Caroline Lanz Burnout aus ressourcenorientierter Sicht im Geschlechtervergleich
Caroline Lanz
Burnout aus ressourcen...
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Caroline Lanz Burnout aus ressourcenorientierter Sicht im Geschlechtervergleich
Caroline Lanz
Burnout aus ressourcenorientierter Sicht im Geschlechtervergleich Eine Untersuchung im Spitzenmanagement in Wirtschaft und Verwaltung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation Universität Zürich, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17334-4
Arbeit um der Arbeit willen ist gegen die Natur JOHN LOCKE
Für Reto und Mara Sophie
Danksagung
Diese Dissertationsarbeit war nur möglich mit der Unterstützung vieler Personen, denen ich an dieser Stelle danken möchte. In erster Linie geht ein herzlicher Dank an Herrn Dr. phil Hans-Martin Zöllner, für seine kompetente und wohlwollende Betreuung dieser Arbeit. Er hatte stets ein offenes Ohr für all meine Fragen und Probleme. Ein weiterer Dank gebührt Prof. Dr. med. Daniel Hell für das Interesse an dieser Thematik und Prof. Dr. med. Heinz Böker für seine spontane Zusage zur Begutachtung meiner Arbeit. Nur durch die Teilnahme der verschiedenen Führungspersonen in Wirtschaft und Verwaltung war es möglich, die vorliegende Studie zu verfassen. Dabei durfte ich herausragende Persönlichkeiten kennenzulernen, die mir durch ihre Offenheit einen Einblick in ihren Lebensalltag ermöglichten. Ihnen allen möchte ich besonders danken. Ausserdem gilt mein Dank meiner Studienkollegin lic. phil. Ruth Enzler für die gemeinsame Ausarbeitung der Erhebungsinstrumente und Datenerhebung, lic. phil. Bettina Gehrig für die Transkription der Interviews, lic. phil. Susanne Haab und Dr. lic. phil. Luciano Gasser für die hilfreichen Tipps bei der Datenauswertung und lic. phil. Markus Binder für die aufmerksame Durchsicht des Textes und die wertvollen Hinweise zur gesamten Arbeit. Von ganzem Herzen möchte ich mich schliesslich bei meiner Familie bedanken. Sie alle haben massgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Luzern, im Frühjahr 2009
Caroline Lanz
Dieses Werk, einschliesslich aller seiner Teile und Abbildungen, ist urheberrechtlich geschützt.
Inhaltsverzeichnis
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
I
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
II
Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
II.1
Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
II.1.1 II.1.2 II.1.3 II.1.4
Begriffsdefinition Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Salutogenetische Gesundheitsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Konzept der Salutogenese nach Antonovsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Arbeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
II.2
Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
II.2.1 II.2.2 II.2.3 II.2.3.1 II.2.3.2 II.2.3.3 II.2.3.4 II.2.3.5 II.2.4 II.2.4.1 II.2.4.2
Begriffsdefinition Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen von Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterscheidung von Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innere Sinngebung: Glaubenssätze, Motive und Visionen . . . . . . . . . . Belohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Distanzierungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcenkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie der Ressourcenerhaltung nach Stevan Hobfoll (1988) . . . . . . Das Ressourcen-Belastungs-Regulations-Modell nach Kernen (2008)
28 28 28 29 30 32 33 34 35 35 36
II.3
Belastung, Beanspruchung und Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
II.3.1 II.3.2 II.3.3 II.3.3.1 II.3.3.2 II.3.4
Das Belastungs- und Beanspruchungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsdefinition Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundmodelle von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Allgemeine Adaptionssyndrom nach Selye (1981) . . . . . . . . . . . . Transaktionales Stressmodell nach Lazarus und Launier (1981) . . . . . Klassifikation von Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 40 43 44 44 47
12
Inhaltsverzeichnis
II.3.5 II.3.6 II.3.7
Stressreaktionen und -folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Job-Demand-Control-Modell nach Karasek (1979) . . . . . . . . . . . . . . . 49 Effort-Reward-Imbalance-Modell nach Siegrist (1996) . . . . . . . . . . . 50
II.4
Stresserkrankung: Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
II.4.1 II.4.2 II.4.3 II.4.4 II.4.5
Historische Begriffsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsansätze des Phänomens Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burnout als Krankheitsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschied Burnout – Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 54 54 59 59
II.5
Zur Empirie der Geschlechterunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
II.5.1 II.5.2 II.5.3 II.5.4
Begriffsdefinition Geschlecht und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheit und Krankheit von Frauen und Männern . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiedliche Ressourcen und Stressoren bei Männern und Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechterunterschiede und Copingverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtsspezifische Befunde zu Arbeitsstressoren und -reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 62 64
III
Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
III.1
Beschreibung der Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
III.1.1 III.1.2
Forschungsfragen der quantitativen Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen der qualitativen Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73 74
III.2
Erhebungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effort-Reward-Imbalance, ERI (Siegrist et al., 2004) . . . . . . . . . . . . . Maslach Burnout Inventory, MBI ( Maslach et al., 1996) . . . . . . . . . . Sense of Coherence Scale, SOC (Antonovsky, 1987) . . . . . . . . . . . . . Fragebogen zur sozialen Unterstützung, F-SozU (Fydrich et al., 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2 Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.1 Interviewdurchführung und -transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75 76 77 78
III.3
Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
III.4
Datenmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
II.5.4.1 II.5.4.2
III.2.1 III.2.1.1 III.2.1.2 III.2.1.3 III.2.1.4
66 66 68
78 80 83
13
Inhaltsverzeichnis
III.5
Auswertungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
III.5.1 III.5.2 III.5.2.1 III.5.2.2 III.5.2.3
Quantitative Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitative Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmung der qualitativen Auswertungsmethode . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen bei der Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87 87 87 89 90
IV
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
IV.1
Ergebnisse der Fragebogenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
IV.2
Ergebnisse der Interviewanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
IV.2.1 IV.2.2 IV.2.3 IV.2.4 IV.2.5
Ergebnisse mit Antwortzitaten zur Forschungsfrage 1 Ergebnisse mit Antwortzitaten zur Forschungsfrage 2 Ergebnisse mit Antwortzitaten zur Forschungsfrage 3 Ergebnisse mit Antwortzitaten zur Forschungsfrage 4 Ergebnisse mit Antwortzitaten zur Forschungsfrage 5
V
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
V.1
Diskussion der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
V.1.1 V.1.2 V.1.2.1 V.1.2.2 V.1.2.3 V.1.2.4 V.1.2.5 V.1.2.6
Diskussion der Ergebnisse der quantitativen Untersuchung . . . . . . . . Diskussion der Ergebnisse der qualitativen Untersuchung . . . . . . . . . Innere Sinngebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belohnungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Copingstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcen: Unterschiede zwischen den Geschlechtern . . . . . . . . . . . Stressfaktoren und Geschlechterunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.2
Probleme und Grenzen der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
V.3
Weiterführende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
VI
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
............. ............. ............. ............. .............
95 105 117 133 140
155 156 156 158 160 164 168 170
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Abstract
Ein zentrales Thema unserer Zeit ist Stress. Zunehmend geforderte Flexibilität, Zeitdruck, gesteigerte Anforderungen, Rollenkonflikte ect. sind aus dem Arbeitsleben kaum mehr wegzudenken. Die Angst vor Job- oder Umsatzverlust beherrscht das Denken in unserer Gesellschaft. Die gegenwärtige globale Wirtschaftskrise ist dafür ein beredtes Beispiel. Dabei ist eine Zunahme psychischer Stressoren und Stresserkrankungen wie das Burnoutsyndrom zu verzeichnen. Dennoch gibt es viele Menschen, die trotz jahrelanger hoher Arbeitsbelastung und hohem Stresserleben gesund bleiben. Die Studie geht der Frage nach, welche individuellen und arbeitsplatzbezogenen Ressourcen diese Menschen nutzen. Sie verfolgt damit einen ressourcenorientierten oder salutogenetischen Ansatz. Da in der Schweiz bislang keine Studien zur untersuchten Gruppe der Spitzenführungskräfte in Verwaltung und Wirtschaft unter dem Aspekt des Geschlechtervergleichs vorliegen, wird mit dieser Untersuchung ein Zugang in ein nationales Forschungsfeld geschaffen. Als theoretischer Ausgangspunkt dient das Effort-Reward-Imbalance-Modell von Siegrist (1996). Dabei werden bestimmte Ressourcen wie die innere Sinngebung, Belohnungsfaktoren und persönliche Strategien im Hinblick auf ihre gesundheitsfördernde Wirkung untersucht. Es stellt sich zudem die Frage, ob sich weitere Ressourcen identifizieren lassen, die zusätzlich auf einen Unterschied zwischen den Geschlechtern hinweisen. Methodisch dient eine qualitative Inhaltsanalyse der Bedarfsermittlung und Ursachenanalyse. Ergänzend erfolgt eine quantitative Fragebogenerhebung. Die 40 untersuchten Spitzenführungskräfte benennen zahlreiche Stressoren und Ressourcen, welche sie in ihrem Lebensalltag erfahren. Quantitative Arbeitsüberlastung, Zielkonflikte und das Erleben von Misserfolg gehören zu den meist genannten Ursachen von Stress, während diverse Copingstrategien und erhaltene Belohnung relevante Ressourcen darstellen. Überdies sind auch weitere Ressourcen wie zum Beispiel Erfahrung und schnelle gute Regenerierfähigkeit von grossem Nutzen. Entgegen der Annahme besitzt die materielle Belohnung in dieser Stichprobe keine grosse Relevanz. Wenige, aber massgebliche Unterschiede finden sich im Geschlechtervergleich. Frauen verfolgen sozialere Motive, messen anderen Belohnungsfaktoren unterschiedliche Bedeutung bei und nutzen andere Copingstrategien als ihre männlichen Kollegen. Zudem werden spezifische Arbeitsbelastungen verschieden erlebt (z. B. Rollenkonflikte). Schlüsselwörter: Ressourcen, Stressoren, Arbeit, Führungskräfte, Effort-Reward-ImbalanceModell, Geschlechterunterschiede, Burnout
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Theorie der Ressourcenerhaltung nach Stevan Hobfoll (1988)
36
Abbildung 2: Das Ressourcen-Belastungs-Regulations-Modell nach Kernen (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Abbildung 3: Das Stressmodell von Lazarus und Launier (1981) . . . . . . . . . 45 Abbildung 4: Job-Demand-Control-Modell nach Karasek (1979) . . . . . . . . . 50 Abbildung 5: Effort-Reward-Imbalance-Modell nach Siegrist (1996) . . . . . . 51 Abbildung 6: Waage als symbolische Grundlage des Interviews . . . . . . . . . . 80 Abbildung 7: Altersverteilung der Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Abbildung 8: Berufserfahrung der untersuchten Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . 85 Abbildung 9: Angaben der Arbeitsstunden (pro Woche) . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abbildung 10: Erweitertes Effort-Reward-Imbalance-Modell . . . . . . . . . . . . . 179
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Taxonomie nach House (1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
Tabelle 2: Deutsche und englische Belastungs- und Stressbegriffe nach Udris & Frese (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
Tabelle 3: Stressoren des Arbeitsfeldes (Udris & Frese, 1999; Zapf & Semmer, 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Tabelle 4: Klassifikation kurz- und langfristiger Auswirkungen von Stress (Kaufmann, Pornschlegel & Udris, 1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Tabelle 5: Persönlichkeitszentrierte, sozial-, arbeits- und organisationspsychologische Erklärungsansätze nach Gusy (1995) . . . . . . . . . . 54 Tabelle 6: Burnout als Zusatzkategorie im ICD-10 (2006) . . . . . . . . . . . . . . . 59 Tabelle 7: Diagnostische Kriterien für Depression ICD-10 (2006) . . . . . . . . . 60 Tabelle 8: Vorgehensweise bei den Anfragen in absoluten Zahlen und in Prozentwerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Tabelle 9: Stichprobenzusammensetzung in absoluten Zahlen und in Prozentwerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Tabelle 10: Spearman-Korrelationen zwischen den einzelnen Variablen und den Dimensionen des MBI (Emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, subjektive Leistungseinbusse) . . . . . . . . . . . .
94
Tabelle 11: Kategorien der Ressource „Innere Sinngebung“ . . . . . . . . . . . . . .
97
Tabelle 12: Kategorien der Ressource Belohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Tabelle 13: Häufigkeitsauswertung der ideellen Belohnungsfaktoren bei den Männern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Tabelle 14: Häufigkeitsauswertung der ideellen Belohnungsfaktoren bei den Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Tabelle 15: Kategorien der persönlichen Strategien (Copingstrategien) . . . . . . 117 Tabelle 16: Kategorien der zusätzlich genannten Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . 134 Tabelle 17: Kategorien der eruierten Stressfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Tabelle 18: Häufigkeitsauswertung der Stressfaktoren bei den Männern . . . . . 152 Tabelle 19: Häufigkeitsauswertung der Stressfaktoren bei den Frauen . . . . . . 152
I
Einleitung
Stress macht immer mehr Menschen krank. Es gibt Schätzungen, wonach Burnout in der Schweiz jährlich Kosten von rund 4.2 Milliarden Franken oder 1.2 Prozent des Bruttoinlandprodukts verursacht (Ramaciotti & Perriaud, 2003). Dabei geht vergessen, dass viele Menschen diesen Stress sehr lange aushalten können, wenn sie über Ressourcen verfügen, wie zum Beispiel Geld, Macht, erlebte soziale Unterstützung, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit oder ein gutes soziales Umfeld (Kernen, 2005; Lazarus & Launier, 1981; Perrez & Reicherts, 1992; Semmer, McGrath & Beehr, 2003). Neben diesen individuellen Ressourcen oder verhaltensbezogenen Schutzfaktoren scheint es zudem arbeitsplatzbezogene Bedingungen zu geben, die sich positiv auf die Arbeitszufriedenheit und damit auch auf die Gesundheit auswirken (Hackmann & Oldham, 1976; Peter & Siegrist, 1999; Udris & Grote, 1993; Ulich, 2005). Umgekehrt gibt es natürlich auch individuelle Risikofaktoren und Prädispositionen, die bewirken, dass Arbeitsbelastung eher zu Stressreaktionen führt (Semmer et al., 2003). Die vorliegende Arbeit untersucht individuelle und arbeitsplatzbezogene Schutzfaktoren im Zusammenhang mit Arbeitsstressoren, die sich stressmindernd und damit positiv auf die psychische und physische Gesundheit auswirken. Die Hauptfrage lautet: Wie schützen sich Personen mit grossen Arbeitsanforderungen vor Burnout? Oder anders gefragt: Welche Ressourcen wirken sich am ehesten stressmindernd aus bzw. werden am ehesten von den befragten Personen angewendet? In der Literatur werden folgende Faktoren mit niedrigen Burnoutwerten in Verbindung gebracht: Sport, soziale Unterstützung, Wertschätzung und Anerkennung von Vorgesetzen und Arbeitskollegen, finanzielle Situation, Karrieremöglichkeiten und ein niedriges Overcomittment bzw. eine hohe Erholungsfähigkeit und Distanzierungsfähigkeit von der Arbeit (Broocks, 2003; Kleinbeck & Rutenfranz, 1987; Siegrist, 2002; Ulich, 2005). Die Studie verfolgt einen ressourcenorientierten oder salutogenetischen Ansatz (Kernen, 1997; Kernen, 2005). Bisher wurde in der Burnoutliteratur meist pathogenetisch danach gefragt, was krank macht und die Untersuchungen bezogen sich sehr häufig auf soziale Berufe (Kernen, 1997; Rösing, 2003). In der psychologischen Forschung etwa ist gut untersucht, dass chronische Stressbedingungen negative gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen können (Kernen, 1997; Khashabi, 1996; Perrez & Reicherts, 1992; Semmer et al., 2003). Als physiologische Stresserkrankungen treten häufig Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Muskelschmerzen, Ge-
20
I Einleitung
lenkschmerzen, und Magenbeschwerden auf, ausserdem steigt die Sterblichkeit (Semmer et al., 2003). Auch psychologische Parameter wurden gemessen, dabei zeigten chronisch gestresste Büroangestellte erhöhte Werte in Ängstlichkeit, Depression und Feindseligkeit (Kernen, 2005; Semmer et al., 2003). Im Zentrum dieser Untersuchung steht ein Vergleich der Geschlechter. Das Geschlecht ist eine zentrale Determinante des Gesundheits- und Krankheitsgeschehens und hat ebenso starke Auswirkungen wie andere Variablen wie etwa das Alter (Merbach, Singer & Brähler, 2002). Männer und Frauen zeigen ein unterschiedliches Gesundheitsverhalten und -empfinden, weil sie kulturell bedingt sowie durch ihr biologisches Geschlecht unterschiedlichen Einflüssen auf ihre Gesundheit ausgesetzt sind (Gertler, 2004). So ist es auch zu erklären, dass Männer über andere Copingstrategien verfügen als Frauen (Schmid, 2003; Tamres, Janicki & Helgeson, 2002). Zur Untersuchung der ressourcenorientierten Faktoren eignen sich Führungskräfte, die an oberster Stelle eines Unternehmens oder einer Institution stehen. Es handelt sich dabei um einen Arbeitsbereich, in dem schweizweit eine massgebliche Anzahl von Personen beschäftigt ist und innerhalb dessen die Arbeitsbelastung in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat. Der Umgang mit Stress und schwierigen Situationen gehört zum Führungsalltag. Dabei stehen arbeitsbezogene Anforderungen häufig im Widerspruch zu den Wertvorstellungen in den Bereichen Familie, Freizeit und soziale Beziehungen: „… die essenzielle Balance zwischen Anforderungen, Belastungen und Ressourcen [ist] bei immer mehr Menschen in Führungs- und Managementfunktionen nicht mehr gegeben“ (Ohm & Strohm, 2001, S. 53). Stress kann zudem auch aus Anpassungserfordernissen resultieren, die durch einen Wechsel der Firmenpolitik, Reorganisation und Fusionen verlangt werden (Cooper, Kirkcaldy & Furnham, 1995). Hinweise dafür sind eine Zunahme von physischen und psychischen Erkrankungen (Kernen, 1997). Demgegenüber werden Ressourcen in der Führungstätigkeit im Gegensatz zu Stressoren vergleichsweise wenig thematisiert (Busch & Steinmetz, 2002). Die Studie bezieht sie sich deshalb auf eine selten untersuchte Gruppe der Spitzenführungskräfte aus der Schweizer Wirtschaft und Verwaltung. Die vorliegende Dissertation über Ressourcen und Stressoren von Führungskräften und dem Vergleich zwischen den Geschlechtern ist wie folgt gegliedert: Kapitel II befasst sich mit den theoretischen und konzeptionellen Grundlagen zu Gesundheit, Ressourcen und Stressoren am Arbeitsplatz. Es werden modellhafte Zusammenhänge mit den wichtigsten Faktoren im Stressgeschehen vorgestellt. Zusätzlich wird auf die wesentlichen Geschlechterunterschiede im Hinblick auf gesundheitliche Aspekte eingegangen und ein Überblick über Forschungsergebnisse zur Geschlechterthematik gegeben.
I Einleitung
21
In Kapitel III werden zunächst die Erhebungsinstrumente dokumentiert. Anschliessend wird die Stichprobe beschrieben, die sich aus weiblichen und männlichen Führungskräften der obersten Ebene rekrutiert. Daran schliesst sich eine Beschreibung des Auswertungsvorgehens an. In Kapitel IV sind die Ergebnisse aus der Untersuchung als Kernstück der Untersuchung dargestellt. Diese werden am Leitfaden der Fragestellung dokumentiert. Diese Ergebnisse dienen als Grundlage für eine Formulierung der Ressourcen und Stressoren im Geschlechtervergleich. Kapitel V schliesst die Untersuchung ab: Die Ergebnisse werden zusammenfassend interpretiert und vor dem theoretischen Hintergrund diskutiert. Daraus werden neue Fragen für die weitere Forschung entwickelt.
II
Theoretischer Hintergrund
Wo Gesundheit fehlt, kann Weisheit nicht offenbar werden, Kunst kann keinen Reichtum finden, Stärke kann nicht kämpfen, Reichtum wird wertlos und Klugheit kann nicht angewandt werden. Herophiles, 300 v. Chr. in Alexandrien
Bereits der Arzt Herophiles hat in der Zeit vor Christus festgestellt, dass Gesundheit ein wertvolles Gut darstellt und eine wichtige Voraussetzung für die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens bildet. Im folgenden Kapitel soll der Begriff der Gesundheit geklärt werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, was Gesundheit überhaupt ist. Im Weiteren werden ausgewählte Aspekte näher betrachtet, welche für diese Studie von Bedeutung sind.
II.1
Gesundheit
II.1.1
Begriffsdefinition Gesundheit
Gesundheit ist ein vielschichtiger Begriff. Dabei haben sich insbesondere die psychischen Gesundheits- bzw. Krankheitskriterien im Verlauf der Zeit immer wieder verändert. Sie sind von kulturellen Bedingungen abhängig (Hell, 2006). 1946 entwickelte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgende Definition: „Die Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (WHO, 1946, zitiert nach Ulich & Wülser, 2005). Gemäss dieser Bestimmung ist ein Mensch krank, wenn sein Wohlbefinden beeinträchtigt ist (Hell, 2003). Zudem erhält „das individuelle Erleben Vorrang vor jedem anderen Kriterium“ (Hell, 2003, S. 93). Diese Definition wurde aufgrund ihrer statischen Sichtweise kritisiert. Nach neueren Gesundheitsdefinitionen ist Gesundheit mit ständigen Anpassungsleistungen an Umgebungsbedingungen verbunden (Ulich & Wülser, 2005) und kann somit als ein lebenslanger Prozess verstanden werden. 1987 hat deshalb die WHO ihre Definition angepasst: „Gesundheit ist die Fähigkeit und Motivation, ein wirtschaftlich und sozial aktives Leben zu führen“ (WHO,
24
II Theoretischer Hintergrund
1987, zitiert nach Ulich & Wülser, 2005). Damit wird eine deutliche Veränderung in der Auffassung von Gesundheit erkennbar. Udris und Frese (1992) bezeichnen Gesundheit als Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt bzw. zwischen den physischen, psychischen und sozialen Ressourcen einer Person. Dabei gilt auch hier Gesundheit nicht als Zustand, sondern eher als Fähigkeit, ein Ungleichgewicht zu bewältigen und zu regulieren. Es handelt sich um eine Balance zwischen Abwehr- und Schutzfunktionen einerseits und potentiell krankmachenden Einflüssen der physikalischen, biologischen und sozialen Umwelt andererseits (Udris & Frese, 1992). Kernen (2005) sieht folgende Aspekte als zentral: • Die Gesundheit gibt es nicht. Menschen besitzen je nach Situation und Zeitpunkt Anteile von Gesundheit und Krankheit in unterschiedlichem Verhältnis. • Gesundheit ist ein lebenslanger Prozess. Es geht um die Auseinandersetzung mit gesundheitsförderlichen (salutogenen) und krank machenden (pathogenen) Faktoren. • Gesundheit ist ein dynamisches Gleichgewicht. Dabei handelt es sich um ein Fliessgleichgewicht, „welches das Individuum ständig mit seiner Umwelt herzustellen versucht, um sein Wohlbefinden zu optimieren“ (Gutzwiller & Jeanneret, 1999, zitiert nach Kernen, 2005, S. 36). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass „Gesundheit auf einem Kontinuum einzuordnen ist, das vom positiven Pol „völlig gesund“ bis zum negativen Pol „schwer krank“ reicht. Tatsächlich liegt der reale Gesundheitszustand auf diesem Kontinuum zwischen den Polen“ (Rudow, 2004, S. 36).
II.1.2
Salutogenetische Gesundheitsmodelle
In den salutogenetischen Gesundheitsmodellen wird die Bedeutung von Ressourcen (vgl. Kp. II.2.2.) besonders betont, da sie sich Prozessen zuwenden, die Gesundheit erhalten und fördern. Die Wurzeln dieser Konzepte liegen in der Stress- und Bewältigungsforschung (Franke, 2000, zitiert nach Ulich & Wülser, 2005, S. 52). Salutogenese bedeutet so viel wie „Gesundheitsentstehung“ und wurde vom israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) in den 70-er Jahren als Gegenbegriff zur Pathogenese entwickelt. Er interessierte sich in erster Linie nicht für die Ursachen von Krankheiten (pathogenetisch orientierte Sichtweise), sondern primär dafür, warum Menschen gesund bleiben (salutogenetisch orientierte Sichtweise). Mit seinem Konzept hat er einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitsforschung eingeleitet.
II.1 Gesundheit
II.1.3
25
Konzept der Salutogenese nach Antonovsky
Als Soziologe führte Antonovsky zahlreiche Untersuchungen an Personengruppen durch, die besonderen psychosozialen Stressoren (z. B. Menschen im Konzentrationslager) ausgesetzt waren. Belastungen bzw. Stressoren beschreibt er als tägliche Ärgernisse (daily hassles), kritische Lebensereignisse (critical life events) oder als kulturelle und strukturelle Beanspruchungen (chronical life strain), die auf das Individuum einwirken können. Menschen reagieren auf Stressoren mit einem Spannungszustand. Dessen Folgen können unter Berücksichtigung ihres Bewältigungsverhaltens gesundheitsschädlich, neutral oder gesundheitsförderlich sein. Ressourcen werden als „Widerstand“ gegenüber Belastungen verstanden. Die Widerstandsressourcen stützen die Fähigkeiten einer Person, zum eigenen Nutzen und zur Förderung der weiteren Entwicklung mit den gegebenen Belastungen zurechtzukommen. Nach Antonovskys Konzept geht es grundsätzlich um die Frage, warum Menschen trotz zahlreicher belastender Lebensbedingungen gesund bleiben. Seine Antwort auf diese Frage zielt auf das Kohärenzerleben (Antonovsky, 1997): Das Kohärenzerleben [sense of coherence, SOC] ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmass man ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äusseren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind, 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen, 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen. (S. 36)
Mit dem Begriff des Kohärenzerlebens werden folgende drei Komponenten angesprochen (Antonovsky, 1997): Verstehbarkeit (comprehensibility): ist das Ausmaß, in dem man die aus der internen und externen Umgebung stammenden Reize, mit denen man konfrontiert ist, als kognitiv sinnvoll und als Informationen wahrnimmt, die geordnet, konsistent, strukturiert und klar sind. Handhabbarkeit (manageability): ist das Ausmaß, in dem man wahrnimmt, dass die einem zur Verfügung stehenden Ressourcen geeignet sind, den Anforderungen durch die einstürmenden Reize zu entsprechen. Sinnhaftigkeit (meaningfulness): ist das Ausmaß, in dem man das Gefühl hat, dass das Leben einen emotionalen Sinn hat, dass zumindest einige Probleme und Anforderungen, die das Leben einem auferlegt, es wert sind, Energie einzusetzen, sich zu verpflichten und zu engagieren, und dass sie „willkommene“ Herausforderungen sind, anstatt dass sie einen bedrücken und man lieber ohne sie auskäme. (S. 36)
26
II Theoretischer Hintergrund
Zusammengefasst geht es beim Kohärenzsinn um eine individuelle, mentale Einflussgrösse, die als Grundhaltung des Individuums gegenüber der Welt und dem eigenen Leben betrachtet werden kann. Sie kann sich nur durch eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und den eigenen inneren Voraussetzungen, Kapazitäten und Kompetenzen entwickeln. Zusätzlich sind soziale Beziehungen für die Entwicklung des Kohärenzsinns wichtig. Von dieser Grundhaltung hängt ab, wie gut das Individuum in der Lage ist, vorhandene Ressourcen zum Erhalt der Gesundheit zu nutzen. II.1.4
Arbeit und Gesundheit
Gesundheit ist Voraussetzung für den Erhalt und die Entwicklung der Leistungsmotivation und Leistungsfähigkeit (Ohm & Strohm, 2001), welche für das Individuum in der täglichen Arbeit nötig ist. Diese wiederum ist ein wichtiger Faktor im Leben eines Menschen und ist für die Gesundheit und das Wohlbefinden zentral, indem sie den Menschen befriedigt. Ausserdem enthält die Arbeit gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten, „welche dem Zweck dienen, in Auseinandersetzung mit materiellen Gegebenheiten das Über- und Wohlleben menschlicher Gemeinschaften zu sichern“ (Volpert, 1992, S. 12). Die Arbeit wirkt sich auf verschiedene Lebensbereiche eines Individuums aus. Sie prägt zum Beispiel bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungsmuster. Wichtig ist auch, dass die in die Arbeit investierte Zeit für andere Lebensbereiche nicht mehr zur Verfügung steht (Dragano, 2007). Zusätzlich üben soziale Strukturen, wie zum Beispiel die berufliche Stellung, einen erheblichen Einfluss auf die Lebenserwartung und die Lebensqualität aus. Ein höherer Berufsstatus ist mit Ressourcen verbunden, die einen begünstigenden Einfluss auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten besitzen (Badura & Feuerstein, 2001). Nach Semmer und Udris (1993, zitiert nach Ulich, 2005) beinhaltet die Arbeit zudem verschiedene psychosoziale Funktionen: Aktivität und Kompetenz: Die Aktivität, die mit der Arbeit verbunden ist, ist eine wichtige Vorbedingung für die Entwicklung von Qualifikationen. In der Bewältigung von Arbeitsaufgaben erwerben wir Fähigkeiten und Kenntnisse, zugleich aber auch das Wissen um diese Fähigkeiten und Kenntnisse, also ein Gefühl der Handlungskompetenz. Zeitstrukturierung: Die Arbeit strukturiert unseren Tages-, Wochen- und Jahresablauf, ja die gesamte Lebensplanung. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass viele zeitbezogene Begriffe wie Freizeit, Urlaub, Rente nur in ihrem Bezug zur Arbeit definiert sind. Kooperation und Kontakt: Die meisten beruflichen Aufgaben können nur in Zusammenarbeit mit anderen Menschen ausgeführt werden. Das bildet eine wichtige Grundlage für die Entwicklung kooperativer Fähigkeiten und schafft ein wesentliches soziales Kontaktfeld.
