R. L. Stine
Falsch verbunden Der Mörder ist am Telefon
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth
Loewe ...
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R. L. Stine
Falsch verbunden Der Mörder ist am Telefon
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth
Loewe
Stine, Robert L.: Fear Street / R. L. Stine. – Bindlach : Loewe Falsch verbunden : Der Mörder ist am Telefon / aus dem Amerikan. übers, von Johanna Ellsworth. – 1. Aufl. – 2001
ISBN 3-7855-4019-1
ISBN 3-7855-4019-1 – 1. Auflage 2001 Titel der Originalausgabe: : Wrong Number Copyright © 1990 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 2001 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Satz: DTP im Verlag Gesamtherstellung: GGP Media, Pößneck
Vorwort Pläne schmieden. Das konnte er am besten. Das war schon immer so gewesen. Er sah etwas, das er wollte, und überlegte sich, wie er es Schritt für Schritt erreichen konnte. Klar hatte er oft Fehler gemacht. Manchmal hatte er auch Pech gehabt. Hin und wieder hatten sich ihm andere in den Weg gestellt. Seinen perfekten Plan ruiniert. Diesmal würde ihm das nicht passieren. Das hier war der beste Plan, den er je gehabt hatte. Der konnte gar nicht schief gehen. Den durfte keiner durchkreuzen. Während er in der Dunkelheit saß und ihn in Gedanken immer wieder durchging, verzog sich sein Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen. Schade, dass er das tun musste. Er wollte doch niemandem weh tun. Aber hatte er eine andere Wahl? Schließlich musste er an sich denken. Wenn es sonst keiner tat! Das hatte er schon früh gelernt, angefangen bei seinen Eltern. Von nun an würde alles so laufen, wie er es wollte. Er hatte sich einen genialen Plan zurechtgelegt. Nach außen hin schien alles ganz normal. Aber jemand würde eine große Überraschung erleben. Eine tödliche Überraschung. Er musste bloß Geduld haben. Geduld haben und abwarten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Dann würde er handeln ...
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Kapitel 1 Die erste Septemberwoche Die grüne, zähe Masse breitete sich aus wie etwas, das aus der Tiefe eines fauligen Moors aufgestiegen war. Sie setzte sich zitternd im Waschbecken fest, als wollte sie sich von hier nicht mehr verdrängen lassen oder plante einen Angriff. Deena Martinson fasste mit einer Hand in das Keramikbecken und knetete die gelatineartige Masse langsam mit den Fingern durch. „Igitt!", sagte sie. „Bist du sicher, dass du dir das Zeug in die Haare schmieren willst?" „Mach schon", antwortete ihre Freundin Jade Smith. Jade saß graziös auf einem Holzhocker vor dem Badezimmerspiegel; ein Handtuch lag auf ihren Schultern, und ihr frisch gewaschenes, rotbraunes Haar hing ihr in feuchten Strähnen herunter. „Ich weiß zwar, dass deine Mutter Frisörin ist", meinte Deena, „aber das Zeug sieht aus wie das grüne Monster aus unserem letzten Kinofilm, das ganz Cincinnati aufgefressen hat. Und wie es sich erst anfühlt – widerlich!" „Stell dich nicht so an", sagte Jade. „Meine Mutter nimmt es immer für ihre eigenen Haare, und es hat eine Superwirkung. Ihr Haar glänzt und hat Fülle." „Bist du sicher, dass es nicht voller kleiner grüner Monster mit rötlich leuchtenden Augen ist?", witzelte Deena. Sie fing an, das Gel auf dem langen Haar der Freundin zu verteilen, das bald darauf schleimig-grün war und leicht nach Wackelpudding roch. „Und was machen wir jetzt?", fragte sie, als sie damit fertig war. „Jetzt lassen wir es trocknen", sagte Jade. „Willst du es nicht auch ausprobieren? Wir könnten dir eine Igelfrisur verpassen." Deena befühlte ihr eigenes Haar, das so fein wie das eines Babys war. Es war ziemlich kurz, ziemlich blond und ziemlich glatt. Sie konnte es nur als Stufenschnitt tragen. Ihre Mutter sagte immer, mit ihrer Frisur würde sie wie ein Engel aussehen. Sie war zwar nicht sicher, ob ihr die Vorstellung behagte, doch eine Igelfrisur klang auch 10
nicht besser. „Nee, danke", sagte sie. „Ich habe schon genug Probleme mit meinen Haaren, ohne die ,Geheimformel XYZ' - oder wie das Gel heißt – auszuprobieren." „Ich würde es wenigstens mal versuchen", meinte Jade, aber sie drängte die Freundin nicht weiter, es schien ihr ziemlich egal zu sein. Sie klang sogar etwas gelangweilt - genauso gelangweilt wie Deena. „Eine tolle Beschäftigung für Samstagabend", sagte Deena und seufzte. „Ja, ich geb's zwar nicht gern zu", erwiderte Jade, „aber ich bin froh, wenn am Montag die Schule wieder anfängt. Es wird schön sein, die anderen wiederzusehen und auf Partys und Sportveranstaltungen zu gehen." „Na ja", meinte Deena. „Das klingt ja nicht besonders begeistert." „Ach, ich weiß einfach nicht, was in nächster Zeit auf mich zukommt", sagte Deena. „Alles wird anders werden." „Was meinst du damit?" „Ich habe vorhin erfahren, dass mein Bruder Chuck zu uns ziehen wird." „Dein Bruder? Du hast doch gar keinen Bruder", sagte Jade. „Mein Halbbruder. Er ist aus Dads erster Ehe. Ich hab ihn bloß ein paar Mal gesehen. Er wechselt fürs letzte Schuljahr nach Shadyside über." „Wirklich?" Jade war hellhörig geworden - das wurde sie immer, wenn es um Jungs ging. „Reg dich ab, Jade. Chuck bringt einen bloß in Schwierigkeiten. Das ist auch der Grund, warum er herkommt. Eigentlich sollte er letztes Jahr den Highschool-Abschluss in Central City machen, aber er ist von der Schule geflogen. Seine Mom und mein Dad haben beschlossen, dass er in einer Kleinstadt wie Shadyside besser aufgehoben ist." „Rausgeflogen?", fragte Jade. „Was hat er denn nur angestellt?" „Ich bin nicht sicher", sagte Deena. „Es hatte was mit den Leuten zu tun, mit denen er sich herumgetrieben hat. Einmal ist er sogar verhaftet worden. Er hat von klein auf Schwierigkeiten gemacht." „Klingt interessant", meinte Jade und grinste frech.
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„Ach, du würdest sogar Freddy Krüger interessant finden", erwiderte Deena ironisch und ging in ihr Zimmer hinüber. „Aber die Jungs in der Schule sind so leicht zu durchschauen", sagte Jade und folgte ihr. „Das schreibt sich L-A-N-G-W-E-I-L-I-G, mit Großbuchstaben." Sie nahm das Handtuch von den Schultern, schüttelte ihr feuchtes Haar und drehte eine Pirouette; dabei bewunderte sie in dem großen Spiegel an Deenas Kleiderschrank ihre Figur. Sie trug einen rosaweiß karierten Jogginganzug mit kurzen Ärmeln. Deena hatte zwar irgendwo gehört, dass Rothaarigen Rosa nicht stehen sollte, aber Jade sah in jeder Farbe des Regenbogens toll aus - und das wusste sie auch. Sie war überhaupt ganz schön eingebildet. Doch Deena musste zugeben, dass Jade auch genügend Grund hatte, sich was einzubilden. „Was machen deine Haare?", erkundigte Deena sich, um das Thema zu wechseln. „Das Zeug muss noch einwirken", antwortete Jade. Sie unterdrückte ein Gähnen, setzte sich auf Deenas Bett und betrachtete eingehend ihre perfekt gestylten Fingernägel. Sie sah sich im Zimmer um; ihr Blick blieb an einem himmelblauen Plastikobjekt auf dem Nachtkästchen hängen. „Was ist das?" „Mein neues Telefon", sagte Deena. „Als mein Dad zum Vizepräsidenten der Telefongesellschaft befördert wurde, haben wir die neuesten Apparate bekommen." „Cool", sagte Jade und nahm es in die Hand. „Es sieht ein bisschen aus wie das Cockpit eines Flugzeugs oder so was Ähnliches. Wofür sind die vielen Tasten?" „Damit kann man Telefonnummern speichern", antwortete Deena. „Man drückt auf eine Taste, und das Telefon wählt die Nummer automatisch. Mit diesem Knopf kann man das Mikrofon stumm schalten. Und damit", sie zeigte auf einen Schalter am Mobilteil, „stellt man den Lautsprecher an, sodass alle im Zimmer das Gespräch mithören können." „Tatsache?", fragte Jade. „Das klingt nach potenziellem Spaß. Ich hab 'ne Idee. Wessen Nummern hast du denn eingespeichert?" „Noch nicht viele. Bloß die meiner Oma, die unserer Nachbarin Mrs
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Weller und deine natürlich." „Meine? Ehrlich? Wie wähle ich sie?" „Du brauchst bloß die Drei zu drücken." „Okay. Meine kleine Schwester Cathy passt heute Abend auf unsere kleinen Geschwister auf." Sie drückte die Drei und schaltete grinsend den Lautsprecher ein. „Hallo", sagte sie und hielt sich dabei die Nase zu, sodass sie erkältet klang. „Könnte ich bitte Miss Cathy Smith sprechen?" „Am Apparat", sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Durch den Lautsprecher klang sie dumpf und weit weg, als käme sie aus der Tiefe eines Brunnens. „Hier spricht das Einkaufszentrum in der Division Street", sagte Jade. „Miss Smith, ich muss Sie leider informieren, dass Sie zur ungepflegtesten Kundin des Monats gewählt worden sind." „Was?", kreischte Cathy aufgebracht. „Ich war heute gar nicht dort!" „Sie sind aber eindeutig identifiziert worden", widersprach Jade. „Sie haben genau eine Stunde, um Ihren Preis abzuholen: ein Dutzend verblühte Margeriten." „Ein Dutzend was?", ertönte Cathys unglückliche Stimme. Doch dann wurde sie misstrauisch. „Moment mal. Ich weiß, wer das ist. Das ist... Jade, das finde ich überhaupt nicht witzig –" „Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen", sagte Jade sachlich und drückte sich die Nase noch fester zu. „Hier ist die –" „Mich kannst du nicht verarschen", fuhr Cathy fort. „Such dir das nächste Mal jemanden aus, der so blöd ist wie du!" Sie knallte geräuschvoll den Hörer auf die Gabel. „Mist!", sagte Jade. „Ich sollte es lieber bei irgendjemandem probieren, der meine Stimme nicht so gut kennt. Der nie erwarten würde, dass ich – ich hab's! Deena, such doch mal Henry Ravens Nummer raus!" „Henry Raven?", fragte Deena. „Der ist doch ein Blödmann! Der hat nichts als seinen Computer im Kopf. Warum willst du mit dem telefonieren?" „Pass auf, sagte Jade. „Oder vielmehr: Hör zu – das wird gut!" Sie nahm das Telefonbuch und gab eine siebenstellige Nummer ein. Erst ertönte das Klingeln eines Telefons, dann ein Klicken und schließlich
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die unverwechselbar langweilige Stimme von Henry Raven. „Hallo?" „Hallo, Henry, bist du das?" Jade sprach so leise, dass es fast ein Flüstern war, und Deena fand, dass ihre Stimme geheimnisvoll und verführerisch klang. „Ja, hier ist Henry. Wer ist da?" „Du kennst mich nicht, Henry", hauchte Jade, „aber ich beobachte dich schon seit langem." „Wer ist da?" „Mich macht deine Art an, Henry -" „Soll das ein dummer Scherz sein?" „Ich scherze nicht, Henry", sagte Jade. „Ich meine es ernst. Du bist genau der Typ Mann, nach dem sich ein Mädchen wie ich sehnt..." Am anderen Ende der Leitung entstand ein Schweigen. Plötzlich stotterte Henry: „Such dir 'nen anderen Typ! Ich habe keine Zeit für so was!" Dann knallte er den Hörer auf die Gabel. Die beiden Mädchen ließen sich laut lachend aufs Bett sinken. „Hast du das gehört? Er hat keine Zeit für so was!" Deena konnte nicht aufhören zu kichern. „Das ist sogar besser gelaufen, als ich gedacht habe", meinte Jade, als sie sich endlich beruhigt hatte. „Jetzt bist du dran." „Ich?", fragte Deena erschrocken. „Klar. Du hast mich richtig verstanden. Wir suchen uns –" „Jade, nein!", sagte Deena. „Ich kann mich noch nicht mal mit Leuten unterhalten, wenn ich ihnen gegenüberstehe!" „Das ist es ja gerade", erwiderte Jade. „Es ist viel leichter, wenn sie nicht wissen, wer du bist. Warte mal", sie blätterte in Deenas Adressenbuch. „Wie wäre es mit Rob Morell?" „Rob Morell?", wiederholte Deena keuchend. „Für den schwärmen doch alle!" „Na und? Er gefällt dir, nicht wahr?" „Klar gefällt er mir", sagte Deena, „aber als er letztes Jahr in meinem Geometriekurs war, wusste ich nie, was ich zu ihm sagen sollte." „Also, hier ist deine große Chance", meinte Jade.
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„Aber was ist, wenn er herausfindet, dass ich es bin?" Jade ignorierte Deenas Protestschreie, gab die Nummer ein und hielt ihrer Freundin den Hörer hin. „Aber was soll ich sagen?", kreischte Deena entsetzt. „Was dir ganz spontan einfällt." „Hallo?", krächzte Deena mit dünner Stimme. Dann holte sie tief Luft und fuhr mit tiefer Stimme fort: „Könnte ich bitte Rob Morell sprechen?" Einen Augenblick später ertönte eine verschlafene Jungenstimme über den Lautsprecher: „Hallo?" „Hallo, Rob?", flüsterte Deena so verführerisch wie möglich. „Was macht ein so gut aussehender Typ wie du am Samstagabend zu Hause?" „Ich habe ein paar Videos ausgeliehen", sagte Rob. „Wer spricht da überhaupt?" „Deine heimliche Verehrerin", antwortete Deena. Die Worte flogen ihr einfach zu. „Meine was? Wie heißt du?" „Das kann ich dir nicht sagen, weil es sonst kein Geheimnis mehr wäre." Deena staunte über sich selbst. Bis jetzt waren die Worte ihr so leicht gefallen, als würde sie sie aus einem Drehbuch ablesen. „Wenn du mir deinen Namen nicht nennen willst, kannst du mir vielleicht sagen, wie du aussiehst", meinte Rob. Er klang plötzlich nicht mehr schläfrig. Er klang interessiert! Deena schloss die Augen und lehnte sich auf dem Bett zurück. „Wie ich aussehe?", wiederholte sie. „Nun, ich bin ungefähr einssechzig groß, wiege fünfzig Kilo und habe blondes, hüftlanges Haar. Meine Augen sind grün, und ich habe einen Schmollmund. Die meisten sagen, ich sehe aus wie Kim Basinger." „Hey, vielleicht könnten wir uns ja mal treffen", sagte Rob. „Das würde ich gerne", erwiderte Deena. „Du bist genau mein Typ." „Wie war's mit heute Abend?", schlug Rob vor. „Oder morgen? Kann ich deine Telefonnummer haben?" „Ich muss jetzt Schluss machen", sagte Deena. „Aber ich melde mich bald wieder." Sie beugte sich vor, legte auf und sah Jade einen Moment lang an. Dann ließen sie sich nach hinten aufs Bett fallen und kreischten vor 15
Lachen. „Er hat es geschluckt!", rief Deena. „Ich glaube es einfach nicht! Er hat angebissen!" „Du warst spitze!", sagte Jade. „Du bist ein echtes Naturtalent. Jetzt bleibt er sicher den nächsten Monat zu Hause und lauert neben dem Telefon!" „Du hattest Recht", gab Deena zu. „Es war wirklich einfach. Viel leichter, als persönlich mit jemandem zu reden." „Habe ich doch gleich gesagt. Wen sollen wir als Nächstes anrufen? Wie war's mit –" „Heute nicht mehr", meinte Deena und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Es wird langsam spät, meine Eltern können jeden Augenblick zurückkommen." „Was ist mit morgen?", schlug Jade vor. Deena schüttelte den Kopf. „Morgen Abend fahre ich mit meinem Dad zum Flughafen, um meinen Bruder Chuck abzuholen." „Grüß ihn schön von mir", sagte Jade. „Er kennt dich doch gar nicht." Jade strahlte ihre Freundin an. „Noch nicht", meinte sie. „Aber meine innere Stimme sagt mit... dass sich das bald ändern wird."
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Kapitel 2 Auf dem Weg zum Flughafen war Deena ziemlich nervös. Langsam gefiel ihr die Vorstellung, einen Bruder zu Hause zu haben. Ihr wurde klar, dass ihr das möglicherweise große Vorteile einbringen würde – zum Beispiel konnte er sie seinen Freunden vorstellen. Dann fiel ihr wieder ein, was sie alles über Chucks Probleme gehört hatte. Plötzlich spürte sie ein dumpfes Gefühl in der Magengrube – vielleicht würde das Ganze doch nicht so positiv sein. Auch ihr Vater wirkte angespannt, sogar noch mehr als sie. Ihr erster Eindruck von Chuck war viel versprechend. Sie hatte ihn das letzte Mal gesehen, als er ungefähr zehn war, und in der Zwischenzeit hatte er sich natürlich sehr verändert. Er war groß, und sein T-Shirt und die engen Jeans brachten die kräftigen Muskeln eines Sportlers zur Geltung. Er hatte dichtes, blondes Haar und strahlend blaue Augen. Deena wusste sofort, dass Jade ihn als Supertypen bezeichnen würde. Doch als sie näher kamen, hatte sie das Gefühl, dass mit dem Bild des gut aussehenden, netten Jungen von nebenan etwas nicht stimmte. Zum einen war da sein Gesichtsausdruck. Deena konnte nicht genau sagen, was sie darin las. Es schien eine Mischung aus Verbitterung und Verachtung zu sein. Als Deenas Vater ihm die Hand hinstreckte, tat Chuck so, als würde er es nicht merken. Mr Martinson wirkte etwas verunsichert und lächelte nervös. „Chuck, du kennst doch deine kleine Schwester Deena noch." Chuck warf ihr einen Blick zu, als sei sie eine Kröte oder eine sonstige Form primitiven Lebens. „Hallo, Kid", sagte er. Kid? Dieses Jahr würde ätzend werden, wie Deena schlagartig klar wurde. Doch im nächsten Augenblick lächelte Chuck sie an; er hatte ein komisches, schiefes Lächeln, das einen ganz anderen Menschen aus ihm machte. Zögernd erwiderte sie sein Lächeln und fragte sich, was wohl als Nächstes kommen würde. Auf dem Rückweg nach Hause wurde es noch verwirrender. Deena saß auf dem Rücksitz und hörte der Unterhaltung zwischen ihrem Vater und Chuck zu - wenn man das als Unterhaltung bezeichnen 17
konnte. Denn eigentlich war es nur ihr Vater, der redete. Chuck grunzte lediglich hin und wieder. Einmal sagte er: „Mann, ist das ätzend. Ich sehe nicht ein, warum ich nicht zurück auf die Highschool in Central City kann." „Weil sie dich nicht wieder aufnehmen", erwiderte Mr Martinson. „Wie du selbst weißt, haben deine Mutter und ich mehrmals versucht, mit ihnen zu reden." Zum ersten Mal klang Deenas Vater irritiert, wenn nicht sogar verärgert. Deena hoffte, mehr darüber zu erfahren, warum Chuck von der Schule geflogen war. „Eines sollte dir klar sein –", fing ihr Vater an. Doch er wurde von einem ohrenbetäubenden Quietschen unterbrochen. Als ein lauter Knall folgte, stieß Deena einen Schrei aus. Glas splitterte. Noch ein Knall. Eine Hupe ertönte, dann noch eine zweite. Jemand schrie laut auf. Noch mehr quietschende Reifen. Mit vor Schreck aufgerissenen Augen und offenem Mund trat Mr Martinson auf die Bremse. Sein elfenbeinfarbener BMW schlitterte auf einen Haufen quer stehender Autos zu und blieb erst wenige Zentimeter hinter dem Vordermann stehen. Deena hörte, wie die Autos hinter ihnen ins Schleudern kamen. „Raus aus dem Auto!", schrie Mr Martinson. Hastig kletterten sie aus dem Wagen und brachten sich auf dem mit Gras bewachsenen Seitenstreifen in Sicherheit. Über ihnen glitzerten Millionen von Sternen am klaren Nachthimmel. Chuck ging zu der Menschenmenge hinüber, die um die demolierten Autos herumstand. Neugierig folgte Deena ihm. „Hey – kommt zurück!", brüllte ihr Vater. Chuck beachtete ihn nicht und ging weiter. Deena zögerte, drehte sich kurz zu ihrem Vater um und lief dann hinter Chuck her. An der Spitze der zusammengeprallten Autos stand ein roter Plymouth gegen die Mittelleitplanke gequetscht. Er war wie eine Ziehharmonika zusammengepresst, und aus der Motorhaube stieg Rauch auf. Während Deena und Chuck darauf starrten, schössen Flammen unter dem Auto hervor und züngelten schnell zu den Türen hoch. „Vorsicht!", schrie jemand. „Es brennt!" 18
Die Menschenmenge wich zurück. Deena schaute voller Entsetzen zu, wie sich das Feuer allmählich ausbreitete. Sie machte noch ein paar Schritte rückwärts, um von dem brennenden Auto wegzukommen. Plötzlich fiel ihr auf, dass Chuck nicht mehr neben ihr war. Er stand ganz vorne in der Menge und starrte wie hypnotisiert in die Flammen. Ein herzzerreißender Schrei ertönte: „Tuffy ist noch da drin!" Deena drehte sich um und sah einen Jungen, der aus einer Platzwunde an der Stirn blutete. „Tuffy!" „In dem Wagen ist ein Hund!", rief jemand. Und jetzt konnte Deena im Rückfenster das Gesicht eines kleinen, schwarzweißen Hundes erkennen. Er sprang auf und ab und bellte hysterisch. Die Flammen krochen höher und höher. Unvermittelt löste sich jemand aus der Menschenmenge und rannte auf das brennende Auto zu. „Nein!", brüllte ein Mann. „Es geht gleich in die Luft!" Die Gestalt lief jedoch unbeirrt weiter. Deena erkannte zu ihrem Entsetzen, dass es Chuck war. „Chuck! Chuck! Komm zurück!", schrie sie gellend. Doch es war schon zu spät. Das Auto explodierte und verwandelte sich in einen riesigen roten und orangefarbenen Feuerball.
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Kapitel 3 Auch wenn es nach Mitternacht war, als sie endlich nach Hause kamen, und auch wenn am nächsten Morgen die Schule anfing Deena konnte einfach nicht schlafen. Sie lag in ihrem Bett und dachte über all das nach, was an dem Abend passiert war. Während die Menschenmenge in entsetztem Schweigen auf den Feuerball starrte, war Chuck mitten aus dem Rauch und dem Flammenmeer aufgetaucht. In diesem Augenblick hatte Mr Martinson sie eingeholt. „Was ist los?", fragte er. Keiner antwortete. Alle starrten auf Chuck. Sein Gesicht und seine Hände waren mit Ruß verschmiert, und sein Hemd hing ihm in Fetzen herunter. Er trottete zurück an den Straßenrand und trug den schwarzweißen Hund auf dem Arm. „Tuffy! Tuffy!", schrie der kleine Junge. „Chuck! Um Himmels Willen", stieß Mr Martinson erschrocken aus. Einen Augenblick lang ignorierte Chuck alle Umstehenden. Er streichelte das kleine Tier und redete beruhigend auf es ein. Nach ein paar Minuten blickte er auf und übergab den Hund seinem Besitzer. „Hier, Kid", sagte er. Die Mutter des Jungen, die auf der Wange einen großen blauen Fleck hatte, umarmte Chuck spontan. „Oh, vielen Dank", sagte sie. „Du weißt ja gar nicht, wie sehr Timmy an dem Hund hängt. Du bist ein richtiger Held!" „Ist schon in Ordnung", sagte Chuck, er wirkte verlegen. „Ich hab früher auch einen Hund gehabt." Deena betrachtete ihren Halbbruder mit neuem Respekt. Er stand mit seinem komischen Grinsen da und hatte noch nicht mal einen Kratzer abbekommen, obwohl er in ein brennendes Auto gesprungen war. Und jetzt, da sie in ihrem Bett lag, erinnerte Deena sich wieder genau daran, wie alle Umstehenden Chuck bewundernd angeblickt hatten. „Er muss echt mutig sein", dachte sie. „Oder verrückt."
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Am nächsten Morgen beschloss Deena, Chuck zu zeigen, wie stolz sie auf ihn war, und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er zu Hause war. Ihr Vater war schon zur Arbeit gegangen, und ihre Mutter war wie immer spät dran. Deena hatte keine Zeit für ein ausgiebiges Frühstück, daher füllte sie bloß zwei Schüsseln mit Cornflakes und frischen Heidelbeeren. Sie hatte ihre schon fast geleert, als Chuck in die Küche kam; er gähnte verschlafen. „Hi Chuck", sagte sie fröhlich. „Ich hab dir Cornflakes gemacht. Wenn wir uns beeilen, haben wir vor dem Unterricht noch ein bisschen Zeit. Ich könnte dich dann den anderen vorstellen." Einen Augenblick lang starrte Chuck sie wortlos an. „Vergiss es, Kid", sagte er dann. „Ich brauche keine Hilfe, ich komme allein zurecht." „Aber ich wollte doch bloß ..." Deena hielt inne. Ihre Wangen glühten, als hätte er sie geohrfeigt. Er goss etwas Milch in seine Schüssel, ohne sich darum zu kümmern, ob sie überschwappte oder nicht. Ein paar Minuten später betrat Deenas Mutter die Küche. Sie machte sich gerade einen Ohrring ans Ohr. „Beeilt euch", sagte sie. „Ich fahre euch noch schnell bei der Schule vorbei." Schweigend stand Chuck auf und leerte seine Schüssel in den Ausguss. Deena starrte ihn an. Was war bloß los mit ihm? War er wirklich verrückt? Als Deena mittags in die Cafeteria ging, hatte sie Chucks Auftritt vom Morgen schon fast vergessen. Es war schön, wieder hier zu sein. Kurz nachdem sie ihr Tablett gefüllt und einen freien Platz gefunden hatte, schlenderte Rob Morell mit ein paar Jungen des Leichtathletikteams herein. Er bemühte sich, so cool wie immer zu wirken. Früher hatte Deena ihn für genauso cool gehalten, wie er sich gab. Schließlich sah er gut aus, war intelligent und ein Leistungssportler – genau der Typ Junge, bei dem sie kein Wort herausbrachte. Aber heute sah sie ihn mit anderen Augen. Sie lächelte, als ihr der Anruf am Samstagabend wieder einfiel, und wie zahm Rob da geklungen hatte.
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Das gab ihr ein Gefühl von Macht, das Gefühl, dass sie alles erreichen konnte, was sie wollte. „Du hältst dich wohl für den besten Typ der ganzen Schule", dachte sie. „Aber du hast keine Ahnung, dass ich das Mädchen deiner Träume bin. Ja, ich, die schüchterne, stille, kleine Deena!" „Hallo! Irgendeiner zu Hause?" Jäh aus ihren Tagträumen gerissen, in denen Rob ihr aus der Hand fraß, blickte Deena sich um. Jade stand mit einem Tablett hinter ihr. Sie hatte ihr langes, rotes Haar mit einem weißen Band zusammengebunden. Sie sah umwerfend aus. Alle Jungen im Speisesaal starrten sie an. „Wie sieht's aus? Darf ich mich zu dir setzen? Oder schwebst du den Rest des Nachmittags auf Wolke sieben?" „Hi, Jade." Jade stellte das Tablett ab und nahm neben ihrer Freundin Platz. „Ich dachte, du würdest zusammen mit deinem neuen Bruder essen", sagte sie. Deena zuckte mit den Schultern. „Er hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er kein Interesse daran hat, sich mit seiner kleinen Schwester abzugeben", antwortete sie. Sie bemühte sich, so zu klingen, als sei ihr das vollkommen egal. „Echt?", fragte Jade enttäuscht. Dann hellte sich ihre Miene wieder auf, und sie blickte sich im Speisesaal um. „Wie schaut er überhaupt aus? Wo ist er denn?" „Er ist..." Deena drehte sich suchend um, doch von Chuck war weit und breit nichts zu sehen. „Ich weiß nicht, wo er ist", sagte sie stirnrunzelnd. Plötzlich war sie nervös. „Warum ist Chuck nicht beim Mittagessen?", fragte sie sich. Sie hatten doch zur selben Zeit Mittagspause. „Dann lerne ich ihn eben ein anderes Mal kennen", meinte Jade und beugte sich vor. „Rate mal, wer das Paar des Monats ist?" „Wer?" „Bruce Kipness und Sherry Murdoch!" „Ehrlich?", fragte Deena. Bruce und Sherry waren die beiden dicksten Schüler hier.
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„Die beiden sind heute Morgen Händchen haltend ins Klassenzimmer spaziert." „Na, das ist doch nett." „Wahrscheinlich sind sie zusammengekommen, weil kein anderer mit einem von ihnen ausgehen wollte", meinte Jade. „Ach ja, ich muss dir noch erzählen, wie Mrs Overton heute aussah! Sie hat die Haare schneiden lassen - so kurz wie ein Mann." „Was?", fragte Deena zerstreut. „Ich habe gesagt, dass Mrs Overton – was ist denn los mit dir?" Jade klang ungeduldig. „Ich weiß nicht. Ich glaube, ich mach mir wegen Chuck etwas Sorgen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er ..." Bevor sie ihren Gedanken zu Ende spinnen konnte, wurden ihre Worte von einem plötzlichen Krachen abgeschnitten. Die Türen der Cafeteria flogen auf. Deena drehte sich um, doch sie konnte nur zwei Gestalten sehen, die auf einen Stapel Tabletts neben dem Eingang gestürzt waren. „Eine Schlägerei!", rief jemand, und dann war der Saal erfüllt mit dem Lärm von Stühlen, die zurückgerückt wurden, und dem Klappern von Geschirr und Besteck, das auf den Tisch fiel. Alle sprangen auf, und rasch hatte sich eine Zuschauermenge am Eingang versammelt. Deena stellte sich auf Zehenspitzen, um zu sehen, wer sich da vorne raufte. „Das ist Bobby McCorey", rief Jade und übertönte die aufgeregten Schreie der anderen Schüler. „Er schlägt sich mit einem Neuen!" Deena hatte ein ungutes Gefühl. Sie stieg auf ihren Stuhl und spähte über die Köpfe der anderen. „Oh nein", stöhnte sie. „Das ist Chuck." „Vorsicht!", schrie ein Mädchen, das neben ihr stand. „Der Neue hat ein Messer!"
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Kapitel 4 Okay, okay. Es war doch nicht so einfach, alles im Griff zu haben. Na und? Se n Plan war brillant, und er lag gut in der Zeit. Keiner ahnte irgendwas. Nur noch eine Woche, dann konnte er den letzten Schritt seines Plans ausführen. Noch eine Woche, und all seine Sorgen würden vergessen sein. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Nichts und niemand. Wer das versuchen würde, hätte nichts zu lachen.
