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Klapptext: Alle tausend Jahre muss der Teufel erweisen, dass er zu Recht der Herr er Finsternis ist und noch immer e...
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Klapptext: Alle tausend Jahre muss der Teufel erweisen, dass er zu Recht der Herr er Finsternis ist und noch immer ein Mensch die sechs wichtigsten Fragen des Lebens beantworten kann. Dafür wird das Quiz des Teufels veranstaltet. Der Teufel selbst ist der Quizmaster. Und Quentin Fux, ein 13-jähriger Junge, ist der nächst Kandidat, der um die Macht in der Hölle spielt. Besser gesagt: spielen muss, denn kurz nachdem er von der Quiz erfahren hat, ist sein Vater spurlos verschwunden. In der Schlucht des Teufels. Quentin hat keine Wahl. Er muss sich dem Teufel stellen - koste es, was es wolle ... Dimitri Clou, 1959 in Aldenhoven geboren, studierte Philosophie, Germanistik und politische Wissenschaften und gründete nebenbei ein Taxiunternehmen. Nach Abschluss seines Studiums führte er ein Globetrotterdasein in einem Rallyesport-Team, das ihn um die ganze Erde führte. Das Team konnte den Weltmeistertitel erringen, trotzdem gab er sein Nomadenleben auf und gründete in Köln eine Kinderzeitschrift. 1992 wechselte er in die Fernsehbranche und arbeitete viele Jahre als Redakteur und Regisseur, Drehbuchautor und Producer fürs Fernsehen. Seit drei Jahren ist er mit einer eigenen Produktionsfirma selbstständig. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Nähe von Köln.
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Dimitri Clou
DAS QUIZ DES TEUFELS Mit Bildern von Daniela Chudzinski Thienemann
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Für Spiridon, meinen Vater
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Es ist schwer zu sagen, ob ich bereits etwas ahnte, als Zebul das Wartezimmer meines Zahnarztes betrat. Müde ließ er sich auf einem Stuhl gleich neben dem Fenster nieder. Von diesem Moment an klebte sein Blick an mir. Er schien nur darauf zu warten, dass die ältere Frau neben mir endlich ins Sprechzimmer gerufen wurde, damit er und ich alleine waren. Auch ich nahm ihn unter die Lupe. Das tückische Lächeln auf seinen Lippen war wohl ein böses Vorzeichen. Er steckte in einem roten Anzug, der so abgetragen war wie ein alter Scheuerlappen. Eine schwarze Rose baumelte in einem Knopfloch. Mir kam sie vor wie frisch gepflückt, obwohl sie einen fauligen Duft ausströmte. Einige Fliegen schwirrten wie kleine Trabanten um den Kopf Zebuls. Als die ältere Patientin ins Behandlungszimmer gerufen wurde, waren wir allein. Die Tür war noch keinen Herzschlag lang geschlossen, da sprach er mich an. »Wir wollen es kurz machen ...«, krächzte er und mir war sofort klar, dass er nicht zufällig hier war. »Du musst mir bei einem Problem behilflich sein!« »Ah, meinen Sie mich?«, fragte ich. »Klar. Meinst du, ich bin hier, weil ich einen Zahnarzt 5
brauche?« Er leckte sich mit der Zunge über seine gelbschwarzen Zahnstümpfe und röchelte ein Lachen. »Wer sind Sie?«, fragte ich. »Ich bin Zebul«, sagte er. »Der Talentsucher des Teufels. Ich habe dich jetzt eine Weile beobachtet und mich nach dir erkundigt. Tausend mal tausend Träume von Menschenkindern musste ich durchwühlen. Aber jetzt bin ich sicher, dass du der Richtige bist!« »Und was soll an mir so Besonderes sein?«, stotterte ich. Er musterte mich ungläubig, bevor er antwortete. »Na, komm, sei nicht so bescheiden. Du bist schon etwas ganz Besonderes. Das wirst du doch wohl wissen!« »Ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht. Ich bin ein stinknormaler Junge«, beteuerte ich. »Genau! Du hast es erfasst. Du bist ein stinknormaler Junge! Ein stinknormaler Menschenjunge. Aber ich weiß, dass du so schlau bist, dass es manchmal schon wehtut. Außerdem hast du keinen einzigen Freund, der für dich durchs Feuer gehen würde. Kurz und gut: optimale Voraussetzungen! Ich gratuliere!« Zebul war ein wenig außer Atem. Ich rätselte weiter. »Optimale Voraussetzungen -wofür denn?«, fragte ich. »Na, für das Quiz des Teufels natürlich!«, antwortete Zebul. Das Quiz des Teufels? Nie davon gehört. Ich bekam sofort ein ungutes Gefühl und beschloss Zebul hinzuhalten, bis ich unauffällig aus diesem merkwürdigen Traum verschwinden konnte. Zebul aber schien mich mit seinem Blick zu durchleuchten. Schließlich lachte er dreckig. »Raffiniert bist du also auch noch. Aber gib dir keine Mühe, du kannst nicht mehr weg. Du kommst erst wieder zu dir, wenn es so weit ist.« Gedanken lesen konnte er also auch! Okay, okay, dachte ich, Rückzug, aufwachen, und zwar sofort. Aber es ging nicht. Irgendwie schien er mich hier in meinem 6
eigenen Traum festzuhalten. Ich musste Zeit schinden. »Wenn was so weit ist?«, fragte ich. »Wenn du das Siegel bekommen hast. Das Kandidatensiegel für das Quiz des Teufels«, sagte er. »Was soll das denn um Himmels willen sein, das Quiz des Teufels?«, fragte ich. Er seufzte gequält und schien zu überlegen, wie weit er mich einweihen musste, damit ich einigermaßen begriff, wovon er sprach. »Na ja, weißt du, Junge, der Teufel hat etwas verloren. Etwas, das er dringend braucht, um seinen Geschäften nachzugehen ... Und um es wiederzufinden, braucht er ein bisschen Hilfe ...» »Was hat er denn verloren, was er sich nicht selbst wiederbeschaffen könnte?«, fragte ich. »Sein Gedächtnis hat er verloren. Er weiß nicht mehr, dass er der Teufel ist...« Ich sah ihn an und schwankte zwischen Lachanfall und Hustenattacke. »Er hat was?« »Der Teufel hat sein Gedächtnis verloren.« »Wie kann denn so etwas passieren?«, fragte ich. »Na ja, das kommt vor, so alle tausend Jahre. Manche sagen, es hinge damit zusammen, dass die Qualität der menschlichen Seelen immer mehr nachlässt.« »Nicht, dass es mich irgendwie interessiert, aber wie soll man ihm denn dabei helfen?«, fragte ich. »Das kann ich dir sagen: Man muss ihm ein bisschen auf die Sprünge helfen. Man muss Kandidat
werden im Quiz des Teufels, wie wir es in Aholl nennen.« »Aholl?«, fragte ich. »Was ist das denn schon wieder?« Zebuls Stirn legte sich für einen Augenblick in Falten. »Aholl - das ist das Paradies des Teufels. Aber tu mir einen Gefallen: Mal dir jetzt bitte nicht diese Höllenbilder aus, die üblicherweise in euren Menschenköpfen herumschwirren. Aholl - dieser Kontinent spottet jeder Vorstellung der Menschen.« Keine Frage - Zebul zog mich in seinen Bann, aber jetzt war Schluss: Dieses Aholl wollte ich mir nicht vorstellen, auch nicht im Traum. 7
»Warum habe ich das Gefühl, dass ich mit diesem ganzen Kram nichts zu tun habe?«, fragte ich Zebul. »Sie wollen mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ich den Teufel aus so einer Art Dämmerschlaf wecken soll. Ein Quiz! So ein Quatsch kommt normalerweise nicht mal im Traum vor. Vergessen Sie's. Ohne mich.« »Junge, du verstehst es nicht. Du wirst der nächste Kandidat im Quiz sein!«, antwortete Zebul. Mit einer flinken Bewegung, wie ich sie ihm nicht zugetraut hätte, schlug er eine Fliege von der Zimmerdecke. Sie fiel zu Boden. »Was macht Sie so sicher, dass ich der nächste Kandidat bin?«, fragte ich und arbeitete innerlich an einem Notfallplan. »Was kann man denn überhaupt bei diesem Quiz gewinnen?« »Na ja, gewinnen ist vielleicht das falsche Wort. Aber du erfährst etwas über dich selbst, das du sonst nicht erfahren würdest«, sagte Zebul. »Kann ich drauf verzichten, aber sagen können Sie's ja mal...«, sagte ich. Zebul antwortete: »Du erfährst, was dich zu etwas Besonderem macht. Du erfährst etwas über eine verborgene Fähigkeit in dir«, erklärte Zebul. Das war neu. Ich hatte eine verborgene Fähigkeit! Etwas ganz und gar Besonderes! Es kam mir verdächtig vor, dass Zebul sich Mühe gab es möglichst beiläufig zu sagen. »Und was passiert, wenn man scheitert?«, fragte ich. »Lass uns darüber jetzt keine Zeit verlieren. Ich muss wieder raus aus deinem Traum, es wird wirklich Zeit für mich. Du weißt jetzt auch genug, damit wir unseren Handel besiegeln können. Also komm, schlag ein!« Er atmete schwer und hielt mir seine Hand hin. Sie hatte sich verändert in den letzten Minuten. Aus seinen Fingern waren rote Krallen geworden. Auf einer Kralle saß ein großer Siegelring mit einem schwarzen Stein, in den ein Q gemeißelt war. Das Brandeisen des Teufels! 8
Zebuls Blicke fegten mir wie Blitze durch den Körper. Meine Gedanken ratterten. Na und?, dachte ich schließlich. Was soll schon passieren, bei einem Quiz, das ich nur träumte? Ich fühlte mich plötzlich ganz leicht. Hey, es war doch nur ein Traum! Eine Seifenblase in meinem Gehirn. Ein Nichts. Ein paar Nervenzuckungen. Ein Abenteuer mit Notausgang. Meine innere Uhr sagte mir, dass meine Mutter mich sowieso in ein paar Minuten wecken würde. Bis dahin könnte ich mich doch mal nach Strich und Faden vernichten lassen. Und dann mit meiner verborgenen Fähigkeit die Welt unterjochen! Aholl. Quiz. Dem Teufel endlich mal die Meinung geigen. Risiko. »Bitte beeil dich, Junge!«, sagte Zebul mit gequälter Miene. Ich sah auf seine gekrümmte Ringkralle, die sich mir entgegenstreckte. Ich hatte mich entschieden. Er schien es zu wissen, ohne dass ich einen Ton gesagt hatte. »Gut, umfasse mit deiner ganzen Hand den Ring«, sagte Zebul etwas matt. Er schien von einer Sekunde auf die andere an Kraft zu verlieren. Ich streckte ihm meine Hand entgegen und ura-schloss den Ring, so fest ich konnte. Für die Dauer eines Augenblicks presste ich meine Haut auf das in den Stein gemeißelte Q. Den Bruchteil einer Sekunde schlug die Welt vor meinen Augen einen Salto. Einen Wimpernschlag lang schoss eine Flutwelle Angst durch mich hindurch, dass ich meinte, sie müs-ste an den Ohren hinausspritzen. Und dann wieder strömte eine Ladung Glück durch meine Adern, dass ich laut jubeln wollte. Meine Handfläche brannte wie beim Eintauchen in den Giftstachel einer Tarantel. Ich sackte erschöpft in einen Stuhl zurück und sah mir meine Handfläche an: Ein regelrechtes Brandzeichen, ein rotes Q, war dort hineingebrannt! »Keine Sorge«, flüsterte Zebul, »das verheilt. Vielleicht schneller, als uns lieb ist. In sieben Tagen - am Morgen nach 9
der Walpurgisnacht, wird es vollkommen verschwunden sein. So lange ist das Zeichen deine Eintrittskarte zum Quiz. Sieben Tage, das sollte reichen.« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. In sieben Tagen? In sieben Tagen war mein Geburtstag. Zufall? Oder einfach nur geschickt eingefädelt von Zebul? In diesem Moment betrat die Zahnarzthelferin das Wartezimmer. »So, Quentin, du bist dran.« Während ich aufstand, warf ich einen Blick auf den Mann in dem roten Anzug. »Wie komme ich denn überhaupt nach Aholl?«, wollte ich wissen. Er seufzte und stand auf. Er war so schwach, dass er sich an der Wand abstützen musste. »Dein Joker wird dir den Weg zeigen.« Ein Joker? So weit waren die Planungen also schon. Mich zwickte plötzlich mein Gewissen. Ich konnte hier nicht raus, ohne ihm zu verraten, was ich wirklich vorhatte. »Zebul, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Das mit dem Joker, das ist nicht nötig. Ich habe nicht vor an diesem Quiz teilzunehmen. Es ist doch eh nur ein Traum, wissen Sie!« »Quentin, kommst du jetzt?«, rief die Zahnarzthelferin bereits ein wenig ungeduldig. Es kam mir vor, als ob Zebul seine letzten Kräfte zusammennahm, um mir zu antworten. »Junge, es ist zu spät. Ein Zurück gibt es nicht...« Plötzlich stöhnte er laut und bäumte sich heftig auf, als ob ihn etwas quälte. Er wollte sprechen, aber seine Stimme war jetzt so leise, dass ich mich ganz nah zu ihm vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Du musst das noch mitnehmen ...«, röchelte er. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Er hauchte mit seinem stinkenden Atem eine Wolke aus, die einer tiefschwarzen Seifenblase glich. Die Seifenblase platzte an meinem Ohr und sofort klang eine Melodie in mir, eine grauenvolle, aber einfache Melodie, die sich tief in mein 10
Gedächtnis einbrannte. Schließlich verstummte Zebul, nicht ohne noch einmal ein dreckiges Lachen zu krächzen. Ich schüttelte mich heftig. Verwirrt ließ ich ihn sitzen und ging dem verärgerten Blick der Zahnarzthelferin entgegen ins Behandlungszimmer. Der Zahnarzt erwartete mich schon lächelnd. In seinen Händen hielt er eine Pumpenzange, wie man sie gerne zum Festziehen von Schiffsschrauben verwendete. Höchste Zeit aufzuwachen.
