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Henry Seymour
Das Geschenk des Teufels
Originaltitel : GIFT FROM THE DEVIL
Aus dem Englischen übertragen von Nora...
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Henry Seymour
Das Geschenk des Teufels
Originaltitel : GIFT FROM THE DEVIL
Aus dem Englischen übertragen von Nora Norden DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG Copyright C: 1967 by Henry Seymour Titelbild : C.A.M. Thole Deutsche Erstveröffentlichung Germany September 1975
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Alles begann mit dem mysteriösen Tod von Alastair Newton. Offiziell starb Newton -ein rücksichtsloser Individualist und Abenteurer, der den größten Teil seines Lebens mit der Erforschung der wenig bekannten Teile der Welt verbracht hatte – an dem, was die moderne Medizin als »Verengung der Herzkranzgefäße« bezeichnet. Er wurde von seiner Frau im Trophäenzimmer seines Landhauses in Weald of Kent gefunden. Er hatte gerade eine Autobiographie seiner vielen Abenteuer vollendet und war dabei, eine zweite Expedition nach dem Chaco Boreal in Paraguay vorzubereiten, als ihn der Tod traf. Merkwürdig war, daß es sehr viele Gelegenheiten gegeben hatte, bei denen Alastair Newton dem Tode äußerst nahe gewesen war. Er kam aber, als er ihn am wenigsten erwartet hatte. Ebensowenig wie er hatte ihn auch sein Arzt erwartet. Dr. Macauly war sein Leben lang Newtons Freund gewesen und hatte den körperlichen Zustand des Forschers gut gekannt. Dr. Macauly fand seinen Freund mit ausgebreiteten Armen vor einer lebensgroßen Holzstatue liegend. Newtons linker Fuß lag abgeknickt unter dem anderen Bein, und sein Gesicht war zu einer Maske des Grauens verzerrt. Die Augen waren aus den Höhlen getreten und der Mund vor Entsetzen weit aufgerissen. Seine erste Untersuchung enthüllte keine der Befürchtungen, die er gehegt hatte. Alastair Newton hatte weder mit fremden 3
Giftstoffen experimentiert, noch hatte er sich irgendeine bekannte Krankheit zugezogen. Es war ganz einfach ein Herzschlag. Aber das Herz eines normal gesunden – in Newtons Fall sogar eines robusten – Mannes hört nicht ohne Ursachen auf zu schlagen. Aber Untersuchungen im gerichtsmedizinischen Labor erbrachten nichts, was zur Klärung der wirklichen Ursache von Alastair Newtons Tod hätte beitragen können. Es gab nur eine Antwort, und die bestand zur Hauptsache aus Vermutungen. Der Herzschlag mußte durch einen seelischen Prozeß ausgelöst worden sein, durch irgend etwas, das in Newtons Innerem vor sich gegangen war. Aber was war es? Angst, Entsetzen oder zu lebhafte Phantasie? Als Neal Mottram die Tür aufschloß, hatte er das sichere Gefühl, daß er heute einen guten Tag haben würde. Es gab keinen konkreten Grund für dieses Gefühl außer der Erwartung, die ihn, seit er aufgewacht war, erfüllte, und den drei Kuverts, die unterhalb des Briefschlitzes im Gang lagen. Er bückte sich, um sie aufzuheben, und legte das eine, in dem die vierteljährliche Telefonrechnung sein mußte, gleich beiseite. Der zweite Umschlag war an die »Galerie für Asiatische und Afrikanische Kunst« adressiert, eine etwas übertriebene Bezeichnung für die merkwürdigen Kunstgegenstände und ausgefallenen archäologischen Funde, die den kleinen Laden im weniger eleganten Teil der Wigmore Street füllten. Mottram riß ungeduldig den Um4
schlag auf, und das rosafarbige Papier eines Schecks erschien. Es war die noch ausstehende Zahlung für einen koreanischen Elfenbeinbuddha, den er an einen Geschäftsmann aus Leicester verkauft hatte. Er atmete erleichtert auf. Es reichte, um längst fällige Zahlungen zu leisten. Er hatte sich mit ziemlich teuren Jadestücken schwer verkalkuliert; Jade war nur langsam abzusetzen. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem dritten Brief zu. Das geprägte Kuvert machte einen irgendwie unangenehmen Eindruck. Sein Verdacht bestätigte sich, als er feststellte, daß der Brief von einer Rechtsanwaltskanzlei Howlett & Charteley kam. Neal Mottram versuchte sich an die verschiedenen Verkäufe in der letzten Zeit zu erinnern, die vielleicht zur Einschaltung einer Anwaltskanzlei berechtigt hätten. Doch in dem leicht verwirrenden Schriftstück wurde er gebeten, sich mit Eleanore Newton in Verbindung zu setzen, der Witwe des jüngst verschiedenen Alastair Newton, im Zusammenhang mit dem letzten Willen und Testament des Obengenannten. Plötzlich schien die ungeduldige Erwartung, die Neal Mottram erfüllt hatte, nachzulassen. Er erinnerte sich an das lederne Vogelgesicht Alastair Newtons, an seine etwas zu nachlässige Art, sich zu kleiden, und an die rastlose Energie dieses bemerkenswerten Mannes. Mottram hatte nichts von seinem Tod gewußt. Er hatte Alastair Newton fast sieben Jahre gekannt, aber ihre Bekanntschaft war 5
eine rein geschäftliche gewesen. Mottram erinnerte sich noch an das erstemal, als Newton in seinen Laden spaziert kam, ihm eine schwere Aktentasche in den Schoß fallen ließ und fragte: »Wieviel bieten Sie mir denn für das Zeug hier?« Es stellte sich heraus, daß »das Zeug’» aus vierzehn seltsamen, kleinen antiken Silberstatuen bestand, vermutlich mexikanischen Originalen, die bis zur Maya-Periode zurückgingen. Sie waren außergewöhnlich schön, wenn auch in der Darstellung nicht sonderlich erfreulich. In der Größe schwankten sie zwischen zehn und fünfundzwanzig Zentimeter. Ihr Gesamtgewicht betrug vielleicht zwanzig Pfund. »Mexikanisch?« fragte Mottram zögernd und beugte sich vor, um eins der Stücke von nahem zu betrachten. Es stellte einen dickbäuchigen, lächelnden Mann dar, grob dargestellt und ganz offensichtlich irgendeine Art von Fruchtbarkeitssymbol. »Ich habe sie in Yucatan ausgegraben«, erklärte Newton. »Die mexikanischen Behörden hätten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, wenn sie davon erfahren hätten.« Das schien zu bestätigen, daß es sich um MayaOriginale handelte, wenn es nicht Nachahmungen waren, und das war unwahrscheinlich. Neal Mottram war weder in der Lage gewesen, den annähernden Wert der vierzehn Stücke zu bestimmen, noch sie von Newton zu erwerben. Aber er 6
hatte mit ihm vereinbart, sie unabhängig schätzen zu lassen und sich mit dem amerikanischen Sammler in Verbindung zu setzen. Für seine Vermittlung hatte er eine Kommissionsgebühr von viertausend Dollar kassiert. Keins der weiteren Geschäfte mit Newton hatte jemals wieder einen solchen Umfang erreicht, aber fast jedesmal, wenn er nach England zurückkehrte, konnte Alastair Mottram mit einer Anzahl interessanter Stücke beliefern. Seit seinem letzten Besuch in Newtons Haus, einem umgebauten Bauernhaus südlich von Tenderten, waren gerade vier Monate vergangen. Newton hatte eine Anzahl von IboSpeeren und -Schildern mit zurückgebracht, alle sehr dekorativ und leicht zu verkaufen. Er hatte noch etwas mitgebracht, das er lachend seinen »Black Johnny« nannte; aber aus irgendeinem Grund wollte er den nicht verkaufen. Während Neal Mottram langsam in sein Büro ging, erinnerte er sich merkwürdig klar an jenen Augenblick in Newtons Trophäenzimmer, als er die Statue das erstemal gesehen hatte. Sie war ihm seltsam vertraut und lebendig erschienen. Newton hatte die Statue im Bende-Hinterland nahe dem Gross River in Ostnigeria entdeckt. Das hätte auf den Stamm der Ibo hingewiesen, wenn nicht das Fehlen jeglicher negroiden Züge sowohl im Ausdruck als auch in der Handarbeit aufgefallen wäre. Mottram konnte sich eher vorstellen, daß es vielleicht die Arbeit eines Aro-Künstlers war. Die Aros 7
waren ein kleiner Stamm von ganz anderer Rasse als die sonstigen Bewohner von Nigeria. Sie waren jetzt fast ausgestorben beziehungsweise in den zahlenmäßig viel stärkeren Ibos aufgegangen. Bis kurz vor der Jahrhundertwende waren sie die Herren in einem großen Gebiet von Ostnigeria gewesen und hatten sich als Händler, Sklaventreiber und Priester betätigt. Ihr Ursprung war nicht genau bekannt. Vielleicht waren sie die Nachkommen einer Gruppe französischer Missionare; jedenfalls waren sie eine hellhäutige, fast europäisch wirkende Rasse. Die Aros schienen sich als eine Art Priesterkaste betrachtet zu haben und hatten Götzenbilder, die ganz 10 verschieden von denen anderer afrikanischer Stämme waren. »Black Johnny«, wie Newton die Statue getauft hatte, hielt in seiner linken Hand einen seltsamen dreizackartigen Stab, der ungewöhnlich kurz war. Von seiner rechten Hand, zu einer Faust geballt, wand sich eine Natter bis hinunter zu seinem Knöchelgelenk, um das sie ihren Schwanz geringelt hatte. Falls es die Darstellung einer Schlange sein sollte, dann konnte die Statue die Verkörperung eines Wassergottes sein. Das war alles reine Vermutung. Um mehr über die Herkunft der Statue zu erfahren, wäre eine wesentlich genauere Untersuchung notwendig gewesen. Aber aus irgendeinem merkwürdigen Grund wollte
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sich Alastair Newton nicht von ihr trennen, nicht einmal für eine kurze Zeit. Lange Zeit saß Neal Mottram in seinem kleinen, stillen Büro und dachte über all dies nach, bevor er endlich nach dem Telefon griff, um sich mit Eleanore Newton in Verbindung zu setzen. Drei Fahrten mit dem Minibus waren notwendig gewesen, um alles von Tenderten nach London zu schaffen, und es würde noch viel Zeit beanspruchen, den Ursprung jedes Stückes festzustellen und es dann zu verkaufen. Eleanore Newton schien sehr erpicht darauf zu sein, das Haus so schnell wie möglich von den Erinnerungsstücken ihres Mannes zu befreien. Wenn Mottram alles hätte bezahlen müssen, hätte er die Sachen nicht übernehmen können. Dank seiner langen Zusammenarbeit mit Alastair Newton hatte man ihm die Sammlung auf Kommissionsbasis angeboten. Alles, außer der Statue. Die gehörte jetzt ihm. Aus irgendeinem Grund hatte Newton eine Notiz hinterlassen, in der er ausdrücklich wünschte, die Statue Mottram zu vererben. Neal Mottram fühlte sich deswegen etwas unbehaglich. Er erinnerte sich daran, wie sehr Newton sich gesträubt hatte, ihm die Statue zu verkaufen. Vielleicht gab es dafür einen triftigen Grund. Seit vier Tagen stand die Statue dunkel in einer Nische seines Ladens. Es umgab sie etwas seltsam Lebendiges. Das dunkle Holz schien zu glühen und zu pulsieren; und besonders in der Dämmerung war es so, als folgten die glänzenden 9
Topasaugen jeder seiner Bewegungen. Er merkte, daß immer mehr zufällig vorbeikommende Menschen seine Schaufenster betrachteten, und wunderte sich über die vielen Erkundigungen nach dem Preis von »Black Johnny«. Es gelang ihm, die meisten Interessenten abzuweisen, indem er sagte, die Statue sei nicht zu verkaufen. Aber er mußte sich eingestehen, daß ein Angebot von zweihundertfünfzig Pfund ihn stark in Versuchung gebracht hatte. Der einzige Grund, warum er abgelehnt hatte, war Geldgier. Es war offensichtlich ein sehr seltenes Exemplar, und es bestand die Wahrscheinlichkeit, daß er einen weitaus höheren Preis erzielen würde, wenn er erst einmal die Herkunft genau festgestellt hatte. Während der folgenden Tage spürte er fast so etwas wie Zuneigung gegenüber der lächelnden, wohlwollenden Figur in der Nische. Seit sie im Laden stand, war es ihm gelungen, eine Reihe von Stücken zu verkaufen, auf denen der Staub schon ziemlich hoch gelegen hatte. Falls der Besitz der Statue überhaupt einen Einfluß ausübte, dann war es jedenfalls ein äußerst vorteilhafter, doch war Mottram ganz sicher, daß alles reiner Zufall war. Sie war der Typ einer unscheinbaren schlichten Hausfrau, die ein bißchen zuviel Speck um die Hüften angesetzt hatte und einen zu großen Teil ihres Haushaltsgeldes in dem erfolglosen Bemühen ausgab, eine strahlende Blondine zu bleiben. Nach ihrem Einkaufsnetz zu urteilen, mußte sie gerade 10
vom Supermarkt gekommen sein. Irgendwie wirkte sie in einem Antiquitätenladen fehl am Platze. Sie war eigentlich der Typ, der Aschenbecher mit einem gemalten Eiffelturm sammelt. Sie untersuchte mit großem Aufwand eine Reihe der ausgestellten Gegenstände, bis der Laden von allen anderen Käufern verlassen worden war. Dann steuerte sie geradewegs auf Mottram zu. »Wieviel kostet die Statue?« fragte sie. »Welche Statue?« fragte Mottram erstaunt. »Der Chuku«, antwortete sie geheimnisvoll. »Wieviel kostet er?« Er hielt den Atem an. Es war das erstemal, daß er diesen Namen hörte. Chuku! Das erstemal, daß ihn jemand identifiziert hatte, auch wenn es eine etwas zweifelhafte Identifizierung war. »Sie scheinen über die Herkunft und die Bedeutung der Figur etwas zu wissen?« fragte er vorsichtig. »Es ist ein Chuku, ein Gott«, antwortete die Frau hastig, als hätte sie Angst, daß ein neuer Kunde sie stören könnte. »Er kommt aus Nigeria. Wieviel verlangen Sie dafür?« »Er ist nicht zu verkaufen«, sagte Mottram rasch und ganz automatisch. Ganz plötzlich spürte er eine Veränderung in seiner Beziehung zu der Statue. Zuerst, als er sie bekommen hatte, hatte er nur an einen schnellen Verkauf zu einem möglichst hohen Preis gedacht. Aber seit sie in seinem Laden stand, hatte sich seine Haltung ihr gegenüber langsam 11
verändert. Er fühlte sich ihr jetzt richtig verbunden, ohne daß ihm dieses neue Gefühl ganz klargeworden wäre. Er sah die Enttäuschung auf dem Gesicht der Frau. »Sie ist nicht viel wert«, versuchte sie es noch einmal. Sie war zu der Nische gegangen, und ihre dickliche kleine Hand berührte fast zärtlich das dunkle Holz und strich über die seidige Glätte. »Ich kenne den Wert nicht«, gab Mottram offen zu. »Aber ich möchte gern noch ein bißchen mehr darüber herausfinden. Ich habe die Figur von einem Freund geerbt, der kürzlich gestorben ist. Ich weiß nicht genau, warum er mich ausgesucht hat oder was seine Absicht bei dieser Gabe war, aber ich habe das Gefühl, daß ich mich nicht so schnell wieder davon trennen sollte.« Sie wandte sich ihm wieder zu. »Sie suchen nach etwas?« sagte sie, und es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Sie suchen die Lösung eines Rätsels. Hat es mit Ihrem Freund zu tun?« Wenn ich nach etwas suche, dann nach der Wahrheit über die Statue, die Sie einen Chuku genannt haben«, sagt er vorsichtig. »Sie scheinen einiges darüber zu wissen.« »Es ist nicht nur der Chuku«, antwortete ihm die Frau, und in ihrer Stimme war eine solche Sicherheit, daß es ihm fast den Atem verschlug. »Ich könnte Ihnen nicht sehr viel über ihn sagen, aber vielleicht bin ich in der Lage, mehr zu erfahren. 12
Aber das ist nicht das wirkliche Problem, mit dem Sie sich herumschlagen, das kann ich deutlich sehen. Sie haben vor irgend etwas Angst.« Neal Mottram zwang sich zu lachen. »Sie irren sich, Madam«, sagte er entschieden. Sie starrte ihn weiterhin merkwürdig an. »Könnte es wegen des Todes Ihres Freundes sein?« sagte sie fast wie zu sich selber. »Oder der Grund, weshalb er Ihnen das hier geschenkt hat?« »Nein«, sagte er unbehaglich. »Ich glaube, ich weiß schon, weshalb er mir die Statue hinterlassen hat. Wie ich Ihnen schon sagte, gibt es keinerlei Grund zur Beunruhigung.« »Dann muß es mit dem Tod Ihres Freundes zu tun haben«, fuhr sie ruhig fort. »Wann ist er gestorben?« »Vor elf Tagen.« Er war überrascht, daß er dies mit einer Fremden, einer Frau ihrer Art, besprach. Ihr Gesicht entspannte sich etwas, und sie schien zufrieden. »Vielleicht können wir Ihnen helfen«, überlegte sie. »Es ist genügend Zeit vergangen. Würden Sie erlauben, daß wir uns den Chuku für eine kurze Zeit ausleihen?« »Nein!« Die Schärfe seiner Antwort überraschte ihn. Er war immer ein sanfter, sehr hilfsbereiter Mensch gewesen. Plötzlich entdeckte er eine ganz andere Seite in sich, eine fast grausame Härte. Er bemühte sich schnell, den Eindruck etwas abzuschwächen. »Ich erwarte einen Experten afrikani13
scher Kunst, der mir versprochen hat, die Figur zu prüfen.« »Das ist Pech.« Es schien, als hätte die Frau die Lüge sofort durchschaut. »Wir wären vielleicht in der Lage gewesen, Ihnen zu helfen.« Er starrte sie unsicher an, seine hellen farblosen Augen hinter den randlosen Brillengläsern waren ausdruckslos. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte er ruhig. Die Frau schien einen Augenblick über die Frage nachzudenken. »Ich bin die Priesterin unseres Bundes.« »Eine Zauberin?« murmelte er. »Sie können mich so nennen, aber ich würde es vorziehen, wenn Sie es nicht täten«, sagte sie streng. »Diese Bezeichnung beschwört zu viele falsche Vorstellungen herauf.« Plötzlich war Neal Mottrams Unsicherheit in Neugier umgeschlagen. Eine Hexe! Er fühlte, wie seine Gesichtsmuskeln zuckten, und er mußte sich beherrschen, nicht zu lächeln. »Befassen Sie sich mit schwarzer Magie?« fragte er schnell. »Nein«, sagte sie unbewegt. »Wir glauben an die Macht des Okkulten, an das Vorhandensein einer starken Kraft, die beides beherrscht, das Gute und das Böse. Aber wir verschließen unsere Augen und Ohren allen schlechten Gedanken. Das Teuflische ist eine Macht, die nicht aus eigenem entsteht, sondern die den Gehirnen der Menschen ent14
springt. Wenn wir ihm unseren Geist verschließen, können wir uns mehr mit konstruktiven Gedanken befassen.« »Welcher Art konstruktiver Gedanken?« forschte er. »Die Heilung von Krankheit, die Entwicklung verborgener geistiger Kräfte, die Zusammenarbeit mit einer anderen Welt«, sagte sie schlicht. »Es ist ein zu weites Feld, das nicht in ein paar Worten erklärt werden kann. Um uns überhaupt verstehen zu können, müßten Sie die magischen Bücher studieren, Experimente ausgeführt haben und überhaupt willens sein zu lernen. Da die meisten Menschen weder Ausdauer noch Willen haben, das zu tun, werden sie uns immer skeptisch als Verrückte oder Scharlatane betrachten.« »Aber warum möchten Sie denn gern den Chuku für etwas ausleihen, das nur konstruktive Gedanken erfordert?« »Auch das wäre viel zu kompliziert, um es zu erklären«, sagte die Frau. »Ohne Verständnis für das Wesentliche unseres Glaubens würden Ihnen unsere Rituale und Anrufungen mehr oder weniger wie Humbug vorkommen. Aber jeder Mensch, der die Fähigkeit des Gedankenlesens beherrscht, braucht ein Medium und einen Fixationspunkt. Ich bin gebeten worden, in einem ganz bestimmten Fall zu helfen, in den ein Verwandter von einem der nigerianischen Mitglieder unseres Bundes verwickelt ist. Der Chuku wäre auf Grund seiner 15
Echtheit ein ausgezeichneter Fixationspunkt. Wenn es Ihnen möglich gewesen wäre, mir zu helfen, hätte ich versucht, mich mit dem Geist Ihres Freundes in Verbindung zu setzen, um Ihr persönliches Problem lösen zu helfen.« Sie griff nach ihrer Einkaufstasche. »Was wollten Sie denn wegen des Nigerianers unternehmen, den Sie erwähnt haben?« »Ich möchte die Kräfte des Guten bitten, unserem nigerianischen Bruder zu helfen«, erklärte sie. »Er ist ein sehr kranker Mann. Er verliert langsam sein Augenlicht, wenn ihm nicht noch jemand hilft. Der Mensch mit seinem Verstand und den Entwicklungen der modernen Medizin hat bis jetzt versagt.« »Gesundbeterei?« sagte Mottram leicht enttäuscht. Die Frau zuckte die Achseln. »Der Mann ist in Nigeria«, sagte sie. »Das macht große Schwierigkeiten. Ich kenne ihn nicht, aber es ist möglich, daß er gerettet werden kann.« »Aber nur mit Hilfe meiner Statue«, ergänzte Mottram ihre Worte. »Falls Sie keinen Einwand haben, gibt es vielleicht doch einen Weg, Ihnen zu helfen. Ich bringe den Chuku sowieso in den Keller. Es waren schon zu viele Nachfragen seinetwegen. Wenn der Raum unten für Ihre Zwecke geeignet ist, können Sie kommen und alles tun, was notwendig ist.« »Ich fürchte, das ist ganz unmöglich«, sagte die Frau. »Es gibt verschiedene Vorbereitungen, die getroffen werden müssen; und der störende Ein16
fluß eines zweifelnden Geistes könnte ernsthaft das ganze Experiment in Frage stellen.« »Oh! Bitte mißverstehen Sie mich nicht«, sagte Mottram schnell. »Selbstverständlich wären Sie völlig ungestört!« Die Frau sah überrascht auf. »Sie würden den Chuku und den Raum zur Verfügung steilen und sich nicht einmischen wollen?« fragte sie. »Warum?« »Vielleicht, weil mich das Ganze interessiert und weil es Ihnen vielleicht möglich ist, mir noch mehr Informationen über den Chuku zu geben. Vielleicht aber auch, weil ich hoffe, daß es Ihnen gelingt, sich mit Alastair Newton in Verbindung zu setzen, wenn das überhaupt möglich ist.« »Ich weiß nicht«, sagte die Frau leise. »Ich muß darüber nachdenken. Wäre es möglich, den Kellerraum vorher einmal anzusehen?« Mottram strahlte. »Aber natürlich«, versicherte er. »Sofort, wenn Sie wollen.« Er ging zur Ladentür und schloß ab. Als er sich umwandte, war die Frau wieder zu der Statue getreten und hatte sie sanft berührt. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte Neal Mottram, er hätte ein deutliches Lächeln der Zustimmung auf dem glatten, glänzenden Gesicht des Chuku entdeckt. Aber vielleicht täuschte auch nur das Licht. Kurz vor neun Uhr trafen sie ein. Zwei normal gekleidete Männer, die in irgendeinem Büro in der Stadt angestellt sein konnten und die ungewöhn17
lich große Aktentaschen trugen. Außerdem mehrere Frauen mit Einkaufstaschen. Mit Ausnahme einer einzigen wirkten sie einfach und gewöhnlich. Die blonde Hohepriesterin – Neal Mottram hatte nicht nach ihrem Namen gefragt – war schon eine halbe Stunde früher gekommen. Einer nach dem anderen verschwand hinter der Tür, die nach unten führte. Das einzige farbige Mädchen war sehr hübsch. Es lag etwas fremdartig Faszinierendes in den klaren dunklen Augen und dem Weiß ihrer Zähne. Der lockere Mantel konnte nicht die vollkommene Harmonie eines schmiegsamen jugendlichen Körpers verbergen. Nach einem scheuen Gruß verschwand auch sie. Nachdem der letzte Besucher angekommen war, verriegelte Neal Mottram die Ladentür. Von unten hörte er gedämpfte Stimmen und Geräusche. Fünf Minuten später trat die blonde Frau durch die Tür. Sie trug einen losen weißen Satinüberwurf, dessen Ärmelstulpen und Kragen mit roter Borte eingefaßt waren. »Ich werde jetzt die Tür zusperren, Mr. Mottram«, sagte sie. »Bitte erschrecken Sie nicht, wenn Sie Geräusche hören. Wir werden so ruhig wie möglich sein.« Mottram nickte, die Augen hinter seiner randlosen Brille glänzten aufgeregt. »Ich habe die Ladentür verschlossen«, sagte er. »Sie sind vor jeder Störung sicher. Wenn Sie irgend etwas brauchen, dann finden Sie mich oben.« 18
Die Priesterin nickte und schloß die Tür hinter sich. Mottram hörte, wie der Schlüssel herumgedreht wurde. Einen Moment lang stand er und sah auf die verschlossene Tür. Im Dunkeln tastete er sich durch den Laden; aber als er den Fuß der Treppe erreicht hatte, die zu seiner Wohnung führte, ging er geradeaus zur Hintertür. Eine Sekunde lang stand er ganz still. Geräuschlos öffnete er die Tür und trat hinaus in den kleinen Hof, wo der Minibus unter einem überdachten Abstellplatz stand. Der Verkehrslärm der nahen Oxford Street verschluckte das Geräusch seiner Schritte, als er zu den Stufen eilte, die von außen in den Kohlenkeller führten. Dieser war durch eine schwere Eisentür verschlossen, aber er war klug genug gewesen, die Angeln am vergangenen Abend zu ölen. Das Gemurmel von Trommeln wurde laut, als er in der stickigen Luft des Kellers stand, der nach Kohlen und Staub roch. Es war ein unmelodischer Trommelwirbel, monoton und endlos. Neal Mottram bückte sich und tastete nach der Holzkiste, die er an der anderen Wand hingestellt hatte. Seine Fingerspitzen fanden die unebenen Kanten des Ventilationsziegels, der in die Mauer eingelassen war. Die winzigen Öffnungen waren mit Staub und Schmutz verschmiert gewesen, aber in weiser Voraussicht hatte er sie mit einem kleinen Schraubenzieher gereinigt.
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Jetzt preßte er seine Augen an die Öffnungen und spähte in den danebenliegenden Raum. Bei dem flackernden Lichtschein von Kerzen sah er ein fremdartiges Bild. Sechs Menschen, alle in das gleiche weiß-rote Satingewand gehüllt, saßen in einem Halbkreis auf dem Boden auf der Linie eines Kreises und blickten auf die beiden Gestalten vor sich. Die Hohepriesterin saß zur Rechten der Holzstatue, die sich über ihr erhob, auf der Grundlinie eines Dreiecks, die sich vor beiden erstreckte. Zwischen ihnen stand ein Becken, das mit glühenden Kohlen gefüllt war. In ihrem Schoß hielt sie einen irdenen Krug, der mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt schien. Außerhalb der beiden Tangenten des Dreiecks standen zwei Kerzen. Sie bildeten die einzige Beleuchtung. Eine Anzahl unverständlicher Symbole und arabischer Buchstaben war in die Fläche des Dreiecks geschrieben. Mottram holte tief Luft, als das leise Trommeln abrupt abbrach. Einen Augenblick lang füllte tiefes Schweigen den Raum. Dann erhob sich die Gestalt, die der Priesterin am nächsten saß, und begab sich zu der Grundlinie des Dreiecks. Sie tauchte beide Hände in den ihr entgegengehaltenen irdenen Krug. Kleine Wassertropfen glänzten im Kerzenlicht, als die Frau ihre beiden Ärmel berührte und ihre Hände in einer rituellen Waschzeremonie rieb. Die nächste Gestalt wiederholte ihre Bewegungen, und Neal Mottram sah, wie sich die Lippen der Priesterin bewegten, als sie wieder und wieder den Krug nach vorn hielt. 20
Als die Waschzeremonie von jedem in der Gruppe vollzogen war, setzte die Priesterin den Krug zu Füßen der Statue ab. Sie griff hinter sich und streute einige Kräuter in das Kohlenbecken. Dünner weißer Rauch ringelte sich zur Decke. Mottram fühlte, wie sich kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Die Priesterin stand nun mit ausgestreckten Armen da, die Augen hielt sie fest geschlossen. Sie murmelte fremde und unverständliche Worte, die von den Gestalten vor ihr wiederholt wurden. »Aglon Tetagram Vaycheon. Stimulamathon, Erohares...«’ Die Beschwörungen wiederholten sich unaufhörlich. Lange war Mottram völlig verwirrt, bis ihm klar wurde, daß die Priesterin den »Schlüssel des Salomon« benutzte. Andere Anrufungen folgten, ebenso fremdartig und unheimlich. Als endlich eine Pause eintrat, wurden noch mehr Kräuter auf die glühenden Kohlen gestreut, bis die Gestalt der Priesterin fast hinter den kräuselnd aufsteigenden Rauchsäulen verschwand. Eine der Gestalten erhob sich und glitt mit weichen Schritten bis vor die Hohepriesterin, wo sie stehenblieb. Die weiße Hand streckte sich vor und berührte das schwarze gelockte Haar und tastete dann hinunter zu der Seidenkordel, um sie zu öffnen. Fast ungeduldig ließ das Mädchen den weißen Umhang von den Schultern gleiten und stand
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nackt da bis auf ein kleines Lendentuch, das ihre dunklen Hüften umgab. Zuerst begann sie, den Kreis ganz langsam zu umrunden, mit wiegenden Hüften und kreisenden Schultern. Noch sah man das Weiß ihrer Augen und die strahlenden Zähne bei jeder ihrer Drehungen; aber als sich die Geschwindigkeit und die Windungen steigerten, verschwammen ihre Umrisse in einem dunklen Wirbel von glänzender Haut und schwingenden Armen. In dem kleinen Kohlenkeller schien die Luft auf einmal zum Ersticken heiß zu werden. Neal Mottram merkte, wie er nach Luft schnappte, und er spürte plötzlich beklemmende Schmerzen in der Brust. Mehr noch als seine Augen war sein Geist von dem gebannt, was er sah. Der Erschöpfung nahe und nach Luft schnappend, tanzte das Mädchen weiter. Ihre Augen waren krampfhaft geschlossen, als wollte sie sich dadurch zwingen, weiterzumachen, doch plötzlich sackten die Beine unter ihr weg. Sie wäre hingefallen, wenn ihr nicht die Gestalten in ihrer Nähe geholfen und sie in den Kreis getragen hätten, wo sie zu einem gequält nach Luft ringenden Bündel zusammenbrach. Schweiß trat auf die schwarze Haut, die nach der ungeheuren Anstrengung zuckte und zitterte. Über dem Keuchen des hilflosen Mädchens erhoben sich erneut die Beschwörungen, die jetzt ge22
sungen wurden und langsam vom geheimnisvollen Flüstern zu einer drängenden Höhe anstiegen. Volle zwanzig Minuten hielt das Singen in zermürbender Monotonie an, während Rauch und Hitze die Luft verdickten. Plötzlich begann das schwarze Mädchen, sich heftig zu bewegen. Ihr Körper wurde von wilden Zuckungen geschüttelt. Ein gellender Schrei hallte von den Wänden und ließ sein Blut erstarren, während Angst seine Erregung verdrängte. »Blut!« schrie das Mädchen. »Ich sehe Blut.« Sie wand sich jetzt wie eine Schlange und versuchte den Händen der Priesterin zu entkommen, die die durchdringenden Schreie aus Furcht vor der Nachbarschaft zu ersticken versuchte. Als die anderen Mitglieder des Bundes ihr zu Hilfe eilten, wurde es Neal Mottram klar, daß irgend etwas schiefgegangen war. Nicht nur das nackte Mädchen war von Furcht verzehrt, sondern auch ihre Freunde, die voller Hast versuchten, das Mädchen wieder zu Bewußtsein zu bringen. Mottram spürte, daß er sich jetzt schnellstens entfernen mußte, bevor jemand herausfand, daß er Zeuge dieser fremdartigen Handlung gewesen war. Er fühlte sich schwach und ausgepumpt, als er sich zu der schweren Eisentür hintastete und in die Nachtluft hinaustrat. Sekunden später schlüpfte er heimlich die Treppe hinauf in den sicheren Hort seiner Wohnung. Noch immer gellten ihm die Schreie des Mädchens im Ohr. 23
Nach zehn fast unendlich scheinenden Minuten ertönte die Glocke aus dem Laden. Neal Mottram zwang sich, nicht sofort die Treppe hinunterzulaufen. Als er dann in den Laden trat, waren sechs Mitglieder des Bundes schon gegangen, ihre Schatten waren draußen noch durchs Fenster zu sehen; sie standen auf dem Bürgersteig und sprachen aufgeregt miteinander. Nur die blonde Priesterin war noch da. »Aber ich dachte, es würde viel länger dauern«, sagte Neal Mottram unschuldig. »Ich hatte nicht erwartet...« »Irgend etwas hat nicht gestimmt«, unterbrach ihn die Frau. »Irgend etwas Schreckliches hat sich unten im Keller zugetragen.« »Aber was kann es sein?« fragte Mottram. »Ist es Ihnen gelungen, sich mit Alastair Newton in Verbindung zu setzen?« »Nein«, flüsterte sie, als hätte sie Angst, belauscht zu werden. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was es war, aber es muß ein Omen sein. Es war von Anfang an ein schrecklicher, drohender Einfluß spürbar. Ich kann nur vermuten, daß es etwas mit der Statue zu tun hat. Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben. Versuchen Sie, den Chuku, oder was immer es ist, loszuwerden. Verkaufen Sie ihn, oder, noch besser, schaffen Sie ihn einfach aus dem Haus, solange Sie es noch können. Nennen Sie es Vorahnung oder wie Sie wollen, aber hören Sie auf
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den Rat von jemandem, der weiß, daß es übernatürliche Kräfte gibt.« »Aber was ist mit Ihrem nigerianischen Freund?« »Ich kann ihm jetzt nicht helfen«, sagte die Frau niedergeschlagen. »Vielleicht später, vielleicht durch ein anderes Medium. Bitte, denken Sie darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe, und handeln Sie schnell, bevor es zu spät ist.« Sie wandte sich plötzlich um und rannte fast aus dem Laden. Mottram öffnete den Mund, um ihr etwas nachzurufen, aber er unterließ es, als er die Türglocke anschlagen hörte und sie von den anderen in die Mitte genommen wurde. Als Mottram die Tür abschloß, wurde er von einem merkwürdigen Angstgefühl erfaßt, das schon fast an Panik grenzte. Die Leere des Hauses um ihn herum schien zu vibrieren. Er dachte an die dunkle Figur, die bewegungslos und unberührt von den Ereignissen unten im Keller wartete. Schnell eilte er zurück zur Treppe und dem hellen Licht, das so sicher und zuverlässig schien. Er war schon halb hinaufgegangen, als ihn plötzlich ein Gedanke überfiel. Wie angewurzelt blieb er stehen, legte den Kopf zurück und begann zu lachen. Das Ganze war ein Riesenschwindel gewesen! Es war ein kleines Spielchen, das sie mit ihm gespielt hatten. Vermutlich hatten sie gewußt oder zumindest geahnt, daß er ihrem Humbug zusehen würde, nachdem er ihnen sein Haus und die Statue für ihre Zwecke angeboten hatte. Und der Preis für das 25
Ganze war die Statue, der Chuku. Die Leute, mit denen er es zu tun gehabt hatte, waren weder Hexen noch Priesterinnen, es waren einfach Bauernfänger; und er hatte den Haken, den sie ihm hingeworfen hatten, schon fast geschluckt. Bei einigen Menschen erlischt die Wißbegierde, sobald wichtigere Dinge oder größere Probleme auftauchen. Bei anderen hingegen glimmt sie wie unter der Asche weiter und entwickelt sich zu einer alles verzehrenden Gier. Und so ein Mensch war Neal Mottram. Die Ereignisse des vergangenen Abends schienen im hellen Licht des nächsten Tages nur ein Traum gewesen zu sein. Sie waren wie ein kurzes Aufflackern, obwohl sich die Erinnerung daran bei ihm viel länger lebendig hielt, als er angenommen hatte. Nachdem er nun einmal mit diesen merkwürdigen Geschehnissen zu tun gehabt hatte, wuchs das Verlangen nach einer Erklärung mit jedem neuen Gedanken ins Ungeheuere. Der erste Schritt dazu kam mit dem Licht des neuen Tages, eines Tages, der über die Ängste der Nacht und ihre dunklen Schatten nur zu lachen schien. Es war ein vorsichtiger Schritt, und er war bereit, ihn zurückzugehen, falls nötig. Aber die Statue stand dunkel und unverändert auf dem gleichen Platz, auf dem er sie in der vergangenen Nacht von seinem Lauscherposten aus gesehen hatte. In der Eile ihres Aufbruches hatten die Mitglieder des Bundes vergessen, den Kreidekreis und die anderen mystischen Zeichen 26
auf dem Fußboden zu entfernen. Einen Augenblick lang zögerte er, bis er den Mut hatte, diese Linie zu überschreiten und das glatte Holz des Chuku zu berühren. Als nichts geschah, fühlte er seine Sicherheit wachsen, aber seine Neugier war noch weit davon entfernt, befriedigt zu sein. Am gleichen Morgen schloß er den Laden für eine halbe Stunde und lief in die Bibliothek, um sich eine Reihe von Büchern zu leihen, die mit Hexerei, magischen Künsten und Dämonenlehre zu tun hatten. Während der nächsten Tage und Wochen begann er sich in die Werke von Ferguson, Paul Carus, Defoe, De Lancre und einer Reihe anderer hineinzuarbeiten. Neal Mottram erkannte bald, daß er ein Thema berührt hatte, das voller Geheimnis und Widerspruch war. Aber durch seine Neugierde und den Drang, eine Bestätigung zu finden, wurde er mehr und mehr in die Sache hineingezogen. Er erkannte auch, wie groß das Feld dieser Wissenschaft war, das mit den Mysterien der Mesopotamier begann und denen die der Hebräer, Perser, Griechen und Gnostiker folgten. Ein ganzes Netzwerk von Seitenlinien dehnte sich vor ihm aus, das die orientalischen Religionen und die Bräuche der einzelnen Völker enthielt, das die Auslegung der Kabbala umfaßte und ihn mit Astrologie und Dämonologie vertraut machte.