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Kapitel 5 Die zweite Septemberwoche Dieses Schuljahr würde eine Riesenenttäuschung werden, davon war Deena überzeugt. Es war Samstagnachmittag, so ein typischer Spätsommertag, an dem man spürte, dass der Herbst nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Sie stand in der runden Auffahrt vor ihrem Haus, trug einen alten Badeanzug und wusch den silberfarbenen Civic ihrer Mutter. Doch in Gedanken war sie nicht bei dem Auto, sondern bei all den furchtbaren Ereignissen der letzten Woche. Erstens ihre Schulfächer – alle waren schwerer, als sie erwartet hatte. Was hatte sie bloß geritten, als sie sich für Trigonometrie entschieden hatte? Den Kurs würde sie nie im Leben schaffen. Und zweitens ihr Privatleben. Das würde sich als Wiederholung des letzten Jahres entpuppen, als sie nur deshalb auf Partys eingeladen worden war, weil sie Jades Freundin war. Sie fühlte sich dieses Jahr sogar noch schüchterner als je zuvor – wenn das überhaupt möglich war. Und schließlich das größte Problem von allen: Chuck. Wie konnte er nur so dumm sein und sich am allerersten Schultag in eine Prügelei verwickeln lassen. Und was noch schlimmer war: Er hatte ein Messer bei sich gehabt. Drei Lehrer hatten die beiden jungen Männer schließlich mit vereinten Kräften auseinander bringen können. Wie leicht Chuck in die Luft ging! Er war nur deshalb nicht von der Schule verwiesen worden, weil Deenas Vater zum Direktor gegangen und so gut wie garantiert hatte, dass sein Sohn keine Schwierigkeiten mehr machen würde. Deena hatte mitgekriegt, wie ihr Vater am selben Abend Chuck angebrüllt hatte. „Und noch was!", hatte Mr Martinson in einem Ton geschrien, den Deena bisher nur ein- oder zweimal bei ihm gehört hatte. „Wenn du dir noch einen einzigen Fehler erlaubst – und wenn sie dich nur ohne Erlaubnis deines Lehrers während des Unterrichts auf dem Gang erwischen -, schmeißen sie dich hochkant raus! Hast du 25
verstanden?" Deena konnte Chucks Antwort zwar nicht hören, doch sie konnte sich lebhaft seinen Gesichtsausdruck vorstellen – dieses verächtliche Grinsen. Mit so einem Gesicht war er die ganze vergangene Woche herumgelaufen. Er hatte unbegrenzten Hausarrest, aber statt zu versuchen, das Beste daraus zu machen und ein bisschen Zeit mit dem Rest der Familie zu verbringen, verschwand er jeden Tag nach der Schule in seinem Zimmer im Keller und blieb den ganzen Abend dort. Nur zum Abendessen tauchte er schweigend auf. Es schien fast, als sei er gar nicht vorhanden. Das Ganze hätte Deena nichts ausgemacht, wenn sich nicht die gesamte Atmosphäre im Haus durch Chuck verändert hätte. Alle waren nervös. Deenas Vater, der gewöhnlich die Ruhe selbst war, wirkte gereizt und blaffte Deena und ihre Mutter bei jeder geringsten Kleinigkeit an. Und Deenas Mutter, die wegen ihres Jobs als leitende Verwalterin des Sozialamts von Shadyside sowieso schon ständig angespannt war, war noch fahriger geworden. Deena seufzte. „Wer hat eigentlich behauptet, die Jugend sei die schönste Zeit des Lebens?", fragte sie sich. Sie sah zu, wie das Seifenwasser an den Seiten des Civic herunterrann, drehte dann den Wasserhahn auf und fing an, das Auto mit dem Schlauch abzuspritzen. „Hi, Deena!" Sie hob den Kopf und erblickte Jade, die die Auffahrt heraufkam. „Hallo, Jade", sagte Deena. „Was gibt's?" Jade zuckte mit den Schultern. Sie trug ein enges, ärmelloses, weißes Stricktop und grüne Shorts; ihr Haar glänzte in der Nachmittagssonne wie flüssiges Kupfer. Sie sah einfach umwerfend aus. „Ich sollte eigentlich heute Abend mit Mike Kamiskey ausgehen", antwortete sie, „aber er hat gerade angerufen und abgesagt. Er hat eine Erkältung – daher dachte ich, ich komme vorbei und schau mal, was du so treibst." „Du meinst, du hast gewusst, dass ich sowieso kein Date habe", sagte Deena.
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„Key, sei nicht gleich eingeschnappt", sagte Jade. „Ich wollte einfach mal vorbeischauen, das ist alles." Deena drehte den Wasserhahn ab und betrachtete kritisch den Wagen. „Ist schon okay", meinte sie. „Mom und Dad sind zu einem Konzert in die Stadt gegangen. Sie haben mir Geld dagelassen, damit ich Pizza bestellen und ein paar Videos ausleihen kann. Wenn du willst, bist du eingeladen." „Klingt gut", erwiderte Jade. Dann lächelte sie verschmitzt. „Und was macht Chuck?" „Den kannst du vergessen", antwortete Deena. „Der schottet sich völlig ab. Er kommt bloß aus seinem Loch gekrochen, um zu essen." „Ich wette, ich kann das ändern", meinte Jade. „Ich hab doch gesagt, vergiss ihn!" „Okay, okay", lenkte Jade ein. „Dummerweise sieht er echt umwerfend aus. Was für eine Verschwendung!" „Und ich habe das Auto gewaschen ...", seufzte Deena und starrte aus dem Fenster. Seit einer Stunde goss es in Strömen. „Meine Mutter sagt, es funktioniert grundsätzlich", meinte Jade. „Wenn man das Auto putzt, fängt es kurz darauf an zu regnen, auch wenn zuvor nicht eine einzige Wolke am Himmel zu sehen war." „Willst du noch was von der Pizza?", fragte Deena. Sie schob die große quadratische Schachtel, die auf dem Couchtisch stand, ihrer Freundin zu. „Ich bin voll bis obenhin", winkte Jade ab. „Vielleicht sollten wir Chuck mal fragen, ob er Hunger hat." „Schlag ihn dir endlich aus dem Kopf, okay?", sagte Deena. „Wahrscheinlich sitzt er gerade in seinem Zimmer und überlegt sich, wie er die ganze Schule auf den Kopf stellen kann. Komm, wir schauen uns noch ein Video an." „Ich habe eine bessere Idee", grinste Jade. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Rob Morell wieder mal einen Anruf bekommt – von seiner heimlichen Verehrerin." „Ach, Jade, ich weiß nicht recht", zögerte Deena. Aus irgendeinem Grund fing ihr Herz an, schneller zu schlagen, als hätte sie gerade einen Hundertmeterlauf hinter sich. 27
„Komm schon, Deena", bettelte Jade. „Wir hatten doch so viel Spaß letztes Mal!" „Na ja, eigentlich ist es ja bloß ein harmloser Streich", gab Deena nach. Jade hatte das Telefonbuch schon aufgeschlagen und gab die Nummer in Deenas Telefon ein. Sie hielt sich den Hörer einen Augenblick ans Ohr und drückte ihn dann Deena in die Hand. „Hier!", sagte sie aufgeregt. Es war wie letzte Woche, nur noch besser. Sobald Deena anfing zu reden, war ihre Aufregung wie verflogen. Wenn überhaupt einer aufgeregt war, dann Rob! Er versprach sich in einer Tour. „Sag, könnten wir uns denn nicht auf eine Kasse Taffee treffen?", fragte er sie nach ein paar Minuten. „Ich glaube, du wolltest Tasse Kaffee sagen, nicht wahr, Rob?", erwiderte Deena in ihrem geheimnisvollen Flüsterton. „Das würde ich ja auch sehr gern tun. Aber erst muss ich mir sicher sein ..." „Sicher? Inwiefern?" „Ob das mit uns klappt und so." Sie überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte, als plötzlich ein dumpfes Klicken in der Leitung zu hören war. „Hallo?", fragte Rob. „Hallo, bist du noch da?" Er klang, als hätte er Angst, sie könnte aufgelegt haben. „In der Leitung muss eine Störung sein", sagte Deena. „Tut mir Leid, Rob, aber ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe dich bald wieder an." Sie legte auf und ihr wurde ganz schwindlig vor Hochgefühl. „Das war toll!", sagte Jade. „Aber was war das für ein Geräusch?" „Ich weiß nicht. Vielleicht stimmt mit dem Telefon was nicht." „Hoffentlich nicht", sagte Jade. „Gib es mal mir. Ich bin dran." „Wen willst du anrufen?", fragte Deena gespannt. „Ich hab gedacht, ich versuche es bei Mike Kamiskey", erwiderte Jade. „Ich will sehen, ob er wirklich eine Erkältung hat." Sie fing an, die Nummer zu wählen, doch bevor sie damit fertig war, klopfte es dreimal laut an der Tür. Dann wurde sie schwungvoll geöffnet. Draußen stand Chuck in abgeschnittenen Jeans und einem türkisfarbenen R.E.M.-T-Shirt und grinste sein dämliches Lächeln. „Hallo Mädels", sagte er. 28
„Chuck, hast du schon mal was von Privatsphäre gehört?", fragte Deena. „Hey – wir sind doch eine Familie, oder nicht?", entgegnete Chuck. Dann wandte er sich zu Jade und fragte: „Und wie heißt du?" Deena warf einen Blick auf Jade. Die himmelte Chuck an, als sei er der Leadsänger der coolsten Rockband der Welt. Deena seufzte. „Chuck, das ist..." „Ich heiße Jade Smith", unterbrach Jade sie und sah ihn mit ihrem strahlendsten, honigsüßesten Lächeln an. „Ich bin Chuck", sagte Chuck und lächelte zurück. „Und ich kotze gleich", dachte Deena. Chuck setzte sich auf die antike Holzbank vor Deenas Frisiertisch. Mit seinen kräftigen Muskeln und der stämmigen Statur ließ er die Bank wie das Möbelstück eines Puppenhauses aussehen. „Was machst du hier?", wollte Deena wissen. „Nichts Bestimmtes", antwortete Chuck. „Aber ich brauche wohl nicht zu fragen, was ihr hier macht. Oder sollte ich lieber sagen: Was ihr ausheckt." „Was meinst du damit?", fragte Deena. „Rob, hier spricht deine heimliche Verehrerin", äffte er Deena nach. „Ich würde mich zu gern mal mit dir treffen ..." „Du hast uns hinterherspioniert!", rief Deena. Sie spürte, wie ihr das Blut bis unter die Haarwurzeln stieg. „Das erklärt das Klicken in der Leitung", sagte Jade. „Ich hab euch nicht hinterherspioniert", meinte Chuck. „Ich habe zufällig den Hörer abgenommen. Sicher würde es Dad interessieren, was du dir alles einfallen lässt." „Nein, Chuck!", sagte Deena. „Das sagst du ihm nicht! Dann nimmt er mir das Telefon weg." „Na und?", fragte Chuck. „Du brauchst auch keins, wenn du damit bloß ein paar bescheuerten Typen aus der Highschool eins auswischen willst. Ich meine, wenn du mit dem Telefon herumspielen willst, dann lass dir wenigstens was richtig Gutes einfallen." „Und ich nehme an, du hast auch schon eine Idee?", zischte Deena giftig. „Kann schon sein", erwiderte Chuck.
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„Hört auf, euch zu streiten", sagte Jade, ohne im Geringsten irritiert zu wirken. Sie lächelte Chuck frech an. „Warum zeigst du uns nicht, was du meinst?" „Einen Augenblick", warf Deena ein. „Warum vergessen wir das Ganze nicht einfach? Ich glaube nicht..." „Komm schon, Deena", drängte Jade. „Es ist doch bloß ein harmloser Scherz. Hast du doch selbst gesagt. Warum soll Chuck nicht auch was davon haben?" „Oh nein", dachte Deena bestürzt. Chucks Ideen bedeuteten grundsätzlich Ärger, doch was konnte sie tun? Wenn Chuck sie verriet, würde das das Ende ihres eigenen Telefons bedeuten, wenn nicht sogar das Ende ihres gesamten Privatlebens. Und schließlich benahm sich Chuck im Augenblick ganz okay. Vielleicht war er bloß einsam. „Einverstanden", sagte Chuck, „aber genug von diesem albernen Ach-Rob-du-siehst-so-gut-aus-Zeug. Lasst uns ein paar richtige Anrufe machen." Jade sah ihn gespannt an. „Gib mir mal das Telefonbuch", sagte Chuck. Er blätterte einen Augenblick lang darin herum. „Was für ein ödes Nest", murmelte er. „Was machen Leute hier denn, um Spaß zu haben?", fragte er eine Minute später. „Alles mögliche", antwortete Deena verärgert. „Vermutlich dasselbe wie ihr in der Stadt. Ins Kino gehen, Tanzen gehen, Minigolf, Bowling..." „Bowling, das ist gut", meinte Chuck. Er blätterte die Seiten um. „Hier haben wir es: das Bowling Center von Shadyside." Er wählte eine Nummer. Einen Augenblick später war eine weibliche Stimme über den Lautsprecher zu hören. „Guten Abend, hier ist das Bowling Center." „Ich sage es nur einmal." Chuck sprach mit sehr tiefer Stimme, die rau und brüchig klang. „Auf Ihrem Gelände befindet sich eine Zeitbombe. Sie wird um zehn Uhr losgehen." „Wer spricht da?", fragte die Frau. Sie klang ängstlich. „Sie haben genau fünfzehn Minuten, um Ihre Gäste zu evakuieren. Keine Sekunde länger", sagte Chuck. Dann legte er den Hörer auf. „Chuck!" Deena war schockiert. „Wie kannst du so was tun? Eine
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Bombendrohung ist was Ernstes!" „Hey, das ist sicher das Aufregendste, was hier in den letzten Monaten passiert ist", erwiderte Chuck. Er lachte und blätterte wieder im Telefonbuch. „Irgendwie ist es witzig", schloss sich Jade an. „Ich meine die Vorstellung, wie die Leute in ihren Bowlingschuhen draußen im Regen stehen." „Jade!", sagte Deena. „Um Himmels Willen! Eine Bombendrohung ist ein Verbrechen!" „Du hast Recht", meinte Jade. „Chuck", sagte sie mit zuckersüßer Stimme, „wir haben bloß ein paar Schüler angerufen. Schließlich wollen wir doch keine Schwierigkeiten." „Ja, ja", sagte Chuck. Dann schnalzte er mit den Fingern. „Wartet mal, ich hab eine Idee. Wie heißt die Gegend, die so unheimlich sein soll?" „Meinst du die Fear Street?", fragte Deena. „Ja, genau. Was für ein Name!" Wieder lachte Chuck. „Sie ist nach einem unheimlichen alten Typ namens Simon Fear benannt worden", erklärte Deena. „Du solltest dich nicht darüber lustig machen. In der Fear Street sind schreckliche Dinge passiert, echt wahr." „Was denn?", fragte Chuck belustigt. „Leute sind verschwunden", sagte Jade. „Und es gibt eine Anzahl ungelöster Mordfälle. Und nachts haben die Anwohner seltsame Schreie gehört, die aus dem angrenzenden Wald kamen." Chuck sah sie mitleidig an. „Hört auf zu spinnen", sagte er. „Wisst ihr nicht, dass jede Kleinstadt so was wie die Fear Street hat? Das ist alles bloß Quatsch, um so ein langweiliges Nest wie das hier ein bisschen interessanter zu machen." „Das ist kein Quatsch, Chuck", widersprach Deena. „Deena hat Recht", fügte Jade hinzu. Deena merkte, dass Jade todernst war und ihr die Lust am Flirten vergangen war. „Also, mir macht eure Straße keine Angst. Wartet mal ...", Chuck blätterte weiter im Telefonbuch, „... ihr wollt doch Leute aus der Schule anrufen, stimmt's? Wie heißt denn der Typ, der neulich die Schlägerei mit mir angefangen hat?"
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„Bobby McCorey", sagte Jade sofort. „Er und seine Kumpels halten sich für die Tollsten. Sie ärgern dauernd alle anderen." „Dann wollen wir den Spieß mal umdrehen", meinte Chuck. „Mal sehen, wie cool er wirklich ist." Bevor Deena ihn davon abhalten konnte, hatte Chuck schon Bobbys Nummer gewählt. „Könnte ich bitte Bobby McCorey sprechen?", fragte er mit der seltsamen rauen Stimme. Deena spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunter lief. Kurz darauf war Bobby zu hören. „Bobby am Apparat." „Hier spricht das Phantom der Fear Street", sagte Chuck. „Und ich habe dich im Visier." „Das Phantom der – wer ist da?", fragte Bobby. „Ich habe dich im Visier", wiederholte Chuck. „Was meinen Sie damit?" Plötzlich klang Bobby nicht mehr so selbstbewusst. „Genau das, was ich gesagt habe", antwortete Chuck. „Ich beobachte dich - mit dem Auge des Bösen. Wenn ich du wäre, würde ich heute Abend alle Fenster und Türen gut verschließen – und das nicht nur heute." „Hey, wer ist da?", fragte Bobby mit zitternder Stimme. Deena wollte Chuck gerade den Hörer entreißen, als er wie ein Verrückter kicherte und dann auflegte. „Du hast Recht, Jade", sagte Chuck. „Es macht viel mehr Spaß, jemanden aus der Schule anzurufen." „Ich kann einfach nicht glauben, dass du das getan hast!", rief Deena aus. „Bobby McCorey ist gefährlich. Was ist, wenn er deine Stimme erkannt hat?" „Mach dir keine Sorgen", meinte Chuck. „Das war bloß ein harmloser Scherz. Oder hast du vielleicht Angst vor dem Phantom der Fear Street?" Er lachte, rannte ans Fenster und schob es hoch. Draußen regnete es noch heftiger als zuvor, und grelle Blitze durchzuckten den Himmel. „Ihr Geister der Fear Street!", schrie Chuck so laut er konnte. „Hört ihr mich? Ich erwarte euch! Hier an dieser Stelle! Kommt mich doch holen!" „Er ist verrückt", dachte Deena. „Wenn er diesen gehetzten
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Gesichtsausdruck kriegt, verändert sich seine ganze Persönlichkeit. Es ist, als hätte er zwei Seiten, und die Seite, die die Gefahr liebt, kann ohne Vorwarnung die Oberhand gewinnen." Plötzlich blitzte es gewaltig, und es ertönte grollender Donner. Im nächsten Augenblick gingen die Lichter aus, und die pechschwarze Dunkelheit wurde nur von einem Schrei unterbrochen, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Einen Moment später flackerten die Lichter wieder auf, und die beiden Mädchen starrten einander mit weit aufgerissenen Augen an. „Der Blitz war aber nah!", sagte Deena mit zitternder Stimme. „Vielleicht hat er sogar eingeschlagen -" „Deena!", schrie Jade erschrocken. „Wo ist Chuck?" Deena sah sich im Zimmer um – doch von Chuck keine Spur! Dann hörten sie ein Stöhnen, das vom Fenster kam. „Da drüben!", rief Jade. „Schnell!" Die Mädchen rannten ans offene Fenster, durch das Regen ins Zimmer fiel. Ein weiterer Blitz erleuchtete die Gestalt Chucks, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag.
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Kapitel 6 Einen Augenblick lang starrte Deena wie gelähmt auf den reglosen Körper ihres Bruders. „Chuck!", schrie sie dann, „Chuck!" „Oh nein!", stieß Jade mit zitternder Stimme aus. Sie beugte sich über ihn. „Was glaubst du – ist er – ist er – oh Gott!" Jade und Deena sprangen im selben Moment entsetzt zurück, als Chuck sich aufsetzte und „Huhuu!" brüllte. Dann lief er sich wieder zu Boden sinken und schüttelte sich so vor Lachen, dass er kaum noch Luft bekam. „Ich habe euch ganz schön Angst eingejagt", keuchte er. „Die so genannten Geister der Fear Street haben euch ja fast zu Tode erschreckt!" Deena hatte noch nie in ihrem Leben ein so intensives Wechselbad der Gefühle erlebt. Erst hatte sie Panik verspürt, schreckliche Angst, und anschließend Erleichterung, als ihr bewusst wurde, dass Chuck nichts passiert war. Doch was sie jetzt empfand, stärker als alle anderen Gefühle davor, war Zorn. Ihr Körper wurde von Wut erfüllt, bis sie glaubte, gleich zu explodieren. „Chuck, du verdammtes, blödes Schwein!", schrie sie ihn an. „Das war wirklich das Letzte!" „Es t-t-tut mir Leid", sagte Chuck atemlos vor Lachen. Doch es klang nicht glaubwürdig. „Aber, hey – ich konnte einfach nicht widerstehen." Jade schloss das Fenster, drückte die Nase dagegen und schaute hinaus. „Der Regen wird langsam schwächer", sagte sie. „Ich glaube, ich geh jetzt nach Hause." „Wenn du möchtest, begleite ich dich", bot Chuck an. „Schließlich gibt es da draußen in der Dunkelheit seltsame – Dinge." Und wieder fing er an zu lachen und schaute Jade mit seinem albernen Grinsen an. Deena war immer noch wütend auf ihn, doch Jade schien ihm nichts mehr übel zu nehmen. Sie sah Chuck sogar so an, als würde es ihr nichts ausmachen, wenn er das Phantom der Fear Street wäre.
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Am nächsten Morgen entschuldigte Chuck sich bei Deena und bot ihr an, ihr bei der Mathe-Hausaufgabe zu helfen. „Es ist wirklich so, als ob es zwei Chucks gibt", dachte sie. Der eine – der mit dem Grinsen – war freundlich, mutig und witzig. Der andere Chuck war gemein. Langsam fing Deena an, den ersten Chuck wirklich zu mögen. Sie musste sich bloß noch was einfallen lassen, um diese Seite an ihm stärker zum Vorschein zu bringen. Am Montagmorgen in der Schule war sie in Gedanken immer noch mit den beiden Chucks beschäftigt und wäre deshalb auf dem Weg zum Französischunterricht um ein Haar mit Rob Morell zusammengestoßen. „Entschuldigung", sagte sie. „Meine Schuld", sagte Rob. „Wie geht's dir, Deena?" Er strahlte sie freundlich an, und ihr Herz fing an zu klopfen, während sie eine Antwort stammelte. Ihr fiel die letzte Woche wieder ein, als sie sich nach ihrem ersten anonymen Anruf bei Rob so stark vorgekommen war. Doch nach dem, was am Samstagabend passiert war, fühlte sie sich anders - eher ein bisschen dreckig und beschämt. Sie wusste nicht genau, was geschehen war, außer dass die Anrufe, die Chuck gemacht hatte, gemein waren. Sie konnten sogar gefährlich sein. Das Telefonspiel machte keinen Spaß mehr. Und sie würde nicht mehr mitmachen. Sie wollte mit Jade und Chuck reden und sie davon überzeugen, damit aufzuhören. Später am Vormittag bot sich ihr im Speisesaal die Gelegenheit dazu. Sie wollte gerade in ihr Sandwich beißen, als Jade ihr Tablett auf den Tisch stellte und sich ihr gegenübersetzte. „Deena, hast du schon die Morgenzeitung gesehen?", fragte sie; ihre Augen funkelten verschmitzt. „Nein", antwortete Deena. „Hör zu, Jade, ich muss mit dir reden -" „Okay", sagte Jade. „Aber zuerst musst du dir das anschauen!" Sie schob Deena die Shadyside Press hin und warf dabei fast Deenas Milch um. Auf der Titelseite war ein Artikel rot angestrichen. Als Deena zu lesen anfing, sank ihr das Herz. BOMBENDROHUNG EIN DUMMER STREICH, WIE POLIZEI MITTEILT
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Die Polizei von Shadyside wurde Samstagabend um 21:45 Uhr ins Bowling Center gerufen, um wegen einer Bombendrohung zu ermitteln. Obwohl das gesamte Gebäude evakuiert wurde, fanden die Polizeibeamten keine Spur von Sprengstoff. Die Managerin des Bowling Centers, Louise Cameron, sagte aus, dass die telefonische Bombendrohung von einem männlichen Anrufer mit rauer Stimme ausgeführt wurde. Ihren Worten zufolge klang er so, als sei es ihm sehr ernst damit. Cory Brooks, ein Schüler der Shadyside Highschool, war unter den über dreißig Gästen, die draußen im Regen warten mussten, während das Gebäude durchsucht wurde. Er berichtete, dass alle ganz ruhig geblieben seien und keine Panik ausgebrochen sei. Da es nach Aussage des Polizeisprechers Leutnant Evan Frazier im Augenblick noch keinen Tatverdächtigen gibt, werden die Ermittlungen fortgeführt. „ Vielleicht hat sich da nur jemand einen Scherz erlaubt", sagte er gegenüber der Morning Press. „Aber wir können einen terroristischen Hintergrund nicht ausschließen. Wir nehmen die Drohung sehr ernst." Als Deena den Artikel fertig gelesen hatte, war ihr ganz schlecht. Sie warf Jade einen Blick zu und erwartete, dass auch die Freundin beschämt aussehen würde. Stattdessen glänzten Jades Augen, und ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. „Mensch, Deena!", rief sie. „Wir haben es auf die Titelseite der Zeitung gebracht!" Einen Augenblick lang starrte Deena ihre Freundin ungläubig an. „Spinnst du?", fragte sie. „Das hier ist ernst. Es steht hier, dass die Polizei in der Sache ermittelt." „Ach, die finden uns nie", meinte Jade. „Und was heißt hier ,uns'?", fuhr Deena fort. „Schließlich war es Chuck, der die Bombendrohung gemacht hat." „Reg dich ab", sagte Jade. „Es ist doch niemandem was passiert." „Nein", stimmte Deena ihr zu, „aber genau das hätte geschehen können. Stell dir vor, einer der Leute im Bowling Center hätte Panik gekriegt! Und was ist mit dem anderen Anruf, bei dem Chuck so getan hat, als sei er das Phantom der Fear Street?" 36
Einen Augenblick lang veränderte sich Jades Gesichtsausdruck, und Deena entdeckte eine Spur von Angst in ihren Augen. „Was soll damit sein?", fragte Jade schließlich. „Der war auch nicht harmlos. Chuck wollte Bobby McCorey wirklich Angst einjagen." Jetzt runzelte Jade die Stirn. „Also gut, vielleicht sollte Chuck beim Telefonieren die Finger von der Fear Street lassen. Aber mir gefällt das Telefonspiel, und dir auch. Gib es zu, Deena." „Na ja, die Anrufe bei den Schülern waren ganz lustig", sagte Deena, „aber Chuck hat schon genug Probleme. Und ich traue ihm nicht über den Weg. Außerdem sind diese Anrufe illegal. Wir müssen damit aufhören." „Ach, ja?", gab Jade bissig zurück. „Seit wann stellst du allein die Regeln auf? Es kommt mir so vor, als seien wir zu dritt. Vielleicht haben Chuck und ich auch ein Wörtchen mitzureden." „Es ist mein Telefon", sagte Deena. „Na, dann sollte ich vielleicht Rob Morell erzählen, von wessen Telefon aus er angerufen wurde." Jade lächelte boshaft, als sie das plötzliche Entsetzen in Deenas Gesicht bemerkte. „Oder", fuhr sie fort, „wir warten bis Samstagabend und bereden das Ganze zu dritt." Am Samstagabend war Deena noch überzeugter davon, dass die Sache ein Ende haben musste. Es war nicht richtig gewesen, anonyme Anrufe zu machen. Sie würde dafür sorgen, dass das aufhörte. Außerdem glaubte sie nicht, dass Chuck ihrem Vater wirklich erzählen würde, was sie gemacht hatten. Schließlich war er selbst in die Sache verwickelt. Und Jade würde sie doch nicht an Rob Morell verraten, oder? Sie hatte in ihrer Aufregung einfach Dinge gesagt, die sie nicht so gemeint hatte, das war alles. Auf der anderen Seite kam Deena jetzt viel besser mit Chuck aus. Er hatte ihr letzte Woche zweimal bei ihren Trigonometrieaufgaben geholfen und einmal sogar die Geschirrspülmaschine eingeräumt. Vielleicht hatte Jade Recht, und er war doch ganz in Ordnung. Vielleicht fing er ja an, sich langsam an das Leben in Shadyside zu gewöhnen. An jenem Abend waren Deenas Eltern bei Freunden eingeladen, wie fast jeden Samstagabend. Deena hatte beschlossen, dass eine kleine 37
Grillparty das Beste war, um Chuck und Jade für die Unterredung gnädig zu stimmen. Sie machte Hamburger mit Käsefüllung und ihren Spezialkartoffelsalat mit Zwiebeln, Tomaten und schwarzen Oliven. Während Chuck sich um das Feuer kümmerte, deckte Deena den Holztisch auf der Terrasse. Am Tor ertönte ein Klopfen, und Jade kam mit einer Riesenschachtel Eiscreme in den Garten. „Riecht lecker", sagte Jade. Sie trug eine Latzhose aus verwaschenem Jeansstoff mit lauter bunten Flicken. Deena sah, wie Chuck ihr einen bewundernden Blick zuwarf, bevor er sich wieder dem Grill zuwandte. Die Hamburger waren perfekt geraten, außen knusprig und innen saftig, und Jade und Chuck nahmen sich beide eine zweite und dritte Portion Kartoffelsalat. Nach dem Essen schien sich Chuck zum ersten Mal, seit er nach Shadyside gekommen war, zu entspannen. „Vielleicht kommt ja doch noch alles in Ordnung", dachte Deena. Die drei saßen in Liegestühlen auf der Terrasse, löffelten Eiscreme und hörten der Musik zu, die aus Deenas tragbarem Kassettenrekorder drang. Der Himmel hatte sich zu jenem Dunkelrot verfinstert, das vor dem Nachteinbruch kommt. Deena legte ihren Kopf zurück und betrachtete die Sterne, die nach und nach aufblitzten. „Ein Superessen, Deena", sagte Chuck, und sie lächelte. Er hatte sie tatsächlich bei ihrem Vornamen genannt, statt „Kid" zu sagen. „Der Salat war echt Spitze", lobte Jade. „Das ganze Essen war toll." „Okay", dachte Deena. „Jetzt ist der beste Zeitpunkt." Laut sagte sie: „Hört mal zu. Wir müssen ganz ernsthaft miteinander reden. Ich finde nicht, dass wir noch mehr dieser Anrufe machen sollten." „Okay", sagte Chuck. „In Ordnung", schloss Jade an. „Tatsache ist", fuhr Deena fort, „ich finde, wir sollten –" Sie hielt abrupt inne. „Was habt ihr gerade gesagt?" „Wir geben dir Recht", sagte Jade. „Chuck und ich haben schon darüber geredet." „Ja", bestätigte Chuck. „Jade hat mich davon überzeugt, dass es blöd ist, ein solches Risiko einzugehen. Vor allem, da unser Dad für die Telefongesellschaft arbeitet."
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Deena starrte die beiden an. Jade hatte ihn schon überzeugt? Wann hatten sie darüber gesprochen? Es schien, als würde Jade einen guten Einfluss auf Chuck ausüben, ob ihm das nun gefiel oder nicht! „Hast du noch was anderes auf dem Herzen?", fragte Jade. „Nichts – glaube ich." Deena hätte nie erwartet, dass sie so schnell gewinnen würde. Es war mittlerweile fast ganz dunkel geworden, doch sie konnte erkennen, dass Chucks Hand zu Jades hinübergewandert war. Deena verspürte einen Stich der Eifersucht und dachte an Rob Morell, doch hauptsächlich freute sie sich für Jade und Chuck. Vielleicht würden die beiden gut für einander sein. Deena sann darüber nach, wie friedlich und schön es draußen war. Sie hätte für immer hier sitzen und Eis essen können. Die letzten Töne der Dire Straits verklangen, und sie stand auf, um die Kassette umzudrehen. Sie beugte sich gerade über den Kassettenrekorder, als ein dunkles, flatterndes Etwas ihr Gesicht berührte. Sie schrie auf und wich zurück. „Was ist los?", fragte Chuck. „Da ist eine ... eine Fledermaus!", schrie Deena zu Tode erschrocken. Sie duckte sich und rannte durch die Schiebetür ins Wohnzimmer. Draußen flatterte die Fledermaus wild um die Terrassenlampe herum. Jade stieß einen schrillen Schrei aus, sprang auf und folgte Deena ins Haus. „Key", sagte Chuck. „Regt euch ab. Schließlich trägt sie kein Messer oder so was im Maul." „Sehr witzig", rief Deena aus dem Zimmer. „Fledermäuse machen mir Angst!" „Mir auch", pflichtete Jade ihr bei. „Chuck, komm endlich rein." „Okay", sagte er. Er schob die Tür auf und blieb einen Augenblick im Rahmen stehen. „Mach zu!", riefen Jade und Deena gleichzeitig. „Mach zu! Sonst lässt du die Fledermaus rein!" „Na komm schon, Fledermäuschen", sagte Chuck. Doch er schloss die Tür und ließ sich in den Ledersessel am Kamin fallen. „Was ist bloß mit euch beiden los? Haben Kleinstadtmädels vor allem und jedem Angst?"
