Jo Zybell
Die Expedition Maddrax HC 08 Version 1.0
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Jo Zybell
Die Expedition Maddrax HC 08 Version 1.0
Das Buch � Dezember 2010 bis Februar 2012 – die letzten Monate Londons vor dem Einschlag des Kometen »ChristopherFloyd«. In den Tagebuchnotizen der Kriegsfotografin Johanna Carlyle spiegeln sich der Untergang ihrer Heimatstadt, das Auseinanderbrechen ihrer Familie und die Auflösung menschlicher Ordnung und Werte angesichts der nahenden Apokalypse. Die Barbarei, von der Zivilisation zurückgedrängt, aber nie endgültig besiegt, erhebt ihr hässliches Haupt… Über fünfhundert Jahre später erlebt Eve Carlyle, eine Nachkommin Johannas, ihre letzten Monate in der Bunkerstadt. In alten Datenbanken findet sie das Tagebuch ihrer Urahnin. Die Aufzeichnungen begleiten sie auf einer Expedition durch das postapokalyptische Europa. Aber anders als ihre Ururgrossmutter ahnt sie nicht einmal, in welche Katastrophe sie und ihre Crew steuern …
Prolog Anfang Juni 2516 Ein Fehler auszusteigen. Ein Fehler, ein Fehler, ein Fehler … Er wusste es, die anderen wussten es, seine innere Stimme beharrte im Rhythmus seines Herzschlages darauf, und die monotone Kunststimme des Schleusenbutlers gab ihm Recht: »Die Bordhelix meldet Alarmstufe Rot, Ma'am, das Verlassen des EWATs kann nicht empfohlen werden. Alarmstufe Rot, das Verlassen des EWATs kann nicht empfohlen werden …« Die Kommandantin hatte sich entschieden, es gab kein Zurück. Er schloss seinen Helm, und sie legte erneut ihre Handfläche auf den Sensor. Ein Träumer, wer etwas anderes erwartet hatte. Er jedenfalls kannte sie inzwischen gut genug, die Kommandantin. Und jetzt öffnete sich die Außenluke. »Die Bordhelix meldet feindliche Individuen in unmittelbarer Umgebung des Landeplatzes«, schnarrte der Schleusenbutler. »Vom Verlassen der Schleuse wird dringend abgeraten …« Grauer Himmel über Qualm, Flammen, Grasland und Kanonendonner. Nur noch ein Schritt trennte ihn von der Welt, in der seinesgleichen ohne Schutzanzug nicht überleben konnte. Die Kommandantin ging als Erste. Und jetzt er. Raus! Er sprang. Hinter der Kommandantin landete er im hohen Gras. Feuer, wohin er blickte; und zwischen Qualm, Flammen und Büschen Gestalten in erdfarbenen
Lederharnischen. Sie brüllten, schwangen Äxte, schüttelten Schwerter. Neben ihm ging der Navigator in die Knie und legte das LP-Gewehr an. Kein Gesicht war in seinem schwarzen Kugelhelm zu sehen, nur die Reflektionen der Flammen und der gleißenden Strahlen aus dem kurzen Waffenlauf. Auch die Kommandantin schoss. Keine fünfzig Schritte entfernt blähte sich eine Glutkuppel auf, daneben wälzten sich Barbaren brennend im Gras. »Sauhunde, verdammte!«, hörte er Togo im Helmfunk fluchen. Er blickte nach rechts – die anderen drei kletterten eben aus dem Tank, einer aus dem Mittelsegment, zwei aus der großen Heckluke. Er blickte in die Richtung, in der man eigentlich die zweite Maschine hätte sehen müssen, doch Feuer und Rauch verdeckten die Sicht. Die Kommandantin rannte los. »Sturmlinie bilden!« Ihre Stimme im Helmfunk klang kühl, wie immer. »Wir laufen durch den Rauch! Legen Sie eine Feuerbresche zwischen Ark II und die Angreifer! Togo, Sie bleiben hier und sichern unseren Rückweg …!« Das war das Letzte, was er von ihr hörte. Wie aus dem Nichts sprangen sie vor ihr aus dem Gras – sechs, sieben oder acht dieser Kerle in ihren erdfarbenen Anzügen. Sie brachen aus dem Gestrüpp und dem Qualm, sie schwangen Äxte und Schwerter. Unbegreiflich, die Mordlust dieser Kreaturen, unbegreiflich die Todesverachtung, mit der sie auch an diesem Tag wieder angriffen. Gleich drei warfen sich auf die Kommandantin und rissen sie ins Gras herab. Er konnte nicht schießen, ohne die Kommandantin zu treffen.
»Mörderpack!« Togos Stimme brüllte im Helmfunk. Überall zischten nadelfeine Strahlen ins Gras, in Büsche, in Qualmwolken, in erdfarbene Leiber. »Es hat keinen Sinn!«, schrie er, rannte trotzdem in den Qualm hinein, schoss überall dort hin, wo eine Klinge das Feuer reflektierte oder eine erdfarbene Gestalt sich zeigte. Bis einer direkt vor ihm aus dem Gestrüpp aufstand. Sein Helm zersplitterte unter der Wucht eines Axthiebes. Ein zweiter traf ihn an der rechten Flanke. Er stürzte ins Gras, verlor erst das LP-Gewehr, dann das Bewusstsein. Länger als ein paar Sekunden konnte er nicht ohnmächtig gewesen sein, denn als er wieder zu sich kam, hörte er um sich herum noch immer das Kampfgeschrei der verfluchten Mörderbande. Aus dem Helmfunk stöhnte eine Männerstimme – der Navigator? Seine rechte Niere brannte wie Feuer, er spürte, wie das Blut warm über seinen Schädel strömte; und überall Rauch, überall Flammen. Vorbei … es war vorbei. Trotzdem kroch er los, er wusste selbst nicht, warum. Er schleppte sich durchs hohe Gras, am EWAT vorbei, dachte an den laufenden Countdown der Autoeliminierung, kroch schneller – bis er aufs Neue das Bewusstsein verlor. Er kam zu sich, weil jemand zu ihm sprach. Das Geschrei der Mörderbande klang jetzt wie von fern, aber die Stimme desjenigen, der zu ihm sprach, war ganz nah. Er blinzelte. Da schwebte ein verschwommenes Gesicht über ihm – ein Barbar? Er blinzelte noch einmal, und das Gesicht nahm kantige Konturen an. Er sah kurzes Blondhaar. Ein sonnengebräunter Mann ohne sichtbare
Mutationen im Gesicht. »Weg … Sie … Sie müssen … weg … die EWATs …«, flüsterte er. Lächerlich, in dieser Wildnis Mitteleuropas einen Mann auf Englisch anzusprechen, nur weil der eine gesunde Hautfarbe, normale Ohren und eine Nase statt Hautlappen im Gesicht trug … O Gott! Der Autoeliminierungs-Countdown! Es musste doch bald so weit sein! »Weg … Sie müssen … sich … in Sicherheit …« Wie viel Atem für wie viele Worte würde ihm noch bleiben? Der Fremde schnitt eine erschrockene Miene. Hatte er ihn am Ende verstanden? Er schob kräftige Hände unter seinen Körper, hob ihn hoch, trug ihn davon. Eine Schmerzwelle durchwogte ihn, ihm wurde schlecht, er wollte schreien, brachte aber nur ein Röcheln zustande und versank wieder in schwarzem, gnädigem Nichts. Grelles Licht weckte ihn das nächste Mal. Die Erde zitterte, der Detonationslärm erfüllte den Wald. Neben ihm im Unterholz lag der Blonde. Er fluchte – und das auf Englisch! Ein Orkan raste durch den Wald. Die Druckwelle – die EWATs waren explodiert! Es kam ihm vor wie ein Witz, dass er noch lebte. Jetzt waren alle tot, alle, und ausgerechnet er lebte noch … Dann wieder die kräftigen Hände des Blonden, wieder die Schmerzwelle, wieder schwarzes Nichts. Als er die Augen zum vorletzten Mal öffnete, schleiften sie ihn von einem Floß, eine Flussböschung hinauf und durch Gras: der Blonde und eine Frau. Seltsam – der Schmerz pochte nur noch dumpf im Hintergrund seines Bewusstseins. Wie ein Räuber, der für einen Augenblick von seiner Beute abließ, weil er sich ihrer sicher war; und kurz bevor er sie verschlang. Das Gras war wunderbar
kühl. Er wünschte, diese Kühle würde in seinen Körper kriechen, ihn ganz ausfüllen und endgültig ins Nichts begleiten. Sie legten ihn ins Gras. Die Frau war halb nackt und hatte langes verfilztes Haar, blauschwarz. Eine Barbarin. Dennoch: eine schöne Frau. Er schloss die Augen. Das Bild der Frau füllte sein Bewusstsein aus; die schöne Frau und die wohltuende Kühle. Mehr wollte er nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen. Bald war es geschafft, bald, bald … Neben sich hörte er den Blonden keuchen und stöhnen. Der Mann schien am Ende seiner Kraft zu sein. Irgendwann spürte er Finger an seiner Brust und seinem Hals. Der Blonde löste den zerbrochenen Helm von seinem Schutzanzug, zog ihn behutsam über seinen Kopf und untersuchte seine Wunden. Er öffnete die Augen zum letzten Mal und betrachtete seinen Retter. In dessen Miene spiegelten sich Sorge, Schrecken und Neugier. Warum trug der Mann eigentlich keinen Schutzanzug? Und wo hatte er diese Art von olivgrüner Kombination schon einmal gesehen? Über der Brusttasche stand ein Name, den er nicht entziffern konnte. Der Blonde untersuchte die Wunde in seiner rechten Nierengegend. Seine Miene versteinerte. »Danke …« Das Atmen fiel ihm so unglaublich schwer. »… aber … es war … sinnlos …« Die paar Worte kosteten ihn seine letzte Kraft; es war, als würde seine Stimme noch vor ihm sterben. »Wer sind Sie?« Das Englisch des Blonden klang fremdartig, antiquiert irgendwie. Wo hatte er schon einen derartigen Dialekt gehört? In irgendeiner
Datenbank zur Geschichte des Vereinigten Königreichs vor dem Weltuntergang vielleicht? Er schnappte nach Luft, um dem Mann zu sagen, wer er war, doch mehr als ein Röcheln brachte er nicht zustande. Der Blonde beugte sich über ihn und legte zwei Finger an seinen Kehlkopf. Jetzt konnte er seinen Namen lesen: Commander Drax. Und dann dieses Emblem hoch auf dem Ärmel: Greifenschwingen und blau gerahmte, weiße und rote Streifen – wo hatte er das schon gesehen? Der Mann namens Drax beugte das Ohr über seinen nach Luft schnappenden Mund. »Wer sind Sie?«, rief er. Er nannte seinen Rang, seinen Namen und seine Heimat-Community; jedenfalls dachte er seinen Rang, seinen Namen und seine Community; er wusste anschließend nicht genau, ob seine Zunge und Lippen die Worte wirklich geformt hatten. Irgendwie war es ihm auch gleichgültig. Das Gesicht des Blonden verschwamm wieder. Der Name seiner Community füllte aber sein Bewusstsein aus, hallte durch die Windungen seines Hirns wie ein Orgelakkord durch ein Labyrinth: London, London, London … O herrlicher Ort! O süße Heimat! Nie wieder, nie wieder …! Auf einmal rotierte sein Bewusstsein in einem kühlen, schwarzen Strudel. »Was sagen Sie?« Von weit weg rief jemand. »London? Was ist in London?« Jemand aus einer anderen Welt sprach mit ihm. Der Blonde wahrscheinlich, dieser Drax. Egal. »Was ist das für eine Community …?« Ein Rufender in einem steigenden Ballon; sollte er doch fliegen, wohin er wollte. »Gibt es noch Zivilisation in London …?« Der kühle
schwarze Strudel zog ihn weg von der vagen Stimme, von seinen Schmerzen; zog ihn weg aus der Welt, tiefer und tiefer hinab ins Nichts …
Kapitel 1 Die Kommandantin � Ende Dezember 2515 Über ihnen funkelten Sterne. Am Horizont strahlte eine Galaxis in Gelb, Rot und Orange. Eine Violine zauberte Wehmut und Sehnsucht unter den Sternenhimmel. Die nackten Körper ineinander verschränkt, lagen sie auf einem mit weißer Kunstseide überzogenen Bett. David schlief. Eve streichelte seine Hand auf ihrer Brust. Ihre Gedanken schwammen noch auf den Wogen des Glücks und der Leichtigkeit, die einen gestillten Körper durchpulsen, der gerade geliebt hat. Sie lauschte der Musik – der Partitur eines gewissen Mr. Bach – und verlor sich im Anblick des Spiralnebels: Andromeda. Manchmal in solchen Augenblicken fragte sie sich, wie weit die Menschheit gekommen wäre, wenn die Entwicklung ihrer Zivilisation ungestört verlaufen wäre, ohne die Katastrophe. Hätte sie die mehr als zwei Millionen Lichtjahre zum Andromedanebel bereits übersprungen? Oder wäre sie erst bis zum Rand der eigenen Milchstraße vorgestoßen? Oder gar nur zu den benachbarten Sonnensystemen? Zu Sirius etwa, oder zu Alpha Centauri? Wie weit auch immer – Eve Carlyle wäre dabei gewesen. Sie sprach nicht über derartige Träumereien, mit niemandem. Umso lieber gab sie sich ihnen hin, heimlich, wenn sie allein war oder glücklich. Ja, in solchen
Momenten hegte sie nicht den geringsten Zweifel: Ohne die Katastrophe vor einem halben Jahrtausend würde sie jetzt ein Raumschiff kommandieren. Ohne »ChristopherFloyd« flöge sie jetzt zwischen diesen Sternen herum; ohne den verdammten Kometen könnte sie jetzt tun, was die Sehnsucht ihr zu tun gebot, seit sie ein kleines Mädchen war: aufbrechen, Neues entdecken, wegfliegen, weit, weit weg. Behutsam löste sie sich aus Davids Umarmung. Er knurrte behaglich, drehte sich auf den Rücken, streckte die Glieder und schlief weiter. Sie schob sich von der Matratze, stand auf und blickte auf den Geliebten hinunter. Sie hatte sich vorgenommen, heute mit ihm zu sprechen. Gleich nach seiner Ankunft hatte sie es tun wollen. Doch die ersten beiden Stunden waren sie nicht allein gewesen. Und als dann die Luke ihrer Privatkuppel sich hinter ihnen schloss, landeten sie schneller im Bett, als Eve denken konnte. Es war immer das Gleiche, wenn sie einander besuchten. Nachher aber, wenn er wach war, dann würde sie das Thema ansprechen. Sie versuchte sich vorzustellen, was er antworten würde. Ihr Herz schlug schneller. Sie beugte sich zu ihm hinunter und hauchte einen Kuss auf seinen Bauch. Das Weiß der Seidendecke war nur um eine Nuance heller als Davids Haut. Violette Adern schlängelten sich unter ihr – an den Leisten, unter den Schlüsselbeinen, am Hals, an den Schläfen, an den Hand- und Fußrücken, an den Innenseiten der Schenkel und Oberarme. Breit die Schultern, schmal die Hüften, kantig das Gesicht, mit vollen blutroten Lippen, hoher Stirn und hervorspringenden Wangenknochen. Ein Adonis; ein bleicher, haarloser Adonis.
Sicher – auch deswegen begehrte Eve diesen Mann. Abzüglich aller Orden, Ränge und Erfolge war auch sie nur eine Frau. Wofür sie ihn aber liebte – und das sah man dem Schlafenden nicht unbedingt an –, war seine schier grenzenlose Zuversicht, die Entschlossenheit, mit der er die Dinge anpackte, die zu tun waren, und die Energie, mit der er die Projekte der Communities vorantrieb. Wer unter David Peterson arbeitete, zweifelte nicht daran, dass man eines Tages wieder ohne Schutzanzug die unterirdischen Bunkerstädte verlassen würde; wer zum großen Freundeskreis David Petersons zählte, glaubte sogar an die verrückten Pläne Rogers des Dritten, des Prinzen von Kent und Königs der Community London. Roger III. beabsichtigte, eine Kunstglaskuppel über dem Zentrum der Ruinen Londons zu errichten und die City darunter gemäß den in den Datenbanken überlieferten Originalbauplänen zu restaurieren. Mochte Eve Carlyle sich von Zeit zu Zeit auch gern ihren Träumen hingeben, und war sie auch seit gut einem Jahr bis über beide Ohren verliebt, so blieb sie dennoch eine ziemlich nüchterne Person: willensstark, extrem belastbar, kühlen Verstandes; so konnte man es in ihrem Personaldossier nachlesen. Eve stand den königlichen Plänen skeptisch gegenüber. Sie glaubte nicht, dass ihre Generation noch ein Leben an der Erdoberfläche ohne Schutzanzüge erleben würde. Die übernächste vielleicht, ihre noch ungeborenen Kinder; ja, vielleicht. Dafür jedenfalls arbeitete sie. Seufzend wandte sie sich vom Bett ab. Ihr nackter Fuß berührte etwas Weiches. Eine grauhaarige Perücke aus unzähligen Zöpfchen. Davids Perücke. In London stand
man auf solchen Schnickschnack. In Salisbury trugen nur ein paar exaltierte Frauen Kunsthaar; und der eine oder andere Mann, der sich für einen Künstler hielt. Sie bückte sich nach der Zopfperücke und legte sie auf den Bettrand. »Die Dusche, Celinda.« Eve ging auf die Sterne zu, eine hochgewachsene, schlanke Frau mit schneeweißer Haut und schmalem, vollkommen haarlosem Kopf. Auf der Fläche eines Quadrats von etwa zwei Metern Seitenlänge verblassten die Sterne in der Kuppelwand. Auf einmal stand da eine Lady mittleren Alters in schwarzem Rock, schwarzer Bluse und weißem Schürzchen. In ihrem grauen Haar trug sie ein weißes Spitzenhäubchen. »Sehr wohl, Ma'am.« Sie warf einen Blick auf den nackten Mann in Eves Bett. »Sie sollten ihn zudecken, Ma'am. Die Temperatur in Ihrer Wohnkuppel beträgt unter zwanzig Grad. Nicht dass er sich eine Erkältung holt.« »David ist genauso unempfindlich gegen Kälte wie ich, Celinda. Nett von dir, dass du daran denkst, aber mach dir keine Sorgen.« »Wie Sie meinen, Ma'am.« Das Bild verblasste und in der Kuppelwand tat sich eine Luke auf, aus der violettes Licht in den Kuppelraum fiel. Eve betrat die helle Grotte und in ihr eine muschelförmige Nische. Im selben Augenblick regnete es warm auf sie herab. Später, vor der geöffneten Kleidermulde, ging sie nachdenklich auf und ab, holte diesen Anzug heraus, legte jenes Kleid an ihren Körper, schlüpfte in den einen oder anderen Umhang, prüfte sich vor einem großen runden Spiegel neben der Kleidermulde und entschied sich schließlich für ein pinkfarbenes Faltenkleid und eine
silberfarbene Stola; ein Geschenk Davids. Persönlich bevorzugte sie eher den schlichten, militärisch angehauchten Stil, wie er in Salisbury seit Menschengedenken üblich war, einen Freizeitoverall, einen einteiligen Hosenanzug oder eine Freizeituniform, doch die Londoner liebten antike oder barocke Mode und Eve wollte David gefallen. Sie sah zum Bett, während sie die Stola kunstvoll über ihre Schultern warf. Er schlief noch immer. Zeit zum Aufstehen, fand Eve. »Einen Morgen an der Küste bitte, Celinda. Und Musik für David.« »Sehr wohl, Ma'am.« Am Sternenhimmel erschien wieder das Monitorquadrat und in ihm die Zofe. Sie hob die Brauen und musterte Eves Garderobe. »Wie interessant, Ma'am! Hat denn der Prime heute Geburtstag?« Der Geburtstag James Dubliners war einer der wenigen Anlässe im Jahr, zu denen man sich auch in Salisbury in Festgarderobe hüllte. »Nein, Celinda, es wird auch kein neues Regierungsmitglied in sein Amt eingeführt, der König von London heiratet kein zweites Mal, und gestorben ist auch niemand.« Vor den skeptischen Augen der E-Zofe drehte sie sich einmal um sich selbst. »Ich hatte einfach Lust dazu. Es gefällt dir also?« »Doch, ja …« Celindas Blicke flogen zwischen dem schlafenden Adonis und der Frau in Faltenkleid und Toga hin und her. »Der Morgen an der Küste also. Und Major Petersons Lieblingsmusik. Wie Sie wünschen, Ma'am.« Der Monitor erlosch, Sterne funkelten an seiner Stelle. Eve ging zu einer Konsole, die auf der anderen Seite des etwa fünf Meter zwanzig durchmessenden
Kuppelraumes aus der Wand ragte. Hinter ihr schloss sich die Kleidermulde, über ihr verblassten die Sterne, und Andromeda verwandelte sich in einen rötlichen Fleck knapp über dem Boden und unter einem schwarzblauen Himmel. Statt der Violine ertönten Piano, Saxophon und Kontrabass. Auf der blauen Kunstglaskonsole wölbte sich hinter einer schmalen Tastatur eine Halbkugel von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser. Sie war durchsichtig, und in ihr schwebte eine Spirale in einer leicht gelblichen, aber dennoch klaren Flüssigkeit: Eves persönliches Rechenterminal. Über diese Schnittstelle des zentralen DNS-Rechners – die übrigens jedem Offizier und Octavian zustand – hatte sie jederzeit Zugriff auf die Zentral-Helix. An der rechten Kuppelwand, an der Stelle, wo Sekunden zuvor noch Andromeda geglitzert hatte, war inzwischen die Sonne über dem Meereshorizont erschienen. Darüber loderte in prächtigem Farbenspiel das Morgenrot, und nur ein paar Schritte von Eves Computerkonsole entfernt warf sich die Brandung auf einen Sandstrand. In ihr Rauschen mischte sich das Geschrei von Möwen. An der linken Wand, hinter dem Bett mit dem schlafenden David, erhoben sich Dünen. Ein Schimmel stand auf einem der Hügel; mit gespitzten Ohren schien er den Schlafenden zu beäugen. Allmählich wurde es hell über seinem Bett. Dünengras bog sich in einer Morgenbrise. Eve beobachtete, wie David sich räkelte und streckte. Was für ein herrlicher Mann! Ein warmer Schauer durchfuhr sie von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen – Glück.
Sie lächelte, tastete nach dem Energieschalter am Rundfuß der Konsole und drückte ihn. Die Spirale glühte auf, die Flüssigkeit, in der sie schwamm, begann zu leuchten. »Die Johanna-Dateien, bitte.« Hinter der Konsole erschien in Augenhöhe eine etwa achtzig Zentimeter hohe Vertikale. Sie verbreiterte sich rasch – erst zu einem Balken, dann zu einem Quadrat, schließlich zu einem Rechteck. Ein paar Sekunden lang sah man weiter nichts als endloses Meer und einen dicht über den Wellen segelnden Albatros auf dem Monitor – Eves persönlicher Bildschirmhintergrund. Dann erschien das Deckblatt der uralten Datei – das Foto einer blonden Frau. Ihr Mund war breit, ihre Lippen schmal, die blauen Augen blickten ernst. Ein skeptischer Zug lag auf dem schönen Gesicht. Seit Eve im schier unendlichen Datenuniversum der Zentralhelix auf dieses Dokument gestoßen war, erkannte sie Mund und Augen und vor allem den skeptischen Zug in ihrem eigenen Gesicht wieder, wenn sie in den Spiegel sah. Tagebuch 2009 bis 2054, war über dem Foto zu lesen, und darunter: Johanna Carlyle, 1968 – 2055. Hinter sich hörte Eve Schritte. »Danke für den Jazz, meine Sonne.« Von hinten schlang David seine Arme um ihre Schultern. »Wer ist diese Frau? Sie sieht dir ähnlich. Probier einmal eine blonde Kurzhaarperücke an, dann wirst du es auch finden …« Eve drehte sich um und küsste ihn. »Ich finde es auch ohne Perücke. Und es ist kein Wunder.« Sie drehte sich nach dem Foto auf dem Monitor um. »Ich bin mit ihr verwandt. Willst du duschen?«
»Ich werde deinen Duft doch nicht von meiner Haut spülen!« Er machte sich von Eve los und betrachtete das Bild im Morgenhimmel. »Johanna Carlyle«, las er. »Neunzehnachtundsechzig bis … du betreibst Ahnenforschung?« Eve war unterwegs zur gegenüberliegenden Kuppelwand, wo die Kleidermulde sich geöffnet hatte. »So könnte man es nennen.« Sie griff zwischen die Kleider und holte einen Bügel mit einem roten Kimono heraus. »Eigentlich wollte ich nur meine Kenntnisse der Vorgeschichte unserer Communities auffrischen, da stieß ich auf eine Quelle, die wir einer meiner Urgroßmütter verdanken.« Zurück bei David, half sie ihm in den Kimono und verknotete den Gürtel an seiner Hüfte. »Johanna Carlyle hat vor ›Christopher-Floyd‹ praktisch den ganzen Globus bereist. Ich bin noch nicht dahinter gekommen, warum. Vor allem aber hat sie Aufzeichnungen aus den ersten Jahrzehnten nach der Katastrophe hinterlassen.« »Aus der Epoche der Dunkelheit?« David Peterson pfiff durch die Zähne. »Es gibt wenige persönliche Aufzeichnungen aus dieser Zeit.« Er ließ sich auf einem der blauen Kunstledersessel der Sitzgruppe in der Mitte des Raumes nieder. »Komm, lies mir ein paar Seiten daraus vor.« »Gern, David. Aber vorher muss ich mit dir reden.« Ihm gegenüber setzte sie sich an den großen runden Kunstglastisch. »Ich hab mit Bloom und dem Prime über uns gesprochen.« Kathrin Bloom war Octavian für Soziales und damit auch für alle Angelegenheiten, die Frauen, Kinder und Fortpflanzung betrafen. »So?« David griff nach dem dunkelblauen
Kunstglaskrug auf dem Tisch und schenkte Wasser in eines der Gläser ein, die neben der Blumenvase auf einem Silbertablett standen. »Und was sagen sie?« »Wenn wir beide uns einig sind, werden sie dich hier in Salisbury willkommen heißen. Wir erhalten einen Privatbereich mit zwei Wohnkuppeln und können Kinder zeugen und aufziehen.« Sie beobachtete Davids Mienenspiel, während er trank. Es war undurchschaubar. Er setzte das Glas ab. Über die Rose hinweg sah er sie an. Äußerlich blieb sie vollkommen gelassen, geradezu kühl. Nur wer Eve Carlyle sehr gut kannte, ahnte, dass hinter dieser stoischen Fassade ein Vulkan brodeln konnte. »Wir sind uns doch einig, oder?«, fragte sie, und selbstverständlich zitterte ihre Stimme nicht. »O ja, meine Sonne.« David langte über den Tisch, griff nach ihrer Hand und küsste sie. »Ich liebe dich.« Er lächelte. »Kinder zeugen? Jetzt weiß ich, warum du Ahnenforschung betreibst – du hast Angst, mit dir könnte das Geschlecht der Carlyles aussterben.« »Du kommst also zu mir nach Salisbury?« So unkompliziert hatte sie sich das Gespräch nicht vorgestellt. Ihr angeborenes Misstrauen regte sich. David stand auf und begann zwischen Rechnerkonsole und Sitzgruppe auf und ab zu laufen. »So einfach ist das nicht, Eve.« »Warum nicht? Hast du mit McMillan gesprochen?« Rose McMillan gehörte zum Londoner Octaviat. Frauen, Kinder und Fortpflanzung in der Bunkerstadt an der Themse gehörten in ihren Verantwortungsbereich. »Ist sie dagegen?« »Die McMillan? Was sollte sie in unserer Sache zu melden haben – du bist eine Eins und ich eine Zwei. Wir
können frei wählen.« David spielte auf die genetischen Gutachten an, die für jedes Community-Mitglied kurz nach dessen Geburt erstellt wurden. Diese Expertisen teilte man seit Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts in fünf Qualitätskategorien ein. Wer der Kategorie eins oder zwei angehörte, durfte sich ohne komplizierte Antragsverfahren paaren und fortpflanzen. »Der General aber wird toben, wenn der König mir die Umsiedlung bewilligt. Ich bin einer seiner erfahrensten EWAT-Piloten. Und dann …« Er zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und betrachtete das Foto von Eves Urahnin in der Kuppelwand. »Und dann habe ich viele Freunde in London. Sehr gute Freunde.« Eve betrachtete die Rose in der schlanken Vase. Er hätte einfach sagen können: »Ja, ich komme.« Aber das Leben funktionierte nicht so; nein, so einfach funktionierte es nicht. Hinter ihrem Brustbein brannte Enttäuschung. Die Rose, eine der neuesten Züchtungen aus dem Community-Gewächshaus in London und ein Geschenk Davids, war dunkelblau, fast schwarz; ihr langer Stiel, ihre Blüte waren so schön, dass man sie für künstlich hätte halten können. Die Sonne stand inzwischen so hoch über dem Meereshorizont, dass ihr rötliches Licht den Kuppelraum tränkte. Die Rose kam Eve plötzlich einsam vor. Auch David betrachtete die Blüte. »Komm doch du zu mir nach London.« Er hätte einfach sagen können: »Ja, ich komme.« Aber sie liebten ihn in London. Seine Mutter, seine Großeltern und Urgroßeltern, seine Schwestern und seine Freunde. Und Spencer vor allem. Sie waren zusammen
aufgewachsen und ausgebildet worden, ihre Väter waren am gleichen Tag ums Leben gekommen, sie hatten zusammen unter Merylbone den Süden der irischen Inseln erforscht und die Festlandsküste des ehemaligen Frankreichs. London aufgeben hieße für David einen Teil seines Lebens aufgeben. »Hörst du, was ich sage?« Er kam zu ihr, kniete vor ihrem Sessel nieder, nahm ihre Hand. »Komm zu mir nach London.« »Das geht nicht, und du weißt, dass es nicht geht.« Zorn mischte sich in ihre Enttäuschung. Hundert Mal hatten sie schon darüber diskutiert. »Ich bin Commander der Pionier-Einheit von Salisbury, David. Ich habe mich vor meiner letzten Beförderung schriftlich dazu verpflichtet, die EWAT-Flotte der Community zu leiten und weiter aufzubauen und die geplanten Expeditionen ins schottische Hochland vorzubereiten und durchzuführen. Ich müsste wortbrüchig werden, um nach London zu kommen. Das …« Sie legte den Kopf in den Nacken, hob wie flehend beide Arme. »Das kann ich einfach nicht! Warum willst du das nicht einsehen?« Er stand auf, setzte sich neben sie in den Sessel und zog sie an sich. So saßen sie eine Zeit lang, jeder hing seinen Gedanken nach. »Bitte, David. Wir sind noch jung, wir sind Anfang fünfzig – das ganze Leben liegt noch vor uns. Und seiner großen Liebe begegnet man nicht allzu oft. Ich weiß, was du verlässt, wenn du deine Community verlässt. Ich bitte dich trotzdem: Tu es für mich. Tu es für unsere Liebe. Ich werde es dir tausendfach zurückerstatten.« »Lass mir ein bisschen Zeit, meine Sonne.« Er lächelte,
und sie schöpfte Hoffnung. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken, okay?«
Kapitel 2 Die Fotografin � Aus den Johanna-Dateien � 19.12.2010 Der Auftrag kam von Reuters. Ich hatte schon so etwas erwartet, als ich gestern Abend die Bilder im Fernsehen sah: Qualmwolken über einem sinkenden US-Kreuzer, Flüchtlingsströme in der arabischen Wüste, Helikopter über dem Golf von Aden. »Ich muss in den Jemen«, eröffnete ich Louis, als er am Nachmittag zwischen zwei Sitzungen kurz zu Hause vorbeischaute. »Wann?« Ich sagte es ihm, er nickte, und zum Abschied gab es den üblichen Pseudokuss und die üblichen Floskeln: »Viel Erfolg, und pass auf dich auf.« Stuart zog nicht mal die Brauen hoch, als ich ihm nach der Schule den Einkaufszettel für die nächsten acht Tage vorlegte und ihm erklärte, dass ich vorübergehend verreise; beruflich. Nun gut, was will ich von einem Achtzehnjährigen erwarten? Dass er sich an mein Jackett hängt, heult und mich anfleht, ihn niemals nicht zu verlassen? Nein, Stuart wollte nur wissen, ob Mrs. Baker zu den üblichen Zeiten kochen und saubermachen würde. »Natürlich«, sagte ich, und mir war klar, wo die Feste seiner Clique in den nächsten Wochen stattfinden würden. Am Spätnachmittag rief Mary-Lou von der Universität
aus an. Ich sagte ihr, wohin ich fliegen würde, und sie rief: »Gott, Mom – da ist doch Krieg!« Ich: »Deswegen fliege ich ja hin.« Sie: »O Scheiße! Und Weihnachten bist du auch weg?« Ich: »Ja, leider.« Sie: »Wann wirst du endlich mit diesem Scheißjob aufhören!« Ich: »Wenn du mir ein Gebiss in den Mund schieben und mir die Windeln wechseln musst, damit ich salonfähig bin.« Sie: »Du bist gemein! Ich hab Angst, Mom. Bitte sei vorsichtig! Ich brauch dich noch!« Nach diesem Telefonat schöpfte ich Hoffnung. Offenbar gibt es doch noch so etwas wie Liebe in unserer Familie … 21.12.2010 Gegen Mittag Ortszeit in Sana gelandet. Es ist heiß, viel heißer, als ich beim Start aus dem britischen Winter befürchtet hatte. Im Hotel einchecken, drei Stunden schlafen, ein wenig essen, viel Tee trinken. Bei Einbruch der Dunkelheit dann mit einer Patrouille der Regierungstruppen in Richtung Kampfgebiet. Ein paar US-Marines begleiten uns. Von der Wüste sah ich nur, was die Scheinwerfer des Jeeps der Nacht entrissen: Die Piste, ein paar Schilder, ein paar Dünen. Nach drei Stunden – Mitternacht war schon vorbei – Lichtschein am Südhimmel. Ich hielt es anfangs tatsächlich für Wetterleuchten! Der amerikanische Kontaktoffizier sprach von einem »hübschen Feuerwerk«. Die Art wie er das sagte – gut gelaunt und grinsend – verriet mir, was Sache war: Die
Bombenangriffe der US-Marine und der jemenitischen Armee hatten begonnen. »Jetzt heizen wir der verfluchten Terrorbande ein«, sagte der Mann. »Wenn sie wieder einen Religionskrieg wollen, können sie ihn haben!« Truppen aus Somalia waren an der Südostküste des Jemen gelandet und hatten sich mit starken Verbänden der Rebellen vereinigt. Die Regierungstruppen und die US-Marine griffen sie aus der Luft und mit Panzerverbänden an. Bald hörte man den Detonationslärm der Bombeneinschläge. Von massiven Kampfhandlungen war die Rede. Wir hielten vor einer Straßensperre. Ich erkannte saudische Soldaten, saudische Panzer, saudische Mannschaftswagen und zwei US-Panzer. Weiterfahrt erst nach Ende der Kämpfe, hieß es. Sie überließen mir einen Jeep als Nachtlager. 31.12.2010 Seit zwei Tagen im Kampfgebiet: Drei menschenleere Dörfer an der Küste, niedergebrannt. Planierraupen, die Massengräber in den Feldern ausheben. Ein Flüchtlingslager am Gebirgsrand sechsundvierzig Meilen nordöstlich von Aden, etwa Zwölftausend Menschen, viele Kinder, wenige Männer. Große fragende Augen verfolgen mich. Ein alter Mann erzählt Geschichten und schneidet Grimassen, um die Kinder aufzuheitern. Eine Frau spuckt mich an und schlägt mit einem toten Huhn nach mir, weil ich die Szene fotografiere. Meine Eskorte von der US-Army beruhigt sie. Zwischen den verbrannten Dörfern und dem Flüchtlingslager eine Piste von etwa sechzig Meilen, und
auf der Straße ein Konvoi von gut einer Meile Länge: Panzer, Lastwagen, Raketenwerfer, Jeeps, dazwischen einige zivile Pkw und Vans. Alle verkohlt und ausgebrannt und zerbeult, viele umgestürzt, einige aufgerissen wie mit Dynamit geöffnete Konservendosen. Es ist die Hölle, und ich versuche mich hinter meiner Kamera vor ihr zu verstecken. Ich sehe verkohlte Menschen aus zerbrochenen Windschutzscheiben hängen, ich sehe verkohlte Armstümpfe aus Seitenfenstern ragen, ich sehe Regierungssoldaten Leichensäcke von der Piste in den Wüstensand schleifen. Ein Todeskonvoi, ein Massengrab aus Blech, Eisen, Gummi und Fleisch. Ich stelle mein Hirn ab, ich fotografiere, ich wechsle Film um Film. Etwas abseits und hinter der Brandschrottkarawane ein paar US-Panzer. Sie hätten dem Rebellenkonvoi aufgelauert und ihn angegriffen, sagt mein Kontaktoffizier und deutet in den Himmel, aus dem USMarineflieger drei Tage zuvor Raketen und Bomben auf Konvoi und Panzerverband gefeuert hatten. »Friendly fire.« Mein Begleiter zuckt mit den Schultern und macht eine betretene Miene. Zwischen den Panzern tote US-Soldaten. Wollten sie fliehen? Mein Begleiter zuckt wieder mit den Schultern. Die Luke eines ausgebrannten Panzers steht offen, ein verkohlter Leichnam hängt halb heraus. Auf dem Geschützrohr hocken drei Geier. Ich wechsle den Film … 18.2.2011 Gestern zurück aus dem Jemen. Stuart hat mich in
seinem Mini vom Flughafen abgeholt. Geile Bilder hätte ich geschossen, sogar in der Schule würden sie darüber sprechen. Er will mich ausfragen, gibt aber schnell auf, als er merkt, dass ich ihm nur Stichworte hinwerfe. Ich frage nach seiner Schwester und seinem Vater. Louis hat er seit Tagen nicht gesehen – Kabinetts Sitzungen und Unterhausdebatten über eine Gesetzesvorlage des Innenministeriums. Interessant, wie gut der Junge informiert ist. Ich erfahre, dass Mary-Lou einen festen Freund hat. Louis hat sich den Abend freigenommen und fährt mit mir zum Essen zu Turner's in die Walton Street; immerhin. Geduldig hört er sich an, was ich zu erzählen habe. Zurück zu Hause zeigt er mir die Zeitungen mit meinen Fotos. Er hat sie aufgehoben; immerhin. 29.4.2011 Warum ich das mache, haben sie mich heute gefragt. All die Reisen, all die gefährlichen Orte, all die schrecklichen Dinge. Viola Heath fing damit an, die Frau des Sicherheitsberaters. Die Sektparty in der deutschen Botschaft gähnte dem ersten Tiefpunkt entgegen, und wir standen zu siebt auf der Terrasse. Die Bilder seien ja sehr schön – sehr schön!, ich zitiere wörtlich –, und ich würde ja nun auch einen Preis bekommen, aber das muss doch schrecklich sein für eine kultivierte Frau, all die Zerstörung, all die Toten, und dann die hungernden Kinder und der viele Dreck vor allem. Die Schauspielerin, die in der Serie »Doktor Forster« die Rechtsanwältin spielt, sagte das; ich hab ihren Namen vergessen. Ein Glück. »Oh, Sie bekommen einen Preis?«, flötete Sandy
McMillan von der BBC. »Welchen denn?« »Vielleicht den World Press Photo Award«, half ihr Frank Winter auf die Sprünge. »Möglicherweise hat Joan das weitbeste Pressefoto des Jahres 2010 geschossen.« Bei der TIMES wusste man schon mehr als ich, und alle gratulierten mir, dabei war mein Foto erst nominiert und noch lange nicht ausgezeichnet worden. Aber ich hatte keine Lust, die Sache klarzustellen – wenigstens hatten sie die bescheuerte Frage der Heath vergessen. Dachte ich. Aber ich hatte Wanda Cox nicht auf der Rechnung, Louis' Stellvertreterin ist bekannt für ihre Penetranz und Humorlosigkeit. Jeden beschissenen Small Talk behandelt sie wie eine geheime Unterredung mit dem Premierminister. Sie sagte also: »Was ist jetzt, Joan – verraten Sie uns, warum Sie diesen Risikojob machen?« Ich hätte ihr in den Hintern treten können. Oder nein: Ich trat ihr in den Hintern, ich lächelte nämlich so ausgesucht freundlich, wie man es von der Gattin eines Staatssekretärs erwartet, und sagte: »Es gibt nicht viele interessante Menschen. In diesen Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern aber trifft man hin und wieder einen.« Keine weiteren Fragen. Unsere kleine Gesellschaft auf der Terrasse der deutschen Botschaft zerstreute sich sehr rasch. Den Rest des Abends hatte ich Ruhe vor Heath, Cox und Konsorten. Bis zum Morgen tanzte ich mit Winter, seinen Politikredakteuren und fast allen Beamten des Innenministeriums. Einmal sogar mit meinem eigenen Mann …
Kapitel 3 Der Auftrag � Anfang Januar 2516 Vier Tage später: Jahreswechsel mit den üblichen Feierlichkeiten. Am Tag darauf fuhr David zurück nach London – ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Das bedrückte Eve mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie schlief schlecht in dieser ersten Woche des Jahres. Sieben Tage nach Davids Abreise saß sie in der Octaviatskuppel dem Prime, dem Botschafter und der Militär-Octavian gegenüber. »Ein glückliches Jahr 2516 wünsche ich dir«, sagte Sir Leonard. Eve sah ihn zum ersten Mal im neuen Jahr. Sie bedankte sich und wünschte ihm ebenfalls Glück. Sattgrüne Hügel umgaben den Raum, auf den Weiden graste Vieh, und zwischen zwei Hügelketten schlängelte sich ein Flüsschen hindurch. »Es gibt da eine Aufgabe, die erledigt werden muss«, sagte der Mann, der derartige Panoramen bevorzugte. »Eine möglicherweise schwierige, in jedem Fall aber sehr verantwortungsvolle Aufgabe.« Sir James Dubliner neigte den Kopf auf die Schulter und musterte Eve aus schmalen Augen. Das tat er immer, wenn er entschlossen war, seinem Gegenüber eine ausgesucht harte Nuss zu servieren. »Wir dachten an Sie, Commander Carlyle.« Arn Morgen, während einer Planungskonferenz für die Schottland-Expedition hatte General Emily Priden sie
gebeten, am Abend in der Octaviats-Kuppel zu erscheinen. Priden war Octavian für Militärisches. Es ginge um ein Projekt, das der Prime und sie ihr persönlich vorstellen wollten. Danach war General Priden sofort zur Tagesordnung übergegangen, und Eve wusste, dass der Abend eine Überraschung bereithielt. »Ich höre, Sir«, sagte sie. »Es geht um unseren östlichen Außenposten an der Weißen Elster.« Er schnippte mit den Fingern. »Die Karte, Winston!« Im Monitor auf einem der Grashügel erschien ein rundlicher junger Bursche mit altertümlichem Stahlhelm und in fleckigem Kampfanzug. »Aye, Sir! Von welcher Karte genau sprechen Sie, Sir?« »Pardon, Winston. Mitteleuropa natürlich.« Dubliner – Prime der Community Salisbury – redete schnell und mit ungewöhnlich hoher Stimme. Die glatt rasierte Haut seines Gesichts sah aus wie zerknautschtes gelbliches Leder. Der Prime war klein und von drahtiger Gestalt. Angeblich lag das in der Familie. Wie üblich trug er einen schwarzen Umhang über seinem dunkelgrünen Overall. Gleichgültig, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man ihm begegnete – immer blickten seine grauen Augen hellwach, immer wirkte er straff und voller Kraft. Dabei hatte er mit seinen hundertdreiundfünfzig Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung der Bunkerleute von Salisbury bereits seit zwei Jahren überschritten. Eve liebte ihren Prime nicht, aber sie hatte großen Respekt vor ihm. In Dubliners geliebten Grashügeln tat sich ein weiterer Monitor auf. Er zeigte die Topografie einer aktuellen
Landkarte von Europa: Küstenlinien, Flussläufe, Waldflächen, Ruinengebiete und, als rote Punkte, die wenigen bekannten menschlichen Ansiedlungen. Dazwischen grau unterlegte Flächen – Gebiete, die noch nicht erforscht und deswegen nach Vorlagen von Karten aus dem zwanzigsten Jahrhundert und den Jahren vor »Christopher-Floyd« gezeichnet waren. Genau genommen bestand die Karte zu mehr als achtzig Prozent aus grau unterlegten Flächen. Der Prime drehte sich nach dem Bildschirm um. »Es geht konkret um eine Expedition von hier nach da.« Während er auf die Karte deutete, blinkte erst die roséfarbene Fläche der Ruinen Londons und dann, jenseits des Kanals und etwa fünfhundertfünfzig Meilen weiter östlich ein roter Punkt auf. Eve identifizierte ihn sofort als eine Großstadt des ehemaligen Deutschlands: Leipzig. Neben Psychologie und Philosophie hatte sie Geographie studiert – präapokalyptische Geographie, um es genau zu sagen – die Lage der urbanen Zentren aus der Zeit vor dem Kometen war ihr gegenwärtig. »Zu unserer neuen Forschungsstation bei Leipzig?«, fragte sie. »So ist es, Commander Carlyle.« Dubliner nickte. »Acht der sechzehn Besatzungsmitglieder werden im nächsten Sommer über zwei Jahre lang dort gearbeitet haben. Sie müssen abgelöst werden. Außerdem brauchen unsere Leute Proviant und Material, das Übliche eben. Und das Wichtigste: Wir brauchen die Arbeitsergebnisse der vergangenen zwölf Monate. Die Forschungsarbeiten über den Kometen treten seit Jahren auf der Stelle.« Der Forschungsbunker war ein Gemeinschaftsprojekt
und je zur Hälfte mit Wissenschaftlern aus London und aus Salisbury besetzt. Vor zweieinhalb Jahren, im Frühjahr 2513, hatte eine Expedition unter Commander Terry Nash südlich von Leipzig einen verlassenen Bunker entdeckt und ausgebaut. Acht Männer und Frauen ließ er anschließend zurück, acht weitere brachte er ein Jahr später, im Juni 2514, nach Leipzig. »Wäre London nicht an der Reihe, den Kommandanten für ein gemeinsames Unternehmen zu stellen?« Eve hatte das Gefühl, dass der Prime noch nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hatte. »General Yoshiro achtet in der Regel doch streng auf Parität, was diese Dinge betrifft.« »Yoshiro ist diesbezüglich ein wenig in Verlegenheit«, ergriff Leonard Gabriel das Wort. General Charles Draken Yoshiro war der Militär-Octavian der Community London. »Selbstverständlich haben wir das bevorstehende Projekt mit ihm und dem Londoner Octaviat besprochen, Eve. Ich kam gestern erst von der Themse zurück. Mit dem EWAT übrigens, mit dem zuvor Major Peterson nach Hause zurückgekehrt war.« Sir Leonard sprach mit einer tiefen, volltönenden Stimme. Wie meist wirkte sein kantiges Gesicht hart und ernst. Stirn und Wangen waren zerfurcht, dicke tiefblaue Adern maserten seinen kahlen Schädel. Die roten Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten etwas Stechendes. Sein genaues Alter war unbekannt. Eve schätzte ihn auf über hundert, andere behaupteten, er sei noch nicht einmal neunzig Jahre alt. Gabriel gehörte dem Octaviat von Salisbury als Berater an. Stimmrecht besaß er nicht, und Befehlsgewalt schon gar nicht. Doch die hatte in Salisbury ohnehin nur der Prime. »Yoshiros Problem: Er verfügt über genau drei
expeditionserfahrene Kommandeure. Zwei davon, Curd Merylbone und Benjamin Rudolph, brechen in Kürze mit zwei EWATs zur Community Leeds auf. Das Octaviat von Leeds hat uns um Hilfe bei der Suche nach Rohstoffen im schottischen Hochland gebeten, ein zeitaufwändiges und wegen der Neobarbaren im Norden auch nicht ungefährliches Projekt. Außerdem müssen die neuesten technischen und wissenschaftlichen Daten abgeglichen werden. Und der dritte Kommandeur, Captain Kate Rattle, ist mit Commander Nash in Nordeuropa unterwegs, wie du weißt.« »Wann soll es losgehen?«, fragte Eve. »Sobald die beiden neuen EWATs aus der Londoner Werft rollen«, sagte Sir James. »Spätestens Ende März.« »Neue EWATs?« Eve runzelte die Stirn. »Und Sie wollen gleich zwei Tanks nach Osten schicken?« Das war ungewöhnlich für eine Expedition. Einmal verfügten die Communities im Moment nur über insgesamt neunzehn dieser Earth-Water-Air-Tanks – sechs davon standen in den unterirdischen Hangars von Salisbury –, und zum anderen konnte jedes einzelne dieser Fahrzeuge sich in eine Festung verwandeln, deren Feuerkraft kein potentieller Gegner etwas entgegenzusetzen hatte; jedenfalls keiner der bekannten potentiellen Gegner. »Verzeihen Sie, aber das kommt mir ein wenig übertrieben vor«, sagte Eve an den Prime gewandt. »Da mögen Sie Recht haben, Commander Carlyle.« Nun schaltete Militäroctavian General Emily Priden sich ein. »Es ist nur so, dass die Londoner auf den Einsatz der neuen Geräte bestehen. Sie betrachten die Expedition als gute Gelegenheit, um Daten zu sammeln, auf deren Grundlage man das System nach der Rückkehr
optimieren kann.« Die zierliche Frau mit der blauschwarzen Kurzhaarperücke zuckte mit den Schultern. »Dagegen lässt sich nichts einwenden.« »Was ist neu an den Tanks?«, wollte Eve wissen. »Zum Beispiel sind die Frontkuppeln verstärkt und mit neuer Bildtechnik ausgerüstet worden«, erklärte die Generalin. »Die Teleskoplamellen zwischen den Segmenten sind elastischer und erlauben einen engeren Wendekreis. Die Lasersensoren-Navigation für unübersichtliches Gelände wurde entscheidend verbessert. Die Wahrscheinlichkeit von Kollisionen beträgt jetzt weniger als 0,1 Prozent. Die Titan-CarbonatLegierung für die Außenkarosserie wurde mit einem neu entwickelten Molekularverdichter behandelt. Dadurch gewinnt sie an Festigkeit, und das gesamte Fahrzeug wird dennoch um eine halbe Tonne leichter. Und so einiges mehr.« »Ein wunderbares Gerät, Eve!«, sagte Gabriel. »Ich habe es mir zeigen lassen, als ich jetzt in London war – es ist wie ein fliegender Miniaturbunker. Jeder, der es zum ersten Mal steuern darf, kann sich jetzt schon glücklich schätzen.« »Nun ja«, knurrte der Prime. »Unsere bisherigen Geräte sind auch nicht schlecht, möchte ich meinen.« »Warum aber sollen gleich zwei dieser … Miniaturbunker nach Leipzig fahren, schwimmen und fliegen?« Die Ausführlichkeit, mit der man ihr die Schokoladenseite des Projekts verkaufte, sprach nach Eves Eindruck für ein besonders schmutziges Haar in der Suppe. Wie gesagt: Sie war eine misstrauische Frau. Drei oder vier bedeutsame Sekunden lang fühlte sich keiner ihrer drei Vorgesetzten für die Antwort zuständig.
Bis endlich Emily Priden das Wort ergriff. »Sie wissen, dass Commander Nash sich vor spätestens zwei Monaten hätte zurückmelden müssen.« Terry Nash gehörte zur Community-Force von Salisbury. Nur wenige Jahre älter als Eve, trieb auch er sich gern in unerforschten Gegenden herum. Er war im Oktober 2514 mit einem EWAT und sieben Mann Besatzung nach Skandinavien aufgebrochen, um Kontakte zu möglichen Bunkerkolonien in den zerfallenen deutschen und skandinavischen Metropolen zu knüpfen und Informationen über die rätselhaften kristallinen Kometentrümmer zu sammeln. Außer ihm und seiner Besatzung hatte noch niemand den Weg nach Leipzig bewältigt; niemand in London und niemand in Salisbury. »Sein letzter Funkspruch erreichte uns Anfang November 2514.« General Pridens Miene schien Eve jetzt deutlich ernster als zuvor. »Zu dieser Zeit befand sich Nashs Fahrzeug auf dem Rhein, und zwar ziemlich exakt in der Mitte zwischen dem einundfünfzigsten und dem zweiundfünfzigsten Breitengrad. Zwei Wochen später brachte einer seiner Späher uns ein Zwischenprotokoll mit Bild- und Tonmaterial. Diesen Bericht verfasste Nash in den Ruinenwäldern des Ruhrgebiets. Er kündigte darin einen zweiten Vogel für Anfang Dezember an. Wir haben den Späher mit einer Empfangsbestätigung zurückgeschickt. Doch seitdem haben wir nichts mehr von Nash gehört – weder gab es weiteren Funkkontakt, noch kam je ein zweiter Späher hier an.« Das Schweigen über Funk schien Eve noch kein Indiz für eine Havarie oder Schlimmeres zu sein. Die Störstrahlung der Kometentrümmer – die sogenannte
CF-Strahlung – beeinträchtigte auch den Funkkontakt nach London. Über weite Entfernungen verhinderte sie praktisch jeden Datenaustausch. Aber dass der Informationsaustausch über Späher versagt haben sollte …? »Das klingt nach Schwierigkeiten«, sagte Eve. In London und Salisbury benutzte man speziell dressierte Kolkraben als Späher und Boten. Längere Expeditionen führten in der Regel drei bis vier solcher intelligenten Rabenvögel in einem septischen Heckverschlag mit sich. »Späherverluste sind selten. Und selbst wenn ein ausgesandter Vogel verloren gegangen wäre – Terry hätte aus der ausbleibenden Bestätigung darauf geschlossen und einen anderen geschickt.« »So ist es üblich, ja.« Die Priden seufzte und machte ein bekümmertes Gesicht. »Es wäre furchtbar, wenn Commander Nash und seinen Leuten etwas zugestoßen wäre. Ich will gar nicht an diese Möglichkeit denken!« In Salisbury kannte und schätzte man den weiblichen General und Militär-Octavian dafür, dass er sich für jeden einzelnen Angehörigen der Community Force verantwortlich fühlte und bis in die persönlichen Angelegenheiten über die Schwächen und Stärken seiner Untergebenen Bescheid wusste. Wie eine Mutter behandelte und förderte die Priden ihre Leute. Eve fragte sich oft, wie man so viel Gefühl zeigen und trotzdem so weit nach oben kommen konnte. »Wir können sie aber nicht ganz ausschließen, immerhin sollte Terry Nash spätestens im Herbst vergangenen Jahres zurück sein«, sagte Emily Priden. »In jedem Fall müsste die nächste Leipzig-Expedition in die Ruhrgebietsruinen vordringen und an seinem letzten
bekannten Standort nach Spuren suchen.« »Mit anderen Worten: Der Auftrag könnte gefährlich sein«, schaltete der Prime sich wieder ein. »Das würden Sie aber erst unterwegs merken – falls sie das Kommando übernehmen, Commander Carlyle.« »Ich habe eine Wahl?« »Nun, seit Nash überfällig ist, halten wir Expeditionen aufs Festland für risikoreicher als bisher«, sagte Sir James. »Wir wollen das Risiko niemandem aufzwingen. Es wäre natürlich schade, wenn Sie ›nein‹ sagen, denn keiner außer Nash hat so viel Erfahrung auf unbekanntem Terrain wie Sie, Commander Carlyle. Wenn Sie ablehnen, bliebe das selbstverständlich unter uns vieren. Ihr Ruf würde also nicht besonders leiden.« »Das Schottlandprojekt würde einfach wie bisher mit Ihnen als Kommandantin weiterlaufen«, sagte die Priden. »Wenn Sie allerdings nach Leipzig fahren, müssten wir einen Nachfolger für Sie suchen.« »Und meine Besatzung? Ebenfalls Freiwillige?« »Vier Austausch-Wissenschaftler bestimmen wir, vier die Community London«, sagte Sir Leonard. »Statt den obligatorischen acht Besatzungsmitgliedern pro Maschine werden aus Platzgründen in diesem Fall vier Mann auf jedem EWAT Dienst tun. Der Kommandant und sieben Männer und Frauen seiner Wahl.« Seit sechsundvierzig Jahren arbeitete Leonard Gabriel als militärischer und wissenschaftlicher Berater für die Community-Regierung, seit Dubliner Prime war. In der Bunkerkolonie war man sich nicht einig über Gabriel – die einen verehrten ihn, die anderen rieben sich an ihm. Eve gehörte zum Lager der Leonard-Verehrer. Die Familien Carlyle und Gabriel waren seit Generationen
freundschaftlich verbunden. »Einer muss den Auftrag übernehmen, so oder so«, sagte der Mann mit den uralten Augen. »Die Männer und Frauen in Leipzig müssen abgelöst werden, und die noch ein weiteres Jahr bleiben, brauchen Nachschub. Daran führt überhaupt kein Weg vorbei. Und dass wir bei der Gelegenheit Nashs letzte Position nach seinen Spuren absuchen, liegt nahe.« »Davon abgesehen brauchen wir neue Forschungsergebnisse über die Kometenkristalle«, sagte der Prime. »Seit Jahrhunderten suchen wir nach einem Zusammenhang zwischen ihnen und der Degeneration des Lebens auf der Erdoberfläche und sind noch keinen Schritt weitergekommen.« »Bitte, Eve, übernimm das Kommando.« Sir Leonard sah sie an, und sein zerfurchtes Gesicht war eine einzige Bitte. Wie weich die Augen dieses harten Mannes werden konnten! Eve kannte seine Geschichte nur aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern: Auf einer Festland-Expedition war er vor mehr als fünfzig Jahren einer jungen Barbarin begegnet und hatte sich mit ihr gepaart. Damals gehörte er noch dem Octaviat von Salisbury an. Wie zu erwarten, infizierte er sich und erkrankte schwer, überlebte aber aus irgendeinem Grund. Manche ältere Community-Mitglieder verziehen ihm das bis heute nicht. Jedenfalls schloss Dubliners Vorgänger ihn aus dem Octaviat aus. »Bitte, Commander Carlyle«, sagte nun auch die Priden. »Es ist ein wichtiger Job, und niemand ist so gut dafür geeignet wie Sie!« »Selbstverständlich stehen Ihnen sämtliche Dateien Nashs zur Verfügung«, sagte Sir James. »Die alten
Berichte über die erste Leipzig-Expedition genauso wie die wenigen Daten, die uns im November letzten Jahres mit seinem letzten Späher erreichten.« Eve sah einen nach dem anderen an. Danach stand sie auf, trat an die Kuppelwand und betrachtete die Karte. Die grau unterlegten Flächen machten ihr keine Angst, im Gegenteil – die zogen sie an. »Ich könnte also zum Beispiel die Besatzung meines EWATs mitnehmen?« »Nur drei deiner Leute, Eve«, antwortete Leonard Gabriel. »Und du kannst die Männer und Frauen auch nur vorschlagen – wenn die Leute abwinken, werden wir niemanden zwingen.« »Die Hälfte Ihrer Mannschaft muss allerdings aus Londonern bestehen«, warf der Printe ein. »Sie kennen ja die Regeln.« »Verstehe …« Mit den Augen zog Eve eine Linie zwischen London und Leipzig. Auch die Entfernung war nicht das Problem – fünfhundert oder sechshundert Meilen waren in wenigen Tagen zu schaffen. Doch die Schwierigkeiten, die so eine Expedition zwangsläufig mit sich bringen würde, der Abstecher in die Ruinenstädte des Ruhrgebiets und die Konsequenzen, die er nach sich ziehen konnte, und schließlich der Aufenthalt im Bunker an der Weißen Elster – all das würde Zeit beanspruchen, viel Zeit. Eve schätzte, dass sie mindestens zwei Monate unterwegs sein würde. Zwei Monate ohne David… »Ich müsste darüber schlafen«, sagte sie, und plötzlich war ihr, als hörte sie Davids Stimme: Ich brauche Zeit zum Nachdenken, okay? Sie drehte sich um und blickte dem Prime ins Gesicht. »Ja, ich brauchte ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken …«
Die Nacht wurde lang. Zwei Stunden wälzte Eve sich von einer Seite auf die andere. Irgendwann stand sie auf und begann an der Wand ihres Kuppelraumes entlangzuwandern. Unter dem prachtvollen Sternenhimmel der Panoramakulisse drehte sie Runde um Runde. Das Karussell in ihrem Schädel kam allmählich zur Ruhe. Manchmal blieb sie in der Mitte des Raumes stehen und blickte zum Kuppelzenit hinauf, wo Andromeda strahlte. Sie dachte an die neuen EWATs, sie dachte an Terry Nash und an David, und die Gesichter einzelner Männer und Frauen erschienen vor ihrem inneren Auge. Angenommen, Sie würde »ja« sagen – wen würde Sie mitnehmen? Lange nach Mitternacht setzte sie sich vor ihre Konsole und ließ sich mit der Zentralhelix verbinden. Nashs Expeditionsprotokolle vom November 2514 waren nicht nur erfreulich knapp und präzise formuliert, sie enthielten auch keinerlei Anhaltspunkte für ernsthafte Schwierigkeiten. Die Überquerung des Kanals schien eine Angelegenheit von einer Stunde zu sein. Am stark veränderten Küstenverlauf des Festlands hatte die Ortung vereinzelte Schiffe registriert. Auf Funksignale gab es keine Reaktion, weder aus den Ruinen Antwerpens noch Düsseldorfs, noch sonst von irgend jemandem. Weiter nach Süden vorzudringen – über Köln und Bonn bis zu den Ruinen Frankfurts beispielsweise – hatte außerhalb von Nashs Mandat gelegen. In der Mitte zwischen dem einundfünfzigsten und zweiundfünfzigsten Breitengrad verließ seine Expedition daher den Rheinlauf, nahm Kurs nach Westen und
durchquerte die südlichen Ruinenwaldausläufer des Ruhrgebiets, also Überreste ehemaliger Städte wie Duisburg, Essen und Bochum. Auch hier keine Reaktionen auf Funksignale. Bunkerkolonien schien es in dieser einst dicht bevölkerten Gegend nicht zu geben. Erstaunlich eigentlich. Dafür dokumentierte der Bericht die Lage einiger Siedlungen von Neobarbaren in den Ruinen und Wäldern an den Ufern der Ruhr. Sie lagen weit verstreut und zählten jeweils nur wenige hundert Köpfe. Das Bildmaterial zeigte ein paar Dutzend Exemplare dieser wilden Menschen. Die Neobarbaren auf dem Festland unterschieden sich im Wesentlichen kaum von den Socks in den Ruinen Londons, und die wenigen Zeilen über Begegnungen mit ihnen lasen sich zum Teil wie alte Mythen über angebliche Begegnungen zwischen Primitiven und Göttern. Nashs Bericht enthielt keinerlei Hinweise auf Feindseligkeiten. Im Gegenteil: Die Geschenke aus den Produktionsabteilungen der Communities – vor allem Eisenwaren und Textilien – zähmten selbst die aggressivsten Barbaren. Eve rief die Dateien mit Nashs Berichten seiner beiden Leipzig-Expeditionen auf die Kuppelwand und sah sie durch. Die Bilder und Protokolle erinnerten sie an ihre eigenen Vorstöße an die Küste von Wales, in die Gebirgswildnis von Zentralengland und zu den Ruinen Newcastles an der Nordseeküste. Der Weg nach Leipzig führte zwischen dem einundfünfzigsten und zweiundfünfzigsten Breitengrad fast schnurgerade ins Festland hinein über ausgedehnte Wälder und durch wilde Flusslandschaften. Das Bildmaterial enthielt nichts Aufregendes: Spuren von
Ruinen hier und da, hin und wieder Feuerstellen und Fellplanen von Unterschlüpfen wandernder Nomaden, und in der Gegend des ehemaligen Kassels sogar gerodete Wälder und Wakudaherden auf eingefriedeten Weiden. Nash und seine Leute hatten keine Kontakte gesucht. Auch nicht mit den Bewohnern der kleinen Siedlung von Ackerbauern, die sich in den Ruinen Leipzigs entwickelt hatte, obwohl sie vermutlich eine frühmittelalterliche Kulturstufe erreicht hatten und Eisen verarbeiten konnten. Im Frühjahr 2513 war Nash konsequent einem Funksignal gefolgt, das sein Aufklärer südlich von Leipzig angepeilt hatte. Der Rest war Geschichte: Sie fanden einen verlassenen Bunker, dessen Rechner das Funksignal aussandte, Nash setzte die Anlage instand und baute sie zu einer Forschungsbasis aus. Grübelnd hockte Eve vor ihrem Terminal. Das Gesicht in die Fäuste gestützt, starrte sie in die glühende Spirale. Ihre Gedanken kreisten um Nash und seine Leute. Terry und die anderen drei aus Salisbury kannte sie gut. Sie war mit diesen Menschen groß geworden. War ihre Expedition möglicherweise schon in den Ruinenwäldern an der Ruhr gescheitert? Es reizte sie, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Auch hatte sie Lust, die Barbarenstämme des ehemaligen Ruhrgebiets persönlich kennen zu lernen. Und natürlich zog die Ferne sie an – allein schon der Gedanke, den Bunker zu verlassen und für ein paar Wochen auf der Erdoberfläche zu verbringen … Noch unwiderstehlicher aber zog sie ein Mann namens David Peterson an.
