Helen Joseph
Allein und doch nicht einsam Ein Leben gegen die Apartheid
Aus dem Englischen von Uta Goridis
Rowohlt
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Helen Joseph
Allein und doch nicht einsam Ein Leben gegen die Apartheid
Aus dem Englischen von Uta Goridis
Rowohlt
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, April 1987 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Side by Side» 1986 im Verlag Zed Books Ltd. London Copyright © 1986 by Helen Joseph
Copyright © 1987 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten Umschlagentwurf Jürgen Kaffer/Peter Wippermann (Privatfoto) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1280 – ISBN 3 499 15928 7
Sie war 51, als ihr politisches Leben begann. Noch mit 77 wanderte sie ins Gefängnis, weil sie sich weigerte, als Zeugin der Anklage gegen Winnie Mandela auszusagen. Sie wurde verhaftet, gebannt, eingesperrt und fast ein Jahrzehnt unter Hausarrest gestellt – ihr Mut, sich für den schwarzen Befreiungskampf einzusetzen, konnte durch keine Schikane des südafrikanischen Regimes gebrochen werden. 1905 wurden Helen Joseph in England geboren. Als Lehrerin ging sie nach Indien und kam 1930 nach Südafrika, wo sie noch im gleichen Jahr heiratete und ein Leben führte, das aus Bridge, Tennis und Reiten bestand. Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie Offizier der südafrikanischen Luftwaffe. Als sie nach dem Krieg für die TextilarbeiterGewerkschaft arbeitete, schärfte sich ihr Blick für die unwürdigen Lebensbedingungen der Schwarzen. Sie unterstützte den schwarzen Widerstand gegen die BantuErziehung und gehörte zu den wenigen Weißen unter den 156 Angeklagten des Hochverratsprozesses, der nach fast fünfjähriger Dauer 1961 mit einem Freispruch für alle Angeklagten endete. 1963 wurde ihr Zuhause ihr Gefängnis: Sie war die erste Person, die unter Hausarrest gestellt wurde. Sie verlor ihre Arbeit, und die weiße Gesellschaft strafte sie mit Beschimpfungen, Todesdrohungen und Anschlägen auf ihr Leben, dafür, daß sie sich durch eine wie sie verraten fühlte. Helen Joseph selbst hingegen war schmerzlich bewußt, daß sie als Weiße selbst im Gefängnis noch Privilegien genoß, von denen ihre schwarzen Brüder und Schwestern, die mit ihr eingesperrt waren, nur träumen konnten: «Im Laufe der Jahre wurde mir die Schuld, die
ich als Weiße trage, immer deutlicher bewußt. Ich werde nie Lilian Ngoyis bittere Bemerkung vergessen, daß ich wegen meiner rosa Hautfarbe selbst im Gefängnis noch besser behandelt würde. Daß ich verhaftet, eingesperrt, gebannt und zu Hausarrest verurteilt worden bin, befreit mich nicht von dieser Schuld. Ich profitiere von diesem verdammten System, ich kann nicht aus meiner Haut, ich schäme mich, weiß zu sein.» (Helen Joseph)
DANKSAGUNG
Dank gebührt all denen, die mir bei dem Zustandekommen dieses Buches geholfen haben – ganz besonders einer Person. Alle haben mir Mut gemacht, die Sache in Angriff zu nehmen. Unter anderen Umständen würde ich sie gerne namentlich aufgeführt haben. Sie werden wissen, daß sie gemeint sind. Ein Teil des Honorars für dieses Buch wird dem South African Council of Churches zur Verfügung gestellt.
Für Nelson und Winnie Mandela
«Wir werden für diese Rechte Seite an Seite unser Leben lang kämpfen, bis wir unsere Freiheit endgültig errungen haben.» Die Freiheitscharta
Wir waren zwanzigtausend
Den 9. August 1956 werde ich nie vergessen, als Tausende von Frauen eine halbe Stunde lang schweigend auf ihrem Platz standen, die Faust zum ANC-Salut erhoben. Zwanzigtausend Frauen, aller Rassen und aus allen Teilen Südafrikas, hatten sich in dem riesigen, auf einem Hügel gelegenen Amphitheater des Unionsgebäudes in Pretoria versammelt, in dem die Ministerien untergebracht sind. In den leuchtenden Farben der afrikanischen Tücher, in bunten indischen Saris und den smaragdgrünen Blusen der Mitglieder des African National Congress (ANC) waren diese zwanzigtausend Frauen nicht in Reih und Glied, sondern, dicht aneinandergedrängt, von der untersten Terrasse all diese Stufen hochgestiegen, eine Terrasse nach der andern, mit ihren Führerinnen an der Spitze. Lilian Ngoyi, Rahima Moosa, Sophie Williams und ich, Helen Joseph, hatten sie zusammen mit anderen Frauen bis zur obersten Terrasse und dann ins Amphitheater geführt. Einmal hatte ich mich umgedreht: Frauen, alles Frauen, Tausende von marschierenden Frauen, die empörte Protestschreiben gegen ungerechte Gesetze mit sich führten, gegen das verhaßte Paßsystem, gegen die Pässe für afrikanische Frauen. «Wir stehen hier für Tausende von Frauen, die nicht bei uns sein können. Aber im ganzen Land verfolgen Frauen, was hier geschieht, und denken an uns. Mit dem Herzen sind sie bei uns. Wir sind aus allen Teilen Südafrikas hierhergekommen. Jede Rasse, jede Hautfarbe ist vertreten. Wir kommen aus Großstädten, Kleinstädten, aus den Reservaten und den
Dörfern – wir haben uns zusammengetan in der Absicht, die afrikanischen Frauen vor dem entwürdigenden Paßzwang zu schützen. Razzien, Verhaftungen, Lohnausfall, stundenlanges Warten auf den Paßbehörden, wochenlange Untersuchungshaft, Zwangsarbeit auf den Farmen – das haben die Paßgesetze den afrikanischen Männern eingebracht… Strafen, Leiden, nicht wegen eines Verbrechens, sondern wegen eines fehlenden Passes. Wir, die afrikanischen Frauen, wissen, welche Auswirkungen dieses Gesetz auf unser Familienleben, auf unsere Kinder hat. Und auch wir, die nichtafrikanischen Frauen, wissen, welchen Schikanen unsere Schwestern ausgesetzt sind… Wir werden nicht ruhen, bis alle Paßgesetze und alle Zuzugskontrollen, die unsere Freiheit beeinträchtigen, abgeschafft sind. Wir werden nicht ruhen, bis wir für unsere Kinder Grundrechte, wie das Recht auf Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und persönliche Sicherheit, erkämpft haben.» Wir gingen mit unsern Protestschreiben in das Ministerium des Premierministers Johannes Strijdom. Er war nicht da. Wir überschwemmten daraufhin sein Büro mit einer Flut von Protestschreiben und kehrten zu den Tausenden von Frauen zurück, die draußen auf uns warteten. Lilian Ngoyi forderte sie auf, dreißig Minuten lang schweigend zu protestieren. Als sie den rechten Arm zum ANC-Salut hob, gingen zwanzigtausend Arme in die Höhe und verharrten so dreißig endlos lange Minuten. Wir wußten, daß in ganz Südafrika Frauen demonstrierten. Nach der Protestkundgebung gingen die Frauen – genauso ruhig und diszipliniert, wie sie gekommen waren – die Treppen zu der Straße hinunter, nur sangen sie jetzt. Und dann waren die Gartenterrassen wieder leer – nicht wirklich leer, denn
etwas von dem unbezwingbaren Geist des Protests muß zurückgeblieben sein. Und vielleicht ist er immer noch da, auch wenn man ihn nicht sehen und nicht greifen kann. An jenem Tag, dem 9. August 1956, waren die Frauen im Besitz des Unionsgebäudes. Heute, fast dreißig Jahre später, wird dieser Tag in Südafrika von denjenigen gefeiert, die den Befreiungskampf weiterführen; aber auch in Ländern, in denen der Afrikanische Nationalkongreß als Befreiungsbewegung anerkannt und respektiert wird, ist der 9. August der Tag der afrikanischen Frau. Was uns veranlaßt hat, an diesem Tag vor dem Unionsgebäude, dem geheiligten Sitz der weißen Regierung, zu demonstrieren, ist ein Stückchen Geschichte unseres Landes. Vor allem aber ist es Bestandteil der Geschichte des Kampfes gegen die rassistische Unterdrückung und die weiße Gewaltherrschaft geworden – eine Geschichte, die andauert –, bis heute. Eine Geschichte, die auch von jenen erzählt wird, die jetzt noch in den Gefängnissen sitzen. Einige, die aus Südafrika geflohen sind, haben bereits davon berichtet. Sie soll erzählt werden, diese Geschichte, und da ich selbst dabeigewesen bin, bin ich stolz darauf, zu denen zu gehören, die zu ihrer Verbreitung beigetragen haben.
Die Föderation Südafrikanischer Frauen wurde Anfang der fünfziger Jahre gegründet, als die ersten Auswirkungen des berüchtigten Gesetzes zur Unterdrückung des Kommunismus zu spüren waren. Das Gesetz war 1950 erlassen worden, zwei Jahre, nachdem die Nationalistische Partei an die Macht gekommen war. Angeblich sollte damit die Gefahr des Kommunismus gebannt werden, in Wirklichkeit diente es nur dazu, die Gegner der Regierung auszuschalten. Dieses Gesetz ermächtigte den Justizminister, jeder Person, die seiner
Meinung nach die Ziele des Kommunismus propagierte, das Recht, Versammlungen beizuwohnen oder sich frei zu bewegen, abzusprechen, das heißt, die betreffende Person zu bannen. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich die Auswirkungen eines solchen Bannes vorzustellen. Auf subtile Art und Weise wird das Leben des Gebannten völlig unterminiert, er führt sozusagen nur noch ein Schattendasein. Irgendwie ist es schlimmer als Gefängnis, denn im Gefängnis weiß man wenigstens, woran man ist. Wer im Gefängnis sitzt, weiß, daß er in den Augen der Behörden eine Gefahr darstellt und deshalb aus dem Verkehr gezogen werden muß. Die Bannbestimmungen hingegen schränken die persönliche Freiheit so sehr ein, daß ein normales Leben nicht mehr möglich ist, auch wenn man nicht aus dem Verkehr gezogen wird. Die Flut von repressiven Maßnahmen, die unter dem Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus erlassen wurden, wurde gegen Ende des Jahres 1953 für kurze Zeit gestoppt. Ein Gebannter hatte gegen die Bannverfügung Berufung eingelegt, weil er nicht angehört worden war. Er war bis zu dem Obersten Gerichtshof gegangen, und seiner Klage wurde stattgegeben. Man hatte sozusagen über Nacht herausgefunden, daß die Bannverfügungen keine Rechtsgültigkeit besaßen. Obwohl diese Freiheit nicht lange dauerte (im darauffolgenden Mai wurde das Gesetz so geändert, daß ein Bann auch ohne Verhandlung Rechtsgültigkeit besitzt), hatte diese Lücke im Gesetz doch zwei gebannten Frauen die Möglichkeit verschafft, innerhalb der kurzen Frist von ein paar Monaten eine Organisation für Frauen aller Rassen ins Leben zu rufen, wie es sie noch nie gegeben hatte. Und auf der ersten Konferenz konnten sie auch dabeisein und sprechen.
Ray Alexander und Hilda Bernstein galten unter den Führern des Befreiungskampfes als treue, standhafte Feministinnen. Ray war eine sehr populäre Gewerkschaftsführerin. Wenn sie mit ihrem lettischen Akzent, den sie ihr Leben lang beibehalten hat, und ihrem herzlichen «meine liebe…» auf die Leute zuging, flogen ihr alle Herzen zu. In Gewerkschaftskreisen ist sie eine Legende. Man erzählt sich, wie sie damals, als die Gewerkschaften aufgebaut wurden, mit dem Zug von Stadt zu Stadt fuhr und dann zu Fuß von Fabrik zu Fabrik ging. Obwohl sie eine überzeugte Kommunistin war, wurde sie von Afrikanern ins Parlament gewählt, als diese noch drei Sitze hatten; als dann aber das Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus in Kraft trat, wurde sie wieder hinausgedrängt. Hilda Bernstein hatte viel mit Ray gemeinsam – auch sie war Kommunistin, sehr herzlich und ohne diesen Chauvinismus, der für die Kommunisten charakteristisch zu sein scheint. Sie wurde 1943 von den Weißen in den Johannesburger City Council gewählt – außer ihr war das noch keinem Mitglied der kommunistischen Partei gelungen. Während des Notstands, der nach den Erschießungen von Sharpeville ausgerufen worden war, saßen wir zusammen im Zentralgefängnis von Pretoria, und ihr Optimismus hat uns allen sehr geholfen. Hildas Liebe zu ihren Kindern drängte sie zu ihrem Engagement für alle unterdrückten, notleidenden Frauen, besonders aber für die schwarzen Frauen. Ohne sich von früheren Bannurteilen einschüchtern zu lassen, verwirklichten diese beiden Frauen den Traum von einer gemischtrassigen Frauenorganisation, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt und an dem Befreiungskampf teilnehmen sollte. Hilda erzählte mir von dem Plan, eine Konferenz zu organisieren, auf der diese neue Vereinigung von Frauen
Gestalt annehmen sollte. Frauen aller Rassen würden über Themen sprechen, die sie und ihren Alltag betrafen. Über hundertfünfzig Frauen nahmen daran teil; sie kamen aus allen Teilen des Landes, manche sogar in ihren leuchtendbunten Trachten. Alle waren mit dem größten Eifer bei der Sache. Die Dolmetscher hatten es manchmal schwer, sich in dem Sprachgewirr zurechtzufinden – die Sprachen reichten von Englisch, Zulu, Xhosa, Sotho bis zu Afrikaans. Eine eindrucksvolle Frauencharta wurde ausgearbeitet und angenommen. Im Mittelpunkt standen natürlich die Belange der Frauen, aber auch die unterdrückte schwarze Bevölkerung wurde berücksichtigt. Lilian Ngoyi protestierte gegen die Bantu-Erziehung, den Plan der Regierung, ein speziell für Schwarze eingerichtetes, minderwertiges Erziehungssystem einzuführen: «Die BantuErziehung degradiert die afrikanischen Frauen zu Legehennen – die andern stehlen ihnen die Eier und machen damit, was sie wollen!» erklärte sie. Dann sprach sie von den Shantytowns, in denen sie selbst einmal gelebt hatte: «Ein Mann muß das Bettlaken zwischen die Zähne nehmen, wenn er sich anziehen will, da seine ganze Familie mit ihm in einem Zimmer schläft.» Lilian warf den afrikanischen Männern vor, sie hätten ihre Frauen daran gehindert, an der Konferenz teilzunehmen. Sie selbst war Witwe, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann sie an irgend etwas hätte hindern können. Kurz danach hat sie, die in den fünfziger Jahren zu einer der bedeutendsten Führerinnen der Frauenbewegung wurde, mir einen Besuch abgestattet, eine schlanke Frau in einem einfachen, aber eleganten Kostüm und mit einem kleinen runden schwarzen Hut. Ich sah sie nie einen anderen Hut tragen, obwohl viele afrikanische Frauen damals ein schwarzes Barett vorzogen.
Lilian sah sehr gut aus; sie war in ihren Vierzigern, wirkte aber wie dreißig. Den Kopf zur Seite gelegt, die Augen zu lachenden Schlitzen verengt, enthüllte ihr blitzendes Lachen einen entzückenden kleinen Spalt zwischen den Vorderzähnen. Ich konnte damals natürlich noch nicht ahnen, wie eng uns die Umstände aneinanderschmieden würden – als Führerinnen der Föderation Südafrikanischer Frauen landeten wir immer wieder im Gefängnis, außerdem waren wir über vier Jahre lang gemeinsam in den Hochverratsprozeß verwickelt. Danach konnten wir uns lange nicht sehen, weil wir beide gebannt waren. Genausowenig ahnten wir, daß wir einmal an der Spitze von zwanzigtausend Frauen, die gegen die Paßgesetze protestierten, marschieren würden. Sie wurde meine beste Freundin, jemand, in dessen Gesellschaft man sich einfach wohl fühlte, auch wenn ich nicht sehr oft das Vergnügen hatte. Nach diesem ersten Besuch haben wir uns auch bald näher kennengelernt; da sie in einer Johannesburger Kleiderfabrik arbeitete, trafen wir uns gelegentlich während ihrer kurzen Mittagspause, um im Auto ein paar belegte Brote zu teilen. Ich lernte die akuten Transportprobleme der schwarzen Bevölkerung, vor allem der Frauen, kennen; lange Schlangen an den Bushaltestellen, total überfüllte Züge, Männer, die auf den Trittbrettern standen, und dann der gefährliche Nachhauseweg von dem Bahnhof oder der Bushaltestelle durch dunkle, unbeleuchtete Straßen. Wegen dieser Schwierigkeiten konnten sich die Frauen abends nicht mehr treffen; wir mußten unsere Meetings also auf das Wochenende legen, aber das bedeutete, daß sie von den Townships in die Stadt kommen mußten. Trotz allem war unsere erste Konferenz im Transvaal jedoch sehr erfolgreich. Josie Palmer, eine erfahrene, kampferprobte Führerin der schwarzen Protestbewegung gegen die Aufenthalts- und Wohnrechtsgenehmigungen in den Lokationen, die schon in
den dreißiger Jahren aktiv gewesen war, wurde zur TransvaalPräsidentin gewählt, und ich wurde ehrenamtliche Schriftführerin. Dieses Mal war ich keine Weiße, die etwas für die Schwarzen tat, sondern Mitglied eines gemischtrassigen Komitees, dem eine schwarze Frau vorstand. Gegen Ende des Jahres 1954 kündigte die Stadtverwaltung von Johannesburg eine drastische Erhöhung der Mieten in Soweto an, dieser wuchernden, schwarzen Township für unterbezahlte Arbeiter und ihre Familien, Leute, die kein Geld hatten, um eine Mieterhöhung bezahlen zu können. Die Frauenföderation nahm sich der Sache an und organisierte eine weitere Konferenz für Frauen aller Hautfarben. Unter den Zuhörern standen viele Frauen auf und beschrieben ihre elenden Behausungen und ihre finanzielle Notlage. Ich wünschte, der Saal wäre mit weißen Hausfrauen aus den Vorstädten gefüllt – sie hätten sich das anhören sollen, aber leider war kaum eine zu sehen. Der Föderation war es nicht gelungen, mehr als eine Handvoll Frauen von der Black Sash Organisation oder von der Liberalen Partei für ihre Konferenz zu gewinnen. Schuld daran war unsere Nähe zu dem ANC und der Befreiungsbewegung. Aber diesen Preis zahlten wir gerne dafür, daß wir uns mit dem Befreiungskampf unseres Volkes verbunden fühlen konnten. Die Föderation hatte von Anfang an mit der Internationalen Demokratischen Frauenföderation Kontakte gehabt. Sie war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa gegründet worden, um sich für die Rechte der Frauen, den Frieden und den sozialen Fortschritt einzusetzen. Diese internationale Föderation pflegte Frauen zu ihren Konferenzen in Europa einzuladen und anschließend auf Reisen zu schicken; meistens waren das Einladungen in die Sowjetunion, nach Ungarn, Rumänien und sogar in die Volksrepublik China. Das war natürlich sehr verlockend für uns. Die Weltföderation hatte
einen Mütterkongreß in Lausanne geplant, und die Föderation Südafrikanischer Frauen war aufgefordert worden, im Februar zwei Vertreterinnen zu dem Vorbereitungsausschuß in Genf zu schicken, die auch an dem später im Jahr stattfindenden Kongreß teilnehmen sollten. Für uns im Transvaal bot sich Lilian Ngoyi an. Die zweite Delegierte war Dora Tamana. Man konnte damals noch ohne Paß aus Südafrika ausreisen, obwohl die Luft- und Schiffahrtsgesellschaften nicht gerne Passagiere ohne Pässe mitnahmen, da sie Angst hatten, mit den Behörden Ärger zu bekommen. Für politisch engagierte Weiße war es zwar schwierig, aber immer noch möglich, einen Paß zu bekommen. Für Schwarze war es fast unmöglich. Und für radikale Schwarze war es völlig aussichtslos. Wir mußten also versuchen, sie irgendwo unterzubringen, wo keine Reisedokumente verlangt wurden. In London war es unproblematisch; man mußte sich nur in die Schlange für Passagiere ohne Pässe einreihen. Ich wollte mich für ein paar Monate beurlauben lassen, um zum erstenmal seit zwanzig Jahren wieder nach Europa fahren zu können. Da mein Paß noch gültig war, würde ich keine Schwierigkeiten haben. Und Hilda würde mir mitteilen, wo und wann ich die beiden Frauen nach ihrer Ankunft in London im Januar 1955 treffen sollte. Ich kam kurz nach Neujahr in London an und fand ein paar Briefe von Hilda vor; sie schrieb, daß der Plan, Lilian und Dora auf dem Seeweg nach London zu schicken, fehlgeschlagen sei, weil man sie noch vor der Abfahrt ohne Pässe an Bord des Schiffes entdeckt hätte. Der Kapitän habe sich geweigert, sie mitzunehmen, obwohl sie schon für ihre Passage bezahlt hatten. Sie mußten unverrichteter Dinge wieder nach Johannesburg zurückkehren, um von dort aus auf irgendeine Art und Weise nach London zu fliegen. Ich solle mich bereithalten.
An dem Tag, an dem sie eintreffen sollten, wartete ich stundenlang im Flughafengebäude auf sie, die schlimmsten Befürchtungen hegend. Ein freundlicher Gepäckträger erklärte sich bereit, auf die andere Seite der Immigration und des Zolls zu gehen und ihnen einen Zettel zu geben, auf den ich eine kurze Botschaft gekritzelt hatte: «Ich bin hier und erwarte euch.» Schließlich tauchten sie dann auf, aufgeregt und triumphierend, und wir umarmten uns – wobei uns auffiel, daß niemand daran Anstoß zu nehmen schien, daß eine Weiße und zwei Schwarze sich so überschwenglich begrüßten. Sie erzählten von ihrem Abenteuer. Auf dem Schiff hatten sie sich in einer Toilette eingeschlossen und wollten sich erst wieder zeigen, wenn das Schiff Anker gelichtet hätte. Sie erstarrten vor Angst, als dann plötzlich jemand gegen die Tür hämmerte und ihnen befahl herauszukommen. Wie sie entdeckt wurden, weiß keiner von uns, und wir werden es wohl auch nie erfahren. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Tür zu öffnen. An irgendeinem Punkt war der Plan vereitelt worden. Als sie wieder in Johannesburg waren, bekamen sie ziemlich schnell einen Flug; in Sicherheit fühlten sie sich jedoch erst, als das Flugzeug in der Luft war. Daß Schwarze und Weiße gemeinsam in einem Flugzeug saßen, war in Südafrika immer noch eine große Seltenheit, und die beiden schwarzen Frauen wurden anfangs mit feindlichen Blicken und geflüsterten Kommentaren bedacht, bis der Kapitän erklärte, dies sei sein Flugzeug, und Apartheid würde es bei ihm nicht geben. Alle Passagiere seien gleich. Wir waren gerade zwei Wochen in London gewesen und wollten nach Genf aufbrechen, als uns die Internationale Föderation mitteilte, Lilian und Dora sollten besser nicht zu dem vorbereitenden Meeting in die Schweiz kommen, sie würden bestimmt Schwierigkeiten an der Grenze bekommen
und vielleicht sogar nach Südafrika zurückgeschickt werden. Es wäre sehr viel einfacher für sie, direkt nach Ostberlin zu fliegen, um von dort aus ihre Reise anzutreten und später dann zu dem Mütterkongreß in Lausanne zu kommen. Wenn man sie dann nach Südafrika zurückschickte, wäre es nicht mehr so tragisch. Ich fuhr also allein nach Genf zu dem vorbereitenden Meeting, fühlte mich aber meiner Aufgabe als Delegierte der südafrikanischen Frauen für ein so großes internationales Treffen kaum gewachsen. Ich bewunderte einfach nur die eloquenten, dynamischen Frauen und hatte noch nicht begriffen, was es bedeutete, Delegierte und nicht mehr Zuschauerin zu sein. Als ich nämlich gefragt wurde, an welchem Tag ich über Südafrika berichten wolle, brachte mich das völlig aus der Fassung. Ich war es nicht gewohnt, öffentliche Ansprachen zu halten, und besaß auch keine großen rhetorischen Fähigkeiten. Ich war eine Weiße und eigentlich gar nicht berechtigt, über die Leiden der andern in meinem rassistischen Land zu sprechen, Leiden, die ich selbst nie erfahren hatte, während all diese Delegierten aus eigener Erfahrung sprachen. Ich entwarf eine Rede, die ich einer der Organisatorinnen vorlegte; sie meinte jedoch, sie sei viel zu farblos, und das war sie bestimmt auch. Wir unterhielten uns über mein Leben in Südafrika, und ich sprach nicht nur über unsere Föderation, sondern auch über die ungerechten Lebensbedingungen und vor allem über den Plan der Regierung, die schwarzen Einwohner von Sophiatown, im Westen von Johannesburg, zwangsweise umzusiedeln, und die immer stärker werdende Protestbewegung. Das, was ich in den ausländischen Zeitungen über die bevorstehende Zwangsumsiedlung und die Proteste der Kongreßallianz gelesen hatte, war zwar nicht sehr detailliert gewesen, zeigte aber, daß die Regierung vor nichts
zurückschrecken würde. Die schwarze Bevölkerung würde versuchen, passiven Widerstand zu leisten. Ich vergaß Genf und sprach nur noch von Sophiatown und dem Protest. Als ich meine Rede vom Stapel gelassen hatte, meinte sie: «Gut so. Darüber mußt du morgen berichten.» Und als ich dann vor dieser internationalen Versammlung von Frauen stand, versuchte ich ihnen klarzumachen, was die Leute von Sophiatown alles über sich ergehen lassen mußten und wie sie von den Weißen unterdrückt wurden. Ich sprach für Lilian und Dora, ich sprach für die Frauen unserer Föderation und für die schwarzen Frauen unseres Landes, und ich wollte unsern Glauben an eine bessere Zukunft demonstrieren. Abschließend meinte ich: «Wo ihr heute steht, da stehen wir morgen!» Und dann geschah das Wunder. Alle Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen und applaudierten – ein Applaus, der nicht mir, der Sprecherin, sondern den Frauen Südafrikas galt, deren Botschaft ich übermittelt hatte. Ich konnte das zuerst gar nicht fassen, dann überwog aber doch die Freude und das Gefühl der Verbundenheit mit den Versammelten. Ich flog nach London zurück, wo ich erfuhr, daß Lilian und Dora schon zu ihrem großen Abenteuer aufgebrochen waren. Ich konnte ihnen also nicht von der Konferenz berichten. Insgeheim hatte ich gehofft, daß ich vielleicht auch eingeladen würde, ein paar andere Länder zu besuchen, da so viele Einladungen ergangen waren, wenn auch vor allem an schwarze Frauen. Meine Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Wahrscheinlich lag es daran, daß ich weiß war und keine bestimmte Ideologie vertrat.
Kampfgenossen
Als ich nach Südafrika zurückkehrte, machte ich die Bekanntschaft von Black Sash, einer Vereinigung weiblicher Wähler, der keine schwarzen Frauen angehörten, da diese ja kein Wahlrecht haben. Ich hielt es für eine Ironie, daß diese Frauen weiß und die Schärpen, die sie trugen, ausgerechnet schwarz waren. Diese Rassenschranke wurde später jedoch aufgehoben. Die Regierung, die von den weißen Nationalisten gestellt wurde, beabsichtigte, den Mischlingen das Wahlrecht zu entziehen. Das allgemeine Wahlrecht der Farbigen war jedoch in der Verfassung Südafrikas verankert. Dennoch – für die Nationalisten gab es nur ein Wahlrecht, das weiße. Daraufhin kam es im ganzen Land zu Protestaktionen, sowohl bei Weißen wie bei Farbigen. Weiße Frauen gründeten eine Liga zur Verteidigung der Verfassung und entfachten eine landesweite Kampagne. Sie riefen zu Demonstrationen vor dem Parlament in Kapstadt und vor dem Unionsgebäude in Pretoria auf. Zum Zeichen ihrer Trauer über die beabsichtigte Vergewaltigung der südafrikanischen Verfassung hatten sie sich schwarze Schärpen umgebunden. Die Frauen, die an diesen schweigenden Protestaktionen teilnahmen, wurden als «Black Sash» bekannt, und diesen Namen haben sie dann auch für ihre Organisation übernommen. Fast dreißig Jahre lang haben sie ihren schweigenden Widerstand aufrechterhalten; inzwischen protestieren sie in kleineren Gruppen und geben trotz der Weigerung der Regierung, ihre Protestschreiben gegen
Diskriminierung und ungerechte Gesetze entgegenzunehmen, nicht auf. Im Juni 1955 hatte Black Sash die weiblichen Wähler aufgefordert, sich einer dreitägigen Mahnwache anzuschließen, die vor dem Unionsgebäude unterhalb des für General Botha errichteten Denkmals aus Protest gegen den Ausschluß der Farbigen vom allgemeinen Wahlrecht stattfinden sollte. Ich stieß am zweiten Tag dazu, und wir verbrachten zwei eisige Juninächte im Freien, obwohl wir beinahe unter Bergen von Decken erstickten. Mehr als hundert Frauen können es nicht gewesen sein, trotzdem war es ein bedeutendes Ereignis, denn es waren weiße Frauen, die sich für die farbigen Wähler und nicht nur für ihre eigenen Belange einsetzten. Sie wirkten entschlossen und gleichzeitig auch sehr freundlich auf mich, aber ich wußte, daß meine Freundinnen und ich in diesem liberalen Nest die reinsten Kuckuckseier waren; wir standen nämlich voll und ganz hinter dem Befreiungskampf und diese Frauen nicht. Wir mußten jedoch zugeben, daß ihr Protest eine Schicht von weißen Frauen angesprochen hatte, die wir mit unserer radikaleren, gemischtrassigen Föderation noch nie hatten erreichen können. Im August hielt die Föderation eine Sonderkonferenz ab – unsern Mütterkongreß –, um unsere Verbundenheit mit dem Weltkongreß der Mütter in der Schweiz zu demonstrieren. Auf dieser Sonderkonferenz berichtete ich unter anderem, daß ich zusammen mit Black Sash vor dem Unionsgebäude demonstriert hätte, und beschrieb den Verlauf der beiden Nächte. Ich glaube, daß die andern genausowenig wie ich erwartet hatten, was daraufhin erfolgte: Margaret Gazo, eine Veteranin der Frauenliga des ANC meldete sich zu Wort: «Die weißen Frauen haben uns nicht eingeladen, an ihrer Protestaktion teilzunehmen, wir sollten deshalb selbst die Initiative ergreifen und vor dem Unionsgebäude gegen diese
repressiven Gesetze protestieren. Und die weißen Frauen werden wir auffordern, sich uns anzuschließen. Wir werden auch unser Lager dort aufschlagen und erst wieder abziehen, wenn unsere Forderungen erfüllt werden.» Ihr Vorschlag wurde begeistert aufgenommen, aber ich als Schriftführerin wußte nicht recht, ob ich mich nun über diese Herausforderung freuen oder meine Befürchtungen aussprechen sollte: Wie sollte man so etwas organisieren? Würden sie für unbegrenzte Zeit dort kampieren können? Ich dachte an die Kinder, an Verpflegung, an die «Klos». Als ein realistischeres Konzept sich durchsetzte und der Protest auf einen Tag beschränkt wurde, atmete ich auf. Es war wirklich ein Entschluß von ungeheurer Tragweite. Zum erstenmal würden Schwarze vor dem Unionsgebäude demonstrieren. Es drängte alle andern Themen in den Hintergrund. Nachdem wir uns auf den 27. Oktober geeinigt hatten, also gerade noch zwei Monate Zeit hatten, um unser Abenteuer in Pretoria zu organisieren, machten wir uns auch gleich an die Arbeit. Wir gingen nicht nur in die Townships der Umgebung, sondern fuhren an den Wochenenden in die Schwarzenstädte im Transvaal, in alle Orte, in denen wir über den ANC Kontakte zu Frauen hatten. Frauen, die wir vielleicht für unser Vorhaben begeistern konnten. Bertha Mashaba war meine engste Mitarbeiterin während dieser Kampagne. Sie war sowohl in dem Exekutivausschuß der Föderation wie auch in dem der Frauenliga des ANC. Sie hatte einen Job bei der Gewerkschaft für Arbeiter in der Bekleidungsindustrie, während ich ganztägig als Sekretärin bei der Medical Aids Society der Gewerkschaft der Textilarbeiter arbeitete. Mein Büro lag gerade um die Ecke von Berthas, und wir konnten gemeinsam nach der Arbeit losziehen; mit Fisch und Chips beladen, fuhren wir mit einem geliehenen Auto zu
den Townships der Umgebung, und an den Wochenenden zogen wir noch weitere Kreise. Bertha war groß, temperamentvoll, bebrillt und auch noch nicht verheiratet, hatte also Zeit, mich zu begleiten. Wir kannten all die Schleichwege, auf denen ich illegalerweise in die Townships gelangte, obwohl ich in der Dunkelheit beinahe einmal einen schwarzen Polizisten umgefahren hätte. Ich hatte keine Erlaubnis, mich dort aufzuhalten, wo ich mich aufhielt, und erstarrte deshalb vor Schreck, als ich seine Umrisse neben meinem heruntergekurbelten Fenster erblickte. «Du hättest ihn beinahe geküßt!» rief Bertha, die es geschafft hatte, uns aus dieser heiklen Situation herauszureden, indem sie ein paar Erklärungen in Zulu abgab, die ich natürlich nicht verstand. Unser Protest war umfassend. Es gab so viele Gesetze, die schwarze Frauen unterdrückten – sowohl als Frauen wie als Mütter. Wir wollten aber nicht als Bittsteller auftreten, sondern die Aufhebung ungerechter Gesetze fordern. Wir wollten versuchen, zu verschiedenen Ministern vorzudringen und mit ihnen zu sprechen. Bis kurz vor dem 27. Oktober hatten wir noch geplant gehabt, eine große Protestkundgebung auf der Straße zwischen dem Unionsgebäude und den darunterliegenden Terrassen abzuhalten. Von da aus wollten wir dann unsere Delegierten zu den verschiedenen Ministern schicken, die wir uns auserkoren hatten. Drei Tage vor der Kundgebung erfuhren wir, daß der City Council von Pretoria keine Genehmigung dafür erteilt hatte. Wir standen vor einem echten Dilemma: wir wußten nämlich, daß eine riesige Menschenmenge auf das Unionsgebäude zuströmen würde. Sie aufhalten zu wollen, war unmöglich. Wir sprachen mit einem Rechtsanwalt in Pretoria und fanden schließlich eine glückliche Lösung: Jede Frau sollte ihr eigenes Protestschreiben unterzeichnen und damit zu dem Unionsgebäude gehen. In diesem Fall war auch gleichgültig,
wie viele Frauen sich gleichzeitig auf den Weg machten, da ja jede in eigener Regie kam und keine gemeinsame Absicht verfolgt wurde. Dann warfen sie uns den nächsten Knüppel zwischen die Beine: Die Verkehrsbetriebe weigerten sich, uns eine Fahrerlaubnis für die Busse auszustellen, die die Frauen von den Townships zum Unionsgebäude bringen sollten. Es gab nur eine Alternative – die öffentlichen Verkehrsmittel, was für beinahe alle Teilnehmerinnen zwei Busfahrten und eine Bahnfahrt bedeutete und ihre Anfahrtszeiten praktisch verdoppelte. Die Frauen der Townships mußten sofort benachrichtigt werden, damit sie sich nach andern Möglichkeiten umschauen und Geld für die Zugfahrt auftreiben konnten. Da sie telefonisch nicht erreichbar waren, mußten wir von Township zu Township fahren. Glücklicherweise hatte ich eine Woche frei genommen, um die Kundgebung zu organisieren; ich konnte also den ganzen Tag damit verbringen, die Frauengruppen zu kontaktieren, während Robert Resha, Transvaal-Sekretär des ANC, der mit uns zusammenarbeitete, den übrigen Bescheid sagte: «Eure Busse dürfen nicht fahren. Ihr müßt mit dem Zug kommen.» Die lokalen ANC-Organisationen kamen den Frauen zu Hilfe. Noch am selben Abend trommelten sie ihre Leute zusammen, um auf altbewährte Art und Weise das Geld für die Fahrkarten zu beschaffen: Sie ließen Freiheitslieder singen und sammelten die Münzen ein, die die Zuschauer auf die Bühne warfen. In einer Township – in Brakpan – waren auf einem Meeting vierhundert Pfund zusammengekommen, und die Männer hatten die Fahrkarten für die Frauen selbst besorgt. Am 27. Oktober fuhr ich frühmorgens nach Orlando Township in Soweto, um Lilian Ngoyi abzuholen. Sie und Dora Tamana waren erst vor ein paar Wochen von ihrer acht
Monate langen Auslandsreise zurückgekehrt. Es war ihnen schwergefallen, nach Südafrika zurückzukommen, nachdem sie so viele Länder kennengelernt hatten, in denen sie zum erstenmal in ihrem Leben wie menschliche Wesen behandelt und als Vertreterinnen ihres Volkes respektiert wurden. Nun waren sie wieder in dem Land, in dem ihre Menschenwürde mit Füßen getreten wurde – gleichzeitig war es aber auch das Land, in dem sie geboren worden waren. Lilian hatte sich noch auf dem Rollfeld auf die Knie fallen lassen und den Boden geküßt. Als ich nach Orlando fuhr, blickte ich den Bahndamm hoch und sah einen Zug voller Frauen, die ihre Lieder sangen und die zum ANC-Salut geballten Fäuste aus den Fenstern streckten, um alle Welt wissen zu lassen, daß sie sich auf dem Weg nach Pretoria befanden. Später erfuhr ich, daß ein Bahnbeamter versucht hatte, die Frauen zurückzuhalten, indem er sich weigerte, ihnen die Fahrscheine nach Pretoria auszustellen. Die Frauen waren daraufhin an der nächsten Haltestelle ohne Fahrscheine eingestiegen. Ihr Ziel war Pretoria, und nichts würde sie davon abhalten. Wir hatten vorgesehen, daß die Frauen ihr Protestschreiben an dem Tor unterhalb der Terrassen unterzeichnen sollten, wo ich ein paar Monate vorher mit den Black-Sash-Frauen kampiert hatte. Dann sollten sie die Treppen der Gartenterrassen hochsteigen, ihre Protestschreiben den Organisatoren übergeben und wieder herunterkommen. Ich stellte mir den bunten Strom von Frauen vor, der diese hübschen, mit Blumen bepflanzten Terrassen überfluten würde. Die Frauen hatten jedoch ihre eigenen Vorstellungen, und wie bei vielen anderen Gelegenheiten, taten sie, was sie für richtig hielten. Als ich oben angekommen war, sah ich sie alle ganz friedlich in dem Amphitheater sitzen.
Da sie alle einen langen, anstrengenden Vormittag hinter sich hatten, hatten sie zunächst einmal ihre Sonnenschirme aufgespannt und die Babys abgesetzt und gefüttert. Und nun saßen also zweitausend schwarze Frauen auf diesem Rasen, auf dem noch nie ein Schwarzer gesessen hatte. Es war ein Triumph. Die unterschriebenen Proteste hatten sie den dafür zuständigen Frauen übergeben, und nun ruhten sie sich aus. «Wir sind nicht als Bittsteller hierhergekommen, sondern um unsere Rechte als Mütter, Frauen und Bürgerinnen dieses Landes zu reklamieren…» Wir protestierten gegen ein ganzes Spektrum ungerechter Gesetze. Wir protestierten gegen die Schaffung von Ghettos und gegen die Zwangsumsiedlungen. Wir protestierten gegen die Pässe, und vor allem gegen die Pässe, die den schwarzen Frauen aufgezwungen werden sollten, gegen die BantuErziehung, die Armut der schwarzen Bevölkerung – gegen all die verheerenden Folgen der Apartheid, dem eigentlichen Grundübel. «Wir sprechen als Mütter, als Frauen. Leben kann man nicht unterdrücken. Wir alle lieben, heiraten, schaffen uns ein Heim. Wir bringen unsere Kinder voller Hoffnung und Schmerzen zur Welt. Wir lieben sie als einen Teil unserer selbst. Wir helfen ihnen, erwachsen zu werden. Wir erleben die Freuden und Leiden der Mutterschaft. Und das hat uns auch die Kraft gegeben hierherzukommen, um uns für unsere Kinder einzusetzen, um für ihre Zukunft zu kämpfen. Wir, Stimmberechtigte und Nicht-Stimmberechtigte, wenden uns an Sie, die für diese Gesetze verantwortlichen Minister, an die Regierung und die gesamte Wählerschaft Südafrikas mit der Bitte, uns Gehör zu schenken.» Wir nahmen diese Berge von Protestschreiben und deponierten sie vor den Türen der Ministerien, als wir auf unser Klopfen keine Antwort bekamen. Wir hatten auch gar
nichts anderes erwartet, nachdem selbst die Briefe, mit denen wir uns angekündigt hatten, unbeantwortet geblieben waren. Es machte keinen Unterschied für uns. Wir hatten unsern Protest kundgetan, und das würde nicht vergessen werden. Von uniformierter Polizei war während der Demonstration nichts zu sehen gewesen, vielleicht hatten sie sich auch nur diskret im Hintergrund gehalten. Ein paar Geheimpolizisten in Zivil machten Fotos, versuchten aber nicht, die Frauen zu provozieren. Außer ihnen gab es nur noch zwei oder drei ANC-Mitglieder, die aus purer Neugierde gekommen waren, ansonsten waren wir Frauen unter uns. In den Townships hatten die Männer ihren Frauen einen großen Empfang bereitet: Sie hatten sich an den Bahnhöfen und Bushaltestellen versammelt und sogar ein paar Bands auf die Beine gebracht, um ihnen zu beweisen, wie stolz sie auf sie waren – ein Tribut an die Tapferkeit ihrer Frauen. An diesem Abend ging ich auch auf eine Party. Sie war natürlich nicht für mich, aber Nelson Mandela und Walter Sisulu, die beiden ANC-Führer, waren anwesend und hießen mich herzlich willkommen – ein unvergeßliches Willkommen, das mich für all die Wochen harter Arbeit entschädigte. Die Presse der Nationalistischen Partei ärgerte sich darüber, daß wir so viele Frauen vor dem Unionsgebäude hatten versammeln können, denn das war unser eigentlicher Triumph gewesen. Daß die Minister uns empfangen würden, hatten wir ohnehin nicht erwartet. Genausowenig hatten wir erwartet, daß unsere Forderungen erfüllt werden würden. Aber wir hatten sie gemeinsam vorgetragen – und waren bis zu den Ministerien vorgedrungen. Die Presse beschuldigte uns, das Ganze sei nur durch einen Schwindel zustande gekommen – wahrscheinlich meinten sie damit die einzeln überbrachten Protestschreiben –, und es
fehlte auch nicht an Bemerkungen über die «weißen Drahtzieher». (Ich nehme an, damit war ich gemeint!) Wir bekamen jedoch kein Verfahren an den Hals, was auch gar nicht möglich gewesen wäre, denn wir hatten sehr darauf geachtet, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Es sollte ein Protest, keine Herausforderung sein. Für mich, wie für alle anderen, war es sozusagen eine moralische Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß die Frauen heil wieder zu ihren Familien zurückkehrten. Unser Protest vor dem Unionsgebäude galt zum Teil der geplanten Paßpflicht für schwarze Frauen; ich erklärte mich deshalb auch sofort bereit, für eine dem ANC nahestehende Zeitschrift einen Artikel über den Widerstand der Frauen gegen den Paßzwang zu schreiben. «Angesichts dieser neuen Drohung haben die afrikanischen Männer und Frauen beschlossen, daß das schändliche Paßsystem nicht auch auf die afrikanischen Frauen ausgedehnt werden solle. Überall, in jeder Stadt und in jedem Dorf, zeigten sie dieselbe Entschlossenheit. Die Frage lautet nicht «Sollen wir die Pässe tragen oder nicht?», sondern «Was sollen wir tun, wenn uns die Pässe aufgezwungen werden?» Mit dieser Frage ist auch die Befreiungsbewegung konfrontiert. Der Kampf gegen die Paßgesetze ist nicht nur eine Angelegenheit der afrikanischen Frauen, im Gegenteil, er ist ein integraler Bestandteil der Befreiungsbewegung.» Als ich dies schrieb, hatte ich natürlich keine Ahnung, daß ich eines Tages wegen Hochverrats vor Gericht stehen würde, und zwar aufgrund dieses Artikels, der als Aufforderung galt zu «antidemokratischen, verfassungswidrigen und ungesetzlichen Handlungen, als Befürwortung von Gewalt». Ich bin überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, mit diesem Artikel vielleicht zu weit gegangen zu sein, und ich bin überzeugt, daß keiner in unserer Organisation das dachte. Ich
hätte eher gedacht, ich sei zu vorsichtig an die Sache rangegangen. Ab Januar 1956 machten sich die mit der Durchführung der Paßgesetze beauftragten Einheiten an die Arbeit. Zuerst beschränkten sie sich auf abgelegene Gebiete, auf Farmen und Dörfer, weil die Frauen dort häufig nicht wußten, was sie erwartete. Schon bei dem Wort «Paß» hat jeder Afrikaner Horrorvisionen, denn die Pässe kontrollieren jede Facette seines Lebens – Wohnort, Arbeit und jede Ortsveränderung. Wenn er der Aufforderung, seinen Paß zu zeigen, nicht nachkommen kann, kann er sofort verhaftet werden. Auf diese Weise haben sich die Weißen sogar schon vor den Nationalisten eine fast unumschränkte Kontrolle über die schwarze Bevölkerung verschafft. Als die Nationalistische Partei an die Macht kam, wurden die Paßbestimmungen noch verschärft. Die Pässe waren – und sind – die wichtigste Waffe der Weißen. Offiziell nennt man sie inzwischen beschönigend ‹Referencebooks›, aber für die Schwarzen sind sie nach wie vor die «dompas», das verhaßte Symbol ihrer Versklavung. Für Weiße, Inder und Mischlinge gibt es nur einen Personalausweis, der nicht mitgeführt werden muß; niemand kann verhaftet werden, wenn er ihn nicht vorzeigen kann. Die Frauen in den Provinzstädten und in den Großstädten wußten bereits, welche Auswirkungen das Paßsystem für die Männer hatte: Gefängnis, Zwangsarbeit, die ständige Angst, verhaftet zu werden, die Ungewißheit, ob der Paß vielleicht nicht mehr gültig war oder ob man ihn vielleicht einfach nur vergessen hatte – all das war den Männern zur Genüge bekannt. Tage, Wochen konnten vergehen, bevor ein Mann seine Familie erreichte oder wieder nach Hause kam. Die afrikanischen Frauen hatten allen Grund zu der Annahme, daß ihnen das auch bevorstehen würde, wenn sie
sich die Paßbücher aufzwingen ließen. Hinzu kam, daß sie hilflose kleine Kinder zu Hause hatten. Ihre Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Fünfundzwanzig Jahre später, 1980, wurden allein in Johannesburg 3 500 afrikanische Frauen wegen Paßvergehen verhaftet. In den ländlichen Gebieten gab es kaum Widerstand. Die Frauen waren nicht in der Lage, die Lügen über die angeblichen Vorteile dieser Pässe auszumachen – schnelle Identifikation im Todesfall war einer dieser Vorteile! Die Einheiten ließen sich Zeit, sie robbten sozusagen von Ort zu Ort. Nach den Dörfern kamen die Kleinstädte an die Reihe. Aber da trafen sie dann auf den ersten Widerstand. Als die Frauen in Winberg, im Oranjefreistaat, entdeckten, daß man sie in eine Falle gelockt hatte, rebellierten sie. Zu ihrer Unterstützung wurden Lilian Ngoyi und Robert Resha in den Ort beordert. Von Lilians Dynamik angesteckt, sammelten die Frauen die Pässe wieder ein und gingen mit den Säcken zu der Lokalbehörde, wo sie dann erklärten, sie wollten diesen Schund wieder loswerden. Lilian zufolge ist unter irgendeiner Decke eine Flasche Paraffinöl aufgetaucht – und schon brannten die Pässe lichterloh. Die Frauen von Winberg kam das teuer zu stehen. Sie wurden verhaftet und angeklagt, ihre Pässe verbrannt zu haben, eine strafbare Handlung. Aber viele Frauen folgten ihrem Beispiel und organisierten in verschiedenen Orten einen heroischen Widerstand. Trotzdem drangen die Pässe bis zu den großen Städten vor. Die Föderation der Kapprovinz war dem Beispiel, das wir in Pretoria gegeben hatten, gefolgt und hatte einen Protestmarsch durch Kapstadt organisiert, an dem sich Frauen aller Rassen beteiligten, während in Durban gemischtrassige und afrikanische Protestkundgebungen stattfanden. Zweitausend Männer und Frauen nahmen an der Massenkundgebung der Frauenföderation, dem «Transvaal
Women’s Day» teil, der am 11. März 1956 stattfand. Sowohl die Männer wie auch die Frauen standen noch unter dem Eindruck der Proteste, zu denen es im vergangenen Oktober in Pretoria gekommen war, und die Emotionen schlugen hohe Wellen. Während die meisten Demonstrationen und Abordnungen, die bei den Bantu-Verwaltungen vorsprachen, von der Frauenliga des ANC organisiert worden waren, hatte sich in Johannesburg die Föderation engagiert. Als bekannt wurde, daß die Unwissenheit der auf dem Land lebenden Frauen ausgenützt worden war, um ihnen die Pässe aufzuzwingen, schien das direkte Auswirkungen auf das Treffen vom 11. März zu haben. Der Vorschlag oder vielmehr die Forderung, daß die Frauen wieder vor dem Unionsgebäude aufmarschieren sollten, um bei Strijdom, dem Premierminister, vorzusprechen, überraschte mich überhaupt nicht mehr. Er beunruhigte mich nicht einmal. Dieses Mal sollten Frauen aus ganz Südafrika zusammenkommen. Ich wußte, daß ein solches Vorhaben die Mittel der Föderation erschöpfen würde, aber der Geist dieser Veranstaltung war so ansteckend, daß wir mit zwanzigtausend Frauen rechneten, als wir den Saal verließen. Am Donnerstag, dem 9. August, sollte das Ereignis stattfinden. Wir legten unsere Demonstrationen immer auf einen Donnerstag, da an diesem Tag die «Nannies» frei hatten. Aber trotz unserer Bemühungen, die Hausangestellten für unsere Sache zu gewinnen, hatten wir auf diesem Gebiet wenig Erfolg. Die Hausangestellten lebten damals in dem Haus ihrer Herrschaft, wie das selbst heute noch der Fall ist, und hatten weder eine Familie noch irgendwelche sozialen Kontakte. Diejenigen, die in Hostels (Unterkünfte für schwarze Arbeiter) lebten, konnten durch die Kampagnen in den Townships erreicht werden; die meisten afrikanischen Hausangestellten kamen jedoch aus ländlichen Gegenden und führten ein einsames Dasein in den Städten. Und gerade, weil sie so
isoliert waren, hatte ihre weiße Herrschaft leichtes Spiel; sie brauchten sie nur etwas unter Druck zu setzen, damit sie ihre Pässe annahmen und von Protestaktionen absahen. Wie immer war das Budget der Föderation lächerlich niedrig. Ich lieh mir Autos und erbettelte Benzin, bis ich mir schließlich selbst einen kleinen Ford kaufen konnte, die «Congress Connie». Auch das Papier und die Matrizen für die Flugblätter erbettelten wir uns. Irgendwie kriegten wir immer alles zusammen, obwohl die Föderation, genau wie der ANC, praktisch immer pleite war. Ich opferte gerne meine Zeit; für mich kam der Befreiungskampf an erster Stelle, auf Ferien und Vergnügungen konnte ich verzichten. Es war nicht einmal ein Opfer. Ich hätte gar nichts anderes tun wollen. Die Tatsache, daß ich mehr Geld beisteuern konnte als die schwarzen Frauen, fiel überhaupt nicht ins Gewicht. Wir gaben, was wir geben konnten, und haben nie darüber nachgedacht, wieviel wer gab. Das galt auch für die ANC-Organisatoren. Wie wir, opferten auch sie ihre ganze Freizeit und lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen. Ich hatte keine familiären Bindungen, keinen Mann und keine Kinder, konnte also frei über mein Leben verfügen. Im Vergleich zu den schwarzen Frauen hatte ich also auch sehr viel mehr Zeit, obwohl es nicht immer erfreulich ist, ganz allein zu leben. Robert Resha, Bertha und ich starteten also wieder eine neue Kampagne im Transvaal, im Ost- und Westrand; dieses Mal hatten wir jedoch unsere «Congress Connie» dabei. Es war ein tapferes, kleines Auto, das die schlechten Straßen entlangtuckerte und von den Kindern mit begeisterten «Afrika!»-Rufen begrüßt wurde, vor allem, wenn wir besonders unauffällig sein wollten! Ganz Südafrika habe ich damit abgeklappert, während der 9. August immer näherrückte.
Anfang Juli ließen Bertha und ich uns beurlauben – wir waren inzwischen zu viert, da Norman Levy noch zu uns gestoßen war. Wie ich war er Mitglied des Demokratischen Kongresses, einer weißen Organisation, die in den fünfziger Jahren gegründet worden war, um sich für politische Veränderungen einzusetzen. Zweck unseres Unternehmens war natürlich, herauszufinden, wie die Frauen auf die Aufforderung, am 9. August nach Pretoria zu kommen, reagierten, und so viele Frauen wie möglich dafür anzuwerben. Bloemfontein-Kimberley-Kapstadt-Port Elizabeth-East London-Ladysmith-Durban; eine Strecke von über sechstausend Kilometern. In den großen Städten wurden wir überall freundlich aufgenommen, aber unterwegs mußten wir manchmal auch in der «Congress Connie» schlafen. Als wir zum Alex River-Tal kamen, hielten wir oben auf dem Berg an und warteten, bis es hell wurde, damit Bertha den grandiosen Blick in das von hohen Bergen flankierte Tal genießen konnte. Aber Bertha war so erschöpft von der langen Reise, daß sie immer wieder einschlief. Jedesmal, wenn wir sie auf die atemberaubende Szenerie hinwiesen, lächelte sie nur verschlafen und sagte: «Ja, ja, es ist wirklich toll» und zog sich die Decke über den Kopf, um weiterzuschlafen. Schließlich gaben wir auf und ließen sie in Ruhe. Es war eine lange, anstrengende Tour. Wir haben ungefähr auf vierzig Meetings gesprochen – auf großen und kleinen, privaten und öffentlichen – und Frauen aller Rassen aufgefordert, nach Pretoria zu kommen. Wir wurden auch überall willkommen geheißen, denn seit unserm ersten Protest in Pretoria war unser Ansehen gewaltig gestiegen. Der Enthusiasmus und die Entschlossenheit der Frauen waren beeindruckend. Nur einmal, in Kapstadt, verspürten wir so etwas wie Feindseligkeit. Eine kleine, aber lautstarke Splittergruppe von Afrikanisten, die nicht mit Weißen
zusammenarbeiten wollten, hätte Norman und mich, zwei Weiße, am liebsten gleich wieder verabschiedet. Robert meisterte die Situation jedoch auf bewundernswerte Art und Weise. Während er sprach, wurden die verärgerten schwarzen Gesichter zusehends freundlicher, und als er dann anfing zu singen, stimmten sie alle in das Freiheitslied ein. Robert Resha war zweifellos einer der besten Redner des ANC. Obwohl er wichtige Funktionen in der Jugendliga und im Exekutivausschuß erfüllte, half er uns immer wieder bei unsern Unternehmungen – ein unermüdlicher Freund. Wenn man Robert auf einer Veranstaltung reden hörte, war das beinahe so, als würde man einen Dirigenten vor seinem Orchester stehen sehen. Er provozierte sein Publikum, bis er seine volle Aufmerksamkeit hatte, und endete dann mit einem Freiheitslied, in das alle einstimmen konnten. Er war ein Mann, der sein Volk liebte, ein echter afrikanischer Patriot – Journalist, Sportler, Musiker, all das, und ein stolzer Xhosa aus der östlichen Kapprovinz. Sein gedrungener, kräftiger Körper schien unerschöpfliche Energien zu besitzen; Tausende von Kilometern ist er mit uns im Land herumgefahren und hat uns immer wieder in allen möglichen Notlagen geholfen. Doch hinter seiner Freundlichkeit und seinem Charme verbarg sich ein tiefer, leidenschaftlicher Zorn über die Ungerechtigkeit dieses Systems, unter dem er und seine Leute leben mußten. «Congress Connie» verhielt sich vorbildlich; kein einziger geplatzter Reifen auf einer Strecke von Tausenden von Kilometern. Vier Erwachsene mit Gepäck und Vorräten für mehrere Tage fanden in dem kleinen Wagen Platz. Jeder hatte seine Aufgabe; Norman und Robert kümmerten sich um das Gepäck, das im Kofferraum und auf dem Dach untergebracht wurde, während Bertha und ich mit wissenschaftlicher Präzision das Handgepäck und die Lebensmittel so in dem Wagen verstauten, daß wir auch noch Platz für unsere Beine
fanden. Einer von uns mußte wach bleiben und sich mit dem Fahrer unterhalten, damit dieser nicht hinter dem Steuer einschlief. Da wir lange Nachtfahrten einlegten, um möglichst viel am Tage zustande zu bringen, war das schon zu befürchten. Unser Briefwechsel mit dem Premierminister war eher schroff: Wir hatten ihn von unserm Vorhaben unterrichtet und aufgefordert, unsere afrikanischen farbigen, indischen und weißen Vertreterinnen zu empfangen. Daraufhin teilte er uns in einem kurzen Schreiben mit, daß er nur die afrikanischen Frauen empfangen wolle, nicht aber eine Deputation, die sich aus verschiedenen Rassen zusammensetzte. Empört lehnten wir ab: Die Föderation war eine Organisation, die alle Rassen vertrat, und unser Protest schloß ebenfalls alle Rassen ein. In der Woche vor der Protestkundgebung trafen von überall her Berichte ein, die uns bewiesen, daß wir mit unserer Kampagne Erfolg gehabt hatten. Selbst die Medien sprachen von zwanzigtausend Frauen aus ganz Südafrika. Die ANCFührer bekamen es mit der Angst zu tun; sie bezweifelten, ob wir mit einer solchen Situation fertig würden, und forderten Lilian und mich zu einem geheimen Treffen auf – geheim, weil die meisten Führer gebannt waren. Sie fragten uns, ob wir auch wüßten, auf was wir uns da eingelassen hätten, und ob wir uns der Verantwortung bewußt seien, die eine solche Aktion bedeutete, bei der Tausende von Frauen zusammenkämen, und ein Eingreifen der Polizei nicht ausgeschlossen sei. Was würde passieren, wenn wir, die Führerinnen, verhaftet würden? Als es dann soweit war, gingen wir durch die Menschenmenge hindurch nach vorn. Bei den Terrassen drehten wir uns noch einmal um und sahen, wie die Frauen mit ihren Protestschreiben in der Hand aufrückten und hinter uns die Stufen hochstiegen. Es gab zwar Tausende ohne Protestschreiben, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Ich
sah, daß viel, viel mehr gekommen waren, als ich für möglich gehalten hätte. Die zwanzigtausend waren Wirklichkeit geworden. Frauen aus allen Teilen Südafrikas standen dicht gedrängt in dem riesigen Amphitheater des Unionsgebäudes. Als alles wieder vorbei war, gingen sie singend mit ihren Babys auf dem Rücken und den Körben auf den Köpfen zu dem Busbahnhof zurück; sie formten keinen richtigen Zug, sondern entfernten sich in kleinen Grüppchen von zwei, drei Personen. Sie erreichten den Bahnhof, als die afrikanischen Männer gerade von der Arbeit kamen und lange Schlangen an den Haltestellen bildeten. Als sie jedoch die Frauen in ihren grünen Blusen und Röcken kommen sahen, ließen sie ihnen den Vortritt. «Frauen zuerst», sagten sie, was wirklich eine große Ehre war, da diese Männer einen langen Arbeitstag hinter sich hatten. Als ich den Bericht über unsere Arbeit im Transvaal vorlegte, konnte ich nicht umhin, voller Stolz auf unsere Erfolge hinzuweisen. Innerhalb von zwei Jahren hatten wir es geschafft, auf eine von zweitausend Frauen besuchte Protestkundgebung im Transvaal eine zweite folgen zu lassen, an der gleich zwanzigtausend Frauen aus allen Teilen Südafrikas teilnahmen. Wir wurden inzwischen auch von anderer Seite anerkannt und hatten den Frauen einen wichtigen Platz im Befreiungskampf gesichert.
Mein ganz gewöhnliches Leben
An jenem Tag im August 1956 war ich bereits einundfünfzig. Ich habe mich oft gefragt, warum ich erst so spät diesen Weg einschlug, der mich zu den eigentlichen Höhepunkten meines Lebens führte: Zusammen mit sieben andern Frauen die Spitze eines Protestmarsches von zwanzigtausend Frauen zu bilden, der dem Premierminister von Südafrika galt. Diese Frauen waren nicht einfach irgendwelche Frauen; sie repräsentierten die unterdrückte Bevölkerung Südafrikas, die gekommen war, um sich gegen die Paßgesetze zu wehren, Gesetze, die für sie wie für ihre Kinder eine weitere Beschneidung ihrer Freiheit, ihrer Rechte und ihrer Sicherheit bedeuteten. Und sie hatten mich, Helen Joseph, an jenem unvergeßlichen Tag zu einer ihrer Führerinnen erwählt. Wenn ich heute mit meinen mehr als achtzig Jahren zurückblicke, so habe ich das Gefühl, ich bin ungefähr zwanzig Jahre lang unbeirrbar, wenn auch völlig unbewußt und unbekümmert einer Richtung gefolgt, die diesen großen Tag und das, was danach erfolgte, bereits einschloß. Als Weiße in Südafrika gehörte ich einer ungerechten Gesellschaft an, in der ich aufgrund meiner Hautfarbe alle möglichen Privilegien genoß. Mit zweiundzwanzig Jahren war ich aus England weggegangen. Ich habe aber erst während und nach dem Zweiten Weltkrieg, als ich schon in meinen Vierzigern war, die Wirklichkeit um mich herum wahrgenommen. Ich wurde 1905 in Sussex, England, geboren und bin in einer ganz gewöhnlichen Mittelstandsfamilie aufgewachsen. 191418, die Jahre meiner frühen Kindheit, waren eigentlich nur dadurch bemerkenswert, daß sie so völlig unspektakulär
verliefen. Ich erinnere mich auch kaum an etwas aus dieser Zeit. Mein Vater, Samuel Fennell, wurde sofort eingezogen, weil er zu der Sussexer Kavallerietruppe gehörte, die kurz darauf als berittene Einheit aufgelöst wurde. Ich erinnere mich, daß er Feldwebel war und zuerst nach Gallipoli geschickt wurde; als die britischen Truppen evakuiert wurden, kam er nach Ägypten und Palästina. Er schrieb seinen beiden Kindern viele aufregende Briefe und legte für mich gepreßte Blumen aus Jerusalem und Bethlehem bei. In England wuchsen mein Bruder und ich in einem kleinen, doppelstöckigen Haus in einem Londoner Vorort auf. Es gab Verdunklungen und Luftangriffe, obwohl die Verdunklungen nie so total waren wie im nächsten Krieg. Trotzdem rannte ich als kleines Mädchen immer von einem Laternenpfahl zum nächsten, wenn ich die Briefe meiner Mutter zur Post brachte; der Lichtkegel dieser Lampen war nämlich sehr klein, und dazwischen war es dunkel. Bei den ersten Luftangriffen wurden noch Zeppeline eingesetzt. Wenn die Sirenen aufheulten, versammelten sich unsere Nachbarinnen, deren Männer ebenfalls eingezogen worden waren, um in unserer Küche bei Kakao und Kuchen Trost zu suchen. Zu Friedenszeiten hatte meine Mutter kein sehr geselliges Leben geführt, aber in jenen dunklen Bombennächten wurden viele Schranken aufgehoben. Von unserm Fenster aus sahen wir zu, wie der erste Zeppelin brennend vom Himmel stürzte – ein flammender Feuerball in einer dunklen Nacht, die nur von Suchlichtern erhellt wurde. Morgens entdeckten wir manchmal die Teile von Schrapnellen vor unserm Haus. Bald wurden auch tagsüber Luftangriffe durchgeführt, und der ganze Himmel war voller Kampfflugzeuge, die von dem Rauch unserer Abwehrgeschütze völlig eingehüllt wurden.
Die Luftangriffe wurden eigentlich als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen – mit dem Blitzkrieg von 1940 waren sie auch gar nicht zu vergleichen, aber für die Frauen und Mütter muß es doch eine schlimme Zeit gewesen sein. 1917 kam mein Vater auf ein paar Wochen Urlaub vom Mittleren Osten zurück – zum erstenmal seit über drei Jahren. Danach war er dann bis zum Ende des Krieges in Frankreich und Belgien. Ich war damals die Woche über in dem Internat einer Klosterschule; an dem Tag des Waffenstillstands erlaubte mir die Oberin, daß ich mit dem Fahrrad eines Tagesschülers zu meiner Mutter fuhr. Ich fand sie, am Küchentisch sitzend, ganz ruhig, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Aber mit dreizehn konnte ich diese Tränen noch nicht verstehen. Nach dem Krieg zogen wir nach Epping Town, wo wir, zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt, am Rande eines Waldes lebten. An Weihnachten wurden große Holzfeuer entzündet vor dem hübschen, elisabethanischen Haus mit der georgianischen Fassade, das mein Vater gleich nach dem Krieg gekauft hatte, und im Sommer ließ es sich in dem alten Garten wunderbar faulenzen. Zwischen meinem Bruder und mir entwickelte sich ein sehr inniges Verhältnis – der Altersunterschied zwischen uns betrug auch nur fünfzehn Monate. Wir nahmen zusammen den Zug nach London, gingen zusammen zum Bahnhof und kamen gemeinsam nach Hause zurück. Wir waren in Privatschulen erzogen worden – mittelständischer Snobismus zweifelsohne –, Frank auf einem College, ich in der Klosterschule. Ich erinnere mich noch an die kleine Kapelle mit den Fenstern, die sich zum Garten hin öffnen ließen, und an die wunderschönen Rosen im Sommer. Obwohl ich die einzige Protestantin in dieser katholischen Gemeinde war, fühlte ich mich dort sehr geborgen. Ich kann
mich auch an keine Spannungen oder Strafen erinnern, und die Gesichter und Namen der Nonnen, die ich so sehr ins Herz geschlossen hatte, sind mir immer noch gegenwärtig. Der Katholizismus übte eine starke Anziehungskraft auf mich aus. Ich wollte auch katholisch werden, ich liebte die Prächtigkeit und das Ritual – etwas, was es in den anglikanischen Kirchen, die ich kannte, nicht gab. Als ich aber aus der Schule kam, sorgte meine Mutter dafür, daß ich an einer anglikanischen Kirche – ihrer Kirche – konfirmiert wurde. Für meinen Vater war das alles nicht so wichtig, für mich jedoch schon. Aber mein Glaube war nicht so tief in mir verwurzelt, als daß er später noch eine große Rolle in meinem Leben gespielt hätte. 1923 schrieb ich mich an dem King’s College der Universität von London ein. Mein Vater konnte nur einen von uns studieren lassen und hatte meinen Bruder dazu aus erwählt. Frank jedoch wollte Kaufmann werden, also konnte ich an seine Stelle treten. Ich pendelte jeden Tag zwischen Epping und London hin und her. Das war ziemlich anstrengend, und ich beneidete die Studenten, die es sich leisten konnten, sich irgendwo ein Zimmer zu nehmen – sie hatten wenigstens noch etwas Zeit, sich zu vergnügen, während ich drei Stunden nur hin- und herfuhr. In den zwanziger Jahren gab es nur wenige Studenten, deren Eltern sich ein Auto leisten konnten – meine konnten es jedenfalls nicht –, und die Studenten fanden sich mit diesem täglichen Hin- und Herpendeln ab. Wenn abends noch irgendwelche Tanzveranstaltungen stattfanden, stopfte ich mein Kleid und meine Schuhe in eine Tasche und zog mich in dem Waschraum der Schule um; danach stellte ich mich dann vor dem Handwaschbecken an, um mich noch etwas frisch zu machen. Um halb elf, wenn die Tanzveranstaltung zu Ende war, zog ich meinen Mantel über meine Abendgarderobe und ging zur Liverpool Street Station
zurück, um mit meinem Bruder zusammen den letzten Zug nach Epping zu nehmen und anschließend anderthalb Kilometer bis zu dem Haus meiner Eltern zu gehen. Mein Examensfach war Englisch, aber ich bezweifle, daß ich dafür besonders begabt war; für Philologie ganz bestimmt nicht, obwohl man an der Londoner Universität gerade darauf größten Wert legte. 1926 streikten die Angestellten der öffentlichen Verkehrsbetriebe, und das ganze Land war lahmgelegt – paralysiert. Ich quartierte mich bei einer Tante in Clapham ein und ging die sechs Kilometer zum King’s College zu Fuß. Viele Studenten sprangen als Fahrer von Straßenbahnen, Bussen und Zügen ein, was das politische Bewußtsein am King’s College wohl deutlich illustrierte. Ich kam gar nicht auf die Idee, sie als Streikbrecher zu betrachten. Im Gegenteil, ich bewunderte sie. Nach vier Jahren machte ich Examen und bekam einen «Honours Degree» verliehen – eine Berufsausbildung hatte ich jedoch nicht. Ich sah nur eine Möglichkeit, nämlich Lehrerin zu werden und mir im Ausland eine Stelle zu suchen, für die man kein Pädagogikstudium vorweisen mußte. Schließlich fand ich auch eine Stelle als Englischlehrerin an der Mahbubia-Mädchenschule in Haiderabad Deccan in Indien. Die Aussicht, ins Ausland zu gehen, begeisterte mich. Ich hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was der Beruf eines Lehrers von mir verlangen würde, deshalb ging ich auch an meine Klosterschule zurück, um als Praktikantin ein paar Englischstunden vorzubereiten. Ich war schon sehr gespannt auf Indien, und die Vorbereitungen, die ich für dieses große Abenteuer traf, bestanden vor allem in dem Zusammenstellen meiner Garderobe. Was ich nicht wußte, nicht wissen konnte: Diese Reise sollte nicht einfach eine Reise nach Indien, sondern der Aufbruch zu einem neuen Leben sein, das mich in viele Konfliktsituationen und schließlich auch noch ins
Gefängnis bringen würde, das mich aber gleichzeitig auch viele glückliche Augenblicke und die Kameradschaft anderer erfahren lassen würde – Erlebnisse, im Vergleich zu denen alles übrige bedeutungslos wurde. Was Indien betraf, so beschränkte sich mein Wissen auf Kiplings «Plain Tales from the Hills» und die Romane von einem gewissen B. M. Croker, dessen Werke bestimmt schon lange von den Regalen der Büchereien verschwunden sind. In meiner Begeisterung dachte ich überhaupt nicht daran, mehr über Indien in Erfahrung zu bringen, es als Land kennenzulernen. Ich bezweifle, ob ich mir den Unterschied zwischen Britisch-Indien und dem Indien der Stammesfürsten, wohin ich gehen würde, überhaupt klarmachte. Solche Dinge lernte ich erst, als ich dort war. Mit zweiundzwanzig habe ich dann allein auf einem Überseedampfer meine Reise angetreten. Ich heulte und hatte schreckliche Angst, aber mein Vater war unerbittlich; er erlaubte mir nicht, noch im letzten Augenblick meine Meinung zu ändern. Als das Schiff dann aus dem Dock fuhr – der schreckliche Augenblick des Abschiednehmens –, lieh mir ein unbekannter junger Mann ein riesiges Taschentuch, damit ich mir die Tränen trocknen konnte, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß mein Leben vielleicht doch nicht völlig umgekrempelt würde. Zwischen Tilbury Docks und Bombay informierte ich mich etwas über Indien und schloß in den sorglosen Wochen an Bord auch ein paar Freundschaften, stolz darauf, nicht zu dem «Geschwader» zu gehören, eine spöttische Bezeichnung für den jährlichen Zustrom an heiratsfähigen, jungen Mädchen in das Indien der Clubs, der Picknicks und der zahllosen Junggesellen. Aber im Grunde gehörte ich auch dazu, denn ich hoffte ja auch, in Indien einen Mann zu finden. Über meine Berufung als Lehrerin machte ich mir nichts vor.
Die Mahbubia-Schule und die indischen Mädchen und ihre Familien wuchsen mir schnell ans Herz. Haiderabad war das größte und reichste und wahrscheinlich auch korrupteste aller Fürstentümer. Unterstützt von einer enorm reichen und mächtigen muselmanischen Oberschicht, herrschte Nizam von Haiderabad über Millionen von Hindus, die zum größten Teil am Rande der Armut lebten. Ich bekam jedoch kaum etwas mit von indischer Politik; der indische Nationalkongreß und der gewaltlose Befreiungskampf der Inder drangen eigentlich gar nicht in mein Bewußtsein. Auch die krasse Armut, die um mich herum herrschte, nahm ich kaum wahr. In dem Fürstentum von Haiderabad kamen wir mit diesen Dingen überhaupt nicht in Berührung. Wir führten dort ein angenehmes Gesellschaftsleben, das uns von anderen Erfahrungen völlig abkapselte. Wenn ich jedoch etwas interessierter gewesen wäre, hätte ich sehr viel über den Kampf, den die Inder für Freiheit und Gerechtigkeit führten, erfahren können – ein Kampf, der sich von dem der schwarzen Südafrikaner, für den ich mich später so sehr engagieren sollte, kaum unterschied. Ich war von 1928 bis 1930 in Indien, eine kritische Zeit, in der Nehru sich als der führende Mann Indiens profilierte und der indische Kongreß völlige Unabhängigkeit von dem britischen Empire forderte. Gandhis Boykott der Salzsteuer veranlaßte hunderttausend Männer und Frauen, passiven Widerstand zu leisten und sich en masse in die Gefängnisse abtransportieren zu lassen. In Bengalen streikten eine Viertelmillion Arbeiter, in Bombay waren es hunderttausend, während wir in Haiderabad so weitermachten wie eh und je, unberührt von den umwälzenden Ereignissen in BritischIndien. Gegen Ende meines Drei-Jahresvertrags unternahm ich frühmorgens einen Ausritt mit einem Pferd, das viel zu
temperamentvoll für mich war. Das Pferd scheute, und wir stießen mit einem Ochsenkarren zusammen, der uns auf der schmalen Straße entgegengekommen war. Ich schlug mit dem Kopf auf und lag zwei Tage bewußtlos im Krankenhaus. Ich überlebte zwar, durfte aber in der Folgezeit keine schwere Arbeit verrichten. An der Schule hatte ich inzwischen eine sehr verantwortliche Position inne und dementsprechend viel Arbeit; ich verzichtete also auf die Verlängerung meines Vertrages und schaute mich statt dessen nach etwas anderem um. Da ich in Indien nichts finden konnte, beschloß ich, nach Südafrika zu einer früheren Kommilitonin zu gehen, deren Vater eine kleine Privatschule in Johannesburg leitete. Betrübt verließ ich Indien und die Leute meiner Umgebung, die ich dort kennengelernt hatte. Meine indischen Freunde hatten mich vor den Zuständen in Südafrika gewarnt – die Rassenschranken, die Diskriminierungen – aber ich konnte meinen Entschluß nicht mehr rückgängig machen. Vor meiner Abfahrt hatte ich noch ein paar indische Freunde in Bombay besucht; für mich war das die natürlichste Sache der Welt, und ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, daß so etwas in Südafrika verboten sein sollte. Im Grunde hoffte ich, daß mein Aufenthalt in Südafrika von kurzer Dauer sein würde und daß ich bald nach Indien zurückkehren könne.
Nach Indien war Südafrika trotz aller Warnungen doch ein richtiger Schock. Ich war empört – eine Empörung, die ich auch ganz offen zeigte –, daß meine indischen Freunde in diesem Land der Rassenschranken nicht akzeptiert wurden. Anfangs kam ich jedoch kaum mit Indern zusammen und wurde deshalb auch nicht dauernd daran erinnert. Abgesehen von ein paar schwarzen Studenten an der Universität, hatte ich vor meiner Ankunft in Südafrika keine Afrikaner
kennengelernt, und auch dort kam ich kaum mit welchen in Berührung. Die Hausangestellten schienen die einzigen zu sein, mit denen ich Kontakt hatte. Nach ein paar Monaten begegnete ich dem siebzehn Jahre älteren, sehr charmanten und kultivierten Billie Joseph. Ich fühlte mich einsam und konnte dem Angebot eines unbeschwerten, sorglosen Lebens nicht widerstehen. Meine Sehnsucht nach Indien verlor sich, genauso wie die Empörung, die diese rassistische Gesellschaft bei mir bewirkt hatte. Ich beschloß, Billie zu heiraten und in Südafrika zu bleiben. Mein Vater war entschieden gegen diese Heirat und wollte mehrere Jahre nichts mit mir zu tun haben. Billie war Jude, geschieden und außerdem viel älter als ich. Aber ich war schließlich auch schon sechsundzwanzig und konnte meine eigene Entscheidung treffen. Wir heirateten und integrierten uns in das Gesellschaftsleben von Durban. Ich ritt, spielte Tennis und lernte Bridge spielen. Wir lebten in einem hübschen, spanischen Haus im Norden der Stadt; es lag auf einem Hügel mit Blick auf Durban, aufs Meer und auf die acht Kilometer entfernte, klippenreiche Landzunge. Ich liebte meinen Garten und verbrachte sehr viel Zeit darin. Wir wollten keine Kinder haben. Billie hatte zwei aus erster Ehe, die knapp zehn Jahre jünger waren als ich. Es lag ihm nichts daran, seine Ehe wieder mit Babys zu beginnen, und auch ich hielt mich lieber zurück, da mir ziemlich schnell klargeworden war, daß unsere Ehe auf wackligen Beinen stand. Obwohl ich in Südafrika überhaupt erst mit geschiedenen Männern und Frauen zusammengekommen war, hielt ich Scheidung für etwas ganz Normales. Viele meiner neuen Freundinnen waren bereits zum zweitenmal verheiratet. Wir führten ein reges Gesellschaftsleben, da Billie sich großer Popularität erfreute. Zuerst war ich ziemlich schüchtern, vielleicht weil seine Freunde alle so viel älter waren als ich.
Ich hatte mir keine Arbeit gesucht, weil Billie dagegen war; eine berufstätige Frau hätte auch gar nicht zu dem Leben gepaßt, das er führte. Mit unserer Ehe ging es immer weiter bergab, und Billie und ich lebten uns mehr und mehr auseinander. Ich hatte die Haltung eingenommen, daß ich alles, was er machte, besser machen konnte. Er übte immer noch eine große Anziehungskraft auf Frauen aus, und auch für mich war es kein Problem, mich mit andern Männern zu trösten. Aber ich suchte an den falschen Orten nach etwas, was ich in meiner Ehe nicht finden konnte. Da wir uns aber nur selten und nie in der Öffentlichkeit stritten, gelang es uns, die Fassade eines netten, jungen Paares zu wahren. Wir hatten schon immer ein sehr vergnügtes, geselliges Leben geführt, und nach außen hin änderte sich daran auch nichts. Im September 1939 wurde Deutschland der Krieg erklärt; ich brach in Tränen aus, als ich aus dem Radio davon erfuhr. Während Billie und seine Freunde jubelten, daß endlich etwas gegen Hitler unternommen wurde, sagte ich nur: «Aber all die Leute, die dabei ihr Leben lassen. All die Leute!» Der Krieg machte sich anfangs überhaupt nicht bemerkbar; Südafrika war weit weg vom Schauplatz des Geschehens, sowohl von Europa wie von Nordafrika. Durban erlebte einen Stromausfall, weil es an der Küste lag und der Verbrauch von Rohöl eingeschränkt werden sollte, aber für den Normalverbrauch reichte es allemal. Während des July Handcap, dem größten Rennen Südafrikas, konnten wir wie immer unser Picknick neben der Rennbahn abhalten, auch wenn wir den Champagner und den Kaviar durch Bier und Würste ersetzt hatten. Mein Vater hatte sich ein paar Monate vor Ausbruch des Krieges freiwillig als Reservist bei der königlichen Luftwaffe gemeldet. Er war damals fünfundsechzig und wurde auch
prompt einberufen, als der Krieg erklärt wurde. Er schrieb, er sei ein «Luftwaffenrekrut», ein Flugzeugmechaniker – der unterste Dienstgrad bei der Luftwaffe, «noch unter einem einfachen Soldaten». Mein Bruder Frank war zum Marineoffizier befördert und kurz darauf nach Frankreich geschickt worden; während der Schlacht bei Dünkirchen wurde er evakuiert. Ein paar Jahre später beschloß auch Billie, er müsse dem Freiwilligencorps der Zahnärzte beitreten, und machte sich auf, während sein Partner die Praxis weiterführte. Mir fehlte es jedoch an der Entschlußkraft oder an der notwendigen Begeisterung, bis ich dann eines Tages in der Zeitung las, daß Akademikerinnen und Angehörige gehobener Berufe sich für den Informations- oder Sozialdienst ausbilden lassen könnten und dann denselben Status wie die männlichen Offiziere hätten. Die nach dem Kurs ausgewählten Frauen könnten entweder im Hilfscorps der Luftwaffe oder der Landstreitkräfte den Rang eines Leutnants bekleiden. Die andern könnten als Zivilisten für die Armee arbeiten oder auch wieder nach Hause gehen. Der soziale Aspekt sagte mir zu, obwohl ich nicht genau wußte, was von mir erwartet würde. Ich fuhr also nach Pretoria – das Benzin hatte ich mir auf dem Schwarzmarkt besorgt. Unterwegs übernachtete ich in einem Hotel, da ich das Ziel meiner sechshundert Kilometer langen Reise, das WAAFCamp, früh genug am nächsten Morgen erreichen wollte, um mich noch für den Kurs einschreiben zu können. Ich lernte ein paar andere Frauen kennen, die auch an diesem neuen Projekt interessiert waren, verlor sie aber im Verlauf dieses endlos langen Morgens wieder aus den Augen – ein Tag, an dem ich meine erste Lektion für den Armeedienst lernte, nämlich zu sitzen und zu warten. Ganz zum Schluß gab’s dann noch eine Verzögerung; ich war auf meinem Bogen auf die Frage nach meiner
Religionszugehörigkeit gestoßen und hatte «keine» geschrieben, weil ich einfach nicht mit gutem Gewissen behaupten konnte, einer Kirche anzugehören. Ich hatte in den letzten fünfzehn Jahren kaum jemals einem Gottesdienst beigewohnt, und wenn, dann nur, weil ich die Freunde, bei denen ich zu Besuch war, nicht vor den Kopf stoßen wollte. Trotzdem war ich kein Atheist und auch kein Agnostiker. Ich hatte meinen Glauben nie verleugnet – das hätte ich einfach nicht gewagt. Ich glaubte an Gott, aber dieser Glaube war nicht mehr so stark, um mich Gebete sprechen und Gottesdienste besuchen zu lassen. Eine der Beamtinnen wies mich ungnädig darauf hin, daß ich meinen Bogen ordnungsgemäß ausfüllen müsse, irgendeiner Kirche müsse ich schließlich angehören. Als ich das verneinte und mich weigerte, etwas reinzuschreiben, wurde die Sache brenzlig. Ich hatte mir nicht klargemacht – niemand hatte mir das klargemacht –, daß die Luftwaffe nur wissen wollte, wie sie mich bestatten sollten. Schließlich gab die Beamtin nach und nahm meinen Bogen auch ohne Religionszugehörigkeit entgegen. Wahrscheinlich hat sie diese Frage selbst ausgefüllt, da ich nie wieder danach gefragt wurde. Im Grunde war es wohl nur meine Halsstarrigkeit gewesen – ich wollte mich einfach nicht zu etwas zwingen lassen, was ich für unaufrichtig hielt. Im weiteren Verlauf des Kurses begriff ich auch Sinn und Zweck des Ganzen. Falls wir genommen würden, bestünde unsere Aufgabe darin, den Frauen in der Armee eine «liberale und tolerante Geisteshaltung» einzutrichtern. Wirklich eine erstaunliche Aufgabe für die weißen Frauen des WAAF, die in einer Gesellschaft aufgewachsen waren, die ihren andern Mitgliedern aufgrund ihrer Hautfarbe und ihrer Rasse die Menschenrechte absprach. Für unsere Aufgabe mußten wir selbst gut Bescheid wissen (für mich war das alles Neuland)
und auch in der Lage sein, in wöchentlich stattfindenden Vorlesungen unser Wissen weiterzugeben. Ich gehörte zu den Auserwählten. Es folgten höllische Wochen, in denen wir Aufbau und Funktion des Camps kennenlernten. Sogar bei den Drills mußten wir mitmachen. Die Offiziersanwärterinnen wurden voneinander getrennt und einzeln auf ein paar große Schuppen verteilt, wo sie mit den unteren Rängen des WAAF Bekanntschaft schließen sollten. Meine Gruppe bestand aus Mechanikerinnen, kräftigen, jungen Frauen, die ziemlich schwere Arbeit in den Hangars verrichteten. Sie interessierten sich nicht im geringsten für diese Fremde, die man ihnen zugeteilt hatte und die bald einen Offiziersrang haben würde. Ich versuchte, diese Tatsache zu verheimlichen, indem ich meine Uniform im Auto ließ, wo ich mich dann auch wieder umziehen konnte, wenn ich das Camp verließ. Ansonsten lief ich in einem nicht sehr vorteilhaften baumwollenen, khakifarbenen Rock und der zugehörigen Bluse herum, die mir bei meiner Ankunft ausgehändigt worden waren. Niemand sprach mit mir, obwohl ich manchmal den Eindruck hatte, sie würden in Afrikaans über mich sprechen. Schließlich gelang es mir, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, indem ich Zigaretten und Süßigkeiten verteilte. Daß ich mir die Popularität erkaufte, war mir keineswegs peinlich, ich wünschte nur, ich wäre früher darauf gekommen. Die Offiziere für das Informations- und Sozialwesen wurden auf verschiedene Stützpunkte der Luftwaffe verteilt, um dort ihre Arbeit zu tun. Schweren Herzens ging ich nach Bloemfontein, im Oranjefreistaat; ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde. Billie hatte inzwischen genug von dem Dentistenkorps; er schaffte es, aus gesundheitlichen Gründen entlassen zu werden, und ging nach Durban zurück, um sich wieder seiner Zahnarztpraxis zu widmen. Er war draußen, und ich war drin.
