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Kenneth
Oppel
Das Werk des Teufels
Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14 ...
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Kenneth
Oppel
Das Werk des Teufels
Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14 929 1.+2. Auflage: Juli 2003
Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe
Deutsche Erstveröffentlichung Titel der englischen Originalausgabe: THE DEVIL'S CURE © 2000 by Kenneth Oppel Published by Arrangement with Firewing Produktions, Inc. © für die deutschsprachige Ausgabe 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz Titelbild: Getty Images Stone Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 3-404-14929-7 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de 4
Für Philippa
Die Übersetzerin bedankt sich herzlich bei Herrn Dr. Klaus Dietz aus Waldkirchen für die Überprüfung der medizinischen Fachbegriffe. 5
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Danksagungen Mein Dank geht an Dr. Andrew Moore, Dr. Lloyd Oppel, Jake McDonald, Assistant Crown Prosecutor Arun Maini und Special Agent Ross Rice vom Chicagoer Büro des Federal Bureau of Investigation, die mir mit ihrem Fachwissen halfen und meine Fragen über sich ergehen ließen. Außerdem bin ich Freunden zu Dank verpflichtet, die frühe Fassungen dieses Romans gelesen und mir Anregungen gegeben haben: Danielle Bochove, Chris Torbay, Carol Toller, Elke Mami und Cristina Campbell. Richard Shepherd half mir von Anfang an, aus einer Idee dieses Buch zu formen, und Al Zuckerman hat mich in den zwei Jahren, als der Roman entstand, geduldig und nachsichtig angeleitet. Den größten Dank schulde ich meiner Frau, Philippa Sheppard, die sich nimmermüde meine Tiraden anhörte, zahllose Entwürfe las und immer wieder brillante Vorschläge machte.
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»Den Besten fehlt jede Überzeugung, während die Schlimmsten voll von leidenschaftlicher Intensität sind.«
The Second Coming«, W B. Yeats
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Frank Hayworth lag im Sterben. Ausgemergelt lag er im Quarantänezimmer der Krankenstation des Gefängnisses. Er hatte sich geweigert, Medikamente zu nehmen; sogar die Morphiumtabletten hatte er abgelehnt, die den Schmerz in seiner Lunge betäuben würden, die sich immer mehr mit Flüssigkeit füllte. Franks Blicke schweiften müde von den kahlen Wänden zur Decke des Krankenzimmers, das nicht viel größer und ebenso eintönig war wie seine alte Zelle. Ungezählte Stunden hatte er den rissigen Verputz betrachtet, der ihm wie seine ganz persönliche Landkarte schien, die seinen langen Leidensweg wiedergab. Er hustete. Der Schmerz war so fürchterlich, dass ihm für Sekunden schwarz vor Augen wurde. Mittlerweile bereitete alles ihm Qualen: das Atmen, das Schlucken, selbst einen Finger zu krümmen. Doch irgendwie war es ihm gelungen, des Schmerzes Herr zu werden, indem er ihn gleichsam in die Außenwelt verbannt hatte, wie das abstumpfende, unaufhörliche Gerassel der Klimaanlage, die ohnehin kein bisschen Linderung brachte; die Bettwäsche klebte schweißdurchtränkt an Franks ausgemergeltem Körper, der einst so kräftig und muskulös gewesen war. Jetzt erschienen ihm seine Arme wie dürre, knorrige Äste. Auf dem Nachttisch neben Franks Bett standen ein hoher Plastikkrug mit einem Trinkhalm und ein 9
Pappbecher; daneben lagen zwei Schmerztabletten falls er es sich doch anders überlegte. Aber das würde er nicht. Oh, sie hatte viel für ihn
