Das neue Abenteuer 479
Emil Droonberg Eine Winternacht im Felsengebirge
Die beiden Taucher
Zwei Erzählungen
Verlag...
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Das neue Abenteuer 479
Emil Droonberg Eine Winternacht im Felsengebirge
Die beiden Taucher
Zwei Erzählungen
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
Emil Droonberg - geb. 1864 in Bautzen, gest. 1934 in Sacramento, Kalifornien - verfaßte Abenteuerromane und -geschichten. Die beiden vorliegenden Erzählungen aus dem Band �Das Siwash-Mädchen, Erzählungen aus dem kanadischen Felsengebirge und von der Küste des Stillen Ozeans" wurden bearbeitet und leicht gekürzt.
Mit Illustrationen von Michael Gundermann ISBN 3-355-00095-7 © Verlag Neues Leben, Berlin 1986 Lizenz Nr. 303 (305/116/86) LSV 7603 Umschlag: Michael Gundermann Typografie: Katrin Kampa Schrift: 9p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 009 5 00025
Eine Winternacht im Felsengebirge
In seiner Blockhütte in einem der einsamen Täler des Crows Hest Pass saß Eddy Fuller und lauschte dem wilden Heulen des Schneesturmes. Die Blockhütte war ein vorgeschobener Posten der Canadian Pacific Telegraf Co., und Fullers Aufgabe bestand darin, die Telegrafenleitungen eine gute Anzahl Meilen auf und ab in Ordnung zu halten. Er wußte, daß bei diesem Sturm früher oder später das Telefon klingeln würde, um ihn zur Ausbesserung zerrissener Telegrafendrähte zu rufen. Steigeisen, eine Drahtrolle und eine Tasche mit Werkzeugen lagen bereit; ebenso standen seine Schneeschuhe griffbereit neben der Tür, denn draußen lag der Schnee fünf bis sechs Meter hoch. Touristen, die im Sommer die Felsengebirge durchstreifen, wundern sich oft, wenn sie hoch oben an den Baumstämmen �Blazes" (Wegzeichen) entdecken. Es ist ausgeschlossen, daß jemand ohne Leiter bis zu dieser Höhe klettern kann, um mit der Axt diese tiefe Kerbe in den Stamm zu schlagen. Aber viel weniger vorstellbar ist es auch, daß jemand eine Leiter mit sich schleppt, statt das Merkzeichen viel bequemer in Armhöhe anzubringen. Nur der Gegendkundige kann sagen, daß diese Zeichen von Telegrafenwärtern herrühren, die sie im Winter, wenn der Schnee viele Meter hoch liegt, dort angebracht haben, um auf ihren Dienstgängen den Weg nicht zu verlieren. Denn diese Dienstgänge erfolgen durchaus nicht immer entlang der Drähte, sondern oftmals quer durch das Land. Die junge Frau des Telegrafenwärters legte noch ein paar Aststücke in den bereits rotglühenden eisernen Ofen, auf dem das Kaffeewasser zu singen begann. Sie erschrak, als plötzlich das Telefon klingelte. Diese
Nächte machten sie immer nervös, wenn Eddy hinaus
mußte in den Schneesturm, um erst nach Stunden halb
erfroren und erschöpft zurückzukehren. Als sie darauf wartete, daß Eddy den Ruf beantwortete, stellte sie sich die ein paar hundert Meilen entfernte Distriktsoffice mit ihrer Dampfheizung, den fortwährend summenden Drähten und klickenden Apparaten vor. Dort würde Mr. Dale den Hörer am Ohr halten und, während er auf Eddys Antwort wartete, zu Mr. Bury, dem Inspektor, sagen: �Die Störung ist in Fullers Bezirk, da brauchen wir keine Sorge zu haben. Auf Fuller kann man sich verlassen. Und wenn die gewöhnlichen Mittel nicht ausreichen, der erfindet immer was, um den Schaden zu beseitigen." Das war immer die Zeit, in der man sich an die Existenz Fullers erinnerte, und natürlich auch an den üblichen Zahltagen, aber dann eben nur, weil sein Name auf der Lohnliste stand. Wenn es bessere Stellungen zu besetzen galt, dachte man nicht an ihn, die erhielten immer andere. �Hallo, Dale!" hörte sie Eddy sagen. �Habe schon erwartet, daß irgendwo etwas passieren würde. Bin fertig zu gehen. Wo ist es? . Ja, ich denke auch, daß es dort sein wird. Ich habe zwar letzten Herbst die Bäume, die zu dicht standen, umgelegt, aber wir haben hier einen Sechzigmeilenwind, der wird wohl irgendwo einen Ast abgebrochen und gegen die Drähte geschleudert haben . All right . Ja, ich gehe sofort!" Eddy Fuller hing den Hörer wieder an. Seine Frau hatte bereits begonnen, die Isolierflasche zu füllen. Er bückte sich über das Kinderbett, in dem der kleine Eddy lag, und küßte ihn. Man war niemals sicher in solch einer Nacht, ob man zurückkehren würde. Sie hatten in der vergangenen Nacht Wolfsgeheul gehört, und die kanadischen Waldwöl-
fe, im Gegensatz zu den amerikanischen, fallen den Menschen an, wenn sie hungrig sind. Das war es wohl auch, weswegen Mrs. Fuller ihm den Browning reichte und so fest an seinem Hals hing, als er sich jetzt zum Gehen anschickte. �Sei vorsichtig, Eddy!" bat sie aber nur. �Und rufe mich manchmal an." Einen weit entfernt wohnenden Freund durch das Telefon anzurufen ist einfach, aber während Eddy in seine Schneeschuhe schlüpfte und seine Pfeife mit ein paar kräftigen Zügen in Brand setzte, fragte er sich unwillkürlich, ob die Leute eigentlich eine Vorstellung davon haben, was von der Hauptoffice bis zur entlegensten Wärterstelle alles erforderlich sei, um das möglich zu machen. Das Laufen im treibenden Schnee war sehr beschwerlich. Hin und wieder blickte er nach den blanken Kupferdrähten, an denen er entlangging, um sich zu überzeugen, ob die Störung hier in der Nähe war oder auf den höher gelegenen Teilen des Passes. Nach kurzer Zeit erreichte er den Eisenbahndamm, den die zweimal täglich verkehrenden Züge und der Schneepflug frei hielten. Hier konnte er die lästigen Schneeschuhe ablegen. Es lief sich gut, und er kam rasch vorwärts, aber nach einer Meile mußte er den Bahndamm wieder verlassen. Dann begann der Aufstieg. Er kletterte mit angeschnallten Steigeisen eine Telegrafenstange hoch, und eine Minute später klingelte in seiner Hütte das Telefon. �Ich habe den Bahndamm erreicht", sagte er seiner Frau. �Hier sind die Drähte in Ordnung. Ich gehe jetzt den Fredenkamp-Rücken hinauf. Von dort rufe ich wieder an. Es schneit tüchtig. Aber sei ohne Sorge!"
�Höre, Eddy", antwortete seine Frau, und ihre Stimme klang ängstlich, �Dale hat noch einmal angeklingelt, als du gerade fort warst. Der Zugführer von Nummer zwei hat ihm erzählt, daß er auf dem Fredenkamp-Rücken Wölfe gesehen habe. Es ist doch schon schlimm, wenn sie so dreist sind, daß sie sich sogar am Bahngleis sehen lassen. Er meint, du solltest vorsichtig sein. Und das meine ich auch. Und Bubi auch. Ich habe immer so große Furcht vor Wölfen gehabt. Wenn dir etwas passiert!" �Sorg dich nicht. Ich hab ja meine Steigeisen an. In der Not könnte ich da immer noch an einer Telegrafenstange hinaufklettern." Er verstand es immer, in sorgenvollen Momenten munter und zuversichtlich zu erscheinen. Eine Weile wartete er auf ihre Antwort, so lange, daß er schließlich glaubte, die Verbindung sei unterbrochen. �Hallo!" rief er. �Ich bin hier, Eddy", kam die Antwort zurück, �aber ich habe gerade daran gedacht, daß die Wölfe dann unten warten würden, bis du erfroren bist und herabfällst. Du weißt, das tun sie." �Das werde ich ihnen schon verleiden", beruhigte sie Eddy, �aber ich wünschte, sie kämen und jagten mich an einem Pfahl hinauf. Ich habe ja meinen Browning, und die Schießprämie für jeden Wolf ist zehn Dollar. Wir könnten das Geld gut gebrauchen. Also keine Sorge!" �All right!" versicherte Mrs. Fuller. Er wußte genau, daß sie log und daß es mit ihr nicht eher all right sein würde, als bis er sicher wieder zu Hause wäre. Er hatte die Schneeschuhe wieder angelegt. Trotzdem sank er bei jedem Schritt fußtief in den mehlartig feinen Schnee ein. Als er die Höhe erreicht hatte, fiel es ihm auf,
daß das Heulen des Sturmes aufgehört hatte. Die Kälte
war aber viel intensiver als zuvor. Und in dieser Kälte war
die Stille, die jetzt herrschte, fast unheimlich. Es hatte aufgehört zu schneien und der Himmel leuchtete auf, wenn das Nordlicht seine bleichen Strahlenbündel spielen ließ.
Einen Augenblick empfand Fuller die Stille wie den Beginn einer Tragödie. Aber nur einen Augenblick lang. Dann war er wieder er selbst, der praktische, selbstsichere Eddy Fuller, Telegrafenwärter in Crows Hest Pass, denn er sah über sich einen zerrissenen Draht. Warum der zerrissen war, konnte er nicht feststellen. Die Kälte allein konnte es nicht gewesen sein, denn die Drähte sind nie ganz straff, sondern mit einem ausreichenden Spielraum gespannt. Aber Kälte und Sturm zusammen, sie waren wohl imstande, es zu bewirken. Er kletterte an der Stange hinauf und erstattete zunächst
Meldung an die Distriktsoffice. Dann rief er seine Frau an. �Hier bin ich frisch und munter. Sehr frisch sogar in dieser infamen Kälte. Aber kein Wolf zu sehen! Ich werden den Schaden in einer halben Stunde wieder repariert haben. Dann komme ich heim. Was macht Bubi?" �Er schläft." �Gott segne den kleinen Kerl. Gut, daß ihn seine Zähne heute nacht in Ruhe lassen. Also halte ein gutes Frühstück fertig, denn wenn ich heimkomme, wird es wohl bald Morgen sein. Good-bye!" Drüben am Waldrand hatte sich ein herumstreifender Wolf in den Schnee gesetzt, den Kopf in die Luft erhoben, und schickte sein langgezogenes, klagendes Geheul durch die nachtstille Landschaft. Es wurde beantwortet von vier oder fünf anderen mageren Wolfsgestalten, die vorher nicht sichtbar gewesen waren, sich jetzt aber auf einmal an verschiedenen Stellen von dem kahlen, frostharten Unterholz des Waldes Silhouettenhaft abzeichneten. Eddys Puls begann rascher zu schlagen, und unwillkürlich faßte er an seine Hüfte, sich zu überzeugen, daß sein Browning noch in der Ledertasche an seinem Hüftgürtel steckte. Er hatte seine Frau noch einmal angerufen, um ihr zu sagen, daß die Reparatur länger dauern würde, als er zuerst angenommen hatte. Er wollte noch ein paar muntere Worte hinzufügen, als er vor Schreck über das Wolfsgeheul vergaß weiterzusprechen. �Eddy!" fragte seine Frau von neuem und im Ton der Angst. �Was ist mit dir? Warum antwortest du nicht?" �Oh, es ist weiter nichts. Ich - ich sah nur nach den Drähten." �Siehst du Wölfe, Eddy?"