Es war eine ganz neue Erfahrung für mich – ich befand mich in einer völlig unbekannten Umgebung, und ich mußte erst eine Menge büffeln, bevor ich meine Vorlesungen halten konnte. Man hatte uns einen Plan mit den vorgesehenen Themen in die Hand gedrückt. Dazu gehörten Kommunalverwaltung und zentrale Verwaltung, Gesundheitsund Erziehungswesen, Frauenfragen und -probleme, Sozialismus, Kommunismus, Liberalismus, Gewerkschaftsbewegung, Belange der Schwarzafrikaner, der Inder, der Mischlinge – sowie andere aktuelle Themen, die wir je nach Bedarf frei wählen konnten. Es schien eine großartige Aufgabe zu sein. Mir wurde jedoch klar, daß ich mich erst einmal um meine eigene Bildung kümmern mußte, bevor ich die der anderen in die Hand nehmen konnte. Eine neue Welt tat sich für mich auf – neue Perspektiven, neues Wissen. Ich begann, Südafrika mit ganz anderen, besser informierten Augen zu sehen. Als ich mich mit den Bedingungen beschäftigte, unter denen schwarze Kinder um ihre Erziehung und ihre Aufstiegsmöglichkeiten kämpften, und sie mit denen der Weißen verglich, schämte ich mich, ein Weißer zu sein. Als ich über Demokratie sprach, mußte ich mir sagen, daß die Schwarzen davon ausgeschlossen waren; ich durfte wählen, sie nicht. Ich sprach mit den WAAFs über diese Themen und konfrontierte mich selbst damit, und zum erstenmal in meinem Leben stellte ich mein ganzes Wertsystem in Frage. Aber ich schwenkte deshalb nicht gleich zum Sozialismus über, das ganz und gar nicht, ich sah nur in meiner Umgebung die Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, und gewann allmählich eine Vorstellung davon, wie die andere Hälfte Südafrikas lebte. Eigentlich sondierte ich nur das Terrain; dem bequemen Leben, das ich als Zivilist führte, konnte ich nicht so einfach entsagen; anders zu leben, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.
Wir sprachen natürlich auch über den Krieg, den wir als Kampf für eine bessere Welt, für Demokratie und Menschenrechte, darstellten. Als ich das Volkseinkommen durchnahm, sprangen mir die ungleich verteilten Summen ins Auge. Und als ich über das Erziehungswesen sprach, vergegenwärtigte ich mir, wieviel für weiße und wie wenig für schwarze Schulkinder ausgegeben wurde. Als wir über Landverteilung und Landwirtschaft sprachen, wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, daß die Schwarzen, die 85 % der Bevölkerung ausmachten, nur 13 % des Landes besaßen. Ich fragte mich, was für ein Südafrika wir eigentlich verteidigten. Da ich mit niemandem darüber sprechen konnte, lag dieses Wissen vorläufig nur brach. Aber die Ansätze waren da. In den letzten Kriegsmonaten wußte ich immer noch nicht, was ich einmal tun sollte, wenn der Krieg vorbei war. Auf einer Tanzveranstaltung im Camp fragte mich ein Oberst der Luftwaffe, was ich denn nach meiner Entlassung vorhätte; als ich ihm darauf antwortete, daß ich vielleicht wieder nach England zurückgehen würde, meinte er: «Oh, nein, Leute wie Sie werden in Südafrika gebraucht!» Jahre später, als ich des Hochverrats angeklagt war, unter Hausarrest stand und außerdem auch noch gebannt war, fragte ich mich manchmal, ob er sich je daran erinnert hat. Billie war schon vier Jahre vor mir nach Johannesburg zurückgekehrt; in den ersten zehn Jahren unserer Ehe hatte er es nie länger bei einer Frau ausgehalten, schon gar nicht bei mir, jetzt schien es jedoch eine zu geben, die einen festen Platz in seinem Leben einnahm. Als man mir einen Posten als stellvertretende Leiterin eines Gemeindezentrums in Johannesburg anbot, sagte ich sofort zu. Ich erklärte Billie, ich würde nicht zurückkommen, und plädierte für Scheidung, aber er weigerte, sich darauf einzugehen, und mir lag auch nicht so viel daran. Ich war nur
erleichtert, diese Proforma-Ehe nicht mehr aufrechterhalten zu müssen. Mein früheres Leben, diese ständige Suche nach irgendwelchen Ersatzbefriedigungen, wollte ich nicht wiederaufnehmen. Ich hegte Billie gegenüber keinerlei Groll. Er hatte mich nie schlecht behandelt; es war nur keinem von uns beiden gelungen, in dieser Ehe Erfüllung zu finden. Ich hielt es jedoch für besser, daß wir uns trennten, solange wir noch Freunde waren. Kurz nachdem ich meine Arbeit an dem Gemeindezentrum aufgenommen hatte, mußte ich feststellen, daß meine Ausbildung nicht ausreichte, um all die Projekte dieses enorm aktiven Gemeindezentrums durchzuführen, dessen wissenschaftliche Methoden mir weitgehend fremd waren. Ich fragte mich oft, wie ich zu diesem Job gekommen war. Als ich erfuhr, daß es an der Witwatersrand-Universität Kurse für Soziologie und Sozialarbeit gab, war ich sofort daran interessiert, da sie vor allem für Leute wie mich gedacht waren – Leute, die Examen gemacht hatten, bevor diese sozialwissenschaftlichen Fakultäten eingerichtet wurden. Ich schrieb mich also begeistert ein – das Stipendium, das mir nach meiner Entlassung aus dem Militärdienst zustand, deckte die Kosten für Bücher und Studiengebühren –, und ich schaffte es sogar, die Vorlesungen so zu legen, daß ich das Gemeindezentrum nicht zu vernachlässigen brauchte. In den Vorlesungen über Sozialarbeit und soziale Gesetzgebung wurden mir die enormen Unterschiede, die praktisch auf jedem Gebiet zwischen Schwarz und Weiß existierten, noch stärker bewußt. Mir gefiel meine Arbeit in dem Gemeindezentrum, und ich identifizierte mich mit diesen sozial schwachen, von Armut und Arbeitslosigkeit bedrohten Weißen. Es machte mir Spaß, die Theatergruppen und die Musikveranstaltungen der Kinder zu verfolgen, deren Niveau weit über dem ihrer Umgebung lag.
Meine Aufgabe bestand weniger darin, etwas Neues zu realisieren, als die verschiedenen Aktivitäten zu koordinieren, da der Leiter, der für einen zweijährigen Studienaufenthalt ins Ausland gegangen war, die Grundlagen, auf denen ich aufbauen konnte, schon geschaffen hatte. Am interessantesten fand ich die Erwachsenenbildung, vor allem die Vorträge und Diskussionen. Bei diesen Veranstaltungen traf ich auch zum erstenmal mit gebildeten schwarzen Afrikanern zusammen, die gelegentlich zu unsern Symposien und Debatten eingeladen wurden. Aber außer ein paar höflich angebotenen Tassen Tee gab es keine weiteren Kontakte zwischen Schwarz und Weiß. Ich befürchtete, daß diese Kontakte bei den zur Unterschicht gehörenden Weißen erhebliche Spannungen bewirkt hätten, da sie die Schwarzen als eine Gefahr für sich, für ihre Jobs und die Sicherheit ihrer Kinder betrachteten. Allmählich erkannte ich jedoch, daß Mischlinge und Afrikaner sehr viel hilfsbedürftiger waren als selbst die Ärmsten der Weißen. Diese Erkenntnis kam mich hart an, weil mir meine Arbeit, meine Kollegen und vor allem die Leute, die zu uns kamen, ans Herz gewachsen waren. Meine Arbeit war für mich gleichbedeutend mit dem Aufbau eines neuen Lebens, außerdem hatte ich unter Gleichgesinnten viele neue Freunde gewonnen. Als die War Memorial Health Foundation einen Leiter für ein farbiges Gemeindezentrum in der westlichen Kapprovinz suchte, bewarb ich mich für diesen Posten. Die Health Foundation war nach dem Krieg gegründet worden, als die Soldaten «im Norden» für ihre gefallenen Kameraden keine aufeinandergetürmten Steinmassen, sondern lebende Denkmäler haben wollten, die die Ideale, für die sie gekämpft hatten, verkörpern sollten. Jeder Soldat gab einen Tageslohn, und mit dem Geld finanzierte die Stiftung Projekte auf Gebieten wie Ernährung, Freizeit und Erholung und Sozialfürsorge, die in den Gemeindezentren durchgeführt
werden sollten. Ich bekam den Posten und zog in die Kapprovinz. Meine Arbeitsstätte lag in den unfruchtbaren sandigen Cape Fiats, in Elsie’s River, wo besonders viele Farbige lebten. Wieder einmal krempelte meine Arbeit mein Leben vollständig um. Gleich nach meiner Ankunft wurde mir klar, daß der Titel eines «Leiters» nicht ganz zutreffend war. Ich mußte nämlich diese Gemeindezentren erst aufbauen, bevor ich sie leiten konnte. Zwei Jahre lang arbeitete ich mit der farbigen Bevölkerung zusammen und war sehr glücklich dabei. Sie akzeptierten mich und waren von einer Herzlichkeit, wie ich sie noch nie erfahren hatte. Wir arbeiteten auch wirklich zusammen. Die Stiftung stellte die Geldmittel zur Verfügung, während wir die Gemeindezentren aufbauten, die anfangs noch klein und bescheiden waren, sich dann aber sehr rasch, den Bedürfnissen und dem Einsatz der Leute entsprechend, entwickelten. Aus einem kleinen Gemeindezentrum war ein größeres hervorgegangen, das seinerseits ein drittes, noch größeres, hervorbrachte. Das Schema war immer das gleiche: Gesundheitserziehung, Kinderkrippen, Jugendclubs, Erwachsenengruppen, Projekte, die den Anbau von Gemüse förderten, Lebensmittel organisierten, Nähkurse einrichteten. Wir gingen diese unterprivilegierte farbige Bevölkerung ganz direkt an, und sie hätten nicht entgegenkommender, hilfsbereiter und herzlicher sein können, während wir uns lachend über die Schwierigkeiten wegsetzten. Für mich waren – und sind – diese lebendigen Gemeindezentren die besten Denkmäler, die den auf den Schlachtfeldern von Nordafrika und Italien Gefallenen gesetzt werden konnten. Südafrika hat seine gefallenen Söhne nicht enttäuscht. Es war meine Arbeit in Elsie’s River, die mich schließlich zu der Erkenntnis gelangen ließ, daß unsere ganzen Einrichtungen
die bestehende Not nur linderten, aber nicht beseitigten; das allgemeine Elend, die soziale Ungerechtigkeit, die Verstöße gegen die Menschenwürde, all das blieb bestehen. Die kleinen Inseln, die wir geschaffen hatten, änderten nichts an der Gesamtsituation. Ich hatte jedoch auch erkannt, daß man helfen muß, wo man helfen kann. Diese neuen Einsichten hätten mich aber noch lange nicht politisch aktiv werden lassen, zumal es den Mitgliedern der Stiftung verboten war, sich politisch zu engagieren. Zu viele Programme wurden von der Regierung unterstützt. Aber dann erfuhr ich von einem Freund, daß die Medical Aid Society der TransvaalTextilindustrie-Gewerkschaft eine Direktionssekretärin suchte. Er meinte, ich könne ja nach Johannesburg fliegen zu einem Interview mit Solly Sachs, dem berühmten Generalsekretär der Gewerkschaft für die Arbeiter der Textilindustrie. Dieser Industriezweig beschäftigte Tausende von farbigen und schwarzen Arbeiterinnen wie auch Weiße und Inderinnen. Die Gewerkschaft selbst war militant und radikal, und so würde meinem politischen Engagement wohl nichts mehr im Weg stehen. Ich nahm den Posten an.
Ich flog nach Elsie’s River zurück, um den andern von meinem Entschluß zu erzählen – ich kam mir wie ein Verräter dabei vor, aber meine Kollegen und die Leute, die zu uns kamen, bewiesen großes Verständnis; sie versicherten mir, daß sie unser Baby – das Zentrum – auch ohne meine Hilfe großziehen würden; ich würde einmal sehr stolz darauf sein können. Es ist ihnen geglückt – und ich war auch sehr stolz. Ein paar Monate später, im März 1951, war ich also wieder in Johannesburg, traurig, aber doch überzeugt, das Richtige getan zu haben. Ich mußte vorwärts, weiter.
Billie wollte sich inzwischen doch scheiden lassen, und ich war einverstanden. Das Schlimmste an der Scheidung war jedoch nicht die Auflösung meiner Ehe, sondern das Trauma des Scheidungsprozesses. Trotz meines Schwurs, die Wahrheit zu sagen, habe ich vor Gericht gelogen, als ich behauptete, Billie hätte nach dem Krieg keine häusliche Gemeinschaft gewollt. Dabei hatte ich mich geweigert, zu ihm zurückzukehren. Mein Rechtsanwalt hatte jedoch darauf bestanden, daß ich die Scheidung beantragen solle und nicht Billie. Daß ich unter Eid eine falsche Aussage gemacht hatte, bedrückte mich noch lange Zeit. Ich war überzeugt, daß Gott mich früher oder später dafür bestrafen würde. Absurderweise hatte ich in all den Jahren nicht so viel an Gott gedacht wie in diesen Wochen.
Ich hatte eine politische Heimat gefunden
Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erste Begegnung mit dem legendären Solly Sachs, an das Interview in Johannesburg. Was ich schon alles getan hatte, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren; er sprach immer nur von den farbigen Arbeitern, daß es die Aufgabe der Medical Aid Society wäre, den Arbeitern zu dem zu verhelfen, was ihnen zustünde – «auf Heller und Pfennig». Ich spürte sein Engagement, und obwohl ich mich bei diesem ersten Interview eigentlich noch gar nicht entscheiden wollte, sagte ich doch gleich «ja», als er mich fragte, ob ich die Stelle annehmen würde. Solly pflegte von sich zu sagen: «Ich bin Jude. Ich habe eine unkultivierte Stimme und einen litauischen Akzent; ich bin häßlich und hatte immer die ganze Welt gegen mich…» Trotzdem war es ihm gelungen, das Vertrauen von Tausenden von afrikanischen Frauen zu gewinnen, die in der Textilindustrie arbeiteten. Schon nach den ersten paar Monaten in Johannesburg spürte ich, wie sehr ich mich zu Solly hingezogen fühlte. Einen Menschen wie ihn hatte ich noch nie in meinem Leben getroffen. Er paßte nicht in mein bürgerliches, «auf Hochglanz poliertes» Leben, wie er es verächtlich bezeichnete. Genausowenig paßte ich in sein Leben. Er war mit seiner Familie aus Litauen gekommen, und sie hatten sich in einer der ostjüdischen Gemeinden Südafrikas niedergelassen, in denen noch viele alte Traditionen aufrechterhalten wurden. Solly selbst hatte sie über Bord geworfen, aber viele seiner Freunde sowie der größte Teil seiner Familie lebten sie noch. Solly
hatte all das weit hinter sich gelassen, als er sich für die Textilarbeiter engagierte. Vielleicht hat mir das so imponiert, daß ich versuchte, mich ihm anzupassen. Eine sehr einseitige Sache: Solly versuchte nämlich nie, sich anzupassen. Er konnte ungeheuer arrogant, ja sogar verletzend sein. Aber er konnte auch seine Gefühle zeigen und sehr zärtlich sein. Solly bezeichnete sich selbst als häßlich. Bei unserm ersten Treffen fand ich das auch – er kam mir beinahe abstoßend häßlich vor. Es lag jedoch nicht an seinem Gesicht, das sehr markant und sehr slawisch aussah; es war seine vernarbte Haut und die Pigmentstörungen, die er schon als kleines Kind gehabt hatte. Als ich mich jedoch daran gewöhnt hatte, fand ich ihn überhaupt nicht mehr häßlich. Sein gelocktes, silbergraues Haar verlieh ihm sogar etwas Distinguiertes, und er wirkte sehr elastisch, auch wenn er gelegentlich den Rücken etwas krümmte, vor allem, wenn er müde oder in Gedanken versunken war. Wir waren schon ein seltsames Paar, aber er hat mir die Augen für Werte geöffnet, die ich nicht zu würdigen gewußt hatte – und noch für vieles andere. Seine Verbundenheit mit den Arbeitern, seine Bereitschaft, für sie zu kämpfen; sich auch weiterhin für die Sache zu engagieren, für die er in den letzten zwanzig Jahren so viele Siege errungen hatte, inspirierten mich und haben bestimmt dazu beigetragen, daß ich jenen Weg einschlug, den ich für den Rest meines Lebens weitergehen sollte. Er warf mir Mangel an politischer Bildung vor, ich habe jedoch durch bloßes Zuhören mehr gelernt als durch die Beschäftigung mit den Schriften seiner «Meisterdenker», die er mir immer aufdrängen wollte. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Unterdrückung des Kommunismus im Jahre 1950 wurden mehrere militante politische Führer, sowohl schwarze wie weiße, und auch einige Gewerkschaftsführer gezwungen, aus ihren Organisationen
auszuscheiden, da sie keine Versammlungen besuchen und den Bezirk, in dem sie lebten und arbeiteten, nicht verlassen durften. Obwohl Solly Sachs schon 1932 aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war, mußte er im Mai 1952 seinen Posten als Generalsekretär der Textilarbeitergewerkschaft aufgeben, außerdem wurde ihm verboten, den Gerichtsbezirk von Johannesburg zu verlassen und sich politisch zu betätigen. Ich teilte die Empörung von Tausenden von Textilarbeitern, daß ihr Führer, der Mann, der in den letzten zwanzig Jahren so viele Siege für sie errungen hatte, einfach so vom Tisch gefegt werden sollte. Innerhalb weniger Tage wurde eine Protestkundgebung auf den Treppen von City Hall abgehalten, der Hyde Park-Ecke von Johannesburg. Das war am Morgen des 24. Mai 1952, einem Samstagvormittag. Tausende von Arbeitern, schwarze und weiße, nahmen daran teil, und ich marschierte zum erstenmal am hellichten Tag von der Trades Hall zur City Hall. Trotz der Menschenmenge, die an diesem, von Solly angeführten Protestmarsch teilnahm, fühlte ich mich richtig exponiert. Als wir City Hall erreichten, stießen mehrere tausend farbige Arbeiter in Achterreihen zu uns hinzu. Solly hatte öffentlich bekanntgegeben, daß er auf dem Meeting sprechen wolle. Es war also eine öffentliche Protestaktion. Als er das Mikrofon nahm und unter dem Jubel der Menge anfangen wollte zu reden, wurde hinter ihm das Portal der City Hall aufgestoßen, und die Polizei kam herausgestürmt, um ihn in das Gebäude zu zerren. Daraufhin schloß sich das Portal wieder. Die Arbeiter waren wütend und drängten spontan nach vorne, während das Portal wieder aufging und eine Polizeimannschaft mit Knüppeln und Stuhlbeinen auf sie losging. Die hilflosen Leute wurden buchstäblich zurückgeschlagen, niedergeknüppelt und die Treppen
hinuntergetrieben, bis sie auf dem Fahrdamm standen. Die Opfer waren vor allem Frauen. Es war ein schrecklicher Anblick – all diese Frauen und ein paar alte Männer, die mit blutüberströmten Gesichtern versuchten, auf die Beine zu kommen, um sich in Sicherheit zu bringen. Daß die Polizei so brutal vorgehen würde, hätte ich nicht gedacht. Während sie an mir vorbeirannten, beobachtete ich die Gesichter. Sie waren jung, aber nicht so jung, um diese legalisierte, öffentliche Gewalt nicht zu genießen. Später hieß es dann, die Arbeiter hätten randaliert, was jedoch eine glatte Lüge war, denn die Protestkundgebung war völlig ruhig verlaufen. Gewalt war nur von der Polizei angewandt worden. Über sechzig Personen mußten ins Krankenhaus gebracht und auch noch privat behandelt werden. Ich ging mit ein paar Gewerkschaftsführern auf die Polizeistation, wo Solly festgehalten wurde, um ihm Bücher und etwas zu essen zu bringen. Er wurde ohne Kragen und Krawatte aus der Zelle geführt, was ihn in meinen Augen sofort zum Gefangenen abzustempeln schien. Er meinte, alles sei in bester Ordnung, und wurde noch am selben Abend gegen Kaution entlassen. Die Gewerkschaft hatte inzwischen für Montag zu einem eintägigen Proteststreik aufgerufen; gleichzeitig sollte wieder eine Massenkundgebung auf den Treppen von City Hall stattfinden. An jenem Montag mußte Solly wegen Verletzung der Bannbestimmungen vor Gericht erscheinen. Der Prozeß wurde jedoch verschoben. Ein paar Stunden später kam er dann zu dem Meeting – sein zweiter Verstoß gegen die Bannbestimmungen. Wie am Samstag zuvor hatten sich wieder Tausende von Arbeitern auf den Stufen von City Hall versammelt. Vielleicht waren es dieses Mal sogar noch mehr. Als Solly auf den Podium erschien, wurde er sofort verhaftet. Er sagte zu dem
Polizisten, sie bräuchten keine weiteren Köpfe einzuschlagen, er würde auch so mitkommen, worauf sie ihn wieder auf die Polizeistation brachten. Es sprachen noch ein paar Gewerkschaftsführer, ohne daß die Polizei sich einmischte; die Stimmung unter den Arbeitern war jedoch ziemlich explosiv. Diesmal wurde Solly auch erst am nächsten Morgen gegen Kaution freigelassen. Ich nehme an, sie hatten Angst, er würde sofort wieder zu der Kundgebung zurückgehen. Und wahrscheinlich hätte er das auch getan. Später wurde er dann wegen zweimaligen Verstoßes gegen die Bannbestimmungen angeklagt und zu zweimal sechs Monaten Gefängnis verurteilt; bis zu dem Urteil des Berufungsgerichts blieb er jedoch gegen Kaution auf freiem Fuß. In den darauffolgenden Wochen wurde auf allen Demonstrationen und Meetings die Aufhebung der Bannverfügung gegen Solly gefordert. Ich war immer mit von der Partie – ich stand mit einem Transparent in der Eloff Street, einer der Hauptdurchgangsstraßen von Johannesburg, und ich fuhr, Volkslieder singend, mit einem Bus voller Textilarbeiterinnen – zum größten Teil Afrikanerinnen – nach Pretoria. Obwohl das alles sehr aufregend war, hatte ich doch das Gefühl, nicht dazuzugehören, eine Außenstehende zu sein. Ich war keine Gewerkschaftlerin, und ich war auch keine Textilarbeiterin – ich hatte überhaupt noch nie in einer Fabrik gearbeitet. Ende des Jahres erschien Solly vor dem Berufungsgericht in Bloemfontein. Er verteidigte sich selbst vor den zuständigen Richtern, den «fünf alten Männern», wie er sie nannte. Er kannte sich gut aus mit den Gesetzen – außerdem war er der Meinung, daß weder er noch die Gewerkschaft die enormen Summen für einen Rechtsbeistand aufbringen könnten. Die Richter des Berufungsgerichts bewunderten zwar seine geschickte Darlegung, befanden ihn aber trotzdem für
schuldig; das Urteil des Regionalgerichts wurde bestätigt – der Bann also aufrechterhalten. Die sechsmonatige Gefängnisstrafe wurde drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt, allerdings stets mit der Maßgabe, daß er sich keines ähnlichen Vergehens schuldig machen dürfe. Für Solly war das eine bittere Enttäuschung. Er hatte das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Alles, was er wollte, war, sich frei bewegen und für die Gewerkschaft arbeiten zu können, eine Organisation, die er aufgebaut und vierundzwanzig Jahre lang geführt hatte. Da er sich aber weder auf politischer noch auf gewerkschaftlicher Ebene betätigen konnte, beschloß er, Südafrika zu verlassen. Ich war der Meinung, er sollte bleiben – trotz der Restriktionen. Sein Einfluß auf die Gewerkschaftsbewegung war immer noch sehr stark, und seine Gegenwart in Südafrika würde auf jeden Fall von Vorteil sein. Ich glaubte nicht, daß er im Exil mehr für sein Land tun könnte, selbst wenn er dort sehr erfolgreich wäre. Natürlich lag mir auch persönlich viel daran, daß er blieb, aber das hatte eigentlich nichts mit meiner Überzeugung zu tun, daß er uns hier sehr viel mehr nützen würde. Mir war inzwischen aber auch klargeworden, daß meine Zukunft nicht Solly hieß. Ich bezweifelte, ob ich in dem Leben eines so ausgesprochenen Einzelgängers je einen Platz finden würde. Vielleicht war ich einfach zu sehr meinen bürgerlichen Vorstellungen verhaftet, aber diese Nebenrolle, die Solly mir einräumte, war mir einfach nicht genug. Sehr viel später habe ich dann erfahren, daß er mich nicht heiraten wollte, weil er sich eine sehr viel «heroischere» Lebensgefährtin wünschte. Ich bezweifle, ob ich in Sollys Augen jemals etwas anderes als diese «Wischi-Waschi-Liberale» war, wie er mich nannte. Trotzdem bin ich ihm nach London gefolgt. Ich habe auch längere Zeit mit ihm in Frankreich verbracht, bevor ich dann nach London und von London nach Genf ging. Danach haben
wir uns in Manchester wiedergesehen, wo mir ein Forschungsstipendium angeboten worden war. Dieser Besuch hat mich dann vollends überzeugt, daß ich mein Leben nicht nach seinem ausrichten konnte. Außerdem fühlte ich mich dem Kampf in Südafrika verpflichtet, während Solly überzeugt war, daß seine Zukunft in England lag.
Das größte politische Ereignis des Jahres 1952 war die von dem Kongreß organisierte Verweigerungskampagne (Defiance Campaign). Sie hatte den African National Congress, den Indischen und den Franchise Action Council, eine Organisation der Farbigen, zusammengebracht. Gemeinsam protestierten sie gegen eine rassistische Gesetzgebung und unterstützten damit den Befreiungskampf der schwarzen Bevölkerung. So kam es dann auch zu der Kongreßallianz. Der Protest richtete sich vor allem gegen die Paßgesetze, die Reduzierung des Viehbestandes (in den ländlichen Gebieten Anlaß zu vielen Klagen) und das Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus, vor allem jedoch gegen die Bannung schwarzer Führer. Das Gesetz über den Ausschluß der Farbigen vom allgemeinen Wahlrecht in der Kapprovinz gehörte natürlich auch dazu. Man hatte sich für passiven, gewaltlosen Widerstand entschieden, wie ihn der Indische Kongreß schon 1908 und 1946 praktiziert hatte. Freiwillige sollten sich den Gesetzen widersetzen, jedoch nur entsprechend ausgebildete Leute, die auch unter dem schlimmsten Druck nicht zusammenbrachen und niemals Vergeltung übten, was immer sie auch erdulden mußten. Am 6. April 1952 wurde in ganz Südafrika der 300. Geburtstag von van Riebecks Landung am Kap der Guten Hoffnung gefeiert. Was für die Weißen ein Anlaß zum Feiern
war, war für die Schwarzen der Anfang einer dreihundertjährigen Knechtschaft gewesen. Die Kongresse beschlossen deshalb, die Verweigerungskampagne am 6. April beginnen zu lassen, und zwar durch Meetings, die im ganzen Land stattfinden sollten. Freiwillige mußten rekrutiert werden. Tausende folgten dem Aufruf; die eigentliche Kampagne begann am 26. Juni. An jenem Tag wurden nahezu zweihundert Personen verhaftet wegen Mißachtung der Sperrstunde oder wegen Betretens von Bahnhöfen und Postämtern durch Eingänge mit der Aufschrift «Nur für Europäer». Die an dieser Aktion Beteiligten hatten beschlossen, keine Geldbußen zu bezahlen, sondern ihre Strafen im Gefängnis abzusitzen; in ein paar Fällen wurden sie sogar gegen ihren Willen aus dem Gefängnis entlassen. Die Polizei kassierte das Geld, das sie bei sich hatten, und zwang sie damit, ihre Strafen zu bezahlen. Die Kampagne gewann immer mehr Anhänger. Die ersten Urteile gegen die Gesetzesbrecher fielen noch ziemlich mild aus – ein oder zwei Monate Gefängnis. Im weiteren Verlauf wurden sie jedoch zusehends härter. Im August hatte die Kampagne ihren Höhepunkt erreicht, über zweitausend Personen waren verhaftet worden. Alles war sehr gut organisiert; die Kongresse veröffentlichten sogar die Namen der Personen, die an bestimmten Aktionen teilnehmen würden, sowie den Ort und den Zeitpunkt, an dem sie stattfinden sollten. In den Gefängnissen hat es zwar hin und wieder Fälle von Körperverletzung gegeben, aber im allgemeinen verschafften sich die Inhaftierten durch ihre Disziplin, ihren Zusammenhalt, ihre Lieder, ihre Entschlossenheit und ihren nie versagenden Optimismus auch im Gefängnis Respekt. Sich an diesen Aktionen beteiligen zu dürfen, wurde als Auszeichnung betrachtet.
Ich hielt mich auf dem laufenden, was die Verweigerungskampagne betraf; in den Zeitungen wurde genug darüber geschrieben. Die Idee des gewaltlosen Widerstands imponierte mir. Das Beispiel Indiens vor Augen, glaubte ich, daß die Regierung schließlich und endlich doch zum Nachgeben gezwungen würde, wenn die Kampagne einmal das ganze Land erfaßt hätte. Trotzdem fühlte ich mich persönlich nicht davon betroffen. Ich war immer noch in Gewerkschaftsangelegenheiten verwickelt, obwohl ich überhaupt keine richtige Funktion dort erfüllt hatte, außerdem nahm mich meine Arbeit bei der Medical Aid Society ziemlich in Anspruch. Je länger diese erstaunliche Kampagne der Selbstdisziplin und Selbstaufopferung anhielt, desto beschämter fühlte ich mich, dem ungerechten System und nicht der Kampagne gegen seine Auswüchse anzugehören. Ich bin überzeugt, daß viele Weiße so dachten. Aber erst gegen Ende des Jahres wanderte auch eine Handvoll Weißer ins Gefängnis. Sie waren jedoch alle sehr viel engagierter als ich – ich lebte also mit meinem Schuldgefühl weiter, ein Schuldgefühl, daß ich nicht einmal eindeutig als die Schuld der Weißen erkannt hatte. Das kam erst später. Auch im Ausland gewann die Kampagne immer mehr Sympathisanten. Ungefähr achttausend Männer und Frauen haben an den Aktionen gegen die ungerechten Gesetze teilgenommen und sind singend ins Gefängnis gegangen. Nie kam es zu Gewalt. Erst während der letzten beiden Monate des Jahres, als die Polizei einfach in die Menge schoß. Der Kongreß konnte zwar für seine Mitglieder einstehen, und er tat es auch, vor allem für die Freiwilligen, aber über die von der Polizei provozierten Massen hatte er keine Kontrolle. Am Jahresende war die Höchststrafe für Gesetzesbrecher bereits auf drei Jahre Gefängnis oder auf eine Geldbuße von dreihundert Pfund erhöht worden. Und als Anfang 1953 das
Parlament zusammentrat, wurden ein paar rigorose Gesetze erlassen, die den passiven Widerstand zum Erliegen bringen und gleichzeitig auch verhindern sollten, daß er sich in dieser Form wieder manifestierte. Zusätzlich zu der eigentlichen Strafe konnten die Gesetzesbrecher auch noch ausgepeitscht werden – bis zu zwölf Hiebe waren erlaubt. Andere zu diesen Protestaktionen aufzurufen, wurde zu einer strafbaren Handlung, die mit einer fünfjährigen Haftstrafe oder einer Geldstrafe von fünfhundert Pfund geahndet werden konnte. Und noch ein weiteres Delikt wurde geschaffen: Strafbar machte sich jeder, der auf irgendeine Art und Weise eine Person unterstützte, die an der Kampagne zur Nichtbeachtung der Apartheidsgesetze teilnahm – Familienmitglieder machten keine Ausnahme. Diese Gesetze brachten die Verweigerungskampagne zum Erliegen; sie mußte abgebrochen werden. Es war schon eine andere Sache, ob man ein oder zwei Monate oder drei Jahre absitzen mußte. Geldstrafen wurden grundsätzlich nicht bezahlt, da das der Absicht widersprochen hätte, aus Protest ins Gefängnis zu gehen. Trotzdem war die Verweigerungskampagne ein Erfolg gewesen; sie hatte die unterdrückten Massen bestärkt, ihren Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit zu intensivieren. Auch die Opfer, die sie gebracht hatten, waren nicht umsonst gewesen, da sie das rassistische Regime der nationalistischen «Afrikaaner-Regierung», das ein Unrecht auf das andere folgen ließ, auch im Ausland bloßstellten. Was mich betraf, so hoffte ich immer noch, mich direkt engagieren zu können. Auf Sollys Vorwurf hin, ich solle nicht nur kritisieren, sondern etwas tun, war ich der Labour Party beigetreten, obwohl sie in meinen Augen vor allem die Interessen der weißen Arbeiter vertrat. Ich hatte das Gefühl, daß ich unter den kampferprobten Veteranen der Arbeiterbewegung als Neuankömmling
überhaupt nicht zählte, was nicht verwunderlich war. Aber so sehr ich auch das Engagement und die Qualitäten ihrer Führungsspitzen bewunderte, so wurde mir doch bald klar, daß sie nicht die gemischtrassische Bewegung war, in der ich mich zu Hause fühlen konnte. Es hätte natürlich durchaus sein können, daß ich zu der kommunistischen Partei gefunden hätte und ihrer multirassischen Mitgliedschaft wegen auch ihre Doktrinen geschluckt hätte. Aber die kommunistische Partei, die einzige gemischtrassige Organisation des Landes, war gebannt, und etwas Vergleichbares gab es nicht. Ich war mit Solly nach Muizenberg in die Kapprovinz gefahren, wo wir gemeinsam seine letzten Ferien in Südafrika verbringen wollten. Nach seiner Abreise war mir meine politische Zukunft natürlich äußerst ungewiß erschienen. Ich wanderte mit Violet Weinberger am Strand entlang und fragte mich, wie ich meine Tage ausfüllen sollte ohne die verschiedenen Aufgaben, die mir Solly zuzuweisen pflegte und die ich immer sehr gewissenhaft ausgeführt habe. Auch Violet hatte Solly viel geholfen, aber sie hatte seit kurzem eine Familie und konnte sich deshalb nicht so davon absorbieren lassen wie ich. Abgesehen von ihrem Engagement für die Textilarbeitergewerkschaft, wußte ich wenig über ihre politischen Aktivitäten, und ihre Freunde kannte ich auch kaum. Sie meinte jedoch, sie sei überzeugt, daß es für mich sehr viel zu tun gäbe, und sie bot mir an, mich mit ihren Freunden in Johannesburg bekannt zu machen. Ende 1952 hatte in Johannesburg ein wichtiges Meeting stattgefunden, zu dem viele Weiße, radikale wie liberale, gekommen waren – Weiße, die wie ich ihrer Empörung über das repressive Regime der Nationalistischen Regierungspartei, über die erbärmlichen Lebensbedingungen und die rassistische Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung Ausdruck
verleihen wollten. Die United Party, die offizielle Oppositionspartei, war konservativ und betrachtete das Verhältnis zwischen den Rassen immer noch als eine Art Treuhänderschaft, bei der die Weißen Vormund und die Schwarzen die Schutzbefohlenen, die ewig Minderjährigen, waren. Für Liberale gab es in dieser Partei keinen Platz, genausowenig wie in der Labour Party, die zwar etwas radikaler, aber trotzdem sehr engstirnig war – auf jeden Fall nur noch ein Schatten der militanten Partei, die sie einmal gewesen war. Ich verstehe nicht, wie ich dieses Meeting versäumen konnte, wahrscheinlich hatte ich überhaupt nichts davon gewußt. Der Afrikanische Nationalkongreß und der Indische Kongreß hatten es organisiert, um der langsam wachsenden Zahl von Weißen, die mit ihren Zielen und der Verweigerungskampagne sympathisierten, die Möglichkeit zu geben, sich kennenzulernen. Auf diesem Meeting waren verschiedene politische Richtungen vertreten, vor allem aber gab es die beiden Konzepte einer ausschließlich schwarzen und einer multirassischen Bewegung. Eine Gruppe bildete eine weiße Organisation, die die beiden schon vorhandenen Kongresse unterstützte. Diese Organisation war der spätere Kongreß der Demokraten. Zu meiner Überraschung wurde ich in den Vorbereitungsausschuß dieser neuen Organisation berufen. Auf unsern Meetings lernte ich Father Trevor Huddleston, einen anglikanischen Pfarrer, und Father du Manoir, einen katholischen Priester, kennen. Cecil Williams, Ruth First, Joe Slovo und «Rusty» Bernstein, alles ehemalige Mitglieder der kommunistischen Partei und der Springbok Legion, einer radikalen Organisation während des Krieges, hatten sich auch engagiert. Ich tat zwar, was ich konnte, aber ich bezweifle, daß mein Beitrag so entscheidend war, zumindest nicht vom
ideologischen Standpunkt aus. Trotz Sollys Bemühungen war ich politisch immer noch ziemlich ungebildet. Es war aber nicht so wichtig. Wichtig war nur, diese neue Organisation aufzubauen, damit auch die Weißen innerhalb der Kongreßallianz eine politische Heimat fanden. Immerhin hat mich der Vorbereitungsausschuß mit solchen Fragen wie der Auflösung der sogenannten Black Spots (Schwarze Flecken) konfrontiert. Die Regierung plante, Schwarz und Weiß zu trennen, und die Gebiete, in denen Schwarze und Weiße in getrennten Vierteln nebeneinander lebten, ausschließlich für Weiße zu requirieren. Sophiatown, Newclare und Martindale, die ältesten schwarzen Wohngebiete, lagen inmitten weißer Vororte im Westen von Johannesburg. Sie gehörten zu den wenigen Gebieten, in denen die Schwarzen Eigentumsrechte besaßen; die Häuser standen dort nicht nur auf gepachtetem Boden wie in den Townships, und das machte sie natürlich besonders attraktiv. Sophiatown war das größte dieser drei Wohngebiete, eine intakte Gemeinde, obwohl zum Teil auch aus Barackensiedlungen bestehend, was auf die Wohnungsnot der schwarzen Bevölkerung zurückzuführen war; eine Gemeinde, in der die Weißen noch nie bestimmen konnten, wer dort leben durfte oder wer das Viertel betreten durfte. Sophiatown war frei, freundlich, offen, eine der letzten Bastionen schwarzen Grundeigentums in Johannesburg. Trotz Armut, Dreck und gelegentlicher Ausbrüche von Gewalt war Sophiatown doch voller Leben und Lebensfreude. Und seine Bewohner fühlten sich stark. Die Gemeinde war ein lebendig gewachsener Organismus, aber gleichzeitig auch ein «schwarzer Fleck» in den Augen der weißen Wähler, die die Macht besaßen, ihn zu entfernen. Der Umstand, daß es auf einem Gebiet lag, das die Weißen für sich reklamierten, genügte, um seine Existenzberechtigung in Frage zu stellen.
In Sophiatown ließ sich bestimmt keiner von der offiziellen Erklärung, die Slums müßten saniert werden, hinters Licht führen. In diesem Fall hätte es genügt, ein paar neue Häuserblocks hochzuziehen und ihnen andere Grundstücke zu überlassen. Die Bewohner von Sophiatown wollten nicht gegen ihren Willen umgesiedelt werden. Sie wollten nicht in die kontrollierten Townships von Johannesburg abgeschoben werden und unter dem Permit-System leben. Die Regierung nannte diesen schändlichen Plan das «Western-Areas-Umsiedlungsprogramm». Zumindest ein paar Weißen wurde bewußt, was da geschah, ein Western-AreasProtestkomitee wurde gebildet, und weitere Komitees folgten. In diesen Komitees waren auch die Kongresse vertreten – sie gehörten also auch zu meinem Aufgabenbereich. Wir sandten unsere Delegationen zu dem City Council; wir bauten unsere Tische in den weißen Vororten und im Zentrum der Stadt auf und sammelten Unterschriften für unsere Proteste. Die meisten Weißen trauten sich nicht, ihre Namen und Adressen preiszugeben; selbst die wenigen, die mit unserer Aktion einverstanden waren, zögerten. Wir sammelten Geld für Telegramme und Postkarten an die Abgeordneten, Aufforderungen, sich dem Plan der Regierung zu widersetzen. Ich konnte diese eingeschüchterten Weißen irgendwie verstehen, da mir auch ziemlich mulmig zumute gewesen war, als ich mit der Unterschriftensammlung anfing. Ich war überzeugt, daß man mich verhaften würde, obwohl ich nicht wußte, was daran strafwürdig war; ich hatte nämlich nicht gewagt, mit den anderen über meine Befürchtungen zu sprechen. Als es dann plötzlich anfing zu regnen und wir unsere Tische abräumen mußten, atmete ich erleichtert auf. Über diese Zwangsumsiedlungen hatte ich auf der Konferenz in Genf gesprochen. Während ich in Europa war, mußten bereits die ersten Einwohner Sophiatowns gehen, und daran
konnten alle Proteste – weder die wöchentlichen Meetings in Sophiatown noch die vom Kongreß verteilten Flugblätter – nichts ändern. Es waren jedoch zweitausend bewaffnete Polizisten sowie Verstärkung von der Armee notwendig gewesen, um den Erfolg dieser Aktion zu gewährleisten – hundert afrikanische Familien wurden mit ihrer ganzen Habe auf Armeelastwagen verfrachtet und nach der Lokation Meadowlands gebracht. Dort wurden sie in eingeschossigen, Streichholzschachteln ähnlichen Häusern untergebracht, die viermal so weit von ihrem Arbeitsplatz entfernt waren. Die Behörden ließen erst drei Tage vorher etwas von ihrer Absicht verlauten; dem ANC sollte wohl nicht die Gelegenheit gegeben werden, zu einem Stay-away am Tag der Zwangsräumung aufzurufen. Ein paar Einwohner von Sophiatown gingen auch freiwillig. Was blieb ihnen auch schon übrig angesichts eines zweitausend Mann starken Polizeiaufgebots, das nach Sophiatown beordert worden war, um die Wohnungen von hundert schwarzen Familien zu räumen? Die Disziplin des ANC war jedoch so groß, daß es trotz der Provokation, die die Gegenwart der Polizei darstellte, zu keinen Zwischenfällen, keinem Blutvergießen kam. Die Zwangsumsiedlungen gingen weiter, obwohl die Zahl der Familien und auch das Polizeiaufgebot mit der ersten Aktion nicht vergleichbar waren. Nach ein paar Jahren war keine einzige schwarze Familie mehr übrig. Dort, wo einmal Häuser gestanden hatten, wuchs jetzt langes, grünes Gras, und das Ganze wirkte wie der Friedhof einer Stadt, die vor nicht allzulanger Zeit noch voller Leben gewesen war. Heute steht dort ein weißer Vorort. Auf dem Platz der Freiheit, auf dem wir unsere Meetings abgehalten hatten, ist eine Grundschule erbaut worden. Weiße Kinder spielen auf
ordentlichen Spielplätzen, wo früher einmal die Kinder der Schwarzen frei auf den Straßen herumrannten. Der Vorort nennt sich «Triomf». Welcher Triumph wohl damit gemeint ist? Der Triumph der bewaffneten Polizei, die die Familien aus ihren Wohnungen vertrieb? Oder der Triumph der Planierraupen, die die Häuser dem Erdboden gleichmachten? Oder der Triumph der nationalistischen Regierung, die sich vorgenommen hatte, Schwarz und Weiß zu trennen, den «schwarzen Fleck» zu entfernen, weil er den Weißen ein Dorn im Auge war?
In der Zwischenzeit gingen die Vorbereitungen für den Kongreß der Demokraten in Johannesburg weiter. Der Südafrikanische Kongreß der Demokraten wurde gebildet, und ich wurde in das nationale Exekutivkomitee gewählt. Von einer Johannesburger Sektion war ich bereits Geschäftsführerin. Endlich war ich Mitglied einer Organisation, die, zusammen mit dem ANC, dem Indischen Kongreß und dem neugegründeten Kongreß der Farbigen, für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfte. Wir stützten uns auf die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Ich hatte eine politische Heimat gefunden, auch wenn in dem Kongreß der Demokraten nicht alle Rassen vertreten waren. Unsere Aufgabe war es, unter den weißen Wählern Anhänger zu gewinnen, sie so zu beeinflussen, daß sie jede Art von Diskriminierung ablehnten, unsere Forderung nach gleichen Rechten und gleichen Chancen für alle Bevölkerungsgruppen unterstützten und einsahen, daß nur auf diese Weise der Frieden in Südafrika gewährleistet sein würde: Keine einfache Aufgabe, aber eine Aufgabe, die wir in Angriff nehmen mußten.
Südafrika gehört allen, die darin leben
Die Kongreßallianz mit ihrem sorgfältig koordinierten Aktionsrat bereitete den bevorstehenden Volkskongreß vor, eine Massenveranstaltung, die im folgenden Jahr stattfinden sollte. Andere Organisationen, wie die Liberale Partei, die Labour Party, die United Party und Nationalistische Partei, waren eingeladen worden, an dem Volkskongreß teilzunehmen. Als es aber soweit war, stand die Kongreßallianz ganz allein auf weiter Flur mit ihrer großartigen Initiative, das Volk Südafrikas, Schwarze und Weiße, aufzufordern, gemeinsam eine Freiheitscharta auszuarbeiten. Diese Aktivitäten eröffneten auch für mich eine neue, interessante Perspektive, da im Verlauf der Kampagne die Nationalen Exekutivausschüsse der Kongreßallianz mehrmals zusammenkamen. Diese aufregenden Zusammenkünfte wurden aus Angst vor Polizeirazzien und anderen Störaktionen immer streng geheimgehalten. Auch waren meistens irgendwelche gebannten Führer unter uns. Manchmal gelang es uns, gerade noch in letzter Minute zu entwischen. Eine dieser Zusammenkünfte fand im obersten Stockwerk eines Johannesburger Wohnturms statt, wo wir uns wirklich sehr sicher fühlten. Als wir alles besprochen hatten, fuhren wir – Gebannte und Nicht-Gebannte – mit dem Aufzug wieder hinunter. Wir traten auf die Straße und sahen in diesem Augenblick vier ältere Sicherheitspolizisten auf uns zukommen. Für die Gebannten hätte das sehr unangenehm sein können – wir konnten ja nicht wissen, ob unsere Pläne nicht irgendwo publik geworden waren –, aber die Polizei war zehn
Minuten zu spät gekommen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als wieder umzukehren und zu ihren Autos zurückzugehen, während wir schadenfroh grinsten. Ein anderes Treffen, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, fand in Evaton statt, einem indischen Vorort, ungefähr dreißig Kilometer von Johannesburg entfernt. Wir waren durch dunkle unbeleuchtete Straßen gefahren, bis wir zu einem Haus kamen, das etwas abseits der Straße lag. Heimlich, still und leise gingen wir einer nach dem andern in den Hof und durch die hintere Tür in einen von einer Petroleumlampe beleuchteten Raum. Ich weiß nicht, wozu der Raum normalerweise benutzt wurde, an diesem Abend wies er jedenfalls nur einen leeren Tisch, ein paar Stühle und ein paar harte Holzbänke auf. Freunde aus Kapstadt, Port Elizabeth, Durban erwarteten uns schon; sie waren zum Teil Hunderte von Kilometern gefahren, um hierherzukommen. Auf diesem Treffen bin ich zum erstenmal Häuptling Albert Luthuli, dem Präsidenten des Afrikanischen Nationalkongresses, begegnet. Das Licht der Petroleumlampe zeichnete seine Züge nach, ein unvergeßliches Gesicht, kluge, freundliche Augen und ein bereitwilliges Lächeln, das während der Verweigerungskampagne schon Tausende bestärkt hatte, ihm ins Gefängnis zu folgen. Albert Luthuli hatte sich, ähnlich wie ich, erst sehr spät für die Politik entschieden; er war beinahe schon fünfzig, als er damit anfing. Vorher war er ein angesehener Pädagoge und methodistischer Laienprediger gewesen. Seine Gemeinde im Groutville-Reservat in Natal hatte ihn zu ihrem Häuptling gewählt. Als er jedoch ANC-Präsident von Natal wurde und die Verweigerungskampagne unterstützte und organisierte, setzte ihn die Regierung wieder ab. Offiziell war er also gar kein Häuptling mehr; er wurde aber trotzdem bis zu seinem Lebensende immer nur mit «Chief Luthuli» angesprochen.
Chief war bestimmt der populärste Führer, den wir hatten. Die Zuneigung und Loyalität, die ihm die Leute entgegenbrachten, wurden von ihm erwidert. Auf dem Meeting in Evaton sagte er: «Wenn die Leute mich fragen, warum ich mit Kommunisten zusammenarbeite, antworte ich ihnen, daß ich nur einen Feind habe, die nationalistische Regierung, und daß ich nicht an zwei Fronten kämpfen wolle. Ich würde deshalb mit allen zusammenarbeiten, die mit mir den Kampf für die Befreiung meines Landes führen wollen.» Es war nicht verwunderlich, daß die beiden Kampagnen – die Kampagne für den Volkskongreß und die Kampagne gegen das Western-Areas-Umsiedlungsprogramm – von der Sicherheitspolizei mißtrauisch verfolgt wurden; Einschüchterungsversuche und Störaktionen von Seiten der Polizei waren sozusagen an der Tagesordnung. Am 24. Juni 1954 wurde in der Johannesburger Trades Hall, einem historischen Ort für die Aktionen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, eine Protestversammlung gegen die Zwangsumsiedlungen abgehalten. Sie wurde von bewaffneten Polizisten und Sicherheitsbeamten gestürmt, die sich die Namen und Adressen der Anwesenden aufschrieben. Ich bin nicht auf dieser Konferenz gewesen, eine Woche später habe ich jedoch in der Trades Hall an der Konferenz des Volkskongresses teilgenommen. Diesmal waren die Organisatoren jedoch besser vorbereitet. Ich stand gleich neben dem Eingang, als fünf Security Branch-Detektive, angeführt von Colonel Att Spengler, einem früheren Rugby-Spieler, hereinmarschiert kamen und jeden beiseite schoben, der sich ihnen in den Weg stellte – mich eingeschlossen. Die Detektive nahmen Platz und machten sich Notizen. Daraufhin verließen zwei Organisatoren die Konferenz und gingen mit ihrer Beschwerde in das Amtszimmer eines Richters. Wir siegten – Richter Blackwell erklärte die Anwesenheit der Polizei für
ungesetzlich. «Südafrika ist schließlich kein Polizeistaat», sagte er, die Polizei dürfe nicht ohne Ermächtigung in eine geschlossene Veranstaltung eindringen: Colonel Spengler und sein Team mußten also unter lauten Buh-Rufen den Saal verlassen; kaum hatten die Türen sich hinter ihnen geschlossen, erhoben sich sämtliche Konferenzteilnehmer und sangen triumphierend «Nkosi Sikelele». Im Juli 1954 war auf dem Platz der Freiheit eine große Protestaktion gegen die Umsiedlungsprogramme geplant, auf der auch Chief Luthuli sprechen sollte. Bei seiner Ankunft in Johannesburg präsentierte ihm die Polizei jedoch eine Bannverfügung, die ihm die Teilnahme an Versammlungen und das Verlassen seines Wohnbezirks untersagte. Zehntausend Menschen waren zusammengekommen, um Chief Luthuli reden zu hören. Der gebannte Mann meiner Freundin Violet, Eli Weinberger, stand auf einem Dach und machte Fotos, was seiner Meinung nach keinen Verstoß gegen die Bannverfügung darstellte. Er wurde aber prompt verhaftet und angeklagt, die Bannbestimmungen mißachtet zu haben; das Gericht sprach ihn jedoch frei. Immer mehr unserer führenden Leute wurden gebannt. Bram Fischer, der erste Präsident des Kongresses der Demokraten, war eines der ersten Opfer: Mitglieder des Exekutivkomitees und andere Funktionäre folgten. Den schwersten Schlag erlitt der ANC, als neben dem Chief auch noch Nelson Mandela, Transvaal-Präsident und Präsident der ANC-Jugendliga, zusammen mit Walter Sisulu, dem Generalsekretär des ANC, gebannt wurde. Nachdem der Chief Groutville nicht mehr verlassen durfte, mußten ihn die Mitglieder des Aktionsrats dort aufsuchen: in einem Schulgebäude, das irgendwo tief in den Zuckerrohrfeldern an der Nordküste von Natal versteckt lag, wurden geheime Treffen mit ihm arrangiert. Wir verließen
Johannesburg gewöhnlich am Freitagnachmittag nach der Arbeit, fuhren die sechshundert Kilometer lange Strecke bis nach Durban und kamen am Samstagmorgen dort an. Nach ein paar Stunden Schlaf gingen wir dann zu unserem geheimen Meeting, das den ganzen Tag dauerte. Danach kehrten die indischen, die farbigen und die weißen Delegierten nach Durban zurück, während das Exekutivkomitee des ANC noch bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages mit dem Chief konferierte. Die Sicherheitsmaßnahmen bei diesen Meetings der Exekutivkomitees wurden strikt eingehalten, auch was die Übernachtungsmöglichkeiten in Durban betraf. Einmal kamen wir an einem Samstag ungefähr um ein Uhr morgens in Durban an und entdeckten, daß wir überhaupt nicht erwartet worden waren; unser völlig verschlafener Gastgeber hatte zwar das Telegramm erhalten, mit dem wir uns angekündigt hatten, aber der Text war so verschlüsselt gewesen, daß er nicht begriffen hatte, was damit gemeint war. Die Föderation Südafrikanischer Frauen wurde mit der Unterbringung der Teilnehmer an dem bevorstehenden Volkskongreß beauftragt. Wir hatten keine Ahnung, wie viele Leute wir zu erwarten hatten; wir schätzten ungefähr tausend oder etwas mehr. Wir fühlten uns dadurch nicht auf eine Hostessen-Rolle verwiesen. Es bedeutete vielmehr ein paar Wochen intensive Organisationsarbeit; auf kleinen, in verschiedenen Häusern abgehaltenen Treffen, auf denen vor allem Frauen zusammenkamen, diskutierten wir alle möglichen Fragen, u. a. auch die Bettenfrage. Von Betten zu sprechen, wäre jedoch irreführend gewesen, da in den überbelegten, kleinen Häusern kaum Betten zur Verfügung standen, und wir auch nur nach einem Platz für Matratzen suchten, die wir auf den Fußboden legen konnten, oder nach Möglichkeiten, die Betten doppelt zu belegen. Wir
fragten nicht: «Wie viele Extra-Betten habt ihr?», sondern «Wie viele Leute könnt ihr unterbringen?» Und die Antworten lauteten – eine, zwei, drei oder sogar vier Personen. Ich fragte mich, wie die meisten das zustande bringen wollten. Wir gingen von Straße zu Straße, nahmen mit den Frauen Kontakt auf, sprachen über die Freiheitscharta und den Volkskongreß und fragten nach Unterkunftsmöglichkeiten für die Delegierten. In Soweto konnten wir nur bis neun Uhr abends arbeiten, falls wir nichts anderes vereinbart hatten, denn die schwarzen Arbeiter gingen früh schlafen, da sie um fünf Uhr morgens wieder aufstehen mußten. Gleichzeitig hatten wir für den 29. Mai eine Frauenkonferenz vorbereitet, auf der wir besprechen wollten, welche Forderungen die Frauen in die Freiheitscharta einbringen sollten. Unser regionales Komitee stellte alle Forderungen zusammen, Forderungen, die jeden Aspekt des täglichen Lebens betrafen, und die endgültige Fassung der Freiheitscharta unterschied sich kaum von diesem ersten Entwurf. Das war eigentlich auch nicht erstaunlich, da die Forderungen all die Nöte und Entbehrungen widerspiegelten, mit denen die Frauen zu kämpfen hatten. Auf der Konferenz der Frauenföderation wurden die Vorschläge der Reihe nach durchdiskutiert, und nur zwei Forderungen wurden abgelehnt. Die eine betraf die Verbesserung von Lebensbedingungen in den «Reservaten», den für die Afrikaner bestimmten Gebieten, die 13 % der Gesamtfläche ausmachten, aber 85 % der Bevölkerung aufnahmen. Ich wußte in manchen Dingen, die die schwarze Bevölkerung betrafen, einfach nicht Bescheid, so hatte ich nicht gewußt, wie wichtig gerade diese Frage für die Schwarzen war; sie wollten keine Verbesserungen, sondern eine gerechtere Verteilung des Landes. Wie vieles andere hatte ich auch die Reservate als eine Tatsache hingenommen und
Verbesserungen für eine Sache gefordert, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Die andere Forderung, die abgelehnt wurde, stammte ebenfalls von mir. Sie betraf die Abtreibungskliniken. Ich sprach als Sozialarbeiterin und provozierte damit lautstarken Protest sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen. (Ein paar Männer gab es immer auf unseren Konferenzen, wahrscheinlich kamen sie einfach aus Neugierde.) Niemand durfte das Recht auf Kinder antasten, ungeachtet der sozialen oder gesundheitlichen Folgen. Ich weiß, daß man in den Städten inzwischen anders darüber denkt, aber damals war das noch ein heißes Eisen; die Schwarzen argwöhnten, das «System» wolle ihre Zahl vermindern, während die Geburtenrate der Weißen mit allen Mitteln angehoben werden sollte. Unsere Forderungen spiegelten die Denkweise der in der Föderation vertretenen Frauen wider. Die Betonung lag auf dem gemeinsamen Befreiungskampf. Abgesehen von dem Wahlrecht für Frauen, dem Zugang zu öffentlichen Ämtern, der Gleichstellung der Ehepartner und der Rechtsfähigkeit, gab es eigentlich kaum spezifisch feministische Forderungen. Rechte, die die Frauen nicht besaßen, mußten natürlich in jeder Charta auftauchen, aber die Belange des täglichen Lebens waren ihnen doch sehr viel wichtiger. Wie so oft bei diesen Konferenzen haben die Frauen selbst den Kurs der Föderation bestimmt: Sie waren Mütter, und als Mütter waren sie darauf bedacht, daß ihre Kinder es einmal besser haben sollten. Auch in den folgenden Jahren sollte sich an diesem Konzept nicht viel ändern. Je näher der 25. Juni rückte, desto hektischer wurden die Vorbereitungen. Auf dem Kongreß trafen sich die gewählten Vertreter aller Rassen aus jeder Stadt und jedem Dorf, jeder Farm und jeder Fabrik, aus jeder Zeche und jedem Kral, jeder
Straße, jedem Vorort – aus dem ganzen Land –, um ihre Forderungen in der Freiheitscharta niederzulegen. Am Vormittag des 25. Juni verließ ich mit einem unguten Gefühl meine Wohnung – für meine Katze hatte ich schon die nötigen Vorkehrungen getroffen, falls ich am Abend nicht zurückkommen sollte. Die Schikanen der Polizei hatten rapide zugenommen – vielleicht würden sie uns unter dem einen oder anderen Vorwand verhaften, obwohl wir nichts Ungesetzliches taten. Der Kongreß sollte auf einem Fußballplatz in Kliptown bei Soweto, einem Ort südwestlich von Johannesburg, stattfinden, da wir über keinen Saal verfügten, der eine so große Menschenmenge aufnehmen konnte. Außerdem mußte unser Meeting an einem Ort stattfinden, der für Schwarze wie für Weiße zugänglich war. Die Umgebung war ziemlich schäbig, aber die Menschen, all diese Menschen, die hier zusammengekommen waren, um eine Freiheitscharta auszuarbeiten, verliehen ihr eine besondere Würde. Es gab nicht genügend Sitzplätze, und viele mußten sich auf den Boden setzen. Die einzige Vorrichtung war das Podium mit dem riesigen vierspeichigen Rad, das die vier Organisationen symbolisierte, die die Kongreßallianz bildeten. Ich war für das Ressort Wohnungen, Sicherheit und Wohlstand für alle zuständig, was ich als eine große Auszeichnung betrachtete. Ich beobachtete, wie die Gruppen in das Stadion strömten und ihre Transparente hochhielten: «Laßt uns über Freiheit reden!», «Erkämpfen wir unsere Freiheit!». Sie kamen von überall her. Manche waren mit ihren Lieferwagen oder Kombis (VW-Kleinbusse) die ganze Nacht durch gefahren, und nicht alle hatten es geschafft, bis nach Kliptown zu kommen, da die Polizei unter allen möglichen Vorwänden die Fahrzeuge anhielt und am Weiterfahren hinderte.
Ich spürte die Kraft und die Entschlossenheit dieser Leute, die da hereinmarschiert kamen. Ihre Forderungen hatten sie vorausgeschickt: Mehr als tausend Schriftstücke waren eingegangen, handgeschriebene Zettel und förmlich aufgesetzte Dokumente. Sie waren gekommen, um auf diesem Kongreß ihre Zukunft zu gestalten, eine Charta zu verfassen, die aus ihren Hoffnungen und Nöten geboren war. Auf diese einfache Art und Weise entstand eine Charta, die sich als unzerstörbar erwies, die alle Bannverfügungen überlebt hat. Ein bedrucktes Stück Papier kann man zwar bannen, aber die Ideen, die es enthält, lassen sich nicht unterdrücken. Der erste Tag verlief ohne Zwischenfälle. Der umzäunte Platz, der ungefähr dreitausend Leute faßte, war im Nu voll. Er war für die Delegierten bestimmt. Davor hatten sich jedoch noch ungefähr zweitausend Zuschauer versammelt. Nach der Begrüßung, der Übermittlung von Grußbotschaften, den Gebeten zur Eröffnung und der Verleihung des IsitwalandweTitels an drei große Männer – Father Trevor Huddleston, Dr. Jusuf Dadoo und Chief Luthuli – war der Tag auch schon zu Ende. Der Isitwalandwe-Titel wurde von dem ANC für außergewöhnliche Leistungen und Tapferkeit verliehen. Father Trevor Huddleston, ein anglikanischer Priester aus Sophiatown, wurde von Tausenden verehrt, weil er sich all die Jahre hindurch geweigert hatte, die rassistischen Praktiken des Staats hinzunehmen. Jusuf Dadoo, Präsident des Indischen Kongresses, hatte sich sowohl während der indischen Kampagne des passiven Widerstands in den vierziger Jahren als auch während der Verweigerungskampagne von 1952 ausgezeichnet. Und er hatte sich für die Zusammenarbeit zwischen dem Indischen Kongreß und dem ANC eingesetzt. Chief Luthuli war der von allen geliebte Präsident des ANC. Drei Männer, die sich wirklich verdient gemacht hatten, aber nur einer von ihnen konnte die Auszeichnung
entgegennehmen. Chief Luthuli und Dr. Dadoo waren gebannt und durften ihren Wohnbezirk nicht verlassen. Chief Luthuli ließ sich von seiner Tochter, Dr. Dadoo von seiner Mutter vertreten, einer kleinen, älteren Dame, die im Namen ihres Sohnes sprach: «Freiheit fällt einem nicht in den Schoß. Man muß sie sich erkämpfen.» Der Kongreß hatte sehr spät angefangen, weil der Strom der Delegierten nicht abriß; sie waren zum Teil Hunderte von Kilometern gefahren, um nach Kliptown zu kommen, und Verspätungen waren einfach unvermeidlich. Zum Schluß wurde dann der Entwurf der Freiheitscharta verlesen. Es war schon beinahe dunkel, und die Beleuchtung war ausgefallen, was bedeutete, daß die Adressen der Unterkünfte im Schein einer Sturmlaterne verlesen werden mußten. Die sorgfältig vorbereiteten Listen waren in der Dunkelheit und dem dadurch bewirkten Chaos natürlich völlig nutzlos. Die Delegierten, die schon den ganzen Tag über ihre Taschen und Decken mit sich herumgeschleppt hatten, wurden von freiwilligen Helfern mitgenommen. Wir haben nie erfahren, ob sie nun auch dort übernachteten, wo wir sie untergebracht hatten; sie haben jedenfalls alle einen Platz gefunden, wo sie sich ausstrecken konnten und etwas zu essen und trinken bekamen. Der Entwurf der Freiheitscharta war vor dem Kongreß verlesen worden, und am nächsten Tag, einem Sonntag, hörten wir es dann ein weiteres Mal: «…Südafrika gehört allen, die darin leben, Schwarzen und Weißen!…Und wir verpflichten uns, zusammen zu kämpfen und es weder an Kraft noch an Mut fehlen zu lassen, bis die hier genannten demokratischen Veränderungen erreicht worden sind.
DAS VOLK SOLL REGIEREN! ALLE NATIONALEN GRUPPEN SOLLEN DIE GLEICHEN RECHTE HABEN! DAS VOLK SOLL AM REICHTUM DES LANDES TEILHABEN! DAS LAND SOLL UNTER DENEN VERTEILT WERDEN, DIE ES BEARBEITEN! VOR DEM GESETZ SOLLEN ALLE GLEICH SEIN! FÜR ALLE SOLLEN DIE GLEICHEN MENSCHENRECHTE GELTEN! ARBEIT UND SOZIALE SICHERHEIT FÜR ALLE ! BILDUNG UND KULTUR SOLLEN ALLEN OFFENSTEHEN ! WOHNUNGEN, SICHERHEIT UND WOHLSTAND FÜR ALLE! FRIEDEN UND FREUNDSCHAFT SOLLEN HERRSCHEN! Für diese Freiheitsrechte wollen wir Seite an Seite unser ganzes Leben lang kämpfen, bis wir unsere Unabhängigkeit gewonnen haben!» Diese Erklärungen wurden laut und deutlich verlesen und von den Delegierten angenommen. Auf diese Weise nahm der Entwurf der Charta Gestalt an, Abschnitt für Abschnitt, bis schließlich nur noch zwei Abschnitte zur Diskussion standen. Ich befand mich auf der Rednerbühne, hinter mir das Rad mit den vier Speichen, und wartete darauf, meine Rede über Wohnungen, Sicherheit und Wohlstand für alle halten zu können. Es war ungefähr vier Uhr, als ich bemerkte, wie die Menge in Bewegung geriet. Und dann sah ich, daß wir von bewaffneter Polizei eingekreist wurden; eine Gruppe kam auf das Podium zu, ungefähr ein Dutzend Sicherheitsbeamte in Zivil, eskortiert von Polizei mit Maschinengewehren. Die Leute waren wie gelähmt, alle Augen richteten sich auf die Polizei, die auf das Podium stieg und dem Vorsitzenden einen Durchsuchungsbefehl präsentierte, da – wie sie sagten – der Verdacht auf «Hochverrat» bestünde. Es schien einfach absurd: Hochverrat auf dieser Versammlung friedlicher
Menschen, die eine Freiheitscharta verabschiedeten. Der Vorsitzende erklärte den Delegierten die Gründe für diese Polizeiinvasion und fragte, ob sie fortfahren wollten. Die Menge brüllte ihre Zustimmung und erhob sich, um ein herausforderndes «Nkosi Sikelele» anzustimmen. Ich hielt meine Rede, von bewaffneter Polizei umgeben, wie alle übrigen auch. Das Mikrofon war bei dem ganzen Hin und Her beschädigt worden. Wir hatten kaum Platz zum Stehen, so viele Polizisten waren auf dem Podium, aber jemand hielt mir das baumelnde Mikrofon hin. Ich sah, wie sich die Polizisten daranmachten, die Reihen der Delegierten zu durchsuchen; sie öffneten Taschen, um nach Beweismaterial zu suchen – Papiere, nicht Waffen. Die Polizei hatte Waffen, nicht die Leute. Während ich sprach, blickte ich über die Menge – dreitausend Menschen saßen vor mir; viele hatten sich leuchtendbunte Kopftücher umgebunden. Stolz stellten sie die schwarz-grün-goldenen ANC-Farben zur Schau. Sie ignorierten die Polizisten, als wären sie lästige Insekten. Ihre Aufmerksamkeit galt nicht ihnen, sondern ihren Führern, und ich stellte fest, daß sie mir zuhörten, so unglaublich mir das auch vorkam; sie lauschten meiner «Sozialarbeiterrede», die sich in dieser Atmosphäre des Polizeiterrors schon etwas eigenartig ausnahm. Ich sprach von Dingen, die das Leben dieser Delegierten betrafen, das Recht auf ein Zuhause, auf Häuser, Wohnungen, ausreichend Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und Unterstützung der Alten, der Kranken, der Heranwachsenden und der Familien. Der letzte Abschnitt der Charta handelte ironischerweise von Frieden und Freundschaft: Frieden und Freundschaft, konfrontiert mit Maschinengewehren, mit bewaffneter Polizei, die alles durchwühlte und deren Gegenwart allein schon eine Provokation war. Aber für den Volkskongreß gab es diese
Provokation überhaupt nicht; sie konnte ihm nichts anhaben. Triumphierend hatte er sich darüber erhoben. Jeder Abschnitt der Charta war vorgelesen, diskutiert und angenommen worden. Sie war kein Entwurf mehr, sondern Wirklichkeit: das Programm dieser Menschen, ihr Programm für die Zukunft, das Versprechen für ihre Kinder, die Freiheit zu erringen. Die Polizei muß Tausende von Flugblättern mit dem ChartaEntwurf beschlagnahmt haben; die Charta selbst konnte sie jedoch nicht beschlagnahmen. Ihre Ideen und ihre Botschaft lebten in den Herzen und den Köpfen der Delegierten, die sie in ganz Südafrika verbreiten würden. «Nkosi Sikelele» wurde noch einmal gesungen, und dann war der Kongreß zu Ende. Die Delegierten konnten jedoch nicht gehen, weil die Polizei immer noch nach Beweismaterial suchte, sich Namen und Adressen notierte und Fotos machte. Ich wurde immer wütender – Zweck der Übung war doch wohl nur, die dreitausend Leute zu demütigen, die sich hier versammelt hatten, um über ihre Lebensbedingungen und ihre Hoffnung zu sprechen, einmal frei zu sein; sie waren keine Terroristen, Saboteure oder Verräter. Aber stärker noch als meine Empörung war mein Stolz auf diese entschlossene Menge. Es wurde allmählich dunkel, aber die Polizei war besser ausgerüstet, als wir es am Abend zuvor gewesen waren. Sie hatten Scheinwerfer und Taschenlampen mitgebracht. Um neun war dann alles vorbei; nachdem sie auch den letzten Delegierten durchsucht hatte, verzog sich die Polizei wieder, und der Ort, an dem der Volkskongreß stattgefunden hatte, wurde wieder zum Fußballfeld, ein mit Abfällen übersätes, von den Zuschauern verlassenes Stück Land. Für uns ist es jedoch geheiligter Boden, und solange die Freiheitscharta lebt, wird er das auch bleiben.
Am Ende des Kongresses hatte Resha in Gegenwart der Polizei herausfordernd erklärt: «Der Boden, auf dem wir stehen, ist heilig, Freunde. Eine Gedenkstätte des südafrikanischen Volkes.»
