Heinrich Sobeck
Die Expedition Ein Frühwerk aus dem Jahre 1990 - angetrieben von der Idee, was Christoph Kolumbus täte,...
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Heinrich Sobeck
Die Expedition Ein Frühwerk aus dem Jahre 1990 - angetrieben von der Idee, was Christoph Kolumbus täte, wenn er nicht 1492, sondern 1992 Amerika entdeckte. Mein Colon ist kein Seefahrer, sondern Geograph. Denn die können ja bekannlich alles. Die Handlung: Nach seinem Diplom kommt ein Geograph auf die Idee, nach unbekannten Ländern zu forschen. Zwar hat die Zivilisation bisher Flugzeuge und Satelliten hervorgebracht, nicht jedoch den gesamten Planeten erforscht. Es gelingt ihm, Sponsoren zu finden, er rüstet ein Schiff aus und entdeckt tatsächlich einen neuen Kontinent. Als die Wissenschaftler das neue Land erforschen und zu ihrem Erstaunen fremde Menschen entdecken, entbrennt ein Streit unter ihnen, ob sie wertfrei forschen oder verantwortlich sind für das, was sie in ihren Fernsehübertragungen den Menschen in der alten Welt berichten. Eine Geographiction. Weniger ein belletristischer Roman als ein Gedankenspiel und ein populärwissenschaftliches Werk.
Mensch, hör' auf, auf den Fingernägeln 'rumzukauen! Chris ist nervös. Kein Wunder, morgen hat er einen Termin im Forschungsministerium, auf den er sich in den letzten Wochen intensiv vorbereitet hatte. Und auch wenn er seiner Sache recht sicher ist, hat ihn trotzdem das Lampenfieber gepackt. Draußen, vor dem Fenster des Zuges, ziehen die Häuser des Stadtrand der Hauptstadt vorbei, die Skyline des Regierungsviertels zeichnet sich ab. Reiß dich zusammen, abgekaute Fingernägel sehen beschissen aus! Er steht auf, nimmt die Tasche von Gepäckregal. Morgen, da geht's im Ministerium um's Ganze, da wird er sein Projekt vorstellen dürfen - und verkaufen müssen! Was hatte er sich nicht alles überlegt! Da hat es die Menschheit geschafft, Computer zu bauen, die in einer Sekunde mehr Rechenoperationen durchführen können als ein Mensch in seinem ganzen Leben, da gibt es Satelliten, die den Planeten umkreisen. Aber nie war es bisher gelungen, den ganzen Planeten zu erforschen; man hat es zwar geschafft, die alte Welt vollkommen zu zersiedeln, doch es gibt immer noch einen Teil der Welt, den nie ein Mensch betreten hat. Einige Menschen, darunter nicht nur Wissenschaftler, hatten vermutet, daß es auf der anderen Seite des Planeten Erde einen noch nicht entdeckten Erdteil geben müsse. Er hatte in der Zeit seines Studiums vermutet, daß es mehr als nur einen Ozean geben mußte, doch es brauchte erst die Fotos von Satelliten, damit diese Vermutung bestätigt werden konnte. War das eine Sensation gewesen, als vor Jahren die ersten Satellitenfotos des neuen Kontinents zur Erde gefunkt wurden! So hatte er am Ende seiner Schulzeit die Bilder eines fremden Teils der Erde gesehen und sich in der Hoffnung, ihn später erforschen zu können, dazu entschlossen, ein Studium der Geographie aufzunehmen. Denn dieser Kontinent war zu weit von der alten Welt entfernt, als daß man ihn mit der damals zur Verfügung stehenden Technologie hätte erreichen können. 2
Außerdem: Warum eigentlich? Die Menschen hatten mit der alten Welt genug zu tun. Probleme mit der anwachsenden Bevölkerung und allen Folgen der mobilen Gesellschaft kamen erst später auf. Die Öffentlichkeit schüttelte höchstens den Kopf über die Spinner, die zur neuen Welt fahren wollten. Wie hatte er sich in den Jahren seines Studiums darüber geärgert, welch unnützen Ballast er lernen mußte, weil die Professoren an seinem Institut eine Ausbildung haben wollten, bei der man zwar von allem etwas wußte, aber kein Fachgebiet hatte, in dem man tieferes Wissen besaß. Und da gab es Fachidioten, die 70 Dünenarten unterscheiden konnten, aber nicht wußten, welche räumlichen Auswirkungen die Explosion in einem Kernkraftwerk in diesen Jahren gehabt hatte. Nein, er war froh, als er Stadt und Universität den Rücken kehren konnte. Nach dem Diplom hatte Chris eine Stelle als Doktorand an einer anderen Universität angenommen und sich dort in die Geomorphologie vertieft, hatte intensiv die Folgen moderner Landwirtschaft im Umland der Stadt für den Boden und das Relief erforscht. Manchmal, als er im Mittelgebirge Hangrutschungen untersuchte, hatte er sich die Frage gestellt, wo das hinführen solle, wenn in wenigen Jahren der Erdboden abgeschwemmt sein und in weiten Teilen ehemals fruchtbaren Ackerlandes der bloße Fels zu Tage treten werde. Er war oft über die Resultate seiner eigenen Arbeit betroffen gewesen. Da sagst du den Leuten, daß es falsch ist, hier so zu wirtschaften, daß ihre Kinder hier keinen Baum mehr lebendig vorfinden werden, aber du redest einfach gegen Mauern, es hat gar keinen Zweck. So war er froh, als er seinen Doktor hatte und sich um andere Fachgebiete kümmern konnte. Vor einem Jahr hatte er bei einem ehemaligen Studienkollegen Satellitenaufnahmen des fremden Kontinentes gesehen, und dieser Freund von ihm arbeitete an einem Projekt, bei dem aus den Fotos Karten gezeichnet werden sollten. Chris kam das merkwürdig vor; kein Mensch hatte diese Erde jemals 3
betreten, aber nun sollte es in nächster Zukunft Karten davon geben? Ein absurder Gedanke. Warum war eigentlich noch niemand dort gewesen? Er hatte sich noch am gleichen Nachmittag an den Computer in der Bibliothek seines Institutes gesetzt und eine Literaturrecherche durchgeführt, um sich über den Forschungsstand zu diesem Kontinent zu informieren. Bei 20 Bibliotheken hatte er angefragt, doch am Abend des Tages hatte er ganze zwei Zeitschriftenartikel in der Hand, die sich mit dem Thema befaßten. Das war zuwenig, darüber war noch nicht gearbeitet worden. In den folgenden Monaten hatte er sich mit den beiden Autoren dieser Artikel in Verbindung gesetzt und längere Zeit mit ihnen geredet, und die Gespräche hatten sein Interesse verstärkt, hatten ihn scharf gemacht und ihn verbissen an der Verwirklichung seines Planes arbeiten lassen: Nämlich ein Schiff auszurüsten und im Verlauf einer längeren Reise zu den Ufern des unbekannten Kontinentes zu fahren. Er hatte sich mit Schiffsbauern zusammengesetzt und ein Konzept für ein Forschungsschiff entwickelt, denn etwas geeignetes gab es bisher nicht. Der Kontinent war ja deshalb noch nicht erforscht, weil man eine Schiffsreise von rund 30000 Seemeilen vor sich hatte! Und für diese Strecke und den langen Zeitraum, den man dafür benötigte, mußten natürlich entsprechende Kraftstoff- und Nahrungsmittelvorräte an Bord sein. Monatelang gingen ihm die Pläne durch den Kopf, bis er ein Konzept fertig hatte, daß ihm geeignet erschien: Ein Katamaran, in dessen beiden Schwimmern die Dieseltanks Platz finden würden, und der eine große Forschungsplattform darstellen würde. Zudem rechnete Chris damit, daß dieser Schiffstyp weniger anfällig gegen starken Seegang wäre und er weniger Probleme mit Seekrankheit hätte. Denn ausgekotzt wollte er nicht aussehen, wenn er die neue Welt betritt. Die Pläne waren gemacht, und das Forschungskonzept hatte er in schlaflosen Nächten auf seinem Computer erarbeitet, als er mit Unterstützung anderer 4
Universitäten und einiger Unternehmen vor zwei Wochen beim Forschungsministerium um Unterstützung für sein Projekt angefragt hatte. Privat wäre das kaum zu finanzieren, so dachte er. Der Zug läuft im Bahnhof ein. Ein Blick auf die Uhr, es geht auf sechs zu, draußen kündigt sich die Dämmerung an. Sein Koffer ist leicht, er wird ja nur zwei Tage in der Stadt bleiben. Hm. Zwei Tage? Was machst du, wenn sie dir einen Tritt in den Arsch geben und dein Projekt ablehnen? Gibst du dir dann die Kugel? Oder wirst du dich besaufen? Schluß, mach' dir keine Gedanken darüber, das macht dich nur kaputt, macht dich nervös. Die Bremsen quietschen, der Zug hält. Chris reiht sich in die Schlange der Wartenden ein und steigt aus. Geht hinunter in die Bahnhofshalle und zum Taxistand, läßt sich zum Hotel fahren. Als er auf seinem Zimmer angekommen ist, setzt er sich auf das Bett, senkt den Kopf, fährt sich mit der Hand durch's Haar und gerät ins Grübeln. Ist das alles richtig, was du da machst? Die letzten zwei Jahre hat er in seiner freien Zeit an seinem Projekt gearbeitet, sich darin vergraben und für nichts Anderes mehr Zeit gehabt. Hat Ärger mit seiner Freundin bekommen, hat das Musikmachen aufgegeben und alle seine Kraft auf die Expedition konzentriert. Vielleicht wäre es am Besten, Sandra anzurufen, sie hat in den letzten Monaten genug gelitten. Er greift zum Telefon und wählt ihre Nummer. "Chris, bist du gut angekommen?" "Ja, schon, ich bin nur etwas nervös." "Wieso? Du bist dich gut vorbereitet." "Okay, aber den Plan verkaufen, das ist 'ne andere Sache. Das ist schwer, verdammt schwer, wenn die 'was gegen mich haben." "Meinst du? Glaubst du, das die dich beim Ministerium nicht wollen?" 5
"Ich bin nur ein kleiner Doktor. Noch nicht einmal ein Professor. Und dem soll man glauben?" "Sie haben dich nicht gleich abgewiesen, sie haben dich eingeladen, und du warst schon mehr als einmal im Ministerium." "Und wenn die mich morgen hängen lassen? Ich bin bei jedem Mal, wenn ich im Ministerium war, eine Stufe in der Hierarchie weiter hochgerutscht, das letzte Mal hab' ich mit dem Ministerialdirektor gesprochen. Morgen geht's auf den Minister zu, und wenn der nicht will, dann ist alles Essig." "Komm, Chris, du machst dir zuviel Sorgen. Geh' heute Abend 'was trinken, geh' ins Kino, dann sieht das Ganze anders aus." "Ich glaub, du hast recht. Wollt' ich auch so machen." "Aber mach mir keine Frauen an." "Ne du, heute nicht, dazu bin ich zu nervös." "Dann meld' dich, wenn's vorbei ist, ja?" "Werd' ich tun. Drück' mir die Daumen." "Mach' ich. Tschüß." Schluß, er legt auf. Blick auf die Uhr: Es ist sieben durch, Zeit, etwas essen zu gehen. Er nimmt sich sein Jackett, zieht es aber nicht an, besser, das Teil für morgen zu schonen. Abend. Chris hat gegessen, die Sonne ist untergegangen, müde ist er nicht, eher aufgedreht. In der Zeitung hat er gesehen, daß in der Stadt gerade einer der Filme läuft, für die er in den Jahren keine Zeit gehabt hat, weil er sich zu sehr in sein Projekt vertieft hat. Bein Bummel durch die Stadt fällt einiges von der Nervosität von ihm ab, und als er aus dem Kino kommt, geht es ihm besser. Ob es morgen klappen wird? 6
II. Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Chris sitzt seit zehn Minuten auf einem Stuhl vor der Tür, hinter der gleich die Entscheidung fallen soll. Hört gedämpft die Stimme der Sekretärin, der Gang ist leer, alles groß, protzig, steril, was er hier sieht. Die richtige Atmosphäre, um feuchte Hände zu bekommen. Er ist aufgedreht, nervös, viel hängt von dieser Besprechung ab. In den letzten Monaten hatte er sich intensiv um Geldgeber für sein Projekt bemüht, hatte andere Universitäten als die, an der er tätig ist, angesprochen, hatte sich an die Industrie gewandt und sich dort um Sponsoren bemüht, das Forschungsministerium um Hilfe gebeten. Und nun ist es soweit; vor zwei Wochen hatte er seine Pläne einem Gremium des Forschungsministeriums vorgetragen, heute soll die Entscheidung fallen. In einer Viertelstunde wirst du wissen, ob sie dir helfen, oder ob du einpacken kannst und die Arbeit der letzten zwölf Monate, die schlaflosen Nächte und der ganze finanzielle Aufwand für Reisen und Telefongespräche umsonst waren. Chris hatte in der letzten Nacht nur zwei Stunden geschlafen, hatte sich auf eine Ablehnung eingestellt. Doch bevor es dazu kommt, will er es den Leuten hier nicht einfach machen; er ist bereit, für sein Projekt zu kämpfen. Die Bürotür öffnet sich, der Ministerialdirektor tritt auf den Flur und sieht sich nach Chris um. Der steht auf und geht auf den Mann zu, beide kennen sich seit zwei Wochen. Chris schüttelt dem Mann die Hand und läßt sich von ihm in das Vorzimmer zum Konferenzraum bitten, in dem man ihn erwartet. Langsam schreitet Chris durch die Eingangstüre des Konferenzraumes, nimmt sich dabei Zeit, die Gestalten an dem langen Tisch zu betrachten. Es sind vier Männer und zwei Frauen, die dort sitzen. Einige der Gesichter kennt Chris, es ist ein Professor einer anderen Universität als der beiden, die er kennt, darunter, dessen Fachgebiet sich mit dem von Tom deckt. 7
Daneben eine Professorin, deren Forschungsgebiet die Fernerkundung, die Aufnahme der Erdoberfläche per Satellit ist. Diese beiden haben ihre Plätze auf der rechten Seite des Tisches. Am Kopfende sitzt der Ministerialdirektor, neben ihm auf der linken Seite seine Sekretärin. Schließlich neben ihr zwei Männer, die Chris nicht kennt. Der Ministerialdirektor, der ihn hereingebeten hat, weist Chris den Stuhl am anderen Ende des Tisches zu, damit sitzen sich beide Männer direkt gegenüber. Er fühlt sich unbehaglich, als er sich setzt und den Stuhl an den Tisch heranrückt. "Herr Kolon, wir haben uns gerade angeregt über ihre Pläne unterhalten. Hatten Sie eine gute Anreise?" "Danke ja, ich bin schon seit gestern Abend in der Stadt." "Na, dann haben Sie sich wahrscheinlich auf diesen Termin gut vorbereitet." "Ich habe mich nicht lange in meine Literatur vertieft, wenn Sie das meinen. Die mentale Vorbereitung auf diese Besprechung war mir wichtiger." "So? Wie haben Sie sich denn vorbereitet, wenn ich fragen darf?" "Genau so, wie ich das immer vor wichtigen Prüfungen getan habe: Ich bin Tanzen gegangen, in der Stadt gibt es dazu genug Möglichkeiten." "Gut, Herr Kolon, kommen wir zur Sache. Ich habe hier die Zusammenfassung des Forschungsauftrages liegen, mit dem Sie sich an uns gewandt haben. Wir haben uns für heute zwei Gäste geladen, die fachlich etwas kompetenter sind, als ich das in ihrem Forschungsbereich zugegebenermaßen bin. Darf ich vorstellen?" Mit einer Handbewegung weist der Ministerialdirektor auf die Professorin hin, die Chris schräg gegenüber sitzt. 8
"Frau Professor Schimanski, eine Kapazität im Bereich der Auswertung von Satellitenfotos." "Bin erfreut, Sie kennenzulernen, Frau Schimanski. Ich habe in den letzten Monaten sehr viel von Ihnen gelesen, um die Grundlagen für das Projekt zu erarbeiten." "Es freut mich, daß es einen Menschen gibt, der meine Bücher liest. Hat Sie die Lektüre auf die Idee gebracht?" "Nein, die Idee habe ich seit der Zeit meiner Jugend. Und die liegt schon ein paar Jahre zurück." Der Direktor ergreift wieder das Wort. "Gut. Neben mir sitzt Professor Tanner, den Sie mit Sicherheit auch bereits kennen?" Der wendet sich Chris zu. "Wenn ich mich nicht irre, haben Sie mich auf dem letzten Geographentag kurz angesprochen, Herr Kolon?" "Stimmt genau, Herr Tanner, wir hatten leider beide etwas wenig Zeit. Ich wollte Sie dabei auf meinen Plan hin ansprechen." "Das war in einer etwas ungünstigen Situation, da haben Sie Recht. Sie haben mich vor zwei Monaten angeschrieben, wenn ich mich recht erinnere. Leider war ich bis vor zwei Wochen auf einer Forschungsreise, so daß ich erst sehr kurzfristig von ihrem Projekt erfahren habe." "Und was halten Sie davon?" "Die Idee halte ich für gut, nur müßte man die wissenschaftlichen Grundlagen noch stärker ausarbeiten. Ich habe Ihr Exzerpt gelesen, und Sie hätten noch etwas weiter in die Tiefe gehen sollen." "Wenn ich dazu etwas sagen darf: Ich habe diese Zusammenfassung innerhalb eines Tages geschrieben, 9
und es ging mir darum, die wichtigsten Punkte zu erwähnen. Um eine korrekte Arbeit zu liefern, sind selbstverständlich noch weitere Anstrengungen nötig. Deswegen habe ich mich ja in Sie alle gewandt, denn allein kann ich das nicht leisten." "Wo liegt Ihr eigener Forschungsschwerpunkt?" "In der Geomorphologie, Herr Tanner. Ich habe mich mit dem Einfluß von menschlichen Eingriffen auf die Erdoberfläche beschäftigt." "Das deckt sich fast genau mit meinem Schwerpunkt. Haben Sie sich deswegen an mich gewandt?" "Ja und Nein. Zum einen habe ich in den letzten Jahren sehr viel von Ihnen lesen müssen, weil Sie die gleiche Forschungsausrichtung haben, dann habe ich mich aber auch an alle anderen Lehrkörper und Institute gewandt, die etwas mit der Zielsetzung der Expedition zu tun haben." Als letzten wird Chris den beiden Männern auf der linken Seite des Tisches vorgestellt. Beide sind Beamte des Ministeriums, der eine hat sein Fachgebiet in der Schiffstechnologie und wird für Fragen zum Schiff bereitstehen, der andere ist für die Finanzierung des Projektes zuständig. Die Vorstellung ist beendet, jetzt beginnt das Frage-und-Antwortspiel, auf das Chris sich in den letzten Wochen intensiv vorbereitet hatte. Wenn er sich jetzt nicht richtig verkauft, kann er seinen Plan für die Expedition vergessen. Der Ministerialdirektor macht den Anfang. "Herr Kolon, welchen Nutzen erwarten Sie von der Erforschung eines neuen Kontinents?" "Da gibt's eine Menge Möglichkeiten. Unsere alte Welt krankt an Überbevölkerung und zu hoher Bevölkerungsdichte, wir könnten durch den Aufbau von Siedlungen auf dem neuen Kontinent diese Probleme lösen oder zumindest weniger schwerwiegend gestalten. Außerdem gehe ich davon aus, daß auf dem neuen Kontinent Bodenschätze vorhanden sind, über die sich die Industrie mit Sicherheit freuen wird." 10
"Woher wollen Sie das wissen?" "Sehen Sie, ich habe mir die Landschaften auf dem Kontinent angesehen und versucht, sie mit Großlandschaften unserer alten Welt zu vergleichen. Dabei haben sich eine große Anzahl von Parallelen ergeben, und ich habe einige Landschaftstypen herausziehen können, die von ihrem Charakter her gute Kohle- und Erzlagerstätten sein könnten. Zudem nehme ich an, das es in den Wüsten im Süden des Nordkontinents Erdöllagerstätten gibt." "Das steht auf sehr wackeligen Beinen." "Das ist eine Methode, die in der Geographie durchaus üblich ist. Ich glaube, daß Frau Schimanski dazu etwas sagen kann." "Herr Kolon hat Recht, das ist durchaus eine Methode, Lagerstätten ausfindig zu machen. Um aber genaueres in Erfahrung bringen zu können, müssen wir schon selbst hinfahren." "Frau Schimanski, Vermutungen?"
wie
verläßlich
sind
solche
"Nun, Herr Kolon ist kein Experte auf diesem Gebiet, aber ich weiß aus eigener Forschungsarbeit an meinem Institut, daß wir diese Vermutungen unterstützen können. Wir nehmen unabhängig von Herrn Kolon an, daß sich dort Lagerstätten von Bodenschätzen finden." "Hm... Herr Tanner, können Sie das so bestätigen?" "Ich kenne die Satellitenbilder nicht, aber ich bin der Meinung, daß wir an Ort und Stelle prospektieren müßten, um genaueres zu erfahren." Chris verzieht den Mund zu einem leichten Lächeln, in diesem Punkt hat er schon gewonnen. Jetzt heißt es weitermachen, die Zeichen stehen günstig. "Herr Kolon, Sie schreiben in Ihrem Forschungsbericht weiter, daß das naturräumliche Potential eine
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großflächige landwirtschaftliche Nutzung zuließe. Wie kommen Sie dazu?" "Ich habe das gleiche getan wie bei den Bodenschätzen. Ich habe mir Fotos aus verschiedenen Jahreszeiten angesehen und festgestellt, daß sich die Klimazonen in etwa mit den unseren decken. Damit ist auch eine ähnliche Verteilung von Landwirtschaft möglich." "Aber ist es nicht völlig illusorisch zu glauben, daß wir in wenigen Jahren auf einem fremden Kontinent eine intensive Landwirtschaft aufbauen können?" "Lassen Sie es 50 Jahre sein, dann sieht es für die Menschheit in 50 Jahren besser aus als heute. Es kann uns nicht um den schnellen Ertrag gehen, wir müssen hier in langfristigen Zeiträumen denken." "Wir müssen es im Parlament aber verteidigen können, daß wir Millionenbeträge für das Vorhaben ausgeben, Herr Kolon." "Wenn Sie damit meinen, daß die nächste Wahl droht, dann können Sie doch gerade dieses Projekt den Wählern als eine sinnvolle Investition in die Zukunft verkaufen." Auf den Punkt hin angesprochen meldet sich der Finanzexperte des Ministeriums zu Wort. Chris gießt sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne ein, die man ihm gerade gebracht hat. "Wie haben Sie sich die Finanzierung des Projektes vorgestellt, Herr Kolon?" "Mir ist klar, daß der Bau und der Unterhalt des Schiffes sowie die Ausrüstung der Expedition den Etat des Ministeriums zu einem großen Teil verschlingen werden. Aber das ist auch gar nicht nötig, es gibt Interesse von privaten Investoren, sich an der Finanzierung des Projektes zu beteiligen." "So? Können Sie da konkreter werden?"
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"Konkret habe ich die Zusage eines Mineralölkonzerns und zweier weiterer Unternehmen, die sich an der Finanzierung des Projekts beteiligen wollen, falls Sie es durchführen." Damit holt Chris zwei Briefe aus seiner Aktenmappe, beugt sich über den Tisch und legt sie dem Ministerialdirektor vor. Der ist überrascht, liest sich die Briefe durch und gibt sie seiner Sekretärin. "Nun, ich sehe, sie haben sich recht intensiv um die Vorbereitung ihres Projektes gekümmert. Aber trotzdem, wie hoch schätzen Sie die Kosten?" "Die dürften sich mit allem drum und dran auf rund eine Milliarde belaufen." "Rechnen Sie sich denn Chancen aus, diese Milliarde zusammenzubekommen? "Natürlich, sonst wäre ich nicht hier." Als letzter in der Runde meldet sich der Experte für Schiffbau zu Wort "Herr Kolon, Sie haben uns den Plan für ein recht großes Schiff vorgelegt. Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?" "Eigentlich nicht, denn wir müssen den Treibstoff für die Reise und eine Menge Menschen unterbringen. Dafür braucht es den entsprechenden Raum." "Aber ist es unbedingt nötig, Flugzeuge an Bord zu nehmen? Das Schiff könnte wesentlich kleiner gehalten werden, wenn wir auf die Flugzeuge verzichten." "Dann verzichten wir aber auch auf Möglichkeit, weiter in das Landesinnere einzudringen und dieses zu erforschen." "Wir haben doch bereits sehr gute Satellitenfotos, da sind keine Luftbilder mehr nötig." Die zuständige Professorin bereinigt die Situation: 13
"Herr Kolon hat recht, wir haben zwar gute Satellitenfotos, aber die können nie die Auflösung von Luftbildern erreichen. Es ist ein großer Vorteil, wenn Flugzeuge an Bord des Schiffes wären." "Hm... Nun gut. Sie schlagen vor, einen KatamaranHalbtaucher zu bauen. Warum gerade diese Schiffsform? "Sie haben damit die größte Decksoberfläche, vor allem für das Flugdeck. Außerdem hat die Schiffsform den Vorteil, unempfindlicher gegen Seegang zu sein. Und Sie können die Aufbauten günstiger anordnen als bei einem Einrumpfschiff." "Trotzdem, schlüssig."
es
erscheint
mir
immer
noch
nicht
"Wissen Sie, ich habe auch an eine Folgenutzung für das Schiff gedacht: Nämlich als Bohrplattform, falls vor der Küste des neuen Kontinents nach Öl gebohrt werden sollte." "Haben Sie darüber bereits mit Firmen gesprochen?" "Was meinen Sie, wie die Zusage des Erdölkonzerns zustande gekommen ist? Die Firma ist bereit, sich mit 50% an den Baukosten des Schiffs zu beteiligen." Für einige Sekunden herrscht Schweigen in der Runde, die intensive Vorbereitungsarbeit der letzten Monate zahlt sich aus, Chris hat eine Menge an Argumenten vorbringen können, die Kritikpunkte an seinen Plänen zunichte gemacht haben. Schließlich meldet sich der Ministerialdirektor zu Wort. "Wie lange, denken Sie, wird die ganze Expedition dauern?" "Der günstigste Zeitpunkt für den Start wäre zu Beginn des nächsten Frühjahr, also in genau einem Jahr. Dann haben wir rund drei Monate jeweils für Hin- und Rückfahrt. Dazwischen sollten noch einige Monate Forschungsaufenthalt auf dem Kontinent liegen."
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Dass wäre ein Jahr, wenn ich Sie richtig verstanden habe? "Neun Monate bis ein Jahr." "Haben Sie sich bereits um Mitfahrer bemüht?" "Das wird keine Schwierigkeit darstellen, denke ich mir, ich habe mit vielen Kollegen gesprochen, die an der Teilnahme an der Expedition sehr interessiert sind." "Wieviel Wissenschaftler wollen Sie mitnehmen?" "Wir brauchen Leute aus den Disziplinen Ozeanologie, Meteorologie, Klimatologie, Geographie, Geologie, Bodenkunde, Botanik und Zoologie. Mit 100 bis 150 Menschen müssen wir schon rechnen. Deshalb sollte das Schiff auch etwas größer sein." "Glauben Sie, das ein Jahr zur Vorbereitung reicht?" "Ja. Die Technologie gibt es bereits, wir haben alle Forschungsmittel, die wir für den Zweck brauchen, wir haben geländegängige Fahrzeuge, mit denen wir uns auf dem Land fortbewegen können, und wir haben Flugschrauber, die senkrecht starten können, die Rotoren nach vorne kippen und dann wie ein normales Flugzeug fliegen. Und ich halte diese Flugzeuge für nötig, denn normale Hubschrauber haben nicht die notwendige Reichweite, um weit genug in den Kontinent vordringen zu können. Und für normale Flugzeuge bräuchten wir ein riesiges Flugdeck." "Wo sehen Sie Ihren eigenen Platz bei der Expedition?" "Ich fände es angenehm, der wissenschaftliche Leiter zu werden. Ich will mich aber vor allem um mein Fachgebiet kümmern, und ich möchte mit einem Fahrzeug ins Landesinnere vordringen." "Wie lange wollen Sie in Land bleiben?" "Eine Woche, einen Monat, drei Monate... Ich weiß es nicht, das wird sich an Ort und Stelle entscheiden."
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"Gut, Herr Kolon, damit sind eigentlich soweit alle unsere Fragen beantwortet. Möchte vielleicht einer von Ihnen noch etwas dazu sagen, Frau Schimanski, Herr Tanner?" Der Professor sieht die Frau neben sich an, sie ergreift das Wort. "Es würde mich freuen, wenn die Expedition zustande käme, ich bin auf die Forschungsergebnisse gespannt. Und wir sollten nicht vergessen, daß die Menschheit einen großen Nutzen daraus ziehen kann. Herr Tanner?" "Ich möchte noch deutlicher werden: Es geht hier nicht um einen wissenschaftlichen Selbstzweck, es geht hier darum, einen neuen Lebensraum für uns alle zu erschließen. In der heutigen Zeit kann das für uns alle nur zum Vorteil sein. Also, ich möchte deutlich machen, daß ich Herrn Kolon voll unterstütze." "Gut, meine Dame, meine Herren, ich danke Ihnen für ihr Kommen." "Wann werden wir wissen, ob Sie die Expedition nun durchführen oder meinen Antrag ablehnen?" "Ich werde gleich mit dem Minister darüber reden, Herr Kolon. Und in etwa einer halben Stunde müßten wir Ihnen Bescheid geben können." "Ich warte solange in der Kantine. Die kenne ich inzwischen." "Das ist gut, dann können wir Sie dort erreichen." "Ja. Für's Erste auf Wiedersehen." Chris schüttelt dem Ministerialdirektor die Hand; die Besprechung ist für ihn sehr gut verlaufen. Vor der Tür unterhält er sich mit den beiden Akademikern, die sein Vorhaben unterstützt haben. Professor Tanner bekundet Interesse daran, selbst an der Expedition teilzunehmen, er wird aber aller Voraussicht nach zeitlich nicht dazu in der Lage sein. Man verabschiedet sich voneinander, 16
Chris geht in die Kantine und holt sich einen Becher Kaffee. Wenn ich Raucher wäre, würde ich jetzt erstmal zur Zigarette greifen, denkt er. Das war fast so schlimm wie eine Prüfung, jetzt ist er vollkommen aufgedreht. Und er hat zwar die Hoffnung, daß man ihm die Unterstützung für sein Projekt genehmigen wird, aber die Entscheidung des Ministers kann auch anders aussehen. Als eine Viertelstunde vergangen ist, kommt ein Beamter in die Kantine und geht mit Chris zum Büro des Ministerialdirektors, daß in einer anderen Etage des Gebäudes liegt. Chris wird hineingeführt, dort erwartet ihn der Direktor. "Herr Kolon, setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?" "Ich hätte es lieber, wenn Sie mir gleich sagen, ob der Minister meinen Plan unterstützt." "Ja, Herr Kolon, da haben Sie gute Arbeit geleistet. Der Minister hat seine Zustimmung zu Ihrem Projekt gegeben, wir werden die Expedition ausrichten." "Ha! Jetzt können Sie mir ein Glas Whiskey geben." Chris wartet ab, bis er das Glas vor sich stehen hat, nimmt einen Schluck. "Hat man irgendwelche Auflagen gemacht?" "Nein. Aber ich nehme an, daß Sie sich nicht alleine um die Vorbereitungen kümmern wollen?" "Richtig." "Das haben wir uns gedacht, und deshalb wollen wir die Expedition uns unterstellen und zur Vorbereitung ein eigenes Büro einrichten, das die gesamte logistische und wissenschaftliche Vorbereitung übernimmt. Sie können dann die wissenschaftliche Leitung für Ihren Forschungsbereich übernehmen."
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"Nur für den?" "Natürlich können Sie auch in der Leitung des gesamten Projektes mitreden, aber wegen der Größenordnung haben wir uns dazu entschlossen, sie nicht einer einzelnen Person, sondern einem Gremium aus mehreren Personen zu übertragen. Sie hätten darin den Vorsitz." "Das höre ich gerne. Was ist mit den anderen Teilnehmern?" "Sie haben uns bereits einige Wissenschaftler genannt, die sich an der Expedition beteiligen wollen. Ich denke aber, daß wir in den nächsten Wochen noch genug Anfragen von Kollegen von Ihnen bekommen werden, die an der Expedition teilnehmen möchten." "Und wer wählt die aus?" "Das sollte unter anderem ihre Aufgabe sein." "Das heißt also, daß ich meinen jetzigen Job vergessen kann?" "Wenn Sie sich um die Vorbereitung der Expedition kümmern, werden Sie kaum noch für etwas anderes Zeit haben." "Da wird sich meine Uni freuen. Aber das macht nichts. Haben Sie sonst noch 'was für mich?" "Nein, das war alles für heute." "Ich nehme an, wir werden uns in der nächsten Zeit noch öfter sehen?" "Mit Sicherheit, Herr Kolon." "Dann auf Wiedersehen." "Wiedersehen." Er hat es geschafft! Beglückt verläßt Chris das Büro und fährt in das Erdgeschoß des Gebäudes herunter, sucht ein Telefon. Die Nachricht über die positive 18
Entscheidung muß er unbedingt an seinen engsten Freundeskreis weitergeben, hier wartet man bereits auf seinen Anruf. Als er Sandra erreicht, ist Chris etwas ruhiger geworden. Am Abend will er noch in der Stadt bleiben, hat noch einiges zu erledigen. So verabredet er sich mit ihr für den nächsten Abend, und sie wollen den Erfolg feiern. Es ist Mittag, als Chris das Ministerium verläßt und sich ein Taxi nimmt. In der Nähe des Hotels, in dem er gestern abgestiegen ist, steigt er aus und sucht sich ein Restaurant, um eine Kleinigkeit zu Essen. Als er das Restaurant verläßt, ist er müde, die Nacht war zu kurz. Vom Hotel aus ruft er die Redaktion einer Zeitschrift an, die er vor zwei Wochen kontaktiert hatte, um sein Projekt publik zu machen. Auch dort wußte man von der Besprechung am Vormittag im Ministerium, und so macht Chris für den Nachmittag einen Termin zu einem Interview. Was kann ich denn bis dahin noch tun? Chris überlegt nicht lange, nach dem positiven Ereignis geht er in die Innenstadt und sieht sich Schaufenster an, geht in einen Plattenladen hinein und kauft sich fünf CDs, die er schon seit Monaten auf seiner Liste stehen hat. Er hat Zeit, hört Straßenmusikern zu, macht bei einer Pantomime mit und sieht sich Schaufenster an. Schließlich wird es Zeit, sich zu dem Café zu bewegen, in dem das Interview stattfinden soll. III. Es beginnt zu dämmern, als Chris das Café betritt und den Journalisten sucht, mit dem er hier verabredet ist. Er sieht sich im Raum um; an einem Tisch an der Seite sitzt ein Mann Mitte dreißig in Jackett und Jeans, der ein kleines Aufnahmegerät vor sich stehen hat. Das muß er sein, denkt Chris, und geht zu ihm hin. Er hat recht, beide Männer begrüßen sich. Chris setzt sich und bestellt einen Kaffee, bevor sie in das Interview einsteigen.
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"Herr Kolon, die Besprechung ist positiv verlaufen, nehme ich an?" "Ja. Das Forschungsministerium hat sich bereit erklärt, mein Projekt zu unterstützen." "Was haben Sie nun genau vor?" "Wir wollen eine Expedition ausrüsten, um mit einem Schiff zu dem bisher noch nicht von Menschen betretenen Kontinent zu reisen und dort Forschungsarbeit zu betreiben." "Nun wird das Ganze ein teurer Spaß. Steckt nicht mehr dahinter als reine Forschungsarbeit? Wenn das Ministerium das Projekt finanziert, muß sich das auch lohnen." "Genau, wir wollen uns auf dem fremden Land umsehen, ob es möglich ist, es für die Menschheit zu nutzen." "...und es dann genau so zu zerstören, wie wir das mit unserer alten Welt auch geschafft haben?" "Sie sprechen da einen Punkt an, über den ich mir in den letzten Monaten eine Menge Gedanken gemacht habe. Es kann nicht sein, daß wir einen neuen Kontinent erforschen, um ihn dann zu zerstören. Es muß durch politische Maßnahmen dafür Sorge getragen werden, daß die Bodenschätze zwar ausgebeutet werden können, die Natur aber nicht unwiederbringlich zerstört wird." "Fromme Sprüche. Wie wollen Sie das erreichen?" "Es muß ein Abkommen zwischen den Staaten, die den Kontinent nutzen wollen, geschlossen werden, in dem die notwendigen Reglementierungen festgelegt werden. Und die müssen natürlich kontrolliert werden." "Glauben Sie, daß das möglich ist? Bisher haben sich solche Kontrollen als recht wirkungslos erwiesen."
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"Leider ja, aber hier haben wir die Möglichkeit, vollkommen neu zu beginnen und von Anfang an dafür Sorge zu tragen, daß es nicht zu einer solchen Umweltzerstörung kommt, wie wir sie hier in der alten Welt haben." "Wer beteiligt sich außer dem Ministerium noch an dem Projekt?" "Ich habe Kontakt zu einigen Firmen aufgenommen, die sich daran interessiert gezeigt haben und sich an der Finanzierung der Expedition beteiligen wollen." "Was sind das für Firmen?" "Ich kann hier keine Namen nennen, aber es ist unter anderem ein Mineralölkonzern darunter." "Aha! Und Sie glauben, der beteiligt sich daran, wenn Sie ihm später vorschreiben wollen, was er zu tun und zu lassen hat?" "Er muß sich an die Notwendigkeiten halten. Wenn wir eine strengere Gesetzgebung für den neuen Kontinent erlassen, dann wird das auch für die Firmen gelten, die sich an der Finanzierung der ganzen Sache beteiligt haben." "Und Sie glauben, die werden sich daran halten?" "Für die springt noch genug 'raus." "Na, wir werden sehen, ob die Zukunft etwas anderes bringt. Jetzt aber zu dem Projekt selber. Was ist das für ein Schiff, mit dem Sie fahren wollen?" "Das ist ein Katamaran, in der Größenordnung einer Länge von 120 Metern, 70 Meter breit. Auf diesem Schiff sollen 120 bis 150 Wissenschaftler Unterkunft und Arbeitsmöglickeiten finden, dazu natürlich noch die Besatzung. Außerdem müssen wir Treibstoff und Nahrungsmittel für den gesamten Zeitraum der Reise unterbringen können." "Was wird das Ganze kosten?" 21
"Das Schiff? Ich rechne mit 200 Millionen." "Und daran beteiligen sich neben dem Staat noch andere Firmen?" "Ja." "Nun, dann wollen wir hoffen, daß der Staatssäckel nicht zu sehr belastet wird. Welche Forschungen wollen Sie durchführen?" "Wir wollen während der Überfahrt täglich Wasser- und Bodenproben nehmen und sie an Bord des Schiffs auswerten, außerdem den Meeresboden per Echolot vermessen. Wenn wir am Ziel sind, wollen wir biologische und geographische Forschungen durchführen, ich werde mich dabei auf die Geomorphologie stürzen - das ist mein Fachgebiet." "Was machen Sie da?" "Alles, was mit der Erdgestalt Bodenuntersuchungen, ich werd' ansehen, und so weiter."
zusammenhängt. mir das Relief
"Was stehen Ihnen dazu für Mittel zur Verfügung? Wollen Sie sich nur an der Küste aufhalten oder auch weiter ins Landesinnere vordringen?" "Ich will selber mit einem Fahrzeug in das Innere des Kontinents vordringen, wo genau, das werden wir an Ort und Stelle entscheiden. Außerdem werden wir Luftbilder von einem möglichst großen Teil des Landes machen." "Haben Sie Flugzeuge an Bord?" "Ja, vier Senkrechtstarter, die uns als Transportmittel und für Luftaufnahmen zur Verfügung stehen werden. Deshalb muß das Schiff auch etwas größer sein, weil wir ein Flugdeck haben müssen." "Ich verstehe. Und wann soll das Projekt starten?" "In etwa einem Jahr. Wir wollen in der Zeit des Sommer an unserem Ziel angelangt sein, weil wir dann die 22
klimatisch besten Voraussetzungen für unsere Arbeiten haben. Ganz praktisch ausgedrückt, wir werden dann nicht mitten in der Wüste einschneien." "In einem Jahr... Das bedeutet, daß das Schiff schon in diesem Jahr fertiggestellt werden muß. Ist das nicht etwas wenig Zeit dafür?" "Nein, ich habe mich bereits mit einem Ingenieur unterhalten, der das für machbar hielt." "Wo wird das Schiff gebaut? Es handelt sich schließlich um einen Auftrag, der eine Menge an Arbeitsplätzen bietet." "An der Küste, in unserem Land, denn genau das habe ich mir auch überlegt. Die Werftindustrie soll von dem Projekt auch profitieren." "Und wer wird davon noch profitieren? Bisher haben wir die Werftindustrie und einen Erdölkonzern." "Ich denke, daß die Entdeckung eines neuen Kontinents der gesamten Wirtschaft neue Impulse geben kann. Und ich glaube, daß davon nicht nur die Industrie profitieren wird. Es kann in Zukunft möglich sein, dort Touristen hinzubringen. Das Problem ist die große Entfernung, aber ich denke, daß das in Zukunft leichter zu lösen sein wird, wenn wir den Anfang gemacht haben." "Die Kontinente rücken doch nicht näher zusammen." "Nein, aber sehen Sie, wir haben ein Schiff, das nur eine Marschgeschwindigkeit von 12 Knoten haben wird. Mit schlanker gebauten Touristenschiffen können Sie doppelt so schnell fahren und brauchen dann vermutlich auch nur einen Bruchteil des Treibstoffes mitzunehmen, wenn Sie am Ziel bunkern. Das verkürzt die Reisezeit von drei Monaten bei uns auf fünf bis sechs Wochen." "Damit dann in Zukunft Horden von Touristen in das Landesinnere einfallen und dort alles zerstören?" "Nein, soviel werden sich das nicht leisten können."
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"Also nur ein Vergnügen für die Reichen?" "Mein Gott, es wird vielleicht für fünf Jahre so sein, bis die Modewelle abgeflaut ist, aber wir müssen damit rechnen, daß sich eine Menge Leute dort eine neue Existenz aufbauen wollen." "Haben Sie den Kontinent schon verplant? Haben Sie sich schon Orte ausgesucht, an denen Sie Städte bauen wollen?" "Nein. Das können wir erst an Ort und Stelle entscheiden, und es wird sich auch erst dann zeigen, ob wir das alles zu positiv gesehen haben und alles falsch war, was wir gedacht haben." "Wenn die Expedition ein Fehlschlag wird, wer trägt dann die Konsequenzen? Wer nimmt es auf sich, die Ausgaben zu rechtfertigen, die zu keinem Erfolg geführt haben?" "Das müssen wir sehen, wenn es so sein sollte. Aber so wie es im Moment aussieht, erwarten wir, mit einem reichen Schatz an Erkenntnissen zurückzukommen." "Werden Sie die Wissenschaftler, die Sie auf die Reise mitnehmen, selbst aussuchen, oder wer macht das?" "Ich bin seit heute Vormittag der wissenschaftliche Leiter der Geographen an Bord des Schiffes, aber die Gesamtleitung unterliegt einem Gremium, dem Vertreter aller Disziplinen angehören. Es wird also die Entscheidung dieser Leute sein, wer mit auf die Reise geht." "Ich glaube, das war's dann für heute. Und ich denke, daß Sie uns über den Fortgang der Arbeiten an Ihrem Projekt auf dem Laufenden halten werden?" "Natürlich. Es war eine politische Entscheidung des Ministers, mir Geld zu geben, und ich werde mich dafür rechtfertigen müssen, ich werde das Ganze in der Öffentlichkeit halten müssen, damit die Bevölkerung sieht, daß mit ihrem Geld etwas sinnvolles geschieht."
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"Gut, Herr Kolon, ich danke Ihnen für das Interview. Wiedersehen." "Auf Wiedersehen." Beide Männer stehen auf, Chris schlägt den Weg zur Toilette ein. Es wird hart, die Umweltbedenken nicht dauernd in den Vordergrund rücken zu müssen. Ist es wirklich richtig, eine noch unberührte Welt jetzt auch dem Zugriff der Menschen zu öffnen? Auf der anderen Seite ist es besser, das jetzt von Seiten des Staates aus zu machen, denn wenn die private Wirtschaft eine Expedition ausrüsten sollte, dann müssen sie damit rechnen, daß die sich einen Dreck um Umweltschutz kümmern! Chris hat seine Zweifel ob seines eigenen Plans, aber es erscheint ihm als die bessere Lösung. Besser jetzt als später von anderen Leuten, denn die Zeit ist reif dafür; und besser unter der Kontrolle des Staates als wild durch die freie Wirtschaft. Mit diesen Gedanken tritt er hinaus in die frische Abendluft, er zieht sich seine Jacke zu, denn es ist an diesem Frühlingstag kalt geworden. Ein Blick auf die Uhr zeigt Chris, daß er noch etwas unternehmen könnte, aber er ist zu müde dazu. Als er sein Hotelzimmer betritt, legt er sich zuerst auf das Bett und macht die Augen zu. Ich hab's geschafft, ich hab's geschafft! Aber, was ist mit deinen eigenen Bedenken in Sachen Umweltschutz, die du in den letzten Monaten gehegt hast? Die Beklemmung will nicht weichen, Chris stellt sich vor, wie der neue Kontinent aussähe, wenn Horden von Menschen und rücksichtslose Wirtschaftsleute in diesen einfallen und in kürzester Zeit ruinieren - das beste Beispiel dafür ist dieses Land, in dem er selber lebt, jeder Tag bringt neue Umweltskandale ans Licht, und die Zahlen der Menschen, die an durch Umweltschäden verursachten Krankheiten sterben, steigt ständig. Trotzdem, es ist zu beobachten, wie in der Bevölkerung dieses Thema immer weiter in den Mittelpunkt gerückt wird und wie wichtig der Umweltschutz auch für 25
alteingesessene Politiker und Wirtschaftsmanager wird. Wenn er sich das vor Augen führt, sieht die ganze Sache schon rosiger aus. Du mußt selbst dafür sorgen, daß dieses Thema im Licht der Öffentlichkeit bleibt, dann kann es sich keiner leisten, da drüben alles kaputt zu machen, denkt er. Wie sieht nun dieser Kontinent aus? Mit geschlossenen Augen träumt Chris von der Landschaft, die ihn dort erwarten mag. Er hat sich stundenlang in die Satellitenbilder vertieft, hat sie mit ihm bekannten Bildern dieses Landes verglichen und zieht nun Parallelen zu dem, was er aus seiner eigenen Anschauung kennt. Darüber schläft er ein. 1Als er erwacht, ist es Abend geworden, Zeit, um etwas zu essen. Chris wechselt die Kleidung und geht hinunter in den Speisesaal des Hotels, sucht sich dort etwas Ansprechendes aus und ißt geruhsam zu Abend. Beim Nachtisch studiert er die Zeitung, heute fanden keine weltbewegenden Ereignisse statt. Er sieht auf die Uhr, es geht auf neun zu, und die Müdigkeit ist aus seinem Hirn gewichen. Du kannst feiern, denkt er, du kannst dir jetzt etwas gönnen. Oben auf dem Zimmer überlegt er, was er unternehmen könne. Da fällt ihm ein, daß ein alter Freund von ihm, den er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat, in dieser Stadt wohnt. Er geht ans Telefon, läßt sich von der Auskunft die Nummer geben und versucht ihn zu erreichen. Und tatsächlich gelingt ihm das, beide freuen sich, nach so langer Zeit wieder miteinander zu reden. Chris macht den Vorschlag, gemeinsam in eine Kneipe zu gehen und über alte Zeiten und sein Projekt zu reden, dann legt er auf und geht unter die Dusche. Morgen ist Freitag, und beide werden morgen nicht früh aufstehen müssen, sie können eine lange Nacht hinter sich bringen... Es ist bereits nach zehn, als Chris aus der U-Bahn steigt und sich auf dem Platz umsieht, auf dem er sich mit seinem Freund verabredet hat. Sie erkennen sich sofort, gehen aufeinander zu und fallen sich in die Arme. Nach dieser langen Zeit gibt es eine Menge zu erzählen, und 26
da beide Männer ein Geographiestudium hinter sich haben, unterhalten sie sich lange über die fachlichen Aspekte der Expedition. Es wird drei Uhr, als Chris in sein Hotel zurückkommt und ins Bett kriecht. Sechs Stunden Schlaf müssen reichen, denkt er, als der Wecker geht. Müde sieht Chris sein Spiegelbild an, du warst verdammt wild gestern Abend, und so siehst du jetzt auch aus. Nach dem Waschen geht er hinunter, um zu Frühstücken und die Rechnung fertigmachen zu lassen. Dann packt er seine Sachen zusammen und geht zu seinem Auto, legt die Tasche in den Kofferraum und startet. In der Stadt ist an diesem Tag die Hölle los, er braucht für die zehn Kilometer bis zur Autobahn genauso lange wie für die nächsten 120 Kilometer bis zur nächsten Raststätte, an der er tanken muß. Und es gelingt ihm, noch vor der schlimmsten Rushhour wieder zu Hause zu sein. In der Straße, in der er wohnt, sucht er vergeblich nach einem Parkplatz, und zum wiederholten Male fragt er sich an diesem Tag, warum er nicht mit der Bahn gefahren ist - denn schließlich gibt es zwischen diesen beiden Städten noch eine funktionierende Bahnverbindung! Endlich kann er den Wagen in eine Parklücke hereinsetzen, nimmt seine Tasche und geht zu seiner Wohnung. Er bleibt hier nicht lange allein, kaum daß er angekommen ist, schellt das Telefon; sein Erfolg hat sich herumgesprochen. Später kommt seine Freundin, und sie haben die Idee, daß sie heute Abend mit mehr Leuten als nur zu zweit feiern sollten. Gemeinsam gehen sie einkaufen und bereiten Essen und Trinken für eine Fete vor. Chris braucht niemanden einzuladen, das Telefon geht oft genug, damit er alle Anrufer zu sich bestellen kann. Als es zehn Uhr wird, ist die Wohnung voll mit Gästen. Und es wird eine lange Nacht. Chris kann sich an des Ende der Fete nur lückenhaft erinnern; als er die ungespülten Teller und Gläser am nächsten Morgen und die in der ganzen Wohnung verteilten Reste der Salate und der Chips sieht, möchte er sich am liebsten wieder 27
auf die andere Seite drehen und seinen Kater auskurieren. Doch es hilft nichts, sie müssen aufräumen, und darüber vergeht der Vormittag. An diesem Abend bleibe ich lieber zu Hause, denkt er, in den letzten Tagen hat er zuwenig geschlafen. Außerdem: Es gibt eine Menge zu arbeiten, du hast bald einen neuen Job, also halt' dich 'ran. An diesem Wochenende sitzt er lange am Schreibtisch und arbeitet an den wissenschaftlichen Grundlagen für sein Forschungsvorhaben. Schwitz. Die Wärme im Auto ist kaum auszuhalten. Chris hat die Fenster seines Wagens ganz heruntergelassen, die Ärmel hochgekrempelt, als er die Straße zur Werft entlangfährt. Das war ein stressiger Sommer, es hatte bei der Verteilung der Bauaufträge für das Schiff und die Ausrüstung desselben Probleme gegeben; da gab es Streitereien wegen Bestechungsversuchen, da versuchten Mitarbeiter des Ministeriums die Kompetenzen des Planungsstabes, dem Chris seit Beginn angehörte, einzuschränken, da wurden willkürlich Mittel gestrichen und umverteilt. Aber Chris hatte Mitarbeiter in seinem Planungsstab, die genauso hartnäckig sein konnten wie er selber. Und auch wenn es manch hartes Wortgefecht zwischen Chris und seinen Kollegen um Planungsangelegenheiten gegeben hatte, so standen doch alle zusammen, wenn es darum ging, Schwierigkeiten bei der Durchführung des Projektes auszuräumen. So kam es einmal in der Woche vor, daß Chris beim Minister persönlich vorsprach und ihn einspannte, um die Behinderungen aus dem Weg zu räumen. Nun, jetzt läuft alles wie am Schnürchen, das Geld ist bewilligt, das Team der Wissenschaftler zusammengestellt und die Öffentlichkeitsarbeit läßt auf ein gutes Gelingen hoffen. Mit diesen Gedanken erreicht Chris das Einfahrtstor der Werft, auf der das Schiff entsteht, das ihn zum neuen Kontinent bringen soll. An der Schranke zeigt er die Karte vor, die ihn als Mitarbeiter des Forschungsministeriums ausweist, und fährt weiter zum Besucherparkplatz. Nach den Aussteigen führt ihn der Weg zum Büro des leitenden Ingenieurs, bei dem Chris 28
seit Monaten einmal die Woche vorbeisieht, um sich nach dem Fortgang der Bauarbeiten zu erkundigen "Nun, wie sieht's aus, Herr voran?"
Keiser? Kommen Sie
"Nicht ganz so gut wie wir uns das gedacht hatten. Es hat Probleme mit den Zulieferern der Motoren und der Nebenaggregate gegeben, und wir liegen jetzt drei Tage hinter unserem Zeitplan zurück." "Drei Tage sind nicht viel, ein Monat wäre wesentlich schlimmer. Wir haben genug Luft, um solche Verzögerungen ertragen zu können." "Trotzdem, es kann knapp werden." "Warum?" "Die Maschinen, die wir eigentlich haben wollten, sind nicht mehr lieferbar. Die Firma hat auf der letzten Messe eine neue Generation von Maschinen vorgestellt, und in diesen Wochen stellen sie ihre Produktion um." "Hm... Können wir denn nicht auf andere Zulieferer ausweichen?" "Das könnten wir, aber ich halte das nicht für das sinnvoll. Ich denke mir, daß wir die neuen Maschinen nehmen sollten." "Warum? Was ist an denen anders?" "Nun, die haben eine ganze Reihe von Vorteilen. Sie sind leiser, weil die Kolben und Pleuel aus keramischen Materialien sind und weniger Schwingungen erzeugen. Dann verbrauchen sie weniger Treibstoff als die alten, und die Abgaswerte sind besser." "Sind das nur Versprechungen der Firma, oder wissen Sie das genau?" "Die Marine hat die Maschinen getestet, und die Ergebnisse waren zwar nicht ganz so gut wie vom
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Hersteller angegeben, vergleichbaren Modellen."
aber
besser
als
bei
"Und wo liegen die Nachteile?" "Sie sind teurer." "Das dachte ich mir. Wieviel teurer?" "Wir müssen damit rechnen, daß das Schiff eine halbe Million mehr kostet." "Das ist für sich betrachtet zwar nicht viel, aber dann kommt hier noch 'was dazu, da eine Mehrausgabe, und plötzlich ist das Projekt doppelt so teuer. Wie soll ich das den Finanzhaien im Ministerium klarmachen?" "Erzählen Sie denen doch einfach, daß Sie auf der Fahrt soviel Treibstoff sparen, wie sie an Geld für die Maschinen mehr ausgegeben haben." "Das ist ein Argument, das geb' ich zu. Aber mir fällt ein, wie steht es mit der Zuverlässigkeit - halten die Maschinen die lange Reise durch, ohne daß sie dabei zu Bruch gehen?" "Wir können Defekte nie ausschließen, aber ich denke mir, daß das Risiko genauso hoch oder niedrig ist, wenn wir andere, alte Maschinen einbauen lassen. Das ist solider Maschinenbau, ich hab's mir angesehen, ich hab' Vertrauen dazu." "Na wenn Sie das sagen... Gibt's sonst noch 'was?" "Wie sieht's mit den Laborausrüstungen aus? Sie wollten sich gestern darum kümmern, Herr Kolon?" "Ja, das hab' ich gemacht. Wir haben gestern mit der Firma, die uns die Geräte liefert, einen Vertrag abgeschlossen. In einem Monat wollen sie die gesamten Laborgeräte bereitstellen. Aber, sind wir dann soweit, daß wir sie auch einbauen können?" "Wenn keine weiteren Schwierigkeiten auftauchen, könnten wir das sogar schon in zwei Wochen machen." 30
"Sehr gut, sehr gut. Dann haben wir da wenigstens keine Schwierigkeiten mehr. Und sonst? Ich würde mir das Schiff gerne einmal ansehen." "Das können wir machen." Die beiden Männer verlassen das Büro, ziehen Stiefel und Schutzhelme an, gehen zu dem Dock herüber, in dem das Schiff entsteht. Chris legt den Kopf in den Nacken, um die Höhe des Schiffs besser betrachten zu können. So ein Katamaran sieht schon ungewohnt aus, denkt er. An den Bordwänden ziehen sich Gerüste hoch, hier und da wird geschweißt. Chris senkt den Blick, unter sich erkennt er die beiden Schwimmer, die ebenfalls eingerüstet sind. Später werden sie den größten Teil des Treibstoffs aufnehmen, hoffentlich kratzen wir nirgends über Grund. Doch schließlich sind die Wände doppelt ausgeführt, selbst bei einem Leck dürfte es keine Probleme mit ausfließendem Treibstoff geben. Faszinierend, wie groß das Schiff jetzt aussieht, und wieviel von der Größe später unter Wasser liegen wird. Sie gehen um das Schiff herum und sehen es jetzt von vorne; Chris läßt seinen Blick über das Arbeitsdeck schweifen, das sich zwischen den beiden Bordwänden spannt. Wird ein komisches Gefühl sein, später direkt über der See zu stehen, ohne etwas an Rumpf unter sich zu haben. Und als er die Strecke zwischen beiden Schwimmern abgeht, wird ihm klar, wie breit das Schiff ist und wie großzügig man die Labors und Büros darin dimensionieren konnte. Das wird ein angenehmes Arbeiten sein, denkt er, während der Ingenieur ihn mit Details vollquatscht. Dann gehen sie an Bord. Von der Brücke aus nach achtern blickend kann Chris sehen, wie hinter ihm die beiden Flügel der Decksaufbauten entstehen. Er wendet sich nach vorne und sieht sich den Steuerstand an, in dem große Löcher klaffen, die Elektronik wird frühestens einem Monat installiert. Das Schiff wird sich fast wie ein Auto fahren lassen; vor dem Sessel des Rudergängers wird sich ein Lenkrad befinden, und neben ihm die beiden Schubhebel für die Maschinen. In den kleinen Hebeln 31
liegt die Macht über viermal 5000 PS, ein Vergnügen, selbst einmal daran herumzufummeln... Daneben die Konsolen für die Monitore, auf denen die wichtigsten Maschinendaten und Kartenausschnitte mit der Fahrtroute des Schiffs zu sehen sein werden. Sie haben die modernste Schiffsausrüstung zusammengekauft, alles was gut und teuer ist, dafür wird das Schiff als Forschungsträger für die neuen Technologien fungieren, und damit ein bereits über Jahre hinweg gelaufenes Projekt des Ministeriums zur Entwicklung solcher Technologien fortführen. Überall im Schiff wird man auf jedem Terminal den Kurs des Schiffs, die Wassertiefe und andere Daten abrufen können und mit ihnen seine eigenen Forschungsergebnisse dokumentieren können. Chris stellt sich vor, wie er in einem Jahr vor seinem Terminal sitzt und im Computer zwischen seinem Labor, der Brücke und heimischen Computern, mit denen er über Telemetrie vernetzt sein wird, hin- und herspringt. In den großen Räumen im Arbeitsdeck werden in diesen Tagen die Labortische, Schränke und Regale eingebaut, und wie wird das erst aussehen, wenn hier reger Betrieb herrschen wird, wenn die Regale mit allen Gerätschaften, die ein modernes Labor auszeichnen, gefüllt sein werden, wenn Diagramme und Zahlenkolonnen über die Bildschirme flimmern. Es wird eine ganze Menge zu tun geben, aber in diesen Räumen wird die Arbeit Spaß machen, mit dem Wissen, 25 Meter über dem Meer zu stehen. Hier ist Platz für alle 150 Wissenschaftler, die mitfahren werden, jeder wird seinen eigenen Laborplatz erhalten, und jeder Fachbereich hat sein eigenes Großraumlabor. Man wird sich gegenseitig nicht stören. Hinter dem Arbeitsdeck schließt sich der Hangar für die vier Flugschrauber an, und Chris sieht sich die riesige Halle an, die mit 70 Metern Länge und 50 Metern Breite genau die Ausmaße des Flugdecks wiedergibt. Wenn die Maschinen hier erst einmal drinstehen und an ihnen gearbeitet wird, wird es hier wesentlich enger zugehen, denkt er. Aber bis dahin wird noch ein halbes Jahr ins Land gehen. 32
Schließlich sehen sich beide Männer die Rampen an, auf denen die beiden Beiboote ins Schiff geladen werden. Sie werden fast 20 Meter über der Wasseroberfläche schweben, eine andere Lösung war konstruktiv nicht möglich. Hier oben wird man sie herunterlassen und beladen können, aber die eigentlichen Ladeluken liegen in den beiden Schwimmern, damit die Boote nicht ständig gehoben werden müssen. Wir werden eine Menge an Material an Land zu bringen haben, wenn wir dort eine Station aufbauen wollen, denkt Chris, und das Landemanöver wird schwierig sein, aber wir haben die richtige Ausrüstung dazu. Nach einem Rundgang von einer halben Stunde verlassen sie das Schiff. "Es freut mich zu sehen, daß die Arbeit vorangeht." "Ja, wir haben hier eine Menge Überstunden hinlegen müssen, bisher war der Zeitplan recht knapp gehalten. Und wir haben wenig Erfahrung mit diesem Schiffstyp." "Ich denke, sie sind die einzige Werft in diesem Land, die schon einmal ein SWATH gebaut hat." "Richtig, und das ist ja unser großer Vorteil. Aber Sie wissen auch, daß das Forschungsschiff, das wir gebaut haben, wesentlich kleiner ist als das, was wir jetzt bauen." "Herr Keiser, Sie haben den Auftrag deswegen bekommen, weil Sie die größte Erfahrung mit dem Bau von solchen Schiffen haben und weil das Ministerium mit Ihnen sehr gute Erfahrung gemacht hat, was Kosten und Zeitplan angeht. Jetzt machen Sie mich nicht schwach!" "Herr Kolon, ich will Sie nicht vor den Kopf stoßen und Ihren Optimismus dämpfen, aber wir müssen damit rechnen, unseren Zeitplan nicht einhalten zu können. Es könnte sein, daß in den nächsten Wochen noch weitere Probleme mit den Zulieferern auftauchen und sich dadurch die Bauzeit weiter verzögert." "Warum? Was ist denn jetzt schon wieder?" 33
"Das Ministerium hat einige Firmen gewählt, die kurz vor dem Konkurs stehen. Sie wissen ja, daß der Schiffbau seit Jahren in der Krise steckt, und wir müssen damit rechnen, daß plötzlich die eine oder andere Firma Pleite geht." "Hm. Das ist bitter, aber ich denke, damit können wir leben. Wir müssen dann auf andere Firmen ausweichen, und ich denke, wir sind da flexibel genug." Sie verlassen die Baustelle und gehen in das Büro hinauf, in dem der Ingenieur Chris einige Pläne zeigt und ihm die Daten der neuen Maschinen vorstellt. "Das sind sie. Die gleiche Größe wie die alten, aber bei gleicher Leistung sparsamer und vibrationsärmer." "Und teurer. Das wird mich noch Nerven kosten. Haben Sie etwas an der Einbaulage ändern müssen?" "Nein, bei diesem Schiff werden die Maschinen in den Schwimmern eingebaut, nicht wie bei dem kleineren Forschungsschiff, bei dem wir sie auf dem Hauptdeck eingebaut haben." "Ich frage mich, ob das nicht doch besser gewesen wäre." "Wir hätten Probleme mit der Kraftübertragung gehabt, und außerdem ist es auf dem Hauptdeck leiser." "Dafür haben wir weniger Tankvolumen durch den Platz, den die Maschinen in den Schwimmern beanspruchen, und der Erste Ingenieur wird sich auch nicht gerade freuen, daß es von einem Maschinenraum zum anderen über 100 Meter zu laufen sind. Und überhaupt, wieviel Tankvolumen haben wir jetzt zur Verfügung?" "Das sind 40000 Tonnen für Diesel, 6000 Tonnen Flugbenzin, und bis zu 20000 Tonnen Ballast, wenn wir Wasser nehmen." "Und wie lang wird das reichen? Wieviel verbrauchen die neuen Maschinen?"
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"Wenn wir eine Marschfahrt von 12 Knoten zu Grunde legen, dann werden es rund 70 Tonnen am Tag sein. Bei den alten Maschinen wären es 80 Tonnen gewesen." "Das hört sich gut, das werde ich den Finanzgewaltigen im Ministerium auch erzählen. Wenn ich richtig im Kopf rechne, dürften wir bis zu unserem Ziel rund 8500 Tonnen Diesel verbraucht haben. Damit haben wir mehr als genug Reserven, um wieder zurückzufahren, richtig?" "Richtig, Sie werden eine Menge an Reserven haben. Sie könnten die Strecke zweimal hin und zurück fahren." "Mir reicht es, das einmal zu tun. Aber es ist besser, wenn wir uns darauf verlassen können, daß wir keinen Mangel leiden werden." "Den werden Sie nicht haben." "Dann werden wir also im Schnitt 280 Seemeilen am Tag machen und mit einer Fahrzeit von dreieinhalb Monaten rechnen können, wenn nichts dazwischenkommt. "Genau." "Weiter. Wie sieht das mit der Abfallentsorgung aus? Sie wollten sich darum kümmern." "Die Fäkalien und alle anderen Abfälle werden getrennt gesammelt, komprimiert und verbrannt. Wir werden genau die Aufbereitungsanlage einbauen, die wir auch geplant hatten, da hat es keine Probleme mit den Zulieferern gegeben." "Eine Nachricht, die mich freut. Dann, wie schnell wird das Schiff sein, hat sich daran etwas geändert?" "Nein, 16 Knoten maximal. Wenn sie zurückkommen und kaum noch Diesel in den Tanks haben, vielleicht 18 bei voller Kraft. Aber wenn Sie losfahren, wird das Schiff recht schwerfällig sein."
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"Das ist mir klar, wir fahren ja auf einem Tanker. Ich glaube, das war alles für heute." "Ach ja, haben Sie eigentlich inzwischen einen Namen für das Schiff?" "Nein, bisher noch nicht. Wir haben uns nicht einigen können. Der Minister wollte den Namen seiner Frau darauf sehen, aber wir waren dagegen." "Sie sollten sich beeilen. In spätestens einem halben Jahr ist Stapellauf." "Ach, ich denke, bis dahin haben wir etwas gefunden. Auf Wiedersehen, Herr Keiser." "Wiedersehen, Herr Kolon." Sie schütteln sich zum Abschied die Hände, dann steigt Chris in seinen Wagen und fährt. Während er die Landstraße zur Autobahn entlangrollt, stellt er sich innerlich auf den Kampf mit der Finanzverwaltung des Forschungsministeriums ein, die mit Sicherheit wissen will, warum die Maschinen teurer geworden sind. Nun, er hat gute Argumente, dafür werden die Betriebskosten geringer sein. Er fährt auf die Autobahn auf und nimmt die Fahrbahn in Richtung der Stadt, in der das Ministerium eine Nebenstelle für die Planung und Durchführung des Projektes eingerichtet hatte. Am frühen Nachmittag erreicht Chris das Büro, parkt seinen Wagen vor dem Gebäude und geht hinein. In seinem Büro findet er den Mitarbeiter vor, mit dem er sich diesen Raum teilt. "Hallo Michael, ich bin wieder da." "Grüß Dich, wie ist es gelaufen? Gibt's was Neues?" "Ja, wir kriegen neue Maschinen." "Hä? Neue Maschinen? Warum?"
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"Die Zulieferfirma stellt die alten, die wir zuerst einbauen wollten, nicht mehr her. Und die neuen sind zwar teurer, sollen aber dafür weniger Treibstoff verbrauchen." "Sicher? Wer sagt das?" "Der Keiser sagt das, und ich hab' den Eindruck, daß er Recht hat." "Naja, ich glaube diesen ganzen Versprechungen nicht so recht. Willst du dich gleich noch mit unseren Rechnungsprüfern 'rumschlagen?" "Das heb' ich mir für Morgen auf, darauf hab' ich jetzt keinen Bock mehr. Wir haben noch genug zu tun, denk' ich mir." "Ja, mein Junge, es ist 'ne Menge Arbeit für dich gekommen. Du solltest dich 'mal um das hier kümmern." Chris bekommt einen Brief gereicht. "Was is'n das?" "Ein Brief eines Professors, der sich an deiner Arbeit beteiligen möchte. Du solltest ihn vielleicht 'mal anrufen, der will das Gleiche machen wie du." "Wir haben unsere Personalkapazitäten schon voll." "Aber du kannst die Daten, die du an Bord sammelst, ja auch andren Leuten 'rüberfunken und die an der Arbeit beteiligen." "Darum wollte ich mich eigentlich erst im Herbst kümmern, weil dann auch die Unis wieder voll in Betrieb sind. Ich ruf`den Typ 'mal an." Chris setzt sich an seinen Schreibtisch, sieht sich den Brief auf die Telefonnummer hin an und greift dann zum Hörer. Nach kurzem Klingeln meldet sich die Sekretärin des Professors, den Chris zwar vom Namen her durch sein Studium kennt, aber persönlich noch nie kennengelernt hat. Der Artikel, den er in der letzten Ausgabe der größten geographischen Zeitschrift des 37
Landes veröffentlicht hat, hat augenscheinlich seine Wirkung gehabt, denkt Chris, denn das ist nicht die erste Bitte eines Geographen um Mitarbeit an diesem Projekt. Aber es ist der erste Brief eines Professors, der ihn erreicht. Dann meldet sich der Mann, der ihm geschrieben hat. "Hier Kolon, Herr Bremer?" "Ja, am Apparat." "Sie haben mich angeschrieben, weil Sie Interesse an der Forschungsarbeit auf dem neuen Kontinent haben?" "Richtig. Ich habe Ihren Artikel gelesen und festgestellt, daß wir die gleichen Forschungsschwerpunkte haben." "Das ist eine gute Sache. Ich wollte mich zwar erst im Herbst um den Aufbau einer Forschungsstation kümmern, die meine Daten an Land auswerten soll, aber wenn Sie mich jetzt daraufhin anschreiben, können wir das auch jetzt schon erledigen. Was haben Sie sich denn vorgestellt?" "Ich dachte daran, daß wir zum einen die Daten, die Sie durch Analyse von Bodenproben und bei der Reliefkartierung sammeln, hier auswerten können, und daß wir uns um die Bearbeitung von Karten kümmern können." "Das hört sich gut an, genau die Arbeiten wollte ich auch auslagern, denn ich werde keine Zeit haben, mich um die Aufbereitung von Analyseergebnissen zu kümmern. Da kommen Sie mir entgegen." "Ich habe eine Frage, wie können Sie die Daten übermitteln? Was haben Sie an Bord des Schiffs für Einrichtungen?" "Wir werden auf dem modernsten Stand der Technik sein, wir können Ihnen alle statistischen Daten und Analyseergebnisse per Satellit übermitteln, und Karten und Fotos können wir digitalisieren und dann ebenfalls per Satellit übermitteln."
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"Sehr gut, ich hatte so etwas gehofft. Dann würde mich noch interessieren, welche Forschungsarbeiten Sie selbst durchführen wollen." "Eigentlich alle, denn ich will mit zwei, drei Leuten ins Landesinnere fahren und dort Bodenproben nehmen und Kartieren, Bodenprofile machen und mich auch um die Vegetation kümmern. Wir haben außerdem Flugzeuge zur Verfügung, die Luftbilder machen werden und uns somit das Material bereitstellen werden, um daraus Karten zu zeichnen. Und wir wollen uns noch darum kümmern, daß diese hier an Land bearbeitet werden, denn wir können das an Bord kaum leisten." "Was haben Sie an Bord für Möglichkeiten?" "Eine ganze Menge an Computern, außerdem ein Labor, in dem wir alle Analysen durchführen und protokollieren können, die man als Geograph so braucht. Und dazu die nötigen Einrichtungen, um diese nach Übersee zu übermitteln." "Herr Kolon, ich habe an ihrem Projekt großes Interesse. Wäre es möglich, daß Sie sich unser Institut einmal ansehen, damit ich Ihnen die Einrichtungen zeigen kann, mit denen wir Sie unterstützen könnten?" "Natürlich ist mir das möglich, und ich wäre auch froh darüber, wenn mir jemand etwas von der ganzen Arbeit abnimmt, die ich mit der Organisation der Expedition habe. Hätten Sie nächsten Dienstag Zeit? Da bin ich nämlich in Ihrer Gegend." "Aber sicher, wann würden Sie denn vorbeikommen?" "Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht genau sagen, weil ich vorher noch einen Termin habe, von dem ich nicht weiß, wie lange er dauert. Sollen wir sagen, zwischen zwei und drei Uhr am frühen Nachmittag?" "Das müßte gehen, ich werde mich freimachen. Oder einer meiner Mitarbeiter wird Ihnen dann zur Verfügung stehen."