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„Die meisten vernünftigen Leute haben Angst vor Fledermäusen", meinte Deena. „Sie können nämlich Tollwut übertragen." „Das ist aber nicht der Grund, weshalb ihr euch vor ihnen fürchtet", sagte Chuck. „Ihr seid abergläubisch. Deshalb glaubt ihr auch diesen Quatsch über die Fear Street." „Das ist kein Quatsch", erwiderte Jade. Sie kauerte sich auf die Lehne des Sessels, in dem Chuck saß. Deena dachte, wie schön sie in dem sanften Licht aussah, und wie ängstlich. „Versteht ihr nicht?", fragte Chuck. „Dieser ganze Unsinn, den ihr über die Fear Street gehört habt - der ist doch völlig übertrieben oder erfunden. Die Leute erzählen solches Zeug, um anderen Angst einzujagen." „Nur zu deiner Information", sagte Deena, „im Fear-Street-Wald gibt es zum Beispiel keine Vögel. Wissenschaftler haben vergeblich versucht, dafür eine Erklärung zu finden." Chuck lachte. „Keine Vögel", sagte er. „Also das ist ja wirklich beängstigend." „Leute sind spurlos verschwunden", sagte Jade. „Häuser sind einfach abgebrannt -" „Ha!", machte Chuck. „Häuser. Du willst also sagen, dass in der Fear Street tatsächlich Leute wohnen?" „Ja, klar", antwortete Deena. „Wer denn?", fragte Chuck. „Monster, Menschenfresser, Hexen oder Dracula?" „Ich weiß nicht", sagte Deena. Die Unterhaltung machte sie immer nervöser. „Ich kenne niemanden, der dort wohnt." „Das ist genau der Punkt", sagte Chuck. „Jetzt werde ich euch beweisen, dass es an der Fear Street nichts gibt, wovor man sich wirklich fürchten müsste. Ich zeige euch, dass ganz normale Leute dort leben." Er schaltete das Deckenlicht ein und griff nach dem Telefonbuch. „Chuck, was machst du da?", schrie Deena. „Du hast versprochen -" „Ich habe versprochen, keine Scherzanrufe mehr zu machen", erwiderte Chuck. „Das hier ist was anderes – ich werde jetzt euer Leben für immer verändern." Mit dem Zeigefinger auf eine Nummer deutend griff er nach dem Telefon. 40
„Wen rufst du an?", fragte Jade. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung, genau wie am letzten Wochenende. „Ich weiß nicht", sagte Chuck. „Es ist der erste Name, den ich unter ,Fear Street' gefunden habe." Er schaltete den Lautsprecher ein und wählte. Das Klingeln des Telefons erfüllte den Raum. „Ich werde euch beiden beweisen, dass ihr vor nichts Angst zu haben braucht." Das Telefon läutete weiter. Deena zählte fünfzehn Klingelzeichen, bevor Chuck sagte: „Keiner zu Hause. Ich muss es bei jemand anderem versuchen ..." Nach dem sechzehnten Klingelzeichen war ein Klicken zu hören, gefolgt von einem atemlosen Keuchen. Dann schrie die schrillste, ängstlichste Stimme, die Deena je gehört hatte: „Bitte! Bitte, kommen Sie schnell! Er bringt mich sonst um!"
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Kapitel 7 „Wer ist da?", fragte Chuck. „Bitte", bat die Frau verzweifelt. „Wer immer Sie sind, Sie sind meine einzige Hoffnung! Jeden Augenblick bringt er –" Doch ihre Stimme wurde von dem wütenden Gebrüll eines Mannes abgeschnitten. Während die drei voller Entsetzen lauschten, verstärkte der Lautsprecher des Telefons angsterfüllte Schreie und das Geräusch von zersplitterndem Glas. „Hallo? Hallo?", fragte Chuck in den Hörer. Und dann war die Frau wieder am Apparat. „Kommen Sie bitte!", bettelte sie. „Bitte, helfen Sie mir! Sie sind meine einzige –" Man hörte einen Schlag, dann kam eine neue, barsche Stimme ans Telefon. „Wer ist da?", knurrte die Stimme. „Was ist da los?", entgegnete Chuck. „Geht Sie gar nichts an", sagte der Mann. „Sie sind falsch verbunden, verstanden?" „Aber ich hab doch gehört -", fing Chuck an. „Falsch verbunden!", wiederholte der Fremde und legte auf. Deena, Chuck und Jade sahen einander mit großen Augen an. Schließlich unterbrach Jade das Schweigen. Ihre Stimme klang weich und ängstlich. „Das war ein Scherzanruf, nicht wahr, Chuck?", fragte sie. Deena hatte dasselbe gedacht – vielmehr gehofft. Doch als sie Chucks bleiches Gesicht sah, war ihr klar, dass es kein Scherz war. „Der war echt", antwortete er. „Es sei denn, jemand spielt jetzt mir einen Streich." Er wirkte grimmig und wütend. „Oh Gott", sagte Deena, deren Knie plötzlich weich wurden. „Was sollen wir tun?" „Wir müssen die Polizei rufen", meinte Jade und griff nach dem Telefon. „Warte", sagte Chuck und hielt sie am Handgelenk fest. „Wie erklären wir denen, warum ich dort angerufen habe? Und warum sollten sie uns glauben? Sie werden uns für Jugendliche halten, die anonyme Anrufe machen." 42
„Solche wie die Bombendrohung", flüsterte Jade. „Genau", stimmte Chuck zu. „Irgend jemandem müssen wir es sagen", meinte Deena. „Die Frau hörte sich an, als sei sie in größter Gefahr. Sie sagte, er würde ... er würde sie umbringen!" „Vielleicht war es nur ein Partyspiel", sagte Jade, doch sie klang nicht überzeugt. „Das war kein Spiel", entgegnete Deena. Sie stand auf. „Wenn keiner von euch es tut, dann rufe ich an -" Chuck riss das Telefon an sich und griff nach dem Telefonbuch. „Der Notruf der Polizei ist neun-eins-eins", sagte Deena. „Ich rufe nicht die Polizei an", erklärte Chuck. „Ich suche die Adresse raus." Er schlug das Buch zu und stand auf. „Willst du damit sagen, dass du hingehst?", schrie Deena entsetzt. „Genau das habe ich vor", sagte Chuck. „Ich muss herausfinden, was dort los ist." „Lass die Polizei das machen", sagte Deena. „Was ist, wenn der Typ ein Irrer ist?" „Dann muss ich ihn aufhalten", beharrte Chuck. „Du hast gehört, was die Frau gesagt hat. Ich bin ihre einzige Hoffnung." „Ich komme mit", erklärte Jade. Sie zog sich ihre Flanelljacke an. „Du kannst nicht alleine hingehen, Chuck." Deena holte tief Luft. „Ich glaube, ihr seid beide verrückt", seufzte sie. „Vielleicht bin ich auch verrückt. Ich werde euch hinfahren." Sie holte die Ersatzschlüssel für das Auto ihrer Mutter und ging hinter den anderen nach draußen. Es war eine klare, kalte Nacht mit einem großen Halbmond. Deena setzte sich ans Steuer, Chuck neben sie, und Jade stieg hinten ein. „Wie lautet die Adresse?", fragte Deena, während sie das Auto die runde Auffahrt entlangfuhr. „Fear Street 884", sagte Chuck. Das musste ganz in der Nähe des Friedhofs sein. Deena lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie war noch nie nachts in der Fear Street gewesen und bemühte sich wie die meisten Bürger von Shadyside, sie auch tagsüber zu meiden. Als sie in der Fear Street ankamen, beschlich Deena ein ungutes
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Gefühl. Obwohl die Straße und der angrenzende Wald gut beleuchtet waren, kam es ihr immer wieder so vor, als würde sich in den Schatten irgendetwas bewegen. Auf den ersten Blick war es eine Straße wie jede andere, mit alten Häusern und ungepflegten Gärten. Doch bei näherer Betrachtung konnte man erkennen, dass die Fear Street sich von anderen Straßen unterschied. Zum einen stand dort die Ruine der alten Villa von Simon Fear, die vor langer Zeit abgebrannt war – in der es aber angeblich noch spuken sollte. Zum anderen waren die Schatten hier dichter und dunkler als sonstwo in der kleinen Stadt. Und vor allem herrschte in der Straße eine bedrückende Atmosphäre, ein gewisses Gefühl von Tod und Verwesung. Die Rasenflächen waren eher braun als grün, und an den saftlosen Bäumen hingen nur ein paar abgefressene Blätter. Auch wenn in einigen Fenstern Lichter brannten, strahlten die Häuser hinter ihren Vorhängen nicht die warme Atmosphäre eines glücklichen Familienlebens aus. „Wie war die Hausnummer noch mal?", fragte Deena. Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht so ängstlich klang, wie sie sich fühlte. „884", sagte Chuck. „350, 422", las Jade von den Nummernschildern auf den Briefkästen ab. Deena lenkte den Civic immer weiter die Fear Street hinunter. Gewöhnlich fuhr sie unheimlich gern mit dem kleinen Auto ihrer Mutter, doch in dieser Nacht hätte sie lieber ein größeres und stärkeres Fahrzeug gelenkt – einen Panzer zum Beispiel! Die pechschwarzen Umrisse des Fear-Street-Waldes taten sich bedrohlich vor ihnen auf. Nun blieben nur noch ein paar wenige Häuser übrig, und Deena fing an zu hoffen, dass Chuck sich vielleicht doch in der Adresse geirrt hatte. Dass es nicht Fear Street 884 war, dass es überhaupt nicht die Fear Street war, sondern stattdessen die Hawthorne oder Mill Road oder vielleicht auch der Canyon Drive ... „Da vorne ist es!", sagte Chuck. Das letzte Haus vor ihnen lag ein Stück von den Nachbarhäusern
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entfernt; es war ein zweistöckiges, viktorianisches Gebäude mit einer brüchigen Holzfassade und einem ungepflegten Rasen. Dahinter war nichts – nur der Friedhof. Die Scheinwerfer beleuchteten die Nummer 884, die auf einem verrosteten Briefkasten klebte. Deena parkte das Auto und schaltete das Licht aus. Die drei Jugendlichen starrten das Haus einen Augenblick lang schweigend an. Es war völlig dunkel. Es wirkte sogar so, als sei es seit Jahren unbewohnt! „Da ist keiner daheim, Chuck", sagte Deena. „Du musst dich in der Adresse geirrt haben." „Kann sein", stimmte ihr Chuck verunsichert zu. „Aber ich muss es überprüfen." „Ich glaube, Deena hat Recht", sagte Jade, sie klang sehr nervös. „Das muss das falsche Haus sein." „Ich werde mich ein bisschen umschauen", meinte Chuck. „Ihr wartet hier." Er machte die Beifahrertür auf und stieg aus. Deena fiel ein, wie mutig er zu dem brennenden Auto gerannt war, um den Hund zu retten. Sie wusste, dass man ihm seinen Plan nicht ausreden konnte. „Im Handschuhfach liegt eine Taschenlampe", sagte sie. „Danke." Er nahm die Taschenlampe heraus. Im Deckenlicht des Autos erkannte sie für einen Augenblick sein schiefes Grinsen. Er machte die Tür zu und ging die überwucherte Auffahrt zum Haus hinauf. Deena und Jade blieben schweigend in der Dunkelheit sitzen. Deena überlegte kurz, ob sie nicht lieber die Autotüren verschließen sollte, doch dann fiel ihr ein, dass Chuck womöglich schnell wieder ins Auto flüchten musste. Gegenüber konnte sie die lang gezogenen, dunklen Schatten des Fear-Street-Waldes undeutlich erkennen. Von der anderen Seite des Hauses hob sich die Steinmauer des Friedhofs ab. Darüber schimmerte der Mond blass und geheimnisvoll. „Du kannst machen, was du willst, aber ich sitze hier keine Sekunde länger untätig rum!", sagte Jade plötzlich. „Ich gehe zu Chuck." „Warte auf mich", rief Deena. Die beiden Mädchen stiegen aus dem
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Auto und gingen ebenfalls die Auffahrt entlang. Als Deena den Kies unter ihren Füßen spürte, stellte sie sich vor, es seien zerbrochene Gebeine, und schauderte. Sie fanden Chuck auf der vorderen Veranda. Er presste das Ohr an die Haustür. „Ich habe geklingelt", sagte er. „Ich kann aber nichts hören." Er klopfte, erst zögernd, dann bestimmter. „Die Vorhänge sind alle zugezogen", sagte er. „Lasst uns nachsehen, ob hinter dem Haus irgendwas ist." Die Mädchen folgten ihm ums Haus. Etwas Weiches und Klebriges streifte Deenas Gesicht. Sie unterdrückte einen Schrei. Als sie es wegwischte, merkte sie, dass es nur eine Spinnwebe war – und wunderte sich, welche Spinnenart ein so großes Netz weben konnte. Auf der Seite des Hauses waren sämtliche Fensterläden geschlossen. Doch als sie die Hintertür erreicht hatten, hob Chuck plötzlich die Hand. „Hey, seht mal!", flüsterte er. Das Glas der oberen Hälfte der Hintertür war zertrümmert, und die Tür stand einen Spalt offen. Während Jade und Deena sich dicht hinter ihn pressten, leuchtete Chuck mit der Taschenlampe durch das kaputte Fenster in eine altmodische Küche. Mitten im Raum lag ein umgekippter Tisch. Der Boden war mit Scherben von zerbrochenem Geschirr übersät. Chuck richtete den Lichtkegel auf die Arbeitsfläche, auf der zertrümmerte Gläser und Behälter lagen; Mehl, Zucker und Gewürze ergossen sich auf die Arbeitsfläche und auf den Boden. Chuck stieß einen leisen Pfiff aus. „Hier ist eingebrochen worden", bemerkte er. „Ich gehe rein." Als er die Tür ganz aufstieß, knarrte sie laut in ihren Angeln. Das Geräusch ging Deena durch Mark und Bein. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, die anderen konnten es hören. Sie hielt den Atem an und folgte Chuck und Jade in die Küche. Die Taschenlampe vor sich auf den Fußboden gerichtet, bahnte Chuck sich Schritt für Schritt seinen Weg. Dann blieb er so plötzlich stehen, dass Deena und Jade ihn fast angerempelt hätten. Gleich hinter der Tür, die ins Wohnzimmer führte, beleuchtet vom Schein der Taschenlampe, ragte ein ausgestreckter Arm hervor. Neben der Hand lag ein Telefonhörer. Beide waren voller frischer roter Blutspritzer. Blut floss in Rinnsalen in eine dunkle Lache, die sich langsam auf dem Teppichboden ausbreitete.
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Kapitel 8 Einen Augenblick lang rührte sich keiner von ihnen. Dann ging Chuck langsam auf den leblosen Körper zu und richtete den Schein seiner Taschenlampe darauf. „Bleibt zurück!", warnte er die Mädchen. Er bückte sich und richtete sich dann rasch wieder auf. „Es ist eine Frau", sagte er mit zitternder Stimme. „Ich glaube, sie ist erstochen worden." „Erstochen?", schrie Jade schrill. „Sie muss den Einbrecher überrascht haben", mutmaßte Chuck. „Vielleicht ist er noch im Haus!" Deena hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so viel Angst gehabt. Ihre Beine fühlten sich an wie weich gekochte Spagetti. „Kommt", flüsterte sie. „Jade – Chuck – lasst uns hier verschwinden!" „Ihr beiden geht raus!", befahl Chuck. „Ich muss telefonieren." „Wir können doch von woanders aus anrufen", sagte Jade. „Vielleicht ist es dann zu spät!", sagte Chuck. „Die Frau braucht einen Notarzt!" Er tastete an der Wand herum und fand den Lichtschalter. Die plötzliche Helligkeit blendete stark, und Deena musste mehrmals mit den Augen zwinkern, bevor sie sich daran gewöhnt hatte. Sie ging vorsichtig hinter Jade ins Wohnzimmer und erstarrte. Die Frau lag auf dem Bauch, neben sich ein großes, blutiges Fleischmesser. „Oh nein", stöhnte Jade mit schwacher Stimme. Automatisch griff sie nach Deenas Hand. Um nicht hinsehen zu müssen, schaute Deena sich im Wohnzimmer um. Das Zimmer wirkte, als sei ein Wirbelsturm hindurchgefahren. Lampen und Aschenbecher lagen zerschmettert auf dem Boden. Die Couch war aufgeschlitzt, und die Füllung quoll heraus. Bilder waren von den Wänden gerissen worden. Chuck nahm vorsichtig den blutbeschmierten Telefonhörer und wählte eine Nummer. „Hallo", sagte er. „Hier ist ein Mord –" Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, hörte er laute Schritte auf der Treppe zu seiner Linken. „Da ist jemand!", schrie Jade. 47
Ein großer, kräftiger Mann in einem grünen Mantel und mit einer schwarzen Maske über dem Kopf tauchte auf der Treppe auf. In der rechten Hand hielt er ein Stemmeisen. „Was wollt ihr hier?", knurrte er mit tiefer, heiserer Stimme. „Sie haben sie erstochen!", sagte Chuck. „Sie sind eingebrochen und haben sie erstochen! Sie werden nicht ungeschoren davonkommen!" „Lass den Hörer fallen", sagte der Mann. Sein Ton war eisig und bösartig. Er kam eilig die letzten Stufen herunter und hielt das Stemmeisen wie eine Waffe vor sich. Zu Jades und Deenas Entsetzen ging er damit auf Chuck zu. „Chuck!", brüllte Deena. „Pass auf!" In dem Moment, als der Mann mit dem Stemmeisen auf ihn einschlagen wollte, sprang Chuck zur Seite. Das Eisen verfehlte knapp seinen Kopf. Chuck sah sich mit gehetzten Augen im Wohnzimmer um, dann fiel sein Blick auf die Frau auf dem Boden. Er machte einen Sprung nach vorne, der maskierte Mann setzte ihm nach. Rasch hob Chuck das Fleischmesser auf und richtete es drohend auf den Mann. „Treten Sie zurück!", befahl er. Der Fremde blieb einen Augenblick stehen, dann nickte er langsam. „Du wirst das Messer nicht benutzen", sagte er. „Leg es wieder hin." „Haut ab, Jade und Deena!", schrie Chuck. Schnell flohen die beiden an dem maskierten Mann vorbei zur Haustür hinaus. Chuck richtete das schwere, blutverschmierte Messer immer noch auf den Einbrecher. „Leg das Messer hin", wiederholte der Mann mit tiefer Stimme. „Du wirst es nie im Leben benutzen." Er streckte eine behandschuhte Hand aus, als wollte er Chuck das Messer abnehmen. Chuck wich ihm aus und rannte zur Haustür. Als er sie erreicht hatte, zielte er mit dem Messer auf den Maskierten. Es prallte über dem Kopf des Mannes an der Wand ab und fiel klirrend zu Boden. Chuck raste zur Tür hinaus und dann rannten alle drei -rannten um ihr Leben. „Schnell, steigt ein!", schrie Chuck. Er schob die Mädchen auf den Rücksitz des Autos, raste ums Auto und schlüpfte hinters Steuer. „Deena, die Schlüssel!", rief er. In Todesangst fing Deena an, in ihren Jackentaschen nach den 48
Autoschlüsseln zu wühlen. Im Mondschein konnten sie sehen, wie der maskierte Mann die Auffahrt entlangrannte. Er kam direkt auf sie zu, als es ihr einfiel. „Sie stecken schon!" Chuck ließ den Motor an und gab Gas. Mit quietschenden Reifen schlitterte der Wagen vom Bordstein weg. Chuck hielt das Gaspedal voll durchgedrückt, bis sie das Ende der Straße erreicht hatten - es war eine Sackgasse! „Chuck!", schrie Jade. „Er steigt in sein Auto! Beeil dich!" Deena drehte sich um und sah, wie der Mann in einen alten Wagen einstieg, der direkt in der Auffahrt zum Haus geparkt war. Chuck legte den Rückwärtsgang des Civic ein. „Haltet euch fest!", brüllte er. Im Rückwärtsgang raste er die Strecke, die sie gekommen waren, zurück. Der Fremde bog aus der Auffahrt auf die Straße und verfolgte sie. Chuck hielt das Gaspedal ganz durchgedrückt, und sie flogen rückwärts an den dunklen Häusern der Fear Street vorbei bis auf die Mill Street. Zu spät sah Deena die Scheinwerfer eines großen Lastwagens, der sich ihnen mit hoher Geschwindigkeit aus südlicher Richtung näherte. „Achtung!", schrie sie. Chuck riss das Steuer herum, und das Heck des Wagens wurde auf den Bordstein geschleudert. Der Lastwagen konnte ihnen gerade noch ausweichen und donnerte laut hupend vorbei. Der kleine Honda schlingerte immer noch hin und her. „Pass auf! Wir landen sonst im Graben!", schrie Deena. Doch irgendwie schaffte Chuck es, wieder die Kontrolle über das Auto zu bekommen. Mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung drehte er um und raste die Mill Street entlang. „Wir haben ihn immer noch nicht abgehängt!", schrie Jade gellend. „Fahr schneller!" „Welche Richtung?" „Links!", rief Deena. Die Reifen quietschten schrill, als das kleine Auto auf den Canyon Drive abbog. Die Scheinwerfer des anderen Autos verfolgten sie immer noch. „Hier rechts!", schrie Deena. „Jetzt wieder links!" Das Auto schleuderte so heftig hin und her, dass Deena befürchtete, es würde sich jeden Moment überschlagen. Sie fuhren über ein tiefes Schlagloch, und Deena stieß sich den Kopf am Wagendach. Ehe sie 49
wieder ganz bei Sinnen war, hatte Chuck die nächste Kurve genommen und bog dann in einen schmalen Feldweg ein. „Haben wir ihn abgeschüttelt?", fragte Jade mit dünner Stimme. „Ich glaube ja", erwiderte Chuck und starrte in den Rückspiegel. „Lasst uns heimfahren", sagte Deena erschöpft. „Dort sind wir in Sicherheit." Chuck wendete, fuhr den Park Drive entlang und bog schließlich in die Wohngegend von North Hills ab, wo die Martinsons lebten. Alle drei atmeten erleichtert auf, als das Auto endlich die runde Auffahrt erreicht hatte. Chuck stellte den Motor ab. Einen Augenblick lang saßen sie regungslos im Wagen und atmeten tief durch. Dann hörten sie quietschende Bremsen und das Geräusch eines Autos, das den Hügel hinauffuhr und sich dem Haus näherte. Deena lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter, als sie auf die Straße schaute und Scheinwerfer sah, die immer größer wurden. „Oh nein!", schrie Chuck. „Das ist der Mörder!"
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Kapitel 9 „Los, ins Haus!", rief Chuck. „Da drinnen sind wir vor ihm sicher." Die drei stiegen hastig aus und liefen auf die Veranda. Doch bevor sie hineingehen konnten, raste das Auto die Auffahrt hinauf und direkt auf sie zu; der Kies spritzte links und rechts weg, und die Scheinwerfer des Wagens glühten wie die Augen eines wilden Tiers. Aber anstatt anzuhalten, drehte der maskierte Mann eine Runde in der Auffahrt und entfernte sich dann mit hoher Geschwindigkeit auf der Pine Road in Richtung Zentrum. „Er ist weg", flüsterte Jade mit erstickter Stimme. „Lasst uns reingehen", sagte Chuck. Deena ging hinter den anderen ins Haus. Sie wünschte, ihre Eltern wären da gewesen. Noch mehr wünschte sie sich, dass ihre Hände aufhören würden zu zittern. Chuck stand schon neben dem Telefon und wählte den Notruf. „Hallo", sagte er. „Schicken Sie sofort einen Krankenwagen in die Fear Street 884. Dort ist eine Frau erstochen worden. Wer ich bin? Sagen wir einfach, ich bin ... das Phantom der Fear Street." Er legte auf. „Chuck!", meinte Deena irritiert. „Warum hast du das gesagt?" Auch Jade sah ihn fragend an. „Ich kann ihnen doch nicht meinen richtigen Namen nennen. Ich stecke schon genug in Schwierigkeiten. Sonst wollen sie wissen, was wir in dem Haus gemacht haben. Was soll ich denen dann erzählen?" „Aber was ist mit dem Mann?", protestierte Deena. „Müssen wir den nicht anzeigen?" „Wir haben sein Gesicht nicht gesehen", gab Chuck zurück. „Wir können ihn nicht identifizieren – aber er weiß, wo wir wohnen. Wir müssen darauf hoffen, dass die Polizei ihn schnappt." Deena fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, nichts weiter zu unternehmen, doch sie entschied, dass Chuck wahrscheinlich Recht hatte. Die Ereignisse des Abends hatten sie völlig erledigt, und sie gähnte. Chuck hatte sich neben Jade auf die Couch gesetzt und streichelte sanft ihr Haar. Erstaunt nahm Deena wahr, dass Jades 51
Gesicht verheult war. „Das war der schlimmste Abend meines Lebens", sagte Jade. „Hoffentlich wache ich bald auf und stelle fest, das alles nur ein Albtraum war!" „Jetzt ist es vorbei", flüsterte Chuck sanft. Deena sah, dass sich Jade bei Chucks tröstenden Worten entspannte. Doch sie fragte sich, ob er nicht zu optimistisch war. War es wirklich vorbei? Später in derselben Nacht schreckte Deena aus dem Tiefschlaf hoch; sie hatte immer noch das Quietschen von Autoreifen im Ohr. Ihr Herz klopfte heftig, doch dann beruhigte sie sich. „Ich muss das Ganze geträumt haben", dachte sie. Sie fragte sich, ob Chuck und Jade auch Albträume hatten. Chuck und sie hatten Jade kurz vor Mitternacht nach Hause gefahren. Als sie zurückgekommen waren, waren Deenas Eltern immer noch nicht da. Deena hatte sich in ihr Bett fallen lassen und war sofort eingeschlafen. Doch jetzt –jetzt war das Geräusch wieder da. Autoreifen knirschten auf dem Kies der Auffahrt. Eine Autotür wurde zugeschlagen, und dann hörte sie Schritte, die auf das Haus zukamen. „Oh nein, bitte nicht", betete Deena stumm. „Bitte nicht der Mann mit der Maske ..." Es klingelte. Einen Augenblick später hämmerte jemand an die Haustür. Deena lag in ihrem Bett und konnte sich vor Schreck nicht rühren. Dann hörte sie die schläfrige Stimme ihres Vaters: „Einen Augenblick! Ich komme schon!" „Daddy, nein! Mach nicht auf!" Deena sprang aus dem Bett und rannte den Flur entlang, doch es war schon zu spät. Ihr Vater hatte die Kette abgemacht und öffnete die Haustür. Von Panik ergriffen sah Deena sich nach einer Waffe um. Alles, was sie fand, war eine große, grüne Vase, die auf einem Podest am oberen Treppenabsatz stand. Mit zitternden Händen packte sie die Vase und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Als die Tür aufging, erwartete Deena, den Mann mit der Maske zu sehen. Doch stattdessen standen dort zwei Männer in Anzügen. Einer 52
war groß und schlank, der andere klein und dick. Sie wirkten wie ein Komikerpärchen. „Sind Sie Mr Albert Martinson?", fragte der Große. Deenas Vater nickte. „Ich bin Detective Frazier vom Polizeirevier in Shadyside", sagte der große Mann. „Das ist Detective Monroe", fügte er hinzu, indem er auf den Kleineren deutete. „Es tut uns Leid, dass wir Sie zu so später Stunde stören müssen, aber es ist sehr wichtig. Wohnen hier drei Jugendliche – ein Junge und zwei Mädchen?" „Wir haben nur zwei Kinder", antwortete Mr Martinson. „Einen Jungen und ein Mädchen. Worum geht es überhaupt?" „Dürften wir sie bitte sprechen?", fragte der große Polizeibeamte. „Wissen Sie, wie spät es ist?", entgegnete Mr Martinson. „Die beiden schlafen schon. Warum kommen Sie nicht mor –" „Wir möchten ihnen nur ein paar Fragen stellen", unterbrach ihn Frazier. „Es wäre uns unangenehm, darauf bestehen zu müssen." „Also gut", murmelte Mr Martinson. Zuerst war Deena erleichtert gewesen, die Polizisten statt des maskierten Fremden zu sehen, doch jetzt war ihre Erleichterung durch eine neue Angst ersetzt worden. Sie wusste nicht genau, was die Detectives von ihr wollten. Aber sie ahnte, dass dieser Besuch Schwierigkeiten bedeutete. Sie stellte die Vase zurück auf ihren Platz und ging nach unten. „Daddy?", fragte sie. Mr Martinson legte schützend den Arm um sie. „Diese Herren sind von der Kriminalpolizei", sagte er. „Sie möchten dir und Chuck ein paar Fragen stellen." In der Zwischenzeit war auch Mrs Martinson aufgestanden und kam die Treppe herunter. Sie trug einen silbernen Morgenmantel, und ihr fülliges, blondes Haar rahmte ihr Gesicht ein. „Sie sieht aus wie ein Filmstar", dachte Deena. „Was ist los?", fragte sie. „Die beiden Herren von der Polizei sind hier, um Deena und Chuck ein paar Fragen stellen", meinte Mr Martinson. „Um zwei Uhr morgens?", fragte Mrs Martinson verwundert. „Sie sagen, es sei wichtig", erklärte ihr Mann.
