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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Gert Schönau Am Telefon der Chef
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Gert Schönau Am Telefon der Chef
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1971 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/1/71 • ES 8 C Lektorin: Marianne Kaufhold Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Ebook by *MM*
Kriminalroman
Erste Nachkriegsjahre in Berlin. Harte Arbeit für alle bei oftmals knurrendem Magen. Wenige und doch viel zu viele verdienen ihr Geld leichter – sie schieben. Die Polizei kann nicht alle kleinen Schieber fassen, die großen aber muß sie stellen. Kommissar Krüger und seine Männer sollen einen raffiniert arbeitenden Rauschgiftring ausheben. Sie ermitteln Anlaufstellen und Verteiler. Die Bande steht und fällt jedoch mit dem Mann, der die Fäden zieht. Ihm gilt es auf die Spur zu kommen, er muß überführt werden. Die Frage ist: Hinter welcher Maske verbirgt sich der Chef?
Gert Schönau Am Telefon der Chef
Verlag das Neue Berlin
Märkte und Geschäfte
In der Brunnenstraße herrschte wieder einmal Hochbetrieb, denn es war Dienstag, und da hielt der Markt auf dem Grundstück 141 seine Pforten geöffnet. Um die Verkäufer mit Bauchläden und an den wenigen Ständen drängte man sich. Es gab bedeutend mehr Kauflustige als Verkaufswillige in dieser Zeit, da der Frieden so jung war, daß sich die Menschen noch nicht richtig an ihn gewöhnt hatten. Der Handel mit den besonders begehrten Nahrungs- und Genußmitteln, mit Gold und Edelmetallen war auf dem ersten offiziellen Nachkriegsmarkt untersagt. Doch das hielt die Berliner nicht davon ab, ihn zu besuchen. Sie strömten aus allen Stadtteilen herbei, und viele von ihnen kamen des Fluidums wegen, das sie so lange hatten entbehren müssen. Die Polizeistreife, die ständig über den Markt patrouillierte und illegale Geschäfte unterbinden sollte, war nicht zu beneiden. „Es ist aussichtslos, Arno“, schnaufte ein grauhaariger Hauptwachtmeister und sah seinen jüngeren Kollegen mißmutig an, „hier mußt du froh sein, wenn du nach dem Rundgang noch alles in den Taschen hast. Neulich schaffte es so ein Ganove, einem Kollegen glatt den Knüppel abzuhängen, ohne daß der es gemerkt hat. Ist auch kein Wunder bei dem Gedränge.“ Seine auf den Rücken gelegten Hände umkrampften den Schlagstock aus Holz, der zur Polizeiausrüstung gehörte, seine Unterarme waren fest auf die Taschen des grünen Uniformrockes gepreßt. 8
Wachtmeister Arno Winkler schien die Befürchtungen seines Kollegen nicht zu teilen. Zwar hielt auch er die Hände auf dem Rücken, schon aus Gewohnheit, aber sein Blick wanderte sorglos umher. Er versah gern diesen Dienst auf dem Markt, denn hier glaubte er jedesmal etwas von dem Berlin zu spüren, das es bisher mehr aus den Erzählungen der Älteren, als aus eigenem Erleben kannte. So blieb er lächelnd bei Schimmler, dem ‚billigen Jakob‘, stehen und lauschte dessen zungenfertiger Anpreisung von Patentsockenhaltern. Plötzlich stieß ihm jemand unsanft in den Rücken, und eine höhnische Stimme sagte zu dem Verkäufer: „Die Bullen brauchste nicht agitieren, Jakob, die haben ja prima Stiefel, da isses nich schlimm, wenn die Socken rutschen!“ Winkler drehte sich um und sah direkt in das Gesicht eines feisten Mannes, der einen speckigen grauen Homburg trug. „Stimmt doch, Wachtmeesta, wie?“ erkundigte sich der Dicke scheinheilig. „Ick hab’ jehört, Sie kriegen neue Uniformen?“ „So?“ erwiderte Winkler, den Spötter scharf fixierend. „Dann wissen Sie mehr als wir!“ „Det kan sin“, bekräftigte der Dicke, während er sich nach hinten davonschob. „Mausegräulich mit Rucksack!“ rief er noch, ehe er in der Menschenmenge untertauchte. Die meisten Umstehenden feixten und weideten sich an der ohnmächtigen Wut, die dem jungen Polizisten im Gesicht geschrieben stand. Winkler holte tief Luft, und hätte sein Begleiter ihn nicht gestoppt, wäre er dem Dicken hinterhergelaufen. „Laß ihn doch, Arno! Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen“, sagte der Hauptwachtmeister und zog ihn weiter. Etwas abseits, mit dem Rücken lässig gegen die 9
Längsstrebe eines anderen Verkaufsstandes gelehnt, stand ein nobel gekleideter Herr und beobachtete die Szene. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, und erst als die beiden Polizisten weitergingen, huschte ein schadenfrohes Lächeln um seine Lippen. Dann wandte er sich dem Manne hinter dem Verkaufsstand zu. Dort waren Feuerzeuge, Tabaksbeutel und Holzpfeifen ausgelegt. Der Noble griff nach einer Pfeife und betrachtete sie von allen Seiten. Für einen Außenstehenden mußte es so aussehen, als wollte er sie kaufen. In Wirklichkeit aber dachte er gar nicht daran. Er rauchte nämlich nur süßduftende amerikanische und englische Zigaretten, und nach der Pfeife hatte er eben so in Gedanken gegriffen. „Du gehst überhaupt kein Risiko ein, wenn du genau das tust, was ich dir sage“, raunte der Noble. „Du hast doch eine ordentliche Gewerbeerlaubnis und kannst das Zeug zwischen deinem Kram verstecken. Kein Mensch wird auf den Gedanken kommen, daß du heiße Ware führst.“ Der andere zog eine skeptische Miene. „Kann sein, daß es eine Weile gut geht. Aber eines Tages schnappen sie mich doch, und dann ist alles aus. Nee, Pinkel, dafür bin ich zu alt.“ „Mensch, Hotta, denk doch an die Piepen, die du dabei verdienst. Dafür lohnt sich das bißchen Risiko schon.“ Hotta schüttelte energisch den Kopf. „Nichts zu machen. Die Sache ist mir zu heiß!“ Pinkel legte die Pfeife zurück und zuckte gleichmütig die Schultern. „Wie du willst. Kannst es dir ja noch mal überlegen.“ Er sah Hotta abschätzend an und fügte dann mit drohendem Unterton hinzu: „Daß du das Maul zu halten hast, brauche ich ja nicht extra zu betonen, oder?“ „Keine Sorge, ich halte dicht!“ beeilte sich Hotta zu versichern. 10
Pinkel grinste. „Sorgen mache ich mir höchstens um deine Gesundheit, falls es dir doch einfallen sollte zu quatschen. Tschüs, mein Lieber!“ Pinkel tippte an seinen Hut und schlenderte davon. Kaum aus Hottas Gesichtskreis entschwunden, beschleunigte er seine Schritte und strebte dem Ausgang zu. Zwei bis drei Meter hinter ihm bahnte sich ein kleiner, häßlicher Kerl den Weg durch das Gewühl. Am Eingang holte er Pinkel ein. „Na, is wohl nischt?“ fragte er, neben ihn tretend. „Schiß!“ erwiderte Pinkel lakonisch und winkte ab. „Es wird auch ohne ihn gehen. Gibt genug andere, die das Geschäft machen wollen.“ Der Kleine nickte. „Sicher, aber schade ist es doch.“ Er sah Pinkel lauernd an. „Und wenn er quatscht?“ „Der quatscht nicht!“ Sie gingen schweigend die Brunnenstraße hinab, auf den Rosenthaler Platz zu. Plötzlich blieb Pinkel stehen, packte den Kleinen am Arm und deutete mit dem Kopf die Straße entlang. „Da braut sich etwas zusammen, Affe, siehst du?“ Der Kleine sah in die angegebene Richtung. Jetzt merkte auch er: Es lag eine seltsame Unruhe über der Gegend. Vor dem 14. Polizeirevier standen zwei leere Mannschaftswagen, und in den Straßen um den Rosenthaler Platz sah man in Tornischen und an Straßenecken Männer, meist zu zweit, herumstehen. Sie lasen Zeitung oder musterten gelangweilt die Passanten. „Mensch, das riecht nach Razzia“, murmelte er. Pinkel nickte. „Verdammter Mist. Um zwei will ich mich mit Birne in der Lothringer Straße treffen.“ Er sah mit gerunzelten Augenbrauen auf seine Armbanduhr. „Noch eine halbe Stunde Zeit bis dahin. Wenn ich wüßte, 11
ob Birne direkt von Ede kommt … Ich könnte versuchen, ihn unterwegs abzufangen.“ Affe schnitt eine Grimasse und fragte vorwurfsvoll: „Welcher Idiot hat den Treff ausgerechnet in die Lothringer gelegt? Ist doch ganz klar, daß die Bullen den Schiebern dauernd in die Suppe spucken. Der Chef muß eine Meise haben.“ Pinkel zwinkerte ihm schlau zu. „Der Chef hat keine Ahnung davon. Den Treff habe ich arrangiert.“ „Kapier’ ich nicht!“ „Denk mal nach! Birne bringt den Posten von dem Ami aus Zehlendorf. Das muß mindestens ein Pfund sein. Ganz schönes Betriebskapital, was?“ „Ach so!“ Affe pfiff durch die Zähne. „Birne gibt dir den Kram, und du verlierst ihn im Gedränge des schwarzen Marktes, wie?“ Er meckerte zu seinen eigenen Worten wie ein heiserer Ziegenbock. Pinkel verzog unwillig das Gesicht. „Und du glaubst, der Chef würde mir das abnehmen? Nee, Affe, du kennst ihn nicht. Das muß anders befingert werden. Wir müssen die Sache auf Birne abwälzen.“ „Wie willste denn das drehen?“ Pinkel zuckte die Achseln. „Mir wird schon was einfallen, aber das laß mal meine Sorge sein. Vielleicht ist das gar nicht einmal so schlecht mit der Razzia. Hoffentlich läßt sich Birne nicht schon vorher schnappen.“ „Schön, mach, was du willst. Aber was ist mit mir?“ „Paß auf, Affe. Willi hat die Sendung aus Tegel, die ich neulich abgezweigt habe. Natürlich weiß er nichts davon. Das Zeug steckt in meiner Aktentasche. Ich habe ihm gesagt, daß es sich um ein kleines Privatgeschäft handelt und er mir die Schose aufheben soll.“ „Bist du verrückt?“ Affe tippte sich erregt gegen die 12
Stirn. „Wenn Willi nachsieht, merkt er doch sofort, wie der Hase läuft, und rennt zum Chef, dann sind wir geplatzt!“ Pinkel schüttelte den Kopf. „Bloß keine Panik, Kleiner. Wenn Willi nachguckt, findet er nur drei Pakete mit Waschpulver, klar? Ich bin doch nicht von gestern. Er wird keinen Verdacht schöpfen, höchstens einen Zehner abhaben wollen. Und der Chef? Der ist sowieso schon mißtrauisch. Seitdem die Sendung aus Tegel ‚abhanden‘ gekommen ist, hat er ein Auge auf mich.“ „Mensch, Pinkel, sei bloß vorsichtig. Wenn der Chef merkt, daß wir unsere eigene Tour reiten, sind wir erledigt.“ Pinkel sah ihn abschätzend an. „Angst?“ fragte er, sprach jedoch, noch ehe sein Kumpan antworten konnte, selbst weiter: „Stimmt schon, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Er holte tief Luft und blinzelte Affe spitzbübisch zu. „Wenn wir erst unseren eigenen Laden haben und nicht mehr die Kastanien für andere aus dem Feuer holen, Mensch, das wird ein Leben!“ „Na, da wird der Chef aber sauer sein.“ „Genau! Bis jetzt hat er zum Glück keine Ahnung. Er weiß nicht mal, wie wir beide zueinander stehen, und das ist gut so. Trotzdem muß ich mich fürs erste zurückhalten. Das Ding mit Birne heute ist das letzte, was ich riskieren kann. Den Rest mußt du besorgen.“ Affe war sofort bereit dazu. „Sag mir, was ich machen soll.“ „Du fährst umgehend nach Dessau. Deine Fleppen sind doch in Ordnung?“ „Ja. Und was weiter?“ „Am Markt ist eine kleine Kneipe, dort fragst du nach Fritz Patzelt. Dem sagst du: Onkel Heinz läßt grüßen. 13
Darauf wird er antworten: Schön und grün, welcher Onkel Heinz, ich habe zwei. Dann sagst du: der aus Beelitz. Damit ist dann die Sache klar. Du erzählst ihm, daß ich nicht selbst kommen kann, weil etwas schiefgegangen ist, läßt dir den Kram geben und dampfst schnellstens ab. Klar?“ Affe wiederholte halblaut die Erkennungsformel und nickte. „Klar!“ „Wenn du zurück bist, frag bei Tante Anna nach mir; aber laß dich möglichst von den anderen nicht sehen. Ich mach’ inzwischen auch Schluß.“ Der Kleine nickte nochmals und verabschiedete sich dann eilig. Pinkel sah ihm nach, bis er in die Invalidenstraße eingebogen war, und ging dann langsam weiter.
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520 Gramm Koks
„Das ist ’n Ding! Junge, ist das ’n Ding! Ich sage dir, der Alte kriegt Stielaugen, wenn er das liest.“ Kriminalassistent Markwart geriet reinweg aus dem Häuschen. Sein Kollege, Oberassistent Ehrlich, der gerade damit beschäftigt war, aus einer Büroklammer einen Pfeifenreiniger zurechtzubiegen, blieb gelassen. Ehrlichs Stummelpfeife, ein Ungetüm aus billigem Kirschholz, litt an Verstopfung. Das störte ihn, und er mußte das Übel beseitigen, wenn er sein seelisches Gleichgewicht behalten wollte. Kein Wunder also, daß er der Aufregung des Assistenten vorerst nur mäßiges Interesse entgegenbrachte; gerade genug noch, um zu sagen: „Bleib auf dem Teppich, mein Freund, und lies vor. Siehst doch, daß ich zu tun habe.“ Kriminaloberassistent Ehrlich liebte es, hin und wieder auf diese Weise den Dienstgradhöheren hervorzukehren. Freilich, der Unterschied zwischen einem Assistenten und einem Oberassistenten bei der Kriminalpolizei war nicht viel größer als der zwischen einer Nähnadel und einer Stopfnadel, aber das störte ihn nicht, und Markwart gab ohnehin nichts darauf. Auch jetzt nicht. Er grinste Ehrlich an, hob ein Blatt Papier hoch und erwiderte: „Also gut, hör zu! Das ist hier eine Bescheinigung, die einem Schwarzhändler abgenommen wurde. Du weißt schon, gestern bei der Razzia in der Lothringer Straße, wo die vierhundertzwanzig Schieber gekascht wurden.“ „Ja, ja, ich weiß. Mach’s nicht so spannend“, brummte Ehrlich. 15
„Diese Bescheinigung berechtigt einen gewissen Emil Lipke, Arzneistoffe zu transportieren.“ Markwart machte eine Pause und sah zu Ehrlich hin, der jedoch nur die Schultern hob. Den Assistenten ärgerte diese Gleichgültigkeit, und er sprach deshalb ein wenig lauter und eindringlicher: „Dieser Lipke wurde gestern in der Lothringer Straße festgenommen, weil er einen Beutel mit fünfhundertzwanzig Gramm Kokain mitführte. Bei der Überprüfung seiner Person wollte er das Zeug wegwerfen. Als das nicht klappte, wies er diese Bescheinigung hier vor und wurde frech.“ „Donnerwetter, mehr als ein halbes Kilo. Wenn er das Zeug losgeworden wäre, hätte er mindestens fünfzigtausend gemacht!“ Jetzt war auch Ehrlich bei der Sache. „Du hast recht: Das ist wirklich ein Korken!“ „Das Beste kommt ja noch!“ In Markwarts sommersprossigem Gesicht spiegelten sich Genugtuung und Entdeckerfreude. „Die Bescheinigung ist vor vierzehn Tagen ausgestellt worden und trägt das Dienstsiegel vom Polizeirevier hundertzehn in Mitte.“ „Willst du damit etwa sagen, daß unsere Kollegen …“ „Mensch, für einen Kriminaloberassistenten bist du reichlich begriffsstutzig“, unterbrach ihn Markwart grinsend. „Hör gut zu, teuerster Kollege, was ich dir jetzt vorlese: Bei dem Polizeirevier hundertzehn ist ein Dienstsiegel mit der Umschrift ‚Polizeipräsident in Berlin, hundertzehntes Polizeirevier‘ und der Kennziffer eins in Verlust geraten. Zur Verhütung von Mißbrauch werden alle mit diesem Siegel seit dem fünfundzwanzigsten November neunzehnhundertfünfundvierzig gefertigten Siegelabdrücke hiermit für ungültig erklärt. Der Polizeipräsident. – Lipkes Bescheinigung ist am fünfzehnten Mai neunzehnhundertsechsundvierzig ausgestellt. Begreifst du jetzt?“ 16
Oberassistent Ehrlich überhörte den schulmeisternden Ton. Ein Blick zu Markwart sagte ihm, daß dieser soeben aus dem Verordnungsblatt der Stadt Berlin zitiert hatte. Er vergaß seinen Pfeifenreiniger samt Pfeife und überlegte. Wenn Ehrlich etwas tat, dann tat er es gründlich, und wenn er nachdachte, dann sah man das zuerst an seinen Händen, mit denen er an seinen Ohrläppchen herumzerrte oder seine Kopfhaut bearbeitete. Dabei war Ehrlich keineswegs ein Formalist, der sich nur mit der linken Hand am linken Ohrläppchen gezupft hätte. Er war durch und durch anpassungsfähiger Praktiker und nahm stets die Hand, die er gerade frei hatte; auch wenn er dann, wie beispielsweise jetzt, an seiner imposanten Nase vorbei mit der rechten Hand an das linke Ohrläppchen fassen mußte. Manchmal dauerten Ehrlichs Überlegungen länger, dann hatte er jedesmal Ohren wie ein Gymnasiast, der durchs Schlüsselloch schaut. Seine Überlegungen hatten aber, das muß zu seinem Lob gesagt werden, immer Hand und Fuß. Ehrlich war schon fast zu einem Entschluß gekommen, als die Tür aufflog und Kommissar Krüger ins Zimmer stürmte. Die Dielen ächzten unter seinem Gewicht. Sein verwaschener Hut ließ rundherum traurig die Krempe hängen, und traurig hingen auch die Enden seines Schnurrbartes herab. Bei jedem Wort, das der hünenhafte Mann sprach, zitterten sie und sträubten sich. „Wo ist der Wisch?“ fragte der Kommissar schon von der Tür her. „Hier, Boß!“ antwortete Markwart, der sofort begriff, was Krüger meinte, und ein wenig enttäuscht war, weil er ihn nun nicht mehr damit überraschen konnte. „Wir diskutieren gerade darüber. Das heißt, ich diskutiere und Ehrlich kombiniert.“ 17
„Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß Sie deutsch reden sollen, Markwart! Los, flitzen Sie, holen Sie den Kerl.“ „Welchen, den Lipke?“ „Wen denn sonst?“ sagte Ehrlich würdevoll. Er fühlte sich stets verpflichtet, den Kommissar zu unterstützen. Der ließ ihn aber abblitzen. „Haben Sie schon mit dem hundertzehnten Revier gesprochen, Ehrlich? Noch nicht? Hätte ich mir denken können. Holen Sie das gleich nach. Stellen Sie fest, ob dieser Emil Lipke dort bekannt ist. Und danach: ab mit dem Schrieb zum Erkennungsdienst.“ Als der Kommissar sich umdrehte, stand Markwart immer noch im Zimmer. Wenn Krüger polterte, dann war das halb so schlimm, das wußten seine Mitarbeiter. Das Poltern gehörte zu ihm wie der Schnurrbart; es war gewissermaßen der akustische Ausdruck seiner Existenz. Wenn er aber, wie jetzt beim Anblick Markwarts, honigsüß wurde, dann drohte Gefahr, und es war nicht ratsam, ihn zu reizen. „Sehr geehrter Herr Kriminalassistent, wenn ich mich nicht irre, ersuchte ich Sie schon vor einer Viertelstunde, den Lipke vorzuführen.“ „Sofort, Herr Kommissar. Nur vergaßen Sie mir zu sagen, woher.“ „Aus dem Haftkeller natürlich. Der Bursche sitzt doch noch hier. Vorher holen Sie aber aus der Asservatenstelle den Beutel, und Lipkes Effekten lassen Sie sich auch geben. Verstanden?“ „Verstanden, Herr Kommissar!“ Markwart verschwand eilig. Der Oberassistent telefonierte inzwischen mit dem Diensthabenden des hundertzehnten Reviers. Kommissar Krüger hatte seinen Hut auf dem Aktenschrank deponiert und es sich in seinem Schreibtischsessel bequem 18
gemacht. Seine Finger spielten mit einem angerosteten Dolch, der auf dem altehrwürdigen, klobigen Schreibtisch lag und je nach Bedarf als Brieföffner, Schraubenzieher oder Bleistiftanspitzer diente. Als Ehrlich den Hörer auflegte, sah der Kommissar seinen Oberassistenten fragend an. „Der Mann ist dort unbekannt. In der Meldekartei steht er auch nicht, jedenfalls nicht unter der angegebenen Adresse. Wer weiß, ob er überhaupt Lipke heißt.“ Kommissar Krüger sah träumerisch aus dem Fenster, hinter dem warm die Sonne lachte. „Jeder Halunke macht Fehler. Auch der hier, dieser Lipke, der uns offenbar für blöd hält.“ Er dachte gar nicht daran, seine Ansicht näher zu begründen, und ließ Ehrlich noch nicht einmal Zeit, danach zu fragen. „Bringen Sie das Ding jetzt weg, und sagen Sie den Kollegen, daß sie sich ein bißchen beeilen sollen. Danach überprüfen Sie die Karteien und kommen möglichst schnell zurück.“ Ehrlich stemmte sich von seinem Platz hoch und wollte gehen. Der Kommissar hielt ihn auf. „Eh’ ich das vergesse, Ehrlich, rauchen Sie nachher bloß nicht wieder Ihren Knaster, sonst stirbt uns der Mann noch.“ Der Oberassistent entrüstete sich. Bloß weil der Kommissar selbst nicht rauchte, sollte auch er darauf verzichten? Das kam überhaupt nicht in Frage, und überhaupt … „Von wegen Knaster“, sagte er, „das ist Feinschnitt von der letzten Zuteilung.“ Krüger sah ihn von unten herauf an und feixte. „Trotzdem, hier werden keine Gefangenen mißhandelt!“ In der Tür stieß Ehrlich mit Markwart zusammen, der einen untersetzten, stämmigen Mann mittleren Alters in 19
hellgrauem Lumberjack am Arm führte. Für das breitflächige Gesicht des Mannes waren die Augen viel zu klein. Der gewaltige Schädel saß unmittelbar auf dem Hemdkragen. Schwerfällig trat der Vorgeführte in die Mitte des Zimmers, von Markwart zu einem Stuhl dirigiert, der etwa zwei Meter vor Krügers Schreibtisch stand; weitab genüg, daß der Kommissar bequem die Füße des Mannes sehen konnte. Dieser Stuhl, der sich wie eine Insel in dem großen quadratischen und nur dürftig möblierten Raum ausnahm, war Krügers persönliche Erfindung. Wer dort saß, mitten im Zimmer, auf dem Präsentierteller, ganz und gar den Blicken des Kommissars und seiner Mitarbeiter ausgesetzt, kam sich schon bald klein und unbedeutend vor. Dem verging die Lust, den großen, starken Mann zu spielen, und eben das war es, was der Kommissar, der seine Kunden nur allzugut kannte, damit erreichen wollte. Selbst die hartgesottenen Burschen, mit denen er es gemeinhin zu tun hatte, brauchten ein bißchen Kontakt, wollten die Nähe eines anderen Menschen spüren, wenn es auch die eines Kriminalkommissars war. Mit diesem Stuhl konnte Krüger den Kontakt dosieren. „Das ist Emil Lipke, Herr Kommissar“, sagte Markwart überflüssigerweise, ehe er sich auf seinen Stuhl an der Peripherie des Zimmers zurückzog. „Soso, Herr Lipke“, sagte der Kommissar, den Namen eigenartig betonend. Lipke fühlte sich unbehaglich, aber er schwieg. Krüger und Markwart schwiegen auch. Der Assistent betrachtete gelangweilt die Wasserflecken an der Zimmerdecke, und Krüger musterte Lipke ungeniert vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Seinen rauchgrauen Augen war nicht anzusehen, was er dachte. 20
Lipke wurde es immer unbehaglicher. Er spürte, wie sich seine Rückenhaut kräuselte, und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Mit Polizisten hatte er seine eigenen Erfahrungen. Mit dem da, der vor ihm saß, das spürte er sofort, war nicht zu spaßen. Dieser Sorte Polizisten ging er am allerliebsten aus dem Wege. Schließlich ertrug er das Schweigen nicht länger und fragte: „Was wird mir eigentlich vorgeworfen, Herr Kriminalrat?“ „Kommissar“, berichtigte Krüger trocken. „Darf ich trotzdem fragen?“ Lipke bemühte sich, seiner Stimme einen festen, überlegenen Ton zu geben, aber er wirkte wie eine Maus, die der Katze Bedingungen stellen will. Lipke fühlte es selbst und verstummte. Irgendwo draußen auf dem Flur wurde etwas gerufen. Lipke lauschte, ob dort nicht vielleicht sein Name fiel. Dann schlug das Telefon an. Krüger nahm den Hörer ab. „Was gibt’s?“ fragte er kurz angebunden. Ehrlich war am Apparat und legte gleich los: „Herr Kommissar, ich glaube, wir haben ihn. Soll ich berichten?“ „Ja.“ Lipke strengte sich umsonst an. Krüger preßte den Hörer so fest ans Ohr, daß kein Laut von Ehrlichs Stimme ins Zimmer drang. „In der Täterkartei liegt nur ein Fritz Lipke ein. Der kann aber mit unserem Lipke nicht identisch sein, weil der Altersunterschied zu groß ist. Ein Wachtmeister von der Hauswache hat zufällig gehört, wie Lipke von einem anderen Festgenommenen ‚Birne‘ genannt wurde. In der Spitznamenkartei haben wir einen Birne. Könnte Markwart nicht schnell mal die Daumenabdrücke von Lipke hochbringen? Damit wir sichergehen.“ „Wird gemacht. Sagen Sie noch mal den Namen durch. Alles andere dann später“, erwiderte der Kommissar. 21
„Birne heißt mit Klarnamen Emil Littke. Fällt Ihnen etwas auf, Herr Kommissar?“ „Hm. Bringen Sie nachher alle Unterlagen, die Sie erwischen können, mit. Ende.“ Kommissar Krüger hängte ein und lehnte sich zurück. Dann wies er mit dem Daumen auf Lipke und sagte zu Markwart: „Klavier spielen. Die Daumen genügen!“ Der Assistent verstand und grinste. Littke alias Lipke verstand auch, aber er grinste nicht. Widerwillig ließ er sich von dem Assistenten beide Daumen auf das schwarze Stempelkissen und dann auf ein Blatt Papier drücken. Er ahnte, was sich da über seinem Kopf zusammenzog, und strapazierte sein Gehirn nach einem Ausweg. Der Kommissar hatte ihn hinter halbgeschlossenen Lidern scharf beobachtet. Als Littke sich räusperte und zum Sprechen ansetzte, kam er ihm zuvor. „Was gibt es, Birne? Gefällt Ihnen etwas nicht?“ Das saß! Birne zuckte wie unter einem Faustschlag zusammen. Sekundenlang starrte er Krüger an, dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. Er sprang ungestüm auf, aber Markwart, der noch hinter ihm stand, drückte ihn sofort auf den Stuhl zurück. „Langsam, Freundchen, die Freistunde ist noch nicht dran“, sagte er gemütlich. „Herr Kommissar, Herr Kommissar!“ Die Zunge lief Littke davon. „Herr Kommissar, lassen Sie mich laufen, und ich packe aus.“ Die Idee der Kronzeugenrolle war ihm plötzlich in den Sinn gekommen, und er sprach sie aus, noch ehe er sie zu Ende gedacht hatte. Er merkte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn Krügers Antwort zerfetzte sein letztes bißchen Hoffnung. 22
„Verrückt geworden, wie?“ erwiderte der Kommissar barsch. „In fünf Minuten haben wir Ihr ganzes Register hier, und dann ist der Bart sowieso ab.“ Draußen war es warm; wo die Sonne hinschien, sogar sehr warm. Ins Zimmer schien die Sonne nicht. Hier war noch etwas von der ungemütlichen Kälte, die der Winter in den Mauern zurückgelassen hatte. Doch Littke merkte davon nichts. Er schwitzte. Wenn der Kommissar gemein war, konnte er ihn jetzt gehörig ’reinlegen. Dann kam sein Geständnis zu spät, und die Aussicht auf mildernde Umstände war futsch. Littke kannte sich gut aus in diesen Dingen. „Herr Kommissar, ich will ein Geständnis ablegen. Freiwillig, verstehen Sie? Sie müssen mich anhören!“ „Gewiß, Herr Littke.“ Birne rutschte noch mehr in sich zusammen. Er fühlte sich wie ein beim Schwindeln ertappter Volksschüler und legte instinktiv die Hände auf den Rücken. In der ersten Klasse, als er noch ein Musterschüler war, hatte er so dagesessen und seinem Lehrer Freude gemacht. Jetzt wäre er gern wieder ein Musterschüler gewesen. „Geben Sie mir doch eine Chance, Herr Kommissar“, bettelte er. „Wer ist der zweite Mann?“ „Pinkel wird er gerufen. Wie er richtig heißt, weiß ich nicht. Der läuft immer bloß in Schale herum und tut vornehm.“ Der Kommissar kritzelte etwas auf einen Zettel und winkte dem Assistenten zu. Der nahm das Papier, ging zum Fenster und las: 1. Feststellen, ob Pinkel noch im Hause; wenn ja, dabehalten. 2. Unterlagen besorgen. – Markwart nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und verließ lautlos das Zimmer. Littke brütete dumpf vor sich hin. 23
„Wer gehört noch zur Bande?“ fragte Krüger. „So genau weiß ich das auch nicht. Wirklich, Herr Kommissar. Sie müssen mir glauben. Mit mir hat doch keiner darüber gesprochen. Ich bin nur ein kleines Licht.“ „Und der Beutel?“ konterte der Kommissar. Littke preßte die Lippen zusammen und schluckte. Seine Wangen schoben sich nach oben, wurden kugelig, und es war nun nicht mehr zu übersehen, warum er ausgerechnet Birne gerufen wurde. „Den Beutel habe ich auftragsgemäß von Ede geholt. Ich sollte ihn in der Lothringer Straße an Pinkel weitergeben. Aber ich hab’ ihn verpaßt; und dann wurden wir ja geschnappt. Pinkel habe ich erst später auf dem Flitzer gesehen.“ „Wer ist Ede?“ „Der Macker von der schönen Rita, die die Kneipe in der Badstraße hat. Ehestandsschoppen. Vielleicht kennen Sie sie.“ Littke sah Krüger ängstlich an. „Na los, weiter. Wie ging die Übergabe vor sich?“ „Meine Anweisungen bekam ich immer am Alex, am S-Bahn-Eingang.“ Littke strich sich über die Stirn und berichtete stockend. Das System, das die Verbrecher benutzten, war abenteuerlich und theatralisch, aber wohldurchdacht. Birne mußte jeden Montagabend pünktlich um sechs Uhr am SBahn-Eingang stehen und eine schwarz und weiß karierte Sportmütze, die er eigens für diesen Zweck bekommen hatte, zusammengeknautscht in der linken Hand halten, und zwar so, daß der Mützenschirm nach vorn zeigte. Nach einiger Zeit kam dann ein Mann auf ihn zu, der genauso eine Mütze in gleicher Weise in der rechten Hand trug. Vor Littke blieb er stehen, holte eine Tabakspfeife aus der Tasche, steckte sie mit der Öffnung nach 24
unten in den Mund und wartete, bis Littke sagte: „In Ordnung, ich bin’s.“ Dann übergab er ihm einen Briefumschlag und verschwand. Nach frühestens fünf Minuten durfte auch Littke gehen. Es kam fast jedesmal ein anderer Kurier, Männer oder Burschen, die Littke noch nie gesehen hatte. Seine Aufträge bestanden meistens in Botengängen. Er holte zu genau festgelegten Zeiten irgendwo etwas ab und übergab es, ebenfalls zu einem genau angegebenen Termin, an anderer Stelle, oftmals eben an Pinkel. Mitunter bekam Birne auch keinen Auftrag; dann war er umsonst zum Alex gegangen. „Wie lange machen Sie das schon?“ fragte Krüger. „Seit Februar ungefähr.“ „Und wie war das mit dem Beutel?“ „Am Montag bekam ich den Auftrag, am nächsten Tag gegen eins zu Ede zu gehen und ein Päckchen abzuholen. Ich sollte es um zwei in der Lothringer, Ecke Gormannstraße an Pinkel übergeben.“ „Und woher hatten Sie die Bescheinigung und den falschen Ausweis?“ „Die lagen mit in dem Umschlag und mein Geld auch.“ „Wieviel?“ „Fuffzig Märker, wie immer.“ Ehrlichs Eintritt verschaffte Littke eine Atempause. Der Oberassistent trug ein dickes Bündel Akten unter dem Arm, das er vor Krüger auf den Schreibtisch legte. Der Kommissar schob es jedoch beiseite und bedeutete Ehrlich, hinter Littke Platz zu nehmen. „Wie oft haben Sie Rauschgift transportiert?“ fragte er plötzlich barsch. Littke sprang erschrocken auf. „Niemals, Herr Kommissar! Damit will ich nichts zu tun haben. Das ist mir zu heiß.“ 25
„Ach nee“, staunte Krüger, „und das Pfund Koks in dem Beutel, he? Halten Sie uns für dämlich, Mann?“ Littkes Augen wurden ganz groß und rund. Er atmete stoßweise und schnappte wie ein Karpfen nach Luft. „Sie wollen mich auf die Schippe nehmen. Das war kein Koks, das waren Medikamente! Das steht doch auch auf der Bescheinigung …“ „… die gefälscht ist!“ ergänzte Krüger trocken. „Genauso falsch wie ihr Inhalt.“ Littkes Gesicht verzerrte sich vor Wut und wurde weiß wie das verhängnisvolle Pulver, das man „Schnee“ nennt. „Diese Schweine, diese elenden Schweine“, keuchte er. Er klappte auf seinem Stuhl zusammen und jammerte: „Sie müssen mir glauben, Herr Kommissar, das habe ich nicht gewußt. Ich wußte überhaupt nicht, was in den Paketen war. Mir hat man gesagt, das ist Schieberware, Rohstoffe und solches Zeug. Wirklich! Mit Rauschgift hätte ich mich bestimmt nicht abgegeben.“ „Wie sah der Mann am Montag aus?“ unterbrach Krüger Littkes Lamento. „Das war so ein kleiner, mickriger Affe. Den hab’ ich schon mal vorher bei Rita gesehen.“ „Wo wohnen Sie jetzt?“ „Ich?“ Littke hob den Kopf. „Christburger Straße neunundzwanzig bei Rebbin.“ Der Kommissar sah Ehrlich fragend an. Der nickte. „Gut“, sagte Krüger, zum Oberassistenten gewandt, „Sie können ihn ’runterbringen. Machen Sie gleich die Formalitäten klar, er soll vorläufig hier im Hause bleiben, falls wir ihn noch brauchen.“ Littke schlich vor Ehrlich her. An der Tür blieb er stehen und fragte zaghaft: „Wieviel wird’s denn diesmal geben, Herr Kommissar?“ 26
Doch Krüger antwortete ihm nicht. Als die Tür hinter Ehrlich und Littke ins Schloß gefallen war, griff Krüger nach den Akten. Der Oberassistent hatte alles mitgebracht, was er über Littke auftreiben konnte. Das war nicht gerade wenig. Ein halbes Dutzend Blattsammlungen, zwei Karteikarten, Fotos, einige Berichte und das Fingerabdruckblatt. Der Kommissar zog die Blattsammlungen näher heran. Ehrlich hatte sie chronologisch sortiert, die jüngeren lagen oben, die ältesten unten. Ehrlich hielt auf Ordnung. Krüger begann unten. Er wollte sich Littkes Biographie systematisch vornehmen. Ein nettes Früchtchen war der schon als Kind gewesen, stellte er fest. Die erste Jugendstrafe mußte Birne als Dreizehnjähriger antreten. Raubüberfall. Er hatte auf offener Straße eine alte Frau niedergeschlagen und ihr die Handtasche weggenommen. Zwei Mark fünfzig betrug die Beute. Birne hatte sich Eis dafür gekauft. Der Jugendarrest hatte Littkes Charakter auch nicht veredelt. Schon wenige Tage nach seiner Entlassung mußte er wieder ’rein. Diesmal für länger. Er hatte ein Dienstmädchen vergewaltigt. Dann folgten zahlreiche Diebstähle und schließlich die Teilnahme an einem Einbruch. Birne und seine Kumpane hatten sich ausgerechnet die Villa eines Goldfasans ∗ im Grunewald ausgesucht und waren dabei erwischt worden. Die Strafe fiel hart aus. Selbst Littke, der nur Schmiere gestanden hatte, mußte für fünf Jahre ins Zuchthaus. Danach war er offenbar vorsichtiger geworden. Jedenfalls blieb seine Akte für drei Jahre sauber, aber dann mußte er wegen Zuhälterei wieder Quartier in jenem Staatsge∗
Funktionär der ehemaligen Nazipartei 27
bäude beziehen, in dem von den Wänden bis zur Kleidung der Bewohner alles grau ist. Ein vielseitiger Bursche dieser Littke, dachte der Kommissar. Plötzlich stutzte er, das Mädchen, das damals für Littke „tippelte“, hieß Edith Singer und wohnte in der Christburger Straße 29. Littke hatte Glück gehabt. Er sollte nach Strafverbüßung in Sicherheitsverwahrung kommen. Als es soweit war, gab es die jedoch nicht mehr. Markwart und Ehrlich kamen zusammen zurück. „Pinkel sollte gerade entlassen werden, Herr Kommissar“, sagte Markwart. „Es liegt nichts weiter gegen ihn vor. Zwei Schachteln Camel hatte er bei sich, sonst nichts. In seiner Wohnung wurde auch nichts Belastendes gefunden. Die Kollegen vom zuständigen Revier waren dort. Übrigens, der Kerl wohnt am Wedding, Müllerstraße einhundertfünfzehn, direkt neben der Polizeiinspektion drei.“ „Und wie heißt der Mann wirklich?“ „Georg Krüger, Herr Kommissar“, erwiderte Markwart todernst, „genau wie Sie.“ „Was?“ Der Kommissar war so verdattert, daß Markwart sich nicht mehr bremsen konnte und loswieherte. Selbst der ewig brummige Ehrlich grinste belustigt, und da mußte schließlich auch Krüger lachen. „Also dann bleiben wir doch lieber bei Pinkel“, sagte er schließlich. „Haben Sie mit dem Mann gesprochen?“ „Nein, Herr Kommissar. Ich wollte erst Ihre Entscheidung abwarten.“ „Gut, sehr gut.“ Der Kommissar rieb sich die Hände. Es hörte sich an, als würde mit einer Feile geschmirgelt. Vor seinem Eintritt in die Polizei war Georg Krüger 28
Revolverdreher gewesen. Siebenundzwanzig Jahre lang Arbeit an der Drehbank, siebenundzwanzig Jahre Metallstaub und blauglühende Stahlspäne hatten in seine Hände jene spröde Rissigkeit eingebrannt, die sich höchstens nach langem Gebrauch guter Glyzerinseife verlor, durch die ätzende Tonseife jedoch, die es auf Karten gab, eher schlimmer wurde. Ehrlich konnte dieses Geräusch nicht vertragen. Er konnte auch keine Seide anfassen, ohne eine Gänsehaut zu bekommen. „Littke ist tatsächlich ein kleines Licht.“ Der Kommissar hatte sich erhoben und marschierte im Zimmer auf und ab, wie er es meistens tat, wenn er laut überlegte. „Von Pinkel wissen wir noch nicht, welche Rolle er spielt. Wir könnten ihn vernehmen und einsperren. Ob das aber etwas nützt und er aussagen wird, ist fraglich.“ „Und wenn wir ihm Littke gegenüberstellen?“ schlug Ehrlich vor. „Dann sagt er uns vielleicht auch, daß er nicht wußte, was in dem Beutel war, den Chef der Bande nicht kennt und so weiter und so fort. Nein, nein. Wir haben es hier offenbar nicht mit Anfängern, sondern mit ausgekochten Ganoven zu tun. Deshalb müssen wir auch anders als üblich an die Sache herangehen.“
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Eine merkwürdige Stammtischrunde
Die vier Herren tranken, rauchten, plauderten – wie man es am Stammtisch so zu tun pflegt. Dennoch hätte ein aufmerksamer Beobachter festgestellt, daß diese Männer nicht in die herkömmlichen Vorstellungen von einer Stammtischrunde paßten. Sie glichen eher dem leitenden Gremium eines Unternehmens bei einer schwierigen Konferenz. Wortführer der Runde war ein dezent gekleideter Enddreißiger mit grauen Schläfen. Seiner vornehmen Redeweise, seinem überlegenen Verhalten, seinem glatten, häufig lächelnden Gesicht nach zu urteilen, war er Gelehrter, Staatsanwalt oder auch Kaufmann – übte jedenfalls eine geistige Tätigkeit aus. Sein Nachbar, der von den anderen Willi genannt wurde und dem der Ringfinger an der rechten Hand fehlte, nahm sich neben ihm wie ein Schlächtergeselle neben einem Balletttänzer aus. Seine Bewegungen waren wuchtig und eckig. Ihn hätte man für einen Schwerarbeiter halten können, wenn seine Hände Spuren körperlicher Arbeit aufgewiesen hätten. Aber das war nicht der Fall. Der Dezente hob gerade das vor ihm stehende Kognakglas prüfend gegen das Licht und sagte dabei: „Wir müssen endlich zu einem Ergebnis kommen; davon hängt im Moment alles ab.“ Der Kognak schien ihm zu mißfallen, denn er stellte das Glas zurück, ohne auch nur genippt zu haben. Seinen Worten folgte eine peinliche Pause. Schließlich wandte sich Willi, dessen Fäuste geballt auf der Tischplatte lagen und nervös zuckten, an den 30
Wortführer und sagte hastig: „Ich glaube nicht, daß Pinkel uns verpfeift, Chef. Was hätte er schon davon? Er sitzt doch im selben Kahn wie wir.“ Der Chef nickte gedankenvoll, seine Blicke suchten Willis Gegenüber. „Was meinst du, Werner?“ Der Angesprochene war etwa im gleichen Alter wie der Chef und hatte ein nichtssagendes Gesicht. Er war mit aufdringlicher Eleganz gekleidet. Die Frage entlockte ihm ein mokantes Grinsen. „Meine Meinung kennt ihr. Ob Pinkel singt oder nicht, fest steht, daß er von seinen Instruktionen abgewichen ist. Das genügt, denke ich.“ Jetzt mischte sich der vierte dieser seltsamen Runde ins Gespräch. Auch er war ein schlanker, modisch gekleideter Mann. Seiner blasierten Miene war anzusehen, daß er sich im Grunde genommen langweilte. „Vielleicht hatte er zwingende Gründe!“ warf er leichthin ein, während er an seiner blütenweißen Manschette herumnestelte. „Was für Gründe könnten das sein, Dietrich? Er hätte in jedem Falle mich oder Werner verständigen müssen“, erwiderte der Chef. „Nein, nein, ich bin der gleichen Ansicht wie Werner: Mit Pinkel stimmt etwas nicht. Die Lieferung aus Tegel hat er auch schon verpatzt. Solche Schnitzer können wir uns einfach nicht leisten.“ „Pech kann jeder mal haben! Und bis jetzt hat doch immer alles ganz gut geklappt. Ohne Pinkels Beziehungen hätte der Nachschub nicht so prima floriert“, sagte Willi trotzig. Der Chef verzog das Gesicht, als hätte er unversehens auf ein Pfefferkorn gebissen, und blinzelte Werner zu. Es ging ihm offenbar gegen den Strich, daß Willi Pinkels Partei ergriff. Willi schien das nicht zu bemerken. Vielleicht hätte er sonst geschwiegen, aber so sprach er unbekümmert weiter. 31
„Ich bin dafür, wir warten ab, bis Pinkel wieder da ist, und hören uns erst einmal an, was er zu sagen hat.“ „Und wenn er die Greifer gleich mitbringt, trinken wir einen Schnaps mit ihnen und bedanken uns bei Pinkel für seine Plaudereien, wie?“ zischte Werner ihn an. Willi runzelte unwillig die Brauen. „Ich sagte doch schon, ich glaube nicht daran, daß Pinkel ein Verräter ist. Schließlich kenne ich ihn länger als du!“ knurrte er. Dietrich sah aus dem Fenster, und auch der Chef tat so, als interessiere ihn der Streit nicht im geringsten. „Du hast bloß Angst vor den Konsequenzen, Willi“, höhnte Werner weiter. „Bei irgendwelchen kleinen Gaunereien, da geht ihr forsch ’ran, ansonsten aber ist nicht viel los mit euch Berufsganoven!“ Willi fuhr hoch. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen, und er wäre auf Werner losgegangen, wenn der Chef nicht eingegriffen hätte. „Reißt euch zusammen!“ sagte er scharf. Dann wandte er sich an Willi: „Ich weiß, daß du mit Pinkel befreundet bist; das sollte dich aber nicht hindern, die Sache real einzuschätzen. Pinkel ist tatsächlich ein krummer Hund. Das steht außer Zweifel. Außerdem habe ich untrügliche Beweise!“ Seine letzten Worte, sachlich und leidenschaftslos gesprochen, tropften zäh in den Raum. Willi zog den Kopf zwischen die Schultern, seine Augen flogen gehetzt von einem zum anderen. Selbst Dietrich schien jetzt böse. „Warum starrt ihr mich so an?“ schrie Willi. „Ich bin nicht sein Freund! Von mir aus kann er zur Hölle fahren!“ „Um so besser“, sagte Werner, „dann sind wir uns ja wieder einig.“ 32
Der Chef schob die Brille auf die Stirn und massierte sich ausgiebig den Nasenrücken. Schließlich rückte er sie wieder zurecht, nahm einen kleinen Schluck aus seinem Glas und begann zu sprechen: „Betrachten wir die Sache doch einmal nüchtern. Was kann Pinkel ausplaudern? Er kennt die Nachschubbasen, weil er dafür zuständig war. Er kennt auch den Kopf der Organisation und einen Teil des Abnehmernetzes. Außerdem sind ihm natürlich unsere Gewohnheiten bekannt. Das würde ausreichen, uns den Garaus zu machen, sofern sich seine Angaben beweisen ließen, und hier liegt der springende Punkt.“ Der Chef stand auf, stellte sich hinter seinen Stuhl und dozierte gemessen wie ein Universitätsprofessor. „Solange Pinkel der einzige Zeuge gegen uns ist, stehen seine Aussagen gegen die unseren. Das ist nicht viel. Vorerst nicht! Denn es dürfte uns nicht allzu schwerfallen, seine Aussagen als Racheakt abzutun.“ „Na also, wozu denn die Aufregung“, unterbrach ihn Willi erleichtert. „Du mußt mich aussprechen lassen, Willi“, sagt der Chef nachsichtig. „Vorerst, habe ich gesagt. Denn so schnell gibt die Polizei nicht auf, wenn sie erst einmal etwas wittert. Daß mit Pinkels Aussagen allein nicht viel anzufangen ist, das wissen die Herren in der Linienstraße auch. Was werden sie also tun? Sie werden Pinkel zunächst laufenlassen, in der Hoffnung, über ihn an uns heranzukommen. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß der gar nicht die Absicht hat, uns hereinzulegen, so wird er doch die Kripo, die von jetzt ab ständig hinter ihm her sein wird, auf unsere Spur bringen. Pinkel ist der einzige Trumpf, den die Kripo momentan hat. Wenn dieser Trumpf nicht sticht, kann man uns nichts anhaben. Ich denke, das ist sonnenklar!“ 33
„Woher willst du alles so genau wissen?“ fragte Willi mißtrauisch. „Das kannst du dir mit ein wenig logischer Überlegung an den Fingern abzählen.“ „Außerdem ist das ein alter Hut!“ warf Werner ein. „Na bitte. Pinkel ist demzufolge auf jeden Fall eine Gefahr für uns.“ Willi leuchtete das noch immer nicht ein. „Du vergißt Birne!“ erwiderte er daher. „Birne? Ich habe ihn nicht vergessen, Willi. Aber der ist nur ein kleines Schräubchen, das uns nicht schaden kann. Über den brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Was da zu tun ist, das erledige ich schon. Bleiben wir bei Pinkel! Was wird mit ihm?“ Seinen Worten folgte bedrückende Stille; nur das Atmen der Männer war zu hören. Willi starrte vor sich hin. Werner dagegen blieb so kalt und unberührt wie der Chef. Seinem Gesicht war nicht die geringste Bewegung anzusehen. Er grinste sogar spöttisch, während er sagte: „Klarer Fall, was gibt es da noch groß zu reden.“ Dabei zeichnete er ein großes Kreuz in die Luft. Der Chef nickte. „Und wer?“ Werner und Dietrich sahen fast gleichzeitig auf Willi, der bei der Frage des Chefs ruckartig den Kopf gehoben hatte. „Wieso ausgerechnet ich?“ fragte er. „Wer sonst?“ gab Werner barsch zurück. Der Chef brachte ihn mit einer begütigenden Geste zum Schweigen und sagte sanft: „Paß auf, Willi. Pinkel wird dir am ehesten trauen. Dir fällt es daher leichter als jedem anderen von uns, ihn zu überlisten. Ich habe schon alles vorbereitet. Pinkel ist jetzt in der Linienstraße, wird aber heute noch entlassen. Von diesem Zeitpunkt an mußt du dafür sorgen, daß er keine Dummheiten macht. 34
Du läßt ihm diese Nachricht hier zukommen und regelst alles Weitere an Ort und Stelle.“ Bei seinen letzten Worten schob er Willi einen Zettel zu, den dieser zögernd nahm und las. „Die Dreckarbeit könnten ja auch mal andere machen!“ sagte Willi und sah Werner dabei anzüglich an. Er bekam keine Antwort. An der Tür setzte er seine karierte Mütze auf und sagte, ohne sich dabei umzudrehen: „Ich melde mich, sobald die Angelegenheit erledigt ist!“ Dann schloß sich die Tür hinter ihm. Die anderen hatten ihre Plätze nicht verlassen. Als Willi gegangen war, sahen sie sich an, und Werner meinte: „Mit dem ist nicht mehr viel los.“ „Sag mal, glaubst du wirklich, daß Pinkel uns verrät?“ fragte Dietrich unvermittelt. Der Chef hob die Schultern an, ließ sie langsam wieder sinken und erwiderte gedehnt: „Bei der Polizei kaum, jedenfalls jetzt noch nicht. Aber er ist ein falscher Fuffziger. Und da er neben Willi der einzige ist, der uns kennt, ist es besser, wenn wir sichergehen.“ Dietrich nickte. „Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich muß jetzt langsam verschwinden.“ Er erhob sich. „Wir gehen auch“, sagte der Chef, wobei er Werner zunickte.
