vielmehr das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Europawahl zu wecken (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 74%) sowie über das Funktionieren und den Aufbau der EU (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 80%) bzw. des Europäischen Parlaments und die Wahl im Allgemeinen (sehr wichtiges/wichtiges
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Ziel: 83%) aufzuklären. Etwas weniger als zwei Drittel der Journalisten (62%) sehen es auch als wichtige bis sehr wichtige Aufgabe der Medienberichterstattung an, ein europäisches Bewusstsein zu fördern. Bei diesen Ergebnissen ist allerdings in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei den befragten Journalisten um Europaspezialisten handelte, denen Europa auch ein besonderes Anliegen sein dürfte. Im Vorfeld der Europawahl 2004 befragte Rundfunkredakteure schätzten es zu 33 Prozent als sehr wichtig und zu 60 Prozent als wichtig ein, dass die Berichterstattung dazu beiträgt, ein europäisches Bewusstsein zu fördern (Urban, 2004, S. 61). In einer repräsentativen Befragung von (westdeutschen) Redakteuren im Jahr 1992 sagte fast die Hälfte, dass sie es nicht als ihre Aufgabe sehen, "dazu beizutragen, daß ein europäisches Gemeinschaftsgefühl entsteht" (Schönbach, 1995, S. 27). Europawahlkämpfe stehen also vor besonderen Herausforderungen, die sich aus ihrem Charakter als Nebenwahlen, die nicht mit einer Regierungsbildung verbunden sind, ergeben. Für Deutschland kommt hinzu, dass Europa gerade deshalb ein schwieriges Thema darstellt, weil es so wenig kontrovers ist: In einer Studie zu den Europawahlen des Jahres 2004 stellte de Vreese (2009) fest, dass die Kampagnenbemühungen der Parteien bei Nebenwahlen nicht nur weniger "professionell" ausfallen als bei Wahlen erster Ordnung, sondern auch dass die Wahlkämpfe in solchen Ländern, wo die EU nicht umstritten ist, länger und aktiver sind als in hinsichtlich der EU polarisierten Mitgliedstaaten. Das heißt, in konsensuellen Kontexten – dazu gehört auch Deutschland – muss die Politik mehr tun, um Aufmerksamkeit und Interesse für die Europawahl zu wecken und Medien sowie Wählerschaft zu mobilisieren. Mit der über die Jahre zurückgehenden Wahlbeteiligung ist diese Herausforderung eher noch gestiegen. Die Forschung indessen hat gezeigt, dass sich der Einsatz der Politik durchaus lohnt und Wahlkampagnen zur Mobilisierung der Wählerschaft beitragen können. So fanden Franklin, van der Eijk und Oppenhuis (1996) in einer Studie zu den Europawahlen des Jahres 1989, dass die Wahlbeteiligung nach den institutionellen Faktoren (wie Wahlpflicht und Wahlsystem) von individuellen Variablen der Wählerinnen und Wähler beeinflusst wird, und dazu gehört insbesondere die Kampagnenmobilisierung. Mobilisierung erweist sich sogar als die gegenüber Gewohnheit und Loyalität wichtigere Voraussetzung für die Beteiligung an Europawahlen (van der Eijk & Franklin, 1996, S. 394). Steinbrecher und Huber (2006, S. 26) gelangen in einer Untersuchung für die Wahlen 1994
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und 1999 ebenfalls zu dem Schluss, dass die Kampagne für die Wahlbeteiligung von Bedeutung ist und sogar von der einen Wahl zur nächsten noch zugenommen hatte. Ähnlich sieht auch der Befund von Weßels für den Europawahlkampf 2004 aus: "Mehr Wahlkampfanstrengungen bedeuten auch mehr Wähler an den Urnen." (2005, S. 103; vgl. auch Wessels, 2007). Den Medien wird gemeinhin ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, wenn es um Europa und Europawahlen geht, und damit die (Mit-)Schuld am viel diskutierten Öffentlichkeitsdefizit der EU gegeben (vgl. z. B. Brettschneider & Rettich, 2005). Europawahlkämpfe finden in den Medien wenig Aufmerksamkeit. Das Interesse der Medien an Europawahlen bleibt weit hinter dem an nationalen Wahlen zurück, das gilt für Deutschland ebenso wie für andere EU-Mitgliedstaaten (vgl. de Vreese, Banducci, Semetko, & Boomgarden, 2006; Kevin, 2001; Wilke & Reinemann, 2005; Zeh & HoltzBacha, 2005). 2
Wie europäisch war die Kampagne?
Wie sah es also 2009 aus mit dem Engagement der Parteien für Europa? Welche Akzente die Wahlkampagne setzte und ob die Parteien die Europawahl als ein europäisches oder doch eher als ein nationales Ereignis behandelten, lässt sich am besten an denjenigen Kampagnenmaterialien ablesen, die allein in der Verantwortung der Parteien stehen und nicht der medialen Verarbeitung unterliegen. Darunter fallen ihre Werbemittel wie Plakate, Anzeigen in den Printmedien, die Parteienspots in Radio und Fernsehen sowie ihre Online-Angebote. Plakate und die Werbespots, die die Parteien für die Ausstrahlung im Fernsehen produzierten, dienen im folgenden dazu, um zu prüfen, wie europäisch die Kampagne zur Europawahl 2009 konzipiert war, oder ob eher nationale Bezüge im Vordergrund standen. Das markanteste Element der Plakate sind die Slogans der Parteien. Slogans verdichten die Kampagne einer Partei zu einer zentralen Wahlkampfaussage; sie sollen Aufmerksamkeit für die Partei wecken und zur Mobilisierung der Wählerschaft beitragen (vgl. Toman-Banke, 1994, S. 47). Daher sollten die Bezüge zu Europa in den Slogans am deutlichsten hervortreten. Bilder der Kandidatinnen und Kandidaten für das Europäische Parlament sowie europäische Symbole können als weitere Indikatoren dafür dienen, wie europäisch die Kampagne ausfiel oder ob die Parteien die Europawahl
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doch mehr für den innerdeutschen Konkurrenzkampf einsetzten (für eine detaillierte Analyse der Plakate vgl. Lessinger & Holtz-Bacha, in diesem Band.) Eine eindeutig europäische Zielrichtung demonstrierten die Plakate der Grünen, die sich auch schon 2004 durch einen klaren Europabezug auszeichneten. Für die Europawahlkampagne 2004 hatten sich die Grünen mit ihren Schwesterparteien aus anderen Mitgliedstaaten zu einer einheitlichen Kampagne zusammengetan und die Plakate zeigten das auch, indem neben dem Logo der deutschen Grünen auch das Logo des europäischen Zusammenschlusses The Greens zu sehen war (vgl. Holtz-Bacha, 2007; Dillenburger, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005). Ihr Slogan "Mit Wums! für ein besseres Europa" blieb wohl für manche kryptisch, weil die Bedeutung des lautmalerischen Wums! (= Wirtschaft & Umwelt, menschlich & sozial) nur durch genaueres Studium der Plakate zu entschlüsseln war, zielte aber eindeutig und nur auf Europa. Zwei Kandidatenplakate zeigten die Spitzenkandidaten der Grünen für die Europawahl, Rebecca Harms und Reinhard Bütikofer. Alle anderen Plakate, die ein einheitliches Design aufwiesen, kombinierten Sachthemen mit dem Europa-Slogan. Klare Europareferenzen wiesen auch die Plakatkampagnen von FDP und CDU auf, die diese allerdings mit Bezügen zu Deutschland kombinierten. In der Plakatkampagne der FDP dominierte eine Serie, die die Europaabgeordnete und Spitzenkandidatin der FDP Silvana Koch-Mehrin mit dem Slogan "Für Deutschland in Europa" oder einem Sachthema und der Aufforderung "Wählen Sie Ihr Europa" abbildete. Die traditionellen Parteifarben der FDP, die mit gelb und blau zugleich die Farben Europas sind, machen es der Partei leicht, auch in der Farbsymbolik den Bezug zu Europa herzustellen. Entsprechend ihrem Slogan "Für Deutschland in Europa" ließen die Plakate zusätzlich die deutsche sowie die europäische Fahne erkennen. Noch stärker als die FDP balancierte die CDU zwischen Deutschland und Europa. Der beherrschende Slogan ihrer Plakate lautete "Wir in Europa", das durch themenbezogene Claims ergänzt wurde. Indem die CDU das "Wir" ihres Slogans mit den Nationalfarben unterlegte, setzte sie einen eindeutigen nationalen Akzent und bot so eine Identifikationsmöglichkeit für die Wählerinnen und Wähler. Eine Serie ihrer Plakate wies einen jeansblauen und ebenso strukturierten Hintergrund mit applizierten goldenen Sternen auf, eine weitere Serie umfasste ebenfalls Themenplakate, die jedoch visuell den Europabezug weniger deutlich herausstellten. Ein Plakat zeigte den