II.2 Ressourcen
27
Soziale Anerkennung: Durch die eigene Leistung sowie durch die Kooperation mit anderen erfahren wir soziale Anerkennung, die uns das Gefühl gibt, einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Persönliche Identität: Die Berufsrolle und die Arbeitsaufgabe sowie die Erfahrung, die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Beherrschung der Arbeit zu besitzen, bilden eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Identität und Selbstwertgefühl. (S. 484)
Die aufgeführten Faktoren besitzen in ihrer Kombination Mehrfachwirkungen beim Individuum. Die Arbeits- und Organisationspsychologie konnte die psychosozialen Funktionen nachweisen. Zugleich erlauben sie Rückschlüsse auf den hohen psychologischen und psychischen Wert der Arbeit bzw. die stabilisierende Wirkung auf die Gesundheit des Menschen (Kernen, 2008). In der Literatur sind unterschiedliche Gesundheitskonzepte vorhanden. Beim heutigen Wissensstand kann psychisches und physisches Wohlbefinden als Kern von subjektiver Gesundheit betrachtet werden (Noack, 1994). In diesem Zusammenhang spielt die Arbeit eine eminent wichtige Rolle, da sie einen integralen Bestandteil des Lebens darstellt und verschiedene Ressourcen fördernde Funktionen besitzt. Dabei geht es nicht nur um die materielle Absicherung, sondern auch um soziale und psychologische positive Auswirkungen, die Kompetenzen, Werte und Einstellungen eines Individuums und nicht zuletzt das Gesundheitsverhalten wesentlich beeinflussen. Gemäss der salutogenetischen Ausrichtung dieser Studie wird ein Teil der „Sense of Coherence Scale“ (SOC) von Antonovsky (1987) Eingang in den Fragebogen (vgl. Kp. III.2.1) finden.
II.2
Ressourcen
Die Stressforschung widmete sich früher ausschliesslich der Untersuchung belastender und gesundheitsschädigender Bedingungen. Wie bereits erwähnt (vgl. Kp. II.1.2), rücken Ressourcen als Schutzfaktoren in neueren Untersuchungen immer mehr in den Vordergrund. Im folgenden Abschnitt soll geklärt werden, was unter Ressourcen verstanden wird und welche spezifisch wirksamen Ressourcen in der Forschung bekannt sind. Zudem sollen zwei Ressourcenmodelle, die Theorie der Ressourcenerhaltung (COR-Theorie) nach Stevan Hobfoll (1988) und das Ressourcen-Belastungs-Regulations-Modell (RBR) nach Kernen (2008), vorgestellt werden. Diese zeigen auf, in welchem Zusammenhang Ressourcen und Stressoren stehen.
28 II.2.1
II Theoretischer Hintergrund
Begriffsdefinition Ressourcen
Unter Ressourcen werden in erster Linie positive Werte verstanden. Sie stellen das Insgesamt der einer Person zur Verfügung stehenden Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten dar, welche gesundheitsschützend und -fördernd von einem Individuum in seiner Gesamtheit eingesetzt werden können (Udris & Frese, 1999; Semmer & Udris, 2004).
II.2.2
Auswirkungen von Ressourcen
Ulich & Wülser (2005, S. 78) stellen fest, dass „Ressourcen für den Umgang mit belastenden Situationen, für die Verhinderung von Fehlbeanspruchungen und Krankheiten sowie für die Gesundheitsförderung von besonderer Bedeutung sind“. Gemäss theoretischen Modellen und empirischen Ergebnissen wird die gesundheitsbeeinträchtigende Wirkung von Stressoren durch vorhandene Ressourcen gemildert und abgepuffert (Udris & Freese, 1992; Hornung & Gutscher, 1994). Nach Zapf & Semmer (2004) werden drei mögliche Wirkungsarten von Ressourcen unterschieden: 1. Ressourcen können eine direkte Wirkung auf das Wohlbefinden und die Gesundheit eines Individuums ausüben. Diese liegt vor, wenn Ressourcen unabhängig von vorhandenen Belastungen zu positiven gesundheitlichen Wirkungen führen. 2. Ressourcen wirken indirekt auf das Wohlbefinden und die Gesundheit, indem sie dem Entstehen von Belastungen entgegenwirken und den Belastungsabbau unterstützen. 3. Ressourcen können auch moderierend wirken im Sinne einer Pufferwirkung. Wenn sie ausreichend vorhanden sind, können sie die Bewältigung bestehender Belastungen unterstützen und damit mögliche schädliche Wirkungen abschwächen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Ressourcen das Stressgeschehen mehrfach beeinflussen, entweder direkt, indirekt oder moderierend.
II.2.3
Unterscheidung von Ressourcen
In der Literatur wird meist übereinstimmend zwischen internen (personalen, inneren, individuellen, subjektiven) und externen (situativen, äusseren, objektiven) Ressourcen unterschieden (Kernen, 2005; Rimann & Udris, 1993). Interne Ressourcen sind eng an unsere Person gebunden und „uns als einzigartigen Individuen zugehörig“ (Kernen, 2005, S. 93). Sie beziehen sich in erster Linie auf physische und psychische Merkmale des Individuums (Kernen, 2008; Hornung
II.2 Ressourcen
29
& Gutscher, 1994; Udris & Frese, 1992). Dazu gehören aber auch die geistig-seelischen und Wissens- und Handlungsressourcen, wie die innere Sinngebung und Werthaltung und Fähigkeiten und Fertigkeiten. Definitorisch betrachtet sind interne Ressourcen „(mehr oder weniger) habitualisierte, d. h. situationskonstante, aber zugleich flexible gesundheitserhaltende und -wiederherstellende Handlungsmuster sowie kognitive Überzeugungssysteme („belief systems“) der Person, die differentialpsychologisch als Persönlichkeitskonstrukte beschrieben werden“ (Rimann & Udris, 1993, S. 11). Bamberg, Busch und Ducki (2003) halten fest, dass interne Ressourcen besonders bei Personen zahlreich vorhanden sind, die auch ausreichend viele externe Ressourcen besitzen. Beispiele für interne Ressourcen sind: Ausdauer, Optimismus, Erfahrung und diverse Copingstrategien. Externe Ressourcen beziehen sich auf physikalische, materielle, biologische, ökologische, organisationale, institutionelle, kulturelle und soziale Merkmale der Umwelt (Kernen, 2008; Hornung & Gutscher, 1994; Udris & Frese, 1992) und werden beschrieben „als situative Bedingungen mit protektivem, d. h. gesundheitsschützendem Charakter, in denen sich in der handelnden Auseinandersetzung des Individuums mit Möglichkeitsräumen individuelle Fähigkeiten entwickeln und verändern“ (Rimann & Udris, 1993, S. 11). Beispiele für externe Ressourcen sind: erhaltene Belohnung wie Wertschätzung und Entlöhnung, soziale Unterstützung im Betrieb und im Freundeskreis und Entfaltungsmöglichkeiten bei der Arbeit. Von Bedeutung für den Stressprozess ist, welche Ressourcen zur Verfügung stehen und vom Individuum genutzt werden (Bamberg et al., 2003). Eine theoretische Grundlage für diese Studie bildet das Effort-Reward-Imbalance Modell nach Siegrist (1996) (vgl. Kp. II.3.7). Einerseits werden daraus Belohnungsfaktoren wie Einkommen, Wertschätzung aus dem Arbeitsumfeld und Weiterentwicklungsmöglichkeiten (niedriges Overcommitment) und andererseits einzelne ausgewählte und in der empirischen Forschung oft untersuchte Ressourcen wie die innere Sinngebung, soziale Unterstützung, Sport und Distanzierfähigkeit (niedriges Overcommitment) in die Untersuchung miteinbezogen. Im folgenden Kapitel werden diese spezifischen Ressourcen erläutert.
II.2.3.1
Innere Sinngebung: Glaubenssätze, Motive und Visionen
Bereits unter dem von Antonovsky definierten Begriff „Kohärenzerleben“ wird der Aspekt der „Sinnhaftigkeit“ angesprochen (vgl. Kp. II.1.3). Er meint damit das Ausmass des emotional wahrgenommenen Lebenssinns. Für Schmid (2007) macht etwas Sinn, wenn zwischen einzelnen Dingen Zusammenhänge erkennbar werden: „Sinn, das ist Zusammenhang, Sinnlosigkeit demzufolge Zusammenhanglosigkeit“ (Schmid, 2007, S. 365).
30
II Theoretischer Hintergrund
Nach Kernen (2005) heisst Sinnerleben: Es entsteht ein in sich stimmiges, umfassendes Bild von meinem Leben, meinem Dasein. Das Gefühl einer in sich runden Gestalt also. Doch dieses klare, umfassende Bild ist uns kaum dauernd präsent. Vielmehr scheinen uns einzelne Facetten in verschiedenen Lebenssituationen für kurze Zeit auf, klingen hie und da an. Dadurch wird das grundlegende Gefühl der Sinnhaftigkeit des Lebens immer wieder spürbar – und zugleich genährt. Damit ist eine grundlegende, unerschöpfliche Quelle, die das individuelle Wohlbefinden nähren kann, erschlossen – die Quelle der Sinnhaftigkeit im Leben. (S. 48)
Dieser Lebenssinn steht in engem Zusammenhang mit unseren allgemeinen Wertorientierungen. Loehr und Schwartz (2003) schreiben: Sobald wir unsere Werte definiert haben, besteht der nächste Schritt der Sinndefinition darin, dass wir eine Vision erzeugen, wie wir unsere Energie einsetzen möchten. Die Definition der Vision stellt eine mögliche Handlungsvorlage und einen Puffer gegen die Versuchung dar, Energieentscheidungen nicht überlegt, sondern nur reflexiv zu treffen. Ein Vision Statement ist eine Absichtserklärung, wie wir unsere Energie investieren möchten. Wenn wir uns regelmässig darauf besinnen, dient es uns als Zielorientierung und Handlungsantrieb. (S. 198)
Die innere Sinngebung führt also zu einem klaren „Vision Statement“ und wird von den genannten Autoren als Energiequelle und Ressource gesehen, damit „die Stürme des Lebens“ einen nicht so leicht umwerfen (Loehr & Schwartz, 2003). Auch Kernen (2005, S. 49) hält fest: „Die Gewissheit, dass das Leben sinnhaft sei, ist eine der stärksten motivationalen Ressourcen. Wir verstehen darunter das Gefühl, dass die Anforderungen im Leben Herausforderungen sind, für die sich Anstrengung und Engagement lohnen“. Somit kann die innere Sinngebung auch Motiv sein, ein Ziel zur verfolgen, einer Sache nachzugehen. Mit Sinn als unendliche Ressource, als Kraft, können Schwierigkeiten und Bedrohungen aller Art überwunden werden können (Schmid, 2004). Er geht sogar noch weiter und sieht Burnout als eine Ursache von Sinnverlust. Menschen mit Burnout soll ein (erneuter) Zugang zu Sinn ermöglicht werden. Spiritualität oder innere Sinngebung wurde bisher in der Literatur insbesondere bei Kranken (Krebs, HIV, Herzerkrankungen) untersucht oder bei Sozialarbeitern und Therapeuten, weniger aber im wirtschaftlichen Umfeld (Raubichaud, 2004). In dieser Studie soll die innere Sinngebung als Ressource in Form von Lebensprinzipien und Lebensgrundsätzen und insbesondere im Zusammenhang mit der Berufstätigkeit der Führungskräfte untersucht werden. II.2.3.2
Belohnung
Zahlreichen Forschungen zu Belohnungsaspekten dienen als Grundlage die Gerechtigkeitstheorien, welche zusammengefasst davon ausgehen, dass jeder Mensch in
II.2 Ressourcen
31
seinem Tun eine persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellt. Ressourcen, welche ein Individuum in ein „Projekt“ investiert, sind mit der Erwartung gekoppelt, dass diese in irgendeiner Form, im Sinne eines Tauschgeschäftes, zurückbezahlt werden, wobei dieses nicht an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist. Bereits Siegrist (1996) thematisiert Belohnung als zentralen Aspekt im Stressprozess (vgl. Kp. II.3.7). In dieser Arbeit wird zwischen materieller (Entlöhnung) und ideeller Belohnung (soziale Wertschätzung) unterschieden. Diese Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Burnout. Darum soll näher untersucht werden, inwieweit Wertschätzung und Entlöhnung als Ressourcen in dieser Stichprobe eine Rolle spielen. Entlöhnung
Bei der Entlöhnung handelt es sich um eine materielle Anerkennung im Sinne einer Besoldung bzw. dem Salär, welches für die geleistete Arbeit bezogen wird. In der Schweizer Wirtschaft, insbesondere in der Finanzdienstleistungsbranche, werden im oberen Management hohe Saläre und Boni bezahlt, so dass man meinen könnte, diese Variable sei in jedem Fall als Ressource zu bewerten, was in der Literatur auch oft so beschrieben wird (Kernen, 2005; Lazarus & Launier, 1981; Semmer, McGrath & Beehr, 2003). In der Schweizer Studie zu „Lohnzufriedenheit und psychologischem Vertrag“ (Grote & Staffelbach, 2008) zeigt die subjektive Lohnzufriedenheit verschiedene positive Auswirkungen. Sie steht in positivem Zusammenhang mit „höherer Zufriedenheit mit der Arbeit, mit dem Leben, mit der Work-Life-Balance und mit der beruflichen Laufbahn“ (Grote & Staffelbach, 2008, S. 79). Zudem besitzen Personen mit einem höheren Einkommen einen grösseren Entscheidungsspielraum und weisen im Durchschnitt ein signifikant höheres Wohlbefinden aus. Dabei ist ein abnehmender Nutzen in Bezug auf das absolute Einkommen festzustellen (Frey & Stutzer, 2002). Dies bedeutet, dass ab einem bestimmten Einkommen keine entsprechende Zunahme der ressourcenfördernden Wirkung der Entlöhnung festzustellen ist. Für diese Arbeit wird interessant zu untersuchen sein, ob die Entlöhnung bei diesen Spitzenführungskräften tatsächlich noch eine zusätzliche Ressource darstellt oder ob die Höhe des Entgelts auch dazu führen kann, dass die Erholungszeiten gekürzt und körperliche und psychische Einbussen in Kauf genommen werden. Diese Frage wurde bisher von der Forschung noch nicht berücksichtigt. Wertschätzung
Unter Wertschätzung (oder sozialer Anerkennung) aus dem Arbeitsumfeld wird nicht das Entgelt verstanden, das für eine bestimmte Arbeit bezahlt wird (Rödel et al., 2004). Diese ideellen Belohnungsfaktoren, die auch „Softfaktoren“ genannt wer-
32
II Theoretischer Hintergrund
den, sind häufig höher korreliert mit Gesundheit und Arbeitszufriedenheit als materielle Belohnungsaspekte. Dabei geht es darum, ob der Vorgesetzte und die Kollegen die geleistete Arbeit anerkennen, ob jemand gemäss seiner Ausbildung und fachlicher Qualifikation eingesetzt wird bzw. ob jemand seine Chancen für das berufliche Fortkommen für angemessen einschätzt (Siegrist, 2002). In der Theorie von Hobfoll (2001) stellt der Selbstwert eine zentrale Ressource dar. Dieser kann durch Erfolgserlebnisse und erhaltene Wertschätzung am Arbeitsplatz gefördert werden (Semmer, Jacobshagen & Meier, 2006). Der Selbstwert einer Person steht wiederum in einem Zusammenhang mit positivem Erleben und Zufriedenheit, aber auch mit dem Stresserleben (Hobfoll, 2001). In dieser Studie wird einerseits die zwischenmenschliche Wertschätzung untersucht, wie sie in einem guten Arbeitsklima vorkommt. Andererseits geht es um die sachliche Anerkennung, z. B. Lob für eine bestimmte Berufsleistung (Pines, Aronson & Kafry, 1993). II.2.3.3
Soziale Unterstützung
Soziale Unterstützung gehört zu den meist untersuchten Umweltressourcen (Schwarzer & Leppin, 1989) bzw. externen, gesundheitsschützenden Ressourcen. Bereits schon vielfach beschrieben wurden deren salutogenetische Bedeutung. Folgende Begriffe werden in der Forschung synonym für soziale Unterstützung (Social Support) angewandt: Soziales Netzwerk, sozialer Rückhalt oder mitmenschliche Unterstützung. Definitorisch bezieht sich die soziale Unterstützung auf „unterschiedliche Formen der sozialen und emotionalen Unterstützung durch andere, die zusammengenommen als Moderatoren bei der Stressentstehung wirken“ (Nerdinger, Blickle & Schaper, 2008, S. 519). Bei Udris (1995, S. 422) wird soziale Unterstützung als „Austausch (Transaktion) von Ressourcen zwischen den Mitgliedern Tabelle 1: Taxonomie nach House (1981) Kategorien d. Unterstützung
Elemente
I
Emotionale soziale U.
Empathie anderer Personen, Vertrauen, Wertschätzung, Fürsorge
II
Instrumentelle soziale U.
Konkretes hilfeleistendes Verhalten durch andere Personen
III Informative soziale U.
Wissen um potentielle Hilfe, Ratschläge, Empfehlungen, Informationen
IV Evaluative soziale U.
Bestätigung von Meinungen, Feedback, sozialer Vergleich
II.2 Ressourcen
33
eines sozialen Netzwerks mit dem (impliziten oder expliziten) Ziel der gegenseitigen Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung des Wohlbefindens“ verstanden. Bei Leppin & Schwarzer (1997) betrifft soziale Unterstützung den Inhalt und die Qualität und somit den funktionalen Aspekt sozialer Beziehungen. Das Konstrukt der sozialen Unterstützung ist mehrdimensional (Cobb, 1976; House, 1981). Es kann zwischen emotionaler, instrumenteller, informativer und evaluativer Unterstützung unterschieden werden (House, 1981; Schwarzer & Leppin, 1989). Es gilt aber anzumerken, dass in der empirischen Literatur verschiedene Kategorisierungssysteme vorhanden sind. Zudem gilt soziale Unterstützung als dynamischer Prozess, „da eine Person von sich aus Hilfeleistung evozieren, mobilisieren, gewinnen, aufrechterhalten, annehmen, abweisen oder selbst anderen geben kann“ (Udris, Kraft, Mussmann & Rimann, 1992, zitiert nach Hartmann & Richner, 1997, S. 21). Die Unterstützung kann durch Kollegen und Vorgesetzte am Arbeitsplatz aber auch durch die Familie bzw. das private Umfeld erfolgen. In der Forschung wird soziale Unterstützung als Prädiktor für die psychische und physische Gesundheit oder als Moderator der Stressor-Stressreaktions-Beziehung betrachtet. Die Ergebnisse zur Moderatorhypothese sind jedoch widersprüchlich (Udris, 1995). Soziale Unterstützung als Moderator scheint abhängig von der Art des sozialen Rückhalts und personalen Faktoren (Leppin & Schwarzer, 1997). Für beide Ansätze finden sich eine grosse Anzahl empirischer Belege (Cobb, 1976; House, 1981; Leppin & Schwarzer, 1997). Auch Viswesvaran, Sanchez und Fischer (1999) argumentierten, dass Personen, welche soziale Unterstützung erhalten, ein besseres Befinden zeigen und weniger an psychischen und physischen Krankheiten leiden. Besonders in der psychologischen Burnout-Literatur wird viel über das Thema soziale Unterstützung als Ressource geschrieben (z. B. Kernen, 1997). Laut Fengler (1994) gehören soziale Unterstützungssysteme, wie zum Beispiel ein gut funktionierendes Beziehungsnetz in der Freizeit, zu den wichtigsten Ressourcen, um erfolgreich gegen den chronischen Arbeitsstress vorzugehen. Soziale Unterstützung wird in dieser Stichprobe in Bezug auf die Familie, dem Freundes und Bekanntenkreises und im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Beratung bei Coaches und Supervisoren erfragt. II.2.3.4
Sport
Regelmässige körperliche Aktivität besitzt die Funktion einer langfristigen Schutzwirkung gegenüber verschiedenen chronisch-degenerativen Krankheiten. In seinem umfassenden Überblick über die internationale Forschung kommt der Präventivmediziner Bernhard Marti (1993) zum Schluss, dass Sport und Bewegung die Ge-
34
II Theoretischer Hintergrund
sundheit fördern, da körperlich aktive Personen weniger chronische Krankheiten oder Störungen aufweisen als körperlich inaktive Personen. Als gesichert gilt ausserdem der positive Einfluss von Sport auf die Schlafqualität, indem verschiedene Untersuchungen aufzeigen, dass sich unter Ausdauertraining Schlafstörungen erheblich verbessern. Dabei steht die Schlafqualität in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lebensqualität (Klotz, 2002). Durch diesen besseren Allgemeinzustand sind die Sportler auch in anderen Lebensbereichen leistungsfähiger. Eine gesunde physische Basis ist notwendig, um über einen längeren Zeitraum mit grosser Energie zu arbeiten. Ein Engagement im Sport liefert einen positiven Beitrag zum Erwerb und zur Stärkung sportiver und sportunabhängiger psychischer Ressourcen (Lamprecht & Stamm, 2002). Inwiefern die sportliche Aktivität als Ressource gewertet wird, ist Bestandteil dieser Untersuchung. II.2.3.5
Distanzierungsfähigkeit
Eine gute Distanzierungsfähigkeit und Erholungsfähigkeit von der Arbeit bedeutet eine wichtige Ressource in arbeitsintensiven und belastenden Berufen, die das Burnoutrisiko deutlich verringert. Demgegenüber steht das „Overcommitment“. Es beschreibt einen verhaltensbezogenen Risikofaktor für Stressempfinden (Siegrist et al., 2004). Overcommitment meint „übermässige Verausgabungsbereitschaft“ bei „geringer Distanzierungsfähigkeit“ von beruflichen Problemen. Diese Studie verwendet stets den englischen Begriff, weil er nur umständlich ins Deutsche übersetzt werden kann. Overcommitment wird in der Literatur auch als persönliche Charaktereigenschaft gesehen, die auf den Elementen des Typ-A-Verhaltens basiert (van Vegchel et al., 2005). Das Typ A-Verhaltenskonzept (Friedmann & Rosenman, 1974, zitiert nach Schaarschmidt und Fischer, 2001) postuliert den Zusammenhang zwischen kardiovaskulären Erkrankungen und einem durch überhöhte Verausgabungsbereitschaft, Unfähigkeit der Distanzierung, Mangel an Erholungsfähigkeit und Wettbewerbshaltung gekennzeichnetem Verhaltensmuster. Da die Variable „Overcommitment“ ein wichtiger Bestandteil des Effort-RewardImbalance Modells von Siegrist et al. (2004) darstellt, findet sie als einzige Persönlichkeitsvariable Eingang in den Fragebogen (vgl. Kp. II.2.1) und die Frage nach der Distanzierfähigkeit als persönlicher Schutzfaktor wird im Interview gestellt. II.2.4
Ressourcenkonzepte
Im Vordergrund dieser Konzepte stehen die Mittel (Ressourcen), die einer Person zur Verfügung stehen, um Belastungen zu bewältigen. Im nachfolgenden Kapitel
II.2 Ressourcen
35
sollen zwei einflussreiche Konzepte vorgestellt werden, die sich mit der Wechselwirkung von Ressourcen und Stressoren beschäftigen: 4. Die Theorie der Ressourcenerhaltung nach Stevan Hobfoll (1988) 5. Das Ressourcen-Belastungs-Regulations-Modell nach Kernen (2008) II.2.4.1
Theorie der Ressourcenerhaltung nach Stevan Hobfoll (1988)
Bei der Theorie der Ressourcenerhaltung (COR-Theorie) handelt es sich um ein alternatives Stressmodell, „indem sowohl objektiv als auch subjektiv wahrgenommene Faktoren in den Stress- und Stressbewältigungsprozess miteinbezogen werden“ (Buchwald, Schwarzer & Hobfoll, 2004, S. 11). Die Ressourcenveränderung steht als Schlüsselvariable im Zentrum. Zudem schliesst die Theorie zu gleichen Teilen internale Prozesse und Umweltprozesse mit ein. Somit steht dieser Ansatz im Gegensatz zu bisherigen Theorien, die kognitive Prozesse als den Hauptfaktor des Stressprozesses ansehen. Die Grundannahme besteht darin, dass das Individuum danach strebt, die eigenen Ressourcen zu bewahren, zu schützen und weitere neue Ressourcen aufzubauen. Ressourcen sind definiert als Objektressourcen (z. B. Kleidung, Haus, Auto), Bedingungsressourcen (z. B. Alter, berufliche Position), persönliche Ressourcen (Fähigkeiten und Eigenschaften einer Person) und Energieressourcen (z. B. Geld, Zeit, Wissen). Eine Veränderung der Ressourcen ist grundsätzlich mit Stress verbunden und wird ausgelöst, wenn 1. Ressourcen von Verlust bedroht sind 2. Ressourcen verloren gegangen sind oder 3. Investitionen von Ressourcen nicht den erwarteten Ressourcengewinn erbringen (Hobfoll, 2001, zitiert nach Burisch, 2006, S. 57). Ressourcenverluste sind gegenüber Ressourcengewinnen bedeutsamer. Somit hat ein bestimmter Ressourcenverlust mehr Auswirkungen als ein gleich grosser Ressourcengewinn. Um sich vor Ressourcenverlusten zu schützen, zu erholen oder neue Ressourcen zu gewinnen, müssen wiederum Ressourcen investiert werden. Personen mit vielen Ressourcen sind weniger verletzlich gegenüber Verlusten und eher in der Lage, Ressourcen zu gewinnen, während Personen mit wenigen Ressourcen vulnerabler für Verluste und die negativen Wirkungen andauernder Ressourcenforderungen sind. Als Folge dieser Ressourcendefizite wird es für sie schwierig, neue Ressourcen gewinnen zu können. Man spricht dabei von einem Zyklus, „bei dem das System mit jedem Verlust anfälliger und verletzlicher wird und das Individuum im Zuge dieser Verlustspirale daran hindert, anstehende stressreiche Probleme zu bewältigen“ (Buchwald et al., 2004, S. 15).