�Wölfe? Keinen einzigen. Ich wünschte ." Seine Worte wurden übertönt von dem Geheul des Rudels, das ihn entdeckt hatte und über den Schnee nach der Telegrafenstange huschte. Der Apparat fing das Geheul auf und trug es über den Kupferstrang an das Ohr der Frau in der Blockhütte. �Oh, Eddy, ich habe es gehört!" rief sie entsetzt. �So?" entgegnete er. �Na, dann paß mal auf, ob du auch das hören kannst!" Mrs. Fuller lauschte ängstlich und hörte einen Pistolenschuß. �Hast du das gehört? Well, einer ist schon weniger." Er log, denn er hatte nur eine der Bestien gestreift. Dabei war ihm aber die Pistole aus der steifen Hand geglitten und hinunter in den Schnee gefallen. Trotzdem brachte er es fertig zu lachen. �Da siehst du das feige Gesindel. Sie laufen alle davon. Aber einen davon haben wir. Das sind zehn Dollar Prämie und fünf Dollar für das Fell. Dafür können wir schon allerhand kaufen für Bubi und dich. Was macht er denn? Schläft noch? Fein! Gib ihm einen Kuß von mir." Er preßte den Apparat gegen seine Wangen, damit sie nicht das bösartige Fauchen der Wölfe hören konnte. Sie waren jetzt am Fuß der Stange, sprangen an ihr hinauf, schlugen die Zungen heiß um die Lefzen, während der Atem in der Kälte als weißer Dampf ihren hungrigen Mäulern entströmte. �Ich habe das Kind für dich geküßt", berichtete Mrs. Fuller. �Kommst du jetzt?" �Ja." �Bist du auch all right? Deine Stimme klingt so sonderbar."
�Das wird wohl am Draht liegen oder an sonstwas." Fuller unterbrach die Verbindung. Er war aber nicht sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, seiner Frau die Wahrheit zu sagen. Sie würde jetzt warten und warten, Stunde um Stunde, vielleicht tagelang - dann würde jemand seine Steigeisen finden . Dieser Gedanke gab ihm einen Ruck. Nein, soweit war es noch nicht. Er mußte einfach erfinderisch sein, um sein Leben zu retten.
Er sandte den Blick hinab zu den dürren, verhungerten Wölfen, deren Rippen sich deutlich aus den eingefallenen Flanken abhoben. Sie saßen im Schnee und blickten mit grünlich schillernden Augen zu ihm herauf, die glühenden Mäuler offen und die Zunge seitlich heraushängend. Sie schienen zu wissen, daß es nur eine Frage der Zeit war, ihre Beute zu bekommen.
Da schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch sein Hirn. Sein Blick war auf zwei blinkende dicke Kupferdrähte gefallen, die auf gesonderten Pfosten eine Strecke weit neben der Telegrafenleitung, aber durch eine Anzahl Schritte von dieser getrennt, herliefen. Die Leitung der Überlandzentrale, die einige Ortschaften in den Felsengebirgen mit Strom versorgte. Hundertundfünfundzwanzigtausend Volt liefen durch jeden dieser Drähte. Wenn er bloß dort wäre! Er begann die Situation abzuschätzen. Der Schnee zwischen den beiden Leitungen war tief, und er würde beim Durchwaten bis über die Hüften einsinken. Aber er war weich, und auch die Wölfe würden einsinken. Hier, auf der Telegrafenstange, blieb ihm nur die Aussicht, langsam zu erfrieren und abzustürzen wie ein erfrorener Vogel. In seinen Taschen befand sich noch der Imbiß, den seine Frau ihm mitgegeben hatte. Er behielt ein Stück Fleisch davon zurück, wickelte den Rest wieder zusammen und warf ihn mit aller Macht über den Bahndamm hinweg und den Abhang auf der anderen Seite hinunter. Einer der Wölfe löste sich aus dem Knäuel und sprang ihm nach. Gierig folgte ihm die Meute. Eddy wartete, bis der letzte über den Bahndamm verschwunden war. Dann ließ er sich in den Schnee fallen, raffte seine Axt auf und wühlte sich seinen Weg nach dem nächsten Pfosten der Hochspannungsleitung. Wie ein Wahnsinniger rang er mit dem Schnee. Seine Lunge keuchte, sein Puls raste und aus seinen Poren brach der Schweiß. Hinter ihm erklang der Jagdruf der Wölfe. Er blickte nicht zurück. Das hätte Zeit gekostet und konnte ihm nichts helfen. Irgendwie fühlte er auch schon den heißen
Atem eines Wolfes, als er die Stacheln seiner Steigeisen in den Pfosten schlug und aufwärts klomm. Er fühlte einen Körper gegen sich prallen, und ein Fetzen aus seiner Kleidung war herausgerissen, dann befand er sich außer Bereich der Mäuler der tanzenden und springenden Bestien. Aber er durfte seinen tauben, im Frostgefühl wie Feuer brennenden Händen nicht mehr trauen und hakte sich mit seinem Sicherheitsgurt fest. Langsam klomm er aufwärts, bis die blinkenden Kupferstränge seinen Händen erreichbar waren. An seinem Hüftriemen hing eine Rolle Draht. Er holte aus seiner Tasche ein weiteres Stück Fleisch hervor, befestigte es am Ende des Drahtes und ließ es bis dicht über die Wölfe, ihnen aber einstweilen noch unerreichbar, herab. Der Führer sprang danach; infolge der federnden Schwingungen des Drahtes schnappte er aber ins Leere und fiel, sich rückwärts überschlagend, mitten unter seine Kameraden, die nun ihrerseits nach dem verlockenden Bissen sprangen und schnappten. Das wehrte ihnen der Führer wiederum mit dem Recht des Stärkeren. Eddy kümmerte sich nicht um die Balgerei. Er hörte nur die heißen Laute hungriger Gier, und manchmal sah er die Augen des einen oder anderen aufleuchten, wenn sie sich aus dem Knäuel lösten und nach dem verlockenden Bissen schnappten. Er hatte seine Axt aus dem Gurt genommen, das andere Ende des Drahtes um die Schneide gewunden und den letzten Rest zu einem Haken umgebogen. Dann griff er nach dem Stiel, der ihm die nötige Isolierung gewährte, und hing die Axt mit dem Haken in den nächsten Draht, indem er gleichzeitig das Ende der Lockspeise freigab, so daß die Bestien es erreichen konnten.
Das war kaum geschehen, als der Führer des Rudels darauf zusprang und es erschnappte. Aber wie in einem Fangeisen war sein Rachen durch den starken Strom daran festgeschraubt. Sofort stürzten sich die anderen auf ihn, um ihm seine Beute streitig zu machen, aber alles ging unter in einem blendenden Blitz, der das Dunkel der Nacht zerriß, begleitet von dem Krach einer Explosion, deren Echo die Hänge des Passes zurückgaben. In den Ortschaften, die durch die Überlandzentrale versorgt wurden, brannten die Lichter trübe, wurden dann wieder hell, und die Leute fragten sich verwundert, was das wohl bedeuten möge. Eddy Fuller lehnte sich in seinen Sicherheitsgurt zurück. Die Reaktion der Aufregung der letzten Minuten hatte ihn für einige Minuten schwach gemacht. Eben war da unten noch Leben gewesen, heißes, blutlüsternes Leben, das seines verlangte, um das eigene zu erhalten - jetzt lag das ganze Rudel, durch die bloße Berührung des einen Körpers mit dem anderen, steif und starr, mit zusammengekrampften Körpern im Schnee, bis auf einen, der schwerfällig und halb betäubt dem nahen Wald zuhinkte. Eddy faßte vorsichtig nach dem Griff der Axt, hakte sie von dem Draht ab und ließ sie fallen. Dann stieg er langsam hinab. Die Luft war schwer von dem Geruch versengter Haare und verbrannten Fleisches. Noch einmal erstieg er den Telegrafenpfahl. Stimmen gingen durch den Draht, Stimmen, die einen Kontinent überflogen, aus einer behaglich warmen Office nach einer, vielleicht Tausende von Meilen weit entfernten anderen Office. Er schloß seinen Apparat an und im nächsten Augenblick schrillte in seiner Hütte die Klingel.
�Oh, Eddy!" kam gleich darauf die Stimme seiner Frau zu ihm. �Ich habe so daraufgewartet, daß du wieder anrufen würdest. Ich dachte schon ." �Ich habe hier zehn Wölfe liegen. Alle zusammen mit einem Schlag tot durch den Strom. Die Pelze werden freilich nicht mehr viel wert sein, aber die Prämie ist uns sicher. Hundert Dollar! Kannst dir schon immer ausdenken, was wir dafür kaufen werden. Ich will die Biester nur noch abhäuten, dann komme ich heim. Und höre, Lizzi, mach ein gutes Frühstück fertig! Das können wir uns jetzt leisten, denn für die nächsten vierzehn Tage sind wir reiche Leute!"
Die beiden Taucher
Mit einem lustigen Feuer in dem kleinen eisernen Ofen war die enge Kabine im Vorderteil der �Turtle" an diesem rauhen, regnerischen Septembertag ein ganz behaglicher Aufenthalt. Die �Turtle", auf deutsch �Schildkröte", war ein Schoner von fünfzig Tonnen Last, der unter einer steifen, aber unsteten Brise an der Küste von Britisch-Kolumbien entlangschwamm, soweit ihm das bei dem schweren Seegang und dem launischen, von häufigen Regenböen begleiteten Wind möglich war. Das Wort �schwamm" habe ich übrigens mit Bedacht gewählt, denn segeln konnte man so etwas nicht nennen. Der alte Kahn bewegte sich ungefähr so geschwind und graziös über das Wasser wie eine Schildkröte auf trocknem Land. Schon die ganze Form des Fahrzeugs, mit dem gemächlich breiten Laderaum zwischen den beiden Masten, ließ vermuten, daß sein Erbauer in dem Bemühen, eine zweite Arche Noah herzustellen, etwas hervorgebracht hatte, was einer hölzernen Schildkröte noch viel ähnlicher sah. In richtiger Würdigung des vollendeten Werkes und vielleicht auch in einer Anwandlung von Selbstironie hatte er ihm dann den passenden Namen �Turtle" beigelegt. Die Stärke des Balkenwerks war das auffallendste Merkmal ihrer Seetüchtigkeit. Obwohl nicht gerade förderlich in bezug auf Geschwindigkeit, war es doch ein nicht zu unterschätzender Vorteil in der schweren See, die man fast immer im nördlichen Pazifik und besonders entlang der ganzen Küste der Vancouver-Insel antrifft. Wir waren vor drei Tagen von Viktoria aus in See gegangen mit einer Ladung Stückgut der verschiedensten
Art, bestimmt für die kleinen Hafenplätze in den nördlichen Teilen der Insel, die außerhalb des gewöhnlichen Dampferverkehrs lagen. Ich selbst war vom Felsengebirge zur Küste gekommen, um wieder mal einen mir befreundeten Stamm von Siwash-Indianern zu besuchen, die in einem entlegenen Winkel am Nordende der Insel leben. Einen Winter lang hatte ich recht angenehm mit ihnen verbracht und wollte nun meine Bekanntschaft mit meinen alten Freunden erneuern. Außerdem hatte ich vom Smithsonian Institut in Washington den Auftrag, die Grotalus(Klapperschlangen-)Arten zu beobachten und zu beschreiben, die nach Berichten der Indianer infolge eines ausgedehnten Waldbrandes an den Berghängen zu Tausenden in die Täler der Indianer herabgekommen sein sollen. Es ist vielleicht nicht unwichtig zu erwähnen, daß die Ansicht, Klapperschlangen lebten nur bis zum sechsundvierzigsten Grad nördlicher Breite, falsch ist. Sie kommen auch in Kanada vor, besonders an den warmen Abhängen der pazifischen Seite der Felsengebirge, aber auch in Ontario und dem südwestlichen Teil von Alberta. Das aber nur nebenbei. Nachdem ich mich in Viktoria eine Woche lang nach einem Schiff umgesehen hatte, war mir im Hafen die �Turtle" aufgefallen, die fast am Ende des Vollwerks lag und auf der Männer beschäftigt waren, verschiedene Güter, die auf Rollwagen und Karren herangeschleppt wurden, zu laden. Vom Schiffsbesitzer erfuhr ich, daß er beabsichtigte, am nächsten Tag nach St. Barbara und einigen anderen Ortschaften an der Nordküste unter Segel zu gehen. Es war nicht das, was ich mir gewünscht hätte, aber es
war das einzige größere Angebot, und so vereinbarte ich mit ihm die Passage für mich und meine Ausrüstung nach St. Barbara, obwohl er mir erklärte, daß ich an Bord keinerlei Bequemlichkeiten finden würde. Der heutige Tag war kalt und unfreundlich. Schon seit dem frühesten Morgen regnete es ununterbrochen aus endlos grauem Himmel. In unserer kleinen Kabine aber, mit dem prasselnden Feuer im Ofen, fühlte man sich bei dem Wetter recht gemütlich.