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ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und CDU-Spitzenkandidaten Hans-Gert Pöttering in Kombination mit dem Slogan "Im deutschen Interesse: Ein starkes Europa", ein weiteres die Bundeskanzlerin, im Hintergrund die Europafahne und dazu der Claim "Wir haben eine Stimme in Europa". Obwohl Angela Merkel nicht Kandidatin bei der Europawahl war, instrumentalisierte die CDU nicht nur deren Popularität, sondern auch die europapolitische Präsenz der Kanzlerin und assoziierte sie mit dem Gewicht, das Deutschland in Europa zukommt; der Claim unterstrich einen auch in der Bevölkerung verbreiteten Eindruck: Im Frühjahr 2008 gaben sich 78 Prozent der Deutschen davon überzeugt, dass die Stimme Deutschlands in der EU zählt (Hegewald & Schmitt, 2009, S. 17). Die christlichsoziale Schwesterpartei dagegen suggerierte, bei der Europawahl stehe das Gewicht Bayerns in Europa auf dem Spiel. Eine Reihe von Textplakaten versprach: "Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa". Derselbe Slogan fand sich auch auf Plakaten mit den Bildern des CSUSpitzenkandidaten Markus Ferber, dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Eine weitere Plakatserie der CSU verband den Claim "Beherzt handeln" mit Forderungen "Für ein bürgernahes Europa", "Für Arbeitsplätze in Bayern" sowie "Arbeitsplätze sichern in Bayern. Steuern runter in Deutschland. Klare Grenzen für Europa." Ungewöhnlich war die Strategie der SPD, die mit einer Negativkampagne CDU, FDP sowie Die Linke aufs Korn nahm. Sie verband diese dann zwar mit europabezogenen Forderungen, die Attacken gegen die anderen Parteien machten aber deutlich, dass sich die SPD bereits im Bundestagswahlkampf sah. Das gegen die Union gerichtete Plakat behauptete "Dumpinglöhne würden CDU wählen" und kombinierte den Claim mit der Forderung "Für ein Europa der fairen Löhne". Auf dem zweiten Plakat der Negativserie hieß es: "Finanzhaie würden FDP wählen. Für ein Europa, in dem klare Regeln gelten". Das dritte Plakat stellte fest: "Heiße Luft würde DIE LINKE wählen" und dazu: "Für ein Europa, in dem Verantwortung zählt". Der rote Würfel mit dem Parteilogo enthielt außerdem die Forderung "Mehr SPD für Europa". Ein weiteres Poster kombinierte das Bild des SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz mit dem Claim "Für ein soziales Europa"; zwei Plakate zeigten Martin Schulz zusammen mit dem SPDKanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier. Fast ganz ohne Europabezug
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kam Die Linke aus. Lediglich ein Plakat forderte "Mindestlöhne europaweit", und ein Kandidatenplakat stellte Spitzenkandidat Lothar Bisky vor. Im Vergleich der Parteien hatten die Grünen die europäischste Plakatkampagne konzipiert. Sie nehmen keinen Bezug zu Deutschland und deutscher Politik (wenn man von einem Bildbezug zu Wolfgang Schäuble und den Aufruf "Haltet den Datendieb" absieht), ihre Themen sind grenzüberschreitend, und sie bildeten keine Bundespolitiker der Partei, sondern nur ihre Spitzenkandidaten für die Europawahl ab. FDP und CDU, deren Plakate ebenfalls deutliche Europabezüge aufwiesen, arbeiteten jedoch mit Slogans, die außerdem Bezug auf Deutschland nahmen und damit suggerierten, bei der Europawahl ginge es um die Stärke der Vertretung Deutschlands – oder gar Bayerns, wie die CSU nahelegte – in Europa. Tatsächlich steht die Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament fest, vielmehr entscheidet die Europawahl über die Verteilung dieser Sitze auf die Parteien. Insofern trifft die Forderung "Mehr SPD für Europa" besser als die Slogans von FDP und CDU, was die Stimmabgabe bei der Europawahl leisten kann. Die Abbildung von Politikerinnen und Politikern, die bei der Europawahl nicht als Kandidaten antreten und nicht gewählt werden können, ist zwar eine gängige Sympathiestrategie, ist jedoch irreführend und demonstriert gleichzeitig den bundespolitischen Akzent der Europawahl. Einzig die FDP bekannte sich wie bereits im Jahre 2004 eindeutig zu ihrer Europa-Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin, was sicherlich auch aus dem Erfolg der damaligen Personalisierungsstrategie zurückzuführen ist: Während Koch-Mehrin zu Beginn des Wahlkampfes 2004 noch gänzlich unbekannt war, überholte sie laut einer Studie von Infratest Dimap "alle anderen Spitzenkandidaten mit Ausnahme von Daniel Cohn-Bendit im Bekanntheitsgrad" (Niedermayer, 2005, S. 70). Dies mag sicherlich mit ein Grund dafür sein, warum die Partei auch für die Europawahl von 2009 auf eine ganz ähnliche Werbestrategie setzte und erneut die mittlerweile bundesweit bekannte Spitzenkandidatin auf dem Gros der Wahlplakate zeigte (Parteichef Westerwelle tauchte hingegen auf nur einem Plakat auf). Einen weiteren Indikator für das Engagement der Parteien bei der Europawahl stellen die Werbespots dar, die diese für die Ausstrahlung im Fernsehen produzieren. Der Aufwand, den die Parteien für die Fernsehwerbung betrieben, hielt sich erwartungsgemäß in Grenzen. Zur Europawahl waren 32 Parteien zugelassen und hatten Anspruch auf Sendezeit bei ARD und ZDF, bis auf eine Partei haben alle davon Gebrauch gemacht. Nur CDU
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und die SPD kauften zusätzlich Werbezeit im kommerziellen Fernsehen ein. Die CDU setzte hier dann aber nur eine Kurzversion ihres für das öffentlich-rechtliche Fernsehen produzierten Spots ein. Als einzige Partei legte die SPD zwei unterschiedliche Kurzspots vor, die im kommerziellen Fernsehen zum Einsatz kamen; für die Ausstrahlung bei ARD und ZDF wurden diese beiden kurzen Spots einfach aneinandergehängt. Dieser geringe Aufwand für die Fernsehwerbung ließe sich als Indiz dafür nehmen, dass die Parteien im Europawahlkampf mit ihren Kräften sparten. Allerdings haben auch vergangene Bundestagswahlen schon gezeigt, dass den Parteien offensichtlich dieses Werbemittel nicht (mehr) so wichtig ist (vgl. Holtz-Bacha & Lessinger, 2006; Wir sind keine Erfüllungsgehilfen, 2002), so dass die niedrige Zahl der Spots nur bedingt geeignet ist, um Aussagen über das Engagement der Parteien bei der Europawahl zu machen. Die nachfolgend berichteten Befunde zu den Europabezügen der Fernsehwahlwerbung sind das Ergebnis einer Inhaltsanalyse, die den ganzen Spot als Analyseeinheit verwendet2. Damit lässt sich der thematische Schwerpunkt eines Werbespots sowie ein Gesamteindruck seines Tenors ermitteln; da dieses Vorgehen aber das visuelle Konstruktionsprinzip eines Spots, das auf der Kombination mehrerer Formate beruht, nicht nachvollzieht, lassen sich die verbalen und visuellen Strategien jedoch nicht erheben (vgl. aber: Lessinger & Holtz-Bacha, in diesem Band). Diese Analyse der Parteienspots macht deutlich, dass Europa 2009 eher ein Randthema darstellte. Inhaltlich spielte der Themenkomplex "Wirtschaft und Finanzen" die größte Rolle in den Fernsehspots, was in Anbetracht der schwelenden Finanzkrise nicht überraschend war. Auch die Wählerinnen und Wähler sowie die befragten Europakorrespondenten erwarteten eine Dominanz von wirtschaftlichen Themen im Europawahlkampf: Eine bereits im Frühjahr 2008 durchgeführte Eurobarometer-Studie zeigte, dass die Wählerinnen und Wähler in Deutschland die beiden Themenkomplexe "Arbeitslosigkeit" (59%) und "Inflation und Kaufkraft" (51%) als die prägenden Themen für den anstehenden Wahlkampf betrachteten (Die Europawahlen 2009, 2008). Für die Wählerinnen und Wähler in ganz Europa ergibt sich ein ganz ähnliches Bild: Hier landen sogar drei Wirtschaftsthemen auf den ersten drei Plätzen, nämlich "Arbeitslosigkeit" (47%), "Wirtschaftswachstum" (45%) sowie "Inflation und Kaufkraft" (41%). Eine ähnliche Einschätzung hin2