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„Dann kommen Sie in die Küche", sagte Deenas Mutter. „Ich mache Kaffee." Deenas Vater ging zur Kellertür und rief nach Chuck. „Hier ist jemand, der dich sprechen will!" Ein paar Minuten später wankte Chuck die Treppe hinauf in die Küche und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er hatte sich verwaschene Jeans und ein grünes T-Shirt übergezogen. Deena merkte, wie mulmig ihm wurde, als er die Polizeibeamten sah. Doch dann beobachtete sie, dass sich seine Furcht in Herausforderung verwandelte – und in Arroganz. Der Kaffee war fertig, aber die Beamten wollten nicht Platz nehmen. Sie blieben an der hinteren Küchentür stehen. Mrs Martinson setzte sich neben Deena an den großen Küchentisch. Beide Eltern wirkten besorgt, während die Ermittler keine Miene verzogen. „Was ist bloß los?", fragte Deena sich. Offensichtlich hatte es etwas mit dem Vorfall in der Fear Street zu tun. Vielleicht wollten die Polizisten sie und Chuck als Zeugen. Doch wie hatten sie sie gefunden? Während Detective Frazier sich Notizen machte, fragte sein Kollege Chuck und Deena nach ihrem Namen, Alter und in welche Schule sie gingen. Dann wurde seine Stimme sehr ernst. „Wo wart ihr gestern Abend zwischen 21.30 Uhr und 23 Uhr?", wollte er wissen. Deena machte den Mund auf, um zu antworten, doch Chuck kam ihr zuvor. „Wir waren hier", sagte er. „Wir haben ein paar Hamburger gegrillt und dann ein bisschen ferngesehen." Deena warf Chuck einen fragenden Blick zu, doch er wich ihr aus. Dann wurde ihr klar, warum er log. Wenn ihr Vater herausfand, was sie wirklich getrieben hatten, würde Chuck in größte Schwierigkeiten kommen. Irgendwie hatte sie das dumpfe Gefühl, dass er sowieso schon eine Menge Probleme hatte! Der Kriminalbeamte wandte sich ihr zu. „Warst du auch hier?", fragte er. Deena schluckte. „Ja", flüsterte sie. „Was hast du gesagt?", fragte Detective Monroe. „Sprich lauter." „Ja", wiederholte Deena. „War noch jemand dabei?" 54
„Nein", antwortete Chuck. „Ja", sagte Deena im selben Augenblick. „Was denn nun?", fragte der Ermittler gereizt. „Ja oder nein?" „Nein", murmelte Deena. „Wir waren allein." Die Polizeibeamten schwiegen eine ganze Weile. Dann warfen sie einander einen viel sagenden Blick zu. Schließlich räusperte Detective Frazier sich. „Kennt einer von euch einen Mr oder eine Mrs Farberson aus der Fear Street 884?", fragte er. „Nein", sagte Chuck. Deena sah ihn verzweifelt an. Sie fühlte sich schrecklich – die Lügen wurden immer schlimmer. Die Ermittler wollten auf irgendetwas hinaus – aber was genau? „Hat einer von euch je mit einem Mr oder einer Mrs Farberson telefoniert?", hakte Monroe nach. „Nein", antwortete Chuck. „Oder sie in ihrem Haus in der Fear Street aufgesucht?" „Nein!", platzte es aus Chuck heraus. „Wir haben Ihnen doch erklärt, dass wir keine Farbersons kennen! Wie oft müssen wir Ihnen das denn noch sagen?" Deena sah ihn an. Er wirkte wütend, aber irgendetwas stimmte nicht mit seinem Gesichtsausdruck. Plötzlich wurde ihr klar, dass er Angst hatte – genauso viel Angst wie sie selbst. Mr Martinson stand auf. „Meine Herren, Sie haben es gehört", sagte er in sehr aufgebrachtem Ton. „Meine Kinder sind keine Lügner. Kommen Sie endlich zur Sache!" Wieder warfen die Polizeibeamten einander einen Blick zu. „Wir haben einen Zeugen, der eure Aussage widerlegt", erklärte Monroe. „Seid ihr sicher, dass ihr eure Geschichte nicht doch noch ändern wollt?" „Wir haben die Wahrheit gesagt", erwiderte Chuck. Er starrte vor sich hin, und Deena sah, dass ein Muskel in seiner Wange zuckte. Ihr Vater stand mit geballten Fäusten neben der Spüle, während ihre Mutter am Tisch saß und zerstreut ein Papiertaschentuch zerriss. „Wer ist der Zeuge?", fragte Deena sich verwundert. „Kann es Jade sein?" Aber wenn sie es war, steckte sie auch in Schwierigkeiten. Vielleicht hatten die Nachbarn was mitgekriegt. Aber sie hatten keine Nachbarn gesehen. Sie hatten nichts Unrechtes getan. Was auch immer passierte, sie waren unschuldig. 55
Detective Frazier seufzte. „Unser Zeuge ist Mr Stanley Farberson", erklärte er. „Er sagt aus, ihr beide und noch ein Mädchen wärt in sein Haus eingebrochen und hättet es verwüstet. Und als seine Frau unerwartet nach Hause kam, hättet ihr sie umgebracht." Deena hielt den Atem an. „ Was?" „Das ist total verrückt!", sagte Chuck. „Erstens waren wir nicht mal in der Nähe der Fear Street. Und zweitens haben wir keinen Grund, etwas zu stehlen oder jemanden umzubringen." „Er behauptet, er hätte euch gesehen", sagte Detective Frazier. „Er hat uns ein Autokennzeichen genannt – und es stimmt mit eurem überein." „Aber was ist mit dem Einbrecher –", platzte Deena heraus. „Deena", zischte Chuck. „Einen Moment, Detective Frazier!", rief Deenas Vater. Obwohl er seinen ausgefransten alten Morgenmantel trug, fand Deena, dass er stark und gefährlich aussah. „Verstehe ich Sie recht, wollen Sie meine Kinder etwa eines Verbrechens beschuldigen?" „Beschuldigen?", wiederholte Frazier. „Das noch nicht. Aber wir haben –" „Warten Sie!", schnitt Mr Martinson ihm das Wort ab. Er sah Deena an. „Deena, hast du so etwas getan?" „Natürlich nicht, Dad", sagte sie. „Was in Wirklichkeit passiert ist –" Ihr Vater unterbrach sie mit einem kurzen Kopfschütteln. Er wandte sich an Chuck. „Chuck, hast du was mit dieser Sache zu tun?" „Nein", antwortete Chuck mit düsterer Miene. Deena warf Chuck einen beunruhigten Blick zu. Ihr Vater näherte sich Frazier. „Ich weiß zwar nicht, was gestern Abend passiert ist", sagte er, „aber ich kenne meine Kinder. So etwas würden sie nicht machen, und sie würden mich auch nicht anlügen. Ich verstehe, dass Sie nur Ihre Pflicht tun, aber die beiden werden ohne einen Anwalt kein Wort mehr sagen." Detective Frazier nickte, als würde ihn das nicht weiter überraschen. „Ich muss Ihre Kinder leider mitnehmen", meinte er. „Aus welchem Grund?", brauste Mr Martinson auf. „Weil irgend so ein Verrückter glaubt, er hätte sie gesehen? Sie haben keine Beweise -"
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„Wir haben genügend Beweise, um sie für weitere Fragen festzuhalten", sagte Frazier. „Wir haben Ihr Auto untersucht. An der vorderen Stoßstange und den Reifen klebt der grüne, sandige Lehm, der nur an dem Ende der Fear Street vorkommt, wo die Farbersons wohnen. Er ist noch feucht. Ihr Auto muss vor wenigen Stunden dort gewesen sein." Ziemlich bedrückt hielt der Polizeibeamte inne. Er sah erst Deena und dann Chuck an. „Macht es nicht noch komplizierter, als es schon ist", warnte er sie. „Geht jetzt freiwillig mit. Wenn nicht, bin ich gezwungen wiederzukommen – mit zwei Haftbefehlen!"
Kapitel 10 Soweit so gut. Sein Plan hatte sogar besser funktioniert, als er gedacht hatte. Dieses eine Mal hatte er das Glück auf seiner Seite. Alles lief wie geschmiert. Jetzt musste er nur noch eine Woche abwarten. Abwarten und Tee trinken – es sei denn, jemand versuchte, ihm die Sache zu vermasseln. Wenn das geschah – na ja, ein weiterer Mord würde ihm nicht allzu schwer fallen. Er würde sicher leichter sein als der erste.
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Kapitel 11 Die dritte Septemberwoche Deena wachte Sonntagnachmittag um zwei auf. Sie lag einen Augenblick verwirrt im Bett. Dann kam ihr alles, was letzte Nacht passiert war, wieder ins Gedächtnis wie ein böser Albtraum. Die Ermittler hatten Chuck und sie aufs Polizeihauptrevier gebracht. Mr und Mrs Martinson waren im BMW gefolgt. Die Polizeibeamten sagten Deenas Mutter, dass ihr Honda als Beweisstück konfisziert würde. Bevor sie abfuhren, hatte Chuck Deena flüsternd eingeschärft: „Sag bloß nichts, Deena. Wir sind unschuldig. Jedes Wort zu viel macht es nur noch schlimmer." Auf dem Hauptrevier sah alles genau so aus wie im Film. Es gab einen mürrischen, grauhaarigen Polizisten und graue Metallschreibtische, auf denen sich Formulare häuften. Obwohl es spät in der Nacht war, füllte ein uniformierter Beamter einen Bericht aus und telefonierte. Deena hatte nur ein paar Minuten, um sich umzusehen, denn kurz nachdem sie angekommen waren, wurden Chuck und sie getrennt, und man brachte sie in ein kleines Zimmer ohne Fenster. Sie saß an einem schäbigen Tisch mit einer zerkratzten Linoleumplatte, während die Ermittler sie verhörten. Sie fragten sie immer wieder nach der dritten Person, die dabei gewesen war. Deena war nahe daran, die Wahrheit zu sagen, aber ihr fiel Chucks Warnung ein, und außerdem wollte sie Jade nicht auch noch in Schwierigkeiten bringen. Nach ein paar Minuten tauchte der Anwalt ihres Vaters, Sidney Roberts, auf. Er wechselte ein paar Worte in unverständlicher Rechtssprache mit den Ermittlern, dann verließen sie zu dritt den Raum. Deena war so müde, dass ihr ziemlich egal war, was passierte. Sie fragte sich, ob sie in eine Zelle gesperrt werden würde. Wenigstens hätte sie dann eine Pritsche, auf die sie sich legen konnte.
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Das Nächste, an was sie sich erinnerte, war, dass ihr Vater sie wachrüttelte. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und war am Tisch eingeschlafen. „Komm, Liebling", sagte ihre Mutter. „Wir können jetzt nach Hause fahren." Ganz zittrig stand Deena auf und gähnte. „Was ist geschehen?", fragte sie. „Wir lassen dich gehen - fürs Erste", schaltete sich Detective Monroe ein, der im Türrahmen stand. „Aber du darfst vorläufig die Stadt nicht verlassen." Fast hätte Deena gelacht. „Klar", dachte sie. „Als könnte ich irgendwo anders hin. Aber wie rennt man vor einem Albtraum weg?" Sie ging hinter ihren Eltern durch den Flur des Gebäudes und hinaus in die kalte Nachtluft. Im Osten wurde es schon ein bisschen hell. Auf dem Parkplatz erinnerte sie sich. „Chuck!", sagte sie. „Wo ist Chuck?" „Sie haben ihn festgenommen", antwortete ihr Vater grimmig. „Was?", fragte Deena entsetzt, plötzlich war sie hellwach. „Das ist nicht das erste Mal, dass er mit der Polizei zu tun hat", fuhr ihr Vater fort. Seine Stimme klang müde und traurig. „Letztes Jahr in Center City sind Chuck und ein paar andere Jungen bei einer Spritztour in einem gestohlenen Auto erwischt worden." „Aber", protestierte Deena, „das hat doch nichts mit dem zu tun, was gestern Abend passiert ist!" Plötzlich wirkte ihr Vater um Jahre gealtert. „Die Polizei hat sich seine Ermittlungsakte aus Center City besorgt", sagte er. „Sie haben seine Fingerabdrücke überprüft. Und ... es sieht so aus, als würden sie mit den Abdrücken auf dem Messer übereinstimmen, mit dem Mrs Farberson ermordet wurde."
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Kapitel 12 Als sie schweigend nach Hause fuhren, starrte Deena hinaus in die Morgendämmerung. Wie sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr einfach nicht, die grauenvolle Szene in der Fear Street aus dem Gedächtnis zu verbannen. Immer wieder hatte sie das verwüstete Wohnzimmer vor Augen, die Frau auf dem Boden, das Messer – und das Blut. Am liebsten hätte sie ihren Eltern alles gesagt. Wenn sie es jemandem erzählen könnte, würden die schrecklichen Bilder vielleicht verschwinden. Aber wie konnte sie die Sache erklären? Wo sollte sie beginnen? Ihr Vater brach das Schweigen als Erster. „Ich verstehe das Ganze einfach nicht", sagte er mit einer Stimme, die sie selten an ihm gehört hatte. „Wenn du und Chuck nichts darüber wisst, wie können dann Chucks Fingerabdrücke auf dem Messer sein?" „Ich ... also ..." Deena spürte, wie der ganze Schrecken wieder in ihr hochstieg. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Luftballon, der jeden Moment zerplatzen würde. „Was ,also'?", fragte ihr Vater. Deena konnte es nicht länger für sich behalten. „Klar sind seine Fingerabdrücke auf dem Messer!", schrie sie. „Aber er hat die Frau nicht umgebracht! Sie war schon tot! Ehrlich! Ihr müsst mir einfach glauben!" Dann fing sie an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. „Ganz ruhig, ganz ruhig", sagte ihre Mutter sanft. „Wir reden darüber, wenn wir wieder zu Hause sind." Ihr Vater schwieg und starrte regungslos durch die Windschutzscheibe; im Rückspiegel wirkten seine Augen kalt und leer. Trotz der frühen Stunde kam Jade, sobald Deena sie anrief. „Vielleicht können wir es meinen Eltern gemeinsam erklären", sagte Deena, als sie Jade die Tür aufmachte. „Ich glaube nicht, dass ich es allein schaffe." Ausnahmsweise sah Jade schlecht aus. Ihre Augen waren gerötet. Sie war bleich wie ein Gespenst und hatte sich einen alten Pullover 60
übergezogen, der ein Loch und einen Fleck am Ärmel hatte. „Sitzt Chuck wirklich im Gefängnis?", flüsterte sie, während sie in die Küche gingen, um Deenas Eltern alles zu erzählen. „Ja. Er ist doch schon volljährig. Das bedeutet, dass sie ihn wie einen Erwachsenen verurteilen können." „Aber er ist unschuldig!", meinte Jade. „Was ist mit einer Kaution? Kann dein Vater ihn nicht rausholen?" „Für Mordverdächtige gibt es keine Kaution", erwiderte Deena. Mord. Sie konnte kaum glauben, dass sie das Wort laut ausgesprochen hatte. „Du musst mir helfen", sagte Deena und drückte Jades Hand. „Wir müssen zusammen meine Eltern überzeugen." Sie betraten die hell erleuchtete Küche. Mr und Mrs Martinson begrüßten Jade, ohne zu lächeln. Mrs Martinson schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein. „Okay. Jetzt ist Jade da", sagte Mr Martinson mit grimmiger Miene. „Ich will alles von Anfang an hören." Während sie mit den Tränen kämpften und mit zitternden Händen Kaffee tranken, berichteten Deena und Jade den Martinsons, was geschehen war. Sie fingen mit den Anrufen an und endeten mit ihrem Besuch in der Fear Street und der anschließenden Verfolgungsjagd. Danach schwiegen Deenas Eltern lange. Sie starrten auf den Boden und schüttelten den Kopf. „Wollt ihr etwa sagen, das Ganze hat mit einem Telefonstreich begonnen?", fragte Mr Martinson schließlich. „Und hat mit einem Mord geendet", sagte Jade mit leiser Stimme. „Aber es besteht keine Verbindung zwischen beidem", fügte Deena hinzu. Es war schwer zu glauben, dass die albernen Anrufe bei Rob Morell und den anderen erst vor zwei Wochen angefangen hatten. Es kam ihr eher vor wie zwei Jahre. „Wir wollten niemandem einen Schaden zufügen, Mr Martinson", sagte Jade. „Es war einfach lustig, nur ein Spaß." „Ich verstehe es nicht. Wie ist Chuck in die Sache verwickelt worden?", fragte Deenas Mutter. „Er hat zufällig einen der Anrufe mitgehört", erklärte Jade. „Und dann hat er – na ja – selbst ein paar Telefonstreiche gemacht. Aber das hat ihn noch gar nicht auf die Telefonnummer der Farbersons 61
gebracht." „Was meinst du damit?", fragte Mr Martinson. „Na ja, wisst ihr, da war eine Fledermaus", sagte Deena. „Eine Fledermaus?", stieß ihre Mutter irritiert aus. „Deena, bitte rede keinen Unsinn!" Deena seufzte. Ihr war klar, wie unglaubwürdig das alles klang. Und wenn ihre Eltern ihnen die Geschichte schon nicht abnahmen, wie konnten sie dann erwarten, dass die Polizei ihnen glauben würde? „Das Mädchen versucht ganz offensichtlich, ihren Bruder zu decken", flüsterte Detective Monroe seinem Kollegen Frazier zu. Er sprach laut genug, damit Deena es hören konnte. Es war am späten Sonntagnachmittag. Deena und Jade hatten gerade ihre ganze Geschichte von Anfang an wiederholt. Doch sie konnten von den Gesichtern der Kriminalbeamten ablesen, dass die nur einen Teil davon glaubten – den Teil, der Chuck in einem schlechten Licht erscheinen ließ. „Wir wollen es noch einmal durchgehen", sagte Detective Frazier. „Also, wann hat Chuck die Drohanrufe gemacht – vor oder nach seiner Bombendrohung?" „So wie Sie es ausdrücken, klingt es schrecklich!", sagte Deena und bemühte sich, nicht die Kontrolle zu verlieren und wieder in Tränen auszubrechen. „Aber das waren nur harmlose Streiche. Und er hat nicht viele Anrufe gemacht!" „Auch nur eine einzige Bombendrohung ist eine ernste Sache", betonte Frazier. „Und du sagst, er hätte dabei den Namen ,Das Phantom der Fear Street' verwendet?" „Höchstens bei ein oder zwei Anrufen", antwortete Deena. „Jemand mit diesem Namen hat kurz nach dem Einbruch bei den Farbersons einen Notarzt angerufen", sagte Frazier. „Das war Chuck", meinte Jade. „Und warum hat er diesen Namen verwendet?", forschte Frazier weiter. „Wenn er nichts Unrechtes getan hat, warum hat er dann nicht seinen richtigen Namen genannt?" „Weil – das haben wir Ihnen doch schon gesagt!" Deena war so genervt, dass sie am liebsten geschrien hätte. „Weil er schon in genug Schwierigkeiten steckte. Er war aus seiner alten Schule geflogen, hatte 62
sich in der Cafeteria der Schule in eine Schlägerei verwickeln lassen –" „Mit anderen Worten, ein rechtschaffener Bürger", meinte Frazier sarkastisch. „Lasst uns weitermachen", schlug Detective Monroe vor. „Zu dem Abend, an dem der Mord passierte: Also, ihr sagt, Chuck hätte die Nummer der Farbersons zufällig aus dem Telefonbuch herausgesucht?" „Genau", antworteten Deena und Jade gleichzeitig. „Und das soll er getan haben, weil ihr Mädchen euch vor einer Fledermaus gefürchtet habt?" Seine Miene drückte Zweifel aus. Deena nickte schweigend. Kein Wunder, dass die Polizeibeamten ihnen nicht glaubten. Es klang alles so verrückt. Und dennoch war es die Wahrheit. „Dann habt ihr beschlossen, in die Fear Street zu fahren – allein?" „Wir wollten es der Polizei melden", sagte Jade. „Aber Chuck hat gesagt, dass Sie uns nie glauben würden. Und er hat Recht behalten!" Monroe schüttelte den Kopf. „Also seid ihr hingefahren und durch die Hintertür eingebrochen –" „Die Hintertür war schon aufgebrochen", widersprach Deena. „Genau", sagte Monroe. „Und dann habt ihr die Leiche von Mrs Farberson entdeckt." „Wir wussten nicht, wer die Frau war", sagte Deena. „Chuck dachte, sie würde vielleicht noch leben", fügte Jade hinzu. „Daher hat er versucht, einen Krankenwagen zu rufen", erklärte Deena. „Und in diesem Augenblick ist euer geheimnisvoller Fremder mit der Maske aufgetaucht, wie?", fragte Frazier. „Er ist nicht geheimnisvoll!", entgegnete Deena. „Den gibt es wirklich! Er ist eingebrochen, hat das Haus verwüstet und Mrs Farberson erstochen. Als wir ankamen, war er noch dort! Warum suchen Sie nicht nach ihm, statt Chuck ins Gefängnis zu stecken?" „Farberson hat heute Nachmittag Chuck in einer Gegenüberstellung eindeutig identifiziert", sagte Monroe nüchtern. „Chucks Fingerabdrücke sind auf der Mordwaffe gefunden worden", ergänzte Frazier. „Und das waren die einzigen Abdrücke auf dem Messer." 63
„Aber das haben wir doch längst erklärt!", rief Deena. „Als der Mann mit der Maske – ach, was soll's!" Sie unterdrückte ihre Tränen und warf Jade einen verstohlenen Blick zu. Jade war genauso aufgebracht wie Deena. Sie wirkte ein bisschen grün im Gesicht, so als müsste sie sich gleich übergeben. Ein paar Minuten lang sagten die Polizeibeamten nichts. Dann fing Monroe wieder an: „Kann eine von euch mir erklären, warum ein Einbrecher – nein, sogar ein Mörder – im Haus verweilt, wenn er hört, dass drei Leute hereinkommen?" „Es macht keinen Sinn", fügte Frazier zu. „Weshalb sollte er riskieren, dass ihr ihn seht? Warum hat er sich nicht versteckt, bis ihr weg wart? Oder versucht, unbemerkt zu fliehen?" „Warum sollte er euch verfolgen?", warf Monroe ein. „Wenn er das, was ihr behauptet, wirklich getan hat, hätte er doch kein Interesse daran gehabt, drei Jugendliche mit seinem Auto zu verfolgen und dann einfach wegzufahren!" „Wir wissen auch nicht, warum er das getan hat!", schrie Deena. „Aber alles, was wir Ihnen gesagt haben, ist die Wahrheit!" Detective Monroe seufzte. „Hört her, Deena ... Jade. Es ist schön, zu jemandem zu halten. Ich versuche, das meinen eigenen Kindern beizubringen. Aber Loyalität ist keine Tugend mehr, wenn sie euch zu Lügen verführt, um einen schlechten Menschen zu decken. Diese verrückte Geschichte kann Chuck jedenfalls auch nicht weiterhelfen." „Sie ist nicht verrückt", widersprach Deena. „Sie ist wahr." „Kommt schon", meinte Frazier. „Ich weiß, dass es für euch sehr schwer ist. Ihr könnt Chuck am meisten helfen, wenn ihr uns die Wahrheit sagt. Also denkt bitte sorgfältig nach und erzählt uns dann, was wirklich passiert ist."
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Kapitel 13 Am Sonntagabend konnte Deena nicht einschlafen. Die Ereignisse der letzten beiden Tage gingen ihr unablässig im Kopf herum. Es war schlimm genug, dass die Polizei Jade und ihr kein einziges Wort geglaubt hatte. Jetzt musste sie auch noch in die Schule gehen und sich ihren Freunden stellen, die alle denken würden, dass sie, Jade und Chuck in einen Mord verwickelt waren. Am Montagmorgen traf sie sich vor Schulbeginn mit Jade auf dem Parkplatz. Jade trug einen dunkelblauen Pullover und darüber eine weiche rosa Wolljacke. Sie war wieder wie die alte Jade angezogen. Doch diesmal verzog sie die Mundwinkel nicht zu einem frechen Grinsen – stattdessen sah sie wütend aus. „Hast du das gelesen?", fragte sie und hielt Deena die Morgenzeitung hin. Gleich auf der ersten Seite stand ihre Geschichte. Die fett gedruckte Schlagzeile lautete: JUGENDLICHER DES MORDES ANGEKLAGT Darunter stand in kleinerer Schrift eine zweite Überschrift: ACHTZEHNJÄHRIGER TATVERDÄCHTIGER MIT DROHANRUFEN IN VERBINDUNG GEBRACHT Mit laut klopfendem Herzen fing Deena an zu lesen: Charles A. Martinson, der Sohn des hiesigen Leiters der Telefongesellschaft, Albert B. Martinson, wurde am Sonntagmorgen wegen des Mordes an Edna Lemley Farberson (45) festgenommen. Mrs Farberson, die erst vor sechs Monaten nach Shadyside gezogen war, wurde von ihrem Ehemann Stanley (46) in ihrem Haus in der Fear Street 884, das bei dem Einbruch völlig verwüstet wurde, tot
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aufgefunden. Laut Polizeiquellen überraschte Mrs Farberson den Tatverdächtigen während des Einbruchs. Ein Handgemenge folgte, bei dem Mrs Farberson mit einem Fleischmesser mit 25 cm langer Klinge erstochen wurde. Ihr Mann identifizierte die Mordwaffe als eines ihrer Küchenmesser. Mr Farberson sagte gegenüber der Polizei aus, als er nach Hause gekommen sei, hätte der Tatverdächtige gerade fliehen wollen. Mr Farberson konnte aber sein Autokennzeichen notieren. Der Mann der Ermordeten war früher als gewöhnlich vom Alberga, einem beliebten italienischen Restaurant, dessen Eigentümer er ist, nach Hause gekommen. „Normalerweise komme ich erst nach Mitternacht zurück", berichtete Farberson unserem Reporter. „Doch Edna ist nicht ans Telefon gegangen, und deswegen habe ich mir Sorgen gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass irgendwas nicht in Ordnung war." Der junge Martinson sitzt in Untersuchungshaft, während die Ermittlungen der Polizei weitergehen. Auch zwei weibliche Jugendliche wurden vorübergehend festgenommen und später ihren Eltern übergeben. Laut Polizeiquellen sind die drei Teenager in eine Anzahl von Drohanrufen verwickelt, die in den letzten Wochen in der Gegend von Shadyside verübt wurden. Auch die Bombendrohung, die das Bowling Center von Shadyside letzten Samstag erhielt, soll auf ihr Konto gehen. Aus gleicher Quelle konnten wir erfahren, dass Charles Martinson sich in den besagten Anrufen als „Phantom der Fear Street" ausgegeben hat, während die Mädchen anonyme Anrufe bei Mitschülern tätigten. Deena las den ganzen Artikel erst einmal und dann ein zweites Mal durch in der Hoffnung, sich verlesen zu haben. Mit düsterer Miene gab sie die Zeitung an Jade zurück. „Ich schwänze heute die Schule", sagte sie und wünschte, sie könnte es wirklich. „Furchtbar, nicht wahr?", meinte Jade. „Aber glaubst du, die anderen haben gemerkt, dass wir das sind?" „Wer soll es denn sonst sein?", konterte Deena. „Chuck ist mein Bruder, und alle wissen, dass du und ich befreundet sind. Ich verstehe bloß nicht, wie Farberson Chuck sehen konnte. Wir haben 66
ihn doch auch nicht gesehen!" „Deena, wir sind um unser Leben gerannt!", erwiderte Jade. Dann warf sie wieder einen Blick- auf die Zeitung. „Sie behaupten, wir seien beide verhaftet worden. Dabei war ich noch nicht mal mit auf dem Revier!" „Das ist egal", sagte Deena. „Der Artikel lässt alles im schwärzesten Licht erscheinen. Die Leute werden das Schlimmste annehmen." „So wie die Polizei", bemerkte Jade. „Genau", stimmte Deena ihr zu. Wie die zwei Mädchen befürchtet hatten, waren an diesem Tag Chuck und der Mord das einzige Gesprächsthema in der Schule. Chuck war erst seit zwei Wochen auf der Highschool in Shadyside, deshalb kannten ihn nur wenige Schüler. Aber nach der großen Pause wussten alle, dass er Deenas Bruder war und dass Deena und Jade am Abend, an dem der Mord geschah, mit ihm zusammen gewesen waren. Doch seltsamerweise verurteilte niemand die beiden. Im Gegenteil: Viele Mitschüler schienen Mitleid mit ihnen zu haben. Deena war erstaunt, als Kathy Narida ihr in der ersten Stunde einen Zettel zuspielte. „Mach dir keine Sorgen", stand darauf. „Ich kenne Chuck aus dem Erdkundeunterricht, und ich bin sicher, dass er unschuldig ist." Die meisten waren einfach nur neugierig. Sie wollten wissen, was eigentlich genau passiert war. Deena bemühte sich, so wenig wie möglich zu sagen, ohne abweisend zu wirken. Es wurde noch schwieriger, als Lisa Blume, die stellvertretende Herausgeberin der Schülerzeitung, Deena zwischen der zweiten und dritten Stunde abpasste. „Ich habe das mit deinem Bruder gehört", sagte Lisa zu ihr. „Ganz schön schlimm." „Ja", sagte Deena. „Ich bin aber sicher, dass er völlig unschuldig ist", fuhr Lisa fort. „Klar ist er das." Deena wollte sich an Lisa vorbeizwängen und ins Klassenzimmer gehen, doch Lisa legte ihr die Hand auf den Arm. „Übrigens", sagte sie beiläufig, „du und Jade, ihr sollt angeblich mit Chuck zusammengewesen sein, als es passiert ist. Unsere Schülerzeitung würde echt gern einen Artikel darüber bringen." „Tut mir Leid", meinte Deena, „aber die Polizei hat uns verboten, 67
darüber zu reden." „Willst du die Leute denn nicht wissen lassen, dass dein Bruder unschuldig ist?", fragte Lisa. „Natürlich will ich das!", erwiderte Deena. „Aber ... aber jedesmal, wenn ich versuche, ihm zu helfen, mache ich alles nur noch schlimmer! Bitte, dräng mich nicht, Lisa!" „Okay", sagte Lisa. „Ich verstehe schon. Aber vielleicht kannst du mir ein bisschen was über die andere Sache erzählen – die nichts mit dem Mord zu tun hat." „Was meinst du damit?", fragte Deena. „Na ja, was ist mit den Telefonanrufen?" Deena spürte, wie ihr Herz sank. „Das war nur ein harmloser Streich", antwortete sie. „Es hatte nichts mit dem Mord zu tun – ehrlich." „Kannst du mir die Namen der Leute nennen, die ihr angerufen habt?" „Nein!", erwiderte Deena. Dann sagte sie lächelnd und, wie sie hoffte, gelassen: „Die Polizei hat mich angehalten, nicht darüber zu sprechen. Es war wirklich keine große Sache! Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss in den Unterricht." „In Ordnung", sagte Lisa. „Aber wenn alles vorbei ist, gibst du mir dann ein Exklusiv-Interview?" „Klar", versprach Deena. „Falls es je vorbei sein wird", dachte sie. In Trigonometrie war Deena nur halb bei der Sache. Während Mr Spencer über Sinus, Cosinus und Tangens redete, dachte sie an all das, was Samstagabend geschehen war, und die furchtbaren Schwierigkeiten, in denen Chuck jetzt steckte. Der große Mann mit der Maske ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Der Einbrecher. Der wahre Mörder. Wenn sie ihn doch nur irgendwie finden könnte. Vielleicht würde die Polizei Chuck dann laufen lassen. Aber wie sollte sie das anstellen? Wo sollte sie anfangen zu suchen? Nach dem Unterricht war sie mit ihren Gedanken immer noch bei dem maskierten Mann, als jemand auf dem Flur sie hart anrempelte. Überrascht und verärgert schaute sie auf und erblickte Bobby McCorey, der sie wütend anstarrte. 68
„Entschuldige", murmelte sie, obwohl er es gewesen war, der sie angerempelt hatte. Sie wollte weitergehen, doch er verstellte ihr den Weg. Jetzt merkte sie, dass seine beiden Kumpel Eddie Mixon und Ralph Terry direkt hinter ihm standen. Deena funkelte Bobby an. Was wollte er von ihr? Er kannte sie doch kaum. In ihrem ganzen Schulleben hatten sie kaum drei Worte miteinander gewechselt. Und dann fiel es ihr wieder ein. Bobby war der Junge, mit dem Chuck sich an seinem ersten Schultag geprügelt hatte. Noch schlimmer – er war auch der erste, den Chuck als „Phantom der Fear Street" angerufen hatte! „Lasst ihr mich vorbei?", fragte Deena – bemüht, höflich, aber bestimmt zu klingen. „Klar doch", antwortete Bobby. „Nachdem du mir zugehört hast." „Okay", sagte Deena betont kühl. „Ich höre." „Ich will, dass du deinem Bruder eine Botschaft überbringst, Deena", meinte Bobby. „Richte dem ,Phantom der Fear Street' aus, falls er jemals aus dem Knast rauskommt, fangen seine Probleme erst richtig an. Kapiert?" Deena schwieg. „Richte ihm das aus", wiederholte Bobby. „Natürlich kommt er sowieso nie wieder frei. Die Zeitungen schreiben", fügte er in boshaftem Ton hinzu, „dass er schuldig ist. Und das bedeutet lebenslänglich." Plötzlich legte sich ein Tränenschleier auf ihre Augen, und sie merkte nicht, dass Bobby sich längst umgedreht hatte und den Flur entlangging; dabei lachten er und seine beiden Freunde schadenfroh. Wie betäubt stolperte Deena in die Cafeteria und stellte sich in die Warteschlange. Gewöhnlich war sie eine der Ersten, weil sie mit dem Mittagessen gern schnell fertig war, um an schönen Tagen an die frische Luft gehen zu können, oder an kalten oder regnerischen Tagen in die Bibliothek. Doch heute war sie fast die Letzte. Sie zeigte wahllos auf irgendwas und brachte ihr beladenes Tablett dann an den Tisch, an dem Jade allein saß. „Ich habe schon gedacht, du wärst in den Hungerstreik getreten", meinte Jade. „Ich bin schon fast fertig." „Wenn du noch Hunger hast, kannst du mein Essen haben", bot Deena 69
ihr an. „Ich habe heute keinen richtigen Appetit." „Ich weiß, was du meinst", sagte Jade. „Keiner kann über etwas anderes als den Mord reden." „Und die Telefonanrufe", stimmte Deena ihr zu. Sie nahm einen Bissen undefinierbares braun-grünes Zeug und würgte es hinunter. „Da fällt mir ein", sagte Jade, „heute Vormittag bin ich Rob Morell begegnet. Er hat mich gefragt, ob ich irgendwas über erotische Anrufe wüsste, die er gekriegt hat." Deena zuckte zusammen. „Oh nein! Du hast ihm doch nicht etwa -" „Ich habe nur gesagt, dass ich ihn nicht angerufen habe", antwortete Jade. „Aber in der Zeitung stand doch, dass wir beide –" „Tatsache ist, dass er sich mit dir über die Sache unterhalten will", sagte Jade. „ Da kommt er ja schon." Deena sah Rob Morell, der sich mit einem freundlichen Lächeln und seinem Tablett näherte. Voller Panik stand sie auf und blickte sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. „Setz dich wieder", sagte Jade streng. „Du hast noch nicht aufgegessen." Sie schob ihren Stuhl zurück. „Ich kann leider nicht bleiben, weil ich dringend ein Buch in die Bibliothek zurückbringen muss!" „Jade, bitte!", flehte Deena sie an. Doch es war zu spät. Frech grinsend drehte Jade sich um und ging davon. Einen Augenblick später setzte sich Rob Morell auf den freien Stuhl. „Hi Deena." „Hi", murmelte sie. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er wirkte gar nicht wütend oder irritiert, nur freundlich. „Ich habe die Sache mit deinem Bruder gehört", eröffnete er das Gespräch. „Was für ein Mist." „Er ist unschuldig", sagte Deena. „Ja, klar ist er das", antwortete Rob. „Ich meine, nicht dass ich ihn gut kenne, aber er scheint ein netter Typ zu sein." Deena schwieg. Wie immer, wenn sie mit Jungen zusammen war, fiel ihr rein gar nichts ein, was sie hätte sagen könnten. „Weißt du", fuhr Rob fort, „seit wir letztes Jahr zusammen in Geometrie waren, wollte ich mit dir reden. Hast du Lust, dich mal mit mir zu treffen?" 70
„Warum nicht?", antwortete Deena, die ihren Ohren kaum traute. „Du hast wahrscheinlich ziemlich viel zu tun, bis diese Sache mit deinem Bruder bereinigt ist", meinte Rob. „Aber ich werde dich mal anrufen, wenn es dir nichts ausmacht." „Das ist okay", sagte Deena lächelnd. „Super!" Rob stand auf. „Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es mir Spaß machen wird, mit dir zu telefonieren!" Später am Abend versuchte Deena, sich auf ihre TrigonometrieHausaufgaben zu konzentrieren, doch es war ihr unmöglich. Wie sehr sie sich auch bemühte, eine Aufgabe zu lösen, immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Chuck oder Rob Morell. Tatsache war, Rob war der Erste, der sie seit der Sache in der Fear Street wieder zum Lächeln gebracht hatte. Was hatte er damit gemeint, als er gesagt hatte, dass er mit ihr telefonieren wollte? Wusste er, dass sie die Anrufe gemacht hatte? Glaubte er, sie würde auf ihn stehen? Oder mochte er sie einfach nur? Schließlich hatte er gesagt, dass er seit dem Geometrieunterricht mit ihr reden wollte. Außerdem fiel ihr wieder ein, dass er sie im letzten Jahr manchmal im Unterricht angelächelt hatte. Deena gähnte und klappte ihr Mathematikbuch zu; dann machte sie sich fürs Bett fertig. Als das Telefon klingelte, zuckte sie nervös zusammen. „Hallo?", fragte sie und hoffte, es sei Rob. Es war Jade. Ihre Stimme klang aufgeregt und drängend. „Deena, mach den Fernseher an! Kanal Sieben! Schnell!" Dann legte sie auf. Verwirrt schaltete Deena den kleinen Fernseher ein, der auf ihrem Schreibtisch stand. Es waren die Lokalnachrichten dran, und ein Reporter interviewte gerade einen großen Mann mit einer Schlägervisage. Irgendwas an dem Mann kam ihr bekannt vor. Deena war sicher, dass sie ihn nicht persönlich kannte, doch sie hatte das Gefühl, als wäre sie ihm schon mal irgendwo begegnet. „Was fühlen Sie, wenn Sie an den Tatverdächtigen denken?", fragte der Reporter. „Ich hoffe, er kriegt die Höchststrafe!", antwortete der Mann mit tiefer, knurrender, merkwürdig vertrauter Stimme. „Ich weiß, man soll 71
die andere Wange auch noch hinhalten, aber ich kann ihm dieses schreckliche Verbrechen nicht verzeihen." „Vielen Dank, Mr Farberson", sagte der Reporter. „Und nun zurück ins Studio." Deena starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Mr Farberson? Jetzt war ihr klar, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Sie hatte seine Stimme wiedererkannt. Mr Farberson war der Mann mit der Maske!