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Als ich aufwachte, war ich rot und aufgeheizt wie eine fiebrige Tomate. Mir war sofort klar, dass das mit dem Traum zusammenhängen musste, den ich gerade verlassen hatte. Ein Traum, der so wirklich gewesen war, dass es mich plötzlich fröstelte. In meinem Kopf machte sich wieder die grauenhafte Melodie breit, die Melodie aus der schwarzen Seifenblase. Um sie zu vertreiben, schlug ich mit den Beinen die Decke zur Seite, sprang aus dem Bett und trat ans Fenster. Ich schielte hinter den Vorhängen in die Dämmerung hinaus. Es war noch früh und der Tag begann mit richtig miesem Wetter. Das Taubenpaar, das um diese Zeit immer von der großen Kastanie aus in mein Zimmer glotzte, hatte sich aufgeplustert und hockte im Schutz eines dicken Astes. Ich versuchte mir die Gänsehaut vom Leib zu schütteln. Etwas Fremdes und Dunkles hatte ich geträumt. Und das Merkwürdige war: Ich konnte mich genau daran erinnern. Ich hatte diesen komischen Zebul ganz schön betrogen. Im Traum natürlich nur. Ehrlich gesagt, ich hatte ein Wesen der Finsternis für intelligenter gehalten. Wie kam der nur darauf, dass ich jetzt, nachdem ich wach war, auch wirklich an diesem »Quiz des Teufels« teilnehmen würde? War doch das Problem des Teufels, dass er vergessen hatte, wer er war. Der alte 12
Schussel. »Nicht mein Problem«, murmelte ich den Tauben zu, um mir Mut zu machen. Genau in diesem Moment spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner rechten Handfläche. Bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass dort ein großes Brandmal war. Wohl ein Überbleibsel von gestern Abend, als ich die heiße Glühbirne an meiner Schreibtischlampe ausgetauscht hatte. Ich hielt die Handfläche zur Kühlung an die Fensterscheibe. Mein Blick fiel auf eine dicke schwarze Fliege auf der Fensterbank. Sie lag auf dem Rücken und strampelte nach kurzen Verschnaufpausen immer wieder wild mit ihren sechs Beinen. Beim Blick in den Regen musste ich an meinen Vater denken. Zwei Monate war es jetzt her, dass er zu einer Expedition aufgebrochen war. Johannes Fux sprach nur wenig über seinen Beruf, er machte immer ein großes Geheimnis darum, aber ich wuss-te trotzdem einiges darüber. Allein die Berufsbezeichnung Kryptozoologe war ein Rätsel für sich. »Das sind Besessene, die niemals erwachsen werden«, pflegte meine Mutter zu sagen, mit der Absicht Papa eins auszuwischen, weil er ständig unterwegs war. Ich wusste, Kryptozoologen waren Forscher, die nach Lebewesen suchten, von denen nicht mal sicher war, ob es sie überhaupt gab. Verrückte, die unheilbar davon besessen sind, alle möglichen Geheimnisse aufzuspüren. Es fing immer mit einem Foto, einer Information oder manchmal auch nur einem Gerücht an. Vor wenigen Wochen begann mein Vater sich so zu benehmen, als wenn er alle Vorurteile gegen seinen Beruf bestätigen wollte. Fieberhaft bereitete er eine Expedition vor, nachdem ihm eine Information zugespielt worden war. Aber irgendetwas war anders als sonst. Zu Hause sprach er kein Wort darüber, die gesamten Vorbereitungen waren streng geheim. Ein Team von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt 13
hatte er zusammengetrommelt. Manchmal kam er nach Mitternacht nach Hause und setzte sich lange an mein Bett, im festen Glauben, ich schliefe bereits. In einer Nacht fand er mich noch wach und er versprach mir hoch und heilig, dass er pünktlich zu meinem Geburtstag wieder zurück sein würde. Am nächsten Morgen war er bereits mit drei Kollegen nach Südamerika aufgebrochen. Seitdem schrieben wir uns fast täglich Mails, gleich nach dem Frühstück wollte ich nachgucken, ob wieder Post von ihm da war. Das Läuten des Telefons ließ mich hochfahren. Wer rief so früh an? Ich hörte, wie meine Mutter an den Apparat ging und nach einem kurzen Gespräch wieder auflegte. Mir war plötzlich, als dränge Zebuls Melodie an mein Ohr. Wenige Sekunden später stand meine Mutter in meinem Zimmer. Sie war weiß wie eine Wand. »Quentin ... Papa scheint in Schwierigkeiten zu stecken.« Ich erstarrte. »Papa? Was denn für Schwierigkeiten?« »Ist noch nicht ganz klar. Seine Maschine wird ... vermisst. Ich fahre jetzt ins Institut und treffe mich mit Dr. Roll. Der steht in Dauerverbindung mit der argentinischen Suchmannschaft. Ich rufe gleich an, wenn ich Neuigkeiten habe. Kommst du so lange alleine zurecht?« Wieder die Melodie. Ich schüttelte mich, um sie aus dem Kopf zu kriegen und musste mich zusammennehmen, um meiner Mutter zu antworten. »Klar. Ich zieh mich gleich an und komme mit dem Fahrrad nach ...«, rief ich ihr hinterher. Nachdem sie aus dem Haus gegangen war, setzte ich mich sofort an meinen Computer und sah in meiner Mailbox nach. Mein Herz raste, als ich sah, dass ich Post von Papa hatte, eine Antwort auf meine letzte Mail.
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Hi Q, klar halte ich mein Versprechen! Heute werden wir zu einer letzten Erkundungstour in den Regen wald aufbrechen. Wir fiegen mit unserer kleinen Maschine von Buenos Aires über den tropischen Regen wald nach Iguassu, um in der Teufelsschlucht, der »Garganta del Diablo«, nach Spuren eines Wesens zu suchen, das wohl - zum Glück - nur ein Hirngespinst von uns allen ist. Die Propeller unseres Flugzeugs laufen schon. Wenn wir zurück sind, packen wir und machen alles klar für die Heimkehr. Wenn du morgen früh aufwachst, dann sind wir bereits auf dem Rückflug nach Hause. Pass auf dich auf! Papa
Ich las die Nachricht noch einmal. Die Mail hatte mein Vater kurz vor seinem Abflug geschrieben. Sie klang für meinen Vater ungewohnt ernst. Aber da war noch etwas, was mich zutiefst beunruhigte. Es schnürte mir regelrecht den Hals zu. War es nur ein Zufall? Das konnte kein Zufall sein! »Garganta del Diablo«, die Schlucht des Teufels. Ich beschloss sofort ins Institut zu fahren und mit meiner Mutter darüber zu reden. Ich zog mich an und hatte kaum die Schuhe zugebunden, als es an der Haustür klingelte. Ich schluckte. Wer konnte das denn sein? Auf leisen Sohlen schlich ich zur Tür und horchte zunächst. Als es wieder klingelte, zuckte ich zusammen. »Wer ist da?«, fragte ich durch die verschlossene Tür. »Bist du Quentin Fux?«, fragte eine Stimme zurück, die einem Mädchen gehören musste. »Ja, warum?«, fragte ich. »Bist du allein?«, fragte die Stimme. Sie klang gehetzt. »Ja«, antwortete ich. »Dann mach schnell auf!«, rief die Stimme. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit. Dort stand ein Mädchen mit dem Gesicht einer Sonnenblume. Rehbraune Augen 15
blinzelten mir entgegen. Ihr Kleid musste wohl einmal sehr elegant gewesen sein, bevor es zerfetzt worden war. Das Mädchen trug keine Schuhe und dem Aussehen ihrer Füße nach verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit dem Stampfen von Lehm. »Puh, du bist es wirklich«, sagte das Mädchen. »Ich dachte schon, ich komme zu spät.« Ich verstand kein Wort, schloss die Tür wieder und fragte: »Zu spät? Wofür?« Es entging mir nicht, dass das Mädchen prüfte, ob die Tür wirklich richtig geschlossen war. »Ach, nichts. Jetzt bin ich ja da. Quentin, hattest du, äh, ungewöhnlichen Besuch in letzter Zeit?«, fragte sie und sah sich um. Ich schüttelte den Kopf. Von meinem komischen Traum wollte ich ihr nichts erzählen. »Ich bekomme selten Besuch, weder gewöhnlichen noch ungewöhnlichen ...«, murmelte ich. »Das ist gut«, sagte das Mädchen und ließ seinen Blick über mich streifen. »Ich habe mir dich ganz anders vorgestellt«, sagte es. »Und wie?«, fragte ich. Das Mädchen überlegte kurz und sagte dann: »Größer.« »Ich wachse noch ...«, meinte ich entschuldigend. »Aber sag mal, wer bist du eigentlich? Und was willst du von mir?« »Ich heiße Aurora und ich komme, um dich zu begleiten«, antwortete das Mädchen und hielt den Kopf ein wenig gesenkt. »Begleiten? Wohin?« Das Mädchen lächelte milde. »Hab Geduld. Das erfährst du noch früh genug. Jetzt müssen wir schleunigst hier weg!« Sie sah mir in die Augen und es fiel mir schwer, dem Blick auszuweichen. Ihre Augen schimmerten wie Bernstein mit feinen, goldenen Linien. »Es wird wirklich höchste Zeit, Quentin.« »Wohin gehen wir denn?«, rief ich lauter, als ich eigentlich 16
wollte. Aurora sah mich an: »Quentin, bitte vertrau mir. Du wirst auf alles eine Antwort erhalten. Komm, schnell. Hier sind wir nicht mehr sicher.« Mir platzte langsam der Kragen. »Also, jetzt pass mal auf: Ich habe gerade heute wirklich ganz andere Sorgen. Jedenfalls habe ich keine Zeit für solche Spielchen, okay.« »Das hier ist kein Spielchen«, sagte sie so ernst, dass es mir die Sprache verschlug. »Hier, fang!« Sie griff in die Tasche ihres Kleides und warf mir einen kleinen Gegenstand zu. Ich brauchte ihn nicht groß unter die Lupe zu nehmen. Es war der schwarze Ring aus meinem Traum, ein kunstvoll in einen schwarzen Stein geschlagenes Q. Ich hielt ihn kurz in das Brandzeichen meiner Handfläche und spürte wieder den teuflischen Schmerz. »Zebul konnte nicht mehr aus deinem Traum entkommen. Er ist lieber gestorben, als den Traum lebend zu verlassen, ohne dass du das Siegel trägst.« »Er ist was ... ?«, fragte ich heiser und mir wurde schlagartig klar, warum Zebul gegen Traumende immer schwächer geworden war. »Und wenn wir nicht bald hier verschwinden, sind wir auch dran«, fuhr Aurora fort. »Aber warum musste er sterben? Was hat Zebul denn getan?«, fragte ich. »Gar nichts. Er hat getan, was er immer tat. Er ist in die Albtraumwaben gestiegen und hat so lange gesucht, bis er den geeigneten Kandidaten für das Quiz des Teufels gefunden hat.« Ich versuchte ein Lachen. Aber so richtig überzeugend klang es nicht. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass dieser ganze Quatsch mit dem Quiz des Teufels wirklich wahr ist?« »Für dich und mich ist es wahr, Quentin.« »Ich kann das alles nicht glauben«, stotterte ich. »Wir haben keine Zeit mehr, lass uns jetzt gehen. Bald schon 17
wirst du mehr erfahren. Es ist etwas eingetreten, was es in Aholl noch nie gegeben hat. Jemand will verhindern, dass du am Quiz teilnimmst. Jemand will verhindern, dass der Teufel sich daran erinnert, wer er ist.« Ich war nah dran durchzudrehen. »Das ist doch gut. Ich will auch nicht, dass der Teufel sich an irgendwas erinnert. Soll er doch den Rest der Ewigkeit vor sich hin blubbern!« »Quentin. Bitte glaube mir, es kann dir nicht egal sein. Der Teufel wird dich zwingen an dem Quiz teilzunehmen und ihm zu helfen!« Ich ballte die Fäuste, weil ich ahnte, dass sie Recht hatte. »Hat es was mit der Melodie zu tun?«, fragte ich. Aurora nickte. »Und mit dem, woran ich denken muss, wenn ich die Melodie höre?« Aurora nickte wieder. Ich biss auf die Zähne, dass es knirschte. »Der Teufel täuscht sich. Mich kriegt er nicht klein. Ich werde ihm in seinem Quiz zeigen, dass er nur ein böser, alter Trottel ist. Und wenn er ihm auch nur ein Haar krümmt, dann ...« Auroras Blick verriet mir, dass sie sich denken konnte, was ich meinte. Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und drehte den Kopf, als ob sie horchte. Sie kam einen schnellen Schritt auf mich zu: »Hörst du das?«, flüsterte sie. Ich nickte. Durch die Haustür drang ein Geräusch. Es hörte sich an wie ein Staubsauger von der Größe einer Lokomotive.
