Leo Frank
Das Archiv
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1945 beginnt ihre Freundschaft. Willi Weiss und Herbert Win...
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Leo Frank
Das Archiv
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1945 beginnt ihre Freundschaft. Willi Weiss und Herbert Winkler, vom Schicksal direkt vom heißen in den kalten Krieg geworfen, arbeiten für den Geheimdienst. Zwanzig Jahre lang, dann trennen sich ihre Wege. Weiss heiratet und wandert in die USA aus. Zehn Jahre später erreicht ihn ein telefonischer Hilferuf Herberts. 48 Stunden später trifft Bill in Wien ein, doch Herbert ist bereits tot. Ermordet! Im Wettlauf mit Polizei und Geheimdienst macht sich Bill auf die Suche nach den Mördern seines besten Freundes. Was er herausfindet, versetzt seine Umgebung in hellen Aufruhr.. ISBN 3-404-14117-2 Gustav Lübbe Verlag GmbH Printed in Western Germany 1981 Einbandgestaltung: Creativ-Shop, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Befaßt sich ein Mensch zwanzig Jahre seines Lebens mit ein und derselben Materie, er muß zwangsläufig zum Experten, zum Fachmann werden. Es geht gar nicht anders. Selbst ein wenig Begabter, sogar ein Dummkopf wird nach zwanzig Jahren ein Sachverständiger. Ich habe mich zwanzig Jahre mit der Materie der Geheimdienste befaßt. In Theorie und Praxis. Es gehörte zu meinem Beruf. Es war eine vergeudete Zeit, ich hätte statt dessen Jo-Jo oder Bauchreden trainieren sollen. Heute wäre ich Weltmeister. Sie verstehen sicher, was ich meine, wenn Sie dieses Buch gelesen haben. Es ist ein Roman, eine erlogene Geschichte. Personen, Handlungen, alles erlogen. Leo Frank
I Wien, 1. November 1975 Ein Samstag, ein Feiertag: Allerheiligen. Es ist zehn Uhr Vormittag und es regnet. Herbert Winkler steht am Fenster seines Appartements - Zimmer - Kochnische - Badenische alles in allem zweiundvierzig Quadratmeter Wohnfläche, groß genug für einen Junggesellen. Er starrt hinaus in den Regen, auf die graue Straße, die grauen Fassaden der Häuser gegenüber und auf die Menschen unter Regenschirmen, die sich auf die Haltestelle einer Straßenbahn hin bewegen. Sie tragen Blumen oder Kränze und sind auf dem Wege zum Friedhof. Es sind fast nur ältere Menschen. Weiß der Teufel, wo die jungen Leute an diesem Vormittag geblieben sind. Es ist warm im Zimmer und rauchig. Ein Schrank ist da, die Türe offen. Ein paar Anzüge hängen darin, ein Ledermantel. Auf einem Tisch liegen Zeitungen, Zigaretten und ein Paar Socken. Der Aschenbecher ist randvoll. Zwei leere Bierflaschen stehen auf dem Boden. Das Bett ist zerwühlt, und das Leintuch eher grau als weiß. Die leise Musik im Radio wird unterbrochen von der Zeitansage, dann folgen Kurznachrichten. Österreichs Bundespräsident hat den Wahlsieger Kreisky formell mit der Regierungsbildung beauftragt. Franco in Spanien kann noch immer nicht sterben. In New York befürchtet man eine Revolution der Afro-Asiatischen Staaten der UNO gegen den Zionismus. Im Sicherheitsrat wird die Zyperndebatte neu aufgenommen. Die Zigarettenpreise werden steigen. Auf der Westautobahn forderte ein Verkehrsunfall fünf Tote. Dann spielt man wieder Musik. Herbert Winkler steht in Unterwäsche hinter dem Vorhang und raucht. Zu einem Pyjama oder Nachthemd hat er es nie gebracht, er war nie verheiratet. Sein Haar ist grau wie seine Bartstoppeln. Er ist 1,82 in groß und schlank, von hinten könnte man ihn für dreißig halten - aber er ist fünfzig, nur hatte -3-
er in seinem Leben nie Gelegenheit gehabt, fett zu werden. Er beobachtet die Menschen auf der Straße und die Regentropfen auf den Fensterscheiben. Er hat schlecht geschlafen. Ein Kaffee würde ihm guttun, aber sein StammEspresso an der Ecke hatte sicher geschlossen, wegen des Feiertages. Und um selbst Kaffee zu machen, fehlt ihm die Energie. Wenn er nicht die grauen Männlein und Weiblein beobachtet, mit ihren Schirmen und Kränzen, wenn er sich von dem faszinierenden Spiel der rinnenden Tropfen am Fensterglas losreißen kann, sieht er schräg über die Straße zu einem Opel 1700, Baujahr 1971. Ein gutes Fahrzeug, auch vorschriftsmäßig geparkt. An sich also kein Grund für diesen eigenartig düsteren, verkniffenen Gesichtsausdruck Herbert Winklers, wenn er sein Auto betrachtet. Dieser fünfzigjährige Mann in farbiger Unterwäsche, die eher einem Teenager passen würde, hat weder Familie noch Verwandte, nur einen einzigen Freund, den er jetzt dringend brauchen könnte. Aber dieser Freund lebt in New York, und es ist zehn Jahre her, daß er ihn zum letzten Mal sah. Allein aber, das spürt Herbert Winkler, kann er sein Problem nicht lösen. Es ist alles zu unübersichtlich, zu verworren. Ein kühler Verstand und Willenskraft wären jetzt nötig, sonst war alles verspielt, alles aus. Herbert Winklers Willenskraft reichte aber nicht einmal aus, einen Kaffee zu kochen. Er sieht wieder hinüber zu seinem Opel. Seit acht Stunden liegt eine Leiche im Kofferraum. Ein toter Mann um die Fünfzig, von dem Herbert Winkler nicht mehr weiß, als daß er ihn erschossen hat. Aus einem Meter Entfernung und in Notwehr, wie er hätte beschwören können. Aber wer würde ihm das schon glauben, nach alldem, was vorher passiert war. Bill Weiß würde wissen, was zu tun wäre. Der alte Bill hatte immer noch eine Idee, wenn andere längst am Ende ihrer Weisheit waren. Sein Freund Bill. Aber der verkauft oder repariert jetzt in New York Fernsehapparate oder streitet mit -4-
seiner Joan. Herbert Winkler hätte ebenfalls mit dem »Job« Schluß machen sollen, damals vor zehn Jahren, als Bill heiratete und in die Staaten ging. Zu zweit waren sie unschlagbar gewesen, aber für ihn allein war alles immer irgendwie falsch gelaufen. Bill fehlte eben. Die Ideen fehlten, ohne die der ganze Job nicht richtig lief. Und jetzt hatte er auch noch eine Leiche am Hals oder genauer gesagt im Kofferraum seines Opels und keine Ahnung, wie man den Kerl mit dem Loch zwischen den Augen loswerden könnte. Ihn einfach irgendwo zu deponieren, in einem Wald oder in eine Schottergrube, war keine Lösung. So viel verstand Herbert Winkler auch ohne seinen Freund. Bill und er hätten sich nie trennen sollen. Das war ein großer Fehler gewesen. Es hatte jetzt zu regnen aufgehört. Der Wind blies heftiger und heulte traurig um die Straßenecken, die Menschen spannten die Schirme ab und hielten sich die Hüte. Er könnte zu Polizeirat Hammerlang gehen, ihm alles erzählen. Er kannte Doktor Hammerlang von der Staatspolizei immerhin seit fünfundzwanzig Jahren oder länger. Hammerlang würde ihm glauben, natürlich, Herbert würde ja auch die Wahrheit sagen. Aber ihm helfen konnte der Polizeirat sicher auch nicht. Im Gegenteil, alles würde noch komplizierter werden. Schließlich war gerade ein erschossener Mann für die Polizei nicht etwas, das man einfach verschwinden lassen konnte. Polizeirat Dr. Hammerlang, das bedeutete ein Ermittlungsverfahren, tausend Fragen, es bedeutete, die Wahrheit sagen zu müssen. Eine Menge gefährlicher Unannehmlichkeiten also und schließlich das Ende des »Jobs«. Und wovon sollte Herbert Winkler dann leben. Seit fast dreißig Jahren verkaufte er Informationen an Geheimdienste. Hammerlang, das ging also nicht. Er mußte jetzt einen Kaffee haben. Wozu rasieren und ein Hemd anziehen? Ein Pullover und ein Regenmantel taten es auch. Er würde zu Fuß Richtung Innenstadt gehen, den Opel -5-
wollte er jetzt nicht anrühren. Irgendeine Kneipe in der Nähe würde schon offen haben. Er brauchte jetzt dringend einen Kaffee. Auf der Straße stellte Herbert Winkler den Mantelkragen hoch, der Wind fuhr ihm durch die Haare wie ein gereiztes Tier. Er ging hinüber zum Opel, sperrte auf, setzte sich hinter das Lenkrad, startete aber nicht. Er griff ins Handschuhfach, fühlte das kalte Eisen seiner 7.65er und hätte das Ding am liebsten in die Manteltasche gesteckt. Aber das wäre wohl blanker Unsinn gewesen. Er mußte sich von der Pistole jetzt ohnehin trennen. Ein blauer Citroen fuhr im Schrittempo vorbei, Herbert Winkler sah das Bremslicht rot aufleuchten und das Gesicht des Beifahrers, der sich umdrehte. Wahrscheinlich suchte er eine Parklücke. Er winkte ab, stieg aus und versperrte den Opel wieder. Der Citroen fuhr weiter. Fast vierzig Minuten mußte er flott stadteinwärts gehen, dann erst sah er das erste geöffnete Kaffeehaus. Er bestellte sich einen »Großen Schwarzen«. Eine üppige Blondine brachte den Kaffee, und er konnte den geringschätzigen Blick auffangen, den sie für den fremden, unrasierten Gast übrig hatte. Er sah diesem fetten Hintern im zu engen Rock nach und fand, sie habe kein Recht, geringschätzig zu blicken. Bluse und Schürze waren fleckig, und er hätte wetten können, ihre Unterwäsche war auch nicht am frischesten. Der Kaffee war heiß und tat ihm gut. Er trank einen zweiten. Dann bestellte er Gulasch mit Bier. Die Kneipe war gar nicht so übel, und man mußte heutzutage an Feiertagen froh sein, wenn ein Lokal überhaupt geöffnet war. Im Nebenzimmer wurde Billard gespielt, er konnte das Klicken der Bälle hören, auch das Fluchen der Spieler bei Fehlstößen. Am Nebentisch begannen zwei jüngere Männer Karten zu spielen; zu denen war die Kellnerin freundlicher, wahrscheinlich, weil sie gut angezogen waren. Es waren Ausländer, wie man hören konnte. Wahrscheinlich Gastarbeiter im Sonntagsanzug. Herbert Winkler versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die -6-
Leiche konnte er heute nacht vielleicht doch noch irgendwo im Wienerwald abladen, wo man sie erst nach Tagen finden würde. Seine Pistole konnte er in den Donaukanal werfen, wo man sie nie mehr finden würde. Aber was dann? Damit waren vielleicht ein paar Tage gewonnen, aber die Geschichte war nicht ausgestanden. Wann hatte das Ganze begonnen, diese Geschichte, die jetzt offenbar ihr böses Ende nahm. War es unweigerlich das Ende? Es sah so aus. So wie die Dinge jetzt lagen, gab es keinen Ausweg mehr. In einer Strafanstalt, abgeurteilt wegen Mordes oder, wenn er Glück hatte, wegen Totschlages. Sah so seine Zukunft aus? Er war kein Jurist, aber ihn hätte das Strafausmaß interessiert, das ihn erwartete, wenn alles gerecht zuging. Sicher gab es so etwas wie Überschreitung der Notwehr. Aber was dann noch alles dazukam: unbefugter Besitz einer Handfeuerwaffe, Nachrichtenübermittlung für eine ausländische Macht. Womöglich noch Verleitung zum Mißbrauch der Amtsgewalt, wenn alles aufgeblättert werden würde. Vergehen gegen das Paßgesetz, wegen seiner gefälschten Ausweise, Betrug durch Verfälschung amtlicher Dokumente, eine ganz üble Speisekarte war das, die er von oben nach unten durchzufressen hatte. Er war kein Jurist, aber was konnte das ausmachen, vier Jahre, sechs Jahre oder noch mehr? Was sollte danach kommen? Er war jetzt fünfzig, und in diesem Alter hat man keine Zeit mehr, sich in ein Zuchthaus zu setzen. Wann hatte diese ganze Misere wirklich begonnen, wo war der Anfang? Herbert Winkler trank jetzt Wein, und mit jedem Glas schien ihm die Kellnerin freundlicher. Auch die Flecken an ihrem Rock waren nicht mehr so arg. Die ganze Geschichte hatte wahrscheinlich mit Sonja begonnen, als er und Bill endlich ins »Große Geschäft« kamen. Genossin Sonja Tamara Beizin, Sekretärin der Sowjetischen Botschaft Wien. Bill hatte sie umgedreht damals, Bill war in der Form seines Lebens. Sechs Monate hatte er für Sonja gebraucht. -7-
Herbert Winkler bestellte ein neues Glas. Nein, das war es nicht. Der Anfang lag viel weiter zurück. Den Anfang machte die Begegnung mit Rossmanek. Hofrat Dr. Rossmanek war damals Chef der Wiener Staatspolizei. Damit hatte wohl alles begonnen. Der Wein war gut. Vielleicht war es gar nicht so falsch, sich einmal ordentlich zu betrinken. Oft hatte man dann die besten Ideen. Das Klicken der Billardkugeln wirkte beruhigend. Die beiden Gastarbeiter im Sonntagsanzug mischten und verteilten die Karten, als ob sie die nächsten drei Tage nicht aufhören wollten. Die Kellnerin kassierte, sie wurde abgelöst. Das nächste Glas Wein servierte ein alter Ober, dem man seinen Beruf deutlich ansah. Noch weiter mußte Herbert Winkler zurückdenken, noch viel weiter. Plötzlich war ihm alles klar. Begonnen hatte es, als er seinen Freund zum ersten Male traf; damals in Oedequart, 1945.
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II
Der April des Jahres 1945 war mild, ein Segen für Millionen von Menschen, die im Chaos des Kriegsendes die Straßen Europas bevölkerten. Das große Töten hatte aufgehört. Die Überlebenden einer gräßlich dezimierten Generation irrten zu Millionen durch die Länder. Flüchtlinge, Heimatvertriebene, die Befreiten aus Hitlers Konzentrationslagern, die plötzlich führerlos gewordenen grauen Massen der Großdeutschen Armee. Sie marschierten in alle Richtungen, auf der Suche nach neuen Heimstätten, auf der Suche nach ihren Familien, ihren alten, meist zerstörten Wohnungen, sie marschierten in Kriegsgefangenenlager, in Flüchtlingslager; die große traurige Völkerwanderung des zwanzigsten Jahrhunderts hatte begonnen. Es war, als ob der Herrgott Mitleid mit seiner gequälten Schöpfung hatte. Er ließ die Sonne warm scheinen, die Natur aufblühen, wie um zu zeigen, wie ewig und unvergänglich seine Welt ist, Bäume und Sträucher blühten, fassungslos bestaunt von Menschen, die längst keinen Blick mehr für einen Frühling gehabt, und die schon gemeint hatten, das Ende dieses Krieges sei das Ende aller Dinge. Oedequart in Hannover, ein Marktflecken, dreitausend Einwohner, zwei Kirchen, ein Gemeindeamt, drei Gasthäuser, eine Polizeistation, ein Sportplatz mit Stacheldraht umzäunt, einige Wachtürme aufgestellt, ein Lager für Kriegsgefangene daraus gemacht. Fünftausend ehemalige deutsche Landser, graue, ausgemergelte Gestalten, hockten und lagen herum und warteten, und es wurden mit jedem Tag mehr. Die Versorgung mit Lebensmitteln war notdürftig, ein Schöpfer Suppe, eine Scheibe Brot, die Tagesration. Stundenlanges Anstellen für diese Verpflegung und die Angst, der Suppenkessel könnte leer sein, bevor man dort war. -9-
Löffel und Kochgeschirr waren die wichtigsten Dinge im Lager. Die übliche Vorstellung, wie es in einem Kriegsgefangenenlager auszusehen hat, war völlig unangebracht. Es gab weder Zelte noch Baracken, noch sonstige Unterkünfte, es gab einfach nichts als Stacheldraht rund um einen Fußballplatz. Die hölzernen Fußballtore und markierten Strafraumlinien dieses ehemaligen Sportfeldes waren eine traurige Ironie zur Realität - so bald würde hier ein Schiedsrichter kein Freundschaftsmatch anpfeifen. Resignation war die große, unsichtbare Wolke, die über dem Lager hing. Großdeutschlands tapfere Soldaten waren gedrillt für den Angriff, für die Welteroberung. Aber niemand hatte ihnen je gesagt, wie sie sich im Falle einer Niederlage verhalten sollten. So verhielten sie sich dementsprechend. Sie taten nichts und warteten. Sie warteten auf Befehle. Vergebens. Es hatten sich kleine Gruppen und Grüppchen gebildet, kleine Lebensgemeinschaften in diesem Massenelend. Die Landser lagen haufenweise zusammen, größere und kleinere Haufen, und es gab Einzelgänger, die hatten es am schwersten. Der Gefreite Herbert Winkler ging von Gruppe zu Gruppe, hockte sich eine Weile hin, dachte nach und legte sich einen bestimmten Plan zurecht. Er schaute in die Gesichter dieser Menschen, als suchte er einen Freund, einen Vertrauten, einen Bruder. Dann fragte er, immer dasselbe: Was ist Kameraden, ich hau ab, geh' stiften. Geht jemand mit, ich brauche einen zweiten. Meist bekam er keine Antwort. Manchmal hörte er: »Du bist wohl blöde, Mensch. Jetzt noch 'nen kalten Arsch kriegen? Der Krieg ist aus, schon gehört davon?« Das waren die freundlichen Antworten. Manchmal war es schlimmer: »Du willst wohl rasch heim ins neue Österreich, -10-
was? Achtunddreißig habt ihr ‹Heim ins Reich¤ gebrüllt, wie die Irren. Jetzt seid ihr ja wieder Österreicher. Habt ja den Krieg nicht verloren, was? Hau ab, Ostmarksau.« Das tat weh. Es tat weh, weil es stimmte. Herbert Winkler war Österreicher oder Ostmärker, es war damals noch nicht leicht, es zu sagen. Er wollte heim. Es freute ihn, daß es wieder ein Österreich geben sollte, aber zugleich hatte er ein schlechtes Gewissen bei dieser Freude. Fast drei Jahre war er mit diesen Männern marschiert, hatte mit ihnen gesungen, gefroren, gehungert und manchmal auch gekämpft. Nun sollte er es auf einmal besser haben, nicht das Los einer besiegten Nation teilen müssen. Aber es war keine leere Parole, er hatte es selbst im BBC-London gehört: Da war irgendeine Gipfelkonferenz in Jalta, er wußte nicht genau, wo das war, auf der Krim wahrscheinlich, dort hatten die großen Vier ausgehandelt, daß es wieder ein Österreich geben sollte. Na also. Auch Stalin hatte zugestimmt. Das war großartig, aber der Gefreite Winkler kam sich fast wie ein Verräter vor. Das stimmte schon, 1938 als Hitler einmarschierte, hatten alle gebrüllt wie die Irren. Herbert Winkler war dabei, aber er war damals vierzehn Jahre alt und überall dabei, wo gebrüllt wurde. Aber ganz stimmte es auch wieder nicht. Sein Pepi-Onkel fluchte auf die Nazis wie verrückt, und die ganze Familie hatte Angst, daß er eingesperrt werden könnte. Die Frau Hornischer vom vierten Stock hatte sich am 13. März umgebracht. Mit Leuchtgas. Sie trugen sie die Stiegen hinunter, und der Winkler Herbertl war dabeigewesen. Ein paar Frauen hatten geweint, und als sie bei der Hausmeistertüre vorbeigingen, hörte man drinnen den alten Sedlacek brüllten: »Das erste Opfer von de Scheißnazi. Und es werd'n no Tausende nachkumma, Millionen, Millionen...« Dann hörte man das Klatschen von Ohrfeigen, Frau Sedlacek drosch wieder einmal ihren Mann - wenn er besoffen war, tat sie das immer - und sie schrie: »Kusch, kusch, willst uns alle in's Häf'n bringa, kusch!« Alle hatten damals nicht »Heim ins Reich« geschrien. Und warum sollte es auch -11-
nicht ein neues Österreich geben? Schon wegen der alten Komischer, die immer ein Zuckerl für den kleinen Herberterl hatte. Und wegen des Pepi-Onkels, den sie ein Jahr später eingesperrt hatten, weil er seinen Reisepaß einem Juden gegeben hatte. Geschenkt, nicht verkauft. Und was war mit dem alten Josef Winkler geschehen, seinem Pepi-Onkel? Erhängt hatte er sich, in seiner Zelle. Einfach aufgehängt, mit seinem Hemd, das er in Streifen gerissen hatte. Warum nur, mußte der Gefreite Winkler denken. Er könnte heute noch leben und seine Freude haben am Leben und am neuen Österreich. Trotzdem war es ein unangenehmes Gefühl, auf einmal etwas Besseres zu sein, als die Kameraden. Etwas Besseres, ein Österreicher. Aber schließlich, war es seine Schuld? Der Gefreite Winkler mit dem Funkabzeichen am Ärmel ging zur nächsten Gruppe hockte sich zu den Kameraden. Der Platz zwischen den einzelnen Gruppen wurde immer enger, immer mehr ehemalige Landser wurden auf dieses ehemalige Fußballfeld gebracht. Die Gruppen rückten zusammen, und die Suppenportionen wurden kleiner. Dort bei dem Fußballtor, das dem Eingang am nächsten war, etwa zwischen kleinem Strafraum und Elfmeterpunkt, war ein freier Platz, ungefähr zehn Meter im Quadrat. Dort lagerte niemand. Mit gutem Grund: Dort war eine provisorische Latrine, die heute morgen, weil voll, zugeschüttet worden war. Vorher hatten die Engländer Chlorkalk zur Verfügung gestellt. Zuerst also vier Säcke Chlorkalk, dann zwanzig Zentimeter Erde, oder noch weniger. Die neue Latrine wurde gleichzeitig neben dem anderen Tor ausgehoben, ein wenig größer und tiefer, aber auch zwischen kleinem Strafraum und Elfmeterpunkt. Sinn für sportliche Fairneß haben diese Engländer, das muß man ihnen lassen. Jemand tippte Herbert Winkler auf die Schulter, schon zum zweiten Mal, das erste Mal hatte er nicht reagiert, nur mühsam fand er sich in der Gegenwart wieder: Es ist der plattfüßige Ober, er will wissen, ob der Herr Gast noch etwas trinkt. »Noch -12-
ein Viertel.« Er sieht auf die Uhr, dreizehn Uhr dreißig. Die Gastarbeiter spielen immer noch Karten. Die Billardbälle klicken im Nebenzimmer. Das neue Viertel kommt. Herbert dachte wieder an Bill und wie notwendig er ihn jetzt brauchen würde. Fang von vorne an, sagte Bill immer, wenn ein Problem zu lösen war, ganz von vorne. Und wenn er getrunken hatte, zitierte er Goethe: Zuerst mein Freund, ich rat Dir drum, zuerst Collegium logicum. Oder so ähnlich. Herbert verstand das nicht wörtlich, aber sinngemäß. Und er war gerade dabei herauszufinden, wie und wann alles begonnen hatte. Kein Zweifel, damals in Oedequart, zwischen den Latrinen am ehemaligen Fußballplatz. Damals hatte alles begonnen, bei seinem ersten Zusammentreffen mit Bill. Niemand lagerte also näher als zwei Meter von der dürftig zugeschütteten Latrine. Verständlich. Neuankommende schauten verwundert, irritiert und wurden aufgeklärt. Sie zwängten sich zwischen die Gruppen, der Platz wurde eng. Ein Lastwagen am Lagertor spuckte etwa zwanzig weitere Kriegsgefangene zum Checkpoint. Nichts Außergewöhnliches, nur hatten diese Männer braune Uniformen an, unterschieden sich von dem Feldgrau der anderen Soldaten. Braune Uniformen. Nichts Schlimmes, nicht etwa SA- oder Parteibonzen, die trugen nicht mehr braun im Jahre 1945; es war eher eine traurige Gruppe der ehemaligen »OT« (Organisation Todt), also Leute aus dem Baufach oder der Industrie, und durchweg ältere Jahrgänge, die Mühe hatten, von dem Lastwagen herunterzukommen. Der Kommandant dieser müden, braunen Gruppe war im Gegensatz zu seinen Männern wesentlich jünger, höchstens dreißig, ein forscher Junge im Vergleich zu den anderen zumindest Fünfzigern, zwar im Braun der OT, aber doch noch widerstandsfähig genug, um eine Kriegsgefangenschaft durchzustehen. »Mir nach, Kameraden!« rief der forsche Jüngere und steuerte -13-
zielsicher auf den freien Platz zwischen kleinem Strafraum und Elfmeterpunkt zu. Die anderen Braunen waren sichtlich gewöhnt zu gehorchen und trotteten langsam nach. Der junge Forsche war klein, aber gut genährt. Einen Augenblick dachte der Gefreite Herbert Winkler, der Kleine muß wohl einen gesundheitlichen Schaden haben, sonst wäre es nicht möglich gewesen, daß er seine KV (Kriegsverwendung) in all den Jahren in eine GVH (Garnisonsverwendung - Heimat) umgewandelt hatte. Wie sonst käme ein so junger Knilch zur OT? Nun, der junge, braune Knilch marschierte geradewegs auf den ominösen leeren Platz zu, als ob die Engländer diesen Platz speziell für die Kriegsgefangenen der OT reserviert hätten. »Mir nach, Kameraden!« hörte der ehemalige Gefreite Winkler den kleinen Braunen noch rufen, lauernde Augenpaare beobachteten ihn. Noch zehn Schritte, noch fünf, noch zwei, niemand rührte eine Hand, kein Ruf ertönte. Dann stand der Kleine, wie zu erwarten, plötzlich bis zu den Brusttaschen in der Scheiße, gemildert durch eine dünne Schicht Chlorkalk und zwanzig Zentimeter Erde. Etwa fünftausend graue Figuren brüllten vor Lachen! So gemein kann der Mensch sein. Etwa fünftausend ausgemergelte, graue Kriegsgefangene lachten, zum ersten Male seit vielen Wochen. Es war ein böses Lachen, aber zugleich herzlich. Das war die Minute, in der der Funkgefreite Herbert Winkler den Infanteriegefreiten Wilhelm Weiss traf. Das also war der Anfang, damals hatte es begonnen. Herbert Winkler kniete sich zur nächsten Gruppe, sagte sein Sprüchlein auf: »Was ist, Kameraden, ich haue ab von hier, kommt jemand mit?« Niemand hörte auf ihn. Einige lachten noch über den kleinen Eifrigen, ein paar diskutierten, ob man ihn hätte warnen sollen. Einer wandte sich zu Winkler und sagte zerstreut: »Hau ab, du bist ja verrückt.« Einer sagte gutmütig: »Da war gerade noch so'n Verrückter hier, der will auch stiftengehn. Dort, der Lange dort«, er deutete in Richtung -14-
Fußballtor, wo die neue Latrine war. Herbert Winkler sah eine lange, magere Gestalt, die sich gebückt mit jemandem unterhielt, sich dann aufrichtete und weiterging. Zwanzig Sekunden später war er hinter ihm, tippte ihn auf die Schulter. Herbert Winkler erinnert sich noch heute an dieses Gesicht und die ersten Worte, die gewechselt wurden: »Was ist?« fragte der Lange. Unverkennbarer Dialekt aus Wien, Vorstadt, Floridsdorf oder Favoriten. Sie hatten beide dasselbe Ziel, die Ostmark oder Österreich -, man würde ja sehen. Und sie hatten beide die gleiche Idee, wie aus dem Lager herauszukommen war, denselben Fluchtplan: »Kamerad...«, sagte Herbert... »I has Willi.« »Willi«, sagte Herbert, »ich bin Elektriker. Das Problem ist nur der elektrisch geladene Zaun. Die Zuleitung ist dort beim rechten Corner, die zwei Paralleldrähte auf den Holzträgern. Ein Stein mit einem langen Draht, über die Zuleitung geworfen, gibt einen herrlichen Kurzschluß, man tanzt dann gemütlich unter dem Stacheldraht hinaus.« Der Lange, der Willi hieß, grinste aus seinem mageren Gesicht, holte aus seinen Taschen eine Rolle Draht und einen faustgroßen Stein. Was sollte man da noch sagen. Nicht viel, nur etwa: »Der Stein muß so über die Zuleitung geworfen werden daß der angebundene Draht auf beide Leitungen fällt »Ich war Handballer«, sagte Willi. Als es dunkel geworden war, stritten sie noch eine Weile, wer werfen sollte. Die Reputation des Handballers gab den Ausschlag. Der Wurf gelang, es blitzte ein bißchen, die Scheinwerfer verloschen und überhaupt jedes Licht. Herbert hörte seinen neuen Freund kichern, und sie gingen zur Outlinie, etwa Strafraumhöhe, dort wo der Stacheldraht am lichtesten war. Das war jetzt mehr als dreißig Jahre her. Und damals hatte also alles begonnen. Und jetzt sollte alles zu Ende sein, nur wegen dieser Leiche im Kofferraum? Herbert Winkler bestellte wieder Kaffee, er spürte den Wein. Zwanzig Uhr. In New York -15-
war es noch früh am Nachmittag. Keine gute Zeit, jemanden telefonisch zu erreichen. Aber warum sollte er es nicht später probieren, warum sollte er Bill nicht anrufen? Nach zehn Jahren? Sie hatten in diesen zehn Jahren kaum ein Dutzend Briefe gewechselt. Aber was stand einem Anruf im Wege? Wenn einer in Schwierigkeiten war, suchte er immer den anderen, den Freund. Warum sollte das jetzt anders sein. Und - Jesus Herbert war in Schwierigkeiten. Der alte Bill war der einzige, der ihn verstehen könnte. Es war ja nicht so sehr die Leiche, die würde er loswerden, irgendwie. Es war die Situation, in der er sich befand. Es gab immer Feinde, Gegner, aber man kannte sie. Aber jetzt? Man wollte ihn abmurksen, das war klar, und es war reine Notwehr, das mit der Kofferraumleiche, aber Herbert verstand nichts, konnte nichts begreifen: Wer wollte ihn töten und warum? Der Mann bevor er eine Leiche wurde war kein Einzelgänger, sondern Mitglied einer Organisation. Soviel verstand Herbert, nach allem. Ein ungeschicktes Mitglied dieser Organisation allerdings. Das wußte Herbert auch. Sonst hätte Herbert in Rossmaneks Schrebergarten nicht die Zeit gehabt, seine 7.65er aus der Tischlade zu nehmen und zu entsichern. Der Kerl war so ungeschickt, im finsteren Garten einen Blechkübel umzustoßen, trotzdem weiterzugehen und mit der Taschenlampe durch das Hüttenfenster zu leuchten. Die Taschenlampe in einer, eine Pistole in der anderen. Ungeschickt oder arglos, seiner Sache gewiß? Herbert hatte zwanzig Sekunden Zeit gewonnen, seit der Blechkübel umgestürzt war. Und er hockte unter dem Fenster, als der Sportsfreund hineinleuchtete. Der Kaffee war einfach großartig. Klare Sache, er würde Bill anrufen. Vielleicht könnten sie sich irgendwo treffen, alles besprechen. Wer weiß, in welcher Lage Bill gerade war, aber Herbert könnte sogar nach New York fliegen, um mit ihm zu reden. Warum nicht? Er dachte an die viertausend Dollar in -16-
seinem Versteck. Seinem Spezialversteck. Warum den Notgroschen nicht anfassen, es war eine Notsituation, und das Geld war schließlich dazu da. Die Idee gefiel ihm immer besser. Er brauchte jetzt seinen Freund. Er würde ihn anrufen. Vom Hauptpostamt, im 1. Bezirk. Herr Ober, zahlen. Ein paar Stunden würde er noch totschlagen müssen, er könnte ein wenig spazierengehen und dann in eine andere Kneipe. In eine, die bis in die Morgenstunden geöffnet hatte; je später er anrief, desto eher würde er Bill zu Hause erreichen. Die Billardspieler spielten immer noch im Nebenzimmer. Die Gastarbeiter machten eine Kartenspielpause und aßen Würstel. Der Ober schrieb die Rechnung und betrog ihn um dreizehn Schilling. Er war sicher, der leicht besoffene Herr Gast würde es nicht merken. Herbert merkte es, aber sagte nichts. Was waren schon dreizehn österreichische Schilling im Vergleich zu seinen Schwierigkeiten. Er grinste, zahlte und ging. Das Hauptpostamt in Wien ist ein altes Gebäude, inmitten alter Gebäude. Die dicke Telefonistin am Schalter paßte in diese Gegend. Herbert fingerte einen Zettel aus seiner Tasche, eine Telefonnummer, und sagte: »Ferngespräch nach New York.« Die Alte war wenig beeindruckt. Sie gab ihm ein Zeichen, auf einer Holzbank Platz zu nehmen. Die Bank war ebenso alt wie das Haus, und die dazupassende Telefonistin meinte gnädig, es könne ein paar Minuten dauern. Dann telefonierte sie eine Weile und sagte etwas, das Herbert nicht verstehen konnte, denn ein Fernschreiber tickte hinter dem Schalter; selbst ein schriller Hilfeschrei wäre in diesem Lärm untergegangen. Herbert rauchte. Dann winkte' das alte Postroß: »Zelle eins«, verstand Herbert, ging gehorsam in Zelle eins und nahm den Hörer. Es rauschte, »hallo«, sagte dann jemand. Eine großartige Erfindung, dieses Telefon. »Du altes Arschloch«, sagte Herbert und hörte, wie Bill lachte. »Was is«, hörte er noch. »Wie geht's dir«, sagte er. »Red -17-
nicht herum, was is?« »Ich sitz' in der Klemme.« sagte er. »Brauchst mich?« hörte er Bill sagen, nun lachten beide: »Glaubst du, ich ruf dich an, weil mich das Wetter in Brooklyn interessiert?« Eine Sekunde lang war Rauschen. Es rauschte in der Leitung, das war alles, was Herbert hören konnte. Und sein Herz klopfte. Wie überflüssig. »Ich komme mit der nächsten Maschine«, hörte er. Was für ein Tag für Herbert Winkler! Was für ein großartiger Tag! Gewonnen! Alles gewonnen! Er hatte es gewußt, auf Bill war Verlaß. »Bist du noch da?« hörte er. »Du kannst auch mit der übernächsten Maschine kommen«, sagte er. »O. K., Alter, halt die Ohren steif, ich ruf dich an, von irgendwo in Europa. Ich komm' mit der nächsten Maschine, halt die Ohren steif.« Herbert spürte seine Tränen, wie sie sich am Kinn sammelten, dann auf seine Hand tropften. »Meine Spesen, Alter«, sagte er. »Vergiß die Spesen«, hörte er - dann eine Frauenstimme: »Three minutes over.« »Ich wart' auf dich«, sagte Herbert. »Ich komme«, hörte er, legte auf. Was für ein Tag! Er wischte sich das Gesicht ab, ging zu dem Postroß am Schalter und bezahlte 310 Schillinge! Die Welt war wunderschön. Er zündete sich eine Zigarette an, bevor er bemerkte, daß er noch eine brennende in der Hand hielt. Die Welt war schön, das Leben großartig. Der Fernschreiber ratterte immer noch. Zu zweit waren sie unschlagbar, wie in alten Zeiten. Herbert verließ den Schalterraum, auf dem langen Korridor zum Ausgang begegneten ihm zwei Männer. Waren das nicht die kartenspielenden Gastarbeiter aus dem Kaffeehaus, von vorhin? Er sah auf der Straße einen blauen Citroen. Wenn schon! Oder -18-
war es doch derselbe, den er heute morgen gesehen hatte? Irgendwer, irgend etwas stieß ihn in den Rücken, ziemlich heftig.
-19-
III
In den letzten zehn Jahren hatte Bill White genau zehn Kilo zugenommen. Trotzdem hätte ihn jeder Polizist bei seiner Personenbeschreibung als »groß und schlank« bezeichnet. Er hatte das Glück, daß sich die in den letzten zehn Jahren in Brooklyn angefressenen zehn Kilo ziemlich gleichmäßig verteilten. Angezogen wirkte er immer noch schlank - bei achtundachtzig Kilo Lebendgewicht -, wie er ausgezogen aussah, wußte nur er, und er fluchte jedesmal, wenn er sich im Spiegel begegnete. Das wußte also nur er. Joan kümmerte sich ja nicht darum und schließlich - er auch nicht mehr. Die zehn angefressenen Brooklyn-Kilos waren nun einmal da, und er tröstete sich damit als einer Art Alterserscheinung. Übrigens war der Terminus »angefressen« nicht ganz richtig »angesoffen« käme der Wahrheit sicherlich näher. Bill fand einen Parkplatz, fast unmittelbar vor »Jacks Pizzahouse«, und das war wahrscheinlich das einzig Erfreuliche an diesem Tag. In seiner Wohnung brannte Licht, Joan war also zu Hause. Am liebsten wäre Bill gleich zu Jacks gegangen, hätte eine Pizza gegessen und sich mit Chianti betrunken. Aber bei Joan wußte man nie - womöglich hatte sie ihren klaren Tag, hatte gekocht, und die Wohnung war sauber und eine Kerze brannte auf dem Tisch. Das war zwar schon eine Weile her, als das zum letzten Male passiert war, immerhin beschloß Bill erst einmal hinüberzugehen in seine Wohnung. Er stellte den Kragen seines Lederrockes hoch, als er über die Straße ging, der Wind pfiff feindselig an diesem Novembertag, und für Regen war es offensichtlich zu kalt. Im Treppenhaus steckte er sich eine Zigarette an, ging langsam die Stiegen hinauf, ohne Eile. Das Vorzimmer war dunkel, und er knipste das Licht an. Mit einem Blick sah er, daß es hier für ihn kein Abendessen geben -20-
würde. Ihre Schuhe und ihr Kleid lagen auf dem Boden, die Küchentüre stand offen, und er konnte Berge schmutzigen Geschirrs sehen, wie schon am Morgen, als er die Wohnung verlassen hatte. Neben dem Telefon stand ein Aschenbecher, randvoll, das war die einzige Veränderung seit heute morgen, soweit er feststellen konnte. Die Asche seiner Zigarette fiel auf den Fußboden, aber das war auch schon egal in diesem Saustall. Ein wenig zögernd öffnete er die Schlafzimmertüre, sie war nur angelehnt, und stieß sie leicht mit der Schulter auf, die Hände in den Taschen, als ob er Angst hätte, sich schmutzig zu machen. Joan lag auf dem Bett, in Unterwäsche und Strümpfen. Sie schlief, den Mund halb offen. Bill kannte seine Frau. Nicht einmal eine Bombe hätte sie jetzt wecken können. Sie war von der Wohnungstür geradewegs zum Bett getorkelt, hatte nur Schuhe und Kleid abgestreift, betrunken bis zur Bewußtlosigkeit. Er kannte Joan, für die nächsten acht Stunden war sie »weg«. Es hätte schlimmer kommen können, wäre sie schon im Treppenhaus oder gar auf der Straße umgekippt, man hätte die Polizei oder die Rettung rufen müssen; gute Menschen hätten es getan, wenn sie sie in diesem Zustand gefunden hätten. Und es hätte auch ganz schlimm ausgehen können. Wenn Joan ihre Saufperiode hatte, war alles drin. Und alles war schon dagewesen! Bill schaltete das Licht aus und verließ seine Wohnung. Er ging geradwegs zu »Jacks Pizzahouse«. Giacomo Morelli, jetzt nannten ihn alle »Pizza-Jack«, freute sich wie immer, wenn er Bill sah, und winkte ihn in eine Ecke, wo ein leerer Tisch stand. Bill ließ sich in einen Sessel fallen, und Jack lächelte sein freundliches Italienerlächeln, seine Zähne blinkten weiß hinter dem Schnurrbart. Wie immer Signore, dabei wischte er mit seiner fleckigen Schürze die Tischplatte ab. -21-
Sie war immer noch sauberer, mußte Bill denken, als seine Wohnung. Die Ravioli waren gut wie immer, Bill schlang die Bissen gierig hinunter und trank kräftig vom Chianti. Die Zeiten waren vorbei, als er sich täglich auf die Waage stellte, um sein Gewicht zu prüfen. Schon jahrelang war ihm seine äußere Erscheinung gleichgültig, und das sah man ihm an. Mit der zweiten Flasche Chianti kam ein wenig Farbe in sein fahles Gesicht. Er rauchte wieder und starrte auf die Espressomaschine. Hinter der »Gaggia« werkte Signora Morelli, vollbusig, schwarz, Schweißflecken unter den Armen. Es war viel zu tun. Im Lokal war es stickig heiß. Signora Morelli hätte ungehalten sein können, weil dieser Gast sie so anstarrte, aber das war sie nicht. Mit dem Instinkt einer Frau wußte sie, daß sie dieser Mann nicht wirklich ansah, sondern mit seinen Gedanken weit weg war. Außerdem kannte sie Mr. Bill White von gegenüber, der tagsüber Fernsehapparate reparierte und sich abends mit seiner Frau Joan stritt. Manchmal, wenn sie gerade nicht stritten, waren sie beide Gäste im Lokal, aßen Ravioli und tranken Rotwein. Das geschah immer seltener, und jetzt war Mr. White meist allein da und trank bis Mitternacht und starrte auf die »Gaggia« - nicht auf die Signora dahinter. Ein harmloser Gast. »Jacks Pizzahouse« war ein guter Laden, diese Italiener verstehen ihr Geschäft. Es lag in einer Art Niemandsland zwischen dem »Bedford-Stuyvesand-Ghetto« und dem Italienerviertel Bushwick. Nach Einbruch der Dunkelheit war die Gegend für ausgedehnte Spaziergänge nicht gerade empfehlenswert. Aber die Mieten waren billig hier, und wer dachte in diesem Viertel schon an Spazierengehen. Die meisten Gäste waren italienischer Abstammung, man konnte es hören. Ein Negerpärchen saß in einer Ecke, beide in Leder, sie im knappen Mini-Rock. Morelli konnte sie nicht rausschmeißen, schließlich zahlten sie und verhielten sich ruhig. Aber natürlich mußten sie dreimal so lange auf die Pizza warten wie die -22-
anderen Gäste. Zwei Streifenpolizisten kamen herein, sie waren vom 81. Revier und hatten blaue Gesichter, sicher um sich aufzuwärmen. Signora Morelli machte ihnen guten heißen Kaffee. Sie gingen wieder, ohne zu bezahlen, aber das war hier so üblich. Bill White hatte die dritte Flasche Chianti und hypnotisierte noch immer die »Gaggia«. Wenn man ihn so ansah, konnte es den Eindruck erwecken, er wäre betrunken und würde mit offenen Augen schlafen, aber das war nicht richtig. Bill dachte nur nach, er hatte eben seine besondere Art nachzudenken. Es war schon fast Mitternacht, als Bill seinen Rockkragen hochstellte. Das Zeichen für Signora Morelli zu kassieren. Morelli wünschte eine sehr gute Nacht, und auch die Signora rief ähnliches hinter Bill her. Bill nickte und ging auf die Straße, der kalte Wind fuhr ihm ins Gesicht. War es tatsächlich schon November? Er ging langsam über die Straße, seine Hände in den Taschen, den Kopf gesenkt. Er dachte immer noch nach, dachte über dieselben Dinge nach, über die er die letzten zwei Jahre gegrübelt hatte: War sein Leben noch etwas wert? Sollte er etwas tun, irgend etwas oder weiterhin allem seinen Lauf lassen? In seiner Wohnung war fast alles unverändert. Fast alles nur deshalb, weil Joan nun zugedeckt im Bett lag. Ihre Unterwäsche lag auf dem Boden. Bill zündete sich eine Zigarette an und betrachtete eine Weile diese schlafende Frau. Joan haßte es, wenn er im Schlafzimmer rauchte. Das war lächerlich, denn die ganze Wohnung war für seine Begriffe ein einziges Chaos, zumindest 25 Tage im Monat. Und was machte es unter diesen Umständen schon aus, wenn seine Zigarettenasche zu Boden fiel. Man müßte die Kraft haben, einfach davonzurennen, dachte er. Irgendwo hatte er einmal gelesen, daß in den USA jährlich elftausend Ehemänner spurlos verschwinden. Er konnte das verstehen. Trotz seiner tristen Situation mußte er grinsen. -23-
Und da fiel seine Zigarettenasche auf den Boden. Das war in dem Augenblick, als das Telefon läutete. Bill zögerte eine Sekunde; vielleicht war es Joans Liebhaber, der wissen wollte, ob auch alles in Ordnung war. Schließlich hob er ab, sagte »hallo«. Es rauschte in der Leitung. Bill sagte noch zweimal »hallo, hallo«, Hallo«, aber es rauschte nur, knackste leise. Dann sagte eine Frauenstimme »Overseacall, hold the line«. Er sagte noch einmal »hallo« und hörte dann die drei Worte: »Du altes Arschloch.« Bill lachte und spürte, wie ihm die Augen heiß wurden. »Wos is?« sagte er und wußte in dieser Sekunde, daß sich sein Leben, daß sich alles, alles ändern würde. Sein Gehirn arbeitete wie ein Computer, er antwortete mechanisch, dann sagte er: »Ich komme mit der nächsten Maschine.« Was für eine Entscheidung von Bill White. Er würde zu seinem Freund nach Wien zurückkehren. Just like that! So hatte es kommen müssen. Bill hatte immer schon an höhere Gewalt geglaubt. »Bist du noch da«, sagte er. Es rauschte stärker. »Du kannst auch mit der übernächsten Maschine kommen«, hörte er. Bill kannte seinen Freund. Bill wußte, daß sein Freund jetzt weinte. »Halt die Ohren steif, Alter«, sagte er. Was für eine Lösung all seiner Probleme. Er würde heimfliegen nach Wien, good bye Joan and Brooklyn - mein Leben ist noch nicht zu Ende. Die neuen Colour-TVs soll verkaufen wer will. »Three minutes over«, sagte eine Frauenstimme. »Ich wart' auf dich«, sagte Herbert. »Ich komme«, hörte er sich selber sagen. Bill ging in die Küche, holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er setzte sich an den Küchentisch und fegte mit einer Armbewegung all das schmutzige Geschirr von der Tischplatte. Es krachte und splitterte, aber wen störte das schon in Brooklyn, und Joan wurde sowieso nicht wach. Er trank sein Bier und dachte nach, wie er es am besten anfangen würde. - Im groben wußte er ohnehin schon alles, und er fühlte sich frei und glücklich, zum ersten Mal seit fast zehn Jahren. -24-
Joan saß in der Küche, in ihrem roten, fleckigen Morgenrock, unfrisiert. Sie hatte eine Schale Tee vor sich, oder das, was sie Tee nannte. Bill konnte den Rum bis ins Vorzimmer riechen. Das Radio hatte sie auf volle Lautstärke gedreht, hot music, natürlich wußte sie, wie sehr Bill diesen Krach haßte. Sie suchte Streit, aber heute morgen würde sie kein Glück haben. Heute nicht, dachte Bill. Er rasierte sich in Ruhe. Das Telefon läutete. Joan ging ran und sagte dann kurz: »Falsche Nummer.« Dabei kicherte sie ein wenig. Bill wußte seit Wochen, daß sie einen anderen Mann hatte. Er wußte es von Kleinigkeiten. Diese vielen Anrufe mit »falsch verbunden«, die verschiedenen Sachen, die sie sich angeblich kaufte, ohne von ihm Geld zu verlangen, ein neues Kleid, ein Nachthemd, eine Handtasche. »Fünf Dollar im Ausverkauf«; hatte sie so nebenbei erwähnt. Bill wußte, daß das Stück mindestens fünfzig gekostet hatte und im Ausverkauf nicht zu haben war. Aber er sagte nichts. Denn das wirklich Schlimme daran war, daß es ihn nicht mehr interessierte. Und jetzt schon gar nicht mehr. Ein seltsames Gefühl kam in ihm auf, wie er es schon lange nicht gehabt hatte. Er wußte endlich, was zu tun war. Er verließ die Wohnung grußlos, so als ob er nur zum nächsten Automaten ginge, um sich Zigaretten zu holen. Er würde zu Toms Garage fahren, seinen Wagen verkaufen, schließlich ein Taxi zum Kennedy Airport nehmen. Und er würde New York, die Staaten und das ganze »American way of life« so verlassen wie seine Wohnung. Grußlos und ohne Bedauern. Es gab absolut nichts, was ihm leid tun mußte.