Der Eigentümer hatte recht gehabt: Die �Turtle" bot einem Passagier keinerlei Bequemlichkeiten. Die Kabine war ein Raum, wie man ihn auf Fahrzeugen dieser Art erwarten mußte, einfach ausgestattet, so einfach, daß eben nur den nötigsten Bedürfnissen müder und abgearbeiteter Leute Rechnung getragen wurde. Zwei übereinander angebrachte Kojen an jeder der beiden Längsseiten, ein Band an jeder der unteren Kojen, in der Mitte des Raumes
ein nach vorn schmal zulaufender Tisch, der an der hinteren Wand hochgeklappt werden konnte, und eine darüber hängende Schiffslaterne waren das ganze Mobiliar. Ich saß an der einen Seite des Tisches, und mir gegenüber saßen die Schiffer und der Maat, nachdenklich ihre Pfeifen rauchend. Jeder von uns hatte ein dampfendes Glas Grog vor sich stehen. Das ist nicht ungewöhnlich, diesmal aber gab es dafür einen besonderen Anlaß: der Vorfall heute morgen, der uns beinahe die Gesellschaft des Maats gekostet hätte. Wie sich die Sache zutrug, war mir nicht ganz klargeworden. Ich saß in der Kabine, als mich plötzlich der Ruf �Mann über Bord!" erschrocken auffahren ließ. Augenblicklich stürzte ich an Deck und kam gerade noch zur rechten Zeit, um zu sehen, wie der Schiffer mit einem langen Tau in der Hand über Bord sprang, während ein anderes Tau mit einem Rettungsgürtel von einem der Matrosen nachgeworfen wurde. Der rief mir auch zu, daß eine mächtige über das Schiff brechende See den Maat mit fortgewaschen habe und daß dieser in seiner schweren Ölkleidung sofort gesunken sei. Bevor ich noch mehr erfahren konnte, erschien der Schiffer bereits wieder mit dem Leblosen an der Wasseroberfläche. Nachdem es ihm gelungen war, dem Ertrinkenden den Rettungsring überzustreifen, zogen wir beide an Bord. Der Maat war bewußtlos. Mit Eifer machte ich mich an die erforderlichen Wiederbelebungsversuche. Der Schiffer, von dem eiskalten Wasser selbst bis auf die Haut durchnäßt, ließ sich nicht davon abhalten, mir dabei zu helfen. Es dauerte nur einige Minuten, die Atmung wiederher-
zustellen und ihn zum vollen Bewußtsein zurückzubringen. Nachdem der nötige Kleiderwechsel vorgenommen war und die beiden Wasserratten ihr Inneres mit einem reichlichen Schluck Rum wieder angewärmt hatten, wies nur wenig darauf hin, daß sie erst vor ganz kurzem mit knapper Not dem Tode entgangen waren. Der Grog, den sie jetzt in meiner Gesellschaft tranken, bedeutete eine Art Nachkur. Ich sagte bereits, daß nur noch wenig in dem Verhalten von Schiffer und Maat auf das eben erlebte Ereignis hindeutete. Dieses wenige war ein auffälliges Schweigen und In-Gedanken-Versunkensein, während sie mir so gegenübersaßen und sich fast nur damit beschäftigten, in die aus den Bechern vor ihnen aufsteigenden aromatischen Dunstwolken zu starren. Das war bei Leuten, denen Lebensgefahr eine längst gewöhnte Erscheinung sein mußte, mindestens befremdend. Ich wollte sie aber nicht in ihren Betrachtungen, welcher Natur sie auch immer sein mochten, stören, und bald fingen auch meine Gedanken an zu wandern. Über unsern Köpfen tönte das regelmäßige Klatschen der Regentropfen auf den Deckplanken und gelegentlich das Quietschen der Steuerpinne, wenn der Mann am Rad oder sein Gefährte, der die Segel bediente, sich bemühten, den alten Kahn auf seinem Kurs zu halten. Allmählich fiel es mir auf, daß der Schiffer hin und wieder einen verstohlenen Blick auf den Maat richtete. Beide waren gute Freunde und ihre respektiven Stellungen als Schiffer und Maat eine Unterscheidung ohne wirklichen Unterschied. Endlich - und es schien, als ob er sich erst dazu aufraf-
fen müßte - unterbrach der Schiffer das mir schon auf die Nerven fallende Schweigen. �Well, Bob, sind wir jetzt quitt?" Der Maat schaute auf, und sein von Winterkälte wie Sommerhitze gefärbtes Gesicht wurde noch um einen Schein dunkler. �Mein Gott, John, sind wir denn nicht schon längst quitt? Ist bei dir die Vergangenheit noch nicht vergessen und begraben? Bei mir war es so, das weiß der Himmel! Wenn es bei dir anders war, wovon ich keine Ahnung hatte, so kannst du jetzt dein zartes Gewissen beruhigen, denn wir sind quitt!" �Well, Bob", erwiderte der Schiffer. �Ich wußte wohl, daß die Sache für dich als erledigt und abgetan galt. Und ich versuchte mir einzureden, daß es auch bei mir so sei. Aber da war immer etwas in der Brust oder irgendwo, und das sprach anders, obschon wir wieder Freunde waren wie in alten Zeiten. Nein, die Sache war doch noch nicht erledigt. Nicht für mich! Da war eine Schuld, die nicht bezahlt war. Ich war dein Freund, ja, und mehr denn je; aber vergessen, was ich dir einst dort auf dem Grunde des alten Pazifiks angetan hatte, das konnte ich nicht. Es muß etwas in der Menschennatur sein, das uns eine Schuld nicht vergessen läßt, bis wir sie bis zum letzten Tüpfelchen gesühnt haben. Aber ich sehe, der Doktor schaut schon ganz verwundert drein. Er weiß ja gar nicht, wovon wir reden. Wenn du willst, magst du's ihm ruhig erzählen. Jetzt, da wir quitt sind, ist mir's egal. Übrigens, Bob, daß du die ganze Zeit kein Wort über die Sache verloren hast, das vergesse ich dir nicht. Nein! Wie gesagt, es ist mir auch egal, wenn der Doktor erfährt, was
ein Freund dem andern antun kann, wenn eine Frau im Spiel ist. Er hat mir ohnehin geholfen, meine Schuld wettzumachen, und so sind wir es ihm gewissermaßen schuldig." �Warum erzählst du es nicht selber?" fragte der Maat. �Well, Bob", erwiderte der Schiffer mit einem gutmütig verlegenen Grinsen, �wenn einer die Rolle des Schuftes in einer Geschichte spielt, so ist es leichter für den andern, sie zu erzählen." �Zum Kuckuck noch mal, wovon redet ihr nun eigentlich?" fuhr ich etwas ungeduldig dazwischen. �In Geheimnisse will ich mich nicht eindrängen, wenn ihr aber etwas zu erzählen habt, was das Anhören lohnt, dann fangt endlich mal an damit, oder dieser langweilige Tag mit dem ewigen plätschernden Regen da oben auf dem Deck fällt mir noch auf die Nerven. Ich vermute, Nerven sind etwas, was ihr beide nicht kennt, aber ich kann euch sagen, sie sind etwas sehr unangenehmes, wenn man sie erst einmal hat." �Nicht wissen, was Nerven sind?" rief Bob. �Well, es gab eine Zeit, da ich es nicht wußte, aber seit der Zeit, als sich das ereignete, wovon ich und John eben sprachen, weiß ich's. Und da John nichts dagegen hat und wir Sie nun doch einmal neugierig gemacht haben, so will ich Ihnen nun auch erzählen, um was es sich handelte: �Es geschah, als wir beide, ich meine John und ich, als Taucher bei derselben Gesellschaft arbeiteten. Wir kannten uns aber schon früher, denn Sie müssen wissen, wir stammen aus demselben Ort. Es ist ein Dorf unten an der S.Juan-de-Fuca-Straße. Die ganze Bevölkerung besteht nur aus ein paar Dutzend armer Fischer mit ihren Familien.