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Er machte sich sofort ans Lernen und versuchte sich an den einfacheren Riten und Beschwörungen. Zwar ohne Erfolg, doch gewöhnte er sich dadurch an die Veränderung seines eigenen Ichs und seiner Umgebung. Was vor kurzem noch unbestimmte Angst in ihm hervorgerufen hatte, erzeugte jetzt nur noch Neugier. Zweifellos sind manche Leute schon mit dem Teufel im Leib geboren. Ihre Fähigkeiten, Unheil zu verbreiten, sind groß; und sie gehen in die verschiedensten Richtungen. Seit ewigen Zeiten hat es boshafte Männer und Frauen gegeben, und ihr Einfluß auf die Geschichte war beträchtlich. Der Einfluß anderer wieder war unsichtbar, er kam zum Ausdruck in dem Schmerz und dem Elend, das sie in ihrer unmittelbaren Umgebung hervorgerufen haben. Solch ein Mensch war Muriel Sharp. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, sah aber wie vierzig aus. Die Natur war nicht sehr freundlich zu ihr gewesen. Sie war knochig, hatte ein scharfes Gesicht, in dem eine Adlernase vorherrschte, und dünne, immer blutleere Lippen. Sie war nicht gerade der Wunschtraum eines Mannes mit ihren farblosen Haaren und den grauen Augen. Tatsächlich vereitelte sie bewußt jeden Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Sie glaubte dafür einen guten Grund zu haben. Im zarten Alter von vierzehn Jahren hatte sie die Schmach einer Vergewaltigung 28
durch einen Lehrer der Sonntagsschule, den sie seit drei Jahren kannte und dem sie vertraut hatte, über sich ergehen lassen müssen. Sie hatte weder ihren Eltern noch der Polizei etwas von dem Vorfall berichtet, und zwar aus gutem Grund. Aber es war doch ans Licht gekommen, da sie versteckte Andeutungen und Anspielungen bei einigen ihrer Freundinnen darüber gemacht hatte. Die Folgen waren vorauszusehen gewesen. Schon im Interesse des armen Mädchens wurden die Untersuchungen in aller Stille durchgeführt, und der Mann, der sich so schwer vergangen hatte, mußte sang- und klanglos verschwinden. Muriel wurde aus der Sonntagsschule genommen, ein Unglück, das sie schnell verwand. Was nie ans Licht kam - selbst sie hatte die Erinnerung daran in den hintersten Winkel ihres Bewußtseins verdrängt -, war die Tatsache, daß sie es selbst gewesen war, die den Mann zur letzten Konsequenz getrieben hatte. Es wäre auch schwer zu beweisen gewesen, zumal sie schon als Kind so unscheinbar war wie in ihren späteren Jahren. Ihr Drang, den Mann zu reizen, war nicht einmal einem erwachenden sexuellen Gefühl zuzuschreiben. Die ganze Sache war ihr ekelhaft gewesen, aber sie hatte gefunden, daß dies die richtige Art von Strafe für den Lehrer war, Strafe dafür, daß er sie nie zu einer seiner Lieblingsschülerinnen erkoren hatte, wie er es mit einigen ihrer Freundinnen getan hatte.
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Zu dieser Art von Selbsterniedrigung als Strafe für andere mußte sie sich nie mehr entschließen, denn sie hatte neue, kunstvollere Arten entwickelt. Sie hatte allerdings auch nie mehr eine sexuelle Beziehung gesucht oder gefunden. Als sie schließlich die Schule verließ, hatte sie einen Koffer gepackt und sich davongemacht. Sie war per Anhalter von der kleinen Stadt im südlichen Schottland, wo ihre Eltern lebten, bis London gefahren. Während der nächsten zwölf Jahre hatte sie dreimal ihre Stellung gewechselt und hatte nicht einmal an ihre Eltern geschrieben. Seit sieben Jahren arbeitete sie für einen älteren Geschäftsmann, einen Junggesellen, der seinen kleinen Verlag von seiner Privatwohnung in Kensington aus leitete. Sie wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung in einem Erdgeschoß in Maida Vale. Eine Zeitlang hatte sie der Gesellschaft für nukleare Abrüstung, der Labourparty und verschiedenen anderen Organisationen angehört, die ihr weder zugesagt noch sie interessiert hatten. Es war ihr aber dadurch möglich gewesen, die Bekanntschaft einiger Leute zu machen, von denen die meisten irgendwelche Schwächen hatten, die man ausnützen konnte. Während dieser Zeit hatte sie siebzehn anonyme Schmähbriefe verfaßt, aber nie mehr als einen an die gleiche Adresse verschickt. Sie hatte auch eine Anzahl mysteriöser Anrufe aus Telefonzellen in der Stadt geführt. Sie hat-
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te zwei Scheidungsverhandlungen beigewohnt, deren Endergebnis ihr größte Freude machte. Im Schlafzimmer ihrer Wohnung hatte sie einen alten Koffer, der einen ganzen Haufen Notizen über das Tun und Lassen der Leute in ihrer unmittelbaren Umgebung enthielt. Den meisten Menschen mochte sie als eine aufdringliche Person erscheinen, die ihre Nase in alles steckte. Sie selber beurteilte sich natürlich ganz anders. Sie betrachtete sich als eine Frau der Gerechtigkeit, die versuchte, das Unrecht, das ihr Gefühl verletzte, ans Licht zu bringen. Von dieser Perspektive aus gesehen war nichts Böses an ihr. Aber das Vergnügen, das sie aus ihren Unternehmungen zog, rührte nicht daher, daß sie Unrecht wieder in Ordnung brachte. Der Augenblick höchsten physischen Vergnügens war für sie die Sekunde, in der ihr Opfer erkannte, daß sein Geheimnis verraten war, und die Angst, die sie durch ein geflüstertes Wort oder ein paar ausgeschnittene, auf einen Briefbogen geklebte Worte einem anderen einjagen konnte. Die geistige Folterung der anderen war ihr sadistisches Vergnügen. Sie lächelte kalt, als sie an der Ampel darauf wartete, daß der Verkehr zum Stehen kam. Als sie auf den Zebrastreifen trat, unterschied sie nichts von der Menschenmasse, die jetzt auf dem Weg nach Hause war. Trotz des leichten Nieselregens, der das Pflaster feucht machte, war sie von Kensington her zu Fuß gegangen, um sich zu überlegen, was sie 31
sagen wollte. Sie fragte sich, wie die Reaktion ausfallen würde. Für gewöhnlich zeigten die meisten zuerst ehrliche Entrüstung, die dann allerdings schnell in Angst umschlug, wenn sie begann, ihre Behauptungen zu erhärten. Gelegentlich jedoch begegnete man ihr mit kalter, roher Feindschaft, ja Haß; doch das kam zum Glück selten vor. Sie fürchtete sich vor der Bedrohung durch körperliche Gewalt, denn derartige Kräfte flackerten so plötzlich auf, daß sie sie nicht unter Kontrolle halten konnte, außerdem beeinträchtigten sie ihr eigenes Vergnügen. Nach der Edgeware Road wurde der Verkehr ruhiger, und das Tempo war nicht mehr ganz so rasend. Sie brauchte den Laden nicht erst zu suchen. Schon gestern hatte sie die genaue Lage festgestellt, aber sie war nicht sofort wieder heimgegangen. Auch das war ein Teil ihres Vergnügens. Die Verzögerung des erregenden Augenblicks, der Nervenkitzel der Erwartung und das Sich-HineinVersetzen in die Gefühle ihres Opfers. Sie sah vor sich die weiße Front des Ladens neben der geschlossenen Tür, die in den Hof führte. Sie beschleunigte ihre Schritte. Neal Mottram hatte noch einen Kunden, einen großen Mann, den man an seiner Kleidung als Geschäftsmann aus der City erkannte und der einen militärisch gestutzten Schnurrbart trug. Muriel Sharp lächelte ihrem Spiegelbild in der Fensterscheibe kurz zu, bevor sie
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die Tür zum Laden öffnete. Über ihr erklang eine Glocke. Das sanfte rosafarbige Gesicht mit den hinter Brillengläsern versteckten Augen wandte sich ihr kurz zu. Sie trat zu der Nische, wo auf Regalen kleinere Gegenstände ausgestellt waren. Die leise Unterhaltung zwischen den beiden Männern wurde fortgesetzt. Muriel Sharp tat, als interessiere sie sich besonders für eine Reihe kleiner aus Elfenbein geschnitzter Figuren. Einige waren schon gelb vor Alter und von langen Rissen durchzogen, andere wiederum weiß und glatt. Sie ging langsam hin und her und sah, wie eine Anzahl Geldscheine den Besitzer wechselten. Dann packten Mottrams rosafarbige Finger einen eingelegten Kasten mit größter Sorgfalt in eine Schachtel. Endlich ging der Kunde. Der Mann, dessentwegen sie gekommen war, brachte ihn noch zur Tür. Wieder hörte sie die Glocke anschlagen, und dann näherten sich leise Schritte. Sie drehte sich um. »Womit kann ich Ihnen dienen, Madam?« Die Stimme klang sanft und nur ein bißchen ungeduldig. Vielleicht hatte er erkannt, daß sie nicht die Sorte Kunde war, die sich ernsthaft zu einem Kauf entschloß. »Ich glaube, Sie werden mir helfen können«, sagte sie selbstbewußt. »Sie sind Mr. Mottram, nicht wahr?«
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»Ja! Aber es tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern...« Oh, Sie können meinen Namen nicht wissen«, unterbrach sie ihn schnell. »Aber ich heiße Sharp, Muriel Sharp. Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Aber Sie sind mir empfohlen worden.« Er lächelte mechanisch. »Ach so! Suchen Sie nach etwas Speziellem?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie lächelte und sprach weiter, bevor er noch sagen konnte, daß leider schon Ladenschlußzeit sei. »Ja, Mr. Mottram. Ich suche eine Vase«, sagte sie, »eine chinesische Vase.« Die Erleichterung ließ sich sofort von seinem Gesicht ablesen. Er hatte Angst gehabt, daß sie sich nach etwas anderem erkundigen würde. Es war also bei ihm noch mehr los, mehr als sogar sie wußte. »Ah!« strahlte er. »Da sind Sie bei mir an der falschen Stelle. Chinasachen liegen außerhalb meines Bereiches.« Muriel Sharp war klar, daß er nur versuchte, sie so schnell wie möglich aus dem Laden zu bekommen. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, was noch kommen würde. »Das verstehe ich«, sagte sie geduldig. »Aber es könnte doch eine Möglichkeit bestehen, daß Ihnen eines Tages etwas unterkommt, was mir gefällt.« Oh, ich werde mir natürlich Ihren Namen und Ihre Adresse aufschreiben«, versicherte er ihr eilig.
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Er ging auf einen Türbogen zu, der zu einem kleinen Büro führte. »Miß Muriel Sharp«, sagte sie mit lauter Stimme. »Lauderdale Mansions, Maida Vale.« Mit zwei Schritten war sie an der Ladentür und hatte den Hebel, der das Schloß verriegelte, heruntergedrückt. »Es muß eine Ta Ming, blue Nankin, vor sechzehnhundertsiebzig sein«, setzte sie triumphierend hinzu. Er sah sie leicht erstaunt an. »Das kann sich als sehr schwierig herausstellen«, sagte er zögernd. »Aber doch sicher nicht für Sie«, sagte sie und ließ die Anspielung in der Luft hängen. »Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, was Sie meinen.« Sogar seine Stimme verriet jetzt seine aufkommende Angst. Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. »Sie haben eine ähnliche Vase vor einiger Zeit an Sir Forster verkauft«, sagte sie sanft. »Ich habe sie des öfteren in seiner Wohnung gesehen und bewundert.« Fast konnte sie in diesem Augenblick seine Gedanken lesen: ,Ich möchte wissen, wieviel sie weiß? Ist es möglich, daß sie es entdeckt hat?’ Und danach gingen die Gedanken in eine andere Richtung, zu einer kleinen Werkstatt östlich von Brighton und zu dem jungen bärtigen Mann, der dort arbeitete.
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»O ja, ich erinnere mich jetzt«, sagte Mottram höflich. »Es liegt schon längere Zeit zurück. Es war ein sehr schönes Stück.« »Sehr schön und ziemlich billig«, sagte sie. »Aber es war ja auch etwas beschädigt. Ich nehme an, daß so etwas einen großen Unterschied im Wert ausmacht.« »Stimmt, Madam«, pflichtete Mottram bei. »Leider war es nur ein Glücksfall, durch den es mir möglich war, Sir Forster die Vase zu beschaffen. Aber auf eine zweite derartige Gelegenheit zu warten, wäre nur Zeitverschwendung. Ich würde Ihnen raten, sich auch bei anderen Händlern umzusehen...« »Aber ich bin ganz zuversichtlich, daß Sie mir werden helfen können, Mr. Mottram«, unterbrach ihn Muriel Sharp. »Wenn nötig, dann könnten Sie auch die Vase zurückkaufen, die Sie Mr. Forster schon verkauft haben.« »Wie kommen Sie darauf, daß ich einen solchen Schritt überhaupt in Betracht ziehen würde?« Muriel Sharp schwieg lange Zeit. Sie sah ihn an und beobachtete sein steigendes Mißbehagen. »Sie könnten sagen, Sie hätten gerade erst festgestellt, daß es eine Fälschung ist«, schlug sie endlich vor, »daß der Mann, von dem Sie die Vase ursprünglich gekauft haben, als geschickter Fälscher entlarvt worden ist und daß Sie bereit wären, die Vase zurückzukaufen, um sich Ihren guten Namen zu erhalten.« 36
Mottrams Zunge zuckte über seine Lippen. »Warum sollte ich das tun?« flüsterte er und warf einen Blick auf die Tür. »Machen Sie sich keine Gedanken, daß uns jemand stören könnte’’, sagte sie ruhig. »Ich war so frei und habe die Tür versperrt. Aber jetzt zurück zu Ihrer Frage. Ist es nicht möglich, daß es sich mehr oder weniger so abgespielt hat, wie ich es angedeutet habe?« Das rosafarbige Gesicht verlor ein wenig von seiner Farbe. Er war jetzt sicher, daß sie viel mehr wußte, als ihm lieb war. Jetzt würde er versuchen, festzustellen, wieviel Gefahr sie für ihn bedeutete. Sie liebte und genoß dieses köstliche Katz-und-MausSpiel. »Das hoffe ich nicht«, sagte Mottram hastig. »Natürlich besteht die Möglichkeit, aber ich habe die Vase sehr sorgfältig geprüft, und mir erschien sie echt. Aber auch wenn sie nachher von Experten anders beurteilt wurde, kann ich Ihnen versichern, daß damit kein Versuch unternommen wurde, jemanden zu betrügen. Ich habe die Zeichen sehr sorgfältig geprüft und .. .« »Vielleicht doch nicht sorgfältig genug, Mr. Mottram«, unterbrach sie ihn eisig. »Besonders wenn man in Betracht zieht, daß Sie zwei Vasen im gleichen Zustand erhielten, die beide von dem gleichen Mann, der zufällig eine kleine keramische Werkstatt an der Südküste besitzt, geliefert wurden.«
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»Wie -?«’ Mottram fing den Satz an, unterbrach sich selber aber sofort. »An Ihrer verrückten Geschichte ist nichts Wahres!« »Der Name des Mannes ist Samuel Terry«, ergänzte Muriel Sharp ihre Information. »Er erhielt einhundertfünfundsechzig Pfund von Ihnen für beide Vasen.« »Das hat er Ihnen alles gesagt?« stammelte Mottram. »Sie geben es also zu?« fragte Muriel Sharp. Ohne eine Antwort ging Mottram an ihr vorbei zur Ladentür und drückte auf die Klinke. Als er sah, daß sie verschlossen war, griff er nach dem Rouleau und zog es vor das Fenster. »Ich gebe gar nichts zu«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie und dieser Mr. Terry da zusammen ausgekocht haben; aber wenn Sie denken, daß Sie mich erpressen können, dann haben Sie sich getäuscht.« »Sie haben sehr häßliche Gedanken, Mr. Mottram«, zischte Muriel Sharp. »Sie betrügen Menschen, die Ihnen vertrauen, und glauben deshalb, daß Sie von anderen nur gleich Schlechtes erwarten können. Ich pflege verabscheuungswürdige Verbrecher von Ihrer Sorte nicht zu erpressen.« »Wozu sind Sie dann, zum Teufel, hier?« fragte er mit einem Anflug von Gereiztheit. Muriel Sharp stellte fest, daß sich die ersten Risse in seinem Verteidigungspanzer zeigten. Dies war jetzt ihr Spiel, und sie spielte es getreu nach den Regeln, die sie dafür entworfen hatte. »Erst einmal 38
wollen wir uns nach einer Möglichkeit umsehen, die Angelegenheit zu regeln, ohne die Polizei einzuschalten. Ich bin sicher, wir wer- ’ den eine finden.« Neal Mottram hob sein leicht verwirrtes Gesicht, um diese merkwürdige Frau anzustarren. Er überlegte, wie sie das nur alles hatte herausfinden können. Offensichtlich nicht durch Sir Forster, denn sonst wäre schon lange die Hölle los gewesen. Also blieb nur Terry übrig, dieser verdammte Idiot. »Was haben Sie eigentlich vor?« fragte er vorsichtig. Er fühlte ihre Augen auf seinem Gesicht und sah, daß um ihren Mund ein Anflug von Befriedigung lag. »Aber das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, sagte sie mahnend, als spräche sie mit einem ungezogenen Kind. »Sie setzen sich mit Sir Forster in Verbindung und werden die Vase zurückkaufen. Dann bringen Sie die Vase zu mir, und ich werde sie in Ihrem Beisein zerschlagen. Vielleicht ist das der Denkzettel, den Sie nötig haben.« Er sagte nichts, aber sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Langsam begann er zu begreifen. Er wußte, daß er drei-hundertunddreißig Pfund zusammenbringen mußte, die Hälfte davon hatte er schon an Terry bezahlt. Er bezweifelte, daß er überhaupt soviel Geld zusammenscharren könne. Schon den Minibus hatte er sich kaum leisten können, und nun dies.’ Und wenn es ihm mit etwas Glück gelingen sollte, das Geld zusammenzukratzen, dann 39
würde sie – mit sadistischem Vergnügen – dreihundertunddreißig Pfund zu Staub zermalmen. Er fragte sich, welche Art von Bestrafung sie sich wohl für Terry ausgedacht hatte. »Und dann ist da noch eine andere Sache«, schien sie gleichsam seine Überlegungen mit. ihren nächsten Worten zu bekräftigen. »Die zweite Vase. Sie denken vielleicht, Sie könnten mir damit entwischen und dann Ihren Verlust mit dem Verkauf wieder decken. Vielleicht sind Sie so freundlich und bringen sie hierher.« Neal Mottram überlegte seine Antwort sorgfältig. Er dachte an den Weizenfarmer aus Kansas, der sich jetzt stolz als den Besitzer einer echten MingVase betrachtete. Wenn er zugab, daß die zweite Vase verkauft war, dann würde dieses Monstrum von Frau ein solches Zugeständnis nur begrüßen und darin eine noch größere Berechtigung sehen, das Vergnügen der ihm auferlegten Folterqualen zu genießen. Er betrachtete eingehend das sadistische, kalte Gesicht. Menschen wie sie, die sich an der Furcht von anderen weideten, mußten selber die Angst kennengelernt haben, um sie bei anderen richtig genießen zu können. Und plötzlich wußte er, daß er dieser Frau nicht erlauben durfte, ihn zu beherrschen, daß er die Trümpfe, die sie in der Hand hielt, mit einem noch besseren Trumpf stechen mußte. Angst gegen Angst. Und da er nun die einzige Schwäche der Muriel Sharp erkannt hatte, war 40
er auch im Besitz der Überlegenheit, die er ihr gegenüber brauchte. Sie bedrohte ihn mit etwas klar Erkennbarem. Erst einmal der finanzielle Verlust, später dann die Mitteilung an die Polizei und daraufhin vielleicht eine Geldstrafe oder sogar Haft. Es war eine berechen- und meßbare Angst, die man jedoch sorgsam prüfen konnte. Aber seine Trumpfkarte war ungleich stärker, obwohl sie nur ein Bluff war. Die größte Angst, die der Mensch kennt und sorgsam verbirgt, ist die vor dem Unheimlichen, vor dem Okkulten. Das Kind, das in einer dunklen Ecke zittert, der Erwachsene, der schnell an einem unheimlichen Friedhof vorbeiläuft, der einsame Mensch, der wach liegt und nur das Pochen seines Blutes fühlt und das unheimliche Atmen von Leben um sich, sie alle fürchten sich vor etwas Unbekanntem. Er erinnerte sich nur zu klar seiner eigenen Angst, die er vor noch gar nicht so langer Zeit nach der fremdartigen Zeremonie in seinem Keller empfunden hatte. »Also?« stachelte Muriel Sharp ungeduldig. »Ich werde sie holen«, sagte er schnell. »Sie bleiben hier. Es dauert nicht lange.« Das war ein wohlüberlegter Schachzug. Falls er sie gebeten hätte, mitzukommen, wäre sie wahrscheinlich mißtrauisch geworden. Indem er ihr sagte, sie solle im Laden bleiben, wurde sie aber auch mißtrauisch; sie würde denken, daß er etwas vor ihr verstecken wollte. Diese Möglichkeiten ließ 41
er offen, während er sich der Tür zuwandte, die in den Keller hinunterführte, und das Licht einschaltete. Die Stufen führten ziemlich steil zu dem offenen Raum hinunter, der jetzt ganz von der Statue beherrscht wurde. Am Fuße der Treppe befand sich eine kleine Nische, in der einige alte Regale und ein großer Schrank standen. Dorthin lenkte er seine Schritte. Von hier aus hatte er einen guten Ausblick auf die Treppe – falls Muriel Sharp so neugierig war, wie er es erwartete. Als er den Schrank öffnete und so tat, als durchwühlte er den Inhalt, sah er, daß sich oben an der Treppe etwas bewegte. Innerlich lächelte er. Eine Sekunde lang zögerte Muriel Sharp, dann ertönte das Geräusch ihrer Absätze auf den Zementstufen. Er wartete, bis sie fast neben ihm stand, bevor er aus dem Schrank zurückfuhr und sich ihr mit verwirrtem, schuldbewußtem Gesicht zuwandte. »Ich habe Sie gebeten, oben zu warten«, sagte er anklagend. Sie trat näher, ihr Gesicht war so entschlossen wie das eines Raubvogels. »Ich dachte mir, daß Sie vielleicht noch etwas anderes zu verstecken haben«, sagte sie triumphierend. »Haben Sie mich wirklich für so dumm gehalten, daß Sie geglaubt haben, ich hätte den einzigen schwarzen Punkt in Ihrer Laufbahn entdeckt?«
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Sie griff nach der Schranktür und starrte auf die unordentliche Ansammlung leerer Schachteln und Behälter. Neal Mottram hatte sich seitlich verdrückt und war bis zur Treppe gelangt. Dadurch verstellte er den einzigen Ausweg. Er sah Muriel Sharp mit neugieriger Belustigung zu, als sie begann, die leeren Schachteln hinter sich auf den Steinboden zu werfen. »Sie verschwenden Ihre Zeit, meine Dame«, sagte er ruhig. »Es gibt keine Vase und kein verborgenes Geheimnis.« Sie erstarrte bei dem ironischen Ton seiner Stimme und drehte sich um. »Versuchen Sie nicht, mir einen Schrecken einzujagen, Mr. Mottram«, sagte sie etwas zu schnell. »Ich warne Sie, ich habe Vorkehrungen getroffen, daß die Polizei benachrichtigt wird, falls ...« Ihre Stimme brach ab, als er einen Arm hob und neben sie deutete. »Werfen Sie doch einmal einen Blick auf unseren schweigenden Zeugen, Miß Sharp«, sagte er ruhig. Langsam folgte sie seinem ausgestreckten Arm. Das Licht spielte auf dem glatten, dunklen Holz und zeichnete Glanzpunkte neben dunkle Schatten. Die gelben Augen schienen wie die einer Katze zu glühen. »Eine Statue«, sagte sie zögernd. »Das hat nichts zu ...«
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»Nicht nur eine Statue, Miß Sharp«, unterbrach er sie, »eine ganz besondere und sehr seltene Statue. Sie stellt einen Chuku dar, einen Gott des AroStammes in Afrika.« »Heidnisch!« flüsterte sie. »Genau, Miß Sharp!« Mottram war jetzt richtig in Fahrt, da er spürte, daß er Herr der Lage war. »Für sie war er so etwas wie ein Gott. Für uns waren die Aros so etwas wie Sklavenhändler, Kannibalen, Wilde. Was sie als Gott verehrten, ist für uns nicht viel mehr als die Gestalt eines Teufels -eines Teufels, der vom Blut zahlloser Opfer bedeckt ist, der Zeuge der fürchterlichsten Verwüstungen war und Gegenstand unbeschreiblichen menschlichen Leidens.« Er sah, wie ihr dünner, knochiger Körper sich versteifte, sah die Blässe um ihren Mund. »Sie werden sich fragen, warum ich Ihnen das alles erzähle«, fuhr er mit schärfer werdender Stimme fort. »Sie werden sich fragen, was ein fremdes Götzenbild mit unserer Angelegenheit zu tun hat. Um das zu erklären, muß ich Sie noch um etwas mehr Geduld bitten und Ihnen von den Aros erzählen, den Menschen, die diesen Götzen angebetet haben. Sie wurden sehr reich unter dem Schutze des Chuku, auf Grund der Opfer, die sie ihm dargebracht haben. Aber sie haben den Fehler gemacht, daß sie den materiellen Reichtümern dieser Welt zuviel Aufmerksamkeit schenkten und dabei die geistigen Verpflichtungen, die sie hatten, übersahen. Als sie 44
begannen, ihn mit ihren Opfern zu betrügen, wandte sich der Chuku von ihnen ab.« »Sie können mich nicht erschrecken«, sagte Muriel Sharp, aber das Zittern in ihrer Stimme verriet ihre wahren Gefühle. »Ich glaube an die Macht des Bösen, Miß Sharp«, sagte Nottram ruhig. »Es bedient sich der verschiedensten Erscheinungen und Formen. Aber es ist weder Herr noch Knecht irgendeines Menschen. Es dient, wenn es von ihm verlangt wird, aber es verlangt dafür auch wieder einen Dienst. Ich habe ihm gedient, und jetzt will ich seine Hilfe erbitten.« »Wofür?« keuchte sie. Mottram lächelte. Er wußte, er hatte die Schlacht gewonnen. Alles, was jetzt noch kam, war nur noch ein Aushandeln der Bedingungen. »Um Sie zu töten«, sagte er heiter. »Sie sind verrückt!« schrie sie ihn mit vor Angst glänzenden Augen an. Neal Mottram schüttelte langsam den Kopf. »Ich versichere Ihnen, ich bin so vernünftig wie Sie, Madam. Sie sind gekommen, um mir etwas Böses anzutun, und als Vergeltung werde ich Ihnen etwas Böses antun. Aber während Sie keinerlei Grund hatten, habe ich einen sehr guten, vor allen Dingen den, daß ich mich schützen muß.« »Ich wollte Sie nur erschrecken«, flüsterte Muriel Sharp. »Es war ein Scherz ...« »Für Sie vielleicht – für mich nicht«, erwiderte Mottram. »Und da Sie auch in Zukunft eine Gefahr 45
für mich darstellen durch die Kenntnisse, die Sie erlangt haben, bleibt mir keine andere Wahl.« »Ich muß einen Priester sehen«, flüsterte Muriel Sharp. Neal Mottram legte den Kopf zurück und lachte. »Ihren Priester!« wiederholte er verächtlich. »Seit wann sind Priester denn eine ernsthafte Gefahr für das Böse?« Plötzlicher Mut und Entschlossenheit gaben Muriel Sharp die Kraft, gegen das Schicksal, das Neal Mottram ihr vorgezeichnet hatte, anzukämpfen. Mit wildem Gesicht stürzte sie zur Treppe und überrumpelte den verblüfften Mottram. Er krachte gegen das eiserne Treppengeländer, eine knochige Schulter brachte ihn zum Taumeln. Er sprang hoch und jagte hinter ihr her, während sie schon fast die Tür erreicht hatte. Als er nach ihr griff, gelang es ihm, den losen Rückenteil ihres Mantels zu packen. Er glitt dabei zwar aus, hielt sich aber mit grimmiger Entschlossenheit fest. Muriel Sharp taumelte rückwärts gegen ihn und verlor den Halt. Sein Handgelenk wurde schmerzvoll verdreht; und er mußte seinen Griff lockern, während die Frau in einem Wirbel von Armen und Beinen über ihn hinwegschoß. Die Brille rutschte ihm von der Nase, und halbblind tastete er danach, als er den dumpfen Aufschlag hinter sich und das Keuchen hörte, das von einem wütenden Wirbel, den ihre Absätze auf dem Zementboden trommelten, begleitet wurde. Wie eine plumpe Vogelscheuche 46
war Muriel Sharp gegen die linke Seite der hochaufragenden Statue gestürzt, ihre Füße schleiften und schlugen in einem wilden Rhythmus gegen den Steinboden. Ihre linke Hand umklammerte die beiden sichtbaren Zacken des Dreizacks, die weiße Haut war mit Flecken von rosaglänzendem Blut bedeckt, das an ihrem Handgelenk entlanglief und unter dem Ärmel ihres Mantels verschwand. Das einzige Geräusch, das den Kellerraum erfüllte, war das würgende Keuchen, das aus einem Hals kam, der von der kupferüberzogenen dritten Zinke des Dreizacks zerfleischt war, und das Trommeln ihrer altmodischen Absätze, das aber langsam nachließ und aufhörte, während er sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und dabei an ein anderes Mädchen dachte, das vor einer Ewigkeit hier in diesem Keller ihre Todesangst hinausgeschrien hatte. Das Trommeln der Absätze hatte schon lange aufgehört, als er mit weichen Knien die Stufen hinunterging. Er hatte Muriel Sharp fast erreicht, als die weiße leblose Hand, die die beiden Zinken des Dreizacks umklammert hatte, sich zu seinem Entsetzen öffnete und auf den Boden glitt. Ein paar kleine Bluttropfen bedeckten nun die Stelle, wo sie lag. ,Nein, das nicht’, dachte er. ,Sie hat es verdient, erschreckt zu werden, aber doch nicht das!’ Er stand wie erstarrt, als er erneut das tiefe keuchende Stöhnen hörte. Plötzlich zerbrach die Be47
täubung, die ihn gefangengehalten hatte. Sie war nicht tot! Mit schnellen Schritten war er hinter ihr und griff nach der knochigen Schulter. Sie war schlaff und warm und wurde nur am Nacken von dem unsichtbaren Zacken festgehalten. Wie wahnsinnig versuchte er, ihren Körper anzuheben. Mit einem plötzlichen gräßlichen Ruck befreite er sie und torkelte völlig außer Atem, als ihr Körper aus seinen blutbefleckten Händen glitt. Muriel Sharp war auf den Rücken gerollt. Sie starrte mit weitgeöffneten Augen ins Licht, und fast unhörbare Seufzer drangen aus ihrem Mund, während das Blut aus der Wunde an ihrem Hals strömte. Nach Luft ringend, näherte sich ihr Neal Mottram. Als er sich über die Frau beugte, flackerten ihre Augen, als würde sie ihn erkennen, und ihre Lippen bewegten sich, als wollten sie sprechen. Aber das einzige Geräusch war ein schwaches Ächzen, und dann blickten ihre Augen wie die einer Leiche, starr und unbeweglich. Und dann passierte etwas Merkwürdiges. Es war fast, als offenbarte sich eine Stimme in seinem Gehirn. »Jetzt bist du endlich doch gekommen«, schien sie zu sagen. »Du hast lange gebraucht und warst nicht sehr willig. Aber es gibt Gründe, die zwingen, und jetzt bist du mein. Du brauchst deshalb keine Angst vor mir zu haben. Habe ich dich nicht in deiner Schwäche beschützt? Bist du jetzt nicht von 48
deinem Quälgeist befreit? Und mußt du nicht sagen, daß ich ein großzügiger Verbündeter bin? Sicher, das ist jetzt erst der Beginn einer langen und fruchtbaren Zusammenarbeit, aber sogar noch mehr als das. Es ist ein Bündnis, besiegelt mit Blut.« Neal Mottram zuckte zurück, als ihm klar wurde, daß er jetzt mit dem Tod und etwas noch weit Schrecklicherem allein war. Er hockte ausgepumpt auf der verhängnisvollen Treppe und starrte mit blinden Augen um sich. Von draußen drang das schwache Geräusch des Abendverkehrs zu ihm, aber es war, als sei er von der Welt, die ihn umgab, ausgeschlossen. Eine lange Zeit sah er nur die Qual seiner Seele, und nur der Widerhall seiner Schuld dröhnte in seinen Ohren. Er dachte an die Polizei und an Gott und – nicht ganz so deutlich – an die merkwürdige Stimme, die in ihm gewesen war. Er verfluchte die schweigende, unbewegliche Gestalt, die in sein Leben getreten war und die geheime Kräfte heraufbeschworen hatte, die er nicht hatte wecken können. Doch dann wandten sich seine Gedanken seiner eigenen Sicherheit zu. Es mußte etwas mit der toten Frau geschehen. Schon bald würde man nach ihr suchen. Sie durfte nicht gefunden werden. Aber wie konnte man sie gefahrlos beseitigen? Als er endlich einen Plan entwickelt hatte, der die größten Chancen für einen Erfolg bot, sprang er schnell auf; Furcht und Schuldgefühl hatten ihn 49
schon fast an die äußerste Grenze der Panik getrieben. Er erinnerte sich, daß die Ladenlichter noch immer brannten. Auf dem Weg hinauf zu seiner Wohnung schaltete er sie aus und holte dann oben die braune Reservewolldecke aus dem Wäscheschrank. Er schlich wieder hinunter in den Keller, er bewegte sich wie im Traum. Das Blut war längst zum Stillstand gekommen; es hatte den Steinboden mit einem dunklen schleimigen Gerinnsel bedeckt. Er griff nach einem Eimer mit Wasser, holte ein paar Lumpen und reinigte schnell den größten Teil des Bodens. Seine Finger zitterten, als er begann, die blutverkrusteten Kleider der Frau aufzuknöpfen. Es schien frevelhaft und abstoßend, aber er mußte es tun. Die Polizei hatte die Möglichkeit, die winzigsten Fasern zu identifizieren, die vielleicht an ihren Kleidern hafteten; und er mußte ganz besonders achtsam sein. Ihr Körper war noch warm, trotzdem wurde es zusehends schwieriger, die intimeren Wäschestücke zu entfernen. Er versuchte, die weiße, fast strahlende Haut und den eckigen Körper nicht anzusehen, diesen Körper, der trotz seiner Nacktheit so bar jeden Sexes war. Als er endlich den weißen, leblosen Körper auf die auf dem Boden ausgebreitete Decke gerollt hatte, war er richtiggehend krank, sein Körper wurde von heftigem Würgen geschüttelt, noch lange nachdem sein Magen völlig leer war. 50
Aber danach fühlte er sich ein bißchen besser, obwohl er noch immer schwach war. Vielleicht kam es daher, daß er sie jetzt nicht mehr sehen konnte, nur eine undeutliche Form war unter der Decke zu erkennen. Er sammelte ihre Kleider und stopfte sie in einen Karton. Auch auf seinem Anzug war Schmutz und eine Anzahl Flecken. Er zog einen Staubmantel über, der das meiste verdeckte. Er fand genügend Schnur, um die Decke dreimal der länge nach zu verschnüren; er gab acht, daß er nur Ziehknoten verwendete, die sich im Ernstfall leicht öffnen ließen. Er dachte an seine Schuhe und den weichen Boden, den er vielleicht überqueren mußte, und fand ein paar alte Leinenslipper, die er anzog. Schließlich schaltete er das Licht im Keller aus und ging zu der Hintertür, die in den kleinen Hof hinausführte. Schon vor einiger Zeit war es draußen dunkel geworden, und der Hof konnte nur von zwei Fenstern des angrenzenden Hauses überblickt werden. Mottram rutschte auf den Fahrersitz des Minibusses und ließ den Motor an. Vorsichtig manövrierte er den Wagen rückwärts gegen die Hintertür. Dadurch war eine Einsicht nicht mehr möglich. Er ging in den Laden zurück und zog die dunklen bodenlangen Samtvorhänge vor, die den Flur abschlossen. Den schweren Körper zum Minibus zu tragen war schwieriger, als er sich vorgestellt hatte. Das leblo51
se Gewicht schien unter seinen Händen wegzugleiten, bis es ihm schließlich gelang, das Bündel auf seine Schulter zu laden. Fünf Minuten später fuhr er den Lieferwagen durch die schmale Öffnung der Einfahrt hinaus, wobei er fast zu spät daran dachte, das Licht einzuschalten. Er ließ den Motor laufen, während er das Tor hinter sich schloß. Als er endlich abfuhr, tat er es mit quietschenden Reifen, und er mußte sich zwingen, die Geschwindigkeitsgrenze nicht zu überschreiten. Er fuhr zuerst südlich durch den Hyde Park, immer wieder in den Rückspiegel blickend, bis er das Nordufer der Themse erreicht hatte. Dann fuhr er in Richtung Osten das Victoria Embankment entlang, überquerte den Fluß auf der London Bridge und hielt sich an die nördlich führende Straße, die durch Deptford, Greenwich und Woolwich ging. Es war zwanzig Minuten nach acht Uhr, als er die Plumstead Marshes erreichte und dort wieder scharf nach Norden abbog. Der Sprühregen hatte sich über dem Sumpf in Nebel verwandelt, der über dem ganzen Gebiet lag und alle Geräusche und Lichter verschluckte. Er fuhr so weit, wie die asphaltierte Straße reichte. Als sie in einen Schotterweg überging, hielt er an und wendete, wobei er achtgab, daß er nicht den harten Untergrund verließ, während er den Minibus ganz am Rande des Banketts parkte und den Motor abstellte. 52
Er drehte das Fenster herunter und lauschte. Vom nahen Fluß drang das düstere Hupen der Nebelhörner und das Kreischen der Bagger, die auf dem anderen Ufer das Flußbett aushoben. Mottram nahm all seinen Mut zusammen und rutschte von seinem Sitz, die Lichter ließ er brennen. Es war jetzt einfacher, das steifer werdende Bündel auf die Schulter zu laden. Es waren etwas weniger als zweihundert Meter bis zum Ufer; und er legte sie in einem eiligen, stolpernden Trab zurück, wobei ihn auf dem letzten Viertel fast die Kräfte zu verlassen drohten. Es schien ihm, als würde er den Fluß nie erreichen. Falls jemand in der Nähe war, konnte er ihn nicht hören, alles wurde übertönt von dem Keuchen seines Atems und dem Hämmern seines Bluts. Mit einem dumpfen Schlag fiel das Bündel von seiner Schulter, und er mußte es festhalten, damit es nicht von ihm wegrollte. Er war ganz nahe am Wasser, das an dieser Stelle dunkel und langsam dahinfloß. Seine Finger tasteten nach den Knoten der Schnur. Sorgfältig löste er jede Schlinge und stopfte die ganze Schnur in seine Tasche. Es durfte nichts gefunden werden, das ihn mit Muriel Sharp in Verbindung bringen konnte. Darin lag seine einzige Hoffnung. Ein Nebelhorn ertönte ganz dicht neben ihm und ließ ihn erstarren. Er versuchte verzweifelt, den wirbelnden Nebel mit seinen Augen zu durchdrin53
gen. Voller Panik griff er nach den Ecken der Decke und zerrte wütend daran. Die weiße Gestalt wurde sichtbar, sie schien zu leben und rollte das Ufer hinunter, wo sie mit einem sanften Planschen das Wasser erreichte. Mottram rutschte hinterher. Jetzt fühlte sich die weiße Haut feuchtkalt an, und er zog seine Hand schnell zurück. Muriel Sharps Kopf war schon im Wasser, die leichte Strömung hatte ihr Haar erfaßt. Einen Augenblick lang überlegte Mottram, ob er sie nicht einfach liegenlassen sollte, wo sie hingerollt war, aber in diesem Fall hätte man sie fast sicher schon beim ersten Morgengrauen gefunden. Mit zusammengebissenen Zähnen griff er nach ihren Schultern und zog. Zentimeter um Zentimeter rutschte sie weiter ins Wasser hinein, bis sie endlich schwamm und als heller Fleck vom Ufer wegglitt und dann langsam und lautlos im Nebel verschwand. Mottram drehte sich schnell um, fand die Decke und faltete sie zusammen, während er zum Bus lief. Zehn Minuten später hatte er eine beleuchtete Straße erreicht, aber er konnte die Furcht, die ihm im Nacken saß, noch nicht abschütteln. Hatte ihn irgend jemand in dem Sumpf gesehen, jemand, der gescheit genug war, sich die Nummer des Minibusses aufzuschreiben? Wie lange würde es dauern, bis jemand die Leiche entdeckte? Nach einer Weile würde sie untergehen und später vermutlich wieder hochkommen. Aber das konnte Tage dauern. 54
Es war Viertel nach neun Uhr, als er den Hinterhof wieder erreicht hatte, zitternd von der feuchten Kälte, die ihn erfüllte, und voller Angst, daß irgend jemand entdeckt haben konnte, was geschehen war. Aber das Haus war ruhig. Er lief in seine Wohnung hinauf und zog die nassen Leinenschuhe von den Füßen. Dann wusch er unter dem heißen Wasser seine blutbefleckten Hände. Sehr viel später schlich er sich nach unten, voller Widerwillen, die Tür zu öffnen, die hinunter in den Keller führte. Aber er wußte, daß er alle Beweise für Muriel Sharps Anwesenheit beseitigen mußte. Das grelle, stechende Licht brachte alles sofort wieder zurück: den dunklen Boden, die blutbefleckten Kleider in dem Karton, die Handtasche, die er noch nicht einmal untersucht hatte. Und über allem thronte die schweigende Statue, die sein Herr geworden war und der einzige Zeuge während des schrecklichen Augenblicks. »Du hast dein Opfer gehabt«, sagte er bitter, als er später mit Hilfe von heißem Wasser und Soda und einem harten Besen jede Blutspur vom Boden und dem glänzenden dunklen Holz der Statue beseitigt hatte. »Aber wirst du dich jetzt auch von mir abwenden, so wie du es im Laufe deiner langen Geschichte immer getan hast?« Aber keine Stimme sprach zu ihm. Er kontrollierte die billige Plastikhandtasche, die Muriel Sharp bei sich gehabt hatte. Sie enthielt einen Schlüsselring mit drei Schlüsseln, zwei Ta55
schentücher, eine Geldbörse, in der zwei Pfundnoten und zwölf Shilling und sieben Pence in Münzen waren, einen Kamm, verschiedene Mitgliedskarten von einigen Gesellschaften, einen Taschenkalender und ein Fläschchen Aspirin. Einen Augenblick lang war er versucht, die Schlüssel zu nehmen und damit ihre Wohnung in Maida Vale zu durchsuchen, aber er überlegte sich, daß er dabei gesehen werden könnte und daß dies nur seine Lage gefährden würde. Sie hatte erwähnt, daß sie Vorkehrungen wegen ihres Besuches getroffen hatte, aber das war wahrscheinlich nur eine leere Drohung gewesen. Er warf die Handtasche zusammen mit den Leinenschuhen, die er getragen hatte, in den Karton, der ihre Kleider enthielt, und machte sich an dem alten Küchenofen zu schaffen. Als das Feuer schön durchgebrannt war, begann er damit, einzelne Stücke aus der Schachtel hineinzuwerfen. Er begann mit den kleineren Stücken, die größeren mußte er mit einer Schere zerteilen, um eine zu große Rauchentwicklung zu vermeiden. Von Zeit zu Zeit scharrte er die Asche heraus, um sich zu vergewissern, daß keine verräterischen Reste übrigblieben. Es war eine lange und mühselige Arbeit. Seinen eigenen Anzug hob er bis zuletzt auf. Als er sich umzog, entdeckte er einen roten Fleck auf seinem Hemd und riß sich auch das noch vom Leib. Es war nach zwölf Uhr, als er auch den letzten Fetzen in Asche verwandelt hatte. Als er um sich blick56
te, tat er es mit neuen Augen, die nach einem schwachen Punkt suchten, nach irgend etwas, das er vielleicht übersehen hatte. Da lagen noch immer die leeren Schachteln, die Muriel Sharp aus dem Schrank geworfen hatte. Er legte sie sorgfältig zurück und schloß die Tür. Falls die Polizei ihn zu einem späteren Zeitpunkt verdächtigte, würde sie die ganze Örtlichkeit gründlichst untersuchen. Der Boden begann zu trocknen, dort, wo das Soda sich in den Zement gebrannt hatte, zeigten sich große weiße Flecken. Während er sich eine Tasse starken Kaffee kochte, dachte er an die Fingerabdrücke. Sie war der letzte Mensch gewesen, der in den Laden kam, und sie hatte keine Handschuhe getragen. Dem Wahnsinn nahe, versuchte er sich an jede ihrer Bewegungen zu erinnern. Mit einem Staubtuch versehen, lief er nach unten und machte sich an die Türklinke im Laden und an die kleinen Elfenbeinfiguren, die sie, wie er sich erinnerte, betrachtet hatte. Er wischte die Kanten des eingelegten Tisches ab, die Tür und den Türrahmen -zu seinem Büro und auch die Tür, die in den Keller hinunterführte. Er fuhr mit dem Staubtuch über das rostige Treppengeländer und rieb den Schrank mit den alten Kartons und Schachteln ab. Es war unwahrscheinlich, daß an den paar Schachteln, die sie berührt hatte, Fingerabdrücke waren, aber er beschloß, auch dies zu verbrennen.