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»Gestorben?«, fragte die große, hagere Gestalt. Ihr Körper war vollständig in einen roten Seidenumhang gehüllt. Unter dem glänzenden Stoff konnte man die Konturen eines grausamen Gesichts erahnen. »Er ist noch im Traum des Jungen gestorben«, antwortete der Prospektor. Er war ein Prachtexemplar dieser hinterhältigen Art, die zum Dienen geboren war. Sein Name war Gorgonzola. »Sein Tod war doch recht qualvoll... ?« »Natürlich, Roter Meister Belphegor. Er war zu schwach, um den Traum noch zu verlassen.« »Wer hätte das gedacht. Zebul, der große Zebul, stirbt in den Albtraumwaben. Stirbt beim Ausspionieren von Menschenkindern!« Belphegor zischte sein dreckigstes Lachen. »Ausgerechnet in den Albtraumwaben! Dem einzigen Ort, an dem ein ahol-lischer Meister wie er sterben kann. Es ist Zebul doch wohl nicht gelungen, den Jungen vorher ... ?« »Leider doch, Meister.« Belphegor stampfte so fest auf, dass der Boden bebte. »Wer ist dieser Junge?«, fragte der Rote. 19
»Er heißt Quentin Fux, dreizehn Jahre alt. An Walpurgis wird er vierzehn.« »An Walpurgis?! Da passt ja alles! Geschickt gewählt von Zebul. Umso dringender, dass wir den Jungen stoppen. Was bieten wir ihm an? Reichtum? Versprechen wir ihm Unsterblichkeit? Vielleicht ist es aber besser, wir nehmen ihm alle Sorgen und er lächelt sich um seinen Verstand? Wir schenken ihm einen Palast! Da wird er keinen Schaden anrichten. Was meinst du?« Gorgonzola machte ein gequältes Gesicht. »Ich fürchte, das wird nicht klappen, Roter Meister.« »Warum nicht?«, schrie der Rote aufbrausend. »Damit können wir ihn nicht ködern. Der Junge will nur eins, seinen Vater in Aholl befreien. Dafür würde er einfach alles tun.« »Ach, sein Vater wird in Aholl gefangen gehalten?« Gorgonzola nickte, als ob ihm das Sorgen bereitete. »Ja, auch das hat Zebul sehr geschickt eingefädelt. Er wollte sichergehen, dass der Junge auch wirklich pünktlich zum Quiz erscheint!« »Da hat dieser alte Traumspion aber die Rechnung ohne uns gemacht!«, rief Belphegor. »Um den Vater kümmern wir uns später. Jetzt müssen wir verhindern, dass der Junge nach Aholl gelangt, wie auch immer!« »Sehr wohl, Roter Meister«, antwortete Gorgon-zola. »Er darf es auf keinen Fall rechtzeitig zum Quiz schaffen. Ich brauche dir nicht zu sagen, was geschieht, wenn sich mein Stiefvater daran erinnert, wer er ist! Wenn er mithilfe dieses Burschen im Quiz sein Gedächtnis wiederfindet!« Gorgonzola guckte fragend. Belphegor knurrte. »Du weißt, auch ich war einmal so wie der Junge. Beim letzten Quiz vor tausend Jahren. Wer das Quiz verliert, wird der Rote Fürst. Das ist das Gesetz. Gelangt dieser Junge zum Quiz, wird er natürlich gegen den Teufel verlieren. Und damit wird er der neue Rote 20
Fürst...« Belphegors seidener Umhang schien leicht zu glühen. »Der Junge darf es niemals bis zum Quiz schaffen! Ist das klar, Gorgonzola?« »Auftrag schon so gut wie ausgeführt, Meister«, antwortete der Prospektor gehorsam. »Gog und Ma-gog müssten jeden Augenblick bei ihm zu Hause eintreffen. Und auf die beiden ist Verlass.« »Das ist gut. Wenn Gog und Magog mit ihm fertig sind, dann wird er nicht mal mehr wissen, dass er ein Mensch ist, nicht wahr?« »Ganz richtig, Belphegor. Gog und Magog werden den Jungen aussaugen wie einen Kelch Blutwein.« »Das ist ja herrlich! Woran müssen wir noch denken?« »Verräter?«, fragte Gorgonzola. »Ah ja. Verräter sind immer gut. Und - schon eine Idee?« »Ich habe einen besonders gemeinen im Auge, Meister!« »Das hoffe ich. Denn, wenn du versagst, Gorgonzola, dann hat es sich ausgeschimmelt. Dann darfst du mir tief in die Augen sehen!« Der Rote rauschte hinaus und hinterließ seinen grausamen Diener leichenblass.
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»Es ist zu hoch«, rief Aurora nach einem Blick aus dem Fenster. »Hier kommen wir nicht mehr raus. Wir müssen uns schnell verstecken.« Auroras große Pupillen verrieten mir, dass es sich nicht um ein Spiel handelte. »Quentin, wohin?!« Ich versuchte mich zu konzentrieren. Dem Geräusch nach zu urteilen, hatte das, was da unaufhaltsam näher kam, die Haustür zu Sägemehl verarbeitet und donnerte gerade durch den Flur. Verstecken! Aber wo? Der Löwe! Ein riesiger, grimmig dreinblickender Löwe aus edlem Porzellan, den mein Vater vor vielen Jahren von einer Expedition mitgebracht hatte. Das Tolle an diesem Löwen: Er war hohl! Schnell packte ich ihn an den Tatzen. Mit aller Kraft konnte ich ihn ein Stück anheben. Aurora begriff sofort und schlüpfte darunter. Wie der Blitz rutschte ich hinterher. Es knirschte verräterisch, als ich den Löwen wieder auf seine Pranken stellte, gerade noch rechtzeitig, wie sich jetzt herausstellte. Es bebte kurz, aber heftig - und einen Augenblick später flog mit einem Knall die Zimmertür zur Seite. 22
Ich war schockiert, aber neugierig. Was kam da? Wer kam da? Ich quetschte meinen Kopf in den Rachen des Löwen. Dort war eine kleine Öffnung. Durch die Zähne des Löwen konnte ich genau beobachten, was aus meinem Zimmer wurde. Später sollte ich mir wünschen es nicht gesehen zu haben. Durch die zerschmetterte Tür meines Zimmers schwebte eine Fratze, eine grauenvolle Visage aus purem Stein, ohne Körper, nur Kopf. Ein Kopf ohne Bodenkontakt wie eine Marionette, die von einem unsichtbaren Wesen an unsichtbaren Fäden gehalten wurde. »Was ist das?«, fragte ich so leise wie möglich. Aurora antwortete zitternd: »Das ist der Infonaut. Ich glaube, die beiden heißen Gog und Magog.« »Die beiden? Aber es ist doch nur einer?« Ich schielte wieder durch die Löwenzähne. »Warte ab ...«, sagte Aurora und der Unterton verhieß nichts Gutes. In den Augenhöhlen des Infonauten bewegten sich große rabenschwarze Pupillen hin und her wie Fische in einem Aquarium auf der Suche nach Futter. Der Infonaut hatte sein Maul weit aufgerissen und rauschte wie die Turbine eines Ozeandampfers. Längst war in meinem Zimmer ein kleiner Orkan losgebrochen. Bücher stürzten aus den Regalen, Papiere wirbelten umher, mein Schreibtisch brach zusammen, der Computerbildschirm zerschlug auf dem Boden. Die große, runde Uhr sprang von der Wand und donnerte auf die Dielen. Das Maul der Fratze verursachte einen Sog wie ein gewaltiger Strudel. Ich hätte am liebsten geschrien, als mir klar wurde, was dort geschah: Mein Zimmer wurde von dem Infonauten regelrecht abgesaugt. Buchstaben und Zeichnungen lösten sich allesamt von den Papieren und flogen in den Rachen des Infonauten wie Mücken ins Licht. Zurück blieb leeres Papier, einzelne Schnipsel, Konfetti. 23
Nach einer Weile legte sich der Saugsturm ein wenig und der Infonaut betrachtete mit rasenden Augen sein Werk. Wie ein Luftballon schwebte der steinerne Kopf durch den Raum, holte tief Luft und schnüffelte mal hier, mal dort. Gelegentlich saugte er ein paar verlorene Sätze und Buchstaben auf, die er beim ersten Saugorkan übersehen hatte. Einmal schien er sich an einem Komma zu verschlucken, doch dann schwebte er weiter. Zweifellos war er ein sehr gründlicher Charakter. Nicht einen Buchstaben ließ er zurück. Allmählich kam der Infonaut dem Porzellanlöwen bedrohlich nah. »Keinen Mucks!«, wisperte Aurora. »Wenn er uns entdeckt, ist alles verloren! Versuch einzuschlafen! Bitte versuch es! Und schau ihn nicht an, er merkt das!« Ich schlug die Arme vor mein Gesicht. Gesehen hatte ich ohnehin genug. Insgeheim hoffte ich, gleich die Stimme meiner Mutter zu hören, die mich aus diesem Albtraum weckte. Aber ich wusste, dies war kein Traum. Als ich spürte, dass der Infonaut den Löwen fast berührte, befiel mich eine Angst, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Plötzlich spürte ich einen pochenden Schmerz in meinem Kopf. Und ebenso plötzlich verließ mich die Angst wieder und meine Gedanken hatten die Farbe eines Regenbogens. Für einen Moment überlegte ich den Löwen hochzuheben und mich dem Infonauten zu zeigen. Dieser Wunsch wurde immer stärker. Was soll schon passieren?, dachte ich. Vielleicht ist der arme Kerl nur einsam. Wie hieß er noch? Gog? Oder Magog? Auch egal. Uh, dieser Kopfschmerz, gleich platzt mein Schädel, ich muss mit ihm reden, dann wird es bestimmt besser, dachte ich. Ich hatte das merkwürdige Bedürfnis, ihm meine geheimsten Gedanken mitzuteilen, mein Gehirn zu leeren, wie man sich die Nase putzt. Doch als ich gerade meine Hände unter die Tatzen des Löwen legen wollte, um ihn hochzuheben, da entfernte sich der Infonaut langsam schwebend. Der 24