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Kapitel 14 Sofort rief Deena Jade zurück. „Ist er der, für den ich ihn halte?", fragte sie, sobald ihre Freundin den Hörer abnahm. „Er ist es eindeutig", antwortete Jade. „Diese Stimme werde ich nie vergessen." „Ich auch nicht", stimmte Deena ihr zu. „Ich glaube, wir sollten nochmal zur Polizei gehen." „Na klar", sagte Jade verbittert. „Sie haben uns beim letzten Mal kein Wort geglaubt. Und warum sollte das jetzt anders sein?" „Aber er ist doch der Mörder, Jade!", rief Deena. „Ich werde gleich morgen früh Detective Frazier anrufen." „Viel Glück. Vor allem, da die Polizei noch nicht einmal glaubt, dass der maskierte Mann existiert." „Aber wir haben ihn gesehen", gab Deena zurück. „Wenn es Mr Farberson war, dann bedeutet das, dass er in sein eigenes Haus eingebrochen ist." „Und seine eigene Frau umgebracht hat", fügte Jade mit leiser Stimme hinzu. Deena überlegte einen Augenblick lang und fragte sich, welchen Grund jemand haben könnte, so ein schreckliches Verbrechen zu verüben. „Vielleicht hatten er und seine Frau ja einen schlimmen Streit", sagte sie schließlich. „Kann sein", stimmte Jade ihr zu. „Und vielleicht hat er sie im Streit getötet. Aber warum sollte er in sein eigenes Haus einbrechen? Das ergibt keinen Sinn." „Moment mal", sagte Deena. „Was ist, wenn er es genau deshalb getan hat?" „Was?", fragte Jade verwirrt. „Das kapiere ich nicht." „Was ist, wenn er in sein Haus eingebrochen ist, um es so aussehen zu lassen, als sei ein Einbrecher der Mörder gewesen? Was ist, wenn das alles Teil seines Plans war?" Jade schwieg einen Moment lang. „Ich verstehe, was du meinst", sagte sie. „Aber warum wollte er sie umbringen?" 73
„Das weiß ich nicht", antwortete Deena. „Aber ich bin sicher, dass die Polizei das herausfinden kann, und dann müssen sie Chuck freilassen." „Schon möglich", sagte Jade zweifelnd. „Klar werden sie das. Du wirst schon sehen. Und dann können wir das alles vergessen und endlich wieder ein normales Leben führen." Wenn die Polizei auf sie hörte. Irgendwie war sie sich dessen doch nicht so sicher. „Lass mich das Ganze noch einmal zusammenfassen", sagte Detective Frazier langsam. Es war früh am nächsten Morgen. Deena hatte ihm eine Nachricht hinterlassen wollen, doch er hatte den Anruf selbst entgegengenommen. Als sie den skeptischen Ton in seiner Stimme hörte, wünschte sie sich fast, sie hätte ihm nichts erzählt. „Du und deine Freundin behauptet, dass der maskierte Mann, den ihr angeblich im Haus der Farbersons gesehen habt, Mr Farberson selbst war?", fuhr Frazier fort. „Wir sind uns ganz sicher", sagte Deena. „Als wir ihn gestern Abend im Fernsehen gesehen haben, erkannten wir ihn beide ... sofort ... an seiner Stimme." „Und weil er es war", fuhr Deena fort und ignorierte seinen Mangel an Begeisterung, „bedeutet das, dass er es selbst getan hat – er ist in sein Haus eingebrochen und hat seine Frau umgebracht." „Hat eure Stimmanalyse euch auch verraten, warum Mr Farberson diese Verbrechen begangen haben soll?", fragte Frazier. „Ich weiß nicht. Vielleicht hatte seine Frau eine hohe Lebensversicherung", sagte Deena. „Oder sie haben sich gestritten. Ich bin sicher, Sie können das herauskriegen." „Ach, da bist du dir also sicher?", fragte der Kriminalbeamte. Er schwieg einen Augenblick, dann seufzte er. „Das ist eine interessante Story, die du dir zusammengereimt hast. Aber mehr auch nicht. Zu deiner Information: Mr Farberson ist ein hoch angesehener Geschäftsmann dieser Stadt. Ich kann zwar deinen Wunsch, den Verdacht von deinem Bruder abzulenken, nachvollziehen – aber dieses Märchen kaufe ich dir nicht ab." Deena legte auf; ihr war schlecht. Jade hatte Recht behalten – die Polizei glaubte ihnen nicht. Das bedeutete, dass es nun an ihr und 74
Jade lag, Mr Farberson zu überführen. Aber wie? Sie machte sich für die Schule fertig, bevor sie Jade anrief. „Was sollen wir jetzt tun?", fragte sie mit einem Seufzen, als sie mit ihrem Bericht geendet hatte. „Mal sehen", sagte Jade. „Treffen wir uns vor dem Mittagessen an meinem Schließfach. Ich glaube, ich habe eine Idee." Zum verabredeten Zeitpunkt fand Deena Jade über ihr Schließfach gebeugt. Die Freundin war damit beschäftigt, zwei riesige Kartons in dem kleinen Fach zu verstauen. „Hi", sagte Jade und schaute auf. „Wir sollten unbedingt eine Kampagne für größere Schließfächer starten." „Was um alles in der Welt ist da drin?", fragte Deena. „Sachen zum Verkleiden." „Zum Verkleiden?" Schließlich schaffte Jade es, die Tür zum Schließfach zuzudrücken und sie mit ihrem Hängeschloss abzuschließen. Dann sah sie Deena mit ihrem typischen frechen Lächeln an. Es war eindeutig, dass sie etwas vorhatte. Aber was? Aufgeregt sprach Jade weiter: „Nach unserem Gespräch heute Morgen habe ich den Artikel in der Shadyside Press noch mal gelesen." „Lass mich bloß damit in Ruhe!", sagte Deena. „Er ist aber mit Informationen über Mr und Mrs Farberson gespickt", erklärte Jade. „Zum Beispiel steht drin, dass Mr Farberson der Besitzer und Manager des Alberga ist." „Na und?", fragte Deena. „Na ja", sagte Jade, „wo kann man mehr über Mr Farberson erfahren als an seiner Arbeitsstätte?" „Du meinst, wir sollen ins Alberga gehen und mit ihm reden? Bist du verrückt geworden?" „Manche Leute mögen mich für verrückt halten", erwiderte Jade, „aber die Idee ist gut. Schau mal, Deena, ihm gehört das Lokal. In dem Artikel steht, dass er Samstagabend früher nach Hause gekommen ist. Das bedeutet, dass er tagsüber wahrscheinlich gar nicht dort ist." „Langsam dämmert es mir", sagte Deena. 75
„Genau. Wir fahren gleich nach der Schule hin. Mein Dad ist auf Geschäftsreise, deshalb kriege ich die Corvette. Wir schnüffeln einfach ein wenig herum. Mal sehen, ob wir nicht irgendwas herausfinden können." „Ich weiß nicht so recht", zögerte Deena. „Es klingt ziemlich gefährlich. Was ist, wenn er früher auftaucht? Vergiss nicht, er kennt uns." „Stimmt", sagte Jade. „Aber er kennt mich als Rothaarige mit langem Haar und dich als Blondine mit Stufenschnitt." „Das sind wir ja auch", sagte Deena irritiert. „Aber nicht heute Nachmittag", fuhr Jade fort. Sie zeigte auf ihr verschlossenes Schließfach. „Heute früh vor der Schule bin ich beim Frisör meiner Mutter vorbeigefahren und habe zwei Perücken ausgeliehen. Ich habe gesagt, wir brauchten sie für ein Stück, das die Theatergruppe aufführt." Sie lächelte verschmitzt. „Glaube mir, Deena, selbst unsere eigenen Eltern würden uns damit nicht wiedererkennen – und Mr Farberson schon gleich gar nicht!" Nach der Schule traf Deena sich mit Jade im Raum der Theatergruppe. Sie hatte ihren Eltern gesagt, dass sie zur Bücherei gehen müsste. Die Mädchen blinzelten in den grell beleuchteten Schminkspiegel, während sie die Perücken aufsetzten und dick Make-up auflegten. Als sie fertig waren, fand Deena, dass sie beide toll aussahen. Jade war jetzt eine Blondine mit Strubbelfrisur und grünem Lidschatten, während Deena wilde, rotbraune Locken hatte. Jade malte mit einem Augenbrauenstift einen Schönheitsfleck auf Deenas Wange. „Jetzt wirken wir beide mindestens wie achtzehn", sagte Jade. „Komm schon, das wird ein leichtes Spiel." Das Alberga lag ein paar Meilen entfernt im alten Stadtkern. Jade war noch nie dort gewesen, doch ihre Eltern gingen manchmal zum Essen hin. Trotz ihrer Verkleidungen spürte Deena, dass ihr Magen sich ängstlich zusammenzog, als Jade die rote Corvette auf dem Parkplatz direkt vor dem Restaurant abstellte. „Ich weiß nicht, Jade", sagte sie. „Vielleicht ist das doch keine so gute Idee ..." „Hör zu", sagte Jade. „Wir haben keine andere Wahl. Keiner wird 76
uns glauben. Wir müssen Chuck aus der Klemme helfen. Lass mich mal machen." Die Mittagessenszeit war schon vorbei, deshalb war das Lokal fast leer. Es war dunkel und wirkte kühl; große Nischen und lange Tische waren mit dunklem, samtigem Stoff dekoriert. An einer Wand hing ein großes Gemälde mit einer italienischen Landschaft, und auf jedem Tisch brannten Kerzen in Haltern aus Glas. „Lass uns eine Pizza zum Mitnehmen bestellen", scherzte Deena, um die nervöse Spannung zu brechen. „Hör auf zu spinnen", sagte Jade. „Vergiss nicht - du hältst den Mund und lässt mich reden." Einen Augenblick später kam eine große, dunkelhaarige Frau zu ihnen herüber, um sie zu begrüßen. Sie trug eine weiße Seidenbluse und einen wadenlangen grünen Rock; sie war so elegant wie das Restaurant. „Kann ich Ihnen helfen?", fragte sie. „Wir wollen uns um einen Job bewerben", antwortete Jade. Die Frau sah die Mädchen an, ohne ihr Erstaunen zu verbergen. „Hat die Agentur euch geschickt?", fragte sie. „Ja", sagte Jade. „Aber wir haben nur eine freie Stelle", wandte die Frau ein. „Mr Farberson braucht nur eine Assistentin." „Ich will mich bewerben", erklärte Jade. „Meine Freundin ist bloß so mitgekommen." „Ich dachte, Sie suchen beide – ach, ist ja auch egal", sagte die Frau. „Sie wirken noch ein wenig jung, aber seit Miss Morrison letzte Woche gekündigt hat, suchen wir dringend Ersatz. Sie haben Erfahrung mit Buchhaltung?" „Absolut", antwortete Jade. „Dann kommen Sie mit", sagte die Frau. „Sie können im Büro das Bewerbungsformular ausfüllen." Jade wandte sich zu Deena um und zwinkerte ihr zu. Dann folgten die beiden Mädchen der hoch gewachsenen Frau durch die Restaurantküche in einen kleinen Korridor. Die Frau klopfte an eine verschlossene Tür und rief: „Mr Farberson?" „Ich dachte, er arbeitet abends?", fragte Jade, aus ihrer Stimme klang Panik. 77
„Er hat sehr viel zu tun und fängt schon früh an", erwiderte die Frau. „Das ist auch einer der Gründe, warum wir sofort eine Assistentin brauchen." Sie klopfte noch einmal. Deena und Jade warfen sich rasch einen Blick zu. Deena setzte an, umzudrehen und wegzulaufen, doch bevor sie sich rühren konnte, ging die Tür auf. Und da stand der Mann mit der Schlägervisage. Der Mann, den Deena und Jade als den Maskierten wiedererkannt hatten. „Ja bitte?", fragte er mit seiner tiefen Stimme. „Eine dieser jungen Damen möchte sich für Lindas Stelle bewerben", sagte die Frau. „Die Agentur hat sie geschickt." „Ach ja?", fragte Farberson. Er sah Jade scharf an, dann wandte er sich Deena zu. Deena hatte das Gefühl, als hätte ihr Herz zu schlagen aufgehört. Farberson nahm sich Zeit, die beiden Mädchen ausgiebig zu mustern. Dann setzte er sich wieder hin. „Wie alt seid ihr?" „Ich bin neunzehn", sagte Jade. „Ich war auf der Handelsschule und habe eine kaufmännische Ausbildung." „Ach ja?", machte Farberson. Deena fiel sein beschränktes Vokabular auf. „Na ja, Sie können schon mal ein Bewerbungsformular ausfüllen", sagte er. Deena fing wieder an zu atmen. „Nehmen Sie Platz", sagte Farberson und zeigte auf zwei ausgebeulte Klappstühle. Er hielt Jade ein Formular hin. „Ich bin in ein paar Minuten wieder da." Dann wandte er sich an die Frau. „Komm, Katie", sagte er. „Wir wollen das Weininventar überprüfen, bevor Ernie kommt." Mr Farberson und die große Frau verließen das Büro und schlössen die Tür hinter sich. Deena und Jade sahen einander an. „Ich kann es nicht glauben", sagte Deena. „Glaub es ruhig", erwiderte Jade. „Schnell – wir haben nicht viel Zeit!" Hastig umrundete sie Mr Farbersons großen Holzschreibtisch, der mit Papieren übersät war. Deena folgte ihr. „Was suchen wir eigentlich?" „Weiß ich nicht", antwortete Jade. „Alles mögliche. Wir müssen mehr über Mr Farberson herauskriegen." „Was für eine Unordnung!", sagte Deena und betrachtete die 78
Papierstapel. Wahllos nahm sie ein Blatt in die Hand. „Das hier ist ein Arbeitszeitplan", sagte sie. Jade drehte sich um und sah ihn prüfend an. „Hier steht, dass Mr Farberson nur jeden zweiten Samstagabend arbeitet", sagte sie. „Das bedeutet, dass er am letzten Samstag frei hatte!" „Das ist zwar interessant, aber es beweist nichts", meinte Deena. „Jade, es ist hoffnungslos. Was sollen wir –" „Pssst!", machte Jade. „Such einfach!" Die beiden wühlten weiter in den Unterlagen herum, warfen einen Blick darauf und legten sie so genau wie möglich an ihre Stelle zurück. Nichts, was sie fanden, schien irgendetwas mit ihm oder seiner Frau zu tun zu haben. Deena warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie waren schon fast zehn Minuten hier. Jade runzelte die Stirn und fing an, eine Schublade nach der anderen zu öffnen. „Beeil dich", mahnte Deena. „Er kann jeden Augenblick zurückkommen." „Ich weiß. Aber ich will - einen Moment! Ich habe eine Idee!" „Hoffentlich eine ganz schnelle", sagte Deena. „Immer wenn meine Mutter etwas verstecken will – wie zum Beispiel den Ersatzschlüssel fürs Auto- klebt sie es unter den Boden einer Schublade ..." Jade begann, die Schubladen wieder aufzuziehen, und tastete ihre Unterböden ab. „Mach schnell!", flüsterte Deena und fragte sich, ab welchem Alter man eigentlich einen Herzinfarkt bekommen konnte. Jade untersuchte gerade den Unterboden der letzten Schublade, als Deena ein Geräusch auf dem Flur hörte, dann die gedämpfte Stimme Mr Farbersons, der jemandem namens Ernie etwas zurief. „Jade!" „Aha!", machte Jade. Sie befühlte den Unterboden der Schublade. „Warte einen Augenblick. Ich glaube, ich habe was gefunden!" Gleich darauf verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck von Triumph in Niederlage. „Ist bloß ein Kaugummi." Sie schüttelte betrübt den Kopf und wollte die Schublade zumachen, als ihr ein versiegelter Umschlag ins Auge stach. Der Absender war das Reisebüro von Shadyside. Sie hatte den Brief in der Hand, um ihn zu untersuchen, als die Bürotür aufging.
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Hastig steckte Jade den Umschlag in eine Tasche und eilte über den fleckigen Teppich zurück zu ihrem Stuhl, als Mr Farberson das Zimmer betrat. Deena zwang sich, ihn freundlich anzusehen. Und fröstelte am ganzen Körper. „Also gut, Mädels", knurrte Farberson; sein Gesicht war rot vor Zorn. „Lasst uns mit der Komödie aufhören. Sobald ich euch gesehen habe, wusste ich, was hier gespielt wird!"
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Kapitel 15 „Habt ihr mich verstanden?", wiederholte Mr Farberson. „Ich sagte, ich weiß, was hier gespielt wird!" Jade fand ihre Stimme als Erste wieder. „Wovon reden Sie", fragte sie. „Lüg mich nicht an", knurrte Farberson. Deena fand, dass er das fieseste Gesicht hatte, das sie je gesehen hatte. Was würde er wohl als Nächstes tun - jetzt, da er sie durchschaut hatte. Zu ihrer Überraschung ging er nur hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. Er wirkte zwar immer noch verärgert, aber nicht mehr gefährlich. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Kommt schon", sagte er. „Ich weiß, dass ihr nicht von der Agentur geschickt worden seid. Ich glaube kaum, dass ihr schon achtzehn seid. Was wollt ihr hier?" Deena war in ihrem ganzen Leben noch nie so erleichtert gewesen. Sie bemühte sich, es nicht zu zeigen, aber sie warf Jade einen verstohlenen Blick zu. „Jade ist eine sehr gute Schauspielerin", dachte Deena. Ihre Freundin sah Mr Farberson mit hochgezogenen Augenbrauen fest an. „Warum glauben Sie nicht, dass ich von der Agentur geschickt worden bin?", fragte sie. „Ich bin nicht erst seit gestern auf dieser Welt", erwiderte Farberson. „Und Katie, die Empfangsdame, auch nicht. Sie dachte sich gleich, dass mit euch was nicht stimmt, deswegen haben wir die Agentur angerufen. Die haben heute niemanden vorbeigeschickt." „Also gut", meinte Jade. „Ich sage Ihnen die Wahrheit." Sie klang so, als würde sie ihm damit einen großen Gefallen tun. „Ich habe durch meine Kusine von dieser Stelle erfahren. Sie ist eine Freundin Ihrer ehemaligen Assistentin Linda Morrison. Meine Kusine hat mir erzählt, dass Linda hier nicht mehr arbeitet, und ich brauche einen Job. Bevor ich herkam, habe ich nicht gewusst, dass Sie eine Vermittlungsagentur beauftragt haben." Farberson starrte sie weiterhin an, jetzt lag in seinem Gesicht fast so etwas wie Bewunderung. „Ich muss schon sagen, du hast Mut", sagte er. „Ich bin fast versucht, dir eine Chance zu geben." 81
„Vielen Dank", sagte Jade, „aber jetzt möchte ich den Job nicht mehr. Ich könnte nie glücklich werden in einem Job, in dem ich für jemanden arbeiten müsste, der so misstrauisch ist wie Sie." „Hey, hör mal", sagte Mr Farberson, „ich muss mich schließlich schützen, oder? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Leute versuchen, einen übers Ohr zu hauen." „Schwer zu glauben", erwiderte Jade mit eisiger Stimme. „Komm, Sally", sagte sie zu Deena. „Wir gehen woanders hin, wo die Atmosphäre ein bisschen freundlicher ist." Mit diesen Worten stand sie auf, nahm die Bewerbung, die sie angefangen hatte auszufüllen, und ging zur Tür. Deena folgte ihr mit weichen Knien hinaus, den Flur entlang durch das Restaurant und auf den Parkplatz, wo ihr Auto stand. Keines der Mädchen sagte ein Wort, bis sie einen Block vom Alberga entfernt waren, dann stieß Deena einen Schrei der Erleichterung aus. „Jade, du warst einmalig!", rief sie. „Ich glaube es einfach nicht!" Endlich entspannte sich Jade und lachte los. „Als er sagte, er wüsste, was hier gespielt wird, habe ich gedacht, er meint..." „Ich weiß", sagte Deena. „Mir ging es genauso. Ich hatte Todesangst. Um ein Haar hätte ich alles zugegeben. Aber du warst die Ruhe selbst." „Machst du Witze?", fragte Jade. „Ich dachte, mein Herz sei stehen geblieben! Aber ich wüsste, dass ich unbedingt weiterreden müsste." „Woher kennst du den Namen seiner ehemaligen Assistentin?", wollte Deena wissen. „Den hat uns die Empfangsdame verraten. Zuerst hat sie von Miss Morrison gesprochen, und dann von Linda." „Wow", sagte Deena. „Ich hatte so viel Angst, dass ich gar nicht zugehört habe. Ich finde, du verdienst einen Oscar." Wieder müsste sie lachen. „Ich könnte nie für jemanden arbeiten, der so misstrauisch ist", ahmte sie Jades Tonfall nach. „Das war toll! Und wie gelassen du seine Schubladen durchsucht hast!" „Dabei fällt mir was ein", sagte Jade. Sie trat auf die Bremse und parkte vor einem Getränkeladen. Aus ihrer Tasche holte sie den Umschlag heraus, den sie eingesteckt hatte. Vorsichtig machte sie ihn auf und zog ein Stück gefaltetes Papier heraus. 82
„Was ist das?", fragte Deena. Jade überflog den Zettel. „Eine Flugreservierung", antwortete sie. „Eine Flugreservierung?" „Hör dir das an", fuhr Jade fort. „Der Flug geht nach Buenos Aires, Argentinien. Ohne Rückflug." „Wahnsinn", sagte Deena. „Es scheint, als wolle Mr Farberson verreisen." „Und er hat nicht vor zurückzukommen", fügte Jade hinzu. „Das Flugticket ist auf Samstagmorgen ausgestellt." „Samstag!", rief Deena aus. „Heute haben wir schon Dienstag! Jade, wir müssen es zur Polizei bringen." „Nein, warte!" Jade starrte ungläubig auf das Papier. „Die Flugreservierung gilt für zwei Passagiere, nicht einen." „Was?" Deena riss ihr das Papier aus der Hand und las es durch. „Was hat das zu bedeuten?" „ Wahrscheinlich, dass er seine Frau mitnehmen wollte." „Nach Argentinien ohne Rückflug?" „Vielleicht wollten sie mit dem Schiff oder so zurückfahren", überlegte Jade laut. Sie legte Deena eine Hand auf die Schulter. „Sony - aber das Ticket ist nutzlos. Es beweist gar nichts. Es war ein Griff ins Klo. Wenn wir das der Polizei zeigen, lachen sie uns aus und schmeißen uns hochkant aus dem Revier." „Wir müssen aber die Polizei darüber informieren, dass Farberson in drei Tagen das Land verlässt", beharrte Deena. „Und wie sollen wir erklären, wie wir das erfahren haben?", fragte Jade. „Schließlich ist er ein hoch angesehener Geschäftsmann, hast du das vergessen? Und wir sind bloß zwei Lügnerinnen, die gerade sein Büro durchwühlt haben." Deena starrte auf die Flugreservierung, die sie immer noch in den Händen hielt. „Aber wenn Farberson die Stadt verlässt, werden wir nie beweisen können, dass Chuck unschuldig ist." Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Was sollen wir bloß tun?" Jade dachte nach. „Wir müssen unbedingt mehr über Farberson herauskriegen", sagte sie schließlich. „Vielleicht kann Linda Morrison uns dabei helfen." „Wer?" „Seine frühere Assistentin", antwortete Jade. „Hast du denn schon 83
wieder alles vergessen? Das ist die Frau, auf deren Stelle ich mich heute beworben habe." „Ach ja", sagte Deena. „Stimmt. Aber wie soll die uns helfen? Wir kennen sie noch nicht einmal." „Kannst du für morgen ein Auto kriegen?", fragte Jade statt einer Antwort. Ihr freches Lächeln war wieder da, und Deena wusste, dass sie einen neuen Plan ausheckte. „Mal sehen", sagte Deena. „Meine Eltern sind immer noch sauer wegen der Telefonanrufe, und das Auto meiner Mutter ist doch von der Polizei konfisziert worden." „Hör zu, wir haben morgen den ganzen Tag frei – Lehrerkonferenz, erinnerst du dich? Aber mein Dad kommt morgen zurück, also werde ich keinen fahrbaren Untersatz mehr haben. Versuche, das Auto deines Vaters zu kriegen. Du kannst ihm doch anbieten, ihn zur Arbeit zu fahren. Sag einfach, du müsstest für ein Forschungsprojekt in die große Bibliothek in Waynesbridge." „Wovon redest du?" „Das stimmt zwar nicht", sagte Jade. „Aber was Chuck betrifft, könnte es die wichtigste Hausaufgabe sein, die du je aufhattest." „Ich glaube einfach nicht, dass wir das durchziehen", sagte Deena. Es war elf Uhr vormittags, und sie war so nervös, am Steuer des BMWs ihres Vaters zu sitzen, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich auf das Fahren zu konzentrieren. Gewöhnlich fuhr sie die Autos ihrer Eltern sehr gern. Doch das, was vor kurzem passiert war, in Kombination mit dem, was Jade und sie vorhatten, griff ihr Nervenkostüm ziemlich an. „Entspann dich", sagte Jade. „Konzentrier dich auf den Verkehr. Miss Morrison hat gesagt, wir müssen rechts in den Lakewood Drive abbiegen." „Wie hast du sie überreden können, uns zu empfangen?", wollte Deena wissen. „Ich habe ihr gesagt, wir machen eine Umfrage", sagte Jade selbstzufrieden. „Und dass wir der Meinung sind, mehr Informationen zu bekommen, wenn wir die Leute persönlich aufsuchen." „Na toll", meinte Deena. „Erst bewerben wir uns um einen Job, und jetzt machen wir eine Umfrage. Ich hab es satt, jemanden zu spielen, der ich gar nicht bin, Jade." 84
„Das ist der einzige Weg, Chuck zu helfen. Außerdem gibt es keinen Grund, weshalb wir nicht unsere eigenen Namen verwenden könnten. Und wir versuchen ja wirklich, Informationen von ihr zu bekommen." „Wie hast du sie überhaupt gefunden?" „Mit ein bisschen Detektivarbeit", antwortete ihre Freundin. „Es stehen nur zwei L. Morrisons im Telefonbuch, und sie war die Erste, die ich angerufen habe." Deena zuckte wortlos mit den Schultern. Jade hatte zwar Recht, dass sie nur so Chuck helfen konnten. Doch irgendwie hatte Deena den Eindruck, dass es gleichzeitig ein Spiel für Jade war, eine Gelegenheit für sie, anzugeben und anderen Leuten einen Streich zu spielen. „Hier müssen wir abbiegen!", sagte Jade. „Es muss da vorne im nächsten Block sein." Deena hielt am Straßenrand vor Miss Morrisons Haus. Es war ein kleines, einstöckiges Gebäude mit Holzfassade und einer bunten Blumenvase auf dem Fenstersims. „Vergiss nicht", ermahnte Jade sie, „ich führe das Interview, du machst die Notizen." „Okay", sagte Deena. Sie nahm ihren Notizblock und folgte Jade zum Haus. Die Tür wurde von einer attraktiven, kleinen Frau mit blonden Strähnchen und einem netten Lächeln geöffnet. „Miss Morrison?", fragte Jade. „Ich bin Jade Smith vom S und S Marktforschungsbüro. Wir haben gestern Nachmittag telefoniert. Dies ist meine Kollegin Deena Martinson." „Kein Wunder, dass Jade so viel Erfolg mit ihrer Masche hat", dachte Deena. „Wem sonst würde ein Wort wie ,Kollegin' einfallen?" „Ihr seid beide noch so jung", sagte Miss Morrison. „Kommt herein." „Wir sind auf dem College", erklärte Jade. „Wir machen die Umfragen als Teilzeitjob." Die beiden Mädchen wurden von Miss Morrison in ein Wohnzimmer geführt, das in warmen Beige- und Rosttönen eingerichtet war. Jade setzte sich in einen Sessel und holte ganz professionell einen Kugelschreiber heraus. Deena bemühte sich, Jades Handlungen und ihre Miene zu imitieren, aber sie kam sich idiotisch dabei vor. „Unsere Firma macht gerade eine Umfrage über die Gastronomie in 85
Shadyside", klärte Jade Miss Morrison auf. „Dabei konzentrieren wir uns auf die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Und Sie waren vor kurzem noch im Alberga beschäftigt?" „Das stimmt", sagte Miss Morrison. „Aber woher wisst ihr das?" „Wir haben schon Ihren früheren Arbeitgeber, Mr Stanley Farberson, interviewt", behauptete Jade. „Können Sie mir sagen, wie er als Chef war?" Deena kam es vor, als hätte sich plötzlich irgendetwas an Miss Morrison geändert, als hätte sich ein dunkler Schatten über ihr hübsches Gesicht gelegt. „Er war in Ordnung", sagte sie in scharfem Ton. „Kein schlechter Chef." Jade tat so, als würde sie etwas auf ihren Notizblock kritzeln. „Was genau meinen Sie damit?" Miss Morrison war offensichtlich verunsichert. „Eben das, was ich gerade sagte. Er war okay. Hat alle gut behandelt." „Ich verstehe." Jade machte sich noch eine Notiz. Sie wirkte so seriös und geschäftsmäßig, dass sogar Deena es ihr beinahe abnahm! „Kannten Sie seine Frau?" „Wie bitte?" Miss Morrison errötete. „Seine Frau. Haben Sie seine Frau gekannt?" „Ah ... ja. Sie müssen entschuldigen. Ich bin heute etwas nervös. Ich habe einen schlechten Tag, und dabei ist es noch nicht einmal Mittag." „Wir wollen Sie nicht lange aufhalten", sagte Jade. „Sie kannten also seine Frau?" „Sie ist manchmal ins Restaurant gekommen." Miss Morrison starrte auf die Blumenvase am Fenstersims. „Wie war die Beziehung zwischen Mr und Mrs Farberson?" Statt zu antworten warf Miss Morrison Jade einen misstrauischen Blick zu. „Oh nein, jetzt ist Jade zu weit gegangen", dachte Deena. „Was hat das mit dem Restaurant oder der Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu tun?", fragte Miss Morrison. Sie wollte gerade noch etwas hinzufügen, als neben ihr das Telefon auf dem Tisch läutete Hastig nahm sie den Hörer ab. „Hallo? Ach, Gott sei Dank bist du es, Schatz. Ich hatte so einen schrecklichen Vormittag. Ich – oh." Plötzlich fiel ihr ein, dass Deena und Jade im Zimmer waren. Sie stand 86
auf und gab Jade den Hörer. „Ich gehe an den anderen Apparat. Bitte leg auf, wenn ich im Nebenraum abgenommen habe. Es dauert nur einen Augenblick." „Natürlich", willigte Jade ein. Sie hielt sich den Hörer vors Gesicht und wartete. „Bist du da?", fragte eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung. Jade erstarrte. Sie war sicher, die Stimme zu kennen. Sie presste sich den Hörer ans Ohr. Als Miss Morrison abhob, drückte Jade die Taste, ohne aufzulegen. „Was machst du?", flüsterte Deena. „Pssst." Jade hielt sich den Finger an die Lippen. „Ach, Schatz, ich bin mit den Nerven fertig", sagte Miss Morrison gehetzt. „Du musst herkommen und sie wegbringen." „Aber ich bin auf dem Weg ins Restaurant", sagte die Stimme. Jade wusste, dass sie sich nicht irrte. Es war Farberson! Sie hielt die Luft an. „Ich kann sie nicht länger im Haus behalten. Du musst sie abholen. Bitte, Stanley. Bitte! Komm und bring sie weg." „Also gut", knurrte Farberson. „Ich bin in fünf Minuten da." Fünf Minuten? Jade legte sachte den Hörer auf. „Deena, wir müssen hier verschwinden!" „Was? Wie können wir hier –" Miss Morrison kam ins Wohnzimmer zurück; sie wirkte hektisch. „Tut mir Leid wegen der Unterbrechung." Sie setzte sich wieder in ihren Sessel. „Wo waren wir stehen geblieben?" Jade und Deena standen abrupt auf. „Es tut uns Leid, aber wir müssen gehen", sagte Jade und spähte nervös aus dem Fenster. „Aber was ist mit eurer Umfrage?" „Ach, ich habe einen Fehler mit der Terminplanung gemacht", antwortete Jade. Sie warf einen Blick auf ihren Notizblock, wie um sich zu vergewissern. „Wir werden ein andermal wiederkommen." „Warum gehen wir die Fragen nicht einfach schnell durch?", schlug Miss Morrison vor. „Ich bin sicher, wir können das in fünf Minuten erledigen, und dann musst ihr euch nicht noch einmal 87