36
II Theoretischer Hintergrund
Zur Bewältigung von Stress wird ein multiaxiales Copingmodell herbeigezogen. Dabei wird die Umwelt als integraler Teil dieses Bewältigungsprozesses mit berücksichtigt. Hobfoll & Buchwald et al. (2004, S. 23) postulieren, „Coping ist unmittelbar mit der Erhaltung von Ressourcen verbunden. Es erfordert die Investition von Ressourcen, um dadurch deren Verlust zu meiden bzw. Zugewinne zu machen.“
Ereignis Ressourcenpool
Verlustspirale
Evaluation der
Gewinnspirale
Ressourcen
tatsächliche oder
Gewinne
drohende Verluste Coping
Fehlinvestition
Coping
Gewinninvestition Motivation, neue Ressourcen zu gewinnen
Abbildung 1: Theorie der Ressourcenerhaltung nach Stevan Hobfoll (1988)
II.2.4.2
Das Ressourcen-Belastungs-Regulations-Modell nach Kernen (2008)
Mit diesem Ressourcen-Belastungs-Regulations-Modell (RBR) von Kernen (2008) kann das Zusammenspiel von Ressourcen, Beanspruchung und psychophysischer Balance umfassend dokumentiert werden. Nach Kernen (2008) wimmelt es im Arbeitsfeld nicht nur von Stressoren, die krank machen können, sondern es ist auch voller Ressourcen. Dabei gehe es um „einen Abstimmungsprozess zwischen den subjektiv erlebten Belastungen, den Beanspruchungen, die wir täglich erleben, und den Ressourcen, die in uns in unserem Alltag zur Verfügung stehen“ (Kernen, 2008, S. 79).
37
II.2 Ressourcen
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Abbildung 2: Das Ressourcen-Belastungs-Regulations-Modell nach Kernen (2008)
Ausgangspunkt in seinem Modell bilden die internen und externen Anforderungen/Belastungen durch Transaktionen des Individuums mit der Umwelt. Transaktionen werden gemäss Hornung & Gutscher (1994) als wechselseitige Beziehungen zwischen Individuum und seiner Umwelt verstanden. Die subjektiv wirksame Belastung besteht aus mehreren Komponenten: 1. „einer externen Komponente in Form eines an das Individuum gestellten Anspruchs“; 2. „der Summe von Verhaltensweisen, mit der das Individuum auf bisherige Belastungen reagiert, seine Umwelt in einer bestimmten Weise konstelliert und die aktuelle Beeinflussung mit beeinflusst hat“;
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II Theoretischer Hintergrund
3. „der aktuell dem Individuum zur Verfügung stehenden Ressourcenbasis und einer durch frühere Anspassungsleistungen modulierten internen Komponente. Sie spielt eine Rolle darin, wie die Belastung im Verhältnis zum Individuum ausfällt und manifestiert sich im psychophysischen Befinden“ (Kernen, 2008, S. 86). Im Normalfall sind diese Komponenten voneinander abhängig. In einem weiteren Schritt wird die wirksame Belastung durch das Individuum eingeschätzt, ob sie eher ressourcenaufbauende, ressourcenbeanspruchende oder ressourcengefährdende Wirkung haben wird (primär eingeschätzte Belastung). Diese primär eingeschätzte Belastung wird nun vom Individuum mit den verfügbaren Ressourcen verglichen (sekundär eingeschätzte Belastung) (vgl. Kp. II.3.3.2 Transaktionales Stressmodell nach Lazarus und Launier). Die Beanspruchung resultiert aus dem Vergleich der primär und sekundär eingeschätzten Belastung. Für die Bewältigung der Beanspruchung muss das Individuum seine Ressourcen aktivieren. Weiter hält Kernen (2008) fest, dass je nach Beanspruchung für das Individuum eine Situation resultiert, die mit einem Verlust, einer Bewahrung oder einem Aufbau seiner Ressourcen verbunden ist. In Abhängigkeit von der psychophysischen Balance, einem Zustand der Homöostase, zeigt das Individuum ein unterschiedliches Bewältigungsverhalten (problembezogenes und emotionsbezogenes Coping). Dabei wirken in diesem Modell das Coping und die Umwelt gegenseitig. Im idealen Fall kann einerseits durch Coping die Belastung bewältigt, andererseits bei einem kontraproduktiven Coping die Belastung erhöht werden, indem 1. ungünstige Umweltreaktionen provoziert und 2. die Ressourcen des Individuums abgebaut werden sowie 3. der Zugriff auf noch vorhanden Ressourcen erschwert wird. Dauert eine solche negative Situation an, kann es in der Folge zu einer gesundheitlichen Dysbalance kommen, die sich zum Beispiel in einem Burnout (vgl. Kp. II.4) manifestiert. Durch den Nutzen von internen und externen Ressourcen wird die gesundheitsbeeinträchtigende Wirkung der Stressoren gemildert. Betrachtet man in den beiden besprochenen Modellen diesen Bewältigungsmodus des Zusammenspiels von Ressourcen und Stressoren im Kontext der Arbeitbelastung, so wird deutlich, dass Stressereignisse nur dann erfolgreich bewältigt werden können, wenn dementsprechend Ressourcen zur Verfügung stehen. Dabei geht es keineswegs nur um materielle Ressourcen, sondern auch um psychische Ressourcen. Sie alle vermögen Stresseinwirkung konstruktiv zu modellieren (Fritschi, 1991).
II.3 Belastung, Beanspruchung und Stress
II.3
39
Belastung, Beanspruchung und Stress
Hohe Anforderungen an Arbeitskräfte gehen immer einher mit hoher Belastung. Dabei kann auf der einen Seite der Stress der Gesundheit schaden, auf der anderen Seite aber können hohe Anforderungen auch die Entwicklung einer Arbeitskraft fördern (Bamberg et al., 2003). Die positiven und negativen Folgen hoher Anforderungen liegen eng beieinander, nicht zuletzt deshalb werden die Begriffe „Belastung“, „Beanspruchung“ und „Stress“, häufig synonym verwendet. Um diese arbeitspsychologisch wichtigen Begriffe soll es in der Folge gehen, nachdem in den vorangehenden Kapiteln bereits die Begriffe „Gesundheit“ und „Ressource“ erläutert wurden. Die Reihenfolge der verschiedenen theoretischen Konzepte ergibt sich im Wesentlichen aus ihrer zeitliche Entstehung und ihre Bezugnahme aufeinander. Ausgangspunkt bildet das Belastungs-Beanspruchungskonzept, das 1975 von Rohmert und Rutenfranz entwickelt wurde. In der Auseinandersetzung mit den Grenzen dieses Modells sind ab den 1990er Jahren neuere stresstheoretische Ansätze entstanden (Ducki, 2000, zitiert nach Zuber-Manetsch, 2002, S. 17). Diese Diskussion bildet nicht nur den theoretisch Hintergrund für diese Untersuchung, es lassen sich daraus auch bereits einige Bedingungen ableiten, wie Ressourcen dem gesundheitsschädigenden Stress bei hoher Arbeitsbelastung entgegenwirken können.
II.3.1
Das Belastungs- und Beanspruchungskonzept
Das Belastungs-Beanspruchungskonzept (Rohmert & Rutenfranz, 1975) besitzt in verschiedenen arbeitswissenschaftlichen Disziplinen, wie etwa der Arbeitspsychologie, noch immer einen hohen Stellenwert (Ulich, 2005). In diesem Modell werden Wirkungen von Arbeitsanforderungen und -belastungen auf das Individuum analysiert. Grundsätzlich wird zwischen Belastung (load) und Beanspruchung (strain) unterschieden. Demzufolge sind Belastungen „objektive, von aussen her auf den Menschen einwirkende Grössen und Faktoren“ (Rohmert & Rutenfranz, 1975, S. 9). Als objektiv wird das bezeichnet, was dem Einfluss des Individuums entzogen ist und die von ihm unabhängigen Einflussgrössen. Diese Belastungen können nach Entstehungsort und nach Quantifizierbarkeit eingeteilt werden. Rohmert und Rutenfranz (1975) unterscheiden zwischen Belastungen der Arbeitsaufgabe und der Arbeitsumgebung. Zu den Belastungen der Arbeitsaufgabe gehören das Aufnehmen und Verarbeiten von Informationen, Zeitdruck, Monotonie und Verantwortung. Unter Belastungen der Arbeitsumgebung werden Faktoren wie zum Beispiel Temperatur- und Lärmeinflüsse verstanden. Belastungsdauer und -höhe sind entscheidend in der Wirkung auf den Menschen. Büssing (1999, S. 201) beschreibt, dass in diesem Konzept nach
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II Theoretischer Hintergrund
den „objektiven Belastungen die subjektiven Beanspruchungen folgen“ in Abhängigkeit von einerseits individuellen Unterschieden zwischen Personen (interindividuelle Unterschiede z. B. Intelligenz, Körperkraft) und andererseits in Abhängigkeit von den sich mit der Zeit ändernden individuellen Voraussetzungen (z. B. altersbedingte Leistungsvoraussetzungen). Das bedeutet, dass dieselbe Belastung für verschiedene Personen eine unterschiedliche Beanspruchung zur Folge hat. Als Beanspruchungen werden somit „die Auswirkungen von Belastungen auf den Menschen, die auf Grund differierender Fähigkeiten und Eigenschaften unterschiedlich sind“ (Rohmert & Rutenfranz, 1975, S. 98) bezeichnet. Dabei treten Beanspruchungsreaktionen und/oder Beanspruchungsfolgen auf. Rudow (2004, S. 51) versteht unter Beanspruchungsreaktionen „kurzfristig auftretende, reversible psychophysische Phänomene“ und unter Beanspruchungsfolgen „überdauernde, chronische und bedingt reversible psychophysische Phänomene“. Als Indikatoren für Beanspruchungen gelten hier hauptsächlich physiologische Parameter. In der Literatur ist die Beanspruchung meist negativ konnotiert. Eine Beanspruchung kann aber auch eine positive Auslösefunktion besitzen (Nitsch, Udris & Allmer, 1976), bei der es zu einem Lernprozess kommt, wie mit Belastungssituationen umgegangen werden kann. Richter (2000, zitiert nach Möltner & Elke, 2005, S. 5) hält fest, dass aus Belastungen Beanspruchungsfolgen positiver wie auch negativer Art folgen können, in Abhängigkeit von Art, Höhe und Umfang der Belastungen sowie den zur Verfügung stehenden Ressourcen (vgl. Kp. II.2). Die Arbeitszufriedenheit kann als Beispiel für eine positive Beanspruchungsreaktion gelten. Chronischer Stress tritt dann ein, wenn der aktuelle Stress nicht bewältigt wird (Rudow, 2004) und kann zu einer Stresserkrankung wie Burnout führen (vgl. Kp. II.4). Das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept besitzt praktische Relevanz, da leicht handlungsleitende Massnahmen abgeleitet werden können, wie zum Beispiel Richtlinien zur Gestaltung von Arbeitsbedingungen (Bamberg, 2007). Kritisiert wird, das Konzept sei zu wenig theoretisch fundiert. Nicht nur äussere Faktoren können als Belastungen wirken, sondern auch psychische Merkmale oder Prozesse des Individuums. Zudem handelt es sich in diesem Konzept um einfache UrsacheWirkungs-Zusammenhänge. Aspekte wie Mensch-Umwelt-Transaktionen, komplexe psychosoziale Belastungen und Belastungsverarbeitungsprozess werden nicht miteinbezogen. Somit kann nicht beantwortet werden, warum Menschen auf gleiche Belastungen unterschiedlich reagieren (Bamberg et al., 2003). II.3.2
Begriffsdefinition Stress
Im Vergleich zum Belastungs-Beanspruchungskonzept werden in stresstheoretischen Konzepten die Mensch-Umwelt-Interaktionen und Prozesse der Bewältigung berücksichtigt (Bamberg, 2007).
II.3 Belastung, Beanspruchung und Stress
41
Der Begriff „Stress“ ist in der Alltagssprache, wie auch in der psychologischen Forschung, gekennzeichnet durch eine enorme Fülle einzelner Aspekte. Damit verbunden ist eine verwirrende Vieldeutigkeit. Diese zeigt sich insbesondere auch in den mit Stress verbundenen Symptome und Verhaltensweisen. Versucht man diesen Begriff wissenschaftlich präzise zu operationalisieren, so gerät man schnell in ein schwer überschaubares Terrain unterschiedlichster Auffassungen, die kaum noch an ein interdisziplinäres Einheitskonzept glauben lassen (Nitsch, 1981). Darin wird der Stressbegriff, in allgemeiner Verwendung als Bezeichnung für Probleme bei der Auseinandersetzung mit der Umwelt, für jedermann verständlich. Nach Schönpflug (1987, zitiert nach von Massenbach, 2000, S. 101) wird Stress bereits im mittelalterlichen Englisch als Alltagsbegriff in der Bedeutung von „äusserer Not und auferlegter Mühsal“ verwendet. In die deutsche Sprache übersetzt bedeutet Stress „Druck, Belastung und Anspannung“. 1914 führte Cannon den Begriff in die psychologische Fachliteratur ein. Seine Popularität aber erhielt er in den 1950-er Jahren nach dem Urheber der biologischen Stresskonzeption, dem ungarischen-kanadischen Mediziner Hans Selye. Dieser sah Stress als eine Reaktion des Organismus aufgrund von täglichen Belastungen. Dabei verwendet er einen neutralen Stressbegriff (vgl. Kp. II.3.3.1) und unterscheidet zwischen Eustress und Distress, je nachdem, wie der Stress wirkt (Selye, 1981). Mit Eustress ist der positive Stress gemeint, wie zum Beispiel die Vorfreude, das Verliebtsein oder die Herausforderung. Dieser Eustress beflügelt das Individuum und spornt zu Leistungen an. Anders ist es mit Distress, dieser wirkt negativ. Die Anforderungen, die an das Individuum gestellt werden, werden als belastend empfunden. Zu einem späteren Zeitpunkt wird zwischen Stressoren und Stressreaktionen unterschieden, die von negativen kognitiven und emotionalen Zuständen begleitet sind (Greif, Holling & Nicholson, 1989). Stress dagegen bezieht sich auf eher komplexe psychologische Zustände, wie er auch von Greif, Bamberg und Semmer (1991, S. 13) beschrieben wird: „Stress ist ein subjektiv intensiver unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung entsteht, dass eine stark aversive, subjektiv zeitlich nahe (oder bereits eingetretene) und subjektiv lang andauernde Situation sehr wahrscheinlich nicht vollständig kontrollierbar ist, deren Vermeidung aber subjektiv wichtig erscheint. Stressoren sind dabei hypothetische Faktoren, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stress oder Stressempfindungen auslösen“. Nach Ulich (1982) ist Stress mit einem Kontrollverlust verbunden. Dieser geht einher mit Gefühlen der Bedrohung, des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und der Abhängigkeit. Kernen (2005, S. 80) bezeichnet Stress „als eine unangenehm empfundene, von negativen Emotionen begleitete Beanspruchung“. Aus diesen Definitionen wird deutlich, dass Stress den Auslöser eines unangenehmen Zustandes, einen unangenehmen Zustand selbst oder die Folgen eines unangenehmen Zustandes beschreibt. Der „kleinste gemeinsame Nenner“ aller Stress-
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II Theoretischer Hintergrund
konzeptionen kann darin gesehen werden, „dass ein tatsächlich vorhandenes oder auch nur subjektiv wahrgenommenes Ungleichgewicht zwischen Zielen und Möglichkeiten bzw. zwischen Bedürfnissen und Angeboten vorliegt“ (Semmer & Udris, 2004, zitiert nach Ulich & Wülser, 2005, S. 63). Weiner sieht folgende weitere übereinstimmende Komponenten in den verschiedenen Stressdefinitionen (1998, zitiert nach Kirchler & Hölzl, 2008, S. 284): 1. Stress wird durch einen Stimulus verursacht, der entweder physischer oder psychischer Natur sein kann; 2. die Person reagiert auf diesen Stimulus. 3. Stress wird in Verbindung gebracht mit Zwängen (die die Person daran hindern, etwas Erwünschtes zu tun) und Forderungen. Für die vorliegende Arbeit gilt folgende Definition: „Stress resultiert aus einem tatsächlichen oder wahrgenommenen Ungleichgewicht zwischen den aus einer Situation resultierenden Anforderungen bzw. Belastungen und der Einschätzung, diese mit den verfügbaren Ressourcen nicht bewältigen zu können“ (Ulich, 2005, S. 475). Die Begriffe „Stress“, „Stressreaktion“, „Belastungsreaktion“ und „Beanspruchung“ werden in der Literatur nicht einheitlich verwendet. In jüngster Zeit scheint sich zumindest ein Konsens bezüglich der Verwendung deutscher und englischer Belastungs- und Stressbegriffe abzuzeichnen (Udris & Freese, 1999). Zur Übersicht haben Udris und Freese (1999, S. 428) eine Einordnung der Begrifflichkeiten vorgenommen. Dabei werden die Begriffe innerhalb einer Spalte synonym verwendet. Stressbegriffe, die sich auf die Umwelt beziehen, sind Belastung, Belastungsfaktor, Stressor und Stressfaktor. Beanspruchung, Beanspruchungsfolge, Fehlbeanspruchung, Stress und Stressreaktion sind Synonyme, welche sich auf die Person beziehen. Die vorliegende Studie orientiert sich an dieser Kategorisierung. Die Stresswirkung kann positiv oder negativ sein (vgl. Kp. II.3.2). Wie bereits erwähnt, kann chronischer Stress langfristig gesundheitliche Schäden nach sich ziehen (vgl. Kp. II.4). Demgegenüber steht die positive Wirkung von Stress (Eustress), der Tabelle 2: Deutsche und englische Belastungs- und Stressbegriffe nach Udris & Frese (1999) Umwelt
Person
Stressor
Stress
Stressfaktor
Stressreaktion
Belastung
Beanspruchung, Beanspruchungsfolge
Belastungsfaktor
Fehlbeanspruchung
Load
Strain
II.3 Belastung, Beanspruchung und Stress
43
motivierende und stimulierende Auswirkungen besitzt (Kirchler & Hölzl, 2008). Im nachfolgenden Kapitel wird unter „Stress“ immer Distress verstanden. II.3.3
Grundmodelle von Stress
In der Stressforschung lassen sich drei Klassen von Konzeptionen erkennen, die je nach Kontext die Stressreaktion, den Stressor, aber auch das Stressgeschehen insgesamt umschreiben (Frieling & Sonntag, 1999; Jerusalem, 1990). Diese verschiedenen Betrachtungsweisen zeigen sich bereits bei den erwähnten Stressdefinitionen (vgl. Kp. II.3.2). Es wird nach situationsbezogenem (stimulusorientierten), reaktionsbezogenen und relationalen (oder transaktionalen) Konzepten unterschieden (Laux, 1983, zitiert nach Jerusalem, 1990, S. 1). Der reizorientierte (stimulusorientierte) Ansatz Bei stimulusorientierten Konzepten werden äussere Ereignisse bzw. Stimuli, die auf einen Organismus einwirken, als Stress bezeichnet. Stress wird als unabhängige Variable über bestimmte Reiz-, Situations- oder Umweltmerkmale operationalisiert (Hartmann & Richner, 1997). Im Vordergrund steht dabei die Analyse und Identifizierung verschiedener Stimuli (Stressoren), d. h. unterschiedliche Qualitäten und Intensitäten von Umweltreizen, die das Risiko von Stresszuständen erhöhen (Semmer & Udris, 2004). Einschneidende Ereignisse im Leben eines Menschen wie schwere Krankheiten, Katastrophen, Tod eines Partners oder Arbeitslosigkeit, aber auch fehlende Stimulation, Isolation und Unterforderung stellen dabei besondere Belastungen dar. Bei diesem Ansatz nicht berücksichtig wird, „wie diese [Stressoren] vom einzelnen Arbeitnehmenden subjektiv bewertet werden und welche Reaktionen sie in Abhängigkeit von den individuellen Bewältigungsstrategien hervorrufen“ (Frieling & Sonntag, 1999, zitiert nach Ulich & Wülser, 2005, S. 61). Der reaktionsorientierte Ansatz Demgegenüber stehen die reaktionsorientierten Konzepte, bei denen die Folgen von Stress im Vordergrund stehen und Stress als abhängige Variable verstanden wird. Die Reaktion eines Organismus wird somit als relativ unabhängig von der Art des auslösenden Reizes betrachtet. Selye (1981) ist ein Vertreter dieses Stresskonzepts (vgl. Kp. II.3.3.1). Der transaktionale Ansatz Weder stimulusorientierten noch reaktionsorientierten Konzepten ist es gelungen zu erklären, warum es „bei objektiven gleichen Belastungen bei manchen Menschen zu
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II Theoretischer Hintergrund
starken Stressreaktionen kommt, bei anderen hingegen keine oder nur eine geringe Belastung zu beobachten ist“ (Jerusalem, 1990, S. 6). Dabei wird in vielen Definitionen deutlich, dass Stress mit Situationen verbunden ist, bei welchen sich dem Individuum ein Anpassungsproblem stellt im Sinne einer Person-Umwelt-Beziehung. In den neueren Stresskonzepten spielt diese Wechselbeziehung eine zentrale Rolle, genauer gesagt die Beziehung zwischen Ereignissen aus der Umwelt und dem Individuum. Lazarus und Launier (1981) gelten als Hauptvertreter dieses kognitiven, relationalen Konzepts. Danach entsteht Stress infolge einer dynamischen Beziehung zwischen der Person sowie inneren und äusseren Anforderungen (vgl. Kp. II.3.3.2). II.3.3.1
Das Allgemeine Adaptionssyndrom nach Selye (1981)
Dieses Konzept spielt besonders in der medizinischen Stressforschung eine bedeutende Rolle. Selye ist aufgrund von Krankheitserfahrungen seiner Patienten davon ausgegangen, dass ein Stresszustand als spezielles Syndrom gilt, welches aus unspezifischen Veränderungen innerhalb eines biologischen Systems besteht. Somit definierte er Stress als „die unspezifische Reaktion des Körpers auf eine Anforderung“ (Selye, 1981, S. 170). Reize, die eine bestimmte Anforderung ausmachen, werden als Stressoren bezeichnet. Dabei wird bei jeder Anforderung in drei Phasen reagiert: 1. Alarmreaktion, 2. Stadium des Widerstandes und der Mobilisierung von Energiereserven sowie 3. Stadium der Erschöpfung. Die Reaktionen auf die Stressanforderungen können in der Folge bei den verschiedenen Personen unterschiedliche krankhafte Veränderungen hervorrufen. Diese Erkrankungen werden von Selye als das „allgemeine Adaptionssyndrom“ (oder auch Generalisiertes Anpassungssyndrom (GAS)) bezeichnet, da er diese Reaktion für eine biologisch funktionale Anpassungsreaktion (Greif et al., 1991, S. 8) hält. Dabei sei keine Krankheit nur auf Stress zurückzuführen, Stress könne aber der entscheidende Faktor sein. II.3.3.2
Transaktionales Stressmodell nach Lazarus und Launier (1981)
Wie der Name schon sagt, liegt dem Modell eine Transaktion zwischen Person und Situation zugrunde. Dabei geht es um verschiedene Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt, welche durch kognitive Bewertungsprozesse vermittelt werden (Kernen, 1997, S. 37). Eine Situation kann einerseits ein externes Ereignis sein, sie kann aber auch durch innere Anforderungen wie Ziele, Werte, Normen repräsentiert werden. Laza-
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II.3 Belastung, Beanspruchung und Stress
Primäre Bewertung
Situation/ Ereignis
Kognitive
stressend/irrelevant/positiv
Bewertung durch das Individuum
Vergleich zwischen Anforderungen und
sekundäre Bewertung – Bewältigungsfähigkeiten
Fähigkeiten des Individuums
– Bewältigungsmöglichkeiten Neubewertung (reppraisal) Coping-Prozess – instrumental – pallativ
Abbildung 3: Das Stressmodell von Lazarus und Launier (1981)
rus geht bei der Beurteilung von Reizen von einer primären und sekundären Bewertung aus, welche von grosser Bedeutung sind. Die kognitiven Einschätzungen (appraisals) werden als zentraler Aspekt von Stress gesehen und sind das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zu physiologischen Stresstheorien (Burisch, 2006). Bei der primären Bewertung (primary appraisal) wird die aktuelle Situation analysiert. Dabei werden drei grundlegende Kategorien unterschieden. Das Individuum kann ein Ereignis einerseits als irrelevant, günstig/positiv oder als stressend einstufen. Bei einer Bewertung durch die ersten zwei Kategorien ist keine Anpassungsoder Bewältigungsbemühung erforderlich. Zur primären Bewertung einer Situation oder eines Ereignisses erfolgt nun ein sekundärer Bewertungsprozess (secondary appraisal). Bei diesem werden die persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten bzw. Handlungsalternativen geprüft, eingeschätzt und ausgewählt. Bei der Situationsbewältigung spielt die Selbstwirksamkeitserwartung eine entscheidende Rolle. Darunter wird die Überzeugung verstanden, die spezifischen Anforderungen durch eigenes kompetentes Handeln unter Kontrolle zu bringen (Bandura, 1977). In diesem Sinn ist die subjektiv wahrgenommene Bewältigungsmöglichkeit entscheidend und nicht die objektiven Ressourcen, die jemand tatsächlich zur Verfügung hat. Bei den primären und sekundären Lageeinschätzungen berücksichtigt Lazarus den Einfluss von Persönlichkeitsfaktoren. Je nach individueller Disposition wird eine Situation anders beurteilt (Burisch, 2006). „Die beiden Prozesse (primary und secondary appraisal) sind nicht als zeitlich getrennte, separate Prozesse zu denken.