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"Sehr gut, ich melde mich wieder bei Ihnen. Auf Wiedersehen, Herr Bremer." "Auf Wiedersehen, Herr Kolon." Chris legt auf, er hat den Eindruck, daß man sich von Seiten der Gelehrten intensiv darum bemüht, an den Forschungsergebnissen teilzuhaben, um nur ja nicht den Anschluß zu verpassen. Dieser Professor kam ihm zu freundlich vor; wenn er als einfacher Doktor mit solchen Leuten zu tun hatte, ging dies in einen anderen Ton vor sich. Solch ein Projekt stärkt deinen Ruf ganz ordentlich. Und paß bloß auf, daß Dir keiner deine Forschungsergebnisse vor der Nase wegschnappt! Aber er hat jetzt eine Menge Öffentlichkeit, es wird leicht sein, gegen den Diebstahl von Ideen und Ergebnissen anzugehen, das ist ein außergewöhnliches Projekt. Chris ist zuversichtlich. Auf dem Schreibtisch liegt noch eine Menge Arbeit für Chris, er muß die Liste der Laborausrüstungen und die Berichte der wissenschaftlichen Mitarbeiter durchgehen, die er für die Expedition verpflichtet hat. Alle haben sich bisher durch eigene Forschungsarbeit ausgezeichnet, und es ist jetzt an Chris, ihnen bestimmte Arbeitsbereiche zuzuweisen. Ein grundsätzliches Problem schwirrt ihm durch den Kopf: Was machen wir in den drei Monaten der Überfahrt, in denen nur die Ozeanologen und Meteorologen zu tun haben? Freizeiteinrichtungen wird es an Bord genug geben, doch der Kopf will auch mit Arbeit ausgelastet sein. Chris wird sich darum bemühen, Daten statistisch weiter auszuwerten, die er in seiner Doktorarbeit gesammelt hat. Die Bodenkundler werden sich einen Teil ihrer Zeit damit beschäftigen können, die Proben der Meeressonden auszuwerten. Nun, die werden schon etwas finden, das wird schon gehen. Als es sechs Uhr wird, machen die beiden Kollegen Feierabend. Morgen steht noch eine lange Pressekonferenz bevor, sie haben sich gut darauf vorbereitet, jetzt ist Zeit, etwas trinken zu gehen. II. 40
Vielleicht waren das doch ein paar Bier zuviel, die wir da gestern getrunken haben, denkt Chris, als er am Morgen vor der Pressekonferenz aufsteht. Im dröhnt zwar weniger der Schädel, aber er verspürt einen erheblichen Bedarf an Flüssigkeit. Du weißt wenigstens noch, wie du nach Hause gekommen bist, zu Fuß um drei Uhr. Aber du bist auch schon aufrechter gegangen... Jetzt ist es acht, und du mußt aus den Federn. Der Blick nach draußen zeigt gutes Wetter, der Wetterbericht hat für heute Temperaturen bis zu 30° angesagt. Na, das kann ja heute Mittag eine heiße Pressekonferenz geben! Chris geht in die Küche und setzt die Kaffeemaschine in Gang. Es hat schon seine Vorteile, Mitarbeiter in einem Ministerium zu sein, denn für dieses Apartment in Randlage zur Innenstadt muß er keine müde Mark bezahlen, das ist eine Dienstwohnung des Ministeriums. Das Telefon weckt ihn aus seinen Betrachtungen. Es ist Michael, er hat ähnliche Probleme nach der kurzen Nacht, und er will wissen, ob die Pressekonferenz nach dem Muster ablaufen wird, wie sie es durchgesprochen hatten. Am Telefon gehen sie kurz die wichtigsten Stichpunkte durch, Änderungen scheinen nicht mehr nötig zu sein. Man wird das Projekt kurz vorstellen; der Ministerialdirektor, der dem Minister das Projekt zur Genehmigung vorgelegt hatte, wird auch anwesend sein. Mit dem Gedanken an häßliche Zwischenfragen setzt sich Chris an den Tisch und schneidet ein Brötchen auf. Die Pressekonferenz ist für elf Uhr angesetzt, um zehn sind alle Beteiligten anwesend, um sich gemeinsam auf die Fragen der Wissenschaftsreporter vorzubereiten. Chris begrüßt den Ministerialdirektor, setzt sich in die Runde der Leute, die gleich Rede und Antwort stehen müssen. Gerd als Leiter der Biologischen Abteilung und Michael als Leiter der Ozeanologen und Meteorologen werden den Journalisten Auskunft geben, und die Presseberichte der letzten Wochen lassen die Vermutung deutlich werden, daß es unangenehme Zwischenfragen geben wird. 41
Dann ist es soweit, die Meute von Journalisten ist versammelt, und die vier Vertreter des Projekts setzen sich am Kopfende des Saales hinter einem breiten Tisch auf ihre Plätze. Als erster begrüßt der Ministerialdirektor die anwesenden Journalisten, dann übergibt er das Wort an Chris, der in kurzen Worten seine Idee zu dem Vorhaben und die technischen Details der Ausführung erläutert. Und er nimmt auch dazu Stellung, was das ganze Projekt kosten wird. Im Anschluß daran erzählen die drei Vertreter der Forschungsbereiche über die Forschungsvorhaben, die sie durchzuführen beabsichtigen. Nach rund 20 Minuten der Rede sind die Journalisten an der Reihe, Fragen zu stellen. "Herr Kolon, das ganze Projekt wird eine Stange Geld kosten. Welchen Nutzen versprechen Sie sich davon angesichts der schwierigen Wirtschaftssituation in unserem Land?" "Nun, auf der einen Seite beschäftigen wir jetzt im Moment bereits 500 Menschen auf der Werft, auf der unser Schiff gebaut wird. Dazu kommen die Zulieferer, die für die Ausrüstung des Schiffs verantwortlich sind. Was den Nutzen des Projekts angeht, da bin ich zuversichtlich, daß sich die Kosten um ein vielfaches rentieren werden, denn wir rechnen damit, reiche Bodenschätze und günstige Bedingungen für die Landwirtschaft vorzufinden." "Wie halten Sie es mit dem Umweltschutz? Wir haben unseren Kontinent innerhalb von 150 Jahren kaputt gekriegt, und wie soll es dann auf dem neuen Kontinent aussehen - soll der in kürzerer Zeit so katastrophal aussehen, wie es das hier tut?" "Nein, wir haben uns gesagt, daß gesetzliche Regelungen nötig sein werden, damit der neue Kontinent nicht genauso ruiniert wird, wie es hier der Fall ist." "Haben Sie da konkrete Maßnahmen ergriffen?" "In der letzten Woche haben die Staaten, die sich an dem Vorhaben beteiligen, eine Absichtserklärung unterschrieben, in der der gesetzliche Rahmen 42
festgelegt wurde, nach dem der Naturschutz höchste Priorität hat." "Auf der anderen Seite haben Sie private Investoren zugelassen, die das Projekt bezuschussen. Ist es nicht so, daß es für diese Firmen Ausnahmegenehmigungen gibt?" "Nein. Wir müssen uns alle daran halten, daß wir das neue Stück Erde nicht zerstören dürfen." "Und wer wird das kontrollieren?" "Dafür wird eine Regierungsstelle zuständig sein, die die Oberaufsicht über alle Vorhaben privater Investoren durchführen wird." "Wie sieht es mit der Beteiligung der Länder der Dritten Welt aus? Werden diese Staaten auch bei diesem Vorhaben vor der Tür stehen, wie sie es in den letzten Jahren immer getan haben?" "Gute Frage. Wir können die Frage der Beteiligung aller Staaten nicht lösen, bevor wir nicht geklärt haben, was wir da überhaupt für ein Land vor uns haben. Das ist eine Frage, die wir erst lösen können, wenn wir von der Reise zurückkehren." "Aber wird es dann für die armen Länder nicht zu spät sein, wenn der Zug schon abgefahren ist?" "Wir haben uns bereits mit Vertretern aller Regierungen in Verbindung gesetzt, und in den nächsten Wochen ist eine Konferenz geplant, auf der diese Frage erörtert werden und auf der die Beteiligung und die Ansprüche der Länder der sogenannten Dritten Welt festgeschrieben werden sollen. "Werden Sie sich während der Fahrt mit Problemen des Umweltschutzes auseinandersetzen? Konkret, werden Sie die Umweltverschmutzung auf dem neuen Kontinent messen?" "Wir werden während der gesamten Fahrt Messungen der Ozonschicht und der CO2-Emissionen vornehmen. 43
Außerdem werden wir die Bodenproben auf dem neuen Kontinent auch auf Umweltgifte analysieren." "Welche Maßnahmen haben Sie getroffen, damit das Schiff selbst nicht umweltschädigend wirkt?" "Nun, zum einen werden die Abfälle gesammelt, aufbereitet oder verbrannt. Zum anderen haben wir beispielsweise die Maschinen mit Rußfiltern versehen, um die Emissionen gering halten zu können. Außerdem hat das Schiff einen Doppelrumpf, damit uns nicht bei einem Schaden an der Bordwand Treibstoff in die See ausläuft." "Herr Kolon, Sie haben dieses Projekt ins Leben gerufen. Werden Sie der wissenschaftliche Leiter der Expedition sein?" "Nein, zumindest nicht allein. Wir haben drei Forschungsbereiche, deren Leiter hier sitzen. Ich selbst leite den Bereich Geographie, Geologie und Bodenkunde. Herr Gerd Ramms leitet den Bereich Biologie, Herr Michael Schwamm den Bereich Ozeanologie und Meteorologie. Die Gesamtleitung der wissenschaftlichen Arbeit liegt bei uns Dreien, wir werden darüber gemeinsam entscheiden müssen." "Wo werden die Forschungsschwerpunkte des Projekts liegen?" "Oh, das zu erklären, würde jetzt zu lange dauern. Darf ich Sie an das Paper verweisen, daß wir zu Beginn der Konferenz haben austeilen lassen? Da stehen kurze Informationen zu allen Projekten 'drin." Für den Moment herrscht Ruhe im Saal, und der Ministerialdirektor nutzt die Gelegenheit, um die Pressekonferenz zu beenden. Zehn Minuten später sind die drei Männer wieder allein, und Chris atmet auf. "Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, ich dachte schon, die würden uns in der Luft zerreißen." "Das haben sie nicht getan. Wir haben uns gut geschlagen." 44
"Ich bin auf das Echo gespannt, das wir morgen in der Zeitung haben werden." "Und vor allem darauf, was die zum Thema Umweltschutz sagen. Das ist Kritikpunkt Nummer eins, noch vor dem Geld, was wir ausgeben." "Natürlich muß es das sein, schließlich wissen wir alle, wie wir unsere alte Welt kaputt gemacht haben. Ich denke, das es richtig ist, das Bewußtsein der Bevölkerung dafür zu schärfen. Ich hab' das Projekt nicht angeleiert, damit wir da drüben alles kaputt machen können." "Und dabei wissen wir noch gar nicht, was uns da drüben erwartet." "Das ist ja der Reiz an der ganzen Sache." Es geht auf Mittag zu, und die drei Männer beschließen gemeinsam Essen zu gehen. Dabei reden sie über die Pressekonferenz, und schließlich verständigen sie sich über das weitere Vorgehen in der Öffentlichkeitsarbeit zu der Expedition. Während sie ins gemeinsame Büro zurückfahren, berichtet Chris, daß er morgen zu dem Flugzeughersteller fahren wird, der die Flugschrauber herstellt, mit denen das Schiff ausgerüstet sein wird. III. Als Chris aus dem Schlafwagen des Zuges, in dem er die Nacht verbracht hatte, aussteigt, fühlt er sich aufgedreht, denn er hat diese Nacht ganze vier Stunden geschlafen. Ständig hatte es irgendwelche Störungen gegeben, die ihn erst am frühen Morgen einschlafen ließen, zudem waren seine Gedanken ständig um die Vorbereitungen zu der Expedition gekreist. Er hatte am Abend Arbeit an seinem Laptop erledigt, hatte sich Notizen gemacht, was er alles mit den Leuten der Firma durchsprechen müsse, von der sie die Flugzeuge kaufen wollten, und hatte in der Nacht nicht abschalten können. Vielleicht hätte ich mir noch ein Glas Whisky trinken sollen, dann hätte ich besser geschlafen, denkt er. 45
Es ist noch reichlich Zeit bis zu dem Termin. Er kennt die Stadt im Süden des Landes, und es würde ihn reizen, einige touristische und kulturelle Brennpunkte aufzusuchen, doch er denkt erst einmal daran, wo er frühstücken gehen könnte. In seinem Gehirn kreisen die Bilder, wo er früher eingekehrt ist, dann kommt ihm ein Café in Erinnerung, von dem er aus der Zeit seines Studiums wußte, daß das Publikum dort gemischt aus Studenten, Kulturschaffenden und Freaks bestand. Trotz Lederjacke, bedruckter Hose und modischer Frisur war er sich hier bei mehreren Besuchen zu wenig durchgestylt vorgekommen. Da kannst du frühstücken, also mach dich auf den Weg. Chris packt die Tasche mit Laptop, Wäsche und Toilettensachen unter den Arm und schlendert durch die Innenstadt, weg vom Bahnhof und aus der Innenstadt heraus an deren Rand in Richtung des Cafés, in dem er zu frühstücken gedenkt. Nach einem Fußmarsch von zwanzig Minuten, bei dem er immer wieder stehengeblieben ist und sich Fassaden, Plätze und Straßen angesehen hat, erreicht er das Café. Er tritt ein, sieht sich um und findet mehrere freie Tische, an die er sich setzen könnte. Entscheidet er sich für den Tisch, der direkt am Fenster steht und von dem aus er die beste Aussicht auf die Straße hat. Nach einer Viertelstunde hat er das komplette Frühstück vor sich auf dem Tisch stehen, schneidet das zweite Brötchen auf und hämmert auf dem Ei herum. Er ist in das Essen und in den Teil seiner Zeitung vertieft, die er vor sich liegen hat, als die Tür neben ihm aufgeht und eine schlanke langhaarige Frau den Raum betritt. Chris sieht zu ihr hin, sieht wirklich sehr gut aus, die Frau, die er etwas jünger als sich selbst schätzt, setzt sich an seinen Nachbartisch. Irgendwoher kennst du das Gesicht. Ein Model? Hast du sie in einer Zeitschrift gesehen? Auf einem Werbeplakat? Nein, das ist es alles nicht, du kennst dieses weibliche Wesen als Ganzes, nicht nur als Foto. Und da fällt es ihm wieder ein. Es ist jetzt gut vier Jahre her, es war in der Zeit, als du dein Diplom gemacht hast, da bist du mit einem Freund, der seit Jahren hier wohnte 46
und Musik gemacht hatte, durch die Clubs und Kneipen der Stadt gezogen. Und da hast du die Sängerin einer Band kennengelernt, die dich mit ihrer warmen Stimme gefesselt hat. Du hattest sie angesprochen, du hast ihr einige Stücke auf der Gitarre vorgespielt, als du noch besser spielen konntest und regelmäßig geübt hast, und sie hatten ihr gefallen, ihr hattet euch beide gefallen, und ihr hattet eine kurze, aber stürmische Affäre miteinander. Ist sie es wirklich? Chris spürt sein Herz vor Aufregung schlagen, er hat sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen, er will jetzt wissen, ob sie es ist. Also legt er sein Brötchen beiseite und rückt auf dem Stuhl zu ihr hin. "Sylvia?" Die Frau am Nebentisch wendet den Kopf, sieht Chris erstaunt an. Sie scheint ihn nicht zu erkennen, aber er sieht auch wesentlich anders aus als vor vier Jahren. "Hast du vor vier Jahren einmal bei "Heads Of Four" gesungen?" "Ja... Kennen wir uns?" "Erinnerst du sich an einen Bassisten, denn du vor vier Jahren kennengelernt hast? In einer Woche im Frühling, vor vier Jahren?" "Sag mal, bist du, Moment... Chris? Chris Kolon?" "Genau." "He, was machst du denn hier?" "Ich bin beruflich hier, ich hab gleich 'nen Termin. Und du?" "Ich hatte keine Lust, bei mir zu frühstücken, deshalb bin ich hier. Machst du noch Musik?"
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"Nein, das ist alles eingeschlafen, ich hab' meinen Doktor gemacht und hab' dann zuviel zu tun gehabt, um noch 'was anderes zu machen." "Schade, du warst echt gut. Hat mir gut gefallen, was du gemacht hast." "Danke. Und du, hast du noch 'was mit der Scene zu tun?" "Ich halte mich so über Wasser. Im Moment hab' ich 'ne neue Gruppe, singe ab und zu für Werbespots und mache Plattenkritiken für eine Stadtzeitschrift." "Hört sich gut an." "Ich weiß, aber du hast immer zuwenig Geld." "Ja, so ist mir das auch gegangen... Jetzt sieht's anders aus, jetzt bin ich beim Staat in Arbeit und Brot." "So? Was machst du denn jetzt?" "Hast du schon von der Expedition gelesen, die im nächsten Jahr zu dem neuen Kontinent führen soll?" "Ich hab' davon gehört." "Das war meine Idee, und ich bin mit der Organisation der ganzen Sache beauftragt." "Nein!" "Doch!" "Das darf doch nicht wahr sein! Du hast dich doch früher immer gegen solche Sachen gewandt, du wolltest doch im Umweltschutz arbeiten." "Richtig, aber da ist nix 'draus geworden." "Und jetzt willst du da drüben auch noch alles ruinieren? Wir haben doch unsere Welt hier schon genug zerstört, da können wir nicht die neue Welt auch noch kaputtmachen." 48
"Ja, du hast ja recht, deshalb will ich auch, daß der neue Kontinent vom Staat entdeckt wird, bevor irgendwelche Privatleute das tun und dann erst recht alles kaputt machen. Außerdem, wir können dafür sorgen, daß Gesetze geschaffen und kontrolliert werden, damit das nicht passiert." "Aber müssen wir denn Kontinent entdecken?"
unbedingt
auch
diesen
"Es ist an der Zeit, die Technologie ist da, und wenn ich das jetzt nicht mache, dann wird jemand anders das tun, dem der Umweltschutz egal ist." "Ich weiß nicht, ich glaub' nicht, daß es so einfach geht, daß sich die ganze Wirtschaft da 'reinreden läßt und nicht nur aufs Geld sieht." "Sie müssen, sonst muß das ganze Projekt scheitern. Es gibt da bereits einen Gesetzentwurf, in dem das ganze geregelt werden soll." "Und du glaubst wirklich, daß sich alle daran halten?" "Wir müssen Druck machen." Chris erzählt weitere Einzelheiten über das Projekt, dann schildert ihm Sylvia, was sie in den letzten vier Jahren, seitdem sie sich aus den Augen verloren hatten, erlebt hat. Es sah eine Zeitlang sehr übel für sie aus, ohne geregeltes Einkommen drohte sie in schmutzige Geschäfte und in die Prostitution abzurutschen, nachdem sich ihre alte Gruppe mit einem Haufen Schulden aufgelöst hatte. Sie hatte Depressionen, stürzte sich in den Alkohol und versuchte mehrfach, sich das Leben zu nehmen. Bei einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik sah sie, wie tief sie abrutschen könnte, wenn sie so weiter macht - und der Anblick der Menschen, die als Abbild ihrer selbst unter Psychopharmaka und nach Suchtkarriere und Suizidversuchen dahinvegetierten, gab ihr die Energie, es nicht so weit kommen zu lassen. Nach ihrer Entlassung besorgte sie sich einen geregelten Job, trainierte ihre Stimmbänder und nahm wieder Verbindung zu Leuten aus der Scene auf, die sie von 49
früher her kannte. Seit zwei Jahren versuchte sie nun, sich eine Karriere als Sängerin aufzubauen, hatte zudem damit angefangen, intensiv Gitarre zu lernen, doch der Erfolg will sich nicht einstellen. Nachdenklich sieht Chris diese Frau an, sie sieht nicht danach aus, als ob sie soviel mitgemacht hätte. Nur die Falten um die Augen, die sind tiefer als zu der Zeit, da sie Mitte zwanzig war. Diese Jahre seines Lebens ziehen an ihm vorbei, diese Frau bringt ihn zurück in die Zeit, als er selber hart an einer Karriere als Musiker gearbeitet hatte. Dann sieht er auf die Uhr und stellt fest, daß er dringend zu seinem Termin muß. "Verdammt, ich muß los. Sag mal, bist du telefonisch zu erreichen?" "Sicher, ich geb' dir meine Nummer..." Sie schreibt ihre Telefonnummer auf einen Bierdeckel. Ich brauche heute Abend noch nicht zurück, sollen wir nicht noch 'was unternehmen?" "Oh, das wär' schön. Ab wann hast du denn Zeit?" "Weiß ich noch nicht genau, aber am Nachmittag dürfte alles vorbei sein. Ich ruf' dich an, ja?" "Ich bin heute Nachmittag zu Hause, ich muß noch 'ne Plattenkritik machen. Ich freu' mich schon 'drauf." "Ich auch. Mach's gut!" Chris steht auf, Sylvia streicht mit der Hand leicht über seinen Handrücken. Er fühlt sich irritiert, so hatte es vor vier Jahren auch angefangen. An der Theke bezahlt er sein Frühstück und läßt sich den Weg zum nächsten Taxistand erklären. Schließlich dreht er sich in der Tür um, Sylvia sieht ihm nach, und sie hat wieder dieses Lächeln auf den Lippen, das ihn vor vier Jahren so fasziniert hatte. Was ist denn vor vier Jahren eigentlich passiert? Chris ist verwirrt, er versucht die Ereignisse zusammen zu 50
bringen. Sie hatten sich gestritten, und sie hatte ihn 'rausgeschmissen, er war abgereist, weil er keine Möglichkeit mehr hatte, in dieser Stadt zu schlafen. Kaum war ein Tag vergangen, da erreichte ihn ein Brief von ihr, in dem sie sich entschuldigte und versprach, bei ihm vorbei zu kommen. Am nächsten Tag traf sie bei ihm ein, und es wurde eine kurze Nacht, in der sie kaum zum Schlafen kamen. Dann ging er mit seiner Gruppe auf eine Kurztournee, und als er zurückkam, war sie nicht mehr in seiner Stadt. Einige Monate hatten sie sich noch geschrieben, doch dann lernte Chris seine jetzige Freundin kennen, und die Briefe kamen von beiden Seiten seltener. Zu dem Zeitpunkt, als Sylvia abstürzte, brach der Kontakt ab. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört, und nun sieht er sie wieder... Er hatte die ganze Sache verdrängt, aber er hatte sie nicht vergessen. Im Gedanken läuft er am Taxistand vorbei, dreht sich um und steigt in das erste Fahrzeug. Zehn Minuten später ist er im Gebäude der Firma, in dem man ihm technische Details der Flugzeuge vorführen will, die später einmal das Flugdeck des Schiffs bevölkern sollen. Chris ist gerade noch pünktlich, als er den Vorführraum der Firma betritt. Dort begrüßt ihn der Chefingenieur der Entwicklungsabteilung, mit dem Chris telefonisch mehrfach gesprochen hatte. Die beiden Männer tauschen Höflichkeitsfloskeln aus, Chris wird gebeten, sich zu setzen, um sich einen Film über das Flugzeug anzusehen. Eine Sekretärin bringt ihm eine Tasse Kaffee, und er wundert sich zum wiederholten Male, warum die Frauen in dieser Position nicht nur meist besonders hübsch aussehen, sondern auch wie diese mit einem knappen Mini und Nylons aufreizend gekleidet sind. Sex sells. Dann beginnt der Film. Nun bekommt Chris die Vorteile des Flugzeugtyps zu sehen, den er für die Expedition ausgewählt hat. In einem Trickfilm wird der Typ des Flugschraubers mit Hubschraubern und konventionellen Flugzeugen verglichen. Das besondere an diesem Typ Flugzeug ist, daß sich am Ende der kurzen Tragflächen Rotoren befinden, die beim Start waagrecht wie bei einem Hubschrauber stehen, danach aber um 90° nach vorne 51
gekippt werden können. Die Vorteile liegen auf der Hand: Auf der einen Seite kann ein Flugzeug dieses Typs senkrecht starten und landen, auf der anderen Seite kann es schneller und sparsamer fliegen als ein Hubschrauber. Nun, das wußte Chris auch schon vorher, aber der Film ist trotzdem eine nette Geste. Nach einer halben Stunde, als Chris hart gegen den Schlaf ankämpfen muß, endet der Film. Was nun folgt, ist eine Unterredung mit den Ingenieuren, die dafür verantwortlich sein werden, daß die Flugzeuge an Bord des Schiffs optimal auf ihren Verwendungszweck zugeschnitten sein werden. Chris erklärt das Anforderungsprofil an die Flugzeuge, man tauscht längere Zeit Daten und Zahlen aus, rechnet vieles durch, und nach zwei Stunden liegen die Parameter für die vier Maschinen fest. Sie werden eine Reichweite von 1500 Seemeilen, mit Zusatztanks bis zu 2500 Seemeilen haben, dann aber auf Kosten der Zuladung von 2 Tonnen. Auf dem Flugdeck wird es ein Katapult geben, so daß die Flugzeuge auch mit um 45° gekippten Rotoren werden starten können und sich die Nutzlast damit auf 5 Tonnen erhöht. Die Spitzengeschwindigkeit wird bei 550 km/h liegen, und die Flugzeuge werden eine Kabine haben, die 1,80 Meter breit wie hoch und 4 Meter lang sein wird. In der Kabine wird man später Menschen und Material transportieren können, auch die Luftbildkameras finden darin Platz. Zudem wird man an einer Seilwinde unter dem Bauch der Maschinen Lasten transportieren können, so daß wie bei Hubschraubern Landungen nicht nötig sind. Chris ist mit den Ergebnissen der Besprechung zufrieden, und man macht ihm das Angebot, das Flugzeug, das er bisher nur auf Fotos und im Film gesehen hat, im Original sehen zu können. Eine Viertelstunde später sitzt er neben dem Chefingenieur auf dem Rücksitz eines Direktionsfahrzeuges und streicht mit der Hand über das Leder, probiert an der Klappe vor seinem Platz herum und spielt mit der elektrischen Sitzverstellung. Schon eine Welt für sich, so
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ein Auto. Mit meinem Job kann ich mir sowas nie leisten, aber warum sollte ich auch. Nach einer Stunde erreichen sie das Testgelände der Firma und fahren bis zu einem Hangar, vor dem beide Männer aussteigen. Nur ein paar Schritte, und sie stehen vor dem Flugzeug. Sie sieht gut aus, denkt Chris. Er streicht über die Außenhaut - fühlt sich solide an. Dann geht er um das Flugzeug herum, sieht sich die Tragflächen und die Triebwerke an. Er könne damit auch geflogen werden, sagt man ihm, und das Angebot nimmt er gerne an. Zwanzig Minuten später sitzt Chris in Overall und Helm im Copilotensitz der Pilotenkanzel. Verdammt modern, in der Mitte der Konsole ein Bildschirm, auf dem Daten des Flugbetriebs in Tabellenform angezeigt werden, darüber der künstliche Horizont. Der Testpilot erklärt Chris, wie er sich anschnallen muß, dann startet er die Motoren. Auf dem Flugfeld beginnen die Mäntel der Männer, die dort herumstehen, zu flattern. Schließlich sind die Turbinen warmgelaufen, der Pilot fragt Chris, ob er bereit ist, schiebt die Schubhebel nach vorn. Der Lärm in der Kabine schwillt beträchtlich an, und Chris spürt, daß die Maschine langsam vom Boden abhebt. Die Schubhebel sind nun ganz vorn, und die Maschine gewinnt erstaunlich schnell an Höhe. Nun, wenn die Motoren so stark ausgelegt sind, dann werden sie auch eine Menge Lasten schleppen können. Und eine Menge Sprit fressen. Der Pilot kippt die Rotoren nach vorn, ohne den Schub zurückzunehmen, und der Steigflug verwandelt sich in einen Horizontalflug; dann zieht er die Nase nach oben und läßt die Maschine weiter steigen. Wirklich gut motorisiert, denkt Chris. Er sieht auf die Tankanzeige, sie steht auf halbvoll, bei vollem Tank wird sie etwas träger sein. Nun nimmt der Pilot den Schub zurück, und in der Kabine wird es merklich ruhiger. Ob Chris die Flugeigenschaften der Maschine sehen wolle? Er antwortet, daß er davon nicht kotzen will. Der Pilot steuert eine Kurvenkombination an, und Chris registriert zufrieden, wie schnell und leichtfüßig die Maschine auf die Steuerbefehle reagiert. Es folgt eine Rolle, Chris 53
schluckt, ein Looping, und er schreit den Piloten an, weniger halsbrecherisch zu fliegen. Wir haben die Sicherheitsreserven dieser Konstruktion bei weitem noch nicht angetastet, bekommt er zu hören. Chris will es glauben, um Nerven und Magen zu beruhigen. Als die Maschine wieder horizontal fliegt, schiebt der Pilot die Schubhebel nach vorn und geht in einen Steigflug, Chris kontrolliert, wie hoch sie steigen. Bei 15000 Fuß ist Schluß, der Pilot zieht die Nase in den Horizontalflug und erklärt Chris, daß knapp 18000 Fuß 'drin seien, aber wegen der Aufteilung des Flugraums nicht erlaubt sind. Die Maschine ist bis zum Schluß gut gestiegen ist, Chris findet die Angabe glaubhaft. Der Schubhebel bleibt vorn, das Flugzeug gewinnt an Geschwindigkeit. Bei knapp 300 Knoten ist Schluß, ein guter Wert, den kaum ein Hubschrauber erreicht. Mit einem Druck auf die Steuersäule leitet der Pilot einen 60°-Sturzflug ein, und Chris schluckt, beobachtet dabei gespannt den Geschwindigkeitsmesser. Bei 400 Knoten fragt er den Piloten, wie schnell er denn noch werden wolle. Er bekommt zur Antwort, daß man Reserven bis 450 Knoten habe, so schnell könne er fliegen. Chris bittet ihn, das nicht zu versuchen. Er stößt sauer auf. Die Maschine dreht, der Pilot leitet den Rückflug ein. Chris zieht sein Sonnenschutzvisier herunter und blinzelt in die Sonne, sieht sich im Cockpit um. Auf dem Bildschirm ruft er die Anzeige ab, wieviel sie in der letzten halben Stunde verbraucht haben, und er ist erstaunt, wie sparsam die Maschine ist. Nun, die Angabe wird schon richtig sein, das Militär hatte verlangt, daß die Maschine sparsam mit dem Sprit umgehen sollte. Er sieht sich die Landschaft an, wirft einen Blick auf das Gebirge, das sich weiter im Süden erhebt, dann zieht der Pilot eine Schleife, die sie in die Anflugschneise auf den Flugplatz bringt. Der letzte Akt ist die Landung, der Pilot kippt die Rotoren, erhöht den Schub, um in den Schwebezustand zu gehen. Plötzlich fliegt die Maschine nach links, dann rückwärts. Ah ja, die gleichen Spielchen wie bei einem 54
Hubschrauber. Schließlich schweben sie über den Landepunkt, neben dem schon der Ingenieur steht, und setzen sanft auf. Zufrieden steigt Chris aus. "Wie hat's Ihnen gefallen, Herr Kolon?" "Eine gute Maschine. Aber mich würde interessieren, wie sie sich beladen fliegt." "Etwas träger, aber nicht viel anders." "Nun, wir werden sehen... Ich bin jedenfalls überrascht, wie schnell sie steigt." "Wir haben die Motoren stark dimensionieren müssen, damit sie auch beladen gut vom Boden wegkommt." "Und wie sieht's mit der Sparsamkeit aus? Wenn die Motoren so stark sind, und das weisen die Datenblätter ja auch aus, dann können sie nicht sehr sparsam sein." "Gut, wenn Sie die ganze Zeit mit Vollschub fliegen, dann frißt die Maschine natürlich den entsprechenden Sprit, aber wenn sie in den Teillastbetrieb gehen, dann fliegen sie wesentlich sparsamer. Wir haben bei der Entwicklung der Motoren darauf geachtet, daß sie bei Teillast weniger verbrauchen." "Ich hoffe, das stimmt. Nun, ich denke, das war's dann für heute, ich habe alles erledigt, was ich wollte." "Werden Sie die Maschinen bestellen?" "Ja. Es gibt nichts Vergleichbares. Auf Hubschrauber will ich nicht ausweichen, weil wir Flugzeuge für Langstrecken brauchen, und konventionelle Flugzeuge können nicht senkrecht starten und landen. "Nun, wenn Sie zufrieden sind, können wir fahren. Oder möchten Sie noch etwas sehen?" Nein, die Vorführung war überzeugend, außerdem hab' ich heute noch eine Menge zu erledigen. Es ist mir ganz recht, wenn wir in die Stadt zurückfahren."
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Die beiden Männer steigen in die Limousine, verlassen das Firmengelände und erreichen eine Stunde später das Verwaltungsgebäude der Firma. Chris unterhält sich mit dem Ingenieur, doch er fühlt sich nicht richtig bei der Sache, er muß ständig an Sylvia denken. Warum mußte ich ihr begegnen? Es war alles so klar und einfach! Jetzt ist die Vergangenheit wieder da. Er verabschiedet sich von den Leuten, mit denen er zu tun hatte, und verläßt zu Fuß das Gebäude. Nach fünf Minuten findet er eine Telefonzelle. Er sieht auf die Uhr, es ist halb sieben, und sein Magen knurrt, zum ersten Mal seit den wilden Flugmanövern. In der Telefonzelle sucht er in seiner Tasche den Bierdeckel und wählt Sylvias Nummer. Sein Herz schlägt nervös, als er das Klingeln hört. Beim Flug warst du so cool, und jetzt bekommst du feuchte Hände? Noch kannst du auflegen, noch kannst du alles sein lassen, bevor dich diese Frau wieder in eine Krise stürzt, wie sie es vor vier Jahren getan hat... Doch dann ist es zu spät, sie hebt ab. "Ja?" "Sylvia, bist du das? Hier ist Chris." "Oh hallo, ich hatte gar nicht mehr gedacht, daß du dich noch meldest... Wo bist du denn jetzt?" "Irgendwo am Rand der Stadtautobahn. Was sollen wir machen, kann ich zu Dir kommen?" "Ja, komm' doch, ich freu' mich 'drauf. Weißt du, wie du zu mir kommst?" "Nein."" Hm, kannst du ein Taxi nehmen?" "Ja, das geht jetzt sogar auf Spesen. "Na großartig, dann geb' ich dir meine Adresse."
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Er schreibt sich Straße und Nummer auf, verabschiedet sich und sucht den nächsten Taxistand. Nach fünf Minuten sitzt er wieder in einem Taxi. Während der Fahrt sieht er sich an, wie sich die Stadt in den letzten vier Jahren verändert hat. Eine ganze Menge Neubauten, stellt er fest. Dann erreichen sie die Straße, in der Sylvia wohnt. Chris bezahlt das Taxi, läßt sich eine Quittung geben und klingelt bei ihr. Auf dem Klingelschild steht nur ihr Name, sie scheint allein zu wohnen. In schnellem Schritt steigt er die Treppen zur dritten Etage hinauf, bis er in der Tür ihrer Wohnung steht. "Sylvia, bist du hier?" "Ja, im Wohnzimmer." Chris geht durch die Diele und sieht sie auf dem Boden im Wohnzimmer sitzen. Sie sitzt vor ihrer Anlage und hat den Kopfhörer im Nacken, schreibt gerade Notizen auf ein Blatt. "Ich bin grad' dabei, die Plattenkritik zu machen. Weißt du, wer das ist?" "Nein, wer denn?" Sie betätigt den Schalter für die Boxen, Chris hört gespannt auf die Instrumente des langsamen Stückes, das da läuft, und dann ertönt die Stimme dieser italienischen Sängerin, die sie beide gern gemocht hatten und die Sylvia ähnlich sah. Warum gerade jetzt? Die letzten vier Jahre verschwimmen, sie sind wieder in dieser Woche im Frühling. Chris setzt sich neben sie, er sieht sich das Cover an und sieht sie dann an. Sie sind sich ähnlich, ohne Zweifel. Lange bleibt Sylvias Blick auf ihm liegen, als er sich das Cover ansieht, in ihren Liebesnächten hatten sie oft Musik von ihr gehört. Er spürt seinen Magen; seit dem Frühstück hat er kaum etwas gegessen. Eine Gelegenheit für ihn, Luft in die angespannte Situation zu bringen. 57
"Du, mir knurrt wahnsinnig der Magen, sollen wir nicht 'was Essen gehen? Ich lad' dich ein." "Seit wann bist du so großzügig?" "Ich hab' 'nen guten Job, und ich kann's auf Spesen machen." "Dann kann ich dir das ja nicht abschlagen." Sylvia erhebt sich, Chris beobachtet, wie sie aufsteht. Sie scheint keinen Tag älter geworden zu sein, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hat. Dann nimmt sie ihren Schlüssel, zieht sich eine Jacke über und folgt Chris die Treppe hinunter. Weil sie sich in der Gastronomie des Viertels besser auskennt, führt sie ihn zu einer Pizzeria, in der sie lange sitzen und essen. Und dabei eine Menge Wein trinken, ihre Stimmung wird ausgelassener. Chris hat den Eindruck, es sei wirklich wie vor vier Jahren, glaubt einen Traum zu leben. In den letzten zwei Jahren hat er sich so stark in seine Arbeit und in das Projekt der Expedition hereingesteigert, daß er den Rest seines Lebens weitgehend vergessen hatte. Nun sieht alles, was er in den zwei Jahren getan hatte, unwirklich aus. Diese Frau ändert sein Weltbild. Und was macht er hier eigentlich gerade? Zu Hause hast du deine Freundin sitzen, mit der du seit Jahren zusammen bist, und jetzt ist da diese Frau, die alles umwirft? Er ist verwirrt. Es geht auf elf Uhr zu, als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstolpern. Kichernd steckt Sylvia den Schlüssel in das Schloß, und lärmend öffnet sie die Tür dabei haben sie beide doch nicht soviel Wein getrunken, daß sie nun vollkommen betrunken sein sollten. Oder? Chris geht durch die Tür, tritt hinter sie und zieht ihr gentlemanlike die Jacke aus. Als er sie aufhängt, wendet sie sich um und streicht ihm über den Rücken. Es hat ihm schon seit Jahren nicht mehr so gekribbelt, wenn eine Frau zärtlich wurde. Chris fühlt sich gefangen. Er dreht sich um, und dann hört er ihre Stimme in seinem Ohr. "Du, kennst du noch deine eigenen Stücke? Ich würd' gern' was von dir singen." 58
"Ich müßte sie noch zusammenkriegen... Hast du 'ne Gitarre hier?" "Hab ich!" Sie zieht ihn ins Wohnzimmer, dort steht alles, was die beiden benötigen. Sylvia reicht ihm die Konzertgitarre, Chris prüft die Stimmung, sie ist korrekt. Dann greift er ein Stück, von dem er wußte, daß sie es gerne gehört hatte. In dieser Woche vor vier Jahren hatten sie einen Text dazu geschrieben, Sylvia singt ihn zu Chris' Spiel. Er bewundert, was sie an ihrer Stimme getan hatte, sie klingt wärmer als früher. Es vergeht eine Stunde, in der sie viele Lieder ausprobieren, in der Chris Duette mit ihr singt und Sylvia ihm zeigt, daß sie mit dem Instrument umzugehen gelernt hat. Als Mitternacht durch ist, legt Sylvia das Instrument beiseite und holt eine Flasche Wein aus der Küche. In der Zwischenzeit sieht sich Chris die Plattensammlung an und entdeckt die Platte, die sie immer aufgelegt hatten, wenn sie Liebe gemacht hatten. Er kann sich nicht wehren, er muß sie auflegen. Auf dem Cover fällt sein Blick auf das Gesicht dieser Sängerin, der Sylvia von Stimme und Aussehen her ähnelt. Als sie zurückkommt, Flasche und zwei Gläser in den Händen, legt er die Platte auf. Stumm setzt sie sich auf den Boden, sie sehen sich an, erinnern sich an die gemeinsamen Nächte Chris gehen zwei Dinge durch den Kopf: Eigentlich müßte ich den Raum jetzt verlassen, sonst schlafen wir miteinander, und wie soll ich das später meiner Freundin erklären? Und: Welchen Sinn hat denn die Expedition überhaupt, diese Frau hat alles in seinem Kopf durcheinander gebracht, hat Zweifel aufquellen lassen, die er schon beerdigt zu haben glaubte. Sie hören sich die ersten Stücke der Platte an, dann rückt Chris auf Sylvia zu und streicht ihr sanft mit den Fingern über die Nase. Der Wein tut ein Übriges, die Stimmung zu enthemmen. "Weißt du noch, wie's war, wenn wir diese Platte gehört haben?" 59
"Ich hab's nicht vergessen. War 'ne schöne Zeit." "Du hast 'ne ähnliche Stimme wie sie." "Und dann kommt mein Redakteur an und drückt mir eine Platte von ihr in die Hand. Zufall, wirklich Zufall." "Ja, wie das Leben so spielt..." "Hast du mich wiedererkannt?"
vorhin
in
dem
Café
sofort
"Ja, ich hatte mir gedacht, das muß sie sein, und hab' dich einfach angequatscht. Du hast dich kaum verändert." "Und du, du hast dich ganz schön verändert, hab' ich zuerst gedacht. Die Sache mit dieser Expedition, du hast fast nur davon erzählt." "War's so schlimm?" "Nein, aber grad' eben in der Pizzeria, da hast du kaum noch darüber geredet." "War mir auch nicht mehr so wichtig." Und jetzt fällt ihm auf, es ist ihm wirklich nicht mehr so wichtig. Zwei Jahre lang hat er nur an das Projekt gedacht, und jetzt ist es zweitrangig - diesen Abend wird er nicht mehr vergessen, da ist er sich jetzt schon sicher. Und überhaupt, bei dem, was sie jetzt erzählt, was sie jetzt tun: Hat er den richtigen Weg gewählt, hätte er nicht doch besser an seiner Karriere als Musiker weitergearbeitet? Er war sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu heben, als er an die Doktorarbeit ging, aber daran kommen ihm jetzt Zweifel. Sylvia zieht ihn zu sich heran und gibt ihm einen langen Kuß, sie hat seit langer Zeit keinen Mann mehr bei sich gehabt, mit dem sie Zärtlichkeiten austauschen konnte. Ihre letzten Affären waren Rohrkrepierer, entweder waren sie nach wenigen Wochen schon wieder vorüber, oder aber es waren Männer, die nur eine Nacht mit ihr
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verbringen wollten. Mit Chris, da hatte sie sich wohl gefühlt, und das will sie jetzt genießen. Seine Hand streicht über ihren Hals, sie zieht sich das Sweatshirt aus. Chris sieht, daß sie an ihrem Körper keinen Raubbau getrieben hat, daß sie noch die gleiche Figur wie vor vier Jahren hat. Es ist zu spät, sich zu wehren, beide verfallen in die Leidenschaft, die sie vor Jahren gepackt hatte. Chris stellt die Platte auf das erste Stück zurück. Die Sonne ist längst aufgegangen, als sie den Wecker ausstellt. Sie hatte ihn auf acht Uhr gestellt, damit sie genügend Zeit haben, gemeinsam zu frühstücken. Chris ist von dem Wecker ebenfalls wach geworden, er fühlt sich verwirrt, dann kann er sich erinnern, was in der letzten Nacht geschehen ist. Sylvia begrüßt ihn mit einem Lächeln, aber er denkt jetzt schon daran, was Sandra am Abend dazu sagen wird. Nun, er beschließt, diese Sorgen auf später zu verschieben, gibt der Frau neben sich einen Kuß. Sie zieht ihn zu sich heran, will nicht daran denken, daß er heute Abend bei einer anderen Frau sein wird. Wenn das schon die einzige gemeinsame Nacht sein sollte, dann möchte sie auch etwas davon haben. Als es neun wird, haben sie sich ausgetobt, und Sylvia steht auf, um sich zu waschen und die Kaffeemaschine in Betrieb zu setzen. Chris denkt an die Ereignisse, die sie gemeinsam erlebt haben, und er vergleicht diese Frau mit seiner Freundin. Wie hat er es bei dieser vermißt, daß sie so wenig Leidenschaft vermittelte, daß sie es als Pflichtübung ansah, wenn er mit ihr schlief, und ihn alles allein machen ließ. Alles aufgeben? Das Projekt anderen übertragen, wieder Gitarre spielen und zu Sylvia ziehen? Sie ist allein, er könnte sofort bei ihr einziehen, und die Zusammenarbeit wäre sicherlich fruchtbar. Aber ist das richtig, so zu handeln? Er weiß es nicht, er steht auf. Das Frühstück dauert lang, sie reden über die letzten Jahre. Gegen elf Uhr verabschiedet er sich, und Sylvia gibt ihm einen Kuß, der ihm lange in Erinnerung bleiben
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wird. Dann geht er hinunter auf die Straße und fährt mit einem Taxi zum Bahnhof. Während der Fahrt läßt er die letzten 24 Stunden Revue passieren. Wie denkst du eigentlich jetzt über dein eigenes Projekt? Über zwei Jahre hatte er sich in die Sache hineingesteigert, und nun scheint sie ihm so verdammt weit weg. Diese Frau hatte ihn glatte vier Jahre jünger gemacht, hatte seine Ideale und seine Ansichten von früher lebendig werden lassen, und er spürt, wie er sich innerlich gegen das Vorhaben auflehnt, das er selber iniziiert hatte. Ja, bist du denn wahnsinnig? Willst du alles zerstören, nur wegen einer Nacht? Als er in seiner Stadt ankommt und nach Hause fährt, hat er Friede mit dem wissenschaftlichen Teil seines Gewissens geschlossen. Er wird das Projekt nicht platzen lassen, aber er wird sich in den letzten sechs Monaten der Vorbereitungszeit und während der Fahrt um die Belange des Umweltschutzes bei der Expedition kümmern. Das ist in Ordnung. Aber was wird Sandra sagen? In der letzten Nacht hat er sie betrogen, und er fühlt dich deswegen schlecht, ihm ist mulmig. Irgendwie wird es schon gehen, aber du mußt es ihr sagen. Spiel' den reuigen Sünder, das bist du jetzt auch. Versuch' es zu kitten, denn du hast sie gern. Aber liebst du sie? Oder ist es nur noch die Gewöhnung der drei letzten Jahre? Er ist nicht mehr sicher, was er für die Frau empfindet, mit der er seit Jahren zusammenlebt. Vielleicht solltest du alles hinschmeißen, es ist sowieso egal. IV. Eine Woche ist seit der Nacht vergangen, die er mit Sylvia verbracht hatte. Und es war eine harte Woche: Nicht nur daß Chris mit Sandra Streit wegen des Fremdgehens hatte, er hatte auch Probleme mit seinen Kollegen bekommen, weil er das Projekt nun mit anderen Augen sieht. Nein, er wird den ganzen Kram nicht hinschmeißen, hatte er sich gesagt, aber er hatte sich in den letzten Tagen vielfach mit den Kollegen auseinandergesetzt, was den Punkt des 62
Umweltschutzes auf dem neuen Kontinent anging. Gestern Abend war Sandra wieder zu ihm gekommen, sie hatten bis um drei Uhr morgens geredet und sich wieder zusammengerauft. Und ausgerechnet an diesem Morgen mußte er eine Dienstreise unternehmen, denn für heute hatte er sich mit einem Mitarbeiter von Professor Bremer verabredet, der nun endgültig den Zuschlag für die Auswertung der Daten des geomorphologischen Teiles der Expedition erhalten hatte. Ihm zur Seite stehen sollten allerdings eine Reihe von Mitarbeitern anderer Universitäten, denn Chris widerstrebt der Gedanke, nur ein Wissenschaftler sollte sich damit profilieren können. Am Morgen fühlt er sich zu matt, um die Reise mit dem Auto zu unternehmen, ruft sich ein Taxi und macht die Strecke mit dem Zug. In der Stadt angekommen läßt er sich mit dem Bus bis zu dem Institut bringen, um mehr von der Stadt zu sehen, als er aus dem Pkw heraus könnte. Der Blick auf die Uhr zeigt ihm, daß er eine Viertelstunde zu früh ist, aber das ist ihm gleichgültig, er geht hinein und sucht das Büro des Doktors auf, mit dem er hier verabredet ist. Im dritten Stock des Gebäudes findet er das Büro des Dr. Fuzi, mit dem er seine Verabredung hat. Chris klopft an und tritt ein. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Mann in seinem Alter mit Nickelbrille, Dreitagebart und Kurzhaarfrisur. Nach einem kurzen Austausch über die wissenschaftlichen Grundlagen des Projekts verlassen beide Männer das Büro und gehen hinunter in das Erdgeschoß, in dem sich die Labors befinden. Chris sieht sich um, diese Geräte wird er auch auf dem Schiff einbauen lassen, eine Menge an Analysegeräten stehen hier herum. Dann schlendert er in den nächsten Raum, und hier findet er eine Batterie von Computern mit den dazugehörigen Ausgabegeräten vor; er stellt beruhigt fest, das eine Datenauswertung hier gut möglich sein wird. "Und was wollen Sie hier nun machen?
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"Wir können die Bodenproben, die Sie machen, ja leider nicht hier analysieren, aber wir können die gesamte statistische Auswertung hier vornehmen. "Das wäre 'ne echte Arbeitserleichterung für mich. Was haben Sie en detail für Geräte?" "Die ganzen PCs, die Sie hier sehen, sind alle an den Zentralrechner der Uni angeschlossen, als Ausgabegeräte haben wir mehrere Drucker, Plotter und auch ab dem nächsten Monat die nötigen Geräte, um Ihnen alles übermitteln zu können." "Danach wollte ich Sie fragen, das war noch offen. Wie sieht das mit der Bearbeitung der Karten aus, die wir erstellen?" "Wir haben uns da mit der kartographischen Anstalt kurzgeschlossen, die Sie beauftragt haben, und wir werden zusammenarbeiten, um die Ergebnisse auch kartographisch umsetzen zu können." "Dann nehme ich also an, daß alles klappen wird: Wir werden an Bord des Schiffs die Proben sammeln und die Luftbilder für die Karten machen, und Sie werden die Karten erstellen und die statistisch aufbereiteten Ergebnisse kartieren." "So sollte es sein." "Wieviel Leute arbeiten bei Ihnen mit?" "In Moment sind wir zu dritt, bis zu Beginn der Expedition werden wir mit acht bis zehn Mitarbeitern hier sitzen. Dazu kommen noch eine Menge Studenten, die an der Bearbeitung der Ergebnisse interessiert sind." In den folgenden zwanzig Minuten unterhält sich Chris mit seinem Kollegen von der zukünftigen Landstation über die wissenschaftlichen Analysen, die hier durchgeführt werden sollen. Zum Abschluß schlendert Chris allein durch das Institut, sieht sich die Aushänge zu den Lehrveranstaltungen an und findet, daß er hier einen lebendigeren Laden vorfindet als bei der Uni, an
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der er sechs Jahre gearbeitet hat. Befriedigt verläßt er das Gebäude und sieht sich um. Wenn ich schon 'mal hier bin, kann ich mir auch den Rest der Uni ansehen, denkt er, und macht sich auf den Weg zum Hauptgebäude. Dort angekommen sieht er sich die Plakate an, die dort an der Wand hängen. Eine rechtsradikale Studentenverbindung fordert die Vertreibung aller Ausländer aus diesem Staat, eine andere die Zwangsinhaftierung aller Schwulen und Träger langer Haare. An diesen Sachen hat sich nichts geändert, stellt er fest, es sind immer noch dieselben Leute, die das Geld haben, menschenfeindliche Propaganda zu machen .Im Foyer des Gebäudes findet in diesen Tagen eine Ausstellung zur Wohnungsnot der StudentInnen statt. Die Bilder, die dort von zu viert auf einem Zimmer zusammengepferchten Studenten, von solchen, die auf der Wiese vor dem Hauptgebäude campen, hängen, sind beeindruckend, doch sie sind hier an der falschen Adresse, findet Chris - sie müßten dort gezeigt werden, wo man das Geld gestrichen hat. Und ihm fällt ein, daß man ihm locker eine Milliarde für ein Projekt bewilligt hat, dessen Nutzen kein Mensch abschätzen kann; Geld, das dringend an anderer Stelle gebraucht wird. Nachdenklich verläßt er das Gebäude. Auf der Rückfahrt redet er sich ein, daß die Expedition einen Wirtschaftsaufschwung bringen kann, von dem auch die ärmeren Teile, und das heißt in diesen Jahren immerhin ein Drittel der Bevölkerung, profitieren werden. Aber so sehr er sich das auch einzureden versucht, so genau weiß er, daß das so nicht stimmt, denn von solchen Projekten werden immer nur die reicher, die das auch vorher schon waren, das zeigt die Erfahrung. Als er am Abend zu seiner Wohnung zurückkommt, hat er stärkere Zweifel als je zuvor, ob diese Expedition richtig ist, ob man sich nicht besser darauf hätte konzentrieren sollen, die Probleme im eigenen Land zu lösen. Er kann jetzt nicht mehr zurück, ein Großteil des für das Projekt veranschlagten Geldes ist bereits ausgegeben, eine Stornierung würde nur zu großen 65
Verlusten führen. Ihm ist unbehaglich, als er in seine Wohnung zurückkommt. Diese ist leer, Sandra ist noch nicht von der Arbeit zurück. Dafür findet er in seinem Briefkasten einen Brief von Sylvia vor, den er mit zitternden Fingern öffnet. Sie schreibt ihm, wie sehr sie die Nacht mit ihm genossen habe, und wollte den Kontakt mit ihm aufrecht erhalten. Chris liest sich den Brief zweimal durch, legt ihn beiseite. Er hat noch ihre Nummer, und seine Freundin ist noch nicht anwesend. Also geht er zum Telefon, die Gebühren sind ihm gleichgültig, und redet eine halbe Stunde mit Sylvia. Als er auflegt, spürt er, wie gut ihm dieser Anruf getan hat, daß sie eigentlich die Frau ist, zu der er sich hingezogen fühlt. Und zum wiederholten Male beschleichen ihn Zweifel, ob das alles richtig ist, was er da macht. Die Tür geht, seine Freundin kommt herein. Sie begrüßen sich, aber es ist nicht mehr das gleiche wie vor zwei Wochen. Der Abend endet wie der Vorgehende mit langen Gesprächen, nicht nur über sie beide, sondern auch über den Sinn, den Chris seinem Projekt überhaupt noch gibt. Nachdenklich liegt Chris auf seinem Bett in der Wohnung des Ministeriums, die seit einem halben Jahr sein zweites Zuhause geworden ist. Nur noch wenige Tage, dann werden sie in See stechen, dann wird der jahrelang gehegte Traum wahr und wird er den neuen Kontinent entdecken. Er ist in Aufbruchstimmung, und dieses Gefühl übertönt alles andere. Und nun steht der Start der längsten Reise, die je eine Gruppe von Menschen unternommen hat, kurz bevor. Was hat ihm die Expedition privat gebracht? Er hat sich endgültig von seiner Freundin getrennt, nachdem er mehrere Male mit Sylvia zusammen war. Diese Affäre hatte ihn in Zweifel gestürzt, ob das alles richtig ist, was er da geplant hat, und seine Zweifel über das, was nach dem Abschluß dieser Expedition mit dem Kontinent da drüben geschehen möge, wollen nicht weichen. Doch nun, da der Start unmittelbar bevor steht, überwiegt die
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Aufbruchstimmung. Chris fühlt sich aufgedreht, das Reisefieber hat ihn voll und ganz gepackt. Zeit zum Aufstehen. Sein Blick fällt auf die Uhr, es ist neun, und das Datum verrät ihm, daß er in zwei Tagen um die gleiche Zeit das Schiff betreten wird, um es dann Monate lang nicht mehr zu verlassen. Er steht auf und zieht sich an; der Blick aus dem Fenster zeigt das typische Schmuddelwetter, das diese Hafenstadt auszeichnet. Ein kurzes Frühstück, dann zieht er sich die Jacke über und geht vor die Tür. Den knappen Kilometer zum Hafen geht er heute zu Fuß, mit dem Rad möchte er die Strecke bei Regen nicht zurücklegen. Nach einer Viertelstunde steht er am Kai und sieht sich der Bordwand des Schiffs gegenüber, das jahrelang durch sein Hirn geisterte und nun real vor ihm steht. So wie sie da in weiß vor ihm liegt, wirkt sie majestätisch. Vor knapp zwei Monaten hatte man sie getauft, und an der vorderen Bordwand prangt der Name "Challenger". Sie ist gerade drei Tage auf See gewesen, um alle Systeme durchzutesten, und hat in dieser Zeit einen schweren Wintersturm gut überstanden, ohne daß Chris seekrank geworden ist. Das läßt ihn für die Überfahrt hoffen. In den letzten Tagen hatte er sich des öfteren auf dem Schiff aufgehalten, hatte alle notwendigen Programme auf seinen Computern installiert, sich in seinem Labor eingerichtet und sein Apartment bezogen. Wie jeder andere Wissenschaftler und jedes Besatzungsmitglied hat er eine Außenkabine in einem der beiden Flügel der Aufbauten, die den Deckshof flankieren, mit 30 qm großzügig ausgelegt und ausgestattet. Gestern hatte er seine Anlage dort aufgebaut und seine Platten eingeordnet, damit es ihm in der Zeit der Überfahrt nicht langweilig wird. Nun steht ihm die Kabine neben seinem Apartment zur freien Verfügung, und er kann wählen, wo er die Nacht verbringen wollte. Chris verschränkt die Arme vor der Brust, so nahe an der See weht eine frische Briese. Dann wendet er sich nach links, dort sind die Ladearbeiten in vollem Gang, die Vorräte für über 300 Menschen für den Zeitraum 67
eines Jahres müssen im Schiff verstaut werden. Seit Tagen rollt ein Lkw nach dem anderen an und wird in den Bauch des Schiffs entladen. Und seit gestern werden die Ballasttanks geleert und die Treibstofftanks mit Diesel gefüllt. Heute Abend sollen die Treibstoffvorräte komplett sein, dann werden 40000 Tonnen Diesel und 6000 Tonnen Flugbenzin an Bord sein. Chris blickt an der Kaimauer herunter, im dreckigen Hafenwasser kann er den Schwimmer erkennen, der sich einen halben Meter unter der Wasseroberfläche befindet. Der wird bis heute Abend fast komplett mit Treibstoff gefüllt sein, eine Bombe, wie er sich vorstellt. Frierend geht Chris auf die Ladebrücke zu und tritt in das Innere des Schiffs. Er geht die Treppe zum Arbeitsdeck hinauf, kommt an den Labors vorbei und wirft hier und da einen Blick in die Arbeitsräume. Die meisten Wissenschaftler aller Disziplinen haben ihre Labors bezogen, nur die Mitarbeiter, die nicht in den Labors arbeiten, haben noch genügend Zeit, ihre Arbeit während der Fahrt vorzubereiten. Chris geht in das geomorphologische Labor hinein und sieht nach, ob hier bereits jemand gearbeitet hat. Der Tisch ist unbenutzt, aber auf dem Rechner sieht er, daß ein Mitarbeiter die Funkverbindung zu der Landstation von Bremer geprüft und Daten übertragen hat. Nun, es funktioniert. Dann geht er zum Aufzug und fährt hinauf in den obersten, achten Stock des Wohnflügels, in dem er seine Kabine hat. Schließt seine Tür auf, hängt seine Jacke an die Garderobe und geht ans Fenster, zu seinem Schreibtisch. An dem wirst du noch oft genug arbeiten, denkt er. Sein nächster Blick gilt dem Kühlschrank, er beschließt, morgen Milch und Obst einzukaufen, um für die erste Woche der Fahrt genügend frisches Essen zu haben. Ein Blick in den Kleiderschrank: Der ist voll genug, er wird kaum die gesamte Kleidung benötigen, die er eingepackt hat. Also zieht er die Jacke wieder an und schließt die Tür hinter sich ab. Seine nächste Station ist die Kantine, in der die Wissenschaftler in den nächsten Monaten essen und in 68
der sie sich während der Freizeit treffen werden. Als er hier eintritt, sieht Chris einige bekannte Gesichter, die meisten Mitarbeiter wohnen bereits auf dem Schiff. An einem Tisch sitzt in seine Zeitung vertieft Erik, ein Geograph, den Chris seit mehreren Jahren kennt und der sich um die Aufnahme der Bodencatena kümmern wird. "He, altes Haus, wie geht's?" "Oh, hallo, Chris, ich bin gerade aufgestanden." "So spät? Du bist kein Student mehr, du sollst hier arbeiten." "Komm, es wird drei Monate dauern, bis wir 'was zu tun kriegen." "Ja, es kann langweilig werden. Hast du dir 'was an Arbeit mitgenommen?" "Ich will noch ein paar Karten bearbeiten, die von der letzten Exkursion übriggeblieben sind. Und dann will ich mich in das Statistikprogramm einarbeiten, mit dem wir hier arbeiten." "Da hast du ja genug zu tun." "Und du, was machst du?" "Ich werde mich um die Bodenproben kümmern, die die Ozeanologen machen. Und dann hab' ich mit der Leitung meines Fachbereichs genug zu tun, ich werd' nicht über Arbeitsmangel klagen können." "Und was machst du, wenn wir da sind?" "Dann werd' ich die ganze Zeit durch die Gegend streifen und Landschaften aufnehmen." "Willst du nicht auch ins Landesinnere fahren?" "Sicher. Willst du etwa mit?" "Natürlich, das wär' 'ne geile Sache, wenn ich mitfahren könnte." 69
"Ich weiß noch nicht, wer mitfahren wird, eigentlich wollte ich auch noch einen oder zwei Biologen mitnehmen." "Dann sind wir zu viert. Warum nicht? Mich würd's brennend interessieren. Wann entscheidet ihr denn?" "Wahrscheinlich erst, wenn wir losfahren. Wir müssen erst 'mal sehen, wie wir die Fahrt machen. Und es steht noch in den Sternen, ob wir überhaupt fahren, vielleicht klappt das gar nicht." "Das wär' schade." "Richtig, aber wir werden sehen. Du, ich muß weiter, bis morgen dann." "Jau, tschüß." Chris verabschiedet sich von Erik, redet kurz mit einigen anderen Männern und Frauen, die sich noch in der Kantine aufhalten, und verläßt sie. Hier gibt's jetzt nichts mehr zu tun, denkt er, und geht vom Schiff.Auf dem Pier sieht er sich um, registriert das Treiben rund um das Schiff. Aus dem Schornstein oberhalb des Wohnblocks streicht heiße Luft, die Lichtmaschinen sind in Betrieb. Sie hatten dafür gesorgt, daß die meteorologischen Meßinstrumente nicht durch Abluft und Abgase gestört werden. Dann sieht Chris sich das Arbeitsdeck von unten an, sieht die beiden Tenderschiffe hängen, die nach der Landung dafür sorgen werden, daß das Material sicher an Land kommt. Morgen kommen die Flugzeuge, und dann wird auch die Mannschaft vollständig sein, damit wären sie abfahrtbereit. Er schüttelt sich, er kann die Abfahrt kaum erwarten. Zum Büro der Expedition ist es nur ein Kilometer, und auch den Weg macht Chris zu Fuß. Seine Arbeit hier ist abgeschlossen, und er hat seinen Schreibtisch Ende der letzten Woche geräumt, aber in den letzten Tagen vor der Abreise ist dort die Hölle los. Als er den Raum betritt, in dem er sich die letzten Monate vorrangig aufgehalten hat, hört er mehrere Menschen durcheinanderreden, hier ist genau die Hektik ausgebrochen, die er erwartet hatte. An seinem 70
Schreibtisch sitzt ein Mitarbeiter, der für den Einkauf der Nahrungsmittel zuständig war, und er begrüßt Chris mit einem Heben der Hand. Gerade ist er im Gespräch mit einem Lieferanten, der nur die Hälfte der Konserven geliefert hat, die er bringen sollte. Solche Fehler ereignen sich immer dann, wenn man kurz vor der Abreise steht, das weiß Chris aus eigener Erfahrung. Er geht in das Nachbarzimmer, und hier trifft er den Ministerialdirektor, der gerade ein Interview gibt. Als er Chris sieht, winkt er ihn zu sich heran. "Chris, kommen Sie doch bitte! Wir haben hier gerade das Fernsehen zu Gast." "Huch, ich wollte eigentlich nur vorbeisehen..." "Aber, die Gelegenheit müssen wir doch ausnutzen! Wann waren Sie das letzte Mal im Fernsehen?" "Gestern." "Sie sind kein Politiker. Aber Sie sind doch sicher bereit, einige Fragen zu beantworten?" "Sicher. Das Projekt ist schließlich mein Kind." Die Interviewerin wendet sich Chris zu. "Herr Kolon, wie weit sind die Vorbereitungen gediehen? Sind Sie abfahrtbereit?" "Ich stehe mit dem Koffer bei Fuß, ich komme gerade vom Schiff, und wir haben bis auf ein paar Dosen und Treibstoff alles an Bord, was wir für die Reise benötigen." "Es hat in den letzten Wochen Gerüchte gegeben, daß es unter den Wissenschaftlern Streit gegeben hat, weil mehr mitfahren wollten, als Plätze vorhanden sind, und es soll Intrigen geben haben. Was sagen Sie dazu?" "Ach Gott, sowas kommt immer wieder vor, da sind dann Leute, die ihre Forschungsrichtung als einzig seligmachend verstehen, und wenn Sie dann nicht mitfahren können, versuchen die alles, um das Projekt 71
zu schädigen. Man muß das locker sehen, das ist nicht so ernst, wie's aussieht." "Ist ihre wissenschaftliche Mannschaft jetzt komplett?" "Ja. Alle Wissenschaftler sind an Bord oder zumindest in der Stadt, und die meisten haben auch ihre Kabinen bezogen." "Haben Sie schon an Bord gearbeitet? Waren Sie schon im Labor?" "Ich hab' mein Büro eingerichtet, und ich habe meinen Computer mit allen Daten gefüttert, die ich in den nächsten Monaten brauchen werde." "Wie sieht es mit der freien Wirtschaft aus, haben die Firmen, die sich an dem Projekt beteiligt haben, Mitarbeiter an Bord des Schiffs?" "Nein. Jeder Wissenschaftler forscht unabhängig, keiner darf sich von irgendeiner Firma abhängig machen lassen." "Wie wollen Sie das kontrollieren?"Das merken wir an den Kontoauszügen oder wenn die Leute plötzlich gewisse Untersuchungen blockieren, zum Beispiel auf Umweltgifte hin." "Da wir bei dem Thema sind, werden Sie die neue Welt für die Industrie in Besitz nehmen, oder werden Sie vorschlagen, daraus einen Naturpark zu machen?" "Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß dort drüben nicht alles in der Art zerstört wird, wie es hier der Fall ist und war. Aber wir müssen erst einmal sehen, was da überhaupt ist! "Und wenn Sie zurückkommen, werden Sie der Wirtschaft dann sagen, daß sie dort keine Betriebe aufbauen dürfen?" "Falls es notwendig ist, ja."
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Damit ist das Interview beendet, die beiden Männer verabschieden sich von der Frau und dem Kameramann. Als sie gegangen sind, versucht der Ministerialdirektor Chris dahingehend zu beschwichtigen, daß man den Umweltschutz angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage vielleicht doch nicht ganz in den Vordergrund stellen sollte. Aber Chris hat sich gerade zu diesem Thema in den letzten Monaten viele, zuviele Gedanken gemacht, so daß er sich hier auf keine Kompromißformel einläßt. Er hatte es als Fehler begriffen, die freie Wirtschaft an diesem Projekt beteiligt zu haben, doch er ist deshalb auch froh, daß der Steuerzahler weniger stark belastet wird, außerdem hat er keine Verpflichtung unterschrieben, in der er sich bereit erklärte, bestimmten Konzernen die alleinige Nutzung des neuen Kontinents zu gestatten. Nach diesen deutlichen Worten verabschiedet er sich von dem Ministerialdirektor, er hat an diesem Nachmittag noch einige Dinge zu erledigen. II. Müde setzt Chris sich auf einen der Stühle in der Cafeteria des Schiffs. Den ganzen Vormittag war er durch das Schiff gelaufen, um zu kontrollieren, ob die Ausrüstung der Labors wirklich komplett ist. Selbst gestern Abend noch sind Chemikalien und Arbeitsmaterialien geliefert worden, und während des Vormittags kristallisierte sich heraus, daß den Lieferanten Fehler unterlaufen waren. Für eine Korrektur ist es nicht zu spät, gerade hatte er Michael den Auftrag gegeben, alle Firmen abzutelefonieren, denen Falschlieferungen unterlaufen waren, und sie zu dazu zu bringen, bis heute Nachmittag die ausstehenden Lieferungen durchzuführen. Bei einer Tasse Kaffee sucht er Entspannung. Jetzt könnte er auch zu Mittag essen, denkt er, doch sein Magen zeigt noch keinen Hunger an. Wenn das mit diesem Streß so weitergeht, dann wird er die Fahrt morgen hundemüde und mit zerrütteten Nerven beginnen. Er hofft, daß Michael und Gerd ihre Arbeit gut machen und ihn nicht mit weiteren Komplikationen belasten. Und dann sollen in zwei Stunden auch noch 73
die vier Flugzeuge geliefert werden, das wird der publikumswirksamste Akt der ganzen Ladeaktion. Chris kippt seine Tasse herunter und steht auf, auf ihn wartet ein Haufen Arbeit. Nachdem er das Tablett weggestellt hat, geht er hinunter in das Arbeitsdeck und zu den Labors hinüber zu Gerd, der gerade damit beschäftigt ist, die Chemikalien des Ozeanologischen Labors zu kontrollieren. Beide tauschen sich kurz über den Fortgang der Arbeit aus, und Chris freut sich darüber, daß Gerd nur wenig Beanstandungen hat. Dann geht er in das geomorphologische Labor, in dem zwei Bodenkundler der gleichen Arbeit wie Gerd nachgehen. Und nach den Beanstandungen, die Michael gerade durchtelefoniert, wird es keine Schwierigkeiten mehr geben. Das ist jedenfalls seine Hoffnung Er öffnet den Giftschrank und kontrolliert die Sicherheitsvorkehrungen. Befriedigt stellt er fest, daß die Abzüge nicht zugestellt sind, daß die Feuermelder funktionieren und überall Warnhinweise angebracht sind. Anschließend sieht er sich die Sammelbehälter für Chemikalien an, er hatte darauf gedrängt, daß alle Reste von Chemikalien nicht einfach ins Meer gekippt, sondern gesammelt und später an Land entsorgt werden sollen. Damit ist seine Arbeit für heute in diesen Räumen beendet. Er atmet auf, sieht sich um, wer außer ihm noch anwesend ist, und geht zu Gerd herüber. Der ist in seine Arbeit vertieft, doch Chris sieht, daß er seine Computerliste der Chemikalien fast komplett abgehakt hat. Beide Männer verabreden sich zum Mittagessen in der Kantine, dann verläßt Chris das Arbeitsdeck und geht zu seinem Büro hinauf. Zum Glück liegt das Büro, das sich Michael, Gerd und Chris in den nächsten Monaten teilen werden, nur wenige Schritte von den Labors entfernt, eine Etage höher. Aus diesem heraus genießen die Drei einen ungetrübten Ausblick über das Meer, die Fenster weisen alle nach vorn. Michael ist gerade im Gespräch mit einem Lieferanten einer Chemikalie, die nicht geliefert 74
worden ist, und als er die Zusicherung hat, daß sie um drei Uhr geliefert werden soll, legt er beruhigt auf. Chris setzt sich auf seinen Schreibtisch. "Nun, wie sieht's aus? zusammengeschissen?"
Hast
du
sie
alle
"Ja, alle! Ich hab' das noch nie erlebt, daß vor einer Reise soviel danebengeht. Das riecht nach Absicht." "Ich nehme an, die wollten extra Geld 'rausschlagen, denn beim Staat ist immer 'was zu holen." "Kann sein. Wenn wir in der Zeit nicht so knapp wären, dann sollten wir da 'mal nachforschen. Die haben uns zum Teil die Sachen nicht geliefert, die sie auf die Lieferscheine gesetzt haben. Und bei der Menge der Kartons, die wir hier bekommen haben, kann ja keiner den Überblick behalten." "So geht das dann - die haben nicht mehr damit gerechnet, daß wir alles nachkontrollieren." "Weißt du, bei einigen nehme ich das an. Aber ich denke doch, daß vor allem den größeren Firmen einfach Irrtümer unterlaufen sind. "Wie kommst du darauf?" "Denk' doch 'mal daran, durch wieviele Hände unsere Bestellungen gegangen sind, weil das Ganze über das Ministerium gelaufen ist. Und dann ist klar, daß da Fehler passieren. So haben mir das die Leute am Telefon auch erklärt." "Wenn du meinst - ich weiß aber aus eigener Erfahrung, daß viele Firmen ganz gerne 'mal Rechnungen frisieren, um mehr Geld 'rauszuschlagen." "Das kenn' ich auch so, aber es ist jetzt zu spät, das zu kontrollieren. Wir hätten damit früher anfangen sollen." "Das ging nicht, ich wollte nicht, daß hier giftige Chemikalien an Bord sind, wenn in den Labors noch
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gebaut wird. Und das war bis gestern der Fall, wie du weißt." "Okay, aber die ungefährlicheren Sachen wären doch möglich gewesen, oder?" "Und dann hätten wir erst recht den Überblick verloren, wenn wir das auch noch geteilt hätten. Nein, ich muß mich selber verteidigen, ich glaube, daß es so richtig war. Und wie weit bist du jetzt?" "Ich bin fertig." "Hast du Hunger?" "Ja." "Gut, dann warten wir auf Gerd, der müßte bald fertig sein, er wollte hierhin kommen." Chris steht vom Schreibtisch auf und setzt sich auf seinen Stuhl, um sich in den Papierkram zu vertiefen. Den größten Teil davon hat er gestern bearbeiten können, heute kam noch ein sehr angenehmer Teil an Post dazu: Er hält mehrere Glückwunschtelegramme in den Händen, die aus dem Ministerium, von diversen Forschungsinstituten und Universitäten stammen. Und er freut sich darüber, aber wer jetzt noch an der wissenschaftlichen Arbeit beteiligt werden will, der kommt zu spät. Gerd kommt grußlos in das Büro herein und knallt die Liste auf seinen Schreibtisch; er ist sichtlich genervt. Die drei Männer sehen sich an, Michael und Chris stehen auf und nehmen Gerd mit, sie haben Hunger. Als sie in der Kantine ankommen, sieht Chris auf den Speiseplan. Weil inzwischen die meisten Besatzungsmitglieder und Wissenschaftler anwesend sind, hat man die Küche heute voll in Betrieb genommen. Dann reihen sie sich in die Schlange ein und nehmen das Stammessen entgegen, suchen sich einen Tisch am Fenster, von dem aus sie in den Hafen sehen können. Jetzt ist Zeit genug, um nach dem Essen gemütlich einen Kaffee zu trinken, der Vormittag war stressig 76
genug. Chris holt ein Tablett mit drei Tassen, dann unterhalten sie sich über alles mögliche, nur nicht über die Arbeit, die die letzten Tage bestimmt hat. Als Chris auf seine Uhr sieht, fällt ihm ein, daß die Flugzeuge in der nächsten Viertelstunde erwartet werden. Er ruft auf der Brücke an, und man weiß dort, daß die Maschinen in rund zehn Minuten eintreffen sollen. Nun, das sollten sie sich ansehen, denkt er, geht zum Tisch zurück und nimmt die beiden Kollegen mit. Gemeinsam gehen sie zum Flugdeck. Hier herrscht bereits reger Betrieb, denn die ganze Mannschaft an Mechanikern hat sich bereits eingefunden, um dem Schauspiel beizuwohnen; Chris begrüßt einige der Mechaniker. Da schreit einer der Männer auf und weist mit dem Finger auf einen Punkt in der Luft. Sie kommen. Ein beeindruckendes Schauspiel, wie sich die vier Maschinen im Formationsflug dem Schiff nähern; sie sind aus dieser Entfernung kaum zu hören. Dann löst sich der Verband auf, die Maschinen kippen ihre Rotoren und schweben in der Luft. Der Pilot der ersten Maschine setzt ohne Umschweife zur Landung an, und dort, wo sie der Einweiser hinbeordert, gehen die Zuschauer beiseite. Chris fegt der Wind um die Ohren, er verschränkt die Arme vor der Brust und kneift die Augen zu. Dann setzt sie auf, ganz rechts am Rand des Flugdecks. Nun folgt die zweite Maschine, sie setzt in der Mitte des Decks auf, und die Dritte ganz links. Die vierte muß neben dem Schiff auf dem Kai landen, dort steht jemand, der sie einweist. Sofort gehen einige Männer auf die Maschine zu, die als erste gelandet ist, sie steht auf dem Aufzug und soll sofort in den Hangar unterhalb des Flugdecks gebracht werden. Die Rotoren werden nach hinten geklappt, damit sie weniger Platz wegnehmen, dann verschwindet die Maschine unterhalb des Decks. Auch bei der zweiten und der dritten Maschine werden die Rotoren zusammengeklappt, man koppelt sie an die Schlepper an und zieht sie auf den Aufzug; auch sie verschwinden in der Tiefe.