tun wollen, aber das alles war Teufelswerk: Sie versuchten, mit Nadeln und Kanülen in seinen Körper einzudringen und ihn Pillen schlucken zu lassen; sie hatten ihm sogar einen Katheter in den Schwanz stecken wollen, weil er nicht mehr pinkeln konnte. Auch das hatte er nicht erlaubt. Er brauchte nichts von alledem. Er würde rein sein im Tod. Zumindest dafür würde er sorgen. Gott segne David, dass er ihm den richtigen Weg gewiesen hatte. Seit die Ärzte Frank vor zwei Monaten von seiner Krankheit unterrichtet hatten, umgab ihn dieses winzige Zimmer wie ein Kokon. Er hatte Tuberkulose; eine besonders heimtückische und ansteckende Art. »Wäre auch ein Wunder gewesen, hätte ich die nicht auch noch bekommen«, hatte Frank gesagt, »wo ich fast alles andere schon habe.« Man hatte ihm erklärt, dass seine Aids-Erkrankung schuld daran sei; sie schwäche sein Immunsystem und ließe Bakterien und Viren nahezu ungehindert in seine Körperzellen. Kein Krankenhaus hatte ihn aufnehmen wollen. Er war ja bloß ein verurteilter Schwerverbrecher, der in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartete und sich seit acht Monaten vehement jeglicher Behandlung seiner Aids-Erkrankung widersetzte. Was sollte man mit so einem Mann in einem Krankenhaus, wo er nur Erreger verbreitete? Ein Mann, der ohnehin sterben musste, ob auf diese oder jene Art? Frank liebte dieses winzige Zimmer. Hier war es ruhiger als in seiner Zelle, hier konnte er nachdenken. Dieser Raum nahm ihn vollkommen in sich auf, jeden Atemzug, jeden Gedanken, jedes Gebet. Er war froh, dass es hier kein Fenster gab, das ihn hätte ablenken können. Nur die Decke wollte Frank betrachten. Auf den Wegen und Wasserläufen, die er dort in seiner Fantasie erblickte, 10
war er zurück in seine Kindheit gereist - durch alle schlimmen Tage, die er erlebt, und alle schlimmen Dinge, die er begangen hatte. Er hatte alles mit unglaublicher Klarheit gesehen, sogar die Heroinspritze, mit der er sich in einem zerschlissenen Bett in einem schmutzigen Kellerloch in Cabrini Green die todbringende Seuche geimpft hatte: Aids. Auch die beiden Männer waren ihm erschienen, die er bei dem Raubüberfall getötet hatte, und er hatte seine Gerichtsverhandlung und die Verurteilung noch einmal erlebt, und sämtliche Jahre hinter Gittern. Und er erinnerte sich, wie er David Haines kennen gelernt hatte, den Mann, der ihm sein Leben zurückgab ... David besuchte ihn zweimal die Woche in der Quarantänestation und opferte dafür seine tägliche Stunde Ausgang auf dem Hof. Nie zuvor war jemand Franks Vorstellung von Jesus so nahe gekommen. Frank saß bereits sechs Jahre im Todestrakt, als David eingeliefert und drei Zellen weiter untergebracht wurde. Er war ein außergewöhnlicher Mann, der sein Essen und alles, was er in der Gefängniskantine erstand, mit anderen teilte, wenn er darum gebeten wurde, und niemals erwartete er eine Gegenleistung. Frank hatte gesehen, wie David draußen im Hof gewalttätige Auseinandersetzungen schlichtete, wobei er selbst Wunden davontrug. Und dann seine vielen Besuche in der Quarantänestation - David hatte nicht einmal Angst davor, sich anzustecken. Warum sollte er auch? Er war ein Engel. Nicht so, wie sie in Kinderbüchern abgebildet waren, mit Flügeln und goldenem Haar, voll Demut und Mitleid. Nein, David war ein Engel mit Flammenschwert, zornig und unerbittlich, der sich mit Gewalt durchsetzte und dessen Augen einem durch Herz und Seele brannten. Mit dem, was David predigte, hatte Frank anfangs nicht viel anzufangen gewusst, und so hatte er ihn wütend angefahren, er solle endlich das Maul halten. Dann aber erkannte er, dass David keinen solchen Unsinn von sich gab wie die meisten anderen Todeskandidaten. David sprach bedächtig und ruhig 11