Verhaftet und angeklagt
Der Volkskongreß war vorüber. Wir waren wieder mit unsern Alltagsproblemen konfrontiert. Die auswärtigen Delegierten fuhren noch in derselben Nacht zurück, jedoch viel später als geplant, da die Polizei sich unendlich viel Zeit gelassen hatte mit ihrer Durchsuchungsaktion. Diejenigen, die in Johannesburg lebten, mußten wieder zur Arbeit. Ich fühlte mich von dem Ganzen noch etwas benommen. Außerdem war ich gespannt, was aus dieser Hochverratsgeschichte werden sollte. Angst hatte ich keine, dazu kam mir alles viel zu unwirklich vor. Ich hatte gesehen, welches Durchhaltevermögen die Delegierten besaßen, wie unbezwingbar ihr Mut und wie unerschütterlich ihre Überzeugung war. «Seite an Seite unser Leben lang!» hatten wir uns gelobt. Ich war also nicht allein und fühlte mich deswegen auch sehr viel sicherer. Tausende waren an meiner Seite, und ich dachte nicht daran, einen Rückzieher zu machen. Ich hatte meinen Platz an der Seite der unterdrückten Bevölkerung Südafrikas gefunden, während der Kampf für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in seine nächste Phase trat. 1955 hatte das Parlament neben dem Western AreasUmsiedlungsprogramm noch ein weiteres schändliches Gesetz verabschiedet, das wir bekämpften. Ab 1. April sollte dem Minister für Eingeborenenangelegenheiten die gesamte afrikanische Erziehung unterstehen, die bisher vor allem in den Händen der vom Staat subventionierten Missions- und kirchlichen Schulen gelegen hatte. Diese Maßnahme sollte Dr. Verwoerds berüchtigten Ausspruch «über gewisse
Dienstleistungen hinaus gibt es für die Bantus keinen Platz innerhalb der weißen Gesellschaft» in die Tat umsetzen. Den afrikanischen Kindern sollte gerade soviel beigebracht werden, daß sie die niedrigste Arbeit für die Weißen verrichten konnten. Die Schwarzen legen jedoch seit eh und je den größten Wert auf die Erziehung ihrer Kinder. Und ihre Empörung über die unterschiedlichen Bildungsausgaben für Schwarze und Weiße – sie sind zehnmal höher für Weiße – hat nicht nachgelassen. Die Schwarzen mißtrauten dem BantuErziehungsgesetz – zu Recht, da es für ihre Kinder eine getrennte und natürlich auch minderwertige Erziehung vorsah. Im Dezember 1954 hatte der ANC zu einer Verweigerungskampagne aufgerufen. Der Exekutivausschuß des ANC beschloß, die Kinder aus den afrikanischen Grundschulen zu nehmen und inoffizielle Lernzentren für die Kinder einzurichten, die die Schulen boykottierten. Zu dieser Regelung hatte man sich schließlich doch durchgerungen. Die Lehrer, deren Klassen sich aufgelöst hatten, würden übernommen werden. Das Gesetz besagte jedoch ausdrücklich, daß jede Art von Unterricht von dem Erziehungsministerium genehmigt werden müsse, und es war kaum anzunehmen, daß irgendeiner dieser Versuche, eine Alternative für die protestierenden Schüler und Eltern zu schaffen, geduldet würde. Norman war Lehrer, und ich war auch einmal Lehrerin gewesen. Wir boten uns auch sofort an, diese alternativen Lernzentren zu unterstützen, die unter dem Decknamen «Kulturvereine» bekanntwurden. In Johannesburg fanden mehrere Meetings der Afrikanischen Erziehungsbewegung statt. Wir befürworteten die Idee, für die Leiter der Kulturvereine Fortbildungskurse einzurichten. Sie mußten die Kinder ohne irgendwelche Lernmittel unterrichten – nicht einmal Schulbücher oder Wandtafeln standen ihnen zur
Verfügung, denn jede Art von Unterricht würde den Verein als eine illegale, offiziell nicht anerkannte Schule abstempeln. Diese Kurse für die Leiter der Kulturvereine beanspruchten mich in den nächsten zwölf Monaten. Norman und ich planten sie zusammen mit ein paar anderen Mitarbeitern. Wir bereiteten Unmassen von kopiertem Material vor: arithmetische Spiele, Abzählreime, Geographiestunden – in Ermangelung von Atlanten «plauderten» wir einfach über fremde Kontinente. Und wir schrieben auch Geschichten, in denen wir unsere eigene Version von der Geschichte Südafrikas erzählten, so wie sie nicht in den Geschichtsbüchern stand. Alles sollte in spielerischer, gruppendynamischer Form vor sich gehen. Die Leiter der Kulturvereine gingen begeistert darauf ein. Es war nicht einfach für sie, sich diesen neuen Umständen anzupassen und diese Horden von Kindern irgendwo im Freien zu beschäftigen und gleichzeitig zu unterrichten. James Hadebe vom ANC, Sänger, Musiker, Lehrer, hatte in Zulu und Sotho ein Einmaleins zum Singen komponiert. Den Kindern machte das ungeheuren Spaß. Getragen wurden diese Aktivitäten von dem Protest und von dem Gefühl, die BantuErziehung zu unterminieren. Die Kulturvereine waren Symbole dieses Protestes. Sie wurden auch häufig genug von der Polizei heimgesucht; Razzien wurden durchgeführt und die Führer wie auch die Kinder vor Gericht gebracht. Die Führer wurden häufig gebannt und manchmal sogar deportiert. Aber sie ließen sich nicht unterkriegen, und die Kulturvereine überlebten. Im Januar 1956 nahmen wir unser ehrgeizigstes Projekt in Angriff: ein fünftägiges Seminar in Alexandra Township. Eröffnet wurde es von Father Huddleston. Sicherheitsbeamte lungerten die ganze Zeit über vor den Türen herum, während wir immer nur wiederholten, daß es eine rein private
Angelegenheit sei und daß wir sie nicht ohne richterlichen Befehl einlassen würden. Diesen Befehl hatten sie nicht, dafür versuchten sie, durch die Fenster zu schauen und an den Türen zu lauschen. Im Transvaal und der östlichen Kapprovinz wurden die meisten Kinder von den Grundschulen genommen. Über siebentausend Kinder wurden im Verlauf des Jahres von ihren Eltern zum Boykott der staatlichen Schulen veranlaßt. Die Empörung der Eltern richtete sich weniger gegen die Tatsache, daß die Bantu-Erziehung getrennt war von der der weißen Kinder, sondern vielmehr dagegen, daß sie den Bedürfnissen der Kinder überhaupt nicht gerecht wurde, rassistisch und minderwertig, wie sie war. Die Kinder von der Schule zu nehmen, war für die Eltern ein sehr schwerer Entschluß, da ihnen die Erziehung ihrer Kinder wirklich am Herzen lag. Aber sie rangen sich dazu durch, weil es im Vergleich zu der BantuErziehung immer noch das kleinere Übel war. Da aus Port Elizabeth, in der östlichen Kapprovinz, der dringende Appell an uns ergangen war, doch auch zu ihnen zu kommen, machten wir uns in den Osterferien auf den Weg, aber die Sache wäre beinahe schiefgegangen. Norman und ich waren zusammen mit Robert und James Hadebe losgefahren, das Auto voller Arbeitsmaterial, einschließlich einer Batterie selbstgebastelter Schlaginstrumente, die uns eine begeisterte Kindergärtnerin mitgegeben hatte, damit wir sie auf unserm Seminar vorführten. Wir hatten uns den Saal einer farbigen Kirche reservieren lassen, da wir von der Annahme ausgingen, daß im Transvaal die Stadtteile der Farbigen auch für die Weißen zugänglich seien. Am Abend unserer Ankunft fand gerade ein KongreßMeeting statt; als wir ihnen sagten, daß unser Seminar offiziell genehmigt sei, sandte der Kongreß seine Leute aus, die den Leitern der Kulturvereine Bescheid sagten. Ich war erstaunt
über die unglaubliche Disziplin, mit der diese Freiwilligen ihre Instruktionen entgegennahmen, um gleich darauf in Erfüllung ihres Auftrags das Meeting zu verlassen. Hier, in der östlichen Kapprovinz, schien der Kampfgeist der Freiwilligen, der fünftausend Männer und Frauen passiven Widerstand hatte leisten lassen, noch sehr lebendig zu sein. Am nächsten Tag waren dann auch Punkt acht dreißig Lehrer im Saal der Kirche, und wir begannen mit unserem Seminar. Am zweiten Tag wurden wir von der Sicherheitspolizei unterbrochen. Norman und ich wurden auf die Polizeistation der Lokation geschleppt, wo man uns eröffnete, daß wir für die farbigen Stadtviertel Passierscheine benötigten. Mit der Sicherheitspolizei am Hals verzichteten wir darauf, diese Farce durchzuführen. Sie notierten sich unsere Namen und unsere Johannesburger Adressen; als sie jedoch weitere Informationen aus uns herausquetschen wollten, verweigerten wir die Antwort, und sie insistierten nicht weiter. Eine solche Weigerung hätte heute ganz andere Konsequenzen nach sich gezogen. Wir wurden in den Saal zurückgebracht, damit wir unsere Sachen zusammenpackten. Wir erzählten Robert und den Leitern der Kulturvereine, was passiert war. Wir wußten jedoch, daß das Seminar nicht ohne uns durchgeführt werden konnte. Robert meinte, wir sollten vor den Schranken zu der Lokation warten. Und dort standen wir dann auch eine Weile niedergeschlagen herum, bis die Leiter der Kulturvereine mit unserer ganzen Ausrüstung auf uns zumarschiert kamen, einer nach dem andern, angeführt von Robert und James. Norman und ich schlossen uns der Prozession an, die Schlaginstrumente wurden eingesetzt, und unser improvisierter Demonstrationszug bewegte sich in Richtung Stadtmitte. Dort lösten wir uns wieder auf. Norman, Robert und ich stiegen in unser Auto und fuhren weg, die Sicherheitspolizei auf den
Fersen. Ich dachte daran, wie ängstlich ich gewesen war, als ich mit den Textilarbeiterinnen zu Sollys Protestversammlung marschierte oder Unterschriften sammelte, und ich fragte mich, ob wirklich alles nur drei Jahre zurücklag. Aber im Laufe der Zeit machte sich der Druck immer stärker bemerkbar. Die Kinder brauchten offensichtlich eine feste Institution. Und die Eltern machten sich Sorgen über die Zukunft ihrer Kinder, die später einmal ohne Zeugnisse dastehen würden. Der Boykott bröckelte also allmählich ab. Er war nicht gescheitert und auch nicht in die Knie gezwungen worden; im Gegenteil, er hatte einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. 1976, eine Generation später, würde die schwarze Jugend Südafrikas diesen Protest wiederaufnehmen und zu Tausenden gegen die Bantu-Erziehung demonstrieren. Bereits 1955 mußte der Volkskongreß verschiedene Razzien über sich ergehen lassen, da – wie die Polizei sagte – Verdacht auf Hochverrat bestünde. Irgendwie hatten wir uns schon an das Wort gewöhnt, denn es fiel immer wieder, wenn die Polizei unsere Büros und Häuser stürmte. Ihre Schikanen gehörten schon zu unserem Alltag, und wir gingen mit einem Achselzucken darüber weg. Die erste Hausdurchsuchung hat mich noch ziemlich mitgenommen. Allein die Vorstellung, daß fremde Hände in meinen Schubladen wühlten und mißtrauische Augen meine Privatkorrespondenz lasen, war mir unerträglich. Da ich aber beschlossen hatte, mich politisch zu betätigen, gehörten Polizeiaktionen wie diese sozusagen dazu. Der Justizminister hatte uns öffentlich gewarnt: Ungefähr zweihundert Personen müßten sich wegen Hochverrats verantworten. Allein die Zahl ließ diese Drohung irgendwie absurd erscheinen. Daß sie sich dreißig oder sogar vierzig Leute herauspickten, wäre ja noch vorstellbar gewesen, aber zweihundert! Und wegen Hochverrats? Es war einfach widersinnig. Was konnte das mit unserem Kampf zu tun haben
– wahrscheinlich war es nur ein Bluff, etwas, was sie inszeniert hatten, um ihre reaktionären, weißen Wähler zu beruhigen. Ich konnte den Volkskongreß, die Freiheitscharta, die Frauenföderation oder die Proteste in Pretoria einfach nicht mit Hochverrat in Verbindung bringen. Aber drei Tage später schlug die Polizei zu. Wie alle übrigen wurde auch ich noch vor Sonnenaufgang verhaftet. Wie eine Schwangere hatte ich meinen Koffer schon gepackt, denn mir war natürlich klar, daß ich wahrscheinlich eine von diesen zweihundert Personen sein würde, falls es soweit käme. Außerdem hatten mich Freunde gewarnt, daß etwas in der Luft liege und daß wir vielleicht ein paar Tage ins Gefängnis gesteckt würden, bis die Kautionsbedingungen ausgehandelt wären. Da ich allein lebte und niemand meine Sachen für mich zusammenpacken konnte, tat ich es vorsichtshalber selbst. Vor der Polizei wollte ich das natürlich nicht zugeben, aber schließlich mußte ich dann doch diesen Koffer unter dem Bett hervorziehen. Als sie meine Wohnung durchsucht hatten, brachten sie mich auf eine Polizeistation, wo mir zum erstenmal in meinem Leben die Fingerabdrücke abgenommen wurden. Später mußte ich das noch häufiger machen und gewöhnte mich daran, aber das erste Mal war einfach schrecklich! Sie packten meine Hand und preßten den Daumen auf das Stempelkissen. Auf den Daumen folgten erst die Finger der einen und dann die Finger der anderen Hand. Ich hatte das Gefühl, schon überführt worden zu sein, obwohl ich mir keiner Schuld bewußt war – unter Hochverrat konnte ich mir überhaupt nichts vorstellen. Natürlich bekam ich es mit der Angst zu tun, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich hatte einfach keine Ahnung, was mich erwartete. Daß ich den Tag im Gefängnis verbringen würde, war mir klar. Doch die Tragweite
des Wortes ‹Hochverrat› erfaßte ich irgendwie nicht. Hochverrat konnte Hängen bedeuten! Ich wurde zu meinem Büro gebracht, das ebenfalls durchsucht werden sollte. Dort hatte ich wenigstens ein paar Minuten Zeit, in Gegenwart der Polizei ein paar Vertretungen zu organisieren, für wie lange wußte ich nicht. Zum erstenmal konnte ich mit jemandem sprechen – von meiner Wohnung aus hatte ich kein Gespräch führen dürfen. In Südafrika ist zwar jeder bis zum Beweis des Gegenteils erst einmal unschuldig, aber diesen Eindruck hatte ich überhaupt nicht! Die Polizeieskorte und die Abnahme meiner Fingerabdrücke vermittelten mir einen Eindruck von dem, was ich war: eine Gefangene. Von meinem Büro fuhren wir zu der Hauptwache, wo ich ein paar meiner Freunde entdeckte, obwohl man uns getrennt hatte, die Schwarzen von den Weißen, die Männer von den Frauen. Keiner wußte, daß im ganzen Land Verhaftungen durchgeführt worden waren. Dann sah ich Robert. Er wirkte arrogant, herausfordernd, ja beinahe schon triumphierend. Auch Lilian und Bertha waren unter den Verhafteten, wie ich später erfuhr. Im Lauf des Nachmittags wurden wir zum Magistrat gebracht, wo man uns in verdreckten, unterirdischen Zellen festhielt, bis dann jeweils ein Dutzend dem Richter vorgeführt und des Hochverrats angeklagt wurde. Anscheinend war ich die einzige Weiße, die festgenommen worden war, obwohl ich gehört hatte, daß Yetta Barenblatt, die Generalsekretärin des Kongresses der Demokraten, von der Polizei in ihrem Büro festgehalten wurde. Wir waren gerade in die für Schwarze und Weiße getrennten Polizeiwagen verfrachtet worden, als die Tür aufging und Yetta zu den fünf weißen Männern und mir hereingeschubst wurde. Obwohl es mir natürlich leid tat, daß
man sie verhaftet hatte, war ich doch froh, nicht allein in dem Frauengefängnis zu sein. Wir wurden zu dem Fort gebracht, dem berüchtigten Gefängnis von Johannesburg, das sich hoch oben auf einem Hügel befindet; dort verabschiedeten wir uns von den Männern, und Yetta und ich marschierten, unsere Koffer in der Hand, zur Frauenabteilung. Als wir dann schließlich in unsere Zellen eingewiesen wurden, entdeckten wir, daß uns bereits drei Frauen erwarteten; zwei kamen aus Durban, eine aus Kapstadt. Ihre Berichte, daß man sie zusammen mit vielen anderen in einem großen Militärflugzeug hierher transportiert habe, ließen nur einen Schluß zu – die Verhaftungswelle betraf das ganze Land, und die Lage schien sich wirklich zuzuspitzen. Waren wir wirklich so gefährlich? Bevor wir wieder vor den Richter kamen, saßen wir erst einmal sechzehn Tage ab. Inzwischen belief sich die Zahl der angeblichen Verräter auf hundertsechsundfünfzig. In dem Frauengefängnis hatte man uns in einer ganz geräumigen und komfortablen Zelle untergebracht. Mit Ruth First, die nach ein paar Tagen zu uns stieß, waren wir zu sechst. Einmal gelang es uns, einer Wärterin zu entwischen und unsere schwarzen Schwestern ausfindig zu machen. Sie saßen auf dem Steinfußboden in winzigen, dunklen Löchern. Die Türen standen auf, und wir sahen, daß sie nur eine Matte zum Schlafen hatten. Wir konnten sie nur kurz begrüßen, dann mußten wir zurück in unseren Trakt; wir hatten jedoch genug gesehen, um uns beschämt zu sagen, daß wir es sehr viel besser hatten in unserer großen, hellen Zelle, die Betten, Stühle und sogar einen Schrank aufwies. Obwohl wir uns sehr gefreut hatten, sie wiederzusehen, war das doch ein ziemlicher Schock für uns. Das Essen war eigentlich kein Problem. Als Untersuchungshäftlinge durften wir uns unser Essen bringen
lassen. Wir bekamen häufig Besuche von Freunden und Rechtsanwälten und erfuhren, daß wir vielleicht noch vor Weihnachten gegen Kaution freigelassen würden. Nach vierzehn Tagen Gefängnis, als es nur noch eine Woche bis Weihnachten war, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Ich hatte mir vor kurzem ein kleines Haus gekauft, da ich nicht mehr in einer Mietswohnung leben wollte. Am 1. Januar sollte ich dort einziehen. Ich freute mich schon auf meinen Garten, vor allem aber darauf, meine schwarzen Freunde empfangen zu können, ohne daß Nachbarn oder neugierige Hauswarte sie mißtrauisch musterten. Es war zwar nicht verboten, schwarze Besucher zu haben, aber man machte sich verdächtig, und für die Polizei war das Anlaß genug, sich für einen zu interessieren. Daß wir des Hochverrats angeklagt waren, schien uns zunächst überhaupt nicht zu kümmern. Wir wußten, daß darauf die Todesstrafe stehen konnte, aber ich erinnere mich nicht, daß wir jemals darüber sprachen, obwohl uns das bestimmt auch durch den Kopf gegangen sein muß. Selbst im Gefängnis erschien es uns völlig absurd, unsere Aktivitäten, unsere gewaltlosen Strategien mit Hochverrat in Verbindung zu bringen. Unsere Rechtsberater jedoch nahmen die Sache ernster. Bald spürten wir auch, was es bedeutete, eingesperrt und von Freunden und Familie abgeschnitten zu sein, die man nur während der Besuchszeit durch ein Gitter hindurch sehen und sprechen konnte. Wir fanden es unerträglich, daß wir zu bestimmten Zeiten eingesperrt und zu bestimmten Zeiten wieder herausgelassen wurden und daß Punkt acht Uhr das Licht ausging. Ich glaube, für mich war es leichter als für die anderen, weil ich all diese Jahre in den Camps der Luftwaffe verbracht habe. Vieles erinnerte mich an meine ersten Wochen im Camp, einschließlich der Blechteller. Eigentlich bin ich im Gefängnis
eher aufgeblüht, denn zum erstenmal kam ich wieder in den Genuß von regelmäßigen Mahlzeiten und ausreichendem Schlaf, etwas, was meine politische Tätigkeit nie zugelassen hatte. Außerdem hatte ich keinen Mann und keine Kinder, um die ich mir Sorgen machen mußte. Wir wischten den Boden unserer Zelle auf und kicherten, wenn wir einander auf den Knien herumrutschen sahen. Da wir nichts zu tun hatten, lebten wir von einem Besuchstag auf den nächsten und warteten darauf, gegen Kaution freigelassen zu werden. Obwohl der Kontakt mit den anderen Gefangenen des Forts, die auch auf ihren Prozeß warteten oder eine Strafe verbüßten, verboten war, wußten wir doch, daß wir bei unseren Mitgefangenen ein hohes Ansehen genossen, auch wenn sie nicht wußten, was Hochverrat eigentlich bedeutete. Wir selbst fanden es auch keineswegs eine Schande, aus politischen Gründen einzusitzen. Im Gegenteil, wir waren stolz darauf. Sonia Bunting aus Kapstadt, Jackie Arenstein und Dorothy Shanley aus Durban, Ruth, Yetta und ich aus Johannesburg verbrachten mehr als zwei Wochen in einer Zelle. Die einzige Unterbrechung waren die Runden im Hof, dessen frisches Gras und blühende Blumen mich immer wieder aufs neue entzückten. Drei Jahre lang hatte ich versucht, meine Angst vor dem Gefängnis zu überwinden, obwohl ich wußte, daß ich eines Tages vielleicht diese Erfahrung machen würde. Als ich dann drin war, war es gar nicht so schlimm. Ich bemerkte sehr bald, daß ich mich in der Gesellschaft hochkarätiger und ideologisch geschulter linker Aktivistinnen befand, die sich u. a. auch für die Befreiungsbewegung engagiert hatten, während es für mich eigentlich nur die Befreiungsbewegung gab, alles übrige rangierte danach. Was die politische Schulung betraf, waren Ruth und Jackie wohl allen übrigen überlegen, obwohl auch Sonia, Dorothy und Yetta langjährige Mitglieder der kommunistischen Partei
waren. Ich gehörte eigentlich nicht in diese politischen Kreise, verstand mich aber sehr gut mit ihnen. Ruths scharfer Verstand schüchterte mich zwar immer etwas ein, dafür bewunderte ich aber um so uneingeschränkter ihre wahrhaft damenhafte Voraussicht, elegante, schwarze Unterwäsche mitzubringen, während die übrigen ihre ältesten Sachen eingepackt hatten. Am 21. Dezember mußten wir wieder vor Gericht erscheinen. Für diesen öffentlichen Auftritt bügelten wir selbst im Gefängnis unsere Kleider. Wir mußten in dem vorderen Teil eines riesigen Polizeiwagens Platz nehmen und fuhren dann zu dem Trakt der männlichen Gefangenen, wo unsere Freunde zustiegen. Sie wurden in dem hinteren Teil untergebracht. Kleine, vergitterte Fenster hinderten uns daran, etwas von den Straßen zu sehen. Als wir uns dem Gericht näherten, konnten wir doch die riesige Menschenmenge ausmachen, die sich auf den Bürgersteigen und selbst noch auf der Straße drängte. Sie brandete gegen unseren Wagen und brachte ihn zum Schaukeln, während er sich langsam seinen Weg in den Hof bahnte. Die Menge blieb singend und winkend vor dem eisernen Tor stehen, das sich wieder hinter uns schloß. Der erste Teil unseres Prozesses fand in der Johannesburger Drill Hall statt, weil es einfach keinen anderen Gerichtssaal gab, in dem hundertsechsundfünfzig Angeklagte Platz gefunden hätten. Die Armee, schon seit eh und je der beste Verbündete der Polizei, hatte ihre große Exerzierhalle zur Verfügung gestellt, und daraus wurde dann der Gerichtshof mit mehreren Sitzreihen für die Angeklagten, Tischen und Stühlen für die Rechtsanwälte, einem Podium für den Magistrat und kaum noch Platz für das Publikum. An diesem Tag kam es noch zu ein paar brutalen Gewaltaktionen der Polizei; als die Menge unaufhaltsam in die Drill Hall drängte, wo ihre Führer und häufig auch ihre Verwandten vor Gericht standen, fing die Polizei einfach an,
auf die Leute zu schießen. Hilflos und handlungsunfähig saßen wir auf unseren Bänken. Wir hörten die Schüsse und wußten nicht, wie viele verletzt oder getötet worden waren. Später erfuhren wir, daß es über zwanzig Verletzte, aber keine Toten gegeben hatte. Es war ein weiteres Beispiel dafür, wie schnell die Polizei die Kontrolle verlor. Weiße Polizisten tragen in Südafrika immer eine Waffe bei sich und zögern nicht, davon Gebrauch zu machen. Während der Voruntersuchung herrschte ein unglaubliches Chaos. Die Inhaftierten begrüßten ihre Freunde und Familien, umarmten Frauen und Kinder, bis man sie zu den Sitzreihen eskortierte; dort stellten sie fest, daß sie kein einziges Wort verstanden von dem, was gesagt wurde. Anscheinend hatte man nicht bedacht, daß eine entsprechende Anlage erforderlich war, damit hundertfünfzig Angeklagte der Verhandlung folgen konnten und auch das Publikum etwas mitkriegte. Schließlich war der Prozeß ja öffentlich. Und so chaotisch wie der Tag angefangen hatte, endete er auch. Da die Kaution noch nicht ausgehandelt worden war, mußten wir am Nachmittag wieder zum Fort zurück. Die wartende Menge hielt Transparente hoch mit dem Slogan «Wir stehen zu unseren Führern» und sang für uns ihre Freiheitslieder, während die Polizeiwagen sich langsam einen Weg zur Straße bahnten. Als wir am nächsten Tag in der Drill Hall ankamen, fanden wir einen riesigen Drahtkäfig vor, der aussah, als käme er vom Zoo. Wir sollten darin Platz nehmen, damit wir keinen Kontakt zum Publikum oder der Presse aufnehmen konnten. Wir lachten nur, aber unser Anwaltsteam war empört über diese Beleidigung, die nicht nur ihren Klienten, sondern auch ihnen zugefügt worden war, da sie nun nicht mehr in der Lage waren, mit uns, den wilden Tieren, zu konferieren. Rechtsanwälte, Rechtsberater und Verteidiger drohten, ihr Mandat
niederzulegen, wenn der Käfig nicht entfernt würde, und erst nachdem sie die Zusicherung erhalten hatten, daß der Käfig vor unserem nächsten Erscheinen abgebaut würde, erklärten sie sich bereit, zu bleiben. Auch das Publikum protestierte lautstark; als wir dann aber an dem Käfig Zettel anbrachten mit Aufforderungen wie «Bitte nicht füttern!», «Gefährlich!», «Keine Nüsse für die Affen!» schlug der Protest in Gelächter um. Wir hörten uns die Anklageerhebung an. Sie wurde von Oswald Pirow durchgeführt, ehemaliger Justizminister und einer der prominentesten Parteiköpfe der Nationalisten, der schon Solly Sachs erbarmungslos verfolgt hatte und jetzt auch uns zur Strecke bringen wollte. Mit Donnerstimme beschuldigte er uns der Aufwiegelung und revolutionärer, ja gewaltsamer Umsturzversuche. Wie der bei den Durchsuchungen angeführte Verdacht auf Hochverrat klang das alles ziemlich absurd und an den Haaren herbeigezogen. Was hatten wir mit Hochverrat zu tun? Unsere Anwälte erreichten schließlich nach einem harten Kampf, daß unsere Kaution herabgesetzt und wir freigelassen wurden. Sie betrug 250 Pfund für Weiße, 100 Pfund für Inder und Farbige und 50 Pfund für Schwarze. Offensichtlich spielte auch bei Hochverrat die Hautfarbe eine Rolle. Verglichen mit den astronomischen Summen, die in späteren Prozessen verlangt wurden, schienen wir doch nicht so gefährlich zu sein. Oder waren sie vielleicht gar nicht so begeistert von der Aussicht, jeden einzelnen von uns vor Gericht zu stellen? Die Ausstellung der zu unserer Freilassung notwendigen Papiere war eine langwierige Angelegenheit. Immer noch in polizeilichem Gewahrsam, wurden wir zum Magistrat gebracht, und von fünf Uhr nachmittags bis neun Uhr abends war ein Team von Richtern damit beschäftigt, einen nach dem andern abzufertigen, bis dann schließlich ich an die Reihe kam.
Beinahe wäre ich noch eine Nacht länger im Gefängnis geblieben, nicht weil ich besonders gefährlich war, sondern weil ich meinen Paß nicht vorweisen konnte. Ich wußte, daß er in dem Safe meines Büros war, aber nur der Generalsekretär des Industrial Council hatte den Schlüssel dazu. Da es der 21. Dezember war und überall Weihnachtspartys stattfanden, wußte niemand, wo er sich gerade aufhielt. Als sie mich schließlich auf die Polizeistation brachten, weil es für das Gefängnis bereits zu spät war, kam dann doch noch mein Paß, und ich war endlich frei und konnte Weihnachten zu Hause verbringen. Im Januar 1957 fanden wir uns wieder in der Drill Hall ein. Der Käfig war entfernt worden, und unsere Sitze waren numeriert. Irritiert stellte ich fest, daß ich die Nummer 13 hatte, aber daran ließ sich nichts ändern. Mit den hundertsechsundfünfzig Angeklagten war die Drill Hall schon fast voll, nur weiter hinten waren noch einige Plätze, die man, nach Sitzen für Schwarze und nach Sitzen für Weiße getrennt, aufgestellt hatte, wie wir empört feststellten. Die Angeklagten jedoch waren nach ihren Herkunftsorten aufgeteilt. An erster Stelle kam Johannesburg, das mit seinen siebenundsiebzig Personen beinahe die Hälfte aller Angeklagten das größte Kontingent darstellte. Wir waren in alphabetischer Reihenfolge gesetzt worden, und ich befand mich zwischen Jack Hodgson, einem Mitglied des Demokratischen Kongresses und Paul Joseph, einem Mitglied des Indischen Kongresses. Daß eine Weiße und ein Farbiger denselben Familiennamen hatten, führte gelegentlich zu Verwechslungen, aber bei weitem nicht so häufig wie in dem Fall der beiden identischen Zwillinge, Norman und Leon Levy. Als die Zeugen der Polizei ihre Identität feststellten, führte das zu einem heillosen Durcheinander.
Als der Prozeß begann, wurde in Alexandra Township der große Busboykott organisiert. Alexandra Township («Alex» genannt) war damals eine überbevölkerte, ungefähr fünfzehn Kilometer von dem Zentrum entfernte schwarze Township. Es war nicht ihr erster Boykott: Bereits 1943 waren 15 000 Leute über fünfzehn Kilometer zu Fuß von und zu ihrer Arbeit gegangen, weil sie die Fahrpreiserhöhung von einem Penny nicht bezahlen konnten und auch nicht wollten. Ich war damals als WAAF-Offizier in Union Grounds in Johannesburg stationiert, das direkt an der Straße lag, die von Alex in die Stadt führt. Ich sah sie, die Waschfrauen mit ihren riesigen Wäschebündeln auf dem Kopf, die Fabrikarbeiter, die fünfzig Stunden in der Woche arbeiteten, die alten Männer und die Kinder; neun Tage lang gingen sie bei jedem Wetter auf die Straße – und sie haben gesiegt! Der alte Fahrpreis von vier Pence wurde beibehalten, und das war eigentlich schon viel mehr, als die unterbezahlten Arbeiter sich leisten konnten. Ein Jahr später marschierten sie dann wieder. Ich sah dieselbe Entschlossenheit auf den Gesichtern, eine Entschlossenheit, die stärker war als ihre Erschöpfung: Sieben Wochen haben sie jeden Tag über dreißig Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Ich war beeindruckt von dem passiven Widerstand dieser Leute, denen man jedes Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen hatte. Sie lebten in den erbärmlichsten Verhältnissen, arbeiteten für extrem niedrige Löhne und wohnten fünfzehn Kilometer von ihrem Arbeitsplatz entfernt, weil die Weißen sie nicht in ihrer Nähe haben wollten. Sie mußten sich in überfüllte Busse quetschen, für die sie stundenlang anstanden und jeden Tag acht Pence bezahlten. Eine Fahrpreiserhöhung von zwei Pence provozierte ihren Widerstand. Sie wollten nicht bezahlen, weil ihr Lohn zu niedrig war, als daß sie sich diesen Extra-Schilling pro Woche leisten konnten.
Der Boykott war erfolgreich, und bis 1957 blieben die Fahrpreise konstant. Dann gingen die Bewohner von Alex jedoch wieder zu Fuß, da sie sich weigerten, einen Penny mehr zu bezahlen. «Asikwelwa!» riefen sie. «Wir fahren nicht!» Auch dieses Mal war ich wieder an ihrer Straße – tagein, tagaus sah ich an der Drill Hall die Leute vorbeimarschieren, es konnte noch so regnen oder stürmen, und die Straße konnte noch so verschlammt sein. Es war während der Sommermonate, und die Regenfälle fingen meistens schon nachmittags an. Während wir in der Drill Hall im Trockenen saßen und uns über unsere Transportmittel keine Gedanken zu machen brauchten, zog dieser Strom von Leuten in ihren triefendnassen Kleidern vorbei, mit denen sie auch am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen würden. Es gab auch hilfsbereite Weiße; wie schon beim erstenmal nahmen sie Leute in ihren Autos mit, aber die Verkehrspolizisten versuchten, das zu verhindern, indem sie die überbesetzten Autos anhielten, die Leute aussteigen ließen, ihnen drohten und manchmal sogar ein Strafverfahren anhängten. Sie wollten ihre Paßbücher sehen und schleppten sie auf die Polizeistation. Motorradfahrern wurden häufig die Ventile abgeschraubt. Meine Congress Connie war etwas klein für diese Aufgabe, aber für drei stattliche Damen gab es immer Platz. Ich bestand darauf, daß sie nur für Frauen sei, für die «Omis». Ich begriff, daß der Busboykott mehr als nur die Weigerung war, diesen Penny extra zu bezahlen. Es war vielmehr die einzige Waffe, die den Bewohnern von Alex zur Verfügung stand – die Waffe des Verzichts, der Entschlossenheit und eines ungebrochenen Muts, gegen die weder die Busgesellschaft noch ihr Verbündeter, die Polizei, etwas ausrichten konnte. Der Hochverratsprozeß ging 1957 weiter, und den Angeklagten blieb nicht mehr viel Zeit, ihrer Arbeit
nachzugehen, trotzdem setzten wir um so herausfordernder unsere politischen Aktivitäten fort. Am 23. April kamen mir bei meiner Ankunft in der Drill Hall zwei Beamte von der Sicherheitspolizei entgegen und händigten mir zwei Bannverfügungen aus: Die eine untersagte mir, Versammlungen zu besuchen (Zusammenkünfte privater Natur waren jedoch erlaubt), und die andere, den Johannesburger Gerichtsbezirk zu verlassen – und zwar für die nächsten fünf Jahre. Ich glaube, ich war an jenem Tag in Drill Hall nicht richtig bei der Sache. Ich starrte auf die Bann-Papiere und versuchte mir vorzustellen, was sie für mich bedeuteten. Der Bann bezog sich nicht auf Organisationen, aber das Verbot, Versammlungen zu besuchen, war noch strikter als die Kautionsbedingungen. Anscheinend hatte es dem Justizminister, Charles Robbertse Swart, dem späteren Staatspräsidenten von Südafrika, nicht genügt, mich Monat für Monat mit dieser Hochverratsklage in Atem zu halten. Er wußte natürlich genausowenig wie ich, daß allein schon der Prozeß vier von den fünf Jahren in Anspruch nehmen würde. Es war frustrierend, Johannesburg nicht verlassen zu können, um nach Pretoria, Ost- und Westrand und zu den abgelegenen Teilen von Transvaal zu fahren. Es bedeutete das Ende dieser Expeditionen, die ich mit Bertha und Robert unternommen hatte, um unsere Kampagne zu organisieren. Und mit den Frauen würde ich natürlich auch nicht mehr in Verbindung stehen. Erst nachdem ich mir die Bestimmungen etwas genauer angeschaut hatte, entdeckte ich, daß das Verbot, Johannesburg zu verlassen, erst nach sieben Tagen in Kraft treten würde. In der Mittagspause planten Robert, Bertha und ich eine hektische, mit Abschiedsbesuchen ausgefüllte Woche, obwohl wir natürlich wußten, daß ich die Frauen nach fünf Jahren
wiedersehen würde. Jeden Abend fuhren wir woandershin. Die Arbeit im Büro wollte ich danach aufarbeiten. Diese Woche war einfach zu kostbar, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Wir klapperten die Zusammenkünfte der Frauen ab, die immer in einem anderen kleinen Streichholzschachtelhäuschen stattfanden. Wir tranken Tee und aßen Kuchen und funktionierten die Meetings in Besuche um. Als wir am letzten Abend Bertha in Germiston abgesetzt hatten und schweigend nach Johannesburg zurückfuhren, lasteten die fünf Jahre Bann schon sehr schwer auf mir. Ich habe mir damals nicht klargemacht, wie glücklich ich mich schätzen konnte, daß bereits mehrere Jahre intensiver politischer Arbeit hinter mir lagen und daß ich jetzt, bei den Verhandlungen zum Hochverratsprozeß, täglich mit meinen Freunden und Kollegen zusammentreffen konnte. Aber ich wußte, daß vor mir schon andere gebannt worden waren und daß nach mir auch wieder Menschen gebannt würden. Ich war nur eine von vielen. Wir sind uns sehr nahegekommen in dem ersten Jahr des Prozesses, in dem die Voruntersuchungen durchgeführt wurden. Wir mußten nicht persönlich auftreten; die Staatsanwaltschaft trug das Beweismaterial zusammen und überließ dem Magistrat die Entscheidung, ob wir uns vor einer höheren Instanz verantworten müßten oder ob das Verfahren eingestellt würde. Wir führten praktisch zwei Leben, wobei unsere Organisation und unser gemeinsamer Kampf immer wichtiger für uns wurden. Der Versuch, uns von unseren Überzeugungen abzubringen, hatte genau das Gegenteil bewirkt, da beinahe sämtliche Kongreßführer vereint waren und täglich miteinander konferieren und Pläne für die Zukunft schmieden konnten.
Am 31. Dezember zog ich in mein kleines Häuschen mit den hohen Bäumen. Ich freute mich, ein eigenes Heim zu haben, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie lange ich darin leben würde. Viele meiner Freunde hatten mir bei meiner Verhaftung geraten, damit noch etwas zu warten, aber ich hörte nicht auf sie. Vielleicht wollte ich nur meinen Glauben an die Zukunft demonstrieren. Das Jahr zog sich hin, während ein Heer von Sicherheitspolizisten gegen uns aussagte und unsere Dokumente in die Gerichtsakten aufgenommen wurden, bis dann schließlich Professor Andrew Murray von der Cape Town University, ein Kommunismusexperte, auf den Plan trat. Er wurde von Vernon gewaltig in die Zange genommen; während er einen Schnitzer nach dem anderen machte, unterdrückten wir nur mühsam unseren Spott und unser Gelächter. Was er gegen uns vorbrachte, schien wirklich auf wackeligen Beinen zu stehen. Ende September wurde das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren bis Anfang des Jahres 1958 vertagt. Die Staatsanwaltschaft hatte endlich den Fall soweit abgeschlossen, und der Magistrat mußte sich durch den Wust von Beweismaterial durcharbeiten. Ich habe mich oft gefragt, wieviel er davon gelesen hat. Die auswärtigen Angeklagten kehrten zu ihren Familien zurück; die wenigen, die noch ihre Arbeit hatten, waren froh über diese Atempause; die anderen, die auf den Unterstützungsfonds für Hochverratsprozesse angewiesen waren, versuchten, vorübergehend einen Job zu finden, ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen. Trotzdem waren wir alle erleichtert, aus der Drill Hall herauszukommen, nicht mehr stundenlang auf den harten Stühlen sitzen zu müssen und das endlose Defilee der Zeugen und das Verlesen der Dokumente über uns ergehen lassen zu müssen.
Obwohl vierzehn ihrer Führerinnen von diesen Voruntersuchungen in Anspruch genommen worden waren und ich dazu auch noch gebannt war, war die Föderation Südafrikanischer Frauen sehr aktiv gewesen. Unser spezieller Gedenktag, der 9. August, war mit Demonstrationen gegen die Paßgesetze begangen worden, und wir hatten Tausende von Aufklebern gedruckt und verkauft – sie zeigten eine schwarze Mutter mit ihrem Kind auf dem Rücken. Trotz der Proteste und Kampagnen der Frauenliga und der Föderation waren in vielen Teilen des Landes Pässe ausgestellt worden. Außerdem waren die schwarzen Krankenschwestern aufgefordert worden, bei der Eintragung in das Register des Nursing Council ihre Ausweisnummer anzugeben. Daraufhin erhob sich allgemeiner Protest, denn die Voraussetzung dafür war, ein Referenzbuch – den verhaßten Paß – zu besitzen. Im Transvaal wurden Versammlungen organisiert, auf denen die Krankenschwestern empört erklärten: «Unsere Mütter waren Waschfrauen; sie haben dafür gesorgt, daß wir eine Ausbildung bekamen. Wir würden eher zu den Waschtrögen zurückgehen, als diese Pässe tragen.» Das waren mutige Worte, und die Föderation unterstützte die Krankenschwestern auch nach Kräften. Wir organisierten eine Demonstration, an der die Mütter der schwarzen Krankenschwestern teilnahmen; sie forderten ein Interview mit der Oberin eines riesigen, schwarzen Krankenhauses, dem Baragwanath-Krankenhaus, um gegen diese Regelung zu protestieren, die die Paßpflicht für ihre Töchter nach sich ziehen würde. Daß wir schon vor der Demonstration so viel Aufmerksamkeit erregten, lag wohl an den berühmten Protestaktionen, die wir in Pretoria durchgeführt hatten. Baragwanath war anscheinend durch die Ankündigung dieser Aktion in Panik versetzt worden, obwohl es allgemein bekannt
war, daß die Mütter eigentlich nur die Oberin mit ihrem Anliegen konfrontieren wollten. Die Demonstration sollte an einem Samstagmorgen stattfinden, und ich fuhr zu dem Krankenhaus, um zuzuschauen. Wegen der Bannbestimmungen durfte ich erst gar nicht in die Nähe kommen, aber um die Aktion auch nur von weitem verfolgen zu können, mußte ich schon ein paar Straßensperren umgehen. Der ganze Verkehr, der an dem Krankenhaus vorbeiging, war umgeleitet worden. Später erfuhren wir, daß alle nicht bettlägerigen Patienten für das Wochenende nach Hause geschickt worden waren. Auch dem Personal – abgesehen natürlich von den Ärzten – hatte man gesagt, sie sollten an jenem Samstagmorgen nicht kommen. Als ich näherkam, sah ich, daß vor dem Krankenhaus Polizei stand, bewaffnet wie üblich. Ihnen gegenüber, auf der anderen Straßenseite, standen ein paar hundert afrikanische Frauen, offensichtlich die für ihre Töchter demonstrierenden Mütter der Krankenschwestern. Es war ein heißer Tag, und sie hatten Schirme gegen die Sonne aufgespannt. Vielleicht dachte die Polizei, unter den Schirmen seien geheime Waffen versteckt. So wie sie sich meinen Augen darbot, wirkte die Situation eher lächerlich, da überall Polizisten und kaum Demonstranten zu sehen waren. Dann entdeckte ich die Vertreterinnen der Föderation in ihren grünen Blusen – wie üblich jeweils eine von den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Sie überquerten die Straße und gingen auf das Tor des Krankenhauses zu. Einen Augenblick lang hielt ich den Atem an – würde die Polizei eingreifen? Sie wurden jedoch eingelassen! Sie erklärten, daß sie mit der Oberin sprechen wollten, und wurden daraufhin in ihr Büro geführt und sehr höflich empfangen. Sie führten ein ziemlich langes Gespräch mit der Leiterin, die sich dann auch bereiterklärte, ihre Forderung, auf die
Ausweisnummern für Krankenschwestern zu verzichten, an den Nursing Council weiterzuleiten. Alles verlief sehr friedlich und ließ den Aufmarsch von Polizei völlig überflüssig erscheinen. Wie wir später erfuhren, hatten sie sogar Tränengaskanister hinter den Hecken des Krankenhauses versteckt. Für wen wohl? Für ein paar hundert Mütter, die von Soweto zu Fuß zu dem Krankenhaus gekommen waren. Presse und Öffentlichkeit mokierten sich. Die Frauen waren jedoch sehr würdevoll und respektheischend aufgetreten, und sie hatten erreicht, was sie wollten. Kurz darauf zog nämlich der Nursing Council seine Forderung wieder zurück.
Wir hatten von Anfang an gewußt, daß wir nach den Vorverhandlungen – einer Art Probelauf – an eine höhere Instanz verwiesen oder freigelassen würden, aber das schien in weiter Ferne zu liegen. Anfang des Jahres 1958 erfuhren wir, daß in fünfundsechzig Fällen die Anklage zurückgezogen worden war. Chief Luthuli, der Präsident des ANC, war einer davon. Ich gehörte jedoch zu denjenigen, die zur Hauptverhandlung erscheinen mußten. Alle übrigen waren nun offiziell des Hochverrats angeklagt; wir hatten uns «in feindlicher Absicht gegen die Regierung verschworen, uns staatsfeindlicher Umtriebe schuldig gemacht und andere dazu aufgewiegelt». Um zu diesem Schluß zu kommen, hatten sie länger als ein Jahr gebraucht! Ich glaube, wir haben die wenigste Zeit wirklich an Hochverrat gedacht; der Gedanke daran hatte sich irgendwie aufgelöst wie alles, was uns an Realem umgab. Bei mir war das zumindest so. Jetzt war er jedoch wieder sehr real geworden. Bevor wir uns trennten, mußten wir das Ritual der Kautionen wiederholen –
dieses Mal für den Obersten Gerichtshof. Unsere Zahl war inzwischen auf einundneunzig geschrumpft. Würde ich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen? Was auch immer geschehen würde – eines stand fest: Ich hatte mich dem Befreiungskampf mit Leib und Seele verschrieben. Ich gehörte zu der Elite meines Landes, und wo immer sie ihr Weg hinführte, ich würde ihr folgen. Es gab kein Zurück.
Der Prozeß
Während wir vor Gericht standen, näherten sich die mit der Ausstellung von Pässen beauftragten Einheiten allmählich Johannesburg. Sie hatten es aufgegeben, sich im voraus anzukündigen; sie erschienen einfach ohne Vorwarnung, und die Neuigkeit machte schnell die Runde. Johannesburg war offensichtlich ausgespart worden, da erst einmal die Randgebiete soweit gebracht werden sollten. Wie bei der Verweigerungskampagne wurden Gesetze erlassen, die den Widerstand gegen die Pässe brechen sollten. Die Schwarzafrikaner durften sich z. B. nicht mehr außerhalb ihrer Townships versammeln. Für die Föderation war das ein schwerer Schlag, denn die nichtafrikanischen Frauen konnten nur mit einer Sondergenehmigung an den Meetings in den Townships teilnehmen, während die afrikanischen Frauen nun nicht mehr zu den Versammlungen außerhalb der Townships kommen durften. Der erste Schachzug der Behörden war, die weißen Hausfrauen aufzufordern, ihre Hausangestellten «registrieren» zu lassen – eine irreführende Bezeichnung, die die dahintersteckende Intention, den schwarzen Frauen einen Paß aufzuzwingen, verschleiern sollte. Die weißen «Madams» fielen vielleicht noch darauf herein, ihre Hausangestellten jedoch wußten Bescheid, auch wenn sie genauso machtlos waren wie ihre Schwestern auf dem Land. Die Frauenliga des ANC und die Frauenföderation durchschauten dieses Manöver sofort. Innerhalb kürzester Zeit verbreiteten sie in den weißen Vororten Flugblätter, die darauf hinwiesen, daß noch kein Paßzwang für Frauen bestünde.
Die afrikanischen Frauen waren empört, und innerhalb weniger Tage marschierten Hunderte von ihnen auf die Paßbehörden, um zu protestieren. Sie wußten, daß ihre Demonstrationen verboten und ihre Meetings illegal waren, aber das hinderte sie nicht daran, ihrem Ärger Luft zu machen; es war eine spontane Reaktion auf ein ungerechtes Gesetz. Die ersten Demonstranten kamen aus Sophiatown und wurden, noch bevor sie die Paßbehörde erreichten, von der Polizei in Gewahrsam genommen. Daraufhin drängten die anderen Frauen in die Polizeistation, um mit ihnen zusammen inhaftiert zu werden. Auch die Frauen aus Soweto und Alexandra Township hatten sich inzwischen vor dem Gebäude versammelt. Ich mußte an diesem Tag nicht vor Gericht erscheinen, weil die Verhandlungen immer noch ausgesetzt waren. Ich war in meinem Büro, als ich davon erfuhr. Ich hatte nicht vor, gegen meine Bannbestimmungen zu verstoßen und mich ihrem Protest anzuschließen; es war ihre Aktion, ganz allein ihre Aktion. Aber ich wollte doch meine Solidarität beweisen und in ihrer Nähe sein – nicht nur, weil ich mich als Mitglied der Föderation dazu verpflichtet fühlte, sondern weil es auch meinem eigenen Wunsch entsprach. Ich machte mich also während meiner Mittagspause auf den Weg und hörte noch, wie ein älterer Security Branch-Detektiv mir nachzischte: «Da kommt diese Kommunistenkuh Helen!» Ich bewunderte den Mut der Frauen, als sie in die riesigen Polizeilastwagen verfrachtet wurden und sich gegenseitig beim Aufsteigen halfen. Singend und die Fäuste zum ANC-Salut erhoben, ließen sie sich abtransportieren. Allein das zu sehen, war ein Triumph. Sie wußten, daß sie gegen die Gesetze verstießen, aber sie hatten mit dieser Aktion ihren Protest gegen den Paßzwang laut und deutlich zum Ausdruck gebracht.
Bald waren 2000 Frauen in dem Fort, in dem die Vorverhandlungen zu unserem Prozeß stattgefunden hatten. Viele Frauen trugen ihre Babys auf dem Rücken, andere hatten sie an die Brust gelegt, einige waren schwanger. Die meisten arbeiteten in Fabriken oder in weißen Haushalten. Sie ließen sich auch nicht von dem Gericht einschüchtern und kehrten singend in ihre Zellen zurück, um ihre Strafen abzusitzen. «Keine Kaution, keine Geldstrafen!» erklärten sie. Es war ein von der Frauenliga organisierter Protest, der von der Föderation unterstützt wurde; wir taten alles, was in unserer Macht stand, um den von der Polizei festgehaltenen Frauen zu helfen, die noch auf ihre Verhandlung warteten. Die Polizei war tatsächlich nicht in der Lage, mit diesen Wagenladungen von Frauen fertig zu werden; sowohl das Essen wie auch die sanitären Verhältnisse waren völlig unzureichend. Mit den Milchkannen für die Säuglinge und dem Essen für die Frauen durfte ich eine der großen Polizeizellen betreten. Er war ergreifend und schockierend, all diese Frauen, dicht aneinandergedrängt, auf dem Steinfußboden der Zelle sitzen zu sehen. Außer dem pampigen Maisbrei, der ihnen auf dem Deckel eines Abfalleimers gebracht worden war, hatten sie nichts zu essen bekommen. Während die Babys vor Hunger schrien, lächelten ihre Mütter, als sie mich mit der Milch kommen sahen, stolz und entschlossen, durchzuhalten. Die Massenproteste und der Widerstand gegen die Pässe hielten drei volle Tage an. Am ersten Tag wurden in Johannesburg 584 Frauen verhaftet, am zweiten waren es 934 und am dritten 900. Kein Wunder, daß die Polizeizellen und die Gefängnisse brechend voll waren. Die Frauen gaben nicht auf. Sie waren entschlossen, ihre Gefängnisstrafen abzusitzen; ihre Männer drängten sie jedoch, nach Hause zu kommen, die Kinder zu versorgen und den
Haushalt zu erledigen. Der ANC glaubte nicht, daß die Frauen es längere Zeit im Gefängnis aushalten würden, da niemand sie darauf vorbereitet hatte; die Frauenliga und die Föderation hingegen hatten Vertrauen in die Frauen, auch wenn ihr Protest einer ganz spontanen Regung entsprungen war. In ihm kulminierte eine in den letzten Jahren aufgestaute Empörung über die Ausweitung der Paßgesetze auf die Frauen, vorbereitet durch Flugblätter, Meetings, Demonstrationen und Proteste. Der ANC machte jedoch auf einem Treffen mit Lilian und mir seinen Einfluß geltend, und wir mußten nachgeben. Zuerst waren wir enttäuscht und auch etwas verärgert; wir waren jedoch diszipliniert genug, um uns zu sagen, daß wir nicht die ganze Befreiungsbewegung ausmachten. Rebellionen unsererseits waren nicht vorgesehen, und es kam auch zu keinen. Kautionen und Geldstrafen wurden bezahlt, und die Frauen kehrten zu ihren Männern und Kindern zurück.
Im August 1958 begann die Hauptverhandlung. Die Regierung wollte uns aus Johannesburg heraushaben, um zu vermeiden, daß sich wie zu Beginn der Vorverhandlungen eine aus Afrikanern bestehende Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude versammelte. Der Prozeß wurde also nach Pretoria verlegt, weil es dort sehr viel weniger Schwarze und vor allem auch weniger schwarze Anhänger des ANC als in Johannesburg gab. Pretoria ist fünfzig Kilometer von Johannesburg und beinahe achtzig Kilometer von Soweto entfernt, in dem die meisten afrikanischen Angeklagten lebten; auch die Angeklagten aus den anderen Teilen des Landes waren dort untergebracht. Keiner von uns lebte in Pretoria. Die Regierung hatte uns einen überdimensionalen Bus zur Verfügung gestellt, der seine Hochverrats-Passagiere in Soweto abholte, um mit ihnen eine
lange, anstrengende Fahrt von beinahe hundertundsechzig Kilometern zu unternehmen – und das jeden Tag. Anfangs, als wir noch 156 Angeklagte gewesen waren, hatte man uns in der Johannesburger Drill Hall untergebracht, einem militärischen Gebäude, groß genug für uns alle. Aber obwohl unsere Zahl sich inzwischen auf 91 verringert hatte, war unsere Unterbringung immer noch ein Problem, weil es in dem Obersten Gerichtshof von Pretoria keinen Saal für so viele Personen gab. Es gab jedoch die Alte Synagoge, ein reichverziertes Bauwerk, das von der jüdischen Gemeinde schon längst nicht mehr benutzt wurde. Sie stand also leer, außerdem war sie zentral gelegen, sehr geräumig und hatte eine Galerie – genau das Richtige für uns! Offiziell wurde daraus ein «Sondergerichtshof», obwohl sich nichts an dem Charakter der Synagoge verändert hatte. Wir zogen also von einer Exerzierhalle in eine Synagoge um – und das alles im Namen der Gerechtigkeit. Die zusätzliche Fahrerei machte es für mich schwieriger, meine schon sehr «flexible» Arbeitszeit beizubehalten. Stanley Lollan von der Organisation Südafrikanischer Farbiger, auch einer von den noch übriggebliebenen Angeklagten, sah sich mit dem gleichen Problem konfrontiert. Er arbeitete in demselben Büro wie ich, und wir mußten beide regelmäßig sechsunddreißig Stunden in der Woche nachholen. Wenn die Verhandlungen vertagt wurden, konnten wir vorübergehend unsere normalen Bürostunden einhalten. Ich machte mir einen neuen Zeitplan ebenso wie Stanley, wir waren schließlich beide auf unseren Job angewiesen. Wir fingen jetzt morgens um halb sieben an und arbeiteten bis acht Uhr. Robert Resha, ein Reporter, war bis dahin auch mit seiner Frühschicht fertig und traf uns, wenn wir unser Büro verließen. Nelson Mandela mußte von Soweto bis zu seiner Kanzlei am anderen Ende der Stadt fahren, um morgens noch
ein paar Stunden arbeiten zu können. Er wartete auf uns an der Straße nach Pretoria, wo er sein Auto bis zum Abend abstellte. Die restliche Strecke legten wir dann gemeinsam in einem Auto zurück; häufig nahmen wir auch noch jemanden mit. Der Bus war nämlich viel zu langsam und zu umständlich, und wir wollten so wenig Zeit wie nur möglich auf die Fahrerei verwenden. «Congress Connie» wäre zu klein und zu langsam für diese Blitzfahrten zwischen Johannesburg und Pretoria gewesen. Ich plünderte also mein Konto und kaufte ein schnelles, französisches Auto, das wir «Treason Trixie» nannten. Das Gericht machte um vier Uhr Schluß, wir konnten also schon vor fünf wieder in unseren Büros sein. Um neun Uhr abends schlossen Stanley und ich die riesigen, leeren Büroräume ab, in denen wir seit fünf Uhr allein gearbeitet hatten. Um sieben machten wir gewöhnlich eine kurze Pause, aßen eine Fleischpastete und tranken Kaffee, damit wir nach unserem Fünfzehn-Stunden-Tag nicht auch noch zu Hause kochen mußten. Woher wir die Kraft und die Ausdauer nahmen, weiß ich auch nicht, aber irgendwie schafften wir es und behielten unsere Jobs. Ich hatte mich mit meiner Sekretärin abgesprochen, und sie hatte immer noch etwas Zeit für mich, bevor ich morgens das Büro verließ. Sie war wirklich sehr hilfsbereit und sehr tüchtig, obwohl sie meine politischen Ansichten nicht teilte. Ihre Hilfsbereitschaft war rein persönlicher Natur, und ich rechnete ihr das hoch an. Die Vertagungen kamen uns sehr gelegen, und ich freute mich insgeheim immer darüber, obwohl unsere Mitangeklagten sie verwünschten, weil dieser endlos lange Prozeß dadurch nur noch länger wurde. Auf unseren täglichen Fahrten zwischen Pretoria und Johannesburg lernte ich auch Nelson Mandela näher kennen.
Ich kannte ihn natürlich als ANC-Führer, aber nicht als jemanden, der neben mir saß, während ich fuhr. Da er so groß war und so lange Beine hatte, mußte er nämlich immer vorne sitzen. Vor Gericht war er Nelson Mandela, Führer des Afrikanischen Nationalkongresses, eine hochgewachsene, stolze und sehr eindrucksvolle Erscheinung. Seine dunklen, durchdringenden Augen konnten je nachdem sehr groß und ernsthaft wirken oder sich über seinen hohen Backenknochen zu so schmalen Schlitzen verengen, daß er beinahe orientalisch aussah. Sein ansteckendes Lachen und sein strahlendes Lächeln siegten jedoch sehr häufig über seine würdige Zurückhaltung. Er besaß diese einzigartige Eigenschaft, einem gleichzeitig das Gefühl von Nähe und Distanz zu vermitteln. Bei seinem Charisma ist es auch kaum verwunderlich, daß er selbst nach zwanzig Jahren Robben Island, dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Südafrikas, populärer ist als jeder andere. Mandela ist der Führer des südafrikanischen Befreiungskampfes, respektiert und verehrt nicht nur von seinen Mitgefangenen und dem Afrikanischen Nationalkongreß, sondern von Tausenden von Schwarzen und Weißen auf der ganzen Welt. In unserem Auto war er jedoch einfach nur Nelson – Nelson, mit dem wir zusammen lachten und Pfirsiche aßen, die wir unterwegs am Straßenrand kauften. Auch sonst verband uns sehr viel: lange, politische Diskussionen, Kommentare über den Prozeß, den wir inzwischen schon als eine Art Lebensform akzeptiert hatten. Ich erinnere mich an keine Klagen, keine Beschwerden. Manchmal machten wir Witze über unsere Zukunft, und ich lamentierte: «Für euch Männer ist ja alles in bester Ordnung, ihr könnt euch eine Zelle teilen, während sie mich zu den Giftmischerinnen stecken werden, denn das sind die einzigen Weißen, die für längere Zeit ins Gefängnis wandern!» Manchmal erzählte uns Nelson auch von seiner
Kindheit in der Transkei, von den Traditionen und sogar von den Initiationsriten. Unsere gemeinsamen Fahrten waren immer sehr vergnüglich. Wir suchten uns an der Straße nach Pretoria Häuser aus, in denen wir einmal leben wollten. Nelsons Haus war schlicht und eher klein. Wir meinten, nicht einmal seine Aktentasche würde darin Platz finden. Roberts Haus hingegen war äußerst seltsam – es glich einer Reihe aneinandergebauter, schrumpfender Hundehütten. Er ließ sich jedoch nicht davon abbringen. Erklären konnte er seine Wahl auch nicht, obwohl wir ihn häufig damit neckten, daß wir erst einmal genug von Ketten hätten – von Hundeketten wie von allen andern –, wenn wir wieder in Freiheit wären. Das Haus mit dem gepflegten Garten und dem hübschen, grünen Rasen, das ich mir ausgesucht hatte, wurde von Nelson als «zu bourgeois» bezeichnet. Ich verteidigte mich, indem ich auf seine grünschwarz-gelbe Farbkombination hinwies, die Farben des Kongresses. Auch für «Kathy», Ahmed Kathrada, den indischen Junggesellen, der häufig mit uns fuhr und immer so vergnügt war, suchten wir ein Haus aus. Es war eine hübsche Villa mit zwei großen Seitenflügeln «für seinen Harem»! Inzwischen fahren nur noch wenige Autos auf der alten Landstraße nach Pretoria; ich nehme sie jedoch manchmal, um mir unsere Häuser anzuschauen. Sie ist mir lieber als die Schnellstraße, mit der ich nichts verbinde. Unsere Häuser stehen noch, aber Nelson und Kathy sind zu lebenslänglichen Strafen in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt, und Robert ist tot. Ich weiß, daß auch Nelson sich manchmal an diese Fahrten erinnert, denn in einem seiner Briefe von Robben Island schrieb er, daß er wieder einmal mit mir zu einer Synagoge fahren wollte! Ich habe sofort begriffen, was er damit meinte.
Der Prozeß begann zwar schon im August, aber wir verloren drei Monate mit Vorbereitungen und sonstigen Formalitäten – unser Verteidiger wollte erreichen, daß die Anklage überhaupt verworfen würde, während die Staatsanwaltschaft irgendwelche Klageänderungen vorschlug. Mit der Ausnahme von ein paar wenigen Angeklagten, die sich in dieser Materie auskannten, wie zum Beispiel Nelson Mandela, Joe Slovo und Duma Nokwe, verstand das natürlich keiner von uns. Ende Oktober zog die Staatsanwaltschaft ihre Anklage tatsächlich zurück, jedoch nur, um etwas Neues auszuhecken; wir waren also doch nicht frei. Wir waren zwar nicht im Gefängnis, weil unser Prozeß noch in der Schwebe war und wir Kaution hinterlegt hatten, aber wir waren auch nicht richtig angeklagt, weil die Anklage noch nicht zufriedenstellend formuliert worden war. Die einundneunzig Angeklagten befanden sich in einer ziemlich komischen Situation, eine Situation, die noch komischer werden sollte, als wir in drei Gruppen unterteilt wurden: Dreißig von uns sollten im Januar 1959 vor Gericht erscheinen und die restlichen zwei Gruppen am 24. April. Auf welchen Kriterien die Auswahl beruhte, erfuhren wir nicht – und wir haben es auch später nie erfahren –, es bedeutete jedoch eine Verschnaufpause von zwei Monaten. Nelson, Walter Sisulu, Robert, Lilian, Stanley und ich befanden uns unter den Firstliners», wie man uns nannte. Es sah so aus, als würde die Entscheidung, was mit den restlichen einundsechzig geschehen sollte, davon abhängen, ob wir freigesprochen oder für schuldig erklärt würden. Die Staatsanwaltschaft schien wirklich der Meinung gewesen zu sein, unser Prozeß wäre in vier Monaten abgeschlossen, da er ja erst nach Weihnachten beginnen sollte. Eine Fehlkalkulation, wie sich herausstellte.
Im Januar 1959 hatten die dreißig Angeklagten sich wieder in der Synagoge, dem «Sondergerichtshof», eingefunden. Unsere Verteidiger hatten eine Rückverlegung des Prozesses nach Johannesburg beantragt, um sich und den Angeklagten die langen Anfahrtszeiten zu ersparen. Sie begründeten ihren Antrag damit, daß sie sonst kaum in der Lage wären, sich mit ihren Klienten zu beraten. Sie hatten jedoch keinen Erfolg damit gehabt, und wir saßen also wieder in dem jüdischen Gotteshaus. Der Davidstern hing hoch über der Tribüne, auf der sich die Richter in ihren roten Roben niedergelassen hatten, um noch zwei weitere Jahre lang den Vorsitz zu führen. Richter Rumpff, Richter Bekker, Richter Kennedy – alles bekannte Gesichter für uns, obwohl wir nie ein Wort mit ihnen wechselten oder auch nur guten Tag sagten. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich mich noch für eine weitere Sache engagieren könnte in meinem von dem Prozeß, der Fahrerei, der Arbeit und der Föderation ausgefüllten Leben. Aber dann erging ganz überraschenderweise diese Aufforderung an mich, die eine ziemlich seltsame Vorgeschichte hatte. Schon während der Vorverhandlungen hatte ich angefangen, alles doppelt zu sehen; zum Beispiel sah ich zwei Amtsrichter und manchmal auch zwei Gerichtsdiener mit den Akten hereinkommen. Ich wußte jedoch, daß es immer nur einer war. Ein Augenarzt riet mir, zu lesen, zu stricken, ab und zu die Augen zuzukneifen, damit ich nicht immer nur geradeaus starrte. Da ich in der ersten Reihe saß, konnte ich jedoch weder die Augen zusammenkneifen, noch mein Strickzeug herausholen, aber ich brachte mir Arbeit aus dem Büro mit. In Pretoria saß ich auch wieder in der ersten Reihe, inzwischen als Angeklagte Nummer zwei, und in dieser sehr viel förmlicheren Atmosphäre konnte ich weder mit einem Stoß Akten ankommen, noch mit den Stricknadeln klappern,
und die Anzahl der Briefe, die ich zu schreiben hatte, war auch begrenzt. Lesen machte mich müde. Ich beschloß also, einen Schreibblock mitzubringen und mir Notizen zu dem Prozeß zu machen, um nicht immer auf die drei Richter starren zu müssen, die sich nach einer Minute verdoppelt hatten – aber wohin sollte ich schauen? Drei Richter reichten, sechs waren einfach unerträglich. Während der Vorverhandlungen und dem ersten Teil des Prozesses hatte einer der Angeklagten, Lionel Forman, der selbst Jurist und ein brillanter Journalist war, wöchentliche Zusammenfassungen über den Verlauf des Prozesses geschrieben, die dann von dem Fonds zur Unterstützung des Hochverratsprozesses verbreitet wurden. Aber Lionel war nicht mehr mit von der Partie, er gehörte nicht zu den dreißig. Mein ständiges Gekritzel war den anderen aufgefallen, und ich wurde gebeten, diese wöchentlichen Zusammenfassungen zu schreiben. Das war gar nicht so einfach, weil ich ständig bei der Sache sein mußte, aber ich war zumindest beschäftigt und mußte mich mit den Dingen auseinandersetzen. Am Wochenende tippte ich dann das, was ich mir notiert hatte, zusammen; ein Rechtsanwalt las es sich durch, und ein Journalist brachte es in Form; dann wurde das Ganze vervielfältigt und in Umlauf gebracht. Die Vertagungen wurden bald immer lebenswichtiger für mich, da ich durch das Tippen am Wochenende vollends jeden Kontakt mit meiner Umwelt verlor.
Schon seit mehreren Monaten hatte die Zeitung New Age schockierende Berichte über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen veröffentlicht, unter denen die Zwangsarbeiter auf den Kartoffel-Farmen arbeiten mußten. Meistens waren diese Männer wegen Verstöße gegen die
Paßgesetze zu Gefängnisstrafen verurteilt worden und hatten es vorgezogen, auf einer Kartoffel-Farm zu arbeiten. Häufig war es aber auch keine wirkliche Entscheidung gewesen – Preßpatrouillen hatten dafür gesorgt! Enthüllt wurden unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen bei den reinsten Hungerlöhnen. Nachts wurden die Männer in Schuppen ohne Belüftung und ohne den geringsten Schutz gegen die bitterkalten Winternächte zusammengepfercht. Tagsüber trugen sie Kartoffelsäcke und arbeiteten unter Aufsehern, die nicht zögerten, ihre Knüppel einzusetzen; Stockhiebe und Peitschenschläge waren sozusagen an der Tagesordnung. Im Mai 1959 rief der ANC zu einem Kartoffelboykott auf, um gegen die inhumane Behandlung der Zwangsarbeiter auf den Farmen zu protestieren. Diese Protestaktion hatte einen erstaunlichen Erfolg. Kartoffeln wurden tabu. Für die weißen Liberalen, die sich dem Boykott angeschlossen hatten, war der Verzicht auf Kartoffeln vielleicht keine große Sache, da sie auf andere schmackhafte Lebensmittel ausweichen konnten; für die afrikanischen Familien waren die Substitute jedoch meistens unerschwinglich. Trotzdem unterstützten auch die ärmsten Schichten den Boykott. Er richtete sich gegen die Farmer, die die an die Farmen weitervermittelten Hilfskräfte so brutal behandelten. Sie hatten Bedarf an billigen Arbeitskräften gehabt, und die Polizeizellen und Gefängnisse hatten ihn gedeckt. Innerhalb weniger Wochen stapelten sich die Kartoffelsäcke in den Geschäften und Supermärkten, ja selbst in den Schuppen der Güterbahnhöfe. Die Lieferungen hörten nicht auf, aber die Schwarzen weigerten sich, zu kaufen, und die Weißen allein schafften es nicht, den Kartoffelberg kleinzukriegen. Selbst wir konnten während des Prozesses an diesem Boykott teilnehmen, wir brauchten nur die Kartoffeln
wieder zurückgehen lassen. Wahrscheinlich hat dieses kleine Opfer unsererseits keinen Unterschied gemacht, trotzdem maßen wir ihm große Bedeutung bei. Für die schwarzen Industriearbeiter hingegen muß es ziemlich schlimm gewesen sein, da ihr Mittagessen gewöhnlich aus Fisch und Chips bestand. Fisch und Brot oder Brot allein, wenn das Geld nicht für beides reichte, war praktisch nicht zu haben. Auf die Chips zu verzichten, war also wirklich ein großes Opfer. Trotzdem wurde der Boykott drei Monate lang aufrechterhalten. Die Leute triumphierten, wenn sie in den Zeitungen lasen, daß die Kartoffeln in den Lagerhallen vergammelten und daß die Farmer nicht wüßten, ob sie wieder welche anbauen sollten. Der Boykott erfüllte seinen Zweck. Die Regierung setzte eine Untersuchungskommission ein, die sich mit den Arbeitsbedingungen für Zwangsarbeiter befassen sollte. Natürlich würde das System nicht wirklich in Frage gestellt. Wir wußten, daß sie nur dazu diente, bei diesem Skandal das Gesicht zu wahren. Aber zumindest hörte die Belieferung der Kartoffel-Farmen mit billigen Arbeitskräften auf und damit auch die Fuhren mit schwarzen Hilfsarbeitern, denen die Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben stand: Hunger, Erschöpfung und obendrein noch Stockhiebe, mehr erwartete sie nicht auf diesen Farmen. Die Boykottaktionen waren wieder einmal erfolgreich gewesen. Dankbar setzten wir uns an unseren Mittagstisch, den Freunde aus Pretoria so reichlich für uns deckten. Das Essen war zwar sehr nahrhaft, aber nicht immer nach meinem Geschmack. Ich mochte die «indische Woche» mit den schmackhaften Currys, aber das Fleisch und der Maisbrei, den es während der «afrikanischen Woche» gab, behagten mir nicht immer. Ich konnte jedoch unmöglich mein eigenes Lunchpaket aus Eiern, Tomaten und Käse mitbringen, also aß
ich, was auf den Tisch kam, und versuchte, am Wochenende erfolglos gegen die Pfunde anzukämpfen, die ich diesem Essen verdankte. Gelegentlich – wenn auch sehr selten – luden mich Freunde aus meiner unpolitischen Vergangenheit zum Dinner ein, und ich frönte meinen Feinschmeckergelüsten. Am nächsten Tag stocherte ich dann lustlos auf meinem Teller herum, während die anderen lachend erklärten, ich sei wieder da, wo ich hingehöre. Ende Mai wurde Chief Luthuli, der Präsident des ANC, zum drittenmal gebannt, und zwar für fünf, nicht für zwei Jahre, wie üblich. Die Restriktionen unterschieden sich kaum von denen, die mir und vielen unserer Führer auferlegt worden waren – er durfte keine Versammlungen besuchen und seinen Wohnbezirk in Natal nicht verlassen. Wie mir, war auch ihm eine Art Galgenfrist von einer Woche gewährt worden. Er kam auf dem schnellsten Weg nach Johannesburg, um seine letzte Woche in Freiheit in dem Hauptquartier des ANC zu verbringen. Seine Zugfahrt war triumphal: Wo immer er durchkam, versammelten sich die Leute auf den Bahnsteigen, um sich für die nächsten fünf Jahre von ihrem Chief zu verabschieden. Obwohl er ständig von der Polizei überwacht wurde, zog der Chief auch während seiner Isolierung viele Besucher vom In- und Ausland an. Die Absicht der Regierung, diesen großen Mann in der Versenkung verschwinden zu lassen, war dadurch mehr oder weniger vereitelt worden. Einen Monat, nachdem Chief Luthuli gebannt worden war, wurde auch Oliver Tambo, stellvertretender Präsident des ANC, unter Bann gestellt. Duma Nokwe, der stellvertretende Generalsekretär, und Robert Resha, der aggressive und unermüdliche stellvertretende Transvaal-Präsident, sowie einige Kongreßführer aus anderen Teilen des Landes erlitten das gleiche Schicksal.
Es war ein richtiger Rundumschlag, und die Pläne und Vorbereitungen des ANC litten natürlich beträchtlich darunter. Ich hatte bereits zwei Jahre Bann hinter mir und wußte, welches Handikap diese Restriktionen für unsere Führer bedeuteten, vor allem für jemanden wie Robert, der es gewohnt war, sich von Ort zu Ort zu bewegen. Er war wirklich ein außergewöhnlicher Redner und würde nun für die nächsten fünf Jahre zum Schweigen und Stillhalten verurteilt sein. Inzwischen waren beinahe alle dreißig Angeklagten gebannt. Kathrada, der Führer des Indischen Jugendkongresses, meinte, die Leute würden anfangen, ihn zu verdächtigen, wenn er nicht auch bald gebannt würde. Die monatelangen Vorbereitungen der öffentlichen Klage waren abgeschlossen, und dreißig «Hochverräter» erklärten sich für nicht schuldig – zweieinhalb Jahre, nachdem sie festgenommen worden waren. Jeder von uns beteuerte seine Unschuld, jeder in seiner Sprache. Ich versuchte, mich klar und deutlich auszudrücken; es muß aber doch ziemlich hochmütig geklungen haben, als ich sagte: «Ich erkläre mich in allen Punkten der Anklage für nicht schuldig.» Nelson meinte danach, in dem Gerichtssaal hätten Generationen von britischem Imperialismus nachgeklungen, als ich diese Erklärung abgab. Wir hörten uns die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses an, und ich dachte an Vernon Berranges Ausführungen während der Vorverhandlungen. Politische Testballone wie diese gehörten längst der Vergangenheit an. Wie alle übrigen war auch ich zutiefst empört über diesen Prozeß und die Auswirkungen, die er auf unser Leben hatte. Gleichzeitig war ich jedoch stolz darauf, zu den dreißig ersten zu gehören. Ich war stolz darauf, neben ihnen zu sitzen, mich mit ihnen verbunden zu fühlen und ihr Schicksal zu teilen.
Zehn Wochen lang mußten wir wieder die Verlesung von Protokollen über uns ergehen lassen, die wir bereits während der Vorverhandlung gehört hatten. Nach ein paar Wochen beklagten wir uns bei dem Gericht, daß wir akustisch nicht verstehen könnten, was der Vertreter der Anklage verlas – das Beweismaterial gegen uns. Richter Rumpff wies ihn an, die Stimme zu heben, und bemerkte sarkastisch, vielleicht sollte jemand mit einer entsprechend ausgebildeten Stimme engagiert werden. Es nützte jedoch nicht viel, denn die Synagoge war für Rabbis und stimmgewaltige Männer gebaut worden, nicht für Rechtsanwälte und Sicherheitsbeamte. Der Vorschlag der Richter, Zusammenfassungen zu verlesen, scheiterte an der Unfähigkeit der öffentlichen Anklage, die verschiedenen Punkte auf einen Nenner zu bringen, was von richterlicher Seite mißbilligend vermerkt wurde. Das Ende des Prozesses erschien in weite Ferne gerückt. «Freiheit zu unseren Lebzeiten!» war einer unserer Slogans gewesen; Richter Kennedy ließ einmal die Bemerkung fallen, er hoffe nur, daß der Prozeß zumindest zu seinen Lebzeiten abgeschlossen würde. Pirow erlebte das Ende nicht mehr. Als wir am 12. Oktober in den Gerichtssaal kamen, erfuhren wir, daß er in der vergangenen Nacht plötzlich verstorben sei. Der Saal war voller Rechtsanwälte, die sich ihm zu Ehren erhoben hatten. Wir wußten nicht recht, ob wir uns ihnen anschließen sollten, um seiner zu gedenken, aber seine letzte Rede klang uns doch noch in den Ohren. Er repräsentierte unseren Feind, die nationalistische Regierung; früher war er selbst einmal Mitglied dieser Regierung gewesen. Es rührte sich also keiner; mit ausdruckslosen Mienen und verschränkten Armen blieben wir sitzen, während alle übrigen sich erhoben. Die Staatsanwaltschaft sah von weiteren Urkunden ab und ließ ihren eigentlichen Star, Professor Andrew Murray, den
Kommunismus-Experten, auf den Plan treten, denselben Murray, der vor zwei Jahren eine solche Schlappe erlitten hatte, als er während der Vorverhandlungen von Vernon Berrange in die Zange genommen wurde. Wir waren wirklich verblüfft, ihn wiederzusehen, selbstbewußt wie eh und je. Anfangs verfolgten wir noch sehr aufmerksam, was er zu sagen hatte, und erinnerten uns dabei an das klägliche Bild, das er beim erstenmal abgegeben hatte. Aber seine Ausführungen waren so langatmig, daß unser Interesse bald erlosch. Wir wurden mit kommunistischer Doktrin oder dem, was Professor Murray dafür hielt, überschwemmt, und ich stellte fest, daß mehrere seiner Kollegen die Augen geschlossen hatten. Die Sache war von Anfang an schiefgelaufen. Der Hauptzeuge der Anklage hatte sich nämlich Notizen gemacht, die er vor Gericht verlesen wollte, aber der Verteidiger hatte ihn daran gehindert. Richter Rumpff meinte nur lapidar: «Ist er nun ein Experte oder nicht?» Wozu benötigt ein Experte Notizen? Nachdem er sich mehrere Tage lang über kommunistische Theorien ausgelassen hatte und dabei von der Verteidigung einiges einstecken mußte, kam er endlich auf die Freiheitscharta zu sprechen, eines der Schlüsseldokumente in diesem Prozeß. Die Anklage bediente sich ihrer, um Abschnitt für Abschnitt zu beweisen, daß sie auf kommunistischen Theorien beruhe und daß das auch in jedem Paragraphen deutlich zum Ausdruck käme. Mir erschien das vollkommen absurd. Ich kannte die Entstehungsgeschichte der Charta, und ich wußte, daß sie ein Dokument der Hoffnung war, der Hoffnung auf eine Welt, in der die Leiden und Nöte der schwarzen Bevölkerung ein Ende hätten; jede Zeile drückte das aus. Brauchte ein Volk die Kommunisten, um sein Elend zu erkennen; mußten sie ihm erst eine bessere Zukunft ausmalen? Hatte es das nicht alles schon selbst getan?
Danach wandten wir uns wieder den Dokumenten zu, den vierhundert Dokumenten und Büchern, die dem Kommunismusexperten vorgelegt werden sollten, damit er sein Urteil fälle. Sie waren alle einmal in unserem Besitz gewesen – oder in dem Besitz anderer Verschwörer, die mit uns gemeinsame Sache machten, unsere nicht greifbaren Komplizen in dieser riesigen Verschwörung gegen den südafrikanischen Staat. Anscheinend hatte der Staat es nicht gewagt, sie des Hochverrats anzuklagen, weil ihm die Beweise fehlten. Gegen uns wurden jedoch alle nur denkbaren Beweismittel zusammengekratzt, in der Hoffnung, aus der amorphen Masse würde sich vielleicht doch etwas herauskristallisieren. In den Augen dieses Experten waren unsere Bücher allesamt kommunistische Klassiker oder kommunistisches Propagandamaterial. Betreten erinnerte ich mich an die Lektüre, die ich mir besorgt hatte – vielleicht hätte ich mich erst einmal sachkundig machen sollen, was kommunistische Theorie betraf. Ich hatte natürlich auch noch andere politische Bücher; die meisten besaß ich jedoch noch nicht sehr lange. Die Polizei hatte sie einen Tag, nachdem ich sie gekauft hatte, bei einer Hausdurchsuchung konfisziert. Anscheinend genügte es schon, solche Bücher zu besitzen, um des Hochverrats angeklagt zu werden, egal, ob man sie nun gelesen hatte oder nicht. Schließlich war auch das vorbei. Ganze zwölf Tage war Professor Murray nun schon im Zeugenstand. Er sah etwas angegriffen aus, aber das böse Ende sollte erst noch kommen. Als Rechtsanwalt Maisels, eine sehr imposante Erscheinung, sich erhob, um den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, waren wir alle wieder ganz Auge und Ohr. Pirow hatte bei der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses gesagt, daß wir von kommunistischem Fanatismus und
Rassenhaß erfüllt seien. Maisels erklärte, er wolle anhand von Tatsachen eine ganz andere Motivation aufdecken, nämlich das Recht auf menschenwürdige Behandlung, das wir verteidigten. Er konfrontierte den Zeugen der Anklage mit der Realität Südafrikas, mit all den Gesetzen, die auf Diskriminierung und Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung basierten und für die Rasse und Hautfarbe ausschlaggebend gewesen waren. Die Fragen, die er aufwarf, belegte er gleichzeitig durch Statistiken, bis Richter Rumpff schließlich fragte: «Was noch alles?» Maisels erwiderte: «Was haben wir nicht alles von der Anklage gehört?» Er fügte noch hinzu, daß es den Angeklagten vor allem um eine Verbesserung der miserablen Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerung ginge. Nachdem er Maisels notgedrungen beigepflichtet hatte, daß der Ton der Reden, die auf dem Volkskongreß gehalten worden waren, eher bewegend und humanitär gewesen sei, mußte der Zeuge der Anklage auch die Charta selbst als ein Dokument freiheitlicher Bestrebungen gelten lassen. Dreieinviertel Jahre, nachdem wir verhaftet worden waren, schloß die Staatsanwaltschaft ihre Anklage ab. Im März 1960 kamen dann endlich wir an die Reihe. Unsere Zeugen – Chief Luthuli, Nelson Mandela, Professor Z. K. Matthews und andere – würden vor Gericht aussagen. Dr. Zami Conco aus Natal, der stellvertretende Präsident des ANC, war unser erster Zeuge. Er beendete seine Aussage am 21. März, an dem Tag, an dem das Blutbad von Sharpeville stattfand: siebenundsechzig unbewaffnete Schwarzafrikaner waren von der Polizei einfach niedergeschossen worden. Die Haltung, die der ANC gegenüber dem Afrikanismus einnahm, hatte sich im Lauf der Jahre nicht geändert. Auf der Jahreskonferenz von 1958 hatte sie das Nationale Exekutivkomitee noch einmal umrissen: Der ANC betrachtete Südafrika als ein Land, in dem viele Rassen zusammenlebten;
jede Bevölkerungsschicht sollte das Recht auf Freiheit und materielle Sicherheit haben. Der Nationalismus des ANC war weder exklusiv noch von irgendwelchen rassischen Konzepten bestimmt; seine Ziele waren vielmehr rassenübergreifend und sehr weitreichend. Freiheit war für den ANC schon seit eh und je unteilbar gewesen, und er betrachtete es als seine Aufgabe, sich für die Verwirklichung dieses Ideals einzusetzen. Es gab jedoch innerhalb des ANC eine Gruppe extremer Nationalisten, die die Auffassung vertraten, der Befreiungskampf müsse von einem schwarzen Nationalismus getragen werden, da die Schwarzen die ursprüngliche Bevölkerung seien und die Mehrheit der heutigen Bevölkerung stellten. Das stand in direktem Widerspruch zu dem multirassischen Konzept, das der ANC vertrat, einem Ideal, das auch in der Freiheitscharta seinen Ausdruck gefunden hatte: «Südafrika gehört allen, die darin leben, Schwarzen und Weißen…» 1959 zogen sich die Afrikanisten aus dem ANC zurück und gründeten den Panafrikanischen Kongreß (PAC). Daß sie sich gerade dann von ihrer alten Organisation lösten, als deren gesamte Führerschaft vor Gericht stand, war jedenfalls ziemlich unverständlich. Der ANC kämpfte selbst ums Überleben, geschwächt durch den Hochverratsprozeß und die Bannurteile gegen die Führungsspitzen auf allen Ebenen. Auch nach der Abspaltung der afrikanischen Nationalisten blieb der ANC seiner Devise treu, in der Kongreßallianz alle Rassen zu vereinigen, ohne die eigene Identität aufzugeben. Der 31. März 1960 war auf der nationalen Konferenz des ANC zum Protesttag gegen die Paßgesetze erklärt worden, ein Tag, an dem im ganzen Land Demonstrationen gegen den Paßzwang stattfinden sollten. Der PAC, der eine Woche später seine eigene Konferenz abhielt, beschloß ebenfalls eine «umfassende und definitive» Aktion gegen die Paßgesetze. Sie
sollte jedoch tragische Konsequenzen haben. Aus Angst, ohne Gefolgschaft dazustehen, glaubte der PAC wohl, mit dem ANC in Konkurrenz treten zu müssen. Chief Luthuli hatte die Notwendigkeit betont, die Leute zu gewaltlosem Widerstand zu erziehen, da «unüberlegtes Handeln einfach selbstmörderisch und nur im Sinn der Regierung sei». Ich erinnerte mich an die Frauen, die sich 1958 aus Protest einsperren ließen, und an die Warnungen der Kongreßführer, daß sie nicht ausreichend vorbereitet seien und es deshalb auch nicht lange im Gefängnis aushalten würden. Ich hatte schließlich eingesehen, daß ihre Einschätzung der Lage richtig gewesen war, daß der improvisierte PAC-Protest jedoch derart verheerende Folgen haben würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Mitte März erklärte der PAC, daß er seine Kampagne am 21. März beginnen wolle, also zehn Tage vor dem Beginn der ANC-Kampagne. Ein Konkurrenzkampf erschien unvermeidlich. Der PAC forderte seine Mitglieder auf, sich ohne Pässe vor den Polizeistationen zu versammeln und dann wegen Widerstands gegen die Paßgesetze abführen zu lassen. Sie würden weder Geldstrafen bezahlen noch Kautionen hinterlegen, noch einen Rechtsbeistand verlangen. Sie würden vielmehr ihre Gefängnisstrafe absitzen und sich danach gleich wieder verhaften lassen. Das war die «umfassende und definitive» Aktion, die Tausende von Afrikanern zu einem Massenprotest gegen die Paßgesetze mobilisieren sollte. Der Generalsekretär des ANC ließ Mr. Robert Sobukwe, den Präsidenten des PAC wissen, daß der ANC diese Kampagne nicht unterstützen könne. «Wir sind der Meinung, daß es der Befreiungsbewegung nur schaden würde, eine Kampagne zu starten, die nicht genügend vorbereitet ist und keinerlei Aussichten auf Erfolg hat.» Das waren harte, aber sehr weise Worte, die sich leider sehr bald bewahrheiten sollten.
Noch bevor wir an jenem verhängnisvollen 21. März das Gerichtsgebäude verließen, hörten wir Berichte von Demonstrationen und Verhaftungen, die das Schlimmste befürchten ließen. Ihnen zufolge hatte die Polizei in der Township von Sharpeville einfach in die Menge geschossen und dabei unzählige Leute verletzt und getötet. Tausende von Demonstranten hatten sich vor der Polizeistation versammelt, eine Menschenmenge, die immer weiter anschwoll, sich aber durchaus friedlich verhielt. Die Polizei hatte Verstärkung geholt, und wie damals vor der Drill Hall, als unser Prozeß begann, drehten die Polizisten durch und fingen an zu schießen. Danach behaupteten sie, sie hätten nur in Notwehr gehandelt. Obwohl sie keinen Schießbefehl hatte, ließ die Polizei auf die flüchtende Menge einen richtigen Kugelregen heruntergehen; zurück blieben siebenundsechzig Tote und hundertundachtzig Verletzte. Am nächsten Morgen erfuhren wir dann die Einzelheiten. Auch in der Kapgegend war es zu Massendemonstrationen und Schießereien gekommen. Hilflos und handlungsunfähig saßen wir in dem Gerichtssaal, überwältigt von dem ohnmächtigen Gefühl der Scham. Präsident Luthuli erklärte den Tag, an dem die Opfer von Sharpeville zu Grabe getragen wurden, zum nationalen Trauertag, ein Tag, an dem nicht gearbeitet werden sollte. Dieses Mal arbeiteten der ANC und PAC zusammen, und der Aufruf zum Stayaway wurde in fast allen großen Städten befolgt. Wir trauerten um die Toten und erlebten gleichzeitig, wie der ANC aufhörte, als legale Organisation zu existieren. Am 28. März war ein Gesetz zur Bekämpfung illegaler Organisationen verabschiedet worden, das den ANC nach fünfzig Jahren seines Bestehens in die Illegalität drängte – und mit ihm den neugegründeten Panafrikanischen Kongreß.