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II Theoretischer Hintergrund
Es sind vielmehr zwei Aspekte des Evaluationsprozesses, der bei der Situationsbewertung abläuft“ (von Massenbach, 2000, S. 103). Im gesamten Bewertungsprozess kommt es zu einer Rückkoppelung. Es findet eine Neubewertung (reappraisal) aufgrund der Erfahrungen und anschliessender Reflexion statt. Ähnliche Probleme werden in Zukunft als weniger bedrohlich eingestuft. Somit beeinflussen die Erfahrungen, die eine Person in einer aktuellen Situation macht, die Bewertungen und die Reaktionen in zukünftigen Situationen. Als weitere Komponente seines Stressmodels gilt die Stressbewältigung (Coping). Lazarus und Launier (1981, S. 244) definieren Bewältigung bzw. Coping folgendermassen: „Bewältigung besteht sowohl aus verhaltensorientierten als auch intrapsychischen Anstrengungen, mit umweltbedingten und internen Anforderungen sowie den zwischen ihnen bestehenden Konflikten fertig zu werden (d. h. sie zu meistern, zu tolerieren, zu reduzieren, zu minimieren), welche die Fähigkeiten einer Person beanspruchen oder übersteigen.“ Im Modell von Lazarus und Launier wird zwischen zwei Bewältigungsformen (Copingstrategien) unterschieden: 1. problembezogenes Coping (instrumentell) 2. emotionsbezogenes Coping (palliativ) Beim emotionsbezogenen Coping steht die Regulation der Emotion im Vordergrund, zum Beispiel durch Selbstverbalisation oder Uminterpretation von Situationen, Verleugnung oder Abwertung der bedrohten Ziele. Diese Strategie wird besonders dann eingesetzt, wenn eine Situationskontrolle nicht möglich scheint oder ist. Demgegenüber steht das problemorientierte Coping, das zum Einsatz kommt, wenn die Situation als grundsätzlich kontrollierbar wahrgenommen wird. Dabei geht es um die Lösung eines Problems, bei der die Person direkt handelt, indem sie instrumentelle Tätigkeiten ausführt. Je nachdem wird ein Individuum ein unterschiedliches Bewältigungsverhalten zeigen. Im günstigsten Fall wird eine Anpassungsleistung vollzogen, welche auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen abgestimmt ist (Kernen, 1997, S. 55). Hat ein Individuum einen Mangel an Verfügbarkeit von Bewältigungshandlungen, so führt dies zu Verwundbarkeit (Vulnerabilität), und es wird mehr Stress erlebt. In der Regel zeigt sich, dass problemorientiertes Coping in einem grösseren Zusammenhang mit mentaler und physischer Gesundheit steht als emotionsorientiertes Coping (Semmer et al., 2003). Das transaktionale Stressmodell nach Lazarus und Launier (1981) verdeutlicht das Zusammenspiel zwischen personalen Faktoren und Umweltweltbedingungen in der Entstehung von Stress. Demnach führt ein Stressor nicht automatisch zu einem Stress. Erst wenn die wahrgenommenen Anforderungen die individuellen Bewälti-
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II.3 Belastung, Beanspruchung und Stress
gungsmöglichkeiten übersteigen, kann dies zu kurz- oder langfristigen Stressfolgen führen. Im Allgemeinen bildet die Theorie eine gute Grundlage zum Verständnis des Stressprozesses. Im Modell werden aber keine konkreten individuellen Voraussetzungen miteinbezogen und auch keine spezifischen Strategien zur Stressbewältigung thematisiert. Das umfassendere Konzept von Siegrist et al. (1996) basiert auf dem Stressmodell von Lazarus und Launier (vgl. Kp. II.3.3.2). II.3.4
Klassifikation von Stressoren
Im Arbeitsfeld sind verschiedene Stressoren vorhanden, einerseits Umweltfaktoren und andererseits Faktoren innerhalb der Person. Stressoren werden als externe und interne Stimuli aufgefasst, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu Stressreaktionen Tabelle 3: Stressoren des Arbeitsfeldes (Udris & Frese, 1999; Zapf & Semmer, 2004) Quelle
Beispiele
Physikalische Umgebung
– – – – –
Arbeitsaufgabe und Arbeitsorganisation
– quantitative und/oder qualitative Unterforderung – quantitative und/oder qualitative Überforderung – Regulationsbedingungen
Rolle
– Rollenkonflikte – Rollenambiguität
Zeitliche Dimension
– Nacht- und Schichtarbeit – lange Arbeitszeiten – Arbeit auf Abruf
Soziales Umfeld
– – – –
Gesamtbalance von Einsatz und Ertrag
– Mangelnde Reziprozität – Gratifikationskrisen
Kunden- und Klientenkontakt
– Emotionale Dissonanz – Umgang mit schwierigen Kunden
Verhältnis zwischen der Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen
– „Work Life Conflict“
Lärm Staub Hitze Schmutz Chemische Stoffe
Unfairness Belastendes Vorgesetztenverhalten Soziale Konflikte Mobbing
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II Theoretischer Hintergrund
führen können (Semmer, 1984), aber nicht müssen. Ihr Vorhandensein erhöht lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Stress kommt (Kernen, 2005). Es kann unterschieden werden zwischen akuten Stressoren, wie zum Beispiel dem Tod eines nahen Menschen, oder chronischen Stressoren, wie ständig hoher Zeitdruck (Sonnentag & Frese, 2002). Die vorstehende Klassifikation (Tabelle 3) gibt einen Überblick über mögliche Stressoren des Arbeitsfeldes. In Untersuchungen fanden sich für die meisten Stressfaktoren relevante Zusammenhänge mit Gesundheitsindikatoren (Ulich & Wülser, 2005). Wie bereits erwähnt, reicht die Anwesenheit dieser Stressoren allein nicht aus, um das Stresserleben einer Person zu erklären. Dazu existieren verschiedene Stressmodelle, die sich in ihrer Definition von Stress, in der Erklärung der Entstehung von Stress und in der Beschreibung der Wirkbeziehung zwischen Stressoren und Stressreaktionen unterscheiden.
II.3.5
Stressreaktionen und -folgen
Auswirkungen von Stress können kurzfristig als auch langfristig bestehen (vgl. Kp. II.3.1) und betreffen folgende drei Ebenen (Bamberg, 2007): die physiologischsomatische Ebene, die kognitiv-emotionale Ebene und die Verhaltensebene. In der folgenden Tabelle 4 ist eine Reihe von kurz- und langfristigen Auswirkungen von Stress zusammengestellt. Als kurzfristige Stressreaktionen gelten Reaktionen, die „in der Stresssituation und bei andauernden Stresszuständen beim Menschen stattfinden“ (Nerdinger et al., 2008, S. 28), wie zum Beispiel physiologische Aktiviertheit und subjektive Befindensbeeinträchtigungen. Auf der individuellen und sozialen Verhaltensebene kann es zu Leistungsschwankungen und Aggressionen gegen andere kommen. Langfristige Stressreaktionen umfassen Dauerbelastungen bzw. lang anhaltende Stresszustände, welche negative gesundheitliche Folgen für das Individuum besitzen. Solche sind nebst den organischen Krankheiten allgemeine psychosomatische und psychische Beschwerden und Erkrankungen wie zum Beispiel Burnout (vgl. Kp. II.4). Auf der individuellen Verhaltensebene kann es zu einem übermässigen Konsum von Alkohol-, Nikotin-, oder Tablettenkonsum kommen. Die folgenden zwei Konzepte postulieren, dass Belastungen (Stressoren) nur in bestimmten Konstellationen negative Beanspruchungsfolgen (Stress) bewirken können (Möltner & Elke, 2005) und dass durch die Verfügbarkeit und Nutzung von Ressourcen die gesundheitsbeeinträchtigenden Stressorwirkungen gemildert werden können.
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II.3 Belastung, Beanspruchung und Stress
Tabelle 4: Klassifikation kurz- und langfristiger Auswirkungen von Stress (Kaufmann, Pornschlegel & Udris, 1982) Kurzfristige Stressreaktionen
Langfristige Stressreaktionen
Physiologisch, somatisch
– erhöhte Herzfrequenz – Blutdrucksteigerung – Adrenalinausschüttung (Stresshormon)
– Allgemeine psychosomatische Beschwerden und Erkrankungen – Unzufriedenheit, Resignation, Depression
Psychisch (Erleben)
– – – –
Anspannung Frustration Ärger Ermüdungs-, Monotonie-, Sättigungsgefühle
Verhalten (individuell)
– – – –
Leistungsschwankung Nachlassen der Konzentration Fehler schlechte sensumotorische Koordination
Verhalten (sozial)
– – – –
Konflikte Streit Aggression gegen andere Rückzug (Isolierung) innerhalb und ausserhalb der Arbeit
II.3.6
– Vermehrter Nikotin-, Alkoholund Tablettenkonsum – Fehlzeiten (Krankheitstage)
Job-Demand-Control-Modell nach Karasek (1979)
In seinem Job-Demand-Control-Modell (zu einem späteren Zeitpunkt „job strain model“; Karasek & Theorell, 1990) zeigt Karasek (1979), dass Stresssymptome aufgrund einer Kombination zweier Merkmale des Arbeitsgeschehens auftauchen können: Einerseits durch die Arbeitsintensität (demand) und andererseits durch den Handlungs- und Entscheidungsspielraum (control). Dieser beinhaltet Merkmale der Entscheidungsverantwortung und Qualifikationsmerkmale (Ulich & Wülser, 2005). Stress entsteht aus der Diskrepanz zwischen hohen Arbeitsanforderungen bzw. quantitativ hoher Arbeitsbelastung (z. B. hoher Zeitdruck) und kleinem Entscheidungs- und Kontrollspielraum. Dementsprechend sind Tätigkeiten mit niedrigem Handlungs- und Kontrollspielraum und hohen Belastungen besonders gesundheitsschädlich (high-strain job). In seiner Untersuchung bei mehr als 8000 schwedischen Angestellten wird die Bedeutung der Kontrolle und ihre Auswirkung auf den Gesundheitsstatus bestätigt (Karasek, 1990) und in mehreren empirischen Untersuchungen die entsprechende
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II Theoretischer Hintergrund
Arbeitsanforderungen
hoch niedrig
Entscheidungsspielraum
niedrig
niedrig beanspruchende Tätigkeit
passive Tätigkeit
hoch
aktive Tätigkeit
hoch beanspruchende Tätigkeit
Abbildung 4: Job-Demand-Control-Modell nach Karasek (1979)
Zunahme (bei „high-strain jobs“) insbesondere der physischen Gesundheitsbeeinträchtigungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen unterstützt (Theorell & Karasek, 1996). Darüber hinaus konnte in vielen Studien eruiert werden, dass „high-strain“Tätigkeiten mit vermindertem Wohlbefinden, geringerer Arbeitszufriedenheit und erhöhtem Burnout zusammenhängen (Jones & Fletcher, 2003, zitiert nach Ulich & Wülser, 2005, S. 88). Im Modell von Karasek & Theorell (1990) stehen die Arbeitskriterien im Zentrum bzw. die objektiv krankmachenden Bedingungen. Dabei werden individuelle Personenfaktoren in der Wahrnehmung, der Bewältigung von Stresssituationen und in der Entwicklung von Stresssymptomen nicht berücksichtigt. Aussagen über diese individuellen Unterschiede werden im folgenden Modell einbezogen, das als Erweiterung des „Job-Strain-Model“ betrachtet werden kann (Nerdinger et al., 2008). II.3.7
Effort-Reward-Imbalance-Modell nach Siegrist (1996)
Ein umfassendes Modell zur Erklärung von Stress am Arbeitsplatz und den damit verbundenen gesundheitsbeeinträchtigenden Belastungen wurde von der Arbeitsgruppe um den Schweizer Medizinsoziologen Johannes Siegrist entwickelt und bietet einen theoretischen Rahmen für die Erklärung und Messung von psychosozialen Arbeitsbelastungen. Siegrist (1996) thematisiert mit seinem Modell der beruflichen Gratifikationskrisen (Effort-Reward-Imbalance-Modell), wie sich berufliche Verausgabung (Effort) und Belohnung (Reward) auf die Gesundheit auswirken. Er geht
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II.3 Belastung, Beanspruchung und Stress
mit seinen Annahmen über die unmittelbare Arbeitstätigkeit hinaus und bezieht organisationale Rahmenbedingungen mit ein (Ulich & Wülser, 2005). Unter Verausgabung (Effort) verstehen Peter und Siegrist et al. (1999) „costs“, wie belastend empfundener Arbeitsdruck, Zeitdruck, Verantwortung und steigende Anforderungen. Unter sozial vermittelten Belohnungen (Rewards) werden „gains“ verstanden, wie angemessen empfundene Entlöhnung, Wertschätzung (vgl. Kp. II.2.3.2) und berufliche Statuskontrolle (z. B. Karrieremöglichkeiten, Jobsicherheit). Stehen diese beiden Variablen Effort (hoch) und Reward (tief) in einem Ungleichgewicht, so führt dies zu Stressreaktionen und langfristig zu gesundheitsschädigenden Wirkungen. Dabei müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit Ereignisse und Rahmenbedingungen als Stressoren wirken. Der Stressor muss einerseits „ein bestimmtes Bedrohungspotential für das Individuum besitzen“, also negativ Einfluss nehmen können, andererseits „muss ihre Intensität und/oder Dauer so hoch sein, dass die individuellen Ressourcen nicht ausreichen, um noch angemessen auf die Bedrohung reagieren zu können“ (Dragano, 2007, S. 75). Neben Effort und Reward ist Overcommitment (vgl. Kp. II.2.3.5) ein zentraler Aspekt des Modells, weil es den negativen Zusammenhang von Effort-Reward-Imbalance und Gesundheit verstärkt (Siegrist et al., 2004). Bei Vorliegen der entsprechenden Disposition werden ungünstige Relationen von Effort und Reward von den Betroffenen selbst herbeigeführt bzw. aufrechterhalten, und damit erhöht sich das Krankheitsrisiko (Rödel, Siegrist, Hessel & Brähler, 2004). In der folgenden Abbildung sind die Zusammenhänge der einzelnen Aspekte dargestellt:
Extrinsisch
Effort
Arbeitsbelastung
Anerkennung
– Zeitdruck
– Lohn
– Verantwortung
– Wertschätzung
– Überstunden
– Karrieremöglichkeit
Abbildung 5: Effort-Reward-Imbalance-Modell nach Siegrist (1996)
(Person) (Arbeitsanforderungen)
Reward
Intrinsisch
Overcommitment
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II Theoretischer Hintergrund
In der Forschung wurde die Effort-Reward-Imbalance im Zusammenhang mit der Gesundheit mehrfach geprüft. Empirisch bestätigt sind insbesondere die Zusammenhänge zwischen Gratifikationskrisen (hohe Arbeitsbelastung verbunden mit tiefer Belohnung) und erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen (Siegrist, 1986) und Burnout (Bakker, Killmer, Siegrist & Schaufeli, 2000, zitiert nach Ulich & Wülser, 2005, S. 97). Die Forschergruppe um van Vegchel (van Vegchel, de Jonge, Bosma & Schaufeli, 2004) beschäftigte sich in einer Metastudie mit 40 Studien zwischen 1986 und 2003 beinhaltet. Dabei konnte in den meisten Studien der Zusammenhang zwischen der Effort-Reward-Imbalance und dem Risiko einer gesundheitlichen Beeinträchtigung (physische und psychische Erkrankungen) belegt werden. Oft untersucht wurde auch der Zusammenhang zwischen dem in der Person angelegten Risikofaktor Overcommitment und der Gesundheit. In einer Studie von Steptoe, Siegrist, Kirschbaum und Marmot (2004) wurde der biologische Zusammenhang zwischen der Disposition Overcommitment und der Effort-Reward-Imbalance an 197 Männern und Frauen zwischen 45 und 57 Jahren untersucht. Es zeigte sich, dass Overcommitment das Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung bei Männern erhöht. Hanson et al. (2001) und Vrijkotte et al. (1999) finden in ihrer Studie ebenfalls den negativen Zusammenhang zwischen Overcommitment und Gesundheit, insbesondere für Herz-Kreislauf-Probleme und Burnout. In der Stressforschung existieren eine Vielzahl von Theorien bzw. Modellen, die die Begrifflichkeit und die Entstehung von Stress erklären. Dabei wird zwischen reiz-, reaktionsorientierten sowie kognitiven Modellen unterschieden. Als eine Grundlage dieser Untersuchung wird das Effort-Reward-Imbalance-Modell hinzugezogen. Es wird interessant zu untersuchen sein, welche dieser Belohnungsfaktoren (Einkommen, Wertschätzung und berufliche Statuskontrolle) im Zusammenhang mit hoher Arbeitsbelastung (Arbeitsdruck, Zeitdruck, Verantwortung) am ehesten stressmindernd wirken bzw. am ehesten von den befragten Personen angewendet werden und welche Arbeitsbelastungen bzw. Stressfaktoren (Effort) von den befragten Personen effektiv erlebt werden.
II.4
Stresserkrankung: Burnout
Zahlreiche Stressoren können zu chronischem Stress führen und damit Krankheitsprozesse in Gang setzen. Als Folge eines solchen Prozesses gilt das BurnoutSyndrom, das als das Ende einer „Stresskette“ wahrgenommen wird (Kypta, 2006). Der negative Stress (Distress) führt besonders dann zu Burnout, wenn nach intensiven Phasen von Distress keine Phasen der Entspannung und Erholung folgen (Fabach, 2007).
II.4 Stresserkrankung: Burnout
53
Die Vorstellung des Begriffes Burnout und dem dahinterstehenden Krankheitsmodell beinhaltet im Wesentlichen eine Zusammenfassung der bereits von anderen Autoren gewonnenen Ergebnisse und erlaubt somit einen Blick auf den derzeitigen Kenntnisstand. Aufgrund der Ausrichtung dieser Studie wird nicht näher auf die psychiatrischen Aspekte der Burnoutsymptomatik, deren Verlauf und Therapiemöglichkeiten eingegangen. II.4.1
Historische Begriffsentwicklung
Burnout – das „Ausbrennen“ oder „Ausgebrannt-Sein“ eines Menschen – kann als ein älteres Phänomen betrachtet werden. Ursprünglich wurde das Krankheitsbild unter dem Begriff „Neurasthenie“ bekannt und 1869 vom amerikanischen Arzt Georg M. Beard eingeführt. Die Ursache sah Beard in der Verarmung an Nervenkraft mit Symptomen wie Nervenschwäche und nervöser Erschöpfung. Dabei hielt er Neurasthenie für eine Krankheit der modernen Zivilisation (Suter, 2004). Unter Freud galt die Neurasthenie als psychovegetatives Syndrom, das er als „Aktualneurose“ bezeichnete und dessen Symptomerscheinung er im Zusammenhang mit einem aktuellen psychischen Konflikt sah. Burisch (1994) schreibt, dass der Begriff Burnout erstmals vom Schriftsteller Graham Green in seinem Buch „A Burnt – Out Case“ 1961 erwähnt wurde. Zwischenzeitlich wurde der Begriff auch mit dem „Chronique Fatique Syndrom (CFS)“ gleichgesetzt. Erst in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern etabliert sich der Begriff Burnout als Trend- und Modewort. Dabei gilt der deutsche Psychoanalytiker Herbert J. Freudenberger als Initiator der wissenschaftlichen Burnoutdiskussion. Er beschreibt das Krankheitsbild 1974 in einer amerikanischen Dissertation als psychischen und physischen Abbau. Ab 1976 schrieb neben Freudenberger insbesondere auch die Sozialpsychologin Christina Maslach über das Burnout-Phänomen, indem sie an der Universität Berkeley in Kalifornien mit systematischen Untersuchungen zum Burnout-Syndrom in Sozialberufen begann (Bickhoff, 2004). Im deutschsprachigen Gebiet wurde der Begriff besonders ab 1980 verwendet. Eine deutsche Buchübersetzung von Freudenberger und Richelson wurde 1981 unter dem Namen „Ausgebrannt“ herausgegeben. Zudem erschien 1983 in der deutschen Zeitschrift „Psychologie heute“ ein Artikel „Ausgebrannt“, deren Verfasser Aronson, Pines und Kafry auf die Gefahren dieses Syndroms hinwiesen (Barth, 1992). Nach dieser Veröffentlichung erfolgten weitere Dissertationen und Publikationen zum Thema. Gegen Mitte der 80-er Jahre erlangten verschiedene Burnoutpublikationen auch in der Schweiz Aufmerksamkeit. Dies nicht zuletzt als Folge der aktuellen gesamt-
54
II Theoretischer Hintergrund
wirtschaftlichen Entwicklungen und deren oft auch negativen Auswirkungen für die Arbeitnehmenden. Zudem machten prominente „Burnoutfälle“ die Thematik einer breiten Bevölkerung bewusst. II.4.2
Definitionsversuche
Burnout hat in den letzten Jahren in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen grosse Verbreitung erfahren. Es ist ein Sammelbegriff geworden und fasst ein breites Spektrum uneinheitlicher Symptome zusammen. Ein eigenständiges, wissenschaftliches Krankheitsbild konnte bis heute nicht definiert werden. Gemäss Burisch (1994) fehlt es in der Burnoutforschung an einer „operationalen und universellen Definition“, welche international anerkannt ist. Dabei sind alle Versuche bis heute einerseits zu umfassend oder zu spezifisch. Schon Maslach (1982) stellte fest, dass beim Burnoutsyndrom eine handhabbare Definition fehlt, die überzeugend sein könnte. Dies hat seine Konsequenzen für systematische Forschungsarbeit. Insbesondere fällt die Abgrenzung zu Begriffen wie Belastung, Erschöpfung und Depression sehr schwer. II.4.3
Erklärungsansätze des Phänomens Burnout
Gusy (1995) unternimmt den Versuch, die verschiedenen Erklärungsansätze von Burnout einzuordnen. Persönlichkeitsorientierte Erklärungsansätze sehen die Ursache einer Erkrankung in der Persönlichkeitsstruktur eines Individuums. Die sozial-, arbeits- und organisationspsychologischen Erklärungsansätze betonen die Relevanz von Arbeit und Gesellschaft. Tabelle 5: Persönlichkeitszentrierte, sozial-, arbeits- und organisationspsychologische Erklärungsansätze nach Gusy (1995) Persönlichkeitszentrierte Erklärungsansätze – – – – – –
Edelwich & Brodsky (1984) Fischer (1983) Freudenberger & Richelson (1983) Lauderdale (1982) Meier (1983) Burisch (1989)
Sozial-, arbeits- und organisationspsychologische Erklärungsansätz – – – – – – – –
Pines, Aronson & Kafry (1983) Barth (1992) Berkley Association Planning Group (1977) Brahall & Ezel (1981) Büssing & Perrar (1989) Cherniss (1980) Harrison (1983) Enzmann & Kleiber (1989)
II.4 Stresserkrankung: Burnout
55
Nachfolgend werden ausgewählte Modelle und Erklärungsansätze in Anlehnung an die Einordnung von Gusy (1995) aufgeführt. Freudenberger und Richelson (1983) beschreiben Burnout als Nachlassen bzw. Schwinden von Kräften oder Erschöpfung, ausgelöst durch übermäßige Beanspruchung der eigenen Energie, Kräfte oder Ressourcen. Am Ende des Prozesses der Erschöpfung steht die „Krankheit des Überengagements“, die bei Helfenden in der psychosozialen Versorgung auftritt. Erst später kommt Freudenberger zum Schluss, dass diese Krankheit alle Berufsgruppen, Organisationen und Beziehungen betrifft. Die Ursache dafür sieht er in gesellschaftlichen, institutionellen und individuellen Faktoren. Er geht auf dispositionelle Faktoren ein, indem er hervorhebt, dass besonders ehrgeizige, erfolgreiche und anspruchsvolle Persönlichkeiten gefährdet seien. Pines, Aronson und Kafry (1993) verstehen Burnout als einen Zustand von physischer, emotionaler und mentaler Erschöpfung, welcher über längere Zeit entstanden ist und eine starke Involviertheit in emotionale Situationen voraussetzt. Somit wird ein Ausbrennen definiert als, „das Resultat andauernder oder wiederholter emotionaler Belastung im Zusammenhang mit langfristigem, intensivem Einsatz für andere Menschen. Das Ausbrennen ist die schmerzliche Erkenntnis [von Helfern], dass sie diesen Menschen nicht mehr helfen können, dass sie nichts mehr zu geben haben und sich völlig verausgabt haben“ (Pines, Aronson & Kafry, 1993, S. 25). Pines untersuchte Burnout auch ausserhalb des Arbeitsfeldes wie zum Beispiel bei verheirateten Paaren (Pines, 1988). Sein Bewertungsinstrument „Tedium Measure“ (TM), auf Deutsch Überdruss-Skala (Pines et al., 1993), basiert auf klinischen Erfahrungen und Einzelfallstudien und misst die drei Aspekte der körperlichen, emotionalen und geistigen Erschöpfung. In diesem Messinstrument wird Burnout als Syndrom betrachtet, welches verschiedene Symptome wie Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, geringes Selbstbewusstsein, Irritiertheit und verminderten Enthusiasmus enthält. Edelwich und Brodsky (1984) sehen in Burnout einen fortschreitenden Abbau von Idealismus, Energie, Engagement, Zielstrebigkeit, Vorsätzen, Interessen und Anteilnahme als Resultat von Desillusionierung verursacht durch Arbeitsbedingungen bei Beschäftigten in helfenden Berufen. In ihrem Phasenmodell beschreiben sie den Prozess, welcher vom Stadium des anfänglichen Enthusiasmus über eine Stagnation und Frustration bis hin zur Apathie führt. Einen anderen Akzent setzt Cherniss (1980), dessen integrativem Modell ein psychologisches Stresskonzept zugrunde liegt. Cherniss (1980, zitiert nach Bickhoff, 2004, S. 73) beschreibt Burnout „as a process in which a previously committed professional disengages from his or her work in response to stress and strain expe-
56
II Theoretischer Hintergrund
rienced in the job“. Dabei geht es um den Verlust von Idealismus, Rückgang von Energie und Engagement, zunehmendem Eindruck von Sinnlosigkeit, häufig gepaart mit zynischen negativen Einstellungen, bis hin zur Apathie und psychischen und psychosomatischen Krankheiten. Weiter postuliert Cherniss, dass nicht nur eine einzige Kategorie zur Entstehung von Burnout beiträgt. Arbeit- und organisationsbezogene Faktoren müssen mit individuellen und gesellschaftlichen Aspekten kombiniert werden. Sein Modell enthält einerseits zwei Personenfaktoren (Karriereorientierung und Unterstützung/Beanspruchung) und acht Arbeitsumgebungsfaktoren (Einführungsprozess, Arbeitsbelastung, Anregung, Klientenkontakt, Autonomie vs. Kontrolle, Arbeitsziele, Führung und soziale Isolierung). Stress entsteht nach ihm aufgrund einer schlechten Passung von Person und Arbeitsumgebung. Gemäss der Konzeptualisierung von Maslach und Jackson (1981) ist Burnout ein Syndrom, welches auf folgenden drei Dimensionen beruht: emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung und persönlicher Leistungseinbusse, das bei Individuen auftreten kann, die in irgendeiner Art mit Menschen arbeiten. Maslach (1982) beschreibt die drei Dimensionen folgendermassen: • Die emotionale Erschöpfung wird als ein zentraler Aspekt gesehen. Wenn bei Menschen das Gefühl der Erschöpfung eintritt, haben sie sich meist verausgabt oder überbeansprucht, d. h. beruflich und privat emotional überfordert. Sie fühlen sich ausgelaugt, und zwar in physischer und psychischer Hinsicht. Das zieht die Wirkung nach sich, dass man nicht mehr offen und unvoreingenommen auf Menschen zugehen kann. Die Erschöpfung ist eine Reaktion, welche aus lang anhaltenden Stresssituationen resultiert. Der Stress entsteht durch die grösser werdenden Ansprüche oder durch Veränderungen im privaten Bereich. Je länger die emotionale Erschöpfung bei einem Individuum anhält, umso länger braucht es, um sich wieder zu erholen. • Durch den Prozess der Depersonalisierung verliert das Individuum die Wertschätzung gegenüber einer anderen Person. Dies kann zu einem zynischen Verhalten und einer negativen Einstellung gegenüber Mitmenschen führen. Oft wird darum mit Depersonalisierung auch der Begriff Zynismus oder Dehumanisierung synonym verwendet. Er beschreibt einen Abgrenzungszustand, in welchen die Individuen hineingeraten können, wenn sie langen Stressphasen ausgesetzt sind und stellt einen Versuch dar, sich gegen Erschöpfungszustände und Enttäuschungen zu schützen, indem sie sich innerlich immer mehr von der Aussenwelt abgrenzen. Dabei wird die betroffene Anteilnahme gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst auf ein Minimum reduziert, in privaten wie in beruflichen Belangen wird eine gleichgültige Haltung eingenommen. Fokussiert wird besonders auf die negativen Aspekte der Teilbereiche, wobei man immer mehr seine Ideal- und Wertvorstellungen verliert.