und versuchte nie, seine Stimme über die der anderen zu erheben. Und was er sagte, war so vernünftig, so klug. Nach einiger Zeit hatte Frank ihm zugehört und erkannt, wie einleuchtend Davids Worte waren. Sie weckten bei Frank den Wunsch, alles richtig zu machen. Als Erstes hatte er seine Medikamente abgesetzt und mit dem Beten angefangen. Das war vor acht Monaten gewesen. David hatte Recht: Seine Krankheit war die Strafe Gottes für sein sündhaftes Leben. Er hatte schlimme Dinge getan, für die er nun leiden musste. Falls er Medikamente nahm, die seine Schmerzen linderten oder ihn gar heilen konnten, kam das dem Versuch gleich, Gottes Pläne zu vereiteln. Arzneien, Heilmittel, Operationen - sie waren ein Nein zu Gott und seinen Ratschlüssen. So wie die Sünde. Wenn Gott ihn, Frank Hayworth, heilen wollte, würde er ihn heilen. Frank konnte lediglich um Barmherzigkeit beten, auch wenn Gott sie ihm vielleicht nicht gewährte; das hatte David von Anfang an gesagt. Aber deshalb durfte er noch lange nicht aufgeben. Wieder hustete Frank, spuckte noch mehr blutigen Speichel. Er erkannte, dass er nicht mehr lange hier sein würde. Man hatte ihm die Kissen aufgeschüttelt und damit den Rücken gestützt, um ihm das Atmen zu erleichtern. Seine Lippen waren blau, sein Gesicht grau und eingefallen. Mit der Linken tastete er auf der Matratze nach dem Klingelknopf und drückte ihn. Kurze Zeit später blickte die Schwester durchs Fenster, ehe sie gleich darauf ins Zimmer trat, eine Schutzmaske vor dem Gesicht. »Alles in Ordnung?« Franks Zunge scharrte über den Gaumen. Es war lange her, seit er das letzte Mal etwas gesagt hatte. »David«, presste er hervor. Als er den Namen aussprach, fuhr der Schmerz wie ein glühendes Messer durch seinen gepeinigten Körper. »David Haines«, krächzte er. 12
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte die Schwester und ging. Frank starrte wieder zur Decke und betete stumm. Jetzt dauerte es nicht mehr lange. Er lächelte. Er würde dem elektrischen Stuhl zuvorkommen. Im Lärm von Zellenblock B schrieb David Haines einen Brief. Doch er hörte nichts als das scheinbar weit entfernte Pochen seines Herzens, denn seine selbst fabrizierten Ohrenstöpsel verschafften ihm die erforderliche Ruhe. Er hatte sie aus den Sohlen seiner Duschslipper geschnitten - der hier übliche Trick, sich das nervtötende schleifende Geräusch der fernbedienten Tore, der viel zu laut gestellten Fernseher und das infernalische Gebrüll der Todeskandidaten zu ersparen. Den Geruchssinn auszuschalten, war weniger einfach, doch David hatte sich beinahe schon an den Mief von schmutziger Wäsche, Männerschweiß und den Gestank nicht abgespülter Toiletten gewöhnt. Mit dem Rücken zur Wand saß er auf der Kante seiner Pritsche und blickte von seinem Brief auf. Seit drei Jahren war diese knapp zwei mal drei Meter große, fensterlose Betonzelle dreiundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr sein Zuhause. Im Winter war es beißend kalt; doch jetzt, im Hochsommer, war die Zelle aufgrund der Hitzewelle, die das dreißig Meilen nördlich gelegene Chicago schier erstickte, ein Vorgeschmack auf die Hölle, zumal das Staatsgefängnis Illinois auf der Ebene vor Joliet kauerte, der grauen Industriestadt am Des Plaines River, sodass nicht einmal der Wind Linderung brachte, der vom Michigansee herüberwehte. Joliet, Chicago, der Michigansee - alles schien David so fern zu sein, so unbedeutend. Nicht einmal vom Gefängnisbau selbst konnte er sich eine genaue Vorstellung machen, so wenig sah er davon. Er wusste, dass es ein riesiges Gebäude war, eine gigantische moderne Zitadelle. Zehn Meter hohe Mauern umschlossen 260.000 Quadratmeter mit mehr als zweitausend 13