Die Autoren bedanken sich bei Stanislava Vardina für die Codierung und Inhaltsanalysedaten
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sichtlich der dominierenden Themen im Wahlkampf gaben auch die Europakorrespondenten ab, sie betrachteten "Wirtschaft und Finanzen" (79%) sowie "Arbeit und Arbeitsmarkt" (71%) weit vor "Umwelt" (35%) als die möglichen Top-Themen. In Anbetracht dieser Ergebnisse und der sich aufdrängenden Wirtschaftsthemen war es eine logische Konsequenz, dass mehr als die Hälfte (53%) der Spots ökonomische Sachverhalte als Hauptthema herausstellte, mit großem Abstand gefolgt von "Sozialpolitik" (12%). Im überwiegenden Teil der Spots, in denen einer dieser beiden Themenkomplexe als Hauptthema zu identifizieren war, ließ sich dann auch ein direkter Bezug zur Wirtschafts- und Finanzkrise sowie zu möglichen Wegen und Lösungsansätzen für ihre Überwindung feststellen. Da es sich bei der Wirtschaftskrise ohnehin um ein negatives Thema handelt, überrascht es wenig, dass in den Spots insgesamt kritische bzw. negative Bewertungen (56%) gegenüber positiven (9%) bei weitem überwogen. Insgesamt fanden sich genauso viele Spots mit rein innenpolitischer Behandlung des jeweiligen sachpolitischen Hauptthemas (21%) wie solche, in denen die Themenbehandlung rein europäisch (21%) war. Zählt man die Spots mit vorwiegend innenpolitischer bzw. vorwiegend europäischer Behandlung hinzu, ändert sich das Verhältnis nicht auffällig (38% mit innenpolitischer und 32% mit europäischer Perspektive). Neben der Identifizierung eines sachpolitischen Hauptthemas wurden die Spots zusätzlich auf europaspezifische Hauptthemen untersucht – allerdings ließ sich in über der Hälfte der Spots (56%) kein Europathema ausfindig zu machen. Diejenigen Spots, die ein Europathema aufwiesen, drehten sich um ein "Europa der Bürger" (16%), in dem sich die jeweiligen Parteien für mehr und weiterreichende Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger einsetzten, um den Vertrag von Lissabon (9%), die Rolle Deutschlands bzw. Bayerns in der EU (6%) sowie die Entwicklung oder Erweiterung der EU (6%). Auch hier überwog deutlich eine kritischnegative Themenbehandlung (86%). Weiterhin ist bezeichnend, dass nur 9 der insgesamt 31 Parteien in ihren Slogans durch Begriffe wie "Europa" oder "EU" überhaupt einen Europabezug herstellten. In zwei Dritteln der Spots waren außerdem keine visuellen Bezüge zu Europa zum Beispiel durch den Einsatz von Europa-Symbolen wie der europäischen Flagge oder Farben auszumachen. Ein weiteres Indiz dafür, wie stark die Parteien ihre Kampagne europäisch akzentuierten, liegt in der Häufigkeit, mit der die Europakandidaten
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oder andere Parteivertreter in den Wahlspots auftauchten. In 13 Spots (41%) war gar kein Parteivertreter zu sehen. Unter denjenigen Spots, die Parteivertreter zeigten, war in etwas mehr als der Hälfte (53%) der Spots ein Europakandidat zu sehen, aber nur in wenigen Fällen (16%) war dieser auch das (Haupt-)Thema des Wahlspots. Im Gegensatz zu den anderen Parteien zeigten die Grünen aus der eigenen Partei ausschließlich ihre beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl, Rebecca Harms und Reinhard Bütikofer, jedoch tauchten beide Kandidaten nur für einen kurzen Moment am Ende des Spots auf und waren zudem aufgrund der kleinformatigen Darstellung kaum zu erkennen. Im Rahmen einer Negativstrategie kamen aber in dem Spot der Grünen außer der Bundeskanzlerin auch der britische Premier Gordon Brown, der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der russische Präsident Medwedew sowie der russische Ministerpräsident Vladimir Putin ins Bild. SPD und FDP ließen ihren jeweiligen Europa-Spitzenkandidaten neben einem Spitzenpolitiker ihrer Partei auftreten. Doch während die SPD ihrem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier in etwa die gleiche Redezeit zur Verfügung stellte wie ihrem Europakandidaten Martin Schulz, tauchte der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle nur für einen kurzen Augenblick neben der Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin auf. Die beiden Unionsparteien dagegen hatten offenbar kein Vertrauen in die Bekanntheit ihrer Europaabgeordneten, obwohl zumindest die CDU mit dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, über einen relativ bekannten Spitzenkandidaten verfügte. Dennoch zeigten die beiden Unionsparteien in ihren Fernsehspots ausschließlich ihre beiden Parteivorsitzenden Angela Merkel und Horst Seehofer. 3
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Europa kommt vor, aber eine Kampagne, die dem Sinn der Europawahl gerecht wird, war das nicht. Dieser Befund ist nicht nur dadurch bedingt, dass 2009 die Bundestagswahl wenige Wochen nach der Europawahl anstand, sondern darin spiegeln sich eben auch deren "Konstruktionsprobleme". Diese liegen nicht nur darin, dass der Europawahl die üblichen Spannungsmomente einer Wahl fehlen, sondern sind auch dadurch bedingt, dass das Wahlverfahren bislang wenig europäisch angelegt ist und es außerdem besonderer Anstrengungen bedarf, um den Wahlberechtigten zu vermitteln,
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warum sie sich an der Wahl beteiligen sollten und welche Auswirkungen der Wahlausgang für sie hat. Dabei drängte sich den Parteien mit der Finanzund Wirtschaftskrise 2009 ein übernationales Thema auf, das sich für einen europäisch geprägten Wahlkampf eignete. Das Thema taucht auch prominent in den Werbekampagnen auf, wird jedoch kaum als ein Problem in den Wahlkampf eingebracht, das Europa als Ganzes betrifft und eines gemeinsamen Vorgehens bedarf. Stattdessen stellten sich die Parteien als Problemlöser vor: "Für den Weg aus der Krise" bot sich die CDU an, und die Grünen empfahlen: "Mit grünen Ideen aus der Krise", während die SPD "Finanzhaie", also für die Krise Verantwortliche und Profiteure, als Unterstützer der FDP ausmachte. Die Fernsehwerbung der Parteien fiel überraschend negativ aus: Europa taucht zwar in den Themen auf, jedoch sehr häufig mit einem äußerst europakritischen Bezug. Das führt dann auch zu einem generell eher negativen Gesamteindruck der Spots, der vorwiegend auf das Konto der Kleinparteien geht. Diese nutzten die ihnen zur Verfügung stehende Sendezeit vornehmlich, um mit den etablierten Parteien abzurechnen und diesen ihre misslungene Politik insbesondere in den Bereichen Wirtschaft und Soziales vorzuhalten. Eine genauere Betrachtung der Ergebnisse zeigt jedoch, dass sich auch bei den Spots der Linken, den Grünen und der SPD zahlreiche negative Elemente finden lassen. Besonders Die Linke inszenierte sich als Kritikerin der Regierungsparteien, und ihr Spot war ganz im Stile der Kleinparteien produziert. Während also einerseits viele kleine Parteien und auch die SPD, die Grünen und Die Linke auf die negativen Effekte der Finanzkrise und die ihrer Meinung nach für diese Krise Verantwortlichen in ihren Spots hinwiesen, gaben sich die Unionsparteien betont harmonisch, setzten auf das Prinzip "Hoffnung" und warben für das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler, dass die Wirtschaftskrise dank ihrer wirtschafspolitischen Kompetenz zu überwinden sei. CDU ebenso wie FDP suggerierten mit ihren Kampagnen zudem, es gehe bei der Wahl darum, in der EU deutsche Interessen zu vertreten und die Vertretung Deutschlands daher stark zu machen; die CSU warb gar für eine eigene Stimme Bayerns in Europa. Auch wenn strategisch diese Verbindung zwischen Deutschland und Europa durchaus geschickt ist, weil sie zur Identifikation einlädt und den Eindruck bestärkt, Deutschland könnte sich auch in der großen Gemeinschaft behaupten, täuschen die Slogans eine Funktion der Wahl vor, die gar nicht besteht.