Wir waren schon Freunde, als wir noch Jungens waren, womit ich gesagt haben will, daß wir manchmal die besten Kameraden waren, während wir uns das andere Mal gottsjämmerlich verhauten und zerkratzten. Als wir dann herangewachsen waren, wurden wir Seeleute. Das war selbstverständlich. Es ist der althergebrachte Gang der Dinge in einem Fischerdorf und für einen Jungen so natürlich wie ein Anfall von Masern. Ein- oder zweimal machten wir auch Reisen auf demselben Schiff. Solange man nicht verheiratet ist, denke ich mir, kann es kaum etwas Schöneres geben als das Seemannsleben. Man kann auch an Land Geld verdienen, aber, Doktor, so von einer langen Reise zurückkommen, die Taschen voller Geld, ich sage Ihnen, es ist wert, sich dafür lange Monate draußen herumzutreiben und zu entbehren. Sie wissen gar nicht, wie viele Freunde Sie dabei finden, bis Sie es selbst mal ausprobiert haben. Natürlich, es dauert nicht lange, bis Sie mit Hilfe Ihrer guten Freunde all das viele Geld wieder losgeworden sind; aber auch das ist der althergebrachte Gang der Dinge für einen Seemann, und so braucht sich niemand darüber zu beklagen. Well, Sir, ich glaube, ich bin nicht besser oder schlechter gewesen als irgendeine Blauwasser-Teerjacke, aber allmählich kam mir diese Art von Leben doch ziemlich dumm und zwecklos vor. Wenn man so zehn oder zwölf Monate lang und manchmal noch länger unterwegs ist, da hat man gar viel Zeit zum Nachdenken. Allmählich, obwohl es lange genug gedauert hatte, kam es mir dann endlich auch zum Bewußtsein, daß es eigentlich eine fürchterliche Dummheit war, die sauer verdienten paar Dollars in einer tollen Woche oder auch zwei stumpfsinnig - denn dazu kommt's immer, wenn Sie mit Ihren guten
Freunden trinken - zu verschleudern. Ich will nicht sagen, daß ich dabei schon den Gedanken gefaßt hatte, mich zu verheiraten, aber erwogen hatte ich ihn. Und wenn ein Mann erst einmal soweit ist, dann ist das wie mit dem bekannten ersten Schritt auf einer abschüssigen Bahn, man rutscht den übrigen Weg ganz von allein. Der nächste Schritt in dieser Angelegenheit folgte in einer Tanzhalle in Seattle. Ich gebe zu, daß eine Tanzhalle weder in Seattle noch sonstwo der geeignete Ort ist, sich nach einer Frau umzusehen. Und eigentlich war das ja auch gar nicht meine Absicht gewesen. Aber sie war so ein reizendes Mädchen. Und dann denken Sie bloß, wie hart es für sie sein mußte, immer nur zu arbeiten, um den lieben alten Vater und die Mutter und auch noch einen Bruder, die da irgendwo im Osten wohnten, zu unterstützen. Der Vater, wissen Sie, der hatte so irgendwas an der Lunge und konnte nicht arbeiten. Sie war nach dem Westen gekommen, weil man ihr gesagt hatte, sie könnte dort mehr Geld verdienen, und sie war nur gerade mal in diesen Tanzsalon gekommen, weil sie sich so furchtbar einsam und verlassen fühlte. Nun hätte ich den Mann sehen mögen, der kein Mitleid mit so einem armen Ding gehabt hätte. Freilich, arm sah sie nicht aus. Nein, gewiß nicht! Man mußte sich schon umsehen, um ein anderes Mädchen zu finden, das so fein aufgetakelt war wie sie. Da waren Spitzen und Falbeln und Ohrringe und Halsketten und Ringe und anderer Krimskrams, und ein Geruch war um sie, als ob Sie in Pasadena durch die Rosengärten wanderten. Und, heiliger Moses, was für feine Sachen sie bestellte. Das heißt, immer hätte ich die nicht essen mögen, und auch ein Glas guter, echter Jamaikarum wäre mir lieber gewesen als diese Cocktails
und all das andere; aber wenn man so fast ein ganzes Jahr lang beinahe nur von Speck und Bohnen gelebt hat, da fühlt man doch einen gewaltigen Kitzel nach etwas anderem. Einmal hätte ich fast dem Kellner die Nase, die ohnehin zu lang war, zerboxt, als er sich erdreistete, mir Bohnen als ,sehr gut' zu empfehlen. Aber er sagte, ich müsse ihn mißverstanden haben, er hätte etwas anderes gemeint. Well, Sir, der Abend kostete mich ein heidenmäßiges Geld. Aber ich war stolz darauf, daß dieses Mädchen, das gewiß aus einer feinen, wenn auch vielleicht jetzt verarmten Familie stammte, so zutraulich zu mir ungeschlachten Bengel gewesen war. Das war hier anders als an Bord. Dort stand ich meinen Mann; aber diesem Mädchen gegenüber kam ich mir vor wie ein richtiger Tölpel. Wenn ich damals bloß geahnt hätte, wie recht ich damit habe. Well, Sir, ich hatte etwa siebenhundert Dollar Heuergeld in meiner Tasche und das, zusammen mit einem hübschen jungen Mädchen, wird einem Seemann immer den Kopf auf den Rücken drehen. Und bevor ich noch recht wußte, wie die ganze Sache zugegangen war, waren wir Mann und Frau, richtig zusammengespleißt vor dem Friedensrichter. Wir mieteten uns zwei Zimmer in der Stadt. Möbliert natürlich, denn die Missis liebte die viele Hausarbeit nicht. Wenigstens in der ersten Zeit wollte sie sich nicht damit befassen. Mir kam das auch ganz gelegen, denn das viele Geld für den Hausrat, den ich sonst hätte anschaffen müssen, hätte ein ziemliches Loch in meinen Vorrat gemacht. Denn, weiß der Teufel, wie das kam, aber noch niemals hatte ich Geld so schnell zusammenschmelzen sehen. Und Sie können mir glauben, ich hatte in dieser Beziehung
schon einiges geleistet, wenn ich von früheren Reisen zurückkehrte. Übrigens hätte die Missis auch gar keine Zeit zu Hausarbeiten gehabt. Denn die allabendliche Runde durch die verschiedenen Tanzsalons und anderen Vergnügungslokale dehnte sich natürlich immer bis gegen Morgen aus, und der auf diese Weise verlorengegangene Schlaf mußte natürlich am Tage nachgeholt werden. Ich hatte ursprünglich berechnet, daß ich ein paar Monate zu Hause bleiben und dann wieder anmustern würde. Früher hatte ich immer mit viel kürzeren Perioden gerechnet. Aber als einzelner Mann ist die Sache ganz anders; da verjubelt man sein Geld auf die allerdümmste Art. Jetzt war ich verheiratet. Allmählich sah ich mich aber doch genötigt, die berechnete Zeit zuerst auf sechs Wochen und bald danach auf einen Monat zu reduzieren. Die Missis nämlich, müssen Sie wissen, hatte die Kasse übernommen, und sie berechnete, daß nach Ablauf dieser Zeit nicht ein Cent mehr übrig sein würde. Als vorsichtiger Ehemann begann ich daher allmählich wieder, mich für die Schiffsnachrichten zu interessieren, und während die Missis zu Hause ihren verlorenen Nachtschlaf nachholte, machte ich die Runde durch die Bars in der Hafengegend, wo man stets Seeleute aus aller Herren Länder antrifft und immer sicher ist, etwas Neues zu erfahren. Der Zufall wollte es bei einer solchen Gelegenheit, daß mir die Stellung eines Tauchers bei einer Bergungsgesellschaft angeboten wurde. Das paßte mir ausgezeichnet, denn es gab mir Gelegenheit, viel zu Hause zu sein. Ich hatte noch nie Taucherarbeit getan, aber, Sie wissen, so was spielt hierzulande keine Rolle. Hier packt man eben
eine Sache an und führt sie durch, so gut es eben gehen will, und wenn die andern nur nicht gleich die Geduld verlieren, geht es meistens. So sollte ich auch hier nach einer Woche Training gleich Lohn bekommen. Natürlich konnte ich nach einer Woche noch kein guter Taucher sein, aber ich konnte in geringen Tiefen arbeiten und mich allmählich an größere gewöhnen. Als ich soweit war, meine neue Stellung anzutreten, stellte sich auch heraus, daß die Voraussagung der Missis, nach dem ersten Monat unseres Ehelebens keinen Cent mehr übrig zu haben, völlig richtig gewesen war. Die siebenhundert Dollar waren weg. Es war verteufelt schnell gegangen. Früher hatte ich manchmal mit der Hälfte doppelt so lange gereicht, und jetzt hätte es eigentlich noch länger dauern sollen, denn ich war doch verheiratet. Aber was nützen solche Betrachtungen, wenn das Geld erst einmal alle ist; und ein guter Rechner bin ich niemals gewesen. Jetzt mußten wir von meinem Wochenlohn leben. Das war eine unangenehme Abwechslung. Die Missis traf es übrigens noch härter als mich. Sie konnte sich gar nicht recht dareinfinden, daß das viele Tanzen und all die andern Vergnügungen nun auf einmal aufhören sollten. So ungefähr lagen die Dinge, als eines schönen Tages John von einer langen Reise zurückkehrte. Wir trafen uns zufällig auf der Straße und natürlich nahm ich ihn mit nach Hause, um ihn mit der Missis bekannt zu machen. Sie war recht freundlich zu ihm, das muß ich sagen. Gar nicht so wie die meisten Frauen den früheren Freunden ihres Mannes gegenüber. Und richtig lustig wurde sie dann, als er uns aufforderte, uns einen vergnügten Abend mit ihm zu machen.
Well, das taten wir auch, und nicht bloß an diesem Abend. Es war, als ob wir die schöne Zeit meiner eignen Heimkehr noch einmal durchlebten. John zahlte natürlich alles. Das war selbstverständlich, denn ich hätte das gleiche getan, wäre der Fall umgekehrt gewesen. Sie können sich denken, daß John von dieser Zeit an ein ständiger Gast bei uns war. Überhaupt machte sich in unserer Lage eine Wendung zum Besseren bemerkbar. Die Missis war lange nicht mehr so gereizt, und während sie mir früher immer in den Ohren gelegen hatte, daß mein Wochenlohn nirgends reiche, schien sie jetzt endlich gelernt zu haben, sich damit einzurichten; denn das Essen war besser, und sie klagte nicht mehr. Ich war eben ein Esel, sehen Sie, ein richtiger Esel; denn sonst hätte ich merken müssen, daß es Johns Geld war, das bei uns aushalf, und daß er die Gewohnheit angenommen hatte, immer gerade dann Besuche bei uns zu machen, wenn er wußte, daß ich arbeiten war. Du brauchst mich gar nicht so scheel anzusehen, John", unterbrach er sich hier, indem er sich an den Schiffer wandte. �Ich weiß recht wohl, daß es nicht deine Schuld war. Kein Mann ist ganz zurechnungsfähig, wo eine Frau ihr Spiel treibt. Aber kurz und gut, Doktor, eines Tages kam es zum Klappen. Es kommt zum Klappen bei solchen Sachen, früher oder später. Als ich des Abends von meiner Arbeit nach Hause kam, fand ich die Wohnung leer. Die Missis war fort und, wie ich bald herausfand, John mit ihr. Ich wurde wütend; wenigstens redete ich mir ein, daß ich wütend war, weil sich das in solchen Fällen nun doch einmal gehört. Und ich schwor, ich würde John umbringen, wenn ich ihn zu Gesicht bekäme, weil sich das eben
so gehört. Denn tief in meinem Innern, da war ich heilfroh, daß die Sache einen solchen Verlauf genommen hatte. Schon eine ganze Zeit nämlich hatte ich mich immer wieder zu überreden versucht, daß ich sehr glücklich sei. Und wenn erst einmal ein Mann dahin gekommen ist, dann kann er ziemlich sicher sein, daß es mit seiner Glücklichkeit irgendwo hapert. Wirkliches Glück fühlt man. Wenn man sich's erst lange durch alle möglichen Tüfteleien selber nachweisen muß, dann ist es schon längst keins mehr. Damals wußte ich das aber nicht.