herbemühen." „Nein, wirklich", beharrte Jade, in ihrem Gesicht spiegelte sich ihre Panik. „Komm, Deena. Wir müssen uns beeilen. Es tut uns wirklich Leid, Miss Morrison. Danke, dass Sie so viel Verständnis haben." Deena übersah den verwirrten Ausdruck in Miss Morrisons Gesicht und folgte Jade nach draußen. „Key – warum hast du es plötzlich so eilig?", rief sie, als Jade zum Auto rannte und sich auf den Beifahrersitz warf. „Farberson wird jede Minute hier auftauchen!" Das reichte Deena. Sie sprang hinter das Steuer, ließ den Motor an und brauste rückwärts die Auffahrt hinunter. „Fahr einmal um den Block und wieder her", wies Jade sie an. „Was?" „Dann parken wir einen halben Block weg von hier. Wir müssen sehen, was Farberson macht, was hier läuft." „Was läuft hier denn?", fragte Deena. „Miss Morrison hat Farberson ,Schatz' genannt", sagte Jade und sah sich nach Farbersons Auto um. „Ehrlich? Du meinst –" „Ich meine, dass zwischen den beiden definitiv etwas läuft. Sie hat ihn angefleht, herzukommen und irgendetwas mitzunehmen. Sie sagte, sie könnte es nicht länger ertragen, ,sie' in ihrem Haus zu haben. Zuerst hat er geknurrt, aber dann hat er nachgegeben." „Was um alles in der Welt könnte es sein?", fragte Deena. Sie umkreiste den Block und hielt ein paar Häuser entfernt auf der anderen Straßenseite. Nur wenige Sekunden später bog Farbersons alter Wagen um die Ecke und fuhr Miss Morrisons kurze Auffahrt hoch. „Duck dich! Schnell!", flüsterte Jade. „Er könnte uns sonst sehen." Als sie verstohlen über das Armaturenbrett spähten, lief Farberson direkt aufs Haus zu, ohne nach links oder rechts zu sehen. Miss Morrison begrüßte ihn an der Tür, und die beiden küssten sich. Es war ein langer, zärtlicher KUSS. Dann zog sie ihn ins Haus und machte die Tür zu. „Verrückt!", sagte Deena. „Völlig verrückt", meinte Jade. „Die beiden sind ein Paar." „Glaubst du etwa, Miss Morrison ist der Grund, warum Farberson 88
seine Frau umgebracht hat?", fragte Deena. „Ich weiß nicht." Jade starrte auf die verschlossene Haustür, als würde dort die Antwort stehen. „Mir ist gerade etwas eingefallen: die Flugreservierung nach Argentinien." „Was ist damit, Jade?" „Vielleicht ist das zweite Ticket für Miss Morrison." „Du meinst, er plant, das Land mit ihr zu verlassen? Genau! Das passt perfekt!", sagte Deena mit wachsender Erregung. „Er hat seine Frau umgebracht und will mit Miss Morrison flüchten. Jetzt haben wir wirklich etwas für die Polizei." „Nein, haben wir nicht." Jade schüttelte den Kopf. „Wir haben nur eine Menge Vermutungen. Vielleicht hat Farberson eine Affäre mit Miss Morrison. Na und? Das beweist noch lange nicht, dass er seine Frau umgebracht hat. Wir haben keine Beweise, Deena." „Na, dann müssen wir halt die Beweise bekommen! Warum sitzen wir hier im Auto? Sollten wir uns nicht heranschleichen und einen Blick durchs Fenster werfen?" „Nein. Auf keinen Fall. Er bleibt nur einen Augenblick. Er hat ihr gesagt, er sei auf dem Weg ins Restaurant." In dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hatte, ging die Haustür auf und Farberson trat hinaus. „Was trägt er da?", flüsterte Jade. Farberson hatte ein kleines Päckchen in der Hand. Es schien eine zugeschnürte, braune Papiertüte zu sein. Er nahm den Deckel der kleinen Mülltonne neben Miss Morrisons Veranda ab und wollte das Päckchen hineinwerfen. Dann überlegte er es sich plötzlich anders und nahm das Päckchen mit zu seinem Auto. „Das ist äußerst merkwürdig", sagte Deena und duckte sich tief hinter das Steuer. „Was um alles in der Welt kann da drin sein?" Sie beobachteten, wie Farberson rückwärts die Auffahrt hinunterfuhr. „Folge ihm, Deena", sagte Jade. „Ich bin gespannt, was er mit dem Päckchen vorhat." Deena ließ den Motor des BMW an und folgte Farbersons Wagen; sie hielt einen guten halben Block Abstand. „Ich weiß, was es ist", sagte sie plötzlich, als sie um die Ecke bog. 89
„Was?" „Ich weiß, was in der Tüte ist, Jade. Ich bin mir ganz sicher." „Also, komm schon. Mach es nicht so spannend!", drängte Jade. „Seine Maske", sagte Deena und behielt dabei Farbersons Auto im Auge. „Seine Maske und das blutige Hemd, das er an dem Abend getragen hat, als er seine Frau umgebracht hat!"
Kapitel 16 „Pass auf den Bus auf!" Gerade noch rechtzeitig riss Deena das Steuer herum und wich einem Bus aus. Der Fahrer hupte wütend. „Tut mir Leid", entschuldigte sich Deena bei Jade. „Ich war so damit beschäftigt, Farbersons Auto nicht aus den Augen zu verlieren. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich über den Mittelstreifen gefahren bin." „Wir kommen gleich zu seinem Restaurant", meinte Jade. „Mit dem Päckchen habe ich ganz bestimmt Recht", sagte Deena, als sie vor einer Ampel hielt. „Er musste die Maske und das blutdurchtränkte Hemd irgendwo verstecken." „Genau", stimmte Jade ihr zu. „Bei Miss Morrison war der ideale Aufbewahrungsort." , Ja, vielleicht. Ich habe gehört, wie sie am Telefon gesagt hat, sie könnte es nicht länger ertragen, sie im Haus zu haben. Sie hat ihn angefleht, sie wegzubringen. Damit könnte sie die Maske und das Hemd gemeint haben." „Wenn ich wirklich Recht habe, haben wir genügend Beweise", sagte Deena und lächelte seit langem zum ersten Mal. „Jetzt werden wir der Polizei beweisen, dass wir die Wahrheit gesagt haben, und dann müssen sie Chuck freilassen." „Hey, langsam!" „Aber ich bin so froh über –" „Nein, ich meine: Fahr langsam", sagte Jade. „Da drüben ist Farbersons Restaurant. Er parkt direkt davor." Deena trat auf die Bremse. Zum Glück war hinter ihr kein Auto. 90
Sie sah einen Parkplatz auf der anderen Straßenseite, ließ einen Lieferwagen vorbei, wendete in großem Bogen und parkte den BMW ein. Sie beobachteten, wie Farberson aus seinem Auto stieg und es abschloss. Er klemmte sich das braune Päckchen unter den Arm. Er ging damit zu einer Reihe von Mülltonnen, die am Bordstein standen. „Super!", flüsterte Jade. „Wenn er es in eine dieser Tonnen wirft, können wir es ohne Probleme holen, sobald er im Restaurant verschwunden ist." Doch wieder einmal überlegte Farberson es sich anders und ging in eine schmale Gasse neben dem Restaurant. „Komm – wir müssen ihm folgen", sagte Jade. Vorsichtig stiegen sie aus dem Auto, und Jade rannte über die Straße. „Aber ... aber er wird uns sehen!", rief Deena leise und folgte Jade. An der Hauswand entlang schlichen sie hinter Farberson zur Rückseite des Restaurants. An der Hausecke blieben sie stehen und beobachteten, wie er einen kleinen Hof betrat, der auf allen vier Seiten von Häusern umgeben war. Mitten auf dem Hof stand ein großer, gelber Müllcontainer. Farberson sah sich suchend um, als wollte er nicht beobachtet werden. Jade und Deena drückten sich gegen die schmutzige Steinwand und hielten den Atem an. Farberson warf die Papiertüte in den Container und verschwand rasch durch eine Hintertür ins Restaurant. „Lass es uns holen", flüsterte Deena. Sie zitterte vor Aufregung. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie kaum Luft bekam. „Pssst. Warte noch eine Minute", sagte Jade und hielt die Freundin zurück. „Nicht dass er wieder herauskommt." Die Minute erschien beiden Mädchen wie eine Ewigkeit. Als sie sicher waren, dass die Luft rein war, nickten sie einander zu und rannten zum Müllcontainer. Sie befanden sich mitten auf dem Hof, als eine Männerstimme verärgert rief: „Hey, was macht ihr da?" Deena erstarrte. Es war, als sei ihr Herz plötzlich stehen geblieben. Sie wirbelt herum. Die Tür zur Restaurantküche war offen. Zwei Männer mit weißen Schürzen standen an einer langen Arbeitsfläche und schnitten 91
Gemüse. Einer von ihnen trat in den Türrahmen. „Ach ... wir dachten, der Eingang ist hier hinten", sagte Jade schlagfertig wie immer. Der Mann kaute auf einem Zahnstocher und sah die Mädchen argwöhnisch an. „Wir haben noch zu", sagte er. „Ach so. Okay. Dann kommen wir später wieder", sagte Jade. Sie folgte Deena, die schon weglief. Sie rannten die enge Gasse zurück. Keine von ihnen sprach ein Wort, bis sie wieder sicher im Auto saßen und zu Deena nach Hause fuhren. „Mann, das war knapp", murmelte Jade schließlich. Sie wirkte immer noch ziemlich geschockt. „Der Koch sah nicht gerade aus wie ein netter Kerl." „Was machen wir jetzt?", jammerte Deena. „Wir müssen das Päckchen holen! Wir waren schon so nahe dran! Hätten wir doch -" „Wir gehen noch einmal hin", unterbrach Jade sie. „Aber die Küchentür steht offen. Der Typ wird uns nie in die Nähe des Müllcontainers lassen!" „Nein, nicht jetzt", sagte Jade und überlegte fieberhaft. „Wir kommen heute Abend zurück. Dann sind die Köche so beschäftigt, dass sie es bestimmt nicht mitkriegen, wenn wir ihren Abfall durchwühlen." Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. „Was meinst du?", fragte Jade schließlich. „Wollen wir es nochmal wagen?" Deenas Miene verhärtete sich. „Wir haben keine andere Wahl", antwortete sie leise. „Park so nahe an der Gasse wie möglich", riet Jade ihr. „Nur für den Fall, dass wir flüchten müssen." Deena spürte, wie ihr ein Angstschauer den Rücken hinunterlief. „Glaubst du denn, dass das nötig sein wird?" Jade zuckte mit den Schultern. „Ich bin nur vorsichtig. Schau mich nicht so ängstlich an! Keiner wird uns etwas antun, nur weil wir einen Müllcontainer durchwühlen." „Was ist, wenn Farberson uns erwischt?" Deena wich einem Mädchen auf einem Fahrrad aus, das vor ihrer Nase die Straße überquerte. „Ich wünschte, die Scheinwerfer wären stärker. Irgendwie finde ich es heute Abend so dunkel." 92
„Wir haben eine mondlose Nacht", sagte Jade und betrachtete den Himmel durch die Windschutzscheibe. „Es ist schon fast neun. Ich bin sicher, dass Farberson genug zu tun hat." „Hoffentlich hast du Recht", gab Deena zurück, die ihre böse Vorahnung nicht abschütteln konnte. Jetzt tauchte das Restaurant auf. „Es scheint heute Abend gut besucht zu sein", sagte Deena, während sie langsamer fuhr und einen Parkplatz suchte. „Die Parkplätze in der Gasse sind alle belegt." „Na ja", meinte Jade enttäuscht, „dann nehmen wir eben den leeren Parkplatz gegenüber. Vielleicht haben wir Glück und müssen nicht um unser Leben rennen." „Sehr witzig", sagte Deena. Sie fuhr auf den Parkplatz und stellte das Auto so nahe an der Gasse ab wie möglich. „Wie kommt es, dass du so gute Laune hast?" „Habe ich nicht", erwiderte Jade ernst. „Ich bin bloß aufgeregt wegen deiner Vermutung mit dem Päckchen. Und wenn du Recht hast und wir die Maske finden, können wir Chuck aus dem Gefängnis holen und den wahren Mörder überführen!" Deena atmete tief durch. „Gehen wir." Ein paar Sekunden später schlichen sie durch die enge Gasse. In der Dunkelheit wirkte sie noch viel schmaler und länger und auch viel unheimlicher. „Warum haben wir keine Taschenlampen mitgenommen?", fragte Deena, als sie direkt hinter Jade die Hauswand entlang lief. „Das ist zu auffällig", flüsterte Jade. „Mach dir keine Sorgen. Sobald wir auf den Hof kommen, haben wir genug Licht von den umliegenden Gebäuden." Sie erreichten die Rückseite des Restaurants. Der Hof wurde von einer einzigen Glühbirne über der Küchentür erleuchtet. Beide Mädchen waren erleichtert zu sehen, dass die Tür zu war. „Wenigstens etwas", flüsterte Deena. „Bete zu Gott, dass keiner sie aufmacht, während wir hier hinten sind", sagte Jade. Dann keuchte sie und wich zurück, sodass sie beinahe mit Deena zusammengeprallt wäre. „Jade – was ist los?", stieß Deena erschrocken aus. „Etwas ... etwas ist über meine Füße gelaufen ..."
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Deena sah auf den Boden. Eine große graue Ratte rannte an ihnen vorbei und verschwand in der Dunkelheit. „Iliih, das fühlte sich ganz widerlich an", sagte Jade und atmete schwer. „Da sind bestimmt noch mehr Ratten", sagte Deena mit zitternder Stimme. „Wahrscheinlich fressen sie die Abfälle." „Huch!" Eine zweite Ratte sprang vom oberen Rand des Müllcontainers. Sie landete auf dem Asphalt, quietschte kurz und verschwand hastig in derselben Richtung wie ihr Gefährte. „Komm, Deena. Lass uns mal sehen, was die Ratten uns übrig gelassen haben." Als sie sich dem großen Container näherten, warf Deena einen Blick auf die Gebäude, die den Hof einrahmten. Mehrere Fenster waren erleuchtet. Sie hoffte, dass niemand sie zufällig hier unten beobachten würde. „Komm jetzt", drängte Jade. „Der Container ist zu hoch, um bis auf den Boden sehen zu können. Wir müssen hineinklettern." „Was? Da hinein?" Deena holte tief Luft. Der Gestank verfaulender Lebensmittel stieg ihr in die Nase. „Daran gewöhnst du dich", sagte Jade und hielt sich die Nase zu. „Glaube ich wenigstens. Hilf mir mal hinauf. Ich klettere hinein, und dann ziehe ich dich hoch." „Es ist so ekelhaft", klagte Deena, der langsam schlecht wurde. „Ich... ich ertrage den Gestank nicht." „Deena – vergiss den Geruch. Wir holen nur schnell das Päckchen und verschwinden." Deena bemühte sich, ihre Freundin hochzuhieven. Jade packte den Rand des Containers, zog sich daran hoch und sprang hinein. „Wenn du glaubst, da draußen würde es stinken, dann warte, bis du hier drin bist!", rief sie. „Siehst du die Tüte?", fragte Deena hoffnungsvoll. „Nein, bloß verfaulten Kohl", sagte Jade. „Sie müssen heute viel Kohlsalat gemacht haben!" Sie streckte Deena ihre Hände über den Rand entgegen. „Komm schon. Ich helfe dir hinein. Wir müssen beide suchen." „Sind da drin ... sind da drin Ratten?", fragte Deena, während sie 94
Jades Hände ergriff. „Ach, nur ein paar", antwortete Jade trocken. Ein paar Sekunden später stand Deena neben ihr bis zu den Knien im Abfall. „Los jetzt." Sie fingen an, in den klebrigen, verrottenden Küchenresten zu wühlen. „Ist das ekelhaft!", klagte Deena. „Wenn ich nach Hause komme, muss ich mindestens eine Stunde lang duschen." „Unsere Klamotten werden wir vergraben müssen", meinte Jade. „Wo ist nur das Päckchen? Wahrscheinlich ganz unten auf dem Boden. Iiihh, diese Fischreste ..." Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Sie waren still und duckten sich tief. Die Küchentür ging auf. Deena hielt den Atem an. Jemand näherte sich dem Müllcontainer. Und dann flogen zwei große schwarze Plastiksäcke auf die Mädchen. Jade rutschte im schleimigen Abfall aus. Deena konnte ihr Gleichgewicht gerade noch halten. Keine gab einen Ton von sich. Die Schritte entfernten sich. Die Küchentür klappte zu. „Jade – wo bist du?", flüsterte Deena und räumte einen der Müllsäcke beiseite. „Wo wohl?" Jades Stimme klang dumpf. „Oh Gott. Ich bin voller Küchenreste!" Sie wollte sich aufrichten, doch dann hielt sie inne. „Was ist los?", fragte Deena. Am anderen Ende des Containers raschelte etwas. Dort musste eine hungrige Ratte sein. „Warte mal", sagte Jade und tastete auf dem Boden herum. Dann lächelte sie und hielt das braune Päckchen hoch. „Ich hab es!" „Schnell – mach es auf!", rief Deena aufgeregt. „Ist es die Maske?" „Nein – nicht hier", sagte Jade. „Lass uns zurück zum Auto gehen." Deena stimmte eilig zu. Sie sprang vom Rand des Containers und half dann Jade hinunter. Sie warfen einen prüfenden Blick auf die Tür zur Restaurantküche, doch die war geschlossen. Den Gestank des Abfalls noch immer in der Nase, rannten sie, so schnell sie konnten, die dunkle Gasse entlang. Als sie den Bürgersteig erreicht hatten, stießen sie fast mit einem alten Ehepaar zusammen, das gerade das Restaurant verließ. „Passt doch auf, wohin ihr geht!", schrie der Mann. Doch sie hörten erst auf zu rennen, als sie am Parkplatz ankamen. 95
Dann lehnten sie sich beide gegen das Auto und warteten, bis sie wieder atmen konnten. „Mach es auf. Komm schon", bettelte Deena. „Wir haben es geschafft, Jade! Wir haben unsere Beweisstücke! Ich habe doch gewusst, dass wir Chuck helfen können!" Das Päckchen war sehr fest verschnürt. Jade quälte sich mit dem Knoten ab. „Es fühlt sich zu schwer an für eine Maske", sagte sie. „Das liegt daran, dass sein Hemd auch drin sein muss", meinte Deena, die Jades Bemühungen ungeduldig verfolgte. Endlich zog Jade die Schnur weg und riss das Papier auf. Beide Mädchen kreischten, als sie sahen, was in der Papiertüte war.
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Kapitel 17 Die tote Katze schien sie anzustarren. Ihre Augen waren aus den Höhlen hervorgetreten. Sie stank schlimmer als der Müllcontainer. Jade ließ die Katze, die immer noch in das braune Papier gewickelt war, auf den Boden fallen. „Ich glaube es einfach nicht", stieß Deena hervor. „Eine tote Katze! Farberson hat eine tote Katze weggeworfen!" „Miss Morrison hat gesagt, sie hätte einen schlechten Vormittag gehabt", erinnerte sich Jade. „Ich nehme an, weil ihre Katze gestorben ist. Wahrscheinlich hat sie es nicht übers Herz gebracht, sie selbst wegzuschaffen. Deswegen hat sie Farberson gebeten, es für sie zu übernehmen." „Ich glaube es nicht", wiederholte Deena und schüttelte den Kopf. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. „Ich war mir so sicher, Jade." „Ich auch." Jade lehnte sich gegen das Autoheck und schloss die Augen. „Ich dachte, wir hätten die Maske. Ich dachte – ach, was soll's", sagte sie verbittert. Sie schaute auf die tote Katze vor ihren Füßen und verzog das Gesicht. „Und jetzt?", fragte Deena missmutig. „Was haben wir von unserer ganzen Detektivarbeit?" „Na ja, zumindest wissen wir, dass Farberson vorhat, am Samstag das Land zu verlassen. Und dass er und Miss Morrison –" „Jade", unterbrach Deena sie zutiefst enttäuscht. „Wir haben nichts. Nicht den geringsten Beweis, dass er seine Frau umgebracht hat. Nichts." „Na ja, vielleicht hat er es auch nicht getan", sagte Jade nachdenklich. „Was?" Deena sah Jade entsetzt an „Vielleicht haben wir die falsche Schlussfolgerung gezogen, weil Farbersons Stimme der des maskierten Mannes gleicht." „Nein. Er war es", beharrte Deena. „Daran habe ich keinen Zweifel." Jade sah sie an. „Nicht den geringsten Zweifel?" 97
Deena antwortete nicht. Stattdessen seufzte sie müde. „Komm, lass uns nach Hause fahren." Sie stiegen ins Auto. Deena suchte in der Dunkelheit nach dem Autoschlüssel. „Warum beleuchten sie diesen Parkplatz nicht? Er ist genauso düster wie die Gasse." Jade schauderte. „Erinnere mich bloß nicht daran." Endlich fand Deena den Schlüssel und mühte sich ab, ihn ins Zündschloss zu stecken. „Mach schon – dass wir hier wegkommen", sagte Jade nervös. „Ich versuche es ja", antwortete Deena verzweifelt. Sie ließ den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. Als der Wagen anfuhr, drehte sie sich um, um aus dem Rückfenster zu schauen - und in diesem Augenblick tauchte eine große Hand auf dem Rücksitz auf und packte sie an der Schulter. „Nein", schrie sie und trat mit voller Wucht auf die Bremse. Jade drehte sich um und riss vor Schreck die Augen weit auf, als sie den Mann mit der Maske sah, der mit der anderen Hand ihre eigene Schulter umklammerte. „Au! Sie tun mir weh!", schrie Jade. Brutal drückte er ihre Schultern und kam mit seinem maskierten Gesicht ganz nahe. „Ich will euch hier nie wieder sehen", sagte er mit tiefer, bösartig knurrender Stimme. „Ich warne euch nur einmal." Sein Atem war heiß und roch nach Knoblauch. Er gab den Mädchen einen harten Schubs von hinten. Dann sprang er aus dem Auto, ohne die Tür zuzumachen, und verschwand in der Dunkelheit.
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Kapitel 18 Am nächsten Tag quälte Deena sich durch den Unterricht. Den ganzen Vormittag über hatte sie die Stimme des maskierten Mannes im Ohr, der ständig seine Warnung wiederholte. Ihre Schulter tat immer noch weh an der Stelle, an der er sie gepackt hatte. „Warum hat er uns nicht gleich umgebracht?", fragte sie sich. „Warum sollte er?", beantwortete sie ihre eigene Frage. „Am Samstag verschwindet er für immer, und Chuck bleibt hier, um für sein Verbrechen zu bezahlen." Kurz vor dem Mittagessen ging sie zu ihrem Schließfach. Während sie sich mit dem Schloss abmühte, fiel ihr der Stapel Bücher herunter, den sie auf dem Arm balanciert hatte. Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, rutschte ihr die Tasche von der Schulter, und der Inhalt ergoss sich auf den Boden. „Kann ich helfen?", fragte eine bekannte Stimme. Deena schaute auf und sah Rob Morell, der sie freundlich anlächelte. Sie war zu müde und durcheinander, um mehr als „danke" zu stammeln. Doch Rob schien das nichts auszumachen. Er bückte sich und half ihr, die Sachen im Schließfach zu verstauen, dann fragte er sie, ob sie nach der Schule mit ihm was trinken gehen würde. Am liebsten wäre Deena in Tränen ausgebrochen. „Danke, Rob. Aber ich muss ein paar Sachen erledigen", sagte sie. Rob wirkte enttäuscht, er zuckte mit den Schultern. „Okay, vielleicht ein anderes Mal", meinte er und ging auf dem Flur weg. Deena sah ihm hinterher; ihr war schrecklich zu Mute, aber wie konnte sie ihm sagen, was sie vorhatte? Dass sie ihren Bruder im Gefängnis besuchen musste? Ihren Bruder, der wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, vor Gericht gestellt würde. Als sie das Gebäude verließ, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie hätte Chuck schon längst besuchen müssen, aber sie hatte es einfach nicht ertragen können. Sie wollte ihn nicht in dem furchtbaren Gefängnis sehen. Sie wusste nicht, worüber sie mit ihm reden sollte. Doch er hatte nach ihr gefragt. Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste sich zusammenreißen und ihm gegenübertreten. Sie musste 99
ihm erzählen, dass die Polizei kein Wort von dem glaubte, was sie ausgesagt hatte, und wie kläglich sie als Detektivin versagt hatte. Die schwere Stahltür schloss sich mit einem metallenen Scheppern hinter Deena. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Ihr Herz klopfte heftig, als sie hinter der Wärterin einen langen, dunklen Korridor entlangging. Die Bodenfliesen waren verfärbt und von den Tausenden von Schuhen zerkratzt, die auf dem Weg zu den Zellen diesen Flur entlanggekommen waren. Der Korridor wurde durch zwei weitere Stahltüren abgetrennt und öffnete sich dann in einen großen, fast leeren Raum, der mit Neonlicht beleuchtet war. „Setz dich bitte", sagte die Wärterin. „Dein Bruder wird gleich gebracht." Sie schenkte Deena ein strahlendes Lächeln. Deena starrte sie verwundert an. Wie konnte jemand an einem Ort wie diesem so guter Laune sein? Die Wärterin ließ Deena im Raum zurück. Er war schmal und ohne Fenster und in der Mitte durch einen langen Tisch getrennt. Vom Tisch bis zur Decke war ein enges Drahtgitter gespannt, das den Besuchern und Sträflingen jede Berührung unmöglich machte. Am anderen Ende des Raums saß eine junge Frau über den Tisch gebeugt und schluchzte in ein Taschentuch. Deena konnte zwar nicht genau sehen, mit wem sie sprach, doch sie konnte die tiefe, monotone Stimme eines Mannes hören, die von der anderen Seite des Gitters kam. Mit weichen Knien setzte Deena sich auf einen verschrammten Holzstuhl. Sie war noch nie an einem so traurigen Ort gewesen und war auch jetzt nicht sicher, ob sie dort sein wollte. Wie würde es Chuck gehen? Würde er sich anders benehmen? Würde er anders handeln – vielleicht noch cooler? Am liebsten wäre sie einfach davongelaufen. Nach endlosen Minuten tauchte ein bewaffneter Wärter mit Chuck auf der anderen Seite des Drahtgitters auf. Chuck trug ein hellblaues Baumwollhemd und darüber einen Overall; Deena fand, dass er blass und dünn aussah. Zuerst sah er sie nicht, doch als er sie entdeckte, riss er sich von dem Wärter los und rannte auf sie zu. „Deena ..." 100
Sie stand auf, um ihn zu begrüßen. „Halt!", brüllte der Wärter. „Du kennst die Regeln!" Sofort blieb Chuck ein paar Zentimeter vor dem Gitter stehen und ließ sich auf den Klappstuhl fallen, der für die Sträflinge bereitstand. „Und keine schnellen Bewegungen mehr, hast du verstanden?", warnte der Wärter ihn; er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie beide an. „Hi Chuck", sagte Deena unsicher. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, die gerötet waren. „Deena, du musst mich hier rausholen", flüsterte er kaum hörbar. „Was?" Sie war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. „Ich halte es nicht aus, Deena. Ich drehe hier durch." Er schloss die Augen und ließ seinen Kopf gegen das Gitter sinken. „Weg da!", rief der Wärter und trat einen Schritt auf Chuck zu. „Tut mir Leid", sagte Chuck und setzte sich gerade hin. „Noch eine Verwarnung, und du gehst in deine Zelle zurück", entgegnete der Wärter. „Es ist schrecklich", sagte Chuck mit leiser Stimme. „Jeden Tag wirst du hundertmal gedemütigt. Die meisten der Männer hier drin sind Kriminelle. Echte Verbrecher. Diebe und Drogendealer. Und wir haben einen Kerl, der damit angibt, dass er eine ganze Familie beim Zelten ermordet hat." Deena starrte ihn an und kämpfte mit den Tränen. „Das ist ja furchtbar." „Ich muss hier raus! Ich muss! Ich kann nicht glauben, dass mir so was wirklich passiert. Es ist einfach nicht fair!" „Dad sagt, der Anwalt holt dich bald raus. Er muss nur noch die Anklage in Totschlag ändern lassen", sagte Deena, doch sie wusste selbst, wie wenig tröstlich ihre Worte klangen. „Das ist nicht früh genug", klagte Chuck. „Ich halte es keine Minute länger aus." „Jade und ich versuchen, dir zu helfen", erzählte Deena ihm. Zum ersten Mal hellte sich Chucks Gesicht auf. „Wie geht es ihr?" „Sie macht sich wegen dir Sorgen." „Da ist sie nicht die Einzige", sagte er düster. „Jade und ich haben ein paar Dinge herausgefunden", flüsterte Deena. 101
„Noch zwei Minuten", unterbrach der Wärter sie und sah auf die große runde Uhr hinten an der Wand. Deena erzählte Chuck hastig von Farberson, den Flugreservierungen und ihrem Besuch bei Miss Morrison. „Wow!", sagte Chuck. „Ihr beide seid wirklich ein großes Risiko eingegangen. Ich kann gar nicht glauben, dass ihr das für mich getan habt." „Schließlich bist du mein Bruder", entgegnete Deena. „Außerdem sind Jade und ich auch in die Sache verwickelt." „Ja. Aber ihr sitzt nicht hinter Gitter." Er klang wieder verbittert. „Mann, wäre ich doch bloß draußen! Ich würde gleich in die Fear Street gehen, in Farbersons Haus, und es durchsuchen, bis ich etwas gefunden hätte, das seine Schuld beweist." „Okay", sagte Deena. „Was? Was meinst du mit ,okay'?" Er wirkte verwirrt. „Jade und ich werden in sein Haus gehen." „Nein – warte! Ich habe nicht gemeint, dass ihr das tun sollt. Ich wollte nur sagen, ich würde das tun, wenn ich draußen wäre." „Nun, wir sind draußen und du bist es nicht, also werden wir -" „Auf keinen Fall!", schrie Chuck. „Auf gar keinen Fall! Das ist viel zu gefährlich! Der Mann ist ein Killer!" Er sprang auf und drückte die Hände gegen das Gitter. „Hey!", brüllte der Wärter. „Wir gehen hin, und du wirst uns nicht davon abhalten!", sagte Deena. „Wir haben nur noch Zeit bis morgen Abend, um seine Schuld zu beweisen." „Das lasse ich nicht zu!", schrie Chuck. „Das tut ihr nicht!" „Ich habe dich gewarnt", sagte der Wärter, der jetzt in Bewegung kam. Er packte Chuck mit beiden Händen und zog ihn vom Gitter weg. „Lassen Sie mich los", schrie Chuck und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. „Ich will nicht, dass ihr in die Fear Street geht", rief er Deena zu. Der Wärter packte Chuck mit einem Polizeigriff und zerrte ihn weg. „Muss ich noch deutlicher werden, Junge?" „Lassen Sie mich los!", keuchte Chuck wütend. Deena konnte es nicht länger mitansehen. Sie stand auf und wandte 102
sich ab. Plötzlich erschien die Wärterin und führte sie aus dem Raum. Während die Tür zuging, hörte sie immer noch, wie Chuck mit dem Wärter kämpfte. „Deena? Deena – hast du mich verstanden?", brüllte er ihr hinterher.