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Dass die Parteien der Europawahl, wenn nicht Testwahlcharakter, so doch eine Signalwirkung für die Bundestagswahl zusprachen, spiegeln die Kandidatenplakate mit Prominenz aus der nationalen Politik. Die Spitzenpolitiker aus den Parteiführungen der Unionsparteien, von SPD und FDP sollen als Zugpferde für die meist wenig bekannten Europakandidaten dienen, stellen aber auch die Verbindung zum innerpolitischen Konkurrenzkampf und damit zur Bundestagswahl her. Mit ihrer Negativkampagne, die auf Plakaten und in den Fernsehspots Union, FDP und Linke attackierte, demonstriert die SPD erst recht den innerdeutschen Wettbewerb um die Wählerinnen und Wähler und stellt so ihre Beteuerungen, die Europawahl habe keine bundespolitische Bedeutung, selbst in Frage. Nur die Grünen und Die Linke haben darauf verzichtet, Kandidaten auf ihre Plakate zu bringen, die nicht zur Wahl standen. Wie schon bei früheren Europawahlen lässt sich auch 2009 den Grünen ein konsequent europäischer Wahlkampf bescheinigen. Ihre Themen ebenso wie ihre europa-affine Wählerklientel machen es der Partei ohnehin leicht, eine übernationale Kampagne zu führen. Die Grünen konzentrieren sich auf Europa, verzichten auf die Vermischung mit der Innenpolitik und lassen auch nur ihre Europakandidaten auftreten. Die Linke dagegen, die ebenfalls versucht, sich mit übernationalen Themen zu platzieren, unterlässt nicht nur den Bezug zur deutschen Politik, sondern stellt auch so gut wie keinen Europabezug her. Wenn es im Europawahlkampf also darum geht, die Wählerschaft zu mobilisieren und der Stimmabgabe einen Sinn zu verleihen, müssten die Parteien nicht nur in die Kampagne investieren, sondern diese auch europäisieren. 2009, wenige Monate vor der Bundestagswahl, ist davon nicht viel zu sehen gewesen. Da die Forschung gezeigt hat, dass der Politik im Dreieck mit Medien und Wählerschaft gerade im Europawahlkampf eine Schlüsselrolle zukommt, liegt es an ihr, durch stärkeres Engagement der Europawahl zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Literatur Brettschneider, F., & Rettich, M. (2005). Europa – (k)ein Thema für die Medien. In J. Tenscher (Hrsg.), Wahl-Kampf um Europa. Analysen aus Anlass der Wahlen zum Europäischen Parlament (S. 136-156). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009. Eine Analyse auf der Basis einer Onlinebefragung Harald Schoen
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Einleitung
Seit der Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament nutzen deutlich weniger Deutsche ihr Wahlrecht auf europäischer als auf nationaler Ebene (z. B. Wüst &Tausendpfund, 2009). Auch vor der Europawahl 2009 zeichnete sich in Umfragen eine geringe Partizipationsrate ab (z. B. ZDFPolitbarometer, 2009) – und tatsächlich lag die Beteiligung in Deutschland mit 43,3 Prozent nur minimal über dem Wert der Wahl 2004, der den bisherigen partizipatorischen Tiefpunkt markiert. Die erwartete niedrige Wahlbeteiligung wurde von staatlichen Stellen, die offenbar niedrige Beteiligungsraten mit Legitimationsproblemen für das Europäische Parlament verbunden sehen, zum Anlass für Mobilisierungsbemühungen genommen, die zwar ungewöhnliche Wege beschritten, jedoch nicht sehr wirkungsvoll gewesen zu sein scheinen (Schoen & Faas, 2009). Daneben versuchten, wie vor jeder Wahl, politische Parteien in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse Wahlberechtigte zur Stimmabgabe zu motivieren. Wie etliche Arbeiten gezeigt haben, können gezielte Parteikampagnen einen Beitrag dazu leisten, Bürger zur Partizipation an Wahlen anzuregen (etwa Finkel, 1993; Gerber & Green, 2000; Green & Gerber, 2008; Hillygus, 2005; Imai, 2005; Lau & Pomper, 2002; Nickerson, 2008; Norris, Curtice, Sanders, Scammell, & Semetko, 1999). Auch haben Forscher Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Wahlkampagnen vor Europawahlen mobilisierend wirken können (z. B. Franklin, van der Eijk, & Oppenhuis, 1996; Steinbrecher & Huber, 2006; Weßels, 2005, 2007). Die Chancen der Parteien, mit Wahlkampfanstrengungen Bürger zur Teilnahme an der Europawahl 2009 zu bewegen, scheinen daher recht günstig. Es kommt hinzu, dass bei einem niedrigen generellen Aktivierungsniveau wie vor der Wahl am 7. Juni 2009 ein vergleichsweise großes
Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009
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Mobilisierungspotential besteht, das es Parteien und Kandidaten recht leicht machen dürfte, mit geschickt gewählten Instrumenten die Beteiligungsrate zu steigern. Allerdings darf man eine Reihe von Gegenargumenten nicht übersehen. Europawahlen gelten als für Parteien nachrangige Wahlen, da der eigentliche Kampf um die politische Macht nach wie vor in der nationalen politischen Arena stattfinde. Daher führten die Parteien vor Europawahlen keine allzu aufwendigen Wahlkämpfe, sondern begnügten sich mit kurzen, wenig intensiven und von den Bürgern kaum wahrgenommenen Kampagnen (z. B. Esser, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005; Maier & Tenscher, 2006; Wüst &Roth, 2005). Mit unauffälligen oder schlecht orchestrierten Kampagnen dürften sich jedoch kaum durchschlagende Mobilisierungserfolge erzielen lassen. Mit Blick auf die Europawahl 2009 in Deutschland gewinnt dieser Einwand an Überzeugungskraft. Denn in einem Bundestagswahljahr dürften sich Parteien, vor die Wahl gestellt, im Zweifel dafür entschieden haben, ihre begrenzten Ressourcen beim Kampf um die Sitzverteilung im Bundestag und die Regierungsmacht im September 2009 einzusetzen, statt ihr Pulver bereits zur Europawahl zu verschießen. Im Einklang damit stehen Hinweise darauf, dass zur Europawahl 2009 eher sparsame Kampagnen geführt wurden. So wies beispielsweise Christina Holtz-Bacha darauf hin, dass die Plakatwerbung zur Europawahl eher langweilig denn sonderlich einfallsreich wirke (Parteien sollten sich..., 2009). Wenn aber die Wahlwerbung wenig ansprechend gestaltet war, dürfte sie nicht sehr effektiv bei der Mobilisierung von Wahlberechtigten gewesen sein. Es ist daher eine empirische Frage, ob die Kampagnen der Parteien die Beteiligung an der Europawahl 2009 tatsächlich förderten. Der vorliegende Beitrag geht daher der Frage nach, ob und inwieweit die Wahlkampfrezeption vor der Europawahl 2009 die Beteiligung an diesem Urnengang in Deutschland steigerte. Im Folgenden wird zunächst kurz der Forschungsstand zu den Determinanten der Europawahlbeteiligung skizziert, ehe daraus Hypothesen abgeleitet werden. Diese werden mit Hilfe von Daten aus einer Onlinebefragung zur Europawahl 2009 in Deutschland empirisch geprüft. Der Aufsatz schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der zentralen Befunde und deren Diskussion.