Kopfschmerz ließ sofort etwas nach, zurück blieb ein mulmiges Gefühl der Erschöpfung. Mein Wunsch, mich dem Infonauten zu zeigen, verschwand fast ganz. Ein leises Geräusch, das aus Au-roras Richtung kam, machte mich wieder auf das Mädchen aufmerksam. Es war das Geräusch von ganz ruhigem Atem. Trotz des spärlichen Lichts, das ins Innere des Löwen drang, konnte ich erkennen, dass Aurora schlief. Wie kann man bei solcher Gefahr nur einschlafen?, fragte ich mich entsetzt. Vorsichtig spähte ich wieder durch den Rachen des Löwen nach dem Infonauten. Und jetzt entdeckte ich, warum Aurora von den beiden Infonauten gesprochen hatte. Die Fratze, die eben noch mein Zimmer verwüstet hatte, schloss nun ihre Augen und begann sich um die eigene Achse zu drehen. Und der Hinterkopf der Fratze war wieder eine Fratze, steinerne Zwillingsfratzen in einem Kopf. Wie in Zeitlupe öffnete die andere Seite des Steinkopfs seine Augen und riss sein grässliches Maul auf. Und einen Herzschlag später begann das Maul große Rauchringe zu blasen, Rauchringe mit einem schwarzen Schimmer. Dampfender Nebel legte sich in den Raum und hüllte auch den Löwen ein. Ich roch den widerlichen Gestank, den die RauchSchwaden hinterließen, eine Mischung aus faulen Eiern und Kloake. Nachdem der ganze Raum verpestet war, schien der Infonaut seine Arbeit getan zu haben und schwebte davon. Ich starrte auf das, was der Infonaut von meinem Zimmer übrig gelassen hatte. Was ich sah, machte mich plötzlich so traurig, dass meine Augen feucht wurden. Vorsichtig stupste ich Aurora an, bis sie die Augen aufschlug. »Ist er weg?«, flüsterte sie sofort. Ich nickte und hob den Löwen ein wenig an, so-dass wir nach draußen kriechen konnten. Aurora nahm besorgt meinen Kopf in ihre Hände und sah mir in die Augen. Wieder gab der Blick in ihre Augen mir ein 25
Gefühl der Wärme. »Du konntest nicht einschlafen, nicht wahr?« Ich nickte und war zu schwach, um wütend zu werden. »Wie kann man auch schlafen, wenn so etwas passiert?« »Es ist das einzige Mittel, sich dem Infonauten zu entziehen. Wenn du schläfst, kommt er nicht an dich ran«, erklärte Aurora. »Aber verdammt noch mal. Was geht hier ab? Diesen ganzen Quatsch gibt es doch in Wirklichkeit gar nicht!«, sagte ich. »Oh doch ...«, antwortete Aurora und es klang sehr überzeugend. »Stell dir vor, die Welt der Wirklichkeiten besteht aus vielen kleinen Häusern. Dann hattest du gerade Besuch von den Nachbarn.« »Aber was ist denn das genau - ein Infonaut?«, fragte ich niedergeschlagen. »Der Infonaut sind zwei in einem. Der eine ist süchtig nach Informationen. Er saugt alle Gedanken auf, ob sie geschrieben, gesprochen oder nur gedacht sind. Deine Ideen, deine Träume, deine Gewohnheiten. Sein Name ist Gog. Die andere verbreitet Gerüchte in Form einer übel riechenden Wolke. Sie will dich glauben machen, was du glauben sollst. Ihr Name ist Magog.« »Du meinst, was ich denke, ist das, was der Infonaut will, dass ich es denke?«, fragte ich und ein Funke Hoffnung machte sich breit. »So ungefähr ...«, antwortete Aurora. »Was denkst du denn?« »Ganz düstere Sachen.« Das wunderte Aurora nicht. »Klar, das passt dem Infonauten gut in den Kram. Wer den Infonauten schickt, der will, dass du düster denkst. Wer düster denkt, ist eine leichte Beute. Damit will er dich mürbe machen.« »Von wem redest du da? Wer schickt die Infonauten?«, fragte ich. Aurora war anzumerken, dass sie selbst noch an der Lösung dieses Rätsels arbeitete. »Ich bin noch nicht ganz sicher, aber ich glaube, es gibt jemanden, 26
der unbedingt will, dass du das Quiz niemals erreichen wirst. Und jetzt lass uns hier verschwinden, wir müssen mehr herausfinden.« »Was hat es denn noch für einen Sinn, jetzt irgendwohin zu gehen? Der Weg führt doch eh nur schnurstracks ins Verderben ...«, sagte ich. »Der Infonaut hat wirklich gründliche Arbeit geleistet.« Aurora sah mich scharf an: »Magog ist es offenbar gelungen, deine Hoffnung zu erschüttern. Mach es ihr nicht zu einfach. Ich jedenfalls hoffe ganz fest...« »Du hast doch keine Ahnung, was ich hoffe. Du weißt doch nicht, was los ist!«, schrie ich und hätte am liebsten geweint. »Doch, ich weiß es«, sagte Aurora und legte den Arm um meine Schulter. »Du hoffst, dass du deinen Vater retten kannst. Also - worauf warten wir! Die Zeit drängt.«
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Ich hetzte hinter Aurora her. »Wohin führst du mich?« »Wir müssen auf dem schnellsten Weg nach Aholl. In der Stadt gibt es einen geheimen Zugang.« »Ach? Und da löse ich eine Eintrittskarte und spaziere einfach so rein ... ?« Aurora überhörte meinen Galgenhumor. »Dort triffst du jemanden, der dir sagen kann, wie du in Aholl überlebst. Erst, wenn du genug weißt, wird er dich nach Aholl gehen lassen.« Ich spürte mein wachsendes Vertrauen zu diesem eigenartigen Mädchen. Ohne sie hätte der Infonaut mich ausgesaugt wie ein Glas Limonade. Inzwischen waren wir auf einer der belebtesten Straßen der Stadt angekommen. Aurora schien den Weg genau zu kennen. Sie steuerte zielstrebig auf einen größeren Laden zu. Auf dessen Schild stand: »Weltreisebüro«. In zwei großen Schaufenstern hingen Plakate mit Sonderangeboten für Reisen um die ganze Welt. In der Mitte des Geschäftes war der Eingang - eine goldbeschlagene Drehtür aus Glas, aus der ich schon von weitem Menschen hineingehen und herauskommen sah. »Was willst du denn in einem Reisebüro?«, fragte ich. »Für Urlaub habe ich jetzt wirklich keine Zeit.« 28
»Natürlich nicht«, antwortete Aurora sanft und tastete die Wand neben dem linken Schaufenster ab, als ob sie nach etwas suchte. Plötzlich wurde sie fündig. Ein kleiner, versteckter Klingelknopf, den sie auch prompt drückte. Ungeduldig probierte sie es gleich ein zweites Mal. Zunächst passierte nichts, aber dann meldete sich eine schnarrende Stimme. »Ja?« Aurora antwortete: »Ich möchte eine Reise ins Verderben buchen.« Ein Knacken kam aus dem kleinen Lautsprecher, der direkt über der Klingel in die Wand eingelassen war. »Etwa dorthin, wo der Schrecken blüht?«, fragte die Stimme. »Ganz richtig, an die finsteren Strände der bösen Ursuppe«, antwortete Aurora. Das Ganze war ein Dialog von Parolen, vermutete ich. »Voll- oder Halbpension?«, fragte die Stimme. »Vollpension!«, antwortete Aurora. Ich hörte nur zu, ich verstand nichts. In der Zwischenzeit gingen wieder Leute durch die Drehtür in das Reisebüro. Aus dem Lautsprecher war wieder ein Knacken zu hören. Diesmal sprach eine andere Stimme: »Aurora?« »Ja!« »Aurora, bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?« »Ja, ganz sicher ...« Aurora sprach nun hastig weiter. Schließlich sagte die Stimme aus dem Lautsprecher: »In Ordnung, wir schalten auf links. Von jetzt an in dreißig Sekunden.« Aurora wandte sich wieder mir zu. »Wundere dich über nichts. Wir statten den Nachbarn jetzt einen Gegenbesuch ab. Aber hab Vertrauen. Du triffst dort auf jemanden, der weiß, ob du es mit den Gefahren in Aholl aufnehmen kannst.« Das klang nach Abschied. 29