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Oberassistent Ehrlich kommt zu spät
Kommissar Krüger stand am Fenster seines Dienstzimmers und sah auf die Straße hinab. In wenigen Minuten mußte sein Namensvetter mit dem Spitznamen Pinkel das Haus verlassen, und dann würde alles von Ehrlichs Geschicklichkeit abhängen. Der Kommissar versprach sich eine ganze Menge von der Beobachtung. Er ahnt nicht, daß wir ihn verdächtigen, das ist unsere Chance, sagte er sich, während er die gegenüberliegende Straßenseite im Auge behielt. Dort irgendwo wartete Ehrlich auf Pinkel. Ein Schatten flog über Krügers Gesicht. Es wäre ihm bedeutend lieber, Markwart wäre mit von der Partie gewesen, aber das ging nicht. Pinkel hatte ihn im Präsidium gesehen und würde ihn sicher wiedererkennen. Ab morgen werde ich ein regelrechtes Beobachtungssystem aufbauen, nahm er sich vor. Das wird zwar nicht leicht sein, weil auch so überall Leute fehlen, aber irgendwie werde ich es schaffen. Für heute muß Ehrlich genügen. Verdammt, wo steckt er bloß? Krüger sah auf die Uhr. Halb drei. In diesem Augenblick verließ Pinkel das Präsidium. Ein paar Meter vor dem Eingang blieb er stehen, rekelte sich wohlig und schlenderte dann die Linienstraße hinab. Der Kommissar sah ihm nach. Ehrlich kam aus dem Haus gegenüber und ging in die gleiche Richtung wie Pinkel. Sekundenschnell sah er hoch, und Krüger schien es, als zwinkerte er ihm zu. Der Kommissar hob die linke Faust, um seinem Oberassistenten zu zeigen, daß er ihm die Daumen drücke. 36
Doch Ehrlich war schon weitergegangen. Die Hände tief in die Taschen seines grauen Sommermantels vergraben, bummelte er hinter Pinkel her – ein friedfertiger Spaziergänger, der den herrlichen Maientag genoß. In der Linienstraße herrschte um diese Tageszeit reger Betrieb, so, daß Ehrlich oft dicht aufrücken mußte, um seinen Schützling nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn das so weiterging, konnte es nicht lange dauern, bis Pinkel die Verfolgung bemerkte. Oder ob er damit rechnete und sich deshalb so sorglos gab? Dem Oberassistenten wurde heiß bei dem Gedanken. Wenn das so war, würde Pinkel bald den Versuch unternehmen, ihn abzuhängen. Hoppla, es war soweit. Ehrlich beschleunigte seine Schritte. Pinkel, der bisher scheinbar ziellos vor ihm herspazierte, war plötzlich in einem Haus verschwunden. Der Oberassistent überlegte nicht lange. Zum Glück kannte er die Gegend genau. Das Haus, das Pinkel betreten hatte, besaß keinen Hinterausgang, die danebenliegenden Häuser auch nicht. Wenn Pinkel von hier aus in eine Nebenstraße entwischen wollte, mußte er mehrere Hofmauern überklettern. Das würde er in seiner guten Kleidung wohl kaum tun. Der Oberassistent ging weiter. Ein Stück oberhalb der nächsten Querstraße sah er eine Menschenschlange. Ehrlich schob sich zwischen die vor einem Gemüsegeschäft nach Kartoffeln anstehenden Menschen und wartete. Er hatte sich nicht verrechnet. Nach einer Viertelstunde kam Pinkel quietschvergnügt zum Vorschein und setzte seinen Weg fort, achtlos an der Menschenschlange vorüber; der Oberassistent atmete auf. Er ließ Pinkel mindestens hundert Meter vorausgehen, ehe er sich aus der Reihe löste und die Verfolgung erneut 37
aufnahm. Sicherheitshalber zog er seinen Mantel aus und legte ihn mit dem bunten Futter nach außen über die Schulter. Ehrlichs Schützling war inzwischen in die Große Hamburger Straße eingebogen und ging gerade auf den Hackischen Markt zu. Ehrlich hielt jetzt so viel Abstand, daß er ihn gerade noch sehen konnte und rechtzeitig bemerken würde, wenn er die Richtung änderte. Im Vorbeigehen betrachtete er die Schaufenster der wenigen Geschäfte. Die Auslagen hatten nicht viel zu bieten. Sie warfen nur sein eigenes Spiegelbild zurück, sofern sie das überhaupt konnten, denn die meisten waren aus Pappe. Glas war rar, und da die Menschen sowieso genau wußten, was es in den Geschäften gab – oder vielmehr, was es alles nicht gab –, tat es Pappe statt Glas auch. Vor einem Laden machte Pinkel halt, hob einen Fuß auf den Sockel und begann seine eleganten schwarzen Halbschuhe mit dem Taschentuch zu polieren. Sofort drückte sich Ehrlich in eine Toreinfahrt und verharrte. Pinkel schien so vertieft in seine Beschäftigung zu sein, daß er den Mann nicht bemerkte, der vom SBahnhof her auf ihn zukam und einen Augenblick neben ihm stehenblieb. Ehrlich bedauerte jetzt, daß er nicht dichter aufgerückt war und deshalb nur undeutlich sehen konnte, was sich vor ihm abspielte. Soviel aber bekam er doch mit: der Fremde, der eine karierte Sportmütze trug und wie ein Schwergewichtsboxer aussah, schob Pinkel etwas zu, ehe er eilig weiterging. Pinkel sah diesem Fremden nach und nestelte dann an dem kleinen Gegenstand herum. Ehrlich kam es so vor, als ob er einen Zettel glattstrich und las. Schade, daß Markwart nicht hier ist, der könnte dem Unbekannten folgen, dachte er, konzentrierte sich jedoch sofort wieder auf Pinkel. Der schien 38
plötzlich seinen Plan geändert zu haben, denn er betrat ein kleines, ebenerdiges Lokal. Ehrlich kannte die Gaststätte von früher. Dort hatte er sonntags öfter ein Bier getrunken und mit seiner Frau Zukunftspläne geschmiedet. Jetzt stand er draußen und dachte neidisch an das kühle Bier, das Pinkel wahrscheinlich gerade trank. Er erwog, schnell hinüber ins Krankenhaus zu gehen und Krüger anzurufen. Doch dann ließ er es lieber bleiben. Vielleicht kam Pinkel inzwischen aus dem Lokal. Das hätte der Kommissar seinem Oberassistenten ganz gewiß nicht so schnell verziehen. Die Zeit schlich dahin. Die Häuserschatten streckten sich, und der Oberassistent begann zu frösteln. Lange konnte er hier nicht mehr bleiben. Die beiden Männer, die sich vor dem Krankenhaus unterhielten, sahen immer öfter zu ihm herüber. Just in dem Augenblick, als Ehrlich ein Stück weitergehen wollte, erschien Pinkel wieder. Er schien es nun sehr eilig zu haben und schlug die Richtung zum S-Bahnhof ein. Pinkel marschierte unter der Unterführung hindurch, überquerte die Brücke und war unversehens in einer Ruine verschwunden. Als Ehrlich dort ankam, war von ihm nichts mehr zu sehen. Der Oberassistent unterdrückte einen Fluch und zupfte sich verzweifelt am Ohrläppchen. Das Trümmergelände mit den ausgebrannten Häuserwänden und den grasüberwucherten Schutthügeln gähnte öde und verlassen. An einer lindgrün gestrichenen Ruinenwand hing ein Klosettbecken, leicht nach vorn geneigt. Sogar der Spülkasten war noch da, und die Zugkette schaukelte lustig im Wind. Wenn man daran zieht, kommt bestimmt noch Wasser, dachte Ehrlich unwillkürlich. Dann hörte er ein leises, scharrendes Geräusch. Irgendwo in der Nähe schien ein Stein herabgerollt zu sein. Ehrlich lauschte. Es 39
war nichts zu hören. Da, plötzlich ein schriller Schrei, dann ein Poltern und Prasseln. Der Oberassistent überlegte nicht lange. Bis zu der Ruine, aus der das Poltern kam, waren es etwa hundertfünfzig Meter. Er schaffte sie in knapp zwei Minuten. Zweimal stolperte er und stürzte zu Boden. Als er noch zwanzig Meter entfernt war, glaubte er einen großen Mann davonhuschen zu sehen; er konnte sich aber auch geirrt haben. Trotzdem verlangsamte Ehrlich seine Schritte und spähte aufmerksam umher. Der Eingang in die Hausruine war durch Geröll versperrt. Nur an der rechten Seite, unmittelbar an der brüchigen Wand, gab es einen schmalen Pfad, der so aussah, als ob er schon öfters benutzt worden wäre. Er war gerade so breit, daß sich der beleibte Oberassistent hindurchzwängen und in einen düsteren, langgestreckten Raum gelangen konnte, der wohl früher einmal als Hausflur gedient hatte. Rechts führte eine geländerlose Treppe ins Nichts. Der Oberassistent vergewisserte sich, daß seine Waffe griffbereit im Halfter lag, und schlich, jedes Geräusch vermeidend, behutsam weiter. Wenn du hier eines über den Schädel bekommst, findet dich so schnell kein Mensch, kam es ihm zum Bewußtsein. Nach etwa zehn Metern versperrten ihm abermals Steine den Weg. Später wußte Ehrlich selbst nicht mehr genau zu sagen, warum er ausgerechnet diesen Schutthaufen näher untersucht hatte. Vielleicht war das feine Rieseln, vielleicht auch nur der Staubgeschmack, der ihm plötzlich auf der Zunge brannte, daran schuld. Vorsichtig umging er die Stelle und schreckte zurück. Auf der anderen Seite ragte ein Fuß hervor, der in einem eleganten schwarzen Halbschuh steckte. – Ehrlich war zu spät gekommen. 40
Hastig begann er den Schutt wegzuräumen, ohne zu spüren, daß die scharfkantigen Steine ihm die Hände blutig rissen. Schon bald war er über und über mit einer dicken Staubschicht bedeckt, und obwohl er sich keine Verschnaufpause gönnte, mußte er länger als eine Stunde arbeiten, ehe er Pinkels Körper freigelegt hatte. Pinkel war tot, sein Kopf total zerschmettert, das Gesicht nicht mehr zu erkennen. Es kostete Ehrlich viel Überwindung, die Taschen des Toten zu durchsuchen. Was er fand, war nicht sehr viel. Das meiste davon kannte er bereits aus Pinkels Effektenbeutel im Präsidium. Nur der schmale weiße Zettel, den er aus der rechten Rocktasche fischte, war neu. Sein Blick fiel auf die rechte Hand des Toten, die, zur Faust geballt, dicht neben dem Kopf lag. Ehrlich bückte sich, löste die verkrampften Finger und starrte verblüfft auf den Knopf, den sie umschlossen hatten. Zwei Stunden später schob Kommissar Krüger diesen Knopf mißmutig auf der Platte seines Schreibtisches umher. „Wir haben die erste Runde verloren“, sagte er, ohne aufzusehen. Der Oberassistent war noch immer ganz grün im Gesicht, hockte auf seinem Stuhl und schlürfte gierig kalten Kräutertee. Markwart, der vor Krügers Schreibtisch stand, sah schweigend dessen Spielerei zu. „Wir hätten ihn vorher vernehmen sollen!“ fuhr Krüger fort. Markwart zuckte die Schultern. „Jetzt ist es zu spät, Herr Kommissar. Die Bande ist verflucht clever.“ Schorsch Krüger hob den Kopf. Pinkels Ermordung hatte ihn schwer getroffen. Seit ihn Ehrlich benachrichtigt hatte, grübelte er über den Grund dieses Mordes nach. Markwart hatte recht: Sie hatten es mit überaus raffinierten und skrupellosen Verbrechern zu tun. „Irgendwie sind 41
wir ihnen auf die Zehen getreten, ohne es zu wissen. Anders läßt sich dieser Mord nicht erklären“, erwiderte Krüger. Er gab sich einen Ruck und wandte sich an Ehrlich. „Wenn Sie einigermaßen fit sind, gehen Sie zum Erkennungsdienst. Sehen Sie die Lichtbildkartei durch, vielleicht finden Sie den Vogel heraus, der Pinkel die Nachricht zugesteckt und ihn wahrscheinlich auch umgebracht hat!“ Der Oberassistent nickte und erhob sich stumm. „Und Sie, Markwart, Sie sehen sich einmal diesen Ehestandsschoppen an. Aber wedeln Sie nicht gleich mit Ihrer Dienstmarke herum! Ich werde mir inzwischen Birne noch einmal vorknöpfen.“
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Ein biederes Lokal
Markwarts erster Eindruck vom Ehestandsschoppen war: treudeutsch und bieder. Spöttisch musterte er die blankgescheuerten Tische und die klotzig schweren Stühle mit den ausgeschnittenen Herzen. Sogar der Hinweis auf die Toiletten und das helle Viereck, das sich von der graustichigen Wand im Gastraum abhob und unschwer das Bild erraten ließ, das einst dort gehangen hatte, atmeten deutsche Bravheit. Der Nagel steckte vorsorglich noch in der Wand. Die Wirtin schien einen Sinn fürs Praktische zu haben. Das Bier, das in dicken Gläsern ausgeschenkt wurde, und der fahle Kornverschnitt in den Preßglastiegeln waren zu dünn, um urdeutsch zu sein; aber die Reklametafeln mit dem Blondköpfchen, das verwundert hinter einem Bierglas hervorlugte, und auch die von der Juno ‚dick und rund‘ waren es und paßten hierher. Die Wirtin mit den kullernden Vergißmeinnichtaugen fügte sich gut in das Bild, denn auch sie sah deutsch und bieder aus. An ihrer Ehrsamkeit zweifelten weder die Trümmerfrauen noch die Bierkutscher und Bauarbeiter, die hauptsächlich im Ehestandsschoppen verkehrten. Selbst Markwart war fast geneigt, daran zu glauben, doch dann dachte er an seinen Auftrag und daran, daß Birne von hier das Kokain abgeholt hatte. Tarnung das Ganze also! Schade, daß Krüger nicht hier war, Markwart mußte unwillkürlich lächeln, dem würden die Augen tränen bei soviel Muff. Der Assistent betrachtete sinnend den Zapfer, der als einziger nicht so recht in das Milieu paßte, 43
sondern eher wie der Schlepper eines südländischen Bordells aussah. Das also war der Freund der schönen Rita. Markwart griff nach seinem Glas, leerte es mit einem Zug und winkte Ede, dem Zapfer, der gleichzeitig auch der einzige Kellner des Lokals war. Ede brachte sofort ein neues Glas. „Hör mal, Ede, ich suche etwas Bestimmtes“, sagte Markwart. „Vielleicht etwas zu essen? Wir haben prima Sülze, markenfrei!“ Markwart hatte schon an den Nebentischen gesehen, was Ede als ‚prima Sülze‘ ausgab: einen grünen, gallertartigen Brei, bei dessen bloßem Anblick sich einem der Magen umdrehte. „Nein, nein“, wehrte er hastig ab. „Ich meine etwas anderes. Ein guter Freund hat mich daraufgebracht!“ „Ich verstehe nicht“, erwiderte Ede abweisend. Seine schwarzen Augen huschten forschend über Markwarts Gestalt. „Sie waren noch nicht hier!“ „Das kann sich aber schnell ändern!“ Markwart grinste ihn spitzbübisch an. Ede schnaubte durch die Nase und wandte sich ab. Eins zu null für dich, dachte Markwart, weit davon entfernt, aufzugeben. Er betrachtete die anderen Gäste, fand jedoch nicht einen darunter, der ihn interessiert hätte. Es waren Arbeiter oder ältere Paare, Stammkunden meistens. Das ging schon daraus hervor, daß Ede sie beim Namen nannte. Markwart wartete auf Rita, die schon vor einer ganzen Weile hinter der Tür mit der Aufschrift „Privat“ verschwunden war. Schließlich wurde ihm das Warten zu lang, und er winkte Ede erneut zu. Diesmal ließ sich der Zapf er Zeit. Als er schließlich doch angeschlurft kam, war seine Miene mürrisch. Sie 44
wurde noch mürrischer, als er sah, daß der Assistent kaum an seinem Glas genippt hatte. „Sie haben ja noch“, brummte er ärgerlich und wollte gleich wieder gehen. „Einen Moment“, sagte Markwart. „Ich möchte die Wirtin sprechen!“ In Edes Augen zuckte es böse. „Warum?“ fragte er aufsässig. „Das, mein Sohn, sage ich ihr selbst. Mit dir ist doch kein Geschäft zu machen.“ „Ist nicht da!“ „Dann werde ich selbst nachsehen“, erwiderte Markwart und erhob sich. Ede zögerte, sah ihn giftig an und zischte schließlich: „Verschwinde, aber dalli!“ Markwart schüttelte mitleidig den Kopf. „Plustere dich nicht auf, Kleiner. Hol die Wirtin. Es ist wichtig!“ Er hatte leise gesprochen. Trotzdem wurden die beiden Arbeiter aufmerksam, die zwei Tische weiter ihre Stullen aßen und Bier dazu tranken. „Ärger, Ede?“ fragte der eine und starrte neugierig auf den Assistenten. Ede schüttelte rasch den Kopf. „Nein, nein, alles in Ordnung!“ erwiderte er schnell. Dann sah er Markwart wütend an und fauchte: „Werde Bescheid sagen!“ Ede ging zur Theke, schenkte aufreizend langsam ein Glas ein und verschwand schließlich in den Privaträumen. Nach einiger Zeit erschien er wieder und schlich hinter die Theke, ohne Markwart auch nur einen Blick zu gönnen. Es vergingen weitere fünf Minuten, bis die Tür erneut aufging, Rita heraustrat und huldvoll auf Markwart zukam. „Sie wollten mich sprechen, mein Herr?“ Markwart strahlte sie an, verbeugte sich und bat: „Würden Sie sich einen Augenblick zu mir setzen?“ 45
Rita zögerte, sah sich um und erwiderte: „Na schön, aber wirklich nur einen Augenblick. Sie waren noch nicht bei uns, nicht wahr, Herr …?“ „Oh, verzeihen Sie“, entgegnete Markwart, „Rohloff heiße ich.“ „Angenehm, Engel!“ Markwart verbeugte sich noch einmal galant und nahm dann den Faden wieder auf. „Sie haben recht, ich war wirklich noch nicht hier. Jetzt bedaure ich das, Frau Engel.“ „Fräulein, bitte!“ korrigierte sie, senkte dabei den Kopf und bekam es sogar fertig, rot zu werden. Diese Eröffnung schien ihn ungemein anzuregen. „Was denn, nicht verheiratet und die ganze Wirtschaft auf ihren Schultern? Wie schaffen Sie das bloß?“ „Ach Gott, irgendwie geht das schon. Man gewöhnt sich daran. Aber Sie wollten mich doch sicher nicht deshalb sprechen. Gio sagte mir, Sie kämen in einer wichtigen Angelegenheit?“ „Gio?“ fragte Markwart erstaunt. „Ja, mein Angestellter. Er ist Italiener und heißt eigentlich Giovanni. Unsere Gäste nennen ihn Ede. Das klingt heimischer.“ Sie lächelte, und Markwart hatte für einen Augenblick das Gefühl, daß sie sich über ihn lustig machte. „Ein guter Bekannter hat mir Ihr Lokal empfohlen. Er sagte, daß ich hier bekommen könnte, was ich suche. Leider ist er selbst noch nicht da, obwohl wir verabredet sind.“ Die Wirtin hob interessiert den Kopf. „Und was suchen Sie, Herr Rohloff?“ „Ich weiß nicht, ob …“, begann Markwart stockend. „Mein Bekannter hat mir nämlich ausdrücklich gesagt …“ 46
Dann gab er sich einen Ruck. „Egal, vielleicht kommen wir auch ohne ihn ins Geschäft. Ich suche gewisse Pülverchen, verstehen Sie?“ Rita schüttelte den Kopf. „Pülverchen? Was für Pülverchen?“ Sie musterte ihn skeptisch, schüttelte nochmals nachdrücklich den Kopf. „Nein, Herr Rohloff, ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie meinen.“ Markwart seufzte bekümmert. „Hier will offenbar keiner was verstehen, dabei hat mir mein Bekannter …“ „Soso, Ihr Bekannter“, fiel sie ihm ironisch ins Wort. „Wie heißt denn dieser Herr?“ Markwart sah ihr direkt in die Vergißmeinnichtaugen und lächelte. „Ich kenne ihn unter dem Namen Schindler, aber wie er sich bei Ihnen genannt hat …“ Er zuckte vielsagend die Achseln. „Es ist ein großer, kräftiger Mann, der ewig so eine scheußliche karierte Sportmütze trägt.“ Rita wurde bei seinen letzten Worten stocksteif und förmlich. „Ich glaube, dieser Bekannte existiert nur in Ihrer Phantasie, Herr Rohloff. Ich kenne ihn jedenfalls nicht und will ihn auch gar nicht kennenlernen. Damit wäre die Angelegenheit wohl erledigt.“ Sie erhob sich. „Einen Augenblick noch“, bat Markwart. „Ja?“ „Mir fällt eben noch etwas ein. In seiner Begleitung habe ich öfter einen piekfein gekleideten, schmächtigen Mann gesehen, der Pinkel genannt wurde, und einmal war auch so ein kleiner, dicklicher bei ihm, Birne. Vielleicht wissen Sie jetzt, wen ich meine?“ Täuschte er sich, oder war Rita tatsächlich zusammengezuckt? Sie hob die Brauen, sah Markwart spöttisch an und sagte: „Pinkel? Großartig. Nur schade, daß ich den Namen nie gehört habe!“ „Und Birne kennen Sie auch nicht?“ 47
„Was wollen Sie eigentlich?“ fragte sie langsam. „Sind Sie von der Polizei?“ Der Assistent vermochte es, so dumm dreinzuschauen, daß Rita schallend auflachte. „Na ja, wie ein Polizist sehen Sie gerade nicht aus.“ Markwart lächelte höflich mit. „Also, wie ist das mit Birne?“ fragte er nochmals. Rita hatte jedoch von der Unterhaltung genug. „Tut mir leid. Aber Ihre Bekannten scheinen nicht die meinen zu sein“, erwiderte sie doppeldeutig und ging einfach davon. An der Theke blieb sie einen Moment stehen und flüsterte Ede etwas zu. Dann nickte sie noch einmal freundlich in die Gaststube und verschwand wieder in den Privaträumen. Markwart hörte noch, daß sie den Schlüssel hinter sich umdrehte. Er überlegte gerade, ob er bleiben oder ebenfalls gehen sollte, als Ede tückisch grinsend auf ihn zukam. „Für Sie ist es Zeit. Sie gehen jetzt am besten“, sagte er und griff nach dem noch halbvollen Bierglas. Markwart legte seine Hand darauf und fragte: „Warum?“ „Weil Sie hier nichts mehr bekommen!“ „So, und warum das?“ Der gelassene Spott brachte Ede zur Weißglut. „Sie sind nicht so blöd, daß Sie das nicht verstehen“, knurrte er böse. „Hau ab, Schnüffler!“ Markwart grinste noch spöttischer, wobei er Edes Hand einfach wegschob. Das war für den heißblütigen Zapfer zuviel. Er krallte sich in Markwarts Schlips und versuchte, ihm die Luft abzudrücken. Gegen den wendigen Kriminalassistenten hatte er jedoch keine Chance. Markwart stand ruckartig auf, stemmte seine linke Hand gegen Edes Kinn und half mit der rechten in Höhe der 48
Gürtellinie ein bißchen nach. Ede polterte gegen die Kontortür. In den Privaträumen blieb alles ruhig. Kein Lebenszeichen von Rita. Das gab Markwart zu denken. Er trank sein Bier im Stehen aus, warf einen Geldschein auf den Tisch und verließ, von einer wüsten Schimpfkanonade Edes begleitet, das Lokal.
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Der Chef schickt Willi in die Schweiz
Der Chef war wütend. Sein feistes Kinn zitterte bis zur wulstigen Unterlippe hinauf. Seine Augen aber, diese ausgewaschenen, farblosen Augen, blickten freundlich-naiv durch die Gläser der randlosen Brille. Wer ihn nicht genau kannte, merkte nicht, wie wütend er war. Denn der Chef hatte sich so fest in der Gewalt wie den Bleistift, mit dem seine kräftigen Hände spielten. Was diese Hände einmal gepackt hatten, das ließen sie nicht mehr los. Ihren derben, runden Fingerkuppen mit den gewölbten, kurzgeschnittenen Nägeln traute man ohne weiteres zu, daß sie einen Hals umklammern konnten. In Wirklichkeit aber hatten diese Hände noch niemals einen Hals umklammert, nie eine Luftröhre zerquetscht. Sie hatten immer nur die Nummernscheibe gedreht und die Feder gehalten, die so viel schrieb. Wenn Kommissar Krüger nur einen zehnten Teil von dem zu Gesicht bekommen hätte, was der Füller des Chefs schon aufgezeichnet hatte, wären ihm die Augen übergegangen, und er hätte keine Sekunde gezögert, den Chef in Handschellen abzuführen. Doch Krüger wußte nichts davon. Er kannte die großen Pläne des Chefs nicht, ja, er ahnte sie nicht einmal, und das, was der Chef schrieb, kam nie in falsche Hände; dafür sorgte er. So wie er überhaupt für vieles sorgte, zum Beispiel dafür, daß die Sekretärin nett zu ihm war und schwieg, daß sich seine Mitarbeiter nicht zu eng miteinander befreundeten, daß die Schale mit den Bonbons, die er so gern lutschte, immer gefüllt war und alles wie am Schnürchen lief. Zweifellos, der Chef war ein Organisationsgenie. 50
„Der ist in Ordnung. Auf den ist Verlaß. Der läßt dich nicht hängen, wenn’s schiefgeht.“ Das war für die meisten seiner Leute selbstverständlich. Trotzdem fühlte sich Willi, der gerade vor ihm saß, nicht wohl in seiner Haut. Er sah gehetzt aus. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, die Augen selbst waren gerötet. Als er sich eine Zigarette anzünden wollte, entfiel die Streichholzschachtel seinen Händen. Der Chef registrierte es mit Befriedigung. Willi hatte Angst. Um so ruhiger wurde der Chef. „Das ist ärgerlich. An den Zettel hättest du denken müssen, Willi“, sagte er. Seine Stimme klang wie gewöhnlich, und Willi atmete erleichtert auf. „Das schon, Chef, gewiß. Bloß, da war der Bulle. Es mußte doch alles so schnell gehen.“ „Ja, das sagtest du schon. Aber gerade deshalb durftest du keine Spur hinterlassen. Jetzt werden sie dich jagen, bis sie dich haben. Und dann …“ Der Bleistift in seinen Händen zerbrach wie ein Streichholz. Achtlos warf der dezent gekleidete Mann die Stücke in den Papierkorb. „Tja, mein Lieber, so ist das in unserer Branche.“ Willi stierte auf den Papierkorb. Aus, dachte er, jetzt ist alles aus. „Na ja, nun laß nicht gleich den Kopf hängen. Mir wird schon etwas einfallen“, sagte der Chef begütigend. Willi blieb skeptisch. Gewiß, der Chef hatte schon manche krumme Sache wieder hingebogen, aber hier konnte auch er nichts tun. Willi mußte daran denken, wie er mit dem Chef bekannt geworden war. Damals hatten ihn gerade die Zuchthaustüren freigegeben, und Willi besaß weder eine Wohnung noch Geld. Der Chef besorgte ihm damals im Handumdrehen beides. Hätte ich ihn doch niemals getroffen, lamentierte Willi jetzt im stillen. 51
Der Chef schien seine Gedanken zu erraten, denn er sagte: „Bisher hat doch immer alles geklappt. Das kriegen wir auch hin. Wirst sehen.“ Willi schwieg. Freilich, bis jetzt hatte alles geklappt. Aber da lebte auch Pinkel noch. „Ich hätte es nicht tun sollen“, sagte er unwillkürlich. Der Chef winkte heftig ab. „Ach was, das ist schon in Ordnung.“ Er hatte inzwischen sein Kinn wieder in der Gewalt. Genüßlich scheuerte er es auf dem Hemdkragen. Seine Hände, die immer etwas brauchten, womit sie spielen konnten, drehten einen Bonbon, ehe sie ihn schwungvoll in den Mund beförderten. „Nun, was ist?“ sagte er und schmatzte ein wenig dabei, weil er den Bonbon nicht schnell genug hinter die Zähne klemmen konnte. „Kein Grund zur Panik. Du bleibst erst einmal hier, und heute abend bringen wir dich ’raus. Mit guten Papieren, verstehst du?“ Willi schöpfte ein wenig Hoffnung. „Geht das so schnell?“ „Alles geht!“ Der Chef war großzügig, Willi sollte das ruhig wissen. „Natürlich kostet das eine ganz schöne Stange Geld, aber Schwamm drüber. Schließlich sind wir Freunde.“ „Hast du schon etwas im Auge?“ „Ich dachte an die Schweiz. Österreich geht nicht. Dort ist der Russe ebenfalls. Sonst wäre die Sache einfacher.“ Dabei schielte er auf das Revers seines Anzugs, an dem ein rotweißrotes Schleifchen prangte. Viele Menschen trugen in dieser Zeit ein solches Schleifchen im Knopfloch. Es sollte zeigen, daß sein Träger nicht zu den Schuldigen des Krieges gehörte. Das gab Sicherheit. Wer ein solches Schleifchen trug, konnte stolz erhobenen Hauptes durch die zerschlagene Stadt gehen. Auch der 52
Chef hatte sich nach der Kapitulation plötzlich daran erinnert, daß die Wiege seiner Vorfahren irgendwann einmal außerhalb der Grenzen des Reiches gestanden hatte, und dann solch ein Schleifchen angelegt. Manchmal unterstützte er dessen Wirkung noch dadurch, daß er etwas von der breiten, lässigen Gemütlichkeit dieses Landes in seine Aussprache legte. Freilich, besonders gut gelang ihm das nie, denn er hatte ja das Land, dessen Farben er trug, nie gesehen. Doch wer achtete schon darauf. „Und das soll wirklich so schnell gehen?“ fragte Willi noch immer zweifelnd. Die Aussicht, die der Chef ihm eröffnete, gefiel Willi sehr. Sie war so verlockend, daß ihm gar nicht in den Sinn kam, was er in dem fremden Land überhaupt beginnen könnte, wovon er dort leben sollte. „Aber geh, hör schon auf. Das ist doch für mich kein Problem.“ Der Chef lachte selbstgefällig. „Die Hauptsache ist, daß du dich genau an meine Anweisungen hältst. Alles andere überlaß ruhig mir. Hast du eigentlich noch Angehörige?“ Willi hatte keine. Nicht einmal ein Mädchen. Erst später, als er allein in dem Zimmer war, das der Chef ihm angewiesen hatte, fiel ihm seine Wirtin ein. Der mußte sein Verschwinden auffallen. Doch er schob den Gedanken an sie sofort beiseite. Schließlich konnte sie seine Sachen behalten und würde schon deshalb schweigen. Die Miete war ohnehin im voraus bezahlt. Willi träumte von der Zukunft. Er dachte daran, daß er bald weit weg sein würde, und sah sich schon in freundlichen, sauberen Städten, auf die keine Bomben gefallen waren. Er träumte von schmucken Häusern, luxuriösen Hotels und eleganten Damen, die ihm trotz seiner verstümmelten Hand huldvoll zulächelten. Geld würde er sich schon besorgen; 53
wenn er nur erst wieder sein eigener Herr war und nicht mehr die Dreckarbeit für andere machen mußte. Geldschränke gab es überall, und darauf verstand sich Willi noch allemal besser als auf Rauschgift. Während Willi so von seinem künftigen Glück träumte, saß zwei Türen weiter der Chef und telefonierte. Der Chef telefonierte für sein Leben gern. Orte, an denen es kein Telefon gab, waren ihm verhaßt. Er wählte eine Nummer, die er nicht seinem pedantischen Telefonverzeichnis anvertraut hatte, und wartete ungeduldig. Endlich meldete sich am anderen Ende eine quäkende Stimme. „Hör mal“, sagte der Chef, ohne sich vorzustellen oder den anderen anzureden, „da ist etwas schiefgelaufen. Wir müssen umdisponieren, verstehst du … Umdisponieren sagte ich. Ja, ja, ich brauche heute abend deinen Wagen. Wie? Nein, es genügt, wenn Harry ihn herbringt. Alles Weitere mache ich selbst klar. Also Punkt neun am Hinterausgang.“ Der Chef drückte die Gabel nieder, den Hörer behielt er in der Hand. Er wählte eine neue Nummer, diesmal eine zweistellige. Die Verbindung kam sofort zustande. „Was macht er jetzt“, fragte er. Die Antwort beruhigte ihn sichtlich. „Paß gut auf, daß er sich keine Dummheiten mehr leistet. Um neun kommt der Wagen. Bis halb neun muß alles erledigt sein.“ Sein Gesprächspartner schien Einwände zu haben, die er wortreich vorbrachte. Der Chef trommelte nervös auf der Tischplatte und setzte mehrmals zum Sprechen an. Doch der andere ließ ihn vorerst nicht zu Worte kommen. „Du machst dir unnötige Sorgen“, sagte der Chef endlich. „Natürlich werden wir unsere Vorkehrungen treffen. Wir werden ihm ein kleines Papierchen in die Tasche stecken.“ 54
Wieder kam ein Einwand, den der Chef kurzerhand abtat. „Ich habe mich schließlich nicht umsonst mit Graphologie beschäftigt. Sei nur ruhig. Das Papierchen wird dem Zettel, den Willi bei Pinkel vergessen hat, ähnlich sehen wie ein Ei dem anderen … Wie bitte? – Ach so! Auch das ist keine Gefahr, Nach dieser Schrift können die von der Polizei lange fahnden, und wenn sie bezweifeln, daß Willi das selbst geschrieben hat, ist es doch auch nicht schlimm, oder?“ Er lauschte eine Weile, lächelte überheblich und sagte dann: „Na endlich begreifst du! Laß sie doch den Schreiber suchen und denken, was sie wollen. Bei Willi endet die Spur für sie. Also denk daran, um neun ist der Wagen hier!“ Diesmal legte der Chef den Hörer behutsam auf die Gabel und rieb sich zufrieden die Hände.
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Ich habe meine Rechnung beglichen
Als Schorsch Krüger das Haus verlassen hatte, blieb er, wie jeden Morgen, einen Moment unter der einzigen Gaslaterne stehen, die der Krieg in der schmalen Gasse übriggelassen hatte, und sah zu dem winzigen Mansardenfenster empor, an dem Lene stand. Krüger mußte schmunzeln, weil seine Frau ihm heute so temperamentvoll zuwinkte, daß sie beinahe den Geranientopf, ihren ganzen Stolz, vom Fensterbrett gewedelt hätte. Sie erwischte ihn gerade noch im letzten Moment. Schorsch trat trotzdem einen Schritt zurück. Er schätzte Geranien ohnehin nicht sehr und als Fallgut schon gar nicht Seine Frau rief ihm etwas zu, doch er verstand kein Wort, weil gerade in dieser Sekunde eine Autobremse hinter ihm kreischte. Erschrocken fuhr er herum und blickte direkt in das fröhliche Gesicht seines Assistenten. „Morgen, Chef. Sie sollten lieber vorwärts auf den Damm gehen“, sagte Markwart grinsend. Der Kommissar zerkaute einen Fluch in seinen struppigen Schnurrbart, ehe er lospolterte: „Wohl verrückt geworden, wie? Was haben Sie hier überhaupt verloren, Markwart?“ Markwart hielt einladend die Wagentür auf und erwiderte unbekümmert: „Steigen Sie ein, Chef. Wir müssen zum Leichenschauhaus. Dort liegt der Kerl, der Pinkel umgebracht hat. Wir haben ihn heute im Morgengrauen an der Friedrichsgracht aus dem Wasser gefischt.“ Krüger war noch immer nicht besänftigt. Er sah seinen Assistenten wütend an und fragte anzüglich: „Was haben 56
Sie eigentlich im Morgengrauen an der Friedrichsgracht zu suchen, he?“ Markwart verdrehte die Augen und seufzte: „Dienst, Boß. Sie selbst haben mir doch diesen Nachtdienst eingebrockt.“ Dann knallte er die Tür hinter Krüger zu und quetschte sich selbst auf den Rücksitz, wo bereits Ehrlich saß. Der Kommissar bemerkte ihn erst jetzt. „Guten Morgen, Herr Kommissar“, sagte der Oberassistent griesgrämig. „Schlecht geschlafen, Ehrlich?“ fragte Krüger. „Überhaupt nicht.“ „Das ist ungesund. Also, was ist los, Markwart?“ Der Assistent lehnte sich vor, stützte seine Arme auf die Rücklehne von Krügers Sitz und berichtete sachlich: „Heute morgen um drei Uhr entdeckte eine Schupostreife in unmittelbarer Nähe der Jungfernbrücke eine männliche Wasserleiche. Dem Mann fehlt der vierte Finger an der rechten Hand. Er trägt eine großkarierte schwarzweiße Jacke und hat eine gleichfarbige Mütze in der linken Rocktasche. In der rechten Rocktasche fanden wir einen Zettel mit den Worten: ‚Ich habe meine Rechnung mit Pinkel beglichen.‘ Dieser Mann wurde inzwischen als der kriminalpolizeilich registrierte Willi Lopke, genannt Vierfinger-Willi, identifiziert. Lopke ist mehrfach wegen Einbruchsdiebstahls – Spezialität Geldschränke – und einmal wegen schweren Raubes vorbestraft. Die Mordkommission hat inzwischen die Bearbeitung dieser Sache übernommen. Weil aber möglicherweise ein Zusammenhang mit unserem Fall besteht, erwartet Sie Kommissar Lembke im Leichenschauhaus. Ich habe sicherheitshalber auch Ehrlich geholt, damit er sich den Mann einmal ansieht.“ 57
Krüger nickte. „So ist das also. Na, wir werden ja sehen!“ Für den Rest der Fahrt sah er schweigend aus dem Fenster. – Jedesmal, wenn Krüger durch die Gegend um den Schlesischen Bahnhof kam, mußte er an die Tage im Mai 1945 denken. Damals, die letzten Schüsse des Krieges waren kaum verhallt, war der Revolverdreher Schorsch Krüger hierher zurückgekehrt und hatte statt seines Wohnhauses einen Trümmerberg vorgefunden. Lene, seine Frau, von der er all die Monate, da er sich vor der Gestapo verbergen mußte, nichts gehört hatte, konnte er nicht finden. Auch von dem Betrieb, in dem er gelernt und gearbeitet hatte, war nichts übriggeblieben. Damals wäre Krüger beinahe verzweifelt, und wer weiß, wohin er geraten und was aus ihm geworden wäre, hätte er nicht zufällig seine Frau getroffen. Krüger lächelte versonnen. Lene hatte ihn damals angerufen, als er, noch immer wie betäubt von Schmerz und Enttäuschung, über den Alexanderplatz ging – ohne Ziel, ohne auch nur zu wissen, wo er sich befand. Wenn sie ihn nicht gesehen und erkannt hätte, wäre er glatt an ihr vorübergegangen, und dabei trug sie den braunen Mantel, den er ihr vor dem Kriege gekauft und der sie damals so gut gekleidet hatte. „Herr Kommissar, war das nicht hier, wo Sie damals verhaftet wurden?“ fragte Markwart in diesem Augenblick. Krüger nickte mechanisch. „Ja, das war auch hier.“ Dann erfaßte er die Frage, drehte sich halb zu Markwart um und erklärte: „Da drüben, wo die dicken Eisenträger aus den Trümmern ragen.“ Ehrlich, dem die Geschichte unbekannt war, fragte verwundert: „Wann wurden Sie denn verhaftet?“ 58
Der Kommissar schmunzelte. „An dem Tage, an dem ich zur Kripo kam!“ „Was?“ „Unser Chef wollte seinen alten Betrieb wieder aufbauen, alleine, verstehst du?“ sagte Markwart, dem Lene Krüger diese Geschichte einmal erzählt hatte. „Na ja“, warf Krüger brummig ein, „einer mußte doch anfangen, und die anderen von der Belegschaft waren entweder unauffindbar oder hatten keine Lust. Aber irgendwie mußte es doch weitergehen, nicht?“ „Ein Schutzpolizist hat den Chef festgenommen und zum Polizeipräsidium gebracht, weil er ihn für einen Dieb gehalten hat.“ In diesem Augenblick bog der Wagen in die Hannoversche Straße ein und hielt kurz darauf mit kreischenden Bremsen vor dem gerichtsmedizinischen Institut. Krüger verzog das Gesicht und sagte zum Fahrer: „Der könnte wieder einmal einen Tropfen Öl vertragen.“ „Da ist mit Öl nichts mehr zu machen, Herr Kommissar. Die Beläge sind ’runter. Neue gibt’s nicht“, erwiderte der Kraftfahrer lakonisch. Krüger hätte dem Kraftfahrer am liebsten auseinandergesetzt, daß er, Krüger, als er noch Dreher war, so manches Quietschen seiner Drehbank mit einem Tropfen Öl wegbekommen hatte, wo andere schon die Hoffnung aufgegeben hatten. Doch er besann sich, daß er nicht deswegen hier war, und winkte bloß ab. Ehrlich, der den Besuch im Leichenschauhaus gern noch eine Weile hinausgezögert hätte, blieb stehen und fragte: „Und was geschah damals weiter, Herr Kommissar?“ Schorsch Krüger ging nicht darauf ein. „Das erzähle ich Ihnen ein andermal“, erwiderte er und bedeutete Ehr59
lich voranzugehen. Kurz darauf standen die Kriminalisten in dem großen, kühlen Obduktionsraum im Keller des Instituts. Ehrlich bemühte sich krampfhaft, über die Leichen hinwegzusehen, die entlang der Wände links und rechts in waschtrogähnlichen Blechmulden lagen. Am Ende des langgestreckten Raumes stand eine Gruppe Männer um einen Holztisch, auf dem offenbar die Leiche Willi Lopkes lag. Ein lang aufgeschossener, bleicher Mann in dunkelgrauem Kittel hantierte an ihr mit dem Skalpell und diktierte dabei über die Schulter hinweg einem etwas abseits sitzenden ältlichen Fräulein seinen Befund. Krüger erkannte Lembke in dieser Gruppe und ging auf ihn zu. Kommissar Lembke gehörte zum „alten Inventar“, das heißt, er war schon vor dem Zusammenbruch des Nazireichs, ja sogar schon in der Zeit der Weimarer Republik in der Mordkommission tätig gewesen und einer der wenigen Spezialisten, die wegen ihrer relativ unbefleckten Vergangenheit und infolge ihrer Loyalität der antifaschistischen Ordnung gegenüber vorerst in die neue Polizei übernommen worden waren. Er war ein dürres, nahezu kahlköpfiges Männlein und stand kurz vor dem Rentenalter. Lembke hatte ein halbes Menschenleben lang Mörder gejagt und ihre Opfer besichtigt, so daß er längst über jene Unempfindlichkeit Toten gegenüber verfügte, die man sonst nur bei Totengräbern und Leichenwäschern findet. Als er Krüger erblickte, winkte er ihm zu und stellte mit einer lässigen Handbewegung vor: „Doktor Heberlein – Kriminalkommissar Krüger und seine Truppe.“ Dr. Heberlein deutete nur einen Gruß an, dann hantierte er weiter mit seinen Instrumenten. 60
„Wir haben schon angefangen, Herr Kollege, weil Doktor Heberlein es eilig hat“, erklärte Lembke und wies dabei mit dem Kopf auf die anderen Leichen. „Hier ist wieder einmal Hochbetrieb. Und bei den jetzigen Temperaturen …“ Krüger grunzte etwas, das man ebensogut als Zustimmung wie auch als Enttäuschung auffassen konnte, und blickte sich nach seinem Oberassistenten um. „Los, Ehrlich, sehen Sie sich den Mann an! Ist er’s?“ Ehrlich war zum ersten Male bei einer Obduktion zugegen. Er war ganz grün im Gesicht und starrte, eine Hand fest vor den Mund gepreßt, über Krügers Schulter, dann nickte er stumm. Kommissar Lembke, der ihn schon eine Weile beobachtet hatte, sagte spöttisch: „Daran müssen Sie sich langsam gewöhnen, Herr Oberassistent.“ Krüger runzelte unwillig die Brauen. Gewiß, Ehrlich war in solchen Dingen zu empfindlich für einen Kriminalisten. Trotzdem hätte Krüger nie daran gedacht, ihn deswegen zu verspotten. Deshalb kam er ihm zu Hilfe. „Kümmern Sie sich inzwischen mal um die Klamotten von Lopke“, sagte er betont freundlich. Ehrlich blickte ihn dankbar an. „Die Sachen sind oben, Nummer einhundertdreiundsiebzig“, warf der Arzt ein. Krüger hatte selbst gegen Übelkeit anzukämpfen, doch um nichts in der Welt hätte er sich vor Lembke eine Blöße gegeben. Er biß die Zähne zusammen und zwang sich, wenigstens ein paar Minuten den Hantierungen des Arztes zuzusehen, dann fragte er: „Kannten sie den Lopke, Kollege Lembke?“ Lembke schnitt eine säuerliche Grimasse. „Vierfinger-Willi? Und ob! War doch ein alter Kunde von uns. 61
Schränker. Keiner von der Spitzenklasse, höchstens gutes Mittelmaß, aber immerhin ganz clever. Ich möchte wissen, in was für eine Sauerei er da hineingeraten ist.“ „Jedenfalls hat sie ihn das Leben gekostet“, warf der schlaksige Assistent Lembkes ein, der am Kopfende des Sektionstisches stand und kein Auge vom Skalpell Dr. Heberleins ließ. Kommissar Lembke warf seinem Assistenten einen ärgerlichen Blick zu. Er schätzte solche Einmischungen von Untergebenen nicht. Für ihn begann der Kriminalist erst beim Kommissar; das war allgemein bekannt. Er verkniff sich jedoch in Krügers Gegenwart die sonst fällige Rüge und sagte statt dessen: „Glauben Sie, daß der Mord mit der Rauschgiftsache zusammenhängt, die Sie da in Händen haben, Herr Kollege?“ „Todsicher“, erwiderte Krüger. „Sowohl Lopke als auch Pinkel gehörten einem Rauschgiftring an, wie wir festgestellt haben. Lopke hat Pinkel umgebracht und wurde dann, wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen, selbst ermordet.“ „Da ist was dran. Wie eine gewöhnliche Abrechnung unter Ganoven sieht die Geschichte nämlich nicht aus“, gab Lembke zu. „Es könnte ein Ablenkungsmanöver sein – oder Ausschaltung der Konkurrenz. Wie auch immer, mir ist bisher kein Verbrecher untergekommen, der mit einem schriftlichen Mordgeständnis in der Tasche durch die Gegend latscht. Übrigens, Kollege Krüger, es sieht so aus, als ob der Wisch, den Ihr Oberassistent bei Pinkel gefunden hat, und der, den Lopke in der Tasche hatte, vom selben Schreiber stammen.“ „Wenn Lopke der Schreiber ist, wäre das doch natürlich“, warf Markwart ein. 62
Kommissar Lembke musterte ihn wie ein lästiges Insekt und erwiderte von oben herab: „Wenn, Herr Assistent, wenn! Der Haken ist bloß, daß ein Kerl mit Lopkes Pfoten nicht so zierlich und geschwungen schreibt.“ Er wandte sich wieder an Krüger. „Ich habe beide Zettel zur Schriftuntersuchung gegeben. Sollen die Experten sehen, ob sie damit etwas anfangen können. Viel Hoffnung habe ich zwar nicht bei unseren heutigen primitiven Möglichkeiten.“ In diesem Augenblick meldete sich Dr. Heberlein: „Ich bin soweit, meine Herren. Wenn Sie mir ein paar Minuten zuhören wollen.“ Er wartete erst gar nicht die Antwort ab, sondern sprach gleich weiter: „Ich spare mir die Einzelheiten, die können Sie nachher im Protokoll nachlesen. Also zur Sache. Der Mann ist ertrunken. Anzeichen grober Gewalteinwirkung sind nicht vorhanden. Das schließt nicht aus, daß er bewußtlos war, als er ins Wasser kam. Der Tod ist zwischen zwanzig Uhr dreißig und ein Uhr eingetreten. Eine exaktere Zeitbestimmung wäre möglich, wenn wir die Zeit wüßten, zu der er die letzte Mahlzeit eingenommen hat. Aus dem Verdauungsgrad der Speisereste in seinem Magen – er hat übrigens Wurstbrote gegessen und auch etwas Alkohol getrunken – ist zu entnehmen, daß der Tod etwa zwei Stunden nach dieser Mahlzeit eingetreten ist. Noch Fragen?“ „Ja“, knurrte Lembke. „Haben Sie Proben für eine chemische Analyse entnommen?“ „Noch nicht; aber wenn Sie es wünschen, mache ich es noch.“ „Ich bitte darum, und wenn es geht, lassen Sie uns bald das Ergebnis wissen.“ „Ich habe auch noch eine Frage, Herr Doktor“, sagte Krüger. „Ein Mann von Lopkes Konstitution wird sich kaum ohne Gegenwehr ins Wasser werfen lassen. Kampf63
spuren haben Sie jedoch keine feststellen können. Wäre es möglich, daß er geschlafen hat?“ Dr. Heberlein wiegte nachdenklich das Haupt. „Theoretisch ist das nicht auszuschließen. Allerdings müßte er dann einen sehr tiefen Schlaf gehabt haben oder Nichtschwimmer gewesen sein. Ich halte aber einen einfachen Schlaf für unwahrscheinlich. Er wäre erwacht; sobald er ins Wasser kam. Wenn man sich den Prozeß des Ertrinkens vor Augen hält, der ja immerhin einige Minuten dauert und dem in aller Regel verzweifelte Versuche, sich über Wasser zu halten, vorangehen, dann erscheinen mir die Gesichtszüge des Toten zu friedlich und zu entspannt. Außerdem findet man in solchen Fällen doch meistens Hautabschürfungen an den Händen und Beinen, hier fehlen sie jedoch. Es wäre nach dem vorliegenden Befund eventuell an eine Betäubung mit einem Schlafmittel zu denken. Sonst gäbe es nur noch eine Möglichkeit, wenn Sie Selbstmord unbedingt ausschließen wollen, nämlich Reflextod. Aber der kommt nur sehr selten vor.“ Die Kriminalisten verabschiedeten sich von Dr. Heberlein, der schon mehrfach nervös auf seine Armbanduhr gesehen hatte. Als sie wieder im Freien waren, sagte Lembke: „Der Mörder Pinkels steht damit fest. Jetzt fehlt mir noch der von Lopke, dann kann ich die Akte schließen. Selbstmord scheidet bestimmt aus! Vierfinger-Willi und ins Wasser hopsen? Nee, das lass’ ich mir nicht erzählen. Da will uns einer ganz schön verschaukeln.“ Nachdem Lembke mit seinem Assistenten davongefahren war, fragte Markwart: „Chef, haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir nachher einmal Lopkes Bude ansehe?“ „Ja“, erwiderte Krüger, „dagegen habe ich etwas. Wie ich Lembke kenne, ist er schon dorthin unterwegs. Wir 64
wollen ihm den Vortritt lassen. Schließlich ist die Untersuchung des Mordes seine Angelegenheit. Später werden wir weitersehen. Aber ich habe etwas anderes für Sie, Markwart Sie sichten inzwischen die Kartei nach Rauschgifthändlern.“ „Wenn es sein muß“, murrte Markwart sichtlich enttäuscht. „Und Sie, Ehrlich, reden mit dem Schriftsachverständigen und halten Verbindung mit der Mordkommission. Außerdem klappern Sie die Apotheken und Ärzte ab. Lassen Sie sich vom Gewerbeaußendienst ein paar zuverlässige Leute aus diesen Branchen nennen, und fragen Sie nach, ob ihnen etwas von illegalen Kokain- und Heroinverkäufen oder -ankäufen bekannt geworden ist. Ich selbst gehe ins Präsidium.“
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Rechtsanwalt Dr. Kraus greift ein
Im Büro angekommen, stürzte sich der Kommissar sofort in die Arbeit. Die ausnahmsweise in der sonst so betriebsamen Polizeizentrale herrschende Stille ließ ihn auf einen ruhigen Nachmittag hoffen, und Krüger freute sich, weil er Rückstände würde aufarbeiten können. Da lagen Berichte von der Landesopiumstelle, Meldungen von Ärzten, gefälschte Rezepte, Anzeigen über entwendete Medikamente und Suchtmittel. Alles war chronologisch geordnet. Krüger griff zuerst nach dem Bericht von der Landesopiumstelle. Viel Erfreuliches stand nicht darin, nur Klagen. Klagen über die Zersplitterung in der Suchtmittelkontrolle; Klagen über die unterschiedliche Handhabung der Suchtmittelbestimmungen in den einzelnen deutschen Ländern; Klagen über den Personalmangel; Klagen über Ärzte, die bei der Verordnung von suchtfördernden Medikamenten zu großzügig vorgingen. Klagen über Klagen, und die meisten davon waren berechtigt, wie Krüger nur allzugut wußte. Der Kommissar las den Bericht aufmerksam zu Ende, bevor er ihn zu seinen Vorgängern in die Mappe heftete. Dabei dachte er an seinen Fall, bei dem sich immer noch keine klaren Konturen abzeichneten und der durch den Mord an Lopke eher noch komplizierter geworden war. Es war wie verhext. Gewissenlose Elemente wie diese Rauschgiftschieber durchkreuzten die Bemühungen der Verwaltungs- und Gesundheitsorgane. Die Verbrecher waren aktiv, sehr aktiv; er wußte noch nicht einmal, 66
wo er sie zu suchen hatte. Hunderte und Tausende Menschen wurden durch den illegalen Rauschgifthandel ins Elend gestürzt. Die Süchtigen waren der hemmungslosen Raffgier und Willkür der Schieber unterworfen. Den Weg zur Polizei fanden sie nicht. Mehr noch, sie deckten diese Verbrecher aus Angst, die Quellen des begehrten Giftes könnten versiegen. Der Kommissar hatte es täglich mit solchen Menschen zu tun. Er kannte ihre Verzweiflung, aber auch ihren stetigen sozialen und moralischen Verfall. Was Faschismus, Krieg und Hunger von ihnen übriggelassen hatten, das vernichtete oftmals dieses verhängnisvolle Gift. In solchen Augenblicken empfand Krüger persönlichen Haß gegen die Verbrecher. Das Telefon riß ihn aus seinen Gedanken. Die Hauswache meldete sich. „Hier wird eben ein Rauschgiftsüchtiger zugeführt, Herr Kommissar. Soll er gleich zu Ihnen hochgebracht werden oder erst einmal in den Keller?“ fragte der Wachtmeister. Mit der Aufarbeitung der Rückstände schien es also wieder nichts zu werden. Krüger holte tief Luft. „Durchsucht ihn und bringt ihn hoch.“ Ärgerlich hängte er ein. Das Telefon schlug sofort wieder an. Noch einmal meldete sich der Wachtmeister: „Herr Kommissar, entschuldigen Sie, da ist nämlich noch etwas. Der Mann hat einen Rechtsanwalt bei sich; der will auch mit hoch. Geht das in Ordnung?“ „Wie denn“, fragte der Kommissar verwundert, „der hat seinen Anwalt gleich mitgebracht? Was ist denn überhaupt mit dem Mann los?“ „Moment, sofort.“ Krüger hörte, daß der Wachtmeister mit jemandem sprach, wahrscheinlich mit dem Polizisten, der den Süchtigen zugeführt hatte. Er verstand sogar ein paar Worte 67
des Gesprächs. Von einem falschen Rezept war die Rede. Krüger begriff sofort. „Herr Wachtmeister“, rief er in die Muschel, „lassen Sie es gut sein. Den Mann bringen Sie hoch, der Anwalt soll bleiben, wo der Pfeffer wächst. Wie heißt er überhaupt?“ „Doktor Kraus.“ „Es bleibt trotzdem dabei. Der Anwalt kann mich später anrufen. Meine Nummer hat er ja.“ Krüger kannte den Anwalt. Dr. Kraus war ihm nicht einmal unsympathisch. Dennoch wollte er ihn nicht bei der Vernehmung dabei haben. Schließlich haben Rechtsanwälte so ihre eigenen Ansichten über den Vernehmungsverlauf. Krüger konnte ein Lied davon singen. Es klopfte. Der Kommissar setzte sich in Positur, doch statt des erwarteten Rauschgiftsüchtigen, der ein Rezept gefälscht hatte, erschien das strahlende Mondgesicht des Rechtsanwalts in der Tür. Dr. Kraus war allein und kam unbefangen auf Krüger zu. „Verzeihen Sie, Herr Kommissar, daß ich Sie so mir nichts, dir nichts überfalle. Aber der Beamte unten hat mich falsch verstanden, und Sie hatten so schnell aufgelegt. Ich komme nicht – oder sagen wir: höchstens so nebenbei – wegen meines Klienten, der gerade eingeliefert wurde. Mir geht es um eine ganz andere Geschichte.“ Krüger musterte ihn ein wenig spöttisch, ein wenig verwundert. „Jetzt paßt es mir aber gar nicht, Herr Doktor Kraus. Ich habe sehr wenig Zeit; jeden Moment kann Ihr Klient eintreffen. Sie müssen sich schon ein anderes Mal herbemühen.“ Dr. Kraus war nicht so schnell abzuschütteln. Sein Beruf hatte ihn gelehrt, Widerstände zu überwinden; er hatte Erfahrung darin. „Was wäre ein Kriminalkommissar, der Zeit für einen Rechtsanwalt hat?“ Dr. Kraus breitete 68
deklamierend die Arme aus und lächelte Krüger gewinnend an. Auch der Kommissar lächelte. „Also schön, fünf Minuten. Aber ich muß erst Ihren neuen Klienten abbestellen.“ Dr. Kraus setzte sich auf den angebotenen Stuhl und wartete. Dabei schielte er vorsichtig auf die Papiere, die auf dem Schreibtisch des Kommissars lagen. Er war nun einmal von Natur aus neugierig, und beschriebenes Papier übte seit jeher eine kolossale Anziehungskraft auf ihn aus. Der Kommissar bemerkte es und schob den Stapel Papiere demonstrativ zur anderen Schreibtischkante. Dr. Kraus senkte schuldbewußt den Blick. „Also, worum geht es, Herr Rechtsanwalt?“ fragte der Kommissar. „Das ist nicht so leicht gesagt …“ Dr. Kraus begann, weit ausholend, von seinem menschlichen Interesse für die Opfer der Rauschgiftsucht zu sprechen. Er sagte wörtlich „menschliches Interesse“, was Krüger ein mokantes Lächeln entlockte, denn Dr. Kraus’ Geschäftstüchtigkeit war gerichtsbekannt. Der Anwalt bemerkte das Lächeln und sah dem Kommissar sekundenlang starr in die Augen. Er nannte das sein Blickduell und freute sich jedesmal, wenn der andere seinem Blick nicht standhielt. Bei Kommissar Krüger hatte er jedoch stets Pech damit gehabt. Auch heute war das so, deshalb sprach er mit dem ihm eigenen Pathos schnell weiter: „Mein Mitgefühl mit diesen armen Kreaturen, diesen bedauernswerten Opfern skrupelloser Gewinnsucht, veranlaßt mich immer wieder, ihre Verteidigung zu übernehmen; die juristische Verteidigung wohlgemerkt, nicht die moralische Rechtfertigung. Das wissen Sie ja am besten, Herr Kommissar.“ 69
Der Rechtsanwalt war ein glänzender Redner. Es machte Krüger Spaß, ihm zuzuhören. Die Mimik des Anwalts war ganz seinen rethorischen Künsten angepaßt. Krüger lauschte andächtig und versuchte dabei zu erraten, worauf der Verteidiger hinauswollte. Wegen irgendeiner Lappalie war er bestimmt nicht gekommen. „Um es kurz zu machen, Herr Kommissar, ich habe die Verteidigung eines gewissen Emil Littke übernommen, der bei Ihnen einsitzt.“ Krüger benötigte eine Weile, ehe er sich von seiner Überraschung erholt hatte. „Wie denn, ausgerechnet Littke alias Birne? Der Mann ist doch gar nicht süchtig. Er gehört eher zu der von Ihnen so verabscheuten Sorte der skrupellosen Gewinnsüchtigen.“ Dr. Kraus hob abwehrend die Hände. „Quod est demonstrandum, was erst zu beweisen ist, Herr Kommissar. Sie mögen in gewisser Hinsicht recht haben, denn Herr Littke selbst soll wirklich nicht süchtig sein. Ob er deshalb ein skrupelloser Verbrecher ist?“ Dr. Kraus hob zweifelnd die Schultern. „Solange das nicht gerichtlich bewiesen ist, hat er nach unserem Recht als unschuldig zu gelten.“ „Da Sie mich so gütig an einen Rechtsgrundsatz erinnern, Herr Doktor, darf ich Sie vielleicht auch auf etwas hinweisen : Bevor das Ermittlungsverfahren nicht abgeschlossen ist, geben wir grundsätzlich keine Auskünfte, auch nicht an den Anwalt des Beschuldigten. Sie müssen sich da schon zum Staatsanwalt bemühen.“ Dr. Kraus verneigte sich. „Gut pariert, Herr Kommissar. Doch Spaß beiseite. Wie gesagt, ich verteidige Littke und möchte Sie um einen Gefallen bitten. Natürlich liegt es mir fern, Ihre Untersuchung zu stören, im Gegenteil, ich bin sehr daran interessiert, daß die Sache möglichst bald abgeschlossen wird.“ 70
„Worum geht es denn?“ Der Kommissar war neugierig geworden. „Nur um eine Auskunft. Mich würde nämlich interessieren, ob bald Anklage erhoben wird. Außerdem hätte ich gern gewußt, ob Sie einer Sprecherlaubnis zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon zustimmen würden.“ Kommissar Krüger glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Was denn, das ist alles – und dafür der ganze Auftritt?“ fragte er augenzwinkernd. „Nun rücken Sie schon mit der Sprache heraus. Was wollen Sie wirklich?“ „Doch, doch. Das ist im Grunde genommen alles.“ Der Kommissar strich sich nachdenklich übers Haar. Da ist bestimmt ein Haken dran, überlegte er. Ein Anwalt wie dieser Kraus bemüht sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit persönlich zur Polizei. „Was die Voruntersuchung angeht, so läßt sich da noch nichts Genaues sagen“, meinte er schließlich vorsichtig. „Darf ich daraus schließen, daß Sie noch nach Mittätern suchen?“ „Von Mittätern habe ich nichts gesagt, Herr Rechtsanwalt.“ So leicht ließ sich der Kommissar nicht überfahren. „Aber Sie ziehen diese Möglichkeit in Betracht? Bei Rauschgiftfällen liegt das ja auf der Hand!“ „Sie sind gut informiert, Herr Doktor. Ihnen käme für Ihren Klienten der große Unbekannte wohl sehr gelegen, wie?“ Der Rechtsanwalt starrte auf seine polierten Fingernägel. „Wenn es Hinweise auf ihn gibt, natürlich. Noch lieber wäre es mir allerdings, wenn Sie ihn gleich mitservieren.“ Krüger grinste. Er mußte daran denken, was Dr. Kraus ihm vor einigen Monaten in einer ähnlichen Situation einmal gesagt hatte. Strafverteidiger, so hatte er behauptet, wären nicht zu beneiden, vor allem dann nicht, wenn 71
ihr Klient ein Rückfälliger wäre. Sie gerieten dann leicht in Verdacht: bei ihrem Klienten, weil sie nicht so viel für ihn erreichen konnten, wie dieser vielleicht erwartet hatte; in den Augen der Öffentlichkeit, weil sie bei einem solchen Menschen selbst dort noch einen guten Zug entdeckten, wo andere nur Laster, Gemeinheit und Unverbesserlichkeit sahen, und schließlich bei der Polizei, weil sie als letzten Rettungsanker immer Unkorrektheiten in der Behandlung ihres Klienten suchten. Allseits beliebte Verteidiger wären daher so selten wie Wassertümpel in der Wüste. – Dr. Kraus mußte es ja wissen. Auch heute drückte seine Haltung etwas von dieser Erkenntnis aus. „Ich würde Ihnen gern helfen, Herr Rechtsanwalt“, sagte Krüger versöhnlich. „Danke, Herr Kommissar. Ich weiß. Könnten Sie mir wenigstens bei der Erledigung einer Formsache behilflich sein? Herr Littke muß meine Vollmacht noch unterschreiben.“ „Wer hat Sie überhaupt zu seinem Anwalt bestellt?“ Krüger wunderte sich, daß er nicht früher daran gedacht hatte. Littke war ja von der Außenwelt abgeschnitten. Trotzdem mußte irgendwer den Rechtsanwalt mobilisiert haben. Wer konnte Interesse daran haben? Die Organisation? Das erschien Krüger unwahrscheinlich, denn Littke wußte zuwenig von ihr. Oder sollte er doch nicht alles gesagt haben? Der Rechtsanwalt hatte Krüger beobachtet. „Sie bringen mich mit Ihrer Frage in eine peinliche Situation, Herr Kommissar.“ Dr. Kraus wand sich verlegen. „Der Auftraggeber hat mich nämlich gebeten, ihn nicht zu nennen. Andererseits möchte ich Ihnen gern gefällig sein.“ 72
„Schon gut. Lassen Sie die Vollmacht hier, Herr Doktor. Sobald Littke sie unterschrieben hat, stelle ich sie Ihnen zu.“ Dr. Kraus schien mit sich zu ringen. „Herr Kommissar, wenn Sie mir Ihr Wort geben, daß Sie es vertraulich behandeln, nenne ich Ihnen den Auftraggeber. Darf ich dann auch um etwas bitten?“ Als Krüger abwehrend die Hände hob, sprach Kraus schnell weiter: „Sie könnten jemanden beauftragen, der mich in den Haftkeller begleitet. Ich weiß, daß Littke noch hier ist. Im Beisein des Beamten könnte er die Vollmacht unterschreiben, und ich hätte etwas Zeit für die Verteidigung gewonnen. Selbstverständlich werde ich mit ihm nicht über den Fall sprechen.“ Der Kommissar überlegte. Im Grunde genommen konnte gar nichts passieren. Dr. Kraus war ein namhafter Rechtsanwalt, und Birne hatte ohnehin ein Geständnis abgelegt. „Also gut, ich bin einverstanden.“ Dr. Kraus freute sich. „Ich wußte, daß man mit Ihnen reden kann, Herr Kommissar. Übrigens, der Auftraggeber ist eine Frau Rebbin. Soviel ich weiß, ist sie mit Herrn Littke liiert.“ „Frau Rebbin? Wo hat die denn auf einmal so viel Geld her?“ Der Anwalt hob bedauernd die Schultern und verabschiedete sich höflich.