Wir wußten, daß wir gegen dieses Gesetz nichts unternehmen konnten. Eine ironische Situation war eingetreten: Wir standen vor Gericht und verteidigten den ANC, sein besonnenes Vorgehen, seine Weigerung, Gewalt anzuwenden. Und noch während der Präsident des ANC über die gewaltlose Politik seiner Organisation sprach, wurde der ANC verboten. Es war sozusagen ein klassischer Fall von Mißachtung des Gerichts. An jenem Tag hat Duma Nokwe auch eine bittere Bemerkung fallenlassen: «Dieser Prozeß ist ja nur eine Farce.» Dem war auch so, trotzdem mußte sie bis zum Ende durchgespielt werden. Sharpeville hätte es nie geben dürfen – das war die eigentliche Tragödie. Das überstürzte Vorgehen des PAC ist uns – und sie – teuer zu stehen gekommen und hat unzählige Familien ins Unglück gestürzt. Aber damit hatte es sich noch nicht. Die Regierung rief im Anschluß an Sharpeville den Notstand aus, und über zweitausend Personen – schwarze, weiße und farbige – wurden verhaftet. Ich hörte sie um drei Uhr morgens an meine Tür klopfen. Undeutlich registrierte ich die Scheinwerfer der Autos und die Stimmen der Leute, dann waren sie auch schon in meinem Haus, und alles lief, wie schon gehabt. Zuerst die Durchsuchung, dann die Aufforderung, den Koffer zu packen – mit der Warnung, auch genügend mitzunehmen, da es «für längere Zeit» sein könne. Anschließend wurde ich wieder zur Marshall Square-Polizeistation gebracht, wo ich in der großen Zelle, die ich noch aus den Tagen der Vorverhandlungen kannte, drei alte Bekannte vorfand, ebenfalls mit ihren Koffern neben sich. Wir saßen einfach nur herum, Hunger litten wir keinen, da man uns mit Essen versorgt hatte. Wir fühlten uns jedoch sehr verlassen und von unseren Freunden und Familien abgeschnitten. Später durften wir uns in den kleinen Innenhof setzen, wo nur die Sonne und ein Stück Himmel zu sehen
waren. Plötzlich hörten wir bekannte Stimmen. «Helen, wo steckst du denn?» brüllte Bertha. «Die Ein-Uhr-Nachrichten», rief Kathy und berichtete, wie es den anderen ergangen war. Es war der «Klo-Nachrichtendienst», der nur zustande kam, wenn man sich auf Zehenspitzen auf den Rand des Klos stellte und durch die oben an der Decke angebrachten Gitter der Entlüftungsanlage brüllte. Am Abend trafen wir uns alle in dem Dienstzimmer. Unter den Festgenommenen entdeckte ich mehrere Angeklagte des Hochverratsprozesses. Von unseren Anwälten erfuhren wir, daß unter dem Notstand Hunderte von verdächtigen Personen verhaftet worden seien, daß die Polizei sich an die Arbeit gemacht habe, noch bevor die Anordnungen öffentlich bekanntgegeben worden waren. Die Verhaftungen seien deshalb rechtswidrig. Wir müßten also wieder freigelassen werden, aber angesichts der bewaffneten Polizei, die überall herumstand, machten wir uns wenig Hoffnung. Es war das alte Spiel: wir wurden freigelassen, um dann sofort wieder verhaftet zu werden. Einer nach dem anderen mußte antreten und bekam diesen Klaps auf die Schulter, ein vollkommen lächerlicher Akt, denn wir wurden nicht zu Rittern geschlagen, sondern auf unbestimmte Zeit in eine Zelle gesperrt. In der Zwischenzeit waren die Bestimmungen nämlich bekanntgegeben worden und besaßen Rechtsgültigkeit. Unsere Freunde drängten sich vor den Fenstern und Türen, die von Polizisten mit Revolvern und Maschinenpistolen bewacht wurden. Die Oberlichter konnten sie jedoch nicht bewachen. Durch sie prasselten auch alle möglichen Geschenke auf uns herab – Bonbons, Kekse, Nüsse, Zigaretten und sogar Spielkarten. Man hatte uns nicht vergessen. Wir hörten, wie unsere Leute die Freiheitslieder sangen, als sie um die Polizeistation marschierten, dann wurden wir wieder in unsere Zellen getrieben; die Lieder konnten wir
jedoch immer noch hören. Trotz der Schrecken, die wir erlebt hatten, schliefen wir sehr gut in jener Nacht, denn die Nacht zuvor war für uns alle sehr kurz gewesen. Ich erinnerte mich noch beklommen an dieses «für längere Zeit», aber es war sinnlos, sich über die Zukunft Gedanken zu machen: Die Dinge würden ihren Lauf nehmen, ändern ließ sich doch nichts. Am nächsten Morgen wurde ich von den anderen Frauen getrennt und in einen Polizeiwagen verfrachtet, wo mich Leon Levy begrüßte, bis jetzt der einzige Weiße vom Hochverratsprozeß. Ich erfuhr, daß wir zu den Verhandlungen nach Pretoria gebracht werden sollten, was mir angesichts dieser Verhaftungswelle etwas seltsam vorkam. Ich freute mich jedoch, die anderen wiederzusehen. Im hinteren Teil des Wagens ertönten plötzlich Freiheitslieder – Leo und ich waren von unseren schwarzen Freunden durch eine Wand getrennt. Begeistert fielen wir ein. Wenn wir durch die kleinen Fenster spähten, sahen wir, wie die Leute auf der Straße stehenblieben und neugierig diesem fahrenden Chor nachblickten.
Im Gefängnis
In Pretoria hatte sich einiges geändert. Als unser Transporter durch die Tore der alten Synagoge fuhr, hörten wir Zurufe, und wußten, daß sich draußen Leute zu unserer Begrüßung versammelt hatten. In einem von der Öffentlichkeit völlig abgeschlossenen Innenhof wurden wir dann abgeladen; wir waren jetzt Häftlinge und durften mit niemandem sprechen. Dort fanden wir Nelson, Robert und viele andere vor, die auf der Newlands-Polizeistation in Johannesburg festgehalten worden waren. Auf der Marshall Square-Polizeistation waren anscheinend nur Weiße, Farbige, Inder und afrikanische Frauen gewesen. Die afrikanischen Männer hatte man in den Zellen der Newlands-Polizeistation untergebracht. Am Tag zuvor waren zusammen mit den Angeklagten zehn Unschuldige eingeliefert worden, während wir uns fragten, wo die übrigen Angeklagten waren. Sie wurden wieder freigelassen und von der Polizei hinauseskortiert. Nur an Wilton Mkwayi erging die Aufforderung, er solle verschwinden, was er auch tat – sogar aus Südafrika. Er kehrte jedoch wieder zurück und wurde zusammen mit den Angeklagten des Rivonia-Prozesses zu lebenslänglicher Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt. Wir lachten, als wir uns vergegenwärtigten, was sich am Tag zuvor vor Gericht abgespielt hatte: zehn Angeklagte, keine Zeugen, Richter, die nicht informiert worden waren. Auch die Anklage und die anderen Gerichtspersonen wußten von nichts. Es muß wirklich sehr komisch gewesen sein. Eine Beleidigung des Gerichts – die Richter waren wütend und verlangten, daß man sie von solchen Vorgängen in Kenntnis setze und sofort
alle Angeklagten und den Zeugen – Chief Luthuli – herbeischaffe. Die Vertreter der Anklage versuchten, sie zu beschwichtigen und die Sache wieder geradezubiegen. Aber weder die Verteidiger noch die Richter ließen sich beschwichtigen; die Verhandlung mußte vertagt werden – in Ermangelung der Angeklagten. Während wir darüber nur lachten, ließ uns Nelsons Bericht über das, was sich auf der Newlands-Polizeistation abgespielt hatte, erschauern. Der Gedanke an die nackte Gewalt, an die Gemeinheiten, die ein Mensch dem anderen zufügt, ist schon schrecklich genug. Noch schrecklicher ist die Vorstellung, daß diese Gewalt einem Freund zugefügt wird. Aber am schrecklichsten ist jedoch der Gedanke, daß man selbst aufgrund seiner Hautfarbe davon verschont geblieben ist. In den Polizeizellen von Newlands waren fünfzig Männer für den Rest der Nacht zusammengepfercht worden, nachdem man sie um ein Uhr morgens aus den Betten geholt und in einem Hof hatte warten lassen, der nicht überdacht war und nur von einer einzigen elektrischen Birne beleuchtet wurde. Es war so eng dort, daß sie stehen mußten, stundenlang, ohne Essen und ohne Decken. Als es dann hell wurde, brachte man sie in eine Zelle von ungefähr 9 Quadratmetern, deren sanitäre Einrichtung aus einem Loch im Boden bestand, das der diensthabende Polizeibeamte gelegentlich spülte. Essen und selbst Trinkwasser wurden ihnen erst um drei Uhr nachmittags gebracht, nachdem man sie zwölf Stunden hatte warten lassen. Es war ein dünner, saurer Maisbrei, den sie mit ihren ungewaschenen Händen essen mußten. Aber die Männer waren so hungrig, daß das keine Rolle mehr spielte. Um sechs Uhr abends gab man ihnen dann ein paar verdreckte Decken, die für die schwarzen Häftlinge als gut genug betrachtet wurden. Um acht Uhr mußten sie – jeder einzeln wie wir auch – die Farce der Freilassung und Wiederverhaftung über sich ergehen
lassen. Danach wurden sie wieder in ihre stinkende, dreckige Zelle gebracht. Und am nächsten Morgen wurden sie in einem Polizeiwagen zusammengepfercht und zum Gericht gefahren, wo sie, immer noch ungewaschen, den Verhandlungen beiwohnen mußten. Die Unstimmigkeiten waren jedoch immer noch nicht beigelegt, und die Richter verfügten, daß die Verhandlungen bis 19. April, also beinahe drei Wochen, ausgesetzt werden sollten. Wir kletterten zurück in unseren Transporter und wurden zu dem Stadtgefängnis von Pretoria gefahren, wo Leon und die schwarzen Angeklagten ausstiegen. Lilian und ich wurden zu einem enormen Quaderbau gebracht, dem Zentralgefängnis von Pretoria, wie man uns sagte. Wir fühlten uns schrecklich verlassen, als wir zu zweit in dem riesigen Gefangenenwagen durch die Straßen ratterten; wir wußten nur, daß man uns trennen würde – Weiß für sich, Schwarz für sich –, sonst hatten wir jedoch keine Ahnung von dem, was uns in den nächsten neunzehn Tagen erwartete. Als wir aus dem Wagen stiegen, stieß Lilian bitter hervor: «Du bist immer besser dran mit deiner rosa Haut!» Es stimmte. Ihre Worte blieben mir im Gedächtnis haften – ich konnte nichts darauf erwidern, nichts tun. Wir wurden aber doch nicht völlig voneinander getrennt. Unsere Zellen lagen im selben Trakt, ganz oben unter dem Dach; sie waren offen bis zu den Balken, zwischen denen über jeder Zelle ein Maschendraht gespannt war. Außer uns gab es noch ein paar schwarze Häftlinge in diesen Strafzellen, und wir entdeckten sehr schnell, wie man sich über diese aus Maschendraht bestehenden Decken verständigen konnte. Es war so, wie Lilian gesagt hatte: dank meiner rosa Haut kam ich in den Genuß eines Bettes, eines Lakens und mehrerer Decken. Die Matratze stank zwar scheußlich nach Urin, aber Lilian mußte auf einer Matte auf dem Boden schlafen und hatte
nur ein paar dünne Decken. Auch mein Essen war besser. Und ich hatte einen Toiletteneimer mit einem Deckel, während in ihrer Zelle ein offener Eimer herumstand, der nur mit einem Tuch bedeckt war. Ich begann, meine Hautfarbe zu hassen, aber meine ganzen Schuldgefühle änderten nichts an der Tatsache, daß ich weiß war. Die neunzehn Tage zogen sich endlos hin. Die Höhepunkte waren, sich ein paar Bücher aus der Gefängnisbibliothek zu ergattern, unter Bewachung die Treppe hinunterzusteigen, um unter den Augen der Wärterin ein lauwarmes Bad zu nehmen, im Hof eine halbe Stunde um eine riesige Palme herumzugehen, die mich an die in meinem Garten erinnerte. Manchmal half das etwas, manchmal aber auch nicht. Abends fingen dann in den anderen Strafzellen die Frauen an zu singen. Ich hörte ihre Stimmen auch tagsüber, wenn sie sich etwas zuriefen, aber sie blieben namenlos, körperlos. Manchmal dachte ich, ich würde Lilian hören, wie sie sich mit ihnen in ihrer Sprache unterhielt. Die Lieder, die sie sangen, waren aber keine Freiheitslieder, nur einmal hörte ich «Nkosi Sikelele». Meistens waren es sehr schöne, harmonische Kirchenlieder, und wenn die letzten Töne verklungen waren, wurde es sehr still auf unserem Trakt. Zehn Tage, nachdem die Frauen aus diesen Zellen weggebracht worden waren, wurde auch Lilian verlegt. Wohin, wußte ich nicht. Ich war jetzt allein in dem Dachgeschoß – ich und die Wärterin, die mir das Essen brachte. Sie stellte es auf den Boden und kickte es in meine Zelle. Das tat aber nur diese eine, die anderen waren ganz nett, wenn auch völlig verständnislos. Ich erfuhr, daß es noch eine Weiße gab. Es war Hannah Stanton, eine christliche Missionarin. Ich konnte mir nicht vorstellen, weswegen sie hier ohne Prozeß festgehalten wurde; sie hatte jedoch Beziehungen in England, von denen sowohl
sie wie auch ich profitierte. Nach zwei Wochen wurde uns tatsächlich erlaubt, gemeinsam unsere Runden im Hof zu drehen, und sogar unterhalten durften wir uns! Wir machten praktisch jeden Tag eine Eingabe, die Zelle teilen zu dürfen, hatten aber keinen Erfolg damit. Die Angeklagten des Hochverratsprozesses trafen sich am 19. April wieder vor Gericht. Sie tauschten ihre Gefängniserfahrungen aus, glücklich, sich wiederzusehen. Als Weiße waren Leon und ich natürlich sehr viel besser behandelt worden, obwohl man uns in Einzelzellen gesteckt hatte, während sie sich ihre Zellen teilten. Roberts Bericht über die Haftbedingungen der schwarzen Gefängnisinsassen war genauso haarsträubend wie der Nelsons über die Polizeizellen. Und Robert hatte nicht nur ein paar Tage darin verbracht. Die Häftlinge wurden zu fünft in einer Zelle untergebracht, die nicht größer war als meine in dem Frauengefängnis. Wie Lilian hatten sie auch nur einen Toiletteneimer, der mit einem Tuch bedeckt war; er war jedoch für fünf Leute gedacht und stand direkt neben dem Eimer mit dem Trinkwasser. Toilettenpapier gab es keines, und die Decken starrten vor Dreck. Das Standardessen für afrikanische Gefangene war ein dünner Maisschleim, der gelegentlich mit etwas zähem Fleisch und Bohnen angereichert wurde. Die ersten zehn Tage kamen sie überhaupt nicht aus ihrer Zelle, nicht einmal duschen durften sie. Erst in den letzten Tagen, nachdem sie erbitterte Kämpfe mit ihren Wärtern ausgetragen hatten, verbesserten sich die Bedingungen etwas. Allmählich sickerte auch durch, daß beinahe zweitausend Personen verhaftet worden waren, darunter ziemlich viele Weiße. Wir wußten jedoch nicht, wo sie sich befanden. Ein Teil schien in dem Johannesburger Fort zu sein. Das Verteidigungsteam konfrontierte das Gericht mit der Frage, ob
der Prozeß während des Notstandes überhaupt weitergeführt werden könne. Die Staatsanwaltschaft wollte den Justizminister bitten, unseren Zeugen die Zusicherung zu geben, daß sie nicht Opfer irgendwelcher Notstandsbestimmungen würden, aber unser Verteidigerteam meinte, wir sollten uns besser nicht auf solche Versprechungen verlassen, da wir das Wort des Ministers nicht einfach bona fide hinnehmen dürften. Betroffen vernahmen wir, daß am 8. April sowohl der ANC wie auch der PAC endgültig verboten worden waren. Ich hatte an diesem Tag Geburtstag, und Hannah schickte mir einen kleinen Strauß Ringelblumen in meine Zelle. Das war, bevor wir überhaupt ein Wort miteinander wechseln durften. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß an diesem Tag der ANC und mit ihm die Frauenliga unter Bann gestellt worden waren. Die Konsequenzen, die dieser Bann für die Föderation haben würde, waren nicht abzusehen; ein großer Teil unserer Mitglieder gehörte nämlich sowohl der Frauenliga wie auch der Föderation an. Von Lilian erfuhr ich, daß sie eine schwarze Zellengenossin hatte und in einem anderen Trakt untergebracht war. Die Haftbedingungen waren immer noch sehr schlimm. Theoretisch durften wir inzwischen von Angehörigen Besuch empfangen, aber ihre Tochter Edith war schon zwei- oder dreimal von Soweto hierhergekommen und nur einmal eingelassen worden. Ich hatte keine Familie, aber einmal besuchte mich eine Freundin, die mein Haus für mich vermietete. Da nicht abzusehen war, wann ich wieder rauskommen würde, schien das sinnvoller zu sein, als es einfach leerstehen zu lassen. Der Prozeß wurde auf eine weitere Woche vertagt. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß selbst das Gefängnistor seinen Schrecken für mich verloren hatte. Auch der Gedanke
an meine Einzelzelle versetzte mich nicht mehr in Panik, da ich ja jeden Tag mit Hannah zusammenkommen würde. Eine Woche später durften wir dann auch endlich zusammenziehen, und ich zog mit meinen wenigen Habseligkeiten – den paar Büchern aus der Gefängnisbücherei, meinem Pyjama, meinen Toilettenartikeln und der Keksdose – in ihre Zelle um. Selbst in den ersten Wochen Einzelhaft hatte ich nie daran gedacht, spirituellen Trost zu suchen. Ich hatte zwar immer zugehört, wenn die afrikanischen Frauen abends ihre Kirchenlieder sangen, aber den Text konnte ich nicht verstehen. Auch wenn ich sie manchmal beneidete, dachte ich nicht weiter darüber nach. Meine Begegnung mit Hannah war jedoch die Begegnung mit einer überzeugten Christin, die sich für ihre notleidenden Mitmenschen tatkräftig eingesetzt hatte und jetzt den Preis dafür bezahlte. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wieviel ihr Glaube ihr bedeutete. Sie akzeptierte mich so, wie ich war – jemand, dem Religion nichts bedeutete –, sie selbst kniete jedoch jeden Morgen und Abend neben ihrem Bett, um zu beten, was ich bewundernswert, ja beinahe schon beneidenswert fand. Hannah besaß etwas, was ich nicht besaß; sie glaubte an Gott – an diesen Gott, den ich zwar nicht völlig zu verleugnen wagte, von dem ich mich aber schon vor mehr als dreißig Jahren abgewandt hatte. Ich wußte, daß es sich dabei nicht einfach um Gleichgültigkeit, sondern um eine bewußte Ablehnung meines früheren Glaubens handelte. Aber was war an seine Stelle getreten? Außer meinen eigenen Wertmaßstäben fiel mir nichts ein. Mit Hannah konnte ich jedoch nicht darüber reden, denn dieses Unbehagen ließ sich nicht in Worten ausdrücken. Es war kaum als Gedanke vorhanden. Ich beobachtete nur voller Staunen, wie sie zweimal am Tag niederkniete, um zu beten. Einmal sprachen wir auch über meinen Mangel an Glauben; ich erinnere mich aber nicht mehr, wie wir auf dieses Thema
kamen; irgendwie spielte das, was ich als das Versagen der Kirche bezeichnete – ihr fehlendes Engagement für den Befreiungskampf – eine Rolle. Es waren bittere Worte. Ich glaube, ich sagte, für mich sei kein Platz in einer Kirche, die kein Rückgrat besäße. Das war alles – ich nehme an, ich versuchte einfach ein tieferliegendes Schuldgefühl zu rationalisieren, indem ich der Kirche die Schuld zuschob. Am 26. April, als wir wieder vor Gericht erschienen, erfuhren wir, daß unseren Zeugen tatsächlich eine Art Straffreiheit zugesichert worden war, aber weder wir noch unser Verteidigerteam ließ sich davon beeindrucken. Maisels, unser Verteidiger, erklärte, daß seine Mandanten das Gefühl hätten, ihre Interessen könnten während des Notstands nicht gewahrt werden, wenn das Gericht jedoch darauf bestünde, daß die Verhandlungen weitergeführt würden, müßten sie sich diesem Entschluß beugen. Das Gericht bestand darauf, und Duma Nokwe, einer der Angeklagten, der selbst Rechtsanwalt war, ergriff das Wort. Er sprach über unsere Einwände und Bedenken und teilte dem Gericht dann ohne weitere Umschweife mit, daß wir unser Verteidigerteam aufgefordert hätten, sich zurückzuziehen, da es doch nur eine Verschwendung öffentlicher Gelder sei, in diesem Verfahren aufzutreten. Wir hatten während einer Gerichtspause darüber gesprochen und einstimmig diesen Schritt beschlossen. Wir wußten, welche Konsequenzen das haben konnte, wir hielten es einfach für unsere Pflicht, auch wenn es uns persönlich schadete. Es war ein mutiger Entschluß, der mutig vorgetragen wurde. Abschließend bemerkte Maisels: «Unser Mandat ist damit beendet, und wir möchten das Hohe Gericht nicht mehr weiter belästigen.» Daraufhin verließ er mit dem übrigen Verteidigerteam den Gerichtssaal und für die nächsten Monate auch uns, seine Mandanten.
Ich für meine Person fühlte mich einen Augenblick lang von Gott und der Welt verlassen. Dann blickte ich zu den Richtern hinüber, um zu sehen, wie sie auf diesen Affront reagierten. Ich weiß nicht, ob sie schon so etwas erwartet hatten; ihre Mienen verrieten jedenfalls nichts. Richter Rumpff saß völlig ausdruckslos und unbeweglich da und beobachtete, wie unser Verteidigerteam aus dem Saal zog. Dann wurde weitergemacht, als ob nichts passiert wäre, nur der Tisch der Verteidigung blieb unbesetzt. Chief Luthuli erschien im Zeugenstand. Wir hatten ihn seit den Verhaftungen nicht gesehen und musterten ihn besorgt, da wir gehört hatten, daß er bei seiner Festnahme tätlich angegriffen worden sei und dabei mehrere Schläge ins Gesicht und auf den Kopf erhalten habe. Es war unfaßbar, daß diesem würdigen, alten Herrn, dem Präsidenten des ANC, so etwas widerfahren konnte. Es hatte sich aber tatsächlich so abgespielt. Seine Kronzeugenaussage hatte er kurz vor den Verhaftungen beendet, und nun sollte Trengove, der Anwalt der Anklage, das Kreuzverhör durchführen. Nelson hatte den Kampf um eine Verbesserung der Haftbedingungen aufgenommen und verlangte einen angemessenen Ort für die Konsultationen, an denen inzwischen auch Leon, Lilian und ich teilnahmen. Sie sollten nicht mehr in dieser unmöglichen kleinen Zelle mit dem Toiletteneimer in der Mitte stattfinden. Das Gericht wurde aufgefordert, dafür zu sorgen, daß uns die Möglichkeit gegeben würde, unsere Verteidigung vorzubereiten. Berauscht von unseren Aktionen und der Wirkung, die sie gehabt hatten, kehrten wir an jenem Tag in unsere Zellen zurück – nicht nur das Gericht, sondern auch all die anderen Institutionen, ja ganz Südafrika, hatten davon erfahren. Wenn wir jedoch an die Konsequenzen dachten, waren wir sofort wieder ernüchtert. Mit einer Kopie des Eröffnungsbeschlusses
unterm Arm kehrte ich in das Frauengefängnis zurück und ließ die Routineuntersuchung über mich ergehen. Dann begrüßte ich Hannah, die schon darauf wartete, daß ich ihr von den Ereignissen des Tages berichtete. Obwohl ich auch nichts außer dem Gerichtssaal sah, war ich doch Hannahs einzige Verbindung mit der Außenwelt. Unser Prozeß schleppte sich wieder hin, während Trengove sein Kreuzverhör fortsetzte. Auf dem Weg zum Gefängnis und auch wenn wir in die Stadt fuhren, saß ich neben dem Chief in der Fahrerkabine. Als Weiße durfte ich nicht neben den schwarzen Angeklagten sitzen, obwohl wir den ganzen Tag vor Gericht zusammen waren. Wir hatten darauf bestanden, daß der Chief ganz vorne sitzen müsse und nicht in dem ungemütlichen hinteren Teil des Polizeiwagens. Seine Gesundheit war immer noch etwas angegriffen. Anfangs war ich etwas gehemmt, vor allem in Gegenwart des Fahrers, aber dann entspannte ich mich. Sie bedeuteten mir sehr viel, diese kurzen Augenblicke, und auch die Erinnerung daran, selbst, wenn wir nicht über die Dinge sprechen konnten, die uns wichtig waren. Wir erfuhren, daß die anderen weißen Häftlinge, die sich noch im Johannesburger Gefängnis befanden, zu uns nach Pretoria kommen sollten. Hannah und ich verfolgten die Vorbereitungen und das ganze Hin und Her. Zwei große, miteinander verbundene Schlafräume wurden für die Frauen hergerichtet; der eine, in dem zweiundzwanzig Betten aufgestellt worden waren, war zum Schlafen da, während der andere, dessen Einrichtung aus einem Ofen, einem Waschbecken, aus Tischen, Stühlen und sogar einer Tischtennisplatte bestand, als Aufenthaltsraum diente. Außerdem gab es noch ein Klo mit drei Sitzen und halbhohen Türen.
Hannah und ich durften die neuen Örtlichkeiten besichtigen. Selbst Matratzen, Bettzeug und Kissen waren neu. Wir hatten uns inzwischen schon an unser elendes Dasein in der Todeszelle gewöhnt (wir hatten herausgefunden, welche Bewandtnis es mit unserer Zelle hatte!), in der uns Horatius, der schwarze Gefängniskater, nachts vor den Ratten schützte. Wir fragten uns, wie wir mit so vielen Frauen zurechtkommen sollten. Hannah würde natürlich alle sofort ins Herz schließen – es war einfach unmöglich, sie nicht zu mögen –, in meinem Fall war ich mir nicht so sicher. Die Gerüchte ließen mich jedoch vermuten, daß unter den Neuankömmlingen auch ein paar alte Bekannte sein würden. Sie zogen ein, die Neuen, triumphierend und von ihrer letzten Aktion – dem Protest gegen ihre Verfrachtung nach Pretoria – noch ganz aufgeladen. Die meisten von ihnen hatten kleine Kinder zurückgelassen, als sie verhaftet wurden, und wollten in der Nähe ihrer Familie bleiben. Deshalb weigerten sie sich, auch nur einen Schritt zu tun, und mußten in die Gefängnis wagen getragen werden. Wahrscheinlich wurde dabei ziemlich unsanft mit ihnen verfahren, aber erstaunlicherweise beschuldigte man sie nicht, sich einem Haftbefehl widersetzt zu haben. Hannah und ich waren ganz betroffen, daß wir überhaupt noch nie an solche Aktionen gedacht hatten. Ich erlebte ein herzliches Wiedersehen mit ein paar alten Freundinnen. Wir taten uns zusammen und wählten unsere Betten aus, Hannah und ich in einer Ecke, weil sie einen ruhigen Platz für ihre Gebete brauchte, und ich, weil ich bei ihr bleiben wollte. Die Privilegien, die wir als Weiße selbst noch im Gefängnis genossen, wurden mir wieder einmal vor Augen geführt – ich brauchte mich nur in unserem Aufenthaltsraum umzublicken. Ich wußte, daß es bei den afrikanischen Häftlingen ganz anders aussah. Es blieb mir jedoch nichts anderes übrig, als mich
damit abzufinden, da ich doch nichts dagegen tun konnte. Es war aber ein weiteres Beispiel für die ungleiche und ungerechte Behandlung der verschiedenen Rassen, die mich mein ganzes Leben lang verfolgte; am schlimmsten war es, wenn ich, wie in diesem Fall, persönlich davon betroffen war. Jeden Tag sah ich meine Freunde vor Gericht, die alle wegen derselben Sache angeklagt waren, und ich mußte immer daran denken, daß meine Haftbedingungen hundertmal besser waren als ihre. Lilian hatte es ausgesprochen – ich mit meiner rosa Haut war wirklich sehr viel besser dran. Mein Tagesablauf war äußerst ungewöhnlich, denn tagsüber stand ich vor Gericht, und abends fanden die Lagebesprechungen und Konsultationen statt, bei denen ich zusammen mit den anderen Angeklagten meine Aussage vorbereitete, deren Zeitpunkt immer näherrückte. Der Chief würde nicht mehr lange das Kreuzverhör über sich ergehen lassen müssen. Es war eine ziemlich anstrengende Sache für ihn gewesen, obwohl er inzwischen aus gesundheitlichen Gründen nicht länger als zwei Stunden verhört werden durfte. Ich saß nur noch morgens neben ihm in der Fahrerkabine; es fiel mir sofort auf, wie erschöpft er wirkte, wie er seine letzten Kräfte für dieses gnadenlose Kreuzverhör mobilisierte. Ich wurde auch immer nervöser bei dem Gedanken, was mich wohl erwartete, und ich versuchte verzweifelt, jede freie Minute zu nutzen, um meine Aussage vorzubereiten, in der so viel Kongreßgeschichte behandelt werden sollte. Unsere Konsultationen stellten wirklich eine Ausnahme dar; sie verstießen gegen sämtliche Gefängnisbestimmungen und -gewohnheiten. Nach vier Uhr ist und bleibt ein Gefängnis normalerweise fest verschlossen. Die Schlüssel zu den verschiedenen Trakten werden für die Nacht in Verwahrung genommen, und ich glaube, selbst bei einer Feuersbrunst würden sie erst am nächsten Morgen wieder herausgegeben.
Nichtsdestotrotz wurde ich um halb sechs aus dem Frauengefängnis geführt und zum Männergefängnis gefahren – natürlich in Begleitung eines Sicherheitsbeamten. Er eskortierte mich in den Teil des Besucherraums, der für die Besucher bestimmt war. Auf der anderen Seite des Gitters erwarteten mich schon Farid Adams mit seiner Schreibmaschine, Nelson, Walter Sisulu, möglicherweise auch Duma Nokwe, der mit Leo zusammen auf meiner Seite saß. Sie gingen dann Satz für Satz den Text meiner Aussage durch, den ich am Abend zuvor ausgearbeitet hatte. Sie halfen mir, manche Sachverhalte zu klären, und obwohl sie häufig andere Schwerpunkte setzten, überließen sie die Entscheidung jedoch immer mir. Es war eine einmalige, sehr außergewöhnliche Methode zur Erlernung politischer Ideengeschichte. Wer hat schon so berühmte Lehrer gehabt? Sie wußten, daß die Wirkung meiner Aussage vor allem in ihrer Aufrichtigkeit liegen würde. Ich konnte mich dabei auf keine Notizen verlassen, sondern mußte alles aus meinem eigenen Wissen schöpfen. Während der Verlesung unserer Schriftstücke und Reden hatte das Gericht schon sehr viel über die Geschichte des Kongresses erfahren – falls sie einigermaßen intelligent protokolliert worden waren. In diesen Wochen der Vorbereitung lebte ich praktisch mit dem Prozeßprotokoll; selbst nach unseren Treffen arbeitete ich meistens bis tief in die Nacht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß ich nicht wirklich ein Teil dieser Gemeinschaft von Frauen wurde, mit denen ich in einer Zelle lebte. Ich hatte einfach zu wenig Zeit, da mich meine Protokollstudien völlig in Anspruch nahmen. Hannah wurde von allen geliebt – wie ich vorausgesehen hatte. Sie war hübsch und charmant und hatte sich selbst im Gefängnis ihre schlichte Eleganz bewahrt. Außerdem war sie sehr schlank und
hochgewachsen, und ihr lächelndes, junges Gesicht paßte überhaupt nicht zu den kurzen, silbergrauen Haaren. Hannah war damals gerade Anfang vierzig. Sie war in ihrem Glauben verwurzelt und brauchte andere nicht zu bekehren. Wenn sie morgens und abends neben ihrem Bett kniete und betete, wurde das von ihren militanten Zellengenossinnen, die allesamt Kommunistinnen und Atheistinnen waren, vollkommen akzeptiert. Sie mochten sie nicht nur, sondern respektierten sie auch als eine überzeugte Christin. Zusammen mit den weißen Häftlingen, mit denen sie in geheimem Kontakt standen, hatten die Frauen bereits schon in dem Johannesburger Gefängnis beschlossen, gegen ihre Inhaftierung zu protestieren. Sie wollten ihre Freilassung fordern und zu ihren Kindern zurückkehren. Im Gefängnis gibt es jedoch nur eine Art von Protest, den Hungerstreik. Als sie nach Pretoria kamen, war das also schon mehr oder weniger eine beschlossene Sache; sie wollten sich nur der Zustimmung und der Unterstützung der anderen, besonders der schwarzen Häftlinge, versichern. Da ich mit Lilian und den männlichen Angeklagten in Verbindung stand, mußte ich ihre Botschaften überbringen und dann berichten, wie sie von den Kongressen aufgenommen wurden. Ich sollte herausfinden, ob der ANC und der Indische Kongreß die Angeklagten des Hochverratsprozesses und die übrigen Häftlinge auffordern würden, sich dem Hungerstreik anzuschließen. Die Frauen rechneten fest mit ihrer Unterstützung, der ANC sprach sich jedoch dagegen aus; seiner Meinung nach war ein Hungerstreik unter diesen Bedingungen völlig sinnlos, da nichts davon nach außen dringen würde. Außerdem sei diese Art des Protestes afrikanischer Tradition und Kultur fremd, und das miserable Gefängnisessen habe die afrikanischen Häftlinge physisch ohnehin schon sehr geschwächt.
Da die weißen Männer und Frauen jedoch fest entschlossen waren, diesen Hungerstreik durchzuführen, erklärten der ANC und der Indische Kongreß sich bereit, drei Tage daran teilzunehmen, um ihre Solidarität zu demonstrieren. Ich kehrte mit dieser unpopulären Entscheidung zurück und wurde in eine Position gedrängt, in der ich meine Mitgefangenen samt und sonders gegen mich hatte. Ich versuchte, ihnen den Standpunkt des ANC so gut wie möglich klarzumachen, und die Frauen stimmten ab. Als diszipliniertes Kongreßmitglied stimmte ich gegen einen unbegrenzten Hungerstreik. Alle übrigen stimmten jedoch dafür. Der Hungerstreik der Frauen war sehr eindrucksvoll und sehr heroisch. Nach acht Tagen, als die Gefängnisverwaltung plötzlich beschloß, die Frauen zu trennen und die Hälfte von ihnen in ein anderes Gefängnis zu transferieren, wurde er jedoch abgebrochen. Die Frauen sahen ein, daß es eine zu große Belastung für ihre geschwächte körperliche Verfassung wäre, wenn sie den Hungerstreik nicht gemeinsam durchführen könnten. Hannah und ich hatten nur zwei Tage an dem Streik teilgenommen. Wir wußten, daß sie jeden Tag nach England abgeschoben werden konnte, und wollten, daß sie dann noch die Kraft besäße, ein paar öffentliche Erklärungen über Sharpeville, über den Notstand und über die Verhaftungswelle abzugeben. Ich war von dem ANC aufgefordert worden, mich auf ein paar Tage zu beschränken, weil ich bald in den Zeugenstand treten würde. Meine Zellengenossinnen hätten zwar einen Ohnmachtsanfall der Kronzeugin als ein wirksames Mittel betrachtet, um die Öffentlichkeit auf den Hungerstreik aufmerksam zu machen, aber meine Mitangeklagten wollten davon nichts wissen und limitierten meine Teilnahme auf zwei Tage. Ich hatte keine quälenden Hungergefühle – soweit war es noch gar nicht
gekommen –, aber ich konnte nicht mehr klar denken, und nach der ersten heißersehnten Tasse Tee fühlte ich mich richtig krank. Das Schlimmste war jedoch, daß Hannah und ich ganz verstohlen unser Essen hinunterschlingen mußten, da wir es unerträglich fanden, in Gegenwart der hungernden Frauen zu essen. Wir versuchten, unser schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem wir den von Tag zu Tag schwächer werdenden Frauen das Wasser brachten. Gerade an dem Tag, als der Hungerstreik zu Ende ging, wurde Hannah nach England zurückgeschickt, ein schmerzlicher Verlust für uns alle. Ich wurde endlich in den Zeugenstand berufen und war wie gelähmt vor Angst. Ich erinnere mich noch, wie ich während der Mittagspause verzweifelt meine Notizen durchlas, die ich nicht benutzen durfte. Nelson sah mich, kam an meinen Tisch, nahm die Blätter aus meiner Hand und schickte mich in den Hof zu einer Partie Scrabble. Ich entkrampfte mich etwas, als ich die Wärme und Zuneigung spürte, die die anderen mir entgegenbrachten. Ich wußte, mein Platz war an ihrer Seite; sie vertrauten mir, und ich mußte für sie das Wort ergreifen. Ich durfte sie nicht enttäuschen.
Im Namen der Freiheit
Als ich anfing zu reden, zitterten mir zum erstenmal in meinem Leben die Knie. Irgendwie brachte ich dann doch meinen ersten Satz hervor. Ich erklärte, ich würde die Zusicherung des Ministers, daß unseren Zeugen aufgrund ihrer Aussage keine Nachteile entstünden, entschieden in Frage stellen. Ich hätte nämlich keinerlei Vertrauen in seine Glaubwürdigkeit. Das schien eine ziemlich kühne Erklärung zu sein, aber ich legte großen Wert darauf, das festzustellen. Ich beschrieb meine Entwicklung zur Aktivistin und meine Funktionen innerhalb des Demokratischen Kongresses und der Frauenföderation. Ich sagte, ich würde nicht mehr an einen plötzlichen Gesinnungswandel der weißen Wählerschaft glauben. Hingegen würden mir wirtschaftliche Sanktionen und moralischer Druck, der vom Inland wie vom Ausland ausgehen könnte, erfolgversprechender erscheinen. Ich fügte noch hinzu, daß das natürlich zivilen Ungehorsam, Streiks, Boykotte, die von den vier Fünfteln der nicht wahlberechtigten Bevölkerung durchgeführt würden, einschließen würde. Ich verneinte, daß die Kongresse «auf gewaltsame Art und Weise die Revolution herbeiführen wollten» – ein Zitat aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Unser Ziel sei vielmehr eine gemischtrassige, demokratische Gesellschaft auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts. Ich bestritt, daß wir auf einen kommunistischen Staat hinarbeiteten. Unser Ziel sei ein Staat, wie er in der Freiheitscharta beschrieben worden sei. Die Menschen müßten jedoch selbst entscheiden können, welche Staatsform sie haben wollten.
Richter Rumpff und Richter Bekker stellten mir viele Fragen. Das war ziemlich unangenehm; ich haßte diese Interventionen und verhedderte mich manchmal bei meinen verzweifelten Versuchen, ihnen begreiflich zu machen, um was es uns eigentlich ging. Der Abstand zwischen dem Zeugenstuhl und der Anklagebank, auf der meine Freunde saßen, war so unendlich groß. Meine Freunde waren so weit weg und die Richter so nah. Ich mußte auch etliche bohrende Fragen zu Robert Reshas Rede an die Freiwilligen beantworten, eine Rede, in der er gesagt hatte: «Diszipliniert zu sein bedeutet, keine Gewalt anzuwenden, wenn die Organisation befiehlt, daß keine Gewalt angewandt werden soll. Aber als richtiger Freiwilliger mußt du, wenn man dich dazu auffordert, auch fähig sein, gewaltsam vorzugehen, und du darfst selbst vor einem Mord nicht zurückschrecken!» Für die Anklage war das eines der wichtigsten Beweismittel. Ich glaubte sofort zu wissen, wie es gemeint war – vielleicht, weil ich Robert und seine Leidenschaft für Disziplin und Ordnung so gut kannte und seine Rede auch in diesem Zusammenhang sah. Es wurde zwar Gewalt beschworen, aber im Grunde war es nur ein extremes Beispiel, nichts weiter. Ich realisierte jedoch, daß ich die Richter nicht davon überzeugen würde. Ich brauchte fünf Tage, um dem Gericht unsere Sache darzulegen, und das Hohe Gericht schien alles schon leidlich satt zu haben. Gelegentlich versuchte Richter Rumpff, Farid abzulenken, aber Farid hakte hartnäckig jeden Punkt der Freiheitscharta ab. Am sechsten Tag beendete Farid seine Befragung, und ich wurde von meinen Mitbeschuldigten ins Kreuzverhör genommen. Plötzlich war alles anders. Ich hatte nicht gewußt, daß ich von den anderen Angeklagten getrennt würde. In späteren Prozessen wurde das auch für unzulässig erklärt; wir
erhoben jedoch keinen Einspruch, weil wir gar nicht wußten, daß das überhaupt möglich war. Es bedeutete, daß ich, getrennt von den anderen, zum Gericht gebracht wurde und auch während der Pausen getrennt von ihnen irgendwo herumsaß; selbst mein Essen durfte ich nicht mit ihnen zusammen einnehmen. Es war der reinste Alptraum. Das Kreuzverhör dauerte zwei Tage. Die Fragen waren einfach und direkt. Sie wollten durch mich dem Gericht ein Bild von ihren Lebensbedingungen vermitteln, von dem Unrecht, das sie erlitten, damit ihre eigentliche Motivation sichtbar würde: ihr Wunsch, auf friedliche Art und Weise die Menschenrechte zu erringen. Danach wurde ich von Liebenburg, dem Vertreter der Anklage, ins Kreuzverhör genommen. Ich sollte definieren, was ich unter Demokratie, Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus verstand. Wie gebrauchte meine Organisation diese Begriffe? Manchmal hatte ich das Gefühl, ich könnte es nicht mehr länger aushalten, und mußte das heftige Verlangen unterdrücken, den Zeugenstand und den Saal zu verlassen. Ich wußte natürlich, daß ich nicht weit kommen würde. Ich führte meinen eigenen Kampf gegen Zitate, die aus ihrem Zusammenhang gerissen worden waren, und verlangte immer wieder, das ganze Dokument zu sehen, um sie in einen Kontext stellen zu könnet;. Manchmal beschuldigte mich Liebenburg, ich wolle etwas verbergen. «Sie sagen nicht alles, was Sie wissen… Sie scheinen ja von einer abgrundtiefen Ignoranz zu sein, was die Taktiken Ihrer Organisation betrifft.» Einmal bombardierten mich die Richter eine Dreiviertelstunde lang ununterbrochen mit Fragen. Ich wäre beinahe zusammengebrochen, schaffte es aber doch noch bis zum Gefängnis, wo ich dann meinen Tränen freien Lauf ließ.
Ich hatte mir schon gedacht, daß ich vor allem wegen zwei «Ansätzen zur Tatbestandsverwirklichung» in die Zange genommen werden würde: Einmal gab es da dieses Zitat aus meiner Genfer Rede, in dem ich die Zwangsräumungen in Sophiatown als den Funken bezeichnete, der eine Feuersbrunst auslösen könnte, und dann dieses andere Zitat, das ich in meinem Artikel den Frauen in den Mund gelegt hatte: «Was sollen wir tun, wenn uns die Pässe aufgezwungen werden?» War das erste Zitat nicht eindeutig eine Aufforderung zu Gewalt? Und hatte ich in dem zweiten nicht angedeutet, daß die Frauen sich weigern sollten, Pässe zu tragen? Ich wußte zwar ganz genau, was ich damit gemeint hatte, aber unter diesem Hagel von Fragen, den die Anklage und die Richter auf mich herunterprasseln ließen, schaffte ich es manchmal nicht, mich auf meine Antworten zu konzentrieren. Es dauerte eine Ewigkeit. Ich wünschte mir, die Zeiger der Uhr würden sich schneller bewegen. So anstrengend hatte ich es mir nicht vorgestellt; ich war für jede Pause dankbar, konnte mich aber doch nicht richtig entspannen. Die Tage vergingen, und die Verantwortung gegenüber meinen Freunden lastete immer schwerer auf mir; ich befürchtete, sie irgendwie zu enttäuschen. Die Verhandlungen wurden zu richtigen Kampfhandlungen, so wie ich das aus Büchern kannte. Ich hätte jedoch nie gedacht, daß ich selbst einmal darin verwickelt sein würde, kämpfte ich doch für Ideale, die die ganze zivilisierte Welt für selbstverständlich hielt. Eine Frage, die von Richter Rumpff besonders häufig aufgeworfen wurde, bezog sich auf den bewaffneten Kampf – was war in meinen Augen wichtiger, die Erlangung der Freiheit oder die Mittel, die zu diesem Zweck angewandt wurden? Ich antwortete, daß ich Gewalt als ein untaugliches Mittel betrachten würde. Auch wenn ein unterdrücktes Volk genügend Waffen hätte und den Kampf um die Freiheit damit
schneller beenden könnte, wäre ich gegen bewaffnete Gewalt. Ich erklärte, das Ziel wäre weniger wichtig im Vergleich zu der Tatsache, daß Menschen dafür leiden oder ihr Leben lassen müßten. Ich würde jede Bewegung, die den bewaffneten Kampf anstrebte, verurteilen, unabhängig davon, welche Ziele sie propagierte. Ich meinte jedes Wort von dem, was ich sagte, denn die Möglichkeit, daß der ANC und seine Verbündeten sich eventuell gezwungen sähen, ihre Politik der Gewaltlosigkeit aufzugeben, bestand damals überhaupt nicht. Mit der Eskalation der institutionellen wie auch der tatsächlichen Gewalt, die im Anschluß an Sharpeville von der Regierung und der Polizei ausgeübt wurde, hatte ich nicht gerechnet. Und ich hatte auch nicht damit gerechnet, daß diese Spirale der Gewalt sich so schnell entwickeln würde. Nach vierzehn Tagen durfte ich den Zeugenstand verlassen und zu den anderen Angeklagten zurückkehren. Sie erdrückten mich beinahe, so stürmisch begrüßten sie mich. «Unversehrt und unverzagt!» rief Duma Nokwe, ein wirklich großes Lob. Ich konnte es kaum fassen: Ich hatte sie nicht enttäuscht. Auch im Gefängnis wurde das Ende dieser Tortur gefeiert. Wir ließen aus der Küche noch zusätzlich etwas kommen, und ein Willkommensmahl wurde für mich zubereitet. Ein paar Tage später erfuhren wir die große Neuigkeit: 1200 Inhaftierte sollten entlassen werden; am 1. Juli verkündete die Wärterin: «Alle außer Joseph können gehen.» Es war ein schrecklicher Augenblick, aber wie sich herausstellte, blieb ich doch nicht allein zurück, da Yetta auch noch drei weitere Wochen absitzen mußte. Wirklich allein war ich erst, als Yetta – hin- und hergerissen zwischen der Freude, endlich nach Hause zu dürfen, und dem Schmerz, mich zurücklassen zu müssen – sich von mir verabschiedete. Lilian war ebenfalls allein. Wir hatten jedoch keinerlei Kontakt miteinander, wenn
wir nach den Verhandlungen wieder ins Gefängnis zurückkehrten. Auch beim Gericht hatte sich einiges verändert. Nachdem so viele Häftlinge freigelassen worden waren, erschien das Ende des Ausnahmezustands in greifbare Nähe gerückt. Wir riefen unsere Verteidiger wieder zurück, und sie lasen sich das Protokoll unserer Aussagen durch. Im weiteren Verlauf des Prozesses traten auch noch andere Angeklagte in den Zeugenstand. Nelson Mandelas Aussage war ein eindrucksvoller Abriß der Politik der Gewaltlosigkeit, die der ANC seit fünfzig Jahren verfolgte. Es war inspirierend zu sehen, wie ruhig und beherrscht Nelson während des Kreuzverhörs reagierte, ein Auftreten, das wohl auf seine jahrelange Erfahrung als Kongreßführer zurückzuführen war. Manchmal schien jedoch auch ihm der Kragen zu platzen, so, als Richter Rumpff erklärte, Leute ohne jegliche Bildung seien so beeinflußbar wie Kinder und deshalb nicht reif für das allgemeine Wahlrecht. Wir waren alle sehr empört, als wir das hörten, da sich unter den Angeklagten zwei sehr geachtete ANC-Führer befanden, ältere Männer, die nie eine Schule besucht hatten. Sie hatten jedoch während der Haft ihre ganze freie Zeit darauf verwandt, Lesen und Schreiben zu lernen. Die diffamierende Bemerkung des Richters war eine Beleidigung für sie wie für uns alle, und Nelson war offensichtlich auch dieser Ansicht. Als ich Nelson sprechen hörte, war ich wieder einmal beeindruckt von der Autorität und dem Prestige des ANC. Obwohl auch ich gebannt, inhaftiert und des Hochverrats angeklagt war, fand ich es doch unglaublich, daß ich mich an der Seite dieser illustren Führer der Kongreßallianz befand, daß ich innerhalb der kurzen Spanne von zehn Jahren in ihre Nähe gerückt war, nachdem ich so viele Jahre meines Lebens nutzlos verplempert hatte.
Kurz nach Nelson trat Robert Resha in den Zeugenstand. Die Spannung, die zwischen ihm und Trengove bestand, machte sich gleich in den ersten fünf Minuten des Kreuzverhörs bemerkbar. Robert war militant, arrogant, und es kam immer wieder zu irgendwelchen Eklats. Eigentlich war es eher ein Zweikampf zwischen Robert und Trengove als die Vernehmung eines Angeklagten. Robert weigerte sich, die Richter mit «Euer Ehren» anzureden, wie es das Protokoll verlangte. Sogar Richter Rumpff gab schließlich auf und meinte versöhnlich, der Zeuge solle am besten auf jede Art von Anrede verzichten. Es half jedoch nichts, Robert blieb bei seinem verächtlichen «Mr. Trengove». Robert gab ganz offen zu, daß er manchmal in seinen Reden zu weit gegangen sei, und er räumte auch ein, daß er sich damit über die Grundsätze des Kongresses hinweggesetzt und die Kritik der Führer verdient habe. Er habe jedoch am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, nach Sophiatown zurückzukommen und den ganzen Hausrat auf der Straße vorzufinden, während seine Familie nicht wußte, wo sie die Nacht verbringen sollte. Er beanstandete die Protokolle, die die Sicherheitsbeamten von seinen Reden gemacht hatten. «Gott allein weiß, was ich gesagt habe», meinte er. Angesichts des brutalen Vorgehens der Regierung kamen Robert jedoch auch Zweifel an der gewaltlosen Politik des ANC. «Manchmal erscheint es mir nur recht und billig, daß wir Gewalt mit Gewalt beantworten.» Aber er hatte die Politik der Gewaltlosigkeit als eine kluge Entscheidung akzeptiert. Noch während Robert im Zeugenstand war, wurde der Notstand endlich wieder aufgehoben. Am 31. August wußten wir, daß er am nächsten Tag zu Ende sein würde. Daß wir bereits des Hochverrats angeklagt waren, hatte mit unserer Inhaftierung nichts zu tun. Zusammen mit zweitausend
anderen waren wir einfach nur die Opfer des nach Sharpeville verhängten Notstands; die Schuld an dem Blutbad traf jedoch die Polizei, nicht uns. Das politische Klima und die allgemeine Panik hatten diese Rechtsverletzung erst möglich gemacht. Wir hatten wenigstens etwas Abwechslung gehabt, da wir immer wieder vor Gericht erscheinen mußten, aber die anderen saßen all diese endlos langen Wochen in ihren Zellen und durften nur gelegentlich Besuch von ihren Angehörigen empfangen. Sie wußten weder, was sich außerhalb des Gefängnisses abspielte, noch, was die Zukunft bringen würde. Dabei war das nur ein Bruchteil von dem, was noch kommen sollte. Wir konnten nicht wissen, daß in dem nächsten Jahrzehnt die Zustände in den Gefängnissen noch viel schlimmer sein würden, daß manche Häftlinge während des Verhörs die schrecklichsten Folterungen über sich ergehen lassen müßten, daß es mysteriöse Todesfälle geben würde, und wir ahnten auch nicht, daß Caleb Mayekise, der die ganzen Jahre über jeden Tag mit uns auf der Anklagebank gesessen hatte, eines Tages tot in seiner Zelle aufgefunden werden würde und daß die näheren Umstände seines Todes nie aufgeklärt werden würden.
Und dann war der Notstand vorbei. Am 31. August verließen Lilian und ich gemeinsam das Gefängnis und kletterten zum letztenmal mit den ganzen Sachen, die sich im Lauf der letzten fünf Monate angesammelt hatten, in das Polizeiauto. In meinen Tüten befanden sich Lebensmittel, ein Scrabblebrett, Puzzlespiele, Bücher und Zeitschriften, die die anderen Frauen zurückgelassen hatten. Nichts durfte in der Zelle liegenbleiben. Wie seltsam, daß nach fünf langen Monaten Haft auch nicht die geringste Spur von mir vorhanden sein würde!
Als wir zum Männergefängnis kamen, warteten die meisten unserer Freunde bereits auf der Straße auf uns und unsere letzte Fahrt in dem «singenden Bus». Jeden Tag hatten wir auf der Hin- und Rückfahrt unsere Freiheitslieder gesungen. Unser Fahrer war begeistert und hatte uns immer wieder ermuntert: «Singt, Jungs!» Er war eine gute Seele, und es tat ihm aufrichtig leid, uns auf Wiedersehen sagen zu müssen; gleichzeitig freute er sich jedoch auch mit uns. An jenem Tag sangen wir besonders laut und triumphierend, als wir durch die Straßen von Pretoria zockelten. Ein paar wollten lieber zu Fuß gehen – einfach um wieder die Straßen entlanggehen zu können! Wir trafen uns dieses Mal vor dem Gericht und gingen in das Café auf der gegenüberliegenden Seite, um unseren ersten Kaffee «in Freiheit» zu trinken. Ich überquerte die Straße gleich zweimal, so begeistert war ich, wieder frei zu sein. In Wirklichkeit waren wir aber gar nicht frei. Wir waren immer noch des Hochverrats angeklagt und hörten zu, wie unser Beweismaterial verlesen wurde, während das Ende des Prozesses näherrückte; was die nächsten Monate bringen würden, wußten wir natürlich nicht – Freispruch oder Verurteilung? Ich bezweifle, ob wir an jenem Vormittag dem Gericht oder selbst dem, was Robert sagte, viel Aufmerksamkeit schenkten. Unsere Blicke wanderten immer wieder zu der Galerie hoch, die sich mit unseren Freunden und Angeklagten füllte – mit ihnen würden wir dann nach Hause fahren! Auf mich wartete Violet Weinberger; wir hatten uns das letzte Mal vor zwei Monaten gesehen, als sie zusammen mit den anderen inhaftierten Frauen entlassen wurde. Die Menschlichkeit siegte dann doch über die Vorschriften, und die Nachmittagssitzung entfiel.
Es gab so viele Freunde, denen ich nach meiner Rückkehr nach Johannesburg einen Besuch abstatten mußte. Als erstes holte ich mein Auto ab und fuhr damit in der Stadt herum. Zum Glück hatte ich niemanden im Gefängnis zurückgelassen – das wäre schlimm gewesen! Ich rief die Medical Aid Society an, bestellte Grüße und vereinbarte, daß ich am nächsten Tag wieder mit meinen Früh- und Spätschichten anfangen würde. Alles verlief so schnell wieder in normalen Bahnen, daß die letzten fünf Monate bereits zu verblassen begannen. Am nächsten Tag standen wir wieder in Pretoria vor Gericht. Nelson, Robert, Farid, Stanley und ich hatten die Pretoria Road genommen, um nachzusehen, ob man «unsere» Häuser auch nicht während unserer Abwesenheit vernachlässigt hatte. Wir waren immer noch dabei, unsere Informationslücke aufzufüllen. Richter Rumpff hatte unser Gesuch genehmigt, am Freitag keine Sitzung abzuhalten, damit die Männer aus der östlichen Kapprovinz am Wochenende einen Tag länger im Kreis ihrer Familie verbringen konnten. Wir bemerkten, wie de Vos, einer der Anwälte der Anklage, beinahe in den Saal getaumelt kam, so schwer war die Last der Bücher, die er mit sich herumschleppte. Kurz vor vier, als das Gericht gerade Schluß machen wollte, erhob sich dieser kleine Bursche mit dem griechischen Profil und verblüffte die Anwesenden mit der Forderung, daß sämtliche Angeklagte zurück ins Gefängnis müßten, da wir rechtlich gesehen immer noch in Haft und auch nicht auf Kaution freigelassen seien. Wir brauchten eine Weile, um das zu verdauen. Sollten wir tatsächlich wieder eingesperrt werden? Was meinte er, als er von unserer Kaution sprach? Für uns war das Ganze nichts weiter als ein übler Trick der Regierung, und wir verachteten die öffentliche Anklage deswegen. Hatten sie vielleicht Angst, daß wir nach der ungeschickten Beweisführung der öffentlichen Anklage freigesprochen würden? Wie lange
wollten sie uns denn noch einsperren, genügten denn die fünf Monate nicht? War das ihr Plan: den Notstand aufheben, alle freilassen und uns zurückbehalten? Während der kurzen, kritischen Pause, in der wir auf die Entscheidung des Gerichts warteten, versammelten wir uns in dem Café auf der gegenüberliegenden Straße, um vielleicht unsere letzte Tasse Kaffee in Freiheit zu trinken – eine letzte, die sehr schnell auf die erste gefolgt wäre. Ich bin überzeugt, daß keiner von uns daran dachte, sich davonzumachen, solange er sich noch auf freiem Fuß befand. Vielleicht waren wir einfach schon so darauf getrimmt, die Sache bis zu ihrem Ende durchzustehen; vielleicht hinderte uns aber auch diese unverbrüchliche Solidarität, die uns verband. Ich vermag das nicht zu entscheiden; vielleicht spielte auch beides eine Rolle. Um sieben war die Warterei vorbei. Die Anklage hatte keinen Erfolg mit ihrem Antrag gehabt, und wir waren immer noch frei. Maisels hatte den Anwalt der Anklage völlig auseinandergenommen. Irgendwie schien das alles symptomatisch für den Verlauf dieses absurden Prozesses zu sein, der mehr und mehr auseinanderzufallen drohte. Unsere Position wurde immer stärker, aber die Staatsanwaltschaft ließ nicht locker. Als wir uns nach unserem gefährdeten Wochenende wieder vor Gericht trafen, trat Professor Matthews in den Zeugenstand; «ZK»,wie er von vielen genannt wurde, war der weise, schon etwas angegraute Staatsmann des ANC, ein Mann von kräftigem, untersetztem Körperbau, gewandt, kultiviert und allen übrigen im Gerichtssaal haushoch überlegen, was Wissen und Bildung betraf. Unser Verteidiger ließ ihn seine beeindruckende Karriere beschreiben: er war der erste afrikanische Student an der Universität von Südafrika gewesen und hatte eine Gastprofessur in den USA angeboten bekommen; außerdem war er zu vielen Weltkonferenzen
eingeladen worden, an denen er aber nicht immer teilnehmen konnte, weil die Polizei seinen Paß eingezogen hatte. Die Arme verschränkt, saß er vollkommen gelassen auf der Zeugenbank, wenn auch natürlich auf der schwarzen Seite. Er hätte an irgendeiner Spitzenkonferenz teilnehmen oder einfach in seinem Arbeitszimmer sitzen können, im Gespräch mit einem seiner Studenten – diesen Eindruck vermittelte er, als er von Rechtsanwalt Hoexter ins Kreuzverhör genommen wurde. In den nächsten fünf Tagen umriß er in seiner Aussage die Politik der Gewaltlosigkeit, die der ANC verfolgte – mehr als das, er belegte sie auch, und zwar so, daß der öffentliche Ankläger keine Angriffspunkte mehr entdecken konnte. Als die Anklage behauptete, die Freiwilligen seien auf eine gewaltsame Auseinandersetzung vorbereitet worden, rief er: «Das ist ja absurd!» Es war absurd. «Nicht Afrika nur für Afrikaner», meinte er, «sondern Afrika auch für Afrikaner.» Er erklärte, der ANC würde befürchten, daß ein gewaltsamer Umsturz ein ähnlich bitteres Nachspiel haben würde wie der Burenkrieg. 1953 hatte Professor Matthews auf einer Konferenz des ANC den Vorschlag gemacht, einen Volkskongreß zu organisieren. Auf diesem Kongreß sollten alle Bevölkerungsgruppen Südafrikas gemeinsam eine Charta für eine demokratische Zukunft ausarbeiten. Er sagte, die Art und Weise wie der Volkskongreß dann ausgeführt worden sei, habe seinen Beifall gefunden; in der Charta seien alle Forderungen des Volkes enthalten, Forderungen, die in den einzelnen Paragraphen behandelt würden. Persönlich sei er zwar nicht davon überzeugt, daß Verstaatlichungen eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme seien, er würde es jedoch absurd finden, diesen Punkt als Beweis für eine kommunistische Unterwanderung des ANC zu betrachten. Er würde vielmehr einen allgemeinen Trend widerspiegeln.
Da wir angeklagt waren, Mitglieder einer Organisation zu sein, die den gewaltsamen Umsturz des Staates plante, mußte die Staatsanwaltschaft beweisen, daß diese angebliche Politik der Gewalt auch von uns vertreten wurde. Manchmal schienen uns diese Unterstellungen einfach an den Haaren herbeigezogen zu sein. Es war jedoch sehr schwierig, Robert Resha zum Kommunisten abstempeln zu wollen. Ich hatte mir gleich gedacht, daß sie damit keinen Erfolg haben würden – Robert war wirklich kaum rot angehaucht. Die Anklage stützte sich deshalb vor allem auf seine Brandreden, um zu beweisen, daß er die afrikanische Jugend aufgehetzt und an einer Konspiration teilgenommen habe. Seine Aussage wurde verworfen, ein Schicksal, das er sich mit den meisten Zeugen der Verteidigung teilte. Sie waren immer sehr schnell zur Hand: Wenn wir dem öffentlichen Ankläger widersprachen, dann sagten wir entweder nicht die Wahrheit oder wichen aus. Als ich an die Reihe kam, war das Hauptargument, daß ich die Bildung und das Wissen besäße, um die konspirativen Züge der Befreiungsbewegung – höchstwahrscheinlich auch die bestehende Verschwörung selbst – zu erkennen. Der öffentliche Ankläger bezeichnete mich als eines der aktivsten Mitglieder der Bewegung, was ich als ein großes Kompliment auffaßte. Er meinte, ich hätte nicht die Wahrheit gesagt, als ich mich zu den Reden auf unseren Meetings äußerte. Er räumte jedoch ein, daß ich keine Kommunistin sei, zumindest würde ich die kommunistische Doktrin nicht wirklich verstehen. Ich fragte mich, ob man mich vielleicht eine «ahnungslose Kommunistin» nennen könnte. Mein eigentliches Verbrechen war die Teilnahme an einer Verschwörung. Ich fragte mich, ob diese Betonung meiner Bildung, meiner Erfahrung und meines Wissens vielleicht nur bedeutete, daß von mir eigentlich mehr Einsicht zu erwarten gewesen wäre.
Nelsons eindrucksvolle und sehr instruktive Aussage war ein harter Brocken für die Anklage; sein Schicksal war es jedoch, als Kommunist abgestempelt zu werden. Der öffentliche Ankläger bestand darauf, daß er die kommunistische Revolutionstheorie gekannt und gebilligt haben mußte. Er war jedoch gebannt gewesen und hatte deshalb keine Reden gehalten. Die Anklage konnte ihm also nur konspirative und staatsfeindliche Absichten unterstellen. Aus Lilian ließ sich auch nicht viel herausholen; sie erwies sich als das reinste Unschuldslamm. Trotz ihrer Reise in die Sowjetunion und die Volksrepublik China verdächtigte man sie keiner kommunistischen Umtriebe. Aber wie Robert warf man ihr vor, andere aufgewiegelt zu haben, und das genügte, um auch sie als Verschwörerin abzustempeln. In den Augen der Anklage waren wir also alle Verschwörer, die einen gewaltsamen Umsturz des Staates geplant hatten. Wir glaubten nicht wirklich an Gewaltlosigkeit: Wir waren also ein Haufen mehr oder weniger roter Verräter. Vier Monate hatte die Anklage für ihre Beweisführung benötigt. Unser Verteidigerteam hatte sich gerade zwei Wochen damit auseinandergesetzt, als die Richter plötzlich erklärten, sie wollten eine Beweiswürdigung vornehmen und dann entscheiden, ob die Verteidigung sich noch weiter zu bemühen brauche. Der Prozeß wurde auf die nächste Woche vertagt. Am 29. März 1961 erschienen wir wieder vor Gericht; dieses Mal waren wir gemeinsam mit dem Hochverräter-Bus gekommen – singend wie schon zu Beginn des Prozesses. Wir wurden nicht lange auf die Folter gespannt – in einer halben Stunde war das Urteil verlesen. Ich fand es schwierig, der Begründung zu folgen, und schwankte zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, bis wir uns dann zur Verkündung des Urteils erheben mußten. «Sie sind freigesprochen und
entlassen.» Für uns waren das die schönsten Worte in englischer Sprache. Die Anklage hatte dem ANC nicht beweisen können, daß er darauf hingearbeitet habe, die Regierung mit gewaltsamen Mitteln durch eine andere Staatsform zu ersetzen. Es gab keine Verschwörung, und wir waren keine Verräter. Wir konnten also wieder nach Hause gehen, nachdem vier volle Jahre unseres Lebens von diesem monströsen, völlig verrückten Hochverratsprozeß absorbiert worden waren. Für viele war es ein bitterer, kostspieliger Sieg, dem Jahre der Angst, der Frustrationen und der Entbehrungen vorausgegangen waren. Dem Staat war es jedoch nicht gelungen, unsere Solidarität zu brechen, im Gegenteil, sie war stärker als je, obwohl es manchmal schon sehr schlimm gewesen war, sich zur Passivität verurteilt zu sehen – als sich zum Beispiel die Afrikanisten abspalteten, als die Schießereien in Sharpeville stattfanden, als wir monatelang inhaftiert waren, während dringend Führungskräfte benötigt wurden, um unsere Sache voranzutreiben. Daß in Johannesburg die große Widerstandskampagne gegen den Paßzwang organisiert wurde, während wir immer noch vor Gericht standen, war für Lilian und mich ein unerträglicher Gedanke gewesen. Nun waren wir zwar frei, aber ich war immer noch gebannt, und mit mir viele andere, während die Repression sich von Jahr zu Jahr verstärkte. Die Frauenliga des ANC war zusammen mit dem ANC verboten worden, und die Föderation würde zu kämpfen haben, um sich von diesem Schlag zu erholen. Ich freute mich jedoch, wieder meiner Arbeit nachgehen zu können, abends etwas Zeit für mich zu haben und an den Wochenenden Bekannte zu besuchen. Und ich war erleichtert, nicht mehr diese Zusammenfassungen der Gerichtsverhandlungen schreiben zu müssen, aber ich vermißte
die anderen, die mit mir auf der Anklagebank gesessen hatten. Der Alltag hatte wieder begonnen. Jedoch nicht für alle. Einige waren nach dem Prozeß noch monatelang arbeitslos und mußten sich weiterhin von ihren Frauen oder Familien unterstützen lassen, nachdem diese schon die ganzen Jahre über die Verantwortung getragen hatten. Daß ich immer noch meinen Job hatte, war wirklich ein Glücksfall, auch wenn es harte Arbeit bedeutete, aber die andern hatten nicht einmal das. März 1961 war für uns ein Monat des Triumphes – nicht nur wegen unseres Freispruchs, sondern auch wegen der Gesamtafrikanischen Konferenz in Natal. An dem Wochenende vor der Urteilsverkündung hatte Nelson Mandela sich heimlich nach Pietermaritzburg abgesetzt. Sein Bann war nach fünf Jahren abgelaufen, anscheinend, ohne daß die Behörden etwas bemerkt hatten; zumindest war er nicht erneuert worden. Er war also frei; er konnte Johannesburg verlassen, auf Versammlungen auftreten und reden. Die Gesamtafrikanische Konferenz war ein großer Erfolg, was vor allem dem Kampfgeist und der Entschlossenheit der Delegierten zuzuschreiben war. Sie forderten eine Nationalversammlung, auf der die Vertreter aller Rassen eine demokratische Verfassung für Südafrika ausarbeiten sollten. Nelsons unerwartetes Auftauchen hatte eine ungeheure Wirkung. Nach all den Jahren des Gebanntseins muß es ein unvergeßliches Erlebnis für ihn gewesen sein; es war jedoch auch sein letzter öffentlicher Auftritt in Südafrika, wie sich später herausstellte. Nach dem Freispruch war er direkt in den Untergrund gegangen, um von dort aus den Kampf weiterzuführen, ein Entschluß, der die Aufgabe seines Familienlebens bedeutete. Die Konferenz forderte eine Nationalversammlung, auf der alle Bevölkerungsgruppen vertreten sein sollten. Wenn die Regierung nicht bis zum 31. Mai – dem Tag, an dem die
Südafrikanische Republik ausgerufen werden sollte – auf diese Forderung einging, sollten im ganzen Land Demonstrationen und Stayaways durchgeführt werden. Die Regierung reagierte wie üblich mit verstärktem Polizeieinsatz, großangelegten Razzien und Massenverhaftungen wegen Paßverletzungen. Beinahe 10000 Personen wurden inhaftiert. Es war eine Polizeiaktion von gigantischen Ausmaßen. Im ganzen Land wurde der Polizei der Urlaub gesperrt, und Panzerspähwagen fuhren durch die Straßen der schwarzen Townships, um ihre Stärke zu demonstrieren. Vom 19. Mai bis 26. Juni durften keine Versammlungen abgehalten werden – ein geschickter Schachzug, um Feierlichkeiten zum Jahrestag des Volkskongresses zu unterbinden. Eine Notstandsbestimmung ermöglichte es, jeden Festgenommenen für die Dauer von zwölf Tagen zu inhaftieren, ohne daß ein Haftbefehl gegen ihn erlassen werden mußte. Bisher war das Maximum zwei Tage gewesen. Die Reaktion der Weißen war, Lebensmittel zu hamstern und sich mit Waffen einzudecken. Mehrere meiner weißen Freunde versteckten sich, als diese Bestimmung bekanntwurde. Einige waren schon 1960 inhaftiert worden, andere befürchteten, zum erstenmal festgenommen zu werden, oder auch, daß die Zwölf-TagePeriode verlängert würde. Verstecken kam für mich nicht in Frage, selbst wenn ich es vom politischen Standpunkt aus richtig gefunden hätte – was ich nicht tat –, denn ich mußte ja nach dem dreitägigen Boykott wieder in meinem Büro erscheinen. Sich nur abends zu verstecken, wäre sinnlos gewesen. Angst hatte ich jedoch auch, und ich ertappte mich dabei, wie ich aufhorchte, wenn vor meinem Haus ein Auto anhielt, wie ich erleichtert aufatmete, wenn ich nur eine
Wagentür hörte und wie ich zusammenzuckte, wenn es zwei waren, denn das konnte Polizei bedeuten. Daß der Boykott nicht den erwarteten Erfolg zeitigte, war angesichts dieser Einschüchterungskampagne nicht verwunderlich. Der Aufruf war nicht im ganzen Land befolgt worden – die Massen waren nicht mobilisiert worden, wenn auch in vielen Zentren die Beteiligung an dem Streik sehr hoch gewesen war. Tausende von Arbeitern waren am ersten Tag der Arbeit ferngeblieben und viele auch noch am zweiten Tag, trotz der Propaganda der Medien und der Schikanen der Polizei. Am ersten Tag berichtete der südafrikanische Rundfunk in den Sieben-Uhr-Nachrichten, daß der Boykott fehlgeschlagen sei, was zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht überprüfbar war. Er hatte zwar nicht die erhofften Dimensionen, aber er warf doch seinen Schatten auf die Feiern am Tag der Republik. Aber war angesichts der vom Staat praktizierten Gewalt diese Form des friedlichen Protestes, wie sie in den letzten fünfzig Jahren durchgeführt worden war, überhaupt noch vertretbar? Die Frage hatte sich der ANC seit dem Blutbad von Sharpeville gestellt. «Solange unsere Forderungen nicht erfüllt werden», ließ Nelson aus dem Untergrund verlauten, «wird es Proteste und Demonstrationen dieser oder auch anderer Art geben. Wenn als Antwort auf friedliche Aktionen die Armee und die Polizei mobilisiert werden, sieht sich das Volk vielleicht gezwungen, andere Kampfmethoden anzuwenden.» Nelsons Erklärung zwang mich zu einer Überprüfung meiner eigenen Position. Vor Gericht hatte ich unmißverständlich erklärt, daß ich für Gewaltlosigkeit und gegen jede Art von bewaffnetem Kampf eintreten würde. Konnte ich jedoch angesichts dieser Demonstration staatlicher Gewalt auf einen friedlichen Protest hin meinen Standpunkt beibehalten? Könnte ich den ANC auch noch unterstützen, wenn er seine Politik der
Gewaltlosigkeit aufgeben würde? War es überhaupt noch möglich, an einen mit friedlichen Mitteln herbeigeführten Wandel zu glauben? Ich hatte mich immer auf den Kampf der Inder berufen, die ihre Unabhängigkeit auf friedlichem Weg erreicht hatten. Inzwischen war mir jedoch klargeworden, daß die Antwort der indischen Regierung auf den gewaltlosen Widerstand sich grundlegend unterschied von den brutalen Methoden der südafrikanischen Regierung, dem Einsatz von bewaffneter Polizei und der im ganzen Land durchgeführten Einschüchterungskampagne. Der ANC hatte seine eigene Antwort darauf gefunden. Da er seit eh und je eine Politik der Gewaltlosigkeit verfolgt hatte, konnte er diesen Grundsatz nicht einfach über Bord werfen. Aber er konnte den Einsatz von kontrollierter Gewalt nicht mehr verurteilen, genausowenig, wie er seine Mitglieder, die sich dazu bekannten, verurteilen konnte. Umkhonto We Zizwe, der Speer der Nation, wurde gegründet; geplant waren Bombenanschläge auf Regierungsgebäude und -einrichtungen, bei denen keine Menschen ums Leben kommen sollten. Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen würden so vermieden werden, und die weißen Wähler würden hoffentlich anfangen, ihren Standpunkt zu überdenken. Umkhonto operierte unabhängig von der Untergrundorganisation des ANC; er besaß ein eigenes Oberkommando und akzeptierte nicht nur Schwarzafrikaner, obwohl natürlich viele Mitglieder des ANC in ihm vertreten sein würden. Wenn unter Gewalt die Zerstörung von Regierungsgebäuden verstanden wurde, hatte ich nichts dagegen. Eigentlich betrachtete ich das überhaupt nicht als Gewalt, da nur Dinge, aber keine Menschen Schaden nahmen. Umkhonto traf für mich eine Entscheidung. Es gab nämlich immer noch
genügend Raum für friedliche Aktionen, Proteste, Streiks, Meetings, denen eine Bombendrohung vielleicht mehr Nachdruck verleihen würde. Die ersten Sabotageakte erfolgten Ende des Jahres; sie waren auf den 16. Dezember gelegt worden, den «Tag der Helden», an dem der Zulukönig Dingaan besiegt worden war. Für die weißen Afrikaner hat dieser Tag natürlich eine ganz andere Bedeutung. Am Tag der Helden wurden also auf Regierungsgebäude in Durban, Johannesburg und Port Elizabeth Sprengstoffanschläge verübt, und sie richteten auch beträchtlichen Schaden an.
Reise zu den Verbannten
Endlich schrieben wir das Jahr 1962, und ich konnte mir sagen: «Das ist das Jahr» – das Jahr, in dem mein Bann auslaufen und ich wieder frei sein würde, in dem ich Johannesburg verlassen konnte, wann ich wollte, und wieder auf Versammlungen gehen durfte. Im letzten Jahr war mir noch mehr als in den Jahren zuvor bewußt geworden, wie eingeschränkt ich doch in meiner Handlungsfreiheit war. Als Angeklagte im Hochverratsprozeß waren wir so etwas wie eine große Familie gewesen, und die Verhandlungen hatten den größten Teil unserer Zeit in Anspruch genommen; in meinem Fall kamen noch die Zusammenfassungen und meine Arbeit bei der Medical Aids Society dazu. Irgendwie hatte ich die Restriktionen, die eine Bannverfügung mit sich brachte, gar nicht bemerkt. Als aber der Prozeß zu Ende war, wurden sie von Tag zu Tag unerträglicher; am schlimmsten war das Verbot, Versammlungen zu besuchen. Es wurde immer schwieriger für mich, mit der Föderation und dem Demokratischen Kongreß in Verbindung zu bleiben. Ich hatte mir vorgenommen, mich als nächstes um die in der Verbannung lebenden Schwarzen zu kümmern; neben dem Bann war die Verbannung eine Strafmaßnahme, von der vor allem die politischen Führer der ländlichen Gebiete, aber auch Gewerkschafter und Kongreßführer betroffen waren. Die nationalistische Regierung hatte sich auf das aus dem Jahr 1927 stammende Gesetz über Eingeborenenland (Native Land Act) besonnen; es ermächtigte den Generalgouverneur, einem Stamm oder einem Eingeborenen einen bestimmten Wohnort zuzuweisen, den er nur mit ausdrücklicher Genehmigung
wieder verlassen durfte. Eine Auswirkung dieses Gesetzes war, daß jeder Schwarzafrikaner mit seinem ganzen Hab und Gut an irgendeinen Ort in Südafrika verfrachtet werden konnte, ohne daß er vorher auch nur davon unterrichtet wurde. Eine Begründung war nicht notwendig; die Feststellung, daß eine solche Umsiedlung notwendig war, um den Frieden und die Ordnung innerhalb eines Stammes aufrechtzuerhalten, genügte. Die Leute wurden nie vorgewarnt, für die Frauen der Verbannten wurden keinerlei Vorkehrungen getroffen. Häufig mußte sich der Verbannte mit dem, was er gerade auf dem Leib trug, dorthin begeben. Er wurde nicht einmal mehr nach Hause gebracht, um etwas mitnehmen zu können. Und seine Frau wurde nicht benachrichtigt – er kam einfach nicht mehr zurück. Auch ein paar weibliche Oberhäupter wurden verbannt. Eine Frau versuchte zwei Jahre lang, mit ihrem ebenfalls verbannten Mann Kontakt aufzunehmen. Der Mann einer anderen war zu jahrelanger Gefängnishaft verurteilt. Sie selbst war zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Tochter, die beide noch zur Schule gingen, in die Verbannung geschickt worden. Das Mädchen war erst sechzehn, trotzdem stand in ihrer Bannverfügung, ihre Gegenwart würde die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung erschweren. Ein Mädchen von sechzehn Jahren! Auch eine verwitwete Häuptlingsfrau des Matlala-Stammes befand sich unter den Verbannten. Ich habe diese tragischen Schicksale alle aus dem Mund der Betroffenen gehört. Zurück blieben die Frauen der verbannten Männer; sie konnten die Scherben ihres zerstörten Lebens wieder zusammenkitten, die Kinder großziehen und ihren Besitz innerhalb des Stammesgebietes zusammenhalten. Nur ganz selten wagten sie es, ihre verbannten Männer zu begleiten. Gewöhnlich schob man die Verbannten in eine leerstehende Hütte auf irgendeine abgelegene Treuhand-Farm ab (Farmen,
die an die Reservate angrenzen, und nach und nach von ihnen eingemeindet werden sollen). Die Orte wurden meistens so ausgesucht, daß der Verbannte die dort üblichen Sprachen nicht beherrschte. Es war beinahe aussichtslos, auch nur einen Job als Landarbeiter zu finden. Nachbarn gab es kaum welche, und wenn, dann waren sie sehr weit entfernt. Die Verbannten waren also wirklich aus dem Gesichtskreis ihrer Mitmenschen verschwunden. Dann erschienen jedoch diese Berichte in den Zeitungen, in denen das Elend und die Einsamkeit dieser Leute beschrieben wurden, die gerade soviel verdienten, daß sie nicht verhungerten, oder manchmal auch nur von den zwei Pfund lebten, die ihnen die Regierung monatlich zukommen ließ. Der ANC forderte die Gründung eines Komitees, das diese Leute ausfindig machen und ihnen helfen sollte, eine Aufgabe, mit der Lilian und ich betraut wurden. Ein paar Freunde zeigten sich bereit, uns zu helfen. Das Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte wurde also ins Leben gerufen, um zunächst einmal den wenigen verbannten Personen, deren Namen wir durch die Presse erfahren hatten, zu helfen und den Rest ausfindig zu machen. Nur das Ministerium für Eingeborenenfragen wußte, wohin diese Leute verschleppt worden waren. Die Antwort auf unsere Nachfragen glich einem chinesischen Puzzle. Fünfundsiebzig Männer und fünf Frauen waren «umgesiedelt» worden (die offizielle Bezeichnung), d. h. von sechsundzwanzig verschiedenen Orten zu siebenundzwanzig andern Orten gebracht worden. Die Namen und die früheren Wohnorte wurden uns bekanntgegeben, aber wohin man sie gebracht hatte, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Anfangs schien es ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. Und es hat auch sehr lange gedauert, bis wir soweit waren. Als wir dann schließlich mit ein paar Verbannten Kontakt aufnehmen konnten, hörten wir schockierende Dinge: «Ich
wurde in eine völlig verlassene Gegend verbannt. Die nächste Stadt ist sechzig Kilometer entfernt. Verkehrsverbindungen gibt es keine. Bei meinem Abtransport bekam ich zwei Pfund, und das war’s. Das nächste Telefon ist auf der andern Seite des Berges. Lieber kein Leben als so eines.» Je mehr wir über die verbannten Männer und Frauen erfuhren, desto grauenvoller wurde das Bild. Aber selbst wenn es uns gelungen war, einen Verbannten ausfindig zu machen und seine Familie zu kontaktieren, konnten wir eigentlich nichts tun, als ihn mit Geld, Kleidung und Lebensmitteln zu versorgen. Am schlimmsten war wohl die Ungewißheit. Das Verbannungsurteil wurde erst wieder aufgehoben, wenn die Regierung dem Verbannten erlaubte, zu seiner Familie zurückzukehren. Ein Ende dieser grenzenlosen Trostlosigkeit war also überhaupt nicht abzusehen. Meine Anteilnahme wuchs, je mehr ich durch die Briefe über das Leben der Verbannten erfuhr; inzwischen hatten wir auch die meisten von ihnen ausfindig gemacht. Und sie entdeckten, daß man sie nicht völlig vergessen hatte. «Wir fühlen uns wieder als Menschen» antwortete einer auf meinen ersten Brief. Das Unterfangen war bei weitem nicht mehr so aussichtslos, wie wir anfangs gedacht hatten. Besuche wurden organisiert, und das Bild vervollständigte sich – das Bild von dem trostlosen Dasein dieser Verbannten. Wir erfuhren, wie es wirklich war und was es für die Opfer bedeutete. Die Behauptung der Regierung, daß die Frauen jederzeit ihre verbannten Männer besuchen könnten, stimmte – nur hatten sie kein Geld, weder für Essen noch für die Erziehung ihrer Kinder und schon gar nicht für Busfahrten von Tausenden von Kilometern. Die Familien der Verbannten blieben häufig völlig mittellos zurück. Manchmal durften sie nicht einmal das Land bestellen; die von der Regierung eingesetzten Häuptlinge
nahmen ihnen das Land weg und konfiszierten ihre Hütten oder ließen sie anzünden. Die Kinder konnten keine Schule besuchen, weil sie kein Geld für Bücher hatten und die Unterrichtsgebühren nicht bezahlen konnten. Wenn man den Familien verboten hatte, das Land zu bestellen, mußten sie von der Wohltätigkeit ihrer Freunde und Verwandten leben. Und wenn die Verbannten dann schließlich wieder zurückkommen durften, standen sie vor dem Nichts und mußten wieder ganz von vorne anfangen. Viele Frauen standen nicht einmal in brieflicher Verbindung mit ihren Männern; man hatte ihnen überhaupt nicht gesagt, wo sie waren. Das Schweigen war undurchdringlich. Manche Männer waren des Lesens und Schreibens nicht kundig oder konnten nur ein paar Worte in ihrer eigenen Sprache schreiben. Und dort, wo sie lebten, gab es keinen, der für sie Briefe geschrieben hätte. Als der Minister für Eingeborenenfragen wegen der Verbannungen zur Rede gestellt wurde, sagte er: «Sie sind keine Gefangenen.» Wenn aber einer der Verbannten Besuch bekam, durfte er sich nur in seiner Sprache mit ihm unterhalten, wenn für die drei Polizisten, die die ganze Zeit dabeisaßen, jedes Wort übersetzt wurde. Keine Gefangenen? Manchmal lebten die Verbannten an den schönsten Orten – in einer Landschaft mit Wasserfällen, Bergbächen, üppiger Buschvegetation oder auch am Meer, an der Küste des Indischen Ozeans. Aber das war kein Trost für sie; sie hatten Heimweh, sie wollten ihre Kinder wiedersehen. «Wir möchten zurück», meinten die Männer verbittert. «Wir haben Sehnsucht nach unserer Familie.» Ich wurde von all dem vollkommen in Anspruch genommen. Ein paar Besuche waren durch unsere Kontakte schon zustande gekommen, und ich fragte mich, warum ich mich eigentlich nicht selbst auf den Weg machte. Mein Bann lief am 30. April
1962 aus, und ich wollte mit eigenen Augen sehen, was ich nur vom Hörensagen kannte. Ich ließ also ein paar Eilbriefe los, verabredete mich mit den Verbannten in den verschiedenen Teilen des Landes und arbeitete eine Route aus, die mich durch den nördlichen und östlichen Transvaal, durch Swasiland, Natal, Lesotho (damals noch das britische Protektorat von Basutoland), die Transkei und das nördliche Kap führte. Ich bat Joe Morolong, ein Mitglied des ANC, und Amina Cachalia, ein Mitglied des Indischen Kongresses, mich zu begleiten. Joe war einer der Angeklagten des Hochverratsprozesses gewesen, die nach den Vorverhandlungen wieder gehen konnten. Er hatte in unserm Auftrag schon zwei Verbanntenlager im nördlichen Kap aufgesucht und auch Besucher mitgenommen. Ich wußte, daß er mit uns kommen konnte, weil er wegen seiner politischen Aktivitäten gezwungen worden war, Kapstadt zu verlassen und in seinen Heimatort zurückzukehren. Joe war ein sehr lebendiger und unternehmungslustiger Reisebegleiter, der viele afrikanische Sprachen beherrschte, aber leider überhaupt keine Ahnung von Autos hatte. Er war damals in seinen Dreißigern und sehr angetan von der Aussicht auf eine so abenteuerliche Reise. Amina Cachalia war ein Mitglied des Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte und auch sehr aktiv in der Frauenföderation. Schon als junges Mädchen hatte sie eine Gefängnisstrafe abgesessen: Sie war eine der ersten indischen Frauen, die sich 1952 während der Verweigerungskampagne inhaftieren ließen. Sie sah damals, als wir diese Reise unternahmen, so umwerfend gut aus, daß ich sie gar nicht mehr zu beschreiben vermag. Sie sieht auch jetzt noch sehr gut aus mit ihren schwarzen Haaren, ihren dunklen Augen und diesem Lächeln, das das ganze Gesicht erstrahlen läßt. Die Zeit scheint ihr nichts anhaben zu können; 1962 war sie jedoch in der Blüte
ihrer Jahre – keine zarte, orientalische Prinzessin, sondern eine robuste, vitale Kameradin, die keine Angst hatte, im Gefängnis zu landen, die immer zum Lachen aufgelegt war und sich auch nicht vor langen Autofahrten fürchtete. Probleme, die unser gemischtrassiges Trio mit der Unterkunft hatte, nahm sie tatkräftig in Angriff. Ich hatte einen neuen Wagen für diese Reise gekauft, der die tapfere «Treason Trixie» ersetzen sollte, das Auto, mit dem wir beinahe jeden Tag nach Pretoria fuhren. Wir verließen Johannesburg am ersten Mai in aller Frühe, nachdem am Tag zuvor mein Bann abgelaufen war. Erst als wir aus der Stadt herauskamen und auf der Autobahn nach Norden fuhren, wurde mir richtig bewußt, daß ich endlich wieder frei war und überall hingehen konnte, und auch mit wem ich wollte, daß ich nicht mehr in Johannesburg festsaß und alle Versammlungen besuchen konnte. Es war nicht nur unsere Reise mit ihren ganzen Abenteuern, sondern auch ein ganz privates Glücksgefühl, das mich erfüllte. Keine Bannverfügungen, keine Gerichtstermine – all das gehörte der Vergangenheit an! Ich wußte zwar, daß ich wieder gebannt werden konnte, daß das, was ich tat – diese Besuche von Verbannten und ihren Familien –, und das, was ich vorhatte, nämlich nach meiner Rückkehr über alles zu berichten, was ich gesehen und gehört hatte, ein neues Bannurteil nach sich ziehen könnte. Irgendwie spielte es aber keine Rolle, es war so etwas wie ein Berufsrisiko, das keine Auswirkungen auf meine Pläne hatte. Für den ersten Teil unserer Reise hatten wir uns einen langen Treck in den nördlichen Transvaal vorgenommen; anschließend wollten wir nach Swasiland und dann nach Durban fahren. Das allein nahm schon beinahe zwei Wochen in Anspruch. Wir begegneten vielen Leuten – unsern Freunden, die uns bei sich aufnahmen, unsern Kontakten, den Verbannten und ihren Familien.