»Kommst du denn nicht mit?«, fragte ich. »Doch, irgendwie schon. Und jetzt schnell, rüber zur Drehtür. Wenn ich los sage, dann gehen wir hindurch.« Gerade kam eine Mutter mit einem kleinen Kind heraus. »Aber das ist doch kein geheimer Ort?«, murmelte ich. »Warte ab!« Aurora zeigte auf die Drehtür. Im ersten Moment erschrak ich, weil die Tür, wie von unsichtbarer Hand bewegt, sich schneller drehte als bisher. Zudem wechselte sie die Drehrichtung. Sie rotierte nun im Uhrzeigersinn. Plötzlich gab Aurora das Zeichen, zog mich am Arm und wir sprangen in eine Kammer. Eine Sekunde später spuckte mich die Drehtür wieder aus und ich landete unsanft auf einer Steinplatte. Ich sah mich um und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass ich in einem Raum gelandet war, der rund war wie eine Kugel. Vergeblich suchte ich einige von den Leuten, die in das Weltreisebüro hineingegangen waren. Hier war ich ganz allein. Wo war Aurora geblieben? »Aurora!« Ich konnte sie nirgends entdecken. »Aurora!«, rief ich. »Auroraaaa!« Keine Spur von ihr. Ich rieb meine Hand, die eben noch in Auroras gelegen hatte. Da spürte ich etwas an einem Finger. Als ich begriff, was es war, konnte ich einen Schrei nicht unterdrücken. »Aurora!« An meinem Finger steckte ein goldener Ring und darauf war eine kleine Bernsteinfigur ein-gefasst. In der Figur erkannte ich das Mädchen, das mich hergeführt hatte. »Aurora, was ist mit dir geschehen?«, fragte ich und betastete die Figur sanft. Ich sah mich um. Was war das hier für eine Welt, in der sich Mädchen in Steinfiguren verwandelten? »Hallo, ist hier jemand?«, rief ich und mein Echo kroch an den Wänden bis zur Kuppel der Kugel hoch und hagelte auf mich zurück. Ich spähte in alle Richtungen. 30
Plötzlich ging eine kleine Tür auf. Es kam aber niemand hindurch. Mit einem Mal hörte ich eine zitternde Stimme. »Mann, du bist aber groß.« »Wer spricht da?«, fragte ich. Jetzt zeigte sich eine kleine Gestalt im Türrahmen. Ein solches Wesen hatte ich noch nie gesehen. Ein Prachtexemplar von einem Wolf, aber von der Größe eines Kaninchens. Obwohl er sich fürchtete und zitterte, verriet seine Kopfhaltung einen gewissen Stolz. Die wachen, kleinen Augen waren starr auf mich gerichtet. Je nachdem, wohin sein Blick fiel, wanderten die spitzen Ohrchen wie kleine Radarschirme in dieselbe Richtung. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich tue dir nichts«, sagte ich. »Du hast gut reden. Ich hab aber nun mal Angst vor allem Großen. Das kommt vor bei Zwergwölfen wie mir, sagt der Admiral.« Einen Augenblick später ging eine größere Tür in der Kugel auf. Herein trat ein großer Mann, der mich wegen seines Hutes, aber auch wegen der zusammengewürfelt bunten Kleidung an einen Seeräuber erinnerte. Die Krempe des Hutes versuchte das wild wachsende graue Haar im Zaum zu halten. Die Nase passte gar nicht zu der kräftigen Gestalt. Sie war lang und spitz wie eine Waffe. Weil er glatt rasiert war, konnte man vier schmale, lange Narben auf seiner rechten Wange erkennen. Die Furchen sahen aus, als hätte eine Krallentatze voller Wut nach ihm gelangt. Der schwarze Rollkragenpulli kratzte nur vom Angucken schon und die weite schwarze Hose war gleich mehrere Nummern zu groß. Weil ich nicht wusste, wie eine schnelle Bewegung auf diesen Riesen gewirkt hätte, atmete ich nur ganz flach. Der Admiral, wie ihn der Zwergwolf genannt hatte, musterte mich mit einem strengen Blick von oben bis unten. Dann sagte er mit dunkler Stimme: »Aurora hat nicht zu viel versprochen. Ein 31
Junge in den besten Jahren! Mal sehen, ob nur die Verpackung was taugt...« Der strenge Ton des Mannes verunsicherte mich. War es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen? »Was ist mit Aurora geschehen?«, fragte ich direkt und betastete wieder den Ring. »Warum ist sie plötzlich zu dieser kleinen Steinfigur geworden?« »Aurora? Hat sie dir etwa nicht erzählt, wer sie ist? Es ist kein gewöhnlicher Stein, sondern ein ganz seltener Bernstein aus dem Harz von weißen Rosen. Hundertmal wertvoller als alle anderen Edelsteine. Aurora ist die Bernsteinprinzessin. Für Quizkandidaten ist sie so eine Art - sagen wir Joker. Für Kandidaten, an die sie fest glaubt, wandelt sie ihr Wesen. Wenn mich nicht alles täuscht, wirst du sie bald wiedersehen, in voller Größe.« »Und wo bin ich hier gelandet?«, fragte ich. »Du bist hier in der Angsthasenakademie. Und ich bin Admiral Atarax Ataraxia. Ich leite die Akademie. Wir bereiten die Ängstlichen auf den Kampf in Aholl vor. Den Kampf gegen die Angst. Und jetzt stell dich hier auf die Waage, wir wollen deine Angst wiegen ...« Der Admiral holte tief Luft und schien zu prüfen, ob ich verblüfft war. Ich war es. Ohne Widerrede ließ ich mich auf eine kleine in den Boden eingelassene Glasplatte führen. Der Admiral stellte sich vor eine kleine Anzeigetafel an der Wand und brummte: »52 Bammel. Na ja, so an der Grenze für eine Durchquerung von Aholl. Aber besser, als ich gedacht hätte.« »Der Admiral hat meistens ein bis zwei Bammel, höchstens!«, erklärte mir der Zwergwolf voller Bewunderung und wich nicht von der Seite des Admi-rals. »Na ja, jetzt wollen wir mal nicht übertreiben, Dasha. Lasst uns hier nicht länger untätig rumstehen, wir müssen uns sputen. Wenn Aurora Recht hat, dann bleibt uns nur sehr wenig Zeit.« Der Admiral führte mich durch ein ganzes Labyrinth von 32
Gängen. Wir passierten kleinere Kugeln, die offensichtlich von den Schülern der Akademie bewohnt wurden. Schließlich näherten wir uns dem Zentrum der Akademie. »Wir sind gleich in der Zentralkugel. Da findet der Unterricht statt und hier tun wir vor allem eins: gemeinsam zittern!«, sagte Dasha, der Zwergwolf. »Das Training gegen die Angst ist manchmal echt hart«, ergänzte er seufzend. »Aber wirkungsvoll!«, brummte der Admiral. Als wir die Zentralkugel betraten, verstummte sofort das leise Gemurmel, das ich schon in den Gängen gehört hatte. Ich bemerkte, dass Dasha nicht mit uns in die Zentralkugel kam, sondern sich zurückzog. Der Admiral wies mir einen Stuhl zu. »Dasha ist entschuldigt. Er ist völlig fertig. Für ihn ist heute ein großer Tag, denn er hat sich endlich überwunden, etwas Großem zu begegnen, ohne gleich Reißaus zu nehmen. Jetzt muss er sich erst mal beruhigen und hat sich in seine Kugel verzogen.« Der Admiral hob seine Stimme und wandte sich den Schülern zu: »Es geht los. Ihr kennt diesen Menschenjungen nicht. Ihr wisst nichts über ihn. Das ist eine gute Gelegenheit, um das Augenmorsen zu üben!« Ein Stöhnen ging durch die Runde. »Nicht schon wieder«, murmelte jemand von links. »Keine Widerrede! Ihr wisst, was ich euch gesagt habe. Das Augenmorsen kann euch eines Tages in Aholl das Leben retten! Also, los jetzt. Und keine Unterbrechung bitte, lasst die anderen ausgucken! Wer seine Augen schließt, der muss eine Stunde nachzittern!« Mit einem Schlag waren alle ruhig. Nur die Blicke wanderten umher. Mir war das Ganze ein völliges Rätsel. Sollte Augenmorsen etwa bedeuten, dass man sich durch schnelles Blinzeln verständigte? Ich ließ meine Augen in die Runde schweifen. Nichts! Ich begegnete jedem Blick ganz besonders entschlossen. Wieder nichts. 33
Augenmorsen. Sollte es etwas mit der Zeichnung der Iris zu tun haben? Mit der Form der Wimpern? Der Admiral, der meine Hilflosigkeit wohl bemerkte, beugte sich an mein Ohr und flüsterte: »Wenn du wissen willst, was der Blick dir sagen will, dann musst du hinter den Blick sehen ...» Ich meinte zu begreifen und versuchte durch die Blicke zu sehen, denen ich begegnete, als ob ich gegen die Strömung zur Quelle vordringen wollte. Und dann - ganz plötzlich - sah ich es! Oder hörte ich es? Ein weiterer Zwergwolf, dessen frecher Blick mir schon beim Eintritt in die Kugel aufgefallen war, spähte mir entgegen wie ein offenes Buch! >Ich bin Masha, Dashas Zwillingsschwester. Aber denk jetzt bloß nicht, ich hab auch Angst vor dir, nur weil du groß bist!< »Oh!«, rief ich und merkte gleich, wie das die anderen störte.
Der Admiral beäugte mich streng und morste: >Du lernst schnell, Junge. Aber bitte: keinen Ton!« Ich sah Masha an. Sie morste ihrem Nachbarn gerade: »Er heißt Quentin.< Ich fand es phantastisch, dass ich plötzlich Blicke regelrecht lesen konnte, und malte mir die Möglichkeiten aus, die sich daraus ergaben. Da erreichte mich von der Seite ein kleiner Zettel. Ich faltete ihn auseinander und las: Der Vorhang fällt, die Sense ficht; Ich stürz hinab ins tiefe Schwarz. Das Licht geht aus, ich merk es nicht; Drum ruf ich nur: Adieu, das war's!