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Im Winter ist es schöner
Bahnhof Schönhauser Allee hätte Herr Harald Thorsten eigentlich aussteigen, den Ausgang in Fahrtrichtung wählen und zur Bornholmer Straße gehen müssen, denn dort wohnte er. Doch er wollte noch nicht nach Hause, wo ihm die Wände zu eng wurden und ihn der Jammer noch mehr packte als hier in der schmutzigen, überfüllten SBahn. Deshalb blieb er sitzen und starrte weiter auf seine Fußspitzen. Von Zeit zu Zeit zuckte es in seiner linken Gesichtshälfte. Die Wangenmuskeln verkrampften sich, rissen das Augenlid nach unten und den Mundwinkel nach oben. Die rechte Gesichtshälfte rührte sich nicht. Sie war starr. Eine grauenvolle Narbe zog sich schnurgerade darüber hin, sie begann an der Schläfe und verschwand in dem graumelierten, gepflegten Bart, der Thorstens Kinn zierte. Seine Finger hielten eine Zigarette, an der sich die Asche lang und weiß herabneigte; jeden Moment mußte die Glut die Finger erreichen, Herr Thorsten bemerkte es jedoch nicht. Ein Arbeiter starrte gebannt auf das glimmende Pünktchen, inhalierte gierig den aromatischen Duft und murmelte: „So eine Verschwendung.“ An der Tür stand ein häßlicher Mann, der sich auf die Fußspitzen stellen mußte, als er über die Holzwand hinweg Herrn Thorsten betrachtete. Er beobachtete Thorsten schon seit einer halben Stunde so geduldig, wie die Klapperschlange das Kaninchen beobachtet, um es todsicher zu erbeuten. Schon als Harald Thorsten das Lokal am Oranienburger Tor verließ und niedergeschlagen zur 74
S-Bahn ging, hatte er sich an seine Fersen geheftet. Harald Thorsten war das entgangen. Er hatte den kleinen häßlichen Mann weder beim Umsteigen in Gesundbrunnen noch danach bemerkt. Neue Fahrgäste stiegen zu. Viele hatten müde, verhärmte oder auch mürrische Gesichter. Nur selten wurde gelacht. Um diese Zeit fuhren zumeist Arbeiter und Angestellte nach Hause, sie dachten an die Sorgen und Probleme, die sie erwarteten. Am Bahnhof Ostkreuz drängte sich eine Gruppe lärmender Fahrgäste in den Wagen, verstopfte die Gänge und versperrte dem kleinen Mann an der Tür die Sicht. Doch nach und nach leerte sich der Wagen wieder. Herr Thorsten saß unverändert auf seinem Platz. Schließlich wurden auch die Plätze in seiner Sitznische frei, und jetzt endlich schien der Moment für den Kleinen gekommen zu sein. Er setzte sich scheinbar zufällig Harald Thorsten gegenüber und begann umständlich in seiner Rocktasche herumzukramen. Papier knisterte. Thorsten achtete nicht darauf. Sein Blick klebte an den Schnipseln, abgebrannten Streichhölzern und feuchten Flecken auf dem Fußboden. Der Mann schien schließlich gefunden zu haben, wonach er suchte. Thorsten blickte hoch, betrachtete unwillig den häßlichen Kerl und sah das unscheinbare Tütchen in dessen Händen. Seine Augen saugten sich daran fest. Das durchsichtige Papier gab den Blick auf ein feinkörniges weißes Pulver frei. Harald Thorstens Lippen begannen zu beben, sein ganzer Körper strebte diesem Tütchen entgegen. Der Kleine schien von alledem nichts zu merken. Er riß das Papier auf und schüttete etwas von dem weißen Pulver, ein winziges Häufchen nur, in den Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger seiner Linken. Behutsam hielt 75
er die Hand vom Körper abgespreizt, dicht vor Herrn Thorstens Augen, während er mit der Rechten das Tütchen zusammenfaltete und zurück in die Rocktasche schob. Langsam, genießerisch die Augen schließend, führte er das Pulver seiner Nase entgegen. In diesem Augenblick warf sich Thorsten nach vorn, packte die Hand des Mannes und zerrte sie auf sein eigenes Gesicht zu. Der Kleine fuhr wütend hoch. „He, du Idiot, was soll das?“ Er riß seine Hand los und rückte ein Stück ab. Dabei schüttete er das Pulver achtlos auf den Boden; die Reste klopfte er brummig von seiner Hose. „Sie haben es verschüttet“, heulte Thorsten fassungslos. Seine Schultern zuckten, sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Er wollte sich auf den Kleinen stürzen, doch sein Versuch schlug fehl. Obwohl er einen guten Kopf größer war, wurde er zurückgestoßen und taumelte kraftlos auf seinen Sitz. „Versucht nicht noch mal, sonst kannst du was erleben“, sagte der Kleine, wobei er seinen breiten Mund zu einem schiefen Grinsen verzog. Seine Augen funkelten tückisch. „Entschuldigen Sie“, wimmerte Thorsten, „ich weiß schon nicht mehr, was ich tue. Ich bin völlig durcheinander. Verstehen Sie mich doch! Ich brauche das!“ „Na, wenn’s bloß deswegen ist. Damit kann ich dienen“, sagte der Kleine friedfertig und schob die Hand wieder in die Rocktasche. Herr Thorsten verfolgte gierig seine Bewegungen. Plötzlich hielt der Kleine inne und musterte ihn argwöhnisch. „Oder sind Sie pleite?“ Thorsten schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein. Ich kann bezahlen. Mein Lieferant ist aufgeflogen. Ein Arzt. Vorige Woche schon.“ 76
Der Kleine blinzelte verständnisvoll. „Ein Rezeptdoktor, wie?“ Herr Thorsten nickte. „Was verlangen Sie. Ich habe Geld bei mir.“ „Fünfhundert. Für Stammkunden wird es später billiger.“ „Geben Sie her.“ Thorsten holte seine Brieftasche hervor. Eine grüne Tasche aus Saffianleder mit den goldenen Initialen H. T., unverkennbar Offenbacher Ware. Der Kleine sah neugierig zu. Das dicke Geldbündel in der Brieftasche quittierte er mit zufriedenem Grinsen. „Mann, schleppen Sie immer so viel Kies mit sich herum?“ Herr Thorsten nickte gleichgültig, zählte ein paar Scheine ab und reichte sie dem Kleinen. „Zählen Sie nach.“ Der Kleine warf einen flüchtigen Blick darauf und ließ sie flink in seiner Rocktasche verschwinden. Dann gab er Thorsten ein Tütchen von der gleichen Art, wie er es vorhin in der Hand hatte. Herr Thorsten riß es an sich, wollte es öffnen, doch der Mann hielt ihn zurück. „Einen Moment noch. Was machen Sie, wenn das Zeug alle ist?“ Thorsten hatte noch nicht darüber nachgedacht. Jetzt, mit dieser Frage konfrontiert, sah er den Kleinen hilflos an. „Kann ich nicht bei Ihnen …?“ Ein Fahrgast stieg zu und setzte sich ausgerechnet in ihre Sitznische. Der Kleine konnte gerade noch warnend den Finger auf die Lippen legen. „An der nächsten Station steigen wir aus“, sagte er bestimmt. Der Zug fuhr im Bahnhof Witzleben ein. Der Kleine stand auf, und Herr Thorsten folgte ihm gehorsam wie ein guterzogenes Kind. „Wir bleiben gleich hier“, bestimmte der Kleine und steuerte eine Bank am Ende des Bahnsteigs an. 77
Thorsten setzte sich. Ihm war alles recht, wenn der häßliche Zwerg mit dem Schimpansengesicht nur endlich verschwinden und ihn allein lassen wollte. Seine Hand umklammerte das Tütchen. „Also“, sagte der Kleine, „Sie wollen ständig beliefert werden, wenn ich Sie recht verstehe.“ Die Handbewegung, mit der er seine Worte unterstrich, hätte Blücher nach der Schlacht bei Waterloo Ehre gemacht. Thorsten stand der Sinn nicht nach historischen Gesten. Er wurde zunehmend ungeduldiger. „Schön, weil Sie mich so herzlich darum bitten“, sagte der Kleine gönnerhaft. „Schreiben Sie mir hier Ihre Adresse auf und wann Sie die Lieferungen wünschen.“ Mit diesen Worten schob er Thorsten ein schmuddliges Stück Papier und einen Bleistiftstummel zu. Thorsten sah unentschlossen zwischen Papier, Bleistift und „Blücher“ hin und her. „Muß das wirklich sein? Könnten wir uns nicht an anderer Stelle …“ Der Kleine schnitt ihm das Wort ab. „Woanders geht es nicht. Schon aus Sicherheitsgründen. Außerdem kann bei mir etwas dazwischenkommen, dann muß ich jemand anderes schicken, und wie wollen Sie den erkennen, he?“ Herr Thorsten war trotzdem unschlüssig. „Die Leute im Haus, Frau Lehmann zum Beispiel, wenn die etwas merken.“ Wieder war der Kleine siegessicher. „Keine Angst! Wir sind keine Anfänger. Aber wenn Sie nicht wollen, bitte!“ Der Kleine zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. „Nein, bleiben Sie!“ Harald Thorsten krakelte seine Adresse auf das Papier. „Und wann?“ „Am besten einmal in der Woche, sagen wir Montag abend ab acht.“ 78
„Gemacht!“ Der Kleine sah sich nach allen Seiten um und neigte seinen Kopf zu Herrn Thorstens Ohr. „Wenn ich nicht selbst komme, dann gehen Sie auf die Sache nur ein, wenn der Besucher die Losung kennt. Kapiert?“ Herr Thorsten nickte apathisch. „Der Betreffende wird Sie begrüßen und danach sagen: Im Winter ist es schöner. Dann ist die Sache in Ordnung.“ „Im Winter ist es schöner“, wiederholte Thorsten. „Okay.“ Der Kleine nickte zufrieden. „Also dann bis Montag.“ „Einen Augenblick!“ Thorsten sprang auf. „Kann ich nicht gleich noch etwas kriegen? Das reicht nicht so lange!“ Der Kleine schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe leider nichts mehr bei mir. Aber ich kann diesmal ja früher kommen. Morgen oder übermorgen.“ Thorsten nickte zustimmend. „Aber bitte vergessen Sie es nicht!“ Harald Thorsten blieb noch eine Weile sitzen, stand dann schwerfällig auf und ging auf die Toiletten zu. Es war ein schlapper, gebeugter, fahriger Mann, der den unsauberen Ort betrat. Wenige Minuten später kam ein forscher, selbstbewußter Herr Thorsten heraus. Nach seiner straffen Körperhaltung, seinen knappen, beherrschten Bewegungen hätte man ihn für einen ehemaligen Offizier halten können. Inzwischen saß der Kleine mit dem Schimpansengesicht, den alle Welt nur Affe nannte, vergnügt in der SBahn und fuhr die Strecke zurück, die er vor kurzem gekommen war.
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Kommissar Krüger und seilt Team
Krüger musterte nachdenklich die Frau, die sich ungeniert in einem Polstersessel rekelte. „Sie haben diesen Fremden also nie zuvor gesehen, Frau Rebbin?“ „Nie, Herr Kommissar!“ „Und Ihr Freund hat auch niemals von ihm gesprochen?“ „Nein, niemals!“ Edith Rebbin sagte es so bestimmt, daß der Kommissar diesmal nicht an ihren Worten zweifelte, obwohl er nicht viel von ihrer Wahrheitsliebe hielt. Frau Rebbin war der Polizei nicht unbekannt. Das Sittendezernat, bei dem sich Krüger vorsorglich erkundigt hatte, ehe er sie aufsuchte, besaß eine ansehnliche Akte über Littkes Freundin. Diese Akte reichte bis in die Zeit zurück, als Frau Rebbin noch Singer hieß und mit einem Schuster verheiratet war. Schon damals hatte sie die Einnahmen ihres Mannes durch Dienstleistungen vergrößert, die nicht zum Schusterhandwerk gehören. Littke arbeitete seinerzeit als Geselle in der kleinen Werkstatt, und von daher kannten sich die beiden. „Frau Rebbin, können Sie sich wenigstens denken, warum dieser Unbekannte Ihnen das Geld für Littkes Verteidigung gegeben hat?“ Frau Rebbin schien seine Frage falsch aufgefaßt zu haben. „Na, so unbekannt ist er ja auch nicht, Herr Kommissar“, erwiderte sie. „Er hat sich immerhin als Müller vorgestellt und kennt Emil von früher.“ 80
Der Kommissar lächelte ironisch. „Sie meinen also, das ist Grund genug, für einen anderen die immerhin nicht unerheblichen Anwaltsgebühren zu bezahlen?“ Frau Rebbin zögerte. „Na?“ ermunterte sie der Kommissar. „Es wird schon noch etwas anderes dabei sein. Etwas, das er mir nicht sagen wollte. Vielleicht haben die beiden das Ding zusammen gedreht“, antwortete Edith Rebbin schließlich. „Welches Ding?“ „Na, das, wofür Emil jetzt sitzt.“ „Der Unbekannte hat demnach nichts darüber gesagt?“ „Nein, Herr Kommissar. Das ist mir auch egal. Ich habe schließlich damit nichts zu tun. Ich weiß nur, daß Emil bei einer Razzia hoppgenommen wurde. – Herr Müller hat mir gesagt, ich soll das Geld diesem Rechtsanwalt geben, und das habe ich getan.“ „Hat er Ihnen denn einen bestimmten Anwalt genannt?“ fragte der Kommissar. „Ja, es mußte unbedingt Doktor Kraus sein. Wahrscheinlich hat er selbst gute Erfahrungen mit dem gemacht.“ „Haben Sie nicht wenigstens einmal nachgefragt, wie Littkes Sache steht?“ „Nein, wozu? Wenn Emil wieder draußen ist, wird er sich schon bei mir melden“, erwiderte die Frau gleichgültig. Auf dem Rückweg ordnete Krüger das Gehörte; der Fußweg ließ ihm genügend Zeit dafür. Der Kommissar ging gern zu Fuß und ließ das Treiben rundherum auf sich wirken. Dabei dachte er auch manchmal an die Zeit, als er, von der Gestapo gesucht, nur im Schutze der 81
Nacht durch die Straßen gehen und Luft schöpfen konnte. Diese Zeit war vorüber, endgültig! Die Stadt regte sich wieder, und man konnte wieder für zwanzig Pfennig im Kreis fahren, aber man kam dabei durch vier Zonen und las Plakate und Tafeln in vier Sprachen … Nein, das war nicht mehr die alte Stadt. Das war eine neue Stadt, eine traurige und zugleich lebenshungrige Stadt, die aus tausend Wunden blutete. Am Königstor, an der Haltestelle der Linie vierundsiebzig, fiel, gerade als Krüger vorbeikam, eine Frau in Ohnmacht. Unter der hohen Wölbung ihres Leibes zuckte es. Der Frau fehlte offenbar die Kraft, die dieses werdende Leben ihrem Körper entzog. Krüger hätte gern geholfen. Das blasse, schweißbedeckte Gesicht der jungen Frau verkrampfte sich vor Schmerz. Sie wollte nach Hause. Alles, was der Kommissar für sie tun konnte, war, ihr einen Platz in der Straßenbahn zu verschaffen. Am Alex spielte ein Kino ohne Pause. Dort herrschte ständiges Kommen und Gehen. Die Reklame über dem Eingang kündigte einen Film mit Hans Albers an. Krüger blickte kaum hin. Ein junger Mann mit abenteuerlichem Haarschnitt, beide Hände in den Taschen vergraben, sprach ein altes Muttchen an, das einen asthmatischen Dackel hinter sich herzog und zur Litfaßsäule blinzelte. Dort fragte ein grellbuntes Plakat in unheilverkündenden Lettern: ‚Kennt Ihr Euch überhaupt?‘ Es warnte vor Gonorrhoe und Syphilis und klebte inmitten anderer Anschläge, die mit den Worten ‚Befehl Nr. …‘ oder ‚Direktive Nr. …‘ begannen. „Das brauchste nicht zu lesen, Oma. Das ist nichts mehr für dich“, sagte der junge Mann grinsend und zeigte auf das bunte Plakat. 82
In der Vorhalle des S-Bahnhofs wurde mit Lebensmitteln, Wertsachen und Lustgefühlen gehandelt. Die Wollust war noch am billigsten und schon für dreißig Mark zu haben. Ein Brot kostete fünfzig Mark. Krüger wußte es, wie alle es wußten. Er biß ohnmächtig die Zähne zusammen und ging weiter. Er wußte auch von Schüssen, die nachts in dunklen Straßen und Ruinen fielen – und daß die Kriminalstatistik in die Höhe schnellte. Er hatte den Wachtmeister gekannt, der kürzlich wegen einiger Pfund Kartoffeln zwei Tage vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag erschossen worden war. Das alles kam ihm jedesmal in den Sinn, wenn er durch die Stadt ging, und manchmal wurde er ganz mutlos davon. „Ich habe es gründlich satt, immer nur im Dreckkübel der Gesellschaft herumzuwühlen“, sagte Krüger an diesem Abend zu seiner Frau. „Den materiellen Schutt kannst du wegräumen, das ist gar nicht schwer, aber den, der in den Herzen und Köpfen der Menschen steckt, den kriegst du nicht zu fassen.“ Lene schmiegte ihre Wange an seine breite Brust und zeichnete mit dem Finger die Venen auf seinem Handrücken nach. „Starke Hände hast du und viel Kraft. Weißt du noch, wie du allein deinen alten Betrieb freischippen wolltest, weil die anderen keine Lust dazu hatten?“ Schorsch Krüger nickte. „Die Trümmer haben noch geraucht. Das war deine Idee, Lene. Einer müsse anfangen, hast du gesagt, und du hattest recht.“ Lene Krüger lächelte. „Und dann hat dich dieser junge Wachtmeister verhaftet, und im Präsidium haben sie dir auch erst nicht glauben wollen.“ „Aber dann …“ Schorsch Krüger winkte ab. „Erinnere mich bloß nicht daran.“ 83
„Dann“, vollendete Lene den Satz, „dann haben dir die Genossen gesagt, daß du genau der bist, den sie brauchen; und als frischgebackener Kriminalsekretär hast du das Präsidium verlassen.“ „Ich hatte damals vom Polizeidienst genausoviel Ahnung wie ein Leuchtturmwärter von der Organisierung einer Massenkundgebung.“ „Du hast gelernt; jetzt bist du Kommissar.“ Sie tippte auf seine Brust. „Du bist stark, und da drinnen ist es warm und gut. Du bist der beste Kriminalkommissar der Welt.“ Schorsch Krüger rührte sich nicht. Der Mond zeichnete fahle Streifen an die kahle Wand. Irgendwo im Gebälk knisterte es leise. Da sagte Schorsch tonlos: „Ich bin nicht stark. Und ich kann die gierigen Augen, die verzerrten Münder nicht mehr sehen, das Gejammere nach Rauschgift nicht mehr hören. Ich bin Dreher, und ich will wieder drehen; Maschinenteile oder sonst irgend etwas, nur nicht mehr in den Taschen Erschlagener herumwühlen! Begreifst du das nicht, Lene?“ „Natürlich verstehe ich das, aber einer muß es doch machen.“ „Warum ausgerechnet ich? Warum verlangt man das von mir?“ „Weil du es kannst, und weil du nicht allein bist.“ Lene schmiegte sich noch enger an ihn. Ihre Lippen streichelten seinen Hals. „Ich bin stolz auf dich, Schorsch.“ Am anderen Morgen war Krüger noch früher im Büro als gewöhnlich. Nichts war mehr von der Resignation des Vorabends zu spüren. Ehrlich war bereits da. Sein griesgrämiges Gesicht störte den Kommissar an diesem Tage besonders. „Mensch, Ehrlich, können Sie überhaupt nicht lachen?“ 84
Ehrlich hätte gern gelacht, aber er hatte in der vergangenen Nacht seine Frau mit einem Blutsturz ins Krankenhaus gebracht. Sein Junge blieb jetzt tagsüber ohne Aufsicht. Wahrscheinlich spielte er mit anderen Kindern irgendwo in einer Ruine, denn Kinder lieben das Abenteuerliche, Geheimnisvolle. Daran mußte der Oberassistent denken, und es war ihm gar nicht wohl dabei. Nur Markwart, der inzwischen ebenfalls eingetroffen war, schien nichts aus der Bahn zu bringen. Er war immer vergnügt, immer zum Scherzen aufgelegt. Seine Arbeit schien er als eine Art Sport zu betrachten. Eingeschlagene Schädel und giftzerfressene menschliche Ruinen schreckten ihn nicht. So schien es jedenfalls denen, die mit ihm zu tun hatten. Über sich selbst sprach der Assistent nie. „Im Grunde ersparen uns die Ganoven eine Menge Arbeit, wenn sie sich gegenseitig umbringen“, sagte Markwart trocken. Der Kommissar schüttelte ärgerlich den Kopf. So gern er Markwart mochte, so wenig gefiel ihm seine Art, über manche Dinge zu reden. „Einige werden übrigbleiben, und das sind die gefährlichsten. Sie sollten sich endlich den Landserjargon abgewöhnen, Markwart!“ sagte er streng. Der Assistent schluckte den Vorwurf schweigend. „Wie stark mag die Bande sein?“ fragte Ehrlich. Der Kommissar holte ein großes blaues Taschentuch hervor und schneuzte sich umständlich, ehe er antwortete. „Da ist schwer zu sagen. Rauschgiftringe sind meistens schon wegen des Absatzes weit verzweigt. Neben dem Führungskern gibt es das Verteilernetz und die Nachschublieferanten. Zwischen ihnen und den Hauptakteuren sind in der Regel Mittelsmänner eingebaut. 85
Zwischen diesen und dem eigentlichen Kopf gibt es oftmals noch weitere Glieder. Ich erinnere mich, daß vor dem Krieg in Amerika eine Bande aufgeflogen ist, die über zweihundert Mitglieder hatte. Den Chef haben jedoch nur drei Leute gekannt. Einer davon wurde umgebracht, als er sich selbständig machen wollte.“ „Könnte das bei unserem Ring nicht ähnlich sein?“ fragte Markwart. „Nehmen wir einmal an, wir haben es mit einer Bande zu tun, die schon sehr lange ihr Unwesen treibt, aber wegen irgendwelcher Tricks bisher unauffällig blieb …“ „Zum Beispiel dadurch, daß sie entweder einen festen Kundenkreis oder einen sehr großen Aktionsradius oder aber sogar beides hat und deshalb keine Konzentrationen auftreten“, warf Krüger ein. „Ja, vielleicht. Nehmen wir weiter an, daß Pinkel und Lopke sich selbständig machen wollten und der Bandenchef das erfuhr. Dann hätten wir doch eine logische Erklärung für diese beiden Morde.“ Krüger sah Ehrlich fragend an. Der Oberassistent nickte. „So ungefähr könnte es sein.“ Krüger wiegte zweifelnd den Kopf. „Herrschaften, vergessen wir zwei wichtige Umstände nicht. Erstens: Pinkel wurde erst ermordet, nachdem wir ihn festgenommen hatten! Er sollte, wie wir, von Birne wissen, von diesem das Kokain übernehmen. Wenn der Chef Pinkel mißtraut hätte, wäre vermutlich ein anderer damit beauftragt worden. Zweitens: Lopke hat Pinkel ermordet. Das steht zweifelsfrei fest. Der Knopf, den Ehrlich in Pinkels Hand fand, stammt von Lopkes Jackett, wie mir heute morgen von der Kriminaltechnik mitgeteilt wurde. Mir scheint, so einfach machen es uns die Halunken nicht. 86
Außerdem glaube ich auch nicht, daß uns das Motiv für die beiden Morde im Moment schon viel weiterbringt. Solange es uns nicht gelingt, das Verteiler- und Abnehmernetz aufzurollen und die Verbindungswege zur Zentrale zu entdecken, kommen wir nicht voran. Die Bande vertreibt das Rauschgift bestimmt nicht grammweise. Aber wo zum Teufel bleibt das Zeug. Wir wissen doch, daß der Handel damit auf der Straße relativ unbedeutend ist.“ Ehrlichs Ohren glühten, als er einwarf: „Wir sollten nicht nur Berlin sehen. Sie haben selbst gesagt, daß Rauschgiftringe weit verzweigt sind, Herr Kommissar. Der Absatz kann sich ja auf das ganze Land erstrecken.“ Krüger nickte. „Der Gedanke ist richtig. Das Verbrechen ist nicht an kommunale oder politische Grenzen gebunden. Rauschgift wird in Halle, Leipzig, Hannover oder Hamburg genauso gehandelt wie in Berlin. Warum sollte das Verteilernetz nicht auch andere Städte umfassen. In Berlin ist vielleicht nur die Zentrale. Die Zonengrenzen machen eine zentrale Bekämpfung dieser Verbrecher unmöglich, deshalb müssen wir uns wenigstens für die sowjetische Zone einen genauen Überblick über den Rauschgifthandel verschaffen. Ich werde das einleiten. Doch bleiben wir erst einmal in Berlin. Was hat Ihre Nachfrage bei Ärzten und Apotheken bisher ergeben, Ehrlich?“ Der Oberassistent winkte mißmutig ab. „Fehlanzeige, Herr Kommissar. Ich bin zwar noch nicht mit allen Adressen durch, habe aber trotzdem nicht viel Hoffnung.“ „Überhaupt kein Anhalt?“ „Nur ein komisches Gefühl bei einem Arzt, Doktor Römer. Der sieht aus, als ob er selbst schnupft.“ Krüger horchte auf. Der Name war ihm irgendwie geläufig. Er begann in seinem Schreibtisch herumzusuchen 87
und fand schließlich eine Meldung. „Wohnt dieser Doktor Römer in der Chausseestraße?“ fragte er. „Seine Praxis hat er dort“, erwiderte Ehrlich. „Ich habe hier eine Meldung von ihm. Vor zwei Wochen ist er angeblich von einem Süchtigen bedroht worden, weil er ihm kein Suchtmittelrezept geben wollte. Doktor Römer hat das beim zuständigen Revier angezeigt. Da, Ehrlich, nehmen Sie. Das hatte ich Ihnen sowieso zugedacht. Gehen Sie der Sache nach.“ Markwart hatte inzwischen sein Notizbuch gezückt und fragte: „Soll ich auch gleich, Chef?“ „Schießen Sie los. Was sagt die Kartei?“ „Rauschgifttäter liegen eine ganze Menge ein. Aber meistens kleine Fische. Vier nur haben im größeren Stil gearbeitet. Der erste, ein Perser, ist laut Kartei seit Herbst neunzehnhundertfünfundvierzig unbekannt verzogen, wahrscheinlich zurück in seine Heimat. Scheidet also aus. Der zweite, ein Ernst Hase, wurde neunzehnhundertdreiundvierzig von den Nazis als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ins Zuchthaus geschickt und ist seither nicht wieder aufgetaucht, was ja nicht ausschließt, daß er irgendwo unter falschem Namen herumläuft. Der dritte, ein gewisser Friedhelm Steinicke, wohnt in Hannover und soll dort inhaftiert sein. Scheidet also auch aus. Und der vierte schließlich, ein gebürtiger Däne mit Namen Eugen Ohlsen, soll sich irgendwo hier in Berlin herumtreiben. Die Adresse, die in seiner Kartei angegeben ist, existiert nicht mehr. Das Haus ist zerschossen worden. Aber Ohlsen soll in Berlin sein, wie aus einem Vermerk vom März dieses Jahres hervorgeht. Er ist übrigens zur Fahndung ausgeschrieben wegen schweren Raubes. Soll ich mich um den Vogel kümmern, Chef?“ 88
Der Kommissar kaute auf den Spitzen seines Schnurrbartes herum. Seine Finger malten Figuren auf die Schreibtischplatte. Er schien Markwarts Frage nicht gehört zu haben. „Ich könnte mich am Oranienburger Tor und am Zoo umhören. Dort soll er in der letzten Zeit öfter gesehen worden sein“, schlug Markwart erneut vor. „Das wird wenig Sinn haben“, sagte der Kommissar endlich. „Bis jetzt liegt bei uns nichts gegen ihn vor. Wenn Sie nach ihm forschen, wird er möglicherweise aufgescheucht. Ich nehme an, die Kollegen von der Fahndung überwachen sowieso seine Anlauf stellen.“ Der Assistent nickte. „Na also. Sehen Sie sich einstweilen die Kneipen an, in denen eventuell Rauschgift gehandelt wird. Eine Liste von diesen Lokalen haben wir ja.“ Eine Stunde später stieg Kommissar Krüger die vier Stockwerke eines Quergebäudes in der Schönhauser Allee hinauf. Hier wohnte Frau Strasser, eine rüstige Sechzigerin, die Wirtin Willi Lopkes. Frau Strasser sah den Kommissar verwundert an. „Det is ja ’n Ding. So ville Leute woll’n uff eenmal wat von Willin.“ Daß man von Willi Lopke, genannt Vierfinger-Willi, gar nichts mehr wollen konnte, wußte sie noch nicht. Kommissar Lembke war also doch nicht hier gewesen. Krüger unterrichtete Frau Strasser schonend von Lopkes Tod. Ihre Hand klappte auf den offenen Mund, während ihre Augen ganz rund wurden und zu glänzen begannen. „Mein Jott, wie schnell so wat jeht, heutzutage. Und noch so’n junger Kerl!“ Frau Strasser war eine mitleidige Seele. Sie hatte Willi gern gehabt, schon wegen der Zigaretten, die er ihr hin und wieder schenkte. 89
„Wer hat sich denn nach Ihrem Untermieter erkundigt, Frau Strasser?“ Direkt erkundigt hatte sich niemand. „Ein Mann war da und hat ’n paar Sachen von Willin abjeholt. Aber nicht ville. Vor drei Tagen war det.“ „War der Mann früher schon einmal hier gewesen?“ fragte Krüger. „Ja, zweemal. Mit Willin zusammen. Und da habe ick eben jedacht …“ Frau Strasser verfügte über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Wenn sie sich einmal ein Gesicht näher betrachtet hatte, vergaß sie es nie wieder. Das Gesicht des Besuchers hatte sie sich angesehen, und sie erinnerte sich: „Der hatte so’n richtiges Affengesicht. Kleen und runzlig, und die Haare, die komm’ bei den jleich über de Neese ’raus. Und wat sein Mund is, Herr Kommissar, Sie können’s mir glooben, wenn der lacht, denn kriejen seine Ohren Besuch.“ „Nee, wat Se nich sagen“, staunte Krüger. „Det muß ja ’n Unikum sin. Wie jroß is der Kerl denn?“ „Jroß nich, Herr Kommissar. So vielleicht.“ Frau Strasser hob die Hand, korrigierte sich ein paarmal, wobei sie den Kopf neigte und kritisch die Höhe zwischen Hand und Boden musterte. Ihre Fingerspitzen stießen beinahe gegen Krügers Schulter. Ein Meter sechzig, eventuell ein paar Zentimeter kleiner, schätzte der Kommissar. Das war sicher der Mann, von dem Littke gesprochen und den er einen mickrigen Affen genannt hatte. „Wie er heißt, wissen Sie nicht zufällig, Frau Strasser?“ Die Wirtin dachte nach. „Willi hat meistens bloß Affe zu ihm jesagt.“ 90
Wenn der Mann bei der Kriminalpolizei registriert war, konnte es nicht schwer sein, ihn zu finden. Ein so markantes Gesicht mußte auffallen. Kommissar Krüger sah sich noch das Zimmer an, obwohl er nicht erwartete, etwas zu finden. „Was hat dieser Affe denn mitgenommen?“ Die Frau druckste herum. „Ich globe, nur Willins Aktentasche.“ Frau Strasser war nicht die ganze Zeit dabeigewesen, weil gerade die Nachbarin geklingelt hatte. „Aber ville war bestimmt nich drin in de Tasche. Höchstens ’n Hemd und ’n bißken Wäsche.“
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Der Chef telefoniert
Die Bar Zum Hufeisen, die einst bessere Tage gesehen hatte, lag unmittelbar an der Sektorengrenze. Ihr Eingang gehörte zum sowjetischen, ihr Ausgang zum französischen Sektor. Das war jedoch nicht die einzige Besonderheit dieses Hauses. Das Hufeisen verfügte über Möglichkeiten, die selbst Kommissar Lembke noch zum Staunen gebracht und Kommissar Krügers Frage nach dem Sitz der Rauschgiftzentrale überflüssig gemacht hätten. Aber die Polizei ahnte nichts davon, und das war das Beste an diesem Lokal – fand der Chef, der gerade durch eine schmale, eiserne Tür stieg, die nicht ganz unberechtigt die Aufschrift „Notausgang“ trug. Sie befand sich drei Häuser vor dem Hufeisen im Torweg eines halbzerstörten Wohnhauses. Und auch das war ein Umstand, den der Chef am Hufeisen schätzte. Er verschloß mit einem kleinen, vierkantigen Schlüssel die Tür hinter sich, ehe er eine Taschenlampe, die bequem in jedem Damenhandtäschchen Platz gefunden hätte, anknipste. Dann ging er gebückt den schmalen, niedrigen Gang entlang. Er mußte um vier Ecken biegen, über Rohre und Stufen steigen, eine kurze Leiter emporklettern, schließlich sogar eine Klappe hochdrücken, bevor er in einem kahlen, rechteckigen Raum stand, der an jeder Schmalseite eine Tür hatte. Die Klappe ließ sich lautlos öffnen und schließen und war mit einem Kokosläufer derart benagelt, daß ihre Kanten überdeckt und so die Fugen verborgen waren. An der Decke zogen sich eiserne Streben hin, auf denen eine Lauf92
katze saß. In der Grundrißskizze des Hufeisens trug dieser Raum die Bezeichnung „Lager“. Der geheime Zugang und die Falltür, im Krieg als Notausgang bei Bombenangriffen angelegt, waren darin allerdings nicht verzeichnet. Der Chef klopfte pedantisch ein paar Stäubchen von seiner Kleidung und öffnete schließlich den schweren eichenen Schrank neben der Tür an der Stirnseite mit einem Schlüssel, den er bei sich trug. Bis auf einen grauen, breitkrempigen Hut und eine gleichfarbige, weite Pelerine war der Schrank leer. Der Chef nahm Hut und Pelerine, verschloß den Schrank wieder und verließ den Raum, nachdem er einen kleinen Hebel neben der Tür nach unten gedrückt hatte. Der lange, schmale Korridor, den er betrat, war jetzt unbeleuchtet. Zu beiden Seiten gingen mehrere Türen ab. Manche trugen eine Aufschrift, andere nur eine Nummer. Über einer Tür brannte ein rotes Lämpchen; es war die zweite auf der linken Seite, und der Chef ging schnell darauf zu. Auch diese Tür mußte er erst aufschließen. Kaum hatte er den Raum betreten und die Tür hinter sich zugezogen, als auf dem Korridor das Licht wieder anging. Das quadratische Zimmer, in dem der Chef sich nun befand, war mit Möbeln überladen. An den Wänden reihten sich Regale und Schränke, dazwischen ein Tresor. Einen guten Teil des Raumes nahm der Schreibtisch ein, auf dem zwei Telefonapparate standen. Der übrige Platz wurde von einem runden Tisch ausgefüllt, um den sich drei grüne Sessel gruppierten. Der Chef warf Pelerine und Hut achtlos auf einen Sessel, schwang sich in den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch und griff zum Telefon. Hastig wählte er eine Nummer, klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und notierte etwas in kleiner, zierlicher Schrift, 93
die jedoch geschwungene Bögen und kräftige Abstriche aufwies, wie man sie nach Meinung der Graphologen nur bei selbstbewußten Männern findet. Endlich, er wollte gerade den Hörer wieder auflegen, meldete sich am anderen Ende eine Frauenstimme. „Rita, bist du allein?“ Der Chef sprach weich und einschmeichelnd. „Paß auf. Ich habe noch zu tun, aber so gegen zehn komm’ ich vorbei. Gut so?“ Rita sagte etwas. Es dauerte länger. Der Chef zog die Augenbrauen hoch, stülpte die Unterlippe vor und nickte mehrmals. „Das ist wirklich allerhand“, sagte er schließlich, befeuchtete die Lippen und fuhr fort: „Warte erst einmal ab. Im Moment kann nicht viel passieren. Wir besprechen nachher alles Weitere.“ Wieder sagte Rita etwas, jetzt offenbar etwas Erfreuliches. Der Chef lachte sogar. „Na siehst du! Und du wolltest mir nicht glauben. Ich weiß schon, was ich sag’. Also bis dann!“ Er drückte die Gabel nieder, ehe er den Hörer auflegte. Die Uhr an seinem Handgelenk zeigte die zwanzigste Stunde. Das Telefon klingelte. Der Chef hatte den Anruf erwartet und nahm den Hörer ab, bevor das erste Klingelzeichen zu Ende war. „Ja, was ist?“ fragte er. Ein kräftiger Baß antwortete. Der Chef hielt den Hörer etwas vom Ohr ab. „Langer Rede kurzer Sinn, ihr habt ihn nicht aufgetrieben“, sagte er schließlich, und diesmal erinnerte seine Stimme an die Eisberge der Arktis. Der Baß am anderen Ende antwortete, doch der Chef unterbrach ihn sofort. „Das glaubst du doch selbst nicht! Da ist etwas faul. Ich ahne schon lange, daß Affe ein schräger Vogel ist. Wir müssen ihn unter allen Umständen ausschalten, und zwar noch ehe ihn die Polizei greift. Sag mal, ist Werner in der Nähe? Ja? Dann hol ihn doch an den Apparat.“ 94
Der Chef mußte warten und vertrieb sich die Zeit damit, daß er in seinem Notizbüchlein herumblätterte. Endlich ließ sich Werners Stimme vernehmen. „Werner“, begann der Chef sichtlich aufatmend, „du mußt dich gleich um die Sache mit Affe kümmern. Boxer ist zu unbeweglich, und Dietrich hat erst recht kein Geschick dazu.“ „Warum bist du so aufgeregt, Chef? Den Knirps erwischen wir schon. Es kommt doch dabei auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht an“, erwiderte Werner zuversichtlich. „Nein, nein, das muß schnell erledigt werden. Sonst pfuscht der uns noch mehr ins Handwerk. Die Sendung aus Dessau ist weg, und wer weiß, wo er noch aufkreuzt. Außerdem habe ich das Gefühl, daß unser Gegenspieler uns auf die Pelle rückt.“ „Der Scheich vom Alex?“ „Ich an deiner Stelle würde diesen Krüger nicht unterschätzen. Er macht zwar nicht viel Wind, aber er ist verdammt hartnäckig. Es war übrigens Blödsinn, daß du bei dieser Nutte deinen Namen angegeben hast. Wie ich Krüger kenne, nimmt der jetzt alle Müllers von Berlin unter die Lupe.“ „Wenn schon! In Berlin gibt es Tausende Müllers. Ehe er die durch hat, können Monate vergehen. Außerdem bin ich ohnehin nicht gemeldet Da kann er lange suchen.“ „Trotzdem, Werner. Krügers Assistent kriecht in den Apotheken und Arztpraxen herum. Affes Personenbeschreibung liegt der Polizei auch vor. Begreifst du jetzt, daß Eile geboten ist?“ „Okay, Chef. Ich kümmere mich gleich um die Sache. Willst du ihn noch sprechen?“ 95
Der Chef überlegte einen Augenblick. „Nein, quetsch ihn aus, und mach dann Schluß.“ „Okay.“ Der Chef hängte ein. Aber er hatte sein Pensum noch nicht bewältigt. Er blätterte wieder in seinem Notizbuch, hielt den kräftigen Zeigefinger auf eine Telefonnummer und griff zum Hörer. Die Verständigung war schlecht, und der Chef mußte lauter sprechen, als ihm lieb war. „In den nächsten Tagen kommt eine größere Lieferung“, schrie er in die Muschel. „Ja, eine Lieferung. Wer? Das kann ich momentan noch nicht sagen. Halten Sie das Geld bereit. Das Geld! Fünfzigtausend ungefähr. Ja, natürlich bar … Mann, haben Sie Nerven. Das ging nicht anders, eine kleine Panne … Ich hoffe es. Gut, verbleiben wir so!“ Noch vier Gespräche der gleichen Art führte der Chef, ehe er eine Pause einlegte und erst einmal einen Bonbon lutschte. Dann ging es weiter. Nur in einem Fall nahm die Unterhaltung einen anderen Verlauf. „Hören Sie gut zu, Pillerbrock“, sagte er leise, aber jedes Wort eisig betonend, „jetzt habe ich es satt! Ich warte noch bis morgen mittag. Wenn ich dann das Gewünschte nicht habe, sind Sie erledigt. Morgen mittag Punkt zwölf! Wenn Sie nicht da sind, passiert’s … Ach hören Sie doch auf, damit können Sie mir nicht imponieren. Ich habe mich hinreichend gesichert. Aber Sie sind dran. Das müßte Ihnen auch so klar sein.“ Er beendete das Gespräch abrupt. Noch einmal überflog er den kleinen Notizzettel, dann zündete er ihn an und warf ihn in den Aschenbecher. Schließlich, als das letzte Flämmchen verzuckt war, griff er nach Pelerine und Hut. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und menschenleer; ungesehen verließ der Chef den Torweg. 96
Der ungebetene Gast
Affe stieg am Gesundbrunnen aus. Seine Laune war nicht gerade die beste, denn die Kundenwerbung, wie er das nannte, was er in der S-Bahn trieb, hatte heute keinen Erfolg gehabt. Abnehmer, die so nach dem Zeug gierten wie dieser Herr Thorsten, fand man eben leider nicht alle Tage. In letzter Zeit kehrten seine Gedanken immer wieder zu Harald Thorsten zurück. Geld scheint der zu haben wie Heu, und ein Waschlappen ist er auch, überlegte Affe. Genau das Richtige für mich. Er ließ sich vom Strom der Passanten über die Brücke tragen. Dahinter bog er nach rechts ab und betrat eine schmale, auch am Tage düstere Gasse. Hier kannte er jedes Haus, jeden Stein und jeden Durchschlupf; denn hier war der kleine Mann mit dem häßlichen Gesicht zu Hause. Sonst, wenn er kam, hatte er es gewöhnlich sehr eilig und benutzte den Durchgang unmittelbar neben der Kohlenhandlung. Heute jedoch ließ er sich Zeit und gestattete sich einen kleinen Umweg. Er ging um den Häuserblock herum und betrat die Gasse vom anderen Ende. Schon von der Ecke aus konnte er das Haus sehen. Aus alter Gewohnheit blieb er zunächst stehen und spähte die Gasse hinab. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte ihm schon einmal einen unliebsamen Empfang erspart. Auch heute hielt er sich daran. Er stutzte, drückte sich fest an die Mauer und beobachtete. Seine Wohnung lag etwa hundert Schritt weiter in einem alten Berliner Mietshaus, das nur zur Hälfte den Krieg überstanden hatte. Schon glaubte er, sich getäuscht zu haben, als er heftig zusam97
menzuckte. Kein Zweifel. Dort im Haustor wartete ein Mann. Affe konnte nur eine Hand von ihm sehen. Diese Hand ragte aus der Tornische heraus und gab jemandem ein Zeichen. Mißtrauisch musterte Affe jedes Haus, konnte aber nichts entdecken. Trotzdem war er beunruhigt. Leise schlich er sich zurück, ihm war der Durchgang eingefallen. Als er glaubte, weit genug entfernt zu sein, begann er zu rennen. Am anderen Straßenende blieb er erneut stehen, holte mehrmals Luft und schielte, eng an die Hauswand geschmiegt, ums Eck. Sofort fuhr er zurück. In dieser Straße, nicht weit von seinem Durchgang entfernt, stand eine dunkle Limousine, die er sehr gut kannte. Affe vergewisserte sich nochmals. Der Wagen war leer. Der Fahrer stand offenbar direkt im Durchgang. Jetzt wurde ihm auch klar, wem der Mann in seiner Haustür ein Zeichen gegeben hatte. Welch ein Glück, daß er ihn rechtzeitig entdeckt hatte, sonst wäre er in eine Falle gelaufen; und Affe wußte, was das bedeutet hätte. Pinkel und Vierfinger-Willi fielen ihm ein, und er fror plötzlich so sehr, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Gehetzt sah er sich um. Die Gegend war menschenleer. Zum ersten Mal in den Jahren, in denen er hier hauste, merkte er, wie öde diese Gegend war. In der nächsten Straße gab es eine Kneipe. Affe überlegte, ob er dorthin gehen sollte. Doch das hätte ihm höchstens einen kleinen Aufschub verschafft. Sicher hatten die Kerle vorgesorgt und dort einen Spitzel sitzen. Nein, wenn er mit heiler Haut davonkommen wollte, dann mußte er schlauer sein als der Chef. Affes Blick glitt die Gasse entlang, und plötzlich kam ihm eine Idee: Thorsten, jawohl, dieser vornehme Herr Thorsten war seine Rettung. Wer würde schon auf den Gedanken kommen, ihn ausgerechnet dort 98
zu suchen. Affe entschloß sich sofort, und vom Gesundbrunnen bis zur Bornholmer Straße brauchte er nur eine Station mit der S-Bahn zu fahren. Herr Thorsten war so überrascht, daß Affe längst in die Wohnung geschlüpft war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe Thorsten auch nur ein Wort sagen konnte. „Sie haben es ja mächtig eilig“, brummte er schließlich. Affe sah großzügig über den unfreundlichen Empfang hinweg. Ohne den Hausherrn zu beachten, stiefelte er durch das Zimmer, hob mit dem Zeigefinger ein paar Zeitschriften an, betrachtete die Bilder, die Bücher auf dem Schreibtisch und griff sogar ungeniert nach einer Flasche, die auf dem Klubtisch stand. „Ganz hübsch hier. Eine Weile kann man es schon aushalten.“ Mit diesen Worten setzte er sich in einen Sessel und streckte behaglich die Beine von sich. Harald Thorsten verfolgte zuerst verwundert, dann ärgerlich das Gehabe des kleinen Mannes. Affe grinste. „Freuen Sie sich nicht, Herr Thorsten? Ah, ich verstehe! Jetzt brauchen Sie mich noch nicht? Aber in ein paar Tagen, da werden Sie mich wieder brauchen, wie? Ich aber brauche Sie heute!“ „Wir hatten doch vereinbart …“ „Ach was, vereinbart. Es ist etwas dazwischengekommen. Ich bin nicht hier, um Sie zu beliefern. Damit habe ich Zeit.“ Er hielt die Flasche hoch und sah erwartungsvoll zu Thorsten. „Na, was ist, bieten Sie Ihren Gästen nie etwas an?“ „Meinen Gästen?“ „Na ja, ich bin doch Ihr Gast, oder nicht?“ „Gewiß. Einen Moment.“ Thorsten verließ den Raum und kehrte nach einer Weile mit einem Glas zurück, das er dem ungebetenen Besucher reichte. 99
„Sie wollen nicht? Auch gut!“ „Wie soll ich das verstehen? Soll das etwa bedeuten, daß Sie länger bleiben wollen?“ „Ganz recht. Das soll es heißen. Einen Platz werden Sie wohl für mich haben, Herr Thorsten.“ „Hören Sie, das ist ja …“, begann Thorsten heftig. „Sachte, sachte, mein Lieber. Wir wollen uns doch nicht streiten. Ich bleib’ ein paar Tage hier, bis gewisse Dinge erledigt sind, und zahle Ihnen dafür Miete. Sagen wir dreißig Mark pro Tag. Wenn Sie wollen, bekommen Sie Schnee dafür. Abgemacht?“ Thorsten wurde unsicher. Gewiß, er war auf diesen Kerl angewiesen, aber das ging entschieden zu weit. „Nein, unmöglich. Ich kann Sie nicht beherbergen, und ich will auch nicht in Ihre Geschichten hineingezogen werden“, sagte Thorsten. „Sie lassen mir die Ware für die nächsten sechs Wochen hier und gehen dann!“ Der kleine Mann richtete sich im Sessel auf und betrachtete Thorsten interessiert. Doch schon bald glitt er in seine alte Lage zurück und sagte ruhig: „Sie haben gar keine andere Wahl. Wenn Sie mich ’rauswerfen, bekommen Sie den Stoff nicht. Heute nicht, morgen nicht, nie mehr. Und wenn ich verhaftet werde, gebe ich zuerst Ihren Namen an, Herr Thorsten. Das Weitere können Sie sich allein ausrechnen.“ „Das ist Erpressung! Eine hundsgemeine Erpressung!“ „Na, dann zeigen Sie mich doch an“, erwiderte Affe gemütlich und beobachtete Herrn Thorsten dabei unter den Wimpern hervor. Er bemerkte Thorstens Zögern und wußte, daß er gewonnen hatte.
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Ein anonymer Brief
„Jetzt sehen wir klarer, es geht endlich voran, Herrschaften!“ Kommissar Krüger klopfte aufgeräumt auf ein Bündelchen loser Blätter, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Oberassistent Ehrlich und Assistent Markwart hatten ihre traditionellen Plätze eingenommen und warteten gespannt auf die Mitteilung ihres Chefs. „Die ersten Berichte sind eingegangen, noch kein vollständiger Überblick zwar, aber immerhin aufschlußreich. Wir haben richtig vermutet. Seit etwa einem Jahr tauchen in fast allen größeren Städten der sowjetischen Zone Suchtmittel auf. In der Mehrzahl sind es allerdings handelsübliche Medikamente mit Rauschgiftwirkung wie Pervitin, Dolantin, Eukodal, Dicodid, Skopolamin, Pantopon und andere. Haschisch, Kokain und Heroin wurden bisher wesentlich seltener festgestellt. Dieses Zeug konnte auch nur in den Landeshauptstädten und Großstädten auf den schwarzen Märkten beschlagnahmt werden. Es läßt sich leicht denken, warum. Betrachtet man jeden Ort für sich allein, sind die sichergestellten Rauschgiftmengen zwar nicht besonders groß, die Gesamtsumme aber beträgt seit Anfang dieses Jahres schon sechs Kilo. Wenn auch nur die Hälfte davon aus ein und derselben Quelle stammt, dann haben wir es mit einer Transaktion zu tun, die für Deutschland selbst in den sogenannten goldenen zwanziger Jahren außerordentlich hoch gewesen wäre.“ Markwart, der Krügers Worte mit wachsender Erregung aufgenommen hatte, meldete sich zu Wort. „Das ist 101
bestimmt Methode. Hier ein bißchen, dort ein bißchen auf den Markt gebracht; denn zuviel Rauschgift an einer Stelle erweckt Verdacht, dann gibt es Sondermaßnahmen. Das wissen die Ganoven auch.“ Der Kommissar nickte. „Dabei müssen wir noch berücksichtigen, daß auf den fliegenden Märkten nur ein kleiner Teil dieses Mistes gehandelt wird. Die Masse geht zweifellos an Stammkunden. Da ist natürlich viel schwerer ’ranzukommen. In einigen Berichten wird übrigens auch diese Ansicht vertreten. Ich glaube, der Schieberring, der hinter dieser Geschichte steckt, wirft nur die Überschüsse auf den schwarzen Markt.“ „Gibt es Anhaltspunkte dafür, wo die Zentrale sitzt?“ fragte Ehrlich. „Vieles spricht für Berlin, denn diese Stadt ist schon wegen ihrer verzwickten politischen Lage für solch ein Unternehmen günstig. Nirgends kann man so schnell untertauchen wie hier. Auch die Morde an Pinkel und Lopke sprechen dafür. Die beiden waren wahrscheinlich Verbindungsleute unmittelbar zur Zentrale und wußten zuviel; einen kleinen Zwischenhändler bringt man selbst in diesen Kreisen nicht gleich um.“ Das war genau die Art Gespräche, die Markwart liebte. „Angenommen, Ihre Hypothese stimmt“, sagte er, „dann müssen die Abnehmer von hier aus versorgt werden. Ich denke dabei weniger an den Transport. Der ist zu bewerkstelligen. Besonders, wenn man, wie Birne, mit polizeilichen Bescheinigungen arbeitet. Wenn der sich nicht so dußlig angestellt, sondern dem Polizeiposten ohne Umschweife Beutel und Bescheinigung vorgewiesen hätte, wäre er wahrscheinlich nicht einmal mitgenommen worden. Das ist es also nicht. Was mir zu denken gibt, ist die Frage, wie die Bande den Nachschub 102
organisiert und wo ihre Nachschubbasen sind. Es wäre doch ein unnötiges Risiko für sie, das Zeug erst hierherzuschaffen, um es doch wieder wegzubringen.“ „Da wäre zweierlei möglich“, warf der Oberassistent, dicke Rauchwolken paffend, ein. „Einmal könnte das Rauschgift über ein eingeschliffenes Lieferantensystem ausgeliefert werden, ohne die Zentrale zu berühren. Zweitens könnte die Materialquelle selbst ebenfalls in Berlin sein. Ich erinnere daran, daß sich hier in den letzten Kriegstagen eine Menge Truppen konzentrierte; und ein großer Teil dieser Suchtmittel stammt ja aus alten Wehrmachtsbeständen.“ „Oder von den Amis!“ warf Krüger ein, der, anders als Lembke, Wert darauf legte, daß seine Assistenten ihre Meinung sagten, und deshalb bisher zugehört hatte. „Aber wir müssen noch weitergehen. Hier gibt es auch chemische und pharmakologische Betriebe. Die alten Bestände versiegen schließlich einmal.“ Der Kommissar bearbeitete die Enden seines Schnurrbartes mit den Zähnen, ein Zeichen dafür, daß er im Begriff war, einen Entschluß zu fassen. Die Assistenten kannten das und schwiegen. „Wir gehen auch weiterhin systematisch vor. Es gibt mehrere Möglichkeiten, also müssen wir sie alle prüfen, bis nur eine übrigbleibt. Ehrlich, notieren Sie: Da ist erstens der Mord an Pinkel. Es kann sein, daß Lopke tatsächlich mit Pinkel eine alte Rechnung zu begleichen hatte. Den Grund dafür müßten wir noch finden. Wir wissen lediglich, daß Lopke Pinkel in die Ruine gelockt und dort umgebracht hat. Aber hier stellt sich schon die Frage: Warum geht Pinkel hin, wenn er Lopkes Rache zu fürchten hat? Pinkel hat ihm doch offenbar nicht mißtraut. Das läßt nur den Schluß zu, daß er von Lopke im Auftrag anderer ermordet wurde. Ist das aber so, dann 103
wurde Lopke selbst auch umgebracht, um den Weg zu seinen Auftraggebern abzuschneiden. Soweit sind wir uns über die Sache wohl einig. Es bleibt noch zu klären, wer die Zettel geschrieben hat, die Pinkel und Lopke bei sich hatten und die ja von ein und demselben Schreiber stammen.“ „Verzeihen Sie, Herr Kommissar.“ Ehrlich wußte, daß Krüger es nicht gern hatte, wenn er unterbrochen wurde. Diesmal mußte es jedoch sein. „Heute kam noch eine Ergänzung zum Schriftgutachten. Danach kommt als Schreiber möglicherweise eine Frau in Frage. Eine Frau, die sich bemüht, eine Männerhandschrift vorzutäuschen. Allerdings ist das nur eine Vermutung des Gutachters. Wenn die Schrift von einem Manne stammt, so meint der Schriftsachverständige, wieder mit Vorbehalt, daß es sich um einen Weichling mit femininen Zügen handeln müßte.“ Krüger rümpfte die Nase. „Vermutungen, Vorbehalte. Was sollen wir damit?“ Er hielt nicht viel davon, den Charakter eines Menschen aus seiner Handschrift zu deuten. Die Graphologie war, wie er aus der Literatur wußte, ein umstrittenes Gebiet. Er wollte schon seine Meinung darlegen, doch dann besann er sich. „Immerhin hat Lembke recht behalten. Lopke war nicht der Schreiber. Wer auch immer diese beiden Wische fabriziert hat, muß unmittelbar mit den Morden zu tun haben. Einen Anhaltspunkt, wo der Zettelschreiber zu suchen ist, haben wir nicht. Von der Seite kommen wir also vorerst nicht weiter. Ergo, lassen wir Lembke zunächst allein daran arbeiten, wobei Sie, Ehrlich, die Verbindung zur MUK aufrechterhalten und sich am besten täglich über den Stand der Untersuchung informieren. Mit Kommissar Lembke ist das bereits abgesprochen. Gleichzeitig setzen Sie die Überprüfung der Ärzte und Apotheken fort.“ 104
Der Oberassistent nickte. „Zum zweiten. Wir müssen herausbekommen, in welchen der Berliner Lokale Suchtmittel vertrieben werden, und dann die Lieferwege zurückverfolgen. Wenn die Zentrale in Berlin sitzt, wovon wir zunächst ausgehen wollen, dann bekommen die hiesigen Rauschgifthändler den Stoff aus erster Hand. Damit ist der Weg zur Zentrale leichter verfolgbar.“ „Vielleicht habe ich hierzu schon einen Anfang, Herr Kommissar“, sagte Markwart, während er ein Blatt Papier hochhielt. „Das ist erst vorhin mit der Post gekommen. Deshalb konnte ich es Ihnen noch nicht vorlegen.“ Krüger faßte das Blatt am äußersten Rand und nur mit den Fingerspitzen an. Es war ein Bogen aus einem billigen Zeichenblock, dreimal gefaltet und mit Druckbuchstaben unterschiedlicher Größe beklebt. Die Buchstaben waren offenkundig aus einer Zeitung ausgeschnitten worden. Das ganze Blatt, besonders aber der Raum um die Buchstaben herum, war voller schmutziger Flecke. Der Kleister erwies sich als teilweise noch feucht, und in einem Fleck war sogar mit bloßem Auge ein Fingerabdruck zu erkennen. Dieses Schreiben mußte erst vor kurzem fabriziert worden sein. Der Kommissar las halblaut vor: „IM HuFEIsen iST rAUSCHgiFT.“ „Wo ist der Umschlag dazu?“ fragte er interessiert. Markwart hatte ihn bereits zum Erkennungsdienst gegeben. „Die Adresse ist mit Bleistift in Druckbuchstaben geschrieben. Der Brief wurde gestern in N fünfundsechzig eingesteckt.“ 105
Krüger drehte den Brief um und betrachtete ihn von der Rückseite. „Anonyme Anzeigen sind mir unsympathisch. Sie erinnern mich an eine Kokotte, die sich nackt auszieht und dann schamhaft die Hände vors Gesicht hält.“ Er zuckte die Achseln. „Immerhin, manchmal ist was dran an solchen Briefen. Wir müssen diesem Hinweis jedenfalls nachgehen.“ „Soll ich?“ fragte Markwart. Doch der Kommissar schüttelte den Kopf. „Ich kümmere mich selbst darum. Für Sie, Markwart, habe ich etwas Besonderes.“ Markwart sah ihn erwartungsvoll an. Der Kommissar deponierte die anonyme Anzeige umständlich auf seinem Schreibtisch, bevor er Markwart ernst ansah und weitersprach. „Eine nicht ungefährliche Sache, und ich bin mir nicht sicher …“ „Sagen Sie es nur, Chef.“ „Lassen Sie mich erst aussprechen.“ Krügers Gesicht war so ernst, wie seine Assistenten es bisher selten bei ihm sahen. „Betrachtet man die Geschichte der Kriminalistik, drängt sich der Schluß auf, daß große und gefährliche Banden dann am schnellsten und sichersten ausgeschaltet wurden, wenn es gelang, sie von innen heraus zu sprengen. Auf unseren Fall übertragen, bedeutet das …“ Markwart unterbrach ihn: „… bedeutet das, einen Kriminalisten in den Schieberring einzuschleusen, und dieser Kriminalist soll ich sein. Klarer Fall!“ Krüger nickte. „Ja, ich habe an Sie gedacht. Aber überlegen Sie es sich gut, denken Sie an Pinkel und Lopke, und wenn Sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlen oder wenn es Ihnen zu gefährlich ist, dann sagen Sie es. Sie brauchen sich nicht zu genieren.“ 106
„Kommt überhaupt nicht in Frage, Boß!“ erwiderte Markwart schnell, und diesmal überhörte Krüger sogar den „Boß“. „Das ist genau das Richtige für meiner Mutter Sohn. Ich werde einen Rauschgiftschieber hinlegen, daß den Ganoven die Augen aus dem Kopf fallen.“ „Sachte, sachte, Markwart! Zunächst nehmen Sie nur ganz vorsichtig Verbindung auf und versuchen Rauschgift zu kaufen. Ansonsten halten Sie die Ohren offen. Und keine Extratouren, klar?“ „Klar!“ „Und noch etwas: Ab sofort lassen Sie sich hier im Präsidium nicht mehr sehen. Offiziell sind Sie bei der Polizei ’rausgeflogen!“ Krüger wandte sich an Ehrlich: „Bei eventuellen Nachfragen nach Markwart wird auch in dieser Richtung Auskunft gegeben, verstanden?“ „Verstanden, Boß“, sagte Markwart an Ehrlichs Stelle. „’raus, Mensch!“ brüllte Krüger, ehe er sich abwandte und ans Fenster trat. Weder Ehrlich noch Markwart, der einen Augenblick unschlüssig an der Tür stehenblieb, sahen das Zucken im Gesicht des Kommissars. Krüger wußte, wie schwer Markwarts Auftrag war. Lange hatte er gezögert, ehe er sich zu diesem Entschluß durchrang; er bangte um den rotblonden Burschen, der ihm ans Herz gewachsen war. Doch das sollte keiner merken. Krüger drehte sich auch nicht um, als Markwart sagte: „Sie werden bald von mir hören, Herr Kommissar.“ und leise die Tür hinter sich ins Schloß zog. Die Minuten verstrichen. Ehrlich paffte mit ausdruckslosem Gesicht seinen Knaster und wartete geduldig. Endlich gab sich Krüger einen Ruck. Er trat zum Schreibtisch, nahm den anonymen Brief auf und sagte: „Ich gehe in die Daktyloskopie!“ 107
Die Sprache der Fingerabdrücke
Der Daktyloskop, ein eisgrauer, eingetrockneter Mann, der Krüger kaum bis zum Schlips reichte, betrachtete entzückt den Bogen durch eine große Lupe und rief: „Das ist ja phänomenal, Herr Kommissar, einzigartig! So ein herrliches Tannenmuster bekommt selbst unsereins nur alle Jubeljahre einmal zu sehen!“ Krüger musterte den Experten mißtrauisch. „Wollen Sie mich verkohlen?“ „Nein, nein, das ist mein voller Ernst. Sehen Sie sich das doch selbst einmal an!“ Der Mann übergab Krüger Bogen und Lupe. Seine Stimme klang wie das Jauchzen eines Engelchors. „Sehen Sie nur, Herr Kollege, diese Feinheit der Linien, dieser klassische Schwung der Hautleisten. Ohne Zweifel, wir haben es mit einem sehr seltenen Exemplar zu tun. Bogenmuster – und zu diesem Grundmustertyp gehört dieses hier – sind, wie Sie wissen, ohnehin selten. Eigenwillige Launen der Natur gewissermaßen. Man hat errechnet, daß sie nicht mehr als fünf Prozent aller Papillarlinienbilder ausmachen. Aber im Vertrauen gesagt, ich würde mich da nicht so festlegen, denn das sind nur Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Ja, wenn es möglich wäre, von allen Menschen …“ Der Kommissar fand die Ausführungen hochinteressant, im Augenblick aber stand er wie auf Kohlen. „Entschuldigen Sie, Herr Kollege, wenn ich Sie unterbreche“, sagte er, das dürre Männchen respektvoll anblickend, „das ist wirklich sehr aufschlußreich. Nur jetzt geht es mir um etwas anderes.“ 108
„Ja, ja, ich verstehe“, antwortete der Experte enttäuscht, „Sie wollen wissen, von wem dieser Fingerabdruck ist. Damit kann ich Ihnen dienen. Denn, wie gesagt, so etwas vergißt man nicht so schnell. Der Mann heißt Karl Schütze und liegt bei uns unter der Nummer einundvierzig Strich fünfhundertdreiundzwanzig ein.“ Krüger wiegte skeptisch den Kopf. „Wollen Sie sich nicht doch vergewissern?“ Er hätte das lieber nicht sagen sollen, denn der Experte faßte seine Worte als Beleidigung auf. „Wenn Sie darauf bestehen, Herr Kommissar, dann ziehe ich natürlich das Blatt“, sagte er spitz. „Aber lassen Sie es sich gesagt sein: Seit dreißig Jahren mache ich nichts anderes, als Fingerabdrücke zu studieren und zu vergleichen. Durch meine Hände sind Tausende davon gegangen und haben mir ihre Geheimnisse verraten; denn diese winzigen Striche und Punkte sind außerordentlich gesprächig, wenn man ihre Sprache versteht. Ich verstehe sie, Herr Kommissar!“ Bei den letzten Worten warf er den Kopf in den Nacken und lief mit eiligen Trippelschritten auf ein hohes, bis zur Decke reichendes Regal zu, das in unzählige kleine Fächer unterteilt war. Ohne hinzusehen, griff er in eines dieser Fächer, zog ein paar Blätter heraus und kam mit einem davon zurück. „Hier, damit Sie beruhigt sind.“ Krüger bekam beinahe Gewissensbisse. Er nahm das Blatt und las: Karl Schütze, geboren am 23. Februar 1908 in Berlin. „Die Wohnanschrift haben Sie wohl nicht?“ „Nein, aber in der Aktenhaltung müßte sie sein. Wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf: Sehen Sie auch in der Spitznamenkartei nach. Schütze hat den Spitznamen ‚Affe‘.“ Krüger bedankte sich, und es gelang ihm sogar noch, den Experten halbwegs zu versöhnen. „Sobald es meine 109
Zeit erlaubt, komme ich wieder vorbei. Dann müssen Sie mir unbedingt mehr von Ihren Erfahrungen mitteilen. Ich glaube, unsereins kann eine Menge dabei lernen.“ Der Experte deutete eine Verbeugung an. Von der daktyloskopischen Abteilung ging Krüger geradewegs zur Aktenhaltung, die im gleichen Stockwerk lag. Hier klappte es nicht so schnell. Der Kollege war neu und mußte erst lange im Aktenverzeichnis blättern. Der Kommissar hatte Muße, ihn dabei zu beobachten. Der Mann war ungefähr in seinem Alter, jedoch auffallend hohlwangig. Er bewegte sich langsam und bedächtig. Von Zeit zu Zeit quälte ihn ein trockener Husten. Krüger spürte das Kratzen förmlich in der eigenen Kehle. Dein Husten kommt auch nicht bloß vom Aktenstaub, dachte er mitleidig. Endlich war die Akte gefunden. Der Sachbearbeiter wollte sich für die Verzögerung entschuldigen, doch Krüger winkte freundlich ab. „Laß gut sein, Kamerad, wir müssen uns alle erst zurechtfinden in diesem Kram.“ Dann schlug er die Akte auf. Der dünne Schnellhefter bewies, daß Schütze wegen Diebstahls einmal vorbestraft war. Während des Krieges war er frontuntauglich gewesen und zur Arbeit in ein Krankenhaus als Wärter eingewiesen worden. Dort hatte er Medikamente gestohlen. Leider stand nicht dabei, welche. Danach war er noch zweimal in den Verdacht des Diebstahls geraten; jedesmal ging es um Medikamente. Diese Verfahren waren jedoch mangels Beweises eingestellt worden. Die letzte Eintragung stammte vom 23. März 1945. Offenbar ein ganz geriebener Bursche, dachte Krüger, während er sich schmunzelnd die dreiteilige Fotografie ansah. Die Beschreibung von Frau Strasser traf in allen Punkten zu. Auf dem rechten Bild hatte Schütze einen 110
Hut auf, der ihm mindestens zwei Nummern zu groß war. Der Fotograf vom Erkennungsdienst hatte die Dienstanweisung wohl zu wörtlich genommen und Schütze lieber mit einem zu großen als ohne Hut fotografiert. Das verbeulte Ungetüm saß auf Ohren, die aussahen, als seien sie eigens zu diesem Zwecke geschaffen. Der Kommissar hatte sich mehr von dieser Akte versprochen. Schütze war ein Dieb. Er hatte Medikamente gestohlen, aber bewies das etwa, daß er mit Rauschgift handelte? Bis jetzt konnte Krüger ihm lediglich nachweisen, daß er als Bote fungierte, der Birne Anweisungen überbracht hatte, und daß er in Lopkes Wohnung gewesen war. Schützes anonymer Brief war ein Steinchen, das nicht so recht in das Mosaik dieses Falles passen wollte. Noch nicht, korrigierte der Kommissar sich sofort. Oder hatte sich Schütze mit der Bande überworfen? Wollte er sie auf diese Weise loswerden und selbst aus der Sache draußen bleiben? Krüger ging die Spitznamenkartei durch. Vergeblich. Nirgends fand sich ein Hinweis auf frühere Mittäter oder Freunde Schützes. Das sprach eigentlich dafür, daß er Einzelgänger war. Der Kommissar versuchte, einen Ausweg aus diesem Wust von Widersprüchen zu finden. Ach was, Probieren geht über Studieren, sagte er sich schließlich und schob seine Kombinationen beiseite. Der Bursche muß her. Und wenn wir ihn erst haben, dann klären wir auch das. Schützes Anschrift bekam er von der Meldestelle. Doch ehe er dorthin ging, suchte er den Gewerbeaußendienst auf. Hier freute sich der Kommissar zum ersten Mal über die Pedanterie der Polizei. Beim Gewerbeaußendienst gab es nämlich nicht nur Unterlagen über alle Lokale, die eine Ausschankgeneh111
migung beantragt hatten, und über die Besitzverhältnisse, dort waren auch die Namen der Angestellten und die Grundrißpläne dieser Gaststätten zu finden. Der Plan vom Hufeisen war schnell zur Hand. Krüger studierte ihn sorgfältig und fertigte sogar eine Skizze davon an. Das Lokal bildete, wie sein Name schon sagte, im Grundriß ein Hufeisen. Am rechten Schenkel war der Eingang, am Scheitelpunkt der Ausgang. Links schlossen sich ein Schuppen und ein Lagerraum an. Das Lokal verfügte über zwölf Fenster. Im rechten Teil waren der Gesellschaftsraum, die Bar und ein Klubzimmer, im linken lagen die Räume der Angestellten und die Künstlergarderoben. So stand es jedenfalls im Plan. Noch während des Krieges war das Hufeisen als Nachtbar zugelassen gewesen. Aus den Unterlagen ging hervor, daß hauptsächlich Offiziere und andere Wohlhabende dort verkehrt hatten. Jetzt war es auf Tagesbetrieb umgestellt. Der Sachbearbeiter vom Gewerbeaußendienst sah belustigt Krügers Malkünsten zu, und kaum hatte der Kommissar den letzten Strich getan, sagte er: „Ich würde an Ihrer Stelle nicht auf die Richtigkeit dieses Planes bauen, Herr Kommissar. Schließlich stammt er noch aus dem Jahre neunzehnhundertneununddreißig. Wer weiß, ob da inzwischen noch alles beim alten ist.“ „Kann man das nicht nachprüfen?“ „Könnte man schon. Aber das fällt auf. Wenn Sie auf Unauffälligkeit Wert legen, würde ich es bleibenlassen.“ Der Kommissar faltete seine Skizze zusammen und seufzte: „Also lassen wir es. Wem gehört das Lokal eigentlich?“ Der Sachbearbeiter ließ sich den Schnellhefter geben und blätterte in den Unterlagen. „Als Eigentümer ist ein gewisser Kurt Immermann eingetragen. Soweit sich das 112
hieraus entnehmen läßt, hat jedoch bisher der Geschäftsführer, ein gewisser Dietrich Pregel, alle geschäftlichen Dinge abgewickelt. Die zuletzt erteilte Schankerlaubnis läuft auch auf seinen Namen.“ Der Sachbearbeiter schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht, Herr Kommissar. Wenn ein Eigentumswechsel stattgefunden hätte, müßten wir das hier registriert haben. Ich werde der Sache gleich einmal nachgehen.“ Der Kommissar hob beschwichtigend die Hände. „Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie das noch eine Weile aufschieben könnten. Ich fürchte nämlich, daß sonst unsere Ermittlungen darunter leiden. Sehen Sie sich das einmal an.“ Krüger schob ihm den anonymen Brief zu. Der Sachbearbeiter las und reichte das Blatt zurück. „Wenn das so ist, selbstverständlich, Herr Kommissar. Keine Frage!“ Wieder blätterte er in seinen Unterlagen. „Bisher gab es allerdings keine Beanstandungen in dieser Richtung. Das Lokal wurde öfter überprüft; früher wurden dort Glücksspiele veranstaltet, aber das war schon neunzehnhundertvierundvierzig. Der Eigentümer mußte damals tausend Mark blechen.“ „Auf welche Weise könnte man unauffällig Erkundigungen über das Lokal einholen?“ „Vielleicht beim Finanzamt“, schlug der Sachbearbeiter vor. „Ich könnte hingehen und mir die Unterlagen über mehrere Lokale geben lassen. Dann fällt es nicht so auf.“ „Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Behandeln Sie die Sache aber streng vertraulich. Auch Ihren Kollegen gegenüber. Und könnte ich bald das Ergebnis haben?“ „Heute noch!“ „Haben Sie auch einen Überblick darüber, in welchen Berliner Lokalen in der letzten Zeit Suchtmittel aufgetaucht sind?“ 113
Der Mann vom Gewerbeaußendienst überlegte nicht lange. „Mir ist nichts bekannt. Das habe ich ja schon Ihrem Assistenten gesagt. Nur die Fälle, die Sie kennen. Da war die Sache in der Moneten-Bar, in der ein heruntergekommener Arzt Rezepte und Morphiumampullen verscheuerte, wenn er knapp bei Kasse war. Der Wirt hatte es geduldet, deshalb haben wir den Laden dichtgemacht.“ „Ja, den Fall kenne ich.“ „Danach war der Dolantinverkauf in der Stampe am Oranienburger Tor …“ „Auch bekannt.“ „Als letztes die Sache im Ehestandsschoppen. Der Bericht ist heute an Ihre Dienststelle abgegangen. In der vergangenen Woche gab es Ärger mit dem Zapfer. Bei einer Routinekontrolle wurde ein Tütchen Heroin gefunden. Er will es von einem Kunden zur Weitergabe an einen anderen bekommen und nicht gewußt haben, was es enthält. Das Gegenteil konnten wir ihm nicht beweisen. Deshalb wurde er nur verwarnt. Rita hat ihm außerdem anständig den Marsch geblasen.“ Der Kommissar verriet mit keiner Miene, wie sehr ihn gerade diese Eröffnung interessierte. „Sie kennen die Wirtin?“ fragte er. „Wer kennt Rita nicht, Herr Kommissar?“ Die Augen des Sachbearbeiters glitzerten verräterisch. „Ein bißchen naiv, blond und bieder sieht sie aus, aber sie ist auf Draht. Ihren Laden hat sie in Ordnung. Bis auf die Geschichte von neulich war bei ihr noch nie etwas zu beanstanden. Und dafür kann sie ja nichts.“ Der Kommissar nickte. „Sicher. Woher hat sie eigentlich das Lokal?“ „Alter Familienbesitz. Rita Engel übernahm es von ihrem Vater. Sie wollte schon mal verkauf en, hat es sich 114
dann aber anders überlegt. Viel Geschäft ist ja jetzt nicht zu machen. Früher soll das Ding eine Goldgrube gewesen sein.“ „Ich frage mich, wie die junge Frau mit der Leitung des Geschäfts fertig wird. So viel Erfahrung kann sie doch gar nicht haben.“ „Da irren Sie sich aber, Herr Kommissar.“ Der Sachbearbeiter lachte. „Die ist ganz schön geschäftstüchtig. Die steckt bestimmt manchen alten Gastwirt in den Sack. Und außerdem hat sie so einen Rechtsverdreher an der Hand, der ihr bei den Steuersachen hilft. Doktor Kraus heißt er, vielleicht kennen Sie ihn.“
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Was will der Greifer hier?