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IV
Wilhelm Weiss, fünfzig Jahre alt, seit zehn Jahren amerikanischer Staatsbürger und Inhaber eines US-Reisepasses, gültig für alle Staaten der Welt, passierte anstandslos die Zollund Paßkontrollen am Flughafen in Rom. Was hätte auch schon sein sollen? Er hatte sich als Tourist deklariert, schließlich war er das auch in einer gewissen Beziehung. Und außerdem war er nur Transit-Reisender. Die nächste Maschine nach Wien ging erst am folgenden Tag, er würde also den Rom-Wien-Expreß nehmen, Schlafwagen, auf die paar Stunden kam es nicht an. Außerdem konnte er mit Herbert telefonieren. New York - Rom, Pan American Flugnummer 217, war die nächste Maschine nach Europa gewesen, die Bill am Kennedy Airport buchen konnte. Er hatte nur eineinhalb Stunden Wartezeit. Er wäre auch nach Stockholm oder Madrid geflogen, wenn es eine frühere Maschine nach dorthin gegeben hätte. Hauptsache Europa. Er nahm ein Taxi zum Hauptbahnhof mit dem Gefühl, nach einer langen Reise endlich wieder daheim zu sein. Das war er auch. Wieder in Europa, in seiner Heimat. Was für ein Fehler war es gewesen, in die Staaten auszuwandern. Was für eine Dummheit. Das war kein Land für ihn. Zehn Jahre seines Lebens hatte er vergeudet. Er hatte nicht gelebt, nur vegetiert. Überhaupt, Herbert und er hätten sich nie trennen dürfen. Zu zweit hatten sie gut gelebt, sich als Partner ideal ergänzt. Allein hatte sich Bill irgendwie immer nur als halber Mensch gefühlt. Er freute sich auf Herbert. Jetzt würde alles anders werden. »Zu zweit sind wir unschlagbar«, hatten sie früher immer gesagt. Der Zug fuhr erst drei Stunden später, Bill ging in die Stadt, suchte die Via Veneto und überlegte, wann er zum letzten Mal hiergewesen war. Er kam nicht drauf. In einem Ristorante bestellte er Ravioli, dachte einen Augenblick an »Jacks -26-
Pizzahouse«, verdrängte aber den Gedanken gleich wieder. Seine Umgebung musternd wurde ihm bewußt, daß er in Bluejeans und Lederjacke ziemlich schäbig gekleidet war, für einen Mann seines Alters. In Brooklyn kümmerte sich niemand um solche Äußerlichkeiten. Na, in Wien würde er sich erst einmal ordentlich einkleiden. Von Rom nach Wien konnte man durchwählen, auch das war neu für ihn, er versuchte es, aber in Herberts Wohnung meldete sich niemand. Morgen also würde er Herbert wiedersehen. Er konnte es vielleicht im Bahnhof noch einmal probieren, bevor der Zug abfuhr. Herbert freute sich sicherlich. Good old Herby. Was immer er für Schwierigkeiten hatte, es wäre ja lächerlich, wenn sie zu zweit keinen Ausweg fänden. Lächerlich. Bill war optimistisch und freudig erregt, der Chianti schmeckte, und es war einfach umwerfend, wieder in Europa zu sein. Nach den Ravioli bestellte er Formaggio und dann noch einen Espresso. Er hatte es ziemlich eilig, zum Bahnhof zu kommen, und nahm ein Taxi. Es dauerte auch eine Weile, bis er seine Koffer von der Gepäckaufbewahrung bekam, dann mußte er noch Zigaretten kaufen und einige Zeitungen zum Telefonieren war es damit für heute zu spät. Auch kein Malheur, morgen in Wien würde er Herbert anrufen, die Überraschung war dann noch größer, und Bill versuchte, sich das Gesicht seines Freundes vorzustellen, was ihm ganz gut gelang. Er saß allein im Abteil und rauchte. Das rhythmische Rattern des Zuges war wie Musik, »ich komme, Freund, ich komme, Freund« trommelten die Räder des Zuges. Ein Trommelwirbel, für Bill hundertmal faszinierender als in der heißesten Jazzband in Brooklyn. »Ich komme, Freund.« Bill dachte an seinen Freund und die gemeinsame Vergangenheit. Gleich nach dem Krieg waren sie das geworden, was Zeitungen schlechthin als »Geheimagenten« bezeichnen. Bill hatte diesen Ausdruck nie gemocht, er fand ihn unzutreffend. Auch ein Journalist recherchiert mit allen möglichen Tricks und -27-
ist in der Auswahl seiner Methoden nicht sehr wählerisch. Dann wird das Ergebnis seiner Geschicklichkeit oder seiner unmoralischen Tricks, in anderen Worten seiner Gaunereien, auch noch gedruckt - und die Öffentlichkeit ist begeistert. Bill empfand es damals als Genugtuung, daß seine Informationen nicht gedruckt wurden. Das war zu einer Zeit, als er die Materie des geheimen Nachrichtendienstes als etwas durchaus Ethisches, Vernünftiges und Notwendiges empfand. Die richtigen Männer richtig zu informieren, das war doch positiv und gut. Einen Staat, eine politische Partei, jede menschliche Gemeinschaft einer gewissen Größenordnung zu führen, zu lenken, war sicher überaus schwierig und hing seiner Meinung nach doch wesentlich von dem Bild ab, das sich politische Führer und Regierungen von der realen politischen Situation machten. Es kam darauf an, richtig zu informieren. Dann konnten keine Fehlleistungen auftreten, dann tat man das Richtige. Die entscheidenden Männer entschieden richtig. Vergleichbar etwa mit einem Piloten auf Blindflug, der auf die Informationen der Bodenstelle auf Leben und Tod angewiesen war. Denn was sind Staatsmänner anderes als Blindflugpiloten? Sie steuern einen ganzen Staat in eine gewisse Richtung; nur wenn die Navigatoren richtig funktionieren, kann der Mann am Steuer das Staatsschiff unter Kontrolle haben. Die Navigatoren, wer sonst könnte das sein in der Politik als die verantwortlichen Leiter der Informationsdienste. Diese Überlegungen gaben ihm damals die Kraft und eine Art Berufsethos. Sie halfen ihm, durch all den Schmutz der Alltagsarbeit zu kommen, alle seine Gemeinheiten, seine üblen Tricks und Gaunereien zu rechtfertigen, sie gewissermaßen einem höheren idealen Ziel unterzuordnen. Er war damals fünfundzwanzig oder dreißig, immerhin, seine selbstgestrickte Moral hielt eine ganze Weile. Erschüttert wurden seine Ansichten erst viel später. In Bologna regnete es, und der freundliche -28-
Schlafwagenschaffner fragte Bill, ob er noch irgendeinen Wunsch habe. Bill hatte, und er erhielt eine Flasche Chianti mit einem Zahnputzglas, etwa um das Sechsfache des Ladenpreises: Der freundliche Schlafwagenschaffner nahm ihm dann auch noch seinen Paß ab, versprach, er werde an der Grenze alles erledigen und müsse ihn dann an der Grenze nicht aus seinem Schlaf wecken. Bill gab ihm noch einmal tausend Lire, sie sagten sich ein paarmal »bona notte«, und dann war Bill wieder allein mit dem Chianti und dem Zahnputzglas. Bill trank langsam und versuchte sich zu erinnern, wann er seine ethischen Ansichten über die geheimen Nachrichtendienste revidiert hatte. Damals passierten einige Dinge, die ihm zu denken gaben. Es war gar nicht so leicht, sich klar zu erinnern. Immerhin, eines dieser Dinge begann plötzlich vor seinem geistigen Auge zu flimmern, wie ein Stummfilm aus den Anfangsjahren der Kinematographie: Da war die Geschichte mit Erich Kilian, der saß in der ersten Bank der sechsten Klasse der Oberschule, Wien 20. Bill, damals Willi Weiss, saß in der vorletzten Bank, neben Franz Kersch, dem Rechtsaußen des Schul-Fußballteams, und in der vorletzten Bank wurde mehr über Fußball geschwätzt als über Latein oder Mathematik. Das war 1942, und Latein war nicht so wichtig, man mußte ohnehin bald zur Wehrmacht, zur Großdeutschen. Kilian hatte kein Leiberl in der Schulauswahl, er streberte Latein und Mathematik wie ein Irrer, während Willi Weiss, Schützenkönig des Teams, präzise Volleyschüsse trainierte, besonders mit dem linken Fuß, seinem schwächeren. Erich Kilian war schmalbrüstig, zwinkerte ununterbrochen, und die Mädchen kicherten albern, wenn er vorbeiging. Aber er studierte fanatisch, und das hatte seinen Grund. Sein Vater war Kommunist gewesen und ein Jahr im KZ und dann bei einer Art Bewährungskompanie, und wäre der halbrachitische Erich nicht -29-
mit Abstand der beste Schüler gewesen, die Herren Studienräte mit den Parteiabzeichen hätten ihm gern Saures gegeben. Schlimm war es für Kilian in Leibeserziehung, der man damals eine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Im Winter ging es noch, denn an den Geräten im Turnsaal war er gar nicht so übel. Beim Fußball oder Handball wurde er nur so herumgestoßen, aber seine Leistungsnoten lagen gerade noch ein paar Punkte über »Ungenügend«. Schwimmen konnte er leidlich, aber im Boxen war es arg. Studienrat Hahnreich, Professor für Mathematik und Leibeserziehung, hatte eine Art persönlicher Freude daran, die Paarungen zu bestimmen. An einem regnerischen Mittwoch stellte er den Kilian gegen den Kersch, und der prügelte den blassen Erich zwei Runden unter dem Geheul der Klassenkameraden durch die Gegend, bis er ihn in der dritten voll auf die Nase traf, worauf man einen Doktor rief und den Kilian mit der Rettung heimführte. Am nächsten Tag saß er wieder in der ersten Bank, hatte seine Mathematikaufgaben sauber gemacht und zwinkerte. Mit einem Auge nur, das andere sah so aus, als ob es nie dagewesen wäre. Am nächsten Mittwoch war der dicke Schell an der Reihe mit Kilian, der Tormann des Fußballteams, diesmal verlor Zwinker Erich lediglich einen Zahn, den Zweier rechts oben, und er konnte zu Fuß heimgehen. Am dritten Mittwoch war Willi Weiss an der Reihe. »Langsam wird das langweilig«, sagte Willi damals zu Kersch und dem Schell-Bladen, »der Hahnreich, dieses Schwein, übertreibt es wirklich.« Die beiden nickten und Kersch meinte, es täte ihm leid, daß er den Erich so verdroschen hatte, denn eigentlich wäre er doch ein guter Kerl. »Spielerversammlung«, sagte Willi und die gesamte Mannschaft traf sich in der Zehnerpause auf dem Klo. Urinierend und zigarettenrauchend kamen sie überein, daß Zwinker-Erich diesmal K.O.-Sieger sein werde. »Der Hahnreich wird sich blau ärgern«, meinten alle, und sie gönnten es ihm. In den Umkleidekabinen umstellten sie Kilian. Erich zwinkerte und -30-
war noch blasser als sonst. »Verstehst du mich«, schrie ihn Willi an, »ich hau dich eine Runde immer nur auf die Handschuh. Halt die Handschuh vors Gesicht, daß es ordentlich patscht. Wenn ich sage »psst« in der zweiten Runde, hau eine rechte Gerade. Ich fall dann um. Verstehst du mich?« Es war keine Zeit mehr für weitere Instruktionen, Hahnreich kam. Eine Runde drosch Willi in Kilians Handschuhe und hatte schon Angst, er würde ihm die Handknochen brechen. In der Pause schaute Hahnreich bereits leicht irritiert, bevor er den Gong anschlug. Willi schlug eine Doublette knapp neben die Ohren Erichs und machte »psst«, er spürte einen Schlag an der Stirn und ließ sich fallen. Gezielt schlug er mit dem Kopf auf den hölzernen Ringboden, was immerhin eine großartige Beule gab. Sie zählten ihn aus, und Kersch und der Schell-Blade trugen ihn in den Waschraum, wo sie alle drei wild mit Wasser spritzten und fürchterlich lachten, allerdings lautlos, so daß Studienrat Hahnreich nichts hören konnte. Die Geschichte hatte noch Nachspiele, insgesamt drei. Nachspiel Nummer eins war eine Art Verhör von Hahnreich, der partout nicht glauben wollte, daß ein Zufallstreffer von Zwinker-Erich Kilian den breitschultrigen Goalgetter Willi aus den Socken schmiß. Eine blaue Beule an der Stirn Willis und die entrüsteten Statements der Fußballmannschaft machten den Hahnreich zuerst unsicher, und dann war der Fall erledigt. Nachspiel Nummer zwei war für Willi ein Fall zum Nachdenken: Nach einem Training am Brigittenauer Platz war Willi gerade mit dem Rad auf dem Heimweg, als er von Kilian überholt wurde, der ihm aufgeregt zuwinkte. Willi winkte gelangweilt zurück, wollte weiterfahren, aber Zwinker-Erich hörte nicht auf. Schließlich stiegen sie vom Rad, und Erich bat ihn so förmlich, daß es Willi geradezu rührte, er möge doch auf fünf Minuten mit ihm nach Hause kommen, gleich um die Ecke, es handele sich um seine Mutter. »Muß das sein?« fragte Willi lahm. Ihm schwante Böses, und dies erwies sich als begründet. -31-
»Was will denn deine Alte von mir. Ich muß in einer Stunde beim Handballtraining sein.« Sie endeten in der Kilianschen Zwei-Zimmer-Wohnung, Tee und ein Butterbrot gab es für Willi, und die Mutter war gar nicht so übel, aber hatte rote Augen, so daß Willi fürchtete, sie könnte jeden Moment anfangen zu weinen. »Erich hat mir alles erzählt«, meinte sie, »und ich wollte Ihnen nur danken.« Sie sagte Sie und Ihnen, als ob Willi schon erwachsen oder sonst was Großartiges wäre, und Erich saß da und zwinkerte nur, und plötzlich hatte Willi Angst, er könnte selber anfangen zu heulen. »Der Hahnreich ist ein Schweinehund«, sagte er spontan, entschuldigte sich aber gleich bei Mutter Kilian wegen seiner ordinären Ausdrucksweise. Sie lächelte nur. Er würgte an seinem Butterbrot und sagte dann: »Sie haben es ziemlich schwer, nicht wahr Frau Kilian.« Und dann hatte sie wirklich nasse Augen, und ihm war übel. »Erich ist der Beste in unserer Klasse, wir wissen das alle«, würgte er kauend heraus und dachte plötzlich, daß dieses Butterbrot eine Seltenheit war, es gab ja nur Margarine in dieser Zeit und nur auf Lebensmittelmarken; am liebsten wäre er davongerannt. Erich begleitete ihn die Stiegen hinunter, und Willi fragte, ob er die Mathematikaufgabe abschreiben dürfe, er müsse jetzt zum Training und habe dann keine Zeit mehr. »Gib mir dein Heft«, meinte Kilian, »ich mache deine Schrift nach.« Vor dem Haustor gab ihm Willi das Heft und hatte das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen. Er erinnerte sich an die zahllosen Szenen in den Schulpausen, wenn Zwinker-Erich von körperlich stärkeren Kameraden herumgestoßen worden war und sagte dann: »Der Kersch und ich und die anderen...« Kilian zwinkerte. »Der Kersch und ich und die anderen, wir meinen, weißt du, der Kersch und ich und die Mannschaft, verstehst du...« -32-
»Danke«, sagte Erich Kilian. »Wir werden jeden verprügeln, der dich angreift, verstehst du.« »Danke«, sagte Erich Kilian. Willi schwang sich aufs Rad, und es war ihm mies, aber immerhin, seine Mathematikaufgabe war kein Problem mehr. Das dritte Nachspiel allerdings war von ganz anderer Art, so geschehen 1947, also fünf Jahre später. Der Zug hielt wieder, und es gab viel Lärm auf den Bahnsteigen und viel Bewegung in den Waggons. Regen prasselte gegen das Fensterglas. Einen Moment dachte er, daß es Tarvisio, die Grenzstation, sein müßte, aber dann hörte er die Durchsage durch den Bahnhoflautsprecher, »Venezia, Venezia«, sagte eine müde Stimme. Er war also in Venedig, und es war höchste Zeit zu schlafen. Morgen würde er in Wien bei Herbert sein und ein neues Leben würde beginnen. Oder würde es das alte Leben sein, nach zehnjähriger Unterbrechung? Bill hatte nichts dagegen. Ja, 1947 war Erich Kilian Leutnant der Roten Armee und saß in der Kommandantur der sowjetischen Besatzungsmacht in Wien, im 1. Bezirk, in der »Bellaria« auf der Ringstraße. Leutnant Kilian hatte ein kleines Zimmer mit einem großen Schreibtisch, der früher in der Gauleitung der NSDAP gestanden hatte. An der Wand hing ein Bild Stalins und daneben eines von Kilians Vater. Der schmalbrüstige Leutnant mit dem nervösen Zucken um die Augen verhörte zuerst hauptsächlich große Nazifunktionäre, später kleinere und noch später amerikanische Spione. Oder Leute, die einfach kommunistenfeindlich waren und deshalb Spione sein mußten. Und sie alle logen, wenn Genosse Kilian seine Fragen stellte. Und der junge Leutnant glühte vor Haß, wenn er belogen wurde. Er dachte an seinen Vater, der das Bewährungsbataillon nicht überlebt, an seine Mutter, die die Todesnachricht ihres Mannes nicht überstanden -33-
hatte, und dann kam es schon vor, daß der Leutnant seinen Schulterriemen abschnallte und auf den Häftling eindrosch wie verrückt. Und die Tränen rannen über seine hohlen Wangen, so zornig war er, und sein Herz klopfte wie rasend. Die Häftlinge schrien und schützten empfindliche Körperstellen. Ernstlich zu Schaden kam keiner, der Leutnant mit seinen dünnen Armen konnte nicht recht zuschlagen. Erfahrene Mediziner hätten die Gefahr eines Herzanfalles für den überreizten Leutnant für gefährlicher gehalten. Damals trafen sie sich wieder, Willi Weiss und Erich Kilian, ehemals Schüler des Erzherzog-Karl-Bundesrealgymnasiums, später hieß der graue Kasten Oberschule für Jungen. Sie trafen sich in einem kleinen Café, beim »Pisani«, Kilian, der Leutnant der Roten Armee, und Willi Weiss, der Heimkehrer. Und es war kein Zufall, daß sie sich dort trafen. Damals war Hofrat Rossmanek schon Chef der Wiener Staatspolizei, und Wilhelm Weiss arbeitete für ihn. Der alte Hofrat - damals war er eigentlich noch gar nicht so alt wollte immer alles ganz genau wissen, und den Lebenslauf von Willi Weiss ließ er sich ein halbes dutzendmal schreiben und mündlich vortragen. Das war keine große Arbeit für Willi, denn mit zweiundzwanzig Jahren gibt's keine langen Lebensläufe. Eines Tages zeigte ihm Hofrat Rossmanek ein Klassenfoto. Wilhelm Weiss erkannte darauf sich selber, die ganze Fußballmannschaft und Zwinker-Kilian. Ein zweites Foto von Leutnant Kilian in russischer Uniform überraschte Willi sehr. Rossmanek gab ihm Geld, und die nächsten Wochen hatte Willi nichts anderes zu tun, als im »Pisani« herumzusitzen. Es war also kein zufälliges Wiedersehen nach dem Krieg, zumindest nicht für Willi Weiss. Alles was er zu tun hatte, war zu plaudern. Und dem Geplauder Zwinker-Kilians zuzuhören. Damit er auch nichts vergessen konnte, hatte er oft ein Taschen-Tonbandgerät unter der Weste und ein Mikrofon in der Brusttasche. So wollte es der Hofrat. Aber das ging nur im Winter. Im Sommer mußte er sein -34-
Erinnerungsvermögen mehr strapazieren. Die Sache lief ziemlich lange, und je länger sie lief, desto mieser fühlte sich Willi Weiss dabei. Seine Berufsmoral, seine selbstgestrickte, wurde ordentlich gedehnt. Aber irgendwie hielt sie, denn junge Menschen denken ja nicht immer darüber nach, was gut und was schlecht ist. Und Willi tat es auch nicht. Dann kam ohnehin die große Sache mit Sonja Tamara Beizin, und Zwinker-Kilian war nicht mehr wichtig. Der Zug stand wieder. Es regnete immer noch. Bill Weiss hörte seine Muttersprache. »Paßkontrolle«, hörte er sagen, immer wider. Die Stimmen gingen an seinem Abteil vorbei, der Schlafwagenschaffner funktionierte also. Wirklich höchste Zeit zu schlafen, dachte Bill, in sieben Stunden würde er in Wien sein.
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V
Chef der Wiener Staatspolizei im Jahre 1975 war Polizeirat Dr. Hammerlang. Man könnte sagen, so sieht er auch aus. Er war einen Meter neunzig lang, und alles an ihm war Hammer. Schuhgröße fünfzig und Hände, großer Gott, solche Hände hatte man noch nicht gesehen. Einen Fußball griff er wie normale Mitteleuropäer einen Tennisball. Handschuhe für ihn existierten nicht in Konfektionsgröße. Das waren aber seine geringsten Sorgen, er trug ohnehin keine. Amtsdiener Hosbrzovsky sagte in der Polizeikantine: »Hammerlang hat Pratzen, groß wie Scheißheisldeckel.« Hosbrzovsky stammte aus Brunn. Obwohl dreißig Jahre im österreichischen Staatsdienst hatte er Schwierigkeiten mit der Grammatik. »Sedlacek«, sagte der Polizeirat traurig, »Sedlacek, Sie verstehen mich falsch. Sie sollen den Mann nicht überwachen lassen, sondern hierherbringen. Zu mir, in mein Büro. Nein, auch nicht festnehmen. Sie sollen ihn am Bahnhof anreden und dann zu mir bringen. Er wird nicht ablehnen. Sagen Sie meinetwegen einen Gruß von mir, und daß ich ihn dringend sprechen muß. Sagen Sie, was Sie wollen, aber bringen Sie ihn her.« Kriminalinspektor Sedlacek sah auf ein Blatt Papier und auf ein Foto. »Der Rom-Expreß kommt um zehn Uhr dreißig?« sagte er mißvergnügt. »Da haben Sie ja noch zwei Stunden Zeit«, meinte der Polizeirat und drängte in sein Büro. Er hatte nasse Füße. Ob er einen Dienstwagen benützen dürfe, wollte der Inspektor noch wissen, und Hammerlang nickte nur. War das ein trostloses Wetter heute, und sein Wagen hatte in der Früh natürlich wieder halb unter Wasser gestanden, es war ihm unmöglich gewesen hineinzukommen, ohne naß zu werden. Der Polizeirat wohnte draußen in Floridsdorf in einem Neubau. Die Siedlung war noch -36-
halb Baustelle, und an einem Tag wie heute hätte man Gummistiefel tragen sollen. Sein Büro war geheizt, wie er es gern hatte. Er setzte sich an den großen Schreibtisch und warf einen Blick auf den Stapel Papier, der in dem Aktenkorb mit der Aufschrift »Ein« lag. Seufzend zog er sich die Schuhe aus. Er drückte die Taste der Sprechanlage und sagte: »Fräulein Scherbler zum Diktat, bitte.« Dann legte er seine feuchten Socken über die Heizung. Fräulein Scherbler sagte »Guten Morgen, Herr Rat«, und zwängte ihre pralle Hüfte durch die gepolsterte Doppeltüre. Sie schloß beide Türen sorgfältig und drückte dann einen Wandknopf; im Vorzimmer leuchtete ein rotes Neonlämpchen auf mit der Aufschrift: »Nicht stören«. »Mach mir einen Kaffee, Gretl«, sagte Dr. Hammerlang. Seine Worte waren überflüssig, Margarete Scherbler hatte den Kocher schon angesteckt. Hammerlang haßte es, nasse Füße zu haben. In seinem dunklen Anzug sah er aus wie ein großer schwarzer Vogel. Ein trauriger und etwas schäbiger Vogel. Er trug fast immer dunkle Anzüge, auch im Sommer. Das kam daher, daß er nur Maßanzüge tragen konnte und in seinem Beruf wenigstens einen guten Anzug für feierliche Anlässe nötig hatte. Der aber kam, wie vieles heute, so rasch aus der Mode, daß er bald zum Alltagsanzug wurde. Die Socken auf der Heizung begannen zu dampfen. Elegant gekleidet wäre Hammerlang eine gute Erscheinung gewesen, denn trotz seiner Länge hatte er eine drahtige, muskulöse Figur. Das aber wußte niemand, außer seiner Frau und seiner Sekretärin. Nicht einmal seine Kinder hatten ihn in den letzten Jahren in Unterwäsche gesehen. Die schliefen ja schon, wenn er heimkam, und noch, wenn er wegging. Der Kaffeeduft stieg ihm in die Nase, und schon der Geruch wirkte belebend, immerhin hob er den Kopf und blickte auf das Papier in der Einlaufmappe. Aber sogleich beschloß er, sich die Arbeit erst nach dem Kaffee anzusehen, wenn er Socken und -37-
Schuhe wieder anhatte. Margarete Scherbler goß die schwarze Brühe in seine Tasse, dann nahm sie die Socken, drückte sie gegen ihre Wange, sie waren noch feucht. Flink drehte sie die Socken um und legte sie wieder auf die Heizung. Sie sagte nichts, sie kannte die Probleme ihres Chefs. Auch sie hatte ihre Probleme, aber von denen hatte er schon gar keine Ahnung. Hammerlang schlürfte den Kaffee geräuschvoll. Die Zeiten, da er sich vor seiner Sekretärin wie ein Gentleman benahm, waren lang vorbei. Dann gab sie ihm die Socken, er zog sie an und auch die Schuhe, empfand die plötzliche Wärme an seinen Füßen angenehm, und seine Laune besserte sich merklich. Den Postmord von gestern hatte also jetzt er am Hals. Das Sicherheitsbüro hatte ihm den Fall angehängt, weil es sich allen Anzeichen nach - um einen Agentenmord handelte, der in den Zuständigkeitsbereich der Staatspolizei fiel. Natürlich hatte ihm das Sicherheitsbüro die Aufgabe in erster Linie deswegen übertragen, weil von einem Täter weit und breit keine Spur war. Wenn eine Aufklärung in Aussicht stand, waren die vom Sicherheitsbüro nicht so kompetenzkleinlich. Da übernahmen sie den Fall schon selbst. »Noch Kaffee, Gretl«, sagte er, aber das wäre auch nicht nötig gewesen, Margarete Scherbler hatte die Kanne schon in der Hand. Immerhin, von dem sogenannten Postmord kannte er viele Details, die sonst niemand kannte. Das war auch etwas, und vielleicht hatten diese protzigen Hunde vom Sicherheitsbüro diesmal einen Fehler gemacht. Wenn er den Fall nicht klären konnte, wer dann? Ihm war der Ermordete persönlich bekannt, und er wußte eine ganze Menge über ihn, wovon die im Sicherheitsbüro keine Ahnung hatten. »Der Prokesch soll um zehn bei mir sein«, sagte er. Margarete Scherbler nickte. »Um zehn«, sagte sie. Prokesch war sein bester Kriminalbeamter. Ein eigenwilliger Mensch, aber Hammerlang mochte ihn. Mit dem Sedlacek konnte er den Postmord nicht aufklären, das wußte er. Postmord. Genaugenommen war es ja ein Doppelmord, wenn man die -38-
Leiche im Kofferraum dazuzählte. »Danke, Gretl«, sagte er, und sie wußte, daß er jetzt allein sein wollte. An den Polstertüren raschelte es wieder, als sie sich hinauszwängte, und die rote Anzeigetafel im Vorzimmer sprang um auf das grüne »Chef ist frei«. Nicht nur den Ermordeten kannte Hammerlang gut, er wußte auch viel über sein Leben. Vor allem wußte er, daß Herbert Winkler unter anderem jahrelang für seinen Vorgänger, den alten Hofrat Rossmanek, gearbeitet hatte. Und da war noch etwas: Herbert Winkler arbeitete damals mit einem Partner zusammen, mit Wilhelm Weiss, der vor zehn Jahren in die USA ausgewandert war. Und er war der Mann, den er vor seiner Ermordung angerufen hatte, vom Hauptpostamt in der Postgasse. Vier Minuten lang hatte er telefoniert, laut Erhebungsbericht. Der Bericht war natürlich von Prokesch, Hammerlangs bestem Mann. Und auch seine Telexanfrage an FBI war erfolgreich. Wilhelm Weiss hatte am nächsten Tag nach Rom gebucht. Er war abgeflogen vom Kennedy Airport. Sogar die Italiener konnten Hammerlang helfen. Wilhelm Weiss befand sich im Expreß Rom - Wien, Ankunft Wien zehn Uhr dreißig. Wenn der langsame Sedlacek den Mann in sein Büro brachte, war mit einer Klärung des Falls zu rechnen. Wenn sie auch alle sagten, der alte Rossmanek sei einsame Spitze, unfähig war er, Hammerlang, ja auch nicht. Es war Zeit für den Frührapport. Hammerlang seufzte und trank seinen Kaffee aus. Dann ging er ins Konferenzzimmer. Gegen halb zwölf erschien Sedlacek mit bedeutungsvoller Miene in Hammerlangs Büro und meldete, daß er Herrn Weiss mitgebracht habe, der Herr sitze im Vorzimmer. »Laß in herein«, sagte der Polizeirat. Dann sahen sie sich wieder, nach zehn oder zwölf Jahren, wer wußte das schon genau. Sie schüttelten sich die Hände. Großer Gott, dachte Hammerlang, der Mann ist alt geworden. Himmel, dachte Bill, der Polizeirat ist alt geworden. Sie setzten sich. -39-
»Herbert Winkler wurde vorgestern, um vier Uhr dreißig in der Postgasse in Wien erschossen. Etwa zwei Minuten, nachdem er mit Ihnen telefoniert hatte.« So begann der Polizeirat. Bill Weiss hörte das, er hörte alles und antwortete mechanisch auf alle Fragen, denken konnte er nicht. Die Vernehmung dauerte bis in den späten Nachmittag. Bill tat alles, was man von ihm verlangte. Zwischendurch führte man ihn in die Prosektur, schob ihn vor ein Gestell und hob ein weißes Leinentuch hoch. Er sah seinen Freund, kein Zweifel, er war es. Das war also eine Identifizierung. Dann brachte man ihn wieder zu Hammerlang, und die Fragerei begann von neuem. Bill antwortete mechanisch, was sonst hätte er tun sollen. Der Polizeirat wurde sichtlich unzufrieden. »Wann gehen Sie zu Schneeberg?« fragte der Polizeirat. »Zu wem?« Der Polizeirat seufzte bekümmert, »Schneeberg«, wiederholte er nur. Bill verstand gar nichts. »Wer ist das«, fragte er schließlich. Wieder seufzte der Polizeirat. »Ich dachte, Sie wüßten es.« »Keine Ahnung«, meinte Bill. Er hatte das Gefühl, der Polizeirat glaubte ihm nicht. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, das Wetter allein machte einen schon traurig. »Was sagte Ihr Freund am Telefon?« Bill konnte das Mißtrauen des Polizeirates deutlich spüren. Bill erzählte von dem Telefongespräch. Er versuchte, sich genau zu erinnern, berichtete wahrheitsgetreu. Hammerlang saß da wie ein Klotz und hörte zu. Was das denn für Schwierigkeiten wären, von denen Herbert am Telefon erzählte, wollte er wissen. Das nun wußte Bill auch nicht. »Das sollte ich ja erst erfahren, deshalb bin ich ja hergeflogen.« Der Polizeirat blickte bekümmert. Nun wollte er wissen, wie oft Bill und Herbert im Monat durchschnittlich telefoniert -40-
hatten. Bill versuchte es zu erklären. »In den zehn Jahren seit ich drüben bin, telefonierten wir keine fünf Mal. Und Briefe schrieben wir vielleicht jeder ein Dutzend. Im ersten Jahr alle drei Monate einen, dann ließ es nach. Was hätten wir uns auch schon schreiben sollen. Liebesbriefe?« Langsam begann Bill ärgerlich zu werden. Hammerlang meinte, man möge ihn doch nicht für einen Trottel halten. Nicht einmal seine Mitzi-Tante würde es glauben, daß ein Mann von New York nach zehn Jahren zu seinem Freund, zu dem er nahezu keinen Kontakt hatte, nach Wien fliegt, nur weil der am Telefon wehklagt, er sei in Schwierigkeiten. »Was also waren das für Schwierigkeiten«, Hammerlang wurde ziemlich laut. Das war sein Fehler. Bill schaltete auf stur. »Sie können schreien wie ein Hutschenschleuderer«, meinte er, »ich weiß es nicht.« Er zündete sich eine Zigarette an. Hammerlang auch. Jeder benützte sein eigenes Feuerzeug. So ging das nicht weiter, meinte Hammerlang, mehr zu sich selber. »Und den Schneeberg kennen Sie also auch nicht.« Er kenne nur den Schneeberg an der Südbahnstrecke, murmelte Bill leise und wütend. Ca. zweitausend Meter hoch, eine Seilbahn und oben ein bewirtschaftetes Restaurant. Und er wüßte nicht, was er dort oben tun sollte. Bei diesem Wetter, setzte er boshaft hinzu. »Schneeberg, mit einem e«, sagte Hammerlang lauernd. »Mit einem‹e¤, ja.« Eine Weile war Schweigen, nur den Regen hörte man am Fenster. »Mit einem oder zwei oder zwanzig ‹e¤, ich weiß nicht, was Sie wollen«, sagte Bill, und so ginge das nun wirklich nicht weiter. Hammerlang dachte nach. Schließlich schob er seine Schreibtischschublade auf und legte einen Zettel vor Bills Nase. »Ihr Freund wurde erschossen«, wiederholte er, »unmittelbar nachdem er mit Ihnen telefoniert hatte. Er war nicht sofort tot. Im Krankenhaus stammelte er noch ein paar Dinge. Soweit der -41-
anwesende Kriminalbeamte verstehen konnte, hat er Sie als Erben seines Besitzes bestimmt. Es ist nicht viel, aber letztwillige Verfügungen eines Sterbenden vor Zeugen sind so gut wie ein Testament. Dieser Punkt ist für mich klar.« Bill nickte ein wenig betroffen. »Nicht klar ist für mich folgendes«, setzte Hammerlang fort. »Ihr Freund machte sich verständlich, daß er ein paar Zeilen für Sie schreiben wollte. Er starb, während er schrieb. Der Zettel liegt vor Ihnen.« Bill starrte fassungslos auf das Blatt Papier. »Herbert«, las er, »geh zum Schneberg.« Das war alles. Schneberg mit einem »e«. Plötzlich spürte Bill, wie seine Augen heiß wurden: »Ich schwöre Ihnen, Dr. Hammerlang, ich kann damit nichts anfangen. Aber ich muß es wissen, ich muß wissen, was er von mir wollte. Ich bin zu spät gekommen, das ist mir klar, aber ich muß wissen, was er von mir wollte.« Er schneuzte sich. Als er das Taschentuch wieder einsteckte, spürte er plötzlich den festen Blick Hammerlangs, Bill sah ihm gerade in die Augen. »In seinem Kofferraum war eine Leiche«, sagte Hammerlang. »Was!!?« Bill schrie es. »Eine männliche Leiche, Alter ca. fünfzig Jahre, noch nicht identifiziert. Keine Ausweispapiere, Taschen ausgeräumt. Todesursache: ein Schuß aus einer Pistole Marke FK 7,5 mm, aus geringer Entfernung, etwa einem Meter. Das Geschoß traf in die Kinnspitze, der Schußkanal führte von unten aufwärts durch Gehirn und Schädeldecke. Der Schütze muß nach allen Erkenntnissen vor ihm gekniet oder gelegen haben.« Bill konnte nichts sagen. »Die Tatwaffe lag im Handschuhfach im Auto Ihres Freundes. Das Fahrzeug werden Sie erben. Ohne Toten und Tatwaffe, natürlich.« Der Polizeirat lächelte. »Wir haben allen Grund zur Annahme, daß Ihr Freund der Täter war. Können Sie sich vorstellen, daß dieser Sachverhalt die Schwierigkeit war, in der -42-
sich Ihr Freund befand?« Bill konnte sich das vorstellen, er nickte nur. Der Polizeirat meinte, er habe sich eigentlich mehr Angaben von Bill erhofft, die ihm zur Aufklärung des Falles helfen könnten. Bill verstand. Er verstand wirklich. Herbert hätte nie jemanden getötet, außer in Notwehr, das war alles, was er im Moment sagen konnte. In seinem Gehirn surrte es wie in einem Bienenhaus. Warum er nun eigentlich wirklich gekommen sei, so nach zehn Jahren und nach einem einzigen kurzen Telefonat. Hammerlang war jetzt freundlich, er lächelte, als er wieder die Mitzi-Tante erwähnte. Bill spürte ein warmes, sympathisches Gefühl für diesen langen Cop. Er sagte die Wahrheit. Er sprach von seinem Leben in Brooklyn, wie unerwartet und doch erwünscht dieser Telefonanruf seines Freundes kam. Und er sagte offen, daß er dahinterkommen müsse, was mit seinem Freund zuletzt eigentlich los war. Und er meinte, so gesehen hätten sie doch dieselben Interessen, der Polizeirat und er, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Hammerlang nickte ein paarmal. Am Ende hatte Bill das Gefühl, daß ihm dieser Mann nun glaubte. Und es war ein erleichterndes, beruhigendes Gefühl. Als Bill in das Wachzimmer kam, wußte der diensthabende Inspektor bereits Bescheid. Bill mußte seinen Paß vorzeigen und dann die »ordnungsgemäße Übernahme« der Wohnungsschlüssel durch Unterschrift bestätigen. »Die Wohnung ist polizeilich versiegelt«, sagte der Inspektor. »Eigentlich müßte ich Ihnen einen Beamten mitgeben, der das Siegel abnimmt. Momentan ist niemand verfügbar, vielleicht in einer Stunde, wenn Sie warten wollen...« Bill wollte nicht warten. Warum hatte die Polizei wohl die Wohnung versiegelt? Die Wohnung hatte mit dem Mord doch nichts zu tun, der Tatort war doch im ersten Bezirk. »Warum ist die Wohnung versiegelt?« fragte er. »Vorschrift nach einer Hausdurchsuchung, wenn keine Angehörigen zugegen sind«, -43-
sagte der Inspektor bissig. »Ich dachte, der Polizeirat Hammerlang hätte...« Sie hatten also die Wohnung durchsucht. Was sie wohl gesucht hatten? »... hat er es Ihnen nicht gesagt, der Polizeirat«, bohrte der Inspektor weiter. »Vielleicht hab ich's vergessen, war ein anstrengender Tag für mich«, sagte Bill müde. »Vielleicht hat Hammerlang vergessen, es mir zu sagen.« Bill wandte sich zum Gehen. »Polizeirat Doktor Hammerlang«, hörte er den Inspektor noch keifen, und dann fiel ihm ein, daß er den Weg zur Wohnung gar nicht wußte. An dem Schlüsselbund hing ein Zettel: Winkler, Herbert, Schreyvoglgasse 17/3, stand drauf. Er wollte nicht mehr fragen auf der Wachstube. Er würde die Adresse schon finden. Schreyvoglgasse 17/3. Er wußte nicht einmal, seit wann Herbert dort gewohnt hatte, ob es eine große oder kleine Wohnung war. Es war jetzt seine Wohnung, merkwürdig. Und fürs erste würde er dort wohl wohnen müssen, was blieb ihm schon anderes übrig. Ein Hotelzimmer konnte er sich nicht leisten. Er ging ein paar Schritte und fand an einer Ecke ein typisches Vorstadtgasthaus. Da würde man wohl wissen, wo die Schreyvoglgasse war, es konnte ja nicht weit sein. »Sperrstunde der Herr«, sagte der Wirt in einer dicken schmutzigweißen Schürze mit rotem Gesicht unwillig. In einer Ecke spielten ein paar alte Männer Karten, an der Theke stand ein Polizist und trank Kaffee. Eine Frau saß bei den Kartenspielern und strickte, wahrscheinlich war es die Wirtin. Es roch nach Bier und Gulasch, plötzlich spürte Bill, wie ihm der Hunger in den Magen fuhr. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen. »Abend, Herr Inspektor«, sagte Bill und ging zu dem Polizisten, »wo ist bitte die Schreyvoglgasse?« Der Polizist trank den Kaffee aus. »Gleich um die Ecke«, sagte er, »welche Nummer?« »Siebzehn«, sagte Bill und legte seinen Hut auf die Bar. »Siebzehn?« der Polizist sah ihn an. -44-
»Ich hätte gern noch ein Gulasch, wenn's geht«, sagte Bill. Der Wirt schaute unwillig, aber der Polizist nickte. »Ein Gulasch Fanny«, sagte der Wirt, und die Frau hörte zu stricken auf und schlürfte in die Küche. »Und ein Viertel Weißen«, sagte Bill. Der Wirt schenkte den Wein ein. »Zu wem auf siebzehn?« wollte der Polizist wissen. Bill trank den Wein, er schmeckte. »Zu mir, ich wohne dort.« Die Kartenspieler hörten auf und glotzten. Einer, der um die Ecke wohnte und den Weg nicht wußte. Um des Gulaschs willen beschloß Bill, die Sache zu klären. Er war schließlich in Wien und nicht in Brooklyn. Er legte seinen Paß und den Schlüsselbund vor den Polizisten auf die Theke und sagte: »Ich komme grad von der Wachstube. Die Wohnung ist versiegelt, aber es konnte keiner mitkommen.« »Ah, Sie sind der«, sagte der Polizist, »weiß schon. Aha, ich geh dann mit Ihnen rüber, zeig Ihnen die Wohnung. Noch einen Kaffee, bitte. Aha, Sie sind der. War das ein Verwandter, der Ermordete?« »Mein Freund«, sagte Bill. Das Gulasch kam. Es schmeckte. »Wieso reden Sie so gut deutsch, wenn Sie Amerikaner sind«, wollte der Polizist wissen, er schob den Paß und die Schlüssel zurück. Die Kartenspieler hatten die Münder offen und die Ohren gespitzt. Der Wirt war plötzlich freundlich und redselig. »Er war oft da bei uns, der Herr Winkler. Netter Mensch. Ein netter Mensch, Ihr Freund, net wahr, Fanny. Sie reden aber wirklich gut deutsch, Herr...« »Weiss, Willi Weiss«, sagte Bill. »Und ich bin kein Ami, war nur die letzten zehn Jahre drüben.« Er trank sein Viertel aus. »Schau her, Fanny«, der Wirt freute sich richtig, »da schau her, der Herr ist eh ein unsriger, der Freund vom Herrn Winkler, hab ihn selig. Er war oft bei uns, Ihner Freund, eh meistens zur Sperrstund.« Das war neu und interessant für Bill. Hier hatte -45-
Herbert also verkehrt. Nun, das war schließlich normal, wenn er gleich um die Ecke gewohnt hatte. Er kannte doch die Lebensgewohnheiten seines Freundes. Vor Mitternacht ging der nie ins Bett. Daran hatte sich in den letzten zehn Jahren wohl auch nichts geändert. »Solcherne Hund«, sagte der Wirt böse, »den Herrn Winkler einfach umzulegen, am hellichten Tag, solche Hunde. Wie in Chikago. Die Zeitungen schreiben...« »Die Zeitungen wissen gar nix«, sagte der Polizist und trank seinen Kaffee. »Zeiten san des«, sagte nun ein Kartenspieler, »Zeiten san des, das hätte es früher net geben. Und was macht die Polizei? Kaffeetrinken.« Er blickte beifallheischend in die Runde. »Früher hätt's das net gegeben, beim Hitler.« Seine Kartenbrüder nickten. Im Briefschlitz der Wohnungstür steckte ein Büschel Papier, Reklamesendungen, Zeitungen. Auch als Bill die Tür langsam öffnete, raschelten Briefe und Zeitungen, die den Weg durch den Briefschlitz nach innen gefunden hatten. So, als ob jemand vom Urlaub heimkommt, dachte Bill. In der Wohnung roch es wie in einem Kaffeehaus am Sperrtag, nach kaltem Rauch und ungewaschenem Geschirr. Bill konnte zuerst den Lichtschalter nicht finden. Der Polizist sagte irgendwas und ging die Stiegen hinunter. »Gute Nacht«, rief ihm Bill nach und dachte gleichzeitig, wie dumm das war, einem Polizisten, der Nachtdienst hatte, eine gute Nacht zu wünschen. Das also war die Wohnung. Erschreckend klein. Winziges Vorzimmer, eine Badenische, ein einziger mittelgroßer Raum, in einer Ecke ein Plastikvorhang, dahinter ein Wasseranschluß und zwei Kochplatten. Ein Schrank war da, die Tür stand offen. Ein paar Anzüge hingen drin. Auf einem Tischchen Zeitungen, Zigaretten und ein paar Socken. Ein voller Aschenbecher und leere Bierflaschen. Keine Gläser. Hier hatte Herbert also gewohnt. In der Badenische vor dem Wandspiegel fand Bill ein Fläschchen mit Pillen und hoffte, es würden Schlaftabletten -46-
sein. Mühselig entzifferte er das Etikett, Gott sei Dank, es waren starke Beruhigungstabletten, und er nahm eine ordentliche Dosis. Eine Lesebrille war auch so etwas, das er sich schon lange hätte anschaffen sollen. Aber dazu war ja nie Zeit, drüben in Brooklyn. Es fiel ihm ein, daß sein Koffer immer noch in der Gepäckaufbewahrung am Westbahnhof war und er nicht einmal sein Rasierzeug mithatte. Aber es war alles da, und schließlich hatte er lange genug mit Herbert zusammengelebt. Es lag alles, wo es immer lag. Das Rasierwasser war dasselbe wie vor zehn Jahren, ebenso die Marke von Zahnpaste, Haarwasser und Bodyspray, von dem Herbert immer reichlich Gebrauch gemacht hatte. Alles roch nach seinem Freund, nach der guten alten Zeit ihres Zusammenlebens, und es war einfach schwer vorstellbar, daß Herbert tot sein sollte. Hinter dem Plastikvorhang, in der Kochnische, entdeckte Bill einen Kühlschrank. Er hatte nicht gewußt, daß es so winzige Kühlschränke gab. Ein paar Flaschen Bier waren drinnen und eine halbvolle Flasche Whisky. Viel mehr hätte nicht Platz gehabt. Er trank den Whisky aus der Flasche. Gläser hatten sie früher auch nie gebraucht, er und Herbert, wenn sie zusammen wohnten. Herbert war also tot. Eine Tatsache. Bill hatte seine Leiche gesehen und identifiziert. Er hatte dieses vertraute Gesicht gesehen, mit den grauen Bartstoppeln, das so alt geworden war.