In Natal statteten wir unserm geliebten Chief Luthuli, dem Präsidenten des Afrikanischen Nationalkongresses, einen Besuch ab. Er durfte den Bezirk von Groutville nicht verlassen; Groutville ist jedoch nur ein paar Kilometer von Stranger entfernt, wo wir bei indischen Freunden übernachtet hatten. Da der Chief immer nur eine Person empfangen durfte, arrangierten wir ein geheimes Meeting, das mitten in der Nacht stattfand. Um ihn zu treffen, fuhren wir an kilometerlangen Zuckerrohrfeldern vorbei, bis wir dann schließlich an einer Biegung stehenblieben und auf ihn warteten. Lautlos trat er aus dem Dunkel, und wir hörten, wie er uns begrüßte. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber es genügte schon, seine Stimme zu hören und neben ihm im Wagen zu sitzen, auch wenn wir dauernd die Straße im Auge behalten mußten, um nicht von einem Auto überrascht zu werden. Jede Minute war kostbar, denn für den Chief war es äußerst riskant, sich mit uns zu treffen, um unsere Berichte über die Verbannten zu hören. Wenn man uns erwischte, konnte er wegen der Teilnahme an einer Versammlung verhaftet werden. Ich berichtete ihm von den Matlalas, die ganz im Norden von Transvaal lebten, Hunderte von Kilometern von Johannesburg entfernt. Es waren die Frauen von Männern, die vor acht oder zehn Jahren verbannt worden waren. Die Sonne schien, während wir durch die felsige Hügellandschaft fuhren, um diese einsamen Frauen aufzusuchen. Zu unserer Begrüßung hatten sie die buntesten Tücher umgebunden und die schönsten Ketten angelegt; als dann aber eine nach der andern ihre Leidensgeschichte erzählte, erschien der Himmel plötzlich weniger blau, und die leuchtenden Farben ließen die sorgenvollen Linien, die die dunklen Gesichter zeichneten, nur um so stärker hervortreten. Manchmal rollten ihnen die Tränen über die Wangen. Nur ein einziger Mann war zu seiner Familie zurückgekehrt.
Mrs. Sibija Matlala erzählte uns, wie eines Tages eine motorisierte Streife bei ihnen vorbeikam und zu ihrem Mann sagte, er solle auf die Polizeistation von Sandfontein gehen. «Sie haben ihn mit dem Zug weggebracht, und ich habe jahrelang nichts von ihm gehört. Eines Tages tauchte er dann wieder hier auf. Ich hielt ihn für einen Geist und bin wahnsinnig erschrocken. An einem Montag war das. Er ist zusammengebrochen, hat sich aber gleich wieder aufgerappelt und gefragt: «Wie geht’s dir? Wie geht’s den Kindern? Er sagte, er sei gesund; es ging ihm aber nicht gut. Er ist auch gleich wieder zusammengebrochen. Eine Woche lag er im Bett, dann ist er gestorben. Er hat nie wieder was gesagt.» Als wir sie fragten, wie der schwerkranke Mann es denn geschafft habe, zu ihnen zurückzukehren, erzählte seine Frau, daß er immer nur ein paar Schritte gegangen sei und sich dann ausgeruht habe. Von dem acht Kilometer entfernten Busstop bis zu ihrem Haus habe er beinahe einen ganzen Tag gebraucht. Wir wußten, daß Sibija Matlala in dem Verbanntenlager von Driefontein gewesen war, das ungefähr 1600 Kilometer entfernt in der nördlichen Kapprovinz lag. Joe und unsere Freunde waren einmal dort gewesen und hatten ihn gesehen. Er war damals schon so krank, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Trotzdem hatte man ihn einfach vor die Tür gesetzt und seinem Schicksal überlassen. Wahrscheinlich sollte er nicht in dem Lager sterben. Eine andere Matlala-Frau erzählte uns: «Wir waren zu Hause, als dieser Polizeibeamte mit seinem Dienstwagen auf den Hof fuhr und zu meinem Mann sagte: «Los, steh auf!» Mich wollten sie auch mitnehmen, als aber mein Mann erfuhr, daß er an irgendeinen gottverlassenen Ort gebracht werden sollte, ließ er es nicht zu. Nach fünf Jahren hab ich erfahren, daß er noch lebte; danach hörte ich nichts mehr.» Bevor wir gingen, trösteten wir sie: «Seien Sie nicht traurig. Wir werden Ihren
Mann finden, und Sie können ihn besuchen.» Daraufhin lächelte sie zum erstenmal. Wir fanden ihn im Osten von Transvaal, ein paar hundert Kilometer von seinem Heimatort; als wir ihm erzählten, daß wir seine Frau gesehen hätten, machte dieses uralte, kleine Männchen, das schon einiges über achtzig war, einen richtigen Freudensprung. Er hatte im Ersten Weltkrieg als Soldat der südafrikanischen Armee in Ostafrika gekämpft. Stolz meinte er, er sei Soldat, und Soldaten würden ihre Frauen nicht mit in den Krieg nehmen. Deshalb habe er sie auch zurückgelassen, als er abgeholt worden sei. Vielleicht hatte der Beamte das auch nur vorgeschlagen, weil er schon so alt war. Grausamkeit mit einem Schuß Mitleid? Maema wollte jedenfalls nichts davon wissen. Ich berichtete dem Chief noch von vielen andern, die wir aufgesucht hatten, von Chief Faku aus der Transkei, der völlig isoliert auf einer Treuhand-Farm lebte. Seine Frau war bei ihm, aber ihr Kind war gestorben. Mit Tränen in den Augen erzählte er uns, daß sie es auf dem Krankenhausgelände begraben mußten, weil der Boden des Grundstücks, auf dem sie lebten, so hart und steinig war, daß man nicht einmal ein kleines Grab ausheben konnte. Wir hatten auch Stephen Nkadimeng, einen militanten Führer aus Sekhukhuniland, im Norden von Transvaal, ausfindig gemacht. Er lebte irgendwo in dem Pongola-Gebirge an der Grenze von Swasiland. Wir brauchten Stunden, um bis zu ihm vorzudringen. Manchmal waren wir schon drauf und dran gewesen, wieder umzukehren, aber dann haben wir ihn, seine Frau und seine Kinder, schließlich doch noch gefunden. Der nächste Ort war viele Kilometer entfernt, und es gab keinerlei Verkehrsverbindungen. Seine Frau war ihm gefolgt, ich habe sie getroffen, als sie in Johannesburg ankam, und sie in den
Zug nach Durban gesetzt. In Durban haben sie dann Freunde von uns in den Zug nach Zululand gesetzt. Sie war vom Land und hatte schreckliche Angst vor Städten, was auch kein Wunder war, denn sie saß zum erstenmal in ihrem Leben in einem Zug. Aber sie war fest entschlossen, es bis zu ihrem Mann zu schaffen. Von der Endstation in Zululand ging sie dann zu Fuß über fünfzig Kilometer die Berge hoch, immer mit dem Kind auf dem Rücken und dem zerbeulten Koffer auf dem Kopf. Obwohl sie die Leute dieser Gegend nicht verstehen konnte, machte sie doch ihren Mann ausfindig. Die Einrichtung der Hütte bestand aus einem Holzstuhl und einem Primuskocher. Auseinandergenommene, auf dem Boden ausgebreitete Pappkartons dienten ihnen als Bett. Sonst gab es nichts. Aber Stephens Mut war ungebrochen. Er stand neben unserm Auto und meinte ganz gelassen, als wir wieder abfuhren: «Der Kampf geht weiter. Das ist gut so.» Die Zeit reicht nicht, um von allen zu berichten. Als ich aufhörte, sagte Chief Luthuli einfach nur: «Vielen Dank, Helen.» Es genügte. Wir hatten ihm von der Tapferkeit der Verbannten und dem traurigen Los der Frauen erzählt. Es erfüllte ihn aber nicht mit Bitterkeit, sondern nur mit Mitleid. Er sprach sogar so etwas wie einen leichten Tadel aus, als er mich zornig den Wunsch äußern hörte, diejenigen, die so unbarmherzig, so gnadenlos das Leben der andern zerstörten, dafür büßen zu lassen. Dann verließ er uns wieder; das Dunkel verschluckte ihn. Wir konnten damals nicht wissen, daß wir ihn nie wiedersehen würden, daß er eines Tages von einem mit Zuckerrohr beladenen Güterzug überfahren werden würde, vielleicht sogar ganz in der Nähe von unserm geheimen Treffpunkt. Wir fuhren zusammen nach Lesotho, wohin einige der Verbannten geflohen waren, nachdem sie von wohlmeinenden
Weißen, die die Berichte über ihr elendes und trostloses Dasein erschüttert und empört hatte, «befreit» worden waren. Aber den Flüchtlingen ging es finanziell auch nicht besser, denn Lesotho war einfach ein zu armes Land. Ich erzählte Nan, die den Platz von Amina eingenommen hatte, und Joe von Twalumfeni Joyi, der in das öde Kuruman, am Rand der Kalahari-Wüste, verbannt worden war. Er wollte unter allen Umständen seine Hühner mitnehmen, die wahrscheinlich gerade in dem Augenblick ihrer nächtlichen Grenzüberquerung zu gackern angefangen hätten. Erst nach langem Hin und Her ließ er sich dann davon abbringen. Die Verbannten in Lesotho waren häufig völlig mittellos und isoliert und hatten noch weniger Kontakt mit ihren Familien als vorher. Ich wollte vor allem mit Elizabeth Mafeking sprechen, einer militanten Gewerkschaftsführerin und Vizepräsidentin der Föderation Südafrikanischer Frauen. Sie war 1959 von Paarl in der Kapprovinz auf eine abgelegene Treuhand-Farm in der Gegend von Kuruman verbannt worden. Sie weigerte sich jedoch, mit ihren elf Kindern auf dieser gottverlassenen Farm zu leben. In Paarl hatten viele afrikanische und farbige Arbeiter gegen Elizabeths Verbannung protestiert. Es kam zu Unruhen und Ausschreitungen der Polizei. Eines Morgens war Elizabeth mit ihrem jüngsten Kind auf dem Rücken über die Grenze geflohen und hatte sich in den Bergen von Lesotho versteckt. Ein großer Teil ihrer Familie kam nach – es war jedoch ein Kampf ums Überleben. Ich erinnerte mich noch aus der Zeit der großen Proteste an sie, als sie, kaum vierzigjährig und immer mit ihrem Kind auf dem Rücken, ihre Reden hielt, eine Frau, die von den Männern wie von den Frauen als Führerin anerkannt worden war. Er war traurig, sie im Exil wiederzusehen, ohne jegliche Verbindung mit Südafrika, krank vor Heimweh nach ihrem Land und ihren Leuten.
Von Lesotho fuhren wir Richtung Süden und machten auf dem Weg nach Kapstadt erst einmal in Port Elizabeth Halt, eine Stadt, die wir auch auf der Rückfahrt wieder besuchten. Die Frauen hatten ohne irgendwelche Plakate, Transparente, Flugblätter oder Bekanntmachungen in den Zeitungen ein großes öffentliches Meeting organisiert. Der riesige Saal war zum Brechen voll. Den Frauen kamen die Tränen, als wir über die tragischen Schicksale der Verbannten berichteten, danach sangen sie jedoch ihre Lieder, in denen sich die Hoffnung auf ein freies Südafrika ausdrückte. Vor uns lagen noch beinahe zweitausend Kilometer; zuerst mußten wir jedoch zurück nach Kingwilliamstown, wo wir Kgagudi Maredi und einen andern Verbannten aus Sekhukhuniland treffen wollten. Makwena Matlala, das verbannte Oberhaupt der Matlalas, lebte auch in dieser Gegend. Maredi war bereits zum zweitenmal in die Verbannung geschickt worden. Er erzählte, ein Colonel der südafrikanischen Polizei sei mit mehreren Lastwagen voll bewaffneter Polizei in den Kral des Königs gefahren und habe ihm die Verfügung präsentiert. In ihr stand, er würde im Interesse der öffentlichen Ruhe und Sicherheit umgesiedelt werden – sonst nichts. Maredi und sein Cousin leisteten Widerstand, wurden aber von der Polizei überwältigt. «Die Polizei war ziemlich brutal. Ich blutete. Sie legten uns beiden Handschellen und Fußeisen an und brachten uns auf einem offenen Laster zur nächsten Polizeistation. Von da aus wurden wir dann mit einem Polizeiwagen in die Ciskei gefahren, eine Strecke von ungefähr 1600 Kilometern. Die Fußeisen wurden uns erst bei unserer Ankunft wieder abgenommen. Mein Cousin wurde an einem Ort abgesetzt, ich an einem andern.» Ein Jahr später durfte Maredi probeweise nach Sekhukhuniland zurückkehren. Es wurden ihm jedoch
verschiedene Restriktionen auferlegt, z. B. durfte er nicht an den Beratungen des Stammes teilnehmen. Nach einem Jahr wurde ihm mitgeteilt, er sei einer der Hauptagitatoren und müsse zurück in die Verbannung nach Kingwilliamstown. Er sprach von seiner Frau und seinen Kindern, machte sich aber keine großen Hoffnungen, sie je wiederzusehen. Wir hatten auch seine Frau in Sekhukhuniland aufgesucht. Sie machte einen sehr einsamen und verzweifelten Eindruck und erzählte voller Erbitterung von der Deportation ihres Mannes. Weder beim ersten, noch beim zweitenmal hatte man ihm erlaubt, seiner Frau Bescheid zu sagen. Er war einfach verschwunden. Von Kingwilliamstown fuhren wir nach Norden in die Transkei, wo auf zwei Treuhand-Farmen in den Gebirgsausläufern, an der Grenze von Lesotho, zwei Männer in der Verbannung lebten. Danach fuhren wir wieder nach Süden an die Küste, um mit ein paar Frauen zu sprechen, deren Männer wir dann später in den Verbanntenlagern von Frenchdale und Driefontein trafen. Das war dann unsere letzte Etappe. Unsere Reise verlief natürlich nicht ohne Behinderung und Einmischung von sehen der Polizei. Damit hatten wir jedoch schon gerechnet, da die Verbannten in Gebieten lebten, für die man als Nichtafrikaner eine Einreisegenehmigung brauchte. Wir wußten, daß Amina, Nan und ich nie eine solche Genehmigung bekommen hätten, deshalb bemühten wir uns erst gar nicht. Wir gingen einfach das Risiko ein und wurden glücklicherweise auch nur zweimal geschnappt. Das erste Mal war in Zululand, als wir gerade den Bruder von Phikinkane Zulu ausfindig gemacht hatten, der vor Jahren nach Drienfontein verbannt worden war. Wir standen mit Phikinkane auf der Straße und unterhielten uns, als ich einen Polizeiwagen auf uns zukommen sah. Wir konnten uns weder
herausreden, noch konnten wir verschwinden. Sie brachten uns also auf die Polizeistation, wo Joe in eine Zelle gesteckt wurde, während Amina und ich einen endlos langen, nassen Sonntag in dem Dienstzimmer des Wachtmeisters verbrachten. Am Abend kam die Sicherheitspolizei und durchsuchte unser Auto, das sie in der Zwischenzeit zu der Polizeistation gefahren hatten. Danach durften Amina und ich gehen; am nächsten Morgen sollten wir jedoch vor dem Magistrat erscheinen. Joe blieb in polizeilichem Gewahrsam – wahrscheinlich als Geisel – und verbrachte eine ungemütliche Nacht in der Zelle. Amina und ich schafften es, in einem weißen Hotel unterzukommen. Wir mußten jedoch unsere Mahlzeiten auf unserm Zimmer einnehmen, da Amina als Inderin nicht in den Speisesaal durfte. Es blieb uns nichts anderes übrig, als diese Demütigung hinzunehmen – dies war Natal und nicht mehr der freundliche Transvaal, wo Amina bestimmt irgendwelche Freunde ausfindig gemacht hätte. Vor Gericht bekannten wir uns schuldig, uns an einem Ort aufgehalten zu haben, an dem wir uns nicht hätten aufhalten dürfen, zahlten die Geldstrafe und kehrten der Stadt Natal den Rücken. Dieser Zwischenfall hat uns jedoch nicht nur Geld sondern auch einen ganzen Tag gekostet. Und schlimmer noch, die Polizei hatte unsere Reiseroute herausgefunden und uns gewarnt, daß wir beim zweitenmal nicht so glimpflich davonkämen. Wir mußten also unsere ganzen Pläne ändern, aber die Sicherheitspolizei blieb uns trotzdem auf den Fersen; bis nach Lesotho verfolgten sie uns. Ganz zum Schluß wurde ich dann noch einmal in der nördlichen Transkei geschnappt. Wir waren beinahe durch Zufall auf einen Verbannten gestoßen, den wir schon lange gesucht hatten. Douglas Ramakgopa war ganz überrascht, uns zu sehen, überrascht, daß es Leute gab, die ihn nicht vergessen
hatten, die ihm sogar helfen wollten. Ich konnte mich aber nur in Gegenwart eines mißtrauischen Kommissars mit ihm unterhalten, dem ich irgendwie erklären mußte, was uns hierhergeführt hatte; ich hoffte nur, ich würde wegen der fehlenden Genehmigung nicht weiter in die Zange genommen werden. Aber noch am selben Tag tauchte die Polizei in dem Haus auf, in dem Joe, Mildred, Lesia und ich zusammen mit alten Bekannten vom ANC aus der östlichen Kapprovinz ein glückliches Wiedersehen feierten. Mildred, eine schwarze Gewerkschafterin, war an Nans Stelle getreten, als diese nach England zurückkehrte. Sie durchsuchten wieder mein Auto, und ich mußte am nächsten Morgen wieder vor dem Magistrat erscheinen. Ich befürchtete schon, sie würden entdecken, daß ich mich vor knapp sechs Wochen eines ähnlichen Vergehens schuldig gemacht hatte. Aber es lief alles glatt, und ich kam mit einer verhältnismäßig kleinen Geldstrafe davon. Eine Stunde später waren wir wieder unterwegs, um das nächste illegale Unternehmen zu starten. Die beiden letzten Ziele unserer Zwölftausend KilometerKreise waren Frenchdale und Driefontein, zwei berüchtigte Verbanntenlager in der nördlichen Kapprovinz. Die Lager waren zwar nicht sehr groß – mehr als ein halbes Dutzend Verbannte lebte nicht in ihnen –, lagen aber in einer trostlosen, wüstenartigen Gegend und waren völlig isoliert. Zuerst suchten wir Frenchdale auf, eine Treuhand-Farm an der Grenze von Botswana. Wir kamen erst spät in der Nacht an, nachdem wir den ganzen Tag über in einem Lieferwagen unterwegs gewesen waren, den wir uns gemietet hatten, um nicht mit unserm Johannesburger Nummernschild aufzufallen. Joe war schon einmal dagewesen und konnte uns den Weg zeigen, während wir über die steinigen Landstraßen fuhren.
Sie erwarteten uns schon, Piet Mokoena, Chief Paulus und seine betagte Frau. Sie kamen alle aus dem fernen Witzieshoek und lebten schon seit zwölf Jahren in der Verbannung. Auch Theophilus Tshangela befand sich in dem Lager; er war erst vor kurzem aus der Transkei hierhergebracht worden, wo wir vor ein paar Wochen mit seiner Frau gesprochen hatten. Beide, Chief Mopeli und Tshangela, sind ein paar Jahre später an diesem trostlosen Ort gestorben, an dem nachtsüber die Hyänen heulten und tagsüber die Schlangen herumkrochen, an dem es keinen einzigen Baum gab, der Schutz vor der unbarmherzigen Sonne geboten hätte. Tshangela starb allein – er war der letzte einer langen Folge von Verbannten, die im Lauf der Jahre nach Frenchdale gebracht worden waren. Er hätte mit den andern zurückgehen können, aber er wollte seine Tiere – ein paar Esel, Schafe und Ziegen – nicht im Stich lassen. Da sich die Behörden weigerten, sie nach Pongoland zu transportieren, blieb Tshangela mit ihnen und «Babalazi», einem kleinen Reh, zurück, das er irgendwo gefunden und gezähmt hatte. Als das Reh dann auch starb, lebte er ganz allein, aber ungebrochenen Mutes, in den verlassenen Hütten. Wie er gestorben ist, weiß niemand, und es wird auch nie jemand erfahren. Wir unterhielten uns bei Kerzenlicht und saßen auf Holzkisten, da keine Stühle vorhanden waren. Man hatte uns jedoch sehr herzlich empfangen, da wir von dem Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte kamen, das diese einsamen, verlassenen Männer ausfindig gemacht hatte und sich um sie kümmerte. Das Willkommen, das sie uns bereiteten, entschädigte uns für die Mühen dieser langen Reise. Anschließend fuhren wir noch die ganze Nacht durch bis nach Driefontein, auch eine Treuhand-Farm; der nächste Ort war über hundert Kilometer entfernt. Als wir mit unserem Lieferwagen ankamen, ging gerade die Sonne auf. Die fünf
Männer, die in dem Lager lebten, erwarteten uns schon, wir konnten jedoch nur ganz kurz bleiben, da – wie sie uns erzählten – jeden Tag die Polizei vorbeikam und sich nach einem Auto mit einer Johannesburger Nummer erkundigte. Es reichte aber, um den Ort mit der Gewißheit zu verlassen, daß auch hier Männer lebten, die sich nicht unterkriegen ließen, auch nicht durch die langen, einsamen Jahre in einer trostlosen, unwirtlichen Gegend, durch leere Hütten und leere Tage. Kurz zuvor hatten wir noch mit den Frauen von zwei Verbannten gesprochen. Wie Tshangela waren die Männer vor nicht allzulanger Zeit von Pongoland hierhergebracht worden und hatten nicht erwartet, so schnell etwas von ihren Familien zu erfahren. Wir waren also um so willkommener. Einem andern mußten wir jedoch eine traurige Nachricht überbringen. Mokate Ramafokus Frau war in der Zwischenzeit verstorben. Wie Maredi war auch er zum zweitenmal verbannt. Er war Lehrer gewesen, ein sehr geachteter Mann in seinem Dorf. Jetzt hingegen war er alt und einsam, ein schwerer, kräftiger Mann, der sein Schicksal mit großer Würde ertrug. Er blieb noch weitere acht Jahre in Driefontein, dann starb er an Magenkrebs. Die tragischen Umstände seines Todes erfuhr ich von den andern Männern des Lagers. Mehrere Monate litt er die furchtbarsten Schmerzen, bis er dann schließlich ins Krankenhaus gebracht wurde, ein Mann, der bereits im Sterben lag. Er hatte ohne Ärzte, ohne Medikamente, ohne schmerzstillende Mittel auskommen müssen, die die Agonie der letzten Monate etwas erträglicher gemacht hätten. Daß er nicht auf dieser Mülldeponie gestorben ist, ist nur den Bemühungen seiner Gefährten zu verdanken, die die Polizei riefen, als der Chirurg des Kreiskrankenhauses nicht reagierte. Ramafokus Ende ist ein schreckliches Beispiel für die Grausamkeit und die Unmenschlichkeit dieses Strafsystems.
Driefontein war unser letzter Besuch bei den lebenden Toten. Von vierzig verbannten Männern und Frauen hatten wir sechsunddreißig aufgesucht. Und wir hatten mit fünfzehn einsamen Frauen und Witwen gesprochen, denen wir jedoch keine großen Hoffnungen machen konnten. Wir konnten nur versuchen, sie zu trösten und unser Mitgefühl zeigen. Zwei Monate hatten wir gebraucht, um all diese Verbannten aufzusuchen. Wir sind über zehntausend Kilometer gefahren, Autobahnen und Feldwege. Manchmal irrten wir stundenlang umher, versuchten, uns durchzufragen, und nahmen immer wieder neue Anläufe, bis wir sie schließlich gefunden hatten. Das konnte mitten in der Nacht oder auch bei hellichtem Tag sein. Und alle warteten sie darauf, daß die Jahre vergingen – Jahre, nicht Monate oder Wochen oder Tage. Oder warteten sie darauf, daß ihr Leben verging? Was wir von diesen Männern erfahren haben, ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Rechtsverletzungen. Keiner von ihnen wurde je vor Gericht gebracht wegen der Vergehen, falls es überhaupt welche gab – die ihre Verbannung bewirkt hatten. Joe und ich waren wegen unserer politischen Aktivitäten angeklagt worden, wir hatten uns und unsere Organisation verteidigen können, und wir waren freigesprochen worden. Aber gegen diese Männer war überhaupt keine Anklage erhoben worden. Der Generalgouverneur hatte einfach nur befunden, sie müßten im Interesse ihres Stammes Farmen und Familien verlassen. Das allein genügte, um sie für Jahre aus dem Verkehr zu ziehen, Jahre, die für sie äußerste Armut und Trostlosigkeit bedeuteten. In der Folgezeit durften die Verbannten wieder zu ihren Familien zurückkehren – einer nach dem anderen –, abgesehen natürlich von denen, die zu früh gestorben waren. Aber was erwartete sie außer Armut, Not, Polizeischikanen und Restriktionen? Die Regierung greift inzwischen nicht mehr auf
dieses gefürchtete Mittel zurück. An seine Stelle traten andere, nicht weniger drakonische Strafen, die ihren Zweck bestimmt noch besser erfüllen, falls die Führer der ländlichen Gebiete gegen irgendwelche neuen und unwillkommenen Maßnahmen protestieren sollten, die ihnen und ihren Leuten aufgezwungen werden. Das Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte hat seine Versprechungen gehalten. Die Verbannten wurden bis zu ihrer Rückkehr mit Geld, Lebensmitteln und Kleidung versorgt. Und wir prangerten die Unmenschlichkeit dieses Systems an, die unerträglichen Lebensbedingungen der Verbannten. Ob wir damit die Regierung zu einer andern Politik zwangen, weiß ich nicht, obwohl wir natürlich gerne einen solchen Erfolg für uns verbucht hätten. Ich weiß nur, daß Frenchdale und Driefontein inzwischen leerstehen. Die Männer sind nicht mehr länger der glühenden Sonne und dem heißen Wüstenwind ausgesetzt. Sie brauchen nicht mehr länger auf ihre Befreiung oder den Tod zu warten – je nachdem, was zuerst kam. Ich fuhr allein nach Johannesburg zurück – zu meinem gemütlichen Heim in dem weißen Vorort, meinem bequemen weißen Dasein, meiner gutbezahlten weißen Arbeit, und es kam mir alles sehr unwirklich vor. Lilians bitterer Kommentar «Du bist immer besser dran mit deiner rosa Haut» bedrückte mich. Die ganzen Jahre in Südafrika hatte ich mir keine Gedanken wegen meiner weißen Haut gemacht. Ich hatte es einfach hingenommen, daß die Weißen aufgrund ihrer Hautfarbe einen höheren Lebensstandard hatten. Und dieses vollkommen unhaltbare Prinzip wollte ich jetzt bekämpfen. Die Erfahrungen der letzten Jahre – vor allem aber der Hochverratsprozeß – hatten bewirkt, daß ich mich meiner Hautfarbe zu schämen begann – daß ich sie mir nicht ausgesucht hatte, machte überhaupt keinen Unterschied. Ich
bin weiß, und mein Leben ist einfacher, weil ich nicht aus meiner weißen Haut schlüpfen kann. Ich hatte natürlich gewußt, daß Robert Resha nach dem Hochverratsprozeß nicht mehr in der Lage sein würde, mich auf meinen verschiedenen Expeditionen zu begleiten; er war auch gebannt, und sein Bann würde erst drei Jahre nach dem meinen ablaufen. Seine Gesellschaft und seine Ratschläge fehlten mir sehr. Es war ein großer Schock für mich, als er kurz nach unserm Freispruch in mein Büro kam, um mir mitzuteilen, daß er noch am selben Abend außer Landes gehen würde. Er meinte ziemlich grimmig, das sei ein Befehl, und er müsse gehorchen. Ich wußte, daß er das ernst meinte, denn er war immer noch der disziplinierte Freiwilligenführer von früher. Der ANC hatte sich teilweise schon ins Ausland verlagert. Oliver Tambo, der stellvertretende Generalsekretär, war nach England gegangen, und andere würden ihm folgen. Robert Resha wurde ebenfalls benötigt. Ich wußte, daß er nicht gehen wollte. Er hatte oft erklärt, er müsse bei seinem Volk bleiben, an seiner Seite kämpfen. Er war ein Mann, der sein Land leidenschaftlich liebte. Für mich war Robert ein unabhängiger afrikanischer Nationalist, ein echter Patriot; der verärgert reagierte, wenn jemand zu behaupten wagte, der ANC würde von Weißen oder Kommunisten beherrscht. «Es ist eine Beleidigung für meine Organisation!» erklärte er. Als er mein Büro verließ, sagte er: «Helen, ich komme wieder.» Jahre später, als ich erfuhr, daß er im Exil gestorben sei, stimmte mich das besonders traurig, weil ich wußte, wieviel ihm seine Heimat bedeutet hat. Im Juli 1962 hörte ich das schreckliche Gerücht, Nelson Mandela sei verhaftet worden, als er in einer Chauffeursuniform mit einem Privatwagen nach Johannesburg fuhr. Das Gerücht stellte sich als wahr heraus. Nelson, der
ANC-Führer im Untergrund, war tatsächlich geschnappt worden und würde sich wegen Aufrufs zu illegalen Protestaktionen und Verlassen des Landes ohne Paß vor Gericht verantworten müssen. Achtzehn Monate lang war er im Untergrund und auch außer Landes gewesen, um in anderen Ländern Unterstützung für den Befreiungskampf zu suchen. Er war jedoch zurückgekehrt, hatte die persönliche Freiheit, die er dort genossen hatte, wieder aufgegeben und das Risiko, verhaftet und eingekerkert zu werden, auf sich genommen. Ich konnte es kaum glauben, daß man ihn nun doch noch geschnappt hatte – nach all diesen Monaten des Untertauchens und der Trennung von seiner Familie, die er, abgesehen von ein paar sehr riskanten Treffen, nicht gesehen hatte. Ich selbst habe ihn während dieser Zeit auch nur einmal kurz und unter dem Siegel allergrößter Verschwiegenheit in der Wohnung eines Freundes getroffen. Es waren wirklich sehr kostbare Augenblicke gewesen, erfüllt von unserer Wiedersehensfreude, nur leider viel zu kurz. Am 15. Oktober mußte Nelson vor Gericht erscheinen. Am Sonntag, dem 14. Oktober, sollten an verschiedenen Orten große Demonstrationen stattfinden; ich sollte auf einer Demonstration in Johannesburg eine Rede halten und am Tag des Prozesses in Pretoria sein.
Hausarrest
Am 13. Oktober 1962 wurde ich unter Hausarrest gestellt. Ich war die erste Person in Südafrika, über die diese Strafe verhängt wurde! Der Minister hatte sich «überzeugt», daß ich aktiv an der Propagierung kommunistischer Ziele beteiligt gewesen sei. Und aufgrund dieser Überzeugung konnte er mein Leben kaputtmachen – was er auch tat –, mich von allen andern isolieren, mir jeden Umgang mit meinen Mitmenschen verbieten – alles Dinge, die das Leben erst lebenswert machen. Es ging alles so schnell – an einem Samstag kamen ohne jede Vorwarnung zwei Männer den Gartenweg hoch und übergaben mir einige Papiere. Der erste Satz lautete: «Ich, Johannes Balthasar Vorster, bin zu der Überzeugung gelangt…», der letzte: «Von mir unterschrieben am 11. Oktober 1962. J. B. Vorster.» Dazwischen waren alle Restriktionen aufgelistet, die meine Freiheit drastisch beschneiden und mein Leben von Grund auf verändern sollten. Und das für fünf lange Jahre. Nach 18.30 Uhr und das ganze Wochenende über durfte ich das Haus nicht verlassen. Außerdem mußte ich mich auf den Magistratsbezirk Johannesburg beschränken. Ich durfte keine schwarzen Wohngebiete und keine Fabriken betreten und auch keinen Umgang mit anderen Gebannten oder in der schwarzen Liste aufgeführten Personen haben. Besuche von Freunden waren verboten – sie durften nicht einmal den Gartenweg hochgehen –, und die Teilnahme an Versammlungen und Zusammenkünften war mir untersagt. Zusätzlich zu diesen ganzen Verboten mußte ich mich jeden Tag zwischen zwölf und zwei Uhr bei der Johannesburger Polizeizentrale melden,
abgesehen natürlich von den Tagen, an denen ich das Haus nicht verlassen durfte. Zuerst dachte ich, Mandelas Prozeß, der am Montag beginnen sollte, und das am Sonntag stattfindende Meeting, für das ich als Rednerin mit eingeplant war, hätten etwas damit zu tun. Ich rief ein, zwei andere Redner an und erfuhr, daß alle Meetings und Demonstrationen, die mit dem Prozeß in irgendeinem Zusammenhang standen, verboten worden waren. Das konnte es also nicht sein. Ich war ganz unglücklich bei dem Gedanken, daß ich nun nicht bei den Verhandlungen dabeisein würde. Daß ich Nelson erst nach Jahren wiedersehen würde, wußte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Er sitzt selbst jetzt noch im Gefängnis. Mit der Zeit fand ich dann auch heraus, daß ich die einzige Person war, die unter Hausarrest stand. Ich las noch einmal die Verfügung durch, um mich mit den Einzelheiten vertraut zu machen – um sie in ihrem ganzen Umfang zu begreifen, würde ich einige Zeit brauchen. Ich entdeckte, daß ich gerade noch viereinhalb Stunden Zeit hatte, um meine Freunde aufzusuchen; das erste Wochenende unter Hausarrest würde um halb drei Uhr nachmittags beginnen, jetzt war es zehn. Ich fuhr also schnell zu Violet hinüber, und von ihr aus riefen wir dann die anderen an – die Presse, ein paar Rechtsanwälte und viele unserer Freunde. Ich hatte mir nicht klargemacht, daß ich in Zukunft nicht mehr mit Violets Mann, einem Gewerkschafter, sprechen dürfte, da Eli ja auch gebannt war. Zum erstenmal wurde mir die Bedeutung dieser schrecklichen Maßnahme bewußt. Viele meiner Freunde würden völlig aus meinem Gesichtskreis verschwinden – alle, die unter Bann gestellt waren und die einmal mit mir zusammengearbeitet und auch mein Privatleben geteilt hatten, da wir ja alle für ein- und dieselbe Sache kämpften. Wie ich
waren auch sie wegen ihrer politischen Überzeugung Opfer des Bannspruches des Justizministers geworden. Wir trafen uns alle zum Lunch, obwohl das eine verbotene «soziale Zusammenkunft» war. Danach mußte ich in meiner letzten kostbaren freien Stunde noch in die Stadt fahren und mich bei der Polizei melden. Auf der Polizeistation schien niemand Bescheid zu wissen. Als ich ihnen erzählte, daß ich die nächsten fünf Jahre jeden Tag hier erscheinen sollte, starrten sie mich nur ungläubig an. Ich hatte keine strafbare Handlung begangen, und ich war auch nicht auf Kaution freigelassen. Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Sollte ich den diensthabenden Beamten, den Kommandanten, verlangen? Es war jedoch ein Samstag, und er war nicht da. Schließlich regelten wir die Sache so, daß einer der Polizeibeamten mir schriftlich bestätigte, daß ich mich gemeldet hatte. Ich bezweifle, ob ich den komischen Aspekt dieser Situation bemerkt habe. Ich war bestimmt viel zu verwirrt und verärgert. Ich verabschiedete mich von den Reportern, die mich auf die Polizeistation begleitet hatten, und fuhr nach Hause zurück, eine Strecke, die ich noch viele, viele Male fahren würde. Zu Hause erwarteten mich jedoch noch mehr Reporter. Als ich den Wagen in die Garage fuhr und zurückging, um das Gartentor hinter mir abzuschließen, war mir noch nicht bewußt, daß ich sozusagen mein eigener Wärter war. Das ging mir erst später auf. Ich ging ins Haus, von dem Gedanken gepeinigt, daß ich in den nächsten vierzig Stunden allein sein würde. Ich hatte jedoch zwei Dinge übersehen: erstens, daß sich die Nachricht von meinem Hausarrest blitzschnell verbreitet hatte. Ich wurde dauernd angerufen, von Freunden wie von Fremden. Bekannte versammelten sich vor dem Gartentor, völlig fassungslos, daß sie in den nächsten fünf Jahren nicht mehr mein Haus betreten durften. Und zweitens,
daß Punkt neun die Sicherheitspolizei bei mir auftauchte und an meine Tür klopfte, um sich zu vergewissern, ob ich auch da sei. Das empörte mich besonders, aber ich konnte nichts dagegen unternehmen. Nachdem der erste Schock vorbei war, hatte ich genügend Zeit, über das Geschehene nachzudenken und mir die nächsten fünf Jahre auszumalen. Am seltsamsten war, daß nur ich unter Hausarrest gestellt worden war. Ich begriff das nicht, und die andern haben es bestimmt auch nicht begriffen. In der Kongreßallianz gab es sehr viel bekanntere Persönlichkeiten als mich. Gewiß, ich war sehr aktiv in der Frauenföderation gewesen – ich war Generalsekretärin und außerdem Vizepräsidentin des Demokratischen Kongresses gewesen, wenn auch nur ein paar Wochen, bevor ich gebannt wurde. 1960 hatte man mich des Hochverrats angeklagt, aber wieder freigesprochen. Waren das Aktivitäten, die die Ziele des Kommunismus propagierten? Hielt die Regierung mich wirklich für so gefährlich – sahen sie in mir einen Drahtzieher? Das war einfach unmöglich. Was hatte der öffentliche Ankläger gesagt? Daß ich eines der aktivsten Mitglieder des Befreiungskampfes sei? Aber das lag schon zwei Jahre zurück. Ich hatte meine Freiheit zwar gut genützt, nachdem meine fünfjährige Bannverfügung abgelaufen war. Ich hatte das ganze Land bereist und die Verbannten ausfindig gemacht. Und ich hatte viel darüber geschrieben und gesagt. Ich hatte auch ein Buch über den Hochverratsprozeß geschrieben, es war jedoch noch nicht erschienen. Waren das die Verbrechen, die mir diese Strafe eingetragen hatten? Und dieses Mal gab es nicht einmal ein Gericht, vor dem ich mich verteidigen konnte. Ich war zum Schweigen verurteilt, da es inzwischen auch verboten war, die Äußerungen einer verbannten oder gebannten Person zu veröffentlichen oder zu zitieren.
Abgesehen von den beiden Malen, als man mich auf verbotenem Gebiet verhaftet hatte, waren meine politischen Aktionen völlig legal gewesen; andernfalls hätten sie mich vor Gericht stellen müssen. In meinen Augen waren sie nur Teil eines legitimen, gewaltlosen Kampfes, dessen Ziel es war, für alle Südafrikaner die gleichen demokratischen Rechte zu erringen. Ich dachte über die letzten zehn Jahre nach und was aus meinem Leben geworden war. Ich hätte mir das nie träumen lassen. Beinahe ohne mein Zutun hatte ich ein neues Leben angefangen – das einer politischen Aktivistin – und war davon völlig absorbiert worden. Bonhoeffer, der berühmte deutsche Geistliche, der von den Nazis hingerichtet worden war, hat einmal gesagt: «Ich weiß, wofür ich mich entschieden habe.» Ich konnte das von mir nicht behaupten. Für mich gab es gar nichts zu entscheiden. Ich hatte keine Ahnung, welche Konsequenzen mein politisches Engagement für mich haben könnte. Nichts in meinem früheren Leben hat mich dafür prädestiniert. Meine Jugend war völlig unspektakulär – ein mittelständisches Elternhaus, Schule, Abitur, Universität. Ich konnte mich an keine Diskussionen mit meinen Eltern, ja nicht einmal mit meinem Bruder erinnern, in denen es um Gerechtigkeit oder um Menschenrechte ging. Nur als England Deutschland den Krieg erklärte, waren wir überzeugt, für eine gute Sache zu kämpfen. Was zählte, war die patriotische Gesinnung. Unsere politische Einstellung war gemäßigt konservativ – Winston Churchill war unser Mann. Ich hatte die Universität hinter mich gebracht, ohne mich für irgend etwas zu engagieren, abgesehen von den Clubs für berufstätige Frauen, in denen ich mich etwas herumtrieb. Selbst der Entschluß, nach Indien zu gehen, war mehr oder weniger ein Produkt des Zufalls gewesen. Ich brauchte eine Arbeit und
hatte eigentlich gar keine andere Wahl, als diesen Posten als Lehrerin anzunehmen, für den ich keine praktische Ausbildung vorzuweisen brauchte. Das Ganze war für mich mehr oder weniger ein Abenteuer. Und daß ich später nach Südafrika ging, war auch ein Produkt des Zufalls – oder vielmehr eines Reitunfalls. Meine Berufsausbildung bei der Air Force war schon eher so etwas wie eine Entscheidung gewesen; damals nahm auch meine politische Entwicklung ihren Anfang. Die Arbeit in den Gemeindezentren bestärkte mich in dieser Richtung, die ich aber immer noch nicht als eine bestimmte Richtung erkannt hatte. Es war jedoch eine, und zwar eine sehr wichtige für mich. 1950 war ich dann mit den Zielen des politischen Kampfes vertraut und würde sie nie wieder aus den Augen verlieren. Und nun wurde ich also für meine Aktivitäten während dieses bewegten Jahrzehnts, in dem wir uns gegen ein verbrecherisches, menschenverachtendes Regime auflehnten, zur Rechenschaft gezogen. Zusammen mit den andern hatte ich bereits einen hohen Preis bezahlt, als ich den Hochverratsprozeß über mich ergehen ließ, fünf Monate in Haft verbrachte und fünf Jahre lang gebannt war. Aber das Gefühl, die anderen hinter mir zu haben, etwas vorweisen zu können und an etwas teilzuhaben, was sich mit nichts in meinem Leben vergleichen ließ, hat mich all diese Jahre hindurch reichlich entschädigt. Ich war dabei, als die Frauenföderation aufgebaut wurde, hatte mitgeholfen, die großen Proteste zu organisieren und während des Schulboykotts die Kulturzentren einzurichten, und ich hatte im Auftrag des Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte die verbannten Afrikaner lokalisiert und aufgesucht. Außerdem war ich dabeigewesen, als wir den Freispruch im Hochverratsprozeß errangen. An jenem Wochenende hatte ich
jedoch das Gefühl der Einsamkeit, der Machtlosigkeit. Anfangs wußte ich überhaupt nicht, wie ich damit fertig werden sollte: All diese fürchterlich einsamen Jahre, die vor mir lagen! Telefonanrufe genügten nicht, um die leeren Stunden und das leere Haus weniger leer erscheinen zu lassen. Würde ich meinen Arbeitsplatz behalten? Und was tun, wenn ich ihn verlor? Wer würde mir, einer Gebannten und unter Hausarrest stehenden Person, einen Job geben? Würde ich mich jemals daran gewöhnen, abend für abend nach Hause zu kommen und nie jemanden vorzufinden? Würde ich diese einsamen Wochenenden ertragen können – 250 einsame Wochenenden?! Ich nahm natürlich nicht an, daß ich die einzige unter Hausarrest bleiben würde. Andere würden folgen. Die Frage war eigentlich nicht «Warum ich?», sondern «Warum ich zuerst»? Die Frage habe ich mir bis heute nicht beantworten können. Die unerwartete Aufmerksamkeit, die mein Status als «Gefangene im eigenen Haus» sowohl im Ausland wie auch im Inland hervorrief, war nur ein schlechter Trost. Daß die Regierung sich ausgerechnet eine siebenundfünfzigjährige Weiße ausgesucht hatte, die vollkommen allein lebte, die nicht einmal ernsthaft verdächtigt wurde, Kommunistin zu sein, und die nur eine kurze, wenn auch spektakuläre politische Vergangenheit hatte, war wirklich nicht einzusehen. Mein Schicksal bewirkte einerseits eine echte öffentliche Anteilnahme, andererseits auch wilde Haßtiraden von anonymen Anrufern, die mir alles Mögliche androhten.
Irgendwie verging das Wochenende dann doch ganz schnell, obwohl ich mich wie ein eingesperrtes Tier in einem Schaukäfig fühlte, während die Leute draußen vor meinem
Haus auf- und abgingen und über die Hecke spähten, um einen Blick auf diese sonderbare, gefährliche Person zu werfen. Ich lernte, bei anonymen Anrufen schnell den Hörer aufzulegen. Am Montag, als ich das Haus wieder verlassen konnte, atmete ich erleichtert auf. In der Sonntagsausgabe der Zeitungen, die mir meine Freunde ans Gartentor gelegt hatten, las ich, daß mein Hausarrest wirklich einen enormen Wirbel verursacht hatte. Er wurde als «bürgerlicher Tod» bezeichnet, und ich erinnerte mich an die Verbannten, an diese lebenden Toten, die ich vor nicht allzulanger Zeit besucht hatte. Im Vergleich zu ihnen hatte ich noch Glück gehabt. Der Justizminister John Vorster erklärte gegenüber der Presse, daß das Ergänzungsgesetz zu Allgemeinen Gesetzen (General Law Amendment Act), das diese weitgehenden Ermächtigungen enthielt, nicht zum Spaß erlassen worden sei. Eine «gewisse Person» habe seine Warnung nicht ernstgenommen, und deswegen sei dann auch zum erstenmal der Hausarrest verhängt worden. Er wolle weder das Recht auf freie Meinungsäußerung noch das Recht zu protestieren beschneiden. Jeder Südafrikaner sei ein Kind des Protestes. Die Sicherheit des Landes dürfe jedoch nicht gefährdet werden. Er warnte, daß er noch härter durchgreifen würde. Während des allgemeinen Protestes war tatsächlich auch die Befürchtung geäußert worden, daß das, was mir passiert war, auch andern passieren könne. Der Hausarrest sollte offensichtlich als abschreckendes Beispiel dienen. Trotzdem protestierte Black Sash in den folgenden Wochen in Kapstadt – wo die Frauen stumm im strömenden Regen standen –, in Durban, East London und Johannesburg gegen diese Verletzung der Menschenrechte. Die Kongreßallianz hatte über Mittag eine Demonstration vor der Johannesburger City Hall organisiert, an der ich auf dem Weg zur Polizeistation
vorbeikam. Alle meine schwarzen, weißen und farbigen Kongreßfreunde winkten mir zu; ich konnte jedoch nicht stehenbleiben und zurückwinken. Trotzdem war es ein erhebender Augenblick für mich. Am Samstag, als ich gerade eine Woche Hausarrest hinter mir hatte, versammelten sich junge Leute aller Rassen vor meinem Gartentor. Herausfordernd hielten sie ihre Transparente hoch: «Wir halten zu dir, Helen Joseph!»… «Wir werden dich nicht vergessen!» Und sie sangen Freiheitslieder für mich, während die Polizei die Straße rauf, und runterfuhr. Als die jungen Leute dann – immer noch singend – abzogen, erklärte die Polizei, ihre Demonstration sei nicht genehmigt, und sie müßten sich sofort auflösen. Sie hatten sehr viel Mut bewiesen, als sie hierherkamen, um mir zu zeigen, daß ich nicht allein war – ein Trost, den ich nötig hatte. Neun Tage, nachdem er mich aus dem Verkehr gezogen hatte, schlug der Minister wieder zu. Dieses Mal traf es Ahmed Kathrada, «Kathy», einen der Angeklagten beim Hochverratsprozeß. Man hatte ihm den Bescheid im Gerichtsgebäude von Pretoria übergeben, wo er Nelsons Prozeß verfolgen wollte. Auch Walter Sisulu, der gebannte Generalsekretär des ANC, war unter Hausarrest gestellt worden, aber es dauerte ein paar Tage, bis die Polizei ihn ausfindig machen konnte. Die Bedingungen waren immer dieselben – zwölf Stunden Hausarrest an normalen Werktagen und vierundzwanzig am Wochenende; das Verbot, Besuch zu empfangen und an größeren öffentlichen Versammlungen teilzunehmen, plus ein ganzes Bündel zusätzlicher Auflagen. Einmal traf ich Kathy auf der Polizeistation. Wir gingen zusammen in das Gebäude, um uns in das Buch für die unter Hausarrest stehenden Personen einzutragen. Wir fragten uns, ob wir uns überhaupt zulächeln durften – wäre das nicht auch eine Art von Kommunikation? Wir lächelten uns aber zu.
Inzwischen wurden fast täglich irgendwelche Personen gebannt oder unter Hausarrest gestellt: die Bannurteile waren jedoch sehr viel häufiger. Ich habe nie herausgefunden, welche Kriterien der Minister anwandte – warum bestimmte Leute ‹bevorzugt› behandelt und unter Hausarrest gestellt wurden. Er hatte jedenfalls angekündigt, er wolle härter durchgreifen, und er hielt sein Versprechen. Ende Oktober wurden schon nicht mehr zwölf, sondern vierundzwanzig Stunden Hausarrest verhängt; ich gehörte also bereits zu den Privilegierten, da ich an normalen Wochentagen nur zwölf Stunden zu Hause eingesperrt war. Sonia Bunting, Jack Hodgson, Moses Kotane – alles gute Freunde von mir – durften überhaupt nie das Haus verlassen, und das für fünf Jahre, also beinahe zweitausend Tage! Sie lebten jedoch nicht völlig allein. Nicht einmal der Justizminister wagte, eine alleinstehende Person fünf Jahre lang rund um die Uhr unter Hausarrest zu stellen. Diese verschärften Bestimmungen lösten eine ähnliche Protestwelle wie in meinem Fall aus. Keiner von den Betroffenen war vorgewarnt worden! Die Südafrikanische Rundfunkgesellschaft (SABC) entschloß sich plötzlich, mich innerhalb ihres Schulfunkprogramms als «aktuelles Thema» zu behandeln. Anscheinend gehörte ich inzwischen dazu! «Stolz erhebt sie die Faust zum Gruß des gebannten Afrikanischen Nationalkongresses. Vor ein paar Wochen hat sie noch das ganze Land bereist und viele der unter dem Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus gebannte Personen besucht.» Diese letzte Behauptung stimmte jedoch nicht: Es handelte sich um Verbannte, nicht um Gebannte. Und weiter: «Ob die Beschränkungen, die ihr auferlegt wurden, zu hart sind oder nicht, ist also eine Frage des persönlichen Standpunktes.» Für mich war es jedoch mehr als eine Frage des persönlichen Standpunktes.
Der Schulfunk war nur der Anfang, eine Art Vorspiel, nach dem es dann erst richtig losging: ein paar Tage später leistete der SABC wirklich gute Arbeit, was das Anschwärzen meiner Person betraf; sie gaben sich verdammt viel Mühe, endlich den Beweis zu liefern, «daß Mrs. Joseph eine Kommunistin oder eine heimliche Kommunistin oder zumindest eine Sympathisantin ist», wie der Rand Daily Mail es formulierte. Sie stellten irgendwelche, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus dem Prozeßprotokoll als «Tatsachen» hin, vergaßen aber, die Anklage zu zitieren, die am Ende des Prozesses einräumen mußte: «Die Staatsanwaltschaft möchte in diesem Fall davon absehen, die politische Einstellung der Angeklagten als kommunistisch zu bezeichnen.» Ich konnte ihnen das jedoch nicht unter die Nase halten, da ich gebannt war und weder zitiert noch veröffentlicht werden durfte. Mir wurde klar, daß sie mich wirklich mundtot gemacht hatten. Vor meinem Gartentor wurde jedoch noch eine weitere Demonstration organisiert; dieses Mal waren es die Frauen der Föderation. Unter ihnen war natürlich auch Violet Weinberg, als einzige Weiße, alle übrigen waren schwarz. Es dauerte nicht lange, bis die Polizei erschien und die Frauen auf die Polizeistation brachte. Violet versuchte, sich zur Wehr zu setzen und mit den Polizisten zu argumentieren. Es half ihr jedoch nichts, sie wurde zusammen mit all den andern in das Polizeiauto verfrachtet. Ich blickte über das Gartentor hinweg auf die Straße; sie war wie ausgestorben, bis ich dann plötzlich Winnie Mandela und Adelaide Joseph um die Ecke biegen sah; beide gehörten zur Föderation und waren gekommen, um an der Demonstration teilzunehmen. Sie hatten sich jedoch verspätet, weil sie unterwegs aufgehalten worden waren. Ich erzählte ihnen, was mit den andern passiert war, und sie gingen auf die Polizeistation, um nachzuschauen. Ich war sehr stolz, daß all
diese Frauen für mich demonstriert hatten. «Wir lassen uns nicht einschüchtern, auch nicht durch Hausarrest» stand auf einigen Transparenten, und ich glaubte ihnen. Sie ließen sich nicht einschüchtern. Trotzdem hatte ich Angst um sie. Es passierte jedoch nichts; sie wurden vor Gericht gestellt und mußten eine Geldstrafe zahlen. In Pretoria war Nelsons Prozeß zu Ende gegangen; er war für schuldig befunden worden, die Arbeiter aufgewiegelt und das Land illegalerweise verlassen zu haben. Das Gericht verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft. War er aus dem Ausland zurückgekehrt, um sich hinter Schloß und Riegel bringen zu lassen? Er hatte dem Gericht erklärt, daß es für ihn eine Gewissensfrage sei, Gesetze zu bekämpfen, die er für ungerecht und menschenverachtend hielt. Nelsons Frau, Winnie, war bei der Urteilsverkündung dabei; für sie bedeutete dieses Urteil, daß sie nun ganz auf sich selbst gestellt war, daß sie ihre beiden kleinen Töchter in den nächsten fünf Jahren allein großziehen mußte. Sie konnte damals noch nicht wissen, daß es nicht nur fünf Jahre sein würde, sondern daß ihr Mann innerhalb von zwei Jahren zu lebenslänglicher Haft verurteilt würde. Ich hatte von Nelson einen Brief bekommen, den er mir noch während der Untersuchungshaft geschrieben hatte: Meine liebe Helen, wie Millionen demokratisch Gesinnter hier und im Ausland verurteile auch ich diese gemeine und grausame Strafe, die der Justizminister über Dich verhängt hat, als er Dich unter Hausarrest stellte. Du hast noch nie den Mut verloren, und Du wirst ihn auch jetzt nicht verlieren, wo alles darauf hindeutet, daß Terrorregime wie dieses sich nicht mehr lange halten werden.
Weder Du noch ich, noch die Millionen von Freiheitskämpfer in diesem Land können es sich leisten, nicht gewappnet zu sein. Sei herzlich gegrüßt, Dein Nelson. Ich trug diesen Brief in den ersten kritischen Wochen ständig mit mir herum. Er brachte Erinnerungen an unsere gemeinsamen Fahrten nach Pretoria zurück, an die enge Freundschaft, die sich während der Prozeßjahre zwischen uns entwickelt hatte. Was es bedeutete, unter das Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus zu fallen, stellte sich sehr bald heraus: dieses Gesetz verbot es, Personen zu zitieren, die in den offiziellen schwarzen Listen geführt wurden oder die unter Bann standen. Der Justizminister hatte eine Liste mit den Namen von 437 als Kommunisten bezeichneten Personen veröffentlichen lassen. Weder mein noch Walter Sisulus Name waren darunter, trotzdem waren wir beide unter dem Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus unter Hausarrest gestellt worden. Einige von den Leuten, die auf dieser Liste standen, hatten das Land verlassen, andere waren gestorben, viele waren in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren überhaupt nicht mehr politisch aktiv gewesen. Es war wirklich nur die alte Garde, aber es bedeutete, daß nichts von dem, was sie gesagt oder geschrieben hatten, je veröffentlicht oder zitiert werden durfte. Ich war schon längst nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Diejenigen, die unter vierundzwanzigstündigem Hausarrest standen, waren wirklich sehr viel schlimmer dran als ich – außerdem hatte sich die Allgemeinheit schnell wieder von dem ersten Schock dieser Urteile erholt und vergaß das Schattendasein, das wir führten. Wieder einmal hatte die Regierung die Menschenrechte mit Füßen getreten, und einige Weiße hatten auch dagegen protestiert. Aber die Regierung
hatte sich nicht davon beeindrucken lassen, die Proteste waren wieder verstummt, und man fand sich allmählich auch mit diesen Gesetzen ab. Das Muster war deutlich zu erkennen: Aufgabe auf Raten. Ich versuchte, nicht an Weihnachten und an die sechzig Stunden Einsamkeit zu denken, die um 18.30 am Heiligen Abend beginnen würden. Mir wurde jedoch leichter ums Herz, als eine Flut von Weihnachtskarten und -briefen einsetzte; sie kamen aus Südafrika, aus Übersee, von Freunden, Bekannten und Unbekannten und bildeten zusammen mit all den Briefen, die ich schon bekommen hatte, einen riesigen Stapel auf meinem Schreibtisch. Von den früheren Schreiben war das von Bram Fischer eines der kostbarsten. Es war mir am ersten Tag des Hausarrests in die Hand gedrückt worden, fünf Minuten, bevor ich mich in das Gefängnis meines Hauses begab. Er schrieb, ich hätte die Ehre verdient, als erste unter diesen, von Vorster verhängten gemeinen und unmenschlichen Hausarrest gestellt zu werden. Ich war mir da zwar nicht so sicher, aber ich freute mich, daß Bram das dachte. Die Maraschinokirsche auf dem Kartenkuchen war eine Weihnachtspostkarte mit dem verschneiten britischen Parlamentsgebäude, unterschrieben von 140 Abgeordneten der Labour Party. Alle waren vertreten, Harold Wilson, Barbara Castle, Jim Callaghan, Joan Lester und viele andere. Sie erinnerte mich an unsere «Penny Post» während des Hochverratsprozesses: Wir hatten damals auch Karten und Briefe durch die Reihen der Angeklagten gehen lassen, um unsere Unterschriften zu sammeln. Manche schrieben, sie hätten mich im Fernsehen gesehen, und ich erinnerte mich daran, wie ich mich mit diesem TV-Berichterstatter heimlich in einem bewaldeten Park getroffen hatte, um mit ihm ein Interview zu machen, ein Interview, zu dem wir aus Angst vor der Polizei mit geliehenen Autos kamen.
Ich bekam in dem ersten Jahr so viele Weihnachtskarten – es waren über fünfhundert – und auch Briefe, Telegramme, Telefonanrufe und Blumen, daß ich mich wie ein Filmstar fühlte und nicht wie eine unter Hausarrest stehende Person. Und am ersten Weihnachtstag kamen meine Freunde ans Gartentor, um mich zu begrüßen. Eine richtige Prozession war das, den ganzen Tag über. Ich sprach aber immer nur ein paar Minuten mit den einzelnen, da keiner recht wußte, was als Besuch und was als Zusammenkunft galt. Am Abend zuvor hatten sich Kinder mit Kerzen in der Hand versammelt und Weihnachtslieder vor meinem Haus gesungen, während ihre Eltern – alles gebannte oder registrierte Personen – in einiger Entfernung auf sie warteten. Ein Korb mit dem Weihnachtsessen wurde mir über das Gartentor gereicht: ein Truthahn, Plumpudding und Champagner. Als wieder Stille herrschte, dachte ich triumphierend, daß Vorsters Absichten völlig vereitelt worden waren – er hatte mir das schönste Weihnachten meines Lebens beschert! Und kurz darauf durfte ich dann auch noch einen zweiten Triumph erleben: Jack Hodgson hatte sich an den Obersten Gerichtshof gewandt und die Aufhebung seines vierundzwanzigstündigen Hausarrests verlangt mit der Begründung, die Entscheidung des Ministers sei nicht zu rechtfertigen: Gemäß der Begriffsbestimmung des Gesetzes sei eine «Wohnung» kein «Ort». Am 27. Dezember erklärte der Richter alle HausarrestVerfügungen für nichtig. Und wir waren von einem Tag auf den andern frei, teilweise zumindest, der Hausarrest war aufgehoben, aber die andern Restriktionen bestanden noch. Zuerst glaubten wir uns wieder im Besitz unserer uneingeschränkten Freiheit und feierten dieses Ereignis auch ganz offen, bis uns unsere Rechtsanwälte zur Raison brachten, indem sie uns erklärten, dieses Urteil würde sich nur auf den Hausarrest beziehen. Wir hatten ein paar Tage scheinbarer
Freiheit erlebt und fügten uns wieder ganz brav den übrigen Bannbestimmungen, dankbar, wenigstens kommen und gehen zu können, wann wir wollten. Wie sich herausstellte, erkannte der Staat das Urteil des Richters nicht an und ging in Berufung. Wenn die nächsthöhere Instanz das Urteil aufheben würde, bedeutete das für uns wieder Hausarrest. Das Revisionsverfahren dauerte ein paar Monate; wir wußten jedoch, daß es überhaupt keine Rolle spielte, ob der Staat nun in der Berufung gewann oder nicht, das Gesetz würde auf jeden Fall geändert werden, und diese Lücke würde nicht mehr bestehen. In den vergangenen elf Wochen hatte ich gehorsam meinen seltsamen Lebensrhythmus beibehalten; ich durfte praktisch das Haus nur verlassen, um das Geld für dieses «Gefängnis auf eigene Kosten» zu verdienen. Um neun Uhr morgens war ich in meinem Büro, und die Zeit verging nur zu schnell. Ich mußte aufpassen, daß ich mich nicht mit mehreren Personen gleichzeitig unterhielt, da das schön als «Zusammenkunft» bezeichnet werden konnte. Nachdem sie sich vergewissert hatten, daß ich auch weiterhin meine Arbeit tun konnte, erholte sich die Medical Aids Society auch wieder von dem Schock, daß eine ihrer ältesten Mitarbeiterinnen unter Hausarrest gestellt worden war, und verhielt sich genauso vorbildlich wie während des Hochverratsprozesses. Ich fuhr gewöhnlich mit dem Auto zur Arbeit; mittags konnte ich dann schnell auf die Polizeistation flitzen und nach fünf noch ein paar Freunden einen Besuch abstatten; um halb sieben mußte ich jedoch wieder zu Hause sein. Abends gab es nur das Radio und das Telefon – und die Besuche der Polizei. Ich bekam viele Anrufe von Freunden und auch von Fremden, die sich manchmal nicht einmal getrauten, ihren Namen zu nennen. Sie waren eine willkommene Abwechslung, obwohl ich auch häufig beschimpft und bedroht und selbst mit
Obszönitäten überschüttet wurde. Zuerst kam die Polizei jede Nacht vorbei, in einer Nacht sogar zweimal – «um nachzuschauen», wie sie sagten. Es war nicht gerade angenehm, Nacht für Nacht auf dieses Klopfen an der Tür zu warten und diesen unwillkommenen Eindringlingen zu antworten. Die Wochenenden waren besonders lang, obwohl es viel in meinem Garten zu tun gab. Mein Haus war leer; es war kein wirkliches Zuhause mehr, denn zu einem Zuhause gehören Freunde und Verwandte, aber solche Besuche waren verboten. Die Aufhebung des Hausarrests war jedoch ein Sieg für sich gewesen, auch wenn es nur für ein paar Monate war. Wie wertvoll selbst ein bißchen Freiheit ist, erkennt man erst, wenn man es verloren hat.
Ein halbes Leben leben
Die fünfziger Jahre waren das Jahrzehnt der großen Proteste gewesen, angefangen mit der Verweigerungskampagne bis zu dem Hochverratsprozeß und dem Widerstand der Frauen gegen die Paßgesetze. Wir hatten erbittert mit der nationalistischen Regierung gerungen und die Repression des Regimes zu spüren bekommen, aber trotz aller Rückschläge waren wir von dem Gefühl des Erfolgs, ja des Triumphs erfüllt. Mit dem neuen Jahrzehnt setzte jedoch die schlimmste Unterdrückung ein, die es je gegeben hatte. Die persönliche Freiheit und die Grundrechte wurden im Lauf der Jahre durch ständig neue Sicherheitsgesetze unterminiert. Es war die Dekade der politischen Prozesse, der willkürlichen Festnahmen und der tödlich verlaufenden Verhöre. In den Hochsicherheitsgefängnissen saßen Hunderte von politischen Häftlingen, die kein Verbrechen gegen die Gesellschaft begangen, sondern es gewagt hatten, sich gegen den allmächtigen Staatsapparat der nationalistischen Partei aufzulehnen. In der ersten Hälfte des Jahres 1962 wurde uns das Ergänzungsgesetz zu Allgemeinen Gesetzen (General Laws Amendment Act) beschert, das den Hausarrest und andere weitgehende Einschränkungen der persönlichen Freiheit institutionalisierte. Im Dezember 1962 wurde es durch die verhängnisvolle Regierungsbekanntmachung Nr. 2130 erweitert. Die in ihr enthaltenen Bestimmungen haben verheerende Auswirkungen auf das Leben vieler Gebannter und in der schwarzen Liste aufgeführter Personen gehabt – auf die vierhundertundsiebenunddreißig Personen, die in ihr als
Mitglieder oder Sympathisanten der Kommunistischen Partei namentlich genannt wurden. Sie wurde erweitert um Personen, die weder gebannt noch registriert waren, sondern irgendwann einmal Mitglieder oder auch nur Sympathisanten einer verbotenen Organisation, wie zum Beispiel des Demokratischen Kongresses, gewesen waren. Die Folgen dieser Regierungsbekanntmachung waren kaum abzusehen, da sie gebannten und listenmäßig erfaßten Personen die Mitgliedschaft in insgesamt sechsunddreißig verschiedenen Organisationen untersagte, die teilweise schon gar nicht mehr existierten. Von manchen hatte ich auch noch nie etwas gehört. Der gemeinsame Nenner war der Widerstand gegen das nationalistische Regime. Die Föderation Südafrikanischer Frauen, der Indische Kongreß und der Kongreß der Farbigen fielen auch darunter. Der ANC, der PAC und der COD waren bereits gebannt. Die Bekanntmachung ging noch weiter: Den betroffenen Personen wurde verboten, einer Organisation anzugehören oder für eine Organisation zu arbeiten, die irgendeine Form des Staates oder irgendein Prinzip der Regierungspolitik propagiert, angreift, verteidigt, kritisiert oder sonstwie in Frage stellt. Ich war dadurch von allen Aktivitäten der Föderation Südafrikanischer Frauen ausgeschlossen und mußte meinen Posten als Geschäftsführerin aufgeben. Das war ein schwerer Schlag für mich, denn bis 1962, als ich zum zweitenmal gebannt wurde, hatte die Föderation die vielleicht wichtigste Rolle in meinem Leben gespielt. Ich würde nie wieder Verbindung mit ihr aufnehmen können, denn der Name einer Person wird nicht von der Liste gestrichen, wenn der Bann ausläuft. Er bleibt, und das hat selbst jetzt, nach zwanzig Jahren, noch Auswirkungen auf mein Leben. Die Schwierigkeiten, die aus dem in den fünfziger Jahren
verhängten Bann und den Restriktionen resultierten, die mir später auferlegt worden waren, konnten irgendwie noch bewältigt werden; ich war auch noch Geschäftsführerin der Föderation. Aber damit war es nun aus, denn unter diese Regierungsbestimmung fielen ganz eindeutig die Föderation – und ich. Ich bekam einen Brief von dem nach der Bannung des Demokratischen Kongresses ernannten Direktor für Sicherheitsgesetzgebung. Er forderte mich auf, Gründe zu nennen, weshalb mein Name nicht zusammen mit den andern Mitgliedern in der offiziellen Liste erscheinen solle, wo ich doch ein Amt innegehabt habe, Mitglied des Demokratischen Kongresses und aktive Verfechterin seiner Ziele gewesen sei. Das stimmte alles und ich war auch stolz darauf. Ich hatte während des Hochverratsprozesses eine eidesstattliche Aussage gemacht, was meine Position bei dem Demokratischen Kongreß betraf. Jedenfalls hätte mich nichts dazu bringen können, meine Organisation zu verleugnen. Ich ignorierte diesen Brief, und mein Name erschien auch prompt auf der Liste. Ich erfüllte die in der Regierungsbekanntmachung Nr. 2130 aufgeführten Voraussetzungen in dreifacher Hinsicht: Ich war gebannt, stand auf der schwarzen Liste und hatte eine illegale Organisation aktiv unterstützt. Ende März 1963 gab der Oberste Gerichtshof der Berufung des Ministers statt, die dieser eingelegt hatte, nachdem Jack Hodgson in erster Instanz gewonnen und uns drei Monate kostbarer, wenn auch nicht uneingeschränkter Freiheit verschafft hatte. Wieder einmal war ich für kurze Zeit in den Genuß gesellschaftlichen Lebens gekommen, aber der Minister hatte sich dann doch durchgesetzt, und wir mußten zu diesem Schattendasein, das der Hausarrest mit sich brachte,
zurückkehren. Ich stellte fest, daß ich mich schnell wieder an die alte Routine gewöhnte. Der erste Schock war überwunden, und es war bei weitem nicht so schwierig wie beim erstenmal, da all die andern Restriktionen ja bestehengeblieben waren. Während ich mich durch das erste Jahr Hausarrest quälte, entwickelte ich meinen eigenen Rhythmus. Daß ich das Haus schon morgens um halb sieben verlassen durfte, hatte eigentlich keine große Bedeutung für mich. Diese beiden Stunden vor Arbeitsbeginn kamen mir ziemlich überflüssig vor, bis ich dann anfing, mich zum Frühstück zu verabreden. Auch auf dem Nachhauseweg schaute ich auf einen Drink bei irgendwelchen Freunden vorbei – hinter vorgezogenen Vorhängen, wenn mehr als eine Person anwesend war, und immer mit dem Blick auf die Uhr, da ich ja um halb sieben zu Hause sein mußte. Am meisten Spaß machte es mir, die Kachalias – Amina, Yusuf und ihre beiden kleinen Kinder – zu besuchen. Sie wohnten um die Ecke von meinem Büro, nicht einmal fünf Minuten entfernt. Ich konnte also mit ihnen zusammen Mittag essen – diese Art von Essen, wie es nur Gebannte kennen: immer auf dem Sprung, um sich auch auf das leiseste Klopfen hin mit Teller, Messer, Gabel und Glas in das Nebenzimmer verziehen zu können. Ich verstieß nicht gegen meine Bannbestimmungen, wenn ich mich bei den Kachalias aufhielt, aber ich durfte nicht mit mehr als einer Person in einem Raum sein. Ich hatte zwar gewußt, daß Amina schon seit frühester Kindheit ein Herzleiden hatte, es war aber trotzdem ein Schock für mich, als sie mir erzählte, daß sie sich einer größeren Operation unterziehen müsse. Die Sache bedrückte mich zutiefst, und ich hatte Angst, eine meiner besten Freundinnen zu verlieren. Jemand, der wie ich jede Nacht zur Einsamkeit verurteilt ist, nimmt wohl sowieso alles sehr viel schwerer. Ich
war noch nie so deprimiert gewesen; ich schlief schlecht, und bei dem Gedanken, daß Amina sterben könnte und ich mutterseelenallein zurückbleiben würde, kamen mir sofort die Tränen – wahrscheinlich auch aus purem Selbstmitleid. Amina überstand ihre Operation, aber sie und ihre Familie zogen weg aus diesem kleinen Haus um die Ecke, und wir konnten uns nicht mehr über Mittag treffen. Wir telefonierten jedoch häufig, bis sie eines abends sagte: «Warte Helen, da ist jemand an der Tür…» Wie sich herausstellte, waren es zwei Sicherheitspolizisten, die ihr eröffneten, daß sie für die nächsten fünf Jahre gebannt sei, während ich am andern Ende der Leitung darauf wartete, unsere Unterhaltung fortzusetzen. Es bedeutete, daß wir in den nächsten fünf Jahren auch nicht mehr miteinander sprechen durften – aber selbst das konnte unsere Freundschaft nicht zerstören. Danach sah ich sie nur noch samstags, wenn sie und ihr Mann Yusuf, der wie ich auch gebannt war und unter Hausarrest stand, zusammen mit ihren Kindern auf die Polizeistation gingen, um sich zu melden. Ich richtete es so ein, daß ich zur selben Zeit eintraf und wir ein kurzes Lächeln austauschen konnten, wenn ich mit dem Auto an ihnen vorbeifuhr oder neben Yusuf darauf wartete, mich in das Register eintragen zu können. All diese Auflagen und Restriktionen verhinderten jedoch nicht, daß sich auch noch die Sicherheitspolizei um mich kümmerte. Eines Tages fingen sie plötzlich damit an, mir mit dem Auto zu folgen. Es war absurd und manchmal schon beinahe komisch, aber meistens doch ziemlich unheimlich. Wenn ich morgens aus dem Haus ging, um zu meinem Büro zu fahren, standen einen Block weiter ein, zwei Autos am Straßenrand, die mir dann bis ins Zentrum auf den Fersen blieben. Dasselbe wiederholte sich, wenn ich über Mittag zu Fuß oder mit dem Auto oder mit dem Bus zur Polizeistation
begab. Und wenn ich nach Hause kam, waren sie auch wieder da. Sechs Wochen lang fuhr ich nirgendwohin, außer zu meinem Büro; ich hatte nicht die Absicht meine Verfolger zu den Wohnungen meiner Freunde zu führen. Ich glaube, ich habe beim Fahren die ganze Zeit über mit einem Auge in den Rückspiegel geblickt, nur so erklären sich die beiden Zusammenstöße, die ich damals hatte. Dann hörte diese Verfolgung genauso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatte. Vielleicht wurden nur Polizeirekruten auf mich angesetzt, die lernen sollten, wie man verdächtigen Autos folgt. Oder vielleicht hegte die Polizei den blödsinnigen Verdacht, ich hätte genug von meinem Hausarrest und wollte mich von Südafrika absetzen. Solche Pläne habe ich jedoch nie gehabt, weder damals noch zu irgendeinem andern Zeitpunkt. Als gebürtige Engländerin durfte ich zwar jederzeit nach England zurückkehren, aber die Bannbestimmungen hinderten mich daran, Johannesburg zu verlassen, um von irgendeinem Flughafen oder Seehafen das Weite zu suchen. Aber sie können ja auch gedacht haben, daß ich den Versuch mal wagen wollte. Das Ganze war eine äußerst unangenehme Erfahrung für mich, aber einmal mußte ich selbst lachen – als nämlich meine verhaßte Eskorte vor mir in einen Verkehrsstau kam. Ich blieb absichtlich hinter ihnen, Stoßstange an Stoßstange, bis sie, wütend über diesen Rollentausch, davonfuhren. Dieser Vorfall erinnerte mich an damals, als Robert Resha und ich von einem Meeting nach Hause fuhren und entdeckten, daß uns jemand folgte. Wir kamen in einen Kreisverkehr, und ich fuhr immer rundherum, bis es sich unmöglich mehr entscheiden ließ, wer nun wem folgte. Als es der Polizei schließlich dämmerte, daß ich nicht einmal versuchte, sie abzuschütteln, sondern einfach nur über sie lachte, fuhr sie erbost weg.