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Für einen Moment herrscht Ruhe, dann wirft der Pilot der vierten Maschine die Turbinen an, hebt ab und setzt sein Fluggerät sanft auf den Aufzug. Auch diese Maschine tritt die Reise in den Hangar an. Damit ist die Ausrüstung des Schiffs komplett, die Maschinen waren das letzte, worauf man noch warten mußte, und auch die Piloten sind damit an Bord. Chris sieht sich in der Runde um, überall beeindruckte Gesichter. Man hat den Eindruck, diese Vorführung sei arrangiert worden, um eine Unterbrechung der Arbeit zu bieten. Doch er hat jetzt noch anderes zu tun, spricht kurz mit Gerd und Michael über die weitere Arbeit und geht unter Deck. Im Hangar herrscht rege Betriebsamkeit, die Mechaniker sehen sich die Maschinen, für die sie eine besondere Schulung mitgemacht haben, genauer an, während Chris sich den Piloten zuwendet und mit ihnen über die Pläne spricht, die er mit ihnen hat. Nachdem er selber einige Male auf dem Copilotensitz platzgenommen hat und mitgeflogen ist, kann er sich mit den Piloten über die Flugeigenschaften dieser Senkrechtstarter austauschen und spürt die Begeisterung, die sie für ihre Arbeitsgeräte empfinden. Man spricht durch, wie es mit den ersten Flügen zum neuen Kontinent aussehen wird, und wie die tägliche Gestaltung des Flugplans sein wird, denn die Flugzeuge sollen die Meeressonden einsammeln, die einmal täglich von Bord des Schiffs abgeworfen werden. Schließlich verabschiedet sich Chris und geht in sein Büro zurück. Michael hält sich wieder im Labor auf, und Gerd erledigt seine Post, als Chris das Büro betritt. In der nächsten Stunde beendet er die Arbeit an seinem Papierkram und hat endlich das Gefühl, etwas abgeschlossen zu haben: Der Schreibtisch ist leer, die alte Arbeit ist erledigt, die neue wartet morgen auf ihn. Verdammt, ich kann hier nicht mehr sitzenbleiben, ich muß raus! Um sich abzureagieren, geht er zum Sonnendeck hoch, von dort aus steigt er auf das Peildeck auf dem Dach der Brücke und sieht sich um. In ein paar Monaten wirst du neues Land sehen, denkt er. Er hält sich an Deck auf, bis es zu
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dämmern beginnt, geht zu seiner Wohnung, als es dunkel wird. Dort räumt er die letzten persönlichen Habseligkeiten in eine Tasche, schließt ab und verläßt die Wohnung, in der er sich in den letzten Monaten bevorzugt aufgehalten hat. Das Auto steht nicht mehr hier, er hat den Wagen abgemeldet, denn er wird ihn für mindestens neun Monate nicht brauchen. Zu Fuß geht er zum Schiff, betritt seine Kabine und räumt seine Sachen ein. Schließlich telefoniert er noch mit einigen Freunden, auch seine Ex-Freundin und Sylvia sind dabei. Dann ist es acht Uhr. Es kann losgehen! An diesem Abend trifft Chris alle Leute wieder, die er bei der Vorbereitung der Expedition angesprochen hat. Man redet miteinander, nicht nur über die Arbeit, sondern auch über das, was sich alles in dem Zeitraum verändert hat, seitdem Chris sein Projekt gestartet hat. Als draußen der Mond aufgeht, sitzen die Frauen und Männer in der Cafeteria zusammen, und Mengen an Bier fließen durch die Kehlen. Es wird eine lange Nacht, erst um zwei Uhr ist Chris im Bett. Er freut sich auf den nächsten Tag, der wird zwar anstrengend, aber die Freude über das Gelingen seines Projekts gibt ihm die Kraft, alle Schwierigkeiten zu überwinden. III. Es ist sieben Uhr, als der Wecker klingelt und Chris unsanft aus seinen Träumen reißt. Ja, die Nacht war verdammt kurz, und er hatte vielleicht etwas zuviel getrunken, als sie den letzten Tag an Land gefeiert haben, aber das war es wert. Nun spürt er seinen Restalkohol. Oh Mann, der Tag wird hart! Chris steht auf, sieht in den Spiegel im Bad, da ist einiges zu richten. Aber er weiß noch genau, wie er ins Bett gekommen ist, so besoffen war er nicht. Als er sich gewaschen hat, zieht er die Vorhänge beiseite, und es begrüßt ihn ein strahlender Märztag. Der Wetterbericht hat für heute warmes Hochdruckwetter vorhergesagt; so wie es aussieht, wird das Ablegemanöver bei idealem 79
Wetter stattfinden! Er zieht sich an, heute etwas schicker als sonst, und geht in die Kantine. Außer ihm sind nur wenige Leute aus der Wissenschaftlerabteilung zu sehen. Bei der Einrichtung der Messen hatte man die Wissenschaftler und die Besatzung getrennt, damit sich beide nicht gegenseitig stören und die Räume kleiner und gemütlicher sind. Chris wollte trotzdem keine strikte Trennung beider Teile der Mannschaft, so haben alle die gleichen Freizeiteinrichtungen und gleich große und ausgestattete Kabinen. Die sind Alle noch in den Federn, denkt er, als er sich eine Schale Müsli zusammenstellt und eine Tasse Kaffee aus dem Automaten zapft. Dann zahlt er und findet einen Tisch, verbringt eine halbe Stunde mit dem Frühstück. Kurz bevor er aufstehen will, sieht Chris, wie Erik sich Frühstück holt und einen Platz sucht. Er winkt zu ihm herüber, Erik sieht ihn und setzt sich Chris gegenüber." "Na, hast du heute gut geschlafen?" "Gut schon, aber viel zu kurz." "Wie lange habt ihr denn noch gemacht?" "Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube, es war so um drei Uhr." "Oh Gott, mach' das nicht jede Nacht. Ab heute wird gearbeitet, klar?" "Wieso, wir haben doch in den nächsten drei Monaten nichts zu tun." "Das ist kein Kreuzfahrtschiff, wir haben hier Arbeiten zu erledigen." "Bis dahin ist noch Zeit." "Wenn wir jede Nacht so feiern, dann geht die Zeit verdammt schnell 'rum." "Nicht jede Nacht, ich fühl' mich heute etwas daneben." 80
"Warum mußt du's auch darauf anlegen, den gesamten Alkoholvorrat für's nächste Jahr schon in der ersten Nacht zu kippen?" "Wann hast du das letzten Mal auf einen Schlag alle Leute wiedergesehen, die an einem Projekt arbeiten, die du seit Monaten nicht mehr gesehen hast und die alle am gleichen Abend eingetroffen sind?" "Gestern." "Und dann bist du noch fit?" "Naja, ich spüre auch den Restalkohol, also, ich bin auch etwas daneben." "Na, dann können wir heute Abend ja weitermachen." "Nur das nicht! Und jetzt laß' ich dich alleine, ich muß 'ne Menge tun." "Wir werden uns gleich noch sehen, oder?" "Willst du sehen, was unser Minister macht?" "Natürlich, das kann ich mir nicht entgehen lassen." Chris steht auf, verabschiedet sich, nimmt sein Tablett auf und bringt es weg. Geht in sein Büro, sieht auf seinem Schreibtisch nach, ob ihm jemand eine Nachricht hinterlassen hat, und weiter zur Brücke. Als er dort eintrifft, findet er den Kapitän im Gespräch mit dem Lotsen. Er hat Zeit, sich umzusehen, und es fasziniert ihn immer wieder, wie die Brücke ausgestattet ist. Der Platz des Rudergängers ist unbesetzt, davor sieht er die Armaturen vor dem Steuerrad, daneben die Schubhebel für die Maschinen und die Bildschirme. Auf dem einen ist die Karte des Hafens zu sehen, auf dem anderen erscheinen Daten der Maschinen. Die laufen bereits, wie Chris erkennen kann. Hinter sich sieht er die Karte der Bucht auf dem Kartentisch liegen, die sie heute durchfahren werden. Der Kapitän wendet sich Chris zu, stellt ihm den Lotsen vor. Von ihnen erfährt er, daß der Forschungsminister 81
und eine Gruppe von Journalisten gegen zehn Uhr hier eintreffen sollen. Nun, bis dahin sind es noch knapp zwei Stunden, die muß er totschlagen. Chris verläßt die Brücke und geht in sein Büro. Dort setzt er sich vor seinen Computer, ruft das Institut von Professor Bremer und sieht sich an, welche Untersuchungsprogramme dort eingerichtet worden sind. Dann ruft er sein Textverarbeitungsprogramm auf und richtet ein Unterverzeichnis ein, um wissenschaftliches Tagebuch führen zu können. Michael kommt ins Büro, begrüßt Chris und erledigt den Rest an Post, der gestern noch liegengeblieben ist. Gerd kommt als letzter, sie reden über den Verlauf des letzten Abends. Es wird viertel vor zehn, und Chris drängt zum Aufbruch, in wenigen Minuten soll der Minister hier eintreffen. Ein Anderer ist bereits eingetroffen. Als Chris über die Landungsbrücke schreitet, sieht er den Ministerialdirektor davor stehen, im Gespräch mit einigen Journalisten. Die drei Männer treten dazu, werden den Journalisten vom Ministerialdirektor vorgestellt und danach interviewt. Chris beantwortet zum n-ten Male die Fragen, die er schon so oft gestellt bekommen hat... Er ist froh, wenn sie endlich auf See sind, dann hat er Ruhe davor. Plötzlich wenden sich die Köpfe, zwei Limousinen rollen heran, das muß der Forschungsminister sein. Tatsächlich, und er steigt auch noch selbst aus. Chris geht neben dem Ministerialdirektor zu dem Minister hin, man gibt sich die Hand, man kennt sich. Ganz Politiker, wendet sich der Minister den Journalisten zu und lädt sie ein, mit auf das Schiff zu kommen. Kaum sind sie an Bord, bekommt Chris den Auftrag, den 15 Menschen mit Kameras und Notizblöcken das Schiff zu zeigen. Er ist überrascht, aber er freut sich darüber, einmal mehr in den Augen der Öffentlichkeit machen zu können, als nur ständig zu reden. Er beginnt in den Labors, zeigt die wichtigsten Einrichtungen und nennt die wichtigsten Analysen, die hier stattfinden sollen, erwähnt dabei auch die 82
Landstationen, bei denen die genauere statistische Auswertung der Daten erfolgen soll. Die nächste Station ist der Hangar, hier stellt er den eifrig fotografierenden Journalisten die Flugzeuge vor und erklärt ihren Einsatzzweck. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt ganz in das Heck des Schiffs zu dem Kran, von dem aus jeden Vormittag Sonden ins Meer geworfen werden. Die Gruppe steigt auf das Flugdeck, Chris zeigt ihnen das Katapult, das quer über das Deck verläuft, die Anfluglichter und den Aufzug. Von hier aus geht der Weg durch den Innenhof, den die beiden Wohnflügel begrenzen, und dann in den vorderen Teil der Aufbauten. Hier fahren sie mit dem Aufzug nach oben und betreten schließlich die Brücke. Hier oben kann man das ganze Schiff übersehen, und der Minister ergreift das Wort. Die Brücke ist voll von Menschen, der Kapitän und der Lotse stehen abseits des Ganzen, der Rudergänger ist inzwischen auf seinem Platz und beobachtet das Treiben interessiert. Nachdem der Minister einige Sätze abgelassen hat, bittet er Chris, noch einige Worte zur nautischen Ausrüstung zu verlieren, doch er gibt an den Kapitän weiter. Der ist genauso wie Chris davon angetan, etwas sagen zu dürfen, und erklärt den Pressevertretern die Navigationseinrichtungen, die Vernetzung der Datenverarbeitung mit den Landstationen und den Computern der Wissenschaftler, die Maschinen und die Treibstoffvorräte. Dann zeigt der Rudergänger, wie das Schiff gesteuert wird. Schließlich stehen der Kapitän, Chris und der Minister den Journalisten Rede und Antwort. Die improvisierte Pressekonferenz währt nicht lange, denn die meisten Fragen hat Chris im Vorfeld bereits beantwortet. Als alles vorüber ist, erhalten die Journalisten die Erlaubnis, sich bis zum Ablegemanöver an Bord umsehen zu dürfen, und der Minister verabschiedet sich von ihnen. Kaum sind die Pressevertreter gegangen, wendet sich Chris dem Forschungsminister zu. "Nun, sind Sie zufrieden?"
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"Sie meinen, mit dem, was sich hier heute getan hat? Ja, ich bin zufrieden mit dem Verlauf des Vormittags. Ich glaube, wir haben uns ins richtige Licht gesetzt." "Das heißt also, daß ich Ihnen Stimmen für die nächste Wahl besorgt habe?" "Worauf wollen Sie hinaus, Herr Kolon?" "Ich will auf gar nichts hinaus. Aber ich hatte in den letzten Monaten den Eindruck, daß das Schiff ein starkes Politikum geworden ist." "Da haben Sie recht. Und ich muß mich bei Ihnen bedanken, daß Sie mich in meiner Entscheidung unterstützt und mich nicht hintergangen haben." "Bitte, gern geschehen, ohne Ihre Hilfe hätte ich das Projekt nicht durchziehen können. Aber wie sieht's jetzt mit der Fortführung des Projektes aus, ist die Finanzierung der Landstationen jetzt endlich gesichert?" "Ich habe gestern im Kabinett durchgesetzt, daß wir die Landstationen finanziell unterstützen werden." "Gut, das wollte ich geregelt wissen. Und Sie haben das Schiff gesehen, sind Sie damit zufrieden, nachdem die Kosten in der Bauphase erheblich angestiegen sind?" "Ich hoffe, daß die Kosten für den Teil der Expedition, die jetzt noch auf mich zukommen, nicht noch wesentlich ansteigen werden, sonst komme ich in Schwierigkeiten mit dem Haushalt." "Habe ich Sie da in der Hand?" "Ich möchte Sie doch bitten, rationell zu wirtschaften, Herr Kolon." "Da machen Sie sich keine Sorgen, die größten Ausgaben sind getätigt. Was jetzt noch auf Sie zukommt, das sind die Personalkosten und die Ausgaben für die Landstationen. Aber die ganzen teuren Anschaffungen, die sind gemacht, damit haben Sie jetzt nichts mehr zu tun." 84
"Wann werden Sie zurück sein?" "Das kann ich jetzt noch nicht sagen, wenn wir drüben viel zu forschen haben, kann die Expedition ein Jahr dauern." "Dann werde ich vielleicht nicht mehr Minister sein, das wissen Sie ja." "Wir werden sehen. Auf jeden Fall können Sie mit den Forschungsergebnissen Wahlkampf machen." "Das werde ich müssen, Herr Kolon, dafür war das Projekt zu kostspielig. Man wird mich fragen, welchen Nutzen die ganzen Investitionen gebracht haben." "Das Geld ist gut angelegt, glauben Sie mir." Der Minister wendet sich von Chris ab, wechselt einige Worte mit dem Kapitän und geht zusammen mit Chris zur Landungsbrücke. Vor dem Schiff verabschieden sich die Männer voneinander, dann geht Chris auf das Schiff zurück und in sein Büro. Als er dieses betritt, glaubt er seinen Augen nicht: Sylvia sitzt auf seinem Stuhl. "He, was machst du denn hier?" "Ich hab' meinen Termin für heute absagen können, hab' den Nachtzug genommen und bin zu dir gefahren. Ich wollte dabeisein, wenn ihr ablegt." "Du bist doch wahnsinnig. Echt, das hätte ich nicht erwartet." "Freust du dich nicht?" "Doch, und wie. Aber laß uns doch nach oben gehen, wir haben noch zwei Stunden Zeit, bis wir ablegen." Auf dem Schiff herrscht Hektik, doch das stört Chris jetzt nicht. Gerade in diesem Moment kommt Gerd herein, und er stutzt. Bevor er etwas sagen kann, teilt Chris ihm mit, daß er die nächsten zwei Stunden nicht zu erreichen sein werde, und geht mit Sylvia aus dem Büro. Gerd sieht beiden erstaunt nach, als sie in den Aufzug 85
steigen und zu Chris' Kabine hochfahren. Es ist das letzte Mal, daß sie sich sehen werden, wer weiß, was in einem Jahr ist, und ob sie sich überhaupt wiedersehen werden. Chris hängt das Telefon aus und sorgt dafür, daß sie ungestört sind. Später bringt er sie zur Landungsbrücke; ein langer Kuß zum Abschied, dann sind sie getrennt. Trotz allem, bei ihm will sich kein Wehmut über den Abschied einstellen, dazu ist sein Reisefieber viel zu stark. Er nimmt den Aufzug und fährt auf die Brücke, es ist noch eine Viertelstunde bis zum Ablegemanöver. Michael und Gerd sind bereits da, sie wollen das Schauspiel von hier oben miterleben. Chris muß sich bohrende Fragen über das anhören, was er in den letzten beiden Stunden getan hat. Schließlich ist es soweit: Das Schiff kann ablegen. Von der Brücke aus verfolgen die Wissenschaftler die Kommandos des Kapitän, sehen, wie die Taue gelöst werden und die Landungsbrücke eingezogen wird. Dann werden die Seitenstrahlruder angesteuert, der Bug der "Challenger" treibt von der Kaimauer weg. Schließlich ziehen zwei Schlepper das Schiff hinaus in die Mündung des Flusses, der diesen Hafen bildet. Dort werden die Hauptmaschinen auf kleine Fahrt voraus geschaltet, und das Schiff fährt langsam aus dem Hafen heraus. Chris ist bei diesem Manöver von der Brücke gegangen und hat sich von der Oberkante des Aufbaus herab den ganzen Vorgang angesehen. Und er hat gesehen, daß Sylvia dort unten stand; er hat ihr zum Abschied gewinkt und von ihr einen Kuß zugeworfen bekommen. Die ganze Zeit hat er hier draußen verbracht und gesehen, wie sie sich dem offenen Meer genähert haben und der Lotse per Flugzeug an Land zurückgebracht wurde. Nun sieht er die Küste hinter sich verschwinden, und ihn beschleicht bei allem Reisefieber nun doch ein Gefühl der Wehmut. Was wird sich in den nächsten Monaten ereignen? Sie fahren zu einer neuen Welt, von der sie zwar Bilder und Karten haben, die aber vor ihnen noch kein Mensch betreten hat - eine Reise ins Ungewisse. Und was gibt 86
er auf? Sein Privatleben war in den letzten Monaten vollkommen chaotisch, da war die Trennung von seiner Freundin, da waren in unregelmäßigen Abständen Treffen mit Sylvia. Er könnte nicht mehr mit ihr zusammenleben, daß weiß er. Und er ist nachdenklich, als er den Blick auf die Küste wirft, die da hinter ihm verschwindet. Dann geht er wieder ins Warme, auf die Brücke. Dort herrscht reger Betrieb, denn neben dem Kapitän, den Offizieren und dem Rudergänger sind einige Wissenschaftler anwesend. Sie haben das Ablegemanöver beobachtet und wollten an der Stelle sein, wo in den nächsten Monaten alle Fäden zusammenlaufen. Gerd dreht sich zu Chris um, als der verfroren hereinkommt. "Jetzt ist es soweit, jetzt können wir nicht mehr zurück." "Stimmt, ist schon ein komisches Gefühl. Da hab' ich mich jahrelang auf diesen Moment vorbereitet, und dann wird mir mulmig." "Hast du jetzt schon Heimweh?" "Das nicht, aber es ist 'was anderes, wenn du in so einer Situation drinsteckst, als wenn du sie dir nur vorstellst." Er geht hinter den Kartentisch an den Kontrollstand für das Flugdeck. Von diesem Tower aus werden in den nächsten Monaten die Flugbewegungen koordiniert. Chris sieht sich um, wirft einen Blick auf den Wetterbericht und auf die Monitore, auf denen man das gesamte Flugdeck und den Hangar überblicken kann. Alle Maschinen stehen im Hangar, und an zweien von ihnen wird gearbeitet, wie Chris erkennen kann. Dann geht er zu der Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeiter zurück, ihm ist inzwischen warm geworden. Sie werden bis morgen früh die Bucht verlassen haben und die offene See erreichen. Nun, der Wetterbericht sieht gut aus, der Wellengang ist gering, man wird wenig Probleme mit der Seekrankheit haben. Trotzdem, es ist noch Winter, und sie müssen damit rechnen, während der Überfahrt von heftigen Stürmen durchgeschüttelt zu werden. Dann ist da die Gefahr, auf Eisberge zu treffen. 87
Nur selten fährt ein Schiff soweit nach Westen, und kein Mensch weiß, ob sie in theoretisch eisfreien Gebieten nicht doch auf Eisberge treffen werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, werden sie einen südlichen Bogen fahren, sobald das Schiff die westlichen Ausläufer des Kontinents hinter sich gelassen hat. Chris bespricht mit den Offizieren die Vorratshaltung, er hatte sich darum in den letzten Tagen nicht mehr kümmern können. Es hatte auch hier Schwierigkeiten mit den Anlieferern gegeben hat, aber trotz dieser Probleme sind die disponierten Nahrungsmittel für den Zeitraum eines Jahres an Bord. Alle Aggregate, die der Versorgung mit Wasser, der Klimatisierung und der Abfallentsorgung dienten, sind in den letzten Stunden durchgetestet worden, ihre Funktion ist in Ordnung. Für den Fall einer Panne sind genug ausgebildete Mechaniker an Bord, man wird sich behelfen können, wenn nicht gerade eine Bombe direkt neben den Tanks mit Flugbenzin detoniert. Für andere Notfälle ist vorgesorgt, und dies ist auch nötig, denn man wird nicht auf fremde Hilfe hoffen können, wenn das Schiff länger als einen Monat auf See und damit zu weit von heimischen Gestaden entfernt ist. Gerd, Michael und Chris stehen nebeneinander im Tower, ohne ein Wort zu sagen. Die Hektik auf der Brücke ist der Routine gewichen, außer ihnen sind nur noch der wachhabende Matrose und der Rudergänger anwesend. Dieser wird, wenn man die offene See erreicht hat, allein das Schiff führen, dank der umfangreichen Ausstattung mit Elektronik kann das auf diesem Schiff eine Person erledigen. Die drei Männer stehen stumm nebeneinander und sehen zu, wie sich die Sonne dem Horizont nähert. In der Nacht wird es draußen kalt werden, denkt Chris, der Himmel ist unbewölkt. Der Feuerball leuchtet glutrot, als jeder seinen Gedanken nachhängt und das Schauspiel in sich aufnimmt. Habe ich nicht wegen solcher Bilder das Studium aufgenommen? Chris versinkt in Gedanken an seine Vergangenheit. Mensch, du hast es geschafft, du hast deinen Traum Wirklichkeit werden lassen! Ein Lächeln spielt um seine Mundwinkel, als Gerd und 88
Michael gehen. Er selbst bleibt stehen und sieht der Sonne zu, bis sie unter dem Horizont versunken ist. Dann geht er hinunter in die Cafeteria, in der sich der größte Teil der wissenschaftlichen Besatzung aufhält. An der Selbstbedienungstheke holt er sich einen Kaffee und setzt sich zu der Gruppe der Geographen, die sich angeregt im Gespräch befindet. Erik spricht ihn an. "Na, wie ist deine Stimmung? Wir sind unterwegs, jetzt gibt's kein Zurück mehr." "Nein, umgekehrt wird nicht mehr. Ich hab' mir grad' eben den Sonnenuntergang über der See 'reingezogen, war 'ne geile Sache." "Glaub' ich dir." "Sowas läßt einen immer wieder in Träume verfallen ich hab' mich gefragt, warum ich überhaupt dieses Studium angefangen habe." "Und?" "Ich weiß keine Antwort - nur die, daß mir die Sache mit dieser Expedition jahrelang im Kopf herumgegangen ist und immer für mich der Antrieb war, weiterzumachen." "Ja, was machst du dann, wenn wir wieder da sind und die ganze Expedition vorüber ist? Dann wäre dein ganzer Antrieb weg." "Dann gehe ich in Rente." Chris trinkt seine Tasse halbleer, hört den Kollegen zu, die Anekdoten aus ihrer Zeit als Studenten zum Besten geben. Nun, er kann da mithalten; geisteskranke Professoren, Unfälle auf Exkursionen und Explosionen während langweiliger Vorlesungen hat jeder miterlebt. Sie essen zu Abend, feiern in dieser Nacht den Start der Expedition. Nur Erik ist, wie Chris auffällt, tatsächlich früher im Bett als gestern. Die Stimmung unter den Wissenschaftlern ist gut, es gibt keine Glaubenskämpfe unter ihnen, wie er sie des öfteren erlebt hat, und man harmoniert zu Beginn recht gut miteinander. 89
Chris ist zufrieden. IV. Heute ist der erste Tag auf See, und für den Vormittag ist eine Besprechung aller wissenschaftlichen Mitarbeiter angesetzt. Zwar haben sich die meisten von ihnen in den letzten Tagen, wenn nicht schon früher, kennengelernt, doch eine richtige Vorstellung der Forscher untereinander hat es bislang noch nicht gegeben. Heute Vormittag soll deswegen jeder der Wissenschaftler in leitender Position einen kurzen Vortrag über seine Forschungsausrichtung und seinen Beitrag an dieser Forschungsreise halten. Die Kantine ist voll, heute ist der erste Tag, an dem alle Wissenschaftler hier sitzen. An Chris' Tisch sitzen neben Erik, Michael und Gerd zwei Biologen, und sie unterhalten sich angeregt über die Arbeit an diesem Projekt. Als es auf zehn Uhr zugeht, ist der Vortragssaal mit den 150 Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Mitarbeitern gut gefüllt. Chris tritt vom hinteren Ende des Saals ein und geht durch den Raum zu dem Tisch, an dem Michael und Gerd bereits Platz genommen haben. Der Kreis der Forscher ist komplett, Chris setzt sich und erhebt das Wort. "Guten Morgen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, heute ist der erste Tag, an dem wir uns unausweichlich auf der Pelle hängen und an dem einige von uns arbeiten, während der größte Teil in den nächsten drei Monaten Däumchen drehen kann. Nun, ich glaube, uns wird trotzdem nicht langweilig werden, es gibt nicht nur für die Ozeanologen und Meteorologen genug Arbeit an Bord. Jedenfalls begrüße ich Sie alle an Bord der "Challenger", dem Schiff, das eine neue Welt entdecken soll. Und ich glaube, daß ich mich Ihnen nicht mehr selbst vorzustellen brauche, denn die meisten von Ihnen habe ich in den letzten Monaten persönlich kennengelernt. Für die anderen: Mein Name ist Chris Kolon, ich hatte die Idee zu diesem Projekt und habe an der Planung federführend mitgearbeitet. An Bord dieses Schiffs bin ich Leiter der Geo-Abteilung, mit den 90
Unterabteilungen Bodenkunde.
Geographie,
Geologie
und
Zu meiner Person: Ich bin Doktor der Geographie, meine Forschungsschwerpunkte waren in den letzten Jahren die Einflüsse menschlichen Wirtschaftens auf die Erdoberfläche. Und Ähnliches möchte ich auch auf dem neuen Kontinent ins Auge fassen." Er macht eine kurze Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken. "Was wir für diesen Morgen geplant haben, ist eine kurze Vorstellung der Vorhaben aller beteiligten Wissenschaftler, damit jeder der hier Sitzenden einen Überblick darüber bekommt, was an Bord dieses Schiffs läuft. Ich möchte damit das Wort an meinen Kollegen, Gerd Rums, abgeben." "Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Chris hat die wichtigsten Grundsätze des Projekts Ihnen gegenüber schon erläutert. Ich möchte zur Gestaltung unserer Freizeit an Bord hinzufügen, daß wir über umfangreiche Freizeiteinrichtungen verfügen, in denen man sich diese vertreiben kann. Doch ich möchte hier nicht unserer eigenen Faulheit das Wort reden, denn wir wollen auch etwas auf dieser Reise tun. Nun zu mir, ich bin Biologe, und Leiter der Biologischen Abteilung dieses Projekts. Wir werden uns nach der Landung des Schiffs an der Küsten des neuen Kontinents um die Flora und Fauna des Landes kümmern, und ich bin mir eigentlich sicher, daß wir einige Überraschungen erleben werden, daß wir neue Pflanzen- und Tierarten entdecken werden, die vor uns noch kein Mensch zu sehen bekommen hat. Wir haben uns die Arbeit in der neuen Welt so vorgestellt, daß wir mehrere Expeditionen ausrüsten werden, die sich bestimmte Standorte suchen und an diesen die Pflanzengesellschaften kartieren werden. Die Zoologen unter uns werden sich in dieser Zeit um die Tiergesellschaften der neuen Welt kümmern. Schließlich gibt es eine Landstation in der alten Welt, die sich um die statistische Aufbereitung des von uns gesammelten Materials kümmern wird, so daß wir hier in erster Linie 91
Feldarbeit leisten werden. Damit bin ich fertig, und ich gebe das Wort an Herrn Michael Schwamm weiter." "Danke. Auch ich wünsche Ihnen allen eine guten Morgen, ich hoffe, daß die Anwesenden den Rausch der letzten Abende in der Zwischenzeit ausgeschlafen haben und zum Zuhören bereit sind. Die Abende der letzten Tage haben mir persönlich gezeigt, daß wir an Bord sehr gut miteinander auskommen können und unsere Freizeit auch interdisziplinär gestalten werden. Zu meiner Person: Ich bin Leiter der Abteilung Ozeanologie und Meteorologie. Wir haben diese beiden Bereiche zusammengefaßt, weil in ihnen schon jetzt Feldarbeit anfällt, während sich die anderen beiden Abteilungen in erster Linie auf die Vorbereitungen ihrer Arbeit konzentrieren können. Oder auf den Müßiggang... Aber zur Sache: Wir werden im Verlauf dieser Überfahrt Daten sammeln und bearbeiten, die der Menschheit bisher noch nicht zur Verfügung standen. In rund zwei Wochen werden wir eine Position erreicht haben, an der vor uns bisher kein Mensch war, nämlich die Position, bis zu der vor zwei Jahren ein Forschungsschiff vorgedrungen ist. Dahinter, meine Damen und Herren, befindet sich vollkommen unerforschtes Gebiet, in dem vor uns kein Mensch war, wir werden die ersten Menschen dort sein! Das sollten wir uns immer vor Augen halten, wenn wir über diese Fahrt nachdenken, und wir sollten uns auch über die Verantwortung klar sein, die wir für die Menschheit tragen. Denn wenn wir falsche Daten liefern, oder wenn wir Märchen im Umlauf setzen über das, was wir gesehen haben, können wir in der jetzigen Zeit Schlimmes auslösen, wir könnten zum Beispiel Menschen dazu verleiten, in einem Massenexodus in der neuen Welt einzufallen. Ich möchte Ihnen das deutlich vor Augen halten! Doch jetzt zu der fachlichen Seite der Expedition. Wir werden jeden Tag, an dem wir unterwegs sind, jeweils eine Sonde in das Meer werfen, die bis auf den Grund der See sinkt. Dabei wird die Sonde in Tiefenstaffelungen von 500 Metern Wasserproben entnehmen und beim Auftreffen auf den Meeresboden 92
mit Hilfe eines Bohrers eine Bodenprobe entnehmen. Anschließend wirft die Sonde ein Ballastgewicht ab und taucht wieder auf. Während des Ab- und Auftauchens werden ständig Temperatur und Druck gemessen und aufgezeichnet. Nach dem Auftauchen gibt ein Sender ein Peilsignal ab, so daß die Sonde geortet werden kann. Sie wird dann von einem unserer Flugzeuge mit Hilfe einer Seilwinde an Bord genommen und zum Schiff zurückgebracht. Damit haben wir die Möglichkeit, auf unserer Route detailliert Daten über den Zustand des Meeres zu sammeln. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt unserer Arbeit ist die Meteorologie. Wir werden täglich mit einem unserer Flugzeuge starten und Daten zur Wetterlage bis in Höhen von 12000 Metern nehmen können. Dazu haben wir natürlich eine eigene Meßstation an Bord des Schiffs, mit der wir 24 Stunden am Tag Daten sammeln. Schließlich planen wir, jede Woche einmal einen Höhenballon aufsteigen zu lassen, um Daten aus der Stratosphäre sammeln zu können. Sobald die Meßsonde ihre Gipfelhöhe erreicht hat, wird sie vom Ballon getrennt und schwebt an einem Fallschirm zur Meeresoberfläche zurück, sie wird dann ähnlich wie die Meeressonden vom Flugzeug aus aufgenommen. Nun, das sind unsere Geräte, und sie werden täglich durch den Fluglärm hören können, wann die Sonden wieder an Bord kommen. Schließlich möchte ich noch kurz darauf eingehen, was wir mit unserer Daten anfangen wollen. In unserer heutigen Zeit, in der sich die Umweltverschmutzung klimatologisch auszuwirken beginnt, brauchen wir Daten aus der ganzen Welt, um Veränderungen des Klimas abschätzen zu können. Und wir sind die Ersten, die dabei Daten aus der neuen Welt nehmen werden. Ich hoffe dabei, daß wir auf dem neuen Kontinent keine Veränderungen des Klimas feststellen werden, wie wir sie in unserer alten Welt haben. Zudem sollten wir nach einer Fahrtstrecke von mehreren Wochen keine Veränderungen in der Ozonschicht und der Stratosphäre allgemein feststellen können. Um herauszufinden, ob sich hier etwas getan hat, nehmen wir Messungen vor, so zum Beispiel über den Gehalt 93
der Atmosphäre an Kohlendioxid. Und es ist ein persönliche Interesse von meiner Seite, Veränderungen in diesem Bereich festzustellen, denn eine Klimakatastrophe hätte vernichtende Folgen für uns alle. Damit gebe ich das Wort an Chris weiter." Bei den letzten Worten von Michael gab es betroffene Gesichter bei einigen der Anwesenden, denn ein Ziel der Arbeit ist es, einen bisher nicht von Menschen betretenen Teil dieses Planeten auf Folgen menschlicher Eingriffe zu untersuchen. Chris hakt an diesem Punkt ein. "Als letzter möchte ich meinen Forschungsbereich vorstellen. Wir werden uns in den Wochen, die wir uns auf dem neuen Kontinent aufhalten werden, um die Geologie und die Geomorphologie kümmern. Der Untergrund soll untersucht werden, dazu werden wir unter anderem mehrere Bohrungen durchführen und nach Aufschlüssen suchen, dann werden wir Bodenproben nehmen und auswerten. Gleichzeitig werden wir mit Hilfe unserer Luftflotte Luftbilder aufnehmen und unsere Kartographen diese in Karten verwandeln, was natürlich in der Kürze der Zeit nur in sehr grobem Maß möglich ist. Doch das wird uns helfen, unsere Ergebnisse zu dokumentieren. Und ich habe, wie ich hier betonen will, ein persönliches Interesse daran, ob wir in den Bodenproben Spuren der Verunreinigungen finden, die wir im Boden unserer alten Welt haben, in erster Linie werde wir dabei nach Pestiziden und Schwermetallen fahnden. Mein eigener Forschungsschwerpunkt wird dabei die Geomorphologie der neuen Welt sein, und ich bin gespannt darauf, welche Überraschungen uns dabei erwarten. Von unserer Seite ist die Vorstellung damit erledigt, ich möchte nun das Wort an die Leiter der Unterabteilungen weitergeben." Chris weißt auf eine Kollegin, die federführend die Arbeit der Geologen leiten wird, und sie erzählt einiges über die Untersuchungsmethoden und Forschungsschwerpunkte der Geologen an Bord. Im Anschluß daran kommen auch die anderen Leiter der 94
Unterabteilungen zu Wort, so daß eine Stunde später jeder der Anwesenden darüber informiert ist, was in den Sparten Geographie, Geologie, Bodenkunde, Kartographie, Labortechnik, Zoologie, Biologie, Ozeanologie, Meteorologie und Klimatologie vor sich geht. Es ist nach zwölf, als Chris die Versammlung beendet. Die drei Leiter der Wissenschaftsabteilung unterhalten sich kurz über den erfolgreichen Verlauf der Vorstellung, gehen dann in ihr gemeinsames Büro und anschließend in die Kantine zum Mittagessen. Dabei wird vor allem Chris ständig von anderen Wissenschaftlern angesprochen und unterhält sich mit diesen über den Sinn und die wissenschaftliche Ausrichtung der Reise. Nach dem Essen gibt es für ihn nichts mehr zu tun, so daß er sich auf die Brücke begibt. Dort trifft er den Rudergänger und den zweiten Offizier, der Kapitän selber wird gerade von Mittagessen zurückerwartet. So geht Chris zum Kartentisch und sieht sich an, welchen Kurs die "Challenger" in den letzten Stunden gefahren ist. Die letzte Eintragung auf der Karte ist vom Kapitän direkt vor seiner Pause gemacht worden, und Chris erkennt, wie sie in den letzten 20 Stunden vor der Küste des alten Kontinents entlang gefahren sind und einen weiten Bogen nach Süden beschreiben. Er sieht nach links aus der Brücke heraus, da ist keine Küste zu sehen, sie fahren nicht nah genug unter Land. In der Ferne, vielleicht 10 oder 15 Seemeilen entfernt, kann er die Aufbauten eines Handelsschiffs erkennen. Das werden wir in zwei Wochen nicht mehr können, denkt er, dann sind wir ganz alleine. Noch drei Tage, und wir haben das Land hinter uns gelassen, dann dürften wir die letzte Inselgruppe passiert haben, dann liegt für Monate nur Meer vor uns. In diesen Betrachtungen betritt der Kapitän die Brücke. "Ah, Herr Kolon, wie ist sie Konferenz verlaufen?" "Wir haben uns gut unterhalten. Ich glaube, jetzt wissen einige der Kollegen mehr als vorher über das, was sie hier auf dem Schiff sollen."
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"Man hat mir gesagt, daß es wegen der Umweltpolitik harte Töne gegeben hat?" "Wissen Sie, es gibt einige Leute, die studiert haben, weil sie etwas für die Umwelt tun wollten, ich gehöre auch dazu. Und dann ist natürlich klar, daß man sich bei einem solchen Unternehmen auch auf Umweltaspekte stürzt." "Aber das war doch nie der Hauptzweck dieser Reise?" "Nein, wir wollen einen neuen Kontinent betreten, das ist der Grund, warum wir hier sind. Wie sieht es mit der nautischen Seite aus?" "Wir kommen voran, bislang sind wir genau im Zeitplan. Es hat keine Probleme mit dem Schiff, dem Wetter oder anderen Dingen gegeben." "Das freut mich. Was sagt das Wetter? Wie sieht es in den nächsten Tagen aus?" "Morgen werden wir noch durch dieses Hochdruckwetter fahren, aber wir müssen damit rechnen, ab übermorgen Sturm zu haben. Einen starken Wintersturm, der uns ganz schön durchrütteln kann." "Öh... nun, ich hoffe, daß ich nicht seekrank werde. Das Schiff wird das doch aushalten, oder?" "Da sehe ich keine Probleme. Außerdem haben wir die Tanks voll, und damit liegen wir stabil wie ein Brett." "Ich will Ihnen gerne glauben, denn ich will in der Kantine essen können und nicht die ganze Zeit in meiner Kabine liegen und mit dem Brechreiz kämpfen." "Daran gewöhnen Sie sich schon." "Aber bis dahin wird's hart." "Dann nehmen Sie etwas ab, das kann Ihnen nur gut tun. Solange Sie an Bord sind, haben Sie ja ohnehin keine größeren körperlichen Anstrengungen."
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"Aber dafür später. Wenn ich zwei, drei Wochen an Land unterwegs bin, werde ich alle meine Kräfte brauchen." Die Männer gehen zum Kartentisch herüber. "Wie sieht jetzt die weitere Fahrtroute aus? Wir dürften in drei Tagen das Westkap umringen und uns dann auf der freien See befinden, wenn ich das richtig abschätze." "Ja, wenn nichts dazwischenkommt, wird das in drei Tagen sein." "Da fällt mir doch spontan etwas ein: Wenn wir eine knappe Woche später die Inseln hier passieren, dann könnten wir doch mit einem Flugzeug noch frisches Obst und Post holen, bevor wir außer Reichweite des Landes sind." "Was haben Sie vor?" "Wir können unseren Leuten noch einen Service bieten, bevor wir drei Monate auf See sind." "Sie wollen also ein Flugzeug benutzen, um frische Nahrungsmittel einzukaufen?"> "Und um Briefe an zuhause Gebliebene abzugeben oder von diesen zu holen." "Hm, die Idee ist gar nicht so schlecht. Ich glaube, das ließe sich machen." "Dann sorgen wir am besten jetzt gleich dafür, daß auf dem Postamt ein Fach für uns eingerichtet wird, damit die Leute postlagernd Briefe schicken können - und Päckchen, wenn sie wollen." "Und wir müssen uns mit dem Flughafen in Verbindung setzen, damit sie uns die Post zu einem bestimmten Zeitpunkt bereitstellen." "Genau. Ach ja, und dann müssen wir wissen, was wir an frischen Nahrungsmitteln noch brauchen. Ich sollte 97
da 'mal in der Küche nachfragen, was die brauchen können." "In Ordnung, dann teilen Sie mir das hinterher mit. Und dann sollten wir den Plan der Mannschaft bekannt geben." Chris verläßt die Brücke und bespricht seinen Plan mit dem Küchenchef. Anschließend geht er in sein Büro und teilt Gerd und Michael sein Vorhaben mit, dann setzen sie ein Rundschreiben an die Mannschaft auf, nachdem Chris sich aus der Telemetrie die Adresse der Post auf der Insel, die sie als letzte passieren werden, hat geben lassen. Nach der Vervielfältigung des Rundschreibens und seiner Verteilung herrscht beim Abendessen freudige Erregung über Chris' Einfall, und er hat den Eindruck, die Mannschaft damit positiv für sich gestimmt zu haben. Halte Deine Leute bei Laune, hatte er sich in den letzten Wochen immer wieder gesagt. Damit es nicht zu Schlägereien und Streitigkeiten kommt, mußt du sie zu guter Stimmung motivieren. Wenn sich Alle auf dem abgeschlossenen Raum des Schiffs monatelang auf der Pelle hängen, dann kann der kleinste Funke genügen, um den Zusammenhalt der Mannschaft auseinanderbrechen zu lassen. Nach dem Essen kann Chris den Plan mit dem Kapitän festmachen: In zwei Wochen wird der Stichtag sein, an dem eine Maschine den Flughafen auf der Insel anfliegen kann und mit Post und Nahrungsmitteln beladen zurückkehren wird. Das wird für die Maschine eine Flugstrecke von rund 1800 Seemeilen sein, damit ist noch eine Sicherheitsmarge bis zu der maximalen Reichweite von 2000 Seemeilen bei voller Zuladung gegeben. Dies wird auch die Generalprobe für ein anderes Vorhaben sein, daß Chris seit einigen Tagen im Kopf herumgeht: Etwa eine Woche, bevor sie den neuen Kontinent erreichen werden, soll eine Maschine schon zu der neuen Küste starten, um Fotos von dieser machen zu können und somit den Menschen an Bord einen Eindruck zu geben, was sie da erwartet, und ob sie überhaupt mit dem Schiff dort anlanden können oder den Kurs ändern müssen. Er hat bei der Bestellung der Flugzeuge vorgesorgt, die Maschinen haben nicht nur 98
die Möglichkeit, Zusatztanks zu montieren und damit einen Teil der Zuladung für Treibstoff zu nutzen, sondern drei von ihnen können auch in der Luft betankt werden. Die vierte Maschine ist als Tanker ausgelegt, und diese Vorrichtung soll in den nächsten Tagen ausprobiert werden, um die Piloten in Übung zu halten. Als es Abend wird, steht eine Gruppe von Männern und Frauen lange Zeit an den Fenstern der Aussichtsplattform, die sich direkt unterhalb der Brücke befindet. Dieser Abend zeigt einen glutroten Sonnenuntergang, vielleicht der letzte für die nächsten Wochen, denn der Wetterbericht sieht schlecht aus. Das Schiff fährt einen strikten Westkurs, so daß sie direkt in die Sonne hineinzufahren scheinen. Chris denkt bei diesem Anblick lange daran, wem er schreiben soll, denn schließlich hat er zwei Frauen zuhause sitzen lassen. Diesen Gedanken vertreibt er sich an dem Abend wieder, als die Gruppe von Wissenschaftlern bis in den frühen Morgen zusammensitzt, säuft und Anekdoten austauscht. V. Michael kann seine Nervosität nicht länger verbergen, er tritt von einem Fuß auf den anderen. Seit acht Tagen sind sie auf See, und in dieser Zeit hat er eine Menge Daten der meteorologischen Station an Bord der "Challenger" gesammelt. Alle Meßgeräte funktionieren jetzt zufriedenstellend, nachdem das Staubmeßgerät in den ersten Tagen der Fahrt verrückt gespielt hatte. Es ist an der Zeit, den ersten Ballon mit einer Meßsonde zu starten. Und weil es das erste Mal ist, gehen alle Handgriffe daneben. Einem Mitarbeiter ist die Meßsonde bei der Aufhängung im Montageständer aus der Hand gerutscht, und nur durch die schnelle Reaktion eines Kollegen konnte verhindert werden, daß dieses Stück hochgezüchteter Technik, für das man zwei Pkw der automobilen Oberklasse kaufen könnte, zu Bruch ging. Wäre das passiert, wenn sich die Apparatur schon in der Schutzkapsel befunden hätte, wäre das egal gewesen, denn die Kapsel ist dazu da, die Meßapparatur vor
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Stößen zu schützen - sonst könnte man das Gerät nicht auf dem Meer landen lassen. Danach hatte es keine Unfälle mehr gegeben, aber die Handgriffe waren für die Mitarbeiter der meteorologischen Abteilung ungewohnt, und so dauerte es länger als geplant, bis der Ballon montiert war. Michael atmet auf, denn wenn die Sonde nicht bis zum Sonnenuntergang eingeholt ist, gibt es Schwierigkeiten mit ihrer Bergung. Nun hängt die zigarrenförmige, als Schwimmboje ausgelegte Kapsel an dem Trägergestell, das sich mitten zwischen den beiden Wohnflügeln aufbaut und dadurch einen zuverlässigen Windschutz bietet. Der letzte Check der Kapsel ist abgeschlossen, die externe Stromversorgung ist abgezogen und der Funkkontakt hergestellt. Ein Mitarbeiter hat gerade den Schlauch für die Heliumzufuhr angeschlossen, und Michael sieht in einer Tabelle nach, wieviel sie von dem Gas in die Hülle pumpen müssen, damit der Ballon hoch genug steigt, aber nicht in der dünnen Höhenluft platzt, weil er zu sehr gefüllt ist. Nach einer Viertelstunde ist diese Arbeit erledigt. Dann sieht sich Michael ein letztes Mal die Abwurfeinrichtung und die Auslösevorrichtung für den Fallschirm an, und gibt das Signal für den Start des Ballons. Er tritt zurück, und per Knopfdruck löst ein Mitarbeiter die Haltevorrichtungen, die unten die Kapsel und oben den Ballon festgehalten haben. Dann wird die Kapsel an einer Teleskopstange so lange steigen gelassen, bis sie die Höhe der Decksaufbauten erreicht hat und sich nirgends mehr verfangen kann. Schließlich wird sie freigelassen. Die sechs Männer und eine Frau auf dem Deck sehen gespannt zu, wie der Ballon an Höhe gewinnt und hin und her geschüttelt wird. Es dauert zwei oder drei Minuten, dann können sie ihn nicht mehr sehen. Michael entspannt sich, jetzt kann nicht mehr viel passieren, die schwierigste Arbeit ist getan. Beim nächsten Mal, in einer Woche, da werden die Handgriffe sitzen. Es ist ein schöner Aprilmorgen, der sich da über den sieben Menschen wölbt. Fast die ganze letzte Woche 100
hatte es Sturm und Regen gegeben, sie sind durch mehrere Tiefausläufer gefahren. In den ersten beiden Tagen war mehr als die Hälfte der wissenschaftlichen Besatzung seekrank gewesen, und die andere Hälfte hatte die Kantine zu allen Mahlzeiten für sich. Nach drei Tagen begann sich das Wetter zu bessern, vor aber allem ließ der Wellengang nach. Chris hatte drei Tage lang nichts gegessen und sah wie ein Schatten seiner selbst aus. Als am vierten Tag dann Sturm und Dünung erneut zunahmen, wurden die meisten Wissenschaftler wieder seekrank. Doch Chris war über das Schlimmste hinweg, ihm ging es von Tag zu Tag besser, und gestern waren alle Anzeichen von Seekrankheit verschwunden. Vier Tage liegt es nun zurück, daß sie das Westkap umrundet haben. Der Kapitän hatte extra einen scharfen Südkurs steuern lassen, damit die Besatzung das letzte Mal für Monate ein Stück Land sehen konnte. Sie hatten an der Rehling gehangen, die das Flugdeck umgibt, hatten Späße gerissen und der Küste zugewunken. Dann, als das Land außer Sicht geriet, wurde allen klar, daß sie nun nur noch Wasser vor sich hatten, drei einsame Monate lang. Einige waren in nachdenkliche Stimmung verfallen, andere feierten die überstandene Seekrankheit am selben Abend. Und kotzten durch das ganze Schiff, weil sie den Alkohol nicht mehr vertrugen. Michael geht in sein Büro zurück. Er ist durchgefroren, die Hände sind gerötet, kalt und unbeweglich, denn die Handschuhe hatte er bei der Kontrolle der Kapsel ausgezogen. Als er das Büro betritt, sitzt Chris an seinem Schreibtisch, ein Brötchen in der Hand und auf den Bildschirm seines Computers blickend. Er bemerkt Michael und sieht zu ihm auf. "Ihr habt ja verdammt lange gebraucht." "Was? Wofür lange "Na, um den Ballon hochzukriegen. Ich sitze seit einer Stunde hier vor dem Terminal und warte darauf, Daten zu sehen." "Und sonst hast du nichts zu tun?" 101
"Nö, ich hab' mich in den letzten Tagen in mein Statistikprogramm vertieft, das reicht mir. Wenn du in zwei oder drei Tagen Bodenproben hochholst, dann hab' ich noch genug Arbeit." "Ich reiß' mir hier den Arsch auf, und du sitzt im Warmen und futterst." "Alter, ich hab' drei Tage lang nix gegessen, ich hab' vier Kilo abgenommen, die freß' ich mir jetzt wieder drauf, denn wenn ich an Land gehe, brauch' ich Kraft." "Dann solltest du besser Sport treiben als nur zu essen." "Tu' ich ja auch. Ich war heute morgen schon 'ne halbe Stunde im Kraftraum, bevor ich geduscht hab'. Und heute Abend geh' ich mit Erik Squash spielen." "Na gut. Und sonst tust du nichts? Machst du hier Urlaub?" "Nö, aber ich mach' mir jetzt noch keinen Streß. Das wird noch schlimm genug, wenn wir da sind. Warum fragst du, hast du zuviel zu tun?" "Ach, grad' eben ist fast alles schiefgelaufen, was schieflaufen kann. Wir haben fast eine ganze Stunde länger gebraucht, als nötig gewesen wäre, und du weißt ja, wie die Kacke am dampfen ist, wenn die Sonde nicht vor Sonnenuntergang 'runterkommt. Und dann ist die Sonde auch noch fast auf den Boden geknallt, bevor wir sie in die Kapsel eingesetzt haben." "Wir haben nur zwei davon, sei vorsichtig." "Das hab' ich dem Kollegen auch gesagt, dem sie 'runtergefallen ist. Naja, jetzt haben wir sie oben, und ich glaube, beim nächsten Mal sitzen die Handgriffe, zum Schluß ging's ganz gut." Chris blickt auf seinen Bildschirm. "Sieht so aus, sie ist jetzt auf knapp zwei Kilometern Höhe."
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"Was?" "Na, ich hab' mir hier die Daten 'reingeholt, die von der Sonde kommen." "He, laß sehen!" Michael macht einen Satz hinter Chris' Stuhl, dieser lehnt sich zur Seite, damit Michael besser sehen kann. Die Sonde funkt ständig Daten über Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit, Radioaktivität und Partikelgehalt der Luft zum Schiff herunter. Beide Männer sehen sich an, wie die Sonde höher steigt. Chris schaltet um und bekommt vom Computer angezeigt, wie weit sich die Sonde im Moment vom Schiff entfernt befindet. Schließlich stellt Michael sich wieder aufrecht, alle Systeme an Bord der Sonde funktionieren augenscheinlich einwandfrei. "Siehst du, sie läuft. Sie tut alles, was sie soll. "Und sie wird hoffentlich auch heute Nachmittag wieder heil an Bord zurückkommen." "Und wenn schon, dann hast du eine ganze Woche Zeit, sie wieder zuammenzuschrauben." "Dösel! Du weißt, wieviel die Dinger gekostet haben." "Mehr als wir in zwei Jahren verdienen können." "Genau. Und deshalb müssen wir damit verdammt vorsichtig sein." "Ja, Michael, das Leben ist hart. Sollen wir uns 'was essen gehen?" "Du hast doch grad' erst gegessen!" "Das war nicht genug, ich hab' immer noch Hunger." "Dann laß uns gehen, ich kann jetzt 'ne Kanne Kaffee vertragen." Die beiden Männer stehen auf, gehen in die Cafeteria. Es dauert noch eine Stunde, bis es Mittagessen gibt, 103
und hier halten sich die Wissenschaftler auf, die in diesen Tagen keine Arbeit haben. Michael und Chris setzen sich an einen freien Tisch, dann berichtet der Meteorologe, was an diesem Morgen alles schiefgelaufen ist. Beide wünschen sich, daß es bei dem Aussetzen der ersten Meeressonde nicht zu einem Zwischenfall kommt, wie sie das von anderen Missionen her kennen. Schließlich erwarten beide die Rückkehr der Sonde. Eine halbe Stunde nachdem sie ihre Gipfelhöhe erreicht hat, wird sie sich automatisch auslösen und frei herunterfallen, bis in 10000 Fuß Höhe der Fallschirm öffnet und die Kapsel dann gebremst zur Meeresoberfläche zurückbringt. Der Fallschirm wird mit einer Sprengladung zehn Meter über der Wasseroberfläche abgesprengt, damit er die Kapsel selbst nicht bedeckt. Wenn die als Boje ausgeformte Kapsel dann drei Auftriebskörper mit Preßluft aufgeblasen hat und wieder aufgetaucht ist, wird der Peilsender aktiviert und eine Seilschlinge ausgeworfen, damit diese vom Flugzeug aus mit einem Haken aufgenommen werden kann. Über eine Seilwinde wird die Kapsel später an Bord und in den Innenraum gezogen. Dieses Unternehmen hatten die Piloten in den letzten Monaten vor Beginn der Fahrt geübt, und beide Männer hoffen, daß sie tatsächlich keine Fehler machen. Aber bis dahin ist noch Zeit, denn es wird mindestens zwei, eher drei oder vier Stunden dauern, bis der Ballon nicht mehr weiter steigt. Am Nachmittag sehen sich Michael, Chris, Gerd und einige Mitarbeiter die Daten auf dem Bildschirm an, die von der Sonde zum Schiff gefunkt werden. Man diskutiert heftig miteinander und interpretiert eifrig, bis der Befehl zum Auslösen der Kapsel übermittelt wird. Chris stößt einen kurzen Schrei aus, greift zum Telefon und ruft den Tower an. Damit ist klar, in einer Viertelstunde wird eine Maschine starten und die Sonde bergen. Als er wieder auf den Bildschirm sieht, zeigen die Daten, daß die Kapsel an Höhe verliert und in dichtere Luftschichten eindringt. In diesem Moment sitzen auch in anderen Räumen dieses Schiffs Leute vor ihren Terminals und beobachten, was die Sonde macht. Die gesamte EDV 104
der "Challenger" ist miteinander vernetzt, was jeder angeschlossenen Workstation die Möglichkeit gibt, auf Daten wie die gerade einlaufenden Meßdaten der Sonde zuzugreifen. So ist es auch möglich, in Sekundenschnelle die Position der Sonde und des Schiffs zu bestimmen, denn auch die Navigationsanlage des Schiffs ist an diese Vernetzung angeschlossen. Chris hat sich dabei vor allem darüber gefreut, wie schnell bestimmte Programme ablaufen. Als er sich in den letzten Tagen wieder in sein Statistikprogramm eingearbeitet hatte, hat er es schätzen gelernt, nicht mehr eine halbe Stunde seinen eigenen Rechner herumarbeiten zu lassen, sondern den Job in wenigen Sekunden vom Zentralrechner erledigen zu lassen. Nun feiern die anwesenden Wissenschaftler innerlich bereits den Erfolg der Mission der Sonde, doch Chris und Michael sind skeptisch. Solange die Kapsel nicht wieder an Bord ist, ist der Erfolg nicht sicher. Die Daten sind zwar gesichert, aber die Sonde selbst ist das noch nicht. Gerd bleibt im gemeinsamen Büro, Michael und Chris ziehen sich ihre Jacken und Schals an und gehen zum Flugdeck. Dort steht gerade eine Maschine, die soeben flugfertig hergerichtet, betankt und mit dem Aufzug hochgefahren worden ist. Chris wechselt einige Worte mit dem Piloten, verabschiedet sich von ihm. Zu Michael zurückgekehrt, berichtet er, daß sich die Kapsel durch heftigen Gegenwind abgetrieben rund 180 Seemeilen nordwestlich vom Standort des Schiffs befindet. Michael wirft einen Blick zum Himmel, sie war vier Stunden oben, und sie ist sehr spät gestartet, das wird knapp. Der Himmel ist bedeckt, aber er kann trotzdem sehen, wie tief die Sonne jetzt schon steht. Nun, er drückt sich selbst die Daumen, daß die Rückholaktion noch vor Einbruch der Dunkelheit abgeschlossen sein wird Der Pilot läßt die Turbinen warmlaufen, eine Minute später gibt er Vollschub und hebt ab. Nach fünf Sekunden dreht er die Maschine nach rechts, kippt die Rotoren nach vorne und geht in den Vorwärtsflug über. Er weiß, daß die Zeit drängt, und entfernt sich mit Vollschub vom Schiff, ohne erst in den Steigflug zu gehen. Chris und Michael wehen die Haare auf dem 105
Kopf, der Schub der Rotoren ist bis zum Flugdeck zu spüren. Dann gehen sie zwischen den Wohnflügeln zum vorderen Teil des Aufbaus, fahren in den Tower hoch und warten. Nach einer halben Stunde meldet der Pilot, daß er die Kapsel gesichtet hat. Es hat zu dämmern begonnen, aber er will die Bergung trotzdem versuchen. Der Copilot schnallt sich ab, geht an die Tür der Kabine, sichert sich dort mit einem Karabiner und öffnet die Tür. Unter sich sieht er das Stroboskoblicht der Kapsel blitzen, und schwach kann er das neonfarbene Seil erkennen, daß er mit dem Haken greifen muß. Er läßt den Piloten tiefergehen. Zwanzig Meter über der Meeresoberfläche bleibt der Flugschrauber in der Luft stehen. Dann schwenkt der Co die Winde aus, löst den Haken aus der Sicherung und läßt ihn hinab. Der Pilot fliegt auf seine Anweisung hin ein Stück nach vorne, doch der Haken greift nicht. Das Meer ist aufgewühlt, und das Tageslicht wird von Minute zu Minute schwächer; hat das überhaupt noch einen Sinn? Der Pilot fliegt einige Meter zurück, und das Spiel beginnt von vorn. Diesmal greift der Haken, doch bevor der Co die Winde betätigen kann, spült eine Welle die Kapsel hoch und läßt sie vom Haken gehen. Scheiße. Er will es noch ein letztes Mal versuchen, auch wenn er kaum noch etwas sieht. Zum dritten Mal fliegt der Pilot einige Meter mit der Maschine nach vorne, und wieder greift der Haken. Bevor nun eine Welle kommt, schreit der Co über die Bordsprechanlage den Piloten an, die Maschine hochzuziehen, und betätigt gleichzeitig die Winde. Und nun klappt es endlich. Er freut sich, als er im letzten Tageslicht sieht, wie sich die Kapsel nähert. Dann hat er sie direkt vor der Tür, schwenkt die Seilwinde herein und nimmt damit die Kapsel an Bord. Schließlich verstaut er sie in der Halterung, die für diesen Zweck eingebaut wurde, und nimmt auf dem Copilotensitz platz. Der Pilot schiebt die Schubhebel nach vorn, steigt auf 2000 Fuß und fliegt so schnell als möglich zum Schiff zurück. Über Funk teilt er mit, daß sie die Kapsel geborgen haben. An Bord der "Challenger" atmen einige Forscher auf.
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Nach einer weiteren halben Stunde setzt er sauber auf dem Flugdeck des Schiffs auf. Michael und Chris sehen zu, wie ihre Mitarbeiter die Kapsel entladen und auf einen Wagen heben, um sie dann unter Deck zu bringen. Sie klopfen sich auf die Schulter, die Mission hat geklappt. Morgen wird es an die Auswertung der Daten gehen, bis dahin ist noch viel Zeit. Während die Maschine unter Deck gebracht und die Kapsel in der Werkstatt demontiert und für den nächsten Einsatz vorbereitet wird, gehen sie beide in ihr Büro zurück und wärmen sich bei einer Tasse Tee auf. Morgen werden sie sich die Daten ansehen, die von der Sonde gekommen sind. Und dann wird es auch Zeit für den Bericht der Wissenschaftler, man hatte sich darauf geeinigt, einmal die Woche einen Bericht über den Fortgang der Arbeiten zu erstellen und allen Beteiligten zu übermitteln, also den Mitarbeitern an Bord, dem Ministerium, den Kollegen an Land und nicht zuletzt der Presse und den Medien. Doch bis dahin ist noch Zeit, zu dritt sind die Daten der Meteorologen schnell ausgewertet. Also gehen beide Männer in die Kantine und essen zu Abend, bevor sie sich den Freizeitvergnügungen hingeben. Seit zwei Wochen ist die "Challenger" nun auf See. Das Bordleben hat sich in dieser Zeit eingespielt; verschiedene Cliquen haben sich herausgebildet, und für die Wissenschaftler gab es unterschiedlich viel zu tun: Die Ozeanologen werfen seit drei Tagen an jedem Tag eine Meeressonde ab, die Meteorologen haben mit den Daten, die sie seit Beginn der Fahrt sammeln und mit den Bildern, die direkt von den Satelliten übermittelt werden, ebenfalls reichlich Arbeit. Gerd kümmert sich um die Analyse der Fauna und Flora des Meeres, die sich in den Wasserproben der Sonden befindet; Chris bearbeitet mit seiner Abteilung die Bodenproben vom Meeresgrund. Trotzdem haben manche der Wissenschaftler wenig Arbeit, so daß sie morgens erst spät zum Frühstück erscheinen und abends das Freizeitangebot des Schiffs nutzen. Das Kino zeigt in zweitägigem Wechsel aktuelle Spielfilme, auch die Sporteinrichtungen an Bord sind ausgelastet.
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Gestern wurde zum zweiten Mal eine Stratosphärensonde gestartet, und bei der Analyse der Meßergebnisse zeigten einige Wissenschaftler betroffene Gesichter, denn obwohl man sich mehr als 2000 Seemeilen von der Küste der letzten Zivilisation entfernt hat, ist die Konzentration an Kohlendioxid höher als erwartet, und die Dicke der Ozonschicht geringer, als man vermutet hatte. Beide Meßwerte waren einigen der Wissenschaftler übel aufgestoßen, kein Mensch hatte damit gerechnet, daß sich die Erscheinungen fortschreitender Umweltzerstörung noch in dieser Entfernung zum Land feststellen ließen! Es hatte Kontroversen darüber gegeben, ob man das Alarmsignal nicht ohne Umschweife direkt der Presse übermitteln solle, oder ob man erst weiter Daten sammeln solle, um in Erfahrung zu bringen, ob sich diese Tendenz weiter fortsetzt. Unter dem Druck, daß er damit Panikmachern Vorschub leisten und den wissenschaftlichen Ruf der Expedition in Verruf bringen könne, hatte sich Chris dazu entschieden, die Meßwerte vorerst unkommentiert zu lassen. Man wollte sehen, ob sich in den nächsten Monaten ähnliche Meßwerte ergeben. Die Analysen der Wasserproben zeigten ein ähnliches Bild. Auch hier war die Belastung der Meere mit Schwermetallen, Umweltgiften und Industrieabfällen weit höher als erwartet. Und auch dieses Meßergebnis hatte sie Alarmglocken in den Köpfen der Wissenschaftler klingeln lassen, doch man wollte auch hier abwarten, ob sich diese Tendenz weiter fortsetzt. Heute ist der Tag, an dem ein Flugzeug vom Schiff zum allerletzten Mal Post und frische Lebensmittel an Bord bringen wird. Gestern war die Maschine gestartet, und die Piloten hatten auf der Insel übernachtet, um am Nachmittag zurückkehren zu können. In der Nacht davor hatte Chris einen Brief an Sylvia geschrieben: "Liebe Sylvia, seit zwei Wochen sind wir jetzt auf See, und in dieser Zeit hat sich bei mir noch keine Langeweile einstellen können. Es gibt an Bord genug Arbeit für mich zu tun, 108
und die Leute, mit denen ich hier zusammenarbeite, sind zum größten Teil in Ordnung. Kein Wunder, ich habe sie mir ja auch selber ausgesucht. In den ersten drei Tagen auf See hatte es heftig gestürmt, und ich war entsetzlich seekrank und habe vier Kilo abgenommen, die ich mir aber bis zum heutigen Tag wieder angefuttert habe. Soweit läuft alles bestens. Es gibt einen dicken Wermutstropfen bei dieser Unternehmung. Jeden Tag nehmen wir jetzt Wasserproben, und die Verseuchung mit Giften, mit Schwermetallen und anderen Substanzen will einfach nicht geringer werden. Wir sind jetzt fast 4000 Kilometer von der letzten Küste entfernt, und es gibt noch die gleichen Belastungen, als ob wir direkt vor der Küste Proben genommen hätten. Dann starten wir jede Woche eine Meßsonde, die uns Daten aus der Stratosphäre übermittelt, und auch die sehen übel aus. Ich hatte erwartet, daß die Ozonschicht über dem Meer weniger stark als über Land geschädigt wäre, aber dies ist nicht der Fall, sie hat hier genauso an Dicke abgenommen wie bei Euch. Auch die Konzentration an CO2 ist erheblich höher, als wir es erwartet hatten. Alle diese Meßergebnisse deuten in die Richtung, daß wir diesen Planeten erheblich stärker geschädigt haben, als wir das jemals für möglich gehalten haben! Dies ist der letzte Brief, den ich dir persönlich schreiben kann; morgen startet ein Flugzeug von Bord, das Briefe zum letzten Außenposten der Zivilisation bringen wird, zur letzten Insel, die wir damit erreichen können. Ich habe in den letzten Nächten oft wachgelegen und am Sinn meiner Reise gezweifelt, aber ich weiß auch, daß ich jetzt erst recht sehen muß, wie es drüben aussieht. Wenn wir es geschafft haben, diese neue Welt auch schon zu verseuchen, bevor sie überhaupt ein Mensch betreten hat, dann muß das an die Öffentlichkeit. Dir wünsche ich alles Liebe und Gute Chris" Am Vormittag sieht sich Chris an, wie die Meeressonde zum Abwurf vorbereitet wird. Das Meer ist an dieser Stelle mehr als 4000 Meter tief, und die Sonde kann 109
dem Umgebungsdruck bis im 7000 Meter Tiefe standhalten. Er beobachtet, wie das Gerät an einem Schwenkarm befestigt wird. Ein letzter Check, dann wird der Schwenkarm nach hinten gedreht und befindet sich damit direkt über dem Meer. In der ersten Tagen war man bei diesem Manöver mit der Fahrt heruntergegangen, aber diese Vorsichtsmaßnahme hatte sich als übertrieben erwiesen. Gerade hier hatten sich die Vorteile des Katamarans gezeigt, denn die Abwurfeinrichtung befindet sich im Heck mittig im Schiff, und bei diesem Schiffstyp gibt es keine Probleme damit, daß die Schrauben die Sonde zerstören könnten. Ein letztes Warten darauf, daß sich die Sonde ausgependelt hat, dann betätigt ein Mitarbeiter den Auslöseschalter, und das Gerät fällt ins Meer. Die Sonde taucht sofort unter, sie sinkt in den nächsten Minuten mit einer Geschwindigkeit von etwa einem Meter je Sekunde. Nach mehr als einer Stunde wird sie den Meeresboden erreicht haben, eine Probe entnehmen und wieder auftauchen. Bei dieser Meerestiefe dauert der ganze Vorgang knapp drei Stunden, bis das Peilsignal der Sonde zu empfangen ist und ein Flugzeug starten kann, um sie an Bord zu nehmen. Dann sind wir runde 60 Kilometer weiter, rechnet Chris aus, und am Nachmittag können wir die Proben analysieren. Er hatte die Arbeit im Labor in den letzten Tagen an seine Mitarbeiter delegiert, hatte sich aber selbst um die Auswertung am Computer gekümmert. Jetzt gibt es für ihn hier nichts mehr zu sehen, also geht er auf das Flugdeck. Heute morgen um acht Uhr ist die Maschine mit Post und frischem Obst und Gemüse auf der Insel gestartet. Sie wird rund sieben Stunden unterwegs sein, bis sie die "Challenger" erreicht, das wird am Nachmittag sein. Er sieht nach oben, der Himmel ist leicht bewölkt, gutes Flugwetter für die Jungs. Es ist Mitte April, die beste Zeit, um von Stürmen durchgeschüttelt zu werden, doch nach dem Orkan am Anfang der Reise hat es keine meteorologischen Zwischenfälle mehr gegeben. Ihm ist das nun auch gleichgültig, er hat sich an den Seegang gewöhnt.