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VI
Er hörte das Telefon läuten und dachte, Joan würde abheben, wie üblich, bis ihm plötzlich einfiel, daß es keine Joan mehr gab und er in Wien war, in Herberts Wohnung. Es war noch halbdunkel im Zimmer, und als er abhob, hörte er zwei Sekunden lang das Rauschen in der Leitung, dann seine eigene heisere Stimme zweimal »hallo« sagen, dann das erbarmungslose »Klick«, der Anrufer hatte aufgehängt. Es ging also schon los. Trotz seines dumpfen Kopfes war ihm klar, daß sich irgend jemand vergewissern wollte, ob er in Wien war, in dieser Wohnung. Wer aber war dieser Irgendjemand? Es war so wie früher, nur war er jetzt zehn Jahre älter, und an diesem Morgen fühlte er sich wie hundertzwanzig. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war genau sieben, eine unchristliche Zeit. Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben. Es war ungemütlich kalt. Für Bill begann ein Tag, der sich von den folgenden kaum unterscheiden sollte. Alles war grau in grau, seine Situation erschien hoffnungslos. Wenn wenigstens der verdammte Regen aufgehört hätte. Aber wenn man aus dem Fenster sah, mußte man glauben, die Sonne könnte niemals mehr scheinen. Ganz anders hatte sich Wilhelm »Bill« Weiss seine Rückkehr in die Heimat vorgestellt. Die Ermordung seines Freundes war nicht nur ein seelischer Schock für ihn, auch die reale Situation war so unvermutet. Bill hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Klare Gedanken zu fassen fiel ihm schwer, aber so viel wußte er, daß er nur für ein paar Monate die Mittel zum Leben hatte, und dann mußte er zu Geld kommen, aber wie? Existenzsorgen mit Fünfzig sind ziemlich schlimm. Vorerst gab es eine Menge zu erledigen, aber nur Unangenehmes: Formalitäten bei der Polizei und bei Ämtern und immer wieder -48-
Befragungen bei Hammerlang, der zunehmend mißmutiger wurde, wahrscheinlich hatte er sich von Bills Aussagen mehr erhofft. Die Zeitungen schrieben immer noch über den »Postmord« und vermuteten ein Agentendrama, der Tote im Kofferraum war noch nicht identifiziert und schien auch niemandem abzugehen. Bills Bemühungen, durch konzentriertes Nachdenken weiterzukommen, waren vorerst vergeblich. Es lag wohl an ihm, er fühlte es. So wie ein Schachspieler, der instinktiv spürt, daß es eine Lösung gibt, diese aber nicht finden kann. Es waren besonders die Abende und angebrochenen Nächte, in denen er in Kneipen herumsaß und zu denken versuchte. Das Wirtshaus gleich um die Ecke, das Stammlokal Herberts, in das er in der ersten Nacht hineingeraten war, mied er. Die Leute kannten ihn dort jetzt, und auf das wichtigtuerische Getuschel der Stammgäste und die neugierigen Fragen konnte er verzichten. Sein bevorzugtes Lokal war das Chat noir, eine Mischung von Espresso und Bar, und schwarze Katzen gab es dort keine, weder zwei- noch vierbeinige. Weibliche dunkle Typen glichen eher schwarzen Ratten, man war eben in der Vorstadt. Das Chat noir hatte aber bis zwei Uhr früh geöffnet, war nie überfüllt, meist halbleer, und das Barmädchen hieß Christa und war gut anzuschauen. Dort auf einem Barhocker saß also Bill stundenlang und starrte in sein Weinglas. Wie hatte der alte Rossmanek doch immer gesagt: »Denken Sie, benützen Sie Ihr Gehirn. Der liebe Gott hat Ihnen ein Gehirn gegeben. Ein Gehirn ist zum Denken da und nicht für Kopfweh. Durch Nachdenken findet man immer eine Lösung, und wenn Sie eine Lösung haben, denken Sie auch darüber nach. Benützen Sie Ihr Gehirn.« Der alte Rossmanek hatte leicht reden. Auch Gehirnarbeit braucht Training, und Bill war wirklich zehn Jahre lang aus der Übung. Er bemühte sich ehrlich, aber das Resultat waren Kopfschmerzen. Und wenn er resigniert von seinem -49-
Weinglas aufschaute - es war schon wieder fast leer -, sah er meist nur die untere Hälfte dieser gut aussehenden Christa, die immer Hosen trug. Hosen, die so eng waren, daß man sich fragte, wie man da überhaupt hineinkam. Es waren hellblaue Hosen, und der Hintern war so zusammengedrängt, daß Optimisten jede Minute ein Platzen der Nähte erwarten konnten. Bill war kein Optimist, nicht in diesen Tagen. Von vorn aber war dieses Beinkleid so hochgezogen, daß der hellblaue Stoff gefährlich in der Geschlechtsfurche lag, das konnte doch nicht gesund sein, waren Bills Überlegungen. Na ja, wahrscheinlich tat es nicht weh, sonst könnte diese Christa es nicht stundenlang aushalten und dabei auch noch lächeln. Bill spürte, daß es mit dem Nachdenken für heute nichts mehr war, er bezahlte und ging. Christa in den engen Hosen sah ihm nach, eine Sekunde lang tat es ihr leid um diesen Gast. Der Mann war aus der Kriegsgeneration, er hätte ihr Vater sein können. Aber irgendwie war er anders als die anderen. Er redete nicht dauernd vom Fressen und vom Vögeln, er redete überhaupt wenig, fast nichts, und er sah gut aus. Kein Bauch, keine jugendliche Krawatten. Sie hatte seine Blicke gespürt, sehr körperlich und irgendwie gehofft, er würde irgendwann etwas Persönliches zu ihr sagen. Na, morgen würde er sicher wiederkommen. Seit drei Jahren war Christa verlobt. Robert studierte jetzt in Salzburg Germanistik und Geschichte. In einem Jahr würde er Professor sein. Und seit zwei Jahren hatte Christa ein Verhältnis mit Ingenieur Walter Hahn von der Magistratsabteilung 59. Walter war verheiratet. Das traf sich gut, denn zu den Wochenenden hatte er nie Zeit, die waren für die Familie da. Robert dagegen kam von Salzburg nur zum Wochenende, wenn überhaupt. Die Fahrt kostete schließlich eine Menge Geld. Christa war weder enthusiastisch verlobt noch verliebt. Sie war ein ruhiges, modernes Mädchen, lachte gern, aß gern Süßigkeiten und hatte von Kindheit an das optimistische Gefühl -50-
ihrer Generation, daß sie einmal etwas ganz Besonderes erleben werde, daß sie einem ganz besonderen Mann begegnen würde, einem Filmschauspieler oder einem weltbekannten Pop-Sänger oder wenigstens einem hohen Politiker, und natürlich würde sich dieser Traumprinz hoffnungslos in sie verlieben. Ein Gast rief und wollte zahlen, das Geschäft ging diesen Abend dem Ende zu. Sie trocknete sich die Hände ab und schrieb die Rechnung. Das war etwa zur selben Zeit, als Bill seine Wohnung, die Wohnung Herberts oder doch schon seine, erreichte. Die Wohnung hatte einen Briefschlitz, kein Namensschild, nur die Wohnungsnummer. Sperrte man auf und drückte die Tür nach innen, raschelte die eingeworfene Post, es gab keinen Briefkasten an der Innenseite, das Zeug fiel zu Boden. Bill hatte sich an das Rascheln gewöhnt, die ersten Tage die Post hoffnungsvoll auf eine interessante Nachricht hin durchgesehen. Nichts. Zeitungen, Reklamen, Rechnungen. Auch heute war es so: die Telefonrechnung, Werbeschriften für Waschmittel und Staubsauger, der Erlagschein einer Versicherungsgesellschaft mit einem Mahnschreiben. Bill sah es flüchtig durch und warf das Zeug dann auf das Tischchen. Sein Kopf schmerzte. Er überlegte, ob er eine Schlaftablette nehmen sollte. Dann ging er ins Badezimmer und begann umständlich, seine Zähne zu putzen. Das Telefon läutete. Als er abhob, klickte es und die Verbindung war unterbrochen. Langsam gewöhnte er sich daran. Er ging wieder zurück ins Badezimmer. Die Telefonrechnung würde er morgen bezahlen. Die Versicherung auch. Dreitausend Schilling Halbjahresprämie waren fällig. Teufel, das war viel, was war damit versichert? Er trocknete sein Gesicht ab, ging wieder zum Tischchen und las das Mahnschreiben genauer. Dreitausend Schilling Halbjahresprämie, Versicherungsschutz gegen Brand und Einbruchdiebstahl. Versichert war ein Holzbungalow, Schrebergartenhütte stand in Klammer, in Wien-Floridsdorf, die -51-
Adresse stand dabei. Es war die Schrebergartenhütte des alten Rossmanek, er war ein paar Mal dort gewesen, damals. Undeutlich erinnerte er sich. Eine primitive Holzhütte, abgeteilt in zwei Räume, ein Feldbett, ein Tisch, zwei Sessel. Tausende von Büchern, Fachliteratur, das Hobby des Ministerialrates. Herbert hatte das Zeug also offensichtlich geerbt. Was es da aber so hoch zu versichern gab, war Bill unerklärlich. Aber vielleicht hatte sich in den letzten zehn Jahren dort etwas geändert. Er beschloß, sich das alles am nächsten Tag anzusehen. Immerhin, das Ganze war etwas Neues, auch Hammerlang schien davon nichts zu wissen, er hätte es ihm sonst sicherlich gesagt, als über die letztwillige Verfügung Herberts gesprochen wurde. Wenn Bill jetzt alles erbte, was Herbert gehörte, mußte er auch die Versicherung bezahlen, oder sie ändern. Sein Kopf schmerzte, er nahm nun doch eine Schlaftablette. Die Kastentür knarrte wieder, wütend gab er ihr einen Tritt, aber sie sprang wieder auf. Bill drehte das Radio an, stellte auf leise Musik und versuchte einzuschlafen. Schlimmstenfalls war noch eine Tablette notwendig. Er mußte daran denken, wie lange zehn Jahre im Leben eines Menschen sind, was ein Jahrzehnt bedeutet, wie sehr sich das Leben und die Menschen in zehn Jahren ändern. Wenn er nur einschlafen könnte! In gleichbleibender Umgebung merkt man den Ablauf der Zeit kaum. Man sieht die vertrauten Gesichter des Bekanntenkreises, man sieht sein eigenes Gesicht im Spiegel, täglich oder in noch kürzeren Abständen. Man bemerkt keine Veränderung. Sicher, man wird älter, aber das Gute daran ist, man nimmt es kaum wahr. Und wie gerecht doch die Natur ist: alle werden älter, niemand bleibt verschont. Wohl die einzige irdische Gerechtigkeit auf dieser Welt. Schlaf, komm doch endlich! Er war erschrocken, als er seinen toten Freund identifizieren mußte. Es waren nicht die Starre des Todes, die gebrochenen -52-
Augen, auch nicht die klaffende Wunde. Es war dieses vertraute und doch so alt gewordene Gesicht, was ihn erschreckt hatte. Sein Freund, ein alter Mann. Bill hatte ihn noch jungenhaft, voll Energie und Humor in Erinnerung. Plötzlich fuhr er hoch, sprang aus dem Bett. Was war das? Hatte er schon geschlafen? War es ein Geräusch, wieder die Kastentür? Das Radio brummte nur mehr leise. Was war das, das ihn aufgeschreckt hatte? Der Schrebergarten! Bill spürte, wie sein Kopf heiß wurde. Der Schrebergarten, natürlich. Er drehte das Licht an, nahm seine Aktentasche vom Tisch und schüttete den Inhalt auf das Bett. Papiere, wo war der Zettel? Der Zettel mit Herberts letzten Worten, den Hammerlang ihm gegeben hatte. Da! Geh zum Schneberg, las Bill, zum hundertsten Mal. Er sah sich das n im Wort Schneberg an. Alles war undeutlich geschrieben, mit der letzten Anstrengung eines Sterbenden. Das n war kein n, es mußte ein r sein, es sollte Schrebergarten heißen, nur konnte Herbert das Wort nicht mehr beenden. Klar! Geh zum Schrebergarten, wollte ihm sein Freund mitteilen. Bill spürte, wie sein Herz klopfte. Mit dem Schlafen war es jetzt vorbei. Er mußte ganz automatisch den Weg zurückgegangen sein, den er gekommen war. Sein Kopf dröhnte, das Schlafpulver in Verbindung mit Alkohol und der schockartigen Erkenntnis von Herberts letzter Nachricht zeigte seine Wirkung. Er spürte, wie sein Gehirn blockiert war und trotzdem alle seine Nerven vibrierten. Der Schrebergarten, das war es also. Herbert wollte ihn in seiner letzten Minute dazu auffordern, in diesen Schrebergarten Rossmaneks zu gehen. Mit dieser Erkenntnis war ein großer Schritt vorwärts getan. Was er in diesem Schrebergarten allerdings sollte, blieb unklar. Das Mädchen Christa in den hellblauen Jeans war kein bißchen überrascht, als sie den interessanten Gast von vorhin plötzlich vor sich sah. Sie war eher geschmeichelt, weil alles so schnell ging, aber sie hatte es ja gewußt, daß der Mann -53-
irgendwann einmal privat kommen würde. »Ich sperre gerade zu«, sagte sie, höchst überflüssig, denn sogar in der Dunkelheit der Vorstadtgasse konnte man das erkennen. Bill hörte sie reden und den Schlüsselbund klimpern. »Schade«, hörte er sich dann selbst sagen, »ich hätte gern noch etwas getrunken.« Nochmals aufsperren sei kein Problem, meinte Christa, aber Licht dürfe sie keines machen, wegen der Sperrstunde. »Es ist zwei Uhr vorbei«, sagte sie, und sie wolle keinen Ärger mit der Polizei. Bill meinte, zum Trinken brauche er kein Licht. Er hörte sie leise lachen, und der Schlüsselbund klimperte wieder. Im Lokal war es warm, und es roch wie in einem großen Aschenbecher. Es war wesentlich dunkler als draußen auf der Straße. Er hörte das Mädchen herumhantieren; sie zog ihre Jacke aus und warf sie auf einen Sessel. Dann schepperten Gläser, und ein Flaschenkork machte leise »plob«, diskret und beruhigend. »Morgen geh ich zum Schrebergarten«, dachte Bill. »Heute noch«, denn der Tag war schon angebrochen. Ob er einen Namen habe, wollte das Mädchen wissen. Er sagte »Bill« und trank einen großen Schluck. »Rum«, hustete er und wurde verbessert: »Bacardi«. Sie rauchten, und Bill dachte wieder an Rossmaneks Schrebergarten. Er trank gierig und schnell, die Augen gewöhnten sich bald an die Dunkelheit. Das Mädchen saß dicht neben ihm, er konnte sie riechen. »Du solltest deine Hose ausziehen«, sagte er. »Das Ding ärgert mich schon den ganzen Abend.« Christa war dagegen. Sie hatte die Tür nicht abgesperrt, und es könnte ja noch jemand kommen. Der Gedanke an einen weiteren verspäteten Gast, der sie »unten ohne« überraschte, mußte Christa erheitern, er hörte sie kichern. Der Bacardi rann ihm warm durch die Kehle, der Schrebergarten wurde verschwommener. »Dann sperr doch zu«, sagte er, »sonst kriegst du wirklich Ärger mit der Polizei.« Es war vier Uhr früh, als sie das Lokal verließen; es regnete leicht. Bill genoß die kühlen Tropfen auf seiner heißen Stirn, Christa setzte ein Kopftuch auf. Sie gingen langsam, plötzlich blieb sie stehen. -54-
»Hier wohne ich«, sagte sie. Bill sah ein altes Haus, große Fenster und ein großes Haustor. »Schlaf gut, Mädchen«, sagte er. Sie hatte sich eingehängt und zog jetzt ihren Arm weg. »Sieht man den Herrn wieder?« Er sah sie an. Wie jung sie war. »Natürlich, Christi«, sagte er. »Schlaf jetzt gut. Bis heut' abend.« Er mußte acht oder zehn Stunden geschlafen haben wie tot. Das Läuten des Telefons hatte ihn geweckt, und wieder war dieses feindliche »Klick« in der Leitung, als er abhob. Mühsam kamen die Erinnerungen an den Vortag. Da war die Sache mit Rossmaneks Schrebergarten, und dann war da noch etwas, was war das doch gleich. Richtig, dieses Barmädchen Christa. Er wollte sich anziehen und erst einmal zu diesem Schrebergarten fahren. Doch alles kam anders. Er stand gerade unter der Dusche, als das Telefon wieder klingelte. Diesmal war es Hammerlang, der ihn dringend sprechen wollte, so in einer Stunde etwa. Warum Hammerlang es so dringend gemacht hatte, war Bill selbst nach dem Gespräch nicht verständlich. Der Polizeirat hatte hoffnungsfroh eröffnet, daß nun die Identität des Toten im Kofferraum festgestellt sei: ein gewisser John oder Johann Berger, dessen Fingerabdrücke man 1973 sichergestellt hatte. Dieser John Berger, ein Australier deutscher Abstammung, achtundvierzig Jahre alt, sei unter verschiedenen Namen wegen Mordes von der Interpol gesucht worden. Die Fahndung könne jetzt von der Polizeidirektion Wien nach einwandfreier Feststellung seines Todes eingestellt werden. Der Polizeirat war erfreut, Bill aber war ratlos. Der Name sagte ihm nichts, und die einzige Beruhigung, die es ihm brachte, war, daß sein Freund Herbert also keinen Heiligen erschossen hatte. Das sagte Bill auch zum Polizeirat. Ein Heiliger sei dieser John Berger sicherlich nicht gewesen, -55-
hatte Hammerlang zugestimmt. Es handle sich bei ihm um den sogenannten »Sprechpuppenmörder«, der 1973 drei Araber in einem privaten Rachefeldzug getötet habe. Drei internationale Terroristen, auch keine Heiligen. Bill müßte doch davon gelesen haben, die Weltpresse habe darüber berichtet. Bill wußte nichts, in Brooklyn hatte er nur die Lokalnachrichten gelesen, der Polizeirat war wieder unwillig. Ob ihm die Namen Oflazian oder Offenbach etwas sagten? Gar nichts, hatte Bill nie gehört. In Verbindung mit dem Namen Rossmanek. Bill sollte genau nachdenken, so wollte es der Polizeirat. Da half kein Nachdenken. Bill war nahe daran, seine Erkenntnisse über den Schrebergarten Rossmaneks preiszugeben, unterließ es aber. Das war seine Sache, und vorerst wollte er selbst einmal dort nachsehen, wie es Herberts letztem Wunsch entsprach. Später konnte er Hammerlang die Geschichte immer noch erzählen. Bill erfuhr nun vom Polizeirat, daß der erschossene John Berger für diesen Oflazian nachrichtendienstlich gearbeitet hatte. Oflazian, ein Armenier, der zuletzt in Beirut eine Art selbständige Geheimdienstorganisation leitete, war vor zwei Jahren gestorben, und seinen Laden hatte vermutlich dieser John Berger weitergeführt. Während des zweiten Weltkrieges, so wußte der Polizeirat, war Oflazian Obersturmbannführer beim großdeutschen SD unter dem Namen Offenbach. In den letzten Kriegsjahren kam er irgendwie in eine Widerstandsbewegung, und von dort rührten die ersten Verbindungen mit Rossmanek, der dann nach 1945 Chef der Wiener Staatspolizei wurde. Nachweislich habe es auch in der Nachkriegszeit Verbindungen zwischen Offenbach/Oflazian und Rossmanek gegeben, bevor der Armenier nach Beirut verzog. Und auch danach habe eine nachrichtendienstliche Verbindung zwischen den beiden bestanden. Bis der alte Rossmanek schließlich starb. Er, Hammerlang, habe in den staatspolizeilichen Akten nach seiner -56-
Amtsübernahme als Nachfolger Rossmaneks nichts finden können. Aber man wußte ja, wie mißtrauisch und eigenbrötlerisch der Ministerialrat Rossmanek gewesen war. Jedenfalls könne es kein Zufall sein, daß der Tote John Berger ausgerechnet in Herberts Kofferraum landete. Und was dahintersteckte, sollte Polizeirat Hammerlang jetzt endlich herausfinden. Er wisse von der ganzen Geschichte nichts, sagte Bill wahrheitsgetreu. Im Gedanken an den Schrebergarten würgte er ein wenig, als Hammerlang eindringlich wurde, blieb jedoch dabei. Dann hatte der Polizeirat das Thema gewechselt und wollte von Bill wissen, warum Herbert eigentlich nicht von seiner Wohnung aus nach New York/Brooklyn telefoniert habe. Er hätte es doch von dort bequemer gehabt, und es hätte ja keine Notwendigkeit bestanden, bis in die Morgenstunden in den Kneipen herumzusitzen. Das sei eben so Herberts Art gewesen, meinte Bill ehrlich. Das würde nicht zu Herbert gepaßt haben, daheim zu sitzen und zu warten, bis es in Brooklyn Mitternacht wurde. Nach langem Hin und Her schien der Polizeirat wenigstens in diesem Punkt befriedigt, und Bill konnte gehen. Es war ziemlich spät geworden, und immer noch regnete es leicht. Bill hatte plötzlich keine Lust mehr, den Schrebergarten zu suchen, und verschob es auf den nächsten Tag. Die Neuigkeiten Hammerlangs gaben ihm zu denken. Am liebsten wäre er gleich zu Christa gegangen, aber dazu schien es ihm wieder zu früh. So fuhr er vorerst einmal in Herberts Wohnung und versuchte, die letzten Informationen zu verarbeiten. Nun lag er angezogen auf dem Bett und sah dem Rauch seiner Zigarette nach. Der Straßenlärm war zu hören, gedämpft durch das Doppelfenster mit seinen verschlissenen gelblichen Gardinen. -57-
Sprünge an der Decke bildeten ein groteskes Muster, die Malerei war an vielen Stellen abgeblättert. Spinnweben in einer Ecke hingen herab, schwarz geworden in vielen Wochen oder Monaten. Die Spinne war sicher schon lange tot, gestorben an Altersschwäche oder Nahrungsmangel. Übriggeblieben war nur das Netz, nun sinnlos geworden; ein deprimierender Anblick. Er fragte sich, wann in dieser Bude wohl zum letzten Mal saubergemacht worden war. Herbert war kein Schwein gewesen. Er hielt viel auf Körperpflege, hatte tadellose Zähne, duschte und wechselte die Unterwäsche oft zweimal täglich und ließ sich bei jeder Gelegenheit die Haare waschen. Aber seine Umgebung war ihm immer gleichgültig gewesen. Die Zimmerwände mochten dreckig sein, auch der Fußboden, das sah er nicht. Jetzt war er tot, erschossen. Es war immer noch schwer, das zu begreifen. Die Kastentür knackste leise, sie stand offen, man konnte Herberts Anzüge hängen sehen und den Mantel. Alle Taschen hatte Bill schon untersucht, dreimal, wie vor ihm sicher auch schon die Polizei. Nichts. Kein Notizbuch, kein beschriebener Zettel, kein Brief, nichts, was irgendeinen Hinweis auf Herberts Leben in den letzten Monaten gegeben hätte. Aber irgend etwas mußte es geben. Wieder hatte Bill das Gefühl, daß ihm jeder Gegenstand in diesem Raum helfen könnte. Wenn die Dinge nur reden könnten. Der Aschenbecher, die Zahnbürste, der alte Ledermantel. Wie bringt man solche Gegenstände zum Reden. Oder wenigstens einen. Der Kasten knackste wieder, und die alte Holztür knarrte leise. Sag es mir, alter Kasten. Was wollte mein Freund von mir, wie hätte ich ihm helfen sollen? Komm, hatte Herbert am Telefon gesagt. Auf meine Kosten. Auf seine Kosten? Wo war das Geld? Der Betrag in seiner Brieftasche reichte für zwei Mahlzeiten in billigen Restaurants. Kein Sparbuch, kein -58-
Scheckheft. Hatte man ihn beraubt? Kaum, nach allem, was er von der Polizei wußte. Tote sind tot. Es gibt keine Geister. Aber alles in dieser alten Bude strahlte etwas von Herbert aus, als ob er irgendwo unsichtbar im Zimmer wäre. Kannst du mich nicht hören, Freund? Verstehst du mich nicht? Wieder knarrte die Kastentür. Tote sind tot. Geister gibt es nicht. Warum aber bekam er jetzt eine Gänsehaut, warum sträubten sich seine Nackenhaare? Das Geld. Herbert mußte Geld gehabt haben. Vielleicht nicht viel, aber mehr, als er bei sich hatte. Der Zigarettenrauch bildete groteske Figuren, er hing über dem Bett, als wagte er nicht, höherzusteigen, zu diesem traurigen Plafond. Es wurde rasch dunkel, die Sprünge im Mauerwerk und die Spinnwebe verschwammen, bildeten andere Figuren. Die altersschmutzigen Flecken verkrochen sich hinter der aufkommenden Dunkelheit, versteckten sich schamhaft. Verstecke. Sie hatten immer irgendwelche gemeinsamen Verstecke gehabt, er und Herbert. Da waren immer Dinge, die zu verbergen waren. Mikrofilme, Berichte, manchmal Geld, vieles mußte versteckt werden, man konnte ja nie wissen. Ein Versteck? Ja sicher, es wäre Herbert sehr unähnlich gewesen, hätte er nicht irgend etwas zu verstecken gehabt. Die Kastentür knarrte. Bill sah hinüber, die Tür hatte sich weiter geöffnet. Die Fächer mit den Hemden waren zu sehen. Socken, Unterwäsche, Krawatten, alles nicht sehr ordentlich. Eine Kleiderbürste, eine Schere, ein Knäuel grüner Schnur, eine Rolle Leukoplast. Eine Rolle Leukoplast. Bill hatte sie schon hundertmal gesehen, jedesmal, wenn er an dem Kasten vorbeikam. O Gott, die alten Gewohnheiten, er kannte doch alle Gewohnheiten Herberts. Leukoplast. Hinter die Scheißmuschel schaut niemand, hatte Herbert immer gesagt. Eines seiner bevorzugten Verstecke, die -59-
Unterseite der Abortmuschel. Die alten Gewohnheiten. Warum bekam er jetzt wieder eine Gänsehaut? Bill stand auf wie in Trance und ging ins Badezimmer. Das Licht drehte er nicht an, aus Angst, er könne etwas verscheuchen. Er kniete nieder und fand das Paket mit dem ersten Griff. Ein normaler Briefumschlag, verschlossen, etwa drei Zentimeter dick. Jetzt erst knipste Bill das Licht an und riß den Umschlag auf. Dollarnoten. Hunderter, Fünfziger, Zehner, grüne Scheine, die Bilder von Lincoln, von Washington. Das Geld. Das alte Versteck. Etwas fiel zu Boden, etwas Winziges, Helles. Es klickte ganz leise auf dem Steinfußboden, sprang in eine Ecke, klickte noch leiser und war still. Bill kniete nieder, suchte das winzige Etwas. Lange hielt er es auf seiner Handfläche, besah es, hob es ans Licht. Kein Zweifel, es war der Milchzahn eines Kindes. Wohl das letzte, was Bill in diesem Umschlag erwartet hatte. Ein Milchzahn, wie er Kindern so im Alter von sechs bis sieben ausfällt. Bill blätterte in den grünen Scheinen. Etwa viertausend Dollar waren es, grob geschätzt. Viel Geld. Er ging ins Wohnzimmer zurück. Wieder knarrte die Kastentür.
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VII
Mit zunehmenden Dienstjahren wurden für Dr. Hammerlang Polizeiakten oder geheimdienstliche Erkenntnisse immer langweiliger. Das Aktenstück Oflazian - Offenbach war eine Ausnahme, faszinierte ihn von der ersten Seite an. Großer Gott, was für eine Geschichte! Ein Aktenkonvolut von vierhundert Seiten, engzeilig getippt und noch dazu in Englisch. Dieses Monstrum hatte er vom Ministerium »zum Dienstgebrauch« erhalten, es war »von einem befreundeten Dienst« zur Verfügung gestellt worden. Mit anderen Worten, es war eine Akte von den Amis, genauer vom CIA. Er las das Schriftstück zu Hause, als Frau und Kinder schon im Bett waren. Als seine Frau in der zweiten Nacht mit Lockenwicklern und Flanellnachthemd zum dritten Mal fragte, ob er total übergeschnappt sei, und warum er nicht endlich ins Bett komme, hätte er sie gerne aus dem Fenster geworfen. Sie wohnten immerhin im fünften Stock. Der Polizeirat diktierte seiner Sekretärin einen Aktenvermerk zu dem Fall. Immerhin gab es nun einige wesentliche Erkenntnisse. Die Identität des Toten im Kofferraum war geklärt, John Berger, Australier, gesucht von Interpol wegen dreifachen Mordes und eines Bankraubes. Die Fahndung war widerrufen, das Fingerabdruckverfahren beweiskräftig. Die Vergleichsabdrücke waren zwei Jahre zuvor von der Präfektur Paris sichergestellt worden. Ein Kollege aus Paris, Chefinspektor Trudeau, hatte gestern angerufen, der den letzten Mord Bergers in Paris bearbeitet hatte. Merkwürdig neugierig war der Chefinspektor, wollte genau wissen, wie Berger ums Leben gekommen war. Hammerlang konnte seinem Kollegen nicht viel sagen, denn darin lag das Problem: wenn er wenigstens schon den Tatort hätte feststellen können. Ein geklärter Mord ohne Tatort ist eine halbe Sache. Zudem war noch kein Motiv erkennbar. Nein, dem Chefinspektor aus Paris -61-
konnte er nicht viel bieten. Außerdem war Hammerlangs Französisch ziemlich dürftig, und diese westlichen Kollegen glauben ja immer, jeder Mitteleuropäer sei mit englischer oder französischer Muttermilch aufgezogen worden. Hammerlang beobachtete seine Sekretärin, während er diktierte. Fett war sie geworden, in den letzten Jahren. Weit und breit kein Mann zum Heiraten, blieben nur das Büro und Essen und Trinken. Sie mußte jetzt bald vierzig sein. Warum sie wohl keinen Mann gefunden hatte, so übel war sie früher doch nicht. Es fiel ihm ein, daß sie als ganz junges Mädchen auch für seinen Vorgänger tätig gewesen war. »Gretl«, sagte er, »hast du für den Rossmanek in dieser Oflazian-Sache was getippt, erinnerst du dich? In der Ablage ist nichts zu finden. Es müßte aber ein Vorgang da sein.« Margarete Scherbler kaute gelangweilt an ihrem Bleistift. »Nichts«, sagte sie, »du weißt doch, wie mißtrauisch der Alte war. Die wichtigen Sachen schrieb er sich alle selber, in dieser Gabelsberger Stenografie, die heute kein Mensch mehr lesen kann. Und seine Vormerkungen nahm er sich mit nach Hause, selbst der Panzerschrank war ihm nicht sicher genug.« Hammerlang kannte die Geschichte. Nach dem Tod des alleinstehenden Hofrates hatte man überall nach diesen Stenoakten gesucht, erfolglos. Er diktierte weiter: Daß eine enge nachrichtenmäßige Beziehung zwischen Rossmanek und diesem Oflazian bestanden hatte, ginge aus dem CIA-Akt einwandfrei hervor. Ebenso die Tatsache, daß der erschossene John Berger für Oflazian gearbeitet hatte. Es konnte kein Zufall sein, daß er von Herbert Winkler erschossen worden war. Winkler war ein Rossmanek-Mann. Aber wer hatte Winkler erschossen und warum? Hammerlang verfluchte seinen Beruf. Aus der AmiAkte mußte er jetzt erst von der Existenz dieses Oflazian erfahren. Jahrelang war er immerhin der Stellvertreter Rossmaneks gewesen, das alte Schwein hatte ihm nie etwas davon gesagt. Verfluchter alter Verdachtschöpfer, mißtrauischer. »Mach uns -62-
jetzt einen Kaffee, Gretl«, sagte er. Kaffee konnte Hammerlang den ganzen Tag trinken, schwarz und ohne Zucker. Dieser Bill Weiss, konnte oder wollte er nicht mehr sagen? Der hatte mit seinem Freund doch schon für Rossmanek gearbeitet, als Hammerlang noch auf die Uni ging. Gleich nach dem Krieg mußte das begonnen haben, jedenfalls noch während der Besatzungszeit. Damals mochten Rossmaneks Methoden und seine übertriebene Vorsicht ja noch gerechtfertigt gewesen sein. Aber der Alte hatte ja nie damit aufgehört, auch nicht nach Abschluß des Staatsvertrages. Und den jungen Polizeijuristen Hammerlang hatte er behandelt wie ein Vater seinen idiotischen Sohn. Margarete Scherbler goß die Tassen voll, sie bückte sich tief, ihr oberster Blusenknopf war offen, aber Hammerlang war gänzlich uninteressiert. Der Amtsdiener kam und brachte eine Menge Papier, unter anderem einen Stapel Zeitungsausschnitte der Auslandspresse; Kommentare zum »Postgassenmord«. Das Paket war vom Außenministerium »zur gefälligen Kenntnisnahme« übermittelt worden. Der Polizeipräsident hatte nur ein Rufzeichen hinzugefügt. Mit rotem Bleistift. Hammerlang las einzelne Überschriften: »Der dritte Mann auferstanden.« »Agentenmord in Wien.« »Spionagezentrale Wien.« »Gangstermethoden in Österreichs Hauptstadt.« Dann warf er das Bündel in den Papierkorb. Er zündete sich eine Zigarette an und mußte husten. »Du rauchst zuviel«, sagte die Sekretärin. »Laß das Gerede«, hustete er. Früher hätte er sie zumindest auf den Popo getätschelt, wenn sie Kaffee einschenkte. Ganz früher tat er noch ganz andere Dinge mit ihr in den Kaffeepausen. Aber das war schon lange her, sehr lange. »Schleimi war gestern mit dem Präsidenten beim Heurigen«, berichtete Gretl, »die beiden Gattinnen waren auch dabei.« Schleimi war Polizeirat Zelezny, Leiter der -63-
Abteilung II, Hammerlangs Konkurrent auf einen Hofratsposten. Na bravo. Er, Hammerlang, sah den Präsidenten nur dienstlich und auch dann nur, wenn es sein mußte. Aber er konnte ihn ohnehin nicht leiden, den Präsidenten. Das Telefon läutete, es war seine Frau. Sie wollte wissen, ob er sie abholen und in die Stadt fahren könne. Weihnachtseinkäufe erledigen. Hammerlang sagte, das könne er leider nicht, schließlich habe er einen Beruf. Seine Frau startete eine längere Protestrede. »Entschuldige Schatz«, sagte er, »ich bin in einer Konferenz.« Dann legte er auf. Er sah aus wie jemand, der gerade eine Kröte gefressen hatte. »Bring mir jetzt den Sednitzky-Akt«, sagte der Polizeirat. Margarete Scherbler ging in einen Nebenraum, holte einen Ordner, auf dem »vertraulich« stand und legte das Ding auf Hammerlangs Schreibtisch. Sie wußte, daß er jetzt allein sein wollte und ging ins Vorzimmer zu ihrem Platz. Die Polstertür schloß sich geräuschlos. Der oberste Blusenknopf Margarete Scherblers war wieder zugeknöpft. Der Bericht über Sednitzky war für den Polizeirat einigermaßen verwunderlich. Jaroslav Sednitzky, jetzt fast achzig, alter polnischer Adel, war 1939 bei Kriegsausbruch von Warschau nach London geflüchtet und dort als militärischer Berater der polnischen Exilregierung maßgeblich bei der Aufstellung der Anders-Armee beteiligt. Im September 1944 tauchte er in Warschau auf und war Verbindungsoffizier bei General Bor, dem Leiter des Polenaufstandes. Nachdem der Aufstand von den Deutschen blutig niedergeschlagen war und die Russen dabei tatenlos zugesehen hatten, verschwand Sednitzky für einige Zeit. 1948 war er plötzlich in Graz als Berater der englischen Besatzungsmacht. Nach Abzug der alliierten Truppen aus Österreich ging er nach Wien und handelte mit militärischen Informationen. Er verkaufte so ziemlich an jeden, der bezahlte. Mit zunehmendem Alter nahm seine nachrichtendienstliche Bedeutung ab, die letzten Jahre nahm ihn niemand mehr ernst, nicht einmal die österreichische -64-
Staatspolizei. Vorgestern wollte Sednitzky bei Hammerlang vorsprechen, er hätte eine Aussage zu machen. Der Polizeirat ließ ihn abwimmeln und von einem Kriminalbeamten schriftlich vernehmen. Konnte ja doch nur Unsinn sein, was der halbsenile Sednitzky wichtigtuerisch daherredete. Noch bevor der Kriminalbeamte zu schreiben begann, informierte er den Polizeirat, daß sich Sednitzkys Angaben auf den ermordeten Herbert Winkler bezögen. Das war überraschend. Hammerlang ordnete eine kurze Überwachung Sednitzkys an, um zu erfahren, was der Alte nach seiner Aussage tun würde. Die Niederschrift Sednitzkys lag nun vor ihm. Sie war kurz. Überanstrengt hatte sich der Kriminalbeamte dabei nicht. Vor vierzehn Tagen habe Herbert Winkler dem Sednitzky wichtiges Material über den KGB zum Kauf angeboten. Zu einem hohen Preis. Man habe einen zweiten Treff vereinbart. Dann habe Sednitzky von der Ermordung Winklers in der Zeitung gelesen. Das war alles. Hammerlang hatte wieder seine leidende Miene aufgesetzt. Dann las er den Observationsbericht: Auch diese Meldung war kurz. Der alte Sednitzky hatte die Polizeidirektion verlassen und war langsam in ein Restaurant gegangen, ins »Kupferdachl«. Dort bestellte er gebackene Leber mit Majonnaisesalat und ein Viertel Rotwein. Anschließend ging er in die Telefonzelle des Restaurants und telefonierte, nur kurz, etwa eineinhalb Minuten. Dann bestellte er Kaffee mit Milch und Zucker. Er bezahlte mit einer Fünfhundert-Dollar-Note, gab zehn Schilling Trinkgeld. Der Kellner sagte: Ergebensten Dank, Herr Graf. »Dürfte in besagtem Lokal bekannt sein«, hatte der Herr Inspektor kriminalistisch hinzugefügt. Dann war der Graf gegangen, in ein Taxi gestiegen und weg war er. »Da kein geeignetes Beförderungsmittel bereitstand, war eine weitere Beobachtung nicht möglich«, endete der Bericht. Das Kennzeichen des Taxis war nicht notiert. »Idiot«, sagte Hammerlang böse. Es hallte -65-
wider in dem großen Raum. Er rief den leitenden Kriminalbeamten durch die Sprechanlage und ordnete periodische Überwachung des Barons für die nächsten zwei Wochen an. Der leitende Kriminalbeamte jammerte über Personalmangel. »Tun Sie Ihr Möglichstes«, sagte der Polizeirat. Das tue er ohnehin, meinte der leitende Kriminalbeamte. »Und noch etwas«, murrte Hammerlang, »wenn bei Beobachtungen das Objekt in ein Taxi steigt und man kommt nicht mit, sollen die Inspektoren wenigstens das Kennzeichen notieren, man kann ja nachher das Fahrziel ermitteln.«
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VIII
Nur mehr wenige Gäste saßen im »Chat noir«, die Hauptlichter waren abgedreht, das Lokal halbdunkel. Christa wischte die Tischplatten ab und leerte Aschenbecher aus. »Heiland«, sagte sie, »wie siehst du denn aus?« Er hörte es von weitem. »Doppelten Rum«, sagte Bill mühsam. Er zog sich auf einen Barhocker und schob seinen Oberkörper über die Theke. Für den Fall, daß er umkippen sollte, wollte er lieber auf die Theke sinken und nicht in ganzer Länge auf den Steinboden fallen. In seinem linken Fußknöchel klopfte es, als ob dort im Herzmuskelrhythmus ein eisernes Hämmerchen schwingen würde. Entfernt hörte er, wie Christa jemandem gute Nacht wünschte. Es tropfte auf seinen Handrücken, und er wollte sehen, was es war. Blut natürlich, was sonst. Es tropfte von seinem rechten Jochbein, und sehen konnte er es nur undeutlich, nur mit dem linken Auge, denn das rechte war geschlossen, und zwar so endgültig, als ob dort nie mehr die Sonne hineinscheinen könnte. Ein Schlagring, dachte er, der Dreckskerl hatte einen Schlagring. Nicht einmal Muhammed Ali konnte so hart treffen aus dem Ellenbogen und ohne auszuholen. Die hellen Punkte vor seinem linken Auge waren manchmal weniger dicht, so wie Schneeflocken im heftigen Wind. Doch das nächste, was er fühlte, war beruhigend; sein Geruchssinn funktionierte, es war der herrliche Geruch von Rum, und das Glas stand unterhalb seiner Nase. Christa sagte etwas, das er nicht verstehen konnte, denn in seinen Ohren brauste ein Meer. Aber immerhin, seine Nase war in Ordnung. Er gab es sogleich auf, mit seiner rechten Hand nach dem Glas zu greifen. Wenn diese Rechte nicht plötzlich irrsinnig geschmerzt hätte, jede Wette hätte er gehalten, daß sie gar nicht zu ihm gehörte. Dieser geschwollene Klumpen, der da aus -67-
seinem rechten Ärmel hing, war ihm völlig fremd. Mit der linken ging es ganz ordentlich. Er trank den Rum so gierig, daß die Schneeflocken wieder dicht waren, dann hustete er ganze zwei Minuten, und es war reiner Zufall, daß er nicht vom Hocker fiel. Christa war ein gutes Mädchen, sie nutzte die Zeit und stellte einen neuen Rum vor ihn hin. Undeutlich vernahm er jetzt ihre Fragen. Ob er einen Unfall gehabt habe, und ob sie die Rettung anrufen sollte. Er nickte »ja« zum ersten und schüttelte den Kopf zum zweiten, und die Schneeflocken waren wieder so dicht wie ein weißer Vorhang. Ein schöner Schlamassel, in den er da hineingeraten war. Seine Gedanken ordneten sich nur mühsam. Rossmaneks Schrebergarten hatte er unschwer gefunden. Das letzte Stück war er zu Fuß gegangen, den Wagen hatte er am Siedlungseingang abgestellt. Das war so gegen drei Uhr nachmittags gewesen. Der Schlüssel zu der Hüttentüre paßte, doch aufzusperren brauchte er nicht. Das Schloß war unversperrt. Er drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Sie ächzte in den Angeln. Drinnen war es dunkel und muffig. Bill fand einen Schalter und knipste das Licht an: Bücher, Tausende von Büchern 'waren das erste, was er sah. Die Wände waren verbaut mit Regalen, vollgepfropft mit Büchern bis an die Decke. Ein kleines Tischchen stand da mit einem Sessel, und überall lag viel Staub. Bill erinnerte sich, so hatte es schon vor 15 Jahren hier ausgesehen. Bis auf den Staub. Er ging in den Nebenraum. Derselbe Anblick. Nichts als Bücher und Zeitschriften. Ein Feldbett mit einer alten Decke, sonst nichts. Bill schloß die Eingangstür und sah sich um. Auf dem kleinen Tisch lagen Stöße von Zeitungen aus allen Ländern, in allen Sprachen. Neben dem Tisch auf dem Boden lagen ebenfalls Bündel von Zeitungen. Mit einem Blick war zu erkennen, daß es uralte Zeitungen waren. Auch die Büchersammlung machte -68-
einen antiquierten, modrigen Eindruck. Viel politische Fachliteratur. Dann Wiener Adreßbücher und Telefonbücher aus den dreißiger Jahren, eine Sammlung österreichischer Amtskalender, beginnend mit 1918, alte Lexika, Einwohnerverzeichnisse, Wörterbücher. Die Massen von Zeitungen, die in Stößen herumlagen, hätten einen Altpapierhändler jubeln lassen. Was hatte Herbert mit diesem alten Kram gewollt. Hatte er etwas gesucht, etwas gefunden? Bill war schon zwei Stunden in der Hütte, als er den dunklen Fleck am Fußboden unter dem Fenster bemerkte. Er kniete sich auf den Fußboden und besah sich alles lange und eingehend. Mit einer Taschenlampe, die auf dem Tisch gelegen hatte, beleuchtete er Fußboden, Holzwand und Fenster. Die Außenläden des Fensters waren geschlossen, aber nur angelehnt. Am Fensterbrett war die Staubschicht breitflächig abgewischt, als ob sich dort jemand ins Innere gezwängt hätte. Etwa in Kopfhöhe neben dem Fenster wieder diese dunklen, klebrigen Flecken am Holz, kleiner als auf dem Fußboden und wie hingespritzt. Vereinzelt klebten Haare an diesen Flecken. Schließlich das kleine, aufgesplitterte Loch in der Holzwand. Kein Zweifel, hier hatte Herbert diesen John Berger erschossen. Der Mann mußte durch das Fenster eingestiegen sein. Noch einmal begann Bill zu suchen, diesmal an der anderen Seite des Raumes. Erleichtert fand er nach etwa einer halben Stunde, was er erwartet hatte: Eine Einschußöffnung in einem Buchrücken am Wandregal. Es war ein biographisches Staatshandbuch, Lexikon für Politik und Publizistik, erschienen 1951. Ein dicker Wälzer. Das deformierte Projektil war schräg eingedrungen und bis Seite fünfhundertsechsunddreißig gekommen. Hirt Oskar, geboren 1856 zu Neapel, gestorben 1901 zu Luzern, war Redakteur des dortigen »Vaterlandes«, las Bill geistesabwesend. Der Eindringling hatte also zuerst geschossen. Bill kannte seinen Freund. Herbert knallte doch keinen Menschen ab ohne -69-
zwingenden Grund. Bill setzte sich an das Tischchen, seine Stirn war feucht geworden. Das also war der Tatort, nach dem Hammerlang suchte. War es nur dieser Tatort, auf den ihn Herbert in seiner letzten Minute aufmerksam machen wollte? Bill empfand auf einmal die Stille in diesem Raum wie einen Druck in seinen Ohren. Manchmal knackste das Holz leise, das war alles. Herberts letzter Wunsch mußte einen anderen Grund gehabt haben. Um zu beweisen, daß er einen Menschen nur in Notwehr erschossen hatte, hätte ein Anruf bei Hammerlang genügt. Es mußte etwas anderes sein. Bill kramte in der Tischlade. Eine Menge Bleistifte und Kugelschreiber, Bleistiftspitzer, eine Schere, eine Rolle grüne Schnur, ein Taschenmesser, Schachteln mit Büroklammern und Reißnägel, ein Flaschenöffner, eine Kerze, eine Lesebrille. Alles sicher noch Sachen vom alten Rossmanek. Und viel Staub. Bills Fingernägel wurden schwarz davon. Er ging hinaus in den Garten, es dämmerte schon. Die Lichter auf der Hauptstraße waren eingeschaltet. Er sah die Umrisse seines Autos, und daneben jetzt auch die eines anderen Wagens, es war ein Citroen. Wieder hatte er das Gefühl, etwas gesehen, aber gedanklich nicht registriert zu haben. Eine Kleinigkeit, die wichtig sein konnte. Es ging ihm wie in Herberts Wohnung in den ersten Tagen. Als ob ihm all die Gegenstände in seiner Umgebung etwas sagen wollten, als ob sie zu ihm redeten. Aber er konnte nichts hören, nichts verstehen. Er ging zurück in die Hütte und durchsuchte jeden einzelnen Winkel. Wegen der alten Zeitungen und Bücher wollte ihn Herbert sicher nicht hier haben. Es mußte etwas Wichtiges geben, das er finden sollte. Wenn er nur gewußt hätte, was! Nach zwei weiteren Stunden war er erschöpft. Er hatte hinter die Bücher und Regale geleuchtet, in jeden Winkel, den Fußboden abgesucht, die Wände abgeklopft, das Bett zerlegt. Nichts. Eines allerdings wurde ihm klar: Hier hatte schon vor -70-
ihm jemand gesucht, ebenso gründlich wie er und vor nicht allzu langer Zeit. Die vielen Spuren im alten Staub waren deutlich zu erkennen. War es Herbert gewesen? Er gab das Suchen auf und setzte sich wieder an den Tisch. Eine Zigarette. Vielleicht hatten die Burschen, die Herbert gekillt hatten, hier schon gesucht und gefunden, was ihnen einen Mord wert gewesen war? Er fand eine leere Konservendose, die er als Aschenbecher benützte. Mit Zigaretten mußte man hier vorsichtig sein, die Holzhütte mit dem vielen Papier würde brennen wie eine Fackel. Er lehnte sich zurück und legte die Beine auf den Tisch. Einige Bündel Zeitungen fielen auf den Boden. Es raschelte, dann plumpste es schwerer, eines der Bündel war kompakt und verschnürt. Bill sah das Ding am Boden liegen. Grüne Schnur? Dieselbe grüne Schnur wie in der Tischlade, wie er sie schon im Kasten in Herberts Wohnung gesehen hatte. Warum sollte Herbert alte Zeitungen verschnüren. Wollte er sie mit nach Hause nehmen? Bill nahm das Bündel und öffnete es. Zwischen den Seiten fand er Papierbögen. Hunderte von dünnen Papierbögen. Numeriert, datiert und eng beschrieben in Kurzschrift, sorgfältig, fast penibel. Bill kannte diese Art Stenographie, es waren Rossmaneks Aufzeichnungen. Das war es also, das mußte es sein! Er verschnürte das Zeitungspaket wieder. Das sah Herbert ähnlich, das war typisch für ihn. Kein Geheimfach, kein doppelter Boden. Ein Bündel alter Zeitungen in einem Berg anderer Zeitungen direkt vor der Nase auf dem Tisch, wer sieht da schon nach. Es war schon zweiundzwanzig Uhr vorbei, als Bill die Hütte zusperrte und zu seinem Wagen ging, das schwere Zeitungspaket unter dem Arm. Kein Mensch war zu sehen. Der Citroen stand immer noch da, -71-
einen Meter hinter seinem Opel. Als er den Kofferraum aufsperrte und das Zeitungsbündel hineinfallen ließ, geschah es. Die Scheinwerfer des Citroen flammten auf, und beide Vordertüren wurden auf gestoßen. Er sprang aus dem Lichtkegel und trat gegen die offene Wagentür, hinter der sich jemand herauszudrängen versuchte. Zweimal trat er gegen diese Tür, mit aller Kraft. Dann spürte er den Hieb unter dem rechten Auge, gerade als er sich umdrehen wollte. Der zweite Mann war wesentlich schneller aus dem Wagen gekommen. Bill schlug einen rechten Schwinger ins Dunkle, traf etwas unglaublich Hartes und spürte den Schmerz bis zum Ellenbogen. Jemand hielt ihn umklammert, ein Körper, leichter als seiner. Er wollte sich losreißen und taumelte ins gleißende Licht des Scheinwerfers, stützte sich auf etwas, das nachgab, sein Kofferraumdeckel. Ein unterdrückter Schrei, und die Klammerung ließ nach. Da sah er den Mann, der seinen Arm in den Kofferraum eingezwängt hatte, und kickte mit dem linken Fuß gegen dessen Kopf. Die Autoschlüssel! Sie steckten im Schloß des Kofferraumes. Als er sich hinters Lenkrad fallen ließ, blendeten ihn die Scheinwerfer im Rückspiegel. Rückwärtsgang, Gas, Krachen und Splittern, dann Dunkelheit. Er schaltete seine Scheinwerfer erst ein, nachdem er schon auf den zweiten Gang geschaltet hatte. Bald lief sein Wagen auf vollen Touren, doch die Unnötigkeit seiner Raserei wurde ihm bewußt, als er sich an die zertrümmerten Scheinwerfer des Citroen erinnerte. Dieser Gedanke beruhigte ihn, und er verlangsamte seine Fahrt. Wie gut der Rum roch. Der letzte Gast war endlich draußen, und er hörte das beruhigende Klimpern des Schlüsselbundes, als Christa absperrte. Ein zaghaftes Gefühl von momentaner Geborgenheit überkam ihn, hier war er relativ sicher. Die Burschen verstanden keinen Spaß, das hätte er eigentlich wissen müssen. Schließlich waren sie Herberts Mörder. Doch diesen Gedanken hatte er in den letzten Tagen verdrängt. Was das für Typen waren? Er hätte -72-
keinen wiedererkennen können. Zwanzig Jahre war er im Nachrichtendienst gewesen und konnte sich nicht erinnern, daß jemals Mord im Spiel war. Auch nicht in den schlimmsten Zeiten des kalten Krieges. Alle üblen Tricks und Gemeinheiten, ja, aber umgebracht hatten sie sich damals gegenseitig nicht, und die einstigen Asse in den verschiedenen Diensten, die er kannte, waren alle an Herzinfarkt oder Leberkrebs krepiert, nicht aber an Kugeln. Außer Herbert und diesem John Berger. Das mußte eine ganz neue Praktik im internationalen Nachrichtendienst sein. Aber schließlich war er seit zehn Jahren »out« und hatte die letzte Entwicklung nicht mitbekommen. »Geht es besser?« hörte er Christa fragen. Bill nickte. Ob der Wagen kaputt sei? Im ersten Moment wußte er gar nicht, wovon sie sprach. Bis ihm einfiel, daß sie ja an einen Verkehrsunfall glaubte. »Nur die hintere Stoßstange«, sagte er, und das stimmte ja auch. Christa schaltete Licht an und besah sich sein Auge. »Das sollte genäht werden«, war ihre Diagnose. »Ja, ja«, sagte er, »morgen. Dreh das Licht wieder ab.« Morgen! Morgen mußte er weg sein. Er spürte Panik in sich aufkommen. Weg, nichts wie weg. Ein paar Tage in einer ruhigen, sicheren Umgebung, und alles sah wieder anders aus. Er brauchte Zeit, Zeit zum Denken und zum Lesen. Erst einmal mußte er Rossmaneks Archiv lesen, das würde ihn weiterbringen. Seine linke, die intakte Hand, tastete in seine Brusttasche, und er spürte dieses knisternde Kuvert. Viertausend Dollar waren viel Geld. Seinen Reisepaß hatte er wie immer im Handschuhfach deponiert. In seine, Herberts Wohnung würde er jetzt nicht gehen. Wer weiß, was den beiden eingefallen war, die wußten doch sicher, wo er wohnte. Wahrscheinlich kannten sie Herberts Wohnung länger als er selbst. -73-
»Kann ich heute nacht bei dir bleiben?« fragte er. »Warum?« fragte Christa erstaunt. Bill war ganz ruhig. »Bist du Jüdin«, fragte er und jetzt konnte er sogar lachen. Mit Entschiedenheit stellte das Mädchen fest, daß es keine Jüdin sei. - Und was es damit für ein Bewandtnis habe? »Ich erzähl' dir eine Geschichte«, hörte er sich sagen, und er war dabei ganz ruhig. »Juden«, begann er, »antworten bekanntlich auf Fragen häufig mit Gegenfragen. So wie du eben. Um dieses Phänomen zu erforschen, saßen einmal einige Professoren zusammen. Sagen wir an der Universität von Cincinnati. Sie kamen zu keinem Ergebnis. Einer meinte, man könne Professor Blau fragen. Der sei Jude und unterrichte nebenan. Sie riefen Professor Blau. Warum, fragten sie ihn, antworten Juden auf Fragen gerne mit Gegenfragen? »Warum sollten sie nicht?« antwortete Professor Blau. Es dauerte eine Weile, bis Christa lachte. »Ich mag deine Geschichten«, sagte sie dann. »Du kannst bei mir bleiben.« Sie gingen zu Fuß, es war ja nicht weit. Den Wagen ließ er stehen, wo er war. Bill hinkte elendig, und Christa stützte ihn. Morgen könne er den ganzen Tag im Bett bleiben, meinte sie, besorgt wie eine Krankenschwester. Zwei Wochen lang habe sie jetzt Urlaub. Ihren Resturlaub müsse sie nehmen, sonst bekäme ihr Chef Schwierigkeiten mit der Gewerkschaft. Im Sommer wäre es ihr lieber gewesen. »Komm doch mit mir«, sagte Bill, »ich fahre für ein paar Tage weg.« »Wohin?« »Nach Triest. Ich habe dort was zu erledigen«, log er. Christa freute sich. Da käme sie also doch noch aus der Stadt hinaus in ihren freien Tagen. Sie habe nämlich kein Geld für eine Urlaubsreise, sondierte sie vorsichtig. Sie waren beim Haustor angekommen, und Christa wurde noch fröhlicher, als sie hörte, daß Geld keine Rolle spiele und sie für Bill morgen auch noch -74-
ein paar Sachen einkaufen solle. Einkaufen war ihre liebste Beschäftigung. Sie fuhr recht gut und hatte offenbar Freude am Autofahren, wie die meisten Menschen, die kein Auto besitzen. Zwischen Villach und Arnoldstein versuchte Bill zu fahren. Es hätte keine Schwierigkeiten gemacht, nur beim Kuppeln mit dem linken Fuß glaubte er jedesmal, vor Schmerzen aus der Haut fahren zu müssen. Man sollte nicht glauben, wie oft man auch auf freier Strecke das Kupplungspedal treten muß. Kurz vor Arnoldstein gab Bill schließlich auf. In Arnoldstein, an der österreichisch-italienischen Grenze, konnte Bill es vor Durst nicht mehr aushalten. »Bleib hier stehen und tank den Wagen auf, dann trinken wir was.« Er gab ihr Geld für Benzin, schleppte sich ins Espresso, bestellte zwei Flaschen Bier und hielt die neugierigen Blicke der Kellnerin auf sein malträtiertes Gesicht gelassen aus. Immerhin trug er eine dunkle Sonnenbrille, und weniger als die Hälfte des angerichteten Unheils war zu sehen. Dann telefonierte er mit Hammerlang: »Grüß Gott, Herr Polizeirat«, sagte er so fröhlich er konnte. »Nur um Mißverständnisse zu vermeiden, ich mache ein paar Tage Urlaub. Höchstens eine Woche, oder zwei, je nachdem. Nur daß die Polizei nicht auf dumme Gedanken kommt, wenn ich also nicht für sie erreichbar bin.« Wo zum Teufel er sei, wollte Hammerlang wissen. »In Villach«, log Bill, »und ich fahre nach Jugoslawien, nach Maribor«, log er weiter. »Besuche dort einen Freund.« Bill tat sich nicht schwer im Lügen. Hammerlang schien das nicht zu gefallen, er wollte eine Adresse in Maribor wissen und war ungehalten, weil es keine gab. »Besser, Sie lassen mich wissen, wo Sie zu erreichen sind, nur im Falle. Eben nur im Falle eines Falles.« »Ich lasse gleich von mir hören, sobald ich in Maribor -75-
abgestiegen bin«, log Bill weiter. Den Polizeirat schien dies wenigstens ein bißchen zu beruhigen. »Tun Sie das«, sagte er. Das war das Ende des Gespräches. An der Grenze gab es keine Schwierigkeiten, und Christa staunte über Bills amerikanischen Paß. Der Zollbeamte kramte in Bills neuen Hemden und in seiner Wäsche, die Christa gekauft hatte. Das verschnürte Paket alter Zeitungen schob er achtlos beiseite.