In dem hausarrestfreien Vierteljahr vergaß ich einmal an einem Samstagnachmittag, mich auf der Polizei zu melden. Ein paar Tage später wurde ich verhaftet und verbrachte ein paar einsame Stunden in den Polizeizellen, bevor man mich dem Richter vorführte und auf Kaution wieder freiließ. Ich war wieder in derselben großen Zelle, in der ich vor drei Jahren schon einmal gewesen war, und stellte zufrieden fest, daß unsere mit Lippenstiften und Augenbrauenstiften hingekritzelten Wandsprüche – meistens handelte es sich um irgendwelche Kongreß-Slogans – immer noch da waren. Eine Nichtigkeit wie diese – mein ganzes Vergehen bestand darin, daß ich vergessen hatte, mich bei der Polizei zu melden und meinen Namen in ein Buch einzutragen – zog eine Strafe von mindestens zwölf Monaten Gefängnis nach sich. Was eigentlich so schlimm an dieser Sache war, konnte mir keiner sagen. Im Lauf der Jahre ist das bestimmt jedem Gebannten einmal passiert. Etwas zu vergessen, ist keine geplante Provokation, denn wer würde schon zwölf Monate Gefängnis für eine solche Sache in Kauf nehmen? Natürlich wurde ich für schuldig befunden. Das Gericht warf mir fahrlässiges Verhalten vor. Ich hätte die nötigen Vorkehrungen treffen müssen, um eine so wichtige Verpflichtung nicht zu vergessen. Ich hatte natürlich nicht im voraus gewußt, daß mir das passieren würde, aber vielleicht hätte ich meine Wände mit Zetteln bepflastern sollen «Bei der Polizei melden!». Auf diesen Gedanken war ich überhaupt nicht gekommen. Ich wurde zu den obligatorischen zwölf Monaten verurteilt, aber der Magistrat setzte die Strafe zur Bewährung aus – bis auf vier Tage, die ich in dem Johannesburger Gefängnis absaß. Da jedoch ein Feiertag und ein Wochenende zusammenfielen, wurden aus den vier Tagen nur zwei – was wirklich ein Glücksfall war. Ich erschien mit einer Plastiktüte, in der sich
meine Toilettenartikel befanden – mehr durfte ich nicht mitnehmen – schlüpfte in meine Gefängniskleidung und wurde am nächsten Morgen wieder entlassen. Das hatte ich also hinter mir, aber die restlichen elf Monate und sechsundzwanzig Tage schwebten immer noch wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt. Sie konnten mir jederzeit zusammen mit einer neuen Strafe aufgebrummt werden, falls ich noch einmal vergessen sollte, mich bei der Polizei zu melden. Und eines Tages war es dann auch soweit. Ich hatte mit keinem Gedanken daran gedacht und behauptete am nächsten Tag steif und fest, ich sei auf der Polizeistation gewesen, auch wenn ich mich nicht eingetragen hätte. Es gelang mir sogar, den diensthabenden Polizisten zu überzeugen. Er glaubte mir und ließ mich schließlich für zwei Tage signieren. Auf dem Rückweg zum Büro versuchte ich zu rekonstruieren, was ich an dem Tag zuvor getan hatte: Ich hatte ihn mir freigenommen, um ein paar persönliche Angelegenheiten zu regeln und ein paar Einkäufe zu erledigen. Entsetzt stellte ich fest, daß ich unmöglich auf der Polizeistation gewesen sein konnte. Ich betrachte Polizisten – ob sie nun in Uniform oder in Zivil sind – als meine natürlichen Feinde, da sie sich gegenüber der schwarzen Bevölkerung der schlimmsten Ausschreitungen schuldig machen. Im Laufe der Jahre habe ich jedoch so etwas wie freundschaftliche Beziehungen geknüpft mit dem Personal der Polizeistation, auf der ich mich täglich melden mußte. Sie hatten sich mir gegenüber immer sehr hilfsbereit und höflich gezeigt. Es tat mir leid, daß ich den jungen Polizisten – wenn auch ganz unabsichtlich – hinters Licht geführt hatte, und ich fragte mich, ob ihm wegen dieser Pflichtverletzung etwas angehängt werden könnte. Ich fuhr also wieder zu der Polizeistation zurück und verlangte, mit dem Chef zu sprechen. Ihm erzählte ich, was ich
getan hatte, und erklärte mich bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Zu meinem Erstaunen erklärte er jedoch, er wisse Bescheid; die Polizei habe aber nicht die Absicht, irgendwelche Schritte gegen mich zu unternehmen. Anscheinend hatten sie nicht die Sicherheitspolizei informiert. Erleichtert ging ich wieder in mein Büro zurück. Ich wußte, daß ich beim zweitenmal höchstwahrscheinlich die zwölf Monate auf Bewährung und dazu die neue Strafe hätte absitzen müssen. 1964 wurde ich wieder verhaftet; dieses Mal jedoch nicht wegen Verletzung der Bannbestimmungen, sondern wegen zweier Vergehen, die sehr viel schwerwiegender waren: einmal wegen Besitzes von verbotenem – gebanntem – Schrifttum und dann wegen Propagierung der Ziele einer gebannten Organisation, des ANC. Die Sache mit dem verbotenen Schrifttum war schon grotesk. Ich hatte nämlich die an mich adressierte Büchersendung ungeöffnet in den Papierkorb meines Büros geworfen. Ein übereifriger Sicherheitspolizist, der offensichtlich wußte, an welchen Orten er schauen mußte, hatte sie auf einer Ablage in der Männertoilette entdeckt. Als ich vor Gericht erklärte, daß ich das Männerklo nie betreten hätte, meinte der Anklagevertreter, ich hätte die Zeitschrift ja vom Gang aus auf die zweieinhalb Meter entfernte Ablage werfen können. Daß mich der Magistrat von dieser Anklage freisprach, war nicht weiter verwunderlich. Die Gefahr, ausgewiesen zu werden, wurde damals immer akuter; ich hatte zwar die südafrikanische Staatsangehörigkeit, war aber weder der Geburt noch der Abstammung nach Südafrikanerin. Jeder Verstoß gegen eine Bestimmung des Gesetzes zur Unterdrückung des Kommunismus konnte bedeuten, daß man mich im Anschluß an eine Gefängnisstrafe nach England deportieren würde. Glücklicherweise hatte ich bisher nur gegen die Sektion 10 des Gesetzes verstoßen, als ich
meiner Meldepflicht nicht nachgekommen war. Obwohl darauf diese extrem hohe Gefängnisstrafe stand, war es eines der wenigen Vergehen, das keine Ausweisung nach sich zog. Ich konnte also nur dankbar sein und hoffen, daß ich nicht mit diesem Gesetz in Konflikt geraten würde.
1961, als der Hochverratsprozeß zu Ende war, hatte ich mich darangemacht, ihn so zu beschreiben, wie wir ihn auf der Anklagebank erlebt hatten. Der Titel des Buches lautete: «If This Be Treason». Es durfte jedoch in Südafrika weder veröffentlicht noch verkauft werden, da es verboten war, gebannte Autoren zu zitieren oder zu verbreiten. Das Buch wurde dann 1963 in England veröffentlicht, und ein paar Exemplare gelangten auch in meine Hände. Erst dann fühlte ich mich wirklich als Autorin. Eines abends kam dann dieser Anruf aus London, wo das Erscheinen des Buches mit einer Party gefeiert wurde. Ich sprach mit meinem Bruder, der es wohl kaum fassen konnte, daß die ganze Party nur stattfand, weil seine Schwester ein Buch geschrieben hatte. Ich selbst fand es unfaßbar, daß sie so weit weg und ohne mich stattfand. Der Stolz, den ich empfand, war begleitet von einem Gefühl äußerster Verlassenheit. Seit unserer Reise zu den Verbannten hatte ich ein Buch über die Schicksale dieser Männer und Frauen geplant. Nur ein oder zwei von den Berichten, die wir gehört hatten, waren veröffentlicht worden. In Südafrika wußten nur ganz wenige etwas von diesen vergessenen, menschlichen Existenzen, von der schrecklichen Einsamkeit, in der sie lebten, der Hoffnungslosigkeit, die sie angesichts dieser Verbannungen auf unbestimmte Zeit empfanden. Auch wenn ich in Südafrika nicht veröffentlicht werden durfte, so konnte ich doch schreiben. Ich war jedoch sehr
vorsichtig, da ich nicht riskieren wollte, durch eine zusätzliche Bannbestimmung auch noch daran gehindert zu werden. 1965 konnte ich mir ein paar Monate freinehmen; ich nützte diese Zeit, um ein weiteres Buch zu schreiben, ein Buch über die Verbannten mit dem Titel «Tomorrow’s Sun». Ich schickte die einzelnen Kapitel nach London – die wenigen Seiten, die ich fertiggestellt hatte – und wartete auf das Verdikt meines Verlegers. An einem verregneten Samstag, als das ganze Wochenende ohne Besuche noch vor mir lag, kam es dann auch, das Urteil des Lektors. Ich war am Boden zerstört. Vor allem bemängelte er, daß ich zu viel in das Buch gepackt hätte: zu viele Geschichten, zu viele Personen; seiner Meinung nach war es mehr oder weniger eine amorphe Masse aus Leuten mit unaussprechlichen Namen. Ich fand diesen Vorwurf einfach lächerlich und sozusagen beispielhaft für diese typisch englische Art von Überheblichkeit. Am selben Tag wurde Churchill mit viel Pomp zu Grabe getragen, und ich glaubte, auch für mein Buch die Totenglocken läuten zu hören. Es war ein schrecklicher Nachmittag, der Regen hörte nicht auf, und auch meine düstere Stimmung hielt das ganze Wochenende über an. Sollte ich das Buch noch einmal schreiben? Sollte ich einfach ein paar Geschichten streichen? Aber in dem Buch sollte von all den unglückseligen Schicksalen berichtet werden – nur deswegen hatte ich es geschrieben. Meine erste Reaktion war, das Buch in eine Ecke zu werfen. Aber dann konsultierte ich ein paar Schriftsteller-Freunde und ließ mich schließlich von ihnen überzeugen, es noch einmal zu versuchen. Ich schuldete das den Verbannten, denn niemand hatte so viel über ihr tragisches Schicksal erfahren wie ich. Ich mußte also mein Buch umschreiben. Ich kürzte, strich zusammen und versuchte es dann noch einmal. Dieses Mal mit
Erfolg: das Buch wurde veröffentlicht, und die Welt erfuhr von den Verbannten. Die Welt, aber nicht Südafrika. «Tomorrow’s Sun» war in London schon im Februar angekündigt worden. Die Regierung handelte sofort: zwei Wochen später wurden mir zusätzlich Bannbestimmungen auferlegt, die mir untersagten, irgendwelche Veröffentlichungen vorzubereiten oder auch nur andern dabei zu helfen. Der Zusammenhang mit meinem Buch war offensichtlich. Ich sollte nicht mehr schreiben! In meiner ursprünglichen Bannverfügung war diese Bestimmung nicht enthalten; auf solche Feinheiten kamen sie erst im Lauf der Zeit. Ich konnte jedoch nur darüber lachen. Der Minister war zu spät gekommen; das Buch war in England bereits auf dem Markt. Als ich die neuen Bestimmungen jedoch etwas sorgfältiger durchlas, bemerkte ich, daß ich mich zu früh gefreut hatte. Noch weitere Verbote waren aufgelistet, Verbote, die für mich ganz neu waren, obwohl sie in den Bannverfügungen der anderen, die nach mir gebannt worden waren, häufig miteinbegriffen waren. Ich durfte nun auch nicht mehr ein Gebäude betreten, in dem sich die Büros einer Gewerkschaft oder eines Verlags befanden. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, daß mein Büro sich ja in dem Gebäude der Textilarbeiter-Gewerkschaft befand. Ich würde es also nie wieder betreten dürfen. Dann sagte ich mir jedoch wieder voller Zuversicht, daß dieses Problem auch irgendwie gelöst werden könne. Schnell arbeitete ich einen Arbeitsplan aus, mit dem ich die Zeit bis zu dem Bescheid des Ministers überbrücken wollte – ich hatte ihn dringend ersucht, mir nicht den Zutritt zu dem Gebäude zu verwehren, in dem sich mein Arbeitsplatz befand. In der Zwischenzeit arbeitete ich zu Hause weiter: Ich hielt mich telefonisch auf dem laufenden und holte mir jeden Tag meine
Unterlagen ab, d. h. ich ließ sie holen, während ich draußen auf dem Bürgersteig wartete. Seriös wirkte das bestimmt nicht, aber es war besser als nichts. Ich erhielt eine glatte Absage. Mir wurde klar, daß nicht nur meine Karriere als Schriftstellerin, sondern auch mein Job auf dem Spiel stand. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden flatterte mir dann auch meine Kündigung ins Haus. Auf meinen Vorschlag, in dem Gebäude nebenan zu arbeiten, gingen sie überhaupt nicht ein. Es war klar: Die Medical Aid Society hatte genug von Helen Joseph, obwohl ich eine ihrer ältesten Mitarbeiterinnen war. Ich war fassungslos – zuerst konnte ich es gar nicht glauben, so gedemütigt fühlte ich mich. Die Gesellschaft war jedoch nicht knickrig – sie zahlte mir eine ziemlich große Abfindung, die ich ihnen am liebsten vor die Füße geworfen hätte, aber mein gesunder Menschenverstand siegte über solche Anwandlungen. Ich brauchte das Geld zum Leben, außerdem hatte ich es mehr als verdient. Es dauerte eine Weile, bis ich die Sache im richtigen Licht sah und ihnen zugute halten konnte, daß sie es wirklich nicht leichtgehabt hatten mit einer Sekretärin wie mir. Es war deshalb auch nicht verwunderlich, daß sie mir kündigten, als es schließlich soweit war, daß ich nicht einmal mehr das Gebäude betreten durfte. Eigentlich war es das reinste Wunder, daß ich mich überhaupt so lange gehalten hatte, da ich in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren in einen Hochverratsprozeß verwickelt war, eine fünfmonatige Gefängnisstrafe absitzen mußte und unter Bann und Hausarrest gestellt wurde. Dieser Rausschmiß war eine ganz neue Erfahrung für mich. Ich mußte mich damit abfinden, daß ich kaum eine Chance hatte, wieder einen neuen Job zu finden, obwohl ich einen Hochschulabschluß und lange Erfahrung auf dem Verwaltungs- und Wohlfahrtssektor aufweisen konnte. Ich war
einundsechzig und wegen meines politischen Engagements bereits bekannt; außerdem hinderten mich diese neuen Bestimmungen nicht nur daran, bestimmte Gebäude zu betreten, sondern auch als Lehrerin oder Schriftstellerin Geld zu verdienen. Wie viele andere Gebannte gab ich es sehr bald auf, nach einer gehobenen Position Ausschau zu halten – nach einer Position, wie ich sie all diese Jahre innegehabt hatte. Keine Wohlfahrtsorganisation würde es wagen, mich einzustellen, da alle Angst hätten, die finanzielle Unterstützung der Regierung zu verlieren. Ein paar Wochen lang bewarb ich mich für ausgeschriebene Stellen, eine sehr desillusionierende Erfahrung. Der anfängliche Enthusiasmus, den meine Erfahrung und Qualifikationen hervorriefen, erstarb in dem Augenblick, in dem ich meinen Namen nannte. Ich konnte nicht verschweigen, daß ich gebannt war und auf der schwarzen Liste stand, denn ich mußte die Polizei von jeder beruflichen Veränderung unterrichten, und ich wußte von den andern, daß die Sicherheitspolizei jedesmal bei dem neuen Arbeitgeber auftauchte. Und das würde in meinem Fall auch nicht anders sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte mir meine Arbeit das Gefühl der Sicherheit vermittelt, auch wenn die Bannbestimmungen und der Hausarrest genügend Probleme mit sich brachten. Andere hatten nicht soviel Glück gehabt. Gebannt zu sein, hatte für viele den finanziellen Ruin bedeutet und meistens auch das Schwinden jeder Hoffnung, was die Zukunft betraf, eine Zukunft, die nichts zu bieten hatte als lange Perioden der Arbeitslosigkeit und im Anschluß daran schlechte, unterbezahlte Jobs. Einige Gebannte hatten es deshalb vorgezogen, das Land zu verlassen; auch unter meinen Freunden gab es welche, die mir rieten, ich solle nach England
zurückkehren, um wieder ein freies Leben führen zu können; ich sei zu alt, um mich unter solchen Umständen auf Arbeitssuche zu begeben. Ich hatte jedoch nie im geringsten daran gedacht, Südafrika zu verlassen. Ich war überzeugt, daß ich mich auf irgendeine Art und Weise durchschlagen würde, auch wenn ich in sehr bescheidenen Verhältnissen leben müßte. Ich konnte mein Auto und eventuell auch mein Haus verkaufen. Aber soweit war es noch nicht. Ich gab mich noch nicht geschlagen. Ich beantragte Arbeitslosenunterstützung, eine Aktion, die schon groteske Dimensionen annahm. Mit meinen erstklassigen Zeugnissen unterm Arm und dem Arbeitslosenausweis in der Hand kam ich auf dem Sozialamt an und hoffte, sie könnten mir vielleicht weiterhelfen. Ich mußte verschiedene Formulare ausfüllen, und als ich dabei auf die Frage stieß, ob ich schon vorbestraft sei, mußte ich mit «ja» antworten – ich erinnerte mich an das eine Mal, als ich mich nicht bei der Polizei gemeldet hatte. Daraufhin wurde ich zu einem Rehabilitationszentrum geschickt, wo ich neben ein paar erschöpften Männern auf einer harten Holzbank Platz nahm. Sie starrten mich ungläubig, ja beinahe schon vorwurfsvoll an, obwohl ich genau wie sie gesessen und keinen Job hatte. Der zuständige Beamte las sich meine Zeugnisse von der Universität, den Gemeindezentren und der Medical Aid Society durch und meinte dann der Verzweiflung nahe: «Es ist unmöglich, für jemanden wie Sie einen Job zu finden. So etwas haben wir hier nicht.» Nachdem ich alle vierzehn Tage meine Arbeitslosenunterstützung abgeholt und niemand auch nur die geringste Anstrengung unternommen hatte, mir bei meiner Jobsuche behilflich zu sein, versuchte ich es wieder auf eigene Faust – erfolglos.
Ich wollte es allein schaffen und niemanden um einen Gefallen bitten müssen. Es ging jedoch nicht. Als meine sechsmonatige Arbeitslosenunterstützung auslief, ging ich mit dem Hut in der Hand zu Fanny Kienermann von der berühmten Vanguard-Buchhandlung. Zuerst mußte ich mich jedoch vergewissern, ob der Verkauf von Büchern nicht gleichbedeutend war mit Verbreitung von Literatur, was einen Verstoß gegen die Bannbestimmungen bedeutet hätte. Ich hatte Glück – der Verkauf von Büchern war eine rein geschäftliche Transaktion – und trat noch vor Jahresende meine neue Arbeit an; eine gute Verkäuferin ist jedoch nie aus mir geworden.
Verlorene Jahre
Nach beinahe fünf Jahren Hausarrest konnte ich den Oktober 1967 kaum erwarten. Ich zählte die Wochen, die Tage, und hoffte, daß die Verfügung nicht erneuert würde, obwohl ich natürlich meine Zweifel hatte. Da ich als erste unter Hausarrest gestellt worden war, ließ sich nicht voraussagen, was passieren würde. Meine Leidensgenossen waren beinahe genauso auf die Folter gespannt wie ich; es interessierte sie natürlich auch brennend, wie diese Sache gehandhabt würde. Ich schob meine Zweifel beiseite und überlegte mir, was ich mit meiner Freiheit anfangen würde. Wenn ich zur Arbeit fuhr, sang ich zu der Melodie von «Um die Welt in achtzig Tagen»: «In eighty days I shall be free, and all my friends will come for tea!» Aus achtzig Tagen wurden siebzig, sechzig, fünfzig, vierzig und schließlich vier Tage. Ich hatte eine Party geplant, die gleich nach Mitternacht beginnen sollte, wenn der Bann auslief; zum erstenmal seit fünf Jahren würde ich mein Gartentor öffnen und meine Freunde hereinbitten können. Da ich nach all der Zeit das Bedürfnis verspürte, aus Johannesburg herauszukommen, beschloß ich, nach Durban zu fliegen und von dort mit dem Schiff nach Kapstadt zu fahren. Ich hatte sogar schon gebucht. Am Freitagabend, dem 27. Oktober, hörte ich gegen acht Uhr ein Klopfen an der Tür. Ich wußte sofort, wer das war, denn außer der Sicherheitspolizei klopfte niemand an meine Tür. Ich öffnete, und vor mir standen zwei Männer. Ich bat sie jedoch nicht herein. Genau wie beim erstenmal drückten sie mir ein dreiseitiges Schreiben in die Hand. Da sie so sinister aussahen, schloß ich die Tür, noch bevor ich einen Blick auf die Papiere
warf: fünf weitere Jahre Hausarrest mit genau denselben Restriktionen, fünf weitere Jahre Meldepflicht. Als ich mir klarmachte, was das bedeutete, verspürte ich einen dumpfen Schmerz in der Brust. Fassungslos saß ich auf meinem Stuhl und starrte auf das verdammte Schreiben in meinem Schoß. Natürlich hatte ich nicht ganz ausgeschlossen, daß das passieren könnte, aber zu hoffen ist ja nur menschlich. Ich erkannte, wie dumm das gewesen war, aber trotz allem, es hatte Spaß gemacht, und ich bereute es nicht. Es würde keine Party um Mitternacht, keine Ferien, keine Schiffsreise, keine Freiheit geben, sondern alles würde genauso weitergehen wie in den letzten fünf Jahren. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, nicht einmal ärgern konnte ich mich. Aber dann spürte ich diesen tiefen Zorn in mir aufsteigen, diese ungeheure Wut auf die nationalistische Regierung, die Sicherheitspolizei, das ganze verdammte System. Meistens hatte ich das nur in bezug auf andere gespürt, jetzt ging es jedoch um mich. Trotzdem dachte ich keine Sekunde lang daran aufzugeben. Ich durfte einfach nicht aufgeben. «Seite an Seite… unser ganzes Leben lang, bis wir unsere Unabhängigkeit gewonnen haben!» Das hatte ich vor zwölf Jahren auf dem Volkskongreß versprochen – ein Versprechen, das ich halten mußte. Am nächsten Morgen fuhr ich wieder zur Arbeit. Eine Welle der Sympathie und Empörung schlug mir entgegen; sie verschlang mich und trug mich gleichzeitig. Ich bekam Telefonanrufe, Telegramme, Blumen und Besuch von allen möglichen Leuten – natürlich nicht zu Hause, denn dort durfte ich niemanden empfangen, sondern in der Buchhandlung – und alle verurteilten diese gnadenlose Verfolgung. Um Mittag fuhr ich dann wieder nach Hause – zu dem ersten von den 260 leeren Wochenenden, die mir noch bevorstanden.
Black Sash organisierte Proteste, die sowohl mir wie auch Lilian Ngoyi galten. Die Präsidentin und Geschäftsführerin der Südafrikanischen Frauenföderation teilte mein Schicksal; wir kämpften Seite an Seite, ohne jemals auch nur ein Wort miteinander wechseln zu können. Auf der Polizeistation zählten die diensthabenden Beamten nicht mehr mit mir zusammen die Tage. «Nur noch vier Tage, Mrs. Joseph» hatten sie gesagt, bevor ich wieder unter Hausarrest gestellt wurde. Sie schwiegen, und ich schwieg auch. Kurz darauf hat ein Polizeichef das Haus neben mir gekauft, was natürlich alles noch viel schlimmer machte. Er und seine Familie konnten direkt auf meine Veranda und meinen Garten blicken. Ich fand das unerträglich, trotzdem dachte ich mit keinem Gedanken daran, auszuziehen. Der Dekan von Johannesburg und seine Freunde veranlaßten, daß innerhalb von ein paar Wochen eine über zwei Meter hohe Mauer errichtet wurde, die mir meine Privatsphäre sicherte. Später pflanzte ich einen dichten Wald aus Bäumen und Büschen davor, und mein kleiner Garten wurde noch verschwiegener. In einem Presseinterview behauptete der Polizeichef, er habe bei dem Kauf des Hauses «nicht die geringste Ahnung gehabt, wer neben ihm wohnte». Das kam mir äußerst komisch vor, wo doch gerade mein Bann auf fünf Jahre verlängert worden war. Er war außerdem der zweithöchste Beamte der Polizeistation Norwood, einer sehr großen und wichtigen Station. Es war also wirklich sehr unwahrscheinlich, daß er nicht wußte, wo diese «gefährliche Person» lebte. Glaubte die Polizei wirklich, mein Zuhause sei eine Brutstätte für Verräter, Verschwörer, Umstürzler und Terroristen? Natürlich habe ich selbst auf die Gefahr hin, verhaftet zu werden, gelegentlich auch ein paar meiner gebannten Freunde irgendwo heimlich getroffen. Wir
planten jedoch keine subversiven Aktionen, sondern schöpften einfach nur neue Kraft während dieser schrecklichen Jahre. Ich nahm wieder mein früheres Leben unter Hausarrest auf, obwohl mir klar war, daß ich an den Wochenenden etwas Konstruktives tun mußte. Inzwischen gab es weder für die Medical Aid Society etwas zu tun, noch konnte ich ein Buch schreiben wie in den ersten fünf Jahren. Ich konnte zwar alles Mögliche anfangen zu studieren, aber ich wußte, daß ich nicht genügend Disziplin aufbringen würde, ein Programm durchzuziehen. Deshalb überlegte ich mir, ob ich ein paar Seminare an der Universität belegen sollte. Ich sagte mir, daß ich eigentlich überhaupt nichts wußte über den Glauben, dem ich mich wieder zugewandt hatte, und schrieb mich an der Universität von London ein, um an der theologischen Fakultät den Bachelor zu machen. Das war zwar ein sehr ehrgeiziges Vorhaben, aber ich sagte mir, daß ich das Examen ja nicht unbedingt zu bestehen brauchte; die Hauptsache war, bei der Stange zu bleiben. Mit zweiundsechzig fing ich also an, Theologie zu studieren, und die Leute nahmen mir einfach nicht ab, daß ich nicht die geringste Absicht hatte, als erste Frau in Südafrika das Amt eines Priesters zu bekleiden. Das erste Jahr, in dem ich die Voraussetzungen für mein Studium erfüllen mußte, war ganz schön hart, da ich erst einmal Griechisch lernen mußte. Ich schrieb die Zeiten und Deklinationen auf Karteikarten, die ich an die Windschutzscheibe meines Autos steckte und auf dem Weg zur Arbeit auswendig lernte. 1968 gab ich meinen Job in der Buchhandlung auf. Ich hatte zwar keine großen Chancen, irgendwo eine andere Arbeit zu finden, und ich bezweifle, ob es sich überhaupt gelohnt hätte, danach zu suchen; aber dann ergab sich ganz von selbst etwas. Die Arbeit in der Buchhandlung war in mehr als einer Beziehung ziemlich anstrengend für mich, obwohl ich
natürlich froh war, überhaupt dort arbeiten zu können. Allein zur Polizeistation zu fahren, kostete mich beinahe meine ganze Mittagspause. Außerdem wurde es immer schwieriger, in der Nähe der Buchhandlung einen Parkplatz zu finden, so daß mir nach der Arbeit kaum noch Zeit blieb, meine Freunde zu besuchen. Bekannte von mir besaßen ein Hotel in Roodeport, das im Westen der Stadt liegt und für mich off-limits war. Sie fragten mich, ob ich ihnen nicht bei der Buchhaltung und Verwaltung helfen wolle. Ich überlegte mir, daß meine neue Arbeitszeit wesentlich kürzer wäre und daß die fünfundzwanzig Kilometer bis zu dem Hotel auch nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen würden, als von Norwood durch den Stadtverkehr zu fahren und dann von dem Parkplatz bis zur Buchhandlung zu gehen. Irgendwie schien die Arbeit ein ruhigeres, friedlicheres Leben zu versprechen, und ich sagte zu, obwohl ich bereits schon einmal abgelehnt hatte. Ich mußte mir jedoch bei dem Magistrat die Erlaubnis einholen, den Bezirk von Johannesburg verlassen zu dürfen. Und der Magistrat mußte seinerseits die Sicherheitspolizei konsultieren. All das dauerte mehrere Wochen, aber schließlich bekam ich dann doch die Erlaubnis, und mein Revier schloß sowohl Johannesburg wie auch Roodeport ein. Ich gab also meinen Job als Verkäuferin im Zentrum der Stadt auf und wurde Hotelsekretärin in einem Vorort. Gelegentlich mußte ich mich auch um die Zimmer und die Küche kümmern, das lag mir jedoch nicht besonders. Ich beschränkte mich also auf die Buchhaltung und richtete es so ein, daß ich nur halbtags zu arbeiten brauchte. Ein Nachteil war, daß meine Freunde mich wegen der Entfernung nicht mehr so einfach besuchen konnten. Andererseits war es sehr
viel einfacher, vom Hotel aus zur Polizei zu fahren. Mehr als fünfzehn Minuten brauchte ich gewöhnlich nicht dazu. Mein Interesse für Theologie wuchs, und meine Studien absorbierten viele Abende und Wochenenden. Im Juni 1964 legte ich mit vierundsechzig mein erstes Examen in Griechisch ab, voller Angst, schmählich zu versagen. Da meine Bannbestimmungen mir nicht erlaubten, das Universitätsgelände zu betreten, mußte ich eine andere Lösung finden. Wieder einmal half mir die Auferstehungsgemeinde aus der Klemme. Der große Saal der Prioratsbibliothek wurde von der Universität von London als Prüfungsort anerkannt. An einem bitterkalten Morgen schrieb ich, eingehüllt in eine schwarze Mönchskutte, die mir ebenfalls von dem Priorat zur Verfügung gestellt worden war, meine Examensarbeit. Bruder Norwood Coaker, ein ehemaliger Staatsanwalt, der schon seit vielen Jahren nicht mehr seinen Beruf ausübte, führte Aufsicht. Wir mußten völlig antiquierte Formulare ausfüllen, bevor das Examen durchgeführt werden konnte. Eine Frage lautete: «Ist der Prüfling weiblichen und der Aufsichtführende männlichen Geschlechts, ist die Gegenwart eines Dritten erforderlich. Wurde dieser Regelung entsprochen?» Ich fand diese Besorgnis um meine Tugend sehr komisch, vor allem angesichts der Tatsache, daß Bruder Norwood achtzig und ich vierundsechzig Jahre zählte. Wir antworteten jedoch wahrheitsgemäß mit «nein», und ich fragte mich, ob sich das noch als schwerwiegender Hinderungsgrund erweisen würde. Augenscheinlich nicht: Ich bestand mein Vorexamen und konnte weiterstudieren. Trotz allem vergingen die Jahre sehr langsam. Inzwischen standen sehr viele unter Hausarrest. Auch andere Verfügungen waren verlängert worden, und ich zweifelte allmählich daran, ob ich nach Ablauf meiner neuen Verfügungen frei sein würde, ob ich überhaupt jemals wieder frei sein würde. Ein sehr
einflußreicher Bekannter aus meiner unpolitischen Vergangenheit schrieb mir, ich müsse nur etwas Reue zeigen und Besserung versprechen, dann könne er die zuständigen Behörden davon überzeugen, den Hausarrest und die Bannbestimmungen aufzuheben. Das machte mich so wütend, daß ich den Brief sofort zerriß. Unsere Freundschaft ging deswegen jedoch nicht in die Brüche – wir sind selbst heute noch gute Freunde. So wie er betrachteten mich viele: als eine unverbesserliche Sünderin. Auch mein Bruder schrieb mir, ich solle doch nach England zurückkommen; gleichzeitig drückte er jedoch auch sein Bedauern darüber aus, daß ich das bestimmt nicht tun würde. Für mich war es einfach undenkbar, Südafrika zu verlassen, um nach England zurückzugehen. Südafrika war meine Wahlheimat, auch wenn ich nicht dort geboren war. Es zu verlassen, bedeutete für mich schlicht und einfach Verrat. Ich sah mich jedoch keineswegs als Märtyrerin. Ich wollte einfach nur bleiben und an der Seite meiner Freunde weiterkämpfen – verbannt oder gebannt oder eingekerkert. Vielleicht würde ich einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Aber das Land zu verlassen, wäre ein noch höherer Preis für mich gewesen. Ich wurde auch mit dem Argument konfrontiert, daß ich mehr für unsere Sache tun könnte, wenn ich ginge. Es stimmte natürlich, daß ich in den Jahren der Repression durch meine Bannverfügungen, den Hausarrest, das Verbot des Demokratischen Kongresses und die Schwächung der Frauenföderation mehr oder weniger außer Gefecht gesetzt worden war. Und alles schien nur noch schlimmer zu werden. Trotzdem brauchte ich mich nur zu fragen: «Könnte ich in England etwas tun, was ein anderer nicht genausogut oder besser machen könnte?» Ich wußte, die Antwort würde immer «nein» lauten.
Ich dachte häufig an William Letlalo, der als alter Mann unter vierundzwanzigstündigen Hausarrest gestellt worden war. Er durfte sein winziges, eingeschossiges StreichholzschachtelHäuschen in Soweto nicht verlassen. Es war eines dieser typischen Township-Häuser, von denen es Hunderttausende gibt, parallel angeordnete, lange Reihen, in denen eine Million Afrikaner lebt. Sie haben vier winzige Räume, inklusive Küche, eine Außentoilette und kein Bad. Seit zwanzig Jahren gibt es sie nun schon, diese behelfsmäßigen Unterkünfte, und Tausende von Wohnungssuchenden haben sich auf den Wartelisten eingetragen. Vielleicht war William Letlalo gar nicht so schlecht dran. Schließlich hatte er ein Häuschen, das er nicht mit zwölf, dreizehn andern teilen mußte. Er lebte ganz allein mit seiner Frau, aber ich bezweifle, ob er sich so glücklich schätzte. Vier Jahre lang war er in dieser Streichholzschachtel eingesperrt; die paar Meter bis zum Gartentor waren sein einziger Auslauf: Dort pflegte er zu stehen und den Leuten nachzuschauen, die an ihm vorbeigingen. William Letlalo war siebzig, als dieser noch sehr viel grausamere vierundzwanzigstündige Hausarrest über ihn verhängt wurde. Als er wieder aufgehoben wurde, war er neunundsiebzig. Und er war dreiundachtzig, als alle übrigen Bannbestimmungen ausliefen. Ich habe ihn gekannt, diesen drahtigen alten Mann, der trotz seines Alters immer noch sehr engagiert und aktiv war. Wenn ich an diese winzigen vier Räume dachte, die er vier Jahre lang nicht verlassen durfte, fand ich jedes Selbstmitleid fehl am Platz; ich konnte wenigstens tagsüber kommen und gehen, wann ich wollte, und ich lebte in einem komfortablen Haus in einem weißen Vorort; daran hatte sich überhaupt nichts geändert. Zu Anfang bekam ich all diese Anrufe von Leuten, die mich entweder bedrohten oder beschimpften. Und gegen Ende der
siebziger Jahre grassierte eine andere Plage, die mir das Leben schwermachte. Sie unterschied sich wesentlich von all den andern Belästigungen. Nachdem sie abgeklungen war, konnte ich auch darüber lachen, aber nicht, als sie noch akut war. Es fing damit an, daß jemand am hellichten Tag versuchte, mein Auto zu stehlen, um es in eine Werkstatt zu bringen, wo dann völlig unnötige Reparaturen in Auftrag gegeben worden wären – an einem Ort, wo ich es nie wiedergefunden hätte. Dieser Versuch wurde jedoch von dem Oberkellner des Hotels vereitelt; er warnte mich, als ein paar Automechaniker mein Auto abschleppten. Er hatte Verdacht geschöpft, weil sie keine Wagenschlüssel hatten und auch überhaupt nicht nach mir fragten. Die Automechaniker traf jedoch keine Schuld an der Sache, wie sich später herausstellte. Sie waren einfach auf einen Telefonanruf hin gekommen; der Anrufer selbst hatte einen falschen Namen und eine falsche Adresse hinterlassen. Ich meldete den Vorfall bei der Polizei, die kein sehr großes Interesse an den Tag legte. Danach ging es erst richtig los – tagelang wurde mir ein Streich nach dem andern gespielt; dabei ließen sie sich immer wieder etwas Neues einfallen. Wagenladungen von Erde, Kohle, Sand oder Pflastersteinen wurden per Nachnahme geliefert oder während meiner Abwesenheit einfach vor dem Haus abgeladen. Später bekam ich eine Rechnung, in der dann stand, ich hätte diese Ware per Nachnahme bestellt. Es kostete mich viel Zeit, den erbosten Händlern zu erklären, daß sie einem Streich zum Opfer gefallen waren. Diensteifrige Handwerker wollten meinen Garten ausmessen, um ein Schwimmbecken zu installieren, starrten dann aber fassungslos auf das winzige Stück Land, auf dem überhaupt kein Platz war für ein Schwimmbecken. Dann kam die erste Todesdrohung. Am selben Abend hatte ich versucht, zwanzig oder dreißig Wohnungssuchenden zu
erklären, daß ich nicht diese Anzeige aufgegeben hatte, in der mein Haus zu einem lächerlichen Mietpreis angeboten wurde. Ich konnte sie nur mit Mühe davon abhalten, das Haus zu stürmen; selbst meine Erklärung, daß es verbotenes Terrain sei, schien sie nicht abzuschrecken. Schließlich ging ich aus dem Haus und kaufte ein riesiges Vorhängeschloß für das Gartentor. Es war wirklich beinahe unmöglich, die Leute davon zu überzeugen, daß sie einem Schwindel aufgesessen waren, daß ich aber nichts mit der Sache zu tun gehabt hatte. Ich konnte das Wort «Schwindel» schon nicht mehr hören, aber wie hätte ich es den Leuten sonst erklären sollen? Noch schwieriger war, ihnen die Gründe dafür erklären zu wollen, denn die Opfer waren typische weiße Südafrikaner, die für meine politischen Anschauungen nicht das geringste Verständnis hatten. Eine sehr ruhige, englische Stimme verlangte Mrs. Helen Joseph. «Bitte legen Sie nicht auf. Ich habe eine wichtige Nachricht für Sie.» Ich wartete. «Ich werde heute abend bei Ihnen vorbeikommen und Sie umbringen.» Ich knallte den Hörer auf und rief die Polizei an; sie erklärten, sie könnten mir auch nicht helfen und wollten wissen, warum ich unter Hausarrest stand und warum mein Mann mich nicht beschützte. Nach einigem Hin und Her erklärten sie sich bereit, einer Streife Bescheid zu sagen. Ich fand das keineswegs beruhigend. Nachdem ich an den Toren und der Garage das Vorhängeschloß geschlossen hatte, trank ich noch einen starken Kaffee und ging ins Bett. Die Lichter hatte ich überall brennen lassen, sowohl drinnen wie draußen. Ich schloß sämtliche Fenster, drehte die Schlüssel in den Türschlössern zweimal um und schlief in meinen Kleidern, meinen Hund Dinah ausnahmsweise neben mir. Ich prägte mir die Nummer des Überfallkommandos ein und rezitierte aus dem Psalm «Fürchte Dich nicht vor den Schrecken der Nacht…» Dann
schlief ich ein; ich wachte zwar ein- oder zweimal auf, aber nichts rührte sich. Am Wochenende wurde ich nicht belästigt, abgesehen von einem Anrufer, der nichts sagte, sondern nur hysterisch lachte und einem andern, der auf meine Frage, mit wem er denn sprechen wolle, nur drohend antwortete: «Mit meinem Opfer!» Nachdem die Sache durch die Presse gegangen war und auch Helen Suzman, ein Parlamentsmitglied der Progressiven Partei, darauf gedrungen hatte, zeigte die Polizei etwas mehr Interesse. Ein Colonel kündigte feierlich seinen Besuch an; er meinte, die Drohung käme vielleicht von meinem Mann oder einem persönlichen Feind. Ich versicherte ihm, daß beides völlig ausgeschlossen sei. Daraufhin äußerte er die Vermutung, daß meine «früheren Kampfgefährten» dahintersteckten, weil ich mit ihnen jede Verbindung abgebrochen hätte. Ich wurde wütend und erinnerte ihn daran, daß nicht ich, sondern die Regierung dafür gesorgt habe, daß wir nicht mehr miteinander in Verbindung standen. Daraufhin ließ er mich wissen, daß für die nächsten zwei Wochen mein Telefon abgehört würde. Ich fand diese Enthüllung eher komisch, da ich genügend Beweise hatte, daß mein Telefon schon seit langem abgehört wurde, aber ich ließ mir nichts anmerken. Er versicherte mir, daß sie ihr Möglichstes tun würden, den Anrufer ausfindig zu machen. Und tatsächlich erfolgten auch keine weiteren Anrufe, und ich wurde nach vierzehn Tagen benachrichtigt, daß mein Telefon nicht mehr abgehört würde. Es dauerte eine Weile, bis Vorfälle dieser Art mich nicht mehr aus der Fassung brachten. Jedesmal, wenn ich nach Hause kam, rechnete ich schon halb damit, Sand- oder Kohlesäcke oder verärgerte Wohnungssuchende vorzufinden. Tatsächlich erschien auch noch eine weitere Anzeige, daß mein Haus zu vermieten sei. Dieses Mal war aber meine
Telefonnummer angegeben, und ich konnte die Leute telefonisch abwimmeln. Das war zwar auch nicht gerade angenehm, aber doch besser, als sie wieder nach Hause schicken zu müssen. Meine Freunde bedrängten mich, ich solle nicht allein in dem Haus bleiben, sondern den Justizminister bitten, mit jemanden die Wohnung teilen zu dürfen. Es widerstrebte mir jedoch, von dem Minister irgendwelche Vergünstigungen zu erbetteln, wo er doch in voller Absicht diese Strafe über mich verhängt hatte. Was ich jedoch nicht wußte, war, daß ich jederzeit Untermieter oder Pensionäre hätte aufnehmen können, denn solange sie zahlten, galten sie nicht als Besucher. Aber ich glaube, ich hätte es trotzdem nicht getan. Ich hatte das Haus gekauft, weil ich allein leben wollte. Außerdem hätte ich niemanden zumuten wollen, mit mir zusammenzuziehen, wenn es wirklich gefährlich gewesen wäre. Im Mai 1971 saß ich einmal bis nach Mitternacht an meinem Schreibtisch, bis ich dann bemerkte, wie spät es war, und schlafen gehen wollte. Ich ließ Dinah noch einmal in den Garten. Sie rannte zum Gartentor und fing wütend an zu bellen; ich zögerte einen Augenblick, dachte dann aber, daß es bestimmt nur eine Katze war. Als sie immer weiter bellte, beschloß ich, der Sache nachzugehen, und lief auch zu dem Gartentor. In der Zwischenzeit hatte sie jedoch wieder aufgehört zu bellen. Ich blickte auf die vom Mondlicht beschienene Straße; nichts rührte sich, und ich ging daraufhin beruhigt zu Bett, ohne mir weitere Gedanken zu machen. Am nächsten Morgen wollte ich in aller Frühe die Einfahrt öffnen und entdeckte mitten auf dem Weg ein längliches, mit vielen Schnüren umwickeltes Paket. Es sah wie ein Papierdrachen aus. Ich hob es auf, drehte es um und sah ein paar Batterien. Sie waren mit einem langen, elektrischen Kabel verbunden, das ich zuerst für eine Schnur gehalten hatte. Es
schien aus dem Busch neben dem Gartentor zu kommen. Ich wurde mißtrauisch und legte das Paket vorsichtig wieder auf den Boden. Ein Kinderspielzeug war es offensichtlich nicht. Ich rief die Polizei an, die ein Bombenentschärfungsteam schickte. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine selbstgebastelte Bombe, die explodiert wäre, wenn ich das Tor geöffnet hätte. Sie hatten das sehr schlau eingefädelt, aber Dinah war noch schlauer gewesen: Sie hatte die Bombenleger in der Nacht zuvor in die Flucht getrieben, und dabei hatten sie das Ding einfach mitten auf dem Weg liegenlassen, statt es zu verstecken. Ich fragte das Team, wie stark die Explosion gewesen wäre, und sie meinten ungerührt: «Oh, wahrscheinlich wären Sie noch mit dem Leben davongekommen, aber einen Arm oder einen Fuß hätten Sie schon verlieren können.» Ich fand das nicht gerade tröstlich und sagte ziemlich maliziös zu dem anwesenden Polizisten: «Nun konnten Sie ja endlich mal etwas für mich tun!» Er gab mir keine Antwort darauf. Dinah hatte mich also davor bewahrt, einen Arm oder ein Bein zu verlieren. Aber sie hatte noch mehr getan – sie brachte mich endlich zur Vernunft. Schon seit über zwei Monaten hatte ich diesen Knoten in meiner Brust. Ich wußte, daß ich sofort zum Arzt hätte gehen müssen, aber ich zögerte es absichtlich hinaus, und zwar aus irgendwelchen absurden politischen Erwägungen. Anscheinend war mir der Hausarrest doch mehr aufs Gemüt geschlagen, als ich mir eingestand. Ich entwickelte die fixe Idee, er würde nie aufhören, sondern jedesmal wieder um fünf Jahre verlängert werden. Die ersten fünf Jahre hatte ich hinter mir, zu den zweiten fehlte mir gerade noch ein Jahr. Aber was würde am 31. Oktober 1972 passieren? Der Minister konnte den Hausarrest alle fünf Jahre wieder erneuern, und das, solange er wollte. Er hatte es schon einmal getan. Was
würde ihn also daran hindern, es noch ein zweites Mal zu tun? Und ein drittes, viertes Mal… Auch auf politischer Ebene fühlte ich mich frustriert, obwohl ich wußte, daß ich noch zu etwas nütze war, und sei es auch nur durch die Tatsache, daß ich prominent geworden war. Was auch immer im Zusammenhang mit mir, der ersten unter Hausarrest gestellten Person, geschah, die Zeitungen würden darüber berichten. Auf diese Weise konnte ich die Öffentlichkeit immer wieder auf mich und meine Leidensgenossen aufmerksam machen. Sonst wären wir wahrscheinlich in der Versenkung verschwunden – wie die verbannten Afrikaner. Ich wußte praktisch nichts über Krebs und dachte, wenn man an einer Stelle operierte, würde der Krebs an einer anderen wieder auftauchen. Außerdem überlegte ich mir, daß ich nun schon beinahe Sechsundsechzig war und keine Lust hatte, unter solchen Umständen uralt zu werden. Das beste wäre also, nichts zu tun und abzuwarten, was passieren würde; daß es Krebs war, daran bestand für mich nicht der geringste Zweifel. Ich hoffte sogar, daran zu sterben, während ich noch unter Hausarrest stand; vielleicht sähe sich die Regierung dann gezwungen, diese grausame Strafe wieder aus ihrem Repertoire zu streichen. Ich wußte, daß der Tod einer sechsundsechzigjährigen, unter Hausarrest stehenden Frau durch die Weltpresse gehen würde. Ich weiß natürlich nicht, wie weit ich die Sache getrieben hätte, aber allein der Gedanke, daß ich aus dieser Krankheit politisches Kapital schlagen konnte, machte mich schon glücklich. Mein Tod würde mehr Gewicht haben als mein Leben. An die Schmerzen, die ich vielleicht ertragen müßte, versuchte ich nicht zu denken. Der fehlgeschlagene Bombenanschlag hatte mich ziemlich erschüttert – es war aber nicht Angst, sondern die Erkenntnis,
daß ich mich vielleicht doch auf dem Holzweg befand. Vielleicht hat mir Dinah mehr geholfen, als es den Anschein hatte; vielleicht sollte ich aus diesem Vorfall die Lehre ziehen, daß es meine Aufgabe war, weiterzuleben, daß es noch sehr viel für mich zu tun gab und daß ich auf keinen Fall aufgeben dürfte, auch nicht, wenn ich durch meinen Tod mehr als durch mein Leben zu erreichen glaubte. Es stand mir nicht zu, darüber zu entscheiden. Kurz darauf ging ich also in das städtische Krankenhaus. Die Diagnose lautete Krebs im zweiten, eventuell auch schon im dritten Stadium, da ich mir gefährlich viel Zeit damit gelassen hatte. Er mußte sofort operiert werden. Ich war gerade wieder eine halbe Stunde zu Hause – inzwischen dachte ich ganz anders über die Sache –, als Colonel Johann Coetzee von der Sicherheitspolizei anrief. Solche Anrufe erweckten bei mir gleich die schlimmsten Befürchtungen, da man aufgrund mangelnder Zusammenarbeit mit der Polizei ohne Anklage verhaftet werden konnte und allen möglichen Schikanen ausgesetzt war. Für mich verkörperte dieser Mann, der 1982 bereits zum Generalleutnant der südafrikanischen Polizei und zum Chef der Sicherheitspolizei aufgestiegen war, den ganzen Horror und die ganze Macht der Sicherheitspolizei. Schon in den Anfängen meines politischen Lebens, als er noch den bescheidenen Rang eines Kriminalwachtmeisters bekleidete und Protokolle aufnahm, war er immer dabeigewesen. In den fünfziger Jahren tauchte er auf unsern Versammlungen auf, um unsere Reden schriftlich festzuhalten, ein flotter, junger Mann, mittelgroß, mit glattem schwarzen Haar und einem Schnurrbart. Ohne das Sportjackett und die grauen Flanellhosen – eine Art Uniform der Sicherheitspolizei – hätte man ihn glatt für einen Jungmanager halten können mit seinem unvermeidlichen Aktenköfferchen. Er mauserte sich jedoch
sehr schnell zu einem der Männer, die graue Anzüge tragen, pastellfarbene Hemden und dezent gemusterte Krawatten. Sergeant Coetzees Gesicht zeigte nie irgendwelche Emotionen, und jede seiner Bewegungen war kontrolliert. Er verzog nie eine Miene, auch wenn wir absichtlich unhöflich zu ihm waren – ein Verhalten, das wir gewöhnlich allen Sicherheitsbeamten gegenüber an den Tag legten. Ich verwandelte mich in seiner Gegenwart in einen britischen Eisberg, da mir sein aalglattes Verhalten unüberwindliches Mißtrauen und Antipathie einflößte. Während des Hochverratsprozesses kam es auch einmal zu einem Ausbruch offener Feindseligkeit zwischen uns (einem stummen, was mich betraf), als er nämlich unter Eid versicherte, daß er 1955 auf einem Meeting der Föderation Südafrikanischer Frauen in der Trades Hall gewesen sei und sich Notizen gemacht habe. Ich wußte jedoch, daß er sich unmöglich unter den Zuhörern befunden haben konnte, denn ich hatte die ganze Zeit über auf der Rednerbühne gestanden und kannte die beiden weißen Männer – unsere einzigen männlichen Gäste – persönlich. Es waren Reporter, und Sergeant Coetzee befand sich nicht in ihrer Gesellschaft. Ich weiß nicht, wo er war, ob er auf dem Dach saß und durch die Oberlichter schaute oder ob er sich in einem Schrank versteckt hatte. Auf jeden Fall war seine Behauptung, daß er, für alle sichtbar, im Zuschauerraum gesessen hatte, eine glatte Lüge. Es war ein ziemlich kleines Treffen gewesen; mehr als zweihundert Frauen waren nicht gekommen, und ich kannte alle Anwesenden. Seitdem haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt. Unsere Verachtung und Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Von General Coetzee wurde gesagt, seine Augen würden nie irgendwelche Seelenregungen widerspiegeln; zu mir meinte jedoch einmal ein Bekannter, die Blicke, die wir einander zuwerfen würden, wenn wir uns in einem Raum befänden,
seien wie giftige Pfeile. Unsere Blicke treffen sich und halten einander stand, während unsere Züge vor gegenseitiger Abneigung erstarren. Als Winnie 1969 in Untersuchungshaft saß, sagte Johann Coetzee zu ihr, er würde Helen Joseph auch noch eines Tages hinter Gitter bringen. Seit fünfzehn Jahren würde er das versuchen, und irgendwann wär’s auch soweit. Der ehemalige Stenograph hat den Höhepunkt seiner Karriere erreicht: Er ist inzwischen Chef der südafrikanischen Polizei. Und als solcher trägt er die Verantwortung für die unmenschliche Behandlung der politischen Häftlinge, die Anwendung von Folter, die manchmal sogar den Tod dieser Männer zur Folge hatte, Männer, die ohne Prozeß festgehalten wurden und ohne Kontakt mit der Außenwelt waren. Ich bin alt und gebannt und stehe auf der schwarzen Liste – ich kann mich nicht mehr so engagieren, wie ich gerne möchte, trotzdem würde ich nie in meinem Leben mit General Coetzee, dem Polizeichef, tauschen wollen. Ich kann mich selbst ertragen. Ich weiß nicht, ob er das kann. Bei jenem Telefongespräch sagte der damalige Colonel Coetzee, daß er sich mit mir über ein paar Dinge unterhalten wolle, unter anderem auch über die Verletzung meiner Meldepflicht. Ich hatte im vergangenen Monat tatsächlich wieder einmal vergessen, mich zu melden, und hatte schon damit gerechnet, verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden. Ich meinte so beiläufig wie nur möglich, daß ich auch etwas zu berichten hätte – daß ich mich nämlich so schnell wie möglich einer Krebsoperation unterziehen müsse. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Nach einer längeren Pause drückte er vollkommen kontrolliert seine Anteilnahme aus und schlug vor, die Unterhaltung auf ein anderes Mal zu verschieben. Ich erwiderte, daß ich gerne wüßte, um was es sich handle, und ihn deshalb noch vor
meinem Krankenhausaufenthalt sprechen wolle. Als ich aber wieder bei ihm anrief, war er offensichtlich eher entnervt als kontrolliert. Verärgert meinte er: «Was ich mit Ihnen, Mrs. Joseph, zu besprechen habe, erfordert viel Zeit. Es wäre unsinnig, jetzt darüber zu sprechen.» Ich mußte viel erledigen in den paar Tagen – ich mußte mich um meinen Job, meine Wohnung, meinen Hund und meine Katze kümmern. Und bei dem Magistrat mußte ich die Erlaubnis einholen, das Haus verlassen zu dürfen, um ins Krankenhaus gehen zu können; bei der Polizei mußte ich mich für die Zeit meines Krankenhausaufenthaltes abmelden. Im nachhinein ärgere ich mich jedoch, daß ich mich mit diesem Kram überhaupt abgegeben habe. Am Tag vor der Operation stand dann in allen Zeitungen, daß ich mich im Krankenhaus befinden würde und wegen Krebs operiert werden sollte. Die Tatsache, daß ich dem Gesetz nach selbst jetzt noch unter Hausarrest stand, bewirkte ein solches Aufsehen, eine solche Empörung, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich war gerührt von der Anteilnahme, die ich von Freunden wie von Fremden erfuhr. Als die andern Patienten auf meiner Station herausfanden, wer ich war, konnten sie das kaum glauben, und den Krankenschwestern ging es wohl genauso. Die meisten waren sehr nett, auch wenn sie mit meiner Person eigentlich nur verbanden, daß ich eine «Rote» war – eine komische Rote, wie sich herausstellte, eine, die Besuche von Priestern und sogar von Bischöfen erhielt und die frühmorgens schon die Kommunion empfing. Sie haben sich jedoch bestimmt alle über diese Berge von Blumen gefreut, die die Station schmückten. Sogar Maiglöckchen hatte ich bekommen, echte Maiglöckchen aus einem englischen Garten, die eine Freundin den ganzen Flug über in der Hand gehalten hatte. Sie waren so
zart und rein und dufteten so hinreißend, daß ich sie nie vergessen werde. Besucher waren ein Problem. Offiziell durfte ich immer nur eine Person empfangen, aber meine Freunde drängten sich während der kurzen Besuchszeit um mein Bett, ohne sich auch nur im geringsten um die Bannbestimmungen zu kümmern. Die Oberschwester teilte mir mit, daß die Sicherheitspolizei damit gedroht habe, während der Besuchszeit einen Polizisten vor der Station aufzustellen, wenn meine Besucher sich nicht ordnungsgemäß verhielten. Danach bildeten sie wie damals an Weihnachten vor meinem Gartentor eine lange Schlange und traten einzeln an mein Bett. Ich hatte den Magistrat gebeten, nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus, eine Freundin bei mir aufnehmen und Besuch empfangen zu dürfen, worauf er, offensichtlich auf Weisung der Sicherheitspolizei, eine Liste mit den Namen und Adressen dieser Personen verlangte. Ich war empört und weigerte mich, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Helen Suzman, die sich tapfer als einziges Parlamentsmitglied der Progressiven Partei behauptete, stattete mir auch einen Besuch im Krankenhaus ab. Sie hatte den Justizminister gebeten, doch für diese kritische Zeit in meinem Leben den Hausarrest aufzuheben, worauf er erwiderte, daß ich nur Ärger machen würde, selbst wenn man mir beide Arme und Beine wegoperieren würde. Er wolle sich auf keinen Fall festlegen. Die Operation verlief sehr erfolgreich, trotzdem mußte ich mich danach noch bestrahlen lassen. Nach Hause hätte ich nur gehen können, wenn jemand dagewesen wäre, der sich um mich gekümmert hätte – ich blieb also im Krankenhaus, während sich die Tatsache, daß die sechsundsechzigjährige Helen Joseph nach ihrer Krebsoperation nicht nach Hause konnte, sowohl in Südafrika wie auch im Ausland zu einem Skandal auswuchs.
Ich bin fest überzeugt, daß die Berichte in den Zeitungen und das ganze Aufsehen, das mein Fall erregte, viel zu dem plötzlichen Sinneswandel der Regierung beigetragen hat. An einem Nachmittag kamen zwei Sicherheitsbeamte auf meine Station und brachten mir einen Brief von dem Justizministerium, in dem es hieß, daß mein Hausarrest und die Bannbestimmungen bis auf weiteres aufgehoben seien. Ich war frei – nach neun Jahren. Als die Neuigkeit bekanntwurde, geriet das ganze Krankenhaus in Aufregung. Sie drängten alle in mein Zimmer, einschließlich der Oberschwester, um mir zu gratulieren. Ich durfte das Ereignis mit Champagner begießen, als meine Freunde kamen, um meine Freiheit mit mir zu feiern. Und nach zwei Tagen durfte ich dann auch nach Hause, und mein Haus war nicht leer, sondern voller Leute, den ganzen Tag und auch die Tage danach – um die verlorenen Jahre aufzuholen. Es war eine neue Welt.
Folter und Widerstand
Während ich in der Zeit meines Hausarrestes völlig isoliert wie in einer Kapsel gelebt hatte, eine Gefangene meiner eigenen vier Wände, waren die sechziger Jahre als das Jahrzehnt der schlimmsten Unterdrückung verlaufen. Die brutale Behandlung politischer Häftlinge, ja sogar die Anwendung von Folter, um aus den hilflosen Opfern Geständnisse zu erpressen, waren mittlerweile an der Tagesordnung. Südafrika folgte dem barbarischen Beispiel der Nazis, und es hatte seine Lektion gut gelernt. Umkhonto We Sizwe intensivierte seine Sabotageakte, war aber immer darauf bedacht, keine Menschenleben zu gefährden. Sie richteten sich gegen Industrieanlagen und Gebäude, nicht gegen Personen. 1961 gründeten Extremisten des PAC, der wie der ANC im Untergrund arbeiten mußte, eine neue militante Organisation. Im Gegensatz zu Umkhonto beschränkte Poqo sich jedoch nicht auf Gebäude und Installationen, sondern plante und führte auch Vergeltungsmaßnahmen durch, denen Schwarze wie Weiße zum Opfer fielen – schwere körperliche Mißhandlungen, die häufig den Tod der Betroffenen zur Folge hatten. Manchmal war diese Gewalt durch nichts zu rechtfertigen. 1963 reagierte die Regierung mit einem neuen Gesetz, das noch sehr viel repressiver war als das im Jahr zuvor beschlossene. Die Notstandsregelung, daß Personen festgenommen werden konnten, ohne je vor Gericht gestellt zu werden, wurde zu einer permanenten Einrichtung; der Notstand selbst brauchte gar nicht mehr proklamiert zu
werden. Aufgrund dieses Gesetzes konnte jeder, der von der Polizei verdächtigt wurde, einen Sabotageakt zu planen oder auf irgendeine Art und Weise gegen das Sabotage-Gesetz zu verstoßen, verhaftet werden – schlimmer noch, es genügte schon, daß ihn die Polizei im Besitz von Informationen glaubte. Angebliche Saboteure konnten bis zu neunzig Tage in Isolationshaft gehalten oder auch freigelassen und sofort wieder für neunzig Tage inhaftiert werden. Dieses schändliche Gesetz wurde am 1. Mai 1963 wirksam, und bereits acht Tage später erfolgten dann die ersten Verhaftungen. Bis zum Ende des Jahres waren es schon fünfhundert. Man hörte die schrecklichsten Berichte über die Lebensverhältnisse der Häftlinge; sie wurden ausnahmslos in Isolationshaft gehalten und durften in ihrer Zelle weder lesen noch schreiben, nur manchmal gab man ihnen eine Bibel. Auch über die Anwendung von Folter – vor allem von Elektroschocks – wurde berichtet. Einige meiner Freunde wurden gleich zu Anfang, andere etwas später verhaftet; der Schatten der «neunzig Tage» hing jedoch über uns allen. Wie die anderen hörte auch ich auf die Geräusche, wenn mitten in der Nacht ein Auto vor meinem Haus hielt; ich zählte, wie viele Türen zuklappten, weil ich immer Angst hatte, es könnte ein Polizeiauto sein. Die Neunzig-Tage-Regelung wurde 1965 wieder aufgehoben, nachdem sie drei Männer das Leben gekostet hatte. Offiziell war es in allen drei Fällen Selbstmord, aber die Zweifel an dieser Version ließen sich nicht aus dem Weg räumen. Über tausend Menschen waren verhaftet worden, bevor die berüchtigte Klausel 17, die die Festnahme für neunzig Tage ermöglichte, wieder außer Kraft gesetzt wurde. Sie war aufgehoben, aber nicht abgeschafft worden und konnte jederzeit, wenn der Justizminister es für nötig befand, wieder herangezogen werden. Nach sechs Monaten trat an die Stelle
des 90-Tage-Gesetzes das 180-Tage-Gesetz. Es diente dazu, «widerspenstige» Zeugen zu einer Aussage zu zwingen. Der Justizminister war anscheinend mit dem Ergebnis des 90-TageGesetzes nicht zufrieden gewesen, obwohl ein Viertel der Inhaftierten Staatszeugen geworden waren und ihre Gefährten und die gemeinsame Sache verraten hatten, zermürbt durch Isolationshaft und Folter. Einer von vier – das hätte eigentlich reichen müssen. Aber nein, die Bestimmungen wurden noch verschärft, um die Männer soweit zu bringen, daß sie ihre Seele für ihre Freiheit verkauften. Das 180-Tage-Gesetz wurde eine noch schrecklichere Waffe, die auf denselben Prinzipien beruhte: Isolationshaft, Folter, Dauerstehen bis zu dreißig oder vierzig Stunden, Elektroschocks. Letzteres schienen sie vor allem für die Schwarzen reserviert zu haben. Es ist eine schlimme Erfahrung, wenn man selbst im Gefängnis aufgrund seiner Hautfarbe bevorzugt behandelt wird. 1967 trat das Terrorismus-Gesetz in Kraft (Terrorism Act, Nr. 85/1967). Wer angenommen hatte, es könne nicht noch schlimmer kommen, der hatte sich gründlich getäuscht. Das Terrorismus-Gesetz spannte ein sehr viel dichteres Netz für alle, die sich an terroristischen Aktivitäten beteiligt oder davon gewußt hatten. Die Strafen reichten von fünf Jahren Gefängnis bis zur Todesstrafe. Die berüchtigte Section 6 des Gesetzes ermöglichte die unbegrenzte Inhaftierung von bestimmten Personen zur Befragung. Die Inhaftierten konnten sich mit niemandem in Verbindung setzen: Südafrika war endgültig zu einem Polizeistaat geworden. Daran änderten auch die ganzen Proteste nichts, die sowohl in Südafrika wie auch im Ausland geäußert wurden. Diese sadistischen Zwangsmaßnahmen sind ein Teil der südafrikanischen Gesetzgebung geworden. Die Öffentlichkeit sollte jedoch nichts erfahren, deshalb spielte sich alles in den obersten Etagen der Polizeigebäude ab, hinter dicken Mauern
und verriegelten Türen, die nur ganz selten die Schreie der Gefolterten nach außen dringen ließen. Diese barbarische Methode, eine Aussage zu erpressen, hat verschiedene Namen: 90-Tage-Gesetz, 180-Tage-Gesetz und die heute noch gültige, berüchtigte Section 6 des Terroristengesetzes. Es dreht sich jedoch immer um dieselbe Sache, nur sind inzwischen nicht nur Schwarze davon betroffen. Es können zum Beispiel über den Kopf gestülpte Plastiktüten sein, während die Opfer gezwungen werden, sich nackt auszuziehen, damit an den Genitalien Elektroschocks durchgeführt werden können. Man wundert sich nur, daß so viele selbst durch solche Methoden nicht in die Knie gezwungen wurden, Methoden, die äußerlich keine Spuren hinterließen. Dafür blieben andere Narben zurück. Ein Gefangener bemerkte: «Die Folter hat mich meiner Menschlichkeit beraubt. Ich kann diese Leute nicht mehr als menschliche Wesen betrachten. Und ich empfinde das als einen schrecklichen Verlust.» Über diese ständige Verletzung der Menschenrechte, wie sie in Südafrika praktiziert wird, wurde schon viel geschrieben. Die Nationalisten verteidigten dieses Gesetz als Schutzmaßnahme gegen die Gefahr des Kommunismus. Dabei übersehen sie jedoch völlig, daß das Apartheid-System durch Armut, die es erzeugt, und Ausbeutung, die es schützt und fördert, selbst die besten Argumente für einen kommunistischen Umsturz liefert. Meine Empörung wuchs mit jedem Gesetz, das erlassen wurde; ich hielt es für unmöglich, daß solche Gesetze und alles, was in ihrem Namen passierte, einfach so hingenommen werden könnten. Das weiße Südafrika hat sie jedoch hingenommen, die Mehrheit der Weißen hat nichts weiter getan als einmal kurz «gebellt», und auch die westliche Welt begnügte sich mit einem Bellen – und pflegte weiter ihre
wirtschaftlichen Beziehungen zu Südafrika, die für sie profitabel sind und das schändliche System im Sattel halten. Ich habe bereits erwähnt, wie oft ich gefragt wurde und immer noch gefragt werde, warum ich Südafrika denn nicht verlassen würde. Der Zorn und die Empörung, die die Sicherheits- und Apartheids-Gesetze in mir bewirkt haben, spielen bestimmt eine große Rolle. Ich bin überzeugt, daß ich meine Absage an dieses Regime am deutlichsten ausdrücke, wenn ich bleibe, nachdem ich schon so viele Schikanen durchgestanden habe und auch bereit bin, weitere durchzustehen. Als die Prozesse begannen, hörten wir von den Siegen und Niederlagen der Zeugen und Angeklagten. Die Polizei prahlte: «Früher oder später reden sie alle.» Vielleicht – wenn die Grenzen menschlicher Belastbarkeit erreicht sind. Allmählich wurde auch bekannt, was die Häftlinge durchstehen mußten. Die Polizei brauchte Beweise, um das Gericht zu überzeugen. Auf irgendeine Art und Weise mußten die Häftlinge zum Reden gebracht werden. Selbst wenn sie dann später vor Gericht aussagten, daß ihre Geständnisse erpreßt worden waren, nützte ihnen das nicht viel. Es gab genügend Polizisten, die bestritten, daß jemals Gewalt angewandt worden war oder daß die Häftlinge gezwungen worden waren, ohne Schlaf und ohne Essen stundenlang auf einem Fleck stehenzubleiben.
Der berühmte Rivonia-Prozeß leitete eine ganze Dekade politischer Prozesse ein. Walter Sisulu und Ahmed Kathrada, mit denen ich während des Hochverratsprozesses auf der Anklagebank gesessen hatte, waren zusammen mit zwölf andern auf äußerst spektakuläre Art und Weise in einem Haus in Rivonia verhaftet worden; Rivonia ist ein reicher Johannesburger Vorort mit zahlreichen stattlichen Häusern,
gepflegten, großen Gärten und vielen Bäumen. Nelson Mandela war von dem Gefängnis, in dem er seine fünfjährige Haftstrafe absaß, zu ihnen gebracht worden. An dem Tag vor der Urteilsverkündung herrschte in ganz Südafrika große Spannung. Mit Ausnahme von einem Weißen waren alle schuldig gesprochen worden. Aber würden sie leben oder würden sie sterben müssen? Die Todesstrafe war gefordert worden – es war also beides möglich. Ich hatte den Verhandlungen in Pretoria nicht beiwohnen können, weil ich aufgrund meiner Bannbestimmungen Johannesburg nicht verlassen durfte. Selbst in dieser kritischen Zeit konnte ich kein Wort mit meinen Freunden wechseln. An dem Tag der Urteilsverkündung ging ich nicht zur Arbeit. Ich hätte es nicht ertragen, in meinem Büro zu sitzen und zu warten. Statt dessen kümmerte ich mich um die Nahrungsmittel und die Kleidungsstücke, die den Verbannten für den Winter geschickt werden sollten. Ich nahm mein Transistorradio mit, und als ich die Worte «lebenslängliche Haft» hörte, konnte ich nur flüstern: «Sie leben! Sie leben!» Dann dachte ich an das, was die Frauen dieser Männer durchgestanden hatten, an die Ironie des Ganzen – daß sie noch dankbar waren, daß ihre Männer lebenslänglich bekamen und ihre Ehen damit nur noch auf dem Papier bestanden. Lebenslänglich bedeutete in diesem Fall auch lebenslänglich. Ihre Männer würden nichts erlassen bekommen. Sie würden bis zu ihrem Tod eingekerkert bleiben. Sie erhoben sich von der Anklagebank, diese Führer ihres Volkes, nahmen Abschied von ihren Frauen und Kindern und gingen singend in ihre Zellen zurück, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen würden. Und ihre Frauen verließen singend den Gerichtssaal, vor sich all diese endlos langen, leeren Jahre. Winnie Mandela und Albertina Sisulu gingen voran; beide würden viele Jahre unter repressiven Bannbestimmungen und
unter Hausarrest leben – sozusagen als Dreingabe zu ihrer Einsamkeit als «Robben Island-Witwen», der Einsamkeit von Frauen, die ihre Männer einmal im Jahr durch eine Plexiglasscheibe in diesem grauenvollen Hochsicherheitsgefängnis auf Robben Island sehen durften. Albertina Sisulu, Winnie Mandela: Sie waren Führerpersönlichkeiten aus eigenem Recht, genau wie ihre Männer. Ihre Würde, ihr Mut und ihre Selbstbeherrschung lassen sich überhaupt nicht beschreiben. Winnie war damals schon gebannt, und wir konnten deshalb nicht miteinander sprechen. Eine der Frauen, Caroline Motsoaledi, hatte nicht kommen können. Sie hatte sieben kleine Kinder, und das jüngste war erst ein paar Monate alt; es wurde geboren, während der Vater im Gefängnis saß. Caroline selbst war im Gerichtssaal verhaftet worden, als sie den Verhandlungen beiwohnte, und hatte mehrere Monate in einer Untersuchungszelle verbracht. Nach der Urteilsverkündigung sagte ihr niemand, ob ihr Mann frei oder schuldig gesprochen oder zum Tod verurteilt worden war – und als man es ihr dann schließlich mitteilte, wußte sie immer noch nicht, was sie glauben sollte. Der Rivonia-Prozeß lag noch nicht einmal einen Monat zurück, als ein politischer Prozeß begann, in den ein paar meiner Freunde verwickelt waren. Seit dem 4. Juli waren im ganzen Land großangelegte Razzien durchgeführt worden. Auch ich mußte mitten in der Nacht eine Hausuntersuchung über mich ergehen lassen. Ich konnte jedoch froh sein, daß es nur das war und keine Verhaftung. Wertvolle Unterlagen über die Verbannten und ein paar Bücher fielen der Polizei zum Opfer. Sie hatte alle diese Sachen einfach eingesackt, und ich sah sie nie wieder. Ich frage mich manchmal, wo und wie sie unsere Dokumente aufbewahren, ob sie hübsch säuberlich archiviert sind, damit
wir sie irgendwann einmal in der Zukunft wohlgeordnet vorfinden. Ich bezweifle das. Bram Fischer, unser geliebter Anwalt im Hochverratsprozeß und Führer des Verteidiger-Teams im Rivonia-Prozeß, gehörte dieses Mal zu den Angeklagten. Er war einmal ein paar Tage im Juni inhaftiert gewesen und dann wieder im September. Er wurde jedoch auf Kaution freigelassen und konnte zu einem wichtigen Zivilprozeß nach London fliegen, bei dem er als Hauptprozeßbevollmächtigter vor dem Kronrat auftrat. Danach kehrte er wieder nach Südafrika zurück und verantwortete sich zusammen mit den übrigen Angeklagten vor Gericht, aber noch bevor der Prozeß zu Ende war, beschloß er, seine Arbeit im Untergrund fortzusetzen. Während der sechziger Jahre erhob der Verrat zum erstenmal sein häßliches Haupt. Im Rivonia-Prozeß machte Robert Hepple den Anfang. Er war zusammen mit den anderen verhaftet worden, und irgendwie hatte ihn die Sicherheitspolizei dazu gebracht, eine Aussage zu machen und als Staatszeuge aufzutreten. Es war das erste Mal, daß bei einem politischen Prozeß so etwas passierte, und wir waren alle fassungslos. Während der Verhandlung sagte Walter Sisulu zu dem Anwalt der Anklage: «Er ist ein Verräter. Jeder, der Information an die Polizei weitergibt, ist ein Verräter… Hepple wird von allen geschnitten werden, damit er nicht noch mehr Schaden anrichten kann.» Ich war zum erstenmal mit diesem Phänomen konfrontiert; Walter meinte natürlich nicht nur Bob Hepple, sondern alle zukünftigen Verräter. Ich habe seine Worte nie vergessen. Und Hepple blieb auch nicht der einzige; manche wurden einfach so lange gefoltert, bis sie ein Geständnis ablegten. Für sie kann ich nur Mitleid empfinden. Aber es gab auch welche, die nicht gefoltert wurden und trotzdem geredet haben. Es muß eine schreckliche Last sein, die sie für den Rest ihres Lebens mit
sich herumschleppen – gemieden von all ihren ehemaligen Freunden und Gefährten. Als der Kommunisten-Prozeß begann, erfuhren wir von weiteren schockierenden Vorfällen dieser Art. Pieter Beyleveld, der Präsident des Demokratischen Kongresses, ein bekannter Führer des Freiheitskampfes, sagte als Staatszeuge gegen seine früheren Gefährten aus. Die Berichte über die Mißhandlungen sowohl von schwarzen wie von weißen Häftlingen mehrten sich: Stundenlange Verhöre und tätliche Angriffe waren an der Tagesordnung. Die Berichterstatter erklärten eidesstattlich, daß ihre Aussagen der Wahrheit entsprachen. In den Gefängnissen war es gang und gäbe, neben Isolationshaft und psychologischer Folter auch noch physische Gewalt anzuwenden. Pieter Beyleveld hat jedoch nichts dergleichen über sich ergehen lassen müssen. Er hatte einfach ganz bewußt, nachdem er nur kurze Zeit im Gefängnis gesessen hatte, seine Freunde verraten, um selbst schnell wieder herauszukommen. Und dieser Mann war unser Führer gewesen, und nicht nur wir, sondern die ganze Kongreß-Allianz hat ihm vertraut. Als ich von seinem Verrat hörte, weigerte ich mich, den Gerüchten Glauben zu schenken; ich mußte ihn mit eigenen Augen im Zeugenstand sehen. Auf Pieter Beyleveld hätte ich wirklich als letzten getippt. Es war jedoch eine Tatsache, Pieter war ein Verräter. Um selbst frei zu sein, hatte er seine Freunde hochgehen lassen. Der Gedanke an diesen Verrat war mir unerträglich, und ich hoffte, ihn nie wiederzusehen. Ein Jahr später traf ich ihn jedoch zufällig auf der Straße. Es war zu spät, um noch die Straßenseite zu wechseln. Wir gingen schweigend aneinander vorbei, während sich unsere Blicke trafen. Einen Blick wie diesen hatte ich schon des öfteren bei meinem Hund gesehen, wenn er etwas ausgefressen hatte. Aber meinem Hund
gegenüber konnte ich noch Mitleid empfinden, ihm gegenüber jedoch nicht. Andererseits kam uns auch unsere Naivität teuer zu stehen. Gerald Ludi, den wir voll und ganz als Parteimitglied akzeptiert hatten, entpuppte sich als Polizeispitzel. Er war sehr aktiv gewesen, sowohl in unserer Organisation wie auch in den im Untergrund arbeitenden Basisgruppen und Komitees der kommunistischen Partei. Vor Gericht trat er dann als bezahlter Spitzel auf. Für die Angeklagten war das natürlich sehr unangenehm, aber obwohl ich ihn haßte, empfand ich für Ludi nicht diese abgrundtiefe Verachtung wie für Pieter Beyleveld. Neben denjenigen, die unser Vertrauen mißbrauchten, gab es jedoch all die anderen, die sich weigerten, vor Gericht die Geständnisse zu wiederholen, die unter Folter erpreßt worden waren, und das, obwohl ihnen diese Weigerungen längere Gefängnisstrafen einbrachten. Ich habe mich oft gefragt, ob ich mich durch diese Strafen und durch die Folter nicht einschüchtern lassen würde. Ich wüßte jedenfalls nicht, ob ich dem Druck, unter der Folter ein Geständnis abzulegen, standhalten würde. Ich bin nie auf die Probe gestellt worden und weiß nicht, wieviel ich aushalten könnte. Ich kann nur beten, daß mir die Stärke verliehen wird, die ich brauche. Trotz dieses heroischen Widerstands konnte das 180-TageGesetz große Erfolge verzeichnen. Am Boden zerstörte Zeugen traten auf und machten ihre Aussage; obwohl ihnen bewußt war, daß sie ihre Freunde und den Befreiungskampf verrieten, fehlte ihnen doch die Kraft, angesichts der Gefängnisstrafe und der zerstörten Existenz, die sie im Anschluß daran führen würden, ihre Weigerung aufrechtzuerhalten. Es wird gelegentlich behauptet, ihre Aussagen hätten wenig oder überhaupt nichts an der allgemeinen Sachlage geändert. Der Wert einer Aussage wird den möglichen Konsequenzen
gegenübergestellt. Man vergißt dabei jedoch den psychischen Schaden, den diese Zeugen erlitten, das Gefühl der Scham, das sie ihr Leben lang peinigen wird, die allgemeine Ächtung und das Stigma eines «Verräters», das sie nicht mehr loswerden. Einige haben das Land verlassen, andere sind geblieben. Manche empfanden überhaupt keine Scham. Die meisten hatten jedoch bedeutende Funktionen innegehabt, was die Sache um so schlimmer machte – das Vertrauen von so vielen Menschen zu besitzen und sich dann als Verräter zu entpuppen! Es war eine schlimme Zeit. Kein politisch Engagierter konnte sich vor diesem ominösen Klopfen zu nächtlicher Stunde sicher fühlen. Niemand konnte etwas über seine seit Monaten inhaftierten Angehörigen in Erfahrung bringen. Schon bevor Bram Fischer 1964 verhaftet worden war, hatte es in seiner Familie eine Tragödie gegeben. Kurz nach dem Rivonia-Prozeß wollte er mit seiner Frau Molly zu dem 21. Geburtstag ihrer Tochter Inge nach Kapstadt fahren. Auf einer Brücke wurden sie jedoch in einen Unfall verwickelt. Brams Wagen fiel in den Fluß, und Molly konnte nicht mehr rechtzeitig aus dem Wagen gerettet werden. Viele Gebannte gaben ihr das letzte Geleit und sprachen Bram und den Kindern ihr Beileid aus. Trotz des traurigen Anlasses verspürten wir ein Gefühl des Triumphes, mit so vielen andern Gebannten zusammenzusein – Leute, die wir jahrelang nicht gesehen hatten –, ihnen die Hand zu drücken und dabei ein paar Worte zu murmeln – trotz aller Bannbestimmungen. Bram war von England zurückgekommen und saß zumindest während des ersten Teils des Prozesses zusammen mit all den anderen auf der Anklagebank – nicht mehr der brillante Strafverteidiger in seiner Robe, sondern ein Angeklagter. Er hatte jedoch nichts von seiner persönlichen Courage und
Würde verloren, mit der er damals die Ablehnung des Gerichtspräsidenten gefordert hatte. Eines Tages erschien Bram jedoch nicht vor Gericht. Sein Rechtsanwalt verlas einen Brief: «Ich schulde es den politischen Gefangenen, den Gebannten, den unter Hausarrest Gestellten und all den anderen, die man zum Schweigen verurteilt hat, meine Rolle als Zuschauer aufzugeben und zu handeln.» Er war in den Untergrund gegangen, um auch weiterhin gegen die Apartheid kämpfen zu können. Für ihn war eine Katastrophe unvermeidlich, wenn das ganze repressive System nicht so schnell wie möglich von Grund auf verändert würde. Sie zu vermeiden, betrachtete er als seine höchste Pflicht. Mehrere Monate lang entzog sich Bram dem Zugriff der Polizei und führte das einsame Leben eines Flüchtigen; er tauchte mal da, mal dort auf, immer in einer andern Verkleidung. Seine jüngste Tochter Inge meinte mit der ihr eigenen würdevollen Gelassenheit: «Mein Vater ist wirklich ein sehr, sehr großer Mann.» Der Tod der Mutter und das Untertauchen ihres Vaters, all das war eine schwere Bürde für ein einundzwanzigjähriges Mädchen. Ihre Schwester war in Rhodesien verheiratet und durfte Südafrika nur mit einer Sondergenehmigung der Regierung betreten; ihr jüngster Bruder war häufig bettlägerig. Am 11. November 1965 wurde Bram von der Polizei geschnappt, nachdem er mehrere Monate im Untergrund gelebt hatte – immer in der Nähe von Johannesburg. Er wurde sofort vor Gericht gestellt. Die andern Mitglieder der kommunistischen Partei büßten bereits ihre Gefängnisstrafen ab. Sie waren unter dem Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus verurteilt worden. Bram wurde jedoch mit den Aktivitäten von Umkhonto We Sizwe in Verbindung gebracht
und unter dem Sabotage-Gesetz angeklagt, das als Höchststrafe die Todesstrafe vorsah. Gegen Ende seines Prozesses sprach Bram von der Anklagebank aus. Er hatte die Aussage in eigener Sache verweigert, da er wußte, daß er im Anschluß daran ins Kreuzverhör genommen würde und andere gefährden könnte. «Ich stehe wegen meiner politischen Überzeugung und den daraus entsprungenen Handlungen vor Gericht. Ich bin als Mitglied der kommunistischen Partei angeklagt… Zwei Möglichkeiten standen mir offen: Ich konnte entweder ein Geständnis ablegen und um Gnade bitten oder versuchen, meine Überzeugungen und Handlungen zu erklären. Um Gnade zu bitten, würde ich jedoch als Verrat an unserer Sache betrachten, denn ich fühle mich im Recht, und ich werde dem Gericht meine politischen Überzeugungen darlegen.» Er sprach von der Tragödie loyaler und ehrenwerter Männer, die zu Verrätern an ihrer Sache und an ihrem Vaterland geworden waren, weil der Staat sie mit den übelsten Methoden soweit gebracht hatte. Bram wurde am 5. Mai zu lebenslänglicher Gefängnishaft verurteilt. Seine Kinder waren nun ganz auf sich gestellt; er sandte ihnen noch ein letztes Lächeln zu, als er von der Anklagebank zu den Zellen im Erdgeschoß hinunterging, die Faust zum ANC-Gruß erhoben. Er hatte uns im Hochverratsprozeß verteidigt, und wir waren freigesprochen worden. Er hatte die im Rivonia-Prozeß Angeklagten verteidigt, aber sie waren zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Und nun war er selbst an der Reihe. In den Zeitungen erschien ein Photo von seinen beiden Kindern, Ilse und Paul, beim Verlassen des Gerichtssaals. Ilse trug den Kopf sehr hoch. Ich habe weder Brams Prozeß, noch den Rivonia-Prozeß miterlebt; ich habe also nicht gesehen, wie Pieter Beyleveld in
den Zeugenstand trat und gegen den Mann aussagte, der ihm seine Zuneigung und sein Vertrauen geschenkt hatte. Diese Jahre der politischen Repression bewirkten einen wahren Exodus aus Südafrika. Einige verließen das Land mit einer Ausreisegenehmigung – eine Tür, durch die man hinaus-, aber nicht wieder hineinkam. Andere verließen es durch die Hintertür, ohne Papiere, ohne Genehmigungen, und konnten also auch nicht zurückkommen. Ich fand es sehr traurig und enttäuschend, daß so viele sich gezwungen sahen zu gehen. Ich wußte natürlich, daß einige auch benötigt wurden, um den ANC im Ausland aufzubauen, aber in all den andern Fällen gab es kaum stichhaltige Gründe, den Kampf aufzugeben. Die meisten Gründe waren persönlicher Natur. Aber wer kann schon zu Gericht sitzen über diejenigen, die nach reiflicher Überlegung und schweren Herzens für sich und ihre Familie diese Entscheidung trafen? In manchen Fällen war es die Furcht vor Verhören, vor der Untersuchungshaft und möglicherweise vor einer jahrelangen Gefängnisstrafe. «Wem nützt es, wenn Sie im Gefängnis sitzen» – wie oft habe ich das gehört, aber ich widersprach immer, denn für mich geht nichts über diese Bereitschaft, etwas zu ertragen, was auch unsere Freunde und Gefährten ertragen, und dieses Versprechen zu halten, das wir in der Freiheitscharta niedergelegt haben: «Für diese Freiheitsrechte wollen wir Seite an Seite unser ganzes Leben lang kämpfen, bis wir unsere Unabhängigkeit gewonnen haben.» Einige meinten, ihrer Kinder wegen gehen zu müssen. Ich mußte an die Kinder der Mandelas, der Sisulus, der Motsoaledis und vieler anderer denken. Da ich aber selbst keine Kinder habe, kann ich mich nicht dazu äußern. Andere konnten nicht unter den Bannbestimmungen und den Auflagen des Hausarrestes leben. So etwas hängt von der Fähigkeit eines
jeden einzelnen ab, sich anzupassen, sich in etwas zu fügen, was er nicht ändern kann. Aus welchen Gründen sie auch Südafrika verlassen haben, sie sind nicht zu beneiden. Manche gelangten zu Ruhm und Ehren, andere mußten sich mühselig durchschlagen. Aber ich bin sicher, daß alle voller Sehnsucht an das Land denken, das sie verlassen haben.