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Schließlich war nur noch der äußere Türgriff der Ladentür übrig, aber er beschloß, ihn bis zum nächsten Morgen zu lassen. Allmählich verschwand die Nässe von dem Zementboden. Er holte einen Feger, kehrte Staub aus den Ecken des Raumes und von der Treppe zusammen und verteilte ihn sorgfältig über den Fleck, den er vorhin gesäubert hatte. Dann erinnerte er sich an einen alten abgetretenen Teppich, den er in irgendeiner Ecke verstaut hatte. Er fand ihn und breitete ihn über dem Fleck vor der Statue aus. Es war nach zwei Uhr morgens, da war nur noch eine Aufgabe zu tun. Er scharrte die kalte Asche durch den Rost und untersuchte sie sorgfältig mit den Fingern nach festen Teilen. Die Schlüssel, der Bügel der Handtasche und der Börse, verschiedene Haken und Knöpfe und ein Reißverschluß waren zwar bis zu einem gewissen Grade geschmolzen, aber doch noch erkennbar. Er fischte sie aus der Asche und verpackte sie in eine Zeitung, von der er die Titelseite abgerissen hatte. Dieses Päckchen verstaute er im Werkzeugkasten unter dem Sitz seines Autos. Bei der ersten Gelegenheit würde er es wegwerfen. Er trug die Asche in den kleinen Hof hinaus, leerte sie in die kleinere der beiden Tonnen und bedeckte sie noch mit Müll aus der anderen Tonne. Der Abfall wurde in zwei Tagen abgeholt und war dann für immer verschwunden. Kurz vor vier Uhr morgens stieg er aus dem heißen Bad, nachdem er sich sorgfältig gewaschen und ab58
geschrubbt hatte. Er zog sich in seinem dunklen Zimmer aus und fühlte sich merkwürdig verändert. Er versuchte Schlaf zu finden, beruhigenden Schlaf, der die Furcht des Menschen auslöscht, aber es gelang ihm nicht. In den trüben, grauen Stunden eines neuen Morgens fand er nur eine andere geistige Einstellung, die allerdings noch zu neu und berauschend war, als daß er sie schon ganz hätte verstehen können. Es war der Anfang einer Erkenntnis, die so verschieden von allem war, was er bis jetzt erreicht hatte, daß er das Gefühl hatte, als befände sich ein neuer Mensch in ihm. Gegen sieben Uhr morgens, als er die Milchflasche von der Treppe draußen hereinholte, beseitigte Neal Mottram alle Spuren, die vielleicht noch an der äußeren Türklinke hafteten. Er machte sich frischen Kaffee und beschloß, einen Blick in den Keller zu werfen, nur für den Fall, daß er etwas übersehen hatte. Er hatte etwas übersehen. Es war zwar keine wichtige Sache, aber sie konnte Verdacht erwecken. Er riegelte die Fensterläden von innen auf, öffnete die Fenster und ließ wieder Licht in den Raum. In dem grauen Morgenlicht sah er schäbig und ein bißchen unordentlich aus. In den Morgennachrichten kam nichts über Muriel Sharp oder irgendeine Leiche in der Themse. Mottram wurde ein bißchen ruhiger. Offensichtlich hatte man sie noch nicht entdeckt. Wenn er seine Au59
gen schloß, konnte er den weißen, nackten, geschlechtslosen Körper sehen, wie er langsam den Fluß hinuntertrieb, gerade unterhalb der Oberfläche des Wassers. Er spürte auf einmal sein Verlangen nach einer warmblütigen Frau, die nicht lange fragte. Aber es war nicht einfach, solche Wünsche um acht Uhr morgens zu befriedigen, wenn die ganze Welt dabei war, sich auf einen neuen, öden Tag einzustellen. Er überlegte, was wohl aus Martha in dem kleinen italienischen Restaurant um die Ecke geworden war. Er hatte sie zwei Jahre lang gekannt und während dieser Zeit dort regelmäßig seine Mahlzeiten eingenommen und mit ihr erfreuliche Nächte verbracht. Es war jetzt über ein Jahr her, daß er sie das letztemal gesehen hatte. Vermutlich war sie zu ihrem Mann zurückgekehrt, zu dem, der sie vorher verlassen hatte. Gegen neun Uhr war es ihm gelungen, das kleine Päckchen, das die metallenen Überreste enthielt, in einem Papierkorb in der Untergrundbahn zu verstauen. Auf dem Heimweg kaufte er die Morgenzeitung. Auch darin stand nichts über Muriel Sharp. Mit ein bißchen Glück konnte sie sogar mit der Flut über die Flußmündung hinaustreiben, bevor sie auftauchte. Und die Nordsee war groß und voller Strömungen. Als er zurückkam, fühlte er sich ein bißchen besser, bis auf die Tatsache, daß er die ganze Nacht nicht 60
geschlafen hatte. Aber das Interesse an den Büchern, die ihn in den letzten Wochen sosehr gefesselt hatten, war nicht wiedergekehrt. Die Antwort, nach der er so eifrig geforscht hatte, war ohne sein Zutun zustande gekommen. Er setzte sich wie immer in sein Büro, von dem aus er die Ladentür sehen konnte. Er tat so, als sei er sehr mit einer Schatulle aus Sandelholz beschäftigt, die mit Elfenbein und Perlmutt eingelegt war und früher einmal einem indischen Potentaten als tragbarer Schreibtisch gedient hatte. Einige der verschlungenen Einsatzstücke waren verlorengegangen, und das beeinträchtigte den Wert natürlich stark. Mit Hilfe des richtigen Materials und ein wenig Geduld war es möglich, das Kästchen fast vollkommen wiederherzustellen. Er arbeitete zwei Stunden lang und nahm sich nur Zeit, die üblichen Kunden, die in den Laden kamen, zu bedienen. Es stellte sich heraus, daß die Elfenbeinstückchen sehr leicht zu schneiden und an ihrem Platz zu befestigen waren. Er versuchte eben, die wellenförmige Erhebung einer der Perlmutteinlagen auszugleichen, als er plötzlich spürte, wie etwas unter seinen Fingern nachgab. Zuerst dachte er, daß eins der Elfenbeinstückchen sich gelockert hätte; aber als er genauer hinsah, stellte er fest, daß es wieder auf seinen Platz zurücksprang, als würde es von einer kleinen Feder gehalten. Er wurde ganz aufgeregt. Die Schatulle war ziemlich alt und sehr sorgfältig geschnitzt. Er hatte sie 61
oberflächlich nach Geheimfächern oder doppelten Böden untersucht, hatte aber nichts gefunden. Der Boden des Kastens bestand aus Holz. Er fand die bezaubernd geschnitzte Elfenbeinlotosblüte wieder, die sich leicht unter seinem Druck bewegt hatte. Eine gleiche Blüte befand sich auf der linken Seite des Kastens. Indem er beide Stellen gleichzeitig drückte, löste er einen kleinen Sperriegel aus, der in die Bodenfüllung der Schatulle eingelassen war. Das obere Furnier hob sich auf der rechten Seite, aber er mußte noch eine Messerklinge benutzen, um es weiter zu öffnen. Er holte tief Atem, als er den matten Schimmer von Goldmünzen sah, die ordentlich aufgereiht auf einem mit grünem Filz überzogenen Brettchen lagen, jede Münze in einer Vertiefung, in die sie genau hineinpaßte. Es waren Goldsovereigns, die im neunzehnten Jahrhundert geprägt waren, sie waren in sechs Reihen zu je zwölf Münzen angeordnet. Das obere Furnier war auch an seiner Unterseite mit grünem Filz ausgeschlagen. Neal Mottram fühlte, wie seine Hände zitterten. Die Münzen selbst stellten keinen so großen Wert dar, aber wenn man einen Verkaufspreis von vier Pfund je Stück annahm, dann kamen sie doch auf annähernd dreihundert Pfund. Und es würde schwer sein, sie loszuwerden. Es wurde jedes Jahr schwieriger, Sovereigns zu finden. Neal Mottram schüttelte ungeduldig die Münzen aus ihren Mulden, er wagte es noch gar nicht, an 62
sein Glück zu glauben. Er nahm ein Kuvert, um die Münzen hineinzutun, und versuchte sich an das Gesicht der älteren Frau zu erinnern, die ihm die Schatulle verkauft hatte. Er hatte sie für drei Pfund zehn gekauft, kurz nach dem Tag, an dem er von Alastair Newtons Tod erfahren hatte. Als er den Umschlag in einer Schublade seines Schreibtisches verstaute, kam ihm plötzlich ein Gedanke. Vielleicht war dies keiner der gewöhnlichen Glücksfälle, die ein- oder zweimal im Leben eines jeden Menschen auftreten. Es war doch merkwürdig, daß er die Münzen ausgerechnet jetzt entdeckt hatte, am Morgen nach... Er erstarrte und versuchte sich die Ereignisse wieder ins Gedächtnis zu rufen. Je länger er nachdachte, desto sicherer war er, daß er die Schatulle gekauft hatte, nachdem die Statue bei ihm angekommen war. Und doch hatte er das Geld erst an diesem Morgen entdeckt, nach jenem schrecklichen Augenblick unten im Keller. Zumindest schien das merkwürdig. Und noch eine weitere Übereinstimmung machte ihn stutzig. Die Summe, die Muriel Sharp erwähnt hatte, die Summe, die er fast sicher verloren haben würde, wenn sie ihn gezwungen hätte, die Ming-Vase von Sir Forster zurückzukaufen, war fast die gleiche, die sich aus dem Verkauf der Münzen ergeben würde. War irgendein versteckter Sinn in alldem? Wurde von ihm erwartet, daß er von diesem Geld die Vase zu-
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rückkaufte, oder war es nur der Gegenwert für Muriel Sharps Leben? Wieder hörte er den Widerhall der fremden Stimme in seinem Kopf. ,Und mußt du nicht sagen, daß ich ein großzügiger Verbündeter bin? Sicher, das ist jetzt erst der Beginn einer langen und fruchtbaren Zusammenarbeit.’ War dies hier, die Entdeckung des Geheimfaches, die Bestätigung seines Versprechens? Falls er Alastair Newton nicht getroffen hätte, hätte er nie die Statue gesehen, und wenn er nicht Samuel Terry kennengelernt hätte, dann wäre eine Frau namens Muriel Sharp nie in sein Leben getreten. Aber Newton, Terry und Muriel Sharp bildeten das Dreieck innerhalb seines Lebenskreises. Jetzt war ihr Platz von den zweiundsiebzig Sovereigns eingenommen worden, von hartem, unzerstörbarem Gold. Newton und Terry waren die Konstanten in diesem Dreieck – Muriel Sharp, als das Opfer, und dieses Gold, als der Lohn, mußten die Variantesein. Neal Mottram war es, als hätte er plötzlich einer Offenbarung beigewohnt. Er war durch Geld, das er greifen konnte, belohnt worden. Und er war sich jetzt einer Tatsache ganz sicher. Diese Belohnung war der wahre Beweis dafür, daß er Schutz gefunden hatte unter dem schirmenden Mantel des Herrschers der Finsternis. Nichts Böses konnte ihm jetzt mehr zustoßen, solange er seine Verpflichtungen und Befehle erfüllte. 64
Es dauerte vier Tage, bevor die Leiche entdeckt wurde, vier lange Tage, nach denen Neal Mottram seine Angst vor Entdeckung fast überwunden hatte. Die Nachricht sprang ihn förmlich an, obwohl sie im Vergleich zu den anderen, viel längeren Artikeln nur kurze Aufmerksamkeit verdiente. Dem Bericht nach war die Leiche einer nackten Frau von zwei Ornithologen hinter der Isle of Grain entdeckt worden. Die Frau war noch nicht identifiziert worden. Die Morgenzeitungen drückten sich schon deutlicher aus. Sie brachten eine wesentlich präzisere Beschreibung und die Tatsache, daß die Leiche schon einige Zeit im Wasser gelegen habe. Gestützt auf den Kalender der Gezeiten sowie die Erfahrung der Flußschiffer, wurde angenommen, daß die Leiche vermutlich an einem Punkt westlich von London oder in der Nähe der westlichen Vororte ins Wasser gelangt war, obwohl die Möglichkeit nicht ausgeschlossen wurde, daß die Leiche von irgendwoher angetrieben war. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte die Polizei festgestellt, daß es sich bei der Leiche um Muriel Sharp handelte. Sie war von ihrem Arbeitgeber als vermißt gemeldet worden, der sich sorgte, als Miß Sharp nicht zur Arbeit erschienen war. Außerdem wurde eine Beschreibung der Kleidung, die sie getragen hatte, als man sie das letztemal gesehen hatte, veröffentlicht. Die Polizei hatte bereits genau den Zeitpunkt ihres Todes festgestellt, und ihre Ermittlungen liefen weiter. Neal Mottram sah 65
ein, daß seine Feigheit, die ihn daran gehindert hatte, ihre Wohnung zu durchsuchen, einer der kritischsten Punkte war. Die Bestätigung dafür erhielt er drei Tage nach der Entdeckung von Muriel Sharps Leiche in Gestalt von zwei Männern, denen die Kriminalbeamten ins Gesicht geschrieben standen. Noch bevor sie den Laden betreten hatten, hatte Neal Mottram sie als solche erkannt. Er wartete, bis das Klingeln der Ladenglocke erstorben war, bevor er aus dem Büro trat. Die Männer waren in der Mitte des Ladens stehengeblieben und sahen sich wenig interessiert um. »Guten Tag«, sagte Mottram etwas zu eifrig. »Mr. Mottram?« fragte der größere, während er in die Tasche griff und einen Ausweis hervorzog. Beide stellten sich als Kriminalpolizisten vor, sehr zu Mottrams Erleichterung. Allein ihr Rang ließ darauf schließen, daß sie zu einer routinemäßigen Nachforschung kamen. Falls sie mehr gewollt hätten, dann hätte zumindest einer von ihnen einen höheren Rang bekleidet. »Wir führen Ermittlungen im Zusammenhang mit einer Miß Muriel Sharp durch. Wir haben Grund zu der Annahme, daß Sie sie kennen.« »Miß Sharp?« sagte Mottram bebend. »Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang.«
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»Sie lebte in Maida Vale«, setzte der kleinere hinzu. »Lauderdale Manions. Miß Muriel Sharp. Vielleicht war sie eine Kundin?« »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Mottram nachdenklich. »Aber ich kann sofort in meiner Kartei nachsehen. Sharp! Sagten Sie Maida Vale?« Er steigerte seine Stimme zu erregter Höhe. »Ist das nicht die Frau, die man ertrunken oder ermordet aufgefunden hat?« »Das stimmt, Sir«, sagte der größere. »Werfen Sie einmal einen Blick auf ihr Bild, Mr. Mottram«, schlug er vor. »Es könnte doch möglich sein, daß sie hier war, ohne etwas zu kaufen. Und in dem Fall hätten Sie auch keine Unterlagen.« Er hielt ein postkartengroßes Foto unter Mottrams Nase. Neal Mottram griff danach; er wußte, daß ihn die beiden Männer genau beobachten würden. Aber er hatte sein ganzes Leben lang hinter der Schutzwand einfältiger Unschuld gelebt und wußte, was auf dem Spiel stand, falls er sich selber verriet. Er verzog verlegen das Gesicht, während er auf das Bild starrte. Sie hatten gute Arbeit geleistet, aber auch im Tod sah sie häßlich aus, das stand fest. »Nein«, sagte er ruhig. »Ich bin sicher, daß ich sie nicht gesehen habe. Es kann natürlich sein, daß sie hier war, aber ich kann es mir nicht vorstellen.« Der größere der beiden Männer sah sich im Laden um.
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»Haben Sie sonst noch jemanden, der für Sie arbeitet und der sie bedient haben könnte?« fragte er. Mottram schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, nein«, sagte er. »Wie machen Sie es während Ihrer Ferien?« »Zum letztenmal hatte ich vor vier Jahren Ferien, und da habe ich den Laden einfach zugeschlossen«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber Moment mal! Sie sagten, Sie hätten guten Grund, anzunehmen, daß sie hiergewesen sei. Was wollten Sie denn damit sagen?« »Wir haben ein Stück Papier mit dieser Adresse gefunden«, sagte der Kriminalbeamte. »In ihrer Wohnung.« »Meinen Namen und Adresse?« fragte Mottram entsetzt. »Das kann ich gar nicht verstehen. Meinen Namen, sagten Sie?« Die beiden Beamten schienen plötzlich wesentlich interessierter. Es war, als röchen sie seine Unsicherheit. »Ja, warum?« Mottram wußte, daß er sich jetzt auf ganz dünnes Eis begab, aber er mußte aufs Ganze gehen. »Weil mein Name unter dieser Adresse gar nicht eingetragen ist, nur der Firmenname. Das heißt, das ich ihr von jemandem, der mich sehr gut kennt, empfohlen wurde. In jedem Fall muß der Grund, warum sie meine Adresse hatte, ein rein privater gewesen sein.« 68
Ihre Gesichter zeigten die Enttäuschung. »Oh, ich verstehe«, sagte der größere Polizist bedauernd. »Aber sie hatte den Namen Ihrer Firma aufgeschrieben, Mr. Mottram. Und wenn sie nicht hiergewesen ist, werden wir vermutlich nie erfahren, was sie vorhatte, als sie ihn notierte.« Neal Mottram sah ihn fragend an. »Was wollen Sie damit eigentlich sagen, Inspektor?« fragte er angriffslustig. »Ich muß sagen, mir gefällt Ihr Ton nicht. Miß Sharp war nicht hier, das kann ich ganz sicher sagen, falls sie nicht ganz anders aussieht als das Bild, das Sie mir gezeigt haben. Aber selbst wenn sie hier gewesen wäre, wüßte ich nicht, welchen Grund ich gehabt haben sollte, sie zu ermorden.« »Wir unterstellen nichts Derartiges, Sir«, sagte der kleinere Polizist grob. »Miß Sharp war keine vorbildliche Persönlichkeit. Sie hatte eine Reihe von Feinden, die allen Grund hatten, sie abzulehnen, einige von ihnen können mit Recht angenommen haben, daß sie der einzige Grund oder Anlaß für ihr Mißgeschick war. Falls Sie Miß Sharps Bekanntschaft nicht gemacht haben, können Sie sich nur glücklich schätzen. Tut uns leid, daß wir Sie gestört haben, Sir.« Sekunden später waren sie gegangen. Neal Mottram fühlte den kalten Schweiß auf seinen Handflächen, und seine Beine zitterten. Er ging zurück ins Büro und ließ sich schwer in einen Stuhl fallen. Das war ihm fast an den Kragen gegangen, und die Sa69
che war damit auch noch nicht zu Ende. Da war noch immer Samuel Terry. Falls Muriel Sharp auch seine Adresse hinterlassen hatte und Terry das verwickelte Geschäft, das sie beide verband, zugab, standen die Dinge noch schwärzer, als sie es jetzt schon taten. Aber selbst wenn es dazu kam – und Terry hatte weiß Gott keinen Grund, bei der Polizei darüber auszupacken -, dann gab es doch nichts, was diese hätte tun können. Sie hatte keinen Beweis, daß Muriel Sharp ihn wirklich besucht hatte; sie hatte nur ihre Vermutungen. Aber die nächsten Wochen vergingen, und nichts passierte. Langsam kehrte seine Zuversicht zurück. Die Polizei hätte reichlich Zeit gehabt, bei Terry nachzufragen, und doch unterließ sie einen zweiten Besuch. Vielleicht war das gerade ihre Methode, ihn schmoren zu lassen, aber er bezweifelte es. Die endgültige Bestätigung kam durch einen verstohlenen Besuch von Samuel Terry. Er war ein großer junger Mann mit einem sorgsam gestutzten Bart. Eines Morgens, kurz nachdem Neal Mottram den Laden geöffnet hatte, schlüpfte er herein. »Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er leise. »Ich möchte keine Fälschungen mehr von Ihnen kaufen«, sagte Mottram im Büro. »Wissen Sie, die Polizei war vor einiger Zeit hier und hat Fragen gestellt, und da habe ich erkannt, daß es unklug sei, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ich habe die zweite Vase, die ich noch hier hatte, zerstört.«
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»Bei Ihnen waren die Beamten auch?« fragte Terry erstaunt. »Haben Sie ihnen von mir erzählt?« Mottram schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht Ihretwegen gekommen. Es war eine andere Sache, aber ich dachte, es sei klüger, sicherzugehen. Es tut mir leid, daß ich wegen der anderen Vase nichts mehr unternehmen konnte.« »Deshalb bin ich in die Stadt gekommen«, gab Terry zu. »Ich wollte Sie warnen, die andere Vase zu verkaufen. Ich habe auch einen Besuch der Polizei gehabt.« »Weswegen? Wegen der Vasen?« Terry schüttelte langsam den Kopf. »Nein, obwohl es doch damit zu tun hatte«, räumte er dann ein. »Es war wegen dieser toten Frau, die sie aus der Themse gefischt haben.« »Muriel Sharp?« sagte Mottram vorsichtig. Samuel Terry nickte. »Sie kennen sie?« »Sie war der Grund, weshalb die Polizei zu mir kam«, sagte Mottram. »Die Beamten hatten einen Fetzen Papier, auf dem meine Adresse stand; und sie wollten wissen ... Sie haben doch nichts mit dem Mord zu tun, oder?« »Nein, natürlich nicht«, verteidigte sich Terry. »Danken Sie Gott dafür«, seufzte Mottram erleichtert. »Ich habe keine Ahnung, was sie von mir wollte, und ich konnte deshalb der Polizei gar nicht helfen; aber es hat mich aufgeregt, das kann ich Ihnen sagen. Aber wie, um Himmels willen, sind Sie in die Sache hineingezogen worden?« 71
»Ich muß etwas gestehen«, sagte Terry leise. »Es fällt mir nicht leicht, weil es auch mit Ihnen zu tun hat. Diese Frau – Muriel Sharp -war bei mir an dem Tag, bevor sie ermordet wurde. Sie hatte die Sache mit der Vase herausgefunden.« »Mit welcher Vase?« »Mit der, die Sie an Sir Forster verkauft haben«, fuhr Terry fort. »Sie hatte sie gesehen und wußte, daß sie entweder falsch oder gestohlen war.« »Woher, zum Teufel, sollte sie das gewußt haben?« fragte Mottram. »Ich hoffe, Sie haben nichts zugegeben.« »Ich mußte einfach«, sagte Terry mit steigender Erregung. »Ich mußte entweder zugeben, daß ich mit gestohlenen Dingen handle, oder daß die Vase, die sie bei Sir Forster gesehen hatte, eine Fälschung ist.« »Sie Idiot!« zischte Mottram. »Dann nehme ich an, daß Sie es waren, der ihr meinen Namen gegeben hat?’ »Nein, den wußte sie bereits von Sir Forster. Aber mir blieb keine Wahl. Noch bevor sie zu mir kam, wußte sie schon, daß ich damit zu tun hatte.« »Aber wie denn ?« »Solly Kohn.« »Wer ist das?« flüsterte Mottram. Sein Kartenhaus war in Gefahr, einzustürzen. In seinen Gedanken hatte er Muriel Sharp nur in Zusammenhang mit Terry, Sir Forster und sich selber gebracht.
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»Er hat die Originalvase von einem privaten Sammler gestohlen«, mußte Terry zugeben. »Ich habe seinen Namen Ihnen gegenüber nicht erwähnt, weil ich Geschwätz nicht mag. Aber Kohn hatte irgend etwas mit dieser Muriel Sharp zu tun. Sie hatte bei ihm die Vase gesehen. Als nun die gleiche Vase plötzlich bei Sir Forster auftauchte, wußte sie, an wen sie sich wenden mußte, um alles herauszufinden.« »Aber Sie haben mir doch gesagt, daß der Mann, der die Vase hatte, sehr vorsichtig sei und dafür sorgen wollte, daß sie nicht in diesem Land verkauft würde. Sie haben gesagt, daß er seinen Mund halten und nichts sagen würde!« Samuel Terry verzog das Gesicht. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Ich will sie so kurz wie möglich machen. Solly war mit einem sehr hübschen jungen Mädchen verheiratet. Natürlich hatte er ihr nicht erzählt, wovon er lebte, als er sie heiratete. Sie dachte, sie hätte viel Geld geheiratet, und als sie das Gegenteil entdeckte, war sie wütend und hat von da an nichts mehr von ihm wissen wollen. Irgendwie kam Muriel Sharp dahinter. Sie war so eine Frau. Anderer Leute Privatleben war ihr Betätigungsfeld.« »Ich glaube nicht, daß mich die Gewohnheiten und das Leben Ihrer Freunde aus der Unterwelt besonders interessieren«, unterbrach ihn Mottram ungeduldig.