Elvira Roßwig war eine schöne Frau, charmant, tüchtig und bewundert. Ihre Kleidung verriet Geschmack und ein ansehnliches Konto. Eine gewöhnliche Sekretärin verdiente nicht so viel; aber Elvira war Chefsekretärin bei einem vielgefragten Rechtsanwalt. Sie konnte sich hin und wieder sogar Zigaretten mit goldgelbem Tabak leisten, so daß sie nicht auf die Tabakwarenkarte angewiesen war, die ihr pro Dekade nur sechs Zigaretten, noch dazu von ganz miserabler Qualität, zubilligte. In der S-Bahn versagte sie es sich zu rauchen, trotz ihres Appetits auf eine Zigarette. Sie hatte Harald Thorsten bitten wollen, sie zu begleiten, denn Harald konnte ein netter, aufmerksamer Gesellschafter sein. Um so mehr schmerzte sie seine brüske Ablehnung. Er stand also wieder unter der Sucht nach Rauschgift. Alle hatten gehofft, das würde sich geben; doch leider war es immer schlimmer geworden. Trotzdem, so barsch und abweisend wie heute war er noch nie gewesen. Wenn ich ihm nur helfen könnte, dachte sie. Wenn er sich helfen ließe! Vielleicht hätte sie es doch noch einmal versuchen sollen? Jetzt machte sie sich Vorwürfe, einfach weggelaufen zu sein. Aber mußte er sie auch so anschreien? Er hatte sie ja richtig ’rausgeworfen! Und dabei war sie wirklich der einzige Mensch, der noch zu ihm hielt. War es falsch, daß sie damals nicht zu ihm gezogen war, wie er es wollte? Vielleicht hätte sie ihn von seiner Sucht abbringen können? Nein, nein, das wohl nicht. Elvira versank ins Grübeln und vergaß ihre Umgebung. Plötzlich schreckte sie hoch. Beinahe wäre sie zu 116
weit gefahren. Um ins Hufeisen zu gelangen, mußte sie an der nächsten Station aussteigen. Das Lokal war ihr von früher bekannt. Sie war einige Male mit ihrem Mann dort gewesen, im Krieg, während seines Urlaubs. Trotzdem war sie nicht sicher, ob sie den Weg noch finden würde, zumal jetzt alles anders aussah als damals. Sie hätte doch auf das Angebot ihres Chefs eingehen und sich von ihm abholen lassen sollen. Aber sie hatte geglaubt, Harald würde sie begleiten. In der Dämmerung erschien die arg mitgenommene Gegend noch unheimlicher als am Tage. Elvira fiel es nicht leicht, sich zu orientieren, denn die Leuchtreklame, die sie von früher gewohnt war, fehlte. Über dem Eingang der Bar Zum Hufeisen brannte nur eine trübe Ampel. Elvira sah auf die Uhr. Ihr Chef würde sie schon erwarten. Vorn im Restaurant tranken Arbeiter von den umliegenden Abrissen, Bummler und Spekulanten ihr Bier und debattierten. Dazwischen saßen Männer in eingefärbten Uniformen oder amerikanischen Stoffblusen, auf denen noch das P. W. – Prisoner of War – der Kriegsgefangenschaft zu sehen war, Frauen und Mädchen, grell geschminkt, in dünnen Kleidchen. Bekanntschaften wurden hier schnell geschlossen. Der Zigarette folgte ein Kuß, bald danach brach man gemeinsam auf. Elvira ging nach hinten. Dort befanden sich Klubräume, für vornehmere Gäste gedacht. Runde Tische, Sessel, Nischen, gedämpfte Unterhaltung. Diese Räume durften nicht ohne Krawatte betreten werden. Uniformen, soweit sie nicht durch Kontrollratsgesetz verboten waren, galten als Gesellschaftsanzug. Sie waren sogar beliebt, beliebter noch als die bunten Schleifchen, die mancher im Knopfloch trug. 117
Wer keinen Schlips hatte, konnte sich beim Portier am Eingang zu den Klubräumen einen ausleihen, sofern er dafür fünfzig Mark hinterlegte. Selten einmal wurde eine Krawatte verlangt. Wer hierherkam, trug eine. Mancher Gast sah so aus, als trüge er sogar noch im Bett einen Schlips. Elvira blickte sich um. Es waren genügend Plätze frei. Die Serviererin, eine stupsnasige Blondine, die sich neben Elvira wie eine Bauernkatze neben einem Jaguar ausnahm, glitt heran. Sie blinzelte verträumt auf Elviras Kurven und seufzte. Ja, die Natur konnte ungerecht sein. „Vielleicht wählen Sie den Tisch dort am Fenster?“ Der war nämlich schön weit weg von dem jungen, rotblonden Mann, der melancholisch auf einem Strohhalm herumkaute und der Serviererin lauwarme Blicke zuwarf. Lauwarme Blicke waren immerhin besser als gar keine Avancen. Doch Elvira gab ihr einen Korb. Sie wollte nicht ans Fenster, und da sie ihren Chef nirgends entdecken konnte, ging sie in die kleine Sitznische direkt hinter dem jungen Mann. Die Serviererin sah, wie der Hals des Rotblonden immer länger wurde. Sie glaubte sogar seine Halswirbel knirschen zu hören. Offenbar tat es nicht so weh, wenn er sich auf den Stuhl gegenüber setzte, denn der Rotblonde wechselte seinen Platz. Aber Elvira war boshaft. Sie präsentierte sich im Profil und sah immer nur geradeaus. Plötzlich erschien neben dem Tresen ein anderer Mann. Zehn bis fünfzehn Jahre älter, seriöser als der Rotblonde und etliche Gehaltsgruppen im Vorsprung. „Ach, da sind sie ja. Küss’ die Hand.“ Der Staubzucker aller Linzer Torten lag im Lächeln des Seriösen, während er, die Arme ausgebreitet, auf Elvira zukam. 118
„Kommen S’, ich hab’ dort drüben einen Tisch für uns belegt. Aber Sie sind ja allein? Wollten S’ net jemand mitbringen?“ „Ja, das hat leider nicht geklappt.“ „Auch gut“, erwiderte der Seriöse. „Ich wollt’ Sie eh nur einführen, denn Sie werden sicher noch oft hier zu tun haben. Und da ist es schon besser, wenn Sie den Betrieb ein bißchen kennen.“ Der junge Mann wechselte inzwischen abermals seinen Platz. Da er trotzdem nur Elviras Rücken sah, begann er den Seriösen zu ‚sezieren‘; unbarmherzig und mit grimmiger Freude: ein Homo sapiens. Das ließ sich nicht leugnen, denn die Brille bewies es. Im Gesicht ein Mondkalb, das sich mit Sirup bekleckert hat. Klauen wie ein Gorilla. Pfui Teufel! Die Frau mußte einen miserablen Geschmack haben! Aber er stank nach Geld, und das erklärte vieles. Dabei zerbrach sich der Rotblonde, der niemand anderes als Markwart, Krügers Assistent, war, den Kopf, wo er diesen feistgesichtigen Kerl mit dem schöntuerischen Gebaren schon gesehen hatte. Irgendwoher kannte er ihn. Der Seriöse jedoch schien ihn nicht zu kennen, denn er hatte noch keinen Blick an ihn verschwendet. Das war Markwart nur recht. Der Seriöse war Stammgast hier, Markwart war es beinahe. Doch die Bedienung machte einen Unterschied zwischen den beiden. Der Seriöse bekam nämlich ein edles Getränk, Markwart nur Alcolat. Die Serviererin tröstete ihn: „Wenn der Chef weg ist, bring’ ich Ihnen auch einen Guten.“ „Haben Sie wenigstens ein paar Zigaretten?“ Die Stupsnasige sah sich verstohlen um und fingerte dann unter ihrer Schürze herum. „Weil Sie es sind. Dreißig Mark.“ 119
Das Aroma, das die Zigarette verbreitete, zauberte vorübergehend Schleier vor Markwarts Augen, der ganze Klubraum begann sich zu drehen, und sogar Elvira und der Seriöse fuhren Karussell. Markwart schloß die Augen, riß sie wieder auf und dachte beglückt: Na, wenigstens habe ich nicht gehustet. Drei Tische vor ihm kicherte Elvira höflich. Der Seriöse hatte eine Anekdote erzählt, über die er sich selbst am meisten freute. Nun unterbrach er sich und starrte zur Tür. „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick“, sagte er und hastete zum Eingang. Dort war ein großer Mann mit einem traurigen Seehundbart aufgetaucht. „Guten Abend, Herr Kommissar. Sie auch hier?“ Der Seriöse schien alle Welt zu kennen, mit allen gut Freund zu sein. „Möchten Sie nicht an unseren Tisch kommen?“ Kommissar Krüger sah ihn wenig erfreut an. „Ich bin privat hier, Herr Rechtsanwalt.“ Dr. Kraus lachte scheppernd, so daß Markwart unwillkürlich zum Tresen hinsah. Es hörte sich nämlich an, als wären unzählige Gläser ins Spülbecken gefallen. Rechtsanwalt Dr. Kraus, schoß es Markwart durch den Kopf. Natürlich, daher kam er mir so bekannt vor. „Natürlich“, sagte in diesem Augenblick auch der Rechtsanwalt zu Krüger, „ich bin privat hier. Kein dienstliches Wort, das verspreche ich Ihnen.“ Der Kommissar schien beruhigt zu sein. Sein Blick wanderte durch den Klubraum. In Markwarts Augen verharrte er kurz und wurde sekundenlang heiter. Krüger hatte kaum Platz genommen, da sagte Markwart so laut, daß es alle hören mußten: „Was will denn der Greifer hier?“ In einer Nische am anderen Ende des Saales fuhren zwei Köpfe hoch; zwei Augenpaare tasteten erst Markwart, dann 120
Krüger ab. Ein Mann stand auf und schlenderte zu der Tür, die die Aufschrift ‚Zu den Toiletten‘ trug. Krüger sah dem Mann nach und lachte in sich hinein. „Kennen Sie den Burschen?“ fragte Dr. Kraus und wies mit dem Kopf in Markwarts Richtung. „Sie wollten doch nicht dienstlich werden, Herr Doktor. Stellen Sie mich lieber Ihrer Begleiterin vor“, antwortete der Kommissar gemütlich. „Natürlich. Verzeihen Sie. Kommissar Krüger von der Kriminalpolizei – Frau Elvira Roßwig, meine Sekretärin. Frau Roßwig ist noch nicht lange bei mir. Ich bin froh, daß ich sie habe.“ Elvira lächelte unbefangen. „Sie sind im Polizeipräsidium?“ Krüger nickte. „Und der freche junge Mann ist ein Verbrecher?“ Jetzt lächelte auch Krüger. „In Gegenwart eines so tüchtigen Rechtsanwaltes muß ich mich vorsichtig ausdrücken. Der Mann kann morgen schon sein Klient sein. Noch dazu, wo Herr Doktor Kraus so sehr für Rauschgifttäter schwärmt.“ Elvira zuckte zusammen. Die Männer merkten es nicht. Ihrer Stimme war auch nichts anzuhören. „Ist er rauschgiftsüchtig?“ Krüger schüttelte den Kopf. „Schlimmer! Er hat damit gehandelt!“ „Aber jetzt handelt er nicht mehr damit?“ Dr. Kraus mischte sich ein. „Wenn der Kommissar auch nur einen winzigen Anhalt dafür hätte, säße der Mann nicht hier. Herr Krüger ist der gefürchtetste Rauschgiftjäger von Berlin.“ Elvira rückte ein Stück von ihm ab. Einen Zoll nur, doch der Kommissar bemerkte es. „Sie mögen Polizisten nicht?“ 121
Lene konnte auch so herrlich verlegen sein, wenn er sie bei einem Gedanken ertappte. Elvira faßte sich schnell. „Ich hatte bisher nie mit Polizisten zu tun.“ Dr. Kraus meckerte wieder. „Das wird sich künftig nicht ganz umgehen lassen“, sagte er. „Aber keine Angst! Die meisten sind ausgesprochen nette Kerle. Viele von ihnen sind gebildet, und manche haben sogar ein Herz im Leibe.“ Krüger lachte höflich mit. „Beachten Sie die Nuancen, Frau Roßwig. Rechtsanwälte sind sachverständig in dieser Frage. Sie können überhaupt nur existieren, weil es die Polizei gibt.“ „Leider eben nicht.“ „Ich weiß, Sie setzen immer zu. Strafverteidigungen sind ein mageres Geschäft. Ehescheidungen, Erbkriege und Steuerberatungen bringen mehr ein. Stimmt’s?“ „Dafür sind die aber auch viel komplizierter“, erwiderte Dr. Kraus. Elvira hörte nur mit halbem Ohr auf das Geplänkel. Ihr Chef war ihr zu süßlich, der Kommissar unheimlich. Der junge Mann, dessen Blicke sie schon die ganze Zeit im Nacken spürte, interessierte sie mehr. Sie holte ihre Puderdose hervor und klappte sie auf. Alter Trick, dachte Krüger, gleich dreht sie sich gelangweilt um. Elvira tat es wirklich. Markwart begegnete ihrem Blick, konnte aber nichts anfangen damit. „Im Ernst, Herr Kommissar“, sagte der Rechtsanwalt, „Vermögensregelungen sind heutzutage eine schwierige Kiste. Nehmen Sie nur dieses Lokal hier. Früher war sein Charakter und damit seine Steuerklasse, Abgabenberechnung und Geschäftsleitung eindeutig und übersichtlich. 122
Heute treffen für dieses eine Lokal so viele und, mit Verlaub gesagt, so widerspruchsvolle Bestimmungen und Verfügungen zu, daß es selbst mir schwerfällt, die Übersicht zu behalten; und dabei bin ich seit vielen Jahren Rechtsberater des Eigentümers.“ Der Kommissar staunte. „Wie denn, hier auch? Wem gehört der Bau eigentlich?“ „Eigentümer ist Herr Immermann, ein Landsmann von mir. Ich nehme seine Rechte gegenüber dem derzeitigen Pächter und den Behörden wahr. Sie sehen, soweit es den Eigentümer betrifft, gelten die Bestimmungen über ausländisches Vermögen. Was die tatsächliche Besitzausübung angeht, so gelten jedoch die Verordnungen für das inländische Privateigentum.“ „Herr Immermann kümmert sich überhaupt nicht um sein Geschäft?“ „Doch, natürlich! Durch mich. Er greift nur nicht selbst in die Geschäfte ein. Die wahrzunehmen, das ist Herrn Pregels Sache. Soweit juristische Fragen auftauchen, kümmere ich mich darum. Ich gebe zu, es sieht für einen Außenstehenden sehr verwickelt aus. Doch wir sollten nicht länger fachsimpeln. Frau Elvira langweilt sich schon.“ Der Kommissar überhörte den Einwand. „Wenn ich Sie recht verstehe, dann bezieht Herr Immermann die Einkünfte aus dem Lokal, während Herr Pregel und Sie seine Angestellten sind?“ Dr. Kraus ließ sich mit der Antwort Zeit. Das Gespräch gefiel ihm nicht mehr, und sein Blick sagte deutlich, daß er bereute, Krüger an den Tisch geholt zu haben. „Sehr vereinfacht kann man es so nennen. Obwohl die Stellung Pregels kaum der eines Angestellten, sondern eher der eines Teilhabers ähnelt. Mein eigener Sta123
tus ergibt sich aus meinem Beruf. Herr Immermann ist mein Klient. Ihrem Interesse für das Hufeisen muß ich entnehmen, daß Sie doch nicht so ganz zufällig hier sind, Herr Kommissar.“ Der Rechtsanwalt drohte scherzhaft mit dem Finger. Seine Kinderaugen blinzelten vertraulich. Elvira konnte dem Gespräch kein Interesse mehr abgewinnen. Sie blickte unauffällig umher. Ein Mann am Tresen winkte jemandem mit dem Kopf. Elvira glaubte schon, er meine sie; da erinnerte sie sich an den Rotblonden. Sie sah sich um. Tatsächlich, der stand gerade auf. Er sieht gut aus, dachte Elvira. Ich mag so offene Gesichter, wie er eins hat. Nur seine Frisur ist abscheulich. Er nickte ihr zu, und sie nickte zurück. Dann verschwand sein Rücken hinter der bewußten Tür. Der Mann, der dort gestanden hatte, war schon vorgegangen. Elvira wandte sich wieder den Herren an ihrem Tisch zu. Der Kommissar wirkte plötzlich zerstreut. Dr. Kraus erzählte ihm eben eine Anekdote, deren Pointe Krüger nur ein müdes Lächeln entlockte. „Ich glaube, ich breche jetzt am besten auf. Es war nett hier“, sagte er. „Dann kommen Sie bald einmal wieder“, erwiderte der Rechtsanwalt und verabschiedete sich umständlich von ihm. „Entschuldigen Sie, Frau Elvira, daß ich Sie so vernachlässigt habe. In meinem Beruf ist es immer vorteilhaft, wenn man gut mit der Polizei auskommt; auch wenn man sich dadurch einen schönen Abend verpatzt.“ Elvira nickte verständnisvoll. „Ich habe mir die heutigen Polizisten eigentlich anders vorgestellt. Viel ungeschliffener und engstirniger.“ 124
Dr. Kraus betrachtete sinnend seine Fingernägel. „Ja, ja, der Krüger, der ist nicht ohne“, sagte er. „Leicht hat er es nicht. Ich möchte nur wissen, warum er heute hier war.“ „Interessiert Sie das als Strafverteidiger oder als Rechtsberater?“ fragte Elvira lächelnd.
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Mein Name ist Olaf Rohloff
Markwart stieß im Korridor auf den Mann, der ihm das Zeichen gegeben hatte. „Und was soll’s?“ fragte er sofort. Der andere hatte ein Gesicht, das man vergaß, sobald man es nicht mehr sah. Ein Dutzendgesicht, weder schön noch häßlich, ohne besondere Merkmale. Sein Anzug, dunkelblau mit weißen Nadelstreifen, saß tadellos. Eine blutrote Krawatte und hellbraune Schuhe unterstrichen die aufdringliche Eleganz der Kleidung. Sie war das einzige, was an dem Manne auffiel. „Sachte, Kleiner“, sagte das Dutzendgesicht. „Ich stelle hier die Fragen, und ich rate dir gut, schnell zu antworten.“ Markwart sah ihn spöttisch an und wollte sich abwenden. Er hatte noch keine halbe Drehung ausgeführt, als er schon herumgewirbelt und gegen die Wand gedrückt wurde. Dutzendgesicht stand dicht vor ihm und sagte gleichmütig: „Sachte, habe ich gesagt! Wer bist du und …“ Weiter kam er nicht. Markwart hatte ruckartig das rechte Knie hochgezogen. Sein Gegner knickte in der Mitte des Körpers ein. Markwarts Faust zog nach, und Dutzendgesicht stützte plötzlich die gegenüberliegende Wand. „Seid ihr verrückt geworden?“ zischte eine Stimme von der Tür her. Ein Mann, ebenfalls in dunkelblauem Anzug, stand dort, die Rechte lässig in der Hosentasche. Markwart faßte sich schnell. „Das müssen Sie dem da sagen.“ Er zeigte auf Dutzendgesicht, der immer noch dastand, als hätte er zuviel Rizinusöl getrunken. 126
„Was ist denn los?“ fragte der Mann an der Tür. „Nichts“, gab Markwart zurück. „Er hat mich angepöbelt. Das ist alles. So, und jetzt möchte ich mein Bier trinken, sonst wird es warm.“ „Gewiß, mein Herr, doch zuvor gestatten Sie mir noch eine Frage. Mein Name ist Pregel. Ich bin der Geschäftsführer dieses Lokals.“ Markwart verbeugte sich spöttisch. „Angenehm. Mein Name ist Rohloff, Olaf Rohloff. Ich betrachte mich als Stammgast dieses ehrenwerten Hauses.“ „Ich weiß, Herr Rohloff, darf ich Sie für einen Augenblick in mein Büro bitten?“ Markwart oder vielmehr Rohloff, wie er sich jetzt nannte, wollte ablehnen, doch Pregel schnitt ihm höflich das Wort ab. „Es wird nicht lange dauern, und ein neues Bier wird Ihnen auch serviert.“ „Wozu diese Umstände. Ich schmeiß’ den Kerl einfach ’raus!“ Dutzendgesicht hatte sich inzwischen hochgerappelt und starrte Markwart wütend an. Um seine Mundpartie begann sich ein Merkmal zu bilden, das ihm eine individuellere Note gab. „Du hältst dich ’raus!“ Pregel schnippte mit dem Finger. Er hatte gepflegte, kräftige Hände. Markwart folgte dem Geschäftsführer in ein Büro, das mit Stahlmöbeln ausgestattet war. Neben dem Schreibtisch stand eine gutbeschickte Hausbar. Der Assistent pfiff bei ihrem Anblick durch die Zähne. „Eine nette Sammlung haben Sie da.“ Pregel überhörte den Wink. „Herr Rohloff, unser Lokal steht allen Gästen offen. Ich möchte keine Scherereien mit der Polizei haben. Ihr Verhältnis zur Kriminalpolizei geht 127
mich nichts an. Das ist Ihre Sache. Aber ich bin verantwortlich für dieses Lokal, und deshalb muß ich Sie bitten, künftig meine Gäste in Ruhe zu lassen oder mein Lokal nicht mehr zu betreten.“ Markwart hatte sonst einen ganz normalen Mund; jetzt aber hätte er eine Banane quer essen können. „Sind Sie immer so zart besaitet, Herr Pregel? In allen Dingen? Ich habe es nämlich anders gehört. Unter uns gesagt: Sonst käme ich nicht hierher.“ „Weshalb Sie das Lokal besuchen, interessiert mich nicht. Ich bin nur daran interessiert, daß Sie Ihre persönlichen Angelegenheiten mit der Polizei nicht ausgerechnet hier regeln. Beim nächsten Mal wäre ich gezwungen, Sie aus dem Hause zu weisen.“ „Na schön, wie Sie wollen. Aber täuschen können Sie mich trotzdem nicht.“ „Was meinen Sie damit?“ „Ihre Korrektheit, Herr Pregel. Aber bitte, ganz wie es Ihnen beliebt. Ich kann meine Geschäfte auch woanders machen.“ „Das wäre sicher das Beste.“ Markwart erhob sich, neigte knapp den Kopf und ging. Pregel sah ihm nach. Dann fiel sein Blick auf den Platz, den der Assistent eben verlassen hatte. Dort lag auf dem Fußboden ein Zellophantütchen. Pregel hätte beschwören mögen, daß es vorher dort nicht gelegen hatte. Er ging hin, um es aufzuheben. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Markwart trat eilig und, wie es schien, nervös ins Zimmer, ging auf den Sessel zu, bückte sich und hob das Tütchen auf. „Entschuldigen Sie, ich habe etwas verloren“, sagte er und sah Pregel forschend an. „Bitte sehr.“ Pregels Gesicht blieb ausdruckslos. 128
Markwart verzichtete auf das Bier. Er verließ sofort das Lokal. Die Stupsnasige war ein bißchen traurig darüber. „Ich habe bald Feierabend“, flüsterte sie vorwurfsvoll. Markwart blinzelte ihr zu. „Ich leider nicht, Schatz.“ Elvira und Dr. Kraus schickten sich auch zum Gehen an. Markwart erreichte die Straße jedoch noch vor ihnen und war in der Nacht untergetaucht, ehe sie in der Tür erschienen. Er hatte gehofft, den Kommissar in der Nähe zu treffen, sah sich jedoch darin getäuscht. „Ich begleite Sie zur Bahn, wenn es Ihnen recht ist“, sagte der Anwalt vor dem Lokal zu Elvira. Sie gingen in züchtigem Abstand nebeneinanderher, und Markwart, da er ohnehin den gleichen Weg hatte, folgte ihnen unbemerkt. Am Himmel hing ein trauriger Mond. Die Kulisse, die er beschien, erinnerte an schlechtes Theater. Verrückt! Warum schleiche ich eigentlich so? dachte der Assistent. Das Mondkalb scheint Komplexe zu haben. Im Lokal ging er forscher ’ran. Da kam auch schon der Bahnhof in Sicht. Dr. Kraus verabschiedete sich von Elvira: „Es tut mir leid, daß ich mich hier von Ihnen trennen muß. Wir sehen uns ja morgen. Kommen Sie gut nach Hause.“ Elvira Roßwig betrat die Halle. Markwart wartete, bis der Anwalt hinter der Ecke verschwunden war, dann spurtete er. Auf dem Bahnsteig sah er Elvira in einen Wagen einsteigen, und er schaffte es gerade noch, hinterherzuspringen. Elvira saß allein in einem Abteil. Markwart bummelte auf sie zu und setzte sich ihr gegenüber. „Ich dachte schon, der Kerl will Sie nach Hause bringen.“ Elvira wäre gern böse gewesen. Aus dem geplanten hoheitsvoll-abweisenden Blick wurde jedoch nur ein 129
verwundertes Zwinkern. „Sie sind sehr von sich überzeugt?“ Markwart seufzte. „Eigentlich bin ich von Natur aus schüchtern.“ Elvira mußte auflachen. „Was wollen Sie von mir?“ fragte sie etwas zugänglicher. „Sie nach Hause begleiten, damit Ihnen nichts geschieht. Es gibt so viele schlechte Menschen heutzutage.“ „Noch schlechtere als Sie?“ „Der Alte hat mich wohl mächtig mies gemacht, wie? Nehmen Sie es ihm nicht übel, das ist sein Beruf.“ „Meinen Sie Kommissar Krüger? Ich finde, er ist sehr nett. Viel netter als gewisse andere Herren.“ „Damit können Sie nur Ihren Chef meinen.“ „Damit meine ich Sie!“ Markwart schnitt eine Grimasse. „Frauen, die Polizisten nett finden, sind mir gar nicht sympathisch“, sagte er gekränkt. „Warum gehen Sie dann nicht?“ „Weil ich Ihnen nicht glaube, und weil ich auf Sie aufpassen muß.“ „Ich habe Sie nicht darum gebeten. Was Sie glauben, ist mir gleichgültig, und außerdem steige ich jetzt aus.“ „Also schön, gehen wir.“ Elvira hätte Markwart eine tüchtige Abfuhr erteilen mögen, aber sie blieb ruhig und fragte kühl: „Sind Sie wirklich so sicher, daß Sie der richtige Schutz für mich sind?“ „Der beste, den Sie sich denken können“, erwiderte er im Brustton tiefster Überzeugung. „Von allen Verbrechern sind die Rauschgifthändler die schlimmsten.“ „Der Alte hat also gepetzt“, stellte Markwart sachlich fest. „Was stört Sie daran? Ich bin Geschäftsmann wie 130
andere auch. Es ist nicht meine Schuld, daß die Leute nach dem Stoff so verrückt sind.“ „Schämen Sie sich nicht? Wie kann man mit einer solchen Auffassung leben?“ „Oh, man lebt nicht schlecht dabei. Aber beruhigen Sie sich, an Minderjährige verkaufe ich nicht.“ Elvira wandte sich zornig ab. „Sie kann wohl überhaupt nichts rühren?“ „Das steht Ihnen gut“, sagte der Assistent bewundernd. „Ich sollte Sie öfters ein bißchen ärgern. Wie wäre es mit Freitag? Wollen wir uns nicht im Hufeisen treffen?“ Elvira war bei seinen letzten Worten stehengeblieben, nestelte an ihrer Handtasche herum und war dann so schnell in einer Haustür verschwunden, daß Markwart nicht mehr dazu kam, die Tür zu blockieren. Er klopfte und rief: „Nicht vergessen! Freitag um sieben!“ Elvira antwortete nicht. Er lauschte an der Tür, dabei fiel sein Blick auf ein weißes Kärtchen, das dort auf der Erde lag, wo Elvira eben noch gestanden hatte. Es war eine Visitenkarte, wie er sofort feststellte; doch den Namen konnte er nicht entziffern. Achselzuckend steckte er die Karte ein. Später, in der S-Bahn, holte er sie hervor, las den Namen und runzelte nachdenklich die Stirn, um dann einen erstaunten Pfiff auszustoßen. „Sieh mal einer an“, murmelte er vor sich hin, „das wird den Alten sicherlich interessieren.“
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Der kleine Finger des Diensthabenden
Als Krüger das Hufeisen verlassen hatte, überquerte er eilig die Straße und verbarg sich in einer Toreinfahrt, von der aus er das Lokal beobachten konnte. Er dachte an seinen Assistenten und mußte unwillkürlich schmunzeln. Markwarts provokatorischer Ausruf war gar nicht so dumm gewesen. Wenn die Leute vom Hufeisen Wert darauf legten, nicht bei der Polizei aufzufallen, dann mußten sie irgendwie reagieren. Vielleicht gelang es Markwart, auf diese Art sogar schneller Kontakt zu bekommen. Verdammt, das hätte er beinahe übersehen. Da war doch dieser Dr. Kraus. Wenn der Markwart nun kannte, ihn im Präsidium gesehen hatte? Dann genügte ein unvorsichtiges Wort dieses Anwalts, und Markwarts Doppelspiel war entdeckt. Krüger mochte gar nicht an die gefährlichen Folgen denken, die das für seinen Assistenten haben konnte. Ich muß dem Anwalt auf den Zahn fühlen, vielleicht hat er die Sache durchschaut? Krüger versuchte, seine Unterhaltung mit Dr. Kraus in allen Einzelheiten zu rekonstruieren. Ich sehe Gespenster, sagte er sich schließlich. Trotzdem muß ich mit Markwart sprechen, möglichst heute noch. Krüger ging die Straße hinab. Ich werde ihn abfangen, wenn er zum Bahnhof geht, nahm er sich vor. Doch es kam anders. Krüger postierte sich im Torweg einer Ruine und wartete geduldig. Von seinem Platz aus konnte er Bahnhof und Straße gleichermaßen gut überblicken. Deshalb sah er Dr. Kraus und Elvira schon von weitem kommen. Er erkannte auch Markwart, der sie lautlos, 132
jede Deckung ausnutzend, verfolgte, und wunderte sich darüber. Warum beschattete sein Assistent die beiden? Sicher hatte er einen Grund dafür. Krüger erschien es jedenfalls nicht ratsam, ihn dabei zu stören. Noch mehr wunderte sich Krüger jedoch, als er sah, daß Markwart Elvira in den Bahnhof folgte. Für einen Augenblick schwankte er, ob er hinterhergehen oder Dr. Kraus folgen sollte. Vielleicht verließ Markwart sich darauf, daß er in der Nähe war und ihn bei der Beobachtung unterstützte. Soweit war der Kommissar mit seinen Überlegungen gekommen, als ihn das Verhalten des Anwalts stutzen ließ. Dr. Kraus, der sich inzwischen von Elvira verabschiedet hatte und um die Ecke gebogen war, blieb nämlich stehen und spähte vorsichtig zurück. Hatte er die Verfolgung bemerkt? Oder wollte er sich vergewissern, ob seine Sekretärin den Bahnhof betrat? Aber wozu? Welche Gründe der Rechtsanwalt auch immer für sein Verhalten hatte, eines stand fest, er mußte Markwart gesehen haben, und damit wurde dieser Dr. Kraus für Krüger noch interessanter. Als Markwart im Bahnhof verschwunden war, wandte sich der Rechtsanwalt ab und sah im Schein eines Streichholzes auf seine Uhr. Der Kommissar konnte deutlich sein nachdenkliches Gesicht erkennen. Plötzlich hörte Krüger ein leises Scharren hinter sich und fuhr herum. Keinen Moment zu früh. Er sah einen Schatten auf sich zukommen, bückte sich instinktiv und prallte im nächsten Moment mit einem Mann zusammen. Der Kommissar packte zu und bekam ein zappelndes Etwas zwischen seine Fäuste. Der andere strampelte und versuchte krampfhaft, sich loszureißen. Kein Wort wurde 133
gesprochen. Es war ein lautloser, verbissener Kampf, bei dem die Chancen von vornherein ungleich verteilt waren. Krüger zerrte den Angreifer aus dem Schatten des Torweges heraus auf die mondbeschienene Straße. Ein abgerissener, keuchender Kerl stand vor ihm und ließ resigniert die Schultern hängen. „Was hat das zu bedeuten, Bürschchen?“ grollte Krüger mehr erstaunt als ärgerlich. Das „Bürschchen“ mochte gut und gern fünfzig Jahre alt sein, trug einen zerlumpten Soldatenmantel und dazu einen höchst zivilen Schlapphut. Krügers Frage schien keinerlei Eindruck auf ihn zu machen, denn er schwieg. Der Kommissar blickte sich schnell um und stellte fest, daß er mit seinem Angreifer allein war. Von Dr. Kraus weit und breit keine Spur. Der Kommissar fuhr den Mann wütend an: „Also los, reden Sie schon.“ Sein Gegenüber antwortete auch jetzt nicht. Da packte ihn Krüger kurzerhand am Kragen, hob ihn mühelos hoch und stellte ihn gegen die Mauer. Mit flinken, oft geübten Griffen durchsuchte er den Angreifer, der alles über sich ergehen ließ. Der Mann hatte keine Waffen. Er hatte überhaupt kaum etwas in den Taschen. Nicht einmal Personalpapiere. Offenbar ein Landstreicher, überlegte Krüger, ich muß ihn zum nächsten Revier bringen. Das paßte gar nicht in seine Pläne, doch wenn er Glück hatte, traf er unterwegs eine Streife, die ihm den Vagabunden abnehmen konnte. Krüger ergriff den Arm des Mannes und marschierte los. Er erklärte nichts, und der Mann fragte auch nicht, was mit ihm geschehen würde. Bis jetzt hatte er noch nicht ein einziges Wort gesagt. „Wie heißen Sie?“ fragte Krüger. 134
Keine Antwort. „Machen Sie doch endlich den Mund auf!“ Schweigen. Der Mann schien stumm zu sein. Das nächste Polizeirevier befand sich in der Brunnenstraße. Krüger konnte schon bald das Schild mit dem Polizeistern über dem Eingang sehen. Vor dem 14. Polizeirevier stand ein Doppelposten. Als die beiden Wachtmeister den Kommissar und seinen Begleiter erblickten, blinzelten sie sich zu. „Den können Sie gleich wieder laufenlassen, Herr Kommissar, das ist ein alter Bekannter von uns“, sagte der Jüngere grinsend. „Warum laufenlassen?“ fragte Krüger. „Der ist harmlos“, antwortete der andere Wachtmeister. „Aber bitte, gehen Sie ruhig erst einmal ’rein mit ihm. Der Diensthabende kann Ihnen das besser erklären. Er kennt Schlapphut schon länger.“ Der Mann, über den sie sprachen, stand mit verschlossener Miene dabei, als ginge ihn das alles nichts an. Der Kommissar brabbelte etwas, bedeutete dem Vagabunden voranzugehen und betrat kurz darauf die nüchterne, spärlich beleuchtete Wachstube. Der Diensthabende schien über den Zugang wenig begeistert zu sein. „Den haben wir im Monat wenigstens dreimal hier. Jeder neue Wachtmeister bringt ihn angeschleppt.“ Er winkte lässig mit dem Daumen zur Bank, die hinter der Barriere stand. Der Mann mit dem Schlapphut schien dieses Zeichen zu kennen, denn er setzte sich sofort hin. Seinen Hut behielt er auf. „Was ist denn das für einer?“ wollte Krüger wissen. „Im Grunde genommen ein armer Teufel. Er haust in einem Keller am Stettiner Bahnhof.“ „Kann er nicht reden?“ 135
„Weder reden noch hören. Jedenfalls hat ihn bisher noch niemand sprechen gehört, und wie er heißt, scheint auch niemand zu wissen. Der muß ziemlich viel mitgemacht haben. Davon ist etwas zurückgeblieben.“ Der Diensthabende sah Krüger mit einer vielsagenden Geste an und fuhr dann fort: „Im Winter hatten wir einmal eine Tippelschickse hier, die ihn angeblich von früher her kennt. Sie erzählte, daß er vor Jahren mal in dem Haus gewohnt hat, in dessen Keller er jetzt kampiert. Während des Krieges sollen dort noch Angehörige von ihm gelebt haben. Jetzt wartet er wohl, ob die zurückkommen. Wenn sie überhaupt noch kommen. Das Mädchen behauptete auch, daß Schlapphut früher sprechen konnte und ganz normal war. Seinen Namen wußte sie aber nicht mehr.“ „Wie heißt und wo wohnt das Mädchen?“ fragte Krüger. Der Diensthabende winkte ab. „Unwichtig, Herr Kommissar, die lebt nicht mehr. Vor vier Wochen haben wir sie vom Leichenschauhaus abholen lassen. Hat sich aufgehängt, war ein ekelhafter Anblick, kann ich Ihnen sagen.“ Während der Diensthabende sprach, beobachtete Krüger den Stummen. Im runzligen, von Bartstoppeln bewachsenen Gesicht des Mannes hatte keine Miene gezuckt. Und trotzdem erschien es dem Kommissar so, als hätte Schlapphut aufgeatmet, als der Diensthabende vom Tod der Prostituierten sprach. Doch Krüger war nicht sicher, er konnte sich ebensogut getäuscht haben, schließlich sah er den Mann zum ersten Mal. „Wovon lebt er? Arbeitet er irgendwo?“ fragte er ganz beiläufig, den Vagabunden dabei weiter beobachtend. Der Diensthabende hob die Schultern. Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Alle Menschen hierzulande 136
lebten irgendwie. Die einen besser, die anderen schlechter. Mit Arbeit hatte das nicht immer etwas zu tun. „Wir haben einmal dünne Drahtschlingen bei ihm gefunden. Sie wissen doch, Herr Kommissar, in den Trümmern gibt es überall wilde Kaninchen und Katzen. Wahrscheinlich fängt er sich welche. Ansonsten …“ Das Gesicht des Diensthabenden zeigte amtliche Gleichgültigkeit. Den Kommissar regte diese Gleichmut allmählich auf. Seiner Stimme war deutlich die Ungeduld anzuhören: „Von Kaninchen und Katzen allein kann er nicht leben. Vielleicht klaut er oder überfällt nachts Leute auf der Straße. Vielleicht wollte er mich auch ausrauben! Aber das scheint Sie ja nicht zu interessieren, Wachtmeister!“ Der Diensthabende nahm unwillkürlich Haltung an. „Bisher lag nie etwas in dieser Richtung gegen ihn vor. Das einzige, wobei wir ihn einmal erwischten, war unerlaubtes Musizieren. Er hat damals auf der Straße vor dem Stettiner Bahnhof gesessen und Mundharmonika gespielt, Da sein Hut neben ihm stand, lag der Verdacht auf Bettelei nahe. Wir haben die Mundharmonika eingezogen und ihn wieder laufenlassen. Was sollten wir auch weiter machen.“ Krüger schüttelte den Kopf. „Ein Tauber, der musiziert? Mann, haben Sie wenigstens mal die Karteien überprüft?“ Krüger hätte darauf schwören können, daß Schlapphut bei seiner letzten Frage zusammengezuckt war. Das konnte Zufall sein, doch der Kommissar glaubte nicht an Zufälle. „Die Karteien konnten wir nicht überprüfen, weil wir ja seinen Namen nicht wissen“, erwiderte der Diensthabende mürrisch. Krüger hatte eine heftige Entgegnung auf der Zunge, schluckte sie jedoch herunter und sagte beherrscht: „Ich 137
werde ihn erkennungsdienstlich behandeln und ein Personenfeststellungsverfahren einleiten lassen. Dann werden wir sehr bald wissen, mit wem wir es zu tun haben.“ Der Kommissar sah den Diensthabenden vorwurfsvoll an. „Daran hätten Sie eigentlich selbst denken müssen.“ Sein Vorwurf glitt ins Leere. „Wo kämen wir denn da hin, wenn wir wegen jedem kleinen Fisch einen solchen Film abspulen wollten? Am Ende kommt ja doch nichts dabei ’raus. Das hat man bei meinen Dienstjahren schon im kleinen Finger.“ Krüger dachte sich seinen Teil. Er war viel zu höflich, um seine Ansicht über die Finger des Diensthabenden darzulegen. Er brach den Disput ab. „Setzen Sie den Mann einstweilen fest, bis er geholt wird. Ich werde sofort das Nötige veranlassen.“ Dann schritt er kurzerhand durch die schmale Barriere zum Schreibtisch und telefonierte. Er wußte, daß sein Oberassistent Nachtdienst hatte und wählte seine Nummer. Ehrlich war der richtige Mann für diese Sache. Ehrlich erkannte Krüger sofort an der Stimme und fragte nicht gerade glücklich nach seinen Wünschen. „Ich habe soeben einen Mann zum Revier vierzehn gebracht, der mich angegriffen hat; lassen Sie ihn abholen, Ehrlich!“ Der Oberassistent staunte. „Was denn, Herr Kommissar, Sie wurden angegriffen? Der Mann muß lebensmüde sein!“ „Lassen Sie Ihre Witzchen, Ehrlich, und hören Sie gefälligst zu. Der Kerl gibt vor, taubstumm zu sein. Er muß erkennungsdienstlich behandelt und dann muß ein Personenfeststellungsverfahren eingeleitet werden. Versuchen Sie außerdem, einen Taubstummendolmetscher aufzutreiben und den Burschen zu vernehmen. Morgen früh erstatten Sie mir Bericht.“ 138
Ehrlich stöhnte: „Herr Kommissar, Sie haben hoffentlich nicht vergessen, daß ich Nachtdienst habe. Bei dem heutigen Anfall werde ich kaum dazu kommen …“ Krüger unterbrach ihn. „Nur keine Ausreden. Die Sache eilt.“ Dann wandte sich Krüger an den Diensthabenden. „Beschreiben Sie mir mal genau, wo der Keller liegt, in dem der Mann haust.“ Der Diensthabende setzte zu einer umständlichen Erklärung an. „Das ist zu kompliziert“, sagte Krüger, „machen Sie mir eine Skizze … Hallo, Ehrlich?“ Der Oberassistent brummte etwas, das der Kommissar lieber überhörte. „Wie lange haben Sie morgen früh Dienst?“ „Bis acht, aber es kann später werden“, erwiderte Ehrlich. „Schön, dann sind Sie um Viertel neun hier auf dem Revier vierzehn, und bringen Sie sicherheitshalber eine Taschenlampe mit!“ Krüger hängte ein und ließ am anderen Ende einen fluchenden Oberassistenten zurück.