Von Bekannten erfuhr ich, daß John und die Missis Seattle verlassen hatten. Ich war in keiner Eile, herauszufinden, wohin sie gegangen waren. Ich begnügte mich, ihnen mitzuteilen - den Bekannten, meine ich -, was ich mit John anstellen würde, wenn ich ihm jemals begegnen sollte. Etwas gekränkt fühlte ich mich nämlich trotz alledem, obwohl ich nicht recht wußte, warum. Denn wenn
ich erfahren hätte, wo er sich mit der Missis aufhielt, wäre ich auf den nächsten, nach der entgegengesetzten Richtung abgehenden Zug gesprungen, solche Angst hatte ich, daß die Missis es sich in den Kopf setzen könnte, wieder zu ihrem trauernden Gatten zurückzukehren. Inzwischen verblieb ich aber ruhig in meiner Stellung, als ob nichts vorgefallen wäre, und verließ mich im stillen darauf, daß sich meine Drohungen als kräftig genug erweisen würden, das Paar in einer sicheren Entfernung zu halten. Ob diese Drohungen sie schon erreicht hatten oder nicht, wußte ich natürlich nicht. Über kurz oder lang mußte es aber geschehen, denn es gibt nicht umsonst etwas, was man als Küstenklatsch bezeichnet. Und als dann Monat um Monat verstrich, ohne daß irgend etwas geschah, was meine neugewonnene Gemütsruhe aus dem Gleichgewicht brachte, da fühlte ich mich wieder so heidenfroh und glücklich wie kaum jemals zuvor in meinem Leben. Meine Stellung bei der Bergungsgesellschaft hatte sich auch verbessert, denn ich hatte nach und nach die nötige Berufserfahrung erlangt. Verschiedene Male war ich bis zur Tiefe von vierzig Yard getaucht, was ungefähr der Rekord für einen Taucher ist. Ich war daher auch keineswegs erstaunt, als ich eines Tages die Weisung erhielt, auf einem unserer Seeschlepper nach Kap Flattery zu fahren. Ich hatte diesen Auftrag sogar erwartet. Einige Tage vorher war nämlich eins der Südseeboote mit Post und Passagieren an Bord gegen einen Ausläufer des Kaps gerannt und gesunken. Nach den Berichten der wenigen Überlebenden hatte sich das Unglück am Abend zugetragen. Nur die Steuerbordwache hatte sich an Deck befunden; die andere Wache befand sich in ihrem Quartier
und lag wohl größtenteils schon in den Kojen. Die meisten Passagiere befanden sich im Salon. Ein nicht sehr auffälliges kratzendes Geräusch, begleitet von einem leichten Erzittern des Schiffsrumpfes, war alles, was man hörte, als der Bug längsseits gegen den Felsen anlief. Die Mannschaft merkte nicht eher, daß der Rumpf in einer Länge von vielen Yards aufgerissen war, als bis sich nach wenigen Minuten das Schiff mit einer leichten Schlagseite nach Backbord überneigte und so schnell zu sinken begann, daß nur ein einziges Boot flottgemacht werden konnte. Und selbst das konnte nicht eher bewerkstelligt werden, als das Deck bereits unter Wasser stand. Das Boot mit einer Handvoll von der Besatzung wurde von der Strömung fortgetrieben, die dort an dem Riff ziemlich stark ist, weil sie sich bricht und eine andere Richtung nimmt. Ohne diesen Umstand wäre es wohl auch gar nicht angekommen, sondern mit in den Saugstrudel, den das versinkende Schiff gleich darauf verursacht haben mußte, hineingezogen worden. Die übrige Mannschaft, besonders die im Maschinenraum, sowie die Passagiere im Salon müssen umgekommen sein, bevor sie merkten, daß das Schiff überhaupt verunglückt war. Die Zeitungen hatten ausführliche Schilderungen über das Unglück mit den üblichen Berichten von Augenzeugen gebracht. Ich las sie alle, denn ich erwartete, daß meine Dienste als Taucher verlangt werden würden. Deshalb war ich auch nicht überrascht, als die Order kam, mit dem nächsten Zuge nach Townsend zu fahren, wo unser Schlepper mich erwartete. An Bord würde ich noch einen anderen Taucher finden, mit dem ich zusammen versuchen sollte, zuerst die Lage des Wracks, die Größe und Ausdehnung des Lecks und die etwaigen Aussichten für seine
Hebung festzustellen. Dann sollten wir die Leichen bergen. Die Wassertiefe an der Unglücksstelle wurde auf funfunddreißig bis vierzig Yard angegeben, erforderte also erfahrene Taucher. Es war Abend, als ich in Townsend ankam. Townsend ist eine kleine Stadt, die nur von dem bißchen Hafen lebt, der höchstens einmal von einem Tramp-Steamer, sonst aber nur von Fischerbooten und Küstenfahrzeugen angelaufen wird. Ich hatte daher auch gar keine Schwierigkeiten, unsern Schlepper zu finden. Sobald ich an Bord war, warf er die Trossen los, dampfte aus dem Hafen und bald darauf hinein in die Straße S. Juan de Fuca. Der Schiffer teilte mir mit, daß wir unsern Bestimmungsort in der Frühe des nächsten Morgens erreichen würden. Da ich einen Tag schwerer Arbeit vor mir hatte, legte ich mich auch gleich in meine Koje und schlief ein. Der Mann, der mit mir zusammen das Wrack untersuchen sollte, hatte bereits das gleiche getan. Am andern Morgen, als ich an Deck kam, waren wir schon weit draußen im Pazifik. Es war einer jener schönen, klaren Morgen, wie man sie wohl nur auf der See findet. Kap Flattery war voraus ein paar Striche über Steuerbord, klar in Sicht. Wir näherten uns dem Ende unserer Fahrt. Als ich mich umschaute, gewahrte ich in der Nähe der Dampfwinde im Vorderteil einen Mann, der seinen Taucheranzug zurechtlegte: Helm, Bruststück, das Schulter und Brust bedeckt und dazu dient, den Wasserdruck abzuhalten, Gummianzug, die Gewichte und den Tank mit der komprimierten Luft. Sein Gesicht war mir abgewandt, aber gerade in diesem Augenblick machte er eine Bewegung, und unsere Augen begegneten sich. Ich weiß nicht,
wer von uns der Verblüfftere war. Mag schon sein, daß ich es war, denn ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, daß John ebenfalls Taucher geworden und noch dazu bei derselben Gesellschaft angestellt war. Ich sah aber deutlich, wie sein Gesicht starr und blaß wurde. Jawohl, John, das war so, wenn du es auch selber gar nicht gemerkt hast. Und das ist doch auch schließlich ganz natürlich, wenn man plötzlich den Mann trifft, dessen Frau man gestohlen hat. Im ersten Augenblick wußte ich nicht, sollte ich ihm an die Gurgel springen, oder was? Dann erinnerte ich mich, daß wir beide im Dienst waren und nach dem Wrack tauchen mußten. Unsere privaten Angelegenheiten mußten warten - und konnten es ja auch. Der Schlepper hatte inzwischen seine Fahrt verlangsamt, und kurze Zeit darauf stoppten die Maschinen. Der Mann, der von der Brücke aus gelotet hatte, machte die Lage des Riffs aus, das auch bei niedrigem Wasserstand immer noch von Wasser bedeckt war, und die Mannschaft machte den Bug- und Sternanker klar, denn bei Tauchoperationen liegt das Schiff immer vor wenigstens zwei Ankern. Ich konnte John also keine weitere Aufmerksamkeit schenken, holte meinen Taucheranzug und legte ihn an. Es ist keine sehr bequeme Kleidung, und Tauchen ist auch alles andere als ein gesunder Beruf. Die Beine sind immer kalt, wenn man unter Wasser arbeitet, denn der Gummistoff liegt eng an. Das Hemd dagegen ist ganz lose und weit, denn der Raum zwischen ihm und dem Körper muß mit Luft aus dem Tank auf dem Rücken ausgefüllt werden, um den Wasserdruck zu vermindern, der für jedes Yard Tiefe zwei Pfund beträgt. Je tiefer man geht, um so mehr komprimierte Luft braucht man. Die Regulierung der
Zufuhr erfolgt durch ein besonderes Ventil. Sie werden verstehen, daß man ein sehr starkes Herz und kräftige Lungen haben muß, um den Luftdruck auf den oberen Teil des Körpers in größeren Tiefen aushalten zu können. Das Herz klopft wie ein Preßlufthammer, und der Schweiß strömt einem aus allen Poren. Die Atmungsluft im Helm kommt auch aus dem Tank, muß aber erst eine besondere Mischkammer passieren, in der der Sauerstoff mit Stickstoff im richtigen Verhältnis gemischt wird. Aber man braucht das nicht ängstlich abzumessen. Die Lunge sagt Ihnen bald genug, ob Sie zuviel oder zuwenig von dem einen oder andern haben. Mit sechzig Prozent Sauerstoff fühlt man sich am wohlsten. Die Zufuhr wird durch ein Ventil reguliert. Sie werden einsehen, daß dieser Lufttank bedeutende Vorteile gegenüber der früheren Art des Tauchens hat, bei der einem die Luft durch einen Schlauch vermittels der Pumpe von oben zugeführt wurde. Es ist eine verdammt gute Erfindung. Sie gewährt dem Taucher mehr Bewegungsfreiheit auf dem Meeresboden und bedeutend mehr Sicherheit, denn die meisten Unglücksfälle der Taucher werden hervorgerufen durch eine Verschlingung oder Einklemmung des Luftschlauches an irgendeiner Stelle." �Sie sind aber doch mit dem Schiff in Verbindung?" fragte ich. �Nur durch die Signalleine", antwortete Bob. �Sie ist in drei verschiedenen Farben angefertigt, die Yard für Yard wechseln. Man kann dadurch die Tiefe, die der Taucher erreicht hat, leichter berechnen. Well, Sir, als erst einmal der Helm auf dem Bruststück festgeschraubt, die elektrischen Lampen angebracht und die Bleigewichte - ein großes für den Rücken und zwei
kleinere für die Brust - an ihren Haken angehängt waren, wo man sie im Notfall leicht abwerfen kann, hatte ich meinen Streit mit John völlig vergessen. Ich sah in ihm nur noch den Kameraden in einem Unternehmen, das, selbst wenn alles gut ging, Schwierigkeiten und Gefahren barg. Er war der erste, der sprang. Ich folgte ihm auf dem Fuße. Nun müssen Sie wissen, daß eine Tiefe von fünfunddreißig bis vierzig Yard eine verdammt kitzlige Sache ist. Man kann da nicht so schlankweg hinuntersinken, sondern muß sich hübsch Zeit nehmen und die Luftventile sorgfältig regulieren. Sonst könnte es sehr leicht passieren, daß irgendein Blutgefäß platzt, womit dann, wenn das in der Lunge geschieht - und dort geschieht's meistens -, die Sache wahrscheinlich zu Ende sein würde. Dieselben Vorsichtsmaßregeln muß man natürlich auch beobachten, wenn man wieder aufsteigt, denn kein Herz und keine Lunge könnten den schnellen Wechsel des Blutdrucks aushaken. Als ich endlich den Boden erreicht hatte, war es völlig dunkel um mich herum, mit Ausnahme eines ganz schwachen und unbestimmten Lichtschimmers ein paar Schritte voraus, von dem ich annahm, daß er von John kam, der seine Lampe angedreht haben mußte. Ich tat das gleiche, und der Meeresboden war jetzt auf eine Entfernung von ungefähr fünf Yard hin hell erleuchtet. Es war ein merkwürdiges Bild, Fische von allen Größen und Formen und alles mögliche sonderbare Getier in der fremden Beleuchtung des Wassers zu sehen, um sofort wieder in der schwarzen Nacht zu verschwinden, sobald sie in den Fokus des Reflektors gerieten. Einmal sah ich das bleifarbene, boshafte, unbewegliche Auge eines Hais auf mich gerichtet. In der Nähe eines Wracks können Sie