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»Darüber weiß ich auch nicht so genau Bescheid«, mußte Terry gestehen. »Ich weiß nur, daß sie Solly verschiedentlich besucht hat, ganz offensichtlich aus keinem anderen Grund, als um ihm Geschichten über seine Frau zu erzählen und sich an seinem Kummer zu erfreuen. Damals muß sie auch die Vase gesehen haben. Sie hat mit Solly darüber gesprochen. Zuerst wollte er nichts zugeben. Aber sie hatte einen Trumpf in der Hand. Sie wußte, wo Sollys Frau mit ihrem Freund lebte. Also hat ihr der arme, dumme Solly alles erzählt. Und dann erschien sie plötzlich in meiner Werkstatt.« Neal Mottram schwieg eine Weile. »Wieviel haben Sie zugegeben?« flüsterte er heiser. »Muriel Sharp gegenüber?« Terry zuckte die Achseln. »Da war nicht mehr viel zuzugeben. Sie wußte praktisch schon alles durch Solly. Aber ich habe ihr Ihren Namen nicht genannt, Neal, das schwöre ich Ihnen. Sie hat danach gefragt, aber ich habe mich da nicht festgelegt. Sie vermutete, daß Sie der Händler seien, weil Sir Forster Sie erwähnt hatte; aber ich habe das abgeleugnet. Ich weiß nicht, ob sie mir geglaubt hat. Aber sie hat mir das Geld abgenommen, meinen Anteil. Sie sagte, sie würde dafür sorgen, daß eine Wohltätigkeitsorganisation eine anonyme Spende erhielte.« »Bei mir ist sie nicht gewesen«, wiederholte Mottram. »Nur die Polizei. Und ich hatte ja keine Ahnung, daß diese beiden Angelegenheiten miteinan-
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der zu tun haben. Was haben Sie denn der Polizei alles über sie erzählt?« »Gar nichts«, brummte Terry. »Aber das ging nur, weil ich die Zeitung schon gelesen hatte, bevor die Beamten bei mir erschienen.« »Aber welche Erklärung haben Sie denn dafür gehabt, daß Sie und Muriel Sharp miteinander zu tun hatten?« »Ach -«, Terry wischte die Frage einfach weg. »Ich habe erzählt, daß die Sharp bei mir war, um sich nach Solly Kohn zu erkundigen, daß sie hinter ihm und seiner Frau hergeschnüffelt hat. Ich sagte, ich hätte gedacht, sie käme von einem Detektivbüro und wollte ein paar Beweise gegen Solly haben für eine Scheidung. Sie schienen von dieser Antwort recht befriedigt zu sein.« »Vielleicht«, sagte Mottram nachdenklich. »Aber Sie unterschätzen die Polizei. Sie hat sich vermutlich schon mit Ihrem Freund Kohn und seiner Frau in Verbindung gesetzt.« Terry lächelte. »Das hätte seine Schwierigkeiten gehabt. Der arme Solly Kohn kann niemandem mehr etwas erzählen. Als sich die Schwierigkeiten über ihm zusammenballten, fand er, daß es an der Zeit sei, das Land zu verlassen, besonders nachdem ihn noch Miß Sharp besucht hatte. Er hatte Freunde in Belgien und Deutschland, wo er die Vase hätte verkaufen können. Traurigerweise hat er sie nie erreicht. Er hatte auf der Autobahn kurz hinter
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Köln einen Autozusammenstoß und war sofort mausetot.« Neal Mottram schwieg erneut. Er hatte das Gefühl, daß sein Schicksal vorherbestimmt war. Alles schien zu seinem Vorteil auszugehen, es starben sogar Menschen, die er gar nicht kannte, die ihm aber leicht hätten schaden können. Samuel Terry fuhr fort: »Ich dachte, es sei besser, wenn ich Ihnen alles erzähle – nur für den Fall, daß die Polizei zu Ihnen kommt. Scheint, daß ich zu spät dran bin. Ich nehme nicht an, daß die Beamten zurückkommen. In gewisser Weise hat für uns alles bestens geklappt.« »Schon möglich«, gab Mottram zu. »Aber so etwas wiederholt sich nicht. Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten mich überreden, noch einmal etwas Ähnliches zu verkaufen.« »Machen Sie, was Sie wollen«, sagte Terry gleichgültig. »Ich finde immer wieder jemanden, der das Risiko eingeht. Aber ich bin hauptsächlich wegen der zweiten Vase gekommen. Haben Sie gesagt, daß Sie sie vernichtet haben?« Mottram konnte nicht gut zugeben, daß er sie schon vor Monaten verkauft hatte, allerdings ohne Terry davon zu informieren oder ihm seinen Anteil anzubieten. »Ich habe sie zerschlagen, nachdem die Polizei hier war, obwohl ich noch nicht wußte, daß irgendein Zusammenhang bestand. Aber ich hatte
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Angst, daß es ein Grund dafür sein könnte, daß sie ihre Nase in meine Geschäfte steckt.« »Pech!« sagte Terry enttäuscht. »Sie haben zu eilig gehandelt. Ich hatte gehofft, ich könnte einen Teil meiner Verluste daraus bestreiten. Ich habe die ganze Arbeit damit gehabt und keinen Penny bekommen.« Mottram sah ihn scharf an. Er überlegte, ob hinter Samuel Terrys Worten mehr steckte, als es den Anschein hatte. »Keine Erpressung bitte!« sagte er betont. »Wir sitzen im gleichen Boot, aber Ihre Lage ist die schwierigere. Ich kann zu meiner Entschuldigung immer sagen, ich hätte nicht gewußt, daß es sich um eine Fälschung handelte!« Terry stand auf und sah Mottram nachdenklich an. »Ich habe nie an etwas Ähnliches gedacht«, sagte er ganz ruhig. »Aber Sie müssen eine ziemlich üble Phantasie haben, wenn Sie so etwas vermuten. Es tut mir nur leid, daß ich Sie gestört habe und Sie warnen wollte. Ich werde meine Geschäfte in Zukunft woanders machen.« Neal Mottram unternahm keinen Versuch zu einer Versöhnung. Samuel Terry zögerte, als wollte er noch etwas sagen. Aber dann überlegte er es sich doch anders und wandte sich ohne ein weiteres Wort zur Tür. Sekunden später war er gegangen. Ihr Name war Mary-Jane Philpott, und sie stammte aus einer Stadt mit dem seltsamen Namen Toms 77
River, die irgendwo an der Küste von New Jersey liegt. Neal Mottram machte ihre Bekanntschaft auf der Bank, als er den Scheck einreichte, den er für den Verkauf der Sovereigns bekommen hatte. Sie war eine kräftige, kleine rotblonde Person mit einem Babygesicht und hellblauen Augen, die ein bißchen vorzustehen schienen. Sie hatte eine Reihe von Travellerschecks eingelöst, und der Wechselschalter war neben dem Schalter, an dem Mottram stand. Als sie gehen wollte, fragte sie den Kassierer nach dem Weg zur Wallace Collection. Mary-Jane Philpott hatte die nasale Aussprache der Amerikaner, die an der Ostküste leben, und dazu eine leicht ungeduldige Art. Beides wurde besonders deutlich, als der Kassierer nicht in der Lage war, ihre Frage zu beantworten. Als sich Neal Mottram einmischte, wurde sie zusehends friedfertiger und zeigte sich von ihrer charmanten Seite, besonders als er ihr anbot, sie bis in die Nähe zu begleiten, falls sie warten könne, bis er mit seinen Geschäften fertig war. Bereits am Manchester Square hatte er eine ganze Menge über Mary-Jane Philpott erfahren. Zuerst hatte er geglaubt, sie gehöre zu den unternehmungslustigen Amerikanerinnen, die danach gierten, die Welt zu sehen und soviel Kultur einzuheimsen wie nur möglich. Aber ihre Gründe für die Verlängerung eines Englandbesuches waren viel alltäglicher. Es war eine Flucht aus einer kleinen 78
Stadt gewesen, denn eine in die Brüche gegangene Liebesgeschichte hatte Wasser auf die Mühle des Klatsches in einer so kleinen Gemeinde bedeutet. Sie war ein redseliges Mädchen von sechsundzwanzig Jahren mit einem Anflug spröder Vertraulichkeit und Deutlichkeit, die im Hinblick auf ihre kurze, oberflächliche Bekanntschaft verwirrend war. Sie war die Tochter eines Bauunternehmers, der beim Bau von Vorortsiedlungen im Distrikt von New York und Philadelphia einen Haufen Geld verdient hatte. Aber sie schien unter einem merkwürdigen Haß-Liebe-Gefühl gegenüber ihrem Vater, der Witwer war, zu leiden. Sie erfüllte Mottram mit einer merkwürdigen Mischung von Bewunderung und Abneigung, etwas, das ihm ganz fremd war. Im allgemeinen konnte er sich sofort von einer Frau ein Bild machen. Entweder mochte er sie – manchmal mit einer heftigen körperlichen Gier, die kaum zu verbergen war oder sie gingen ihm auf die Nerven. Er fand, daß Mary-Jane Philpott ihn ungewöhnlich verwirrte, er mochte ihr heftiges, lautes Sprechen nicht, doch zog ihn ihre Offenheit und die saubere weibliche Ausstrahlung ihres jungen Körpers an. Während der letzten Woche hatte er eine wachsende Ungeduld in sich gespürt. Nachdem die Anspannung, die Furcht vor der Entdeckung, gewichen waren, fühlte er sich ausgepumpt und leer. Es war fast, als brauchte sein Körper den heißen, scharfen Geschmack der Angst, die nervenzerrende Erre79
gung, die Männer dazu zwingt, schreckliche Risiken einzugehen. Er verspürte auch ein Gefühl der Enttäuschung und leichte Zweifel an der Großzügigkeit seines Verbündeten. Außer der Entdeckung des verborgenen Faches in der Schreibschatulle war kein irdischer Reichtum mehr auf ihn niedergegangen. Das Ganze erschien ihm wie eine Art Tauziehen. Er wollte sich nicht weiterziehen lassen, bevor er nicht sicher war, daß er neuen Boden nicht mit weiteren Zugeständnissen bezahlen mußte. Obwohl ihm seine wahren Absichten immer klarer wurden, beschloß er, das Wagnis einzugehen. Mary-Jane Philpott hatte schon darauf angespielt, daß sie die Begleitung eines Experten wie ihn bei ihrem Besuch in der Ausstellung sehr begrüßen würde. Sie verbrachten den größten Teil des Nachmittags in der Galerie, unterhielten sich über die Vorzüge der französischen Meister gegenüber Malern wie Tizian, Velazquez und Murillo. Aber beide spürten das Interesse, das sie sich gegenseitig, kaum verborgen, entgegenbrachten. Später, als sie genüßlich eine Tasse Tee mit Rahm in einem der Tearooms tranken, spürte er ihre fragenden Blicke. »Stimmt irgend etwas nicht mit meiner Krawatte?« fragte er etwas verwirrt und griff nach seinem Kragen. »Entschuldigen Sie. Aber ich habe gerade überlegt, ob Sie mir vielleicht helfen könnten.« 80
»Aber natürlich, wenn es mir möglich ist.« Ihre Worte hatten so geklungen, als würde es das wohl nicht sein. »Ich fürchte, es ist ziemlich persönlich.« Er stellte fest, daß er auf der richtigen Spur war. So, wie sie jetzt aussah, wirkte sie verwirrt. Er überlegte, was es wohl sein könne. Amerikanische Touristen schienen immer so selbstsicher zu sein. Es gab nur eine Sache, die sie in Verlegenheit versetzen konnte. »Geld?« fragte er leise. Sie nickte. »Ich fürchte, ich sitze ziemlich in der Klemme«, gab sie zu. »Es ist nichts Kriminelles, und das Ganze wäre leicht durch ein Telefongespräch zu beheben. Aber gerade diesen Anruf will ich vermeiden.« »Ihr Vater?« »Er würde mir das Geld telegrafisch schicken oder mir die Adresse eines seiner Freunde hier in London sagen, damit ich dorthin gehen kann«, sagte sie. »Er würde auch gar nicht böse sein, denn es handelt sich nicht um sehr viel Geld. Aber es wäre wieder ein Punkt mehr für ihn, und er würde mit dieser väterlichen Überlegenheit herumgehen und ein Jahr lang sagen: ,Ich habe es dir ja gleich gesagt.’» »Haben Sie Angst vor Ihrem Vater?« fragte Mottram. »Nein!« sagte sie ein bißchen zu schnell und merkte gleich, daß er ihr nicht glaubte. »Na ja, ich res81
pektiere ihn sehr. Er macht alles immer so richtig; und ich habe diese dumme Art, alles immer falsch zu machen.« Da saß sie nun, mit ihren Wangengrübchen, einer Haut wie Pfirsich, ein erwachsenes Mädchen mit einem Ich-hab-mich-im-Walde-verirrt-Blick. Mit dieser Art von Unschuld konnte sie nur Schwierigkeiten anziehen. Sie war gut erzogen und auch gebildet, aber es fehlten ihr Sicherheit und Anpassungsvermögen. »Wieviel Geld denn?« fragte er ruhig. »Ich weiß es noch nicht«, gestand sie. »Ich habe heute die letzten Reiseschecks eingetauscht, um die Hotelrechnung zu bezahlen. In Wirklichkeit war das meine Reserve für die Rückreise, aber irgendwie ...« »Fahren Sie schon wieder zurück nach Amerika?« fragte er, als sie stockte. »Ich fürchte, ich muß«, gestand sie. »Ich hatte eigentlich vor, noch einen Monat zu bleiben und mir Stratford on Avon, Schottland und den Seendistrikt anzusehen. Aber jetzt...« Einen flüchtigen Augenblick lang hatte Neal Mottram den Eindruck, als sei sie nicht so unschuldig, wie sie aussah, und daß irgendeine Art von Schwindel dahintersteckte, aber er schob den Gedanken beiseite. »Dann brauchen Sie also entweder einen Teil oder den ganzen Preis Ihrer Rückfahrkarte«, sagte er. »Das können nicht mehr als siebzig oder achtzig 82
Pfund sein. Und falls Sie noch ein paar Wochen in England bleiben wollen, brauchen Sie mindestens fünfzig Pfund. Ich würde mich freuen, Ihnen zu helfen, wenn Sie wollen. Aber da ist dann noch immer Ihre offene Hotelrechnung.« »Ich habe mehr als genug, um die zu bezahlen«, sagte sie schnell. »Und ich möchte nicht, daß Sie denken, ich will mir das Geld ohne Sicherheiten von Ihnen ausleihen. Immerhin, Sie kennen mich doch kaum.« Er lächelte über ihre Verlegenheit, aber sein Lächeln schwand, als sie vorsichtig den Ring von ihrer linken Hand streifte. Es war ein Solitärdiamant von ungefähr eineinhalb Karat in einer Platinfassung. »Lassen Sie das, Mary-Jane«, sagte er schnell. »Falls ich solche Sicherheiten haben wollte, brauchte ich mich nur mit dem American Express in Verbindung zu setzen und Auskunft über Ihr oder Ihres Vaters Kreditkonto einzuholen. Außerdem wollen Sie den Ring offensichtlich gar nicht loswerden.« »Woher wissen Sie das?« hauchte sie. »Weil es wahrscheinlich ein paar hundert Juweliere in London gibt, die Ihnen nach einem Blick auf den Ring schätzungsweise dreihundert Pfund geben würden. Wenn es also bloß eine Frage des Geldes gewesen wäre, hätten Sie die Sache wohl kaum mit mir, einem Fremden, besprochen.«
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Sie steckte den Ring wieder an und berührte zart seine Hand. »Sie sind für mich wirklich nicht wie ein Fremder, Neal. Mir ist, als wären wir schon alte Freunde.« »Dann nehmen Sie das Geld, das Ihnen ein alter Freund leihweise anbietet, und reden Sie nicht von Sicherheiten, Mary-Jane. – Übrigens, sind Sie eine gute Köchin?« Sie sah ihn verwirrt an. »Ich bin ganz groß in Hamburgern und gekochten Eiern. Warum?« »Weil ich Sie jetzt um eine große Gefälligkeit bitten möchte.« »Was haben Sie denn vor?« »Essen! Richtiges, gutes, zu Hause gekochtes Essen!« Sie kräuselte die Nase und begann zu lachen. »Und das scheint endgültig zu beweisen, daß Sie Junggeselle sind«, sagte sie glücklich. »Natürlich mache ich das. Ich habe mir sowieso eine Gelegenheit gewünscht, einen Blick in Ihren Laden zu werfen. Mein Vater ist begeistert von orientalischen Dingen. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht etwas zeigen, das ich ihm als Geschenk mitbringen kann.« »Ich denke, wir werden da etwas finden«, sagte er. Sie war keine schlechte Köchin, wenn man die Umstände berücksichtigte, unter denen sie arbeiten mußte. Sie nannte das Gericht Hühnerfrikassee mit Safranreis; aber es gab ein paar unvorhergesehene
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Änderungen, denn sein Vorrat an Gewürzen war ziemlich beschränkt. Er war von einem Gefühl optimistischer Fröhlichkeit erfüllt, als die Essensdüfte durch die Wohnung zogen. Seltsamerweise ging ihm immer wieder der gleiche Satz durch den Sinn: »Und der Verurteilte aß ein kräftiges Mahl!« Es war ein stilvolles Essen. Er holte das alte Wedgewood-Geschirr seiner Mutter heraus und dazu noch ein paar Kerzenleuchter. Er fand sogar eine Flasche Niersteiner Domtal in seiner Vorratskammer. Der Fruchtsalat war mit Cherry Brandy abgeschmeckt, und sie machte einen dicken, starken Mokka, der fast bitter schmeckte. Bis dahin hatten sie die Weinflasche geleert und auch den Rest Cherry Brandy ausgetrunken, und sie sprach mit beschwipster, tränenschwerer Stimme, ihre Zunge war schwer und ihre Gedanken waren völlig durcheinander. »Wissen Sie, Sie sind wirklich was ganz Besonderes hinter Ihrer Brille«, sagte sie träge. »Ich könnte Sie mit nach Hause nehmen und glatt sagen, Sie seien ein englischer Lord, der sich wahnsinnig in mich verliebt hat.« »Ich glaube nicht, daß wir damit durchkämen«, sagte Mottram lächelnd. »Oh, damit würden wir glatt durchkommen«, sagte sie voll Vertrauen. »Wenigstens können Sie sich benehmen und sehen nach etwas aus; und das ist schon viel mehr, als diese italienischen Grafen von sich sagen können.« 85
»Sie scheinen italienische Grafen nicht zu mögen.« »Nicht alle«, sagte sie bitter. »Der eine, den ich kennengelernt habe, muß der übelste aus dem Haufen gewesen sein. Er hat mich um eine ganze Menge Geld erleichtert.« »Wollten Sie deshalb Ihren Aufenthalt in London verkürzen?« fragte Mottram. Sie nickte. »Wir wollen nicht von ihm sprechen. Ich würde am liebsten vergessen, daß es dieses Schwein überhaupt gibt.« Bis jetzt hatte sie sich ziemlich in der Gewalt gehabt, aber infolge des Alkohols fiel sie streckenweise aus der Rolle. Sie war offenbar verbittert und enttäuscht. Er sah zu, wie sie die Beine auf das Sofa legte, der Rock war über die Knie hinaufgerutscht, und sie zeigte ihre schlanken, nylonglatten Beine. »Setzen Sie sich zu mir, Neal«, sagte sie mit geschlossenen Augen. Einen Augenblick zögerte er. Aus einem unerklärlichen Grund erschien vor seinen Augen wieder das Bild eines nackten schwarzen Mädchens, das beim Schein flackernder Kerzen tanzte. Er füllte ihr Glas nach und ging zu ihr. »Wissen Sie, was mich als erstes an Ihnen fasziniert hat?« fragte sie schläfrig. »Ihre Augen. Sie haben etwas Ungewöhnliches. Ich fühlte mich von ihnen angezogen, ja fast hypnotisiert.«
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»Vielleicht war meine Bewunderung für Ihren Körper ein bißchen zu offensichtlich«, flüsterte er scherzhaft. »Sie sind ein sehr reizendes Mädchen.« Sie wand sich ein wenig, und ihre Arme umschlossen seinen Hals. Er spürte, wie sich ihr Körper ihm entgegenbog, als er sich hinunterbeugte, um sie zu küssen. Ihre direkte, unverhüllte Begierde überraschte ihn. Sein Atem ging schneller. Seine rechte Hand tastete sich nach oben und umfaßte eine warme Brust. Er spürte die schwellende Weichheit, die sich ihm anbot, und den zarten Schauer, der ihren Körper durchlief. Ihr rauher Atem drang an sein Ohr. Seine Hand glitt in den Ausschnitt ihrer Bluse, seine Finger versuchten ungeduldig, die Knöpfe zu öffnen, um möglichst schnell das seidenweiche, warme Fleisch zu erreichen. Sie stöhnte voll tierischer Lust, und er fühlte die zitternde Gespanntheit ihrer Beine, die sich immer härter an ihn preßten. Sie war warm und weich und so hingegeben, wie es Frauen vom Anfang aller Zeiten an waren. Er drang über die Nylonglätte ihrer Schenkel zu der noch seidigeren Haut darüber vor, sie zuckte unter seiner Berührung und zitterte unter seinen Liebkosungen. »Nein, nicht hier, Neal«, flüsterte sie heiser. Aber er spürte, daß es keine Weigerung war, und wußte instinktiv, was er zu tun hatte.
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Er nahm sie vom Sofa, ihre Arme waren um seinen Hals geschlungen, und trug sie in das dunkle Schlafzimmer. Und hier, in der Anonymität der Dunkelheit, die ihr Gesicht verbarg, war sie es, die in ihrer Begierde der beherrschende Partner wurde, die sich mit wilder, unbeherrschter Leidenschaft hingab. Doch in der gleichen Anonymität der Dunkelheit war sie nicht mehr Mary-Jane Philpott aus Toms River, New Jersey. Sie war eine strahlende schwarze Verführerin, die in schwereloser Raserei tanzte und Priesterin, Sakrament und Opfer in einem war. »Er ist der Gott der Liebe«, hörte sich Mottram viel später sagen. »Er gibt und belohnt diejenigen, die ihn verehren und an ihn glauben. Und er ist seinen Jüngern gegenüber sehr großzügig.« Sie standen auf dem schäbigen Teppich vor der schwarzen Statue. Mary-Jane trug nichts außer einem Morgenrock, den sie im Schlafzimmer gefunden hatte, doch sie erweckte jetzt keine Begierde mehr in ihm. Sie wandte sich von der Statue ab, ihre Augen waren vor Angst geweitet. »Ich habe Angst, Neal«, sagte sie mit dünner, bittender Stimme. »Laß uns wieder hinaufgehen.« Er sah sie schweigend an, seine Augen suchten die ihren und befahlen ihr zu bleiben. Er spürte die Stärke, die von ihnen ausging, und das langsame Schwinden ihres Widerstandes. »Was muß ich tun?« flüsterte sie verwirrt.
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»Zieh den Morgenrock aus und gehe dreimal um die Statue herum«, sagte er. »Verneige dich zuerst vor ihr und umfasse zum Schluß die Zacken des Dreizacks mit deiner linken Hand.« »Ist das alles?« fragte sie zögernd. Er nickte. Sogar ihm erschien es als eine zu kurze und bedeutungslose Zeremonie, aber er war so begierig darauf, es hinter sich zu bringen, damit er das Resultat und die Belohnung, die folgen würde, sehen konnte. Der Herrscher der Unterwelt gab nichts auf Zeremonien, solange er seine Opfer erhielt. Mary-Jane ließ den Morgenmantel von den Schultern gleiten. Hier, in dem grellen Licht ging die magische Vollkommenheit, die ihr Körper versprochen hatte, verloren. Jetzt sah Mottram die leicht hängenden Brüste, die Plumpheit ihres Gesäßes und ihre stämmigen Beine, die ihm so schlank und wohlgeformt erschienen waren. Sie wandte sich nach links. »Nein!« sagte er scharf. »Nach rechts. Der Sonne entgegen!« Sie blieb stehen und sah erschreckt auf. Einen Augenblick lang glaubte Mottram, er hätte die Macht über sie verloren, aber dann begann sie, auf ihn zuzukommen. Wieder sah er ihr zu, wie sie zwei Kreise vollendete. Als sie den dritten beginnen wollte, begab er sich auf die linke Seite der Statue, die Spannung in ihm war inzwischen auf den Höhepunkt gestiegen. 89
Sie näherte sich ihm das letztemal, ihre Augen blickten verwirrt. Vielleicht hatte sie gemerkt, daß dies nicht nur ein harmloser Scherz war, die etwas lächerliche Verehrung für einen obskuren Liebesgott, wie Neal Mottram ihr hatte einreden wollen. Aber sie war eine verstörte Frau, eine Nymphomanin, die aus einem merkwürdigen Grund danach gierte, sich bis zu den tiefsten Tiefen zu erniedrigen. Er griff nach ihrer Hand, um sie um die inneren Spitzen des Dreizacks zu schließen. »Verbeuge dich!« hörte er sich sagen. Und mit langsamer, ja fast geübter Hand umfaßte er ihre Schläfen. Die Trommeln in seinem Gehirn begannen einen anschwellenden wilden Rhythmus zu schlagen. Seine Augen starrten brennend in die ihren; er hielt sie nur ein paar Zentimeter von sich entfernt, und nur die schimmernden Kupferspitzen trennten ihn von ihr. »Ganz ruhig jetzt!« flüsterte er beruhigend. Er schloß die Augen und spürte, wie die Kraft in seinen Armen anschwoll. Mit einer jähen Bewegung riß er ihren Kopf nach oben und stieß ihn dann nach unten gegen den aufragenden glänzenden Stachel. Er spürte den dumpfen Aufprall, den plötzlichen Ruck ihres Kopfes unter seiner Hand und zwang sich dazu, nicht die Augen zu öffnen. Und dann schrie sie. Es war ein wilder, qualvoller Schrei, der die Trommeln aus seinem Kopf verjagte
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und alle seine Illusionen vernichtete. Es war der Todesschrei eines Tieres. Voll Panik hielt er eine Hand vor ihren geöffneten Mund. Er versuchte seine frühere Gewalt über sie wiederzugewinnen, aber er konnte nur voll Angst und Schrecken auf ihr verzerrtes Gesicht blicken. Mit übermenschlicher Kraft befreite sich der zuckende Körper unter seinen Händen von dem Zacken und glitt ihm aus der Hand. Mary-Jane Philpott fiel taumelnd nach hinten; dunkle Flecken waren auf der weißen, fast durchsichtigen Haut. Er schlug sie mit einem Rugbygriff nieder und zog sie auf den dünnen Teppich, mit seinem Körper versuchte er, ihre zuckenden Bewegungen zu dämpfen, während seine Hand immer wieder ihren Mund verschließen wollte und doch nur in Blut griff. Der Körper, der unter ihm so voller Leidenschaft gewesen war, zuckte nun im Todestanz, den er irgendwie beenden wollte. Lange bevor das Entsetzen in ihm erstarb, hatte er sich von ihr gelöst. Auf zitternden Knien kauerte er in seinem blutgetränkten Pyjama auf dem Boden. Er hatte den Grund der tiefsten Verzweiflung, die ein Mensch in seiner Selbstzerstörung erreichen kann, erreicht; kein Weg führte mehr hinauf. Als er sich an die widerwärtige Säuberungsarbeit machte, hatte er sich an die hundertmal geschworen, daß dies das Ende sein mußte. Mit Muriel Sharp war alles einfach gewesen, fast eine Erleich91
terung, sie sterben zu sehen. Aber er hatte sie nur zu ihrem Tode geführt, ohne selber der Henker zu sein. Sie hatte den Tod vermutlich verdient. Jetzt, als er leer und erschöpft vor der teuflischen Statue lag, dachte er an den warmen Körper, der einmal Mary-Jane Philpott gewesen war, ein vertrauensvolles, schwaches Mädchen, das nur darauf aus gewesen war, seine und ihre eigenen Triebe zu befriedigen. Was er noch vor ein paar Minuten verachtet hatte, bedauerte er jetzt. Aber noch größer war das Mitleid mit sich selber. Er dachte an das schwarze Telefon oben und an den einfachen Weg aus dieser Qual. Ein kurzer Anruf bei der Polizei, und er war von allem befreit. Aber würde er befreit sein? Am Ende siegte der primitivste aller Instinkte – der der Selbsterhaltung. Schwach und erschöpft richtete Neal Mottram sich auf und sah sich um. Niemand konnte die Schreie des Mädchens gehört haben, denn sonst hätte man schon längst nachgefragt. Er fühlte auf einmal den kalten, klebrigen Pyjama, der an ihm hing. Mit plötzlichem Widerwillen riß er ihn sich vom Körper und stolperte nach oben, um sich zu waschen und anzuziehen. Als er zurückkam, hatte er bereits beschlossen, was er tun wollte. Er benutzte die gleiche Decke, die er für Muriel Sharp genommen hatte, um Mary-Jane einzuwickeln. Noch bevor er anfing aufzuräumen, trug er 92
das Bündel zu dem wartenden Minibus. Mary-Jane war auf den Teppich gestürzt; und er wußte, daß es unmöglich war, diesen wieder zu säubern. Sorgfältig schlug er das schwere Stück zusammen und verstaute es in einem Pappkarton. Auf dem Boden unter dem Teppich war kaum Blut, nur an ein paar Stellen war es durchgesickert. Aber diese waren leicht zu säubern. Mit fieberhafter Eile erledigte er diese Aufgabe. Er lief wieder hinauf und holte das Täschchen und die Kette, die Mary-Jane getragen hatte. Zehn Minuten später fuhr er aus seinem Hof, hinter sich das formlose Bündel in der Wolldecke und die Pappschachtel mit dem blutbefleckten Teppich. Es war schon nach halb elf Uhr und wenig Verkehr auf den Straßen, obwohl es Samstag war. Wieder fuhr er in Richtung Süden, überquerte die Themse und hielt sich in Richtung Lewisham und Camberwell, um die A 2 zu erreichen. Als er die Themse überquerte, öffnete er das Fenster und warf das Täschchen über das Brückengeländer. Kurz nach Mitternacht bog er nach Strood ab und hielt sorgfältig Ausschau nach der A 228, die hier nach Maidstone hinüberführte. Er mußte ungefähr vierzehn Kilometer weit fahren, bis die Straße fast bis ans Ufer des Flusses führte, weit entfernt von jedem Haus oder Verkehr. Er lenkte den Bus auf die rechte Böschung der Straße und schaltete die Scheinwerfer aus. Dann holte er die Pappschachtel
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mit dem Teppich aus dem rückwärtigen Teil des Wagens. Er lauschte in die Dunkelheit und trug den Karton über die Straße, immer auf der Lauer nach einem Lichtstrahl, der ihn überraschen konnte. Er stolperte fast in gleicher Höhe mit dem sanft und breit dahinfließenden Fluß über den rauhen steinigen Boden. Er fand eine Stelle, die über den Fluß hinausragte, und zog eilig den Teppich aus der Schachtel, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß dieser nicht über den Boden schleifte. Er warf ihn in das Wasser und hielt ihn nur an zwei Ecken fest. Der Teppich breitete sich aus und zerrte an seinen Armen, während er schwer von Wasser wurde. Nach einer knappen halben Minute löste er den Griff an den beiden Ecken. Der Teppich glitt aus seinen Händen und schwamm halb unter Wasser davon. Mottram hob eine Anzahl Steine auf und warf sie auf den Boden des Kartons. Die Strömung riß ihm die Schachtel förmlich aus den Händen. Schnell richtete er sich auf und sah sich um, um sich zu vergewissern, daß er nichts vergessen hatte. Dann eilte er zum Wagen zurück. Früher oder später würde man natürlich den Teppich herausfischen, aber es konnte Tage dauern, bis man ihn gefunden hatte. Und bis dahin würde jede Blutspur ausgewaschen sein, und niemand würde etwas Un-
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heimliches an einem verschlissenen alten Teppich finden. Er fuhr schnell weiter, durch Snodland, und hielt sich jetzt entfernt vom Fluß. Etwas später erreichte er die A 20 und wandte sich wieder nach Norden. Sein nächstes Unternehmen war noch gefährlicher und hing vom Glück und der günstigsten Zeit sowie vom Verkehr ab. Beim ersten Versuch hatte er Pech. Die Ampel am Fuße des Wrotham Hill stand auf Rot, und als er auf den Wechsel wartete, erschienen hinter ihm ein paar Scheinwerfer. Er verließ die Hauptstraße, ließ alle Autos vorbeifahren und fand dann eine Stelle, wo er wenden konnte. Als er wieder an die Kreuzung kam, keuchte ein Lastwagen daher, dem ein weiteres Auto folgte. Wieder mußte er warten, aber als das Licht endlich wechselte, lag die Straße dunkel vor ihm. Wenn das Glück auf seiner Seite blieb, mußte es klappen. Auf der Kuppe des Berges lenkte er den Minibus auf den Parkstreifen, der entlang der Sicherheitsbrüstung lief, hinter dem das Gelände steil abfiel und so eine weite Sicht über die Landschaft ermöglichte, die jetzt dunkel, nur von einigen entfernten Lichtern unterbrochen, dalag. Fast noch bevor der Wagen stand, sprang er heraus, wobei er den Motor laufen ließ. Er verschwendete kostbare Sekunden, während er sich mit dem Schloß abmühte, dann ergriff er das dunkle Bündel, schnitt die Schnur durch, die die 95
Decke hielt. Am Fuße des Berges waren die Verkehrslichter zu sehen, die immer wieder wechselten, doch es näherte sich kein Scheinwerfer. Er hob mühsam das schwere Bündel hoch und drehte sich um. Mit der Stirn stieß er gegen die Metalltür des Wagens und begann zu taumeln, die Last glitt ihm fast aus den Händen. Er fühlte, wie Panik in ihm aufstieg. Doch irgendwie gelang es ihm, sich durch die Tür zu schieben und das Betongeländer zu erreichen. Seine Finger krallten sich in die Decke, als er sich vorwärts schob, und plötzlich war der schwere Druck von seinem Arm gewichen. Er hörte den leichten Aufprall, als der Körper auf den Boden aufschlug. Zuerst schien er eine Ewigkeit im Unterholz zu hängen, bevor er endlich ins Rutschen kam und in die Tiefe stürzte. Er wandte sich um, warf die Decke, die er noch in der Hand hielt, in den dunklen Wagen und schloß die Tür. Als er zum Fahrersitz eilte, sah er, wie sich die Dunkelheit vor ihm aufhellte und Lichter erschienen. Er schaltete seine eigenen Scheinwerfer ein, warf den zweiten Gang hinein und trat aufs Gas, während er von dem Geländer weg über den Parkstreifen lenkte. Als er die Straße erreicht hatte, streiften die ersten Strahlen des näher kommenden Lichtes die Kuppe des Berges noch immer in einiger Entfernung. Für den anderen Fahrer war es unmöglich, seine Geschwindigkeit abzuschätzen oder die 96
Tatsache zu erkennen, daß er, Mottram, neben der Straße geparkt hatte. Um halb zwei Uhr war er wieder in London, aber er parkte den Bus in einiger Entfernung von seinem Laden. Minuten später schlüpfte er leise durch den Laden. Routinemäßig führte er die Säuberung durch und entfernte jeden Fingerabdruck, den Mary-Jane Philpott hinterlassen haben konnte. Sorgfältig sammelte er alle ihre Besitztümer, ihre Kleider, Handschuhe und den Morgenmantel, den sie getragen hatte, und stopfte alles in eine Schachtel. Es war sicherer, das Zeug erst am Morgen zu verbrennen, wenn alle Kamine in London rauchten. Nur zwei Dinge behielt er. Die einundsechzig Pfund, die sie noch von den eingetauschten Reiseschecks hatte, und den Diamantring, den sie ihm als Sicherheit angeboten hatte. Er wußte noch nicht, wie er ihn loswerden konnte, aber es würde sich schon ein Weg finden. Lange Zeit betrachtete er eine Anzahl kleiner Negative, die eine Menge über die Ferienbeschäftigung, wie Mary-Jane sie liebte, erzählten. Das war der italienische Graf, dachte er und wußte jetzt auch, weshalb sie so verzweifelt verhindern wollte, daß ihr Vater von den Geldschwierigkeiten erfuhr, in die sie geraten war. Am Ende warf er die Bilder aber auch in die Schachtel. Es war zu gefährlich, sie zu behalten, und er brauchte keine pornographischen Fotos von ihr. Sie war für ewig in sein Gedächtnis eingeprägt, aber die Erinnerung an sie 97
war keine angenehme. Er sah die endlose Reihe von Nächten vor sich, in denen er schweißbedeckt aufwachen würde, weil er den entsetzlichen Augenblick noch einmal durchlebt hatte, in dem sie aus seinen Mörderhänden geglitten war. Seine Niedergeschlagenheit legte sich auch während der nächsten Tage nicht. Zwei Tage nachdem er auch die allerletzten Spuren von Mary-Jane Philpott beseitigt hatte, versuchte Neal Mottram, Selbstmord zu begehen. Es war nur ein lauer Versuch, ein Zeichen seines Widerstands gegen das neue Joch, das er zu tragen hatte. Der Gedanke kam ihm ganz plötzlich, der Anlaß dazu war vielleicht die Erkenntnis, daß er diesmal keine Belohnung erwarten konnte. Vielleicht hatte er seine Belohnung schon gehabt, indem er das Geld und den Ring Mary- Janes an sich genommen hatte. Es wäre eine ganz einfache Sache gewesen, wenn er dabei so methodisch vorgegangen wäre wie bei der Beseitigung jeglicher Beweise gegen sich. Aber er zog nur die schweren Vorhänge vor die geschlossenen Fenster, verstopfte den Spalt unter der Tür, indem er zwei Kissen dagegen lehnte, und drehte den Gashahn auf. Er versäumte -vielleicht unbewußt -, den Kamin zu verschließen und einen Shilling in den Schlitz zu stecken. Nachdem er das Sofa vor den Gashahn geschoben hatte, drehte er alle Lichter aus.
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Es dauerte fast eine Viertelstunde, bevor er entweder bewußtlos wurde oder einschlief. Zwei Minuten später machte der Gaszähler »Klick«, und das Gas versiegte automatisch, weil keine Münze eingeworfen wurde. Er wachte viel später auf, und alles, was er davontrug, war heftiges Kopfweh, das seinen Schädel zu sprengen schien, und ein würgendes Gefühl im Magen, das ihn zwang, schleunigst das Badezimmer aufzusuchen. Dort, in der kühlen frischen Luft, kehrten seine Sinne schnell zurück. Später hatte er weder den Mut noch die Kraft, die Feuerprobe zu wiederholen. Nachdem er einmal Widerstand gezeigt hatte, nahm er sein Schicksal hin. Es dauerte neun Tage, bevor Mary-Janes Leiche gefunden wurde, und das nur durch einen Zufall. Nachdem er eine Reihe von Aufnahmen von der Kuppe des Wrotham Hills gemacht hatte, fiel einem Lehrer aus Bristol eine seiner Kassetten über das Betongeländer. Die Kassette fand er nicht, aber er stolperte über die teilweise verweste Leiche einer Frau. Er informierte schnellstens die Polizei, die nach einer kurzen Untersuchung deutliche Ähnlichkeiten zwischen diesem Mord und dem an der Frau, die man vor einem Monat aus der Themse gezogen hatte, feststellte. Da beide Leichen innerhalb der Grafschaft Kent gefunden wurden, obwohl in beträchtlicher Entfernung voneinander, 99
versäumte man keine Zeit, Superintendent Douglas Bellamy von New Scotland Yard zu benachrichtigen, der auch die Nachforschungen im Falle des Mordes an Muriel Sharp führte. Dieses zweite Verbrechen führte zu zahlreichen Theorien über den unbekannten Mörder. Es schien unvermeidlich, daß man ihn mit Jack the Ripper oder Neville Heath verglich. Die Zeitungsreporter waren in ihren Meinungen in verschiedene Lager gespalten, einige nannten ihn den »Vollmondmörder«, andere behaupteten, daß er ein Mensch mit beträchtlichen medizinischen Kenntnissen sein müßte, da die zugefügten Wunden eine ziemliche Vertrautheit mit medizinischen Details erforderten. Andere wieder beschrieben ihn als einen Verrückten, einen Geisteskranken. Die Polizei konnte keine dieser Theorien unterstützen. Noch schwieriger gestaltete sich die Feststellung der Identität der Toten. Die Bilder, die veröffentlicht wurden, zeigten wenig Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das sie gewesen war. Aus irgendeinem Grund hatte das Hotel, in dem sie gewohnt hatte, sie nicht als vermißt gemeldet. Dort hatte man vermutlich das Gefühl, daß es keine gute Reklame wäre, wenn man sich über einen Gast beschwerte, der, ohne seine Rechnung zu bezahlen, verschwunden war. Sie hatte nur kleines Gepäck hinterlassen.