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In seinem Büro setzt er sich an den Rechner, gestern Abend hat er ein Diagramm erstellt, in dem er die Veränderungen der Meßwerte für verschiedene Umweltgifte eingetragen hat. Erschreckende Werte, stellt er fest, wo soll das noch hinführen? Er brütet vor der Grafik, du hattest dir vorgenommen, den Boden auf dem neuen Kontinent unter anderem auch auf solche Stoffe hin zu analysieren, wie du sie jetzt hier vorfindest. Was wird dich da drüben erwarten? Er versucht, die Gedanken daran zu vertreiben. Nach dem Mittagessen vertreibt Chris sich die Zeit beim Kaffeetrinken mit Erik, Gerd und einigen anderen Mitarbeitern. Dann, kurz nach drei Uhr, gehen Erik und er auf das Flugdeck, denn vom Tower kam die Nachricht, daß sich die Maschine mit der Post nähere. Auf dem Deck steht schon eine Gruppe von Menschen, denn die Besatzung einer anderen Maschine wartet darauf, daß die Sonde wieder auftaucht und eingeholt werden muß. Chris unterhält sich mit den Piloten und Mechanikern, bis sie alle das Geräusch der Maschine hören, die sich schwer beladen dem Schiff nähert. Zusammen beobachten sie, wie der Pilot zur Landung ansetzt und sauber neben der dort stehenden Maschine aufsetzt. Der Flug hat mehr als sieben Stunden gedauert, die Maschine hatte heftigen Gegenwind, und für mehr als eine Stunde wäre kein Treibstoff mehr in den Tanks gewesen. Trotzdem, dies war der erste Langstreckenflug, und er ist zur Zufriedenheit aller verlaufen. Chris ist nun sicher, daß er die Maschinen als Vorboten des Schiffs zur Küste des neuen Kontinents wird schicken können. Dann ruft er in der Küche und beim ersten Offizier an, daß die Maschine entladen werden kann. Nach einer halben Stunde hat man die Kabine ausgeräumt, und die Umstehenden vergnügen sich damit, zum ersten Mal seit zwei Wochen frisches Obst zu essen. Als sie herumstehen und sich über den Verlauf des Flugs unterhalten, kommt vom Tower die Durchsage, daß die Sonde aufgetaucht ist. Die beiden Piloten der Bergungsmaschine essen zu Ende und steigen in ihr Arbeitsgerät. Als sie starten, weht es Chris die Apfelkitsche aus der Hand. Dann steigen die beiden 111
Piloten des Transporters in ihre Maschine und lassen sich mit dem Aufzug in den Hangar fahren. Chris' Stimmung hebt sich, die Aktion ist gut verlaufen. Als er einige Minuten später in sein Büro zurückkommt, hält Michael ihm einen Brief hin. Er ist von Sylvia. "Lieber Chris, vor einer Woche habe ich davon erfahren, daß ich dir zwei Wochen nach deiner Abreise noch einen Brief schreiben kann. Und dieses Angebot konnte ich natürlich nicht ausschlagen. Ich freue mich darüber, daß Du mit deinem Vorhaben Erfolg gehabt hast und jetzt auf See bist. In den Nachrichten wird regelmäßig über das, was ihr macht, berichtet. Vielleicht hast Du es schon gehört, aber es gibt einige kritische Stimmen über dein Vorhaben, denn eine Menge Umweltschützer haben sich dafür ausgesprochen, den neuen Kontinent in einen Weltpark zu verwandeln, um ihn nicht zu zerstören. Vielleicht hast Du auf dem Schiff die Möglichkeit, die Nachrichten zu verfolgen, und weißt das alles schon. Aber ich muß dir sagen, daß deine Bedenken, was die Ausbeutung der neuen Welt angeht, von vielen Leuten hier geteilt werden, und daß Du, wenn Du zurückkommst, damit nicht alleine stehen und von vielen Leuten bei deinen Ansichten Unterstützung erfahren wirst. In den letzten Tagen habe ich viel Musik gemacht. Erinnerst Du dich noch an das Stück, das wir vor vier Wochen zusammen geschrieben haben? Vor einer Woche habe ich einen Produzenten gefunden, mit dem ich früher bei Werbeaufnahmen schon zusammengearbeitet habe, und mit dem ich dein Lied als Single herausbringen will. Und wenn es gut läuft, kann das für mich der Kick sein, daß ich endlich den richtigen Einstieg in die Karriere finde - mit deiner Hilfe! Eigentlich schade, daß Du kein Musiker mehr bist, Du warst wirklich gut, vor allem als Autor. Und das ist nicht der einzige Grund, warum ich dich hier vermisse.
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Alles Liebe, und ich drücke dir die Daumen für deine Reise Sylvia" Chris lächelt, als er das liest. Hat sie es tatsächlich geschafft, mit einem Lied von ihm etwas als Musikerin zu erreichen? Er schüttelt den Kopf. Aber vor allem das, was sie über die Reaktionen der Presse auf seine Arbeit geschrieben hat, hebt seine Laune ganz erheblich. Wenn er zurückkommt und die erschreckenden Ergebnisse der Analysen offenlegt, wird er mit der Forderung, mit der neuen Welt vorsichtig umzugehen, nicht alleine stehen. Er ist zuversichtlich, daß die Expedition einen Sinn hat. Als er den Brief zur Seite legt, fällt sein Blick nach draußen, denn er hat dort ein Geräusch gehört. Die Piloten der Maschine, die die Sonde eingeholt hat, erlauben sich einen Gag und umkreisen das Schiff, bevor sie zur Landung ansetzen. Nun, dann sind die auch wieder an Bord, denkt Chris. Er zieht sich an und geht auf das Flugdeck, sieht zu, wie die Sonde entladen wird, und entnimmt den Behälter mit der Bodenprobe, mit dem er ins Labor geht. Dort trifft er auf Erik, der sich gerade mit Svenja, der Leiterin der Geologischen Abteilung, unterhält, und überläßt ihm die Probe zur Analyse. Eine Stunde später hat er die Ergebnisse vor sich liegen und ordnet sie in die Datei mit den Meßergebnissen der letzten Wochen ein. Heute wird er sie nicht mehr bearbeiten, er zieht sich eine Sicherungskopie und schaltet den Computer dann aus. An diesem Abend läuft der Mörderische Sommer im Bordkino, den will er sich unbedingt ansehen, und bis dahin will er geduscht und gegessen haben. II. An diesem Morgen steht Chris früh auf, obwohl er kaum geschlafen hat, denn er war nach der Entdeckung des gestrigen Tages zu aufgedreht, um an Schlaf denken zu können. So quält er sich um sieben Uhr aus dem Bett und setzt sich in seiner Kabine vor den Computer. Dann 113
ruft er sich die Reliefkarten auf den Bildschirm, die in den letzten Stunden aufgenommen wurden. Das Schiff fährt in diesem Moment auf dem Hauptkamm der Gebirgskette unter ihnen zu, und es fährt langsam. Weil sie die Sonden bei Tag an der Stelle aussetzen wollen, die sie gestern überfahren haben, hat der Rudergänger die Fahrt der "Challenger" auf vier Knoten zurückgenommen. Es wird bis zehn Uhr dauern, bis sie die Stelle erreichen, an der die Sonden ausgesetzt werden sollen. Chris zieht sich an und macht sich für das Frühstück fertig. Trotz der kurzen Nacht fühlt er sich fit, denn der Eifer, jetzt an vorderster Forschungsfront zu arbeiten, gibt ihm Energie. Dann geht er in die Kantine. Erik steht in der Schlange vor der Kasse und begrüßt Chris mit einer Hand, als sie sich sehen. Dann setzen sich beide Männer an einen Tisch. Beim Frühstück reden sie die ganze Zeit über die Kontinentaldrifttheorie, für die sie Beweise gefunden zu haben glauben. Als sie Aufstehen, ist es halb neun. Zeit, um sich zur Abwurfvorrichtung der Sonden zu begeben. Michael ist noch nicht da. Er ist erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gekommen, und das, nachdem er schon die letzte Nacht kaum geschlafen hatte. Chris denkt sich, daß es besser ist, ihn schlafen zu lassen und erst zu wecken, falls es Außergewöhnliches zu berichten gibt. Die Sonden liegen nebeneinander auf Deck, und die Kollegen sind damit beschäftigt, sie abwurfbereit zu machen. In der Zwischenzeit sieht sich Chris hier im Heck des Schiffs um. Hinter ihm breitet sich der Hangar aus, in dem in diesen Minuten zwei Mechaniker mit Wartungsarbeiten an den Motoren einer der vier Maschinen beschäftigt sind. Sonst ist hier kein Mensch zu sehen. Michael taucht auf. Er sieht übermüdet aus, wollte es sich aber nicht entgehen lassen, den Abwurf der drei Sonden mitzuerleben; Chris begrüßt ihn mit einem Grinsen, Michael trägt nach zwei kurzen Nächten tiefe Ringe unter den Augen. Nun, mit dem Alter kann man 114
das immer schlechter, mehrere Nächte nacheinander durchmachen, denkt Chris. Dann gehen sie zur Abwurfvorrichtung. Gestern hatte Michael dem Kapitän die genaue Position durchgegeben, an der sie die Sonden abwerfen wollten. Nun ruft er auf der Brücke an, und der Erste Offizier teilt ihm mit, daß es noch einige Minuten dauern werde, bis sie dort seien. Chris bittet ihn, bis zum Erreichen der Position die Fahrt zu erhöhen, da alle Vorbereitungen abgeschlossen seien. Tatsächlich zieht kurz danach das Schiff an, und man wartet frierend darauf, den Abwurfpunkt zu erreichen. Nach zehn Minuten wird das Rauschen der Schrauben leiser, ein Zeichen, daß die angestrebte Position bald erreicht sein muß. Michael ruft auf der Brücke an und erreicht den Kapitän. Jetzt sind es nur wenige Minuten, bis dahin bleibt Michael mit der Brücke in ständigem Kontakt, damit der Abwurf der Sonden punktgenau erfolgt. Die Fahrt hat sich in der letzten Minute auf drei Knoten verlangsamt, und Michael teilt den Anwesenden laut die Zahl der Minuten, dann der Sekunden mit, die es noch dauert, bis sie die richtige Position erreicht haben. Schließlich ist der Countdown bei Null angelangt, und Chris läßt die Sonde ins Meer fallen. Sofort greifen die Kollegen zu und befestigen die zweite Sonde am Fangarm, schwenken sie aus und lassen sie auch abgehen. Dann folgt die Dritte. Der ganze Vorgang hat kaum länger als eine Minute gedauert, und Chris hegt die Hoffnung, daß zumindest eine der Sonden den Kamm treffen wird. Der Kran wird eingeschwenkt und gesichert, dann heißt es Warten. Die Sonden werden einen ganzen Tag lang unten bleiben und Meßdaten über Temperaturen, Wasserdruck und andere Parameter aufnehmen. Und wie bei jedem Abwurf werden auch diesmal Wasserproben entnommen, diesmal jedoch nicht nach Tiefe gestaffelt, sondern im Abstand von sechs Stunden. Schließlich werden die Bohrer an allen Sonden versuchen, bis zu ihrer maximalen Bohrtiefe von einem 115
halben Meter in den Untergrund einzudringen. Chris hofft, daß sie ihm vulkanisches Material anbringen werden. Im Moment denkt er aber in erster Linie daran, die neue Sensation an die Außenwelt zu übermitteln. Dazu versucht er, per Telefon seine Landstation bei Professor Bremer zu erreichen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelingt ihm das auch. Und als er den Professor selbst am Telefon hat, teilt er ihm die Neuigkeit der letzten Tage direkt mit. Man hatte sich über die Daten, die vom Schiff routinemäßig herübergefunkt wurden, schon gewundert. Chris unterhält sich mit dem Professor über die Theorie; sie kommen zu dem Schluß, daß die Kontinentaldrifttheorie durch die Forschungsergebnisse der Expedition zwar Unterstützung erfahren hat, aber nicht bewiesen ist. Als nächstes ist das Ministerium dran, und Chris teilt dem Ministerialdirektor ebenfalls die Neuigkeit mit. Der hat bereits Wind davon bekommen, daß etwas Außergewöhnliches an Bord passiert sein muß, und nun will er die Sensation direkt an die Presse weitergeben. Als die Gespräche beendet sind, fühlt Chris sich erleichtert. Der Professor hat ihn in seinen Ansichten unterstützt, damit glaubt er, keinen methodischen Fehler begangen zu haben. Nun, besser du gehst erst einmal Essen, bevor du weiterarbeitest, denkt er. Nach dem Mittagessen trifft sich Chris mit Michael im Ozeanologischen Labor, in dem die Daten des Echolots aufgearbeitet werden. An der Wand hängen dreidimensionale Karten des Meeresbodens, die Michaels Mitarbeiter mit den gesammelten Daten erstellt haben. Deutlich zeichnet auf ihnen die Gliederung des Höhenzuges ab, den sie bereits überfahren haben. Chris ist sicher, etwas ähnliches bereits auf anderen Karten von Meeren rund um die Kontinente der alten Welt gesehen zu haben, doch nicht in dieser Größenordnung, das ist neu. Schließlich reißt er sich von diesem Anblick los. Michael, Gerd und Chris müssen einen Arbeitsplan für die nächsten Tage erstellen. Sie planen, mit der 116
"Challenger" einen Zickzackkurs nach Süden einzuschlagen, um einen möglichst großen Teil des Höhenzuges mit Hilfe des Seitenstrahlecholots kartieren zu können. Als sie sich auf einen Plan geeinigt haben, der vorsieht, drei Tage lang nach Süden über den östlichen Teil, zu wenden und drei Tage nach Norden über den westlichen Teil des Höhenzuges zu fahren, ruft Chris den Kapitän an und spricht mit ihm den Plan durch. Es wird sie eine Woche an Zeit kosten, doch sie haben großzügig disponiert, es wird gehen. Gespannt denken sie daran, was es morgen geben mag, wenn sie die Boden- und Wasserproben der Sonde analysieren können. Am Abend vertieft Chris sich in der Bibliothek in die Literatur, die zu diesem Thema geschrieben worden ist. Die Streitpunkte, die sie an Bord angesprochen hatten, sind auch in der Literatur behandelt worden. Damit fühlt er sich bestätigt, da richtige getan zu haben. Und morgen, da wirst du eine wissenschaftliche Sensation ersten Ranges sein. Mit diesem Gedanken schläft er spät in der Nacht ein. III. Der Morgen des nächsten Tages vergeht für die Mitarbeiter der Ozeanologischen Abteilung mit der Auswertung der Daten, die ihnen vom Echolot übermittelt wurden. Kurz vor dem Mittagessen haben sie eine ansehnliche Zahl von Grafiken erzeugt, die ihnen ein gutes Abbild des Meeresgrundes gibt. Auch weiter südlich setzt sich der Gebirgszug fort, und seine Struktur ist ähnlich wie die des zuerst überfahrenen Teils des Bergrückens: Von Osten und Westen steigt das Gebirge gleichmäßig an, um dann in einem Gipfelkamm seinen höchsten Punkt zu erreichen. Dieser Kamm setzt sich in nordsüdlicher Richtung fort, und an ihm entlang fährt die "Challenger" nach Süden. Chris sieht sich das Ergebnis der Arbeit seiner Kollegen am Vormittag befriedigt an. Er hatte einen Teil der Daten, die sie aufgenommen hatten, an seine Landstation übermittelt, und ein längeres Telefongespräch mit den Mitarbeitern dort geführt. Nun 117
spucken auch an Land die Plotter Diagramme aus, auf denen der Meeresboden gezeigt wird. Schließlich warten die Frauen und Männer ungeduldig darauf, daß die Meeressonden endlich wieder auftauchen. Michael hatte die Auslöser so programmiert, daß sie um die Mittagszeit den Ballast abwerfen und den Aufstieg an die Oberfläche beginnen sollten. Chris hat an diesem Tag eine Menge Arbeit hinter sich gebracht; er braucht eine Pause von der Hektik an Bord und geht über das Flugdeck zur Abwurfvorrichtung der Sonden. Einige Zeit lehnt er über die Reling und läßt die Gedanken schweifen. Dann hört er hinter sich, daß im Hangar Leute an den Maschinen arbeiten. Er geht hinein, erkundigt sich nach den Grund der plötzlichen Unruhe und erfährt, daß die erste Sonde aufgetaucht ist. Sofort läuft er zum gemeinsamen Büro, in dem Gerd am Telefon sitzt. Michael ist nicht hier, Gerd weiß, daß der sich bei den Ozeanologen aufhält. Also läuft Chris dorthin. Michael sitzt auf einem Stuhl vor dem Computer, ohne auf den Bildschirm zu sehen. Neben ihm stehen andere Kollegen und Kolleginnen, und so sieht er Chris erst, als der direkt vor ihm steht. "He, wo warst du denn? Wir haben dich überall gesucht." "Hinten auf dem aufgetaucht?"
Flugdeck.
Die
Sonden
sind
"Die Erste. Vor zehn Minuten." "Und?" "Na, es ist bis jetzt eine. Ich hoffe ja, daß die beiden anderen auch hochkommen. Und ich hab' die Flugbesatzung schon angewiesen, loszufliegen." "Wie weit sind wir jetzt davon weg?" "210 Seemeilen."
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"Verdammt, das wird lange dauern, bis wir die Sonden hier haben." "Ja, leider. Mir kribbelt's in den Fingern, die Proben zu analysieren." "Mir auch." Beide Männer setzen sich, zeigen Nervosität. Der Bildschirm zeigt das Relief des Meeresbodens, über den sie sich gerade hinwegbewegen. Chris weiß, daß es Stunden dauern kann, bis die beiden übrigen Sonden aufgetaucht sind, und so lange soll die Maschine, die mit der Bergung beauftragt ist, an Ort und Stelle bleiben und Warten. Dann muß sie die ganze Stecke zurückfliegen, und selbst bei Vollschub dauert das bei der Entfernung eine Dreiviertelstunde. Zeit genug, um vor Aufregung an den Fingernägeln zu knabbern. Leise hört man, daß die Maschine vom Flugdeck abhebt. Der Pilot schwenkt die Rotoren nach vorne und fliegt mit Vollschub davon, um möglichst schnell zum Standort der Sonden zu kommen; er weiß, daß man da unten auf die Proben wartet. Chris überlegt, was er in der Zwischenzeit machen soll, da kommt die Nachricht, daß man das Peilsignal der zweiten Sonde aufgenommen hat. Gut so. Was nun? Chris steht auf und bewegt sich Richtung Brücke. Diesmal läßt er sich Zeit, es wird lange dauern, bis er wieder etwas tun kann. Auf der Brücke angekommen, trifft er den Kapitän und Ersten Offizier, die ähnlich aufgeregt sind wie die Wissenschaftler an Bord. Alle wissen, daß sie einer wissenschaftlichen Sensation auf der Spur ist. Und kaum hat Chris die beiden Männer begrüßt, da kommt auch das Peilsignal der dritten Sonde herein. Sie schütteln sich die Hände, damit ist keine der Sonden auf dem Meeresgrund geblieben, und wenn jetzt alles nach Plan verläuft, können sie in einer Stunde mit den Analysen beginnen! An Bord herrscht Ruhe vor dem Sturm. Überall zeigt sich unter den Wissenschaftlern die angespannte 119
Nervosität der freudigen Erwartung, in kurzer Zeit etwas Wichtiges tun zu können. Michael und Chris sitzen bei einer Tasse Kaffee im Büro der Ozeanologen, sehen nervös zur Uhr und erwarten die Rückkehr der Maschine. Vom Tower kommt ein Anruf, daß die Maschine gerade die dritte Sonde geborgen hat und auf dem Rückweg ist. Damit ist den Forschern die Sorge genommen, daß es bei der Bergung zu einem Zwischenfall kommen könnte. Jetzt können sie abschätzen, wann die Maschine zurückkehren wird. Chris trinkt seine Tasse aus und erhebt sich. Geht in sein Labor und bereitet die Analyse vor. Wenn wir wirklich gleich Vulkangestein finden sollten, dann dreht sich die wissenschaftliche Welt um dieses Labor. Erik assistiert ihm bei den Vorbereitungen, nach einer Viertelstunde haben sie alle Chemikalien und Geräte betriebsbereit. Nun kann das Flugzeug kommen. Ein Blick auf die Uhr, bis zur Ankunft der Maschine dürfte eine halbe Stunde vergehen. Zeit genug, etwas anderes zu tun. Es ist Nachmittag, und es ist warm, als sich die Forscher einer nach dem anderen auf das Flugdeck begeben und die Ankunft der Maschine mit den Sonden erwarten. Der Flugleiter steht nicht im Tower, sondern bestückt mit Sprechfunkgerät und Kopfhörer auf dem Flugdeck. Seit der Nachricht, daß die Sonden geborgen seien, sind 40 Minuten vergangen. In regelmäßigen Abständen hatte der Flugleiter durchgesagt, wie weit die Maschine noch entfernt sei. Die letzte Durchsage lag bei 10 Seemeilen, das ist nun knapp zwei Minuten her. Jeden Moment müßte die Maschine zu sehen sein. Da, ein Assistent weist mit dem Arm nach achtern, ein kleiner dunkler Fleck über der See. Ist sie das? Tatsächlich, der Fleck nähert sich, nimmt Konturen an, das muß sie sein! Man erkennt die Tragflächen, die Rotoren, kein Zweifel, das ist sie! Jetzt nur keine Hektik, sonst stürzt sie ab, denkt Chris. Er umklammert den Saum seiner Jacke, er ist aufgeregt. Der Pilot schaltet die Landescheinwerfer ein, zieht heute keine Show ab und setzt ohne Umschweife zur Landung an. Die Gruppe weicht zurück, dann schwenkt der Pilot die Rotoren seiner Maschine
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senkrecht, schwebt über dem Flugdeck aus und setzt punktgenau auf. Als die Rotoren stillstehen, laufen die Ozeanologen mit dem Wagen, der die Sonden aufnimmt, auf die Kabinentür zu, die der Copilot gerade öffnet. Zwei Männer steigen in die Kabine, tragen die erste Sonde heraus, legen sie auf dem Wagen ab, dann folgen die beiden anderen Sonden. Man könnte die Bodenproben gleich hier entnehmen, doch es ist sicherer, das erst im Schiff zu tun. So begeben sich die Wissenschaftler in den Aufbau, fahren mit dem Aufzug auf Höhe des Arbeitsdecks und schieben den Wagen bis vor das Geomorphologische Labor. Dort entnimmt Chris einer der Sonden den Behälter mit der Bodenprobe und trägt ihn zu dem Labortisch, auf dem er zuvor die Analysen vorbereitet hatte. Der Bohrkern sieht vielversprechend aus, denkt er. Ganz unten, an vorderster Spitze, sieht es aus wie ein Stück Fels. Sollte das Basalt sein? Wenn ja, dann wäre das der Beweis für den vulkanischen Ursprung dieses Gebirgszuges! Er ruft Svenja, die sich zu der Meute gesellt hatte, zu sich, und beratschlägt sich mit ihr. Sie nimmt vorsichtig das Stück Fels aus dem Bohrkern und verschwindet damit im Geologischen Labor. Chris selbst kümmert sich um die Auswertung der Bodenprobe, wobei ihm Erik zur Seite steht. Die anderen beiden Proben nehmen die Bodenkundler in ihr Labor. Nach zwei Stunden sind sie schlauer. Chris hat, analog zu den Bodenproben der Bodenkundler, einen Bohrkern aus Sedimenten vor sich, in dem sich Spuren vulkanischen Tuffs befinden. Ein schönes Ergebnis, aber kein eindeutiges. Sie beraten gerade im Labor der Bodenkundler über ihre Ergebnisse, als Svenja hereinkommt. Chris sieht an ihrem Gesichtsausdruck, daß sie mehr Erfolg hatte. Und tatsächlich, das Stück Fels, das sich in Chris' Bohrkern befand, ist Basalt! Damit ist die Sensation perfekt. Keine vulkanische Eruption konnte in den letzten Jahrhunderten seit Beginn der Geschichtsschreibung vulkanisches Material so weit geschleudert haben, daß man es hier in 30 cm 121
Tiefe auf dem Meeresgrund wiederfand. Die Wissenschaftler beratschlagen eine Zeitlang über das Ergebnis, dann setzt Chris sich an das Telefon und ruft Professor Bremer an. Nach wenigen Minuten hat er ihn am Apparat, und teilt ihm die Ergebnisse der Untersuchungen mit. An Land haben sie gespannt darauf gewartet, und sind davon genauso begeistert wie die Wissenschaftler an Bord des Schiffs. Der Professor kommt schließlich mit Chris überein, die Neuigkeit dem Ministerium zu übermitteln, damit man sie von dort aus an die Presse geben kann. Chris legt befriedigt den Hörer aus der Hand. Heute hat er ein Stück Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Am Abend feiern die Forscher bis tief in die Nacht die Sensation. Es fließt eine Menge Bier und Sekt durch die Kehlen, bis Chris als einer der letzten in seiner Kabine einschläft. Kurz davor erinnert er sich noch mit Freude daran, wie er mit Svenja Brüderschaft getrunken und danach lange mit ihr herumgeknutscht hat. Das, so denkt er amüsiert, wird man beiden noch lange vorhalten. Eine Woche ist vergangen, seitdem die Ozeanologen den mittelozeanischen Rücken entdeckt haben. Nachdem sie die ersten Bodenproben analysiert und das vulkanische Material gefunden hatten, war das Schiff drei Tage über der Ostabdachung des Rückens nach Süden gefahren und nach 750 Seemeilen umgekehrt, um nach einer Fahrt über die Westabdachung des Bergrückens wieder auf die alte Route zu treffen. Heute ist der Tag, an dem sie ihren alten Kurs kreuzen und die Fahrt nach Westen fortsetzen werden. An jedem Tag waren hintereinander alle drei Meeressonden abgeworfen worden, dabei hatte man das nicht vom Schiff, sondern vom Flugzeug aus getan, um Bodenproben aus einem größeren Umkreis nehmen zu können. Die Ergebnisse der ersten Proben hatten sich bestätigen lassen; außerdem konnte man nachverfolgen, daß die Sedimente älter wurden, je weiter sie sich vom Kamm des Gebirges entfernten.
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Nach dem Umdrehen ergab sich das gleiche Bild, wie erwartet spiegelverkehrt. Die Forschungsergebnisse hatten sie in den letzten Tagen den Landstationen der Abteilungen und dem Ministerium übermittelt, und damit in den Medien die Expedition wieder in das Licht der Öffentlichkeit gerückt. In Interviews zu diesem Thema sprachen Wissenschaftler von einer Sensation, die man zu den wichtigsten Entdeckungen des Jahrzehnts rechnen mußte. Der Forschungsminister zeigte sich über das Echo der von ihm finanzierten Aktion höchst erfreut, denn so konnte er den Wahlkampf mit der beruhigenden Gewißheit angehen, daß das Geld nicht sinnlos zum Fenster hinausgeworfen war und erste wissenschaftliche Erträge gebracht hatte. In dieser Woche hatte nicht nur die Ozeanologische Abteilung zu tun, auch die Geologen und Bodenkundler waren mit Arbeit eingedeckt, denn sie hatten es übernommen, die Bodenproben zu analysieren und die dabei gewonnenen Daten auszuwerten. Chris und Erik hatten die räumliche Verteilung der Proben in einer Kartenskizze umgesetzt und versucht, Bezüge zwischen den Ergebnissen aufzuzeigen. Dabei gab interessante Ergebnisse, und Chris entwickelte die Modellvorstellung, daß sich in der Mitte des Gebirgszuges vulkanisches Material an die Oberfläche drängt und von dort aus zu beiden Seiten wandert. Auf dem höchsten Punkt der Gebirge liegt die dünnste und jüngste Sedimentdecke, nach Osten und Westen wird sie stetig dicker und älter. Zwar ist die Linie des Kamms in Nord-Süd-Richtung nicht perfekt, es gibt an einigen Stellungen Verwerfungen, doch ergaben die Proben das gleiche Muster. Schließlich hatten die Kartographen an Bord des Schiffs alle Hände voll damit zu tun, die gewonnenen Ergebnisse und die Grafiken aus den Daten des Echolots in ein erstes Kartenbild umzusetzen. In einer Besprechung zu dem Zeitpunkt, da das Schiff den südlichsten Punkt des Schwenks erreicht hatte, hatten sich die Wissenschaftler darauf geeinigt, erst am Ende der Woche, wenn die ersten Untersuchungen abgeschlossen waren, die Forschungsergebnisse 123
vorzutragen und in einer Konferenz an Bord miteinander zu besprechen. Und diese Konferenz sollte heute Nachmittag stattfinden. Chris war sich darüber klargeworden, daß sie nur vorläufige Ergebnisse präsentieren können; die weitergehende Auswertung der Daten kann erst später erfolgen, wenn weniger Arbeit anliegt und mehr Zeit zur Verfügung steht, zudem war eine Zusammenarbeit mit den Landstationen vereinbart worden. Vor allem die Kartographen hatten sich beklagt, daß sie mit der Arbeit nicht nachkämen, trotz Überstunden bis in den frühen Morgen. Gerd hatte daraufhin mit seiner Landstation vereinbart, daß die Kartographen an Bord sich nur um die Aufbereitung der Daten des Echolots kümmern sollten und die Kartographen an Land mit der Erstellung der Karten beauftragt wurden. Wer von den Wissenschaftlern in dieser Woche keine Ringe unter den Augen hatte, machte sich bei den anderen unbeliebt. Jetzt nähert sich der Zeitpunkt, an dem das Schiff den alten Kurs kreuzte. Chris hat auf dem Bildschirm die Informationen über die Fahrtroute aufgerufen und verfolgt, wie sich der jetzige Standort des Schiffs dem Strich nähert, der den vor einer Woche gefahrenen Kurs darstellt. Ein spannendes Unterfangen, denkt er, in wenigen Minuten werden wir den Schlenker beendet haben und unsere Fahrt in Richtung auf den neuen Kontinent fortsetzen können. Auf dem Flugdeck landet zu diesem Zeitpunkt die Maschine, die drei Meeressonden abgeworfen hatte. Michael und Chris hatten heute besonders eifrig nach Stellen gesucht, an denen sie die Sonden abwerfen lassen wollten, denn nur wenig entfernt liegt die Stelle, an der sie vor einer Woche die Bodenproben entnommen hatten, die für die wissenschaftliche Sensation gesorgt hatten. Nun, heute ist es das letzte Mal, daß eine Maschine die Sonden aussetzen wird, ab morgen wird man zur Routine zurückkehren und pro Tag nur eine Sonde abwerfen, das dann wieder von der Abwurfvorrichtung im Heck aus. Svenja kommt in Chris' Büro. Es hatte in den letzten Tagen einige Male zwischen ihnen gefunkt, nachdem 124
sie auf der Spontanfete vor einer Woche zur Feier der Entdeckung des mittelozeanischen Rückens wild herumgeknutscht hatten. Und Chris mußte zugeben, daß die Kollegin keine üble Partie wäre; er hatte sie nicht nach dem Äußeren als Mitarbeiterin ausgewählt, aber sie gehörte ohne Zweifel zu den attraktivsten Frauen an Bord. Und gibt es eine Menge Frauen an Bord, denn Chris hatte auf das Geschlecht bei der Auswahl der Mitarbeiter keine Rücksicht genommen, sondern dafür gesorgt, daß auch Frauen an Bord aktive Forschungsarbeit leisten konnten. Sie setzt sich auf den Schreibtisch neben ihm. "Na, heut' Nacht gut geschlafen, Kollege?" "Viel zu wenig." "Wie lang hast du denn gestern gearbeitet?" "Bis um drei Uhr. Und um Acht mußte ich wieder 'raus." "Du Armer. Und jetzt schläfst du am Schreibtisch ein?" "Noch nicht." "Und ich dachte schon, ich müßte dich bei Laune halten." "Wieso das?" "Ach, nur so." "Hm... Was anderes, was wirst du uns denn gleich erzählen?" "Ach, alles, was ich über die Bodenproben herausgefunden hab'. Etwas Stratigraphie, Korngrößen, Dünnschliffe und so weiter. Der übliche Kram." "Schön. Du hast dich doch sicher gut vorbereitet?" "Willst du mich durch den Kakao ziehen?" "Warum nicht? Das würde bestimmt viel Spaß machen." 125
"Du Arsch." Sie unterhalten sich eine Zeitlang über fachliche Belange. An Bord ist ein unbeobachtetes Privatleben unmöglich, und das wissen beide. Falls sie die Absicht hätten, eine Affäre anzufangen, so hätte das mehr als nur den Spott der Kollegen zur Folge. Es käme zu Streit unter den Kollegen, und zur Aushöhlung der Autorität, die beide an Bord genießen. Sie sind sich über die Folgen im klaren, und beide drängt es nicht dazu, jetzt etwas miteinander anzufangen. Chris sieht aus dem Fenster, das Schiff dreht. Er wirft einen Blick auf den Bildschirm, sie haben den alten Kurs gekreuzt und können ihn nun wiederaufnehmen. Svenja geht zum Fenster und sieht hinaus. "Wir sind wieder auf dem alten Kurs." "Ja. Jetzt geht's schnurstracks zum neuen Kontinent." "Und wie lange noch?" "Etwa sechs Wochen. Ich hab' mich heute Morgen mit dem Kapitän unterhalten, wir haben auf der ersten Hälfte der Fahrt weniger Treibstoff verbraucht, als wir veranschlagt hatten. Deshalb können wir jetzt mehr Gas geben, 14 statt 12 Knoten, und das spart uns ein paar Tage an Fahrzeit." "Aha. Dann sind wir noch vor Beginn des Sommers da?" "Wenn alles nach Plan verläuft und wir nicht noch einen solchen Gebirgszug entdecken, dann müßten wir Ende Juni dasein. Wahrscheinlich genau zu Sommerbeginn." "Ich fänd's toll, wenn wir dann ankämen." "Wieso?" "Weil ich da Geburtstag habe." "Aha! Darf ich fragen, wie alt du wirst?" "Fragen darfst du, aber du bekommst keine Antwort." 126
"Hm. Wirst du vierzig?" "Oh Gott, seh' ich so alt aus?" "35?" "Ah, fast richtig." "32?" "Woher weißt du?" "Männliche Intuition." "Ach?" "Glaub's mir." "Hast du in meinen Paß gesehen, als ich besoffen war?" "Nö." "Meinst du, das glaub' ich dir?" "Warum nicht? Hab' ich dich jemals angelogen?" "Das weiß ich nicht. Ich weiß ja kaum etwas über dein Privatleben. Nur daß du dich jedesmal verkriechst, wenn du einen Brief von einer Frau bekommst." "Sylvia? Ja, das hängt direkt mit unserer Fahrt zusammen." "Deine Freundin?" "Nein, von der hab' ich mich getrennt. Mit Sylvia hatte ich vor Jahren eine kurze, aber verdammt intensive Affäre. Weißt du, sie ist Musikerin, Sängerin, und wir haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden. Ich hab' sie aus den Augen verloren, und als ich mir unsere Flugzeuge angesehen habe, hab' ich sie per Zufall wiedergesehen." "Und?"
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"Naja, wir haben die Nacht miteinander verbracht, ich hab' dann Krach mit meiner Ex-Freundin gekriegt, und seitdem hab' ich ständig Kontakt zu Sylvia. Weißt du, sie hat mich kennengelernt, als ich noch Musiker war, sie ist für mich ein Stück Erinnerung an daß, wofür ich früher gekämpft habe. Und jetzt versorgt sie mich mit Informationen darüber, wie unsere Expedition von den Leuten auf der Straße aufgenommen wird und was die Umweltschutzorganisationen dazu sagen." "Aha. Hast du 'was mit ihr?" "Interessiert dich das?" "Ich weiß es selber nicht, du. Aber was sagen sie denn über uns?" "Ich glaube, du hast auch schon davon gehört, daß einige Leute die Einrichtung eines Weltparks für den neuen Kontinent fordern." "Ja." "Das ist eigentlich das Wichtigste. Und dazu faxt sie mir dann Presseberichte 'rüber." "Aha. Willst du nicht mehr, daß wir da ankommen?" "Doch. Aber ich mache mir Gedanken, was wir anfangen, wenn wir erstmal gelandet sind." "Ich hab' den Eindruck, da bist du nicht der einzige. Wir haben eine ganze Menge Leute an Bord, die sich Gedanken darüber machen, was wir mit der neuen Welt anfangen." "Ich weiß. Und was ist mit dir? Wie stehst du dazu?" "Ich stehe auf dem Standpunkt, daß wir uns um die Erforschung des Kontinents kümmern müssen. Wir können dann später immer noch dafür sorgen, daß der nicht auch noch kaputt gemacht wird." "Schön. Und was willst du tun, damit das nicht passiert?" 128
"Das weiß ich jetzt noch nicht, Chris. Aber wenn das in der Öffentlichkeit ist, werden wir dazu eine Menge sagen können, denn wir haben ihn entdeckt." Die beiden unterhalten sich, bis Michael in den Raum kommt. Er war auf der Brücke und hat sich mit dem Ersten Offizier unterhalten; die Fahrt wird jetzt wie geplant fortgesetzt, nur daß das Schiff ein schnelleres Tempo anschlagen wird. Dadurch werden sie die Woche Verzögerung durch die Befahrung des mittelozeanischen Rückens wieder aufholen. Chris sieht auf die Uhr, es ist Zeit, Essen zu gehen. Gemeinsam gehen Svenja, Michael und er in die Kantine herauf und lassen sich Zeit, am Nachmittag wird es genug Hektik geben. Um drei Uhr kommt die Nachricht vom Tower, daß die Sonden aufgetaucht sind. Die Bergungsmaschine macht sich auf den Weg, um sie an Bord zu holen, doch es wird zu spät sein, um die Proben noch vor Beginn der Konferenz zu analysieren. Also verkriecht sich Chris in sein Büro und macht sich Gedanken über das Script, das er zu seinem Vortrag auf seinem Computer geschrieben hat. Einige Korrekturen sind noch zu machen, dann ist er mit dem Ergebnis zufrieden und läßt es ausdrucken. Er sieht auf die Uhr, in einer Viertelstunde soll es anfangen. Sei pünktlich, denkt er, also verläßt er sein Büro und geht in den Vortragssaal. Dort hält sich die Hälfte der wissenschaftlichen Besatzung der "Challenger" auf, und Chris wird sofort von einigen der Kollegen angesprochen. Es ist soweit. Michael, Gerd und Chris übernehmen die Leitung, Gerd wird den Vorsitz machen, er hat als Biologe kaum etwas zu berichten. Michael fängt an, er zeigt Karten des mittelozeanischen Rückens, den sie befahren haben, und ordnet dort die Positionen zu, an denen die Proben entnommen worden sind. Dann läßt er sich über die Wasserproben aus, zeigt die Temperaturschichtung, Sauerstoffgehalt und vieles mehr. Nach einer halben Stunde ist er am Ende. Nun ist Chris dran; er legt die gleichen Karten auf, die Michael vorhin gezeigt hat, referiert über die Ergebnisse 129
der Bodenproben und zeigt ein Schema, nach dem er die Abfolge der Sedimentation in einen raumzeitlichen Zusammenhang bringt. Schließlich gibt er auf dem Projektor die Theorie zum besten, nach der dieser Gebirgszug vulkanischen Ursprungs ist, und bringt ihn in einen Zusammenhang mit der Kontinentaldrifttheorie. Nach einer halben Stunde ist sein Vortrag zu Ende, und er freut sich über den warmen Applaus seiner Kollegen. Jetzt hast du ihnen gezeigt, daß du etwas als Wissenschaftler taugst, denkt er. In der letzten halben Stunde gibt es einige Fragen der Kollegen, die bestimmte Zusammenhänge genauer erläutert haben wollen, bis Gerd gegen sechs Uhr die Veranstaltung beendet. Am Abend gibt es eine Reihe zufriedener Gesichter unter den Wissenschaftlern. Aber nicht nur das kümmert Chris. Svenja gelingt es nach mehreren Glas Bier, ihm einige Dinge über sein Privatleben zu entlocken, und es dauert lange, bis sie sich voneinander verabschiedet haben. Der nächste Tag beginnt für Chris, wie für viele andere auch, mit einem leichten Kater. Nach dem Frühstück geht es schon besser, und als er am Computer sitzt und sich an die weitere Auswertung der Daten macht, die sie mit den Analysen der Bodenproben vom Meeresgrund gesammelt hatten, wird sein Kopf klarer. An diesem Tag hat er eine wichtige Verabredung, und er weiß, daß er sich darauf vorbereiten muß, heute soll er ein Interview für ein Radiomagazin geben, in dem über die wissenschaftlichen Erträge der Expedition berichtet wird. Bis dahin sind es einige Stunden. Erik gesellt sich zu ihm, gemeinsam sichten sie die Listingdateien mit den Ergebnissen der Analysen, und überlegen sich, welche statistischen Verfahren sie anwenden können, um sinnvolle Ergebnisse zu erhalten. Sie lassen mehrere Jobs laufen, mit deren Ergebnissen sie mittelmäßig zufrieden sind. Als ihnen die Augen vom Blick auf den Monitor brennen, schalten sie das Gerät ab und gehen in die Kantine Essen. Unter den Kollegen diskutiert man über das, was man in der letzten Woche erarbeitet hatte. Chris setzt sich an 130
seinem Tisch mit einem Kollegen aus der Bodenkundlichen Abteilung über die Analyseergebnisse auseinander, gibt dabei einiges von dem zum Besten, was er mit Erik bearbeitet hatte. Beim Kaffee reden sie über das Medienecho, das die Expedition gehabt hatte, denn an diesem Morgen hatte das Ministerium eine umfangreiche Presseschau herübergefaxt. Wie gut, daß wir Satellitenfunk haben, denkt Chris. Er sieht auf die Uhr, er muß sich Stichpunkte machen, um für das Interview in einer Stunde gewappnet zu sein, denn er weiß, daß man ihm bohrende Fragen stellen wird. Also setzt er sich an seinen Schreibtisch und notiert sich, welche Argumente er vorbringen kann, um die Riesensummen zu rechtfertigen, die das Unternehmen bisher gekostet hat. Chris schließt die Tür seines Büros, die in den letzten Wochen immer offengestanden hatte. Wählt die Nummer des Senders, mit dem er das Interview führen wollte, und hat die Redakteurin nach einer Minute am Apparat. Er legt auf, man will ihn zurückrufen. Das Telefon schrillt, es ist ein Kollege. Chris wimmelt ihn mit der Entschuldigung ab, daß er einen wichtigen Anruf erwarte, und legt auf. Wenige Sekunden später schellt es erneut, diesmal ist es die Telefonzentrale des Senders. Chris braucht nicht lange zu warten, dann hat man ihn live auf Sendung, 28000 Kilometer entfernt. Er hört die Ansage der Moderatorin mit. "Und jetzt begrüße ich am anderen Ende der Leitung den wissenschaftlichen Leiter der Expedition in die neue Welt, Herrn Chris Kolon. Guten Tag, Herr Kolon, wie spät ist es bei Ihnen im Moment?" "Ich komme gerade vom Mittagessen. Und bei Ihnen?" "Bei uns ist es eher Zeit, sich um das Abendessen zu kümmern. Herr Kolon, in den letzten Tagen hatte man hier den Eindruck, daß sich die wissenschaftliche Welt um ihr Schiff drehte. Wie hat sich das bei Ihnen geäußert?" "Das hat sich bei uns eigentlich nur darin niedergeschlagen, daß wir den ganzen Tag zu tun 131
hatten, Forschungsarbeit zu leisten. In der letzten Woche gab es kaum einen Kollegen, der in der Nacht länger als fünf Stunden geschlafen hat. Den Rest des Tages haben wir damit verbracht, Proben vom Meeresboden zu holen, zu analysieren und dann die so gewonnen Daten auszuwerten. Und jeder, der das schon einmal gemacht hat, weiß, wie zeitaufwendig das sein kann." "Kommt dabei das Leben an Bord nicht zu kurz?" "Wir sind hier auf einem Forschungsschiff, nicht auf einer Kreuzfahrt." "Sie haben ihr eigentliches Ziel damit aber noch nicht erreicht?" "Nein, das werden wir erst in sechs Wochen erreichen. Wenn jetzt alles glatt geht, dann sind wir in dieser Zeit vor der Küste des neuen Kontinents. Und dann geht die Arbeit erst richtig los, für die wir dieses Schiff ausgerüstet haben." "Also war die Entdeckung eines mittelozeanischen Gebirges gar nicht der Grund, weswegen Sie aufgebrochen sind?" "Nein, ganz und gar nicht. Bis vor einer Woche wußte ja noch kein Mensch, daß es so etwas überhaupt gibt." "Haben Sie außer dieser Sensation noch andere Forschungsergebnisse, die von Bedeutung sind?" "Nun, wir haben während der ganzen Fahrt Wasserproben aus dem Ozean genommen, und wir haben ebenfalls Messungen in der Atmosphäre vorgenommen. Die Ergebnisse dieser Analysen sind nicht sensationell, die sind erschütternd." "Warum?" "Ich gehe erst einmal auf die Wasserproben ein: Wir haben selbst 15000 Seemeilen von der letzten menschlichen Ansiedlung entfernt noch Zivilisationsmüll gefunden, Ölrückstände, Pflanzenschutzmittel, 132
Reinigungsmittel, und alles andere, was die Umwelt kaputt macht. Dann haben wir den CO2-Gehalt der Luft gemessen, und wir hatten angenommen, daß dieser mit zunehmender Entfernung vom Land geringer wird. Nun, er ist gleich geblieben, der Gehalt der Atmosphäre an Kohlendioxid ist wesentlich höher, als man bisher angenommen hat. Damit müssen wir alle Berechnungen über den Haufen werfen, die sich bisher auf den Treibhauseffekt bezogen haben - die sind mit Sicherheit alle zu niedrig angesetzt. Und..." "Haben Sie diese Messungen als Ziel der Mission gesetzt?" "Moment, ich bin noch nicht zu Ende. Wir haben diese Messungen natürlich in unser Forschungsprogramm aufgenommen, denn es ist die einmalige Chance, an Bord eines Schiffes in Teile unseres Planeten vorzudringen, die noch nie ein Mensch betreten hat." "Aber Sie spüren die Anwesenheit der Menschen jeden Tag." "Ja." "Was ist denn für sie das erschreckendste Ergebnis ihrer Messungen?" "Das wollte ich Ihnen und den Hörern gerade mitteilen: Wir hatten erwartet, daß die Dicke der geschädigten Ozonschicht mit steigender Entfernung vom Festland zunimmt. Aber das ist nicht der Fall. Wir mußten feststellen, daß die Ozonschicht auch 28000 Kilometer von Ihnen entfernt genauso geschädigt ist wie bei Ihnen." "Was für Schlußfolgerungen ziehen Sie daraus, Herr Kolon?" "Da gibt es zwei Sachen. Zum Ersten werden wir nicht einen Kontinent vorfinden, der keine Spuren menschlichen Handelns aufweist, denn wir erwarten nach diesen Ergebnissen, dort ebenfalls eine Menge an Giftstoffen nachweisen zu können. Zweitens, wir müssen stärker darauf drängen, daß wir mit unserer 133
Umwelt sorgsamer umgehen, denn wir haben schon mehr zerstört, als wir je gedacht haben." "Nun hat das ganze Projekt ja eine ganze Menge Geld gekostet, und im Moment ist dieses auch Wahlkampfthema. Haben sich diese Ausgaben gelohnt?" "Ich denke schon, und ich bin auch bereit, mich der Kritik zu stellen. Gerade das, was ich in den letzten Sätzen über die Umweltforschung gesagt habe, war eine Sache, die dieses Geld wert war. Dann haben wir den neuen Kontinent ja noch gar nicht betreten, und wir können damit rechnen, diesen zumindest in beschränktem Maße wirtschaftlich zu nutzen." "Haben Sie Vorschläge dazu?" "Nein, wir müssen erst sehen, was es dort überhaupt gibt, und erst dann können wir entscheiden, was man mit dem neuen Kontinent anfangen wird." "In den letzten Wochen ist die Diskussion über einen Weltpark aufgekommen, in den der neu entdeckte Kontinent verwandelt werden sollte. Was halten Sie davon?" "Ich stehe der Idee recht positiv gegenüber, aber ich muß noch einmal darauf hinweisen, daß wir darüber erst entscheiden können, wenn wir wissen, woran wir sind." "Ein Schlußwort, über das wir vielleicht nachdenken sollten. Herr Kolon, ich danke Ihnen für das Interview, auf Wiederhören." "Ich danke ebenfalls, Tschüß." Chris legt und atmet auf. Das ist wesentlich besser gelaufen, als er befürchtet hatte. Er ist sicher, daß er mit seinen Äußerungen bei einigen Leuten auf Widerstand stoßen wird, vor allem in der Industrie und dem Ministerium. Nun, er hat seine Gründe dafür, die Meßergebnisse waren alarmierend. Und er weiß, daß er sich wehren kann. 134
II. Drei Monate sind nun vergangen, seitdem die "Challenger" zur Reise aufgebrochen ist. Chris notiert in seinem Tagebuch den 94. Tag der Fahrt, und er notiert darunter, daß sie zu diesem Zeitpunkt nur noch wenig mehr als 3000 Seemeilen von der Küste des neuen Kontinents entfernt sind, und die Besatzung mit Spannung die Ankunft in der neuen Welt erwartet. Die Woche, die sie durch die Fahrt über den mittelozeanischen Rücken verloren hatten, haben sie nun durch das höhere Tempo wieder aufgeholt. Die allgemeine Erwartungshaltung dämpft Konflikte, die im Verlauf der Zeit zwischen den Menschen entstanden und die angesichts der Abgeschlossenheit des Raums auch unvermeidlich waren. In der Nacht, da träumt Chris manchmal von Szenen, die sich auf der neuen Erde abspielen mögen; da träumt er von riesenhaften Tieren, von exotischen Pflanzen und von rätselhaft aussehenden Menschen, die er dort antreffen mag. Menschen? Nach allem, was man bisher über diesen Kontinent weiß, hatte es keine Spuren menschlichen Wirtschaftens gegeben. Aber war es denn ausgeschlossen, trotzdem auf menschliche Lebensformen zu treffen, die kein anderer Mensch bisher zu sehen bekommen hatte? Niemand weiß das, und Chris hatte diesen Gedanken in den letzten Tagen mehrfach mit Erik und Svenja besprochen. Überhaupt hatte er in den letzten Wochen Zeit gehabt, sich über vieles Gedanken zu machen, denn er hatte nicht viel an Bord zu tun. Die Vorbereitungen für die Landemanöver sind abgeschlossen; die Arbeit, die er sich für die langweiligen Tage der Überfahrt mitgenommen hatte, ist getan. Nun gibt es für ihn genau wie für viele andere Mitarbeiter Stunden der Muße, in denen sie die Freizeiteinrichtungen des Schiffs aufsuchen, schlafen können oder sich auf andere Art und Weise die Zeit vertreiben. Chris hatte mehrere Briefe von Sylvia bekommen, sie hatte es tatsächlich geschafft, das Lied, das sie 135
zusammen wenige Wochen vor der Abreise geschrieben hatten, aufzunehmen und als Single zu veröffentlichen. Vielleicht wird ja ein Hit draus, dachten sie sich. Dann hatte sie ihm in diesen Briefen auch berichtet, welches Echo die Expedition in den Medien hatte, und Chris war gerade nach dem Radiointerview von einigen Leuten angefeindet worden, sowohl von den harten Vertretern des wirtschaftsorientierten Kurses, die eine Nutzung des neuen Kontinents forderten, als auch von den Hardlinern unter den Umweltschützern. Ein großer Teil der Wissenschaftler und Umweltschützer, die man zum Thema befragte, unterstützten trotzdem Chris' Standpunkt, daß man erst wissen wolle, worum es sich bei dem neuen Kontinent handele, bevor man wie auch immer geartete Entscheidungen treffen konnte. Der Minister, der sein Forschungsvorhaben finanziert hatte, war wieder im Amt, nachdem seine Partei die Wahlen für sich hatte entscheiden können. Chris war als Privatmensch davon zwar nicht gerade begeistert, aber es bedeutete für ihn eine Erleichterung, daß man ihm den Geldhahn nicht abdrehen würde. Die Forschungsarbeit an Bord war weitergegangen; man hatte zusammen mit den Landstationen die Daten ausgewertet, die in den letzten drei Monaten gesammelt worden waren, und man hatte jetzt ein Profil des Meeres und der Atmosphäre der Strecke, die das Schiff in dieser Zeit zurückgelegt hatte. Die Meßergebnisse waren alarmierend, die CO2-Konzentration in der Luft hatte sich nur unwesentlich vermindert, und die Ozonschicht begann erst in den letzten zwei Wochen so dick zu werden, wie man es eigentlich für den ganzen Zeitraum der Überfahrt erwartet hatte. Schließlich war vor zwei Wochen ein Satellit gestartet worden, der Bilder vom neuen Kontinent machte, die schärfer und besser aufgelöst waren als alles, was man bisher kannte. Dies hatte direkte Folgen für die Expedition, und es war für einige Tage Leben in die Besatzung gekommen, denn man hatte die neuen Fotos ausgewertet und versucht, einen Landeplatz zu finden. In der letzten Nacht war Chris aus der Lethargie erwacht, in die er Wochen zuvor verfallen war, und hatte 136
sich in die Bilder vertieft. Am Morgen hatte er zusammen mit Erik mehrere Küstenabschnitte ausfindig gemacht, von denen aus sie einen guten Zugang ins Hinterland haben würden - wichtig für den Plan, mit einem Fahrzeug in dieses einzudringen. Doch zuerst wollte man den alten Kurs beibehalten und relativ weit im Norden landen, denn bis dahin war die Entfernung am kürzesten, und die Menschen wollten möglichst bald Land sehen. Ein Plan reift in Chris' Kopf heran: Eine Woche bevor das Schiff den neuen Kontinent erreichen wird, soll ein Flugzeug die Strecke von 2000 Seemeilen bis zur Küste des neuen Kontinents zurücklegen. Das Projekt hatte er mit dem Kapitän und den Piloten bereits abgesprochen, und bei der Vorbereitung der Expedition hatte Chris die Maschinen darauf vorbereiten lassen, derartig lange Strecken zurücklegen zu können. Dazu war es nötig, in der Luft nachzutanken, und dieses Manöver hatten die Piloten in den letzten Tagen mehrfach geübt. Auch das Katapult auf dem Flugdeck hatten sie ausprobiert, sie wollten die mit Zusatztanks ausgerüsteten Maschinen von dem Katapult starten lassen, um das höhere Startgewicht mit Treibstoff ausnutzen zu können. Auch das war zur Zufriedenheit aller geschehen. In den Nächten hängen Chris, Gerd, Michael, Erik, Svenja und andere Mitarbeiter über dem Bildmaterial, das ihnen der neue Satellit geliefert hatte. Schließlich einigen sie sich darauf, daß die Maschine einfach den am nächsten liegenden Punkt der Küste des Kontinents anfliegen und fotografieren soll, damit sie wissen, wo sie landen werden. Bis dahin sind es noch drei Tage, in denen einige Mitglieder der Besatzung dem Flug entgegenfiebern. III. Heute ist der 97. Tag der Expedition, wie Chris in seinem Tagebuch dokumentiert; das Schiff befindet sich noch 2000 Seemeilen von der Küste des neuen Kontinents entfernt. Und heute ist der Tag, an dem zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Augen
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eines Menschen die Küste des neuen Kontinents sehen sollen. Einige Besatzungsmitglieder haben eine kurze Nacht hinter sich. Die vier Piloten, die heute am frühen Morgen vom Flugdeck aus starten werden, hatten in dieser Nacht ein paar Stunden geschlafen, aber damit waren sie auch von den in diesen Flug verwickelten Besatzungsmitgliedern der "Challenger" die einzigen. Chris war die Nacht über bis zum geplanten Starttermin aufgeblieben und hatte sich mit Kaffee wachgehalten. Die Mechaniker hatten beide Maschinen auf ihren Einsatz vorbereitet, durchgecheckt und die Zusatztanks eingebaut. Damit hatten sie sich die Nacht um die Ohren geschlagen. Das Flugdeck ist hell erleuchtet, wenn auch noch kein Flugzeug an Deck ist. Laut Flugplan sollen beide Maschinen um vier Uhr morgens starten. Nach dem Erreichen der Reiseflughöhe werden sie mit einer treibstoffsparenden Geschwindigkeit von 200 Knoten vier Stunden nebeneinander fliegen, bis nach 800 Seemeilen das Tankerflugzeug die andere Maschine volltanken wird und selbst zurückkehrt. Der Tanker wird um 12 Uhr wieder auf der "Challenger" landen, und gegen 14 Uhr wird die andere Maschine die Küste der neuen Welt erreicht haben. Dort soll sie sich nicht lange aufhalten, sondern nach längstens einer Viertelstunde den Rückflug antreten. Um 20 Uhr soll sie die Tankmaschine, mit vollen Tanks und zur Sicherheit mit einer neuen Besatzung, an der gleichen Position erwarten, an der man das Tankmanöver Stunden vorher bereits durchgeführt hatte. Dann geht es auf den gemeinsamen Rückflug, und gegen Mitternacht sollen die Maschinen wieder auf dem Flugdeck landen. Soweit hatte man den Plan erstellt. Nun ist es Viertel vor Vier, und auf dem Flugdeck herrscht rege Betriebsamkeit. Chris sieht in den unbewölkten sternenbehangenen Himmel, bestes Flugwetter, als die erste der beiden Maschinen mit Treibstoff vollbeladen an Deck gebracht wird. Ein Schlepper hakt sie ein und 138
stellt sie auf das Katapult, sie wird am Katapultschlitten eingeklinkt. Es folgt die zweite Maschine, der Tanker. Da es nur ein Katapult gibt, bleibt diese Maschine für's erste auf dem Aufzug stehen. Chris geht zu den Piloten der ersten Maschine herüber und spricht mit ihnen kurz den Flugplan ab; er hat den Eindruck, daß die beiden Männer trotz der nächtlichen Stunde frisch und ausgeruht sind - er selber kämpft mit dem Schlaf, ist seit 20 Stunden auf den Beinen. Mit verschränkten Armen, an Deck ist es empfindlich kalt, sieht er den letzten Startvorbereitungen zu. Einer der Männer an Deck unterhält sich per Handsprechfunkgerät mit dem Tower, gibt dann das Signal zur Startfreigabe. Auf sein Zeichen hin schiebt sich das Katapult erst langsam, dann immer schneller werdend von Backbord nach Steuerbord über das Heck, während der Pilot die Turbinen mit den auf 45° nach vorne gekippten Rotoren auf Vollschub laufen läßt. Der Rudergänger hatte zuvor das Schiff so gedreht, daß der Wind von Steuerbord kommt, so daß die startende Maschine maximalen Auftrieb erhält. Dann hat sie das Ende des Katapults erreicht, schiebt sich über die Deckkante und sackt durch. Chris stockt der Atem, doch sie fängt sich, hält die Höhe, beschleunigt und steigt. Er atmet auf. Jetzt wird der Tanker im Katapultschlitten befestigt. Der Mann mit dem Sprechfunkgerät gibt das Signal, und auch der Tanker wird über die Deckkante geschoben, sackt ebenfalls durch und gewinnt dann an Höhe. Chris sieht den Maschinen nach, als sie im Dunkel der Nacht verschwinden. Sieht auf die Uhr, fünf Minuten nach vier, sie sind pünktlich gestartet. Für ihn gibt es jetzt nichts mehr zu tun, für ihn heißt es jetzt Warten. Und welchen besseren Ort kann er sich nach diesem langen Tag vorstellen, als das im Bett zu tun? Die vier Piloten der beiden Maschinen fliegen der Dunkelheit entgegen, die aufgehende Sonne im Rücken. Das Flugwetter ist gut, die Maschinen sind zwar sehr schwer beladen, lassen sich aber dennoch 139
gut manövrieren. Jetzt herrscht Ruhe, die Autopiloten fliegen die Flugzeuge die nächsten Stunden alleine. Sie sind auf eine Flughöhe von 5000 Fuß gegangen und haben die Geschwindigkeit auf 200 Knoten begrenzt, um Treibstoff zu sparen. Wesentlich langsamer dürfen sie nicht fliegen, sonst reicht der Auftrieb nicht aus, die Maschinen in der Luft zu halten. So vergeht der Morgen, die Sonne erhebt sich über den Horizont rechts hinter den Flugzeugen, und um sich herum nehmen die Piloten die endlose Meeresfläche wahr. Sie hatten sich an diesen Anblick in den vergangenen Wochen zwar gewöhnt, keiner von ihnen ist aber jemals so lange nur über Wasser geflogen. Stunde um Stunde vergeht, ohne daß sich etwas unter ihnen verändert, nur die Sonne steigt höher und höher. Es wird acht Uhr, die Maschinen haben rund 800 Seemeilen zurückgelegt und ein Drittel des Treibstoffs, der ihnen regulär zur Verfügung steht, verbraucht. Nun ist es Zeit, die Tanks der Maschine, die zur Küste fliegen soll, aufzufüllen. Der Tanker zieht vor die andere Maschine, fährt aus seinem Heck den Schlauch mit dem Fangkorb aus, durch den das Kerosin zur anderen Maschine gepumpt wird. Der Pilot des anderen Flugzeuges schaltet den Autopiloten aus, setzt sich hinter den Tanker und fährt seinerseits den Tankstutzen aus. Dann nähert er sich langsam dem Korb, und beim dritten Versuch trifft er ihn so, daß der Stutzen einrastet. Beide Piloten kontrollieren an ihren Instrumenten, wie der Tankvorgang vor sich geht. Schließlich gibt der Pilot der betankten Maschine durch, daß seine Tanks voll seien, entkoppelt den Tankstutzen und zieht seine Maschine zur Seite weg. Der Pilot des Tankers, der nun spürbar leichter geworden ist, wackelt zum Abschied mit den Rudern, läßt seine Maschine nach rechts abkippen und kehrt um. Nun ist es nur noch eine Maschine, die vollgetankt den Kurs nach Westen hält. Die beiden Piloten tauschen sich über das aus, was sie in sechs Stunden zu sehen bekommen werden, dann nimmt sie die Routine des vom Autopiloten gesteuerten Fluges in Beschlag - der Co schläft ein.