II.4 Stresserkrankung: Burnout
57
• Die reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit ist das Ergebnis eines Vertrauensverlustes des Individuums in seine eigenen Fähigkeiten und resultiert aus den Komponenten der emotionalen Erschöpfung und der Depersonalisierung. Die betroffene Person resigniert und fühlt sich den verschiedenen beruflichen und privaten Situationen nicht mehr gewachsen. Es kommt immer mehr zu einem Vertrauensverlust in die eigenen Fähigkeiten, weil man trotz hoher Anstrengung den Leistungs- und Ergebnisverlust nicht mehr verhindern kann. Die Arbeit wird immer mehr zur fühlbaren Belastung. Man verliert nicht nur das Vertrauen in sich, sondern auch das Vertrauen in andere. Leiter und Maslach gehen davon aus, dass die emotionale Erschöpfung zur Depersonalisierung führt, welche wiederum reduzierte Leistung zur Folge hat. Dieser Zusammenhang unterstreicht die zentrale Rolle der Dimension der emotionalen Erschöpfung (von Massenbach, 2000). Später definieren Enzmann und Kleiber, aufgrund einer Untersuchung der Burnoutkonzeption von Maslach und Jackson, die „emotionale Erschöpfung“ als das entscheidende Burnoutkriterium (Enzmann & Kleiber, 1989). Aufbauend auf diesen drei Dimensionen entwickelten Maslach und Jackson (1981) ein Erhebungsinstrument (Maslach-Burnout-Inventory, MBI), welches Burnout in seiner Ausprägung erfassen soll und sich inzwischen in der Burnoutforschung etabliert hat. Für die vorliegende Untersuchung wurde dieser Fragebogen „Maslach Burnout Inventory (MBI)“ nach Maslach, Jackson und Leiter (1996) hinzugezogen. Die Vorteile des MBI liegen in seiner differenzierten Erfassung der einzelnen Burnoutaspekte (vgl. Kp. III.2.1.2). Wie schon Freudenberger und Cherniss stellen auch Maslach und Leiter (1997) fest, dass ein Zusammenspiel mehrerer Stressoren ein Burnout beim arbeitstätigen Menschen verursachen kann und somit eine Reaktion auf die chronische emotionale Belastung ist. Dabei sind die Stressoren nicht nur im Individuum selbst zu suchen, sondern auch im arbeitstätigen Umfeld. Burisch (1994) beschreibt Burnout als einen Zustand „innerer Erschöpfung“, welcher in jedem Beruf auftreten kann. Er versucht die verschiedenen Ansätze auf einer allgemeinen Ebene zu integrieren. Somit wird „Burnout in Gang gesetzt durch Autonomieeinbußen in gestörten Auseinandersetzungen des Individuums mit seiner Umwelt, genauer: durch die innere Repräsentation solcher Interaktionen als gestörter und das Scheitern bei ihrer Bewältigung“ (Burisch, 1994, S. 117). Zu Beginn des Burnoutprozesses müsse „mindestens eine gestörte Handlungsepisode stehen, die nicht oder nicht ausreichend bewältigt wurde“ (Burisch, 1989, zitiert nach Kernen, 1997, S. 19). Aufgrund dieser Annahmen hat Burisch eine Handlungstheorie entwickelt. Dabei untersucht er Handlungsepisoden von Personen mit dem Ziel, die mangelnde ge-
58
II Theoretischer Hintergrund
störte Passung des Individuums mit der Umwelt zu erfassen, also die Analyse von Störfällen und ihren Folgen. Eine weitere zentrale Annahme von Burisch lautet, dass es nicht nur eine Ursache für Burnout gibt, sondern dabei immer mehrere Faktoren zusammenspielen müssen, die stark im Individuum verankert sind (Burisch, 1994). Aufgrund dessen sind für die Entstehung von Burnout folgende drei Faktoren verantwortlich: 1. Subjektive Autonomieeinbusse, welche einem Individuum widerfährt 2. Gestörte Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt 3. Fehlgeschlagene Bewältigungsstrategien Weiter meint Burisch, dass man die Burnout-Thematik in der Motivationspsychologie ansiedeln sollte, da es in diesem Bereich hauptsächlich darum gehe zu analysieren, weshalb Menschen tun, was sie tun. In der Burnoutforschung geht es hauptsächlich darum, zu analysieren, weshalb Menschen etwas nicht (mehr) tun (Burisch, 1994). Kernen (1997) spricht von Burnout im Zusammenhang mit einer von vielen möglichen Formen persönlicher Dysbalance – eine Dysbalance als Folge eines Ungleichgewichts von Anforderungen und den dem Individuum zur Verfügung stehenden Ressourcen. Anders gesagt, „ist Burnout die Folge einseitiger Ressourcenbeanspruchung des arbeitenden Menschen – wesentliche Faktoren für einen Burnoutprozess liegen im persönlichen Bezug zur Arbeit und in der Arbeitsgestaltung selbst“ (Kernen, 2005, S. 64). Dabei handelt es sich bei einer Burnouterkrankung immer um eine Kumulation von Faktoren, die sich über einen längeren Zeitraum aufgestaut haben. Die Krankheit entwickelt sich schleichend. Neben den drei Dimensionen von Burnout (Gefühl von emotionaler Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierter persönlicher Leistungsfähigkeit), welche auf der Konzeption von Maslach und Jackson (1981) beruhen, benennt Kernen (2005) noch eine weitere Komponente bzw. einen Symptomkomplex, welcher bei einer Burnouterkrankung auftreten kann, nämlich die der psychosomatischen Beeinträchtigung. Dabei kann sich der Mensch von seinen Stresswirkungen nicht mehr erholen. Er ist bis in die Freizeit hinein einem Dauerstress ausgesetzt. Die psychosomatischen Beschwerden zeigen sich zum Beispiel durch Verspannungen, Magen-DarmBeschwerden, Schlafstörungen oder Herz-Kreislauferkrankungen. Anhand der verschiedenen Theorien und Modelle wird gut ersichtlich, wie vielschichtig die Burnoutsyndrome sind. Die meisten Erklärungsversuche bestehen darin, dass sie Symptome zu beschreiben versuchen, ohne eine klare Ätiologie zu liefern.
II.4 Stresserkrankung: Burnout
II.4.4
59
Burnout als Krankheitsstatus
Das Hauptproblem von Burnout ist, dass noch immer eine einheitliche oder operationale Definition fehlt. Auch im grossen gängigen Klassifikationssystem, die International Classification of Disease (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation, konnte sich Burnout nicht als eigenständiges Syndrom durchsetzen. In der aktuellen Version der ICD-10 (2006) sollen die einzelnen Phänomene anhand definierter Merkmale erfasst werden. Burnout findet sich im ICD-10-Manual nur als Zusatzkategorie und wird als Faktor beschrieben, der den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen kann, genauer gesagt als „Ausgebranntsein“ und „Zustand der totalen Erschöpfung“ und mit dem Diagnoseschlüssel Z 73.0 „Erschöpfungssyndrom; Burnoutsyndrom“ erfasst. Daraus folgt, dass gemäss ICD-10 Burnout keine eigentliche psychiatrische Diagnose darstellt. F 48.0 „Neurasthenie“ enthält mindestens Teile der Burnout-Symtomatik. Brühlmann (2007) meint, dass Burnout in deskriptiver Hinsicht primär eine Lebenskrise umschreibe, die, nimmt sie Krankheitswert an, differentialdiagnostisch gemäss ICD-10 zu beurteilen sei. Ätiologisch gesehen sei zentral, dass es sich um eine aktuelle Belastung durch Stressoren handle, welche vor allem durch eine schwierige Arbeitsplatzsituation hervorgerufen sei. Tabelle 6: Burnout als Zusatzkategorie im ICD-10 (2006) Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen (Z) Z 73 Z 73.0 Z 73.1 Z 73.2 Z 73.3 Z 73.4
Probleme verbunden mit Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung Erschöpfungssyndrom (Burnout-Syndrom) Akzentuierte Persönlichkeitszüge (einschliesslich Typ-A-Verhalten) Mangel an Entspannung oder Freizeit Belastung, nicht anderorts klassifizierbar Unzulängliche soziale Fertigkeiten, anderorts nicht klassifizierbar
Aufgrund der fehlenden diagnostischen Kriterien gibt es keine genauen Angaben über Erkrankungsraten. Man geht aber von einer allgemeinen Zunahme aus (Binswanger, 2007). Bei der Messung von Burnout werden ausnahmslos Selbstbeurteilungsfragebögen hinzugezogen, was die Häufigkeitsrate der Erkrankung stark beeinflussen kann. II.4.5
Unterschied Burnout – Depression
Burnout kann also nicht klar definiert werden und besitzt auch kein klares Krankheitsbild. Kein akademischer Arzt oder Psychologe dürfte Burnout als Behandlungs-
60
II Theoretischer Hintergrund
diagnose stellen, berücksichtigt er die Kriterien gemäss WHO (Hillert & Marwitz, 2006). Um eine Diagnose stellen zu können, wird oft auf ähnliche Krankheitsbilder zurückgegriffen, wie die beschriebene Neurasthenie (ICD-10, F 48.0), die Anpassungsstörung (ICD-10, F 43.2) oder die Depression (ICD, F32 ff.). Im 19. Jahrhundert begann sich der Begriff Depression in der Medizin zu etablieren (Hell, 2006). Er leitet sich von lateinischen Verb „deprimere“ ab, was „Niederdrückung“ bez. „in die Tiefe gehen“, „nach etwas graben“ bedeutet. Depressionen gehören zu den häufigsten Befindlichkeitsstören in unserer Gesellschaft. Neben der beeinträchtigten Befindlichkeit ist auch der Antrieb herabgesetzt sowie kognitive und biologische Funktionen sind betroffen (Hell, Böker & Marty, 2001). Nach Hell (2003) „entspricht die depressive Gestimmtheit keinem einheitlichen Gefühl“. Charakteristisch ist besonders der Verlust von Erlebnisreichtum und Vitalität. Zudem würden sich depressive Menschen niedergeschlagen und bedrückt fühlen (Hell, 2003). Auch nach den diagnostischen Kriterien für Depressionen (ICD-10, 2006) bestehen die Hauptsymptome in einer Veränderung der Stimmung oder der Affektivität. Dieser Stimmungswechsel kann mit oder ohne begleitende Angst vorhanden sein und wird in der Regel von einem Wechsel des allgemeinen Aktivitätsniveaus begleitet. Die meisten anderen Symptome sind sekundär. Viele Depressionen tendieren zum wiederholten Auftreten. Der Beginn der einzelnen Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen (ICD-10, 2006). Depression und Burnout sind beide durch ein aversives, negativ getöntes emotionales Erleben gekennzeichnet und gehen mit ähnlichen Beschwerden einher (Hillert Tabelle 7:
Diagnostische Kriterien für Depression ICD-10 (2006)
Mindestens zwei bis drei der folgenden drei Symptome bestehen über mindestens zwei Wochen (je nach Schweregrad der Störung) 1. Depressive Stimmung 2. Verlust an Interesse oder Freude 3. Erhöhte Ermüdbarkeit plus mindestens zwei bis vier der folgenden Symptome (je nach Schweregrad der Störung): 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Schlafstörung Verminderter Appetit Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit Gedanken an oder erfolgte Selbstverletzungen oder Suizidhandlungen Negative oder pessimistische Zukunftsperspektive
II.4 Stresserkrankung: Burnout
61
& Marwitz, 2006). Auf Dauer kann Burnout in das psychiatrische Störungsbild einer Depression übergehen bzw. diese auslösen (Hillert & Marwitz, 2006). Dabei gilt
Burnout als weniger komplexes Konstrukt und weist einen eingeschränkten Anwendungsbereich auf, während Depression als eine spezifische psychiatrische Störung gilt und sich auf einen noch engeren Anwendungsbereich bezieht (Hillert & Marwitz, 2006). Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass auch beim depressiven Erleben die Schwierigkeit besteht, dieses zu definieren, da „ein Depression nicht wie ein Gegenstand beschrieben oder mit den Sinnen erfasst werden kann“ (Hell, 2006, S. 33). Die Diagnostik der Depression stelle eine Möglichkeit dar, depressives Erleben zu fassen, indem man „erkrankte Menschen gezielt auf bestimmte Eigenschaften hin“ zu befragen versuche (Hell, 2006, S. 35). Welche genaue Funktion und Positionierung von Depression im Burnout-Verlauf besitzt ist umstritten (Suter, 2004). Die einen Forscher sind der Ansicht, dass Depression eine eigene Phase im Burnoutprozess darstellt, andere meinen, dass Depression eine wichtige Begleiterscheinung während des ganzen Erschöpfungsprozesses darstellt (Kypta, 2006). Dies bedeutet, dass Burnout und Depression lediglich in der Praxis zwei verschiedene Konzepte darstellen. Burnout kann jedoch in der Theorie nicht als eigenes Konstrukt erfasst werden, da immer noch weitere Konstrukte, wie Neurotizismus, Stress, Arbeitszufriedenheit und Depression mitgemessen werden (Hillert & Marwitz, 2006). Trotz den verschiedenen Erklärungsansätzen und der Schwierigkeit einer Definitionsfindung zeigen sich in der Burnoutliteratur Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten. Nachfolgend sind zusammenfassende Aspekte der Burnoutforschung nochmals aufgeführt: • Burnout als Begriff und Krankheitsbild ist bis heute nicht eindeutig definiert. • Die Entwicklung der Krankheit ist ein Prozess, im Sinne eines Verlaufs, und kein Zustand. • Burnout gilt als negative Erfahrung, übt einen gravierenden Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche des Individuums aus und ist immer mit einem Leistungseinbruch im beruflichen und privaten Bereich gekoppelt. • Das Krankheitsbild zeigt sich im Schwerpunkt in Symptomen der Erschöpfung. • Im Zusammenhang mit dem Krankheitsbild tritt immer wieder die Frage auf, ob Burnout auf persönliche oder arbeitsplatzbezogene Faktoren zurückzuführen sei. Ursächliche Faktoren sind nach der aktuellen Forschung strukturelle und soziale Bedingungen der Lebensumwelt. • Vom Burnoutsyndrom sind nicht, wie ursprünglich angenommen, ausschliesslich psychosoziale Berufsgruppen betroffen. Auch in anderen Berufen und ausserberuflichen Bereichen wie Familie oder Studium kann es zu einem Burnout kommen.
62 II.5
II Theoretischer Hintergrund
Zur Empirie der Geschlechterunterschiede
Männer und Frauen sind nicht gleich, daran hat die Gleichberechtigung von Frau und Mann in den letzten Jahrzehnten nichts geändert. Das Geschlecht spielt nach wie vor eine zentrale Rolle, für jede Person genauso wie in Wirtschaft und Gesellschaft. Dieses Kapitel beginnt mit einer Klärung der Begriffe „Geschlecht“ und „Gender“, danach werden geschlechtsspezifische Gesundheits- und Arbeitsaspekte beleuchtet und anschliessend folgt eine Beschreibung der unterschiedlichen Ressourcen und Stressoren am Beispiel von Copingstrategien und der Burnouterkrankung bei Männern und Frauen. II.5.1
Begriffsdefinition Geschlecht und Gender
Begrifflich kann zwischen dem biologischen („sex“) und dem soziologischen („gender“) Geschlecht unterschieden werden. Unter „sex“ werden biologische Merkmale von Männern und Frauen aufgeführt, „gender“ dagegen bezieht sich auf sozial definierte und gesellschaftlich konstruierte Merkmale (Baltes et al., 1996, zitiert nach Peier, 2006). Diese Unterscheidung macht deutlich, dass die Verschiedenheit der Geschlechter nicht nur auf biologische Ursachen zurückzuführen ist, sondern auch in historischgesellschaftlichen Rollen liegt und veränderbar ist. Mit „Geschlechterrolle“ wird die Gesamtheit erwarteter Verhaltensweisen, Einstellungen, Verpflichtungen und Privilegien bezeichnet, die eine Gesellschaft jedem Geschlecht zuschreibt. Geschlechterrollen beruhen auf einer Reihe von „Geschlechtsstereotypen“ (Nunner-Winkler, 2001). Dabei sind „Geschlechtsstereotypen grob vereinfachende, aber tief verwurzelte Vorstellungen über männliche und weibliche Eigenschaften“ (Nunner-Winkler, 2001, S. 272). Geschlechterrollen und Geschlechtsstereotypen beeinflussen sich gegenseitig. II.5.2
Gesundheit und Krankheit von Frauen und Männern
Seit einigen Jahren wird der Frage nachgegangen, inwieweit Frauen und Männer einen unterschiedlichen Gesundheitszustand aufweisen (Kolip & Hurrelmann, 2002) bzw. welche spezifischen Gesundheitsprobleme sich bei Männern und Frauen stellen, da sie durch die biologische Geschlechterzugehörigkeit, aber auch durch äussere Faktoren unterschiedlichen Einflüssen auf ihre Gesundheit ausgesetzt sind. Dabei ist zu erkennen, dass die Geschlechter einerseits im Profil ihrer Krankheiten und Gesundheitsstörungen verschieden sind und andererseits sich das Gesundheitsverhalten und -empfinden unterscheidet.
II.5 Zur Empirie der Geschlechterunterschiede
63
Auffällig ist etwa, dass Männer durchschnittlich eine deutlich geringere Lebenserwartung aufweisen als Frauen, dies nicht zuletzt aufgrund der höheren Inzidenz und Prävalenz für beinhahe alle kardiovaskulären und onkologischen Erkrankungen wie auch für Infektionen (Klotz, 2002). Obwohl Frauen durchschnittlich länger leben und sie seltener von lebensbedrohlichen, chronischen Krankheiten betroffen sind (Siegrist, Rödel, Hessel & Brähler, 2006), weisen sie bei vielen Morbiditätsindikatoren eine höhere Krankheitsrate auf (Mielck, 2002). Konkret bedeutet dies, dass „die Prävalenz nicht lebensbedrohlicher, chronischer Krankheiten und bestimmter psychischer Störungen wie Angststörungen und Depressionen bei Frauen höher ist“ (Sartorius, Ustun, Lecruber et al., 1996, zitiert nach Siegrist et al., 2006, S. 527). Kolip (2002) fasst die Ergebnisse zum Geschlechterparadox folgendermassen zusammen: Frauen haben eine um etwa sieben Jahre höhere Lebenserwartung. Die Zahl der bei guter Gesundheit verbrachter Lebensjahre ist für Männer und Frauen annähernd gleich […]. Frauen sind unzufriedener mit ihrem Gesundheitszustand. Frauen leiden häufiger unter psychischen Krankheiten und psychosomatischen Beschwerden. (S. 507)
Für die Unterschiede bei den psychischen Störungen existieren folgende Ansätze: Biologische Erklärungen weisen einerseits auf die unterschiedliche genetische Disposition hin und andererseits sehen sie die hormonelle Regulation dafür verantwortlich. Es konnte jedoch bisher keine direkte Wirkung eines Gens als ursächlicher Faktor eruiert werden (Merbach et al., 2002). Auch im Hinblick von Hormonwirkungen wie bei Östrogenen und Progesteronen, die bei Angst- und Depressionserkrankungen eine wichtige Rolle spielen und bei Frauen in Zeiten hormoneller Umstellungen ausschlaggebende Hinweise für die grössere Erkrankungshäufigkeit geben, bleiben empirische Befunde widersprüchlich. Mittlerweile sind die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen recht gut erforscht, das Geschlechterverhalten und deren Auswirkungen auf die Gesundheit dagegen weniger (Voss, 2007). Die unterschiedlichen sozialen Lagen beschreiben Merbach et al. (2002) als mögliche Ursache für die Geschlechterunterschiede bei Angst sowie den affektiven und somatoformen Störungen. Im Weiteren geben Geschlechterrollen Hinweise auf die Prävalenz psychischer Erkrankungen von Männern und Frauen. Dabei stellt sich die Frage, wie soziale Rollen Männer und Frauen in Bezug auf die Gesundheit beeinflussen. Eine traditionelle Arbeitsteilung zum Beispiel hat Auswirkungen auf das Gesundheitsprofil, wenn also der Mann einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit nachgeht, und die Frau für die Familienarbeit zuständig ist (Courtenay, 2002) (vgl. Kp. II.5.3). Dieses Modell ist „mit einer stärkeren Leistungs- und Wettbewerbsorientierung der männlichen Erwerbsarbeit verbunden“ (Kolip & Hurrelmann, 2002, S. 24). Besonders die traditionelle Männerrolle wirkt sich hinderlich auf das präventive Verhalten und die selbstberichtete Gesundheit aus, indem sie weniger über Krankheits-
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II Theoretischer Hintergrund
symptome zum Ausdruck bringt (Sieverding, 2000), während Frauen über mehr Krankheitssymptome (Gijsbers van Wijk & Kolk, 1997) berichten und auch eher um Hilfe nachsuchen. Somit gelangten Angst & Ernst (1990) zur provokativen Aussage, dass „Frauen Hilfe suchen, während Männer sterben“. II.5.3
Arbeit und Geschlecht
Der Frauenanteil in der Erwerbstätigkeit ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Dazu beigetragen haben unter anderem das grössere Stellenangebot, bessere Ausbildungsmöglichkeiten von Frauen, ein höheres Scheidungsrisiko und ein Wandel an Einstellungen. Doch ein Muster von Geschlechtsdisparitäten am Arbeitsplatz besteht immer noch (Joas, 2007). Der Unterschied zeigt sich zum Beispiel „im unterschiedlichen Männer- und Frauenanteil in bestimmen Berufen sowie in der Besetzung von gehobenen Positionen vor allem im Management“ (Voss, 2007, S. 147). Meist dominieren Männer diese Organisationen, und „Frauen erhalten selten einen Posten an der Unternehmerspitze und sind selbst in Führungspositionen auf unteren Hierarchieebenen weitgehend unterrepräsentiert“ (Parkin & Hearn, 1995, S. 396). Auch heute noch sind Frauen in Führungspositionen eine Seltenheit. Die aktuellsten, national verfügbaren Daten zum Thema Frauen und Männer im Erwerbsleben stammen aus dem Jahr 2007. Sie wurden im Rahmen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) vom Bundesamt für Statistik (2007) publiziert: Die Erwerbsquote der Frauen beträgt 59.9%, diejenige der Männer 75.8%. Mehr als die Hälfte der Frauen (57.1%) geht einer Teilzeitarbeit nach, bei den Männern dagegen ist es nur jeder Zehnte (11.9%). Am grössten ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen während der Familiengründungsphase, also wenn die Frauen sich zwischen dem 25. und 40. Altersjahr für die Kinderbetreuung vorübergehend aus dem Berufsleben zurückziehen. Demzufolge besitzen Frauen eine niedrigere berufliche Stellung als Männer. Die SAKE-Statistik führt für das Jahr 2007 folgende Verteilung auf: 6 von 10 Angestellten ohne leitende Funktion sind Frauen. Der Anteil der Frauen in Vorgesetztenfunktionen beträgt 12.6% und in Unternehmensleitungen 9.4%. Bei den Männern haben 19.4% eine Vorgesetztenfunktion inne, und 17.5% nehmen Einsitz in Unternehmensleitungen. Angst (2006) erwähnt in ihrer Arbeit verschiedene Studien zu Frauenanteilen in Führungspositionen in diversen Unternehmungen: • Laut einer Umfrage bei den 26 grössten börsenkotierten Unternehmungen der Schweiz (SMI), sind nur gerade 7 von 237 Geschäftleitungsmitgliedern Frauen (Jacquemart, 2006, zitiert nach Angst, 2006, S. 19).