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Harald Schoen Forschungsstand und Hypothesen
Die Beteiligung an einer Wahl lässt sich als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses auffassen, in dem begünstigende und hemmende Faktoren zusammenwirken (Blondel, Sinnott, & Svensson, 1998; Milbrath & Goel, 1977). Eine beteiligungsförderliche Wirkung kann daraus resultieren, dass die – materiellen oder immateriellen – Kosten der Wahlteilnahme sinken. Dazu können institutionelle Faktoren wie der Wahltermin und die Organisation von Wahlen, aber auch individuelle Faktoren wie freie Zeit und kognitive Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit Politik beitragen. Neben diesen Faktoren, die es Wahlberechtigten erleichtern, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, gibt es Faktoren, die Bürger zur Stimmabgabe motivieren. Derart mobilisierend können stabile politische Prädispositionen wie Parteibindungen und das Wahlpflichtgefühl wirken, aber auch kurzfristige kandidaten-, parteien- oder sachfragenbezogene Orientierungen. Auf gesellschaftlicher Ebene sind Kampagnen von Parteien und Kandidaten als wesentliche Mobilisierungsfaktoren zu betrachten (Steinbrecher & Huber, 2006, S. 21). Wendet man dieses Schema auf Wahlen zum Europäischen Parlament an, erscheinen die Voraussetzungen für hohe Beteiligungsraten nicht allzu günstig. Seit ihrer ersten Auflage 1979 gelten Europawahlen als Nebenwahlen (Reif & Schmitt, 1980). Dieser Charakterisierung liegt die Annahme zugrunde, für politische Akteure und Bürger stelle die nationale Arena die politische Hauptarena dar und sie orientierten sich vor allem an der Verteilung der Regierungsmacht auf dieser Ebene. Bei Europawahlen gehe es für sie daher um vergleichsweise wenig. Dies führe dazu, dass Wahlberechtigte Europawahlen als relativ unwichtig beurteilten – und deshalb einen geringeren Anreiz sähen, an einer solchen Wahl teilzunehmen. Zugleich würden die Parteien Europawahlen wegen deren geringer Bedeutung für die nationale Machtverteilung wenig Aufmerksamkeit schenken. Im Vergleich zu Bundestagswahlkampagnen würden Wahlkämpfe zu Europawahlen mit deutlich geringerem Aufwand geführt. Das führt zum einen dazu, dass die Kampagne wenig dazu beitragen kann, Bürgern den Eindruck zu vermitteln, bei der Europawahl stehe viel auf dem Spiel. Zum anderen können mit halber Kraft betriebene Kampagnen Bürger – unabhängig von der wahrgenommenen Wichtigkeit des Europäischen Parlaments – kaum zur Stimmabgabe bewegen. Denn eine solche Kampagne wird nur wenige Bürger direkt erreichen
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und kaum die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich ziehen, die wiederum Bürger zur Stimmabgabe motivieren könnten. Diese Beschreibung spricht für schwach ausgeprägte mobilisierende Faktoren bei Europawahlen, weshalb es nur konsequent erscheint, dass eine niedrige Wahlbeteiligung als Charakteristikum von Europawahlen gilt. Soweit Parteien und Kandidaten Wahlkampf führten, so weiter die Nebenwahlthese, behandle er nicht europapolitische Fragen, sondern ziele auf das Geschehen in der nationalen politischen Arena. Damit korrespondierend wird davon ausgegangen, dass die individuelle Wahlentscheidung bei Europawahlen ganz erheblich von Faktoren auf der nationalen Hauptebene beeinflusst wird. So wurde etwa hervorgehoben, dass Europawahlen Bürgern nicht zuletzt dazu dienten, ihrer Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung Ausdruck zu verleihen. Dies könne sich darin äußern, dass enttäuschte Bürger, die sich bei der letzten Hauptwahl für eine Regierungspartei entschieden haben, nun der Wahl fernblieben oder aber für eine Oppositionspartei votierten. Europaspezifische Faktoren sollten bei einer reinen nationalen Nebenwahl die individuelle Wahlentscheidung praktisch unberührt lassen. Was die Determinanten der individuellen Beteiligungsentscheidung angeht, ist der Forschungsstand nicht eindeutig. Einige Arbeiten finden (praktisch) keine Anhaltspunkte dafür, dass europapolitische Orientierungen die Teilnahme an Europawahlen beeinflussen; und soweit derartige Effekte auftreten, fielen sie deutlich weniger ins Gewicht als andere, auf die nationale politische Arena gerichtete Faktoren (Schmitt & Mannheimer, 1991; Schmitt & van der Eijk, 2007, 2008; Schmitt, Sanz, & Braun, 2009; Steinbrecher & Huber, 2006). Dementsprechend dürfe die geringe Beteiligung an Europawahlen nicht vorwiegend als Hinweis auf verbreitete Europaskepsis gewertet werden. Umgekehrt betrachtet impliziert diese Deutung, dass Werbung für das europäische Einigungswerk die Beteiligung an Europawahlen kaum steigern dürfte. Gegen diese Sichtweise wandten sich recht früh Blondel, Sinnott und Svensson (1998), die als ein wesentliches Motiv für die Enthaltung bei Europawahlen europaskeptische Orientierungen ausmachten. Da sie sich in ihren Analysen jedoch fragwürdiger Methoden bedienten, konnte ihre Position in der Forschung zunächst keinen großen Einfluss gewinnen. Erst Schmitt (2005a, b) machte bei der Europawahl 2004 in Deutschland und wenigen anderen EU-Staaten Indizien dafür aus, dass europaskeptische
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Harald Schoen
Dispositionen zur Stimmenthaltung beigetragen haben könnten. In einer umfassenderen Analyse zeigten Hobolt, Spoon und Tilley (2009), dass nicht nur 2004, sondern bereits 1999 europaskeptische Bürger, offenbar weil sie kein zu ihren europapolitischen Orientierungen passendes Parteiangebot vorfanden, vermehrt der Wahlurne fernblieben. Wenn man bedenkt, dass europapolitische Fragen in der Zwischenzeit in nationalen Wahlen verschiedener EU-Mitgliedstaaten das Wahlverhalten beeinflussen (z. B. de Vries, 2007; Schoen, 2009), erscheint dieser Befund weniger erstaunlich als im Lichte der Nebenwahlthese. In anderer Hinsicht steht die empirische Evidenz klarer in Einklang mit der hier grob skizzierten Nebenwahlthese. So wird immer wieder nachgewiesen, dass die Bürger dem Europaparlament und den Wahlen dazu eine vergleichsweise geringe Bedeutung zuschreiben (Kornelius & Roth, 2005). Auf der Angebotsseite am politischen Markt fällt auf, dass Europawahlkämpfe mit vergleichsweise kleinen Budgets geführt werden (z. B. Tenscher, 2005) und für keine europapolitische Polarisierung zwischen den Parteien sorgen (Weber, 2007). Es kommt hinzu, dass auch die Medienberichterstattung – gemessen an