Das Karussell in ihrem Kopf begann aufs Neue zu rotieren. In Gedanken versunken rief Eve die »JohannaDateien« auf und schmökerte in den Aufzeichnungen ihrer Urahnin herum; völlig unsystematisch, mal am Ende, mal am Anfang, mal in der Mitte – gerade so, als hoffte sie eine Entscheidungshilfe darin zu finden. Joan Carlyle schien eine wagemutige Frau gewesen zu sein. Kein Risiko und keine Strapaze scheute sie, um auf den Kriegsschauplätzen der Erde fotografieren zu können. Dabei hatte sie alles, was man für ein bequemes Leben brauchte: Geld, Ansehen und einen Mann, der eine wichtige Rolle im britischen Regierungsapparat spielte. In einer Notiz des Jahres 2007 hieß es: Ja, auch ich liebe das Erhabene, das Schöne, auch ich würde lieber attraktive Menschen in der Blüte ihres Lebens fotografieren, Tiere in idyllischer Natur, Landschaften, wohlgeformte Körper, ästhetisch hochwertige Motive. Stattdessen lichte ich das Hässliche ab – den Krieg, die Armut, den Tod. Warum tue ich mir und der Welt das an? Weil ich will, dass die Menschheit anschauen muss, was sie anrichtet: Krieg, Zerstörung und Armut; dass sie so lange anschauen muss, was sie anrichtet, bis sie lernt, es zu hassen, bis sie anfängt, dafür zu sorgen, dass es von der Erdoberfläche verschwindet… Die Sätze verblüfften Eve. Eine Idealistin? Ich bin wie die Esther der jüdischen Überlieferung, hieß es an einer anderen Stelle. Wie sie, sage ich mir: Komm ich um, so komm ich um, überlebe ich, hab ich das Optimale getan. Eve war erschüttert, als sie herausfand, dass ihre Urahnin den schon sicheren Bunkerplatz in London verlassen und den Kometeneinschlag vermutlich draußen erlebt hatte. Warum das? Und warum London? Bis jetzt war Eve davon ausgegangen, dass ihre
Vorfahren die Katastrophe im Bunker von Salisbury überlebt hatten. Wie sonst sollten Joan Carlyles Aufzeichnungen in die Datenbanken der Zentral-Helix gelangt sein? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage fand Eve ein paar Hinweise auf das Privatleben ihrer Urahnin. Johanna hatte den dreizehn Jahre älteren Louis Carlyle Ende der achtziger Jahre kennen gelernt, als sie ihn für ein Wirtschaftsmagazin fotografierte. Die Ehe schien nur die ersten zwei Jahre glücklich gewesen zu sein. Um die beiden Kinder aufziehen zu können, hatte sie ihren Beruf eine Zeit lang an den Nagel gehängt. Unterschiedliche politische Standpunkte entfremdeten sie Anfang des neuen Jahrtausends noch weiter von ihrem Mann. Ihr erster Auftrag als Fotografin führte sie im Jahre 2004 nach Bagdad. Im Sommer 2009 schrieb sie in ihr Tagebuch: Manchmal frage ich mich, ob ich in Wahrheit womöglich nur deswegen mit der Kamera um den Globus reise, um möglichst weit weg von Lou sein zu können … Eve musste lachen, als sie das las. Sie dachte an den Mann, dem sie gar nicht nahe genug sein konnte. Zwei oder drei Monate ohne David? Ausgeschlossen! Sie ging ins Bett und schlief tief und traumlos. Zum ersten Mal im neuen Jahr. Am nächsten Morgen ließ sie sich in den Privaträumen des Prime melden. Sir James empfing sie in seinem Lesesessel. Ein zerlesenes Buch lag auf seinen Schenkeln, als Eve das Panorama einer irischen Flusslandschaft betrat. Er lächelte sie an, und Eve wusste, dass er ihre Antwort schon gestern Abend gekannt hatte. »Ich nehme den Auftrag an, Sir«, sagte sie. »Und als
Kommandanten des zweiten EWATs schlage ich Major David Peterson vor.«
Kapitel 4 Christopher-Floyd � Aus den Johanna-Dateien � 12.5.2011 Heute hat Mary-Lou mir ihren Freund vorgestellt. Großer Bursche, blond, dunkelblaue Augen; Pete Nash heißt er. Ein attraktives, höchst sympathisches Mannsbild mit einem nichts sagenden Namen. Hat in Informatik promoviert und studiert jetzt Medizin im gleichen Semester wie Mary-Lou. Die Art, wie sie ihn anschaut – anschmachtet –, lässt mich das Schlimmste befürchten. Ich sage es nicht gern: Vor dreiundzwanzig Jahren habe ich Louis auf ähnliche Weise angeschaut; ein knappes Jahr danach hatten wir eine Tochter. Mister Nashs Mutter ist Tänzerin, sein Vater Hafenarbeiter. Sein älterer Bruder spielt Fußball für irgendeinen schottischen Verein. Ich freue mich auf Louis' Gesicht, wenn ich ihm das erzähle. Nächste Woche, zum Geburtstag ihres Vaters, wird Mary-Lou Mister Nash offiziell in die Familie einführen. Der Ärmste! 2.7.2011 Heute haben sie mir den World Press Photo Award verpasst. Für das Bild vom US-Panzer mit dem Toten in der Luke und den Geiern auf dem Geschützrohr. Die Preisverleihung fand in der Empfangshalle des
Broadcasting House statt. Sandy McMillan hat moderiert, Winter von der TIMES die Laudatio gehalten. Ich weiß nicht mehr, worum es ging; die üblichen Lorbeeren eben. Der Innenminister – wahrscheinlich kam er aus Höflichkeit Lou gegenüber – drückte mir die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen, Mrs. Carlyle. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit – es ist eine echte Friedensarbeit.« Und du bist ein echter Phrasenproduzent, dachte ich. Auf dem Nachhauseweg aber schämte ich mich für diesen Gedanken. Ich saß stumm neben Louis auf dem Beifahrersitz und machte mir klar, warum ich all diesen Mist und all dieses Elend fotografiere: Weil ich die naive Hoffnung nicht loswerden kann, dass es eventuell von der Erdoberfläche verschwindet, wenn nur genug Menschen es lang und oft genug anschauen müssen. Zu Hause mit Louis zwei Flaschen Sekt geleert. Anschließend an seiner Brust geheult wie ein Kind. 3.8.2011 Mary-Lou ruft nur noch selten an. Der schöne Mister Nash beschlagnahmt sie. Morgen fliegen Louis, Stuart und ich nach Los Angeles. Letzter Urlaub mit dem Jungen wahrscheinlich. Er wäre jetzt schon am liebsten mit ein paar Freunden nach Südfrankreich zum Zelten gefahren. So geht alles einmal zu Ende. Und Louis und ich? Wird das auch zu Ende gehen, wenn Stuart erst aus dem Haus ist? Ich will nicht darüber nachdenken … 29.8.2011 Die TIMES berichtet von einem seltenen astronomischen Ereignis: Ein Komet wird die Erdbahn nur 15 Millionen Kilometer entfernt kreuzen, in einem halben Jahr. Zwei
Briten haben ihn vor ein paar Tagen entdeckt. Nach ihnen ist der Himmelskörper benannt: »ChristopherFloyd«. An diesem Sommertag ist er noch über eine Milliarde Kilometer weit entfernt. Unvorstellbare Distanz. Warum beachte ich diese kurze, unwichtige Nachricht eigentlich? Vielleicht, damit ich mich nicht mit dem Dreck auf diesem Globus beschäftigen muss … 3.9.2011 Winter hat mir vorgeschlagen, eine gemeinsame Reportage über das Leben eines Kriegsreporters zu schreiben. Ich hab mir Bedenkzeit erbeten. Wenn ich zusage, dann vor allem seinetwegen: Frank ist charmant, er hat Stil, und er sieht gut aus. Mit anderen Worten: Das krasse Gegenteil von Louis … 11.9.2011 Der Komet beherrscht die Nachrichten, den Boulevard und den Markt, sogar in den alltäglichsten Gesprächen ist er gegenwärtig. BBC bringt morgens und abends seine aktuelle Entfernung von der Erde und verrät bei der Gelegenheit, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Kollision gerade veranschlagt wird. Die schwankt nämlich, seit »Christopher-Floyds« Entdeckung zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Prozent. Im Moment liegt sie angeblich bei einundvierzig Prozent. Einundvierzig Prozent! Das ist zu viel, um wirklich gelassen zu bleiben, oder? Ich jedenfalls fürchte mich schon ein wenig. Boulevardblätter wie die SUN berichten auf eine Weise,
dass man meint, der Weltuntergang sei schon beschlossene Sache. Die europäischen Regierungen verdächtigt man, ihre Bürger bewusst falsch zu informieren, um Chaos zu vermeiden. In den Wirtschaftsteilen seriöser Zeitungen liest man von Massenpleiten im Versicherungs- und Baugewerbe und von einem Boom in der Reise-, Optik- und Lebensmittelindustrie. Die Leute schließen keine Versicherungen mehr ab und kündigen die bestehenden. Die Leute wollen keine Häuser mehr bauen – Autos kaufen sie übrigens auch nicht mehr – und decken sich stattdessen mit Vorräten ein, besorgen sich Feldstecher und Teleskope und reisen nach Hawaii oder Spanien oder sonst wohin, um den Kometen durch Großteleskope betrachten zu können. Vermutlich erhoffen sie sich objektive Aufklärung von den professionellen Astronomen dort. Sandy McMillan von der BBC freut sich über die unglaublichen Einschaltquoten und hält das Ganze für eine ähnliche Hysterie, wie sie in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ausbrach, als den Halleyschen Kometen seine Reise durch den Kosmos mal wieder an der Erde vorbeiführte. Sie erklärte mir, dass sie ihren nächsten Sommerurlaub in der Karibik verbringen will, und fügte überlegen lächelnd hinzu: »Falls es die Karibik und mich noch gibt im nächsten Sommer.« Frank Winter von der TIMES flucht auf den Boulevard, der die Sache seiner Meinung nach aufbauscht, um die Auflage seiner bunten Blätter zu steigern. Allerdings räumt er ein, dass möglicherweise gewisse Politiker die Hysterie schüren; Populisten, die seiner Meinung nach schon seit Jahren auf den Niedergang der
freiheitlichdemokratischen Ordnung und auf ihre Chance warten. Seine Zeitung vermeidet den Begriff »Kollision«. In der TIMES ist nur davon die Rede, dass der Komet die Erdbahn kreuzen wird. 13.9.201 »Was hältst du davon?«, habe ich Louis heute gefragt. Er zog die Brauen hoch. »Wovon?« Dann lachte er. »Ach so! Dieser Komet?« Er winkte ab. »Unverantwortlich, was die Medien uns da einbrocken. Schlimmer noch als das ganze Gerede und Geschmiere über eine angebliche Klimakatastrophe. Du wirst dich doch nicht etwa von dieser Endzeitstimmung anstecken lassen?« Über eine Milliarde Kilometer sei der Komet noch von der Erde entfernt, hieß es heute in den Nachrichten. Eine Milliarde Kilometer – das klingt unvorstellbar weit weg; beruhigend weit weg. Doch nach Louis' Antwort beruhigt mich nichts mehr. Er war schon immer ein schlechter Lügner. 14.9.2011 Auftrag von Reuters. Ich soll ins kolumbianische Amazonasgebiet fliegen. Angestellte eines Edelholzkonzerns sollen dort Hunderte von Indios massakriert haben. Eine Spezialeinheit der kolumbianischen Armee und ein internationaler Journalistentross wird in das Waldgebiet vordringen. Reuters will, dass ich mich anschließe und fotografiere. Ich werde ablehnen. 17.9.2011 Der Komet ist immer noch über eine Milliarde Kilometer
weit entfernt. In den BBC-Nachrichten hieß es heute, er würde am 10. Februar nächsten Jahres die Erdbahn kreuzen, und der TIMES zufolge beträgt die Kollisionswahrscheinlichkeit vierundvierzig Prozent. Die SUN geht von über fünfzig Prozent aus und empfiehlt, die Keller zu Schutzbunkern auszubauen. Es dürfte also wieder Schwung in die Baubranche kommen. Louis will wissen, warum ich den Reuters-Auftrag abgelehnt habe. Meine Antwort: »Es ist nicht die Zeit, in der man seine Kinder allein lässt.« Er macht große Augen und wiederholt seine Phrase über die Massenhysterie, von der sich kein gebildeter Mensch anstecken lassen sollte. Ich: »Wie bereitet das Kabinett sich auf eine mögliche Katastrophe vor?« Er: »Wir sind mit allen Nato-Regierungen im engsten Kontakt.« Wie beruhigend.
Kapitel 5 Die Crew � Mitte Januar 2516 Wolken zogen über einen blauen Himmel. Ausgefranst an den Rändern, streckten sie sich nach einem fernen, unbekannten Ziel. In der Pause nach der vierten Runde, als die beiden Boxer in den Ringecken von ihren Trainern getränkt, erfrischt und verarztet wurden, blickte Courtney zum Kuppelzenit hinauf, und es kam ihr vor, als würden dort oben mystische Wesen auf ihrem Flug durch den Kosmos zufällig die Erde streifen und ihr zurufen: »Komm mit uns, komm mit uns, komm mit!« Doch dann schob sich die Silhouette des nächsten Jumbojets über den Himmel, diesmal eines startenden, und die mystischen Wesen auf dem Weg zur Grenze des Universums wurden wieder zu Wolken. Oder nein, nicht einmal das – zu Projektionen von Wolken. Der Gongschlag ertönte, die Boxer standen auf, gingen aufeinander zu. Statt Perücken trugen sie Tücher. Der Champion hatte sich ein rotes Tuch um den Schädel gebunden, der Major ein blaues mit gelben Sternen. In der Mitte des Rings tastete der Champion die Deckung des Majors mit ein paar Schlägen ab. Danach duckte er sich blitzschnell, mal nach rechts, mal nach links, täuschte einen Haken an und schickte eine Gerade gegen die Magengrube seines Gegners. Doch der Major wich geschickt aus und landete einen Treffer auf die Schläfe des Champions. Der Schwerere torkelte.
Die Zuschauer – etwa drei Dutzend, davon über die Hälfte Kinder und Halbwüchsige – kreischten, stöhnten auf, klatschten oder schlugen die Hände vors Gesicht; je nachdem, auf wen sie gewettet hatten. Die meisten hatten auf Captain Edgar Amer gesetzt. Er hatte seinen Community-Titel bereits dreimal erfolgreich verteidigt. Man setzte in erster Linie vorzeitliche Bücher, alte Münzen und antiken Schmuck ein. Begehrt waren auch vergilbte Fotografien, entrostete Motorteile oder Werkzeug aus der goldenen Zeit vor »ChristopherFloyd«. Wertvolle Dinge eben, wie man sie oben in den Ruinen fand. Gereinigt, sterilisiert und restauriert galten sie in der Community schon seit Mitte des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts als inoffizielles Zahlungsmittel. Nun ja, ein offizielles gab es nicht. »Gut, David! Spitze!« Neben Courtney jubelte Lilly Warrington. Sie hatte nicht auf Amer gesetzt. Ihr Favorit war der Major. »Hau ihm auf die Rübe! Lass dich nicht aus der Deckung locken!« Courtney stimmte nicht in ihre Anfeuerungsrufe ein. Nicht, dass sie dem Major den Titel nicht gönnte – ganz im Gegenteil –, aber diese Boxerei ging ihr gegen den Strich. Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Major seine Kräfte im Degenfechten oder 3-D-Schach üben würde, so wie sie; oder von ihr aus auch am Billardtisch. Diese Prügeleien mochten ihrer Meinung nach den Stinkstiefeln oben in den Ruinen gut zu Gesicht stehen, nicht aber einem zivilisierten Menschen. Courtney blickte erneut in den Himmel aus zweiter Hand, wo eine Concorde die Flugformation der Wolkenwesen zersäbelte, und verpasste einen weiteren Treffer des Majors. Amer ging in die Knie, klammerte,
und Spencer musste sie trennen. Spencer Dewlitt machte mal wieder den Ringrichter. Er hielt den Championtitel im Poolbillard und hatte ihn immerhin drei Jahre lang im Schach gehalten. Um selbst im Boxring zu kämpfen, war der äußerlich zerbrechlich wirkende Ästhet viel zu leicht. Courtney wunderte sich, dass er sich überhaupt für diesen Job hergab. Der Gong, die Pause, die fünfte Runde. Mehr als auf die Deckung und die Aktionen der beiden Kämpfer dort oben im Ring achtete Courtney auf das Spiel der Muskeln unter deren weißer Haut, und auf die Bewegungen ihrer Beine. Alle Frauen und Mädchen rund um den Ring taten das. Amer stapfte wuchtig im Ring hin und her, während der Major tanzte. Ja, wie eine Ballerina tänzelte er seinem Gegner vor der Nase herum, dabei wog auch er an die hundertachtzig Pfund. Die Männer trugen, außer Kunstlederstiefeln und Boxhandschuhen, nur sehr knappe Lendenschurze – der Major aus rotem Kunstsamt, der Champion aus schwarzem Kunstwildleder –, so knapp, dass ihre Hüftknochen zu sehen waren und der Ansatz der Perlenketten ihrer Lenden. Courtney genoss den Anblick. Sie wusste, dass Lilly genau wegen dieses Genusses hier unten im Pumpwerk war, und das behagte ihr nicht. Gong, Pause, sechste Runde. Eddy Amer, der Schwerere und Größere, griff an, als wollte er die Entscheidung in dieser Runde erzwingen. Eine Gerade gegen den Schädel seines Gegners, eine Gerade, hinter der die Wucht seiner zweihundertzehn Pfund lag, traf exakt und schleuderte den Major in die Seile. Die Kids jubelten, und Courtney und Lilly kreischten jetzt im Duo;
und die meisten der halbwüchsigen Mädchen auch. Doch ihr Favorit war hart im Nehmen: Unter Amers zweitem Schlag konnte er sich wegducken, und fast im selben Moment täuschte er eine Gerade gegen Amers Bauch an und schoss, als dieser die Fäuste herabzog, eine rechte Gerade gegen sein Kinn ab. Jetzt torkelte der Champion durch den Ring wie ein Berauschter, und die Frauen und halbwüchsigen Mädchen schrien ihre Begeisterung heraus. Der Major setzte nach. Instinktiv erkannte er seine Chance – sein linker Haken landete auf dem Mundwinkel des Hünen, sein rechter in dessen Magen, und als der Champion strauchelte und zu Boden ging, gab der Major ihm noch eine linke Gerade in den Nacken mit. Spencer bückte sich zu Amer hinunter und zählte ihn an. »Bravo, David, Zucker!«, schrie Lilly Warrington, und diesmal stimmte Courtney mit ein. Bei vier rappelte der Champion sich auf und ging wütend auf den Major los. Doch der Gong stoppte seinen Angriff. Pause. Hinter dem Ring, über dem Wasserrohr, stieg ein gewaltiger Jumbojet in die Lüfte. Im Octaviat gab es nicht viele Freunde der Boxkämpfe, und der König schätzte sie schon gar nicht. Auch die jährlichen Fechtmeisterschaften wurden von der Community-Regierung nicht gerade gefördert. Man tolerierte die Kampfsportarten eben; als Training für die harten Bedingungen der Außeneinsätze in den Ruinen, vermutete Courtney. Durchweg alle Boxer taten Dienst in der Community-Force und auf den EWATs. Die meisten hatten mehr als tausend Einsatzstunden auf der Erdoberfläche hinter sich. Dort oben konnte es schon mal
vorkommen, dass die Stinkstiefel einem zu nahe auf den Leib rückten; dann waren Nahkampfqualitäten gefragt. Die siebte Runde begann. Der Champion fing sich sofort einen Treffer und stürzte erneut. Doch wieder rappelte er sich auf, diesmal unerwartet schnell. Was für ein zäher Brocken, dieser Amer! Courtney Rouwens war beeindruckt. Die Kids rechts und links von ihr brüllten. Sie liebten den Champion, hatten ja keine Ahnung. Courtney schon – von ihren knapp fünfhundert Außenstunden war sie über zweihundert mit dem Waffentechniker im Team unterwegs gewesen. Eddy Amer knurrte wie ein Eber. Er schlug seine Handschuhe über dem Kopf zusammen, seine Augen wurden schmal, Wut und Verblüffung zugleich spiegelte sich in ihnen. Jeder, der seine Kämpfe gesehen hatte, wusste, dass der Major sich nun auf einen Gewitterorkan gefasst machen musste, auf ein Erdbeben sogar; und der Major wusste es auch – er zog Schultern und Fäuste hoch und legte die Ellbogen vor dem Solarplexus zusammen. »Eddy!«, brüllten die Kids. »Hau drauf, Eddy! Hau drauf!« Lilly, Courtney und die Teenies feuerten ihren Favoriten an. Der Major fing den Hagel von Amers Haken und Geraden mit seiner Deckung ab oder tanzte an ihm vorbei oder unter ihm hindurch. Bevor der Champion richtig in Fahrt kam, ertönte der Gong. Die Kämpfer wankten in ihre Ecken. Die drei Punktrichter steckten die Köpfe zusammen. Einige Kids kletterten auf das mannshohe Rohr vor der Kuppelwand. Hier mussten sie nicht die Köpfe in die Nacken legen, sondern waren auf gleicher Höhe mit dem Ring und ihrem Idol. Lautlos glitt ein Flugzeug über sie hinweg, setzte hinter dem Tower zur Landung an. Auf
der anderen Seite ertönte plötzlich ein tiefes Brummen, und Courtney spürte ihr Zwerchfell vibrieren. Die Hauptpumpe war angesprungen. Ein Punktrichter schlug den Gong zur achten Runde, Spencer gab den Ring frei. Amer stampfte auf seinen Gegner zu, das linke Auge geschwollen, das rechte zu einem Schlitz verengt. Kopf und Kinn vorgeschoben, sah er nicht nur angriffslustig, sondern auch ziemlich wütend aus. Der Major empfing ihn tänzelnd. Der Ort der Wettkämpfe spiegelte ihren sozialen Status wider: Nicht im Wohnbereich, wo das soziale Leben der Community London stattfand, traf man sich für solche Sportveranstaltungen, sondern hier unten im Pumpwerk, am tiefsten Punkt der unterirdischen Stadt. Für Volleyball, Basketball, Billard, Schach und Leichtathletik hatten König und Regierung im Lauf von vier Jahrhunderten Raum in der Wohnsektion geschaffen. Die beiden Kampfsportarten verbannten sie bis zum heutigen Tag ins Pumpwerk, zwischen die Rohre, durch die geklärtes Themsewasser in drei Kilometer Tiefe strömte, um, bis auf fünfundsiebzig Grad erhitzt, wieder heraufgepumpt zu werden. Auf diese Weise deckte die Community fast achtzig Prozent ihres Energiebedarfs und gewann zugleich ihr Trinkwasser. Denn im Wasserwerk, eine Ebene über dem Pumpwerk, wurde das Themsewasser erst destilliert und dann mit Mineralien und synthetischen Vitaminen angereichert. Die achte Runde. Drei Minuten gegenseitiges Belauern und Abtasten. Der Champion wollte keinen Angriff riskieren, war vielleicht schon müde, und der Major wusste, dass er sich auf die Verteidigung verlegen und seine Chance abwarten konnte. Nach Punkten führte er
bereits. Während dieser neunten Runde ging das Schott auf, und ein Paar stieg die Metallrosttreppe zum Pumpwerk hinab. Anfeuerungsrufe und Stimmengewirr verstummten. Nur die beiden Boxer bemerkten die neuen Zuschauer nicht. Die Frau war groß und massig. Ein weites knöchellanges, silber und blau gestreiftes Gewand – eine Art Kimono – kaschierte ihre Fettleibigkeit. Sie trug eine Perücke aus toupiertem und über dem Hinterkopf aufgetürmtem Haar, blauschwarz. Ihr strenger Blick entdeckte Lilly vor dem Boxring. Sie nickte kurz und Lillys rundes Gesicht rang sich ein scheues Lächeln ab. Die Frau – Lady Josephine Warrington – war ihre Großmutter; und darüber hinaus die Prime der Community London. Der um einen halben Kopf kleinere Mann an ihrer Seite blickte sich um, als würde er das Pumpwerk zum ersten Mal in seinem Leben betreten. Vielleicht schwelgte General Charles Draken Yoshiro aber auch in schönen Erinnerungen, denn es hatte Zeiten gegeben, in denen er hier unten sieben Jahre lang seinen Championtitel im Florettfechten verteidigt hatte. Allerdings lag das schon über siebzig Jahre zurück. Damals war Courtney noch nicht geboren und Yoshiro weder leitender Kommandant der Community-Force noch Militär-Octavian der Community London. Wie meistens trug er auch an diesem Tag seine legendäre Perücke: schulterlange Multilocken, ultramarinblau. Die Prime und der General setzten sich auf zwei freie Plätze hinter dem Punktrichtertisch. Nach und nach erhoben sich wieder Jubel und Anfeuerungsrufe. Die
Kids schafften es als Erste, die beiden Regierungsmitglieder zu ignorieren. Der Gong ertönte, Spencer trennte die Kontrahenten. Während ihre Betreuer sie in ihren Ecken versorgten, flüsterten sie ihnen zu, welch hohen Besuches der Meisterschaftskampf sich seit zwei Minuten erfreuen durfte. Der Major nickte zur Prime und dem General hinunter, Amers Gestalt straffte sich, seine Miene nahm einen irgendwie dienstlichen Ausdruck an, und ein wenig ungelenk legte er die Rechte zum Gruß an die Schläfe. Dann der Gong und die zehnte Runde. Wie ein Stier ging der Champion auf seinen Herausforderer los. Sein blitzschneller Angriff überraschte den Major, und er musste eine linke Gerade einstecken. Er schüttelte sich kurz und knallte zwei Geraden gegen die gegnerische Deckung. Doch Amer wollte jetzt die Entscheidung – im Sekundentakt schoss er Haken und Geraden auf den Major ab. Die Kids brüllten seinen Namen, die Mädchen mit Lilly und Courtney skandierten den Namen des Majors. Die fast nackten Männerkörper glänzten vor Schweiß, ihre Muskelstränge wölbten und streckten sich. Courtney biss sich auf die Unterlippe. Aus den Augenwinkeln sah sie die Prime lächeln. Lady Josephine stand in dem Ruf, die Augen nicht niederzuschlagen, wenn es etwas Schönes zu sehen gab. General Charles Draken Yoshiro saß stocksteif. Mit steinerner Miene und aus Schlitzaugen, die er von seinen asiatischen Vorfahren geerbt hatte, beobachtete er, wie seine Männer aufeinander eindroschen. Ein Aufschrei ging durch die Kids auf dem Rohr, weil
ein rechter Aufwärtshaken des Majors die Deckung ihres Idols aufriss. Sofort schickte er eine linke Gerade hinterher und traf den Champion voll an der Schläfe. Die Wucht des Schlages warf dessen Kopf in den Nacken und schleuderte ihn nach hinten weg gegen die Seile. Ein Leberhaken und ein wuchtiger Treffer gegen sein breites Kinn gaben ihm den Rest: An den Seilen rutschte er zu Boden und blieb für ein paar Sekunden reglos auf der Seite liegen. Courtney sah, dass seine aufgeplatzte Unterlippe blutete. Spencer Dewlitt sprang zu ihm und begann zu zählen. »Eins, zwei, drei…« Alle, außer dem General, waren jetzt aufgesprungen. Die Kids pressten die Fäuste ans Kinn oder hatten die Handflächen vors Gesicht geschlagen. Ein kleiner Junge weinte. »… sechs, sieben …« Amer setzte sich auf und schüttelte sich. Die Kids jubelten, die pubertierenden Mädchen kreischten und winkten zum Major hinauf, und die Blicke der Prime hingen ebenfalls an dessen muskulösem Körper, Courtney sah es genau. Amer stemmte sich auf die Knie, schaffte es aber nicht mehr auf die Beine. »… neun, zehn!« Jubel brach los. Die Betreuer sprangen in den Ring, tränkten und versorgten den Geschlagenen, die Frauen und Mädchen applaudierten dem Major. Zum ersten Mal erhaschte auch Courtney ein Lächeln von ihm. Hitze perlte ihr von der Kehle bis in den Schoß. Endlich stand Amer wieder auf den Beinen. Er wankte, als er mürrisch in die Runde blickte. Spencer fasste sein Handgelenk, zog ihn zu dem neuen Champion, packte auch dessen Handgelenk und riss es nach oben. Wieder Jubel. Selbst die Prime applaudierte dem Major. Als Beifall, Jubel und Geschrei sich gelegt hatten, stand
endlich auch der General auf. Er räusperte sich, und die letzten Stimmen verstummten. »Gratuliere, Major Peterson«, näselte Yoshiro. »Wir müssen Sie sprechen, es gibt da ein paar Neuigkeiten, die Sie betreffen.« Er sah sich um und deutete auf die Sitzecke in der Nische zwischen dem Heißrohr und dem Pumpengehäuse. »Am besten sofort und an Ort und Stelle. Und Sie auch, Captain Dewlitt und Lieutenant Warrington.« Courtney spürte, wie ein Ruck durch Lillys kräftige Gestalt ging. »Und Sie, Captain Amer«, schnarrte der blauhaarige General. »Falls Sie noch in der Lage sind, einem Gespräch zu folgen.« Er wandte sich ab und stelzte mit kurzen Schritten zur Sitzecke. Nacheinander schlossen die Genannten sich an. Lilly und Lady Josephine rahmten den Champion ein, wie zwei schwergewichtige, aufgeblasene Walküren. Eddy Amer wankte hinter ihnen her. Vergeblich hatte Courtney darauf gewartet, ihren Namen zu hören. Es ging um einen Spezialeinsatz, schätzte sie. Schade. Lilly nahm neben dem Major Platz, ihr Vollmondgesicht strahlte. Die Eifersucht durchfuhr Courtney wie ein Schmerz. Wie gerne wäre sie mal wieder mit dem Major gefahren. Wirklich schade. Sie blickte in den Himmel. Eine Wolke erinnerte sie an einen Baum. Himmel, was würde sie darum geben, einmal in ihrem Leben mit bloßen Händen einen Baum zu berühren! Ein Jet verschwand in einer anderen Wolkenformation, die sie an ein großes Segelschiff erinnerte. In Filmen und Geschichten aus der Zeit vor dem Kometen gab es solche Schiffe. Als Kind konnte sie nicht genug von Geschichten und Filmen mit alten Segelschiffen bekommen. Sie hatte sich dann immer
gewünscht, tausend Jahre früher geboren worden zu sein und mit einem Segelschiff über die Ozeane zu fahren. Auch jetzt, wo sie etwas verlassen vor dem Boxring stand und hinauf in das Wolkenpanorama blickte, wünschte sie sich das. Möglicherweise hatte man Courtney in ihrer Kindheit und Jugend verschwiegen, dass diese Schiffe ihre Besatzungen oft genug in eine Hölle aus Sturm und Wellen getragen hatten; und nicht selten in den Tod. Oder hatte sie es im Lauf der Jahre verdrängt? Anfang Februar 2516 Das Außenschott öffnete sich, Schneeregen klatschte gegen die Frontkuppel und Ari Togo sagte: »Scheißwetter, ich will wieder nach Hause.« Niemand lachte. Hatte ihm überhaupt jemand zugehört? Eine fast andächtige Stille herrschte im Kommandostand. Eve glaubte zu fühlen, wie ihr Brustkorb sich weitete, als sie nach vier Monaten zum ersten Mal wieder in natura erblickte, was sie sonst nur sah, wenn sie einen Blick auf einen Monitor der Außenkamera warf: die kolossalen Menhire von Stonehenge, der riesige Busch hinter den Wällen, das ausgedehnte Grasland rechts und links davon, den Fluss und die Wälder, die sich von seinem Ostufer bis an den Horizont ausbreiteten. Der EWAT pflügte durch das Gras und durch die uralten Wälle. Als Folge des Bunkerbaus hatte sich der Boden hinter ihnen im Laufe der letzten fünfhundert Jahre abgesenkt, sodass man den Eindruck bekam, die Menhire würden auf einer flachen Hügelkuppe stehen. Der gewaltige Busch etwa dreißig Schritte nördlich des
Steinkreises bedeckte einen uralten Sprengkörper von atemberaubenden Ausmaßen. Wie er dorthin gelangt war, wusste niemand. Auch für die metallenen Kettenfahrzeuge unter den zahlreichen kleineren Gestrüpphaufen in der Grasebene rund um Stonehenge hatte noch niemand eine schlüssige Erklärung gefunden. Die Erinnerung daran war vermutlich schon in den chaotischen Anfangsjahren der Community verloren gegangen. Zwanzig Minuten später schwebte der EWAT über dem Wasser des Avon. Als sie die Mitte des Flusses erreichten, brach Barbara Plant das Schweigen. »Wie schön!«, sagte sie. »Wie wunderschön.« Alle lächelten; alle bis auf Togo. Rührung, Wehmut oder gar Ergriffenheit, die einem womöglich noch die Tränen in die Augen trieb – dem schwarzen Mann in der Luke zum Waffenturmsegment behagten solche Gefühle nicht. Am anderen Flussufer pflügte der EWAT über die Böschung auf den Wald zu. »Nichts«, sagte Eve. Sie saß an der Ortung. »Keine Wärmequellen, keine Flöße, nichts. Die Luft ist rein.« Keine Socks in der Nähe, wollte sie damit sagen. Die Socks – oder Stinkstiefel, wie manche die Barbaren in den Ruinenwäldern zwischen London und Salisbury nannten – waren immer für böse Überraschungen gut. In der Regel schleuderten sie aus ökonomischen Gründen zwar keine Speere mehr auf die EWATs und beschossen die Tanks auch nicht mehr mit Pfeilen, aber es kam vor, dass urplötzlich ein Netz aus dem Unterholz schnellte und sich vor einem Tank ausspannte, oder dass man in einen Hagel aus Betontrümmern oder Felsbrocken geriet,
den die Barbaren mit Katapulten veranstalteten. Solche Dinge waren nicht wirklich gefährlich – solange nicht ein tonnenschwerer Brocken die Frontkuppel traf –, aber ärgerlich. Und darum ging es den Stinkstiefeln: die Communities zu ärgern, ihre Forschungsfahrten und ihre Arbeiten auf der Erdoberfläche zu behindern. Maulwürfe nannten sie die Community-Mitglieder, und sich selbst nannten sie Lords. Bald öffnete sich eine Schneise im Wald. Captain Barbara Plant steuerte den Tank hinein. Eves Stammpiloten, einem gewissen Captain Highlander, hatte das Octaviat das Kommando über das Schottlandprojekt anvertraut. Er würde ihr auf der Expedition fehlen, denn die noch junge Barbara Plant – Eves beste Freundin und eine hervorragende Aufklärerin – war eine relativ unerfahrene Pilotin. Ihren Dienstrang verdankte sie vermutlich mehr ihrem Namen als ihrer Leistung und ihren Stunden im Außendienst. Wie auch immer – Eve hatte darauf bestanden, dass Spencer Dewlitt als Pilot auf ihrem EWAT arbeitete, damit Barbara unter Davids Augen dazulernen konnte. Major David Peterson galt als einer der drei besten Piloten in London. Über den zweiten Grund dieser Personalentscheidung hatte Eve nur mit Leonard Gabriel gesprochen: Sie brauchte eine objektive Informantin auf dem Londoner EWAT; jemanden, der ihr zum Beispiel unvermeidliche Spannungen im Team zutrug, bevor sie sich zu handfesten Konflikten entwickelten. Alle hatten übrigens zugesagt; auch das Quartett aus der Schwester-Community. Was David betraf, wertete Eve seine Zusage als gutes Zeichen für ihre gemeinsame
Zukunft. Er hatte sich noch immer nicht auf eine Umsiedlung nach Salisbury festgelegt. Eve war überzeugt davon, dass die Erfahrung einer gemeinsamen Expedition seine letzten inneren Zweifel ausräumen würde. Probleme erwartete Eve noch von Spencer Dewlitts Seite: Dass er auf ihrem und nicht auf Davids EWAT Dienst tun würde, hatte man ihm erst nach seiner Zusage eröffnet. Die Waldschneise verlief ziemlich gerade Richtung Osten. Es war die alte Trasse der A 303 nach London. Wenn auch nicht öfter als durchschnittlich ein Mal im Monat, wurde sie doch regelmäßig befahren, sodass im Laufe der Jahrhunderte eine baumfreie Route zwischen den Communities entstanden war. Sie sprachen nicht viel während der dreiundneunzig Meilen bis zu den ersten Ruinen Londons. Togo hatte sich in seinen Geschützstand zurückgezogen, der Navigator McMalone hing entspannt in seinem Sessel und beobachtete den Panoramamonitor in der Frontkuppel, und die Frauen ließen ihre Blicke zwischen den Instrumenten und dem monotonen Spalier der kahlen Bäume rechts und links der Frontkuppel hin und her schweifen. Im Hintergrund summte der Reaktor. Hin und wieder, wenn der EWAT durch einen Matschtümpel fuhr, spritzten Wasser und Schlamm auf die Kuppel. Manchmal schlug ein Ast oder ein von den Ketten aufgewühlter Stein gegen den Unterboden. Der Schneeregen ging nach und nach in dichtes Schneetreiben über. Ein paar Meilen vor der Ruinenstadt verengte sich die Waldschneise; Gebüsch und kleine Bäume wuchsen hier auf der Trasse. »Ketten einfahren, Magnetfeld aufbauen,
raus mit den Gleitschwingen«, wies Eve die Bordhelix an. Den letzten Wegabschnitt zum Bunkereingang legte man seit ein paar Jahrzehnten in der Luft zurück, wenn kein Befehl ausdrücklich etwas anderes verlangte. Die Socks hatten sich leider angewöhnt, diese Route mit allerhand Fallen zu präparieren. Der schlimmste Überfall dieser Art hatte sich im Jahre 2467 ereignet. Damals gelang es den Barbaren, einen EWAT unter Dubliners Kommando in ein Netz zu treiben, das sie in alten, starken Bäumen vertäut hatten. Die barbarischen Krieger hatten schon den Panzer bestiegen und fingen gerade an, seine Frontkuppel mit Beilen zu bearbeiten. Buchstäblich in letzter Minute gelang es der Besatzung, das Netz in Flammen zu schießen, um es dann mit der Schubkraft von einigen tausend Kilowatt zu zerreißen. Schon eine Weile her, wie gesagt, doch seitdem galten neue und strenge Vorschriften für die Route zwischen London und Salisbury. Der EWAT löste sich vom schlammigen Waldboden und stieg etwa sechzig Fuß hoch. Der Schnee fiel so dicht, dass man die Baumwipfel unter der Maschine nicht sehen konnte. Barbara steuerte den Tank auf der Grundlage der Daten, die Eve und McMalone ihr auf die Monitore schickten. »Ich sehe sie!«, krähte Togo Minuten später aus dem Bordfunk. »Ich bin Erster! Ich sehe die gute alte Themse!« Ein Spielchen, ein spezielles Ritual des Carlyle-Teams – der Waffentechniker hatte es irgendwann einmal eingeführt. Das Schneetreiben lichtete sich für einige Augenblicke, und tatsächlich wogten jetzt siebzig Fuß unter ihnen die dunklen Wasser der Themse.
»Blödsinn, Schwarzer!«, stichelte McMalone. »Ich hab den Fluss schon seit zwei Minuten auf dem Bildschirm! Natürlich bin ich mal wieder Erster!« »Die Instrumente gelten nicht, Mac, das weißt du genau! Ich bin Erster!« Eve und der Navigator grinsten, und Barbara runzelte die Stirn. Sie flog nicht oft mit Eve und ihrem Team. Der EWAT verlor an Flughöhe, während er das andere Flussufer ansteuerte. Im Frontbogen der Sichtkuppel schälten sich die schwarzen Ruinen des Parlamentsgebäudes aus dem Schneeflocken-Vorhang. »Kettenschuhe raus, Landung einleiten«, befahl Eve. Die Bordhelix reagierte sofort, und kurz darauf setzte der Panzer am anderen Ufer auf. Noch wenige Dutzend Meter bis zum Außenschott der Londoner Community. Ruinenfassaden wuchsen auf der rechten Frontkuppelseite aus dem Schneetreiben. Die Teflonketten sirrten leise unter den Stiefelsohlen der Besatzung, manchmal knirschte Gestein. Dann glitten die schwarzen Fassaden plötzlich dichter an ihnen vorbei. Die Bordhelix dimmte die Innenbeleuchtung hoch, um den Helligkeitsunterschied auszugleichen. Minuten später nur schälte sich ein silbrigbläulicher Schimmer aus dem Schneeflockenvorhang, halbkreisförmig und etwa fünf Meter hoch und sechs Meter breit: das Außenschott der Community London. Ein akustisches Signal ertönte aus dem Bordlautsprecher. »Der Schleusenbutler peilt uns an.« Eve ging auf die gleiche Frequenz und antwortete mit einem ID-Code. »Scout II aus Salisbury, verstanden«, schnarrte eine Stimme aus den Bordlautsprechern. »Persönliche
Identifizierung, bitte!« »Commander Carlyle.« Eve machte den Anfang. »Major Stanley McMalone«, sagte der rundliche Mann im Navigatorensessel hinter ihr. Obwohl wie Eve ein Albino, war seine Haut von einem candyfarbenen Braunton. Die Folge von mindestens zwei Stunden Sonnenbank täglich. An die siebenhundert gemeinsame Einsatzstunden auf Scout II verbanden die Kommandantin und den Navigator. »Captain Barbara Plant.« Die hochgewachsene Frau mit der Hakennase und den auffallend dunklen Augen sprach betont langsam und deutlich, dabei hätte der Schleusenbutler ihr Stimmenprofil selbst dann identifiziert, wenn sie ihren Namen lachend gestammelt hätte. »Lieutenant Ari Togo«, tönte die Stimme des großen schwarzen Mannes aus dem Bordlautsprecher. »Und ich hätte gern einen Kuppelraum mit Pool. Nehmen Sie eigentlich auch schon Menüwünsche entgegen?« Der Butler reagierte nicht gleich. Schließlich schnarrte er zögernd und etwas gedehnt. »Sir?« »Schon in Ordnung«, schaltete Eve sich ein. »Löschen Sie die letzten beiden Sätze Lieutenant Togos aus dem Schleusenprotokoll.« »Wie Sie wünschen, Commander Carlyle, Ma'am.« Das Titanglastor hob sich. »Willkommen in der Community London.« Barbara Plant steuerte den EWAT in die silbrig schimmernde Außenschleuse hinein. Eve ging auf die Bordfrequenz. »Nichts gegen einen kleinen Scherz an geeigneter Stelle, Schwarzer, aber wenn wir gleich den Häuptlingen von London gegenüberstehen, halt dich zurück und überlass uns den
Small Talk. Ich will, dass meine Crew einen tadellosen Eindruck macht.« Keine Antwort. »Commander an Gefechtsstand!«, sagte Eve in ungleich schärferem Tonfall. »Habe ich mich unklar ausgedrückt, Lieutenant Togo? Oder warum bestätigen Sie nicht?« »Verstanden, Commander Carlyle«, kam es kleinlaut aus dem Bordfunk. McMalone grinste, die Plant zog schon wieder die Brauen hoch. Das Innenschott der ersten Schleuse öffnete sich, und der EWAT rollte aus dem so genannten »Alten Portal«. In den goldenen Zeiten vor »Christopher-Floyd«, so erzählte man sich, als es noch das Vereinigte Königreich und dessen Parlament gab, hatte hier, am Alten Portal, der Haupteingang der Hauses of Parliament gelegen. »Luftkissen aufbauen«, befahl Eve. Im Schwebeflug glitt der Tank nun durch den Panzerglastunnel, der knapp zweihundert Meter weit bis ins Zentrum der Ruine führte und dort in die Innenschleuse und den eigentlichen Zugang der Bunkerstadt mündete. Das dicke Panzerglas des erst hundertachtzig Jahre alten Tunnels reflektierte nur einen Bruchteil des Scheinwerferlichts. Seltsam verzerrte Konturen glitten rechts und links der Frontkuppel vorbei: schwarze Mauern, zerbrochene Säulen, von kahlen Weinstrünken gerahmte Fensterhöhlen, moosbedeckte Rundbögen und zerklüftete Fassaden. Gut zwanzig Mal war Eve schon durch die wichtigste Ruine des zerstörten London bis zur Bunkerstadt ihrer Erben gefahren, und noch immer empfand sie diese Strecke als unheimlich. Bald erfasste der Scheinwerferkegel die silbrig Fläche des Innenschleusenschotts. schimmernde Zeitgleich erschien die Gestalt eines Ritters in silberner
Rüstung in der Frontkuppel des Panoramadisplays. »Willkommen an der Zugbrücke in die glorreiche Community London, Scout II!« Seine Hände steckten in Kettenhandschuhen und ruhten auf dem Knauf eines in den virtuellen Boden gerammten Schwertes, sein Visier war heruntergeklappt. »Sie erlauben, dass wir erneut um ihre Identifizierung bitten!« Nacheinander nannten die Besatzungsmitglieder Rang und Namen ein zweites Mal. Diesmal enthielt Togo sich einer launigen Bemerkung, und Barbara Plant starrte den Ritter auf der Frontkuppel an, als würde sie ihren Augen nicht trauen. Es war das erste Mal, dass sie vor Londons Innenschleuse stand. Sie hatte zwar vom neobarocken Stil der Londoner gehört, wusste auch, dass er selbst vor dem Design der E-Buder nicht Halt machte, war selbst jedoch nur die eher klassisch gestylten E-BuderProgramme von Salisbury gewohnt. »Ich akzeptiere, Ladies und Gentlemen.« Der Ritter deutete eine Verbeugung an. »Tretet näher.« »Danke, Ivanhoe.« Eve konnte die Erscheinung des Innenschleusen-Butlers nicht mehr erschüttern. Aus Boden und Wänden des Titanglastunnels wuchsen unzählige Düsen, Wasserstrahlen schossen aus ihnen und reinigten Karosserie, Kettenschuhe und Unterboden des Panzers. Danach öffnete sich das Schott, und sie fuhren in den septischen Teil der Innenschleuse, einen Kuppelraum von achtzig Metern Durchmesser. Durch eine große und drei kleinere Schleusen gelangte man von hier aus in eine weite Kuppelhalle von dreihundert Metern Durchmesser. Verschwommen sah man sie als chromartig schimmernde Halbkugel durch das Titanglas hindurch. Diese Kuppelhalle lag schon über der
Erdoberfläche und war der erste aseptische Raum der Community London. Das Schott schloss sich hinter ihnen, grell flirrendes UV-Licht flammte auf. Barbara Plant steuerte den EWAT an die Kuppelwand in eine von vier Parkbuchten hinein. »Schutzanzüge anlegen«, befahl Eve. »Wir steigen aus.« Ein paar Minuten später kletterten sie aus der Außenluke der Bugschleuse. Von violettem Licht beschienen, stapften sie auf eine der drei Personenschleusen zu. Das UV-Licht tötete die gröbsten Keime ab, die sich in der Ruinenwildnis an der Außenhülle oder in den Kettenschuhen eingenistet haben mochten. In der ersten Schleusenkammer erwartete sie der übliche Dekontamininierungsvorgang – eine Dusche aus Desinfektionsmitteln und heißen Gasen –, in der zweiten verharrten sie für drei Minuten in der Lasersterilisation, und in der dritten entledigten sie sich endlich ihrer Schutzanzüge und hängten sie in die dafür vorgesehenen Schleusenschränke. Das vorletzte Schleusenschott schloss sich hinter ihnen, das letzte glitt in die Decke und gab den Blick in die weite Kuppelhalle frei, die in London auch »aseptisches Foyer« genannt wurde. Sechs Männer und Frauen warteten dort auf sie. Eve sah nur David Peterson – ihr Herz machte einen Sprung. »Ladies und Gentlemen!« Ein untersetzter, schlitzäugiger Mann eilte ihnen mit ausgestrecktem Arm entgegen: General Charles Draken Yoshiro. Er trug eine Langhaarperücke aus blauen Locken und einen silbergrauen Overall mit dreifach besternten Schulterstücken. »Im Namen Seiner Majestät des Königs
und im Namen seines Octaviats heiße ich Sie willkommen in London!« Monate später würde Eve an diesen Augenblick zurückdenken. Daran vor allem, dass sie den General im Grunde ihres Herzens nie ernst genommen, geschweige denn respektiert hatte. Und sie würde sich danach sehnen, seine hohe, gepresste Stimme zu hören und seinen Befehl entgegennehmen zu können. Flüchtig schüttelte Yoshiro der Crew aus Salisbury die Hände, und ähnlich knapp stellte er das Empfangskomitee vor: Sir Ibrahim Fahka, den schwarzhäutigen und rundlichen Octavian der Londoner Ingenieurskaste, und nach ihm die Frau und die drei Männer, die in wenigen Wochen unter Eves Kommando nach Osten aufbrechen würden – Major David Peterson, Captain Edgar Amer, Captain Spencer Dewlitt und Lieutenant Lilly Warrington. Nach der Begrüßung gingen die Männer und Frauen hinter den beiden Octavianen her zu den Liften. Während der General das Programm des angebrochenen Tages verkündete – Essen mit dem König, Besichtigung der neuen EWATs und einiges mehr –, gaben Eve und David sich alle Mühe, ans Ende der Gruppe zurückzufallen. »Ich habe mich so nach dir gesehnt«, flüsterte Eve. Ihr Geliebter griff nach ihrer Hand, seine Lippen deuteten einen Kuss an. Ob er sich endlich entschieden hatte? Eve konnte es kaum erwarten, mit ihm allein zu sein. Die Lifttüren schoben sich auseinander, sie stiegen ein, und abwärts ging es. Zwanzig Sekunden etwa brauchte der Aufzug für die sechzig Meter in die erste Ebene der Community. Die ganze Zeit krähte die Stimme des
Generals irgendwelche Wichtigkeiten, die Eve sich vermutlich hätte merken sollen. Doch ihre Sinne waren ganz bei David – sie stand dicht bei ihm, spürte die Wärme und den Duft seines Körpers und streichelte sein Gesicht mit den Augen …
Kapitel 6 Apokalypse � Aus den Johanna-Dateien � 19.9.2011 Gestern in der Royal Albert Hall: Schlussveranstaltung der Promenadenkonzert-Saison, die Royal Philharmonics spielen Beethoven, und Mary-Lou flüstert mir ins Ohr, ich solle mich umdrehen und den großen kahlköpfigen Mann unter den stehenden Zuhörern am Eingang anschauen, das sei Marc Christopher, einer der beiden Entdecker des Kometen. Ich drehe mich um, sehe aber keinen Mann, auf den Mary-Lous Beschreibung passt. Nach dem Schlussakkord rauschender Beifall. Der König betritt die Bühne, donnernder Beifall. Der König sagt sein jährliches Grußwort auf, orkanartiger Beifall und die üblichen Geschmacklosigkeiten der Royalisten: Fähnchen-Gewedel und Rule-Britannia-Gebrüll. Plötzlich dröhnt eine hektische Männerstimme aus den Lautsprechern. Ein ältlicher Graubart steht am Rednerpult und liest aus der Bibel vor. Ich verstehe nur Bruchstücke, weil die Stimme des Mannes sich überschlägt und Louis neben mir sich lautstark über den Störer ereifert. Es geht um ein Erdbeben, um eine dunkle Sonne, einen blutigen Mond und um Sterne, die vom Himmel fallen. Ein paar Sekunden lang kann er ungehindert lesen,
dann stürmen Ordner die Bühne und zerren ihn herunter. Danach ist die ausgelassene Stimmung dahin, Beethovens Musik und das Grußwort des Königs weit weg. Weiter als der Komet. Ohne dass einer ihn an diesem Abend öffentlich erwähnt hätte, schwebt er, während wir aus der Royal Albert Hall schleichen, über unseren Köpfen. 20.9.2011 Im Museumscafe mit Mary-Lou getroffen. Sie sieht blass aus, aber strahlt. Der schöne Mister Nash habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie habe eingewilligt. »Wie schön«, sage ich, in Wahrheit aber frage ich mich, wie lange die Ehe meiner Tochter in den Zeiten des Kometen dauern kann: drei Monate? Oder vier? Es schnürt mir das Herz zusammen. Ich muss Mary-Lou versprechen, ihrem Vater und ihrem Bruder nichts zu verraten, das wolle sie selbst tun. Ich schwöre. Irgendwann kommt das Gespräch auf den Vorfall in der Royal Albert Hall am Sonntagabend. Und jetzt spürt ihn auch Mary-Lou, den Schatten des Kometen – schwer und düster lastet er auf uns. Mary-Lou weint. Seltsam: Ich habe sie noch nie in der Öffentlichkeit weinen sehen. 21.9.2011 Am Morgen die Apokalypse des Johannes zu lesen begonnen. Im sechsten Kapitel fand ich die Stelle, die ich suchte; die Verse, die der graubärtige Fanatiker – als solchen bezeichnet Louis den Mann – in der Royal Albert Hall ins Mikrofon geschrien hatte. Wieder und wieder
musste ich sie lesen, sie gingen mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Sie lauten folgendermaßen: Da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von starkem Wind bewegt wird. Und der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln werden wegbewegt von ihren Orten … 22.9.2011 Heute Abend hat laut BBC »Christopher-Floyd« die Milliarde unterschritten. Neunhundertachtundneunzig Millionen Kilometer ist er noch von uns entfernt. Fast sieben Millionen Kilometer legt er an jedem Erdentag zurück. Unvorstellbar. Die TIMES will erfahren haben, dass er die Erdbahn am 9. Februar nächsten Jahres in einer Entfernung von acht Millionen Kilometern kreuzen wird. Vor zwei Wochen war noch vom 11. Februar und von fünfzehn Millionen Kilometern die Rede. Ich dachte immer, Kometenbahnen seien relativ stabil und ließen sich zuverlässig berechnen … 2.10.2011 Morgens Streit mit Louis. Er ist dagegen, dass Mary-Lou ihren schönen Mister Nash heiratet. Am Abend komme ich vom Reiten, und das ganze Haus riecht nach Haschisch. Laute Musik aus dem Obergeschoss. Ich gehe nach oben, die Tür zu Stuarts Zimmer steht weit auf, mein Sohn liegt mit Sarah im Bett,
der Tochter von Wanda Cox. Der Raum hängt voller süßlicher Rauchschwaden. »Hi, Mom«, sagt mein Sohn, »wir sollten uns was Gutes tun für den Rest unserer Tage, findest du nicht?« Er lächelt sehr entspannt und hält mir die Tüte hin. Ich bin sprachlos und schließe die Tür. Ich werde nichts sagen. Soll sein Vater sich mit ihm auseinander setzen, wenn er Lust hat. 4.10.2011 Gestern haben sie den Mann, der in der Royal Albert Hall aus der Johannes-Apokalypse vorgelesen hat, zu acht Monaten auf Bewährung und 4.500 Euro Geldstrafe verurteilt. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses … 7.10.2011 Heute eines der immer seltener werdenden Gespräch mit Louis. Ich: »Gestern war ich bei meinem Galeristen in Westminster und hab gesehen, dass die Gegend um Westminster Abbey und die Houses of Parliament abgesperrt ist.« Er, in die TIMES vertieft: »Stimmt.« Ich: »Ziemlich weiträumig.« Er, ohne von der Zeitung aufzusehen: »Nun ja, die übertreiben mal wieder.« Ich: »Was wird da gebaut?« Er, schulterzuckend: »Nichts Besonderes. Nur längst fällige Renovierungsarbeiten.« Das war alles. Sicher, er erzählt auch sonst nicht viel aus dem Ministerium. Aber derart zugeknöpft wie in den letzten Wochen habe ich Louis noch nie erlebt.