immer darauf rechnen, Haifische anzutreffen. Der Taucher gewöhnt sich daran. Das gehört eben mit zum Geschäft. Und es war auch nicht der erste, den ich unter Wasser sah. Aber ich kann Ihnen sagen, es ist etwas anderes, wenn Sie ihn in einem Museum betrachten, als wenn Sie sich ihm plötzlich wahrhaftig gegenübersehen. Wer das nicht selbst erlebt hat, der kann sich keinen Begriff machen, wie einem dabei zumute ist. Es kam mir vor, als hätte ich noch niemals soviel Bosheit in den Augen eines Tieres gesehen wie in diesem Hai. Well, ich habe es ihr heimgezahlt, der Bestie. Der Hai machte eine schnelle Bewegung, als ob er sich auf den Rücken werfen wollte, was bei diesen Geschöpfen notwendig ist, wenn sie ihre Beute erfassen wollen, da ihr Unterkiefer bedeutend kürzer ist als der Oberkiefer. Aber ein kräftiger Schlag mit meiner Axt verhinderte seine Absichten. Wie Sie sich wohl denken können, gab mir der Hai keine Gelegenheit, festzustellen, wohin ich ihn getroffen hatte, aber etwas Gehöriges mußte ich ihm ausgewischt haben, denn die Stelle, wo ich ihn vorher noch gesehen hatte, färbte sich dunkel von der großen Menge Blut. Der Meeresboden hier bestand aus feinem Sand, der mit sonderbaren Pflanzen bewachsen war, so daß er aussah wie ein submariner Garten. Einige der Pflanzen hatten Ähnlichkeit mit den Zwergzedern, die man in Japan zieht, andere hatten Blätter, lang und schmal wie Bänder, die sich in dem Wasser hin und her bewegten und wahrscheinlich zum Teil bis an die Oberfläche reichten. Hier und dort stand etwas, was man für einen Baum oder Strauch halten konnte, sich aber bei Berührung als ein Korallengewächs herausstellte. Man hatte sich da vorzusehen, daß es mit seinen scharfen Kanten und Ecken nicht
den Gummianzug aufritzte. Nach den vom Bord des Schleppers aus vorgenommenen Lotungen konnte das Wrack nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Yard entfernt von der Stelle sein, auf der ich gelandet war, und als ich mich umblickte, sah ich auch einen dunklen Schatten von unbekannter Größe in einiger Entfernung vor mir liegen. Daß es entweder das Riff selbst oder das davorliegende Wrack war, erkannte ich daran, daß sich der Schatten nicht auflöste wie die übrige Dunkelheit um mich her, wenn ich den Schein meiner Lampe darauf richtete. Als ich näher kam, wartete John bereits auf mich und deutete auf den Schatten, den ich jetzt als den Rumpf des Schiffes erkannte. Soweit ich das bei dem beschränkten Gesichtsfeld feststellen konnte, hatte es sich in aufrechter Lage in den Sand gebettet, und ich vermutete, daß die gegenüberliegende Seite gegen die Felswand lehnte. John war bereits dabei, das Deck zu ersteigen, und bedeutete mir, ihm zu folgen. Das ist für einen Taucher leicht. Man läßt einfach etwas mehr Luft in den Anzug. Ich signalisierte nach oben, daß auch ich das Wrack erreicht hätte, und ließ mich dann langsam nach dem Deck aufschweben, wo ich mir die nötige Stabilität durch Ablassen eines entsprechenden Quantums Luft verschaffte. Wir hatten einen Plan des Schiffes gesehen, bevor wir hinabstiegen, und so waren wir einigermaßen orientiert, wo wir nach den Postsäcken und den Kabinen zu suchen hatten. Ich war gerade dabei, mich nach der Hauptkabine umzusehen, als mich plötzlich der Anblick einer menschlichen Gestalt, die langsam auf dem Bauch über das Deck auf mich zukroch, vor Schreck an die Stelle fesselte, wo
ich stand. Ich traute meinen Augen nicht. Wenn es eine Leiche wäre, die durch irgendeine Unterströmung vorwärts bewegt wurde, warum stieg sie dann nicht zur Oberfläche?" �Das wäre erst möglich gewesen, wenn sie bereits vier Tage im Wasser gelegen hätte", antwortete ich ihm, obwohl seine Worte wohl kaum als eine Frage an mich gemeint gewesen waren. �Der Körper eines Ertrunkenen gelangt nicht eher an die Oberfläche, bis der Verwesungsprozeß so weif vorangeschritten ist, daß er leichter wird als das Wasser. Das braucht wenigstens vier Tage. Wieviel Zeit war verstrichen, seitdem das Schiff gesunken war?" �Genau fünfundsechzig Stunden. Wir hatten es ausgerechnet, bevor wir hinabstiegen. Es freut mich, daß Sie mir das gesagt haben, denn es erklärt mir noch eine andere Sache, auf die ich gleich zu sprechen komme und die mir eigentlich immer ein Rätsel geblieben ist. Aber, um mit meiner Geschichte fortzufahren: John hatte diese Gestalt auch gesehen. Er stand dicht neben mir und zeigte darauf, indem er mich am Arm faßte. Durch die Fenster seines Helmes konnte ich sein Gesicht sehen, und obwohl er ebenso darauf vorbereitet war, Szenen zu sehen, bei denen einem ehrlichen Menschen hundeelend zumute werden kann, merkte ich doch, daß ihm die Sache ebensowenig geheuer vorkam wie mir. Sein Gesicht war kalkweiß, und die Augen standen weit vor. Und immer näher und näher kam die Gestalt - langsam, ganz langsam -, auf den Deckplanken vorwärts rutschend, als ob sie sich uns zu Füßen legen wollte. Einen Augenblick lang fühlte ich mich ganz übel und mag wohl auch daran gedacht haben, einen schleunigen Rückzug anzutreten, obwohl ich nicht gerade einer von den Feigen
bin. In dem vom Wasser so eigentümlich gebrochenen Licht unserer Lampen sah das Ding so grausig aus, daß auch einem mutigen Mann der Magen dabei schlapp werden konnte. Aber es war nur für einen Moment. Dann hatte ich die Schwäche wieder überwunden und war wieder Herr meiner Sinne. Ich sagte mir nämlich: Mag es sein, was es will, etwas Übernatürliches kann's nicht sein, denn so was gibt's nicht. Das mag zwar stimmen, aber ich kann Ihnen sagen, da unten auf dem Grunde des alten Pazifiks gibt es Dinge, die noch um ein ganzes Teil grauenhafter sind als etwas Übernatürliches. Wenn ich das in diesem Augenblick noch nicht wußte, so wurde es mir plötzlich klar. Inzwischen war die Gestalt ganz nahe herangekommen und nur noch einen Yard oder zwei von uns entfernt. Ich hatte angenommen, daß es die Leiche eines Passagiers war, die hier von einer Strömung langsam fortbewegt wurde. Denn einen natürlichen Grund mußte die Bewegung doch haben. Die Vermutung war auch ganz richtig, aber es war nicht alles: Wenn Sie schon mal was erlebt haben, bei dem sich Ihnen alle Haare auf dem Kopf sträubten, und wenn Sie das mit hundert multiplizieren wollen, so haben Sie ungefähr eine Vorstellung davon. Meine Blicke wurden nämlich plötzlich von etwas gefesselt, was aussah wie eine riesige Schlange, die den Leichnam ungefähr in der Mitte umschlungen hatte und ihn langsam über die Deckplanken schleifte. Ich konnte sogar die merkwürdig ruckweisen Bewegungen erkennen, dann sah ich für einige Minuten nichts mehr. Irgend etwas kam durch das Wasser geschossen, schlang sich um meine Füße und zog sie mit unwiderstehlicher Kraft unter mir fort. Im Fallen stieß ich mit John zusammen, den anscheinend das
gleiche Schicksal getroffen hatte. Daß meine Vermutung richtig war, wurde mir in demselben Augenblick klar, denn ich sah ihn wie besessen auf eine mächtige, weiche, schleimige Masse mit seiner Axt einbauen. Aus dieser Masse heraus streckten sich lange, schlangenartige Arme, die sich mit unbeschreiblicher Kraft um uns legten und die mit großen Saugöffnungen an ihren Enden, die außerdem noch mit scharfen, hornigen Zähnen versehen waren, an unseren Taucheranzügen klebten." �Oktopus?" fragte ich.
�Ja. Haben Sie davon gehört? Sie sind nicht selten an der pazifischen Küste." �Im Nationalmuseum zu Washington habe ich einen gesehen", entgegnete ich. �Sie haben ja auch noch andere Namen, wie Krake, Cattlefisch oder auch Sepia. Es gibt wohl auch verschiedene Arten, aber im ganzen wissen wir
noch herzlich wenig von diesen Riesenzephalopoden. Der in Washington wurde später an das Aquarium in New York verkauft. Wenn ich mich recht erinnere, so waren die beiden großen Arme gegen dreißig Fuß lang und die sechs kürzeren ungefähr elf Fuß. Der Kopf hatte einen Durchmesser von vier Fuß. Dann kann ich mich noch an einen Fall erinnern, als ich noch ein junger Schiffsarzt war. Wir hatten einen kleinen Hafen an der Neufundlandküste angelaufen. Dort herrschte eine große Aufregung unter der Fischerbevölkerung. Eins ihrer Boote war von den Fangarmen eines Oktopus erfaßt worden, der, wie sie sagten, dreimal so lang gewesen wäre wie das Boot, das ungefähr siebzig Fuß gewesen sein muß. Die zwei Insassen konnten sich und das Boot nur retten, indem sie die Arme mit einer Axt durchhieben. Die abgehauenen Stücke brachten sie an Land. Sie maßen fünfunddreißig Fuß, so daß die Angabe der Fischer in bezug auf die ganze Länge wohl stimmen konnte. Die Tinte oder der Saft, den das verwundete Tier in dem Kampf ausspritzte, färbte das Wasser in einem Umkreis von zweihundert Yard. Unser Kapitän, der jahrelang Walfischfänger gewesen war, sagte mir, daß abgebissene Arme dieser Ungeheuer stets als Zeichen eines guten Fischgrundes angesehen würden; denn die Sperm- und Potwale leben von diesen Tieren, und wenn sie eins gefangen und in Stücke gebissen haben, kommen Teile davon oft an die Oberfläche und sind dann ein Zeichen für das Vorhandensein von Fischen. Sie sehen also, ich kann mir eine recht gute Vorstellung von dem Schrecken machen, den Sie damals bekommen haben müssen. Wohl nur deshalb, weil sie größtenteils in tiefem Wasser, in submarinen Höhlen und Felsritzen leben, hören wir nicht oft von diesen Ungetümen."
Der Erzähler hatte meine Unterbrechung dazu benutzt, seine Pfeife neu zu stopfen, und nachdem er einige Rauchwolken von sich geblasen hatte, fuhr er dort: �Well, Doktor, dann werden Sie es auch verstehen, daß mir nicht gerade sehr angenehm zumute war, als ich in diesen Haufen häßlichen weichen Fleisches sank oder eigentlich gezogen wurde und darauf loshackte, wohin meine Axt nur immer treffen wollte. Es war nutzlos. Die großen weichen und in ihrer Weichheit doch so unglaublich starken Arme zerquetschten mich fast. Dann sah ich plötzlich durch die Fenster meines Helmes ein paar häßliche, ausdruckslose Augen, so groß wie Suppenteller, und einen gähnenden Schlund als Rachen, mit einem fürchterlichen hornigen Schnabel besetzt. Ich glaube, ich sagte vorhin, kein Tier in der Welt könne eine solche Welt von Bosheit ausdrücken wie der Hai mit seinem unbeweglichen glasigen Auge. Well, das nehme ich zurück. Es war kein Vergleich mit dem, was das große, entsetzliche Auge dieses Cuttlefisches ausdrückte. Es dauerte aber nicht lange, und dafür danke ich Gott bis zum heutigen Tage. Sie sagen, Sie haben einen ausgestopften Cuttlefisch im Museum gesehen. Und ich sage Ihnen, Sie haben damit nichts gesehen als seine äußere Form. Das ist alles, was man an einem ausgestopften Tier sehen kann. Das, was in ihm lebt und was die Hauptsache ist, das liegt im Auge. Und kein künstliches Auge kann das ersetzen. Deshalb mag ich ausgestopfte Tiere nicht. Sie mögen gut sein für ein Museum. Dort erfüllen sie ihren Zweck, aber nicht als Schmuck einer Wohnung. Was ist ein ausgestopfter Vogel? Nichts als ein Bündel toter, glanzloser Federn, nicht einmal schön anzusehen.