Das Gefühl, ein neues Leben zu beginnen
Im Juni 1971 war ich endlich erlöst von all den frustrierenden Hausarrest-Auflagen und anderen unerträglichen Verletzungen meiner Freiheit. Mehr als das: ich hatte auch die lähmende Angst verloren, für den Rest meines Lebens immer wieder unter Hausarrest gestellt zu werden. Ich hatte das Gefühl, ein neues Leben begonnen zu haben. Wir standen an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts. Ich wußte nicht, was es bringen würde. Mit den fünfziger Jahren verbanden wir die große Protestwelle, die Verweigerungskampagne, den Widerstand der Frauen gegen die Paßgesetze, den Volkskongreß und die Freiheitscharta. Sie hatten aber auch Narben hinterlassen, wie zum Beispiel die Bannung des ANC, die langen Jahre des Hochverratsprozesses, die Erschießungen von Sharpeville. Die sechziger Jahre, in denen der Staat zurückschlug, zwangen uns zu der ernüchternden Feststellung, daß die Sicherheitspolizei eine neue, verhängnisvolle Macht im Staat geworden war. Die Sicherheitsgesetzgebung stattete sie mit immer mehr Rechten aus; sie konnte Leute verhaften und festhalten, ohne sie je vor Gericht zu stellen. Und sie wurde von niemandem wegen der schändlichen Behandlung ihrer hilflosen Opfer zur Rechenschaft gezogen. Die Verhafteten waren völlig von der Außenwelt abgeschnitten und selbst dem Zugriff der Gerichte entzogen. Diese Ausdehnung ihrer Befugnisse wurde immer fataler. Das Image der Sicherheitspolizei hatte sich gewandelt: Die Polizisten waren nicht mehr diese unbedarften Burschen, denen wir ins Gesicht lachten. Innerhalb von zehn Jahren hatten sie sich in furchterregende, effiziente Vernehmungsbeamte verwandelt,
die mit geheimen Foltermethoden vertraut waren – Methoden, die keine Spuren hinterließen – und in deren Belieben es stand, ihre Opfer monatelang in Isolierungshaft festzuhalten. Ich nehme an, die neuen Methoden, die sich physischer und psychischer Folter bedienen, um ein Geständnis zu erlangen, sind billiger, schneller und effizienter als das altmodische Ermittlungsverfahren. Sie sind inzwischen ein Bestandteil südafrikanischer Gesetzgebung geworden. In der ersten Begeisterung hatte ich all die Möglichkeiten, die mir meine neue Freiheit eröffnete, gar nicht richtig abschätzen können. Es war so plötzlich geschehen – und ich war so lange Zeit von der Widerstandsbewegung abgeschnitten gewesen. Der Demokratische Kongreß war für neun Jahre gebannt worden; die Föderation Südafrikanischer Frauen war zwar nicht gebannt, hatte aber enorm viele Mitglieder verloren – Frauen, die entweder gebannt waren oder im Gefängnis saßen, oder ins Exil gegangen waren –, so daß sie als Organisation praktisch kaum mehr existierte. Ich stand noch mit ein paar Frauen, die ich von früher her kannte, in Verbindung, aber die meisten waren gebannt, und ich konnte mit ihnen nicht persönlich kommunizieren. Daß ich immer noch auf der schwarzen Liste stand, wurde mir erst wieder bewußt, als ich zur Ehrenpräsidentin der Südafrikanischen Studentenunion (NUSAS) gewählt wurde. Das war eine so unerwartete Ehre, daß ich sofort annahm, als ich den Aufruf von dem Studentenkongreß in Durban erhielt. Meine Freude hielt jedoch nicht lange an, denn plötzlich erinnerte ich mich wieder, daß ich ja auf der schwarzen Liste stand. Ich überflog meine private und ziemlich unerfreuliche Akte mit dem Stichwort: «Bannbestimmungen und Hausarrest», und da stand es dann auch. Ich durfte als listed person keine offizielle Funktion in einer Organisation erfüllen, die «die Regierungsform eines Staates angreift, verteidigt,
kritisiert, propagiert oder zur Diskussion stellt» – die alte Litanei. Und die NUSAS, die jede Form von Apartheid und Ungerechtigkeit bekämpfte, fiel natürlich unter diese Rubrik. Mir wurde wieder einmal deutlich vor Augen geführt, daß ich keineswegs tun und lassen konnte, was ich wollte. Ich konnte zum Beispiel keiner Organisation beitreten, die auch nur im entferntesten politisch engagiert war. Ich schickte also postwendend ein Telegramm, in dem ich auf den Titel einer Ehrenpräsidentin verzichtete. Mein Verzicht wurde jedoch nicht angenommen, und es gab zwei Jahre lang keinen Ehrenpräsidenten, d. h. ich war zwei Jahre lang die «Nicht-Präsidentin» der NUSAS. Danach wurde ich «NichtVizepräsidentin», ein Posten, den ich immer noch innehabe. Anfang Juni wurde Father Cosmas («Cos») Desmond, ein militanter katholischer Priester, gebannt und unter Hausarrest gestellt, da ein Buch von ihm erschienen war, «The Discarded People» (Die Abgeschobenen), in dem er die Vertreibung von Tausenden von Afrikanern aus den sogenannten «weißen Gebieten» oder den Außenbezirken weißer Städte beschrieb, Bezirke, in denen sie seit Generationen gelebt hatten. Sie wurden in karge, unfruchtbare Gebiete umgesiedelt, die in den für Afrikaner reservierten Homelands lagen. Cos hatte die unmenschlichen Lebensbedingungen dieser «Deponien» angeprangert. Er hatte selbst unter diesen Leuten gelebt, die brutal auseinandergerissen worden waren, um das Konzept der ‹getrennten Entwicklung› zu realisieren. Und er hatte auch bei einem für das Ausland bestimmten Film über diese Deportationen mitgewirkt. Das waren seine Verbrechen. Sie genügten, um ihn unter Hausarrest zu stellen und mit einem Bann zu belegen, der sich auf fünf Jahre erstreckte. An dem Tag, bevor er seine Bannbestimmung erhielt, war er noch mit mir und meinen Freunden zusammengewesen, hatte mich zu
meiner neuen Freiheit beglückwünscht, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand. Der Präsident des Studentenrats der Witwaterrand-Universität bat mich, auf der Protestkundgebung gegen den über Cos verhängten Bann zu sprechen. Ich war zwar sofort einverstanden, wußte aber nicht, ob ich als listed person öffentlich auftreten konnte. Ich fragte einen befreundeten Rechtsanwalt, der davon ausging, daß es nicht möglich sein würde. Ich stand nun einmal auf ihrer schwarzen Liste, daran war nicht zu rütteln. Wir beschäftigten uns dann aber eingehend mit einer Möglichkeit, einer Lücke, die ich entdeckt zu haben glaubte: in den Auflagen, die ich als listed person bekommen hatte, stand nichts darüber, daß ich an den Aktionen der NUSAS oder einer andern politischen Organisation nicht teilnehmen durfte. Das Meeting war ein unerwarteter Erfolg. Über tausend Studenten füllten den großen Saal, saßen in den Gängen und drängten sich vor den Eingängen. Da wir befürchteten, ich könnte wieder gebannt werden, hatten wir erst kurz vor dem Meeting bekanntgegeben, daß ich sprechen würde. Als ich auf der Bühne erschien, standen alle auf und klatschten. Und sie standen auch noch, als ich zu sprechen anfing und die Bannung von Cos verurteilte – es wußte wohl keiner besser als ich, was ihm bevorstand! Ich sagte, daß ich mich der Regierung keineswegs zu Dank verpflichtet fühlte, weil sie meinen Hausarrest aufgehoben und mir einen Teil der Rechte wiedergegeben hatte, die sie mir nie hätte nehmen dürfen. Sie hätte sich auch nicht aus Menschenfreundlichkeit dazu entschlossen, sondern aus Angst, daß ich unter dem Hausarrest abkratzen würde – eine politische Überlegung also, kein Sinneswandel. Ich sprach über die verbannten Afrikaner und erwähnte, daß ich 1962 meine letzte öffentliche Rede auf dem Campus der
Wits-Universität gehalten hatte vor einer früheren Generation von Studenten. Ich könnte es nur als gutes Omen betrachten, daß ich nach neun Jahren wieder dort anfangen würde, wo ich damals aufgehört hatte, und mit dieser neuen Generation von Studenten ins politische Leben treten würde – neu, aber doch ein Teil des Campus der Wits-Universität und seiner Traditionen. Ich schloß mit dem Versprechen, daß ich mich selbst nie zum Schweigen verurteilen würde, daß dieses schmutzige Geschäft schon die Regierung erledigen müsse. Wenn sie mich zum Schweigen bringen wollten, müßten sie mich wieder unter Bann stellen. Bei dem Beifall, den sie mir zum Schluß spendeten, kamen mir die Tränen. Die Studenten der Wits-Universität hatten mich wieder aktiv werden lassen. Wie hatte ich überhaupt nur daran zweifeln können, daß ich eines Tages wieder sprechen würde? Ich hätte einfach mehr Vertrauen haben sollen, auch in jenen schlimmen Tagen, als ich völlig den Mut verloren hatte. Ich hätte wissen müssen, daß auch das kleinste Lebenszeichen unendlich viel wertvoller sein würde als die ganzen Untergangsdiagnosen. Im Oktober 1971 wurde ein weiterer schockierender Todesfall publik. Wie Babla Salojee acht Jahre vor ihm war der junge Ahmed Timol aus dem Fenster eines Gebäudes der Sicherheitspolizei gestürzt. Waren diese jungen Männer wirklich einfach nur so aus dem Fenster gefallen? Oder waren sie durch Folterungen soweit gebracht worden? Auf diese Fragen gab es keine Antwort. Ich suchte Timols Eltern auf, ein altes Moslem-Ehepaar, das schon vor seinem Tod die schlimmsten Qualen durchgestanden hatte, da die Sicherheitspolizei des öfteren angedroht hatte, sie würden ihren Sohn nie wiedersehen. Ihr Leben war so zerstört
wie das ihres Sohnes, aber sie würden weiterleben müssen, ohne jemals die Wahrheit über seinen Tod zu erfahren. Die indische Gemeinde rief zu einer Protestkundgebung auf. Über tausend Inder – Moslems und Hindus – und auch ein paar Afrikaner und Weiße versammelten sich auf dem Sportplatz einer indischen Schule, um ihrer Empörung über den gewaltsamen Tod dieses jungen Lehrers Ausdruck zu verleihen. Es war der 21. Todesfall in Polizeihaft. Eine der indischen Führerinnen hatte mich am Tag zuvor angerufen, um mir von der Kundgebung zu erzählen. Ich wäre auch unaufgefordert gekommen, trotzdem war ich überrascht von dem herzlichen Willkommen, das mir eine Gruppe von Frauen bereitete; sie liefen mir mit ausgestreckten Händen entgegen und riefen: «Wir freuen uns, Mrs. Joseph, Sie wieder in unserer Mitte zu haben!» Mir wurde bewußt, daß unser letztes Treffen bereits Jahre zurücklag. An Weihnachten füllte sich zum erstenmal seit neun Jahren mein Haus wieder mit Freunden und Bekannten. Wir feierten den ganzen Tag und verbrachten auch noch einen guten Teil des Abends zusammen. Dieses Mal wurden die Geschenke nicht übers Gartentor gereicht. Ein neuer Brauch wurde eingeführt: Um zwölf Uhr mittags brachten wir einen Toast auf unsere Freunde im Gefängnis aus, auf die Gebannten, die nicht bei uns sein konnten, und auf alle, die außer Landes weiterkämpften. Seitdem treffen sich viele meiner Freunde zu Weihnachten in meinem Haus. Im Lauf der Jahre sind es immer mehr geworden, da ständig neue zu der alten Truppe stoßen. «Weihnachten bei Helen» ist schon Tradition. Jedes Jahr gibt es welche, deren Bann ausgelaufen ist und die sich mit mir in Verbindung setzen und zu unserer Weihnachtsparty kommen können.
Jedes Jahr kommen welche aus den Gefängnissen – aber kein Nelson, kein Bram, kein Walter Sisulu und kein Kathrada. Und auch keine Winnie Mandela. Nur einmal, im Jahr 1975, war sie für kurze Zeit nicht gebannt gewesen und konnte in unserer Mitte weilen. Wenn wir diesen Toast ausbringen, fühlen wir uns ihnen jedoch sehr nahe, da es sich nämlich inzwischen auch in den Gefängnissen herumgesprochen hat, daß wir um zwölf Uhr mittags auf sie anstoßen. Der Dekan von Johannesburg, Reverend Gonville ffrenchBeytagh war auch auf meiner ersten Weihnachtsparty gewesen. Er saß auf meiner Veranda und meinte, während er sich staunend umblickte: «Hmm… Juden, Christen, Atheisten, Liberale, Kommunisten, Inder, Afrikaner, Weiße, Farbige… Wunderbar!» Anfang des Jahres vernahm die anglikanische Gemeinde zu ihrem Entsetzen, daß dieser imposante Mann, der Dekan der St. Mary V Kathedrale, verhaftet und als Terrorist angeklagt worden war. Es klang einfach absurd – der Dekan einer Kathedrale, ein Terrorist? Nachdem seine Wohnung und seine Arbeitszimmer durchsucht worden waren, brachten sie ihn zum John Vorster Square, dem riesigen, hochmodernen Gebäude der Sicherheitspolizei, in dem auch die Polizeistation untergebracht ist. Die alte, wohlbekannte Marshall SquarePolizeistation war in der Zwischenzeit aufgelöst worden. Nach einer Woche Haft wurde er wegen Beteiligung an den Aktivitäten verbotener Organisationen und Aufwiegelung vor Gericht gestellt. Nachdem er aber eine Kaution hinterlegt hatte, war er bis zum Beginn des Prozesses wieder auf freiem Fuß. Der Dekan war in ganz Südafrika bekannt für seine Angriffe auf die Politik der Apartheid, die er von der Kanzel aus äußerte, und wegen seines Verständnisses für die Nöte der schwarzen Bevölkerung. Für mich wie für viele andere war er
einer der größten und aufrichtigsten Geistlichen, die wir hatten. Es war einfach unvorstellbar, daß er festgenommen und irgendwelcher Verbrechen angeklagt werden könne. Aber es war geschehen, und die anglikanische Kirche war in ihren Grundfesten erschüttert. Noch nie war ein so hoher Würdenträger in polizeilichen Gewahrsam genommen und öffentlich angeklagt worden. In den fünfziger Jahren hatte Father Trevor Huddlestone gegen die Zwangsräumung von Sophiatown protestiert, aber er hatte Südafrika verlassen. Und Ambrose Reeves, der Bischof von Johannesburg, hatte 1960 bei dem Sharpeville-Massaker die Partei der Schwarzen ergriffen; er war jedoch deportiert worden. Dean ffrench-Beytaghs wortgewaltige, von heiligem Zorn erfüllten Predigten gegen das Unrecht dieses Staates hatten viele Zuhörer angelockt und auch viele Gläubige wachgerüttelt. Es war allgemein bekannt, daß er politisch Verfolgte finanziell unterstützte. Daß er wegen terroristischer Aktivitäten vor Gericht erscheinen sollte, versetzte der anglikanischen Gemeinde einen Schock. Aus Angst vor weiteren Repressionen zog sie sich auf den sicheren Standpunkt «keine Politik in der Kirche» zurück. Der Prozeß begann im August 1972. Er fand in Pretoria in der Alten Synagoge statt, in der wir viele Jahre gesessen hatten. Ich konnte den Verhandlungen beiwohnen, denn inzwischen durfte ich Johannesburg wieder verlassen. Ich saß auf demselben Platz, auf dem ich damals gesessen hatte; aus der Anklagebank war jedoch eine Zuschauergalerie geworden. Über dem Kopf des Richters hing immer noch der Stern Davids, nur war dieses Mal der Angeklagte ein christlicher Geistlicher, der sich von seinem Gewissen und seiner Nächstenliebe hatte leiten lassen. Er wurde für schuldig befunden, von dem in Südafrika gebannten Verteidigungsfonds in London Geld angenommen
und andere zu Gewalttaten aufgewiegelt zu haben. Unter dem Terrorismusgesetz wurde er zu dem üblichen Minimum von fünf Jahren Haft verurteilt: Ein kirchlicher Würdenträger war als Terrorist abgestempelt worden; er konnte jedoch Berufung einlegen und sich gegen Kaution frei bewegen. Der Berufung wurde stattgegeben, da es dem Staatsanwalt nicht gelang, die Anklage schlüssig zu begründen. Der Dekan hatte also alles überstanden und verließ ein paar Stunden nach seinem Freispruch Südafrika. Mir lag seine Sicherheit natürlich auch am Herzen, aber ich hätte ihn nicht gedrängt, sofort das Land zu verlassen, um nicht gleich wieder von der Sicherheitspolizei geschnappt zu werden. Ich betrachtete es als einen Sieg der Nationalisten, wenn ein Mann wie er das Feld räumte, und meiner Meinung nach fühlten sich auch viele Schwarze, die Vertrauen in ihn gesetzt hatten, irgendwie von ihm verraten.
Die beiden Jahre nach der Aufhebung meines Hausarrests waren so ausgefüllt gewesen, daß ich mein Theologiestudium völlig vernachlässigte. Ich fühlte mich schuldig deswegen, und es tat mir auch leid, mein Wissen nicht weiter vertiefen zu können. Aber das politische und gesellschaftliche Leben, in das ich plötzlich wieder eingetaucht war, hatte mich mit Haut und Haaren verschlungen; ich lebte wieder mit und durch meine Mitmenschen. Es gab nur eine Möglichkeit – mich mehrere Monate lang auf mein Studium zu konzentrieren und den ersten Teil der Theologieprüfung an der London University in Angriff zu nehmen. Ich war vernünftig genug, nicht auf dem Divity honours degree zu bestehen, sondern mich mit einem weniger anspruchsvollen akademischen Grad zu begnügen. Meinen baß erstaunten Freunden verkündigte ich, daß ich mich selbst für
viereinhalb Monate unter «Studienarrest» stellen würde. Besuche seien nur samstagnachmittags erlaubt, und ich würde das Haus nur verlassen, um zur Kirche und auf die Universität zu gehen. Wenn ich allerdings aufgefordert würde, auf einer Kundgebung zu sprechen, würde ich schon eine Ausnahme machen. Zwei Jahre später habe ich diesen selbst verhängten Hausarrest wiederholt, und 1975 bekam ich dann endlich mein Diplom. Anfang ‘73 wurde ein Gesetz erlassen, das mich mit schlimmen Vorahnungen erfüllte. Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit konnte in Zukunft die südafrikanische Staatsbürgerschaft entzogen werden, «wenn es nicht in öffentlichen Interesse lag, daß diese Person den Status eines Bürgers beibehielt». Ich war zwar südafrikanische Staatsbürgerin, aber von Geburt aus Engländerin. Der Minister erklärte, das Gesetz sei vor allem gegen Drogenhändler gerichtet, räumte aber ein, daß auch andere Personen darunter fallen könnten. Das alarmierte mich in höchstem Grad, da ich mich nicht aus Südafrika vertreiben lassen wollte. Es war meine Wahlheimat; ich gehörte hierher. Es war jedoch durchaus möglich, daß die Behörden das ganz anders sahen; der Minister konnte mir in diesem Fall meine Staatsbürgerschaft ohne Angabe von Gründen entziehen, und ich würde nach England deportiert werden. Ich ging also sofort auf das britische Konsulat und gab meinen britischen Paß zurück. Für acht Rands und zehn Cents kaufte ich mich von dem britischen Commonwealth los. Nun war ich sicher. Sie würden mich nicht mehr abschieben können. Sie konnten zwar ganz andere Dinge mit mir machen, aber sie mußten mich auf jeden Fall behalten. Ich war beruhigt. 1973 starb Robert Resha in London. Er würde also nicht mehr in sein Land zurückkehren, selbst wenn der Kampf gewonnen sein würde. Ich wußte, daß er die Politik, die der
ANC im Exil verfolgte, nicht billigte; am meisten störte ihn jedoch, daß auch Nichtafrikaner Mitglieder werden konnten. Es wunderte mich nicht – Robert war ein überzeugter afrikanischer Nationalist und strikt dagegen, daß der ANC seine Position als führende politische Organisation mit ausschließlich afrikanischer Mitgliedschaft aufgab. Die anderen waren zwar willkommen als Mitstreiter, aber nicht als Mitglieder. Robert konnte sich jedoch nicht durchsetzen und starb – ein einsamer, verbitterter Mann, da viele seiner ehemaligen Führer und Gefährten, an deren Seite er beinahe dreißig Jahre lang gekämpft hatte, sich von ihm abgewandt hatten. Er war einfach nicht der Mann, der etwas, was er für falsch hielt, akzeptierte, und er zahlte einen hohen Preis dafür. Einer meiner Bekannten brachte mir einmal einen Rosenstrauch, den ich in meinen Garten setzte. Seine feuerroten Blüten erinnern mich irgendwie an Roberts Arroganz. In einem Brief schrieb seine Witwe: «Das Grab eines Mannes ist dort, wo er gekämpft hat.» Roberts Grab liegt an der Straße der Freiheit, für die er gelebt und gekämpft hatte.
Eine Frage des Gewissens
Auch wenn ich nach der Aufhebung meines Bannes immer noch nicht mit andern gebannten Personen sprechen durfte, so war ich zumindest in der glücklichen Lage, mit den auf der schwarzen Liste geführten Personen Kontakt aufnehmen zu können. Auf diese Weise kam ich wieder mit meinen alten Bekannten vom Demokratischen Kongreß zusammen. Ilse, Bram Fischers jüngste Tochter, war eine davon. Sie kam noch am selben Abend, als mein Bann aufgehoben wurde, ins Krankenhaus, um mir einen Besuch abzustatten. Seit Brams Inhaftierung hatte es einen weiteren tragischen Todesfall in seiner Familie gegeben. Paul, sein jüngster Sohn, war ganz plötzlich in Kapstadt gestorben. Obwohl er immer sehr anfällig gewesen war, hatte er doch sein kurzes Leben voll ausgelebt. Als er starb, war er erst dreiundzwanzig, und Bram mußte allein in seiner Zelle mit seinem Kummer fertig werden. Kurz nach Pauls Tod zog Ilse bei mir ein, und wir verbrachten drei glückliche Monate miteinander, bis sie dann heiratete. Sie wollte sich in Brams Gegenwart im Gefängnis trauen lassen und verlangte nichts weiter, als daß ein Priester anwesend sein sollte, um sie zu trauen. Das Ganze würde nicht länger als zehn Minuten dauern, und Bram sollte auf der andern Seite der kleinen Plexiglasscheibe, die verhinderte, daß Häftlinge und Besucher physischen Kontakt miteinander aufnahmen, zuschauen dürfen. Aber nicht einmal zu diesem Zweck durfte ein Priester in das Gefängnis kommen. Während Ilse bei mir wohnte, besuchte ich Bram im Gefängnis. Es war ein großes Privileg. Zweimal durfte ich jeweils eine halbe Stunde mit ihm sprechen – durch das
Plexiglasfenster und in Gegenwart von drei Wärtern. Im ersten Augenblick ist man schockiert, wenn man von seinem Gegenüber nur Kopf und Schultern sehen kann, denn mehr sieht man nicht durch dieses Fenster. Aber Bram war so natürlich, so sehr er selbst – der gute, herzliche, alte Bram –, daß ich nach einer Weile überhaupt nicht mehr daran dachte. Er fragte mich nach meinen Weihnachts-Parties – hatte die letzte vor meinem Hausarrest nicht 1961 stattgefunden? Er lächelte zuversichtlich: «Ich werde auch mal wieder mit von der Partie sein.» Das von einem zu lebenslänglicher Haft verurteilten Mann zu hören, brach mir das Herz. Eine halbe Stunde ist sehr kurz, auch wenn wir nur über Familienangelegenheiten und ganz allgemeine Dinge sprechen konnten, nicht von dem, was uns wirklich am Herzen lag. Trotzdem werde ich diese beiden Besuche von jeweils einer halben Stunde nie vergessen. Im selben Gefängnis habe ich auch noch einen anderen politischen Häftling besucht, Jack Tarshish, der zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war. Einmal fragte mich Jack völlig unvermittelt, ob denn inzwischen schon irgendwelche Menschen auf dem Mond gelandet seien. Ich fragte den Wärter neben mir: «Kann ich ihm von der Landung der Amerikaner erzählen?» Er brüllte verärgert: «Nein!» Zu spät; Jack lachte, er hatte erfahren, was er wissen wollte. Danach durfte ich niemanden mehr im Gefängnis besuchen. Als ich mir das nächste Mal die Erlaubnis einholen wollte, Jack zu besuchen, teilte man mir mit: «Sie dürfen kein Gefängnis mehr betreten!» Gegen Ende des Jahres 1974 hörten wir aus Pretoria, daß Bram unheilbar an Krebs erkrankt sei und daß sich sein Zustand rapide verschlechtern würde. Wir baten den Innenminister, Bram zu gestatten, nach Johannesburg zurückzukehren, damit er die letzten Wochen seines Lebens bei seiner Tochter Ilse verbringen könne. Er war bereits ein
todkranker Mann. War er dazu verdammt, im Gefängnis zu sterben? Bedeutete lebenslänglich, daß man auf einem Krankenbett im Gefängnis enden mußte? Der Minister erschien unerbittlich. Selbst in diesem Stadium wollte er keine Zugeständnisse machen. Sogar meinen Namen hat er in diesem Zusammenhang erwähnt: Helen Joseph hätte auch Krebs gehabt, und die Regierung hätte ihr gegenüber Gnade vor Recht ergehen lassen und sie von dem Hausarrest und andern Restriktionen befreit – mit dem Ergebnis, daß sie bei allen Kundgebungen als Rednerin auftrat. Ich war zutiefst empört – praktisch machte er mich dafür verantwortlich, daß Bram die letzten Wochen seines Lebens im Gefängnis verbringen mußte. Brams Krankheit zog sich nicht in die Länge. Aber erst im allerletzten Augenblick wurde dem Sterbenden erlaubt, das Gefängnis zu verlassen; er durfte jedoch nicht nach Johannesburg zu seiner Tochter, sondern nur nach dem sechshundert Kilometer entfernten Bloemfontein, wo sein Bruder lebte. Wahrscheinlich dachte der Minister, daß er dort keine politischen Kontakte knüpfen könne, was ihn jedoch nicht davon abhielt, Bram von der Sicherheitspolizei überwachen zu lassen. Selbst nach seinem Tod ließ die Gefängnisverwaltung nicht locker. Brams Tochter wurde mitgeteilt, daß seine Asche Eigentum des Gefängnisses sei, daß seine Familie jedoch ein Gesuch einreichen könne. Ilse und Ruth lehnten es ab, auf diesen erniedrigenden Vorschlag einzugehen, und Brams Asche befindet sich immer noch in dem Gefängnis. So verschied dieser große, liebenswerte Mann, der seine Freiheit für die seiner Mitmenschen geopfert hatte. Auf der Kundgebung, die in Johannesburg zu seinem Gedächtnis abgehalten wurde, zollte ich ihm, den ich so sehr bewundert hatte, meinen letzten Tribut: Ich zitierte die letzten Worte von
Julius Fucik, dem tschechischen Märtyrer: «Landsleute, ich habe euch geliebt!» Bram war ein Mensch gewesen, der lieben konnte.
Im Juni 1976 fand ein weiteres Sharpeville statt, ein weiterer Schreckenstag, den Südafrika in dem Kalender seiner Schandtaten verzeichnen konnte. Dieses Mal waren die Schüler und Studenten von Soweto auf die Straße gegangen und von dem Maschinengewehrfeuer der Polizei aufgehalten worden. Sie hatten bereits seit mehreren Wochen dagegen protestiert, daß Afrikaans, die Sprache ihrer Unterdrücker, für bestimmte Fächer als Unterrichtssprache eingeführt werden sollte. Der eigentliche Protest aber galt dem minderwertigen Bantu-Erziehungssystem. Ich dachte an 1955, als die BantuErziehung eingeführt worden war, an den Boykott, der daraufhin organisiert wurde, einen Boykott, bei dem die Eltern ihre Kinder länger als zwölf Monate von der Schule genommen hatten. Dieses Mal sah jedoch alles ganz anders aus. Die Jugendlichen hatten ihren Protest selbst organisiert; 15000 gingen an jenem 16. Juni von Schule zu Schule. Man hatte ihnen jedoch keine Beachtung geschenkt. Inzwischen erwarteten sie das auch gar nicht mehr. Singend zogen sie durch die Straßen und hielten ihre Plakate mit den provozierenden Parolen hoch, bis dann bewaffnete Polizei auftauchte, die Straßen blockierte und einen Jungen erschoß. Es war der zwölfjährige Hector Peterson. Ein Foto, das den Sterbenden in den Armen eines anderen Jungen zeigt, während seine Schwester schreiend neben ihnen herläuft, ging um die ganze Welt. Er war der erste von über sechshundert Afrikanern, die in den nächsten Wochen den Tod finden sollten. Die meisten waren schwarze Schüler und Studenten. Die Kämpfe dehnten sich innerhalb kürzester Zeit auf andere
Townships aus, und überall ging die Polizei mit derselben Brutalität vor. Soweto brannte lichterloh, und wir hörten die entsetzlichsten Dinge. Es war eine Nacht des Schreckens und sinnloser Gewalt. Einunddreißig Erwachsene und zwei Kinder wurden von der Polizei erschossen, 220 wurden verletzt. Aber dabei sollte es nicht bleiben. In den Zeitungen erschien das Foto eines Mannes, eines Bewohners von Soweto: Josiah Mlangeni war eines Morgens auf die Polizeistation bestellt worden, wo man ihm mitteilte, daß sein Sohn tot sei. Man gab ihm ein Bündel blutbefleckter Kleider, und mit diesem Bündel wurde er fotografiert, als er gerade die Polizeistation verließ, ein gebrochener Mann, der diese blutigen Fetzen umklammert hielt, das einzige, was von seinem Sohn übriggeblieben war. Die gerichtliche Untersuchung ergab, daß keinen die Schuld traf. Es hat 575 solcher gerichtlicher Untersuchungen gegeben, und nie traf irgendjemanden die Schuld. Die Studenten der Wits-Universität solidarisierten sich mit den Schülern und Studenten von Soweto. Am 17. Juni, dem Tag nach dem Aufstand, fand eine Protestkundgebung statt, auf der Bischof Tutu und ich sprachen. «Die Weißen sind stärker, als ihr glaubt», hatte der Justizminister im Parlament verkündet. «Wir lassen uns nicht von den Schwarzen herumkommandieren.» Das war die Antwort der Regierung auf die Forderungen der schwarzen Schüler nach einer besseren, nichtdiskriminierenden Erziehung. Die Studenten der Wits-Universität organisierten einen Protestmarsch, schwarze Arbeiter schlossen sich ihnen an, und diese gemischtrassische Demonstration blockierte die Straßen. Ein Sprecher hatte gesagt: «Gehen wir auf die Straße – die Polizei soll nur kommen, das sind dann schon ein paar Polizisten weniger für Soweto!» Sie brauchten nicht lange darauf zu warten.
Als ich wieder zu Hause war, rief ein weißer Reporter an; er sagte, er wolle das Manuskript meiner Rede haben, damit sie sie in ihrer Zeitung abdrucken könnten. Ich – eine Weiße – hätte die Studenten zu illegalen Protestaktionen aufgewiegelt, ich sollte mich schämen. Ich meinte darauf nur, daß niemand eine Rede von mir abdrucken könne. Die Unruhen gingen weiter und forderten immer mehr Opfer. Auch in andern Teilen Südafrikas, an schwarzen Schulen, Universitäten und in den Townships kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen. Das weiße Südafrika demonstrierte wie üblich seine Macht, indem es Polizei und Militär aufmarschieren ließ und Waffen und Lebensmittel hamsterte. Im Lauf der nächsten Monate flackerten immer wieder größere und kleinere Aufstände auf. Gegen Ende des Jahres belief sich die Zahl der Toten auf 500, die der Verletzten auf beinahe 4000 und die der Inhaftierten auf 6000. Von den sechshundert Toten waren vierhundert von der Polizei erschossen worden. Allmählich kehrte jedoch wieder Ruhe in die schwarzen Townships ein – eine Art erzwungener Frieden, der kein wirklicher Frieden war, da sich an der Ungerechtigkeit und dem Rassismus des Systems, der eigentlichen Ursache für diese Auseinandersetzungen, nichts geändert hatte.
Der 16. Mai 1977 war für mich ein Montag wie jeder andere, bis ich gegen Mittag von einem befreundeten Journalisten angerufen wurde; er berichtete, daß Winnie Mandela nach Brandfort, einer kleinen Stadt im Oranjefreistaat, verbannt worden war. Ihre sechzehnjährige Tochter Zindzi war mit ihr in die Verbannung gegangen. Ich beschloß, sie sofort aufzusuchen. Barbara White, ein befreundetes Gemeindemitglied, erklärte sich bereit, mitzukommen. Father Leo Rakale, ein schwarzer Priester der
Auferstehungsgemeinde und ein Freund von Nelson und Winnie Mandela, bot sich an, uns mit seinem Wagen hinzufahren. Am nächsten Morgen brachen wir dann in aller Frühe auf; vor uns lag eine über vierhundert Kilometer lange Strecke. Als wir in Brandfort ankamen, setzte uns Leo im Zentrum ab und fuhr in die schwarze Lokation, um Winnie ausfindig zu machen. Nach einer Stunde tauchte er wieder auf und erzählte uns, er habe sie gefunden – in einer Streichholzschachtel von einem Haus, das gerade drei winzige Räume hatte, Räume ohne Decken und Türen. Wasser und Licht seien noch nicht angeschlossen; die Toilette befände sich außerhalb des Hauses. Wir parkten in der Hauptstraße von Brandfort und beobachteten, wie Winnie auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Zindzi überquerte die Straße, um sich zu Leo und mir zu setzen, während Barbara zu Winnie hinüberging. Es war ein seltsames Arrangement – Winnie durfte jedoch nicht mit mehr als einer Person Zusammensein, da sie sonst gegen das Versammlungsverbot verstoßen hätte. Mit mir durfte sie sich sowieso nicht unterhalten, da ich auf der schwarzen Liste stand. Winnies Bannbestimmungen und Hausarrest-Auflagen waren dieselben. Nur der Ort hatte sich geändert. Nachts und am Wochenende durfte sie dieses trostlose, kleine Haus, das sich auf einem nicht eingezäunten, nackten Stück Land befand, nicht verlassen; Besucher zu empfangen, war ihr nicht gestattet. Außerdem mußte sie sich jeden Tag auf der Polizeistation melden – das Dienstzimmer des Superintendenten befand sich am Eingang zu der aus siebenhundert gleich aussehenden Fertighäusern bestehenden schwarzen Siedlung, die ungefähr zwei Kilometer von Brandfort entfernt war.
Wir waren nicht die einzigen Besucher; Winnies Familie und ein paar schwarze Freunde und Freundinnen von Zindzi waren auch nach Brandfort gekommen. Solche Besuche waren jedoch wegen der Entfernung und der mangelnden Mitfahrgelegenheiten ziemlich selten. Abgesehen von Reportern und Journalisten, waren Ilona Kleinschmidt und Jackie Bosman wohl die einzigen beiden Weißen, die sie in den ersten Monaten besuchten. Winnie kannte Jackie und Ilona schon seit Jahren. Sie bekamen ziemliche Schwierigkeiten mit der Sicherheitspolizei, als sie auf der Polizeistation erklären sollten, was sie nach Brandfort geführt hatte. Abgesehen von der Tatsache, daß beide sich weigerten, irgendwelche Fragen zu beantworten oder Aussagen zu machen, weiß ich nicht viel über diese Konfrontation mit der Polizei. Sie weigerten sich, weil man sie sonst hätte zwingen können, als Staatszeugen aufzutreten, wenn Winnie wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Bannbestimmungen vor Gericht gestellt würde. Die Sicherheitspolizei spionierte ständig hinter ihr her, um ihr etwas anhängen zu können. Nach dem Ergänzungsgesetz zum Allgemeinen Gesetz (Criminal Law Amendment Act) konnte jeder, der sich weigerte, der Polizei bei der Aufklärung eines angeblichen Verbrechens zu helfen, vor den Magistrat gebracht und ins Gefängnis gesteckt werden. Jackie und Ilona mußten also vor dem Magistratsgericht in Bloemfontein erscheinen. Sie hielten jedoch ihr Schweigen aufrecht, da sie entschlossen waren, sich nicht als Staatszeugen mißbrauchen zu lassen. Beide wurden zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Sie saßen sie aber nicht sofort ab, sondern legten bei dem Obersten Gerichtshof Berufung ein und warteten – auf Kaution freigelassen – das Urteil dieser Instanz ab. Barbara und ich fanden diese Sache höchst beunruhigend. Würde die Polizei versuchen, uns auch zu schnappen? Wir waren bereits mehrere Male in Brandfort gewesen, hatten aber
immer darauf geachtet, uns nie in dasselbe Auto zu setzen. Ich hätte genausogut auch Zindzi und nicht Winnie besuchen können. Ilonas und Jackies Handlungsweise hatte unsere Zustimmung, und wir waren entschlossen, selbst auch keine Fragen zu beantworten oder irgendwelche Aussagen zu machen. Wir wollten uns aber auch nicht davon abhalten lassen, nach Brandfort zu fahren, wir wußten, wie wichtig unsere Besuche für Winnie waren. Am 27. September 1977 fuhren Barbara und ich ganz früh los, um Winnie zu ihrem Geburtstag einen Überraschungsbesuch abzustatten. Es regnete beinahe auf der ganzen Strecke. In Brandfort parkten wir vor einem Campingplatz, um auf Winnie und Zindzi zu warten. Zindzi war in unsern Plan eingeweiht worden und hätte an jenem Morgen Winnie Bescheid sagen sollen. Nachdem wir zwei Stunden lang vergeblich auf sie gewartet hatten, kam uns der rettende Gedanke, Winnie per Telegramm ausrichten zu lassen, daß wir auf sie warteten. Auf der Post versicherte man uns, daß das Telegramm in weniger als dreißig Minuten ankommen würde. Wir saßen unterdessen im Auto und hatten schon die Hoffnung aufgegeben, als Winnies pflaumenfarbener Volkswagen durch den Regen auf uns zugeschossen kam. Sie war allein, da Zindzi in der Nacht zuvor ziemlich spät nach Hause gekommen war und noch schlief. Sie hatte nichts von unserem als Geburtstagsüberraschung geplanten Besuch gewußt. Erst durch das Telegramm hatte sie erfahren, daß wir in Brandfort waren. Als sie ihre Geschenke und den Kuchen ausgepackt hatte, blieb Winnie mit dem Rücken zu einer Hecke auf dem Bürgersteig stehen und sprach unter ihrem Regenschirm hervor mit Barbara. Ich saß im Auto und bemerkte hinter der nicht sehr dichten Hecke eine komische, kleine Gestalt in einer Lederjacke, die ihr beinahe bis zu den Knien reichte, knubblige Knie, die über den Kniestrümpfen
sichtbar wurden. Erst als sein von Blättern umrahmtes Gesicht auftauchte, erkannte ich, daß es Sergeant Gert Prinsloo war. Er sah eher wie die Karikatur eines Polizisten bei der Ausübung seines Amtes aus. Ich brüllte: «Achtung, Prinsloo!», während er aus der Hecke kroch. Er sagte zu Winnie, sie habe gegen ihre Bannbestimmungen verstoßen und beorderte Barbara und mich auf die Polizeistation. Es war die gleiche Geschichte wie bei Jackie und Ilona. Wir sagten nichts, und der diensthabende Beamte drohte uns damit, der Magistrat würde uns schon dazu bringen, daß wir seine Fragen beantworteten. Ich erwiderte hochmütig, er würde sich irren, es sei immer noch meine ganz persönliche Entscheidung, ob ich auf eine Frage antworten würde oder nicht. Daraufhin warf er mir einen wütenden Blick zu und schickte mich weg. Draußen wartete Winnie voller Sorge und gleichzeitig voller Wut auf Prinsloo. Da wir uns nicht vor der Polizeistation voneinander verabschieden wollten, fuhren wir zur Hauptstraße zurück, wo uns Bischof Tutu freudig begrüßte. Er war auf der Rückfahrt von Lesotho. Brandfort wurde wieder einmal zum Schauplatz einer stürmischen Begrüßung, bei der sich Schwarze und Weiße mitten auf der Straße umarmten. Ich war glücklich, daß er mit Winnie zurückblieb, während wir uns auf den Weg machten. Auf der Rückfahrt verfluchte ich den Regen, der uns zu der Annahme verleitet hatte, die Sicherheitspolizei sei zu Hause geblieben, während Sergeant Prinsloo, ein paar Meter von uns entfernt, hinter einer Hecke hockte. Wir waren uns vollkommen einig, was unseren Entschluß zu schweigen betraf, obwohl unsere persönlichen Umstände und Verpflichtungen sich grundsätzlich unterschieden. Barbaras Mann stand ihrem politischen Engagement eher ablehnend gegenüber, und ihre Kinder waren in einem Alter, in dem sie
schwierige Entscheidungen treffen mußten; der eine würde bald zum Militärdienst eingezogen, während der andere auf die Universität gehen wollte. Ich hatte diese Verantwortung nicht, und war mir dessen auch bewußt. Wenn wir auf unserm Entschluß beharrten, konnten wir mit einer Gefängnisstrafe von zwölf Monaten rechnen. Und ob wir mit einer Berufung Erfolg haben würden, war keineswegs sicher. Wir sprachen darüber auf dem Weg nach Johannesburg; ich weiß jedoch, daß keine von uns beiden auch nur einen Augenblick lang etwas anderes in Erwägung zog, als zu schweigen. Barbara mußte allerdings erst mit ihrer Familie über die möglichen Folgen sprechen. Sie ist eine sehr schöne Frau, aber die heitere Gelassenheit war in jener Nacht aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Courage hatte sie jedoch nicht verlassen. Eine Woche später bekamen wir unsere Vorladungen: am 13. Oktober sollten wir in Bloemfontein vor dem Magistrat erscheinen. Barbara beschloß zu fliegen, während ich mit Leo Rakale und einem Anwalt nach Bloemfontein fuhr und sie dort traf. Ich wußte, daß sie uns die Gelegenheit geben müßten, unsere Gründe darzulegen, und bereitete deshalb eine kurze Erklärung vor. Ich versuchte, dem Magistrat und auch den Zuhörern unseren Entschluß plausibel zu machen. Ironischerweise galt das Zitierverbot in diesem Fall nicht. Dreizehn Jahre lang hatte ich mich nicht an die Öffentlichkeit wenden können. Ich mußte dazu erst vor Gericht gestellt werden. Während einer Pause ließ der Vertreter der Anklage meinen Verteidiger wissen, daß er mich immer wieder wegen derselben Sachen anklagen könne. Ich war mir darüber im klaren, daß dieser ungewöhnliche Prozeß praktisch endlos wiederholt werden konnte, wenn ich darauf beharrte zu schweigen. Nach der Begründung, kündigte ich förmlich an,
keine der Fragen des Anklägers beantworten zu wollen, und durfte meine Begründung verlesen. «Heute vor fünfzehn Jahren, am 13. Oktober 1962, wurde ich unter Hausarrest gestellt. Ich weiß, was es bedeutet, von jeglicher Gesellschaft ausgeschlossen leben zu müssen. Neun Jahre lang habe ich unter solchen Bedingungen gelebt, und ich verdanke es nur den gelegentlichen Kontakten mit meinen Freunden, daß ich nicht den Verstand verloren habe. Sie waren meine Rettung. Ich kann aus diesem Grund unmöglich die Fragen der Anklage beantworten oder eine Aussage machen, die gegen eine unter Hausarrest stehende Person – die erleidet, was ich damals erlitten habe – verwandt werden könnte. Oder gegen eine meiner Freundinnen, was ja auch möglich wäre. Winnie Mandela und ihre Familie stehen mir sehr nahe. Winnie selbst ist wie eine Tochter für mich – die Tochter, die ich nie gehabt habe. Wenn meine Aussage dazu führen würde, daß ich als Staatszeuge gegen sie auftreten müßte, wäre das so, als müßte eine Mutter gegen ihr eigenes Kind aussagen. Ich kann es nicht. Ich kann diese ständige Verfolgung, der Mrs. Mandela in ihrer Verbannung ausgesetzt ist, nicht auch noch unterstützen. Ich glaube, Gott hat mich zu diesem Entschluß geführt, und er wird mir auch die Kraft geben, die Konsequenzen zu tragen. Ich kann nur mit Luther sagen: ‹Hier steh’ ich und kann nicht anders, so wahr mir Gott helfe.›» Der Magistrat zog sich zur Rechtsfindung zurück, und als er wieder in den Gerichtssaal zurückkehrte, sprach er von meiner «Integrität» und meiner «aufrichtigen, christlichen Gesinnung». Er fügte jedoch hinzu, daß meine Handlungsweise nicht zu rechtfertigen sei und daß das Strafmaß trotz meines Alters und Gesundheitszustands so bemessen sein müßte, daß es für andere eine abschreckende
Wirkung habe. Dann verurteilte er mich zu vier Monaten Gefängnis. Als Barbara an die Reihe kam, wurde sie jedoch wie Ilona und Jackie zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt. Wir legten auch beim Obersten Gerichtshof Berufung ein und mußten unsere Strafe nicht sofort absitzen. Daß ich mit vier Monaten davongekommen war, während all die andern zwölf Monate bekommen hatten, war sehr unangenehm für mich. Weder mein Alter noch mein Gesundheitszustand konnten mich darüber hinwegtrösten. Ich wollte nicht bevorzugt behandelt werden. Wir hatten alle dasselbe Risiko auf uns genommen und hätten auch den gleichen Preis zahlen müssen. Ich konnte nur hoffen, daß wir von dem Obersten Gerichtshof entweder freigesprochen oder Bewährung bekommen würden. Oder daß wir zumindest alle dieselbe Strafe zwischen vier und zwölf Monaten absitzen müßten. In Südafrika dauert es meistens Monate, bis eine höhere Instanz sich solche Fälle vornimmt. Wir mußten uns also auf eine lange Wartezeit gefaßt machen, voraussagen ließ sich nichts.
Selbst 1977 schwelten in Soweto noch verschiedene Unruheherde, so wurden zum Beispiel noch viele schwarze Schulen boykottiert. Der Kampfgeist der Schüler und Studenten war durch die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Jahres – durch all die Toten und Verletzten und Verhafteten – nicht gebrochen worden. Der Boykott ging das ganze Jahr über weiter; er breitete sich aus und wurde immer konsequenter. Ungefähr fünfhundert afrikanische Lehrer und Schuldirektoren gaben aus Solidarität mit den Studenten ihre Posten auf. «Ein Direktor ohne Schüler ist kein Direktor», meinte einer von ihnen.
Der Boykott richtete sich gegen das ganze BantuErziehungssystem, gegen den diskriminierenden, minderwertigen Unterricht für schwarze Schüler. Trotz der erzwungenen Ruhe gegen Ende des vergangenen Jahres kam es immer wieder zu Brandstiftungen, Schießereien, Verhaftungen und sonstigen Gewaltakten. Die höheren Schulen von Soweto wurden vom Staat übernommen, und die Schüler weigerten sich, auf sie zurückzugehen. Der Boykott zusammen mit den Unruhen im Vorjahr würde viele teuer zu stehen kommen – zwei ganze Jahre würden sie verlieren –, aber trotzdem standen die meisten höheren Schulen leer, und nicht nur in Soweto und der Kapprovinz, sondern auch in andern Teilen Südafrikas. Auch die Festnahme und sechsmonatige Haftstrafe der Führer hatte nichts genützt – genausowenig wie die Versuche der Polizei, die Kinder mit Gewalt auf die Schulen zurückzubringen. Der Boykott breitete sich in zwei Richtungen aus – nach oben unter den Studenten der schwarzen Universitäten und nach unten unter den Grundschülern. Selbst den Jüngsten war das Wort «Boykott» geläufig, auch wenn sie nicht wußten, was es bedeutete. Mein kleines, schwarzes Patenkind weigerte sich einmal, seine Schuhe anzuziehen; es sagte: «Boykott. Heute ist keine Schule, Mum.» Es war gerade fünf Jahre alt. Die Boykotte gingen weiter, bis gegen Ende des Jahres ein halbherziger Waffenstillstand zwischen den Behörden und den Schulen geschlossen wurde. Die Bantu-Erziehung sollte wieder abgeschafft werden. Es war aber noch zu früh, um entscheiden zu können, ob die Boykotteure einen Sieg errungen hatten. Ein Versprechen gilt nicht viel in Südafrika.
Wieder hinter Gittern
Der erste Jahrestag des Aufstandes von Soweto, der 16. Juni 1977, sollte in der St. Mary’s-Kathedrale von Johannesburg mit einer vierundzwanzigstündigen Mahnwache begangen werden. Barbara Waite hatte für die vierundzwanzig Stunden ein sehr abwechslungsreiches und für eine Kirche ein sehr ungewöhnliches Programm zusammengestellt. Es war nicht die übliche, im stillen Gebet verbrachte Mahnwache. Sie sollte Menschen aller Konfessionen, aller Rassen, die Gelegenheit geben, zusammenzukommen, um derer zu gedenken, die in dem Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in Südafrika gelitten und ihr Leben gelassen hatten. Es sollte eine Ehrung der Opfer sein, und der Vorschlag war von den politischen Organisationen, von Weißen wie von Farbigen, vor allem aber von den jungen Schwarzen begeistert aufgenommen worden. Für das vierundzwanzigstündige Programm waren Reden, Lesungen, Chöre und instrumentale Musik vorgesehen. Der Bischof von Johannesburg sollte es mit einer Messe für die Toten eröffnen und schließen. Auf dem Altar würde eine riesige Kerze brennen, und vor ihr würden zwei Frauen von Black Sash mit ihren schwarzen Schärpen stehen. Unter der Kerze würden sich die Namen der Opfer von 1976 befinden, der Toten, der Gefangenen, der Gebannten und der Verbannten. Die von Winnie Mandela gestifteten Blumen sollten am nächsten Tag der Mutter von Hector Peterson gegeben werden, dem zwölfjährigen Jungen, der als erster in dem Maschinengewehrfeuer starb. An der Witwatersrand-Universität sollte um zwölf Uhr mittags eine Protestkundgebung stattfinden, auf der Helen
Suzman, Bischof Desmond Tutu und ich eine Ansprache halten würden. Um Mitternacht würde ich dann in der Kathedrale sprechen. Am Vorabend der Mahnwache warnte der Justizminister den Bischof von Johannesburg, daß die Polizei sofort eingreifen würde, wenn irgendwelche Reden gehalten würden. Die Polizei sei angewiesen, bei jedem Verstoß gegen diesen Befehl in Aktion zu treten. Der Dekan und der Bischof erklärten daraufhin, sie würden in diesem Fall auch keine Predigt halten, und der Bischof beschloß, daß während der vierundzwanzig Stunden Schweigen herrschen sollte. Damit schien der Sache aller Wind aus den Segeln genommen. Das gesprochene Wort und die Musik hatten eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Ganzen gespielt. Die Kerze brannte jedoch, und die Frauen von Black Sash standen stumm und regungslos davor. Es knieten auch immer vierzig oder fünfzig Menschen – Schwarze und Weiße – in der Kathedrale, die in stillem Gebet der Toten gedachten, und die Wache wurde trotz allem nicht weniger feierlich begangen. Ich war dabei, als sie begann, und verweilte auch ein paar Stunden, bis ich nach Hause mußte, um meine Ansprache für die Protestkundgebung fertigzustellen. In der Kathedrale durfte ich ja nicht sprechen. Um halb zwölf rief mich ein Student an und teilte mir mit, daß in den nächsten drei Tagen keine Meetings auf dem Campus stattfinden dürften. Um zwanzig vor zwölf rief er dann noch einmal an und meinte, die drei Tage würden erst ab zwölf Uhr gezählt werden. Die Studenten seien schon alle in dem großen Saal versammelt – ob ich schnell rüberkommen und noch fünf Minuten sprechen wolle. Zum Glück war Ilse Wilson, Bram Fischers Tochter, mit dem Auto da, und wir rasten los. Fünf Minuten vor zwölf stand ich auf der Rednerbühne und wurde
begeistert begrüßt, abgesehen von ein paar Buhrufen aus einer Ecke des Saals. Diese Buhrufe waren etwas ganz Neues für mich, auch wenn sie mich nicht gerade überraschten, denn ich hatte schon von dem Vandalismus auf dem Campus gehört. Ein paar Studenten hatten an jenem Morgen zur Erinnerung an die Toten von Soweto Hunderte von schwarzen Kreuzen auf dem Rasen des Campus errichtet. Ein paar Stunden später waren sie dann mit Benzin übergossen und angezündet worden – das Werk rechtsradikaler Studenten. Ich sprach fünf Minuten, dann mußte ich aufhören. Die Studenten sangen noch We Shall Overcome, und als Punkt zwölf das Protestmeeting endete, hob ich die geballte Faust zum Gruß und rief «Amandla!» («Seid stark!»). Ich hatte mich wieder an die Buhrufe erinnert. Die restlichen vierundzwanzig Stunden verbrachte ich in der Kathedrale, deren Stille mich beeindruckte, aber auch traurig stimmte. Die letzten Stunden vergingen sehr langsam für uns alle. Die meisten Geistlichen und auch die meisten Weißen waren nach Hause gegangen – geblieben waren nur die Frauen von Black Sash und ein paar andere Frauen, die in dem Turmzimmer Kaffee ausschenkten. Ungefähr vierzig Schwarze beteten in der Kathedrale; zum größten Teil waren es Frauen, die sich Decken mitgebracht hatten, um sich vor der grimmigen Kälte jener Juninacht zu schützen. Ab und zu gingen ein paar zum Turmzimmer hoch, tranken eine Tasse Kaffee, hielten ein kurzes Schläfchen oder unterhielten sich. Manchmal sangen sie auch, um sich die Zeit zu verkürzen – dort oben, wo niemand sie hören konnte. In der Kathedrale selbst herrschte absolute Stille; hoch oben flackerten ein paar Kerzen, und auf dem Altar brannte die große Kerze herunter, neben der die beiden Frauen standen. Ich fragte mich, ob der Minister wußte, was er bewirkt hatte. Er hatte zwar unser Programm platzen lassen, aber den Geist,
den diese Mahnwache beseelte, hatte er nicht unterdrücken können. Die Stille erfüllte die Kathedrale und strömte durch das offene Portal in die dunkle Nacht. Um fünf Uhr morgens begannen die schwarzen Frauen zu singen – leise und herausfordernd. Sie sangen sehr schöne, harmonische Kirchenlieder, eine Stunde, bevor die Wache zu Ende ging. Die Stille und die Lieder gehörten jedoch zusammen; auf diese Weise fand eine unvergeßliche Nacht ihren würdigen Abschluß. Nachdem alles vorbei war und wir die Kerze ausgeblasen hatten, stand ich mit Barbara an dem Portal der Kirche. Es war nicht so verlaufen, wie sie es geplant hatte, und wir waren auch enttäuscht, daß der Bischof dieses absolute Stillschweigen angeordnet hatte, aber wir wußten, daß die Sache selbst nicht darunter gelitten hatte.
Im Februar 1978 wurde schließlich ein Termin bekanntgegeben für das Berufungsverfahren, das wir beantragt hatten, um gegen das Urteil der ersten Instanz zu protestieren. Das Verfahren wurde noch einmal aufgerollt, und mir wurde zum erstenmal klar, daß vier Monate Gefängnis wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt schwebten und daß den drei andern, Barbara, Jackie und Ilona, vielleicht noch viel Schlimmeres bevorstand. Ob man uns recht geben würde oder ob wir in der zweiten Instanz verlieren würden, ließ sich überhaupt nicht voraussagen; wahrscheinlich würde es noch ein paar Wochen dauern, bis wir unser Schicksal erfuhren. Trotzdem erwartete ich täglich – stündlich – einen Anruf, und war immer erleichtert, wenn der Nachmittag vorbei war und sie sich nicht mehr melden würden. Schließlich erfuhr ich, daß es am 13. April soweit war. Noch ein paar Tage, und ich saß vielleicht für vier Monate hinter Gittern!
Ich hatte beschlossen, mich von meinen Freunden zu verabschieden; ich rief sie deshalb alle an und lud sie ein, am folgenden Abend zu meiner «Party zur Urteilsverkündung» zu kommen, obwohl ich nicht wußte, ob ich Grund zum Feiern haben würde. Vielleicht würde es auch ein langer Abschied werden. Am nächsten Morgen wußte ich es dann. Meine Haftzeit war auf zwei Wochen und Barbaras auf zwei Monate verkürzt worden. Jackie und Ilona waren freigesprochen worden, weil unser Verteidiger der Anklage irgendwelche Mängel nachweisen konnte. Ich freute mich für sie, befürchtete aber, daß man sie wegen derselben Sache wieder vor Gericht stellen würde. Ich erinnerte mich an die Worte des Anklägers: «Ich kann ihr immer wieder dieselbe Sache anhängen…» Noch einmal Berufung einzulegen, erschien mir sinnlos. Der Richter hatte zwar das Strafmaß herabgesetzt, uns aber doch für schuldig befunden. Ich hatte den Eindruck, daß unsere Position nur schwächer würde, da wir uns ja mit unserer Weigerung, auszusagen und als Staatszeugen aufzutreten, gegen den Staat stellten. Ich wußte nicht recht, was ich als nächstes tun sollte. Einfach herumsitzen und darauf warten, daß ich in polizeilichen Gewahrsam genommen würde, wollte ich nicht. Ich wußte, daß ich mich bei dem Magistrat in Bloemfontein melden mußte, also vereinbarte ich mit ein paar Freunden, am Montagmorgen dorthin zu fahren (vorausgesetzt die Polizei würde mich nicht in der Zwischenzeit abholen). In Brandfort würden wir Halt machen, um Zeni und Zindzi Mandela mit nach Bloemfontein zu nehmen, wo wir dann in einem «internationalen» Hotel noch ein letztes Mittagessen zusammen einnehmen würden. Danach würde ich mich beim Magistrat melden und mich in die Hände der Justiz begeben. Vierzehn Tage kamen mir einfach lächerlich kurz vor. Ich besorgte mir ein paar Bücher: die Oxford-Anthologie, die mir jemand für diese Gelegenheit
geliehen hatte, eine moderne Bibelübersetzung und ein paar erbauliche Bücher. Zindzi und Zeni erwarteten uns auf der Brücke von Brandfort (wo auch, wie ich später entdeckte, die Polizei darauf wartete, daß Winnie sich mit uns traf!). Zindzi gab mir eine riesige gestrickte Stola in den ANC-Farben Schwarz-Gold-Grün, die ich zu diesem Anlaß tragen sollte. Ilona, die gerade bei ihren Eltern in Bloemfontein zu Besuch war, kam auch noch in das Restaurant. Ich meldete mich auf dem Büro des Magistrats und hatte auch gleich einen Polizisten neben mir, der mich aufforderte mitzukommen. Ich protestierte jedoch und meinte, ich müsse mich noch von meinen Freunden verabschieden. Sie standen etwas verloren herum, da sie nicht wußten, was mit mir passiert war. Aber sie waren alle da, Zeni und Zindzi und ihr Freund, Ilona und die beiden Little Sisters of Jesus, Iris Mary und Valentine, die mich von Johannesburg hierhergefahren hatten. Wir lachten, umarmten uns und küßten uns zum Abschied, während der Polizist in unserer Nähe herumstand. Und dann war ich plötzlich allein und wurde in eine dunkle Zelle im Erdgeschoß gebracht. Sie kassierten zuerst alle persönlichen Gegenstände, gaben sie mir aber wieder zurück, als ich in das Gefängnis von Bloemfontein gebracht wurde. Dort wurde mir ein neutraler, keineswegs unfreundlicher Empfang zuteil. Für die junge Vollzugsbeamtin war ich natürlich ein Phänomen: eine alte Frau, die lieber ins Gefängnis ging, als gegen eine Freundin auszusagen. Ich wurde in eine Zelle gebracht, die sehr viel besser war, als ich erwartet hatte, und überhaupt nicht vergleichbar mit den verdreckten, trostlosen Löchern unter dem Dach, mit denen ich 1960 im Gefängnis von Pretoria vorliebnehmen mußte. Es gab ein Fenster, das man öffnen konnte, auch wenn Gitterstäbe davor waren; ich
konnte auf den Hof sehen, in dem die schwarzen Häftlinge ihre Runden drehten. In einer Ecke war ein Klo – so etwas hatte es noch in keinem Gefängnis gegeben! Gleich nachdem meine Zelle abgeschlossen worden war, legte ich mich auf das ziemlich harte Bett und schlief friedlich ein; die Laken waren wie immer zu kurz, aber Decken gab es genügend. Ich war beinahe enttäuscht, als ich am nächsten Morgen erfuhr, daß ich die zwei Wochen in Klerksdorp, das ungefähr in der Mitte zwischen Johannesburg und Bloemfontein liegt, absitzen sollte. Klerksdorp ist eine der modernsten Strafanstalten, ein hohes sinister aussehendes Gebäude. Ich schaute bange diese gigantische, monolithische Betonburg hoch. Mir wurde ganz schwach in den Knien, als ich dann drei Stockwerke hochsteigen mußte; unter den einen Arm hatte ich das Bündel mit der Gefängniskleidung und meine Tasche geklemmt, mit dem andern hielt ich mich an dem Geländer der geräuschvollen, gußeisernen Treppe fest. Keuchend und atemlos kam ich in dem Büro an und nahm dankbar Platz – gewöhnlich müssen Gefangene stehen. Ich war froh, daß sich unter meinen Papieren eine ärztliche Bescheinigung befand, daß ich vor zwei Jahren einen ziemlich schweren Herzanfall gehabt hatte und immer noch Medikamente einnahm. Ich wollte diese Treppen nicht ständig rauf und runter gehen müssen. Die Aufseherin, mit der ich es in der Frauenabteilung zu tun hatte, war jung, sachlich, freundlich und sehr ernsthaft. Ich entdeckte, daß ich die einzige weiße Gefangene war. Es gab zwar noch fünfzig oder sechzig schwarze Häftlinge; sie bekam ich aber nie zu Gesicht. Klerksdorp war vor allem ein Männergefängnis, und die Frauenabteilung bildete nur eine kleine, hermetisch abgedichtete Enklave, so wie ich auch hermetisch abgeriegelt war von den schwarzen Frauen.
Meine Zelle war offensichtlich für weiße Gefängnisinsassen bestimmt; sie übertraf alle meine Erwartungen – sie war hell, freundlich und sonnig. Ich stand auf der Schwelle und fragte ungläubig: «Ist das für mich?» Hinter einer anderthalb Meter hohen Trennmauer waren ein Klo und ein Waschbecken. Die Fenster waren lang und schmal und reichten vom Fußboden bis zur Decke; die obere Hälfte konnte man aufdrehen, um Sonne und frische Luft hereinzulassen. Man blickte über die Gefängnismauern hinweg nach draußen. Die Zellen lagen ziemlich hoch – im dritten Stock –, und ich hatte das Gefühl, in einem Turm zu sein, Lady Shalott, die auf die Welt zu ihren Füßen blickt, nur daß ich auf eine Gruppe schwarzer Zwangsarbeiter blickte. Da um acht Uhr das Licht ausging, mußte ich mich daran gewöhnen, früh zu Bett zu gehen und lange zu schlafen. Gewöhnlich wachte ich vor fünf Uhr morgens auf und beobachtete, wie im Osten der Himmel immer heller wurde, wie er sich verfärbte und wie schließlich der Feuerball der Sonne auftauchte. Für mich bedeutete das einen Tag und eine Nacht weniger. Trotzdem war ich keineswegs unglücklich dort; ich konnte lesen, und später, als ich Wolle hatte, auch häkeln. Es war jedoch ein sehr seltsames und steriles Leben, das ich zwischen diesen Wänden führte. Irgendwie verblaßte alles, was mit Johannesburg zusammenhing, obwohl ich ziemlich häufig an meine Freunde dachte. Bei allem, was ich erlebte, dachte ich an Barbara. Wie würde sie das schwere, kohlenhydratreiche Essen vertragen? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ihre schlanke, elegante Gestalt nicht mehr in maßgeschneiderten Kostümen, sondern in diesen weiten, schweren Kitteln stecken würde, daß ihr klassischer Kopf aus diesen braunen Jerseykutten ragen würde. Für mich war es so viel besser als alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt
an Gefängnissen erlebt hatte. Für sie würde es jedoch die schlimmste Erfahrung ihres Lebens sein. Mich hatte oft der Gedanke gepeinigt, daß ich als Weiße selbst im Gefängnis noch bevorzugt behandelt wurde. Ich zweifelte zwar nicht daran, daß es im Lauf der Jahre auch für die Schwarzen Verbesserungen gegeben hat, aber die Kluft zwischen beiden bestand immer noch, und die Weißen waren wie immer sehr viel privilegierter. Als ich entlassen wurde, begleitete mich die Aufseherin nach draußen: «Ich werde Sie vermissen», meinte sie sehr aufrichtig. Ich dachte an die angedrohten Zwangsvorladungen und erwiderte lachend: «Oh, da können Sie ganz beruhigt sein – ich komme wieder!» Meine Freunde bereiteten mir ein herzliches Willkommen, aber ich machte mir bereits wieder Sorgen wegen dieser schrecklichen Anrufe. An dem Tag vor der Urteilsverkündung hatte ich einen besonders schlimmen bekommen. Im Gefängnis war ich vor ihnen sicher gewesen; in meiner Zelle, von der aus ich auf die Welt herabblickte, konnte mir keiner was anhaben. Wie vorauszusehen war, stand die Sicherheitspolizei innerhalb kürzester Zeit mit einer neuen Vorladung vor meiner Tür. Das Ganze würde also wieder von vorne beginnen. Ich sollte am 1. Juni vor dem Magistrat in Bloemfontein erscheinen, um mich zu zwei strafbaren Handlungen zu äußern, die Mrs. Winnie Mandela am 27. September 1977 begangen hatte – genau wie gehabt. Ich nahm die Vorladung stumm entgegen, und sie gingen wieder. Ich machte sofort Pläne und stellte mich darauf ein, wieder im Gefängnis zu landen. Es gab kein Entrinnen; Berufung einzulegen, wäre sinnlos gewesen. Alles war schon einmal verhandelt worden, und wir hatten verloren. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich jedoch ein paar Tage später, daß der Staatsanwalt des Oranjefreistaats im Hinblick auf mein
Alter seine Klage zurückgezogen hatte. Ich fand das ziemlich unverständlich, denn seit dem letzten Mal war ich gerade ein paar Wochen älter. Obwohl ich natürlich sehr erleichtert war, peinigte mich der Gedanke, daß ich aufgrund meines Alters gegenüber Ilona, Jackie und Barbara im Vorteil war. Ich wußte, daß Barbara sich nie an die Verhältnisse im Gefängnis gewöhnen würde, daß es für sie ein ständiger Alptraum war. Für mich hingegen war es überhaupt nicht schlimm gewesen; ich hatte Glück gehabt. Aber für mich hat es nie eine Alternative gegeben und würde es auch keine geben. Ich stellte mir jedoch eine Frage, die ich bis heute nicht beantworten konnte: Inwieweit sind wir verantwortlich für die Leiden der anderen? Es war gewissermaßen mein Beispiel gewesen, meine Forderung, daß man seine Prinzipien nicht verraten dürfe. Barbara hatte sich zwar selbst dazu durchgerungen, aber irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, daß ich indirekt doch verantwortlich war für das, was sie durchmachte. Ilona und Jackie mußten auch wieder vor dem Magistrat in Bloemfontein erscheinen. Sie weigerten sich weiterhin standhaft, eine Aussage zu machen, und wurden zu Haftstrafen von jeweils drei und vier Monaten verurteilt. Daraufhin erhoben sie gegen die Höhe ihres Strafmaßes Einspruch und befanden sich wieder in diesem schrecklichen Zustand völliger Ungewißheit. Weihnachten rückte näher, und sie warteten immer noch. Es sah so aus, als würden sie das Fest noch mit ihren Freunden feiern können, aber am 29. November wurden dann das Urteil bekanntgegeben: Sie hatten verloren. Das frühere Urteil war bestätigt worden, und sie mußten ihre Strafe absitzen.
Sie kamen jedoch nicht nach Klerksdorp, sondern in das Zentralgefängnis von Pretoria, in dem die Haftbedingungen sehr viel härter waren. In den ersten sechs Wochen waren sie sogar voneinander getrennt in Einzelzellen untergebracht.
Die Mandelas – eine außergewöhnliche Familie
Die Hauptstraße einer kleinen Provinzstadt im Oranjefreistaat, ungefähr 450 Kilometer von Johannesburg entfernt: ein paar Geschäfte, eine Bank, ein paar Tankstellen und ein Hotel, außerdem zwei niederländisch-reformierte Kirchen und eine Polizeistation – ein Ort für Weiße. Die Schwarzen müssen getrennte Eingänge benutzen, wenn sie in den Geschäften einkaufen wollen, da sie durch ihre bloße Gegenwart die weißen Kunden beleidigen könnten. Es ist ein Ort, in dem die Schwarzen, die dort arbeiten, auf der andern Seite des Bahndamms, wo man sie von den Straßen aus nicht sehen kann, zusammengepfercht leben müssen. Er unterscheidet sich durch nichts von anderen Kleinstädten Südafrikas. Am Vormittag des 17. Mai 1977 ging eine Frau mit ihrer Tochter eben jene Brandfort Street entlang; zwei Frauen, die aussahen, als seien sie aus dem ersten Haus am Platz: elegante, hohe Stiefel, Rollkragenpullover, Hosen, die in den Stiefeln steckten. Brandfort staunte. So auffällige Gestalten waren wohl noch nie diese Straße entlanggegangen, weder schwarze, noch weiße. Winnie Mandela und ihre Tochter Zindzi gingen sehr aufrecht und hocherhobenen Hauptes. Ich kenne Winnie nun schon seit über zwanzig Jahren. Zwischen uns hat sich eine tiefe, dauerhafte Freundschaft entwickelt; wenn ich jedoch auf all die Jahre, die hinter uns liegen, zurückblicke, muß ich feststellen, daß wir eigentlich kaum persönlichen Kontakt hatten, und wenn, dann immer nur ganz sporadisch, abgesehen von ein paar Monaten im Jahr 1975. Unsere Lebensumstände,
der gemeinsame Kampf, der unser Leben bestimmte, waren schuld an dieser physischen Trennung. Wenn ich über Winnie schreibe, so sind das gewöhnlich sehr lebhafte, persönliche Erinnerungen, denen eine tiefe Zuneigung zugrunde liegt, die nicht nur in ihrer Person, sondern auch in ihrem Mann und ihren Kindern verwurzelt ist. Ich werde bald meinen zweiundachtzigsten Geburtstag feiern, und ich weiß nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt. Ich bezweifle, ob wir jemals erleben werden, was eine Freundschaft alles bedeuten kann. Besuche, Gespräche, gemeinsame Unternehmungen, ja selbst der freie Austausch von Briefen – all das ist uns versagt. Ich brauche mich jedoch nur daran zu erinnern, was ich dieser Freundschaft alles verdanke, an die unvergeßlichen Augenblicke, die wir zusammen erlebt haben, um zu erkennen, welches Privileg es bedeutet, die Zuneigung dieser Frau zu besitzen, eine Frau, die Verfolgungen und Entbehrungen ausgesetzt war, die die Grenze des Erträglichen beinahe schon überschritten, die aber aus all dem gestählt und praktisch unbezwingbar hervorgegangen ist. Da unser Kontakt so eingeschränkt war, fällt es mir schwer, ein getreues Bild von ihr zu geben. Ich hoffe jedoch, daß das, was meinen persönlichen Erfahrungen und meinem eigenen Wissen entspringt, etwas von der einzigartigen Würde, dem Mut und dem Engagement vermittelt, die sie zu dem machten, was sie ist – die Verkörperung ihrer eigenen Stärke wie auch der Stärke ihres Mannes. Daß beide überlebten, davon legt sie jenseits der Gefängnismauern ein beredtes Zeugnis ab. Meine erste Erinnerung an Winnie stammt aus der Zeit, als sie Nelson besuchte, der von dem Gerichtshof in der Alten Synagoge in Pretoria des Hochverrats angeklagt war. Das war in den sechziger Jahren, als der Notstand ausgerufen worden war und wir uns in Haft befanden, aber jeden Tag zu unserem
Prozeß erschienen. Die Besuche von Familienmitgliedern waren zwar erlaubt, aber sonst war auch nichts geregelt, was den Empfang von Besuchern betraf; alles spielte sich in dem kleinen, ummauerten Hof ab, in dem wir für unsere Mahlzeiten und während der Pausen, die das Gericht einlegte, zusammengetrieben wurden. Die Besucher defilierten an uns vorbei, einer nach dem andern, und versuchten, ihren Inhaftierten ausfindig zu machen. Dekorum und Disziplin des Gefängnisses wurden gewehrt, indem man die Paare in einen offenen Schuppen beorderte, wo sie sich dann durch ein Fenster in einer Trennwand unterhielten. Wir konnten sehen, wie sie zusammen dorthin gingen und wie sie sich vor und hinter dieser lächerlichen Trennwand aufstellten, die wahrscheinlich nur verhindern sollte, daß sie einander umarmten. Unter unsern Besuchern gab es zwei auffallend schöne Frauen, Winnie Mandela und Amina Cachalia; beide waren außergewöhnlich apart, jede auf ihre Art. Winnie war groß und immer sehr elegant gekleidet; ihre klassischen, wie gemeißelt aussehenden Züge, besaßen noch den Schmelz der Jugend. Sie war damals noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt. Amina dagegen war das reinste Tanagrafigürchen in ihrem indischen Sari; strahlend stand sie neben ihrem Mann, Jusuf Cachalia. Der Anblick dieser beiden Frauen war für uns ein richtiger Lichtblick, der uns die trostlose Zeit der Haft besser ertragen half. Ich wünschte, ich könnte mich noch an den genauen Zeitpunkt und die näheren Umstände meiner Begegnung mit Nelson Mandela und seiner Frau Winnie Nonzamo Madikizela erinnern. Es gelingt mir jedoch nicht. Es liegt einfach schon zu lange zurück, und ich konnte damals ja nicht ahnen, daß diese beiden Menschen eine so große Rolle in meinem Leben spielen würden. Im Verlauf des Hochverratsprozesses kam ich Nelson,
dem «sanften Riesen», wie ihn einer seiner Zeitgenossen genannt hat, etwas näher. Das ist jedoch nicht die ganze Geschichte. Er ist in der Tat sehr sanft und bedächtig, auch in der Art und Weise, wie er seine Worte wählt. Er überragte uns alle; seine Erscheinung war beeindruckend, der geborene Kämpfer. Dieser Eindruck von Stärke – geistiger wie körperlicher Stärke – war einfach überwältigend. Als ich Nelson zum erstenmal begegnete, war er noch nicht verheiratet. Seine erste Ehe war geschieden worden, und er war ein sehr begehrter Junggeselle, ein bekannter Rechtsanwalt, Ende dreißig, der zusammen mit Oliver Tambo eine Praxis führte; ein gutaussehender, allgemein beliebter Führer des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) und, bis er 1953 gebannt wurde, Transvaal-Präsident. Wir stellten allerlei Vermutungen über Nelsons Wiederverheiratung an; er schien es jedoch nicht besonders eilig damit zu haben. Eine Zeitlang wurde er mit Lilian Ngoyi gesehen, die zwar etwas älter als Nelson war, aber sehr jung wirkte. Lilian, die attraktive, charismatische Führerin des Frauenverbands des ANC und des «Bundes Südafrikanischer Frauen» – und Nelson! Was für ein Paar! Die Gerüchte bewahrheiteten sich jedoch nicht. Nelson traf seine eigene Wahl. Bald darauf trat dann die hübsche, junge Sozialarbeiterin Winnie Madikizela auf den Plan. Ich muß ihr das erste Mal auf einer Party begegnet sein, da ich gegen Kaution freigelassen worden war und keine politischen Versammlungen besuchen durfte. Die Begegnung als solche war ja auch nicht so wichtig. Wichtig war allein die Tatsache, daß die junge Mrs. Mandela so schnell Fuß faßte in den politischen Kreisen, in denen sich ihr Mann bewegte. Die Ehe der Mandelas stand von Anfang an unter einem unglückseligen Stern. Nelson mußte Tag für Tag vor Gericht erscheinen und verdiente sich, ähnlich wie ich, seinen
Lebensunterhalt, indem er neben den enormen Anforderungen, die der Prozeß an ihn stellte, auch noch seinem Beruf nachging. Er tauchte gewöhnlich um acht Uhr morgens bei mir auf, um mit mir zusammen nach Pretoria zu fahren. Davor hatte er jedoch schon ein paar Stunden in seiner Kanzlei verbracht, und um fünf Uhr abends würde er sich wieder mit ein paar Klienten dort treffen und noch tief in die Nacht hinein arbeiten, bis er dann schließlich zu seiner jungen Frau zurückkehrte. Von einem gemeinsamen Leben kann in diesen ersten Ehejahren wohl kaum die Rede gewesen sein, außer vielleicht während der Vertagungen; aber mehr sollte Nelson und Winnie nicht vergönnt sein. Die letzten fünfundzwanzig Jahre haben sie getrennt gelebt – nach dem Prozeß war Nelson zunächst untergetaucht, später, im Juli 1962, wurde er dann verhaftet und verbrachte all diese endlos langen Jahre im Gefängnis. Kurze, heimliche Begegnungen, eine Stunde hier, eine Stunde da, ohne es jemals wagen zu können, sich in ihrem eigenen Heim zu treffen und sich mit ihren beiden kleinen Töchtern an einen Tisch zu setzen – was für ein Leben war das nur, auf dem diese Ehe aufgebaut wurde, eine Ehe, die für Winnie ein Witwendasein von über zwanzig Jahren bedeutete, während Nelson auf der Gefängnisinsel Robben Island inhaftiert war. Denn es war nichts weiter als ein Witwendasein, diese halbstündigen Besuche im Gefängnis, Besuche, bei denen sie sich durch eine Trennscheibe unter den Augen eines Wächters telefonisch verständigen mußten. Dennoch sind ihre Gefühle füreinander noch so stark, daß Zindzi, ihre jüngste Tochter erklärte, sie würde sich angesichts der Vertrautheit, die selbst im Besuchsraum des Gefängnisses zwischen den beiden bestünde, immer noch wie ein Eindringling vorkommen. Winnie war unter den zweitausend Frauen, die 1958 das Gefängnis bevölkerten, als die mit der Durchführung der
Paßgesetze betrauten Einheiten nach Johannesburg kamen. Die Verhaftungen und Gefängnisstrafen sollten von da an nicht mehr abbrechen. Sie war die Frau eines gebannten politischen Führers, der sein Leben dem Befreiungskampf verschrieben hatte und das Schattendasein eines Gebannten und Gefangenen bereits kennengelernt hatte. Für Winnie war es der Anfang eines aus Verfolgungen und Schikanen bestehenden Lebens; ein Vierteljahrhundert – und länger – sollte das so weitergehen. Sie erwartete damals gerade ihr erstes Kind. Achtzehn Jahre später schrieb sie aus demselben Gefängnis: «Tausende von uns waren hier versammelt, und ich war mit Zeni schwanger, die stumm in mir dagegen protestierte, im embryonalen Alter auf einem Zementfußboden schlafen zu müssen.» Im letzten Jahr des Hochverratsprozesses kam Nelson zu meiner Weihnachtsparty. Winnie war zur Entbindung ihrer Tochter Zindzi im Krankenhaus. Er brachte die kleine, knapp zweijährige Zeni mit, die sehr stolz auf ihr hellblaues Kleid und das Kränzchen Vergißmeinnicht war, das ihren kleinen, runden Kopf schmückte. Scheu und feierlich saß sie, eine richtige kleine Prinzessin, auf Nelsons Knie und musterte mit großen Augen all die unbekannten Gesichter um sie herum. Ich erinnere mich, wie Winnie 1952 auf der Konferenz des Bundes Südafrikanischer Frauen in den Ausschuß gewählt wurde. Sie hatte eine mitreißende Rede gehalten (ihre einzige Rede, die ich gehört habe). Vor allem rief sie die Jugend auf, die Befreiungsbewegung zu unterstützen. Nelson war damals schon untergetaucht – vielleicht sogar für kurze Zeit außer Landes gegangen. Schon damals war sie nicht nur die Frau Mandelas, sondern eine eigene Führungspersönlichkeit. Ich erinnere mich, daß die älteren Mitglieder des Bundes – ich eingeschlossen, wie ich gestehen muß – nicht recht wußten, was sie von einer so militanten Rede halten sollten; gleichzeitig waren sie aber auch begeistert davon.