Kapitel 19 Als Deena vom Gefängnis nach Hause kam, fühlte sie sich elend. Sie hatte Kopfschmerzen, und ihr war schlecht. „Vielleicht kriege ich eine Grippe", dachte sie. „Am besten gehe ich einfach ins Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf, bis sich alles in Wohlgefallen aufgelöst hat." Aber sie wusste, dass das nicht passieren würde. Das Einzige, was jetzt noch half, war, in die Fear Street zu gehen und dort nach einem Beweis zu suchen. Beim Abendessen hatte sie keinen Appetit, und wie immer entging ihrer Mutter das nicht. „Liebling, was ist los?", fragte sie besorgt. „Fühlst du dich nicht gut?" „Ich bin okay", sagte Deena und stopfte sich zur Bestätigung einen großen Löffel Kartoffelbrei in den Mund. Gewöhnlich war das ihr Lieblingsgericht, doch an diesem Abend schmeckte er wie Sägemehl. „Ich weiß ja", sagte ihre Mutter, „du machst dir wegen Chuck Sorgen, nicht wahr?" Deena nickte. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Denn sonst wäre sie in Tränen ausgebrochen. „Wir machen uns alle Sorgen, Deena", sagte ihr Vater. „Aber vergiss nicht, dass Chuck sich das selbst eingebrockt hat. Wenn ihr nicht diese dummen Scherzanrufe gemacht hättet –" „Aber er hat niemanden umgebracht!", schrie Deena und war über ihren Wutausbruch selbst überrascht. „Er ist kein Mörder! Und trotzdem sperrt die Polizei ihn wie einen Verbrecher ein, und jetzt sagst du auch noch, er hätte das verdient!" „Einen Moment mal, junge Dame", erwiderte ihr Vater. „Das habe 103
ich nicht gesagt! Ich habe nur gemeint –" Deena wartete nicht ab, bis er zu Ende geredet hatte. Sie schob ihren Stuhl vom Tisch weg, rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer und warf sich weinend aufs Bett. Ein paar Minuten später klopfte ihre Mutter an die Tür. „Kann ich reinkommen?", fragte sie. „Wie du willst", murmelte Deena. Ihre Mutter setzte sich auf den Bettrand und fing an, ihr liebevoll den Rücken zu streicheln. „Du darfst dich nicht über deinen Vater ärgern", meinte sie. „Weißt du nicht, wie schwer es für ihn ist? Schließlich ist Chuck sein Sohn." „Es tut mir Leid, Mom. Ich möchte nicht darüber reden. Ich bin müde und will nur in Ruhe gelassen werden." Ihre Mutter tätschelte sie und stand mit besorgtem Gesicht auf. „Okay, Liebling", sagte sie. „Wenn du was brauchst, ich bin unten." Nach einer Weile hörte Deena auf zu weinen und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und versuchte, ihre Hausaufgaben in Trigonometrie zu machen, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Es war unmöglich. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Chuck zurück. Sie musste in die Fear Street fahren! Das Telefon klingelte, und sie zuckte zusammen; plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Halse. War er es, der Maskierte? Am anderen Ende der Leitung erklang Jades Stimme. „Wie geht es Chuck?", fragte sie sofort. „Er ist wütend und verbittert", sagte Deena. „Aber kann man ihm das vorwerfen? Er lässt dich grüßen." „Wie sieht er aus?" „Wie ein Häftling", antwortete Deena gereizt. „Was denkst du denn?" „Du musst mir deswegen nicht gleich den Kopf abreißen." „Tut mir Leid", sagte Deena. „Das Ganze nimmt mich ziemlich mit." „Mich auch", sagte Jade. „Was machen wir als Nächstes?" „Ich nehme an, wir müssen der Fear Street noch einen Besuch abstatten", sagte Deena. Jade antwortete nicht.
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Deena war so erschöpft, dass sie in dieser Nacht zum ersten Mal seit langem fest schlief. Sie wachte erfrischt und voller Energie auf - bis ihr wieder einfiel, welcher Tag war und was sie und Jade am Abend vorhatten. Aber vielleicht würde es gar nicht so schwer werden, redete sie sich ein. Wahrscheinlich würde Farberson bei der Arbeit sein. Das würde ihnen genügend Zeit geben, in Ruhe nach etwas zu suchen, das ihn mit dem Mord in Verbindung brachte. Beim Mittagessen war Jade richtig aufgekratzt. „Na, bereit für unser nächstes Abenteuer?", fragte sie, als sie ihr Tablett abstellte. Es war nicht leicht, sich einzureden, das Ganze sei nur ein Abenteuer. Doch Jades gute Stimmung ließ Deena entspannter werden, und als Rob ihr vom anderen Ende der Cafeteria zuwinkte und mit den Augen zwinkerte, ging es ihr gleich viel besser. Am Ende des Tages war sie zwar nervös, doch guter Dinge. Das Einzige, was ihr Sorgen bereite, war, dass am Himmel dunkle Wolken aufzogen. Aber was machte schon ein bisschen Regen aus? Als Deena von der Schule nach Hause kam, goss es in Strömen. Das Haus war finster wie die Nacht; freitags arbeitete ihre Mutter immer lang, und ihr Vater war anscheinend auch noch nicht daheim. Deena legte ihre Schulbücher ab und wärmte sich etwas Suppe in der Küche auf, als das Telefon klingelte. „Hallo, Deena?" Es war ihr Vater. „Hi Daddy", sagte sie, bemüht, fröhlich zu klingen. „Das ist vielleicht ein Wetter, was?", meinte er. „Hör zu, hier im Büro geht es rund. Ein Blitz hat in einen der Transformatoren eingeschlagen, und jetzt sind die Telefone im Süden der Stadt lahm gelegt. Ich werde hier bleiben müssen, bis der Schaden behoben ist. Richte deiner Mutter aus, sie soll nicht auf mich warten." „Okay, Daddy", sagte sie. „Mach's gut!" Sie aß hastig einen Teller Suppe und zog dann ihre Jogginghose, eine warme Jacke und ihren Regenponcho an und packte eine Taschenlampe ein. Bevor sie das Haus verließ, schrieb sie einen Zettel für ihre Mutter, sie sei zum Lernen zu Jade gegangen. Dann lief sie zum Einkaufszentrum in der Division Street, wo sie sich mit Jade treffen wollte. „Ausgerechnet an so einem Abend haben wir keinen 105
fahrbaren Untersatz!", dachte sie. Als sie ankam, war sie völlig durchnässt. Jade wartete vor der Pizzeria. Sie trug eine gelbe Regenjacke und schaffte es irgendwie mal wieder, gleichzeitig schick und trocken auszusehen. „Ich fühle mich wie ein nasser Pudel", klagte Deena. „Ja, da besteht eine gewisse Ähnlichkeit", gab Jade zurück. „Bist du bereit?" „Ich glaube schon", sagte Deena. „Aber lass uns erst bei Farberson anrufen, um wirklich sicher zu sein, dass er nicht da ist." Jade steckte eine Münze in ein öffentliches Telefon, wartete und hängte ein. Sie runzelte die Stirn. „Das ist aber komisch", sagte sie. „Ich habe überhaupt nichts gehört – kein Klingeln, kein Besetztzeichen, wie tot." „Ach ja, das habe ich ganz vergessen!", sagte Deena. „Mein Vater hat angerufen - im Süden der Stadt sind die Telefone ausgefallen." „Oh nein!", rief Jade entsetzt. „Was machen wir jetzt?" „Wir gehen einfach auf gut Glück hin", antwortete Deena. „Was bleibt uns anderes übrig? Wenn Licht brennt, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen." Jade nickte. „Ich bin sicher, er ist arbeiten", sagte sie. „Schließlich will er am Abend vor seiner Flucht nicht auffällig wirken, stimmt's?" „Genau", sagte Deena in der Hoffnung, dass Jade Recht hatte. Die Mädchen verließen das Einkaufszentrum und nahmen den Bus nach Waynesbridge, der über die Division Street in den Süden zur Mill Road fuhr. Im Bus war es warm und bequem, und Deena bemühte sich, nicht daran zu denken, wohin er sie brachte. Nur zu bald stieß Jade sie an. „An der nächsten Haltestelle müssen wir raus." Widerstrebend drückte Deena den Halteknopf, und der Bus bog auf eine kleine Ausbuchtung in der Straße ab. Die Haltestelle wirkte verlassen, dicht wuchernde Büsche und Bäume wuchsen bis auf die Straße. Überall tropfte Wasser, und obwohl es noch früh am Abend war, waren die Regenwolken so dicht, dass es dunkel wie in der tiefen Nacht war. Ab und zu tauchten Blitze alles in ein gespenstisches Licht, Donner erschütterte die Erde. Der Straßengraben hatte sich in einen 106
reißenden Bach verwandelt. „Nette Gegend", scherzte Jade. „Sehr witzig", gab Deena zurück. Sie blinzelte in die Dunkelheit und sah schließlich ein paar Meter weiter ein Straßenschild. „Hier entlang", sagte sie, und die Mädchen trotteten am schlammigen Straßenrand entlang bis zur Kreuzung. Auf dem einen Schild stand in großen Buchstaben: „Mill Street". Auf den anderen „Fear Street". Die Mädchen blickten einander an. Deena hoffte, dass sie nicht so verängstigt aussah wie Jade. „Hey, schließlich ist es bloß ein Straßenname, stimmt's?", sagte Jade mit einem verkrampften Lächeln. „Genau", antwortete Deena.
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Kapitel 20 Durchnässt und elend schlichen die Mädchen die Fear Street in Richtung Osten zu Farbersons Haus. Deena versuchte sich einzureden, sie befände sich in einer x-beliebigen Straße ihrer Stadt. In dem heftigen Regen musste sie zugeben, dass die Fear Street auch nicht düsterer aussah als jede andere Straße. Nachdem sie etwas mehr als einen Block zurückgelegt hatten, wurde der Regen noch intensiver, und der heulende Wind nahm an Stärke zu. Über ihren Köpfen zuckten bizarre Blitze. „Was war das?“, kreischte Jade plötzlich und packte Deena am Arm. Deena drehte sich um und sah etwas – etwas Dunkles und Glattes in einen Garten auf der anderen Straßenseite huschen. „Wahrscheinlich bloß ein Hund", meinte sie. „Auf alle Fälle ist es jetzt weg." Sie liefen weiter; ihre Schuhe quietschten in dem schlammigen Regenwasser, das über den rissigen Asphalt lief. „Müssten wir nicht schon da sein?", fragte Jade. „Da vorne ist es", sagte Deena. Das Haus der Farbersons war völlig dunkel. Die beiden Mädchen gingen auf die Veranda und schauten durch das Wohnzimmerfenster. Zu düster, um irgendetwas zu erkennen. „Er muss im Restaurant sein", flüsterte Jade. „Gott sei Dank." Deena ging zur Haustür. Quer über der Tür war ein gelber Klebestreifen angebracht, auf dem TATORT stand. Sie drückte den Türgriff herunter, doch die Tür war verschlossen. „Wir müssen das Fenster einschlagen", sagte Jade. „Nein. Nicht auf der Straßenseite. Jemand könnte uns dabei beobachten. Komm mit." Sie eilten um das Haus herum und rutschten fast auf dem schlammigen Rasen aus. Das Glas in der Küchentür war noch nicht ersetzt worden; der leere Rahmen war mit einem Stück Pappe ausgekleidet, die so durchnässt war, dass sie fast auseinanderfiel, als Deena sie wegzog. Sie lauschte angestrengt. 108
Völlige Stille. „Hallo!", rief sie, bereit wegzurennen, falls eine Antwort kam. Die einzigen Geräusche waren der pfeifende Wind und das Gluckern des Regens. Vorsichtig steckte Deena den Arm durch den Türrahmen und tastete nach dem Türknopf, dann entriegelte sie die Tür von innen. „Okay", sagte sie, „gehen wir hinein." Die Mädchen warfen einander einen angstvollen Blick zu. Dann betraten sie das dunkle, leere Haus. Das Erste, was Deena auffiel, war die Tatsache, dass Mr Farberson seit jenem Samstagabend nicht sauber gemacht hatte. Der Küchentisch war zwar wieder aufgestellt worden, doch die Arbeitsplatte und der Fußboden waren immer noch voller Gewürze und Mehl. Im Schein ihrer Taschenlampe konnte sie in den Pulverresten die kleinen Fußspuren von Mäusen erkennen. „Iiih!", machte sie. „Das ist ja widerlich!" „Wenn du die Küche schon widerlich findest, dann solltest du erst mal das Wohnzimmer sehen", rief Jade. Der Stimme ihrer Freundin folgend ging Deena zum Ort des Verbrechens vom vergangenen Samstag. Auf dem Teppichboden waren dunkle Flecken zu erkennen, und Umrisse aus gelber Kreide zeigten, wo Mrs Farbersons Leiche gelegen hatte. Auf dem Boden waren immer noch zerbrochene Lampen und Aschenbecher verstreut. „Was für ein Schweinestall", sagte Deena. „Ich weiß gar nicht, wo wir zuerst suchen sollen." „Siehst du irgendwas, wo Dokumente aufbewahrt sein könnten? Vielleicht finden wir eine Versicherungspolice, ein Tagebuch oder etwas Ähnliches." Die Mädchen leuchteten mit ihren Taschenlampen den Raum ab, doch es gab kein Anzeichen eines Schreibtischs oder dergleichen. „Schau dir das an", sagte Jade und zeigte mit dem Schein ihrer Taschenlampe neben die Couch. Dort lag ein Stapel alter Zeitschriften. „Halt mal die Taschenlampe, während ich mir die näher ansehe." Jade kniete sich hin und blätterte eilig ein halbes Dutzend Zeitschriften durch. Darunter waren mehrere Ausgaben einer Zeitschrift für Übergewichtige und eines Wohnungsmagazins; beide waren an Mrs Edna Farberson adressiert. 109
„Na, das war schon mal nichts", meinte Jade und rieb sich den Staub von den Händen. Deena ging zum Telefontischchen, auf dem neben dem Telefon das örtliche Telefonbuch lag. Sie wollte die Schublade aufmachen, doch die klemmte. Frustriert schlug Deena dagegen und zog noch einmal mit aller Kraft. Plötzlich ging die Schublade auf, und das Telefon krachte zu Boden. Jade stieß einen spitzen Schrei aus. „Pass doch auf!" „Ich glaube, ich habe etwas gefunden!", sagte Deena aufgeregt, als ein kleiner, weißer Notizblock aus der Schublade fiel. Sie hob ihn auf und untersuchte ihn im Licht der Taschenlampe. „Falscher Alarm", meinte sie. „Der Block ist leer." „Na toll", sagte Jade. „Komm, wir versuchen es oben." Als sie die alte, knarrende Treppe hinaufstiegen, hörte Deena ein Geräusch, das ihr das Blut in den Adern gerinnen ließ. „Was war das, Jade?", flüsterte sie. Jetzt blieb auch Jade stehen. „Das Knarren?" „Es klingt, wie wenn jemand in einem Schaukelstuhl hin und her schaukelt", sagte Deena. „Glaubst du etwa –" „Aber wer sollte es sein?", fragte Jade. „Mr Farberson ist bei der Arbeit, und Mrs Farberson ist tot." „Was habe ich dann gehört?", dachte Deena. „Wahrscheinlich ist es nichts", sagte sie und versuchte, sich das selbst einzureden. Jetzt hatten sie den oberen Treppenabsatz erreicht. „Es kommt aus dem Zimmer dort", stellte Deena fest. Sie hielt den Atem an und näherte sich auf Zehenspitzen der Zimmertür. Dann stieß sie die Tür auf. Es war das Schlafzimmer mit einem wuchtigen Bett und zwei großen Kommoden. Ein Flügelfenster an der Wand gegenüber stand offen. Bei jedem Windzug schwang es hin und her und knarrte dabei unheimlich. „Dieses Haus ist gespenstisch", bemerkte Jade von der Tür aus. „Das hier ist ein Gespenst, dem ich den Garaus mache", erwiderte Deena. Sie ging an das Fenster und wäre fast auf einer nassen Stelle, wo es hereingeregnet hatte, ausgerutscht. „Die gute Nachricht ist, dass der Regen aufgehört hat", sagte sie zu Jade. „Und was ist die schlechte Nachricht?" 110
„Ich kriege das Fenster nicht zu", sagte Deena. „Es hat sich in einem Ast verhakt." „Ich helfe dir", sagte Jade. Sie kam durchs Zimmer und drückte einen überlangen Ast des Ahornbaums, der vor dem Fenster stand, weg, während Deena das Fenster schloss. „Sehr gut", sagte Deena zufrieden. „Dieses Knarren hat mich fast verrückt gemacht!" Sie ließ den Schein ihrer Taschenlampe durch das Zimmer gleiten. „Meinst du, dass wir hier drin irgendwas finden?" „Der Schrank ist leer", berichtete Jade mit gedämpfter Stimme. „Bloß ein paar Frauenkleider, die nach Mottenkugeln riechen. Ich glaube, wir sollten lieber woanders suchen." Das Zimmer nebenan war kleiner als das erste, und sobald sie die Tür aufgemacht hatten, wusste Deena, dass sie das große Los gezogen hatten. „Das muss sein Arbeitszimmer sein", sagte sie mit wachsender Aufregung. „Super!" Auch aus Jades Stimme klang Begeisterung heraus. Vor dem Fenster stand ein alter Stahlschreibtisch, der mit Papieren überhäuft war. In der einen Ecke war ein Aktenschrank mit zwei Schubladen – herausgezogen und leer – während sich gegenüber dem Schreibtisch eine Liege befand. Auch auf ihr stapelten sich Dokumente. Mehrere Kartons und Müllsäcke standen überall herum, voll gestopft mit Papieren und Akten. „Sieht so aus, als wäre Mr Farberson dabei, seine Unterlagen auszuräumen", bemerkte Jade zufrieden. „Aber es würde Wochen dauern, das alles zu durchforsten", sagte Deena, „und wir wissen noch nicht mal, wonach wir suchen." „Wahrscheinlich müssen wir gar nicht alles durchlesen", meinte Jade. „Nur die obersten Papiere überfliegen. Das sind wahrscheinlich die neueren Sachen. Du nimmst dir die Liege vor und ich mir den Schreibtisch." Deena setzte sich auf die Liege und fing an, die Aktenstapel durchzusehen. Sie blätterte in mehreren Aktenmappen. Die meisten enthielten Quittungen für Nebenkosten, alte Einkommensteuererklärungen und Kassenbelege. Sie wollte gerade weitersuchen, als ihr Blick auf ein Stück Papier fiel, das so oft zusammengefaltet und entfaltet worden war, dass es schon fast auseinander fiel. „Ich glaube, ich habe etwas gefunden", sagte sie zu 111
Jade. „Da bist du die Einzige", erwiderte Jade. „Was ist es?" „Ein Brief, sagte Deena. „Von Mrs Farberson an Mr Farberson. Hör dir das an!" Sie las ihn vor: Lieber Stan! Es hat keinen Sinn mehr, sich länger zu streiten. Ich habe mich dazu durchgerungen, dich zu verlassen, und nichts kann meinen Entschluss ändern. Ich weiß jetzt, dass du mit dem Restaurant nie erfolgreich sein wirst. Als ich dir das Geld gab, damit du das Lokal kaufen konntest, glaubte ich, du würdest einmal im Leben etwas erreichen. Aber wieder bist du gescheitert. Ich weigere mich, dir noch mehr Geld zu geben. In den letzten fünf Jahren hast du fast mein ganzes Erbe verschleudert. Den Rest muss ich für mich auflieben. Am Samstagabend komme ich vorbei, um meine Sachen abzuholen. Leb wohl, Edna. „Das ist es!", sagte Jade. „Das ist der Grand, warum er sie umgebracht hat. Sie hatte Geld und wollte ihn verlassen." „Irgendwie ist es ziemlich traurig", sagte Deena. „Es klingt, als hätte sie ihn mal wirklich geliebt." „Was offensichtlich ihr großer Fehler war", erwiderte Jade. „Auf alle Fälle haben wir gefunden, was wir suchten. Lass uns von hier verschwinden." „Okay", meinte Deena. „Nur noch ein kurzer Blick in den Schrank." „Wozu? Wir haben genug Beweise, um zur Polizei gehen zu können– " „Ich will die Maske finden", sagte Deena. „Gut. Aber beeil dich." Deena öffnete den Schrank und leuchtete mit der Taschenlampe in jede Ecke. „Da steht ein Koffer." „Vergiss den Koffer", drängte Jade. „Ich höre ein Auto." „Wahrscheinlich bloß ein Nachbar", sagte Deena. Sie machte den Koffer auf und fand darin Hemden, Hosen und Socken. Sie tastete unter die Kleiderstapel, doch da war nichts anderes. Enttäuscht 112
klappte sie den Koffer wieder zu und fing an, den Inhalt der Regale zu untersuchen. „Komm jetzt", sagte Jade nervös, „Vergiss die Maske!" Deena machte den Schrank zu und steckte den Brief von Mrs Farberson unter den Gummizug ihrer Jogginghose. Und erstarrte. Jetzt hörte auch sie das Auto. Hörte, wie es langsamer fuhr und in die Auffahrt der Farbersons einbog. „Das kann doch nicht er sein!", flüsterte Deena. „Es ist noch zu früh!" Die Autotür wurde zugeschlagen. Schwere Schritte gingen auf das Haus zu. Dann wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt, und die Tür ging mit einem knarrenden Geräusch auf.
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Kapitel 21 Die beiden Mädchen blieben wie erstarrt stehen und hielten die Luft an. Sie hörten jemanden umherlaufen und sahen plötzlich den Schein eines Lichts, das unten angeknipst worden war. „Wir müssen was tun", flüsterte Jade. „Was denn?", fragte Deena. „Wir können nur abwarten. Vielleicht ist er nur kurz hergekommen, um was zu holen." Nervös betastete sie den Brief in ihrer Hose. Es war das Beweisstück, das sie so dringend brauchten – das Beweisstück, das Chuck retten würde. Irgendwie mussten sie es zur Polizei schaffen. Aber wie konnten sie verschwinden? Von unten hörten sie, wie Mr Farberson in die Küche ging. „Was ist, wenn er heute eher nach Hause gekommen ist?", fragte Jade und sprach damit Deenas eigene Befürchtungen aus. „Vielleicht hat das Restaurant früher zugemacht. Oder er fühlt sich nicht wohl." „Dann müssen wir warten, bis er eingeschlafen ist", antwortete Deena. „Es gibt keinen Hinweis darauf, dass wir hier sind. Lass uns die Regenjacken anziehen für den Fall, dass wir uns irgendwo verstecken müssen." So leise wie möglich schlich Jade auf Zehenspitzen zum Schreibtisch und holte ihre Jacke und Deenas Poncho von der Rückenlehne, über der sie hingen. Auf dem Rückweg knarrte eine lose Diele unter ihrem Fuß, und einen Augenblick lang sahen sich beide entsetzt an, doch von unten kam keine Reaktion. „Meine Mutter bringt mich um", flüsterte Jade, während sie sich mit ihrer gelben Regenjacke abmühte. „Ich habe ihr gesagt, ich sei um zehn wieder zu Hause." „Jade, deine Mom ist im Augenblick unsere geringstes Problem." Die Mädchen setzten sich vorsichtig auf die Kante der Liege und warteten. Und warteten. Jede Minute kam ihnen wie eine Ewigkeit vor. Deena wurde es unter ihrem Poncho heiß, und obwohl das Zimmer eiskalt war, spürte sie, wie ihr ein Schweißtropfen den Rücken hinunterrann. Wenn es nur einen anderen Fluchtweg aus 114
dem Haus gäbe! „Was macht Farberson jetzt wohl?", fragte sie sich. Sie hatten schon ewig keinen Ton mehr von ihm gehört. „Ich halte es nicht länger aus", flüsterte Jade plötzlich. „Ich sehe mal, ob ich einen Blick von ihm erhaschen kann. Vielleicht ist der da unten ja gar nicht Mr Farberson." Noch bevor Deena etwas einwenden konnte, hatte Jade sich schon auf den Flur geschlichen. Ein paar Minuten später kam sie zurück. Sie sah sehr besorgt aus. „Er liegt auf der Couch", berichtete sie, „und schnarcht." Deena zögerte einen Moment. „Vielleicht sollten wir versuchen, uns an ihm vorbeizustehlen", schlug sie vor. „Was meinst du?" Jade nickte. Die beiden Mädchen holten tief Luft, dann schlichen sie auf Zehenspitzen den Flur entlang. Der Holzboden war sehr alt, und jeder Schritt ließ ihn so sehr knarren, dass es in Deenas Ohren so laut wie die Sirene eines Krankenwagens klang. Sie erreichten den oberen Treppenabsatz. Von unten drang Farbersons gedämpftes Schnarchen herauf. Im Zeitlupentempo ging Deena die Treppe hinunter. Jade hielt sich dicht hinter ihr. Jetzt sah Deena Farbersons Kopf auf der Sofalehne. Sie stieg noch eine Stufe hinunter. Das Schnarchen hörte abrupt auf. Mr Farberson grunzte, richtete sich auf und streckte sich. Dann gähnte er laut und lehnte sich wieder zurück. Deena und Jade erstarrten. So leise sie konnten, drehten sie sich um und gingen die Stufen wieder hinauf und über den Flur zurück. Im Dunkeln huschten sie zurück ins Arbeitszimmer. Und stießen gegen den Papierkorb aus Blech. Er fiel mit einem lauten Scheppern um. Gleich darauf ertönte unten die knurrende Stimme von Mr Farberson: „Was zum Teufel –?" Deena und Jade sahen einander mit vor Angst weit aufgerissenen Augen an. Hastig stellte Jade den Papierkorb wieder auf. „Los, in den Schrank", zischte sie. Jetzt vernahm Deena Farbersons Schritte auf der Treppe – Schritte, die schwer klangen und daran erinnerten, wie groß er war. Sie schlüpfte in den Schrank, gefolgt von Jade. Die beiden Mädchen
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krochen so weit wie möglich nach hinten und versuchten, sich hinter ein paar Mänteln und Hemden zu verstecken. Die Schritte kamen näher, dann folgte ein Klicken, und ein Lichtstrahl fiel durch die Ritze unter der Schranktür. „Hallo?", sagte Mr Farberson. „Ist da jemand?" Sie hörten, wie er im Zimmer herumlief und vor sich hin murmelte. Dann entfernten sich seine Schritte über den Flur; anscheinend schaute er auch im anderen Zimmer nach. Er rumorte noch ein wenig herum, dann kam er zurück und setzte sich mit einem lauten Knarren an seinen Schreibtisch. Einen Augenblick war alles still, dann folgte ein wütender Aufschrei. „Hey! Wie kommen die vielen Wassertropfen hierher?" Plötzlich ertönte ein Scharren, als ein Stuhl zurückgeschoben wurde, und die schweren Schritte kamen quer durch das Zimmer. Die Schranktür wurde aufgerissen. Deena blinzelte in das grelle Licht. Zuerst erkannte sie nichts, doch dann sah sie Farberson. Seine Augen funkelten sie an. Aber langsam veränderte sich seine Miene – sein Zorn verschwand und wurde durch ein grausames, zynisches Grinsen ersetzt. „Aber hallo", sagte er. „Ihr Mädchen könnt es einfach nicht lassen, wie?"