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IX
Mit den sexuellen Empfindungen der Genossin Sonja Tamara Beizin hatte das eine eigene Bewandtnis. Die kleine Sonja war zu einer Zeit geschlechtsreif geworden, als der kalte Krieg als Konsequenz des zweiten Weltkrieges seinen Höhepunkt hatte. Die sozialistischen Errungenschaften in der Sowjetunion hinsichtlich Wohnkultur waren noch nicht so recht realisiert, mit anderen Worten, sie hatte in einer Moskauer Dreizimmerwohnung zu leben, die nach sowjetischem Plansoll neun Bürgern Unterkunft war. Das Mädel war zwar eine erstklassige Komsomolzin und kannte die jeweiligen parteioffiziellen Lebensläufe der großen Vorsitzenden Lenin und Stalin auswendig - von Karl Marx ganz zu schweigen. So etwas war gewissermaßen das Einmaleins in der Parteijugend. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß man sich in dieser Periode des laufenden Fünfjahresplanes bescheiden mußte: Wenn man Glück hatte, besaß man ein eigenes Zimmer. Die kleine Sonja, damals vierzehnjährig, hatte dieses Glück. Doch auch im Paradies der Werktätigen gab es kein Licht ohne Schatten und kein Glück ohne Trübung. Die betrübliche Tatsache war, daß die Komsomolzin Sonja, wie nicht weiter verwunderlich, mit Abstand die jüngste dieser Moskauer Lebensgemeinschaft des Jahres 1951 war, und der nächste Fünfjahresplan (war) noch weit entfernt. Junge, aber immerhin erwachsene Menschen, waren die übrigen acht Genossen in dieser Wohnung, keiner war über dreißig. Und auch in der Sowjetunion dieser Tage gab es ein Sexualleben. Autos als beliebte Kuschelplätze wie im dekadenten Westen gab es in der Welt Sonjas für normale Genossen nicht. Öffentliche Parkanlagen und ähnliches waren für schmusende Genossenpaare kein geeigneter Platz, denn die kommunistische Moral war hochgesteckt, und die Polizei wachte darüber. Wo -77-
sonst also sollten damals Jungkommunisten und innen sich lieben, oder wie immer man das nennen will. Wo sonst als in den Unterkünften. Auch wenn nur eine Ecke amtlich zugewiesen war und man sehr leise sein mußte. Alle waren sehr leise, sehr rücksichtsvoll. Nicht leise genug allerdings für eine Vierzehnjährige, wenn auch Komsomolzin, denn in diesem Alter scheinen gerade die Stille, das geflüsterte Gespräch, die erhöhte Atemtätigkeit, höchst interessant, verdächtig und erregend. Sonja Tamara Beizin erlebte ihre ersten erotischen Eindrücke in dem verdunkelten Massenquartier dieser Moskauer Kommune. Rein akustisch. Der nächste Fünfjahresplan, der tatsächlich diese Quartiernot merklich linderte, kam für dieses sensible Mädchen zu spät. Um fünf Jahre zu spät. Als Sonja ein eigenes Zimmer zugewiesen bekam, war sie schon zwanzig. Das war 1955, der kalte Krieg war eine alte Sache, und Genosse Molotow unterschrieb in Wien einen Staatsvertrag. Die Rote Armee würde Österreich verlassen, die feindlichen Verbündeten ebenfalls. Ein eigenes Zimmer: Genossin Sonja wurde dadurch in ihrem tiefen Glauben an den Kommunismus sehr bestärkt. Vier mal vier Meter im Quadrat, ein stattlicher Raum mit einem Fenster zur Minsker Straße. Otschin charascho. Es war eine vierräumige Neubauwohnung mit Küche und Bad. Hauptmieter war Genosse Tsebenko mit Frau, Schwiegermutter und vier Kindern. Sonja durfte das Bad benutzen, so stand es in der amtlichen Zuweisung. Wenn es frei war, natürlich. Sonja arbeitete damals im Übersetzungsbüro des Ministeriums für Staatssicherheit in der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten, Sektion für Deutsch und Holländisch. Sie trieb es arg mit Männern, und das hatte seinen besonderen Grund. Zuerst war es Viktor von der afrikanischen Sektion. Sie ging ziemlich lange mit ihm, fast sechs Monate. Und kein einziges -78-
Mal konnte sie mit ihm dieses erregende Gefühl empfinden, das sie damals im Gemeinschaftsschlafraum fast jede Nacht hatte. Viktor hatte ein Zimmer in der Malinowskystraße, und wenn er fertig war und mit seiner Unterhose Sonjas Bauch abwischte, dann leise ins Bad schlich, um sich zu waschen, brauchte Sonja nur die Augen zu schließen, und die Erregung des Gemeinschaftszimmers war wieder da. Sie konnte das verhaltene Stöhnen der Pärchen hören, und in einer knappen Minute befriedigte sie sich so herrlich, daß sie der frischgewaschene Viktor überhaupt nicht mehr interessierte. Dabei war er ihr erster Mann. Als er anfing, sich über ihre Gefühlskälte zu beklagen, stöhnte und seufzte sie beim Verkehr mit dem Ergebnis, daß der gute Viktor sich zwei- und auch dreimal waschen gehen mußte. Aber Sonjas glückliche Minute war immer, wenn er im Bad war, nie mit ihm zusammen. So konnte das natürlich nicht weitergehen, und Sonja schob die ganze Schuld auf ihren Viktor von der Afrika-Abteilung. Sie versuchte es mit Gregor, Eishockeytrainer von Dynamo Moskau. Auch Gregor hatte ein Zimmer. Als er keine Anstalten machte, sich zu waschen, fragte Sonja nach der Toilette. Sie zog die Wasserspülung, um lauter atmen zu dürfen, und der erregende Zauber war wieder da. Nach einer Minute schlüpfte sie zu Gregor ins Bett. Sie schwitzte ein bißchen, und der Gregor interessierte sie nicht mehr sonderlich. Das ging zweimal die Woche. Das Stöhnen und Seufzen hatte sie beibehalten. Niemand beschwerte sich mehr über Gefühlskälte. Nicht Evgenie, nicht Iwan und nicht Watscheslaw, den sie Waschku nannte. Auch nicht Igor, der verheiratet war und sie mit nach Hause nahm, wenn seine Olga Nachtschicht hatte. Olga arbeitete bei den städtischen Verkehrsbetrieben, und Autobusse müssen auch nachts fahren. Nachdem Sonja also ihr eigenes Zimmer hatte, sollte das anders werden. Sie bemühte sich ehrlich. Längst schon hatte sie es aufgegeben, die Schuld ihren Partnern zuzuschreiben. Die Partner wurden immer mehr, sie waren fast -79-
alle in Ordnung, und das Problem mußte wohl an ihr selbst liegen. Sogar einen Arzt wollte sie einmal aufsuchen, verwarf diesen Gedanken dann aber wieder. Schließlich war sie nicht krank. Eine Zeitlang war sie sehr unglücklich, hoffte noch auf ein Wunder, auf einen Wundermann, träumte häufig von ihm und hatte im Halbschlaf irrsinnige Höhepunkte. Aber wenn der Wecker läutete und sie wach wurde, war sie allein. Sie war also abnormal. So glaubte sie zuerst, in ihrer Depressionsphase. Aber war sie wirklich abnormal und wenn, war das ein Unglück? Schließlich konnte sie jederzeit und allerorts einen ganz großartigen Orgasmus haben und brauchte dazu nicht einmal einen Partner. Im Winter 1956 traf sie Major Fedor Kalinin, der fast immer Zivil trug, obwohl er Träger des Sternes am Roten Band war, wie alle in der Abteilung wußten. Fedor ging mit ihr Schlittschuhlaufen, und es gefiel ihm, wenn sie ihre Pirouetten drehte und doppelte Axel sprang. Schließlich war sie mit sechzehn Dritte der Jugendklasse gewesen. Fedor hatte tatsächlich eine eigene Wohnung. Eine kleine. Aber keine Spur von einer Frau in der kleinen Wohnung, und Sonja mußte nachts auch nicht heimmarschieren, so wie bei Igor, bevor Olgas Nachtschicht zu Ende ging. Fedor war damals fünfunddreißig, blond, groß, mit hellen Augen und einem Körper, so daß Sonja niemals das Licht ausdrehte. Er trank ziemlich viel, aber ohne sichtbare Wirkung, nur seine Augen wurden dann schmale Sehschlitze, und er konnte dann sehr grob sein - zu anderen -, niemals zu Sonja. Sie verliebte sich heftig in Fedor, stöhnte und seufzte lauter als je zuvor, aber es blieb bei ihren Kurzausflügen ins Bad oder sonstwohin. Das war aber schon zu der Zeit, als sie ganz zufrieden war mit ihrer absonderlichen Neigung. Es war eine schöne, eine großartige Zeit mit Fedor. Am!.. Jänner 1957 wurde Fedor Kalinin zum Oberstleutnant befördert. Es wurde ausgiebig gefeiert, und Sonja trank zum -80-
ersten Mal mehr Wodka, als ihr guttat. Fedor wollte es so. Um vier Uhr früh sangen sie die Lieder von Mütterchen Schnee und den Abendglocken. Fedor konnte singen, daß einem die Tränen kamen. Um sechs Uhr lagen sie im Bett, und Fedor sagte ihr, daß er sie verlassen werde. Er mußte nächste Woche einen neuen Posten antreten. In Wien, Österreich. Auf dem XXI. Parteitag des Zentralkomitees der KPdSU im Jahre 1959 sagte Chruschtschow voraus, daß die Wirtschaftsleistung der USA von den Sowjets bis spätestens 1970 überflügelt werde, was der UdSSR den höchsten Lebensstandard in der Welt garantieren würde. Sonja Tamara Beizin war gerade dabei, diese aufsehenerregende Erklärung ins Holländische zu übersetzen, als sie von ihrer Dienstzuteilung an die sowjetische Botschaft nach Wien erfuhr. Sie war sicher, daß Fedor dahintersteckte. Solche Auslandseinsätze waren ohne Protektion auch im Paradies der Werktätigen ganz undenkbar. Genosse Duderow, ihr Abteilungsleiter, wünschte ihr viel Glück und alles Gute. Er blätterte in ihrer Personalakte und den Papieren über ihre Versetzung und war unschlüssig, ob er für sie Ersatz anfordern sollte; im Auftrag stand »bis auf weiteres«, das konnte ja auch viele Monate bedeuten. Andererseits waren Übersetzungen ins Holländische nicht gar so vordringlich. Er sagte zu ihr, er würde ihren Posten eine Weile freihalten. Zwei oder drei Monate oder so. Der Genossin Sonja war es recht. Nicht im Traum hätte Sonja damals gedacht, daß sie volle sechs Jahre in Wien bleiben würde. Über den XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 las Sonja noch in der Prawda von der unausbleiblichen Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Sie empfand es damals noch seltsam, daß sich die Menschen in der Stadt Wien überhaupt nicht um diese unausbleibliche Ablösung zu kümmern schienen. Der ganze XXII. Parteitag berührte diese kapitalistisch verdorbenen Menschen offenbar kaum. Doch in den folgenden Jahren bedeuteten auch ihr die Parteitage und -81-
Parteiprogramme immer weniger und begannen - niemals hätte sie es für möglich gehalten -, sie zu langweilen. Wien war großartig, das Leben wunderschön und Moskau weit weg. Fedor war da und hatte sich nicht verändert. Er war nicht ihr Vorgesetzter, aber es stimmte natürlich, daß er ihre Versetzung persönlich empfohlen hatte. Der Oberstleutnant Kalinin leitete eine andere Abteilung, und Sonja hatte lange keine Ahnung, was er eigentlich arbeitete. Ihr Chef war Oberst Wolkow, schon sechzig Jahre alt und gut wie ein Vater zu ihr. Ihre offizielle Arbeit war leicht, sie übersetzte ab und zu Schriftstücke aus dem Russischen ins Deutsche oder umgekehrt, und ihr Auftrag, den Wolkow »konspirative Operation« nannte, machte ihr mehr Spaß als Kopfzerbrechen. Sie schlief mit Fedor, die erste Zeit ziemlich oft und intensiv, später ließ es dann nach. Im Juni 1963 wurde in Stockholm ein schwedischer Armeeoberst wegen Spionage für die Sowjetunion verhaftet, Sonja las es in den österreichischen Zeitungen und wunderte sich, weil Fedor so nervös war und aus dem Code-Raum tagelang nicht mehr herauskam. Schließlich flog er nach Moskau und kam nicht wieder. Das nächste, was Sonja von ihm hörte, war seine Versetzung nach Stockholm. Er mußte dort einen Kollegen ablösen, der abberufen worden war. Doch in Wien blieb alles ruhig und das Leben schön. Zwei Jahre später ging ihre »konspirative Operation« zu Ende. Sie bedauerte es und auch Oberst Wolkow, als er ihr mitteilte, daß sie nach Moskau zurück müsse. Ihre Arbeit war getan. Den Genossen Duderow und seine Abteilung gab es in Moskau nicht mehr. Alles war umorganisiert und neu für Sonja. Das Ministerium für Staatssicherheit hieß jetzt Komitee für Staatssicherheit, und die Abteilungen hießen Direktorate. Sonja bekam einen Platz im Direktorat 4 und eine belobende -82-
Anerkennung für ihre Tätigkeit in Wien. Ihre Arbeit bestand wieder aus Übersetzungen, diesmal ins Deutsche. 1967 heiratete Sonja ihren Arbeitskollegen Valentin Pachomow, der unbedingt Kinder haben wollte. Sonja bekam keine, zwei Jahre später waren sie wieder geschieden, kurz bevor Valentin nach Montreal versetzt wurde. Sonja blieb die Wohnung, ihr gutbezahlter Posten und viel Langeweile, gemildert durch ihre Erinnerungen an Wien und die schönste Zeit ihres Lebens. Am 3. November 1975, zwei Tage nach ihrem 39. Geburtstag, teilte ihr der Leiter des Referates 4 mit, daß sie wieder zur Botschaft Wien abkommandiert werde.
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X
Sie hatten eine kleine Pension in Triest gefunden, sie waren die einzigen Gäste. Es roch im ganzen Haus nach Äpfeln und Gemütlichkeit, und vom Fenster aus hatte man den Blick auf das Meer. Die weite, bleigraue Wassermasse war in heftiger Bewegung, denn der Wind blies kräftig von Süden, aber es regnete nicht, und die Luft war warm. Mit Christa kam er gut zurecht. Die erste Zeit fragte sie nicht viel und war einen ganzen Tag lang fröhlich, wenn er ihr ein paar Schuhe oder einen Pulli gekauft hatte. Wenn er allein sein und nachdenken wollte, machte er ausgedehnte Spaziergänge. Mit seinem lädierten Knöchel ging es täglich besser. Oder er gab dem Mädel einen Geldschein und trug ihr auf, zwei Flaschen Chianti zu kaufen und der Rest wäre für sie. Dann zog sie glücklich los, und er hatte zwei, drei Stunden Zeit, sich mit Rossmaneks Archiv zu befassen. Warum er ständig an seine Großmutter denken mußte, konnte er zunächst nicht herausfinden. Er versuchte, sich wieder auf die engbeschriebenen Stenogrammseiten zu konzentrieren. Die Gabelsberger Stenografie stammte aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts und bildete die Grundlage für die deutsche Einheitskurzschrift, die Wilhelm Weiss in der Schule gelernt hatte. Er müßte also doch wenigstens einen Sinn aus diesen Zeilen herausfinden, wenigstens einzelne Worte verstehen können. Aber nicht ein einziges Wort konnte er entziffern. Er brauchte drei Tage, bis er herausfand, daß die Texte in russischer Sprache abgefaßt waren. Russisch geschrieben in Gabelsberger Stenografie, das konnte nur dem alten Rossmanek einfallen. Es gab eine Zeit, da konnte Bill die Prawda oder die Iswestija leidlich lesen, aber was er jetzt da vor sich hatte, überstieg seine Fähigkeiten bei weitem. Er war also im Besitz des Archivs, wie es Herbert gewollt hatte, konnte es aber nicht -84-
lesen, nicht entziffern. Und er bezweifelte, daß es auf der Welt viele Menschen gab, die dazu imstande waren. Das änderte seine Situation beträchtlich. Es roch nach Äpfeln, und das mußte der Grund sein, warum er an seine Großmutter denken mußte. Seine alte Dame hatte immer eine große Schüssel herrlicher Äpfel auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer stehen. Wenn der kleine Willi zu Besuch war, artig ein Gedicht aufsagen konnte oder ein Gebet, bekam er einen Apfel zur Belohnung. Die Großmutter machte immer eine Zeremonie daraus, stellte einen Schemel vor den Kasten, stieg darauf und holte die Schüssel umständlich herunter. Dann prüfte und betastete sie sorgfältig die Äpfel. Denjenigen, der schon Flecken vom langen Liegen hatte, oder der schon ein wenig runzlig war oder gar schon leicht angefault, wählte sie aus und gab ihn dem kleinen Willi. Denn man mußte sparsam haushalten und nichts verschwenden, und bevor etwas verrottete, mußte es gegessen werden. Das Resultat war, daß der kleine Willi das ganze Jahr über angefaulte Äpfel essen mußte. Der kleine Willi verstand das damals nicht recht, aber mit dem sicheren Instinkt des Kindes wußte er, daß protestieren zwecklos war. Als er Soldat werden mußte, mit siebzehn Jahren, Soldat der glorreichen großdeutschen Armee, verabschiedete er sich auch von seiner Großmutter. Äpfel gab es damals keine mehr. Wilhelm hatte Tränen befürchtet, aber dazu war es nicht gekommen. Die alte Frau wischte sich die Hände in die Schürze, zog ihm mit ihrem Daumen ein Kreuz über die Stirn, dann lachte sie. »Wenn's gefährlich wird, Bub, dann renn'«, hatte sie gesagt. Wenn's gefährlich wird, dann renn' davon. Er wäre jetzt gerne davongerannt, noch weiter weg als bis Triest. Das Gefühl von Panik überkam ihn wieder, so wie damals zwischen seinem Kofferraum und dem Citroen. Er zwang sich zur Ruhe. Hier war er doch sicher, wer sollte ihn hier finden, am Stadtrand von Triest. -85-
Wenn es jemanden gab, der Gabelsberger-Russisch entziffern konnte, dann war es Erich Kilian, der doppelte Doktor, Professor und ehemalige Major der Roten Armee. Ob er noch lebte? Christa kam zurück mit Wein, Weißbrot, Käse und einem bunten Seidenschal, so bunt wie zwanzig Papageien. Sie fand den Schal »irrsinnig schick« und »wahnsinnig billig« und schnatterte ihm die Ohren voll. Sie aßen und tranken, und es wurde langsam dunkel. Ob Zwinker-Kilian noch lebte? Panische Angst hin und her, er mußte ja wieder zurück nach Wien. Er konnte es noch ein paar Tage verschieben, aber es blieb ihm nicht erspart. Wenn er Glück hatte, fand er ZwinkerKilian. Er überlegte, was alles er Hammerlang sagen würde und was nicht. Der Schrebergarten, die Hütte, das ja. Das Archiv aber war seine Sache, das ging Hammerlang nichts an, zumindest vorläufig nicht. Worüber er denn immer nachgrüble, wollte Christa wissen. Sie könne es ganz genau erkennen, wenn er nachdenke, er bekäme dann tiefe Falten auf der Stirn, und seine Augen sähen dann »weit weg«. »Du sollst nicht mit vollem Munde reden«, grinste er. Aber er könne es ihr doch wirklich sagen, wenn er Sorgen habe und woran er immer denken müsse. Sie bohrte weiter. »An einen Gott«, sagte er, und seine Stirnfalten verschwanden. »An Gott Pan aus der griechischen Mythologie. Er war halb Bock und halb Mensch, weißt du, und spielte Flöte. Die alten Griechen fürchteten sich vor ihm. Er versetzte sie mit seinen Flötenmelodien in panische Angst. Unser Wort Panik kommt von dem griechischen Gott Pan.« »Du bist auch halb Bock, halb Mensch«, murrte Christa unzufrieden. Überhaupt erzähle er ihr gar nichts. Ein komischer Vogel, ja das sei er. Sie war böse. Bill versuchte, ihr die Hosen auszuziehen, aber sie war nicht einverstanden und immer noch böse. Auch noch eine halbe Stunde später. Bill spürte den Wein. -86-
Wer, Mädchen, glaubst du eigentlich, daß du bist? Die Königin von England, Miss World 1974 oder wer sonst? Nur weil ich jetzt was haben möchte von dir und du keine Lust hast, mußt du die Augen zumachen und gelangweilt schauen? Und wer gibt dir das Recht, einfach zu gähnen? Mir ist nicht zum Gähnen, im Gegenteil, also was glaubst du eigentlich? Keine Sorge, in zwei Minuten gähne ich auch. Nicht, daß er das etwa gesagt hätte! O nein, kein Wort sagte er. Es war alles nur gedacht, ganz leise gedacht. Er stand auf und schlüpfte in einen Bademantel. Tatsächlich: Sie riß die Augen auf. »Was ist«, sagte sie, »bist du beleidigt?« Das war er nun wirklich. »Keine Spur«, grinste er, »wie kommst du auf so was?« »Ich dachte...«, sagte das Mädchen. »Nicht denken, Schatz, nicht denken. Das ist nichts für hübsche, nur für große Köpfe.« Er ging auf den Balkon und schenkte sich noch ein Glas ein. Sie könnte meine Tochter sein, dachte er wieder. Also, sei gut zu ihr. Sie ist jung und dumm, einfach zu jung für dich. Deine Erwartungen sind schuld. So was! Sei gut zu ihr, und hör auf, Gefühle zu haben, das steht dir nicht mehr zu in deinem Alter. Kühl wehte der Wind vom Meer. Er trank den guten, kalten Wein. Man muß Konzessionen machen im Leben, auch mit fünfzig oder gerade dann. Als sie auf den Balkon kam - er grinste schon, als er die barfüßigen Schritte hörte: tapp, tapp, tapp - als sie ein wenig ängstlich fragte: Ist alles in Ordnung, mußte er lachen. Alles war in Ordnung. »Übermorgen fahren wir zurück nach Wien«, sagte er. »Und jetzt geh zurück ins Zimmer, du wirst dich sonst noch erkälten.« Auf der Rückfahrt übernachteten sie in einer kleinen Stadt in der Steiermark. Sie hatten es beide nicht eilig, nach Wien zurückzukommen. Es gab tatsächlich ein Dreisternehotel in dieser Kleinstadt, es hieß »Zum goldenen Adler«. Bill las in -87-
allen Zeitungen von einer aufsehenerregenden Geiselnahme von arabischen Ölpolitikern in Wien. Terroristen hatten eine OPECKonferenz überfallen und alle greifbaren Delegierten gekidnappt. Sie waren bereits auf dem Flug nach Tripolis. Es hatte Tote gegeben, ein Polizeibeamter und ein Diplomat waren dabei ums Leben gekommen. Österreichs Regierung war heilfroh, den Spuk rasch losgeworden zu sein. Ein Minister hatte noch kurz vor dem Abflug dem Herrn Terroristen die Hand geschüttelt. Na bravo! Bill verstand das Ganze nur vage, aber eines war ihm klar, Polizeirat Hammerlang hatte jetzt sicher alle Hände voll zu tun und andere Sorgen als den Postgassenmord. Und er, Bill, hatte damit ein paar Tage gewonnen und mußte nicht gleich mit weiteren Befragungen rechnen, und schon gar nicht brauchte er jetzt Hammerlang anzurufen und zu erklären, warum er sich aus Maribor nicht gemeldet hatte. Das alles war jetzt nicht so wichtig. Christa schien merkwürdig bedrückt. Ob sie auch in Wien »zusammenbleiben« würden, wollte sie wissen. »Ich könnte dein Vater sein«, sagte Bill. »Das könntest du, aber niemand kommt auf die Idee, daß du mein Vater bist. Nicht der Hotelportier und nicht das Stubenmädchen. Du siehst überhaupt nicht wie ein Vater aus. Das wird es sein.« Er versprach ihr also das »Beisammenbleiben«. Warum auch nicht. Wenn sie weniger oft »irrsinnig glücklich« und »wahnsinnig interessant« gesagt hätte, wäre es ihm noch leichter gefallen. Seine oder Herberts Wohnung schien unverändert. Keine nennenswerte Post hinter der Tür. Den Wagen parkte er absichtlich zehn Gehminuten entfernt. Im Kofferraum lag immer noch das Bündel alter Zeitungen mit der grünen Schnur. Erich Kilians Telefonnummer fand er ohne Schwierigkeiten.
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XI
Bill wußte sehr wohl, welchen Einfluß Alkohol auf Menschen hat. Es war kein Wissen aus Fachliteratur, sondern aus eigenen Erfahrungen. Er wußte es aus der Zeit, als er noch Willi Weiss war. Er sah an Joan, seiner Frau, wie sehr Alkohol den Menschen verändern kann und beobachtete das zuletzt an sich selbst. Es war schon eine Weile her. Er kannte auch diesen verheerenden Unterschied zwischen dem Saufen in fröhlicher, seichter Gesellschaft und dem tiefdepressiven Sich-Betrinken in dunklen, einsamen Ecken. Alle Anzeichen von Alkoholismus, auch in schlimmen Formen, hatte er an nahestehenden Menschen und schließlich an sich selbst kennengelernt. Kein Zweifel, Zwinker-Kilian war Alkoholiker geworden. Einer von der schlimmen, bedauernswerten Kategorie der traurigtränenfeuchten Sorte. Im dritten Wiener Bezirk gibt es ein Kaffee »Arlosch«, der Besitzer heißt Artur Loschek, daher also. Unschwer zu erraten, wie man im dritten Bezirk dieses Kaffeehaus allgemein nannte. Es war gegen Mittag, drei Stunden nach dem Telefonat, als sie sich dort trafen. Erichs Hände zitterten leicht, und aus seinem rechten Mundwinkel tropfte Speichel auf seinen Rockärmel. Er war unrasiert und trug eine Brille, deren Gläser so dick waren, daß man sein Zwinkern kaum sehen konnte. Als Bill hereinkam, saß Erich schon da; sie hatten sich kaum erkannt und sagten Servus zueinander. Zuerst hatte Bill es mit höflicher Konversation versucht, aber nur ein »ja, ja, gut, gut« gehört. »Trinken wir was«, sagte er schließlich, »man trifft nicht alle Tage einen Freund nach zwanzig Jahren.« Kilian zog die rechte Schulter hoch zum Zeichen seiner Zustimmung und meinte: »Achtzehn, achtzehn -89-
Jahren.« Bill lächelte gezwungen und stellte überflüssigerweise fest, daß Erich in Mathematik schon immer der Bessere gewesen sei. Er bestellte zwei doppelte Weinbrand, die sie beide ohne Zögern hineingossen, bestellte noch zwei und fragte dann: »Wie geht es dir, Erich?« Professor Dr. Dr. Erich Kilian schwieg und beobachtete intensiv die Hände der servierenden Kellnerin, nahm dann einen Schluck und wischte sich mit dem Rockärmel über den Mund. Bill konnte sehen, wie sich seine Gesichtszüge entspannten, einen eigenartig ironischen Ausdruck annahmen. Er sah auch die vielen Schuppen an Erichs Kragen und die Flecken an Rock und Hemd. Immerhin, seine Fingernägel waren sauber. Bill versuchte es mit Zynismus: »Du bist Professor und zweifacher Doktor. Du warst schon immer eine Intelligenzbestie. Wenigstens könntest du mir eine Antwort geben.« Kilian trank aus und grinste hämisch. »Zahl noch einen, und ich geb' dir die Antwort, schließlich hat das Studium was gekostet.« Ein dritter doppelter Weinbrand kam, und Bill nippte nur. »Essen?« Nein, Kilian wollte nichts essen. Bill bestellte sich ein Paar Debreziner, fast schuldbewußt. Mit Senf. Die Antwort? Wie es Erich denn so gehe? »Laß diese blöde Fragerei!« sagte Kilian und stand auf. Das war genau in dem Moment, als Bill fragte: »Lebt deine Mutter noch?« Erich Kilian kam bis in die Mitte der Gaststube, drehte dann um und setzte sich wieder. Er griff nach seinem Glas, aber es war leer. »Was willst du eigentlich?« fragte er leise. Bill hob eine Hand, die Serviererin kam, er tippte auf Erichs leeres Glas. »Für mich noch ein Bier«, sagte er. So ging es also nicht, das war ihm klar. Er beendete seine Würstel und zündete sich eine Zigarette an. Kilian rauchte nicht. »Trink aus und geh wieder«, sagte er. »Ich -90-
will gar nichts von dir, du studiertes Arschloch. Servus dann.« Er stand auf und ging auf die Toilette. Er ließ sich Zeit, wusch sorgfältig Hände und Gesicht, trocknete sich an einem dieser modernen Heißluftstrahler die Hände und führte ein kurzes Selbstgespräch vor dem Spiegel. Kein freundliches. Dann ging er zum Tisch zurück. Kilian saß noch immer da. Er saß da und dachte zurück an seine Mutter und an seine Schulzeit. »Wenn ich was tun kann für dich, sag es doch«, meinte er friedlich. »Du willst doch etwas von mir. Also sag es.« Bill war noch mitten in seiner Erklärung über Gabelsberger Kurzschrift und russischen Text, als Kilian die Hand hob. Er hatte verstanden. »Ich kann das,« sagte er. »Du siehst, was aus mir geworden ist, aber ich kann das noch. Was bringt es mir?« »Dreitausend, zunächst als Vorschuß.« Wenn er, Bill, später wüßte, was in den Schriftstücken stehe, könne man weiterreden.. »Ich muß vorerst einmal wissen, was drinsteht.« Die Kellnerin kassierte. »Du wirst es wissen«, zwinkerte Kilian. Er bekam einen großen Briefumschlag, der Papier enthielt und dreitausend Schilling.
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XII
Elf Uhr vormittags, Hochbetrieb im »Gambrinus«, einem »Branntweiner« im Arbeiterbezirk Wien 20, Sensengasse 11. Branntweiner ist für deutsche Leser schwer zu definieren. Eine Rumstube, könnte man sagen. Ein kleines Lokal, in dem Rum und ähnliches vorwiegend an Stammgäste ausgeschenkt wird, an Stammgäste, deren Hände gegen zehn zu flattern beginnen, und die dringend ein Mittel gegen dieses lästige Zittern und ihre Selbstmordgedanken brauchen. Die Stube ist voll von übriggebliebenen Zechern. Es sind meist ältere Menschen, Pensionisten, Gelegenheitsarbeiter, in letzter Zeit auch immer mehr Hausfrauen. Dicke Weiber mit Einkaufstaschen, die lautstark ihre Gründe für das Glas Rum an der Bar verkünden: Magenbeschwerden, geringer Blutdruck, Verkühlungen oder was auch immer. Sie wirken sehr überzeugend, und nach dem zweiten Glas glauben sie es selber und setzen ihre Einkäufe fort. In einer Ecke sitzt ein Pensionist und führt ein Selbstgespräch: »Ja, mei Suserl, mei Suserl. Immer warst ein braves Maderl. Immer brav, mein Suserl.« Wahrscheinlich seine Tochter. Dem Pensionisten rinnen Tränen über die Wangen. Der Teufel weiß, welche Probleme er mit seinem Suserl hat. Neben ihm sitzt Professor Dr. Dr. Erich Kilian. Wie ein Professor sieht er nicht aus, eher wie jemand, der die letzten zwei Wochen unter einer Donaubrücke geschlafen hat. Zwinker-Kilian denkt nach, man kann es sehen. Er ist wohl der einzige im Gambrinus, der denkt. Ein Denker in einer Rumstube. Ein Diogenes des zwanzigsten Jahrhunderts. Zwinker-Kilian zwinkert und trinkt. Die Wirtin bestätigt überzeugend einer fetten Fünfzigerin, daß ein Glas Rum am Vormittag das beste Mittel gegen niedrigen Blutdruck sei. Nur keine Pillen, die seien sehr schädlich. Es stellt sich heraus, daß des Pensionisten Tochter, das brave Suserl, wegen Geheimprostitution drei Wochen sitzen muß. In Polizeiarrest, -92-
nicht etwa in einer Strafanstalt. Das ist schließlich ein Unterschied. Kilian denkt nach. In den letzten Tagen hat er zweihundert eng stenografierte DIN-A4-Seiten gelesen, analysiert und in Langschrift übertragen. Der Vorschuß von Willi Weiss war verbraucht, versoffen, aber Kilian machte sich keine Sorgen wegen des Geldes. Diese Arbeit hätte er auch umsonst gemacht, der Inhalt dieses Monster-Stenogrammes faszinierte ihn. Vieles war ihm jetzt klar. Vieles aber auch noch unklar. Seine Gedanken verwirrten ihn selbst, und rasch bestellte er ein neues Glas. Rossmanek. Er hatte von ihm gehört, früher. Heute hätte er von diesem Menschen gern mehr gewußt. Der alte Hofrat Rossmanek war zwanzig Jahre lang Chef der österreichischen Staatspolizei gewesen. Von 1948 bis 1968. Allerhand war passiert in diesen zwanzig Jahren. Für manches hatte Kilian nun eine Erklärung gefunden. Wesentliches aber blieb unklar. Wenn dieser alte Hund, die Würmer sollen ihn fressen, wenigstens die Klarnamen in seinen Aufzeichnungen vermerkt hätte. Aber er verwendete Codewörter und Ziffern. Wie sollte Kilian diese Personen identifizieren? Es mußte in diesem Archiv noch ein Verzeichnis geben. Einen Index von Decknamen und Klarnamen. Nicht einmal der alte Rossmanek mit seinem Elefanten-Gedächtnis konnte hundert Codewörter im Kopf haben. Ja, dieser Index mußte existieren. Kilian zwinkerte und seufzte: Das einzige Resultat seiner Denkarbeit. Wenn er nur diese lächerliche Melodie in seinem Gehirn abschalten könnte: »Es schmeckt der Branntwein, in jedem Land fein, auch an der Wolga und am Jemen...« An der Wolga und am Jemen! Cohen: Dr. Isaak Cohen, Generalsekretär der österreichsowjetischen Gesellschaft. Er war als Kind nach Moskau gekommen, 1934, nach dem Sozialistenputsch. Dort hatte er Mathematik studiert und war in Kuschnarenkowo politisch -93-
ausgebildet worden. 1945 kam er nach Wien, als Major der Roten Armee. Kilian kannte ihn gut, den Genossen Cohen. War es möglich, daß er ein Agent Rossmaneks war? Vieles deutete darauf hin. Kilian zwinkerte nun ununterbrochen, sein Nachbar mit seinem Suserl begann ihm auf die Nerven zu gehen. Die Melodie wurde stärker: »Mit Branntwein ist es wie mit Mann, da muß man auch nur dann und wann - eine kleine Probe nehmen.« Aus irgendeiner Operette. Aus welcher? Kilian bestellte noch ein Glas. Es mußte einen Weg geben, an Rossmaneks Index heranzukommen. Er mußte seinem Schulfreund diese Liste herauslocken. Zwinker-Kilian dachte nicht daran, brav eine Übersetzung des Monsterstenogramms an Wilhelm abzuliefern. Was erwartet dieser Idiot eigentlich? War er, Professor Dr. Dr. Kilian, ein Übersetzer gegen Zeilenhonorar? Schulfreund hin und her, ja, Wilhelm war ein guter Kamerad gewesen, damals, aber da waren sie schließlich fast noch Kinder. Und was heißt schon guter Kamerad! Wieso eigentlich? Nur weil er schneller rennen, höher springen, besser Fußball spielen konnte, war das etwa ein Verdienst? Im Schädel hatten sie alle mitsammen nichts. Der Schüler Kilian las Ovid und Livius fließend zu einer Zeit, als die großartigen Kameraden, wenn sie nicht gerade Fußball spielten, noch an Caesars De Bello Gallico herumstotterten. Erich löste mathematische Probleme fünf Minuten nach der Ansage des Professors und blickte gelangweilt die restlichen fünfzig Minuten, in denen die Sportprotze schwitzend und hilflos ihre Spatzenhirne strapazierten. Was war das für eine Welt, in der Körper fast alles und Geist so wenig bedeutete? Na, und hatte sich daran etwas geändert? Nichts. Die starken, schönen Sportlertypen hatten auch jetzt noch alles, was sie brauchten, engbrüstige Brillenträger dagegen waren nicht -94-
gefragt, auch nicht mit drei akademischen Titeln. Kilian haßte diese Welt. Eigentlich war das schon immer so. Deshalb war er wohl auch Kommunist geworden, wie sein Vater. Die Welt sollte besser werden! Ein Idiot war er gewesen. Er hätte seinen weinerlichen Nachbarn mit seinem Suserl umbringen können. Seine Mutter, ja, die war anders. Sie war eine echte Kommunistin. Oder Sozialistin. Immer hilfsbereit, immer für andere da, um zu helfen. Aber hatte nicht schon Jesus Christus die Nächstenliebe gepredigt? Was war seine Mutter dann eigentlich? Eine praktizierende Heilige mit Hammer und Sichel auf der Fahne statt dem Kreuz? Der Gedanke an seine Mutter ließ Zwinker-Erich das Glas Rum austrinken und ein neues bestellen. Rotschädlerter Bethlehem-Bub! Das war Kilians Terminus für Jesus Christus. Rotschädlerter Bethlehem-Bub, blutiger, angenagelter, steig herunter von deinem Holzkreuz und hilf den Menschen, wenn du kannst. Nicht einmal dem versoffenen Pensionisten zu meiner Linken kannst du helfen! Der mit seiner Tochter, dem braven Mädel, der miesen Hure. Zum Teufel, zum Teufel mit allem! Kilian hätte gerne das Lokal zertrümmert, aber wie macht man das mit Armen, die so spindeldürr wie Kleiderbügel sind? »Ich bin doch kein Idiot«, murmelte er, »kein Idiot«. Mit dem Index und dem, was er die letzten Tage gelesen und übersetzt hatte, konnte er jede Summe verlangen. Jede Summe, das wußte er. Schließlich kannte er sich aus in der Branche. Alle Wünsche würden in Erfüllung gehen! Alle Wünsche! Welche? Kilian dachte an seine ausgemergelte Gestalt, an sein häßliches Gesicht mit der dicken Brille, und er wußte, daran war mit Geld auch nichts zu ändern. Nichts zu ändern, aber zu verbessern, immerhin. Er dachte an die vielen blonden Weiber, die immer durch ihn hindurchschauten, als ob er gar nicht existierte. Mit viel Geld waren auch blonde Frauen zu haben. -95-
Jesus, rotschädlerter Bethlehem-Bub, einmal eine blonde Frau haben, ist das zuviel verlangt in einem ganzen Männerleben? Er betrachtete es als gutes Vorzeichen, als der angetrenzte Pensionist mit seinem Suserl-Problem leicht schwankend das Lokal verließ. Und für solche Menschen sollte er Nächstenliebe empfinden? Seine Mutter, ja die hätte es gekonnt. Sie würde ihn auch jetzt verurteilen, wüßte sie, was er vorhatte. Aber sie war tot und überhaupt, zum Teufel mit seiner Mutter. Der Genosse Cohen, dieser arrogante Hund, hatte immer blonde Weiber um sich. Wieso eigentlich? Cohen hatte einen Bauch, war fett, und Frauen mögen keine fetten Männer. Wenn der Genosse Cohen ein Verräter war, dann mußte er viel Geld verdient haben. Jetzt also war er, Erich Kilian, an der Schüssel. Der Index mußte her! Das nächste, was Zwinker-Kilian machte, war ein freundliches Gesicht. Er übergab Bill ein dickes Paket von maschinengetippten Seiten, etwa die Hälfte des in Langschrift übersetzten Aktenkonvolutes. Es war die unwesentliche Hälfte. Mit dem Rest habe er Schwierigkeiten, erklärte der Professor freundlich. Wilhelm müsse auch verstehen, daß er, der Professor, zuerst die leichter verständlichen Teile übersetzt habe. Sozusagen aus dem Zusammenhang. Was die anderen Teilstücke beträfe, die seien so bespickt mit Codeziffern und Decknamen, meinte Kilian, und er sei sicher, daß in dem Archiv irgendwo ein Verzeichnis sein müsse, aus dem die Klarnamen ersichtlich würden. Dieses Verzeichnis würde seine Arbeit sehr erleichtern, zwinkerte Kilian, und zumindest in diesem Punkt meinte er es ehrlich. Dieses Gespräch fand statt im Kaffee Arlosch im dritten Wiener Gemeindebezirk am zwanzigsten Dezember 1975, einem Samstag. Bill überlegte. Er zeigte sich beeindruckt von den vielen enggetippten Seiten. Er müsse das Zeug zuerst lesen, -96-
meinte er. Wegen eines Verzeichnisses, das also vorhanden sein müsse, wolle er in Rossmaneks Nachlaß suchen. »Gib mir erst einmal eine Liste der Codewörter«, sagte er, »dann finde ich das Zeug leichter.« Kilian versprach es und fühlte sich als der Überlegene. Eine Einladung auf ein drittes Glas Wein lehnte er mannhaft ab. Die Chance seines Lebens würde er sich durch unangebrachtes Saufen mit Wilhelm nicht verderben. Einen zweiten Vorschuß könne er schon brauchen, ließ er durchblicken. Bill gab ihm tausend Schilling. Sie vereinbarten einen nächsten Treff in drei Tagen, zur selben Uhrzeit, am selben Ort. Sie versprachen sich gegenseitig, alles Erforderliche zu tun. Erich würde weiterübersetzen, Bill würde die Liste mit den Klarnamen suchen. Als sie sich verabschiedeten, klopften sie sich auf die Schultern und lachten. Einen Dreck werde ich arbeiten, dachte Zwinker-Kilian fast laut, als er in die Straßenbahn einstieg. Er hatte tausend Schilling in der Tasche und im Gehirn das Gefühl absoluter Überlegenheit über den Rest der Menschheit. Wenn er sparsam war, und das war er, konnte er drei Tage durchsaufen, ohne an Boden zu verlieren. Mein Schulfreund, du bist im Zugzwang, kicherte er, als er die Fahrkarte löste. Die Liste der Decknamen war eine Arbeit von fünfzig Minuten, mehr wollte er in diesen drei Tagen nicht tun. Er begann im Geiste ein Schachproblem zu analysieren, eine Endstellung Chernev gegen Horowitz aus dem Jahre 1936. Die Welt war in Ordnung für ihn.
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XIII
Für Bill sah die Welt sehr unordentlich aus. Er schlenderte zur selben Stunde zu Fuß durch die Innenstadt. Es gab da vieles, über das er nachdenken mußte. Keine sehr erfreulichen Dinge. Sein Schulfreund Kilian gefiel ihm ganz und gar nicht. War es ein Fehler gewesen, sich mit ihm einzulassen? Aber wer sonst konnte Rossmaneks Aufzeichnungen übersetzen? Vorerst mußte er zu Hammerlang gehen und beichten. Das blieb ihm nicht erspart. Bill ging in eine Telefonzelle und rief an. In einer halben Stunde werde er vom Polizeirat erwartet, sagte die Sekretärin. Er war angenehm überrascht von der Herzlichkeit, mit der ihn Hammerlang begrüßte. Sie tranken Kaffee und rauchten und plauderten über alles mögliche. Der Polizeirat schien keine Eile zu haben, zur Sache zu kommen. »Man nannte auch das Doppel in der Branche, damals«, sagte er. »Fast hätte ich gesagt, in der guten alten Zeit. So gut war die Zeit ja gar nicht, seien wir ehrlich. Aber wir waren halt jünger, das machte alles für uns leichter.« Der Polizeirat lächelte einen Augenblick, was selten vorkam. »Die neue Generation, ich verstehe sie nicht. Was die für Sorgen haben! Eine Zweitwohnung, ein noch größeres Auto, noch mehr Freizeit, Urlaub in Mallorca. Diese Erfolgsgeneration!« Bill stimmte zu. »Herbert und ich waren froh, wenn wir den Halbjahresbeitrag für den Tennisklub bezahlen konnten«, sagte er. »Aber haben wir damals die Alten verstanden, den Rossmanek etwa? Und wissen Sie, Herr Polizeirat, ich war jetzt zehn Jahre weg. Ich dachte, das sei nur drüben so, in den Staaten. Popmusik, daß einem das Trommelfell platzt, Hasch, Sex, Herumgammeln ziellos -, keine Ideale, ein verrotteter Schweinestall. Ich kannte ein Mädel in Brooklyn, ein hübsches, blondes Ding, die schlief mit so einem Scheißneger, nur weil sie Angst hatte, sonst als -98-
Rassistin zu gelten.« Bill wurde lauter: »Die Alten schreien nach einem neuen Hitler, der mit dem Saustall aufräumt. Mir tut das weh, ein Hitler ist keine Lösung. Aber so kann das doch nicht weitergehen. Wollen Sie, Herr Polizeirat, hier Verhältnisse haben wie in Brooklyn? Wünschen Sie sich das nicht und ihren Kindern. Aber machen Sie hier so weiter mit Ihrer Häftlingspflege, mit Ihrem demokratischen Kriminalhumanismus. In zehn Jahren sind Sie soweit«. Man konnte es Hammerlang ansehen, daß er so etwas nicht zum ersten Mal hörte. Bill berichtete dann von den Ereignissen der letzten Wochen. Er erzählte alles wahrheitsgetreu, der Polizeirat machte sich Notizen. Nur die russischen Stenogramme Rossmaneks und Erich Kilian verschwieg er. Ansonsten hielt er sich in seinem Bericht streng an die Tatsachen. Die Befragung dauerte fast zwei Stunden. »Ich habe Ihnen alles gesagt«, Bill versuchte, ein ehrliches Gesicht zu machen. Es gelang nicht ganz. »Alles nicht«, meinte der Polizeirat, aber es klang nicht böse. Bill war erleichtert. »Sehen Sie sich einmal diese Fotos an, erkennen Sie jemanden darauf?« Auf dem Schreibtisch lagen fünf Fotografien, Bill warf einen Blick darauf. »Den Alten kenn' ich«, sagte er, »das muß Graf oder Baron Sednitzky sein. Alter polnischer Adel. Nach dem Krieg verkaufte er den Amis den unglaublichsten Schund an Informationen. Damals hatte er Kontakte zu den Exilpolen in London. Ein alter Geheimschmattler, ich hielt ihn schon vor fünfzehn Jahren für senil. Er muß lange tot sein.« Hammerlang hatte wieder seinen traurigen Blick: »Sie hielten nicht viel von ihm, oder?« »Gar nichts hielt ich von ihm«, erinnerte sich Bill. Den alten Baron kannte jeder in der Nachrichten-Branche. Ein paar Mal sah ich Sachen von ihm, alles wertloses Zeug, Machinationen aus Zeitungen und Rundfunkmeldungen. Hab' mich immer gewundert, wovon der Alte eigentlich gelebt hat, seine Infos -99-
waren nicht das Schreibpapier wert.« »Er lebt noch«, sagte Hammerlang, »und scheinbar ganz gut. Und er verkauft noch immer Informationen.« Bill wunderte sich. Er könne sich einfach nicht vorstellen, daß jemand dem Baron dieses Zeug für gutes Geld abkaufe. »War ihr Freund derselben Ansicht?« unterbrach der Polizeirat. Langsam wurde Bill mürrisch. »Wir waren immer einer Ansicht in geschäftlichen Dingen.« Der Polizeirat seufzte enttäuscht. »Nach dem Tode ihres Freundes meldete sich Graf Sednitzky bei mir. Er gab an, ihr Freund habe ihn kontaktiert und ihm Material angeboten, gegen eine hohe Summe. Der Graf war interessiert, sie sollten sich wieder treffen. Dann kam der Mord dazwischen.« »Ausgeschlossen«, sagte Bill laut. »Das sind die Angaben des Grafen.« »Nie im Leben! Herbert hätte einen Mann wie den Sednitzky nicht einmal mit einer Feuerzange angefaßt. Ganz undenkbar, daß er mit ihm ins Geschäft kommen wollte.« »Das will ich ja gerade herausfinden«. Der Polizeirat sah ihm in die Augen. »Es war Archivmaterial des alten Rossmanek, das ihr Freund angeboten hatte. Angeblich«, fügte er hinzu. Bill war ein wenig betroffen. »Herbert hätte sich eher in ein Wespennest gesetzt, als Sednitzky auch nur Feuer für eine Zigarette anzubieten«, sagte er schließlich wütend. »Der Graf ist Nichtraucher. Aber Spaß beiseite, warum sollte Sednitzky eine solche Geschichte erfinden?« »Vielleicht will er sich wichtig machen, was weiß ich.« »Wie kommt er dann auf die Idee, ein Rossmanek-Archiv zu erfinden. Oder gibt es ein solches Archiv?« Hammerlangs Augen vermittelten Bill ein Gefühl des Unbehagens. Er belog ungern Menschen, die er mochte. Er wolle das nicht ausschließen, meinte er fast entschuldigend, man kannte doch -100-
den alten Hofrat. Ein privates Archiv anzulegen, wäre ihm zuzutrauen. Aber Herbert sollte den Grafen Sednitzky kontaktiert haben? Ganz ausgeschlossen. Hammerlang nickte. »Schauen wir uns das an.« Er ging zu einem Fernsehschirm und drückte auf einen Knopf. Ein Bild erschien, deutlich, schwarzweiß. Bill sah Sednitzky in einem Sessel sitzen, einem Kriminalbeamten gegenüber. Ein zweiter Knopfdruck von Hammerlang, und man konnte das Gespräch mithören. »Erinnern Sie sich doch bitte, Graf, versuchen Sie sich an alle Einzelheiten zu erinnern«, sagte der Beamte gerade. »Die Szene spielt hier im Haus«, erklärte der Polizeirat, »mit etwas Glück wissen wir bald mehr.« Bill murmelte etwas Anerkennendes über die technischen Fortschritte der Polizei und daß es so was zu Rossmaneks Zeiten noch nicht gegeben habe. Hammerlang hörte ihm nicht zu und starrte auf den Bildschirm. Es wurde klar, daß der Beamte Einzelheiten von der Begegnung zwischen dem Grafen und Herbert Winkler erfahren wollte. Ob viele Gäste in dem Lokal gewesen seien, ob ein Mann oder eine Frau bedient habe, was konsumiert worden sei, wie lange sie miteinander gesprochen hätten, was der ermordete Herbert Winkler genau gesagt habe. Der Graf gab vage Antworten, und man merkte, daß er diese Antworten schon wiederholt gegeben hatte. Ob Sednitzky sich erinnern könne, wie Herbert Winkler gekleidet war? Der Graf konnte sich nur ungenau erinnern. Ein Anzug eben, grau oder braun. Ob ihm an Herbert Winkler etwas Besonderes aufgefallen sei? Etwas Außergewöhnliches? Nein, Sednitzky hob die Schultern, er sah nicht gerade glücklich aus. Nichts Außergewöhnliches. Ein Telefon läutete, und der vernehmende Beamte sagte ein paar Worte in die Muschel. Er müsse für fünf Minuten kurz weg, erklärte er, ob der Graf so freundlich wäre, inzwischen zu warten? Der Graf war so freundlich. Der Kriminalbeamte verließ das -101-
Zimmer, seine Akte ließ er auf dem Tisch liegen. Bill gähnte verstohlen und sah Hammerlang an. Der Polizeirat blickte auf den Bildschirm, sein Gesicht war angespannt. Der Graf sah auf seine Uhr, stand auf und streckte sich. Er ging zur Tür, dann zum Schreibtisch und sah gelangweilt auf den Aktenumschlag, der dort lag. »Na komm schon«, sagte der Polizeirat leise. Vorsichtig hob der Graf den Aktendeckel. Er blätterte in den Seiten. Dann setzte er sich wieder und wurde nachdenklich. Der Kriminalbeamte kam zurück, entschuldigte die Unterbrechung, und das Frage-Antwort-Spiel begann von neuem. Bill gähnte wieder, aber der Polizeirat war so konzentriert, als beobachte er einen spannenden Krimi. Der Beamte tippte nun die Angaben des Grafen auf einer Schreibmaschine. Nein, also nichts Auffallendes habe der Graf an Herbert Winkler feststellen können. Oder doch - eine Kleinigkeit vielleicht? Der Graf zögerte, als überlege er. Wenn er sich recht erinnere, habe Herbert Winkler an einer Hand einen Verband getragen. Oder einen Gips, das wisse er nicht mehr so genau. Auch nicht, welche Hand es gewesen sei. Der Kriminalbeamte tippte nun ganz schnell. Auf solche Kleinigkeiten käme es aber an, belehrte er. Kleinigkeiten seien oft sehr wichtig für die Polizei. Der Beamte schien erfreut, daß sich der Graf nun doch an die Gipshand erinnern konnte, der Graf auch. Hammerlang schaltete das Gerät aus. »Na bravo«, sagte er sehr nachdenklich. Bill wußte überhaupt nicht, um was es ging. »Was soll das alles?« fragte er. Hammerlang schien ihn nicht zu hören. »Sie hatten recht«, sagte er schließlich. »Es gab keine Verbindung zwischen ihrem Freund und Sednitzky.« Bill verstand nichts. »Die Akte auf dem Schreibtisch enthielt eine Krankengeschichte des Unfallkrankenhauses Wien 12. Über einen Handknochenbruch Herbert Winklers, zugezogen bei einem Sturz aus der Straßenbahn am 8. Oktober 1975, also knapp drei Wochen vor dem Mord.« -102-
»Ich wußte nicht, daß sich Herbert eine Hand gebrochen hatte«, meinte Bill, nur um etwas zu sagen. »Hat er auch nicht«, grinste Hammerlang. »Die Krankengeschichte ist erfunden. Von uns. Verstehen Sie jetzt?« Bill dachte nach. Der Graf war also in eine Falle gegangen. Er machte Angaben von dem Treffen mit Herbert, die nicht stimmten. Es war offensichtlich, daß sich die beiden nie getroffen hatten. Warum erzählte der Graf aber, Herbert habe ihn kontaktiert? »Warum zum Teufel lügt Ihnen der Alte das alles vor?« fragte er. »Eben. Warum wohl?« Als Bill das Gebäude verließ, war ihm nicht gerade wohl zumute. Hammerlang war also beileibe kein Esel, und einen Moment lang dachte Bill daran umzukehren und die ganze Geschichte mit dem Archiv und Zwinker-Kilian zu beichten. Aber dafür war immer noch Zeit. Zumindest wollte er Erich Kilians Übersetzungen zuerst einmal genau lesen.