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Der Tanker ist nun deutlich leichter, die Piloten steigen höher und können das Tempo auf 220 Knoten erhöhen, und um halb 12 haben sie das Schiff erreicht. Chris ist in der Zwischenzeit wieder aufgewacht, hat sich geduscht und tritt den beiden Piloten frisch entgegen. Sie berichten ihm, daß Flug und Tankmanöver ohne Zwischenfälle vor sich gegangen sind. Die andere Maschine gibt über Funk stündlich Positionsmeldungen durch, und zu diesem Zeitpunkt befindet sie sich nur noch rund 150 Seemeilen von der Küste entfernt. Chris fiebert der Meldung entgegen, daß sie dort angekommen sind. Der Tanker wird sofort unter Deck gebracht, einem kurzen Check unterzogen und neu betankt. Um 15 Uhr wird die Maschine auf das Katapult geschleppt und abgeschossen. Sie macht sich nach Westen auf, zum Rendevouz mit der ersten Maschine. Die ist höher gegangen, 40% des Treibstoffs sind verbraucht, und das geringere Gewicht ermöglicht es, höher zu steigen. Die See glänzt in der Mittagssonne, als der Pilot das Flugzeug auf eine Höhe von 10000 Fuß bringt. Unter ihnen müßte in der nächsten Viertelstunde die Küste der neuen Welt auftauchen. Gespannt starren sie nach vorne, um sie zu sehen. Endlich. In der Ferne, vielleicht noch 50 Kilometer entfernt, sehen sie etwas Grünes schimmern, das sich vom Blau des Wassers abhebt. Erwartungsvoll sehen sie nach vorne, und langsam, sehr langsam beginnt sich unter ihnen die Küste abzuzeichnen, der sie seit mehr als drei Monaten entgegenfahren. Die Männer freuen sich, sie sind die ersten, die dieses fremde Land zu sehen bekommen. Der Moment ist gekommen, an dem sie die Küste überfliegen, und damit haben sie es geschafft! Der Pilot nimmt Gas weg und geht tiefer, unter sich sieht er die Mündung eines Flusses. In einer Flughöhe von 500 Fuß fängt er die Maschine ab, und sie sehen einen Wald unter sich, wie es ihn auf dem alten Kontinent nicht mehr gibt. Auch die Mündung des Flusses macht auf beide Männer einen starken Eindruck, ist frei von jeglichen menschlichen Eingriffen; kein Damm begrenzt das Ufer, kein Mensch ist hier zu sehen, keine Straße, 141
keine Landwirtschaft. In weiter Ferne sehen sie einen Gebirgszug, der das flache Land, das sie gerade überfliegen, begrenzt. Der Copilot greift sich den Fotoapparat und verschießt innerhalb von zwei Minuten den ersten Film, wechselt das Magazin und verschießt den zweiten Film. Der Pilot dreht nach Süden ab und fliegt die Küste entlang, während der Copilot den dritten Film einsetzt. Schließlich folgen sie der Küste auf einer Länge von 50 Kilometern, entdecken einander abwechselnde Sandund Felsküsten, an denen sich die Dünung des Ozeans bricht. Die Tankanzeige nähert sich der Hälftemarke, es ist Zeit, den Rückflug anzutreten. Also geht der Pilot auf eine Flughöhe von 6000 Fuß und schaltet den Autopiloten ein. Es geht auf halb drei zu, als die Maschine den Rückflug antritt. Über Funk gibt der Copilot durch, daß man die Entdeckung des neuen Kontinents vollzogen, eine Menge Bilder gemacht und den Rückflug angetreten habe. Vom Tower kommt die Bestätigung, daß der Tanker bereits unterwegs sei. Da in der Zwischenzeit das Schiff selbst 150 Seemeilen zurückgelegt hat, verkürzen sich die Entfernungen für die Maschinen etwas. In der Gewißheit, daß sie nicht mit leeren Tanks abstürzen müssen, lehnen sich die Piloten der Maschine, die als erste den neuen Kontinent gesehen hat, in ihre Sitze zurück. Hinter den Männern beginnt sich die Sonne in Richtung Horizont zu senken, als sie die Position erreichen, an der sie den Tanker treffen sollen. Und plötzlich sehen sie von der Seite ein Flugzeug herabstürzen, es ist der Tanker. Die Flieger begrüßen sich, führen das Tankmanöver durch. Es ist 20 Uhr durch, als sie damit fertig sind und mit halbvollen Tanks den Rückweg zur "Challenger" antreten. In der Zeit seit dem Start der ersten Maschinen ist das Schiff dem neuen Kontinent um knappe 300 Seemeilen nähergekommen, entsprechend weniger weit als beim Hinflug haben die Piloten zu fliegen. Nun geht es auf Mitternacht zu, und durch das klare Flugwetter sehen 142
die vier Männer das hellerleuchtete Flugdeck der "Challenger" schon von weitem. Als sie sich dem Schiff nähern und einen Halbkreis fliegen, um das Deck von hinten anfliegen zu können, sehen sie trotz der vorgerückten Stunde eine größere Ansammlung von Menschen am Rand des Decks stehen. Der Pilot der ersten Maschine setzt nach 20 Stunden Flug auf, und nach dem Auslaufen der Rotoren kommen einige der Menschen auf ihn zu. Als der Tanker aufgesetzt hat, öffnet er die Tür, und Chris ist der erste, der ihm die Hand schüttelt. Die ganze Gruppe von Wissenschaftlern stürmt auf die beiden Männer zu, gratuliert ihnen und fragt sie nach dem Eindruck, den der neue Kontinent auf sie gemacht hat. Schließlich gehen alle in die Kantine, Chris nimmt die Filme an sich und gibt sie in das Fotolabor, in dem sie sofort entwickelt werden. Dann geht er auch in die Kantine. Nach einer Stunde sind die drei Filme entwickelt, Chris legt die Dias ein und führt sie vor, während die Piloten die Bilder dokumentieren. Das dauert bis gegen zwei Uhr morgens, und bei den meisten Anwesenden macht sich Erschöpfung breit. Chris fühlt zwar auch, daß er müde wird, er nimmt sich aber die Dias, geht in sein Büro und vergleicht sie mit den Satellitenfotos der Küste. Schließlich findet er einige Stellen, an denen sie landen könnten. Er sieht auf die Uhr, es geht auf fünf Uhr morgens zu, und er hat nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Morgen ist auch noch ein Tag, und dann können wir entscheiden, wo wir landen wollen. Mit diesem Gedanken geht er in seine Kabine, wirft einen Blick auf die aufgehende Sonne und schläft schnell ein. Kaum fünf Stunden hat Chris geschlafen, als er aufsteht, an diesem Morgen ist eine Menge zu tun. In der Kantine spürt er die Aufregung der Kollegen, die sich über den gestrigen Flug unterhalten. Viele haben in dieser Nacht schlecht geschlafen, wie er aus den Gesprächen erfährt, auch die anderen Wissenschaftler waren aufgeregt. In seinem Büro hängt Chris zusammen mit Gerd lange über den Satellitenbildern der Küste, vergleicht sie mit den Fotos von gestern und bespricht mit seinem Kollegen die besten Stellen, an denen sie landen 143
könnten. Einige flache Küstenabschnitte zeichnen sich ab, an denen das Schiff schnell auf Grund geraten könnte, und scheiden deshalb aus. Nicht weit weg von der Stelle, auf die sie seit Tagen genau zuhalten, ist ein flacher Küstenabschnitt mit einem langen Sandstrand, der Teil einer Bucht ist, die der Farbe und dem Wellengang nach die nötige Tiefe zu haben scheint. Mit den ganzen Materialien geht Chris zur Brücke hoch und schlägt die Landestelle dem Kapitän vor, der sich positiv dazu äußert. Also brauchen sie den Kurs in den nächsten sechs Tagen, bis die "Challenger" die Küste erreichen wird, nicht mehr zu ändern. Chris ist zufrieden, er fiebert dem Ereignis, im wenigen Tagen auf der Brücke zu stehen und auf den Moment zu warten, an dem das Land in Sicht kommt, entgegen. Beim Mittagessen gibt es angeregte Unterhaltungen zwischen den Wissenschaftlern, man hegt Erwartungen über das, was der neue Kontinent an neuen Erkenntnissen bringen mag. Die Biologen haben zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt etwas zu tun gehabt, sie haben sich auf die Fotos gestürzt und sich die Pflanzen angesehen, die darauf zu erkennen sind. Und die Pflanzengesellschaften, die sie bestimmen konnten, unterschieden sich im ersten Augenschein nicht von denen, die sie aus der alten Welt kennen. Trotzdem, es hatte den Anschein, als daß dort Baumkronen zu sehen seien, die es in der alten Welt nicht gibt, aber die Auflösung der Fotos ist nicht stark genug, um nähere Betrachtungen zu gestatten. Nun, in einer Woche werden sie sich die Bäume genauer ansehen können. Am Nachmittag ist eine der wöchentlichen Besprechungen angesagt, bei denen die Wissenschaftler an Bord ihre aktuellen Forschungsergebnisse vorstellen. Dabei wird die heutige Besprechung die letzte vor der Ankunft des Schiffs an der Küste sein, und das ist allen Anwesenden bewußt, als sie den Vortragssaal betreten. Chris begrüßt die Forscher, gibt das Wort an Michael weiter, der sich über den Meeresbodens ausläßt, über den sie in diesem Augenblick hinwegfahren. Es gibt einen Verlust zu bedauern, eine der drei Sonden ist vor zwei Tagen nicht 144
wieder aufgetaucht. Die Analyseergebnisse der Wasserproben lassen erkennen, daß man sich nun weit genug von jeglicher Zivilisation entfernt hat; die Verunreinigungen mit allen möglichen Giftstoffen sind geringer geworden, wenn auch immer noch nachweisbar. Ähnlich verhält es sich mit den Ergebnissen der Meteorologen: Die Ozonschicht ist dicker geworden, fast so dick, wie sie auch über der alten Welt einmal war, aber die CO2-Konzentration in der Atmosphäre hat nur unwesentlich abgenommen. Die Wissenschaftler haben sich in der Zwischenzeit an solche alarmierenden Meldungen gewöhnt, nur noch bei wenigen zeigt sich Kopfschütteln. Schließlich zeigt Michael Dias der Karten des mittelozeanischen Rückens, die die Landstation aus den Reliefbildern erstellt hat. Das Publikum zeigt sich von den Bildern erstaunt, zum ersten Mal sehen die Forscher plastisch vor sich, was sie sieben Wochen zuvor entdeckt haben. Dann ist Chris dran, und er berichtet über die Analysen der Bodenproben. Da sie gegenüber den Proben der letzten Wochen keine Änderungen zeigen, kann er das Thema schnell abhandeln. Wichtiger und interessanter ist da schon die Sache mit der Küste, die gestern überflogen wurde. Chris zeigt ein paar der Dias, die er ausgewählt hat und die Küstenabschnitte zeigen, an denen sie landen können. Vergleicht sie mit den Satellitenfotos, die wenige Tage zuvor vom neuen Satelliten direkt auf das Schiff gefunkt worden waren. Bei den Wissenschaftlern herrscht erregte Unruhe, als Chris die Stelle im Kartenbild und auf dem Foto zeigt, an der er landen will. Noch fünf Tage, dann ist es soweit. Doch da ist noch etwas anderes, daß er dem Publikum mitteilen will. An diesem Morgen hat er sich mit der Flugleitung unterhalten und mit zweien der Piloten abgesprochen, daß er morgen mit ihnen zum neuen Kontinent fliegen will. Er will das als einziger Wissenschaftler tun, schon mit vier Leuten an Bord kann es Probleme mit der Zuladung geben. Natürlich sind 145
einige der Anwesenden neidisch auf ihn, aber er war es schließlich, der den Stein ins Rollen gebracht hatte. Nach der Besprechung unterhält sich Chris mit einer Reihe von Kollegen, die ihm Fragen aufs Auge drücken, was er alles beachten soll, wenn er den neuen Kontinent überfliegt. Am späten Nachmittag hat er ein dickes Paket von Stichpunkten im Kopf, die er beachten soll, wenn er die neue Welt sieht. Damit geht er zum Abendessen in die Kantine, und hier hat sich die erwartungsvolle Stimmung der Wissenschaftler nicht gelegt, sondern ist im Gegenteil noch stärker geworden. An seinem Tisch diskutiert man über den Flug, den er morgen unternehmen will, und über die Dias, die gestern und heute gezeigt worden sind. Kein Mensch hat eine Ahnung, was man dort zu Gesicht bekommen wird, welche fremden Pflanzen und Tiere dort ihrer Entdeckung harren. Nach dem Essen und einem kurzen Besuch in seinem Büro stellt Chris sich unter seine Dusche und geht in Gedanken den Ablauf des Fluges durch. Sie werden sehr früh am Morgen starten, werden ein Tankmanöver einige hundert Seemeilen vor der Küste unternehmen und dann in der Mittagszeit den neuen Kontinent überfliegen, diesmal wesentlich länger als beim ersten Flug, das Schiff hat sich ihm in der Zwischenzeit um 600 Seemeilen genähert. Chris trocknet sich ab, er muß um vier Uhr wieder aufstehen. Bis um Mitternacht geht er in die Kantine und trinkt ein Bier; genug, um am nächsten Morgen nicht verkatert zu sein, und geht ins Bett. Doch er ist nach den letzten Nächten nicht mehr daran gewöhnt, so früh Schlafen zu gehen, und ist außerdem wegen des Flugs zu aufgedreht, um schlafen zu können. So wirft er sich bis um zwei Uhr morgens wild hin und her, bis er einschlafen kann. IV. Als der Wecker klingelt, fragt sich Chris, welchen Sinn das Ganze eigentlich hat. Doch er reißt sich zusammen, schlägt die Bettdecke zurück und steigt frierend in seine Kleidung. Nach der kurzen Morgentoilette geht er hinunter in die Mannschaftsmesse, die Kantine der 146
Wissenschaftler wird erst um acht Uhr eröffnen. In der Messe trifft er die beiden Piloten, mit denen er gleich fliegen wird, und setzt sich zu ihnen an den Tisch. Sie unterhalten sich über allgemeine Dinge, während Chris sein Frühstück mehr hinunterwürgt, als daß er Appetit hat. Schließlich wird es Viertel vor fünf, und damit ist für die Männer Zeit zum Aufbruch. Chris ist in der Zwischenzeit wach geworden, obwohl er auf Kaffee verzichtet hat, um nicht während des Flugs Wasser lassen zu müssen. In der Pilotenumkleide zieht er sich eine Kombination an, befestigt an ihr die Anschlüsse für Mikrofon und Funkgerät und nimmt eine Schwimmweste aus dem Schrank. Schließlich paßt er sich einen Helm an, richtet das Mikrofon und geht mit den vier Piloten in den Hangar. In der Nacht haben die Mechaniker zwei Maschinen startklar gemacht, den Tanker und eine andere Maschine. Chris unterhält sich mit dem Meister, der ihm die Bestätigung gibt, daß keine Mängel aufgetaucht sind und beide Maschinen bis zur Halskrause vollgetankt sind. Die Männer steigen in die Maschine ein, die heute den neuen Kontinent erreichen soll, Chris als letzter. Schließlich hakt sie ein Schlepper unter und zieht sie auf den Aufzug. Es ist eng geworden in der Kabine; Chris nimmt auf dem Sitz hinter dem Copiloten Platz, alle anderen Sitze wurden zur Gewichts- und Platzersparnis ausgebaut. Hinter sich sieht Chris vertrauenerweckend die Zusatztanks, in denen sich mehrere Tonnen Kerosin befinden. Wenn die hochgehen... Er blickt nach hinten, die Winde für die Sonden ist heute Nacht ausgebaut worden, auch dieses Gewicht sollte eingespart werden. Chris wirft einen Blick aus seinem Fenster, als sie auf das Flugdeck gefahren werden. Das ist hell erleuchtet, und einige Männer stehen dort herum, um die Flugzeuge richtig auf das Katapult zu setzen und den Start zu überwachen. Während der Pilot mit dem Tower spricht, sieht Chris, wie der Tanker auf den Katapultschlitten gesetzt wird. Der Mann mit dem Sprechfunkgerät tritt beiseite, und der Schlitten zieht an. 147
Er beschleunigt verdammt schnell, paß gleich auf deinen Hals auf. Die Tankmaschine schießt über den Deckrand, und der Lärm der auf Vollschub laufenden Turbinen hallt durch die unverkleidete Kabine. Diesmal sind die Maschinen beide etwas leichter, der Tanker sackt nur unwesentlich durch und verschwindet in der Nacht. An den Positionslichtern kann Chris erkennen, daß er schnell an Geschwindigkeit und Höhe gewinnt. Die zweite Maschine ist dran, und Chris schluckt seine nervöse Aufregung herunter, als das Flugzeug auf dem Schlitten eingehakt wird. Er überprüft den Sitz des Gurtes, legt den Kopf an die Stütze im Nacken. In diesem Moment kommt die Startfreigabe, und das Katapult zieht an. Chris hat das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, er vergißt den Lärm der Motoren und sieht nur, wie die Maschine auf den schwarzen Abgrund jenseits des Decks zuschießt. Verdammt, es ist zu spät! Er schließt die Augen, hoffentlich bleibt das Frühstück drin! Es geht über die Deckkante, und sein Magen dreht sich um, als die Maschine für einen Moment durchsackt und schwerelos wird. Doch dann fängt sie sich, und als er das spürt, öffnet er die Augen wieder. In seinem Rücken fühlt er den angenehmen Druck des Steigflugs, und er beginnt auszuatmen. Du hast es geschafft, wir sind in der Luft. Vor sich sieht Chris die Lichter des Tankers blinken, dem sie sich jetzt nähern. Ein Blick auf die Uhr, es ist zehn nach fünf. Während die Maschine höher steigt, sieht er durch sein Fenster den zarten Schimmer der ersten Morgenröte auftauchen, ein Gefühl, daß ihn beruhigt. In seinem Kopf geht er kurz die Eckdaten des Fluges durch: Dies ist der 99. Tag der Reise, sie befinden sich jetzt noch 1400 Seemeilen vom neuen Kontinent entfernt. Bis sie dessen Küste erreichen, werden sieben Stunden vergehen, und um zwölf Uhr dürften sie dort sein. Der Tanker wird von der Strecke 800 Seemeilen mitfliegen, ihre Maschine betanken, zurückfliegen und nach dem Auffüllen an Bord der "Discovery" wieder starten, um Chris' Maschine rund 148
400 Seemeilen von der Küste entfernt wieder in Empfang zu nehmen. Das soll gegen 18 Uhr geschehen, dann werden sie gemeinsam zurückfliegen und gegen 22 Uhr auf dem Schiff landen. Bis dahin ist noch lange Zeit, Chris spürt die kurze Nacht und läßt sich vom gleichmäßigen Rauschen der Rotoren einlullen. Eine Viertelstunde nach dem Start ist er eingeschlafen. Als er aufwacht, steht die Sonne bereits hoch am Himmel. Er sieht auf die Uhr, es ist acht, er hat lange geschlafen. Müde reibt er sich den Schlaf aus den Augen, jetzt fühlt er sich wesentlich frischer als vorhin beim Start. Also löst er den Gurt und fragt die Piloten, wie weit sie inzwischen gekommen seien. Sie haben bisher 600 Seemeilen zurückgelegt, und bis zum Tankmanöver wird noch eine Stunde vergehen. Chris rechnet sich aus, wie lange sie noch unterwegs sein werden, und geht zurück in die Kabine. Er wirft einen Blick aus dem Fenster und sieht 200 Meter rechts voraus den Tanker fliegen. In seinen Rotoren spiegelt sich das Licht der Sonne, die jetzt etwas links hinter den Flugzeugen steht. Es ist einer der letzten Frühlingstage, bald wird Sommeranfang sein. Er drückt seine Nase an die Scheibe, die Sonne brennt auf das Meer hinunter, keine Wolke schiebt sich dazwischen. Das ideale Wetter, um einen fremden Kontinent zu betreten, denkt er. Die nächsten Stunden hat er Zeit, ein Buch zu lesen, daß er vor einigen Monaten gekauft hatte, in das er wegen Zeitmangels aber nie einen Blick werfen konnte. In diesem Buch wird die Geschichte eines Mannes beschrieben, der bei dem Konkurs seiner Firma arbeitslos wird und, obwohl er erst Ende zwanzig ist und ein abgeschlossenes Studium vorweisen kann, keine neue Arbeit findet. In den Medien hört er immer wieder die Reden des Präsidenten, der die Blüte der Wirtschaft in den Himmel lobt, aber die steigende Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger verschweigt. Der Mann ist Musiker, und als ein Freund von ihm bei einer Demonstration erschossen wird, gibt er zu seinem Gedenken ein Konzert, daß ihn in Konflikt mit dem Präsidenten bringt. Er wird zusammen mit seiner 149
Freundin bedroht, auf sie werden Anschläge verübt, und sieht am Schluß keine andere Möglichkeit mehr, als den Präsidenten bei einer Parade zu erschießen. Das gelingt ihm auch, er wird dabei aber selber von einem Sicherheitsbeamten erschossen. Chris hatte über diesen Roman in den vergangenen Monaten einiges gehört, er hatte mitbekommen, wie sich der Autor gegen Angriffe, den Terrorismus zu unterstützen, wehren mußte. Jetzt macht er sich Gedanken darüber, ob er in einer ähnlichen Situation genauso handeln würde. Zeit für das Tankmanöver. Chris schlägt das Buch zu, schnallt sich an und sieht, wie sich der Tanker vor seine Maschine setzt und den Tankschlauch mit dem Korb am Ende ausfährt. Der Pilot versucht, den Tankrüssel in den Korb einzuführen, und das gelingt ihm beim zweiten Versuch. Es dauert zehn Minuten, bis die Tanks seiner Maschine gefüllt sind. Dann entriegelt der Pilot den Tankstutzen und zieht die Maschine vom Tanker weg. Der fliegt solange weiter geradeaus, bis der Schlauch vollständig eingezogen ist, und dreht dann ab. Jetzt sind sie ganz allein. Chris sieht minutenlang aus dem Fenster, nun bietet kein Flugzeug mehr einen Halt für das Auge. Da draußen gibt es nur Wasser, da kannst du dich absolut verloren fühlen. Dann vertieft er sich wieder in das Buch, fühlt sich von der Handlung gefesselt; er kann sich mit der Person des späteren Attentäters sehr gut identifizieren. Es geht auf Mittag zu, als Chris in das Cockpit steigt. Innerhalb der nächsten Viertelstunde müßte die Küste auftauchen, er kann seine Spannung nicht verbergen, und tauscht den Platz mit dem Copiloten. Gespannt sieht Chris nach vorn, der Pilot ist auf eine Flughöhe von 5000 Fuß gegangen, so daß sie von weitem sehen können, wenn sich Land nähert. Und dann ist es soweit: In der Ferne taucht der Schimmer des neuen Kontinents auf, und Chris rutscht ungeduldig auf seinem Sitz herum. Noch fünf Minuten, und sie können deutlich die Küste sehen. Der Pilot geht tiefer, und in einer Flughöhe von 1000 Fuß überfliegen 150
sie die Küste. Unter ihnen bricht sich die Brandung an den Felsen, der Pilot kreist und fliegt die Küste entlang. Chris greift zum Fotoapparat, schießt aber noch keine Fotos, von solchen Felsen haben sie bereits mehrere Bilder vom ersten Flug, und es gibt noch eine Menge zu fotografieren. Der Pilot zieht hoch, und Chris bedeutet ihn, ins Landesinnere zu fliegen, im Hintergrund zeichnet sich ein Gebirgszug ab. Als sie eine Flughöhe von 3000 Fuß erreicht haben, sieht Chris unter sich, wie sich ein Fluß aus dem Gebirge in Schleifen durch das flache Land windet, von keiner menschlichen Hand beeinflußt und eingedämmt. Er blickt nach vorn und sieht den Gebirgszug näher kommen. Nach einer Viertelstunde haben sie ihn erreicht, und beim Überfliegen der Gipfel entdeckt Chris einen Baumbestand, wie er in dieser Fülle in der alten Welt kaum noch zu finden ist. Die nun leichter gewordene Maschine fliegt die Täler entlang, und Chris fällt auf, daß die Talböden in keiner Weise von Menschen beeinflußt sind; ein Anblick, den er nicht gewohnt ist. Eine halbe Stunde fliegen sie in das Gebirge hinein, Chris sieht auf die Uhr, es geht auf Eins zu. Unter ihnen hat sich die Landschaft in dieser Zeit kaum verändert, Chris bedeutet dem Piloten, nach Süden abzudrehen. Er muß das Sonnenschutzvisier herunterziehen, denn nun haben sie die Sonne von vorn, und diese ist in der reinen Luft merklich stärker als in der alten Welt in der gleichen Breite. Es sieht sich um, das Gebirge wird in den Formen runder und niedriger, bis sie eine Ebene erreichen. Chris sieht sich den Höhenmesser und die Höhe über Grund an, sie fliegen über eine Hochfläche. Er bemerkt die letzten Ausläufer des Gebirgszuges, der sich bis in Höhen knapp unter 2000 Metern erstreckte, und die riesige Ausdehnung der Hochfläche. Es geht auf zwei Uhr zu, sie fliegen jetzt seit zwei Stunden über den fremden Kontinent, und Chris rechnet nach, wie weit sie an heute noch in ihn eindringen können. Er läßt den Piloten nach Westen abdrehen. An die Hochfläche schließt sich eine weite, tiefer gelegene und von Wald bestandene Ebene an, die bald 151
in ein breites Flußtal übergeht. Dahinter sieht Chris eine riesige, trockene Steppe, kurz bevor sie umkehren. Sieht interessant aus, denkt er, vor allem dürften sie so weit südlich die wenigsten Probleme haben, wenn sie mit dem Fahrzeug fahren sollten. Dann läßt der Pilot den Bordcomputer errechnen, auf welchem Kurs sie am schnellsten zum Treffpunkt mit dem Tanker kommen, gibt diesen in den Autopiloten und dreht in nordöstlicher Richtung ab. Chris sieht sich, nun wieder hinter dem Copiloten sitzend, die Landschaft an, die sie gerade überfliegen. Im Oberlauf ist dieser Fluß, den sie vor wenigen Stunden weiter südlich überflogen hatten, wesentlich schmaler und besser passierbar. Hinter ihm taucht die Abdachung des Gebirges auf, daß sie zum zweiten Mal überfliegen. Hier sollten wir besser nicht mit dem Wagen langfahren, denkt er. Nach einem langen Flug über den Kontinent, taucht wieder das Meer auf. Unter sich sehen die Männer eine flache Küste, hier könnten sie möglicherweise gut landen. Das war es dann mit dem neuen Kontinent. In fünf Tagen sehen wir uns wieder, denkt er. Es ist viertel nach sechs, als sie den Tanker erreichen. Sie füllen die fast leeren Tanks von Chris' Maschine zur Hälfte auf, trennen sich voneinander und nehmen Kurs auf das Schiff. Die letzten 800 Seemeilen vertieft sich Chris abwechselnd in das Buch und denkt über das nach, was er gesehen hat. Die morphologische Gliederung des Kontinents kennt er von den Satellitenbildern her, aber die geben auch bei bester Auflösung nicht her, wie der Boden genau bewachsen ist und ob er sich mit den Fahrzeugen befahren läßt, daß sich im Bauch des Schiffs befindet. Nun, es wird gehen, denkt er, sie werden in den nächsten Wochen schon einen Weg finden, um in das Landesinnere zu gelangen. Als es auf 22 Uhr zugeht, sinkt die Sonne unter den Horizont. In der Dämmerung kann Chris die Umrisse der "Discovery" erkennen, deren Anfluglichter ihnen den Weg weisen und deren Flugdeck hell erleuchtet ist. Als 152
erstes Flugzeug setzt der Tanker auf, Sekunden später folgt Chris' Maschine. Über Funk hatten sie die Ankunft der Maschinen angekündigt, und so stehen Michael, Gerd, Svenja und Erik am Rand des Flugdecks, um zu hören, was Chris gesehen hat. Durch das lange Sitzen hat er steife Beine, als er aus dem Flugzeug steigt, und stolpert auf die Gruppe von Wissenschaftlern zu. Gerd spricht ihn als erster an. "Na, wie war's?" "Schön. Ich hab' 'ne Menge Natur gesehen, kein menschlicher Eingriff, keine Straßen, kein Nichts." "Und sonst?" "Ach, wir haben 'ne Küste überflogen, ein Gebirge, und zwei ganz interessante Ebenen. Aber an besten bringen wir erstmal die Bilder ins Fotolabor, damit ich euch das Ganze auch zeigen kann." "Bist du nicht 'mal gelandet?" "Nein, das will ich mir für die nächsten Tage aufsparen. Seit zehn Jahren warte ich auf diesen Augenblick, da kann ich auch noch fünf Tage länger warten." "Hast du irgendwas, was du sonst noch gesehen hast?" "Eigentlich nichts, was ich euch gleich nicht noch erzählen könnte. Aber jetzt brauch' ich 'was zu trinken, ich hab' einen tierischen Durst." Die fünf Männer und eine Frau gehen durch den Innenhof zwischen den Wohnflügeln der Aufbauten durch zum Eingang des Aufbaus, in dem die Kantine ist. Dort ist um diese Zeit noch eine ganze Menge los, und kaum kommt Chris herein, wird er auch schon mit Fragen bestürmt. Er ist müde, aber trotzdem erklärt er zigmal, was er an diesem Tag gesehen hat. Dann suchen sich die sechs einen freien Tisch, und Chris kippt sich ein großes Bier in den Rachen. 153
Nach einer dreiviertel Stunde sind die Dias entwickelt, und Chris geht mit einer Gruppe von dreißig Wissenschaftlern in den Vortragssaal. Dort hängt er ein Satellitenfoto auf, zeigt den Kurs, den sie heute geflogen sind, und projeziert die Dias, die er Tag geschossen hat. Jetzt geht es ihm wieder besser, und so beantwortet er alle Fragen, die ihm die Kollegen zu dem stellen, was er gesehen hat. So vergeht die Zeit bis nach Mitternacht, dann ist er mit der Diashow fertig. Das Ereignis muß begossen werden, und obwohl Chris als einer der ersten an diesem Tag aufgestanden ist, geht er als einer der letzten ins Bett. Und weil der Alkohol seine Wirkung tut und Svenja wieder mit ihm Brüderschaft trinkt, halten sich beide diesmal nicht mehr zurück und verschwinden, deutlich angetrunken, auf Chris' Kabine. Nun sind sie alleine, und für beide ist es das erste Mal seit der langen Zeit von drei Monaten, daß sie mit jemandem Zärtlichkeiten austauschen können. Beide genießen es, aber als Chris in der Nacht wach wird und Svenja sich gerade anzieht und geht, fragt er sich, wo das noch hinführen wird. Dann schläft er wieder ein. V. Der 100. Tag seit der Abfahrt dämmert herauf. Chris wendet sich um und findet sein Bett leer vor, erinnert sich daran, daß Svenja vor wenigen Stunden gegangen ist. Verdammt, was haben wir da nur getan? Er dreht sich um, zu früh, um aufzustehen. Später steht die Sonne höher am Himmel, und er beschließt, seinen Körper aus dem Bett zu hieven. Auf dem Boden vor sich sieht er die Kleidungstücke liegen, die er gestern Abend wild von sich geworfen hat. Also doch kein Traum, da liegt ein Strumpf von ihr. Er wird es vermeiden, ihr den am Frühstückstisch zu überreichen. Nach langem Kampf steht er auf und geht ins Bad. Zwanzig Minuten später betritt er die Kantine, und obwohl es auf neun Uhr zugeht, ist sie relativ leer. Da haben wohl eine Menge Leute einen Kater, denkt er. An einem Tisch sieht er Erik sitzen, packt sich ein Tablett voll und setzt sich neben ihn. 154
"Na, hast du diese Nacht gut geschlafen?" Chris fühlt sich ertappt. "Warum fragst du?" "Ihr habt gestern Abend ganz schön 'rumgeturtelt, Svenja und du." "Ja? Ich weiß es nicht mehr, ich muß zuviel getrunken haben." "Wirklich?" "Ja." "Glaub' ich dir nicht." "Wieso?" "Du bist nicht verkatert genug, um gestern Abend einen Filmriß gehabt zu haben." "Und was schließt du daraus?" "Das du mehr weißt, als du mir sagen willst." "Kannst du das nicht verstehen?" "Doch. Aber sei vorsichtig, wenn du 'was mit Svenja anfangen solltest. Solche Sachen können verdammt böses Blut unter der Besatzung geben." "Ich weiß. Aber es gibt Möglichkeiten, vieles heimlich zu tun." "Trotzdem, paßt auf, ihr beide." "In vier Tagen sind wir wieder an Land. Dann wird keiner mehr Zeit haben, sich um irgendwelche Intrigen zu kümmern." "Dein Wort in Gottes Ohr." Chris beißt in ein Brötchen, es war eine gute Idee, einen Bäcker auf die Reise mitzunehmen. Gutes Essen hält 155
die Mannschaft bei Laune, hatte es geheißen, und dieser Spruch hatte sich in den letzten drei Monaten bewährt. Nun, was Erik da gesagt hat, ist Chris sehr wohl bewußt, diese Nacht müssen sie geheimhalten, sonst kann es zu Spannungen zwischen den Mitgliedern der Expedition kommen. Svenja ist eine attraktive Frau; und er hatte es miterlebt, wie andere Männer ihr Arbeit abgenommen hatten und um sie herumstrichen. Sie war auf diese Versuche nicht eingegangen; daß sie es jetzt mit Chris tat, bleibt ihm am Morgen danach rätselhaft. Er schiebt die Gedanken beiseite, es gibt anderes, womit er sich beschäftigen sollte, um nicht ins Brüten zu kommen. Erik hat bis zur Ankunft auf dem Kontinent eine Menge Arbeit zu erledigen und steht auf, bevor Chris fertig ist. Der vertieft sich in die Zeitung, die herübergefaxt worden ist, und sieht erst wieder auf, als sich eine Frau neben ihn setzt. Es ist Svenja. Chris verschluckt sich, er hatte sie nicht erwartet. "Na, hast du gut geschlafen?" Chris sieht sich um, ob jemand spitze Ohren macht. "Ich bin ein paar Mal zwischendurch aufgewacht, sonst ging's gut. Und du?" "Wie ein Stein." "Und sonst? Kannst du dich noch an diese Nacht erinnern?" "An Alles. Es hat sich gelohnt." "Und was machen wir jetzt? Wenn das so weitergeht, sind wir bald Thema Nummer Eins an Bord." "Ach, ich weiß. Ich hoffe, daß sich das gibt, wenn wir erstmal an Land sind." "Das hoffe ich auch, aber trotzdem - ich weiß nicht, was du dir vorgestellt hast, Svenja."
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"Ich weiß es selber nicht. Wir waren beide ziemlich betrunken gestern Abend, und ich hatte den Eindruck, daß wir beide das Bedürfnis hatten, etwas Liebe zu haben." "Ja? Ich find' das so eine Scheißsituation, daß wir aufpassen müssen, daß es hier keinen Streit an Bord gibt." "Warum?" "Weil Dir mit Sicherheit noch andere Männer nachlaufen, so wie ich das in den letzten Monaten beobachten konnte." "Hast du das gemerkt?" "Andere merken das vielleicht nicht, aber mir fällt sowas auf." "Komisch. Du hast nie etwas gesagt." "Ich kann solche Sachen für mich behalten." "Und du meinst, daß die Anderen dich jetzt als Rivalen sehen?" "Ja. Ich bin auch noch ihr Vorgesetzter, und das kann zu Streit führen, wenn die das in den falschen Hals kriegen." "Glaubst du, das ich 'was mit anderen Männern hier an Bord gehabt hab'?" "Das weiß ich nicht. Und ich will es jetzt auch nicht unbedingt wissen." Schlagartig wechseln beide das Thema, denn in diesem Moment setzt sich Gerd neben sie. Chris versucht sofort abzulenken. "Gerd, hast du endlich 'mal was zu tun?" "Ach, ich fand's öde in den letzten Monaten. Ich hab' den Eindruck, die Hälfte meines Wissens zu Hause 157
gelassen zu haben, weil ich auf der Fahrt zuwenig zu tun hatte." "Dafür kannst du dich Ende der Woche austoben." "Ich hoffe es! Nach den Fotos, die wir in den letzten Tagen gesehen haben, muß es 'ne ganze Menge neuer Pflanzen auf dem Kontinent geben." "Und du bist einer der ersten, die sie untersuchen." "Ich werde die Ehre haben." Sie unterhalten sich über das, was sie in der neuen Welt alles erwarten, und Gerd stellt die Frage, ob es nicht vielleicht auch Menschen hier geben mag. Es könnten Nachfahren von Seefahrern sein, die sich an diese Küste verirrt hätten, es könnten Ureinwohner sein, die sich unabhängig von den Menschen der alten Welt entwickelt haben. Sie sind gespannt, ob sie auf solche Wesen treffen werden. Svenja hat nur eine Tasse Kaffee zum Frühstück getrunken, als sie sich zusammen mit Chris erhebt und geht. Er will im Büro Arbeit erledigen, sie kommt mit. Dort sind sie alleine, und sie können darüber reden, was sie nun miteinander anfangen wollen. Es ist für beide hart, daß sie es mehr oder minder geheimhalten müssen, die letzte Nacht miteinander verbracht zu haben. Ist es Liebe? Beide sind sich darüber nicht recht im klaren, in der Enge des Schiffs können sich schnell solche Beziehungen ergeben, und beide haben so etwas früher schon erlebt. Sie gibt ihm einen Kuß und geht. Chris setzt sich vor den Computer und sieht sich an, was an Arbeit zu tun ist. Schließlich checkt er die Programme zur Analyse von Bodenproben und für geomorphologische Zwecke durch. Michael kommt herein, dann folgt Gerd. Die drei Männer sprechen darüber, was nun in den letzten Tagen bis zur Ankunft der "Challenger" an der Küste des neuen Kontinents geschehen soll. Wie in den vorhergehenden Wochen auch wird jeden Tag eine Sonde ins Meer geworfen, der letzte Ballon zur Messung der höheren Schichten der 158
Atmosphäre ist erst vor zwei Tagen gestartet worden, und bis zur Ankunft an der Küste wird man keinen neuen mehr fliegen lassen. Chris hat die Idee, daß man in den letzten drei Tagen täglich Flüge zur Küste starten sollte, um Fotos der Landoberfläche zu machen. Michael und Gerd sind damit einverstanden, und Chris ruft den Tower an, ob das möglich ist. Ja, es ist möglich, und man kann auch die Kamera für Luftaufnahmen heute noch einbauen. Morgen früh soll der erste Flug starten, wenn sie noch 800 Seemeilen von der Küste entfernt sein werden. Er erzählt seinen Mitarbeitern von dem Flug und von dem, was er dort gesehen hat. Ihm wird klar, daß ihn vor allem das Fehlen jeglicher menschlicher Eingriffe in die Natur beeindruckt hat. Chris kann sich vorstellen, wie die Landschaft aussehen wird, wenn Narben in sie geschlagen worden sind, wenn die Wälder gefällt, die Täler verbaut und die Hänge betoniert sind. Eine grausame Vorstellung, die ihm da durch den Kopf geistert. Und doch ist es genau das, was er seit Jahren kennt, was er jahrelang durch sein Studium nüchtern zu betrachten gelernt hat. Beim Mittagessen wird ihm klar, daß er mit der Expedition etwas angezettelt hat, was ihm jetzt sehr leicht außer Kontrolle geraten kann. Als er danach in seinem Büro sitzt, gehen ihm diese Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Das schlimmste ist, daß es hier an Bord kaum einen Menschen gibt, mit dem er sich über seine Zweifel unterhalten kann. Schließlich nimmt er sich einen Briefbogen aus der Schublade und setzt einen Brief an Sylvia auf. "Liebe Sylvia, Heute ist der 100. Tag unserer Reise. Gestern habe ich einen Flug unternommen und zum ersten Mal die neue Welt mit meinen eigenen Augen gesehen. Und obwohl ich Wissenschaftler bin, kann ich diese Bilder nicht mit der Nüchternheit sehen, die ich dafür aufbringen sollte. Ich habe weite Landschaften gesehen, bin durch Täler geflogen, habe Baumwipfel gestreift und das alles, ohne die Spuren eines Menschen zu sehen. Das war es, was 159
mich am meisten beeindruckt hat! Es war nicht die Weite der Landschaft, es war nicht das Neue, es war nicht die Tatsache, daß ich auf diesen Moment 10 Jahre lang hart hingearbeitet habe. Nein, es war der Vergleich zu dem, was wir mit unserer alten Welt gemacht haben, wie wir diese Landschaften umgestaltet und vergewaltigt haben. Seitdem mache ich mir Gedanken darüber, was nun mit dieser Expedition werden soll. Habe ich einen Fehler gemacht, weil ich das Ganze hier iniziiert habe? Bin ich dafür verantwortlich, wenn hier in den nächsten Jahren alles vor die Hunde geht? Ich weiß es nicht. Aber die Bilder, die ich gestern gesehen habe, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Alles Liebe und Gute Chris" Chris sieht sich den Text durch, sucht einen Briefumschlag und geht mit dem Brief in die Telemetriestation. Dort wählt er die Nummer des Postamtes, von dem aus Sylvia den Brief bekommen wird, und schickt ihn ab. Jetzt geht es ihm schon besser. Am Abend nutzt er eine weitere Möglichkeit der Telemetrie, und schickt von seinem Computer aus einen Brief an die Mailbox eines Freundes. Schließlich wird es dunkel über der See, er steht am Fenster und sieht auf die See hinaus, dorthin, wo der neue Kontinent liegt. In vier Tagen werden sie ihn erreichen. Bein Abendessen unterhalten sich Svenja und er lange miteinander, aber das ist die größte Annäherung. Chris merkt, daß die letzten Nächte kurz waren, und ist früh im Bett. Es gelingt ihm nicht direkt einzuschlafen, er verspinnt sich in Gedanken über das, was nach der Expedition folgen wird. Ist schon komisch, da hast du selber das Ganze erst möglich gemacht, und dann bist du der Mensch mit den größten Zweifeln an deinem eigenen Projekt. Er kann nicht einschlafen, nimmt den Telefonhörer in die Hand und wählt Svenjas Nummer.
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Sie ist erstaunt, seine Stimme zu hören, gerade kommt sie aus der Dusche. Als sie anbietet, zu ihm zu kommen, winkt er ab, das könnte in den letzten Tagen gefährlich für beide werden. Aber sie reden über die Zweifel, die Chris bedrücken. Dann legt er auf, nachdem sie sich eine gute Nacht gewünscht haben, und es geht ihm besser. Svenjas Stimme war warm und sanft, er hat sie genossen. Warum bin ich nicht zu ihr herübergegangen? Wir könnten vorsichtig sein, dann würde es vielleicht keiner merken. Vielleicht. Aber das Risiko ist zu groß. Also nimmt er das Buch über den Attentäter zur Hand, und die Handlung nimmt ihn in Beschlag, zieht ihn hinein. Er liest bis lange in die Nacht hinein, bevor ihm die Augen zufallen. In den letzten Tagen war die "Challenger" von Stürmen geschüttelt worden, als wolle der neue Kontinent, daß sich die Besatzung besonders darüber freue, endlich wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen. Am Abend des 103. Tages war Chris mit Wolken und Regenschauern ins Bett gegangen, und das zu einer Zeit, da der Sommer gerade begonnen hatte. Als er das Rollo vor seinem Fenster hochzieht, sieht er die letzten Wolkentürme, doch im Westen ist es klar; durch den Regen ist die Luft reiner geworden, so daß er weit sehen kann. Das ist also der Tag, an dem sie alle Land sehen sollen. Chris ist schon seit sechs Uhr wach, er gehört zwar zu der kleinen Gruppe von Männern, die den neuen Kontinent schon gesehen haben, aber dennoch ist er von der gleichen Aufregung ergriffen wie die anderen Mitglieder der Besatzung auch. Gestern Nachmittag hatte er mit dem Kapitän abgesprochen, wo sie landen sollten, hatte mit ihm Fotos der Bucht, die sie ins Auge gefaßt hatten, ausgewertet und mit ihm abgemacht, dort vor Anker zu gehen. Und weil sie die Bucht noch bei Tageslicht erreichen wollen, haben sie die Fahrt auf 15 Knoten erhöht. Nun ist es nicht mehr lange, und der Augenblick, auf den Chris 10 Jahre gewartet hatte, ist da.
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Es ist acht Uhr durch, und Chris wälzt sich aus dem Bett. Die letzten Nächte hatte er allein verbracht, Svenja und er hatten sich beherrschen können. Wichtigstes Thema an Bord war natürlich die bevorstehende Landung auf dem neuen Kontinent, und jeder trug seinen Teil abends in der Kantine dazu bei, Märchen und Legenden über diesen Teil des Planeten zu erfinden. Dann hatten Chris, Michael und Gerd gestern die letzten Arbeiten abgeschlossen und sind bereit, Forschungsarbeit auf dem neuen Stück Erde zu leisten. Die Proben der Meeressonde werden heute nicht mehr analysiert, das kann morgen geschehen. Außerdem waren in den letzten drei Tagen die Flugzeuge unterwegs gewesen und hatten Luftbilder der küstennahen Teile des Kontinents gemacht, die zwar an Bord entwickelt, dann aber digitalisiert und an die Landstation gefunkt wurden; an Bord hat man nicht mehr die Zeit gehabt, sie auszuwerten. Und so hatten auch die daheimgebliebenen Wissenschaftler Anteil an der Entdeckung. Chris geht den Zeitplan durch, gestern Mittag waren sie noch 420 Seemeilen von der Küste entfernt gewesen, jetzt dürften es noch 130 Seemeilen sein. Nun, heute Nachmittag wird es soweit sein. Die Maschine, die gestern Abend zurückkam, brauchte längst keine Begleitung durch den Tanker mehr, und die erste Maschine heute morgen war nur noch eine Stunde unterwegs, um zur Küste zu fliegen. In knapp neun Stunden wird es soweit sein, dann sind wir da. In der Kantine sind um diese frühe Uhrzeit heute schon eine Menge Leute anwesend, denn einige der Mitarbeiter haben ihre Arbeiten der letzten Tage noch nicht abgeschlossen, andere wiederum sind einfach zu aufgeregt, um an diesem Morgen lange schlafen zu können. Chris wird, kaum daß er hereinkommt, von vielen der Anwesenden begrüßt. Dann nimmt er ein Tablett, stellt sich das Frühstück zusammen und geht zu einem Tisch, an dem noch kein Mensch sitzt. Es braucht nicht lange, und Svenja setzt sich zu ihm. "Hast du auch so schlecht geschlafen?"
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"Nein, eigentlich nicht. Ich hab' gestern noch ein Buch zu Ende gelesen." "Welches denn?" "Das kennst du auch, die Geschichte von dem arbeitslosen Musiker, der am Schluß den Präsidenten umlegt." "Ach ja, stimmt. Ich hab' 'ne Menge davon gehört, der Typ, der das geschrieben hat, ist in der Presse ganz schön niedergemacht worden." "Aber er hat sich gut verteidigen können. Die können das Buch alle nicht gelesen haben, wenn die dem unterstellen, daß er Terroristen unterstützt." "Nein? Wieso?" "Weil er einen Einzeltäter darstellt, der den Staatschef erschießt, weil er und seine Freundin direkt von dessen Polizei bedroht werden. Da ist nichts mit Terrorismus, Putschversuchen und ähnlichem." "Hm. Ich muß das auch 'mal lesen." "Das kannst du gerne tun, du wirst nur in den nächsten Monaten keine Zeit mehr dazu haben." "Wenn du nicht da bist, habe ich genug Zeit." "Sei ruhig, nicht hier." "Warum denn, die merken doch nichts. Die sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, daß wir heute Land sehen werden." "Aber ich bin heute die Hauptperson. Und da muß ich aufpassen, was ich tue." Svenja und Chris reden den Rest der Zeit über den üblichen Bordklatsch und ein paar fachliche Dinge, dann ist das Frühstück zu Ende. Chris sieht sich um, von Gerd und Michael ist hier nichts zu sehen. Ob die beiden noch schlafen? Falls dem so sein sollte, will er 163
sie nicht gerade aus dem Schlaf schellen. Also geht er allein in sein Büro. Noch 115 Seemeilen, das Frühstück hat lange gedauert. Arbeit ist jetzt nicht mehr zu erledigen, aber Chris sieht sich trotzdem die Post durch, die in den letzten Tagen gekommen ist. Es sind eine Menge Glückwünsche darunter, Chris scheint es, als ob einige Menschen aus Wirtschaft und Wissenschaft den Anschluß nicht verpassen wollten. Und es freut ihn, für einen Tag im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Das Telefon klingelt. Chris hebt ab, und es meldet sich die Telemetriezentrale. Dort hat man den Anruf eines Senders, der an diesem Tag über die Landung berichten will und - dort wird es gerade Nacht - trotz des Zeitunterschiedes aktuell über das Unternehmen berichten will. Chris ist bereit, ein Interview zu geben, dann schaltet der Kollege aus der Telemetrie durch. Nach wenigen Sekunden hat Chris den Redakteur der Nachrichtenabteilung am Hörer, und erzählt ihm, wie weit sie noch von der Küste entfernt sind und was sich in den letzten sechs Wochen seit der Entdeckung des mittelozeanischen Rückens alles getan hat. Nach fünf Minuten ist alles vorbei, und Chris hat ein Stück mehr Medienerfahrung. Die Zeit bis zum Mittag vergeht nur langsam; das Warten darauf, daß die Küste endlich in Sicht kommt, ist entnervend. Gerd hat eine Idee, die von seinen Kollegen breite Zustimmung erfährt: Eine Maschine soll mit einigen Forschern und einer Videoausrüstung zur Küste fliegen und dort die Ankunft der "Challenger" filmen. Man ist sich einig, das ist eine gute Idee. Also checken die Wissenschaftler ab, wo sie die höchste Erhebung am Rand der Bucht haben, und beschließen, die Gruppe von Wissenschaftlern dort landen zu lassen. Doch bis dahin wird es noch dauern. Svenja und Chris stehen lange Zeit an der Reeling auf dem Peildeck oberhalb der Brücke und genießen den klaren Ausblick über das Meer und den wärmenden Sonnenschein. Der Wind kommt von hinten, und dadurch ist es an Deck so warm wie an einem vergleichbaren Sommertag auf dem 164
Land. Die letzten Wolken haben sich aufgelöst, und das Wetter macht die beste Vorstellung zu der Entdeckung, die in wenigen Stunden stattfinden soll. Beim Mittagessen sind die Chris' Mitarbeiter noch aufgeregter als beim Frühstück, und so hält es ihn nicht lange in der Kantine. Auch im Büro gibt es nichts mehr zu tun, und so sieht er sich auf dem Flugdeck um. Dort steht eine der Maschinen, denen man alle Sitze eingebaut hat. Chris wirft einen Blick hinein, kein Mensch drin, aber ein Teil der Videoausrüstung. Der Pilot kommt, und er ist einer der wenigen Menschen an Bord, die nicht aufgeregt sind, er hat diesen Kontinent schon mehrfach angeflogen. Chris fragt ihn, ob er die Bucht kennt, und erfährt, daß man an der fraglichen Stelle direkt auf dem Hügel landen könne. Das hat er nämlich gestern bereits getan, ohne daß Chris es wußte. Nun, damit ist die Frage, wer das neue Stück Land als erster betreten solle, erledigt, das ist nun geschehen. Dann sieht Chris auf die Uhr, noch zwei Stunden, langsam wird auch er nervös, die Spannung steigt. Er geht auf die Brücke, der höchste Punkt des Schiffs, und wird dort solange bleiben, bis sie vor Anker gehen. Oben angekommen, unterhält er sich mit dem Kapitän darüber, wie lang es noch dauern wird, bis man den ersten Schimmer Land sehen kann. Der drückt ihm ein Glas in die Hand, doch so sehr Chris seine Augen auch bemüht, außer Wasser sieht er nichts. Also geht er zum Kartentisch, die letzte Eintragung ist zehn Minuten alt, und der Abstand zur Küste erscheint auf der Karte verschwindend gering. Schließlich landet Chris im Tower, auf der Rückseite der Brücke, und sieht über die Bildschirme, wie seine Kollegen die Maschine besteigen. Der Kapitän stößt zu ihm, gemeinsam verfolgen sie, wie sich die Maschine in den Himmel erhebt. An Bord sind acht Passagiere, darunter Michael und Gerd. Chris wird ihnen das Vergnügen überlassen, vor ihm den Kontinent betreten zu dürfen. Die nächste Stunde vergeht langsam, immer wieder unterbrochen von Gesprächen mit den Kollegen, die gerade am Strand der Bucht gelandet sind und im 165
Schnelldurchgang die Umgebung erkunden. Sie erklimmen den Hügel und bauen die Kamera auf, um die "Challenger" zu filmen, sobald sie in Sicht kommt. Chris sieht durch das Glas, daß er sich angeeignet hat. Die letzte Stunde bricht gleich an, und er starrt über das Meer. In der Zwischenzeit haben sich auch andere Kollegen auf der Brücke eingefunden, und der Kapitän hat alle Hände voll zu tun, nur denen Zutritt zu gestatten, die dazu befugt sind. Ein Schrei läßt alle Anwesenden verstummen, alle bis auf einen, denn es war Chris, der Land gesehen hat. "Da ist er! Da ist er! Wir haben's geschafft!" "Wo denn?" Der Kapitän sieht durch sein Glas. "Tatsächlich, da ist er. Wir sind da." Das ist die Bestätigung: Nach 104 Tagen auf See nähert sich die "Challenger" mit einer Besatzung von 320 Frauen und Männern dem Ziel der Expedition. Svenja zupft Chris am Ärmel, und er reicht ihr das Glas herüber. Der Kapitän läßt auf volle Fahrt gehen, die "Challenger" erzittert und schiebt mit 16 Knoten durch die glatte See. Nirgends sind Riffs oder Inseln zu sehen, das Echolot zeigt Wassertiefen um 100 Meter, kein Risiko, jetzt auf Höchstfahrt zu gehen. Von Minute zu Minute wird deutlicher, daß man auf Land zufährt. Langsam beginnen sich die Konturen vom Horizont zu lösen, so kann man auch ohne Fernglas erkennen, was da auf das Schiff zukommt. Schließlich, als es auf fünf Uhr zugeht, zeichnet sich in wenigen Kilometern Entfernung die Bucht ab, die man zur Landung gewählt hatte. Der Kapitän läßt auf halbe Fahrt herunter, hier wird das Wasser flacher, und er will das Schiff nicht auf Grund setzen. Zudem gibt er Anweisung, die Ballasttanks zu leeren, die den Gewichtsverlust durch den verbrannten Diesel ausgleichen. Das Schiff ist dafür ausgelegt, mit nahezu vollen Tanks und dementsprechendem Tiefgang die beste Seegängigkeit 166
zu haben. Jetzt brauchen sie genügend Wasser unter dem Kiel. Erik greift in eine Tasche, die er unter dem Kartentisch versteckt hatte, und holt einige Sektflaschen heraus - er hatte in den letzten Wochen gute Beziehungen zur Küche aufgebaut. Die erste der Flaschen drückt er Chris in die Hand, und er öffnet sie, ohne zum Schaumschläger zu werden. Nach ihm trinkt Svenja als zweite daraus, dann kreisen die Flaschen auf der Brücke. Man schüttelt sich die Hände und umarmt sich, Erik und Chris springen durch den Raum. Mit Svenja tauscht er einen langen Kuß aus, alles ist ihnen jetzt egal, in dieser Situation merkt das ohnehin keiner mehr. Hier oben, im Hirn des Schiffs, herrscht Fetenstimmung. Die "Challenger" nähert sich ihrem Bestimmungsort. Minute um Minute kommt die Küste näher, und als sie in die Bucht einlaufen, steigt eine weiße Signalrakete vom Strand der Bucht auf. Das sind die Kollegen, die seit gut einer Stunde an Land sind. Schließlich liegt die "Challenger" mitten in der Bucht, der Kapitän stoppt die Maschinen und läßt Anker werfen. Als einer der ersten geht Chris von der Brücke, und er hat ein Ziel. Sobald das Schiff gestoppt liegt, soll eines der beiden Tenderboote zu Wasser gelassen werden und einen Teil der Besatzung an Land bringen. Auf dem Weg zu den Auslegern, die gerade ausgeklappt werden, schüttelt Chris unzählige Hände und sammelt Glückwünsche. Der Alkohol und die freudig und mit strahlenden Zähnen lächelnde Svenja an seiner Seite leisten ein übriges, damit er sich wohl fühlt. In diesem Moment ist er der meistumjubelte Mensch, und alle Bedenken, die er in den letzten Monaten hatte, sind wie weggeblasen. Schließlich erreicht die Gruppe der Wissenschaftler, die an Land gehen will, den Ausleger. Der ist noch gesperrt, ganz langsam wird der Tender aus seinem Stauraum unterhalb des Flugdecks abgesenkt. Nach einer Minute wassert er und wird von der Besatzung von den Tauen gelöst, die ihn im Falle eines Wegrutschens sichern sollten. Dann öffnet ein Matrose das Luk, und die 167
Wissenschaftler können einsteigen. Als das Boot voll ist, wird der Diesel gestartet, und nach vorne fahren sie zwischen den Schwimmern hindurch in die Bucht. Nach fünf Minuten ist es soweit: Der Tender schiebt sich mit seinem flachen Bug auf den Strand und öffnet die vordere Ladeluke. Es sind nur wenige Meter bis zum trockenen Strand, die die Frauen und Männer mit weiten Schritten zurücklegen. Erik und Svenja sehen sich um, während Chris eine Handvoll Sand nimmt und daran riecht. Erik tritt an ihn heran. "Sieht auch nicht anders aus als bei uns." "Warum bist du dann mitgekommen?" "Weil ich 'was Neues sehen wollte." "Warte, bis wir weiter ins Land 'reinfahren. Da gibt's noch 'ne Menge zu entdecken." In diesem Moment kommt die Gruppe von Wissenschaftlern, die auf dem Hügel Stellung bezogen hatte, heruntergelaufen. Chris wird von Michael und Gerd stürmisch begrüßt, sie schütteln sich die Hände und hüpfen über den Strand. Ein paar Minuten später ist die Begeisterung abgeklungen, und sie kommen überein, sich eine Stunde Zeit zu lassen, um sich in der Bucht umzusehen. Erik und Chris schlagen sich in die Büsche und entfernen sich einen Kilometer von der Bucht. Sie sehen sich den Boden an, wühlen mit der Hand in der Krume herum, sehen sich Auffälligkeiten in der Reliefgestaltung an und werfen einen Blick auf die Vegetation. Gehen zu einem Fluß herunter, dessen Bett mit Geröll gefüllt ist. Im Winter muß es hier sehr kalt sein, denkt Chris. Am Ufer gehen sie zurück zur Bucht, dabei unterhalten sie sich miteinander, und auf beide hat die Begegnung mit der neuen Welt einen starken Eindruck gemacht. Als sie zurückkommen, fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit, sind von den Kollegen nur wenige da. Das hatte Chris erwartet, daß sich jetzt alle auf die Natur stürzen und gleich am ersten Tag alles sehen wollen. 168
Sie warten eine halbe Stunde, dann scheinen alle zurück zu sein. Svenja ist guter Dinge, sie hat eine Menge vor, und sie ist froh, bei den Ersten zu sein, die diese neue Welt betreten durften. Schließlich gehen alle an Bord des Tenders und fahren zurück zur "Challenger". Sie haben Hunger, sie haben lange nichts mehr gegessen und nach langen Tagen wieder Bewegung gehabt. Die folgende Nacht wird zum Tage gemacht. Ohne Unterschied zwischen wissenschaftlicher und seemännischer Besatzung tanzen und trinken alle die ganze Nacht hindurch. Als die Sonne über den Horizont dämmert, steht Chris mit Svenja im Arm an Deck und sieht in die Bucht hinein. Eine romantische Stimmung, wie sie finden. Schließlich, als aus der Kantine kein Laut mehr zu hören ist, gehen sie auf seine Kabine. Heute ist ihnen alles gleichgültig, heute genießen sie es, zusammen zu sein. II. Trotz der kurzen Nacht sind an diesem Morgen die Wissenschaftler früh auf den Beinen, Arbeit ist angesagt. Chris wacht alleine auf, Svenja ist in der Nacht gegangen, ohne daß er es gemerkt hat. Hoffentlich hat es auch sonst keiner gemerkt, denkt er. Ein Blick auf die Uhr, halb acht. Er steht auf, sieht nach draußen. Dort grüßt ihn die Sonne, und die Aussicht auf einen warmen Sommertag vertreibt seine Müdigkeit. Dann geht er ins Bad und ist um acht Uhr in der Kantine. Einige der hier Sitzenden zeigen Spuren der kurzen Nacht, die Kollegen sehen verkatert aus und beginnen den Tag mit sauren Gurken. Chris stellt sich ein großes Frühstück mit Müsli, Kaffee, Kakao und Brötchen zusammen. Er wird es brauchen, er hat zwar noch keinen Hunger, aber er wird an diesem Tag alle seine Kräfte benötigen. An einem Tisch sieht er Gerd sitzen, nimmt sein Tablett und setzt sich neben ihn. "Na, was hast du denn heute vor?" "Frag' mich nicht. Ich würd' am liebsten den ganzen Tag pennen." 169
"Hast du nicht geschlafen?" "Doch, Chris. Aber ich hab' 'nen tierischen Kater." "Selbst Schuld. Warum säufst du auch so viel?" "Ach, wir haben gut gefeiert. Es hat sich gelohnt." "Okay, aber dann brich mir heute nicht zusammen. Wo sind die anderen?" "Welche anderen? heruntergekommen."
Außer
dir
ist
noch
keiner
"Das hatte ich befürchtet. Ich hoffe, daß Erik heute pünktlich ist. Wir wollen uns ein bißchen im Landesinneren umsehen, und wir müssen früh los." "Reg' dich ab, da kommt er." Im Gegensatz zu anderen Kollegen sieht Erik frisch aus, setzt sich zu Gerd und Chris an den Tisch und berichtet, daß er ausgeschlafen ist. Gut so, denkt Chris, dann wird er heute nicht zusammenbrechen. Es dauert lange, bis sie zu Ende gegessen haben, und in dieser Zeit kommen auch Michael und Svenja herunter. Damit sind die wichtigsten Leute des heutigen Tages beisammen, und gegenseitig erzählen sie, was sie heute unternehmen wollen. Chris und Erik hatten sich gestern den Fluß angesehen, den wollen sie heute weiter hinaufgehen. Michael wird sich in der Bucht umsehen, Gerd hat sich vorgenommen, den Wald zu kartieren und auf neue Pflanzenarten hin zu untersuchen. Um neun sind sie mit dem Frühstück fertig; Erik und Chris sprechen ab, sich in einer Viertelstunde am Tenderschiff zu treffen. In Marschausrüstung, mit Outdoorhose, Pullover, Wanderstiefeln und Rucksack gehen sie an Bord des Tender. Sie haben genug Vorräte an Essen und Trinken dabei, um im Notfall auch über Nacht an Land bleiben zu können. Und beide sind sich im klaren darüber, daß es für sie seit dreieinhalb Monaten die erste große körperliche Anstrengung sein wird und sie aufpassen müssen, sich heute nicht zu verausgaben. Als es auf 170
zehn Uhr geht, befinden sich außer ihnen noch 15 andere Wissenschaftler an Bord des Tenders, und er legt ab. Nach zehn Minuten stehen sie am Strand. Ohne sich lange aufzuhalten, schultern sie ihre Rucksäcke und gehen in Richtung Süden, zur Mündung des Flusses, den entlang sie gestern zurückgelaufen sind. Nach fünf Minuten sind sie dort, gehen das schotterbedeckte Ufer entlang. Der Fluß ist im Unterlauf flach; sie können über Sand- und Schotterbänke gehen, ohne durch das Wasser waten zu müssen. Die Sonne steigt höher, und die körperliche Anstrengung sorgt ebenfalls dafür, daß ihnen schnell warm wird. Es sind kaum zwei Stunden vergangen, da haben sie ihre Wasserflaschen schon geleert. Erik probiert das Wasser, es ist genießbar, nach dem aufbereiteten Meerwasser an Bord der "Challenger" schmeckt es sogar sehr gut. Am Flußufer kommen sie gut voran, nach drei Stunden setzen sie sich am Ufer nieder, um zu Mittag zu essen. Chris packt sein Satellitennavigationsgerät aus; bis zu diesem Zeitpunkt haben sie elf Kilometer zurückgelegt. Eine gute Leistung, aber sie müssen daran denken, daß sie den gleichen Weg wieder zurückgehen müssen. Nun, bis dahin ist noch Zeit. Erik sieht auf die Uhr, es geht auf zwei zu, als sie aufbrechen. Sie haben vor, noch eine bis zwei Stunden den Fluß weiter aufwärts abzugehen, dann spätestens müssen sie umkehren. Zu beiden Seiten zeigt sich keine Änderung im Bewuchs, der Wald ist genauso dicht und unzugänglich wie an der Küste. Chris denkt, daß sie hier nicht weiter ins Landesinnere vordringen können, dazu ist es zu unwegsam. Wenn sie mit einem Boot den Fluß den Fluß weiter herauffahren könnten, dann kämen sie vielleicht bis zum Rand des Gebirgszuges, den er vor einer Woche überflogen hat. Doch dann wird es unwegsam, er kann sich an mehrere Wasserfälle und Stromschnellen erinnern, die er gesehen hat, und da ist mit dem Boot kein Durchkommen mehr. Nein, das hat keinen Zweck. 171
Um vier Uhr kommen sie zu einer Mündung, in der ein kleinerer Fluß in den mündet, an dem sie seit Stunden entlanggehen. Beide Männer setzen sich und machen eine Pause, sie haben Hunger. Chris nimmt sich das Navigationsgerät zur Hand, bis jetzt haben sie 19 Kilometer hinter sich gebracht. Verdammt, das wird ein harter Rückmarsch, denkt er sich, beiden schmerzen die Beine. Wir hätten uns mit weniger zufriedengeben sollen, sagt Erik. Sie stehen wieder auf, Chris nimmt das Funkgerät zur Hand und gibt durch, daß sie umkehren. Er sieht keinen Zweck mehr darin, jetzt noch weiterzugehen; der Wald ist auch 20 Kilometer von der Küste entfernt undurchdringlich und der Fluß mit einem Boot nur unter Schwierigkeiten zu befahren. An Bord haben sie zwar ein Fahrzeug stehen, aber das kommt hier nicht mehr durch. So stehen beide Männer auf, kämpfen die Schmerzen nieder und gehen zurück. Es geht zwar stetig bergab, aber die Monate des Müßiggangs an Bord der "Challenger" machen sich deutlich bemerkbar. Nicht nur die Füße tun beiden Männern weh, auch die Waden und Oberschenkel, vom Rücken ganz zu schweigen. Aber je näher sie der Küste kommen, desto stärker wird ihr Wille, sie noch bei Tageslicht zu erreichen. Sie machen jede Stunde eine kurze Pause, essen dabei eine Kleinigkeit und brechen wieder auf, bevor der Körper auskühlt. Schließlich, nach langen Stunden, erreichen sie die Küste. Den letzten Kilometer kennen sie von gestern, und ihre Müdigkeit ist wie weggeblasen. Als sie das Meer sehen, freuen sie sich, wieder da zu sein. Nur sind sie um diese Zeit alleine hier, alle anderen Wissenschaftler sind bereits an Bord gegangen. Aber das ist kein Problem, man wartet bereits auf sie und hat einen Tender in Bereitschaft, um sie an Bord zurückzubringen. Chris ruft über sein Funkgerät die Brücke, und eine halbe Stunde später sind sie in ihren Kabinen. Beim Abendessen hat jeder Forscher eine Menge über das, was er an diesem Tag gesehen hat, zu erzählen. 172
Das Ergebnis ist, daß Michael, Gerd und Chris eine Entscheidung auf Morgen verschieben, aber sie haben vor, nach einem weiteren Tag Aufenthalt in dieser Bucht die Anker zu lichten und eine Stelle weiter südlich anzusteuern, um von dort aus ins Landesinnere vordringen zu können. Am nächsten Tag will Chris sich ins Flugzeug setzen, um eine Stelle an der Küste ausfindig zu machen, an der eine Landung möglich ist. Am Abend unterhält er sich kurz mit Svenja, trinkt ein Bier, geht duschen und ist früh im Bett. Allein. Er denkt nach, während er jeden einzelnen Körperteil spürt, wie weit er in der Zeit an Bord an Kondition verloren hat. Ich werde 'ne Menge Sport treiben müssen, sagt er sich, bevor er einschläft. III. An diesem Morgen wacht Chris früh auf, nach sieben Stunden Schlaf. Sein Körper zeigt ihm, daß er die Überbelastung des gestrigen Tages nicht verdaut hat beim Aufstehen spürt er jeden einzelnen Muskel, und die Füße wollen ihm abfallen. Aber trotzdem, er steht auf. Nach dem Frühstück fährt der größte Teil der Wissenschaftler zur Küste, um dort Forschungstätigkeiten nachzugehen. Gerd kümmert sich um den Aufbau einer provisorischen Forschungsstation, in der die Wissenschaftler einen Ort haben, an dem sie Büroarbeiten nachgehen können. Als das Zelt errichtet ist, stellen sie eine meteorologische Meßstation auf, die über Satellit in den nächsten Monaten Daten an das Schiff und die Landstationen funken wird. Schließlich gehen die Forscher ihrer Tätigkeit nach, bestimmen Pflanzen, nehmen Bodenproben, schaufeln in der Erde herum und sehen sich das Wasser und den Boden der Bucht an. Chris hat anderes vor, er geht nach dem Frühstück zum Flugdeck und steigt dort auf den Copilotensitz der Maschine, die mit der Luftbildkamera ausgerüstet ist. Dann heben sie ab. Zuerst geht der Kurs nach Süden, er war sich in Übereinstimmung mit den anderen Kollegen sicher, daß sie dort nach der Landung in der 173
Steppe weiter ins Binnenland vordringen können als in dem Waldgebiet, an dessen Rand sie vor zwei Tagen gelandet sind. Nach einer Stunde und einer Flugstrecke von 250 Meilen sieht Chris die Ausläufer des Gebirgszuges abdachen; im Süden beginnt die Hochfläche, die er vor acht Tagen zum ersten Mal überflogen hat. Eine halbe Stunde später befinden sich die Männer mitten darüber, und nach einer ebenso langen Zeitspanne erreichen sie den westlichen Rand der Hochfläche, hinter der die Steppe beginnt. Chris kennt den Anblick; sein heutiges Ziel ist es, eine Möglichkeit zum Überqueren des Flusses, der sich zwischen beiden Raumeinheiten breitmacht, zu finden. Der Pilot geht tiefer, sie fliegen den Fluß nach Norden aufwärts, bis sie eine Schlucht erreichen, in der sich das am Unterlauf sehr breite und zum Teil versumpfte Flußbett deutlich verengt. Chris läßt den Pilot noch tiefer gehen und langsamer fliegen, erkennt eine Furt im Fluß. Hier müßte eine Passage möglich sein, denkt er, und läßt die Maschine landen. Am Flußufer ist auf einer Schotterbank Platz genug, um den Flugschrauber aufsetzen zu lassen. Chris löst den Gurt und öffnet seine Tür, ihm schlägt die Hitze des Sommertages entgegen. Um so besser, denkt er, er zieht die Schuhe aus, die Füße schmerzen genug, krempelt die Hosenbeine hoch und geht zum Fluß herunter. Das Wasser ist angenehm kühl, und ohne über die Knie einzusinken, erreicht Chris das andere Ufer. Dort sieht er sich um, es ist keine Schwierigkeit, hier mit dem Auto den Hang hochzukommen, dann watet er zurück, trocknet sich die Füße ab und steigt ein. Jetzt weiß er, wo er das schwierigste Hindernis der Reise, den Fluß, passieren kann, alle anderen orographischen Hindernisse werden sie umfahren können, nur dieser Fluß war das Hindernis, das sich in Chris' Hirn immer wieder unüberwindlich aufbaute. Die Maschine startet, und er macht während des Rückflugs Luftbilder der Route, die er mit einer ausgewählten Crew von Leuten in etwa einer Woche fahren will. Er beginnt 174
sich darüber Gedanken zu machen, wen er auf die Fahrt mitnehmen will, doch er will die endgültige Besetzung erst festmachen, wenn er weiß, wie sich die Leute in den Tagen an Land bewährt haben. Sie werden aufeinander angewiesen sein, es darf keine Streitereien und keine Intrigen geben, und es müssen Menschen sein, die mit anpacken und sich nicht nach einem Tag Fahrt in ihr Zelt zurückziehen und die anderen die Arbeit machen lassen. Aber er weiß auch, von wem er dies erwarten kann, und er hat mehrere Expeditionen dieser Art hinter sich, von denen er weiß, welche Eigenschaften die Mitfahrer mitbringen müssen. Alle zwei Minuten löst Chris ein Luftbild aus, und aus der Flughöhe von 3000 Fuß werden diese Bilder eine gute Auflösung haben. Er gibt dem Piloten die Route an, die er fahren möchte, und notiert sich zu jedem Foto die Position, an der es entstanden ist. Nach einer Stunde Flugzeit überfliegen sie die Küste. Hier gilt es jetzt, einen günstigen Platz zu finden, an dem die Küste flach und nach Möglichkeit durch eine Insel oder als Bucht vor der offenen See geschützt ist und das Wasser gleichzeitig so tief ist, daß die "Challenger" dort ankern kann. Eine Viertelstunde fliegen sie die Küste nach Süden ab; als landeinwärts ein Sumpfgebiet beginnt, gibt Chris dem Piloten Signal zur Umkehr. Sie überfliegen den Punkt, an dem sie vor knapp drei Stunden in Richtung Westen abgebogen sind, und fliegen nach Norden. Nach fünf Minuten überfliegen sie eine kleine Bucht, und die Maschine kreist darüber. Das Wasser ist tief genug, es ist klar, aber der Grund ist nicht zu sehen. Die Wellen gelangen nicht in die Bucht hinein, und der Strand ist sandig und flach. Ideale Bedingungen, denkt Chris. Er bestimmt die Position der Bucht und läßt den Piloten weiterfliegen. In der Stunde, die bis zum Anflug auf die "Challenger" vergeht, finden sie noch weitere potentielle Landestellen, aber diese bieten keinen guten Zugang ins Landesinnere. Als die Maschine um drei Uhr auf dem Flugdeck aufsetzt, ist Chris sicher, die Fahrt gut vorbereitet zu haben. Nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug wartet er, bis der Mechaniker die Kassette mit den Filmen herausgenommen hat, und bringt sie umgehend ins 175
Fotolabor. Bis zum Abend soll sie entwickelt werden; heute wollen Michael, Gerd und Chris zusammen mit dem Kapitän darüber entscheiden, wohin sie morgen aufbrechen werden. Dann setzt er sich in sein Büro und sieht sich an, ob die Kollegen an der Küste schon Daten übermittelt haben. Er findet Analyseergebnisse der Bodenproben vor, die sie gestern und heute genommen haben, findet nichts, was ihn überraschen würde, abgesehen davon, daß der Waldboden weniger sauer ist, als er es in gleichen Breiten in der alten Welt ist. Ihm fällt auf, daß dieser Bodentyp eigentlich in weiter nördlich gelegenen Breiten vorkommt, und er schließt daraus, daß hier ein kontinentaleres und kälteres Klima als in der alten Welt herrscht, der Boden deutet darauf hin, ebenso das Geröll im Flußbett, durch das er gestern mit Erik gelaufen ist. Ein erstes interessantes Ergebnis, denkt er; wenn sie morgen Abend eine der wöchentlichen Besprechungen haben, wird er das vorstellen. Vorher 'mal mit den Bodenkundlern darüber reden. Auch die Biologen haben einiges an Arbeit geleistet, Chris sieht, daß sie in den beiden Tagen an Land eine Menge neuer Pflanzen- und Kleintierarten gefunden haben. Nun, auch für diese Kollegen hat sich die Expedition gelohnt, denkt er. Er sieht auf die Uhr, es geht auf fünf zu. Um sechs wollten Gerd und Michael wieder an Bord sein, um anhand der Bilder zu besprechen, wohin sie morgen aufbrechen werden. Genug Zeit für eine Dusche. Um sechs Uhr sind die beiden Kollegen wieder an Bord. Chris hat die Fotos der Bucht und einige von denen der Strecke, die er fahren will, mitgebracht und auf dem Kartentisch hinter der Brücke ausgebreitet. Die Wissenschaftler und der Kapitän stehen um den erleuchteten Tisch herum und reden sich die Köpfe heiß, ob diese Stelle wirklich besser ist. Nach einer Viertelstunde hat Chris seine Mitstreiter davon überzeugt, daß sein Vorschlag zur Landung der beste ist, denn er hat diese Orte mit eigenen Augen gesehen und weiß seine Argumente durchzusetzen. Dann zeigt er den anderen, wo er mit dem Auto ins 176
Landesinnere vorstoßen möchte. Eigentlich hat er die freie Wahl der Fahrtroute, nur am Fluß muß er genau die Furt ansteuern; im Süden gibt es Sümpfe, und im Norden schließt der Gebirgszug an, der für sie unpassierbar ist. Als es auf sieben zugeht, ist die Entscheidung gefallen, man wird morgen zu dieser Bucht knapp 300 Seemeilen südlich der heutigen Position aufbrechen. Heute werden sie das nicht mehr tun, zum einen wegen der Gefahr, in der Nacht in dem unbekannten Gewässer auf ein Riff zu laufen, zum anderen wegen der Kollegen, die sich in der Nacht an Land befinden, um dort die Tierwelt einer nächtlichen Beobachtung zu unterziehen. In den frühen Morgenstunden werden sie das provisorische Lager wieder abbrechen, und um die Mittagszeit soll der Anker gelichtet werden. Beim Abendessen sitzt Chris mit Svenja zusammen an einem Tisch; Gerd, Michael und Erik müssen sich erst die Schweißkruste des heißen Sommertages von der Haut waschen. So hat er genug Zeit, sich mit ihr zu unterhalten. "Und was hast du heute gemacht?" "Ich bin den ganzen Tag 'rumgerannt, um irgendwelche Aufschlüsse zu finden." "Hast du Erfolg gehabt?" "Ja, einen hab' ich gefunden, am Prallufer vom Fluß. Ich hab' ein paar Bodenproben genommen, den Schotter untersucht und Proben vom Konglomerat genommen. Den ganzen Nachmittag hab' ich dann im Labor gestanden." "Hast du schon 'was 'rausgefunden?" "Nun, das Konglomerat ist vom Ansehen nix besonderes. Aber der Schotter war interessant: Ich hab' eine Sorte Granit gefunden, die ich noch nie gesehen habe." "Neues Gestein?" 177
"Sieht so aus. Ich hab' meine Jungs einen Dünnschliff anfertigen lassen, und morgen früh sollen die die Untersuchungen durchführen." "Hört sich gut an." "Und du? Was hast du gemacht?" "Ich hab' im Flugzeug gesessen und bin ins Landesinnere geflogen. Wir haben eine Bucht gefunden, zu der wir morgen hinfahren werden, und dann will ich mit dem Auto von da aus ins Landesinnere fahren." "Stimmt, davon hattest du erzählt. Weißt du schon, wen du mitnimmst?" "Ich habe ziemlich genaue Vorstellungen darüber, aber ich muß erstmal sehen, wie sich die Leute so machen. Willst du etwa mit?" "Warum nicht? Von mir aus würde ich auch mit dir allein fahren." "Das Angebot kann ich kaum ablehnen... Aber ich will keine Frauen mitnehmen." "Wieso das denn nicht? Du hast doch Frauen an Bord, die du nach der fachlichen Qualifikation ausgewählt hast. Und jetzt plötzlich willst du nicht mehr?" "Svenja, das hat andere Gründe. Wir werden alle unsere Körperkräfte brauchen, und es ist keine Frau an Bord, die so starke Muskeln hat, daß sie mit den Männern, die ich mitnehmen will, mithalten kann. Außerdem weißt du aus eigener Erfahrung, daß Frauen einem größeren Infektionsrisiko als Männer unterliegen, wenn sie sich nicht regelmäßig waschen können. Und wir werden tagelang fahren und schwitzen, ohne das zu können." "Hm, das stimmt. Aber... spielt da noch 'was anderes mit 'rein?" "Was denn?"
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"Möchtest du das vielleicht deshalb nicht, weil es zwischen uns Probleme geben kann, oder weil dann das Gerede anfängt?" "Das Gerede ist mir scheißegal. Wenn's danach ginge, würde ich nur mit dir alleine fahren. Aber es stehen halt andere Sachen dazwischen." "Schade, das hätte bestimmt Spaß gemacht." "Ich weiß noch nicht, ob es mir soviel Spaß machen wird. Nach dem, was ich vom Flugzeug aus gesehen habe, wird das eine verdammt schwierige Fahrt. Da gibt's keine Straßen, und die Steppe sieht zwar von oben gut aus, aber wer weiß, wie die sich fahren läßt." "Na gut, ich hoffe, daß du lebendig zurückkommst." "Da kommt mir noch eine andere Idee." "Was denn?" "Wie wäre es, wenn wir heute Nacht an Land bleiben? Wir könnten unsere Schlafsäcke mitnehmen und mit einem der Beiboote an Land rudern." "Und dann?" "Dann könnten wir uns in die Büsche schlagen und irgendwo übernachten." "Du, das ist 'ne gute Idee. Wieviel Leute sind denn noch an Land?" "Drei oder vier von den Zoologen, sonst sind alle wieder hier. Ich könnte gleich mit dem ersten Offizier sprechen, ob wir das Boot kriegen." "Sicher, du bist doch der Obermacker hier." "Ach... Na, ich versuch's 'mal. Bist du dabei?" "Immer!" Sie lächelt ihn süß an, das wäre die erste Nacht, die sie gemeinsam außerhalb des Schiffs verbringen. Beiden ist 179
die Geheimhaltung ihrer Affäre nicht mehr so wichtig wie an den Tagen zuvor, zum einen sind die meisten Mitglieder der Besatzung mit ihrer Arbeit zu sehr beschäftigt, um an so etwas zu denken, zum anderen hatten sie beide in den letzten Tagen gesehen, daß sich andere Verhältnisse an Bord entwickelt hatten. Seit fast vier Monaten hängen sie sich jetzt auf der Pelle, und die wissenschaftliche Mannschaft besteht aus 110 Männern und 40 Frauen, da ist es klar, daß sich Verbindungen ergeben. Beide essen schnell zu Abend, Svenja geht duschen, während Chris mit dem wachhabenden Offizier abspricht, daß er mit dem Boot zur Küste fahren wolle, um einige dort gelassene Werkzeuge zu holen und sich den Aufschluß anzusehen. Der Offizier ruft einen Matrosen, der am Schwimmer das Boot zu Wasser läßt. Dann zieht Chris sich um, packt seinen Schlafsack und die Unterlage in den Rucksack und holt Svenja ab. Sie zieht sich gerade an, als er eintritt, und es stört sie nicht, daß er ihr dabei zusieht. Schließlich gehen sie zum Ausleger, steigen in das Boot und rudern zum Ufer. Es geht auf neun Uhr zu, als sie dort ankommen. Gemeinsam ziehen sie das Boot auf den Strand und gehen zu dem Zelt herüber, in dem sich die Forschungsstation befindet. Hier sitzt einer der Zoologen beim Kaffee, um sich für die Nacht wachzuhalten. Chris fragt ihn, wo sich die Kollegen aufhalten, und ihm wird klar, daß man sie in der Nacht am Fluß nicht stören wird. Sie verabschieden sich und gehen nach Süden, dem Fluß entgegen. Die Nacht wird warm bleiben, an diesem Tag ist das Thermometer auf Temperaturen bis über 30° gestiegen, und auch jetzt ist es kaum abgekühlt. Der Fluß rauscht beruhigend, als beide ihre Sachen am Ufer ablegen, dort, wo Svenja den Aufschluß untersucht hatte. Sie zeigt ihm, was sie dort heute getan hat, dann setzen sie sich ans Ufer und sehen sich den Sonnenuntergang über dem Fluß an. Für beide ist es seit Monaten die erste Nacht, die sie auf festem Boden verbringen. Und hier sind sie ungestört, sie sind alleine. Als die Sonne untergegangen ist, strahlt der Boden immer noch 180
Wärme ab und läßt zu, daß sie sich nackt und unbedeckt auf ihren Unterlagen bewegen können. Als sie gegen Mitternacht die Schlafsäcke aneinandergekoppelt haben und nebeneinander liegen, breitet sich über ihnen der Sternenhimmel einer klaren Nacht aus, und beide vergessen die wissenschaftliche Brille, durch die sie die Natur zu beobachten und zu analysieren gelernt haben. In diesem Moment sind sie eins mit der bislang unberührten Natur, die sie umgibt. Und auch in dieser Nacht macht sich Chris Gedanken darüber, ob es einen Sinn hat, diese Welt der Wirtschaft und der Wissenschaft zu öffnen. Seine Zweifel, ob diese Expedition richtig war, werden von Tag zu Tag stärker. Mit diesen Gedanken schläft er neben der ruhig daliegenden Svenja ein. Die Sonne scheint über die Baumwipfel, als Chris aufwacht. Wie spät ist es? Er greift nach seiner Armbanduhr, ohne Svenja in ihrem Schlaf zu stören; sieht, daß es gerade sechs Uhr ist. Viel zu früh zum Aufstehen, denkt er, dreht sich wieder um. Doch er kann nicht mehr einschlafen, aus dem Wald hört er Vögel zwitschern, und der Fluß rauscht dermaßen laut vor sich hin, daß er davon wachbleibt. Also setzt er sich auf und besieht sich die Landschaft um ihn herum. Der Fluß glänzt im Licht der aufgehenden Sonne, und Chris läßt seine Augen lange auf diesem Anblick verharren. Er zieht den Reißverschluß vom Schlafsack zurück, steigt vorsichtig aus und steht auf. Es ist frisch an diesem Morgen, kaum ist er der angenehmen Wärme des Schlafsacks entstiegen, beginnt er zu frösteln. Also erst einmal anziehen, dann geht er zum Flußufer herunter und wäscht sein Gesicht. Du hast lange genug geschlafen; wenn du in der freien Natur übernachtest, kommst du immer früher ins Bett als wenn du irgendwo in einem geschlossenen Raum bist. Das Wasser des Flusses ist angenehm kühl, und er trinkt daraus. Ein Kaffee für uns beide wäre jetzt das richtige, aber darauf müssen wir noch warten. Langsam geht er zur Bucht hinunter, und dort sieht er die "Challenger" im Sonnenschein liegen. Ein schönes 181
Schiff, so idyllisch und ruhig hat er sie noch nicht gesehen. Hier, wo die Sonne ohne Schutz einfällt, beginnt es ihm warm zu werden. Ob uns jemand an Bord beobachtet? Er sieht sich minutenlang die Bucht und das Schiff an, geht dann zur gemeinsamen Schlafstätte zurück. In der Zwischenzeit ist Svenja aufgewacht, aus dem Schlafsack gestiegen und hat sich angezogen. Als Chris zurückkommt, ist sie gerade dabei, den Schlafsack zum Lüften über einen Ast zu hängen. Er tritt neben sie. "Na du, hast du gut geschlafen?" "Saugut. Und dabei waren wir so früh im Bett wie seit Monaten nicht mehr." "Das muß auch 'mal sein. Es macht auch 'mal Spaß, so früh morgens aus den Federn zu steigen." "Wie spät ist es denn?" "Noch nicht ganz halb sieben." "Oh Gott, so früh bin ich seit Anfang der Fahrt nicht mehr aufgestanden." "Ich schon. Aber ich war noch nie wach dabei, und heute bin ich's." "Wo kriegen denn 'was zu Essen her? Ich hab' Hunger." "Ich auch. Komm, laß uns hier alles zusammenpacken, vielleicht haben die Biopathen 'nen Kaffee für uns." "Meinst du? Gut, machen wir." Svenja und Chris rollen ihre Daunenschlafsäcke zusammen und stopfen sie in die Kompressionssäcke, packen diese in die Rucksäcke und schnallen die Unterlagen an den Tragegestellen fest. Schließlich hieven sie sich die Rucksäcke auf den Rücken und machen sich auf den Weg zum Zelt Biologenzelt. Die Ahnung, daß es dort Kaffee geben könnte, war berechtigt. Als Svenja und Chris nach kurzem 182
Fußmarsch dort ankommen, weht ihnen der Duft frisch aufgebrühten Kaffees um die Nase. Sie treten in das Zelt ein, zwei der vier Wissenschaftler sitzen dort am Schreibtisch und blicken müde in ihre Kaffeebecher. Diese Nacht haben sie nicht geschlafen und wärmen sich jetzt auf, während der Dunkelheit haben sie das Tierleben im Wald beobachtet. Chris setzt seinen Rucksack vor dem Eingang ab und nimmt auf einem der Stühle Platz, Svenja folgt ihm dabei. "Morgen, wie geht's?" "Müde." "Habt ihr heute Nacht 'was beobachten können?" "Ach, eigentlich 'ne ganze Menge. Es war ziemlich viel los, eine Menge kleiner Nager, Hörnchen, Mäuse, Marder, und andere Tiere, die wir noch nicht bestimmt haben." "Neue Tierarten? Habt ihr neue Tierarten gefunden?" "Ja, zwei Arten haben wir bestimmen können. Und sonst vermute ich, daß wir eine Art Raubtier gesehen haben, die es in der alten Welt nicht gibt. Aber das Tier war zu schnell weg, um etwas Definitives sagen zu können." "Schade." "Wann fahren wir wieder?" "Heute Nachmittag. Wollt ihr länger bleiben?" "Ich denke mir, daß das am sinnvollsten wäre, denn wenn wir so eine Kurzzeitbeobachtung machen, hat das wenig Zweck." "Das stimmt. Aber könnt ihr euch hier selber versorgen? Machbar wäre das, daß wir das Zelt einfach stehen lassen." "Wenn wir genügend zu Essen haben, kein Problem. Alles andere ist ja hier."