16.10.2011 Nachts aus dem Schlaf hochgeschreckt: Polizeisirenen unten auf der Straße. Auch ein Ambulanzwagen stand vor der Nachbarvilla. Gegen Morgen kamen zwei Leichenwagen. Mitarbeiter eines Bestatters trugen vier Leichensäcke aus dem Haus. Ich gehe auf die Straße und erfahre, dass die ganze Nachbarsfamilie tot ist. Gift, vermutet man. Der dritte Selbstmord in der Straße innerhalb von zwei Wochen. Schwindelerregend die Zahl derer, die seit Anfang September in London freiwillig in den Tod gegangen sind: dreitausendsiebenhundertdreiundachtzig Personen. Es ist wie eine Epidemie. 21.10.2011 Louis und Stuart streiten lautstark. Wegen Stuarts Haschischkonsum, und weil er seit Tagen nicht in der Schule war. Später hält Sarahs Wagen vor dem Haus. Stuart wirft eine große Tasche in den Kofferraum, steigt ein und fährt mit ihr weg. Den ganzen Abend mit ihm telefoniert. Er will nicht zurückkommen. 23.10.2011 Im Hydepark in eine Massenveranstaltung geraten. Irgendein Sektenprediger zog die Leute in seinen Bann. Der Komet sei der wiederkehrende Messias. In den Zeitungen liest man fast täglich von solchem und ähnlichem Unsinn. Der Komet macht die Menschen verrückt. 25.10.2011 Mary-Lou schwanger! Ich werde Großmutter! Ich fasse es nicht…
29.10.2011 Louis sieht schlecht aus. Er ist nervös und arbeitet sechzehn Stunden am Tag. Wenn ich nachfrage, weist er auf die stark gestiegene Kriminalität in allen Teilen der Stadt und des Landes hin. Raub, Mord, Einbruch, Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Es ist, als ob die über Jahrhunderte mühsam gezähmte Barbarei über den Damm aus Gesetz und Ordnung gekrochen wäre. »Der Komet macht uns jetzt schon kaputt«, habe ich heute zu Louis gesagt. »Noch können wir uns in unseren Häusern vor ihm verstecken, aber was tun wir, wenn ›Christopher-Floyd‹ tatsächlich mit der Erde kollidiert? Wo verstecken wir uns dann?« Seine Antwort ließ mich aufhorchen: »Mach dir keine Sorgen, Joan. Es wird alles gut, vertrau mir.« Irgendetwas läuft da im Innenministerium, irgendein geheimes Projekt; und ich ahne dunkel, was für eins …
Kapitel 7 Die Kupplerin � Anfang Februar 2516 Der Datenträger trug das Symbol des medizinischen Labors und Courtney Rouwens' Kürzel; dabei enthielt er lediglich ein Datum und eine Uhrzeit. Nichts also, was Courtneys Ausflug ins Kasino des Octaviatsegments gerechtfertigt hätte. Sie legte ihre Handfläche auf den Sensor der Kuppelwand. »Ich habe eine wichtige Information für Captain Amer.« Der Haupteingang in das Regierungssegment schob sich auf. »Ich weiß, Dr. Rouwens«, sagte der E-Pförtner, eine braun gebrannte Männeranimation in roter, goldbetresster Uniform und mit einem hohen Helm aus Straußenfedern. »Eddy hat Sie angekündigt. Man wird sich doch hoffentlich keine ernsten Sorgen um seine Gesundheit machen müssen?« »Nein.« Himmel – sogar dem E-Pförtner hatte er die Geschichte aufgetischt! »Um Captain Amer braucht sich niemand Sorgen zu machen!« Eine zwölf Meter durchmessende Kuppel in Mahagoni-Animation öffnete sich vor Courtney: das Octaviats-Foyer – sie trat ein. So leicht ging das also? Courtney musste schmunzeln. War Amer wirklich derart scharf auf sie, dass er unter den Augen der Prime und des Generals ein solches Spielchen abzog? Unglaublich! Immerhin war der Zutritt zum Regierungssegment ausschließlich der Königsfamilie,
den Octavianen, hohen Militärs und geladenen Gästen gestattet; und in Notfällen Ärzten natürlich. Nur zu öffentlichen Regierungserklärungen oder besonderen Festlichkeiten – wie dem Geburtstag des Königs zum Beispiel – versammelte sich die gesamte Community in der Zentralhalle des Regierungssegments, der so genannten Octaviats-Arena. In der Kuppelwand des Foyers leuchteten Projektionen von Ölporträts vor der Mahagoni-Täfelung: Ein paar ernste, ein paar versteinerte und wenige lächelnde Mienen blickten auf Courtney herab: die Windsors, die letzten Royals, die noch auf der Erdoberfläche im Buckingham Palace residiert hatten. Unter dem Porträt einer blonden Frau ihres Alters verlangsamte Courtney ihren Schritt. Drei oder vier Mal war sie bisher in diesem Raum gewesen, und jedes Mal hatte dieses Gesicht ihre Aufmerksamkeit erregt. Diana, Princess of Wales, las sie auf der Goldprägung am unteren Bildrahmen, * July 1, 1961, Sandringham, Norfolk, , † Aug. 31, 1997, Paris. Es war schon zwei Jahre her, dass Courtney zum letzten Mal unter dem Porträt vorbeigegangen war, und diesmal berührte sie weniger der Geburtstag, den sie und diese Prinzessin aus den Goldenen Zeiten vor »Christopher-Floyd« gemeinsam hatten, sondern die Tatsache, dass sie im Sommer so alt werden würde, wie die Prinzessin gewesen war, als sie starb. In den Communities galt man mit sechsunddreißig noch fast als halbwüchsig. Die meisten von Courtneys Altersgenossen studierten noch, und in der CommunityForce war sie die jüngste Offizierin. Sie schüttelte kurz den Kopf, als wollte sie die
Beklemmung vertreiben, die sich plötzlich auf ihre Brust legte. Schön war sie gewesen, diese Frau, nur eine andere Perücke hätte sie ihr empfohlen. Warum sie wohl so jung gestorben war? Courtney nahm sich vor, die Biographie der Prinzessin aus der Vorzeit gelegentlich in den Datenbanken zur Vorgeschichte der Communities zu recherchieren. Links und rechts des Bogenportals ins Octaviatskasino standen zwei Messingkübel mit blühendem Oleander – synthetisch natürlich –, und neben den Pflanzen hingen zwei hohe Spiegel in vergoldeten Barockrahmen. Vor einem blieb Courtney stehen und strich ihren weißen Labormantel glatt. Amer hatte dem E-Pförtner erzählt, dass Lieutenant Dr. Rouwens wichtige medizinische Befunde bringen würde, und dem unwilligen Yoshiro gegenüber würde er gewisse Infektionssymptome andeuten und durchblicken lassen, dass er Lieutenant Dr. Rouwens gebeten habe, ihm die Ergebnisse seiner Blutsenkung und seiner Blutkultur persönlich vorbeizubringen, sobald sie vorlägen. Egal, zu welcher Tages- und Nachtzeit. Yoshiro würde knurren, aber keine weiteren Fragen stellen. Jeder hielt selbst die entferntesten Symptome eines Infekts für die Ouvertüre einer Katastrophe, und jeder wusste, dass Courtney im medizinischen Labor arbeitete. Schwierigkeiten waren also nicht zu erwarten. Wie alle Offiziere der Community-Force hatte sie neben der militärischen eine zivile Ausbildung absolviert. Auch Angehörige der Community-Force mussten sich in der Bunkerstadt irgendwie nützlich machen. Courtney hatte Medizin und Biochemie studiert. Ihre Spezialgebiete:
Labordiagnostik und Pharmakologie. Sie öffnete die bunten Glasknöpfe ihres Labormantels, zog den Reißverschluss des schwarzen Overalls, den sie darunter trug, bis zum Ansatz ihres Busens herunter und verlegte den dicken Zopf ihrer blonden Perücke vom Rücken auf die Brust. Sie hätte selbst nicht genau sagen können, was sie hierher trieb. Sie wusste nur, dass sie die Expeditions-Crew aus Salisbury sehen wollte; unbedingt, vor allem die Kommandantin. Amer hatte sich den Trick mit den Befunden natürlich bezahlen lassen. Oder würde ihn sich noch bezahlen lassen. Datum und Uhrzeit auf dem Datenkristall waren Datum und Uhrzeit für ein Abendessen in seiner Privatkuppel, das sie ihm gewähren musste. Sie fürchtete sich nicht davor. Amer war nicht der Erste, der sie begehrte. Sie würde sich ihn so erfolgreich vom Leibe halten wie die meisten anderen. Lieutenant Dr. Rouwens war eine überaus wählerische Frau. Mit Handflächenkontakt öffnete sie die Luke ins Kasino. Der E-Pförtner hatte ihre Handflächensignatur also registriert. Lächelnd und erhobenen Hauptes trat sie ein. Da saßen sie vor dem Panorama einer Parklandschaft und unter den Kronen gewaltiger Linden an einem runden Kunstglastisch und tafelten – der König, der General, die Prime, der Chefingenieur, die acht Offiziere der geplanten Leipzig-Expedition und der einzige wissenschaftliche Expeditionsteilnehmer, der bereits feststand: John Cox, Professor für Ethnologie und Anthropologie. Einen halben Kopf größer als der muskelbepackte Amer, wog er fast dreihundert Pfund, weswegen er vor allem unter jüngeren Bürgern der Bunkerstadt »Doc Doubleman« genannt wurde. Seit
seinem hundertvierzigsten Geburtstag trug er eine weißhaarige, strähnige Perücke. Er hatte sich um die wissenschaftliche Leitung der Expedition beworben. Das Octaviat hatte sie ihm übertragen – Cox war ein genialer Forscher –, machte ihm aber eine Diät zur Bedingung. Bis zum Beginn der Expedition musste Doc Doubleman mindestens fünfzig Pfunde abspecken. Aus medizinischer Sicht begrüßte Courtney diese Klausel – Cox' Blutfettwerte trieben jedem Arzt die Tränen in die Augen –, aus menschlicher bedauerte sie ihn: Sie war mit ihm befreundet und liebte den bedenkenlosen Genießer an ihm. Der König schwärmte mal wieder von seinem Lieblingsprojekt – vom Wiederaufbau Westminsters und Teilen der Londoner City in keimfreier Biosphäre unter einer Titanglaskuppel –, die anderen beschäftigten sich mit dem Gemüse und den Sojaknödeln auf ihren Tellern und hörten mehr oder weniger aufmerksam zu; die Prime mit süßsäuerlicher, der General mit unverhohlen mürrischer Miene. Amer erhob sich und kam Courtney entgegen. Der König verstummte für einen Augenblick und nickte ihr lächelnd zu. Cox, dem Courtney regelmäßig ihr Herz ausschüttete, winkte. Die anderen betrachteten sie neugierig, der Major mit hochgezogenen Brauen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Courtney hielt den Atem an. Doch schon im nächsten fuhr ihr ein Stich durchs Herz, denn links des Majors saß Lilly Warrington – ihr sonst fahles Vollmondgesicht war rosig, und ihre Augen leuchteten unnatürlich – und rechts von ihm die Kommandantin. Eine schmale, drahtige Frau von herber Schönheit.
Widerwillig gestand Courtney es sich ein. Ja, schön war sie, und etwas Unbeugsames, Würdevolles ging von ihr aus. Dabei trug sie nur einen schlichten Overall aus cremefarbenem Fleece; geschweige denn, dass sie sich mit einer Perücke dekoriert hatte. »Es wird doch alles in Ordnung sein, Doc?« Amer schielte auf den Datenträger. Seine Mundwinkel zuckten, als würde er ein Grinsen unterdrücken. Und wie gestelzt er redete – ein lausiger Schauspieler. »Muss ich mich erst setzen, oder haben Sie …?« »… gute Nachrichten habe ich, so ist es, Captain Amer.« Sie reichte ihm den Kristall. Über seine Schulter hinweg sah sie den Triumph auf Lillys breitem Mädchengesicht, und den Stolz. Triumph, zur Crew zu gehören; Stolz, neben dem Major zu sitzen. »Alles im Normbereich, ohne Befund. Machen Sie sich keine Sorgen.« Courtney hatte die Stimme gesenkt, doch nicht zu sehr: An der Tafel sollte man sie ruhig hören. Die Prime runzelte die Stirn, und der Major, das Kinn auf die Faust gestützt und den interessierten Zuhörer in Richtung König mimend, betrachtete sie aus den Augenwinkeln; verstohlen irgendwie, aber sie sah es genau. Hoffentlich sah Lilly es auch. »Himmel, Doc, da bin ich ja froh!« Amers Augen glitzerten lüstern. »Danke!« Er trat näher und wollte ihre Hand fassen, doch sie wich ihm aus. »Nenn mich nicht ›Doc‹!«, zischte sie und fügte laut hinzu: »Sie müssen sich nicht bedanken, Captain, das ist mein Job.« Noch einen letzten Blick zum Tisch. Sie sah, was sie sehen wollte: Die Falte des Widerwillens zwischen Lillys roten Lackbrauen, die schöne
Kommandantin aus Salisbury lächelnd dem Vortrag des Königs geneigt, und neben ihr ein Augenpaar, dessen Blick zwischen Courtney und dem König hin und her flog. Jetzt war sie an der Reihe mit Triumph und Genugtuung. Der Major hatte sie wahrgenommen. Courtney Rouwens drehte sich um und rauschte zur Kuppeltür. »Wir sehen uns, Doc!«, rief Amer ihr nach. Sie ignorierte es. Widerlich, diese plumpe Vertraulichkeit! ›Doc‹ – nie zuvor hatte er sie so genannt. Als wollte er vor den anderen demonstrieren, wie fabelhaft ihre Beziehung war. Verlogener Hund! Genau so wie er dem E-Pförtner befohlen hatte, ihn Eddy zu nennen. Als wäre er der beste Kumpel, den man sich wünschen konnte. Die Wahrheit war: Außer unter seinen Fans und ein paar EButlern gab es kaum ernst zu nehmende Menschen, denen er so nahe stand, dass sie ihn mit Vornamen ansprachen. Ihre Wut wurde Courtney erst richtig bewusst, als sich das Haupttor zum Regierungssegment hinter ihr schloss. Schneller als sonst lief sie durch den Verbindungsgang zu Segment II, wo die Laboratorien, die Akademie und der Klinikbereich untergebracht waren. Und anders als sonst verschwendete sie keinen Blick nach links und rechts – weder an die bunten Papageien in den Bäumen, noch an den strahlend blauen Sommerhimmel über ihr an der Gangdecke. Lillys stolze und Amers schmierige Miene fesselten ihr inneres Auge. Wie aus dem Nichts flog ihr die Idee zu. Auf einmal, von jetzt auf nun, wusste sie ganz genau, wie sie es anstellen musste … Ein Programmpunkt jagte den nächsten: Essen mit
Regierungsvertretern und der Londoner Crew, Empfang bei Roger III. mit Besichtigung seiner Modell-Biosphäre, Arbeitssitzung mit dem Chefwissenschaftler, dem für Forschung zuständigen Octavian und der militärischen Leitung, Auswertung der Nash-Berichte, und so weiter. Am frühen Abend war endlich eine Pause absehbar; eine Stunde allein mit David. Endlich … Zuerst aber galt es noch die Präsentation der neuen EWATs hinter sich zu bringen. Eve zwang sich zu äußerster Konzentration. Ähnlich wie in Salisbury befand sich die EWAT-Werft im militärischen Bereich des Regierungssegments. Hinter der Titanglaskuppel sah Eve verschwommen die Umrisse von etwa einem Dutzend Panzer. Nach dem ersten Außeneinsatz kehrte ein EWAT selbstverständlich nicht in den sterilen Bereich der Werft zurück, sondern parkte jenseits der Werftkuppel in einer von zwanzig Versorgungsbuchten des septischen Hangars. Dort verband je ein Teleskoptunnel je einen Tank mit je einer Schleuse. Auf diese Weise gelangten die Besatzungen ohne Schutzanzüge aus dem sterilen Werftbereich direkt in ihr Fahrzeug. Aus den septischen Hangars führten zwanzig Lastenaufzüge hinauf zum Tunnel zwischen Bunkereingang und Altem Portal. Den beiden neuen Modellen stand ihre Jungfernfahrt erst bevor. Folglich waren sie noch keimfrei und zudem blitzblank. Eve und ihr Team aus Salisbury konnten sie mit bloßen Händen betasten, während der etwas behäbige Ibrahim Fahka Material, Außenbeleuchtung, Luken, Kettenschuhe und so weiter erläuterte. Äußerlich unterschieden sich die beiden Prototypen Ark I und Ark II kaum von den gängigen Modellen. Wie diese waren auch die neuen Maschinen dunkelgrün,
viergliedrig, zwanzig Meter lang, nicht ganz drei Meter breit und zweieinhalb Meter hoch. Auch hier wölbten sich an Heck und Bug von außen nicht einsehbare Sichtkuppeln. Allerdings lief der Bug des neuen Modells spitzer zu als der des Vorgängermodells. »Wie viele dieser Maschinen wollen Sie produzieren?«, erkundigte sich Eve. »Wenn Ihre Expedition gute Erfahrungen macht, und daran zweifle ich nicht, wollen wir ein Gerät pro Jahr bauen«, sagte der schwarze Chefingenieur und Octaviat. »Zuvor allerdings werden die alten Maschinen mit der neuen Technik umgerüstet.« »Mit einer Ausnahme: Ich bekomme sofort ein neues Fahrzeug.« Der König wollte gar nicht mehr von Eves Seite weichen. »Nicht sofort, Eure Majestät.« Fahka deutete eine Verbeugung an. »Erst in etwa sieben Monaten.« »Dafür wird es aber eine Nummer größer ausfallen als diese hier.« Das königliche Lächeln schien unverwüstlich. Roger III. trug eine milchblaue Pluderhose und einen wadenlangen Frack gleicher Farbe. Die vergoldeten Locken seiner Perücke fielen weit über seine Schultern und tanzten bei jedem seiner Schritte. Eve befürchtete, der charmante, aber ziemlich exaltierte Monarch könnte sich in sie verguckt haben. »Als König brauche ich ein etwas repräsentativeres Fahrzeug, Ma'am.« Jetzt deutete Roger III. eine Verbeugung an, und zwar Eve gegenüber. »Das werden Sie sicher verstehen, Ma'am, auch wenn sich Ihnen in Salisbury die Geheimnisse und Vorzüge der Monarchie samt ihrer Repräsentationspflichten noch nicht vollständig enthüllt haben, wie mir von Zeit zu Zeit
scheinen will.« »Sie irren, Sire«, entgegnete Eve höflich aber bestimmt. »Wir in Salisbury achten die Monarchie als eine traditionsreiche und durch und durch britische Möglichkeit, eine postapokalyptische Gesellschaft zu regieren, Sire.« Ein Strahlen ging über Rogers sympathische Züge, und während er erneut den goldgelockten Kopf neigte, glaubte Togo das Wort ergreifen zu müssen. »Unser Prime ist doch auch so eine Art König«, sagte er. Durch einige Gesichter gingen Reißverschlüsse. Togo merkte es sofort, und statt zu schweigen, suchte er nach erklärenden Worten. »Monarchie hat was, wollte ich nur sagte. Selbst die Socks haben doch Könige … auch wenn sie ihre Häuptlinge anders nennen …« General Yoshiro bekam schmale Lippen, Amers und Petersons Mienen schienen plötzlich aus Stein gemeißelt, und Eve durchbohrte ihren Waffeningenieur mit Blicken. »Ich mein ja nur.« Der Schwarze grinste verlegen. »Hat doch bei denen auch ganz gut geklappt…« »Optimiert haben wir die Teleskoplamellen.« Der Chefingenieur erhob seine Stimme und kehrte zum Thema zurück. Eve war ihm dankbar und Togo auch, denn die Augen der anderen ließen ihn wieder los. »Sie sind kaum sichtbar und erlauben eine erhebliche Reduzierung des Wendekreises …« »Unter acht Meter«, raunte David ihr zu. »In der Luft kannst du praktisch in Spiralstellung steigen und sinken. Ich habe es am Rechner ausprobiert.« Das schwarze Gesicht des Octavians strahlte, während er die Vorzüge des neuen Modells pries; besonders als McMalone und die junge Warrington sich die neuartigen
Lasersensoren erklären ließen. »Als Navigatoren können Sie den Tank ohne Außensicht durch den dichtesten Ruinenwald steuern«, verkündete Fahka. »Denn jetzt verfügt nicht nur das Bugsegment über LasersensorenNavigation, sondern jedes einzelne Segment. Das System arbeitet natürlich völlig autark …« Fahka legte seine Handfläche auf die Karosserie des Hecksegments. Eine Luke öffnete sich. Nacheinander kletterten sie in das Heck von Ark 1. »Willkommen in Ark 1, Ladies und Gentlemen«, begrüßte sie der Schleusenbutler. »Ich sehe eine paar mir unbekannte Gesichter. Darf ich um Identifizierung bitten?« Das Schleusenbutler-Programm konnte bei den Pilotmodellen um eine visuelle Gestaltung der Software erweitert werden. Sie blieb jedem Kommandanten selbst überlassen. Eve wusste jetzt schon, dass sie keinen Bedarf nach einem künstlichen Gesicht zu der künstlichen Stimme hatte. In Salisbury hatte man wenig Sinn für solche Spielereien. Im Hecksegment gab es einen Lade- und Geräteraum; und natürlich Schlafkuhlen wie in jedem Segment außer dem Bugsegment. Der septische Stauraum – für Proben von Mineralien, Pflanzen und sonstige Artefakte – war nur von außen zugänglich. Ebenso die in die Karosserie integrierten Boxen für die Spähervögel. »Wann sind die Tanks einsatzbereit?«, wollte Eve wissen. »In zwei Wochen«, sagte David Peterson. »Dann werden wir sofort den ersten Test durchführen.« Wie zufällig berührte er ihre Hand. In zwei Wochen also … Noch drei Tage, dann würde Eve zurück nach Salisbury fahren. Gemeinsam mit Cox, dem
Chefwissenschaftler und seinen bis dahin ausgewählten � Assistenten. Zusammen mit den vier Forschern aus � Salisbury wollte sich die Wissenschafts-Crew für zehn � Tage in Klausur zurückziehen. Schon in zwei Wochen also würde sie David wiedersehen … Ibrahim Fahka erklärte Triebwerke und Energieversorgung. Die neuen EWATs wurden aus und dennoch leistungsstärkeren kleineren Nuklearreaktoren gespeist als die gängigen Maschinen. Dabei handelte es sich um denselben Reaktortyp, der miniaturisiert auch in den LP-Gewehren Energie produzierte, ohne radioaktive Strahlen abzusondern. »Auch den Autoeliminierungsmodus haben wir verbessert«, erklärte Fahka. »Sollte jemals die Gefahr bestehen, dass ein Fahrzeug in feindliche Hände gerät, was sämtliche Götter Britanniens verhindern mögen, dann kann die Besatzung den Autoeliminierungsmodus nach dem Ausstieg per Langwellen-Signal aktivieren und hat danach exakt sechshundertsechzig Sekunden Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.« Das Thema war dazu angetan, selbst Eve eine Gänsehaut zu bescheren. Noch nie hatte eine Besatzung ihr Fahrzeug zerstören müssen, und dennoch mussten gerade Expeditionskommandanten ihre Teams auf eine solche Möglichkeit vorbereiten. Wusste man denn so genau, welchen Mutationsformen intelligenten Lebens man auf dem ruinierten Antlitz der Erde begegnen würde? Es sei gelungen, die Kettenreaktion des sich selbst zerstörenden Reaktors zu verdichten, erläuterte Fahka. Seine Explosion sei eher eine Blitzfusion und zerreiße die
Molekularstrukturen nur noch in einer Umgebung von unter hundert Metern. »Wie tröstlich«, entfuhr es Togo. Von Segment zu Segment arbeiteten sie sich bis zum Bug vor. In Segment III war ein leistungsstarkes Labor untergebracht, in Segment zwei der Gefechtsstand und die Bordküche. Schließlich erreichten sie das Kommandosegment. Hier geriet der Octavian regelrecht ins Schwärmen, und tatsächlich gab es unter der Frontkuppel, dem zentralen Nervensystem eines EWATs, ein paar Veränderungen, die auch Eve beeindruckten: das deutlich erweiterte Panorama-Display über dem Frontbogen der Sichtkuppel zum Beispiel. Der Navigationsrechner, der mehrere Kilometer entfernte Objekte, die von den Ortungsgeräten erfasst wurden, ohne Zeitverlust berechnen und so scharf visualisieren konnte, dass man sie mit eigenen Augen zu sehen meinte. Eine schmalere Instrumentenkonsole. Verbesserte Aufklärungsoptionen, die zum Beispiel Geländestrukturen sozusagen im Vorüberfahren erfassten und in topographische Bilder umrechnete, oder Landkarten selbstständig erstellten und in die Datenbank der Bordhelix integrierten. Oder die Lasersensoren-Navigation, die jedes noch so kleine und noch so unsichtbare Hindernis in einem Radius von mindestens 20 Metern registrierte und dafür sorgte, dass die Bordhelix den Kurs im Sekundentakt neu festlegte. »Gratuliere«, sagte Eve. »Ein wunderbares Gerät.« »Sollten Sie damit mal untergehen, brauchen Sie sich keine Sorgen machen«, verkündete Ibrahim Fahka stolz. »Der Prototyp hält Druckverhältnissen stand, wie sie in vierhundert Metern Meerestiefe herrschen. Mit
Standardbesatzung von acht Mann verfügen Sie in einem solchen Fall über einen Sauerstoffvorrat für mindestens zwanzig Stunden. Die Geschwindigkeit haben wir nur unwesentlich gesteigert: In der Luft beträgt sie achtzig Stundenkilometer, zu Wasser sechzig und auf der Erde theoretische neunzig.« McMalone hatte ein paar Fragen zum Navigationssystem, Togo zur Waffentechnik, und Spencer Dewlitt stellte vor aller Ohren die Frage, auf die Eve schon den ganzen Tag gewartet hatte: warum er ihren und nicht den Londoner EWAT steuern sollte. »Mit Ihnen und Major Peterson würden gleich zwei erfahrene Piloten im Londoner EWAT sitzen, Captain Dewlitt.« Sie wich seinem misstrauischen Blick nicht aus. »Einen aber brauche ich auf dem Kommandofahrzeug. Dafür soll Captain Plant als zweite Pilotin unter Major Petersons Kommando Ark II steuern.« Sie setzte ihr charmantestes Lächeln auf. »Bis nach Leipzig wird sie eine Menge von ihm gelernt haben, sodass wir vor der Rückreise über einen Tausch nachdenken können.« Dewlitt nickte, schien aber nicht wirklich zufrieden. »Zeit für eine Pause!« Der General zog seine goldene Taschenuhr aus der Beintasche seines Overalls. »In anderthalb Stunden beginnt schon die Abendveranstaltung. Ruhen Sie sich ein wenig aus, Ladies und Gentlemen. Ich erwarte Sie pünktlich in der Octaviats-Arena!« Für den Abend stand ein Konzert mit kaltem Büfett und Dichterlesung auf dem Programm. Etwa fünfzig ausgewählte Community-Mitglieder waren geladen, und Sir Jefferson Winter, Octavian für Kunst und Kultur und königlicher Berater, würde aus seiner neuesten
Gedichtsammlung vorlesen. »Togo ist mal wieder gezielt in den Fettnapf getreten«, sagte David auf dem Weg in seine Privatkuppel. Sie gingen Hand in Hand. »Bist du sicher, dass du ihn nach Leipzig mitnehmen willst?« »Er ist genial, glaub mir. Und er sorgt für gute Stimmung an Bord. Aber ich werde ihn verwarnen. Er muss lernen, den Mund zu halten, wenn es darauf ankommt.« »In vier Wochen soll es schon losgehen.« David ging nicht näher auf Togo ein. »Anfang, spätestens Mitte März.« »Ich weiß«, sagte Eve. »Ich denke, dass wir mit den neuen Geräten schnell zurechtkommen werden und schon in vier Wochen aufbrechen können.« »Spence war ganz schön sauer, als er hörte, dass er nicht mit mir fliegen soll.« Eve spürte seinen prüfenden Blick. »Das tut mir Leid. Ich habe erst spät erfahren, dass Highlander das Schottlandprojekt übernehmen wird.« Das war nur die halbe Wahrheit – Eve hatte von Anfang an damit gerechnet, dass nur ihr Stammpilot als ihr Nachfolger in Frage kommen und somit für die Leipzigtour ausfallen würde. »Da hatte Spencer schon zugesagt.« Das klang, als hätte sie Barbara nachnominiert, und wenn David nachgefragt hätte, wäre sie ins Schleudern gekommen. Sie ließ ihm keine Zeit zur Nachfrage. »Wann kommst du endgültig zu mir nach Salisbury?« Er schwieg. Fragend sah sie zu ihm hoch. »Du wolltest dich bis Anfang Februar entscheiden, David!« »Ich weiß schon«, sagte er seltsam ernst. »Lass uns gemeinsam eine erfolgreiche Expedition abliefern, Eve.
Und danach siedle ich nach Salisbury um. Okay?« »Okay.« Sie küsste seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Kaum hatte sich die Luke seiner Privatkuppel hinter ihnen geschlossen, halfen sie einander aus den Kleidern. Wie immer, wenn sie sich längere Zeit nicht gesehen hatten, konnten sie gar nicht schnell genug ins Bett kommen. Drei Tage später musste Courtney Rouwens bei Captain Amer zum Abendessen antreten. Sie sorgte dafür, dass es sich hinzog und ihr Gastgeber reichlich Gelegenheit bekam, dem Punsch zuzusprechen. »Wann hat Scout II die Community verlassen?«, wollte sie hinterher wissen. »Heute Vormittag. So gegen elf …« Amers rötliches Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. »Ich hab gesehen, wie Peterson sich von der Kommandantin … also … wie sie sich verabschiedet haben. Diese Kommandantin … also wirklich …« Amer sprach bereits mit schwerer Zunge. »Eine tolle Frau … also wirklich …« Er trug eine schwarze Perücke aus vielen kleinen Zöpfchen. Sein Ganzkörperanzug war aus schwarzem Kunstleder und saß sehr knapp. »Peterson, der Mistkerl … so ein Edelweib hat der nicht verdient…« »Wer gehört zum Wissenschaftsteam?« Courtney unterbrach den berauschten Amer. »Also … Cox …« Mit einem Glas Punsch in der Hand hing der Waffentechniker in seinem Sessel. Dampfschwaden schwebten an den Kuppelwänden, dazwischen sah man nackte Menschen, meist Frauen. Sie räkelten sich auf gekachelten Bänken oder planschten in einem Pool.
»Das weiß ich«, sagte Courtney schroff. »Die Namen der anderen kenne ich noch nicht.« Sie hatte dem entthronten Boxchampion und Captain der CommunityForce hochprozentigen Alkohol in den Punsch gekippt. Im medizinischen Labor gab es dieses Lösungsmittel hektoliterweise. »Nun … da sind erst mal diese beiden Typen, der BioInformatiker und der Geograph …« Amer stieß auf, feixte und fixierte ungeniert Courtneys Brüste. Sie trug ihren Kimono recht offenherzig an diesem Abend. »Wie heißen sie gleich …?« Er drehte sich um und schielte zu seinem Bett. »Dejong und Crosby etwa?« »Genau! Diese beiden Fachidioten!« Wieder flog sein Blick zu Courtneys Brust. »Und dann Bennett, die alte Zicke …!« Die Biologin und Chemikerin Juli Bennett mochte alt sein – hunderteinundvierzig Jahre –, eine Zicke war sie nicht. »Und jetzt …!« Amer knallte sein Glas auf den Tisch und grapschte nach Courtneys Hand. »Und jetzt sollten wir allmählich zur Sache kommen …!« Courtney entwand ihm ihre Hand und stieß ihn in den Sessel zurück. »Wir waren zum Essen verabredet, Eddy. Reiß dich zusammen!« »Tu nicht so … so naiv. Du weißt genau, was ich von dir will…« Wieder langte er nach ihrer Hand. »Und du willst es im Grunde auch, gib's doch zu …« Sie stand auf, um aus seinem Aktionsradius zu gelangen. »Ich hab dir alles erzählt!« Er brauste auf. »Die Vorbereitungstermine, die Crewmitglieder, der Expeditionsbeginn – du weißt alles …« Er schnitt eine grimmige Miene. »Nun will ich meine Belohnung …« »Richtig, du hast mir Dinge anvertraut, die eigentlich
noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.« Courtney schritt an der Kuppelwand entlang. Das Panorama aus Sauna- und Badeszenen war ihr völlig neu. Aber es passte zu Amer. Zwischen zwei Palmen entdeckte sie ein Paar, das unter einem Badetuch kopulierte. »So etwas könnte der General als Vertrauensbruch verstehen.« Sie blieb stehen und betrachtete das Liebespaar. Der Mann trug Amers Züge, die Frau ihre. Angewidert ging sie weiter. »Außerdem hast du mir mit einem Vorwand Zutritt ins Kasino verschafft. So was mag man nicht im Octaviat.« Plötzlich fiel ihr auf, dass die wenigen Männer in der Kuppelwand allesamt Doppelgänger des Captains waren. »Das könnte dich die Teilnahme an der Expedition kosten, Eddy. Wäre das nicht schade?« Sie drehte sich um und sah ihm in die kleinen, rötlichen Augen. »Wie ich dich kenne, willst du doch sicher mal Yoshiro beerben, oder?« »Du …!« Amer stand auf, wankte und sackte wieder in seinen Sessel. »Du Biest. Willst du mich etwa erpressen …?« »Beruhige dich, war nur ein Spaß.« Sie ging zu ihm, setzte sich auf die Armlehne seines Sessel, lächelte und drückte ihm den Punsch in die Hand. »Vielleicht könnte ich mich doch noch für eine Nacht mit dir entscheiden …« »Ja …?« Die Hoffnung erhellte seine Miene. Wieder feixte er. »Ich brauchte allerdings einen Nachweis deiner Fähigkeiten.« »Was redest du …?« An seiner rechten Schläfe schwoll eine Ader an. »Willst du mich beleidigen?!« »Lilly ist noch Jungfrau. Verführe sie. Dann schlafe ich
mit dir. Wahrscheinlich.« Seine breite Kinnlade sank nach unten. Die Ader schwoll wieder ab. Er machte große Augen und starrte sie an wie eine Erscheinung. Ein paar Sekunden lang sah er reichlich blöde aus, und diese paar Sekunden lang gefiel er Courtney. Plötzlich lachte er schallend. »Sie wird es dir brühwarm erzählen, was?« Er schlug sich auf die Schenkel vor Lachen. »Du bist vielleicht ein Luder …!« Schließlich griff er wieder nach seinem Cocktail und trank. »Also gut«, sagte er endlich. »Ein nettes Spielchen eigentlich … warum denn nicht…?« Anfang März 2516 Der entscheidende Tag. Courtneys Herz klopfte. Dabei hatte sie nicht die Spur einer Ahnung, wie entscheidend der Tag wirklich werden sollte. Lächelnd grüßte sie nach links und rechts, während sie an Instrumentenkonsolen, Arbeitspulten und Wandmonitoren voller Zahlenlisten vorbeischritt. Ein Laborarzt und zwei junge Assistenten hatten außer ihr an diesem Morgen Dienst im medizinischen Labor. Ihr Ziel war die Medikamentenausgabe. Vor einem Monitor blieb sie stehen und tat, als würde sie die Zahlen darauf lesen. Kalzium-, Kalium- und Natriumwerte, Leberenzyme, Hämatokritwerte, Blutfette, und so weiter – Ergebnisse von acht Blutproben, mit denen sie die Diagnosegeräte eine halbe Stunde zuvor gespeist hatte. Die acht Expeditionsteilnehmer der Community wurden auf Herz und Nieren geprüft. Beiläufig registrierte Courtney die gesunkenen Lipidwerte von John Cox. Doc Doubleman bewies
eiserne Disziplin: Vierzig Pfund hatte er bereits abgenommen, und seine Blutfette näherten sich nach und nach dem grünen Bereich. Wie hartnäckig er sein konnte, der alte Schlemmer! Wenn er nur wollte. Was Courtney wirklich interessierte, war der Kunststoffständer auf dem Arbeitstisch. Acht Röhrchen mit acht Blutproben steckten darin. Die Namen auf den Etiketten waren gut lesbar – Lillys Röhrchen war das dritte von rechts. Courtney nahm es heraus und zog das Namensetikett ab. Das Etikett klebte sie auf den Gürtel ihrer Hose, das Röhrchen versenkte sie in ihrer rechten Manteltasche. Kurz vor der Luke in die Apotheke und Medikamentenausgabe blieb sie erneut vor einem Monitor stehen. Der Assistent zwanzig Schritte hinter ihr war in seine Arbeit vertieft, sodass Courtney kein Interesse an den Eiweiß-und Hormonanalysen mimen musste. Zwei Ständer mit bereits analysierten Blutproben gab es auf diesem Arbeitstisch; durchweg Blutproben von Frauen – Schwangerschaftstests. Etwa ein Dutzend auf dem linken Ständer und zwei einsame Röhrchen auf dem rechten – die positiven Befunde. Courtney zog eine der beiden positiv getesteten Blutproben heraus, entfernte das Namensetikett und klebte es auf das Röhrchen mit Lillys Blut. Das steckte sie zurück in den Ständer. Sie blickte sich kurz um, obwohl niemand auf den Gedanken kommen würde, ausgerechnet sie zu kontrollieren. Dennoch war ihr Mund trocken, und ihr Atem flog. In der Tasche ihres Labormantels schloss sie die Faust um das Blutröhrchen mit dem positiven Befund. Weiter. Lächeln, durchatmen und ganz locker
weitergehen … In der Apotheke warteten zweiundfünfzig Dosierkassetten auf sie. Handtellergroß waren die Kunststoffbehälter, und jeder hatte sieben Fächer. Sie enthielten die Medikamente, die zweiundfünfzig Community-Mitglieder im Lauf der kommenden Woche zu sich nehmen mussten. Einer der Assistenten hatte sie anhand von Therapieplänen bereits mit den verordneten Tabletten und Kapseln gefüllt. Dr. Courtney Rouwens' Job war es, stichprobenartige Kontrollen durchzuführen. Zuerst aber griff sie unter ihren Labormantel, löste Lillys Namensschild vom Gürtel und klebte es auf die fremde Blutprobe. Danach begann sie mit der Arbeit, die sie einmal pro Woche zu erledigen hatte. Zuerst nahm sie sich die acht Dosierkassetten der Expeditionsteilnehmer vor. Bei den Tabletten darin handelte es sich fast ausnahmslos um Mineralien und Vitamine. Nur Cox und Juli Bennett nahmen wirksame Medikamente: der Chefwissenschaftler einen Lipidsenker, die Biochemikerin einen Betablocker. Juli litt unter Herzrhythmusstörungen. Courtney lud die individuellen Verordnungspläne auf den Kuppelwandmonitor und zog ein Instrument aus der Wandhalterung, das einem großen silbernen Stift ähnelte – eine Art Detektor mit optischem Kopf. Mit dem fuhr sie langsam über die durchsichtigen Schubdeckel der Dosierkassetten. Der Rechner identifizierte die Tabletten anhand ihrer Größe, Farbe und spezifischen Maserung. Ein akustisches Warnsignal würde Courtney veranlassen, das Tablettenfach mit eigenen Augen mit dem Verordnungsplan abzugleichen. Doch wie meist blieb auch heute der hohe Piepston aus.
Courtney legte den Sensor beiseite, öffnete Lillys Kassette und nahm aus jedem zweiten Fach eine kleine weiße Tablette heraus, ein Vitamin-D-Präparat. Sie griff in die Brusttasche ihres Labormantels, fischte ein Tütchen mit vier kleinen weißen Tabletten heraus und füllte die Fächer wieder auf; mit einem Hormon-Präparat. Ein Gestagen-Cocktail. Selbst dosiert, gemixt und in eine dem Vitamin-Präparat zum Verwechseln ähnliche Form gepresst. Der Wirkstoff würde Lilly vorübergehend die Menstruation ersparen. Seit vier Wochen tauschte sie die Tabletten aus, zu jedem Wochenbeginn. Seit Lilly ihr halb verschämt, halb triumphierend gestanden hatte, dass sie mit Amer im Bett gewesen war. Schön sei es gewesen. Na also. Gratulation. Für die Kontrolle der anderen Dosierkassetten nahm sich Courtney eine halbe Stunde Zeit. Keine Beanstandung. Zurück in der Diagnostikabteilung, lud sie Lillys Analysebericht auf den Monitor. Sie löschte sämtliche Ergebnisse und gab einen Befehl ein: Wiederholen. Anschließend speiste sie den Analysator mit dem Blut aus dem fremden Röhrchen. Zwanzig Minuten später lud sie die Ergebnisse auf einen Datenträger und versah ihn mit ihrem Kürzel. Sie war schweißnass, als sie endlich das Röhrchen mit Lillys Namensschild an den Platz steckte, an den es nicht hingehörte – in die dritte Fassung von rechts am Ständer mit den Blutproben der Expeditionsteilnehmer. Die Hände in den Manteltaschen vergraben – damit sie ja keine Gelegenheit zum Zittern bekamen – und mit schnellen Schritten – damit ja niemand ihre weichen Knie bemerkte – verließ sie das Labor. Sie brauchte eine Pause;
sie brauchte eine Dusche. In ihrem Privatraum warf sie sich erst einmal aufs Bett und atmete tief durch. Im Hintergrund nagte das schlechte Gewissen an ihr. Aber schadete sie denn jemandem? Nein. Warum also ein schlechtes Gewissen haben? Weg damit! Bald überwogen Stolz und Staunen. Niemals hätte Courtney sich zugetraut, die Sache bis zum Schluss durchzuziehen. Sie dachte an den Major. Den hatte sie vor zwei Tagen beim Schach besiegt. Schon zum dritten Mal. Und wieder hatte er Revanche gefordert. Die Aussicht war nicht dazu angetan, ihren Herzschlag zu beruhigen. Und sie dachte an Amer. Vermutlich schlief er jetzt regelmäßig mit Lilly Warrington. Denn nur ein einziges Mal hatte er in den letzten Wochen seine Belohnung von Courtney gefordert. Vergeblich natürlich. Vermutlich würde er bald wieder vor ihrer Tür stehen. Die Aussicht ließ Courtney kalt. Sie würde ihren verächtlichsten Blick aufsetzen, den Kopf schütteln und sagen: »Du musst mich ja für ein Schlampe halten. Oder wie kommst du auf den Gedanken, ich würde mit einem Mann schlafen, von dem meine Freundin Lilly ein Kind erwartet?« Ein friedlicher Abend Mitte März des Jahres 2516. Umgeben von Dünen und Strand, von Brandung, die sich gegen einen Strand warf, und von einem Himmel, in dem das letzte Tageslicht verblasste, saß sie vor der Konsole mit ihrer Zentralhelix-Schnittstelle. Sie arbeitete sich durch die Johanna-Dateien. Die Aufzeichnungen waren nicht immer chronologisch geordnet, und manchmal stieß Eve auf einen chaotischen
Textdschungel. Während sie in ihn eindrang und dabei die Eintragungen nach den Datumsangaben zu ordnen versuchte, stieß sie auf Berichte aus den letzten Wochen vor der Katastrophe. Sie versank in den Schilderungen ihrer Urahnin, und es wurde ihr immer unbegreiflicher, wie diese Frau ihr Leben und ihr Tagebuch in den Bunker unter Stonehenge hatte retten können. Die letzten Tage der Menschheit zogen an ihr vorbei, Angst und Schmerzen empfand sie mit, und Vorfahren von Menschen, mit denen sie täglich oder zumindest oft zu tun hatte, bekamen plötzlich Gesicht und Stimme. Urahnen von Barbara zum Beispiel, oder von Sir Leonard Gabriel, oder des Prime. Die Stunden vergingen im Fluge, und es wurde Morgen. Irgendwann verblasste ein Rechteck im Nachthimmel über den Dünen, und Celindas Gestalt erschien darin. »Verzeihen Sie die Störung, Ma'am. General Priden hat angefragt, ob Sie schon wach sind. In London gibt es Probleme. Scheint dringend zu sein.« »Verbinde mich mit ihr, Celinda.« »General Priden hat angedeutet, dass ein persönliches Gespräch angemessen sei.« Eve runzelte die Stirn. »Gut. Ich erwarte sie.« Minuten später nur meldete Eves E-Zofe Emily Priden. Eine Luke entstand in der Brandung, die MilitärOctavian trat ein. »Es tut mir Leid, so früh schon stören zu müssen …« Die Priden blieb stehen und blickte erstaunt auf den Monitor in der Kuppelwand vor der Rechnerkonsole. »Oh! Sie arbeiten schon?« »Noch.« Eve bot ihr einen Platz in der Sitzgruppe an. »Ich hab mich die ganze Nacht mit den Aufzeichnungen
einer Urahnin beschäftigt. Kaum zu fassen, was die erste Bunkergeneration alles erleben musste. Ich werde die Dateien mit nach Leipzig nehmen. Die passende Reiselektüre. Apropos: Gibt es Probleme mit der Expedition?« Der Termin stand fest: In zehn Tagen würden Ark I und II von London aus Richtung Festland aufbrechen. »Leider.« Die Priden nahm Platz. »Allerdings erfreuliche Probleme.« Sie holte einen Datenkristall aus der Brusttasche ihres Kombis. »Lilly Warrington ist schwanger!« »O wie schön!« Die Schwierigkeiten für die Expedition, die sich aus dieser Neuigkeit ergaben, lagen auf der Hand. Dennoch lächelte Eve. Sie freute sich ehrlich. Die Geburtenrate in beiden Communities lag schon seit zweihundert Jahren auf dem gleichen niedrigen Level. »Andererseits: schade. Lilly hätte gut zu Major Peterson und zu Barbara gepasst.« Es war natürlich ausgeschlossen, eine Schwangere auf eine Expedition zu schicken. Werdende Mütter behandelte man ähnlich behutsam wie vorzeitliche Datensätze, und jede Geburt wurde zum Tagesgespräch. »Wir brauchen also Ersatz.« »Und zwar rasch. Deswegen habe ich mich gleich bei Ihnen gemeldet, als das hier ankam.« Emily Priden reichte Eve den Datenträger. »Ein Personalvorschlag von General Yoshiro und Major Peterson. Kennen Sie Lieutenant Dr. Rouwens? Sie gehört zu Londons Hochbegabten. Obwohl sie erst Mitte dreißig ist, hat sie es schon erstaunlich weit gebracht.« »Courtney Rouwens? Die junge Ärztin?« »Richtig. Yoshiros jüngster Offizier. Und hat schon an die fünfhundert Stunden Außendienst auf einem EWAT
auf dem Buckel. Ihr Personaldossier finden Sie ebenfalls auf dem Kristall. Sir James und ich befürworten ihre Berufung. Aber selbstverständlich haben Sie das letzte Wort, Commander Carlyle. Studieren Sie die Akte in Ruhe, aber so rasch wie möglich. In zehn Tagen geht es los, der Countdown läuft bereits. Falls Sie Lieutenant Rouwens aus irgendeinem Grund ablehnen sollten, dürfte es allerdings schwierig werden, noch einen Ersatz für sie zu finden …«
Kapitel 8 Die letzten Tage der Menschheit � Aus den Johanna-Dateien � 1.11.2011 Aktuelle Entfernung zwischen Erde und »ChristopherFloyd«: ca. siebenhundertdreißig Millionen Kilometer. 9.11.2011 Besuch von Mary-Lou. Ich hatte sie zum Abendessen eingeladen. Louis' Lieblingswein, Louis' Lieblingsgericht, Louis' Lieblingsdessert. Ein bewusstes Arrangement, um meiner Tochter die Gelegenheit zu verschaffen, ihrem Vater bei Kerzenschein und guter Stimmung den neuen Erdenbürger anzukündigen. »Stell dir vor, Dad«, sagte sie, als wir nach dem Essen die zweite Flasche aufgemacht und bereits angestoßen hatten. »Du wirst Großvater.« Ihre Augen glänzten. Angst und Zuversicht zugleich spiegelten sich in ihnen, groß und erwartungsvoll hingen sie am Gesicht ihres Vaters. Der setzte sein Glas ab, stand auf und ging in sein Arbeitszimmer. Mir schnürte es das Herz zusammen, und ich hätte heulen mögen. Hatte aber genug damit zu tun, meine in Tränen aufgelöste Tochter zu trösten. Heutige
Schlagzeile
der
18.11.2011 TIMES:
Kollisionswahrscheinlichkeit über 80 Prozent. 20.11.2011 Am Abend wieder Mary-Lou bei uns. Allein. Ihrem schönen Mister Nash hat Louis am Tag, nachdem er von Lous Schwangerschaft erfahren hat, das Haus verboten. Wir halten uns nur daran, wenn er im Innenministerium ist; in den letzten Tagen schläft er glücklicherweise hin und wieder sogar dort. Heute Abend war mein Gatte also zu Hause, und Mary-Lou eröffnet uns, dass sie Mister Nash noch vor Weihnachten heiraten will. Diesmal verlässt Louis nicht den Raum, diesmal tobt er. In der Wut entfahren ihm folgende Sätze: »Merkst du nicht, dass der Kerl dich nur ausnutzt? Du bist ihm doch vollkommen egal. Einen Bunkerplatz will er, weiter nichts!« Mary-Lou stürmt heulend aus dem Haus, und meine Ahnungen finden endlich ihre Bestätigung: Sie bauen Bunker unter den Hauses of Parliament. Bunker für ein exklusives Publikum, wie es scheint. Lou beschwört mich, mit keinem Menschen über seinen Versprecher zu reden. Wie absurd! Wo er doch eben noch davon ausging, dass das Gerücht über heimliche Bunkerbauten bis zu Pete Nash durchgedrungen ist… 25.11.2011 In Schweden ist eine Art Bürgerkrieg ausgebrochen. Rechtsextreme Wirrköpfe haben die Massen mobilisiert. Die Regierung in Stockholm hat den Notstand ausgerufen. Nichts Außergewöhnliches in diesen außergewöhnlichen Tagen. Aus allen Teilen der Welt
berichten die Medien von Aufständen, Angriffen auf Regierungseinrichtungen, Massenplünderungen und Machtergreifungen irgendwelcher Fanatiker. Jetzt ist der Funke des Chaos also auch auf Europa übergesprungen, und das erste Pulverfass explodiert bereits. Man kann nicht mehr durch die Stadt fahren, ohne dass Konvois aus Polizei- und Armeefahrzeugen einen mit Sirenengeheul und Blaulichtern überholen oder einem entgegenkommen. Täglich gibt es Demonstrationen, Plünderungen und Gewaltausbrüche. Und zwar nicht nur am East End, nein – in allen Vierteln der Stadt. Dabei leben nur noch ein paar Hunderttausend in London. Die meisten Einwohner sind längst nach Australien, Kanada oder Nordamerika ausgeflogen worden; dorthin eben, wo der Kometeneinschlag nach den neuesten Berechnungen am wenigsten Schaden anrichten soll. Ich interessiere mich nicht mehr für die offiziellen Berechnungen. In unseren Köpfen ist der Komet längst eingeschlagen. 27.11.2011 Anruf von Mary-Lou. War heute wieder bei ihrem Gynäkologen. Sie wird ein Mädchen bekommen. Die Schwangerschaft verläuft unkompliziert. (Was für ein absurder Satz angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass es keine Welt mehr geben wird, wenn das Mädchen zur Welt kommt.) 30.11.2011 Mary-Lou hat angerufen. Am Samstag vor Heiligabend wollen sie und ihr schöner Mister Nash heiraten, am 17. Dezember. Stuart wisse schon Bescheid, und ich solle
ihren Vater informieren. Sie würde sich freuen, wenn er kommt. Nach fast drei Wochen hat endlich Stuart mal wieder angerufen. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin. Auf die Frage, wo er stecke, weicht er aus. Angeblich geht es ihm gut. Vor der Hochzeit seiner Schwester will er mal vorbeischauen. Am Abend mit Louis gesprochen. Er will nichts von einer Hochzeit wissen. »Und wenn sie die Gefühllosigkeit besitzt, in Abwesenheit ihres Vaters Hochzeit zu feiern, dann ist sie nicht mehr meine Tochter.« Ich argumentiere, ich schreie, ich rede mit Engelszungen – Louis bleibt stur. »Denk an das Kind, um Gottes willen«, beschwöre ich ihn am Schluss. »MaryLou ist im vierten Monat!« Hier die Antwort des Herrn Staatssekretärs Dr. Louis Carlyle: »Nur Dummheit oder Grausamkeit setzen ein Kind in eine solche Welt, und ich weiß, dass meine Tochter nicht dumm ist.« Ich: »Du glaubst also doch an die Katastrophe?« Die Antwort blieb Louis mir schuldig. 2.12.2011 Gegen Mittag nach Kensington gefahren, um Mary-Lou zu besuchen. Seit dem Streit mit ihrem Vater hat sie sich nicht mehr bei mir gemeldet. Niemanden angetroffen. In großer Sorge durch die Straßen gelaufen und die wenigen Pubs und Restaurants abgesucht, die noch geöffnet haben. Am Holland Park, in Höhe der Kunstakademie ein Menschenauflauf. Die Polizei hat die Kensington Road gesperrt, erfahre ich. Hinter der
Straßensperre aus drei Jeeps, einem Dutzend Mannschaftswagen und zwei Panzern höre ich Schüsse und Schreie. Polizisten und Mitglieder einer Motorradgang prügeln und beschießen einander. Hinter dem Kuppeldach der Royal Albert Hall sehe ich Flammen aus den Fenstern eines Hauses schlagen. Rauch steigt in den nebligen Himmel. Die Gang sei über zweihundert Köpfe stark, erzählt mir jemand, und sie nenne sich »LORDS«. Ich bin wie betäubt, wende mich ab, blicke in den Park: Die Spitze des Albert Memorials ragt aus den kahlen Baumwipfeln. Ich drehe mich um, sehe die Prachtfassaden an der Kensington Road, sehe eine Kolonne parkender Wagen, sehe eine Ampel und Verkehrsschilder; und plötzlich überkommt es mich, wie eine Vision: Die grüne Grenze zum Park verschwimmt, Büsche und Bäume wachsen auf dem Bürgersteig, sogar auf der Straße. Die Autos sind verrostet, ihre Reifen verrottet, ihre Windschutzscheiben zerbrochen. Skelette sitzen hinter von Efeu umrankten Lenkrädern. Manche Fahrzeuge sind nur noch grüne Hügel aus Gestrüpp und Moos. Ratten, Füchse und Kaninchen huschen zwischen den Wracks hin und her. Blühender Jasmin verhüllt die Ampel wie ein grünweißer Mantel. Auf der Schulter des Blätter- und Blütenmantels sitzt eine Eule. Efeu und wilder Wein bedecken die zerfallenen Fassaden, Wildschweine galoppieren aus einem halb zugewachsenen Hauseingang …
Kapitel 9 Aufbruch zum Kontinent � Ende März 2516 Der Abschied zog sich hin. »Wenn Sie zurück sind, werde ich Ihnen meine Comicsammlung zeigen, Ma'am.« Roger III. wollte Eves Hand gar nicht mehr loslassen. »Ich habe Micky schon beauftragt, Ihnen ein kleines Album zusammenstellen zu lassen. Sie glauben gar nicht, wie authentisch das Leben in Entenhausen unsere unterirdische Realität trifft!« »Was Sie nicht sagen, Sire!« Von David hatte Eve gehört, dass der Monarch fanatischer Fan eines Zeichners und Autors aus den goldenen Zeiten vor »ChristopherFloyd« war, eines Mannes namens Disney. Eine Kreatur aus dessen Feder, ein gewisser Micky Mouse, diente dem König als sein E-Butler – das zu wissen, gehörte zur Allgemeinbildung in den britischen Communities. Den Begriff »Entenhausen« jedoch hatte Eve nie zuvor gehört. Sie hütete sich aber nachzufragen. »Ich wünsche Ihnen Glück und Gesundheit, Commander Carlyle.« Roger III. beugte sich über ihre Hand und berührte sie mit seinen Lippen. »Ihre Expedition wird dazu beitragen, uns unserem Traum von einem Leben unter freiem Himmel ein Stück näher zu bringen.« »Ich danke Ihnen, Sire.« Er übertrieb natürlich, Eve war dennoch ein wenig gerührt; aber nun reichte es, und sie entzog ihm ihre Hand. Roger III. wandte sich David
Peterson zu, und die Prime von London war die Nächste im Reigen der Abschiedsdelegierten. Josephine Warrington beglückwünschte Eve für die Auswahl ihrer Crew, bat sie, Grüße an das Forschungsteam in Leipzig auszurichten, das noch ein weiteres Jahr dort arbeiten würde, und sprach die Hoffnung aus, Ark I und II mögen auf eine bisher unbekannte Bunkerstadt stoßen und neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen den Kometenkristallen und der globalen Degeneration mit nach Hause bringen. Zuletzt stand General Charles Draken Yoshiro vor Eve. Er trug eine farbenprächtige Uniform mit diversen Sternen und Orden. Seine Perücke glänzte feucht und verströmte einen metallenen Duft. Er betonte, wie gerne er an Eves Stelle dieses Kommando ausgeübt hätte. Er sei aber in die Jahre gekommen, in denen man weise genug geworden sei, dem Nachwuchs die Chancen auf die Lorbeerkränze zu gewähren, die ihm zustehen; und er fuhr fort: »Ich weiß, dass es eine Ehre für Sie ist, das Kommando übernommen zu haben, dennoch möchte ich Ihnen dafür danken. Mutige Offiziere wie Sie und ich sind es, die unseren Communities die Zukunft erobern …« Und so weiter, und so weiter. Eine halbe Stunde etwa dauerte die Verabschiedung. Zum Schluss stimmte der Londoner Community-Chor eine Hymne für sieben Stimmen an, die Vertonung eines Gedichtes von Sir Jefferson Winter, dem Königlichen Berater. Das Gedicht hieß »Beginn« und verglich die Idee eines Menschen mit einer Eichel, die vielleicht im Waldboden verrotten, vielleicht aber auch keimen und im Lauf der Jahre und Jahrhunderte zu einem mächtigen
Baum heranwachsen wird. Sir Jefferson war glühender Befürworter einer oberirdischen Biosphäre, auch wenn er es gewöhnlich hinter einem Bollwerk aus Skepsis und Pessimismus verbarg. Während die Werftkuppel von der Hymne widerhallte, griff David nach Eves Hand. Sie hielten einander fest, und als sie verstohlen zu ihm aufschaute, sah sie eine Träne in seinem Augenwinkel glänzen. Seine Kaumuskeln pulsierten, er schluckte, und die Träne rann seine Wange hinunter, um der nächsten Platz zu machen. Es war nicht das erste Mal, dass Eve ihren Geliebten weinen sah. Der Eliteoffizier und Boxchampion versteckte ein ziemlich weiches Herz in seinem kräftigen Brustkorb. Eve war dabei gewesen, als die Geburt seiner ersten Nichte David zu Tränen gerührt hatte, oder als Musik aus den goldenen Zeiten vor »Christopher-Floyd« ihn überwältigte. Sie hatte diese unerwartete Seite an David Peterson immer mit einer Mischung aus Verwunderung und Amüsement erlebt. Ihr selbst war dergleichen vollkommen fremd. Jetzt aber, während der Chor Winters Verse schmetterte, während der König und die Männer und Frauen des Octaviats und des Expeditionsteams nacheinander die Rechte auf die Brust legten, und während David ihre Hand festhielt und leise weinte – jetzt spürte auch sie den Zauber dieses Abschiedsmoments: Als würde ein Vorhang rauschen, der sich zu einem exotischen Schauspiel hob; als würde ein Tor knarren, das sich in einen unbekannten Raum öffnete. Die Erregung perlte durch Eves Glieder, ihr Herz schlug schneller. Sie schluckte ein paar Mal, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Der Rest rauschte an ihr vorbei wie eine Filmszene, die
man schon viel zu oft gesehen hat. Und dennoch würde sie sich später an jede Einzelheit dieser Minuten erinnern können. An die verschwörerische Geste, mit der die Londoner Prime dem Chefwissenschaftler Cox auf dem Weg zum Schott einen persönlichen Brief an einen Londoner in die Hand drückte, der noch ein weiteres Jahr in Leipzig ausharren musste. An die Art, wie Lilly Warrington sich unter den Augen ihrer Großmutter an Eddy Amer schmiegte und ihn so fest hielt, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. An die viel zu laute Stimme Togos, mit der er hinter ihr McMalone und sich selbst zu dem Glück gratulierte, in Salisbury bislang von Dichtern und Chorgesang verschont geblieben zu sein. Und an Courtney Rouwens' liebenswürdiges Gesicht, als sie neben Spencer Dewlitt zwischen den Eingängen der beiden Teleskoptunnel stehen blieb, um ihr und David den Vortritt zu lassen; Eve deutete ihr Lächeln als Ausdruck des Stolzes und der Freude, dazugehören zu dürfen. Immerhin schickte die junge Navigatorin sich zum ersten Mal an, ihre Heimat für längere Zeit hinter sich zu lassen. Spencer Dewlitt übrigens trug keine Haartracht, eine Geste guten Willens gegenüber den Perückenmuffeln aus Salisbury. Eve rechnete es dem Piloten hoch an. An den Tunneleingängen erst ließ David ihre Hand los. Er nickte ihr zu, blickte irgendwie ernst und wandte sich ab. Sein Team folgte ihm in den linken Teleskopgang – Eddy Amer, Barbara Plant, Courtney Rouwens und die vier Wissenschaftler Cox, Bennett, Dejong und Crosby. Doc Doubleman drehte sich noch einmal um und winkte in die Kuppelhalle. Danach erst betrat Eve den rechten Teleskoptunnel. Spencer Dewlitt folgte ihr, und ihm
folgten Mac, Togo und das Wissenschaftsteam aus Salisbury: Emma Bloom, Sonia Muzawi, Ruud Simon und Paul DaCol. Sekunden später bückte Eve sich in die Bugschleuse von Ark I. Die letzten Reste von Rührung oder Reisefieber fielen von ihr ab, und als das Schott sich schloss, war alles nur noch Routine: Start der Triebwerke, Instrumentencheck, Meldungen aus dem zweiten EWAT, dann in die Lifte und hinauf ins Foyer; dort das Identifizierungsritual mit Ivanhoe, dem E-Butler der Innenschleuse, und schließlich der Titanglastunnel durch die Ruine des ehemaligen Parlaments bis zum Alten Portal. Ungewöhnlich helles Tageslicht flutete die Außenschleuse und die Kommandostände, als das äußerste Schott sich endlich öffnete. Die Wolkendecke war dünn heute und an einigen Stellen sogar aufgerissen, sodass Sonnenlicht sich Bahn brechen konnte. »Hey!«, tönte Togos Stimme aus dem Bordfunk. »Ist das ein gutes Omen, oder ist es das nicht?« »Es ist«, sagte Stanley McMalone. »Kein Chor und kein Dichter könnten es besser hinkriegen.« Unwillkürlich blickte Eve zu Dewlitt, neben dessen Pilotensessel sie stand, doch der beobachtete konzentriert seine Instrumente und verzog keine Miene. Sie rollten ein Stück am Themseufer entlang. »Commander an Ark II.« Eve beugte sich über das Funkmikro. »Wir fliegen zur Flussmitte und folgen dem Themselauf, dann müssen wir mit keinen Abschiedsgeschenken der Socks rechnen.« »Verstanden, Commander«, bestätigte Major David Peterson. »Hoffen wir, dass sie keine Floßflotte mit Megasteinschleudern im Uferschilf versteckt haben.«
Gott, wie sie diese Stimme liebte! »Kettenschuhe einfahren, Magnetfeld aufbauen, raus mit den Gleitschwingen«, befahl Eve. »Und dann weg von den Ruinen aufs Wasser hinaus.« Von Ark II bestätigte diesmal Barbara Plant. Wenig später schwebten beide EWATs der Ruine der Tower Bridge entgegen. Der bräunliche Fluss strömte ruhig dahin. Das Licht aus den Wolkenlücken spiegelte sich in ihm. Selbst zu dieser Jahreszeit riss die Wolkendecke nur an wenigen Tagen auf. Ein gutes Zeichen, Togo hatte Recht. Durch die Frontkuppel sahen sie sogar den Schatten ihres Tanks über die Wellen gleiten. »Ark II an Ark I.« Davids Stimme aus den Boxen. »Viel Glück, Commander Carlyle!« »Ark I an Ark II.« Eve antwortete persönlich: »Viel Glück, Major Peterson.« Vierundzwanzig Fuß über der Themse schwebten sie stromabwärts. An den Ufern zogen die stummen Zeugen einer untergegangenen Epoche vorbei: Mauerreste voller knospender Birken und Haselbüsche, Hausfassaden hinter immergrünem Rankengewächs, moosbedeckte Hochhausskelette, noch kahle Eichen hinter zerklüftetem Gemäuer, Schutthalden voller Buschwerk. Ruinen, Ruinen, Ruinen. Und dann die Überreste der Brücken von London. Was da zum Beispiel vom Westufer aus wie ein hundertfach dornengekrönter Rüssel im flachen Winkel über den Fluss ragte, um kurz vor dessen Mitte darin zu verschwinden, war in den goldenen Zeiten vor »Christopher-Floyd« die Hungerford-Fußgängerbrücke gewesen. Auf den ersten Blick war schwer zu
entscheiden, ob die Last der Weinstrünke sie in die Themse gedrückt, oder ob der wilde Weinstock aus dem Fluss nach ihr gegriffen und sie eingesponnen und hineingezerrt hatte. Der Wall aus Gestrüpp, Efeu und jungen Birken ein paar hundert Meter weiter hieß Waterloo Bridge. An manchen Stellen spielten die Wogen mit lianenartig herabhängenden Ästen. Wieder ein paar hundert Meter weiter ragten ein paar zerklüftete Pfeiler aus dem Wasser. Bis zum Kometeneinschlag hatten sie die Blackfriars Bridge getragen. Auf einem nisteten Tauben, auf drei anderen Möwen. Und so weiter … Die zerklüfteten Türme der Tower Bridge sahen aus wie zwei traurige Zyklopen. Seit fünfhundert Jahren standen sie hier im Fluss und versuchten vergeblich einander die gebrochenen Arme zu reichen. Die EWATs schwebten über sie hinweg. Am linken Ufer klaffte eine ausgedehnte Lücke in den Ruinen. Ein großer Krater gähnte, wo bis zum Jahre 2012 eine uralte Festungsanlage namens Tower gestanden hatte. Eve hatte gehört, dass die Royals vor »Christopher-Floyd« dort ihre Kronjuwelen aufbewahrt hatten. Der genaue Zweck des vom Erdboden getilgten Gebäudes ließ sich aus den Datenbanken jedoch nicht mehr erschließen. Dafür, dass wenigstens die Namen all jener verschwundenen, zerstörten oder zugewucherten Bauwerke seit einer Generation wieder geläufig waren, sorgte ein Bildungsprogramm, das Roger III. durchgesetzt hatte. Er beharrte darauf, dass jedes Kind in der Lage zu sein hatte, das zu benennen, was es einst als Erwachsener wieder aufbauen würde.