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XIV
Die Straßenbahn war voll besetzt, erst nach zwei Stationen fand Zwinker-Erich einen Sitzplatz neben einer molligen Dreißigerin, die angenehm nach Parfüm duftete. Sie rückte demonstrativ von ihm ab und hielt das Gesicht abgewendet. Wahrscheinlich störte sie seine Rumfahne oder sein unrasiertes Gesicht oder noch Schlimmeres. So etwas passierte Erich Kilian in den letzten Monaten häufig. Schließlich kann ich nicht nach Veilchen duften, wenn ich Rum getrunken habe, dachte Kilian, aber er war nicht wütend, heute nicht. Im Gegenteil. Er hatte seinen Plan fix und fertig. Wenn nichts schiefging, würde er bald Geld haben, viel Geld. Dann konnte er sich all die Dinge leisten, die ihm im Leben stets unerreichbar waren. Einschließlich einer so duftenden Molligen wie die neben ihm. Am Amalienbad stieg er aus, seine Aktentasche unter dem Arm. Darin waren Waschzeug, ein Handtuch, ein frisches Wollhemd und ein maschinengeschriebener Brief, adressiert an Oberst Alexander Wolkow, Militärattache der sowjetischen Botschaft in Wien, Reisnerstraße. Den Namen hatte Kilian aus einem Verzeichnis der akkreditierten Diplomaten in Österreich aus dem Jahre 1958. Sicher lebte der Genosse Wolkow schon lange nicht mehr in Wien; vielleicht war er General geworden oder auch schon gestorben. Erich Kilian wünschte ihm den General, er wußte, der Brief würde ihn nie erreichen, denn er war Teil seines Planes. In der Sauna rasierte sich Kilian vor einem Wandspiegel, schnitt sich zweimal, weil seine Hände so zitterten und verwünschte seine Alkoholsucht. Aber wenn er Geld hatte, brauchte er keinen Rum mehr zu trinken, sondern konnte sich ordentliches Zeug leisten, wie Kognac oder ähnliches. Eine Fußballmannschaft kam in die Sauna, mit Trainer und Masseur. Kilian betrachtete neidisch die muskulösen Körper, sah im Spiegel seine ausgemergelte Gestalt und dachte an Wilhelm -104-
Weiss. Der war so alt wie er, sah aber bei weitem besser aus; von ihm wandte sich keine Frau ab, auch wenn er nach Alkohol roch. Und er dachte an seine Jugend und daran, daß es eigentlich immer so war, schon immer war er der schwächliche Außenseiter gewesen. Er hätte vor zwanzig Jahren nicht dem Alkohol verfallen, sondern seinen Verstand benutzen sollen, um zu Geld zu kommen. Geld konnte vieles ausgleichen. Aber damals gab es für ihn nur die Partei, die Idee, den Idealismus. Und was hatte er jetzt davon? Aber es war noch nicht zu spät. Kilian ging von der Sauna zum Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen. Sechzig Schilling verlangte dieser Halsabschneider von einem Friseur. Er aber sah jetzt halbwegs zivilisiert aus, und auch das war Teil seines Planes. In einem zweitklassigen Kaffeehaus bekam er einen erstklassigen Schwarzen mit doppeltem Rum. Er kippte den Rum in den Kaffee, dann schlürfte er das heiße Getränk und wartete auf die Wirkung. Zum hundertsten Male las er eine Seite seiner Übersetzung von Rossmaneks Stenogramm. Es war eine Eintragung unter dem Datum vom neunundzwanzigsten Juni 1958: »Forelle stinkt. Treff mit dem Doppel einwandfrei. Sie erhielt Material zurück (Handtasche). Ging anschließend zu Pisani, aß zwei Portionen Vanille. Fünfundzwanzig Minuten. Ging dann in verschiedene Geschäfte, kaufte Nylonstrümpfe und einen Seidenschal. Vierzig Minuten. Ging langsam in die Botschaft zurück. Fünfzehn Minuten. Eine Stunde zwanzig Minuten nach Treff. So verhält sich niemand, der in Eile ist und Angst haben muß. Jo verständigen.« Besonders die beiden letzten Sätze schienen Kilian bedeutungsvoll. Er war sicher, er würde kassieren. Befriedigt spürte er, wie seine Hände ruhiger wurden und sein Gehirn auf Touren kam: Das Doppel! Das waren Bill und sein erschossener Freund, dessen war sich Erich Kilian sicher. Pisanis Eisbar kannte er -105-
auch. Die Bude lag zehn Gehminuten von der Sowjetischen Botschaft entfernt. Und daraus konnte man Schlüsse ziehen. Alles war klar für Professor Dr. Dr. Erich Kilian. Die beiden Schönlinge, das Doppel, sie hatten sicher eine Sekretärin der Botschaft an der Leine, die ihnen Material lieferte. In der Mittagspause waren die Kontrollen nicht so streng. Sicher brachte sie Schriftstücke, die dann eilig fotografiert und zurückgegeben wurden, alles in der knappen Mittagspause. Aber dann das Schönste: So benimmt sich kein Mensch, der in Eile ist und Angst haben muß. Gescheiter alter Rossmanek. Gescheiter alter Mann. Nur aufschreiben hätte er nichts sollen, auch nicht in Gabelsberger Stenografie. Forelle stinkt. Forelle war sicher der Deckname der Informantin. Munteres Fischlein. Kilian bestellte noch einen Kaffee mit Rum. Munteres Fischlein, stinkendes. Und dann das Allerschönste: Jo verständigen. Das war wichtig. Jeder wußte, daß Rossmanek ein Mann des Westens war und Kontakte zu den Amis unterhielt. Kilians Gedanken waren nun klar und präzise: Rossmanek hatte sicher recht. Forelle mußte keine Angst haben, war nicht in Eile. Im Klartext: Sie gab Spielmaterial mit Wissen des KGB weiter. Daraus folgt weiter: ein Jo wurde verständigt. Die Amis wußten also, daß sie Spielmaterial kauften. Vielleicht jahrelang. Vielleicht noch immer, wer konnte das wissen. Das aber mußte die Genossen vom KGB interessieren. Geld konnte bei der Beschaffung der Informationen keine Rolle spielen. Denn Desinformation kann ebenso wichtig sein wie Information, wenn man weiß, daß man desinformiert werden soll. Das also enthielt eine einzelne Eintragung von wenigen Sätzen Stenografie. Und es gab davon viele hundert Seiten. Eine Goldmine tat sich Erich Kilian auf. Lange besah er sich einen kleinen rosafarbenen Ausweis, den er seit vielen Jahren nicht mehr in Händen gehabt hatte. -106-
Es war ein Führerschein, ausgestellt von der Verkehrsabteilung der Polizeidirektion Wien am siebten April 1955, lautend auf den Namen Robert Siglitz. Der Ausweis trug Erich Kilians Foto, zumindest war es ein Bild, das ihn so zeigte, wie er vor zwanzig Jahren ausgesehen hatte. Gut, daß er nie etwas wegwarf. Den Führerschein hatte er sich damals selbst ausgestellt, vor zwanzig Jahren, als er noch Offizier der Roten Armee war, als er noch Macht und Einfluß hatte. Das Dokument war in Ordnung, gerade recht für seine Zwecke. Es hatte zu regnen aufgehört. Zwinker-Kilian marschierte zu Fuß in die Innenstadt, zu einem kleinen Postamt, wo er seit Jahren nicht mehr gewesen war. Er mietete ein Schließfach, füllte ein Formular aus, legitimierte sich mit dem Führerschein, bezahlte die Fachmiete für drei Monate im voraus und erhielt einen kleinen Schlüssel. Dann setzte er sich an ein Schreibpult im Schalterraum, nahm den Brief an Oberst Wolkow aus der Tasche und las ihn noch einmal sorgfältig durch: Verehrter Genosse Oberst. Die beiliegenden Abschriften sollten sie interessieren. Sie können noch mehr von der Sorte haben, viel mehr. Wenn sie interessiert sind, senden sie fünfzigtausend Schilling in großen Banknoten an die Absenderadresse. Erich Kilian klebte den Umschlag zu, sah noch einmal kurz auf die Nummer seines Postfachschlüssels: Robert Siglitz, Postamt 1031, Fach 192. Als er den Brief in den Postkasten warf, fühlte er sich müde wie nach schwerer Arbeit. Und einen übermäßigen Durst hatte er. Einen übermäßigen Durst hatte auch Bill Weiss in diesen Tagen: »Eta bez wodki nje rasbirjosch«, sagt man in Rußland. Das kannst du ohne Wodka nicht begreifen. Bill begriff nichts und niemanden in diesem regnerischen Dezember 1975 in Wien, einer Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war. Hatte sich diese Stadt so sehr verändert in den letzten zehn Jahren? Waren es die Menschen, das Leben hier, das ihn so fremd anmutete? -107-
Oder war es vielleicht nur er selber, der sich verändert hatte, alt geworden war, sich nicht mehr zurechtfand im Leben. Halbwegs ausgeglichen war er nur, wenn er getrunken hatte. Eta bez wodki nje rasbirjosch. Er trank nur abends, denn tagsüber brauchte er einen klaren Kopf. Einen Fehler konnte er sich nicht leisten. Er trank also nur abends und mit Christa, diesem jungen Ding, die er immer weniger verstand, je öfter er mit ihr schlief. Das aber war sein geringstes Problem, und Ursache war wohl einfach der »generation gap«, der Generationsunterschied. Mit Christa konnte er alles machen, nur nicht reden. Sich unterhalten, das schon. Christa plapperte unentwegt und fand alles »Spitze« und »Klasse«, wenn sie erfreut, »Mist« oder »Scheiße«, wenn sie betrübt war. Je nachdem. Bill begriff immer weniger von ihren Ansichten und hörte ihr schließlich gar nicht mehr zu. Wenig begriff er auch von den ersten übersetzten Aufzeichnungen des alten Rossmanek, die er von ZwinkerKilian erhielt. Sicherlich, das waren Dinge, die im Geheimdienst vor zwanzig Jahren vielleicht interessant waren. Aber heute? Bill konnte sich nicht vorstellen, warum Nachrichtendienste heute hinter dem Material her waren. War doch alles antiquierter Kram. Die meisten beteiligten Personen waren sicher schon gestorben, wie der alte Rossmanek selbst. Die fraßen doch alle schon die Würmer, mußte Bill denken. Reine Gruftspionerei. Daß ein Agent mit dem Decknamen Forelle in den fünfziger Jahren offenbar doppelt spielte, wen sollte das heute, nach zwanzig Jahren, noch interessieren. Aber war nicht festzustellen, wer Forelle war. Zwinker-Kilian hatte schon recht, ohne ein Verzeichnis über Code- und Klarnamen war mit dem Text wenig anzufangen. An die Wohnung hatte er sich langsam gewöhnt, irgendwie fühlte er sich in dem muffigen Loch sogar geborgen. Er schlief lange und wurde meist erst durch das Geräusch der eingeworfenen Post geweckt. Das war gegen neun Uhr, aber für gewöhnlich brachte die Post nichts Wichtiges, -108-
meist nur Rechnungen und Reklamen. So auch heute. Eine Zahnarztrechnung war dabei. Zweitausendvierhundert Schilling für Dentist Johann Nordbauer, Altmannsdorfer Straße Nummer siebzehn. Zahnregulierung für Herbert Sommer, stand dabei. Herbert Sommer? Hatte sich Herbert einen falschen Namen zugelegt? Warum? und Zahnregulierung? Herbert hatte die besten Zähne, die man sich vorstellen konnte, und überhaupt, was sollte am Gebiß eines fünfzigjährigen Mannes noch reguliert werden? Bill steckte die Rechnung in die Tasche. Natürlich würde er sie bezahlen, aber das wollte er doch wissen, was es damit auf sich hatte.
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XV
Wenigstens einen Parkplatz konnte man in der Altmannsdorfer Straße ohne weiteres finden. Eine miese Vorstadtgegend im Süden Wiens. Alte Häuser, aber natürlich war die Nummer siebzehn ein Neubau. Ein großes Chromschild verwies auf den Dentisten Nordbauer. Eine arrogante Sprechstundenhilfe, oder Assistentin oder auch Freundin des Herrn Dentisten, jedenfalls eine weißbemäntelte Gans mit einem »Vonobenherab-Benehmen«, nahm ihm anstandslos das Geld ab; für Bills Fragerei allerdings hatte sie wenig übrig. »Natürlich war es eine Zahnregulierung«, schnappte sie, »steht doch auf der Rechnung.« »Mein Freund«, sagte er bissig, »war in meinem Alter. Und da ist man froh, wenn man überhaupt noch eigene Zähne hat.« Was also da zu regulieren war, wollte er beharrlich wissen. Überrascht stellte er fest, daß seine Bemerkung Wirkung zeigte. Sie begann, in der Kartei zu blättern?, »Herbert Sommer«, sagte sie schließlich, ein Kärtchen in der Hand. »Ja«, sagte Bill. »Herbert Sommer, Sintstraße fünf, sieben Jahre alt. Extrahierung eins links, Röntgen und Vorarbeit für Zahnregulierung. Sieben Jahre alt!« Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag. »Aha« sagte Bill. Er war entlassen. »Sintstraße fünf«, murmelte er, Herbert Sommer, sieben Jahre alt, Sintstraße fünf. Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Auf der Straße begegnete er einer alten Frau mit Einkaufstasche. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Bill, »können Sie mir sagen, wo die Sintstraße ist? Muß hier in der Nähe sein.« Die Alte wußte es. »Nur fünf Minuten zu Fuß, ich wohne auf Nummer zwanzig.« Sie deutete in eine Richtung. »Der Herr hat es sicher -110-
eilig. Gehen Sie nur in diese Richtung, Sie können es nicht verfehlen.« Bill nahm ihr die Tasche ab, sie war schwer. »Eilig habe ich es nicht« meinte er, »wenn Sie mir den Weg zeigen?« Wirklich lieb fand das die Alte, und daß er ihr auch noch die schwere Tasche abnahm. Wohin er denn in der Sintstraße wolle? Sie wohne schon seit fünfzig Jahren in der Sintstraße. Leider müsse man in die Altmannsdorfer Straße zum Einkaufen gehen. In der Sintstraße gäbe es keine Geschäfte. »Ich habe ja niemanden«, sagte sie, »mir fällt das Schleppen der Tasche oft schwer.« So ein lieber Herr, der ihr dabei hilft. Na, so was sei ihr noch nie passiert. Ich habe ja niemanden, hatte die alte Frau gesagt, ich bin doch ganz allein auf der Welt. Den meisten alten Menschen geht das so, dachte Bill. Drei Kinder hatte die alte Frau, und sie war froh, daß ihr überhaupt jemand zuhörte. Zwei Söhne und eine Tochter. Der Erich, der war schon lange tot, seit 1947. Aus russischer Gefangenschaft war er heimgekehrt, zwei Monate später war er gestorben. An einem Hungerödem, wie der Doktor gesagt hatte. Ob der Herr auch beim Militär war? Im Krieg, wollte die alte Frau wissen. »Ja«, sagte Bill, er war; dann wüßte er ohnehin alles, meinte die alte Frau. Und da war noch Walter, aber der war ausgewandert, nach Kanada, in den fünfziger Jahren. Und die kleine Greterl, ja, die hatte geheiratet. Nach St. Polten. Einen Gendarmen hatte sie geheiratet. Zwei Enkerl. Aber St. Polten ist weit, nicht wahr, und dann, »wissen Sie, lieber Herr, man ist halt nicht gern gesehen, wenn man so alt ist«. Ob sich der Herr das vorstellen könne? Bill konnte. Er dachte plötzlich, daß er ja auch niemanden hatte. Schon seit zehn Jahren keinen Menschen mehr, mit dem er sprechen konnte. Reden ja, reden konnte man mit jedem, sogar mit der Alten hier, aber sprechen. »Trinken sie einen Tee mit mir?« hörte er sich plötzlich sagen, »ein Tee würde ihnen guttun.« Er hörte sich das sagen und dachte zugleich, soweit kommt es noch, daß ich mit der Alten auf einen Tee gehe, -111-
soweit kommt es noch. Er mußte sich umdrehen, er konnte diese aufgerissenen Augen in diesem furchigen Gesicht nicht mehr ansehen. Die schlaffen Lippen zitterten. »Wirklich, Sie wollen mich zu einem Tee einladen, wirklich?« Es kam also soweit. Und in seiner Wut auf sich selbst wurde Bill noch wütender, verwünschte seinen Egoismus, und er hätte sich selber anschreien mögen. Was war denn schon dabei, mit der Alten eine halbe Stunde zu sitzen. Ob er allein durch die Straßen lief oder sich mit der Alten unterhielt, irgend etwas Nichtssagendes mit ihr redete, wo lag schon ein Unterschied? Die Alte aber würde wochenlang daran zehren. Er führte sie also über die Straße in ein Gasthaus und bestellte zwei Tee. Die Alte roch nach Mottenpulver. In der Sintstraße Nummer fünf wohnte also Maria Sommer, eine Krankenschwester, mit ihrem kleinen Sohn Herbert, der schon zur Schule ging. Eine anständige Frau, hatte die Alte gesagt. Sehr anständig und ein guter Mensch, immer freundlich und hilfsbereit. Jeder wußte das in der Nachbarschaft. Jeden Sonntag ging sie mit dem Buben zur Kirche. Eine Art Heilige, mußte Bill denken, als er die Türklingel drückte. Und daran, wie sein Freund Herbert Winkler, alles andere als ein Heiliger, zu dieser Frau gekommen war. Und zu dem Buben. Maria Sommer sah auch aus wie eine Heilige. Sie hatte ein helles, offenes Gesicht, gütige Augen und war ein Mensch, dem man sofort sein Kind anvertrauen würde. Oder seine Brieftasche. Sie schien keineswegs überrascht, als Bill sich vorstellte. Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein und führte ihn in ein kleines Wohnzimmer, das vor Sauberkeit blitzte. »Ich mach' ihnen gleich Tee, Herr Weiss, oder Kaffee, wenn ihnen der lieber ist. Herbertl, sag dem Onkel Grüß Gott.« Ein kleiner Bub kam aus dem Nebenzimmer, verbeugte sich und sagte Grüß Gott. Er war lieb und blond, ein Vorderzahn fehlte ihm. Bill gab ihm die Hand. Kaffee wäre ihm lieber, sagte er. Ein kräftiger Schluck Schnaps wäre ihm jetzt noch lieber gewesen, aber daran -112-
war in dieser Umgebung nicht zu denken. Sie müsse erst den Buben zu Bett bringen, dann könne man reden, sagte sie. Es war, als habe sie seinen Besuch erwartet. Bill saß in einem bequemen Sessel, in der Küche klapperte Geschirr, und Kaffeegeruch machte sich breit. An den Wänden hingen Bilder und Fotos, und auf einem erkannte er seinen Freund Herbert. Herbert, ein Baby im Arm. Daneben die glücklich strahlende Mutti. Und wie glücklich sein Freund darauf aussah. Maria Sommer kam und stellte die Tasse auf den Tisch. Sie sah in sein Gesicht und auf das Foto. »Ich erzähl' ihnen alles später, Bill« sagte sie ruhig. »Herbertl, geh dich jetzt waschen« rief sie zur Tür. Dann war sie wieder verschwunden. Er trank den Kaffee. Sie hatte »Bill« gesagt. In Österreich hatte ihn nur Herbert so genannt. Sie wußte also von ihm und wer er war. Und wahrscheinlich auch, was er wollte. Teufel, warum hatte sie nie angerufen, wenn sie von seiner Existenz gewußt hatte. Wenn Herbert von ihm erzählt hatte, von seinem einzigen Freund, sie hätte sich doch vorstellen können, in welcher Situation er war. Der Bub kam zurück ins Wohnzimmer, sauber gewaschen, schon im Pyjama. »Bleibt der Onkel bei uns?« wollte er wissen. Nein, sagte seine Mutter, um eine Spur zu hastig, wie es Bill vorkam. Der Kleine wollte noch den Fernseher andrehen, aber es wurde ihm nicht erlaubt. Folgsam sagte er »gute Nacht« und gab Bill die Hand, die nach Seife roch. Bill sah diese hellen Kinderaugen und hatte den Wunsch, den kleinen Kerl an sich zu drücken. Er lächelte aber nur und ärgerte sich, weil er vergessen hatte, dem Kind etwas mitzubringen. Ein kleines Geschenk oder so was. »Hast du einen Wunsch, Herbert?« fragte er. Er dachte an einen Fußball oder eine Eisenbahn, was Siebenjährige eben gerne haben. »Ich möchte, daß Papa in den Himmel kommt«, hörte er den Kleinen sagen. Geh jetzt zu Bett, sagte seine Mutter. »Natürlich kommt er in den Himmel«, erklärte Bill. »Dein Vater war ein anständiger Mensch. Anständige Menschen kommen in den Himmel, alle.« -113-
»Der Alexander hat gesagt, Papa war ein Spion.« Die Lippen des Kleinen zuckten. »Ein Spion ist nichts Schlimmes, und dein Vater war auch gar keiner. Dein Freund Alexander versteht nichts von diesen Dingen.« »Geh jetzt zu Bett«, mahnte die Mutter. »Kommst du noch beten?« Die Frau nickte, und sie gingen ins Kinderzimmer. »Jesukindlein komm zu mir...« Bill spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. »... mach ein frommes Kind aus mir...« Ich muß was tun für dieses Kind, dachte Bill. »... mein Herz ist klein, darf niemand hinein...« Sie haben ihm den Vater umgebracht. Journalisten machten einen großen Spionagefall daraus. Wer nimmt heutzutage Rücksicht auf die Gefühle eines Kindes? Papa war ein Spion. Ein Spion ist etwas Böses. Alexander hat es gesagt. Sein Vater hat es in der Zeitung gelesen. »... als du mein liebes Jesulein. Im Namen des Vaters und des Sohnes...« Ich muß etwas tun für dieses Kind. Es ist das Kind meines einzigen Freundes. »... und des Heiligen Geistes. Amen.« Die Mutter kam zurück ins Wohnzimmer. »Jetzt können wir reden«, hörte er sie sagen. Aber eigentlich redete nur sie. Bill hörte zu, es war die unglaublichste Geschichte, die er je gehört hatte. Es war die Geschichte seines Freundes Herbert, die Geschichte seiner großen Liebe zu Maria, der Krankenschwester. Die Tragik zweier Menschen, die einander liebten und doch so verschieden voneinander waren, daß der traurige Ausgang eine unausbleibliche Konsequenz war. Wie ruhig und verständnisvoll diese Frau erzählen konnte. »Ich hatte den Buben schon«, sagte sie, »als mich Herbert endlich wissen ließ, wie er sein Geld verdiente. Es war überhaupt keine Frage für mich: Entweder er machte sofort Schluß mit seiner -114-
Agententätigkeit, oder ich machte Schluß mit ihm. Wir waren damals schon verheiratet, verstehen sie? Nur kirchlich, eine standesamtliche Ehe zählt für mich nicht. Daher habe ich auch nie Winkler geheißen, auch der Bub nicht. Das ist gegen das Gesetz, aber ich fand einen Geistlichen, der uns traute. Vor Gott, nicht vor den Menschen. Die weltlichen Gesetze bedeuten mir nichts, verstehen Sie?« Bill verstand gar nichts. Herbert habe doch nichts Böses getan, versuchte er seinen Freund zu verteidigen. Die Welt bestehe doch nicht nur aus Schwarz und Weiß, es gäbe Tausende von Schattierungen dazwischen. In seinem Alter wollte Herbert eben in dem Beruf Geld verdienen, für den er ausgebildet war, in dem er Erfolg hatte. Er tat es für seine Frau, für sein Kind, nicht für sich. Er war einfach... Dieses Lächeln in ihrem Gesicht ließ ihn verstummen. Wie ähnlich er und Herbert sich doch wären, mußte er sich sagen lassen. Fast dieselben Worte habe auch Herbert immer gebraucht. Und wie unannehmbar das alles für sie gewesen sei, und wie sie schon immer gewußt habe, daß es mit Herbert ein böses Ende nehmen würde. »Wer die Gefahr sucht, kommt darin um«, sagte sie gelassen und ruhig, und doch klang es wie das Urteil eines Höchstgerichtes. Dann aber wieder erzählte sie sehr amüsant von den vielen gemeinsamen Erlebnissen, die Bill und Herbert hatten, und die sie nun kannte, gerade so, als ob sie dabeigewesen wäre. Herbert mußte ihr eine Art Lebensbeichte abgelegt haben. Und sie lächelte und plauderte darüber, als ob es sich um LausbubenStreiche handelte. »Ich hatte Sie sofort erkannt« sagte sie, »ich hätte Sie unter tausend Männern herausgefunden, so genau hat mir Herbert von Ihnen erzählt. Das war damals, als er mich zu überzeugen versuchte, mein Verständnis verlangte. Ich verstand ihn immer, -115-
nur er verstand mich nie.« »Ich verstehe Sie auch nicht« sagte Bill bissig. Maria Sommer erzählte weiter, wie es zum endgültigen Bruch kam. Wie sie sich letztlich darauf einigten, daß Herbert nur einmal in der Woche seinen Sohn besuchen sollte. »Das war schon vor vier Jahren«, erklärte sie. »Ich hatte immer Angst, er könnte eine Gefahr für das Kind sein. Sein Tod hat mich nicht überrascht. Ich las es in den Zeitungen. Wer die Gefahr sucht, kommt darin um.« Ein seltsames Gefühl kam in Bill auf. Er empfand einen ungeheuren Respekt vor dieser Frau, zugleich aber verachtete er sie. Was ihn am meisten bewegte, waren aber ihre Schilderungen über Herbert. Nicht, daß er an der Wahrheit zweifelte, diese Frau hatte sicher nicht gelogen. Aber da hatte man einen Freund, einen Menschen, mit dem man ein Leben lang zusammen gewesen war, den man so gut kannte wie sich selbst und mußte sich nun sagen lassen, ja beweisen lassen, daß dieser Mensch doch ganz anders war, als man glaubte. Kann ein Mensch einen anderen jemals wirklich kennen? »Wann haben sie Herbert zum letzten Mal gesehen?« fragte Bill müde und im Tonfall eines vernehmenden Kriminalbeamten. Maria Sommer stand auf. »Ich wußte, daß Sie mich das fragen würden. Es war am letzten Oktobertag, einen Tag bevor er starb. An einem Freitag. Er besuchte den Buben und gab mir eine Tasche zur Aufbewahrung. Er bat mich darum.« Sie ging ins Nebenzimmer. Bill war plötzlich hellwach und erregt. Sie kam zurück und reichte ihm eine alte, abgetragene Plastikmappe. »Bitte gehen Sie jetzt«, sagte sie, »es ist schon spät.« Eine abgetragene Plastikmappe mit Reißverschluß, zwanzig Jahre alt oder noch älter. Bill kannte dieses Exemplar. Es war eines der ersten Dinge, die man nach dem Krieg bezugscheinfrei kaufen konnte. Herbert hatte die Mappe ein halbes Leben lang mit sich herumgetragen. In den sechziger Jahren, als es ihnen finanziell gutging, hatte Bill seinem Freund eine Ledermappe geschenkt, die nach Juchten roch und federleicht war. Herbert -116-
hatte sich über das Geschenk gefreut. Drei Tage später vergaß er das Prachtstück im Schnellzug nach Salzburg, mit Rasierzeug, einem Presseausweis, ausgestellt auf den Namen Josef Huber, zwölf Schlüsselfeilen, einem Set Sperrhaken und einem Schlagring aus Aluminium. Besonders den Verlust des Schlagrings hatte Herbert noch wochenlang bedauert. Die alte Plastikmappe kam wieder zu Ehren. Als Bill mit der Mappe zum Auto ging, hatte er das Gefühl, seinen Freund bei der Hand zu halten. Er fuhr eine Weile ziellos durch die Gegend, sah häufig in den Rückspiegel und parkte dann vor einem Gasthaus. Nach einem Glas Bier räumt er die Mappe aus und legte den Inhalt vor sich auf die Tischplatte. Es war nicht viel: Zwei abgegriffene Notizbücher, ein österreichischer Reisepaß mit Herberts Foto, ausgestellt auf den Namen Josef Huber, ein Schlüssel. Die Notizbücher glichen einander wie Zwillinge. Auch die Eintragungen schienen auf den ersten Blick gleich zu sein. Links waren fortlaufende Zahlen notiert, rechts von den Ziffern Namen eingetragen. Alles in der peinlich sorgfältigen Schrift von Ministerialrat Rossmanek. Es dauerte zwei Minuten, bis Bill begriff: In dem einen Büchlein war neben der jeweiligen Zahl eine Deckbezeichnung notiert, im anderen neben derselben Zahl der Klarname. Es war das langgesuchte Codeverzeichnis des Archivs. Man mußte beide Notizbücher haben, um Herkunft und Informanten des Steno-Archivs feststellen zu können. Sicherlich hatte Rossmanek zu Lebzeiten die beiden Notizbücher getrennt aufbewahrt. Bill bestellte ein zweites Bier und spürte sein Herz klopfen. Er blätterte eine Weile in dem Klarnamenverzeichnis und fand schnell, was er suchte: seinen eigenen Namen. Wilhelm Weiss, daneben die Nummer achtundzwanzig. Neben der Zahl achtundzwanzig im anderen Buch stand »Glückskind«. Nun wußte Bill, was er trotz zwanzigjähriger Tätigkeit für -117-
Rossmanek nie erfahren hatte: daß alle seine Berichte und Informationen unter der Codebezeichnung »Glückskind« gelaufen waren. Katalogisiert, klassifiziert, ausgewertet, weitergeleitet an befreundete Dienste, alles unter dem Codewort »Glückskind«. Bill blätterte noch einmal in den Notizbüchern. Beizin Sonja fand er neben der Nummer einhundertzwölf. Im anderen Büchlein las Bill neben der Zahl einhundertzwölf das Wort »Forelle«... Er mußte lange gesessen und vor sich hingestarrt haben. Der Wirt kam und fragte, ob ihm nicht gut sei. Bill murmelte etwas. »Weil Sie so blaß sind«, sagte der Wirt.
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XVI
Die beiden alten Männer sahen aus, als ob sie den ganzen Tag in einer Rumstube verbracht hätten. Und das stimmte auch. Sie stützten sich gegenseitig und gingen leicht schwankend, entgegenkommende Passanten wichen aus und schüttelten empört die Köpfe. Am hellichten Tag! »Hast du alles verstanden?« fragte Zwinker-Kilian seinen neuen Freund. »Alles, alles«, nickte der. Man konnte diesem Alkoholwrack ansehen, daß es gar nichts verstanden hatte. »Postfach einhundertzweiundneunzig«, sagte Kilian. »Ich geb' dir gleich den Schlüssel. Es geht um eine Wette, verstehst du?« »Eine Wette, ja, ja«, lallte der Alte. »Eine blöde Wette.« »Blöd oder nicht«, sagte Kilian. »Es geht um vierhundert Schilling, merk dir das. Vierhundert Schilling. Wir teilen.« »Du zweihundert, ich zweihundert«, kicherte der Alte. »Was muß ich tun?« Geduldig und zum xten Male erklärte es Kilian. »Du gehst zum Postfach einhundertzweiundneunzig und sperrst auf. Drinnen liegt ein Brief. Den nimmst du und steckst ihn in meinen Briefumschlag. Vergiß nicht zuzukleben. Dann wirfst du diesen Briefumschlag in den nächsten Postkasten. Der ist gleich neben den Schließfächern, rechts. Gleich rechts daneben, verstehst du? Dann gehst du ins Wirtshaus zurück. Dort warte ich auf dich, das ist alles, was du zu tun hast!« Das mach ich, das mach ich alles ganz genau so«, der Alte kicherte wieder. Er stützte sich schwer auf Kilian. »He«, -119-
protestierte er plötzlich, »du hast mir deinen Briefumschlag noch nicht gegeben.« »Geb' ich dir gleich und den Postfachschlüssel auch.« Die beiden marschierten weiter. »Dort drüben ist es.« Kilian blieb stehen. Er gab dem Alten den Schlüssel und das Kuvert. »Warte eine Minute, dann geh!« sagte er. »Und du zahlst noch eine Runde im Wirtshaus?« fragte der Alte mißtrauisch. »Wie abgemacht«, zwinkerte Kilian. Er war plötzlich sehr nüchtern. Während der Alte Briefumschlag und Schlüssel umständlich in einer Manteltasche verstaute, hatte es Zwinker-Erich plötzlich sehr eilig. Er überquerte die Straße, stülpte den Mantelkragen hoch, betrat schließlich das Postamt, ging zielstrebig in eine Telefonzelle und warf einen Schilling ein. Er wählte eine Nummer, drehte sich dann um und sah zum Eingang. Sein Herz klopfte. Kilian hielt die Hand vor den Mund und tat so, als würde er reden. Die Sekunden pochten vorbei, im Gleichklang mit Kilians Herzschlag. Sie wurden schneller, als der alte Rumtippler am Eingang erschien. Er sah sich um, als wäre er in einer fremden Welt. Dann tappte er zu den Schließfächern, brummte vor sich hin und fingerte in seiner Manteltasche. Es dauerte eine halbe Minute, bis er mit seinen flatternden Händen den kleinen Schlüssel ins Schloß gebracht hatte. Kilian sah, wie er einen Brief aus dem Fach nahm und erneut in seiner Manteltasche kramte. »Komm schon, alter Idiot«, keuchte er. Seine Stirne war schweißnaß. Der Alte hatte Mühe, den Brief in den größeren Umschlag zu stecken. Dann schleckte er umständlich die Gummierung ab. Seine Schultern zuckten. Sicher kicherte er wieder, dachte er. Sein Herz pochte wie rasend. Beim Postkasten wäre der Alte -120-
fast hingefallen. Er brauchte beide Hände, um den Brief durch den Schlitz zu bringen. Dann wankte er zur Türe hinaus, kichernd und höchst befriedigt, als ob er gerade eine gewaltige Leistung vollbracht hätte. Zwinker-Kilian sah, wie sich die Tür einer anderen Telefonzelle auftat und ein Mann zum Ausgang ging. Er sah einen zweiten Mann von einer Wartebank aufstehen und ebenfalls hinausgehen. »Gewonnen«, pochte Kilians Herz, »gewonnen, gewonnen, gewonnen.« Der Hörer in seiner Hand tutete. Für Zwinker-Erich waren es Fanfaren seines überlegenen Geistes.
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XVII
Plötzlich war nichts mehr zu tun für Bill Weiss. So kurz vor den Weihnachtsfeiertagen in Wien hatte er das starke Gefühl, daß alle nur an das Fest dachten, auch die in Wien etablierten Geheimdienstler inklusive der österreichischen Staatspolizei. Mein Gott, was für ein Theater! Weihnachten brachte es mit sich, daß nicht einmal mehr Christa für ihn Zeit hatte, sie erwartete Besuch von ihrem Verlobten aus Salzburg, und überhaupt hatte Bill den Eindruck, als ob alle Menschen um ihn herum plötzlich verrückt wären. Wildfremde Leute wünschten ihm ein frohes Fest, der Hausmeister zum Beispiel und die Trafikantin um die Ecke, sie fragten, wie er das Fest verbringen würde, erwarteten aber keine Antwort, sondern gaben Schilderungen ihrer eigenen Vorhaben, zählten eine Liste von Geschenken auf, die sie gekauft oder noch zu besorgen hätten. Aber das war schon immer so in seiner Heimat, daran also hatte sich nichts geändert. Geändert hatte sich Bill Weiss. Was ihm seinerzeit, vor zehn Jahren, selbstverständlich, wenn auch etwas komisch erschien, empfand er nun als fast unerträgliches und vertrotteltes Gehabe seiner Mitmenschen. Außerdem kam er sich sehr verlassen vor, noch einsamer als sonst, seltsamer Außenseiter in seiner Heimatstadt. In dieser Stimmung beschloß er, den ihm am nächsten stehenden Menschen in dieser Stadt zu besuchen, und wenn's nur für ein lapidares »wünsch Ihnen ein frohes Fest« war. Er ging also zu Polizeirat Dr. Hammerlang. Der Polizeirat saß wie immer hinter seinem Schreibtisch, und als Bill eintrat, lächelte er sein müdes aber freundliches Lächeln und bestellte Kaffee. Bill hatte zuerst daran gedacht, dem Polizeirat die Geschichte von der Zahnarztrechnung, von Maria Sommer und Herberts Sohn zu erzählen. Dann aber verwarf er den Gedanken wieder. -122-
Womöglich ließe Hammerlang die Sache überprüfen, erführe dabei von der alten Plastikmappe Herberts und würde neugierig werden. Sicherlich hätte der Polizeirat alles überprüfen lassen. Bill redete also ein wenig herum, daß es von seiner Seite aus nichts Neues gäbe und er wissen möchte, ob der Polizeirat bei seinen Ermittlungen nach dem Mörder Herberts weitergekommen sei. »Sie hatten recht, was den Grafen Sednitzky betrifft«, sagte Hammerlang. »Ihr Freund hatte tatsächlich nie Kontakt zu ihm. Die Geschichte von dem Verkaufsangebot Rossmanekscher Aufzeichnungen ist erlogen, oder genauer gesagt, vorgetäuscht.« Hammerlang rührte nachdenklich den Kaffee. »Irgendein Dienst will auf die Existenz dieser alten Papiere aufmerksam machen. Der alte Graf, dieser Dummkopf, ist für solche Gerüchte immer noch gut genug. Aber fragen Sie mich nicht, welcher Dienst. Bei Sednitzky weiß man das nie!« Der Polizeirat legte den Löffel auf die Untertasse und sah auf: »Existiert dieses RossmanekArchiv?« fragte er. Fast hätte Bill bejaht. Es war so schwer, in dieses sympathische Gesicht zu lügen. Mühsam zog er die Schultern hoch. »Wie soll ich das wissen«, sagte er. Er sah auf den Kaffeelöffel. »Sie können mich auch während der Feiertage anrufen, wenn irgendwas passieren sollte«, sagte Hammerlang. »Sagen Sie dem Journaldienst Ihren Namen, er weiß immer, wo ich erreichbar bin.« Bill bedankte sich höflich. Der Polizeirat geleitete ihn zur Tür, »schöne Feiertage«, sagte er noch. Die Polstertüre raschelte leise beim Öffnen. »Ebenfalls frohe Weihnachten«, sagte Bill, dann stand er im Vorzimmer. »Ein frohes Fest, Herr Weiss«, lächelte die Sekretärin freundlich. Es überraschte ihn, daß sie ihn beim Namen nannte. Sie muß einmal hübsch gewesen sein, dachte er. Zu dick war sie jetzt. Die typische Wienerin. »Ebenfalls alles Gute«, entgegnete er. Ihre Blicke trafen sich. Eine Sekunde hatte er den Wunsch zu -123-
fragen, ob sie das Fest mit ihm feiern wolle. Wie dumm von ihm. Weihnachten, Fest der Familie! Sicher hatte sie daheim einen Mann und Kinder, einen geschmückten Christbaum. Er lächelte schuldbewußt. »Ihren Mantel«, sagte die Sekretärin, den hätte er glatt vergessen. Auf der Straße sah er nur Menschen mit Paketen beladen, die es alle sehr eilig hatten. Es hatte aufgehört zu schneien. Die Autoschlange auf der Fahrbahn war dreispurig und bewegte sich im Schrittempo. Bill stülpte den Mantelkragen hoch. »Frohes Fest«, sagte er zu sich selber. Es klang wie eine Gotteslästerung. Margarete Scherbler hörte das vertraute Geräusch der Polstertür und wie der Polizeirat seinem Besucher schöne Feiertage wünschte. Sie lächelte diesen Bill Weiss freundlich an. Ein interessanter Mann, mußte sie denken, aber sieht verlebt sah er aus. Sie sagten sich »frohe Feiertage«, und eine Sekunde lang hatte sie den Wunsch, er möge sie einladen, gemeinsam mit ihm zu feiern. Wie dumm von ihr. Der Mann hatte sicher Besseres vor, der dachte gar nicht daran. Und wie geistesabwesend er war, fast hätte er seinen Mantel vergessen. Von den Problemen Margarete Scherblers hatte ihr Chef also keine Ahnung. Ihr Chef nicht und ebensowenig ihre Kollegen. Wie sollten sie auch. Man traf sich in der Früh im Büro und wünschte sich einen guten Morgen. Dann begannen die Schreibmaschinen zu klappern. Um zehn Uhr war Kaffeepause. Grete Scherbler machte sie manchmal schon früher, ganz nach Belieben Dr. Hammerlangs. Schließlich war sie Chefsekretärin. Man arbeitete den ganzen Tag oder tratschte auch ein wenig, bis fünfzehn Uhr dreißig. Dann wünschte man sich einen guten Abend oder ein schönes Wochenende, je nachdem. Ein Tag verging wie der andere. So ging das nun schon zwanzig Jahre für Frau Fachinspektor Scherbler, und mit jedem Jahr wurde es schlimmer. Sie war jetzt neununddreißig, ihrem vierzigsten Geburtstag sah sie mit Kummer entgegen. Wie schnell die Jahre vergangen waren. Und -124-
was war schon passiert in dieser langen Zeit? Sehr wenig. Ein paar Männer am Anfang, die sie schon fast vergessen hatte. Ein paar Urlaube in Italien, einer in Spanien. Dann das Büroverhältnis mit Dr. Hammerlang. War es schon zu Ende? Wahrscheinlich, es sah so aus. Eine Blinddarmoperation vor fünf Jahren, der Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren. Die eigene Wohnung, auf die sie anfangs so stolz war. Jetzt hatte sie oft Angst vor den eigenen Wänden. Der Torposten salutierte und sagte: »Schöne Feiertage, Frau Scherbler.« Den Kerl kannte sie jetzt auch schon eine Ewigkeit. »Ebenfalls, Herr Inspektor«, lächelte sie zurück. Immerhin hatte er »Frau Scherbler« gesagt, auf dieses taktlose »Fräulein« konnte sie wirklich verzichten. Schöne Feiertage! Es war also wieder einmal soweit. Feiertage und Wochenenden waren Margarete Scherbler verhaßt. Wohnungsputz am Samstag, dann Fernsehen. Sonntag lange schlafen, dann vielleicht Spazierengehen in Schönbrunn. Abends wieder Fernsehen. Sie könnte nach Eisenstadt fahren zu Kathi, ihrer Freundin. Kathi war verheiratet, so alt wie sie, und hatte drei Kinder. Ihr Mann war Vertreter für Burgenländischen Wein und nie zu Hause, auch Sonntag nicht. Sie könnte sich Kathis Raunzereien anhören und die neuesten Geschichten, mit wem und wo ihr Mann sie gerade betrog. Und die Kinder würden ihr auf die Nerven gehen mit ihrem ewigen »Tante Greti«. Und ihr Wagen hatte einen Service nötig, wer weiß schon; ob die Batterie noch funktionierte, sie war schon zwei Wochen nicht mehr in Betrieb. Richtig, ihr Auto hätte sie fast vergessen bei den Ereignissen ihres Lebens. Das war auch so etwas Großartiges. Vier Jahre hatte sie gespart auf das Prachtstück. Für den Führerschein hatte sie gebüffelt, und bei der ersten Prüfung war sie durchgefallen. Einmal, damals war sie neunundzwanzig - war sie schwanger, vermutlich von. Hammerlang. Der Arzt hatte sie eine Menge Geld gekostet. Es folgten zwanzig Dienstjahre bei der Polizei, einige erfolgreich absolvierte Dienstprüfungen und der Amtstitel -125-
Fachinspektor. Neuntausendvierhundert Schilling Monatsgehalt brutto, davon lebte sie jetzt. Zwanzig Jahre im Leben einer Frau, die wichtigsten Jahre vergeudet und vertan. Was sollte noch kommen? Alter, Häßlichkeit, Krankheiten? Wohlverdiente Pension? Die Verdienstmedaille der Republik Österreich, in Silber. Dann der Ruhestand, die ununterbrochene Reihe langweiliger Wochenenden. Fachinspektor Scherbler hatte noch immer das Lächeln im Gesicht, seit sie den Torposten gegrüßt hatte, es war wie eingefroren. Sie ging die Ringstraße hinauf in Richtung Schottentor. Sie sah die Telefonzelle, sah auch, daß jemand drinnen war und telefonierte, und wie immer bekam sie Herzklopfen vor Aufregung. Wie immer ärgerte sie sich darüber. So ging das nun schon vier Jahre. Vier Jahre. Damals lernte sie Miro kennen, Miroslaw Slobodim. Politischer Flüchtling aus Prag und Student für Welthandel an der Hochschule Wien. So sagte er, und anfangs hatte sie es auch geglaubt. Nicht lange allerdings, nur knapp zwei Monate. Dann ließ der schöne Miro die Hosen fallen. Nicht im wörtlichen Sinne - das war schon vorher geschehen -, gemeint ist damit im Jargon der Nachrichtendienste der Zeitpunkt der Deklarierung eines Agenten. Er deklarierte sich also: für den Weltfrieden, für den Sozialismus. Für den Weltfrieden müsse etwas getan werden. Jede Mitarbeit sei wichtig und jede Information. Margarete Scherbler erinnerte sich an seine glühenden Augen, seinen leidenschaftlichen Vortrag. Die geliebte Margareta, seine Margareta, sitze ja immerhin auf einem interessanten Posten bei der österreichischen Staatspolizei. Und natürlich schade ihre Mitarbeit keineswegs den österreichischen Interessen, ganz im Gegenteil. Nicht, daß er etwa von Margaretas Position schon vorher gewußt habe. Nicht, daß seine Liebe geheuchelt war. Sie müsse ihm vertrauen, ihm glauben. -126-
Margarete Scherbler hatte gelächelt und sein Temperament genossen. Geglaubt hatte sie ihm kein Wort. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, ihrem Chef zu beichten. Aber dann wäre das Büroverhältnis mit Hammerlang, damals zwar schon weniger leidenschaftlich, wahrscheinlich zu Ende gewesen. Und das Verhältnis mit Miro, damals noch sehr leidenschaftlich, wäre ganz sicher zu Ende gewesen. Ein solches Risiko einzugehen erschien ihr in dieser Phase ihres so eintönigen Lebens unzumutbar. Margarete Scherbler beobachtete feindselig den alten Mann in der Telefonzelle, der umständlich eine Münze einwarf und dann so langsam wählte, als ob er bei jeder Nummer ein mathematisches Problem lösen würde. Diese Telefonzelle war die einzige Verbindungsmöglichkeit zu Miro, die ihr geblieben war. Genauer gesagt war es das angekettete Telefonbuch dieser Telefonzelle. Sie rechnete: Heute war der dreiundzwanzigste Dezember 1975. Dreiundzwanzig und zwölf sind fünfunddreißig. Das Jahr 1975 hat die Quersumme zweiundzwanzig. Fünfunddreißig und zweiundzwanzig macht siebenundfünfzig. Auf Seite siebenundfünfzig dieses Telefonbuches hatte sie also heute nachzusehen. Wie sehr Margarete Scherbler diese Geheimdienst-Methoden verachtete! Was für ein Unsinn das war! Miro hätte im Büro anrufen können, wie jeder normale Mensch, hätte sagen können: »Hör zu Schatz, ich besuch' dich heute abend.« Aber nein, das ging ja nicht in der geheimdienstlichen Welt, die mußten immer um die Ecke denken. »Komm schon, alter Trottel«, murmelte Margarete Scherbler vor sich hin. Umständlich drehte sich der Alte endlich ins Freie. Seinen Hut hatte er liegengelassen. Er entschuldigte sich überschwenglich. Margarete Scherbler hatte jetzt rote Flecken am Hals. Seit drei Wochen hatte sie keine Nachricht von Miro. Drei Wochen lang hatte sie jeden Tag in dieser Telefonzelle nachgesehen. Was bildete sich dieser Kerl überhaupt ein? Sie warf einen Schilling in den Geldschlitz, tat so, als ob sie telefonierte und blätterte -127-
dabei im Telefonbuch. Seite 57. Rechts oben entdeckte sie in roter Schrift die Ziffer zweiundzwanzig. Gott sei Dank! Miro würde heute um zweiundzwanzig Uhr zu ihr kommen. Wäre ja noch schöner, wenn er sie die ganzen Feiertage über allein gelassen hätte. Jetzt hatte sie es eilig. Sie mußte noch einkaufen für ein Abendessen zu zweit.