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Kapitel 22 Deena hatte solche Todesangst, dass sie sich weder rühren noch denken konnte. Und dann stieß Jade einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Überrascht trat Mr Farberson einen Schritt zurück, und Jade sprang aus dem Schrank und drückte sich an ihm vorbei. Sie rannte durchs Zimmer, doch er war schneller und blockierte die Tür. Deena sah, dass Jade jetzt hinter Mr Farbersons Schreibtisch stand. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen funkelten vor Aufregung und Angst. „Lassen Sie uns gehen!", sagte Jade. „Wir wissen alles über Sie!" „Das bezweifle ich", meinte er, scheinbar unbeeindruckt. Er verschränkte die Arme und lehnte sich weiter an den Türrahmen. „Wir wissen, dass Sie ein Lügner sind!", fuhr Jade fort. „Und dass Sie Ihre Frau umgebracht haben!" Farbersons Augen verengten sich, doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. „Du solltest keine solchen Anschuldigungen machen", sagte er. „Vor allem nicht, wenn ich euch gerade beim Einbruch in mein Haus erwischt habe -und das schon zum zweiten Mal!" „Ich warne Sie", drohte Jade. „Sie sollten uns lieber gehen lassen, sonst –" „Was sonst?", fragte Farberson lauernd. Deena beobachtete die Szene hilflos und bewunderte ihre Freundin dafür, dass sie sich gegen Mr Farberson wehrte, doch sie merkte, dass Jade nichts mehr einfiel, womit sie ihm drohen konnte. Blitzschnell packte Farberson Jade am Handgelenk. „Lassen Sie mich los!", schrie sie gellend. Mit ihrer freien Hand hob sie einen Aschenbecher auf und zielte damit auf Farberson, doch der Aschenbecher glitt ihr aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden. Mr Farberson packte auch ihr anderes Handgelenk, und wieder schrie sie auf. „Du hast es also gern ein bisschen brutaler, was?", fragte er. Verzweifelt suchte Deena nach einer Möglichkeit, wie sie ihrer 117
Freundin helfen konnte. „Lassen Sie sie los!", brüllte sie. Sie zielte mir ihrer Taschenlampe auf Farberson und traf ihn an der Schulter, doch er knurrte bloß. Jade versuchte, ihn zu beißen und zu kratzen, aber er hielt sie auf sicherem Abstand. Dann schüttelte er sie kurzerhand. „Okay", sagte er. „Es reicht jetzt mit euren Spielchen! Es ist an der Zeit, euch Mädchen eine Lektion zu erteilen!" Er verdrehte Jade den Arm. Sie keuchte und schrie vor Schmerz. „Renn weg, Deena! Hol Hilfe!" Deena wollte Jade nicht allein zurücklassen, aber gegen Mr Farberson konnte sie nichts ausrichten. Sie flüchtete aus dem Arbeitszimmer und raste die Treppe hinunter. Sie hörte, wie Jade sich immer noch gegen den Killer wehrte. Am Treppenende blieb sie einen Augenblick stehen und überlegte. Wohin konnte sie rennen, um Hilfe zu holen? Dann fiel ihr Blick auf das Telefon. „Es wäre besser, die Polizei von hier aus anzurufen", dachte sie. Sie nahm den Hörer ab und wählte ... aber in der Leitung blieb es totenstill. Zu spät fiel ihr wieder ein, dass die Telefone ausgefallen waren. „Das Ganze hatte mit einem Anruf begonnen", dachte sie. Und jetzt könnte alles aus sein – weil sie keinen Anruf machen konnte! Als sie dröhnende Schritte hörte, drehte sie sich um und sah, wie Mr Farberson auf sie zukam. „Willst du Pizza bestellen?", fragte er. Deena starrte ihn an. „Wo ist Jade?". „Man könnte sagen, sie macht ein kleines Schläfchen", antwortete der Mörder. „Und ich bin sicher, sie würde sich sehr freuen, wenn du ihr dabei Gesellschaft leistest!" Deena wich langsam zurück, drehte sich um und rannte in die Küche. Doch Mr Farberson folgte ihr dicht auf den Fersen. Verzweifelt griff sie nach irgendetwas – egal was –, das sie als Waffe verwenden konnte. Ihre Finger schlössen sich um den Griff einer schweren Eisenpfanne. Die kräftige Gestalt Farbersons, dessen Silhouette vom Lichtstrahl hinter ihm erleuchtet wurde, schwankte mit ausgestreckten Armen wie die eines Monsters in einem Horrorfilm hinter Deena her. „Das muss ein Albtraum sein", dachte Deena. „Das kann mir doch nicht wirklich passieren!" 118
Doch sie träumte nicht, und Mr Farberson lieferte im nächsten Moment den Beweis dafür, indem er sich auf sie stürzte. Mit einem kleinen Aufschrei schwang sie die Pfanne mit aller Wucht und spürte, dass sie ihn getroffen hatte. Vor Wut und Schmerz stieß er einen Schrei aus, der wie ein Bellen klang. Dann packte er das andere Ende der Eisenpfanne und fing an, es zu drehen. Das raue Metall schnitt ihr in die Finger, und sie musste loslassen. Farberson packte sie an den Schultern und hob sie auf, als sei sie eine federleichte Puppe. „Kleines Biest – du hast mir mit der Pfanne die Hand blutig geschlagen!", sagte er. „Wer hätte gedacht, dass zwei Mädchen mir so viele Probleme machen würden?" Deena wehrte sich, doch es war sinnlos. Sie hatte angefangen zu weinen und bemühte sich vergeblich, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Farberson trug sie ins Wohnzimmer und setzte sie auf der untersten Treppenstufe ab, dabei hielt er ihren Arm fest gepackt. „Komm schon!", sagte er. „Es macht mir nichts aus, wenn ich dir den Arm brechen muss." Er fing an, die Treppe hinaufzusteigen und zerrte Deena hinter sich her. Sie musste schnell gehen, sonst hätte er ihr den Arm ausgerenkt. Oben auf dem Flur blieb er vor der ersten Tür stehen, die Jade und sie aufgemacht hatten – das Schlafzimmer. Er steckte die Hand in die Tasche und suchte nach dem Schlüssel. Deena erinnerte sich, dass die Tür vorhin nicht abgeschlossen gewesen war. War Jade da drin? Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn einen Augenblick lang ließ er ihren Arm los, während er die Tür aufsperrte. Deena wusste genau, dies war ihre letzte Chance. Sie setzte an, um über den Flur wegzulaufen, doch Mr Farberson war sehr wendig für einen so schweren Mann. Er packte sie und warf sie zu Boden. Sie wehrte sich, so gut sie konnte, und schlug verzweifelt um sich. Dann hörte sie ein Reißen - Mr Farberson riss ihren Poncho in der Mitte auseinander und wickelte sie so darin ein, dass sie ihre Arme nicht mehr bewegen konnte.
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Kapitel 23 „Jetzt bin ich völlig wehrlos", schoss es Deena durch den Kopf. „Was wird er als Nächstes mit mir machen?" „Hey – was haben wir denn da?", fragte Farberson. Unter dem zerrissenen Poncho kam der Brief, der in dem Gummizug ihrer Hose steckte, zum Vorschein. Er zog ihn heraus, und sein Gesicht wurde noch wütender. „Aha! Das habt ihr also gesucht!" Rasch zog er Deena hoch, bis sie auf ihren Füßen stand, und schubste sie ins Zimmer. Er folgte ihr, knallte die Tür hinter sich zu und blieb einen Augenblick lang keuchend stehen. Deena war gegen eine der Kommoden geschleudert worden. Sie setzte sich auf den Boden und sah sich um. Jade lag reglos am Fußende des Bettes. „Jade!", schrie Deena voller Panik. Die Gestalt auf dem Bett rührte sich nicht. „Jade!" Diesmal brüllte sie so laut sie konnte. „Sie haben meine Freundin umgebracht!", schrie sie. Vor Entsetzen konnte sie kaum atmen. „Sie ist bloß bewusstlos", sagte der Mörder kalt. „Es würde mich nicht wundem, wenn sie sich nur tot stellt. Ich habe sie nicht hart genug geschlagen, um sie zu töten – noch nicht." Jade stöhnte. Deena kämpfte mit ihrem Poncho, bis sie sich endlich davon befreit hatte. Dann ging sie ans Bett zu ihrer Freundin. Auf Jades Stirn bildete sich ein gefährlich aussehender blauer Fleck, und sie war sehr blass, doch kurze Zeit später machte sie blinzelnd die Augen auf. „Deena?", fragte sie. „Jade!", flüsterte Deena. „Jade, bist du okay?" „Mein Kopf tut weh", klagte Jade. „Was ist passiert?" Doch dann keuchte sie vor Schreck, als sie Mr Farberson sah, der immer noch vor der Tür stand. Er hielt den Brief in einer Hand und schlug damit gegen seine andere Hand; dabei tropfte ihm das Blut aus der Wunde, die Deena ihm mit der Eisenpfanne zugefügt hatte. „Er hat unser Beweisstück gefunden", sagte Deena weinend. „Es tut mir so Leid, Jade!" „Was ich gefunden habe, ist ein Brief, der mir gehört", sagte 120
Farberson. „Ein Brief, den ihr Mädchen stehlen wolltet. Eigentlich sollte man euch der Polizei übergeben." Einen Augenblick lang keimte in Deena neue Hoffnung auf. Vielleicht würde er ihnen doch nichts antun. Vielleicht würde er sie bloß zur Polizei bringen. Dann wären sie wenigstens in Sicherheit. „Erzählt mir, was ihr zu wissen glaubt, Mädchen", befahl Farberson. „Wir wissen nichts", sagte Deena hastig. „Ach, tatsächlich?" Farberson kniff die Augen zusammen. „Versucht nicht, mich für dumm zu verkaufen. Also, was habt ihr euch zusammengereimt?" Er trat einen Schritt auf sie zu. „Es macht mir nichts aus, euch weh zu tun, um die Antwort zu erfahren!" „Sie wissen es doch längst", gab Deena wütend zurück. Sie hatte das Gefühl, dass Farberson ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen veranstaltete. „Sie haben Ihre Frau wegen ihres Geldes umgebracht und versucht, es wie einen Einbruch aussehen zu lassen!" Einen Augenblick lang schwieg er, dann richtete er sich auf, als hätte er seine Entscheidung getroffen. „Na, ihr Gören seid aber wirklich schlau", sagte er, „zu schlau ..." „Was meinen Sie damit?", fragte Jade leise. „Ich meine damit, dass ihr Recht haben könntet – mit eurer Theorie. Vielleicht habe ich Edna wirklich getötet." Deena lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sicher würde er es nicht zugeben, wenn er vorhatte, Jade und sie laufen zu lassen. Das Einzige, was ihr einfiel, war, möglichst lange mit ihm zu reden, um Zeit zu gewinnen. „Sie haben sie umgebracht und die Schuld auf Chuck geschoben?", hakte sie nach. Ein seltsames Lächeln verzerrte Farbersons Gesichtszüge. „Als ihr drei an dem Abend hier aufgetaucht seid, war das wie ein Geschenk des Himmels. Ihr habt mir noch mehr Zeit gegeben – Zeit, alles in Ruhe zu erledigen, bevor ich hier abhaue. Ich bin euch dafür sehr dankbar, falls es euch interessiert." „Sie können immer noch abhauen", sagte Deena rasch. „Jade und ich werden niemandem etwas sagen, bevor Sie morgen abfliegen." „Ein netter Versuch", sagte Farberson. „Daran habe ich auch schon gedacht – euch einfach hier einzuschließen, bis ich
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verschwinde. Aber ihr wisst zu viel. Ich kann das Risiko nicht eingehen." „Warten Sie", bat Deena. „Und wenn –" Doch es war zu spät. Mr Farberson verließ das Zimmer. „Geht bitte nicht weg", sagte er und grinste boshaft. Er schlug die Tür hinter sich zu, und Deena hörte, wie er den Schlüssel im Schloss umdrehte. Seine Schritte entfernten sich auf dem Flur.
Kapitel 24 Deena rüttelte wie wild an der Tür, doch es war nichts zu machen. „Wir müssen hier verschwinden!" „Wie denn?", fragte Jade. Deena dachte angestrengt nach, dann hellte sich plötzlich ihr Gesicht auf. „Durchs Fenster. Weißt du noch, als ich vorhin das Fenster zumachen wollte? Und ein Ast war eingeklemmt? Der große, alte Baum da draußen steht nahe genug am Haus – höchstens ein, zwei Meter entfernt." „Willst du etwa sagen, wir sollen hinunterklettern?", fragte Jade. „Wir haben keine andere Wahl, Jade, er wird uns sonst umbringen!" Sie entriegelte das Fenster und wollte es hochschieben, doch es klemmte. „Beeil dich, Deena", sagte Jade atemlos. „Er kommt zurück!" Jetzt hörte auch Deena die Schritte auf der Treppe. „Warum wollte ich das Fenster vorhin unbedingt zumachen?", stöhnte Deena. Sie versuchte mit aller Kraft, das Fenster hochzuschieben, doch es bewegte sich keinen Millimeter. „Wir müssen Zeit gewinnen!", sagte Jade atemlos. „Komm, hilf mir!" Jade begann, eine schwere Kommode in Richtung Tür zu schieben. Deena rannte zu ihrer Freundin, um zu helfen. Als beide Mädchen mit vereinten Kräften gegen das schwere Möbelstück drückten, bewegte es sich langsam über den Boden. Draußen vor der Tür hallten Farbersons Schritte, die immer lauter wurden. 122
„Schneller!", sagte Jade. Sie rückten die Kommode Zentimeter für Zentimeter voran – und blockierten die Tür in dem Augenblick, als Farberson den Schlüssel ins Schloss steckte. Deena rannte zurück ans Fenster. Als Mr Farberson die Tür aufmachen wollte, hörten sie einen dumpfen Schlag. Er merkte, dass ihm etwas den Weg versperrte. Deena hörte ihn laut fluchen. Dann vernahm sie ein ohrenbetäubendes Krachen, als er sich mit aller Wucht gegen die Tür warf. Die Kommode rückte ein paar Zentimeter von der Tür ab. Jetzt war der Türspalt so groß, dass Farberson seinen Arm hineinstecken konnte. „Das habt ihr euch so gedacht, wie?!", sagte er von der anderen Seite der Tür aus. Und fing an zu lachen – was für ein eiskaltes Lachen! Mit neuer Verzweiflung drückten die beiden Mädchen wieder gegen das Fenster, und diesmal schnellte es hoch. Deena sah hinaus. Die Äste direkt vor dem Fenster waren zu dünn, um ihnen Halt zu bieten. Doch einen Meter unterhalb des Fensters wuchs ein Ast, der stark genug war, um sie beide tragen zu können. Die Kommode machte einen plötzlichen Satz nach vorn. Wäre Mr Farberson etwas dünner gewesen, hätte er sich in diesem Augenblick durch den Türspalt ins Zimmer zwängen können. „Los, Deena!", flüsterte Jade in Todesangst. Deena schnaufte durch und kletterte auf das Fensterbrett. Sie drehte sich um, hielt sich mit beiden Händen am Sims fest und schwang sich hinunter. Erleichtert spürte sie, dass ihre Füße den Ast unter ihr berührten, vorsichtig ließ sie das Fenstersims los und hielt sich am Baumstamm fest. Dankbar umklammerte sie mit einer Hand die raue Rinde und streckte Jade die andere entgegen. Nur wenige Sekunden, nachdem auch Jade neben Deena auf den Ast geklettert war, tauchte Farbersons Silhouette im Fensterrahmen auf. „Ihr kommt mir nicht davon!", knurrte er und verschwand gleich darauf. „Mach schon!", drängte Jade. „Wir müssen hier weg!" Deena schaute nach unten und stellte fest, dass es viel höher war, als sie angenommen hatte. Der nächste Ast war gerade außer Reichweite. 123
„Ich kann nicht!", sagte sie zu Jade. „Die Äste sind zu glitschig vom Regen, und der nächste ist zu weit unten." „Ich bin größer als du", sagte Jade. „Ich werde es versuchen. Und dann, wenn ich – oh Gott!" Voller Schrecken riss sie die Augen auf. Im Licht des Küchenfensters sahen beide Mädchen, dass Mr Farberson auf den Baum zukam. Er hatte etwas Langes, Sperriges in der Hand, und als er näher kam, erkannte Deena, dass es eine Kettensäge war! „Oh nein", stöhnte Jade. „Er kann doch nachts keine Kettensäge anmachen!", meinte Deena ungläubig. „Er weckt noch alle Anwohner der Fear Street auf. Ist er total verrückt?" „Ja", flüsterte Jade. „Er ist verrückt. Ich meine, er ist völlig durchgedreht. Sieh dir bloß seinen irren Blick an!" Blinzelnd schaute Deena nach unten und wusste sofort, was Jade meinte. Farbersons Gesicht wirkte immer noch bösartig und wütend. Doch jetzt las sie noch etwas anderes darin – etwas Wildes, das zeigte, dass er die Kontrolle über sich verloren hatte. Im fahlen Licht wirkte das Weiße in seinen Augen riesengroß. Wieder stieß er ein fürchterliches Lachen aus. Deena schauderte. Dieser neue Mr Farberson war sogar noch beängstigender als der Mann, der sie vorher bedroht hatte. Er ließ den Motor der Kettensäge an. Kurz bevor das ohrenbetäubende Dröhnen der Säge alle anderen Geräusche auslöschte, kam es Deena so vor, als hörte sie ein schrilles Heulen in der Ferne. Der Baum fing an zu vibrieren, als Mr Farberson die Motorsäge ansetzte. Deena und Jade klammerten sich am Baumstamm fest, so gut sie konnten, um nicht abzustürzen – und in das rotierende Sägeblatt zu fallen. „Gleich hat er den Stamm durchgesägt!", schrie Deena und wäre fast vom Ast abgerutscht. Unter ihnen zog Farberson die Säge weg, ließ den Motor wieder aufheulen, funkelte die Mädchen irre an und setzte erneut an. Die Säge kreischte auf, während sie sich tiefer in den Stamm fraß. Holzspäne spritzten nach allen Seiten. Dann hörte Deena ein Knacken. „Wir fallen!", brüllte sie. 124
Kapitel 25 Plötzlich packte Jade Deena am Arm. „Sieh mal, da drüben!", formte sie lautlos mit den Lippen. Deena drehte den Kopf. In der Ferne, aus der Richtung der Mill Street kommend, bot sich ihr der schönste Anblick, den sie jemals gesehen hatte: das blitzende Licht von Polizeistreifen! Wieder ein Knacken. Der Baum begann zu schwanken. Im nächsten Augenblick schien alles gleichzeitig zu passieren. Der Baum neigte sich noch stärker. Deena machte die Augen zu; sie rechnete damit, dass ihr Leben jeden Moment vorbei sein würde. Dann wurde der Garten plötzlich von unheimlichen roten Blitzen erhellt, als die Streifenwagen die Auffahrt zum Haus hinauffuhren. Ein Polizeibeamter kam mit gezückter Pistole quer über den Rasen angerannt. Deena erkannte Detective Frazier. Er feuerte seine Waffe einmal und dann noch ein zweites Mal ab. Farberson blieb stocksteif stehen, dann zuckte er und brach, die dröhnende Kettensäge immer noch in Händen haltend, langsam zusammen. Schnell rannte der Polizeibeamte zu Farberson und stellte den Motor der Säge ab. Die Erleichterung nach all der Gefahr und dem Krach war überwältigend – und in der plötzlichen Stille wunderte Deena sich einen Augenblick lang, ob sie taub geworden sei. „Seid ihr okay?" Detective Monroe stand unter dem Baum und blickte zu ihnen hinauf. Hinter ihm beugten sich Frazier und ein uniformierter Polizist über Mr Farberson. „Versucht, euch nicht zu bewegen", sagte Monroe. „Ich hole eine Leiter." Deena war so erleichtert, dass sie sich plötzlich ganz schwach fühlte. Sie schaute Jade an und sah, dass es ihrer Freundin genauso ging. Erst als der Baum wieder wankte, wurde Deena klar, dass sie noch nicht in Sicherheit waren. Jetzt war der Garten erfüllt mit den Rufen der Polizisten, laufenden Motoren und dem Rauschen der Funkgeräte. Durch das dichte Blätterwerk des Baums sah Deena, wie jemand in ein Funkgerät 125
redete, und hinter ihm – sie trauten ihren Augen kaum – standen ihr Vater und Chuck! Detective Monroe tauchte mit einer langen Leiter auf und kletterte zu ihnen hoch. Zuerst streckte er Deena die Hand entgegen. Dankbar ließ sie sich von ihm hinunterhelfen. Eine Minute später war auch Jade in Sicherheit. Als sie ihren Fuß auf die Erde setzte, rief jemand: „Achtung!" Der Baum neigte sich erst langsam, dann immer schneller zur Seite und stürzte um. Seine langen Äste sprengten die Glasscheiben im Erdgeschoss. Deena betrachtete alles wie durch einen Schleier, dann wurde sie ohnmächtig.
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Kapitel 26 Als Deena ein paar Minuten später wieder zu Bewusstsein kam, lag sie auf Farbersons Veranda. Neben ihr saß Jade im Schneidersitz und presste sich ein Tuch an die Stirn. Und neben Jade hockte Chuck und hatte beschützend den Arm um sie gelegt. Deena richtete sich mühsam auf und sah sich um. Sie konnte ihren Augen kaum glauben. Frazier und Monroe, drei weitere Polizisten und ihr Vater hatten sich alle auf der Veranda versammelt und starrten voller Besorgnis auf Jade und sie hinunter. „Wie fühlst du dich, Liebes?", fragte ihr Vater. Er beugte sich herunter und strich ihr über die Stirn. „Was ist passiert?", fragte sie. Chuck grinste bescheuert wie immer. „Das ist eine komplizierte Geschichte", sagte er. „Wo ist Mr Farberson?", fragte Deena. „Da drüben." Frazier deutete auf die andere Seite des Gartens. „Er ist verletzt, aber er wird wahrscheinlich durchkommen – um vor Gericht gestellt zu werden." Er lehnte sich an das Geländer der Veranda und verschränkte die Arme. „Es sieht so aus, als hättet ihr Mädchen einiges erlebt", sagte er. „Warum erzählt ihr uns nicht, was ihr hier getrieben habt, während wir auf den Krankenwagen warten?" „Wir wollten sehen, ob wir was über Mr Farberson herausfinden könnten", antwortete Deena. „Und was habt ihr herausgefunden?" Fraziers Gesicht war ausdruckslos, und Deena hatte keine Ahnung, was er wirklich dachte. „Dass er seine Frau umgebracht hat", sagte Jade. „Wegen ihres Geldes." „Woher wisst ihr das?", fragte Frazier. Detective Monroe, der neben ihm stand, machte sich Notizen. „Schauen Sie doch in Mr Farbersons Tasche nach!", sagte Deena. „Da hat er einen Brief von seiner Frau, in dem steht, dass sie ihn verlassen will. Und er hat Flugreservierungen nach Südamerika." „Und außerdem", fügte Jade hinzu, „hat er es uns selbst gesagt." Deena bemerkte, dass Jades Stimme nicht länger zittrig, sondern 127
gestärkt klang und dass etwas von dem alten Glanz in ihre Augen zurückgekehrt war. „Ihr sagt, Farberson hätte euch erzählt, dass er seine Frau ermordet hat", wiederholte Frazier. „Hat er vielleicht auch erwähnt, warum er das getan hat?" In seiner Stimme schwang ein leicht sarkastischer Unterton mit, und Deena wurde wütend. „Seine Frau hatte eine Menge Geld", sagte sie in zornigem Ton. „Sie wollte ihm nichts mehr davon geben. Außerdem hatte er eine Affäre mit seiner Assistentin Linda Morrison." „Und wo habt ihr all diese Informationen her?", wollte Frazier wissen. „Wir haben danach gesucht!", sagte Jade aufgebracht. „Wir sind zu Mr Farbersons Arbeitsstätte gegangen und zu Miss Morrisons Haus, und dann sind wir hierher gekommen!" „Ihr seid ein hohes Risiko eingegangen", sagte Frazier. „Findet ihr nicht, dass das der Job der Polizei ist?" „Natürlich!", erwiderte Deena. „Aber Sie haben uns ja nicht geglaubt. Wir wussten, dass Chuck unschuldig ist und dass wir seine einzige Hoffnung waren." Zu Deenas Überraschung lächelte Frazier plötzlich. „Wahrscheinlich hätte ich euch sagen sollen, dass Farberson schon seit geraumer Zeit unser Hauptverdächtiger war", erklärte er. „Wir haben nur gewartet, bis wir genügend Beweise gegen ihn hatten." „Sie haben nur gewartet –", stammelte Deena. „Aber was war mit Chuck? Sie haben ihn die ganze Zeit eingesperrt!" „Reg dich ab, Deena", warf Chuck ein. „Es ist alles in Ordnung." „Wie kann es in Ordnung sein?", widersprach Deena. „Wenn die Polizei die ganze Zeit über gewusst hat, dass du unschuldig bist, wie konnten sie dich dann –" „Wir waren nicht sicher", unterbrach Detective Frazier sie. „Es war ziemlich geschickt von Farberson, euch mit hineinzuziehen. Chucks Fingerabdrücke auf dem Messer haben uns zuerst von der richtigen Spur abgebracht. Aber dann haben wir Farberson observiert. Wir hatten keine Beweise gegen ihn und wollten nicht, dass er wusste, dass wir ihn verdächtigen." „Sie haben meinen Bruder eine ganze Woche lang im Gefängnis behalten, nur um Ihre Ermittlungen zu unterstützen?" Deena war so 128
wütend, dass sie Frazier am liebsten irgendeinen Gegenstand an den Kopf geschmissen hätte. „Hey, Deena, beruhige dich", sagte Chuck. „Lass Detective Monroe es erklären." „Nein, ich übernehmen das", sagte Mr Martinson. Deena sah ihren Vater an und fragte sich, ob jetzt alle verrückt geworden waren. „Mein Anwalt hatte arrangiert, dass Chuck schon am Mittwoch gegen eine Kaution auf freien Fuß gesetzt werden würde", sagte Deenas Vater. „Aber Detective Frazier erklärte mir die Situation. Er sagte, sie hätten eine größere Chance, Farberson zu verhaften, wenn sie ihn weiterhin im Glauben ließen, dass Chuck der Hauptverdächtige war." „Und du hast zugestimmt?" Deena erinnerte sich daran, wie Chuck ausgesehen hatte, als sie ihn im Gefängnis besucht hatte. Wie verzweifelt und verängstigt. Jetzt wurde sie wütend auf ihren Vater. Genauso wütend wie auf die Polizeibeamten. Mr Martinson sah beschämt aus und zuckte mit den Schultern. „Es war doch nur für ein paar Tage", sagte er. „Morgen hätten sie Chuck sowieso freigelassen. Ich wollte der Polizei helfen. Und ... ich dachte, das würde Chuck eine Lektion erteilen." „Es ist okay, Dad", sagte Chuck. „Ich glaube, ich kann dich verstehen." Deena beobachtete ihn aufmerksam. Er war nicht mehr der Junge, der vor knapp drei Wochen nach Shadyside gekommen war. Sein Gesicht wirkte älter, ernsthafter. Alle Spuren der Verächtlichkeit und Verbitterung waren verschwunden. Ein Krankenwagen kam die Fear Street entlanggerast und bog in die Auffahrt ein. Frazier und Monroe gingen zum Wagen, um den Notärzten zu helfen. Deena und Jade sahen zu, als sie Mr Farberson auf eine Krankenliege hievten und in den Wagen schoben. „Ich kann kaum glauben, dass es vorbei ist", sagte Deena. „Glaub es ruhig", erwiderte Chuck. „Wegen all dem, was du und Jade für mich getan habt, kennt die Polizei jetzt die Wahrheit. Sie wissen, dass ich unschuldig bin – und sie haben genügend Beweise gegen Farberson, um ihn ein Leben lang hinter Gitter zu bringen." Der Krankenwagen fuhr rückwärts aus der Ausfahrt und entfernte sich mit rasender Geschwindigkeit. Die Polizisten schienen mit ihrer Arbeit fertig zu sein und gingen daran, alles einzupacken. 129
„Brauchen Sie uns noch?", fragte Mr Martinson Frazier. „Nein, Sie können nach Hause fahren", sagte der Polizeibeamte. „Aber morgen muss ich die Mädchen noch einmal befragen." „Gut. Seid ihr soweit, Deena und Jade?" Deena richtete sich auf. „Klar", sagte sie. Dann hielt sie inne und wandte sich zu Frazier um. „Da ist nur eines, was ich nicht begreife", meinte sie. „Und was wäre das?" „Keiner hat gewusst, wo wir waren. Wie konnten Sie dann rechtzeitig hier sein, um uns zu retten?" „Dafür müsst ihr euch bei Chuck bedanken", erklärte Detective Frazier. „Er hat versucht, deine Eltern anzurufen, um ihnen zu sagen, was ihr vorhattet, aber er konnte sie nicht erreichen. Also hat er schließlich mich zu Hause angerufen -und gesagt, er wolle ein Geständnis ablegen." „Du hast was gesagt?", fragten Jade und Deena wie aus einem Munde und starrten Chuck ungläubig an. Chuck grinste. „Ich musste ihn so schnell wie möglich sprechen. Na ja, und das war der einzige Weg, wie ich sicher sein konnte, dass er mich anhören würde." Deena und Jade warfen einander einen Blick zu, dann sahen sie Chuck wieder an. Jade fing an zu lachen. „Ich kann gar nicht glauben, dass du das getan hast, Chuck!", sagte sie und verschluckte sich fast vor Lachen. „Nach allem, was du hoch und heilig versprochen hast, nach allem, was wir durchgemacht haben ..." „Wovon redest du eigentlich?", fragte Chuck verwirrt. „Wovon ich rede?", gab Jade zurück. „Ich rede davon, dass du ... dass du dir noch einen Telefonscherz erlaubt hast!"
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Kapitel 27 Am Montagmorgen in der Schule konnte niemand über etwas anderes reden als die Geschehnisse in der Fear Street. In der Zeitung war nur ein kurzer Bericht über Mr Farbersons Verhaftung erschienen, doch irgendwie war das Gerücht in Umlauf gekommen, dass Deena, Chuck und Jade in die Sache verwickelt waren. Bis zum Mittagessen waren sie schon Helden. Als Deena vor dem Lunch zu ihrem Schließfach ging, fand sie dort einen ganzen Menschenauflauf versammelt. „Gratuliere, Deena!", sagte Della O'Connor. „Habt ihr echt der Polizei geholfen, einen Mord aufzuklären?", wollte Cory Brooks wissen. „Okay, zieht alle eine Nummer!", witzelte Deena. In diesem Augenblick tauchte Lisa Blume mit gezücktem Notizbuch auf. „Guten Morgen, Deena", sagte sie. „Wie geht's?" „Ich bin einfach froh, dass alles vorbei ist", sagte Deena wahrheitsgemäß. „Ich würde gern das Exklusiv-Interview machen." „Können wir uns nach der Schule unterhalten?", schlug Deena vor. „Ich sterbe vor Hunger." „Kannst du mir wenigstens sagen, ob es wahr ist, dass dein Bruder ein falsches Geständnis abgelegt hat?", beharrte Lisa. „Warum fragst du ihn nicht selbst?", schlug Deena vor. Genau in diesem Moment kam Chuck um die Ecke gebogen, er und Jade hielten sich an der Hand. Jade trug ein langes, blaues Kleid und sah toll aus. Sie lächelte Chuck an, als würde sie ihn nie mehr aus den Augen lassen. Sofort stürzte Lisa sich auf Chuck, und Deena war überrascht, als sie Chuck grinsen und ihre Fragen beantworten sah. Deena wollte gerade zu Jade hinübergehen, als sie Rob entdeckte, der auf sie zukam. „Hey, wie geht's so?", fragte er mit einem strahlenden Lächeln. „Hi Rob", sagte sie. 131
„Ich habe versucht, dich am Wochenende anzurufen", sagte er. „Jetzt weiß ich, warum du nicht zu Hause warst." Sie lächelte ihn nur schweigend an, ihr fehlten die Worte. „Also", fuhr Rob fort, „heute Abend kommen ein paar Freunde zu mir, um Videos anzusehen. Vielleicht hast du ja auch Lust?" „Ich – ja, sehr gerne", antwortete Deena mit pochendem Herzen. „Super", sagte Rob. „Ich hole dich dann um sieben ab. Und ihr", sagte er zu Chuck und Jade gewandt, „kommt doch auch." „Danke", erwiderte Jade, „aber ich habe heute Abend zu viele Hausaufgaben. Deena, ich rufe dich nach der Schule an." „Okay", sagte Deena. Sie wollte den Flur entlanggehen, doch nach ein paar Schritten blieb sie stehen und drehte sich um. „Ich habe es mir anders überlegt", rief sie Jade zu. „Ich habe von Telefonen erst mal genug. Warum schickst du mir nicht lieber eine Postkarte?"
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