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Was auch immer der Grund war, indem es der Polizei nicht gelang, Mary-Jane zu identifizieren, stand sie vor einem unüberwindlichen Hindernis. Innerhalb einer Woche war Mary-Jane vergessen, außer vielleicht von ein paar Menschen in Toms River, ihrem Vater, einem italienischen Grafen und Neal Mottram. Zwei Wochen später, als Mottram überzeugt war, daß ihm keine Gefahr mehr drohte, veräußerte er den Diamantring in einem Juweliergeschäft in der Victoria Street. Er traf verschiedene Vorsichtsmaßregeln. Als erstes klebte er sich einen Bart auf die Oberlippe, und dazu steckte er noch zwei Watterollen in die Innenseiten seiner Backen. Dies veränderte sein Gesicht beträchtlich, und er mußte einige Zeit üben, bevor er mit dem Hindernis im Mund frei sprechen konnte. Als drittes nahm er seine Brille ab. Nach einigem Handeln erhielt er zweihundertundachtzig Pfund für den Ring, mußte aber eine halbe Stunde lang auf das Bargeld warten. Immerhin, er war froh, als er das Geld in seiner Brieftasche hatte und ungehindert abziehen konnte. Er mußte natürlich Namen und Adresse hinterlassen, aber er gab einen falschen Namen an. Er wußte, daß er ein großes Risiko auf sich genommen hatte, aber in ihm war ein Wandel vorgegangen. Er forderte die Entdeckung geradezu heraus, ja er wartete förmlich darauf. Es war, als wollte er kühl und gleichgültig die Heldentat eines fremden Menschen zur Schau stellen, der zwar in ihm steckte, 101
aber nur durch die Existenz des schwarzen Teufels in seinem Keller mit ihm verbunden war. Denn jetzt war er vollständig davon überzeugt, daß auf irgendeine unerklärliche Weise der Statue Leben und Kraft innewohnten und daß sie ein Teil von ihm war, wie auch er ein Teil von ihr. Manchmal überkam ihn wilder Zorn gegen die schweigende Gegenwart des Götzen. Dann stieg er hinunter, um seinen Peiniger zu verfluchen, aber der verharrte in Schweigen, mit jenem hochmütigen Ausdruck, der zugleich boshaft und lächelnd war. Einmal erwog er die Möglichkeit, die Statue zu zerstören; aber diesen Akt der Selbstvernichtung brachte er nicht über sich. Vielleicht war es sein geschäftlicher Sinn für den Wert, der ihm dies verbot. Sein ganzes Leben hatte er sich damit beschäftigt, wertvolle alte Dinge zu erhalten. Und er wußte auch, daß die Zerstörung der äußeren Form des Teufels ihn doch nicht frei machen würde. Langsam kam er dazu, mit geduldiger Ausdauer seine Last zu tragen, und damit zu den Grundproblemen der Existenz und des Überlebens. Er hatte sich die letzten zwei Jahre einfach treiben lassen. Aber jetzt erkannte Neal Mottram, daß er sich nur selber beschwindelt hatte. Der Laden war einträglich genug, er erlaubte ihm einen guten, wenn auch nicht luxuriösen Lebensstandard. Für einen Mann, der zufrieden war, damit seine Zeit zu verbringen, war es ein lohnendes 102
Geschäft. Aber tief in sich trug Neal Mottram noch Träume, wie die meisten Männer. Träume, die er beiseite geschoben hatte, weil es unmöglich schien, sie zu verwirklichen. Romantische Namen und Orte hatten immer seine Gedanken erfüllt und warteten darauf, wieder erweckt zu werden. Samoa, Tahiti, Hawaii, Copacabana Beach oder der KrügerNational-Park; Grand Canon und Haiti warteten darauf, besucht zu werden und in seine Sinne einzudringen. Nun gab es einen neuen, ganz anderen Weg, der zu seinen Träumen führte. Er war schon die ersten Schritte auf diesem Weg gegangen, und er wußte, daß es kein Zurück mehr gab. Dafür war schon zuviel geschehen. Alles, was ihn jetzt noch erwartete, konnte nur noch leichter zu bewältigen sein. Aber noch zuckte er vor einer Entscheidung zurück. Die Erinnerung an den sich windenden Körper der sterbenden Mary-Jane war noch zu frisch in seinem Gedächtnis. Aber er wußte, daß es nie mehr eine andere Mary-Jane Philpott geben würde. Es war ein schrecklicher Fehler gewesen, sich gefühlsmäßig mit ihr einzulassen. Er mußte sich in Zukunft zusammennehmen! Falls seine Pläne erfolgreich waren, würde die zu erwartende Belohnung wesentlich greifbarer sein. Obwohl sie nicht das treibende Motiv für die Ruhelosigkeit in ihm war, beeinflußte sie doch seine Wahl des Subjekts, trotz der offensichtlichen Gefahren, in die er dadurch geraten würde. Er spürte 103
förmlich, wie das Bedürfnis in ihm wuchs, sein Leben einer gefährlichen Sache wegen in die Waagschale zu werfen. Aber dieses Mal stand mehr auf dem Spiel als nur die vorübergehende Erregung für ein paar Stunden oder ein paar Tage. Louise Nash war seine Tante, die Schwester seines Vaters. Sie war zweiundsiebzig Jahre alt und lebte für sich in einem netten kleinen Haus in Petersham, litt an Rheumatismus, war schwerhörig und hatte ein Halsleiden, das es ihr schwermachte, zu sprechen. Sie war seit siebzehn Jahren Witwe, nachdem sie lange und glücklich verheiratet gewesen war. Aber obwohl diemeisten der Verwandten angenommen hatten, daß sie dem Partner, mit dem sie so innig verbunden gewesen war, in kurzer Zeit folgen würde, hatte sie doch alle durch ihren beharrlichen Lebenswillen erstaunt und nahezu alle, außer Neal Mottram und eine jüngere Schwester, die irgendwo im Norden Englands lebte, überlebt. Ihr Mann hatte eine kleine Druckerei in Watford besessen, die er aus dem Nichts aufgebaut hatte. Sie hatte sie nach seinem Tode an einen der großen Druckereibetriebe verkauft, der ihren Mann schon zu Lebzeiten zum Verkauf gedrängt hatte. Neal Mottram wußte, daß sie einen Preis von sechzehntausend Pfund erhalten hatte. Trotz ihres Alters und der sie quälenden Leiden war sie weder hilflos, noch hatte sie sich völlig vom Leben zurückgezogen. Sie veranstaltete Bridgepar104
ties für einen ausgesuchten Kreis von Freunden, bestand darauf, jeden Winter eine Schiffsreise in wärmere Länder zu unternehmen, und verbrachte lange Sommerferien in stillen Erholungsorten an der Südküste oder in den Villen ihrer Freunde auf dem Kontinent. Es entging ihr nicht, daß die Zahl ihrer Verwandten zusammenschmolz. Nie vergaß sie Neal Mottrams Geburtstag, und ihre Weihnachtsgeschenke waren großzügig, manchmal sogar verschwenderisch. Aber sie hatte ihre Grundsätze. Als Neal Mottram damals seinen Laden eröffnet hatte und unter akutem Geldmangel litt, hatte er sie um eine Beteiligung gebeten. Doch sie war fest bei einer Absage geblieben. Irgendwie war er mit seinen Schwierigkeiten fertig geworden, aber er hatte es ihr nie vergessen. Nun schien Tante Louise für ihn die einzige logische Möglichkeit zu sein, aus der Falle, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte, zu entkommen. Er wußte, daß es ein ungeheures Risiko war. Diesmal mußte er die Sache von einem völlig neuen Gesichtspunkt aus angehen. Da war nicht nur das Problem, wie er Tante Louise in den Laden bekommen konnte, sondern es würde automatisch der Verdacht auf ihn fallen, da er einer der Erben in ihrem Testament war. Sein Name war der Polizei im Zusammenhang mit Muriel Sharp bekannt, und das hieß, daß er sich ein stichfestes Alibi zu-
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rechtlegen mußte, das es unmöglich machen würde, ihn zu verdächtigen. Es dauerte mehrere Tage, bis ihm einfiel, wie er sich genau ein solches Alibi verschaffen konnte. Es war eine komplizierte Angelegenheit, und vieles hing dabei von einer genauen Zeiteinteilung und der Notwendigkeit ab, für eine gewisse Zeit unbeobachtet zu sein. Bevor er mit seinen Vorbereitungen beginnen konnte, mußte er sich davon überzeugen, daß er den richtigen Zeitpunkt gewählt hatte. Es würde keine Gelegenheit für einen Versuch und keinen Spielraum für Fehler geben. Zwei Telefongespräche legten den Zeitplan fest. Eines davon führte Neal Mottram von einer öffentlichen Telefonzelle aus, da es sich um ein Ferngespräch handelte, das später vielleicht festgestellt werden konnte, falls er sein eigenes Telefon benutzte. Um seine Stimme zu verstellen, benutzte er einfach ein zusammengeknülltes Taschentuch, das er sich vor den Mund hielt. Ungeduldig wartete er darauf, daß der Hörer am anderen Ende aufgenommen wurde. »Hallo!« sagte er nervös. »Wäre es wohl möglich, daß ich Mr. Norman Penwale sprechen könnte?« »Am Apparat!« Mottram erkannte die kurze, fast mürrische Sprechweise Norman Penwales, eines begeisterten Sammlers indischer Metallarbeiten. »Mein Name ist John Spencer, Sir«, sagte Mottram schnell. »Ich bin der Veranstalter eines Verkaufs106
kongresses, der nächsten Samstag im ConnaughtHotel in Margate stattfindet. Ich wollte fragen, ob Sie uns vielleicht die Ehre erweisen und an einige unserer Mitglieder besondere Auszeichnungen verleihen könnten.« »Nächsten Samstag, sagten sie?« Penwale hatte die Geschichte offensichtlich geschluckt. »Es tut mir leid, aber das wird nicht möglich sein. Ich sitze am Nachmittag in der Jury eines Babywettbewerbs, und am Abend habe ich eine Verabredung zum Essen. Ich fürchte also, es wird unmöglich sein, außer, Sie könnten die Preisverteilung bis Sonntag verschieben. Da bin ich den ganzen Tag frei.« Mottram grinste bei sich. Er hatte seinen Zweck erreicht. »Leider wird das nicht gehen, Sir«, sagte er schnell. »Samstag ist der letzte Tag des Kongresses. Aber vielleicht finde ich jemanden, der Sie vertreten kann. Auf jeden Fall vielen Dank, Sir.« Er hängte ein, bevor Penwale womöglich noch einen anderen Vorschlag machte. Alles, was er wissen wollte, war, ob Penwale über das Wochenende zu Hause war. Sein nächster Anruf galt Tante Louise. Er erkundigte sich ganz allgemein, wie es ihr ginge, und wartete dann darauf, daß die übliche Einladung folgte. Sie bat ihn zu kommen, nannte aber keine bestimmte Zeit, und er mußte vorgeben, sehr beschäftigt zu sein, schlug dann aber das kommende Wochenende vor, um festzustellen, ob Tante Loui107
se zu Hause sein würde. Dann überlegte er es sich anders und verabredete sich mit ihr für das Wochenende in drei Wochen. Ihre Stimme klang enttäuscht über den langen Aufschub, aber sie wäre noch wesentlich verstörter gewesen, wenn sie seine Gedanken hätte lesen können. Am folgenden Abend kaufte er bei einem Händler in Camberwell einen gebrauchten billigen FordLieferwagen und gab den Auftrag, den Wagen gründlich zu überholen. So umging er das Problem, ihn während der nächsten zwei Tage in einer Garage unterzustellen. Am Donnerstag rief er Margate noch einmal an, benutzte diesmal jedoch sein eigenes Telefon. »Hier ist Neal Mottram, Mr. Penwale«, sagte er, »von der ,Galerie für Asiatische und Afrikanische Kunst’. Sie wollten doch, daß ich mich mit Ihnen in Verbindung setze, falls ich wieder etwas von den indischen Metallarbeiten habe, die Sie voriges Jahr schon bei mir gekauft haben.« Penwale war entzückt. »Haben Sie etwas Interessantes gefunden?« fragte er. Tatsächlich hatte Mottram die Stücke von der Konkurrenz gekauft, und zwar zu einem Preis, der, wenn überhaupt, nur einen kleinen Profit erlauben würde. »Ja«, sagte er. »Und ich habe einen Vorschlag. Ich bin vielleicht das Wochenende über in Margate. Wenn Sie eine halbe Stunde Zeit übrig haben, könnten Sie einen Blick auf die Sachen werfen. 108
Unverbindlich natürlich. Ich muß jemanden in Ihrer Nähe besuchen.« Oh, das ist fein«, sagte Penwale. »Aber nicht am Samstag. Da werde ich sehr besetzt sein. Könnten Sie am Sonntag kommen?« »Ich denke schon«, sagte Mottram langsam. »Aber ich kann es nicht fest versprechen. Ich werde mein Bestes versuchen. Ich werde Sie anrufen, wenn ich in Margate ankomme.« »Ausgezeichnet, mein Lieber«, Penwales Stimme klang sehr erfreut. »Rufen Sie mich hier an, jederzeit nach Samstagabend, acht Uhr. Oder kommen Sie einfach am Sonntagmorgen hierher. Ich bin immer in der Nähe.« »Gut! Dann bis Sonntag«, sagte Mottram und hängte auf. Freitag, nachdem er den Laden geschlossen hatte, nahm er einen Bus nach Camberwell und holte den Lieferwagen ab. Er war völlig überholt worden, und es war eine vorläufige Versicherungskarte unter dem von ihm angegebenen Namen ausgestellt worden. Es war fast dunkel, als er in Birchington ankam. Er hatte den Wagen ausprobiert und den lärmenden kleinen Motor bis auf neunzig Stundenkilometer hinaufgejagt und nichts auszusetzen gefunden. Er parkte ihn auf einem unbewachten, öffentlichen Parkplatz, schaltete alle Lichter aus und schloß ihn ab.
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Dann ging er direkt zum Bahnhof, kaufte eine Karte und saß innerhalb vierzig Minuten nach seiner Ankunft wieder im Zug nach London. Auf dem Weg nach Hause ging er noch einmal seinen ganzen Plan durch, um eine mögliche schwache Stelle zu finden. Er fand nur eine einzige. Das Opfer konnte nicht im Keller seines Ladens stattfinden. Aber da seine Beziehung zu der Statue eine rein geistige war, schien es, als würde unter diesen Umständen die körperliche Abwesenheit des Chuku wenig Unterschied machen. Wieder ergriff ihn eine ungewöhnliche Spannung, die ihn ruhelos und aufgeregt machte. Er hatte das Gefühl, als könnte er die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht abwarten, als würde irgend etwas seine schönen Pläne und seine Begierde zerstören. Er beschäftigte sich mit den Vorbereitungen für die nächste Nacht. Sehr schwierig war die Waffe, die als Ersatz für den Dreizack der Statue dienen sollte. Er löste das Problem, indem er ein Stück von einem Mahagonidübel benutzte, der von der Reparatur eines defekten Möbelstückes übriggeblieben war. Er spitzte die eine Seite so zu, daß sie ungefähr einem der Zacken des Dreispitzes glich und auch die gleiche Dicke hatte. Als er endlich ins Bett ging, schien es, als wollte der Schlaf überhaupt nicht kommen. Er kaufte die Teufelsmaske in einem großen Spielzeuggeschäft, das sich darauf spezialisiert hatte, Wunschträume von Knaben und Alpträume ihrer 110
Mütter zu verkaufen. Dazu erstand er die größte Nummer eines Batman-Kostüms. Die Teufelsmaske war entsetzlich; sie war mit grünschillernder Leuchtfarbe bedeckt, hatte einen klaffenden, verzerrten Mund, wirres schwarzes Haar und zwei Gummihörner. Schließlich erstand er noch eine Rolle vom breitesten Hansaplast, ein Paar Gummihandschuhe und ein Paar billige Tennisschuhe mit Kreppsohlen. Danach aß er schnell etwas in einem kleinen Restaurant und wartete darauf, daß die Spirituosengeschäfte öffneten. Dann kaufte er zwei Flaschen süßen Muskateller und eine winzige Flasche Cherry Brandy, die gerade ein Glas voll Likör enthielt. Er fuhr zurück in seinen Laden und brachte die Einkäufe ins Haus. Die Weinflaschen kamen in den Koffer, den er in der vergangenen Nacht bereits gepackt hatte. Es lagen nur sein Pyjama, ein Handtuch und seine Toilettensachen darin. Dann machte er Wasser heiß, tauchte den Hals der winzigen Cherry-Brandy-Flasche hinein und wartete geduldig, bis der versiegelte Verschluß weich genug geworden war, um sich leicht entfernen zu lassen. Vorsichtig zog er den Korken heraus und schüttete ein paar Tropfen des Inhalts in den Ausguß. In seinem Medizinschrank fand er zwei kleine weiße Pillen Luminal, die er mit einem Löffelrücken fein zerrieb, bevor er das weiße Pulver durch einen Papiertrichter in die Flüssigkeit rieseln ließ. Sorgfältig wischte er jede Spur des weißen Pulvers weg, 111
bevor er die Flasche wieder zukorkte und versiegelte. Er wickelte die Teufelsmaske, das zugespitzte Mahagoniestück, die Handschuhe und die Schuhe in das Batman-Cape und stopfte alles zusammen in eine Ecke des Koffers. Es war zehn Minuten nach drei Uhr, als er den Koffer hinuntertrug und neben dem Fahrersitz im Minibus verstaute. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Hoftor und die Tür zum Laden ordentlich verschlossen waren, marschierte er zu dem Laden des Zeitungshändlers in der Nähe seines Hauses, der am Samstag offen hatte, obwohl alle anderen Läden geschlossen waren. Er teilte dem Inhaber mit, daß er geschäftlich in Margate zu tun habe, und bat ihn, während seiner Abwesenheit ein Auge auf seinen Laden zu haben. Er brauchte zweieinhalb Stunden, bis er die Umgehungsstraße von Thanet und damit fast seinen Bestimmungsort erreicht hatte. Einen knappen Kilometer vor Birchingham bog er von der Straße ab und schaltete den Motor ab. Es dauerte dreißig Sekunden, bis er die Zuleitungskabel zum Verteilerkopf herausgerissen hatte. Dann ging er munter zu Fuß weiter, kam zu den ersten Häusern und entdeckte endlich eine Telefonzelle. Er suchte sich die erste Garage, die auf dem Umschlag des Telefonbuches annoncierte, und wählte ihre Nummer. Am Samstagnachmittag war es ziemlich unwahrscheinlich, daß er viel Hilfe finden 112
würde. Damit hatte er recht. Die erste Firma hatte keinen Mechaniker zur Verfügung, aber sie halfen ihm, daß er sich mit einer zweiten Firma in Verbindung setzen konnte, die versprach, einen Abschleppwagen zu ihm zu schicken. Er ging zum Minibus zurück und wartete zehn Minuten, bis der Landrover kam. Der Mechaniker warf einen kurzen Blick in den Motor, versuchte zu starten und sah dann höchst ärgerlich drein. Es dauerte vierzig Minuten, bis sie in einer kleinen Garage in einer Hintergasse nahe am Meer ankamen. Hier verabredete Mottram, daß er den Bus am nächsten Morgen holen wolle, vorausgesetzt, daß der Mechaniker den Fehler gefunden und behoben habe. Er holte seinen Koffer und die Schachtel mit den indischen Metallarbeiten aus dem Auto, fragte nach dem Weg zur Queen Street und ging davon. Der Mechaniker würde weder den Tag noch die Zeit vergessen, zu der er zum Abschleppen des Minibusses gerufen worden war. Er brauchte zehn Minuten, um in die Queen Street zu gelangen. Das Haus, das er suchte, war ein wenig schäbig, ein schmales Doppelhaus, an dem im Erdgeschoß ein weißes Pensionsschild hing. Er ging die Zementstufen hinauf und drückte auf die Klingel. Die Frau, die öffnete, war Anfang Vierzig. Sie hatte ein rundes, gesundes Gesicht und kleine helle Augen, in denen viel Humor blitzte.
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»Guten Abend, ich möchte gern wissen, ob Sie ein Plätzchen für einen armen Wandersmann haben«, sagte Neal Mottram mit steinernem Gesicht. Sie sah mit einem ungläubigen Ausdruck zu ihm auf, der zu einem breiten Lächeln wurde. »Neal«, stammelte sie aufgeregt. »Mein Gott, ich hätte nie gedacht, daß ich dich hier sehen würde! Was, um Himmels willen, tust denn du hier? Komm doch herein!« Sie griff nach dem Koffer. Er grinste wie ein kleiner Junge, dem ein Scherz gelungen ist. »Wie geht’s dir, Dolly?« sagte er. »Bist du überrascht?« »Mir blieb fast die Sprache weg, Neal«, gab sie zu. »Aber meinst du es ernst mit diesem Zimmer?« »Todernst«, sagte er. »Ich habe geschäftlich hier zu tun, deshalb wäre es nett, wenn du mich für die Nacht unterbringen könntest. Aber bitte keine Gefälligkeit. Ich möchte das gleiche bezahlen wie alle deine anderen Gäste.« »Selbstverständlich mußt du das«, sagte sie mit einer Stimme, die ihre Worte Lügen strafte. »Du kannst das beste Zimmer haben, und ich muß dafür nicht einmal jemanden hinauswerfen.« Er folgte ihr über eine schmale steile Treppe. Sie wandte sich nach rechts und öffnete die Tür zu einem Zimmer, das auf die Straße hinausging. Die Möbel waren solid, dunkel und altmodisch, genauso, wie er sich immer eine Pension vorgestellt hatte. Das einzig ungewöhnliche Stück war ein billiger 114
Druck, auf dem die drei Grazien von Raffael zu sehen waren. Er sah kritisch zu dem Bild über dem Bett auf. »Erwartest du von mir, daß ich unter einer solchen Dekoration schlafe?« Einen Moment sah sie verwirrt aus, bevor sie loslachte, laut und kräftig. »Ach, du bist mir einer!« keuchte sie. »Du hast schon mehr davon gesehen, und nicht nur als Bild.« Natürlicher, ehrlicher Humor schwang in ihrer Stimme. »Ich habe nicht umsonst ein Jahr lang mit Martha zusammen gewohnt, und ich erinnere mich genau, wie du einmal ankamst, gerade als ich aus dem Bad stieg.« »Auch ich erinnere mich«, sagte er ernsthaft und sah ihr tief in die Augen. »Es ist eine besonders nette Erinnerung.« Sie wurde ein bißchen rot. »Sei nicht so abscheulich«, brummelte sie. »Du bist damals mit Martha gegangen und hast für nichts anderes Augen gehabt.« »Ich bin kein Gentleman«, erwiderte er. Dies alles gehörte mit zu seinem Plan. Dolly Newmann war eine vergnügte, großzügige Frau, manchmal ein bißchen ungehobelt, aber ehrlich und von einer hingebenden Schwäche, mit der manche Frauen immer die falschen Männer anziehen. »Möchtest du gern eine Tasse Tee?« fragte sie, wie um ihn abzulenken. Er setzte schnell die Schachtel ab und nickte dankbar. 115
»Ich komme fast um vor Durst«, log er. »Mein Bus ist kurz vor Margate zusammengebrochen, und ich mußte stundenlang herumirren, bevor ich ihn in eine Garage bringen konnte, wo er repariert wird.« »Du hast ein Auto?« fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie hatte ein bißchen Gewicht zugelegt. »Einen Lieferwagen«, korrigierte er sie. »Gerade jetzt mußte er kaputtgehen, als ich daran dachte, dich heute abend auszuführen. Du bist doch nicht verheiratet, oder?« »Nein.« Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Aber ich habe einen Freund. Er ist Steward auf einer Kanalfähre. Er ist heute in Ostende. Aber denk nicht, daß du irgendwelche Geschichten anfangen kannst!« »Dazu braucht es zwei«, sagte er bedeutungsvoll. Viel später, nachdem sie allen Klatsch durchgehechelt und der guten alten Zeit nachgetrauert hatten, saß er gewaschen und umgezogen in seinem Zimmer und wartete darauf, daß Dolly sich etwas Festliches anzog. Aber er dachte nicht an sie oder daran, was er mit ihr vorhatte. Er dachte an Martha in Liverpool, die sich bemühte, eine Ehe wieder zu flicken, die doch nicht mehr lange halten würde. Er wußte, er konnte ihre Adresse von Dolly erfahren, falls er das wirklich wollte. Aber er wußte schon, daß er nicht nach der Adresse fragen würde. Es war sinnlos, zu versuchen, die Vergangenheit zu 116
wiederholen. Es gab inzwischen andere Frauen, bessere Frauen, mit dunkler Haut und strahlenden Zähnen und graziösen langen Schenkeln. Und bald würde er das Geld haben, das sie reizen würde und das es ihm ermöglichen sollte, die Vergangenheit zu vergessen. Sie aßen in einem kleinen italienischen Restaurant zu Abend. Es war sauber und dämmrig dort, und sie sprachen über Dinge, die ihn zutiefst langweilten, doch er mußte so tun, als interessierten sie ihn genauso, wie Dolly. Nach Hause zurückgekehrt, stellte sie sofort den Fernseher ein. Er wartete, bis sie ganz in ihr Lieblingsprogramm versunken war, dann ging er hinauf und holte die beiden Flaschen Wein und den Cherry Brandy. »Du erinnerst dich noch daran?« sagte sie, als sie die Flaschen sah. »Ich hätte nie gedacht, daß du es jemals bemerkt hast.« »Was wiederum beweist, daß du viel mehr Eindruck auf mich gemacht hast, als du glaubst«, erwiderte er. Sie stand auf, schaltete den Fernseher aus, was für sie ein ziemliches Opfer bedeuten mußte, und holte Weingläser. Neal Mottram stellte fest, daß sie trotz des Geredes über ihren Freund, den Steward auf der Kanalfähre, noch genauso unsicher in ihren Liebesaffären war wie immer. Gegen zehn Uhr sprach sie bereits mit schwerer Zunge, ihre Worte klangen undeutlich, und sie 117
lachte über alles, auch wenn es kaum komisch war. Der schwere süßliche Wein hatte seine Wirkung getan, noch bevor sie die erste Flasche geleert hatten. Mottram paßte auf, daß er nicht zuviel trank; er mußte später noch seine fünf Sinne beieinander haben. »He, was hast du denn mit mir vor?« protestierte sie, als er den letzten Rest in ihr Glas goß. »Ich will nur deinen Widerstand ein bißchen schwächen, Dolly«, sagte er. »Du bist eine vollkommene Frau, das weiß ich ganz genau.« Er rückte näher und küßte sie auf die Wange, wobei er einen Arm um sie legte. Ihr Haar roch leicht nach Küchendünsten, und ihre Haut war heiß und feucht. Und doch war sie eine Frau und konnte seine Gedanken verwirren und ihm dadurch unerfreulich klarmachen, daß er sich an seine Pläne halten müsse und es sich nicht leisten könne, sich durch ihre Willfährigkeit ablenken zu lassen. »Was ist, wenn George dahinterkommt?« flüsterte sie plötzlich. »Er wird nichts erfahren«, versicherte er ihr. »Er ist in Ostende. Warum hat er dich denn nicht geheiratet, wenn er so eifersüchtig ist? Jeder vernünftige Mann würde dich heiraten!« Sie setzte sich auf und griff nach ihrem Glas. »Du bist meinetwegen hergekommen, nicht wahr?« sagte sie sanft. »Nicht wegen Geschäften oder weil du über Martha sprechen wolltest. Du bist gekommen, um mich zu sehen.« 118
Einen Augenblick lang zögerte er. Aber er wußte, daß er jetzt bei ihr nachgeben mußte. »Ja«, sagte er rauh. »Du bist ein Schatz«, flüsterte sie und hob das Gesicht. Er zwang sich, sie zu küssen. Sie seufzte tief und sank zurück, die Augen in ihrem vom Alkohol geröteten Gesicht waren geschlossen. »Noch einen Drink?« fragte er schnell und griff nach der nächsten Flasche, »Nein«, flüsterte sie. »Ich möchte nicht zu betrunken sein, um es zu genießen, und du sollst etwas davon haben.« »Gut, Dolly«, sagte er. »Aber wir wollen den Weingeschmack noch mit einem Schluck Cherry Brandy hinunterspülen. Das hast du doch immer bestellt, wenn wir zu dritt ausgegangen sind.« »Du scheinst dich an alles zu erinnern«, sagte sie sanft. »Ich habe nie geahnt, daß ich soviel Eindruck auf dich gemacht habe.« »Oh, das hast du, das hast du wirklich«, sagte er und hantierte mit dem Cherry Brandy. Er dachte auch daran, die Flasche zu schütteln. Endlich war er soweit und goß den Cherry in das leere Glas. Mit noch immer geschlossenen Augen streckte sie ihre Hand aus. Er beobachtete sie, während sie trank, und nahm ihr das Glas aus der Hand. Er gab vor zu trinken, doch hielt er die zusammengepreßten Lippen gegen den Glasrand, so daß keine Flüssigkeit in seinen Mund dringen konnte. 119
»Junge, das ist scharf!« sagte er und schüttelte sich. »Betrunken bin ich gar nicht gut«, murmelte sie, und er überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis die Pillen wirkten. Zusammen mit dem Alkohol würde sie lange schlafen. »Los, Dolly!« sagte er aufmunternd. »Jetzt gehen wir zwei ins Bett.« »Jetzt gehen wir ins Bett«, wiederholte sie mit singender Stimme. »Jetzt gehen wir ins Bett. Du nimmst dir wirklich kein Blatt vor den Mund.« Es gelang ihm, sie auf die Beine zu stellen, aber er fühlte, wie sie an seinem stützenden Arm schwankte. Irgendwie brachte er sie aus dem Wohnzimmer und die enge Treppe hinauf. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock. Sie stolperte zu ihrem Toilettentisch mit dem dreiteiligen Spiegel und sank auf den Stuhl. Oh, ich sehe ja scheußlich aus«, ächzte sie und deutete im Spiegel auf sich selber. Fast wäre sie vom Stuhl geglitten, und er mußte ihr helfen, als sie versuchte, den Reißverschluß ihres Kleides zu erreichen. Nach einem vergeblichen Versuch übernahm er die Sache. »Steh jetzt auf, Dolly«, sagte er ermunternd. »Geh jetzt wie ein braves Mädchen ins Bett.« »Wie ein böses Mädchen«, kicherte sie. Er zog sie hoch und spürte einen leichten Ekel gegen sie und sich selber. Das Kleid begann über ihre Hüften zu gleiten, als sie ein paar taumelnde 120
Schritte auf das Bett zumachte. Sie stolperte nach vorn und fiel, mit dem Gesicht nach unten, in die Kissen, wobei die Sprungfedern voller Protest quietschten. Sie kicherte wieder, und ihre Schultern zuckten, der untere Teil ihres Körpers hing noch auf dem Boden. Er bückte sich und zog ihr Kleid ganz herunter. Seine Finger zitterten, als er ihre Strapse öffnete und erst die Strümpfe von ihren Beinen zog und dann ihr Höschen. Wieder kicherte sie, ohne seine Mühe zu bemerken. Den Strumpfgürtel ließ er übrig, schwang ihre Beine auf das Bett und zog eine Decke über sie. Plötzlich fühlte er keinerlei Verlangen mehr nach ihr. Am schwierigsten war es, den Büstenhalter zu entfernen, denn sie hatte sich auf den Rücken gelegt und schnarchte schon ein wenig. »Dolly«, sagte er atemlos, als er es endlich geschafft hatte, »bist du wach?« Ihr Mund stand offen, und ihr Atem ging laut und rasselnd. Ihr Augenlid zitterte, aber sie gab keine Antwort. Schnell wandte er sich ab und ging zur Tür. Dort blieb er stehen, schnürte seine Schuhe auf und stieß sie zum Bett zurück. Dann drehte er das Licht aus, schlüpfte auf den Gang hinaus und lauschte dort einen Augenblick. Sekunden später war er in seinem Zimmer und öffnete den Koffer. Er fand das schwarze Bündel, griff nach den Tennisschuhen und ging schnell hinunter.
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In der Diele fand er das Telefon. Obwohl es kaum mehr die richtige Zeit für einen Anruf war, griff er nach dem Hörer und wählte Norman Penwales Nummer. Es war wichtig, daß er durch mehr als einen Zeugen bewies, zu welcher Zeit er in Margate war. Mottram entschuldigte sich überschwenglich und erklärte, daß sein Auto kaputtgegangen sei und daß er Penwale am nächsten Morgen sehen könnte, falls es angenehm sei. Um ganz sicherzugehen, gab er ihm noch die Telefonnummer, unter der er zu erreichen war. Danach lief er ins Wohnzimmer, um die leere Cherry-Brandy-Flasche und sein Glas zu holen. Er trug beides in die Küche und wusch sie unter dem Wasserhahn gründlich aus, bis keine Spur des Schlafpulvers mehr übrig war, dann füllte er ein paar Tropfen Muskateller in das Glas. Er schlüpfte in die Gummihandschuhe und ging bis zu der Fußmatte, die innerhalb der Eingangstür lag, bevor er die Tennisschuhe anzog und schnell hinaustrat, nachdem er den Schlüssel von der Innenseite der Tür abgezogen hatte. Er mußte ungefähr zehn Minuten gehen, ehe er einen Bus nach Birchingham erwischte. Es war zehn Minuten vor elf Uhr, als er endlich den Motor des Lieferwagens starten konnte, den er letzte Nacht dort geparkt hatte. Viertel nach ein Uhr parkte er den Lieferwagen ungefähr hundert Meter vom Eingang zum Rich122
mond-Golfplatz in Sudbrook Lane, griff nach dem Bündel, das auf dem Sitz neben ihm lag, und schlüpfte hinaus. Er nahm den kleinen Fußweg, der hinüber zum Sudbrook-Park führte. Als er im Schatten der riesigen Ligusterhecke angekommen war, blieb er kurz stehen, faltete das Cape auseinander und befestigte es an seiner Schulter, die Maske und das Holz behielt er in der Hand. Hier draußen vor der Stadt war die Nacht dunkel und schweigend, fast friedlich. Am Ende der Ecke war ein großes schmiedeeisernes Tor. Leise und mit mehr Behendigkeit, als sein untersetzter Körper ahnen ließ, kletterte er darüber. Er verließ den Gartenweg, und seine Schritte wurden von dem federnden Rasen verschluckt, als er zum Haus eilte. Sein dunkler Schatten wurde kurz als Silhouette gegen die weiße Wand geworfen. Mottram wandte sich der Rückseite des Gebäudes zu, hinweg vom Schlafzimmer, in dem seine Tante jetzt schlief, während neben ihrem Bett ein kleines Nachtlicht brannte. Er kannte ihre Gewohnheiten gut, obwohl sie sich selten sahen. Wie er vermutet hatte, stand das kleine Lüftungsfenster in der Küche offen. Es war ein bißchen schwierig, auf dem schrägen Fensterbrett Fuß zu fassen; aber dann war es eine Leichtigkeit, den Arm durch die kleine Öffnung zu schieben und den Griff des großen Schiebefensters zu erreichen. Sekunden später 123
schlüpfte er hinein, stand auf dem stählernen Spülbecken und ließ sich vorsichtig auf den Boden gleiten. Kurze Zeit stand er bewegungslos in der Küche, horchte und wünschte, er hätte eine Taschenlampe mitgebracht. Er erinnerte sich an die Maske, die er bei sich trug, und stülpte sie über den Kopf. Das Gummi war etwas zu eng und schien seine Blutzirkulation zu beeinträchtigen. Er rückte sie zurecht, damit er besser aus den Augenschlitzen sehen konnte, und hoffte, daß die Hitze nicht seine Brille beschlagen würde. Jetzt blieb nur noch das Holz und das Hansaplast. Er steckte das Holzstück in seinen Hosenbund und die Rolle Hansaplast in seine Tasche. Er hatte es in der vergangenen Nacht in handliche Stücke zerschnitten. Langsam bewegte er sich auf die Tür zu, seine Schuhsohlen quietschten leicht auf den glatten, harten Fliesen. In der Diele war es noch dunkler. Endlich hatte er die schwere Treppe erreicht und wäre fast über die vorstehende unterste Stufe gestolpert. Er machte eine kleine Pause, bis die Erregung in ihm wieder abgeklungen war und er nicht mehr so heftig atmete. Das Gummiband der Maske, das sich um seinen Kopf preßte, ließ sein Blut in den Schläfen pochen. Er fühlte sich plötzlich ganz schwach, und es wurde ihm leicht übel. Langsam tastete er sich an der Wand die Treppe hinauf; er trat nur ganz leicht auf, um zu verhin124
dern, daß die Sohlen quietschten. Er mußte gegen seinen inneren Drang ankämpfen, der ihn zwingen wollte, sich zu beeilen, es hinter sich zu bringen. Seine behandschuhten Finger tasteten die Wand und die leere Dunkelheit vor sich ab. Er erreichte den oberen Treppenabsatz und blieb stehen. Der schwache Lichtschimmer unter der Tür bestätigte seine Vermutung. Da das Nachtlicht brannte, mußte er schnell handeln, ohne jedes Zögern, bevor die alte Dame ihn sah und zu schreien anfing. Er überlegte, ob sie jetzt wohl wach sei und auf die kleinen Geräusche von draußen lauschte, während ihr altes Herz hämmerte und die Angst ihr bis ins Mark ihrer alten Knochen drang. Aber sie war nicht wach. Ihr verwelktes knochiges Gesicht mit dem drahtigen weißen Haar, das auf dem Kissen ausgebreitet lag, schien viel zu klein für das Doppelbett zu sein. Er begann vorsichtig durch das Zimmer zu gehen, sein Schatten stand groß und furchteinflößend gegen die Decke, doch war er weniger entsetzlich als die Gestalt, die ihn verursachte. Er hatte das Zimmer halb durchquert, als er plötzlich spürte, wie das zugespitzte Holzstück aus seinem Hosenbund rutschte. Wie verrückt tastete er danach, wobei ihm das lose Cape sehr im Wege war. Aber es war zu spät. Das Holz rutschte durch, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden und begann von ihm wegzurollen. Er bückte sich danach, und dabei bedeckte sein Schatten das 125
Gesicht der schlafenden Frau. Er hörte das scharfe Keuchen ihres Atems, sah das Flattern ihres Augenlides und dachte nicht mehr an das Holzstück. Mit weit ausgestreckten Händen näherte er sich dem Bett, als sie sich aufrichtete, ihre Augen öffnete und in plötzlichem Entsetzen erstarrte. Ihr Körper war wie gelähmt von dem Entsetzen, das sie erfüllte. Doch als die unpersönliche Gummihand sich über ihren Mund und ihre Nase preßte, um ihre Schreie zu ersticken, da kämpfte sie gegen den sich nähernden Tod mit der Verzweiflung eines Lebewesens, das mit all seiner Kraft am Leben hängt. Ihr schmächtiger, dünner Körper wand sich unter dem Bettlaken, sie versuchte zu entkommen, sie schreckte zurück vor der Gewalttätigkeit. Mottram wurde von Panik ergriffen, während sich seine Hände fester um das schmale Gesicht schlossen und ihm der Schweiß unter der Maske in die Augen rann und ihn blind machte. Er hielt sie eine Ewigkeit fest, während er versuchte, des Aufruhrs in seinem Inneren Herr zu werden. Endlich lockerte er seinen Griff und starrte auf seine Hände, als hätte er sie noch nie gesehen. Er erinnerte sich an das Hansaplast in seiner Tasche, zog ein Stück Klebestreifen von der Rolle und preßte ihn über den Mund der noch immer still daliegenden Frau, dann noch einen zweiten. Dann hörte er auf, um die drückende Maske von seinem Gesicht zu ziehen. 126
Er zögerte einen Augenblick, bevor er das Bettzeug von der schmalen Gestalt zog und das Nachthemd von einem häßlichen alten Körper streifte. Seine Augen blickten auf einen Punkt hinter dem Bett, während er mehrere Hansaplaststreifen dazu verwandte, die Handgelenke hinter ihrem Rücken zusammenzuschnüren. Das zugespitzte Holzstück war fast bis unter das Bett gerollt. Er holte es hervor, riß sich das Cape von den Schultern und bedeckte damit die Gestalt der alten Frau. Dann sah er sich noch einmal kurz um und versuchte’ an alles zu denken, was ihm entgangen sein konnte. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte laut. Er starrte auf die Zeiger, die auf zwanzig Minuten vor zwei Uhr standen. Er hatte schon die schwarze formlose Gestalt auf dem Arm, als ihm einfiel, daß er die Teufelsmaske auf dem Nachttischchen neben dem Bett vergessen hatte. Er wandte sich um und griff danach, ohne seine Last loszulassen. Er ließ das Licht brennen und die Tür offenstehen, als er hinauseilte und in die Dunkelheit der Diele hinunterstieg. Trotz der Leichtigkeit des Frauenkörpers zitterte er vor Anstrengung, als er endlich die Tür aufgesperrt hatte. Er erreichte die Hausecke und eilte auf die dunkle Ligusterhecke, die dahinter lag, zu. Er achtete darauf, daß das Haus hinter ihm in einer Linie mit dem Nachbarhaus blieb. Sein Atem war ein schar127
fes, rauhes Keuchen, als er das Bündel ins Gras legte. Er wartete, bis sein Atem sich beruhigt hatte, bevor er sich davon überzeugte, daß er alles bei sich hatte, was er mitgebracht hatte: Maske, Hansaplast und den zugespitzten Stift. Mit einem wütenden Ruck riß er das Cape beiseite und war dankbar, daß die Dunkelheit alles, außer dem verschwommenen Umriß der weißen Gestalt gegen das nasse Gras, verschluckte. Dann beugte er sich über die Frau; seine linke Hand tastete nach ihrem Gesicht, dann nach dem Nacken. Seine Finger suchten nach dem Pulsschlag, fanden aber nichts, durch die Gummihandschuhe waren sie unempfindlicher geworden. Es war leicht, viel leichter, als er gedacht hatte. Die zugespitzte Seite des Holzes drang fast ohne Anstrengung durch die Haut und spießte den Hals gegen das nasse Gras. Keine Bewegung, kein Ruck ging durch den Körper unter ihm. »Großer Chuku, diesen Körper und seine Seele opfere ich dir in deiner Großmut!« flüsterte er vor sich hin, sich jäh der Abwesenheit des schwarzen Gottes und der Dürftigkeit der Zeremonie bewußt. Er zog die Hansaplaststreifen von dem Gesicht, das jetzt dem Himmel zugewandt war und lockerte auch wieder den Holzstift. Schnell strich er mit dessen Spitze über das feuchte Gras, bevor er den Körper auf die Seite rollte, um das Hansaplast von den Handgelenken zu entfernen.