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XVIII
Eine Fliege kroch über die Tischplatte. Mit einer Handbewegung wollte Bill sie verscheuchen, aber das Tier reagierte nicht. Langsam und ein wenig taumelig kroch es weiter. Fasziniert folgte Bill nun diesem schwarzen Punkt, der sich dem Aschenbecher näherte. Sicher war die Fliege schon so altersschwach, daß sie ihre Flügel nicht mehr gebrauchen konnte. Kurz vor dem Sterben. Bill blies Zigarettenrauch auf den schwarzen Punkt. Die Fliege blieb stehen, zitterte leicht mit den Flügeln, dann kroch sie weiter, schon mehr tot als lebendig. Wie alt werden Stubenfliegen? Sie mag seinen Freund noch gekannt haben. Vielleicht hatte sie Herbert geärgert, als sie noch jung und agil war, fröhlich vor seiner Nase herumsurrte und nicht zu fangen war. Jetzt war sie alt und schwach und wartete auf ihr Ende. Der Aschenbecher war ein unüberwindliches Hindernis, wieder blieb das Tier stehen. Bill nahm einen kräftigen Schluck. »Es geht mir wie der Fliege, ich weiß auch nicht, wie ich weiterkommen soll.« War es nicht ein Wahnsinn gewesen, sich hier auf den alten Job einzulassen? Aber was sonst hätte er tun sollen? Die Aussichtslosigkeit, die Sinnlosigkeit seiner Situation wurde ihm klar. Das Sinnlose seines ganzen Lebens stand ihm vor Augen. Was blieb ihm noch? Ein paar Jahre, dann würde er endgültig ein alter Mann sein. Am Ende, so wie die Fliege da. Alt und einsam. Was war noch zu erwarten? Krankheiten? Gebrechlichkeit? Langes Sitzen in Warteräumen von Ärzten? Es fiel ihm ein, daß er nicht sozialversichert war. Herberts Geld würde zu Ende gehen. Was dann? Bill schob den Aschenbecher zur Seite. Die Fliege bewegte sich nicht. »Dein Problem ist gelöst, Fliege, der Weg ist frei«, sagte Bill. Seine Stimme hing trostlos in dem -129-
rauchigen Raum. Er nahm wieder einen großen Schluck aus der Flasche. »Frohe Weihnachten, Fliege«, sagte er. Er zuckte heftig zusammen, als das Telefon läutete, und wurde im selben Moment wütend auf sich selbst, seiner schlechten Nerven wegen. Sein zorniges »Hallo« klang gar nicht weihnachtlich, und den Hörer hielt er nur widerwillig ans Ohr. Es war Maria Sommer. Sie übergab den kleinen Herbert, der sich artig für das Weihnachtsgeschenk bedankte. Es kostete Bill den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung, ein paar freundliche Worte zu sagen. Dann war wieder die Mutter am Apparat. Wie es ihm gehe, wollte sie wissen. »Großartig«, sagte Bill. »Ich sitze unter dem Weihnachtsbaum und feiere mit einem lieben Gast. « Er blies wieder Zigarettenrauch auf die Fliege. »Es geht Ihnen also schlecht«, hörte er Frau Maria sagen. »Sie sollten die Mitternachtsmette besuchen. Sie sollten versuchen, den Glauben wiederzufinden.« »Aber ich glaube doch, Schwester Maria, Schwester im Herrn.« Jetzt tat es ihm gut, diese Heilige beleidigen zu können. »Ich glaube an die Allmacht Gottes, an die Wirkung einer 7.65er und daran, daß ich bald besoffen sein werde. So wahr mir Gott helfe, Amen.« »Sie werden so enden wie Herbert«, hörte er diese traurige Stimme. »Gottes Wille geschehe«, höhnte er, es klang häßlich. »Amen«, er legte den Hörer auf. Die Fliege kroch jetzt in kleinen Kreisen auf der Tischplatte. »Erzähl mir was von Herbert, Fliege«, sagte er, »hat er diese heilige Schwester Maria wirklich geliebt? War sie immer schon so heilig? Warum hat er mir nie von ihr erzählt? Du weißt es doch, Fliege, du hast doch mit ihm hier gelebt. Sag's mir doch in der Fliegensprache, ich versteh' dich schon.« Er trank wieder. Der Whisky war jetzt -130-
warm. Glauben! dachte er. Wenn man das noch könnte! An einen Gott glauben und an einen Sinn des Lebens. Jetzt beneidete er diese Frau und schämte sich. Die Fliege stand jetzt still und rührte sich nicht. Von irgendwo hörte er Menschen singen, von der stillen, der heiligen Nacht. Es waren Kinderstimmen. Es fiel ihm ein, daß auch er als Kind immer singen mußte unter dem Lichterbaum. Vor der Bescherung. Er sah plötzlich all diese Kinderaugen, wie sie erwartungsvoll in die brennenden Kerzen blickten. Die Welt war voll von guten, lieben Kindern. Woher kamen nur all diese miesen, erwachsenen Menschen? Die Flasche war nun fast leer. »Zeit zum Schlafen, Fliege«, sagte Bill. Er berührte sie zart mit dem kleinen Finger. Sie fiel auf den Rücken, ein trockener, leichter, schwarzer Punkt. Sie war tot. Er trank den Rest der Flasche in einem Zug leer und fiel aufs Bett. Er hatte nur den einzigen, innigen Wunsch, nie wieder aufzuwachen. Seine wirren Träume glitten in wirre Gedanken. Das Telefon, es mußte schon seit einer Weile läuten. Wie sonderbar, er erkannte ihre Stimme in der ersten Sekunde. Auch er freue sich, sagte er. Ja, er sei wieder in Wien. Ja, das von Herbert sei sehr traurig. Von wo? Ah, von München telefoniere sie! »Natürlich müssen wir uns mal sehen«, sagte er und blies die tote Fliege vom Tisch. »Nach den Feiertagen, sehr gut«, sagte Bill. »Nein, er sei nicht krank, nur heiser. Ja, betrunken sei er, zugegeben. Aber nicht krank. Ebenfalls alles Liebe zu den Feiertagen. Ja, er sei immer telefonisch erreichbar, am sichersten morgens.« Wirklich sonderbar, daß er ihre Stimme sofort erkannt hatte. Es war die Stimme Sonja Tamara Beizins gewesen. Die Feiertage, den 25. und 26. Dezember, verbrachte Bill überwiegend in seinem grauen Bett. Die Bettwäsche war seit Herberts Zeiten noch immer nicht gewechselt. Wer hätte das -131-
auch tun sollen? Eine Haushälterin hatte sich nicht gemeldet, und Bill hatte andere Probleme als die um frische Bettwäsche. Christa war schließlich auch nie dagewesen. Wenn er mit ihr geschlafen hatte, dann immer in ihrer aufgeräumten, mädchenhaft sauberen Bude. Das hatte sich so ergeben. An diesen beiden Tagen stand er nur auf, um sein Glas zu füllen, eine Zigarette anzuzünden oder ein paar Brocken von einem Brotwecken abzubeißen. Oder aus anderen menschlichen Bedürfnissen. Er trank Wein, sein Vorrat war ausreichend, trotz der rapiden Zunahme der leeren Flaschen im Badezimmer. Der Brotwecken hingegen wurde kaum kleiner, nur trockener mit jeder Stunde. Bill trank und dachte nach, versuchte seine Situation zu analysieren und einen Weg zu finden. Es war schwierig, und wenn seine Gedanken sich verirrten, verknoteten, füllte er sein Glas erneut und begann von vorne, wie er es früher immer getan hatte. Es fiel ihm alles verdammt schwer. Aber, bevor man nicht klarsieht, wo man steht, soll man keine Schritte unternehmen. So hatte Rossmanek immer gesagt. Und, »es ist mit der Gedankenfabrik wie mit einem Webermeisterstück«, so hatte Goethe angeblich einmal gesagt. »Wo ein Schlag tausend Fäden regt, die Schifflein hinüber-, herüberschießen...« Nun, Bills Gedankenfabrik produzierte nur mühsam ein Webermeisterstück, und wie gesagt, er mußte immer wieder von vorne anfangen. Sonja Tamara Beizin. Seine Top-Agentin, sein Geschöpf, seine HauptEinnahmequelle, sein ganzer Stolz. Der Mensch, den zu formen er geglaubt hatte, zu modellieren, zu dirigieren. Jahrelang. Nun die Erkenntnis, daß alles nicht stimmte, alles ganz anders war. Eine Erkenntnis, die nicht bitter war, nur höchst erstaunlich. Und Rossmanek hatte alles gewußt, von Anfang an oder fast von Anfang an. Hatte mitgespielt, er wird seine Gründe gehabt haben. Das alles war zu verstehen, die abnormalen Gesetze von Geheimdiensten berücksichtigend. Und nun dieser Anruf. -132-
Sie war wieder da. Sicherlich von weit hergeholt. Warum? Was war ihre Aufgabe, was war im Gange? Das war eine der Stationen, an der Bills Fäden in seiner Gedankenfabrik sich zu verknoten begannen, das Webermeisterstück unordentliche Muster bekam, er wieder von vorne beginnen mußte. Manchmal schlief er ein, sein Gehirn lief dann weiter wie ein Motor, den man nicht abstellen konnte, seine Gedanken formten sich zu Träumen, diese wieder zu Gedanken, wenn er den brennenden Schmerz seiner abgebrannten Zigarette zwischen den Fingern verspürte. Am zweiten Tag wußte er, daß er verloren war, wenn er sich mit Sonja traf, ohne genau zu wissen, was zu tun war, wenn er aufgab. Er fühlte die Müdigkeit, den starken Wunsch, einfach alles laufenzulassen, stand auf, fluchte, schimpfte sich einen Schwächling. Plötzlich mußte er an Joan denken, mit der er schließlich nach dem Gesetz immer noch verheiratet war. Er mußte an seine Frau denken und an eine Szene, eine von vielen in den letzten fünf Jahren. Joan hatte ihn einen Schwächling genannt, wüst beschimpft, und letztlich war sie in ihrer Trunkenheit zu der Ansicht gelangt, eher wolle sie mit einem kriminellen Neger verheiratet sein als mit einem Schwächling. Das was zu einer Zeit, als er Joan nicht mehr ernst nehmen konnte, schon gar nicht, wenn sie getrunken hatte. Trotzdem schmerzte ihn dieser Vorwurf. Was war damals geschehen? Sein Kollege, der das Nachbargebiet in Brooklyn hatte, war zu ihm gekommen. Ein Italo-Amerikaner, den Bill eigentlich recht gut leiden mochte. Er hieß Roberto Ravalico. Roberto war in einer schlimmen Situation. Seine Frau schwanger, er geschlechtskrank, kein Geld im Haus, da brauchte er dringend jemanden, der für ihn ein paar Tage oder Wochen seinen Job in seinem Distrikt übernahm. Denn einfach sieben oder zehn Tage lautlos in einem Hospital zu verschwinden, war in diesem Beruf nicht drin, da war er seinen Job los. Roberto bat Bill, ihn zu vertreten. Ohne Aufsehen natürlich, gewissermaßen »out of -133-
records«. Für Bill war so was selbstverständlich gewesen. Nicht wegen des Glorienscheins, aber wer konnte wissen, ob nicht auch er einmal in so eine Sackgasse geraten würde. Immer gut, dann jemanden zu haben, der o. k. sagte und nicht lange herumredete. Joan war da anderer Ansicht. Sie meinte - und das war natürlich richtig -, wenn Bill hart gespielt hätte, wäre Roberto »out«, und für Bill wäre es eine echte Chance, zu seinem kleinen Distrikt unblutig das Nebengebiet Robertos zu bekommen. Das bedeutete zwar mehr Arbeit, aber auch mehr Geld. Weil er das nicht machte, aus Freundschaft zu einem Mann, dem er eigentlich nicht verpflichtet war, war er in Joans Augen ein Schwächling. Er hörte ihre kreischende Stimme: »Du Idiot, du hoffnungsloser Trottel, wer wird sich um dich kümmern, wenn du Schwierigkeiten hast, etwa dieser Makkaroni-Roberto mit seinen Bambini?« »Ja«, meinte Bill damals, das glaube er. Sicher war er natürlich nicht, im Gegenteil. Es wäre ihm gar nicht der Gedanke gekommen, Mr. Ravalico um eine Gefälligkeit dieser Art zu bitten. Immerhin, er hatte doch das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Was bedeuteten schon die paar Überstunden im Nachbardistrikt. Deswegen sollte er ein Schwächling sein? Oder etwa doch? Im harten amerikanischen Busineßdenken war das offenbar anders. Sonja Tamara Beizin! Am siebenundzwanzigsten Dezember 1975 um zehn Uhr vormittags wußte Bill, was er zu tun hatte. Er stand auf, rasierte sich und duschte eine halbe Stunde so heiß er es ertragen konnte. Dann ging er ins Kaffeehaus um die Ecke, um Zeitungen zu lesen. Unterwegs pfiff er eine Melodie aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi. In diesen kalten Tagen des beginnenden Jänner 1976 marschierte Bill Weiss oft stundenlang durch die windigen -134-
Straßen der Innenstadt, den Mantelkragen hochgestellt, ohne Hut. Er trug einen Ledermantel, der nicht sehr wärmte, weder Pelz- noch Innenfutter hatte, auch war es kein neuer Mantel, eher altmodisch im Schnitt und abgeschabt an Ellbogen und Taschen. Es war Herberts Mantel, um genau zu sein. Manchmal pfiff er sich eins durch die kälteklappernden Zähne, immer dieselbe Melodie, diese Arie von Verdi, fast unhörbar, denn seine Lippen waren starr vor Kälte, das Gesicht fleckig vom Frost. Zu anderen Zeiten hätten ihm die Leute nachgesehen, denn irgendwie sah er anders aus, anders als die anderen, und lag's nur am fehlenden Hut oder am altmodischen Mantel. Die Kälte zog bis in die Knochen, und die Menschen hatten es eilig, in die warmen Stuben zu kommen, blieben nicht stehen und drehten sich nicht um. Es war gleich nach den Weihnachtsfeiertagen gewesen. Bill war in die Zentrale der Hypo-Bank gegangen und zielstrebig auf ein Tresorfach mit der Nummer 1529 zugesteuert, hatte aufgesperrt und eine Ledermappe herausgenommen. Im Tresorraum hatte er sich an ein Tischchen gesetzt, den Inhalt der Tasche kurz überprüft. Dann hatte er die Tasche wieder im Tresorfach versperrt, war in die Kälte hinausgegangen, aber ohne zu pfeifen, weil sein Mund, sein ganzes Gesicht ein einziges erstarrtes Grinsen war. Mit dem Tresorfachschlüssel mit der eingestanzten Nummer 1529 spielte er in der Manteltasche. Es war der Schlüssel aus Herberts Plastikmappe, die er von Maria bekommen hatte, und den Weg zum dazugehörigen Bankfach zu finden war keine kriminalistische Meisterleistung gewesen. Der Name der Bank war ebenfalls angegeben, unterhalb der Nummer. Observation ist auch so ein Modewort für eine organisierte, vertrauliche Beobachtung. Zu Bills nachrichtendienstlicher Glanzzeit war der Ausdruck zwar schon geläufig, in Österreich sagte man damals aber noch anders, abschmieren zum Beispiel -135-
oder ausspechteln. (Was sich von spähen ableitet.) Solche Observanten nun hätten sich in diesen Tagen oft gegenseitig in die Augen gesehen und bedeutungsvoll an die Schläfen getippt, wäre Bill Weiss das Objekt ihrer Tätigkeit gewesen. Aber das war nicht der Fall. Bill war nach seinen Kreuz- und Quermärschen durch Wiens Innenstadt ganz sicher, daß er »keinen Schwanz hatte«, mit anderen Worten, daß ihm niemand folgte. Das beruhigte ihn und paßte auch genau zu seinen Überlegungen. In der Tat, das bedeutungsvolle Schläfentippen wäre angebracht gewesen, denn wie ein normaler Mensch verhielt sich dieser Bill Weiss nicht. So kam es häufig vor, daß er von den frostklirrenden Straßen in eine der nächsten Kneipen stürmte, unvorhergesehen, doch nicht unmotiviert œ denn fünfzehn Grad minus sind schon Grund genug -, behaglich das stickige aber warme Luftgemisch aus Zigarettenrauch, Rumdunst und Gulaschsuppengeruch inhalierte und dabei glückselig dreinsah, dann aber, nach heißem Tee und doppeltem Rum, in der Einsamkeit einer Männertoilette händewaschend und vor dem Wandspiegel, minutenlang düstere Monologe hielt: »Das Spiel ist aus, Bill Weiss. Ein Mann muß wissen, wann Schluß ist. Verstehe, in diese Welt passe ich nicht mehr. Ein Leben ohne Sinn ist nicht wert, gelebt zu werden.« Sein Gesicht hatte dann den Ausdruck eines manisch Depressiven nach drei mißglückten dilettantischen Selbstmordversuchen. Doch wenn er dann beim Zahlen mit der Kellnerin scherzte, war schwer vorstellbar, daß es sich dabei um denselben Menschen handelte, der noch vor Minuten beim Anblick seines Spiegelbildes vor der Pißrinne derart düstere Gedanken ausplauderte. Doch, wie schon gesagt, niemand beobachtete auch nur Bills Gehabe in diesen ungemütlichen Jännertagen des Jahres 1976. Er hatte Zwinker-Erich wieder getroffen, seinen alten Schulfreund, der das Paket Papier, es waren weitere Übersetzungen von Rossmaneks Stenografien, lustlos besah. -136-
Bills Gesicht war grau und müde wie das eines Menschen, den nichts mehr interessieren konnte. Und das sagte er auch seinem alten Freund. »Weißt du, ich hab' einen Fehler gemacht. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, und wem nützt das schon, wenn ich herauskriege, warum mein Freund abgemurkst worden ist. Wem nützt das schon? Herbert wird nicht lebendig davon, und mir hilft es auch nicht. Herr Wirt, noch zwei doppelte Rum! Versteh' mich, Erich, in hab' keine Kinder, meine Frau hat mich verlassen, das Leben hat keinen Sinn mehr für mich.« Ängstlich flatterten Erich Kilians Augen, er sah das Geschäft seines Lebens gefährdet. »Bist du total vertrottelt...«, warf er ein, aber Bill ließ sich nicht unterbrechen: »Schau, wir haben uns schon als Kinder gekannt. Ein Mann muß wissen, wann der Gong zur letzten Runde schlägt. So sagt man drüben, in den Staaten. Schau Erich, ich bin hier nicht mehr zu Hause, und drüben war ich's nie.« Erich zwinkerte. Natürlich waren die Gläser schon wieder leer. »Herr Wirt, noch zwei Doppelte! Versteh' mich richtig, Erich, du bist mein ältester Freund, der einzige Mensch, den ich noch habe.« Die Stimme schwankte. »Du wolltest mir helfen, diesen alten Kram da«, er bewegte seinen Ellenbogen in Richtung der Papiere, »diesen alten Dreck hast du entziffert. Was kommt heraus? Wen interessiert das noch? Mich nicht mehr, mich interessiert überhaupt nichts mehr!« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Aber dein Schaden soll's nicht sein, hier« - er legte fünf Tausender auf den Tisch -, »das bin ich dir schuldig, will niemandem was schuldig bleiben, solange ich lebe. Herr Wirt.« Handbewegung zu seinem leeren Glas. Zwinker-Erichs Glas war noch unberührt, und das war ungewohnt. »Ja, ja, Erich, Alter, ich versteh' dich schon. Du hast gearbeitet für mich, jetzt ist's plötzlich aus, ich versteh' dich schon. Schau, mehr Geld kann ich dir nicht geben! Was mit dem Rest der Stenogramme gesehen soll? - Ha, schmeiß sie weg! Du meinst schade? Nicht für mich, bei mir ist der Ofen aus. Die -137-
Codeverzeichnisse?« Kichernd fischte Bill ein Notizbuch Rossmaneks aus der Hosentasche. Es war das mit den Codewörtern. Das andere mit den Klarnamen behielt er. »Hier, hatte ich schon vergessen. Wen interessiert das noch? Du mußt wissen, bei mir ist Sense, ich mach' Schluß, früher oder später. Eher früher. Schluß mit dem Leben. Herr Wirt!« Lässig steckte Kilian das Notizbuch ein, seine Augen zwinkerten unaufhörlich. »Schon gut, Willi, schon gut«, sagte er beschwichtigend. Was für ein Scheißkerl er ist, dachte er. Sein Freund stirbt, seine Alte rennt ihm davon. Und das schmeißt ihn gleich um, diesen Schwächling. Der große, starke Willi Weiss. Alkohol verträgt er auch nicht. Wie er nur aussah, ein Wrack, ein Selbstmordkandidat. »Ich geh' jetzt, Alter«, sagte er. »Nimm's nicht tragisch, das sind Stimmungen, ich kenn' das auch. Das geht vorüber. Ich muß mich nach was anderem umsehen, wenn bei dir nichts mehr zu verdienen ist.« Bills lahmes Protestieren half nichts. Zwinker-Erich ging, das Notizbuch in der Hosentasche, auch die Übersetzungen hatte er wieder eingesteckt. Womöglich sollte er noch Mitleid haben mit Willi Weiss, dem großartigen Willi, dem Fußballstar und Frauenhelden. Soweit käme es noch! Wer hatte Mitleid mit ihm, all die Jahre? »Servus«, sagte er, es klang wie ein Gnadenschuß. Bill sah ihm nach. Er grinste.
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XIX
Bill hatte sich bald Klarheit verschafft, Klarheit über das Archiv. Denn die Papiere im Banksafe waren nicht stenografiert, waren keine Geheimschrift in Gabelsberger-Russisch. Es waren sauber getippte Schreibmaschinenseiten und Fotokopien von Akten. Bei diesen Fotokopien lag ein Begleitschreiben. Bill ersah daraus, daß ein Herr Oflazian aus Beirut seinem »alten Freund Rossmanek« die sogenannten »Venedig Papiere zur Kenntnis und entsprechender Auswertung« übermittelt hatte. Bill verstand. Oflazian, das war der Name, nach dem ihn Polizeirat Hammerlang gleich zu Beginn gefragt hatte. Der Brief war zwei Jahre alt, Bill las weiter: Nach Ansicht des Schreibers waren diese Dokumente »der erste Beweis dafür, daß alle linken Terroristenorganisationen das Resultat eines Langfristprogrammes des KGB und zentral gesteuert waren.« Die Schreibmaschinenseiten waren Rossmaneks Auswertung. »Nur ein Exemplar, kein Durchschlag«, las Bill links oben auf der ersten Seite. Dann folgten Namenlisten, Legenden, Querverbindungen, rekonstruierte Lebensläufe, Adressen, Anlaufstellen, Kurierwege, Bankverbindungen. Eine irrsinnige Arbeit mußte das gewesen sein, dachte Bill. Einhundertvierzig Seiten Auswertung, Resultat jahrelanger Recherchen. Darum also ging es. Das war das Zeug, hinter dem die Herren Geheimdienstler so fanatisch her waren. So hektisch und brutal, daß Menschenleben dabei offenbar keine Rolle spielten. Die stenografierten Tagebuchaufzeichnungen des alten Rossmanek waren ganz was anderes. Von seinem Freund Herbert irgendwie ins Spiel gebracht, um abzulenken. Eine falsche Fährte legen, das sah Herbert ähnlich. Es entsprach ganz seiner Cleverness. Die Welt sah plötzlich anders aus für Bill White, alias Wilhelm Weiss. Er mußte an Zwinker-Kilian denken und daran, daß sein alter Schulfreund wahrscheinlich schon ein toter Mann -139-
war. Aber daran war nichts mehr zu ändern. Schließlich ist jedem das Hemd näher als der Rock. Der angekündigte Telefonanruf von Sonja kam wie erwartet in aller Frühe. Bill war gerade beim Zähneputzen. »Für einige Tage, vielleicht auch für zwei Wochen«, so sagte sie, werde sie in Wien bleiben. Ja, sie sei beruflich hier, sie werde alles ausführlich erzählen, wenn er Zeit habe, sie zu treffen. Sie verabredeten sich für den gleichen Abend im Café Douglas, ein Lokal, das sie beide von früher kannten. Café Douglas in der Wollzeile ist eines der wenigen AltWiener Kaffeehäuser, die von den erbarmungslosen Machenschaften der Versicherungen und Banken verschont geblieben sind. Es war schon dunkel, als Bill ankam, die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet. Die großen Fensterscheiben des Kaffeehauses waren hell erleuchtet, und man sah die zeitungslesenden Gäste von der Straße aus, die Kellnerin hatte noch keine Zeit gefunden, die Vorhänge zuzuziehen. Neugierig sah Bill durch die Scheiben, immerhin hatte er Sonja mehr als zehn Jahre nicht gesehen. Er erkannte sie sofort, noch von der Straße aus. Sie schien ihm kaum verändert, aber ihr Gesichtsausdruck war ihm neu und ungewohnt. Sie starrte in eine Zeitung, aber man merkte, daß sie nicht las, merkwürdig starr und abwesend war dieses Gesicht, und eine Sekunde lang erinnerte sich Bill an diese haschischsüchtigen jungen Menschen Brooklyns. Es war sonderbar, denn nichts Gegensätzlicheres gab es als einen langhaarigen BluejeansHippie, der »high« oder »on Trip« war und die ehemalige Komsomolzin Sonja Tamara Beizin. Bill kannte natürlich ihr Alter, sie war jetzt achtunddreißig. Diese Frau war schwer zu schätzen, man hätte sie für wesentlich jünger, aber auch für vierzig halten können. Sie hatte aschblondes, streng zurückgekämmtes Haar, hellgraue, harte Augen, betonte Backenknochen, einen breiten vollen Mund und makellose Zähne. Sie trug ein graues Kostüm, eine Pelzjacke hing über -140-
dem Sessel. Eleganter als früher, dachte Bill, vielleicht auch eine Spur fülliger als vor zehn Jahren. »Servus Genossin«, sagte Bill, und es sollte unbefangen klingen, so wie früher. Sie stand auf und küßte seine Wangen. »Grüß dich, du grauer Schuft«, sagte sie. So wie früher. Sie saßen sich gegenüber und lächelten sich zu. »Gut siehst du aus«, sagte er. »Ein bißchen fetter, aber viel mehr sexy. Und was seh' ich denn da, sogar Lippenstift und Lidschatten? Du verrottete Komsomolzin, hat man das jetzt im Fünfjahresplan? Und dein Kleid ist teurer als dreihundert Arbeitskittel für die Genossinnen der Traktorfabrik in Wischinorschow. Bist du abtrünnig geworden, eine Renegatin?« Sie lachte. »Mies siehst du aus«, sagte sie. »Versoffen und verhurt. Drei Jahre Zwangsarbeit in Sibirien würden dir guttun. Die frische Luft der Tundra und körperliche Arbeit! Gibt es keine Sonne in New York? Lebst du in einem Kellerloch?« Sie beschlossen, essen zu gehen. »Ich kenne deine Verachtung für Mao Tse Tung und die Schlitzaugen«, grinste er. »Aber wie wäre es mit dem China-Restaurant, fünf Minuten von hier?« Sie stimmte zu unter der Bedingung, daß sie nicht mit Stäbchen essen müsse. Stäbchen gab es keine, sondern Messer und Gabel, das einzig chinesisch anmutende war ein roter Papierlampion, der über dem Tisch hing. Sein Schimmer verwandelte sogar Bills aschgraues Gesicht zu Bronze. Haifischflossen, Reis und »sweet and sour pork« wurden bestellt und statt Reiswein Gumpoldskirchner. Schließlich war auch der Kellner kein Schlitzauge, sondern sprach Vorstadtdialekt. »Wie war das mit Herbert«, fragte Sonja unvermittelt. Bill zog die Schultern hoch, als müßte er einen Angriff abwehren. »Ich weiß nicht mehr, als in den Zeitungen stand. Nicht viel mehr. Aber wie war das mit dir«, fragte er, erklär mir, Genossin, wieso wir hier jetzt sitzen.« Bill schien ernst und mißtrauisch. Sonjas Erklärung war kurz, schlüssig und einleuchtend. Vor zwei Jahren sei sie wieder zur -141-
Botschaft nach Wien versetzt worden, in die Wirtschaftsabteilung. Zu ihren Aufgaben gehöre die Betreuung der Aeroflot und Intourist-Reisebüros. Deshalb arbeite sie meist in den Büros in Frankfurt und München. In Wien habe sie eine kleine Wohnung, erwähnte sie beiläufig. Sie habe Herbert in Wien getroffen, »aber nur privat, nicht so wie früher, du verstehst«. Seit einem halben Jahr habe sie Herbert nicht mehr gesehen, aus den Zeitungen habe sie von seiner Ermordung erfahren. Sie hatte das Gefühl, daß er Willi, nun vielleicht in Wien auftauchen könnte. Deshalb ihr Anruf in der Wohnung Herberts. »Ihr wart doch früher wie Brüder«, sagte sie und legte die Hand auf seinen Unterarm. »Mein Gott, auf was hatte Herbert sich da eingelassen. Konnte er nicht endlich aufhören mit dem Job, so wie du?« Sie hatte tatsächlich feuchte Augen. »Der Teufel weiß, was er da laufen hatte, der alte Scheich«, sagte Bill düster. Er bestellte eine neue Flasche und fragte sich, ob er diese Geschichte ohne Kenntnis von Rossmaneks Notizbüchern geglaubt hätte. Was er jetzt so vorhabe, tun werde, wollte Sonja wissen. Herbert habe ihr erzählt, die Ehe in Brooklyn sei nicht gerade bestens gewesen. Zurück in die Staaten gehe er nicht mehr, das komme nicht in Frage. Bill hatte nun diesen düsteren Gesichtsausdruck, wie bei seinen depressiven Selbstgesprächen vor den Spiegeln der Männerklos. »Am liebsten würde ich zu Herbert gehen, wo immer er jetzt ist«, murmelte er kaum vernehmbar und starrte in sein Weinglas. »Sag doch so was nicht, Willi. Das Leben geht doch weiter.« Ihre Stimme klang besorgt. Sie drückte seinen Unterarm. »Willi, halt mir doch einen deiner berühmten Monologe über Marxismus und so. Wie früher, weißt du noch, wie wir gelacht haben?« Bill rührte sich nicht, starrte weiter in sein Glas. »Mein Gott, erinnere dich, was haben wir getrunken und gelacht, wie glücklich waren wir. Das Leben war ein einziger Spaß! Was ist -142-
denn aus dir geworden, du bist doch derselbe Mensch!« Bill erinnerte sich. Aber da war Rossmaneks Notizbuch in seiner Tasche. Und Herbert war tot. Trotzdem war es Zeit einzulenken. »Jesus, haben wir gelacht, früher, erinnerst du dich...«Es gab tausend Dinge, an die sie sich erinnerten. Eine Geschichte forderte die andere heraus. Sie wurden fröhlicher, lauter, betrunkener... »... Lenin hat gesagt«, dozierte sie. »Lenin hat viel geredet«, sagte er. »Christus hat auch viel geredet und Goethe auch. Meine Tante Mitzi auch. Nur hat das niemand aufgeschrieben, was meine Mitzi-Tante geredet hat. Als Anwalt meiner Tante stelle ich die Behauptung auf, daß ihr leider verlustig gewordenes Redepotential für die Menschheit ebenso bedeutsam hätte sein können wie das Lenins oder Maos. Oder Travnitscheks.« »Kennst du Travnitschek?« fragte er. Die Genossin kannte keinen Travnitschek. »Wie schade«, meinte Willi und sah todernst in sein Weinglas. Von Travnitschek wollte Sonja nichts wissen. »Erzähl mir von den Philosophen, Willi. Deine Geschichten über Philosophie, ich hab' mich immer halb totgelacht. Erinnerst du dich? Erzähl' mir von Hegel und Feuerbach.« Sie konnte bitten wie ein Kind um eine GuteNacht-Geschichte. Hegel und Feuerbach waren Clowns gegen Travnitschek, murrte Bill, aber langsam kam er in Fahrt: »Als geschulte Kommunistin ist dir doch die Hegelianische Theorie nicht unbekannt?« Die Genossin nickte überheblich. »Stimmt es also, daß Hegels Theorie die Grundlage der bei den Kommunisten so geschätzten Diskussion bildet? These, Antithese, Synthese. Also: Man behauptet etwas, These. Man behauptet das Gegenteil, Antithese. Man zieht die Schlüsse aus diesen Behauptungen, diskutiert sie und findet das Gemeinsame, die Synthese. Und das ist der Weisheit letzter -143-
Schluß: das Falsche wurde eliminiert, das Richtige konzentriert. Das weise Resultat ist gefunden. Es wird ins Parteiprogramm aufgenommen. Stimmt das Genossin, oder nicht?« Die Genossin witterte eine Falle und zögerte. »Es stimmt«, sagte sie schließlich. Und sie fände das auch ganz logisch und in Ordnung. »Natürlich simplifizierst du alles, du dummes Kapitalistenschwein.« Bill fand, daß es sein Recht sei, weiterhin zu simplifizieren. »Ich stelle also ein Thema auf«, sagte Bill, »hör zu: Biertrinker sind gute, gemütliche Menschen. These. Fußballspieler sind ebenfalls gute, wenn auch nicht immer gemütliche Menschen. Antithese. Biertrinkende Fußballer sind also ganz großartige Menschen. Synthese.« Sie lachte und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Wein schwappte über, andere Gäste sahen auf. »Du Volltrottel«, sagte sie laut. »Früher warst du besser. Komm, noch was, etwas Politisches.« Er war jetzt richtig in Fahrt. »Preußen sind bekannt als stur befehlsgewohnte Stiefelabsatzknaller, ohne Sinn für Humor und Schönheiten des Lebens. These. Kommunisten sind finster blickende Doktrinäre mit geballten Arbeiterfäusten, sie verachten jeden, der am Tag nicht zehn Stunden robotet und nachher die Internationale singt. Antithese. Preußische Kommunisten also können nur Typen sein, finster blickend und absatzknallend, die sonntags mit Hammer und Sichel Spazierengehen und den nächsten Arbeitstag mit Sonderschicht zum Jahrestag der kubanischen Befreiung nicht erwarten können. Die Geschichte der DDR. Synthese.« Früher sei er besser gewesen, meinte sie. Außerdem sei er ein hoffnungsloser Zyniker und nicht ernst zu nehmen. »Was sagt die kommunistische Grundschule über Zyniker?« wollte er wissen. -144-
Das brachte sie wieder zu ganz ernsthaftem Nachdenken. »In der Sowjetunion gibt es keine Zyniker«, sagte sie schließlich. Bill lachte scheußlich laut, die Fliegen vom Plafond suchten andere Schlafstätten, die Gäste blickten indigniert, der Kellner kam mit der Rechnung und fragte, ob noch etwas gewünscht werde. »Komm, gehen wir ins Bett«, sagte er plötzlich, so wie früher. Sonja kicherte. »Zu dir oder zu mir?« So wie früher. »Zu dir, meine Bude ist voll von toten Fliegen.« Es war eine Kleinwohnung in der Reisnerstraße. Bill ging zuerst in die Küche und sah sich um, er fühlte sich plötzlich nüchtern. Trotzdem warf er seine Schuhe in eine Ecke, dann Rock und Hose. Im Kühlschrank fand er zwei Flaschen Wein, doch er rührte sie nicht an. Er suchte Sonja im Wohnzimmer, doch sie war nicht da. Sein Hemd fiel zu Boden und seine Krawatte, dann die Socken und die Unterwäsche. Er suchte ein Radio, aber es gab keines, auch keinen Fernseher. Überhaupt fand er die Wohnung ziemlich unpersönlich, nicht so, als ob sie seit zwei Jahren von derselben Person bewohnt würde. Wieder fragte er sich, ob ihm dies ohne Rossmaneks Notizbuch aufgefallen wäre. Sonja war im Schlafzimmer. Dort war es dunkel, und erwartungsgemäß spürte er ihre Hände an seinem Körper. Es erregte ihn wenig, plötzlich hatte er tausend Gedanken im Kopf. Er mußte an seinen toten Freund denken, an die Zeit, als er Sonja kennengelernt hatte und an den sonderbaren Zufall, daß sie jetzt wieder bei ihm war. An den alten Rossmanek, an seine Notizbücher, sogar an Joan in Brooklyn. Und jedes Thema für sich hätte ausgereicht, einen Mann in dieser Situation impotent zu machen. Dann hörte er sie auch noch flüstern: »Du bist alt geworden, Bill.« Er war alt geworden. Ihre streichelnden Hände interessierten ihn plötzlich nicht mehr. Er spürte das irrsinnige Verlangen, sich zu betrinken, und seine Gedanken glitten magisch zu den zwei -145-
Weinflaschen im Kühlschrank. Er war alt geworden, na und? Sollte er es bestreiten, sich schämen? Ein Mann ist so alt, wie er sich fühlt. Gut, er fühlte sich wie hundertzwanzig, aber das schloß nicht aus, daß er trinken wollte. Es stand jetzt nur zur Frage, ob er gleich aufstehen und zum Kühlschrank gehen oder noch ein wenig warten, auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen sollte. Das zärtliche und so hoffnungslose Streicheln ihrer Hände hörte nicht auf und wurde jede Sekunde unangenehmer. Schließlich stand er auf. Das Geräusch des Entkorkens war wie ein Schuß, der ihn aufschrecken ließ. Er setzte sich an den kleinen Küchentisch, nackt wie er war, trank das Glas in einem Zuge leer und füllte es wieder. Die fast volle Flasche vor sich, fühlte er sich wieder ruhiger, sicherer. Alt oder nicht, niemand bleibt verschont davon, nur früher Tod kann einen davor bewahren. Er trank, und Sonja war weit weg. Die Küchenuhr tickte leise, der Kühlschrank schaltete sich automatisch ein und surrte. Er hörte, wie sich Sonja im Schlafzimmer eine Zigarette anzündete. Staunend sah er seine rechte Hand an, die eine brennende Zigarette hielt, die zweite schon. Wann hatte er nur die erste geraucht? Vom Aschenbecher stieg noch leichter Rauch auf, feenhaft. Er hörte das Trappen ihrer nackten Füße, sah ihr schönes Lächeln, sie setzte sich ihm gegenüber. Sie war immer noch attraktiv, daran gab es keinen Zweifel. Mit großer Befriedigung stellte er jedoch fest, daß ihre Brüste nicht mehr so hoch waren, wie er sie in Erinnerung hatte. Schenkel und Po waren in Ordnung, was die Maße betraf. Aber die Haut darüber war doch anders als vor zehn Jahren. Die vielen kleinen Fältchen an den Oberschenkeln und ein bißchen darüber hätten einen fünfundzwanzigjährigen, heißblütigen Liebhaber weder gestört, noch hätte er sie bemerkt. Nun, stören taten sie auch Bill nicht, aber sie fielen ihm auf, und auch das erfüllte ihn irgendwie mit Genugtuung. Der Gedanke an ihre nicht mehr jugendliche Haut -146-
beruhigte ihn und ließ ihm seine Speckfalten an den Hüften nicht mehr so wichtig erscheinen. Er hatte ohnehin Gewicht verloren in den letzten zwei Monaten. Er öffnete die zweite Flasche und füllte die Gläser. Er wollte sich wenigstens die Illusion erhalten, daß alles war wie vor zehn Jahren. Und sie tranken das Glas und ein zweites, saßen sich nackt gegenüber und lächelten einander zu. Als die Flasche leer war, waren die letzten zehn Jahre vergessen, und alles war so wie früher. Bill lag auf dem zerwühlten Bett, rauchte seine Long-Filter und grinste böse. Sonja war im Badezimmer, er hörte das Rauschen der Dusche und erinnerte sich an Einzelheiten aus der Vergangenheit. Es war wirklich fast alles wie früher, reinlich war sie schon immer gewesen, diese Sonja, und immer mußte sie danach ausgiebig duschen.