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Ein Kleeblatt
Dr. Kraus hatte Krügers Kampf mit dem Unbekannten aus sicherer Deckung heraus beobachtet. Anfangs war er, durch die Geräusche aufmerksam geworden, die die Kämpfenden verursachten, neugierig ein paar Schritte näher getreten. Als er den Kommissar erkannte, hatte er schleunigst kehrtgemacht. Daß Krüger sich hier noch herumtrieb, obwohl er doch nach seinen Worten hätte längst zu Hause sein wollen, gab ihm zu denken. Wem galt Krügers Aufmerksamkeit? Hatte er den Unbekannten, den er jetzt festhielt, beobachtet? War er hinter diesem Rotkopf her, oder galt das gar ihm, Dr. Kraus, selbst? Eins hatte der Anwalt mit dem Kommissar gemeinsam. Auch er glaubte nie so recht an Zufälle, und bei Angelegenheiten, in die die Polizei verwickelt war, schon gar nicht. Deshalb entschloß er sich, noch einmal in die Bar Zum Hufeisen zurückzugehen, obwohl er etwas viel Angenehmeres vorgehabt hatte. Vorher jedoch wollte er sehen, was Krüger weiter tat. Der Kommissar war gerade im Begriff, seinen Gegner zu durchsuchen. Dr. Kraus vermochte nicht das Gesicht dieses Mannes zu erkennen, die beiden standen viel zu weit von ihm entfernt. Endlich schien Krüger fertig zu sein und den Mann abzuführen. Sie kamen dabei so dicht an dem Versteck des Anwalts vorbei, daß der nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um Krüger auf die Schulter zu klopfen. Er 140
hütete sich selbstverständlich, etwas Derartiges zu tun. Im Gegenteil, er hielt unwillkürlich die Luft an, um sich nicht zu verraten. Jetzt konnte Dr. Kraus auch die Gesichter der beiden Männer sehen. Der Mann an Krügers Seite war ihm unbekannt. Er erinnerte sich jedenfalls nicht, ihn jemals gesehen zu haben. Doch das war nur ein schwacher Trost. Zu dumm, daß ich nicht weiß, wie es eigentlich zu dieser Balgerei gekommen ist – ob der Kommissar oder der Fremde angegriffen hat. Dann könnte ich mir vielleicht eher ein Bild über die Zusammenhänge machen. So aber blieb er auf Vermutungen angewiesen. Ob er morgen einfach den Kommissar anrief und ihn nach dem Ausgang seines nächtlichen Abenteuers fragte? Krüger würde natürlich wissen wollen, woher seine Kenntnis stammte, aber da ließ sich schon etwas finden, womit er sich herausreden konnte. Wäre er doch nur gleich zu Krüger gegangen. Was hätte schon passieren können. Krüger mußte ihn ohnehin gesehen haben. Zu dumm, er hatte sich wie ein Anfänger benommen. Inzwischen waren Krüger und sein unfreiwilliger Begleiter längst außer Sicht. Nur ihre Schritte noch waren in der einsamen Straße zu hören. Der Anwalt hielt es für geraten, ebenfalls zu gehen. Und schon wenige Minuten später saß er in einem Hinterzimmer des Hufeisens Dutzendgesicht und Dietrich Pregel gegenüber. Dutzendgesicht, der sich schlicht und einfach Werner Müller nannte und von dem nicht einmal Dr. Kraus wußte, wie er wirklich hieß, rauchte mit verkniffener Miene eine Zigarette nach der anderen. Er begnügte sich damit, ab und zu eine bissige Bemerkung in die Unterhaltung zu werfen; denn er hatte die Niederlage durch Markwart noch nicht verwunden. 141
„Ich kenne ihn natürlich nicht und kann deshalb auch nicht für ihn bürgen“, sagte Pregel gerade. „In seinem Auftreten war jedenfalls nichts Verdächtiges!“ „Masche!“ warf Müller verächtlich ein. „Laßt mich den Kerl mal in die Mangel nehmen, dann wird sich schnell herausstellen, wie echt dieser Rohloff ist. Ich habe einen Riecher für solche Typen!“ Dr. Kraus sah Müller prüfend und mit einem versteckten ironischen Lächeln an, schwieg aber. Pregel dagegen grinste unverhohlen spöttisch, was Müllers Zorn noch mehr reizte. „Du mit deiner sanften Tour! Wenn du mir nicht dazwischengefunkt hättest, wüßten wir jetzt schon Bescheid!“ herrschte er den Geschäftsführer an. Pregels Grinsen vertiefte sich. „Du bist bloß wütend, weil er dich wie einen Anfänger abserviert hat. Ich werde mit diesem Rohloff schon ins reine kommen.“ „Du?“ fragte Müller höhnisch. Pregel ignorierte den Einwand. „Natürlich werde ich ihn erst einmal gründlich testen und herausbringen, was er eigentlich will.“ Dr. Kraus stimmte zu. „Ich an deiner Stelle würde ihn auch eine Weile schmoren lassen und Erkundigungen einziehen. – Übrigens, das dürfte euch interessieren, Krüger hat sich vorhin noch hier in der Gegend herumgetrieben und einen Mann festgenommen!“ „Wen?“ fragten Pregel und Müller gleichzeitig. Dr. Kraus zuckte die Schultern. „Ein undefinierbares Individuum. Ich kenne den Kerl nicht. Er ist mir momentan auch schnuppe. Mich würde vielmehr interessieren, warum Krüger noch hier war.“ „Na sicher doch wegen diese Individuums“, sagte Müller. 142
„Ich weiß nicht“, erwiderte Kraus zweifelnd. „Ob er hinter Rohloff her ist?“ „Das habe ich mich auch gefragt. Aber warum sollte er? Krüger kennt den Burschen und weiß offenbar auch so, wo er ihn zu suchen hat.“ „Du meinst doch nicht etwa, daß er uns auf dem Kieker hat?“ fragte Pregel argwöhnisch. Der Anwalt zuckte die Schultern. „Wie sollte er ausgerechnet auf das Hufeisen verfallen? Trotzdem kann natürlich ein bißchen Vorsicht nichts schaden.“ Pregel nickte. „Ein vernünftiger Hinweis. Morgen früh ist der Laden klar, dann kann dieser Krüger getrost kommen.“ „Viel zuviel Umstände wegen eines dreckigen Schnüfflers“, knurrte Müller ungehalten. „Auch so ein Kriminalkommissar braucht nicht ewig zu leben.“ Pregel fuhr herum und fauchte ihn an: „Du bist wohl übergeschnappt? Mit deinen Gestapoallüren bringst du uns eines Tages noch alle an den Galgen.“ Müller hatte Pregels Ausbruch mit einem hämischen Grinsen quittiert. „Soll ich zur Konkurrenz gehen?“ fragte er und sah dabei zu Dr. Kraus. Der Anwalt winkte unwillig ab. „Das fehlt gerade noch, daß ihr euch in den Haaren liegt. Du bist manchmal wirklich zu radikal, Werner, da hat Dietrich schon recht. Ehe man sich mit Krüger beschäftigt, muß erst klar sein, mit welchen Karten er spielt.“
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Ruinen, Maiglöckchen und Katakomben
Wenn der Kommissar auch nur einen Bruchteil dieses Gespräches gehört hätte, das Dr. Kraus am Abend zuvor im Hufeisen geführt hatte, dann wäre er wahrscheinlich nicht zu Schlapphuts Wohnung gegangen. Dann hätte er sich vielleicht überhaupt nicht selbst in dieser Angelegenheit bemüht, sondern Schlapphut einfach dem Erkennungsdienst übergeben und die Sache bald vergessen. So aber schien es ihm ratsam, auch dieser Spur zu folgen. Denn daß mit diesem Stummen etwas nicht stimmte, davon war er überzeugt. Und so stellte er sich am nächsten Tag pünktlich acht Uhr erneut auf dem Revier 14 ein und wartete auf Ehrlich. Als der nach einer halben Stunde immer noch nicht erschienen war, hinterließ er für ihn beim Diensthabenden eine Nachricht und ging allein zu Schlapphuts Wohnung. Zum Stettiner Bahnhof war es nicht weit, und Krüger ließ sich Zeit. In der Ruine des großen Kaufhauses an der Ecke plumpste gerade ein schwerer Brocken herab. Der Kommissar konnte nur hoffen, daß dort, wo er hin wollte, die Mauern nicht so brüchig waren. Sein Blick glitt über die Ruinen und Schuttberge; hier hatte eine riesige Mietskaserne gestanden, erinnerte er sich, und dort an der Ecke das Kaufhaus von Hertie. Wie lange das wohl dauern wird, bis aus diesem Trümmerhaufen wieder eine richtige Stadt geworden ist und Häuser hier stehen, in denen fröhliche Menschen wohnen? Jetzt trieb sich hier nachts allerlei Gesindel herum, 144
verroht und abgestumpft von Krieg und Elend. Erst kürzlich wurde in der Nähe eine Bande bewaffneter Jugendlicher ausgehoben, die verschiedene Verbrechen begangen hatte. Der Kommissar wäre beinahe an dem Grundstück vorbeigegangen, auf dem Schlapphut hauste. Eine Taube, die erschreckt aufflatterte, riß ihn aus seinen Gedanken. Er stand nur wenige Meter vor dem Torbogen, in dem Schlapphut ihn angegriffen hatte. Hinter dem Torweg lag ein geräumiger, ringsum von ausgebombten Häusern umgebener Hof, der seltsamerweise fast frei von Schutt war. Nur in der linken Ecke, dicht neben dem Torweg, lag Gerümpel zu einem mannshohen Haufen aufgestapelt. Ein ähnlicher Haufen lag wenige Meter vor ihm. Süßlicher Duft schlug ihm entgegen und wurde um so stärker, je weiter er in den Hof vordrang. Am anderen Ende des Hofes, dort, wo das Quergebäude mit dem Seitenflügel zusammenstieß, bemerkte er, halbverdeckt stehend, eine Badewanne. Krüger ging hin, ohne auf etwas anderes zu achten. Da versank sein Fuß plötzlich in weicher Erde. Krüger riß ihn erschrocken zurück. Er stand vor einem sauber gejäteten und geharkten Beet voller Maiglöckchen. Sein Tritt hatte eine Staude umgeknickt. „Daher also der Duft“, murmelte der Kommissar, bückte sich und versuchte, die Pflanze aufzurichten. Seine Mühe war vergeblich. Das Maiglöckchen fiel wieder um. Er brach es ab und steckte es schmunzelnd in die Brusttasche. Lene würde sich bestimmt freuen, wenn er ihr eine Blume mitbrachte. Er untersuchte nachdenklich das Beet: ein gepflegtes Blumenbeet mitten in Ruinen. Maiglöckchen und Rattenlöcher! Welch ein Gegensatz! Wer hatte in dieser Zeit 145
Muße, ein Maiglöckchenbeet anzulegen und so sorgsam zu pflegen wie dieses hier? Schlapphut oder ein anderer? Vielleicht eine Frau? Der Kommissar fand keine Antwort. Selbst wenn Schlapphut wirklich der war, für den der Diensthabende ihn hielt, paßte die Rolle eines Maiglöckchengärtners nicht so recht zu ihm. Oder täuschte er sich in dem Mann? Der Kommissar schob diese Gedanken fast unwillig von sich. Nach seiner Skizze mußte in der Nähe der Eingang zu Schlapphuts Keller sein. Dort wartete vielleicht auch die Lösung dieses Rätsels. Die Badewanne, bis obenhin mit Erde angefüllt, diente als Saatbeet. Die Erde war feucht, und an den winzigen Sämlingen in schnurgerader Reihe hingen dicke, runde Wassertropfen. Vor kurzem erst mußte sie jemand gegossen haben. Dicht neben der Badewanne führten drei Stufen hinab zu einer mit Reklametafeln benagelten Tür, die ein einfaches Kastenschloß hatte und überdies nur eingeklinkt war. Ein feuchtwarmer Luftzug schlug dem Kommissar entgegen. Er stand in einem gut erhaltenen und sogar sauberen Kohlenkeller. Von dort öffnete sich ein Kellergang mit Nischen zu beiden Seiten. Die meisten waren leer, in anderen lag Schutt oder Gerümpel. Eine Nische war mit Brettern verkleidet und verschlossen. Krüger fischte umständlich einen Dietrich aus seiner Jacketttasche und brauchte sich nicht lange abzumühen. Schon beim ersten Versuch gab das einfache Schloß nach, denn es war gut geölt. Der Raum hinter der Tür war offensichtlich bewohnt. Auf dem Tisch stand eine alte Petroleumlampe mit einem glockenförmigen weißen Schirm. Sie enthielt sogar noch Brennstoff. Krüger setzte sie in Brand. Die Wände des Raumes waren weiß gekalkt. Dicht neben der Tür standen, 146
wohl noch vom Kriege her, ein Sandkasten, eine Feuerpatsche und eine Schaufel. Der Tisch, ein Hocker, ein wackliges Bettgestell, ein altes Militärspind und ein kleines Regal bildeten die Einrichtung dieser Kellerbehausung. In einem ähnlichen Raum hatte sich Krüger vor der Gestapo verborgen. Deshalb kam ihm dieser hier sofort irgendwie vertraut vor. Der Kommissar inspizierte ihn gründlich. Im Regal lag neben einem Brotkanten ein billiges Eßbesteck, wie es beim Militär benutzt wurde. Im Schrank stand ein Grammophon, worüber der Kommissar sich kaum noch wunderte. In dieser merkwürdigen Ruine mußte er wohl auf alles gefaßt sein. Nur Schallplatten konnte er nirgends finden. Und noch etwas fiel ihm auf: Es gab hier keinerlei Kleidungsstücke, keinen persönlichen Gegenstand, rein gar nichts, woraus man hätte auf den Bewohner schließen können. Wenn hier tatsächlich ein Mensch wohnte, dann hätte doch wenigstens Wäsche, ein Handtuch oder etwas Ähnliches dasein müssen. Da er aber nichts dergleichen fand, schien dieser Raum nicht die eigentliche Wohnung zu sein. Die Skizze des Diensthabenden gab auch keine nähere Auskunft. Je mehr Krüger darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, daß es hier noch einen anderen Wohnraum geben mußte. Der Kommissar kaute mißmutig auf den Enden seines Schnurrbartes herum und erwog gerade, was zu tun war, als er im Gang tappende Schritte hörte. Sicherheitshalber trat er hinter die Tür; doch es war nur Ehrlich. „Sehen Sie sich das an“, empfing ihn Krüger, „können Sie sich vorstellen, daß hier ein Mensch wohnt?“ Der Oberassistent hatte einen anstrengenden Nachtdienst hinter sich und wäre lieber zu Bett als hier auf Ent147
deckungsreisen gegangen. „Warum nicht“, sagte er ohne sonderliches Interesse, „viele Leute wohnen schlechter.“ Der Kommissar winkte ab. „Das meine ich nicht. Fällt Ihnen sonst nichts auf?“ Ehrlich zuckte die Achseln. Krüger unterrichtete ihn von seinen Überlegungen. „Wir sehen nachher gleich nach. Wenn hierzu noch ein Raum gehört, werden wir ihn finden. Doch vorher sagen Sie schnell, ob es etwas Neues gibt.“ „Markwart hat sich gemeldet, Herr Kommissar. Er möchte möglichst bald mit Ihnen sprechen. Außerdem sollen wir Erkundigungen über die Sekretärin des Rechtsanwalts Doktor Kraus einholen.“ „Über die Roßwig?“ fragte der Kommissar erstaunt. „Na, dann immer zu, Ehrlich! Wegen des Treffs setze ich mich selbst mit Markwart in Verbindung. – Und was ist mit dem Mann von heute nacht?“ Der Oberassistent winkte ab. „Bis jetzt wissen wir gar nichts. Das Personenfeststellungsverfahren ist eingeleitet worden. Einen Taubstummendolmetscher habe ich auch auftreiben können; aber der konnte sich mit dem Mann nicht verständigen. Nach Ansicht des Dolmetschers versteht der die Taubstummensprache gar nicht. Der Dolmetscher hält sich für heute nachmittag bereit, falls Sie es selbst noch mit einer Vernehmung versuchen wollen. Der Stumme sitzt ein.“ „Gut so“, erwiderte Krüger. „Jetzt sehen wir uns hier erst einmal um.“ Sie durchsuchten den Raum noch einmal, wobei sich der Kommissar besonders für die Wände interessierte, die er systematisch mit einem Bleistift abklopfte. „Vermuten Sie hier etwa einen Geheimgang?“ fragte Ehrlich ein wenig spöttisch. 148
Krüger ließ sich mit der Antwort Zeit. Erst als er seine Untersuchung beendet hatte, sagte er: „Im Krieg wurden in vielen Häusern die Kellerwände zum Nebenhaus durchbrochen, um Notausgänge zu schaffen. Auf diese Weise sind heute in der Innenstadt ganze Straßenzüge durch unterirdische Gänge miteinander verbunden, warum nicht auch hier.“ Ehrlich mußte ihm recht geben; daran hatte er nicht gedacht. Der Kommissar ging voraus. Nach ein paar Metern gabelte sich der Gang. „Zuerst die rechte Seite“, sagte Krüger. Sie kamen in einen Gang, dessen Wände eine dicke Schimmelschicht überzogen hatte; es roch nach Unrat und Exkrementen. Ein nach links abzweigender Teil erwies sich schon nach fünf Metern als unpassierbar. Er war eingestürzt. Schutt und Mauerreste versperrten den Weg. Der rechte Teil des Ganges war länger, doch auch er führte nicht zu dem gesuchten Raum, sondern endete blind, an der Brandmauer des Hauses. „Wir hätten uns die Sache zuerst einmal von draußen ansehen sollen“, brummte Ehrlich. „Wer weiß“, antwortete Krüger, „nach meiner Berechnung müßten wir jetzt im rechten Seitenflügel oder sogar schon unter dem Vorderhaus dicht an der Straße sein. Versuchen wir es auf der anderen Seite. Das Vorderhaus müßte doch auch einen Kellereingang gehabt haben.“ Sie gingen zurück. Im linken Teil war der Keller nicht so verwahrlost. Hier lag auch bedeutend weniger Gerümpel, und der Boden war festgetreten. Ehrlich blickte sich erstaunt um. „Wie Katakomben, direkt unheimlich“, sagte er. 149
Krüger antwortete nicht. Er musterte den Boden und bückte sich ab und zu, um besser sehen zu können. Als sie wieder an eine Abzweigung kamen, gingen sie den festgetretenen Weg nach links weiter, und schon nach wenigen Metern standen sie vor einer Tür. Der Kommissar drückte auf die Klinke. Abgeschlossen. Er holte seinen Sperrhaken aus der Tasche und versuchte zu öffnen. Der Dietrich faßte nicht recht. Ehrlich wurde ungeduldig. „Brechen wir auf, das geht schneller.“ Er nahm auch sofort Anlauf, doch jetzt gab die Tür endlich nach. Der Raum, den sie betraten, mußte früher als Waschküche gedient haben. Er war in trübes Zwielicht getaucht, das von zwei Oberlichtern aus dickem, mattem Glas in der Decke herrührte. Von dieser Waschküche gingen zwei weitere Türen ab. Die eine, rechts neben dem gemauerten Waschkessel, war unverschlossen und führte über ein paar Stufen direkt in den Hof. Die andere Tür war verschlossen, setzte aber Krügers Bemühungen nur wenig Widerstand entgegen. Neugierig traten die Kriminalisten ein und pfiffen wie auf Kommando durch die Zähne. Sie standen nämlich in einem gemütlichen Zimmer, das sogar zwei Fenster hatte. Zwischen ihnen hing ein Käfig, in dem ein Stieglitz herumhüpfte. Aber weder dieser Vogel noch das altmodische Plüschsofa, der runde Tisch mit den drei Polsterstühlen, der Schrank, die Anrichte, nicht einmal das schreiend bunte Gemälde an der Wand verblüfften den Kommissar so wie das Gerät vor dem rechten Fenster. „Das ist ja ein Scherenfernrohr!“ sagte Ehrlich erstaunt. „Ja, und wie es aussieht, ständig in Gebrauch.“ 150
Krüger mußte sich bücken, um hindurchsehen zu können. Eine große, freie Fläche rückte verschwommen in sein Blickfeld. Der Kommissar stellte die Okulare nach und sah deutlich einen Hof und die Hinterseite eines Hauses. Eine dunkle Limousine stand davor. Ehrlich trat von einem Fuß auf den anderen. Endlich erhob sich Krüger. Er war sehr nachdenklich geworden. „Ich möchte wissen“, sagte er schließlich, „warum Schlapphut ausgerechnet die Rückfront des Hufeisens beobachtet.“
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Ede geht zur Konkurrenz
Rita Engel, die biedere Wirtin vom Ehestandsschoppen, betrachtete selbstgefällig ihr eigenes Spiegelbild im Neglige. Auch heute fand sie an ihrer Erscheinung nichts zu bemängeln. Sie glaubte sogar, noch nie besser ausgesehen zu haben. Die seelige Aphrodite, von der es hieß, daß sie die Schönheitskönigin der alten Griechen war, hatte bestimmt auch nicht mehr ins Bett zu legen gehabt als sie. Da konnte Frieder, dieser Schwärmer, sagen, was er wollte. Überhaupt, warum mußte er immer über die ollen Griechen mit ihr reden? Wahrscheinlich wollte er nur ablenken, damit sie ihn nicht festnagelte wie damals, als es um ihre Prozente ging. Es wurde höchste Zeit, ihn endlich zur Entscheidung zu zwingen : entweder sie oder die fade Ziege, mit der er leider verheiratet war. Er konnte doch nicht allen Ernstes glauben, daß sie sich ewig mit der Rolle der heimlichen Geliebten und den lächerlichen fünf Prozent zufriedengab, die das Geschäft abwarf. Die paar Fähnchen und Strümpfe, die er ihr selten genug mitbrachte, schenkte er nur zu seinem eigenen Vergnügen. Wenn er dabei wenigstens nicht so egoistisch gewesen wäre. Gio war da ganz anders – ein wahrer Künstler gegen den tollpatschigen Frieder. Rita Engel erschrak. Um Himmels willen, sie mußte sich beeilen, denn Gio würde schon ungeduldig auf sie warten. Am Ende käme er gar nachsehen, und dann wäre im Nu der ganze Vormittag verplempert, aber gerade heute hatte sie keine Zeit. Fünfzehn Minuten später kam sie zum Frühstückstisch. Edes mürrische Miene deutete Zank an, deshalb 152
sagte Rita honigsüß: „Gio, sei lieb, verdirb mir nicht den schönen Morgen mit deiner schlechten Laune. In der letzten Nacht habe ich so viel von dir geträumt.“ Ede war nicht so schnell zu besänftigen. „Geträumt! Geträumt! Was hab’ ich davon, wenn ich allein schlafen muß? Bin ich ein Mönch? Du behandelst mich wie einen kleinen Hund. Ich geb’ dir mein Herz, und du trampelst darauf herum!“ Rita wurde ganz sanft, so sanft, wie Gio es an ihr liebte. „Vom Herz allein kann man nicht leben, Gio.“ „O bella mia, wenn wir erst in Napoli sind. Du wirst sehen, wie schön wir dann leben. Warum verkaufst du den Laden hier nicht einfach? Dann heiraten wir und fahren nach Hause.“ Rita schnippte mit den Fingern. „Ich weiß. Wir würden eine kleine Taverne und ein Dutzend Kinder haben. Ich müßte ihnen die Rotznasen putzen und dir Spaghetti kochen. Abends käme dann die liebe zahlreiche Verwandtschaft, und es gäbe ein interessantes Gespräch über die Kinderchen und die Fischpreise. Wenn sie weg sind, gehen wir beide ins Bett und machen noch ein Bambino, damit die Sippe nicht ausstirbt. Und das jeden Tag. Oh, Gio, was bist du für ein Phantast! Glaubst du wirklich, daß du mich damit glücklich machen könntest?“ Ihre Stimme wurde dunkel vor Abscheu. „Ich mag keine Spaghetti und keine Kinder. Ich will kein Verwandtengewäsch. Ich will nicht nach Fisch und Rotwein stinken. Hörst du? Ich will leben, wirklich leben und meine Jugend genießen. Schöne Kleider will ich haben und etwas von der Welt sehen. Was hab’ ich denn bisher von meinem Leben gehabt? Hier in dieser stinkigen Kneipe zwischen Bierkutschern und alten Weibern? Einmal war ich in Hamburg; weiter bin ich nicht gekommen. Jetzt habe 153
ich die Kneipe auf dem Hals und den ganzen Ärger damit. Schau mich doch an! Bin ich vielleicht dafür geschaffen? Und was bietest du mir? Eine noch ekelhaftere Nudelstampe und Fischgestank! Nein, nein, mein Lieber, ich geh’ nicht nach Neapel! Ich werde dir keine Spaghetti kochen und keine Kinder gebären. Schlag dir das aus dem Kopf. Du bist zwar ein netter Junge, aber deine Frau werde ich niemals!“ Ede war bei ihren Worten in sich zusammengesunken. So offen hatte sie ihm gegenüber noch nie die Karten auf den Tisch gelegt. Sein Stolz begann sich zu regen. „Warum beleidigst du mich? Ich hab’ es nur gut gemeint. Jetzt bist du jung und schön. Aber einmal wirst auch du eine alte Schachtel sein! Du bist überhaupt nicht wie andere Frauen. Du bist eine Schlange. Eine giftige Schlange, jawohl, die den armen Giovanni ruiniert hat!“ Edes Augen wurden ganz wässerig, so sehr bedauerte er den ‚armen Giovanni‘. Rita ließ das kalt. Sie setzte sich in Pose und lächelte hinterhältig. „Liebst du mich wirklich so sehr, Gio?“ Der Neapolitaner stürzte auf sie zu und duckte sich in ihren Schoß. Rita hatte ihn wieder völlig in ihrer Gewalt. „Liebst du mich so, daß du einen Mord für mich begehen würdest?“ Ede nickte wortlos. Ihre Finger zausten sein dichtes, schwarzes Haar, und ihre roten, feuchten Lippen huschten über seine Stirn. Seine Hände streichelten zitternd ihre Schenkel. Ihre Knie hielten seine Hand fest, als sie sich zu weit vortasten wollte. „Wen würdest du denn für mich umbringen? Den netten jungen Mann von neulich?“ fragte sie mit einschmeichelnder Stimme. Ede sah sofort rot. „Den und den anderen auch!“ 154
Rita warf sich zurück und lachte schallend. „Du Dummkopf! Warum denn?“ „Weil du mit ihm schläfst. Du denkst, ich weiß nichts. Ich weiß alles. Ich hab’ gesehen, wann er gekommen ist und wann er weggegangen ist. Heute nacht auch. Mir kannst du nichts mehr vormachen!“ Rita lenkte ein. „Du weißt doch, daß er nur geschäftlich zu mir kommt. Deine Eifersucht ist albern.“ „Und warum muß er dann die ganze Nacht hierbleiben, he? Und warum darf ich dann nicht dabeisein? Schließlich habe ich auch ein Interesse am Geschäft. Wenn die Polizei hier herumschnüffelt, dann bin ich gut genug, für dich zu lügen, aber sonst geht’s mich nichts an, wie?“ „Sei vernünftig, Gio. Es geht nicht anders. Der Mann hat am Tage zuviel zu tun. Und die Geschäfte, die uns verbinden, kann man nicht im Handumdrehen abwickeln.“ Jetzt war die Reihe an Ede, spöttisch zu werden. „Schönes Geschäft“, sagte er mit vor Hohn triefender Stimme und fügte noch eine Charakterisierung hinzu, die Rita das Blut in die Wangen trieb. „Gio, was fällt dir ein“, schrie sie aufgebracht. „Ja, schrei nur, du …“ Weiter kam er nicht, denn ihre Hand sauste klatschend in sein Gesicht. „Was erlaubst du dir? Du undankbarer Strolch. Schämst du dich nicht, mich in meinem eigenen Hause so zu beleidigen?“ Ede stand wie erstarrt und sah sie fassungslos an. Er rang mühsam nach Luft. „Das war nicht gut! Das wirst du bereuen! Und dein Geliebter auch!“ stieß er schließlich haßerfüllt hervor. Damit wandte er sich auf dem Absatz um und ging zur 155
Tür. Er warf ihr noch einen Blick zu und sagte: „Wirklich, das werdet ihr bereuen.“ Dann fiel die Haustür mit lautem Krach ins Schloß. Rita war betroffen. Sie verspürte Lust, ihm nachzulaufen und ihn zurückzuholen, doch sie konnte kein Glied rühren. Unvermittelt wurde ihr klar, welche Gefahr der wütende Ede für sie alle bedeuten konnte, und sie stürzte zum Telefon. Sie mußte unbedingt Frieder anrufen und ihm Bescheid sagen. Vielleicht wußte er einen Rat. Während Rita telefonierte, lief Ede kreuz und quer durch Berlin, um seinen Zorn abzureagieren. Zwei Stunden später, als er vom vielen Laufen müde war und seine Füße wie Feuer brannten, suchte er eine Kellerkneipe am Gesundbrunnen auf. Sein Zorn auf Rita war noch immer nicht verraucht. Sobald Ede nur an die Beleidigung dachte, die sie ihm zugefügt hatte, erstickte er fast vor Wut. Ede war, wie die meisten kleinen Männer, eitel und von Haß gegen alles beseelt, was seinen Stolz verletzte. Rita hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Er hätte sie dafür umbringen mögen. Während er durch die Straßen gelaufen war, hatte er Plan um Plan erwogen und wieder verworfen. Er hätte am liebsten die ganze Welt angezündet, nur um Rita zu verbrennen. Seine Phantasie gaukelte ihm Bilder vor, die den abgebrühtesten Psychiater zum Gruseln gebracht hätten. Ede aber schienen sie noch zu milde. Rita sollte ihr Leben lang die Demütigung bereuen, die sie ihm zugefügt hatte. Um Gnade winseln sollte sie, zu seinen Füßen, im Dreck! Betteln sollte sie um seine Liebe, damit er sie wegjagen könnte wie einen Hund. Ede steigerte sich immer mehr in seine Wunschträume hinein und bemerkte Schütze erst, als der vor seinem Tisch stand und ihm die Hand auf die Schulter legte. „Tag Ede, willst du dich nicht zu mir setzen?“ sagte er. 156
Ede hatte sich so in sich verkrochen, daß er eine Weile brauchte, ehe er die Einladung begriff. Dann lehnte er mürrisch ab. „Sorgen, Ede? Dagegen hilft ein kräftiger Schluck. Komm schon. Dahinten ist es gemütlicher.“ Man sitzt nicht so auf dem Präsentierteller, wollte er eigentlich sagen, aber behielt es dann für sich. „Hast recht, Affe, warum eigentlich nicht“, erwiderte Ede, stand entschlossen auf und folgte ihm. Schütze glaubte Edes Kummer zu kennen. Er war früher oft genug im Ehestandsschoppen gewesen und wußte von der eifersüchtigen Zuneigung des kleinen Italieners zu Rita. Er wußte aber auch, daß die nur mit ihm spielte. „Ja, ja, die Weiber“, sagte er. „Nimm dir’s nicht zu Herzen. Das renkt sich ein. Komm, trinken wir.“ „Nichts renkt sich ein!“ Ede fuhr ihn wütend an. „Was weißt du schon? Aus ist es. Ich werd’ es ihr heimzahlen, der Kanaille. Alles werde ich ihr heimzahlen.“ Schütze spürte den Haß in Edes Worten und freute sich darüber. Wenn Ede sich ernsthaft mit Rita Engel überworfen hatte, dann bedeutete das, daß auch der sich künftig vor dem Chef in acht nehmen mußte. Schütze konnte das nur recht sein; so bekam er einen Verbündeten. „Na, na, was willst du schon machen. Gib nicht so an“, sagte er, um Ede noch mehr zu reizen. Wenn das Wasser kocht, läuft es über. Mit Ede ging es ähnlich. „Du weißt nicht, wie sie mich gequält hat. Aber jetzt ist Schluß damit. Heute nacht war wieder der Kerl bei ihr. Sie hat mit ihm geschlafen, die Hure.“ Schütze spitzte die Ohren, sagte aber gleichgültig: „Ich weiß. Das ist nichts Neues, daß sie dir Hörner aufsetzt. Das hat sie doch immer gemacht.“ 157
Ede biß sofort auf den Köder an. „Was weißt du? Erzähl mir!“ „Ach was, wozu soll das gut sein. Mich geht’s nichts an. Reden wir von was anderem.“ „Nein, erzähle!“ Schütze legte begütigend seine Hand auf Edes Faust. „Wozu willst du das jetzt wissen? Du bist doch fertig mit ihr. Da kann es dir egal sein, was man über sie spricht.“ „Erzähle!“ „Na schön, wenn du unbedingt willst. Du hast ja selber mitgekriegt, wie sie’s treibt. Du denkst vielleicht, das ist so eine Laune von ihr, die Sache mit dem anderen. In Wirklichkeit ist es ihr aber ernst. Sie will ihn heiraten, wegen seinem Geld. Er ist ein piekfeiner Hund, und sie will hoch hinaus. Dazu kann sie einen Mollenschwenker wie dich nicht gebrauchen. Mit dir hat sie sich ein bißchen die Zeit vertrieben, weiter nichts.“ Schütze beobachtete sein Gegenüber unter halb gesenkten Lidern hervor und feilte mit Vorbedacht an dem Stachel in Edes Brust. „Sie hat sich schon früher immer an Kerle gehängt, von denen was zu holen war. Deshalb haben sich ja auch alle gewundert, als sie dich nahm; denn was kann sie bei dir ziehen? Wahrscheinlich solltest du eines Tages den Sündenbock spielen, wenn’s mal schiefgeht im Geschäft. Dann hätte sie alles auf dich geschoben und sich mit dem Zaster abgesetzt. Deshalb wird es ihr nicht in den Kram passen, daß du einfach Schluß gemacht hast. Aber wenn ich mir’s überlege, war’s das Richtigste, was du tun konntest. Soll sie doch sehen, wie sie jetzt fertig wird. Hat sie dir wenigstens deinen Anteil gegeben?“ Ede hatte mit wachsendem Staunen zugehört. Von dem, was Schütze da sagte, verstand er nur die Hälfte. 158
„Was für einen Anteil? Ich habe bei ihr gewohnt und gegessen. Manchmal hat sie mir auch ein bißchen Geld gegeben. Viel hat sie ja selbst nicht verdient“, erwiderte er verwundert. „Die und nicht viel verdient?“ Schütze schüttelte lachend den Kopf. „Hat sie wirklich so einen Trottel aus dir gemacht, oder stellst du dich nur so dämlich? Mensch, deine Rita muß Geld wie Heu haben. Die kriegt doch Prozente, und das Geschäft geht gut.“ „Bist selber ein Trottel. Ich hab’ die Arbeit bei ihr gemacht. Da muß ich wissen, was sie verdient mit dem Laden.“ „Wer spricht denn von dem Laden? Sei nicht so begriffsstutzig. Ich rede von der Organisation. Von Schnee und solchen Sächelchen.“ „Rauschgift? Organisation?“ Ede staunte noch mehr. Und Schütze begriff, daß der Italiener tatsächlich ahnungslos war. Er zögerte. Sollte er mit ihm darüber sprechen? Aber dann sagte er sich, daß er Ede schließlich als Verbündeten für sich gewinnen wollte, und da war es schon besser, ihm reinen Wein einzuschenken. „Na hör mal. Du hast doch selbst mitgemacht. Willst du mir vielleicht erzählen, daß du nicht wußtest, was in den Paketen war, die bei dir hinterlegt wurden?“ Ede schüttelte den Kopf. Er wußte es bis jetzt nicht. Es hatte ihn früher auch nie interessiert. Rita hatte ihm erzählt, daß Medikamente in den Paketen seien, mit denen ein Bekannter Geschäfte mache. Sie wolle ihm lediglich einen Gefallen damit tun. Das hatte Ede genügt. „Das erste stimmt schon“, sagte Schütze grinsend. „Aber mit dem anderen hat sie dir ganz schön einen Bären aufgebunden. Rita weiß genau, wie der Hase läuft. Ich möchte wetten, die kennt sogar den Chef, und der 159
läßt sich nicht so leicht in die Karten gucken. Seine Organisation ist prima. Das muß ihm der Neid lassen. Davon versteht er etwas.“ Schütze kam in Fahrt. „Bloß ein Schuft ist er! Ein gemeiner, hinterhältiger Schuft, der vor nichts zurückschreckt. Wenn ihm einer im Weg steht oder eine Panne passiert, dann …“ Ein Zischlaut und der um den Hals kreisende Finger zeigten deutlich genug, was Schütze meinte. „Darum hab’ ich Schluß gemacht mit denen. Ich hab’ keine Lust, wie Vierfinger-Willi oder Pinkel draufzugehen. Bei mir nicht der Film. Ich arbeite jetzt auf eigene Rechnung. Dabei komme ich besser zurecht und lebe ruhiger!“ „Und was ist, wenn sie dich erwischen?“ Schütze tat gleichgültig. „Dann hab’ ich eben Pech gehabt. Aber die erwischen mich nicht so schnell.“ „Wo bekommst du denn das Zeug her?“ Schütze winkte großspurig ab. „Kein Problem. Ich habe Beziehungen.“ Er verschwieg wohlweislich, daß der Grundstock für seinen Handel eigentlich dem Chef gehörte und von Pinkel stammte, mit dem er zusammen ein Konkurrenzunternehmen aufziehen wollte. Die Sache interessierte Ede so sehr, daß er sogar seinen Kummer vergaß. „Was kann man denn da so verdienen?“ „Och, das kommt darauf an. Wenn du gut bist, einen Tausender in der Woche.“ Schütze registrierte den Eindruck, den seine Worte auf Ede gemacht hatten, mit Genugtuung und fügte wichtigtuerisch hinzu: „Natürlich nur am Anfang. Später wird es mehr, wenn die Sache gut organisiert ist und in den richtigen Händen liegt. Spuren mußt du schon. Und Köpfchen haben. Köpfchen ist die Hauptsache! Und natürlich : Maulhalten, sonst ist gleich Essig.“ 160
„Kann man da nicht einsteigen?“ Schütze wiegte skeptisch den Kopf. „Wer garantiert mir denn, daß du echt bist und nicht bloß bei mir spionieren willst? Am Ende läufst du zu Rita und verpfeifst mich.“ „Ich verpfeif dich nicht! Auf mich kannst du dich verlassen!“ „Hm, vielleicht sollte ich es wirklich mit dir versuchen? Ich könnte schon eine Hilfe brauchen, und für dich wäre es gar nicht so schlecht. Du könntest deiner Verflossenen ordentlich eins auswischen und eine Menge Geld verdienen. Ich habe da nämlich einen Plan. Wenn der klappt, sind wir gemachte Leute. Du sollst mal sehen, wie Rita dann auf den Knien angerutscht kommt.“ Das war Musik in Edes Ohren. Er rückte ein Stück näher an Schütze heran. „Laß hören!“
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Rohloff arrangiert selbst
Markwart hatte einen merkwürdigen Traum. Er machte Urlaub und bummelte mit Elvira Roßwig den Ostseestrand entlang. Der Himmel war wolkenlos und von dem gleichen zarten Blau wie Elviras Badeanzug. Die Sonne brannte. Markwart schleppte einen schweren Rucksack, in dem Geld lag, viel Geld und alles in ausländischer Währung: amerikanische Golddollar, englische Pfund, schwedische Kronen und Schweizer Franken. Manchmal, wenn er nicht mehr weiterkonnte, half Elvira ihm tragen, dann wurde der Rucksack sofort federleicht. Elvira wollte ihn unbedingt dazu überreden, eine Ruhepause einzulegen und zu baden. „Wenn du in den reinen Wogen des Meeres badest, wird aller Fluch von diesem Geld genommen, und wir können in Frieden leben“, sagte sie. Doch Markwart glaubte ihr nicht. Er fürchtete, daß sie sein Geld nehmen und zu diesem mopsgesichtigen Anwalt laufen könnte. Elvira aber schubste ihn, bis er ins Wasser fiel. Das Wasser war kalt und unangenehm, schlug ihm ins Gesicht, drang in Mund und Nase und erschwerte ihm das Atmen. Da zog ihn Elvira an Land und beugte sich über ihn. Doch nun war es nicht mehr Elvira, sondern ein fieser Kerl, der eine plattgedrückte Boxernase hatte und nach Fusel stank. Markwart riß die Augen auf. „Na endlich! Du kannst aufhören, Harry, er ist wach“, sagte in diesem Augenblick Boxernase zu einem anderen Mann, der auch nicht gerade einen harmlosen Eindruck 162
machte. Markwart schloß die Augen, riß sie wieder auf, schloß sie nochmals und öffnete sie ganz langsam. Jeder Zweifel war ausgeschlossen; er träumte nicht mehr. Die beiden Kerle, der mit der Boxernase und der andere, waren wirklich und wahrhaftig da. Boxernase stand neben seinem Bett, und der, der Harry genannt wurde, hatte sich mit einem Wasserglas in der Hand am Fußende aufgebaut. „Wo kommt ihr Knilche her? Was wollt ihr von mir?“ fragte Markwart forsch, während er sich aufrichtete. Dabei merkte er, daß sein Kopfkissen, sein Haar und sein Gesicht klatschnaß waren. Die Ganoven mußten einen ganzen Eimer Wasser verbraucht haben, um ihn aus seinen Träumen zu reißen. Boxernase grinste hämisch. „Da staunste, Kleener, det hättste nich jedacht, det wir dir so schnell finden, wat?“ Markwart fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, war aber auch nicht sonderlich beunruhigt. Wenn ihn die beiden umbringen wollten, hätten sie sich kaum die Mühe gemacht, ihn vorher zu wecken. Wahrscheinlich wollten sie lediglich mit ihm sprechen. „Wenn ihr euch ausgestaunt habt, könnt ihr mir ja Bescheid sagen“, sagte er betont gleichgültig und drehte ihnen den Rücken zu. Zwischen Matratze und Bettgestell steckte seine Pistole. Er vergewisserte sich, daß sie griffbereit war, ließ sie jedoch einstweilen an ihrem Platz. Die beiden merkten nichts davon. „He, du Großmaul, steh auf! Du mußt mitkommen“, sagte Boxernase und riß ihm die Bettdecke weg. „Hände weg!“ schrie Markwart. „Sonst beschwere ich mich. Ich kenne die Vorschriften genau.“ Boxernase sah ihn verblüfft an, guckte dann zu seinem Kumpan und begann zu wiehern. „Mensch, Harry, det is 163
det schärfste Ding, det mir je passiert is. Der hält uns für Bullen!“ Er wollte sich ausschütten vor Lachen. Harry grinste dümmlich. „Der hat Tomaten uff de Oogen“, sagte er. Mit Markwart ging indessen eine jähe Wandlung vor sich. Blitzschnell ergriff er die Pistole und zielte damit auf die beiden Kerle. „Pfoten hoch! Dort an die Wand, ihr Scheiche, und keine Bewegung! Sonst knallt’s!“ Die beiden Gauner hielten inne und gehorchten verdutzt. Markwart schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete die beiden spöttisch. „Raus mit der Sprache. Was soll der Blödsinn?“ Boxernase schluckte ein bißchen, antwortete dann aber nicht ohne Bewunderung: „Wir haben den Auftrag, dich abzuholen und zum Chef zu bringen. Antun wollten wir dir bestimmt nichts. Brauchst nicht gleich so scharf ’ranzugehen.“ „Wohin solltet ihr mich bringen?“ „Das dürfen wir dir nicht sagen. Wir sollten dir die Oogen zubinden.“ Markwart frohlockte innerlich. Endlich hatte der Hecht angebissen, und am liebsten wäre er auf der Stelle mit den beiden mitgegangen; doch das schien ihm nicht geraten. „Ist euer Boß immer so unhöflich und läßt die Leute mit Wasser wecken?“ fragte er daher. Boxernase druckste verlegen herum. „Wir haben dich nicht anders wachgekriegt.“ „Wohin soll’s gehen?“ fragte Markwart scharf. „Du hast doch gehört, das dürfen wir nicht sagen“, antwortete Boxernase, offenbar der Anführer der beiden. Er wollte die Arme sinken lassen, doch Markwart fauchte ihn an: „Laß die Hände oben!“ 164
Boxernase schnitt eine Grimasse. „Jetzt bist du uns mit der Kanone über. Beim nächsten Mal sind wir dran.“ „Ganz ruhig, Bruder, reg dich nicht auf. Ihr seht jetzt zu, daß ihr schleunigst Land gewinnt! Eurem Boß könnt ihr sagen, daß ich um drei im Hufeisen sein werde. Wenn er etwas von mir will, soll er hinkommen. Und bestellt ihm auch, daß ich meine Verabredungen selbst arrangiere und diese Art nicht schätze. Außerdem warne ich ihn, dreckige Tricks mit mir zu versuchen!“ Boxernase hatte bei seinen Worten anfangs ein mißmutiges Gesicht gemacht. Bei der Nennung des Lokals jedoch hatte sich seine Miene aufgehellt. Jetzt grinste er, und selbst der schweigsame Harry nickte zufrieden. Markwart registrierte es mit Befriedigung. Er hatte also richtig vermutet. Den Besuch der beiden Kerle hatte er seinem Auftritt im Hufeisen zu verdanken, und wenn er sich nicht sehr täuschte, dann war es kein anderer als dieser aalglatte Geschäftsführer, der ihn auf diese Weise zur Audienz bestellte. „Ich werd’ alles ausrichten“, sagte Boxernase. „Du kommst doch bestimmt?“ „Daran könnte mich nur der liebe Gott oder die Polizei hindern. Aber jetzt ab mit euch, ich möchte frühstücken!“ Markwart stellte sich mit dem Rücken gegen die Wand und überwachte sie. Die Verbrecher machte keine Anstalten, ihn zu überlisten. Fügsam wie bußfertige Pilger zogen sie mit erhobenen Händen zur Tür hinaus. Markwart schloß hinter ihnen ab und ging dann schnell ans Fenster. Hinter der Gardine hervor konnte er, auch ohne sich hinauszulehnen, ein gutes Stück der Straße überblicken. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine dunkle Limousine, ein älteres Opelmodell. 165
Das Kennzeichen war von seinem Platz aus nicht zu erkennen. Markwart konnte auch nicht feststellen, ob jemand in diesem Auto saß. Den Gehsteig direkt an seinem Wohnhaus konnte er aber auch nicht einsehen, und er glaubte schon, daß seine Besucher sich hier davongemacht hätten, als er sie auf den Wagen zugehen sah. Dieser setzte sich in Bewegung, kaum daß die beiden eingestiegen waren. Markwart verließ das Fenster und kleidete sich hastig an. Er war hier in seiner Wohnung mit Kommissar Krüger verabredet. Nach dem unerwarteten Besuch der Leute vom Hufeisen glaubte Markwart, es wäre wesentlich besser, der Treff mit dem Kommissar würde woanders stattfinden. Auf das Frühstück verzichtete er daher lieber und verließ, kaum ausgehfertig, das Haus. Er hatte Glück und bekam Krüger unverhofft schnell an den Apparat. Der Kommissar hörte sich schweigend die Bedenken seines Assistenten an und entschied: „Kommen Sie in meine Wohnung. Ich breche hier auf. Alles Weitere dann.“ Markwart hängte ein. Die Kollergasse, in der Kommissar Krüger wohnte, lag im Nachbarbezirk. Er konnte mit der S-Bahn oder der Straßenbahn dorthin fahren. Markwart entschloß sich für die Straßenbahn, obwohl er zweimal umsteigen mußte. Der Kommissar würde für seine Vorsichtsmaßnahmen Verständnis haben. Markwart ging zur Haltestelle, wartete dort, bis die Bahn kam, stieg aber erst ein, als sie anfuhr. „Konnten Sie sich das nicht früher überlegen?“ raunzte der Schaffner. Markwart murmelte eine Entschuldigung, bezahlte und drückte sich in das Wageninnere. Drei Haltestellen weiter stieg er aus. Als er feststellte, daß sich keine Menschenseele um ihn kümmerte, fuhr er mit der nächsten Bahn weiter. 166
Kommissar Krüger wartete bereits auf ihn. Lene hatte eine Kanne mit Pfefferminztee und selbstgebackene Plinsen aus Weizenkleie bereitgestellt, dann war sie einholen gegangen. Markwart, der schon einige Male in Krügers Wohnung gewesen war, fühlte sich sofort heimisch. Er ließ sich nicht nötigen, sondern griff tüchtig zu. Der Kommissar hatte es sich in dem großen Ohrensessel in der Fensternische bequem gemacht und wartete geduldig. Endlich lehnte sich Markwart stöhnend zurück. „Uff, das hat gut geschmeckt. Herzlichen Dank“, sagte er. „Schon gut. Lene wird sich freuen. Jetzt schießen Sie endlich los. Aus dem Kauderwelsch am Telefon bin ich nicht klug geworden.“ Markwart berichtete von dem nächtlichen Besuch der beiden Hufeisen-Leute. „Übrigens, der eine der beiden liegt bei uns ein. Erinnern Sie sich an die vier Galgenvögel, die ich aus der Straftatenvergleichskartei gefischt habe?“ „Ja. Wir haben sie inzwischen überprüft. Der Perser ist tatsächlich nicht mehr in Deutschland, und Steinicke sitzt ein. Auch Ohlsen wurde inzwischen festgenommen; aber der hat nichts mehr mit Rauschgift zu tun. Bleibt der vierte. Wie hieß er doch?“ „Hase, Herr Kommissar, Ernst Hase. Er war einer der beiden Kerle, die mich besuchten.“ Krüger stieß einen erstaunten Pfiff aus. „Er hat den Spitznamen Boxer!“ Markwart grinste. „Ich weiß; genauso sieht er auch aus.“ „Versuchen Sie herauszufinden, wo er wohnt, dann lass’ ich das Bürschchen überwachen. Beschreiben Sie mal den anderen Kerl; vielleicht können wir inzwischen seine Personalien feststellen.“ 167
Markwart gab eine ausführliche Personenbeschreibung des Ganoven, den Boxer „Harry“ genannt hatte. „In ein paar Stunden werden wir wissen, ob wir an der richtigen Schmiede sind“, sagte der Assistent. „Ich habe mich ja die ersten Tage in allen möglichen Kneipen herumgedrückt und Verbindung zu Gaunern aufgenommen. Auch im Ehestandsschoppen war ich noch einmal. Die schöne Rita hat anfangs über mich hinweggesehen, dann aber einen Alcolat mit mir getrunken. Ich habe versucht, sie auszuhorchen, doch das hat nicht geklappt. Am Bahnhof Zoo und in der Lothringer Straße hätte ich kleinere Mengen Dolantin kaufen können. Kokain und Heroin waren nirgends aufzutreiben. Lediglich ein kleines Tütchen konnte ich kaufen. Der Verkäufer gab mir den Tip mit dem Hufeisen. Der Hinweis aus dem anonymen Brief scheint also zu stimmen. Ich habe es dort erst über die Serviererin versucht, die hat offenbar keine Ahnung. Als Sie kamen, habe ich die Gelegenheit benutzt, die Kerle auf mich aufmerksam zu machen. Dem Geschäftsführer habe ich ein bißchen was vorgemacht und das Herointütchen sehen lassen. Mit Erfolg, wie sich jetzt zeigt.“ „Na, na, abwarten!“ sagte Krüger skeptisch. „Haben Sie sonst noch etwas Brauchbares herausgefunden?“ Markwart wiegte nachdenklich den Kopf. „Zweierlei, glaube ich. Erstens, daß es eine Verbindung zwischen der Sekretärin vom Rechtsanwalt Kraus, dieser Elvira Roßwig, und einem Doktor Römer gibt. Das ist derselbe Arzt, den Ehrlich neulich in seinem Bericht erwähnte. Ich habe mich dort einmal ganz unauffällig umgesehen. Der Mann betreibt eine Privatklinik, die hermetisch nach außen abgesichert ist. Seine Patienten sind recht interessante Leute, Herr Kommissar, fast ausschließlich Süchtige.“ 168
Krüger machte große Augen. „Sieh mal einer an! Das ist wirklich interessant. Wir werden das nachprüfen.“ „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?“ „Bitte, nur zu!“ „Überlassen Sie diesen Doktor Römer einstweilen mir.“ Der Kommissar dachte einen Augenblick nach. „Wenn Sie wollen, einverstanden. Wie sind Sie überhaupt auf diese Spur gekommen?“ Markwart zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie dem Kommissar. „Das hat Frau Roßwig neulich verloren.“ „Ach nee, toller Zufall, wie? Und ich dachte schon, Sie haben sich in die schöne Elvira verguckt.“ Markwart konnte nicht verhindern, daß er ein bißchen rot wurde, „Sie hat es wirklich verloren, Herr Kommissar. Ich habe nicht nachgeholfen.“ „Na, lassen wir das. Übrigens, dieser Rechtsanwalt hat gemerkt, daß Sie ihn und seine Begleiterin beschattet haben. Er hat auch gesehen, daß Sie seiner Sekretärin nachgelaufen sind, und hat sie inzwischen bestimmt ausgefragt. Was halten Sie von diesem Bruder?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Markwart gedehnt. „Im Hufeisen habe ich ihn an diesem Abend das erste Mal gesehen, die Roßwig übrigens auch. Ob er etwas mit der Bande zu tun hat, wage ich momentan nicht zu entscheiden. Aber Pregel, der Geschäftsführer, das ist ein aalglatter Hund.“ „Was war das zweite? Sie sagten vorhin doch, Sie hätten zweierlei herausgefunden.“ „Ach so, ja. Haben Sie daran gedacht, daß wir es möglicherweise mit zwei Rauschgiftringen zu tun haben? Oder daß unser Ring sich in der Zwischenzeit gespalten 169
haben könnte? Ich hörte nämlich so ein Gerücht auf dem schwarzen Markt. Da war von Affe die Rede, der ganz groß mit Stoff ’rauskommen soll. Der Zapfer aus dem Ehestandsschoppen soll auch mitmischen. Leider habe ich nicht mehr darüber erfahren können. Soviel steht aber fest: Im Ehestandsschoppen arbeitet dieser Ede seit kurzem nicht mehr. Rita soll ihn ’rausgefeuert haben.“ Den Kommissar hielt es nicht mehr in seinem Sessel. Er stand auf und marschierte erregt in seinem Zimmer umher. „Markwart, Goldjunge! Das Ding ist richtig. So geht die Sache mit dem anonymen Wisch auf. Freund Schütze hat seine Kumpane verpfiffen oder, sagen wir mal lieber, uns einen Tip geschickt, damit wir ihm das Feld für seine eigenen dunklen Geschäfte frei machen. Inzwischen hat er sich verkrochen. Ich habe seine Wohnung beschatten lassen, aber er bleibt verschwunden. Ehrlich hat über einen V-Mann herausgebracht, daß er sich viel auf der SBahn herumdrückt und dort irgend etwas – wahrscheinlich Rauschgift – verscheuert.“ „Na dann“, sagte Markwart, „und ich habe mir auf dem schwarzen Markt die Augen nach ihm aus dem Kopf geguckt. Dann weiß ich ja, wo ich jetzt suchen muß.“ „Nee, nee, mein Lieber“, erwiderte der Kommissar schnell. „Das lassen Sie mal. Um Schütze und Ede kümmern wir uns von hier aus. Sonst geraten Sie noch zwischen zwei Fronten. Ich lasse die beiden zur Fahndung ausschreiben, und wenn Sie zufällig einen Hinweis bekommen, sagen Sie Bescheid. Ansonsten kümmern Sie sich nicht um die beiden, klar?“ „Klar“, bestätigte Markwart. Der Kommissar unterrichtete ihn dann über seine Begegnung mit Schlapphut und beschrieb ihm dessen 170
Behausung. „Ich werde demnächst dort einen Beobachtungsposten hinsetzen, dann haben wir das Hufeisen ständig unter Kontrolle.“ Markwart erhob sich. „An die Überprüfung von Frau Roßwig denken Sie doch?“ fragte er. „Ehrlich ist dabei.“ Sie verabschiedeten sich und verabredeten einen Treff für den nächsten Tag. Markwart sollte dann über seine Begegnung mit dem „Chef“ berichten.
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Gesucht wird Werner Müller
Elvira Roßwig hatte schon genug damit zu tun, die Klienten zu beruhigen, die auf Dr. Kraus warteten. Der Anwalt war noch immer nicht in seiner Praxis eingetroffen, obwohl die Bürostunden längst begonnen hatten. Ein Gerichtstermin, der sein Ausbleiben erklärt hätte, war nicht angesetzt, und Frau Kraus, bei der Elvira vor einer Stunde nachgefragt hatte, wußte auch nicht, wo ihr Mann war. Die bestellten Klienten murrten und schimpften mit Elvira. Und dann noch dieser Anruf, der sie in helle Empörung versetzte. Was bildete diese Person sich eigentlich ein? Glaubte sie, nur weil sie die Eigentümerin eines miserablen Lokals war, einer Kaschemme, die Elvira nie im Leben betreten hätte, durfte sie sich ihr, Elvira Roßwig, gegenüber einen solchen Ton erlauben? Und was sollte die Anspielung auf den Abend mit Dr. Kraus im Hufeisen? Woher wußte sie überhaupt davon, und was ging es sie an? Ob sie eifersüchtig war? Und wie betont sie immer den Vornamen des Chefs ausgesprochen hatte; als wäre sie nicht seine Klientin, sondern seine Geliebte. Elvira wurde in ihren unerfreulichen Gedanken durch den Rechtsanwalt unterbrochen, der das Büro betrat, seinen Sommermantel über eine Stuhllehne warf und sofort nach den Posteingängen griff, kaum daß er ihr einen guten Morgen wünschte. Dr. Kraus blätterte die Briefe und Karten durch, sortierte einige aus, die er an sich nahm, und warf die anderen auf Elviras Schreibtisch zurück. „Sonst noch etwas?“ fragte er. 172
„Ein Anruf von Frau Engel. Sie wollte mir jedoch nicht sagen, worum es sich handelt, und später noch einmal rufen“, erwiderte die Sekretärin verwundert. So kurz angebunden war ihr Chef noch nie zu ihr gewesen. Sonst nahm er sich immer für ein paar persönliche Worte Zeit. Dr. Kraus brabbelte etwas, das Elvira nicht verstand, und ging in sein Zimmer. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, da ertönte seine Stimme aus der Sprechanlage. „Wir fertigen heute nur die bestellten Klienten ab, die anderen schicken Sie wieder weg, Frau Roßwig.“ „Jawohl, Herr Doktor“, erwiderte Elvira. „Noch etwas. Ich hätte heute nachmittag einen Termin vor dem Amtsgericht Tiergarten. Sie wissen: die Todeserklärung Schmidt. Telefonieren Sie bitte mit Doktor Fenner, und bitten Sie ihn, mich zu vertreten. Ich bin verhindert.“ „So kurzfristig? Das wird Doktor Fenner kaum machen. Er kennt ja die Sache nicht.“ „Dann bringen Sie ihm die Akte gleich ’rüber. Mein Gott, was gehört schon dazu, eine solche Lappalie zu erledigen?“ erwiderte der Anwalt ungeduldig. Elvira ließ sich nicht einschüchtern. „Und wenn Doktor Fenner ablehnt?“ „Dann rufen Sie eben beim Amtsgericht an und sagen, daß ich verhindert bin! Ich kann es nicht ändern. Und jetzt bitte den ersten Besucher“, verlangte Dr. Kraus und brach jede weitere Diskussion ab. „Wie Sie wollen“, sagte Elvira pikiert und griff zum Telefon. Dann fielen ihr die Klienten ein, und sie ging in den Warteraum, um die Anweisung auszuführen. Und während der erste Klient das Zimmer des Anwalts betrat, sprach sie bereits mit Dr. Fenner, der wider Erwarten zu der Vertretung bereit war und sich sogar selbst die Akten holen wollte. 173
Elvira war im Begriff, sich der Post zu widmen, als Kommissar Krüger das Büro betrat. „Guten Morgen, Frau Roßwig“, sagte der Kommissar fröhlich, während er ihr die Hand reichte. „Na, sind Sie neulich gut nach Hause gekommen?“ Elvira Roßwig, die schon Krügers unerwartetes Erscheinen etwas verwirrte, wurde bei seiner Frage noch verlegener. Sie wich dem Blick seiner grauen Augen aus und erwiderte, bemüht, gleichgültig zu erscheinen: „Ja, natürlich. Wir sind ja auch bald nach Ihnen gegangen. Doktor Kraus hat mich zum Bahnhof begleitet.“ Von Markwart sagt sie kein Wort, dachte Krüger schmunzelnd. Ihre Verlegenheit war ihm nicht entgangen. „Sie wollen sicher zum Chef. Ich werde Sie gleich anmelden“, sagte Elvira eifrig, während sie sich dem Telefon zuwandte. „Lassen Sie sich ruhig Zeit damit. Da draußen sitzen Leute, die vor mir da waren. Ich habe es nicht eilig.“ „Kommen Sie etwa als Klient? Wollen Sie sich vielleicht gar scheiden lassen?“ fragte sie spöttisch. „Scheiden lassen? Nee, wissen Sie, so was wie meine Lene gibt’s nicht wieder. Da wäre ich schön dumm.“ „Also dienstlich. Dann brauchen Sie auch nicht zu warten.“ „Erraten. Aber deswegen können Sie sich trotzdem Zeit lassen!“ Elvira lächelte. „Ein Weilchen dauert es sowieso. Es ist nämlich gerade ein Klient bei Doktor Kraus.“ „Na prima. Dann können wir uns ja unterhalten. Ich wollte Sie neulich schon etwas fragen. Sie sind doch eine geborene Thorsten. Sind Sie etwa mit dem Physiker Thorsten verwandt, der die Abhandlungen über Quantenphysik veröffentlicht hat?“ 174
Elvira erschrak, sie hatte Mühe, das Zittern ihrer Hände zu verbergen, und in ihrem Kopf wirbelten hunderterlei Gedanken durcheinander. Seltsamerweise kam ihr dabei nicht die Frage in den Sinn, woher der Kommissar eigentlich wissen konnte, daß sie eine geborene Thorsten war. Endlich hatte sie sich gefaßt. „Warum interessiert Sie das?“ Krüger war über ihre seltsame Reaktion verwundert. „Aus reiner Neugierde. Ich habe nämlich eine dieser Abhandlungen gelesen“, erwiderte er. „Sie haben …“ Jetzt war das Staunen an Elvira. Ihr Gesicht drückte so viel Verwunderung aus, daß ein anderer als Krüger beleidigt darüber gewesen wäre. Der Kommissar aber lachte nur. „Ehrlich gesagt, ich habe so gut wie nichts davon verstanden. Aber es war die einzige Lektüre, die mir damals zur Verfügung stand, und irgendwomit mußte ich mich beschäftigen, sonst wäre ich verrückt geworden. Das war nämlich in den letzten Kriegsmonaten. Ich mußte mich vor der Gestapo verstecken und hauste in einem Luftschutzkeller. Dort lag zufällig diese Broschüre herum.“ „Harald Thorsten ist mein Bruder“, sagte Elvira abweisend. Sie verträgt sich offenbar nicht mit ihm, dachte der Kommissar. Trotzdem fragte er weiter: „Lebt er auch hier in Berlin?“ Sie nickte. „Dann grüßen Sie ihn schön von einem unbekannten Verehrer.“ In diesem Moment ging die Tür zum Nebenzimmer auf, und hinter einem Mann, der eilig dem Ausgang zustrebte, erschien Dr. Kraus. Beim Anblick des Kommissars stutzte er, kam jedoch sofort mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. 175
„Was verschafft mir die hohe Ehre, Sie in meinem bescheidenen Büro begrüßen zu dürfen, Herr Kommissar?“ Er schüttelte Krüger kräftig die Hand und bat ihn nach nebenan. Der Kommissar folgte ihm und nahm in dem angebotenen Sessel Platz. „Schade, daß Sie neulich so schnell verschwunden waren, Herr Doktor. Sie hätten gleich einen neuen Klienten werben können“, begann Krüger ohne Einleitung. Der Anwalt ließ sich nicht überrumpeln. Er tat, was er immer zu tun pflegte, wenn er überrascht war: Er runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken. Schließlich sagte er: „Beim besten Willen, ich weiß nicht, was Sie meinen.“ „Den Abend, als wir uns im Hufeisen trafen.“ Dr. Kraus riß die Augen auf. „Nun sagen Sie bloß noch, daß Sie das waren, der sich in der Ruine am SBahnhof herumgeprügelt hat!“ Der Kommissar tat gleichmütig. „Stimmt, das war ich.“ Um die Lippen des Anwalts zuckte es. „Das konnte ich nicht ahnen. Ich vermutete Sie um diese Zeit längst zu Hause. Hat sich Ihr Fang wenigstens gelohnt?“ „Das muß sich erst herausstellen.“ „Ja, die Balgerei habe ich gesehen, mich aber nicht darum gekümmert. Es ist immer klüger, sich nicht einzumischen, wenn zwei sich streiten. Wenn ich allerdings geahnt hätte, daß Sie das sind, wäre ich Ihnen selbstverständlich zu Hilfe gekommen.“ „Zu gütig, Herr Doktor“, erwiderte der Kommissar und betrachtete den Anwalt belustigt. „Kommen Sie wegen dieser Sache?“ „Nein, wegen des Hufeisens.“ 176
Dr. Kraus wurde sofort ganz Ohr. „Demnach war Ihr Besuch dort doch nicht so ganz privat, wie Sie vorgaben, Herr Kommissar! Sie haben ein dienstliches Interesse an dem Lokal, stimmt’s?“ „Nicht am Lokal, Herr Rechtsanwalt, an seinen Gästen, oder noch genauer gesagt: an einem seiner Gäste. An diesem Rohloff!“ „Rohloff? Einen Mann dieses Namens kenne ich nicht.“ „Doch, doch, Sie kennen ihn, Herr Doktor. Rohloff, das ist dieser Rotkopf, der hinter uns saß.“ „Ach, Sie meinen den, der Sie provoziert hat? Herr Pregel sagte mir übrigens, daß er ihn deshalb verwarnt und ihm für den Wiederholungsfall ein Hausverbot angedroht hat. Ich hoffe, Sie verübeln seine Flegelei nicht dem Lokal.“ Krüger winkte beruhigend ab. „Keine Angst. So etwas ist man in meinem Beruf ja gewohnt. Ich wollte nur wissen, ob dieser Rohloff öfter im Hufeisen ist und mit welchen Leuten er dort zusammentrifft.“ Dr. Kraus druckste herum. „Sie dürfen es mir nicht verargen, Herr Krüger, aber wir Anwälte haben nun einmal unser Berufsethos. Auskünfte über andere Personen an die Polizei geben wir schon deshalb nicht gern, weil das unserem Ruf schadet. Es heißt dann sehr schnell: Der arbeitet mit der Polizei zusammen, und wie sich das auswirken kann, brauche ich Ihnen ja nicht erst zu sagen. Außerdem kenne ich diesen Rohloff wirklich nicht. Ich habe ihn an diesem Abend das erste Mal gesehen. Vielleicht wenden Sie sich lieber an Herrn Pregel.“ „Ich hätte Ihre Auskunft selbstverständlich vertraulich behandelt. Aber wenn Sie sowieso nichts wissen … Im übrigen ist die Sache nicht so wichtig. Im Moment liegt 177
gegen Rohloff nichts vor. Es ist mehr eine Art Vorbeugungsmaßnahme, wenn ich mich nach ihm erkundige. Man kennt seine Pappenheimer und behält sie ein bißchen im Auge.“ „Und was für ein Pappenheimer ist dieser Rohloff?“ „Ach, der hat früher einmal mit Heroin gehandelt, aber so gewitzt, daß ihm nie etwas Handfestes nachgewiesen werden konnte. In letzter Zeit scheint er die Finger vom Rauschgift gelassen zu haben. Wahrscheinlich schiebt er mit etwas anderem. Er wurde öfter auf dem schwarzen Markt gesehen.“ Dr. Kraus nahm, so schien es jedenfalls dem Kommissar, diese Eröffnung gleichgültig auf. Das beruhigte Krüger, denn er sagte sich, daß sich der Anwalt ganz gewiß durch eine Geste, einen spöttischen Blick oder dergleichen verraten hätte, wüßte er um Markwarts Doppelrolle, doch es schien ihm unklug, seinen Besuch schon zu beenden. Deshalb brachte er das Gespräch auf Littke alias Birne. Dr. Kraus schien jetzt wesentlich interessierter zu sein. „Ist das der eigentliche Grund Ihres Kommens? Sie sind doch ein alter Fuchs. Man muß sich vorsehen bei Ihnen“, sagte er lachend. Der Kommissar senkte schuldbewußt den Blick. „Also, worum geht es?“ „Ist Ihnen vielleicht unter Ihren Klienten ein gewisser Werner Müller bekannt?“ Täuschte sich Krüger, oder stutzte der Anwalt tatsächlich bei der Nennung dieses Namens? Doch Dr. Kraus’ Miene drückte wieder sachliche Gleichgültigkeit aus. „Müller! Welch ein seltener Name hier in Berlin! Ich bin überzeugt davon, daß es unter meinen Klienten mindestens ein Dutzend Müllers gibt. 178
Einige davon heißen vielleicht sogar Werner. Trotzdem kann ich mich jetzt nicht an einen bestimmten Mann erinnern. Sie müßten mir da schon Näheres sagen, Herr Kommissar.“ Auf Krügers Stirn traten Sorgenfalten, und auch sein Schnurrbart ließ traurig seine Enden hängen, als er antwortete: „Näheres wüßte ich selbst gern. Wir suchen einen Werner Müller, der Frau Rebbin das Geld für Littkes Verteidigung gegeben und ausdrücklich angewiesen hat, Sie zu engagieren. Folglich muß dieser Müller sowohl Littke als auch Sie kennen, Herr Doktor.“ „Glauben Sie denn, daß er Frau Rebbin gegenüber seinen richtigen Namen genannt hat? Schon die Tatsache, daß er sich Müller nannte, legte doch den Verdacht nahe, daß dieser Name falsch ist. Und daß er mich kennt … Tja, wissen Sie, mich kennen viele Leute. Haben Sie wenigstens eine brauchbare Beschreibung von dem Mann?“ Der Kommissar wurde noch betrübter. „Leider nein. Müller scheint ein ausgesprochener Durchschnittstyp zu sein, ohne jede Besonderheit.“ „Das ist freilich schlimm, aber Sie werden ihn schon finden, Herr Kommissar.“ Krüger hörte den Spott in seinen Worten. Er erhob sich und reichte dem Anwalt die Hand. „Schade. Aber ich habe mir gedacht, daß ich bei Ihnen Pech haben werde“, sagte er.