Häftlingen, von denen die meisten im Vergleich zu David eine geradezu luxuriöse Freiheit genossen. Für David gab es jeden Tag nur eine kurze Stunde, die entfernt an so etwas wie Freiheit erinnerte: den Ausgang auf dem Hof, in Ketten. Ansonsten gab es nur die Zelle. Nichts anderes. Sie war alles in einem: Schlafzimmer, Wohnzimmer, Esszimmer, Badezimmer. Hier würde er bis zum Ende seiner Tage bleiben. Die Hitze schien die Zelle zusammenzupressen, sie noch kleiner und beengter zu machen. Dabei bot sie so schon nicht ausreichend Platz für einen Mann von durchschnittlicher Größe. Für jemanden wie David, der über einsachtzig war und früher viel Sport getrieben hatte, war die Zelle noch grausamer. Und er war ein Mensch, der die Ordnung brauchte - in seiner Zelle wie in seinem Verstand -, und das war unter diesen Umständen ein kaum erreichbares Ziel. In der hinteren linken Ecke befand sich eine stählerne, deckellose Kombination aus Waschbecken und Toilette; rechts davon stand Davids stets ordentlich gemachtes Bett. Jeden dritten Tag wusch er sorgfältig seine Kleidung und hängte sie an die Leine, die vom Ventilator über seiner Pritsche zum Gitter an der gegenüberliegenden Seite der Zelle gespannt war. Der Fernseher, der aus einem Regal über dem Kopfende seines Bettes ragte, war meist ausgeschaltet; er sah selten fern. David zog es vor, die Langeweile, diesen Krebs des Gefängnislebens, mit Lesen zu bekämpfen. Manchmal fühlte er sich regelrecht gesegnet - er hatte Zeit, sich immer wieder in die Bibel zu vertiefen und die Zeitschriften gründlich zu studieren, die er abonniert hatte: Nature, Science und das New Englandjournal of Medicine. Er stapelte sie säuberlich an der linken Wand unter seinem Handtuchregal. David war froh, dass ihm das endlose Angebot erspart blieb, das die anderen Häftlinge in Anspruch nehmen mussten: die Töpferkurse, die Schauspieltruppe, das 14
Musizieren, das Softballspielen und die seichten Filme. Es war wie auf einer albtraumhaften Kreuzfahrt, bei der die lächelnde Schiffsbesatzung aus mehr als zweihundert stets schlecht gelaunten Wärtern bestand, die allzu rasch ihre Schlagstöcke benutzten. Nein, er las lieber. Meist gelang es ihm, seinen mönchsgleichen Luxus zu genießen. Draußen, in Freiheit, hatte er seine Arbeit so lange und so gut verrichtet, wie es ihm möglich gewesen war. Jetzt konnte er sich Gebeten und Meditationen widmen. Und seinen Briefen. Von Anfang an war er mit Briefen überschüttet worden, doch schon binnen weniger Monaten hatte er die Spreu vom Weizen getrennt. Es war nicht schwer zu erkennen, wer es unehrlich meinte oder der Mühe nicht wert war - Halbwüchsige, die ihm einen Streich spielen wollten, oder Einsame, die Ablenkung suchten, oder Geistesgestörte, die sich von jeglicher Art der Gewalttätigkeit lustvolle Erregung versprachen. Mit solchen Leuten wollte David nichts zu tun haben. Sie stimmten ihn traurig, ekelten ihn manchmal regelrecht an. Doch gab es auch Menschen, bei denen er Andacht empfand, Inbrunst, einen heiligen Hunger. Einige hatten sogar göttliche Wahrheit gekostet und ersehnten Rat und geistige Führung. David hatte das Bedürfnis, ihnen beides zu geben, so wie er auch seinen Mitgefangenen Gottes Lehre verkündet hatte und jedem, der gewillt war, ihm zuzuhören. Nach und nach war David mit fünf anderen Menschen, die über den Kontinent verstreut lebten, in ständige Verbindung getreten. Im Lauf des vergangenen Monats hatte er ihnen fast täglich geschrieben. Sie hatten ihn von ihrer Hingabe überzeugt; nun war es an der Zeit, dass sie sich für ihren Glauben einsetzten und Davids heilige Arbeit aufnahmen. Er wusste, dass es schwierig für sie war, seinen Bitten nachzukommen, und so versuchte er, seine Jünger durch seine Briefe anzuleiten und sie zu ermutigen, ihre Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. 15