Träumer… Die ehemalige City der ehemaligen Metropole blieb zurück. Die Wolkenlücken schlossen sich, der Himmel wurde dunkler, die Ruinen seltener, der Wald dichter. Eine knappe Stunde waren sie unterwegs, als sie doch noch zu Gesicht bekamen, was sehen zu müssen alle insgeheim befürchtet hatten: Socks. Barbara Plant entdeckte sie als Erste. »Ark II an Ark I«, tönte David Petersons Stimme aus dem Funk. »Unsere Aufklärung meldet eine größere Ansammlung von Gelbhäuten in dreitausendvierhundert Metern Entfernung am nördlichen Flussufer.« Für so einen Fall gab es Vorschriften, und Eve entsprach ihnen, indem sie die EWATs bis auf sechzig Fuß steigen ließ. Minuten später konnten sie die leicht gelbhäutigen Barbaren, die sich selbst Lords nannten, mit bloßem Auge sehen. Dreißig Meter unter ihnen standen einundzwanzig am Ufer oder im seichten Uferwasser einer schilfbewachsenen Bucht und reckten die Hälse in die Höhe. Die Bordhelix zoomte sie heran, sodass schmutzige nackte Kindern, bis zu den Hüften im Wasser stehende nackte Frauen und vollbärtige, meist langhaarige Jäger in Wildledermänteln und -hosen zum Greifen nahe auf dem Panoramadisplay erschienen. Keiner der wilden Kerle machte Anstalten, seinen Speer zu heben oder einen Pfeil in den Bogen zu spannen. »Waschtag«, sagte McMalone, und tatsächlich schwammen Kleidungsstücke im ufernahen Wasser. »Brrr!«, machte Togo. »Das Wasser muss doch noch arschkalt sein!« »Sind hart im Nehmen, unsere Nachbarn«, sagte Eve, und es stimmte: Fünf Jahrhunderte in den
Ruinenwäldern hatten diesen Menschenschlag unglaublich widerstandsfähig gemacht. Weder Hunger noch Kälte noch gefährliche Krankheitserreger hatten sie ausrotten können. Eve beobachtete zwei halbwüchsige Knaben, die aus dem Wasser sprangen, sich bückten und ihre blanken Gesäße nach oben reckten. Sie begriff erst, als die erwachsenen Männer plötzlich lachten, ihre Waffen fallen und ihre Hosen herunter ließen. Bald glänzte ein gutes Dutzend nackter Hintern auf dem Panoramadisplay. Spencer Dewlitt runzelte die Stirn, Mac schmunzelte, und Eves Lippen wurden schmal und farblos. »Weg mit dem Bild!«, zischte sie. »Ark II an Ark I«, meldete sich Amers zornige Stimme über Funk. »Soll ich den Waffenturm ausfahren und den Scheißern die Wäsche kochen und die Weiber gleich mit?« »Habe ich etwas in der Art angeordnet?« Eves Stimme klirrte. »Wollen wir uns das wirklich bieten lassen, Commander Carlyle!? Ich …« »Habe ich etwas in dieser Art angeordnet, Captain Amer? Beantworten Sie meine Frage!« »Nein …« »Sprechen Sie Ihre Vorschläge in Zukunft bitte mit Major Peterson ab. Er wird sie an mich weitergeben – falls er sie für brauchbar hält.« »Verstanden, Commander. Ende.« Spencer Dewlitt wandte den Kopf und sah kurz zu ihr hinauf. Er sagte aber nichts. Offenbar war er auch der Meinung, dass die Socks einen Warnschuss verdient
hatten. Eve ließ die Sache auf sich beruhen. Über einmal ausgesprochene Befehle diskutierte man nicht. Das hatte sie von Sir Leonard gelernt. Bucht und Barbaren blieben zurück, die Panzer gingen wieder auf neun Fuß herunter. Der Strom nahm an Breite zu. Nach etwa achtzehn Kilometern begann er sich in viele Seitenarme zu verzweigen. Sie erreichten das Mündungsdelta. »Ark II an Commander.« John Cox, der Chefwissenschaftler meldete sich über Funk. »Für uns wird es Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Könnten wir auf maximale Flughöhe steigen?« »Selbstverständlich, Professor Cox.« Eve nickte ihrem Piloten zu. »Wir gehen auf neunzig Fuß.« Die »Arbeit«, von der Doc Doubleman sprach, bestand darin, das Mündungsdelta und die Küstenlinien der sich anschließenden Bucht und ihrer Inseln zu vermessen und zu filmen. Seit Ende der Eiszeit tobten alle drei oder vier Jahre verheerende Sturmfluten an den Küsten und veränderten deren Verlauf. Die jüngste Karte dieser Gegend war bereits vierzig Jahre alt. Diese Arbeit würde sie während der ganzen Reise beschäftigen. Ein Londoner aus Cox' Wissenschaftsteam war dafür verantwortlich, ein Geograph und Kartograph namens Abraham Crosby. Der Londoner Informatiker Niklas Dejong und ein Wissenschaftler aus Salisbury an Bord von Ark I unterstützten ihn. Der Mann hieß Ruud Simon und war gelernter Energieund Kommunikationstechniker. Dass er darüber hinaus auch noch einen EWAT steuern konnte, machte ihn in Eves Augen besonders wertvoll, obwohl er kaum fünfzig Stunden Außeneinsatz vorweisen konnte. Doch die Kommandantin war entschlossen, das zu ändern.
»Ark I an Ark II.« Ruud Simons Stimme aus dem Funk. »Sämtliche Kameras laufen.« »Alles klar, Ruud.« Die Stimme von Niklas Dejong, Cox' Informatiker. »Die Rechner verschlingen die Bilder bereits.« Mehr als ein Dutzend kaum zehn Zentimeter durchmessender Displays säumten auf einmal den unteren Rand der Panoramakuppel. Steilküsten, Kiesstrände, Buchten, Inseln und Zahlenlisten glitten über sie. Die Bordhelix verarbeitete die Bilder der Außenkameras praktisch ohne Zeitverlust. Etwa sechs Stunden lang schwebten sie über der Mündungsbucht der Themse, Ark I flog die knapp neunzig Kilometer der südlichen Küstenlinie ab, Petersons Crew auf Ark II die über hundertzwanzig Kilometer der nördlichen Buchtküste. Am frühen Abend trafen sie sich am äußersten Ostzipfel Südenglands, unweit der Ruinen von Ramsgate. Wie vereinbart schickte Eve einen Kolk nach London zurück, bevor die Expedition die britischen Inseln endgültig verließ. Er transportierte einen Speicherkristall mit den bisher gesammelten Daten und die letzte Meldung der Expedition: »Position: Einundfünfzig Grad und vierzehn Minuten Nord, ein Grad und neununddreißig Minuten Ost. Ostküste der ehemaligen Grafschaft Kent, Höhe Ramsgate. Wir werden jetzt den Kanal überqueren.« Eve fügte noch ein paar persönliche Worte hinzu: »Richten Sie meine Grüße an Sir James, Sir Leonard und General Priden aus, wenn Sie die Daten an Salisbury schicken.« Danach hatte jedes Expeditionsmitglied, dem der Sinn danach stand, Gelegenheit, eine kurze Botschaft zur
späteren Übermittlung auf den Kristall zu sprechen. Seit ihrer ersten Schottland-Expediton pflegte Eve dieses Ritual, und ihre Teams dankten es ihr. Sie hatte das von Sir Leonard gelernt. Der Einzige, der an diesem Abend kein Wort mehr an London richtete, war Captain Amer. Das befremdete Eve. Hinter ihnen schrumpfte die Küstenlinie zu einem dunklen Strich zwischen Meer und Abendhimmel, vor ihnen wogte die See dem Horizont entgegen, und unter ihnen streute der wolkenverhangene Sonnenuntergang rötliche Schleier auf die Wellen. »Wunderschön«, sagte Spencer Dewlitt in die Stille des Kommandostandes hinein, und diesmal lächelte er zu seiner Kommandantin hinauf. Eve stand neben ihm und sog die Bilder des Naturschauspiels in sich auf. Etwas wie Glück perlte durch ihre Glieder. »Das sind die Augenblicke, für die ich die Community immer wieder hinter mir lassen möchte, Spencer, verstehen Sie das?« Er nickte. Im letzten Licht der Dämmerung überquerten sie unzählige kleine Inseln – für ein paar Stunden enthüllte die Ebbe jämmerliche Reste dessen, was Komet und anschließende Flutwelle von den Niederlanden übriggelassen hatten. Dann kam die Nacht. Sie landeten am Strand, überquerten das gut erhaltene Flugfeld des Brüsseler Flughafens und fuhren ein Stück an der Küste entlang. Etwa elf Stunden nach dem Aufbruch in London ließ Eve die EWATs in einer ausgedehnten Dünenlandschaft siebzig Kilometer östlich der Ruinen von Brüssel landen. Seite an Seite setzten die Tanks auf. Der Schleusenbutler von Ark I fuhr den Teleskopgang am
Hecksegment aus und stellte so einen sterilen Durchgang zum Hecksegment von Ark II her. Auf diese Weise konnten sich die Besatzungsmitglieder die Schutzanzüge sparen, wenn sie der jeweils anderen Crew einen Besuch abstatten wollten. Während Barbara Plant und Ari Togo die erste Wache übernahmen, gingen Spencer Dewlitt und McMalone auf Ark II hinüber, um mit Crosby und Dejong Schach zu spielen. Juli Bennett und Courtney Rouwens kamen aus Ark II herüber. Ruud Simon und Paul DaCol – Physiker und Mathematiker aus Salisbury – hatten zu einer Partie Bridge eingeladen. Von Edgar Amer keine Spur. Im Laborsegment ihres Flaggtanks traf Eve sich mit David, John Cox und seiner Stellvertreterin zu einer ersten Lagebesprechung. Die Chefwissenschaftlerin aus Salisbury hieß Emma Bloom. Sie war Linguistin und Historikerin und außerdem eine Großnichte von Kathrin Bloom, der Octavian für Soziales in Salisbury. Die Route für den folgenden Tag, sonst gab es nicht viel zu besprechen. Das Rheindelta war das nächste Ziel. David gab sich wortkarg; er machte den Eindruck eines Mannes, den Sorgen plagten. »Schlaf bei mir«, flüsterte Eve, nachdem Cox und die Bloom das Labor verlassen hatten. »Ich hab dafür gesorgt, dass wir das Hecksegment für uns haben.« Er druckste ein wenig herum. Er sei müde, sagte er schließlich. Außerdem fürchte er Auswirkungen auf den Mannschaftsgeist, wenn die Crew Wind davon bekam. Sie stritten ein Weilchen herum. Irgendwann nahm David sie in den Arm, küsste ihr ein paar kritische Worte von den Lippen und verzog sich auf seinen EWAT. Eine Stunde lang etwa las Eve lustlos in den Johanna-
Dateien herum. Die Aufzeichnungen ihrer Urahnin deprimierten sie heute. Missmutig kroch sie in ihre Schlafmulde. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang weckte McMalones Stimme aus dem Bordfunk sie auf. Der Navigator hatte Wachdienst »Ich hab hier das Signal eines Peilsenders aufgefangen.« »Vom Festland oder vom Meer?« Eve schwang sich aus der Koje. »Irgendwo von der Küste, würde ich sagen. Zwei, drei Meilen westlich von uns. Scheint aus der Luft zu kommen.« »Bin gleich bei Ihnen …«
Kapitel 10 Die Stunde der Lords � Aus den Johanna-Dateien � 13.12.2011 Jetzt ist es amtlich: Am 8. Februar gegen 17:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit wird »Christopher-Floyd« die Erde rammen. Kollisionswahrscheinlichkeit: 100 Prozent. Ein Sprecher der NATO hat es heute Mittag offiziell bekannt gegeben. Ich habe es von Sandy McMillan erfahren. Sie rief mich gegen Viertel nach zwei an, kurz bevor sie eine Sondersendung zum Thema moderieren musste. Ihre Stimme hörte sich an wie die einer Frau, die in eine tiefe Höhle gestürzt ist. 15.12.2011 Es ist kalt geworden. Zusammen mit Mary-Lou und Pete fahre ich ans East End. Am Samstag ist die Hochzeit, und ich will Mary-Lous Schwiegereltern vorher kennen lernen. Seit gestern kann man sich einigermaßen unbehelligt in der Stadt bewegen. Es ist, als hätte die Gewissheit des Endes die ausgebrochene Barbarei gelähmt. Vorübergehend. Wir müssen Umwege fahren, denn Panzer halten einige Kreuzungen besetzt und an vielen Stellen blockieren ausgebrannte Autowracks die Fahrbahnen. Abgesehen von motorisierten Armeepatrouillen hier und
da wirken die Straßen Londons wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die wir zunächst zu Gesicht bekommen, bewegen sich schleppend und mit hängenden Schultern. Die Nachricht von vorgestern hat die Stadt wie der Fausthieb eines grausamen Gottes getroffen. Sie steht noch unter Schock. Auch wir reden kaum etwas miteinander. Am Themseufer, in den Parks, die wir passieren, und in den Grünstreifen entlang der großen Straßen campen Gruppen von Männer und Frauen, meist Jugendliche. Sie haben große Feuer entzündet und sind dick vermummt. Als ich an einer Ampel am Tower Hill stoppe, sehe ich Dutzende von schweren Motorrädern am Rand des Trinity Squares. Auf der Grünfläche schlagen meterhohe Flammen aus einem Holzstapel. Langhaarige, bärtige Burschen in Ledermänteln und Lederjacken schleifen ein an den Läufen gefesseltes Schwein zu einer rostigen Badewanne. »Sie trainieren schon für die Zeit danach«, sagt Pete. Ich aber erschrecke, denn ich erkenne rote Teufelsfratzen auf den Rücken der Männer. Unter dem Emblem steht in schwarzen, flammenartigen Buchstaben der Name ihrer Gang: »THE LORDS«. Später bei den Nashs. Sehr nette Menschen. Die Frau, obwohl älter als ich, beneidenswert faltenlos. Bei zwei Flaschen Wein planen wir die Hochzeitsfeier. Über den 8. Februar verliert keiner von uns auch nur ein Wort. 16.12.2011 Bevor er heute Morgen ins Innenministerium fährt, eröffnet mir Louis unter dem Siegel der Verschwiegenheit, was ich längst weiß: Die Regierung
hat in verschiedenen Städten heimlich Bunker errichtet. In Leeds, Plymouth, Edinburgh, Salisbury und so weiter, und natürlich auch in London; am Themseufer unter den Parlamentsgebäuden. Das Bunkersystem sei atombombensicher, biete Platz für zweitausend Menschen und könne diese mindestens zehn Jahre lang am Leben erhalten. Das Königshaus, die Spitze des Regierungsapparats und einige auserlesene Angehörige der wissenschaftlichen Elite Großbritanniens werden darin den Kometeneinschlag und die kritische Zeit danach überleben, erklärt mir mein Mann. Er als Staatssekretär habe vier Bunkerplätze beantragt und zugeteilt bekommen. Der Einzug würde nach Silvester – und jetzt Originalton Dr. Louis Carlyle: – »peu à peu und ohne großes Aufsehen über die Bühne gehen, damit die weniger Privilegierten keinen Verdacht schöpfen. Wir wollen die Leute schließlich nicht mehr als unbedingt nötig beunruhigen.« Ich war fassungslos. Ich stand auf, ging zur Bar und schenkte mir einen doppelten Malt ein, obwohl es erst neun Uhr morgens war. Als ich meine Sprache wiedergefunden hatte, sagte ich: »Was ist das für eine Regierung, die das Volk, das es gewählt hat, ihrem Schicksal überlässt und sich selbst unter der Erde verkriecht? Eine solche Regierung nenne ich menschenverachtend und feige!« Louis: »Verstehst du nicht, dass die Menschheit vor der größten Katastrophe ihrer Geschichte steht? Im Verteidigungsministerium habe ich letzte Woche Computersimulationen des Einschlags gesehen – ›Christopher-Floyd‹ wird Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes anrichten! Am neunten Februar werden auf
der Erdoberfläche weltweit noch höchstens fünf Millionen Menschen am Leben sein! In fünf Jahren nicht einmal mehr neunhunderttausend! Sollte die Menschheit je die Chance für einen Neuanfang bekommen, dann müssen wir jetzt ihre fähigsten Köpfe in Sicherheit bringen!« Ich: »Und wer zu dieser Elite zählt, das bestimmt deinesgleichen, ja? Darüber befinden Akademiker und Politiker, ja?« Er: »Jemand muss es tun. Man hat uns gewählt, um die Zukunft zu gestalten. Nichts anderes tun wir.« Ich: »Und warum nur vier Bunkerplätze? Die würden uns nicht reichen, Lou. Du musst noch drei für MaryLous Mann und ihre Schwiegereltern beantragen.« Er: »Meine Tochter hat keinen Mann, folglich auch keine Schwiegereltern.« Ich: »Ab übermorgen hat sie einen Ehemann und folglich auch Schwiegereltern.« Mister Staatssekretär antwortete nicht. Grußlos verließ er das Haus. 17.12.2011 Drei Uhr nachts. Das Herz schlägt mir in der Kehle, meine Hände zittern, ich treffe kaum die Tasten: Eben hat Mary-Lou angerufen – Scottland Yard hat sie und Pete aus dem Bett geklingelt. Sie hatten einen Haftbefehl gegen Pete dabei und haben ihn mitgenommen. Ich kann nicht weiterschreiben, ich muss zu meiner Tochter …
Kapitel 11 Der Kolk � Nordseeküste, Ende März 2516 Über den Frontkuppeln der EWATs stieg die Morgensonne in den Himmel. Niemand hatte einen Blick dafür. Im Kommandosegment von Ark I herrschte ungewohntes Gedränge, die gesamte Besatzung hatte sich hier versammelt. Neben Spencer Dewlitt beugten sich Eve Carlyle und Ruud Simon über Funk- und Ortungsgeräte. Hinter ihnen standen Emma Bloom, Togo, Paul DaCol und die vierte Wissenschaftlerin an Bord von Ark I, eine Molekularbiologin und Medizinerin namens Sonia Muzawi. McMalone kauerte in seinem Navigationsstand. Alle beobachteten sie abwechselnd das Panoramadisplay und die Ortungsmonitore, und jedes Mal, wenn Simon oder Eve das Signal aufs Neue anpeilen konnten, rief einer von ihnen »Da!« und deutete auf die topographische Karte der Küstenlandschaft, die die Bordhelix unter die Kuppel gerechnet hatte und über der für kurze Zeit ein grüner Punkt oszillierte. In Ark II musste es ähnlich zugehen, denn immer wenn David oder Barbara sich meldeten, hörte Eve die Stimmen der anderen im Hintergrund. Beide EWATs blieben in diesen Morgenstunden in ständigem Funkkontakt, tauschten die neuesten Theorien über die Signalquelle aus, glichen die Koordinaten ab und gaben sie an ihre Piloten weiter. Barbara Plant und Spencer Dewlitt steuerten die Tanks aus Titan-Carbonat durch
die Dünenlandschaft der Signalquelle entgegen – bis diese erneut verstummte. Eve ließ anhalten, und die Aufklärer und Navigatoren machten sich wieder an die Arbeit. Orteten sie den Sender aufs Neue, näherten sie sich ihm ein Stück weiter, konnten sie ihn nicht mehr anpeilen, ließ Eve die Tanks wieder stoppen. Anders ging es nicht, denn die Position der Signalquelle änderte sich ständig. »Ark I an Ark II, es ist jetzt nicht mal mehr vier Kilometer entfernt, David!« Etwas wie Jagdfieber hatte Eve gepackt. »Was glaubt ihr, was das sein könnte?« »Unsere Bordhelix behauptet hartnäckig, es sei jemand von uns.« Davids Stimme aus dem Funk klang gelassen. Je größer die Aufregung um ihn herum, desto ruhiger schien er zu werden. »Die Frequenz spricht jedenfalls dafür. Cox meint, es könnte einer aus Nashs Crew sein.« »Wieso sollte Commander Nash jemanden zurücklassen?« Eve und ihr Team hatten einer anderen These den Vorzug gegeben. »Nein, nein – es muss eine festländische Bunkerkultur sein, eine, mit der die Communities schon Funkkontakt hatten …« So ging es hin und her. Zehn Minuten später ließ sich die Signalquelle fast ununterbrochen anpeilen. Sie bewegte sich nicht mehr fort, jedenfalls nicht in der Horizontalen. Die Dünenlandschaft wurde flacher und ging in eine sandige Grasebene über. Nur zwei Kilometer trennten sie jetzt noch von dem Sender. »Wärmequellen in sieben Strich dreizehn«, meldete Courtney Rouwens von Ark II. »Mindestens zwei Dutzend, nein, drei Dutzend. Der Rechner müsste sie eigentlich visualisieren können …!« »Geschützstände besetzen!«, befahl Eve.
»Gefechtsbereitschaft herstellen!« Ari Togo bückte sich in die Luke zu Segment II und verschwand dahinter. »Sie halten sich in einem Gebäude auf!« Eve hatte sich wieder ihren Ortungsinstrumenten zugewandt. »Da! Die Bordhelix zeigt eine Ruine, eine Art Arena …!« Es war nicht die einzige Ruine, die jetzt von der Ortung erfasst wurde, aber die größte. Holzhütten und kleine Häuser aus Bruchstein ragten aus dem hohen Gras, und dazwischen erhob sich ein gewaltiger, teilweise eingestürzter Rundbau aus der Ebene. Zwei von langpelzigen Rindern gezogene Wagen verschwanden durch ein offenes Portal in seinem Inneren. Auf den Kutschböcken und den Rindern hockten Menschen, auf den Karren sah man Gestelle, die an große Käfige erinnerten. »Ark II an Ark I. Vermutlich sind schon zuvor Fahrzeuge in das Gebäude gerollt.« David Petersons Stimme aus dem Funk. »Und vermutlich befand sich auf einem davon die Signalquelle.« »Das würde die anfängliche Positionsveränderung des Senders erklären.« Eve dachte laut. Jemand schloss das Portal des Rundbaus von innen. »Aber nicht die aktuelle Positionsveränderungen.« Emma Bloom deutete auf das Ortungsdisplay. Der grün oszillierende Punkt wechselte praktisch ununterbrochen seine vertikale Position. Mal peilten sie den Sender zwei oder drei Meter über dem Boden an, mal in zehn Metern Höhe, und dann wieder schien er auf dem Boden aufzusetzen. »Da spielt jemand Squash mit dem Sender.« Togos Stimme aus dem Bordfunk. »Entfernung: tausendneunhundert Meter«, sagte
McMalone. »In den Hütten nur vereinzelte Wärmequellen.« Eve fixierte ihr Infrarot-Display. »Sie scheinen sich alle in dem Rundbau aufzuhalten.« »Verstecken sich vor uns«, krähte Togos Stimme aus dem Bordfunk. »Würde ich auch machen.« Eve blickte auf die Digitalanzeigen in der Fußzeile ihrer Monitoroberfläche. Noch anderthalb Kilometer trennten sie von der Ruine. »Ich glaube nicht, dass sie uns schon bemerkt haben. Vielleicht eine Art Markttag oder …« »Datenpakete!«, rief Ruud Simon plötzlich. »Irgendwelche Datenpakete überlagern den Peilsender! Was schickt er uns da?« »Auf die Frontkuppel damit!« Auf dem Panoramadisplay entfärbte sich ein sechzig Zentimeter durchmessender Monitor. Eve lehnte sich zurück und beobachtete ihn. Etwas Gelbes zuckte durch das Bild, etwas Rotes blitzte auf, dann schienen bunte Blätter aufzuwirbeln. Die Aufnahme drohte jeden Moment zu verschwimmen. »Was beim Kometen ist das denn?!« Eve sprang auf, Simon legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. Alle starrten sie in das irritierende Gewimmel, Gezucke und Geflatter auf dem Monitor. Etwas Spitzes, Gelbes fuhr so plötzlich in den Vordergrund, dass Eve zurückwich. »Seht ihr das auch, Ark II?! Für was hältst du das, David!?« Kurz verdunkelte eine schwarze, seltsam strukturierte Decke fast das gesamte Bild, und als sie den Blick wieder freigab, sah man eine fahle, pickelige Fläche aufplatzen. Im nächsten Moment war es, als würde rote Flüssigkeit von innen gegen den Monitor spritzen, ein gutes Drittel
der Fläche bedeckte sie in vielen Tropfen, die rannen zur Unterseite herunter, und schmierige Schlieren bildeten sich. Dennoch war deutlich zu sehen, wie die aufgeplatzte Fläche jäh zurückwich. Buntes Zittern nahm für einen Moment die Form eines fremdartigen Schädels an, dann die einer Schwinge. »Ein Vogel!«, krähte Togos Stimme aus dem Bordfunk. »Seid ihr blind? Ein Vogel! Sein Blut hat die Kamera bespritzt…!« Eve horchte auf – »Kamera«, natürlich! Das bunte Gefieder verschwand von einem Moment auf den anderen vom Monitor. Dafür sahen sie jetzt dunkles Gemäuer, sahen Gestrüpp auf einem Wandsims, Buschwerk in einer Fensterhöhle, ein paar Gesichter, schließlich einen Pfahl und auf dem Pfahl ein Querholz. »Commander an Ark II. Es ist ein Späher, aber nicht aus London. Ohne Auftrag fliegen die nicht über den Kanal.« Sie beobachteten weiter den Monitor. Dort hockte jetzt ein bunter Vogel auf einer Stange, spreizte das Gefieder und riss einen im Verhältnis zu seinem sonstigen Körper riesig wirkenden Hakenschnabel auf. Eine blutende Wunde klaffte am gerupften Fleisch seines Oberschenkels. Ein paar Meter unter ihm sah man Menschen gestikulieren. Das Bild veränderte sich im Sekundentakt: Menschen, der bunte Vogel, Morgenhimmel in einer Dachlücke, Gemäuer und Gestrüpp und wieder der bunte Vogel. »Also ein Späher der Nash-Expedition?«, fragte Spencer Dewlitt leise. Eve beugte sich über das Funkmikro. »Commander an alle. Wir müssen den Vogel haben! Nehmen wir Kontakt mit den Leuten in der Ruine auf …!«
»Peterson an alle – schnallt euch an!« »Noch dreihundertsiebzig Meter«, sagte Courtney »dreihundertsechzig, Rouwens. dreihundertfünfundvierzig …« Auf dem Panoramadisplay wuchs die Fassade des Rundbaus. Offenbar veranstalteten sie irgendwelche Vogelkämpfe dahinter. »Geschwindigkeit?« Major David Peterson saß neben dem Pilotensitz am Arbeitsplatz des Aufklärers. Bis auf die Navigatorin und die Pilotin hatte er alle aus dem Cockpit geschickt. »Sechsundfünfzig Stundenkilometer«, sagte Barbara Plant. Sie wirkte blass und ein wenig verkniffen. Peterson hatte ihr die Steuerung des EWATs überlassen. Ein riskanter Schritt in dieser Situation, da machte er sich nichts vor – die junge Frau aus Salisbury hatte noch nicht übermäßig viel Zeit im Pilotensessel eines EWATs zugebracht. Doch der Major hielt den Sprung ins kalte Wasser für die wirksamste Methode, Erfahrungen zu sammeln. Je früher die Plant ihre Feuertaufe absolvierte, umso besser für sie und die Expedition. »Zweihundertneunzig Meter, zweihundertachtzig …« »Gehen Sie auf unter fünfundvierzig, Barbara.« David betrachtete die Displays der Ortungsgeräte. Die Bordhelix hatte die Struktur des massiven Holzportals und des Raumes dahinter visualisiert, die Infrarotortung zeigte die Wärmequellen darin. Ein paar hielten sich gefährlich nahe des Eingangs auf. »Zweihundertfünfundvierzig, zweihundertfünfunddreißig …« »Reduzieren Sie die Geschwindigkeit noch weiter, Barbara, sagen wir auf fünfundzwanzig
Stundenkilometer. Ich will niemanden verletzen dort drinnen, und für die Tür ist das schnell genug.« »In Ordnung, Major.« David betrachtete Barbara Plant von der Seite. Die Hakennase und der kräftige Unterkiefer verliehen ihrem Profil etwas Starkes, Unnachgiebiges. Er mochte die Frau. Schade, dass sie keine Perücke trug. Lange schwarze Locken ständen ihr gut, fand er. »Zweihundertzehn, zweihundert …« David drehte sich nach Courtney um. Mit hochgezogenen Schultern und gerunzelter Stirn hockte sie in ihrem Navigatorenstand. Die Aussicht auf Feindberührung behagte ihr nicht. Bis auf das eine oder andere Scharmützel mit den Socks besaß sie keine Kampferfahrung. Überhaupt kein Problem in Davids Augen. Zum einen glaubte er nicht an nennenswerten Widerstand, zum anderen glaubte er an die Ausbildungsqualität der Community-Force. Er reckte den Daumen nach oben und zwinkerte Courtney Rouwens zu. Ihr Gesicht entspannte sich etwas, sie lächelte und erwiderte seine Geste. »Hundertsechzig, hundertfünfundfünfzig …« »Ark I an Ark II.« Eves Stimme aus dem Funkmodul. »Sie haben uns bemerkt. Wie lange noch?« »Noch zwölf Sekunden bis zum Durchbruch.« David blickte zum Zenit der Frontkuppel: Über ihm schwebte Ark I dem Dach des Rundbaus entgegen. Oben, über der Lücke, sollte Emma Bloom versuchen, Kontakt mit den Barbaren aufzunehmen. Sie beherrschte ein paar Festlandidiome. »Achtzig Meter, siebzig …« Auf dem Monitor im Panoramadisplay sah man Männer in meist dunklen Mänteln aufstehen und nach �
oben oder zum Portal schauen. Einige trugen Kapuzen, einige Schwerter. David konnte nur wenige Frauen und Kinder erkennen. Die Mikrokamera im Kristall des Spähers übertrug jetzt scharfe und vor allem ruhige Bilder. Offenbar musste er sich nicht mehr gegen Angriffe des bunt gefiederten Vogels wehren. »Peterson an Gefechtsstand – wo bleibt die Meldung, Captain Amer?« »Fünfzig Meter, vierzig …« »Gefechtsstand bereit!« Verzögert und ziemlich knapp kam es aus dem Bordfunk. Es war kalt geworden zwischen David Peterson und Eddy Amer; eisig kalt. David hatte mehr als nur eine dunkle Ahnung, was mit Amer los war. »Fünfzehn Meter, zehn Meter …« Das Holzportal und das Gemäuer des Rundbaus füllten jetzt den größten Teil des Panoramadisplays aus. David warf einen Blick auf Barbaras Kontrollinstrumente: vierundzwanzig Stundenkilometer, gut so. »Wir brechen durch! Festhalten!« Der EWAT-Bug rammte das Portal und die dahinter geparkten Karren. Ein Ruck ging durch den Tank. Holzbohlen splitterten, Käfige wurden von den Wagen geschleudert. Bretter, Metallstreben und Scharniere flogen und wirbelten in erhöhte Sitzränge und eine Art Arena hinein. Vögel kreischten und flatterten auf, Langhaarrinder brüllten und stampften durch die Rundhalle. Etwa hundertachtzig Menschen schrien, flohen aus dem Eingangsbereich und drängten sich auf den Rängen zusammen. Der EWAT stand still. Geschafft. »Seid ihr alle okay?« Nacheinander kamen die Meldungen über den Bordfunk.
Auf dem Panoramadisplay sah David den Kolk auf einem reglosen, bunten und blutenden Gefiederhaufen sitzen. Er hatte seinen Gegner, einen wesentlich größeren Hahn, getötet und beäugte nun mit geneigtem Schädel den Eindringling. Auf dem Monitor darunter sah David zersplitterte Karren und Käfige – und die Bugspitze samt Frontkuppel seines eigenen Fahrzeugs. »Wir kommen in Frieden!« Plötzlich hallte die Stimme der Bloom durch die Halle. Der Außenlautsprecher verstärkte sie zur Stimme einer geisterhaften Riesin. »Habt keine Angst, wir wollen euch nicht schaden!« Die ängstlich aneinander gekauerten Menschen auf den Rängen blickten nach oben zur Dachlücke. Dort war ein Ausschnitt des Bugsegments von Ark I zu sehen. Die Maschine schwebte nur Zentimeter über dem Dach. »Wer spricht für euch?« Emma Bloom wechselte ständig die Sprachen und Dialekte. »Wer ist euer Häuptling? Wer führt euch an? Habt ihr einen König?« Viele Menschen klammerten sich aneinander. Noch immer hörte man Schreie. David sah entsetzte Gesichter, einige Männer schienen zu zittern, andere knieten vor den Sitzen und bargen ihre Gesichter zwischen den Schenkeln und unter den Armen. »Wir kommen in Frieden! Wir schaden euch nicht!« Das zerstörte Portal, die zersplitterten Käfige und Karren sprachen eindeutig eine andere Sprache. Eve hatte für einen möglichst eindrucksvollen Auftritt plädiert und David hatte zugestimmt. Jetzt war er nicht mehr so sicher. Dort oben in Eves Tank schien man auch Zweifel zu haben. »Wir bringen Geschenke! Wir machen den Schaden gut …!«, dröhnte die schmerzhaft laute Stimme
der Bloom. Diesmal sprach sie Englisch. Der Kolk breitete die Schwingen aus, erhob sich und flog der Dachlücke entgegen. Längst hatte er seine Herren erkannt. Doch auf einmal war es, als prallte er gegen ein unsichtbares Hindernis. Er krähte heiser, sackte nach unten weg und landete auf dem Querholz einer der vielen Stangen, die rund um die Arena aufgestellt waren. »Er ist festgebunden«, sagte Courtney. »Seht ihr das? Eine Nylonschnur oder eine Sehne verbindet sein rechtes Bein mit der Stange.« Unten an der Stange sah David einen rostigen Metallring. Zwischen ihm und dem Sitzholz des Kolks schimmerte ein dünnes weißes Band im Scheinwerferlicht. Plötzlich erhob sich eine Männerstimme. Sie schrie etwas in einer Sprache, die David an das historische Niederländisch erinnerte. Oder klang es nicht eher wie das historische Deutsch? Nach und nach sanken immer mehr Menschen in den Sitzrängen auf die Knie, einige warfen sich sogar auf den Bauch. Ein Mann in schwarzer Lederkutte stieg die Sitzterrassen herunter. Eine Lederkapuze verbarg seinen Schädel, David sah aber einen Bart und ein knochiges altes Gesicht. Der Mann stieg in die Arena, stolperte in ihre Mitte, blieb neben dem toten Hahn stehen und breitete die Arme zum Dach hin aus. »Willkommen, ihr Boten Wudans!«, rief er in gebrochenem Englisch. »Euer Diener Jaschoro heißt euch willkommen …!« Davids EWAT hatte sich aus dem zertrümmerten Eingang zurückgezogen. Fünfzig Schritte davor stand er
jetzt. Seine Frontscheinwerfer tauchten Holztrümmer, Mauerwerk und eine in schwarzes Leder gehüllte Gestalt in gleißendes Licht. Der Greis kniete im Torrahmen zwischen den Trümmern und barg sein Gesicht in den Armen. »Commander an Ark II«, sagte Eve. »Schalt die Scheinwerfer aus, David. Der Mann ist völlig verstört, ihr müsst ihn nicht auch noch blenden.« Spencer Dewlitt setzte Ark I neben Petersons Maschine auf. Mit Togo und Emma kletterte Eve aus der Bugluke. Den Schwarzen hatte sie für diesen Einsatz ausgesucht, um bei den Barbaren den Eindruck des Fremdartigen noch zu verstärken. Außerdem schien es ihr an der Zeit, ihm eine besondere Aufgabe zu geben. »Deaktiviere die Sichtblende deines Helms, Ari«, sagte sie. »Und dann hole ein paar Geschenke. Vielleicht eine Säge und zwei Hämmer; so was in der Art. Das werden sie brauchen, wenn wir weg sind.« Togos schwarzer Helm entfärbte sich, sein dunkles Gesicht und seine weißen Zähne wurden sichtbar. Misstrauisch spähte er zu dem knienden Greis im Eingangsbereich der Ruine. Der blickte auf, weil Ark II den Scheinwerfer ausschaltete, und Eve merkte, wie der Sprecher der Barbaren auf den Knien rückwärts rutschte, als er Togo sah. Der schwarze Waffeningenieur wandte sich zum Hecksegment von Ark I. Die Geschenke waren in den septischen Außenstauräumen untergebracht. Seite an Seite gingen Eve und die Linguistin auf den Greis zu. Er war der einzige Barbar, der sich aus dem Rundbau hinaus zu den vermeintlichen Göttern gewagt hatte. Zuerst senkte er den Kopf, dann warf er sich flach auf den Boden.
»Steh auf, Jaschoro!«, rief die Linguistin. Der Alte hob den Schädel. Seine Augen waren eigentümlich hell. Neugier und Angst zugleich spiegelten sich in seinem zerfurchten, eingefallenen Gesicht. »Wir fordern nur eines von dir!« Emma Bloom deutete zum zerstörten Portal. »Den Kolk! Wer von euch hat ihn gefunden? Er ist Wudans Eigentum!« Der Greis stand auf und machte ein ungläubiges Gesicht. Sein Blick flog zwischen der Linguistin und Togo hin und her. »Der Kolk!«, wiederholte Emma. »Der schwarze Vogel! Der Rabe! Er gehört Wudan!« Togo schleppte eine Kunststoffkiste herbei, knallte sie auf den Boden und klappte den Deckel auf. Der Greis beugte sich vor und starrte den Inhalt an: eine Säge, drei Hämmer, ein paar Messer und eine Menge Nägel. »Das sei Wudans Finderlohn!«, rief Emma Bloom. Der Mann wandte sich ab, wankte zum Eingang und rief ein paar Worte in unverständlicher Sprache in den Rundbau hinein. Als niemand reagierte, kletterte er über die Trümmer hinweg und verschwand im Inneren. »Was ist das für eine Sprache?«, wollte Eve wissen. »Ein Kauderwelsch aus dem Flämischen und dem Niederländischen«, erklärte Emma. »Zumindest versteht der Alte unser Englisch. Er spricht sogar ein paar Brocken, wie du gehört hast. Möglicherweise ist er weit herum gekommen.« »Und? Wie fühlt ihr euch als Götter?«, witzelte Togo. »Nur eine Spur von so viel Frömmigkeit stünde den verdammten Socks gut, was?« Er wirkte alles andere als erheitert. »Wir lassen sie in dem Glauben«, sagte Eve. »Vielleicht breitet sich unser Ruf aus.«
»Gute Idee, Commander«, kicherte Togo. »Kann nichts schaden, wenn sie uns jenseits des Rheins für Götter halten.« »Befehle ihnen, die Geschenke erst anzurühren, wenn wir wieder eingestiegen sind«, wandte Eve sich an die Linguistin. »Ich bin nicht sicher, ob der Stoff unserer Schutzanzüge dem Sägeblatt standhält.« Sie mussten ein paar Minuten warten, bis der Greis zurückkam. Am Mantelärmel zerrte er einen noch jungen Mann hinter sich her. Der hatte blondes Haar, einen blonden Bart und trug ein kurzes Schwert am Gurt. Um den ledernen Armschutz seiner Rechten hatte er eine Tiersehne gewickelt, und auf dem Lederschutz hockte der Kolk. Die Sehne war mit einer Schlinge an dessen rechtem Bein fixiert. Eve entdeckte den Kristall in seinem Brustgefieder sofort: eine leicht konvexe, daumennagelgroße Scheibe von graublauer Färbung. Nur die Communities London und Salisbury verwendeten Kolks als Späher. Nur sie bauten solche Multifunktionskristalle! Die Kommandantin erschauerte. Vor der Kiste mit den Geschenken stieß der Alte den Burschen zu Boden. Der wagte nicht den Blick zu heben. »Schau mich an, du Glücklicher«, verlangte Emma. Der Greis übersetzte, der Mann gehorchte zögernd. Seine hellblauen Augen waren voller Angst. »Wo hast du Wudans Vogel gefunden?« Erschrocken starrte er den Greis an, nachdem der gedolmetscht hatte. Der Alte nickte. Stockend begann der Jüngere zu erzählen. Sein Häuptling – oder war es sein Schamane? – übersetzte seinen Bericht. Er habe den Kolk von seinem Fischerboot aus von der Küste her über das Meer fliegen sehen, verfolgt von
einem Greifenvogel. Den Greif habe er mit Pfeilen getötet, jedoch erst, nachdem dieser den Kolk angegriffen und verletzt hatte. Danach habe er den flugunfähigen Rabenvogel aus dem Wasser geborgen, gesund gepflegt und als Kampfvogel benutzt. Recht erfolgreich, wie es aussah. »Frag ihn, wie lange das her ist«, raunte Eve der Linguistin zu. »Wann war das?«, fragte Emma den Mann. »Vor zwei Wintern«, übersetzte der Greis die Antwort des Knienden. »In Ordnung.« Die Auskunft überraschte Eve nicht. »Bringen wir's zu Ende.« »Gib uns den Vogel, damit wir ihn Wudan zurückbringen«, forderte die Linguistin. »Das sei dein Lohn.« Sie deutete auf die Werkzeuge. »Doch nimm ihn erst an dich, wenn wir wieder in unsere Himmelswagen gestiegen sind. Hast du verstanden?« Der Mann nickte hastig, wagte aber nicht sich zu rühren. Also trat der Greis neben ihn und löste die Schlinge am Bein des Spähers. Der Vogel krähte, breitete die Schwingen aus und erhob sich in die Luft. Er drehte ein paar Runden über den EWATs und ließ sich schließlich auf der Frontkuppel von Ark I nieder. »Dafür wird Wudan euch segnen!« In einer theatralischen Geste hob Emma beide Arme. »Genug jetzt«, sagte Eve über Helmfunk. »Ziehen wir uns in das Fahrzeug zurück.« Sie war erleichtert – so einfach hatte sie sich die Sache nicht vorgestellt. Vor der offenen Schleusenluke streckte sie den Arm aus. »Her mit dir, Kolk!« Der Vogel flatterte auf und ließ sich auf ihrem Arm nieder. »Wohin warst du unterwegs?
Wer hat dich losgeschickt? Commander Nash?« Der Späher stieß ein heiseres Krächzen aus. Sie untersuchte den Kristall. Schmutzig und zerkratzt sah er aus. Jemand hatte versucht, ihn aus dem Gefieder zu lösen. Wahrscheinlich hatte der Vogel sich dagegen gewehrt. Eve hatte sich schon so etwas gedacht, denn ein unbeschädigtes Gerät hätte nicht nur Bilder sondern auch Töne geliefert. Sie brachte den Vogel zum Hecksegment und öffnete eine der Späherboxen. Der Kolk begrüßte die beiden Späher darin mit Geflatter und aufgeregtem Krächzen. »Hoffen wir, dass die Daten unbeschädigt sind.« Eve setzte den Vogel in die Box und verschloss sie. »Falls er überhaupt Daten enthält.« Sie stapfte zurück zum Bugsegment. Togo und Emma hatten schon die Innenschleuse verlassen. An dem zerstörten Portal versammelten sich Dutzende von Barbaren. Schweigend starrten sie zu ihr herüber. Sie winkte ihnen zu und stieg ein. »Peterson an Commander«, meldete Davids Stimme sich über Helmfunk. Eve lächelte. »Ist es ein Vogel aus Nashs Bestand?« »Gut möglich. Sein Besitzer hat ihn zu einer Zeit gefunden, als Nashs Expedition in der Gegend gewesen sein muss.« Die Innenschleuse öffnete sich, und sie löste den Verschluss ihres Helmes. »Lasst uns ein paar Kilometer Richtung Rhein fliegen und den Kristall auf Daten untersuchen …«
Kapitel 12 Spurlos � Aus den Johanna-Dateien � 23.12.2011 Eine schreckliche Woche liegt hinter mir. Mary-Lou ist psychisch zusammengebrochen. Ich habe sie zu mir ins Haus geholt. Aber der Reihe nach. Statt am vergangenen Samstag Hochzeit zu feiern, fuhr ich mit Mary-Lou und den Nashs in die Pread Street, wo eine kleine Armee-Einheit das St. Mary's Hospital bewacht, eine der letzten beiden Kliniken in London, in denen noch ein paar Ärzte und Schwestern Dienst tun. Wir schilderten dem Kommandeur, einem gewissen Colonel Yoshiro, unsere Situation. Mit unserem Schmuck und einer schwindelerregenden Summe Bargeld konnten wir den Offizier dazu bewegen, uns mit zwei Schützenpanzern Geleitschutz zu geben. Raub, Mord und Vergewaltigung sind seit einer Woche wieder an der Tagesordnung in London. Eskortiert von den beiden Panzern fuhren wir von Polizeistation zu Polizeistation, von Untersuchungsgefängnis zu Untersuchungsgefängnis. Die meisten Polizeiposten sind längst nicht mehr besetzt, und nur in zwei Untersuchungsgefängnissen gibt es noch Personal und Inhaftierte. In keinem von beiden war der Name Pete Nash bekannt.
Im Hauptquartier von Scottland Yard arbeiten nicht einmal mehr zwanzig Beamte. Wenigstens fanden wir dort heraus, was Pete vorgeworfen wurde: Ein Motorradhändler aus dem East End, dessen Laden geplündert wurde, hat ihn angezeigt. Zwei Augenzeugen wollen Pete unter den Plünderern erkannt haben. Ein Beamter des Yard, ein Inspektor Brown, zeigte uns die Protokolle ihrer Aussagen. Sie waren von einem Ehepaar namens Ramshaw unterzeichnet. Die Personenbeschreibung, die sie zu Protokoll gaben, passte tatsächlich auf Pete. Sogar seinen Namen wollten sie gehört haben. Mary-Lou protestierte: Den Nachmittag vor vier Wochen, an dem diese Leute Pete vor dem eingeschlagenen Schaufenster des Motorradladens gesehen haben wollen, hat er mit ihr verbracht – bei ihrem Gynäkologen. Ob sie das beweisen könne, wollte der Inspektor wissen. Sie gab ihm Adresse und Telefonnummer des Arztes. Wenigstens versprach Brown herauszufinden, in welches Gefängnis man Pete gebracht hatte. Louis hat versprochen, sich um die Sache zu kümmern. 24.12.2011 Mary-Lous Frauenarzt ist vor zwei Wochen mit einer der letzten Maschinen nach Australien ausgeflogen. Seine Praxis wurde geplündert. Noch immer keine Nachricht von Pete. Heute Abend Anruf von Louis: Im Innenministerium wisse man nichts über den Fall, außerdem habe man andere Sorgen als das Einzelschicksal eines Studenten. Ich war zu müde, ihn darauf hinzuweisen, dass es um
das Schicksal des Vaters seiner Enkeltochter geht. Er verbringt fast jede Nacht im Ministerium. 25.12.2011 Was für ein trauriges Weihnachtsfest. Ich trinke Unmengen von Scotch und wünsche mir, der Komet käme noch heute – auf den Fußgängerbrücken der Tower Bridge würde ich ihn mit ausgebreiteten Armen empfangen. 2.1.2012 Endlich Neuigkeiten über Pete! Er ist angeblich in einem Gefängnis in Harlow aufgetaucht. Niemand kann erklären, warum man ihn dorthin gebracht hat. Inspektor Brown von Scottland Yard hat versprochen, für seinen Rücktransport nach London zu sorgen. Mary-Lou blüht auf. Ich bin sehr erleichtert. Wie merkwürdig – in einem Monat geht die Welt unter, und wir sorgen uns um bedeutungslose Schwierigkeiten und belanglose Glücksfälle unserer lächerlichen Existenz; gerade so, als würden wir ewig leben. 8.1.2012 Der Komet soll in den asiatischen Steppen Russlands einschlagen, so die neuesten Berechnungen der NATO. Möglicherweise wird er beim Eintritt in die Erdatmosphäre oder durch den geplanten Raketenbeschuss zerbrechen und Trümmerstücke in den Atlantik einschlagen. Die Folge: Eine mehr als hundert Meter hohe Flutwelle wird die britischen Inseln überspülen und bis weit ins Festland hineinrollen. 11.1.2012
Die Polizei von Harlow will Pete erst an dem Tag zurück nach London bringen, an dem der Prozess gegen ihn beginnt! Lächerlich! Absurd! Als ob es noch Staatsanwälte und Richter gäbe, die angesichts des Kometen Gerichtsverhandlungen führen wollten! Ich habe im Innenministerium angerufen und so lange auf Louis eingeredet, bis er versprach, persönlich mit Harlow zu sprechen. 13.1.2012 Seit fünf Tagen verstopfen wieder Autokolonnen die Ausfallstraßen der Stadt; seit sich die Neuigkeit herumgesprochen hat, dass man den Kometen mit Atomraketen beschießen will und mit seinem Auseinanderbrechen und dem Einschlag von Trümmerstücken im Atlantik gerechnet werden muss. Zu Hunderttausenden fliehen die Menschen in die Gebirgszüge Zentral-Englands und Wales' und ins schottische Hochland. Auf den Bergen glauben sie vor Flutwellen sicher zu sein. Dabei findet man dort kaum noch einen Zeltplatz. Angeblich leben zurzeit weniger als vierzigtausend Menschen in London! 14.1.2012 Den ganzen Tag versucht, Inspektor Brown zu erreichen, doch bei Scottland Yard meldete sich niemand mehr. Auch Louis im Innenministerium ist nicht zu erreichen. Mary-Lou magert mit jedem Tag mehr ab. Ich mache mir Sorgen um ihr Kind. 16.1.2012 Zusammen mit Mary-Lou und Petes Eltern nach Harlow gefahren. Colonel Yoshiro gewährte uns wieder
Geleitschutz. In Harlow erwartete uns ein Schock: Plünderer trugen Möbel aus dem aufgebrochenen Polizeipräsidium, nirgendwo mehr ein Beamter, auch das Gefängnis ist leer. Keine Spur von Pete. Mary-Lou schrie hysterisch, Mrs. Nash und ihr Mann setzten sich auf die Straße vor dem Gefängnistor und fielen in Apathie. Yoshiro – er hat sich als sympathischer Mann herausgestellt – versucht vergeblich zu trösten. Was jetzt? Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. 19.1.2012 Stuart nach Hause zurückgekehrt. Er hat Sarah Cox mitgebracht. Ihre Mutter ist stellvertretende Staatssekretärin, nach Louis' Logik stehen ihr und ihrer Familie also Bunkerplätze zu. Das junge Paar sieht abgerissen und müde aus. Als hätte es die letzten Wochen durchgetanzt und -gefeiert. Draußen verschanzen die Menschen sich in Bahnhöfen, U-BahnSchächten und Tiefgaragen. Jugendgangs terrorisieren die in der Stadt Verbliebenen. Letzte Armee- und Polizeieinheiten patrouillieren nur noch in Westminster und auch dort nur rund um die Regierungsgebäude. Vermutlich hat man den Männern einen Bunkerplatz versprochen. Die Gerüchte aus der Stadt lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Flüsternd berichtete Colonel Yoshiro – sein Schützenpanzer bewacht unser Haus – von Massakern und Gräueltaten in allen Stadtvierteln. Die Motorradgang, die sich »THE LORDS« nennt, tut sich dabei in grausamer Weise hervor; viele kleinere Banden haben sich ihnen angeschlossen. Verfluchtes Mordgesocks! In Soho, Spitalfield und im East End haben sie eine regelrechte Schreckensherrschaft
errichtet! Wir aber packen unsere Sachen. In einer Woche geht es los, in einer Woche werden wir uns wie die Maulwürfe unter der Erde verstecken. Dass ich dieses Spiel mitspiele … dass ich mich überhaupt noch im Spiegel anschauen kann … Wenn es ums nackte Überleben geht, sind wir Tiere, weiter nichts. Auch ich, natürlich auch ich …
Kapitel 13 Licht über Ruinen � Rheinmündung, Ende März 2516 Etwas stimmte nicht. Eve spürte es im selben Moment, als David, John Cox und Eddy Amer nacheinander ihren Kommandostand betraten. Knapp neunzig Kilometer nördlich von Köln waren sie unweit der Küste im Rheindelta auf einer Insel gelandet. Es war früher Abend. Davids EWAT hatte an Ark I angedockt. Doc Doubleman kam ihr merkwürdig ernst vor, David und Spencer Dewlitt tauschten verstohlene Blicke aus, während David und Captain Amer eine Wand aus Eis zu trennen schien. So nüchtern Eve nach außen auftreten konnte – Derartiges entging ihr nicht; nie. Sie nahm sich vor, David später darauf anzusprechen. Jetzt aber stand Wichtigeres auf der Tagesordnung. »Die gute Nachricht zuerst.« Sie tat erfreut, als würde sie die schlechte Stimmung der anderen nicht spüren. »Es ist ein Späher der Nash-Expedition.« Doc Doubleman schnalzte mit der Zunge, David ballte die Rechte und schnitt eine triumphierende Miene, Amer zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln. »McMalone hat sich um den Vogel gekümmert«. Eve setzte sich neben Dewlitt vor die Instrumentenkonsole. Auch Emma Bloom und Ruud Simon waren anwesend. »Der Vogel ist genauso lädiert wie sein MT-Kristall. Das ist die schlechte Nachricht.« MT stand für Multi-Transfer. »Den Kolk kriegen wir wieder hin, sein Kristall allerdings muss
ausgewechselt werden. Wenigstens konnten wir die Daten auf die Bordhelix überspielen. Ruud meint allerdings, der Datensatz sei beschädigt. Lassen wir uns überraschen.« Sie nickte dem Techniker zu, und Simon, der neben ihr stand, tippte ein paar Befehle in die Tastatur. »Die Daten des Nash-Spähers bitte«, sagte er. Auf dem Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays erschien eine Bestätigung des Befehls. »Wusstest du eigentlich, dass Commander Nash und ich entfernte Verwandte sind?« Eve drehte sich nach David um. Wie immer trug er die grauhaarige Perücke mit den vielen Zöpfchen. Zum ersten Mal kam sie ihr unpassend vor. »Ist nicht wahr …!« Warum erwiderte er ihr Lächeln nicht? Warum wirkte er so angespannt? »Weißt du das aus den Johanna-Akten?« Eve nickte. »Die Urgroßmutter meiner Urgroßmutter war die Schwiegermutter des Urgroßvaters seines Urgroßvaters. So ungefähr jedenfalls.« Cox wollte wissen, was es mit den Johanna-Dateien auf sich hatte. Während sich auf dem Monitor ein Bild aufbaute, erklärte es Eve ihm. Eine sonore Männerstimme unterbrach sie, Terry Nashs Stimme. Alle horchten auf. »Commander Terrence Nash in Scout VII mit einem weiteren Bericht.« Das Bild auf dem Monitor zeigte die topographische Karte einer bewaldeten Ruinenlandschaft. Etwas nördlich des einundfünfzigsten Breitengrades und etwas östlich des siebten Längengrades blinkte ein rotes Licht. »Standort: Einundfünfzig Grad und vierundzwanzig Minuten Nord, sieben Grad und achtzehn Minuten Ost, irgendwo im Osten
der Region, die man früher ›Ruhrgebiet‹ nannte.« Wortlos deutete Eve auf die Datums- und Zeitangabe auf der Fußleiste: 2514-12-07 13:56. »Wir haben uns ein paar Tage Zeit genommen, die Gegend zu erforschen. Hier, Ladies und Gentlemen, wie angekündigt unser zweiter Bericht…« Es folgten Karten mit Zahlenlisten – Entfernungsangaben und Kurskoordinaten zumeist – und teilweise kommentierte Bilder. Das Bildmaterial zeigte Luftaufnahmen des Rheins, ausgedehnte Herbstwälder und Ruinen zwischen Bäumen und auf Lichtungen. Nichts eigentlich, was man nicht auch zu sehen bekam, wenn man die Wälder zwischen Salisbury und London überflog oder Bilder aus den Mikrokameras der Späher auswertete, die aus Wales oder Schottland zurückkehrten. Hin und wieder stieg Rauch aus einem Barbarenlager oder einer bewohnten Ruine auf. Ein größerer Teil des Berichts beschäftigte sich mit den Bewohnern dieser postapokalyptischen Trümmerlandschaft. Ein Film – offensichtlich von der Außenkamera des EWATs aufgenommen – zeigte Commander Nash und Captain Kate Rattle in Schutzanzügen inmitten von Neobarbaren. Ein paar zerlumpte Gestalten, zumeist Frauen und Kinder, knieten in einigen Dutzend Metern Entfernung im Ufergras der Ruhr, verwegen aussehende Männer in schwarzen Fellmänteln und mit langem schwarzen Haupt- und Barthaar tanzten um Nash und Rattle herum, wobei sie die Geschenke der Expedition über den Köpfen schwenkten: Äxte, Messer, Schnüre, zu silbergrauen Bündeln gepackte Zeltplanen. »Scheint ja ein Spaziergang durchs Paradies gewesen
zu sein«, murmelte David. Wieder erklang Nashs Stimme. »Die Neobarbaren dieser Region sind uns gegenüber niemals aggressiv geworden. Davon sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen: Ihre Bewaffnung und ihre Erzählungen lassen den Schluss zu, dass es sich bei den meisten Stämmen um durchaus kriegerische Menschen handelt. Ihre ausgedehnten Ruinenwälder bezeichneten sie übrigens als Ruupod, die Gesamtheit ihrer Stämme als Ruurys. Unser Ethnologe schätzt ihre Population auf insgesamt drei- bis viertausend Köpfe. Sie zerfallen in unterschiedliche, teilweise heftig miteinander rivalisierende Horden und Clans, die sich Crevelts, Tysburks, Türks oder Poruzzen nennen …« Letztere waren nach Nashs Bericht der zahlenmäßig größte und wohl auch mächtigste Stamm. Da sie weiter nördlich siedelten, vor allem in den Ruinen des ehemaligen Dortmund, hatte die Expedition zu jenem Zeitpunkt noch keinen ihrer Vertreter zu Gesicht bekommen. Nash dokumentierte jedoch Aussagen des Häuptlings einer Jagdhorde der Tysburks, die seine Ethnologin übersetzte. Der Neobarbar schilderte jene Poruzzen als gefährliche Krieger und geschickte Jäger. Sein Bericht hörte sich ganz so an, als würde man in den Siedlungsgebieten der Poruzzen eine primitive Stufe der Eisenverarbeitung beherrschen und Waffenhandel bis zu den Inseln der ehemaligen Niederlande betreiben. Ab dieser Stelle klang Nashs Stimme zunehmend verzerrt und war bald gar nicht mehr zu verstehen. Die Bilder lösten sich auf, und teilweise blieb der Monitor dunkel. Die Bordhelix gab nur noch Bruchstücke des Berichts wieder und signalisierte eine Störung. »Ich ahnte es«, sagte Eve. »Die Daten sind beschädigt.«
Ruud Simon versuchte vergeblich, dem Datenträger weitere Geheimnisse zu entlocken. Er rief den Informatiker von Ark II, Niklas Dejong zu Hilfe. Gemeinsam gelang es ihnen, wenigstens einen Teil des Datensatzes zu rekonstruieren. Alle atmeten auf, als wieder scharfe Bilder über den Monitor flimmerten. Sie sahen Barbarengruppen, die Nashs EWAT hinterherwinkten, sie sahen ausgedehnte Wälder, Pfahlhütten an Flussläufen und Seen, Rauchsäulen über Ruinen, und so weiter. Eine der letzten Aufnahmen zeigte einen Lichtschein am Horizont. Obwohl es Tag war, leuchtete in den Ruinenwäldern etwas so hell, dass Eve an ein Feuer denken musste. Nashs Dokumentation ging nur mit ein paar Worten auf das Phänomen ein: »Die kleinen menschlichen Siedlungen in den Ruinen Dortmunds nennen die Tysburks Poruzzia. Aus der Ruinenstadt, so ihre Erzählungen, rage ein Tor, das, wie sie sagen, ›in Orguudoos finstere Tiefen führt‹. Riesige Mutanten würden den Eingang bewachen, und selbst die Portiken wagen sich nicht näher als bis auf fünf Speerwürfe heran …« Hier wurde der Datensatz wieder lückenhaft. Die im Cockpit von Ark I versammelten Offiziere und Wissenschaftler erfuhren immerhin noch, dass Nash das »Höllentor« anfunkte. Als er keine Antwort erhielt, schien er ein paar Meilen östlich daran vorbei in Richtung Norden gefahren zu sein. Sein Kommentar zu dieser Entscheidung: »Sie, die Octaviane von Salisbury und London, haben uns beauftragt, in Skandinavien nach Bunkerzivilisationen zu suchen, und nicht, ›Qrguudoos Dämonenreich‹ zu erforschen – was immer sich hinter diesem Barbarenmythos verstecken mag.« Das war zugleich der
letzte Satz seines Protokolls; der letzte lesbare Satz. Simon und Dejong fanden noch eine aktualisierte Karte der Ruinenwälder östlich des Rheins und nördlich des ehemaligen Düsseldorf. Der Rest der Daten war unwiderruflich verloren. »Versteh ich nicht.« Eve schüttelte den Kopf. »Warum ist er dem Phänomen nicht auf den Grund gegangen?« »Wir kennen die beschädigten Daten nicht«, sagte David. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Commander Nash am Ende nicht doch noch versucht hat, die Lichterscheinung unter die Lupe zu nehmen.« Eve sah ihn nachdenklich an. »Ich auch nicht.« Sie wandte sich an Ruud Simon. »Ist die Stelle in der Karte markiert?« Simon nickte und holte die Karte auf den Monitor. »Orguudoos Höllentor«, stand in Anführungszeichen neben einem Zeichen für interessante, aber noch unerforschte Ruinen. »Fahren wir hin«, sagte Eve. »Unser Job ist es, Dr. Cox und seine Mannschaft nach Leipzig zu bringen und acht Wissenschaftler aus Leipzig zurück in die Heimat zu holen«, gab David zu bedenken. »Meines Wissens sollen wir auf dem Weg nach Leipzig so viele Informationen über die Nash-Expedition sammeln wie möglich.« Zum ersten Mal meldete Eddy Amer sich zu Wort. Die Zöpfchen seiner schwarzen Perücke hingen ihm in die Stirn. »Ich bin also dafür, dieses bescheuerte Licht unter die Lupe zu nehmen.« Er sah seinen Kommandanten nicht an, während er das sagte. Überhaupt glaubte Eve bemerkt zu haben, dass die beiden Männer die ganze Zeit keinen Blickkontakt aufgenommen hatten. »Ich stimme Captain Amer zu, Major Peterson.« Eve
lächelte ihren Geliebten und Untergebenen an. »Wir fahren morgen also nach – wie heißt das gleich?« Sie drehte sich zu dem Monitor mit der Karte um. »Nach Poruzzia.« Am nächsten Vormittag nahm Eve den Geographen Crosby an Bord ihres Flaggpanzers und startete zu einem Erkundungsflug über das Rheindelta. Sie wollte Nashs Kartenmaterial dieser Gegend mit ihren eigenen Messungen abgleichen. Das Mündungsgebiet des Stromes war noch lange nicht vollständig erfasst. Vor einem halben Jahrtausend mündete der Rhein noch hundertvierzig Kilometer weiter nordwestlich ins Meer. Seit dem Kometeneinschlag bedeckte die Nordsee den größten Teil der ehemaligen Niederlande und brandete knapp fünfzig Kilometer nördlich von Duisburg an einen neuen Strand. Drei Stunden benötigten sie und Abe Crosby für die kartographische Arbeit. Gegen Mittag ließen beide EWATs die Rheinmündung hinter sich und flogen dreißig Fuß über den Wellen flussabwärts. Weder die Ortungsgeräte noch ihre bloßen Augen entdeckten etwas, das sie nicht schon aus Nashs Protokollen kannten: ausgedehnte Wälder an beiden Ufern, meist dichter Baumbestand auch dort, wo bemooste Stahlskelette, überwucherte Schornsteine oder Gebäudefassaden zwischen den Kronen des Uferwaldes in den Himmel ragten, und immer wieder Brückenruinen. Togo, McMalone und Dewlitt tauschten Erfahrungen aus, die sie auf unterschiedlichen Inselexpeditionen gemacht hatten, der Schwarze gab seine üblichen Scherze zum Besten, und der sonst eher wortkarge Dewlitt ließ
sich hinreißen, den Boxkampf zwischen David Peterson und Eddy Amer zu schildern. Von den Wissenschaftlern hörte man wenig; sie hatten sich ins Labor oder in die Schlafkojen zurückgezogen. Eve selbst sprach nur das Allernötigste. Mit ausdrucksloser Miene saß sie neben Spencer Dewlitt und beobachtete Instrumente, Ortungsmonitore und Panoramadisplay. Hin und wieder, wenn Mac oder Spencer Dewlitt sie ansprachen, zwang sie sich zu einem höflichen Lächeln. Niemandem fiel ihre gedrückte Stimmung auf. Ja, sie war schlecht gelaunt, wütend sogar. Statt mit ihr, hatte David sich am Abend zuvor mit Spencer Dewlitt ins Hecksegment von Ark II zurückgezogen; auf eine Partie Schach angeblich. Kaum drei persönliche Sätze hatten sie nach der Auswertung der Nashdaten wechseln können; und bevor David mit Dewlitt hinüber in sein EWAT gegangen war, hatte er weiter nichts als einen flüchtigen Kuss für sie übrig gehabt. Warum bei allen Kometen der Milchstraße entzog er sich ihr? Sie hätte heulen mögen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die hereinkommenden Daten, gab die nötigen Anweisungen und lächelte, wenn Lächeln angesagt war. Sie musste ihn unter vier Augen sprechen, irgendwie und so bald wie möglich. Nach dreißig Kilometern etwa öffnete sich die Ruinenlandschaft am Ostufer. Flussarme mündeten dort in den Rhein, ein See breitete sich aus. Eve holte die aktualisierte Karte auf den Monitor. »Die Ruhrmündung«, sagte Spencer Dewlitt. »Und der ehemalige Hafen von Duisburg.« Eve ließ Kurs auf die Ruinen der Stadt nehmen. In sechzig Fuß
Höhe überquerten sie Brücken, Hafenbecken, Straßentrassen, Schiffswracks und teilweise gut erhaltene Hallen- und Fabrikruinen. Niemand sprach ein Wort in diesen Minuten, als sie in das ehemalige Ruhrgebiet eindrangen und unter sich nichts als Verfall und Verwüstung sahen. Eine Rauchsäule war die erste Spur menschlichen Lebens, die sie entdeckten. Sie stieg von einem Schiff auf, das neben einer Brücke vor Anker lag. Holzleitern führten von der Brücke auf eine Containerladung hinunter. Wie auf der Brücke wuchsen auch auf den Containern und entlang der Reling kleine Bäume und Büsche. Auf einer Plattform, die einst den Kommandostand des Frachters getragen hatte, hockten ein paar Gestalten in gefiederten Umhängen um ein Feuer. Kaum hatten sie die fliegenden Ungetüme bemerkt, sprangen sie auf, kletterten über Leitern aufs Deck hinunter und versteckten sich zwischen Büschen und Containern. Auch zwischen den Bäumen auf der Brücke waren Menschen, die sich in panischer Flucht in Sicherheit brachten. »Unser Ruf scheint eindeutig zu sein«, sagte Mac. »Soll ich mich jetzt darüber freuen?« »Warum sehe ich die verdammten Socks nie so rennen?«, tönte Togos weinerliche Stimme aus dem Bordfunk. »Möglicherweise behandeln wir sie zu human«, antwortete Spencer Dewlitt. Niemand antwortete ihm. Eve verfluchte ihn innerlich. Sie war eifersüchtig auf ihn. Bald stießen sie auf eine Autobahntrasse und folgten ihr nach Norden. Auf ihr zu landen und die Reise zu Boden fortzusetzen, verbot sich, weil unzählige größere
und kleinere Buschhügel sie bedeckten. Es war, als würde sich eine unendliche Kette von Gräbern nach Norden ziehen. Eve ließ die EWATs bis auf vierzig Fuß sinken. In dieser Höhe glitten sie lange Zeit über die zugewucherten Autowracks hinweg, bis eine weitere Trasse die alte Autobahn kreuzte. Eve verglich die aktuelle mit der antiken Karte. »Die A-42«, sagte sie schließlich. »Sie führt nach Poruzzia. Folgen wir ihr nach Osten.« Auch hier unzählige Autowracks unter Moos, Gras und Buschwerk. Die Lücken zwischen ihnen maßen kaum einmal dreihundert Meter; zu wenig, um die Kettenschuhe auszufahren. Nach dreißig Kilometern erreichten sie ein weiteres Trassenkreuz. Unterführungen und Brücken waren hier mit Baumstämmen verbarrikadiert, sodass sie wie Hallen oder große Garagen aussahen. Die Fahrzeuge davor und dahinter – meist Personen- und Lastentransporter – lagen weitgehend frei von Moos und Gestrüpp. Auf einigen entdeckten sie Holzverschläge, auf anderen Zeltplanen, auf wieder anderen Feuerstellen. Menschen kletterten aus den Gehäusen und Verschlagen. Statt Fellumhänge und Ledermäntel trugen einige der Neobarbaren dort unten ähnliche Federkleider wie die Wilden am alten Hafen. Statt jedoch zu fliehen wie diese, starrten sie zu ihnen hinauf. Manche winkten sogar. »Möglicherweise die berüchtigten Poruzzen«, mutmaßte Spencer Dewlitt. »Oder Neobarbaren, bei denen sich Nash als guter Gottvater eingeschmeichelt hat«, sagte Togo. »Ark II an Ark I.« Davids Stimme. »Die scheinen keine Angst zu haben. Sollen wir Kontakt aufnehmen?«
»Nein«, entschied Eve. Auf der alten Karte hatte sie eine Universität entdeckt. Eine Idee nahm Gestalt in ihrem Kopf an. »Wir folgen der Autobahntrasse, die nach Süden führt. Dort liegt eine Region, die in den antiken Karten als ›Bochum‹ bezeichnet wird.« Ein Begriff, der in ihren Ohren nicht weniger exotisch klang wie »Dortmund« oder »Poruzzia«. »Wenn Nashs Karten stimmen, gelangt man von dort aus am schnellsten ins Zentrum der Ruinen Poruzzias und zu jener Lichterscheinung.« David widersprach nicht. Die Kette von Autowracks riss jäh ab, jedenfalls auf der linken Trassenseite. Eve ließ die Kettenschuhe ausfahren, landen und auf dem Boden weiterfahren. Der Wald wurde für kurze Zeit dichter, doch bald schon ragten wieder Fassaden, Stahlskelette und Mauertürme aus den Bäumen. Eve legte ihren Köder aus. »Der alten Karte nach muss es in dieser Gegend eine nicht unbedeutende Universität gegeben haben.« Sie sagte das in den Bordfunk, hielt dabei aber die Sprechtaste gedrückt, die eine Verbindung mit Ark II herstellte. Zunächst reagierte niemand. Nach wenigen Kilometern stießen sie auf den Grund für den wrackfreien Trassenabschnitt: eine eingestürzte Brücke, vor der sich einst aus beiden Fahrtrichtungen die Fahrzeuge gestaut hatten. Für einen Augenblick ahnte Eve, welch panischer Schrecken die Menschen in den Tagen des Kometen geknechtet haben musste. Als sie über die Brücke schwebten, sah Eve im Westen den oberen Pol des roten Sonnenballs hinter einer Wolkenbank über dem Horizont schwimmen. Für Sekunden herrschte andächtige Stille im Kommandostand. Sie wechselten auf die rechte
Trassenseite. Der eingestürzten Brücke wegen versperrte hier kein Wrack ihren Weg. »Eine Universität?« Emma Bloom reagierte als Erste. »Stimmt. Nash erwähnt sie nicht. Seltsam.« »Vermutlich hat sie ihn nicht interessiert«, sagte Eve. »Ark II an Ark I«, meldete sich John Cox. »Commander Nash hatte nur zwei Wissenschaftler dabei. Die werden sich nicht durchgesetzt haben. Wir haben uns abgestimmt – uns würde die Ruine schon interessieren. Möglicherweise finden wir ja alte Datenbanken.« Das bezweifelte Eve, behielt es aber für sich. »Gut, Dr. Cox. Dann legen wir zwei oder drei Forschungstage für Sie und Ihr Team ein.« Sie wartete auf Einwände; es kamen keine. Die restlichen zwei Stunden bis zum Einbruch der Nacht suchten sie nach der Ruine der Universität. Sie fanden den großen und teilweise gut erhaltenen Komplex am Rand der Ruinenstadt. Zwischen einigen Schutthalden und zwei kastenartigen und vollkommen von Efeu eingehüllten Gebäuden landeten sie und dockten aneinander an. Eves Stolz ließ es nicht zu, an diesem Abend noch einmal auf David zuzugehen. Morgen erst würde sie ihn ansprechen. Morgen würde er ihr gehören. Insgeheim wartete sie dennoch darauf, dass er die Initiative ergriff. Er tat es nicht. Wunden Herzens versuchte sie ihrer Enttäuschung Herr zu werden. In den Johanna-Dateien fand sie schließlich Vergessen. Bis zum Morgengrauen versank sie in den Aufzeichnungen ihrer Urahnin. Am nächsten Morgen stiegen die Wissenschaftler in ihre
Schutzanzüge und verließen die EWATs. Sie teilten sich in zwei Gruppen. Eddy Amer und Spencer Dewlitt eskortierten die Londoner Gruppe um John Cox; Ari Togo und Stanley McMalone die Gruppe aus Salisbury unter Emma Bloom. Eve, allein auf Ark I zurückgeblieben, beobachtete sie auf dem Panoramadisplay. Angeführt von den bewaffneten Offizieren strebte jede Gruppe auf eine andere der riesigen Ruinen zu. Nacheinander verschwanden sie hinter Vorhängen aus Rankengewächsen. Auf Ark II saß Barbara Plant an ihren Ortungsgeräten. Laser, Infrarotsensor und Radar tasteten die Gebäude und ihre Umgebung ab. Courtney Rouwens hatte den Auftrag, mögliche Funksignale anzupeilen. Eve übergab die Kontrolle ihrer Ortungsinstrumente der Bordhelix und funkte David an. »Commander an Major Peterson. Wir sollten uns über ein paar Dinge verständigen. Ich schlage meinen Kommandostand als Treffpunkt vor.« Es dauerte ein paar Sekunden, bis er bestätigte. Zehn Minuten später meldete der Schleusenbutler seine Anwesenheit im Hecksegment, kurz darauf bückte er sich durch die Luke zu Segment II. »Hallo Eve.« Er umarmte sie und küsste sie auf die Wange. Danach sank er in den Navigatorensessel. Müde sah er aus. Statt seiner grauen Zopfperücke trug er ein blaues Tuch mit gelben Sternen auf dem Kopf. »Was ist los mit dir, David?« Eve kam sofort auf den Punkt. »Warum weichst du mir aus?« Er senkte den Blick, starrte die Instrumentenkonsole an. »Irgendwas stimmt nicht, ich spüre es doch.« Sie setzte sich in den Pilotensessel, drehte ihn, fixierte David. »Wir sollten es klären. Jetzt.«
Er hob den Kopf, sah sie eine Zeit lang schweigend an, und sagte schließlich: »Ich hab Schwierigkeiten mit Amer.« »Was für Schwierigkeiten?« »Disziplinarische. Er macht die Frauen an. Ich hab ihn zurechtgewiesen. Seitdem ist er rebellisch, will Befehle nicht verstanden haben oder kommt ihnen nur verzögert nach.« »Warum …« Eve schüttelte den Kopf, sie war verwirrt. »Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?« David zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Scham, vermutlich. Ich wollte allein damit klarkommen.« Sie stand auf, ging zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. »Das verstehe ich. Ich werde ihn mir trotzdem vorknöpfen. Ausgeschlossen, so ein Verhalten. Was ist nur in ihn gefahren? So was kann das ganze Unternehmen gefährden. Ich nehme ihn mir zur Brust.« »Bitte nicht, Sonne.« Er fasste ihre Hand und sah zu ihr hinauf. »Das würde meine Position gefährden. Er muss sich mir unterordnen.« Eve nickte langsam. Sie dachte an die Konkurrenz der beiden Männer im Boxring. Spencer Dewlitt hatte ihr davon erzählt. »Heute Abend habe ich mich zu einem Gespräch mit ihm verabredet. Danach sehen wir weiter.« »Also gut«, sagte Eve. »Versuche es. Aber wenn es nicht klappt, muss ich mich mit ihm beschäftigen.« Sie fühlte sich auf unerklärliche Weise erleichtert. Amer also. Nur Amer und sonst nichts … »Einverstanden.« Er zog sie zu sich hinunter auf seinen Schoß und küsste sie. »So machen wir's, meine Sonne …« Seine Küsse wurden leidenschaftlicher, bald fühlte sie seine Hände überall auf ihrer Haut. Die Sorgen und die
Unruhe der letzten zwei Tage lösten sich in Nichts auf. Wie hatte sie nur so misstrauisch sein können? Sie begann ihn aus seinen Kleidern zu schälen und versank in seinen Zärtlichkeiten. Alles war gut, so gut… Bochum, Anfang April 2516 In ein paar Räumen der Ruinen, unter dem Staub der Jahrhunderte und unter Pflanzenteppichen, fanden die beiden Forscherteams acht Dutzend antiker Computer und in moosbedeckten Schreibtischen massenhaft Datenträger. Doch Dejong und Simon konnten sich mühen, wie sie wollten – die Daten waren zerstört und ließen sich nicht wieder zu elektronischem Leben erwecken. Dafür stieß Emma Blooms Team in einem der Gebäude auf eine umfangreiche Bibliothek. Die meisten Bücher waren verrottet oder zerfielen zu Staub, wenn man sie aus den Regalen zog, etliche aber waren erstaunlich gut erhalten. Darunter Werke über Wissenschaftsgeschichte im Allgemeinen und die Geschichte der Mathematik im Besonderen. Paul DaCol war entzückt. Crosby fand ethnologische Arbeiten über afrikanische und südamerikanische Stämme und ihre Sprachen. Darauf nun waren Emma Bloom und John Cox scharf. Jedenfalls brach unter den Wissenschaftlern die Jäger- und Sammlerleidenschaft aus, sodass Eve ihnen fünf weitere Tage genehmigte, um nach wertvollen Büchern zu suchen, deren Inhalt abzufilmen und die umfangreichen Daten in die Bordhelix einzuspeisen. Eve und David trafen sich fast täglich im Hecksegment von Ark I. Meistens redeten sie nicht viel; die Liebe forderte jede Minute der knappen Zeit.