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XX
Oberst Fedor Kalinin durchblätterte die Seiten alter Akten. Das Papier war leicht vergilbt, die Blätter zerlesen. »Sonja, mein Täubchen, versuche dich zu erinnern«, sagte er, »wie erfolgten damals Übergabe und Rückgabe des Materials?« Sonja legte die Stirn in Falten. »Das wechselte von Zeit zu Zeit. Es geschah immer in der Mittagspause. Ich ging mit den Akten in der Handtasche meist in den Resselpark und setzte mich auf eine bestimmte Bank. Einer vom Doppel kam oder saß schon dort. Ich ging nach einer Weile weg und ließ die Handtasche stehen. Die Rückgabe erfolgte auf dieselbe Weise. Es gab eine zweite Handtasche, die genauso aussah wie meine, verstehst du? Wenn ich ging, hatte ich die andere Tasche. Auch der Inhalt war fast der gleiche. Das war Willis Idee, er hatte die beiden Taschen gekauft, solide Lederhandtaschen. Eine davon habe ich immer noch, zu Hause. Hier sind sie ja aus der Mode. Natürlich wechselte der Treffort im Verlauf des Jahres. Im Winter war es die U-Bahn-Haltestelle Stadtpark. Auch wenn es regnete. Nach genau vierzig Minuten erfolgte die Rückgabe, beziehungsweise die Taschen wechselten wieder. Vierzig Minuten waren nicht viel Zeit. Oft war das Material zu umfangreich, und sie konnten nicht alles in der kurzen Zeit fotografieren. Aber ich hatte Auftrag, zur Eile zu treiben. Genosse Wolkow meinte, die beiden würden sonst mißtrauisch.« »Sehr gescheit von Genosse Wolkow«, murmelte Fedor, »warst du unter Beobachtung von unseren Leuten?« »Nur zu Beginn, der Genosse meinte...« »Tschort, jobt woje matj«, Fedor fluchte. »Wolkow meinte, das wäre auf die Dauer zu auffällig. Und wir wußten doch, das Doppel arbeitete allein. Und sie waren doch in Eile beim Fotografieren.« -148-
»Ja, ja.« Sonja kannte ihren Fedor, sie konnte sich aber seine plötzliche schlechte Laune nicht erklären. »Sonja«, sagte er, »denk genau nach, bist du immer nach der Rückgabe sofort in die Botschaft gegangen?« »Ja, ja, ich glaube.« »Du glaubst es nur? Was heißt das, du glaubst es? Ist es möglich, daß du einmal zuerst in einen Eisladen gegangen bist?« Fedor warf einen Blick auf einen maschinengeschriebenen Brief, der auf dem Schreibtisch neben den alten Akten lag. »Am 29. Juni 1960. Bist du an diesem Tag in einen Eisladen gegangen, der Pisani heißt? Und bist du anschließend noch einkaufen gegangen? Kann das stimmen?« »Wie soll ich mich nach all den Jahren erinnern, wann ich ein Eis gegessen habe«, protestierte Sonja, »das ist doch absurd.« Aber sie war plötzlich verunsichert. »Möglich ist das schon, Fedor«, meinte sie zögernd. »Ich ging oft Eis essen zu Pisani. Wolkow hätte nichts dagegen gehabt.« »Tschort! Der Teufel soll ihn in der Luft zerreißen. Und dich dazu.« Oberst Kalinin klappte den Aktendeckel zu, schlug wütend mit der Faust auf das alte Papier. »Keinen Verstand, dieser Idiot. So was war Chef der Operation. Jetzt haben wir die Misere.« Sonja blickte erschrocken. Fedor kochte vor Wut. Ihre Augen begegneten sich. »Na ja, Täubchen«, murrte er nach einer Weile, »du kannst nichts dafür, du warst nicht verantwortlich für die Operation.« Er drückte eine Zigarette aus, zündete die nächste an und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sonja konnte seine Erregung spüren. Sie hörte, wie er immer noch in sich hineinfluchte. »Ich versteh' das alles nicht«, begann sie zögernd, »das ist doch alles lang vorbei.« »Weil du keinen Verstand hast, Sonjuschka. Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff. Die Desinformatija hat jahrelang den Gegner irregeführt, in einer ganz bestimmten -149-
Sache. Ein wichtiger Kanal war deine Verbindung mit dem Doppel. Jetzt müssen wir damit rechnen, daß die Amischweine seit 1960 davon wußten. Das ändert die Situation total. Das hat Konsequenzen.« Kalinin blieb stehen. »Beim Satan, das hat fast unglaubliche Konsequenzen«, er stöhnte es fast. »Und alles nur, weil du blöde Gans ein Eis schlecken gehen mußt, anstatt sofort in die Botschaft zurückzukehren.« Es war ruhig im Zimmer, Fedor ging auf und ab und rauchte. Einige Minuten vergingen. »Tut mir leid, Fedor«, Sonjas Stimme klang traurig. »Wie kommst du mit Bill Weiss voran?« fragte der Oberst. »Ganz gut. Du hast ja meine Berichte gelesen. Ich bin sicher, er weiß nichts von den Dingen, die du mir sagst. Er ist auch ganz uninteressiert an einer neuen arbeitsmäßigen Verbindung. Ich sagte ihm, ich arbeite für den Chef der Wirtschaftsabteilung, aber er fragte nicht einmal nach seinem Namen. Er redete nur von der Vergangenheit und seinem toten Freund. Ich glaube, alles andere interessiert ihn nicht sonderlich.« Zu Sonjas Erleichterung nickte Fedor fast zustimmend. »Das kann leicht sein«, meinte er nachdenklich, seine Stimme war wieder ruhig. »In Ordnung, Sonja, mach keinen Fehler. Du kannst jetzt gehen.« Als der Oberst allein im Zimmer war, kickte er den Papierkorb durch den halben Raum und fluchte wieder. Dann drückte er auf einen Knopf der Sprechanlage, und Genosse Iwanow meldete sich. »Was Neues mit Postfach neunhundertzwanzig?«, fragte der Oberst. »Gemietet vor drei Wochen von Robert Siglitz, Meidlinger Hauptstraße sechsundfünfzig. Name und Adresse sind falsch«, krächzte es im Kasten. »Überwachen Sie das Postfach rund um die Uhr. Ich muß wissen, wer Siglitz ist. Und das bald?«
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XXI
Im »Grünen Papagei« in Wiens erstem Bezirk gingen die Geschäfte nur flau. In dieser bitterkalten Jännernacht waren die Menschen von ihren Öfen kaum wegzubringen. Die Zeitungen schrieben vom kältesten Jänner seit dreißig Jahren. Die Straßen waren vom eisigen Wind leergefegt, und es hätte einen kaum überrascht, plötzlich einem Rudel Eisbären zu begegnen. Nur zwei Huren waren im »Grünen Papagei«. Abgesehen von der Chefin und dem Barmädchen. Die beiden Profis standen an der Theke und tranken Glühwein, sie hatten ihre Pelzmäntel nicht ausgezogen. In einer Ecke saßen zwei Zuhälter beim Kartenspiel. Die Chefin, Frau Sedlacek, eine fette Gulaschblonde undefinierbaren Alters, hielt einen Vortrag über die Unverschämtheit des Finanzamtes und unterstrich ihre Absicht, für 1974 einen Dreck nachzuzahlen. Es war eher ein Selbstgespräch, denn die beiden in den Pelzmänteln unterhielten sich miteinander über einen gewissen Tinos, der einen Friseurladen eröffnet hatte. Das Barmädchen putzte ein Glas, sie hauchte es immer wieder an und hielt es gegen das Licht, schon seit fünf Minuten. Sie sah aus wie ein Bauerntrampel, dem untalentierte Kosmetiker alle Farben der Welt ins Gesicht geschmiert hatten. Der »Grüne Papagei« ist ein Kellerlokal. In guten Zeiten, etwa wenn der Bauernbund in Wien tagt oder die Gewerkschaft der Metallarbeiter oder in der internationalen Katholikenwoche, hat Frau Sedlacek keine Sorgen. Dabei ist der »Grüne Papagei« durchaus kein Puff. Wien ist eine Stadt ohne Bordelle. Wien hat den Gassenstrich, schon seit Kaisers Zeiten. Und seine Strichmädchen. Die wenigsten kennen heute noch den Ursprung dieses Wortes. In der Kaiserzeit waren die Sitten streng und die Gunstgewerblerinnen in bestimmte Straßen verbannt, dort -151-
wiederum hatte jede ihren bestimmten Rayon. Um Streitigkeiten zu vermeiden, markierte die Sittenpolizei diese Rayons mit Strichen am Gehsteig. Pipsi und Susi gingen damals also nur innerhalb dieser Striche am Gehsteig auf Kundenfang, eine Rayonsüberschreitung brachte Schwierigkeiten mit der Obrigkeit. »Die Dame geht auf den Strich«, sagen die Leute heute noch, wenn sie Hurerei vornehm ausdrücken wollen. Die gute alte Ordnung in der Monarchie aber haben sie vergessen. Der »Grüne Papagei« ist also kein Bordell, aber da die kaiserliche Rayonseinteilung der guten alten Zeit gelockert wurde, die Strich-zu-Strich-Regelung der allgemeinen Modernisierung zum Opfer fiel, ist der »Grüne Papagei« eines der vielen kleinen Lokale, in denen man »sich trifft«. Irgendwo muß man sich ja treffen. Und gleich daneben im Hotel »Zur Spinne« vermietet ein händeaufhaltender Nachtportier Zimmer für ein, zwei oder drei Stunden. Wenn der Gast unbedingt will, auch für eine ganze Nacht. Aber das kommt selten vor. Frau Sedlacek unterbrach sofort ihren Vortrag, als sie den Professor die Stiegen herunterkommen sah. Sie boxte das bunte Barmädchen in die Rippen, um ein Haar wäre dabei das Glas zu Boden gefallen. Sie hob beide Hände und rief hysterisch: »Professor, Professor, welch Glanz in meiner Hütte.« Man konnte in ihrem geschminkten Mund Goldplomben blinken sehen. »Eine Runde Sekt für alle aufs Haus.« Der Professor lächelte geschmeichelt. Er war ein dünnes Männchen mit dicker Brille, aber teuer angezogen. Er trug einen Veloursmantel mit Pelzkragen. Die beiden Huren pfiffen unverzüglich auf Tinos und den neueröffneten Frisierladen und schälten den Professor aus dem teuren Mantel. Wilma, das Barmädchen, entkorkte eine Flasche Sekt, und auch die beiden Zuhälter zeigten plötzlich zufriedene Gesichter. Der Professor war noch nie kleinlich gewesen im »Grünen Papagei.« Der so Gefeierte lächelte geschmeichelt und kletterte auf einen Barhocker. Die beiden Profis hatten flugs die Pelzmäntel ausgezogen und sich auf -152-
Tuchfühlung gesetzt. Der Sektkorken knallte. »Heute wird gefeiert, Kinder«, sagte der Professor. Er zwinkerte vergnügt und ununterbrochen. Tatsächlich, man mußte zweimal hinsehen, um Zwinker-Kilian wiederzuerkennen. Die größte Veränderung aber, die mit Zwinker-Erich in den letzten Wochen geschehen war, konnte man nicht von außen sehen. Als Genosse Erich Kilian, ehemals Dolmetscher und Offizier der Roten Armee und Träger des Leninordens am Roten Band, den an sich selbst adressierten Briefumschlag mit zittrigen Händen aufgerissen und die fünfzig blauen Scheine gesehen hatte, in dieser Sekunde war er ein anderer Mensch geworden. Der andere Mensch entwickelte Ideen und Energien, die man jenem alten, verkommenen Subjekt niemals zugetraut hätte. Nur: Trinken, ja, das tat der neue Mensch auch. Doch die Wirkung war eine andere. Die tagelangen, depressiven Zustände hatten ein Ende. Er war auf dem Wege, ein Erfolgsmensch zu werden. Einer jener Erfolgsmenschen, die er im Leben stets verachtet und gleichzeitig beneidet hatte. Er würde es ihnen zeigen. Macht und Geld würde er haben, viel, viel mehr Geld als diese fünfzig blauen Scheine, denn das war nur der Anfang. Herrisch winkte er seinen Sekt von der Bar, nickte der fetten Sedlacek zu und erhielt seinen doppelten Cognac. Napoleon VSOP, sie kannte ja seine Gewohnheiten. Musik wollte er hören, aber nicht diese nervtötende Popmusik, ordentliche Musik, klar! Die Sedlacek warf eine Münze in die Musikbox. Klar, alles für den Professor. Ein anspruchsvoller Kunde, aber einer, der ordentlich zahlte. Aus dem Lautsprecher ertönte Gildas Arie aus Rigoletto, Erich nickte der Sedlacek zu wie ein zufriedener Herrscher seinem Sklaven. Die beiden Zuhälter kamen zur Theke und fragten höflich, ob sie Gesellschaft leisten dürften. Sie waren wirklich höflich und sagten tatsächlich »Gesellschaft leisten«. Alle sahen Erich auf den Mund, er war der Boß, er hatte hier zu bestimmen. Zwei Gläser für meine -153-
Freunde hier, sagte er, und jeder zeigte Beifall und Zustimmung. Eine Zwiebelsuppe wollte Erich, wollte sonst noch jemand Zwiebelsuppe? Alle wollten, und die Sedlacek ging in die Küche. Dann redete man über Politik, über das verdammte ÖlEmbargo, die steigenden Benzinpreise, und alles schimpfte durcheinander. Was des Professors Meinung dazu wäre, wollte einer der beiden Strolche wissen. Zwinker-Erich nahm die Brille ab, und es wurde still um ihn herum. »Ein Kreuzzug«, sagte er, »das ist die Lösung. Unsere Vorfahren hatten noch Blut in den Adern. Ein Kreuzzug im zwanzigsten Jahrhundert! Ein paar Fallschirmregimenter setzen sich auf die Ölfelder. Scheich Abu bekommt hundert Kamele und seinen Harem, und: ab mit dem Scheich, in die Wüste mit ihm!« Bravo, schrie die Sedlacek und brachte die Suppe, und alle redeten wirr durcheinander. Die Zuhälter nickten sich zu, Leute wie der Professor gehörten in die Regierung oder in die UNO. Des Professors politische Ambitionen aber waren im Augenblick erschöpft. Er knöpfte der molligen zu seiner Linken die Bluse auf und erklärte, so schmecke ihm die Suppe besser. Das Mädel zu seiner Rechten knöpfte selber auf und fühlte sich versetzt. Kilian mochte sie wirklich weniger. Er wußte, sie war sehr behaart an Bauch und Schenkeln, und glatte Haut war ihm lieber. So war die Situation, als das Telefon läutete und die Sedlacek abhob, dann »Ruhe« brüllte und sagte: »Für Sie, Professor.« Es war Bill Weiss. »Ich hab' deinen Zettel an der Tür gefunden«, sagte Bill. »Was willst du denn mitten in der Nacht?« Er fluchte vor sich hin. »Ich hab' mit dir zu reden«, schrie Kilian ins Telefon, da die Musik so laut war, »hab' dich den ganzen Tag gesucht.« Es sei gemütlich im »Papagei«, meinte er, und ob Bill nicht vorbeikommen wolle. »Es ist wichtig für mich, und dir kann eine Aufheiterung nicht schaden, alter Schulfreund.« Erich sagte tatsächlich Schulfreund, er wußte, wie Bill zu nehmen war. Bill zögerte anfangs, ließ sich schließlich doch überreden. »Nimm -154-
ein Taxi«, schrie Zwinker-Erich, »auf meine Kosten, Alter!« Eine halbe Stunde später kam Bill herein mit hochgestelltem Mantelkragen und schimpfte über die Kälte. »Ein feiner Pinkel bist du geworden«, meinte er und deutete auf Erichs eleganten Anzug. »Und gemütlich hast du's hier«, grinste Bill und deutete auf die nackten Brüste der beiden Huren. Er möge aufhören, höfliche Konversation zu machen und was trinken, sagte der Professor im Befehlston und dann laut: »Mein Schulfreund.« Alle nickten ein herzliches Willkommen, die Sedlacek und das angeschmierte Bauernmädel, die Zuhälter und die beiden Huren, und die nackten Brüste wackelten. Bill bekam einen Cognac und eine Zwiebelsuppe. Eilig schien es Zwinker-Erich nicht zu haben. Er sorgte nur dafür, daß Bills Glas ständig nachgefüllt wurde und stellte befriedigt fest, daß dies sehr oft geschah. Erst nach etwa einer Stunde legte er seinen Arm um Bills Schulter und fragte ganz sachlich: »Gehen wir hinauf mit den zwei Hasen?« Er deutete auf eine Wendeltreppe im Hintergrund, die zu einem Samtvorhang führte. Dahinter lagen zwei kleine Räume mit je einem Bett und einer Stehlampe mit rotem Schirm. Kilian wußte das, er war hier zu Hause. Bill wußte es nicht, aber er konnte es sich vorstellen. Er sah versonnen den Huren auf die Brustwarzen, dann seinem Schulfreund in die Augen. »Was soll das, Erich?« fragte er, »deswegen suchst du mich den ganzen Tag und steckst mir einen Zettel an die Tür?« »Also gut«, zwinkerte Kilian, »reden wir hier.« Er machte eine Kopfbewegung zu dem Tisch, an dem die Zuhälter noch vor einer Stunde Karten gespielt hatten. Sie setzten sich in diese Ecke, und beide waren plötzlich sehr nüchtern. Die Weiber protestierten. »Es dauert nicht lange«, schrie Kilian, und sie sollten das Maul halten, wenn Männer geschäftlich zu reden hätten. Die Zuhälter spitzten die Ohren, verstanden aber nichts, denn der Professor und sein Schulfreund unterhielten sich sehr leise. »Du Schwein hast mich reingelegt«, flüsterte Erich. »Es gibt ein zweites Notizbuch von Rossmanek, und du hast es. Du -155-
glaubst, der alte Kilian ist total verblödet vom Suff. Was hast du überhaupt vor?« »Ich?« fragte Bill. »Du Hurensohn! Du hast mir gesagt, die Rossmanek-Papiere interessieren dich nicht mehr. Du lügst, du spielst irgendein dreckiges Spielchen mit mir. Du hast meine Übersetzungen gelesen. Du weißt, was in den Papieren steht. Deinen Freund hat man deswegen umgebracht. »Ja«, sagte Bill. Kilian schob seine rechte Hand in die Rocktasche. »Was stimmt also jetzt. Bist du noch im Geschäft, interessiert dich das Zeug oder nicht?« »Es interessiert mich nicht«, sagte Bill. »Und wieso nicht?« Das war so laut, daß die Zuhälter es hören konnten. Das Barmädchen Wilma erzählte kichernd, daß ihr der Pfarrer immer unter den Kittel gegriffen habe. Die Profis unterhielten sich wieder über Tinos neuen Friseursalon. Die Zuhälter würfelten um irgend etwas, Frau Sedlacek sah zu und kratzte sich am Po. »Weil ich bald sterben werde«, sagte Bill. Er klopfte sich auf die Brust. »Krebs«, sagte er. »Noch drei bis fünf Monate.« Kilian zwinkerte. »Dann gib mir das zweite Notizbuch«, stieß er heraus. Doch gleich korrigierte er sich. »Verdammt, tut mir leid für dich, hab's nicht so gemeint. Vielleicht ist's nicht so schlimm. Die Ärzte heutzutage, diese Medizinaltrottel, die glauben doch gleich immer...« »Du kriegst dein Notizbuch«, sagte Bill. »Wenn ich es finde. Irgendwo muß es sein. Ich suche es für dich,« »Entschuldige Alter«, zwinkerte Kilian. »Schon gut, trinken wir noch einen.« Bill hustete zum Gotterbarmen. »Und sei vorsichtig, wenn du weitermachen willst. Denk an meinen Freund.« -156-
Vertrauen gegen Vertrauen. Erich Kilian zog seinen Arm aus der Rocktasche. »Ich bin vorsichtig«, flüsterte er. In seiner Hand lag eine Smith & Wesson, Kaliber 9 mm. Nur eine Sekunde. Dann war das dunkle Eisen wieder in der Rocktasche verschwunden. Trotzdem, es sah ziemlich neu aus, dachte Bill. »Paß auf dich auf«, sagte er. Sie gingen zurück an die Theke und tranken weiter. »Können wir jetzt mit den Herren übers Geschäft reden«, sagte die eine Hure, die mit den Haaren am Bauch. »Ruf mich morgen abends an«, sagte Bill zu seinem Freund. »Ich werde nachsehen wegen des zweiten Notizbuches. Hab' schon eine Ahnung, wo es sein könnte. Morgen abend geb' ich dir Bescheid. Natürlich kannst du es haben. Mich interessiert's nicht mehr.« »Versprochen?« Erich schien ängstlich. Bill nickte. »So gegen zehn«, sagte er, »ruf mich abends so gegen zehn an.« Der Professor bestellte noch eine Runde. »Was ist denn heute, nur Saufen?« wollte die andere Hure wissen, die mit der glatten Haut. Zwinker Erich legte seinen Arm um sie. »Na?« sagte er zu Bill. »Letztes Angebot, eine der beiden Damen auf meine Rechnung oder auch beide, mit Mengenrabatt. Überleg dir's, Alter, so kurz vor dem Sterben.« Alle lachten. Es mußte ein großer Spaß gewesen sein. Sie füllten ihre Gläser und prosteten sich zu. Als erster hörte Zwinker-Erich auf zu lachen. Er drehte sich und wollte noch was zu Bill sagen, doch der war weg. Ein kühler Luftzug von der Eingangstür bestätigte ihm, daß Bill gegangen war. Zurück blieben die Zweifel. War das ernst gewesen mit der Krankheit, mit dem Lungenkrebs? War es ein Trick? Am liebsten wäre er seinem Freund auf die Straße gefolgt. Aber wozu? Morgen abend würde er es ja sehen. Das zweite Notizbuch, er mußte es haben. Morgen abend würde sich alles entscheiden. Es war spät. Er nahm die eine Hure an der Hand und ging mit ihr zur Wendeltreppe. Es war die mit der glatten Haut. Margarete Scherbler war sehr erfreut, als sie Mr. Edward -157-
Cooper bei ihrem Chef anmelden durfte. Mr. Cooper war immerhin dritter Sekretär der US-Botschaft in Wien und kam meist, anders als heute, nach telefonischer Anmeldung. Dieser unverhoffte Besuch bedeutete für sie zweierlei: erstens würde sie mindestens eine Stunde lang ihre Ruhe haben, denn so lange plauderten die beiden Herren für gewöhnlich miteinander. Dann aber, und das war für Margarete Scherbler weit wichtiger, würde Miro wieder einmal sehr nett und aufmerksam zu ihr sein, dessen war sie ganz sicher. Denn Miro war immer sehr interessiert und erfreut, wenn er von den Besuchen Mr. Coopers beim Polizeirat hörte. Alles wollte er dann genau wissen: Beginn und Dauer der Unterredung, Art und Weise der Begrüßung und Verabschiedung, ob förmlich, freundlich oder herzlich. Natürlich auch, und das in erster Linie, WORÜBER gesprochen wurde. Das aber wußte Margarete Scherbler nicht. Schließlich saß sie nicht dabei, und Hammerlang diktierte auch keine Aktenvermerke im Anschluß an das Gespräch. Sehr betrüblich für Miro. Blieb noch zu berichten, ob Mr. Cooper eine Aktenmappe bei sich hatte oder nicht, und die Antwort war stets die gleiche, nein, Mr. Cooper trug keine Aktenmappe. Er trug auch diesmal keine. Wie immer begrüßten sich die beiden unter der raschelnden Polstertüre, gaben sich die Hände, und Margarete Scherbler dachte, was sie wohl diesmal Miro antworten würde auf die Frage, ob sie sich »förmlich, freundlich oder herzlich« begrüßt hatten. Sie entschied sich für freundlich. So war es wohl auch. Hammerlang bestellte anschließend Kaffee, und Margarete Scherbler goß den beiden Herren die Tassen voll und dachte an Miro und sein enttäuschtes Gesicht, denn die beiden Herren schimpften nur über das Wetter und sprachen in ihrer Anwesenheit von nichts anderem. Das änderte sich schlagartig, nachdem Margarete Scherbler das Chefzimmer verlassen und die Polstertüre geschlossen hatte. -158-
Polizeirat Hammerlangs Gesichtsausdruck wurde vorwurfsvoll bis drohend, als er mit eingestreuten Flüchen zu erkennen gab, daß er den Besuch des Herrn Botschaftssekretärs schon viel früher, spätestens vor einer Woche, erwartet habe. »Sie kochen lange Ihre eigene Suppe«, sagte er wörtlich, »aber auslöffeln muß ich sie schließlich. Und das nennt sich dann befreundeter Dienst. Solche Verbündete nützen mir nichts.« Hammerlang konnte sehr direkt sein, wenn er zornig war. Mr. Cooper, der ein druckreifes Deutsch sprach, blieb ruhig. Immerhin habe er dem österreichischen befreundeten Dienst den vollständigen Oflazian-Akt übermittelt, meinte er. Und in der Zwischenzeit sei nichts passiert, und zaubern könne er auch nicht. Hammerlang nickte bei der Erwähnung des Oflazian-Aktes. »Ich kann keine weiteren Leichen in Wien brauchen«, knurrte er bösartig. »Der Präsident sitzt mir im Genick, und ich sage nur eines: Die Herren Agenten sollen sich irgendwo anders umbringen, aber nicht in Österreich und schon gar nicht in Wien. Befreundete Dienste hin und her, macht euere schmutzige Arbeit woanders, aber nicht bei uns, sonst ist es aus mit der Freundschaft.« Danach war ihm leichter. Mr. Cooper zog einen Notizblock aus der Brusttasche. Er sei befugt, die letzten Erkenntnisse seines Dienstes bekanntzugeben. Hammerlang lehnte sich zurück, er meinte, es wäre höchste Zeit, aber er fluchte nicht mehr. Ausgehend von dem Oflazian-Akt berichtete nun Mr. Cooper sachlich vorerst Dinge, die Hammerlang ohnehin schon wußte: Der Armenier Jussuf Oflazian war während des zweiten Weltkrieges SS-Sturmbannführer unter dem Namen Josef Offenbach und hatte im Reichsicherheitshauptamt VI E mit Hauptquartier in Budapest gearbeitet. Zuständigkeitsbereich waren der Nahe Osten und die Balkanländer. Noch vor Ende des Krieges war er untergetaucht, hatte seinen Namen geändert, Verbindung zu den westlichen Alliierten aufgenommen und sich gleich nach Kriegsende in Wien etabliert. Schon damals stand er mit Rossmanek in nachrichtendienstlicher Verbindung. Später -159-
ging er nach Beirut, unterhielt dort eine Art privaten Nachrichtendienst und verdiente damit Millionen. Die Verbindung Rossmanek - Oflazian hatte bis zum Tode der beiden, sie waren im selben Jahre gestorben, weiterbestanden. John Berger, ein Australier und eine Art Adoptivsohn von Oflazian, hatte dessen privaten Nachrichtendienst übernommen. Dies passierte etwa zur selben Zeit, als nach dem Tode Rossmaneks der Österreicher Herbert Winkler einen Schrebergarten mit Holzhütte und Bibliothek und auch sonst noch einiges geerbt hatte. »Auch das Archiv?« unterbrach Hammerlang brutal, und erhielt eine klare Antwort. Jawohl, auch das Archiv Rossmaneks. »Aber bitte unterbrechen Sie mich nicht«, knurrte nun auch Mr. Cooper bissig, »ich verlier' sonst den Faden.« »Wollte nur wissen, ob dieses Archiv wirklich existiert.« Hammerlangs Laune schien sich zu bessern. Dieser Adoptivsohn Oflazians, John Berger, sei an sich kein Professional gewesen, kein gelernter Nachrichtendienstler. Seine Frau und Tochter seien 1973 in Athen Opfer einer palästinensischen Flugzeugentführung und eines Geiseldramas geworden. Daraufhin habe dieser John Berger durchgedreht und aus persönlicher Rache mehrere palästinensische Terroristenführer abgemurkst. »Auf ziemlich grausame Art«, setzte Mr. Cooper fort. »Er war der sogenannte Sprechpuppenmörder von 1973. Sie erinnern sich sicherlich, er wurde nie gefunden. Kunststück, der alte Oflazian hielt seine schützende Hand über ihn.« »Ich erinnere mich«, sagte Hammerlang, er dachte an das Telefonat mit Chef Inspektor Marcel Trudeau aus Paris. Es sei ja inzwischen bekannt und sozusagen ein alter Hut, setzte Mr. Cooper fort, daß dieser Sprechpuppenmörder John Berger der Tote in Herbert Winklers Kofferraum gewesen war. »Nach unseren Erkenntnissen«, sagte Mr. Cooper und hob seine Stimme leicht, wie um zu demonstrieren, daß jetzt etwas Neues -160-
käme, »nach unseren letzten Erkenntnissen war der Tod John Bergers hier in Wien eine Art Betriebsunfall. Berger und Winkler hatten sich nie gesehen. Berger war der Meinung, er könne das Rossmanek-Archiv im kurzen Wege kassieren, er wußte aus dem Schriftverkehr zwischen Rossmanek und Oflazian, wo er das Archiv zu suchen hatte. So flog er mit zwei libanesischen Bodyguards nach Wien und versuchte sein Glück in der Schrebergartenhütte Rossmaneks. Dort aber saß Ihr Herbert Winkler und dachte berechtigterweise an einen Überfall. Er war schneller mit der Pistole.« »Er war nicht mein Herbert Winkler«, sagte Hammerlang böse, »er war Rossmaneks Herbert Winkler.« »Schon gut, schon gut«, die Besitzverhältnisse gingen ihn nichts an, den Edward Cooper. »Die Namen der beiden Libanesen waren Mustapha Haloumi und Ben Taky.« Zum ersten Mal machte sich Hammerlang Notizen, er schrieb sich die beiden Namen auf. »Nicht der Rede wert«, hörte er Mr. Cooper sagen. »Die beiden erschossen Herbert Winkler in der Postgasse zwei Tage nach dem Tode ihres Chefs. Eine Art Blutrache, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sie versuchten dann auch noch, an das Archiv heranzukommen, und überfielen Bill Weiss, den Freund Herbert Winklers. Das dürfte schiefgegangen sein, der alte Bill Weiss muß sich kräftig gewehrt haben. Nach unseren Erkenntnissen sind die beiden Libanesen am übernächsten Tag in Beirut eingetroffen und haben sich dort in ärztliche Behandlung begeben. Ohne Archiv. Es sind zwei Dummköpfe, Gewalttäter ohne Hirn und unfähig, das Oflazian-Unternehmen weiterzuführen. Der Oflazian-Nachrichtendienst ist tot, er hat aufgehört zu existieren, spätestens zum Zeitpunkt dieses Betriebsunfalles, dem Tode John Bergers.« Die Sprechanlage schnurrte, die Sekretärin Margarete Scherbler wollte wissen, ob sie noch Kaffee bringen sollte. »Nein«, bellte Hammerlang wütend in den kleinen Kasten. -161-
Immer diese Wichtigtuereien seiner Sekretärin. Es war noch genug Kaffee da, wenn auch inzwischen kalt geworden. Mr. Cooper lehnte sich zurück, und man sah ihm an, daß er es schwer hatte. »Bitte seien Sie nicht ungehalten«, leitete er ein, »aber verstehen Sie doch unsere Situation. Ich bin erst jetzt befugt, Ihnen davon Mitteilung zu machen. Der ermordete Herbert Winkler hatte mit uns Verbindung aufgenommen, vier Wochen vor seinem Tod. Er hat uns das Archiv angeboten. Wir waren bereit, es zu kaufen.« Es war ganz ruhig im Zimmer. »Befreundeter Dienst« war alles, was Hammerlang sagte. Es klang, als ob er in eine Ecke spucken würde. Dann stand er auf und ging im Zimmer auf und ab. Mr. Cooper wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Es kommt noch schlimmer«, sagte er dann ruhig. Hammerlang ging immer noch auf und ab, seine großen Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt. Sein Gesicht war das eines Totschlägers fünf Sekunden vor der Tat. Cooper sah verbissen drein. Er war entschlossen, kein Wort mehr zu sagen, bis sich dieser lange, ungehobelte Lackel wieder setzen würde. Ein hin und her rennender Stier war für ihn kein geeigneter Gesprächspartner. Schließlich ließ sich der Polizeirat in den Polstersessel fallen, es krachte, als ob ein Baum gefällt würde. »Noch schlimmer!« Hohn und Trauer lagen in diesen Worten. »Ganz richtig, noch schlimmer.« Mr. Cooper war nun sehr sachlich, und seine weiteren Ausführungen hatten den Tenor einer Vorlesung: Die sowjetische Konkurrenz habe aus bisher noch unbekannten Quellen von dem geplanten Geschäft mit dem Archiv Kenntnis erlangt. Cooper sagte »sowjetische Konkurrenz«, nicht »die Iwans« wie üblich, nicht einmal simpel »der KGB«, er sagte »sowjetische Konkurrenz«. Hammerlang grinste, doch Cooper war kein bißchen irritiert. »Der Zeitpunkt, zu dem die Russen von der geplanten Transaktion Wind bekamen, ist ebenfalls noch ungeklärt. Er mag kurz vor dem Mord oder auch erst danach liegen. Jedenfalls schickten sie Graf Sednitzky auf die Bühne. Ob um zu -162-
verwirren, zu verniedlichen oder um Zeit zu gewinnen, ist unbekannt. Jedenfalls«, in Coopers Stimme lag ein schüchterner Versuch, warm und herzlich zu klingen, »jedenfalls danken wir Ihnen sehr für Ihre ausgezeichnete Arbeit hinsichtlich der raschen Klärung der Rolle Sednitzkys.« Der Polizeirat sagte nichts, und hastig setzte Cooper fort, als ob er einen beleidigenden Einwurf fürchtete. »Oberst Fedor Kalinin ist seit sechs Wochen in Wien. Er kann nur Operationschef in der Archiv-Sache sein, mit dem Ziel, das Archiv noch vor uns in die Hand zu bekommen. Kalinin ist ein Spitzen-Agent der Iwans; wenn Moskau einen Fedor Kalinin hierherschickt, ist dies ein Beweis der Wichtigkeit der Sache. Kalinin ist einer der ersten Anwärter auf den Chefposten der Europäischen Sektion im KGB.« Hammerlang kaute an seinen Fingernägeln. »Zwei Fragen«, sagte er dann. Cooper setzte sich gerade. »Erstens, was beinhaltet das Archiv? Was macht das Zeug so wichtig?« Mr. Cooper hob hilflos beide Hände: »Wie kann ich das wissen, wir haben es ja nicht.« Der Polizeirat wurde wieder böse wie ein Kettenhund. »Wenn Sie es hätten, säßen Sie ja auch nicht hier, Sie wollen ja was von mir. Aber Sie halten mich nicht für einen Idioten. Wenn Sie das Archiv kaufen wollten, muß es wichtig sein. Und Sie kaufen schließlich nicht etwas, wovon Sie keine Ahnung haben. Also?« Cooper zog die Schultern hoch. »Darüber kann ich nicht reden, meine Befugnisse sind begrenzt. Ich kann nur versichern, daß es keine österreichischen Interessen berührt. Seien Sie bitte nicht ungehalten.« »Ungehalten?« Hammerlang wiederholte dieses Wort. »Wenn es nach mir ginge«, sagte er, »wenn es nach mir ginge, wäre dies das Ende unserer Beziehungen. Das Ende unserer befreundeten Dienste.« -163-
Er seufzte. Cooper schien erleichtert. Es geht aber nicht nach dir, dachte er fröhlich. Nicht umsonst hatte der US-Botschafter vorgestern den Außenminister privat besucht. Auch der Herr Innenminister war eingeladen, auf höflichen Wunsch des Herrn Botschafters. Es geht nicht allein nach dir, du langer Holzfäller. Sie sahen sich jetzt in die Augen. Beide dachten dasselbe. »Vielleicht kann ich Ihre zweite Frage zufriedenstellender beantworten«, meinte Cooper sachlich. Hammerlang zündete eine Zigarette an. »Wo befindet sich dieses Archiv jetzt. Hat Wilhelm Weiss es?« Eine Tausend-Dollar-Quizfrage, meinte Cooper. Und wenn er das wüßte, säße er nicht hier. »Herbert Winkler«, sagte er, »war sehr vorsichtig. Er schickte uns ein paar Auszüge des Archives, Grund genug für uns, es kaufen zu wollen. Er gab uns keine Hinweise darauf, wo er es aufbewahrt hatte. Für uns war das damals auch nicht wichtig, wir wollten einfach nur kaufen. Niemand konnte die Entwicklung voraussehen. Aber dieser Bill Weiss, sein Freund, wohnt jetzt in seiner Wohnung und hat alles geerbt. Und er ist ein Profi. Wenn jemand dieses Archiv findet, dann er. Vielleicht hat er es schon gefunden. Er steht mit Ihnen, Herr Polizeirat, in Verbindung. Deshalb bin ich hier.« »Der Kaufpreis?« fragte Hammerlang. »Sehr hoch«, sagte Cooper nur. Wieder war Stille im Raum. »In anderen Worten«, sagte Hammerlang, »in anderen Worten und zusammengefaßt, Sie wollen etwas von mir. Sie wollen, daß ich von Bill Weiss herauskriege, ob er das Archiv hat und wo es ist. Gehe ich richtig in dieser Annahme?« Mr. Cooper bestätigte höflich die Richtigkeit dieses Schlusses. Unter der raschelnden Polstertür zum Vorzimmer verabschiedeten sie sich, Margarete Scherbler half dem dritten
Sekretär der US-Botschaft in den Mantel. »Förmlich«, dachte
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sie, »förmlich« würde sie ihrem Miro berichten. »Sehr förmlich hatten sich die beiden Herren verabschiedet.« Im Aufzug traf Mr. Cooper den Kriminalinspektor Prokesch, von dem er wußte, daß er Hammerlangs bester Mann war. Die beiden nickten sich zu und sahen dann aneinander vorbei. Cooper wußte auch, daß Inspektor Prokesch von einem seiner Leute monatlich fünftausend Schilling erhielt, und das schon seit vielen Jahren, schon seit der Zeit, als dieser ehemalige Vorgesetzte in Pension ging und den Prokesch gewissermaßen »übergab«. Und bei Gott und dem amerikanischen Präsidenten, der Prokesch war sein Geld wert. Warum bezahlten sie Österreicher ihre Leute auch nicht besser? Prokesch kannte Cooper vom Sehen und wußte, daß er eine große Nummer im Ami-Dienst war, gesprochen hatten sie noch nie miteinander. Sie sahen aneinander vorbei, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Lift das Erdgeschoß erreichte. Mr. Cooper stieg in seinen Chevrolet mit Klimaanlage und dem CD Kennzeichen. Der Fahrer wartete. Inspektor Prokesch ging zu Fuß in die Kälte hinaus, stülpte den Mantelkragen hoch und ging Richtung Schottentor. Er ging in diese Telefonzelle, in der er in den letzten Monaten so oft war. Seit ihm nicht in den Schädel wollte, daß die Sekretärin seines Chefs nach Dienstschluß immer hier telefonierte, wo sie es vom Büro aus doch viel bequemer hatte. Inspektor Prokesch telefonierte jedoch nicht, er blätterte nur aufmerksam im Telefonbuch. Eine ganze Weile. Dann ging er Richtung Votivkirche, in ein Espresso, wo ihn bereits der alte Hansl Beier erwartete. Hansl Beier war Pensionist, genauer gesagt, pensionierter Kriminalbeamter und ehemaliger Chef des um zwanzig Jahre jüngeren Prokesch. Er war jetzt siebenundsechzig, benahm sich aber umständlich wie ein Achtzigjähriger. Als er seinen früheren Untergebenen Prokesch kommen sah, grinste er erfreut, und die tausend Falten in seinem Gesicht formten sich zu einer einzigen Aussage seiner vierzigjährigen Kriminaldienstzeit. Niemand -165-
hätte ihn in diesem Augenblick für senil gehalten. Die zweitausend Schilling, die ihm Prokesch aus einem Paket von fünf Tausendern in die Hand drückte, steckte er lässig in seine Westentasche. Dann tranken beide ein Bier und murmelten sich etwas zu, das niemand verstehen konnte. In seinem Büro fand Mr. Cooper zwei Notizen vor, die ihm seine Sekretärin getippt und auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es war fünf Minuten nach Büroschluß, und Mr. Cooper ärgerte sich wieder einmal über die Pünktlichkeit seiner Sekretärin beim Weggehen. Morgens, beim Dienstantritt, war sie bei weitem nicht so akkurat. Er las, daß um fünfzehn Uhr der Botschafter angefragt habe, ob sich Mr. Cooper zum Wochenende einem Ausflug nach Saalfelden zum Skifahren anschließen wolle. Er bitte um umgehende Nachricht. Das freute Edward Cooper, denn diese Gelegenheiten waren günstig, mit dem Botschafter Dinge zu besprechen, die sich im reinen Dienstverkehr schwer bereden ließen. Außerdem war Edward Cooper ein begeisterter Skifahrer, und die Aussicht auf ein Wochenende in den Bergen war verlockend. Dann las Cooper eine Mitteilung der Telefonzentrale: Um fünfzehn Uhr zwanzig hatte ein Mann angerufen, der für den zuständigen Referenten in einer »Transaktion Herbert Winkler« eine Nachricht habe. Der Mann werde sich wieder melden. Cooper drückte eine Sprechtaste auf seinem Schreibtisch und ließ sich das Tonband dieses Telefonanrufes bringen. Er spielte es dreimal ab, in seinen Polstersessel zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Sein Kopf hatte den konzentriert-verzückten Ausdruck eines Musikliebhabers beim Anhören seiner Lieblingssonate. Melodien aber waren nicht zu hören. Statt dessen das dreimalige Schnurren des Telefons, das Klick des Abhebens und die Stimme der Telefonistin im Switch-Board: »Botschaft der Vereinigten Staaten von Nordamerika.« Dann eine ruhige Männerstimme in leicht österreichisch gefärbtem Deutsch: -166-
»Guten Tag Fräulein. Bitte unterbrechen Sie mich nicht. Ich habe eine Nachricht für den zuständigen Mann in der HerbertWinkler-Transaktion. Die Nachricht lautet: Ich bin im Besitz der Ware und bereit, sie Ihnen zu denselben Bedingungen zu verkaufen, die mit Herbert Winkler abgemacht waren. Ich rufe morgen oder übermorgen wieder an und werde nur sagen: hier spricht Herbert Winkler. Ihr zuständiges Referat soll sich bereithalten. Das ist alles. Guten Tag Fräulein.« Klick. Edward Cooper holte ein paarmal tief Luft. Dann ließ er sich mit der Sekretärin des Botschafters verbinden. Er bedauere sehr, sagte er, ein Wochenende in den Bergen wäre gerade das Richtige für ihn gewesen. Aber er könne aus dienstlichen Gründen die Botschaft während der nächsten achtundvierzig Stunden nicht verlassen.
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XXII
Er pfiff die Melodie des Gefangenenchors aus Nabucco, gedankenverloren und manchmal auch falsch, und sein Plan gefiel ihm zunehmend besser, obwohl er so abenteuerlich und verrückt war. Vielleicht auch gerade deshalb. Er informierte sich eingehend über Krebskrankheiten, las medizinische Fachzeitschriften und fragte sich, woran wohl die vielen Millionen Menschen gestorben waren, bevor kluge Doktoren den Krebs entdeckt oder erfunden hatten. Zu Millionen waren sie gestorben in früheren Generationen, ausgerechnet seine Generation machte ein solches Geschrei um diese Art von Tod, den Krebstod. Und nach reiflicher Überlegung beschloß er, an Krebs zu leiden. Es gab viele Möglichkeiten. Als starker Raucher entschloß er sich nach kurzem Überlegen für einen Lungenkrebs. Der Primararzt runzelte die Stirn, als ihm Bill seine Beschwerden vortrug. Danach erhielt Bill einen Überweisungsschein zu einem Röntgenologen, einen zweiten für einen Lungenfacharzt und eine Rechnung über 900 Schilling. Die Rechnung bezahlte er in bar, zu den Fachärzten aber ging er nicht, obwohl es noch früh am Tage war. Er hatte auch nicht die Absicht, dorthin zu gehen. Statt dessen spazierte er durch die Innenstadt, las Zeitungen in den Kaffeehäusern und wartete auf den Abend. Für neunzehn Uhr war er mit Sonja verabredet. Zwischen Zeitunglesen und kleinen Schalen schwarzen Kaffees durchdachte er immer wieder seine Situation, feilte gedanklich seinen Plan aus. Er suchte die Nummer der Amerikanischen Botschaft aus dem Telefonbuch und rief dort an. Schon gegen siebzehn Uhr wurde es dunkel in diesen engen, grauen Gassen, und Bill spazierte herum und fror, ging noch kurz in seine Wohnung und spürte ein angenehmes -168-
Hungergefühl. Ein sehr gesundes und normales Gefühl, und warum sollte man sich nicht darüber freuen, wenn man weiß, daß man bald etwas dagegen tun kann. »Wenn es dir nicht zu dreckig ist«, sagte Bill, »natürlich kannst du bei mir schlafen.« Sonja meinte, Hauptsache wäre die Dusche, alles andere könne ihretwegen ein Saustall sein. »Hauptsache, ich kann morgens duschen«, sagte sie. Bill zündete sich eine Zigarette an und hustete elend. Er sollte einmal zum Arzt gehen, meinte sie, und ihr Gesicht sah tatsächlich besorgt aus. »War ich schon«, hustete Bill, »war ich schon. Pfefferminztee hilft bei mir nicht mehr. Schaut nicht gut aus hier«, er deutete auf seine Brust, zu weiteren Erklärungen aber war er nicht zu bewegen. Sie saßen also wieder im China-Restaurant unter dem roten Papierlampion, und der Ober mit dem Vorstadtdialekt hatte sie begrüßt wie alte Freunde. Sonja hatte dann erzählt, daß sie ihre Wohnung durchreisenden Freunden zur Verfügung gestellt habe, einem Ehepaar. Für sie allein wäre natürlich schon noch Platz, auf einer Couch im Wohnzimmer, aber Bill... »Schon in Ordnung, Sonjuschka«, hatte Bill gesagt, »wenn es dir bei mir nicht zu dreckig ist.« Er hatte so etwas Ähnliches erwartet. Es lief alles genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Da lagen aber nun sein medizinischer Befund und die Überweisungsscheine für die Fachärzte bei ihm zu Hause auf dem Tischchen. Da waren ein paar Notizen und Adressen mit Telefonnummern in seiner Schublade. Ein abgebrochenes Zündhölzchen in der Kastentüre eingeklemmt und ein kleines, unscheinbares Papierstückchen auf seiner Aktentasche, das herunterfallen mußte, wenn man die Tasche öffnete. Er war gut auf Sonjas Besuch vorbereitet. Bill schloß die Tür zu seiner Wohnung - oder zu Herberts Wohnung - auf, er ließ Sonja höflich vorangehen, drehte hinter ihr den Lichtschalter an, führte sie in das kleine Wohn-Schlaf- oder Wassonstnoch-Zimmer und bot ihr einen der beiden Sessel an. Das erste, was er sagte, war ein laut und deutlich vernehmbares »Scheiße«. -169-
»Hier hat Herbert also gehaust«, sagte Sonja. »Der alte Herbert. Ich hab' ihn gern gehabt. Er war immer fröhlich, immer gut aufgelegt. Ein Optimist und Phlegmatiker. Er war so, wie du früher warst. Schade um ihn.« »Scheiße«, sagte Bill nochmals, diesmal etwas leiser. »Warum fluchst du?« »Ich habe nichts zu trinken hier. Zu blöd. Jetzt erst fällt mir das ein. Mach's dir bequem, wenn du kannst, in dieser Dreckbude. Ich geh' und hol' was zu trinken.« Sonja meinte, es wäre doch eigentlich recht gemütlich. Eine Frau fehle halt, das könne man sehen. Daß Bill nochmals weggehen und was zu trinken holen wollte, störte sie nicht. »Bleib nicht zu lange«, sagte sie und zog die Pelzjacke aus. »Wenigstens warm hast du's. Und fluch' doch nicht immer so ordinär.« Bill ging die Stiegen hinunter, in das Gasthaus um die Ecke, wo er am ersten Tag nach seiner Ankunft in Wien gewesen war. Er sah dort dieselben Gesichter, dieselben Menschen auf denselben Sesseln, nur der Polizist von damals fehlte. Sicherlich würde er später kommen, wenn er im Dienst war oder eben einer seiner Kollegen. Bill hatte es nicht eilig. Er bestellte ein Achtel Weißwein an der Theke und dann noch eines und dann erst sagte er dem Wirt, er möge ihm eine Flasche Wein einpacken. Ob eine Liter- oder eine Doppelliterflasche? »Eine große«, sagte Bill. »Ah, da schau her«, hatte der Wirt gesagt, »der Herr Amerikaner, der Freund vom seligen Herrn Winkler. Lange nicht dagewesen der Herr. Ah, da schau her.« »Fanny, noch ein Achterl und einen Doppler zum Mitnehmen für den Herrn. Lange nicht dagewesen, der Herr. Weiß man schon, wer den Herrn Winkler, Gott hab ihn selig, weiß man schon was? Man liest gar nix mehr in den Zeitungen darüber.« Er wisse nichts, meinte Bill und dachte an Sonja und daran, was sie gerade tun würde. Nein, leider, er wisse gar nichts. -170-
»Unsere Polizei«, schimpfte der Wirt, »unsere Polizei. Wenn man in der Kurzparkzone steht, eine Viertelstunde länger als erlaubt, sofort wird man bestraft. Aber einen Mörder findens nicht. Der arme Herr Winkler, so freundlich war er immer. Einen Mörder findens nicht und die Terroristen auch nicht. Aber die braven anständigen Bürger strafen wegen Parkzeitüberschreitung, das können sie. Unter dem Hitler hätte es das nicht gegeben, der Herr wisse das eh.« Der Herr nickte und trank seinen Wein. Er wußte es eh. Zurück in seiner Wohnung suchte Bill einen Korkenzieher, der leicht zu finden war. Er bat Sonja, sie möge zwei Gläser auswaschen und während sie dies folgsam tat, sah er sich ein wenig um. Das abgebrochene Zündholz lag nun unter dem Kasten, das Papierstückchen an seiner Aktentasche fehlte, und das aufgeklebte Haar über der Schublade war gerissen. Sie hatte also gründlich gearbeitet, seine Sonja. Sie tranken Wein, und gegen zweiundzwanzig Uhr klingelte das Telefon. Es war ZwinkerKilian. Bill sagte müde »hallo«, aber Zwinker-Erich schien recht gesprächig und seltsam erregt. »Du hattest es ja eilig, gestern«, krähte er, »ich hab's gut gemeint, mit dir, und die beiden Hasen waren super! Und wie steht's mit unserer geschäftlichen Abmachung? Keine Ausreden, alter Freund, versprochen ist versprochen, oder?« Ein wenig Sorge klang in Zwinker-Erichs Stimme. Bill grinste müde. »Das geht schon in Ordnung«, sagte er gütig. »Du bekommst das Zeug, mich interessiert es nicht mehr.« Er vermied es, Erich beim Namen zu nennen. Er spürte die angespannte Aufmerksamkeit Sonjas, wie sie jedes seiner Worte registrierte. Der alte Erich sollte seine Chance haben. Eine geringe, eine sehr, sehr geringe Chance, wenn man Alter und körperlichen Zustand Zwinker-Kilians in Betracht zog. Bill erklärte umständlich Adresse und Lage der Schrebergartenhütte Rossmaneks. »Gleich wenn du reinkommst, links, ist ein Tisch mit vielen Büchern und Zeitschriften. Dort -171-
lege ich das Zeug hin. Du erkennst es leicht, es sieht genauso aus wie jenes, das du schon hast. Ein Zwilling also.« Bill kicherte. »Frag mich nicht, wieso gerade in dieser Hütte. Und komm nicht vor morgen um achtzehn Uhr«, sagte er, »komm nicht vorher, ich habe vorher keine Zeit, Entweder du triffst mich noch in der Hütte, und ich geb dir das Zeug, oder ich leg's dir auf den Tisch. Die Tür ist immer offen, das Schloß ist kaputt. Alles Gute, aber sei vorsichtig. Erinnere dich an meinen Freund. Nein, für mich ist das Ganze nichts mehr. Ich hab andere Probleme. Also, wir treffen uns entweder morgen achtzehn Uhr, oder du findest das Zeug auf dem Tisch. Ja, es gehört dir. Ja, ebenfalls alles Gute. Servus.« Er legte den Hörer auf. »Weißt du, Sonja«, sagte er, »Herbert hätte damals auch Schluß machen sollen mit dem Job. Vor zehn Jahren. So wie ich. Mir ist heute unbegreiflich, daß mir dieser Kram einmal etwas bedeutet hat. Aber die Menschen werden nicht gescheiter.« Er machte eine Handbewegung zum Telefon. Und wieder trank er und sah genauso aus wie vor den Klosettspiegeln in den vergangenen Tagen. »Jemand den ich kenne?« fragte Sonja leichthin und deutete ebenfalls zum Telefon. »Nein, Sonja, ein Neuer, ein Nachwuchsmann. Bekannter von Herbert. Ein Dummkopf. Meinetwegen kann er Herberts Zeug haben.« Bill hustete lange und umständlich, schenkte sich ein Glas voll. Nicht einmal Rock und Schuhe hatte er ausgezogen, ganz gegen seine Gewohnheit. Auch Sonja war voll angezogen, sieht man von der Pelzjacke ab. Bill trank in einem Zug das Glas leer. Gleich kommt es, dachte er, gleich muß es kommen. Ich habe es ihr leichtgemacht. Gleich ist es soweit. »Weißt du«, hörte er sie sagen, »wir sind heute beide nicht in. Stimmung. Kein guter Tag für uns. Es ist besser, ich gehe jetzt. Sei nicht böse.« Sie stand auf. »Keine Stimmung für Liebe heute. Ich hoffe, du verstehst mich.« Sie zog die Pelzjacke an. »Ich versteh' dich gut«, sagte er. Es klang traurig, aber so -172-
überzeugend, daß er über seinen eigenen Tonfall erschrak. »Versteh' bitte auch mich«, verbesserte er schnell. »Ich bin nicht in Ordnung, nicht gesund, weißt du.« Er bestand darauf, sie zum nächsten Taxistand zu begleiten. »Geh zu einem Arzt und tu was gegen deinen Husten, Willi. Du bist nicht so krank, nur depressiv. Es ist die Sache mit Herbert, die du überstehen mußt. Und das wirst du. Vielleicht morgen schon, morgen kann alles anders aussehen.« »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht hast du recht.« Ganz sicher, dachte er, morgen wird alles anders sein. Der Taxifahrer hielt die Wagentüre auf. »Bis bald«, sagte Sonja. Sie küßte ihn auf die Wange. »Bis bald«, sagte er und ging. Sonja sah diesem Mann nach, wie er langsam und mit hängenden Schultern den Weg zurückging. Das sollte derselbe Mann sein, mit dem sie noch vor einer Woche im Bett gelegen hatte? Oh, Bosche, moj bosche. Zweimal fragte der Taxifahrer nach dem Fahrziel. »Reisnerstraße«, sagte sie endlich, »Sowjetische Botschaft.«
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XXIII
Naturgemäß sind junge Menschen ehrgeizig, und das ist auch ganz in Ordnung. Nur in unserer degenerierten hasch- und alkoholverseuchten Welt läßt dieser gesunde Ehrgeiz der Jugend sichtlich nach. Zur Freude und Genugtuung der Führer kommunistischer Staaten, deren Strategie für die Zukunft und für zukünftige Generationen programmiert ist. Zum momentanen Entsetzen der demokratischen Politiker, die zwar von »beängstigenden Entwicklungen unserer Jugend« sprechen und sich auch darüber gebührend entrüsten, jedoch ausschließlich an die nächste Wahl und die eigene Pension in einigen Jahren denken. Und was kümmert sie schließlich, wie es in zwanzig Jahren aussehen wird. In zwanzig Jahren werden sie lange im Ruhestand sein, im wohlverdienten, die Kinder versorgt und schließlich: jede Generation muß mit ihren Problemen selber fertig werden. »Wir mußten es ja auch«, sagen sie und denken berechtigt an die Zeiten, als sie noch jung, hungrig und schlank waren. »Unseren Kindern soll es besser gehen. Also, sei nachsichtig mit unserer Jugend.« Miroslaw Slobodim brannte vor Ehrgeiz. Er war mit Abstand der beste Student der Politologie auf der Universität Prag gewesen, er hatte dieses internationale Seminar in Moskau mit Auszeichnung absolviert. Und er war nach eingehender theoretischer Schulung nach Wien geschickt worden, mit einem ganz speziellen Auftrag. Diesen erfüllte er nun erfolgreich seit fast vier Jahren. Aber es begann, langweilig zu werden. Anfangs war alles spannend und großartig. Er gewann diese dicke, umständliche Wienerin für sich, vögelte sich die Seele aus dem Leibe, und sein Kontaktmann klopfte ihm auf die Schulter: Brav, Miro. Die Kontaktmänner wechselten, es war jetzt schon der vierte, seine dicke Margareta wurde immer noch dicker und -174-
umständlicher, und kein Ende war abzusehen. Was für ein Leben für einen ehrgeizigen Kommunisten! Jetzt endlich hatte er über seinen Kontaktmann einen hohen Genossen kennengelernt. Die Verbindung mit der fetten Margareta war plötzlich sehr wichtig geworden. »Sie müssen rund um die Uhr auf dem laufenden sein«, hatte der hohe Genosse aus Moskau gesagt. »Rund um die Uhr. Organisieren Sie Ihren Kontakt zu dieser Polizeisekretärin kurzfristig um. Informieren Sie uns unverzüglich über alles, was in der Staatspolizei über die Person Bill Weiss oder dieses Schwein Cooper bekannt wird. Es darf keine Zeit verlorengehen. Jede Stunde kann entscheidend sein. Machen Sie es gut, Genosse. Auf Wiedersehen.« Genosse Miroslaw Slobodim machte es gut, obwohl es gar nicht so einfach war, wie sich der hohe Genosse aus Moskau das vorstellte. Der hatte leicht reden: jede Stunde kann entscheidend sein. Der sollte mal arbeiten mit einem Trampel wie seiner Margareta. Jeden Abend besuchte er sie nun, ertrug geduldig ihre Launen und lächelte strahlend, wenn sie dumm daherredete: Von einem längsgestreiften Kleid, das sie besonders schlank mache. Von einer neuen Tablettenkur, durch die man bis zu zehn Kilo Gewicht verlieren und dabei nach Herzenslust fressen könne. All diesen Unsinn. Er versprach ihr sogar eine Urlaubsreise nach Mallorca im Frühjahr und hoffte dabei inbrünstig, daß sie bis dorthin der Schlag treffen würde. Zwischendurch schärfte er ihr ein, daß sie nun täglich auch während der Mittagspause in die Telefonzelle kommen müsse. Wenn sie irgend etwas über Bill Weiss oder Mr. Cooper erfahre, solle sie das auf einen Zettel und zwischen die Seiten hundert und hunderteins in das Telefonbuch einlegen. Miro würde als nächster Telefonbuchbenützer schon draußen warten. Und sie solle verdammt noch einmal so tun, als ob sie ihn nicht kenne. Mindestens ein halbes dutzendmal schärfte er ihr das ein. Sie sagte ja, ja, sie habe schon verstanden. Dann redete sie wieder -175-
von dem längsgestreiften Kleid. Er lächelte nur und erzählte vom Urlaub in Mallorca. Genosse Miroslaw Slobodim machte seine Sache ganz ausgezeichnet.