Ja, sie bedurften ständigen Zuredens und strenger Ermahnung. David betete, dass seine Bemühungen bald den gewünschten Erfolg brachten. Insbesondere in einen seiner Jünger in Detroit setzte er große Hoffnungen. David unterschrieb den Brief und faltete ihn. Sorgfältig fuhr er mit der Zunge über den Klebestreifen und drückte den Umschlag zu. Er genoss den Geschmack; er war für ihn zum Zeichen der Hoffnung geworden, ein Wunsch nach Normalität und Rechtschaffenheit inmitten dieser Mauern. Die Gefängnisvorschriften untersagten das Verschließen von Kuverts - Briefe mussten von den Zensoren gelesen werden, ehe sie abgeschickt wurden -, doch Davids Schreiben nahmen einen anderen Weg. Er adressierte den Brief aus dem Gedächtnis und steckte ihn zu den vier anderen in seine Bibel. »Dein Wille geschehe«, flüsterte er. »Haines.« Die Stimme erreichte ihn wie ein Wispern. David drehte sich um und fragte sich, wie lange Bob Jarvis bereits draußen vor dem Gitter gestanden hatte. Er zog die Stöpsel aus den Ohren. Jarvis war groß und drahtig; die Wärteruniform war ihm zu weit und hing ihm lose von den Schultern, und die Hose wurde von einem Gürtel gehalten und warf Falten. Doch sein Aussehen trog. Bob Jarvis verfügte über die elastische Schnellkraft einer Peitsche. Als David in Block B verlegt worden war, stand Jarvis in dem Ruf, einer der schlimmsten Wärter zu sein. Er war aufbrausend und benutzte gern seinen Schlagstock. Anfangs hatte er David einmal nur deshalb verprügelt, weil der sich angeblich zu viel Zeit unter der Dusche genommen hatte. »Frank stirbt. Er hat nach dir gefragt. Finlay hat gesagt, es ist okay, dass du nach ihm siehst.« David nickte und stand auf. »Darf ich meine Bibel mitnehmen?« »Nichts dagegen.« 16
David nahm sie und reichte sie durch eine waagrechte Luke
im Zellengitter. Durch diese Öffnung erhielt er seine sämtlichen Essensbehälter. Jetzt stellte er sich mit dem Rücken zur Luke und schob die Handgelenke hindurch, damit Jarvis ihm Handschellen anlegen konnte. Mit einem Summen wurde die Tür geöffnet, und David trat hinaus. »Da.« Jarvis reichte ihm die Bibel zurück. Zufrieden stellte David fest, dass sie die vier Kuverts nicht mehr verbarg. Sie waren bereits in einer von Jarvis' geräumigen Taschen verschwunden. Es hatte ihn überrascht, als Jarvis vor vielen Monaten vor seiner Zelle stehen geblieben war und ein Gespräch begonnen hatte. Anfangs war er ziemlich wortkarg gewesen, doch nun ließ David ihm geduldig Zeit. Es stellte sich heraus, dass Jarvis die Ärzte hasste; sie hatten Schuld am Tod seiner Mutter. Einen nach dem anderen hatte er konsultiert, und jeder hatte eine andere Diagnose gestellt. Nachdem man mit der Behandlung begonnen hatte, verschlechterte sich der Zustand von Jarvis' Mutter, bis sie unter großen Schmerzen starb. »Jetzt bin ich selbst krank«, hatte Jarvis gestanden. »Hab's am Herzen. Aber ich will verdammt sein, wenn ich mich diesen Quacksalbern ans Messer liefere.« David hatte Jarvis versprochen, für ihn zu beten, und riet ihm, es selbst mit Gebeten zu versuchen. Jarvis hatte irgendetwas vor sich hin gebrummelt, doch seine Besuche waren häufiger geworden, und gemeinsam hatten sie seine Heilung bewirkt: Brustschmerzen und die Übelkeit waren nicht wiedergekehrt. Seither war Jarvis einer von Davids Jüngern. Er hatte sich bereit erklärt, Davids Briefe heimlich abzuschicken, damit dieser sich offener ausdrücken könne, ohne die Zensur befürchten zu müssen. Jarvis hatte sogar ein Schließfach in Joliet gemietet, damit Davids Anhänger ihm ebenso frei heraus schreiben konnten. Ohne Jarvis 17