Der Admiral bemerkte, dass ich die Zeilen nicht verstand. Er hielt sich eine Hand vor die Augen, sodass nur ich seinen Morseblick lesen konnte. >Das ist wieder typisch für den Lichtwicht Otoll. Er schreibt Gedichte, da kommt einem das Zuhören wie Schokolade essen vor. Allerdings schlägt er stark aus der Art. Lichtwichte sind normalerweise heitere und optimistische Wesen. Otoll aber leidet unter einer sehr starken Todessehnsucht, gekoppelt mit einer schier unbegreiflichen Lebensangst. Es ist fast unmöglich, ihn davon zu überzeugen, 34
dass der Tod nicht der einzige Sinn und Zweck des Lebens ist. Die Ursachen dafür sind völlig unklar.< Ich betrachtete den Lichtwicht eingehend. Ein irgendwie sympathischer Kerl mit schüchternem Blick, in der Kleidung eines Totengräbers - rabenschwarz. Oberflächlich betrachtet hätte er fast ein Mensch sein können. Allerdings erinnerte mich seine Haut an frisch gefallenen Schnee, zart und weiß. Seinen schmalen Lippen war ein hauchdünnes Lächeln angeboren, auch das schien sich mit seiner Todessehnsucht gar nicht zu vertragen. Kein einziges Haar konnte ich auf Otolls Kopf oder an seiner Hand entdecken. Später erfuhr ich, dass das seinen Sinn hatte. Denn Lichtwichte ernährten sich ausschließlich von Licht, das sie über ihre Haut aufnahmen. Haarwuchs störte da nur. Vor Otolls Brust baumelte ein lederner Beutel, in dem er seinen Notizblock trug, an der Seite war ein Fach für den Stift, mit dem er schrieb. In seinem Blick saß ein Funkeln, das mir vorkam wie eingesperrte Freude. Der Admiral begegnete dem Blick eines seltsamen Wesens, das neben Masha saß. >Berry! Wann lernt auch ein Erdbeerwaran wie du endlich richtig Morsen? Er heißt nicht Qäcktin, sondern Quentin. Er muss sich auf das Quiz des Teufels vorbereiten.« >Das schafft doch keiner!«, morste Berry vorlaut zurück und bereute es gleich wieder. >'tschuldi-gungFolge mir unauffällig!«, sagte er. Die Gestalt, die mir diesen Blick zuwarf, war niemand anderes als der schöne Drachling Lydia. »Lydia!«, rief ich aus voller Kehle. Noch im selben Augenblick fiel mir ein, wie dumm das war. Wieder schnappte ich ihren Blick auf. >Quentin, du bringst uns in Gefahr! Folge mir mit etwas Abstand!« Ich tat, was Lydia sagte. 126
Nach einigen Minuten verließen wir den großen Platz, überquerten einige Straßen von der Breite von Flugzeuglandebahnen. Hier waren viel weniger Wesen unterwegs. Hin und wieder sah ich Schleichnasen, die ihren Riecher an alles hielten, was ihnen begegnete. Urplötzlich blieb Lydia stehen. Sie sah sich hastig nach allen Seiten um und schlug dann den Weg in eine Gasse ein, die so schmal war, dass ich alleine die ganze Breite einnahm. Die Bauwerke, die uns hier umgaben, waren deutlich älter als die auf dem großen Platz. Die Gasse war wie ausgestorben. »Augen und Nase zuhalten!«, zischte Lydia mir zu und schlug wieder einen Haken. Auch diesmal tat ich, was sie sagte, und spürte, wie etwas auf mich niederrieselte. Als ich die Augen kurz darauf wieder öffnete, flüsterte Lydia mir zu: »Pfefferschleuse! Kleine Sicherheitsmaßnahme gegen Verfolger! Wir sind gleich da!« Wir waren mitten in einem Labyrinth der Gassen. Türen und Fenster, an denen wir vorbeikamen, waren geschlossen. Nur ein kleines Stück weiter stoppte Lydia an einer Steinwand. Sie tastete mit ihren zarten Händen eine Fuge zwischen zwei Steinblöcken entlang und schob an einer bestimmten Stelle ihre Finger durch. Plötzlich knirschte es und ein großer Steinblock schob sich zur Seite. Sie ließ mich durchgehen und folgte mir rasch. Sofort schloss sich das Loch in der Mauer wieder. Wir standen in einem erstaunlich hellen Raum und mir blieb die Luft weg, als ich sah, wer auf mich zukam: Ein bis an die Zähne bewaffneter, sehr junger Tartarassel, dem die Kampfeslust ins Gesicht geschrieben stand. »Uh, der stinkt ja wie ein ganzer Sack übler Nachrede!«, rief der Tartarassel. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist er mit einem Gerüchtehändler in die Stadt gekommen«, erläuterte Lydia. »Quentin, das ist Mayo, der einzige Tartarassel, der auf unserer 127
Seite steht.« Der Tartarassel musterte mich misstrauisch. »Das soll unsere große Hoffnung sein?«, murmelte Mayo. Lydia achtete nicht darauf. »Quentin, komm, wir haben keine Zeit zu verlieren!« Ich rannte ihr nach und hinter mir hörte ich den schweren Schritt des Tartarassels. Wir liefen einen Gang entlang, der stark anstieg. Am Ende gelangten wir zu einer in Stein gehauenen Wendeltreppe, die wir hochstiegen. Oben kamen wir in einen großen Raum, in dem Betten standen, eine kleine Feuerstelle und ein Tisch mit einigen Stühlen. Bevor ich feststellen konnte, dass dies so etwas wie die Zentrale im Kampf gegen den Teufel war, fiel mir die Liege in der Ecke auf. Darauf lag Otoll! Ich stürzte hin. Der Lichtwicht schien mich nicht zu bemerken. Es ging ihm sehr schlecht. »Otoll!«, flüsterte ich. »Er kämpft mit einem schweren Fieber«, erklärte Lydia. »Der Infonaut hat ihn kurz vor dem Stadttor erwischt...« »Wird er wieder gesund?« »Wir wissen es nicht«, gab Lydia zu. »Lasst uns nicht herumjammern«, knurrte Mayo. »Jetzt müssen wir loslegen!« Auch wenn mich der Anblick Otolls noch mehr entmutigte, war ich fest entschlossen meinen ganzen Kampfeswillen zu zeigen. »Gut, trommelt alle eure Leute zusammen, von mir aus kann der Kampf beginnen!« Lydia warf Mayo einen Blick zu, den ich aus diesem Winkel nicht lesen konnte. »Quentin, ich glaube, du hast etwas falsche Vorstellungen. Wir hier, das sind alle.« »Ihr seid zu ... zweit?«, fragte ich und ich spürte, wie mir eine Lähmung durch alle Glieder schoss. »Aber was ist mit Dario?« »Dario kümmert sich um Belphegor. Lass uns alle hoffen, 128
dass er Erfolg hat. Denn wenn er den Roten nicht außer Gefecht setzen kann, schweben wir hier in Todesgefahr. Der Infonaut hat Otoll sämtliche Informationen abgesaugt, auch über dieses Versteck.« »Ihr, wir ... sind zu dritt?«, stammelte ich. »Na ja, Maria nicht mitgerechnet...«, sagte Mayo. »Lass Maria aus dem Spiel, die brauchen wir für die Operation!«, sagte Lydia streng. »In welche Geschichte bin ich hier eigentlich reingeraten?«, fragte ich laut. »Ich wollte doch nur meinen Vater retten. Ich kann nicht mehr ...« Ich setzte mich an Otolls Bett und hielt die Hand des Lichtwichtes, nicht nur um ihn, auch um mich selbst zu trösten. Ich fühlte mich schwach, ausgelaugt und elend. »Quentin, gib nicht auf. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der du die ganze Wahrheit erfahren sollst!« »Dann sag mir endlich, was das Ganze hier soll! Wofür mache ich das eigentlich alles? Sag mir, wo mein Vater ist! Sag mir, wie es weitergeht!« Ich schrie. Lydia warf Mayo einen Blick zu. »Quentin, wo dein Vater ist, müssen wir selbst erst herausfinden. Bevor wir darauf eine Antwort haben, musst du wohl oder übel versuchen im Quiz zu bestehen.« »Aber wozu das alles?«, fragte ich und spürte, dass ich bald verzweifelte. »Zeig es ihm doch«, schlug Mayo vor. Lydia überlegte nur kurz. »Gut, wenn du es unbedingt wissen willst, dann zeige ich dir, wozu du das alles machen musst. Ich zeige dir, wie die Macht des Teufels funktioniert. Und wie wir sie bekämpfen können. Wir haben noch ein paar Stunden bis zum Beginn des Quiz. Jetzt tun wir etwas, was sich lange keiner mehr getraut hat. Wir werden an den Ufern des Schwarzen Sees waten!« 129
Lydia zeigte mir ihre andere Seite. Keine ruhige Denkerin, sondern ein kampfbereiter Drachling, der es nicht abwarten konnte, in die Schlacht zu ziehen. Wir rannten durch die Gänge und verließen das Labyrinth der Gassen. An der nächsten Ecke war praktischerweise ein Flitzpiepenstand und Lydia mietete eine. Als das langhaarige Tier das Fahrtziel hörte, wollte es uns sofort wieder abwerfen, aber Lydia gelang es, die Flitzpiepe zu beruhigen und durch Erhöhung des Fahrpreises doch noch zum Flug zu bewegen. »Lydia, wo liegt der Schwarze See?«, fragte ich. »Am östlichen Rand von Satanopolis«, antwortete sie. »Und was erwartet uns dort?«, hakte ich nach. »Der Schwarze See ist praktisch das Arbeitszimmer des Teufels!« Eine Weile ließ ich meinen Blick nach unten über dieses Häusermeer gleiten. Plötzlich hörten die Gebäude auf und wir kamen in eine völlig andere Gegend. »Was ist das da drüben?«, fragte ich und zeigte auf einen 130
gigantischen Krater. »Das ist das Auge!«, rief Lydia. »Dort fällt in dieser Nacht die Entscheidung über unsere Zukunft, Quentin. Dann bist du am Ziel!« Am Ziel der Verderbnis!, dachte ich und sah, wie Lydia der Flitzpiepe etwas zuraunte. Sofort flog die einen großen Bogen und nahm direkt Kurs auf das Auge. Wieder drängte sich der Vergleich mit einem Ameisenhaufen auf, aber von den Ausmaßen eines Ameisengebirges. Nicht enden wollende Ströme von Wesen bewegten sich auf den Krater zu. Als wir begannen darüber zu fliegen, wurde mir beinahe schwarz vor Augen. Ein Krater, in dem ein ganzer Ozean Platz gehabt hätte. An den Hängen wehte ein Meer von Fahnen, die Fahnen Aholls, dem Paradies des Teufels. Da die Flitzpiepe hoch flog, konnte ich das Motiv auf der Fahne nicht erkennen. Ich meinte einen schwarzen Punkt auf einem kleinen Flammenmeer auszumachen. Genau in der Mitte des Kraters war eine kleine Fläche erleuchtet, das war die Bühne, auf der nachher das Quiz vonstatten ging. Dort sollte ich dem leibhaftigen Teufel begegnen und ich hätte einiges darum gegeben, jetzt schon zu erfahren, wie er aussah. War er ein drachenähnliches Monster? Oder klein wie eine Laus? Dabei fiel mir Berry ein. »Was machen die anderen aus der Akademie? Warum sind sie nicht hier, um zu kämpfen?«, fragte ich den Drachling. »Zu grün hinter den Ohren. Nur der Admiral käme infrage, aber der muss die Akademie besetzt halten. Wir brauchen einen Ort für den Nachwuchs.« »Und du? Wie kam es, dass du in der Akademie warst vor sieben Tagen?«, fragte ich. »Ich wusste von den Plänen Zebuls und wollte feststellen, ob du für unsere Sache zu gebrauchen bist. Aurora und ich hatten vereinbart, dass sie dich in die Akademie bringen würde.« »Bist du auch durch die Öffnung hierher nach Aholl 131
gekommen?«, fragte ich. »Ja«, antwortete Lydia. »Wie Otoll, nur etwas später. Otoll hat sich heimlich durch die Öffnung hinter dir hergeschlichen, was eigentlich gegen die Abmachung war. Er sollte die Stellung in der Akademie halten. Aber im Nachhinein bin ich ganz froh, dass er es nicht getan hat. Dadurch, dass er den Verrat an dir vorgetäuscht hat, haben sich Belphegor und Gorgonzola in Sicherheit geglaubt. Das gab uns Zeit, hier einiges vorzubereiten.« Wir flogen nun über das letzte Stück des Kraters. Dort konnte ich eine rote Anzeige mit einigen Zahlen entdecken: 666.999.666.998 : 1. »Was bedeutet das?«, fragte ich Lydia. »Das ist der aktuelle Wettstand für das Quiz«, antwortete sie. »Die eine Stimme für dich ist übrigens von Mayo und mir. Als du mich auf dem Platz des Ahollischen Grauens getroffen hast, kam ich gerade aus dem Wettbüro. Wir sind gleich da! Schau!« Die Flitzpiepe ging in den Senkflug. Ich meinte zu spüren, wie sie leicht zu zittern begann. Vielleicht war es aber nach dem längeren Flug nur Vitaminmangel. Doch dann sah ich eine dunkle Fläche, die das Licht der untergehenden Sonne verschluckte. Das musste der Schwarze See sein! Wenig später landete die Flitzpiepe. Mit einem fordernden Grunzlaut verlangte sie die Bezahlung, die Lydia ihr versprochen hatte. Lydia beugte sich vor und flüsterte der Flitzpiepe etwas ins Ohr. Daraufhin flog das Vieh zufrieden davon. Auf meinen fragenden Blick hin sagte Lydia: »Ich habe sie mit der üblichen ahollischen Währung bezahlt. Mit falschen Versprechungen und einigen Schmeicheleien. Und ich habe ihr noch ein kräftiges Trinkgeld gegeben.« Dieser Drachling überraschte mich immer wieder. »Lass uns hier im Schatten der Büsche näher an den See rangehen«, schlug sie vor. 132