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Als er nach dem zusammengefalteten Cape griff, erstarrte er. Von irgendwo drang das harte metallische Geräusch von Absätzen eines Männerschuhes. Atemlos lauschte er, wie das Geräusch lauter und klarer wurde. »Großer Chuku, beschütze mich!« flüsterte er und fühlte sich so schwach, daß er sich nicht bewegen konnte. Die Schritte wurden lauter, als sie sich der Hecke hinter dem Haus näherten. Aber sie gingen weiter, ohne zu zögern, sie kannten ihre Richtung und ihren Bestimmungsort. Mottram seufzte erleichtert auf, als sie endlich verstummten. Eilends sammelte Neal Mottram seine Sachen zusammen. Sekunden später war er über das Tor geklettert und hatte den Fußweg erreicht. Er eilte an der Hecke entlang zum geparkten Lieferwagen. Er war schon fast in Chelsea, als ihm klar wurde, daß alles viel zu leicht gegangen, ja fast unbefriedigend gewesen war. Irgend etwas war schiefgegangen, nicht mit seinen Plänen oder deren Durchführung, sondern mit ihm. Dies war kein Opfer gewesen, keine Zeremonie, um die Wünsche des schwarzen Gottes zu befriedigen, sondern ein kalter, nüchtern geplanter Mord. Früher war es unumgänglich gewesen, daß die Statue ihr Opfer erhielt, es war etwas gewesen, worüber er keine Kontrolle besaß. Diesmal dagegen schien es, als sei er selbst die treibende Kraft gewesen, die auf Mord aus war, und nur aus einem Grund – wegen des Geldes, das dabei zu holen war. Er überlegte, ob 129
dies vielleicht nur eine Prüfung war, eine Art Prüfung, die alle Untertanen des Chuku über sich ergehen lassen mußten. Ein paar Schritte weiter blieb er stehen und zerriß die Teufelsmaske in kleine Fetzen, während er das Cape im Rinnstein der Seitenstraße liegenließ. Er ließ das Fenster offen und warf die Teile der Maske in großen Abständen auf die Straße. Das Holzstück ließ er hinaussegeln, als er über die Westminster Bridge fuhr. Er fuhr den Lieferwagen bis zur St. Martins Lane und parkte ihn direkt an der Kreuzung zu einer anderen Straße, wo er mit Sicherheit am nächsten Tag den Verkehr aufhalten würde. Dann versperrte er ihn, stopfte die Schlüssel, die Hansaplaststreifen und die Gummihandschuhe in seine Tasche und ging. Auf dem Wege zur Charing Cross Station sah er einen Gully, in den er das Hansaplast stecken konnte. Die Handschuhe legte er auf dem Fensterbrett eines Hauses ab. Bevor er zum Bahnhof kam, nahm er seine Brille ab und vergewisserte sich, daß er die Rückfahrkarte, die er am Tage vorher schon gekauft hatte, zur Hand hatte. Er wartete zehn Minuten, bis der Zug auf dem Bahnsteig einfuhr, fand ein leeres Abteil, drehte sofort das Licht aus, ließ die Vorhänge herunter und tat, als würde er schlafen. Es waren nur wenige Reisende unterwegs.
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Später, als der Zug durch die dunkle Landschaft ratterte, warf er den Schlüssel des FordLieferwagens hinaus. Es war zwanzig Minuten nach fünf Uhr, als er sich schnell und leise auszog. Nur das Problem wegen der Tennisschuhe war noch ungelöst. Vorläufig hatte er sie in einem Schrank unter der Treppe versteckt. Vielleicht wäre es sicherer gewesen, in dem Lieferwagen nach Margate zurückzukehren und ihn irgendwo in der Nähe stehenzulassen. Aber wie die Sache jetzt stand, würde der Wagen vermutlich am nächsten Morgen, spätestens Montag, abgeschleppt werden. Das passierte oft, und niemand würde sich groß darüber aufregen, wenn der Eigentümer nicht erschien, um die Strafe für einen alten, fast wertlosen Wagen zu bezahlen. Er schlüpfte unter die Decke und preßte sich zitternd gegen Dollys warmen Körper, der sich in seinem trunkenen, tiefen Schlaf näher an ihn schob. Er spürte die Üppigkeit der nackten Haut, die sich gegen ihn preßte. Er zitterte noch stärker, und seine Zähne klapperten nach der verhaltenen Erregung der Nacht. Und trotz dieser Nacht mit ihrem kalten, überlegten Mord rührte sich die Leidenschaft in seinen Lenden, der Zwang, seine Einsamkeit und die dunklen, schrecklichen Geheimnisse, die er niemandem anvertrauen konnte, zu vergessen. Sie warteten auf ihn, als er nach London zurückkam. Als er aus dem Minibus stieg und begann das 131
Hoftor aufzusperren, knallte auf der anderen Straßenseite eine Autotür, und er hörte Schritte hinter sich. Er hatte das Gefühl, als wären seine Beine aus Gummi. Hatte er einen Fehler gemacht? »Mr. Mottram?« Er drehte sich schnell um und sah den jungen Mann mit kurzgeschnittenem blondem Haar an. »Ja?« fragte er mit einer Spur von Mißtrauen in der Stimme. Der junge Mann griff nach einem Ausweis. »Es tut mir leid, Mr. Mottram«, sagte er. »Polizei. Ich wollte Sie bitten, freundlicherweise mit uns zu kommen. Es ist etwas sehr Ernstes passiert. Superintendent Bellamy möchte Sie gern so schnell wie möglich sprechen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Mottram leicht verärgert. »Polizei? Was meinen Sie mit ,etwas Ernstes’?« »Der Superintendent wird Ihnen alles erklären. Ich kann Ihnen nichts darüber sagen, aber wir wären für Ihr Entgegenkommen sehr dankbar.« Neal Mottram sah den jungen Mann an und versuchte, sich darüber klarzuwerden, ob dessen Verhalten drohend oder nur beharrlich war. »Na gut«, sagte er fast gleichgültig. »Aber ich hoffe, Ihr Superintendent kann mir befriedigendere Antworten geben als Sie. Kann ich erst noch den Wagen hineinstellen?« Er hatte eine Weigerung erwartet, aber der junge Mann nickte. »Selbstver-
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ständlich, Sir«, sagte er. »Wir sind Ihnen sehr dankbar.« Er öffnete sogar das Tor, während Neal Mottram den Bus in den Hof lenkte. »Bitte hier, Sir.« Der junge Mann schien dafür, daß man Mottram bereits verdächtigte, zu höflich zu sein, es sei denn, die beiden Kriminalbeamten waren nur geschickt worden, um ihn abzufangen, ohne daß sie die näheren Umstände kannten. Superintendent Bellamy war ein drahtiger kleiner Mann, der unerhört tüchtig und wie ein sehr erfolgreicher Buchmacher aussah. Sein Gesicht war braun und narbig und zeigte keinerlei Regung. Trotz des kühlen Abends war er in Hemdsärmeln und arbeitete hinter einem Schreibtisch, der von Papieren überzufließen schien. Er stand auf und schüttelte kurz Mottrams Hand. »Es tut uns leid, daß wir Sie stören müssen, Mr. Mottram«, sagte er. Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch, aber Mottram übersah die Aufforderung. »Würden Sie jetzt vielleicht so freundlich sein und mir erklären, was das alles zu bedeuten hat, Superintendent?« fragte er kurz angebunden. »Ich bin ein geduldiger Mensch, aber ich protestiere dagegen, daß Ihre Leute vor meinem Laden sitzen und mich hierherschleppen -«’ »Es betrifft eine Mrs. Louise Nash«, unterbrach ihn Bellamy. »Sie ist tot.«
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Obwohl Neal Mottram diese Nachricht erwartet hatte, war er doch über die Direktheit erschrocken. Er setzte sich. »Das muß ein Scherz sein«, sagte er protestierend. »Sie hat mich doch erst letzte Woche angerufen.« Bellamy beobachtete ihn etwas merkwürdig. »Wir haben zuviel zu tun, um mit unschuldigen Menschen Scherze dieser Art zu treiben, Mr. Mottram«, sagte er. »Großer Gott!« sagte Mottram und versuchte niedergeschlagen auszusehen. »Wie ist das denn, um Himmels willen, passiert? Ein Unfall?« »Wie kommen Sie denn darauf, Mr. Mottram?« Mottram sah ihn scharf an und dachte an seine Rolle. Er mußte, überrascht, verwirrt und unschuldig erscheinen. »Nun, Sie, die Polizei«, antwortete er. »Sie ist – war – eine alte Dame, aber wenn Sie eines natürlichen Todes gestorben wäre, dann hätte Sie ihr Tod doch kaum interessiert. Außer ...« »Außer was, Mr. Mottram?« Mottram zögerte. Er wußte, daß Bellamy früher oder später ein paar sehr verzwickte Fragen stellen würde, und er mußte darauf gefaßt sein, um ihnen gleich die Spitze zu brechen. »Außer, meine Tante starb scheinbar eines natürlichen Todes und Sie vermuten, daß etwas anderes dahintersteckt.« »Was denn zum Beispiel?« »Mord«, sagte Mottram. 134
Eine Weile sagte der Superintendent gar nichts. »Na, das ist aber merkwürdig«, meinte er schließlich. »Sagten Sie Mord?« Mottram stand ärgerlich auf. »Hören Sie, Superintendent«, murrte er. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, aber ich protestiere gegen Ihren Sarkasmus und Ihr ganzes Benehmen.« »Setzen Sie sich wieder, Mr. Mottram!« Die Worte kamen sanft und ruhig und klangen doch wie ein Befehl. »Sie haben wirklich recht, Mr. Mottram. Ihre Tante, Mrs. Louise Nash, wurde ermordet. Die nackte Leiche wurde heute morgen vom Milchmann entdeckt, als er durch den Garten ihres Hauses in Petersham ging. Es wurde später festgestellt, daß ihr Hals durchbohrt worden ist.« »Der Vollmondmörder!« keuchte Mottram. »Da habe ich auch Ihren Namen gelesen! 0 Gott!« Bellamy schwieg und beobachtete Mottrams Gesicht mit der unendlichen Geduld einer Katze, die auf eine Maus lauert. Er war ein schwieriger Mann. »Haben Sie ihn schon erwischt?« fragte Mottram und zwang sich, Bitterkeit in seine Stimme zu legen. Bellamy schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Mr. Mottram, aber wir werden ihn finden«, sagte er. »Und ich bin gar nicht so sicher, daß es die Tat eines Verrückten ist. Ich glaube, Sie sind der einzige Verwandte Ihrer Tante?« 135
Mottram schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat noch eine jüngere Schwester, die irgendwo im Norden von England lebt: Tante Alice. Ich weiß weder ihre Adresse noch ihren angeheirateten Namen.« Bellamy griff nach einem Aktendeckel auf seinem Schreibtisch, öffnete ihn und blätterte rasch durch eine Anzahl Schriftstücke, die darin lagen. »Ach ja, Sie haben natürlich recht«, sagte er und bestätigte dadurch Mottrams Verdacht, daß er mehr wußte, als er vorgab. »Alice Morgan in Altrincham. Ich glaube, sie ist benachrichtigt worden. Sie scheinen von dem Tod Ihrer Tante nicht sehr betroffen zu sein, Mr. Mottram.« Neal Mottram wurde unruhig. Er durfte weder zu gleichgültig noch zu beteiligt erscheinen. Beides war gefährlich. »Es ist eine schreckliche Sache, Superintendent«, sagte er leise. »Ich meine, so zu sterben. Aber sie hat ein schönes Leben gehabt.« »Haben Sie sie oft gesehen?« »Ich habe sie zwei-, vielleicht dreimal im Jahr besucht; und wenn sie in der Stadt war, kam sie gelegentlich, um mich im Laden zu besuchen. Aber nicht regelmäßig, und es war auch keine besonders innige Beziehung. Wir haben nicht immer übereingestimmt, aber wir haben uns auch nicht gezankt.« »Worin haben Sie nicht übereingestimmt?« »Über Geld und über junge Männer«, sagte Mottram mit einem Anflug von Ärger. »Sie war der An136
sicht, daß junge Männer selber ihren Weg in der Welt machen sollten.« »Sie haben versucht, sich Geld von ihr zu leihen?« Mottram nickte. »Einmal, vor sieben Jahren, als ich meinen ersten Laden eröffnete«, gab er zu. »Sie hat mich hängenlassen. In einer Weise bin ich jetzt froh darüber, denn ich muß niemandem außer mir selber dankbar sein, daß es ein Erfolg geworden ist.« »Dann hatte sie also eine Menge Geld?« fragte Bellamy. »Ich glaube, ja. Wie ich Ihnen erzählt habe, hat ihr Mann sie gut versorgt, und als sie die Firma verkaufte, sagte sie, daß sie einen guten Preis dafür bekommen habe.« »Wissen Sie, wer das Geld jetzt erben wird?« »Nein«, sagte Mottram. »Sie hat aber immer gesagt, daß sie mich in ihrem Testament berücksichtigen würde.« »Wann hat Sie Ihnen das gesagt? Ich meine, wegen des Testaments?« »Als ich versucht habe, mir das Geld von ihr zu leihen.« Mottram konnte ganz bei der Wahrheit bleiben. »Sie glauben doch nicht etwa, daß ich sie wegen des Geldes umgebracht habe?« »Ich habe nicht gesagt, daß Sie sie ermordet haben, weder wegen ihres Geldes, noch wegen sonst etwas, Mr. Mottram.«
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Mottram merkte, daß er einen kleinen Fehler gemacht hatte. Keinen sehr wichtigen, aber es war ein Fehler. »Nein, aber Ihre Fragen deuten darauf hin, daß Sie mich auch nicht ausgeschlossen haben. Weswegen hätten Sie mich sonst hierhergebracht?« »Das ist ein Irrtum, Mr. Mottram«, berichtigte der Superintendent. »Als erstes wollte ich Ihnen die Nachricht mitteilen; und als zweites dachte ich, Sie könnten uns vielleicht behilflich sein.« »Wie könnte ich Ihnen helfen?« »Ihre Tante ist noch nicht offiziell identifiziert worden, Mr. Mottram«, sagte Bellamy. »Es ist nicht gerade ein angenehmer Gedanke«, sagte er. »Aber wenn es notwendig ist.. .« »Ich werde mit Ihnen gehen«, sagte Bellamy. Zehn Minuten später waren sie durch endlose Korridore gegangen und standen unten in der fröstelnden Kälte der Leichenhalle. Superintendent Bellamy ging um das Kopfteil der Bahre herum und griff nach dem Leichentuch. Er zog es bis zu den Schultern zurück und hob dann den Kopf, um Mottrams Gesichtsausdruck zu beobachten. »Ist dies Ihre Tante, Mrs. Louise Nash?« fragte er streng. Mottram sah auf das schmale eingesunkene Gesicht mit dem weißen Haarkranz hinunter. Seine Augen wanderten noch weiter zu dem blutverkrus-
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teten dunklen Loch unterhalb ihres Kiefers. Er fühlte, wie er zurückzuckte. »Ja«, sagte er und trat vor. »Aber sie hat ein großes braunes Mal auf dem Oberarm. Ich glaube, es ist der linke.« Die Hand des Superintendenten ergriff sein Handgelenk, bevor er das Tuch hatte berühren können. »Nein, Sir«, sagte der Polizist warnend. »Die Leichenöffnung ist schon vorgenommen worden.« »Aber wozu brauchen Sie eine Leichenöffnung?« fragte er. »Sie kennen die Ursache ihres Todes, und Sie wissen, wann sie starb.« »Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Mr. Mottram«, sagte Bellamy vertraulich. »Nehmen Sie zum Beispiel Ihre Tante. Ich habe Ihnen gesagt, daß sie ermordet wurde. Im technischen Sinne stimmt das nicht absolut.« »Ich fürchte, das verstehe ich nicht ganz«, sagte Mottram verwirrt. »Es klingt auch etwas merkwürdig, das gebe ich zu«, sagte Bellamy. »Der Mann, der sie ermordete, ging mit dieser Absicht zu ihr. Aber als er die Mordwaffe in ihren Hals stieß, war Mrs. Nash schon tot.« Mottram schloß die Augen und erlebte für eine kurze Sekunde noch einmal den entscheidenden Augenblick im Garten seiner Tante. »Aber wenn er sie gar nicht umgebracht hat, wer war es dann?« fragte er schnell, um sein Erstaunen zu verbergen. »Oh, er hat sie schon umgebracht«, 139
brummte Bellamy. »Aber nicht auf die Art, wie er es vorhatte. Sie starb an einem Herzanfall, der vermutlich durch den Schrecken hervorgerufen wurde. Und wenn wir den Täter erwischen, macht das keinen Unterschied für ihn.« »Er muß verrückt sein«, sagte Mottram, um sich innerlich zu sammeln. »Ich weiß nicht«, der Superintendent wirkte jetzt mürrisch. »Ich bin gar nicht so sicher, daß er verrückt ist. Das ist viel eher das, was er uns glauben machen möchte.« Als sie ins Büro des Superintendenten zurückkamen, stellte dieser einige Routinefragen nach Tante Louises Freunden oder irgend jemandem, der die Gelegenheit oder einen Grund gehabt habe, sie umzubringen. Die Fragen waren kein Anlaß zur Besorgnis für Mottram. »Jetzt ist nur noch eine Sache zu klären, Mr. Mottram«, sagte der Superintendent schließlich. »Soviel ich weiß, waren Sie über das Wochenende in Margate. Hatten Sie irgendeinen speziellen Grund?« Neal Mottram mußte ein Grinsen unterdrücken. Der Superintendent wollte die Frage zwar harmlos klingen lassen, aber er war ein gerissener Bursche, und jede seiner Antworten würde entsprechend beurteilt und analysiert werden. »Teils geschäftlich, teils um eine alte Freundin zu besuchen«, sagte er. Bellamy spielte mit seinem Bleistift. »Sie werden verstehen, daß ich jede Information, die Sie mir 140
gegeben haben, nachprüfen muß. Vielleicht sind Sie so freundlich und geben mir die Adressen, wo Sie in Margate waren, und die entsprechenden Einzelheiten.« Mottram hatte etwas Derartiges erwartet. Er stellte sich leicht ärgerlich. »Wozu?« fragte er. »Es sollte Ihnen doch wohl ziemlich klarsein, daß ich nichts mit dem Tod meiner Tante zu tun hatte.« »Mr. Mottram, Ihr Name und Ihre Adresse wurde bei Miß Muriel Sharp gefunden, die vor einiger Zeit ermordet wurde. Natürlich kann es nur ein Zufall sein ...« »Nicht mein Name, sondern der meines Ladens.« »Na gut, also der Ihres Ladens. Für mich, einen einfachen Polizeibeamten, hängen Sie dadurch irgendwie mit ihr zusammen. Ich kenne Ihre Erklärungen dazu. Aber jetzt taucht Ihr Name wieder im Zusammenhang mit einem ähnlichen Mord auf, obwohl sich da ganz andere Aspekte ergeben. Sie müssen also verstehen, daß ich es als meine Pflicht empfinde, mich mehr als nur oberflächlich mit Ihnen zu befassen.« Einen Augenblick lang schwieg Mottram hartnäckig. »Was meinen Sie mit ,ganz anderen Aspekten’?« fragte er dann. »Ihre Tante wurde im Garten ihres Hauses ermordet, und ihre Leiche wurde dort liegengelassen«, sagte Bellamy ruhig. »In den beiden vorangegangenen Fällen wurden die Opfer des Mörders irgendwo getötet und ihre Leichen dann wegge141
schleppt. Entweder wurde der Mörder jetzt während der Tat gestört – und es gibt dafür entsprechende Hinweise -, oder irgend jemand hatte den Gedanken, diese Mordkette für seine eigenen Zwecke zu benützen.« »Meinen Sie mich?« sagte Mottram vorwurfsvoll. »Ich meine überhaupt nichts, Mr. Mottram, bevor ich mir der Tatsachen nicht ganz sicher bin«, unterbrach ihn Bellamy ungeduldig. »Jetzt wollen wir auf unsere ursprünglichen Fragen zurückkommen. Ich möchte wissen, wo Sie in Margate überall gewesen sind.« »Bei Miß Doris Newman, Queen Street, Margate«, antwortete Mottram. »Sie hat dort eine kleine Pension. Wir sind alte Freunde. Ich habe zudem einen alten Kunden von mir besucht, Mr. Norman Penwale, auch in Margate. Ich wollte ihm ein paar Dinge verkaufen, die er für seine Sammlung brauchen kann. Ich war von Samstag nachmittag bis Sonntag nachmittag in Margate, ohne es zu verlassen. Es wäre auch gar nicht möglich gewesen, da mein Auto kaputtging und ich es in Margate reparieren lassen mußte.« »Es gibt Züge von Margate, Mr. Mottram«, erinnerte ihn Bellamy. »Oder Leihwagen oder Freunde, die einem helfen.« »Aber ich bin in Margate geblieben«, erklärte Mottram entschieden. »Wie ich Ihnen schon sagte, ist Miß Newman eine sehr alte Freundin von mir. Wir waren zusammen zum Essen aus und haben 142
danach den Rest des Abends bei ihr verbracht. Um ihnen die Wahrheit zu sagen, von Mann zu Mann, ich habe die Nacht mit ihr verbracht.« »Wird Miß Newman das auch bestätigen wollen?« »Ich denke schon, wenn es sein muß. Aber es ist eine ziemlich peinliche Situation, Superintendent. Miß Newman ist sozusagen mit einem anderen Mann verlobt.« »Wir werden sehr diskret vorgehen, Mr. Mottram.« Mottram nickte. »Und was geschieht jetzt?« Bellamy stand auf. »Nichts mehr«, sagte er. »Wir sind Ihnen sehr dankbar für die Hilfe, die Sie uns geleistet haben. Auf Wiedersehen, Mr. Mottram.« Superintendent Bellamy sah seinem Verdächtigen mit zusammengekniffenen Augen nach, als er sein Büro verließ. Als sich die Tür hinter Mottram geschlossen hatte, drückte er den Klingelknopf auf seinem Schreibtisch. »Ich möchte, daß der Mann beschattet wird, Billy«, sagte er zu dem Mann, der kurz danach erschien. »Und besorgen Sie mir einen Fahrplan für die südöstlichen Gebiete«, bat er. »Und einen Stadtplan von Margate.« Er kritzelte auf ein Stückchen Papier, als der Sergeant zurückkam. »Ich hab’ Jenkins auf ihn angesetzt«, berichtete er. »Glauben Sie, daß wir ihn haben, Dougie?« Der Superintendent schüttelte langsam den Kopf. 143
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß es einfach nicht. Er hat nichts Falsches getan oder auch nur ein falsches Wort gesagt. Aber ich habe so ein Gefühl, Billy. Sie wissen schon. Verdammt, sein Name taucht zweimal in drei Mordfällen auf, und beim dritten tappen wir lediglich im dunklen. Zweiundfünfzig Millionen Menschen leben auf den Britischen Inseln, Billy. Ich bin kein Mathematiker, aber wenn der gleiche Name in einer Mordserie auftaucht, dann bedeutet das für mich mehr als nur einen Zufall. Es bedeutet ein Glied in einer Kette, und ich werde den Rest finden.« »Na gut, Dougie«, sagte der Sergeant geduldig. »Er hatte einen guten Grund, seine Tante umzubringen. Sie hatte es ziemlich dick, aber bevor das Testament nicht eröffnet ist, wissen wir gar nicht, ob er etwas davon sehen wird. Nicht einmal er konnte da sicher sein. Aber was ist mit der Sharp?« »Ich weiß es nicht«, sagte Bellamy ungeduldig, während er im Fahrplan blätterte. »Aber ich werde sein Alibi widerlegen, und dann werde ich ihn fertigmachen. Hat Jack die Aufnahmen von ihm machen können?« »Sechs«, beruhigte ihn der Sergeant. »Profil und von vorn.« »Gut!« Bellamy beugte sich über den Fahrplan, faltete dann den Stadtplan von Margate auseinander und suchte die Queen Street. Eine Zeitlang schwieg er, während er die Pläne durchsah. »Gut«, sagte er dann. »Er sagte, er hätte mit jemandem, der es be144
stätigen wird, zusammen zu Abend gegessen. Wir wissen, wann er London verlassen hat. Er konnte nicht vor fünf Uhr in Margate sein. Es bleiben also sieben Züge zurück nach London, die er hätte erwischen können. Ich möchte gern, daß Sie zwei von den Bildern nehmen und versuchen, ob ihn irgend jemand bei der Ankunft gesehen hat. Taxifahrer, Busschaffner oder sonst jemand. Wenn er schon früh angekommen ist, dann hat er die Untergrundbahn oder einen Bus genommen. Falls er einen späteren Zug genommen hat, wäre ihm nicht genug Zeit geblieben, und er hätte ein Taxi nehmen müssen. Er braucht nicht direkt nach Petersham gefahren sein, sondern irgendwohin in die Nähe. Sehen Sie zu, daß Sie es herausfinden können.« »Und was, wenn er einen Komplicen hatte?« »Nein, das glaube ich nicht. Die Sache riecht mir mehr nach einem Einzelgänger. Das Risiko war zu groß, als daß er einen anderen hätte mit hineinriechen lassen. Ich fahre jetzt nach Margate und versuche, noch ein bißchen mehr herauszufinden.« Superintendent Bellamy verbrachte die nächsten achtzehn Stunden in Margate; er überprüfte alles, stellte Fragen und zeigte die Polizeifotos von Neal Mottram. Aber er konnte das Alibi nicht brechen. Seine Nachforschungen hatten – wenn überhaupt – eher den entgegengesetzten Erfolg. Mottram wurde von dem Garagenbesitzer, der den Minibus repariert hatte, erkannt, ebenso von dem Kellner, der ihn und Dolly Newman in dem italienischen 145
Restaurant bedient hatte, und auch noch von einem neugierigen Nachbarn, der gesehen hatte, als er mit seinem Koffer angekommen war. Norman Penwale bestätigte das Geschäft, das mit Mottram stattgefunden hatte, und auch den Anruf, der die Ankunft des Händlers in Margate bestätigte, obwohl dieser Anruf nicht aus Margate gekommen sein mußte. Bellamys ganze Hoffnung richtete sich jetzt auf die Beobachtung von Neal Mottram, auf die schwache Möglichkeit, daß er irgendeine Dummheit beging, irgend etwas, das den kühlen, überlegten Geist Lügen strafte, der sich nach Superintendent Bellamys Ansicht eine Kette von Morden ausgedacht hatte, mit dem einen Ziel, an das Geld seiner Tante zu kommen. Die Feier im Krematorium war eine öde, langweilige Angelegenheit. Es hatte morgens zu regnen begonnen, und ein dünner Nieselregen hielt den ganzen Tag an. Trotz der wenigen Verwandten war die Menge der Trauergäste erstaunlich groß. Die meisten waren Tante Louises Freunde, Leute, die Neal Mottram gar nicht gekannt hatte. Sie erschienen in einem endlosen Strom von luxuriösen Autos auf dem Empfang im Hotel, den der Bestattungsunternehmer arrangiert hatte. Neal Mottram stand neben seiner Tante Alice – einer jüngeren Ausgabe von Louise Nash – und schüttelte fremde Hände, wozu er unverständliche Worte als Antwort auf das ausgedrückte Beileid murmelte.