wäre Davids Seelsorge außerhalb der Gefängnismauern ein Traum geblieben. »Die Briefe gehen noch heute Abend raus«, flüsterte Jarvis ihm nun zu, als sie über den breiten Korridor gingen, an den benachbarten Zellen vorüber: Harper las in seinem unerschöpflichen Vorrat an Comics, Winslow masturbierte schamlos, während er sich eine Wiederholung von Brady Bunch anschaute, und Tucker weinte wie immer. David hatte versucht, auch diesen Männern zu helfen, doch ihre Herzen waren verhärtet. »Sie wollen dir Blut abnehmen«, sagte Jarvis angespannt. »Ich hab eine der Schwestern gehört. Sie glauben, du könntest dich bei Frank angesteckt haben.« Beinahe wäre David stehen geblieben. Er hatte es bisher über sich ergehen lassen, von den Anstaltsärzten auf ihre plumpe, derbe Weise untersucht zu werden, doch nie hatte er zugelassen, dass sie ihm Blut abnahmen. Sein Blut war sein Leben, die Matrix seiner unsterblichen Seele, und es seinem Körper zu entnehmen, war ein schreckliches Unrecht, mehr noch: Es war eine Entweihung, sein Blut wie eine gewöhnliche Flüssigkeit zu behandeln und es der myopischen Prüfung ihrer Geräte zu unterziehen. David ging weiter, kämpfte seine Erregung und den Zorn nieder. Er wollte Frank nicht im Stich lassen. Aber er würde den Ärzten niemals gestatten, ihm sein Blut zu rauben. Vor dem Quarantänezimmer blieb er stehen. Er sah, wie Frank nach Atem rang und wie sein Körper von den furchtbaren Schlägen des Schmerzes erschüttert wurde. Sein Gesicht war aufgedunsen und grau, seine Wange mit dem eigenen Blut befleckt. Durchs Beobachtungsfenster konnte David die Angst in Franks Augen erkennen, als Dr. Finlay und die Schwester ihn ruhig zu halten versuchten, während sie seinen Blutdruck maßen und ihm in die Augen leuchteten. Dr. Finlay blickte flüchtig zur Tür. »Kommen Sie schon rein«, knurrte er. »Aber ziehen Sie erst Masken über.« 18
David griff nach der Maske, die Jarvis ihm reichte, und zog sie sich gehorsam übers Gesicht. Er brauchte sie nicht, aber er wollte so schnell wie möglich zu Frank vorgelassen werden. Jarvis, der seine Maske bereits übergestreift hatte, öffnete die Tür und führte David ins Zimmer. »Frank.« Der Sterbende starrte David in seiner Angst verständnislos an, doch nach wenigen Augenblicken erkannte er ihn und nickte ihm zu. Sein Körper sank auf die Matratze zurück. Seine Lippen zuckten in einem schmerzvollen Lächeln. David spürte, wie seine Augen brannten. Das Leid, das Frank auf sich genommen hatte, war ein wahrhaftiges Zeichen seiner Hingabe und Reue. Gott hatte entschieden, diesen Mann nicht zu heilen. David akzeptierte Gottes Beschluss, der angesichts der sündenvollen Vergangenheit Franks gar nicht anders hatte ausfallen können. Doch er staunte über Franks Tapferkeit. Als Gesunder hätte er draußen viel erreichen und viel Gutes bewirken können. »Sie werden sterben, wenn wir Sie nicht behandeln«, sagte Finlay laut zu Frank. »Haben Sie verstanden? Möchten Sie, dass wir Sie behandeln?« David blickte Finlay voll Verachtung an. Ihn jetzt, in seiner größten Qual, in Versuchung zu führen! Hebe dich hinfort, Satan! Ein schwacher Laut drang aus Franks Kehle, während sein Kopf zur Seite zuckte. Nein! Er rang nach Luft und verdrehte die Augen, während er immer wieder kurzzeitig das Bewusstsein verlor. David nahm Franks Hand. Sie fühlte sich schwer und feucht an - wie etwas, das nicht zu ihm gehörte: Franks Seele würde in Kürze den Körper verlassen. »Das war eine richtige Entscheidung, Frank. Eine heilige Entscheidung.« Frank schien es nicht zu hören, doch Sekunden später murmelte er schleppend: »Ja ...«