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XXIV
Er hatte einen Plastikkanister gekauft und den Tankwart ziemlich verwundert, als er ihn anfüllen ließ, anstatt zu tanken. War doch weit und breit keine Benzinpreiserhöhung zu erwarten. Ob »Super« oder »Normal«, wollte der Tankwart wissen. Bill entschied sich für »Normal« und grinste dabei. Der Tankwart wollte noch Öl und Wasserstand des Opels prüfen, aber Bill winkte ab. Komischer Kauz, dachte der Tankwart. In einem Selbstbedienungsladen kaufte Bill Briefumschläge, einen Schreibblock, zwei Kerzen - Restbestände von Weihnachten -, eine Plastikschüssel, fünf große Pakete Watte und eine Reisetasche. Dann ging er in ein Espresso und schrieb fast zwei Stunden lang. Es war ein kleines Espresso mit nur wenig Gästen. Der Kellnerin war langweilig und sie gähnte. Als sie dem emsig schreibenden Gast den dritten Cognac servierte, fragte sie neugierig, ob der Herr Schriftsteller sei. Der Herr verneinte. Er schreibe nur sein Testament und ein paar Abschiedsbriefe. Die Kellnerin gähnte, während sie wieder hinter die Bar ging. Die Hand hielt sie sich nicht vor. In einem Reisebüro erkundigte sich Bill nach den Abflügen vom Flughafen Schwechat nach zweiundzwanzig Uhr. Es gingen nur wenige Flüge um diese Zeit. Air-Canada nach Toronto, British Airways nach London, Lufthansa nach Kairo und Bagdad. Ob die Maschine nach Kairo ausgebucht sei? Keine Spur! Wer fliegt schon Ende Jänner nach Kairo. Dann telefonierte Bill mit der Amerikanischen Botschaft. Gegen zwölf Uhr dreißig war Bill wieder zu Hause. Er zündete eine der beiden Kerzen an und sah lange in die Flamme. Nach fünfunddreißig Minuten war die Kerze abgebrannt. Nach genau fünfunddreißig Minuten, Bill hatte auf die Uhr gesehen. Dann blies er die zuckende Flamme aus und warf den Wachsrest in die Klomuschel. Es war nach dreizehn Uhr, als er Hammerlang -177-
anrief. Polizeirat Hammerlang hatte am späten Vormittag einen langen Aktenvermerk zur Sache Herbert Winkler - Wilhelm Weiss diktiert und darin seiner Vermutung Ausdruck gegeben, daß sein Amtsvorgänger, Hofrat Dr. Rossmanek tatsächlich geheimdienstliche Unterlagen in einer Art Privatarchiv gesammelt hatte, das im Mordfalle eine bedeutende Rolle spiele. Der Aktenvermerk war für den Polizeipräsidenten und für den Minister bestimmt und sollte schon lange fertig sein, aber ausgerechnet heute mußte seine Sekretärin in der Mittagszeit etwas außer Haus erledigen. Hammerlang fluchte, aber er konnte ihr das schließlich nicht verbieten. Der Polizeirat wollte den Aktenvermerk noch einmal genau studieren, bevor er ihn weitergab. Er hatte diktiert, daß dieses Archiv vermutlich in Rossmaneks Schrebergarten zu suchen wäre und ein HD - ein Hausdurchsuchungsbefehl - von der Staatsanwaltschaft beantragt werden sollte. Vielleicht sollte er diesen Passus streichen. Das ging den Minister schließlich nichts an, unter Umständen war er dagegen, wie Minister eben so sind, und kritzelte ein »Nein« auf den Aktenvermerk, dann war schwerlich was dagegen zu tun. Je länger Hammerlang nachdachte, desto sicherer wurde er sich, diesen Absatz im Aktenvermerk streichen zu müssen. Und da war noch was, das er vielleicht ändern sollte. Er hatte seinen Bericht damit begonnen, daß die »letzten Erkenntnisse im Falle Winkler« von einem befreundeten Dienst gekommen waren. Das war schon zuviel. Der Präsident würde bei nächster Gelegenheit feststellen, seine Staatspolizei lebe ohnehin nur von den Mitteilungen befreundeter Dienste. Und warum sollte er sich Vorwürfe machen lassen. Er würde die Sache umdiktieren und folgendermaßen einleiten: Vertraulich wurde in Erfahrung gebracht. Das stimmte immer, klang besser, und niemand hatte zu fragen »woher«, es war eben vertraulich, basta! Als das Telefon klingelte und Hammerlang mit »einem Herrn Weiss« -178-
verbunden wurde, war es dreizehn Uhr vorbei und die Scherbler immer noch nicht zurück. Erstaunt hörte der Polizeirat diesen Bill Weiss sagen, daß er sich verabschieden wolle. Nein, verreisen sei nicht der richtige Ausdruck. Nein, auch nicht nur kurz wegfahren. Nein, Bill Weiss ginge zu seinem Freund, dem Herbert Winkler. »Hören Sie auf mit diesem Blödsinn«, bellte der Polizeirat. Er war nun richtig heiß: »In Österreich haben wir die höchsten Selbstmordraten der Welt, besonders zu Weihnachten und zum Jahreswechsel. Das muß am Klima liegen oder an der Mentalität der Leute hier. Melancholiker, verstehen Sie? Ein Volk von Melancholikern. Aber Selbstmord, das ist doch nichts für Sie Mann, doch kein Ausweg für Sie!« Warum eigentlich nicht für ihn, wollte Bill wissen. »Weil ich Sie nicht für ein Arschloch halte«, brüllte Hammerlang. »Idioten bringen sich um und unbefriedigte, versoffene Weiber. Studenten, die viel zu früh und zuviel über den Sinn des Lebens nachdenken und keinen finden können. Mädchen in der Pubertät, im Dilemma zwischen Hirn und Fut! Doch nicht Sie, Bill Weiss. Sind Sie eigentlich besoffen am hellen Tag?« »Nein«, sagte Bill. »Wo sind Sie überhaupt, von wo rufen Sie an, Herr Weiss. Sind Sie zu Hause?« »Alles Gute, Herr Polizeirat. Und vielen Dank für alles.« Klick. So ein Schwein! Er hatte aufgelegt, bevor Hammerlang etwas über das Archiv fragen konnte. Der Polizeirat knallte den Hörer auf die Gabel. So ein Schwein! Und die Scherbler war noch immer nicht zurück. Als sie endlich kam, hatte sie rote Flecken am Hals und -179-
schnaufte, als ob sie gerannt wäre. Bevor er losbellen konnte, entschuldigte sie sich wortreich und lautstark. Sie habe eine Freundin getroffen, die sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. So was komme doch nur sehr selten vor, und sie sei doch sonst immer pünktlich. Zudem habe sie paar Besorgungen machen müssen. Und überall drängten sich die Menschen, als ob sie was geschenkt bekämen. Und die Verkäuferinnen seien manchmal sehr begriffsstutzig, das könne er sich nicht vorstellen. Er gehe ja nie einkaufen. Margarete Scherbler warf ihre Handtasche auf einen Sessel und drehte sich aus dem Mantel. Ja, ja, den Aktenvermerk schreibe sie gleich. Das war so gegen vierzehn Uhr. In einer halben Stunde konnte der Aktenvermerk leicht fertig sein. Margarete Scherbler ließ ihre Finger über die Tasten tanzen. Nicht die Verkäuferinnen waren schwer von Begriff gewesen, wohl aber ihr Miro. Das konnte ja nicht wahr sein! Viermal hatte sie ihm den Inhalt des Aktenvermerkes erklärt. Zweimal wollte er wissen, warum sie keinen Durchschlag mitgenommen habe. Die Adresse von Rossmaneks Schrebergarten schrieb er sich auf und war unglücklich darüber, weil sie ihm über die blöde Holzhütte nichts Näheres sagen konnte. Wie sollte sie denn, sie war ja nie dortgewesen in dieser miesen Vorstadtgegend. Eine Schrebergartensiedlung halt. Sieht doch ein Garten aus wie der andere. Nach Dienstschluß sollte sie wieder zum Telefonhüttl kommen. Zwischen die Seiten hundert und hunderteins solle sie das Kohlepapier legen. Das Kohlepapier, das sie gerade in die Maschine eingespannt hatte. Der Aktenvermerk war mit einem Durchschlag zu schreiben. Ein eingespannter dritter Papierbogen hätte auffallen können. Das mußte sogar Miro einsehen. »Ja, ja, Miro, ich mach das schon. Natürlich, bei jeder neuen Seite ein frisches Kohlepapier.« Sie war doch nicht vertrottelt. Die erste Seite war fertig. Margarete Scherbler faltete das Carboplan zusammen zu einem kleinen blauen Viereck und steckte es in die Handtasche. -180-
Dann legte sie ein neues zwischen zwei Blätter und spannte ein. Der senile Alte in der Telefonzelle war an Umständlichkeit nicht zu überbieten. Zuerst knöpfte er sich den Mantel auf und legte seinen Hut auf das Telefonbuch. Dann kramte er in der rückwärtigen Hosentasche nach einem kleinen Kalender, was durch die Enge in der Telefonzelle erschwert wurde. Eine Weile blätterte er in dem kleinen Kalender, hielt das Büchlein dabei weit von sich und kniff die Augen zu. Dann schüttelte er traurig den Kopf und begann seine Brille zu suchen. Sie war in einem Etui in der inneren Rocktasche. Mit der Brille auf der Nase gings dann leichter, das Etui lag nun neben dem Telefonbuch. Der Alte kramte in seiner Geldbörse und schüttelte wieder den Kopf. Miroslaw Slobodim stand vor der Zelle und rauchte bereits seine zweite Zigarette. »Komm schon, alter Trottel«, murmelte er. Die Glastüre öffnete sich. »Ach bitte«, sagte der Alte, »lieber Herr, könnten Sie mir vielleicht eine Schillingmünze geben? Ich meine einwechseln, lieber Herr.« Miro sah die offene Hand des Alten mit zwei FünfziggroschenMünzen. Er fischte einen Schilling aus der Westentasche und legte sie auf die Hand. »Nehmen Sie nur, lieber Herr«, sagte der Alte. Miro nahm die zwei Fünfziggroschenstücke. »Vielen Dank, lieber Herr«, sagte der Alte. Die Tür ging wieder zu. Der Alte sah erneut in seinen kleinen Kalender, warf den Schilling ein und begann zu wählen. Miro sah Margarete Scherbler kommen. Sie ging rasch, wurde aber langsamer, je näher sie kam. Er warf die Zigarette weg. Der Alte schien fertig zu sein. Er setzte den Hut auf, steckte den Kalender ein, knöpfte den Mantel zu. »Vielen Dank, nochmals, lieber Herr«, sagte er, als er sich herausdrehte. »Bitte schön«, sagte der liebe Herr. Margarete Scherbler stand nun neben der Zelle. »Bitte nach Ihnen«, sagte Miro, er war wirklich sehr höflich. Der Alte kam nochmals zurück und klopfte gegen die Glasscheibe, gerade, als Margarete Scherbler im Telefonbuch blätterte. Das Brillenetui, -181-
er hatte es vergessen. Margarete Scherbler reichte es ihm hinaus. Der Alte kam ihr bekannt vor. Dieses Mal mußte Miro nicht so lange warten. Die dicke Dame in der Telefonzelle telefonierte nur ganz kurz. Er roch ihr Parfüm, als er, kurz nachdem sie herausgekommen war, die Telefonzelle betrat und begann, im Telefonbuch zu blättern. Dann hatte er es sehr eilig, zu einem Taxistand zu kommen. Alles, was er jetzt brauchte, waren ein ungestörter Platz und ein Taschenspiegel. Dann würde er erst einmal den Text auf dem Kohlepapier lesen. Auf das Geplapper von Margarete konnte er sich nicht unbedingt verlassen. Und/ wenn in dieser Schrebergartenhütte wirklich so was Wichtiges zu holen war, warum sollte er, Miro, nicht einmal aktiv werden. In Krisensituationen und bei Gefahr im Verzuge müsse ein guter Agent auch eigene Entschlüsse fassen können, hatte man ihn damals, während seiner Ausbildung, gelehrt. Miroslaw Slobodim hatte das Gefühl, dieser Augenblick sei jetzt gekommen. Eile war geboten, hatte der hohe Genosse aus Moskau gesagt. Es war jetzt 17 Uhr vorbei und wurde langsam dunkel. Es war 18 Uhr an diesem späten Jännertag und schon dunkel. Bill dachte an Erich Kilian, der nun sicher schon in der Schrebergartenhütte Rossmaneks war oder zumindest auf dem Weg dorthin. Er lächelte böse bei dem Gedanken, mit welchem Eifer Zwinker-Erich nun nach dem zweiten Notizbuch des alten Rossmanek suchen würde. Große Mühe und langes Herumstöbern waren nicht nötig: Das Notizbuch lag auf dem Tisch, wie vereinbart, schon seit gestern lag es dort, und Zwinker-Kilian wußte ja, wie es aussah. Schließlich hatte er den Zwilling. Armer Erich. Bill war sicher, daß nicht nur sein Schulfreund hinter dem Büchlein her war. Er dachte an Sonja und versuchte, sich ihren Bericht vorzustellen, den sie vermutlich noch gestern nacht mündlich und spätestens heute morgen schriftlich gemacht hatte. Für die Iwans war nun auch -182-
Eile geboten. So wie Bill seine alten Freunde einschätzte, beorderten sie ein ganzes Team erfahrener Leute in die armselige Schrebergartenhütte, nur um an dieses alte Notizbuch Rossmaneks zu kommen. Dieses alte Notizbuch! Angeblich der Schlüssel zu Rossmaneks Archiv. Angeblich so wichtig, daß Menschen dafür sterben mußten. Und vermutlich noch sterben würden. Und das doch so wertlos war, wie Bill wußte. Aber nur er wußte es. Ein feines Spielchen, das Herbert da eingefädelt hatte. Bill spielte es nun weiter, und die Frage nach dem WARUM wollte er sich gar nicht erst stellen. Äußerstenfalls machte er sich Vorwürfe, weil er so dumm gewesen war, so begriffsstutzig und so lange gebraucht hatte, Herberts Pläne zu durchschauen. Den Absichten seines Freundes Herbert Winkler, dessen Gedanken er früher schon erraten konnte, bevor sie Herbert fertiggedacht hatte. Sein alter Freund! Aber das war vor zehn Jahren gewesen, und Herbert war tot. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als Bill die Gabelsbergerrussischen Stenogramme entdeckt hatte, hätte der Groschen fallen müssen. Herbert hatte das Zeug doch auch nicht lesen können. Hatte auch gar nicht versucht, die Schriften übersetzen zu lassen. Er hatte gewußt, warum. Hatte gewußt, daß der Wert des Archivs woanders lag. In einem Banksafe. Was für ein Idiot war er, Bill, doch gewesen. Wo war sein Verstand geblieben, in Brooklyn, in »Jacks Pizzahouse«? Achtzehn Uhr. Sie werden es nun eilig haben, dieses lächerliche Notizbuch zu kriegen. Die Iwans und der arme alte Zwinker-Erich. Bill hatte es nicht eilig. Er saß in einem Gasthaus und trank sein zweites Bier. Der alte Opel 1700 war vor dem Lokal vorschriftmäßig geparkt. Sein Testament und seine Abschiedsbriefe lagen mit den ärztlichen Attesten im Handschuhfach. Zu Rossmaneks Schrebergartenhütte brauchte er bei dieser Verkehrslage etwa dreißig Minuten. In einer Stunde ließ der Straßenverkehr stark nach, dann würde er es in zwanzig Minuten schaffen. Wie gesagt, Bill hatte keine Eile. Jetzt nicht -183-
und in einer Stunde nicht. Armer Zwinker-Kilian. Bill versuchte, sein aufkommendes schlechtes Gewissen zu beruhigen. In diesem Alter, sagte er sich, muß jeder wissen, was er tut. Wenn sich Zwinker-Erich unbedingt ins Spiel gedrängt hatte, war das seine Sache, sein Risiko. Die Spielregeln kannte er. Jeder ist seines Glückes Schmied. Oder der seines Unglückes. Er bestellte noch ein Bier. Achtzehn Uhr dreißig. Das frische Bier kam. Gulasch mit Knödeln sei sehr zu empfehlen, meinte der Wirt. Warum nicht. Achtzehn Uhr dreißig, wahrscheinlich war schon alles passiert. Eine Sekunde lang dachte Bill an seine Schulzeit und an Zwinker-Erichs Mutter. Wie sie sich um ihren engbrüstigen Buben gesorgt hatte. Er trank das Bier in einem Zug aus. Das Gulasch kam und dann noch ein Bier. Noch war Zeit, darüber nachzudenken, ob er einen Fehler gemacht hatte. Die Hälfte seines Geldes hatte er in seiner linken Rocktasche, mit einem Gummiring zusammengerollt. Es war noch genug. Die andere Hälfte lag im Handschuhfach des Opels bei den Briefen und Papieren. Sein Reisepaß! Er steckte in seiner inneren Rocktasche. Ja, er hätte Gelegenheit genug gehabt, bei Hammerlang zu erwähnen, daß er seinen Paß immer bei sich trug. Eine alte Gewohnheit. Das hatte er versäumt, aber das war kein gravierender Fehler. Der Wirt schaltete den Fernseher ein. Die zweiten Abendnachrichten kämen gleich, meinte er. Anschließend Sport. Ob sich der Herr für die Skirennen interessiere? Bill schüttelte den Kopf. Er wolle zahlen, sagte er. »Die Unsrigen haben wieder gewonnen«, meinte der Wirt. Er schien beleidigt wegen der Interesselosigkeit des Gastes an Skirennen. »Macht vierundsechzig fünfzig«, sagte er. Bill zog seinen Mantel an. »Neunzehn Uhr«, sagte der Fernseh-Sprecher, und ein Gong ertönte. Es folgte die Meldung über eine Demonstration von Atomkraftwerksgegnern vor dem Bundeskanzleramt. Die Leute haben Sorgen, dachte Bill. Er sagte »auf Wiedersehen« und ging. Neunzehn Uhr. -184-
Er fuhr langsam und stellte das Radio an. Es waren auch im Hörfunk Nachrichten, und Bill erfuhr, daß die Demonstration friedlich verlaufen war. Dann wurden die Reportagen vom Skirennen wiederholt. Bill schaltete aus. Er parkte den Wagen direkt vor der Gartentüre. Mit dem Benzinkanister aus Plastik und der neuen Reisetasche ging er auf die Holzhütte zu. Trotz der Dunkelheit sah er, daß die Tür offenstand.
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XXV
Die Nachricht vom Tode des amerikanischen Staatsbürgers Bill Weiss hörte Polizeirat Dr. Hammerlang durch den Polizeifunk. Der Streifenwagen Delta l berichtete von einem Brand in der Schrebergartensiedlung Floridsdorf und der Auffindung einer vollkommen verkohlten Leiche. Führerschein, Zulassungsschein und andere Personalpapiere des Toten waren im Handschuhfach eines Opel 1700 gefunden worden, der vor dem Gartentor abgestellt war. Dasta-Anfrage ergab, daß das Fahrzeug auf den Namen Wilhelm Weiss zugelassen war. Vorbesitzer Herbert Winkler. Ein Testament und Abschiedsbriefe lagen neben den Ausweispapieren, ebenso ein höherer Geldbetrag. »Es dürfte Selbstmord vorliegen«, sagte der Beamte vom Streifenwagen Delta 1. Polizeirat Dr. Hammerlang hatte den Einsatz bei einer Demonstration von Atomkraftwerksgegnern vor dem Bundeskanzleramt geleitet und dann dem Präsidenten mündlich Bericht erstattet. Es war spät geworden. Er befand sich nun auf dem Weg zu seinem Büro. Delta l meldete gerade der Zentrale, daß die Beamten des Erkennungsdienstes zum Tatort gekommen seien. Auch die Untersuchungskommission und der Staatsanwalt seien eben eingetroffen. Hammerlang dirigierte den Dienstwagen um und war zwanzig Minuten später am Tatort. Leiter der Amtshandlung war Kommissär Dr. Tutter vom Bezirkskommissariat Floridsdorf. Er schien überrascht, aber keineswegs erfreut, als er den Polizeirat daherkommen sah und salutierte widerwillig. Hammerlang streckte ihm die Hand hin, die Dr. Tutter kaum übersehen konnte. Wilhelm Weiss sei ein Bekannter von ihm, erklärte Hammerlang. »Gewesen«, sagte Dr. Tutter, »er ist ja jetzt tot.« -186-
Und es täte ihm leid. Hammerlang blickte finster. Um das Beileid auszusprechen bestehe kein Anlaß, erklärte er weiter. Es sei eine dienstliche Verbindung bzw. Bekanntschaft, keine private. Wilhelm Weiss sei in eine staatspolizeiliche Angelegenheit verwickelt. »Gewesen«, fügte Hammerlang hinzu. Der Polizeikommissär möge deshalb den Akt mit einer zusätzlichen Durchschrift anlegen und ihm diese zusenden, nach Abschluß der Erhebungen. Dr. Tutter sagte »jawohl« und notierte es sich. »Heute gegen dreizehn Uhr«, sagte Hammerlang, »hat mich Bill Weiss im Büro angerufen. Er äußerte Selbstmordabsichten. Ich habe es nicht ernst genommen.« Der Kommissär machte sich Notizen. Ob die Leiche identifiziert und zur Beerdigung freigegeben sei, wollte Hammerlang wissen. Dr. Tutter berichtete, die Erhebungen seien noch im Gange. Er müsse jetzt mit dem Polizeirat reden. Er ging. »Ich schicke den Durchschlag des Berichtes an Sie persönlich«, sagte er noch. Hammerlang sah ihm nach, beobachtete, wie er zu anderen Beamten ging, mit ihnen redete, ihnen zuhörte, sich Notizen machte. Wie die Beamten in dem verkohlten Haufen herumstiefelten, ab und zu einen Gegenstand aufhoben, fotografierten. Der Polizeirat war plötzlich sehr müde. Dieser Bill Weiss, warum zum Teufel sollte er sich umgebracht haben. Warum nur? Zwei uniformierte Polizisten stellten zusätzliche Scheinwerfer auf und schalteten sie ein. Irgendwo surrte ein Aggregat. Es wurde nun sehr hell. Feuerwehrleute gingen herum, jetzt konnte man die Uniformierten deutlich unterscheiden. Hammerlang war schon bei seinem Dienstwagen angelangt, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Dr. Tutter kam anmarschiert mit Papieren in den Händen. »Testament und Abschiedsbriefe des Verstorbenen«, sagte er. »Einer ist an Sie adressiert. Ist mir jetzt erst aufgefallen. Hier bitte.« Er übergab dem Polizeirat ein verschlossenes Kuvert und blieb unschlüssig stehen. Hammerlang öffnete den Briefumschlag und hielt ein Blatt -187-
Papier gegen das Scheinwerferlicht. Es waren nur ein paar Zeilen in Handschrift: »Lieber Herr Polizeirat«, las er. »Sicherlich wundern Sie sich sehr, aber ich kann und will nicht anders. Bitte sorgen Sie dafür, daß Herbert Winklers Sohn, der kleine Herbert Sommer, im Wege seiner Mutter Maria Sommer mein Geld und alles übrige aus meinem Nachlaß erhält. Testament und weitere Briefe liegen bei. Das Feuerwerk, bei dem hoffentlich kein Unbeteiligter zu Schaden gekommen ist, soll keine theatralische Demonstration sein. Es soll nur mein eigenes Begräbnis vereinfachen und dieses Archiv vernichten, das schon so viel Unheil angerichtet hat. Herzlichen Dank und leben Sie wohl.« Der Brief war datiert und unterschrieben. Hammerlang war eine Sekunde unschlüssig. Dann gab er den Brief dem Kommissär. »Nehmen Sie ihn zu den Akten«, sagte er, »Sie leiten schließlich diese Amtshandlung. Ich bekomme ja eine Ablichtung davon zu Ihrem Bericht.« »Natürlich«, sagte der Kommissär. Er war jetzt freundlicher. »Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, Herr Polizeirat, der Mann litt an Krebs.« »An Krebs!?« Hammerlang schrie es fast. »Ja, es geht aus ärztlichen Attesten hervor. Wir fanden alles im Handschuhfach. Wir werden es überprüfen. Dürfte das Motiv der Tat gewesen sein.« »Aha«, sagte Hammerlang. »Spätestens übermorgen haben Sie den Bericht.« »Danke«, sagte Hammerlang, »gute Nacht.« Er stieg in den Dienstwagen. Er war schrecklich müde. Zu Hause nahm er ein Schlafpulver und öffnete noch eine Bierflasche. Sein Kopf war voll von Demonstranten, Atomgegnern, Archiven, Krebsgeschwülsten und Abschiedsbriefen. Seine Frau kam aus dem Schlafzimmer, im Flanellnachthemd und mit Haarwicklern. Sie sah die Bierflasche und ging gleich wieder. Sie hatte weder -188-
»grüß dich« noch »gute Nacht« gesagt, nur: »Jetzt trinkst du schon mitten in der Nacht.« Hammerlang hatte nicht hingehört. Es war noch nicht Mitternacht, erst zweiundzwanzig Uhr dreißig. Hammerlang ging zum Telefon, wählte die Nummer der Amerikanischen Botschaft. Warum sollte er diesen Cooper nicht stören und ihm sagen, daß es kein Archiv mehr gab. Kein Archiv und keinen Bill Weiss. Er zog die Schuhe aus. Ein diensthabender Beamter der Botschaft teilte ihm mit, daß Mr. Cooper für ein paar Tage verreist sei. Ob er etwas ausrichten könne? »Er soll mich anrufen, sobald er zurück ist«, sagte Hammerlang. Das sah diesen Diplomaten ähnlich. Erst taten sie furchtbar wichtig, dann gingen sie in Urlaub. Hammerlang trank sein Bier aus und ging ins Badezimmer. Die Nachricht von Bills Tod erfuhr Christa aus den Zeitungen. Findige Journalisten hatten den Zusammenhang zum »Agentenmord in der Postgasse« herausgefunden und schrieben, daß Selbstmord oftmals letztes Schicksal von Geheimdienstlern sei. Zu Recht. Die Selbstmordvision stütze sich auf eindeutige Ermittlungsergebnisse der Polizei. Aber eine Selbstverbrennung sei es nicht gewesen. Der fünfzigjährige Wilhelm Weiss habe sich mit einer Pistole erschossen, vorher aber wahrscheinlich durch eine brennende Kerze in einem Benzinbehälter sozusagen sein eigenes Krematorium vorbereitet. Dies geschehe häufig und insbesondere bei Alkoholikern oder sonst gestörten Menschen. »Erweiterter Selbstmord« ist die Fachbezeichnung in der Kriminologie. Christa füllte die Gläser ihrer Gäste, schrieb Rechnungen und dachte über die Geschichten eines griechischen Gottes namens Pan nach, der Flöte spielte, wovor sich alle fürchteten. Er war also sicher damals schon verrückt gewesen, ihr Bill. Irgendwie war sie froh, mit der ganzen Sache nichts zu tun zu haben, schließlich war Bill in den letzten zwei Wochen nicht mehr gekommen. Es hätte schlimmer ausgehen können, das hätte ihr gerade noch gefehlt. -189-
Dann ging die Türe auf, und neue Gäste kamen, sechs oder sieben Männer, alle schon sehr gut aufgelegt, unter ihnen Walter, der sehr verheiratete Ingenieur Walter Hahn von der Magistratsabteilung. Er war schon lange nicht mehr dagewesen und zwinkerte ihr vergnügt zu. Christa erwiderte sein Augenzwinkern. Als Zwinker-Erich vom Selbstmord seines Schulfreundes in der Zeitung las, nahm er seine Brille ab und putzte sie mit seiner Krawatte. Ja, Professor Dr. Dr. Kilian trug jetzt Krawatten. Er war auch sonst gut gekleidet, fast elegant. Eigentlich paßte er damit gar nicht mehr in das miese Kaffeehaus des Artur Loschek im dritten Wiener Gemeindebezirk. Als die Brille sauber war, las der Professor weiter in den Zeitungen, er zwinkerte noch mehr als sonst. Willi Weiss ein Selbstmörder! Das konnte doch nicht wahr sein. Aber hier stand es in den Zeitungen und auch, daß die Polizei die Untersuchung abgeschlossen habe, kein Fremdverschulden vorliege und Abschiedsbriefe gefunden worden seien. Die Staatsanwaltschaft hatte die Leiche freigegeben. Genauer gesagt, das, was von Willi Weiss noch übriggeblieben war. Professor Kilian las alle Artikel über den Selbstmord. In einer Zeitung war ein Bild der abgebrannten Hütte. Man sah gar nichts außer einem schwarzen Fleck. Ein paar Beamte standen herum, gebückt, als suchten sie etwas. Im Hintergrund ein Feuerwehrauto. Wenn er pünktlich gewesen wäre, wie Willi das gewollt hatte, vielleicht wäre es zu dieser Tragödie nicht gekommen. Aber er war schon kurz nach drei Uhr dort gewesen. Er war neugierig und ungeduldig, und zu seiner großen Freude und Erleichterung lag das Notizbuch am vereinbarten Platz auf dem Tisch. Erich hatte es eingesteckt, sich kurz umgesehen und war dann zur Straßenbahn gegangen. Um achtzehn Uhr saß er bereits im »Grünen Papagei«. Wenn er nun Willi Weiss um achtzehn Uhr in der Hütte getroffen hätte, vielleicht wäre alles anders gekommen. Vielleicht wollte Willi mit ihm reden? Er hatte doch sonst auch -190-
keinen Menschen hier. Wem zum Teufel hatte er die Abschiedsbriefe geschrieben? Zwinker-Erich fühlte sich irgendwie schuldig. Die fünfzigtausend Schilling waren fast verbraucht, und er mußte sich überlegen, wie er das nächste »Geschäft« organisieren konnte. Er mußte geschickt vorgehen. Aber ganz anders als das letzte Mal. Das System nicht zu wechseln, wäre ein Fehler. Er dachte an den »Grünen Papagei«. Dort war er jetzt fast täglich und gewissermaßen im Heimvorteil. Ein »toter Briefkasten« in der Herrentoilette, so ein Versteck beispielsweise hinter dem Wasserbehälter, könnte den Zweck erfüllen. Oder eine lose Kachel in der Wand. Es gab einige wackelige Kacheln, er erinnerte sich. Sie machten leise »klick«, wenn man sich dagegenlehnte oder leicht schwankend an die Wand stieß. Ein paar waren schon herausgefallen. Man könnte mit einem Schraubenzieher nachhelfen und hinter einer solchen Kachel einen netten kleinen Hohlraum installieren. Der Gedanke gefiel ihm. Dem Oberst Wolkow brauchte er nur etwa zu schreiben: Herrentoilette »Grüner Papagei«, rechte Wand, siebente Kachel von oben, dritte von links. Dort könnte er das Material deponieren und auch das Geld abholen. Die Idee gefiel ihm immer besser. Es schien ihm ohne Risiko zu sein. Jedes neue Gesicht im »Papagei« würde ihm sofort auffallen. Und er hatte es ja nicht eilig. Er konnte das deponierte Geld zwei oder drei Tage liegenlassen, es sich abholen, wenn die Luft rein war. Die Iwans konnten nicht hinter jedem Pisser einen Agenten nachschicken, der das Versteck kontrollierte. Kein Geheimdienst der Welt war dazu imstande. Einen Schraubenzieher und Leim würde er sich nachmittags kaufen. Abends würde er sich dann seinen Briefkasten basteln. Er bestellte sich doch einen doppelten Kognak. Irgendwie war auch Willis Selbstmord für ihn von Vorteil. Tote können nicht reden, und Erich besaß nun das ganze Material, das ganze Archiv mitsamt den Codeverzeichnissen. Das Leben war schön. Warum -191-
auch nicht? Warum sollten auch nicht für Zwinker-Erich bessere Zeiten kommen. Blieb noch zu überlegen, ob er nicht gleich hunderttausend verlangen sollte für die nächste Lieferung. Das war zu überlegen. Die Nachricht vom Tode Wilhelm Weiss erfuhr Maria Sommer durch ein Schreiben der Polizeidirektion Wien, denn Zeitungen las Maria Sommer seit Wochen nicht mehr, mit Ausnahme des monatlichen Kirchenblattes. Es war ein amtliches Begleitschreiben zu einem offenen persönlichen Brief des Verstorbenen, aus dem auch dessen »letztwillige Verfügungen« zu ersehen waren. Der Briefträger und ihr Sohn waren fast gleichzeitig gekommen. Sie bereitete zunächst das Mittagessen, sprach das Tischgebet, wusch das Geschirr ab, überwachte die Hausaufgaben des Kleinen, und erst, nachdem er draußen beim Spielen war, begann sie, den Brief zu lesen. Es war ein sehr persönlicher Brief, der mit der Überschrift »Liebe Frau Maria« begann. »Ich habe mich entschlossen«, so las sie, »meinem Freund und dem Vater Ihres Sohnes nachzufolgen. Dorthin, wo wir uns eingedenk unseres Glaubens alle einmal wiedersehen werden. Trotz Ihrer Erzählungen, liebe Frau Maria, war es mir immer unbegreiflich, wie zwei so verschiedene Menschen wie mein Freund und Sie zueinander finden konnten, wenn auch nur vorübergehend. Ich bin auch sicher, daß Sie Herbert nie richtig verstanden haben, denn er war in seinem Wesen ein gütiger Mensch. Ohne jemals mit ihm darüber gesprochen zu haben die Möglichkeit dazu war mir nicht mehr gegeben -, weiß ich, daß in den letzten Jahren alle seine Gefühle und Sorgen auf das Wohl und die weitere Entwicklung seines und Ihres Kindes ausgerichtet waren. Ich fürchte, Sie haben es ihm dabei in letzter Zeit nicht leichtgemacht. So ist es sicher im Sinne Herberts, wenn ich Ihren Sohn zum Alleinerben bestimme. Es sind keine großen Reichtümer, doch darf ich Sie trotzdem bitten, alles für seine Erziehung zu -192-
verwenden. Und erziehen Sie den Kleinen bitte so, daß er sich niemals für seinen Vater schämt. Lassen Sie ihn auch manchmal raufen und Fußball spielen, denn das Leben besteht nicht aus Beten allein. Leben Sie wohl, Ihr W. Weiss.« Im amtlichen Begleitschreiben wurde Frau Maria Sommer »höflich ersucht«, innerhalb von acht Tagen mit einem von ihr zu bestimmenden Nachlaßverwalter (öffentlicher Notar oder Rechtsanwalt) im Zimmer einhundertfünfundzwanzig des Polizeikommissariates Wien 21, dritter Stock, vorzusprechen. Zwischen neun und zwölf Uhr unter Vorlage dieses amtlichen Schreibens. Maria Sommer wischte sich mit der Schürze über die Augen und ging zum Fenster. Ein paar Buben auf der Straße rannten einem Ball nach, ihr Herbert sah zu. Sie hatte ihm eingeschärft, seine neuen Schuhe nicht zu ruinieren. Morgen würde sie ihm Fußballschuhe kaufen.
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XXVI
Die Nachricht von seinem eigenen Tode erfuhr Wilhelm Weiss, alias Bill White, im Transit-Raum des Flughafens Kairo. Er las von seinem tragischen Selbstmord und der aufsehenerregenden Selbstverbrennung in einer deutschen Tageszeitung, als er gerade beim Friseur saß und sich rasieren ließ. Die Zeitung war zwei Tage alt. Bills schaumbedeckte Wangen wölbten sich zu einem fröhlichen Grinsen, und das Rasiermesser des öligen Figaros zuckte zurück: Bei Allah, er wollte den Effendi nicht verletzen. Das ist nicht so wie in Wien oder New York oder anderen unzivilisierten Gegenden. Wenn du dich rasieren läßt in Nikosia oder Kairo oder Beirut, ist das ganz anders. In Mitteleuropa oder Brooklyn bist du in zehn Minuten fertig, man schmeißt dich in deinen Mantel - wenn du Glück hast -, einer sagt fünf Mark oder ein Dollar fünfzig - wenn du Glück hast -, und du bist wieder auf der Straße und wahrscheinlich regnet es. - Immerhin, die Bartstoppeln sind weg. In Middle East ist das ganz anders. Sie tragen dich fast zum Rasierstuhl, heben dich hinein, sanft, alle lächeln glücklich, du bist die Sensation des Morgens. Sie legen dir heiße Tücher über dein Gesicht, du schließt die Augen, weil dir nichts anderes übrigbleibt. Einer massiert deine Nackenmuskeln, einer drückt dir diskret Mitesser oder Talgporen aus. Einer reinigt dir die Ohren, daß du schon ein ganz schlechtes Gewissen kriegst, und der Kleinste von allen putzt dir die Schuhe, selbst wenn sie schon geputzt sind. Besser für dich, wenn du die Augen erst gar nicht aufmachst. Laß die Burschen werken! Denn die eigentliche Prozedur kommt erst noch: Das Rasieren, weswegen du gekommen bist, spürst du kaum. Du hörst das Klicken der kleinen Schere in deinen Ohren, in deiner Nase, dann überschütten sie dich mit wohlriechenden -194-
Flüssigkeiten, reiben, massieren diese in deine gereinigten Poren. Dann kommen wieder die heißen Tücher, und du sitzt plötzlich aufrecht, und drei Männer fächern dir mit Handtüchern frische Luft ins Gesicht. Nun aufzustehen und zu bezahlen wäre ein grober Verstoß. Denn jetzt schütten sie dir eine blaue Flüssigkeit in die Haare und massieren zu zweit deine Kopfhaut so intensiv, daß du alles andere dabei vergißt. Einer schmiert dir eine Salbe ins Gesicht, verreibt sie so gründlich, als ob sein Leben davon abhinge. Der andere macht dir mit Föhn und Bürste eine Frisur - das hast du noch nicht gesehen -, und am besten, du schließt die Augen jetzt wieder und machst sie erst wieder auf, wenn sie dich fragen, ob du Kaffee haben möchtest. So also ist das im Mittleren Osten, wenn man zu faul ist, sich selbst zu rasieren. So ist das in Kairo oder Nicosia oder Beirut, vorausgesetzt, es wird dort nicht gerade geschossen. Vom Schießen aber konnte an diesem späten Jännertag in Kairo nicht die Rede sein. Alles war friedlich, die Sonne schien warm. Der Swimmingpool im Mena-House-Hotel war geöffnet. Bill war gestern geschwommen und hatte zwei Stunden lang in der Sonne gelegen. Die vielen Fliegen waren das einzige Störende. Am späten Nachmittag war er auf die Cheops-Pyramide geklettert, Mena-House liegt nur fünf Gehminuten von den Pyramiden entfernt und ist eines der teuersten Hotels in Kairo, nach dem Hilton und Sheraton. Abends hatte er sich in SaharaCity gelangweilt, in einer Nachtbar direkt bei den Pyramiden. Die Bauchtänzerinnen waren gut, die Preise Weltklasse. Sein Einzelzimmer im Mena-House hatte er heute früh gekündigt und war mit dem Taxi zum Flughafen gefahren. Zum Rasieren war er zu faul gewesen. Er war auch zu faul, sich einen leichten Anzug zu kaufen, was er ursprünglich vorgehabt hatte. Die alte Jeans und ein blaues Hemd genügten ihm, er konnte darin bequem Geld und Reisepaß verstauen. Und zudem sah man dann nicht aus wie ein Tourist, und die vielen shoeshineboys und Bettler auf der Straße -195-
ließen einen in Ruhe. Frisch rasiert und nach Rosenöl duftend schlenderte er also ins Flughafenrestaurant. Er fand einen kleinen Tisch neben den großen Glasfenstern, von wo aus man die Rollbahn und die startenden und landenden Maschinen beobachten konnte. Ein Ober brachte die Speisekarte. Bill bestellte nur einen Aperitif und vertröstete den Ober mit den Speisen auf später. Er sei verabredet, erklärte er, und das war er auch. Bill sah sich im Lokal um und rätselte, wer wohl die Observanten dieses Treffs sein könnten. Der lokale Resident des CIA war sicher beauftragt, die Verabredung zu beobachten und abzusichern. Die Spielregeln dürften sich in den letzten zehn Jahren wohl kaum geändert haben. Die beiden dunkelhaarigen Männer kamen in Betracht, die zwei Tische weiter Kaffee tranken. Oder dieses junge Paar. Die beiden lasen Zeitungen und redeten kaum. Die Frau stand jetzt auf und ging zum Telefon. Bill kaute intensiv an einem Kaugummi, das war außergewöhnlich, denn er mochte dieses Zeug nicht. Dann wechselte er den Platz auf die andere Seite des Tischchens, die Sonne könnte ihn gestört haben oder was auch immer. Er bestellte einen zweiten Martini, rauchte wieder und sah hinaus auf die Rollbahn. Es dauerte nochmals genau einen Martini lang, bis der Mann hereinkam, sich kurz umblickte und dann zu Bills Tisch ging. Er war etwa vierzig, tadellos gekleidet, sein blondes Haar war kurz geschnitten, und er trug eine Brille. Bill hatte den Mann noch nie in seinem Leben gesehen, und doch wußte er sofort, daß er es war. Er hätte ihn ebensogut in einem vollbesetzten Fußballstadion herausfinden können. Sie sahen alle gleich aus. »Hallo, Mister Cooper«, sagte Bill und erhob sich vom Sessel. Sie schüttelten sich die Hände und grinsten freundlich. »Bill Weiss, wenn ich nicht irre«, sagte Mr. Cooper. »Genau«, sagte Bill, »Sie haben mich lange warten lassen, ich hab' einen Riesenhunger, Herr Ober!« Bill bestellte Tachina und stuffed eggplants, Mr. Cooper ein Steak, well done. -196-
»Sie sehen sehr frisch aus für einen Mann, der seit drei Tagen tot ist«, sagte Mr. Cooper. Bill meinte, er habe sich das Sterben auch anstrengender vorgestellt. Und ob es Mr. Cooper recht sei, wenn man jetzt vom Geschäft rede. Mr. Cooper war das sehr recht. Deshalb sei er schließlich gekommen. »Ich sagte schon am Telefon, ich akzeptiere alles, was Sie mit Herbert ausgehandelt haben«, leitete Bill ein. Cooper lächelte diplomatisch: »Nur, Herr Weiss, Sie können die Handelsbedingungen ja gar nicht kennen. Oder doch? Ich meine, Sie haben mit Ihrem Freund Winkler ja nur kurz telefoniert. Er konnte nicht ahnen, daß er, na ja, daß er kurz danach sterben würde.« Bill meinte, das sei schon richtig. Trotzdem aber kenne er im groben die Geschäftsbedingungen. Weil er seinen Freund gekannt hatte. Ganz einfach deshalb. »Dann sagen Sie es mir«, sagte Cooper. »Wenn Sie es wissen, dann nennen Sie mir das Wesentliche unserer Vereinbarung.« Er legte seine linke Hand auf eine kleine Ledertasche, die er auf die Tischplatte gelegt hatte. Bill grinste: »Ich sag es Ihnen. Viel Geld für einen kleinen Schlüssel.« »Und Sie haben den Schlüssel?« »Ja«. »Haben Sie sich überzeugt, daß...« »Ja.« »Zu welchem Safe und zu welcher Bank gehört der Schlüssel?« »Das steht drauf. Auf dem Schlüssel.« »Dann geben Sie ihn mir.« Mr. Cooper streckte seine rechte Hand aus. Bill sah in diese gepflegte Handfläche. Dann sah er sich im Lokal um. Die -197-
beiden Schwarzhaarigen waren gegangen. Das junge Paar las noch immer Zeitung. »Ich kenne leider die Höhe der Summe nicht und auch nicht die Zahlungsmodalität«, sagte er. Mr. Cooper nahm die Hand wieder zurück. »Zwanzigtausend Deutsche Mark bei Übergabe des Schlüssels«, sagte er. »Der Gesamtbetrag ist zweihunderttausend Deutsche Mark. Dieser Betrag abzüglich der auszuzahlenden zwanzigtausend liegt auf einer Bank in Zürich. Das Konto ist vinkuliert. Die Vinkulation läuft auf Kennwort. Dieses Kennwort erfährt der Verkäufer zehn Tage nach Übergabe des Schlüssels. Diese Frist scheint für die Überprüfung notwendig und angemessen. Der Betrag ist einbezahlt, Bankpapiere und Kontonummer werden mit den Zwanzigtausend bei Übergabe des Tresorschlüssels ausgehändigt. Das Konto ist für den Verkäufer vorläufig blockiert, also ohne Kennwort bedeutungslos.« »Und wie erfährt der Verkäufer das Kennwort?« »Das kann er sich aussuchen. Schriftlich, mündlich oder telefonisch, ganz wie er will. Am einfachsten, Sie rufen mich nach zehn Tagen an. Ich werde es Ihnen dann sagen, vorausgesetzt, das Archiv ist in unserem Besitz und die Identität überprüft.« »Herbert hatte großes Vertrauen zu Ihnen, nicht wahr?« Bill lächelte. »Ja. Auch wir zu ihm.« Mr. Cooper lächelte nicht. Der Ober kam und fragte, ob noch etwas gewünscht würde. Mr. Cooper wollte nichts mehr. Bill bestellte noch ein Bier. »Die Zwanzigtausend«, sagte er, »die Zwanzigtausend und die Bankpapiere sind in dieser Tasche, nicht wahr?« Mr. Cooper nickte. Er hielt immer noch die Hand darauf. »Gut«, sagte Bill fröhlich, »einverstanden.« »Sie vergessen den Schlüssel«, sagte Mr. Cooper sachlich. »O nein, wie könnte ich. Der Schlüssel ist schon bei Ihnen. Unter ihrem rechten Ellbogen. Er klebt an der Unterseite der -198-
Tischplatte. Mit einem Kaugummi angepickt. Ich hoffe, es stört Sie nicht, der Kaugummi wird noch feucht sein.« Mr. Cooper griff unter die Tischplatte. Er las kurz die Nummer des Schlüssels und den Namen der Bank, dann wickelte er ihn mitsamt Kaugummi in sein Taschentuch, steckte das Tuch ein. Er nahm seine Brille ab, um sie gleich darauf wieder aufzusetzen. Die zeitunglesende Dame vom Nebentisch stand auf und ging wieder telefonieren. »Wir könnten uns noch ein wenig privat unterhalten«, sagte Mr. Cooper. »Wenn es Ihnen recht ist.« Ihm sei das sehr recht, meinte Bill. »Aber lassen Sie endlich die Ledertasche los, immerhin gehört sie jetzt mir.« Der Ober brachte gerade das Bier. Mr. Cooper wollte nun plötzlich doch noch etwas trinken. Einen Sherry vielleicht? Der Ober nickte und ging, und Mr. Cooper schob die Tasche Bill zu. Er öffnete den Verschluß: Sie enthielt ein Bündel Geldscheine und andere Papiere. »Wollen Sie nachzählen?« fragte Mr. Cooper. »Aber nein, nicht nötig.« Bill lächelte. »Herberts Freunde sind auch meine Freunde.« »Interessant für mich wäre«, plauderte Cooper leichthin, »wer nun dann an Ihrer Stelle erschossen und verbrannt worden ist in dieser Holzhütte Rossmaneks. Haben Sie eine Ahnung?« Bill trank sein Bier und meinte, daß er mehr als nur eine Ahnung habe. Einen Namen habe er und Paßdaten. »Und weil wir jetzt Freunde sind, will ich Ihnen eine kurze Geschichte erzählen. Mit Einschränkungen«, fügte er hinzu. »Die Vorgeschichte kennen Sie. Es war nach neunzehn Uhr, als ich hinkam. Die Tür stand offen. Ich ging hinein und knipste das Licht an. Ein toter Mann lag auf dem Holzboden. Er hatte ein Loch im Kopf und eine Pistole in der Hand. Aus der Pistole war nicht geschossen worden. Das alles hatte ich mir so ähnlich vorgestellt. Nur, es war ein ganz anderer, mir fremder Mann, der dort lag. Verstehen Sie?« -199-
Nur teilweise verstehe er das. Und wen er eigentlich dort liegend erwartet habe, wollte Cooper wissen. »Das werde ich Ihnen nicht sagen. Es ist eine sehr private Angelegenheit.« Bill sah auf die Rollbahn hinaus und dachte an seine Schulzeit. »Hier«, er griff in seine Hemdtasche und fischte einen Zettel heraus. »Der Tote hatte einen Fremdenpaß, ich hab mir die Daten aufgeschrieben. Sagt Ihnen der Name was?« »Miroslaw Slobodim«, las Cooper, »geboren am ersten April 1946 in Prag und so weiter. Doch ja, der Name sagt mir was. Er gehörte zu Oberst Kalinins Leuten. Da scheint ja dem Oberst was Arges passiert zu sein. Womöglich hatte der Mann dort auftragsgemäß gar nichts zu suchen und wurde von eigenen Leuten abgemurkst. So was kommt vor, sogar bei den Iwans.« Cooper schien keineswegs traurig zu sein und bestellte ein zweites Glas Sherry. »Und weiter?« »Da ist noch was. In seiner Rocktasche waren vier Seiten Carboplanpapier, klein zusammengefaltet. Mit einem Spiegel kann man leicht lesen, was darauf getippt wurde. Ich war selber erstaunt.« Bill fischte ein blaues Viereck aus seiner Brusttasche und warf es auf den Tisch. »Es ist der Bericht Hammerlangs über ein Gespräch mit Ihnen, Mr. Cooper.« Bill grinste so ordinär, als ob er schlüpfrige Witze erzählen würde. »Kann ich das Zeug haben?« »Aber natürlich, sogar kostenlos.« »Höchst interessant, ein Aktenvermerk über mein letztes Gespräch mit dem Polizeirat, sagen Sie. Sehr interessant.« »Ist es die Dicke vom Vorzimmer?« »Vermutlich.« Mr. Cooper steckte die Carbonpapiere in die Rocktasche und wurde immer vergnügter. »Weiter«, sagte er. »Nix weiter. Die Geschichte ist schon zu Ende. Den Rest -200-
kennen Sie ja. Ich hab dann - wie geplant - meinen Selbstmord verübt. Benzin und Wattebauschen in eine Plastikschüssel neben den Toten. Die Kerze angezündet, sie brannte fünfunddreißig Minuten. Da war ich schon im Taxi auf dem halben Weg zum Flugplatz. Ende.« »Nein«, sagte Cooper. »Bitte?« »Die Geschichte ist keineswegs zu Ende. Sie vergessen Oberst Kalinin. Er ist der einzige, der weiß, daß Ihre Selbstmordversion nicht stimmen kann. Der einzige außer uns beiden.« Bill sah wieder aufs Rollfeld hinaus. »Was geht mich dieser Oberst Kalinin an«, sagte er, »schließlich bin ich amtlich tot.« Es klang nicht überzeugend. »Oberst Kalinin ist ein Spitzenmann, Sie sollten ihn nicht unterschätzen. Was übrigens werden Sie jetzt tun?« hörte er den Cooper sagen. Bill sah aufs Rollfeld. Eine Maschine der EgyptAirways startete gerade. Das Geräusch der Turbinen zerrte an seinen Nerven. Oberst Kalinin. Natürlich, der Regiefehler war passiert. Er mußte sich vorsehen. »Hört denn das nie auf?« murmelte er. Cooper hatte nicht verstanden. »Was also werden Sie tun?« Bill rief den Ober und bezahlte die Rechnung. Er gab ein gutes Trinkgeld, nahm die Ledertasche unter den Arm und stand auf. »Was ich tun werde? In zehn Tagen rufe ich Sie wieder an, Mr. Cooper.«
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I................................................................................................................3
II ..............................................................................................................9
III ...........................................................................................................20
IV ...........................................................................................................26
V ............................................................................................................36
VI ...........................................................................................................48
VII..........................................................................................................61
VIII ........................................................................................................67
IX ...........................................................................................................77
X ............................................................................................................84
XI ...........................................................................................................89
XII..........................................................................................................92
XIII ........................................................................................................98
XIV ......................................................................................................104
XV .......................................................................................................110
XVI ......................................................................................................119
XVII.....................................................................................................122
XVIII ...................................................................................................129
XIX ......................................................................................................139
XX .......................................................................................................148
XXI ......................................................................................................151
XXII.....................................................................................................168
XXIII ...................................................................................................174
XXIV ...................................................................................................177
XXV ....................................................................................................186
XXVI ...................................................................................................194
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