Gleich am zweiten Tag berichtete David von seinem Gespräch mit Eddy Amer. Die Zeichen standen auf Versöhnung: Der Captain hatte seinen Fehler eingesehen und sich bei den Frauen entschuldigt, so erzählte David. Eve atmete auf. Noch eine Sorge weniger. Nach einer Woche meldete John Cox den Abschluss der Arbeiten in den Ruinen. Am Morgen danach rief Eve die Offiziere im Kommandostand ihres Flagg-EWATs zusammen. Offiziell ging es um den weiteren Kurs und einen vorläufigen Zeitplan – eine Routinebesprechung. Inoffiziell wollte sie sich ein Bild von der Stimmung in Davids Team machen. David wirkte aufgeräumt, Barbara Plants und Courtney Rouwens Mienen erschienen ihr angespannter als nötig, fast sorgenvoll; und Eddy Amer hatte einen Bluterguss unter dem rechten Auge so gut geschminkt, dass Eve ihn erst beim Abschied bemerkte. Er sei bei der Wartung seines Geschützturms ausgerutscht und gegen einen Griffbügel gestürzt. Eve musterte ihn mit gerunzelter Stirn, doch niemand aus Amers Team zeigte sich befremdet und so akzeptierte sie die Antwort. David Peterson und seine Mannschaft gingen hinüber auf Ark II, die EWATs wurden entkoppelt, der Teleskoptunnel ins Hecksegment gefaltet und eingezogen. Danach ließ Eve die Gleitflügel ausfahren, die Magnetfelder aufbauen und die Maschinen starten. Nacheinander stiegen die Tanks auf eine Flughöhe von sechzig Fuß. Über die Ruinen, Schutthügel und Wälder der ehemaligen Ruhrstadt hinweg schwebten sie nach Osten. Bald erreichten sie eine Trasse, die in den antiken Karten als B1 gekennzeichnet war. Eine nichts sagende Abkürzung für Eve. Nicht einmal Emma Bloom, die
neben Linguistik auch die Geschichte der goldenen Zeiten vor »Christopher-Floyd« studiert hatte, konnte damit etwas anfangen. Fahrzeugwracks unter Gras- und Buschhügeln versperrten die Trasse über weite Strecken, sodass die EWATs den Flugmodus beibehalten mussten. Die Ruinen lichteten sich, die tote Stadt mit dem seltsamen Namen »Bochum« blieb hinter ihnen zurück. Wenn Eve der aktualisierten Karte glauben wollte, lag das Lichtphänomen nicht viel weiter als zwanzig Kilometer entfernt. Obwohl eine geschlossene Wolkendecke die Morgensonne verbarg, konnte sie am Horizont keine Spur des Scheins entdecken, den sie in Nashs Bildmaterial gesehen hatte. Dafür peilte die Infrarotortung schon nach wenigen Kilometern Wärmequellen an. »Menschen und Tiere«, meldete Barbara Plant von Ark II. »Es sind mehrere kleine Gruppen, die nächste kaum zwölfhundert Meter vor uns. Die Bordhelix müsste sie eigentlich schon visualisieren können.« Eve bestätigte Barbaras Beobachtungen – ihre Instrumente lieferten identische Messungen –, und Sekunden später hatte die Bordhelix die Daten der Ortung in gestochen scharfe Bilder umgerechnet und auf einen Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays projiziert: Am linken Trassenrand, neben den zugewucherten Wracks, führten zwei Männer ein Gespann pelziger Rinder nach Westen. Sie trugen diese weißgrauen Federumhänge, die Eve schon an der Ruhrmündung aufgefallen waren. Die beiden Langhaarrinder zogen einen Karren, und auf dem Karren hockten Frauen und Kinder mitten unter Fellbündeln, Kisten und überquellenden Körben.
Eve forderte Bilder der anderen von der Ortung erfassten Menschen. Nacheinander bekam die Crew im Kommandostand Gruppen von Neobarbaren zu sehen, die zu beiden Seiten der alten Trasse entlangmarschierten. Insgesamt erfasste die Ortung neun Sippen. Alle schienen es eilig zu haben, alle wollten nach Westen – also weg von Poruzzia –, und alle führten Rinderkarren oder Mammutheuschrecken mit sich, auf die sie ihre Kinder und ihr Hab und Gut geladen hatten. »Die Leute scheinen auf der Flucht zu sein«, meldete sich John Cox von Ark II. Niemand hatte eine bessere Erklärung. Die Ruinen rechts und links der Trasse waren inzwischen ausgedehnten Wäldern gewichen. Etwa zwölf Kilometer trennten die Expedition noch von ihrem Etappenziel. Als die EWATs sich der ersten BarbarenGruppe näherten, ließen deren Männer die Zügel der Rinder los und flohen seitlich der Trasse ins Unterholz. Schreiend sprangen die Frauen und Kinder vom Karren und rannten hinter ihnen her. Die Langhaarrinder blieben stehen und äugten stoisch zu den fliegenden Tanks herauf. Ähnliche Szenen wiederholten sich vier oder fünf Mal – die Neobarbaren die viergliedrigen sobald Riesenschlangen in der Luft sichteten, ließen sie ihre Tiere und ihr Hab und Gut im Stich und ergriffen die Flucht. Schließlich näherten sich die EWATs einer etwa zwanzigköpfigen Horde. Kinder, Frauen und Gepäck waren auf sieben jener Mammutheuschrecken verteilt, die von den Neobarbaren Frekkeuscher genannt wurden. Das wusste Eve von John Cox. Die Männer, bärtige
langhaarige Gesellen, trugen schwarze Ledermäntel und führten die Rieseninsekten an geflochtenen Zügeln. Sie erinnerten Eve an die Gestalten, mit denen Terry Nash sich hatte filmen lassen. Merkwürdigerweise zeigten sie nicht die Spur von Angst. Sie hielten ihre Tiere an, blickten ihnen entgegen, und als die EWATs über sie hinwegflogen, begannen sie zu winken. »Ark II an Ark I.« Davids Stimme meldete sich aus dem Funkmodul. »Guckt euch die Zeltplane auf dem zweiten und fünften Reitinsekt genau an!« Eve und McMalone blickten konzentriert auf das Panoramadisplay; schnell begriffen sie, was der Major meinte: Die zusammengerollten Zeltplanen waren aus silbergrauem Kunststoff. »Hey!«, rief Mac. »Die hatten mit Nash zu tun!« Statt ihren Weg fortzusetzen, machten einige Neobarbaren kehrt und liefen ein Stück in Flugrichtung der EWATs. »Vielleicht wäre es nicht schlecht, zu erfahren, wovor all diese Menschen fliehen.« Wieder Davids Stimme. »Ja«, erwiderte Eve. »Du hast Recht. Nehmen wir Kontakt mit ihnen auf.« Nach anderthalb Kilometern fanden sie eine ausreichende Lücke zwischen den wie Grabhügel aufgereihten Autowracks. Eve befahl die Landung und ließ die EWATs zusammenkoppeln. Cox und David kamen herüber. Während sie die Vorgehensweise diskutierten, versammelten sich sieben männliche Neobarbaren in meist schwarzen Fellmänteln etwa hundert Schritte entfernt. »Sie sind tatsächlich hinter uns hergelaufen«, sagte Cox. »Trauen sich nicht näher heran, scheinen mächtig
Respekt zu haben.« David deutete auf das Panoramadisplay. »Schaut nur, was uns dieser da präsentiert!« Sie beobachteten, wie einer der bärtigen Gesellen eine langstielige Axt über dem Kopf hochstemmte. Der Metallstiel war mit schwarzem Kunstleder überzogen, die mächtige Klinge aus Carbonitstahl. Eine Produktion der Community London. »Emma und David.« Eve wandte sich an die Wissenschaftlerin und ihren Geliebten. »Steigt aus und versucht euch mit ihnen zu verständigen. Wollen sie mitgehen, Doc? Mac und Spencer sollen euch eskortieren. Und nehmt ihnen was Brauchbares mit!« Während sich nach und nach ihre Frauen und Kinder bei den Schwarzmänteln einfanden, stiegen die drei Offiziere und die beiden leitenden Wissenschaftler in ihre Schutzanzüge. Fünfzehn Minuten später holte eine Außenkamera sie auf das Panoramadisplay. Allein im Kommandostand zurückgeblieben, beobachtete Eve, wie Spencer Dewlitt und McMalone die Außenboxen öffneten und Kunststoffkisten heraushievten. Sie packten Kochgeschirr aus Leichtmetall, Taue aus Nylon und verschiedene Werkzeuge aus. Von weitem jubelten die Neobarbaren. Einige trauten sich jetzt ein paar Schritte näher heran. Die Außentruppe belud sich mit den Geschenken und ging den Wilden entgegen. Hinter ihr scharrten Schritte, und Eve blickte über die Schulter zurück: Barbara Plant bückte sich in den Kommandostand hinein. »Ich muss mit dir reden. Allein.« Ihre steinerne Miene, ihre heisere Stimme und die Trauer in ihren Augen alarmierten Eve augenblicklich. Kerzengerade saß sie auf einmal in ihrem
Kommandosessel. Mit routiniertem Blick überprüfte sie die Kontrollinstrumente für den Bordfunk. Als sie sicher war, dass niemand mithören konnte, musterte sie die Freundin. »Was ist los, Barbara?« Ihr Herz schlug ihr auf einmal in der Kehle. »Ich halte das nicht mehr aus«, sagte Barbara leise. »Ich kann dich nicht länger belügen.« »Mich belügen?« Eve war fassungslos. »Schweigen kommt mir vor wie lügen.« Sie seufzte tief, als müsste sie Anlauf nehmen. »Selbstverständlich ist Amer weder ausgerutscht noch gegen einen Griffbügel gestürzt. Seine Platzwunde hat er unter seiner Perücke verborgen. Courtney hat sie ihm genäht.« »Nicht gestürzt …?« Eves Gehirn war wie leer gefegt. »Platzwunde …?« »Sie haben sich geschlagen.« »David und Amer?« Aus dem Funkmodul tönte Emmas Stimme. Sie sprach gerade die Neobarbaren an. Eve hörte es kaum. Barbara nickte. »Zwei Mal. Beim ersten Mal musste Davids Perücke dran glauben.« »Aber … warum …?« »Es ging um Courtney.« »Wie – ›es ging um Courtney‹?« Eve verstand nicht, sie war sogar weit davon entfernt, zu verstehen. »Hat Amer sie wieder belästigt? Musste David sie in Schutz nehmen?« Ihre eigene Stimme kam ihr wie die einer Fremden vor. Barbara sah sie an, biss sich auf die Unterlippe und nahm dann Eves Hand. Sie schluckte ein paar Mal, als wären die Worte scharfkantig und spitz, die ihr auf der Zunge lagen, als bereitete es ihr Schmerzen, sie
auszusprechen. »Nein, Eve«, sagte sie nur. Der Boden unter Eves Sohlen gab nach, sogar Wellen warf er; jedenfalls kam es ihr in diesen Sekunden so vor. Von sehr weit weg sagte Emmas Stimme in holprigem Deutsch: »Wir kommen in Frieden«, und Barbaras kantiges Gesicht verschwamm vor ihren Augen. »O Gott, Eve.« Barbara drückte ihre Hand und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du bist die Einzige in dieser Expedition, die es noch nicht weiß …«
Kapitel 14 Höllenfahrt I � Aus den Johanna-Dateien � 24.1.2012 Schlimme Nachricht: Die Eltern von Pete Nash sind in den Tod gegangen. Zyankali. 26.1.2012 Ich sitze an Lous Schreibtisch, trinke Scotch aus der Flasche und spreche diese Sätze in ein Diktiergerät. Louis wartet im Bunker unter den Hauses of Parliament auf uns, und unten auf der Straße warten zwei Armeefahrzeuge auf mich. Yoshiro, sein Adjutant und sein Fahrer. Ich höre sie schon hupen, doch im Moment bin ich zu schockiert, um auch nur einen Schritt gehen zu können. Immer wieder starre ich in das Adressbuch und traue meinen Augen nicht. Ich hatte meine Aufzeichnungen kopiert und suchte in Louis' Arbeitszimmer nach seiner Collegemappe, um die Datenträger und Papiere darin zu verstauen. Auf seinem Schreibtisch lag sein neues Diktiergerät. Da ich nicht damit rechnen kann, in den nächsten Tagen über einen PC zu verfügen, steckte ich es ein. Seine Mappe enthielt Kopien von Bunkerplänen – London und Salisbury – und einen dieser altmodischen Terminplaner, von denen Louis sich bis heute nicht trennen kann. Ich weiß nicht, warum ich ihn
herausnahm. Meine innere Stimme? Je mehr ich getrunken habe, desto deutlicher kann ich sie hören. Jedenfalls schlug ich den Planer bei einem Lesezeichen auf. Das stellte sich als Quittung über mehrere zehntausend Euro heraus – unterschrieben von einem gewissen George Ramshaw! Unter dem Datum des zwölften Dezember fand ich den Namen Ramshaw und eine Telefonnummer, unter dem Datum des vierten Januar den Namen Brown und eine Telefonnummer, die ich so oft wegen Pete angerufen habe, dass ich sie auswendig kenne: die Nummer von Inspektor Brown! Unter dem Datum des achten Januar war die Nummer des Polizeipräsidiums von Harlow notiert, drei Tage, bevor er mir versprach, dort anzurufen. Nur eine Fantasie? Stimuliert durch ein paar Indizien? Oder ein begründeter Verdacht? Louis, Louis, Louis! Solltest du wirklich ein solches Schwein sein? Solltest du wirklich deine Tochter und ihren Geliebten verraten haben? Dann bist du um keinen Deut besser als diese Motorradrocker, die in den Straßen Londons Jagd auf Frauen und Kinder machen. Gott im Himmel! Macht »Christopher-Floyd« denn lauter Lügner, Säufer und Verbrecher aus uns? Oder kehrt er nur nach außen, was sowieso und schon immer in unseren Herzen sein Unwesen trieb? Kein Sterbenswörtchen über meinen Verdacht MaryLou gegenüber! Ob ich das schaffe …? 7.2.2012 Mein Sohn ist tot. Mary-Lou ist weg. Meinen Mann will ich nie wieder sehen! Mein Leben hat der Komet schon zertrümmert, bevor er die Erde erreicht hat…
Ich hocke hier im Kassenraum einer Bankfiliale. Durch das eingeschlagene Schaufenster konnte ich mich hier hineinflüchten. Draußen fallen Schüsse, knallen Stiefelsohlen über den Asphalt Nur noch drei Straßenzüge trennen mich von unserem Haus – unserem ehemaligen Haus; ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde bis dorthin. Die LORDS sind hinter mir her. Möglicherweise spreche ich also in diesen Minuten – es ist 14:34 Uhr – zum letzten Mal in mein Diktaphon. Doch gerade dieser düsteren Möglichkeit wegen will ich berichten, was in den letzten Tagen geschah. Vielleicht gönnt das Schicksal mir ja noch eine Galgenfrist, und dann werde ich trauern. Jetzt aber will ich versuchen, mich auf die bloßen Fakten zu beschränken: Am 26. Januar brachte uns Colonel Yoshiro mit einem gepanzerten Militärfahrzeug nach Westminster. Kurz vor der Lambeth Bridge gerieten wir unter MG-Beschuss. Bewaffnete LORDS und rebellierende Armee-Einheiten hatten das Regierungsviertel zwischen Themse und Marsham Street einerseits und zwischen den VictoriaGärten und dem Verteidigungsministerium andererseits eingekreist. Sie griffen die Parlamentsgebäude an und schossen auf jeden, der sich den Häusern nähern wollte. Stuart und Sarah wurden getroffen. Stuart starb sofort und in meinen Armen, Sarah drei Tage später. Eine ganze Nacht lang kesselten Mitglieder der Motorradgang unser Fahrzeug ein, am Morgen schoss uns ein Helikopter den Weg frei. Wir fuhren ins St. Mary's Hospital, die drei letzten Chirurgen dort kämpften vergeblich um Sarahs Leben. Wir haben sie neben Stuart im Park der Klinik beerdigt. Über Handy und Funk standen Mary-Lou und Colonel
Yoshiro mit Louis und der Besatzung des Regierungsbunkers in Verbindung. Ich selbst lag die meiste Zeit betrunken in einem Klinikbett; der Colonel hatte drei Kartons Cognac im Panzer. Er und Mary-Lou erfuhren, dass einige Offiziere, denen man keinen Bunkerplatz zugeteilt hatte, geputscht hatten. Nun griffen diese Soldaten mit einem Panzerverband und einer großen Infanterieeinheit die Hauses of Parliament an, um sich und ihren Familien den Weg in den Bunker freizukämpfen. Die LORDS hatten sich mit ihnen verbündet. Zehn Tage währte der Krieg. Loyale Royal Air Force Piloten entschieden ihn schließlich: Mit Jagdflugzeugen zerstörten sie die gegnerischen Panzer und bombardierten die Stellungen der Infanteristen. Die LORDS flohen. So kam es, dass Mary-Lou und ich gestern doch noch den Bunkereingang erreichten. Yoshiro wich nicht mehr von meiner Seite. Ich glaube, er empfindet mehr für mich als nur Sympathie. Gemeinsam mit ihm und einigen anderen Regierungsmitgliedern samt ihrer Angehörigen betraten wir die Schleuse innerhalb des ehrwürdigen Parlamentsgemäuers. In der Menge entdeckte ich den Sicherheitsberater und seine Familie. Viola Heath tat, als sähe sie mich nicht. In kleinen Gruppen fuhren wir mit einem Lift über vierzig Meter in die Tiefe. Jemand berührte mich am Arm, ich drehte mich um und erkannte Frank Winter und Sandy McMillan. Stumm umarmten wir uns. In dem Moment, als die Aufzugtür sich hinter mir schloss und die Liftkabine sich in Bewegung setzte, fragte ich mich, ob ich mit diesem Lift je wieder in die
Gegenrichtung fahren würde, nach oben, und falls ja, wie es dann dort oben aussehen und ob ich meine Stadt überhaupt wiedererkennen würde. Und während diese Gedanken mich überfielen und erschreckten, kam ich mir vor wie eine Frau, die ein für alle Mal zur Hölle fährt. Ja, zur Hölle … Heute Morgen dann der Schock: Mary-Lou war verschwunden. In meinem Kulturbeutel fand ich einen kurzen Brief von ihr. Ich zitiere den Wortlaut: Liebe Mom. Pete hat mir eine Kurznachricht aufs Handy geschickt. Von Südfrankreich aus hat er sich bis in unseren Garten durchgeschlagen. Er glaubt, dass Dad hinter seiner Verhaftung und Verschleppung steckt, lieber will ich mit ihm sterben, statt ohne ihn zu leben. Lebe wohl. Ich liebe dich. Mary-Lou. Den Brief in der Hand stürmte ich in den Kabinettssaal, wo der Premierminister mit seinen Ministern und Staatssekretären tagte. Louis saß zwischen dem Innenminister und seiner Stellvertreterin, Wanda Cox. Vor der versammelten Regierung warf ich ihm vor, dass er seinen Schwiegersohn ans Messer geliefert hat, und mit ihm seine eigene Tochter. Ich ohrfeigte ihn vor den Augen aller. Danach verließ ich den Bunker und schlug mich bis zu dieser Filiale der Bank of England durch. Noch sechsundzwanzig Stunden, bis der Komet kommt. Ich werde alles daransetzen, um mit Mary-Lou, ihrem Ungeborenen und dessen Vater den Bunker vor dem Einschlag zu erreichen. Sie werden uns hineinlassen! Sie müssen uns hineinlassen!
Kapitel 15 Das Schloss � Östliches Ruhrgebiet, Mitte April 2516 »Fremde Krieger, grausame Krieger.« Emma übersetzte den Wortschwall des Rauschebarts. »Sie haben eine Waffe, die er ›Donnerrohr‹ nennt.« Der Neobarbar war groß und wog sicher zweihundertfünfzig Pfund. Er fuchtelte mit den Fäusten, während er Worte in einer harten Sprache ausspuckte. Schwer vorstellbar, dass so einer vor irgendetwas Angst haben sollte. David beneidete ihn um seine langen grauen Locken. »Sie seien sehr hässlich«, übersetzte Emma. »Niemand weiß, wo sie herkommen, niemand könne etwas ausrichten gegen sie. Er hält sie für Gesandte Orguudoos …« »Wie entkam er dann, wenn sie doch so grausam und unbesiegbar sind?« David konnte einen leichten Spott nicht unterdrücken. Emma übersetzte seine Frage. Der große Mann produzierte den nächsten Wortschwall und gestikulierte, als wolle er den Leibhaftigen persönlich beschreiben. »Er dankt Wudan, dass er und seine Sippe den fremden Heerscharen noch nicht in die Hände gefallen sind«, erklärte Emma. »Und er dankt Wudan, dass er noch keine dieser Bestien mit eigenen Augen sehen musste. Denn niemand bleibt am Leben, der ihnen begegnet …« »Und woher hat er dann seine Informationen?«, unterbrach David.
»Von einem Göttersprecher, dessen Horde sie abschlachteten, der selbst aber entkam, weil er sich in einen Baum verwandeln konnte.« Die Linguistin runzelte die Stirn und gab David mit einem strengen Blick zu verstehen, dass er jetzt weder grinsen noch sonst irgendwie seinen Unglauben zum Ausdruck bringen durfte. »Was ist das, ein ›Göttersprecher‹?« David verzog keine Miene. Er wusste, was sich einem Barbarenchef gegenüber gehörte. »So nennen sie ihre Schamanen«, erklärte Cox. »So, so.« David war erleichtert. Eine Schlächterei, wie sie unter Barbaren üblich ist, weiter nichts. Er hatte sich schon so etwas gedacht. »Frag ihn nach ›Orguudoos Tor‹.« Der Mantel des Kriegers war aus einem dichten kurzhaarigen Fell. Es schimmerte anthrazitfarben, glänzte vor Fett und machte einen warmen, wasserabweisenden Eindruck. Es war, als würde der Mann unter Emmas Frage die heben und zusammenzucken. Sein Schultern erschrockener Blick flog zwischen Emma, Cox und David hin und her. Schließlich gab er eine überraschend knappe Antwort und deutete dabei nach Nordosten und Südosten. »Wenn man dreißig Speerwürfe nach Sonnenaufgang weitergeht, zweigen zwei Pfade in diese Richtungen ab«, übersetzte Emma. »Auf ihnen, sagt er, gelangt man gefahrlos an Orguudoos Tor vorbei. Wenn man stur geradeaus sieht, würde man sogar dem Anblick des Höllenlichtes entgehen, das seine Türme ausstrahlen; und der Ungeheuer, die es bewachen.« »Türme?«, staunte Cox. »Es scheint eine Art Schloss zu sein.«
»Sehr aufschlussreich«, murmelte David. Er fixierte die glühenden Augen des Mannes. Der wich seinem Blick aus. »Frag ihn nach Nash und der Expedition.« Die Frage hob die Stimmung der gesamten Barbarengruppe. Ihre Mienen hellten sich auf, stolz zeigten sie ihre Äxte, Messer oder Gürtel. Wortreich schilderte der Anführer seine Begegnung mit der NashExpedition. »Er nennt ihn ›Wudans Krieger‹«, dolmetschte die Linguistin. »Scheinbar haben Nash und seine Mannschaft sich mehrere Tage mit dieser Sippe befasst. Danach konnten sie sich dank der Geschenke wohl sogar unter den Poruzzen behaupten. Nash und seine Diener seien in ihren Göttervogel gestiegen und Richtung Mitternacht gefahren, also nach Norden. Er wollte in eine Totenstadt, die man unter diesen Leuten hier ›Ambuur‹ nennt, und von dort in ein fernes Land am ›Nordmeer‹, wie das hierzulande heißt. Sieben Krieger dieses Mannes haben den EWAT auf Frekkeuschern bis an den Nordrand von Ruupod begleitet.« »Hamburg also.« David nickte langsam. »Hat der Commander sich also tatsächlich nicht weiter um das Lichtphänomen gekümmert.« Er blickte sich nach Spencer Dewlitt und Stanley McMalone um. Ihre aktivierten LP-Gewehre im Anschlag, standen sie etwas abseits. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er ihnen, mit der Bescherung der Barbaren zu beginnen. Wieder brandete lauter Jubel auf. Dewlitt und Mac schulterten ihre Waffen und bückten sich nach den Kisten mit den Geschenken. Der Häuptling rief vier junge Männer herbei, die schnappten sich die Kisten und schleppten sie davon. »Frag ihn bitte, von was für einem Tier dieses Fell
stammt.« David deutete auf den Mantel des Häuptlings. Emma übersetzte die Frage. Der Häuptling schien um einige Zentimeter zu wachsen, während er gestenreich und ausführlich antwortete. »Von einem Taratzenkönig«, übersetzte Emma. »Er hat ihn im Zweikampf mit der Axt erschlagen, die Nash ihm geschenkt hat. Auch die Mäntel seiner Leute sind vorwiegend aus dem Fell der mutierten Riesenratten. Aber er sei der Einzige, der einen König getötet habe.« »Respekt, Respekt.« David deutete eine Verbeugung an. Mit allerhand Segenswünschen nahmen die ungleichen Menschen Abschied voneinander. »Wie weit ist das, ein ›Speerwurf‹«, wollte McMalone auf dem Rückweg zu den Fahrzeugen wissen. »Bei den Socks etwa hundert Schritte«, antwortete Cox. »Muss ja ein wahres Horrorschloss sein«, sagte McMalone. »Vielleicht hat eine schottische Touristengruppe den Kometeneinschlag in Poruzzia überlebt«, kicherte Togos Stimme im Helmfunk. »Und danach wollten deine Vorfahren es sich halt ein bisschen wie zu Hause …« »Ist schon okay, Lieutenant Togo«, unterbrach ihn David. »Melden Sie sich bitte ordnungsgemäß, wenn Sie was zu sagen haben. Jedenfalls erfahren wir bei diesem angeblichen Schloss nichts Neues über die SkandinavienExpedition.« Er blickte in den Schleusensensor von Ark I. Von außen war das Schott durch eine zusätzliche Irisidentifikation gesichert. »Major Peterson. Lass uns rein.« Nacheinander identifizierten sich die anderen vier. »Peterson an Commander«, sprach David in den Helmfunk, während das Außenschott sich öffnete. »Was
hältst du von diesen Kriegsgerüchten, Eve? Ihr habt sicher mitgehört.« Keine Antwort. David runzelte die Stirn. »Eve? Hörst du nicht?« Wieder Schweigen. Ratlos sahen Cox und David einander an. Mac und Dewlitt runzelten die Stirn. »Peterson an Commander«, versuchte David es ein drittes Mal. »Bitte melden Sie sich!« »Lieutenant Togo an Major Peterson.« Die Stimme des Waffentechnikers räusperte sich aus dem Helmfunk. »Commander Carlyle hat sich zurückgezogen. Also … mit anderen Worten … sie möchte vorläufig nicht gestört werden. Und … ähm … sie hat mir das Kommando über Ark I übertragen. Jedenfalls so lange, bis Major McMalone wieder an Bord ist…« »Sie reagiert nicht.« Courtney Rouwens deutete auf das Funkmodul. Zum wievielten Mal hatte sie gerade versucht, die Kommandantin zu erreichen? »Was ist bloß los mit ihr?« Sie sprach so heiser und so leise, dass David sie kaum verstand. Der Major und John Cox waren auf Ark II zurückgekehrt. Über der Frontkuppel stieg bereits die Dämmerung in den Himmel. Niemand konnte sich einen Reim auf das Verhalten von Commander Carlyle machen, dennoch hatte David als ihr Stellvertreter die Crew angewiesen, die Kommandantin in Ruhe zu lassen. »Wenn sie sich ein Weilchen zurückzieht, wird sie ihren Grund dafür haben«, hatte er gesagt. Er war sicher, dass sie mithörte. »Ist jemandem etwas aufgefallen an ihr?« John Cox wirkte reichlich ratlos. »Ich meine – war sie irgendwie anders in den letzten Tagen? Ist sie möglicherweise krank geworden?« Der Chefwissenschaftler sah sich
unter den Anwesenden um. David schüttelte den Kopf, Courtney zuckte mit den Schultern, und Barbara starrte auf die Frontkuppel. Ein milchiger Fleck am Horizont hinter den Wolken verriet den Mondaufgang. »Nun, wenn sie krank wäre, hätte sie vermutlich jemanden eingeweiht. Dr. Muzawi oder Sie, Dr. Rouwens.« Cox schüttelte den Kopf. »Seltsam.« Drei Stunden waren inzwischen vergangen. Unsinnig, die Reise an diesem Abend noch fortzusetzen. Wohl ein Dutzend Mal hatten sie in den letzten zehn Minuten versucht, mit Eve Kontakt aufzunehmen. Sie blieb stumm. Eine dunkle Ahnung beschlich Major David Peterson. Etwas schwoll hinter seinem Brustbein, und je länger Eve schwieg, desto größer wurde dieses Etwas. Wie ein heißer Stein fühlte es sich an. Bei Einbruch der Nacht riss ihm der Geduldsfaden. »Peterson an Commander, die Vorschriften der Community Force sehen vor, dass der stellvertretende Kommandant die Einsatzleitung übernimmt, wenn der Kommandant, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr in der Lage ist, sein Kommando zum Wohle der Mannschaft und zum Nutzen des Einsatzzieles auszuüben. Ich glaube, das ungefähr ist der Wortlaut. Ich warte jetzt noch eine Stunde ab, Eve, wenn du danach noch immer schweigst, gehe ich davon aus, dass du dein Kommando nicht mehr …« »Commander an alle«, fuhr ihm Eves Stimme dazwischen. Sie klang, als wäre ihr ein Boxsandsack auf die Brust gefallen, so schwer, dass sie ihn nicht mehr abschütteln konnte. »Wir verbringen die Nacht hier auf der Trasse.« Jede Silbe betonte sie. »Ruhen Sie sich aus. Ich bin … ich bin im Moment noch angeschlagen und
brauche ein paar Stunden für mich. Major Peterson, erledigen Sie bis morgen früh Ihren Job als mein Stellvertreter. Danke. Gute Nacht.« Sie sahen sich an, niemand sagte etwas. Barbara stand auf, bückte sich in die Luke und verließ den Kommandostand. John Cox zuckte mit den Schultern, winkte linkisch und folgte ihr. David drückte die Sprechtaste des Funkmoduls. »Major Peterson an alle. Ihr habt gehört, was Commander Carlyle gesagt hat. Wir behalten den Wachplan der vergangenen Nächte bei. Achtet auf vorbeiziehende Barbaren. Ich möchte einen Bericht mit korrekten Zahlenangaben. Gute Nacht.« Die Bestätigungen folgten, die aus dem Geschützturmsegment zuletzt. David blieb ein paar Sekunden lang vor der Steuerkonsole stehen. Gedankenverloren blickte er in den Nachthimmel. Schließlich machte er kehrt, ließ sich neben Courtneys Navigatorensessel auf den Boden sinken, lehnte gegen den Lukenrahmen und atmete geräuschvoll durch. Courtney strich ihm über das blaue Kopftuch und tastete nach seiner Hand. »Meinst du … meinst du, sie weiß Bescheid?« Er schüttelte erst den Kopf, zuckte dann mit den Schultern und machte schließlich eine radose Geste. »Keine Ahnung … ich wüsste nicht, woher sie es erfahren haben könnte …« Sie schwiegen, jeder hing seinen Gedanken nach. Courtney streichelte seine Hand, sein Gesicht, er reagierte kaum. Eine halbe Stunde verstrich so; oder eine ganze? Irgendwann stand Courtney auf, ging nach vorn zur Steuerkonsole und nahm neben dem Pilotensitz vor den
Ortungsinstrumenten Platz. Die ersten drei Stunden der Nacht war sie mit Wachdienst an der Reihe. Dazu gehörte die regelmäßige Kontrolle der Ortungsinstrumente. Ein Ansammlung von Wärmequellen zog in unmittelbarer Nähe vorbei. Sie trug die Uhrzeit und die Zahl der Objekte in die Dokumentation ein. Die Bordhelix speicherte die Aufnahme; sie konnte jederzeit abgerufen werden. Ein Blick auf das Panoramadisplay: Der Lichtfleck des Mondes löste sich vom Horizont, er kam ihr heller vor als in anderen Nächten und viel größer. Dabei war erst Halbmond. Sie drehte sich nach David um. Den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen, lehnte er gegen die Luke. »Mach dir keine Sorgen, Liebster«, sagte Courtney zärtlich. »Geh ins Bett, ruh dich aus.« »Ich bleibe bei dir und warte auf dich«, antwortete er müde. Die Minuten verstrichen. Sie redeten nichts, sie mussten nichts reden. Courtney Rouwens hatte ein reines Gewissen. Wenn sie ihn nur lieben durfte, wäre sie bereit, die Kommandantin aus Salisbury als seine Nummer eins zu akzeptieren; bereit, seine »Nebenfrau« zu sein, wie die Socks das nannten. So war es auch, und genau mit diesen Worten hatte sie dem Major ihre Liebe gestanden. Und er hatte sie geküsst. Nein, ihr Gewissen war rein. Hinter sich hörte sie seinen Atem. Sie blickte auf die Uhr: Noch eine Stunde und vierzig Minuten Dienst. Sie sehnte sich nach seinen Armen. Der Lichtfleck, den der Mond in der Wolkendecke verursachte, hatte sich geteilt. Courtney neigte den Kopf auf die Schulter und betrachtete ungläubig das
Panoramadisplay. Der untere Teil des Lichtflecks blieb am Horizont kleben, während der Mond ein Stück in den Himmel gewandert war. Auch kam ihr der untere Teil wesentlich größer und heller vor. »Schau dir das an, David!« Sie stand auf, stützte sich auf die Konsole und beobachtete die beiden Lichter auf der Frontkuppel. »Siehst du, was ich sehe?« »Natürlich.« Er stand schon neben ihr. »Das könnte es sein.« Zwei Schritte, und er saß im Navigatorensessel. Keine Spur von Erschöpfung mehr. »Das ist es. Die Koordinaten stimmen überein. Das muss dieses bescheuerte Höllentor sein. Was sagt die Ortung?« »Nichts«, antwortete Courtney. »Nur Ruinen, sonst nichts.« »Das gibt's doch gar nicht.« Schon war David wieder bei ihr. Sie spürte sein Hitze, als er sich über sie und die Instrumente beugte. »Unglaublich! Da beherrscht jemand eine Tarntechnik, die raubt mir ja den Atem!« Er drückte die Sprechtaste am Funkmodul. »Ark II an Ark I, siehst du das Licht, Spence?« »O ja.« Der Pilot hatte drüben die erste Wache. »Aber ich kann nichts orten, nicht einmal eine Energiequelle. Hast du eine Erklärung?« »Da versteht jemand etwas von der Materie, würde ich sagen. Besser als wir, fürchte ich!« Die Luke schob sich auf, David fuhr herum. Amer bückte sich in den Kommandostand. Um seinen Mund spielte ein hämisches Feixen. Er ließ sich im Navigationsstand nieder. David unterbrach die Verbindung zum Flaggpanzer. »Ihre Wache beginnt erst in anderthalb Stunden, Captain«, sagte er kühl. »Kann nicht schlafen.« Amer hängte das rechte Bein
über die Armlehne. »Mach mir Sorgen um unsere Kommandantin.« Courtney wandte sich nicht einmal nach ihm um. Als ob Eddy Amer nicht anwesend wäre, versuchte sie die Lichtquelle anzupeilen. David aber musterte ihn aus schmalen Augen. »Commander Carlyle wird wissen, was sie tut.« »Angeschlagen …« Amer stieß ein böses Lachen aus. »Ist Commander Carlyle euch endlich auf die Schliche gekommen, oder was?« Spöttisch betonte er Eves Rang und Namen. Ein Ruck ging durch Davids Körper. Plötzlich war ihm, als würde ihm eine Binde von den Augen rutschen. »Du also …!«, zischte er. »Du hast es ihr verraten!« Schon war er bei ihm, packte ihn am Brustteil seines Kombis, riss ihn aus dem Stuhl. »Dafür erschieße ich dich …!« Courtney umklammerte ihn von hinten und riss ihn zurück. »Ich habe es ihr gesagt.« Barbara Plant bückte sich durch die Luke. »Ich war es, Major Peterson.« David starrte die junge Frau an. Wie aus dem Nichts stand sie auf einmal vor ihm. »Warum?!« Er machte sich von Courtney los, fasste die Pilotin an den Schultern und schüttelte sie. »Warum bloß, Captain Plant?! Das gefährdet die gesamte Expedition.« Vergeblich versuchte Barbara ihn loszuwerden. Wieder musste Courtney dazwischengehen. »Warum?« Barbara strich ihren Overall glatt. »Weil ich diese verlogene Atmosphäre nicht mehr ertragen habe. Wussten Sie nicht, dass Eve meine Freundin ist?« David faltete die Hände über dem Hinterkopf und stöhnte. Er wandte sich ab, ging zur Steuerkonsole und
ließ sich in den Pilotensessel sinken. Leise fluchte er in sich hinein. Courtney starrte seinen Rücken an; sie merkte kaum, wie sie ihre Unterlippe zerbiss. Barbara lehnte gegen den Lukenrahmen, und Eddy Amer fiel zurück in den Navigatorenstuhl. Halblaut feixte er vor sich hin, sein Gesicht die Grimasse eines Wahnsinnigen. »Commander an Major Peterson«, tönte plötzlich eine harte, spröde Stimme aus dem Funkmodul. Sogar Amer zuckte zusammen. Davids Hände umklammerten die Armlehnen, als wollte er sich aufstützen. »Kommen Sie ins Hecksegment von Ark I. Ich habe mit Ihnen zu reden.« Sie starrte auf den kleinen Monitor neben der Schleusenluke: Der schmale und kurze Innenraum des Teleskoptunnels war darauf zu sehen, und an dessen Ende ein Ausschnitt der samtenen, dunkelgrünen Außenhaut von Ark II. Jetzt schob die Luke sich auf, und jetzt trat er aus der Schleuse in den Gang … Eve wandte sich ab, machte zwei hastige Schritte nach rechts, ließ sich auf dem Hocker neben dem Waschbecken nieder. Sie hörte die Stimme des Schleusenbutlers, dann seine Stimme. Nein, nicht sitzen; nicht noch höher zu ihm hinaufblicken müssen. Sie stand wieder auf, verschränkte die Arme vor der Brust, atmete tief. Jetzt ging die Luke auf. Und dann stand er da, groß und gerade, und ein Gesicht wie aus weißem Kunstglas. Hinter ihm schloss sich die Innenluke. »Ist es wahr?« Sie bemühte sich um eine feste Stimme. »Was?« Er hielt ihrem Blick stand. »Dass Lieutenant Courtney Rouwens deine Geliebte ist.«
Er schluckte. »Ja.« »Seit wann?« »Seit Mitte letzten Monats, seit vier Wochen.« »Warum hast du mir etwas vorgemacht?« »Ich … ich war durcheinander …« David kam zu ihr, lehnte sich ihr gegenüber an einen der Gefrierschränke. »Meine Gefühle … ich war mir nicht im Klaren darüber. Außerdem wollte ich die Expedition nicht aufs Spiel setzen.« Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ja, vor allem das. Nach der Expedition, da wollte ich reinen Tisch machen …« »Reinen Tisch«, wiederholte sie bedrohlich leise. Dann stieß sie einen bitteren Seufzer aus, halb Gelächter, halb Schmerz. »Warum, David, warum …?« »Ich … sie sagte, sie liebt mich, und … es kam über uns, wir … wir wussten selbst nicht, was mit uns …« »Liebst du sie?« Wie ein Wurfgeschoss schleuderte sie ihm die Frage ins Gesicht. Er sah ihr in die Augen, seine Mundwinkel zuckten, es arbeitete in ihm. »Ja, irgendwie schon, aber ich liebe auch dich …« »Du schläfst mit ihr und mit mir?!«, schrie sie. »Du belügst mich die ganze Zeit!« Plötzlich war es, als würde ein roter Schleier über sie fallen, heiß und klebrig und feucht. Sie hörte sich schreien, fühlte Tränen aus ihren Augen stürzen, sie fühlte seine warmen Schenkel an ihren, spürte ihre Fäuste auf seinem Gesicht, auf seiner Brust. Atemlos raste sie, ihre Glieder, ihre Kehle waren nur noch Schmerz und Wut. Als sie wieder zu sich kam, hielt David ihre Handgelenke fest. »Bitte, Eve, bitte … es tut mir so Leid
…« Sein linkes Auge tränte, seine Unterlippe war aufgeplatzt, er blutete, Spuren ihrer Nägel zogen sich über seine linke Wange. Eve schüttelte seine Hände ab. »Geh!« Sie drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch, als würde sie frieren. »Verschwinde.« Sie hörte, wie er sich abwandte. Sekunden später das Sirren der Schleusenluke. »Bis morgen habe ich mich wieder unter Kontrolle, dann werde ich dich zurück nach London schicken und die Wissenschafts-Crew allein nach Leipzig bringen …« Die Luke schloss sich. Sie drehte sich nicht um, wollte seine Gestalt nicht einmal mehr im Monitor sehen.