nationalen Wahlkämpfen – gering ausfällt (Brettschneider & Rettich, 2005; de Vreese et al., 2007; Wilke & Reinemann, 2007; Zeh & Holtz-Bacha, 2005). Zur mobilisierenden Wirkung dieser mit halber Kraft geführten Europawahl-Kampagnen von Parteien und Kandidaten liegen vergleichsweise wenige Arbeiten vor, die jedoch eine einhellig positive Antwort geben. So leiten Steinbrecher und Huber (2006, S. 27) aus ihrem Befund, dass die Kampagnenrezeption die Beteiligung an der Europawahl 2004 in Deutschland beeinflusst habe, ein Plädoyer für intensivere Kampagnen ab. Ebenso findet Weßels (2005, 2007) Anhaltspunkte dafür, dass für die niedrigen Partizipationsraten ein Mobilisierungsdefizit verantwortlich sei. Hobolt, Spoon und Tilley (2009) schließlich stellen fest, dass die massenmediale Kampagnenberichterstattung die Beteiligungswahrscheinlichkeit und die Motive der Wahlentscheidung beeinflussen. Ein negativer Tenor lässt demnach die Wahlenthaltung wahrscheinlicher werden und steigert den Einfluss von Europaskepsis auf die Partizipationsentscheidung. Niedrige Beteiligungsraten und geringe Kampagnenintensität scheinen demnach bei Europawahlen nicht zufällig zusammenzutreffen. Vielmehr scheinen erstere auch durch letztere verursacht zu sein. Dieser Befund erscheint theoretisch plausibel, da Wahlkampfkommunikation auf verschiede-
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ne Weise zur Teilnahme an einer Wahl beitragen kann. Wahlberechtigte können auf direkte Aufforderungen zur Stimmabgabe reagieren. Darüber hinaus kann die Wahlkampfkommunikation das Interesse an der Wahl wecken oder Partizipations- oder Parteinormen aktivieren, die ihrerseits die Beteiligung fördern. Diese Effekte sollten auch 2009 aufgetreten sein. Daher soll die Hypothese untersucht werden, dass die Rezeption von Wahlkampfkommunikation die Teilnahme an der Europawahl 2009 in Deutschland begünstigte. Zugleich ist anzunehmen, dass Kampagnen nicht in allen Segmenten des Elektorats gleichermaßen wirkungsvoll sind. Die Wirksamkeit einer Kampagne dürfte unter anderem von der politischen Involvierung der Wahlberechtigten abhängen (Franklin, van der Eijk, & Oppenhuis, 1996; Steinbrecher & Huber, 2006, S. 24-25). Denn zum einen ist davon auszugehen, dass sich politisch wenig involvierte Personen generell in ihren Orientierungen und Verhaltensweisen vergleichsweise stark von Kampagnenbotschaften beeinflussen lassen, so sie denn von diesen erreicht werden (Converse, 1962; Zaller, 1992). Zum anderen ist in diesem Segment des Elektorats das Mobilisierungspotential am größten, da mit zunehmender Involvierung die kampagnenunabhängige Partizipationswahrscheinlichkeit ansteigt. Die Mobilisierungseffekte sollten also mit wachsender politischer Involvierung abnehmen; womöglich sind sie sogar auf politisch wenig involvierte Personen begrenzt. 3
Daten und Methoden
Die empirische Analyse stützt sich auf Daten aus einer Befragung von 1.072 Mitgliedern eines Online-Access-Panels1. Bei der Auswahl der Befragten wurde darauf geachtet, dass sich die Zusammensetzung der Stichprobe im Hinblick auf Alter, Geschlecht und formale Bildung nicht wesentlich von 1
Die Daten, die in diesem Beitrag verwendet werden, wurden von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften zugänglich gemacht. Die Daten der Online-Umfrage wurden im Vorfeld der German Longitudinal Election Study (Komponente X: Vorwahl-Online-Tracking) erhoben von Prof. Dr. Hans Rattinger (GESIS und Universität Mannheim), Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und PD Dr. Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin). Sie wurden von GESIS für die Analyse aufbereitet und dokumentiert. Weder die genannten Personen noch die Institute tragen Verantwortung für die Analyse oder Interpretation der Daten in diesem Beitrag.
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der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Die Erhebung im Rahmen der German Longitudinal Election Study (DGfW, 2009) wurde von SRU-BACES an der Universität Bamberg vom 27. Mai bis zum 5. Juni 2009, also in den beiden Wochen vor der Europawahl, durchgeführt. Die Wahlbeteiligung wurde ordinal mit einer fünfstufigen Antwortvorgabe gemessen. Die Befragten konnten angeben, ob sie bestimmt, wahrscheinlich, vielleicht, wahrscheinlich nicht oder bestimmt nicht zur Wahl gehen würden. Über 50 Prozent der Befragten mit gültigen Antworten gaben an, bestimmt an der Wahl teilzunehmen oder bereits von der Möglichkeit zur Briefwahl Gebrauch gemacht zu haben. Weitere 20 Prozent wollten wahrscheinlich ihre Stimme abgeben. Wie häufig in Umfragen wurde damit die Wahlbeteiligung merklich überschätzt. Allerdings können wir an dieser Stelle nicht klären, inwieweit dazu Messfehlerprobleme, also Overreporting, und bei Onlinebefragungen verschärfte Stichprobenprobleme beigetragen haben.2 Um die Wahlkampfrezeption zu messen, wurden die Respondenten zunächst gefragt, ob sie in der letzten Zeit von den Parteien Informationen über die bevorstehende Europawahl erhalten hätten. Anschließend wurden sie zu elf Wahlkampfinstrumenten befragt. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, gab je rund ein Fünftel der Befragten an, Parteibroschüren erhalten, Wahlwerbung im Fernsehen oder Wahlplakate gesehen zu haben. Jeweils etwa ein Zehntel nannte Wahlanzeigen in Zeitungen oder Wahlwerbung im Radio. Ziemlich selten besuchten Befragte Webseiten von Parteien oder Kandidaten, Wahlveranstaltungen oder Wahlkampfstände. Auch erhielten nur sehr wenige Respondenten E-Mails oder SMS von Parteien, Telefonanrufe von Wahlhelfern oder wurden von diesen besucht. Auch wenn die internetgestützten Formen der Wahlkampfführung in der Befragung nicht sehr häufig genannt wurden, könnte ihre relative Bedeutung dadurch überschätzt werden, dass die Befragten einem Online-Panel entstammen und daher vergleichsweise internetaffin sein dürften. Aus diesen Informationen wurden zwei Kontaktmaße entwickelt. Zum einen wird mit Hilfe der Antworten auf die Eingangsfrage die Wahlkampfrezeption dichotom gemessen. Zum anderen fasst ein Zählindex zusammen, wie viele der elf Kampagnenformen Befragte tatsächlich nannten. Dies ermöglicht es zu prüfen, ob die kumulative Rezeption von Wahl2
Betrachtet man die Personen, die "weiß nicht" antworteten, als Nichtwähler, führt die Analyse zu den substantiell gleichen Ergebnissen wie die Auswertung ohne diese Respondenten.