II.5 Zur Empirie der Geschlechterunterschiede
65
• Eine Studie der Universität Freiburg stellt fest, dass nur 3% von 700 Manager/ -innen der grössten SPI-Firmen (damit sind alle börsenkotierten Unternehmungen der Schweiz gemeint) Frauen sind. • Eine Umfrage bei insgesamt 1298 Personen von Leu, Rütter & Umbach-Daniel (2006, zitiert nach Angst, 2006, S. 19) hinsichtlich der Situation von Frauen in Schweizer Banken und Versicherungen hat folgende Beschäftigungsanteile (gemäss Hochrechnungen) ergeben: 5% der Frauen und 24% der Männer besitzen bei Grossbanken eine Kaderfunktion, während bei den Versicherungen 7% der Frauen und 24% der Männer eine Kaderstelle besetzen. Somit kann folgender Schluss gezogen werden: je höher die Positionen in Organisationen und Institutionen, desto seltener sind Frauen anzutreffen. Morrison & von Glinow (1990) nennen dieses Phänomen „the glass ceiling“. Dabei beschreiben sie den Umstand der „gläsernen Decke“ in Unternehmen, bei denen „Frauen, und zwar insbesondere auch überdurchschnittlich begabte und motiverte Frauen, nicht in gleichem Mass wie Männer den Aufstieg in die oberste Führungsetage schaffen“ (Littmann-Wernli & Schubert, 2002, S. 22). Empirisch konnte das Vorhandensein dieses Phänomens bestätigt werden (Osterloh & Littmann-Wernli, 2000). Gemäss Bundesamt für Statistik (2007) gelten die wegen der Verantwortung für Haushalt und Kinderbetreuung eingeschränkte Flexibilität und die oft geringere Berufserfahrung der Frauen als wichtigste Gründe. Hinzu kommen soziale Stereotypen und Erwartungen. Dabei bestehen diese Ungleichheiten auch bei gleichem Bildungsstandard von Männern und Frauen. Überdies zeigen die aktuellsten Daten aus dem Jahr 2006, die vom Bundesamt für Statistik im Rahmen der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE, 2008) publiziert wurden, dass die Löhne der Frauen im Durchschnitt deutlich tiefer sind als jene der Männer. So beträgt der monatliche Bruttolohn (auf Vollzeit standardisiert) der Frauen im privaten Sektor 5435 Franken, jener der Männer 7182 Franken. Im öffentlichen Sektor sehen die Zahlen folgendermassen aus: Der monatliche Bruttolohn (auf Vollzeit standardisiert) der Frauen beträgt 6195 Franken, derjenige der Männer 7513 Franken. Dies entspricht einer Differenz von 24.3% im privaten Sektor und von 17.5% im öffentlichen Sektor. Einige Gründe liegen auch hier in den längeren Unterbrüchen der Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen und der damit verbundenen geringeren Berufserfahrung. Gemäss einer Studie, die das Bundesamt für Statistik zusammen mit dem Eidgenössischen Büro für Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) in Auftrag gegeben hat, können aber nur rund 60% des Lohnunterschiedes zwischen Frauen und Männern durch objektive Faktoren wie Ausbildung, berufliche Stellung und Anforderungsniveau erklärt werden. 40% des Lohnunterschieds lassen
66
II Theoretischer Hintergrund
sich durch objektive Faktoren nicht begründen. Dazu meinen auch Sander & Hartmann (2009), dass immer noch mehr Frauen die Karriere unterbrechen, um den familiären Verpflichtungen nachzukommen. So erreichen sie weniger Berufsjahre, einen verminderten beruflichen Fortschritt mit weniger Berufserfahrung, was sich wiederum auf das Einkommen auswirkt (Eagly & Carli, 2007, zitiert nach Sander & Hartmann, 2009, S. 2). Insgesamt wird deutlich, dass Frauen immer noch weniger einflussreiche, schlechter bezahlte und mit geringerem Status verbundene Positionen in Organisationen einnehmen als Männer. II.5.4
Unterschiedliche Ressourcen und Stressoren bei Männern und Frauen
In der Regel nimmt also im Leben eines Mannes die Arbeit eine dominantere Rolle ein, also im Leben einer Frau. Männer besitzen deshalb auch andere Ressourcen als Frauen (vgl. Kp. II.2), weil sie zum Beispiel mehr Zeit haben, spezifische soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Laut Golombok & Fivush (1994) können Männer besser mit Kritik von Seiten ihres Vorgesetzten umgehen als Frauen und sind bestimmter und besser im Einsatz von effektiver, sozialer Interaktion. Dass Frauen viel öfters Teilzeit arbeiten hat dagegen zur Folge, dass die Arbeitsverhältnisse unsicherer, die soziale Absicherungen schlechter, die Weiterbildungsmöglichkeiten geringer und die Karrierechancen tiefer sind. Auch die Tatsache, dass Frauen in Führungspositionen in der Seltenheit sind und somit eine MinderheitenPosition besitzen, kann erhöhten Stress zur Folge haben (Sander & Hartmann, 2009). Wichtig sind zudem die Unterschiede bei der Belohnung (Erez, Borochov & Mannheim, 1989). Männer sind motivierter bei einer instrumentellen Belohnung (Entlöhnung, Aufstiegsmöglichkeiten usw.), während Frauen die sozialen Belohnungen bevorzugen (Anerkennung, Befriedigung, Sinngebung). Die Literatur kennt neben diesen weitere Geschlechterunterschiede. Im nachfolgenden Kapitel werden einerseits geschlechtsspezifische Unterschiede in den Copingstrategien (als Beispiel für den Bereich der unterschiedlichen Ressourcen) und andererseits ausgewählte Befunde zu unterschiedlich erfahrenen Arbeitsstressoren und Stressreaktionen bei Männern und Frauen (als ausgewähltes Beispiel gilt die Burnouterkrankung) dargestellt. II.5.4.1
Geschlechterunterschiede und Copingverhalten
Bereits im Transaktionalen Stressmodell nach Lazarus und Launier (1981) (vgl. Kp. II.3.3.2) wurde die Relevanz der Copingstrategien hinsichtlich der Stressbewälti-
II.5 Zur Empirie der Geschlechterunterschiede
67
gung beschrieben. Zur Erinnerung: „Coping steht für die Auseinandersetzung und Bewältigung von Schwierigkeiten und bezeichnet Strategien und Verhaltensweisen zur Bewältigung von Belastungen, die keine automatischen Reaktionen sind“ (Lazarus & Folkmann, 1984, S. 140). Verschiedene Reaktionen können als Copingverhalten dienen wie zum Beispiel Sport treiben (Ablenkung durch Freizeitaktivitäten), mit einem Arbeitskollegen sprechen (Inanspruchnahme sozialer Unterstützung), einen Arbeitsplan erstellen (Arbeitsstrategien). Hartmann und Richner (1997, S. 9) halten fest, dass „immer wieder neue Versuche unternommen wurden, die Vielzahl spezifischer Elemente des Copingverhaltens auf wenige, überschaubare Kategorien zu reduzieren, wodurch zahlreiche unterschiedliche Taxonomien entstanden“ (S. 9). Dieser Umstand führt dazu, dass bezüglich der unterschiedlichen Kategorien in der Empirie kein Konsens besteht. Die vorliegende Studie orientiert sich an der Kategorisierung nach Lazarus und Launier (1981), die problemorientiertes und emotionsorientiertes Copingverhalten unterscheiden (vgl. Kp. II.3.3.2). Eine der ersten Untersuchungen, die unterschiedliches Copingverhalten der Geschlechter in den Blick nahm, wurde von Pearlin und Schooler (1978, zitiert nach Hartmann & Richner, 1997, S. 11), durchgeführt. Männer zeigen darin bei Belastungen mehr problemorientierte Strategien, welche direkt auf den Stressor wirken, während Frauen in der Regel eher emotionsorientierte Strategien bevorzugen. Geschlechterunterschiede im Copingverhalten wurden in weiteren Studien bestätigt (Gianakos, 2002; Hobfoll, Dunahoo, Ben-Porath & Monnier, 1994; Monnier, Stone, Hobfoll & Johnson, 1998; Patton & Goddard, 2006; Piko, 2001). Neuere Untersuchungen bringen allerdings widersprüchliche Ergebnisse hervor. Thoits (1991, zitiert nach Hartmann & Richner, 1997, S. 12), hält fest, dass „Männer im Gegensatz zu Frauen mehr in analysierender Weise über belastenden Situationen nachdenken und sich öfter durch Sport ablenken, während Frauen häufiger versuchen, Belastungen positiv umzudeuten und ausserdem öfter nach sozialer Unterstützung suchen“. Auch Ptacek, Smith & Zanas (1992) (vgl. auch Patton & Goddard, 2006) eruierten, dass Frauen öfter soziale Unterstützung in Anspruch nehmen. Nach Lazarus und Launier (1981) entspricht aber gerade die Inanspruchnahme sozialer Unterstützung (vgl. Kp. II.2.3.3) einem problemorientierten Copingverhalten. Damit wäre dem generellen Befund widersprochen, dass Männer mehr problemorientiertes Copingverhalten anwenden als Frauen (Hartmann & Richner, 1997). Es gibt auch Studien, die keine Geschlechterunterschiede im Copingverhalten entdecken konnten (Korabik & van Kampen, 1995; Porter & Stone, 1995). Zusammengefasst zeigt sich, dass die empirischen Befunde bezüglich des Copingverhaltens von Männern und Frauen unklar sind. Es kann nicht eindeutig belegt werden, dass Frauen und Männer ein unterschiedliches Verhaltensrepertoir im Bereich der Copingstrategien besitzen.
68 II.5.4.2
II Theoretischer Hintergrund
Geschlechtsspezifische Befunde zu Arbeitsstressoren und -reaktionen
Die Forschung über die geschlechtsspezifische Verteilung von Krankheiten ist bereits weit entwickelt. Dagegen werden in der empirischen Stressforschung erst seit relativ kurzer Zeit geschlechtsspezifische Arbeitsbelastungen und die damit verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen berücksichtigt (Siegrist, Rödel, Hessel & Brähler, 2006). Im Rahmen einer Psychologie-Studie 2002 untersuchten Siegrist et al. (2006) an einer repräsentativen deutschen Stichprobe von 666 Vollzeitbeschäftigten psychosoziale Arbeitsbelastungen, Fehlzeiten und die subjektive Beeinträchtigung des Wohlbefindens durch den Gesundheitszustand. Dabei berichteten Frauen über eine stärkere Beeinträchtigung des gesundheitsbezogenen Wohlbefindens als Männer. In der Studie von Miller et al. (2000) wurde der Einfluss des Geschlechts in der Erfahrung von Arbeitsstress bei Managern untersucht. Die Autoren und Autorinnen stellten sich unter anderem die Frage, ob Männer und Frauen unterschiedliche Belastungen (Stressoren) bei der Arbeit erleben und geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Arbeitsbeanspruchung festzustellen sind. Resultat: Es wurden keine allgemeinen Geschlechterunterschiede in der Erfahrung von Arbeitsstressoren gefunden. Ausgenommen davon ist die Unterkategorie „organisationales Klima“, bei der Männer mehr Stressoren zeigen als Frauen. Hingegen konnten Unterschiede in der Arbeitsbeanspruchung festgestellt werden. Männer zeigten hier ein besseres mentales und physisches Wohlbefinden als Frauen. Ähnlichen Fragen gingen Davis, Matthews & Twamley (1999) in einer Metaanalyse nach. In dieser wurde unter anderem untersucht, ob Frauen im Allgemeinen mehr Stressoren ausgesetzt sind (stress exposure) und wie viel Stress ein bestimmtes Ereignis im Vergleich zu den Männern auslöst (stress impact). Frauen berichteten nur über wenig mehr stressreiche Lebensereignisse, aber von einer umso grösseren Stressbelastung im Vergleich zu den Männern. Dabei war der Anteil interpersonaler Stressoren (Ereignisse, die anderen widerfahren und Ereignisse, die Beziehungen betreffen) bei Frauen grösser als von nicht-interpersonalen Stressoren (Ereignisse am Arbeitplatz oder finanzielle Sorgen). Die Autoren zogen daraus den Schluss, dass Frauen nicht erheblich mehr Stressoren erleben, ein bestimmter Stressor aber mehr Stress zur Folge hat als bei den Männern (Davis et al., 1999). Zudem hält Voss (2007) fest, dass nicht nur die Erfahrung von Arbeitsbelastung unterschiedlich ist, sondern auch die darauf folgenden Belastungsreaktionen, die sich zeigen, auch wenn Männer und Frauen an ihrem Arbeitsplatz gleiche Arbeitsbedingungen vorfinden (Voss, 2007). Zum gleichen Ergebnis kamen Narayanan, Menon & Spector (1999) in ihrer Untersuchung mit 401 Teilnehmenden. Auch hier berichteten Frauen über mehr interpersonale Stressoren als Männer.
II.5 Zur Empirie der Geschlechterunterschiede
69
Eine weitere Bestätigung dafür, dass interpersonale Konflikte, insbesondere Ehekonflikte, Hauptstressoren für Frauen darstellen, findet sich in der Studie von Dytell, Pardine & Napoli (1985). Überdies beschreiben die Autoren, dass die Kombination von Stressoren im Bereich Familie und Arbeit bei Frauen zu einem Burnout führen können, während bei Männern der ausschlaggebende Hauptstressor in der Arbeit liegt. Die Untersuchungen von Korabik und van Kampen (1995) sowie Mc Donald und Korabik (1991) mit Managerinnen und Mangern besagen dagegen, dass im Allgemeinen Frauen über mehr und andere Belastungen berichten als Männer. Zudem meinen Sander & Hartmann (2009), dass schon die Minderheiten-Position von Managerinnen erhöhten Stress und verursachen und somit gesundheitliche Folgen haben kann und dass dieser Umstand zu den Besonderheiten von Frauen in Führungspositionen zählt (Sander & Hartmann, 2009). Keine Geschlechterunterschiede in der Anzahl erwähnter Belastungen im Berufs- und Privatbereich konnten Hartmann und Richner (1997) feststellen. Zudem würden Männer und Frauen ähnliche Belastungen erleben. Auch Ptacek et al. (1992) entdeckten keinen Geschlechterunterschied bezüglich der Anzahl und Art der Belastungen bei Männern und Frauen. Für diese widersprüchlichen Ergebnisse sind mehrere Gründe denkbar. Meist sind Frauen und Männer in den verschiedene Berufgruppen und -positionen unterschiedlich stark vertreten. Dies führt bei mehreren Untersuchungen zu nicht repräsentativen Stichproben bzw. nicht repräsentativen Ergebnissen. Zusätzlich unterscheiden sich die Studien untereinander in ihrer Stichprobenpopulation (MangerInnen versus StudentInnen) und dem methodischen Vorgehen. Nach Siegrist et al. (2006) liegt ein weiterer Grund darin, dass Stressoren möglicherweise geschlechtstypisch wahrgenommen werden. Demnach erweist sich der derzeitige Forschungstand zur psychosozialen Arbeitsbelastung bei Frauen im Vergleich zu Männern als unbefriedigend. Auch in Bezug auf Geschlechterunterschiede bei Belastungsreaktionen bzw. -folgen, wie zum Beispiel die Burnouterkrankung, existiert eine grosse Anzahl empirischer Studien mit unterschiedlichen und inkonsistenten Befunden (Antoniou, Polychroni & Vlachakis, 2006; Bernin & Theorell, 2001; Caccese & Mayenberg, 1984; Greenglass, 1991; Kulik, 2006). Einige Studien haben ein grösseres Erkrankungsrisiko bei Frauen als bei Männern gefunden. Dies kann aber auch davon abhängen, dass Frauen sich aufgrund der sozialen Norm vermehrt berechtigt fühlen, ihren Zustand differenzierter zu beschreiben, als dies in der Regel Männer tun (vgl. Kp. II.5.2) und eher Therapieinstitutionen aufsuchen. Eine weitere Erklärung kann in der internen Beziehung zwischen Arbeit, Familie und Burnout liegen (Etzion, 1988; Greenglass & Burke, 1988). Besonders bei
70
II Theoretischer Hintergrund
Frauen wurde festgestellt, dass die Ursachen von Stressoren einerseits in der Familie, andererseits in der Arbeit zu suchen sind. Diese „Familie-Arbeits-Beziehung“ besitzt einen unterschiedlichen Einfluss auf Männer und Frauen. Dadurch, dass die meisten arbeitstätigen Frauen sich in verschiedenen Rollen engagieren (Berufsfrau, Mutterrolle, Ehefrau usw.), hat dies eine grössere Rollenbelastung bzw. einen grösseren Rollenkonflikt aufgrund der unterschiedlichen familiären Ansprüche zur Folge. Demnach stellt der weibliche Rollenkonflikt einen signifikanten Prädiktor für Burnout dar. Dass Frauen im Gegensatz zu Männern stärker Interrollenkonflikten ausgesetzt sind und die Hauptursache für Stress im Konflikt zwischen Job und Familie begründet liegt, beschreibt Greenglass bereits 1985. Dies führt bei Frauen in leitender Stellung zu vermehrter Irritation, Angst und Depression (Greenglass & Burke, 1988). Auch Kulik (2006) erwähnt in seiner Studie, dass in der Regel Männer und Frauen unterschiedliche Erfahrungen als Angestellte machen. Nach wie vor unterliegt die Frau durch ihre Doppelrolle als Hausfrau und Berufstätige einer Doppelbelastung, welche deutlich höher ist als beim Mann. Demnach sind Männer weniger anfällig für Konflikte zwischen den Rollenanforderungen zu Hause und bei der Arbeit. Sie erleben eine grössere Rollensynergie, während Frauen mehr den Rollenkonflikten ausgesetzt sind (Barnett, 1993). Auch wenn die Ehemänner bereit sind, genauso viel Zeit in die Kinderversorgung und Hausarbeit zu investieren, fühlen sich die Frauen stärker für das Funktionieren der Familie verantwortlich. Zusammengefasst heisst das: Während bei den Männern der Stress am Arbeitsplatz die Hauptursache für eine Burnouterkrankung ist, liegt bei den Frauen der Grund im Rollenkonflikt zwischen Erwerbsarbeit und Familie. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern bezüglich deren Stressursachen von Arbeit und Familie liegt demnach hauptsächlich in der sozialen Struktur und nicht in der Biologie. Eine gute Integration von Familie und Arbeit kann allerdings auch als Ressource wirken. Etzion (1988) kam in seiner Studie zur Erkenntnis, dass die Burnouterkrankung bei Frauen grösser war, je wichtiger der nicht-berufliche Erfolg gewertet wurde, d. h. der Erfolg als Mutter, Hausfrau und Ehefrau als wichtigste und einzige Bestätigungsquelle bewertet wurde. Diese Ergebnisse entsprechen dem von Siegrist et al. (2006) beschriebenen rollentheoretischen Modell: Die Bereicherungsthese (role expansion hypothesis oder stress-buffering hypothesis) geht davon aus, dass durch die Übernahme einer zweiten Rolle durch die Frau, zusätzlich zur Familienrolle, ein gesundheitsfördernder Effekt entsteht. Die vorhandenen Ressourcen in einer Rolle dienen als „Stresspuffer“ in der anderen Rolle. Durch den sozialen Support und emotionalen Rückhalt in der Familie werden die Frauen einerseits belohnt und gleichzeitig wird ihnen dadurch die Bewältigung beruflicher Belastungen erleichtert. Andererseits können so Belastungen im Familien-
II.5 Zur Empirie der Geschlechterunterschiede
71
alltag durch Anerkennung im Beruf und Unabhängigkeit, zum Beispiel in finanziellen Belangen, kompensiert werden (Sieverding, 1995; Siegrist et al., 2006). Die Doppelbelastungsthese (role scarcity hypothesis) geht vom Gegenteil aus, nämlich dass Ressourcen limitiert sind und somit eine Rollenüberlastung (role overload) und ein Rollenkonflikt (role-conflict) entstehen, der negative gesundheitliche Konsequenzen besitzt. Da Frauen die Hauptlast der Familienarbeit tragen, unterliegen sie mit der Berufsrolle einer doppelten Belastung im Gegensatz zu den Männern. Es kommt zu einer höheren Vulnerabilität gegenüber Stressoren, da die zur Verfügung stehenden Ressourcen erschöpft sind (Arber, Gilbert & Dale, 1985; Siegrist et al., 2006). Beide Thesen wurden in verschiedenen Studien geprüft. Einerseits gibt es Arbeiten, die eher die Bereicherungsthese unterstützen (Sieverding, 1995), andererseits wurde in Studien, in denen stressphysiologische Parameter untersucht wurden, eher die Doppelbelastungs- bzw. Rollenüberlastungsthese bestätigt (Lundberg, 2002). Im Widerspruch zu den aufgeführten Studien gibt es Untersuchungen, in denen keine relevanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen bezüglich den berichteten Burnoutsymptomen gefunden wurden (Alotaibi, 2003; Carlson, Anson & Thomas, 2003; Fletcher & Major, 2004). Auch Kolip & Hurrelmann (2002) beschreiben, dass die weibliche Rollenvielfalt keine nachteiligen gesundheitlichen Auswirkungen besitzt, obwohl die anfallenden Arbeiten im Haushalt und bei der Kinderbetreuung zum Nachteil der Frau ungleich verteilt sind. In diesem Zusammenhang sind wichtige Ressourcen das subjektive Wohlgefühl und die Zufriedenheit in den verschiedenen Bereichen (Kolip & Hurrelmann, 2002). Hinsichtlich dieser gegensätzlichen empirischen Befunde argumentiert Bakker (2002), die Beziehung zwischen Geschlecht und Burnout sei angesichts der vielen Hintergrundsvariablen viel komplexer als angenommen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Geschlecht eine zentrale Determinante des Gesundheits- und Krankheitsgeschehens darstellt. Dabei unterscheiden sich Männer und Frauen nicht nur im Profil ihrer Krankheiten und im Gesundheitsverhalten. Sie sind auch unterschiedlichen Belastungen ausgesetzt und können auf unterschiedliche Ressourcen zurückgreifen. Gründe dafür sind die biologisch-genetische Ausstattung der körperlichen und psychischen Konstitution, unterschiedliche Verhaltenweisen und psychische Einflüsse, die miteinander verknüpft sind (Voss, 2007) sowie allgemeine gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Arbeits- und Lebensbedingungen (Hurrelmann & Kolip, 2002). Vor diesem Hintergrund wird es interessant sein, inwiefern sich bei den Spitzenführungskräften der Schweizerischen Finanzwirtschaft und Verwaltung Geschlechterunterschiede zeigen.
III
Untersuchung
Die vorliegende Forschungsarbeit hat zum Ziel, Ressourcen und Stressoren im Zusammenhang mit Burnout zu untersuchen und einem Geschlechtervergleich zu unterziehen. Sie ist deskriptiv angelegt und kombiniert qualitative und quantitative Methoden. Im Zentrum der Studie liegt das qualitative Design. Eine Basis bilden Variablen aus dem Effort-Reward-Imbalance-Modell von Siegrist (1996) (vgl. Kp. II.3.7) und weitere, aus der Literatur entnommene und gut untersuchte Schutzfaktoren. Zunächst wird die Fragestellung aufgeführt, welche den Ausgangspunkt der Untersuchung darstellt. Anschliessend sind die Erhebungsinstrumente Fragebogen und Interview näher erläutert. Im Weiteren werden die Stichprobe und das Datenmaterial beschrieben. Die Auswertungsmethode und das Vorgehen sind zum Schluss dargestellt.
III.1
Beschreibung der Forschungsfragen
Im Mittelpunkt des empirischen Teils der Arbeit steht die Analyse der halbstandardisierten Interviews mit offenen Antwortmöglichkeiten. Vor dieser qualitativen Erhebung erfolgt die quantitative Untersuchung der Stichprobe. Bereits in der Literatur gut untersuchte Zusammenhänge von Sinnhaftigkeit, Belohnungsfaktoren, soziale Unterstützung, Sport und Overcommitment im Zusammenhang mit dem Maslach Burnout Inventory (MBI) sollen geprüft werden. Damit soll sichergestellt werden, dass die Stichprobe den gängigen Forschungsgrundlagen entspricht. Entscheidend für die qualitative und quantitative Datenerhebung und -auswertung sind folgende Forschungsfragen:
III.1.1
Forschungsfragen der quantitativen Erhebung
Frage 1:
Steht die Variable „Sport“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem negativen Zusammenhang und kann somit als Ressource bestätigt werden?
74
III Untersuchung
Frage 2:
Steht die Variable „soziale Unterstützung“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem negativen Zusammenhang und kann somit als Ressource bestätigt werden? Frage 3:
Steht die Variable „Belohnung“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem negativen Zusammenhang und kann somit als Ressource bestätigt werden? Frage 4:
Steht die Variable „Sinnhaftigkeit“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem negativen Zusammenhang und kann somit als Ressource bestätigt werden? Frage 5:
Steht die Variable „Overcommitment“ mit einer Dimension des Burnout-MaslachInventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem positiven Zusammenhang und kann somit als Risikofaktor bestätigt werden?
III.1.2
Forschungsfragen der qualitativen Erhebung
Die ersten Forschungsfragen (*.1) sind allgemeiner Art und dienen als Grundlage für die Beantwortung der nachfolgenden Fragen (*.2) mit dem Fokus Geschlechterunterschiede. Frage 1:
1.1 Welche innere Sinngebung verfolgen die Führungskräfte? 1.2 Unterscheiden sich Männer und Frauen hinsichtlich ihrer Lebensgrundsätze bzw. Lebensprinzipien? Frage 2:
2.1 Welches sind die ausschlaggebenden Belohnungsfaktoren?
III.2 Erhebungsinstrumente
75
2.1 Welche unterschiedliche Bedeutung besitzen diese Belohnungsaspekte bei Männern und Frauen? Frage 3:
3.1 Welche persönlichen Strategien (Copingstrategien) verfolgen die Führungspersonen im Umgang mit Arbeitsbelastungen? 3.2 Unterscheiden sich Männer und Frauen hinsichtlich der Copingstrategien? Frage 4:
4.1 Werden zusätzliche Faktoren zur Bewältigung der hohen Arbeitsbelastung genannt, welche nicht explizit erfragt (Sinngebung, Belohnungsfaktoren, persönliche Strategien) wurden? 4.2 Welche unterschiedliche Bedeutung habe diese bei Männern und Frauen? Frage 5:
5.1 Welche sind die entscheidenden Faktoren, die bei einer weiblichen oder männlichen Führungsperson zu subjektiv empfundenem Stress führt? 5.2 Unterscheiden sich Frauen von Männern hinsichtlich ihrer erlebten Stressoren?
III.2
Erhebungsinstrumente
Zuerst wird das Messinstrument der quantitativen Erhebung erläutert, nachfolgend wird das qualitative Erhebungsinstrument ausführlich dargestellt. Da der Fragebogen nicht im Mittelpunkt dieser Studie steht und die Beantwortung der Fragen nicht zu viel Zeit beanspruchen sollte, wurde für die Untersuchung eine relevante Itemauswahl aus vollständigen Fragebogen getroffen. Durch die qualitative Studie werden die Sichtweise und das Erleben der Untersuchungspartner in den Mittelpunkt gerückt. III.2.1
Fragebogen
Der standardisierte Fragebogen wurde den teilnehmenden Personen vor Durchführung des Interviews zugesandt. Dieser diente einerseits dazu, personenspezifische Angaben (Beschreibung der Stichprobe) zu erhalten und die bestehende Stichprobe hinsichtlich ihrer Repräsentativität zu prüfen, andererseits sollte er die Befragten in
76
III Untersuchung
der inhaltlichen Vorbereitung des Interviews unterstützen und zu einer ersten Reflexion anregen. Um die Forschungsthematik nicht allzu stark in den Vordergrund zu rücken und dadurch die Antwortrichtung nicht zu beeinflussen, wurde dem Fragebogen kein thematischer Titel zugewiesen. Auf der Grundlage von folgenden Fragebögen wurde der Fragebogen für die aktuelle Untersuchung erstellt: • • • •
Effort-Reward-Imbalance, ERI (Siegrist et al., 2004) Maslach Burnout Inventory, MBI (Maslach, Jackson & Leiter, 1996) Sense of Coherence Scale, SOC (Antonovsky, 1987) Fragebogen zur sozialen Unterstützung, F-SozU (Fydrich, Sommer & Brähler, 2002)
III.2.1.1 Effort-Reward-Imbalance, ERI (Siegrist et al., 2004)
Ziel dieses Fragebogens ist es, die psychosoziale Arbeitsbelastung zu erheben. Die Reziprozität in sozialen Beziehungen steht dabei im Mittelpunkt, was in der Arbeitswelt ein ausgeglichenes Verhältnis von geleisteter Arbeit und der dafür erhaltenen Belohnung bedeutet (vgl. Kp. II.3.7). Aufgrund dessen setzt sich der vollständige Fragebogen aus folgenden Dimensionen zusammen: • Verausgabung (6 Items) • Belohnung (reward) [11 Items; 3 Subskalen die auf den gemeinsamen Faktor laden: „Wertschätzung“ (5 Items); „Bezahlung/beruflicher Aufstieg“ (4 Items); „Arbeitsplatzsicherheit“ (2 Items)] • Übersteigerte berufliche Verausgabungsbereitschaft (Overcommitment, Ovc) (6 Items) Insgesamt enthält der Fragebogen (Kurzform) 23 Items. Für die vorliegende Untersuchung wurden Items aus dem Teil Belohnung (reward) und Overcommitment (Ovc) übernommen. Aus dem Teil Belohnung (reward) wurden 7 von insgesamt 11 Items aus den zwei Subskalen „Bezahlung/beruflicher Aufstieg“ und „Wertschätzung“ eingesetzt. In verschiedenen Studien wurde das Instrument geprüft. Die Skala „reward“ besitzt eine interne Konsistenz (Cronbachs _) von _ = .84 (Rödel et al., 2004). Der Teil Overcommitment mit 6 Items zur Messung der beruflichen der „übersteigerten beruflichen Verausgabungsbereitschaft“ wurde vollständig übernommen. Die interne Konsistenz (Cronbachs _) beträgt _ = .76 (Rödel et al., 2004).
77
III.2 Erhebungsinstrumente
Itembeispiele: reward 17
OVC 2
Wenn ich an all die erbrachten Leistungen und Anstrengungen denke, halte ich meine Entlöhnung für angemessen. Ja
Nein, und das belastet mich gar nicht
Nein, und das belastet mich mässig
Nein, und das belastet mich stark
Nein, und das belastet mich sehr stark
Es passiert mir oft, dass ich schon beim Aufwachen an Arbeitsprobleme denke.