Kurz darauf fand Nelsons Prozeß in Pretoria statt. Er war angeklagt, die Arbeiter aufgewiegelt, das heißt aufgerufen zu haben, von der Arbeit fernzubleiben, und außerdem, das Land illegal verlassen zu haben. Da ich damals unter Hausarrest stand und zudem noch gebannt war, konnte ich der Verhandlung nicht beiwohnen. Winnie konnte ich folglich auch nicht sehen. Ich wußte jedoch nicht, daß das nur der Anfang einer langen Trennung war, daß wir uns aber trotz dieser Trennung sehr nahekommen sollten. Ich hatte die Zeitungsberichte über Nelsons Prozeß gelesen, über sein militantes Auftreten vor einem Gerichtshof, der, wie er meinte, kein Recht spreche, sondern die Prinzipien der Diskriminierung durchsetze. Er war ein Schwarzer, der vor einem «weißen» Gericht stand, der es mit einem weißen Richter und einem weißen Staatsanwalt zu tun hatte, der von einem weißen Wächter eskortiert wurde… in einer «Atmosphäre weißer Herrschaft». Nachdem der Schuldspruch verhängt worden war, hielt Nelson seine erste historische Rede. In dem Rivonia-Prozeß folgte dann noch eine zweite. Mich berührte diese erste jedoch am meisten. Sie enthält Passagen, die einfach erschütternd sind, da sie von einem Mann stammen, der noch nicht wissen konnte, daß er zwei Jahre später dazu verurteilt würde, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen. «Wenn ich von vorne beginnen könnte», sagte er, «würde ich wie jeder Mann, der Manns genug ist, seine Überzeugungen zu verteidigen, dasselbe wieder tun.» Und zum Schluß: «Nicht nur ich allein, sondern wir alle sind bereit, die Opfer zu bringen, die wir bringen müssen, die ich bringen muß, weil ich meinem Gewissen folgte und das tat, was ich für richtig hielt. Wir sind uns da alle einig. In diesem Land haben schon viele Menschen vor mir diesen Preis bezahlt. Und viele werden ihn auch noch nach mir bezahlen müssen.»
Nelson wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. In den Verhandlungen waren Winnie und er in den Gewändern ihres Stammes erschienen. Ich wünschte, ich hätte sehen können, wie sie beide, stolz und aufrecht, die Verbundenheit mit ihrem Volk demonstrierten. Hinter diesem stolzen, würdevollen Auftreten verbarg sich jedoch der Schmerz des bevorstehenden Abschieds, aber ihr Glück war schon immer von Trennung und Leid begleitet gewesen. In dem Jahr nach dem Prozeß wurde Winnie zum erstenmal gebannt. Selbst die Besuche im Gefängnis wurden erschwert. Um Johannesburg verlassen zu können, brauchte sie die Erlaubnis des Magistrats. Und wenn sie unterwegs war, mußte sie sich auch immer bei der zuständigen Polizeibehörde melden. Für mich bedeutete das, daß wir uns mehrere Jahre nicht mehr treffen konnten. Auch brieflich durften wir nicht miteinander verkehren. Manchmal besuchte ich die kleinen Mädchen, Winnie jedoch nie, obwohl ich wußte, wie sehr sie um ihre Erziehung kämpfte, dafür, daß sie nicht diese schrecklichen BantuSchulen zu besuchen brauchten. Eine Zeitlang konnten sie eine Coloured-Schule besuchen, was für Winnie eine große Erleichterung gewesen sein mußte, da der Unterricht für Mischlinge damals noch nicht getrennt und soviel schlechter als der für Weiße war. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ein paar Sicherheitsbeamte bei den Nonnen auftauchten und ihnen zu verstehen gaben, daß es nicht gestattet sei, afrikanische Kinder an den Schulen für Mischlinge zu unterrichten. Daraufhin mußten ihre Töchter wieder gehen. Zeni und Zindzi wurden auf eine Klosterschule in Swasiland geschickt, wo es keine Rassendiskriminierung gab, eine Diskriminierung, der selbst kleine Kinder ausgesetzt waren. Es bedeutete für sie die Trennung von ihrer Mutter. Ihren Vater hatten sie seit seiner Verhaftung nicht mehr zu Gesicht
bekommen, da Kinder keine Gefängnisse besuchen dürfen. Winnie blieb also allein in ihrem kleinen Haus in Soweto zurück. Und während ihre Mutter wie alle gebannten Personen verzweifelt versuchte, eine Arbeit zu finden, um ihre Familie ernähren zu können, verzehrten sich ihre Töchter vor Heimweh nach ihr. Jahre vergingen, bis Winnie und ich schließlich eine Möglichkeit entdeckten, miteinander zu korrespondieren. Wir schrieben lange Briefe, die alle illegal waren, Briefe über Kindererziehung, über unsere eigenen Probleme und über unsere Freunde. Über ein Jahr waren diese Briefe eine Art «heißer Draht» zwischen uns, bis ich dann in einem Hotel in Roodeport eine Arbeit fand und zu weit weg war, um unsern geheimen, «handvermittelten» Briefwechsel fortführen zu können. Winnie wurde immer wieder aufs neue gebannt. Und ich stand wieder unter Hausarrest. Zwischen uns war also jegliche Verbindung abgebrochen. 1969 wurde Winnie zusammen mit zweiundzwanzig anderen Frauen sechs Monate lange im Gefängnis festgehalten, bevor sie unter dem Terrorismusgesetz vor Gericht zitiert wurde. Die Häftlinge mußten während ihrer Gefängnishaft unendlich viel erdulden, am schlimmsten waren jedoch die Verhöre. Winnie schilderte es Jahre später in einer Rede, die sie während einer kurzen Periode der Freiheit gehalten hat: «… es bedeutet, daß man diesen Terror, der schon x-mal beschrieben worden ist, am eigenen Leib erfährt… es bedeutet vierundzwanzig Stunden lang in eine grell beleuchtete Zelle gesperrt zu werden, bis man schließlich jedes Zeitgefühl verliert und nicht sagen kann, ob es nun Tag oder Nacht ist… Die entsetzliche Leere dieser Stunden totaler Einsamkeit ist einfach unerträglich. Man ist allein mit sich und seiner Einsamkeit, seiner Decke, seiner Matte, dem Kloeimer, dem
Trinkgefäß… All das ist nur die Vorhölle – danach kommen die Verhöre. Die Persönlichkeit soll vernichtet und der Mensch in ein gefügiges Wesen verwandelt werden, das keinen Widerstand mehr leisten kann… Man hört immer wieder von Selbstmorden, die während der Untersuchungshaft begangen wurden, und man fragt sich, ob man selbst die Zelle lebend verlassen wird, da man ja nicht weiß, was jene soweit gebracht hat… Man kommt nicht umhin, sich die beiden Möglichkeiten vor Augen zu halten: Entweder man entscheidet sich für die Zusammenarbeit mit dem System, oder man identifiziert sich mit dem Kampf, den man begonnen hat.» Als Winnie und die zweiundzwanzig andern vor Gericht erschienen, zeigte sich die Wahrheit dieser Worte. Ehemalige Freunde oder Kollegen traten plötzlich als Zeugen gegen sie auf, und nur zwei, die die Schrecken des Verhörs nicht in die Knie gezwungen hatten, blieben ihren Überzeugungen treu. 1970 wurden Winnie und ihre Freunde freigesprochen. Aber innerhalb weniger Minuten, noch bevor sie das Gerichtsgebäude verlassen hatten, wurden sie für weitere sechs Monate festgenommen. Als es dann lächerlicherweise wieder zu einem Prozeß kam, wurden ihnen die gleichen Dinge zur Last gelegt, von denen man sie gerade freigesprochen hatte; die Sache wurde also fallengelassen, und sie waren endlich frei. Winnie konnte Nelson wieder besuchen – die 471 Tage, die sie im Gefängnis verbracht hatte, mußten für beide unerträglich gewesen sein: beinahe 14 Monate waren sie mehr als tausend Kilometer voneinander entfernt gewesen. Ihre Kinder waren noch auf der Schule in Swasiland – als sie aber in den Ferien nach Hause kamen, trafen sie niemanden dort an. Der Freispruch hatte für Winnie unvorhergesehene Konsequenzen. Ihr Bann war, noch während sie im Gefängnis saß, abgelaufen, und die zuständigen Stellen hatten
anscheinend nichts bemerkt, da sie ihn sonst erneuert hätten. Gleich an dem Tag ihrer Entlassung kam sie zu mir, an mein Gartentor – hereinkommen durfte sie nicht –, nicht einmal den Gartenweg konnte sie hochkommen, um mich nach unserer achtjährigen Trennung zu begrüßen, denn ich stand immer noch unter Hausarrest und durfte keinen Besuch empfangen. Wir umarmten uns jedoch, noch bevor ich das Gartentor richtig geöffnet hatte. Am nächsten Tag erschien ein Bild in der Zeitung. Von Winnie ist eigentlich nur der Rücken zu sehen, während ich bei unserer Umarmung über dem Gartentor strahlend in die Kamera blicke. Elf Jahre später erzählte mir ein ehemaliger Insasse von Robben Island, daß dieser Zeitungsausschnitt irgendwie in Nelsons Hände gelangt war. Davor war er von Hand zu Hand gegangen, da Fotos als Allgemeingut betrachtet wurden. Ich war sehr gerührt, als ich das hörte. Und ich bin es immer noch, wenn ich daran denke. Trotz des Hausarrests durfte ich tagsüber das Haus verlassen; Winnie und ich unternahmen also eine längere Spazierfahrt mit meinem Wagen – nur wir beide – und versuchten, in ein paar Stunden über die Ereignisse der letzten acht Jahre zu sprechen, ein unmögliches Unterfangen; das Wichtigste wurde jedoch gesagt. Winnie verlor kein Wort über das, was sie durchgemacht hatte. Sie wollte nicht, daß unser Zusammensein dadurch getrübt würde. Danach trennte uns für die nächsten fünf Jahre wieder der Vorhang des Schweigens. Winnie wurde erneut gebannt und dieses Mal auch unter Hausarrest gestellt. Zeni und Zindzi statteten mir gelegentlich einen Besuch ab, und ich konnte beobachten, wie sie von Jahr zu Jahr größer und erwachsener wurden. Zindzi besaß das Temperament ihrer Mutter, während Zeni ihrem Vater nachschlug und in die Höhe schoß. In diesen fünf Jahren war ich nur einmal in Winnies Nähe, ohne jedoch mit ihr sprechen zu können. Sie war zu sechs
Monaten Gefängnis verurteilt worden, da sie mit einer anderen gebannten Person gesprochen hatte, was einen Verstoß gegen die Bannbestimmungen darstellte. Diese Person war Peter Magubane, «Onkel Peter», wie ihn die Kinder nannten. Peter ist inzwischen ein international bekannter Fotograf. 1975 mußte er auch sechs Monate absitzen, weil er als Gebannter mit Winnie Kontakt aufgenommen hatte. Aber selbst 580 Tage Einzelhaft, die er 1969 und 1970 absaß, ohne je vor Gericht gestellt zu werden, hinderten ihn nicht daran, sich als Fotograf durchzusetzen. Eine Gruppe von Freunden hatte sich auf dem Magistratsgericht eingestellt, als Winnie ihre sechsmonatige Gefängnisstrafe antrat. Wir folgten ihr, als sie das Büro ihres Anwalts verließ, eine kleine Schar von ungefähr zwölf Freunden, Bekannten und Studenten. Wir ließen sie mit ihrem Anwalt vorausgehen und achteten darauf, daß ein bestimmter Abstand gewahrt wurde, damit sie nicht zu unserer Gruppe gezählt werden konnte. Mit ihrer hochgeschlossenen, schwarzen Bluse, dem knöchellangen Rock und dem Tuch in den Farben des Afrikanischen Nationalkongresses – Schwarz, Gelb und Grün – sah sie einfach hinreißend aus. Traurig blickte ihr unser Häufchen nach, als sie die Stufen zu dem Gefängnistrakt mit seiner ominösen, schweren Tür hochstieg. Vor der Tür drehte sie sich noch einmal um und rannte dann die Treppe wieder hinunter, um jeden, außer mir, in die Arme zu nehmen. Wir gaben uns nur kurz die Hände, mehr wäre gefährlich gewesen. Dann verschwand sie, die Faust zum Black Power-Gruß erhoben. Ein schwarzer Polizist folgte ihr. Winnie Mandela war wieder eine Gefangene. Selbst nach meiner Krebsoperation, als mein Bann und mein Hausarrest aufgehoben worden waren, konnte ich Winnie weder sehen noch sprechen, da sie ja immer noch gebannt war.
Obwohl es eine sehr glückliche Zeit für mich war, fehlte doch das Gesicht, das ich am liebsten gesehen hätte. Es war absurd, ja beinahe schon komisch, nur war ich viel zu betroffen, um das so zu empfinden. Während mich nichts daran hinderte, mit Winnie Kontakt aufzunehmen, konnte sie weder schreiben noch anrufen. «Wo sollte ich denn sonst meine erste Nacht als freier Mensch verbringen?» Endlich hörte ich Winnies Stimme wieder. Ihr fünfjähriger Bann war abgelaufen. Am 1. November 1975 rief ich sie schon frühmorgens zurück, aus Angst, der Bann sei vielleicht wieder erneuert worden. Erleichtert vernahm ich, daß sie mit mir sprechen, ja sogar mit mir zusammen zu abend essen könne. An jenem Abend stand ich ungeduldig an der Tür und wartete darauf, das Auto vorfahren zu hören, um ihr entgegenzulaufen. Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf mich zu. Die fünf Jahre waren wie ausgelöscht. An Weihnachten brachte sie ihre Kinder mit auf die Party, glücklich, daß sie jetzt wieder ein normales Leben führen und Leute treffen konnte. Es war ein sehr fröhliches Fest, das wir mit Freunden zusammen feierten, die nach jahrelangen Restriktionen und Gefängnisstrafen wieder frei waren. Andere standen immer noch unter Hausarrest oder waren gebannt; sie ließen sich jedoch von ihren Kindern vertreten. Kaum war sie frei, wurde Winnie wieder aktiv. Einer ihrer glücklichsten Augenblicke muß das überaus herzliche Willkommen gewesen sein, das ihr die Frauen von Durban in den ersten Wochen ihrer Freiheit bereitet hatten. Bei dieser Gelegenheit hielt Winnie ihre ergreifende Rede über ihre Inhaftierung. Die Aussicht, wieder gebannt zu werden, konnte sie nicht einschüchtern, auch nicht nach so vielen Jahren der Verfolgung. Sie meinte, «gebannt oder nicht gebannt, das ist wirklich ein und dasselbe… Ich bin heute auch nicht freier als
gestern». Sie wußte, daß ihr die «Freiheit» jederzeit wieder genommen werden konnte, und außerdem – wie konnte sie frei sein, wenn andere im Gefängnis saßen? «Ich bin immer noch ein Teil von Nelson», sagte sie. Es gab für sie keine echte Freiheit. «Daß der Bann aufgehoben wurde, macht wirklich keinen großen Unterschied für mich. Die Zustände sind immer noch dieselben und meine Überzeugungen auch, von Freiheit kann nicht die Rede sein.» Ich wußte, sie hatte recht. Ich hatte so leichthin von «meiner Freiheit» gesprochen. Die Aufhebung eines Banns ist aber noch lange keine Freiheit, weil nur der Betroffene davon profitiert. Vielleicht gehen wir so leichtfertig mit dem Wort um, weil wir keine wirkliche Freiheit besitzen. «Da drinnen hab ich die Zukunft erlebt, für die wir kämpfen», hatte Winnie 1976 an Maria Himmelfahrt gesagt, als sie mit mir die St. Mary V Kathedrale besuchte. Es gibt keine Rassentrennung dort, und ich wußte, daß sie das beeindrucken würde; in dieser gemischten Gemeinde mit ihrem gemischten Chor und ihren Priestern, die auch alle von ganz unterschiedlicher Hautfarbe waren, konnten wir Seite an Seite zum Gebet niederknien. Als wir später zusammen die Kirche verließen, sah ich Tränen in ihren Augen. Auch an den darauffolgenden Sonntagen besuchten wir gemeinsam die Messe in der Kathedrale mit dem schönen Ritual der Kerzen, der Musik und dem Weihrauch und empfingen Seite an Seite die Kommunion. Ich hatte nicht gewußt, daß ihre Gedanken sich in diese Richtung bewegten, daß sie sich spirituellen Dingen zuwandte: sie hatte ihren Glauben zwar nie aufgegeben, aber sie brauchte keine Kirche, um ihn zu praktizieren. Jetzt schien sie jedoch das Bedürfnis zu haben, sich mit religiösen Dingen zu beschäftigen.
Einen Monat später kam es zu der Katastrophe von Soweto. Während im Radio stündlich über den Verlauf des Aufstandes berichtet wurde, versuchte ich, Winnie telefonisch zu erreichen. Schließlich kam ich dann auch durch und hörte sie sagen: «Orlando brennt. Ruf mich zurück!» Aber bald war jene Verbindung mit Orlando abgebrochen. Da Winnie nach der Arbeit sofort nach Orlando zurückkehrte, um bei den Ihren zu sein, und auch das Wochenende dort verbrachte, sahen wir uns ein paar Wochen lang überhaupt nicht. Die Ereignisse überstürzten sich. Am 18. Juli kamen Zeni und Zindzi für die Ferien nach Hause. Sie standen vor verschlossener Tür, da an diesem Morgen Winnie und viele andere verhaftet worden waren. Onkel Peter Magubane zog in das verlassene Haus, um Winnies Kinder zusammen mit seiner eigenen halbwüchsigen Tochter zu versorgen. Wieder einmal hatten Zeni und Zindzi weder einen Vater noch eine Mutter. Was das für diese beiden jungen Mädchen von sechzehn und siebzehn Jahren bedeutet haben muß, kann man sich kaum vorstellen. Selbst die Sicherheit, trotz allem ein eigenes Zuhause zu haben, sollte sich ein paar Wochen später als trügerisch erweisen, als Soweto wieder in Aufruhr geriet, und das in ihrer nächsten Nähe. Eines Tages kam ich nach Hause und fand einen Zettel an meiner Tür vor: «Onkel Peter sagt, wir sollen bei dir bleiben. Wir sind gleich wieder zurück. Zindzi.» Auf der Veranda standen ein paar Kartons herum, und kurz darauf tauchten sie dann auch auf – Zindzi, Zeni und eine Freundin, die bei ihnen gewohnt hatte. Peter kam etwas später vorbei und meinte, Orlando sei einfach zu gefährlich geworden. Sehr viel später habe ich dann erfahren, daß Nelson diese Aktion veranlaßt hatte. Am nächsten Abend erwarteten wir Peter zum Essen, aber er erschien nicht. Statt dessen kam ein Taxifahrer mit seinen
Kameras und einem Packen wertvoller Fotografien. Peter war festgenommen worden. Ich wußte nicht, wie mir geschah – in mein kleines Haus, in meinen Ein-Personen-Haushalt, waren plötzlich drei temperamentvolle, quicklebendige Teenager eingedrungen. Wir kriegten aber doch alles unter einen Hut und lebten ganz einträchtig zusammen, selbst das Desaster mit der Zisterne, als meine Küche unter Wasser gesetzt wurde, bewältigten wir. Und ich gewöhnte mich auch an die ständig vor sich hinbrodelnden Teekessel und Töpfe auf meinem zweiflammigen Gasherd, die aufgesetzt wurden, wenn eine von ihnen ein Bad nehmen wollte. Auf dem kleinen Herd war es auch nicht gerade einfach, für uns alle zu kochen, aber unsere Freunde kamen uns zu Hilfe und versorgten uns mit gekochten Hähnchen und leckeren Kuchen. Manchmal gab es auch kleine Auseinandersetzungen. Ich hatte dann immer ein schlechtes Gewissen und fühlte mich meiner Aufgabe nicht gewachsen, bis Zeni mich beruhigte: «Oh, das ist immer so, in allen Familien!» Sie selbst lebte in ihrer eigenen Traumwelt und wartete nur darauf, von dem jungen Prinzen Thumbumusi Diamini aus Swasiland, Sohn des Königs Sobhuzall, angerufen zu werden, was auch täglich geschah. Es war immer ein großer Tag, wenn die Kinder einmal in der Woche Winnie in dem grimmigen Johannesburger Fort besuchen und ihr Orangen und Süßigkeiten mitbringen durften. Ich fragte auch um Erlaubnis, ihr einen Besuch abstatten zu dürfen, sie wurde mir jedoch nicht erteilt. Einmal gelang es uns, durch ein mit Gitterstäben und Stacheldraht versehenes Fenster neben dem furchterregenden Gefängnistor ein paar Worte miteinander zu wechseln. Wir wurden jedoch sofort unterbrochen von einer wütenden Wärterin, die mich buchstäblich die Treppe hinunterjagte und damit drohte, mich
von der Polizei hinauswerfen zu lassen, wenn ich nicht ginge. Sie wußte meinen Namen, was das Ganze noch schlimmer machte – sie war nämlich beide Male, als ich im Gefängnis gesessen hatte, für unsern Trakt zuständig gewesen. Offensichtlich war sie der Meinung, daß ich so etwas gar nicht erst versuchen dürfte, da ich ja genau wußte, daß es verboten war. Zeni und Zindzi hatten auch die Erlaubnis bekommen, ihren Vater während der Schulferien zu besuchen, einen Vater, den sie nicht berühren und nicht küssen durften, sondern nur durch eine Plexiglasscheibe hindurch anstarren konnten. Wie aufregend und wie schrecklich muß es für die beiden jungen Mädchen gewesen sein, ihren Vater hinter Gittern und in Sträflingskleidung wiederzusehen. Zindzi sagte, er habe immer noch sehr jung und kräftig ausgesehen. Sie habe ihn sogar «einmal gehen sehen», und er habe sich «wie ein junger Mann bewegt». Er muß ihnen jedoch bei ihrem ersten Besuch ziemlich fremd vorgekommen sein, dieser Mann, der versuchte, sich ihre Kindheit und das Familienleben vorzustellen, das weder er noch sie kennengelernt hatten. Zindzi hatte ihren Vater «gehen sehen» – darin drückt sich für mich die ganze Tragödie aus, die wunderbarerweise doch nicht diese Familie zerstören konnte. Daß die Mädchen mit mir in einer weißen Vorstadt lebten, war keineswegs ungesetzlich. Es war mir auch klar, daß es sich nicht vermeiden ließe, daß sie gesehen oder gehört würden. Meine Nachbarn, eine Polizistenfamilie, starrten uns angewidert nach, während wir ihnen feindliche Blicke zuwarfen, wenn wir Vater und Sohn mit ihren Gewehren aus einem Polizeiauto steigen sahen. Wir wußten, daß sie von Soweto kamen, und der Anblick der Gewehre erinnerte uns an die Greuel, die dort verübt wurden.
Schließlich gingen die Mädchen wieder nach Waterford auf ihre neue Schule in Swasiland zurück. Ich war zwar die Verantwortung los, vermißte aber gleichzeitig das Leben in meinem Haus, ja sogar das pausenlos plärrende Radio und die Enge. Da ich Winnie nicht besuchen durfte, schrieb ich ihr einen Brief, hatte aber wenig Hoffnung, daß sie ihn bekommen würde. Sie bekam ihn jedoch. Daraufhin entwickelte sich wieder eine rege Korrespondenz zwischen uns, und dieses Mal konnte ich die Briefe auch aufbewahren. 1967 war das nicht möglich gewesen, weil wir beide gebannt waren und eigentlich gar nicht miteinander korrespondieren durften. Ich wußte, daß es für uns beide böse Folgen haben könnte, daß sie uns wahrscheinlich sogar ins Gefängnis stecken würden, wenn sie unsere Briefe bei einer Hausuntersuchung entdeckten. Bei Briefen, deren Empfänger oder Absender im Gefängnis sitzt, muß man sich nach allen Seiten hin absichern, da sie grundsätzlich der Zensur in die Hände fallen. Geprüft wird, ob sie irgendwelche politischen Aussagen enthalten, etwas, was über den Rahmen familiärer Angelegenheiten hinausgeht – und ich gehörte nicht einmal zur Familie. Innerhalb von ein paar Tagen bekam ich eine überaus herzliche Antwort, der dann noch weitere Briefe folgten. Sie erwähnte die Messen, die wir gemeinsam besucht hatten – «die ersten paar Male war das gar nicht so einfach. Aber wir werden das noch öfters machen… wir werden gemeinsam zum Altar gehen, um die Kommunion zu empfangen… ich freue mich schon sehr darauf, wieder mit dir zusammenzusein.» Sie erinnerte mich daran, daß Briefe « – diese Verbindung mit der Außenwelt – eine phantastisch beruhigende Wirkung haben, wie Du bestimmt aus eigener Erfahrung weißt». Sie machte sich Sorgen wegen der «Teenager-Explosion», ob ich das auch verkraften würde. «Bitte, streng Dich nicht zu sehr
an, Du mußt tausend Jahre alt werden, Du weißt schon warum…» Sie träumte von «unserm Garten, der so wunderschön friedlich und erholsam war». Einmal schrieb sie: «Es tut mir so leid, daß ich Dich erst so spät kennengelernt habe, ich meine, wirklich kennengelernt. Aber die Fäden unseres Schicksals laufen in andern Händen zusammen, und Er weiß, was er tut.» Winnie sprach mein eigenes Bedauern über die vergeudeten Jahre aus – vergeudet, weil wir damals, als wir die Gelegenheit hatten, keine Bekanntschaft schlossen. Sie erinnerte sich auch an diese eine Weihnachtsparty in meinem Haus: «Ich denke immer wieder an dieses Fest, das wir letztes Jahr in Deinem schönen Garten feierten – auf dem ich so viele alte Bekannte traf, Leute, die ich beinahe schon vergessen hatte. Damals konnten wir uns noch nicht vorstellen, daß es einmal der Vergangenheit angehören würde. Ich bezweifle, ob wir das so bald wieder erleben dürfen.» Viele der Inhaftierten wurden kurz vor Weihnachten entlassen; manche wurden gebannt – ein Weihnachtsgeschenk der Regierung. Winnie und noch ein paar andere durften erst am Morgen des 30. Dezember 1976 gehen. Beim Verlassen des Gefängnisses wurde sie erneut für fünf Jahre gebannt und unter Hausarrest gestellt. Sie durfte keine Besucher empfangen und mußte sich täglich bei der Polizei melden. Auch andere Häftlinge waren gebannt worden, Hausarrest hatte jedoch keiner bekommen. Wir konnten uns also wieder nicht sehen und auch nicht mehr miteinander korrespondieren. Und sie hatte in allen ihren Briefen von unserem Wiedersehen gesprochen! Wir hätten uns so viel zu sagen gehabt, Dinge, über die wir nicht schreiben konnten. Außerdem konnte ich nur ihr, sie aber nicht mir schreiben.
Die Erneuerung ihres Bannes muß für Winnie besonders hart gewesen sein. Über zehn Jahre hatte sie unter Bannbestimmungen und Hausarrest gelebt, und daß sie sich in den letzten achteinhalb Monaten ihrer Freiheit politisch betätigen konnte, machte das Ganze nur noch schlimmer. Sie hatte nicht nur die neue Vereinigung Schwarzer Frauen mitorganisiert, sondern auch die Schwarze Elternorganisation (BPA), die während der Unruhen im Juni ins Leben gerufen worden war. Ihre Mitarbeit war jedoch nur von kurzer Dauer. Im Juli darauf wurde sie zusammen mit mehreren anderen Mitgliedern verhaftet. Abgesehen von den Frühmessen unter der Woche, bei denen wir manchmal stumm nebeneinander knieten, war meine Verbindung mit Winnie abgebrochen. Ein Bekannter sagte mir Bescheid, wenn Winnie zum Gottesdienst ging; wir konnten uns also zur selben Zeit dort einfinden. Ich hätte natürlich viel darum gegeben, sie begrüßen zu können, aber irgendwelche Fremden konnten uns ja beobachten, wir waren uns da nie sicher. Wir hätten auf diesen kurzen Blickkontakt während der ersten paar Monate nicht verzichten können. Am 16. Mai 1977 wurde Winnie bei Nacht und Nebel nach Brandfort im Oranjefreistaat deportiert. Sie war völlig ahnungslos gewesen. Was das bedeutete, hatten nur sie und Zindzi erfahren. Als sie in jener Nacht neben ihren unausgepackten Koffern in der kalten, dunklen Baracke in Brandfort saßen, was ging ihnen da wohl durch den Kopf? Hat Winnie wieder gebetet wie damals, als sie in ihrer Einzelzelle saß und diese endlosen Verhöre über sich ergehen lassen mußte? Hätte sie lieber körperlichen Schmerz erduldet als die Tortur dieser fünf Jahre Einsamkeit? Ich weiß es nicht, denn wir haben von diesem Tag an kein Wort mehr miteinander wechseln können.
Als ich am nächsten Tag mit Father Leo Rakale und Barbara Waite nach Brandfort fuhr, kamen wir durch Winburg, einen Ort von historischer Bedeutung, da dort im Jahre 1913 die afrikanischen Frauen zum erstenmal gegen das Paßgesetz protestiert haben; 1956 verbrannten sie dann demonstrativ ihre Pässe vor dem Rathaus. Ich gedachte dieser Frauen, als wir durch die kleine Provinzstadt fuhren. Auf einem abschüssigen, steinigen Gelände etwas außerhalb der Stadt sah ich ein paar zerfallene Häuser, die offensichtlich einmal Teil des schwarzen Ghettos gewesen waren. Ich zuckte zusammen. Hatte man Winnie an einen Ort wie diesen deportiert? Die nächsten fünfzig Kilometer dachte ich mit Schrecken daran, was uns in Brandfort erwarten würde. Ich sah, wie sie uns über die Straße entgegenkamen, Winnie und Zindzi. Trotz des traurigen Anlasses war unser Wiedersehen wunderschön. Zindzi erzählte mir ohne Tränen und ohne viel Worte, ja schon beinahe stoisch, was vorgefallen war. Sie war sehr ruhig und noch etwas benommen; von dem übersprudelnden Temperament dieser quicklebendigen Sechzehnjährigen war nichts mehr zu spüren. Um sechs Uhr morgens waren vier Polizeiautos vorgefahren, die ihre Mutter zusammen mit Onkel Peter und einer Kusine auf die Polizeistation brachten. Als Zindzis – nicht Winnies – Gäste hatten sie sich ganz legal in dem Haus aufgehalten, trotzdem wurden sie einfach in die Autos gezerrt. Zindzi blieb allein mit der Polizei zurück; nicht einmal telefonieren durfte sie, während das Haus, in dem sie aufgewachsen war, völlig auseinandergenommen und leergeräumt wurde. Möbel und sonstige Habseligkeiten, Kleider – alles wurde auf einen Lastwagen verladen. Erst als dieses brutale, vier Stunden dauernde Unternehmen beendet und das kleine Haus völlig leergeräumt war, wurde Zindzi zu ihrer Mutter gebracht. Winnie wurden die Papiere vorgelegt, die ihr Leben
grundlegend verändern sollten – die alles zerstörten, was sie für ihre Familie aufgebaut hatte. Ich weiß nicht, wie Winnie und Zindzi diese erste Nacht überstanden haben, Hunderte von Kilometern von ihrem Zuhause, ohne Licht, außer den Kerzen, die ihnen die Polizei gegeben hatte, ohne Wasser und ohne Heizung. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, meine Möbel und all die Dinge, die mich umgeben, plötzlich in drei Räumen von der Größe dreier Gefängniszellen wiederzufinden – kalte, dunkle Räume, ohne den geringsten Komfort. Sie waren total isoliert. Die schwarzen Bewohner der Township waren von der Polizei eingeschüchtert und vor dem Umgang mit Winnie gewarnt worden. Weiße und schwarze Sicherheitspolizei hatte sich bereits bei ihnen eingenistet. Unter den Einheimischen würde es von Spitzeln nur so wimmeln. Sie waren also nicht nur gebannt, sondern auch ausgestoßen. Ihre einzige Verbindung mit der Außenwelt war die öffentliche Telefonzelle vor dem Brandforter Postamt. Von da aus würden sie versuchen, nach Johannesburg durchzukommen; viele Stunden würden sie davorstehen und darauf warten, daß ihre Freunde zurückriefen. Für die nächsten fünf Jahre sollte das die einzige Abwechslung in ihrem Leben sein. Als wir wieder im Wagen saßen, kam Winnie noch einmal heran, um mit Leo zu sprechen. Sie streckte ihre Hand in das Auto. Vom Rücksitz aus ergriff ich sie und hielt sie einen Augenblick lang fest. Das war alles. Ich umarmte noch Zindzi, und dann fuhren wir los, zurück nach Johannesburg zu unsern hübschen, komfortablen Häusern. Aber wir hatten sie gefunden. Wir hatten sie gesehen und mit ihnen gesprochen. Wir würden wiederkommen. Und ich wußte, daß auch andere
kommen würden – aber konnte sie das über die Trostlosigkeit ihrer Lage hinwegtrösten? Eine Woche später kehrten Leo und ich und zwei weitere Freunde nach Brandfort zurück. Dieses Mal stellten wir das Auto unter dem großen Baum vor dem Postamt ab. In ganz Brandfort gab es für uns keinen Ort, an dem wir uns unbeobachtet unterhalten konnten. Wie beim erstenmal blieb ich bei Zindzi, während von den anderen jeweils einer zu Winnie in das Auto stieg. Die Sicherheitspolizei beobachtete uns von ihren Autos aus; dieses Mal notierte sie sich auch unsere Namen und Adressen. Leo ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Er reichte Winnie, die ganz allein in ihrem Wagen saß, das Abendmahl, während wir und die Sicherheitspolizei zuschauten und warteten. Ich hätte gerne teilgenommen, aber ich wußte, daß sie Winnie sofort vor Gericht zerren würden, wenn sie entdeckten, daß ich auf der schwarzen Liste stand; das wollte ich nicht riskieren. Bei einem anderen Besuch ist es dann natürlich passiert. Barbara und ich landeten schließlich doch im Gefängnis, weil wir uns geweigert hatten, irgendwelche Fragen zu beantworten. Zwei anderen Frauen ging es genauso. Danach war es praktisch unmöglich für mich, nach Brandfort zu fahren. Ich wollte es zwar, ich wollte mit Zindzi sprechen, und ich wollte Winnie beistehen, einfach durch meine bloße Gegenwart. Allein konnte ich jedoch nicht nach Brandfort fahren. Aber nach all diesen Schikanen der Polizei befürchteten die anderen natürlich, ihnen könne dasselbe zustoßen. Nur einmal gelang es mir noch, nach Brandfort zu kommen, und zwar in Begleitung eines Auslandskorrespondenten. Der Empfang, den Winnie ihren Gästen unter dem Baum vor dem Postamt bereitete, war immer sehr herzlich. Wir beobachteten, wie Geschenke umgeladen wurden, und bei dieser Gelegenheit
konnten Winnie und ich uns heimlich zulächeln – heimlich, weil Sergeant Prinsloo, der Chef des Sonderkommandos der Sicherheitspolizei, nur wenige Meter entfernt von seinem Auto aus zuschaute. Er war immer zur Stelle, wenn sie Besuch bekam. Der Spitzeldienst in der Township war anscheinend gut organisiert. Die Hoffnung, ihr das Leben im Exil etwas erträglicher gestalten zu können, mußte ich bald aufgeben. Auf diesen Expeditionen nach Brandfort hatte ich kein einziges Wort mit ihr wechseln können – aber sie wußte, daß ich nur ihretwegen gekommen war. Alles in allem war es mir sechs- oder siebenmal geglückt, sie zu sehen. Aber damit hatte es nun ein Ende. Während die Monate sich langsam hinzogen, verbrachte Winnie einen großen Teil ihrer Zeit damit, wegen angeblicher Verstöße gegen die Bannbestimmungen vor Gericht zu erscheinen. Ironischerweise bekam sie die Erlaubnis, Brandfort zu verlassen, um nach Bloemfontein zu dem dortigen Magistratsgericht zu fahren. Bei zwei Gelegenheiten konnte ich diesen Verhandlungen beiwohnen. Ich sah Winnie vor Gericht und hielt mich während der Pausen ganz in ihrer Nähe auf, natürlich immer unter dem wachsamen Auge von Sergeant Prinsloo. Prinsloo war auch der Mann, dem sie diese ganzen Verfolgungen zu verdanken hatte. Bei dem ersten Prozeß wurden ihr gleich fünf verschiedene Dinge zur Last gelegt. Sowohl die ausländische wie auch die südafrikanische Presse waren anwesend. Wie schlank und hochgewachsen und elegant Winnie in ihrem schwarzen Gewand und dem Tuch in den Farben des Afrikanischen Nationalkongresses aussah! Die Anklage versuchte das als Herausforderung zu interpretieren, worauf Winnie das Gericht erinnerte, daß «das Recht, meine eigene Garderobe auszuwählen, eines der wenigen Rechte ist, die ich noch habe».
In den Pausen wurde das Gebäude abgeriegelt. Wir drängten uns in den Korridoren; Winnie und ich paßten auf, daß Zindzi zwischen uns stand, während Sergeant Prinsloo nicht weit entfernt in einer Ecke kauerte und versuchte, uns beide im Auge zu behalten. Keine leichte Aufgabe! Sie verlieh ihm das Aussehen eines bösartigen Frosches. Als er im Kreuzverhör wegen der Schikanen befragt wurde, mit denen er Winnie und Zindzi das Leben schwermachte, wiederholte er immer nur: «Ich tat meine Pflicht.» Seine Pflicht brachte ihn häufig in Verlegenheit: Ich erinnere mich, wie sein Gesicht einmal aus einer tropfnassen Ligusterhecke auftauchte. Das war an dem Tag, als wir jenen verhängnisvollen Besuch in Brandfort abstatteten. Und da war er also wieder und kniff die Augen zusammen, damit ihm ja auch nichts entginge, keine Geste, kein Wort, das zwischen uns gewechselt wurde. Als einer der Pressefotografen ihn in dieser unwürdigen, kauernden Stellung fotografierte, wurde er furchtbar wütend. Winnie wurde in drei Anklagepunkten freigesprochen, aber die restlichen zwei reichten aus, um sie sechs Monate ins Gefängnis zu bringen, die jedoch auf vier Jahre Bewährung ausgesetzt wurden. Dieser Prozeß mit all seinen Details enthüllte die kleinliche Rachsucht, mit der der Staat Nonzamo Winnie, die Frau Nelson Mandelas, verfolgte. Anscheinend genügte es nicht, sie an einen fünfhundert Kilometer entfernten Ort zu verbannen, wo sie keine Menschenseele kannte und wo sie außerdem unter strengstem Hausarrest und unter den striktesten Bannbestimmungen leben mußte. Sie hetzten ihr sogar dort noch die Sicherheitspolizei an den Hals, die sie wegen der lächerlichsten Vergehen vor Gericht brachte. Vergehen wie zum Beispiel die Nachbarin nach dem Preis von Hähnchen oder Kohle zu fragen! Oder ihrer Tochter nicht zu verbieten, Besuch zu empfangen! Oder mit ihrer eigenen
Schwester in ihrem eigenen Haus zu sprechen! Alles ganz alltägliche Dinge, für die gebannte oder unter Hausarrest stehende Personen bestraft werden. Diese Art von Vergehen und die daraus resultierenden Gerichtstermine machten Winnies Leben aus. Nelson forderte beim Obersten Gerichtshof ein Verbot für Sergeant Prinsloo, Zindzi weiterhin zu schikanieren, da sie ja weder gebannt war noch unter Hausarrest stand. Er hatte Erfolg damit, und Zindzi blieb von weiteren Verfolgungen verschont, nicht aber ihre Mutter. Winnies älteste Tochter Zeni hatte ihren Prinzen geheiratet und lebte in Swasiland. Ihr erstes Kind wurde in der Kathedrale von Bloemfontein getauft, damit Winnie dabeisein konnte. Nelson hatte sich Dr. Moroka, einen ehemaligen ANCPräsidenten, und mich als Pateneltern gewünscht. Das war natürlich eine große Ehre für mich, und ich fuhr also auch nach Bloemfontein zur Taufe. Dr. Moroka war schon da, aufrecht wie eh und je, trotz seiner neunzig Jahre. Ich wartete in der Kathedrale auf die Familie. Zuerst kam Winnie. Mit dem Baby auf dem Arm ging sie an mir vorbei, um am andern Ende der Bank Platz zu nehmen. Unsere Hände berührten sich kurz. Dann folgte Zindzi, die sich zwischen uns setzte, und schließlich kamen Zeni und Prinz Musi. Winnie und ich gingen zusammen zum Altar vor, um die Kommunion zu empfangen. Wir knieten nebeneinander nieder und hielten stumm Zwiesprache. Nach der Predigt gingen wir etwas hinter Winnie durch das Mittelschiff. Und dann erlebte ich, wie im Herzland der Afrikaaner die Weißen sich erhoben und Winnie begrüßten; sie hießen sie willkommen, erfreut darüber, daß ihr Enkelkind in ihrer Kirche getauft wurde. Weiter hinten sah ich Sergeant Prinsloo mit verschränkten Armen an der Wand lehnen und die Leute beobachten. Ich fand das einfach erbärmlich und
entwürdigend. Als wir uns um den Taufstein versammelten, kam auch Prinsloo etwas näher, wohl aus Angst, er könne etwas verpassen – aber was? Ein paar geflüsterte Worte zwischen Winnie und mir? Und er folgte uns bis zu der Treppe, wo Winnie und ich in weitem Abstand voneinander stehen blieben. Als sie mit ihrer Familie wegfuhr, stand ich auf dem Bürgersteig und rief ihr «Goodbye, Winnie» nach. Ich hörte gerade noch ihr geflüstertes Goodbye, dann war sie verschwunden. Als ich wieder im Flugzeug nach Johannesburg saß, dachte ich an Nelson, der den Sonntagnachmittag in seiner Zelle auf Robben Island verbrachte. Er würde bald sechzig werden. Wie lange werden sie noch so leben müssen, Nelson eingekerkert, Winnie deportiert? Trotz allem waren aber weder er noch die Männer, die mit ihm zusammen verurteilt worden waren, vom Befreiungskampf ausgeschlossen. Sie gehörten immer noch dazu. Ich schrieb Nelson zu seinem sechzigsten Geburtstag. Auch in den vergangenen Jahren hatte ich ihm Telegramme geschickt, wußte aber nie, ob er sie auch bekam. Ich erzählte ihm von Zaziwes Taufe und wie sehr ich mich über diese Gelegenheit, seine Familie wiederzusehen, gefreut hatte. Zu meinem Erstaunen erhielt ich eine Antwort. Es war natürlich nicht der erste Brief, den ich von ihm bekam. Schon vor sechzehn Jahren hatte er mir aus seiner Zelle geschrieben, als ich gerade unter Hausarrest gestellt worden war. Dieses Mal schrieb er nur, daß für ihn die Tatsache, daß ich da war, schon immer sehr tröstlich gewesen sei, und er drückte seine Freude darüber aus, nun auch ein Foto von mir in seinem «Familienalbum» zu haben. Es handelte sich um ein Foto, das bei Zaziwes Taufe aufgenommen worden war. An Nelsons sechzigstem Geburtstag bekam ich einen Anruf von jemandem, der mit «Tante Helen» sprechen wollte. Die
unbekannte Stimme sagte: «Nelson Mandela ist tot. Ha! Ha! Ha!» Ich wußte, daß das nicht wahr sein konnte; bei einem solchen Anruf war das einfach nicht anzunehmen, aber einen Augenblick lang hatte ich es doch beinahe geglaubt. «Schwarz wie ich bin» lautet der Titel eines Bändchens mit Gedichten, die Zindzi, noch nicht sechzehnjährig, verfaßt hatte. Sie sind so bemerkenswert wie der Titel: Ausdruck des Schmerzes und der Enttäuschungen, die ein stolzes, sensibles, junges Mädchen erfahren hat, aber auch Ausdruck der Liebe und Wärme, die sie ausstrahlt. Die Fotos von Peter Magubane aus dem Alltagsleben von Soweto bilden einen einfühlsamen Rahmen. Die Gedichte gelangten auch in Nelsons Hände – wie stolz muß er auf seine Tochter gewesen sein. Die Jahre vergingen, bis wir schließlich den 31. Dezember 1981 hatten, den Tag, an dem Winnies Bann und auch ihre Verbannung enden sollten. In der Zwischenzeit waren die Mandelas auch im Ausland immer bekannter geworden. 1980 war Nelson von der indischen Regierung der Jawaharlal Nehru-Preis verliehen worden für sein Engagement für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Er konnte ihn jedoch nicht selbst in Empfang nehmen; Winnie durfte ihn nicht vertreten, und Zindzi war nicht in der Lage dazu, da sie keinen Paß bekommen hatte. Schließlich fuhr dann Oliver Tambo, der Präsident des Afrikanischen Nationalkongresses, nach Indien. Es folgten Ehrungen aus Glasgow, London, Österreich. Von der Universität von Lesotho wurde Nelson der Ehrendoktor verliehen. Vorsichtshalber adressiere ich meine Briefe jedoch nicht an Dr. Mandela, sondern an 466/64 Nelson Mandela. Die weiße Bevölkerung wurde unruhig; sie bat den Justizminister, Winnie aus der Stadt zu entfernen, da ihre Gegenwart «nur Schaden in der Gemeinde» anrichten würde. Bestand dieser Schaden darin, daß sie die Eingänge für Weiße
benutzte und andere Schwarze ihrem Beispiel folgten? Dieselben Weißen sprachen jedoch ganz ernsthaft davon, «die Lebensbedingungen in der Lokation verbessern zu wollen». Aber sie hatten wohl nicht bedacht, daß sie die Rassenschranken nicht aufheben konnten, ohne mit den Problemen der Rassenintegration konfrontiert zu werden. Die Wahrheit sah natürlich ganz anders aus. Winnie war innerhalb kürzester Zeit so etwas wie eine Mutter des Ghettos geworden. Die Leute hatten schnell begriffen, daß diese Frau keineswegs eine Gefahr für sie war, wie die Polizei ihnen einzureden versucht hatte, sondern daß sie Anteil an ihrem Leben nahm und ihnen auch mit Rat und Tat zur Seite stand. Sie half ihnen durch ihr Beispiel, durch ihre Bereitschaft, für andere einzutreten. Sie initiierte verschiedene Projekte, half den Leuten, auf dem Stück Land, das die Häuser umgab, Gemüse anzubauen, der Boden konnte noch so karg und die Leute konnten noch so arm sein. Trotz ihrer eigenen Schwierigkeiten brachte Winnie die Bewohner des schwarzen Ghettos zusammen und weckte ihr Verständnis für die gemeinsame Sache. Kurz vor dem 31. Dezember schrieb ich Winnie noch voller Hoffnung, daß wir vielleicht Sylvester zusammen feiern könnten. Wie alle, deren Bann ausläuft, hatte sie keine Ahnung, was passieren würde. Es gehört nämlich zu den Taktiken dieses sadistischen Bannsystems, die Leute in völliger Ungewißheit zu belassen. Sie fragte sich, ob die Polizei kommen würde, um ihre Möbel und sonstigen Habseligkeiten wieder auf einen Transporter zu verladen, so wie sie es vor fünf Jahren getan hatten, als sie sie nach Brandfort brachten. Würden sie sie mit Sack und Pack nach Orlando zurückfahren? Sie packte einfach auf gut Glück und wartete ab.
Zwei Tage vor Ablauf ihres Bannes kam die Polizei und überreichte ihr eine neue Bannurkunde; sie würde für fünf weitere Jahre gebannt sein. Also keine Sylvesterfeier für Winnie Mandela in den nächsten fünf Jahren. Und was würde danach geschehen? Wie lange würde das so weitergehen? Es war bereits ihr fünfter Bann, und er würde erst im Jahre 1986 ablaufen. Sie wäre zweiundfünfzig und fünfundzwanzig Jahre lang gebannt gewesen. Das schwarze Brandfort war bestimmt voller Anteilnahme, aber gleichzeitig haben sich die Leute wohl auch gefreut, daß sie bei ihnen bleiben würde. Manchmal hatte sie lachend erklärt, daß sie, wenn sie nach Johannesburg zurückgehen dürfte, die Nummer 802 in Brandfort als Landhaus beibehalten würde, um mit den Leuten dort in Verbindung zu bleiben. Ein einziges Zugeständnis war ihr gemacht worden: Sie durfte bonafide Besucher empfangen (was auch immer das bedeuten mochte!), aber jeweils nur einen. Früher war ihr das nicht gestattet gewesen. Ich fiel jedoch nicht unter diese Rubrik. Ich stehe immer noch auf der schwarzen Liste, und sie darf deshalb nicht mit mir sprechen. Die Vorbereitungen für Winnies ersten Besuch bei Nelson, ihren ersten Ausflug in die Freiheit, waren bereits getroffen. Über Neujahr konnte sie nun nicht fahren, da die Zeit nicht gereicht hätte, sich die Erlaubnis einzuholen, Brandfort verlassen zu dürfen oder sich von dem Hausarrest befreien zu lassen. Sie hatte gehofft, es würde nicht mehr nötig sein. Es war jedoch nötig, und der Ausflug in die Freiheit fand nicht statt. Vor Jahren hatte sie einmal gesagt: «Ob gebannt oder nicht gebannt, das ist ein und dasselbe» – ich fragte mich, ob sie das immer noch dachte. Winnie ist einsamer als je zuvor. Zindzi ist erwachsen und muß ihr eigenes Leben leben. Aber inzwischen wurden ihr vier Enkelkinder geboren. Zeni hat zwei Töchter und einen Sohn.
Zindzi hat ebenfalls eine kleine Tochter, Zoleka, die meistens bei Winnie lebt. Manchmal kommen auch die anderen drei auf Besuch, und es ist dann bestimmt viel zu eng in dem kleinen Haus, aber das wird Winnies Freude nicht beeinträchtigen. Nelson ist nun schon über zwanzig Jahre eingekerkert. Achtzehn Jahre verbrachte er auf Robben Island, wo er zumindest mit den anderen politischen Häftlingen zusammen war – mit vielen, nicht mit allen. Im April 1982 wurden Nelson und drei andere, im Rivonia-Prozeß angeklagte ANC-Führer, Walter Sisulu, Raymond Mhlaba und Andrew Mlangeni bei Nacht und Nebel in ein maximal abgesichertes Gefängnis auf dem Festland gebracht. Nicht einmal von ihren Kameraden, mit denen sie all diese Jahre gelebt, gelitten und bestimmt auch viel gelacht hatten, durften sie sich verabschieden. Es war eine grausame Entscheidung, für die es keine Erklärung gab. Oder waren die ANC-Führer vielleicht so prominent gewesen, daß es ratsam erschien, sie von Robben Island zu entfernen? 1982 bekam Winnie von dem Haverford College in den USA einen Ehrentitel verliehen. Natürlich durfte sie nicht hinfahren, und Zindzi bekam auch keinen Paß. Er war ihr bereits verweigert worden, als sie nach New York fahren wollte, um den Janusz Korczak-Preis für ihre Gedichte in Empfang zu nehmen. Als Frau des Prinzen Thumbusmusi aus der königlichen Familie Swasilands hat Zeni diplomatischen Status und brauchte sich erst gar nicht um einen südafrikanischen Paß zu bemühen. Sie konnte also auch in die USA fliegen, um den Preis ihrer Mutter entgegenzunehmen. Nicht nur Winnie und ihre Kinder, sondern das ganze schwarze Südafrika wartet auf die Freilassung Mandelas. Er symbolisiert für sie die Freiheit, eine Freiheit, die erkämpft werden muß, die ihnen nicht einfach in den Schoß fällt. Und Soweto wartet auf die Rückkehr von Winnie Mandela, so wie
auch ich den Tag herbeisehne, an dem ich den Gartenweg hinunterlaufe, um sie zu begrüßen. Ich bin ganz sicher, daß Nelson und Winnie Mandela zu uns zurückkehren werden, denn sie haben bewiesen, daß sie einfach nicht unterzukriegen sind, daß ihr Stolz und ihre Integrität triumphieren werden. Was ich über die Mandelas geschrieben habe, ist jedoch nicht nur der Triumph und die Tragödie zweier Individuen. Es ist der Triumph und die Tragödie aller Gefangenen, aller Gebannten und Verbannten. Nelson und Winnie und ihre Kinder stehen mir näher als irgendeine Familie in Südafrika, und sie betrachten mich auch als eine der Ihren. Deshalb habe ich über sie geschrieben, über sie und über das, was sie für Südafrika und mich bedeuten. Dr. Manas Buthelezi hat einmal gesagt, Winnie habe erfahren, was es bedeutet, für die Erlösung anderer zu leiden. Er hatte recht damit. Sie hat es für ihr Volk und für ihr Land getan. Es gibt auch noch andere, ganze Familien, in denen der Sohn das Erbe des Vaters, die Mutter das Erbe der Mutter angetreten haben, in denen sich bereits die dritte Generation für die gemeinsame Sache engagiert hat. Ich denke an die Naidoos, die mit drei Generationen von Freiheitskämpfern den Rekord aufstellen. Zuerst kam Thambi Naidoo, ein Präsident des Indischen Kongresses, der Gandhi sehr nahestand. Er wurde vierzehnmal wegen passiven Widerstands eingesperrt. Seine Frau brachte eines ihrer Kinder im Gefängnis zur Welt. Sein Sohn, Naryan Naidoo, auch ein ehemaliger Präsident des Indischen Kongresses, wurde während der 1946 stattfindenden Kampagne des passiven Widerstands zweimal inhaftiert. Seine Schwiegertochter, Naryans Frau, saß während derselben Kampagne zweimal im Gefängnis. Ihr ältester Sohn, Indres, der erste, der von der dritten Generation im Gefängnis landete, hatte den Pfad des
zivilen Ungehorsams verlassen und war wegen Teilnahme an Sabotageakten zu zehn Jahren Robben Island verurteilt worden. Ihre Tochter Shanti, verfolgt und immer wieder hinter Schloß und Riegel, gehört auch zu dieser tapferen, engagierten dritten Generation. «Ich werde nicht aussagen», meinte sie vor Gericht, «weil mir dann mein Gewissen keine Ruhe mehr lassen würde.» Shanti weigerte sich, als Staatszeugin gegen ihre beiden Freundinnen, Winnie Mandela und Joyce Sikhakane, aufzutreten, die zusammen mit zweiundzwanzig anderen in dem Prozeß von 1970 vor Gericht gestellt worden waren. «Unsere Freundschaft bedeutet mir sehr viel», mehr sagte sie nicht. Aber sie berichtete vor Gericht von den pausenlosen Verhören, die häufig mehrere Tage und mehrere Nächte dauerten, Tage und Nächte, in denen sie kein Auge zutun konnte. «Ich wurde ganz wirr im Kopf und verlor jeglichen Realitätssinn.» Aber vor Gericht wiederholte sie keine der Aussagen, die auf diese barbarische Weise erpreßt worden waren, eine Weigerung, die ihr zwei Monate Gefängnis eintrug. Prema, der jüngste Sohn, hat gerade ein Jahr Gefängnis hinter sich – er hatte einem entflohenen politischen Häftling für eine Nacht Unterschlupf gewährt. Es war nur eine Nacht gewesen, aber sie kostete Prema ein Jahr seiner Freiheit; hinzu kamen noch die fünf Monate Untersuchungshaft. Er berichtete von tagelangen Folterungen in den Folterkellern der Sicherheitspolizei. Ich denke an die Cachalias, den Großvater, der um die Jahrhundertwende während Gandhis Kampagne des passiven Widerstands im Gefängnis gesessen hatte, an seine Söhne Yusuf und Molvi, die 1946 und 1952 dasselbe Schicksal ereilte. Ich denke an Amina Cachalia, meine Begleiterin auf der Reise zu den Verbannten. Sie verbüßte 1952 eine
Haftstrafe und war zusammen mit ihrem Mann Yusuf viele Jahre gebannt gewesen. Auch die Kinder der Cachalias, die zu der dritten Generation gehören, haben schon Bekanntschaft mit dem Gefängnis gemacht und wissen, was es bedeutet, gebannt zu sein. Walter Sisulu, Generalsekretär des ANC bis zu seiner Bannung im Jahr 1953, ist zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Wie Mandela wurde er von Robben Island in ein anderes Gefängnis gebracht. Und seine Frau führt wie Mandelas Frau den Kampf weiter. Siebzehn Jahre unter Bann und Hausarrest haben Albertina nicht in die Knie gezwungen; ein paar Tage, nachdem sie frei war, stand sie wieder auf der Rednerbühne und hielt eine Ansprache. 1982 wurde sie dann erneut gebannt – zur Strafe für ihren Mut und ihre Standhaftigkeit, nicht wegen eines Vergehens. Ihre Kinder führen die Tradition der Sisulus fort. Lindiwe, die älteste Tochter, hatte, noch nicht volljährig, ein Jahr in Einzelhaft verbracht, ohne jemals einem Richter vorgeführt zu werden. Zwelakhi, ihr jüngster Sohn, steht unter Bann und unter Hausarrest. Auch er war viele Monate in Isolationshaft, ohne vor Gericht gestellt zu werden. Die Weinbergs, Eli, Violet und ihre Tochter Sheila, wohnten ganz in meiner Nähe. 1962 wanderte die ganze Familie ins Gefängnis, die Eltern wegen kommunistischer Umtriebe und Sheila, weil sie als Achtzehnjährige die Hauswände mit ANCSlogans besprüht hatte. Im Anschluß an ihre Gefängnisstrafe lebten Violet und Eli jahrelang unter den striktesten Bannbestimmungen. Zehn Jahre später wurde auch Sheila gebannt und unter Hausarrest gestellt. Eli verließ schließlich Südafrika und starb ein paar Jahre später im Exil. Violet war ihrem Mann gefolgt und lebt jetzt ganz allein weit weg von ihrer Heimat. Sheila ist in Südafrika geblieben.
Ich frage mich, ob die Kinder der jüngsten Generation, die jetzt noch nicht einmal zur Schule gehen, auch einmal solche Opfer bringen müssen.
Der Khakistrauch
Bis zum Morgen des 1. Juli 1982 wußte ich nicht, ob der 1980 verhängte Bann (der mir verbot, politische Meetings zu besuchen), wieder erneuert würde. Ich war noch gebannt, als ich eingeladen wurde, eine Frauenkonferenz an der WitsUniversität zu eröffnen – falls ich dazu in der Lage sein sollte. Ich habe den ganzen letzten Monat, während ich das Manuskript für dieses Buch beendete, gewartet; ich wollte unbedingt wieder sprechen, aber ich fragte mich auch, ob ich mit siebenundsiebzig wirklich zu alt war, um noch einmal gebannt zu werden. Der Bann wurde nicht erneuert. Ich konnte wieder politische Versammlungen besuchen und vor Studenten sprechen. Ich konnte da weitermachen, wo ich vor zwei Jahren aufgehört hatte. Es war zwar durchaus möglich, daß ich ohne Vorwarnung wieder gebannt würde, aber das war nicht so wichtig. Dieses Risiko mußte ich eingehen, da ich nicht gewillt war, freiwillig darauf zu verzichten, in der Öffentlichkeit zu sprechen, wenn man mich brauchte. Die erste Woche war sehr aufregend. Telefonanrufe von überallher, Telegramme, Besuche, Blumen, Presse- und Fernsehinterviews – ausländisches Fernsehen natürlich, weil es in Südafrika nach wie vor verboten war, mich zu zitieren. Ich stand immer noch auf der schwarzen Liste, auch wenn der Bann aufgehoben worden war. Das Willkommen, das mir die Studenten der Wits-Universität bereiteten – es war mein erstes Meeting, auf dem ich als «freie» Person auftrat – hat mich tief bewegt. Zwischen den Studenten und mir bestand offensichtlich noch eine enge
Verbundenheit. Ich betrachtete das als Beweis, daß ich noch gebraucht wurde, daß ich noch meinen Platz hatte in der Befreiungsbewegung, in dem Kampf für eine gerechtere Gesellschaft und daß ich auch der Jugend noch etwas zu sagen hatte. Anfangs hatte ich richtiges Lampenfieber. Würde ich mein Publikum bei der Stange halten können? Würde meine Stimme kräftig genug sein? Würde sich mein Alter nicht doch bemerkbar machen? Die Reaktion der Studenten bewies mir jedoch, daß meine Befürchtungen grundlos waren. Ich sprach von dem Widerstand der Frauen in den fünfziger Jahren und von den großen Protesten der Frauen in Pretoria – dem Erbe der Vergangenheit. Ich bin seitdem von vielen Universitäten eingeladen worden. Ich habe mehrere Male an der Universität von Kapstadt, an der Wits-Universität, an der Universität von Natal und an der Rhodes und Indian Westville-Universität gesprochen. Ich durfte an fünf Englisch-sprechenden Universitäten die jährliche Rede zur Verteidigung der akademischen Freiheit halten. Anfangs fühlte ich mich der Aufgabe, bei so wichtigen Anlässen zu reden, überhaupt nicht gewachsen: früher waren immer sehr prominente Persönlichkeiten aus Südafrika oder dem Ausland dazu auserkoren worden, und die Reden wurden vervielfältigt und im ganzen Land verbreitet. Bei meinen war das jedoch nicht möglich. Das ließ mich natürlich an meinen Fähigkeiten zweifeln; die Studenten gaben mir jedoch das Vertrauen in mich und den Wert einer Rede zurück, die sich nur an die Anwesenden richten konnte. Ich bin ideologisch nicht geschult, und ich konnte nicht etwas vortäuschen, was ich nicht war. Deshalb sprach ich so einfach, wie ich es gewohnt war; ich wies der akademischen Freiheit den Platz zu, den sie meiner Meinung nach einnehmen sollte, ihren wirklichen Platz jenseits des Elfenbeinturms. Ich versuchte, den Anwesenden klarzumachen, wie wichtig diese
Freiheit sei, und gleichzeitig versuchte ich, ihnen die Verantwortung dafür zu übertragen. Ich wollte sie in den Kontext einer größeren Freiheit stellen, die sich Südafrika erkämpfen muß. An allen fünf Universitäten bewies mir der Beifall der Studenten, daß ich nicht umsonst dafür eingetreten bin. Und deshalb mache ich auch weiter. Ich betrachte es als eine große Auszeichnung, den Studenten und auch anderen Zuhörern, schwarzen wie weißen, von dem Kampf für Gerechtigkeit, Menschenwürde und den Grundsätzen der Freiheits-Charta berichten zu dürfen. Die politische Landschaft Südafrikas verändert sich, nicht nur durch die von der Regierung durchgeführte Verfassungsreform, sondern durch unzählige Bürgerinitiativen, die überall aus dem Boden schießen, und eine rasch anwachsende außerparlamentarische Opposition. Das alte, rein weiße Parlament gibt es nicht mehr. Wir haben inzwischen eine neue Verfassung: Wir haben drei Parlamente, eines für die Weißen, eines für die Inder und eines für die Farbigen. Die Schwarzen sind jedoch immer noch nicht vertreten; in den Homelands gibt es Millionen von Schwarzen, die nicht stimmberechtigt sind. Ihr Verhältnis zu dem neuen Parlamentsapparat soll zwar noch geklärt werden – Kommissionen sollen eingesetzt werden, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen –, aber all das kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen – und wird auch nie darüber hinwegtäuschen –, daß die Schwarzen, die drei Viertel der Bevölkerung ausmachen, von dem neuen Parlament ausgeschlossen sind. Die Weißen durften über die neue Verfassung abstimmen. Die Ergebnisse bewiesen, daß sie die Pläne der Regierung billigten. Bei den Farbigen und den Indern wurde überhaupt kein Referendum durchgeführt. Sie wurden erst gar nicht
gefragt, ob sie mit dem neuen System einverstanden waren: Sie wurden einfach aufgefordert, ihre Vertreter zu wählen. Die Inder hatten zum erstenmal dieses Recht, und den Farbigen war es nach vielen Jahren wieder eingeräumt worden. Jede Bevölkerungsgruppe konnte nur ihre Parlamentskammer wählen. Eine gemeinsame Wahl gab es nicht. Wenn die drei Kammern dieses Parlaments zusammentreten, ist die Verteilung der Sitze klar zu erkennen. Die Farbigen und die Inder sind den Weißen zahlenmäßig weit unterlegen. Sie bilden eine klägliche Minderheit, während die Weißen von dieser Verfassungsreform nur profitieren. Kein Wunder, daß die Wahlbeteiligung unglaublich niedrig war. Die Anti-WahlKampagnen hatten die gewünschte Wirkung gehabt: 80 Prozent der nichtweißen Wähler blieben einfach zu Hause. Die Regierung der Nationalisten focht das wenig an. Der Widerstand gegen die neue Verfassung bewirkte jedoch, daß sich eine sehr eindrucksvolle und ständig wachsende außerparlamentarische Opposition bildete, die von der Vereinten Demokratischen Front angeführt wird. Die UDF ist die bedeutendste multirassische Koalition und folglich auch das bevorzugte Angriffsziel der Regierung und der Polizei. Bei ihrer Gründung mitwirken zu dürfen, war für mich einer der drei Höhepunkte der letzten dreißig Jahre oder vielmehr meines ganzen Lebens. 15000 Menschen sind auf dieser schon historisch gewordenen Massenveranstaltung in Kapstadt zusammengekommen. Alte, Junge, Schwarze, Weiße, Akademiker, Arbeiter, Hausfrauen. Und ich bin auch dabeigewesen. Ich habe eine Rede gehalten und wurde als «Mutter des Kampfes» vorgestellt. Außerdem wurde ich zur Schirmherrin gewählt. Da ich immer noch auf der schwarzen Liste stand, konnte ich keine Funktionen übernehmen, aber ich bin stolz darauf, Ehrenmitglied zu sein; ich weiß, daß das meine politische Heimat ist.
Und mehr noch – ich sehe, wie mehr und mehr südafrikanische Frauen sich zusammenschließen, Organisationen und Zentren bilden und den Tag näherbringen, an dem ein neuer Südafrikanischer Frauenbund, eine echte nationale Einheit der Frauen Südafrikas, Wirklichkeit wird. Der dreißig Jahre alte Traum der Föderation wird sich dann endlich verwirklichen. Achtzig Jahre sind ein beträchtliches Alter. Ich weiß nicht, wie lange ich körperlich oder gesetzlich noch in der Lage sein werde, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Meine Mobilität wird von Jahr zu Jahr abnehmen. Bis jetzt bin ich nicht wieder gebannt worden. Ich weiß, daß man das Heu einbringen muß, solange die Sonne scheint – und wer weiß, wie lange sie noch scheint! Ich war viermal gebannt, viermal im Gefängnis, und der Hochverratsprozeß hat sich auch vier Jahre hingezogen. Das ist für mich jetzt die dritte Periode, in der ich nicht gebannt bin. Ein seltsames Gefühl. Ich spreche begeistert von meiner Freiheit, die gar keine richtige Freiheit ist. Ich bin immer noch umgeben von den Verboten, die listenmäßig erfaßte Personen betreffen. Winnie und andere gebannte Freunde dürfen nicht mit mir sprechen. Nichts von dem, was ich schreibe oder sage, darf zitiert werden. Und ich darf mich auch keiner politischen Organisation anschließen. Es gibt so viele, die gebannt sind, und es wird noch viel mehr geben. Was für eine Freiheit ist das? Ich möchte keine Freiheit, die ich nicht mit anderen teilen kann. Nelson Mandela, Walter Sisulu, «Kathy» Kathrada, Govan Mbeki – wir waren anfangs alle noch zusammengewesen – bei den Kampagnen, im Gefängnis, während des Hochverratsprozesses. Sie sind immer noch in Hochsicherheitsgefängnissen, auf Robben Island und Pollsmoor. Die Jahre vergehen, während sie darauf warten, als
freie Menschen und als freies Volk in diesem Land leben zu können. In Südafrikas Gefängnissen sitzen mehr als dreißig zu lebenslänglicher Haft verurteilte schwarze Führer, und es gibt Hunderte, die jahrelange Gefängnisstrafen verbüßen, die praktisch ihr ganzes Leben im Gefängnis verbringen, ohne große Hoffnung, entlassen zu werden. Ich sehe das jedoch anders – ich bin überzeugt, daß sie die Freiheit, für die sie kämpften, noch erleben dürfen –, zumindest die meisten von ihnen, obwohl ein paar wenigen nicht mehr viel Zeit bleibt. Während der fünfziger Jahre war ich wie alle anderen eine überzeugte Anhängerin des gewaltlosen Kampfes. Wir glaubten, daß Freiheit und Gerechtigkeit auch ohne Gewalt erreicht werden können – einfach durch die praktische Anwendung der Grundsätze der Freiheits-Charta. Das war jedoch vor Sharpeville, vor den brutalen Polizeiaktionen der sechziger Jahre, vor der gewaltsamen Unterdrückung unserer gewaltlosen Kampagnen. Es war vor dem Verbot unserer Organisation, vor den Verhaftungswellen und der systematischen Anwendung von Folter. Gewaltlosigkeit kann sich gegenüber einem System brutalster Unterdrückung nicht behaupten. Die Forderung der Schwarzen nach Anerkennung ihrer Menschenrechte und -würde ist eine gerechte Forderung. Ich verabscheue und fürchte jede Art von Gewalt, und Millionen andere tun das auch, aber stärker als dieser Pazifismus ist die Überzeugung, daß die Gerechtigkeit siegen muß. Wenn das weiße Südafrika seine Weigerung aufrechterhält, das Land, den Reichtum und die Macht zu teilen, wenn es seine Privilegien nicht aufgeben will, dann bleibt der schwarzen Bevölkerung gar nichts anderes übrig, als ihre gerechte Forderung mit Gewalt durchzusetzen. Ein blutiger Konflikt, der viele Menschenleben fordert, wäre das
Resultat. Und die Verantwortung dafür müßten die weißen Südafrikaner tragen. Im Lauf der Jahre wurde mir die Schuld, die ich als Weiße trage, immer deutlicher bewußt. Aber nicht nur ich bin schuldig. Ich teile diese Schuld mit ein paar Millionen anderer Weißer. Aber das ändert nichts an der Tatsache selbst. Ich werde nie Lilian Ngoyis Ausbruch vergessen, ihre bittere Bemerkung, daß ich wegen meiner rosa Hautfarbe selbst im Gefängnis besser behandelt würde. Auch daß ich versucht habe, mich mit dem Kampf der schwarzen Bevölkerung zu solidarisieren, oder daß ich verhaftet, eingesperrt, gebannt und zu Hausarrest verurteilt worden bin, befreit mich nicht von dieser Schuld. Vielen ist es so ergangen. Ich profitiere von diesem verdammten System, ich kann nicht aus meiner Haut. Es ist mir peinlich – mehr noch, ich schäme mich –, weiß zu sein. Ich allein kann keine Sühne leisten. Nur wenn die gesamte weiße Bevölkerung Südafrikas sich von ihrer Habsucht und ihrer Angst befreit und sich mit den Schwarzen solidarisiert, ist diese Schuld gesühnt. Ich habe versucht, in diesem Buch ein paar Fenster aufzustoßen, die Geschichte des Befreiungskampfes zu illustrieren. Alle konnte ich jedoch nicht aufstoßen; es handelt sich vor allem um diejenigen, durch die ich selbst geblickt habe. Wir haben dieses Jahrzehnt zur Hälfte hinter uns, und ich weiß nicht genau, wie es enden wird. Ich hoffe nur, daß ein neues, freieres Südafrika Gestalt gewinnen wird. Ich wollte in der Welt der Politik ein christliches Zeugnis ablegen und in einer christlichen Welt ein politisches Zeugnis. Naiver Idealismus? Ich kann das nicht entscheiden, genausowenig wie ich entscheiden kann, ob es mir zumindest teilweise gelungen ist. Andere sollen das tun. In Südafrika gibt es eine sehr weitverbreitete Pflanze, die Khakistaude. Man kann ihr mit der Axt oder auch mit Feuer zu
Leibe rücken – sie kommt immer wieder. Seit dreißig Jahren überwuchert diese einen Meter hohe Pflanze das Fußballfeld in Kliptown, dem Ort, an dem der Volkskongreß stattgefunden hat. Jetzt scheint es der Betonwüste weichen zu müssen; Schotter bedeckt unser Feld, und die Khakisträucher sind nicht mehr zu sehen, aber ich weiß, daß die Wurzeln noch da sind. Irgendwo werden sie schon wieder hervorbrechen. Für mich symbolisiert der Khakistrauch das Überleben, ein durch nichts einzudämmendes Wachstum. Und wie der Khakistrauch hat der Afrikanische Nationalkongreß Wurzeln getrieben und sich ausgebreitet, Wurzeln, die in den Untergrund Südafrikas reichen. Sie selbst sieht man nicht, nur ihre Triebe. Und die wachsen und wachsen. Wie der Khakistrauch trotzte auch die Freiheits-Charta allen Bemühungen, sie zu vernichten. In diesem entscheidenden Jahrzehnt ist sie sowohl hier wie im Ausland eine Art Glaubensbekenntnis. Im ganzen Land zirkulieren Tausende von Kopien. Sie wird ganz offen gezeigt und zitiert. Aber bevor die Lippen sie zitieren, haben die Herzen sie empfunden. Ihre Botschaft läßt sich nicht verbieten, denn es ist die Botschaft der Brüderlichkeit und der Liebe. Für diese Freiheiten kämpfen wir, Seite an Seite unser ganzes Leben lang, bis wir sie errungen haben… Seite an Seite! AMANDLA NGAWETHU!
Unser Kampf geht weiter Ein Nachwort
…Zwei Wege schieden sich im Wald, und ich, ich nahm den weniger begangenen, und dadurch ward alles anders. (Robert Frost, «The Road Not Taken»)
Das trifft auch mehr oder weniger auf die letzten dreißig Jahre meines Lebens zu – ich habe den «weniger begangenen» Weg gewählt, den Weg des politischen Engagements. Ich sage das nicht wie der Dichter mit einem Seufzer. Ich bin einfach nur dankbar, daß auch mir, einer Weißen, diese Möglichkeit offenstand. Vor dreißig Jahren war es tatsächlich noch der weniger begangene Weg. Aber das hat sich geändert. Inzwischen sind es Millionen, die trotz aller Schikanen und Verfolgungen auf diesem Weg einem freien, demokratischen Südafrika entgegengehen. Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt; es liegt noch einiges vor uns. Und deshalb kann ich zu diesem Buch auch nur ein Nachwort und kein Schlußwort schreiben. Andere werden von dem, was vor uns liegt, berichten müssen. Am Sonntag, dem 10. Februar 1985, versammelte sich eine große Menschenmenge in dem Stadion von Soweto, um Desmond Tutu, den Bischof von Johannesburg, willkommen zu heißen, der mit dem Friedensnobelpreis aus Schweden
zurückgekehrt war. Und in diesem Stadion stand er, der Bischof des Volkes, und hielt den Nobelpreis hoch: «Dieser Preis gehört nicht Desmond Tutu. Er wurde uns allen verliehen. Deshalb – nehmt ihn, er gehört euch!» Auch Zindzi Mandela stand auf der Rednerbühne und verlas vor Tausenden von Zuhörern die Antwort ihres Vaters auf das Angebot des Staatspräsidenten, ihn aus dem Gefängnis zu entlassen unter der Bedingung, daß er auf Gewalt als politische Waffe verzichte. Sie sah so jung aus in ihren Jeans und dem gelben Trikot, auf dem der Slogan der Vereinigten Demokratischen Front stand: «UDF unites, apartheid divides» (UDF vereint, Apartheid trennt). Ich glaube, die Menge sah in ihr nicht nur die Tochter von Nelson und Winnie Mandela, sondern ein junges Mädchen, das jedermanns Tochter hätte sein können. Die Botschaft ihres Vaters war die eines stolzen, ungebrochenen Mannes, der seinem Volk und seiner Organisation, dem Afrikanischen Nationalkongreß, die Treue bewahrt hatte. Er forderte den Staatspräsidenten auf, auf Gewalt zu verzichten, die Apartheid abzuschaffen, den ANC wieder zu legalisieren, die Gefangenen freizulassen, die Bannbestimmungen für Verbannte und Gebannte aufzuheben und das Volk selbst entscheiden zu lassen, wer es regieren soll. «Mein Vater sagt: ‹Ich kann und will keine Verpflichtungen eingehen zu einer Zeit, da ich und ihr, das Volk, nicht frei sind. Eure Freiheit und meine können nicht voneinander getrennt werden. Ich werde wiederkommen!›» Nelsons Botschaft wurde nicht nur im Stadion, sondern in dem letzten Winkel von Südafrika und auch im Ausland vernommen. Nach mehr als vierundzwanzig Jahren Haft schloß er selbst die Gefängnistür hinter sich.
Seit jenem unvergeßlichen Tag ist viel geschehen. Jede Woche, ja beinahe jeden Tag gab es neue Todesopfer; die Demonstrationen und Protestmärsche wurden von der Polizei mit Tränengas, Gummiknüppeln und Prügeln, denen sowohl Männer wie Frauen wie Kinder ausgesetzt waren, gewaltsam unterdrückt. Autos, Häuser, Büros und Läden wurden selbst in den schwarzen und farbigen Wohngebieten von Phoenix in Natal in Brand gesetzt, der Stadt Mahatma Gandhis. Während der Widerstand der Bevölkerung gegen ihre Unterdrücker wächst und die Regierung immer brutaler dagegen vorgeht, werden solche Vorfälle immer alltäglicher. Selbst Kinder wurden von der Polizei geprügelt und erschossen, was sie jedoch nicht davon abhielt, aus Protest dem Unterricht fernzubleiben und die Freilassung ihrer Mitschüler zu fordern. Vor nicht allzulanger Zeit wurden eines Morgens neunhundert Schüler auf ihrem Schulgelände zusammengetrieben und ins Gefängnis gesteckt. Einige wurden in derselben Nacht wieder freigelassen; viele sind jedoch immer noch inhaftiert. Die Armee wurde in den schwarzen Gebieten zu einer Besatzungsarmee. Die Soldaten brauchen nicht mehr außer Landes zu gehen, um ihre Brüder zu töten. Sie tun das jeden Tag in den Townships. Verhaftungen und Todesfälle machen schon längst keine Schlagzeilen mehr. Ein Hochverratsprozeß folgt auf den anderen. Ich kann es schon gar nicht mehr hören: «In feindlicher Absicht… Verschwörung zum gewaltsamen Umsturz der Regierung…» Und wieder sind unsere Führer in diese endlosen Prozesse, diese endlosen juristischen Streitereien, verwickelt. Wird man sie freisprechen wie uns damals? Nach fünfundzwanzig Jahren wurde erneut der Notstand erklärt. Die Weißen spüren jedoch kaum etwas davon. Wir
leben ungestört in unseren weißen Vororten und erfahren durch die Zeitungen, was in den schwarzen Wohngebieten passiert. Wir sehen es auch im Fernsehen – einiges zumindest –, außerhalb von Südafrika erfährt man jedoch sehr viel mehr von dem, was in unserem Land geschieht. Ich bin überzeugt, die Mehrheit der weißen Südafrikaner hat keine Ahnung von dem Ausmaß der Gewalt und der Unterdrückung. Ich weiß jedoch auch, daß das weiße Südafrika noch nie so Angst gehabt hat, seine Macht und seinen Reichtum zu verlieren, sein privilegiertes Leben aufgeben zu müssen, und auch Angst davor, daß die Armee und die Polizei diese Eskalation der Gewalt nicht mehr zum Stillstand bringen können. Inzwischen machen ihnen auch die weltweite Verurteilung des Apartheidsystems, die wirtschaftlichen Sanktionen und der Abzug ausländischen Kapitals zu schaffen. Südafrika hat sich mehr Zeit ausbedungen und auf die kleinen, kosmetischen Veränderungen hingewiesen. Sie sind jedoch für die Masse der schwarzen Bevölkerung völlig bedeutungslos. Was nützt es ihnen, wenn das Verbot von Mischehen aufgehoben wird, solange sie nicht in denselben Wohnvierteln leben können, oder wenn teure weiße Luxushotels und Restaurants auch Schwarzen ihre Tore öffnen, solange ihnen die Menschenrechte und Grundfreiheiten verweigert werden? Während im Inland wie im Ausland die Situation immer kritischer wird, versucht Staatspräsident Botha weiterhin zu beschwichtigen, um das sich anbahnende wirtschaftliche und politische Desaster zu verhindern. Er macht neue Konzessionen und die schwarze Bevölkerung weiß, was sie von solchen Versprechungen zu halten hat und reagiert dementsprechend mißtrauisch. Es reicht nicht. Sie fordern einen höheren Preis für all die Toten, für jene Vierjährige, die erschossen wurde, als sie vor
dem Haus ihrer Eltern spielte, für die Führer, diese heroischen Männer und Frauen, die von der Polizei zu Märtyrern gemacht wurden, für die mißhandelten Häftlinge oder die unzähligen Opfer von Unbekannten. Unsere Wut und unsere Empörung müssen sich gegen diese Regierung, gegen Botha, richten, denn auch er trägt die Verantwortung für das System der Apartheid, das diese Eskalation von Gewalt bewirkt hat. Die nationalistische Regierung hat Schuld an den Ausschreitungen und Zerstörungen, eine Schuld, die den Verantwortlichen niemand abnehmen kann. Ich möchte kein verbittertes oder trauriges Nachwort schreiben. Ich weiß zwar nicht, was die kommenden Jahre oder Monate bringen werden, aber ich glaube trotz allem an die Zukunft unseres Landes. Der Preis wird hoch sein – er ist es bereits, aber das ändert nichts an meiner Überzeugung, daß Südafrika einmal ein demokratisches, geeintes Land sein wird. Meine Hoffnung basiert auf meinem Glauben an die Stärke der außerparlamentarischen Opposition, an die Stärke derjenigen, die die gegenwärtige Verfassung bekämpfen, wie auch derjenigen, die von ihr bekämpft werden. Ich habe Vertrauen in die Vereinte Demokratische Front, obwohl sie durch die ständigen Attacken der Polizei, die endlosen Prozesse gegen ihre Führer und die willkürlichen Verhaftungen ziemlich geschwächt worden ist. Vor dreißig Jahren, am Vorabend der großen Proteste der Frauen in Pretoria, meinte Lilian Ngoyi: «Wenn unsere Führerinnen verhaftet werden, werden andere an ihre Stelle treten!» Das gilt auch heute noch. Andere werden die Plätze der Inhaftierten einnehmen. Ich habe einige Angeklagte der Hochverratsprozesse besucht; manche sind immer noch im Gefängnis, andere wurden gegen Kaution freigelassen. Ihr Mut und ihr Optimismus haben mich
beeindruckt. Es ist eine neue Generation von «Verrätern», sie besitzt jedoch dieselbe Kraft, eine Kraft, die einen Mann vierundzwanzig Jahre im Gefängnis ausharren läßt. Das Banner der Freiheitscharta ist immer noch gehißt, und Nelson Mandela wird von der Mehrheit der schwarzen Bevölkerung als Führer des Befreiungskampfes anerkannt. Der Kampf um Gerechtigkeit muß so lange geführt werden, bis das Volk seine Grundrechte erlangt hat: Ein bißchen Freiheit ist nicht genug.
«Man hat ihnen immer irgendwelche Brocken gegeben, aber ein Brocken Freiheit – anders als ein Brocken Brot – stillt nicht den Hunger. Freiheit ist wie das Leben – man lebt nicht auf Raten. Freiheit ist unteilbar. Wir sind entweder ganz frei oder nicht frei.» Martin Luther King
Mein Buch ist damit zu Ende. Unser Kampf jedoch geht weiter, aber eines Tages wird auch er beendet sein. Ich weiß nicht, ob ich das noch erleben werde, meine Zeit wird knapp, aber ich weiß, daß das, was ich zusammen mit all den anderen durchlebt habe, nicht umsonst gewesen sein wird.