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Olaf Rohloff macht Geschäfte
Genau zwei Minuten vor drei Uhr betrat Markwart, vergnügt vor sich hin pfeifend, die Bar Zum Hufeisen. Vorn im Schankraum lümmelte Boxer auf einem Hocker an der Theke und beobachtete die Tür. Bei Markwarts Eintritt wandte er sich betont desinteressiert ab und begann die Etiketten auf den leeren Flaschen im Regal hinter dem Ausschank zu studieren. Markwart ging auf ihn zu. „Na, wie steht’s, alter Schwede?“ sagte er, während er ihm die Schulter klopfte. Seine Hand rutschte ab und glitt wie zufällig über Boxers Achselhöhle, wo sie einen Augenblick verharrte. „Was begrapscht du mich so, he? Ich bin doch kein Weib!“ knurrte Boxer, ohne seine Haltung zu ändern. Nur den Kopf drehte er zur Seite, so daß er Markwart sehen konnte. Er begann zu grinsen. „Oder bist du schwul?“ Markwart lachte schallend. „Mensch, ein Blick in deine Visage, und selbst der alte Sokrates wäre bei seinem Weib geblieben. Aus Verzweiflung, verstehst du?“ Boxer war stur wie ein Nilpferd und ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Nur in einem Punkt reagierte er empfindlich: nämlich dann, wenn jemand auf sein Aussehen anspielte. Dann packte ihn die Wut. Hänseleien dieser Art konnte er auf den Tod nicht ausstehen. Auch jetzt hätte er den spottenden Markwart am liebsten zwischen seine Fäuste genommen. Aber er mußte es sich verkneifen, denn das wäre gegen Müllers strikte Weisung gewesen. 180
Er brauchte eine Weile, um seine Wut so hinunterzuwürgen, daß sie die Luftröhre nicht mehr blockierte, und zischte dann: „Warte nur, Großmaul, dir wird das Spotten noch vergehen.“ Markwart winkte unbekümmert ab. „Take it easy, Boxer. Wir sind alle mal dran.“ Sprach’s, ließ den wutschnaubenden Mann stehen und schlenderte auf den Klubraum zu. Mit der Gelassenheit eines Mannes, der seinen Wert kennt, steuert er den Platz an, den er bei seinen Besuchen meistens innehatte, und winkte der Serviererin zu. Die stupsnasige Irene begrüßte ihn anders als sonst, nämlich überaus zurückhaltend und, wie es Markwart schien, ein wenig besorgt. Deshalb klopfte er ihr übermütig auf das Sitzpolster und sagte: „Was ist los, mein Schatz? Hast du schlecht geschlafen?“ Irene wischte seine Hand weg und schimpfte: „Lassen Sie das! Ich bin nicht so eine!“ Als sie jedoch das Bier vor ihn auf den Tisch stellte, wedelte sie ein paar imaginäre Stäubchen vom Tischtuch, wobei sie ihm zuflüsterte: „Vorsicht! Heute ist irgend etwas hier los.“ Markwart wollte fragen, was sie meinte, aber ehe er den Mund aufmachen konnte, war sie weg. Er folgte ihr mit seinen Blicken zur Bar, sah, daß sie dort mit Gläsern hantierte und seinen Augen auswich. Immerhin meint sie es gut, dachte er. Markwart war längst nicht so ruhig, wie es einem Beobachter scheinen mußte. Im Gegenteil. In seinem Rücken spürte er ein eigenartiges Ziehen, und seine Kniegelenke schienen zeitweise aus Watte zu sein. Eine halbe Stunde warte ich, nahm er sich vor, wenn bis dahin keiner erscheint, hau’ ich ab. Er ertappte sich bei dem 181
Gedanken, daß ihm das vielleicht ganz recht wäre, aber dann kam ihm Kommissar Krüger in den Sinn und das Vertrauen, das der ihm entgegenbrachte, und er schalt sich einen Feigling. Mochte geschehen, was wolle, er würde seinen Auftrag ausführen. Krüger würde jeden seiner Schritte kennen und ihn abzusichern wissen, davon war Markwart felsenfest überzeugt. In diesem Augenblick fand sich Müller im Klubraum ein. Die Spuren von Markwarts Faust in seinem Gesicht waren noch zu erkennen. Sein Kinn schimmerte gelblich und hatte in der Mitte eine diskrete Schmarre. Markwart betrachtete kritisch sein Werk und fragte: „Tut’s noch sehr weh?“ Das Aufleuchten in Müllers Augen ließ etwas von den Gefühlen ahnen, die er für Markwart empfand. Seine Stimme jedoch blieb kühl. „Sie werden erwartet, Herr Rohloff. Kommen Sie mit!“ „Bitte!“ sagte Markwart, ohne die Aufforderung zu beachten. Müller war bedeutend gefährlicher als Boxer; er konnte sich auch besser beherrschen. An seiner Haltung änderte sich deshalb nichts, nur in seinen Augen sank die Temperatur unter den Gefrierpunkt. „Ganz wie Sie wünschen, Herr Rohloff. Bitte kommen Sie mit!“ Markwart nickte, hatte es aber immer noch nicht eilig. „Wohin soll es denn gehen? Meinetwegen können wir die Sache hier aushandeln.“ „Der Chef möchte lieber im Büro mit Ihnen sprechen.“ „Herr Pregel?“ „Sie werden es gleich sehen.“ „Wurde meine Warnung ausgerichtet?“ Zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs huschte ein geringschätziges Lächeln über Müllers Gesicht. „Sie 182
werden sich doch nicht fürchten? Ein Mann von Ihrem Format, Herr Rohloff!“ „Ich warne Sie trotzdem noch einmal für den Fall, daß Sie es vergessen haben.“ Müller verzog keine Miene. „Können wir gehen?“ „Gehen Sie voraus!“ Müller tat es. Im Hinausgehen erhaschte Markwart noch einen traurigen Blick der Serviererin. Dann stand er in dem langgestreckten, nur spärlich erleuchteten Korridor. Der Assistent war sofort hellwach. Seine Augen registrierten jede Kleinigkeit. Wer weiß, wozu er das noch einmal brauchen konnte. Über einer Tür am Ende der rechten Seite brannte ein rotes Lämpchen. Die Tür schräg gegenüber trug ein weißes Schild mit der Aufschrift „Privat“. Müller schritt darauf zu und öffnete sie. „Treten Sie ein“, sagte er, Markwart den Vortritt lassend. Der Assistent hatte eine Begegnung mit Pregel erwartet. Doch weder der Geschäftsführer noch sonst jemand war in dem Zimmer. Er fühlte sich unbehaglich. Als er den Raum betrat, hatte er deutlich das Einschnappen der Türschlosses vernommen, sich aber nichts Schlimmes dabei gedacht. Dem Anschein nach befand er sich in einem Büroraum; sogar eine alte Schreibmaschine stand da. Nur zwei Umstände gaben ihm zu denken: Das einzige Fenster des Raumes war vergittert, und die einzige Tür hatte innen keine Klinke. Diese Tür war aus Holz und mit einem dicken Lederpolster versehen. Markwart sah sich blitzschnell um, nahm dann einen Stuhl und schob ihn in die Nische zwischen der Tür und dem breiten Aktenschrank. Von hier aus konnte er, selbst gut gedeckt, sowohl die Tür als auch das Fenster überwachen. 183
Das Telefon schlug an. Markwart ließ es läuten. Er wollte seinen geschützten Platz vorerst auf keinen Fall verlassen. „Herr Rohloff, gehen Sie bitte an das Telefon!“ erklang da eine Stimme über ihm. Erschrocken blickte er empor, konnte jedoch den Lautsprecher, aus dem die Stimme kam, nicht entdecken; er mußte unter der Tapete verborgen sein. Markwart dachte gar nicht daran zu gehorchen. Das Telefon schrillte weiter. „Das Gespräch ist für Sie“, sagte die Stimme wieder. Markwart behielt das Fenster im Augen und lauschte gleichzeitig nach rückwärts zur Tür, während er auf den Schreibtisch zuging und den Hörer abnahm. „Entschuldigen Sie die ungewöhnliche Verhandlungsform“, sagte eine Stimme, die sich merkwürdig dumpf und verzerrt anhörte, gerade so, als käme sie aus dem Keller. „Es dürfte im beiderseitigen Interesse liegen, wenn wir vorerst inkognito bleiben.“ „In Ihrem Interesse, wollten Sie wohl sagen, Herr Unbekannt. Denn mich kennen Sie ja“, gab Markwart verärgert zurück. So hatte er sich die Sache nicht gedacht. „Bilden Sie sich nur nicht ein, daß ich mit einem Anonymus Geschäfte mache. Man hat zuwenig Sicherheiten dabei.“ Die Stimme am anderen Ende lachte blechern. „Oh, was das Geschäft angeht, so werden Sie bestimmt zufrieden sein. Vorausgesetzt, es kommt überhaupt dazu. In diesem Fall wird mein Beauftragter alles in gehöriger Form mit Ihnen regeln. Darf ich zunächst fragen, was für ein Geschäft Sie mir anzubieten haben?“ Markwart blieb kratzbürstig. „Sie verwechseln etwas, mein Bester. Sie haben mich sprechen wollen, nicht ich 184
Sie. Und überhaupt, was soll der Mummenschanz? Wollen Sie mich damit einschüchtern? Dann lassen Sie sich gesagt sein: Olaf Rohloff hat für solche Kinkerlitzchen nichts übrig.“ „Das ist wirklich schade. Diese Kinkerlitzchen, wie Sie es nennen, sind nämlich sehr nützlich. Besonders dann, wenn man sich vor unliebsamen Überraschungen, beispielsweise vor Spitzeln, schützen will. Vielleicht sind Sie ein Spitzel, Herr Rohloff. Dann können Sie sehr bald die Wirksamkeit meines Systems zu spüren bekommen.“ Markwart konnte sich gut vorstellen, was es mit diesem System auf sich hatte. Die Leichen von Pinkel und Vierfinger-Willi waren ja ein deutlicher Hinweis. Für den Bruchteil einer Minute spürte er wieder das Ziehen im Rücken. Doch seiner Stimme war nicht die Spur einer Beunruhigung anzumerken, als er antwortete: „Sparen Sie sich Ihre Psalmen für das Abendgebet, und sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen!“ „Schade, daß Sie so wenig Sinn für Humor haben. Geschäfte sind viel ersprießlicher, wenn sie mit Humor gewürzt sind. Kennen Sie zum Beispiel die Anekdote von der Maus, die in der Falle sitzt und den Speck ignoriert, weil sie angeblich Zahnschmerzen hat? Sie haben viel Ähnlichkeit mit dieser Maus, Herr Rohloff; ich fürchte, auch Ihnen ist der Appetit auf den Speck vergangen. Mit Ihren Nerven ist es wohl nicht gut bestellt?“ Verdammt, er hat recht, dachte Markwart. Die Sache geht mir wirklich mehr an die Nerven, als ich dachte. Ich muß mich zusammennehmen. Was soll der Alte sonst von mir denken. „Also schön, wenn es Ihnen Spaß macht, halten Sie Ihre Rede, großer Meister. Sollte ich darüber einschlafen, dann wecken Sie mich vor der Pointe.“ 185
Am anderen Ende blieb es eine Weile still. Markwart strengte sein Gehör an und vernahm ein Rascheln, so als würde ein Seidentuch zusammengeknüllt. „Was ist los? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Oder ist Ihnen das Tuch heruntergefallen, das Sie über die Muschel halten?“ fragte er. „Sieh da, Sie sind gar nicht so unerfahren. Machen wir es also kurz. Sie haben Pülverchen anzubieten, wenn ich recht informiert bin?“ „Was – ich?“ staunte Markwart. „Da sind Sie falsch informiert. Ich habe nichts anzubieten! Ich suche!“ Die Stimme am anderen Ende wurde bedeutend zugänglicher. „Und was suchen Sie speziell?“ „Vor allem Schnee.“ „Heroin also, hm. Wie kommen Sie darauf, daß Sie es hier bekommen?“ Markwart war auf die Frage vorbereitet, zögerte die Antwort jedoch hinaus. Es kam darauf an, daß man ihm glaubte. Nur so würde es gelingen, in das Schiebernetz einzudringen. „Das spielt keine Rolle. Man hat seine Beziehungen“, erwiderte er schließlich ausweichend. „Auch zur Polizei?“ „Fangen Sie schon wieder an? Warum fragen Sie nicht im Präsidium nach? Vielleicht sagt man Ihnen dort, was Sie wissen wollen.“ „Die Idee ist gar nicht schlecht, Herr Rohloff. Der alte Krüger ist bisweilen sehr mitteilsam. Also wieviel wollen Sie haben?“ „Das kommt auf den Preis an. Vorerst dachte ich an zwei Kilo.“ „Na, na. Wie wollen Sie die Menge absetzen? Können Sie überhaupt so viel Geld aufbringen?“ „Was verlangen Sie?“ 186
„Sie werden doch die Preise kennen, Herr Rohloff, sechzigtausend!“ „Ich biete fünfundvierzig in bar.“ „Sie scherzen, Herr Rohloff. Barzahlung versteht sich sowieso. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Haben Sie tatsächlich einen so großen Abnehmerkreis?“ „Das geht Sie einen feuchten Kehricht an. Ich bezahle die Ware, alles andere ist meine Sache. Akzeptieren Sie mein Angebot oder nicht?“ „Sie sind verrückt. Fünfundvierzigtausend sind ganz und gar undiskutabel. Die Selbstkosten sind zu hoch. Aber es gäbe vielleicht eine andere Möglichkeit. Was halten Sie davon, wenn Sie die Ware in Kommission nehmen? Ich biete Ihnen sechs Prozent vom Umsatz. Sie hätten keine Nachschubsorgen und weniger Risiko.“ „Und Sie machen ein Riesengeschäft auf meine Kosten. Nee, da müssen Sie sich einen Dümmeren aussuchen.“ Die Stimme wurde katzenfreundlich. „Sie verkennen Ihre Situation, Herr Rohloff. Die Menge, die Sie brauchen, kann Ihnen außer mir niemand liefern. Niemand! Wenn Sie versuchen wollten, das Zeug in kleineren Mengen aufzukaufen, würden Sie unweigerlich draufzahlen. Es sei denn, Sie schraubten die üblichen Preise stark in die Höhe. In diesem Fall aber wären Sie von vornherein ausgebootet. Ihre Kunden würden abspringen und zur wesentlich billigeren Konkurrenz gehen, das heißt zu mir. Außerdem werde ich in allernächster Zeit so rentabel arbeiten, daß ich die gegenwärtigen Preise weit unterbieten kann.“ Markwart horchte auf. „Sie bluffen doch?“ „Ich bluffe nicht. Wenn Sie es nicht glauben wollen, bitte, probieren Sie es aus. Ich will Ihnen entgegenkommen: 187
Sie können den gewünschten Posten haben für fünfundfünfzigtausend! Aber ich prophezeie Ihnen, daß Sie gewaltig draufzahlen.“ Markwart ignorierte die Warnung. „Wann kann ich den Stoff bekommen?“ „In vier bis fünf Tagen. Ich lasse Ihnen Nachricht geben. Dann können Sie mit meinem Beauftragten die Einzelheiten regeln.“ „Wer garantiert mir, daß Sie keine üblen Tricks mit mir vorhaben?“ „Mein Wort, Herr Rohloff!“ „Das Wort eines Anonymus? Schöne Garantie! Das gefällt mir nicht.“ „Es ist die einzige Möglichkeit für Sie, dieses Geschäft abzuschließen“, erwiderte der Mann ungerührt. „Ich will Ihnen sogar acht Tage Bedenkzeit geben. Wenn Sie dann noch an dem Geschäft interessiert sind, kommen Sie um die gleiche Zeit wie heute ins Hufeisen. Sollten Sie das Geld bis dahin flüssig haben, bringen Sie es mit. Die Ware wird für Sie bereitliegen. Doch vielleicht überlegen Sie sich mein anderes Angebot noch einmal. Ich wiederhole: Kommissionsware in jeder gewünschten Menge. Sechs Prozent Umsatzbeteiligung. Wir garantieren Ihnen den Schutz unserer Organisation gegen Konkurrenten, und Sie beziehen dafür die Ware nur von uns zu den genannten Bedingungen.“ Markwart spürte, das Angebot war ernst gemeint, und er frohlockte innerlich. Eine bessere Möglichkeit, in die Bande hineinzukommen, gab es nicht. Zum Schein zögerte er. Er hätte brennend gern gewußt, woher der andere diese Menge Rauschgift nehmen wollte. Doch eine direkte Frage wäre zu auffällig gewesen. „Sie reden, als hätten Sie eine eigene Fabrik“, sagte er deshalb und tat ungläubig. 188
Am anderen Ende wurde gekichert. „Sie sind ein kluges Kerlchen. Ich habe viel übrig für kluge Leute. Deshalb würde es mich wirklich freuen, wenn Sie meinen Vorschlag annähmen.“ „Zehn Prozent und acht Tage Bedenkzeit“, forderte Markwart. „Sie werden unverschämt! Schade, Sie enttäuschen mich. Die acht Tage haben Sie natürlich. Auf bald, Herr Rohloff.“ „Hallo!“ rief Markwart schnell. Vergeblich. Der andere hatte eingehängt. Markwart ging zu seinem Stuhl zurück und wartete. Der Anruf war bestimmt aus dem Hause gekommen. Aber wer war sein Telefonpartner? Die Stimme erinnerte ihn an jemanden. Das Dutzendgesicht schied aus, seine Stimme und Ausdrucksweise waren nicht so salbungsvoll. Pregel paßte schon eher dazu. Der Mann, mit dem er gesprochen hatte, war zweifellos gebildet, kein gewöhnlicher Ganove. Je mehr Markwart es sich überlegte, desto überzeugter war er, daß sich Pregel und kein anderer hinter diesem Anonymus verbarg. Endlich wurde die Tür geöffnet. Müller holte ihn ab. Als Markwart den Korridor betrat, fiel ihm auf, daß das rote Lämpchen über der Tür gegenüber nicht mehr brannte. Gleichsam gedankenlos ging er auf diese Tür zu. Ehe er jedoch die Klinke anfassen konnte, schob Dutzendgesicht seine Hand weg. „Hier geht’s lang“, sagte er und wies nach rechts. „Ich möchte den Geschäftsführer sprechen, und zwar gleich“, sagte Markwart. „Der ist in seinem Büro. Wir kommen daran vorbei.“ „Wieviel Büros gibt es hier eigentlich?“ Müller überhörte seine Frage. Markwart betrat schwungvoll Pregels Büro und schlug Müller die Tür vor der Nase zu. „Ich wollte Sie noch 189
etwas fragen, Chef“, begann er sofort. „Wenn ich nun früher zu einem Entschluß komme, wie kann ich Sie dann erreichen?“ Pregel sah ihn verwundert an. „Ich verstehe Sie nicht, Herr Rohloff!“ „Warum so geheimnisvoll?“ Markwart zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Keine Angst, ich halte dicht. Schließlich sitzen wir im gleichen Boot!“ „Sie irren sich, Herr Rohloff! Sie irren sich überhaupt beinahe zu oft! Und jetzt gehen Sie bitte, ich habe zu arbeiten.“ Markwart war nicht so recht zufrieden, als er ging. Doch er wollte Pregel nicht unnötig reizen. An der Tür erreichte Pregels Stimme ihn noch einmal. „Ich warne Sie, Rohloff! In diesem Hause steht Neugierde nicht hoch im Kurs.“ Im Korridor neben Pregels Tür lehnte Müller mit ausdruckslosem Gesicht an der Wand. Markwart hielt es für das klügste, in den Klubraum zurückzugehen. Er trank noch ein Bier und verließ dann das Lokal.
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Der Stieglitz singt so schön
Kommissar Krüger konnte überaus hartnäckig sein. Wenn es darauf ankam, konnte seine Hartnäckigkeit sogar zur Sturheit werden; und auf die Identifizierung Schlapphuts kam es ihm an. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Geheimnis dieses Stummen aufzuklären, und davon war er durch nichts und niemanden abzubringen. Die Männer vom Erkennungsdienst hatten sich vergeblich bemüht, ihm klarzumachen, daß ein Personenfeststellungsverfahren viel Zeit in Anspruch nimmt und daß die Erfolgsaussichten um so größer sind, je bedachtsamer und gründlicher dabei vorgegangen wird. Der Kommissar sah das zwar ein, war aber trotzdem mit dem seiner Meinung nach viel zu langsamen Tempo unzufrieden. Er suchte den Daktyloskopieexperten auf und bat ihn um Unterstützung. Der kleine Mann betrachtete das Blatt mit Schlapphuts Fingerabdrücken, das Krüger ihm übergeben hatte, aufmerksam und schüttelte betrübt den Kopf. „Typisches Nullachtfuffzehn-Muster; davon haben wir Tausende in der Sammlung“, sagte er. „Ich müßte die Abdrücke mindestens auf zehn Merkmale vergleichen, um sicherzugehen. Das kann Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, wenn noch mehr Eilaufträge eingehen.“ Krüger war von der Daktyloskopie enttäuscht. „Ich dachte, das geht schneller, wenn auch nicht so schnell wie neulich bei Schütze. Immer klappt es also nicht.“ Der Experte meckerte. „Das einzige, was hier immer klappt, ist die Tür“, sagte er. „Ja, neulich, das war etwas Besonderes, aber das hier …“ Seine Hand hieb durch die 191
Luft. Dann versuchte er, den Kommissar zu trösten. „Vielleicht haben wir Glück, und das Blatt ist schon beim ersten Durchgang dabei.“ Krüger rollte die Augen. Glück! Zufall! Unsicherheitsfaktoren! Damit konnte man keine Verbrechen bekämpfen. Was Krüger brauchte, waren handfeste Ergebnisse. Er versuchte es an anderer Stelle und konsultierte einen Mediziner, der sich Facharzt für Hals- und Ohrenleiden nannte und sogar Professor war. Aber auch der zuckte die Schultern. „In der Fachliteratur sind mehrere Fälle von nahezu perfekter Taubstummheitssimulation beschrieben. Mit einer einmaligen Untersuchung des Mannes ist da nichts zu machen. Wir müßten ihn ein paar Wochen klinisch beobachten und ein Testprogramm für ihn erarbeiten.“ Der Kommissar versuchte es der Reihe nach noch bei einem Psychiater, einem Sprachheilkundigen und einem Taubstummenlehrer. Das Ergebnis war überall dasselbe. In einigen Wochen, ja, dann wäre wohl nach sorgfältiger Beobachtung eine Diagnose zu stellen; früher ginge es beim besten Willen nicht. Krüger knirschte mit den Zähnen. Der nächste, an den ich mich wende, wird vielleicht Monate oder gar ein Jahr benötigen, dachte er ergrimmt. Die haben gut reden, denn sie haben ja Zeit, und ihr Wissen vom Fall wird dabei täglich größer, meine Chancen dagegen schwinden. Ehrlich hatte Krügers miserable Laune auszubaden und sehnte sich im stillen nach Markwarts Rückkehr, damit sie sich die Rüffel wenigstens teilen konnten. Unverhofft gab es einen Lichtblick. Der Fachmann aus der Daktyloskopie rief nämlich an: „Sie müssen ein Sonntagskind sein, Herr Kommissar. Bei Ihrem Glück sollten Sie in der Lotterie spielen. Kommen Sie hoch; ich habe den Mann gefunden.“ 192
Das Tempo, mit dem Krüger die Treppen zur Daktyloskopie hochrannte, war beinahe titelverdächtig; das Japsen allerdings, mit dem er oben ankam, wäre eher ein Fall für den Internisten gewesen. „Ich könnte Sie vor Freude küssen“, keuchte Krüger, mit aller Welt und ganz besonders mit der Daktyloskopie ausgesöhnt. Der Experte hob entsetzt die Hände. „Um Himmels willen, Herr Kollege. Ich bin zwar Junggeselle, aber trotzdem ganz normal. Damit können Sie den Lümmel festnageln“, sagte der Experte und tippte mit seinem Spinnenfinger auf das Blatt. „Eine große Nummer ist er allerdings nicht.“ Damit hatte er recht. Schlapphut hieß Walter Probst und war nach den Unterlagen der Kriminalpolizei ein mittelmäßiger Gewohnheitsdieb. Die Akte erzählte die bewegte Geschichte dieses Mannes. Die letzte Eintragung von 1943 schloß mit dem typisch amtsdeutschen Seufzer eines Revierpolizisten: „… und hoffen wir, daß demselbigen damit endlich die Lust an weiteren Diebstählen vergeht, alldieweil die bisher gegen ihn verhängten fünfzehn Vorstrafen (inklusive Geldstrafen) noch keine Früchte gezeitigt haben und die Einwirkungsmöglichkeiten hiesiger Dienststelle erschöpft sind.“ Darunter war in steiler, zackiger Schrift ein Vermerk angebracht: „Klarer Fall: Gewohnheitsverbrecher! Sicherheitsverwahrung!“ Der Kommissar fühlte ein Kribbeln in den Fäusten, als er diesen Vermerk las, und er sah fast leibhaftig die Visage des Staatsanwaltes vor sich, der ihn geschrieben hatte. Unwillkürlich bekam er Mitleid mit Probst. Gewiß, Probst war ein Krimineller, eine jener Existenzen, die, einmal gestrauchelt und in die Räder der Justiz geraten, nie wieder festen Boden unter die Füße bekamen. Sie 193
rutschten immer weiter ab, bis sie das wurden, was sie waren: notorisch Unverbesserliche! Kurz darauf saß Schlapphut dem Kommissar in dessen Dienstzimmer gegenüber. Krüger war die Gemütlichkeit selbst. „Wissen Sie was, Herr Probst, wir werden lieber Ihren richtigen Namen in die Meldekartei eintragen. Es geht nämlich nichts über eine ordentliche Kartei. Sie müssen wissen, daß wir der Ordnung in unseren Karteien den größten Teil unserer Erfolge verdanken. Ja, ja, so ist das. Und da gibt es Diebe, die das nicht glauben wollen. Können Sie sich so etwas vorstellen? Kürzlich zum Beispiel war ein Mann hier, der behauptete, Lipke zu heißen. Er hatte sogar einen Ausweis mit einem echten Stempel für diesen Namen. Nur seine Finger hatte er vergessen, und dabei sind das so geschickte Finger. Was soll ich Ihnen sagen: Als der Bursche kapierte, daß wir ein besseres Gedächtnis haben, weil wir alles aufschreiben, da war es für ihn zu spät, die mildernden Umstände waren nämlich futsch. Jetzt sitzt er in seinem Kämmerlein und ärgert sich über seine Dummheit.“ Probst schwieg und sah stur an Krüger vorbei. Oberassistent Ehrlich schüttelte unmerklich den Kopf. So hatte er den Kommissar noch nie in einer Vernehmung erlebt. Sonst war Krüger wortkarg und ließ den anderen reden. Heute aber schien es, als hätte er diesen Probst nur holen lassen, um ihm Geschichten zu erzählen. Inzwischen sprach Krüger weiter: „Sie glauben nicht, Herr Walter Probst, wie schwer wir es manchmal haben, unserer Kundschaft klarzumachen, daß die Schwindelei keinen Zweck hat. Bei fünfzehn Vorstrafen wird Ihnen das einleuchten. Aber manche Leute glauben, wenn sie sich verstellen, könnten sie davonkommen. Vor einiger 194
Zeit haben wir einen Mann festgenommen, der sich genau wie Sie mit dem Rucksack ∗ abgeschleppt hat. Der Mann wollte uns weismachen, er habe den Jagdschein. Sein Verteidiger konnte sogar einen Sachverständigen auftreiben, der das bescheinigte. Zwei amtliche Gutachter aber wiesen nach, daß er ein ganz gewöhnlicher Simulant war.“ Ehrlich lachte in sich hinein. Jetzt verstand er seinen Chef. Krüger ließ den anderen auf die gemütliche Tour ein paar Zipfelchen von seinem Wissen sehen, um ihn desto sicherer zum Sprechen zu bringen. Der Kommissar hatte Probst während seiner ungewöhnlich langen Rede keinen Augenblick aus den Augen gelassen und dessen dümmliches Glotzen ebenso bemerkt wie die zunehmende Unsicherheit und schließliche Resignation. Was soll ich noch sagen, wenn du schon alles weißt, schien Schlapphuts Blick zu sagen. Der Kommissar war sich seiner Sache sicher. Er hatte Probst überrumpelt, und bald würde der es sein, der erzählte, und Krüger zuhören. Er hätte sich freuen können. Vor ihm saß ein abgebrühter Strolch. Einer, der auf das Gesetz spuckte und beinahe die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht hatte. Und trotzdem! Da war irgend etwas an dem Mann, das Krüger nicht fassen konnte. Da waren das Maiglöckchenbeet und der Stieglitz im Käfig, da war die selbstgewählte Einsamkeit. Vielleicht fühlte Probst, daß der Kriminalist, dem er diesmal gegenübersaß, ein Herz hatte, daß er mehr war als ein beamteter Hüter des Gesetzes, anders als die Polizisten, ∗
Rucksack: in Rechtsbrecherkreisen üblicher Jargonausdruck für Sicherheitsverwahrung. 195
die sieb früher mit ihm beschäftigt hatten. Vielleicht konnte er auch die grausame, grabstille Isoliertheit nicht länger ertragen und ahnte die Wärme der Gemeinschaft. Was immer seinen Sinn beeinflußt haben mochte, Schlapphut kapitulierte. „Sie haben gewonnen, Herr Kommissar!“ Krüger fuhr sich müde durch das Haar. Sein energisches Gesicht wirkte abgespannt; und geradeso ruhig, als ließe er sich zum vierten Mal die gleichen Fragen beantworten, sagte er: „Erzählen Sie von Anfang an, Herr Probst.“ „Das ist aber eine lange Geschichte, Herr Kommissar.“ „Wir haben Zeit.“ Probst erzählte von seiner Kindheit, davon, wie er als Zwölfjähriger in einem günstigen Augenblick einem Trunkenbold Geld stahl, weil der Vater seinen Lohn vertrank oder bei den Prostituierten in der Mulackstraße durchbrachte. Damals kam Probst das erste Mal ins Gefängnis; und dieses Erlebnis hat sein ganzes künftiges Leben geprägt. Als er einige Monate später entlassen wurde, war er, ein Kind noch, als Krimineller gebrandmarkt. Keiner wollte ihn haben, nicht einmal die Mutter, die sich seinetwegen vor den Leuten schämte. Probst wurde herumgestoßen, stahl, kam wieder ins Gefängnis, und so ging das weiter. Probst erzählte langsam und mit Bedacht. Ehe er die Liste seiner Vorstrafen absolviert hatte, vergingen fast zwei Stunden. Er berichtete, daß er später keine Arbeit bekam, weil er vorbestraft war, und wie eine geplante Ehe dadurch in die Brüche ging. Krüger ließ ihm Zeit. Mochte Probst sich von der Seele reden, was ihn bedrückte. 196
Ehrlich, der mitstenografierte, rutschte unruhig hin und her. Er sah keinen Sinn in dieser Lebensbeichte und räusperte sich, doch Krügers strenger Blick ließ ihn verstummen. Endlich kam Probst auf eine Sache zu sprechen, die für Krüger von Interesse war. „In den vierziger Jahren lernte ich im Knast einen Willi Lopke kennen, der wegen Raubs und schwerer Körperverletzung einsaß. Wir lagen in einer Zelle, und Willi hat mich gegen die anderen in Schutz genommen, wenn sie kiebig wurden. So haben wir uns angefreundet und gemeinsame Pläne für draußen gemacht. Schöne Pläne, Herr Kommissar. Wir waren uns nämlich einig, daß wir weitermachen müßten, denn ein normales Leben war für uns nicht mehr drin. Also haben wir schon im Zuchthaus unser nächstes Ding geplant. Wir wollten zusammenarbeiten und teilen. Von früher her kannte ich die Filiale der Dresdner Bank in der Bismarckstraße. Dort bin ich oft vorbeigekommen und habe gesehen, wie das Geld zur Hauptzentrale transportiert wurde. Damals habe ich mir gedacht, daß es schön wäre, da einen Schnitt zu machen. Aber allein war nichts drin, zwei Mann mußten es mindestens sein. Ich habe Willi den Tip gegeben, und wir wollten zusammen die Sache machen. Willi war zwei Jahre früher draußen als ich; er sollte in dieser Zeit sauber bleiben und alles vorbereiten. Aber dann erfuhr ich, daß er allein losgegangen war. Vierzigtausend soll er dabei gemacht haben, der Saukerl. Nach dem Kriege kam ich ’raus, und da habe ich angefangen, Willi zu suchen. Seine alte Anschrift kannte ich, auch die Kneipe, in der er früher verkehrte. Seine Wohnung war aber ausgebombt, und in der Kneipe hatte er sich nicht mehr sehen lassen. 197
Das Haus, in dem ich wohnte, war auch hinüber, bis auf den Keller. Dort habe ich mich eingenistet. Erst vorn, dann hinten, da war es gemütlicher. Eines Tages hatte ich Glück. Auf dem Heimweg habe ich in der Chausseestraße Willi gesehen, wie er in ein schwarzes Auto stieg. Ich habe die ganze Gegend abgesucht und schließlich das Auto gefunden. Es stand vor der Bar Zum Hufeisen. Eigentlich wollte ich ’reingehen, aber dann habe ich es sein lassen. Ich hatte ja keine Ahnung, was Willi jetzt treibt, und wollte es erst in Erfahrung bringen. Ich habe die Bar dann belauert. Willi ging dort ein und aus. Meistens kam er zum Hintereingang ’rein; deshalb habe ich mir auf dem schwarzen Markt ein Scherenfernrohr besorgt.“ „Warum haben Sie Lopke so umständlich nachspioniert und ihn nicht einfach zur Rede gestellt?“ fragte Krüger. Probst war diese Frage sichtlich unangenehm, doch er kam nicht an ihr vorbei. Sooft er auszuweichen versuchte, der Kommissar ließ sich nicht davon abbringen. Daher gab er sich schließlich einen Ruck. „Um ganz ehrlich zu sein, Herr Kommissar: Mir war klar, daß Willi wieder in einer Sache drinsteckt. Ich wollte wissen, was das ist, um meine Forderungen besser durchsetzen zu können. Vielleicht hätte ich auch mitgemacht.“ „Sie wollten ihn also erpressen?“ „Was heißt erpressen? Er hat mich geprellt.“ „Sie wollten Ihren Anteil von diesem Bankraub haben, ja?“ „Na ja. Aber ich hab’ Willi nicht gekriegt. Er ist nicht mehr im Hufeisen aufgetaucht. Früher war er jeden Tag dort. Das ist alles, Herr Kommissar.“ Es entstand eine Pause, in der Krüger das soeben Gehörte ordnete. Schließlich sagte er: „Das ist lange nicht 198
alles, Herr Probst. Wenn Sie wollen, daß ich Ihnen glaube, werden Sie mir noch einiges erklären müssen. Warum zum Beispiel haben Sie mich überfallen?“ „Eine Verwechslung mit Willi. Sie haben fast die gleiche Figur wie er, und es war finster. Als ich in den Hof kam, sah ich Sie im Torbogen stehen. Das heißt, ich dachte, daß es Willi war. Da wollte ich die günstige Gelegenheit ausnutzen und ihn überrumpeln. Anders hätte ich ja nichts gegen ihn ausrichten können.“ „Und warum haben Sie sich taubstumm gestellt?“ Auch dafür hatte Probst eine Erklärung. „Wenn man neu anfangen will …“ Er verstummte sofort, als er Krüger ins Gesicht sah. Der Kommissar hatte sich bequem zurückgelehnt, die Hände auf dem Bauch gefaltet und drehte die Daumen; dabei sah er gelangweilt zur Decke. „Sie glauben mir nicht?“ fragte Probst enttäuscht und räumte dann ein: „Na ja, so ein kleiner Hintergedanke war auch dabei. Ich hatte doch keine ordentlichen Papiere. Wenn ich zur Polizei gegangen wäre und hätte gesagt: ‚Ich bin der Walter Probst, nun gebt mir mal neue Flebben!‘, da wär’s gleich Sense gewesen. Darum habe ich gar nichts gesagt, als ich das erste Mal geschnappt wurde. Der Wachtmeister hat sich dann eingebildet, daß ich taubstumm bin, und ich habe ihn dabei gelassen. Beim zweiten Mal haben sie mich gar nicht erst gefragt.“ Der Kommissar dachte an den Diensthabenden und dessen kleinen Finger und mußte unwillkürlich grienen. „Lassen wir das vorläufig“, sagte er. „Wann haben Sie Lopke das letzte Mal gesehen?“ Probst dachte nach. „Das ist jetzt ungefähr drei bis vier Wochen her. Damals kam Willi ins Hufeisen. Weggehen hab’ ich ihn nicht sehen. Seitdem war er nicht mehr da. Ich erinnere mich ganz deutlich an den Tag. 199
Damals kam abends auch das schwarze Auto. Das muß so gegen neun gewesen sein. Zwei Männer haben ein großes Paket eingeladen, aber Willi war nicht dabei. Das weiß ich genau.“ „Das glaube ich Ihnen ohne Einschränkung. Zu dieser Zeit muß Lopke nämlich schon tot gewesen sein.“ Probst schluckte. Die Eröffnung des Kommissars schien ihn schwer zu treffen, „Willi tot? Warum denn?“ „Warum? Wir haben vorerst nur ein Vermutung. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.“ „Ich? Wie soll ich das können?“ „Zum Beispiel dadurch, daß Sie meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten.“ Probst nickte wie abwesend. Krüger konnte sich vorstellen, was in Probst vorging. Für ihn war eine Hoffnung zerronnen. Jahrelang hatte er sich auf die Begegnung mit Lopke vorbereitet, hatte sich ausgemalt, wie er seinen Anteil eintreiben würde, und jetzt war alles umsonst. Umsonst das Warten und die Vorsicht, umsonst auch das stumme Kellerdasein. Der Kommissar scheuchte ihn aus seiner Grübelei auf. „Was meinen Sie, wo Lopkes Mörder zu suchen ist?“ Probst besann sich keinen Augenblick. „Im Hufeisen. Willi hat offenbar mit einer Bande zusammengearbeitet, und die hat ihr Quartier im Hufeisen. Das ist sonnenklar.“ Krüger wünschte sich insgeheim, daß ihm das auch so sonnenklar wäre. „Und womit beschäftigt sich die Bande? Mit Überfällen?“ Der Kommissar war auf Probsts Reaktion gespannt. Sie mußte zeigen, wie weit Probst in die Geheimnisse der mysteriösen Bar eingedrungen war. Die Antwort enttäuschte ihn nicht. „Meiner Meinung nach ist das ein Schieberring; denn es wird dauernd etwas gebracht und weggeschafft. Heimlich, 200
in der Nacht. Aber womit geschoben wird, weiß ich nicht. Ich denke, mit Wertsachen oder Zigaretten. Das bringt heute mit am meisten ein.“ „Haben Sie sich das Hufeisen einmal von innen angesehen?“ „Nein, das war mir zu riskant, wegen Willi.“ Mehr konnte oder wollte Probst nicht sagen. Eine Frage bewegte Krüger noch. Wie kam ausgerechnet dieser Gewohnheitsdieb dazu, Blumen zu züchten? „Mein Gott, Herr Kommissar. Blumen habe ich schon immer gern gemocht. Ich hatte doch den ganzen Tag über nichts zu tun. Im Zuchthaus habe ich in der Gärtnerei gearbeitet, das hat mir Spaß gemacht. Schade um die Blumen, die werden jetzt wohl draufgehen, wenn sie keiner gießt. Bei der Trockenheit dauert das nicht lange. – Herr Kommissar, ich schenke Ihnen die Maiglöckchen für Ihre Frau; aber ich habe eine Bitte: Holen Sie den Vogel, oder lassen Sie ihn meinetwegen frei. Ich hab’ ihn im Winter gefangen. Der Stieglitz singt so schön.“
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Schöne Pläne
Harald Thorsten mangelte es nicht mehr am begehrten Rauschgift; denn Karl Schütze, sein ungebetener Untermieter, erwies sich als großzügig. Schon am ersten Abend hatte er eine Handvoll Zellophantütchen auf die geschnitzte Obstschale im Wohnzimmer geworfen und sie vorher nicht einmal gezählt. „Anzahlung“ hatte Schütze lakonisch gesagt und sich nicht mehr darum gekümmert. Harald Thorsten brauchte nur zuzugreifen. Das hatte ihn mit Schützes Anwesenheit einigermaßen ausgesöhnt. Er schwelgte die ersten Tage in einem Freudentaumel und hatte darüber sogar den Streit mit Elvira vergessen. Doch mit der Zeit verflog die Hochstimmung, und er begann diesen Streit zu bereuen. Dazu kam, daß Schütze von Tag zu Tag unverschämter wurde. Dieser anmaßende, selbstsichere Gnom, der wie kein anderer geeignet schien, Darwins Abstammungslehre zu illustrieren, tyrannisierte ihn in seiner eigenen Wohnung! Aber nicht allein er fiel Thorsten zur Last, nein, er hatte noch diesen Italiener mitgebracht. Es sah ganz so aus, als wollten die beiden ihr Hauptquartier bei ihm aufschlagen. Am Ende lockten sie noch die Polizei ins Haus. Die neugierige Portiersfrau war ohnehin mißtrauisch. Thorsten seufzte gequält. Was hätte Elvira zu diesen Typen gesagt? Wahrscheinlich wäre es dann ganz aus gewesen zwischen ihnen. Oder nicht? Vielleicht hätte sie die beiden einfach ’rausgeschmissen, denn sie konnte sehr energisch sein. Dafür hätte es sich schon gelohnt, ihre Vorwürfe weiterhin zu schlucken. 202
Elvira! Der Gedanke an sie saugte sich in Thorstens Gehirn fest. Er malte sich aus, wie Elvira die beiden Plagegeister mit dem Schrubber aus der Wohnung, durch den Hausflur, vorbei an der staunenden Portiersfrau auf die Straße prügelte. Diese Vorstellung erheiterte ihn so, daß er froh vor sich hin summte. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuße. Sie kam in Gestalt der beiden Verhaßten. Schütze und Ede schleppten einen Rucksack in die Stube und stellten ihn auf Thorstens kostbaren Schreibtisch, der bis dahin nur Bücher, Schreibzeug und Manuskripte getragen hatte. „Ede, paß auf! Das Tintenfaß!“ sagte Schütze besorgt und wandte sich dann dem Hausherrn zu. „Herr Thorsten, es wäre nett von Ihnen, wenn Sie uns jetzt eine Weile allein ließen. Wir haben nämlich eine geschäftliche Unterredung.“ Jetzt wurde ihm sogar sein eigenes Arbeitszimmer verwehrt. Das letzte Fünkchen Mut begann in Thorsten zu rebellieren. „Nun reicht es mir aber!“ sagte er böse. Weiter kam er nicht, denn Schütze unterbrach ihn gelassen. „Mir auch!“ sagte er und wies mit dem Daumen zur Tür. „Am besten, Sie gehen eine halbe Stunde spazieren. Das ist für einen Stubenhocker gerade das Richtige.“ „Ich werde zur Polizei gehen!“ Die beiden Männer hielten ruckartig in ihren Bewegungen inne, sahen zuerst sich gegenseitig, dann Harald Thorsten an. Schütze begann schließlich breit zu grinsen. „Sehr schön. Tun Sie das unbedingt! Lassen Sie sich aber gleich die Zelle zeigen, in der wir dann zu dritt sitzen werden, und fangen Sie immer an, Staub zu wischen und den Bußboden zu scheuern. Dann gewöhnen Sie sich rechtzeitig an Ihre künftigen Pflichten. Ede und ich, wir lieben die Hausarbeit nämlich gar nicht. Das werden 203
schon Sie machen müssen. Stimmt’s Ede? So, und nun hauen Sie endlich ab!“ Thorsten war ihnen gegenüber im Nachteil, denn er hatte keine Polizeierfahrung und glaubte daher aufs Wort, was Schütze sagte. Seine Rebellion erlosch sofort. Wie ein geprügelter Hund schlich er davon. Sein Bedürfnis, Elvira zu sehen, wuchs ins unermeßliche. Seine Schwester war höchst erstaunt, als er das Büro betrat. Zum Glück war Dr. Kraus gerade nicht in der Praxis, doch er mußte jeden Augenblick zurückkommen. Der Anwalt schätzte es nicht, wenn sie Privatbesuche im Büro empfing. Deshalb kam ihr Thorsten ungelegen. „Sei nicht böse, Elvira!“ bat Thorsten. „Es tut mir schrecklich leid, daß ich mich neulich gehenließ. Ich möchte dich gern sprechen. Es ist dringend.“ „Du hättest anrufen können“, sagte sie abweisend. „Ja, natürlich, aber ich dachte, daß wir vielleicht gleich …“ „Hier? Jetzt? Ausgeschlossen! So eilig wird es nicht sein. Ich komme nach Büroschluß bei dir vorbei.“ Thorsten wehrte entsetzt ab. „Nein, nein! Das geht nicht! Ich meine, mach dir keine Umstände. Ich hole dich lieber ab.“ „Was hast du denn auf einmal?“ Thorsten schien etwas einzufallen. „Ist dein Chef eigentlich ein guter Anwalt?“ „Es kommt darauf an, was du von ihm willst. Sein Spezialgebiet ist die Verteidigung Rauschgiftsüchtiger“, erwiderte Elvira langsam und musterte ihn dabei nachdenklich. „Aber möchtest du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“ „Nichts. Es ist wirklich nichts Besonderes. Kleinigkeit. Ich erzähle es dir nachher.“ 204
„Wie du willst.“ Elvira wunderte sich über sein seltsames Gebaren. „Ich habe um fünf Büroschluß. Warte unten an der Ecke auf mich.“ Thorsten war das recht. So konnte er die Unterredung noch ein Weilchen hinausschieben. „Danke. Ich werde pünktlich sein“, sagte er und verabschiedete sich. Während er den Weg zurückbummelte, faßte Thorsten einen Entschluß: Er würde aufhören mit der Schnupferei! Ganz aus eigener Kraft! Jawohl, er würde ein neues Leben beginnen und seine Forschungen weiterführen. Noch bevor er seine Wohnung erreichte, stand seine Entscheidung fest. Thorsten war allein. Ede und Schütze hatten inzwischen das Haus verlassen. Beim Anblick der Obstschale meinte Thorsten, daß es mit dem neuen Leben eigentlich noch ein paar Stunden Zeit hätte. Wenn er am nächsten Tag damit begänne, käme er immer noch zurecht. Ja selbst eine Woche spielte da keine Rolle mehr, beruhigte er sich, und griff hastig nach einem Tütchen. Die beiden Gauner hatten Thorstens Heimkehr beobachtet. Sie saßen gegenüber in der Gaststätte Zum frommen Florian und lugten hinter den vergilbten Gardinen hervor auf die Straße. „Ich habe dir gleich gesagt, daß der nicht zur Polizei geht“, sagte Schütze. „Dazu ist er viel zu feige.“ „Vielleicht kommen die Bullen später und haben ihn vorgeschickt? Du kennst doch ihre Tricks!“ Schütze schnaubte verächtlich. „Ach was. Scheiß dir nicht in die Hosen! Der läuft nicht zur Polizei. Den hab’ ich fest in der Hand. Ein besseres Quartier als Thorstens Wohnung können wir uns nicht wünschen. Dort sucht uns keiner, und die Ware ist auch sicher. Wir müssen nur 205
aufpassen, daß die Leute im Hause nichts merken. Besonders die alte Kuh vom Parterre ist mir zu neugierig.“ Schützes Sicherheit färbte auf Ede ab. „Was willst du mit der Alten machen?“ „Abwarten.“ „Willst du sie etwa …?“ „Bin doch nicht blöd!“ unterbrach ihn Schütze unwirsch. „Da hätten wir ja gleich die Polente im Hause. Mir wird schon was einfallen. Viel wichtiger ist jetzt, wie wir weitermachen. Der Chef hat inzwischen bestimmt erfahren, daß du bei den beiden Großabnehmern gewesen bist, und wird toben. Wie ich ihn kenne, setzt er jetzt die anderen Abnehmer unter Druck. Da können wir also vorläufig nicht landen. Außerdem werden seine Kanaillen einen Rüffel kriegen, weil sie uns nicht erwischt haben, und noch schärfer aufpassen. Das heißt, wir sitzen in der Tinte. Aber es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir warten ab, bis Gras über die Sache gewachsen ist; dann sahnen inzwischen die anderen ab, und wir sind Neese; oder wir machen weiter; dann müssen wir zusehen, wie wir neue Kundschaft finden.“ „Können wir nicht einfach zum schwarzen Markt gehen? Da sind doch immer welche, die so etwas suchen?“ fragte Ede. Schütze tippte sich an die Stirn. „Mensch, überleg mal. Dort hat der Chef seine Leute, und wenn die ihm erzählen, daß da zwei Neue herumschwirren, dann braucht er nur zu fragen, wie die aussehen, und wir sind geplatzt. Unsere Fressen sind doch nicht zu verwechseln. Nee, nee, das ist viel zu gefährlich, und außerdem ist das bloß Kleinkram. Da brauchen wir Jahre, ehe wir den Mist abgesetzt haben. Bis jetzt ist nicht einmal der Beutel von Pinkel alle.“ 206
Ede schmunzelte. „Hat uns aber ganz schön eingebracht.“ „Das ist noch gar nichts. Ich sage dir, wenn wir alles abgesetzt haben, sind wir reiche Leute. Dann können wir Schluß machen. Wenigstens für eine ganze Weile. Wir müssen es nur an den Mann bringen. Dazu müssen wir wissen, wo! Was meinst du?“ Ede hatte keine Meinung. Er kaute mißmutig an seiner Unterlippe herum, drehte sein Bierglas und stierte auf Schützes Kragenknopf, als käme von dort die Lösung. „Ich seh’ schon, es bleibt wieder alles an mir hängen“, brummte Schütze. „Du kannst von Glück reden, daß du mich getroffen hast. Was hättest du bloß ohne mich angefangen? Vielleicht hättest du deinem Täubchen das Messer durch die Rippen gezogen und wärst dann selber dran gewesen. Es ist immer dasselbe. Da bildet ihr Kerle euch ein, daß ihr wer weiß wie schlau seid, und wenn es darauf ankommt, eine Idee zu haben, dann guckt ihr blöd aus der Wäsche.“ Schütze wurde wieder der große Stratege. Er nickte Ede gönnerhaft zu. „Na, lassen wir das. Jeder muß das machen, wozu er fähig ist, und zum Denken reicht es bei dir eben nicht. -Ich weiß schon was. Wir klappern die vornehmen Läden ab, wo der Chef nicht drin ist. Zuerst sehen wir uns bloß ein bißchen um. Natürlich müssen wir uns vorher andere Klamotten besorgen. Dort kannste nicht einfach hinkommen wie ein Penner. Da mußte in Schale sein. Wir linsen, was für Typen dort verkehren, und versuchen einen zu finden, der schnupft. Den holen wir dann aus, wo er das Zeug herbekommt, wie teuer es ist und so, und bleiben etwas unter dem Preis. Jedenfalls am Anfang. Später sehen wir weiter. Wenn die Gelegenheit günstig ist, gehen wir auch an die Kellner und 207
Lokalbesitzer ’ran. Am Anfang wird’s zwar eine Menge Spesen geben. Da wird dein Anteil kaum ausreichen, denn knickrig darf man da nicht sein. Aber ich kann dir ja was vorschießen. Zum Kudamm brauchen wir nicht erst hin. Da schmeißt der Chef den Laden. Moabit, Gesundbrunnen, Wedding und hier wird nicht viel los sein. Wir fangen in Zehlendorf und Dahlem an. Wenn es nicht klappt, gehen wir in die Provinz. Aber nicht in die Ostzone, die passen zu sehr auf; und über die meisten Schuppen, bei denen es sich lohnen würde, hält der Chef seine Pfoten. Am besten ist es beim Ami oder Engländer.“ Schütze redete sich in Hitze. Seine Idee begeisterte ihn selbst kolossal. Ede vertraute ihm blindlings. Schützes Sicherheit machte auch ihn zuversichtlich, und die Beleidigungen nahm er ihm nicht übel. Rita war auch nicht immer zart mit ihm umgegangen, und bei ihr hatte er längst nicht so viel verdient. Ede träumte noch immer von der Taverne in seiner sonnigen Heimat. Jetzt war es keine Taverne mehr, sondern ein großes, vornehmes Speiselokal, in dem die Honoratioren von Neapel mit ihren Familien zu Mittag speisten und dem Gastwirt Ede, der wieder Giovanni Malcepone war, freundlich zunickten. Karl Schütze träumte nie. Schon gar nicht von einer Taverne. „Komm“, sagte er zu Ede, „es wird Zeit! Wir wollen uns den feinen Herrn noch einmal vorknöpfen!“
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Das Geheimnis des roten Lämpchens
Markwart sah sich unauffällig nach allen Seiten um, bevor er das Postamt verließ. Vorhin, als er von Hause wegging, um mit Krüger zu telefonieren, war es ihm so vorgekommen, als würde er verfolgt. Später allerdings hatte er nichts Verdächtiges bemerkt. Trotzdem war er auf der Hut, während er die Invalidenstraße hinabschlenderte. Kurz vor der Gartenstraße beschleunigte er seine Schritte, rannte ums Eck und blieb dort stehen. Tatsächlich. Keine Minute später bog ein Mann eilig in die Gartenstraße ein, der bei Markwarts Anblick erschrocken stehenblieb. Der Assistent kräuselte die Lippen. „Anfänger! Und so etwas will mich beschatten!“ sagte er verächtlich. Der Mann war etwa dreißig Jahre alt und dürr wie ein Skelett. Markwart konnte sich nicht erinnern, ihm jemals zuvor begegnet zu sein, und doch kam ihm das Gesicht seltsam bekannt vor. Sein Verfolger hatte sich inzwischen gefaßt und wollte, Gleichgültigkeit heuchelnd, weitergehen. Markwart, der sich blitzschnell umgesehen und mit Befriedigung festgestellt hatte, daß keine Menschenseele außer ihnen auf der Straße war, packte zu und schleifte den Mann ohne ein Wort in den nächsten Hausflur. Der Mann war so verblüfft, daß er an Gegenwehr erst dachte, als sich die Tür hinter ihm schloß. „Was soll denn das? Lassen Sie sofort los, oder ich rufe um Hilfe“, zeterte er. 209
Markwart gab ihm einen leichten Klaps und sagte drohend: „Freundchen, wenn du nicht augenblicklich den Rand hältst, mach’ ich einen niedlichen kleinen Handkoffer aus dir.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zog er seine Pistole aus der Tasche und drückte sie seinem Gegner an die Rippen. Die Wirkung war verblüffend. Der Mann hielt mitten im Wort inne, schluckte hörbar und flüsterte dann: „Ist gut. Ich bin ruhig. Was wollen Sie von mir?“ Markwart trat einen Schritt zurück und musterte ihn. „Warum spionierst du mir nach?“ fragte er barsch. Der Mann duckte sich und schwieg. „Wird’s bald?“ „Ich bin Ihnen nicht nachgegangen“, erwiderte der Mann leise. Markwart kniff die Augen zusammen und sagte drohend: „Ich zähle bis drei! Wenn du bis dahin nicht mit der Sprache rausrückst, kannst du dir gratulieren! Also, eins …“ Der Mann sah gehetzt um sich. Als Markwart „drei“ sagen wollte, stieß er hervor: „Mich hat jemand darum gebeten. Ich sollte feststellen, wohin Sie gehen.“ „Wer?“ „Ich kenne den Kerl nicht.“ Markwart packte den anderen am Hemd. „Ich kenne ihn nur vom Sehen“, sagte der Mann schnell, während er seine Hände in Markwarts Unterarm krallte. Der Assistent lockerte den Griff um ein paar Millimeter und fragte weiter: „Woher?“ „Ach – so vom schwarzen Markt.“ „Wie heißt er?“ „Das weiß ich nicht.“ 210
„Wo wohnt er?“ „Weiß ich auch nicht.“ „Du lügst. Wie willst du ihm deine Beobachtungen mitteilen, wenn du nicht weißt, wo er wohnt.“ „Ich soll um sechs in der Blauen Donau sein.“ Markwart ließ den Mann los und überlegte. Sein Gegenüber schnappte nach Luft und massierte sich den Hals, den Assistenten ängstlich anschauend. „Wie sieht der Mann aus?“ fragte Markwart weiter. Nach der verworrenen Beschreibung konnte es sich nur um Müller, den Mann mit dem Dutzendgesicht, handeln. „Wie heißt du?“ fragte Markwart. „Haschke.“ Der Assistent erinnerte sich. Der Mann log nicht. Als Markwart in Krügers Auftrag kürzlich die Kartei durchsah, war ihm auch Haschkes Karteiblatt in die Hände gekommen: Haschke war ein kleiner Medikamentenschieber. „Hör gut zu, mein Lieber“, sagte Markwart. „Du siehst jetzt schleunigst zu, daß du Land gewinnst, und komm mir ja nicht wieder in die Quere. Und wenn du deinen Auftraggeber siehst, bestell ihm einen schönen Gruß von Rohloff.“ Haschke nickte und verschwand wieselflink aus dem Hausflur. Markwart, der ihm bis an die Ecke nachsah, grinste in sich hinein. Den Burschen war er los. Er fragte sich nur, ob man das nächste Mal auch so einen Stümper auf ihn ansetzen würde. Er beschloß, noch vorsichtiger zu sein. Er ging um den Häuserblock und schlug die Richtung auf das Hufeisen ein. Heute hatte das Lokal tagsüber geschlossen. Markwart wollte die günstige Gelegenheit 211
nutzen, um sich dort umzusehen. Vielleicht konnte er das Geheimnis des Zimmers mit dem roten Lämpchen lüften. Vorher jedoch mußte er sich vergewissern, daß niemand von der Bande im Lokal war. Er hatte sich den Stadtplan eingeprägt und wollte zunächst die Umgebung der Bar unter die Lupe nehmen. Nachdem er scheinbar ziellos an dem Gebäude vorbei durch die angrenzenden Nebenstraßen geschlendert war, pirschte er sich über das Ruinengelände vor. Es ging besser, als er dachte. Die Deckung war vorzüglich und die Hintertür zum Hufeisen kaum mehr als dreißig Schritte entfernt. Ein Wagen stand dort, es war der gleiche, der die beiden Ganoven zu seiner Wohnung gebracht hatte. Sogar das polizeiliche Kennzeichen konnte Markwart diesmal erkennen. Während er es notierte, erschien Boxer im Hinterausgang, gleich dahinter kamen Pregel, Dutzendgesicht und Harry. Bis auf Pregel trugen sie jeder ein kleines Paket. Der Alte würde ein halbes Monatsgehalt dafür hergeben, könnte er diesen Transport abfangen, dachte Markwart. Dann beobachtete er, wie Harry, der letzte in der Reihe, die Tür hinter sich zuzog. Aber das Schloß schnappte nicht ein. Markwart sah es ganz deutlich; die vier Männer im Auto hatten es nicht bemerkt. Der Assistent überlegte nicht lange. Kaum war der Wagen außer Sicht, schlich er weiter. Das schwierigste Problem waren die Fenster. Von dort aus konnte man ihn sehen. Die andere Seite wäre ohne Zweifel besser gewesen, es hätte jedoch zu lange gedauert, bis er den Umweg bewältigt hätte, und die Zeit war kostbar. Die vier konnten bald zurückkommen, dann mußte er wieder verschwunden sein. Markwart hoffte, daß niemand mehr im Hufeisen war, und nahm die letzten Meter im Laufschritt. Harrys 212
Nachlässigkeit erleichterte ihm die Arbeit kolossal. Wäre die Tür verschlossen gewesen, hätte er durch ein Fenster eindringen müssen. Das wäre sicher nicht unbemerkt geblieben. So aber … Markwart lauschte an der Tür. Außer seinen eigenen Herzschlägen hörte er nichts. Die Tür war gut geölt; sie gab keinen Laut von sich, als Markwart sie antippte, und schwenkte federleicht nach innen. Der Assistent stand in dem langen Korridor, den er bereits kannte, diesmal aber am anderen Ende. Er schob die Tür ins Schloß und betrachtete mit gemischten Gefühlen die schwere Sicherungsanlage, die sich von selbst quer legte. Wenn die Tür verschlossen war, mußte jedem, der hinein wollte, von innen geöffnet werden. Ein Schloß gab es nicht, auch keinen Ansatz für ein Brecheisen. Markwart erinnerte sich an seine Unterredung mit dem Bandenchef; auch in diesem Zimmer war die Tür hervorragend gesichert. Für einen gewöhnlichen Geschäftsbetrieb war das zu aufwendig, fand der Assistent. Er sah auf die Uhr. Vom Bedienungspersonal war bestimmt noch niemand im Haus. Wenn er sich hier erwischen ließe, würde er eine verdammt gute Ausrede brauchen, und die war nicht so leicht zu finden. Er lauschte in den Gang, den er nicht ganz einsehen konnte, weil er einen Knick hatte. Die Tür mit der roten Lampe, die ihm neulich aufgefallen war, befand sich ganz in der Nähe. Das Lämpchen brannte jedoch heute nicht. An der rechten Seite, unmittelbar neben dem Eingang, ging auch eine Tür ab. Sie war verschlossen und hatte ein Zylinderschloß, für Markwarts Dietrich zu kompliziert. Ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen, hätte er sie nicht öffnen können. Ein gleiches Schloß hatte leider auch die Tür mit dem Lämpchen. Die beiden anderen Türen in diesem Teil des Flurs dagegen waren mit 213
normalen Kastenschlössern ausgestattet und nicht einmal abgeschlossen. Es waren Personalgarderoben. Markwart blieb unschlüssig stehen. Sollte er es lieber von draußen versuchen? Vielleicht konnte er durch das Fenster einsteigen? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn unversehens ging das Licht aus, und gleichzeitig glühte die rote Lampe auf. Markwart blickte zum Hintereingang und sah, daß sich die Tür daneben öffnete. Er konnte gerade noch in die nächste Garderobe huschen und die Tür bis auf einen schmalen Spalt zuziehen. Er strengte seine Sinne an, allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, die von dem roten Lämpchen nur schwach durchbrochen wurde. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Assistent wäre in einen erstaunten Ausruf ausgebrochen. Was er zu sehen bekam, war aber auch nicht zu erwarten gewesen: Eine plumpe, unförmige Gestalt, in eine weite Pelerine gehüllt, mit einem Florentinerhut auf dem Kopf, kam auf die Tür mit dem Lämpchen zu. Sie bewegte sich mit eigenartigen, weibisch anmutenden Trippelschritten und verursachte kaum Geräusche dabei. Nur Tappen und Schurren war zu hören. Dann klapperten Schlüssel, und im Nu war die Gestalt hinter der Tür mit dem Lämpchen verschwunden. Sogleich ging das Licht im Korridor wieder an, das rote Lämpchen brannte weiter. Markwart verharrte einen Moment, ehe er auf diese Tür zuschlich und lauschte. Aus dem Zimmer kam kein Laut. Auch die Tür hatte offenbar ein dickes Lederpolster. In diesem Moment erklangen vom anderen Ende des Korridors Schritte. Der Assistent hätte am liebsten geflucht. Es war zu spät, den Ausgang zu benutzen. Deshalb lief er zurück in die Garderobe. Das Fenster war 214
nicht vergittert. Ohne sich lange zu besinnen, öffnete er es und schwang sich hinaus. Keine Sekunde zu früh. Die Garderobentür wurde geöffnet, der Luftzug riß die Fensterflügel auf, und eine Männerstimme schimpfte: „Weiberwirtschaft! Hundertmal habe ich denen schon gesagt, daß sie die Fenster zumachen sollen. Aber nein …“ Markwart wartete das Ende der Klage nicht ab. Ebenso vorsichtig, wie er gekommen war, schlich er sich davon, und wenig später schon tauchte er in den Schatten der Ruinen ein. Jetzt hatte er es nicht mehr so eilig. Er setzte sich auf eine Mauer und überlegte: Das Hufeisen hatte offiziell nur zwei Eingänge. Wenn der vermummte Popanz nicht aus dem Haus kam, dann mußte hinter der Tür, durch die er gekommen war, ein dritter Eingang existieren. Ein Zugang, der offenbar keinem anderen Zweck diente als eben dem, bestimmten Leuten ungesehen zum Hufeisen Zutritt zu verschaffen. Eigentlich ganz sinnvoll diese romantische Maskerade. Wer immer unter der Pelerine und dem riesigen Hut stecken mochte, er wurde nicht erkannt, wenn ihm zufällig jemand im Korridor begegnete. Das Licht wurde von draußen ausgeschaltet, und das rote Lämpchen zeigte an, daß sich eine bestimmte Person im Haus befand. Und diese Person war sicher kein anderer als der Chef der Bande. Markwart erhob sich. Er mußte den getarnten Zugang zum Hufeisen finden. Dafür kam nur der Teil des Geländes in Frage, der sich an den linken Flügel des Gebäudes anschloß. Da war das Ruinengrundstück, über das Markwart gekommen war, dann folgten ein total beschädigtes Haus und schließlich weitere Häuser, die teilweise bewohnt waren. Markwart suchte die Gegend systematisch ab, konnte den Zugang jedoch nicht entdecken. Im zweiten Haus fiel 215
ihm eine Eisentür auf, die zu einem ehemaligen Luftschutzkeller führte. Solche Türen gab es hier beinahe in jedem Hausflur. Sie waren alle verschlossen und sahen aus, als wären sie längst nicht mehr in Betrieb. Allein konnte er nichts ausrichten. Er mußte den Kommissar schleunigst informieren, damit der nach den Grundstücksplänen Berechnungen anstellen oder ein paar Leute mit der Suche beauftragen konnte. In Gedanken versunken, ging Markwart zur Straße zurück, schlenderte über den Damm und sah zum Hufeisen hinüber. Dabei bemerkte er eine Frau. Sie mußte aus einem der Häuser unweit vom Hufeisen gekommen sein, denn eben, als Markwart das Ruinengelände verlassen hatte, war die Straße menschenleer gewesen. Nanu, das war doch die Wirtin vom Ehestandsschoppen. Was suchte denn die in dieser öden Gegend? Sollte sie … Markwart ging entschlossen hinterher. Er gab sich keine Mühe, leise aufzutreten; Rita Engel mußte ihn ohnehin gesehen haben. Kurz vor dem Bahnhof holte er sie ein. „Guten Tag, schöne Frau, auch schon unterwegs?“ begrüßte er sie und strahlte dabei übers ganze Gesicht. „Ah, Herr Rohloff. So war doch Ihr Name, nicht?“ erwiderte Rita Engel, seinen Gruß überhörend. „Ganz recht, Olaf Rohloff. Ich sah Sie, und da wir offenbar den gleichen Weg haben, dachte ich …“ „Sehr freundlich, Herr Rohloff“, sagte Rita Engel mit viel Ironie in der Stimme. „Aber ich finde meinen Weg allein. Na, haben Sie Ihre Pülverchen bekommen?“ Markwart grinste. „Vielleicht! War mein Bekannter inzwischen bei Ihnen?“ „Nein, ich kenne ihn nicht; das habe ich Ihnen doch gesagt. Und jetzt, Herr Rohloff, muß ich mich verabschieden.“ 216
Sie nickte ihm flüchtig zu und ging, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, auf den S-Bahn-Eingang zu. Markwart sah ihr unschlüssig hinterher und wandte sich dann nach rechts. Kurz vor der Kreuzung drehte er sich um. Rita Engel sprach vor dem S-Bahnhof mit einem Mann. Als Markwart stehenblieb und zurücksah, blickte der Mann gerade zu ihm herüber und nickte mehrmals mit dem Kopf. Der Assistent ging weiter. Nachdenklich betrat er das kleine Postamt an der Ecke Brunnenstraße.