Kapitel 16 Abschiedsmahl � Aus den Johanna-Dateien � 7.2.2012 Kurz vor Mitternacht. Nicht einmal siebzehn Stunden noch bis zum Ende. Eben überqueren wir den Avon. Trotz Nacht und Schneetreiben erkenne ich den Fluss, wenn ich aus dem kleinen Fenster schaue: Die Flammen brennender Häuser spiegeln sich im Wasser. Würde der Turm der Kathedrale von Salisbury brennen, könnte ich vielleicht auch ihn am südlichen Horizont erkennen. Der Copilot beugt sich von Zeit zu Zeit aus dem Cockpit in den Passagierraum. Er heißt Thomas Priden, und seine Miene ist die eines Mannes, der nichts Gutes erwartet. Der Pilot geht auf Nordwestkurs. Nur noch drei oder vier Kilometer bis Stonehenge. Ja, unter den Menhiren, unter der urzeitlichen Kultstätte hat das Innenministerium einen zweiten Bunker bauen lassen. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als Major Trevor McMalone mir den Plan erklärte. »Wahrscheinlich haben sie gedacht, was fünftausend Jahre gehalten hat, wird auch zehntausend Jahre überstehen«, sagte er. Ich muss schreien, die Rotorenblätter dröhnen. Viel zu Menschen hat der Großraumhelikopter viele aufgenommen. Ich habe mich auf die letzte Sitzbank
zurückgezogen. Zwei junge Pärchen sitzen links von mir. Eines der Mädchen muss bekifft sein – oder wahnsinnig? –, sie kichert unaufhörlich vor sich hin. Links von ihnen hockt ein Greis in Admiralsuniform mit einem guten Dutzend Orden an der Brust. Er riecht nach Whisky, und er schnarcht. Als ich mich über die Pärchen beuge und ihm die noch halb volle Bourbonflasche aus den schlaffen Händen ziehe, faucht der auf seinen dürren Schenkeln zusammengerollte Siamkater mich an. Der Greis öffnet das rechte Auge. »Is schon Viertel vor fünf?«, fragt er mit schwerer Zunge. Ich verneine, er schläft weiter. Um Viertel vor fünf – genauer: um 16:42 Uhr – soll der Komet die Erde rammen. Auf der Bank vor mir kauern Mary-Lou und Pete. Die Nerven meiner Tochter sind erschöpft, und Pete Nash ist vollkommen übermüdet. Ein wochenlanger Fußmarsch von mehreren hundert Kilometern steckt ihm in den Knochen. In den vier oder fünf Sitzreihen davor, zusammengesunken und aneinander gedrängt, etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder – zwei Obdachlose, vier elternlose Jungen und Mädchen, ein fieberkrankes Mitglied der LORDS, jener berüchtigten Motorradgang, ein paar hungrig aussehende junge Männer, angeblich Studenten der Kunstakademie, und einige verwundete Angehörige der Royal Air Force und ihre Familien. Eine zufällige Ansammlung menschlicher Existenzen, vom Schicksal unter das gleiche Joch gezwängt. Was uns verbindet? Alle wollen wir unsere Haut retten; sonst nichts. Die meisten Männer starren stumm vor sich hin, ein paar Frauen weinen, irgendjemand betet, jemand hält
einen murmelnden Monolog, jemand singt ein Shakespeare-Sonett, ein Verwundeter stöhnt, und hören Sie die Kinder wimmern? Meine vorletzte Kassette. Ich hoffe, der Akku meines Diktaphons hält noch eine Weile durch. Werde ich jemals Gelegenheit haben, diesen Bericht nachzuschreiben? Und wird ihn dann jemals einer lesen? Gleichgültig, für wen – für niemanden, für mich selbst oder für euch Nachgeborene, die ihr diese Worte vielleicht doch einst hören oder lesen werdet –, ich will erzählen, was in den letzten neun Stunden geschehen ist: Nachmittags gegen halb vier verdunkelte sich der Himmel. Es begann zu schneien. Und mit dem Schnee kam die Stille. Niemand schoss mehr draußen auf der Straße, keine Schritte waren mehr zu hören. Ich wagte mich aus der Bank, schlich an den Fassaden entlang, huschte von Hauseingang zu Hauseingang. Unter meinen Sohlen knirschte der Neuschnee, mein Atem flog, sonst war die Stille vollendet. Jäger und Gejagte hatten sich in die Häuser geflüchtet. Einmal allerdings schlich ich unter einem offenen Fenster vorbei, aus dem Gelächter, Musik und Gesang tönte. Dahinter schienen sie ein Fest zu feiern. Ein Abschiedsfest. Und ein anderes Mal drückte ich mich gegen die Wand einer Toreinfahrt, lauschte und hörte ein Scharren und Stöhnen hinter mir. Ich schlich in einen Hinterhof. Dort, neben einem Müllcontainer und in rot gefärbtem Schnee, lag ein junger Bursche in Lederzeug. Seine Beine und Arme zuckten, er bohrte die Stirn in den Schnee, seine Rechte lag auf einem Schnellfeuergewehr, und vom Rücken seiner Jacke grinste mich die Grimasse einer
roten Teufelsfratze an. Einer jener Mörder-LORDS. Soldaten oder Polizisten oder ein wehrhafter Bürger mussten ihn in die Brust oder in den Bauch getroffen haben. Ich nahm die Waffe an mich und lief davon. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich bis zu unserem Haus benötigte. Die Vorhänge waren vorgezogen, keine Spuren im Schnee vor dem gusseisernen Gartentor. Ich klingelte wohl hundert Mal, flehte um Einlass, rief MaryLous Namen; und endlich, endlich die Stimme meiner Tochter. »Gott, Mom! Warum bist du nicht im Bunker!« Der Türöffner summte, ich warf das Tor hinter mir zu und rannte durch den Garten auf die Veranda. Sekunden später lagen Mary-Lou und ich uns in den Armen. Pete begrüßte mich im Musikzimmer. Nach der Umarmung musterte er ungläubig das Gewehr an meiner Schulter. Er sah aus wie der Tod – ausgemergelt, bleich, fiebrig. Ich glaube, ich habe ein paar graue Strähnen in seinem Haar gesehen. Männer in Uniformen hatten ihn in einem Hubschrauber aus dem Polizeipräsidium nach Harlow gebracht, erzählte er. Von dort haben ihn Bewacher in Zivil mit einem Armeehubschrauber von der Insel weg zum Ärmelkanal geflogen und auf einem Patrouillenboot der Royal Navy abgesetzt. Nach zwei Tagen brachten sie ihn im Hafen von Marseille an Land. Er konnte nicht sagen, wohin sie ihn verschleppen wollten oder was sie mit ihm vorhatten, denn eine Bande von Plünderern überfiel seine Eskorte. Im Kampfgetümmel konnte er fliehen und hat sich von Südfrankreich bis zur Bretagne durchgeschlagen; über weite Strecken zu Fuß. Pete hat ein paar Wortfetzen aus der Unterhaltung seiner Bewacher belauscht und schwört, dass es Männer
des Geheimdienstes waren; und er schwört, den Namen ihres Auftraggebers gehört zu haben: Dr. Louis Carlyle. Während Pete berichtete, beobachtete Mary-Lou mich die ganze Zeit. Sie war längst überzeugt von den Machenschaften ihres Vaters und sorgte sich wohl, wie ich die vermeintlichen Neuigkeiten aufnehmen würde. Stumm präsentierte ich Louis' Terminplaner, zeigte ihnen die Namen und Nummern der falschen Belastungszeugen und die von Ramshaw unterschriebene Quittung. Aus dem Esszimmer hörte ich Musik. Eine SchubertSinfonie, die Unvollendete. Sie zog mich an, und während Mary-Lou und Pete in Dr. Carlyles Planer blätterten, ging ich ins Esszimmer. Kerzenlicht erfüllte den Raum, und ich stand vor einer reich gedeckten Tafel: Canard à l'Orange, Salate, Salzkartoffeln, Pudding- und Obstdessert, Rotwein, Champagner. »Unser Hochzeitsessen.« Mary-Lou und ihr Liebster standen im Türrahmen. »Und zugleich unser Abschiedsmahl«, fügte Pete leise hinzu. Ein flacher kleiner Karton auf der Anrichte neben der Obstschale zog meine Blicke magisch an. Ich ging hin, nahm ihn hoch und las: Kaliumchlorid. Er enthielt zehn Ampullen zu je zwanzig Milliliter Elektrolytlösung. »Eine hochkonzentrierte Lösung.« Pete kam zu mir und nahm mir die Ampullen ab. »Genug davon intravenös gespritzt, und das Herz bleibt stehen. Ein schmerzloser Tod.« Fassungslos starrte ich ihn an. »Es reicht auch für dich noch, keine Sorge …« Ich weinte, ich schrie, ich beschwor sie, ich flehte sie an,
und als es dunkel wurde, hatte ich sie so weit, es wenigstens noch einmal zu versuchen. Wir aßen hastig, tranken ein wenig Rotwein und fuhren dann in einem Lieferwagen, den Pete in Dover gestohlen hatte, nach Westminster. Dort herrschte Bürgerkrieg. Schon von weitem sahen wir den Schein der Flammen am Nachthimmel. Schüsse, Raketen- und Granateinschläge dröhnten über die Dächer, ein Ring von Panzern und Militärfahrzeugen kesselte den Parlamentskomplex weiträumig ein. Kein Durchkommen. Wir sprachen mit den Soldaten; es waren Einheiten der Royal Air Force. Sie erklärten uns, dass ihr Kommandeur den Sturm des Bunkers vorbereitete. Angeblich befände sich ein ihm ergebener Offizier bereits in den Schutzräumen und versuchte seit dem Nachmittag die Kommandozentrale unter seine Kontrolle zu bringen. Während des Überfalls im Hafen von Marseille war es Pete gelungen, einem der Geheimdienstmänner dessen Satellitentelefon abzunehmen. Er drückte es mir in die Hand. »Ruf deinen Mann an.« Ich reichte das Gerät an Mary-Lou weiter. »Sprich du mit ihm.« Sie wählte Louis' Handynummer. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Verbindung stand. »Ich bin's, Dad, Mary-Lou. Wir sind hier auf der Northumberland Avenue und kommen nicht weiter. Kannst du was für uns tun?« Für sie und mich schon, erklärte er, aber erst, wenn der Aufstand im Bunker niedergeschlagen und die Rebellen vor dem Parlament vernichtet seien. Es seien schon starke Verbände von Marinesoldaten unterwegs nach London. Wir sollten uns lieber aus der Kampfzone zurückziehen, und er würde sich melden, sobald der
Premierminister den Zugang zum Bunker wieder freigeben würde. Mary-Lou sank gegen Petes Schulter und weinte. Das war der Augenblick, in dem auch ich resignierte. »Ich werde die Spritzen aufziehen«, sagte Pete. Er hatte die Kaliumlösung mitgenommen. Bald hörte ich die erste Ampulle brechen. Das Satellitentelefon läutete. Mary-Lou drückte es ans Ohr, lauschte einen Moment, gab es mir. »Carlyle?«, meldete ich mich. »Guten Abend, Ma'am«, sagte eine vertraute Männerstimme. »Habe das Gespräch zwischen Ihrem Gatten und Ihrer Tochter mitgehört. Ich brauche noch ein Weilchen, bis meine Leute die Bunkerzentrale erobert haben. Falls es uns gelingt, ein Mitglied der Königsfamilie als Geisel zu nehmen, könnte das ruckzuck gehen, wenn nicht, dauert es noch ein paar Stunden. Möglicherweise zu lange für Sie …« Es war die Stimme von Colonel Yoshiro. Er hätte gehört, dass ich meinen Mann vor versammeltem Kabinett geohrfeigt hatte, und überhaupt wäre es jammerschade um mich, und so weiter. »In einer halben Stunde startet ein Großraumhubschrauber mit Verwundeten und ihren Angehörigen Richtung Salisbury. Einer meiner Offiziere fliegt ihn, ich sag ihm Bescheid, damit er auf Sie wartet. Würde mich freuen, Sie gelegentlich unter einem besseren Stern wiederzusehen, Ma'am.« Er beschrieb mir den Startplatz. Zu Fuß schlugen wir uns in den St. James Park durch. Der Helikopter wartete am Seeufer auf der Halbinsel Duck Island. Major McMalone und Captain Priden – Pilot und Copilot –
wussten Bescheid und ließen uns zusteigen … Und jetzt nähern wir uns Stonehenge. Ich sehe unzählige Lichter. Es hat aufgehört zu schneien. Die riesige Wellblechhalle, unter der sie seit Monaten angeblich wissenschaftliche Bohrungen durchführen, in Wahrheit aber ein uraltes Höhlensystem zu einem Bunker ausbauten, wird von Flutlichtscheinwerfern angestrahlt. Aber was sind das für Lichter dort unten? Fackeln? Lagerfeuer? Brände? Ich weiß es nicht. Etwas Helles löst sich vom Boden, ein Lichtstrahl zischt an uns vorbei. Was war das? Was passiert da? Woher der Explosionslärm? Captain Priden beugt sich aus dem Cockpit in den Passagierraum. Was ist mit ihm, warum brüllt er so? »Festhalten!«, schreit er. »Wir werden beschossen …!«
Kapitel 17 121,5 MHz � Östliches Ruhrgebiet, Mitte April 2516 Aus langem Albtraum und kurzem Schlaf fuhr Eve am nächsten Morgen hoch. Sie zitterte, war schweißnass, ihre Glieder gehorchten ihr kaum. Sie stand auf, übergab sich, zog sich um, verkroch sich wieder in ihre Koje. Dort weinte sie stundenlang. Zwischendurch schlief sie ein. Am Abend ließ sie sich von Barbara Wasser und frische Kleider bringen. Unmöglich, das Kommando der Expedition wieder zu übernehmen. Sie konnte einfach nicht mehr, war wie gelähmt. Barbara erzählte ihr von der Lichterscheinung. Sieben Kilometer entfernt sei sie nur noch. Eve begriff zunächst nicht, wovon die andere sprach. Am übernächsten Morgen glühte Eve vor Fieber. Ihr Körper war ein einziger Schmerz, in ihrer Brust brannte es wie Feuer. Sie wünschte sich den Tod, und sie hatte zugleich Angst zu sterben. Barbara und Sonia Muzawi brachten Medizin und Wasser, halfen ihr bei der Toilette. Die Molekularbiologin und Ärztin mit den persischen Vorfahren untersuchte sie. »Ruhe«, sagte sie. »Viel Ruhe, leichte Kost und ein wirksames Sedativum.« Bis auf die Ruhe lehnte Eve alles ab. So tief und so schnell wie möglich wollte sie durch diese Hölle gehen; um darin zu verbrennen, oder um sie ein für alle Mal hinter sich haben. So war sie eben. Gegen Mittag fühlte sie sich immerhin in der Lage, ein paar Worte an die Crew zu
richten. Sie sei krank, erklärte sie, nichts Ernstes, aber einen Tag brauchte sie noch. Danach beauftragte sie Stanley McMalone, mit Eddy Amer ein Team von Wissenschaftlern in die Ruinen zu eskortieren. Bis in Sichtweite des »Lichttores« sollten sie gehen, um dessen Umgebung und das Phänomen selbst zu untersuchen. Das so genannte »Höllentor Orguudoos« war ihr vollkommen gleichgültig. Nash hatte es links liegen lassen, und sie würde es auch links liegen lassen. Aber Eve wollte ihre Crew beschäftigen. Sie wusste, dass diese drei Tage ein disziplinarisches Nachspiel in der Community haben würden. Die Crew würde vermutlich schweigen, aber sie war fest entschlossen, den Major und sein Team zur Insel zurückzuschicken, und das würde sie gut begründen müssen. Bis zum frühen Abend lag sie in ihrer Koje und weinte. Manchmal starrte sie an die Decke und fühlte, wie sich der Schmerz aus Gliedern und Kopf in ihre Brust zurückzog. Dort schien er sich zu heißem Gestein zu verdichten, das nach und nach erkaltete. Wenn sie aufstand, um sich zu übergeben, waren ihre Arme und Beine so schwer, dass sie auf Knien und Ellbogen zum Becken kriechen musste. Am späten Abend berichtete John Cox über Bordfunk vom Vorstoß ins Zentrum der Ruinenstadt. Er berichtete von einem herrlichen Schloss mit hohen Türmen und einem märchenhaften Park, der es umgab. Eve war unsicher, ob Doc Doublemans Stimme nicht aus einem Fiebertraum zu ihr sprach. Seine Stimme erzählte nämlich unsinniges Zeug, sprach von Riesen, die mit Felsbrocken um sich warfen, erzählte von fünfzehn
Meter hohen Reptilien, die auf zwei Beinen umhersprangen und Feuer spuckten. Am Schluss hörte Eve kaum noch zu. In dieser Nacht, der dritten nach ihrem Zusammenbruch, setzte sie sich an den Rand ihrer Koje. Es war gegen vier Uhr morgens. Ein großes Loch gähnte in ihrer Brust. Keine Gedanken mehr, die um David Peterson kreisen mussten. Peterson? Wer war das überhaupt? Sie stieß ein bitteres Lachen aus, stand auf, wusch sich, zog sich um, trank Wasser und aß den Getreidebrei, den Barbara hatte stehen lassen. Danach setzte sie sich vor den kleinen Monitor der Bordhelix-Schnittstelle und lud die Johanna-Dateien. Anfangs verschwammen die Buchstaben noch vor ihren Augen. Doch Zeile um Zeile nahmen ihre Sehkraft und Konzentration zu. Der Abgrund zwischen den Jahrhunderten verlor seine Bedeutung, die Aufzeichnungen begannen sie zu fesseln. Durch Joan Carlyles Augen erlebte sie die letzten Stunden vor der Katastrophe mit… Zwei Stunden später ging die Sonne auf. Eve unterbrach die Verbindung zur Bordhelix. Barbara meldete sich an. Mit Tee und einer Schüssel Früchtebrei schlüpfte die große Frau aus der Luke zu Segment III. Sie richtete sich auf und blieb erschrocken stehen. »Himmel, Eve! Wie du aussiehst …!« Das harte Gesicht der Kommandantin verzog sich zu einem bitteren Grinsen. »Wie eine Frau, in deren Leben eine Art Komet eingeschlagen ist, schätze ich.« Sie stemmte sich aus dem Sessel, wankte auf weichen Knien zum Becken. Dort stützte sie sich auf und blickte in den Spiegel. Ihre Augen waren leer, schwarze Ränder
umrahmten sie. Ihr Haut hatte die Farbe des Novemberhimmels, sogar ihre Lippen, und ihr Gesicht war hohlwangig und kantig wie das einer alten Frau. »Wie spät ist es?«, fragte sie leise. »Halb sieben Ortszeit.« Barbara arrangierte Tee und Frühstück auf einem Wandklapptischchen. Eve lehnte die Stirn gegen den Spiegel. Das kühle Kunstglas tat gut. Sie schloss die Augen, atmete tief und ruhig. Lange Sekunden verharrte sie so. Als sie die Augen wieder öffnete und den Kopf hob, sah sie einen roten Fleck auf der fahlen Stirn ihres Spiegelbildes. Eine der uralten Geschichten, die Octavian Jefferson Winter so gern erzählte, fiel ihr ein: Zwei Brüder opfern einem Gott, den einen nimmt der Gott an, den anderen weist er ab. Der Abgewiesene fällt über den Angenommenen her und tötet ihn. Und schließlich macht der Gott ein Zeichen an der Stirn des Mörders. Wie hieß der gleich? Kain, richtig. Die Liebe ist der Gott, dachte Eve. Und ich … Der Fleck verblasste, sie drehte sich um. »Um acht Uhr will ich Peterson, Amer und die leitenden Wissenschaftler in meiner Kommandozentrale sehen …« Es war eng unter der Frontkuppel. Alle, die sie gerufen hatte, waren gekommen. Stanley McMalone saß im Navigatorensitz und tat, als müsste er unablässig Daten in eine Tastatur eingeben. Spencer Dewlitt kauerte im Pilotensessel. Er starrte auf die Frontkuppel, wo Ruinen unter einem schmutzigen Morgenhimmel zu sehen waren. Eve hatte neben ihm im Sitz des Aufklärers Platz genommen und den Sessel gedreht, sodass sie allen Anwesenden, außer Spencer Dewlitt, in die Gesichter sehen konnte: Emma Bloom, Eddy Amer, David
Peterson, Sonia Muzawi und Dr. Cox, der sich in den Kommandantensessel gezwängt hatte. Sie hatte den Bordfunk aktiviert. Jeder sollte diese Besprechung mithören können. Es würde eine kurze, aber entscheidende Besprechung werden. So stellte Eve sich das vor. »Hören Sie meine Befehle für diesen Tag, Ladies und Gentlemen.« Sie sparte sich lange Vorreden. »Sämtlicher Proviant und alle für Leipzig notwendigen Ausrüstungsgegenstände werden von Ark II auf Ark I umgeladen.« Einen Moment unterbrach sie sich, weil Mac noch immer seine Tastatur traktierte. Sie fixierte ihn, bis er zögernd aufblickte. Er lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. »Sie, Major Peterson, werden Ihre Maschine und Ihre Crew nach London zurückbringen. Start: zwei Uhr nachmittags, Ortszeit. Sie, Dr. Cox, ziehen bitte mit Ihrem Team zu uns nach Ark I um. Da dieses seltsame Lichtschloss nichts weiter zur Aufklärung des Schicksals von Commander Nash und seiner Expedition beitragen kann, verlassen wir die Gegend hier ebenfalls um zwei Uhr nachmittags Ortszeit. Wir fliegen beziehungsweise fahren direkt nach Leipzig. Mit etwas Glück sind wir morgen um diese Zeit am Ziel. So lange müssen wir eben ein wenig zusammenrücken.« Nacheinander sah sie die Männer und Frauen an, David Peterson nur flüchtig. Sie blickte in ungläubige oder verblüffte Gesichter. »Das war es schon, Ladies und Gentlemen. An die Arbeit.« Sekundenlanges Schweigen. Amer schob seinen Unterkiefer nach vorn und starrte durch Eve hindurch. David hatte die Fäuste geballt, seine Kaumuskulatur arbeitete. Mac betrachtete andächtig seine gefalteten
Hände. Doc Doubleman und die Linguistin tauschten verstohlene Blicke aus. Und Spencer Dewlitt, an Eves Seite, schien unter Atembeschwerden zu leiden. »Verzeihen Sie, Commander Carlyle.« Emma ergriff das Wort. »Ich überblicke in etwa die Menge des Equipments, das wir mit uns führen. Es erscheint mir ausgeschlossen, es in einem einzelnen EWAT unterbringen zu können.« »Wir probieren es aus. Was nicht in die Maschine passt, wird steril eingeschweißt und auf dem Dach der hinteren Segmente fixiert.« Wieder sah Eve einen nach dem anderen an. In Amers Augen glaubte sie Hass aufblitzen zu sehen. Von der Trauer in Davids Augen ließ sie sich nicht berühren. »Machen Sie sich keine Sorgen, Ladies und Gentlemen – ich bin eine Meisterin der Improvisation.« »Aber bedenken Sie, Eve.« Müde hob Cox seine Rechte. »Wir wären dann immer noch vierzehn Personen. Es wird wirklich sehr eng werden.« Er machte ein trauriges Gesicht. »Zu eng, fürchte ich.« »In Notfällen kann dieser Prototyp vierundzwanzig Personen aufnehmen«, hielt Eve ihm entgegen. Dass niemand nach den Gründen für ihre Entscheidung fragte, machte sie wütend. Sie wussten also tatsächlich alle Bescheid, alle! »Sie werden nur dreizehn Personen sein«, sagte Spencer Dewlitt. »Ich werde mit Major Peterson zurück nach London gehen.« »Möglicherweise haben Sie mir nicht richtig zugehört, Captain Dewlitt.« Eve stieß sich ab, sodass ihr Sessel eine halbe Drehung machte und sie Dewlitts Profil sehen konnte. »Ich habe Major Peterson befohlen, mit seinem
Team umzukehren. Zu Ihrer Information: Zu seinem Team gehören Captain Amer, Captain Plant und Lieutenant Rouwens.« Sie hatte Barbara gebeten, zurückzukehren und in ihrem Namen Bericht zu erstatten und den Regierungen von Salisbury und London einen Datenkristall mit einer persönlichen Erklärung zu überbringen. »Sie, Captain Dewlitt, gehören zum Team von Ark I. Ich brauche Sie.« Dewlitts Adamsapfel tanzte auf und ab. Er reckte das Kinn nach vorn und setzte zu einer Entgegnung an. »Es tut mir Leid, Commander Carlyle, aber ich werde mit Major Peterson fahren.« »Dann würden Sie sich einer Befehlsverweigerung schuldig machen und müssten mit den entsprechenden Konsequenzen rechnen, Captain Dewlitt.« Scharf sog er die Luft durch die Nase ein. Eve glaubte ihn richtig einzuschätzen, sie rechnete mit einer Befehlsverweigerung. »Ark II an Ark I, es ist dringend!« Barbaras Stimme tönte aus dem Funkmodul. Eve fuhr herum. »Ich höre.« »Ich habe einen Funkspruch aufgefangen. Die Quelle ist schwer anzupeilen, aber ich bin fast sicher, dass irgendjemand aus dem Lichtschloss uns anfunkt…« Sie folgten der alten Trasse mit dem seltsamen Namen B1, überflogen Brücken und Unterführungen und einmal die Kreuzung mit einer noch breiteren Nord-Süd-Trasse. Wie eine überdimensionale, grün eingerahmte Brosche mit symmetrisch angeordneter und kunstvoll verschlungener Ornamentik sah die Trassenkreuzung aus der Luft aus.
Der Wald war noch erstaunlich dicht im Randgebiet der großen Ruinenstadt, die vor Jahrhunderten »Dortmund« und jetzt »Poruzzia« genannt wurde. Bald sah man immer häufiger eingebrochene Dächer kleiner, fast gänzlich zugewachsener Häuser zwischen hohen Büschen und niedrigen Bäumen. Aber keine Menschen … »Merkwürdig, äußerst merkwürdig!« Eve hatte Ruud Simon in den Kommandostand gerufen. Er saß neben dem Piloten vor den Ortungsinstrumenten und dem Funkmodul. »Die senden auf Ultrakurzwelle, da muss jemand ein antikes Funkgerät haben!« »Dann kann es niemand von uns sein«, sagte Spencer Dewlitt. Wie alle anderen war auch er erleichtert über den Zwischenfall. Der Konflikt war erst einmal vertagt. Dennoch machte sich niemand, der die Kommandantin auch nur ein wenig kannte, etwas vor: Sobald der Vorstoß zu der unbekannten Funkquelle abgeschlossen war, würde sie auf ihren Befehl zurückkommen. »Einen UKW-Sender hat ein Fahrzeug der Community nicht an Bord.« In nur fünfundzwanzig Fuß Flughöhe schwebten die EWATs in die Ruinenstadt hinein. Noch drei Kilometer trennten die Expedition von der Signalquelle. Mit bloßem Auge war das schlossartige Bauwerk noch nicht zu erkennen, und aus den Messdaten der Ortungsinstrumente errechnete die Bordhelix lediglich eine größere, kastenartige Ruine, noch zu weit entfernt für ein scharfes Bild. »Und was funken sie, Ruud?«, drängte Eve. Natürlich hatte sie ihren Tagesbefehl aufheben müssen; vorläufig. Was blieb ihr anderes übrig? Für den Fall von
Funkkontakt mit Unbekannten, bei denen es sich um eine Bunkerzivilisation handeln könnte, gab es eindeutige Vorschriften. »Schwer zu sagen.« Simon kratzte sich den kahlen Schädel. »Warum senden die kein klares Signal aus? Was ist das für ein verdammter Störsender?« »CF-Strahlung?« »Nein, eben nicht!« Ruud Simon beugte sich wieder über die Instrumente. Er trug einen Kopfhörer. »Die zu erkennen, hätte ich keine Probleme … warte mal … die senden unterschiedliche Codes, aber immer auf derselben Frequenz. Und irgendwer stört diese Frequenz! Was für ein Kauderwelsch …! Hunderteinundzwanzig Komma fünf Megaherz … Kann da jemand was mit anfangen?« Der Pilot schüttelte den Kopf. Eve blickte sich um. McMalone und Emma Bloom machten ratlose Gesichter. Eve drückte die Sprechtaste. »Commander an alle. Aus dem Zielobjekt funkt jemand auf der Ultrakurzwellenfrequenz Hunderteinundzwanzig Komma fünf. Sagt das einem von euch etwas?« Es widerstrebte ihr, Davids Tank anfunken zu müssen. Insgeheim verfluchte sie den unbekannten Funker. Sie wollte die endgültige Trennung von David Peterson endlich hinter sich haben. »Ark II an Commander.« Davids Stimme aus dem Funkmodul. »Auskunft von Captain Amer: Das sei die Frequenz gewesen, auf der in den Zeiten vor dem Kometen Notrufe im Luftverkehr abgesetzt wurden.« »Interessant«, sagte Ruud Simon. »Ein Notruf also.« »Bloß von wem?« McMalone rieb sich das Kinn. »Jedenfalls von niemandem aus Nashs Mannschaft«,
wiederholte Spencer Dewlitt. »Wieso nicht?« Togos Stimme aus dem Bordfunk. »Dem Commander traue ich zu, dass er sich so einen alten Funkapparat basteln kann.« Eve blickte über Spencer Dewlitts Schultern auf die Instrumentenkonsole. Nicht mehr ganz zwei Kilometer bis zu dem rätselhaften Objekt, das inzwischen fast die gesamte Besatzung nur noch »Lichtschloss« nannte. Auf dem Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays jedoch war nichts zu sehen, das auch nur entfernt an ein so genanntes »Schloss« erinnerte; nur die Skizze jener kastenartigen Ruine zeigte der Monitor, und sonst nichts. Eve drehte sich um und ging zum Kommandantensessel. Ihre Knie schienen aus warmer Watte, ihr Herz schlug viel zu schnell. Erschöpft sank sie auf ihren Platz. »Jetzt!«, rief der Ingenieur am Funkmodul. »Jetzt sind sie besser zu verstehen!« Er zog sich die Kopfhörer herunter und reichte sie der Linguistin. »Hör du mal, Emma. Kannst du damit was anfangen?« Die Wissenschaftlerin zog sich den Kopfhörer über, kauerte sich hinter dem Pilotensitz auf den Boden und lauschte. Alle Augen hingen an ihr. »Pan pan«, murmelte sie. »Pan pan, pan pan …« Eve und McMalone tauschten verständnislose Blicke aus, Simon hob ratlos die Achseln. Emma schloss die Augen und drückte den Kopfhörer an die Ohren. »Mayday«, sagte sie schließlich. »Schon wieder! Eindeutig ›Mayday‹!« Sie zog die Kopfhörer herunter. »Was soll das?« Togo hatte über Bordfunk mitgehört. »Kommt vom Altfranzösischen«, sagte die Linguistin. »›M'aidez‹ – ›helft mir‹. Das haben unsere Vorfahren in präapokalyptischen Zeiten aus Flugzeugen und Schiffen
gefunkt, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals stand.« Davon wusste nicht einmal Eve. In den Vorschriften der Community Force war für solch einen Fall das alte SOS vorgesehen, aber soweit sie die Geschichte der Force kannte, war dieser Notruf noch nie abgesetzt worden. »Und dieses ›Pan‹?«, fragte sie. »Was bedeutet das?« Emma musste passen. Eve befahl Simon, Ark II anzufunken. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Eddy Amer meldete sich persönlich. »Dreimal ›pan pan‹ funkten Flugzeuge und Schiffe im zwanzigsten Jahrhundert, wenn sie technische Probleme hatten.« »Eine Panne also«, tönte Togo; niemandem war zum Lachen zumute. »Danke, Captain.« Eve beobachtete das Panoramadisplay. Etwas mehr als einen Kilometer entfernt ragten jetzt mehrere Türme aus den Ruinen. »Tatsächlich ein Schloss!« Eve traute ihren Augen nicht. »Wer wohnt in so einem Ding, und was für technische Probleme könnte der haben?« »Lebensbedrohliche Probleme, Commander«, sagte Emma. »So jedenfalls würde ich den Notruf interpretieren.« »Antworten Sie, Simon«, befahl Eve. »Wir haben verstanden und kommen zu Hilfe. Schicken Sie ein Dauersignal.« Von einer Minute zur anderen nahm die Ruinendichte zu. »Wir erreichen gleich das Zentrum«, sagte McMalone. »Die Trasse führt südlich daran vorbei. Noch hundertfünfzig Meter, dann passieren wir eine Abzweigung Richtung Nordosten.« Eve befahl den Kurswechsel. Das Zielobjekt war noch einen Kilometer
entfernt. Im Sekundentakt fingen sie den Notruf auf. Die Tanks folgten dem Straßenzug nach Nordosten. Er führte mitten hinein in eine trostlose Landschaft aus Ruinen und Bäumen. Links und rechts der Frontkuppel glitten fast lückenlos erhaltene Fassaden vorüber. Die Kronen riesiger Bäume verdeckten sie teilweise. »Maximale Flughöhe«, befahl Eve. Die Tanks stiegen bis auf neunzig Fuß. Jetzt schwebten sie etwa zehn Meter über den eingebrochenen Dächern, Baumwipfeln und Bahntrassen hinweg. Auf einer stand in hohem Gestrüpp ein langes, von Moos überzogenes Fahrzeug, das Eve entfernt an einen EWAT erinnerte. »Wärmequellen?« »Viele«, sagte Ruud Simon mit einem Seitenblick auf die Ortungsinstrumente. »Aber keine so intensiv und so groß, das man ein menschliches Wesen dahinter vermuten möchte.« »Die Stadt ist wie ausgestorben«, sagte Emma. »Das macht sie nicht sympathischer«, knurrte Togos Stimme aus dem Bordfunk. »Antworten sie auf unseren Funkspruch?«, wollte Eve wissen. »Nein«, sagte Simon. »Sie setzen stur ihre Notrufe ab. Vielleicht können sie uns nicht empfangen.« »Da!« McMalone zeigte auf die Frontkuppel. »Da ist es!« Zwischen hohen und relativ gut erhaltenen Ruinen erhob sich ein wuchtiges Gebäude mit acht siebzig Meter hohen Türmen. Nach und nach schob es sich in den Aufnahmeradius der Außenbordkamera im Bug. Es war achteckig, seine Grundfläche durchmaß nach Eves Schätzung etwa zweihundert Meter, seine Fassade, sein Dach und die kuppelförmigen Turmspitzen glitzerten in
überirdischem Weiß. Hunderte von Fenstern und ein großes Rundtor über einer ausladenden Vortreppe reflektierten grelles Licht. Eve war die Einzige an Bord, die das vollkommen unzerstörte und von keinem Pflanzenwuchs bedeckte Bauwerk noch nicht gesehen hatte. Jetzt, als es die Frontkuppel vor ihren eigenen Augen ausfüllte, erhob sie sich wie in Trance, wankte zum Pilotensitz und hielt sich an dessen Lehne fest. Fassungslos starrte sie das Gebäude an. Es erinnerte tatsächlich an jene Schlösser aus den uralten Legenden und Märchen, wie man sie in London und Salisbury den Community-Kindern erzählte. Sie blickte auf den Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays. Aus den Daten der Ortung visualisierte die Bordhelix kein Schloss, sondern eine große, kastenförmige Ruine. Ein fast geschlossener Efeuteppich hüllte sie ein. In den wenigen Lücken erkannte Eve schwärzlichrotes Gestein. »Warum erfasst unsere Ortung dieses Ding nicht?« Sie sprach leise und betonte jede Silbe. »Warum zeigt sie uns diesen Efeukasten?« »Perfekte Tarnung«, sagte Ruud Simon. »Dort drinnen versteht es jemand, Halluzinationen für moderne Ortungsgeräte zu schaffen.« »Und setzt Notrufe über Ultrakurzwelle ab?« Eve schüttelte den Kopf. »Wie passt das zusammen?« Darauf nun konnte sich niemand einen Reim machen. Fest aber stand jetzt, dass sie dem Notruf auf den Grund gehen mussten, keine Frage, denn wer sollte in der Lage sein, ein solch makelloses Gebäude zu erschaffen und es noch dazu mit einem perfekten Ortungsschutz zu versehen, wenn nicht eine hochzivilisierte und technisierte
Bunkerkolonie? »Ich frage mich, warum sie es beleuchten«, sagte Emma Bloom. »Vielleicht hängt das Licht ja irgendwie mit dem Ortungsschutz zusammen.« Ruud Simon dachte laut. Vierhundert Meter vom weißen Schloss entfernt rückte dessen Umgebung allmählich ins Blickfeld. Eine Rasenfläche dehnte sich etwa hundertfünfzig Meter weit zwischen dem Gebäude und den es umgebenden Ruinen aus. Darauf wuchsen inmitten von Springbrunnen und kleinen kuppelförmigen Pavillons sorgfältig beschnittene Zypressen. Auf seiner äußeren Grenze standen in regelmäßigen Abständen fünfzig Meter hohe Linden in vollem Sommerlaub. »Ark II an Ark I«, meldete sich Juli Bennetts Stimme aus dem Funkmodul. »Möglicherweise liegt die Anlage unter einer Biosphäre.« Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich der Schädel einer Riesenechse zwischen den Lindenkronen auf. »Ich glaube es nicht…«, murmelte Eve. Und als wäre das nicht wirklich schon absurd genug, trat die Gestalt eines gigantischen Mannes hinter dem Schloss hervor. Bis auf einen Lendenschurz war der Riese nackt. »Entfernung?« Eves Stimme brach schier. »Hundertachtzig Meter«, antwortete McMalone. Drei weitere Riesen stapften über den Rasen. Sie waren mindestens zwanzig Meter hoch, und jeder von ihnen trug einen Felsbrocken von gut zwei Metern Durchmesser in den Pranken. Und hinter anderen Lindenkronen tauchten neue Echsen auf. Eve blickte auf den Ortungsmonitor: nur ein
Ruinenkasten unter Efeu, sonst nichts. In ihrem Kopf rotierte ein Gedankenkarussell, ihr wurde schwindlig. »Commander an alle: anschnallen! Waffenoffiziere: erhöhte Gefechtsbereitschaft!« Amer und Togo bestätigten, und Sekunden später geschah es: Eine der Echsen riss ihr Maul auf, ein feiner gleißender Strahl löste sich daraus und zischte zwischen den EWATs hindurch in den Himmel. Gleichzeitig hoben die Riesen ihre Felsbrocken, um sie den Tanks entgegenzuschleudern. »Flughöhe reduzieren!«, rief Eve. »Wir landen hinter der Hochhausruine!« Der rasante Sinkflug trieb ihr den Magen in den Brustkorb, sie tastete nach den Armlehnen ihres Sessels. Die grüne Fassade des Hochhauses füllte die Front des Panoramadisplays aus. Ein Ruck ging durch Ark I, als Dewlitt die Maschine aufsetzte. »Ark II an Ark I.« Davids Stimme aus dem Funkgerät. »Wir wurden aus dem Gebäude beschossen. Dreihundert Meter weiter südlich steht eine Ruine in Flammen.« Simon blickte auf die Ortungsinstrumente und bestätigte. »Ich schätze, ein Treffer mit einem verdammten Steinbrocken könnte uns fast noch mehr schaden als dieser Laserbeschuss«, sagte David. »Wer sich so genial tarnen kann, verfügt auch über geniale Waffentechnik«, gab Togo zu bedenken. Eve musste an das denken, was Sir Ibrahim Fahka über die Kuppel der EWATs gesagt hatte: sie sei die Achillesferse der neuen Tanks. Ob sie den Treffer mit einem Zweimeterbrocken aushielten? Eve wollte es lieber nicht ausprobieren. Eine Idee keimte in ihrem Hirn. »Sie haben aufgehört zu funken«, sagte Simon. »Sie wissen, dass wir in der Nähe sind.« »Oder können nicht mehr funken.« Eve löste ihren
Gurt und stand auf. Die Idee nahm Gestalt an. Es war ein durchaus perfide Idee, aber sie war die Kommandantin. »Wie auch immer, wir müssen handeln.« Sie ging zur Steuerkonsole und beugte sich neben Simon über das Mikro des Funkmoduls. »Commander an alle. Nicht allein die strengen Vorschriften der Community-Force, sondern auch die Menschlichkeit verpflichtet uns, Menschen in Not zu Hilfe zu kommen. Sie, Major Peterson, werden einen bewaffneten Stoßtrupp zur Ostseite des Schlossparks bringen und dort absetzen. Danach kommen Sie zurück. Während wir von unserer Position aus Feuerschutz geben, wird der Stoßtrupp auf das Gelände und möglichst bis zum Schloss vordringen und die Situation in dem Gebäude auskundschaften. Lieutenant Rouwens, Sie werden den Stoßtrupp leiten. Suchen Sie sich einen Begleiter aus. Ende.« Spencer Dewlitt fuhr herum. Aus schmalen Augen fixierte er Eve. »Wie können Sie …!« Er unterbrach sich, und statt seine Kommandantin zu kritisieren, sagte er: »Ich gehe freiwillig mit ihr.« »Das werden Sie nicht tun, Captain Dewlitt«, entgegnete Eve kühl. »Als Pilot sind Sie unersetzbar.« »Peterson an Ark I! Ich werde mit Courtney gehen!« »Das werden Sie nicht tun, Major Peterson! Wer soll Ark II zurück nach London bringen, falls Ihnen etwas zustößt?« Die Härte ihrer eigenen Stimme erschreckte sie und befriedigte sie zugleich. In diesen Augenblicken war sich Eve Carlyle selbst fremd und gleichzeitig doch voller Genugtuung. »Warum höre ich keine Bestätigung von Ihnen, Lieutenant Rouwens?« »Zu zweit auf das Gelände und möglichst ins Schloss vordringen«, kam es sehr leise und sehr heiser aus dem
Funkmodul. »Verstanden, Commander Carlyle …« Eve spürte die Blicke aller; keine wohlwollenden Blicke, auch das spürte sie. Niemand sprach ein Wort. Sekunden später wieder Courtney Rouwens' Stimme aus dem Funkgerät. »Kommst du mit mir, Ari?« »Klar.« »Kommt nicht in Frage, ich brauche Togo im Waffenturm. Captain Amer soll Sie begleiten, ihn kann der Major im Geschützsegment ersetzen. Haben Sie mich verstanden, Captain Amer?« »Verstanden.« Eve ging zurück zum Kommandantensessel. Grimmige Befriedigung erfüllte sie, die Schwäche in ihren Gliedern spürte sie in diesem Moment kaum. Sie ließ sich in ihren Sitz fallen. Von der Seite beobachtete Mac sie. »Tut mir Leid, Commander, aber ich verstehe Ihre Personalentscheidung nicht«, raunte er so leise, dass die drei an der Steuerkonsole nichts verstehen konnten. »Courtney Rouwens hat so gut wie keine Kampferfahrung.« Im rechten Panoramadisplay beobachtete Eve, wie Ark II sich in Bewegung setzte. In der Deckung von Trümmerhalden und Gestrüpp pflügte der Tank durch hohes Gras und Buschwerk Richtung Nordosten davon. Nadelfeine Lichtstrahlen zischten über ihn hinweg. »Und wann soll Lieutenant Rouwens Ihrer Meinung nach Kampferfahrung sammeln, Major McMalone?«
Kapitel 18 Das Ultimatum und der Magier � Aus den Johanna-Dateien � 8.2.2012 Panik, das Gefühl zu fallen, Todesangst, eine Bruchlandung, schließlich das Erstaunen, noch zu leben, und danach, halb betäubt, die Bergung der Verletzten aus dem Helikopterwrack. Zwei verwundete Soldaten waren sofort tot, ein Kind liegt im Sterben. Sie hielten uns für einen Kampfhubschrauber loyaler Truppeneinheiten. Als Fotografin trennte mich die Kamera von den Schrecken des Krieges, von der Angst seiner Opfer, von verzerrten Gesichtern und toten Leibern. Jetzt habe ich keine Kamera, jetzt bin ich mittendrin in Schrecken und Angst. Und doch – auch ein Diktiergerät schafft Abstand: Seit zwei Stunden sitze ich hier im hintersten Winkel einer Art Lazarettzelt, beobachte und staune. Leute, die ich nie zuvor gesehen habe, schöpfen heiße Suppe in die Schüsseln und Teller der Menschen aus dem Helikopter oder versorgen die Verletzten; vielleicht Ärzte, vielleicht Sanitäter, keine Ahnung. Der junge Mann dort mit dem langen blonden Haar und dem dunklen Teint jedenfalls ist ein Arzt. Er hat Petes gebrochenen Arm geschient und versorgt nun Mary-Lous Brandwunden. Als Dr. Frederic Gabriel stellte
er sich vor; Amerikaner. Ein charmanter Mann, gut gebaut, kräftig, besonnen; ein attraktiver Mann … Wie witzig! Selbst angesichts des Untergangs funktionieren meine Instinkte noch, produziert mein Körper genau die Hormone, die zur Erhaltung meiner Gattung unabdingbar sind; oder vielleicht gerade angesichts des Untergangs? Wie gleichgültig. Dort schreit ein Kind, dessen Mutter bewusstlos ist; da jammert ein Mann vor Schmerzen; dort ruft eine Helferin nach Morphium. Ein Arzt verlangt nach Verbandsmaterial; der fieberkranke Rowdy randaliert, drei Uniformierte bändigen ihn. Neben dem Eingang weint ein junges Mädchen laut – um seinen Liebsten scheint es schlecht bestellt zu sein –, und nur ein paar Schritte neben mir schnarcht der Alte in der Admiralsuniform. So wie ich gehört auch er zu den wenigen, die nicht einmal einen Kratzer abbekommen haben. Seine Flasche habe ich retten können, was für ein Glück! Sie ist noch zu fast einem Drittel gefüllt. Ein teurer Whisky, alles, was recht ist, der Alte hat Stil. Auf seiner Brust, auf seinen Orden thront der Siamkater und beobachtet mich. Und mitten unter all diesen aufgescheuchten, verängstigten und an Seele und Leibe verwundeten Menschen sitzt mit gekreuzten Beinen und in stoischer Ruhe ein Mann mit langem weißem Haar und eleganten Kleidern und schaut in irgendeine Ferne. Teurer Schmuck ziert seine sorgfältig manikürten Finger, seine Ohrläppchen, seinen Hals. Er trägt eine goldene Halskette; ihr Anhänger ruht auf seiner tiefroten
Krawatte: ein Drudenfuß. Selten rührt er sich, manchmal schließt er die Augen, und manchmal bewegen sich seine Lippen wie in einem stummen Gebet. Er hieße Plant, erklärte mir Dr. Gabriel. Er sei sein geistiger Mentor und bewohne ganz allein ein großes Schloss, und er sei früher ein berühmter Musiker gewesen. Was wird jetzt geschehen? Ich weiß es nicht. Was spielt sich draußen vor dem Zelt ab? Was wollen all die Menschen hier in der Ebene von Salisbury? Ich weiß es nicht. Wie ein Heerlager umringen ihre Zelte, Wohnmobile, Lagerfeuer, Traktoren und Pkw den Steinkreis und die monströse Leichtmetallhalle über dem Bunkereingang. Wie viele Stunden trennen uns wohl noch vom Kometeneinschlag? Elf Stunden? Zwölf? Ich weiß es nicht, meine Uhr ist stehen geblieben. Die Sonne müsste bald aufgehen; aufgehen zum letzten Tag dieser Welt. Soll ich lachen, oder soll ich weinen? Ich wünschte, diese Nacht würde nie zu Ende gehen … Morgendämmerung. Eiskalte Luft strömt durch den offenen Zelteingang ins Lazarett. Wenn doch bloß jemand die Plane schließen würde! Wer sich aus eigener Kraft rühren kann, rückt mit den anderen, die sich aus eigener Kraft bewegen können, um die wenigen elektrischen Heizöfen zusammen. Weiß Gott, wo sie den Strom herhaben. Das Kind und der junge Bursche sind gestorben. Die Mutter, von Morphium betäubt, wälzt sich neben ihrem fiebernden Mann hin und her und ruft den Namen der Kleinen. Das Mädchen sitzt apathisch neben dem Eingang, durch den sie zwei Stunden zuvor die Leiche
ihres Geliebten weggetragen haben. Den Randalierer haben sie nach draußen gebracht. Neben Plant kniet ein kleiner untersetzter Mann in Uniform. Sie studieren den Bunkerplan, den ich ihnen gegeben habe. Der Uniformierte hat erst vor einer halben Stunde das Lazarettzelt betreten. Ein paar Sterne an seinen Schulterstücken machen ihn als General verdächtig. Er jedoch stellte sich ohne Nennung eines Ranges vor: Harold Dubliner. Er ging durch die Reihen, sah nach den Verletzten, machte eine betroffene Miene, entschuldigte sich. Vor mir blieb er stehen, runzelte die Stirn und ging in die Hocke. »Sind Sie nicht Joan Carlyle, die Fotografin? Arbeitet Ihr Mann nicht im Innenministerium?« Ich: »Ja. Und das sind meine Tochter und mein Schwiegersohn.« Ich deutete auf Pete und Mary-Lou, die nicht weit entfernt unter derselben Decke schliefen. »Meine Tochter ist im fünften Monat schwanger.« Dubliner, so klein und unscheinbar er auf den ersten Blick wirkte, schien so eine Art Premier all der Menschen hier vor Stonehenge zu sein. Von ihm erfuhr ich, was sich draußen abspielte. Etwa zweihundert Menschen hatten sich im Bunker unter Stonehenge verbarrikadiert; Politiker, hohe Militärs, preisgekrönte Wissenschaftler und so weiter. Ein Minister tat sich als ihr Rädelsführer hervor. Der Bunker war für tausendfünfhundert Menschen konzipiert. Aus Angst, überrannt zu werden, ließen sie jedoch niemanden mehr hinein. Etwa sechstausend Menschen belagern zur Zeit den Eingang unter der Halle. Einwohner Salisburys zumeist. Aber auch Männer und Frauen aus allen möglichen Ortschaften
Südwestenglands; oder Leute wie Plant, die aus irgendeiner Quelle von dem Bunker erfahren hatten. »Sechstausend Leute für einen Bunker, in dem nur tausendfünfhundert überleben können?«, fragte ich. »Wie soll das gehen, Sir?« »Wir werden sehen«, sagte Dubliner, und ich begriff im selben Augenblick, dass mindestens viertausendfünfhundert den Bunkereingang belagern und im Feuerorkan »Christopher-Floyds« umkommen würden, sollte es dem General gelingen, den Bunker zu erobern. Er hatte der Bunkerbesatzung ein Ultimatum gestellt: Um zwölf Uhr mittags wollte er den Eingang mit einer schweren, konventionellen Bombe zerstören, sollte die Besatzung ihn bis dahin nicht freiwillig öffnen. »In weniger als fünf Stunden also«, fügte er hinzu. »Und was nützt uns ein Bunker, dessen Eingang zerstört ist, wenn ›Christopher-Floyd‹ kommt?«, wollte ich wissen. »Wir werden sehen.« Ein Pokerer, der Mann. Er macht mir Angst. Ich habe ihm den Bunkerplan überlassen. Jetzt brütet er mit Plant darüber. Der greise Admiral kniet hinter ihnen und schaut ihnen über die Schulter. Er hat mir die Flasche weggenommen. Sein Kater sitzt zwei Schritte rechts von mir und beobachtet mich. Blödes Vieh! Der Admiral stützt sich auf Dubliners Schulter auf und deutet auf den Plan. Er schwankt. Himmel, mein Akku macht schlapp … Auf Mr. Plants Armbanduhr ist es zwanzig vor neun. Der Admiral ist der geilste alte Bock, der mir je begegnet
ist! Ich könnte ihn erwürgen! Andererseits: Batterien aus seinem Reise-Rasierapparat betreiben jetzt mein Diktiergerät. Wie lange sie halten? Der Himmel weiß es. Der Preis für die Batterien will mir kaum über die Lippen: Meinen BH habe ich dem alten Scheißkerl überlassen müssen. Und eigentlich wollte er ein noch weit intimeres Kleidungsstück … Aber wie die meisten hier bin ich ohne Koffer unterwegs und habe keinen Ersatz. Der alte Admiral a. D. heißt übrigens Henry Priden. Der junge Captain aus dem Helikopter ist sein Enkel. Aus Rache habe ich Priden senior seine Bourbonflasche gestohlen, noch viertel voll. Und wenn er das nächste Mal unflätig wird, werde ich mit ihr erst seinen Kater erschlagen und danach ihn. Shit, ich bin nicht mehr ganz nüchtern … Sie verteilen Tee, Äpfel und Sandwiches zum Frühstück. Unsere Henkersmahlzeit; noch etwas mehr als sechs Stunden bis zum Einschlag. Dr. Gabriel geht von einem Verletzten zum anderen, spricht mit jedem, wechselt Verbände, setzt Injektionen. Was für ein wunderbarer Mensch! Der kleine General hat schon vor einer Stunde das Zelt verlassen. Danach hat Mr. Plant sich neben mich gesetzt. Wollte wissen, wo ich herkomme, wer ich bin, sprach von der Kabbala, von Magie, Psikräften und so weiter. Ein Engel sei ihm im Traum erschienen und hätte ihm befohlen, nach Stonehenge zu gehen, und alles würde gut werden. Ich wusste nicht, ob ich meinen Ohren trauen sollte. Gut sei im Grunde auch, dass der Komet komme, sagte er. Nur durch solche Krisen würde die Menschheit sich
weiterentwickeln, und er freue sich auf die Zukunft, wie dunkel auch immer sie im Augenblick scheine. »Machen Sie sich keine Sorgen, Joan«, lächelte er. »Sie scheint nur dunkel.« Ich begriff kein Wort, war aber irgendwie fasziniert. Ob ich wusste, dass mein Bunkerplan einen Code enthielte. Schon wieder so ein Hammer. »Was für einen Code?«, wollte ich wissen. Er: »Der Zugangscode zum Bunker.« Ich: »Wie kommen Sie auf so einen Blödsinn?« Er: »Das ist kein Blödsinn, es ist die Wahrheit. Jemand hat ihn handschriftlich in den Plan eingetragen, und zwar so sorgfältig, dass man die Ziffern kaum von den anderen, gedruckten Zahlenangaben der Karte unterscheiden kann.« Und dann, mit Blick auf den Alten, der gerade an meinem BH schnupperte: »Admiral Priden aber hat ihn sofort erkannt …« Der Zugangscode also, aha. Ich war verwirrt. Sollte Lou tatsächlich so unvorsichtig gewesen sein? Wo der General hingegangen sei, wollte ich wissen. Plant: »Geheime Verhandlungen mit den Leuten im Bunker.« Ich: »Geheim also, was Sie nicht sagen. Und worüber verhandelt er?« Ich packte sein Handgelenk und tippte auf seine Uhr. »Wir haben noch acht Stunden Zeit, Sir!« Auf seiner Uhr war es gleich Viertel vor neun. »Um 16:42 kommt ›Christopher-Floyd‹! Genau acht Stunden!« »Keine Sorge, Joan.« Plant nahm meine Hand. Seine Augen lachten. Als wäre ich ein Kind, das gerade einen naiven Scherz gemacht hatte, sah er mich an – gütig, liebevoll und ein wenig amüsiert. »Keine Sorge, Sie werden dabei sein, Joan. Und Ihre Familie auch …«
Kapitel 19 Die Prinzessin von Wales � Poruzzia, Mitte April 2516 Noch ein letzter Blick zurück – da stand sie, die dunkelgrüne Riesenschlange; in einer quadratischen, von jungen Brennnesseln zugewachsenen Mulde vor der zersplitterten Glasfront eines flachen Baus mit seltsam geschwungenem Dach. Courtney Rouwens winkte, obwohl sie niemanden hinter der schwarzen Frontkuppel erkennen konnte. Doch sie wusste genau, dass David ihr hinterherblickte, sie spürte seinen Blick, und wie zur Bestätigung erklang seine Stimme im Helmfunk: »Keine Angst, Herzchen, wir passen auf euch auf!« Sie streckte die Rechte mit hochgerecktem Daumen in Richtung des EWATs aus. Dann drehte sie sich um und kletterte die moosbedeckten Stufen zur Straße hinauf. Amer kauerte bereits im Gestrüpp zwischen Autowracks, er fummelte an seinem LaserphasenGewehr herum. Courtney ging neben ihm in die Hocke. Zwanzig Schritte weiter wucherte dichtes rostbraunes Farnkraut, rechts dahinter erhob sich eine ziemlich große Ruine; sah aus wie eine ehemalige U-Bahn-Station oder etwas in der Art. Und auf der linken Seite hinter dem kleinen Waldflecken, vielleicht hundertzwanzig Schritte entfernt, ragten die Schlosslinden in den Abendhimmel. Die Bäume hatten etwas Traumhaftes, Unwirkliches; irgendwie passten sie nicht in diese gespenstische Umgebung.
Courtney tastete nach dem Griffbügel ihrer Waffe, löste ihn vom Karabinerhaken ihres Gurts und öffnete das kleine Tastaturfach an der Vorderseite der faustgroßen Reaktorkugel. Sie tippte ihren persönlichen ID-Code ein, mit dem allein die Waffe aktiviert werden konnte. Aus dem zehn Zentimeter langen Rohr auf der gegenüberliegenden Reaktorseite schob sich ein zweites, dünneres Rohr und aus diesem ein drittes, noch dünneres. Das LP-Gewehr war einsatzbereit. »Rouwens an Ark II, wir warten auf euer Zeichen.« »Major an Stoßtrupp, wir sind auf dem Weg zurück zu Ark I. Sobald wir angekommen sind, werden wir den Scheinangriff eröffnen. Ihr hört dann von uns.« Das konnte dauern. Für den an sich kurzen Weg zur Ostseite des Schlosses hatten sie drei Stunden gebraucht. Der Major selbst hatte das Fahrzeug gesteuert und einen großen Umweg in Kauf genommen, um nicht in das Blickfeld und die Schusslinie der Unbekannten im Schloss und ihrer monströsen Wächter zu geraten. Sie warteten. »Was hältst du von der Sache?«, fragte Courtney irgendwann. »Kein Problem. Während sie sich mit unseren Panzern herumschlagen, werden wir durch den Park rennen, und schon sind wir drin. Kinderleicht.« Courtney hörte nur Amers Stimme im Helmfunk, hinter der schwarzen Sichtschutzschicht des Kugelhelmes konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Sie war dankbar dafür. »Ich meine nicht unseren Einsatz. Ich meine das Schloss, den Funkspruch, die Echsen und die Riesenkerle.« Eddy Amers Schultern zuckten unter dem Stoff seines
Schutzanzugs. »Sie setzen Notrufe ab, und sie schießen, wenn man ihnen zu Hilfe kommen will. Das lässt doch nur einen Schluss zu, oder?« »Du meinst, die sind sich nicht einig?« Courtney deutete Richtung Schloss. »Du willst sagen, da drinnen bekämpfen sich vielleicht verschiedene Gruppen?« Amer antwortete nicht. Das deutete Courtney als Zustimmung, und ihre Unruhe wuchs. Hatte das Kommando bei ihr anfangs nur ein mulmiges Gefühl verursacht, wie es Unerfahrene angesichts schwieriger Aufgaben nun einmal überfallen mochte, so empfand sie jetzt echte Angst. Nein, es war keine gute Idee von der Kommandantin, sie auf diesen Einsatz zu schicken. Sie hatte keine Lust, zwischen die Fronten irgendwelcher Kriegsparteien zu geraten. Amer stieß sie an. »Siehst du das?« Zwischen den Stämmen der Linden bewegte sich etwas. Courtney erkannte nackte Beinpaare und die Schwänze zweier Riesenechsen. Obwohl sie schwitzte, rieselte ihr eine Gänsehaut über Nacken und Rücken. Die monströsen Männer schleppten Felsbrocken auf die andere Seite des Schlosses. Die schuppigen Ungeheuer stellten sich dort, über fünfhundert Meter entfernt, zwischen den Linden auf. »Sie wissen, dass Ark I irgendwo da drüben in Deckung liegt und angreifen wird«, sagte Amer. »Mit uns rechnen sie überhaupt nicht.« Davon war Courtney ganz und gar nicht überzeugt. Ihr Mund blieb trocken, da konnte sie schlucken, so viel sie wollte. Auf einmal wünschte sie sich ins Wasserwerk der Community unter die Zuschauer eines harmlosen Boxkampfes. Sie fühlte sich plötzlich völlig fehl am Platz, so fehl am Platz, wie ihr das Porträt der Prinzessin im
Foyer der Octaviatskuppel immer vorgekommen war. Ihr Atem flog, sie schwitzte, und das Überlebenssystem ihres Schutzanzugs arbeitete auf Hochtouren. »Was ist los mit dir?«, knurrte Amers Stimme aus dem Helmfunk. »Wieso? Was soll los sein? Nichts ist los.« Und nach ein paar Sekunden fügte sie hinzu. »Hast du eigentlich eine Ahnung, warum die Princess of Wales zu jung gestorben ist?« »Bitte?« »Na ja, du weißt doch, die junge Frau, deren Porträt unter den Bildern im Octaviats-Foyer hängt. Diana hieß sie.« »Ach die. Keine Ahnung. Wahrscheinlich starb sie bei der Rebellion im siebzehnten Jahr nach dem Kometeneinschlag. Dabei kamen meines Wissens auch der König und Prinz William ums Leben.« »Nein, sie starb lange vor ›Christopher-Floyd‹. Im August 1997.« Courtney wunderte sich, weil Jahr und Monat ihr sofort einfielen. »Woran stirbt man schon jung«, blaffte Amer. »Krankheit, Unfall, Mord. Weiß doch ich nicht! Wie kommst du überhaupt auf solchen Schwachsinn?« Courtney schwieg. Sie wusste es selbst nicht. Die Minuten krochen dahin, wurden zu Stunden. Die Nacht dämmerte herauf. Der Lichtschein des Schlosses lag jetzt wie eine schimmernde Kuppel über der Gegend. Und endlich der Einsatzbefehl von Ark I: »Commander an Lieutenant Rouwens, wir sind so weit. Sobald Sie unser Feuer sehen, dringen Sie zum Schloss vor.« Die Stimme machte Courtney wütend. »Verstanden.« Zum ersten Mal wagte sie zu denken, was sie bis jetzt
nur unterschwellig fühlte: Sie mit dem Kommandounternehmen zu beauftragen, war ein schnöder Racheakt einer gedemütigten Frau und sonst gar nichts. Auf der anderen Seite des Schlosses zuckten Laserstrahlen in den Abendhimmel. »Packen wir's!« Courtney gab sich einen Ruck, sprang auf und rannte los. Vor Amer erreichte sie das kleine Wäldchen zwischen der Metroruine und dem Schlosspark. Trotz ihrer Angst dachte sie gar nicht daran, dem Captain die Rolle des hehren Beschützers zu gönnen. Sie arbeiteten sich durch das Gestrüpp, erreichten die Grenze des Parks. Laserstrahlen zuckten durch den dunkelgrauen Himmel. Die nächsten Lindenstämme waren nur acht Schritte entfernt. In dem von der weißen Schlossfassade reflektierten Kunstlicht wirkten sie selber wie aus Kunststoff. In geduckter Haltung und Seite an Seite pirschte sich das Paar an die hohen Bäume heran. Sie mussten uralt sein. Im Helmfunk hörte sie Eddy Amer fluchen und drehte sich nach ihm um – er war über einen im Gestrüpp verborgenen Metallpfosten gestolpert. Schimpfend rappelte er sich auf. Kaum einen Schritt entfernt entdeckte Courtney das oberen Ende des Pfostens und an ihm ein verdrecktes Metallschild. Sie griff danach, und augenblicklich löste es sich aus durchgerosteten Halterungen. Mit dem Handschuh streifte sie Moos und Moder ab. Weiße Buchstaben auf ehemals blauem Grund wurden sichtbar: Friedensplatz. Denkbar ungünstiger Augenblick, ein Souvenir aufzulesen, dennoch griff Courtney über die Schulter und versenkte das Schild im Tornister, der im Rückenteil ihres Schutzanzuges integriert war.