Stimme gar nicht zu
Stimme eher nicht zu
Stimme eher zu
Stimme voll zu
III.2.1.2 Maslach Burnout Inventory, MBI ( Maslach et al., 1996)
Das Maslach Burnout Inventory (MBI) wurde ursprünglich 1981 von Christina Maslach und Susan E. Jackson entwickelt und ist bis heute das gängigste Messinstrument zur Erfassung des Burnout-Syndroms (vgl. Kp. II.4). Mit Hilfe von 22 Fragen werden drei Dimensionen des Burnout-Syndroms erfasst: Emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit. Die Items werden nach Intensität und Häufigkeit auf einer sechsstufigen Likertskala beantwortet und die Werte der drei Subskalen separat ausgewertet. Die Dimension der emotionalen Erschöpfung wird mit den Items 1, 3, 6, 1 3, 14, 16, 20 erhoben, die Dimension der Depersonalisierung mit den Items 5, 10, 11, 22, 23, 24, 25 und die der reduzierten Leistungsfähigkeit mit den Items 4, 7, 9, 12, 17, 18, 19 und 21. Für die vorliegende Untersuchung wird die deutsche Übersetzung nach Enzmann und Kleiber (1989) verwendet. Die einzelnen Skalen können folgende gute bis sehr gute interne Konsistenz (Cronbachs _) vorweisen: Skala „emotionale Erschöpfung“, _ = .90 (Maslach, et al. 1996); Skala „Depersonalisierung“, _ = .79 (Maslach, et al. 1996); Skala „reduzierte Leistungsfähigkeit“, _ = .71 (Maslach, et al. 1996). Itembeispiele:
Item der Dimension „emotionale Erschöpfung“: MBI 5
Ich glaube, ich behandle meine KollegInnen/MitarbeiterInnen, als ob sie unpersönliche „Objekte“ wären.
nie
immer
78
III Untersuchung
Item der Dimension „Depersonalisierung“: MBI 5
Ich glaube, ich behandle meine KollegInnen/MitarbeiterInnen, als ob sie unpersönliche „Objekte“ wären.
nie
immer
Item der Dimension „ reduzierten persönlichen Leistungsfähigkeit“ MBI 19
Ich habe viele wertvolle Dinge in meiner derzeitigen Arbeit erreicht.
nie
immer
III.2.1.3 Sense of Coherence Scale, SOC (Antonovsky, 1987)
Im Zentrum des Salutogenese-Modell von Antonovsky (1987) steht das Kohärenzgefühl (vgl. Kp. II.1.3). Das Kohärenzgefühl ist nach dem Autor die entscheidende Variable dafür, ob ein Individuum die Herausforderungen, die sich im Verlauf ihres Lebens stellen, erfolgreich bewältigen wird (Antonovsky, zitiert nach Kernen, 1997, S. 43). In diesem Sinn gilt dieses als eine dispositionelle Bewältigungsressource, die Menschen widerstandsfähiger gegenüber Stressoren macht und damit zur Aufrechterhaltung und Förderung der Gesundheit beiträgt. Die „Sense of Coherence Scale“ umfasst 29 Items. Teil des Kohäerenzgefühls ist die emotionale Komponente der Sinnhaftigkeit („meaningfulness“), deren vier Fragen in die vorliegende Untersuchung einflossen (Items: 4, 8, 16, 28). Die sehr gute interne Konsistenz dieser Skala (Cronbachs _) beträgt _ = .85 (Hittner, 2007). Itembeispiel: SOC 4
Haben Sie das Gefühl, dass es Ihnen ziemlich gleichgültig ist, was um Sie herum passiert? Nie
Sehr selten
Sehr oft
III.2.1.4 Fragebogen zur sozialen Unterstützung, F-SozU (Fydrich et al., 2002)
Der Fragebogen erfasst soziale Unterstützung (vgl. Kp. II.2.3.3) eindimensional als wahrgenommene oder antizipierte Unterstützung. Das Selbstbeurteilungsinstrument enthält die drei Bereiche: praktische Unterstützung, emotionale Unterstützung und soziale Integration. Aus der Kurzform (K-14) wurden alle Fragen übernommen. Die
79
III.2 Erhebungsinstrumente
innere Konsistenz (Cronbachs _) ist sehr gut und liegt bei _ = .93 (Fydrich et al., 2002). Itembeispiel: SozU13 Ich habe einen
vertrauten Menschen, in dessen Nähe ich mich ohne Einschränkung wohl fühle.
Trifft nicht zu
Trifft eher nicht zu
Trifft teilweise zu
Trifft zu
Trifft genau zu
Die zum Teil gekürzten Fassungen der einzelnen Fragebogen wurden zusammengefügt. Der „neue“ kombinierte Fragebogen umfasste schliesslich 65 Fragen. Gesamthaft gesehen ist die sind die internen Konsistenzen (Cronbachs _) der einzelnen Skalen und Dimensionen, unter Berücksichtigung der kleinen Stichprobe, mittel bis gut (_ = .535 bis .914). Die folgende inhaltliche Strukturierung sollte die Befragten durch den Fragebogen führen: I
Fragen zur Statistik:
Die statistischen Fragen erhoben Geschlecht, Alter, Zivilstand, Berufserfahrung und die durchschnittliche effektive Arbeitszeit pro Woche. II
Fragen zur beruflichen Situation:
Dieser Teil besteht aus den Fragebogen ERI (Effort-Reward-Imbalance) von Siegrist et al. (2004). III Fragen zum körperlichen Wohlbefinden und sportlicher Aktivität: Der dritten Frageblock „Fragen zum körperlichen Wohlbefinden und sportlicher Aktivität“ erlaubte wenige Rückschlüsse zur physischen Komponente. IV Fragen zu arbeitsbezogenen Gefühlen und Gedanken: Im Frageblock „Fragen zu arbeitsbezogenen Gefühlen und Gedanken“ sind die Fragen aus dem Maslach Burnout Inventory (Maslach et al., 1996) einerseits und der Sense of Coherence Scale (Antonovsky, 1987) enthalten. V
Fragen zum sozialen Umfeld:
Im letzten Frageblock „Fragen zum sozialen Umfeld“ sind die spezifischen Fragen zur sozialen Unterstützung (Fydrich, Sommer u. Brähler, 2002) platziert.
80 III.2.2
III Untersuchung
Interview
Das halbstandardisierte Interview wurde stets mündlich und persönlich geführt. Es folgte einem fünfteiligen Gesprächsleitfaden entlang der zentralen Forschungsfragen. Dabei war entscheidend, dass die Interviewten ihre Erfahrungen und Meinungen frei äussern konnten. Ziel dieser qualitativen Befragung ist es, einerseits aussagekräftige Antworten auf gezielte Fragen zu erhalten, andererseits weitere Erkenntnisse zu den angesprochenen Themenfelder zu gewinnen. Neben einer Einstiegsfrage beinhaltet der Leitfaden Fragen zu Stressfaktoren, Belohnungsfaktoren, Sinnhaftigkeit/Lebensgrundsätze, Trennen Arbeit-Freizeit (Overcommitment) und persönlichen Strategien (Copingstrategien). Die Grundlage des Gesprächs bildete das Bild einer Waage. Die Basis dieser Waage bildet das Effort-Imbalance-Modell nach Siegrist (1996).
Abbildung 6: Waage als symbolische Grundlage des Interviews
Einstiegsfrage:
Welche Situationen machen Ihnen Freude bei der Arbeit? Diese Frage soll auf das Interview einstimmen und bereits schon Hinweise auf die Sinnhaftigkeit der Arbeit bzw. zugrundliegende Motive und Belohnungsaspekte geben. Zudem werden die verschiedenen Komponenten der Waage, die durch das Interview führen, kurz erläutert.
III.2 Erhebungsinstrumente
I
81
Arbeitsbelastung/Stressfaktoren
Was verursacht Ihnen Stress? Welche Situationen kommen Ihnen dabei in den Sinn? Woran erkennen Sie, dass Sie Stress haben (Emotion/Körper/Denken/Verhalten)?1 Mit dieser offenen Fragestellung werden die einzelnen Stressfaktoren erhoben. II
Belohnungsfaktoren
Nach dem ersten Frageblock wird die Aufmerksamkeit der interviewten Person auf die rechte Seite der Waage gelenkt. Mit diesen Fragen sollen materielle und ideelle Belohnungsaspekte angesprochen werden. Im Speziellen wird auf die finanzielle Entlöhnung eingegangen. Wie halten Sie ihre persönliche Waage im Gleichgewicht? Was setzen Sie auf die rechte Seite der Waage? / Was ist Ihnen davon besonders von Nutzen? Gibt es Dinge, die Ihnen heute mehr nützlich sind als früher?2 Lohn kann auch eine Belohnung sein. Welchen Stellenwert nimmt er für Sie ein? / Welche Auswirkungen hat dieser für Sie? Inwiefern ist der Lohn für Sie auch Verpflichtung? III Trennen Arbeit-Freizeit/Overcommitment Können Sie die Arbeit von anderen Lebensbereichen trennen? In welchen Situationen erreichen sie ein gutes Abschalten von der Arbeit? In welchen Momenten bei der Arbeit vergessen Sie rundherum alles? Bei diesen Fragen wird die Variable „Overcommitment“ aus dem Modell von Siegrist et al. (2004) bzw. die Ressource Distanzierfähigkeit berücksichtigt. 1
Die Frage nach dem Stressempfinden wurde nicht in die vorliegende Auswertung miteinbezogen, sondern in die Auswertung einer unabhängigen Forschungsarbeit, deren Grundlage diese Datenbasis ist. Einzig aus den Aussagen zum „Grübeln“ (Gedankenkreisen) ergeben sich Hinweise auf den Aspekt des Overcommitments (vgl. Kp. II.2.3.5). 2 Diese Frage wurde nicht in die vorliegende Auswertung miteinbezogen, sondern in die Auswertung einer unabhängigen Forschungsarbeit, deren Grundlage diese Datenbasis ist.
82
III Untersuchung
IV Sinnhaftigkeit/Leitprinzipien Im vierten Frageblock wird auf die Basis der Waagedarstellung verwiesen. Haben Sie bestimmte Leitprinzipien in Ihrem Leben? Viele Menschen haben grundlegende Lebenseinstellungen oder Lebensgrundsätze. Welche haben Sie? Fallen Ihnen Situationen ein, in denen Ihr Handeln Ihre Leitprinzipien besonders gut zum Ausdruck bring? Diese Fragen sollen Antworten zur „inneren Sinngebung“ generieren. IV Persönliche Strategien (Copingstrategien) Verschieden persönliche Strategien, insbesondere die soziale Unterstützung und die sportliche Aktivität, die als Ressourcen eine wichtige Rolle spielen werden im weiteren Gesprächsverlauf thematisiert. Wo holen Sie sich ihre Energie? Gibt es zusätzliche Strategien, die Sie verfolgen, wenn Sie von der Arbeit her unter starkem Druck stehen oder in einer Stresssituation sind? Welche? Sport (Nur wenn genannt bzw. im Fragebogen mit JA angegeben) Welches ist Ihre Hauptmotivation sich körperlich aktiv zu betätigen? Was bewirkt diese körperliche Aktivität? Gibt es auch Zeiten, in denen Sie sich weniger körperlich betätigen treiben? Was ist dann der Unterschied zu den Zeiten, in denen Sie sich vermehrt körperlich betätigen? Soziales Umfeld Wieviele Personen zählen Sie zu Ihrem vertrauten, engeren sozialen Kreis? Wo hilft Ihnen ihr Umfeld? Wo können sie auftanken? Supervision- und Coaching Mit wem sprechen Sie über Fragen bezüglich Ihrer Arbeit bzw. über daily hassles? Gibt es eine neutrale Person in Ihrem Leben, die sich ausserhalb des engeren sozialen Kreises und ausserhalb des beruflichen Kreises steht, die Sie als MentorIn/SparringspartnerIn ansehen?
III.2 Erhebungsinstrumente
83
Welche Bedeutung messen Sie dieser Person zu? Woran erkennen Sie ihre Wichtigkeit? Welche Bedeutung hat diese Person im Rahmen der Stärkung der Ressourcen? Schlussfrage
Zum Ende des Interviews wurden nochmals die einzelnen Frageblöcke auf der Darstellung erwähnt. Wurde dabei ein wichtiger Aspekt noch nicht angesprochen? Möchte Sie zu diesen Fragestellungen im Allgemeinen etwas ergänzen? III.2.2.1 Interviewdurchführung und -transkription
Die Interviews fanden in einem Zeitraum von vier Monaten statt. Für jedes Interview war inklusiv Begrüssung, nochmalige Aufklärung der Befragten über die Studie und ihre Ziele, rund eine Stunde veranschlagt. Das Interview wurde anonym durchgeführt und ausgewertet. In der Erklärung an die Befragten lautete dies: • Der Dateiname der Interviews wird mit einer Interviewnummer und zusätzlich mit den Variablen Geschlecht und Datum der Interviewaufnahme versehen und so die Namensidentifizierung verunmöglicht. • Es werden keine Daten über die interviewte Person an die Öffentlichkeit gelangen, die eine Identifikation ermöglichen würden. Zum Beispiel werden Hinweise auf das Berufsfeld oder Personen bei vorliegenden Zitaten weggelassen. • Die Tonträger werden nach Beendigung der Studie von den zuständigen Personen gelöscht. • Die Interviewer sind an das (psychologische) Berufsgeheimnis gebunden. Alle Interviews wurden mit einem Minidisc-Gerät mit Mikrophon aufgezeichnet und anschliessend transkribiert. Die Transkription wurde wortwörtlich vorgenommen und nach festgelegten, einfachen Regeln durchgeführt: • Interviewer (2) und Befragte sind mit E, L und A gekennzeichnet. • Kurze Sprechpausen sind mit einen Bindestrich (-) versehen. • Füllwörter und Wiederholungen ohne sprachlichen Gehalt (eh, äh, hm…etc.) sind nicht schriftlich erfasst. Eine differenziertere Transkription wäre für diese Untersuchung nicht erkenntnissteigernd gewesen. Während dem gesamten Auswertungsprozess waren die Interviews nur für die befugten Personen zugänglich und konnten jederzeit abgehört werden, wenn Unklarheiten in der Datenanalyse vorhanden waren.
84 III.3
III Untersuchung
Stichprobe
Die Stichprobe aus 40 Kaderleuten besteht aus dem obersten Führungsbereich der Schweizer Wirtschaft und Verwaltung in Bildung und Politik. Der Adressatenkreis wurde dem Wirtschaftsmagazin „Cash“, der Wirtschaftszeitschrift „Bilanz“ und den Tageszeitungen „NZZ“ und „Tages-Anzeiger“ entnommen. Als Voraussetzung galt, dass die rekrutierten Personen in strategischer oder operativer Funktionen eine maximale Verantwortlichkeit für ein Unternehmen oder Unternehmensbereich, eine Institution oder Departement besitzen. Die Führungskräfte befinden sich im Alter zwischen 35 und 65 Jahren. Das Durchschnittsalter beträgt ca. 50 Jahre. Nur eine Person ist älter als 65 Jahre.
Abbildung 7: Altersverteilung der Stichprobe
Die Befragungsinhalte bezogen sich vorwiegend auf ihre gegenwärtige Arbeitstätigkeit. Die Teilnehmergruppe besitzt eine durchschnittliche Berufserfahrung von 12 Jahren in der derzeitigen Funktion oder im gegenwärtigen Berufsfeld. Die durchschnittliche effektive Arbeitszeit pro Woche umfasst 60 Stunden pro Woche. Nur eine Person arbeitet in einem Teilzeitpensum von 80%. Ausser einer Person leben alle in einer Partnerschaft oder sind verheiratet. 62% leben in einer Familie mit Kindern (80 % der Männer und 38 % der Frauen). Die Adressaten der Stichprobe wurden für ein 45-minütiges Interview und für ein vorgängiges Ausfüllen eines Fragebogens mit einer ungefähren Bearbeitungsdauer von 15 Minuten schriftlich angefragt.
III.2 Erhebungsinstrumente
85
Abbildung 8: Berufserfahrung der untersuchten Stichprobe
Abbildung 9: Angaben der Arbeitsstunden (pro Woche)
Gesamthaft wurden 55 Personen angeschrieben. Davon erteilten 40 Personen eine Zusage, 7 Personen eine Absage und 8 Personen antworteten nicht. Insgesamt wurden mehr Frauen (51%) kontaktiert als Männer (49%), allerdings sagten nur 38% der Frauen nach einer ersten Anfragerunde zu, im Gegensatz zu beinahe 100% der Männer. Mit einer Ausnahme reagierten alle angefragten männlichen Personen
86
III Untersuchung
auf die Anfrage. Erst nach einer zweiten Anfragerunde erreichte die Anzahl der Frauen im Sample mit 40% eine angemessene Höhe (vgl. Tab. 8). Je vier Männer und Frauen wurden im ersten Durchgang über persönliche Kontakte angefragt, die restlichen verliefen ohne jede Anbindung. Die Tatsache, dass weit über 50% der angefragten Personen sich für ein Interview zur Verfügung stellten, spricht für ein Interesse an der Thematik. Tabelle 8: Vorgehensweise bei den Anfragen in absoluten Zahlen und in Prozentwerten Frauen
Männer
Zusagen Absagen Keine Antwort
16 6 5 5
19 18 1 0
Zusagen Absagen Keine Antwort
12 10 0 2
8 6 1 1
1. Runde Anfragen:
2. Runde Anfragen:
Anfragen Zusagen Absagen Keine Antwort
Total Frauen
Total Männer
28 16 5 7
27 24 2 1
Tabelle 9: Stichprobenzusammensetzung in Absoluten Zahlen und in Prozentwerten Frauen
Männer
Verwaltung Exekutivbehörde in Politik, eidgenössisch relevant Bildung: Rektoren von Gymnasien und Hochschulen CEO Kultur
2 5 1
2 5 0
Wirtschaft CEO und VRP von börsenkotierten SPI/SMI Firmen Unternehmensberater/Innen (CEO, PartnerIn)
3 5
13 4
Total Frauen
Total Männer
Verwaltung
8
7
Wirtschaft
8
17
III.5 Auswertungsmethoden
87
Die meisten Interviewteilnehmer (63%) sind in der Wirtschaft tätig. Davon befinden sich 64% in einer Position als CEO oder im Verwaltungsratspräsidium. Mit 36% sind Kaderleute aus Unternehmensberatungen in der Stichprobe vertreten. Von den 37% in der Verwaltung angestellten Personen sind 67% Rektoren oder Rektorinnen an Hochschulen, Fachhochschulen oder Gymnasien. Eine Minderheit bildeten mit 27% Mitglieder von politischen Exekutivbehörden. Nur eine Person ist CEO im Kulturbereich.
III.4
Datenmaterial
Die Datenbasis besteht einerseits aus 40 Fragenbogen und andererseits aus 40 halbstandardisierten Interviews bzw. aus 80 Datensätzen ohne missing values. Die Fragebogen wurden ca. vier Wochen vor dem Interviewtermin den Teilnehmer/innen zum Ausfüllen zugesendet. Von jeder der 40 Personen liegen ein Fragebogen und ein Interview vor und konnten ohne Ausnahme alle in das Sample einbezogen werden. Die Datengrundlage beruht auf Nominaldaten.
III.5
Auswertungsmethoden
III.5.1
Quantitative Auswertung
Die erhobenen quantitativen Daten wurden mit dem Statistikprogramm SPSS für Windows korrelativ ausgewertet. Es ist jedoch anzumerken, dass für eine vollständig valide statistische Aussage die Stichprobe mit n = 40 zu klein ist. Darum wurde auch das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse gewählt (vgl. Kp. II.5.2). Mit Hilfe der korrelativen Auswertung sollen ergänzende Informationen für die weitere quantitative Auswertung gewonnen und in Erfahrung gebracht werden, ob die gewonnen Ergebnisse mit denen aus der Forschung vergleichbar sind. III.5.2
Qualitative Auswertung
III.5.2.1 Bestimmung der qualitativen Auswertungsmethode
Die Analyse der Interviews bedurfte eines Verfahrens, das einerseits den interindividuellen Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Teilnehmern ermöglichte, andererseits die differenzierten Aussagen im Sinne von Zitaten berücksichtigte, da besondere Aufmerksamkeit der sprachlichen Äusserung galt.
88
III Untersuchung
Die Inhaltsanalyse bietet die Möglichkeit, diesen Anforderungen hinsichtlich des qualitativen Datenmaterials gerecht zu werden. Dazu meint Mayring (2003, S. 11): „Ziel der Inhaltsanalyse ist, … die Analyse von Material, das aus irgendeiner Art von Kommunikation stammt“ Bei Früh (1991, S. 24) gilt folgende Definition: „Die Inhaltsanalyse ist eine empirische Methode zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen.“ Mayring (2003, S. 13) meint: „Zusammenfassend will die Inhaltsanalyse • • • • • •
die Kommunikation analysieren; fixierte Kommunikation analysieren; dabei systematisch vorgehen; das heisst regelgeleitet vorgehen; das heisst auch theoriegeleitet vorgehen; mit dem Ziel, Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunikation zu ziehen.“
Dies bedeutet für das vorliegende qualitative Vorgehen: • dass auf eine exakte Transkription geachtet wird • dass das systematische und regelgeleitete Vorgehen transparent beschrieben ist und somit die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit ermöglicht wird • die Ergebnisse theoriegeleitet interpretiert werden Zur systematischen Auswertung sind verschiedene Verfahren möglich. Dabei unterscheidet Mayring (2000, zitiert nach Haab, 2003, S. 54) vier inhaltsanalytische Vorgehensweisen. Es sind dies: 1. 2. 3. 4.
Zusammenfassende Inhaltsanalyse Induktive Kategorienbildung Explizierende Inhaltsanalyse Strukturierende Inhaltsanalyse
Aufgrund des vorliegenden Datenmaterials schien eine Kombination aus der strukturierenden Inhaltsanalyse und der induktiven Kategorienbildung angemessen. Dabei ist nach Mayring (2000, zitiert nach Haab, 2003) folgendes unter der strukturierenden Inhaltsanalyse zu verstehen: Die strukturierende Inhaltsanalyse ist ein deduktives Verfahren: zum Vornherein festgelegte Kriterien werden an das Datenmaterial herangetragen. Nach der Bestimmung der Codiereinheit als erster Arbeitsschritt werden die Ordnungskriterien (Kategorien) benannt, mit Ankerbeispielen illustriert und mit Codierregeln versehen. Bei der strukturierenden Inhaltsanalyse können Schwerpunkte durch die Konzentration auf formale, inhaltliche, typisierende oder skalierende Aspekte des Datenmaterials gesetzt werden. (S. 54)
III.5 Auswertungsmethoden
89
Mayring (2000, S. 75) beschreibt die induktive Kategorienbildung folgendermassen: „Eine induktive Kategoriendefinition (…) leitet die Kategorien direkt aus dem Material in einen Verallgemeinerungsprozess ab, ohne sich vorab auf formulierte Theorienkonzepte zu beziehen.“ Weiter kann zwischen qualitativer und quantitativer Inhaltsanalyse unterschieden werden (Haab, 2003). Die vorliegenden Forschungsergebnisse sind in erster Linie qualitativ ausgewertet. Dabei wurden aber zur Unterstützung der Konkretheit und Aussagekraft quantitative Ergebnisse generiert, indem Häufigkeiten nominaler Daten ermittelt und meist in Relationsangaben dargestellt wurden (deskriptive Statistik). III.5.2.2 Vorgehen bei der Auswertung
Bei der systematischen Textanalyse handelte es sich um eine computergestützte Inhaltsanalyse, die unter Zuhilfenahme des Textanalyseprogramms MAXQDA, Software for Qualitative Data Analysis, (Kuckartz, 1999) erfolgte. Die Transkripte wurden in MAXQDA importiert. Dadurch standen sie für eine Analyse direkt bereit. Die eigentliche Arbeit am Material bildete die Erkundung der Daten. Einen Überblick über die Interviews wurde durch das Lesen der Transkripte geschaffen. Die Analyse der Daten verlief in einem spiralförmigen Prozess, da das Kategoriensystem in einem deduktiv-induktiven Verfahren entwickelt wurde (vgl. Kp. III.5.2.3). Einerseits ging es um eine detaillierte Analyse einzelner Interviews bzw. Interviewausschnitte, andererseits wurden die Daten einer generalisierenden und abstrahierenden Betrachtung des Ganzen aus der Distanz unterzogen, bei der alle Interviews, Fragestellungen und theoretisches Vorwissen mitbeinbezogen wurde. Ziel dieses Prozesses war die Zuordnung von Textstellen zu einer Kategorie3. In einem weiteren Schritt wurden die einzelnen Textstellen in jeder Kategorie gesichtet und inhaltlich zusammenfassend als Ergebnisse beschrieben. Wie schon im Kapitel III.5.1 erwähnt, erfolgte teilweise eine Benennung von Häufigkeiten. Konkrete Fragen wie zum Beispiel, „Wie viele Personen zählen Sie zu ihrem vertrauten, engeren sozialen Kreis?“, suggerierten Antworten, die eine Häufigkeitsangabe zur Folge hatten. Zum Teil wurden zudem die Anzahl Äusserungen zu einer Kategorie festgehalten. Somit konnte bestimmt werden, welcher Stressor beispielsweise am prominentesten rückgemeldet wurde. Die erstellte Rangreihenfolge wurde neben der qualitativen Auswertung der einzelnen Interviewantworten aufgeführt. 3
Die Beschreibung der Kategorien, Kategorisierungsregeln und die Ankerbeispiele sind im Anhang aufgeführt.
90
III Untersuchung
III.5.2.3 Entwicklung der Kategorien
Durch Abstrahierung und Ausdifferenzierung der Daten wurde ein Kategoriensystem entwickelt. Das Codieren stellt innerhalb dieser Datenanalyse einen wichtigen Schritt dar. Dabei wurden relevante Aspekte, Begrifflichkeiten und Phänomene, die sich im Text zeigten, identifiziert und benannt, indem sie einer Kategorie untergeordnet wurden. Ziel dieses Prozesses war es, zu einer Abstraktion zu kommen und relevante Stressoren- und Ressourcenkategorien zu entdecken und herauszuarbeiten. Die folgende Aufzählung stellt die Entwicklung der Kategorienliste dar: 1. Zuerst wurden die Interviews gesichtet und aufgrund der Fragestellungen und dadurch angesprochenen Themen erste Kategorien benannt. Dabei kam das deduktive Vorgehen zum Zug. 2. Kategorisierung der Interviewaussagen; dadurch entstanden Ideen zur Generierung neuer Kategorien. Es folgt die weitere induktive Entwicklung des datenbegründeten Kategorienbaums. Konkret sah dies so aus, dass alle relevanten Antwortaspekte einer Kategorie mit dem zentralen Begriff zugewiesen wurden. 3. Parallel wurden Memos geschrieben, die eine klare Abgrenzung der einzelnen Kategorien sicherstellen sollen. Die Überprüfbarkeit der Auswertungskategorien soll insofern gewährleistet sein, indem eine ausführliche Dokumentation und Darlegung der einzelnen Kategorien vorliegt4. 4. Auf der Basis des Vergleichs wurde der Kategorienbaum immer wieder überprüft, verändert und verdichtet, indem zum Beispiel verschiedene Kategorien einer Hauptkategorie untergeordnet wurden. Zusammengefasst wurden die Kategorien aufgrund folgender Varianten entwickelt: 1. Direkt aus dem Datenmaterial, indem zum Beispiel die Frage an den Text gestellt wurde: „Was ist in der Tätigkeit für die interviewte Person sinnstiftend?“; Kategorie „innere Sinngebung“. 2. Prägnante Begriffe, die die Interviewten selbst für bestimmte Phänomene verwendeten, wie zum Beispiel bei der Kategorie „Einsamkeit an der Spitze“. 3. Aufgrund von theoretischem Vorwissen: Bestimmte Konzepte wurden aufgrund der Fragestellung direkt erhoben, wie zum Beispiel bei der Kategorie „Trennen von Arbeit und Freizeit“. Schlussendlich konnten definitive Hauptkategorien und Subkategorien (Kategorie erster und zweiter Ordnung) generiert werden. Eine zweite Person überprüfte die er4
Die Beschreibung der Kategorien, Kategorisierungsregeln und die Ankerbeispiele sind im Anhang aufgeführt.