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Der Angriff ist nahe
Kommissar Krüger legte den Hörer auf die Gabel, stützte den Kopf in die Hand und blickte vor sich auf den Schreibtisch. Ehrlich sah zu ihm hinüber und wartete geduldig darauf, daß sein Chef etwas sagte. Aus den wenigen Brocken, die er von dem Telefongespräch aufgefangen hatte, entnahm er, daß Krüger mit Markwart gesprochen hatte. Der Kommissar erhob sich schließlich, trat an Ehrlichs Schreibtisch, griff zerstreut nach einer der dort ausgebreiteten Handakten, um sie gleich wieder wegzulegen. „Schließen Sie den Kram da weg. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun!“ Der Oberassistent hob erstaunt den Kopf. Vor noch nicht einer Stunde hatte Krüger ihn angewiesen, diese Handakten über Medikamentenschieber durchzuarbeiten. „Ja, ja, schließen Sie die Akten weg“, sagte der Kommissar, der Ehrlichs Zögern bemerkte. „Markwart hat angerufen!“ Und als sei das Begründung genug, schritt er zum Fenster und sah hinaus. Nach einer Weile sagte er, ohne sich umzudrehen: „Markwart, der Teufelskerl, hat dem Hufeisen einen inoffiziellen Besuch abgestattet und den Chef der Schieberbande gesehen.“ „Wer ist es?“ fragte Ehrlich wie aus der Pistole geschossen. Krüger drehte sich um und lächelte. „Das möchte ich auch gern wissen.“ Als er Ehrlichs verblüffte Miene sah, lachte er laut auf und ergänzte: „Sie haben sich nicht verhört! Markwart weiß es selbst nicht! Das Indi218
viduum war vermummt wie ein mittelalterliches Ruinengespenst. Markwart behauptet übrigens, daß es durch einen Geheimgang gekommen ist, der im Korridor des Hufeisens endet und außerhalb des Lokals beginnt.“ „Sie sagen ‚das Individuum‘ und ‚es‘, Herr Kommissar, wieso?“ „Gut geschaltet, Ehrlich“, erwiderte Krüger. „Halten Sie sich fest, mein Lieber: Möglich, daß unser Hauptgangster kein Mann, sondern eine Frau ist. Eine sehr hübsche sogar, wie mir kürzlich ein Kollege vom Gewerbeaußendienst versicherte.“ „Sagen Sie nichts, ich will sehen, ob ich richtig vermute. Es ist …“ Der Kommissar unterbrach ihn. „Möglich, habe ich gesagt, Ehrlich! Möglich, nicht sicher! Aber das ist momentan nicht so wichtig wie der Auftrag, den ich Ihnen jetzt geben und ganz besonders ans Herz legen will. Sie beziehen ab sofort am Scherenfernrohr in Probsts Wohnung Posten und beobachten das Hufeisen und seine Umgebung! Jede Veränderung melden Sie mir. Ich schicke Ihnen noch einen Kameraden nach, und in zehn Stunden lasse ich Sie ablösen. Und noch etwas, Ehrlich“, der Kommissar dämpfte seine Stimme und sah den Oberassistenten eindringlich an. „Denken Sie daran, daß von Ihrer Aufmerksamkeit unter Umständen Markwarts Sicherheit abhängt. Ich werde außerdem Leute losschicken, die unauffällig nach dem Geheimgang suchen. Wenn Sie also eine Baukolonne anrücken sehen, wissen Sie Bescheid, nehmen aber nur im äußersten Notfall Verbindung mit ihr auf.“ „Soll ich mich nicht um diesen Gang kümmern?“ „Nein! Sie rühren sich nicht vom Fernrohr!“ 219
Der Oberassistent schloß eilig die Papiere weg und griff nach seiner Aktentasche. „Noch eine Frage, Herr Kommissar, hat Markwart etwas über diesen Doktor Römer erfahren? Ich hörte, daß der Name in Ihrem Gespräch vorhin fiel.“ „Nein. Ich habe ihm auch gesagt, er soll nichts in dieser Sache unternehmen. Ich suche Doktor Römer selbst auf. Jetzt, wo ‚Herr Rohloff‘ im Begriff ist, groß ins Geschäft einzusteigen, könnten ihm solche Dinge nur schaden. Er soll sich auf die Leute im Hufeisen konzentrieren. Das ist der Punkt, wo wir angreifen müssen, und verlassen Sie sich darauf: Der Angriff ist nahe!“ Ehrlich verstand den Sinn seiner Worte nicht ganz. Insbesondere das, was Krüger über Markwarts großes Einsteigen ins Geschäft sagte. Doch er verkniff sich die Frage, die ihm auf der Zunge brannte. Wenn der Kommissar mit der Sprache zurückhielt, hatte er gewiß Gründe. Ehrlich kannte ihn lange genug. „Ich gehe, Herr Kommissar“, sagte er und wandte sich zur Tür. „Einen Moment noch, Ehrlich“, erwiderte Krüger, trat auf ihn zu und schob ihm ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen in die Hand. „Damit die Zeit nicht so lang wird und die Wanzen Sie nicht piesacken“, brummte er. Ehrlich bedankte sich. Vor der Tür schlug er das Zeitungspapier zurück; ein halbes Päckchen Tabak kam zum Vorschein. Ehrlich schüttelte seufzend den Kopf. So war der Alte. Manchmal scheuchte er ihn, daß ihm die Zunge zum Halse heraushing, und nörgelte an seiner Raucherei herum, dann wieder schenkte er ihm eine Monatsration Tabak. Er überlegte, ob er zurückgehen und sich noch einmal bedanken sollte. Doch er ließ es lieber bleiben, 220
denn es war nicht ausgeschlossen, daß Krüger ihn anraunzen und fragen würde, warum er noch nicht auf seinem Posten wäre. Inzwischen führte Krüger Telefongespräche, die sich länger hinzogen, als ihm lieb war. Endlich hatte er jedoch alles, was zu ordnen war, erledigt und konnte Dr. Römer, den Arzt in der Chausseestraße, aufsuchen. Im Wartezimmer der Privatklinik saßen, als Krüger eintrat, nur drei Patienten, zwei Männer und eine Frau. Die beiden Männer gehörten offenbar wohlhabenderen Schichten an und schienen sich zu kennen, denn sie unterhielten sich leise. Die Frau sah im Gegensatz zu ihnen ausgesprochen gewöhnlich aus. Sie hatte ein welkes, graues Gesicht, gerötete Augen und ungepflegtes, strähniges Haar. Sie musterte den eintretenden Kommissar ungeniert von Kopf bis Fuß und verzog dabei geringschätzig die Lippen. Krüger betrachtete der Reihe nach die Patienten, wobei er sich bemühte, etwas vom Gespräch der beiden Männer aufzufangen. Er erhaschte auch einige Wortbrocken; von unverschämten Preisen und Betrügereien war die Rede. Krüger glaubte zu wissen, worum es ging. Die Männer waren nervös, besonders der jüngere von beiden wippte unablässig mit den Füßen, fuhr sich mit fahrigen Gesten durchs Haar oder suchte in den Taschen seines Anzuges herum. Die Frau, die Krüger so eindringlich gemustert hatte, starrte jetzt still vor sich hin auf den Boden. Sie schien deprimiert und sah alle Augenblicke zum Sprechzimmer hin. Die Tür zum Arztzimmer öffnete sich, und ein Mann mit einer hohen Stirn und schütterem Haar nickte der Frau kurzsichtig blinzelnd zu. 221
Die erhob sich sofort und sah Krüger im Vorbeigehen prüfend an. Das Wartezimmer unterschied sich nur in einem von dem anderer Ärzte: Zahlreiche grellbunte Bilder bedeckten die Wände, Landschaften, Tiere, Stilleben und Porträts hingen wahllos nebeneinander. Wenn Krüger die Augen zu einem Spalt zusammenkniff und dann die Wand entlangsah, hatte er den Eindruck, daß bunte Kreise zu einem farbigen Chaos durcheinanderwirbelten. Die Augen schmerzten ihn, und er fühlte ein Kribbeln, das nach und nach alle Fasern seines Körpers durchdrang. Der Kommissar riß sich vom Anblick dieser seltsamen Kunstkollektion los und wendete sich dem Mann gegenüber zu. „Eine merkwürdige Gemäldegalerie, finden Sie nicht auch?“ Die beiden Männer unterbrachen ihr Gespräch, und der jüngere fragte: „Sie sind wohl zum ersten Mal hier?“ Der Kommissar nickte. „Doktor Römer wurde mir von einer Bekannten empfohlen. Er soll sehr tüchtig sein“, erwiderte er. „O ja!“ machte der ältere ironisch. „Tüchtig ist er, vor allem geschäftstüchtig.“ Dann beschrieb er mit der Hand einen Bogen, der die bunten Wände umfaßte, und fuhr fort: „Das sehen Sie schon hieran.“ „Sie dürfen nicht hingucken, davon wird’s nur schlimmer. In seinen Krankenzimmern ist es genauso“, sagte der jüngere. In diesem Augenblick erschien wieder Dr. Römer in der Tür. Der ältere erhob sich, doch der Arzt nickte dem jüngeren zu und sagte: „Sie können auch gleich mitkommen, Herr Burian.“ Die Frau, die der Arzt vorher aufgerufen hatte, mußte einen anderen Ausgang benutzt haben. 222
Krüger blieb allein zurück und dachte über Burians Worte nach. ,… davon wird’s nur schlimmer. In seinen Krankenzimmern ist es genauso.‘ Vor langer Zeit hatte der Kommissar einmal etwas über die Reizwirkung gelesen, die bestimmte Farbkompositionen auf das Nervensystem ausüben, doch es fiel ihm beim besten Willen nicht ein, wo das gestanden hatte. Er nahm sich vor, dieser Sache auf den Grund zu gehen. „Der nächste bitte!“ Krüger erhob sich und trat an Dr. Römer, der ihm die Tür aufhielt, vorbei in das Sprechzimmer. Der Arzt bot ihm einen Platz an und fragte ihn nach seinen Wünschen. „Krüger ist mein Name, ich komme auf Empfehlung von Frau Roßwig, sie ist Ihre Patientin, Herr Doktor.“ Krüger hatte den Satz kaum ausgesprochen, als er ihn schon bereute. Dr. Römer zog nämlich den Karteikasten auf seinem Schreibtisch näher, blätterte in den Karten und sagte: „Sie verwechseln mich, mein Herr. Eine Patientin dieses Namens habe ich nicht registriert.“ „Vielleicht war sie nur einmal hier und wurde nicht erfaßt. Jedenfalls habe ich von Ihnen gehört und mich entschlossen, Sie aufzusuchen.“ „Soso“, sagte der Arzt maliziös lächelnd. „Und was fehlt Ihnen, Herr Krüger?“ Der Kommissar druckste herum, brachte es sogar fertig, verlegen zu grinsen und sich so zu verhaspeln, daß es echt wirkte. Er erzählte etwas von Nervosität, Energielosigkeit und Fahrigkeit, die ihn periodisch packten und deprimierten, so daß er sich kaum noch als Mensch fühlte. 223
„Sie werden ein bißchen überarbeitet sein. Was sind Sie denn von Beruf?“ „Angestellter.“ „Und bei welcher Firma?“ „Ich mache die Buchhaltung bei Spengler & Co, das ist eine kleine Schraubenbude im Norden.“ „Soso, eine kleine Schraubenbude“, sagte der Arzt und lächelte wieder so seltsam. „Na, dann machen Sie mal den Oberkörper frei.“ „Ich wollte eigentlich nur etwas verschrieben haben, ich dachte an …“, begann Schorsch Krüger. „Ohne Untersuchung kann ich Ihnen gar nichts verschreiben“, sagte der Arzt. Krüger erhob sich und begann sich zu entkleiden. Der Arzt sah ihm dabei zu. Als Krüger fertig war, horchte er ihn ab. „So, und jetzt zehn Kniebeugen.“ Der Kommissar fluchte innerlich und gehorchte. Dabei wurde er den Eindruck nicht los, daß sich dieser Quacksalber über ihn lustig machte.. Doch er hatte das Spiel begonnen und mußte es zu Ende führen. „Das genügt“, sagte der Arzt, „Sie können sich anziehen, Herr Krüger, Es ist, wie ich sagte. Sie sind ein bißchen überarbeitet. Außerdem rauchen Sie zuviel. Ich schreibe Ihnen ein Beruhigungsmittel auf, davon nehmen Sie nach jeder Mahlzeit einen Eßlöffel voll ein. Und in vierzehn Tagen stellen Sie sich wieder vor.“ „Herr Doktor“, wandte Krüger ein, „erstens bin ich Nichtraucher, und zweitens bin ich nicht wegen Baldriantropfen, sondern wegen etwas viel Kostbarerem zu Ihnen gekommen. Mir scheint, daß Sie nicht der richtige Arzt für mich sind.“ „Das scheint mir auch, Herr Krüger“, sagte der Arzt kalt. 224
„Sie wollen mich nicht verstehen.“ Der Kommissar steigerte seine Stimme und schickte sich an, in einen simulierten Wutanfall auszubrechen. „Sie sind gemein! Sie wissen genau, was mit mir los ist! Sie wollen mir nur nicht helfen. Sie, Sie … oder meinen Sie, daß ich schlauchen will? Ich kann bezahlen! Hier, sehen Sie …“ Dr. Römer beobachtete ihn interessiert. „Gut, sehr gut sogar!“ Dann wurde seine Miene böse, und mit leiser Stimme sagte er: „Jetzt ist es aber genug! Raus hier!“ Der Kommissar hielt inne. „Wie bitte?“ Dr. Römer lächelte schon wieder. „Sie können gehen.“ Krüger wollte sich nicht geschlagen geben, doch der Arzt griff zum Telefon, hob den Hörer ab und sagte: „Wenn Sie jetzt nicht augenblicklich gehen, rufe ich das Rauschgiftdezernat im Polizeipräsidium an. Dort gibt es einen gewissen Kriminalkommissar Krüger, Herr Krüger. Kennen Sie ihn?“ Schorsch Krüger preßte die Lippen zusammen und wandte sich abrupt zur Tür. „Vergessen Sie ihr Rezept nicht, Herr Krüger“, rief ihm der Arzt hinterher. Der Kommissar überhörte es. Ich Trottel, ich Riesentrottel, dachte der Kommissar wütend. Dümmer kann sich der dümmste Anfänger nicht anstellen. Warum bloß habe ich nicht einen anderen hergeschickt.
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Schämen Sie sich nicht, Herr Rohloff?
Es war gegen achtzehn Uhr, als Markwart am S-BahnAusgang stand und sich auf den Passantenstrom konzentrierte, um Elvira Roßwig nicht zu verfehlen. Sie waren im Hufeisen verabredet, doch er hatte es sich anders überlegt. Wenn sie kommt, kommt sie mit der S-Bahn, hatte Markwart gefolgert und sich am Ausgang des Bahnhofs postiert. Er sah Elvira schon von weitem und ging ihr entgegen. „Ich habe versucht, Sie anzurufen, aber Sie waren schon weg“, sagte Markwart bei ihrer Begrüßung. „Ich wollte Ihnen nämlich vorschlagen, nicht ins Hufeisen, sondern woandershin zu gehen.“ Elvira Roßwig wirkte zerstreut. „Warum nicht ins Hufeisen?“ fragte sie verwundert. „Dort ist es doch ganz nett. Wohin wollen Sie mich sonst führen?“ „Ehrlich gesagt, so genau weiß ich das auch noch nicht“, gab Markwart kleinlaut zu. Sie musterte ihn. „Zum Spazierengehen ist die Gegend nicht reizvoll genug, und Kinos kann ich nicht ausstehen.“ „Am Oranienburger Tor ist ein kleines Cafe. Nicht weit“, erwiderte er unbestimmt. „Also gehen wir“, sagte sie nervös. „Haben Sie Ärger gehabt?“ fragte Markwart. Erst nach einer ganzen Weile, während sie schweigend nebeneinanderher gingen, beantwortete sie seine Frage. „Ärger? Wie man es nimmt.“ „Vielleicht kann ich Ihnen helfen? Oder falls nicht, vergessen Sie Ihren Kummer wenigstens für heute abend.“ 226
Elvira fand den jungen Mann verändert. Nichts mehr von der unbekümmerten, anmaßenden Laxheit, die er neulich an den Tag gelegt hatte. Sie bedauerte das beinahe, denn gerade auf diese Schnoddrigkeit hatte sie sich eingestellt. Jetzt war alles, womit sie ihm begegnen wollte, hinfällig. Einen Rüpel konnte man durch Spott auf Distanz halten, nicht aber einen ernsthaften jungen Mann, wie er jetzt neben ihr herging. Elvira Roßwig wußte nicht, ob sie sich über die Wandlung ärgern oder freuen sollte. Leichter wurde ihr Vorhaben dadurch jedenfalls nicht. „Es gibt Dinge, die man einfach nicht abschütteln kann“, nahm sie das Gespräch wieder auf. „Besonders in Ihrer Gegenwart nicht, Herr Rohloff.“ Sie sah ihn von der Seite her an, Wurde er böse? Nein! Rohloffs Gesicht wirkte lediglich konzentriert. Elvira Roßwig ärgerte sein Schweigen, und härter, als sie eigentlich wollte, sagte sie: „Auch wenn Sie es mir verübeln, muß ich wiederholen, was ich Ihnen schon einmal sagte: Sie haben sich das schäbigste Gewerbe ausgesucht, das ich mir vorstellen kann. Schämen Sie sich eigentlich nicht, Herr Rohloff? Ich müßte mich auch schämen, daß ich mit Ihnen spreche.“ Markwarts Gesicht zeigte eher Freude als Scham bei ihren Worten. Doch er sagte gleichmütig: „Mag sein, aber bleiben wir lieber bei Ihnen. Was drückt Sie, Elvira?“ „Ihresgleichen drückt mich, wie Sie es bezeichnen! Nicht eigentlich mich … mich aber auch.“ Markwart musterte sie eindringlich. „Soll das heißen, daß Sie in eine Rauschgiftsache verwickelt sind?“ Elvira antwortete nicht sofort. Als sie endlich etwas sagen wollte, wurde sie von Markwart unterbrochen. „Einen Moment noch. Wir sind angekommen. Ich will mich nur schnell nach einem geeigneten Platz umsehen. 227
Warten Sie bitte hier.“ Damit ließ er sie stehen und verschwand im Lokal. Markwart kannte den Besitzer des Cafes und hatte daher keine Mühe, einen Platz zu bekommen. Das Cafe war zwar, wie die meisten Lokale der Innenstadt, um diese Tageszeit voll besetzt, doch der Stammtisch war noch frei. Markwart holte Elvira und gab die Bestellung auf. Als sie saßen, sprach Elvira sofort weiter, inzwischen hatte sie Zeit genug gehabt, sich ihre Worte zu überlegen. „Nicht ich, eine mir nahestehende Person ist in eine üble Affäre verwickelt, und das schmerzt mich.“ „Ist diese Person etwa beim Rauschgifthandel erwischt worden?“ Sie fuhr entrüstet hoch. „Was glauben Sie. Rauschgifthändler haben noch nie zu meinem Umgang gehört. Wenn ich Ihnen nicht begegnet wäre, hätte ich wahrscheinlich nie einen Rauschgiftschieber zu Gesicht bekommen.“ Sie hatte eigentlich „Verbrecher“ sagen wollen, überlegte es sich aber rechtzeitig. „Der Mann, von dem ich spreche, ist …“ Sie zögerte. Es war ihr offensichtlich peinlich. Aber wenn sie wollte, daß Rohloff ihr half, mußte es sein. „Ein guter Freund von mir ist Verbrechern in die Hände gefallen. Er ist süchtig. Diese Leute nutzen das aus und erpressen ihn.“ Es war heraus. Sie atmete auf und fuhr dann sachlich fort: „Was verlangen Sie, wenn ich Sie bitte, mir oder, genauer gesagt, ihm zu helfen?“ „Was verstehen Sie denn unter Hilfe?“ fragte Markwart verblüfft. „Wollen Sie etwa bei mir für Ihren Bekannten Rauschgift kaufen?“ „Vielleicht auch das, wenn es keinen anderen Weg gibt“, erwiderte sie leise. „Aber eigentlich hatte ich mehr an Hilfe anderer Art gedacht. Sie haben ständig mit Süchtigen zu 228
tun, da müßten Sie nicht nur wissen, wie man diese Leute bei der Stange hält, sondern auch, wie man sie vom Schnupfen abbringen kann. Es muß doch möglich sein, einen klugen Menschen davor zu bewahren, Raubbau mit der Gesundheit zu treiben!“ „Sie haben ihn wohl sehr gern, wie?“ fragte Markwart zaghaft. Sie nickte. „Ja. Es ist mein Bruder.“ Ihr Bruder, hallte es in Markwart nach, nur ihr Bruder. Dann schüttelte er den Kopf. „Sie müssen mir glauben, ich täte nichts lieber, als Ihnen zu helfen. Aber ich kann es nicht. Wenn Ihr Bruder so süchtig ist, daß er sich erpressen läßt, dann nutzen ihm nur ein guter Arzt und eine Entziehungskur. Sehen Sie, Elvira, die Sucht hängt in sehr starkem Maße von der Vernunft und dem Willen ab. Verstehen Sie mich bitte recht. Ich will damit nichts gegen Ihren Bruder sagen; ich kenne ihn ja nicht. Aber im allgemeinen werden nur labile Menschen süchtig. Sie überschätzen meistens ihre Kräfte und betrügen sich selbst. Ein Wundermittel gegen die Sucht gibt es nicht. Vor kurzem hat sich die Weltgesundheitsorganisation mit diesen Fragen beschäftigt, die heute fast in allen Ländern Europas eine große Rolle spielen. Die Experten sind der Auffassung, daß es sich bei den Süchtigen um Kranke handelt Kranke aber gehören in die Hände eines Arztes.“ Elvira Roßwig hatte ihm mit wachsendem Erstaunen zugehört. Jetzt verzog sie unmutig das Gesicht und sagte: „Das wissen Sie alles genau, und trotzdem sind Sie selbst …“ Rasch unterbrach er sie. „Bitte, Elvira, vergessen Sie das einen Augenblick. Sie haben mir Ihre Abneigung gegen mein Gewerbe so oft zu verstehen gegeben, daß ich beinahe Hemmungen bekomme, mit Ihnen zu sprechen. 229
Bleiben wir bei Ihrem Bruder. Über mich können wir später reden.“ Sie hob instinktiv die Hände, als wollte sie sagen, daß sie gar nicht daran dachte, die Bekanntschaft so weit mit ihm zu treiben. Sein Blick und der Ton seiner Worte ließen sie jedoch verstummen. „Vielleicht werden Sie es noch seltsamer finden, wenn ich Ihnen rate, sich an Kommissar Krüger zu wenden. Der hat bestimmt einen guten Arzt für solche Fälle an der Hand. Und Verständnis für Ihren Bruder wird er auch haben.“ Markwart betrachtete sie forschend. Da sie nichts erwiderte, fuhr er fort: „An Ihrer Stelle würde ich dem Kommissar reinen Wein einschenken. Das ist nicht so ein muffliger Bulle, der nur die Schlingen der Paragraphen kennt. Mit dem kann man schon reden.“ „Sie scheinen ihn ja gut zu kennen“, erwiderte sie spitz. „Was soll ich ihm denn sagen? Soll ich mich vielleicht auf Sie berufen?“ Markwart schmunzelte. „Warum eigentlich nicht? Das wäre doch einmal etwas Neues. Ein unverbesserlicher Gauner, der die Polizei als Helfer empfiehlt.“ „Und daß Ihre Kollegen dann verhaftet werden, das stört Sie gar nicht? Denn wenn ich das der Polizei melde, geht es doch den Erpressern an den Kragen.“ Er lachte unbekümmert. „Ausgezeichnet, auf diese Weise werde ich die Konkurrenz los. Apropos Konkurrenz. Was sind denn das für Typen? Wie sehen sie aus? Vielleicht kenne ich sie.“ Elviras Beschreibung sagte ihm genug. „Donnerwetter! Affe und Ede!“ rief er, „Wie ist Ihr Bruder nur an diese beiden Halsabschneider geraten? Wo wohnt er denn?“ „Wollen Sie ihm ein günstigeres Angebot machen?“ „Nein, aber …“ Er verschluckte den Rest des Satzes. 230
„Was denn?“ bohrte sie weiter. „Vielleicht werde ich schneller und besser mit ihnen fertig als die Polizei“, sagte er unbestimmt. Elvira zögerte. „Wie stellen Sie sich das praktisch vor? Wollen Sie die beiden umbringen? Nein, nein. Ich glaube, Ihr Rat mit der Polizei war nicht schlecht.“ Markwart wiederholte seine Frage nicht. Für Krüger war es kein Problem, die Adresse herauszubekommen. Jeder hing seinen Gedanken nach, bis Elvira schließlich fragte: „Was waren Sie vor dem Zusammenbruch, Rohloff?“ „Soldat“, erwiderte er lakonisch. „Und davor?“ „Student. Ich habe Rechtswissenschaft studiert, aber das Examen nicht mehr ablegen können. Vorlesungen bei Kohlmeier und Schneikert. Schöne graue Theorie war das! Angestaubt vom traditionellen Schmus und von Heldenphrasen. Draußen im Feld ist der Schmus zusammen mit dem Heldentum verdampft, und was übrigblieb, stank nach Latrine. Justitia, die unnahbare Blinde, hat sich als Flittchen erwiesen, das dem Henker zuarbeitete. Ich bekam die Nase gestrichen voll von ihr.“ Er hatte in abgerissenen Sätzen gesprochen und dabei aus dem Fenster gesehen. „Sind Sie deshalb …?“ fragte sie mitleidig. „Ich habe lange überlegt, ob ich weiterstudieren, zur Heilsarmee gehen oder sonst etwas anfangen soll. Schließlich wurde ich, was ich bin.“ Eben noch hatte er ernst und nicht ohne innere Bewegung gesprochen; jetzt glitzerte wieder der Schalk in seinen Augen. „Ich habe meinen Entschluß nie bereut. Ich wollte eigentlich Rechtsanwalt werden. Können Sie sich das 231
vorstellen, Elvira? Ich, Rechtsanwalt! Du meine Güte, Ihr Chef würde vielleicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen!“ Sie lächelte, mußte einfach lächeln. Sie stellte sich Markwart in der schwarzen Robe neben Dr. Kraus vor. Absurd war das. „Können Sie eigentlich auch ernst sein? Ich meine so richtig und nicht nur für einen Moment.“ Markwart verdrehte die Augen und seufzte: „Wenn es sich nicht umgehen läßt, schon, aber es läßt sich ja umgehen.“ Sie sprachen noch eine Weile über alles mögliche, bis sie zum Aufbruch drängte. Auf dem Heimweg erzählte Markwart Anekdoten, was er wesentlich besser verstand als Dr. Kraus, ihr Chef. Er parodierte andere Passanten und brachte Elvira mit seinen drolligen Kommentaren zum Lachen. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert wie seit langem nicht. Schließlich nahm er ganz selbstverständlich ihren Arm, und sie hatte nichts dagegen. Auch den leisen Druck, mit dem er sie an sich zog, empfand sie nicht als unangenehm. „Ich habe noch etwas Bohnenkaffee“, sagte sie, als sie vor ihrer Haustür standen, und ihre Stimme kam ihr dabei fern und fremd vor. „Es ist eine Ewigkeit her, seit ich einen guten Kaffee getrunken habe“, sagte Markwart feierlich-ernst. Als er sich im Morgengrauen von ihr verabschiedete und zärtlich über ihr Haar und ihre Schultern strich, lächelte er versonnen. Er mußte zu Fuß gehen. Die S-Bahn fuhr erst in zwei Stunden, und so lange konnte er nicht warten. Elvira Roßwig aber lag wach und sah zum Fenster, hinter dem der Morgen heraufdämmerte. Sie lauschte 232
in sich hinein, versuchte, das Geschehene, ja sich selber zu begreifen. Ihr Verstand weigerte sich, es zu erfassen. Rohloff und ich! Ich und Rohloff! dachte sie immer wieder. Das Bild auf dem Nachttisch mit dem schwarzen Flor über dem Eck störte sie. Ihr Mann, Oberleutnant Helmut Roßwig, gefallen am 24. Dezember 1941 vor Moskau. Sie legte es ins Schubfach zu dem Brief, den ihr der Bataillonskommandeur damals geschrieben hatte, und schlief zum ersten Mal seit Jahren traumlos und tief.
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Ein sympathischer Rechtsanwalt
Harald Thorsten betrachtete sein Spiegelbild und erschrak. Er war bleich wie ein Totenhemd; nur die Narbe, dieses scheußliche Andenken an jene Nacht vor Paris, in der es glühendes Eisen geregnet hatte, diese Narbe belebte sein Gesicht. Thorsten schüttelte sich. Damals im Lazarett hatte alles angefangen. Schmerzen, Spritzen und wieder Schmerzen und wieder Spritzen. Später, als die Narbe längst nicht mehr weh tat, hatte er weitergeschnupft. Damit sollte es jetzt endgültig vorbei sein! Er griff mit zitternden Händen nach dem Rasiermesser. Eine halbe Stunde später verließ er das Haus. In der vergangenen Nacht war ihm eine Idee gekommen. Hatte Elvira nicht gesagt, ihr Chef sei Spezialist für Rauschgiftfälle? Also genau das, was er, Harald Thorsten, brauchte. Sicherlich würde dieser kluge Anwalt auch einen Weg finden, wie man diese beiden Gauner loswerden konnte. O je, Thorsten blieb erschrocken stehen, daran hatte er nicht gedacht. Elvira würde um diese Zeit im Büro sein, und er wollte nicht, daß sie vorzeitig etwas von seinem Entschluß erfuhr. Vielleicht konnte man sie unter einem Vorwand aus dem Hause locken? Harald Thorsten erwog die abenteuerlichsten Pläne, während er dem Anwaltsbüro gegenüber in einer Toreinfahrt wartete. Er hatte noch immer keinen Entschluß gefaßt, als er Elvira aus dem Haus kommen sah. Sie hatte ihn nicht entdeckt, und Thorsten zog sich schleunigst in das Innere der Einfahrt zurück. Natürlich, an das Nächstliegende hatte er nicht gedacht! Elvira mußte beinahe jeden Morgen Schriftsätze 234
zum Amtsgericht bringen. Thorsten war zu einer günstigen Zeit gekommen. Er wartete, bis Elvira weit genug weg war, lief dann über die Straße und huschte wenige Sekunden später in das Vorzimmer des Rechtsanwalts. Mit den beiden dort wartenden Klienten einigte er sich schnell. Ein paar Zigaretten verschafften ihm den Vortritt. Dr. Kraus bot ihm sogar Kognak an, als er hörte, wer Thorsten war. „Ihre Frau Schwester wird nichts erfahren, verlassen Sie sich darauf, Herr Thorsten“, sagte er und prostete ihm dabei zu. „Wenn sie aber zurückkommt, bevor ich weg bin?“ fragte Thorsten nervös. Der Rechtsanwalt winkte ab. „Kein Problem. Dann gehen Sie hier durch den Separateingang.“ Harald Thorsten war beruhigt. Er begann seine Geschichte zu erzählen, wobei er abwechselnd auf das halbleere Glas in seinen Händen und in Dr. Kraus’ wohlwollend lächelndes Gesicht sah. „So ist das also“, sagte der Anwalt, als Thorsten geendet hatte. „Ja, Herr Doktor, Sie müssen mir helfen“, bat Thorsten. Dr. Kraus schwieg lange, ehe er antwortete. „Ich wüßte nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Ein gerichtliches Verfahren, in dem ich Sie vertreten könnte, ist ja glücklicherweise nicht anhängig. Die Polizei interessiert sich auch nicht für Sie. Wozu also haben Sie einen Anwalt nötig? Einen Arzt würden Sie doch eher brauchen, denn allein, mein lieber Herr Thorsten“, Dr. Kraus schüttelte nachdrücklich den Kopf, „allein werden Sie mit der Sache nicht fertig. Dazu hat es Sie viel zu sehr gepackt.“ Seine Stimme wurde kühl und unpersönlich. Jedes Wort traf Thorsten wie ein Schlag. „Sehen Sie in 235
den Spiegel! Sie können ohne dieses Zeug ja nicht mehr leben. Glauben Sie allen Ernstes, Sie könnten ganz einfach die Finger davonlassen? Sie würden es keine Woche durchstehen!“ Thorsten senkte den Kopf. Das alles hatte Elvira ihm auch gesagt. Dazu hätte er nicht dieses Anwalts bedurft, in dessen Fähigkeiten ihm jetzt Zweifel kamen. Er gab sich einen Ruck und sah Dr. Kraus an. „Ich kann es doch versuchen, nicht?“ fragte er herausfordernd. Der Anwalt lenkte ein. „Aber natürlich, Herr Thorsten. Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Ich meine es nur gut mit Ihnen.“ Er stülpte die Unterlippe vor und sah Thorsten, der inzwischen den Kopf wieder gesenkt hatte, abschätzend an. „Wo bekommen Sie den Stoff eigentlich her?“ Thorsten schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Mein Gott, das hätte ich ja beinahe vergessen, Herr Rechtsanwalt!“ Thorsten berichtete jetzt von seinen Untermietern. Er erzählte, wie er mit Schütze in der S-Bahn bekannt geworden war, wie der später Ede mitgebracht und sich beide schließlich immer fester bei ihm eingenistet hatten. Dr. Kraus hörte interessiert zu. „Wie heißen die beiden?“ fragte er. Thorsten konnte es nicht sagen. Er wußte nur, daß der eine Affe und der andere Ede genannt wurde. Der Anwalt lehnte sich weit zurück, und Thorsten stellte verwundert fest, daß er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein schien. „Sie werden doch nicht etwa die Polizei anrufen?“ fragte er ängstlich. Dr. Kraus wehrte heftig ab. „Wo denken Sie hin“, sagte er schnell. Dann besann er sich und wiegte den Kopf. „Eigentlich müßte ich es tun; aber dann sähe die Sache 236
für Sie natürlich auch nicht gut aus.“ Er dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: „Nein, wir lassen die Polizei vorerst aus dem Spiel. Vielleicht gibt es einen anderen Weg, Ihnen zu helfen. Ich lasse mir das mal durch den Kopf gehen. Geben Sie mir bitte Ihre Anschrift. Ich werde Sie in den nächsten Tagen aufsuchen, und dann können wir alles Weitere in Ruhe besprechen.“ Thorsten nannte seine Adresse und wollte sich erheben. „Einen Moment noch, Herr Thorsten!“ Dr. Kraus sah ihn besorgt an. „Wollen Sie es wirklich allein versuchen?“ Thorsten zögerte. Er war nicht mehr sicher. „Es muß ja nicht gleich sein“, erwiderte er unbestimmt. Der Anwalt drohte scherzhaft mit dem Finger. „Nur nicht schwach werden“, sagte er lächelnd, machte jedoch sofort wieder eine ernste Miene. „Mir fällt da nämlich gerade ein Arzt ein, Doktor Römer, der eine Spezialtherapie für Süchtige entwickelt hat. Allerdings nicht gerade billig diese Kuren, denn er führt sie prinzipiell nur in seiner Privatklinik durch.“ Harald Thorsten horchte auf. „Doktor Römer? Ich habe nie von ihm gehört. Eine Spezialtherapie sagten Sie?“ „Ja, soviel ich weiß, beruht sie auf dem Prinzip einer allmählichen Senkung der Süchtigkeit, wobei ganz von den individuellen Bedürfnissen des Patienten ausgegangen wird. Doktor Römer soll gute Erfolge damit erzielen.“ „Allmähliche Senkung? Individuelle Bedürfnisse?“ Thorsten war begeistert. „Würden Sie mir bitte seine Adresse geben?“ Der Rechtsanwalt schlug das elegante Verzeichnis auf, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. „Chausseestraße dreiundvierzig“, sagte er nach flüchtigem Hinsehen. 237
„Allerdings wäre es zweckmäßig, ich meldete Sie an, denn Doktor Römer ist überlastet. Doch bestimmt nimmt er Sie mir zu Gefallen noch auf. Wann würden Sie zu ihm gehen?“ Thorsten überlegte. „Am besten übermorgen nachmittag.“ „Gut, Herr Thorsten, ich werde das arrangieren.“ Er geleitete seinen Besucher zur Tür und ging dann eilig zurück zu seinem Schreibtisch. Noch im Stehen griff er zum Telefonhörer.
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Der Chef plant weiter
Ein anderer hätte in dieser Situation geschrien, mit der Faust auf den Tisch geschlagen, Vasen auf den Fußboden geschleudert oder wenigstens mit den Zähnen geknirscht; der Chef jedoch tat nichts von alledem. Er brachte es sogar fertig zu lächeln. Nur seine Stimme, die eher noch leiser war als sonst, vibrierte mit dem feisten Kinn um die Wette und verriet so seine Erregung. Pregel, der seit Jahren mit ihm vertraut war und dieses Vibrieren kannte, hielt unwillkürlich die Luft an. Die Selbstbeherrschung des Chefs hatte etwas Unheimliches, Drohendes. Pregel wußte allzugut, daß der Sündenbock, den der Chef jetzt suchte, nichts zu lachen haben würde, und schaudernd dachte er: Eines Tages wird diese rachsüchtige Kanaille auch mir zu Leibe rücken. Ich sollte beizeiten aussteigen; die Karre ist ohnehin heillos verfahren. Als hätte der Chef Pregels Gedanken erraten, sagte er in diesem Moment: „In der letzten Zeit geht alles schief. Genaugenommen seit der Affäre mit Pinkel. Wenn ich mich nicht um alles selbst kümmere, klappt nichts mehr. Die Lieferanten machen sich auch immer mausiger.“ „Und außerdem rücken uns die Bullen auf die Bude“, ergänzte Müller gleichmütig. „Was nicht zuletzt dein Werk ist“, warf Pregel gehässig ein. „Schnauze!“ erwiderte Müller barsch. „Du auch“, fuhr der Chef ihn an. Für ein paar Sekunden fiel das starre Lächeln von seinen Zügen, doch er faßte sich sofort wieder und sagte ruhig: „Hört her. Wir 239
müssen einiges klären. Krüger hat in der Praxis von Doktor Römer herumgeschnüffelt. Er hat den Süchtigen gemimt und war seiner Sache so sicher, daß er nicht einmal einen falschen Namen angegeben hat.“ Müller zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Ich habe euch doch immer gesagt, daß euer Respekt vor dem Kripomann unbegründet ist. „Aber“, fuhr der Chef fort, „das hat ihn nicht verraten. Schließlich ist Krüger kein so seltener Name. Ein Flittchen, das den Kommissar von einer Razzia her kennt, hat ihn bei Römer verpfiffen. Der Kriminalkommissar ist folglich abgeblitzt. Trotzdem muß Römer jetzt vorsichtig sein. Das heißt, wir müssen den Kontakt zu ihm so weit einschränken, daß wir ihn notfalls im Handumdrehen unterbrechen können.“ „Und wenn er uns verpfeift?“ fragte Müller. „Wird er nicht! Lieber geht er ein bißchen in Erholung. Ich habe ihm nämlich fünfzigtausend als Extrabelohnung in Aussicht gestellt. Das hält einen Mann wie Römer bei der Stange. Also“, der Chef sah Pregel an, „noch eine Lieferung und dann eine längere Pause einschieben.“ Der Geschäftsführer nickte. „Wie ist Krüger bloß auf diesen Quacksalber gekommen?“ Der Chef zog die Stirn kraus und preßte die Lippen zusammen. „Das ist noch unklar“, erwiderte er. Er log. Er wußte natürlich von Dr. Römer, daß sich der Kommissar auf Elvira Roßwig berufen hatte. Doch das wollte er den anderen vorerst nicht auf die Nase binden. Es schien ihm geratener zu sein, diese Angelegenheit erst selbst zu überprüfen. „Was wird nun mit diesem Rotkopf?“ fragte Müller ungeduldig in die Gesprächspause hinein. 240
Der Chef warf ihm einen zurechtweisenden Blick zu. „Darauf kommen wir auch noch zurück. Wir wollen der Reihe nach vorgehen. Allgemein ist festzustellen: Obwohl die Polizei Fortschritte macht, ist sie noch lange nicht an uns heran.“ Nach und nach gewann der Chef seine Überlegenheit zurück. So nüchtern und eiskalt, wie er die Situation der Bande zu analysieren begann, konnte nur einer reagieren, der starke Nerven besaß und es gewohnt war, um hohe Einsätze zu spielen. „Krüger hat also immer noch Tempoverlust! Bis er ihn aufgeholt hat, müssen wir eine Lösung gefunden haben.“ „Liquidieren?“ fragte Pregel. „Wer spricht davon?“ fragte der Chef. „Ich würde eher sagen: umorganisieren und die Gegend wechseln.“ „Mit der ganzen Truppe? Unmöglich!“ „Ich wundere mich, daß wir mit diesem ‚Personal‘ nicht schon längst Wassersaufen gegangen sind“, warf Müller ein. Der Chef winkte ärgerlich ab. „Ich habe euch doch gesagt, daß eine akute Gefahr momentan nicht besteht. Ein kopfloser Rückzug kommt daher überhaupt nicht in Frage. Wir halten die Stellung, bis wir eine neue Basis ausgebaut haben. Solange wird in der Kampflinie geblieben!“ Er liebte es, gelegentlich seine Reden mit militärischen Ausdrücken zu spicken. Er liebte auch Uniformen und Orden und hätte am liebsten eine militärische Rangordnung in der Bande eingeführt, wenn die anderen mitgemacht hätten. Aber da waren so zivile Schlappschwänze wie Pregel darunter, die seine gelegentlichen Bemühungen sofort zum Scheitern brachten. Er holte ein paar Blätter aus der Tasche, die über und über mit Kästchen, Kringeln und Pfeilen bedeckt waren. 241
„Wir brauchen eine neue Organisation“, fuhr er fort, „und zwar nach amerikanischem Vorbild. Sie muß fester gefügt, straffer geleitet und besser abgesichert sein als die jetzige. Wir müssen auch beweglicher und vielseitiger werden, so daß wir sofort auf ein anderes Gebiet umsteigen können, wenn es einmal nötig sein sollte. Schließlich brauchen wir einen besseren Informationsdienst, damit wir jederzeit wissen, was in der Unterwelt geschieht. Das ist gar nicht mal so neu. Denkt nur an die Ringvereine der Vorkriegszeit oder an die Gangs in New York und Chicago. Später, als Endziel gewissermaßen, könnten wir eine Gesellschaft bilden, an der wir andere Gruppen, gegen entsprechende Steuern natürlich, beteiligen. Je weiter das Netz sich ausdehnt, je vielseitiger und komplizierter es wird, um so unübersichtlicher und unangreifbarer ist es von außen; um so kleiner wird das Risiko!“ „Mit anderen Worten: Du willst ein ganz großer Boß werden!“ stellte Müller fest. „Wir machen das natürlich zusammen“, beeilte sich der Chef zu antworten. „Wollen wir nicht erst mal sehen, wie wir mit der aktuellen Misere fertig werden?“ fragte Pregel, den diese Zukunftspläne nicht interessierten, weil für ihn feststand, daß seine Tage in dieser Organisation gezählt waren. Diesmal pflichtete ihm sogar Müller bei, was den Chef veranlaßte, stirnrunzelnd seine Papiere zusammenzuraffen und in die Brusttasche zu stecken. „Was schlagt ihr also vor?“ fragte er mit einer Stimme, der man die Enttäuschung anhörte. „Du bist der Chef!“ entgegnete Müller grinsend, und diesmal war es Pregel, der Müllers Worten durch Kopfnicken zustimmte. 242
„Na schön.“ Der Chef dachte einen Augenblick nach und fuhr dann nüchtern fort: „Die Lieferungen an alle unsicheren Kunden werden ab sofort eingestellt. Gestundet wird nicht mehr. Alle Außenstände sind einzutreiben, und zwar in voller Höhe. Das ist deine Angelegenheit, Dietrich. Du, Werner, knöpfst dir die beiden Lieferanten, vor allem diesen Pillerbrock vor. Sie sind mit der Lieferung im Rückstand. Wir brauchen diese Posten unbedingt. Sage ihnen, daß wir künftig auf ihre Mitarbeit verzichten.“ „Da ist sowieso nichts mehr zu holen“, warf Müller ein. „Eben!“ Der Chef sprach weiter: „Innerhalb von vierzehn Tagen müssen wir alle Bestände abgesetzt haben. Die zuverlässigen Kunden lassen wir wissen, daß sie zur gegebenen Zeit Nachricht erhalten. Wir legen vorerst eine Pause bis zum Abschluß der Reorganisation ein. Einzelheiten dazu werde ich später bekanntgeben.“ „Also doch Rückzug!“ spottete Müller. „,Pause!‘ habe ich gesagt“, erwiderte der Chef bestimmt. „Was ist mit dem Rotkopf?“ wiederholte Müller seine schon einmal gestellte Frage. „Rohloff?“ Der Chef lächelte seltsam „Wir werden ihn noch brauchen. Dietrich, halte die von ihm gewünschte Menge bereit.“ „Hör mal, willst du uns nicht sagen, was du vorhast? Mir ist nicht wohl bei dieser Sache!“ maulte Müller. „Das verstehe ich“, gab der Chef vieldeutig zurück. „Warte nur ab. Ich werde das schon machen. Mir ist da etwas eingefallen.“ Diesmal log der Chef nicht. Er hatte wirklich eine Idee, die Markwart betraf, eigentlich sogar zwei. Eine davon war ihm erst in dieser Unterredung 243
gekommen, als er bemerkte, daß sogar Müller, der ihm sonst widerspruchslos gehorcht hatte, an ihm zu zweifeln begann. Vielleicht war dieser Rohloff aus einem anderen Holz geschnitzt, dann konnte er sehr schnell Karriere in der Organisation machen. Wenn nicht, dann blieb immer noch die andere Möglichkeit. Es mußte einen Sündenbock geben, einen, den man dem hartnäckigen Krüger präsentieren konnte, und zwar am besten so, daß Widersprüche und Gegenargumente ausgeschlossen waren. Der Chef sah auf die Uhr. „Es wird Zeit für mich. Ich glaube, es ist alles klar.“ Auch Müller schickte sich an zu gehen. Er wollte die Sache mit den Lieferanten nicht auf die lange Bank schieben.