»Du spinnst doch!«, schimpfte Amers Stimme im � Helmfunk. »Außerdem steht es mir zu, ich bin drübergestolpert!« Courtney winkte ab, huschte weiter in Richtung Schlosspark. Als sie drei Meter vor den Linden in Moos und Geröll kauerten, legte sie dem Captain die Hand auf die Schulter. »Warte.« »Blödsinn! Wieso denn?« Courtney betrachtete die Bäume. »Warte, sage ich!« Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Sie liebte Bäume, und seit ihrer Kindheit hatte sie sich gewünscht, einmal in ihrem Leben einen Baumstamm mit bloßen Händen berühren zu können. Sie hatte viele Bäume gesehen, in den Ruinenwäldern über der Community und in den Datenbanken der Zentralhelix. Diese Linden hier erinnerten sie an Bäume, die auf alten, zu hell eingestellten Monitoren flimmerten. Und dann die Rasenfläche – wie konnte die Grenze zwischen Gestrüpp und Geröll und dem Rasen so vollkommen scharf und wie mit dem Zirkel gezogen verlaufen wie diese da? Wegen der Biosphäre? Courtney tastete nach einem kinderkopfgroßen Stein, packte ihn mit beiden Händen und holte aus. »Bist du vollkommen übergeschnappt?!«, schrie Amer. Er hielt ihren Arm fest, »Loslassen!«, zischte Courtney und schüttelte ihn ab. Sie schleuderte den Stein auf eine der Linden. Er flog durch den mächtigen Stamm hindurch wie durch Luft und prallte auf den Rasen. Zur Hälfte versank er darin, doch nicht so, dass er halb im Boden verschwand, sondern so, als wäre er nur in seichtes Wasser gefallen. Grünes Lichtspiel umflirrte ihn …
»Wärmequellen aus östlicher Richtung!«, rief Barbara Plant. David neigte sich zu ihr hinüber und blickte auf das Infrarotdisplay: Dutzende von Schemen bewegten sich zielstrebig auf das Schloss zu. »Commander an Ark II. Habt ihr die Barbaren geortet? Sie greifen das Schloss an!« Seit etwa zehn Minuten veränderten die beiden EWATs ständig ihre Position. Togo und die Bordhelix von Ark II feuerten ungezielt aus den Geschütztürmen. Die meisten Laserstrahlen zischten in den Abendhimmel oder am Schloss vorbei in die Ruinen. Es ging nicht um Treffer, sondern darum, die Schlossbewohner und ihre Wachmonster vom Stoßtrupp abzulenken. Dabei verließen die Earth-Water-Air-Tanks kaum ihre Deckung, und das Gegenfeuer aus dem Schlosspark und dem Schloss selbst blieb spärlich und ähnlich ungezielt. Und jetzt schienen tatsächlich Barbaren die Gunst der Stunde ausnutzen zu wollen und griffen das Bauwerk an. »Vermutlich diese legendären Poruzzen«, sagte John Cox. Er saß hinter ihnen im Navigatorenstand. »Sie glauben, das Schloss würde angegriffen.« »Kann die Bordhelix Bilder von ihnen liefern?« Davids Frage ging an Barbaras Adresse. Deren Finger flogen über die Tastatur der Ortungsinstrumente. Aus dem Flimmern eines Monitors am unteren Rand des Panoramadisplays schälten sich die Umrisse menschlicher Gestalten. Schließlich sah man vier bärtige Barbaren aus der Deckung einer Ruine auf eine Straße rennen. Sie trugen erdfarbene Hosen und Westen, blonde Zöpfe hingen ihnen aus einer Nackenöffnung ihrer Lederhelme auf den Rücken. In den Fäusten hielten
sie Äxte und Schwerter. Sie warfen sich zwischen die Autowracks und robbten durch Gras und Geröll. »Commander an Lieutenant Rouwens!«, tönte Eves Stimme aus dem Funkmodul. »Die Schlossbewohner funken wieder! Eine Zahlenkombination, möglicherweise der Zugangscode zum Schloss: 2012281642, ich wiederhole …« Der Beschuss aus dem Schloss ließ deutlich nach; vermutlich nahmen sie da drinnen jetzt die Barbarenkrieger unter Feuer. David steuerte den EWAT zu einer mehrstöckigen Ruine, ging hinter ihr in Deckung und danach, im Schutz der Fassade, hinauf auf sechzig Fuß. »… wir haben unverschämtes Glück.« Eve funkte noch immer an den Stoßtrupp. »Irgendwelche Barbaren greifen das Schloss an. Die Monsterwächter und die Schlossbewohner haben alle Hände voll zu tun mit ihnen. Die wenigsten Angreifer werden das Schloss erreichen. Sehen Sie zu, dass Sie vor ihnen im Gebäude sind, Lieutenant …!« »Courtney in diese Hölle zu schicken, Shit!« David fluchte. »Miststück, verdammtes …!« Er erntete einen bösen Blick Barbaras. Der Monitor zeigte eine Gruppe von Barbarenkriegern, die höchstens dreißig Schritte von den großen Linden entfernt durch die Ruinen stürmten. Was, wenn einige von ihnen durchbrachen und auf Courtney und Eddy Amer trafen? »Miststück …!« Barbaras Blicke kümmerten ihn nicht. Die Riesen stemmten ihre Felsbrocken hoch, Echsen schleuderten Feuerblitze, Geschütze im Schloss schossen Strahlen auf die Angreifer ab, doch so viele von ihnen auch getroffen zusammenbrechen mochten, der Rest
stürmte unentwegt weiter. Diese Neobarbaren schienen den Tod nicht zu fürchten. Plötzlich explodierte etwas zwischen den Wächtern auf dem Rasen, eine Erdfontäne schoss in die Luft. Ungläubig starrte David auf das Panoramadisplay. Die Riesenkerle und die Reptilien reagierten überhaupt nicht, Geröll und Erdbrocken schienen durch sie hindurch zu rieseln. »Sie haben Geschütze!« Eves Stimme aus dem Funkmodul klang erregt. »Diese Poruzzen haben Geschütze!« Und jetzt sah es auch David: Sechs der blonden Krieger zerrten eine Art Kanone auf Rädern hinter sich her. »Sie müssen das Schwarzpulver wiederentdeckt haben …« Die erste Angriffswelle der Krieger stürmte auf den Rasen. »Vielleicht sind es gar keine Poruzzen«, sagte Doc Doubleman hinter David. »Vielleicht sind es diese grausamen Krieger, von denen die Flüchtlinge erzählt haben …« David hörte kaum zu. Die Szenen auf dem Panoramadisplay fesselten seine Aufmerksamkeit – und sie ließen ihn an seinem Verstand zweifeln: Die Barbaren versanken bis zu den Knöcheln im Rasen, ohne dass sie langsamer liefen, und sie rannten durch die Echsen und Riesen hindurch, als wären diese bunte Nebelschwaden … Courtney Rouwens lief über Rasen, der keiner war.« »Rouwens an alle!« Sie schrie und keuchte, und ihr Gesichtshelm beschlug. »Es ist eine Illusion! Nicht die Efeuruine, das Schloss ist die Illusion!« Und noch
während sie diese Worte in den Helmfunk stöhnte, blitzte ihr die Frage durch den Kopf, wie eine Fata Morgana aus Laserkanonen schießen konnte. Hatten die Treffer nicht Ruinen in Brand gesetzt? Schlagartig kehrte die Angst zurück. Nicht darauf achten, nur nicht darauf achten, weiterlaufen, immer weiter! Hinter sich hörte sie Amers Schritte durch Geröll und Schutt stampfen. Nur noch zwanzig Schritte bis zum Schloss! Je näher dessen weiß strahlende Fassade rückte, desto durchscheinender wirkte sie. Weiter! Jenseits des Schlosses standen die Riesen und Echsen und ließen Männer passieren, die Schwerter und Äxte schwangen. Die Strahlen aus den Echsenrachen waren Illusion, genau wie das Schloss und die Riesen! Die vergleichsweise kleinen Krieger rannten einfach durch ihre mächtigen Schenkel! Im Laufen hob Amer seine Waffe. Ein gleißender Strahl fuhr unter die Krieger, und im nächsten Augenblick wälzten sie sich brennend im grünen Flimmerlicht des virtuellen Rasens. »Commander an Rouwens.« Die Stimme der Kommandantin gellte im Helmfunk. »Warum schießt ihr auf potentielle Verbündete?!« »Weil sie einen verdammt angriffslustigen Eindruck machen!«, schrie Amer. Courtney hätte kein Wort herausgebracht. Hinter ihr explodierte etwas, und eine Druckwelle schleuderte sie und Amer zu Boden. Steinig und schroff fühlte der sich an, ganz und gar nicht wie weicher Rasen. Ein Regen aus Erde und Geröll ging auf sie nieder. »Feuerschutz! Wir brauchen Feuerschutz!«, schrie Amer. Courtney Rouwens schnappte nach Luft, sprang auf, rannte weiter. Die Schlossfassade ähnelte jetzt einem
Wall aus weißem Licht, genauso die Türme, die Vortreppe, das Portal. Ein Laserstrahl zischte aus dem Licht. Courtney schrie vor Angst, kam ins Stolpern. Amer hielt sie fest, überholte sie, rannte einfach in die Treppe hinein wie in Dunstschwaden; Courtney Rouwens hinterher. Blendendes Licht traf ihre Augen wie ein Faustschlag. Courtney blieb einen Augenblick stehen, kniff die Lider zusammen. Der Lichtschutz des Kugelhelmes reagierte sofort – als sie die Augen wieder öffnete, sah sie sich einer unübersichtlich langen Hausfassade voller Efeu gegenüber, fünf oder mehr Stockwerke hoch und aus ehemals rotem Klinker, wie man in den Lücken des Pflanzenteppichs erkennen konnte. Aus den oberen Fensteröffnungen ragten silbrig schimmernde Rohre, und aus ihnen zischten Laserstrahlen – eindeutig keine Illusionen! Dutzende von Scheinwerfern waren in die Fassade versenkt, sie strahlten des harte Licht aus. Courtney nahm es jetzt als stark gedämpftes Leuchten wahr. Amer packte die vor Staunen starre Frau und riss sie mit sich zur Ruine. Etwa zweihundert Meter rannten sie an ihr entlang, bis sie etwas entdeckten, das einem Eingang ähnelte – eine zersplitterte Glastür hinter Efeufetzen. Amer stieß sie auf. »Sie kommen!« Courtney blickte zurück: Sieben, acht Barbaren tauchten in den Lichtschwaden auf. Einige gingen in die Knie, andere rissen die Arme hoch und drückten sie gegen die Augen. Amer jagte ihnen eine Laserladung entgegen, zog gleichzeitig Courtney mit sich in die Ruine, überzeugte sich nicht einmal von der tödlichen Wirkung seines Schusses.
Courtney schüttelte seinen Arm ab. Es ärgerte sie, ihm in den letzten Minuten die Initiative überlassen zu haben. Sie rannte an ihm vorbei, entdeckte das Schott als Erste, klopfte es ab. In der Mauer neben seinem Rahmen fand Amer die Tastatur. »Den Code! Mach schon!« »2012 …« Courtney drehte sich um – zwei Barbaren tauchten am Eingang auf. Sie riss das LP-Gewehr hoch und schoss. »… 281642!« Die Körper der getroffenen Krieger zuckten am Boden. Wieder erschien einer am Außeneingang, und wieder drückte Courtney ab. »2012 …« Sie wiederholte den Code. »Wie sinnig!« Amer stieß einen grimmigen Lacher aus. »Was lachst du, Mann!« Courtney atmete schwer, lehnte gegen die Wand und zielte auf den Eingang. »Was gibt's hier zu lachen …!« »Datum und Uhrzeit des Kometeneinschlags! Ist dir das nicht aufgefallen?« Das Schott bewegte sich, verschwand in der Wand. Amer sprang in einen etwa zwanzig Quadratmeter großen Raum, ein Lift, wie es aussah. »Komm schon, Mädchen!« »Rouwens an Commander!«, schrie Courtney. »Wir haben ihr Hauptschott geöffnet!« Sie sah sich um. Wie Silber schimmerten die Metallwände des Aufzugs. Wohin würde er sie wohl tragen? Hinein in einen Krieg zwischen Fremden? »Na los, Lieutenant!«, brüllte Amer. Courtney war auf einmal, als müsste sie sich zwischen einer Lungenentzündung und einer Darminfektion entscheiden. Schließlich entschied sie sich, auf den schmalen, gut zu verteidigenden Gang und ihr LPGewehr zu vertrauen. »Geh allein, ich halt dir den Rücken frei!« Ein hagerer Krieger mit Augenklappe
sprang vierzig Meter vor ihr in den Türrahmen. Mit der Rechten holte er aus, um einen Speer auf sie zu schleudern. Courtneys Laserstrahl bohrte sich in seine Brust. Hinter sich hörte sie, wie das Schott vor dem Lift sich schloss. Amer verfluchte Courtney. Er spürte, wie der Lift nach unten raste. Die Waffe im Anschlag, drehte er sich um sich selbst. Er hatte keine Ahnung, auf welcher Seite die Türen sich öffnen würden. Der Lift stoppte, rechts schoben sich Türen auseinander. Amer warf sich auf den Bauch und zielte in eine weiträumige, hohe Kuppel hinein. Flüchtig registrierte er Fahrzeuge und Gerätschaften - und vor ihnen, etwa sechzig Schritte entfernt, ein annähernd kugelförmiges Gerät auf Kettenschuhen, vielleicht hüfthoch. Aus dessen Pol löste sich ein feiner Strahl. Amer schoss, rollte sich zur Seite, schoss erneut. Die Stelle, an der er eben noch gelegen hatte, glühte rot. Der Roboter fuhr im Zickzackkurs durch die Kuppelhalle, während Flammen aus seiner Kugelform schlugen. Amer sprang auf, traf das Gerät ein zweites Mal und stürmte aus dem Lift. Irgendwo öffnete sich eine Luke – gleich zwei Kugelroboter rollten heraus. Amer feuerte und warf sich hinter einem Fahrzeug, das ihn an einen kleinen Schneepflug erinnerte, in Deckung. Flach auf den Boden gepresst, äugte er zwischen den Rädern in die Halle hinein. Qualmschwaden stiegen zur Decke hinauf. Er stieß einen Fluch aus, weil er mindestens sechs Kettenschuhe von Robotern ausmachte. Sein Laserstrahl fauchte unter dem Fahrzeug durch und traf zwei von ihnen. Als er die Deckung wechselte, merkte er, wie ein Roboter von einer
Hochenergieladung getroffen wurde. Amer wusste nur, dass er den Schuss nicht abgegeben hatte. Zwischen Kuppelwand und panzerartigen Vehikeln hastete er von Deckung zu Deckung. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung neben einem Panzer wahr. Er richtete sein LP-Gewehr darauf – und ließ es gleich wieder sinken. Eine menschliche Gestalt mit Helm und in schwarzem Schutzanzug kniete dort. Sie riss erst die Arme hoch und winkte ihn dann zu sich. Amer wagte es. Sekunden später kauerten sie nebeneinander und zerstörten fünf Roboter. Danach schien erst einmal Ruhe einzukehren. Der Helm des Fremden war durchsichtig. Amer sah ein hohlwangiges Frauengesicht. Der Helm berührte den seinen. »Maria«, sagte sie, und ein vermutlich deutsches Wort, das wie »danke« klang. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. An Panzern, Transportern und Fahrzeugen vorbei, deren Nutzen sich Amer nicht sofort erschloss, schlichen sie an der Kuppelwand entlang – bis die Frau endlich stehen blieb, eine Klappe öffnete und einen Zahlencode in die dahinter verborgene Tastatur eingab. Eine Luke öffnete sich, sie schlüpften hindurch, die Luke schloss sich wieder. Der nächste Raum entpuppte sich als Schleuse. Die Frau legte ihren Schutzanzug ab und ihren Strahler in einen metallenen Wandschrank neben dem nächsten Schott. Mit einer Kopfbewegung bedeutete sie Amer, es ihr gleichzutun. Widerstrebend vertraute Amer sein LP-Gewehr dem Sterilisator an. Ohne Schutzanzug betraten sie die nächste Schleuse und dann einen kleinen Kuppelraum, in dem nur gedämpftes Licht herrschte. Etwa sieben
Männer und zwei Frauen warteten dort auf sie. Die Frau namens Maria entnahm ihre Waffe dem Sterilisator und reichte Amer sein LP-Gewehr. Die Fremden stellten sich mit Handschlag vor. Marc, Leonidas, Hans, Judith, Horst… Amer prägte sich die Namen nicht ein. »Was bei allen Kometen ist das für ein verdammtes Spiel, das hier bei euch läuft?«, fragte er auf Englisch. »Ein Wartungsroboter hat unseren Zentralrechner übernommen«, antwortete Maria in leidlich flüssigem Englisch. »Er hat sich von anderen Robotern mit dem Hauptterminal kurzschließen lassen und kontrolliert neunzig Prozent unseres Bunkersystems.« »Wollt ihr mich verarschen?« Eddy Amer glaubte nicht recht zu hören. Maria wiederholte die ebenso knappe wie fürchterliche Lagebeschreibung. Etwa hundertachtzig Bunkerkolonisten hatten die Roboter gefangen genommen. Soweit sie arbeitsfähig waren, mussten sie Programme schreiben und neue Roboter produzieren. Zwei weiteren Gruppen zu je höchstens fünfzehn Personen war es gelungen, sich in abgelegenen Winkeln des Bunkers zu verschanzen. Eine hatte offenbar einen alten UKW-Sender aktivieren können. »Seit fünfzig Tagen geht das so. Alpha Sieben fast alle Luken, Schleusen und kontrolliert Hauptschotts«, erklärte Maria. »Wir hungern, auch das Wasser geht uns allmählich aus.« Sie hob ihr Gewehr. »Das hier ist die einzige Waffe, die wir noch besitzen.« »Alpha Sieben?« »Der Anführer der Rebellen.« »Wie viele mobile Roboter kontrolliert er?« »Es mussten noch etwa siebzehn sein. Doch das
Hauptproblem ist der Zentralrechner. Solange Alpha Sieben ihn kontrolliert, kann er uns mit Stickstoff beatmen, wenn er will, oder uns den Sauerstoff oder die Energie abdrehen, oder weiterhin die Trinkwasseraufbereitung lahm legen. Roboter verdursten in der Regel nicht.« »Was fordert die Maschine?« »Bedingungslose Kapitulation, Auslieferung der letzten Waffe, die absolute Macht über das Bunkersystem und die Ruinenstadt. Alpha Sieben hat ein Ultimatum gestellt. Wenn wir nicht bis in spätestens fünf Stunden kapitulieren, wird er alle halbe Stunde eine Geisel töten lassen.« Amer ließ sich auf einer Koje nieder. »Woher weiß er, dass dies hier die letzte Waffe ist?« »Alle Waffen im Bunker sind registriert«, sagte Maria. »Im Zentralrechner.« Amer stützte das Kinn auf die Faust und dachte nach. »Okay«, knurrte er schließlich. »Okay, okay. Ich denke, wir kriegen das hin. Fürs Erste findet einen Weg, um dieser vorwitzigen Blechkugel am Hauptterminal eure Kapitulationserklärung zu überbringen …« »Commander an alle! Die Barbaren ziehen sich zurück! Sie haben Captain Amers Nachricht gehört: Er fordert eine Verstärkung von mindestens drei Bewaffneten an …« Die Nacht war hereingebrochen, und das Schloss, das keines war, strahlte in überirdischem Glanz. Auf dem Panoramadisplay entdeckte Eve kleine Gruppen von Barbaren, die aus dem Lichtkreis des offenbar virtuellen Schlossparks in die Ruinen huschten und in der
Dunkelheit verschwanden. Jetzt war nicht die Zeit, sie zu verfolgen. »Halten Sie die gegnerischen Geschütze in Schach, Major Peterson! Meine Crew und ich werden versuchen, in diese Fata Morgana einzudringen! Aber sehen Sie um Himmels willen zu, dass Sie das wirkliche Gebäude nicht treffen!« Sonst könnten Sie Ihr Liebchen braten, lag es ihr auf der Zunge, doch sie schluckte die kleine Bosheit hinunter. »Verstanden, Commander. Viel Glück!« Eve entgegnete nichts. Sie wartete, bis der Major seine Position geändert hatte und das Feuer eröffnete. »Außenscheinwerfer aus!«, befahl sie. »Kurs auf die Nordseite des Trugbildes! Maximale Flughöhe!« Mac und Dewlitt bestätigten. Sie selbst ließ sich neben dem Piloten vor den Aufklärungsinstrumenten nieder und beobachtete die Ortungsmonitore. Abseits in den Ruinen flammten einzelne Fackeln auf. Vermutlich die Barbaren, die sich in Sicherheit gebracht hatten. Auf dem Platz vor dem virtuellen Schloss erfasste die Infrarotortung insgesamt dreiundzwanzig reglose Körper, aus denen die Wärme des Lebens nach und nach wich. Diese Barbaren hatten einen Sturm hingelegt, als gälte ihnen die eigene Unversehrtheit überhaupt nichts. Amer und die Rouwens hatten es tatsächlich geschafft, in den Bunker unter der Ruine einzudringen! Dem letzten Funkspruch des Captains nach war dort unten eine Art Maschinenrevolution ausgebrochen. Amer schien einen sehr konkreten Plan zu verfolgen, mit dem er den zentralen Computer der Community von der Kontrolle der Robot-Rebellen befreien wollte. Mehr als Andeutungen wollte er verständlicherweise nicht
preisgeben. Laserstrahlen zuckten durch den Nachthimmel. Die Ruinen, hinter denen Ark II in Deckung lag, brannten. Eve blickte zu den Instrumenten vor dem Piloten. Schon achtzig Fuß Flughöhe. Die Laserstrahlen aus dem Geschützturm von Ark II durchschnitten das Firmament in meist spitzwinkligen Diagonalen. Aus den Geschützen des Scheinschlosses schoss man entweder horizontal oder in leicht geneigten flachen Winkeln, sodass die Strahlen die Ruinen oder den Boden trafen. Konnte es sein, dass die Bunkerkolonie ihre Außengeschütze nicht für eine Verteidigung gegen Angriffe aus der Luft konzipiert hatte? »Position erreicht!«, meldete Mac. »Was jetzt?« »Flughöhe beibehalten! Kurs auf das Zentrum des beleuchteten Geländes!« »Das ist nicht dein Ernst, Eve!«, brüllte McMalone. An sich verlor er selten die innere Contenance. »Die schießen uns ab!« »Das ist ein verdammter Befehl!«, brüllte sie zurück. »Los jetzt!« Spencer Dewlitt steuerte die Maschine in die Lichtkuppel hinein. Minuten später kreiste der EWAT über dem weiß glitzernden Märchenschloss. Niemand machte Anstalten, ihn unter Beschuss zu nehmen. Die Laserkanonen der Bunkerkolonie konnten tatsächlich nicht vertikal in die Luft schießen. »Nicht schlecht«, knurrte McMalone zerknirscht. »Landen!« »Und wenn die Ruine nicht standhält?« Spencer Dewlitt war misstrauisch. »Wir versuchen es. Wenn's nicht klappt, landen wir vor
dem Haupteingang!« Eve beobachtete die Panoramakuppel. Ein glitzerndes Lichterschauspiel bot sich unter ihnen dar. Links und rechts ragten Türme aus weißem Licht in den Nachthimmel. Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, erlosch das Spektakel. Eine große dunkle Fläche dehnte sich wenige Meter unter ihnen aus – das Dach der efeuverhüllten Ruine. Und jetzt schwiegen auch die Lasergeschütze der Bunkerkolonie. »Amer an alle. Das Hauptproblem haben wir im Griff. Passt auf, wenn ihr reinkommt – es kutschieren noch ein paar durchgeknallte Roboter durch die Außenbezirke, fünfzehn bis siebzehn, schätzen wir …« Eine halbe Stunde, nachdem sich das virtuelle Schloss in nichts aufgelöst und der Laserbeschuss aus den Efeufassaden der darunter liegenden Ruine aufgehört hatte, kam die erlösende Nachricht: »Commander an alle – wir haben die Innenschleuse passiert. Kein Widerstand.« »Na also«, seufzte Barbara Plant. David ließ sich gegen die Lehne des Pilotensitzes sinken und schloss die Augen. Die Sorge um Courtney fiel ihm wie ein Stein von der Brust. Hinter sich hörte er ein paar Leute tief durchatmen. Sämtliche Besatzungsmitglieder von der Wissenschaftsfraktion hatten sich im Kommandosegment eingefunden: Dejong, Doc Doubleman, Crosby und die Bennett. Niemand hatte es mehr in den hinteren Segmenten ausgehalten. »Ich hatte mir die Fahrt irgendwie weniger aufregend vorgestellt«, stöhnte John Cox. Er zupfte ein Tuch aus seiner Kombi und wischte sich den Schweiß ab.
»Eine Rechnerrevolution, wie interessant«, sagte Dejong. Selbstverständlich fand er dergleichen spannend; als Bioinformatiker war das sein Job. David jedoch hatte andere Sorgen – er dachte an den nächsten oder übernächsten Tag, an den nämlich, an dem Eve auf ihren Befehl zurückkommen und ihn samt Crew und EWATs nach London zurückschicken würde. Oder würde Courtneys gute Leistung die verbitterte Kommandantin umstimmen? Kaum wahrscheinlich. Vielleicht sollte er noch einmal mit ihr reden, vielleicht konnte er John Cox für sich gewinnen; ganz gewiss würde ihm das gelingen … »Commander an Ark II. Die Waffentürme des Bunkers scheinen wieder unter Kontrolle zu sein. Verlassen Sie versuchshalber die Deckung.« »Verstanden.« David wies den Bordrechner an, die Gleitflügel auszuspreizen, die Kettenschuhe einzuziehen und die Außenscheinwerfer zu aktivieren. Danach ging er auf Steigflug. Neben ihm beugte sich Doc Doubleman über das Funkmodul. »Cox an Commander Carlyle. Wir sind neugierig, was da unten vor sich geht. Wäre nett, wenn Sie uns auf dem Laufenden hielten.« »Togo, McMalone und ich haben die Schutzanzüge abgelegt. Wir sind auf dem Weg in die Zentrale des Bunkersystems. Scheint eine relativ kleine Anlage zu sein. Im Moment funktioniert hier nur das Notlicht, der Sauerstoffgehalt schwankt zwischen neunzehn und achtundzwanzig Prozent, und es gibt noch eine Menge Luken und Schotten, die sich nicht öffnen lassen. Aber wie wir aus der Zentrale hören, hat man dort den
Hauptrechner wieder unter Kontrolle …« In fünfzig Fuß Flughöhe steuerte David den Panzer aus der Deckung der Hochhausruine. Die Scheinwerfer des Efeukastens brannten längst nicht mehr, und wenn man den Ortungsmonitoren glauben wollte, hatte der Defensivrechner jener fremden Kolonie seine Waffenläufe ins Innere der Fassade zurückgezogen. In einem Abstand von zweihundert Metern ließ der Major Ark II rund um die kastenartige Ruine schweben. Niemand griff an. »Peterson an Commander, kein Beschuss mehr.« »Gut. Sichern sie die Umgebung, Major. Ich will nicht ein zweites Mal von vorwitzigen Barbaren überrascht werden. Zerstreuen Sie mögliche neue Angriffslinien. Ich erwarte Ihren Bericht alle dreißig Minuten.« »Verstanden.« Der schroffe Unterton ihrer Befehle raubte David jede Hoffnung. Neben ihm unterdrückte Barbara ein Gähnen. Seine eigene Müdigkeit wurde ihm bewusst. Es war nach vier Uhr morgens. In spiralförmigem Kurs steuerte er den EWAT um das Ruinenzentrum herum. Barbara beobachtete die Ortungsmonitore. Nirgendwo ein Radarecho, nirgendwo Wärmequellen, die auf Menschen schließen ließen. Mit halbem Ohr hörte er dem Wortwechsel zwischen Eve, Togo und McMalone einerseits und Cox und Dejong andererseits zu. Eve und ihr Team hatten inzwischen die Kommandozentrale der Bunkerkolonie erreicht. Die Kommandantin sprach wohl gerade mit der Präsidentin, einer gewissen Maria Fischer. Offenbar handelte es sich um einen kleinen Privatbunker, der erst Mitte des 21. Jahrhunderts zu einem leistungsfähigen Überlebenssystem ausgebaut worden war. Die knapp
zweihundert Köpfe zählende Kolonie wurde weitgehend demokratisch gemanagt. Sie kannten das Immunschwächesyndrom. Aus schierer Angst vor Infektionen mieden sie jeden Kontakt mit der Außenwelt und hatten das virtuelle Schloss und seine Parkmonster ausgetüftelt, um die Barbaren fern zu halten. Ihre Techniker setzten auf engste Zusammenarbeit mit mobilen und stationären Rechnern, so jedenfalls gab McMalone das Gespräch mit der Präsidentin wieder. »Ihre eigenen Kunsthirne sind ihnen tatsächlich über den Kopf gewachsen.« Cox schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht fassen. »Wir brauchen eine Dokumentation dieser Entwicklung.« Dejong rieb sich die Hände. »Theoretisch könnte uns so was in London auch passieren!« David stimmte ihm zu, denn er dachte sofort an gewisse virtuelle Kreationen aus der Londoner Zentralhelix: an die E-Butler. »Objekt in acht Strich vierzehn Komma eins«, sagte Barbara. »Entfernung neunhundertachtzig Meter.« David blickte zum Panoramadisplay hinauf: Ein Wasserspiegel reflektierte das Scheinwerferlicht. Er holte Nashs Kartenupdate auf ein Display in der Steuerungskonsole und betrachtete die Skizze Poruzzias. »Kaum zu glauben!«, entfuhr es ihm schließlich. »Hier gab es mal einen Hafen.« Er grübelte, zu welchem See, Fluss oder Meer diese Hafenbecken führen sollten, kam aber nicht darauf und fand auch keinen Hinweis auf der Karte. »Dann ist das hier ein Schiff.« Barbara deutete auf den Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays, wo die Bordhelix eine noch skizzenhafte Darstellung des
georteten Objekts anbot, ein rechteckiges Ding, das auf einem schmalen Wasserweg an den Hafenbecken vorbeiglitt. Sie näherten sich dem vermuteten Schiff und entdeckten drei weitere, die ihm voraus fuhren. Rauchfahnen schwebten über ihnen. Etliche Wärmequellen hielten sich darauf auf; viele kleine, die auf Menschen schließen ließen, und eine große im Zentrum jedes Schiffes. »Peterson an Commander. Vier Schiffe im Hafen drei Kilometer vom Ruinenzentrum entfernt. Sie entfernen sich rasch. Sieht nach Dampftriebwerken aus; auf jedem etwa fünfzig bis siebzig Personen.« »Commander an Ark II – lassen Sie die Barbaren ziehen, aber schicken Sie ihnen einen Warnschuss hinterher. Danach sichern Sie die Umgebung.« »Verstanden«, bestätigte David und nahm Kurs auf die Flotte. Er beobachtete Ortungsdisplays und Piloteninstrumente. Als der letzte der vier Dampfer nur noch zweihundertfünfzig Meter entfernt war, gab er die Zielkoordinaten ein und übertrug der Bordhelix das Kommando über den Gefechtsstand. Sekunden später durchschnitt ein feiner weißer Strahl das Sichtfeld auf dem Panoramadisplay. Er bohrte sich in das letzte von der Ortung erfasste Schiff. Dessen Heck stand sofort in Flammen. »Haut bloß ab!« Er schnitt eine grimmige Miene. »Seit wann versteht man unter einem Warnschuss gezieltes Feuer, Sir?«, fragte Barbara Plant spitz. »Alles eine Frage der Interpretation, Captain Plant.« Er flog eine Schleife und nahm Kurs auf das Ruinenzentrum. »Die Umgebung sichern heißt für mich, den Mistkerlen eindeutig zeigen, was sie erwartet, wenn
sie zurückkommen.« »Ob Commander Carlyle das ähnlich sieht?« »Sie können sie ja gelegentlich fragen, wenn Sie das so brennend interessiert, Captain.« So viele Worte hatten er und Barbara lange nicht mehr gewechselt. Seit sie über ihn und Courtney ausgepackt hatte, herrschte Funkstille zwischen ihnen. Zwei Stunden lang steuerte David den EWAT in einem Kreiskurs um die Efeuruine herum. Aus Cox' und Dejongs Gesprächen mit dem Bodenteam erfuhr er, wie Amer und die Präsidentin den Rädelsführer der Roboterrebellen ausgeschaltet hatten. Die kleine Gruppe noch freier Bunkereinwohner, zu der Amer gestoßen war, hatte ein Ultimatum der Maschinen akzeptiert und kapituliert. Einer Delegation von drei Robotern lieferten sie die letzte registrierte Waffe aus, die nach Kenntnis des Zentralrechners noch in menschlicher Hand war. Danach wurde die Gruppe zum Befehlshaber der Robot-Rebellen abgeführt – in ihrer Mitte Captain Amer. Er verbarg sein natürlich nicht registriertes LP-Gewehr unter seiner Kombi. In der Bunkerzentrale dann, während die Präsidentin zwei weitere Gruppen von noch Freien über Funk zur Kapitulation aufforderte, zerstörte er den Roboter, dem es gelungen war, sich in den Zentralrechner einzuloggen. Ein Überraschungscoup, wie er für Eddy Amer typisch war, fand David. Bis auf Spencer Dewlitt war inzwischen die gesamte Besatzung von Ark I in den Bunker hinabgefahren. DaCol und Simon halfen dabei, den noch immer labilen Zentralrechner wieder in Schwung zu bringen, die Muzawi war als Ärztin gefragt, und die Bloom schien sich schon wieder ihrem Forscherdrang hinzugeben. Die
Disziplin und Arbeitsmoral der Männer und Frauen aus Salisbury verblüffte David immer wieder aufs Neue. Alles, was er zu hören bekam, klang jedenfalls sehr erfreulich und interessant. Weit mehr bewegte ihn aber das, was er nicht hörte: Kein einziges Mal in all den Stunden fiel der Name Rouwens, und kein einziges Mal hörte er Courtneys Stimme. Gegen Morgen forderten Simon und DaCol die Spezialkompetenz von Niklas Dejong an. Der rieb sich erfreut die Hände, und David war froh über die Gelegenheit, endlich mit Courtney sprechen zu können. Er setzte Ark II vor dem Haupteingang auf, übertrug Barbara Plant das Kommando über die Maschine und begleitete Cox und Dejong in die Ruine hinein. Vor dem Außenschott fiel der Lichtschein von Davids Helmlampe auf ein längliches Schild. Es lag zwischen Staub und Geröll vor einem schmalen Schacht. Er bückte sich danach, hob es auf und versuchte die teilweise verblichene Schrift zu entziffern. Cox an seiner Seite las laut mit: »Friedensplatz – ein Straßenschild, wie es scheint.« Der Anthropologe konnte ein paar Brocken Altdeutsch. Das Schott scharrte zur Seite, ohne dass jemand den Zugangscode eingetippt hätte. Im Lift stand Eddy Amer mit deaktivierter Helmsichtblende. »Schluss für heute«, brummte seine Stimme im Helmfunk. »Ich leg mich ein Weilchen aufs Ohr.« Er wirkte erschöpft. Sein Blick fiel auf das Schild. »Hey! Mein Souvenir! Courtney wollt's mir abknöpfen, aber ich bin darüber gestolpert, also gehört es mir!« Er nahm David das Schild aus der Hand, trat aus dem Lift und blickte sich um. »Wo steckt sie eigentlich?«
»Unten im Bunker, dachte ich.« Speiübel wurde David auf einmal. Er legte Amer die Hand auf die Schulter. »Sie ist doch unten im Bunker, oder?« Er krächzte nur noch. Amers Augen wurden schmal. Eine Falte grub sich zwischen seine aufgemalten Brauen. Langsam schüttelte er den Kopf …
Kapitel 20 16:42 Uhr � Aus den Johanna-Dateien � 8.2.2012 Das Ultimatum ist längst abgelaufen. Keine Bombe. Die Verhandlungen gehen weiter. Dubliner ist mit seinem Panzer vorgefahren, hat Plant einsteigen lassen und ans Funkgerät gesetzt. Der würde jetzt die Verhandlungen führen, heißt es. Der Magier – oder wie soll ich einen solchen Mann nennen? – scheint innerhalb eines halben Tages zum Berater des Generals aufgestiegen zu sein. Es schneit wieder. Noch dreieinhalb Stunden, bis der Komet einschlägt, bis alles vorbei ist. Dreieinhalb Stunden, vier oder nur zwei – ich will es nicht wissen. Der Vater meines ersten Enkelkindes hat bei Tagesanbruch das Zelt verlassen. Major McMalone, der Hubschrauberpilot, hat Pete Nash abgeholt. Haben sie nicht genug Mediziner da draußen? Keine Ahnung. Ich sitze hier neben Mary-Lou im Lazarettzelt. Sie schläft. Ich halte ihre Hand und flüstere in mein Diktiergerät. Nein, ich will nicht wissen, was in einer Stunde geschehen wird, oder in einer halben, oder auch nur in einer Viertelstunde. Einschlafen will ich; und aufwachen, und alles ist nur ein böser Traum gewesen. Kann sein, dass die Batterie bald ihren Geist aufgibt;
kann sein, dass meine Stimme plötzlich verstummt, für immer. Auch gut. Ein paar Schritte neben uns hat jemand ein Transistorradio eingeschaltet. Frühnachrichten. Ich höre mit. Die gleichen Kadaverbilanzen und Schreckensmeldungen wie schon seit Tagen. Sie wollen den Kometen beschießen, sobald er nahe genug ist. Mit nuklearen Sprengköpfen von der Internationalen Raumstation aus. Soll ich jetzt Hoffnung schöpfen? Ein amerikanisches Geschwader soll den Beschuss beobachten. Der Kommandant des Geschwaders hat einen einprägsamen Namen: Drax. Ich frage mich, warum ich meine Kamera im Bunker von London liegen ließ. Hatte ich so wenig Hoffnung? Schade jedenfalls. Hätte ich sie mitgenommen, könnte ich jetzt Dubliner fotografieren – wie er da am Zelteingang steht, unrasiert und müde, und wie er jetzt auf mich und Mary-Lou zukommt. So viele Geheimnisse nisten in den Falten seines schmalen Gesichts. Er sieht aus wie ein Mann mit Neuigkeiten, mit schwerwiegenden Neuigkeiten. Ich drück jetzt die Stopptaste. Möglicherweise war das mein letztes Diktat. Ich kann noch einmal sprechen. In wenigen Minuten holen sie uns ab. Viel Zeit bleibt nicht mehr, ich muss mich beeilen, deswegen im Telegrammstil nur so viel: Dubliner hat den Code benutzt, den der Lustgreis auf Lous Plan entdeckt hat. Persönlich hat er ihn auf einer Frequenz gefunkt, die ein Informatiker und ein Kommunikationstechniker ausgetüftelt hatten. Ersterer heißt Pete Nash.
Und was geschah? Die Grasnabe schob sich auf großer Fläche zur Seite und ein Schott öffnete sich. Und was hat Dubliner getan? Er hat den fieberkranken LORD in die Schleuse bringen lassen, ihn mit einer Handgranate ausgerüstet und das Schott wieder geschlossen. Himmel, wie gemein! »Jetzt haben sie den Beweis, dass wir den Code kennen«, sagte Dubliner. »Bis um drei Uhr am Nachmittag müssen sie dafür sorgen, dass achthundert bis tausend Menschen geordnet in den Bunker einziehen können. Sonst werde ich das Außenschott ein zweites Mal öffnen und das Riesenbaby in die Schleuse kippen lassen. Genau das habe ich ihnen erklärt. Sie sind einverstanden.« Mit ihnen meinte er die Glücklichen, die sich bereits im Bunker eingeschlossen hatten; mit dem Riesenbaby die Megabombe. »Achthundert bis tausend?«, habe ich gestaunt. »Da draußen warten doch inzwischen weit über siebentausend Menschen auf Einlass.« Statt zu antworten machte er eine Geste des Bedauerns, stand auf und verließ das Zelt. Wenn mich nicht alles täuscht, braut sich im Heerlager vor Stonehenge eine Riesenschweinerei zusammen. Ich höre Motorenlärm. Die Panzer und Lastwagen kommen! Ich muss Mary-Lou wecken! Der Greis steht auf und wankt zum Zeltausgang. Der Siamkater streicht um seine Beine. Ein paar Männer und Frauen erheben sich, andere blicken verwundert um sich und verstehen noch nicht. Und ich? Ich soll eine unter wenigen Auserwählten sein? Herzlichen Dank! McMalone und der junge Priden erscheinen im
Eingang. Priden nimmt seinen widerlichen Großvater in Empfang, McMalone winkt stumm. Na warte! Ich muss Schluss machen … Die Batterie ist noch nicht ganz leer. Gott sei Dank! Ich sitze auf der Ladefläche eines überfüllten Armeelasters. Ein fürchterliches Geschaukel und Gerumpel! Ich hoffe, Sie verstehen mich trotzdem. Noch hundertdreiundvierzig Minuten, bis der Komet am Winterhimmel erscheint, hat der Fahrer gesagt. Dichtes Schneetreiben verdeckt die Sicht auf die Zeltstadt, nur vereinzelt nehme ich Wohnmobile und Fahrzeuge hinter dem feuchten weißen Vorhang wahr. Und gerade überholen wir einen Traktor. Er ist im Schnee stecken geblieben, auf seinem Anhänger stapelt sich Hausrat. Dazwischen Frauen und Kinder, die sich unter Plastikplanen verstecken. Und jetzt kommt eine Fahrzeugkolonne in Sicht. Ein Panzer hat sie gestoppt. Vom geöffneten Geschützturm aus gestikuliert ein Soldat mit den Leuten. Offenbar will er sie zurück in die Zeltstadt schicken. Ich könnte schreien! Eigentlich war ein Platz in McMalones Panzer für mich und Mary-Lou reserviert. Doch der Major spricht nicht mehr mit mir; keiner der Air-Force-Offiziere spricht mehr mit mir. Wahrscheinlich bin ich in ihren Augen eine Verräterin. Von mir aus. Alle Verwundeten wollten sie im Lazarettzelt zurücklassen! Dazu die Stadtstreicher, ein paar kranke Kinder, und einige Männer und Frauen, die sich in Plants und Dubliners Augen wohl nicht für die Rettung ihrer nackten Haut qualifizieren konnten. Haben Sie verstanden? Es gibt hier eine Menge Leute,
die sich nicht zur Rettung ihrer nackten Haut qualifizieren! Folglich gibt es ein paar wenige Leute, die sich zur Rettung ihrer nackten Haut qualifiziert haben – ich weiß nicht wie, ich weiß nur, dass ich dazugehören soll! Und vor allem – wahrscheinlich haben Sie den dritten Denkschritt dieser viehischen Logik längst selbst getan –, vor allem gibt es hier eine Hand voll Leute, die entscheiden, wer zur Rettung seiner nackten Haut qualifiziert ist und wer nicht. Ich ahne, wie die Zukunft in solchen Bunkern aussehen wird. Wie im Dschungel. Falls es eine Zukunft gibt. Natürlich habe ich nicht mitgespielt. Ich bestand darauf, dass jeder, der sich im Lazarettzelt aufhielt, in den Bunker mitgenommen wird; Armeeangehöriger und Zivilist, Verletzter und Unverletzter, Stadtstreicher und ausgemusterter Admiral. McMalone berief sich anfangs auf seine Befehle. »Ich scheiße auf Ihre Befehle!«, habe ich geschrien, und ich habe gedroht, in die Zeltstadt zu laufen und hinauszuposaunen, welches Spiel Dubliner spielt. McMalone zog seine Dienstwaffe – er wollte mich tatsächlich erschießen! –, doch Frederic Gabriel stellte sich zwischen ihn und mich; und nach und nach auch die anderen Männer und Frauen. Kurz und gut: Ich habe gewonnen. Alle, die sich im Zelt aufhielten, wurden auf die Panzer und LKWs verteilt. Keiner blieb zurück … Motorenlärm nähert sich. Panzer? Tatsächlich – linker Hand sehe ich Tank um Tank durch den Schnee pflügen. Und rechts jetzt die graue Wand der Leichtmetallhalle. Der Lastwagen wird langsamer. Wir sind da.
»Was Dad wohl gerade macht?« Mary-Lou hat dunkle Ränder unter den Augen. Louis! Himmel, ich hatte ihn schon fast vergessen! An wen ich dagegen oft denke, ist Yoshiro. Ob es dem Colonel und seinen Rebellen gelungen ist, auch in London in den Regierungsbunker einzudringen? Ich muss wieder unterbrechen, wir erreichen eben den Eingang der Halle. Ein Wall aus Panzern umgibt ihn. Doch was ist jetzt los? Summengewirr dringt aus dem Schneegestöber! Schüsse fallen … Gütiger Himmel! Werden wir das hier überleben? Eingekeilt zwischen unzähligen Menschen keuche ich diese Worte ins Diktaphon. Mary-Lou klammert sich an mir fest, und ich mich an ihr und an Dr. Gabriel. Irgendwo am offenen Eingang des Bunkers sehe ich einen dürren Arm aus der Menschenmenge ragen, der eine Katze in die Luft stemmt; und nicht weit davon Petes schwarze Locken. Dorthin schiebt uns die Masse der Leiber. Geschrei, Heulen, Fluchen, Geschützdonner und Detonationen außerhalb der Halle vermischen sich zu einem infernalischen Höllenlärm. Ich kann nicht sehen, was draußen vor sich geht, ich weiß es trotzdem: gestorben wird dort, geschossen, gelitten und gestorben. In diesen Sekunden hasse ich Dubliner! Was für ein harter Mann muss er sein, dieser kleine General! Er hat einen tief gestaffelten Panzerring um die Halle formieren lassen. So also sorgt er dafür, dass nicht mehr als achthundert den Bunker erreichen! Und was wird aus den Panzerfahrern? Sie werden doch auch ihre Haut retten wollen, wie alle hier? Werden
sie sich in den letzten Sekunden ein Wettrennen mit den Betrogenen liefern, die zu Tausenden aus dem Zelt- und Wagenlager gekommen sind und nun gegen den Panzerwall anrennen? Himmel, was für eine grausige Vorstellung! Was für eine höllische Realität! »Sechzehn Uhr zweiundvierzig!«, ruft eine Frau direkt neben mir. Ich begreife nicht sofort. Die Menge aber stockt plötzlich … was geschieht jetzt wieder …? Der Schusslärm verstummt, das Gebrüll jedoch, das Wehklagen, das Fluchen und Heulen – wie zu einem einzigen Schrei türmt es sich plötzlich über der Menge auf. »Er kommt!«, höre ich, »er ist da!« – »Der Komet!«, schreit mir Mary-Lou ins Ohr. Dr. Gabriel fährt herum – von Schrecken geweitet seine Augen, etwas Rotes spiegelt sich in ihnen. Ich sehe zurück – der Winterhimmel glüht, als würde darüber der Kosmos brennen …
Kapitel 21 Die Gnadenlosen � Poruzzia, Ende April 2516 Vier Tage, und jeder riss den Graben zwischen Eve Carlyle und David Peterson ein Stück tiefer auf, sodass bald ein unüberbrückbarer Abgrund sie trennte. Sie durchsuchten das Bunkersystem und die Ruine nach Courtney Rouwens. Sie kreisten über der Ruinenstadt und tasteten jeden Quadratmeter Wald, Geröll und Gestrüpp mit Laser und Infrarotortung ab. Sie landeten am Hafen und suchten die Hafenbecken und ein paar Kilometer des nach Norden führenden alten Kanals nach ihr ab. Nichts. An den Abenden jener Tage zogen Spencer Dewlitt und der Major sich ins Hecksegment von Ark II zurück, einmal für eine ganze Nacht. Wenn Cox, die Plant oder sogar Togo ihn dann fragten, wie es Peterson gehe, zuckte Spencer Dewlitt stets mit den Schultern und sagte leise: »Wie wird's ihm schon gehen?« Nur einmal fügte er hinzu: »Irgendwas stirbt ab in ihm, fürchte ich.« Mit der Kommandantin sprach niemand in diesen Tagen; abgesehen natürlich von den notwendigen Bestätigungen ihrer Anordnungen. Commander Carlyle selbst machte auch nicht den Versuch, jemanden in eine persönliche Unterhaltung zu verwickeln. Im Gegenteil: Barbara Plant, die sich zweimal mit ihr verabreden wollte, wies sie zurück. Niemand hatte eine Ahnung, was in Eve Carlyle vorging. Möglicherweise wollte es auch
niemand wissen. Erst am Morgen des fünften Tages nach dem Ende der Roboterrebellion stieß man im Bunkersystem auf eine Spur Courtney Rouwens'; auf eine Spur, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Ruud Simon fand sie. Er, Dr. Cox, die Bloom und Niklas Dejong hatten sich die ganze Zeit bei den Deutschen im Bunker aufgehalten. Die Wissenschaftler, um Forschungsergebnisse und die Geschichte des Poruzzia-Bunkers und der britischen Communities auszutauchen, Simon und der Informatiker, um den Ingenieuren bei der Instandsetzung ihres Zentralrechners zu helfen. An jenem Aprilmorgen also, als Simon die junge Navigatorin in einigen Aufzeichnungen zu erkennen glaubte, funkte er Ark I an. »Ruud an Kommandantin. Wir haben hier Bilder von der Rouwens gefunden.« Zwölf Minuten später betraten David Peterson und Eddy Amer die Zentrale des Bunkersystems, zwanzig Minuten nach ihnen die Kommandantin und Spencer Dewlitt. Zu diesem Zeitpunkt wussten der Major und der Captain schon Bescheid. David hing teilnahmslos in einem Sessel. Sein Gesicht hatte die Farbe von Rohwachs. Amer fixierte die Kommandantin mit feindseligen Augen und irgendwie trotzig vorgeschobenem Unterkiefer. »Es sind Aufnahmen von Außenkameras, Commander«, begann Ruud Simon. »Erst jetzt, wo der Zentralrechner wieder reibungslos arbeitet, hat er sie freigegeben.« Er deutete auf einen runden, leicht konvexen Monitor von mindestens hundertfünfzig Zentimeter Durchmesser. »Die hier stammen von der Kamera am ersten Schott.« Er tippte zweimal auf eine
Tastatur, und ein Bild baute sich im Rundmonitor auf. Eve erkannte den Haupteingang der Ruine im Bildhintergrund. Aus dem Bildvordergrund, wo eine schmale Gestalt in Schutzanzug und unter schwarzem Kugelhelm zu sehen war, führte ein Gang aus schwärzlichrotem Backstein zum Eingang. Dort tauchten Barbaren auf, mal in kleinen Gruppen, mal zu zweit, mal einzeln. Anfangs stürmten sie mit blanken Schwertklingen und mit groben Schlachtäxten in den Fäusten auf den Bildvordergrund zu – bis Laserstrahlen sie tödlich getroffen zusammenbrechen ließen. Sofort rückten weitere nach – bis der Haufen ihrer Leiber so hoch war, dass die nächste Angriffswelle dahinter in Deckung gehen konnte. Ein Pfeilhagel sirrte in den Bildvordergrund. Die schmale Gestalt im Schutzanzug ging in die Knie, prallte mit dem Helm ins Geröll. Ein Schild rutschte aus ihrem Tornister. Die Barbaren kletterten über die Toten und rannten in den Bildvordergrund. Einige waren einäugig, andere hatten Hautlappen oder blumenkohlartige Geschwüre statt Nasen und Ohren am Schädel und im Gesicht, wieder anderen war der Gesichtsschädel vom Kinn bis zur Nasenwurzel gespalten. Courtney Rouwens bäumte sich auf. Zwei Pfeile steckten in ihrem linken Bein, einer im rechten Oberarm. Dennoch fasste sie ihr LP-Gewehr und schleuderte es, während schon die ersten Krieger die Arme nach ihr ausstreckten, in einen Schacht, der zwei Schritte von ihr entfernt im Boden klaffte. Die Barbaren packten sie und schleiften sie zum Ausgang. »Braves Mädchen«, murmelte Spencer Dewlitt. »Braves Mädchen.« Eine Bemerkung, die auf einen Eid anspielte,
den jedes Mitglied der Community-Force vor seinem ersten Außeneinsatz ablegen musste. Mit einem solchen Eid hatten sie alle sich einst verpflichtet, alles ihnen Mögliche zu tun, um die Erbeutung ihrer Waffe durch einen Feind zu verhindern; wenn es sein musste durch die Aktivierung des Selbstzerstörungsmodus. Als Waffe im weitesten Sinne galt für einen Kommandanten im Ernstfall auch sein EWAT. »Und hier noch ein paar Bilder einer Außenkamera.« Ruud Simon bemühte sich um einen sachlichen Tonfall. »Viel sieht man nicht.« Zwei Barbaren schleiften Courtney an den Beinen aus der Ruine. Sie wand sich und strampelte. Ein dritter Barbar trat sie in den Bauch, zwei weitere packten ihre Arme. Zu viert trugen sie die Frau durch den Schlosspark und vorbei an den virtuellen Riesen, Echsen und Linden. »Das war es schon.« Simon schaltete den Monitor ab. Eve schluckte. Sie würde sich umdrehen und David ins Gesicht blicken müssen. Ein paar Atemzüge lang starrte sie den grauen Monitor an. Dann drehte sie sich um und blickte David ins Gesicht. Sein Blick war so leer, dass es ihr das Herz zusammenschnürte. »Warum blieb Lieutenant Rouwens oben?«, fragte sie mit hohler Stimme. David reagierte nicht. »Wollte das Schott verteidigen«, sagte Amer heiser. »Hielt das wohl für den besseren Job. Glaub, sie hatte Schiss vor dem Krieg im Bunker.« »Wie schrecklich.« Die Bunkerpräsidentin trat neben Eve und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es tut mir aufrichtig Leid um die junge Frau.« Maria Fischer hatte tatsächlich feuchte Augen. Eve beneidete sie. Sie selbst
fühlte nichts; absolut nichts. »Wir kennen diese Wilden bisher nur aus einem Bericht der Hamburger Bunkerkolonie. Manche Stämme in den Ruinen von Hamburg nennen sie »Nordmänner«. Sie selbst nennen sich ›Götterschlächter‹. Vermutlich, weil manche Barbaren unsereins für Götter halten.« »Ist das wirklich wahr?« Eves Knie wurden weich, sie ließ sich in den nächstbesten Sessel sinken. »Wollen Sie damit sagen … dass diese Wilden gezielt Jagd auf uns machen?« Die Bunkerpräsidentin nickte und senkte den Blick. »In der Nähe von Kopenhagen ist es ihnen gelungen, in den Bunker einer dänischen Bunkergesellschaft einzudringen. Angeblich ist das schon drei oder vier Jahre her. Die Hamburger haben einen Notruf empfangen. Sie schickten eine Expedition nach Dänemark. Die fand einen geplünderten Bunker und über dreihundert Leichen. Seitdem jagen die wilden Kerle alles, was einen Schutzanzug trägt. Sie haben es in erster Linie auf unsere Waffen abgesehen, wie es scheint. Es gibt Gerüchte, wonach sie Gefangene einer …« Sie räusperte sich. »… einer langwierigen Vernehmung unterziehen.« David sprang auf. Er ballte die Fäuste. »Diese Tiere!« Er war außer sich. »Wir müssen Courtney suchen! Vielleicht lebt sie noch!« Eve betrachtete ihn stumm. Seine Mundwinkel zuckten, in seinen Augen flackerte Angst. Zerbrochen schien, was sie an ihm liebte – seine Gelassenheit, die Kraft seines Willens. »Wir müssen sie finden, bevor diese Hunde ihren Widerstand brechen. Stell dir vor, sie gibt einen Zugangscode preis …!« »Sie sprechen nicht ihre Sprache, David«, sagte Eve leise. »Und selbst wenn – kein Offizier würde je
Geheimnisse verraten. Und hast du nicht gesehen, dass Pfeile ihren Schutzanzug durchdrungen haben? Sie wird bald an einer Infektion sterben.« »Sie ist zäh!« David kam zu ihr, packte ihre Schultern. »Es gab vereinzelte Fälle, wo Community-Angehörige Schlimmeres überlebt haben.« Wie schnell er redete, seine Stimme überschlug sich fast. So sehr also hatte er die Jüngere geliebt? Ein bitterer Geschmack kroch auf Eves Zunge. »Denk nur an Gabriel!«, rief David. »Courtney ist verdammt zäh! Wir müssen diese Bestien verfolgen! Wir müssen Courtney Rouwens suchen!« Sie war die einzige Frau unter all den widerlichen Kerlen. Sie hatte dunkelblaue Augen und beneidenswert braune Haut; eine Haut wie Wildleder. Das schwarze Haar fiel ihr schwer und lockig auf die Schultern. Eine Perücke? Anders konnte Courtney sich die Schönheit und Dichte dieses Haars nicht erklären. Sie trug eine graue Lederweste auf nackter Haut und eine ebenfalls graue, eng geschnittene Lederhose. Manchmal verließ sie das Kuppelzelt, dann warf sie sich jedes Mal einen dunklen, wollenen Mantel um. Meistens aber saß sie Courtney mit gekreuzten Beinen auf einem Lederhocker gegenüber, starrte zu Boden, schloss von Zeit zu Zeit die Augen oder fixierte sie. Courtney begriff nicht, was für ein Spiel sie spielte. Sicher – sie zog eine Art von Verhör ab, war vermutlich eine Spezialistin darin, und Courtney war dankbar dafür. Ja, sie war dankbar für jede Minute, in der die grausamen Widerlinge mit ihren entstellten Visagen und groben Händen ihr fernblieben. Nicht auszudenken, welche Methoden diese Barbaren anwenden würden, um ihr ein
paar wahre und eine Menge falscher Fakten zu entlocken. Die Frau tat weiter nichts, als ihr hin und wieder eine Frage zu stellen und sich danach ähnlich wie Courtney selbst zu verhalten: stumm. Die Fragen stellte sie in verschiedenen Sprachen, die meisten verstand Courtney nicht, aber in einigen klangen ein paar Worte durch, die dem Englischen ähnelten, und so begriff Courtney ziemlich gut, was die Frau wissen wollte: ihren Namen, ihre Herkunft, ihre Reiseroute, den Zweck ihrer Reise und irgendeine Zahl. Den Zugangscode zum Bunker in Poruzzia, nahm sie an; vielleicht auch den ihrer Heimatcommunity. Wie auch immer: Courtney schwieg eisern. So ging das seit vier Tagen. Die längste Zeit, vermutete Courtney, denn sie fieberte bereits. Nur einmal am Tag gab man ihr etwas Wasser zu trinken. Am ersten Tag war es ihr noch gelungen, das Wasser zu verschmähen. Am zweiten jedoch war der Durst übermächtig geworden. Und nun war es schon so gut wie vorbei. Ihr fehlte die Kraft zum Trauern. Einer der wilden Burschen hatte ihr die Pfeile aus dem Schenkel und dem Arm gezerrt, ein anderer ihren Helm zertrümmert und ihr die Perücke vom Schädel gerissen. Ein dritter und ein vierter hatten ihr Überlebenssystem aufgeschlitzt, und sie aus dem Schutzanzug und der Kombi geschält. Nackt und in eine Decke gehüllt kauerte sie seitdem zwischen Fellen. Die Wunden brannten, die Demütigungen brannten, der Ekel brannte. Am vierten Tag nach ihrer Verschleppung sah Courtney Rouwens keine Perspektive mehr für sich. Was hatte sie noch zu erwarten? Den Tod. Dennoch wartete
sie. Auf Major David Peterson. Aus irgendeinem Grund loderte die wilde, die verrückte Hoffnung in ihr, er würde kommen und sie befreien. Sie wollte in seinen Armen sterben. Diese wilde, verrückte Hoffnung fachte ihre Lebenskraft immer wieder aufs Neue an. In der Mitte des vierten Tages entspannten sich die Gesichtszüge der schönen Barbarin. Sie lächelte sogar ein wenig. Allerdings glaubte Courtney etwas beunruhigend Triumphierendes in diesem Lächeln wahrzunehmen. Jedenfalls stand die Frau auf und verließ das Zelt. Vielleicht vergingen zwei Stunden, vielleicht auch drei. Draußen vor dem Zelt hörte Courtney Stimmen; die ganze Zeit. Die Stimme der schönen Barbarin und die Stimmen einiger Männer. Irgendwann verstummten sie. Schritte näherten sich, jemand riss die Zeltplane am Eingang beiseite. Ein älterer Krieger spähte ins Zelt. Courtney hielt ihn für einen Anführer. Sie erschrak, denn dieser Kerl war einer der Schlimmsten gewesen. Er trug eine lederne Gesichtsmaske; wahrscheinlich um seine Entstellung zu verbergen. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er ihr, aufzustehen und das Zelt zu verlassen. Courtney stellte sich vor, er könnte zu ihr kommen, sie berühren, hochreißen und hinauszerren. Diese Vorstellung verjagte vorübergehend alle Schwäche aus ihrem geschundenen Leib. Sie stand auf, zog die Decke um ihre Schultern zusammen und wankte an dem Grausamen vorbei aus dem Zelt. Zuerst kniff sie die Augen zusammen, weil das Mittagslicht sie blendete. Sie hob den Kopf: Tatsächlich – die Sonne schien durch eine Wolkenlücke! Eine der Wolken erinnerte sie an ein Herz, eine andere sah aus
wie eine Hand. Davids Hand … Dann fröstelte sie, denn es blies ein kühler Wind vom Wasser her. Sie senkte den Kopf. Nur noch ein Schiff lag am Ufer vor Anker. Und zwanzig Schritte vor ihr standen sie in geschlossener Reihe: mindestens zwanzig oder dreißig Krieger. Manche feixten, andere leckten sich die gespaltenen Lippen, die gierigen Augen der meisten verschlangen sie bereits. Das Blut gefror ihr beim Anblick der entstellten Gesichter. Einer der Krieger machte plötzlich einen Schritt auf sie zu, andere gleich zwei oder drei. Die ganze Horde rückte näher. Courtney Rouwens wankte rückwärts. Sie war außerstande, ihren Blick von der Menge der Barbaren loszureißen. Sie stolperte über einen Zeltpflock, rappelte sich auf, torkelte weiter zurück. Einige der Wilden lachten. Ihre Angst machte ihnen Spaß. Näher und näher rückten sie, und Courtney hielt die Decke unter ihrer Kehle zusammen und wich zurück. Bis sie gegen etwas Hartes stieß. Durch die Decke hindurch ertastete sie eine rissige Struktur. Nichts, was sie kannte. Sie fuhr herum – ein Baum. Dahinter, vielleicht fünfzehn Schritte entfernt, ebenfalls eine geschlossene Reihe von Widerlingen. Eingekesselt. Umzingelt wie ein Stück Wild. Sie hob den Kopf, blickte in die Baumkrone: knorriges, weit ausladendes Geäst; hellgrünes Laub mit sägeblattartigen Rändern, das gerade aus den Knospen gesprungen war. Durch die Lücken der Krone sah sie Wolken ziehen; nach Westen glaubte sie, nach Hause. Courtney bedauerte in diesem Moment, den Baum nicht benennen zu können. Eine Linde war es nicht. Eine Eiche? Eine Ulme? Sie hatte sich mit Medizin, Biochemie,
Männern, den Vorschriften der Community-Force, Labordiagnostik und alten Geschichten beschäftigt, aber nie mit Botanik. Schade eigentlich. Sie schmiegte die Wange an den Baum und schlang die Arme um ihn. Er fühlte sich gut an. Die Decke rutschte ihr von den Schultern. Eine dieser alten Geschichten fiel ihr ein, eine, in der irgendjemand seinen Namen in eine Baumrinde schnitzt. Courtney fragte sich, was sie in die Rinde dieses Baumes schnitzen würde, wenn sie noch Zeit dazu hätte. Jemand legte von hinten seine Hand auf ihre Schulter. Vielleicht ein Herz mit ihren und Davids Initialen. Jemand riss sie herum. Sie schloss die Augen und drückte ihre Hände gegen die Baumrinde. Oder: Hier starb im April des Jahres 2516 die Prinzessin von Wales … »Fischer an Carlyle und Peterson – viel Glück!« »Ark II an Fischer!« Davids heisere Stimme aus dem Funkmodul. »Vielen Dank, Maria!« Eher widerwillig drückte Eve die Sprechtaste. »Danke.« Sie sank gegen die Lehne ihres Sessels und konzentrierte sich auf die Ortungsinstrumente. Man traf nicht jeden Tag auf eine Bunkerkolonie. Ein außerordentliches, ja historisches Ereignis. Statistisch kam das nur alle drei Generationen vor. Diese Zahl hatte Eve von Sir Leonard gehört. Ein Kommandant, dessen Expedition auf eine noch unbekannte Bunkerkolonie stieß, hatte einen Sitz im Octaviat so gut wie sicher. Manchmal dachte Eve daran, als sie dem Wasserlauf entlang nach Norden schwebten. Manchmal zwang sie sich sogar, daran zu denken. War die Mission nicht schon durch diese Entdeckung ein voller Erfolg? War ihre
Karriere nicht für einen Quantensprung prädestiniert? Gut möglich, wahrscheinlich sogar – nur vermochten solche Gedanken nicht das Loch hinter ihrem Brustbein zu füllen. Sie fühlte nichts mehr. Und sie kam sich vor wie eine Frau, die alles verloren hatte. Andere Mitglieder ihrer Crew taten sich da leichter. Vor allem die Wissenschaftler. Eine Art Euphorie war unter ihnen ausgebrochen, als sie merkten, dass man in Poruzzia über uralte Datenbanken verfügte und auf vierhundert Jahre Forschung zurückblickte. Sie rissen sich um Gesprächstermine mit den Deutschen. Jeder wollte mit Fachkollegen aus der Bunkerkolonie zusammentreffen, Daten austauschen und Theorien diskutieren. Wäre Doc Doubleman nicht gewesen, hätte Eve diese Euphorie zum Anlass genommen, Courtney Rouwens aufzugeben. Ein Mitglied der Community-Force war im Kampf gefallen beziehungsweise verschollen. Das war schmerzlich, sicher – wenn auch nicht für Eve –, doch so etwas kam eben vor. Schwerer allerdings wog der neu gewonnene Kontakt zu einer fremden Bunkerkolonie. Das stand nirgendwo explizit geschrieben, galt aber unausgesprochen als allgemeiner Konsens zwischen den Communities. Wenn es nach Eve Carlyle gegangen wäre, hätte sie David Peterson nach London zurückgeschickt, zehn weitere Tage bei den Deutschen verbracht und wäre danach in Richtung Leipzig aufgebrochen. Doc Doubleman jedoch sah das ganz anders. Er war ihr in den Ohren gelegen, stundenlang: Courtney Rouwens sei noch so jung, Courtney Rouwens sei eine vielversprechende Offizierin, Courtney Rouwens sei eine unentbehrliche Medizinerin und sowieso ein Stück
Zukunft der Londoner Community, also müsse man alles Menschenmögliche für ihre Rettung tun, und so weiter, und so weiter. Eve war schon der Gedanke gekommen, ob Cox mal ein Verhältnis mit der Rouwens gehabt hatte. Doch vermutlich hatte David Peterson den Chefwissenschaftler einfach nur auf seine Seite gezogen. Aber auch wenn der Komet oder gar Orguudoo persönlich ihn becirct hätten – die Kommandantin konnte sich schlecht über die Meinung des leitenden Wissenschaftlers hinwegsetzen. Also ließ sie Niklas Dejong und Emma Bloom im Bunker zurück und brach mit zwei EWATs auf, um Lieutenant Rouwens zu suchen. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob auch Leichensäcke an Bord waren. Nach achtzehn Kilometern teilte sich der Kanal. Ein Wasserlauf führte nach Westen – zum Rhein, vermutete Eve –, der andere nach Norden. Ark II stieg auf maximale Flughöhe und tastete die Umgebung mit den Ortungsinstrumenten ab. Fünf Kilometer entfernt und in nördlicher Richtung entdeckte Barbara ein Objekt, das nach einem Schiff aussah. Eve ordnete Gefechtsbereitschaft und Kurs nach Norden an. Zwanzig Minuten später erreichten sie das Schiff. Es lag am Ufer vor Anker, ein klotziges, schwarz geteertes Ding von über hundert Metern Länge und mit Schaufelrädern zu beiden Seiten. Es strahlte Wärme ab, und als sie über ihm in der Kanalböschung landeten, stellte sich heraus, dass Heck und Schiffsaufbauten niedergebrannt waren. Das verkohlte Heck rauchte noch. Kein Mensch war an Bord. Immerhin wussten sie jetzt, in welche Richtung die Barbaren geflohen waren. Eve ließ Simon, Cox und Amer aussteigen. Das Trio
untersuchte das Schiffswrack, filmte Rumpf, Laderäume und Dampfmaschine. Eine Stunde später ging es weiter. Nach sechs Kilometern verzweigte sich der alte Kanal erneut, doch die Fahrrinne nach Nordwesten war durch Trümmer und Baumstämme blockiert – die Barbaren konnten nur nach Norden gedampft sein. Nach fünfunddreißig weiteren Kilometern teilte sich der Wasserlauf und vereinigte sich nach drei Kilometern wieder. Auf dem schmalen Landstück, das die Kanalarme einschlossen, fanden sie niedergetretenes Gras und Feuerstellen; ein Lagerplatz der wilden Krieger. Dort landeten sie. Nur je zwei Mann ließ Eve auf den EWATs zurück. Zu neunt suchten sie das Gelände ab. Stiefelspuren, Essensreste und die Zahl der Feuerstellen und der Löcher für Zeltpflöcke sprachen dafür, dass eine große Anzahl von Menschen hier mindestens eine, wenn nicht zwei Nächte verbracht hatte. »Ich tippe auf zweihundert Barbaren«, sagte McMalone. Am Rande des Lagers stießen Juli Bennett und Togo auf drei frische Erdhügel in einem Eichenhain. Eve ließ graben. David hockte etwas abseits auf einem Stein. Die Leichen dreier Krieger kamen zum Vorschein. »Schwere Verbrennungen, wie es aussieht«, sagte Sonia Muzawi. Eve konnte die Erleichterung in Davids Miene lesen. Als sie zurück zu den EWATs gingen, fand Togo eine große Scherbe. Er stolperte praktisch über sie. Sie war teilweise durchsichtig und an den Rändern zersplittert. Eve nahm ihm das Ding ab und betrachtete es. »Der Splitter einer Helmschale«, sagte sie. Das ließ nur eine mögliche Schlussfolgerung zu. Niemand sprach sie aus. Bis zur Abenddämmerung legten sie weitere
hundertzwanzig Kilometer zurück. Eve entdeckte das Schiff auf dem Ortungsdisplay zuerst. Etwa sieben Kilometer entfernt dampfte es nach Norden. Zu beiden Seiten des Kanals nahmen sie die Verfolgung auf. »Warum nur eines?«, knurrte Togos Stimme aus dem Bordfunk. »Wo sind die anderen beiden?« »Peterson an Commander. Wie gehen wir vor? Wir können den Dampfer nicht einfach überholen und beschießen. Falls Courtney an Bord ist, gefährden wir sie. Oder die Mordhunde erpressen uns. Wir sollten uns einen Trick einfallen lassen.« Eve musste ihm Recht geben. Sie diskutierten eine Zeit lang hin und her, bis Eddy Amer schließlich den Vorschlag machte, außer Sichtweite des Dampfers einen Bogen zu schlagen, um ein paar Kilometer vor ihm zum Kanal zurückzukehren. »Dort sprengen wir eine Brücke oder eine Ruine am Ufer. Egal was, Hauptsache wir zwingen sie zu ankern und ans Ufer zu kommen. Und dann müssen wir blitzschnell zuschlagen. Theoretisch kann ein einzelner Mann mit LP-Gewehr die Sache erledigen.« Eve hätte ihn gern an die Bilder von Courtney Rouwens vor dem Außenschott erinnert; trotz ihrer wirksamen Waffe war sie gescheitert. Sie schwieg aber und gab den Befehl, in westlicher Richtung vom Kanal weg zu fliegen. Ein ungutes Gefühl nagte hinter ihrem Brustbein, aber irgendetwas musste geschehen. Sie ließ die EWATs bis auf einen Kilometer an den Dampfer heranfliegen, danach befahl sie die Landung. Grasland mit niedrigem Gestrüpp säumte hier den Kanal. Um keine Entdeckung zu riskieren, setzte die Kommandantin den Weg am Boden und auf Ketten fort.