Das war's natürlich nicht, was ich Ihnen erzählen wollte. Wenn ich auf Augen zu sprechen komme, da wandere ich immer ab. Aber erst seit damals. Nächtelang habe ich nicht schlafen können, weil mich die Erinnerung an diese Augen verfolgte. Ich glaube, sie haben mir's angetan, diese fürchterlichen, tellergroßen Augen voll höllischer Bosheit. Es ist schon zur fixen Idee bei mir geworden. Wenn ich ein Tier sehe, besonders wenn es recht häßlich oder wild, oder boshaft ist, so interessieren mich immer die Augen. Und was ich früher nur ganz selten getan habe: wenn ich jetzt in eine große Stadt komme, so versäume ich nie, in den Zoologischen Garten zu gehen. Und dort stehe ich vor den Schlangenkäfigen und fühle dann tatsächlich etwas wie einen Strom durch meinen Körper laufen, wenn eine von den Schlangen, ganz gleich, ob klein oder groß, den Blick auf mich richtet. Man sagt ja, daß die Schlangen Mäuse, Vögel und Kaninchen mit ihren Augen bannen können, so daß diese von selbst in den aufgesperrten Rachen hineinlaufen. Well, so ein Bann muß es wohl gewesen sein, den die Augen des Cuttlefisches damals auf mich geworfen haben, und ich habe mich nie wieder ganz davon befreien können. Ich habe bisher nie darüber gesprochen; aber Sie sind Arzt, und ich dachte, es könnte Sie interessieren. Auf jeden Fall werden Sie es jetzt verstehen, wenn ich sage, es war schlimmer als der Tod, in diese Augen zu blicken. Und ich glaube, ich habe noch niemals Gott so gedankt, obwohl mir nur ein halber Augenblick dafür blieb, als ich endlich merkte, daß das Zuhauen mit unseren Äxten Erfolg zu haben begann, denn das Ungeheuer spritzte Ströme schwarzer Flüssigkeit von sich. Augenblicklich wurde das Wasser schwarz und dick und verschluckte das Licht unserer Lampen, ohne daß auch nur
ein Glanz zu sehen war. Zugleich fühlte ich auch, daß die beiden Fangarme, die sich um John und mich gewunden hatten, lockerer wurden und sich langsam zurückzogen. Außerdem ließ die Bewegung des Wassers vermuten, daß die Bestie überhaupt abzog. Sie mochte wohl genug haben. Wahrscheinlich hatte sie ihre Höhle in irgendeiner Spalte des Felsens und hielt es für besser, dahin zurückzukehren. Wir konnten nur hoffen, daß wir sie derartig kaputtgehauen hatten, daß ihr Dasein bald ein Ende finden würde. Aber auch für uns war es Zeit geworden, daß die Sache ein Ende nahm, das kann ich Ihnen sagen. Infolge des ungeheuren Luftdrucks brach mir der Schweiß am ganzen Körper aus, meine Adern waren zusammengepreßt, was ein ganz eigentümliches Gefühl angstvoller Beklemmung verursacht, und in den Schläfen hämmerte das Blut, als wenn eine Trommel darin wirbelte. Einen Augenblick lang dachte ich daran, aufzusteigen und mich erst wieder etwas zu erholen, bevor ich meine Arbeit fortsetzte. Im allgemeinen kann ein Taucher vier Stunden lang unter Wasser bleiben; in einer solchen Tiefe aber ist eine halbe Stunde Höchstleistung. Ich fühlte mich infolge des Kampfes mit dem Oktopus jetzt schon erschöpft, und ich denke, John ging es nicht besser. Mit all meinem Willen riß ich mich aber zusammen. So leicht wollte ich mich denn doch nicht werfen lassen. Was John für Absichten hatte, konnte ich natürlich nicht wissen. In dem tintenschwarzen Wasser war er mir völlig unsichtbar, und ich nahm nur den trüben Schein seiner Lampe wahr. Den Plan des Schiffes, der mir vor dem Absteigen gezeigt worden war, hatte ich mir gut eingeprägt. Mein
Auftrag lautete, erst nach den Leichen zu suchen und dann nach den Postsäcken, die natürlich wasserdicht waren. Dementsprechend begab ich mich in dem dunklen Wasser, das anfänglich nicht einmal meine Lampe zu durchdringen vermochte, auf die Suche nach dem Salon, wo ich den Berichten nach einen Teil der Leichen vermutete. Allmählich wurde das Wasser klarer. Die Tinte oder der schwarze Saft, den das Tier von sich gegeben hatte, stieg an die Oberfläche. Ich hatte also keine große Schwierigkeit, den Eingang zu der hinteren Kajüte zu finden. Die Tür zur Treppe, die hinunterführte, stand weit offen. Ich winkte John, mir zu folgen, und stieg die Treppenstufen zum Salon hinab. Der Salon war kein großer Raum, denn diese Südseeboote haben nicht sehr viel Passagiere. Als ich eintrat und meine Lampe das blaugrüne Wasser, das den Raum anfüllte, erleuchtete . Bei Gott, Doktor, den Anblick, der sich meinen Augen jetzt bot, werde ich nicht vergessen - und wenn ich hundert Jahre alt werde." Er schwieg und zog an seiner Pfeife, ohne zu merken, daß sie längst ausgegangen war. Seine Augen hatten einen Blick in die Feme angenommen, als ob seine Gedanken abwesend seien, weit weg von der kleinen Kabine der �Turtle", dorthin, wo sich tief unter den Wellen des Stillen Ozeans das ereignet hatte, was ihn jetzt selbst in der Erinnerung noch mit kaltem Entsetzen zu packen schien. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er sich aus seinem Nachdenken wieder emporriß und fortfuhr: �Well, Sir, Sie werden nun vielleicht erwarten, daß ich sage, der Salon sah aus wie eine große Totenhalle. Das war aber ganz und gar nicht der Fall. Es waren natürlich auch Leichen darin; wenn man sie aber so durch das Wasser betrachtete, so
sahen sie ebenso lebendig aus wie irgendeine Gesellschaft von Schiffspassagieren. Es schien, als ob sie gar nicht erst gewahr geworden wären, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war, bis das Wasser eindrang. Ich sagte Ihnen schon, daß die Überlebenden berichtet hatten, daß nicht mehr als ein Knirschen zu hören gewesen war, als der Rumpf von dem Riff aufgerissen wurde. Es sah aus, als ob niemand im Salon dem Geräusch irgendwelche Beachtung geschenkt hätte. Bei dem furchtbaren Anblick hatte ich den Eindruck, als wären sie in den Positionen gestorben, in denen sie sich im Augenblick gerade befunden hatten. Einige von ihnen saßen in den Drehstühlen, manche aufrecht, manche weit zurückgelehnt. Durch die Bewegung des Wassers, die durch meinen Eintritt entstand, wurden sie alle etwas gehoben, und das sah aus, als wenn sie Verbeugungen machten. Ein Mann im Abendanzug ganz in meiner Nähe stand von seinem Stuhl auf, so sah es wenigstens im Wasser und durch die Linse meines Helmes, die die Linien der Dinge ja immer verzerrt, aus. In einer Ecke stand ein Paar, das sich fest umschlungen hielt. So waren sie gestorben, aber die Bewegung des Wassers drehte sie, und es sah aus, als wenn sie tanzten. Es war ein Anblick, Doktor, daß ich mich fragte ob es Wirklichkeit war, was ich hier sah, oder ob ich plötzlich verrückt geworden sei. Ich war nahe am Ende meiner Kräfte, soviel war sicher. Der Schweiß lief nur so an mir herunter, die Lunge arbeitete mit furchtbarer Anstrengung unter einem Wasserdruck von ungefähr siebzig Pfund, und das Herz schlug wie ein Niethammer gegen meine Rippen. Zuweilen sah ich nur noch schwarze Flecke vor meinen Augen, und die monotone Regelmäßigkeit des gurgelnden Geräusches der ausströmenden Luft am Oberteil meines
Helmes reizte mich zu einer ganz unvernünftigen Wut, die ich als krankhaft bezeichnen muß. Ich hatte einen oder zwei Schritte vorwärts getan, als ich ein junges Mädchen sah, das vor dem Piano saß und mit ausgestreckten Händen die Tasten berührte. In meiner Aufregung glaubte ich, verworrene Töne aus dem Instrument zu hören, als ob sie wirklich spielte. Während ich noch immer wie erstarrt dastand und mir einbildete, die unheimliche Melodie in meinen Ohren klingen zu hören, fühlte ich, wie jemand meinen Arm berührte. Ich dachte, es wäre John, und wandte mich um - aber ich will verdammt sein, Doktor, wenn mir nicht jetzt noch ein Schauer über den Rücken läuft, wo ich es erzähle, denn statt John erblickte ich ein junges Mädchen, das sich vor mir verneigte, als ob es mich zum Tanz auffordern wollte, und dann merkte ich, daß ich konfus im Kopf wurde und daß es höchste Zeit für mich war, meinen Rückzug anzutreten. Eiligst begab ich mich nach der auf das Deck des Wracks führenden Treppe und stieg die Stufen hinauf. Und hier gab's eine andere Überraschung für mich. Die Tür, die offengestanden hatte, als ich hereingekommen war, war jetzt verschlossen. Durch Zufall konnte das nicht geschehen sein, denn sie war natürlich, wie alle offenstehenden Türen auf einem Schiff, festgehakt gewesen. Und wo steckte John eigentlich? Er war nicht mit mir gekommen. Das fiel mir jetzt erst auf, und damit war mir auch mit einem Male alles klar. Er wollte, daß ich hier umkommen sollte unter all den Leichen, deshalb hatte er verräterischerweise die Tür hinter mir geschlossen, denn er wußte ganz genau, daß in fünf oder zehn Minuten alles mit mir aussein würde.
Beinahe unbewußt und mehr wie aus Gewohnheit faßte ich nach meiner Seite, wo ich die Axt trug, um das Hindernis zu beseitigen, aber zu meinem Schrecken entdeckte ich, daß sie nicht mehr vorhanden war. Ich mußte sie in dem Kampf mit dem Kraken verloren haben, ohne daß ich es bemerkt hatte.