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"Ich spreche dann gleich 'mal mit Gerd darüber, ich find' das auch in Ordnung, wenn ihr hier länger bleibt. Wie lange meinst du denn?" "Sagen wir zehn Tage bis zwei Wochen, das reicht." "Okay, dann machen wir das so." Zwei Biologen sind noch im Wald und sehen sich Pflanzen an. Svenja hat einen Becher Kaffee in die Hand genommen, den Chris ihr eingegossen hatte. Während sie ihre Tassen leertrinken, unterhalten sie sich über die Forschungsergebnisse, die sie in den letzten beiden Tagen erzielt haben. Chris gewinnt den Eindruck, daß er nach zwei Tagen bereits mehr Ergebnisse vorweisen kann, als er es in zwei Monaten zu hoffen gewagt hatte. Es ist sieben Uhr durch, als Svenja und er ihre Rucksäcke packen und zum Strand gehen, an dem ihr Boot liegt. Das Wasser der Bucht ist ruhig, sie legen die 400 Meter zum Schiff ohne Probleme zurück. Als sie das Boot auf den Schwimmer des Auslegers gezogen haben, gehen sie auf ihre Kabinen und unter die Dusche. Chris fühlt sich gut, weil er an diesem Morgen mit der Sonne aufgestanden ist und dabei weniger Probleme hatte, als wenn er das Stunden später an Bord getan hätte. Nach dem Abtrocknen zieht er sich neue Wäsche an, breitet Schlafsack und Unterlage auf dem Boden der Kabine zum Trocknen aus und geht zum Frühstück. Mit Gerd bespricht er dabei den Plan der Biologen, länger in der Bucht zu bleiben und für zwei Wochen eine Forschungsstation zu betreiben. Er ist damit einverstanden, fährt nach dem Frühstück mit einer Gruppe anderer Wissenschaftler zu der Station, um die Kollegen mit Vorräten und Geräten für zwei Wochen zu versorgen und zu hören, was sie in der Nacht alles in Erfahrung gebracht haben. Es geht auf zwölf zu, als das Tenderschiff an Bord kommt. Sofort danach wird es in seine Halterung hochgezogen und arretiert, dann der Schwimmer eingeklappt. Schließlich wird der Anker gelichtet, und die "Challenger" wendet den Bug zum Ausgang der Bucht. 184
Vom Flugdeck aus winken die Menschen an Bord den zwei Männern und der Frau zu, die an Land geblieben sind. Sie sind für die nächsten zwei Wochen auf sich selbst gestellt, haben in dieser Zeit über Funk ständigen Kontakt zum Schiff und können ihre gesammelten Daten vom Laptop aus über Satellit übermitteln. Chris und Gerd sind gespannt darauf, was die drei Kollegen an Ergebnissen erzielen werden, der Anfang war vielversprechend. Bis zum Abend gibt es eine Menge zu tun. Chris geht ins Labor und sieht sich an, wie weit die Analysen der Bodenproben fortgeschritten sind. Mit dem Leiter der Bodenkundlichen Abteilung diskutiert er darüber, wie man die Proben interpretieren soll. Dann sieht er sich die Schlämmanalysen der Geomorphologen an, und schließlich unterhält er sich mit Svenja darüber, was ihre Mitarbeiter in der Zwischenzeit geleistet haben. Als es auf den Nachmittag zugeht, ist er zufrieden darüber, was an Arbeit gelaufen ist. Um fünf Uhr haben sich die Wissenschaftler komplett im Vortragssaal versammelt, gespannt darauf, zu erfahren, was die Kollegen herausgefunden haben, und die eigenen Ergebnisse zu präsentieren. Chris macht den Anfang, doziert über die Analysen der Bodenproben und stellt seine Schlußfolgerungen zum Klima zur Diskussion. Danach ist Svenja mit den Ergebnissen der Geologen an der Reihe, und sie hat das Vergnügen, zwei neue Gesteinsarten vorstellen zu können. Michael läßt sich kurz über den Untergrund und die Fauna der Bucht aus, Gerd hält einen längeren Vortrag über die Pflanzengesellschaft des Waldes, die man in den letzten Tagen untersucht hatte, und stellt eine neue Tierart vor. Am Ende der Veranstaltung reden sich die Wissenschaftler die Köpfe über das Klima heiß, das hier herrschen soll und das Gerd und Chris aus ihren Ergebnissen ähnlich einschätzen. Am Abend sind diese Ergebnisse das wichtigste Diskussionsthemas der Wissenschaftler. Chris bekommt zu seiner Vorstellung über das Klima, daß auf diesem Teil des Kontinents herrscht, große Zustimmung der Kollegen. Er bespricht mit Gerd, wie seine Kollegen wieder zum Schiff zurückkommen sollen, und es 185
erscheint beiden am sinnvollsten, sie mit der gesamten Ausrüstung mit einem der Flugzeuge wieder abzuholen, wenn sie genug gesehen haben, spätestens aber in 14 Tagen. Schließlich übermittelt Chris einen Bericht an das Ministerium und die Landstationen, in dem er die wichtigsten Forschungsergebnisse vorstellt. Spät am Abend kommt er zum ersten Mal dazu, seine Post durchzusehen, und findet einen Brief von Sylvia. "Lieber Chris,
Zu Deinem Erfolg muß ich dir einfach gratulieren. In der Presse hier gehörst Du zu den gefeierten Leuten, nachdem Du den neuen Kontinent erreicht hast. Ich habe leider nicht viel Zeit, dir zu schreiben, aber ich habe einige Zeitungsartikel kopiert, in denen über deine Fahrt berichtet wird. Vielleicht ist das für dich die Möglichkeit, etwas darüber zu erfahren, was Du vom Ministerium nicht bekommst. Schließlich kann ich dir noch eine Mitteilung machen, die dich sicher auch freuen wird: Ich habe unser Lied aufgenommen und vor vier Wochen die Single veröffentlicht. Seit zwei Wochen, als ich einen kurzen Auftritt in einer Fernsehsendung hatte, klettert sie in den Charts. Gestern habe ich den 62. Platz belegt. Du bekommst noch ein Autorengehalt, und dein Name steht auch auf der Platte. Freut Dich das nicht auch? Ich muß jetzt leider Schluß machen, aber ich werde dir nächste Woche wieder schreiben. Bis dahin, Ein dicker und lieber Kuß von mir
Sylvia"
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Chris freut sich natürlich über die Mitteilung, daß er auch als Musiker Erfolge vorweisen kann. Er legt den Brief beiseite und hofft, daß Sylvia nun endlich auf einen grünen Zweig kommt. Was wird sein, wenn er zurückkommt? Wird sie dann noch dieselbe sein, die sie vor vier Monaten war, wenn sie im Business Erfolg gehabt hat? Er stellt sich diese Frage, bevor er einschläft.
II. Seit der Abfahrt vom ersten Liegeplatz an der Küste sind zwei Tage vergangen. In dieser Zeit haben die Wissenschaftler an Bord reichlich Arbeit damit gehabt, die Proben und Aufzeichnungen zu analysieren und auszuwerten. Chris hat den letzten Tag im Labor und vor dem Computer verbracht, hat nach Beweisen für seine Vermutung gesucht, daß auf diesem Kontinent ein deutlich kontinentaleres Klima als auf dem gleichen Breitengrad der alten Welt, in der sie vor knapp vier Monaten losgefahren sind, herrscht. Und er hat tatsächlich den gleichen Bodentyp im zentralen Teil des Kontinents weiter östlich des Landes, aus dem er stammt, gefunden. Dort herrschen kontinentale Klimaverhältnisse, und Chris nimmt dies als Bestätigung für seine These. Endgültige Klarheit über das Klima der Küste, an der sie sich zwei Tage aufgehalten haben, werden sie aber erst in den nächsten Jahren bekommen, wenn die meteorologische Meßstation zufriedenstellend arbeitet. Bis dahin ist es noch weit. Wichtiger erscheint Chris an diesem Tag eine Entdeckung, die er zusammen mit seinen Mitarbeitern im Labor bei der Analyse der Bodenproben auf Spurenelemente gemacht hat. Die Kollegen haben nämlich Rückstände von Pflanzenschutzmitteln gefunden, die in der alten Welt wegen ihrer Langzeitfolgen und ihrer schwierigen biologischen Abbaubarkeit seit mehr als einem Jahrzehnt verboten sind. Hier also auch! Chris schüttelt ungläubig und verbittert den Kopf, als er den Ausdruck der zweiten Analyse aus dem Drucker zieht. Nach der 187
ersten Analyse hatten sie eine Zweite durchgeführt, um sicherzugehen, daß kein Meßfehler aufgetreten ist, doch die Konzentration der Giftrückstände weist den gleichen Wert auf. Nun, wir haben es also tatsächlich geschafft, den ganzen Planeten zu versauen, denkt Chris. An diesem Tag blickt er immer wieder aus dem Bullauge auf die Küste, die langsam an ihnen vorrüberzieht. Ihm gehen verschiedene Gedanken durch den Kopf, Betroffenheit über die Ergebnisse der Analysen, aber auch die Frage, wen er auf die Landexpedition mitnehmen soll. Es sollten außer ihm als Geomorphologen noch ein Geologe, ein Meteorologe und ein Biologe dabei sein. Als Geologe hat er sich für Erik entschieden, der sich nicht nur fachlich in den letzten Monaten gut profiliert hat, sondern der auch von seiner Persönlichkeit her einer der besten Männer ist, um den Zusammenhalt der Gruppe zu wahren. Doch da ist noch die Frage, wer die beiden anderen Männer sein sollen. Männer, keine Frauen, denn Chris hat es mehrfach erlebt, wie Mitstudentinnen bei solch körperlich anstrengenden Exkursionen zusammengebrochen sind, und er weiß, daß es zu Reibereien kommen kann, wenn es zu engeren Beziehungen zwischen Teilen der Besatzung kommt. Ihm schweben mehrere Leute im Kopf herum, aber er will die Entscheidung erst morgen Abend bekannt geben. Da fällt ihm ein, daß er noch die Fotos aus dem Fotolabor holen muß. Heute sind die Piloten mit der Luftbildkamera die Route tiefer abgeflogen, die er fahren möchte, und haben detailliertere Fotos gemacht, als ihnen bisher zur Verfügung standen. Bevor Chris die Fotos an die Landstation herüberfunkt, sieht er sie sich selber an. Er hat den Eindruck, daß die Wahl seiner Fahrtroute korrekt ist, weiter südlich und nördlich gibt es größere orographische Hindernisse in Form von Bergen und Flüssen. Zufrieden gibt er die Fotos an den Kollegen aus der Telemetrie weiter, der sie übertragen wird. Am Abend unterhält sich Chris mit Gerd und Michael über die Kollegen, die er auf die Reise mitnehmen will. 188
Dabei ist nicht nur die fachliche Eignung ausschlaggebend, sondern auch die Fähigkeit, sich in die Gruppe einzufügen und auch nach zwei Wochen im Zelt auf engstem Raum nicht die Nerven zu verlieren. Schließlich spricht Gerd mit Frank, einem Biologen, und Geoff, einem Meteorlogen, beides Leute, mit denen er auf den Monaten dieser Reise gut ausgekommen ist, wenn sie auch nicht täglich miteinander zu tun hatten. Als Mitternacht durch ist, steht er mit Svenja lange an Deck, und beide sehen sich die vorbeiziehende Küste an, die im Licht des Vollmonds glänzt. "Hast du noch einen Sinn für Romantik, Chris? Wir stehen hier wie ein klassisches Liebespaar." "Ja. Stell dir vor, wir wären jetzt allein auf einer Kreuzfahrt, nur wir beide ohne alle Kollegen. Das könnte schön sein." "Stört dich das?" "Oh ja, ganz erheblich. Wir können hier nichts tun, ohne daß die anderen uns beobachten." "Das wäre auf einer Kreuzfahrt genauso." "Schon, aber da wäre ich nicht der Chef der Passagiere und würde sie alle mit Namen und Beruf kennen." "Hm. Aber jetzt sind wir allein." "Zum Glück, Svenja. Und ich wünschte, wir könnten es öfter sein." Für einige Minuten herrscht Ruhe zwischen beiden, doch Svenja hat den Eindruck, daß Chris ständig über eine Sache nachgrübelt. "Woran denkst du?" "Ach, da war heute so 'ne Sache. Wir haben die Bodenproben, die ich vor drei Tagen genommen habe, auf Spuren von Mineralien und chemischen Verbindungen untersucht. Und dabei haben wir etliche 189
Umweltgifte gefunden, die bei uns wegen Gefährlichkeit seit Jahren verboten sind."
ihrer
"Was für Gifte denn?" "Pflanzenschutzmittel, Pestizide, Chlorverbindungen, alles Sachen, die verdammt gefährlich sind." "Bist du dir sicher, daß die Meßapparatur in Ordnung war?" "Ja, wir haben alles durchgecheckt. Das Ergebnis stimmt." "Das... das kann doch nicht wahr sein! Wir sind 30000 Meilen von unserer Küste weg." "Svenja, das hat nicht ausgereicht, daß es hier nicht auch diese Gifte gibt. Es ist wahnsinnig, wie weit wir unseren Müll auf diesem Planeten schon verteilt haben." "Das will mir einfach nicht in den Kopf! Ich kapier' das nicht, daß wir hier noch solche Rückstände finden." "Sie sind aber da! Wir haben sie durch den Windgürtel über den ganzen Planeten verteilt." "Verdammt. Und was das schlimmste ist, das Ganze gibt ein rundes Bild, wenn ich daran denke, was wir alles im Meer gefunden haben." "Ja." "Und ich frage mich, ob wir diesen Kontinent überhaupt für uns nutzen sollen, wenn wir alles andere schon zerstört haben." "Das frage ich mich auch, Svenja. Ich habe diese Fahrt ins Leben gerufen, und ich wollte es tun, bevor Leute aus der privaten Wirtschaft auf die gleiche Idee kommen und weniger Skrupel haben als wir." "Weißt du, das gleiche hab' ich mir auch gesagt, als ich mich um die Stelle beworben habe, die du mir gegeben hast. Es schien mir wirklich besser, wenn wir das tun und uns dabei Gedanken darum machen, ob wir das 190
überhaupt dürfen. Aber nach dem, was wir in den letzten Monaten alles gemessen haben, frage ich mich, ob das richtig war." "Da geht's dir genauso wie mir, das waren nämlich auch meine Gedanken. Aber jetzt sieht die Sache anders aus, wir haben gemerkt, wie wir hier schon anfangen, die Umwelt zu zerstören, und ich glaube, es ist besser, hier Schluß zu machen, damit dieser Kontinent am Leben bleibt." "Und was willst du tun? Den Leuten Horrorgeschichten über diesen Kontinent erzählen?" "Ich weiß es noch nicht, Svenja. Wir müssen erst einmal sehen, was sich in den nächsten Wochen ergibt. Hier können Menschen leben, das haben wir gesehen, aber sie dürfen das nicht deswegen, um dieses Stück unseres Planeten auszunutzen." "Glaubst du, daß es hier noch andere Menschen gibt?" "Du meinst Ureinwohner? Ich hab' keine Ahnung, wir haben keine Hinweise auf Menschen gefunden." "Vielleicht findest du ja welche, wenn du mit dem Auto unterwegs bist." "Ich weiß nicht, ob ich darauf hoffen oder davor Angst haben soll." In dieser Nacht stehen sie noch eine Weile an der Reeling, bevor sie in ihre Betten kriechen. Chris schläft schlecht, die Analyseergebnisse der letzten Tage lassen ihn nicht mehr los. War das alles richtig?
III. Zwei Tage nach dem Lichten des Ankers hat die "Challenger" ihr Ziel erreicht: Die Bucht, die Chris vor einigen Tagen ausfindig gemacht hatte und von der aus 191
die Teilnehmer der Expedition einen besseren Zugang in das Hinterland der Küste haben. Die drei Leiter der wissenschaftlichen Abteilungen stehen auf der Brücke und sehen dabei zu, wie der Kapitän die Einfahrt in die Bucht dirigiert und das Schiff vor Anker gehen läßt. Er stoppt die Maschinen, das Tenderboot wird zu Wasser gelassen, der Schwimmer ausgeklappt und der Tender an ihm vertäut. Um die Mittagszeit steht Chris als einer der ersten auf dem Strand. Die Frauen und Männer, die mitgekommen sind, sehen sich dort um, wie sie es sechs Tage zuvor am ersten Landeplatz getan hatten. Erik und Chris ersteigen einen Hügel, der rund 100 Meter über das Umland aufragt. Von dort haben sie einen guten Überblick über das Hinterland, und soweit sie sehen können, zeigt sich ihnen niedriger, lichter Trockenwald. Chris ist zufrieden. "Und in ein paar Tagen werden wir dann da mit dem Auto durchbrausen." "Wir?" "Ja, wir. Du kommst mit." "He, wie komme ich zu der Ehre?" "Ganz einfach: Ich habe mich dafür entschieden." "Und das sagst du mir erst jetzt?" "Ich hab' mich erst gestern dafür entschieden, wen ich mitschleppen will." "Und wer kommt noch mit? Wir fahren doch sicher nicht alleine, oder?" "Da hast du richtig geraten, Kollege. Frank und Geoff kommen mit." "Hm. Meinst du, das sind die Richtigen?"
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"Ich glaube schon, aber ob es klappt oder nicht, daß werden wir erst nach einigen Tagen wissen, wenn wir auf uns gestellt sind." "Dann kann's zu spät sein." "Wie meinst du das?" "Wenn wir uns nach einer Woche in die Haare kriegen, können wir nicht mehr so einfach zurückfahren und jemand anders einladen." "Mein Gott, es wird schon klappen. Und jetzt laß uns zu den anderen zurückgehen." Sie steigen den Hügel hinunter und gehen zu der Gruppe von Wissenschaftlern zurück, die sich in der Bucht aufhält. Einige Forscher haben sich wie Chris und Erik ins Hinterland der Küste begeben, um sich dieses anzusehen. Mit den anderen Kollegen macht Chris aus, daß sie um sechs Uhr zu einer Besprechung an Bord sein sollen, und fährt zum Schiff zurück. Dort angekommen sieht er sich im Lagerraum das Fahrzeug an, das ihn und drei andere Männer ins Innere des Kontinents tragen soll. Dieses Fahrzeug hat mehr Ähnlichkeit mit einer Badewanne als mit einem Geländewagen, es besteht aus einer vorderen und einer hinteren Hälfte, die durch ein Drehgelenk miteinander verbunden sind. Durch das Gelenk verläuft die Kardanwelle, die die Kraft des Motors in der hinteren Hälfte nach vorne überträgt. Insgesamt hat das Fahrzeug drei Achsen, von denen eine in der vorderen und zwei in der hinteren Hälfte sitzen. Vorne ist eine Kabine für vier Personen, die zwar offen ist, aber schnell mit einer Kunststoffplane abgeschlossen werden kann; im hinteren Teil befindet sich der Motor mit Tank und Kofferraum. Chris hat die Tank- und Gepäckkapazität auf den Zweck abstimmen lassen, mit diesem Fahrzeug einen Monat lang auf sich selbst gestellt fahren zu können. So befinden sich an Bord Halterungen für Proben der Wissenschaftler, Platz für das Gepäck und die Ausrüstung der vier Personen und von außen zugängliche Boxen für Werkzeuge und wissenschaftliches Gerät. Der Tank faßt 500 Liter 193
Diesel, der Motor ist ein gekapselter und luftgekühlter Dreiliter-Vierzylinderboxer mit einer Leistung von 100 PS, der seine Leistung über ein Fünfganggetriebe mit Untersetzung an alle sechs Räder weitergibt. Bei Bedarf lassen sich alle Differentiale sperren, so daß man sich schon sehr ungeschickt anstellen muß, um mit diesem Fahrzeug den Vortrieb zu verlieren, und zu allem Überfluß kann der Wagen auch noch schwimmen. Chris hat ihn vor Beginn der Expedition ausführlich probegefahren, und er war von den Geländeeigenschaften des Fahrzeugs begeistert, wenn auch die Federung an Komfort zu wünschen übrig läßt. Aber auf dem neuen Kontinent gibt es keine Straßen, und hier soll sich das Fahrzeug bewähren. Morgen wird der Wagen an Land gebracht, und dort wird die Expeditionsmannschaft die ersten Proberunden drehen. Heute muß Chris erst dafür sorgen, daß er die richtige Ausrüstung mitnehmen wird. In den Kisten neben dem Fahrzeug stehen Zelte, Kocher, Werkzeug und alles andere, was die Forscher benötigen werden, bereit; sie werden die Ausrüstung erst an Land in den Wagen packen. Hier ist nichts mehr zu tun, Chris geht wieder in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch liegen die provisorischen Karten, die die Kollegen in der Landstation nach den Satellitenfotos erstellt haben. Er wirft einen kurzen Blick darauf und faltet sie zusammen, um sie morgen an Bord verstauen zu können. Die nächste Stunde verbringt er damit, alle Gegenstände aus dem Büro zusammenzusuchen, die er auf die Reise mitnehmen muß. Dann geht er in das Labor und stellt sich dort die Ausrüstung zusammen, die er in den nächsten Wochen brauchen wird. Schließlich wirft er einen Blick auf die Uhr, es geht auf sechs zu. Zeit, um in den Vortragssaal zu gehen, es gibt einiges zu besprechen. Als er dort ankommt, ist die Hälfte der Wissenschaftler anwesend. Gerd und Michael sitzen hinter dem Pult, Chris unterhält sich mit ihnen über das, was sie heute Abend zu besprechen haben. Nach einer Viertelstunde legt der Tender an, und fünf Minuten später ergießt sich ein Pulk von verschwitzten und verdreckten 194
Wissenschaftlern in den Raum. Chris kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er Svenja schlammverschmiert in den Raum kommen sieht - sie ist bei der Untersuchung eines Aufschlusses am Prallhang eines Flusses ausgerutscht und hat ein intensives Schlammbad genommen. Schließlich ergreift Gerd das Wort. "Guten Abend, verehrte Kollegen und Kolleginnen, wir sind etwas spät dran, und da ihr sicher alle Hunger habt, wollen wir die heutige Besprechung kurz machen. Also, ich habe euch folgendes mitzuteilen: In den nächsten Tagen wird der größte Teil der wissenschaftlichen Besatzung der "Challenger" an der Küste sein Lager aufschlagen, wir werden dort die Untersuchungen durchführen, derentwegen wir eigentlich hierhergefahren sind. Dazu steht uns ab morgen auch ein Fahrzeug zur Verfügung, mit dem wir weiter ins Hinterland fahren können. Alles weitere jetzt von Chris." "Liebe Kollegen, ich hatte vor Beginn der Fahrt den Plan, mit einem Auto ins Landesinnere zu fahren. Wir sind nun an einem Teil der Küste gelandet, die uns das erlaubt. Morgen werden wir unsere beiden Autos an Land bringen, davon wird euch allen eines zur Verfügung stehen, mit dem anderen will ich meinem Plan nachgehen. Das Problem ist, wen ich auf die Reise mitnehmen werde." Chris nimmt sein Glas und trinkt einen Schluck Wasser, während die Anwesenden gespannt darauf warten, wer die Glücklichen sind. "Außer mir sollen drei Leute mitfahren. Als Vertreter der Geologen wird das Erik Ribbek sein, als Biologen Geoff Lippe und Frank Wupper. Diese Personen haben sich durch ihre fachlichen Leistungen ausgezeichnet, außerdem nehme ich an, daß wir uns während der Fahrt auch in kniffligen Situationen gut vertragen werden." Ein Raunen geht durch die Menge. Chris hebt die Augenbraue. "Gibt es irgendwelche Einwände oder Kritik?" 195
"Warum nehmen Sie keine Frauen mit?" "Dafür gibt's mehrere Gründe: Wir werden alle unsere Körperkräfte benötigen, um Hindernisse für das Fahrzeug aus dem Weg zu räumen, und wir werden uns über Tage hinweg nicht waschen können, und ihr wißt alle, daß dann das Infektionsrisiko für Frauen wesentlich größer ist als für Männer. Das hat nichts damit zu tun, daß ich die wissenschaftlichen Leistungen der hier anwesenden Frauen anzweifeln würde, die sind über alle Zweifel erhaben. Ich habe die Stellen mit Menschen nach ihrer fachlichen Eignung besetzt, nicht nach der Geschlechtszugehörigkeit. Bei der Fahrt aber müssen wir auch auf andere Dinge Rücksicht nehmen." "Gibt es da auch noch Gründe privater Natur?" "Nicht das ich wüßte." "Wirklich nicht?" "Ist das ein Verhör? Was in meinem Privatleben an Land gelaufen ist, geht niemanden etwas an." Kichern aus dem Plenum. Svenja blinzelt zu ihm herüber, sie weiß, daß es um sie beide ging. Chris beendet das Gespräch, schickt die Kollegen unter die Dusche und in die Kantine. Er hatte erwartet, daß es an diesem Abend Kritik an seiner Entscheidung geben werde, aber bis auf einige Gespräche mit Kollegen bleibt diese aus. Also setzen sich die vier Männer, die in wenigen Tagen ins Landesinnere aufbrechen werden, zusammen und besprechen, was sie an Forschungsarbeit leisten wollen. Chris informiert seine Mitfahrer über die geplante Fahrtroute und die Ausstattung des Fahrzeugs, schließlich machen sie miteinander ab, daß sie morgen eine Probefahrt machen werden. In den letzten beiden Tagen hatte es heftige Gewitterstürme gegeben, die einige der Wissenschaftler von ihrer Arbeit abgehalten hatten und sie dazu brachten, vor dem Computer zu sitzen oder im Labor zu arbeiten. Chris hatte das wenig beeindruckt, er hatte mit 196
Erik, Frank und Geoff lange Ausflüge in die Umgegend unternommen. Die vier Wissenschaftler haben Gesteine und Böden untersucht und Pflanzengesellschaften bestimmt. Dabei hatten sie das Fahrzeug genauer kennengelernt, auf das sie in den nächsten Wochen angewiesen sein würden. Chris konnte seine Mitfahrer in die Bedienung des Wagens einweisen, er hatte ihn ausführlich probegefahren. Jeder der vier Männer durfte sich auf den Fahrersitz schwingen, und es stellte sich heraus, daß die Grenzen des Fahrzeugs weit über denen der Fahrer liegen - wenn der Mensch auf dem Fahrersitz längst vor Angst in einem Schlammloch oder Steilhang die Augen schloß, fuhr der Wagen unbeirrt weiter. Nach zwei Tagen hatten sie Vertrauen in den Wagen gewonnen, weil sie erfahren hatten, daß er sie nicht im Stich lassen würde, wenn sie ihn richtig behandeln. Nun liegt die "Challenger" seit drei Tagen in der Bucht, die die Forscher die "Bucht der kurzen Nächte" getauft hatten, weil sie hier bis in den frühen Morgen hinein arbeiteten. Dazu gehörte auch, daß auf dem Strand eine Zeltstadt aufgebaut wurde, als fester Standort für die Forscher, mit Schreibtischen, Computerarbeitsplätzen und Ess- und Schlafstellen. Daneben steht der Dieseltank für die beiden Fahrzeuge. Gestern hatten sich die vier Männer die Fahrtroute noch einmal genauer auf Karte und Luftbild angesehen, und in der Nacht hatte Chris sich von Svenja verabschiedet. Am Morgen naht die Stunde des Aufbruchs, nach dem die Teilnehmer der Landexpedition in das Innere des neuen Kontinents vorstoßen wollen. Der Tag beginnt für sie mit einem ausgiebigen Frühstück, und um 10 Uhr sind sie an Land. Gestern Abend hatten sie das Fahrzeug beladen, nicht nur die gesamte Expeditionsausrüstung und Nahrungsmittel befinden sich an Bord, auch ihre persönliche Habe. Sie haben nur das Nötigste an Wäsche und Kleidung dabei, um Gewicht und Platz zu sparen. An Land angekommen, checken sie das Fahrzeug durch, getankt hatten sie gestern Abend, und prüfen ein letztes Mal die Ausrüstung. Als es auf elf Uhr zugeht, sind sie abfahrbereit. 197
Gerd und Michael schütteln ihnen die Hand, auch der Kapitän ist extra an Land gekommen. Nur Svenja ist nicht da, Chris hatte mit ihr gestern vereinbart, eine Verabschiedung in der Öffentlichkeit zu unterlassen. Nach der Zeremonie setzen sie sich in ihre Schalensitze; Chris läßt den Motor an und fährt los. Die ersten 20 Kilometer der Strecke kennen sie bereits, die sind sie in den letzten beiden Tagen gefahren. Soweit müssen sie über den lockeren Boden der Schwemmebene fahren, bis sie einen Anstieg erreichen, hinter dem ein Plateau beginnt, aus dem einzelne Felsblöcke herausragen. Chris kurvt um die Bäume herum, sie machen einen Schnitt von rund 50 km/h und können eine Zeitlang mit diesem Tempo fahren. Nach zwei Stunden gibt Chris das Steuer an Geoff ab, der den Kurs in Richtung Westen weiterverfolgt. Als sie drei Stunden unterwegs sind, wird es Zeit, eine Pause zu machen. Es ist Anfang Juli, die Sonne brennt unbarmherzig herunter. Geoff findet einen schattigen Platz unter einem knorrigen Baum, neben dem er den Wagen ausrollen läßt. Stellt den Motor ab, und sie steigen aus. Es ist brütend heiß, sie spüren den Wasserverlust. Erik holt den Wasserbehälter aus dem Kofferraum, sie gießen sich nacheinander ein. Setzen sich hin, keiner redet ein Wort, die Hitze macht stumm. Wie heiß mag es im Landesinneren sein? Chris macht sich Gedanken, ob er die Hitze nicht unterschätzt hat. Zehn Minuten später steht Frank auf und sieht sich den Baum an, unter dem sie sitzen: Er hatte diese Art vor zwei Tagen zum ersten Mal gesehen, in der alten Welt gibt es solche Bäume nicht. Um sie herum steht seit ihrer Abfahrt ein Wald, der anzeigt, daß es hier über das Jahr genügend Niederschlag geben muß, aber er ist licht genug, damit sie mit dem Auto durchfahren können. Chris steht auf, sieht sich den Boden an, auf dem er steht. Ihm fällt auf, wie hart die Krume ist, er hat Schwierigkeiten, mit den Fingern ein Stück dieses Bodens aufzunehmen. Es gelingt ihm, er zerbröselt die Probe mit seinen Fingern. Verdammt trocken, denkt er.
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Nach einer halben Stunde brechen sie wieder auf. Der erste Eindruck der Landschaft ist auf der einen Seite gewaltig, auf der anderen eintönig, stundenlang fahren sie durch eine ewig gleiche Landschaft. Rundum wird das Steuer gewechselt, das Kurven durch den Wald strengt an. Als die Sonne nur noch eine Handbreit über dem Horizont steht, hält Erik den Wagen an. Sie haben in den letzten Stunden nichts außer Wald gesehen, nicht einmal einen Fluß. Chris macht eine Eintragung auf seinem Laptop und checkt den Standort per Satellitennavigation; sie sind in sieben Stunden Fahrzeit knapp 300 Kilometer weit gekommen. Seine letzte Handlung ist, den Standort an die "Challenger" zu übermitteln. Nach dem Abendessen, das sie mehr oder weniger lustvoll zu sich nehmen, kramt er Karten und Fotos hervor und sieht sich an, wie weit sie gekommen sind. Das Ergebnis ist positiv, sie haben bis zum Anstieg auf das Hochplateau nur noch rund 100 Kilometer zurückzulegen. Das können wir bis morgen Mittag geschafft haben, denkt Chris. II. Die Sonne knallt unbarmherzig auf die Schlafenden nieder und sorgt dafür, daß die Männer schon um sieben Uhr morgens der Hitze wegen aus ihren Schlafsäcken kriechen. Erik blinzelt müde aus dem Zelt, während Chris den Reißverschluß des Schlafsacks aufzieht. "Oh Mann, hast du auch so mies geschlafen?" Chris wühlt sich durch die Haare. "Ich hab' gut geschlafen. Aber du hast dich dauernd 'rumgeworfen und geredet." "Geredet? Wovon denn?" "Svenja."
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"Scheiße." "Du kannst auch keine Geheimnisse für dich behalten." "Was hab' ich denn gesagt?" "Das hab' ich nicht genau verstanden. Red' in Zukunft bitte deutlicher." "Ich werd' mich hüten." Chris schiebt seine Beine aus den Daunen, streift sich Hose und T-Shirt über und klettert aus dem Zelt. Erik hat die beiden Kollegen durch Klopfen an den ersten Bogen des Tunnelzelts geweckt; Chris geht zum Auto herüber, um das Frühstück vorzubereiten. Aus dem Koffer mit der Expeditionsausrüstung nimmt er die Flasche mit dem Diesel heraus, schraubt den Verschluß ab und setzt die Pumpe für den Kocher ein. Ein paar Stöße mit dem Kolben, dann reicht der Druck aus, um den Kocher anzuwerfen. Er nimmt das Feuerzeug, dreht die Düse auf und bringt den Kocher zum Brennen. Holt den Kessel heraus, füllt ihn mit Wasser und setzt ihn auf. Erik ist in der Zwischenzeit damit beschäftigt, die Schlafsäcke mit den Unterlagen aus dem Zelt zu holen und zum Lüften auszulegen. Schließlich kommen Geoff und Frank aus dem Zelt gekrochen, als Chris den Behälter mit den Vollkornflocken öffnet, aus denen sie sich Müsli zubereiten. Jeder der Männer nimmt einige Löffel der Flocken auf seinen Teller und mixt sie mit Trockenfrüchten, Nüssen und anderen Zutaten. Frank löst das Trockenmilchpulver in einer Tasse Wasser auf und gießt die Milch über das Müsli. Während die Männer essen, unterhalten sie sich über die Fahrt des gestrigen Tages und die Pläne für den heutigen. Nach einer halben Stunde sind sie fertig, erledigen eine kurze Morgentoilette und packen Zelte und Schlafsäcke ins Auto. Chris sieht auf die Uhr, es geht auf Neun zu, als er den Schlafplatz nach Müll absucht und das Auto besteigt. Geoff ist heute als erster mit Fahren an der Reihe, und die Männer lassen sich genüßlich den Fahrtwind um die 200
Nase wehen, denn sie wissen, daß es heute noch wesentlich wärmer wird. Frank sieht auf das Thermometer, es zeigt bereits über 20°C an, und die Sonne ist erst vor wenigen Stunden über den Horizont gestiegen. Wenn es heute nur 30° werden, sind sie noch gut bedient, denkt er. Nach einer Stunde Fahrt machen sie die erste Pause, jeder Mitfahrer trinkt einen Becher Wasser. Chris wirft einen Blick auf die Karte, sie haben bis jetzt knapp 50 Kilometer zurückgelegt, und wenn das so weitergeht, sind sie in einer Stunde am Rand der Hochebene. Das Foto zeigt dort einen leichten Anstieg, es ist aber nicht zu erkennen, ob er zerklüftet ist oder ob man einen kaum spürbaren Hang wird hochfahren müssen. Als alles verstaut ist, setzen sie sich wieder auf ihre Plätze und fahren weiter. Eine Stunde später steht der Wagen vor einem Fluß, hinter dem eine leichte Steigung wahrzunehmen ist. Chris und Erik steigen aus, ziehen die Schuhe aus und waten durch den Fluß. Es tut gut, denn es wird unerträglich heiß. Chris fällt auf, daß der Fluß im Moment Niedrigwasser führen muß, das Flußbett ist wesentlich breiter als er es jetzt ausfüllt. Er geht zur anderen Seite herüber, sieht, wie sich der Untergrund langsam zu ändern beginnt. Wenn er genau hinsieht, kann er die Form des flachen Hanges als Übergang zur Hochfläche wahrnehmen. Also winkt er Frank zu und läßt ihn das Flußbett durchfahren. Der Wagen kommt ohne Probleme über den Fluß. Als er Chris und Erik erreicht, steigen beide ein. Unter ihnen steigt das Relief an, und sie erwarten, daß sich in den nächsten Minuten Weltbewegendes tun wird. Aber die Revolution bleibt aus, noch zeigt sich keine Änderung in der Vegetation und der Bodenbeschaffenheit. Plötzlich wird der Hang an einem Knick steiler. Chris läßt anhalten und sieht sich um. Tatsächlich, oberhalb des Knicks stehen weniger und niedrigere Bäume als unterhalb. Er greift in den Koffer mit den wissenschaftlichen Instrumenten und holt zwei Behälter für Bodenproben heraus, die er mit Proben oberhalb 201
und unterhalb des Knicks füllt. Geoff sieht sich an, was sie hier an Pflanzen vor sich haben. Erik ist unschlüssig, ob sie hier einen Gesteinswechsel vor sich haben. Dann steigen die Männer ein und fahren weiter. Nach kaum zwei Kilometern erreicht der Wagen eine Ebene, die sich von der gestern und heute durchfahrenen Küstenebene unterscheidet. Nicht nur das die Bäume weiter auseinander stehen, der Boden zeigt eine andere Beschaffenheit, ist stärker verhärtet und hat eine rötliche Farbe. Chris sieht ihn sich an, er ist identisch mit dem, von welchem er Proben genommen hat. Die Männer breiten das Satellitenfoto aus und sehen sich an, wo sie sich jetzt befinden. Das muß der Rand der Hochfläche sein, meint Chris, doch sicher sind sie alle nicht. Sie trinken eine Ration Wasser und fahren weiter. In der nächsten halben Stunde ändert sich nicht viel. Sie fahren über eine weite Ebene, gelegentlich ragen kleine flache Felsen über die Oberfläche heraus. Rechts von sich sehen sie den Schimmer eines Gebirgszuges. Erik sitzt jetzt am Steuer und fährt in Richtung dieses Gebirges. Nach zehn Minuten ist Chris seiner Sache sicher, das muß das Mittelgebirge sein, über das er vor zwei Wochen zum ersten Mal geflogen ist. Sie fahren weiter, und nach einer halben Stunde stehen sie vor den letzten Ausläufern des Gebirges. Wir haben es also geschafft, denkt Chris, hier wollte ich hinfahren. Die Männer steigen aus, sehen sich kurz um und beschließen, den Rest des Tages hier zu bleiben, um das Gebirge besser erkunden zu können. Sie essen eine Kleinigkeit, nach Warmem steht ihnen bei der Hitze nicht der Sinn, schultern ihre Rucksäcke und gehen ins Gebirge hinein. Bevor der Wald dichter wird, hocken sich Chris und Erik nieder und beratschlagen, was sie hier unter ihren Füßen haben könnten. Ein Gestein können sie nicht angeben, aber vielleicht stoßen sie bei der weiteren Erkundung noch auf einen Aufschluß, der ihnen ermöglicht, ohne Bohrung eine Gesteinsprobe zu entnehmen. Dann gehen sie weiter die Talsohle entlang. 202
Der Bewuchs ändert sich, das ist nicht mehr der lichte Trockenwald, durch den sie seit Tagen gefahren sind, dieser ist dichter, höher und grüner. Trotzdem kommen sie gut voran, auch deswegen, weil es kühler ist als auf der unbewachsenen Fläche. Chris entnimmt eine Bodenprobe, dann schlagen sie sich in den Hang und ersteigen einen Grat. Auf diesem balancieren sie eine Viertelstunde zwischen den Bäumen hindurch, bis sie einen Gipfel erreichen, von dem aus sie ins Gebirge hineinsehen können. Wie sich ihnen offenbart, steigt der Gebirgszug nach Norden weiter an. Erik sieht auf die Uhr, sie müssen umkehren. Dabei nehmen sie einen Weg durch ein anderes Tal als auf dem Hinweg, finden einen Bach, an dem sie entlanggehen. Als sie über eine Schutthalde steigen, haben sie endlich einen Aufschluß vor sich. Erik geht voran und steigt über die Schutthalde, kommt zu der Stelle, an dem sich ein Stück des Bodens vom Gestein gelöst hatte und das Gestein offenliegt. Der Bergrutsch muß ein bis drei Jahre zurückliegen, denn sowohl Halde als auch Aufschluß sind wieder locker bewachsen. Erik gräbt im Untergrund und sieht sich das Material an, auf dem sie gerade stehen. Er findet einige Bruchstücke angewitterten Materials, und beide Geomänner sind sich einig, daß es sich um eine Art von Granit handeln muß. Erik sichert die Probe und schreibt auf das Glas, wo er sie entnommen hat. Dann sehen sich beide das Konglomerat an, und Chris notiert sich Angaben über dessen Beschaffenheit. Schließlich gehen sie zur Talsohle hinunter und sind nach einer halben Stunde wieder auf der Hochfläche. Es geht auf den Abend zu, es wird kühler, aber der Temperaturunterschied zwischen dem Wald und der durch ganztägige Sonneneinstrahlung aufgeheizten Hochfläche ist gewaltig. Chris fällt auf, daß der Bach kurz nach seinem Austritt aus dem Gebirge deutlich an Fließgeschwindigkeit abnimmt und Anzeichen macht, daß er bald versickern oder verdunsten wird. Nun, morgen werden sie einem der Bäche nachfahren, für heute haben sie genug getan.
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Als Erik und Chris am Fahrzeug ankommen, sind Geoff und Frank gerade dabei, ihre Proben einzutragen und in die Boxen einzusortieren. Die beiden Gruppen tauschen ihre Ergebnisse aus, dann wird es Zeit, sich um Zelte und Essen zu kümmern, die Sonne wird innerhalb der nächsten Stunde untergehen. So bauen Frank und Geoff die beiden Tunnelzelte auf, während Chris die Zubereitung des Abendessens übernimmt. Erik nimmt den Wasserkanister unter den Arm und geht zum nächsten Bach, um den Frischwasservorrat aufzufüllen. Die Sonne geht unter, Frank entzündet ein Lagerfeuer, Chris gibt über Funk eine Meldung an die "Challenger" ab, bestimmt den Standort und berichtet kurz über die ersten Forschungsergebnisse. Geoff und Frank haben zwei neue Baumarten bestimmen können, und er selbst ist sich nicht im klaren darüber, ob er diese Art von Granit in seinem Leben schon einmal gesehen hat. Als es auf zehn Uhr zugeht, herrscht Ruhe über dem Lager. Auch an Bord der "Challenger" und im Umland der Bucht war man nicht untätig. Eine Gruppe von drei Mitgliedern der Ozeanologischen Abteilung, zwei Männer und eine Frau, haben in den letzten beiden Tagen Tauchgänge innerhalb der Bucht unternommen, um die Fauna und Flora dieser Bucht zu untersuchen. Die Pflanzengesellschaften rund um diese Bucht sind in diesen Tagen gut untersucht worden, und eine Gruppe von Bodenkundlern ist Chris' Spuren gefolgt und hat 60 Kilometer im Landesinneren damit begonnen, mit Bohrungen bis zum Felsgestein eine Bodencatena vom Landesinneren bis zur Küste zu erstellen. Svenja hat ihren Hammer geschwungen und eine Menge an Proben vom Untergrund und bloßliegenden Felsen genommen. Schließlich sind Michael und Gerd auf die Idee verfallen, einen Langstreckenflug vornehmen zu lassen, ähnlich wie Chris es mit dem ersten Flug zum neuen Kontinent getan hatte. Diesmal soll es nicht über See gehen, sondern quer über den Kontinent, um den Ozean auf der anderen Seite der Landmasse zu sehen zu bekommen. Bis zum nächsten Punkt der Küste sind es rund 2300 Seemeilen, und das liegt innerhalb der 204
Reichweite der Flugzeuge bei Ausnutzung der Zusatztanks und Nachtanken auf halber Strecke. In zwei Tagen soll der Flug stattfinden, bis dahin will Michael die günstigste Route erkunden. Die Flugzeuge haben in diesen Tagen nicht nur den Zweck, mit der Kamera Bilder zu liefern, nach denen Karten gezeichnet werden können, sondern auch Wissenschaftler und Material in das Innere des Kontinents zu transportieren. Dabei spart man die Route, die Chris nimmt, bewußt aus, dort wird ja schon geforscht. Aber im Mittelgebirge und in der südlichen Küstenebene ergaben sich bei der Auswertung der Luftbilder einige interessante Landschaftsformen, die sich die Geographen und Biologen genauer ansehen wollten. Heute ist eine Gruppe von vier Wissenschaftlern in die südliche Küstenebene geflogen, hatte einen Landeplatz auf einem Felsplateau gefunden und die Sümpfe dort erkundet. Am Abend waren sie an Bord der "Challenger" gelandet, bepackt mit Proben von Pflanzen, Wasser und Boden. Dann gibt es da noch eine andere Aufgabe: an Bord des Schiffs befinden sich neun meteorologische Meßstationen, baugleich mit der, die seit einer Woche am ersten Ankerplatz steht. Die Meteorologen und Klimatologen haben sich in den letzten Tagen damit beschäftigt, günstige Orte für die Aufstellung der Meßcontainer zu finden, die, über Solarzellen mit Strom versorgt, für die Dauer von mindestens zwei Jahren autark die wichtigsten meteorologischen Daten messen und per Satellit zur Landstation und zum Schiff funken werden. Zwei der Wetterwarten sind bereits auf der Hochfläche und der Küstenebene aufgestellt worden, man hatte sie vom Flugzeug aus dort abgesetzt. Nur ein Forschungsobjekt, daß die Wissenschaftler, allen voran die Geologen, interessiert, ist schwierig zu erreichen: Das Mittelgebirge nämlich. Chris hatte beim ersten Überflug vor zwei Wochen keine Möglichkeit gesehen, dort zu landen, und auch heute hatten es die Piloten nicht geschafft, dort einen Landeplatz zu finden, obwohl sie sich länger als vier Stunden über dem Gebirge aufgehalten hatten. Eine Flugzeugbesatzung war extra damit beauftragt worden, einen Landeplatz zu 205
suchen; sie arbeiteten dabei eng mit den Wissenschaftlern zusammen und setzten sich selber daran, die Luftbilder auf mögliche Landeplätze hin abzusuchen. In den Nächten geht es an Bord der "Challenger" deutlich ruhiger zu als während der Überfahrt, die Wissenschaftler sind abends müde, wenn sie auf das Schiff zurückkehren, oder sie bleiben gleich an Land in der Station, die man dort aufgebaut hat und in der bei Regen bis zu 20 Menschen übernachten. III. Gestern waren Chris, Erik, Frank und Geoff früh aufgestanden, hatten sich die wachsenden Bärte gekratzt und waren gen Westen aufgebrochen. Der Weg sollte sie ständig am Übergang des Mittelgebirges zur Hochfläche entlangführen, sie waren dann einem Bach gefolgt, von dem sie wissen wollten, ob er mitten auf der Hochfläche versickert oder weiter führt. Nach 20 Kilometern hatten sie die Mündung dieses Bachs in einen größeren Fluß gefunden, an dem sie weiter flußaufwärts entlangfuhren, bis sie seinen Austritt aus dem Mittelgebirge fanden. Hier war die Fahrt zu Ende, denn entlang des Flußbetts witterten die Wissenschaftler eine grandiose Möglichkeit, weiter als bisher ins Innere des Gebirges vorzudringen. Also nahmen sie ihre Rucksäcke, packten Essen und Trinken für zwei bis drei Tage ein, dazu die Zelte und Schlafsäcke, und machten sich nach einer Stärkung auf den Weg den Fluß hinauf. Der Weg war die ersten fünf Kilometer problemlos gewesen, der Fluß hatte eine breite Ausräummulde geschaffen, in der das Flußbett breit und flach ansteigend war. Dahinter wurde das Tal enger, der Fluß zeigte eine höhere Fließgeschwindigkeit als unterhalb. An dieser Stelle trennten sich Geoff und Frank von Chris und Erik, denn die beiden letzteren interessierte natürlich, woher dieser scharfe Übergang stammte. Sie hatten in der folgenden Stunde das Flußbett abgesucht und zwei Stellen gefunden, an denen sie das Gestein bestimmen konnten. Erik sah sich die Proben durch sein 206
Handmikroskop an und war der Ansicht, daß sie hier eine Schichtstufe vor sich haben. Er nahm an, daß es sich um den Übergang vom Granit zu einem Sedimentgestein, vermutlich Sandstein, handelte. Chris wollte sich nicht darauf versteifen, daß es nun so war, weil die Proben nur aus zwei Stellen stammten und das zuwenig für eine umfassende Analyse ist, aber im Grundgedanken konnte er Eriks These stützen. Sie hatten an dieser Stelle etwas gegessen und waren weitergegangen, in der Hoffnung, Geoff und Frank vielleicht einzuholen. Doch sie hielten zu oft an, um sich Flußbett und Tal anzusehen, als daß sie das Marschtempo durchhalten konnten. Als es auf fünf Uhr Nachmittags zuging, sahen sie zwei knallrote Rucksäcke über sich im Wald. Geoff und Frank hatten sie stehengelassen, um sich unbeschwert bewegen zu können. Sie trafen sich, sprachen miteinander und kamen überein, daß Erik und Chris nach einer Stelle suchen sollten, an der sie ihre Zelte aufschlagen konnten. Die beiden Geographen gingen weiter, und nach einer halben Stunde hatten sie eine Flußbiegung gefunden, in der sie auf dem Gleithang einen ebenen, offenen und bei dieser Wasserführung auch trockenen Platz zum Übernachten fanden. Eine Viertelstunde später kamen Geoff und Frank angestolpert, konnten die Zelte aufbauen und das Abendessen machen. Und endlich, zum ersten Mal nach drei Tagen, konnten sie im Wasser eines Flusses ein Bad nehmen. Nachher, als die Sonne unterging, gab Chris über Funk die Erkenntnisse des Tages durch, und an Bord der "Challenger" war man froh darüber, daß wenigstens eine Gruppe von Geographen in das Gebirge vordringen konnte. Er gab die Position durch, und stellte fest, daß sie rund 15 Kilometer in das Gebirge eingedrungen waren. Das war gestern. Heute sind sie frühzeitig aufgestanden und haben die Zelte und einen Teil der Ausrüstung am Fluß stehen lassen, um ungehindert den Fluß weiter aufwärts marschieren zu können. Bis zum Mittag haben 207
sie gut 10 Kilometer zurückgelegt, und jetzt tut sich ein Problem vor ihnen auf, denn jetzt ist es mit dem gemütlichen Fußmarsch am Flußufer entlang vorbei. Chris und Erik erreichen eine Stelle, an der sich die Form des Tals von einem Kerbsohlental zu einem Kerbtal ändert. Damit wird der Talboden so eng, daß er zu Fuß unpassierbar wird. Die beiden Männer beratschlagen sich und kommen überein, hier umzukehren, es hat keinen Sinn mehr, hier noch lange weitergehen zu wollen. Sie lassen die Rucksäcke stehen und suchen nach einer Gelegenheit, an das Gestein heranzukommen, das den Grund des Flußbettes oberhalb der Talverengung bildet. Über 200 Meter müssen sie sich durch das enge und stark bewachsene Tal schlagen, bis sie an einem Prallhang graben können. Dort finden sie, ständig im Wasser stehend, einen Aufschluß, aus dem sie eine Probe entnehmen. Chris sieht sich den Talboden genauer an, ihn interessiert die Zurundung des Schotters im Flußbett. Erik hat seine Probe verstaut und geht, Chris sieht sich den Aufschluß noch etwas genauer an. Ihm fällt auf, wie stark zugerundet Teile des Schotters sind, in Mittelgebirgen der alten Welt hat er so etwas nicht gesehen, nur in Hochgebirgen. Schließlich geht er auch zurück und setzt sich im breiteren Tal neben Erik, der sich gerade die Gesteinsprobe ansieht, fragt ihn nach seinem Ergebnis. "Und was ist das?" "Was schätzt du?" "Tippe auf Buntsandstein, mittlere Härte." "Wie kommst du darauf?" "Ich habe ähnliche Proben in der Hand gehabt." "Gut, das habe ich mir auch gedacht. Es müßte Buntstandstein sein." "Und was folgern wir daraus?" "Was willst du hören?" 208
"Nun, ich denke mir, deine Vermutung mit der Schichtstufe war richtig. Wir haben hier eine richtig schöne Abfolge vom Kristallin zu jüngeren Sedimentgesteinen." "Du weißt, daß bei uns in der alten Welt der Sandstein sehr selten direkt auf dem Kristallin liegt." "Irgendetwas muß hier ja anders sein." "Gut, jedenfalls haben wir damit schon einiges über den Aufbau dieses Gebirges erfahren." "Soviel nun auch wieder nicht, Erik. Wir können jetzt anhand dieser Proben die Vermutung anstellen, daß dieses Gebirge nach Norden hin abkippt. Aber, es sind nur drei Proben, und wir können nicht davon ausgehen, daß die den umfassenden Überblick geben." "Ich weiß. Aber wir haben eine Vermutung." Sie sehen auf, Geoff und Frank kommen angestiefelt. "Wir können nicht weiter. Hier ist Schluß." "Na, das freut mich aber." "Hast du keine Lust mehr?" "Ich hab' Blasen an den Füßen." "Ich auch. Gewöhn' dich dran." "Und was machen wir jetzt?" "Ich bin dafür, daß wir erstmal 'was essen und dann zurückgehen. Hat jemand einen besseren Vorschlag?" "Nö." "Nein." "Von wegen." "Gut. Was habt ihr heute gefunden?"
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"Eine neue Unterart der Fagus Silvatica. Sonst nicht viel. Und ihr?" "Du siehst hier den Übergang vom Keuper zum Buntsandstein vor dir. Wir vermuten, das die Schichten dieses Gebirges nach Norden einfallen und hier Schichtstufen gebildet haben." "Sonst noch 'was?" "Ja, der Schotter ist sehr stark zugerundet, stärker als in allen Mittelgebirgen, die ich bisher kenne. Ich nehme an, daß dies zum einen aus dem kontinentaleren Klima resultiert, zum anderen ganz einfach daher kommt, daß dieses Gebirge bis zu 2000 Meter hoch ist." "Schön." "Und jetzt laß uns essen, ich hab' Hunger." Sie packen ihre Rucksäcke aus, brechen die Konserven an, mit denen sie sich vor Beginn der Expedition eingedeckt haben. Eine halbe Stunde später schnallen sie sich die Rucksäcke auf den Rücken und stapfen zurück zum Lager. Der Fluß hat seine Wasserführung nicht erhöht, und so stehen die Zelte noch am selben Platz. Alle Nahrungsmittel hatten Geoff und Erik am Morgen an den Stämmen von Bäumen angebunden, damit sie nicht Beute von Tieren wurden. Heute brauchen sie die Zelte nicht aufzubauen, und sie sind früher als sonst im Lager, Zeit genug, um sich Beschäftigungen hinzugeben, für die man in den letzten Tagen keine Zeit hatte. Alle nehmen nacheinander ein Bad im Fluß, verarzten die Blasen und wunden Fußsohlen. Chris spricht mit den Kollegen auf dem Schiff, schreibt Notizen in sein Tagebuch. Bevor die Sonne untergeht, waschen die Männer einen Teil der Wäsche. Schließlich macht Geoff Essen, und beim Lagerfeuer sitzen sie lange zusammen; der Tag war zwar genauso hart wie die vorhergehenden, aber der Körper beginnt sich an die Anstrengungen zu gewöhnen. Chris spürt zwar ein leichtes Ziehen in allen Muskeln, aber im Gegensatz zu 210
den Schmerzen nach dem ersten Fußmarsch vor mehr als zwei Wochen ist das unbedeutend. Auf der "Challenger" war heute für einige Mitglieder der Besatzung ein stressiger Tag. In der Nacht hatten die Mechaniker zwei Maschinen mit Zusatztanks ausgerüstet, eine davon war der Tanker. Um vier Uhr morgens waren die beiden Flugzeuge vom Katapult aus gestartet, wegen der Menge an Treibstoff waren sie dabei fast bis zur Wasseroberfläche durchgesackt und hatten Probleme, die Bäume am Rand der Bucht zu überfliegen. Zum Glück hatten sie es beide noch geschafft und konnten den Kurs nach Westen einschlagen. Nach 800 Seemeilen hatte der Tanker den Treibstoff der ersten Maschine aufgefüllt und war umgekehrt; um drei Uhr nachmittags war er wieder an Bord der "Challenger". Eine Stunde später erreichte das erste Flugzeug die Küste des Ozeans, der den Kontinent im Westen begrenzt. Kein Mensch hatte diese Küste bisher zu Gesicht bekommen, die Piloten verschossen zwei Filme und kehrten um. Beim Rückflug fotografierte der Copilot das Hochgebirge, daß sie bereits überflogen hatten. Er hatte die Satellitenbilder gesehen, aber der Anblick in Natura erschien ihm wesentlich eindrucksvoller. Um acht Uhr abends hatte die Maschine dann kaum noch Treibstoff an Bord, als sie den Tanker erreichte. Nach ein Uhr morgens waren sie wieder an Bord, und auch diesmal war eine Menge von Leuten an Deck, die beide Piloten nach ihren Eindrücken befragte. Einen Stunde später waren die Bilder fertig, und einige Wissenschaftler sahen sich die Aufnahmen an. Auch sie waren von den Bildern des Gebirges beeindruckt, werden es aber auf dieser Expedition nicht mehr erreichen können. Chris hatte bei der Vorbereitung der Fahrt geplant, vielleicht die letzten Ausläufer des Gebirges zu erreichen, aber er wußte nicht, ob er sich bis dahin wird durchschlagen können. IV.
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Gestern hatten die vier Mitglieder der Landexpedition ihr Basislager am Fluß abgebrochen und waren zum Auto zurückmarschiert. Am späten Nachmittag hatten sie die Zelte aufgebaut und gekocht, und am Abend hatte Chris über Funk längere Zeit mit Gerd und Michael gesprochen und die Erkenntnisse, die sie in den drei Tagen gesammelt hatten, zusammengefaßt weitergegeben. Der Flug der Maschine zur anderen Seite des Kontinents hatte interessante Bilder der Küste geliefert, und nun hatten die Wissenschaftler an Bord der "Challenger" einen Plan: Sie wollten in den nächsten Tagen den derzeitigen Liegeplatz des Schiffs verlassen und die Küste weiter nach Süden hinunterfahren, denn aus den Satellitenbildern wußte man, daß sich der Kontinent dort zuschnürt und der Abstand der beiden Küsten geringer wird. Nun beabsichtigen die Wissenschaftler, einen Lastenflug dorthin auszurüsten und eine Stelle an der Küste zu suchen, an der die Maschine eine Gruppe von Wissenschaftlern absetzen sollte. Diese sollten dann eine Station aufbauen und von dort aus im Zeitraum einer Woche das Umland erkunden. Chris war mit dem Plan einverstanden, doch er gab zu Bedenken, daß man zuerst die Kollegen zurückholen sollte, die sich seit einer Woche am ersten Landeplatz aufhielten, denn wenn sie noch weiter nach Süden vorstoßen, können die Maschinen diese Kollegen nicht mehr erreichen. Schließlich unterhielten sich die Wissenschaftler nach Einbruch der Dämmerung über die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit, und bevor er einschlief, ging Chris der Gedanke durch den Kopf, daß es eine solchermaßen unberührte Landschaft in der alten Welt nirgends mehr gab. Wie wird es hier aussehen, wenn Dörfer, Felder, Städte, Straßen entstanden sind? Am nächsten Morgen zeigen sich Wolken am Himmel, doch es hat nicht den Anschein, daß es regnen werde. Die Forscher bauen ihr Lager ab und brechen zeitig auf; heute wollen sie bis zu dem Fluß vordringen, der auf dieser Reise das schwierigste Hindernis darstellt und den Chris Tage zuvor bereits durchwatet hatte. 212
Hoffentlich ist die Wasserführung nicht angestiegen, denkt er. Es kann eigentlich nicht sein, denn Schnee hatte er im Gebirge nicht gesehen, der Schmelzen könnte, und geregnet hatte es in den letzten Tagen auch nicht. Aber konnte man sich solcher Tatsachen immer sicher sein? Den ganzen Tag fahren sie am Übergang des Gebirges zur Hochfläche entlang, durchqueren kleinere Flüsse und sehen viele Täler. Obwohl es an manchen Stellen lohnenswert gewesen wäre, halten sie nur zu Pausen und Fahrerwechsel an; sie haben mehr vor, als nur den Rand des Gebirges zu erforschen. Am Abend haben sie knapp 300 Kilometer zurückgelegt und erreichen die Stelle im Flußbett, die Chris vor mehr als einer Woche betreten hatte. Diesmal ist der Wasserstand des Flusses zurückgegangen, und eine Durchquerung scheint problemlos zu sein, doch es ist zu spät, die Sonne steht niedrig über dem Horizont, und keiner der Forscher will es riskieren, bei einbrechender Dunkelheit mitten im Flußbett zu stehen. Also parkt Erik, der als letzter gefahren ist, den Wagen hochwassersicher am Rand einer Uferböschung, und sie bauen ihr Nachtlager auf. Chris gibt einen kurzen Bericht über Funk durch, dann sind sie früh im Bett. Auf der "Challenger" gibt es an diesem Tag einige spektakuläre Aktionen. Am frühen Morgen ist der Pilot, der im Gebirge nach einem günstigen Platz für den Aufbau einer Station suchen sollte, mit einem Wissenschaftler aus der Geographischen Abteilung an Bord gestartet, und nach den Fotos, die der Pilot in den letzten beiden Tagen gemacht hatte, haben sie nach einer bestimmten Stelle gesucht, die hoffnungsvoll erschien. Bisher hatte man keine Fläche gefunden, die eben und unbewachsen war, um darauf ein Zelt zu errichten, wie es zum Landen und für den Aufbau einer Station für mehrere Forscher nötig gewesen wäre. Gestern aber hatte der Pilot in einem Tal den Zusammenfluß zweier Flüsse ausfindig gemacht, an der
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ein breiter, unbewachsener Schwemmfächer entstanden war, auf dem er landen konnte. Nach einem Flug von eineinhalb Stunden Dauer hatte die Maschine diese Mündung erreicht, und tatsächlich erstreckte sich in der Sohle des an dieser Stelle durch den Zusammenfluß verbreiterten Tales ein Schwemmfächer, dessen Größe ausgereicht hätte, die gesamte Luftflotte der "Challenger" zu stationieren. Ohne Schwierigkeit landet die Maschine, die drei Männer steigen aus und sehen sich um. Der Platz ist geeignet, nach einer Viertelstunde näherer Erkundung steigen sie wieder ein und fliegen zum Schiff zurück. An Bord der "Challenger" hatte man in der Zwischenzeit Kontakt zu den Kollegen aufgenommen, die vor einer Woche am ersten Landeplatz zurückgeblieben waren und dort ihrer Forschertätigkeit nachgingen. Sie wären gerne länger dort geblieben, aber in den nächsten Tagen wollte man die Fahrt in Richtung Süden aufnehmen. Und während diese Forscher morgen an Bord zurückkommen sollen, bereitet sich an diesem Tag eine Gruppe von Wissenschaftlern darauf vor, morgen ein Lager auf dem Schwemmfächer mitten im Gebirge zu beziehen. Auch Svenja wird dabei sein; sie ist daran interessiert, ob sie die Ergebnisse wird bestätigen können, die Erik und Chris erzielt haben. Mit einer weiteren Frau und zwei Männern werden sie aufbrechen, um das Lager zu beziehen. V. Das Rauschen des Flusses begleitet die Männer beim Frühstück, und sie genießen es, den Kaffee mit frischem Wasser aufzubrühen und dazu nicht abgestandenes Wasser aus dem Tank nehmen zu müssen. Es geht auf neun Uhr zu, als sie die Zelte abbrechen und ihr Gepäck im Wagen verstauen. Geoff geht zum Fluß und füllt die Wasserkanister bis zum Rand voll. Dann setzt sich Erik ans Steuer und startet den Motor. Sie wollen den Fluß noch mit kalter Maschine passieren, um keine Schäden durch Kälteschock zu provozieren. Geoff nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, Chris und Frank gehen voraus.