Auch mir schien es ratsam, möglichst in Deckung zu bleiben. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, das klang wie ein »Blubb«. Da war es wieder: »Blubb.« »Hörst du das?«, fragte ich Lydia. »Natürlich. Sieh doch. Es kommt aus dem Wasser!«, flüsterte sie. Wir sahen beide wie gebannt auf die Wasseroberfläche. Wasser von einem Schwarz wie Erdöl. Dagegen war der Martialische Ozean fades Spülwasser. Plötzlich machte es wieder »Blubb« und wir entdeckten ziemlich in der Mitte eine kleine rabenschwarze Seifenblase, die langsam in die Höhe stieg. Aus der Blase kam ein Geräusch, das mich an den Pausenlärm eines Schulhofes erinnerte. Schreien und Murmeln und Raunen und Wispern wild durcheinander. Ich verfolgte die schwarze Seifenblase mit meinem Blick und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass sie sehr hoch stieg und von wabenartigen Wolken am Himmel verschluckt wurde. »Blubb«, machte es wieder und erneut stieg eine schwarze Seifenblase in die Luft. Doch diese nahm einen anderen Weg als die vorige. Sie schien nicht steigen zu wollen und begann zu sinken. Da wehte plötzlich ein fauliger Hauch aus dem See nach oben und die Blase begann zu glühen, stieg wieder hoch und explodierte zu einem kleinen Feuerball, der sich in schwarzen Rauch auflöste. Der Rauch zog in einen Kanal, der vom See wegführte. Ich ahnte, dass der Kanal hoch oben am Räucherturm endete, dort, wo ich geschmort worden war. Ich schüttelte mich vor Ekel bei dem Gedanken daran. »Was ist das?«, fragte ich. »Das ist die ganze Macht des Teufels«, stellte Lydia fest, als ob wir uns bei einer Museumsbesichtigung befänden. »Jede Blase hat der Teufel persönlich hergestellt und ihr Leben eingehaucht. Wir nennen eine solche Blase »Memo«. »Memo? Und was ist ein Memo?«, fragte ich. »Im Grunde ein heimtückisches Virus. Es verpestet unsere 133
Gedanken.« Mein Blick war ein Fragezeichen. Lydia bemerkte es. »Ein Memo ist eine Anweisung. Ein Memo sagt dir, was du denken sollst. Es schleicht sich in deine Gedanken und lebt dort.« »Es lebt?«, fragte ich fassungslos. »Ja, wie eine Art Gedankenzecke ...» »Woran erkennt man Memos denn?« »Hier, wo sie entstehen, ist es relativ einfach. Da sind sie ja noch völlig nackt, unverkleidet, schwarze Blasen. Aber später, wenn sie in deine Welt gelangt sind, da tarnen sie sich geschickt. Sie kommen daher als Melodie, als Mode, als Witz, über den du lachen musst. Als Bildergeschichte, als etwas, das dir ein Freund erzählt. Memos verstellen sich und haben doch nur eins im Sinn ...« »Was?«, fragte ich angeekelt. »Sie wollen, dass du tust, was sie dir vorschreiben. Und dass du andere damit ansteckst. Sie wollen sich verbreiten. Und dann zeigen sie ihr wahres Gesicht. Die Melodie wird zum Ohrwurm. Bilder überfluten dich und gehen dir nicht mehr aus dem Kopf, bis sie dich restlos beherrschen. Moden werden zu Uniformen. Gerüchte gaukeln dir vor, sie wären Wirklichkeit. Du glaubst, du bist Herr deiner Gedanken, dabei ist es umgekehrt: Memos beschäftigen sich mit dir und bestimmen, was du denkst. Memos machen dich zum Diener des Teufels. Und du merkst es nicht mal.« Allmählich verstand ich, was ein Memo war, und ich zweifelte keine Sekunde an ihrer Tücke. »Erinnert mich an einen Kettenbrief...«, murmelte ich. Lydia nickte. »Kein schlechter Vergleich. Genauso funktioniert ein Memo des Teufels. Sobald es dich erreicht hat, beschäftigst du dich mit ihm. Es ernährt sich durch die Aufmerksamkeit, die du ihm gibst. Es verspricht dir Reichtum, wenn du es verbreitest. Es droht dir mit hundert Jahren 134
Unglück, wenn du es in den Abfalleimer für düstere Gedanken schmeißt. Also führst du seine Anweisungen aus und verbreitest es. Und in dem Moment hat es sein Ziel erreicht. Du bringst es unter die Leute. Aber nur derjenige, der es in die Welt gesetzt hat, hat etwas davon.« »Und wie verlässt ein Memo Aholl?« Lydia zeigte hoch an den Himmel über Aholl. »Entweder schwebt es als schwarze Blase direkt in die wabenartigen Wolken dort oben am Himmel Aholls. Wenn viele Memos dort oben angekommen sind, färben sich die Wolken schwarz und es ist so, als ob es Memos in die Träume der Menschen regnet. Darum nennen wir den Himmel dort oben die Albtraumwaben. Was passiert, wenn ein Memo dem Teufel nicht schlecht genug ist, hast du eben selbst gesehen: Mit einem Hauch aus den Tiefen des Sees hilft der Teufel nach. Die Blase verpufft zu dem schwarzen Rauch und kriecht in die Kanäle dort drüben am Ufer des Sees. Sie steigen durch den Räucherturm in die Welt hinaus. Der Nebel schleicht sich überall rein, durch jede Ritze. Du weißt ja, wie der Nebel wirkt...» Ich nickte und wehrte mich gegen die Übelkeit, die ich sofort spürte. Ich umfasste den Stein, der noch um meinen Hals hing, und musste an Otoll denken. »Was kann man tun, dass Memos einen nicht befallen?«, wollte ich wissen. »Wenn sie sich einmal in unsere Gedanken geschlichen haben, muss jeder seinen eigenen Weg finden, sie zu bekämpfen. Wir brauchen so eine Art Antivirus, das ist ganz unterschiedlich. Wichtiger ist die Frage, wie bekämpfen wir sie hier, an der Wurzel? Das ist die entscheidende Frage! Das ist es, wofür wir kämpfen. Für einen Weg, die Memos hier zu vernichten, wo sie entstehen. Wir müssen verhindern, dass der Teufel die Welt mit seinen Memos überflutet. Dass wir alle nur noch das tun, was seine Macht vergrößert. Dass wir nur noch denken, was ihm in sein Konzept passt. Erinnere dich, was du gefühlt hast im Nebel 135
des Räucherturms. Das blüht der ganzen Welt, wenn wir die Lösung nicht finden. Du, Quentin, kennst die Lösung. Wir hoffen nur, dass sie dir rechtzeitig einfällt!« Eigenartigerweise musste ich genau in diesem Augenblick an Aurora denken. Doch ich schob den Gedanken schnell beiseite. Es war höchste Zeit, dass wir uns aufmachten. Ich wollte schließlich pünktlich zum Quiz erscheinen.
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In den Krater gelangte ich über eine Brücke aus schwarzem Marmor. Kaum hatte ich sie überschritten, bemerkte ich, wie sie hinter mir knirschend hochgezogen wurde. Ich war wohl der, auf den alle warteten, der Leckerbissen im Walpurgismenü des Teufels. Jetzt konnte ich ihm nicht mehr vom Teller springen. Und jetzt wollte mich auch niemand mehr aufhalten. Lydia war sich dessen ganz sicher gewesen, als sie mich vor dem Eingang zum Krater abgesetzt hatte. »Hab keine Angst, bis zum Beginn des Quiz bist du außer Gefahr. Auch wenn du uns nicht siehst, wir lassen dich nicht aus den Augen. Gute alte Schule des Admirals, dachte ich. Aber es leuchtete mir auch so ein: Schließlich konnte das Quiz nur mit mir stattfinden. Schon am Schwarzen See hatte ich kurz daran gedacht, ins Wasser zu springen und den Teufel gleich dort zu einem Duell zu zwingen. Aber Lydia hatte mich davon überzeugt, dass es sinnlos war. In der schwarzen Brühe hätte ich gar nicht gewusst, wonach ich suchen sollte. War es eine Wasserschlange? Eine giftige Koralle? Am Ende hätten seine Memos meine Gedanken so verstopft, dass sich mein Gehirn daran verschluckt hätte. 137
Schon hier, im Torbogen zum Krater, brauste mir das Getöse aus dem Innern wie eine Druckwelle durch den Körper. Der Boden vibrierte wie bei einem Erdbeben. Was wusste ich über das Quiz? Eigentlich nichts! Ich hatte bei meiner Durchquerung von Aholl nichts darüber erfahren, außer dass es noch niemals jemand gewonnen hatte. Ich wusste nichts über die Fragen, ich wusste nicht einmal, was der Hauptpreis war. Ich hatte mich im irrwitzigen Vertrauen auf die Zusage eines Schurken darauf eingelassen. Angeblich sollte ich eine verborgene Fähigkeit haben, die so wichtig war, dass sie Aholl verändern konnte. Zebul hatte versprochen, dass ich sie erfahren würde, wenn ich zum Quiz erschiene. Was konnte ich auf das Versprechen eines Toten geben? Was war das Versprechen eines Wesens aus dem Paradies des Teufels wert? Auch Lydia hatte so eine Andeutung gemacht, als ob ich die Kraft in mir hätte, die Macht des Teufels zu brechen. Ich kam mir vor, als ob ich unbemerkt einen Kirschkern verschluckt hätte und jetzt alle darauf warteten, dass ich ihn in hohem Bogen ausspuckte. Wie in aller Welt sollte ich Memos stoppen, die der Teufel auf die Reise in die menschlichen Köpfe schickte? Ich und verborgene Kräfte. Ich fühlte mich wie ein Hering im Kampf gegen den schwarzen Hai. Es war jetzt kurz vor Mitternacht. In wenigen Minuten begann das Quiz des Teufels. Einen Rat Lydias befolgend, plante ich, mich am Rand des Kraters einem der Tartarasseln zu stellen und ihm einfach zu sagen, dass ich der Kandidat wäre. Doch es sollte anders kommen. Wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, machte mir die Menge Platz. Ich konnte durch die unterirdischen Gänge des Kraters marschieren, endlose Treppen hinuntersteigen, ohne einmal angesprochen oder aufgehalten zu werden. Ein Feuerwerk von düsteren Blicken traf mich, aber niemand traute sich mich anzufassen oder sich mir in den Weg zu stellen. 138
Ich dachte gar nicht darüber nach, dass ich nicht einmal jemanden nach dem Weg fragen musste. Ich ließ mich von etwas leiten, was ich einfach nicht aus meinem Kopf bekam - Zebuls Melodie! Schlagartig wurde mir klar, dass das nichts anderes war als ein Memo. Ein Memo, das mich beherrschte, eines, das mich jetzt in die Finsternis führte. Als ich das Tor ins Innere des Kraters erreicht hatte, war es so still, dass ich glaubte, die Teufel-Fans, die an den Hängen des Auges auf meinen Untergang warteten, hätten den Krater bereits verlassen. Aber ein Rundumblick zeigte mir: Bis in den Himmel erstreckten sie sich, Körper an Körper, Kopf an Kopf, und darüber tobten die riesigen Fahnen, die wie Monsterzungen in den schwarzen Himmel leckten. Jetzt konnte ich darauf das ahollische Wappen erkennen: Es war ein weißer Untergrund mit einem kleinen, rot-gelben Flammenherd, auf dem eine schwarze Seifenblase lag. Oder war es ein schwarzes Ei? Als ich in dieser beinahe lautlosen Atmosphäre in das Zentrum des Kraters ging, schlug plötzlich eine schwere Glocke. Das war das Zeichen. Die Massen begannen von einer auf die andere Sekunde zu toben und zu schreien, dass mich das Gebrüll hinwarf. Ein Fahnenmeer an den Hängen und ein Blick auf die Anzeigetafel zeigte mir, dass mir niemand außer Lydia und Mayo zutraute, hier aus diesem Teufelskessel als Sieger herauszugehen. Drohungen zischten mir um die Ohren, die ich sofort aus meinem Gedächtnis tilgte. Die Bühne war eine ovale Marmorfläche, über die ein Hauch von schwarzem Nebel strich. Als ich die Bühne betrat, entdeckte ich eine steinerne Liege, die exakt die Form eines liegenden Fragezeichens hatte. Ich steuerte darauf zu und wusste wieder aus unerklärlichen Gründen, dass dies mein Platz war. Kaum hatte ich es mir dort einigermaßen bequem gemacht, konnte ich die ganze Dimension dieses Kraters erkennen. Mir wurde jetzt auch klar, warum die Scheinwerfer dauernd 139