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Es war eine Anzahl von Reportern erschienen, ebenso Superintendent Bellamy. Nach der Feier folgte ihm sein Schatten zurück zum Laden und nahm seine gewöhnliche Position hinter dem Fenster der gegenüberliegenden Bar ein. Durch gelegentliche Blicke hatte Neal Mottram festgestellt, daß sie in drei Schichten arbeiteten, jeweils zu acht Stunden. Es waren nicht immer die gleichen Männer, und manchmal war es schwierig, festzustellen, wer ihn beobachtete. Am Freitag nach der Krematoriumsfeier traf er Tante Alice wieder, aber diesmal im Büro eines Rechtsanwaltes in der Nähe der Fleet Street. Außer ihnen waren noch zwei Leute anwesend. Das eine war eine alte Frau mit einem traurigen Boxerhundgesicht und roten Händen. Sie hatte lange Zeit für Tante Louise gearbeitet, noch als deren Mann lebte. Das andere war ein junges Mädchen, etwa neunzehn Jahre alt, deren hübsches, schmales Gesicht von langem schwarzem Haar eingerahmt wurde. Die Kürze ihres Rockes war ihr unangenehm bewußt, und sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum, während der Anwalt erklärte, daß sie alle vier hergerufen worden wären, weil sie in dem Testament von Tante Louise aufgeführt seien. Das erste Legat war für ihr Patenkind, das junge Mädchen, eintausend Pfund. Ihrer früheren Bediensteten hatte Tante Louise ein kleines Bauerngut an der Küste in Cornwall hinterlassen, dazu ei147
ne Summe von zweihundertfünfzig Pfund, womit alle entstehenden Kosten bei der Übernahme gedeckt werden sollten. Mitten hinein in das Schluchzen der guten Alten verkündete der Anwalt, daß aller Schmuck und die Garderobe an ihre Schwester Alice fallen sollte, zusammen mit einer Anzahl von mündelsicheren Papieren im Nominalwert von zusammen fünftausend Pfund. Neal Mottram fühlte, wie sich der Ärger über die Großzügigkeit seiner Tante diesen Menschen gegenüber in ihm staute. Mit seinem kalten, berechnenden Verstand hatte er überschlagen, daß diese Legate bereits eine Höhe von rund zehntausend Pfund erreicht hatten. »Den Rest meines Vermögens und meiner Wertpapiere, zusammen mit dem Besitztum, das unter dem Namen The Laurels Hazel Lane Petersham bekannt ist, vermache ich meinem Neffen Neal Mottram in der Hoffnung, daß er...« Mottram vergaß, auf die restlichen Worte zu hören, er spürte nur die Qual in sich. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt, es würde für ihn fast nichts mehr übrigbleiben. Er hatte keine Ahnung, wieviel sein Erbe wert sein konnte, aber das Haus allein konnte einen beachtlichen Preis bringen; und es enthielt eine große Menge antiker Möbel, Silber und eine Reihe von Bildern, die stetig im Wert zugenommen hatten. Er saß wie betäubt da, das Blut pochte in seinen Schläfen und die fremde Stimme 148
sagte wieder: »Und findest du nicht, daß ich ein großzügiger Verbündeter bin? Natürlich ist das erst der Anfang einer langen und ergiebigen Zusammenarbeit...« Plötzlich wurde er sich einer anderen, eindringlichen Stimme bewußt. »Mr. Mottram!« Er schüttelte den Kopf und starrte verwirrt den Anwalt an, der ihn mit merkwürdigem Blick betrachtete. »Fühlen Sie sich wohl, Mr. Mottram?« »Es tut mir leid. Was sagten Sie?« »Ich sagte, daß ich über die Höhe der Investitionen Ihrer Tante mit Ihnen sprechen wollte, falls Sie so gut wären, hierzubleiben, während ich die Unterlagen zu den anderen Legaten meinem Kollegen übergebe.« Neal Mottram nickte geistesabwesend und sah den drei Frauen nach, die dem Anwalt in ein Büro folgten. Plötzlich dachte er voll warmer Zuneigung an die schwarze Statue, die im Keller seines Ladens auf ihn wartete. Das schwarze unbewegte Stück Holz, das doch voll Leben und Macht war. Und dessen Geist ein Teil von ihm war, sein schweigender Zeuge und Verbündeter. Er legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie das Lachen in seiner Kehle hochstieg. Sein Zwerchfell schmerzte bei dem Versuch, diesen Freudenausbruch zu unterdrücken. Als der Anwalt zurück-
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kam, warf er ihm einen befremdeten Blick zu, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte. »Nun, Mr. Mottram«, sagte er mit erzwungener Freundlichkeit. »Sie scheinen der Hauptbegünstigte im Testament Ihrer Tante zu sein. In den anderen Fällen war es ziemlich einfach, die Summen festzusetzen. Sie müssen jetzt berücksichtigen, daß die Zahlen, die ich in Ihrem Fall anführe, nur angenommene Zahlen sind, die in gewissem Umfang schwanken können. Außerdem werden Sie noch von den Ausgaben, die durch den Tod Mrs. Nash’ entstanden sind, beeinträchtigt. Aber bei vorsichtiger Betrachtung glaube ich, daß der Besitz – ohne das Haus Ihrer Tante in Petersham – sich zwischen achtzehn- und zwanzigtausend Pfund bewegt. Natürlich ist ein großer Teil des Geldes in Wertpapieren und Aktien angelegt, aber falls notwendig, können diese zum Teil oder ganz zu Geld gemacht werden, wenn Sie es wünschen.« Mottram hörte wie erstarrt zu. Zwanzigtausend Pfund! Das war wirklich ein Vermögen, mehr als er je zu erhoffen gewagt hatte. »Nun, selbstverständlich wird es eine Weile dauern, bis alles geregelt ist«, sprach der Anwalt monoton weiter. »Tatsache ist, daß es eine beträchtliche Zeit dauern wird; aber das sollte die Pläne, die Sie vielleicht haben, nicht beeinflussen. Sollten Sie mehr als den Betrag, der im Augenblick auf dem Privatkonto ist – es sind rund fünfzehnhundert Pfund – benötigen, so können Sie jeder150
zeit mit dem Bankdirektor die Sache besprechen. Es steht auch Ihrem Einzug in das Haus Ihrer Tante, sobald die Polizei dort fertig ist, nichts im Wege. Superintendent Bellamy hat die Schlüssel.« »Nein, danke«, unterbrach ihn Mottram schnell, ja fast ängstlich. »Ich habe nicht die Absicht, in dieses Haus zu ziehen.« Er bemerkte den erstaunten Blick des Anwaltes. »Es ist zu weit von meinem Laden entfernt«, erklärte er hastig. »Und ich muß ganz ehrlich sagen, daß ich es ein bißchen unbehaglich finde, in das Haus zu ziehen, in dem sie ermordet wurde.« »Aber natürlich!« sagte der Anwalt. »Das verstehe ich völlig. Haben Sie vielleicht die Absicht, das Haus zu verkaufen?« »Ja«, sagte Mottram. »Später, wenn meine Tante Alice und ich uns überlegt haben, was mit den Möbeln und all den anderen Sachen geschehen soll.« »Vielleicht sind Sie dann so freundlich und lassen es mich wissen, wenn Sie verkaufen wollen, Mr. Mottram.« »Aber ja«, sagte Mottram geistesabwesend. An diesem Abend, nachdem er Tante Alice in ihr Hotel gebracht hatte, konnte er es kaum mehr erwarten, seinem Wohltäter zu huldigen. Der Polizist hatte seine Nachtstellung hinter dem Lenkrand eines Autos, das auf der anderen Straßenseite vom Laden stand, schon eingenommen, als Neal Mottram sich hinunter in den Keller schlich. 151
Er zündete zwei Kerzen an und stellte sie auf den Boden vor der schwarzen Statue und ging dann rückwärts zum Schalter, um das Licht auszudrehen. »Hör mich an, großer Chuku«, flüsterte er. »Hör mich an, denn ich erweise dir, dem Lenker meines Schicksals, meine Ehrerbietung. Ich danke dir für die Geschenke, mit denen du mich überhäuft hast, und ich versichere dich, meinen Herrscher, meiner Ergebenheit. Ich gehöre dir, großer Chuku, laß mich in deinem Schatten gedeihen. Zeige mir mein Geschick. Gib mir ein Zeichen.« Schweigen herrschte, nur das merkwürdige, undefinierbare Flüstern war um ihn. Und plötzlich flackerten die Kerzen heller, einen kurzen Augenblick schienen sie höherzubrennen, und dann erloschen sie plötzlich und ließen ihn in völliger Dunkelheit zurück. »Unser Bund ist mit Blut besiegelt«, schallte die Stimme, »mit Blut.« Er spürte, wie die geheimen Kräfte der Dunkelheit, die verschwommenen schwarzen Schatten sich enger um ihn schlossen. »Blut!« schrie es. »Ich sehe Blut! Ich will Blut!« Er spürte, wie sich die Finsternis um ihn zu drehen begann und sich in ein glühendes, blutiges Rad verwandelte. Später am Abend und auch während der nächsten Tage erinnerte er sich an nichts anderes mehr, als daß er ziemlich spät fröstelnd im kühlen Keller erwacht war. Er konnte sich weder die gellende 152
Stimme in seinen Ohren noch eines der anderen Phänomene, die er erlebt hatte, erklären. Aber wenn auch sonst nichts klar war, das Zeichen, das Symbol war offensichtlich genug. Die Statue verlangte ihr Opfer! Eine kurze Zeit hatte er geglaubt, daß ihm, wenn er sein Ziel innerhalb seiner selbstgesteckten Grenzen erreicht hatte, erlaubt würde, sich wieder von jenem finsteren Pakt zurückzuziehen. Und noch immer war diese wilde Erwartung in ihm. Es waren ihm erst flüchtige Einblicke in die Macht, die ihm zur Verfügung stand, gewährt worden. Er war reichlich belohnt worden. Dreißigtausend Pfund – die Gesamtsumme seiner Erbschaft – war viel Geld, aber das war nur der Anfang. Während dieser nächsten Tage wuchs eine andere Erkenntnis in ihm. Das Verlangen nach Blut bestand nicht nur wegen der Erneuerung des Bündnisses, sondern war auch eine vorbeugende Maßnahme. Der Superintendent glaubte offensichtlich, daß er, Mottram, seine Tante wegen der Erbschaft ermordet hatte. Jetzt ließ er ihn beobachten und wartete, daß er einen Fehler machte, damit er zuschlagen konnte. Mottram war es klar, daß der größte Fehler, den er machen konnte, der war, nichts zu tun. Denn wenn die Reihe der Vollmondmorde jetzt aufhörte, würde sich Superintendent Bellamys Theorie erhärten. Es war ihm klar, wie gefährlich solch ein Unternehmen unmittelbar unter der Nase der Polizei 153
sein würde. Aber wenn es gelang, würde Bellamy überzeugt sein, daß er einen Fehler gemacht hatte. Mottram begann seine Vorbereitungen damit, daß er eine gewisse Routine in seinen Gewohnheiten annahm, um die beobachtenden Polizisten damit vertraut zu machen. Dazu gehörte der wöchentliche Besuch einer in der Nähe gelegenen Bar, wo er sich mit Wein eindeckte, den er dann beim Fernsehen, wobei er das Licht gelöscht hatte und das Zimmer nur vom Bildschirm erhellt wurde, trank. Statt wie sonst einmal wöchentlich, badete er zweimal in der Woche und achtete darauf, sich gut eine Stunde im heißen Wasser aufzuhalten und sich immer kurz danach im Bademantel im Wohnzimmer zu zeigen. Nach Einsicht in den Kalender legte er die Bäder jeweils auf Montag und Donnerstag abend. Sorgfältig kontrollierte er, ob er auch unbeobachtet aus dem Haus schlüpfen konnte, falls die Zeit dafür kam. Während der folgenden Woche ging er zum Optiker und bestellte eine neue Brille mit schwerem dunklem Horngestell und ein paar Kontaktlinsen. Es dauerte drei Tage, dann konnte er seine Einkäufe abholen und bezahlen. Es war ihm klar, daß die Polizei vermutlich diesen Kauf überprüfen würde, aber sie würden kaum etwas Schlimmes darin sehen. Um sich an die Kontaktlinsen zu gewöhnen, tauschte er sie jeden Abend gegen die Brille aus, die er tagsüber trug. Zuerst waren sie wirklich sehr unangenehm, ließen seine Augen tränen und die 154
Sicht verschwommen erscheinen. Aber er blieb hart, bis er sie über einen Zeitraum von zwei Stunden ohne zu großes Unbehagen tragen konnte. Eine geeignete Person zu finden war das kleinste seiner Probleme. Am Schaufenster eines Tabakladens entdeckte er eine einfache weiße Karte, auf der stand: Elektromassage durch qualifizierte Psychotherapeutin. Neben dieser ziemlich unverständlichen Bezeichnung stand keine Adresse, aber eine Telefonnummer war angegeben, die er sorgfältig auswendig lernte. Zwei Tage später, während er auf dem Postamt war, rief er die Nummer von einer öffentlichen Sprechzelle aus an und nannte auch einen angenommenen Namen, unter dem er einen Termin ausmachte. Er erhielt eine Adresse, die für seine Pläne viel zu weit entfernt war, und mußte nun das Ganze von vorn beginnen. Beim dritten Versuch erhielt er eine Adresse am Ashland Place, der innerhalb des Siebenhundertmeterradius lag, den er sich gesetzt hatte. Er benutzte die folgende Montagnacht zu einer Probe 114 und um sicher zu sein, daß sein Plan überhaupt durchführbar war. Bevor er ins Bad ging, um das Wasser laufen zu lassen, nahm er den Telefonhörer ab, damit keine Anrufe seinen Plan gefährden konnten. Danach eilte er in das dampfende Bad, zog Jacke und Hemd aus und ging zur Beruhigung des wacheschiebenden Beamten ein paarmal am Vorhang vorbei. Fünf Minuten später schlich er, 155
diesmal ganz angezogen, die Treppe hinunter. Ein dunkler Mantel bedeckte seinen Anzug, und die Kontaktlinsen ersetzten seine Brille. Außerdem hatte er für ein Paar gewöhnlicher Handschuhe gesorgt. Ganz leise schlüpfte Neal Mottram aus der hinteren Tür in den kleinen Hof. Es dauerte genau acht Minuten, um schnellen Schrittes, was ihn etwas außer Atem brachte, Ashland Place zu erreichen. Er war sicher, daß ihm niemand folgte, als er endlich auf dem kleinen Rasenplatz vor dem Haus stand. Das Erdgeschoß und der erste Stock waren von einer Firma belegt, die mit chirurgischen Instrumenten handelte. Die Masseuse wohnte im zweiten Stock, und über ihr befand sich nur noch eine Wohnung. Er eilte die dunkle enge Treppe hinauf und blieb kurz vor der Tür stehen, um wieder Atem zu schöpfen. Er mußte noch eine Woche vergehen lassen, bevor wieder Vollmond war, und außer dem unbehaglichen Gefühl, daß er von der Polizei überwacht wurde und er klüger sein mußte als sie, war keine Spannung in ihm. Er zögerte, bevor er auf die Klingel drückte. Leichte Schritte kamen näher und hielten hinter der Tür an. Er spürte, wie er durch das Guckloch in der Tür inspiziert wurde. Dann rasselte eine Vorlegekette. ,,’n Abend, mein Lieber«, sagte die Blondine mit künstlicher Vertraulichkeit. »Sie müssen Mr. Gospart sein, der gestern angerufen hat.« 156
»Ja, das heißt, eigentlich nicht«, stotterte Mottram. »Er hat mich nur gebeten, heute mal vorbeizuschauen.« »Oh!« sagte sie enttäuscht. »Haben Sie schon genug gesehen, oder wollen Sie hereinkommen?« In ihrer Stimme lag offene Bitterkeit. Sie mochte um die Achtunddreißig sein, hatte aber die wissenden Augen einer doppelt so alten Frau. »Nun, wenn ich für eine Minute hineinkommen dürfte?« Sie trat zur Seite und schloß die Tür hinter ihm. »Ich nehme an, Sie möchten gerne die Preise wissen, mein Lieber«, sagte sie verständnisvoll. »Viele Herren wollen das wissen, vor allem die, die besondere Behandlungen brauchen.« »O nein, das ist es gar nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Es ist nur, weil mein Freund verheiratet ist. Seine ...« »Und sie versteht ihn nicht, mein Lieber«, sagte die Blonde sarkastisch. »Oder hat er Angst, daß sie dahinterkommt? Nun, da besteht keine Gefahr. Wir sind sehr diskret.« »Wir?« fragte Mottram alarmiert. »Meine Kollegin und ich«, erklärte die Frau. »Sehen Sie, manchmal ist die Behandlung ziemlich kompliziert und man muß zu zweit sein. Aber sie ist wirklich eine Expertin und auch sehr hübsch. Ich habe ein paar Bilder von ihr, falls Sie wegen Ihres Freundes Bescheid wissen wollen.«
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Die Art, wie sie »wegen Ihres Freundes« sagte, bewies, daß sie ihm nicht glaubte. »Ist sie denn jetzt nicht da?« fragte Mottram. Die Frau ging an ihm vorbei und öffnete eine Tür. »Nein, mein Lieber. Sie hat im Augenblick eine Hausbehandlung«, erklärte sie. Sie wandte sich um und zeigte mit einer großen Bewegung auf das Zimmer. Mottram stellte fest, daß sie nur einen schwarzen Büstenhalter und ein kurzes Höschen unter dem Nylonkittel trug. »Hier, mein Lieber, das ist es«, sagte sie. »Infrarote Lampe, Vibrator, Bindegewebsmassage, Kreislaufmeßgeräte. Die modernste Ausstattung, die Sie überhaupt finden können.« Mottram warf einen Blick auf die schweren Vorhänge und die Couch, die in einer mit Spiegeln verkleideten Nische stand, auf die Gegenstände, die sie aufgezählt hatte und die so unecht aussahen, wie ihre Anpreisung geklungen hatte. »Manchmal führen wir Lehrfilme über Gymnastik vor«, erklärte sie. »Zu Extrakosten natürlich.« Sie schlug ein Bein über das andere und zeigte genug nackte Haut. Sie schob ihm einen Aschenbecher hin. »Rauchen Sie doch, wenn Sie mögen«, sagte sie und versuchte so etwas wie Freundlichkeit zu verbreiten. »Aber jetzt wollen Sie über unsere Preise Bescheid wissen. Normalerweise würde ich eine schwedische Massage empfehlen, die fünf Pfund
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zehn kostet, die als Stärkung und Erfrischung wirkt und Sie zu einem neuen Mann macht.« »Das klingt sehr annehmbar«, stimmte Mottram zu. »Könnte ich vielleicht einen Schluck kaltes Wasser haben? Wissen Sie, die Treppen.« »Wasser! Natürlich mein Lieber. Sie müssen wirklich nicht gut in Form sein. Mir scheint, Sie könnten auch eine Generalverjüngungskur gebrauchen, genauso wie Ihr Freund.« Mottram sah ihr nach, als sie aufstand und aus dem Zimmer tänzelte. Nach der Art, wie sie sprach, begann er, daran zu zweifeln, ob sie überhaupt etwas anderes als Massage meinte. Er drehte nervös an dem Aschenbecher, der vor ihm stand. Er war aus schwarzer Bronze und hatte eine Messingspitze, auf der als Abschluß ein kleiner Plastikball saß. Aus der Küche drang das Geräusch von Schranktüren und klirrenden Gläsern. Er fühlte, wie sich der Plastikknopf unter seiner behandschuhten Hand bewegte. Er rutschte von der Spitze ab und rollte über den Tisch. Seine Augen waren nur Zentimeter von der glänzenden Spitze entfernt. Sie erinnerte ihn an etwas anderes – an die glänzenden Kupferspitzen des Dreizacks. Der Gedanke überfiel ihn mit plötzlicher Klarheit. Warum nicht jetzt? Warum eine ganze Woche auf eine Gelegenheit warten, die vielleicht nie wiederkam? Warum sich mit einer Probe in Gefahr begeben?
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Er griff nach dem Aschenbecher und sah ihn sich an. Die Messingspitze war in das Untergestell geschraubt und ließ sich drehen. Er drehte sie ganz heraus und schob sie in die Tasche. Schnell stand er auf, trat auf den Gang hinaus und ging zur Küche. Die Frau war gerade dabei, Eiswürfel loszubrechen. Außer ihr war niemand in der Wohnung. Kein Zuhälter, der auf sein Geld wartete oder als Hilfe einspringen konnte, falls sie Schwierigkeiten mit einem Kunden bekam. So, wie sie aussah, war sie stark genug, um sich selbst zu helfen. »Nun, hast du darüber nachgedacht?« fragte sie voll drängender Erwartung. »Du wirst es nicht bedauern. Weißt du?« »Schon gut«, sagte er heiser. »Sie haben etwas von einer schwedischen Massage gesagt.« Sie lächelte und sagte: »Das sind dann fünf Pfund zehn, Schätzchen. Leider im voraus. Und noch zehn Schilling für den Drink.« Er griff nach seiner Brieftasche, wobei er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Er mußte einen Handschuh ausziehen, um die Banknoten von dem Bündel abzuzählen. Sie nahm das Geld, faltete es mit einer Hand zusammen und steckte es in den V-Ausschnitt ihres Kittels, was ihrer Meinung nach vermutlich eine aufreizende Gebärde sein sollte.
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»Das ist aber fein, Schätzchen«, lächelte sie. »Wenn du dich vielleicht in dem anderen Zimmer ausziehen willst; ich komm’ gleich wieder, ich muß nur schnell meine Arbeitskleidung anziehen.« Er ging wieder in das Zimmer zurück, in das sie ihn zuerst geführt hatte, und zog den Mantel aus, wobei er an die Messingspitze in der Tasche dachte. Er schob das schimmernde Ding unter ein Couchkissen. Dann starrte er auf seine Uhr. Fünfundzwanzig Minuten waren vergangen, seit er das dampfende Bad in seiner Wohnung verlassen hatte. Er mußte sich beeilen. Er zog sich aus, nicht wegen der offenkundigen Aufforderung der Frau, sondern um seine Kleidung vor dem zu schützen, was, wie er wußte, nachher passieren würde. Sie kam ins Zimmer, als er gerade sein Unterhemd über den Kopf zog. Sie trug nichts außer einem kleinen Büstenhalter und Höschen. In dem grellen Licht sah sie kümmerlich aus. »Leg dich hin, Schätzchen«, schlug sie geschäftsmäßig vor. Er fühlte, wie er zitterte, und litt unter seiner Nacktheit und der schmutzigen Situation, war aber voller Erwartung. »Nicht aufs Gesicht, Schätzchen«, sagte sie. »Dreh dich auf den Rücken. Brauchst doch bei mir nicht schüchtern zu sein.« Er drehte sich um, hielt aber die Augen geschlossen, um nicht ihr hartes, geldgieriges Gesicht sehen zu müssen. 161
Sie stand hinter ihm und beugte sich über sein Gesicht, ihre Hände massierten und kneteten seinen Nacken und die Schultern. Er hatte ein Gefühl, als wollte ihm der Atem stehenbleiben; aber er wußte, er mußte noch warten, mußte geduldig sein. Sie war eine starke, wendige Frau, die mit Männern umgehen konnte. »Was ist denn los, Schätzchen?« fragte sie. »Was stimmt denn nicht bei dir?« Ihre Hände bewegten sich jetzt über seinen Brustkasten, streichelten, prüften und glitten jeden Augenblick tiefer hinunter. Sie mußte jetzt an seine Seite treten. Als sie sich tiefer beugte und gegen ihn preßte, schossen seine Arme hoch. Sie wandte das Gesicht zur Seite, als sich seine Hände um ihren Nacken schlossen und tief in das gespannte, sehnige Fleisch bohrten. Er richtete sich auf, glitt unter ihr hervor und drückte sie mit seinem Gewicht auf die Couch. Ihr Gesicht war zum Spiegel gerichtet, ihr Mund stand offen, und sie schnappte nach Luft. Dabei stieß sie kleine tierische Laute aus und wehrte sich schwach, als er sich rittlings auf ihren Körper setzte. Im Spiegel sah er, wie sich seine Augen weiteten, spürte die Macht, die von ihnen ausging. Endlich ließen seine Hände los, sie blieben weiter wie Krallen, weil sich die Muskeln nicht entspannen ließen. Er starrte hinunter auf die Frau, sah den Speichel um ihren offenstehenden Mund und die weißen Male seiner Hände auf ihrer Haut. Ihr Unterkörper hing verkrümmt über die Kante der 162
Couch. Mit blinden Augen starrte er sie lange an, versuchte dann, seine Gedanken zu sammeln, und ging hinüber zu seinem Kleiderhaufen. Er zog die Socken an, die Hose und das Unterhemd; dann kehrte er zu ihr zurück und legte eine Hand unter ihre nackte kleine Brust, um nach ihrem Herzschlag zu fühlen. Das Herz schlug schwach, aber schnell. Er griff nach der Messingspitze, und während er das kalte Metall zwischen seinen Fingern spürte, starrte er im Spiegel auf sein Gesicht, auf dem ihm der wilde, grausame Ausdruck so fremd war und in dessen dunkelbrennenden Augen der Drang stand, das zu beenden, weswegen er gekommen war. Er zwang sich dazu, sich von seinem schrecklichen Spiegelbild abzuwenden und kauerte sich über die liegende Frau. Er starrte geradeaus, während sein tastender Finger die Schlagader suchte; in der anderen Hand hielt er griffbereit die Metallspitze. Er spürte die rauhe Unterseite der Schraubenwindung, die sich in seinen Handteller bohrte, und drückte mit aller Kraft zu. Fünf Minuten später zog er sich eilends fertig an, er verspürte Ekel und Widerwillen und vermied es, einen Blick auf die weiße Gestalt und den immer größer werdenden Blutfleck zu werfen. Die Waffe hatte er an den Kissen abgewischt. Er schlüpfte in den Mantel, stopfte den Aschenbecher in die Tasche und zog die Handschuhe glatt. Dann ging er zur Tür und drehte das Licht aus. Er 163
überlegte, ob der Chuku sein Opfer annehmen würde, ob er nun zufrieden sein würde. Sekunden später schlüpfte er aus dem Haus und eilte in der Richtung zurück, aus der er gekommen war. Er war an der Ecke der Straße angekommen, als er das Taxi sah. das ungefähr auf der Höhe des Hauses, aus dem er gekommen war, hielt. Als er sich umwandte, erkannte er den Umriß einer Frau, die einen kurzen Pelzmantel trug und eine große Schachtel bei sich hatte. Er eilte weiter; nur einmal hielt er kurz an, um den Aschenbecher in einen Gully zu werfen. Er zwang sich dazu, nicht durch die verlassenen dunklen Straßen zu rasen. Falls es die Kollegin der blonden Frau gewesen war, dann hatte sie vermutlich die Leiche bereits entdeckt und würde die Polizei benachrichtigen. Er war schon fast zu Hause, als er sich daran erinnerte, daß er vergessen hatte, nach dem Geld zu suchen, das er der Frau gegeben hatte. Es war der erste Fehler, den er sich erlaubt hatte. Er erinnerte sich, daß er einen Handschuh ausgezogen hatte, um das Geld abzuzählen, und überlegte, ob die Polizei Möglichkeiten hatte, verborgene Fingerabdrücke auf Papier sichtbar zu machen, oder ob es möglich war, die Seriennummern der Banknoten bis zu ihm hin zu verfolgen. Das Geld hatte lange Zeit in der Ladenkasse bei ihm gelegen, und er hielt es für unwahrscheinlich; aber allein die Vorstellung, daß ihm ein Fehler unterlaufen war, erfüllte ihn mit 164
Panik. Doch er wußte, daß es vermutlich wesentlich gefährlicher gewesen wäre, wenn er in der Wohnung nach dem Geld gesucht hätte und die Kollegin der Frau wäre zurückgekommen. Fünfeinhalb Minuten später eilte er atemlos in seinen Hinterhof, schloß die Tür hinter sich zu und trat ins Haus. Während er hinaufrannte, riß er sich den Mantel vom Körper und hängte ihn in den Schrank in seinem Schlafzimmer, ohne dabei das Licht einzuschalten. Er zog sich im Dunkeln aus und trug seine Kleider ins Badezimmer. Als er eben dabei war, in die Wanne zu steigen, erinnerte er sich noch an das Telefon und lief hin, um den Hörer wieder aufzulegen. Das Wasser war lauwarm, aber er wagte es nicht, mehr heißes Wasser nachlaufen zu lassen. Er fischte die aufgeweichte Seife vom Wannenboden, die er dort hatte liegenlassen, und wusch sich heftig ab. Der schrille Ton der Türglocke unterbrach seine Tätigkeit. Er spürte, wie ihm die Angst den Magen zusammenzog und in seinem Hals ein würgendes Gefühl hochstieg. »Augenblick!« schrie er in die Stille, die ihn umgab. Er trocknete sich oberflächlich ab und zog einen Bademantel über. Wieder schrillte die Glocke, dringlich und ungeduldig. Er fuhr in seine Pantoffeln und tappte hinunter. Das Wasser lief ihm aus dem Haar über den Rücken. Er tastete nach dem Riegel und sah draußen die Umrisse zweier Gestalten. 165
»Was, zum Teufel, wollen Sie?« fing er an, als er die Tür öffnete. Dann sah er, daß der Superintendent und ein zweiter Beamter vor ihm standen. »Oh, Sie sind es, Superintendent. Machen Sie für gewöhnlich mitten in der Nacht Besuche, wenn ein Mann gerade sein Bad nimmt?« Bellamy starrte ihn an und war offensichtlich wütend auf sich selbst. Neal Mottram erkannte den anderen Mann als einen der Beamten, die ihn während der letzten drei Wochen beobachtet hatten. »Tut mir leid, Mr. Mottram«, knurrte Bellamy. »Aber woher soll ich wissen, daß Sie gerade baden. Ich würde mich gern kurz mit Ihnen unterhalten.« Mottram murmelte irgend etwas und zog den Bademantel enger. »Bitte, kommen Sie mit hinauf«, sagte er, ohne seinen Ärger zu verbergen. Er stapfte wieder hinauf, schaltete das Licht im Wohnzimmer ein und wandte sich zu dem Superintendenten um. »Also, was gibt es?« fragte er ungeduldig. »Haben Sie irgendwann heute abend das Haus verlassen, Mr. Mottram?« fragte Bellamy. »Vielleicht so?« Mottram öffnete oben seinen Bademantel und zeigte seine feuchte rosige Haut. »Denken Sie, ich möchte wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aufgegriffen werden? Ich habe ein Bad genommen, als Sie kamen.« Bellamy nickte und sah sich um. Einer seiner Mundwinkel zuckte. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir einen Blick ins Badezimmer werfen und 166
uns Ihre Kleider ansehen, Mr. Mottram?« fragte er endlich. »Warum?« erwiderte Mottram. »Was, zum Teufel, soll das denn bedeuten, daß Sie mitten in der Nacht hier erscheinen?« »Eine Frau ist hier in der Nähe ermordet worden, Mr. Mottram«, unterbrach ihn Bellamy, »vor weniger als einer Viertelstunde und keine siebenhundert Meter entfernt.« »Doch nicht schon wieder eine!« flüsterte Mottram. Dann erst schien er zu merken, was der Polizeibeamte damit andeuten wollte. »Großer Gott, Mann, Sie glauben doch nicht...? Sind Sie deswegen hier? Um mich ein zweites Mal zu beschuldigen?« »Ich beschuldige Sie nicht, Sir«, sagte Bellamy schroff. »Ich habe Sie auch nie des Mordes an Ihrer Tante beschuldigt. Wir haben die Informationen, die Sie uns gegeben haben, nachgeprüft, und sie haben sich als korrekt herausgestellt. Aber in Ihrem eigenen Interesse ...« »Mein eigenes Interesse?« unterbrach ihn Mottram grob. »Sie meinen wohl Ihr Interesse? Denken Sie denn, ich wäre aus dem Bad gestiegen, siebenhundert Meter weit im Bademantel gelaufen und hätte dann eine Frau ermordet, um schließlich seelenruhig wieder zurückzukommen? Sie haben verdammt gute Nerven, Superintendent. Ich habe Lust, mich wegen dieser Sache mit meinem Rechtsanwalt in Verbindung zu setzen.« 167
»Davon kann ich Sie nicht abhalten, Sir«, sagte Bellamy kurz. »Aber es wäre viel einfacher, wenn Sie mir erlaubten, mich kurz umzusehen, dann brauchte ich Sie nicht länger zu belästigen – jetzt nicht und auch in Zukunft nicht mehr.« Mottram sah ihn an, sein Gesicht war aschgrau. Diesmal mußte er sich nicht verstellen. Der Schock, die Polizei schon so schnell hier zu sehen, hatte ihn fast umgeworfen. »Tun Sie, was Sie wollen, Superintendent!« sagte er. Er zitterte vor Angst und Kälte. »Sehen Sie überall nach. Stellen Sie das ganze Haus auf den Kopf, wenn Sie müssen. Aber machen Sie schnell, je eher Sie mir aus den Augen verschwinden, desto besser. Ich könnte sonst vielleicht vergessen, daß Sie nur Ihre Pflicht tun, was Sie mir höchstwahrscheinlich als nächstes erzählen wollen.« Bellamys Augen wurden hart. Er drehte sich um und ging aus dem Raum zum Badezimmer hinüber, so sicher, als wüßte er genau über die Anordnung der Zimmer Bescheid. Er trat ins Badezimmer und sah sich um. Er tauchte die Fingerspitzen ins Wasser, bemerkte den leichten Schaum, der auf der Oberfläche schwamm, und das Handtuch, das vom Halter gerutscht war. Er trat zu den Kleidern, die entlang der Heizung aufgehängt waren. Er griff danach und hielt sie gegen das Licht und unterzog die Stoffe einer gründlichen Inspektion. Dann griff er nach den Schuhen.
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Er bemerkte ein paar Wasserflecken darauf, aber es schien milchiges Seifenwasser zu sein. Er seufzte und wandte sich um. »Nun, Superintendent?« fragte Mottram. »Ich bedaure, Sie gestört zu haben, Mr. Mottram«, sagte Bellamy und versuchte wenigstens, es wie eine Entschuldigung klingen zu lassen. »Aber wie ich Ihnen schon sagte, es war in Ihrem eigenen Interesse.« Es war Mottram klar, daß er damit den Endsieg über die Polizei davongetragen hatte. »Vielen Dank für Ihre Rücksicht, Superintendent«, antwortete er sarkastisch. »Was werden Sie mir nächstes Mal, wenn Sie mich nach Mitternacht aus dem Bett klingeln, erzählen?« »Ich habe nur meine ...« Bellamy ließ den Satz unvollendet. »Gute Nacht, Mr. Mottram!« Später, als sie im Polizeiauto saßen, sagte der junge Beamte: »Sind Sie jetzt überzeugt, Sir?« »Nein«, fauchte er. »Innerhalb von siebenhundert Metern von hier, und er schwimmt in seinem Bad? Es ist mir egal, wie oft er ein Bad nimmt, aber erzählen Sie mir nicht, daß er nur wegen der Hygiene eine Stunde in der Wanne verbringt. Bei mir dauert es zehn Minuten, und ich bin danach auch sauber.« »Ich lasse mich auch gern durchweichen, Sir«, wandte der junge Beamte ein. »Und ich habe das
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Haus während des Abends nicht aus dem Auge gelassen. Er ist nicht ausgegangen, Sir.« »Halten Sie den Mund!« fauchte Bellamy. »Und erzählen Sie mir nicht, daß ich nach einem Verrückten suchen soll, der mondsüchtig ist. Wir haben noch eine Woche bis zum Vollmond. Ich sage Ihnen, der Mann den wir suchen, ist so normal wie Sie und ich und, verdammt noch mal, viel intelligenter, als ein Verrückter je sein könnte. Genauso gerissen wie unser Mr. Mottram.« Die Zeitungen brachten alles ganz groß über den neusten Mord. Da die ermordete Frau eine eingetragene Prostituierte gewesen war, schien die Geschichte den verschiedenen Theorien, die im Umlauf waren, noch einen Extraschuß an Pikanterie hinzuzufügen. Die Vorstellungskraft der Bevölkerung wurde mit Hinweisen auf Blutkulte, entwichene Geisteskranke, die Existenz einer geheimen Organisation, die jeden gegen eine geringe Gebühr beseitigte, mordlustige Psychopathen und sogar kleine grüne Männer, die von fliegenden Untertassen stammten und sich aus irgendeinem Grunde alleinstehende Frauen als Opfer aussuchten, angeheizt. Superintendent Bellamys Befugnisse wurden wesentlich erweitert. Er verfügte nun über einen viel größeren Stab von Spezialisten, die aus den verschiedensten Polizeidepartements abgezogen worden waren. Eine Reihe wichtiger Punkte, die darauf hinzuweisen schienen, daß mehr als nur ein Mör170
der am Werk war, wurden festgelegt. Die ersten beiden Morde waren ausgeführt, während das Opfer noch an einem bisher unbekannten Ort gelebt hatte. Und es hatten sich keinerlei Anzeichen von besonderer Gewaltanwendung oder Drogen feststellen lassen. Die Leichen waren innerhalb eines bestimmten Radius von London weggeschleppt worden, und die Mordwaffe war in beiden Fällen die gleiche gewesen. Doch die beiden nächsten Morde variierten in verschiedenen Einzelheiten. Beide Opfer waren in oder in der Nähe ihrer Wohnung ermordet worden, und in beiden Fällen unterschieden sich die Mordwaffen voneinander und auch von derjenigen, die zu den ersten beiden Morden benutzt worden war. Das schien darauf hinzudeuten, daß der Mörder ängstlich geworden war, sich durch Routine zu verraten, oder daß eine Organisation am Werke war, irgend jemand, der die ersten beiden Morde einfach als Deckmantel benutzt hatte. Nichts von dem, was die Kanäle aus der Unterwelt an Informationen liefern konnten, erwies sich als nützlich. Es schien ganz klarzusein, daß der Mörder kein professioneller Verbrecher war, und das war der Typ des Verbrechers, der am schwierigsten zu entlarven war. Aber die Zeit und der Vollmond waren gegen die Polizei, ebenso wie der von der Presse ausgeübte Druck. Auf einer eilends einberufenen Konferenz höchster Polizeibeamter wurde vorgeschlagen, daß 171
aus Freiwilligen der weiblichen Polizei eine Spezialgruppe gebildet werden sollte, die als Lockvögel für einen eventuellen Mörder, der darauf aus war, sein Opfer auf den Straßen zu suchen, dienen sollte. Da von Frauen, die Gefahr und Gewaltandrohung ausgesetzt sind, Prostituierte die am meisten gefährdeten sind, arbeiteten diese Freiwilligen getarnt als Strichmädchen. Verstärkung erhielten sie durch eine weitaus größere Anzahl echter Professioneller, die ihre Hilfe angeboten hatten. Um den Mitgliedern der weiblichen Polizei und den freiwilligen Helferinnen ein Maximum an Sicherheit zu bieten, wurde dieses kleine weibliche Heer durch eine große Anzahl von Kriminalbeamten in Zivil verstärkt, die, wie ihre weiblichen Partner, mit den neuesten Funkgeräten ausgerüstet waren. Aus diesem System entwickelte sich eine der merkwürdigsten Kombinationen in der Geschichte der Polizei. Kriminalbeamte, Prostituierte, weibliche Polizistinnen, Taxifahrer, Nackttänzerinnen und kleine Gauner vereinten sich zu einer wartenden, auf alles horchenden und alles beobachtenden Macht, jederzeit bereit, den gemeinsamen Feind zu schlagen, sobald er seinen nächsten Mord versuchte. Und voller Angst. In seinem Laden in der Wigmore Street wartete auch Neal Mottram, ohne etwas von der geheimen, fast verstohlenen Gemeinschaft zu ahnen, die in den dunklen Straßen rings um ihn lauerte. Und in seinem Herzen wohnte die Angst, die gleiche 172
Angst, die auch in den Herzen der Freiwilligen wohnte, und doch war sie anders. Er wartete auf einen Beweis, auf die Bestätigung, daß das Opfer angenommen war, das er dem Chuku dargebracht hatte, trotz der persönlichen Gefahr, die damit verbunden gewesen war. Er wartete auf seine Belohnung! Aber es zeigte sich keine Belohnung, es kam nicht einmal eine Antwort auf die Fragen, die er in seinem Keller an die dunkle Statue richtete. Kein Flackern der Kerzen, keine Stimme. Es war, als hätte ihn die Statue und damit auch ihr Geist plötzlich verlassen, wie sie es auch mit ihren früheren Anbetern getan hatte. Er besann sich auf die Macht des Kreises und des Dreiecks, der mystischen Anbetungszeremonie; doch die Stimme weigerte sich, zu antworten. Er erkannte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, daß er irgendwie die Mächte beleidigt hatte. Er durchforschte seinen Geist und seine Seele nach dem unbewußten Fehler und stieß auf nichts als Zweifel und Schmerz. Und als die Stunden und die Tage länger wurden, als sein von zuwenig Schlaf geschwächter Körper die ersten Zeichen der nervlichen Anspannung zeigte, die ihn nachts nicht schlafen ließ, als die Stille um ihn zur dröhnenden Selbstanklage anschwoll, da begann er zu verstehen, daß sein Pakt nichts bedeutete, gar nichts, daß er allein war mit seiner Pein und seiner Furcht. Denn wenn die Anbetung versagte, wenn das Blutbündnis nichts be173
deutete, dann war der Herrscher der Finsternis ebenso launisch, wie es auch Gott war. Er wartete auf eine Antwort, und er wartete auf seine Belohnung, bis der Mond abgenommen hatte und er es nicht länger ertragen konnte. Und inmitten seiner Zweifel und seiner Furcht wuchs etwas Fremdes und Neues in ihm. Etwas, das aus der Verzweiflung geboren wird, das nur ein Mensch erkennen kann, der von Gott verstoßen wurde. Diese neue Stärke, die in ihm wuchs, war fremder als alles, was er je vorher gekannt hatte. Sie kam so unerwartet und stand zu allem, was er während jener letzten, langen qualvollen Monate getan und gefühlt hatte, im Gegensatz. Es war die leidenschaftlich brennende Flamme des Stolzes auf sich selber, auf seine eigene Macht. Es war die totale Abkehr von Gott und seinem Gegenspieler, dem Teufel. Alles, was er getan hatte, war immerhin sein eigenes Werk gewesen, vielleicht begünstigt durch die Mächte um ihn, doch immer von ihm selbst gelenkt. Es gab keinen Bund, und es gab keine Belohnungen. Er war schlau genug gewesen, die Gaben zu sehen und entsprechend zu handeln, nicht mit Hilfe einer geheimen Macht, sondern durch eigene Überlegung und eigene Intelligenz. Der brennende Stolz begann sich in verzehrende Wut zu verwandeln, in Haß auf das Bündnis, das er so viele quälende Wochen aufrechterhalten hatte. Er wußte, daß er das Bündnis brechen, daß er sich losreißen mußte von der dunklen 174
Statue. Und er wußte, daß er sich selber beweisen mußte, daß die einzige Kraft, die existierte, sein brillanter Geist und seine überragende Intelligenz war. Nachdem er das einmal erkannt hatte, löste er einen Scheck über tausend Pfund von dem Konto ein, das einmal seiner Tante gehört hatte. Dann bestellte er ein Taxi und ließ sich zu Corckford’s, fahren. Es war der einzige Spielklub, den er kannte, obwohl er noch nie vorher einen Fuß in ihn gesetzt hatte. Er war kein Spieler, nicht einmal jetzt. Er kannte kaum Kartenspiele, aber es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er ein System für das einzige Spiel, das viel Geld bringen konnte, ausgearbeitet hatte: Roulette. Er fühlte sich ein wenig fehl am Platz, als er das erstemal in die Atmosphäre von Geld und Gesellschaft trat. Aber nachdem er zugesehen hatte, wie einige Leute, die er für Könner angesehen hatte, mit ihrem Geld umgingen, kam er zu der überzeugenden Erkenntnis, daß sie Idioten sein mußten. Eine halbe Stunde lang wartete er und verfolgte den Fortgang des Spiels, ohne einen einzigen Chip zu setzen. Als er zu setzen begann, wußte er Bescheid über den Ablauf des Ganzen. Er benutzte drei Einheiten von Chips, solche zu zehn, fünf und zwei Pfund. Er setzte nur auf die unteren zwölf Nummern und placierte die Zehn-Pfund-Chips gegen die ersten zwölf, die Fünfer un carre gegen Nummer eins bis 175
vier und die Zwei-Pfund-Chips en piain auf die Einzelnummer sieben. So daß er, wenn irgendeine der ersten zwölf Nummern herauskam, zwanzig Pfund gewinnen mußte. Jede der ersten vier Nummern ergab weitere vierzig Pfund zu den vorherigen Gewinnen, und die Nummer sieben brachte ihm siebzig Pfund ein. Bei jeder Nummer über zwölf verlor er seinen Einsatz von siebzehn Pfund, aber auf diese Weise hatte er seine Verlustchancen von siebenunddreißig zu eins auf drei zu eins verringert. Er verlor die ersten vier Einsätze, bis die Kugel auf Nummer eins rollte und er zwei Pfund einstecken konnte. Zehn Minuten später war er den anderen um einhundertneunzig Pfund voraus, und eine Menge Spieler folgte seinem Beispiel. Er sammelte seinen Gewinn ein und ging weg, um zu Abend zu essen. Er ließ sich Zeit und wartete darauf, daß die Jünger des Glücks aufgaben oder ihr Geld verspielten. Als er neunzig Minuten später zurückkehrte, gewann er schwer bei nur viermaligem Setzen, indem er seinen Einsatz verdoppelte, und wieder folgten die Leute um ihn herum seinem Beispiel. Kurz nach ein Uhr morgens unternahm er einen dritten Versuch und spielte fast vierzig Minuten mit wechselndem Glück an einem Tisch, bis zwei Sieben in einer Gewinnsträhne herauskamen und er die Chips einkassieren konnte. Sein Totalgewinn belief sich auf sechshundertvierundsiebzig Pfund, dabei hatte er schon für sein Abendessen bezahlt 176
und dem Croupier ein großzügiges Trinkgeld hinterlassen. Er nahm ein Taxi zurück und war erfüllt von einer finsteren Leidenschaft, die der Erfolg, den er nur sich selber zu verdanken hatte, in ihm hervorrief. Schon vor längerer Zeit hatte es die Polizei aufgegeben, seine Wohnung zu beobachten; oder falls sie es immer noch tat, geschah es auf eine weniger auffällige Art und Weise. Er schaltete das Licht im Keller an, von der stolzen Sicherheit erfüllt, daß er seine Freiheit wiedergewonnen hatte, und ein bißchen beschwipst von der Höhe seiner Gewinne. Jetzt bestand kein Zwang mehr für Kerzen und magische Anbetung, er brauchte nicht mehr vor einem Gott zu kriechen, der ihn im Stich gelassen hatte. Er griff nach den Banknoten, die sich in seiner Tasche bauschten, und schwenkte sie vor dem hölzernen Götzenbild. »Hier ist mein Lohn, großer Chuku«, sagte er spöttisch. »Ohne deine Hilfe und Unterstützung, nur durch meine eigene Anstrengung verdient. Wie denkst du jetzt über dein Bündnis? Ich brauche dich nicht mehr. Ich habe dich nie gebraucht. Und es wird auch keine Opfer mehr geben. Ich werde dich zerstören und deine Asche in alle Winde streuen. Du wirst vergessen sein, wie es deine falschen Versprechungen sind. Hindere mich daran, dich zu zerstören, großer Chuku, wenn du es kannst.« 177
Aber noch immer verweigerte das Götzenbild eine Antwort. Einen kurzen Augenblick lang hatte Mottram geglaubt, seinen früheren Verbündeten durch seine Drohungen aufstacheln zu können, aber jetzt erfüllte ihn nur mehr blinder zerstörerischer Zorn, der auf Rache sann. Mit Augen, die wie die eines Irren brannten, sah er sich im Keller um und erblickte eine alte Axt, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden war. Wütend gemacht durch das beharrliche Schweigen stürzte er darauf zu. Es war eine schwere Axt, ein wenig stumpf von Rost und früherem Gebrauch. Mottram schwang sie hoch über seinem Kopf gegen den dunklen Umriß der Statue. Die Axt schlug auf dem harten Holz auf und prallte zurück, wobei ein stechender Schmerz durch Mottrams Arm fuhr. Erneut schlug er zu, wie wahnsinnig vor Schmerz und Wut über die Vergeblichkeit seines Bemühens. Die Schneide der Axt glitt von der Statue ab, Mottram mitreißend. Funken sprühten, als das Metall auf dem Steinboden aufprallte, und dann traf die Schneide sein Schienbein mit einem dumpfen, Übelkeit erregenden Schlag. Mottram schrie vor Schmerz auf, rollte über den Boden und hielt krampfhaft sein rechtes Bein fest. Er spürte, wie sein Blut heiß unter der Hose am Bein entlanglief, und fühlte eine Sekunde lang, wie ihm die Angst im Halse saß. Als er sich endlich nicht mehr vor Schmerz krümmen mußte, schob er vorsichtig sein Hosenbein 178
über der Wunde hoch. Es war ein scharf umrissener dunkler Einschnitt, mit Blut verkrustet, wo die scharfe Schneide die Haut gespalten hatte. Aber der Knochen war nicht gebrochen. Eine Weile saß er da und sah auf sein Bein. »Na gut!« zischte er. »Vielleicht diesmal noch nicht. Aber denke nicht, daß ich mich geschlagen gebe. Ich werde dir noch ein Opfer bringen. Ein einziges nur, aber ohne daß ich dich um deine Unterstützung gebeten habe und ohne Hilfe von dir. Ich werde dir zeigen, daß ich dich nie gebraucht habe und dich auch nie mehr brauchen werde. Du wirst dein Opfer bekommen und dann eine Kanne Benzin, und dann brenne ich dich und den verfluchten Ort hier nieder. Nichts und niemand kann mich daran hindern, nicht einmal du!« Und als immer noch keine Antwort kam, stand er mühsam auf und humpelte aus dem Keller. Die Polizeibeamtin Angela Cowper hatte sich schon seit längerem daran gewöhnt, einsam durch die dunklen Straßen von London zu wandern. Sie trug einen ziemlich kessen Minirock und einen dreiviertellangen Mantel mit Pelzkragen. Während dieser aufregenden Zeit war sie verschiedentlich angesprochen worden, und ihre Kollegen in Zivil mußten vier Verhaftungen vornehmen. Aber keine davon hatte zu dem Mann geführt, der von der Polizei gesucht wurde.