Eine Stunde später lag der Dampfer schon neun Kilometer hinter ihnen. Eve ließ wieder Kurs auf den Kanal nehmen. »Ark II an Commander, Funkkontakt.« Barbaras Stimme. »Die Präsidentin von Poruzzia! Schlechter Empfang, schwer zu verstehen!« Eve stand auf, beugte sich über das Funkmodul. Und jetzt hörte sie es auch: Eine Mischung aus Rauschen, Pfeifen und Wortfetzen. Ein Wunder, dass überhaupt ein Kontakt möglich war; die CF-Strahlung musste hier weitaus geringer sein. Sie zog sich den Kopfhörer über. »Fischer an Carlyle … Überfall … die Götterschlächter … zurückgekehrt …« Eve sank langsam in den Sessel. Stocksteif saß sie dort ein paar Sekunden lang. Plötzlich sprang sie auf, presste die Fäuste gegen die Schläfen. »Eine Falle! Sie haben uns reingelegt…!« »Fischer an Carlyle … die Barbaren … Überfall … sie dringen in … Bunker ein …« »Umkehren!«, schrie Eve. »Commander an alle! Zurück nach Poruzzia …!« Die Nacht brach an. Nur einen Kilometer vom Kanal entfernt startete Spencer Dewlitt und steuerte Ark I in einer weiten Schleife in die Gegenrichtung. Die Distanz zum Barbarenschiff schrumpfte noch immer. Ruud Simon saß auf dem Sessel des Aufklärers und versuchte den Funkkontakt mit den Deutschen wieder herzustellen. »Was ist los, Ark II? Wo bleiben Sie?« Mit gerunzelter Stirn beobachtete Eve das Panoramadisplay. Die Außenkameras hatten den Nachtsichtmodus aktiviert, Petersons Panzer sah aus wie ein grün schimmernder
Megawurm. Statt zu wenden und zu starten, pflügte sein Gerät noch fast dreihundert Meter durch das Gras in Richtung Kanal. Dann erst stoppte er. »Commander an Major Peterson – was treiben Sie da unten?!« Keine Antwort. »Ark I an Ark II, melden Sie sich! Haben Sie technische Probleme?« Rechts von ihr stand plötzlich McMalone und starrte auf die Monitore und das Panoramadisplay, links tauchte Paul DaCol auf; auch Simon war aufgestanden und beobachtete den anderen EWAT. »Ark II an Ark I.« Barbaras Stimme vibrierte. »Major Peterson hat mir das Kommando übergeben, er will aussteigen.« Eve stand wie von einem Elektroschock getroffen, der Atem blieb ihr weg. »Shit …!«, fluchte Spencer Dewlitt, Mac schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich ab. »Jetzt dreht er durch«, krächzte Togos Stimme im Helmfunk. »Ich hab's geahnt, er dreht durch …« »Commander an Major Peterson!« Eve riss sich zusammen. »Sie werden nicht aussteigen, verstanden?!« Keine Antwort. »Commander an Peterson, gehen Sie zurück auf Ihren Platz vor der Steuerkonsole, starten Sie Ihre Maschine und folgen Sie uns!« Keine Reaktion. »Das ist ein Befehl, Major!« Nichts. »Commander an Major Peterson, wenn Sie Ihre Maschine verlassen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Ihnen der Prozess gemacht wird!« »Plant an Commander – er ist in der Schleuse, Eve.« »Wenden Sie, Captain Dewlitt.« Jetzt zitterte auch Eves Stimme. »Zurück zu Ark II!« Dewlitt hatte längst die Schleife zurück eingeleitet. »Plant an Commander, der Major ist ausgestiegen!« »Verdammt, Eve!«, rief McMalone. »Bei den Deutschen
brodelt die Hölle! Wir haben keine Zeit zu verlieren!« »Ich hab sie wieder!« Simon drückte die Kopfhörer gegen die Ohren. »Sie funken ›Mayday‹, immer nur ›Mayday‹!« »Denk an Emma und Dejong, Eve!«, krächzte Togo aus dem Bordfunk. DaCol nickte. »Wir holen ihn später hier ab!« »Da!« Spencer Dewlitt deutete auf das Panoramadisplay. »Da ist er!« Eine grün fluoreszierende Gestalt entfernte sich im Laufschritt von Ark II. »Landen Sie vor ihm, direkt vor ihm!« Die Kommandantin wandte sich der Schleusenluke zu. »Ich gehe allein.« Die Luke öffnete sich. Eve trat in die enge Schleuse, nahm ihren Schutzanzug aus der Wandnische und stieg hinein. In der Deckenbox war ihr LP-Gewehr deponiert, sie griff danach. Minuten später ging ein Ruck durch den Rumpf der Maschine. Sie legte ihre Handfläche auf den Sensor neben der Außenschleuse. »Commander Eve Carlyle. Lass mich raus.« »Selbstverständlich, Ma'am!« Die Stimme des Schleusenbutlers klang so verzerrt, als wäre selbst er nervös. Der Tank stoppte, die Außenschleuse öffnete sich, Eve sprang ins Gras. Hundert Schritte entfernt flammte ein Helmscheinwerfer auf. »Ich suche sie auf eigene Faust, Eve!« Davids Stimme im Helmfunk. »Du kannst mich nicht aufhalten!« Sie ging ihm entgegen, tippte dabei ihren Code in die Reaktorkugel. »Flieg weiter, Eve! Du machst nur die Barbaren auf mich aufmerksam!« »Zurück in deine Maschine, David!« Sie zielte auf ihn. Sechzig Schritte entfernt machte er Anstalten, an ihr und dem EWAT vorbeizulaufen. Eve drückte auf die
Aktivierungstaste, ein Strahl zischte aus dem kurzen Lauf. Wenige Meter vor David bohrte er sich in den Boden. David Peterson blieb stehen. Im Helmfunk hörte sie sein Keuchen. »Reicht es dir nicht, dass du sie auf dem Gewissen hast? Musst du auch noch mich erschießen in deiner blindwütigen Eifersucht?!« Wieder schoss sie; diesmal fuhr der Strahl keine zwei Schritte von ihm entfernt ins Gras. Der Major machte einen Satz zur Seite, blieb erneut stehen. »Zurück in die Maschine!«, brüllte Eve. »Zurück, Wahnsinniger, zurück!« Hinter ihr das Geräusch der Außenluke. »Du verrätst ihnen unsere Position, du Miststück!« Er rannte los. »Schieß doch!« Im Zickzackkurs hastete er dem EWAT entgegen. »Töte mich! Los, töte mich!« Eve zielte und drückte ab. Der Strahl zischte knapp über ihn und den Panzer hinweg. Sie wünschte, er würde endlich zurückfeuern. Wieder legte sie an. Ein Schatten huschte an ihr vorbei, versetzte ihr einen Stoß gegen die Schulter, dass sie zur Seite taumelte. Ein Laserstrahl verlor sich in der nächtlichen Landschaft. »Hören Sie auf damit, Commander!« Spencer Dewlitt baute sich vor ihr auf. Er war unbewaffnet. »Sie machen sich strafbar, und Sie wissen das!« Schritt für Schritt wich er zurück, immer darauf bedacht, zwischen ihr und David zu bleiben. »Er ist ein Deserteur! Sie wissen, was die Vorschriften über den Umgang mit Deserteuren sagt! Aus dem Weg, Dewlitt!« David war stehen geblieben. Das LP-Gewehr baumelte an seiner Hand. Reglos blickte er zu ihnen. »Die Vorschrift ist über vierhundertfünfzig Jahre alt! Damals
kämpften wir in London noch gegen euch in Salisbury, damals lebten noch fast zweitausend Menschen in der Community London!« Seine Stimme im Helmfunk klang gefährlich ruhig. Meter um Meter entfernte er sich. Keine Sekunde ließ er sie aus den Augen, »Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen guten Mann zu viel zu verlieren …« »Gehen Sie aus dem Weg, Spence, bitte …!« Sie ließ das Gewehr sinken. »Es geht auch um Emma und Dejong. Zwei Leben gegen eines …« Alle Kraft wich aus ihren Gliedern. »Bitte, bitte …« Ihre Stimme brach. Sie sank ins Gras und weinte. Jetzt war Spencer Dewlitt bei David angelangt. Er drehte sich um und umarmte ihn. Einer drückte seinen Helm gegen den des anderen. Lange Minuten standen sie so. Niemand würde je erfahren, was sie einander zum Abschied zu sagen hatten. Zurück bei seiner Kommandantin, bückte Dewlitt sich, fasste sie unter den Achseln und zog sie hoch. Ihr Körper zuckte, sie weinte noch immer. Auf der anderen Seite, schon an die zweihundert Schritte entfernt, rannte David Peterson dem Kanalufer entgegen … Gegen Mitternacht erreichten sie die Ruinenstadt Poruzzia. Im Minutentakt funkte Ruud Simon den Bunker an. Niemand antwortete mehr. Eve ließ die Umgebung der Efeuruine absuchen. Sie entdeckten fast vierzig tote Barbaren. Spuren von lebenden Kriegern fanden sie nirgends. Sie landeten vor dem Eingang der Backsteinruine. Zusammen mit Amer, Togo und McMalone stieg die Kommandantin aus. Das Außenschott stand offen. Sie fuhren hinunter.
Sämtliche Schleusen und Luken waren geöffnet, überall lagen Tote – grausig zugerichtete Bunkerkolonisten und von Laserstrahlen getroffene Krieger jener Barbaren, die sich Götterschlächter nannten. Emma Blooms und Niklas Dejongs Leichen fanden sie in der Bunkerzentrale unter den Leichen der Bunkerpräsidentin und ihres militärischen Stabs. Niemand hatte überlebt. Drei Tage suchten sie die Ruinenstädte des Ruupods nach den Barbaren ab, vergeblich. Eve vermutete, dass zwei Nordmanndampfer die Kanalabzweigung nach Westen genommen hatten, wo sie mit den EWATs auf Nordkurs gegangen waren. Oder ging die zugeschüttete nächste Abzweigung auf das Konto der Barbaren? Waren die beiden Schiffe dort nach Westen gedampft? Doch auch auf dem Rhein konnten sie keinen Dampfer orten. Die mörderischen Barbaren samt ihrer Kähne waren wie vom Erdboden verschluckt. Eve diktierte einen knappen Bericht, speicherte ihn auf einen Datenkristall und schickte einen Kolk damit nach England. Danach fuhren sie Richtung Norden und machten sich auf die Suche nach David Peterson. Sie fanden seine und Courtney Rouwens Leichen Anfang Mai im Uferschilf eines Flusses, der in den alten Karten mit dem Namen »Weser« eingetragen war; etwa zwanzig Kilometer nördlich einer großen Ruinenstadt und kurz bevor der Fluss ins Nordmeer mündete. Die nackten Körper waren aneinander gefesselt, halb verwest und grausam verstümmelt. Ausgeschlossen, diese sterblichen Überreste in einen Leichensack zu packen und zurück nach London zu transportieren. Spencer Dewlitt kümmerte sich um ihre Bestattung. Eve zog sich während der schlichten Zeremonie in das Hecksegment
von Ark I zurück. Am nächsten Morgen nahm die Expedition Kurs auf Leipzig.
Kapitel 22 Die Prime von Salisbury � Aus den Johanna-Dateien � 2049-09-21 Ein paar Zeilen noch, dann ist die Arbeit getan. Wort für Wort habe ich abgetippt, den Rest der Geschichte jener Tage mögen die Nachgeborenen selbst rekonstruieren (falls es solche geben wird, und falls sie das nötige historische Interesse aufbringen). Zum Beispiel aus folgenden Fakten: 234 Menschen hatten sich bereits Anfang Februar unter der Führung des Außenministers Edgar Bloom im Bunker von Salisbury eingeschlossen. 758 Menschen gelang es an diesem denkwürdigen 8. Februar des Jahres 2012 zusätzlich, in die Schutzräume einzudringen. Davon starben nach den mir vorliegenden Personalangaben der Klinikabteilung 123 in den folgenden drei Wochen; einige an Schussverletzungen, die meisten an Frakturen und Quetschungen, die sie sich bei der Massenpanik vor dem Eingang zugezogen hatten. Ohne Frage sind bei dieser Panik wesentlich mehr Menschen zu Tode gekommen. Die Schätzungen von Augenzeugen variieren zwischen 800 und 1.200, wobei die Toten außerhalb der Halle über dem Außenschott nicht berücksichtigt werden konnten. In die offizielle Statistik flossen jedoch nur Sterbefälle innerhalb des Bunkers ein.
Allerdings kann man nicht davon ausgehen, dass in diesen unruhigen Zeiten jeder Todesfall dokumentiert, jeder Einwohner elektronisch erfasst wurde. Ende Mai 2012, so viel kann als sicher gelten, zählte die Bunkerkolonie 886 Köpfe. Die Unregelmäßigkeit – es sind rechnerisch (s.o.) siebzehn Einwohner zu viel – könnte, zumindest teilweise, durch die Zahl der bis dahin neugeborenen Kinder zustande kommen. Die teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Prime Plants Anhängern und General Dubliners Partei in den Jahren 2013 bis 2029 forderten insgesamt 317 Opfer. Man liegt sicher nicht falsch, wenn man die These vertritt, dass Dubliners Tod im Januar des Jahres 2030 und die noch am gleichen Tag folgende Kapitulation seiner Söhne und Töchter weitere Todesopfer verhindert hat. An dieser Stelle sei es erlaubt, darauf hinzuweisen, dass aufgrund ihrer mangelhaften Bewaffnung, ihres knappen Wohnraums, ihrer schrumpfenden Zahl und der schlechten Ernährung ihrer Mitglieder Dubliners Partei mittelfristig so oder so den Kürzeren gezogen hätte. Darin stimmen die meisten Quelleninterpreten überein, und das kann ich auch aus eigener Anschauung bestätigen. Hinzu kommt Prime Plants ungewöhnliches Charisma. Auch dessen Wirkung kann ich aus eigenem Erleben bestätigen. Jetzt schon wird man sagen dürfen, dass sein legendärer Ruf sich auch nach seinem Tod im vergangenen Jahr über mehrere Generationen erhalten wird; sollte das Schicksal oder ein gnädiger Gott uns weitere Generationen gönnen. Aber zurück zu den Fakten. Nach Ende des Bunkerkrieges, im Januar 2030, regierte Prime Plant über
736 Bunkerkolonisten. Der gegenüber der Population vom Mai 2012 – 886 (s.o.) – und angesichts der hohen Verluste im Verlauf des Bunkerkrieges gering erscheinende Bevölkerungsrückgang ist auch in diesem Falle wieder der Zahl der Neugeborenen geschuldet, die zwischen den Jahren 2019 und 2030 mit 167 Kindern, die das dritte Lebensjahr überlebten, glücklicherweise ungewöhnlich hoch war. Ein paar Worte noch zum Stand der Dinge in der Londoner Community. Ich verzichte darauf, die bekannten militärischen Operationen der letzten zwanzig Jahre im Einzelnen aufzuzählen. Genau wie die aktuelle Lage kann sie jeder zukünftige Forscher – und Gott gebe, dass es auch fernerhin neugierige Geister geben wird – aus den Bunkerdatenbanken recherchieren. Meines Wissens haben sowohl Prime Plant als auch General Dubliner sämtliche militärischen Operationen, diplomatischen Noten und Protokolle der zahlreichen Funkkontakte mit London sowie der seltenen persönlichen Gespräche mit dem König bzw. nach ihm mit dem Diktator sorgfältig dokumentiert und gespeichert. Darüber, was genau sich im Einzelnen nach dem Kometeneinschlag in der Londoner Bunkercommunity abgespielt hat, kann man nur Mutmaßungen anstellen, denn gleich in den ersten Monaten nahm die rätselhafte Strahlung so stark zu, dass es fast unmöglich wurde, den bunkerinternen Funkverkehr in London abzuhören. Allein der offizielle Funkverkehr zwischen London und uns gestaltete sich immer schwieriger und kann auch zur Stunde nicht als störungsfrei bezeichnet werden. Als gesichert kann immerhin Folgendes gelten;
Die rebellierenden Luftwaffeneinheiten, die in Westminster in Stellung gegangen waren und das Parlamentsgebäude und somit den Bunkereingang belagerten, fielen samt ihres vieltausendköpfigen Anhangs (zumeist Mitglieder von Bürgerwehren, versprengte Flüchtlinge und Angehörige der so genannten LORDS) einem Luftangriff eigener Bomberund Jagdflugzeugstaffeln zum Opfer. Vorsichtig geschätzt kamen hierbei mindestens 14.000 Menschen ums Leben. Drei Zeugenaussagen und Untersuchungen einer Expedition unter meinem Vater und Dr. Gabriel (siehe Verz. ›Frühgeschichte‹, Dat. ›2012‹, Kap. ›Die Royal Air Force in den Tagen vor dem Kometeneinschlag‹, Abschnitt 23) lassen keinen anderen Schluss zu. Man kann kaum anders, als diesen Angriff barbarisch zu nennen. Nur vier Offizieren, die ihn zu verantworten hatten, gelang letztendlich, was doch von König und Premier allen Loyalisten versprochen worden war: die Flucht in den Bunker. Colonel Yoshiro, so viel ist nach oben angeführten Fakten klar, konnte also weder die Bunkerzentrale erobern, noch seinen Verbündeten das Außenschott öffnen. Immerhin aber – auch das darf als gesichert gelten – gelang es ihm, einen der Prinzen als Geisel zu nehmen und sich mit vierundachtzig Offizieren und einer nicht bekannten Zahl von Frauen und Kindern (Schätzungen gehen von mindestens fünfzig Frauen aus) in der unteren Ebene der Londoner Bunkercommunity zu verschanzen. Aus der nachgiebigen Haltung des Königs und der Regierung und aus ihren halbherzigen Maßnahmen gegen Yoshiros Gruppe könnte man schließen, dass es
sich bei der Geisel um den direkten Thronfolger handelte, also um William. Darüber hinaus lässt sich aus dem jahrelangen Aufenthaltsort der Rebellen folgern – sie kontrollierten die Wasserversorgung des gesamten Überlebenssystems! –, dass König und Regierung sie ausreichend mit Lebensmitteln versorgten. Vermutlich entwickelte sich eine Art Tauschhandel zwischen Rebellen und Königlichen. Sicher ist das allerdings nicht. Im Jahre 2018 schließlich einigte man sich: Yoshiro ließ den Prinzen frei und erreichte dadurch einen bedingungslosen Friedensschluss mit König und Regierung. Danach gab es die ersten persönlichen Kontakte zwischen London und unserer Bunkercommunity, wobei es sich verhängnisvoll auswirkte, dass nicht Prime Plant, sondern General Dubliner sich persönlich mit dem König traf. Die Folgen sind bekannt: Im berühmtberüchtigten Abkommen von Westminster von 2019 erkannte Dubliner den König als rechtmäßiges Oberhaupt auch unserer Bunkercommunity an. Plant lehnte das mit der ihm eigenen Vehemenz ab. Im Hinblick auf die Bevölkerungszahlen in der Londoner Community jener Zeit müssen wir wieder das Reich der Spekulationen betreten. Wir wissen ziemlich sicher, dass sich zur Zeit des Kometeneinschlags 2.180 Menschen im Bunkersystem von Westminster aufhielten. Über die Opfer des Bunkerkrieges zwischen Yoshiro und den Königlichen wurden bisher keine Angaben gefunden. Die Geburtenrate dürfte in etwa der unseren entsprochen haben, gewiss ist aber nicht einmal das. Über die aktuelle Bevölkerungszahl in der Londoner Bunkercommunity wissen wir rein gar nichts. Sie dürfte
sich aber in den letzten zehn Jahren erheblich reduziert haben. Dieser Annahme liegt in erster Linie das nächste relevante und einigermaßen belegte Datum der postapokalyptischen Geschichte Londons zugrunde: der Putsch im Mai 2029. Der König starb auf uns unbekannte Weise, Yoshiro, inzwischen General, ließ den Prinzen töten und errichtete seine bis heute währende Diktatur. Als »Prime von London und Salisbury«, wie er sich nennen lässt, pochte er vom ersten Tag seiner Regierung an auf das Abkommen von Westminster. Die gewalttätige Weise, auf die er seine Ansprüche durchzusetzen versuchte, und deren Opfer auf unserer Seite sind, wie gesagt, in den oben angeführten Dokumenten aufgezeichnet. Dass London in den letzten zwei Jahren kaum noch durch Militäraktionen gegen unsere Jagdpatrouillen und Expeditionen aufgefallen ist, liegt nicht etwa an einer politischen Entspannung, sondern allein an den arktischen Temperaturen und der mittlerweile praktisch vollkommenen und ununterbrochenen Dunkelheit auf der Erdoberfläche. Auch wenn ich als Nachfolgerin von Prime Plant gemäß meines Eides alles daransetzen werde, die Bunkercommunity von Salisbury gegen jeden Angriff von außen zu verteidigen, hege ich wenig Hoffnung, den Diktator von London durch militärische Gewalt beseitigen zu können. Ich vermute, dass die Zeit das Problem lösen wird: Yoshiro dürfte auf die siebzig zugehen. Wir können nur hoffen, dass er nicht annähernd so alt wird wie Prime Plant, und dass nach ihm vernünftige Frauen und Männer an die Macht kommen, die mit uns paktieren werden. Aus meiner
Sicht jedenfalls ist es vollkommen ausgeschlossen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommenden Probleme anders als in einer gemeinsamen Anstrengung aller gebündelten Kräfte Londons und Salisburys zu lösen. Meine Arbeit ist nun endgültig getan. Mir schwebt zwar eine fortlaufende Chronik der kommenden Jahre und Jahrzehnte vor, aber die Regierungsgeschäfte lassen mir nicht die Zeit, sie persönlich fortzuschreiben. Möge sich bald ein wacher Geist finden, der hierzu in der Lage ist. Allerdings habe ich verfügt, dass dieses Dokument für immer den Namen tragen soll, den ich ihm gegeben habe: Johanna-Dateien. Niemand in Salisbury käme auf die Idee, nach dem Grund für diese Verordnung zu fragen. Für die Nachgeborenen sei er dennoch genannt: Zu Ehren jener Frau, der so viele in unserer bedrohten Gemeinschaft ihr Leben verdanken, soll dieses Dokument ihren Namen tragen. Zu Ehren der tapferen und unerschrockenen Frau, die selbst, wenige Schritte vom rettenden Schott entfernt, unter den Trümmern der Halle ums Leben kam, als Panzer diese unter Beschuss nahmen. Ich für meine Person kann sagen, dass ich am heutigen Tage dankbar bin. Nicht allein, weil ich der Geschichtsschreibung nach »Christopher-Floyd« eine wertvolle Quelle schaffen, sondern vor allem weil ich einem Wunsch meiner leider viel zu früh verstorbenen Mutter Mary-Lou Carlyle entsprechen konnte, nämlich ihrem Wunsch, mit diesen Aufzeichnungen jener Frau ein Denkmal zu setzen, auf die der größte Teil der voranstehenden Texte zurückgeht und ohne die weder meine Mutter, noch mein Vater Pete Nash und am allerwenigsten ich selbst den Bunker von Salisbury je
erreicht hätten. Ja, ich kann sagen: Ihr, Joan Carlyle, verdankt unsere Bunkerkolonie ihre neue Prime. Und nicht zuletzt ist es mir selbst ein Bedürfnis, dieser wunderbaren Frau mit der Niederschrift und der Redaktion ihrer Aufzeichnungen zu danken. Joan Carlyle II
Kapitel 23 Höllenfahrt II � Mitteleuropa, Ende Mai 2516 »Orguudoo scheint ein Gewohnheitstier zu sein«, kommentierte Ari Togo den Absturz der Zentralhelix von Ark II. »Er scheißt immer auf dieselbe Stelle.« Eve war geneigt, ihrem Gefechtsstandsoffizier Recht zu geben: Gleich in den ersten fünf Wochen der Expedition vier Besatzungsmitglieder verloren, Achsenbruch im Bugsegment Anfang Mai, Ausfall der Magnetfeldstabilisatoren Ende Mai, Bandscheibenvorfall der Pilotin ein paar Tage später, und jetzt gab der Bordrechner seinen Geist auf. »Weißt du, was ich schon gedacht habe?«, vertraute Barbara Plant der Kommandantin auf ihrem fast zehn Tage währenden Krankenbett an. »Dass irgendein Barbarenschamane Major Petersons Maschine verflucht hat.« Viel fehlte nicht, und Eve hätte derartigen Schwachsinn als Erklärung für die Pannenserie akzeptiert. Ihren DNS-Computerspezialisten Dejong hatten die Nordmänner ermordet. Ruud Simon und Paul DaCol mühten sich mit der defekten Bordhelix. Eve hatte eine Gebirgslandschaft für die Reparatur ausgespäht. In den alten Karten waren die Berge als »Harz« verzeichnet. Durch die Pannenserie hatte die Fahrt von der Küste hierher Wochen in Anspruch genommen. Dazu kam, dass die Ortung dreimal Dampfer der Nordmänner
erfasste. Eve verzichtete auf einen Angriff – sie hatte genug von Kämpfen und fürchtete zugleich die primitiven Geschütze der Barbaren. Ein zufälliger Treffer in die Frontkuppel, und die Katastrophe wäre perfekt. Stattdessen mied sie Wasserstraßen und nahm Umwege in Kauf. Unter keinen Umständen durfte sie dieses Mordgesindel auch nur in die Nähe des Leipziger Forschungsbunkers locken. Fünf Tage lang brauchten Simon und DaCol, bis sie die Bordhelix von Ark II endlich wieder hochfahren konnten. Fünf weitere Tage Zeitverlust! Der Proviant reichte nur noch für zwei Tage, also etwa bis zu ihrem Ziel. Für die Rückfahrt würden sie sich aus dem Forschungsbunker verköstigen müssen. Eve konnte nur hoffen, dass man dort inzwischen selbst Lebensmittel produzierte. Barbara Plant testete ihre Bordhelix, indem sie den EWAT ein paar Stunden lang durch das Gebirge steuerte – am Boden, in der Luft und auf einem wenige Kilometer entfernten See. Der Rechner funktionierte wieder reibungslos, ein Aufatmen ging durch die Expedition. Am Abend jenes letzten Maitages ließ Eve die Destillationsanlagen der Panzer aus dem See speisen, um die Wasservorräte aufzufüllen. Am nächsten Morgen setzten sie die Fahrt nach Leipzig fort. Die EWATs verließen das Mittelgebirge an seinem Südrand. Trotz des knappen Proviants konnte Eve sich nicht dazu durchringen, den Forschungsbunker direkt anzusteuern. Sie plante einen Kurs, der die Expedition in einem weiten Bogen von Süden her nach Leipzig brachte. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, denn nach Nashs Kartenupdate gab es im Norden Leipzigs Flussläufe. Es war unwahrscheinlich, aber nicht ganz auszuschließen,
dass die Mörderbande Kundschafter hinter ihnen hergeschickt hatte. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass die Barbaren mehr als nur den Zugangscode des deutschen Bunkers aus Courtney Rouwens herausgepresst haben könnten?« Spencer Dewlitt stellte die Frage, während sie in sechzig Fuß Höhe ein schier unendliches Waldstück überflogen. Er stellte sie völlig unerwartet. Eve musste schlucken, bevor sie antworten konnte. »Das glaube ich nicht«, log sie. »Was hätte sie denn noch verraten sollen?« »Unser Ziel zum Beispiel, Leipzig.« Der Pilot sprach mit ruhiger Stimme. »Oder sogar die Koordinaten des Forschungsbunkers.« Von der Seite spürte sie Macs lauernden Blick, sie vermied es, ihn anzusehen. »Erstens glaube ich nicht, dass die Nordmänner mit Koordinaten überhaupt etwas anfangen können, und zweitens: Wieso sollte Lieutenant Rouwens die Koordinaten des Forschungsbunkers auswendig kennen?« »Vielleicht, weil sie sich als Anfängerin und Navigatorin besonders gründlich auf die Expedition vorbereitet hat?« »Wenig wahrscheinlich«, wich Eve aus. »Und selbst wenn – was verraten diesem Pack schon ein paar Zahlen?« Zum ersten Mal hatte jemand die Fragen ausgesprochen, die ihr, neben aller Trauer, viele schlaflose Nächte bereitet hatten, seit sie im verwüsteten Bunker von Poruzzia von Leiche zu Leiche gegangen war. Sie mochte gar nicht daran denken, was man Courtney Rouwens angetan hatte, um sie zum Verrat des Zugangscodes zu zwingen. Und wirklich: Wer wusste
schon, was sie noch alles aus ihr herausgequält hatten …? »Du brauchst uns nichts vormachen, Eve«, sagte Mac. »Wir wissen doch alle, warum wir diesen Umweg nach Süden nehmen.« Nach etwa hundertzwanzig Kilometern schwenkten die EWATs von einem Süd- auf einen Nordostkurs. Sanftes Hügelland mit hohem Gras löste einzelne Waldstücke ab. Eve ließ die Panzer landen und die Reise auf Kettenschuhen fortsetzen. Bis jetzt waren sie kaum dazu gekommen, den Bodenmodus und die LasersensorenNavigation über längere Zeit zu testen. Der Forschungsbunker bei Leipzig war noch hundertachtundvierzig Kilometer entfernt. Gegen Abend brach ein Gewittersturm los. Blitze zuckten durch einen schwarzen Himmel, Platzregen trommelte auf die Frontkuppeln der EWATs nieder. Die Blitze beeinträchtigten Navigation und Ortung, der nicht enden wollende Regen die Sicht. Eve hielt es nicht für ratsam, die Fahrt bei dieser Wetterlage fortzusetzen. Im hohen Gras zwischen zwei Hügeln stoppten die EWATs. Der Sturm jagte ein Gewitter nach dem anderen über den Himmel, es wollte gar nicht mehr hell werden. Sie beschlossen, am nächsten Morgen weiterzufahren. Eve teilte Wachen ein und legte sich in ihre Koje. Den größten Teil der Nacht lauschte sie dem Donnergrollen und dem Trommeln der Regentropfen auf der Außenhülle. Zwischendurch gingen Hagelschauer nieder. Als würden unzählige Knochen zerschlagen, so klang es. Eve dachte an David. Er ist tot, dachte sie, er ist tot, er ist tot, er ist tot. Ein Gedanke, weiter nichts. In ihrem Herzen war er noch nicht angekommen.
Eine kleine blaue Kapsel verschaffte ihr schließlich zwei Stunden Schlaf und einen Traum, in dem sie an einem Seeufer stand, ihren Schutzanzug und ihre Kleider auszog und ins Wasser watete. Hagelschlag weckte sie gegen Morgen. Jedenfalls hielt Eve das Gehämmer gegen die Außenhülle für Hagel, bis ihr die Unregelmäßigkeit der Schläge auffiel. »Togo an alle!«, tönte es plötzlich aus dem Deckenlautsprecher. »Barbaren greifen an!« Eve sprang auf, lief zum Bordfunkmodul. »Commander an Wache! Start einleiten! Den Befehl an Ark II weitergeben!« Sie bückte sich durch die Luke, hastete von Segment zu Segment. Vor ihr lief der Pilot, Mac und die drei Wissenschaftler krochen eben aus den Kojen. Hinter Dewlitt bückte sie sich durch die Luke in den Kommandostand. Ein Schatten hing von außen auf der Frontkuppel, ein menschlicher Körper. Auch im Panoramadisplay die Umrisse von Menschen. Eve lief zum Funkmodul. »Commander an alle! Außenscheinwerfer an! Hoch mit den Maschinen! Höchste Gefechtsbereitschaft!« Spencer Dewlitt schwang sich in den Pilotensessel, und keine zehn Sekunden später hörte Eve den Reaktor summen. So ruckartig bewegte sich die Maschine, dass Eve in den Sessel vor den Ortungsinstrumenten fiel. Die Gestalt auf der Frontkuppel rutschte ab und verschwand auf der linken Seite im Gras. Der EWAT beschleunigte, auf dem Panoramadisplay sah Eve bärtige Männer nach links und rechts aus dem Scheinwerferkegel ins hohe Gras hechten. Einer schleuderte seine Axt gegen den Tank. Sie scheuerte über die Frontkuppel, das hässliche Geräusch ging Eve durch
Mark und Bein. Endlich löste sich die Maschine vom Boden und stieg in die Luft. Eve schnallte sich an und beobachtete die Ortungsmonitore. »Verdammt! Ark II kommt nicht von der Stelle!« Mehr als ein Dutzend Wärmequellen umzingelten den EWAT dort unten oder waren auf ihn geklettert. Der Waffenturm war ausgefahren, Laserstrahlen durchschnitten die Dunkelheit. Eddy Amer tat sein Bestes, aber die Angreifer waren schon viel zu nah. Jetzt endlich nahm die Maschine Fahrt auf. Barbara hatte dazugelernt, ohne Frage, aber unter Stress reagierte sie noch deutlich langsamer als Dewlitt. »Commander an Togo! Sieh zu, dass du ein paar saubere Treffer landest!« Eve hatte Ruud Simon nach Ark II abkommandiert. Der Ingenieur war ein echter Tausendsassa, konnte den Job des Navigators genauso zuverlässig erledigen wie den des Aufklärers. Aber im Grunde war er ein Laie, ein Anfänger. Eve machte sich nichts vor: Ohne David und Courtney war Ark II eine Quelle ständiger Sorge. Und jetzt fuhren nadeldünne Strahlen auf Barbara Plants Tank hinab. Vier oder mehr Angreifer fielen rücklings ins Gras. Togo zielte exakt; und er verstand es, sein Feuer energetisch so dezent zu dosieren, dass er sogar zwei der Barbaren traf, die auf den EWAT geklettert waren, ohne die Maschine selbst zu beschädigen. Der Schwarze mochte die Rolle der Nervensäge lieben, aber ein Könner war er allemal. Wieder fegte ein Strahl unter die todesmutigen Angreifer, und endlich hob die Maschine ab und stieg Fuß um Fuß in die Luft. Der letzte Angreifer, dem es gelungen war, sie zu erklettern, verlor jeden Halt und
rutschte ab. »Gut gemacht, Ari«, sagte Eve. »Danke.« Sie drückte die Sprechtaste. »Commander an Ark II, alles in Ordnung?« »Geht schon«, kam es heiser zurück. »Waren das die verdammten ›Götterschlächter‹?« Barbara Plant klang, als wäre sie eben erst aus einem bösen Traum erwacht. »Ich weiß es nicht.« Eves Finger fuhren über die Tastaturen. Die Außenaufnahmen der vergangenen zehn Minuten flimmerten über einen Monitor am unteren Rand des Panoramadisplays. »Der Bewaffnung nach könnten es alle möglichen bekannten Stämme sein, auch Socks. Die Kleidung ist nur undeutlich zu erkennen, die Gesichter gar nicht.« »Ich glaube, es waren die Schlächter«, sagte Mac leise. »Die Art, wie sie angriffen, so ganz ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben …« Niemand antwortete. Sie flogen achtzig Kilometer nach Westen und landeten am Ufer eines kleinen Sees. Dreißig Stunden lang nahmen sie sich Zeit, die Umgebung auszukundschaften. Keine verdächtigen Objekte, keine auffälligen Wärmequellen. Eve ließ Kurs auf Leipzig nehmen. Zum wievielten Mal? Eine weitere Nacht verbrachten sie damit, die Daten der Ortungsinstrumente auszuwerten. Sie fanden keinen Hinweis auf Verfolger. Ein paar Tage später, Anfang Juni, pflügten die beiden EWATs durch einen Birkenwald wenige Kilometer südlich von Leipzig. Der Forschungsbunker war nahe, die Expedition näherte sich ihrem Ziel. Endlich! Manchmal scheuerte ein tief hängender Ast über die Frontkuppel. Hin und wieder peitschten Zweige gegen
die Außenhülle, von Zeit zu Zeit schlug ein entwurzelter Baum gegen Kettenschuhe oder Unterboden. Jedes Mal zuckte Eve zusammen. Die Erinnerung an den Angriff am Morgen nach der Gewitternacht steckte ihr noch in allen Gliedern. Sie stand hinter dem Pilotensessel. Rechts und links der Frontkuppel zogen schlanke Birken und mächtige Buchen- und Eichenstämme vorbei. Spencer Dewlitt steuerte den EWAT sicher durch den dichten Wald. Eve blickte auf den Ortungsmonitor. Barbaras Maschine wühlte sich zweihundert Meter entfernt durch das Dickicht. Der Waldrand war nicht mehr weit, der Forschungsbunker noch höchstens vierzehn Kilometer entfernt. Der Navigationsrechner blendete eine fast baumlose Ebene, ein paar Hügel und ein skurril aufragendes Objekt in das Panoramadisplay ein. »Was ist das?«, fragte Eve. »Keine Ahnung«, sagte McMalone. »Jedenfalls irgendwas aus Metall.« »Das Wrack eines Schaufelradbaggers.« Auch Dewlitt beobachtete das Display. Mac lud eine alte Karte auf den Monitor, Eve betrachtete sie. »Kann hinkommen. Südlich von Leipzig haben sie früher Energieträger aus der Erde gekratzt.« »Braunkohle«, bestätigte Dewlitt. Eve forderte ein Geländeprofil an, und tatsächlich: Die Landschaft zwischen den beiden Waldrändern fiel nach dreihundert Metern in flachen, buschbewachsenen Terrassen ab. Sie erreichten den Waldrand. Am vorderen Rand der Erdterrasse entdeckte Eve plötzlich kleine Schemen, die sich rasch bewegten. »Wärmequellen!«, rief
sie. »Organische Körper!« Menschen, ohne Zweifel, und jeder dachte sofort an die verfluchten Nordmänner. »Drehen wir um?«, fragte Mac. »Sie haben gewusst, an welcher Stelle wir den Wald verlassen werden.« Eve dachte laut. »Also werden sie auch schon hinter uns sein.« Sie entschied sich für den einfachsten Weg: den Angreifern in der Luft auszuweichen. Die Antwort auf die bange Frage, ob das Mörderpack möglicherweise nach dem Forschungsbunker suchte, musste vorerst verdrängt werden. Eve ließ alles für den Flugmodus vorbereiten. »Ark I an Ark II! Verdächtige Wärmequellen zweihundertdreißig Meter vor uns! Vermutlich Nordmänner! Höchste Gefechtsbereitschaft! Und Start, sobald Sie den Wald verlassen haben …!« Ein sanfter Ruck ging durch den EWAT, die Maschine verließ den Wald und hob gleichzeitig ab. Das Buschland fiel unter ihnen zurück; sie blickten auf Baumwipfel hinab. In einer weiten Kurve steuerte Spencer Dewlitt das Gerät Richtung Westen. Unter ihnen bohrte sich der dunkelgrüne Bug von Ark II aus dem Waldrand. Aus dem Dach des zweiten Segments schraubte sich der Geschützkranz. »Ark II an Commander!« Ruud Simons Stimme klang erregt. »Metallene Objekte über fast sechshundert Meter vor dem Waldrand verteilt!« »Starten Sie, Ark II!«, schrie Eve. Aus schmalen Augen spähte sie auf das Panoramadisplay. Die Kanonen waren in regelmäßigen Abständen aufgestellt Also wirklich Nordmänner! »O Gott!«, brüllte Spencer Dewlitt plötzlich. Eve blickte nach unten: Das Steuersegment von Ark II war in eine
Erdspalte gestürzt, schräg darüber hing das Waffenturmsegment über den Grabenrand. Der Gefechtsturm hatte sich in der Steilwand der Rinne verkeilt. »Eine Falle …!« Dewlitt drehte sich um. Entsetzen verzerrte sein schmales Gesicht. »Wir sind in eine Falle geraten!« Seine hohe Stimme überschlug sich. Fast zeitgleich ertönten vier Detonationen! Knapp hundert Meter vor Ark II schlugen die Geschosse ein. »Die Ketten funktionieren nicht richtig!« Barbaras verzweifelte Stimme aus dem Funkmodul. »Magnetfeld?« Eves Stimme zitterte. Das Magnetfeld des Havaristen war instabil, und nur die Luftkissen der hinteren beiden Segmente ließen sich aktivieren. »Versuch es mit den Bremsdüsen!«, schrie Eve. Sechs Geschosse explodierten nur sechzig Meter von Barbaras Maschine entfernt. »Feuer!«, schrie Eve. »Los, Togo! Dein Auftritt!« An sechs, sieben Geschützständen unter ihnen blähten sich Glutbälle auf. Die Feuerblasen zerplatzten, Wald und Buschland brannten, wo Togo getroffen hatte. Atemlos beobachtete Eve den zweiten EWAT. Die ineinander verkeilten Segmente bäumten sich auf und rutschten zurück in die Erdspalte. Zwanzig oder dreißig Meter entfernt schlug eine Kanonenkugel ein; eine Fontäne aus Erde, Glut und Qualm schoss aus dem Graben. Und dann sahen sie die erste Angriffswelle der Götterschlächter! In dicht gestaffelten Reihen stürmten sie heran. Sie stießen Kampfgeschrei aus und schwangen Äxte, Spieße und Schwerter! »Ark II an Commander!« Barbaras verzweifelte Stimme. »Wir schaffen es nicht!«
»Selbstzerstörungsmodus aktivieren und aussteigen!« Das Herz schlug Eve in den Schläfen. Jetzt war das Schicksal des zweiten EWATs besiegelt. Glutball um Glutball blähte sich dort unten auf. Togo traf eine Kanone nach der anderen. »Ark II an Commander – geben Sie uns auf …!« »Ich sagte: Selbstzerstörung aktivieren und aussteigen! Wir holen euch raus!« Und dann an Dewlitts Adresse: »Landen Sie in der Nähe ihres Hecks!« Sie beugte sich über den Bordfunk. »Commander an alle: Schleusen aktivieren, Schutzanzüge anlegen, LP-Gewehre bereitmachen …!« »Das ist gefährlich, Commander …«, flüsterte Mac. »Was ist schon ungefährlich?« Eves Stimme klang rau sarkastisch plötzlich. »Stellen Sie den und Autoeliminierungsmodus auf vierzig Minuten, Spencer.« Wenn wir bis dabin nicht zurück sind, kommen wir nie mehr zurück, wollte sie hinzufügen, schluckte den Satz aber hinunter. In engen Bögen schraubte sich der EWAT abwärts. Aus der Heckluke des havarierten Panzers sah Eve die ersten beiden Besatzungsmitglieder klettern. Ihre silbergrauen Schutzanzüge reflektierten nahen Feuerschein. Zwei Kanonenkugeln schlugen kurz hintereinander in der Bodenspalte ein. Der EWAT bäumte sich auf und rutschte noch tiefer in die Falle. Qualm hüllte Ark II ein. Die erste Angriffswelle war nur noch hundert Meter entfernt. Eve schloss schon ihren Schutzanzug. »Die Bordhelix meldet feindliche Individuen in unmittelbarer Umgebung des Landeplatzes«, schnarrte der Schleusenbutler. »Vom Verlassen der Schleuse wird dringend abgeraten …« Sekunden später öffnete sich die
Luke der Außenschleuse. Überall Flammen und Rauch. Die Kommandantin sprang als Erste aus der Maschine. Sofort eröffnete sie das Feuer auf die Angreifer. Fünfzig Schritte entfernt blähten sich Glutkuppeln auf, sechs oder sieben Schlächter wälzten sich brennend im Gras. Eve spurtete los. Sie hielt die Auslösetaste gedrückt – wo immer ihr Laserstrahl unter die Angreifer fuhr, lichteten sich deren Reihen. Sie schoss, befahl, eine Sturmlinie zu bilden, schoss wieder, befahl, den Rauch zu durchqueren und einen Feuerwall zwischen Ark II und die Angreifer zu legen. Und dann, von einer Sekunde zur anderen, tauchten sie vor ihr aus dem Gras auf. Wohl in ein halbes Dutzend entstellte Grimassen musste sie blicken. Sie schoss, einer riss sie zu Boden. Sie konnte ihn töten, konnte aufstehen, sah Mac unter Axthieben zusammenbrechen, sah Spencer Dewlitt verletzt davonwanken, sah drei Schlächter ihn verfolgen. Sie riss ihre Waffe hoch und erschoss alle drei. Jemand packte sie von hinten und riss sie zurück ins Gras … Später wankte sie waffenlos und inmitten ihrer Jäger durch den Wald. Wie eine Beute trieben die Schlächter sie zu einem Fluss. Als sie von fern den typischen Explosionslärm hörte, begriff Eve, dass sie die Einzige war, die überlebt hatte. Die Einzige von sechzehn. Sie haderte mit dem Schicksal, und sie dachte daran, dass sie bald erfahren würde, was man Courtney Rouwens angetan und wie man ihr den Code der Deutschen entrissen hatte…
Epilog Anfang Juni 2516 Sie schlug die Augen auf und begegnete dem Blick eines Fremden. Wie aus dem Nichts gewachsen stand er auf einmal im Zelt. Hatte die Erde ihn ausgespien? Gehörte er zu ihrem Fiebertraum? Ja, ein weiteres Produkt ihres überhitzten Stoffwechsels, eine böse Erscheinung – so musste es sein! Sie schloss die Augen, wollte wieder versinken in Fiebervisionen von Meereswellen und Wolken, wollte vergessen. Doch ein seltsam unvertrautes Geräusch hielt sie zwischen Fiebermeer und Fieberhimmel fest: Metall klirrte gegen Metall, eine weibliche Stimme schrie, etwas schlug dumpf auf dem Boden auf, und plötzlich erklangen Worte in fremder Sprache. Ein Traum, Eve, nur ein weiterer schlimmer Fiebertraum … Und mochte er alle vorherigen Fieberträume an Schrecken noch überbieten – an die Schrecken der Stunden, in denen sie den Händen und der Willkür der grausamen Nordmänner ausgeliefert war, an diese Schrecken würde auch er nicht heranreichen. Etwas berührte sie am Handgelenk. Sie zuckte zusammen, hielt den Atem an. Doch keine Fieberschimäre? Der Fleecestoff an ihrem Körper war nass, das spürte sie. Sie hatten ihr den Anzug wieder angezogen. Auch spürte sie das niedergetretene Gras an ihrem kahlen Schädel. Und nach und nach verdrängte die Erinnerung den Fiebertraum: Sie lag in einem kuppelförmigen Zelt! Sie trug weder Helm noch
Schutzanzug! Die Frau hatte ihr den Zugangscode nach Salisbury aus den Gedanken gerissen, diese schöne, rätselhafte Barbarin! Jemand schob einen Arm unter ihren Oberkörper und richtete sie auf. Sie schlug die Augen auf, blickte in ein Männergesicht. »Wer … wer sind Sie?« Sie musste husten. Der Mann hatte gute Augen und blondes Haar, und er sprach englisch! »Commander Matthew Drax, United States Air Force.« Um Himmels willen – ein Verrückter …! Sie merkte, wie sie zu zittern begann. Was war das für eine Jacke, die er da trug? Und diese merkwürdige olivgrüne Kombination! »Sie … tragen keinen … keinen … Schutzanzug … Sie werden bald sterben …« Er fing an zu reden, so schnell und so beschwörend, als musste er dringliche Geheimnisse loswerden. »Hören Sie mir zu«, sagte er, aber es kam schon von sehr weit weg, Eve hörte schon wieder den Strudel der Ohnmacht und das Fiebermeer rauschen. Ihr wurde übel. Auf einmal, wie durch einen Schleier, sah sie die Szene an der gegenüberliegenden Zeltwand. Da stand noch so ein Blonder. Nur trug der ein weites rotes Hemd und schwarze lederne Schnürhosen; und die Schwertklinge in seiner Rechten … Schüttelfrost zerrte an Eves Körper. »Ich bin kein Mensch dieser Zeit …« Der Verrückte redete und redete. »Ich flog am achten Februar des Jahres 2012 mit meiner Jet-Staffel über Europa, als der Komet ›ChristopherFloyd‹ in die Atmosphäre eintrat…« Eve kniff die Augen zusammen. Was war da gleich am 8. Februar 2012 gewesen …?
Eve riss die Augen auf. Die Schwertklinge des zweiten Blonden bedrohte die Barbarin, die ihr die Gedanken an Salisbury entrissen hatte! Aus einer anderen Zeit, was für ein Schwachsinn. Immerhin, er kennt den korrekten Namen des Kometen … Neben ihrer Feindin kniete eine zweite Barbarin, halb nackt und ebenso schön. Über ihren Knien lag ein Schwert, so lang, dass Eve es nicht einmal hätte heben können. Sie redeten miteinander, sie sprachen die gleiche Sprache. Eve wollte schreien, brachte aber weiter nichts als ein Krächzen zustande, sank zurück in die Arme des Verrückten. Er redete von einem unerklärlichen Effekt, der seine Maschine in die Zukunft geschleudert habe, und ob sie ihn verstehe. Natürlich … Effekt, Zukunft geschleudert, was denn sonst… Wie hieß er gleich, dieser bemerkenswerte Verrückte? Drax, richtig. Moment mal – Drax? 8. Februar 2012? Wieso lagen dieser Name und dieses Datum in ihrer Erinnerung so nahe beieinander? Wenn er bloß nicht so ein altmodisches Englisch sprechen würde …! Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen, alles verschwamm vor ihren Augen. Nur nicht wieder ohnmächtig werden, sie musste verhindern, dass die schöne Barbarin ihren Zugangscode für das Außenschott von Salisbury weitergab, unbedingt verhindern, unbedingt… »Irgendwas ist mit der Erde geschehen nach dem Einschlag«, hörte sie die Stimme des blonden Mannes sagen, der sich Drax nannte und der keinen Schutzanzug brauchte. »Die allgemeine Degeneration und die Mutationen können nicht allein von der Katastrophe
verursacht worden sein.« Woher weiß er das alles …? Und dann fiel es ihr wieder ein: Gelesen hatte sie seinen Namen, natürlich, in den Johanna-Dateien … Aber wie war das möglich …? »Ich bin auf der Suche nach Intelligenzen, die mir erklären können, was geschehen ist. Menschen wie Sie!« Eve riss die Augen auf, und jetzt sah sie die Waffe des Mannes – ein LP-Gewehr! Woher hatte er den Strahler? »Ich muss wissen, wer Sie sind und woher Sie kommen«, sagte er. »Und welches Jahr wir schreiben!« Möglicherweise war er doch nicht verrückt. Eve setzte sich auf. Es klang vernünftig, was er sagte, ja. Und der Name Drax – ein Zufall? Schwer atmend fixierte sie die schöne Barbarin. Hatte das Miststück Courtney Rouwens auch die Route nach Leipzig abgelauscht? Und die Koordinaten des Forschungsbunkers …? Himmel, nur nicht daran denken! »Ich … ich bin … Commander Eve Carlyle … Willkommen … willkommen im Jahre 2516 …« Ein sekundenlanger Hustenanfall schüttelte sie. Lungenentzündung, Shit…! Als sie die Augen wieder öffnete, war der Blonde aus der Vergangenheit nur noch ein Häufchen Elend. Die Lider zusammengekniffen, das Gesicht aschfahl, die Lippen blutleer, hockte er vor ihr. Wie ein Mann, dem man eben sein Todesurteil verkündigt hatte, sah er aus. Eve nahm ihm den Strahler ab. »Weg!«, krächzte sie. »Weg von der Telepathin!« Sie schwankte, sah den Schwertmann und die zweite Barbarin erschrocken zur Seite springen, und drückte ab. Einen Augenblick später war der Kopf der Telepathin nur noch ein brennendes,
verkohltes Etwas. Durch ihn und die Zeltwand hindurch war der Strahl nach draußen gefahren … »Sie hatte mir …«, sie hustete,»… das Geheimnis … der Community London … aus dem Geist…« Der Strudel der Ohnmacht und der Fieberträume saugte Eve in ein heißes schwarzes Loch. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Uferschilf eines Flusses. Aus seiner hohlen Hand flößte der Mann namens Drax ihr Flusswasser ein. Das tat so gut, so gut, und war so tödlich. Aber kam es jetzt darauf noch an? »Danke, Commander«, flüsterte sie. Sie hatte sich entschieden, lieber doch von einem gesunden Geisteszustand des Fremden auszugehen. »Aber … es ist sinnlos … Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie mich erschießen …« Eve sah den Kolben einer altertümlichen Waffe aus seiner Uniformjacke ragen. Er lehnte energisch ab, schöpfte weiter Wasser für sie. Sie klärte ihn über die Immunschwäche der Bunkerleute und über ihre Schutzanzüge auf. Er stellte knappe Fragen, und sie erzählte von ihresgleichen, von Salisbury und London, von ihren Erkenntnissen über den Kometen und vom Forschungsbunker in der Nähe von LeipzigKonkrete Einzelheiten über die Expedition erzählte sie nicht; nur das Allernötigste. Kein Wort von Poruzzia, kein Wort von Courtney Rouwens, und schon gar keins von David Peterson. »Dieser Bunker bei Leipzig – wo liegt er genau?«, wollte Drax wissen. Doch Eve versank schon wieder im Fieberkoma. Als sie das nächste Mal zu sich kam, fand sie sich auf einem der Kähne der Schlächter wieder. Sie kroch an Deck. Ob David auf so einem Schiff gestorben war? »Um Gottes willen, Commander!« Drax entdeckte sie. »Warum bleiben Sie nicht unter Deck?« Sie hörte Schüsse
und Schreie. Dass die Schlächter Leipzig angegriffen hatten, war ihr schon länger klar. Sie beschrieb dem Mann aus der Vergangenheit die Lage des Forschungsbunkers an der Weißen Elster. Später lichteten sich die heißen Schleier vor ihrem Bewusstsein erneut. Noch immer lag sie auf dem Schiff. Es schien unter Drax' Kommando zu stehen, und es schien nach Süden zu dampfen. Richtung Forschungsbunker. Eve begriff, dass eine Flotte der Schlächterschiffe sie verfolgte. »David, David. Musstest du dich auf so einem verfluchten Schiff von ihnen quälen lassen …?« Sie murmelte nur undeutliche Worte, durch ihr heißes Gehirn aber hallten die Sätze in schmerzhafter Klarheit wie durch eine Grotte. »Es hätte so schön werden können mit uns beiden …« Tränen rannen über ihr Gesicht. »Es tut mir alles so weh, so Leid, so weh …« Der Schmerz über ihre verlorene Liebe und der Hass auf die Schlächter gebar eine Idee. Sie verlangte nach einem LP-Gewehr, erklärte Drax den Autoeliminierungsmodus und aktivierte ihn. Die Sache war ganz einfach: Sie würden im Forschungsbunker Zuflucht suchen, die Schlächter würden das vor Anker liegende Schiff entern, und in vierzig Minuten würden sie sich samt ihrer Flotte in ihre Moleküle und Atome auflösen. Triumph und Genugtuung über die bevorstehende Rache weckten Eves letzte Kraftreserven. Doch das Hochgefühl währte nur, bis Drax und seine Leute den Bunker betraten. »Nur Tote«, sagte er, als er wieder herausgeklettert war. »Die Nordmänner müssen vor Tagen schon hier gewesen sein …«
Ein paar Minuten lang ließ Eve sich gehen. Alles umsonst, alles vergeblich. Sie merkte kaum, dass man sie zum Schiff zurücktrug und auf den Deckplanken ablegte. Von fern hörte sie Stimmen rufen, von fern die Dampfmaschine stampfen und das Schaufelrad knarren. Ein letztes Mal stemmte sich ihr Bewusstsein aus den Fieberschwaden. Sie hob den Kopf. In der Ferne entdeckte sie die Rauchfahne eines Schlächterschiffes. Sie schloss die Augen, ihr Kopf fiel auf das Holz. »Sie ist tot«, hörte sie die Stimme der Barbarin sagen, die Drax »Aruula« nannte. Sie war nicht tot, noch nicht. Glasklar sah sie ihr Leben vor sich. Und plötzlich durchzuckte es sie wie ein Lachen: Drax! Er war es! Ihn zu treffen war der Sinn der Expedition, der metaphysische Sinn sozusagen! Mochte alles verloren gegangen sein, mochte jetzt auch ihr Leben verloren gehen – Drax war stark. Himmel, wie stark! Sie spürte es mit jeder Faser ihrer absterbenden Nerven. Und wenn er wirklich aus der Vergangenheit stammte …? Gleichgültig, er würde den Weg gehen, so oder so, den Weg auf die Inseln, den Weg nach London. Und wer wusste schon, was dann alles möglich sein würde, ja, wer wusste das schon …? Und dann öffnete Commander Eve Carlyle die Augen zum letzten Mal: Sie sah, wie Drax dem anderen Blonden – dem König von Leipzig, wie sie inzwischen erfahren hatte – das LP-Gewehr mit dem aktivierten Selbstzerstörungsmodus überreichte. Der junge König kletterte über Bord, stieg in ein Ruderboot und ruderte sich selbst und den Nuklearreaktor den Schlächterschiffen entgegen. »Wie schön«, seufzte Eve. »Du hättest deine Freude
daran, Liebster.« Ihr letzter Gedanke galt Joan Carlyle. Es tröstete sie, sich vorzustellen, dass diese Frau auf ähnliche Weise gestorben war wie sie. »Ich komm jetzt zu euch …« Die Augen fielen ihr zu. »Ich komm jetzt zu euch …« Der letzte Atemzug entwich ihrer Brust. Schritte stapften an ihr vorbei und verloren sich in der Unendlichkeit.