wackelten. Sie waren in die Tentakel von Blauekeln gesteckt worden, die damit wie kleine Helikopter die Bühne umflogen. Die Glocke schlug zum zweiten Mal und ich be-schloss mich einfach dem hinzugeben, was jetzt kommen sollte. Schließlich war ich nicht freiwillig hier, sondern war im Grunde gezwungen worden. Ich beobachtete die Ränge. Kein bekanntes Gesicht. Natürlich nicht. Dafür massenweise Wesen, deren hasserfüllte Visagen mich schaudern ließen. Ich war umringt von Feinden, unter denen ich den schlimmsten jetzt erst erkannte. Er stand fast versteckt hinter einer Säule, die die oberen Tribünenränge stützte. Ein Gesicht, das dort nur einen Bruchteil hervorlugte, um dann zu verschwinden. Es war der Schimmelkopf Gorgonzolas! Sein kurzer Blick traf mich wie ein brennender Pfeil! Was tat der elendige Prospektor hier inmitten der Hooligans? Heckte er einen finsteren Plan aus, um mich in letzter Sekunde vom Quiz abzuhalten? Nein! Dieser Kampf war entschieden. Und das stand in Gorgonzolas Blick: Rache! Rache dafür, dass nun der Traum seines Herrn und damit sein Traum zerstört war. Belphegor und er hatten für ihre Ziele ihre ganze Macht eingesetzt - vergebens. Der Rote wollte selbst Teufel werden, indem er verhinderte, dass das Quiz stattfand. Indem er mich davon abhielt, hier auf dieser Bühne dem Teufel zu seinem Gedächtnis und seiner Macht zu verhelfen. Aber ich hatte Belphegor besiegt! Komischerweise zündete nicht der kleinste Funken Freude in mir. Ich wusste, dass ich nur einen kleinen Kampf gewonnen hatte, die Schlacht aber würde ich verlieren. Wie um das zu bestätigen, schlug die Glocke ein drittes Mal! Es wurde wieder so still, dass man glauben konnte, der Krater wäre ausgestorben. Der Grund war diesmal nicht gespannte Neugier wie bei meinem Auftritt, sondern pure Furcht. Ein Zug von Tarta-rasseln marschierte begleitet von Blauekeln mit 140
Scheinwerfern in das Kraterinnere. Das Ganze wirkte wie eine Prozession. Tatsächlich begannen die Zuschauer zunächst leise, dann immer lauter werdend eine Melodie zu summen. Es war dieselbe grauenvolle Melodie, die mich seit dem Tod Zebuls nicht mehr in Ruhe gelassen hatte. Jetzt erst entfaltete sie ihren ganzen drohenden Klang, als ich erkannte, dass jeder hier im Krater diese Melodie kannte. Ich hatte die ganze Zeit den Schlachtgesang des Teufels im Kopf. Der Trupp von Tartarasseln trug eine Art Sänfte und es bestand kein Zweifel, dass in dieser Sänfte der Teufel stecken musste. Langsam näherte sich die Prozession der Bühne und ich richtete mich auf dem liegenden Fragezeichen auf. Der Stein war feucht und warm und ich musste erkennen, wie sehr Admiral Atarax Ataraxia bei mir versagt hatte. Ich war ein größerer Angsthase als jemals zuvor. Nun hatte die Sänfte die Bühne erreicht. Die Tartarasseln blieben stehen. Die vier Kerle griffen in die Sänfte hinein und begannen, etwas herauszuheben. Jetzt war es so weit! Jetzt würde ich, Quentin Fux, den Teufel zu Gesicht bekommen! Würden mir auch Fäden aus dem Körper wachsen, wenn er mich anstarrte? Ich schwankte zwischen Ekel, Entsetzen und Erstickungsanfall, als ich ihn sah. Ich hatte mir vieles vorgestellt und ausgemalt, aber das hier übertraf all meine Befürchtungen. Der Teufel war ein schwarzes Ei! Als das schwarze Ei aus der Sänfte gehoben wurde, tobte der erloschene Vulkan, als ob er erneut ausbrechen wollte. Die Tartarasseln stellten das Ei auf die Spitze und - ein Beweis für die Macht des Teufels - es blieb ohne jedes Hilfsmittel und ohne Stütze auf der Spitze stehen. Das Ei des Kolumbus, das man nicht erst 141
anschlagen musste. Dieses Ei gehorchte Gesetzen, die fern jeder Physik lagen. Der Teufel - ein schwarzes Ei. Das hätte ich mir nie träumen lassen! Die Tartarasseln zogen sich sofort alle zurück. Der Teufel und ich blieben alleine auf der Bühne. »Er soll dafür zahlen, dass er Luzifer brennen ließ!«, schrie eine hysterische Stimme von den unteren Rängen. »Ja, zahlen dafür soll er!«, brüllten jetzt die Massen und die Fahnen brachen in den Himmel. Offenbar waren alle gut informiert und die Sympathien eindeutig verteilt. Nun schlug die Glocke dreimal kurz hintereinander und in den Rängen schien nicht mal mehr geatmet zu werden. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Aber er soll zeigen, dass er es ist...«, sprach plötzlich jemand. Das war die Stimme des Teufels, sie kam direkt aus dem schwarzen Ei, das zwei Armlängen vor mir stand. Zeigen, dass ich es war? Das konnte nur bedeuten, dass ich das Siegel zeigen sollte. Ich wollte zuerst die Fläche meiner rechten Hand hochhalten, entdeckte aber in diesem Moment eine weiße Fläche auf dem Ei, die genau den Umrissen meiner Hand entsprach. Ich trat einen Schritt vor und presste meine Hand auf die Fläche. Sofort durchströmte mich ein Gefühl wie damals, als Zebul mir das Brandeisen des Teufels aufgedrückt hatte. Mit dem Unterschied, dass diesmal nach der Welle von Angst, Schrecken und Untergangsstimmung die Welle der Freude ausblieb. Das war damals wohl nur ein Köder gewesen. Als das vorbei war, sah ich, dass die weiße Stelle auf dem Ei nun schwarz war. »Er ist es. Das Quiz kann beginnen!«, sagte die Stimme aus dem Ei. Kurzer, hysterischer Jubel der Massen, dann wieder Stille. Niemand wollte sich auch nur einen leidvollen Augenblick von mir entgehen lassen. 142
»Was läutet ein die Niederlage?«, fragte die Stimme aus dem Ei. »Die allererste, schlimme Frage ...«, raunte der Chor in den Hängen. »Was wirst du später einmal werden?«, fragte das Ei kurz und bündig und begann aus dem Stand sich wie ein Kreisel um die eigene Achse zu drehen. Ich war irritiert. War das die erste Frage? Das musste sie sein! Warum drehte sich das Ei denn jetzt? Was ich später werde? Eine Frage, wie sie teuflischer nicht sein konnte. Hundertmal hatte ich schon darüber nachgedacht und nie eine Antwort darauf gefunden! Was wirst du später einmal werden? Bis jetzt hatte ich ja daran gezweifelt, dass es in diesem Quiz wirklich um wichtige Fragen des Lebens ging, nun aber waren alle meine Zweifel zerstreut. Das war mit Sicherheit eine der wichtigsten Fragen des Lebens. Und gleichzeitig eine der schwierigsten. Wer hatte darauf schon eine Antwort? Ich dachte an die eindringliche Warnung, die mir Lydia kurz vor unserem Abschied am Eingang zum Auge mitgegeben hatte: Sei auf der Hut, du musst im Quiz schmerzhafte Dinge über dich selbst erfahren. Aber für mich war hier schon Endstation. Bei der ersten Frage. Aus. Schluss. Ende. Frage eins - keine Antwort. Was wirst du später einmal werden? Ich war doch kein Prophet! Ich bemerkte, dass das Ei an Schwung verlor und sich langsamer drehte. Knall auf Fall wurde mir klar, dass das mein Zeitlimit war. Sobald das schwarze Teufelsei stillstand, musste ich antworten. Was wirst du später einmal werden? Wer konnte das schon beantworten, mit 13 Jahren. Dabei fiel mir mein Geburtstag ein. Ich hatte heute Geburtstag und wurde 14! Aber das half mir nicht. Mein Geburtstag scherte den Teufel einen Dreck. Das Ei stand still. »Was wirst du später einmal werden?«, wiederholte es und mir schien, es lag schon ein leichter Triumph in der Stimme. 143
»Zahnarzt«, rief ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Das Ei stöhnte entsetzlich. Aus seinem Innern drangen Geräusche wie von Knochenbrüchen. Was passierte jetzt? Das Ei bekam einen Riss, ein kleines Stück Schale brach ab und eine Hand schoss aus dem Ei heraus! Die Hand des Teufels! »Ahhhhhhh«, stöhnte es, als ob jemand nach tausend Jahren Tiefschlaf geweckt würde. Das Publikum tobte und schlug die Banner im Wind hin und her. Nun erkannte ich die volle Wahrheit. Mit jeder Frage, die ich nicht beantworten konnte, schlüpfte der Teufel ein Stück mehr aus seinem faulen Ei. Nicht genug, dass ich draufgehen sollte beim Quiz des Teufels, ich war auch dabei, den Teufel auszubrüten. Mit meinem Unwissen über mich selbst. Das war also mit dem verlorenen Gedächtnis gemeint. Ich selbst gab dem Teufel seine Gestalt. Ich selbst erschuf den Teufel durch das Versagen im Quiz. Der Teufel mein Geschöpf. Ich bekam auf einmal Angst vor mir selbst. Jedenfalls ließ die Klaue, die aus dem Ei wuchs, darauf schließen, dass aus diesem Ei das schrecklichste Wesen schlüpfen würde, das ich je gesehen hatte. »Ich fange an mich zu erinnern ...«, dröhnte es aus dem schwarzen Ei. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Die geschlüpfte Hand tastete über den Boden und suchte wohl gleich instinktiv nach etwas, das sie zerquetschen konnte. Aber in derselben Sekunde schoss mir die richtige Antwort auf die erste Frage durch den Kopf. Was wirst du später einmal werden? Das bezog sich gar nicht auf den Beruf. Älter! Älter würde ich werden! Ich hätte mich selbst erwürgen können. Meine erste Chance vertan. In einer Fangfrage die Antwort vergeigt. Dass mir das an meinem Geburtstag nicht eingefallen war! »Wer wird auch nun versagen?«, knurrte die Stimme jetzt 144
klarer aus dem Ei. »Der Kandidat - bei der zweiten von sechs Fragen!«, brummten die Heerscharen der Fans des Teufels. »An was glaubst du?«, blubberte es durch die Risse aus dem Innern und das Ei begann sich wieder auf der Spitze zu drehen, als ob eine unsichtbare Hand es aufgezogen hätte. Ich wusste, dass eine solche Frage kommen würde. Ich hatte es geahnt, gleich nach der ersten Frage. Und hätte ich Lydias Hinweise ernst genommen, ich hätte es wissen müssen. Es waren keine Fragen, die ich richtig oder falsch beantworten konnte. Es waren teuflische Fragen. Es waren Fragen, auf die man Antworten nicht in den Lexika findet. Es waren die Fragen, die man nur in sich selbst findet. An was glaubte ich? An die Rettung von Johannes Fux? An Schutzengel? An die Zukunft? An mich selbst? An was glaubte ich? An das Wissen der Welt? An Reichtum? An Gott? An was? Das Ei verlangsamte schon wieder seine Umdrehungen. Ich würde ihm wieder eine Antwort geben. Aber ich wusste, dass es die falsche sein würde. Weil ich keine Antwort auf diese Frage in mir hatte. Hätte ich eine gehabt, ich hätte sofort gewusst, ob sie richtig oder falsch war. Dafür hätte es nicht des Teufels in seinem Ei bedurft. Dem waren die Antworten völlig egal, der wollte nur schlüpfen, um seine ganze Macht zu erneuern. »Stopp!«, schrie ich und das Ei stoppte von einer Sekunde auf die andere. »Wieso >stopp