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kampfkommunikation die Beteiligungswahrscheinlichkeit steigert. Der Zählindex zeigt, dass zwei Drittel der Respondenten keinerlei Kontakte angaben. Die Anteile für ein bis vier Kontakte bewegen sich zwischen fünf und neun Prozent. Vier Prozent der Befragten brachten es auf fünf Kontakte. Lediglich ein verschwindend kleiner Bruchteil gab mehr als fünf Kontakte an. Gemessen an den Angaben dieser Online-Befragten, scheint der Wahlkampf zur Europawahl 2009 somit nicht allzu viele Bürger erreicht zu haben.3 Tabelle 1: Rezeption des Europawahlkampfes 2009 in Deutschland (Angaben in Prozent) Häufigkeit Informationen von Parteien erhalten
33,3
Einzelne Wahlkampfinstrumente Flugblätter, Broschüren oder Postwurfsendungen Wahlwerbung im Fernsehen gesehen Wahlplakate gesehen Wahlanzeigen in Zeitungen gesehen Wahlwerbung im Radio gehört Website einer Partei oder eines Kandidaten besucht Besuch von Wahlveranstaltungen E-Mails oder SMS von Parteien oder Kandidaten Wahlkampfstand besucht Besuch von Wahlhelfern Telefonanrufe von Wahlhelfern
22,6 21,9 19,9 11,3 08,6 03,7 02,6 02,2 02,2 00,4 00,1
N
1071
Beide Rezeptionsmaße basieren auf Selbstauskünften der Befragten, die fehleranfällig sind. Im vorliegenden Fall wiegt der Messfehlerverdacht umso schwerer, als nicht ausgeschlossen werden kann, dass Messfehler den gemessenen Kampagneneffekt übertreiben. Dafür sprechen zwei Überlegun3
Im Laufe der Feldzeit zeichnet sich kein deutlich steigender Trend ab.
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gen. Zum einen neigen Befragte dazu, die Rezeption von Kampagneninhalten und die Wahlbeteiligung zu übertreiben, und beide Messfehler dürften – vermittelt durch die politische Involvierung, Parteibindungen und das Wahlpflichtgefühl – korreliert sein. Folglich könnte ein Zusammenhang zwischen beiden Selbstauskünften gemessen werden, obwohl keine substantielle Assoziation besteht (Vavreck, 2007). Zum anderen könnte der Fehler bei der Messung der Kampagnenrezeption mit der politischen Involvierung zusammenhängen, von der bekannt ist, dass sie die Wahlbeteiligung begünstigt (Caballero, 2005). So könnten sich beispielsweise politisch involvierte Personen überdurchschnittlich gut an derartige Kontakte erinnern oder mehr Wert darauf legen, sie zu berichten.4 Um die Gefahr zu mindern, Methodenartefakte als Effekte der Kampagnenrezeption zu interpretieren, ist es zwingend erforderlich, die politische Involvierung der Respondenten statistisch zu kontrollieren. Daher bezieht die Analyse die Selbstauskünfte über das generelle politische Interesse, das Interesse an der europäischen Politik, das Interesse am Europawahlkampf und die Stärke der Parteibindung ein. Sie berücksichtigt darüber hinaus als objektives Maß für die politische Aufmerksamkeit einen Index politischen Wissens. Diese Kontrollvariablen tragen dazu bei, die Fehlschlussgefahr zu mindern. Allerdings können sie diese vollständig beseitigen, solange nicht sichergestellt ist, dass die Indikatoren das Konzept politische Involvierung umfassend und unverzerrt messen. Die Analyse nimmt daneben weitere potentielle Einflussgrößen in die Analyse auf. Dazu gehört eine Reihe soziodemographischer Merkmale, denen eine Wirkung auf die Beteiligungsentscheidung zugeschrieben wird. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Merkmale: Kirchenbindung, formale Bildung, subjektive Schichtzugehörigkeit, Erwerbstätigkeit. Um die gesellschaftliche Integration und potentiell partizipationsstimulierende Kontakte (Brady, Verba, & Schlozman, 1995) zu kontrollieren, wird die Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden einbezogen. Darüber hinaus werden Prädiktoren eingeführt, die Argumente aus der Diskussion über die Europawahl als nationale Nebenwahl oder genuin europäische Wahl aufgreifen. Da das Ziel des vorliegenden Aufsatzes nicht darin besteht, differentielle Wirkungen und kausale (Wechsel-) Beziehungen 4
Es kommt hinzu, dass die Rezeption bestimmter Wahlkampfformen, etwa der Besuch von Wahlveranstaltungen, eine gewisse Motivation und damit politische Involvierung voraussetzt. Selbst wenn diese Instrumente valide mäßen, würden sie politische Involvierung miterfassen.
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zwischen entsprechenden Orientierungen zu analysieren (z. B. Schmitt & van der Eijk, 2007), beschränkt sich die Liste der einbezogenen Merkmale auf einige wenige.5 Mit Blick auf die Nebenwahlthese dient die Zufriedenheit mit der Bundesregierung als Indikator. Um zu messen, inwieweit der Eindruck, das europäische Parlament sei politisch machtlos (und daher die Stimmabgabe nutzlos), die Wahlbeteiligung beeinflusst, wird ein Indikator verwendet, der erfasst, welche Bedeutung der Befragte den Entscheidungen des Europäischen Parlaments auf die Politik in Deutschland zuschreibt. Zudem wird die Haltung des Respondenten zur Europäischen Integration in die Analyse einbezogen, und zwar gemessen mit Hilfe der Frage, ob die Europäische Integration bereits viel zu weit fortgeschritten sei oder weiter vorangetrieben werden solle. Da die Bundestagsparteien mit kleinen Abstrichen die EU-Integration im Grundsatz befürworten, dürften europaskeptische Personen keine angemessene Vertretung ihrer europapolitischen Haltung finden, weshalb Europaskepsis die Wahlenthaltung begünstigen sollte. Im ersten Analyseschritt ist zu prüfen, ob und inwieweit die Kampagnenrezeption die Beteiligungsentscheidung begünstigte. Da die Wahlbeteiligung als abhängige Variable ordinal skaliert ist, werden Ordered Logit-Modelle gerechnet, in die neben den Kontrollvariablen je eines der beiden Wahlkampfmaße als zentrale unabhängige Variable einbezogen wird. Im zweiten Schritt ist zu klären, ob die Wirkung der Wahlkampfrezeption in Abhängigkeit von der politischen Involvierung der Befragten variiert. Als Maß für die politische Involvierung dient das politische Wissen (Zaller, 1992). Um die Frage zu klären, werden Interaktionsterme aus der Involvierung und der Kampagnenrezeption in die Analyse einbezogen. Es ist zu erwarten, dass der Kampagneneffekt mit zunehmender Involvierung nachlässt. 4
Empirische Befunde
In der Analyse soll zunächst der Frage nachgegangen werden, ob von der Kampagnenrezeption unter Kontrolle einschlägiger Prädiktoren bei der Europawahl 2009 eine mobilisierende Wirkung ausging. Die zentrale unabhängige Variable ist einmal die dichotom gemessene Wahlkampfrezeption, in der zweiten Analyse die metrische Variante der Rezeptionsvariablen. Die 5
Die Berücksichtigung weiterer einschlägiger Prädiktoren lässt die zentralen Schlussfolgerungen dieser Analyse unberührt.