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Chris findet die Furt wieder, die er vor Tagen durchwatet hatte, als er mit dem Flugzeug an diesem Fluß war. Das Wasser steht heute niedriger, und so taucht der Wagen nur bis zur Höhe der Stoßstange ins Wasser ein. Chris und Frank weisen Erik auf die Mitte der Furt ein, der hält die Drehzahl konstant auf dem Punkt des höchsten Drehmoments im ersten Gang und passiert langsam die Furt. Schließlich erreicht er das gegenüberliegende Ufer, fährt die Böschung hinauf und stellt den Motor ab. Ist irgendwas passiert? Chris legt sich unter den Wagen, um zu sehen, ob ein Stein vielleicht Schaden angerichtet haben sollte, aber er kann nichts finden. Der Motor läuft, er hat also bei der Wasserung kein Wasser geschluckt. Die Männer nicken sich zu, das war ein gutes Manöver, steigen ein und fahren weiter, gen Westen. Wo sollen sie jetzt hinfahren? Chris hat sich auf dem Luftbild diese Ebene in den letzten Tagen mehrfach angesehen, aber er hat keine Besonderheit erkannt, die man sich auf jeden Fall ansehen sollte. Das Ziel lautet also, möglichst weit nach Westen vorzudringen, dahinter liegt ein Ausläufer des Hochgebirges am Westrand des Kontinents, der für das Fahrzeug die natürliche Grenze darstellt, die es nicht überwinden kann. Nach Westen, das wird für die nächsten Tage der Wahlspruch für Chris und die drei Mitfahrer sein. Sie haben die Hochfläche verlassen, haben den Fluß passiert, der den Rand dieses Plateaus markiert, und nun, als es auf Mittag zugeht, spüren sie, daß sie sich einer Wüste nähern. Es wird wärmer, und jede Stunde müssen sie Flüssigkeit zu sich nehmen. Der Boden wird staubiger, sie binden sich Tücher vor die Nase, um nicht ständig Staub schlucken zu müssen. Als die Hitze am größten ist, steuert Chris eine Schlucht an, in der sie im Schatten eines Felsüberhangs eine längere Pause einlegen. Es ist Juli, und ganz offensichtlich ist das auch hier der heißeste Monat. Geoff findet Reste von Pflanzen, die in einer Regenzeit vor wenigen Monaten gewachsen sind 215
und in der Hitze verdorrt sind. Chris macht Versuche als Freeclimber und findet an dem Hang, den er hochklettert, interessante Spuren von Verwitterungsformen, wie sie für Wüsten typisch sind. Er stürzt um ein Haar ab, als unter seiner rechten Hand ein Stück Fels als Schuppe abbricht und zu Boden fällt. Ein Sturz aus sechs, sieben Meter Höhe auf den harten Boden, das wäre wahrscheinlich das Ende, denkt er. Vielleicht sollte ich diese Spielereien lassen... Als er wieder unten angekommen ist, sieht er sich an, was er aus dem Fels herausgebrochen hat - tatsächlich, so sieht ein Stück Fels aus, das dem starken täglichen Temperaturwechsel der Wüste unterliegt. Er geht aus der Schlucht heraus, bewaffnet mit Drehbohrer und Hammer, um eine Bodenprobe zu nehmen. Das wird schwierig, der Boden ist hart. Angestrengt kommt er zum Wagen zurück, füllt den Bohrkern nach einer kurzen Sichtung in einen Probenbehälter und verschließt ihn. Dann macht er das gleiche wie die Kollegen auch: er schläft ein. Es geht auf drei Uhr zu, als Frank an die Mitfahrer eine Mineralsalztablette ausgibt. Bei dieser Hitze verspüren sie keinen Hunger, aber sie müssen den durch das Schwitzen entstandenen Verlust an Mineralsalzen ersetzen. Um drei Uhr setzen sie sich in den Wagen und fahren weiter. Die Landschaft hat sich im Verlauf des Tages geändert. Am Morgen, noch ganz in der Nähe des Flusses, hatten sie Pflanzen gesehen, weiter westlich davon finden sich nur noch vereinzelt Dornengewächse. Das Relief nimmt Formen an, die keiner der Männer früher gesehen hat; aus der Fläche ragen vereinzelt Hügel heraus, deren Oberkante wie mit dem Messer gekappt wirkt und deren Fuß im eigenen Schutt versinkt. Eine eigenartige Form, Erik und Chris machen sich Gedanken darüber, wie das kommen konnte, und deuten diese Form kleiner Tafelberge als Reste einer Hochfläche, die zerschnitten und teilweise tiefergelegt worden ist. Auch die Färbung des Gesteins haben sie noch nie gesehen, dieses Rot ist anders als die Farben, die sie bisher an Gesteinen beobachten konnten. 216
Am Abend, als die Sonne tiefer über dem Horizont steht und die Gesichter anzeigen, daß man sich besser vor Sonnenbrand hätte schützen sollen, schlagen sie ihr Lager am Rand eines Tafelberges auf. Chris gibt, während sich die anderen um das Abendessen kümmern, einen Bericht an die "Challenger" durch, in dem er die Neuigkeiten des Tages aufzählt. Als sie mit dem Essen fertig sind, sehen sie im Widerschein der Gaslaterne ein Tier, das von weitem an einen Katze erinnert, aber genausogut ein Hund sein könnte. Bevor sie genaueres feststellen können, ist das Tier wieder in der Dunkelheit verschwunden. In der Nacht kühlt es stark ab, in der Nähe des Berges ist dieser Effekt durch die Rückstrahlung der im Gestein gespeicherten Wärme allerdings geringer, und gegen Morgen kriechen sie tiefer in ihre Schlafsäcke, weil die Temperaturen knapp über den Gefrierpunkt absinken. Svenja hat in der letzten Nacht schlecht geschlafen; an diesem Tag will sie mit drei Kollegen zu einem Lager inmitten des Gebirges aufbrechen, um dort Forschungen durchführen zu können. Als sie gegen sechs Uhr erwacht, ist sie zu sehr mit den Gedanken bei dem Flug, der sie gleich in die Wildnis bringen wird, als daß sie weiterschlafen könnte. Was Chris jetzt wohl macht? Er treibt sich irgendwo an diesem Fluß herum, den sie sich gestern auf dem Luftbild angesehen hatte, nachdem sie seine Meldung ausgewertet hatten. Und heute, da wird sie selbst in die Wildnis der neuen Welt aufbrechen. Um Acht geht sie in die Kantine, und einige Wissenschaftler sitzen dort beim Frühstück. Sie setzt sich zu ihrer Kollegin Julianne an den Tisch, und sie unterhalten sich beim Essen über das, was sie in den drei bis vier Tagen, die ihnen zur Verfügung stehen werden, an Forschungsarbeit erledigen wollen. Nach einer Viertelstunde kommen auch die beiden Männer am Tisch, die mitfliegen werden, und die Vier stimmen sich darauf ein, in den nächsten Tagen eng beieinander zu leben und aufeinander angewiesen zu sein. Als es auf zehn Uhr zugeht, stehen sie auf dem Flugdeck, und gerade haben die beiden Maschinen abgehoben, die die Kollegen abholen werden, die sich 217
in der alten Forschungsstation am ersten Landeplatz aufhalten. Svenja sieht mit gemischten Gefühlen, wie die dritte Maschine an Deck gehievt wird, denn sie kennt das Gefühl der Flugangst sehr gut. Reiß Dich zusammen, du bist hier die Leiterin, da darfst du dir keine Schwachheiten erlauben. Sie atmet tief durch, dann beginnen sie mit dem Verladen der Ausrüstung. An Bord wird nur das Nötigste sein: Essen und Wäsche für eine Woche, falls etwas dazwischenkommen sollte, die gesamte Ausrüstung mit Meßinstrumenten, Werkzeugen, kleinen Analysegeräten, Computern und Funkeinrichtungen, das Zelt mit allem, was sie an Campingausrüstung brauchen, und schließlich persönliche Dinge. Es ist nicht mehr an Ausrüstung, als man auch in einem Kombi unterbringen könnte, und so sind sie nach einer Viertelstunde mit dem Stauen fertig. In der Zwischenzeit haben die Piloten das Briefing erledigt und kommen an Deck. Schließlich, es ist halb elf, steigen sie in die Maschine und heben ab. Nach gut einer Stunde haben sie den Schwemmfächer erreicht, auf dem sie das Zelt errichten wollen. Das Ausladen ist schneller erledigt als das Einladen, und so erhebt sich die Maschine schon nach zehn Minuten wieder in den Himmel. Svenja, Julianne, Mike und Andy sehen ihr mit gemischten Gefühlen nach, von nun an sind sie auf sich selbst gestellt, müssen für alles in Eigenregie sorgen. Svenja hat die Leitung dieser Expedition, und direkt nach dem Abflug machen sie sich an den Aufbau des Zeltes und der wissenschaftlichen Ausrüstung. Der Mittag vergeht schnell, und sie nehmen das Mittagessen spät ein, bevor sich die Gruppen der Wissenschaftler - Svenja als Geologin und Mike als Geograph sowie Julianne und Andy als Biologen - auf den Weg machen, um die Gegend zu erkunden. Sie sind bis zum Einbruch der Dämmerung unterwegs; die Biologenfraktion findet neue Pflanzen, während die Geowissenschaftler mit neuen Erkenntnissen über das Gestein unter ihren Füßen und die Beschaffenheit und Form des Tales und der umliegenden Hänge zurückkommen. Nach dem Abendessen gibt Svenja einen ersten Bericht an die "Challenger" ab, dann sitzen 218
die vier Wissenschaftler, die sich untereinander bisher kaum kennen, beim Lagerfeuer zusammen, bevor sie in die Daunen kriechen. Zwei Maschinen waren vor dem Flug von Svenja und ihrer Gruppe gestartet, um die bisher am längsten außerhalb des Schiffs gebliebene Gruppe von Wissenschaftlern abzuholen. Als es auf Mittag zugeht, erreichen sie die Bucht, in der die "Challenger" zuerst gelandet war. Die Forscher unten auf dem Strand haben sie kommen hören und begrüßen sie mit winkenden Armen. Und als die beiden Maschinen nacheinander auf dem Strand aufsetzen, staubt es gewaltig. Gestern Abend und heute Morgen haben sie die gesamte Ausrüstung schon zusammengepackt, so daß sie jetzt nicht stundenlang erst Sand von den Schlafsäcken kratzen müssen, und innerhalb einer halben Stunde ist die gesamte Ausrüstung in den Maschinen verstaut. Sie heben ab, und sind um drei Uhr an Bord des Schiffs. Nach diesem Forschungsaufenthalt gibt es eine Menge zu berichten. Bevor aber die Neugier der Kollegen gestillt wird, steigen sie Männer und die Frau unter ihre Duschen, die haben sie tagelang vermißt. In einer Besprechung im Vortragssaal am Abend berichten sie über die Erkenntnisse ihres Aufenthaltes. Sie stellen einige neue Pflanzenarten vor und zeigen Tierarten, außerdem gibt es Bodenprofile zu bewundern. Am Abend lichtet die "Challenger" die Anker. Die Fahrt, die eine Stunde vor Sonnenuntergang beginnt, wird sie weiter nach Süden führen, wird den Wissenschaftlern an Bord einen neuen Teil der Küste erschließen und soll einigen von ihnen die Möglichkeit geben, auch die andere Seite des Kontinents zu Gesicht zu bekommen. Und alle Menschen an Bord sind darauf schon gespannt. Doch es gibt auch andere Gedanken. Denn die Menschen, die sich länger als eine Woche in nahezu unberührter Natur aufgehalten haben, sind anders als vorher. Sie haben Ruhe kennengelernt, sie haben Natur im Urzustand, unbeeinflußt vom Menschen, gesehen, und sie haben es genossen. In dieser Nacht liegen zwei 219
Menschen in ihren Betten und machen sich Gedanken darüber, ob es richtig war, dieses Kontinent zu erforschen. Die Tage sind einander ähnlich geworden. Seit drei Tagen sind die vier Männer jetzt in der Wüste unterwegs, und es hat sich ein ewig gleicher Tagesablauf herauskristallisiert. Morgens stehen sie früh auf, gegen fünf Uhr bei Sonnenaufgang, fahren einige Stunden nach dem Frühstück durch die Gegend und erledigen Forschungsarbeiten, bis es gegen 11 Uhr zu heiß wird, um weiterzuarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt suchen sie sich einen schattigen Platz, an dem sie eine Plane als zusätzlichen Sonnenschutz aufspannen und darunter sitzen oder liegen können. Chris hat sich daran gewöhnt, dann einen Mittagsschlaf zu halten, denn er kommt abends selten vor Mitternacht dazu, einzuschlafen. In diesen drei Tagen haben sie stetig weniger Proben gesammelt, die Landschaft hat sich kaum verändert, seitdem sie den Fluß überquert haben. Bei dem Blick auf die Fotos haben sie festgestellt, daß nördlich ihres Standortes ein weites Grasland beginnt, das sie seit heute Morgen ansteuern. Es ist weit, es sind rund 500 Kilometer bis zum Beginn dieses Graslands, und Chris hofft, daß sie es bis zum Ende des nächsten Tages erreichen werden. Die "Challenger" steuert seit drei Tagen an der Küste entlang nach Süden, und pro Tag legt das Schiff dabei rund 200 Seemeilen zurück, denn zum einen hält man nur ein Marschtempo von 10 Knoten ein, zum anderen gibt es jeden Tag Orte an der Küste, die sich die an Bord verbliebenen Wissenschaftler ansehen wollen und deshalb das Schiff stoppen lassen. Sie haben Zeit, das wissen alle, und deshalb fehlt bei der Fahrt jegliche Hektik. Die Männer und Frauen, die vor wenigen Tagen aus der Forschungsstation am ersten Landeplatz zurückgeholt worden waren, haben sich in die Dokumentation und Analyse ihrer Forschungsergebnisse gestürzt und am vorhergehenden Abend die wichtigsten Ergebnisse im Vortragssaal vorgestellt. 220
Und dann ist da noch die Gruppe um Svenja, die seit drei Tagen im Gebirge ihrer Arbeit nachgeht. Sie hat die Leitung der Station an sich gezogen, und sich in die Arbeit gestürzt. Dabei haben sie einige Grabungen durchführen müssen, um an den Untergrund heranzukommen. Doch die Ergebnisse waren den Aufwand wert, am Ende eines jeden Tages konnte Svenja durchgeben, daß sie neue Gesteine gefunden haben. Sie ist mit ihrer Arbeit zufrieden, Schwierigkeiten mit den drei Kollegen gibt es keine, aber sie amüsiert sich darüber, daß es zwischen dem Kollegen und der Kollegin aus der Biologischen Abteilung offenbar ein Verhältnis gibt, seitdem sie hier in der Station sind. Was Chris jetzt wohl macht? Der Abend nähert sich. Chris sitzt am Steuer des Wagens, und denkt darüber nach, daß sie sich in der nächsten Stunde einen Schlafplatz suchen sollten. Heute haben sie einen guten Teil der Strecke geschafft, seit der Mittagspause sind sie schnell vorangekommen, und sie haben kein einziges Mal angehalten, um Proben zu entnehmen oder ähnliches zu tun, sondern nur, um einen Fahrerwechsel zu machen und einige Schluck Wasser zu sich zu nehmen. Seit etwa einer Stunde haben sie eine Veränderung der Landschaft bemerkt. Es wird feuchter, Büsche tauchen auf, kleine Bäume stehen in der Landschaft. Sie waren schnell, Chris sieht auf dem Kilometerzähler, daß sie fast 400 der 500 Kilometer hinter sich gebracht haben, die sie bis zur Grenze des Graslandes schaffen müssen. Ihre Konzentration beginnt nachzulassen. Seit einigen Kilometern sehen sie Spuren, die sie nicht richtig deuten können. Von Zeit zu Zeit tauchen dunkle Flecken auf der Erde auf, dabei Hügel und aufgeworfene Erde, als ob hier jemand etwas vergraben hätte. Aber es gibt doch außer uns keinen Menschen hier, denkt Chris. Außerdem haben sie in einiger Entfernung ein Tier gesehen, wie sie es in ihrem Leben noch nicht zu Gesicht bekommen haben - Chris hatte den Eindruck, ein gedrungenes Rind vor sich zu haben, war sich aber nicht sicher, ob er nicht einer Sinnestäuschung unterliegt. Doch diese Gedanken sind nebensächlich, 221
jetzt geht es darum, einen guten Schlafplatz zu finden, wenn möglich, sogar einen Fluß, denn nach drei Tagen in der Wüste geht der Wasservorrat zur Neige, und sie haben ihn schon rationieren müssen. Es wäre schön, wenn sie sich wieder waschen könnten, aber im Moment sieht es nicht danach aus, daß sie eine Gelegenheit dazu finden werden. Chris schaltet zurück und gibt Gas, denn vor ihnen liegt eine Bodenwelle. Sie überfahren die Welle. Das kann nicht sein. Nein, verdammt, das ist unmöglich. Chris tritt voll auf die Bremse, die vier Männer werden in die Gurte gedrückt, und Erik fragt Chris halb wütend, warum er denn wie ein Verückter bremst. Doch der weist nur stumm nach vorne. Und plötzlich sind die Männer wach. Was sie da sehen, hat keiner von ihnen erwartet. Vor ihnen stehen Zelte, acht bis zehn an der Zahl. Es sind kegelförmige Zelte, wie die Männer sie noch nie gesehen haben. Sie stehen in einem lockeren Kreis um einen kleinen Platz in der Mitte herum, auf dem ein Feuer schwelt. Aber das ist nicht das Wichtigste, denn den Männern gehen die Augen über, und sie sind unfähig ein Wort zu sagen, weil sie etwas sehen, was sie hier am allerwenigsten erwartet hätten: Menschen! Chris faßt sich wieder, nimmt den Gang heraus und stellt den Motor ab. Dann sieht er sich in der Runde um. Erik ist der erste, der ein Wort von sich gibt. "Was ist das? Seht ihr das auch?" "Ja." "Menschen." "Wie du und ich." "Was machen die denn hier?" "Frag' sie."
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"Aber warum... Warum hier?" "Das werden sie sich auch fragen." "Wir sollten zu ihnen hingehen." "Meinst du nicht, daß sie uns gleich abschlachten?" "Vielleicht. Aber vielleicht denken sie das Gleiche von uns." "Und was sollen wir jetzt machen?" "Hm... Umdrehen und abhauen können wir nicht mehr, es wird bald dunkel, und sie können uns folgen." "Sollen wir zu ihnen hingehen?" "Vielleicht nicht alle vier. Aber willst du mit mir hin gehen, Erik?" "Mir zittern die Knie... Laß es uns versuchen. Mehr als aufessen können sie uns nicht." "Geoff, Frank, bleibt ihr hier?" "Es ist mir lieber, im Wagen zu bleiben." "Gut. Aber bitte benehmt euch unauffällig." "Viel Glück." "Danke." Erik und Chris stiegen aus, die Glieder steif von der langen Fahrt. Schütteln den Staub ab und gehen nebeneinander zu der kleinen Zeltstadt herüber, aus der sie von den Menschen seit dem ersten Moment begutachtet werden. Es sind Menschen, die beiden Geographen fremdartig vorkommen. Sie haben eine rötliche Haut, auch die Männer jeden Alters tragen lange Haare, und die Männer haben keinen Bartwuchs, wie Chris ihn von anderen Volksstämmen her kennt. Was sind das für Menschen? 223
Beim Näherkommen fällt Erik auf, daß die Augen der Menschen dort vor ihnen mandelförmig angeschnitten sind. Was für eine Rasse kann das sein? Niemand vor ihnen hat solche Menschen vorher gesehen. Sie kommen der Gruppe Schritt für Schritt näher, die knapp 100 Meter kommen den Männern wie eine Ewigkeit vor. Vor sich sehen sie, wie die Frauen zurückgehen, die Kinder in ihren Schutz nehmen und die Männer vor sie treten. Sicher, Chris und Erik könnten Feinde sein, aber man tritt ihnen nicht direkt feindlich gegenüber. Jetzt kommt es auf die nächsten Sekunden an. Chris geht als erster zwischen zwei Zelten hindurch. Was soll ich jetzt tun? Er hat sich Gedanken gemacht, aber er weiß nicht, was das beste ist. Also hebt er seine rechte Hand, weißt mit der Handfläche nach vorn und grüßt auf diese Art. "Hallo?" Die beiden Forscher sehen sich um, keiner der Anwesenden erwidert etwas auf diesen Gruß, dafür sehen sich beide fragenden, bohrenden Blicken ausgesetzt. Was jetzt? Am besten weiterreden. "Wir kommen von weither, aus einem fremden Land. Wir kommen in Frieden." Keine Antwort. Chris sieht sich in der Runde um, aber er hat den Eindruck, daß diese Menschen begriffen haben, es ebenfalls mit Menschen zu tun zu heben. Oder? Ein älterer Mann tritt auf Chris zu. Er mag um die fünfzig sein, scheint der Älteste dieser Gruppe zu sein. Auf jeden Fall sieht er Chris und Erik nicht ängstlich an, und strahlt eine gewisse Würde aus. Dann spricht er Chris in einer Sprache an, die er noch nie gehört hat - und die er natürlich nicht versteht. Chris stutzt, da kommt ihm der Einfall, es mit Zeichensprache zu versuchen. Also tritt er näher an den Mann heran und untermalt seine Worte mit Gesten.
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"Wir kommen aus einem anderen Land. Wir kommen in Frieden." Chris wiederholt den Satz und untermalt seine langsam und deutlich gesprochenen Worte mit Gesten, die ihm dazu einfallen. Schließlich läßt er die Hände sinken und wartet eine Antwort oder Reaktion des Menschen vor ihm ab. Der sieht ihn an, dreht sich nach endlos erscheinenden Sekunden um und spricht etwas zu einem Mann, der neben ihm steht. Wendet sich wieder Chris zu, hebt seine rechte Hand und weist auf Geoff und Frank, die neben dem Auto stehen. Dazu sagt er etwas, was weder Erik noch Chris deuten können, aber sie nehmen an, daß es eine Frage nach den beiden Männern sein muß. Chris antwortet darauf. "Das sind Freunde von uns. Wir sind auf einer Reise." Der Mann, der Erik und Chris gegenübersteht, hat kein Wort verstanden, aber die Situation scheint sich zu entspannen. Er geht zu dem jüngeren Mann herüber, mit dem er zuvor bereits einige Worte gewechselt hatte, und redet mit ihm. Kommt auf Chris zu und macht eine Geste zu einem Zelt hin, die etwas wie eine Einladung darstellt. Chris ist nicht sicher, ob er das so verstehen darf, und fragt mit einer Handbewegung in Richtung auf das Zelt, auf das der alte Mann vor ihm hingedeutet hatte, ob sie dorthin kommen sollten. Der alte Mann nickt, und Chris hofft, daß dies Zustimmung ausdrücken soll. Dann weißt der Mann auf Geoff und Frank und winkt sie ebenfalls heran. Es gibt kein Zurück mehr, denkt Chris, dreht sich um und winkt den beiden Kollegen zu kommen. Das Auto bleibt stehen, sie hoffen, daß es ihnen nicht gestohlen wird. Aber woher sollten diese Menschen wissen, wie man das Fahrzeug bedienen muß? Langsam geht die Gruppe aus fünf Männern zu dem Zelt herüber, auf das der Sippenälteste gewiesen hatte. Als die vier Männer an der Gruppe aus Frauen und Kindern vorbeigehen, sehen diese sie ohne jegliche Scheu ganz offen und direkt an, solche Wesen haben sie noch nicht gesehen. Und als Chris dann an einer jungen Frau von vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahren 225
vorbeikommt, legt sie eine Hand auf seinen Arm, um festzustellen, ob er Wirklichkeit ist. Chris ist einen Moment irritiert, dann nimmt die Frau die Hand von ihm, sieht ihn aber weiter an, in einer Art, wie sie in dem Kulturkreis, dem diese vier Männer entstammen, nicht vorkommt. Schließlich gehen sie in das Zelt. Es ist das Größte in dieser flüchtigen Siedlung, und als die Männer eintreten, scheint es ihnen von Innen größer als von Außen zu sein. Der alte Mann bedeutet ihnen, sich zu setzen; sie lassen sich auf den Fellen nieder, die den Boden bedecken. Es herrscht Spannung im Raum, es ist für alle Anwesenden eine ungewohnte Situation. Chris, Erik, Frank und Geoff gegenüber sitzen außer dem alten Mann noch der etwas jüngere Mann, mit dem er vorhin mehrfach gesprochen hatte, und ein Mann im Alter der vier Forscher. Der älteste winkt einer Frau, die sich im Hintergrund hält, und alle Männer erhalten ein Getränk in einer Schale, das fremdartig riecht. Mach' gute Miene zum bösen Spiel, denkt Chris, und tu' das gleiche, was die Eingeborenen auch tun. Er nimmt einen Schluck aus der Schale, und das Getränk schmeckt merkwürdig. Es scheint Alkohol zu enthalten, wie Chris feststellt. Was in der nächsten halben Stunde folgt, ist eine radebrechende Unterhaltung zwischen den Männern, bei der keiner zu Beginn die Sprache des anderen versteht. Mit der Zeit erfahren die Forscher, welche Bezeichnung Gegenstände wie das Zelt, Schuhe, Kopf, Haare, Nase und andere Dinge des täglichen Lebens in der Sprache der Eingeborenen haben. Und diese erfahren einiges über die Kleidung und den Körperbau der vier Forscher. Mag auch das Getränk dazu beitragen, die Unterhaltung löst die Spannung zwischen den Vertretern der beiden vollkommen fremden Kulturen. Die Sonne nähert sich dem Horizont, als sich die Männer aus dem Zelt nach draußen begeben. Erik wirft einen Blick auf das Auto, es steht noch immer an derselben Stelle. Chris und er sprechen leise miteinander, dann wendet sich dieser dem Ältesten zu, der hier der Häuptling zu sein scheint, und 226
verabschiedet sich von ihm. Nach einigen Minuten können sich die Männer losreißen und gehen zum Auto. Chris dreht sich um, er sieht dabei die junge Frau, die ihn vorhin am Arm berührt hat. Sie sieht ihn durchdringend an, nicht feindselig, sondern wie ein Kind, daß ohne Scheu mit offenen Augen die Welt erforscht. Dann dreht er sich um, und sie kommen am Auto an. Dort ist tatsächlich alles unverändert. Die Einwohner haben augenscheinlich Angst oder zumindest Respekt vor dem Auto gehabt, das ihnen als übermenschliches Wesen erschienen sein mag. Also steigen sie ein und fahren los. Wohin? Auf jeden Fall weg von hier, weg von den Eingeborenen, denn bei allem Vertrauen, das sie in der letzten Stunde gewonnen haben mögen, ganz wohl ist ihnen bei dieser Sache nicht, und es erscheint ihnen als ein vermeidbares Risiko, zu nahe bei diesen Wilden zu nächtigen und dann möglicherweise von ihnen im Verlauf der Nacht überfallen zu werden. Als sie eine Viertelstunde gefahren sind, hält Erik an, denn es wird zu Dunkel, um in dieser Landschaft weiterzufahren. Die Männer müssen jetzt schnell machen, denn es wird innerhalb der nächsten zwanzig Minuten stockdunkel werden. Also schlagen sie ihre Zelte auf, räumen ihre Schlafsäcke ein und bereiten das Abendessen zu. Dabei kommen sie kaum dazu, miteinander zu reden, denn es muß schnell gehen, und erst als sie mit dem Essen fertig sind, unterhalten sie sich miteinander. "Hast du gewußt, daß es hier Menschen gibt, Chris? Hast du das wirklich nicht gewußt?" "Nein. Ich bin genauso überrascht wie ihr." "Aber warum haben wir sie erst heute entdeckt? Wir haben doch Fotos von diesem Land, und wir sind seit drei Wochen hier." 227
"Vielleicht gibt es in anderen Teilen des Landes keine Menschen." "Warum dann hier?" "Ich weiß es nicht." "Du hast das Zelt gesehen, ich glaube, sie leben von diesen Rindern, die wir in den letzten Tagen gesehen haben." "Das kann sein." "Und sie sehen anders aus als wir. Sie sind eine andere Rasse." "Eine Rasse, die wir noch nie gesehen haben." "Nein, noch nie." "Und was machen wir jetzt?" "Es wird das Beste sein, wenn wir heute Nacht Wache halten. Sie könnten unseren Spuren folgen, und ich weiß nicht, ob sie uns nicht doch feindlich gesinnt sind." "Willst du damit sagen, daß sie vielleicht heute Nacht hier auftauchen und uns alle massakrieren?" "Das ist nicht auszuschließen, wir müssen damit rechnen." "Und wer macht die Wachen?" "Ich will die erste machen. Dann vielleicht Erik, Frank und Geoff. Alle zwei Stunden. Seid ihr damit einverstanden?" Die Männer nicken Chris zu. "Gut. Dann gehe ich jetzt an's Funkgerät und gebe unsere Entdeckung an die "Challenger" weiter. Ihr könnt euch fertigmachen, um in die Schlafsäcke zu kriechen." "Ich glaube nicht, daß ich heute gut schlafen werde, nachdem ich das erlebt habe." 228
Chris nickt Erik auf diese Äußerung hin zu, geht dann zu seinem Funkgerät und gibt seine Meldung durch. An Bord verlangt man zweimal nach der Bestätigung, ob man sich nicht verhört habe, daß die Forscher auf Menschen gestoßen seien. Auf der "Challenger" sind alle genauso überrascht wie Chris und seine Kollegen auch. Während die Kollegen schlafen gehen, setzt er sich eine Kanne Kaffee für die erste Wache auf. Was war das heute? Keiner der Wissenschaftler hatte auch nur im entferntesten damit gerechnet, hier auf Menschen zu treffen. Und doch war genau das heute geschehen; Chris war sich zu dieser späten Stunde nicht mehr sicher, ob es nicht ein Traum gewesen ist, aber er wußte auch ganz genau, daß es sich so zugetragen hatte, wie es ihm im Kopf herumging. Und dieser Tag ändert jetzt schlagartig alles. Nun sind sie nicht mehr die ersten Menschen auf diesem Kontinent, nun müssen sie ihn sich, wenn schon, mit anderen Menschen teilen, die hier heimisch sind. Haben wir denn das Recht, dieses Stück Land für uns so in Besitz zu nehmen, wie wir das vorhatten? Chris kommen Zweifel an dem Sinn dieser Reise. Es sind Menschen, die du heute gesehen hast, und denen kannst du nicht einfach alles wegnehmen, wovon sie sich ernähren. Alle Pläne, die sie für die Ausbeutung und Nutzung dieses Kontinents entwickelt hatten, sind nun hinfällig geworden, denn nun gibt es Menschen, die ältere Rechte hatten. Außerdem, können wir ihnen unsere Kultur und unsere Zivilisation so aufdrängen, daß sie vielleicht daran zugrunde gehen? Was ihm außerdem nicht aus dem Kopf geht, ist der Blick dieser jungen Frau, die ihn sachte am Arm berührt hatte. Sie sieht hübsch aus, muß er sagen. Aber das ist nicht alles. Sie sind Menschen. Menschen, die genauso ein Recht auf Leben, auf IHR Leben haben, wie Chris selber. Er versinkt in Gedanken, ab und zu durch ein Geräusch aufgeschreckt. In seinem Arm hält er das Gewehr, das sie als Waffe gegen Tiere eingeladen hatten, hofft, es nicht gegen die Menschen, die sie heute getroffen hatten, gebrauchen zu müssen. 229
Nach zwei Stunden lehnt er sich in das Zelt und schüttelt Erik sachte am Arm. Der wacht auf, klettert nach draußen und läßt sich von Chris berichten, daß nichts passiert ist. Die beiden Männer tauschen sich kurz über das Geschehene des vergangenen Tages aus, es läßt sie beide nicht mehr los, hier auf Menschen gestoßen zu sein. Dann kriecht Chris in seinen Schlafsack und schläft ein. II. In dieser Nacht wacht Chris mehrfach auf, weil ihn der Gedanke daran, daß es hier auf dem neuen Kontinent Menschen gibt, nicht mehr losläßt. Er träumt davon, und wenn er wach wird, stellt er sich die Frage, ob das alles richtig war. Wer trägt die Konsequenzen des ganzen Projektes? Er denkt an Volksstämme, die von der Zivilisation verschluckt worden und auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind. Und diesmal ist er, Chris Kolon, derjenige, der dafür verantwortlich zeichnet, wenn es mit diesen Menschen auch so geschehen sollte. Mit diesen Gedanken wacht er früh auf und kann nicht wieder einschlafen. Ohne Erik zu wecken, kriecht er aus dem Schlafsack, zieht sich Hose und Sweatshirt über und klettert aus dem Zelt. Draußen geht gerade die Sonne auf, es ist fünf Uhr durch, und Geoff sitzt neben dem Feuer und läßt seinen Blick durch die Landschaft schweifen. Die beiden unterhalten sich kaum miteinander, wollen Erik und Frank nicht wecken, die durch ihr Schnarchen anzeigen, daß sie noch schlafen. Chris schüttet eine neue Kanne Kaffee auf und trinkt ihn eine Viertelstunde später mit viel Zucker. Der Morgen ist kalt in der Wüste, und obwohl es Juli und damit Hochsommer ist, friert er und zieht sich eine Jacke an. Die Gedanken an die Ureinwohner lassen ihn einfach nicht los. Gegen sechs Uhr schellt Franks Wecker. Darauf dreht Chris sich um und klopft von dem Stein aus, auf dem er sitzt, an das Gestänge des Zeltes, in dem Erik liegt, und weckt ihn damit. Zwanzig Minuten später sitzen sie beim
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Frühstück zusammen. Chris hat einen Vorschlag für diesen Tag. "Ich will zu den Eingeborenen zurück, ich will mir die Leute ansehen und versuchen, mit ihnen zu reden." "Was willst du denn damit erreichen?" Frank sieht seinen Chef zweifelnd an. "Gar nichts. Aber wir haben hier Menschen, die auf diesem Kontinent seit vielen Jahren leben, die sich von dem ernähren, was es hier gibt, und die hier zu Hause sind." "Ich weiß nicht, ob wir uns darum kümmern sollten." "Natürlich wir, wer denn sonst? Wir sind die ersten, die sie gefunden haben." "Aber das heißt noch lange nicht, daß wir uns um alles kümmern müssen." "Nicht um alles. Aber das hier ist vielleicht das Wichtigste, was wir an Resultaten mitbringen." "Trotzdem, ich denke, daß wir es anderen Kollegen überlassen sollten, die Leute näher zu erforschen. Wir sind keine Völkerkundler, Mediziner oder so 'was." "Das ist auch egal. Wir sind Menschen, genauso wie sie, und ich denke, daß wir uns darum kümmern sollten, was das für Leute sind." "Warum denn?" "Ja, Frank, verstehst du denn nicht? Wir nehmen diesen Menschen die Lebensgrundlage, wenn wir hier Landwirtschaft ansiedeln oder was auch immer tun." "Das ist dann nicht mehr unsere Sache. Tut mir leid, Chris, aber da denke ich anders." "Natürlich ist das unsere Sache! Wir sind dafür verantwortlich, was hinterher mit unseren Forschungsergebnissen geschieht! Wir können doch 231
nicht einfach sagen "Da, wir haben ein paar Menschen gefunden, jetzt seht 'mal zu, was ihr damit macht." - das ist doch unverantwortlich." "Hör 'mal, wir sind nicht hier, um über die Folgen unserer Forschung nachzudenken. Wir haben hier unsere Aufgaben, und wir sollten uns darum bemühen, die zu erfüllen und uns nicht mit anderen Dingen belasten." "Du hast vielleicht recht, wenn du zu Hause irgendwo im Büro sitzt und dir irgendeine Vegetationskarte ansiehst. Aber hier geht es um etwas anderes, Frank. Wir, wir alleine sind dafür verantwortlich, was später mit dieser neuen Welt geschieht." "Nein, das sind andere. Wir leisten hier nur die Vorarbeit." "Stimmt, aber wir können das so tun, wie wir das für richtig halten. Und ich will nicht, daß diese Menschen so ausgerottet werden, wie das mit anderen Völkern in der Vergangenheit geschehen ist." "Das mag ja bedauerlich sein, aber wir sind nicht die richtigen, um darüber zu entscheiden." "Und wer dann? Sollen wir die ganze Sache den Leuten überlassen, die hier den schnellen Profit haben wollen? Wir müssen uns verdammt nochmal Gedanken darüber machen, was wir hier eigentlich tun! Wenn wir uns darum nicht kümmern, geht hier in den nächsten Jahren alles vor die Hunde." "Das ist deine Meinung. Ich bin da anderer Ansicht." "Gut. Und wenn ihr euch auch weigern solltet, ich fahre gleich zu der Gruppe hin und versuche mit ihnen näher in Kontakt zu kommen." "Meinst du nicht, daß das zu gefährlich ist, Chris?" "Ich weiß es nicht. Aber wir müssen es versuchen, Erik." "Dann komme ich mit." 232
Frank und Geoff kommen nicht mit. Die Männer beschließen, sich für die nächsten Tage, vielleicht nur einen Tag, vielleicht aber auch drei Tage, zu trennen. Die beiden Biologen schlagen auf einem der umliegenden Hügel ein Lager auf, in der Nähe eines Wasserloches, und werden dort ihrer Forschertätigkeit nachgehen, haben aber in dieser Einöde nicht viel zu tun. Es geht auf zehn Uhr zu, als Erik und Chris ihr Lager abbrechen und aufladen. Sie fahren Geoff und Frank zu den ausgesuchten Platz und laden dort ihre Ausrüstung ab. Gerade als sie sich verabschieden wollen, summt es aus dem Funkgerät. Chris geht heran und hat Michael am anderen Ende der Leitung. An Bord der "Challenger" hat die Nachricht, daß sie Menschen getroffen haben, in der Nacht die Runde gemacht und ist Thema Nummer Eins bei den Wissenschaftlern. Michael bittet Chris, näheres über diese Menschen in Erfahrung zu bringen genau das, was er ja auch will. Damit hat er also auch die Unterstützung durch die Kollegen an Bord des Schiffes. Zum Schluß berichtet er über den Streit, den sie am Morgen ausgefochten haben, und Michael hält sich zwar zurück, aber das Thema scheint an Bord des Schiffes unter den Wissenschaftlern heftig diskutiert zu werden. Schließlich beendet er das Gespräch. Die beiden Gruppen trennen sich für die nächsten Tage. Erik und Chris sind nervös, als sie zu den Einwohnern zurückfahren, sie wissen nicht, was sie dort erwartet. Wird man sie dort wieder gehen lassen? Werden sie gezwungen sein, die Waffe anzuwenden? Und was werden sie alles in dieser Zeit sehen und hören? Sie reden nicht miteinander, als sie im Auto sitzen. Aber Chris denkt noch an dieses Gespräch mit Frank, und ihm ist klar geworden, daß ein deutlicher Unterschied in der Auffassung beider Wissenschaftler darüber besteht, was die Verantwortung für die Erträge ihrer Forschung angeht. Nach kurzer Fahrt erreichen sie das Camp der Ureinwohner, und diesmal werden sie nicht so verschreckt wie gestern empfangen. Sie nähern sich langsam, halten einen Steinwurf entfernt an und 233
steigern aus. Gehen beide zum Zelt des Häuptlings, der bereits benachrichtigt ist und gerade herauskommt, als die beiden Männer dieses erreichen. Soweit es gestern gelernt haben, tauschen Chris, Erik und der Häuptling Floskeln zur Begrüßung aus, dann fragt Chris ihn, ob sie für ein, zwei Tage ihre Gäste sein können. Er ist nicht sicher, ob sie sich gegenseitig verstanden haben, nimmt aber zu seinen Gunsten an, daß sie dort bleiben dürfen. Chris hält es für eine gute Idee, dem Häuptling ihr Fahrzeug zu zeigen, um zwischen ihnen Vertrauen zu schaffen. Der kommt mit, setzt sich auch in das Fahrzeug und spielt an den Hebeln herum. Nur damit zu fahren, das wollen Erik und Chris nicht wagen. Also gehen die drei Männer, denen nach und nach die Kinder und einige Männer des Camps gefolgt sind, in dieses zurück, wobei sie ihr eigenes Zelt mitnehmen. Unter den interessierten Blicken der Eingeborenen schlagen sie es auf, und diese sind erstaunt, das Zelt nach fünf Minuten schon fertig stehen zu sehen. Der Mann, mit dem der Häuptling gestern vorrangig gesprochen hatte, zeigt ihnen eines ihrer Zelte, und Erik sieht es sich interessiert an. Als er da Zelt aufbaut, sieht Chris die junge Frau, die ihn gestern flüchtig am Arm berührt hatte. Er hält bei der Arbeit, das Zelt einzuräumen, inne, und sie kommt näher. Dabei kniet er vor der Apsis, und sie kniet sich neben ihn. Vielleicht will sie gern wissen, wie es da drin aussieht, denkt er sich, hält die Apsis auf und spricht mit ihr, wobei er versucht, das Wort für "Zelt" richtig auszusprechen, das er gestern Abend gelernt hatte. Er spricht es falsch aus, und sie korrigiert es lächelnd. Dann hebt er die Verspannung vor der Apsis, und sie wirft einen Blick hinein, fühlt den Stoff des Außenzeltes zwischen den Fingern. So knien sie einige Zeit nebeneinander und versuchen sich in ihren unterschiedlichen Sprachen zu unterhalten. Später haben Erik und Chris Hunger, und in der Hitze des Tages suchen sie sich einen schattigen Platz an einem Felsen, wo sie etwas kochen können. Dabei werden sie von Kindern umringt, die neugierig jede Bewegung der beiden Männer verfolgen. Schließlich 234
probieren sie von den Konserven, die Chris aufgewärmt hat. Nachmittags sehen sie, wie eine Gruppe von Männern mit einem erlegten Rind, wie sie es in den letzten Tagen mehrfach gesehen haben, in das Lager zurückkommt. Kaum ist es auf dem Boden abgelegt, beschäftigen sich Männer und Frauen gleichermaßen mit dem Zerlegen des Tieres. Chris hält sich abseits, beim Anblick der Gedärme des Tieres wird ihm übel. So vergeht eine Stunde, bis die meiste Arbeit getan ist. Nun sehen die beiden Männer, wie sich die Frauen damit beschäftigen, mit dem Fleisch des Tieres Essen zuzubereiten und Teile davon zu konservieren, um Nahrung für die nächsten Tage zu haben. Als diese Arbeit getan ist, kommt eine der älteren Frauen mit einigen Stücken gebratenen Fleischs zu ihnen und bietet sie ihnen an. Dankend nehmen die beiden Geographen das Angebot an, es schmeckt gut. Es ist die erste frische Nahrung seit Monaten, seitdem sie Obst und Gemüse mit dem Flugzeug auf die "Challenger" haben fliegen lassen. Am Abend haben die beiden Männer endgültig Anschluß an die Eingeborenengruppe gefunden. Erik unterhält sich mit Händen und Füßen mit dem Sohn des Häuptlings über die Zelte, das Essen, die Jagd und alles andere, was ihm von Bedeutung erscheint, während Chris mit der jungen Frau die Gegend um das Lager durchstreift und sich die Begriffe anhört, die diese Menschen für Erde, Fels, Büsche und andere Gegenstände in der Natur haben. Als es dämmert, gehen sie zum Lager zurück, und dort sieht sich die Frau das Zelt von innen an. Chris läßt sie nach einer Viertelstunde, in der er ihr den Schlafsack, die Lampe, seine Zahnbürste und anderes gezeigt hat, wieder gehen; als er aber in der Nacht darüber nachdenkt, weiß er nicht genau, ob diese Frau vielleicht mehr von ihm will. Sollte er hierbleiben und mit ihr eine Familie gründen? Er hofft, daß es nicht zu solchen Komplikationen kommen wird. III.
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Zwei Tage sind vergangen, seitdem Erik und Chris die Gruppe der Ureinwohner des neuen Kontinents aufgesucht haben. In diesen Tagen haben sie mit diesen Menschen gelebt, haben die Nahrung mit ihnen geteilt, sind mit zur Jagd ausgezogen, haben an rituellen Veranstaltungen teilgenommen und vieles dabei über die Menschen erfahren. Gegenseitig haben sie ihre Sprachen ausgetauscht, so daß Chris und Erik etliche Wörter des täglichen Gebrauchs nun in der Sprache der Ureinwohner kennengelernt haben. Alle diese Eindrücke hat Chris in seinen Laptop geschrieben, wenn er des Nachts im Zelt saß. Etwas anderes hat er nicht niedergeschrieben: Das man versucht, ihn an die junge Frau zu binden, mit der er die letzten Tage verbracht hat. Soweit er nicht mit den Männern des Stammes unterwegs war, hat er sich mit ihr beschäftigt, hat ihr bei der Hausarbeit geholfen und dadurch vieles über den täglichen Ablauf des Haushalts bei diesen Menschen erfahren. Hat sich mit ihr radebrechend unterhalten, hat ihre Familie kennengelernt, die eine von fünf Familien in diesem Camp ist. Aber, er hat den Eindruck, daß man ihn dort als Schwiegersohn haben wolle. Zwar ist er nicht mit ihr im Bett gelandet, hat aber den Eindruck, daß es dazu sicher noch kommen wird, wenn Erik und er länger bleiben. Nun, in der letzten Nacht haben sie sich darüber unterhalten, und heute ist der Zeitpunkt, um aufzubrechen. Nach dem Frühstück fangen die beiden Männer an, ihr Zelt abzubrechen. Sofort sind sie von den Einwohnern des Camps umringt, nicht nur von den Kindern, auch von Erwachsenen. Chris sieht auf, als er das Zelt zusammengerollt hat, und er sieht die junge Frau neben sich stehen. Sie begreift, was hier geschieht, und sieht ihn mit großen Augen an, ohne die Zurückhaltung, wie sie die sogenannten zivilisierten Menschen zeigen. Es fällt Chris schwer, weiterzumachen, er weiß nicht, was er der Frau erklären soll. Nein, ich kann nicht hierbleiben, denkt er, aber er kann ihr das auch nicht sagen, sie beherrschen nicht dieselbe Sprache. Was soll er machen? 236
Er packt das Zelt ein. Erik geht zum Auto und lädt die Ausrüstung ein, während Chris das Zelt in den Packsack stopft. Als er damit fertig ist, sieht er, wie die Mutter und der Vater der Frau auf ihn zukommen. Dann stehen sie sich gegenüber. Hoffentlich versuchen sie mich nicht gewaltsam zurückzuhalten, denkt Chris. Er will die Waffe, die Erik im Wagen hat und neben der er jetzt gerade steht, nicht anwenden müssen. Der Vater der jungen Frau versucht sich mit Chris zu unterhalten, versucht, so wie Chris es deutet, ihn zum Bleiben zu bewegen, doch Chris gestikuliert und erzählt ihm, daß er dringend weiter muß, zurück in seine Heimat, zu seiner Familie, zu seinen Freunden. Er weiß nicht, ob sie es verstanden haben, dann stehen sich die beiden Parteien wortlos gegenüber. Doch das währt nicht lange. Die junge Frau, die Chris in den letzten Tagen kennengelernt hatte, tritt auf ihn zu, nimmt ihn bei der Hand und führt ihn herüber zu dem Zelt, in dem sie wohnt. Dort sind sie alleine, sie versucht gar nicht erst, mit ihm zu reden, sondern bedeutet ihm, sich zu setzen. Sie nimmt neben ihm Platz, öffnet das Oberteil ihres aus Fell geschnittenen Hemdes, nimmt seine Hand und legt sie auf eine Brust. Chris kann sich nicht wehren, er ist überrascht von dieser Geste. Doch damit nicht genug, sie legt seine Hand auf ihren Bauch. Er kann sich denken, was das zu bedeuten hat, diese Frau ist alt genug, um zu wissen, wie Kinder gemacht werden... Chris gelingt es, sich von ihr loszureißen. Sie sieht ihn mit diesem naiven Blick an, dem er nicht ausweichen kann. Dann versucht er ihr zu erklären, daß er bereits Kinder mit einer anderen Frau hat, bei sich, in seiner Heimat. Das stimmt zwar nicht, aber es erscheint ihm als einzige Möglichkeit, mit ihr ins Reine zu kommen. Schließlich steht er auf, sieht sie an, wird von ihr nicht zurückgehalten und geht hinaus. Sie sind mit dem Einpacken fertig, können fahren, aber sie wollen sich noch von den Menschen hier verabschieden. Erik geht auf den Häuptling zu, und beide Männer verabschieden sich von diesem. Das 237
Gespräch ist von kurzer Dauer, denn Erik und Chris wollen so schnell wie möglich fahren, um nicht noch gewaltsam zurückgehalten zu werden. Dann steigen sie ein und fahren, bevor die anderen Einwohner auf sie zukommen. Der Wagen ist intakt, keiner hat versucht, ihn zu sabotieren, dann fahren die beiden Männer los. Schnell weg, nur schnell weg! Erik sitzt am Steuer, er hat vor, soviel Strecke wie möglich zwischen sich und das Camp zu bringen, damit die Einwohner ihnen nicht folgen können. Nach einer anstrengenden Viertelstunde wird Erik langsamer. "Wollten die dich mit der Kleinen verheiraten?" "Ja." "Was hat sie 'rumkriegen?"
denn
gemacht?
Wollte
sie
dich
"So kann man's nennen." "Hat sie's geschafft?" "Nein." "Gut." "Ich hoffe, daß die uns nicht folgen. Geoff und Frank sind nicht weit weg, und wenn sie schnell laufen, können sie uns erreichen, bevor wir alles eingepackt haben." "Ich hab' den beiden schon über Funk Bescheid gesagt, die haben schon alles gepackt." "He, du bist gut." "Deswegen hast du mich doch mitgenommen." "Auch. Und ich glaube, wir werden noch Ärger miteinander kriegen wegen der Eingeborenen. Du hast die Unterhaltung zwischen Frank und mir ja gehört." "Hab' ich." "Die Sache ist noch nicht ausgestanden." 238
"Nein. Aber was anderes, glaubst du, daß es richtig war, die Leute so Hals über Kopf zu verlassen?" "Es war die letzte Möglichkeit. Wer weiß, wenn wir uns bis morgen Zeit gelassen hätten, wäre ich der Ehemann der Kleinen geworden, und für dich hätten sie bestimmt auch noch eine Frau gefunden." "Schön." "Ich glaube nicht, daß dir das gefallen hätte." "Wieso? Hätte bestimmt auch seinen Reiz." "Ein Leben, das wir für uns vollkommen fremd ist? Willst du das? Soll ich dich hierlassen?" "Um Gottes Willen, nur das nicht." "Na bitte. Aber ich fühl' mich trotzdem beschissen, weil ich die Frau hab' sitzen lassen." "Ich glaube, es ist besser so. Sonst wäre noch mehr kaputt gegangen." "Du hast zwar Recht, aber es ist trotzdem Scheiße." "Versuch' nicht dran zu denken. Svenja ist ja auch noch da." "Oh Gott, wer weiß, wo das noch alles enden wird." Erik steuert über ein Geröllfeld, schaltet zurück, kommt auf einen Felshang und fährt ihn hinauf. Dahinter können sie sehen, wo Frank und Geoff ihr Zelt stehen hatten, das sie jetzt eingepackt haben. Eine Minute später steht der Wagen neben den beiden Biologen. Chris und Frank packen die Ausrüstung schnell ein und sehen sich das Satellitenfoto an. Es erscheint am besten, erst weiter nach Norden zu fahren, wie sie es eigentlich auch vorgehabt hatten, und dann nach Osten abzubiegen, in Richtung Küste. Langsam nähern sich die Vorräte dem Ende, das Essen wird weniger, der Treibstoff ist jetzt zur Hälfte verbraucht. Zeit zur Rückkehr. Also steigen die vier Männer wieder ein, 239
Chris pilotiert den Wagen. Während der Fahrt unterhalten sie sich über die Erlebnisse der letzten Tage, und der Streit zwischen den unterschiedlichen Positionen zwischen Frank und Chris wird spürbar, auch wenn er jetzt nicht offen ausgetragen wird. Am Abend des Tages haben sie rund 200 Kilometer zurückgelegt, haben die Grenze zum Grasland im Norden erreicht und sich am Rand der Wüste nach Osten bewegt. Dabei haben sie auch endlich einen Fluß gefunden, an dem sie ihre Wasservorräte wieder auffüllen und sich waschen konnten. Chris gibt über Funk durch, was sie alles in den letzten Tagen erlebt haben. Dabei ist Michael vor allem an dem interessiert, was er von den Ureinwohnern berichten kann. Und Chris erfährt, daß es genau deswegen harte Kontroversen über den Sinn der Expedition gegeben hat, ähnlich wie es sich zwischen Frank und ihm abgespielt hatte. Für Svenja und ihre Gruppe geht heute Aufenthalt im Gebirge zu Ende. Sie haben eine Woche dort verbracht, die vom wissenschaftlichen Standpunkt für alle Beteiligten sehr erfolgreich war. Svenja ist mit den Ergebnissen ihrer Arbeit zufrieden, kann sich jetzt mit dem Auffinden mehrerer neuer Gesteinsarten brüsten und hat damit etwas vorzuweisen, was sie später verwerten kann. Die vier Mitglieder ihrer Gruppe sind am Morgen früh aufgestanden und haben sich daran gemacht, das Zelt abzubrechen und die Ausrüstung einzupacken. Es ist ein Donnerstag im August, und der Sommer beginnt dem Ende zuzugehen. Die Menschen spüren, daß jeder Tag kürzer wird, und auch die Hitze sollte nachlassen. Svenja hat dies auch feststellen können, aber die Besatzung der "Challenger" hat durch die Fahrt nach Süden nur erleben können, daß es ständig heißer und schwüler geworden ist. So ist es auch brüllend heiß, als am späten Vormittag eine Maschine vom Flugdeck abhebt, die nach einem Flug von mehr als zwei Stunden auf dem Schwemmfächer landet, auf dem Svenja in der letzten Woche das Lager hatte. Es dauert nicht lange, bis sie die gesamte Ausrüstung verstaut haben, dann hebt die 240
Maschine wieder ab, und am frühen Abend sind die vier Wissenschaftler wieder an Bord. Svenja ist sofort von ihren Mitarbeitern umringt und erzählt über ihre Arbeit. Sie ist froh, wieder unter ihrer Dusche zu stehen und richtige Körperpflege betreiben zu können. Dabei kommt ihr der Gedanke, was Chris wohl jetzt macht. Es wäre schön, wenn sie ihm auch von der Arbeit erzählen könnte. Vor allem interessiert es sie, was mit den Eingeborenen ist, sie hatten die Neuigkeit über Funk mitgeteilt bekommen. Am Abend erzählt sie beim Essen über die Arbeit und einige Begebenheiten, die sich in dieser Woche abgespielt haben. Nach dem zweiten Glas Bier, der erste Alkohol seit einer Woche, rutscht ihr eine Bemerkung über das Biologenpärchen heraus, beide hatten zwischendurch ein Verhältnis miteinander angefangen. Und sie stellt sich hinter den Standpunkt, daß sich die Forscher Gedanken über die Folgen ihrer Forschung machen müssen, als das Gespräch auf die Entdeckung der Eingeborenen kommt. Sie ist leicht geschockt, als sie merkt, wie verhärtet die Fronten zwischen den beiden Parteien an Bord sind, zwischen den Wissenschaftlern, die sich über die Folgen Gedanken machen, und denen, denen diese mehr oder minder gleichgültig sind. Mit Gedanken an das, was Chris da erlebt haben mag, schläft sie ein. Heute ist Freitag, der dreizehnte August. An Bord der "Challenger" herrscht um zwei Uhr morgens Ruhe, die Wissenschaftler sind zu diesem Zeitpunkt alle im Bett, ob allein oder nicht. In den mehr als vier Monaten, die seit dem Ablegen vergangen sind, haben sich verschiedene Beziehungen herausgebildet, so auch einige Pärchen. Svenja hat das in diesen Tagen feststellen können; was sich zwischen Chris und ihr abgespielt hatte, war kein Einzelfall geblieben. Sie ist froh darüber, deshalb hat man sie nicht mit Bemerkungen über ihn provoziert. Die Nächte der Forscher sind kürzer als während der Überfahrt, sie haben tagsüber genug zu tun, so daß sie nachts müde sind und früh ins Bett kommen.
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An diesem Morgen herrscht also Ruhe auf der "Challenger". Der Rudergänger sitzt seit zwei Stunden auf seinem Schwingsitz vor dem Steuer und den beiden Maschinentelegraphen, und es ist nichts besonderes passiert, seit er um Mitternacht die Wache übernommen hat. Auf den drei Bildschirmen erscheint nichts außergewöhnliches, die Daten der vier Maschinen, die auf halber Kraft laufen, sind so normal wie seit Monaten gewohnt, und die nautische Karte zeigt keine Hindernisse, derentwegen man sich Sorgen machen müßte. Soweit erscheint alles in Ordnung. Der Blick nach draußen zeigt steuerbord in vier bis fünf Seemeilen Entfernung die Küste, über der der Mond aufgegangen ist. Ein idyllischer Anblick, vor dem das Schiff kreuzt. Das scheint eine richtig langweilige Wache zu werden, denkt der Rudergänger. Sein Blick fällt auf die Anzeige der Motoren, die ist seit Stunden unverändert. Er wirft einen Blick auf den Kompaß, auch der zeigt die gleiche Richtung an wie zwei Stunden zuvor. Dann sieht er wieder nach draußen, zur Küste hin. Da stimmt 'was nicht. Der Mond kann in fünf oder zehn Minuten nicht soweit gewandert sein, wie er das jetzt getan hat, denkt sich der Mann. Täusche ich mich? Nein, die Küste sieht auch anders aus. Der Rudergänger erschrickt. Er hat den Autopiloten des Schiffes eingeschaltet, die "Challenger" hält selbstständig den Kurs, aber da scheint etwas nicht mehr zu stimmen. Plötzlich springt er auf, ist mit drei Schritten bei dem Schrank, der die Gläser enthält, nimmt sich eins davon und setzt es an. Tatsächlich, das Schiff steuert auf die Küste zu! Der Mann springt zum Steuerstand, setzt sich, schaltet den Autopiloten ab und dreht das Steuer nach backbord. Keine Reaktion. Er dreht nach steuerbord zurück, dann wieder nach backbord. Keine Reaktion. Was ist denn los? Warum gehorcht sie mir nicht? Jetzt greift er zum Maschinentelegraphen und schaltet den Backbordmotor auf Stop. Wieder keine Reaktion.
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Verdammt! Er drückt den Alarmknopf. Jetzt ist schnelles Handeln angesagt, sonst läuft die "Challenger" mit zehn Knoten auf die Küste auf! In der Kajüte des Kapitäns, des Ersten Offiziers und des Ersten Ingenieurs klingelt es schrill. Der Kapitän geht verschlafen ans Telefon, wählt die Nummer der Brücke und hat sofort den Rudergänger am Apparat. Als er hört, was gerade in diesem Moment geschieht, ist er hellwach. Er bemüht sich nicht mehr um seine Uniform, zieht Hose und Schuhe an und klemmt sich die Jacke unter den Arm. Am Telefon erreicht er den Ersten Ingenieur, den er sofort in den Maschinenraum beordert. Dann läuft er aus der Kajüte heraus, sprintet die drei Treppen zur Brücke hoch und kommt atemlos dort an. Der Rudergänger kann ihm nicht viel Neues berichten, alles hat er schon kurz und knapp am Telefon gesagt. Der Kapitän greift sich das Glas, sieht die Küste bedrohlich schnell näherkommen. Scheiße! Noch fünf Minuten, und die "Challenger" wird stranden, schätzt er. Er nimmt das Telefon und ruft den Maschinenraum. Es klingelt einige Male, ohne daß sich jemand meldet, dann hebt der Erste Ingenieur endlich atemlos ab, er hatte den weitesten Weg zurückzulegen. In zwei Sätzen erklärt ihm der Kapitän die Lage, dann geht der Ingenieur zum Steuerstand und sieht sich an, was hier los ist. Dabei bleibt der Kapitän am Hörer, um in direkter Verbindung zum Maschinenraum zu bleiben. Die Anzeigen zeigen keine geänderten Werte an, auf den ersten Blick scheint alles normal. Jetzt versucht der Ingenieur an seinem Maschinentelegraphen, die Backbordmotoren zu stoppen. Aber es tut sich gar nichts, keine Reaktion. Er nimmt den Hörer und schildert dem Kapitän diese Sache, schlägt vor, den Motor ganz zu stoppen, indem er die Treibstoffzufuhr abdreht. Von der Brücke kommt das Okay, und der Ingenieur sprintet zu den Steuerventilen zwei Etagen unter ihm. Fast stürzt er die Treppe herunter, erreicht dann die Ventile. Es geht um Sekunden, die Küste kommt ständig näher. 243
Endlich kann er die beiden Rohrstränge abdrehen. In der Leitung ist noch Diesel, und ein Teil davon wird noch verbrannt werden. Hoffentlich geht das schnell genug, denkt er. Auf der Brücke herrscht gespanntes Warten. Der Kapitän hat seine Uniform zurechtgerückt und hält das Glas krampfhaft in der Hand. Kaum zwei Seemeilen entfernt kann er die Küste erkennen. Wenn die Maschine jetzt nicht... Der Erste Offizier hat Michael am Telefon, Gerd ist ebenfalls alarmiert. Beide kommen in den nächsten Minuten auf die Brücke. Jetzt können sie nur Warten und hoffen, daß das Schiff reagiert. Da geht ein Rucken durch das Schiff - der Backbordmotor steht. Endlich, denken Alle, beißen sich auf die Lippen, krampfen sich an irgendetwas fest, als wollten sie das Schiff herumdrücken. Verdammt, jetzt komm' schon! Dann, langsam, unendlich träge und langsam, beginnt sich die "Challenger" zu drehen. Michael kommt auf die Brücke, in Hose und T-Shirt, fast wie er vor einer Stunde ins Bett gegangen ist. Stellt sich neben den Kapitän und wird kreidebleich, als er die Küste sieht, die immer näher kommt. Doch sie können nichts tun. Gerd kommt ebenfalls an und krampft die Hände zusammen, als er sieht, was gerade passiert. Und endlich dreht sie sich. Zuerst ganz langsam, dann durch die Bremswirkung der stillstehenden Schraube schneller dreht sich das Schiff nach Backbord. Noch ist sie nicht in Sicherheit. Die Männer auf der Brücke halten den Atem an, als sie dicht an der Küste vorbeiziehen. Sie können den Strand greifbar nahe sehen, ohne ein Glas zu benutzen. Die Spannung ist unerträglich; der Kapitän hält sein Glas mit beiden Händen, umkrampft es so stark, daß seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Nach endlos erscheinenden Sekunden wendet sich der Bug des Schiffes zum offenen Meer hin. Als sie den Mond an steuerbord sehen, atmen die Männer auf. Der Kapitän ruft den Ersten Ingenieur und läßt ihn versuchen, den Backbordmotor wieder zu starten, damit sie nicht ständig im Kreis herumfahren. Der Ingenieur versucht alles, aber die Maschine gehorcht seinen 244
Befehlen nicht. Dann schließt er mit dem Mechaniker, der jetzt auch im Maschinenraum im Schwimmer auf der Backbordseite ist, den Anlasser kurz und wirft die Maschine damit an. Es dauert eine halbe Minute, dann steuert die "Challenger" einen geraden Kurs aufs offene Meer. Auf der Brücke atmet man auf. Gerd und Michael klopfen dem Kapitän auf die Schulter, daß alles noch glimpflich verlaufen ist, beginnen dann mit der Suche nach der Ursache des Zwischenfalls. Es muß irgendetwas mit dem Computersystem an Bord sein, die Anzeigen sind unverändert, obwohl das Schiff jetzt einen vollkommen anderen Kurs läuft und die beiden Motoren auf einer Seite für einige Minuten auf Stop gestellt waren. Weder der Maschinentelegraph noch das Ruder bewirken eine Änderung im Verhalten des Schiffes. Also, der Fehler muß tief in der Software stecken, alle anderen Systeme sind scheinbar in Ordnung. Gerd bleibt auf der Brücke, Michael geht in das Büro. Auf dem Weg dorthin begegnet er einer Menge anderer Leute, denn in der Zwischenzeit hatte der Kapitän Alarm gegeben, weil die Strandung an der Küste drohte. Diese Gefahr ist jetzt gebannt, dafür gibt es andere Probleme. Als Michael den Computer im Büro anschaltet, sieht er ein Chaos auf dem Bildschirm. Sofort durchfährt ihn der Gedanke an einen Virus. Also schaltet er das Terminal ab und bootet neu, diesmal von einer Systemdiskette aus. Danach lädt er ein Virentestprogramm, und das spuckt ihm die Meldung aus, daß mehrere Dateien fehlerhaft seien. Verdammt, das darf nicht wahr sein! Er nimmt den Hörer, ruft den Kapitän an und versucht einen der Softwarespezialisten an Bord zu erreichen. Das gelingt ihm nach fünf Minuten, und gemeinsam macht man sich auf die Fehlersuche. Als der Morgen graut, habe sie die Gewißheit, einem Virus erlegen zu sein. Die gesamte miteinander vernetzte Struktur der EDV auf dem Schiff ist infiziert, der Virus ist erst am Freitag, dem dreizehnten, aktiviert worden. Ein verdammt übler Scherz, denken sich die Forscher, die darüber nicht lachen können. Erst nach 245
und nach wird der gesamte Schaden sichtbar: Nicht nur, daß die "Challenger" um ein Haar auf Grund gelaufen wäre, auch sämtliche Programme sind geschädigt und müssen neu installiert werden. Aber damit nicht genug, auch alle Daten, die auf Festplatte gespeichert waren, sind verloren! Doch, Glück im Unglück, die Wissenschaftler an Bord hatten sich in den letzten Jahren nach eigenen schlechten Erfahrungen daran gewöhnt, nach jeder Sitzung am Computer Sicherungskopien zu machen. Das hat sich nun bewährt. Schließlich: Die gesamte Telemetrie ist ausgefallen. Es ist nicht mehr möglich, auch nur Morsesignale über Antenne abzugeben, geschweige denn irgendetwas über Satellit zu übertragen. Damit ist die "Challenger" ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Sie ist tot. Der Tag endet damit, daß alle Wissenschaftler an Bord damit beschäftigt sind, ihre eigenen Rechner wieder betriebsbereit zu machen. Zum Glück hat man sämtliche Programme auf Disketten an Bord, so daß man die Workstations wieder in Ordnung bringen kann. Auch die Software für die Navigation, die Maschinenanlage und die gesamte Elektronik muß überprüft werden. Bis zum späten Abend sind die größten Schäden behoben, und nach der schlaflosen Nacht sind die meisten Wissenschaftler früh im Bett. Um Mitternacht herrscht Ruhe von dem hektischen Treiben, das den ganzen Tag lang angehalten hatte. Und, in dieser Nacht gibt es keinen Virus mehr an Bord. II. In Chris' Lager ahnt man in dieser Nacht nichts von der Aufregung, die auf der "Challenger" herrscht. Die Männer schlafen ruhig in ihren Schlafsäcken, während die Kollegen an Bord um ihr Überleben bangen müssen und sich dann die Nacht vor den Computern um die Ohren schlagen. An diesem Samstag morgen stehen die vier Teilnehmer der Landexpedition mit der Sonne auf, um sich nach 246
dem Frühstück unverzüglich auf die Reise zu machen. So gelingt es ihnen, bis zur Mittagszeit über 100 Kilometer am Nordrand der Wüste zurückzulegen. Als sie gegen 12 Uhr ein kaltes Mittagessen einnehmen, spüren sie, daß hier am bisher nördlichsten Punkt ihrer Reise die Mittagshitze deutlich geringer ist als in den letzten Wochen. Also besteigen sie nach einer Stunde wieder den Wagen und setzen die Fahrt fort, ohne der Hitze entfliehen zu müssen. Am Abend schlagen sie in der Nähe eines Flusses das Nachtlager auf. Chris ist zufrieden, sie haben an diesem Tag fast 250 Kilometer hinter sich gebracht, und der Blick auf die Karte zeigt ihm, daß sie an der richtigen Stelle für heute Schluß gemacht haben, 20, 30 Kilometer weiter östlich beginnt ein Taleinschnitt, der ihren Weg kreuzt und der schwierig zu Durchqueren sein wird. Bevor die Sonne untergeht, nehmen sie ein Bad in einem nahegelegenen Fluß. Chris wäscht sich gründlich die Staubschicht von der Haut und betrachtet sie Falten, die ihm die Sonne in die Hände eingebrannt hat. Der Sonnenbrand der ersten Tage ist verschwunden, dafür ist er brauner als jemals zuvor in seinem Leben. Dann trocknet er sich ab, cremt die trockenen Hautpartien ein und geht zum Lager zurück. Das Abendessen fällt heute phantasievoller aus als in den letzten Tagen, denn Frank hatte Zeit zum Kochen. Schließlich, nachdem das Geschirr gespült ist und als die Sonne untergeht, setzt Chris sich an das Funkgerät und versucht eine Verbindung zur "Challenger" herzustellen. Er ruft die Telemetrie des Schiffes über Satellit auf der Frequenz an, über die er in den letzten Wochen immer eine perfekte Verbindung herstellen konnte. Doch heute stimmt etwas nicht, er hört leise den Ton benachbarter Kanäle, aber die "Challenger" meldet sich nicht. Er versucht es ein zweites Mal, mit dem gleichen Ergebnis. Geoff kommt hinzu, sie beratschlagen, ob irgendetwas an dem Gerät nicht in Ordnung ist, versuchen das Schiff
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auf einer anderen Frequenz zu erreichen. Es hilft nichts, sie bekommen keine Verbindung zustande. Langsam wird Chris nervös. Er wechselt wiederholt die Frequenz, führt Gespräche mit anderen Schiffen und versucht die Landstation zu erreichen. Dort ist aber niemand, es ist mitten in der Nacht in der alten Welt. Schließlich versucht er dasselbe im Ministerium, und dort bekommt er tatsächlich jemanden zu fassen. Man weiß dort nichts über das Schicksal der "Challenger", hat selbst seit Stunden keine Nachricht von Schiff und versucht dringend, dieses zu erreichen. Eine deprimierende Nachricht. Was kann da passiert sein? Ob das Schiff an einem Riff zerschellt ist? Sie können nur mutmaßen, und sie befürchten das Schlimmste. Dann geht Chris wieder an das Funkgerät und versucht erneut, die "Challenger" zu erreichen ohne Erfolg. Der letzte Versuch gilt dem Ministerium, aber dabei fällt plötzlich das Funkgerät aus. Chris sitzt geschockt davor. Was ist denn jetzt passiert? Er begreift es nicht, der Draht zur Außenwelt, das wichtigste Stück Technik an Bord ist tot! Es dauert Sekunden, bis er einen klaren Gedanken fassen kann. Schaltet das Funkgerät ab und wieder an, ohne Erfolg. Schließlich ruft er die Kollegen zu sich. Gemeinsam beratschlagen sie, was passiert sein kann. Ob die Batterie leer ist? Das kann nicht sein, so viel hat er nicht gesendet, und die hat den ganzen Tag an der Solarzelle gehangen, es müßte noch genug Strom da sein. Frank holt den Strommesser aus dem Werkzeugkasten, schließt die beiden Kabel an und prüft die Pole des Akkus, den Chris gerade ausgebaut hat. Verdammt, er ist tatsächlich leer! Aber warum? Nur von einer Stunde Funken kann das nicht kommen. Erik nimmt die Solarzelle, schaltet das Licht am Wagen an und hält sie davor. Tatsächlich, sie liefert Strom, sie ist also in Ordnung, der Fehler muß im Gerät liegen. Chris prüft die Sicherungen, sie sind intakt. Was nun? Es hilft nichts, er muß das Funkgerät öffnen. Damit kein 248
Staub in das Innere kommt, tut er das im Zelt im Licht seiner Lampe. Nach fünf Minuten sehen die Männer, was geschehen ist. Bei der Durchgangsprüfung fällt ihnen auf, daß auf der Platine, die zur Spannungsregulierung des Akkus dient, ein Kondensator durchgebrannt ist und einen Kurzschluß verursacht hat. Eine Ameise ist in das Gehäuse eingedrungen, ist über die Platine gelaufen und zwischen zwei Stromzuführungen geraten. Jetzt ist sie verschmort, aber das Gerät ist genauso tot wie das Insekt. Der Akku hat sich entladen, und die gesamte Elektronik ist durch den Dauerstrom in Mitleidenschaft gezogen. Bei näherem Hinsehen stellen die Männer fest, daß auch andere Bauteile den Hitzetod gestorben sind. Chris gibt deftige Schimpfwörter von sich, diesen Defekt können sie nicht reparieren. Damit haben sie jeglichen Kontakt zur Außenwelt verloren. "Scheiße. Damit sind wir für die anderen tot." "Können wir das nicht mehr reparieren?" "Nein. Wir können zwar am Fahrzeug fast alles machen, aber die Elektronik können wir nicht wieder in Ordnung bringen." "Verdammt. Heißt das, daß wir niemanden mehr anfunken können?" "Genau das. Wir sind tot. Sie können uns nicht mehr erreichen, und wir sie auch nicht mehr." "Und was sollen wir jetzt tun?" "Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich zur Küste zu kommen. Die "Challenger" sollte nach Süden abdrehen, wir müssen versuchen, uns dahin durchzuschlagen, wo sie hinfahren sollte." "Wie weit ist das?" "Ich schätze, 700 bis 800 Kilometer. Weiter können wir auch nicht mehr, uns geht der Treibstoff aus."