Es war mir völlig klar, daß ich, wenn ich hier unten nicht elendig umkommen wollte, sofort aus der Kajüte hinausgelangen und nach oben steigen mußte. Ich versuchte, die Signalschnur zu ziehen. Aber meine Hände faßten das lose Ende. Entweder war sie beim Zuschlagen der Tür abgequetscht worden, oder - und das war viel wahrscheinlicher - John hatte sie durchgeschnitten. Es waren nur ein paar Yards übriggeblieben. Das bewies, daß er dicht hinter mir gewesen sein mußte und die Tür zugeschlagen hatte, gleich nachdem ich hindurchgegangen war. Ich war schon halb betäubt, als ich mich gegen die Tür
lehnte, um sie durch das Gewicht meines Körpers aufzusprengen. Das Schloß zersprang, obwohl es ein gutes Schloß war, wie man es an solchen Türen immer findet. Daraus können Sie sehen, mit welcher Kraft ich mich dagegen geworfen hatte. Und doch konnte ich die Tür nicht weiter als einen Zoll öffnen. Sie mußte von außen verrammelt worden sein. Ich hatte aber keine Zeit zu verschwenden, um darüber nachzudenken oder um lange Pläne zu schmieden, was ich nun tun sollte. Ich lehnte einfach noch einmal mein ganzes Gewicht gegen die Tür, um das Hindernis mit ihr zugleich zurückzuschieben. Das erwies sich als vergeblich, trotzdem ich, wie Sie sich wohl denken können, meine äußersten Kräfte aufbot. Ich hatte vielleicht einen weiteren Zoll gewonnen, aber so viel Kraft dabei verbraucht, daß es ausgeschlossen war, auf diese Weise fortzufahren. Selbst wenn ich die Tür jedesmal hätte um einen weiteren Zoll aufschieben können, wäre ich längst tot gewesen, bevor ich hindurchgekommen wäre. Hatte ich denn nicht irgendwo im Gang eine Axt hängen sehen? Richtig! Jetzt erinnerte ich mich ganz deutlich, in einer Wandnische im Gang hinter einer Glasscheibe die erforderlichen Notwerkzeuge gesehen zu haben. Es ist eigentümlich, Doktor. Als ich an diesem Werkzeugkasten vorüberkam, mußte ich ihn gesehen haben. Aber bis zu diesem Augenblick hatte ich es nicht gewußt. Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon einmal passiert ist, daß Sie unbewußt irgend etwas sehen und daß Sie erst später, nach einiger Zeit, gewahr werden, es gesehen zu haben. Es kommt auch nicht darauf an, denn Sie können sicher sein, daß ich mir damals nicht die Zeit nahm, so ausführlich
darüber nachzudenken. So schnell ich nur konnte, stieg ich die Stufen wieder hinab. Die Aufregung war fast unerträglich, denn wenn ich mich getäuscht hatte, dann war ich erledigt. Aber nein, da war der Werkzeugkasten in der Wand, genau so, wie mein Gedächtnis ihn mir gezeigt hatte. Mit meinem Helm stieß ich die gläserne Schutzplatte ein, ergriff die Axt, und ein paar Augenblicke später war ich wieder oben auf dem Treppenabsatz und schlug auf die Tür los mit aller Kraft, die ich noch hatte. Ich war mir völlig klar darüber, daß ich eine Arbeit vor mir hatte, bei der nur ein starker Mann Erfolg haben konnte. Man kann den Schiffsbauern schon zutrauen, daß sie Türen zu bauen verstehen, die auch der heftigsten See Widerstand leisten. Deshalb versuchte ich zuerst, die Tür an den Angeln auszubrechen. Nach einer Weile aber bedauerte ich, daß ich es nicht an den Füllungen versucht hatte, denn es war nichts davon zu sehen, daß die Angeln auch nur im geringsten nachgegeben hätten, und ich hatte nur wertvolle Minuten verloren. Und die ganze Zeit über keuchte meine Lunge nach Luft, und das Blut brauste in meinen Adern, daß sie an meinen Schläfen wie Stricke hervorgestanden haben müssen. Das Singen in meinen Ohren hatte aber aufgehört, freilich nur, um einem fortgesetzten Hissen wie aus einer Dämpfpfeife Platz zu machen. Jeden Augenblick erwartete ich, daß mir ein Blutgefäß im Gehirn springen und ich tot hinfallen würde. Endlich! In meiner Angst mußte ich die Axt mit fast übermenschlicher Gewalt gehandhabt haben. Der feste Stiel aus Hickoryholz war zersplittert, aber auch die Tür hatte sich von der obersten Angel gelöst. Ich stemmte mich mit mei-
ner Schulter dagegen, und es gelang mir, sie ganz loszubrechen. Draußen stand auch wirklich irgendein großes Etwas, mit dem die Tür verrammelt gewesen war und über das mich die Wucht meines Stoßes mit der Tür zugleich hinwegfallen ließ. Das Etwas bestand aus mehreren Stükken, die John eins nach dem andern herbeigeschleppt haben mußte und die fast bis zur halben Höhe der Tür reichten. Es schienen eine schwere Kiste und ein paar Rollen Stahltrossen zu sein. Ich nahm mir aber keine Zeit, genau nachzusehen, denn es war schon fast ein Zustand halber Bewußtlosigkeit, in dem ich das Ventil öffnete, um mehr Luft in meinen Anzug zu lassen, und die Bleigewichte abwarf. Sofort schwebte ich empor. Für einen Augenblick war ich mir dessen noch klar. Dann . Ja, was dann eigentlich geschehen war, davon weiß ich nichts. Das nächste, was mir wieder zum Bewußtsein kam, war, daß ich auf dem Deck des Schleppers lag. Meinen Gummianzug hatte man mir abgezogen, und einer der Mannschaft wischte mir Blut aus dem Gesicht. ,Noch mal mit 'nem blauen Auge davongekommen, Bob, nicht?' sagte er, als er bemerkte, daß ich die Augen geöffnet hatte. Dann sah ich auch John auf einer aufgerollten Trosse sitzen, sein Gesicht in den Händen und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er schaute auf, als der Mann zu mir sprach, und unsere Augen trafen sich. Einen Augenblick nur, dann versteckte er sein Gesicht wieder in den Händen. Der eine Augenblick hatte aber gereicht, seinen Schreck, seine Furcht und auch etwas wie Freude oder Genugtuung in seinem Gesicht zu bemerken. Damals verstand ich das nicht; es kam mir wenigstens nicht in den Sinn, daß er sich erleichtert
fühlen konnte, weil er sah, daß ihm seine Tat nicht gelungen war. Well, Sir, um die Sache kurz zu machen: Wir kehrten noch an demselben Tag nach dem Hafen zurück, denn ich weigerte mich entschieden, noch einmal hinunterzugehen. Und zwar nicht nur für diesen Tag, sondern überhaupt. Ich war fertig mit der Taucherei. Der Schreck hatte mir den Mut genommen. Ich wußte, ich würde mich nie wieder dazu bringen können, einen Taucheranzug anzulegen und komprimierte Luft zu atmen. Und John, wie ich später erfuhr, fühlte genauso. Ich erzählte der Besatzung von unserm Kampf mit dem Hai und dem Kraken. John hatte es ihnen auch schon erzählt und gemeint, das Ungetüm habe mich sicher getötet, da ich so lange nicht an die Oberfläche kam. Natürlich stattete ich auch meinen Report über das ab, was ich in der Kabine gesehen hatte; aber was John mir angetan hatte, das erwähnte ich nicht. Warum ich das nicht tat, kann ich nicht einmal sagen, denn ich wußte es selbst nicht genau. Es war nur so ein Gefühl, das mich davon abhielt, und vielleicht hatte der Blick etwas damit zu tun, den ich von ihm aufgefangen und der mir doch sagte - das heißt, auch das fühlte ich mehr, als daß ich es wußte -, daß er seine rasche Tat bereute und heillos froh war, daß ich noch lebte. Als wir in Townsend ankamen, verließen wir das Boot zusammen und gingen nebeneinander auf der Straße entlang, die von den Docks nach der kleinen Stadt führte. Hier redete mich John zum ersten Male an. ,Warum hast du dem Kapitän nicht die Wahrheit gesagt?' fragte er. ,Habe ich etwa gelogen?' fragte ich zurück.
,Nein, aber warum hast du ihm nicht gleich alles gesagt?' ,Das ist meine Sache', erwiderte ich kurz, und dann gingen wir wieder eine Weile nebeneinanderher, ohne zu sprechen. Als wir bei der Polizeiwache vorbeikamen, blieb John stehen. ,Was soll das?' fragte ich. ,Willst du denn nicht hineingehen und Anzeige machen?' fragte er, und er war ganz kleinlaut und zerknirscht. ,Anzeige machen?' fragte ich - oder schrie ich eigentlich, denn die dumme Frage hatte mich richtig aufgebracht. ,Denkst du vielleicht, ich möchte, daß die Leute mit den Fingern auf meine Frau zeigen und sagen sollen, ihr Mann, denn dafür halten sie dich doch wohl, sitzt im Gefängnis?' Ich wollte ihm nicht sagen, wissen Sie, daß ich fürchtete, wenn ich ihn aus dem Weg schaffte, könnte die Missis, die ein recht energisches Temperament besaß, wieder zu mir zurückkehren. Das war eine Möglichkeit, an die ich mit Schrecken dachte. ,Ja, zum Henker, Bob, wußtest du denn nicht .', brachte er ganz erstaunt heraus. ,Was sollte ich denn wissen, du infamer Schuft?' antwortete ich wütend. ,Daß du ein ganz gemeiner Kerl, ein ganz miserables Subjekt bist, das habe ich gewußt seit dem Tag, als du mit meiner Frau durchbranntest.' ,Mit deiner Frau? Bob, Gott segne dich, sie war ebensowenig deine Frau, wie sie die meinige war.' ,Was soll das heißen, du .!' ,Well, die Sache hatte einen kleinen Haken. Sie war kaum eine Woche bei mir, als ihr Mann aus dem Gefäng-
nis entlassen wurde und sie sich wiederholte. Und daß du es nur weißt, ich hatte sie dir nur fortgenommen, weil du sie so hundsgemein behandeltest und sie mir sagte, daß sie nicht länger mit einer solchen Bestie leben könne. Und wenn ich ein Mann wäre, sagte sie, dann würde ich ihr beistehen und sie beschützen, bis sie die Scheidung von dir durchgesetzt hätte. Siehst du? So war die Sache.' Ich sah allerdings. Und wenn ich Ihnen sage, daß ich in dem Augenblick nicht wußte, ob ich auf den Füßen oder auf dem Kopfstand, so ist das noch milde ausgedrückt. Zur gleichen Zeit fühlte ich mich wie von einer Last befreit, daß ich auf der Stelle John alles vergab, was er mir angetan hatte. Natürlich sagte ich ihm das nicht gleich. Das tut man doch nicht. Außerdem erschien mir die Nachricht fast zu gut, um sie gleich zu glauben. Aber sie stimmte. ,Und du hast diesen Schwindel wirklich geglaubt?' fragte ich ihn. ,Dazu gehört auch schon ein solcher Dummkopf, wie du bist.' ,Warum sollte ich nicht?' fragte er und zuckte die Schultern, als ob er noch im Recht wäre. ,Denkst du denn, ich hätte sie dir fortgenommen, wenn es nicht deswegen gewesen wäre? Natürlich, als dann ihr Mann kam .' ,Aber warum wolltest du mich denn dann ermorden? Denn anders kann man's doch nicht nennen, John?' ,Well, Bob', sagte er zerknirscht. ,Hattest du nicht gedroht, mich umzubringen, wenn du nur die Gelegenheit dazu bekämst? Meinst du vielleicht, so etwas spricht sich nicht herum? Da kennst du die Leute schlecht. Man hat mir alles wiedererzählt, was du gesagt hast. Nun, dort unten hattest du die Gelegenheit. Ich will mich nicht reinwaschen, aber mein Gott, Bob, es galt: ich oder du!' ,Du verdammter Duckmäuser', schrie ich empört.
,Glaubtest du wirklich, ich würde dich umbringen?' ,Ich weiß nicht, Bob', sagte er. ,Siehst du, ich hätte es auch nie geglaubt, daß ich so etwas tun würde, aber man kann nie wissen, was ein Freund dem andern antun wird, sobald eine Frau dazwischenkommt.'"