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Kommissar Krüger schöpft Verdacht
Schütze witterte Gefahr, als er den schweren Mann gewahrte, der die Haustür ganz ausfüllte und die rechte Hand in die Tasche seines Trenchcoats geschoben hatte. Instinktiv drehte er sich um, wollte die Treppe wieder hinauflaufen, prallte aber gegen Ede, der hinter ihm ging. Schütze hatte sich das Haus ganz genau angesehen, bevor er bei Thorsten Quartier bezog. Deshalb wußte er, daß die Hintertür immer offenstand und die Mauer dahinter eingestürzt war. Dort aber lag schon das Laubengelände, in dem man schnell verschwinden konnte. Deshalb wagte er einen verzweifelten Sprung. An der Hintertür jedoch stand auch ein Mann – etwas kleiner und korpulenter zwar als der in der Haustür, aber nicht weniger entschlossen. Die Pistole in seiner Hand ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Schütze haßte alles, womit man schießen konnte; am meisten Pistolen, die sich in der Hosentasche verbergen ließen und ihm deshalb besonders tückisch vorkamen. In seiner tiefsten Seele war er Pazifist; besonders dann, wenn er die Zielscheibe abgeben sollte. Der schwere Mann an der Tür rührte sich nicht. Schütze blickte gehetzt von einem zum anderen. Ede glotzte dumm und verstand nichts. Ein Funken Hoffnung flackerte in Schütze auf, als er den Mann am Hauseingang eingehender musterte. Wie ein Gangster sah der nicht aus, eher wie ein Handwerker. „Polente?“ fragte er leise. 245
„Was dachtest du denn, Freundchen?“ entgegnete Krüger gemütlich. „Dachtest du, wir sind von der Konkurrenz?“ Schütze fiel ein Stein vom Herzen. Polizei ist Mist, ging es ihm durch den Kopf, aber wenigstens kostet es nicht das Leben. Die Polizei war das einkalkulierte Risiko: hart, unerbittlich, aber fairer als der Chef. Er narrte die Polizei, solange es ging; das war sein Geschäft. Sie hetzten ihn dafür und sperrten ihn ein; das war ihr Geschäft. Jetzt waren sie am Drücker, und Schütze stellte sich sofort darauf ein. „Ich leiste keinen Widerstand, Herr Kommissar!“ sagte er und hob pathetisch die Hände. Krüger betrachtete den Zwerg von oben herab. „Haben Sie gehört, Ehrlich? Er leistet keinen Widerstand. Da können wir ja mächtig froh sein, daß der Kerl uns nichts tut. Der sieht doch ganz so aus, als ob er Klopapier zerreißt, wenn er wütend ist.“ Ehrlich schmunzelte. „Ich bin wirklich erleichtert, Herr Kommissar.“ Dann fauchte er plötzlich, daß Ede vor Schreck gegen das Geländer stieß. „Na, los, Pfoten hoch und mit dem Gesicht zur Wand!“ Ede schlotterte. Die Taverne in Napoli rückte an den Südpol. Schütze tat beleidigt: „Was Sie nur denken! Wir haben keine Kanonen!“ Zwei Stunden später rekelte sich der Kommissar zufrieden gähnend und sagte zu seinem Oberassistenten: „Ich glaube, es hat sich gelohnt, Ehrlich. Wir kennen jetzt den größten Teil der Großabnehmer und den Sitz der Zentrale. Jetzt braucht uns Markwart nur noch den Namen des Chefs zu liefern, dann können wir den Fall abschließen.“ 246
„Na, ich weiß nicht, das geht mir alles ein bißchen zu glatt“, wandte Ehrlich ein. „Unken Sie nicht. Was soll jetzt noch schiefgehen?“ „Wäre es nicht klüger, den Laden sofort auszuheben? Den Chef der Bande kriegen wir dann auch.“ „Vielleicht haben Sie recht, vielleicht auch nicht! Überlegen Sie mal“, Krüger marschierte im Zimmer auf und ab, „der Kerl, der diese Organisation aufgebaut hat, ist nicht dumm, er hat Format. Glauben Sie nicht, daß der auch für den Fall vorgebaut hat, daß überraschend die Polizei erscheint? Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, daß uns der Chef selbst dann noch entwischt, wenn wir die gesamte Bande auf einmal hochnehmen. Und wäre es durch diesen geheimen Zugang. Apropos Zugang! Haben die Leute vom Suchtrupp nichts von sich hören lassen?“ Ehrlich nickte. „Doch, natürlich, aber sie hatten noch keinen Erfolg. Um unauffällig zu bleiben, mußten sie weit entfernt vom Hufeisen anfangen. Trotzdem hat ihre Suche Nachfragen beim städtischen Bauamt ausgelöst. Aber zum Glück hatten Sie dort ja vorgesorgt.“ Krüger horchte auf. „Und wer hat beim Bauamt nachgefragt?“ „Irgendein Arzt.“ „Ein Arzt?“ „Ja, ein Doktor Sowieso. Der Name war unverständlich, und der Kollege vom Bauamt hat auch nicht weiter gefragt, sondern weisungsgemäß geantwortet, daß nach defekten Gasleitungen gesucht würde.“ „Wie weit sind unsere Leute nun?“ „Heute werden sie etwa das fünfte Haus vor dem Hufeisen erreichen. Sie bewegen sich spiralförmig auf das Lokal zu. Morgen, spätestens übermorgen werden sie es erreichen.“ 247
„Na, hoffentlich!“ Krüger massierte sein wuchtiges Kinn und überlegte laut: „Wer zum Teufel verbirgt sich hinter diesem romantischen Chef? Sollte das wirklich eine Frau sein? Verfügt diese stupsnasige Kneipenwirtin über das Format, ein solches Unternehmen in der Hand zu halten?“ Da Ehrlich glaubte, die Frage sei an ihn gerichtet, erwiderte er: „Möglich ist alles.“ „Wie?“ Krüger sah seinen Oberassistenten an, dann schüttelte er den Kopf. „Lassen Sie uns die Sache von Anfang an durchgehen: Littke alias Birne soll Pinkel einen Beutel mit Kokain übergeben und gerät dabei in eine Razzia. Außer ihm wird auch Pinkel verhaftet. Wir lassen Pinkel laufen, um über ihn an die Hintermänner des Rauschgifthandels heranzukommen. Pinkel wollte mit Schütze eine Konkurrenzbande aufbauen. Der Chef der Rauschgiftbande kommt offenbar dahinter und läßt Pinkel durch Lopke ausschalten. Nach Erledigung dieses Auftrages wird Lopke alias VierfingerWilli im Hufeisen betäubt und in der Friedrichsgracht ins Wasser geworfen. Schütze wird auch verfolgt, entkommt seinen ehemaligen Geschäftsfreunden jedoch und schickt uns den Hinweis aufs Hufeisen. Markwart nimmt Kontakt mit den Schiebern auf und besucht heimlich das Hufeisen. Dabei sieht er den Chef, der jedoch vermummt ist und das Lokal durch einen Geheimzugang betritt. Auf der Straße stößt Markwart auf die Engel, die aus einem der Häuser um das Hufeisen kam und folglich auch den Geheimgang benutzt haben konnte.“ Ehrlich zog die Mundwinkel herab. „Darf ich etwas einwenden, Herr Kommissar?“ „Ja, bitte!“ 248
„Sie haben vergessen, daß Markwart eine Unterredung mit dem Chef hatte. Dieser Chef aber war ein Mann!“ „Ja, das war ein Mann, aber war es der Chef? Markwart glaubte in der Stimme, die per Telefon mit ihm verhandelte, eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Pregel zu erkennen.“ „Also könnte auch Pregel der Bandenchef sein“, erwiderte Ehrlich. „Kaum!“ Der Kommissar schüttelte nachdenklich den Kopf. „Pregel ist im Hufeisen bekannt und kann sich jederzeit dort aufhalten, ohne Verdacht zu erregen. Wozu hätte er einen geheimen Zugang und die Verkleidung mit Pelerine und Hut, wozu das rote Lämpchen und ausgeschaltetes Licht im Korridor nötig? Wenn dieses romantische Beiwerk einen Zweck hat, dann doch wohl den, eine bestimmte Person, nämlich den Chef, unkenntlich zu machen und so vor einer zufälligen Entdeckung, beispielsweise durch einen Angestellten oder ein anderes Bandenmitglied, zu sichern. Pregel hätte solche Sicherheitsvorkehrungen nicht nötig.“ Ehrlich zupfte sich erregt am Ohrläppchen. „Das leuchtet mir ein“, sagte er, als Krüger schwieg. „Diese Verkleidung gibt dem Chef aber auch die Möglichkeit, das Lokal in seiner wahren Person aufzusuchen, ohne von den Ganoven erkannt zu werden.“ Den Kommissar durchzuckte ein Gedanke. Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her, blieb schließlich dicht vor seinem Oberassistenten stehen. „Ich denke, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Ehrlich! Sagen Sie, ist dieser Birne noch im Haus?“ Ehrlich hatte Mühe, den Gedankensprüngen seines Chefs zu folgen. „Littke alias Birne soll morgen endgültig nach Rummelsburg verlegt werden“, meldete er exakt. 249
„Her mit dem Kerl!“ Der Oberassistent telefonierte mit der Haftabteilung. Schon kurz darauf trat Birne, von einem Wachtmeister begleitet, blinzelnd ins Zimmer. Als er den Kommissar erblickte, nahm er Haltung an. „Untersuchungsgefangener Littke wie befohlen zur Stelle!“ schnarrte er. Den Kommissar berührte dieses militärische Gehabe peinlich. Hackenklappen, Hände an der Hosennaht und der gewollt forsche Ton paßten nicht zu jemandem, der auf seine Verurteilung wartete. „Schon gut“, sagte er unwillig. „Setzen Sie sich. Was wollte neulich der Rechtsanwalt von Ihnen?“ „Nichts. Was soll er schon gewollt haben? Verteidigen wollte er mich. Hat allerhand Versprechungen gemacht und sich seitdem nicht mehr blicken lassen.“ Littke sah den Kommissar ängstlich an. „Aber ich hatte ihn gar nicht bestellt.“ „Hat er Ihnen nicht gesagt, warum er ausgerechnet Sie verteidigen wollte?“ „Ja, er hat etwas von wissenschaftlichem Interesse, Nächstenliebe und solchem Zeug gefaselt. So richtig schlau bin ich nicht daraus geworden.“ „Und Sie können es sich auch nicht denken?“ Birne zuckte unschlüssig die Schultern. Er nahm die Dinge, wie sie kamen. Darüber nachzudenken war noch nie seine starke Seite gewesen. Wozu auch? Der gelehrte Mann würde schon wissen, warum er ihn, den hoffnungslos Rückfälligen, verteidigen wollte. Die Hauptsache war, daß er es umsonst tat. Der Kommissar ahnte seine Gedanken. „Wonach hat er denn gefragt?“ Birnes Miene hellte sich auf. „Ach, das meinen Sie. Er wollte wissen, wie ich in diese Patsche hier gekommen bin, wer meine Auftraggeber sind, wen ich von dem Laden 250
kenne und so weiter.“ Er sah den Kommissar treuherzig an. „Er hat genau dasselbe wissen wollen wie Sie. Aber ich konnte ihm auch nicht mehr sagen als Ihnen.“ „Hat er Ihnen Verhaltensmaßregeln gegeben?“ „Ja“, entgegnete Birne sofort. „Er hat gesagt, ich soll immer bei der Wahrheit bleiben und Ihnen dasselbe sagen, was ich ihm gesagt habe.“ Der Kommissar nickte, als hätte er gerade das erwartet. „Ich weiß nicht, Herr Kommissar, worauf Sie hinauswollen. Ich für meinen Teil würde sagen, daß wir so nicht weiterkommen“, sagte Ehrlich, als Littke wieder in seiner Zelle saß und sich den Kopf darüber zerbrach, was der Kommissar eigentlich von ihm gewollt hatte. Krüger antwortete nicht sofort. Ehrlich glaubte schon, daß er seine Frage überhaupt nicht gehört hatte, als der Kommissar den Kopf hob. „Ich glaube, ich weiß, wer der Chef der Bande ist.“ „Wer?“ „Überlegen Sie selbst, Ehrlich! Zwischen dem Hufeisen und dem Ehestandsschoppen gibt es eine Verbindung. Wer aber hat – und zwar ganz offiziell und gerade deshalb unauffällig – mit beiden Lokalen zu tun? Wer ist andererseits bestens über das Milieu des Rauschgifthandels informiert? Wer wußte, kaum daß wir ihn festgenommen hatten, von Birnes Inhaftierung?“ „Doktor Kraus!“ rief Ehrlich beinahe erschrocken. Der Kommissar nickte bedächtig. „Rechtsanwalt Doktor Kraus!“ „Das ist ja unwahrscheinlich! Das ist ja toll! Dann können wir doch zuschlagen“, rief Ehrlich. „Soll ich Markwart benachrichtigen?“ „Nicht so hitzig, Ehrlich. Natürlich muß Markwart sofort einen Hinweis bekommen. Versuchen Sie, Verbindung mit 251
ihm aufzunehmen. Ich möchte ihn heute noch treffen. Veranlassen Sie auch bei der Telefonzentrale noch einmal, daß alle Fragen nach Markwart zu uns durchgegeben werden. Und dann“, in Krügers Augen trat ein warmer Schimmer, „drücken Sie ihm die Daumen. Er kann es brauchen. Schärfen Sie ihm die größte Vorsicht ein.“ „Wenn ich Markwart nicht erreiche, was dann?“ Der Kommissar antwortete mit einer Gegenfrage. „Wer ist jetzt in Probsts Wohnung am Scherenfernrohr?“ „Oberassistent Hanske.“ „Gut. Ganz gleich, ob Sie Markwart erreichen oder nicht, Sie begeben sich anschließend ebenfalls sofort dorthin und behalten das Hufeisen im Auge. Ich treffe inzwischen hier alle nötigen Vorbereitungen. Der Geheimgang muß schleunigst gefunden werden!“ „Wollen Sie Markwart abberufen?“ fragte Ehrlich. „Ja! Er soll nur noch eine Kleinigkeit feststellen. Dann schlagen wir zu!“
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Mein Name ist Müller
Zur gleichen Zeit, da Kommissar Krüger Ehrlich die Anweisung gab, Markwart zu benachrichtigen, saß knapp zweitausend Meter von ihm entfernt der Chef in seinem Büro und telefonierte. „Irrst du dich auch bestimmt nicht, Rita?“ fragte er soeben. Er lauschte gespannt, nickte mehrmals zu den Worten seiner Gesprächspartnerin und sagte schließlich: „Wenn dein Gewährsmann ihn von früher her kennt, dann ist wohl jeder Irrtum ausgeschlossen. Wie, sagtest du, heißt der Kerl wirklich? Markwart? Gut, ich prüfe das gleich nach. Und halte dich auf alle Fälle bereit, es kann sein, daß sich schon sehr bald etwas tut.“ Der Chef hängte ein, nahm den Hörer sofort wieder in die Hand und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums. Als sich die Zentrale meldete, verlangte er, Herrn Markwart von der Kriminalpolizei zu sprechen. Die Zentrale verband zur Geschäftsstelle der Kriminalpolizei. Der Chef wiederholte sein Begehren und wurde nach seinem Namen gefragt. „Mein Name ist Müller. Ich bin ein alter Bekannter von Markwart.“ „Einen Augenblick bitte.“ Der Chef hörte, daß am anderen Ende getuschelt wurde, und da riet ihm sein Instinkt, schnell einzuhängen. Das fehlte noch, daß man ihn am Apparat festhielt und inzwischen feststellte, woher der Anruf kam. Lange starrte er auf das Telefon, unfähig, ein Glied zu rühren. Dabei jagten sich seine Gedanken. Er hatte Krüger 253
unterschätzt. Es war schlimm bestellt um die Organisation. Viel schlimmer, als er vor seinen Leuten zugegeben, ja schlimmer, als er selbst geahnt hatte. Harry und Boxer zogen auch nicht mehr so richtig mit, sie wurden aufsässig, und sogar auf Müller und Pregel konnte er sich nicht mehr hundertprozentig verlassen. Nun noch die Sache mit diesem Markwart. Verdammt, beinahe hätte er das vergessen: Er mußte die Auslieferung an den Kerl stoppen. Im Büro war es still. Er hatte die Klingel abgestellt, denn er wollte allein sein und die nächsten Schritte in Ruhe planen. In den letzten Tagen hatten sich die Ereignisse überstürzt. Die Organisation, die er mühevoll aufgebaut hatte, brach Stück um Stück auseinander; und dabei begann die Sache erst richtig attraktiv und rentabel zu werden und der Gewinn rasch anzusteigen. Und gerade jetzt sollte Schluß damit sein? Das kam überhaupt nicht in Frage! Er würde diesen Wettlauf mit der Polizei gewinnen, er mußte ihn ganz einfach gewinnen! Der Chef bemühte sich, seine Unruhe zu unterdrücken. Jetzt ging nichts über einen kühlen Kopf und Intelligenz. Der Chef des Rauschgiftrings besaß sie, und er zeigte sie ebenso gern, wie er sich in der Bewunderung sonnte, die andere ihm entgegenbrachten. Nur seine Frau war stets unbeeindruckt davon geblieben. „Mir kannst du nichts mehr vormachen“, hatte sie erst gestern zu ihm gesagt. Nicht böse, nicht triumphierend, sie hatte es einfach festgestellt, so, wie man feststellt, daß ein Knopf am Mantel fehlt. „Du bist ehrgeizig und egoistisch. Beides im Übermaß. Alles an dir ist Übermaß, auch deine Komplexe und deine Mimosenhaftigkeit. Mittelmäßig bist du nur als Ehemann. Oder noch weniger als das. Man friert in deinen Armen und ekelt sich.“ 254
„Du bist boshaft, und außerdem vergreifst du dich im Ton“, hatte er geantwortet und den Gekränkten gespielt. Doch sie hatte nur gelacht, denn sie kannte seine Rollen. Auf die des ehrlich-naiven Liebhabers war sie seinerzeit hereingefallen. Später hatte sie sich deshalb selbst verachtet. „Ich komme nicht dahinter, woher du deinen Hang zum Theatralischen hast. Manchmal glaube ich, daß das für dich nur ein Mittel zum Zweck ist, so wie das Fähnchen oder der Terminkalender. Dann sehe ich wieder, wie sehr du dich selbst ernst nimmst, und zweifle daran.“ „Du bist verknurrt, das verstehe ich ja. Aber deshalb kannst du wenigstens die Form wahren. Und wäre es auch nur aus Dankbarkeit Im übrigen sind solche Gespräche unfruchtbar und witzlos.“ Sie hatte auch das gleichgültig aufgenommen und ebenso geantwortet: „Dankbarkeit schulden dir vielleicht deine Gespielinnen, obwohl ich mir auch da nicht denken kann, wofür. Vielleicht für die Strümpfe, die du ihnen schenkst? Wofür sollte ich dir dankbar sein? Sag es doch!“ „Hör auf damit! Du wiederholst dich.“ „Du hast recht, es hat keinen Zweck!“ Dabei war es geblieben wie seit Jahren. Er war der Auseinandersetzung ausgewichen, hatte sie einfach abgeschüttelt. Die Frau konnte er nicht abschütteln. Er brauchte sie noch für sein Renommee. Der Anwalt lenkte seine Gedanken wieder zur Organisation zurück. Das gelang ihm aber nicht so leicht, denn diese Auseinandersetzung hatte seine Eitelkeit verletzt, und er war sehr eitel. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und dachte immer nur den gleichen Satz: Selbst damit werde ich fer255
tig! Dieses bewährte Rezept verfehlte auch diesmal seine Wirkung nicht, und schon nach wenigen Minuten war er auf seine Bilanz konzentriert. Sein Gehirn arbeitete wieder wie ein gut funktionierender Automat. Beinahe unbeteiligt analysierte er noch einmal die Situation, berechnete Wirkung und Risiko der nächsten Schritte, die er unternehmen wollte, und griff dann mit der gewohnten Lässigkeit zum Telefon.
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Die Falle
Markwart pfiff vor sich hin, als er das Haus verließ. Bisher war alles nach Wunsch gegangen. Der mysteriöse Bandenchef hatte sich erneut gemeldet und ihn für diesen Abend in das Hufeisen bestellt. Jetzt brauchte er noch ein bißchen Glück, und dann konnte er wieder in seine alte Haut schlüpfen. Elvira würde Augen machen. Bei dem Gedanken an sie kam eine riesige Freude in ihm auf. Er schmunzelte noch, als Müller urplötzlich, undurchsichtig, aalglatt und geschniegelt wie immer, vor ihm stand. Markwart war ein wenig erschrocken, faßte sich aber schnell. „Wir treffen uns in letzter Zeit recht oft“, sagte er leichthin. Müller antwortete ebenso: „Das habe ich noch gar nicht bemerkt.“ Dann deutete er auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Der Wagen steht drüben. Kleine Planänderung.“ Ein ungutes Gefühl beschlich Markwart. „Inwiefern?“ fragte er scheinbar sorglos. Dabei überlegte er jedoch fieberhaft, was Müllers Eröffnung wohl zu bedeuten hatte. „Der Chef will dich sofort sprechen. Es ist eilig.“ „Warum?“ Markwart blinzelte an Müller vorbei zum Schornstein des großen Eckhauses, an dem sich die Strahlen der Sonne brachen und tausend winzige silberne Pünktchen aufflimmern ließen. „Warum?“ fragte er nochmals, als Müller nicht gleich antwortete. Müller zuckte die Schultern. „Ich weiß auch nichts Genaues. Aber es ist besser, du fragst nicht so viel. Der 257
Chef schätzt das nicht. Daran mußt du dich bei uns schon gewöhnen.“ „Im Moment paßt es mir gar nicht. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen. In einer Stunde bin ich im Hufeisen. Sag es dem Chef“, erwiderte Markwart und wollte sich abwenden. Müller legte ihm die Hand auf den Arm. „Nicht so hastig. In einer Stunde ist die Sache längst vorbei, und solange wird deine dringende Angelegenheit wohl Zeit haben. Oder hast du plötzlich Schiß bekommen und willst passen?“ Markwart schüttelte Müllers Hand ab. „Quatsch! Ich und passen! Geh schon voran.“ Müller sah mißtrauisch zu ihm hin. Seit seinem ersten Zusammenstoß mit Markwart war er vorsichtiger geworden. „Keine Tricks!“ brummte er warnend. Markwart schob die Hände in die Hosentaschen und grinste. „Dasselbe rat ich dir.“ Müller war allein. Er setzte sich ans Steuer und ließ Markwart neben sich Platz nehmen. Er fuhr auf Umwegen zum Hufeisen. Das hätte Markwart auffallen müssen, wenn er nicht so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen wäre. Diese unvorhergesehene Terminänderung störte sein Programm mehr, als er zeigen durfte. Sicher steckte wieder eine der üblichen Vorsichtsmaßnahmen oder auch nur eine Laune des spleenigen Kuttenmannes dahinter. Schlimmer war, daß er dadurch den Treff mit Ehrlich verpaßte. Wenn Müller allerdings recht behielt und in einer Stunde wirklich alles erledigt war, würde er Ehrlich vielleicht noch erreichen. „Kannst du nicht ein bißchen schneller fahren?“ fragte er ungehalten. Müller antwortete nicht. Eine Antwort wäre auch überflüssig gewesen, denn sie fuhren soeben in den 258
Hinterhof der Bar Zum Hufeisen ein und hielten unmittelbar darauf vor der Tür mit der selbsttätigen Verriegelung. Der Hof lag menschenleer. In dem langgestreckten, hingeduckten Gebäude waren alle Fenster geschlossen und die Jalousien heruntergelassen. Heute ist ja Ruhetag, schoß es Markwart durch den Kopf. Die Stille wirkte bedrückend. Markwart blieb stehen und sah sich um. Dabei schielte er zu der Ruine hinüber, in der er Krügers Leute wußte, die das Hufeisen beobachteten. Müller wurde ungeduldig. „Komm schon, willst du hier Wurzeln schlagen?“ Die Tür war nur angelehnt. Müller ließ ihm den Vortritt, und Markwart erkannte die Falle einen Augenblick zu spät. Er hatte kaum einen Fuß in den finsteren Gang gesetzt, als ihn ein Schlag in den Rücken nach vorn warf. Gleichzeitig traf ihn ein Hieb auf den Hinterkopf und brachte vor seinen Augen ein Faß Dynamit zur Detonation. Markwart bekam die Hand nicht mehr in die Achselhöhle. Seine Arme sanken kraftlos herab. Er hörte weder das Kichern, das Boxer von sich gab, noch Müllers Anweisung. Das letzte, was er wahrnahm, war das rote Lämpchen über der bewußten Tür. Er sah es deutlich, ehe es sich in dem feuerroten Nebel auflöste, der vor seinen Augen tanzte. Als Markwart wieder zu sich kam, hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Dumpfes Stimmengewirr drang, lange bevor er die Augenlider heben konnte, von weit her an sein Ohr. Allmählich konnte er die Stimmen von zwei Männern unterscheiden, die halblaut miteinander stritten. „Ich sage dir, Chef, das geht ins Auge. Wir sollten die Sache woanders erledigen.“ Das war Müller. 259
„Was soll denn schiefgehen? Noch immer haben wir einen Vorsprung. Wir müssen nur mit Überlegung vorgehen. Keine Panik. Die schadet am meisten.“ Markwart wollte seinen Ohren nicht trauen. Das war doch … Er öffnete die Augen spaltbreit und sah direkt in das runde, feiste Gesicht von Dr. Kraus. Schnell schloß Markwart wieder die Augen. Zu spät. Dr. Kraus hatte sein Erwachen bemerkt. „Na, wie fühlen Sie sich, Herr Rohloff?“ fragte er zynisch. „Oder soll ich Sie nicht doch lieber bei Ihrem richtigen Namen nennen, Herr Kriminalassistent Markwart? Tja, man kann es nie schlau genug anfangen. Eines Tages platzt auch die schönste Illusion, und Ihre ist jetzt geplatzt. Bedauerlich, Herr Markwart, sehr bedauerlich, für Sie ebenso wie für mich. Ein Rauschgifthändler Rohloff wäre mir entschieden lieber gewesen als ein neugieriger Kriminalassistent. Immerhin, mein Kompliment, Sie haben Ihre Rolle beinahe perfekt gespielt.“ Die langatmige, gespreizte Rede des Rechtsanwalts gab Markwart die Möglichkeit, seine Kaltblütigkeit zurückzugewinnen. Seine Lage war alles andere als rosig. Die Bande hatte ihn sicher nicht in die Falle gelockt, um ihm zu sagen, daß sein Doppelspiel entdeckt war. Die Fälle Pinkel und Lopke waren ein allzu plastisches Beispiel für die Konsequenz und Skrupellosigkeit dieser Verbrecher. Auch mit ihm würden sie kurzen Prozeß machen wollen. Wenn nur Krüger rechtzeitig kam! Jetzt hätte er sich ohrfeigen mögen, daß er so blindlings in die Falle getappt war. Mit Müller allein wäre er fertig geworden. Hatte er wenigstens die Hände frei gehabt! Aber so, wie man ihn auf dem Stuhl festgebunden hatte, war er völlig hilflos. „Was ist mit Ihnen, Verehrtester? Sie sehen so angegriffen aus.“ Der Hohn des Bandenchefs prallte an 260
Markwart ab. Er schürzte verächtlich die Lippen und schwieg. „Er scheißt sich in die Hosen, Chef“, sagte Müller grinsend. Dr. Kraus schüttelte bekümmert den Kopf. „Bitte drück dich doch gewählter aus, Werner. Unser – ähm – Gast ist solche Töne vielleicht nicht gewohnt.“ Markwart ließ sie reden. Mochten sie ruhig ihr Spiel mit ihm treiben. Solange sie ihn nur verhöhnten, bestand keine unmittelbare Gefahr. Im Gegenteil, ihre Spötteleien verschafften ihm Zeit; und die konnte er brauchen, so viel Zeit wie irgend möglich. Eine Rettung für ihn gab es nur dann, wenn er die Verbrecher so lange hinhalten konnte, bis seine Kameraden kamen. Ein scheußlicher Gedanke durchzuckte ihn: Was, wenn der Beobachtungsposten nicht besetzt war? Dann … Markwart gab sich einen Ruck. „Kompliment meinerseits!“ sagte er und hörte dabei seine eigene Stimme wie durch einen Wattebausch. „Wie sind Sie dahintergekommen?“ Dr. Kraus lachte selbstgefällig. „Die Weiber, Verehrtester, die Weiber!“ sagte er vielsagend zwinkernd. „Soll das heißen, daß Ihre Sekretärin …“ Markwart hielt sofort inne, als er das verdutzte Gesicht des Anwalts sah. Elvira hatte nicht über ihn gesprochen. Das Staunen des Bandenchefs war echt. Elvira! Wie hätte sie ihn verraten können! Sie wußte nichts von ihm und hätte so etwas auch nie getan. „Haben Sie mit meiner Sekretärin geschlafen?“ fragte Dr. Kraus. Die plump-vertrauliche, naive Neugier im Ton seiner Stimme brachte Markwart auf. „Das geht Sie einen Dreck an!“ „Aber, aber, wer wird sich denn gleich so aufregen, Herr Markwart! Geschmack haben Sie, das muß man 261
Ihnen lassen. Elviras Geschmack dagegen scheint mir jetzt allerdings zweifelhaft. Wenn ich bedenke: Elviras prächtige Figur und Ihr kümmerlicher Kadaver.“ Und dann begann Dr. Kraus genüßlich, Vergleiche anzustellen und Elviras Reize auszumalen. Markwart wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen. Er hätte dem Anwalt die grinsende Visage zerschlagen mögen. Er zerrte an seinen Fesseln, doch der Strick widerstand seinen Bemühungen. „Schwein!“ keuchte er, hochrot vor Zorn und Anstrengung. Dr. Kraus schob die Unterlippe vor, trat dichter an ihn heran und schlug zu. Nur einmal und scheinbar spielerisch. Markwarts Lippen rissen auf und begannen zu bluten. Der Rechtsanwalt wandte sich gleichmütig ab. Markwarts Stimme, schneidend und kalt, riß ihn herum. „Doktor Kraus! Sie sind nicht nur der erbärmlichste Verbrecher, Sie sind auch der feigste Hund, der mir je begegnet ist!“ Der Assistent hatte seinen Vorsatz, Zeit zu gewinnen, vergessen. Sein Körper bebte in ohnmächtigem Zorn. ,Sie ungestümer Hitzkopf! Sie bringen noch einmal sich selbst und andere in Druck‘, hatte Kommissar Krüger einmal zu ihm gesagt, als er sich bei der Vernehmung eines hartgesottenen Beschuldigten zu sehr ereifert hatte. ,Wie soll man sich da nicht aufregen, wenn der Kerl so frech lügt?‘ hatte Markwart damals entgegnet. ,Zu lügen ist sein Recht; seine Lügen zu widerlegen – Ihre Pflicht! Widerlegen Sie exakt, sachlich, logisch. Geifern kann jeder Dummkopf.‘ Geifern kann jeder Dummkopf! Markwart biß die Zähne so fest zusammen, daß sie knirschten, und drängte die Gefühle zurück, die in Worten von seinen Lippen stürzen wollten. 262
Müller war inzwischen hinter ihn getreten und hatte die Faust erhoben, bereit zuzuschlagen, doch Dr. Kraus hielt ihn zurück. „Laß gut sein, Werner! Es ist die Enttäuschung über sein eigenes Versagen, die ihn auffrißt. Ihm ist zum ersten Mal in seinem unbedeutenden Leben klargeworden, wie klein, wie winzig klein und nichtig er ist. Ein Würmchen, das sich krümmt. Eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt und mit den Beinen strampelt. Laß ihn sich ruhig ausstrampeln.“ Markwart war über den kritischen Punkt hinweg. Diese Redereien sind nicht nur so dahingesagt. Das ist dein Charakter! Du bist ein Sadist, ein widerlicher, selbstgefälliger Sadist! Das Quälen gehört zu deiner Natur, dachte er, den Anwalt musternd. Indem er sich zwang, den Gegner zu analysieren, hinter den Worten die Persönlichkeitseigenschaften aufzuspüren, wurde er ruhiger. Ja, er brachte es sogar fertig, seiner Stimme einen ironischen Ton zu geben. „Gut gesagt, Sie Nonplusultra des Homo sapiens. Ich bin also eine Schildkröte, und Sie sind ein Gott. Schön, aber auch Götter können stolpern. Sie sind, scheint’s dicht dran.“ „Oh, seien Sie unbesorgt! Den Vortritt in die Hölle überlasse ich Ihnen.“ Müller wurde ungeduldig. „Der Kerl will uns doch nur hinhalten. Erledigen wir ihn schon.“ „Immer mit der Ruhe, Werner! Herr Markwart ist ein gebildeter Mann, und für gebildete Männer habe ich eine Schwäche. Man soll mir nicht nachsagen, ich wäre ein Banause. Es widerstrebt mir, Herrn Markwart auszuschalten, bevor ich ihm Gelegenheit gegeben habe, sich noch einmal zu äußern. Also, Herr Markwart, immer zu, reden Sie! Es ist das letzte Mal, daß Sie es können.“ 263
Markwart hatte einen faden Geschmack auf der Zunge. Die Szene, in der ihm die Rolle des tragischen Helden zugedacht war, widerte ihn an. Er hätte gern darauf verzichtet. „Warum schweigen Sie?“ stichelte der Rechtsanwalt. Markwart setzte zur Erwiderung an, da flackerte das Licht. Erst jetzt kamen dem Assistenten die geschlossenen Jalousien, die trübe, funzelige Beleuchtung, die ganze Hintertreppenromantik, die über dem Auftritt lag, zum Bewußtsein. „Polente!“ schrie draußen irgendwer. Wie im Kino, dachte Markwart flüchtig, dann erfaßte sein Gehirn die Bedeutung dieses dahingebrüllten Wortes. Er seufzte erleichtert. Auf die beiden Verbrecher hatte der Warnruf unterschiedlich gewirkt. Müller blickte sich gehetzt um und griff in die Gesäßtasche. Dr. Kraus dagegen hielt sekundenlang wie erstarrt in seinen Bewegungen inne. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. Dann herrschte er Müller an: „Los, hau ab! Spring aus dem Fenster!“ „Oh, das wird Ihnen auch nichts mehr nützen. Legen Sie lieber die Waffen ab, und binden Sie mich los, das …“ Markwart konnte nicht weitersprechen. Müller hatte ihm bei den letzten Worten die flache Hand so kräftig gegen den Hals geschlagen, daß ihm die Tränen in die Augen traten und ein dicker Kloß seine Luftröhre verschloß. Auch Dr. Kraus hatte plötzlich eine Pistole in der Hand und trat, das Gesicht zu einer höhnischen Grimasse verzerrt, einen Schritt auf Markwart zu. „Sie freuen sich zu früh, Herr Kriminalassistent“, sagte er, während er die Waffe hob.
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Der Junge wird mir fehlen
Oberassistent Hanske hatte von Probsts Wohnung aus Markwarts Ankunft im Hufeisen beobachtet. Er hatte auch bemerkt, wie Müller den Assistenten durch die Tür stieß, und sofort Kommissar Krüger benachrichtigt. Krüger hatte Alarm ausgelöst und war mit dem bereitstehenden Einsatzkommando zum Hufeisen gebraust. Als der Schuß fiel, hatte er gerade den Eingang zum Hufeisen aufgebrochen. Der Kommissar stockte einen Augenblick, dann legte er los. Der muskelbepackte Boxer, der sich ihm entgegenstellte, bekam einen Stoß in die Magengrube, der ihn auf die Knie warf. Ehe er sich erheben konnte, hatten ihn zwei uniformierte Polizisten gepackt und mit Handschellen versehen. Seinem Freund Harry, der den vorderen Raum des Lokals zu bewachen und die strikte Anweisung hatte, die hinteren Räume nicht zu betreten, erging es nicht besser. Dann war der Weg endlich frei, und die Polizisten, allen voran Kommissar Krüger, stürmten den stockfinsteren Gang entlang. „Licht!“ brüllte Krüger. „Verdammt noch mal, mach doch einer Licht! Markwart! Markwart!“ Keine Antwort. Krüger hatte sich die Lage des Ganges nach der Skizze, die Markwart ihm gegeben hatte, eingeprägt. Während er einem Polizisten auftrug, die Hintertür zu öffnen, und zwei anderen befahl, jeden Raum zu durchsuchen und verschlossene Türen notfalls einzuschlagen, kümmerte er sich selbst um das Zimmer mit dem roten Lämpchen. 265
Die Tür war stabil, aus edlem Holz und fugenlos. Krüger trommelte mit den Fäusten dagegen, lauschte, trommelte wieder. Nichts rührte sich. Arno Winkler, der junge Wachtmeister vom Revier vierzehn, beobachtete ihn und lief in den Gastraum, wo er ein Handbeil hinter dem Tresen bemerkt hatte. Krüger nickte ihm dankbar zu. Was kümmerte ihn die Tür, da er sich Sorgen um seinen Assistenten machte. Holz splitterte, das Beil in seiner Faust wütete gegen den Rahmen und das Schloß. Die Schläge dröhnten in den engen Räumen. Endlich! Der Kommissar schlug das Beil in den Türrahmen, wo es federnd steckenblieb, und stürzte in das Zimmer. Markwart hing in seinen Fesseln, den Kopf zur Seite geneigt. Aus einem winzigkleinen Loch an seiner rechten Schädelseite tropfte Blut. Arno Winkler, der neugierig hinter dem Kommissar ins Zimmer getreten war, sah das Zucken der Schultern und den verzweifelten, hilflosen Ausdruck in Krügers Gesicht und nahm schweigend die Mütze ab. Der Kommissar gab ihm einen Wink. Sie lösten die Fesseln, trugen den Toten in den Klubraum und betteten ihn auf den Tresen, nachdem Krüger die Gläser mit einer Armbewegung hinabgefegt hatte. „Sie bleiben hier“, würgte Krüger heraus. Inzwischen hatte Ehrlich zusammen mit zwei Wachtmeistern das Gelände um das Hufeisen abgesucht. Ein Wachtmeister hatte Müller aus dem Fenster springen und davonlaufen sehen. Den Anruf hatte der Flüchtling ignoriert und war in eine Ruine hineingerannt. Ehrlich schickte die beiden Wachtmeister nach rechts. Er selbst wollte sich der Ruine zuwenden. 266
Da tauchte der Gesuchte in einer Mauernische auf. „Halt! Stehenbleiben! Kriminalpolizei!“ schrie der Oberassistent. Müller stutzte, sah zu ihm hin und hetzte dann weiter auf einen großen Schuttberg zu. Ehrlich verlor wertvolle Sekunden, als er stehenblieb und einen Warnschuß abgab. Ehe er ein zweites Mal schießen konnte, war Müller verschwunden. Ehrlich lief auf den Schuttberg zu. Plötzlich vernahm er einen gedämpften Knall, eine Staubfontäne stieg rechts von ihm auf. Der Lump hat einen Schalldämpfer, registrierte der Oberassistent, dann erreichte er die Deckung und strengte sein Gehör an. Da sah er Müller, der auf leisen Sohlen, vorsichtig um sich spähend, hinter einem eingestürzten Stützpfeiler hervorkam. Ehrlich nahm die Pistole in Anschlag. Sein Herz schlug schneller. Ausgerechnet in diesem Augenblick quälte ihn ein Hustenreiz. „Stehenbleiben! Waffe weg!“ keuchte er. Müller reagierte blitzschnell, schoß, noch ehe Ehrlich zu Ende gesprochen hatte, und sprang zurück. Weiter ging das Lauern. Müller versuchte es mit einem Trick. Ein Stein polterte, Ehrlich fuhr herum. Müller schoß und sprang dann auf einen zur Hälfte eingestürzten Torweg zu. Er hatte ihn fast erreicht, als ihn Ehrlichs Kugel zu Boden riß. Ehrlich hatte zum ersten Mal von seiner Dienstwaffe Gebrauch gemacht. „Ich fühle mich hundeelend. Wie er dalag, auf dem Gesicht, die Arme ausgebreitet, die Hände in den Boden gekrallt, das werde ich mein Leben lang nicht vergessen“, sagte er später zu Krüger. Der Kommissar blickte düster vor sich auf den Boden. „Markwart ist tot, und der Hauptlump ist uns entwischt.“ 267
Ehrlich sprach weiter, wie zu sich selbst: „Ich habe schon viele Tote gesehen, im Krieg und nachher; sogar das kleine Mädchen neulich, das so bestialisch gemartert worden war …“ Krüger legte ihm die Hand auf die Schulter. „Was jammern Sie herum, Ehrlich? Der Kerl, dieser Müller, hatte das Zeug zu einem großen Gangster, und er war auf dem besten Wege dazu. Jetzt ist es aus damit!“ Abends, als Krüger mit Lene am Fenster seines Dachstübchens saß, sagte er: „Ich bin froh, daß Ehrlich die Sache nicht auf die leichte Schulter nimmt.“ Lene kuschelte sich an ihn und schwieg. „Der Junge wird mir fehlen“, flüsterte Krüger und vergrub das Gesicht in den Händen.
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Aufrechnung
Die Luft in dem kleinen, von der Stehlampe nur spärlich erleuchteten Raum war stickig und schwül. Daran änderte auch das Parfüm nichts, das Rita Engel freigebig in alle Ecken versprengte. Der Fliedergeruch machte das Stübchen womöglich noch muffiger. „Hör doch auf damit. Das stinkt ja fürchterlich“, sagte Dr. Kraus gereizt. „Welcher Trottel hat dich denn mit diesem Kitschflakon beglückt?“ „Du selbst, Frieder!“ erwiderte Rita spitz. „Für mich hattest du ja nur billiges Zeug übrig.“ „Laß diese alberne Eifersucht. Dazu haben wir jetzt keine Zeit. Glaubst du wirklich, daß uns hier keiner findet?“ „Was das angeht, kannst du beruhigt sein. Wer sollte dich hier in dieser Laube suchen. Die Polizei wird annehmen, daß du dich nach drüben abgesetzt hast.“ „Aber dich werden sie suchen und dann hierherkommen. Vergiß deinen Ede nicht!“ Rita betrachtete ihn neugierig und sagte dann gedehnt: „Mein Ede hat keine Ahnung von diesem Grundstück. Er war nie hier, und ich habe auch nicht darüber gesprochen. Du bist reichlich nervös, mein Lieber. Hast du etwa Angst?“ Der Rechtsanwalt gab sich sorglos. „Es ist nur, weil sich die anderen nicht melden, weißt du? Pregel und Müller.“ „Wie sollen sie sich denn melden?“ „Ich habe eine Nachricht für Müller hinterlassen.“ Rita fuhr hoch. „Bist du wahnsinnig?“ schrie sie. „Was ist, wenn die Polizei sie findet?“ 269
Dr. Kraus lächelte überlegen. „Jetzt hast du Angst. Sei unbesorgt. Den Platz kennt außer mir und Müller kein Mensch. Nicht einmal Pregel. Ich habe Müller geschrieben, er soll Pregel abfangen und schnellstens mit ihm hier aufkreuzen. Wir müssen das Geld und die restliche Ware sichern, sonst sind wir pleite.“ „Warum brauchst du unbedingt diese beiden dazu? Kannst du das nicht allein machen?“ Rita setzte sich auf das altertümliche Sofa und schlug die Beine übereinander. Der Anwalt starrte auf ihr rundes Knie, ihre tadellosen Waden und schluckte. Rita hatte schöne Beine. ‚Mindestens ebenso schöne wie die Rökk’, hatte ein Verehrer einmal gesagt und keineswegs damit übertrieben. Diese Beine brachten den Chef jedesmal aus der Fassung. Seine Augen fraßen sich gierig in das weiße Fleisch, das von dem hochgerutschten Rock freigegeben wurde. Rita Engel bemerkte die Veränderung in seinem Gesicht mit Genugtuung. Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und fragte noch einmal: „Kannst du das nicht allein erledigen? Warum willst du mit den anderen teilen? Du bist doch der Kopf! Was gehen uns die anderen an?“ Der nüchterne Ton ihrer Stimme ernüchterte auch den Chef. Abrupt wandte er sich um und ging zur Tür. „Das verstehst du nicht“, sagte er und verließ den Raum. Draußen setzte er sich auf eine Bank und lauschte, von einem Fliederbusch verdeckt, nach dem Weg hin. Lange hielt er es jedoch dort nicht aus. Die Ungewißheit trieb ihn bald wieder hoch. Rita schmollte, als er sich ihr näherte. „Was soll der Quatsch, ich mag nicht!“ 270
Dr. Kraus zog seine Hände zurück und setzte sich neben sie. „Wie könnten wir erfahren, ob Pregel schon zurück ist?“ Rita schwieg. „Und wenn du in meinem Büro anrufst? Vielleicht hat er sich dort gemeldet.“ Sosehr sich Rita Engel sonst bemühte, die Kneipenwirtin zu verbergen, jetzt tippte sie sich ungeniert mit dem Finger an die Stirn: „Bei dir piept’s wohl? Ich werde für dich doch nicht die Kastanien aus dem Feuer holen. Für das bißchen Klimbim, das du mir gegeben hast, habe ich dich mehr als genug entschädigt. Entweder du läßt die anderen sausen, und wir holen den Kram und zwitschern ab, oder du kannst sehen, wo du bleibst. Ich habe es satt mit dir. Ich verschwinde.“ „Vergiß nicht, du hängst genauso drin wie alle anderen auch.“ Rita lachte höhnisch. „Denkste! Ich hatte nie viel mit deinen dreckigen Geschäften zu tun. Daß ich ein paarmal etwas für dich geholt habe, ist noch lange kein Grund, mich hier zu verkriechen. Anfangs wußte ich nicht einmal, was drin ist in diesen Paketen. Schließlich warst du mein juristischer Berater, und ich habe dir vertraut.“ „Ach, so willst du das hindrehen? Gar nicht so dumm. Doch hör einmal gut zu: Du hast von Anfang an gewußt, was gespielt wird!“ „Das stimmt nicht! Du lügst!“ „Es stimmt, wenn ich es sage, und ich werde es sagen, darauf kannst du dich verlassen. Du warst von Anfang an im Bilde. Mehr noch! Du selbst hast mich immer wieder angetrieben, mehr Geld heranzuschaffen, damit wir ins Ausland gehen und dort ein großes Leben führen können. Nur zu diesem Zweck hast du mit Immermann geschlafen, 271
ihn umschmust, bis er dir schließlich das Hufeisen überschrieb und wir einen festen Ausgangspunkt für die Organisation hatten. Du hast Ede in die Organisation eingespannt und geholfen, das Kundennetz zu erweitern, und du hast schließlich auch Markwart ans Messer geliefert; denn ohne deinen Hinweis wäre ich dem angeblichen Rohloff auf den Leim gekrochen.“ Rita hatte fassungslos zugehört. Mehrmals wollte sie den Rechtsanwalt unterbrechen. Er hatte es nicht zugelassen. Jetzt holte sie tief Luft und sagte auffallend beherrscht: „Du bist und bleibst ein ausgekochter Rechtsverdreher! Du weißt genau, daß kaum etwas wahr ist von dem, was du mir vorwirfst. Du hast mich systematisch in deine Geschäfte einbezogen und auch die Sache mit dem Hufeisen gedeichselt. Ja, es stimmt, daß ich dich auf Markwart aufmerksam gemacht habe, aber da wußte ich nicht, daß du ihn umlegen wirst. Ich wollte das auch gar nicht.“ „Was wahr ist, mein Schatz, darauf kommt es nicht an. Wichtig ist nur, was geglaubt wird. Und mir wird man glauben. Ich weiß schon, wie man das macht. Du siehst, es hat keinen Zweck, mir zu drohen. Du tust klüger daran, dich gut mit mir zu stellen.“ Eine peinliche Pause entstand, bis der Rechtsanwalt schließlich, so als hätte es nie eine Auseinandersetzung zwischen ihnen gegeben, bestimmte: „Kommt gar nicht in Frage, daß wir jetzt aufhören. Sobald ein bißchen Gras über die Sache gewachsen ist, geht es weiter. Wir verlegen unser Tätigkeitsfeld nach Hamburg.“
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Boß, ich hab’ was
Kommissar Krüger bemühte sich, die Ungeduld zu verbergen, die seit Markwarts Tod von ihm Besitz ergriffen hatte. Auf Weisung des Polizeipräsidenten wurde seine Untersuchungsgruppe um weitere drei Mitarbeiter verstärkt. Die ersten Fahndungsmaßnahmen, die sofort nach Besetzung der Bar eingeleitet wurden, waren fruchtlos geblieben. Jetzt hieß es, minutiös alle Hinweise zu verfolgen, die auf Pregels und Kraus’ Spur führen konnten. Schon deshalb war es wichtig, daß Krüger seine Nervosität nicht auf seine Mitarbeiter übertrug. Der Kommissar glaubte jetzt die Arbeitsweise und den Aufbau der Krausschen Bande genau zu kennen. Gewiß, einige Glieder in der Beweiskette fehlten noch, manches konnte er nur vermuten, zum Beispiel, wer Markwart erschoß. Aber das würde der Schußwaffensachverständige, dem Krüger Müllers Pistole übergeben hatte, schon herausfinden. Der Kommissar hatte vorerst darauf verzichtet, Rita Engel festzunehmen und den Ehestandsschoppen zu durchsuchen, obwohl für ihn feststand, daß die schöne Rita bis über beide Ohren in der Sache steckte. Zuerst hatte er Elvira verdächtigt. Es paßte alles so gut zusammen: ihre Tätigkeit bei Dr. Kraus, ihre Bekanntschaft mit Markwart, den sie als Rohloff kannte, ihr süchtiger Bruder, der Schütze und Ede beherbergt hatte, die Karte mit der Adresse von diesem Dr. Römer und Markwarts Ermordung. Als er dann jedoch mit ihr sprach, war ihm sofort klargeworden, daß sein Verdacht falsch war. Elvira 273
hätte Markwart nie verraten. Ihre Freude über seinen tatsächlichen Beruf und ihr Schmerz über seinen Tod wirkten echt, viel zu echt, um geheuchelt sein zu können. Sie hatte ihm bereitwillig alles über ihren Chef erzählt, was sie wußte, und auch von Rita Engel gesprochen. Auch über ihren Bruder sprach sie mit dem Kommissar und konnte die Tränen kaum zurückhalten, als sie Markwarts Rat erwähnte. Nein, Elvira Roßwig schied aus. Rita Engel, Dietrich Pregel, Dr. Römer, Schütze, Harry, Hase alias Boxer und vor allem Dr. Kraus waren die Leute, an die er sich halten mußte; dazu würden im Laufe der Vernehmungen sicher noch eine Reihe von Großabnehmern und Zwischenverteilern kommen. Doch das machte ihm im Moment keine Sorgen. Auch Pregel war ihm jetzt nicht so wichtig. Die anderen saßen sowieso in Haft. Er suchte Dr. Kraus, den gefährlichsten dieses Verbrecherrings, und wenn dieser Anwalt wirklich so enge Beziehungen zu Rita Engel hatte, wie Elvira Roßwig meinte, dann war es nicht ausgeschlossen, daß er zu ihr Verbindung aufnahm. Eine freie Rita Engel war deshalb wertvoller als eine inhaftierte. Eine einfache, glatte Rechnung, fand Krüger, und doch ging sie nicht auf. Rita Engel war entkommen, noch ehe ihre Beobachtung richtig begonnen hatte. Dr. Kraus mußte sie sofort nach seiner Flucht aus dem Hufeisen benachrichtigt haben. Wahrscheinlich waren sie sogar zusammen geflohen. Aber ein Mensch konnte nicht einfach spurlos verschwinden, selbst in den Wirrnissen dieser Zeit nicht. Krügers neuer Mitarbeiter stürmte ins Zimmer. Es war Arno Winkler, der junge Wachtmeister, der dem Kommissar im Hufeisen das Beil gebracht hatte. Krüger hatte aus einer Anwandlung heraus darum gebeten, ihn an 274
Markwarts Stelle probeweise in dessen Sachgebiet zu kommandieren. Der Polizeipräsident, der den Kommissar sehr schätzte, war damit einverstanden gewesen. „Boß, ich glaube, ich hab’ was!“ Vor Krügers Augen begann sich das Zimmer zu drehen. „Boß“ und die gleiche unbekümmerte Art; so hatte auch Markwart geredet, wenn er eine Entdeckung gemacht hatte. „Immer schön langsam, Winkler“, antwortete Krüger schließlich und deutete auf einen Stuhl. Der Kriminalassistent in spe war viel zu aufgeregt, um es auf dem Stuhl auszuhalten. Er bewältigte eben seinen ersten Ermittlungsauftrag, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus: „Ich habe die ganze Brunnenstraße und alle umliegenden Straßen und Bauplätze abgeklappert. Die Wirtin vom Ehestandsschoppen kannten zwar viele, aber keiner hatte eine Ahnung, wo sie jetzt steckt. Ich war schon ganz sauer, da geriet ich an den alten Schimmler. Wissen Sie, Herr Kommissar, das ist so ein billiger Maxe, der den Leuten Kinkerlitzchen aufschwatzt. Dieser Schimmler kennt alle möglichen Leute und verkehrte auch im Ehestandsschoppen. Er kannte noch den Vater der blonden Rita.“ Der Kommissar unterbrach ihn: „Kommen Sie doch endlich zur Sache! Wo steckt die Engel?“ „Sicher ist es nicht, aber möglicherweise in Hohenschönhausen. Die Engels haben dort einen Schrebergarten in einer Laubenkolonie. Schimmler sagt, daß der alte Engel früher den ganzen Sommer dort gewohnt hat, und im Krieg, während der Bombardierungen, soll sich auch seine Tochter dort aufgehalten haben.“ „Haben Sie die genaue Anschrift?“ „Ja. Und eine Grundstückskarte von der Laubenkolonie habe ich auch besorgt.“ 275
Der Kommissar war zufrieden. Die Spannung in ihm löste sich. Endlich hörte das Warten auf. In aller Eile, aber umsichtig, traf er die nötigen Vorbereitungen. Diesmal würde er kein Risiko eingehen. Er würde das ganze Gebiet abriegeln. Während er mit der Einteilung der zusätzlichen Kräfte beschäftigt war, schlug das Telefon auf seinem Schreibtisch an. „Herr Kommissar, ich wurde soeben von einer Frau angerufen, die nachfragte, ob Herr Pregel oder Herr Müller sich gemeldet hätten“, haspelte Elvira Roßwig herunter. Krüger hatte Mühe, ihren Worten zu folgen. „Hat die Frau ihren Namen gesagt?“ „Nein. Aber ich glaube, es war Fräulein Engel, die Wirtin vom Ehestandsschoppen. Sie will noch einmal anrufen.“ „Hat sie sonst nichts gesagt? Auch nicht nach Doktor Kraus gefragt?“ „Nein, Sie hat gleich wieder eingehängt.“ „Gut, Frau Roßwig. Vielen Dank. Bitte geben Sie uns Nachricht, sobald ein neuer Anruf kommt.“ „Wenn sich nun Pregel oder Müller melden, wie soll ich mich verhalten?“ „Müller wird sich ganz bestimmt nicht melden“, antwortete Krüger grimmig, „und Pregel? Den vertrösten Sie. Sagen Sie ihm, er soll es gegen Abend noch einmal versuchen, Sie erwarten einen Anruf von Doktor Kraus. Das Weitere besprechen wir dann, wenn es soweit ist. Nochmals herzlichen Dank für Ihre Hilfe.“ „Keine Ursache, Herr Kommissar …“ Elvira zögerte einen Augenblick und setzte dann mit fester Stimme hinzu: „Ich wünsche Ihnen Erfolg!“
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Ein jämmerliches Häufchen Unrat
Kommissar Krüger hatte es eilig. Er trieb den Fahrer an, knurrte, wenn sie an einer Kreuzung warten mußten, und vergewisserte sich immer wieder, daß die Pistole griffbereit in der Tasche lag. An der Abzweigung von der Hauptstraße ließ er die anderen Fahrzeuge vorfahren. Der Ring um das Gelände mußte geschlossen sein, bevor er mit seinen Männern in Aktion trat. Noch einmal ließ er sich von jedem den Auftrag wiederholen, schärfte seinen Mitarbeitern ein, nur im äußersten Notfall zu schießen und den Rechtsanwalt unbedingt lebend zu ergreifen. Dann war es soweit. Der Kraftfahrer hatte Übung in solchen Dingen. Vorsichtig, jedes unnötige Fahrgeräusch vermeidend, steuerte er den Wagen im Schatten der Sträucher und Häuser entlang. Zwei Grundstücke vor der Engeischen Parzelle stoppte er und ließ die Männer aussteigen. Alles klappte wie am Schnürchen. Im Nu war die Laube umstellt. Krüger und Ehrlich sprangen, jede Deckung ausnutzend, auf den Eingang zu, stießen die Tür auf und – starrten verdutzt auf das Bild, das sich ihnen bot. Dr. Kraus und die Engel lagen, eng aneinandergeschmiegt und friedlich schlummernd, im Bett. Ehrlich trat leise zum Stuhl, auf dem die Kleidung des Rechtsanwalts lag, und durchsuchte die Taschen des Anzugs. „Aufwachen! Kriminalpolizei!“ donnerte der Kommissar. 277
Rita fuhr erschrocken hoch, wurde sich ihrer Blöße bewußt und zog die Decke bis ans Kinn. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Dr. Kraus lag bewegungslos, blickte lauernd zu Krüger. Der unterstrich seine Aufforderung mit einer Bewegung der rechten Hand, in der die Dienstwaffe lag. „Ich habe nichts an“, wimmerte Rita. „Sie können einstweilen im Bett bleiben. Legen sie sich flach hin und nehmen Sie die Hände auf die Bettdecke! Und Sie kommen schleunigst mit erhobenen Händen ’raus!“ wandte er sich an Dr. Kraus. „Ich habe auch nichts an.“ „Trotzdem!“ Krügers Gesicht war hart, wie gemeißelt. Langsam, die Hände steif in die Höhe gestreckt, schälte sich der Rechtsanwalt aus den Decken. Ehrlich warf ihm ein Stück seiner Kleidung nach dem anderen zu. Es war ein seltsamer Anblick, komisch und erbärmlich zugleich: das zitternde, totenbleiche Vollmondgesicht des Rechtsanwalts, die rote Kerbe auf dem Nasenrücken, die die Brille zurückgelassen hatte, seine Gestalt in der Unterwäsche und sein gehetzter Blick. Krüger hätte am liebsten aufgelacht. „So sieht man sich wieder, Herr Rechtsanwalt“, sagte er. „Ich bin schon sehr auf Ihr letztes Plädoyer gespannt.“ „Freuen Sie sich nur nicht zu früh“, entgegnete Dr. Kraus giftig, während er schnell nach seinem Rock griff und ihn abklopfte. Krüger hatte ihn beobachtet. „Halten Sie uns wirklich für so dumm, daß wir Ihnen die Pistole lassen, Herr Doktor?“ fragte er, als er die enttäuschte Miene des anderen sah. „Streichen Sie endlich die Segel! Ihre Uhr ist abgelaufen! Noch einen meiner Leute erschießen Sie nicht!“ 278
„Ich war es nicht! Das war Müller!“ schrie der Rechtsanwalt heraus. Alle Beherrschtheit, die Überlegenheit und die kriecherische Freundlichkeit, die er sonst, je nachdem, was er erreichen wollte, an den Tag legte, waren wie weggeblasen. „Im Grunde genommen sind Sie ein Häufchen Unrat, Herr Doktor. Ein Schurke“, stieß Krüger zwischen den Zähnen hervor. „Keine Beleidigung, Herr Kommissar! Das kann Ihnen teuer zu stehen kommen! Ich werde mich beschweren.“ Dem Kommissar kroch ein alle Vernunft hinwegfegender Zorn die Kehle hoch. Er sprang vor, packte Dr. Kraus an der Brust und holte aus. Ehrlich fiel ihm in den Arm. „Herr Kommissar!“ Das erschrockene Gesicht des Oberassistenten brachte Krüger zur Besinnung. Er ließ den verstörten Ganoven los und trat zurück. „Sie haben recht, Ehrlich!“ „Das ist versuchte Körperverletzung im Amt und Nötigung. Ich werde Sie anzeigen“, zeterte Kraus, der sofort wieder Oberwasser bekam. Krüger winkte unwirsch ab. „Sollte sich herausstellen, daß Sie ein Ehrenmann sind, werde ich mich öffentlich und in aller Form bei Ihnen entschuldigen und um meine Entlassung bitten. Bis dahin aber … dalli! Beeilen Sie sich!“ Er wandte sich Rita zu, warf ihre Sachen auf das Bett und sagte barsch: „Das gilt auch für Sie.“
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Lene
Acht Monate später fand der Prozeß statt. Die Presse berichtete ausführlich darüber; auch Markwarts Name stand in der Zeitung. „Du wirst noch berühmt werden“, sagte Lene, während sie das Blatt sinken ließ und zusah, wie Schorsch Krüger mit einem Schraubenzieher in den Eingeweiden des alten Philips herumstocherte. „Die Presse freilich hat nichts von dir geschrieben, immer nur anonym von der Kriminalpolizei, aber ihr Lob gilt doch dir und deinen Kollegen.“ Schorsch Krüger schob das Radio beiseite und trat ans Fenster. „Lies vor“, sagte er, ohne sich umzudrehen. Lene schob die Brille zurecht und las: „Gestern ging der Prozeß gegen den Rauschgiftschieberring zu Ende. Mit der Urteilsverkündung wurde der Schlußstrich unter ein besonders trübes Kapitel der Nachkriegszeit gezogen. Bekanntlich hat das Rauschgiftdezernat des Berliner Polizeipräsidiums im Sommer des vergangenen Jahres eine Schieberbande ausgehoben, die monatelang über ein weitverzweigtes Netz von Zwischenhändlern in der sowjetischen und amerikanischen Besatzungszone sowie im Raum von Groß-Berlin Rauschgift vertrieb. Die raffiniert aufgezogene Organisation wurde von Doktor Kraus, einem bekannten Rechtsanwalt, aufgebaut und geleitet. Die Kriminalpolizei tappte lange Zeit im dunkeln, bevor es ihr über den in die Verbrecherorganisation eingeschleusten Kriminalassistenten Markwart gelang, die Zentrale, die ihren Sitz in der Bar Zum Hufeisen hatte, auszuheben. Kriminalassistent Markwart wurde …“ 280
„Bitte, nicht weiter“, sagte Schorsch Krüger in diesem Augenblick. Lene blickte unschlüssig auf die Zeitung, faltete sie dann zusammen und schob sie unter das Sofakissen. „Du mußt endlich aufhören, darüber nachzugrübeln.“ Schorsch Krüger fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht. „Das ist leicht gesagt, Lene. Wenn ich Markwart einen Tag früher zurückbeordert hätte, wäre er noch am Leben.“ „Wenn!“ wiederholte Lene. „Aber einen Tag früher konntest du es nicht, weil dann sein Einsatz sinnlos gewesen wäre. Du hast wirklich getan, was in deinen Kräften stand. Markwart selbst würde es dir bestätigen.“ Krüger nickte. „Sicher, du hast recht, und ich habe mir das selbst hundertmal und öfter versichert. Ich bin auch nicht sentimental; als ich Markwart die Aufgabe übertrug, wußte ich, wie gefährlich sie ist. Unser Beruf ist schwer, und Markwart ist nicht der einzige Kriminalist, der sein Leben im Kampf mit Verbrechern verloren hat. Aber er war mein Assistent, mein Untergebener, verstehst du?“ „Ich verstehe dich schon, Schorsch“, sagte Lene nachdenklich. „Etwas in dir verlangt, daß du dich immer wieder fragst, ob du wirklich alles getan hast, was zu tun war. Wäre das anders, dann wärst du nicht, der du bist: der beste Kriminalkommissar der Welt.“ Krüger lächelte müde. „Du meinst es gut, Lene, aber du übertreibst.“
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