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Seine Augen waren halb geschlossen, und sein Atem ging keuchend und unregelmäßig. David setzte sich neben Franks Bett, schlug seine Bibel auf und begann zu lesen. Als er aufblickte, schaute Frank ihn aus starren, leeren Augen an. David wusste, es war vorüber. Dr. Finlay drückte sein Stethoskop auf Franks Brust. »Sein Herz schlägt nicht mehr.« David klappte die Bibel zu. »Wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.« Er spürte Dr. Finlays Feindseligkeit, die ihm wie Hitze entgegenschlug. Als der Arzt keine Anstalten machte, strich David sanft die Hand über Franks Gesicht und schloss die Lider des Toten. »Ich muss Sie untersuchen«, sagte Finlay zu ihm. »Ich bin nicht krank.« Finlay nickte Jarvis zu, Haines aus dem Quarantänezimmer zu schaffen. »Sie haben viel Zeit mit Hayworth verbracht. Ich will nicht, dass Sie eine Krankheit in den Zellenblock einschleppen.« David sah drei weitere Wärter auf der anderen Seite der Krankenstation warten, und sein Herz schlug heftig. »Ich werde nicht mehr krank.« »Ach, wirklich?« David lächelte über die herablassende Art des Arztes. Er wusste, dass Finlay ihn hasste - und alles, woran er glaubte. Doch für David war Finley ein Niemand und keinerlei Beachtung wert. Ein drittklassiger Mediziner, der sein Handwerk mehr schlecht als recht in einem Knast ausübte, weil er in keinem Krankenhaus eine Anstellung gefunden hätte. Vor seiner Inhaftierung hatte David sich nur für die Allerbesten ihres Fachs interessiert, Forscher mit herausragenden Fähigkeiten und brillantem Verstand jene Männer und Frauen, deren Namen in den Fachzeitschriften zu finden waren, die er mit peinlicher Sorgfalt studierte. Finlay war bedeutungslos, ein Niemand. »Da hinauf, bitte sehr!«, sagte Finlay mit Nachdruck. 20
Jarvis an seiner Seite, setzte David sich auf die Kante des Untersuchungstisches. Finlay wusch sich die Hände. David beobachtete die drei Wärter an der Tür. Falls alle ihn festhielten, hatte er keine Chance, sich zu widersetzen. Finlay leuchtete ihm mit einem Ophtalmoskop in die Augen. »Kopf- oder Muskelschmerzen?« David schüttelte geduldig den Kopf. »Fieber? Nachtschweiß?« »Nein. Auch keinen Husten oder andere Anzeichen von Atembeschwerden. Ebenso wenig abdominale Unregelmäßigkeiten. Kein Gewichtsverlust oder Durchfall. Und keine geschwollenen Lymphknoten.« Finlay ignorierte ihn, hob Davids orangenfarbigen Anstaltskittel vorne hoch, drückte das Stethoskop auf die nackte Brust und horchte. »Tief einatmen ... anhalten. Ausatmen. Noch einmal tief einatmen ... anhalten. Ausatmen.« Er ging um Haines herum und drückte nun das Stethoskop auf seinen Kittel. »Stoff verursacht Verzerrungen, Doktor. Das lernt man beim Medizinstudium in den ersten Semestern.« Wieder beachtete Finlay ihn nicht. Er horchte; dann senkte er das Stethoskop. »Legen Sie sich bitte hin.« David schloss die Augen und ließ zu, dass Finlays kalte Hände seinen Bauch betasteten und sich dann mit den Lymphdrüsen im Leistenbereich und unter den Achseln befassten. »Sie scheinen gesund zu sein, aber ich brauche eine Blutprobe.« Ruhig entgegnete David: »Ich habe Ihre Untersuchung über mich ergehen lassen, aber Blut werden Sie mir nicht abnehmen. >Denn die Leibkraft des Fleisches ist 21
im Blutnicht besonders gut