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"Und was dann?" "Dann können wir nur hoffen, daß das Schiff nicht untergegangen ist." " Hast du denn nichts aus dem Ministerium gehört?" "Nein, absolut gar nichts. Die wissen genausoviel wie wir." "Das heißt also, daß heute die gesamte Expedition für die alte Welt gestorben ist?" "Wenn du das so ausdrückst, Geoff - ja!" Es dauert eine Weile, bis sich die Männer darüber klarwerden, was dieser Schaden für sie bedeutet. Aber es ist auch nicht einfach, zu akzeptieren, daß möglicherweise an diesem Tag nicht nur das Funkgerät das Zeitliche gesegnet hat, sondern vielleicht auch die "Challenger" nicht mehr existiert. Denn sie können ja nicht wissen, daß sie gerade in diesem Moment vor der Küste liegt und die Kollegen an Bord zwar darum bemüht sind, die komplette Software neu zu installieren und auf Viren durchzuchecken, daß sie sich aber noch bester Gesundheit erfreuen! Sie müssen vielmehr damit rechnen, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein und das einzige Transportmittel, das sie in die alte Welt zurückbringen kann, nie mehr wiederzusehen. Entsprechend gedrückt ist die Stimmung an diesem Abend, und alle vier sind kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Wir sind verloren. Doch Chris will nicht aufgeben. Die Situation scheint hoffnungslos, aber vielleicht gibt es trotz allem noch eine Chance für die Männer. Und selbst wenn die "Challenger" nicht mehr existieren sollte, so können sie versuchen, sich am Leben zu erhalten, wenn sie sich von dem ernähren, was die Erde ihnen bietet. Den ganzen Abend geht Chris dieser Gedanke durch den Kopf, und sein Zweckoptimismus steckt die anderen Männer an. So nehmen sie sich die Karte zur Hand und sehen sich an, wie sie morgen fahren wollen. Da ist 250
zuerst das Talsystem, das sie morgen durchqueren müssen. Dann können sie östlich davon nach Süden abbiegen und versuchen, die Küste zu erreichen - wenn ihnen nicht vorher der Treibstoff ausgeht. Der Tank ist knapp unter halbvoll, und für die restlichen 600 oder 700 Kilometer müßte es reichen. In der Nacht schlafen sie unruhig. Jeder von ihnen ist mit dem Gedanken beschäftigt, die Heimat vielleicht nie mehr wiederzusehen. Wird es eine Rettung geben? III. Beim Frühstück reden die Männer wenig miteinander, sie haben in dieser Nacht schlecht geschlafen; sie wissen, daß die nächsten Tage hart werden, und daß sie heute das fahrtechnisch schwerste Stück ihres Wegs vor sich haben. Als sie mit der Morgentoilette fertig sind, laden sie den Wagen voll und sind um acht Uhr wieder auf Achse. Eine Stunde später haben sie den Taleinschnitt erreicht, den sie überqueren müssen, um weiter nach Süden vordringen zu können. Bevor sie in das Tal hineinfahren, suchen sie nach der günstigsten Stelle für den Einstieg, denn vor ihnen tut sich ein Abgrund auf; hinter der messerscharfen Abbruchkante geht es rund 100 Meter weit bergab. Und während Frank und Geoff nach Norden gehen, um einen Einstieg zu finden, brechen Erik und Chris nach Süden auf. Nach einer halben Stunde treffen sich beide Gruppen wieder am Auto, und Erik hat mit Chris keinen Erfolg gehabt, dafür aber die beiden Biologen. Sie beratschlagen kurz, steigen dann ins Auto und fahren einen Kilometer weit zu der Stelle, die ihnen als Einstieg in das Tal geeignet erschien. Erik soll während der ganzen Zeit den Wagen pilotieren, er hatte sich als versiertester Fahrer herausgestellt. Und diese Eigenschaft ist jetzt gefragt. Bevor sie den Abhang hinunterfahren, sehen sich die vier Männer diesen genauer an. Sie gehen bis zur 251
Talsohle hinunter und prüfen dabei den Untergrund. Oben ist er felsig, wie Erik und Chris mit geübtem Blick konstatieren, etwa 20 Meter unterhalb der Kante beginnt Geröll, daß sich bis an den Fuß des Hanges fortsetzt. Die Steigung ist nicht so erheblich, als daß sie dem Wagen Probleme machen könnte, aber wenn er auf dem lockeren, durch die Hitzeeinwirkung abgesprengten und durch gelegentliche Regengüsse überformten Material ins Rutschen kommen sollte, ist es ein Ding der Unmöglichkeit, ihn wieder zum Halten zu bringen. Erik weiß das, und er stellt sich darauf ein. Er wird den Wagen alleine fahren. Geoff bleibt unten im Tal stehen, Chris und Frank gehen mit hoch und werden Erik beim manövrieren behilflich sein. Oben angekommen, steigt er ein, startet den Motor, legt den ersten Gang und die Untersetzung ein und fährt los. Setzt den Wagen gerade vor die Abbruchkante, die an dieser Stelle rund ist und deshalb den Abstieg erst ermöglicht. Als die Vorderräder geradeaus stehen, sperrt er die Differentiale der drei Achsen und das Mitteldifferential. Dann geht er vom Gas und läßt den Wagen rollen. Chris hält den Atem an, als der Wagen im Zeitlupentempo über die Kante nach vorne kippt. Auch die Hinterräder rollen über die Kante, und hören den Motor hochdrehen. Aber Erik steigt nicht auf die Bremse, er läßt den Motor die Geschwindigkeit halten. Solange er über den Fels rollt, geht alles glatt. Dann kommt er auf den lockeren Untergrund, und jetzt wird es kritisch. Der Wagen ist langsam genug, rutscht nicht weg, und die Differentiale halten alle Räder im Zaum. Das Gefälle wird geringer, der Wagen nähert sich ungefährdet dem Grund des Tals; die Männer atmen auf, die größte Gefahr ist vorüber. Langsam steuert Erik den Wagen, immer nach Chris' Anweisungen in der Fallinie bleibend, den Hang hinunter, bis er die Talsohle erreicht. Als er dort ankommt, klopfen ihm die drei anderen Männer auf die Schulter. Das war Maßarbeit! Sie steigen wieder ein, und zu viert fahren sie über Geröllfelder und bloßliegenden Fels bis zum gegenüberliegenden Hang der Talsohle, vor dem sie 252
erneut aussteigen, um die Beschaffenheit des Untergrunds zu erkunden. Das Spiel wiederholt sich, als Erik den Grat, den dieser Hang darstellt, überquert und dabei von Chris, Geoff und Frank den richtigen Weg gewiesen bekommt. Als sie die nächste Talsohle erreichen, steigen sie wieder ein und fahren weiter. Diesmal fahren sie Richtung Süden, denn im Norden bauen sich Verblockungen im Tal und steile Hänge auf, die sich nach Süden flacher fortsetzen. Nach einer Viertelstunde ersteigen Geoff und Chris den Hang an einer gut zugänglichen Stelle, müssen feststellen, daß es weiter nach Osten hin noch mehrere Taleinschnitte gibt, die sie passieren müssen. Nach Süden hin, so hatte das Luftbild gezeigt, wird das Tal unpassierbar, mündet in ein Dünenfeld. Also müssen sie es vorher verlassen. Gegen zwölf Uhr machen sie Mittagspause, fahren danach weiter, auf der Suche nach einer Möglichkeit, das Tal zu verlassen. Nach einer halben Stunde klettert Chris einen Berghang hoch und sieht das Dünenfeld rund fünf Kilometer vor sich. Verdammt, wir müssen hier heraus, denkt er. Wieder im Auto, teilt er den anderen Männern seine Beobachtung mit, und sie entschließen sich, die nächste Möglichkeit zu nutzen. Und nach einem Kilometer Fahrt finden sie tatsächlich einen Anstieg, der machbar erscheint. Schwierig, aber sie müssen es versuchen. Chris und Erik gehen den Hang hinauf, sehen, daß sie an einer Stelle quer traversieren müssen, und daß der Hang stark mit Geröllen übersät ist. Erik wird sehr vorsichtig fahren müssen, wenn er darauf nicht ins Rutschen kommen will. Dann steigen sie herunter, Chris bleibt an der Passage zurück, an der Erik traversieren muß. Erik ist nicht ganz wohl bei dieser Übung, aber sie stehen unter Zeitdruck, sie müssen aus der Trockenzone hinaus sein, bevor ihnen die Lebensmittel ausgehen, und sie haben auch nicht mehr genug Treibstoff, um das ganze Tal im Norden nach einer Stelle abzusuchen, in der sie des sicherer verlassen 253
können. Also steigt er in den Wagen, läßt den Motor an, legt die Untersetzung ein und steuert den Hang an. Er setzt den Wagen gerade vor den Hangfuß, legt den ersten Gang ein, sperrt die Differentiale und gibt Gas. Scheinbar ohne große Mühe erklettert das Fahrzeug das Geröllfeld, ab und zu rutscht ein Rad kurz durch, wird aber sofort wieder eingefangen. Nach 50 Metern Anstieg hat er das Plateau erreicht, auf dem Chris steht und auf dem er traversieren muß. Er deutet Erik per Handzeichen an, wie er an dieser Stelle fahren muß. Geoff und Frank haben dies weiter unten getan, sie kommen den Hang hinauf. Erik und Chris achten nicht darauf, daß sie sich auf dem Geröllfeld unterhalb des Wagens befinden. Das Plateau hat leichte Schräglage, was das Fahren zu einem Eiertanz werden läßt. Da passiert es. Auf dem Plateau, auf dem Erik im Schrittempo den Wagen rangiert, gerät der Wagen vom bloßen Fels auf losen Untergrund. Erik schlägt vorsichtig nach rechts, zum Abgrund hin, ein, um einem Felsbrocken auszuweichen. Plötzlich rutscht das hangseitige Vorderrad weg, und Erik tritt instinktiv auf die Bremse. Dabei gerät der Wagen ins Rutschen, und Erik kann ihn nicht mehr halten. Chris sieht, wie das Fahrzeug unwirklich langsam auf die Kante zurutscht, hinter der es steil bergab geht - und unter der 10 Meter weiter Frank und Geoff stehen, die die Gefahr noch nicht begriffen haben! Erik verzweifelt versucht, den Wagen durch Gasgeben, Lösen der Sperren und Einlenken nach links zum Berg zu lenken, aber es hilft nichts. Langsam rutscht er über die Kante, bekommt mit den Rädern der rechten Seite Halt im Geröll und kippt um. Der Wagen überschlägt sich, und Geoff und Frank sehen den tonnenschweren Wagen auf sich zurutschen, ohne etwas tun zu können, sind gelähmt vor Schreck. Geoff versucht sich durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit zu bringen, aber es schafft es nicht mehr. Chris muß mitansehen, wie seine Begleiter von dem Fahrzeug zermalmt werden. Er schreit ihre Namen, aber er ist machtlos. Der Wagen stürzt den Hang hinunter, überschlägt sich dabei mehrfach und bleibt unten liegen. Dann liegt Stille über der Landschaft. 254
Was soll ich jetzt tun? Chris ist geschockt. Er zittert mit den Händen, geht vorsichtig den Hang hinunter. Unten angekommen, verschlägt es ihm die Sprache. Geoff und Frank liegen neben dem Wagen, mit gebrochenen Knochen, wie Chris an der Stellung ihrer Glieder erkennen kann; Erik liegt mit den Beinen unter dem Wagen. Die beiden Biologen geben kein Lebenszeichen von sich, Chris fühlt bei ihnen Puls und Atmung. Sie sind tot. Dann geht er zu Erik hin, und er lebt noch. Als Chris neben ihm niederkniet, dreht Erik den Knopf und versucht etwas zu sagen, aber er ist zu schwach. Chris nimmt den Kopf seines Freundes in die Arme, dann erschlafft Eriks Körper. Er ist tot. Jetzt kann Chris sich nicht mehr halten, Tränen laufen ihm über die Wangen. Der Schock sitzt tief, und es dauert eine Viertelstunde, bis er wieder klar denken kann. Er steht auf und besieht sich den Schaden. Der Wagen ist nicht mehr zu retten, den kann er vergessen. Es bleibt ihm nur die Möglichkeit, zu Fuß zur Küste zu gelangen. Aber ob das überhaupt möglich ist? Zuerst will er sich um die Toten kümmern. Ja, er hat Streit mit Frank gehabt, aber er hat ihm nicht den Tod an den Hals gewünscht. Jetzt greift er sich den Wagenheber aus dem Werkzeugfach und richtet den Wagen soweit als möglich auf. Dann zieht er Erik unter dem Wagen hervor, und seine Beine sehen grausam zugerichtet aus, er muß unter starken Schmerzen gestorben sein. Verdammt, alter Freund, und es ist meine Schuld, das habe ich nicht gewollt! Er nimmt die Schaufel, die an der Seite des Wagens klemmt; sie ist leicht verbeult, aber noch brauchbar. In der nächsten Stunde hebt er in der brennenden Sonne drei Gräber aus, in die er die Toten hineinlegt. Schließlich schaufelt er sie zu und verharrt einige Minuten bei diesen Gräbern. Es gibt für ihn nur eine Chance, diese Reise lebend zu überstehen: Er muß sich zur Küste durchschlagen, zumindest aber aus der Wüste heraus. Also sucht er 255
sich die Dinge zusammen, die er zum Überleben braucht. Nach und nach stapelt er neben seinem Rucksack das Zelt, seine Kleidung, die restlichen Nahrungsmittel, seinen Schlafsack mit Unterlage, die Toilettentasche, und Dinge des persönlichen Bedarfs. Schließlich packt er die Fotos, den Kompaß und Alles ein, was er für die nächsten Tage benötigt, darunter auch Signalraketen und Rauchbomben. Ein letztes Mal sieht er sich um, sieht die Gräber und den auf der Seite liegenden Wagen, dann steigt er den Hang hinauf und verläßt den Ort des Unglücks. In dieser Nacht will Chris nicht neben seinen toten Kameraden schlafen. Er wandert am Taleinschnitt entlang, biegt am Dünenfeld nach Osten ab, bis er dessen östliche Begrenzung erreicht und auf dem Felsboden nach Süden weitergehen kann. So geht er bis zum Sonnenuntergang, bis er das Zelt aufschlägt, eine Kleinigkeit ißt und in den Schlafsack kriecht. Warum mußten sie sterben? Warum dieser Unfall? Er fühlt sich schuldig; wenn er Erik gewarnt hätte, könnten sie alle noch leben, und sie hätten den Wagen zur Verfügung, der sie an die Küste hätte zurückbringen können. Warum quäle ich mich noch? Soll ich mir hier nicht das Leben nehmen? Chris gehen alle diese Gedanken durch den Kopf, er fühlt sich nicht nur für den Tod seiner drei Begleiter verantwortlich, sondern sieht auch keinen Sinn mehr darin, weiterzumachen. Aber sein starker Lebenswille verhindert, daß er einfach Selbstmord begeht. Nein, er muß es versuchen. Vielleicht gibt es die "Challenger" noch, vielleicht war es nur ein technischer Defekt an Bord. IV. Seit zwei Tagen wandert Chris durch die Landschaft der neuen Welt, um zur Küste zu gelangen. In dieser Zeit hat er weniger an Strecke zurückgelegt, als er dachte, daß er schaffen würde. Als er losging, hatte er angenommen, pro Tag 30 Kilometer machen zu können, doch bei der Hitze und auf dem unwegsamen Untergrund schafft er nur knapp 20 Kilometer am Tag. Und er kann sich ausrechnen, daß er bei dieser 256
Geschwindigkeit mehr als einen Monat brauchen wird, um zur Küste zu gelangen. Und was dann? Er weiß nicht, ob er dort überhaupt etwas von der "Challenger" sehen wird, vielleicht ist sie wirklich gestrandet... Es geht auf Mittag zu. Die Hitze wird zunehmend unerträglicher, und der Wasservorrat geht auch zur Neige. Zwar wird der Rucksack dadurch leichter, doch Chris weiß, daß er trinken muß, um nicht auszutrocknen, und daß er in den nächsten Tagen eine Wasserstelle finden muß, sonst ist es bald um ihn geschehen. Wäre besser, sich jetzt einen schattigen Platz zu suchen, denkt er, doch soweit er sich umsieht, findet er keine Möglichkeit, sich in einen Schatten zu setzen; die Landschaft um ihn herum ist eine Wüste, die zwar langsam in eine Steppe übergeht, in der es aber weder Bäume noch Felsen gibt, die Schatten spenden könnten. Also macht Chris eine kurze Pause zum Trinken, legt sich ein Tuch als Schutz gegen die erbarmungslos niederbrennende Sonne in den Nacken und geht weiter. Hat doch gar keinen Zweck mehr, denkt er, benommen von der Hitze und der Anstrengung. Warum quäle ich mich denn so? Sie sind alle tot, alle anderen Mitglieder meiner Expedition und alle Menschen auf der "Challenger". Nein, ich sollte mich hinlegen und sterben. Es hat keinen Sinn mehr. Sein Kopf drängt ihn aufzugeben, doch sein Wille ist noch nicht gebrochen. Er marschiert weiter. Ein oder zwei Stunden später. Die Sonne hat ihren höchsten Punkt überschritten, doch es wird nicht kühler; in der Luft hält sich die stehende Hitze des Nachmittags. Chris denkt kaum noch, das Gehirn scheint ihm ausgetrocknet. Er hat Sonnenbrand auf den Armen, auf den Beinen dort, wo es ihm gestern die Hose zerrissen hat. Es tut weh, genauso wie die Fußsohlen, die von Blasen übersät sind, Blasen, die aufgesprungen sind und sich wieder neu bilden. Doch auch das spürt er nicht mehr, er geht einfach stumpfsinnig voran, immer 257
den Kompaß im Blick, in Richtung des Gebirgszuges, der sich weit entfernt abzeichnet. Und der ihm, wenn er das Luftbild noch richtig in Erinnerung hat, einen Wald und Wasser bringen wird. Der Untergrund ist steinig, und es ist mühsam, sich darauf voran zu bewegen. Der Blick ist nach unten gerichtet, und Chris muß ständig Steinbrocken ausweichen, die unter seinen Füßen wegrutschen. Das kostet Kraft, die er von Mal zu Mal weniger aufbringen kann. Essen? Er müßte etwas essen, aber in dieser Hitze denkt er gar nicht daran, dazu ist es viel zu heiß. Ein Stein rutscht unter seinem Schuh durch, und er knickt mit dem Knöchel um. Der Schmerz holt ihn aus der Lethargie heraus, er stolpert einige Schritte zur Seite und fällt hin. Verdammt, auch das noch! Chris hält sich den Knöchel, der Schmerz wird stärker. Aus! Das war's! Ich kann nicht mehr weitergehen, denkt er, damit ist Schluß. Was jetzt? Ihm kommt in den Sinn, daß er hier sterben wird, wenn er nicht weitergehen kann. Er schließt die Augen und sieht seine Leiche, die von Aasfressern zerstückelt wird. Nein, nein, nein, das kann nicht sein! Ich will nicht sterben! Fast will er in Tränen ausbrechen, aber er will sich auch nicht selbst bemitleiden. Lange Minuten bleibt er sitzen, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. Steht dann auf, zieht den Rucksack aus und sieht sich um. Wenige hundert Meter weiter sieht er einen Felsen, neben dem er vielleicht einen Schatten finden könnte. Also nimmt er den Rucksack auf und humpelt zu diesem Felsen herüber. Ja, heute Abend finde ich vielleicht wirklich etwas Schutz vor der Sonne, denkt er. Aber für die nächsten ein, zwei Stunden wird das nicht gehen. Also setzt er sich neben den Felsen und wartet. Es hat keinen Zweck, jetzt das Zelt aufzubauen, die Hitze darin wäre noch größer als in der Sonne. 258
Er verfällt ins Brüten. Der Wasserverlust und der Hunger machen ihm zu schaffen. Wenn ich jetzt nicht mehr trinke, wird es schnell vorbeigehen, denkt er. Nur ein paar qualvolle Tage, dann spürst du keinen Schmerz mehr. Warum soll ich weiterleben, wenn die anderen alle tot sind? Die Gedanken kreisen immer wieder um das Thema Tod. Er sitzt versunken da, den Kopf auf den angezogenen Knien und in den Armen vergraben. Da, vor ihm flimmert eine Luftspiegelung. Ein See, denkt er, und er will schon aufspringen und hinlaufen, aber dann hält ihn ein stechender Schmerz im Knöchel zurück und bringt ihn in die Wirklichkeit zurück. Verdammt, so weit ist es also schon mit Dir! Du hast Halluzinationen. Noch spielt das Gehirn nicht verrückt, hat er seinen Verstand nicht verloren. Aber wie lange noch? Lange sitzt er so da, das Zeitgefühl ist ihm abhanden gekommen. Es muß auf den Abend zugehen, die Sonne steht niedriger. Er blickt sie an, und er beginnt sie zu hassen, denn sie wird ihn umbringen, wenn er nicht weiterlaufen kann. Um ihn herum ist es still, kein Luftzug geht, kein Tier gibt Geräusche von sich. Plötzlich horcht er auf. Jetzt höre ich also schon Dinge, die gar nicht da sind, gar nicht da sein können. In weiter Entfernung meint er das Geräusch eines der Flugzeuge der "Challenger" zu vernehmen. Nein, das kann nicht sein, es gibt sie ja nicht mehr. Du spielst verrückt, es geht mit dir zu Ende! So redet er auf sich ein. Aber das Geräusch wird stärker. Nein, dein Kopf macht dich wahnsinnig! Was soll das? Warum kann er nicht ohne solche Qualen, die ihm sein Hirn vorspiegelt, sterben? Dann sieht er auf, sieht in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Du wirst deinem Hirn jetzt zeigen, daß da nichts ist! Er steht auf. Da erstarrt er. Ein Schock durchfährt seinen Körper. Nein, das kann nicht sein! 259
Das gibt es nicht, was du da siehst! Er reibt sich die Augen. Doch das Bild verschwindet nicht. Über sich, vielleicht einen, vielleicht auch zwei Kilometer entfernt, sieht er tatsächlich eine Maschine, die in seiner Nähe vorbeifliegen wird. Wieder reibt er sich die Augen, dann glaubt er das, was er da sieht. Wirklich, es ist eine Maschine! Jetzt ist Eile geboten, wenn das wahr ist! Er greift in die Seitentasche seines Rucksacks und holt die Pistole für die Signalraketen heraus. Verdammt, du hast das doch vor Jahren schon gelernt, und deine letzte Sicherheitsschulung liegt erst wenige Wochen zurück. Komm, Nerven bewahren, denkt er, steckt eine Patrone in das Abschußgerät, steht auf, visiert das Flugzeug an, das in etwa einem Kilometer Entfernung an ihm vorbeizufliegen droht, und drückt ab. Grellrot steigt die Leuchtrakete in den Himmel. Sieht er sie? Chris steht gespannt am Boden und beobachtet, ob sich etwas an der Maschine ändert. Sagt sich, daß er weitermachen muß. Also greift er wieder in den Rucksack und holt eine Rauchpatrone heraus, zieht den Auslöser ab, und sofort quillt hellroter Rauch aus der Patrone heraus. Wird er sie sehen? Chris klettert auf den Felsen und hält die Patrone so hoch wie möglich. Dabei beobachtet er die Maschine. Sie scheint weiterfliegen zu wollen, der Pilot scheint nichts gesehen zu haben. Chris glaubt für immer verloren zu sein. Da sieht er, wie das Flugzeug in eine Kurve geht und auf ihn zuhält. Sie haben mich gesehen, ich bin gerettet! Die Maschine fliegt, tiefergegangen und langsamer geworden, an ihm vorbei. Haben sie mich erkannt? Er hält das Rauchsignal nach oben. Endlich, sie kommt zurück. Chris spürt den Lufthauch der Rotoren, und die Schmerzen sind wie weggeblasen. Ja, sie haben mich gesehen! Jetzt kommt die Maschine frontal auf ihn zu, kippt die Rotoren horizontal und setzt zur Landung an. Chris schließt die Augen, der Luftzug der Rotoren treibt ihm die Tränen in die Augen. Er ist gerettet! Aber trotz allem will bei ihm darüber keine rechte Freude aufkommen, denn er ist allein, seine Begleiter sind tot. 260
Das Flugzeug setzt auf, die Rotoren laufen aus, und die beiden Piloten steigen aus. Chris hat sich gesetzt, fühlt sich plötzlich sehr müde. Der Pilot spricht ihn an, hockt sich neben ihn. "Chris, sind sie okay?" "Ja, ja... Ich glaube schon." Er macht eine Pause, er hat seit zwei Tagen mit keinem Menschen mehr geredet. Dann faßt er sich an seinen schmerzenden Knöchel. "Hab' mir gerade den Knöchel verstaucht. Den Knöchel. Hier." Verdammt, was ist mit dir los. Es fällt ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber dann dreht er den Knöchel, und der Schmerz läßt ihn endlich klar im Kopf werden, als er einen Schmerzensschrei von sich gibt. "Ja, den Knöchel. Aber das ist jetzt nicht so wichtig." "Was ist passiert? Wo sind die anderen?" "Die gibt es nicht mehr. Sie sind tot." "Was?" "Wir können gleich hinfliegen, wenn das noch geht. Wir sind gestern in einer Schlucht mit dem Auto abgestürzt. Ich habe den Unfall als einziger überlebt, weil ich den Wagen einweisen sollte." "Wo war das?" "Etwa dreißig, vierzig Kilometer von hier." "Wo ist das denn?" "In einer Schlucht. Wir dürften es einfach finden." Er richtet sich auf.
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"Aber was war mit euch in den letzten Tagen los? Wir hatten den Kontakt verloren. Ist die "Challenger" untergegangen?" "Nein, wir leben noch, aber das wäre fast passiert. Ein Virus hat alle Elektronik an Bord außer Gefecht gesetzt." "Ein Virus?" "Ein Virus im Computersystem." "Oh nein." "Wir sind fast an der Küste gestrandet, weil sich das Schiff nicht mehr steuern ließ." "Und dann?" "Der Erste Ingenieur hat den Treibstoff abgedreht, und dann hinterher den Motor wieder angeschmissen. Wir waren einen Tag auf offener See und haben die Anlage reparieren müssen." "Ist dabei jemand zu Schaden gekommen?" "Nein." "Das ist gut, dann ist es nicht so schlimm." "Und wir waren den ganzen Tag ohne Funk. Wir haben dann vom Ministerium erfahren, daß Sie versucht haben, uns zu erreichen." "Ja, genau. Aber uns ist das Funkgerät am Arsch gegangen." "Ach so. So 'was haben wir uns schon gedacht." "Und warum sind Sie hier?" "Ach so, ja, wir haben gedacht, daß Ihnen etwas zugestoßen sein konnte, und dann nachgesehen, wo sie zuletzt waren und Suchflüge gestartet." "Heute?" 262
"Gestern." "Waren Sie in der Schlucht?" "Wo der Unfall war?" "Ja." "Nein." "Vielleicht sollten wir schnell hinfliegen, die Sonne geht in der nächsten Stunde unter." "Können Sie gehen?" "Danke, es geht schon." Chris steht vorsichtig auf, läßt sich vom Piloten stützen und steigt in die Maschine ein, während der Copilot seine Ausrüstung mitnimmt. Er schnallt sich an, und er hat endlich das Gefühl, gerettet zu sein. Dann laufen die Turbinen hoch, und eine Minute später ist die Maschine wieder in der Luft. Für die gleiche Strecke, die Chris in zwei Tagen gelaufen ist, brauchen sie nur zehn Minuten. In dieser Zeit meldet sich Chris über Funk bei der "Challenger", und dort ist man froh, seine Stimme zu hören, man hatte ihn bereits für tot gehalten. Chris schnallt sich ab und weist den Männern im Cockpit den Weg zu der Stelle, an der das Fahrzeug liegt. Sie setzen neben den Gräbern auf, lassen die Turbinen auslaufen und steigen aus. Kein Aasfresser hat versucht, die drei Toten auszugraben, die hier unter der Erde liegen. Chris ist froh darüber, denn die Erinnerung an den Unfall und an den sterbenden Freund in seinen Armen fällt brutal auf ihn zurück. Er ist deprimiert, als sie nebeneinander vor den Gräbern stehen und minutenlang den Toten gedenken. Dann gehen sie gemeinsam zum Auto. Das liegt unverändert so auf der Seite, wie Chris es nach dem Aufbocken mit dem Wagenheber zurückgelassen hatte. Und die drei Männer suchen nach 263
Dingen, die sie jetzt mitnehmen können. Chris nimmt den Laptop und persönliche Dinge von sich und den drei Toten mit, dann lassen sie alles so liegen, wie es vorher war, und gehen nach einem Blick auf die Gräber zur Maschine zurück. In wenigen Minuten wird es dämmern, und sie wollen nicht an einer Wand der Schlucht zerschellen. Zwei Stunden später, es ist dunkel geworden, setzt das Flugzeug sanft auf dem Deck der "Challenger" auf. Über Funk hatte sich Chris mit dem Kapitän, Gerd und Michael unterhalten, und hatte ihnen alle wichtigen Einzelheiten der letzten Wochen berichtet. So erwarten ihn denn auch einige Kollegen auf dem Flugdeck, als er dort aussteigt. Svenja kommt auf ihn zugelaufen und umarmt ihn vorsichtig, sie hatte gedacht, daß er tot sei, und hatte Tränen um ihn vergossen. Es tut ihm gut, diese Frau im Arm zu halten, und es gibt ihm das Gefühl, nach Hause zu kommen. Gerd und Michael begrüßen den Wiederauferstandenen ebenfalls, anschließend geht er hinunter in die Krankenstation, der Arzt wartet bereits. Dort sieht er sich zuerst Chris' verstauchten Knöchel an und gibt ihm Salbe und Verband mit, den er sich nach der Dusche wickeln kann. Außerdem checkt er Chris' Allgemeinzustand durch, er hat unter den langen Märschen der letzten Tage gelitten. Nicht nur, daß Chris abgenommen hat, er hat auch Sonnenbrand, Prellungen und viel Wasser verloren. Es wird dauern, bis er wieder bei Kräften ist. Nach einer Viertelstunde verläßt Chris das Behandlungszimmer, mit Medikamenten und Verbänden bepackt. Der Weg führt ihn in seine Kabine. Svenja hat hier bereits alles zurechtgelegt, nachdem sie die Nachricht vernommen hatte, daß er gerettet sei. Nun hilft sie ihm dabei, sich der verschwitzten, verdreckten und zerrissenen Kleidung zu entledigen, und stützt ihn beim Gang unter die Dusche. Er braucht lange, das ist die erste Dusche seit fast einem Monat. Als er sich abfrottiert, geht es ihm schon besser. In der Zwischenzeit hat Svenja aus der Kantine etwas zu 264
Trinken geholt. Bei einem großen Glas Bier setzen sie sich auf die Sitzgruppe in der Kabine und reden miteinander. Es gibt eine Menge zu erzählen, und hier gibt es keinen Unterschied mehr zwischen privaten Einstellungen und wissenschaftlicher Arbeit, denn an Bord hat es seit der Entdeckung der Ureinwohner durch Chris die gleiche Diskussion gegeben, wie sie auch zwischen Frank und Chris entstanden war. So erzählt Chris Svenja, was sie in diesen Wochen der Landexpedition erlebt haben, wie sie die Ureinwohner kennengelernt haben und daß er fast mit der jungen Frau verkoppelt worden wäre. Er berichtet ihr von dem Gang ins Gebirge, und sie steuert bei, was sie in der Woche des Forschungslagers dort getan hat. Sie erzählt ihm, wie sich die Fronten zwischen den Wissenschaftlern verhärtet haben. Wo soll das hinführen? Das Telefon geht, Gerd und Michael setzen sich zehn Minuten später dazu. Chris erzählt von dem Unfall, und morgen will Gerd mit einigen Kollegen zum Unfallort fliegen, um die Gräber zu schmücken und den Wagen auszuräumen. Mitnehmen werden sie ihn nicht können, dazu reicht die Tragfähigkeit der Maschinen nicht aus. Gegen Mitternacht sind Chris und Svenja wieder allein. Sie machen sich, bevor sie schlafengehen, Gedanken darüber, wie man verhindern kann, daß diese Menschen einfach von der Zivilisation überrollt werden. Und in dieser Nacht sind sie froh darüber, wieder zusammen in einem Bett zu liegen. An diesem Morgen schlafen Svenja und Chris lange. Sie sieht auf die Uhr, es ist Neun durch, als sie erwacht. Sanft streicht sie Chris über den Rücken und weckt ihn auf. Später gehen sie in die Kantine herunter, um zu frühstücken. Es ist das erste Mal seit fast einem Monat, daß Chris hier Essen geht. Nachdem er sich das Tablett vollgepackt hat, humpelt er mit seinem verstauchten Knöchel zu einem Tisch, an dem Michael sitzt. Gerd ist gerade im Begriff aufzustehen, als sich Svenja und Chris hinsetzen. Sie verabschieden sich kurz, und Chris 265
scheint es, als ob das Verhältnis zwischen seinen beiden Kollegen deutlich kühler ist als früher. "Was ist los? Ihr wart früher nicht so kühl zueinander." "Wir haben uns in den letzten Tagen in die Haare gekriegt." "Worüber?" "Das erzähle ich dir gleich im Büro. Hier will ich darüber nicht reden." Svenja mischt sich ein. "Es ist wegen der Ureinwohner." "Was?" "Ja, du hast richtig gehört. Wegen der Menschen, die du entdeckt hast." "Aber warum denn?" "Ich hatte dir das doch gestern Abend erzählt. Wir haben uns an Bord in zwei Parteien gespalten. Die Einen, die sich darum kümmern wollen, was mit den Leuten und diesem Kontinent gemacht wird, und die Anderen, denen das scheißegal ist." Michael setzt seine Kaffeetasse ab. "Der Riß geht mitten durch's Schiff. Ich hab' mich in den letzten Tagen mit Gerd gestritten, weil ihm das ziemlich egal ist, was unsere Wirtschaft in den nächsten Jahren mit unseren Forschungsergebnissen anfangen will." "Den Streit hat es doch vorher schon gegeben." "Aber nicht mit dieser Härte, Chris! Du hast das nicht mitgekriegt, wie wir uns hier gegenseitig angeschissen haben. Ich hab' mich darüber mit Gerd zerstritten, wir reden kaum noch miteinander."
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"Verdammt, wir können doch jetzt nicht sagen, löscht alle eure Daten, verbrennt eure Ergebnisse, es hat keinen Zweck." "Nein, aber wir müssen uns verdammt nochmal darum kümmern, was hinterher mit den Leuten hier passiert. Wir haben sie entdeckt, und wir haben auch die Verantwortung, daß sie weiterleben können." "Das werden sie nicht, wenn die Touristen über sie herfallen." "Genau. Und darum müssen wir sehen, daß wir aufpassen, was wir dem Ministerium erzählen." "Willst du denen Lügen über das erzählen, was wir hier gesehen haben?" "Ich sehe keine andere Möglichkeit." "Das bringt's nicht. Du kannst nicht erwarten, daß man uns das glauben wird." "Was willst du dann machen?" "Das weiß ich noch nicht. Vielleicht sollten wir das Schiff in die Luft jagen. Dann kann keiner mehr zurück, und keiner wird den Leuten da drüben erzählen, daß man hier überhaupt leben kann." "Du bist verrückt." "Mag sein. Aber ich sehe im Moment auch keine andere Möglichkeit." "Es muß noch etwas anderes "Challenger" in die Luft zu jagen."
geben,
als
die
"Denk' dir 'was aus." Am Tisch grübeln sie darüber, was sie anstellen sollen. Dann stehen sie auf und gehen ihre Wege. Gerd ist vor wenigen Minuten mit einem Flugzeug gestartet und auf dem Weg zum Auto, daß verunglückt war und Erik, Frank und Geoff getötet hat. Svenja hat einiges an Arbeit zu erledigen, und Chris muß sich auf den Abend 267
vorbereiten, denn er will einen Vortrag über die Landexpedition halten und dabei die wichtigsten Forschungsergebnisse vorstellen. Die "Challenger" hält stetigen Südkurs. Der Plan, einen Flug zur anderen Küste des Kontinents zu starten, besteht immer noch. Was hat das denn noch für einen Sinn, fragt sich Chris, wenn wir unsere Forschungsergebnisse doch nicht preisgeben wollen? Er geht in das Büro und setzt sich vor den Computer, sieht sich an, was er dort in den letzten Monaten alles geschrieben hatte. Eine ganze Menge, denkt er, und das alles soll ich nicht veröffentlichen? Ihm kommt die junge Eingeborenenfrau in den Sinn, mit der er drei Tage verbracht hat. Sie leben so vollkommen anders als wir, denkt er, viel mehr im Einklang mit der Natur als wir. Verdammt, wir können es nicht tun! Er schaltet den Terminal aus. Das Schreiben habe ich noch nicht verlernt, sagt er sich, nimmt sich einen Briefbogen aus der Schreibtischschublade und setzt einen Brief auf. "Liebe Sylvia, vielleicht hast Du in den letzten Tagen von den Entdeckungen gehört, die wir in den zurückliegenden Wochen gemacht haben. Das Wichtigste war, daß ich bei einer Fahrt ins Landesinnere auf Menschen gestoßen bin. Es gibt Ureinwohner, wir sind nicht die ersten, die diese neue Welt betreten. Und diese Menschen leben im Einklang mit der Natur, leben von und in ihr, ohne sie zu zerstören, so wie wir dies tun. Verdammt, können wir es zulassen, daß diese Menschen, daß dieser Kontinent zerstört wird? An Bord der "Challenger" ist es darüber zu einem herben Streit zwischen allen Wissenschaftlern gekommen. Wir haben uns in zwei Lager gespalten, und ich habe die gleiche Position, die ich auch dir gegenüber vertreten habe - ich bin dagegen, daß diese Welt kaputt gemacht wird. Aber, was sollen wir tun? Die einzige Möglichkeit, die ich im Moment sehe, ist die, alles hier zu zerstören, damit unsere Forschungsergebnisse nicht mißbraucht werden. Aber kann ich die Verantwortung 268
gegenüber allen Menschen hier aufbringen, ihnen vielleicht das Leben dabei zu nehmen? Ich weiß es nicht. Wie sieht es bei dir aus? Was wird bei Euch zu Hause in den Medien darüber berichtet? Es wäre schön, wenn Du mir etwas darüber sagen könntest. Alles Liebe Chris" Chris ließt sich den Brief durch, couvertiert ihn ein und bringt ihn in die Telemetrie. Dort kümmert er sich persönlich darum, daß er richtig abgeschickt wird. Als er den Raum verläßt, ist es Zeit zum Mittagessen. Bevor er in die Kantine geht, ruft er Svenja an und holt sie zum Essen ab. Sie sitzen alleine, und sie unterhalten sich darüber, was sie jetzt tun sollen, denn in wenigen Wochen wird die "Challenger" auf Heimatkurs gehen. Wenn sie plötzlich verschollen sein sollte, so wird man natürlich nicht so bald versuchen, eine neue Expedition auszurüsten, denn es hatte in den letzten Wochen schon genug Probleme und Schwierigkeiten gegeben. Und der Tod von Dreien der Wissenschaftler ist auch nicht gerade dazu geeignet, die Reise in ein positives Licht zu rücken. Am Nachmittag kommen die beiden Flugzeuge wieder, die zur Unfallstelle geflogen waren. Die Kollegen haben die Leichen nicht geborgen, dafür drei Kreuze über den Steinhaufen aufgestellt, den Wagen auf die Räder gestellt und komplett ausgeräumt. Damit sind alle Bodenproben und sämtliche Aufzeichnungen der vier Wissenschaftler gesichert. Ob das richtig war? Chris hat sich auf das Flugdeck begeben und mitgeholfen, alles auszuräumen. Er weiß am besten, woher die Proben stammen, ob die Ausrüstung noch brauchbar ist und was mit den Aufzeichnungen anzufangen ist. Es dauert eine halbe Stunde, bis alle Gegenstände ausgeladen sind. Dabei fällt Chris auf, daß Gerd nur wenig mit ihm redet. Da scheint eine Mauer zwischen uns zu stehen, denkt er. Als ein Regenguß auf das Deck niedergeht, laufen die Menschen in den Aufbau hinein. Sie 269
unterhalten sich kaum miteinander, und jetzt fällt Chris erst recht auf, wie gespannt die Stimmung an Bord ist. Später, als der Schauer vorüber ist, macht man sich daran, die Ausrüstung unter Deck zu schaffen. Noch eine Stunde, dann haben wir den Termin für meinen Vortrag über die Reise, denkt er. Was soll das heute Abend noch geben? Wir stehen uns feindlich gegenüber, und vielleicht sollte ich das Thema heute ganz sachte anschneiden, um nur keinen Streit zu provozieren. Oder doch? Es ist soweit. Um sechs Uhr abends haben sich fast alle Wissenschaftler an Bord der "Challenger" im Vortragssaal versammelt. Michael, Gerd und Chris sitzen vorne, und Chris beobachtet aufmerksam, wie sich die Forscher untereinander verhalten. Das ist anders als zu Beginn der Expedition, denkt er, die sind alle nicht mehr so offen wie vor vier, fünf Monaten. Michael begrüßt die Anwesenden und gibt das Wort an Chris weiter. Der schildert die Reiseroute, sagt etwas zu den Beobachtungen, die die vier Wissenschaftler an bestimmten Standorten gemacht haben, und führt dabei den Gang in das Gebirge besonders auf. Macht eine kleine Pause und kommt auf die Ureinwohner zu sprechen. Ein Raunen geht durch die Menge, genau diese Entdeckung war es, die zum Streit zwischen den Wissenschaftlern geführt hatte. Sie hören zu, als Chris ausführt, wie sich das Kennenlernen vollzogen hat, und sie sehen sich die Dias an, die er gemacht hat. Bisher hat er ja als einziger diese Menschen gesehen, und so sind die Forscher überrascht, wie er sie ins Bild gesetzt hat. Er hat sich in den drei Tagen mit diesen Menschen auseinandergesetzt, sicher, er hat sich aber auch Gedanken darüber gemacht, sie richtig auf den Film zu bannen. Da ist vor allem der Häuptling, den er fotografiert hat, da ist aber auch die junge Frau, die er oft abgelichtet hat. Die Bilder hat er sich erst eine Viertelstunde vor der Veranstaltung ansehen können, sie kamen erst mit dem Flug und mußten in Windeseile entwickelt werden, und er hat sich gerade die Fotos der Menschen ausgewählt, von denen er am ehesten der 270
Meinung war, daß sie diese positiv darstellen. Nach zehn Minuten Diashow über die Ureinwohner ist sein Vortrag zu Ende. Die meisten Kollegen applaudieren, wie es Usus ist, anschließend entbrennt eine Diskussion darüber, wie diese Reise verlaufen ist. Und es dauert nur wenige Minuten, da stehen sich die beiden Parteien der Wissenschaftler an Bord vollends feindlich gegenüber. Es fallen häßliche Worte, und keiner der drei Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung der Expedition hat noch Gelegenheit dazu, die Diskussion zu leiten, der Streit zwischen den Forschern ist so wild, daß sich jede Leitung erübrigt. Zudem zeigt sich gerade hier der Riß zwischen Michael und Chris auf der einen und Gerd auf der anderen Seite. Chris könnte sich darüber amüsieren, wenn die Situation nicht so verdammt ernst wäre. In den nächsten Tagen sollten sie sich darüber klarwerden, wie es mit der Expedition weitergehen soll. Gerd ist der Ansicht, daß man weiterhin nach Plan vorgehen solle, Michael und Chris sind strikt dagegen. Nachdem sich die Veranstaltung aufgelöst hat und der Streit zwischen den drei Leitern offenkundig ist, ziehen Michael und Chris sich in ihr Büro zurück und beraten über das weitere Vorgehen. Morgen werden sie an der Küste anlegen, morgen soll auch der Flug zum anderen Ozean starten. Das wird eine der letzten Aktionen des Schiffs sein, bevor es auf Heimatkurs gehen soll. Aber wenn sie diesen erst einmal eingeschlagen haben, wird es zu spät sein, um alles zu stoppen. Am Abend ließt Chris sich den Schluß des Romans durch, den er vor Beginn der Landexpedition begonnen hatte. Und er ließt dort, wie die Hauptfigur in der Situation steckt, den Präsidenten seines Landes erschiessen zu müssen, um das Leben anderer Menschen zu retten. Chris gibt diese konsequente Haltung zu denken, denn seine Situation verlangt ähnlich entschlossenes Handeln. Er will zu Bett gehen, ist aber nach den Ereignissen des Tages zu aufgedreht dazu. Also ruft er Svenja an, und ihr geht es ähnlich. Von gestern hat er noch einige Bierflaschen in seiner 271
Kabine, und mit diesen geht er zu ihr herüber. Sie denken über die Möglichkeiten nach, die neue Welt vor dem Zugriff der Menschen aus der zivilisierten Welt zu retten. Er erzählt ihr über diesen Roman, und in der Nacht träumt er davon, selbst das Schiff in die Luft zu sprengen. II. Als Svenja und Chris aufwachen, können sie aus dem Fenster der Kabine die Küste sehen, an der die "Challenger" an diesem Morgen vor Anker gegangen ist. Sie steht auf und sieht aus dem Fenster hinaus, läßt ihren Blick über die Landschaft wandern. Er reckt sich, dreht den Kopf zu ihr herüber und spricht sie an. "Was siehst du da?" "Ich sehe mir die Küste an." "Und wie sieht sie aus?" "Trocken, dahinter scheint Wüste zu sein. Ich sehe jedenfalls keinen Wald." "Sind schon Leute von uns drauf?" "Ich kann keinen sehen. Das Schiff ist auch nicht da." "Gut. Dann sind wir vielleicht wieder die ersten, die den Strand betreten." "Nein, du. Da fährt sie gerade." "Schade." "Bist du so versessen darauf, als erster dort zu stehen?" "Warum denn nicht? Obwohl, langsam vergeht mir die Lust darauf. Drei Leute sind neben mir auf diesem Kontinent abgekratzt, und das bleibt mir immer noch in Erinnerung." "Es war doch nicht deine Schuld."
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"Trotzdem, Erik ist in meinen Armen gestorben. Das kann ich nicht vergessen." Er wendet den Blick zur Seite. In der Nacht waren ihm wieder die Bilder vor Augen gekommen, als Erik in seinen Armen sein Leben aushauchte. Ein Anblick, den Chris nicht vergessen kann und der ihn seit dem Unfall verfolgt. Svenja setzt sich neben ihn auf die Bettkante, streicht ihm sanft über das Gesicht. Sie stehen auf, ziehen sich an und gehen nach der Morgentoilette in die Kantine. Es ist halb neun, und es sind weniger Wissenschaftler anwesend, als Chris erwartet hatte. Aber zum einen sind einige Kollegen bereits an Land, und zum anderen hat die Kantine durch den schwelenden Streit an Bord an Anziehungskraft verloren. So stellen sich beide ihr Frühstück zusammen und essen schnell, ohne viele Worte miteinander zu wechseln. Vor den Fenstern scheint die Sonne, und sie beschließen, der Enge des Schiffes zu entfliehen und Forschungsarbeit an Land zu betreiben. Dies wird der letzte Aufenthalt an Land sein, bevor sie laut Ablaufplan Richtung Heimat aufbrechen werden. Chris ruft vom Telefon am Eingang der Kantine aus auf der Brücke an und informiert sich, wann die nächste Fahrt an Land gehen wird. Bis dahin ist es noch eine halbe Stunde, und die Zeit nutzen Svenja und er, um eine kurze Morgentoilette zu machen und ihre Ausrüstung für den Tag zusammenzupacken. Chris ist zuerst fertig, und er deckt sich in der Kantine mit Verpflegung für sie beide ein. Dann füllt er seine Wasserflaschen auf, und pünktlich sind beide in voller Ausrüstung am Ausleger und besteigen das Tenderschiff. Svenja hat sich der Hitze wegen ihr langes Haar zum Schwanz zusammengebunden, und gemeinsam genießen sie den Luftzug, der ihnen während der Überfahrt entgegenbläst. An Land wird es sehr heiß werden, das wissen sie, und darauf haben sie sich eingerichtet. Schließlich legt das Beiboot an, öffnet die Klappe und läßt die Gruppe Wissenschaftler aussteigen. Svenja und Chris separieren sich schnell vom Rest der Gruppe und gehen ins Land hinein. 273
Der Boden ist hart, und die Vegetation ist spärlich, als sie durch die Landschaft streifen. Hier und da sehen sie sich Boden und Oberflächenformen an, nehmen Proben und machen Aufzeichnungen, aber beiden schwebt die Nutzlosigkeit ihres Handelns im Hinterkopf, und ihnen fehlt der richtige Antrieb, um voll dahinterzustehen. Fast hat es den Anschein, als ob sie hier Urlaub machen. Es geht auf Mittag zu, sie schwitzen, doch der Schweiß verdunstet an der Hautoberfläche, bevor er zu fließen beginnt. Also suchen sie sich einen schattigen Platz unter einem Felsvorsprung, unter dem sie etwas essen können, ohne einen Sonnenstich zu bekommen. Dort bleiben sie eine Stunde liegen und dösen nebeneinander vor sich hin, denn es hat keinen Zweck, in der Hitze weiterzugehen. Ob die anderen arbeiten? Wahrscheinlich nicht, auch an der Küste ist es zu heiß dazu. An Bord des Schiffs, da ist es angenehm, da wirkt die Klimaanlage. Aber hier an Land, da ist es Sommer, und da tötet die Sonne jeden Arbeitseifer im Keim ab. Sie liegen nebeneinander und reden darüber, wie es nun weitergehen soll. Als die Sonne merklich niedriger steht, machen sie sich auf den Rückweg zur Küste. Sie sind gut zehn Kilometer ins Landesinnere eingedrungen, und sie haben einige Proben mitgebracht, mit denen sie zur Küste zurücklaufen. Und obwohl sie beide je drei Liter Wasser mitgenommen haben, gehen ihnen die Vorräte eine Stunde vor Erreichen der Küste aus. Als sie das provisorische Lager einiger Kollegen erreichen, hängt ihnen die Zunge weit zum Hals heraus. Nachdem sie etwas getrunken haben, setzen sich beide an den Strand, die Füße im Wasser, und lassen sich abkühlen, bis das Tenderschiff kommt. Vor dem Abendessen sortiert Chris die Proben ein, nachher macht er ein paar Analysen. Wozu? Niemand soll diese Forschungsergebnisse jemals zu Gesicht bekommen. Also, was soll die ganze Arbeit eigentlich noch? Später schlägt er sich in seiner Kabine den Abend mit Arbeit am Computer und Lesen um die Ohren, an Bord 274
wird die Maschine erwartet, die zum anderen Ozean fliegen sollte. Chris hat den Start des Tankers vom Flugdeck aus mitbekommen, denn sie saßen gerade im Tenderschiff, als die Maschine vom Deck katapultiert wurde. Dann durchfährt ihn ein Geistesblitz. Wieviel Treibstoff ist eigentlich noch an Bord? Letzte Woche, bei der Bestandsaufnahme der Vorräte an Bord, waren es immerhin noch 1200 Tonnen gewesen. Das ist doch die Möglichkeit, die "Challenger" am Wegfahren zu hindern, denkt er. Nur ein kleiner Sprengsatz an der richtigen Stelle, direkt am Tank, und das Schiff wird sich nicht mehr nach vorne, sondern nach unten bewegen... Wenn alles gut vorbereitet wäre, dann bräuchte kein Kollege Schaden zu erleiden. Und niemand bräuchte zu wissen, daß die Explosion kein Unfall war! Chris ist von der Idee fasziniert. Er wird nicht einmal Schwierigkeiten haben, an Sprengstoff zu gelangen, denn in seiner leitenden Funktion hat er die Schlüssel zu dem besonders gesicherten Raum, in dem die Geologen und Ozeanologen die Sprengsätze aufbewahren. Und womit man Felsen zerlegen kann, damit kann man auch ein Schiff in die Luft jagen. Schließlich wird es Mitternacht, und ein Anruf auf der Brücke bestätigt Chris, daß die beiden Maschinen in der nächsten Viertelstunde eintreffen müßten. Zeit also, sich auf den Weg nach oben zu machen. Als er auf dem Flugdeck ankommt, sind Michael und Gerd auch schon da, allerdings ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Chris gesellt sich zu Michael und flüstert mit ihm leise über sein Vorhaben. Sie verabreden, sich später unter vier Augen genauer darüber zu unterhalten. Dann tun sie so, als sei nichts vorgefallen. Fünf Minuten später sehen die Menschen an Deck die Landescheinwerfer der beiden Maschinen in mehreren Kilometern Entfernung auf sich zukommen, und nach weiteren fünf Minuten stehen beide Maschinen an Deck. Die Arbeit ist Routine, schnell werden die Filme aus den Kameras entnommen und ins Fotolabor gebracht, dann unterhalten sich die Wissenschaftler mit den Piloten über das, was sie gesehen haben, während die beiden Maschinen unter Deck gebracht werden. Anschließend
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gehen die Menschen unter Deck, und nach einer Dreiviertelstunde sind die Dias entwickelt. Im Vortragssaal schildert der Copilot, wo er die einzelnen Fotos gemacht hat. Was man sieht, sind Aufnahmen von Bergen, Tälern und Küstenstreifen, die vorher noch kein Mensch zu Gesicht bekommen hat zumindest kein Mensch aus der alten Welt, wie Chris einfällt. Es sieht gut dort aus, man sollte es sich ansehen, aber wir werden das mit diesem Schiff nicht machen können, denn zum einen könnte es mit dem Treibstoff knapp werden, zum anderen weiß kein Mensch, wie man im Süden oder Norden diese Landmasse umfahren kann, denkt Chris, bevor er in seinem Bett einschläft. III. Auch in dieser Nacht hat Chris wieder von dem Unfall geträumt. Verdammt, warum muß mich das nur so lange verfolgen? Reicht es denn nicht, daß einer meiner engsten Freunde ums Leben gekommen ist? Muß mir das immer wieder vor Augen kommen? Am Morgen liegt Chris lange wach, bevor er gegen acht Uhr aufsteht. Streift sich seine Kleidung über und ruft Svenja in ihrer Kabine an. Er hat sie gerade geweckt, aber sie ist ihm darüber nicht böse. So verabreden sie sich, um halb neun in der Kantine zum Frühstück zu erscheinen. Als Chris fünf Minuten vor der verabredeten Zeit dort erscheint, ist Svenja noch nicht da, aber dafür sitzt Michael am Tisch. Sie begrüßen sich, verabreden sich für später, um über Chris' Plan zu reden. Hier, unter den Augen vieler Kollegen, ist das zu gefährlich. Svenja kommt, und als die beiden Männer schlagartig verstummen, weiß sie sofort, was Sache ist. "Ihr schmiedet Pläne, das Schiff in die Luft zu jagen?" "Wie kommst du darauf?" Michael weiß nicht, daß Chris und Svenja darüber in den letzten Tagen gesprochen haben.
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"Sonst hättet ihr eure Unterhaltung nicht so schnell abgebrochen." "Ja, meine Liebe, das haben wir getan. Michael, du brauchst keine Angst zu haben, Svenja ist die Dritte im Bunde. Sie weiß schon länger von unserem Vorhaben als du." "Ah ja." "Und ich denke, daß wir uns alle drei heute Abend treffen sollten, um darüber zu beraten." "Wer ist sonst noch dabei?" "Es gibt genügend Kollegen, die uns bei der Aktion helfen können. Aber es ist zu gefährlich, sie jetzt schon in einen Plan einzuweihen." "Stimmt. Es könnte jemand zuviel reden." "Und man könnte uns unserer Ämter entheben." "Geht das?" "Wenn wir uns strafbar machen, ja." "Gut. Dann treffen wir uns am besten heute Abend bei dir, Chris, oder?" "Können wir machen. Und es darf nicht aussehen, als ob wir sowas vorhätten, also verhaltet euch ganz normal." Damit ist die Unterhaltung über dieses Thema auch schon beendet, denn am Nebentisch setzen sich gerade mehrere Kollegen, die nicht alles mitzubekommen brauchen. Es ist nach Neun, als die Drei aufstehen und ihrer Arbeit nachgehen. Chris geht in sein Labor und gibt den Kollegen den Auftrag, die Proben von gestern zu analysieren. Dann geht er in sein Büro, sieht auf dem Schreibtisch nach, schaltet seinen Computer an, um zu sehen, ob ein Kollege in seiner Mailbox eine Mitteilung gemacht hat, und geht in die Telemetrie, um die Post zu holen. 277
Er ist überrascht, als er diese durchgeht, ein Brief von Sylvia ist darunter, und der ist recht dick. Was hat sie mir denn da alles geschrieben? Und warum so schnell? Voller Erwartung geht er in sein Büro. Michael und Gerd sind nicht da, und so ist er hier ungestört. Aufgeregt öffnet er den Brief und sieht sich die Kopien an, die aus dem Faxgerät kamen. Da ist nicht nur ein Blatt mit der Handschrift von Sylvia, sondern auch drei Blätter voll mit Zeitungsausschnitten. Doch zuerst ließt Chris sich den Brief durch: "Lieber Chris, als ich davon hörte, daß der Funkkontakt zu euch abgerissen war, hatte ich Angst, daß Du tot sein könntest. Und ich war froh, als ich vor einigen Tagen hörte, daß Du gerettet worden bist. Noch toller fand ich es, als ich heute Deinen Brief erhielt, es hat mir gut getan, etwas von dir in den Händen zu halten. Du hast mich danach gefragt, wie die Medien hier deine Expedition sehen. Du hast mit der Entdeckung der Ureinwohner hier eine Welle von Äußerungen ausgelöst, wie es sie in der ganzen Zeit eurer Reise nicht gegeben hat. Ich habe dir die wichtigsten Zeitungsausschnitte zusammengestellt, denn ich habe sie in den letzten Wochen gesammelt. Wenn Du sie durchliest, wirst Du feststellen, daß viele Leute sich bewußt sind, daß man diese Menschen nicht einfach mit unserer Zivilisation in Kontakt bringen darf, weil sie daran kaputtgehen werden. Ich weiß nicht, was Du jetzt machen wirst. Wenn ihr zurückkommt, wird euch die Wirtschaft mit offenen Armen empfangen, und Du kannst dir sicher sein, für den Rest deines Lebens ausgesorgt zu haben, denn was ihr da entdeckt hat, verspricht gute Möglichkeiten der Ausbeutung. Aber ist es das, was Du willst? Nach dem, was Du mir geschrieben hast, scheinst Du deiner eigenen Sache inzwischen recht kritisch gegenüberzustehen. Ich kann dir keinen Rat geben, wie Du dich entscheiden und was Du tun sollst, aber denk bitte genau nach, was Du jetzt machen wirst.
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Und ich glaube, daß Du den richtigen Weg finden wirst. Bis wir uns wiedersehen alles Liebe und Gute Deine Sylvia." Chris legt den Brief nachdenklich beiseite und liest sich die Artikel durch. Es stimmt, was sie geschrieben hat, das Thema einer Nutzung der neue Welt wird sehr kontrovers diskutiert. Was also sollen wir machen? Wenn wir die Unterstützung der Medien und breiter Bevölkerungsschichten haben, könnten wir versuchen, die Ausbeutung dieses Kontinents zu verhindern. Aber, hat sich nicht immer das Geld bei solchen Gelegenheiten durchgesetzt? Nein, es wäre besser, gleich hier auf dem Schiff der Sache ein Ende zu machen. Gerd kommt in das Büro, beide Kollegen grüßen kurz und gehen ihrer Arbeit nach, haben sich nicht mehr viel zu sagen. Schließlich kommt Michael dazu, und nach kurzer Zeit geht Gerd wieder. Als er aus der Tür ist, reicht Chris seinem Kollegen die Blätter mit den Zeitungsartikeln, und er ließt sie aufmerksam. Anschließend unterhalten sich die beiden Männer darüber, wie sie in den Medien dastehen. Später bearbeitet Chris die Ergebnisse der Analysen, geht nach der Arbeit am Computer zum Essen. Danach fährt er mit dem Schiff an Land, um zu sehen, was seine Untergebenen in den letzten beiden Tagen dort gemacht haben, und ist mit ihrer Arbeit zufrieden. So fährt er am späten Nachmittag wieder zum Schiff zurück und trifft sich zum Essen mit Svenja. Bis zum Treffen mit Michael schlagen sie dann sie Zeit tot. Chris holt sich unter dem Vorwand, die Vorräte überprüfen zu müssen, die Schlüssel für den Tresor mit dem Sprengstoff und prüft nach, wieviel da ist - und wie er diesen anwenden kann. Viel Erfahrung mit den Sprengsätzen hat er nicht, aber er ist sicher, dies meistern zu können. Als er vor der Tür steht, sieht er sich um, kein Kollege hat ihn gesehen. Dann gibt er den Schlüssel ab und geht in seine Kabine. Svenja hat in der Zwischenzeit geduscht und aus der Kantine eine Weinflasche mitgebracht. Es ist nach Elf, 279
als Michael kommt. Kein Mensch hat sie gesehen, und sie können nun, auf der Sitzgruppe möglichst weit von der Tür entfernt, ungestört miteinander reden. Chris holt drei Gläser aus dem Küchenschrank, entkorkt die Flasche und gießt die Gläser voll. In der Zwischenzeit liest sich Svenja die Artikel aus Sylvias Brief durch. Dann fängt Michael an. "Also, was hast du vor?" "Wir müssen verhindern, daß wir in die alte Welt zurückkommen. Und das können wir nur, wenn wir die "Challenger" für die Reise unbrauchbar machen." "Wie denn?" "Indem wir sie in die Luft sprengen." "Das ist sehr riskant, dabei können wir alle draufgehen. Gibt es keine andere Möglichkeit?" "Ich sehe keine. Ich hatte mir auch überlegt, ob man einfach auf offener See Diesel ablassen sollte, aber das bringt's auch nicht, man könnte trotzdem noch ein Stück fahren, wenn nicht alles weg ist." "Ich find's nicht in Ordnung, wenn wir einfach das Schiff sprengen." "Mein Gott, ich auch nicht. Aber es gibt keine andere Möglichkeit. Wir können alle Schäden an Bord reparieren, nur wenn das Schiff vollkommen zerstört ist, können wir das nicht mehr." "Und wie willst du das anstellen?" "Du weißt doch, daß wir noch eine Menge Treibstoff für unsere Maschinen an Bord haben. Der Diesel für die Schiffsmotoren brennt nicht, das brauchen wir gar nicht erst zu versuchen." "Wäre es nicht besser, das Schiff irgendwo auf Grund laufen zu lassen?"
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"Wo denn? Wenn wir übermorgen die Anker gelichtet haben, sehen wir für mehr als drei Monate kein Land mehr. Nein, das hatte ich mir auch überlegt, aber das geht nicht." "Und wenn wir eine Sprengung an der Außenhaut der Schwimmer machen?" "Hat auch keinen Zweck, die haben eine doppelte Schiffswand, damit lassen wir höchstens die Ballasttanks vollaufen, und außerdem können wir ein Leck mit Bordmitteln reparieren." "Verdammt. Wir sind zu gut ausgerüstet." "Bisher hat uns das eher das Gefühl der Sicherheit gegeben." "Wo willst du sprengen?" "Die Tanks sind in den Schwimmern, und zwar achtern unterhalb des Flugdecks. Im Steuerbordschwimmer sind noch mindestens 700 Tonnen Kerosin, und das reicht für einen ordentlichen Feuerball. Ich kann den Sprengsatz direkt am Tank anbringen, denn da führt ein Gang dran vorbei, und in dem sind genug Nischen, in denen man etwas verstecken kann." "Meinst du nicht, daß das zu gefährlich für dich ist?" "Ich muß es tun, ich will keinen anderen damit in Lebensgefahr bringen." "Kannst du denn damit umgehen?" "Die Anweisung für die Zünder hab' ich mir vorhin durchgelesen. Es müßte gehen." "Bist du dir sicher?" "Nein. Aber es wird schon klappen. Es muß klappen!" "Chris, mir ist nicht wohl dabei." "Etwas anderes: Was machen wir, wenn das Schiff brennt?" 281
"Wir müssen die Leute retten. Es wäre am besten, wenn wir genau zu diesem Zeitpunkt eine Übung ansetzen." "He, die Idee ist gut. Dann bist du auch alleine." "Du mußt doch an Deck sein, du bist doch bei einer Übung als Ordner eingeteilt." "Hm. Was mach ich denn da?" "Wie wär's, wenn du dich damit 'rausredest, daß du unter Deck kontrollieren mußt, ob alle Rettungseinrichtungen funktionieren?" "Da unten sind keine, Michael." "Aber die Feuerschutzeinrichtungen, die sind doch da." "Und das Schiff geht in die Luft, während ich da unten kontrolliere. Meinst du nicht, daß wäre ein bißchen zu auffällig?" "Hast Recht. Aber komm, uns fällt noch 'was ein." "Wer weiß noch von der Sache?" "Außer uns kein Mensch." "Gut. Dann rede ich morgen mit dem Kapitän darüber, daß wir zur Sicherheit eine Übung veranstalten sollten, bevor wir die Anker lichten." "Das ist gut. Dann haben wir freie Bahn." "Ich hoffe es, Svenja." "War es das? Ich bin müde." "Ich glaube, wir sind fertig, Michael." "Dann gute Nacht." Damit verabschiedet sich Michael von Svenja und Chris. Sie reden über seinen Plan, und er hat tatsächlich Zweifel daran, ob er mit dem Sprengstoff wird umgehen
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können, aber er kann sich das jetzt nicht mehr von einem Kollegen zeigen lassen, das wäre zu auffällig. IV. Dieser Tag soll dazu dienen, die Forschungsarbeiten auf dem Land abzuschließen. Dazu sind die meisten Wissenschaftler an Land gegangen, um dort Feldarbeit zu betreiben und sich Dinge anzusehen, die sie in den letzten Tagen entdeckt hatten und nun näher erforschen möchten. Chris hat sich von einem Flugzeug in die Wüste bringen lassen, um dort zusammen mit Svenja in einem steinigen Tal den Untergrund zu untersuchen. Er sagt sich zwar, daß es keinen Zweck mehr hat, nimmt aber trotzdem Bodenproben und kartiert sie, während Svenja an Felsen herumklopft und Gesteine bestimmt. Chris hat zu dem Zweck, größere Proben nehmen zu können, heute morgen mehrere Kilo Sprengstoff mitgenommen und sich dabei von einem Kollegen zeigen lassen, wie man die Patronen zur Detonation bringt. Ihm schien es, daß keiner Verdacht geschöpft hat, denn natürlich hat er die Sprengsätze nicht mitgenommen, sondern in seiner Kabine versteckt, um damit morgen die "Challenger" in einen Feuerball verwandeln zu können. Die Sonne brennt heiß herunter, und in der Mittagsglut erstirbt bei beiden jegliche Lust an körperlicher Betätigung. Auch wenn der August jetzt zu Ende geht, so ist es im südlichen Teil der neuen Welt zu diesem Zeitpunkt noch sehr heiß. So legen sie sich in den Schatten eines Felsüberhangs. "Chris, weißt du schon, wie du das morgen machen willst?" "Ich hab' mir vorhin erklären lassen, wie ich den Zünder einstellen muß. Es wird schon klappen." "Ich hoffe es. Es wäre schade, wenn du dich dabei verletzen solltest." "Das hab' ich nicht vor... Aber eigentlich braucht man damit gar nicht so vorsichtig zu sein, ich hatte mir das komplizierter vorgestellt." 283
"Dein Wort in Gottes Ohr." "Drück' mir die Daumen." "Tu ich." Sie legt sich auf den Rücken. "Du, was ist das eigentlich mit der Frau, die dir gestern diesen Brief geschickt hat?" "Sylvia?" "Ja, genau die." "Das hatte ich dir doch schon erzählt, sie war eine kurze Affäre vor fünf Jahren. Sie hat mir seit unserer Abfahrt regelmäßig geschrieben." "Weiß sie von deinem Vorhaben?" "Nein." "Meinst du, sie würde dir das ausreden?" "Ich glaube es nicht. Sie hat mir geschrieben, daß ich schon richtig entscheiden würde." "Will sie nicht, daß du zurückkommst?" "Ich weiß es nicht. Wir sind nicht verheiratet, ich hab' keine Ahnung, wie das jetzt bei ihr aussieht, wo sie lebt und mit wem sie zusammen ist." "Du hast ihr doch öfter Briefe geschrieben." "Schon, aber wir haben uns wenig darüber unterhalten, mit wem wir jetzt zusammen sind. Sie weiß auch nichts von dir." "Ach ja?" "Ich will das nicht öffentlich machen, was in den letzten Monaten gelaufen ist. Wir wissen ja noch gar nicht, wie's weitergeht."
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Svenja wechselt das Thema. "Wenn wir hier an der Küste bleiben, was machen wir dann? Wir müssen uns irgendwie ernähren." "Ich glaube nicht, daß das Schiff ganz sinken wird. Wir können sicher noch Nahrungsmittel retten, außerdem sind Vorräte in den Rettungsbooten. Wenn wir nach Norden wandern, kommen wir in eine Steppe, in der wir mit Sicherheit 'was zu Essen finden." "Und wo sollen wir wohnen?" "Wir müßten uns Häuser bauen. Ach, das wird schon gehen, wir haben Handwerker an Bord, wir haben Werkzeug in den Booten, und wir haben Holz und Kleidung. Wenn wir uns ranhalten, werden wir keine großen Probleme haben, über den Winter zu kommen." "Und was werden die anderen sagen, wenn sie merken, daß du das Schiff versenkt hast?" "Das muß ein Geheimnis bleiben. Außer uns Drei weiß das keiner." Er wendet sich zur Seite. Das wird hart genug, da hat sie recht. Wovon sollen sie sich im Winter ernähren? Sie müssen weiter im Norden etwas zu Essen finden, sonst verhungern sie bis zum Ende des Jahres. Dort hat es Wälder, dort können sie sich Häuser bauen und haben Brennstoff. So können sie über den Winter kommen. Aber was wird er sich anhören müssen, wenn er für die Sprengung verantwortlich gemacht wird? Werden sie ihn lynchen? Besser nicht daran denken. Um zwei Uhr greift er zum Funkgerät und gibt durch, daß er abgeholt werden möchte. Es sind noch andere Wissenschaftler im Landesinneren, so daß es bis um drei Uhr dauert, bis sie die Maschine herannahen hören. Sie steigen ein und fliegen weiter nach Süden, dort nehmen sie eine Gruppe Biologen an Bord genommen. Um vier Uhr stehen sie alle auf dem Flugdeck. Svenja 285
liefert ihre Proben in Labor ab, während Chris zum Kapitän geht und mit ihm verabredet, morgen Vormittag vor dem Ablegen eine Seenotrettungsübung zu veranstalten. Der Kapitän ist damit einverstanden, und Chris ist darüber froh, daß alle Vorbereitungen so problemlos ablaufen. Abends soll eine Spontanfete an Bord steigen, weil das der letzte Tag an Land war und man ab morgen für knappe vier Monate auf See sein wird. Doch schon im Vorfeld der Feier wird klar, daß keine richtige Stimmung aufkommen wird, zu stark schwelt der Streit zwischen den Wissenschaftlern weiter. Nach dem Abendessen, als die ersten Biere geflossen sind, muß sich Chris Vorwürfe beider Seiten anhören, daß er sich nicht auf eine Seite schlagen will. Wenn die wüßten, denkt er. Und er vermeidet es, sich heute zu betrinken, er braucht morgen einen klaren Kopf. Das Gedränge in der Kantine kann er nicht mehr aushalten. Zusammen mit Michael geht er auf das Flugdeck, von dem sie einen weiten Blick auf die Küste genießen können, über der sich ein Sternenhimmel spannt, den es in der alten Welt wegen der verschmutzten Atmosphäre nicht mehr gibt. "Wie weit bist du mit den Vorbereitungen, Chris?" "Ich bin soweit fertig. Der Sprengsatz ist auf meiner Kabine." "Weißt du, wo du ihn anbringen mußt?" "Ich hab' mir gestern schon die Stelle angesehen." "Gut." "Und morgen werden wir dann eine Übung machen." "Ich weiß, der Kapitän hat mir vorhin Bescheid gesagt." "Wir sollten dafür sorgen, daß genug zu Essen und Trinken an Bord ist."
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"Die Rettungsboote sind gut ausgerüstet, wir haben Notverpflegung für zwei Wochen. Und Wasser für drei Tage, länger, wenn wir's rationieren." "Was machen wir dann? Wir finden in dieser Wüste nichts zu Essen. Ich hab' mit Svenja schon gesprochen, wir sollten nach Norden gehen." "Seh' ich auch so, da können wir Überleben. Hier werden wir in den nächsten Monaten 'draufgehen." "Dann wissen wir, was zu tun ist." "Hat irgendjemand Verdacht geschöpft?" "Ich hab` nicht den Eindruck." Sie brechen ihre Unterhaltung ab, weil sich von hinten eine Gruppe angetrunkener Kollegen nähert. Man prostet sich zu, Chris und Michael nehmen einige Schlucke aus der Bierflasche und gehen dann unter Deck. Es ist Mitternacht, als sie sich trennen. Chris hat keine Lust mehr, mit den Kollegen zu saufen, der morgige Tag liegt ihm schwer auf dem Magen. V. Der letzte Tag an Land bricht an. Jedenfalls sehen die meisten der Kollegen das so. Nur Chris, Svenja und Michael, die sehen diesen Tag anders, die sehen etwas auf alle zukommen, was kein Mensch erwartet. Beim Frühstück zeigen sich die Folgen der Feier der letzten Nacht, viele der Kollegen haben Ringe unter den Augen. Aber sie sollten heute alle früh aus den Federn, denn für den Vormittag war die Übung angesagt. Und an der müssen alle teilnehmen, Ausnahmen sind nicht gestattet. Als es auf zehn Uhr zugeht, ertönt eine Durchsage des Kapitäns, in der er die gesamte Besatzung darum bittet, sich an Deck zu versammeln. Die letzten der späten Gäste in der Kantine stehen auf, um sich an Deck zu begeben. Einige gehen in ihre Kabinen, um etwas überzuziehen, und dann erst an Deck. Michael, Gerd und Chris ziehen sich Armbinden über, die sie als Ordner ausweisen, so wie es im Notfall 287
vorgesehen ist. Während Gerd an Deck bleibt, durchstreift Michael den Aufbau, und Chris geht unter Deck, um nachzusehen, ob sich dort jemand aufhält. Kein Mensch schöpft Verdacht, als er von Deck geht. Sein Weg führt ihn zuerst unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, in seine Kabine. Aus der nimmt er sich eine Plastiktüte, in der sich die Sprengsätze verstecken. Hoffentlich sieht mich jetzt keiner, denkt er. Damit geht er schnurstracks unter Deck, biegt in den Gang ein, der die Treppenhäuser innerhalb der Schwimmer miteinander verbindet. Dort begegnet ihm ein Matrose, und Chris weißt ihn darauf hin, daß er dringend an Deck müsse, weil dort eine Übung stattfinde. Dann geht er weiter. Glück gehabt. In einer Nische geht es die Treppe hinab. Chris geht hinein, steigt die Treppe hinunter und erreicht einen der Gänge, die den Schwimmer innerhalb der Tanks von vorne bis hinten durchziehen. Über, neben und unter ihm befindet sich leicht entzündliches Flugbenzin. Plötzlich wird Chris unwohl. Soll ich es wirklich tun? Ist eine andere Lösung nicht besser? Ihm kommen Zweifel daran, ob es wirklich korrekt ist, hier alles in die Luft zu jagen. Nein, du hast dich dafür entschieden, du mußt es tun. Er sieht sich um, außer ihm kein Mensch zu sehen. Also packt er die Tüte aus, legt die fünf Sprengsätze nebeneinander auf den Boden des Ganges und die Zünder daneben. Dann montiert er sie so zusammen, wie es ihm der Kollege gestern gezeigt hatte. An Deck herrscht Aufregung, denn eine solche Übung, bei der alle Menschen anwesend sind, die sich an Bord des Schiffes befinden, ist immer eine erregende Sache. So merkt auch kein Mensch, daß Chris nicht da ist. Nur Svenja, die macht einen nervösen Eindruck. Hoffentlich geht alles gut! Eines nach dem anderen werden die Rettungsboote von den Davids auf die See herabgelassen, jedes mit 40 Personen besetzt. Bis auf einen kleinen Teil der Mannschaft sollen alle Menschen an Bord ausgebootet 288
werden, um zum Schluß der Übung wieder an Bord zurückgeholt zu werden. Michael ist in der Zwischenzeit von seinem Rundgang zurückgekehrt, und er hat einige Kollegen mitgebracht, die noch in ihren Betten lagen. Als er sieht, daß bereits mehr als die Hälfte der Rettungsboote zu Wasser gelassen sind, ruft er Chris über das Funkgerät. Der ist gerade dabei, die letzten beiden Zünder zu montieren, als er sich meldet. Michael gibt ihm durch, daß er jetzt kommen sollte, dann verabschieden sich beide. Svenja wirft Michael einen nervösen Blick zu, sie weiß, daß er schon längst wieder zurück sein sollte. Beide sehen zu, wie ein weiteres Boot vom David zu Wasser gelassen wird. Nicht mehr lange, und sie werden das Schiff auch verlassen. Plötzlich erschüttert eine Detonation das Schiff. Svenja und Michael sehen sich mit weit aufgerissenen Augen an. Nein, das kann doch nicht... Svenja läuft los, in den Aufbau hinein, stürzt die Treppe hinunter, läuft atemlos den Gang entlang, der zum Schwimmer führt. Doch dann wird sie von einer weiteren Detonation zu Boden geworfen, und sie sieht vor sich Flammen züngeln. Das ist das Flugbenzin, denkt sie. Es ist zu spät! Er hat es nicht mehr geschafft. Sie steht auf und versucht weiterzugehen, doch es ist unmöglich, die Hitze drängt sie zurück. Ihr stehen Tränen in den Augen, als sie umdreht, nicht nur der Hitze wegen. Einer ihrer Kollegen ist hinter ihr hergelaufen, man hatte an Deck den Eindruck, daß sie durchgedreht sei. Er faßt sie am Arm, doch sie kann allein gehen. Durch den Sturz ist ihre Wange aufgeschlagen, doch das spürt sie kaum, als sie an Deck zurückkommt. Chris hatte einen Fehler gemacht, als er den vierten Zünder montiert hatte. Der war zwar korrekt eingebaut, aber beim Verdrahten hatte er die Pole des Kabels falsch angeschlossen. Er hat es nicht mehr bemerkt, denn im selbem Moment, da er die Verbindung hergestellt hatte, ging der Sprengsatz hoch, und mit geringer Verzögerung auch die vier anderen. Durch den Explosionsdruck wurde sein Körper zerfetzt, er hat 289
nichts mehr gespürt. Und durch den Druck wurde die Wand an einer Seite des Gangs eingedrückt, so daß Kerosin ausgelaufen ist und sofort Feuer gefangen hat. Die anderen Wände wurden beschädigt und durch die Hitzeeinwirkung eingedrückt, so das auch das restliche Kerosin Feuer fing, der Grund für die folgenden Detonationen. Michael und Svenja wissen, was passiert ist, versuchen sich aber nichts anmerken zu lassen. Jemand fragt nach Chris, doch Michael schüttelt nur den Kopf. Nach ihm suchen? Das hat keinen Zweck, aus dem Aufbau dringen die ersten Rauchfahnen. Unterhalb der Kerosintanks befindet sich der Diesel, und wenn der heiß geworden ist, wird auch er brennen. Das wissen alle an Bord, und deshalb kommt es jetzt darauf an, möglichst schnell vom Schiff zu kommen. Jetzt kommt der Kapitän an Deck. Michael unterhält sich kurz mit ihm, treibt die Kollegen zur Eile an, bis das vorletzte Rettungsboot von Bord gehievt ist. Langsam fängt die "Challenger" an, Schlagseite zu bekommen. Das Wasser ist zwar in der Bucht nicht so tief, daß sie vollkommen unter der Wasseroberfläche versinken wird, aber der Schwimmer könnte abbrechen, und damit würde sie an dieser Seite ganz unter den Meeresspiegel sinken. Also: Runter von Schiff! Beim Bau hatte man darauf geachtet, nur schwer entflammbare Stoffe für den Innenausbau zu verwenden, doch das nützt jetzt wenig, wenn gleich 15000 Tonnen Diesel zu brennen anfangen. Die Flammen schlagen bereits aus Teilen der Aufbauten, als das letzte Rettungsboot zu Wasser gelassen wird. Michael, der als einer der letzten an Deck steht, sieht sich noch einmal um, ob Chris nicht doch noch auftaucht, aber es hat gar keinen Zweck, das weiß er genau. Also steigt er in das letzte Boot und läßt sich hinabhieven. Damit ist kein Mensch mehr auf der "Challenger". Die Boote steuern die nahe Küste an, und die ersten sind dort bereits gelandet. Svenja watet durch das 290
Salzwasser und sieht sich an, wie die "Challenger" in der Bucht brennt. Die Dieseltanks an der Steuerbordseite, an der die Sprengung stattfand, sind geborsten, der Treibstoff läuft aus und brennt auf der Wasseroberfläche. Auch der andere Schwimmer wird von den Flammen eingeschlossen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ebenfalls bersten wird. Neben ihr stehen Kollegen, die sich das grausame Schauspiel ansehen, doch sie kann es nicht mehr ertragen und wendet den Blick ab. Die beiden noch lebenden Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung, Gerd und Michael, nehmen es in die Hand, ihre Untergebenen um sich zu versammeln. Was können sie jetzt tun? Michael ist froh, daß keiner die Frage stellt, wo Chris geblieben ist und ob er etwas mit der Detonation zu tun hatte. Jetzt geht es darum, abzuchecken, wie lange die Nahrungsmittel reichen und was an Ausrüstung gerettet werden konnte. An Bord der Boote befinden sich Peilfunkgeräte, die Signale an die dafür ins All geschossenen Satelliten abgeben und den Kollegen an Land damit signalisieren, daß das Schiff untergegangen ist. Aber es gibt keine Sprechfunkverbindung, und bis jemand zu Hilfe kommen könnte, würde es Monate dauern, falls überhaupt jemand kommt. Die Menschen am Strand sehen einer ungewissen Zukunft entgegen, als die "Challenger" in einem Flammenmeer versinkt.
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