III.5 Auswertungsmethoden
91
stellten Haupt- und Subkategorien, deren zugrundeliegenden Definitionen und Ankerbeispiele bezüglich ihrer Nachvollziehbarkeit und Vollständigkeit. In einem Stichprobeverfahren wurde zudem die Zuordnung der Textstellen zur jeweiligen Kategorie überprüft. Da sich nur wenige Abweichungen ergaben, kann auf eine gute Interraterreliabilität geschlossen werden. Die vollständige Darstellung des Kategoriensystems, die Beschreibung der Kategorien und die zugehörenden Ankerbeispiele finden sich im Anhang.
IV
Ergebnisse
Im zweiten Kapitel wurden für die Untersuchung relevante Themen aufgrund des derzeitigen Wissensstandes beschrieben. Das methodische Vorgehen wird im dritten Teil dargestellt. Nun folgen die Ergebnisse der Fragebogenauswertung und der Interviewanalyse.
IV.1
Ergebnisse der Fragebogenanalyse
Aufgrund der quantitativen Auswertung kann aufgeführt werden, in welchem Zusammenhang die Variablen Sport, soziale Unterstützung, Belohnung (Wertschätzung, Karrieremöglichkeiten und materielle Entlöhnung), Sinnhaftigkeit und Overcommitment mit den Burnoutfaktoren (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) stehen. Da die Normalverteilung bei manchen Skalen und Dimensionen innerhalb des Fragebogens nicht gegeben ist [z. B. Reward tot, Umfeld tot (rechtsschiefe Verteilung)], wurde der vorliegende Datensatz nonparametrisch ausgewertet. Die Korrelationen sind nach Spearman’s rho berechnet. Frage 1: Steht die Variable „Sport“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem negativen Zusammenhang und kann somit als Ressource bestätigt werden? Die vorliegenden Korrelation zeigen, dass bei Personen, welche häufiger und schon seit längerer Zeit Sport treiben, weniger hohe Werte in „emotionaler Erschöpfung“ (MBI) zu verzeichnen sind (r = –.482, p < .01). Somit steht die Variable „sportliche Betätigung“ mit der Dimension der „emotionalen Erschöpfung“ in einem signifikant negativen Zusammenhang. Frage 2: Steht die Variable „soziale Unterstützung“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem negativen Zusammenhang und kann somit als Ressource bestätigt werden? Je mehr „soziale Unterstützung“ erfahren wird, desto weniger ausgeprägt ist die Dimension der „Depersonalisierung“ (MBI) (r = –.484, p < .01) und die der „reduzier-
94
IV Ergebnisse
ten persönlichen Leistungsfähigkeit“ (MBI) (r = –.605, p < .01). Ingesamt wird deutlich, dass Personen mit „sozialer Unterstützung“ tiefere Werte im Maslach Burnout Inventory zeigen. Frage 3: Steht die Variable „Belohnung“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit) in einem negativen Zusammenhang und kann somit als Ressource bestätigt werden? Die Variable „Belohnung“ steht mit keiner Dimension des Burnout Maslach Inventory in einem signifikanten Zusammenhang. Frage 4: Steht die Variable „Sinnhaftigkeit“ mit mindestens einer Dimension des Burnout Maslach Inventory (emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung, redu-
Belohnung Overcommitment (OVC)
-
Sport
-
Sinnhaftigkeit (SOC)
.335(*)
.420(**)
-
.399(*)
-.338(*)
-
.495(**)
-
-
-
-
-
-
-
.551(**)
.482(**)
.418(**)
-
Soziale Unterstützung Anzahl geleistete Arbeitsstunden Emotionale Erschöpfung MBI (MBI) Depersonalisierung
(MBI) MBI
-
-
-
-
-
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Subjektive Leistungseinbusse (MBI) MBI
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207
Anhang A2
Interview-Leitfaden
I.
Berufliche Situation: Einstiegsfrage
1. Welche Situationen machen Ihnen Freude an der Arbeit? Wir legen dem Interview ein Bild zu Grunde. Es handelt sich um diese Waage hier. Auf der linken Seite sind die „Belastungen“, die durch die Arbeit entstanden sind, die einen grossen Effort (Aufwand) an Kraft und Energie und Einsatz verlangen.
Hintergrund: Effort-Reward-Imbalance-Modell ,' ' Arbeitsbelastung / 6 ! Stressfaktoren
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6! -, ' Sinnhaftigkeit/Antrieb 9 6 Persönliche Strategien
2. Was verursacht Ihnen Stress? Welche Situationen kommen Ihnen dabei in den Sinn? 3. Woran erkennen Sie, dass Sie Stress haben? Emotion / Körper / Denken/ Verhalten
208 II.
Anhang A2
Berufliche Situation Wie halten Sie Ihre persönliche Waage im Gleichgewicht?
1. Was setzen Sie auf die rechte Seite der Waage? Was ist Ihnen besonders von Nutzen? 2. Gibt es Dinge, die Ihnen heute mehr nützlich sind als früher? 3. Lohn kann auch einer der Gegenwerte (Belohnungen) sein. Welcher Stellenwert nimmt dieser für Sie ein? Welche Auswirkungen hat dieser für Sie? 4. Inwiefern ist der Lohn für Sie auch Verpflichtung? Zum Beispiel bezogen auf den zeitlichen Arbeitsaufwand, Präsenzzeiten, gedanklichen Beschäftigungszeiten Overcommitment / (auch während Wochenenden und Ferien) ( Undercommitment) 5. Können Sie die Arbeit von anderen Lebensbereichen trennen (Hintergrund: Abschalten, Distanzierungsfähigkeit) ? In welchen Situationen erreichen sie ein gutes Abschalten von der Arbeit? 6. In welchen Momenten bei der Arbeit vergessen Sie rundherum alles (Zeit, Raum, Anwesenheit anderer)? Kommt das häufig vor?
III.
Sinnfrage Haben Sie bestimmte Leitprinzipien in Ihrem Leben?
1. Viele Menschen haben grundlegende Lebenseinstellungen oder Lebensgrundsätze. Welche haben Sie? Fallen Ihnen Situationen ein, in denen Ihr Handeln Ihre Leitprinzipien besonders gut zum Ausdruck bringt?
Anhang A2
IV.
209
Copingstrategien Wo holen sie sich ihre Energie?
1. Gibt es zusätzliche Strategien, die Sie verfolgen, wenn Sie von der Arbeit her unter starkem Druck stehen oder in einer Stresssituation sind? Welche?
Sport Nur wenn genannt bzw. im Fragebogen mit JA angegeben:
1. Welches ist Ihre Hauptmotivation sich körperlich aktiv zu betätigen? Sportart (Leistungssport)
2. Was bewirkt diese körperliche Aktivität? 3. Gibt es auch Zeiten, in denen Sie sich weniger körperlich betätigen treiben? Was ist dann der Unterschied zu den Zeiten, in denen Sie sich vermehrt köprerlich betätigen?
Soziales Umfeld 1. Wieviele Personen zählen Sie zu Ihrem vertrauten, engeren sozialen Kreis? 2. Wo hilft Ihnen ihr Umfeld? Wo können sie auftanken? -
Inwiefern spielen diese Menschen eine entlastende Rolle? (Gespräche führen, Informativ. Ablenkung, Zeitunterstützung / Haushalt)
Supervision- und Coachingaspekt 1. Mit wem sprechen Sie über Fragen bezüglich Ihrer Arbeit bzw. über daily hassles? 2. Gibt es eine neutrale Person in Ihrem Leben, die sich ausserhalb des engeren sozialen Kreises und ausserhalb des beruflichen Kreises steht, die Sie als MentorIn / SparringspartnerIn ansehen? Welche Bedeutung messen Sie dieser Person zu? Woran erkennen Sie ihre Wichtigkeit? Welche Bedeutung hat diese Person im Rahmen der Stärkung der Ressourcen? Schlussfrage: Wurde etwas noch nicht angesprochen?
210
Anhang 3
Darstellung des Kategoriensystems Insgesamt wurden 76 Kategorien erstellt und 1945 Textstellen markiert, die den jeweiligen Kategorien zugewiesen wurden. Anschliessend ist die Ansicht der Ober- und Unterkategorien (1. Ordnung) zu ersehen. Ressourcen: Innere Sinngebung Philosophische Grundsätze Humanistische/religiöse Grundsätze Lebensprinzipien Ressourcen: Belohnung Materielle Belohnung Einkommen Ideelle Belohnung Anerkennung (Erfolg) Macht (Einflussnahme) Unabhängigkeit (Autonomie) Vielseitigkeit (interessante Arbeit) Befriedigung (Freude) Herausforderung (Lernzuwachs) Arbeitsklima (Wertschätzung) Ressourcen: Persönliche Strategien (Copingstrategien) Freizeitaktivitäten Arbeitsstil / -haltung Soziale Unterstützung Trennen Freizeit / Arbeitszeit Weitere Ressourcen Erfahrung Soziales Netzwerk Biologische Konstitution Persönlichkeitseigenschaften Stressoren: Private Stressoren Persönliche Probleme Familie, Umfeld Stressoren: Arbeitsbelastung Arbeitsüberlastung (quant./qual.) Zielkonflikte Zwischenmenschliche Konflikte Misserfolg Fremdbestimmung (Unkontrollierbarkeit) Einsamkeit an der Spitze Reisen Verantwortung Fehlende Anerkennung Externe Einflüsse Geschlecht
211
Anhang A4
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212
Anhang A5
Beschreibungen ausgewählter Codes mit Ankerbeispielen:
Wie bereits in Kapitel III beschrieben, erfolgte das textanalytische Vorgehen unter Zuhilfenahme des Textanalyseprogramms MAXQDA (Kuckartz, 1999). Nachfolgend wird die Bedeutung der Kategorien mit Ankerbeispielen illustriert. Ressource: Innere Sinngebung Hier soll untersucht werden, welche Glaubenssätze als Sinngrundlage (im erweiterten Bezug als Antrieb) und somit als Ressource dienen.
Kategorie
Erklärungen
Lebensprinzipien
Bemerkungen zu Lebensprinzipien äussern sich nicht so umfassend auf das Leben, wie die Bemerkungen zu philosophischen Grundsätzen und beziehen sich im Gegensatz dazu eher auf die Arbeit. Weitere Lebensprinzipien betreffen den Humor bzw. Spaß haben und Macht und Erfolg anstreben.
Humanistische / religiöse Grundsätze
Philosophische Grundsätze
Ankerbeispiele •
„Also, der rote Faden, der durch mein bisheriges Leben und Berufsleben geht, ist ja alles was mit Medien und Kommunikation zu tun hat. Das ist ja ein Antrieb, weil ich da einfach einen Riesenspass und ein Rieseninteresse daran habe und das auch gerne selbst umsetze. Das ist der eine Punkt.“
•
„Das habe ich umgekehrt im Sinne eines Pflichtbewusstseins.“
•
„Es muss grundsätzlich Spass machen.“
Leitlinien, die einen Menschen durch das Leben begleiten, die Haltung und das Motiv in Bezug auf anderen Menschen beschreiben z.B. fair sein, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Respekt und Toleranz, mit anderen zusammensein.
•
„…als Motor, als Motor für alle Aufgaben, die man macht, die Welt ernst nehmen und sich selbst ernst nehmen, die Mitarbeiter ernst nehmen, die Umwelt, mit der man zu tun hat, ernst nehmen.“
•
„Der Respekt, der Respekt vor der Persönlichkeit. Für mich ist der Respekt etwas wahnsinnig Wichtiges.“
Leitlinien, Lebensgrundsätze, die einen Menschen durch das Leben begleiten, wie z.B. im Jetzt leben, Bewusstheit der Endlichkeit, Verantwortung und persönliches Wachstum.
•
„Irgendwo am Schluss von diesem Leben sagen zu können, doch, du hast es soweit vernünftig und fair gemacht. Und das ist eigentlich eine Zielsetzung, in welchem Bereich auch immer, also nicht nur im Beruf.“
•
„Ein Ziel, über den Dingen und nicht in den Dingen stehen.“
213
Anhang A5
Ressource: Belohnung (materielle und ideelle) Hier geht es nicht darum, ob und wie sich die interviewten ihrer Arbeit ansehen (Belohnung am Arbeitsplatz). Kategorie
Erklärungen
Materielle Belohnung / Einkommen
Unter materieller Belohnung wurden Aussagen im Zusammenhang mit dem Einkommen aufgenommen.
Ankerbeispiele •
„Und die finanziellen Sorgen in diesem Sinnen nicht zu haben, das ist natürlich absolut wunderbar.“
•
„Ich muss so sagen, es hat vielleicht ein bisschen abgenommen über diese Jahre. Mir ist es immer wichtig gewesen, Wohlstand schaffen zu können, absolute Unabhängigkeit und möglichst auch noch für die Folgegenerationen.“
214
Anhang A5
Kategorie
Erklärungen
Ideelle Belohnung / Macht (Einflussnahme)
Äusserungen zum Aspekt Macht (Einflussnahme). Unter „Einfluss nehmen können“ wird im erweiterten Sinn auch Weiterentwicklung bzw. Gestalten, Vorwärtstreiben von Projekten, Firmen oder Institutionen verstanden. Abgrenzung zur Kategorie Lernzuwachs: Mit Weiterentwicklung ist hier nicht die persönliche Weiterentwicklung im Sinne von Lernzuwachs gemeint.
•
„Aber die wichtigen Sachen, die lege ich fest. Das ist auch ein bisschen eine Honorierung.“
•
„Ich habe immer Einfluss haben wollen, etwas zu sagen haben. Und ich bin auch bereit gewesen, dafür zu arbeiten.“
Bemerkungen zu einem guten Arbeitsklima und insbesondere die Wertschätzung durch die Mitarbeitenden
•
„Wenn man einfach merkt, die Atmosphäre stimmt, allgemein, wenn viele positiv mitarbeiten.“
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„Ja, ich meine, wenn man durchaus mit Mitarbeitern gegenseitig spürt… man schätzt den Menschen. Und das gilt für die Vorgesetzten wie für die Mitarbeiter und auch für mich, also, gegenseitig.“
Angaben zur Anerkennung im Sinn von Sozialprestige erhalten, Recht bekommen, Anerkennung durch Zielerreichung, Leistung, insbesondere im Zusammenhang mit Erfolg, Abgrenzung zu Wertschätzung: Anerkennung durch Erfolg, wenn man etwas erreicht hat; Wertschätzung durch das Arbeitsumfeld steht im Zusammenhang mit dem Arbeitsklima.
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„Ja, und dann gibt es eben mehr subjektive oder externe Anerkennung von wichtigen Stimmen aus der Wissenschaft, aus der eigenen Industrie oder von Analysten, beziehungsweise von Medienseiten, wo man Respekt hat dafür.“
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„Es ist Erfolg. Man hat etwas erreicht. Nicht unbedingt persönlich, aber die Unternehmung oder die Leute oder das Team. Man hat ein Problem gelöst, man hat lange an dem geturnt und plötzlich ist es gelöst. Man hat ein Projekt fertig und es ist gut geworden.“
Ideelle Belohnung / Unabhängigkeit (Autonomie)
Notierte Aussagen zu Autonomie und Unabhängigkeit als Belohnung wie zum Beispiel autonom Entscheidungen treffen können und viele Freiheitsgrade besitzen.
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„Und die ganze Autonomie, die du auf diesem Niveau hast, und natürlich je höher du kommst, je grösser ist diese.“
Ideelle Belohnung / Herausforderung (Lernzuwachs)
Angaben zu Herausforderungen, die überwindet werden müssen und die damit verbundenen neuen Erfahrungen im Sinne von Lernzuwachs.
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„Aber das Entscheidende ist, dass man das zur Umsetzung bringt, zum Umbruch bringt und das, was mich vor allem interessiert, das ist der Lernprozess im Ganzen. Es gibt keinen Tag, wo ich nicht etwas gelernt habe.“
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„Das Gegengewicht ist die Horizonterweiterung.“
Ideelle Belohnung / Arbeitsklima (Wertschätzung)
Ideelle Belohnung / Anerkennung (Erfolg)
Ankerbeispiele
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Anhang A5
Kategorie
Erklärungen
Ideelle Belohnung / Vielseitigkeit (interessante Arbeit)
Angaben zum Belohnungsaspekt interessantes Leben, interessante und spannende Tätigkeit, Vielseitigkeit und keine Langeweile, die aufkommt.
Ideelle Belohnung / Befriedigung (Freude)
Äusserungen, in denen Befriedigung und Freude in der Arbeit als Belohnungsaspekt explizit genannt werden.
Ankerbeispiele •
„Die kommen eine halbe Stunde zu mir und da hat man die Wissenschaft in ihrer ganzen Breite, von dem Veterinärwesen bis zur Theologie aus erster Hand. Das ist hochinteressant.“
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„Also, es ist unheimlich vielseitig. Es gibt eigentlich keinen Tag, wo ich denke, es ist flau oder langweilig gewesen.“
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„Also, für mich ist es eine Befriedigung, die ich trotz allem darin finde. Die Befriedigung in der Arbeit ist für mich wirklich die grösste Belohnung.”
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„Die Leute müssen doch irgendwie das Gefühl haben, der glaubt doch auch ein bisschen an das, was er erzählt und der hat selber auch Freude. Und ich, ich habe Freude an dieser Unternehmung. Ich finde das eine tolle Unternehmung.“
216
Anhang A5
Ressourcen: Persönliche Strategien (Copingstrategien) Darunter sind Verhaltensweisen aufgeführt, welche eine Person zur Bewältigung von Arbeitsbelastungen anwendet (in der Situation selber oder allgemein als präventiver Schutz). Kategorie
Erklärungen
Arbeitsstil / Arbeitshaltung
Die Kategorie umfasst Bemerkungen zum Arbeitsstil / Arbeitshaltung. Genauer gesagt sind darunter Aussagen gesammelt, welche Instrumente, Ansichten, Gewohnheiten ansprechen, die zu einer Arbeitserleichterung führen.
Soziale Unterstützung
Trennen Freizeit/Arbeitszeit
Darunter sind Antworten zu finden, die die Inanspruchnahme soziale Unterstützung (fachlicher, emotionaler, praktischer) zum Ausdruck finden.
Angaben zur Trennung von Arbeitszeit/Freizeit oder Vermischung von Arbeitszeit/Freizeit und in welcher Form die Abgrenzungen bzw. Distanzierung stattfindet.
Ankerbeispiele •
„Und jetzt habe ich eine Assistentin und in der Unternehmensentwicklung einen Stabsmitarbeiter, die ich mir jetzt selber ausgesucht habe, die beide so positive, lösungsorientierte, aktive, temperamentvolle Menschen sind. Und das ist für mich…, es geht mir besser.“
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„Und als Prinzip sicher das Delegieren, ja, das ist sicher ein Punkt. Nicht dass man meint, man müsse alles selber machen.“
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„Also, ohne einen solchen Austausch wäre es natürlich schwierig. Das ist schon klar. Und mein Partner hat viel Erfahrung mit Leitungsfunktionen und im Bildungswesen.“
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„Ich habe mit sehr viel Technik gelernt, die Gedanken dann auch nicht mehr weiter schweifen zu lassen, sondern ich mache viel Yoga, autogenes Training, Meditation. Nein, das geht eigentlich recht gut. Es geht nicht immer, aber ich würde sagen, es geht gut.“ „Erstens mal, indem ich nicht zu Hause arbeite, aus Prinzip nicht, sondern das Einzige, was mit mir nach Hause darf, das ist mein Handy. Aber ich sitze nicht zu Hause am Computer. Und schon alleine das schafft eine grosse Trennung. Und ich habe keinen Blackberry. Das heisst, mein Telefon gibt mir meine Mails nur, wenn ich danach frage.“
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217
Anhang A5
Weitere Ressourcen Diese Ressourcen tragen zur Beantwortung der Forschungsfrage bei: Werden zusätzliche Ressourcen zur Gesunderhaltung bzw. Burnoutprophylaxe der Führungskräfte trotz hoher Arbeitsbelastung genannt, welche nicht explizit erfragt wurden? Alle diese Ressourcen können nicht sofort aktiv vom Individuum eingesetzt werden, wie zum Beispiel die Copingstrategien, sondern sie sind über längere Zeit erworben. Es handelt sich dabei auch nicht um Belohnungen. Kategorie
Erklärungen Erklärungen
Erfahrung
Äusserungen zu gemachten positiven und negative Berufserfahrungen oder die Erfahrung als Ressource im Sinne von Alter oder Vertrautheit mit der Materie.
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Je vertrauter sie mit einer Organisation sind, desto mehr beginnen sie zu merken, wo die Hebel sind, wo die Schwächen sind, wo das Interessante ist, wo das ist, was sie speziell interessiert und je mehr beginnen sie einzutauchen.
Soziales Netzwerk
Angaben zum Kontakt mit anderen Menschen, zum Gefühl der Zughörigkeit, Geselligkeit und Stabilität im sozialen Umfeld. Es handelt sich hier nicht um Äusserungen, die eine aktive Inanspruchnahme soziale Untersützung beinhalten (siehe Ressource persönliche Strategie, soziale Unterstützung).
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„…dass man irgendwo ein Umfeld hat, das eine gewisse Stabilität hat.“
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„Ich habe einen sehr guten Freundeskreis, der nichts mit dem Geschäft zu tun hat, überhaupt nicht, von viel früher.“
Bemerkungen zur eigenen Gesundheit und zum persönlichen Energieniveau.
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„…das meine ich, dass die Gesundheit und der ganze Metabolismus und die ganze Konstitution sehr viel mitspielt. Also, ich habe Kollegen um mich herum gehabt, die haben auf dem Magen ein Problem gehabt, das habe ich alles nicht. Ich bin eine relativ gesunde Natur.“
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„Energie ist letztlich die Ambition, das ist bei mir immer da gewesen.“
Biologische Konstitution
Ankerbeispiele
218
Anhang A5
Kategorie
Erklärungen Erklärungen
Persönlichkeitseigenschaften
Diese Kategorie enthält Aussagen zu Persönlichkeitsattributen wie Teamorientierung, Optimismus, Durchhaltewillen, Leistungsorientierung, Selbstdisziplin, Gewissenhaftigkeit, Neugierde und Offenheit
Ankerbeispiele •
„Es braucht einen sehr langen Atem, man sieht es nicht immer unmittelbar. Es kann zum Beispiel sein, dass man unterwegs dreimal verliert bis man endlich gewinnt. Es braucht manchmal einen ziemlich langen Atem….“
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„…es braucht eine gewisse Zuversicht, weil man den Erfolg nicht unmittelbar sieht.“
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„Ich bin überzeugt, dass man das kann. Es braucht einen starken Willen. Und das sagt man von mir auch…“
219
Anhang A5
Stressoren Kategorie
Erklärungen
Private Stressoren / Familie, Umfeld
Angaben zu Problemen im Bereich Familie, Umfeld.
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„…wenn eben im Privatleben verschiedene Sachen laufen, die einen sehr grossen Einfluss haben und die dann sehr stark ablenken von der Arbeit.“
Arbeitsstressoren / Arbeitsüberlastung (quant./qual.)
Angaben zu hoher Präsenz, Verfügbarkeit, Leistungsdruck, hohen Anforderungen.
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„Also, der Hauptbelastungsfaktor ist eigentlich meistens diese Zeitbelastung.“
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„Und dann ist noch der Zeitdruck, dann sind 16 Baustellen, 15 Baustellen offen. Und man weiss, es kommt dann zusammen.“
Darunter sind innere Konflikte gemeint, wie zum Beispiel verschiedenen Ansprüchen zu genügen oder wenn gegen die persönliche Natur gehandelt werden muss (äusseren Rollen gerecht werden).
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„Auch das Gefühl, 16 Baustellen offen zu haben und immer gerade das zu lösen.“
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„Es gibt natürlich Situationen, wo du in Interessenskonflikten drinnen bist. Dann musst du wirklich für deine Interessen einstehen und dann sind dessen Interessen gegenüber. Dann musst du schauen, dass du deine Interessen durchsetzen kannst.
Diese Kategorie umfasst Bemerkungen zu Konflikten mit Mitarbeitern.
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„Mühsame Leute, mühsame Kollegen, mühsame Situationen mit Leuten. Ich habe das in letzter Zeit immer wieder gehabt, man hat gewusst, da muss man sich wahrscheinlich von jemandem trennen, man weiss nicht, ob man soll. Das ist ein extremer Stress, wahrscheinlich der grösste, vor allem von dem Moment, in dem man zu zweifeln beginnt, bis zum Moment, in dem man sagt, jetzt müssen wir uns trennen.“
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„Auch Mobbingsituationen oder was auch immer.“
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„Also, wenn etwas schief läuft und man sagt, hätte ich doch da nochmals drüber geschaut, dann hätte ich es gesehen.“
Arbeitsstressoren / Zielkonflikte
Arbeitsstressoren / Zwischenmenschliche Konflikte
Arbeitsstressoren / Misserfolg
Mit dieser Kategorie werden Äusserungen belegt, die Misserfolge ansprechen, auch im Sinne von Erwartungen nicht erfüllen (eigene an andere, von anderen an sich selbst, von sich an sich selbst).
Ankerbeispiele
220
Anhang A5
Kategorie
Erklärungen
Ankerbeispiele
Arbeitsstressoren / Einsamkeit an der Spitze
Äusserungen, welche explizit den Begriff Einsamkeit enthalten oder umschreiben (Abgrenzung zur Kategorie „Verantwortung“).
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„Das ist okay, wenn das gut läuft. Und sonst ist es so, dass natürlich dieser Job relativ einsam ist, weil ich ja nicht mit Leuten reden kann, wie findest du das, wie findest du jenes.“
Arbeitsstressoren / Verantwortung
Bemerkungen, die sich auf die grosse Verantwortung als Führungsperson und deren Entscheidungskonsequenzen beziehen.
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„Es gibt in Extremfällen Situationen, wo das Problem am Schluss bei ihnen ist. Und Sie können nicht mehr vorwärts oder zurück. Sie können weder delegieren, sie können es aber auch nicht besprechen. Sie können auch nicht mit Drittpersonen reden, weil diese zu wenig nahe dran am Problem sind. Sie können keine Meinung einholen. Es gibt Situationen, in denen sie total alleine sind und entscheiden müssen, soll ich jetzt diesen oder jenen Weg wählen.“
Arbeitsstressoren / Externe Einflüsse
Diese Kategorie umfasst externer Stressfaktoren wie Medien, Politik, Öffentlichkeit und Reputation.
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„…da hat man am Sonntagmorgen gefürchtet, die Sonntagszeitung auf zu tun, weil da ganz unschöne Sachen dringestanden sind.“
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„Dann habe ich vierzehn Tage lang meinen Ruf verteidigt.“
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„Grosser Stress ist für mich Öffentlichkeit. Schon die Tatsache auf einer öffentlich sichtbaren Bühne zu sein, ist für mich Stress, der dann noch verstärkt wird durch, jetzt rede ich tendenziös, die Unmöglichkeit, in der Öffentlichkeit einen wirklichen Dialog zu führen.“