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Ergebnisse der entsprechenden Ordered-Logit-Modelle6 sind in Tabelle 2 zusammengestellt. Die empirische Evidenz zeigt, dass soziodemographische Merkmale der Befragten, wie Alter, formale Bildung und subjektive Schichtzugehörigkeit, wenig zur Erklärung der Beteiligungsentscheidung beizutragen vermögen. Dies kann nicht erstaunen, da Wirkungen soziodemographischer Merkmale auf politisches Verhalten in der Regel über attitudinale Merkmale vermittelt sind. Gleichwohl lässt sich erkennen, dass unter Kontrolle derartiger Merkmale Frauen einen (tendenziell) höheren Wahleifer an den Tag legen, während Arbeitslosigkeit der Tendenz nach partizipationshemmend wirkt. Auch unter Kontrolle der übrigen potentiellen Einflussgrößen erweist sich die Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Vereinigungen als beteiligungsfördernd. Dieses bemerkenswerte Ergebnis kann auf verschiedene Weise gedeutet werden. Zum einen kann man den Mitgliedschaftseffekt als Hinweis darauf werden, dass die Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Vereinigungen partizipationsförderliche Kontakte mit sich bringt. Zum anderen könnten mit der Mitgliedschaft persönliche Dispositionen gemessen werden, die sowohl die gesellschaftliche Aktivität als auch die Beteiligung an der Europawahl begünstigen. Die Stärke der Parteiidentifikation und das subjektive politische Interesse scheitern in den vorgestellten Modellen an der konventionellen Signifikanzschwelle. Diese Nicht-Effekte sind darauf zurückzuführen, dass die europaspezifische politische Involvierung kontrolliert wird. Selbst unter Berücksichtung dieser Kontrollvariablen entfaltet das politische Wissen als objektiver Indikator der Aufmerksamkeit für Politik auch unter Kontrolle der Indikatoren für europabezogene politische Involvierung eine statistisch signifikante Wirkung auf die Wahlbeteiligung. Eine ganz erhebliche Rolle spielt europaspezifische politische Involvierung für die Entscheidung, an dem Urnengang im Juni 2009 teilzunehmen. Personen, die generell an der EU interessiert sind, beteiligen sich mit überdurchschnittlicher Wahrscheinlichkeit an dieser Wahl. Noch stärker ist der positive Effekt des Interesses am Europawahlkampf 2009. Beide, vor allem aber der erste Effekt, deuten darauf hin, dass Europawahlen bevorzugt von Mitglie6
Die Bedingung paralleler Regressionssteigungen für die verschiedenen Ausprägungen der abhängigen Variablen ist in zwei Fällen nicht erfüllt. Weiterführende Analyse mit multinomialen logistischen Modellen zeigen jedoch, dass die Schlussfolgerungen dieses Aufsatzes nicht von der Wahl des statistischen Verfahrens abhängen.
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dern eines europapolitischen Themenpublikums genutzt werden, um an der Wahlurne ihre politischen Präferenzen zu artikulieren. Allerdings kann an dieser Stelle nicht entschieden werden, inwieweit das kurz vor der Europawahl 2009 gemessene Interesse allein kontextunabhängige Aufmerksamkeit für europapolitische Fragen, durch eliten- oder medieninitiierte wahlbezogene Kampagnen stimulierte Interessiertheit oder gar eine Tendenz zu sozial erwünschten Antworten widerspiegelt. Je schwerer die beiden zuletzt genannten Komponenten ins Gewicht fallen, um so mehr ist die Issue-publicInterpretation zu relativieren. Unzufriedenheit mit der Bundesregierung entfaltet in den multivariaten Analysen nicht negative, sondern positive Effekte auf die Beteiligungswahrscheinlichkeit. Dieses bemerkenswerte Ergebnis resultiert ebenfalls, wenn man die Analyse auf die Personen beschränkt, die angaben, bei der Bundestagswahl 2005 für CDU/CSU oder SPD gestimmt zu haben.7 Der vorgefundene Effekt beruht somit nicht auf einer Fehlspezifikation des Modells. Folglich scheint die Europawahl 2009 nicht im Sinne der klassischen Nebenwahlthese genutzt worden zu sein, um Unzufriedenheit mit der Bundesregierung durch Wahlabstinenz zum Ausdruck zu bringen.8 Eine skeptische Haltung zur Europäischen Integration lässt die Bereitschaft zur Stimmabgabe tendenziell sinken. Diesen Befund könnte man als Indiz dafür werten, dass eine Partei, die sich Europaskepsis auf die Fahne schriebe, mit ihrem programmatischen Angebot dazu beitragen könnte, die Beteiligung an Europawahlen in Deutschland zu steigern.9 Handelt es sich hierbei nur um Tendenzen, lässt die Wahrnehmung, das Europaparlament übe erheblichen Einfluss auf die deutsche Politik aus, die Beteiligungswahrscheinlichkeit merklich anwachsen. Dieser Effekt spricht dafür, dass das aus der Nebenwahl-Diskussion wohlbekannte Argument, bei
7
Da diese Frage in der vorliegenden Analyse keine zentrale Rolle spielt, kann darauf verzichtet werden, Validitiätsprobleme der Rückerinnerungsfrage und deren Implikationen eingehend zu erörtern.
8
Auch von der relativen Nähe zu einer Partei auf der Links-Rechts-Dimension geht kein Einfluss auf die Partizipationsentscheidung aus.
9
Eine ergänzende Analyse mit einem Indikator, der die relative Distanz der Befragten zu den Parteien in Bezug auf die Europäische Integration erfasst, unterstützt diese Interpretation.
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Tabelle 2: Determinanten der Beteiligung an der Europawahl 2009 in Deutschland (Ordered-Logit-Modelle)
Geschlecht Alter Mittlere Reife Fachhochschulreife und höher Kirchenbindung Arbeiterschicht Untere Mittelschicht Mittelschicht Arbeitslos Vereinsmitglied Politisches Interesse Politisches Wissen Stärke der Parteibindung Zufriedenheit mit Bundesregierung Interesse EU Interesse Europawahlkampf Einfluss des Europaparlaments Haltung zu EU-Integration Kampagnenrezeption (dichotom) Kampagnenrezeption (metrisch)
Modell 1
Modell 2
Modell 3
Modell 4
(0.31) (0.17) (0.01) (0.01) -0.28 (0.18) (0.28) (0.22) -0.18 (0.29) -0.33 (0.31) -0.30 (0.30) -0.07 (0.26) -0.45 (0.27) (0.40** (0.16) (0.46) (0.37) (0.90** (0.28) (0.47 (0.26) -0.81* (0.32) (1.19** (0.40) (2.93** (0.39) (0.84* (0.37) -0.27 (0.27) (0.48** (0.17)
(0.31) (0.17) (0.01 (0.01) -0.29 (0.18) (0.24 (0.23) -0.17 (0.29) -0.30 (0.31) -0.30 (0.30) -0.04 (0.26) -0.45 (0.27) (0.38* (0.16) (0.48 (0.37) (0.88** (0.29) (0.48 (0.26) -0.81* (0.32) (1.21** (0.40) (2.89** (0.39) (0.86* (0.37) -0.28 (0.27)
(0.34* (0.17) (0.01 (0.01) -0.30 (0.18) (0.25 (0.22) -0.21 (0.29) -0.35 (0.31) -0.31 (0.30) -0.07 (0.26) -0.42 (0.27) (0.41** (0.16) (0.45 (0.37) (1.16** (0.33) (0.47 (0.26) -0.85** (0.32) (1.24** (0.40) (2.94** (0.39) (0.86* (0.37) -0.29 (0.27) (0.85** (0.29)
(0.33* (0.17) (0.01 (0.01) -0.33 (0.18) (0.21 (0.23) -0.20 (0.29) -0.31 (0.31) -0.29 (0.30) -0.04 (0.26) -0.42 (0.27) (0.40** (0.16) (0.50 (0.37) (1.14** (0.32) (0.49 (0.26) -0.85** (0.32) (1.27** (0.40) (2.90** (0.39) (0.89* (0.37) -0.30 (0.27)
(1.79** (0.54)
(3.42** (1.0)
Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009 Politisches Wissen × Kampagnenrezeption (dichotom)
11-0.81 11(0.52)
Politisches Wissen × Kampagnenrezeption (metrisch) Cut
55
00-3.36* 11(1.68) 1110.29
1110.29
1110.41
1110.44
1111.23*
1111.23*
1111.36**
1111.39**
1112.12**
1112.12**
1112.25**
1112.28**
1113.17**
1113.18**
1113.30**
1113.34**
-2LL (Nullmodell)
1970.2
1970.2
1970.2
1970.2
korr. Pseudo-R²
1110.11
1110.11
1110.11
1110.12
111772
111772
111772
111772
N
Angegeben sind unstandardisierte Logitkoeffizienten mit Standardfehlern in Klammer. Signifikanzniveaus: ** p