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Obwohl zu Anfang zwischen ihr und ihren echten professionellen Kolleginnen fast Feindseligkeit bestanden hatte, war daraus langsam so etwas wie Zuneigung entstanden, die von einem rauhen Humor begleitet war. Aber trotz allem war der Gilde der Dirnen dieses derzeitige Zusammenarbeiten mit der Polizei verdächtig, und sie hatte beschlossen, sich mehr als sonst im Hintergrund zu halten. Es war eine ungeschriebene Abmachung, daß die Polizei jetzt die Kontrolle der Dirnen eingestellt hatte, aber sie würde zweifellos sofort wieder auf ihre Rechte zurückgreifen, sobald die öffentliche Gefahr beseitigt war. Angela Cowper fühlte sich relativ sicher bei dem Gedanken, daß ein geflüsterter Hilferuf in ihren Sender genügte, um innerhalb von Sekunden einen starken Polizisten herbeizurufen. Man hatte ihr einen sicheren »Strich« zugeteilt, entlang der Park Lane, wo keine dunklen Torwege oder baufälligen Häuser eine Gefahr bildeten. Doch sie fühlte viele Augen auf sich, die sie in der Dunkelheit beobachteten, vermutlich nicht alle voll Freundlichkeit. Und sie konnte auch nicht das hartnäckige Gefühl der Gefahr abschütteln, persönlicher Gefahr, die sich ausschließlich gegen sie zu richten schien. Angela Cowper war kein Mensch, der sich leicht einschüchtern ließ, sonst wäre sie nicht vor drei Jahren zur Polizei gegangen, obwohl sich ihre Erwartungen eigentlich nicht erfüllt hatten. Sie war ziem-
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lich phantasielos, hatte aber ein starkes Pflichtgefühl. Sie erinnerte sich an die Rede, die Superintendent Bellamy vor den weiblichen Freiwilligen gehalten hatte, bevor dieser Einsatz stattfand. »Sie haben nichts zu befürchten, Ladies«, hatte er versichert. »Jede von Ihnen wird von einem Kriminalbeamten in Zivil abgesichert, außerdem finden regelmäßige Kontrollen statt. Jede von Ihnen wird mit einem kleinen Sendegerät ausgerüstet; und vergessen Sie nicht, daß die Öffentlichkeit auf Ihrer Seite ist. Aber trotz alledem gibt es verschiedene Sicherheitsfaktoren, mit denen Sie sich selbst vertraut machen müssen. Sie werden angesprochen werden und dürfen darüber nicht ärgerlich werden. Der Mann, dem wir auf der Spur sind, wird sein Opfer unter den Mädchen aussuchen, die Sie jetzt darstellen. Er ist ein hemmungsloser und vielleicht ein sehr hartnäckiger Mensch. Sie werden sich fragen, wie Sie mit solch einem Mann fertig werden. Meine Antwort ist, versuchen Sie es gar nicht. Sie kennen die verschiedenen Sicherheitsmaßnahmen, wie Sie so einen Mann erkennen können. Wenn Sie angesprochen werden, nennen Sie einen Preis, der weit über dem liegt, der sonst in der Gegend, in der Sie eingesetzt sind, üblich ist. Die Beamten, mit denen Sie zusammenarbeiten und die nach Möglichkeit auf Grund ihrer Kenntnisse über die verschiedenen Dirnenviertel ausgesucht wurden, werden Sie hierbei beraten. Sie wer181
den in Gruppen zu dreien arbeiten, und Ihre Runden werden so eingeteilt sein, daß Sie eigentlich immer in Sicht- und Hörweite der anderen sind. Sie dürfen Ihren Posten nicht verlassen, ohne ihre beiden Kolleginnen zu informieren. Sie werden natürlich auf den ganz hartnäckigen Typ von Mann stoßen, der bereit ist, diesen Preis zu zahlen. In diesem Fall möchte ich, falls es Ihnen nur irgend möglich ist, daß Sie Ihre Rolle so weiterspielen, als bestünde für Sie überhaupt keine Gefahr. Fragen Sie nach der Adresse des Mannes und sagen Sie ihm, er solle schon vorausgehen. Sagen Sie ihm, daß Sie ihm in kurzer Zeit folgen würden, denn Sie müßten sich sehr vor der Polizei in acht nehmen. Aber was auch immer Sie tun, steigen Sie unter gar keinen Umständen in das Auto eines solchen Mannes oder erklären sich einverstanden, mit ihm in einem Taxi zu fahren. Sie werden Ihren Kolleginnen die Adresse mitteilen, die Ihnen der Mann gegeben hat, und diese werden die Zentrale benachrichtigen. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, derartige Personen und ihre Wohnungen zu kontrollieren. Aber denken Sie daran, nie in ein Fahrzeug zu steigen und nie, nicht einmal für einen kurzen Augenblick, Ihren Posten zu verlassen. Führen Sie Ihre Verhandlungen auf dem Bürgersteig, wo man Sie sehen kann; und treten Sie nicht in Torwege oder andere Orte, wo Sie teilweise verborgen sind. Und zögern Sie nicht, beim ersten Zweifel um Unterstützung zu rufen. Es ist mir ganz 182
egal, wie oft es sich um falschen Alarm handelt. Dieser Mann ist gefährlich und unbarmherzig. Wir müssen ihn finden, und zwar ohne weitere Zwischenfälle. Und halten Sie die Augen offen, falls Ihnen etwas verdächtig erscheint, irgend etwas, was nach einem Verbrechen aussehen kann. Viel Glück, Ladies!« Das war vor elf Tagen gewesen. Sie arbeiteten in drei Schichten, die von fünf Uhr abends bis drei Uhr morgens dauerten, es waren endlose, kalte Stunden, nach denen sie ganz ausgepumpt war, wenn sie ins Wohnheim zurückkehrte. Erschöpft, nicht von der körperlichen Anstrengung des stundenlangen Auf-undabgehens auf dem Pflaster, sondern von der dauernden Spannung und der steten Konzentration. Fünf nach elf Uhr sah sie Jerry, der sich vom südlichen Ende der Lane näherte, ihr zunickte und weiterging. Jetzt würde es sechs Minuten dauern, bis sie die Möglichkeit hatte, ein paar Worte mit John Kerr zu wechseln, der versprochen hatte, sie am nächsten Tag abzuholen und zum Essen auszuführen. Sie blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Jerry war schon von der Dunkelheit verschluckt worden. Sie ging weiter und schwenkte dabei ihre Kunstlederhandtasche. Sie sah die abgeblendeten Lichter und den Umriß eines Lieferwagens, der auf den Bürgersteig zukam und neben ihr hielt. Sie trat näher, während sie ei183
nen Finger auf die Taste des Sendegerätes legte. Eine Schiebetür ging auf. Sie sah ein rundes Gesicht mit einer horngefaßten dunklen Brille, das auf sie heruntersah. »Entschuldigen Sie, Miß«, sagte eine wohllautende Stimme. »Kennen Sie eine Charles Street, die hier in der Nähe sein soll?« Ihre Polizeierziehung schlug durch. Sie trat näher an den Wagen heran. »Ja«, erklärte sie. »Fahren Sie rechts herum bis zum Grosvenor Square und dann zurück bis ...« Plötzlich kam ihr etwas merkwürdig vor, und sie wollte zurücktreten, als eine Hand nach ihrem Haar griff und sie ganz nahe zum Fahrersitz zog. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, als sie das weiche Tuch spürte, das ihr über Mund und Nase gepreßt wurde und dem ein scharf-süßer Geruch entströmte. Sie erkannte den typischen Chloroformgeruch und versuchte sich vom Wagen abzustoßen, aber der schmerzhafte Zugriff in ihrem Haar ließ nicht nach. Sie kämpfte um Luft und versuchte zu schreien, aber es war nur ein erstickter Ton, der ganz erstarb, als sich alles um sie zu drehen begann. Als sie in den Lieferwagen gezogen wurde, war sie bereits bewußtlos. Der Fahrer schlug die Tür zu und legte das durchtränkte Tuch über das Gesicht der Frau, während die Reifen quietschten und der Wagen sich mit einem Satz vom Bürgersteig entfernte.
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Weiter unten auf der Straße sah Neal Mottram zwei Männer, die ihm entgegengelaufen kamen. Er fluchte leise vor sich hin und riß das Lenkrad nach rechts herum. Der schwere Wagen schlitterte über die Straße, und seine Rücklichter verschwanden in der Curzon Street. Vor einem ihm entgegenkommenden Auto lenkte Neal Mottram scharf hinüber in die South Adley Street. Er überlegte, wer wohl die beiden Männer gewesen sein mochten und woher sie wissen konnten, daß etwas nicht stimmte. Sie waren zu weit weg gewesen, um die erstickten Schreie des Mädchens zu hören; und er bezweifelte, daß sie Zeit gehabt hatten, den Lieferwagen oder die Nummer zu erkennen, ganz abgesehen davon, daß sich die Entfernung nun ständig vergrößerte. Er brauste in nördlicher Richtung und überlegte, was er tun sollte. Er konnte das Mädchen irgendwo hinauswerfen und dann nach Hause fahren; aber sie hatte ihn gesehen, und die Möglichkeit, daß sie ihn wiedererkannte, war groß. Andererseits war es unwahrscheinlich, daß die Männer viel gesehen hatten, und bis sie etwas bei der Polizei gemeldet hatten, konnte das Mädchen längst tot sein und das Haus in der Wigmore Street ein flammendes Inferno, das keine Geheimnisse mehr verriet. Vielleicht würde man, lange nachdem das Haus nur mehr eine qualmende Ruine war, die verkohlten Gebeine von jemandem finden, der im Haus gewe-
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sen war, aber man würde vermutlich annehmen, daß es die seinen seien. Er dachte an die beiden Benzinkannen, die bereits im Keller neben der schweigenden, störrischen Statue standen, die nun bald von den alles verzehrenden Flammen vernichtet würde. Er wußte, daß er es jetzt tun mußte, solange noch der Zorn in ihm brannte und bevor er wieder zurückglitt in die Verwirrung und die Zweifel, die ihn so lange beherrscht hatten. Vor ihm erschienen die hellen Lichter der Oxford Street. Er hatte noch immer keinen Entschluß gefaßt, aber als die Ampeln auf Grün wechselten, wußte er, daß das Glück auf seiner Seite war und bleiben würde, bis er endlich frei war, für immer frei. Hinter ihm rief John Kerr heftig in seinen Sender, um das dröhnende Motorengeräusch zu übertönen, und sah sich nach seinem Kollegen um, der eine der Seitenstraßen hinuntergerast war. »... Ein Bedford Dormobile, Farbe hellbraun oder hellgrau, das rechte Bremslicht ist defekt. Ich konnte die Nummer nicht erkennen, aber sie fing mit XV an. Fährt nördlich auf Oxford Street zu. Um Himmels willen, beeilt euch!« Er schaltete auf Empfang und hörte den Alarmruf, der jetzt an alle Polizeiwagen und alle Beamten in diesem Gebiet erging. Superintendent Bellamy kratzte gerade ein Stück verbrannten Toast ab, als er das Telefon läuten 186
hörte. Es war einer der wenigen Abende, an dem es ihm gelungen war, vor Mitternacht zu Hause zu sein. Er fluchte leise, als er in die Diele ging. Seine Frau rief irgend etwas aus dem Schlafzimmer, was er aber wegen des Läutens nicht verstehen konnte. »Hallo!« brummte er, als er nach dem Hörer griff, doch dann veränderte sich der Ausdruck seines Gesichts. »In Ordnung!« Trotz seines inneren Aufruhrs gelang es ihm, ruhig zu bleiben. »Veranlassen Sie, daß sich jeder Streifenwagen an der Suche beteiligt. Setzen Sie sich mit der Zulassungsstelle in Verbindung, und wenn Sie die Burschen aus dem Bett holen müssen. Und sagen Sie allen unseren Leuten, die nicht direkt betroffen sind, sie sollen ihren Sender auf Empfang stellen und horchen. Es könnte sein, daß das Mädchen versucht, eine Nachricht durchzugeben. Und bleiben Sie ruhig, ich komme sofort.« Schon wollte er den Hörer auflegen, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. »Hallo!« brüllte er. »Haben Sie gesagt, ein Bedford Dormobile? Hellbraun oder grau?« Als der Beamte diese Frage bestätigte, überlegte Bellamy eine Sekunde mit gerunzelter Stirne. »Gut«, sagte er dann. »Ich möchte, daß Sie folgendes veranlassen: Schicken Sie einen Mann in die Wigmore Street zu diesem Mottram. Keinen Wagen benutzen. Schicken Sie einen Mann zu Fuß hin und geben Sie ihm Spezialschlüssel mit. Neben 187
dem Laden ist ein Tor, dahinter stellt Mottram seinen Lieferwagen ab. Sagen Sie ihm, er solle das Tor öffnen und kontrollieren, ob der Motor warm ist. Sonst nichts. Verstanden? Sagen Sie dem Mann, er soll sich ganz ruhig verhalten; und falls Mottram ihn festhalten will, soll er sich irgendwie herausreden. Aber jetzt noch nichts anderes unternehmen.« »Aber wenn er sie erwischt hat, Sir?« »Sie ist ein großes Mädchen, verdammt noch mal!« fauchte Bellamy zurück. »Sie kann schon eine Zeitlang auf sich selber aufpassen. Und halten Sie mich auf dem laufenden. Ich gehe jetzt los.« Er pfefferte den Hörer auf die Gabel, griff nach seiner Jacke und raste in die Garage. Seit dem Zwischenfall waren acht Minuten vergangen; und dieses Mal hatte er das Gefühl, daß sie ihren Mann erwischt hatten. Und wenn er recht behielt, dann war es der Mann, der während der ganzen Zeit der Hauptverdächtige war. Dieser Mann besaß einen hellbraunen Bedford Dormobile. Als er ankam, hatten sich bereits vier Streifenwagen und drei Fußpatrouillen in nächster Entfernung von Neal Mottrams Laden versammelt. Bellamys Ahnung hatte sich bestätigt, gerade als er in die Einfahrt von Scotland Yard biegen wollte; und er war umgekehrt und sofort hierhergerast. Ein Sergeant schien inzwischen die Leitung übernommen zu haben und gab den Beamten Anweisungen.
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Bellamy trat hinzu und hörte schweigend zu, wie den Männern der Auftrag erteilt wurde, das Haus von jeder nur möglichen Seite zu umstellen. »Wir müssen uns beeilen, Sir«, sagte der Sergeant, als Bellamy zustimmend nickte. »Er hat sie dort drinnen, und er wird sie umbringen, so sicher wie wir hier draußen stehen. Wir müssen das Haus stürmen.« Einen Augenblick überlegte Bellamy. »Ich weiß nicht«, sagte er dann ruhig. »Der Mann ist verrückt, und niemand kann sagen, was er tun wird. Und die Schwierigkeit ist, er ist kein Schwachsinniger, der in Wut geraten ist. Er ist schlau, und er hat seine fünf Sinne beisammen. Wenn wir das Haus stürmen, besteht die Möglichkeit, daß wir entweder zu spät dran sind oder daß es zu spät ist, wenn wir endlich drinnen sind. Ich möchte ihn und natürlich das Mädchen lebend haben. Die Leute sollen sich jetzt alle in ihre Stellungen begeben, alle außer dem einen, der die Schlüssel hat. Sagen Sie den Leuten, sie sollen sich nicht rühren, bevor es losgeht.« Der Sergeant ging zu der Gruppe von Männern, die sich entfernte. Nur einer blieb stehen. Bellamy wandte sich ihm zu. »Haben Sie die Schlüssel?« Der Mann zog einen Ring mit komplizierten, verstellbaren Schlüsseln hervor. »Sie werden uns bei der Ladentür nichts helfen, Sir«, erklärte er dem Superintendenten. »Die hat 189
sowohl ein Sicherheits- als auch ein normales Schloß. Außerdem glaube ich, daß die Tür noch von innen verriegelt ist. Aber es gibt eine Hintertür, die auf den Hof führt.« Bellamy nickte. »Stimmt! Und Sie kommen mit, mein Sohn, und Sie auch, Sergeant. Wir geben unseren Leuten noch fünf Minuten, um in Stellung zu gehen. Haben Sie Licht im Haus gesehen?« »Nur im Keller, Sir, aber man kann nichts erkennen, die Fenster sind von innen mit Läden versehen.« »Dann muß er dort unten sein«, überlegte Bellamy. »Es gibt eine Tür, fast neben dem hinteren Eingang, die hinunterführt. Von dort werden wir kommen. Sie beide bleiben bei mir. Der Mann wird vermutlich in Panik geraten, wenn er uns sieht. Ich möchte, daß Sie sich mit ihm befassen, während ich versuche, das Mädchen zu finden. Was auch immer geschieht, wir müssen verhindern, daß er an sie heran kann. Haben Sie verstanden?« Die beiden Männer nickten schweigend. Bellamy sah auf die Uhr und griff nach seinen Zigaretten. Nachdem er eine zur Hälfte geraucht hatte, trat er sie auf dem Pflaster aus und richtete sich auf. »Jetzt ist’s soweit!« sagte er. »Los !« Angela Cowper schwebte auf dicken weichen Wolken, die ihr von Zeit zu Zeit einen Blick auf immer wieder veränderte Bilder freigaben. Sie fühlte 190
Übelkeit; und plötzlich öffneten sich die Wolken und enthüllten ein Gesicht, das auf sie herabstarrte. Zuerst dachte sie, es sei das Gesicht von Superintendent Bellamy, der sie, ohne einen Laut von sich zu geben, warnte; aber dann veränderte sich das Gesicht allmählich und verschwamm zu großen, alles beherrschenden Augen hinter glänzenden Brillengläsern. Sie versuchte sich zu bewegen und sich vor dem fremden Gesicht zu verkriechen, aber es war, als sei sie gelähmt. Die Lippen in dem fremden Gesicht bewegten sich, und Laute drangen hervor, aber sie standen in keiner Verbindung zu den Bewegungen des Mundes. Es war, als erlebte sie einen seltsamen bösen Traum. »... und du siehst, daß er mir gar keine andere Möglichkeit gelassen hat«, drang die beziehungslose Stimme zu ihr. »Er hat mich von Anfang an irregeführt mit seinem Versprechen von dem Blutbündnis. Er hat versucht, mich durch die Opfer, die er verlangt hat, zu seinem Sklaven zu machen; und jetzt hat er mich fallenlassen. Und deswegen mußt du sterben. Nicht als ein weiteres Opfer für ihn, sondern als ein Opfer für mich – für mich, die herrschende Kraft. Durch dieses Opfer werde ich beweisen, daß ich frei bin, daß ich durch nichts mehr an ihn gebunden bin.« Angela Cowper hörte die Stimme und die Worte, die an ihrem Ohr vorbeizogen, ohne daß sie sie verstand oder ihren Sinn begriffen hätte. Alles, was sie sehen konnte, waren die vergrößerten Augen 191
hinter den Gläsern, die auf sie herunterstarrten. Sie fühlte sich hineingezogen in die Augen dieses fremden Gesichtes, empfand ein fast unheimliches Verständnis für die Gedanken, die diese Augen ausdrückten. »Es wird nicht schmerzen, und es wird schnell vorüber sein. So wie du vernichtet wirst, wird auch er vernichtet und auch die Macht, die er über mich hatte. Wenn du sprechen könntest, würdest du mir sagen, daß du es verstehst und daß du mir verzeihst.« Die Wolken schlossen sich wieder. Sie wollte sie wieder trennen, sie durchdringen auf der Suche nach der Wahrheit, die in den Augen lag. Aber sie konnte sich nicht bewegen, und als die Wolken sich nach einiger Zeit wieder teilten, war es ein anderes Gesicht. Ein dunkler, furchteinflößender Anblick bot sich ihr, brennende gelbe Katzenaugen, ein klaffender hohler Mund, der von blutrotem Speichel glänzte. Ein böses Gesicht, das sie voll teuflischer Ungeheuerlichkeit boshaft angrinste. Und für eine Sekunde durchzuckte sie ein Strahl des Verstehens, eine kurze Sekunde lang versuchte sie sich zu befreien aus der Schwere, die sie gelähmt und hilflos gefangenhielt. Aber es war nur eine kurze Sekunde. Wieder fühlte sie sich von den Wolken hochgenommen, badete in der Wärme einer dunkelroten Sonne, die aber doch nicht die eisige Kälte in ihr durchdringen konnte. Die Wolken verdunkelten sich, und die Sonne wur192
de zuerst schwarz und verwandelte sich dann in einen schleimigen Sumpf. Und irgendwo tief drinnen wußte sie, daß es keine Wolken, keine Sonne und keinen Sumpf gab. Nur das böse dunkle Gesicht und das fremde weiße Gesicht waren da und das sprudelnde Blut, das aus der Wunde in ihrem Hals strömte und das ihr außer der fröstelnden Kälte in ihrem Inneren keine Schmerzen bereitete. Fast in Hörweite ihrer flachen, mühseligen Atemzüge sah Superintendent Bellamy ungeduldig dem Polizisten zu, der wie besessen daran arbeitete, mit den verstellbaren Schlüsseln die Hintertür zu öffnen. Es war zu spät, als der dunkle Schatten an der Tür neben ihnen auftauchte. Als Bellamy den Polizisten zur Seite und aus dem Blickfeld von Neal Mottram riß, dessen Blick auf sie gerichtet war, war ihm klar, daß sie entdeckt waren. Für den Bruchteil einer Sekunde stand Neal Mottram wie erstarrt, wie ein Hirsch, der durch das Knacken eines Astes vor dem Jäger gewarnt wird. Dann drehte er sich um und war verschwunden. Superintendent Bellamy warf sich gegen die Türfüllung, das Schrillen der Alarmpfeife des Sergeants gellte in seinen Ohren. Er prallte zurück, als der Polizeiknüppel des Sergeants das Glas der Tür zerschmetterte. Durch das gähnende Loch griff er hinein und fand den Schlüssel auf der Innenseite.
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»Lassen Sie den Keller bewachen!« rief er einem jungen Polizisten zu, als er ins Haus raste und nach dem Gang suchte, der hinaufführte. Von draußen konnte er die Schritte der Männer hören, die sich näherten und keinen Fluchtweg offenließen. Er erreichte einen kleinen Treppenabsatz und stieß eine Tür auf. Dahinter lag ein verlassenes Wohnzimmer, das jetzt leer war. Er hörte aufgeregte Schreie von rechts, von der Hausseite, die an den kleinen Hof grenzte. Als er sich umdrehte, sah er die breiten Schultern des Sergeanten hinter der Küchentür verschwinden und rannte ihm nach. Die Schreie wurden jetzt lauter. Der Sergeant lehnte aus dem offenen Küchenfenster, seine linke Faust war um den Knüppel geballt, und er versuchte, irgend etwas zu erreichen. »Die Feuerleiter«, konnte Bellamy jetzt verstehen. »Er klettert aufs Dach!« Er verfluchte sich für diesen Fehler, der Mottram einen Fluchtweg offengelassen hatte. Als sich der Sergeant vom Fensterbrett schwang, und nach einem festen Stand auf der Feuerleiter suchte, dachte er an die Polizistin im Keller, aber er hatte jetzt keine Zeit für sie. Er stürzte zum Fenster, wo der dunkle Schatten des Sergeanten über ihm hing. Alle umliegenden Fenster waren geöffnet, und Lichter begannen aufzuleuchten. »Haltet euch in seiner Nähe, Männer!« rief er den hastenden Gestalten unten zu. »Ein paar Mann 194
hinter dem Sergeanten her! Er wird Hilfe brauchen!« Er dachte an die schwache Möglichkeit, daß es Mottram noch gelingen mochte, seine Verfolger im Schutze der Dunkelheit abzuschütteln. Dumpf hallten seine Absätze auf der Treppe, als er hinunterraste. Drei weitere Streifenwagen waren angekommen. Bellamy eilte auf die Mitte der Straße und winkte sie heran. Als sie mit quietschenden Bremsen hielten, beorderte er sie zu wichtigen Punkten und gab Anordnung, daß die Scheinwerfer auf das Dach gerichtet werden sollten. Über sich konnte er das Trampeln und die Stimmen seiner Männer und der Zuschauer hören. Er trat auf die andere Seite der Straße und strengte seine Augen an, um in der Dunkelheit unter dem Himmel eine Bewegung zu erkennen. Nach ein paar Minuten sah er die Gestalt. Sie hatte die hohe Brandmauer des angrenzenden Hauses erklommen, das ein Stockwerk höher war. Mottram bewegte sich schnell über das flache Dach, er lief geduckt, um nicht deutlich gesehen zu werden. Ein weiterer Streifenwagen kam mit quietschenden Bremsen an. Bellamy wies die Insassen an, zu einem Haus weiter unten an der Straße zu fahren und von dort auf das Dach zu steigen, um Mottram den Weg abzuschneiden. Ein paar Sekunden lang hatte er den fliehenden Mann aus den Augen verloren. Mottram hatte inzwischen drei Häuser über195
quert und balancierte nun auf dem First eines sehr steilen Daches entlang. Er schwenkte wie wild seine Arme, um das Gleichgewicht zu halten. Irgend jemand warf etwas nach ihm. Es schlug krachend auf den Ziegeln auf. Mottram eilte weiter. Weiter hinten sah Bellamy die kräftige Gestalt des Sergeanten, der noch von einem zweiten Mann begleitet wurde, wie sie sich vorsichtig über die Dächer vorarbeitete. Die Scheinwerferstrahlen der Autos begannen über die Dächer zu gleiten. Bellamy lief den Bürgersteig entlang, die Augen immer auf die Gestalt auf dem Dach gerichtet. Ein Lichtstrahl fing Mottram ein und blieb auf seinem Gesicht stehen. Mottram hob einen Arm, um seine Augen gegen die Grelle des Lichtes zu schützen. »Kommen Sie runter, Mottram!« brüllte Bellamy. »Geben Sie auf, Mann! Sie haben keine Chance. Die ganze Gegend ist umstellt!« Mottram gab keine Antwort. Er stolperte weiter, von dem Licht geblendet. Ein zweiter Scheinwerfer erwischte ihn. Doch Mottram kämpfte sich weiter, einen Arm hoch erhoben, sein Gesicht vom Licht abgewandt. »Richtet die verdammten Scheinwerfer tiefer!« rief Bellamy. »Richtet sie auf seinen Körper!« Mottram hatte das Ende des Daches erreicht. Das nächste Haus war etwas niedriger und mit einer Brüstung versehen, die ihm Schutz vor dem Licht bieten würde. 196
Einer der Scheinwerfer glitt tiefer, als Mottram in Richtung auf den Dachfirst unter ihm sprang. Bellamy sah, wie sein Körper zur Seite kippte, sah, wie weiße Hände verzweifelt nach einem Halt auf den glatten Ziegeln suchten. Langsam glitt die Hand aus dem Lichtstrahl, rutschte schneller auf die Dachkante zu -schneller, als der Scheinwerfer ihr folgen konnte. Er sah den dunklen Schatten, der weit auf die Straße hinausgeschleudert wurde, hörte den gellenden Schrei und begann zu rennen. Mottrams Körper traf das Dach eines geparkten Autos mit der Wucht eines Kanonenschusses, schlug auf der Kühlerhaube auf und wurde mit einem dumpfen Knall auf die Straße geworfen. Plötzlich lag die Straße wie ausgestorben da. Bellamy hörte nur das Geräusch seiner eigenen Schritte, als er auf die formlose Masse in der Straßenmitte zulief. Dann war Bewegung um ihn, und Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Bellamy erreichte Mottram als erster. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, sein Gesicht war dem schwarzen Nachthimmel zugewandt. Dickes, dunkles Blut rann aus einem formlosen Mund und einem Gesicht, das durch die Wucht des Aufpralls entstellt worden war. Und doch war die schrecklich verstümmelte Gestalt, die einmal Neal Mottram gewesen war, nicht tot, sie hing noch mit den paar Atemzügen, die in tiefem, ächzendem Keuchen kamen, hing noch mit den paar Herzschlägen, die unter schrecklichen Schmerzen das 197
Blut durch die zerfetzten Arterien pumpten, am Leben. Superintendent Bellamy zwang sich, die Augen vom Todeskampf des Mannes abzuwenden, von dem er immer gewußt hatte, daß er ihn eines Tages mit den nötigen Beweisen einen Mörder nennen würde. Seine Augen suchten das Gesicht des jungen Polizeibeamten, der in jener Nacht bei ihm gewesen war, als er Mottram fast erwischt hatte, damals, als er vorgegeben hatte, ein Bad zu nehmen. Aber es leuchtete kein Triumph in Bellamys Augen, nur Mitleid stand darin und die Erkenntnis, daß er am Ende doch verloren hatte, selbst wenn er recht gehabt hatte. Denn er würde nie eine Antwort hören, keine Erklärung bekommen für die Verzweiflung, die Neal Mottram gezwungen hatte, zu töten. »Holt eine Ambulanz«, sagte er niedergeschlagen und drehte sich um. Müde und bar jeder Energie kehrte er zu dem Haus zurück und bemerkte kaum den Trubel um sich herum. Lichtkegel blendeten ihn, als die ersten Reporter auftauchten, die jetzt entweder ihre Theorien erhärtet sehen oder sich für falsche, mit denen sie seit Wochen spekuliert hatten, entschuldigen wollten. Er erreichte die Tür zum Keller, die von einem Polizisten bewacht wurde. Das grelle Licht hinter der Tür ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Superintendent Bellamy stand auf der obersten Stufe und sah hinunter auf das Bild, das sich ihm 198
bot, auf die düstere Statue, die den ganzen Raum zu füllen schien. Er witterte den dicken, süßen Geruch des Bösen in seinen Nüstern, sah die beiden Benzinkannen, die dunklen Flecken auf dem Boden, die drohenden Spitzen des Dreizacks mit ihren glänzenden Kupferhülsen. Mit einem langen Blick verstand er alles, spürte die vernichtende Atmosphäre, die den Raum erfüllte und die ein schwaches Gemüt und eine herausfordernde Seele vergiften konnte. Einen Augenblick lang sah auch er flackernde Kerzen und einen glänzenden dunklen Körper, der in Ekstase vorüberwirbelte. Seine Augen wanderten weiter zu dem gebückten breiten Rücken des Polizeiarztes, der sich über die Gestalt eines Mädchens im Minirock neigte und sie dadurch seinen Blicken entzog. »Wie geht es der Polizistin Cowper, Doc?« fragte er müde und wußte schon beinahe die Antwort. Der breite Rücken wandte sich um, das aschfahle Gesicht starrte ihn an, und er sah die häßliche Wunde in der weißen, fast durchsichtigen Haut. »Sie ist tot, Sir«, flüsterte der junge Polizeibeamte, der danebenstand. »Sie ist tot, Gott gebe ihrer Seele Frieden.« Superintendent Bellamy wandte sich ab und trat in den Lärm und die Aufregung hinaus. Leise schloß er die Tür hinter sich. ENDE
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