Doch von Liebe sprach er nicht
Betty Neels
Julia 1469 20 – 2/01
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von vampyrL
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Doch von Liebe sprach er nicht
Betty Neels
Julia 1469 20 – 2/01
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von vampyrL
1. KAPITEL Im OP herrschte Hochbetrieb, halblaute Ausrufe des Ärgers oder der Ungeduld unterbrachen die sonst übliche Stille. Oberschwester Deborah Culpeper ordnete mit raschen, sicheren Bewegungen die Instrumente auf dem Rollwagen, der vor ihr stand. Gleichzeitig hatte sie ein wachsames Auge auf Cynthia, die jüngste Schwester, die vergeblich nach den Langenbeck-Retraktoren suchte und leise vor sich hin jammerte. Sie sprach ihr Mut zu, bat Schwester Perkins, die Verbände in der richtigen Reihenfolge zurechtzulegen, und sah auf die Uhr. Eine Minute vor neun - soweit sie erkennen konnte, war alles fertig. Sie schwenkte den Rollwagen in die richtige Position und nahm ihren Platz dahinter ein. Gleich würden auch die anderen Schwestern so weit sein. Deborah hetzte sie nie, sondern sorgte nur dafür, dass die Arbeit gleich verteilt war und genug Zeit blieb, sie zufrieden stellend auszuführen. Deborah trug den vorgeschriebenen grünen Kittel, und außer den dunklen Augen über dem Mundschutz war nichts von ihr zu erkennen. Sie wirkte ruhig und selbstsicher und wurde deshalb von den anderen beneidet. Doch der Schein trog, denn Deborah war nur äußerlich ruhig. Ihr Herz schlug rasch und heftig, und sie atmete viel zu schnell, wie immer, wenn Dr. van Doorninck operierte. Es ärgerte sie sehr, dass er sie nicht gleichgültiger ließ, und es gelang ihr auch meist, eine gelassene Miene zur Schau zu tragen. Nur im OP gerieten ihre Gefühle regelmäßig außer Kontrolle, und sie war froh, sie hinter dem Mundschutz verbergen zu können. Der Patient wurde hereingerollt, vorsichtig auf den Operationstisch gelegt und mit einer Decke zugedeckt. Unmittelbar darauf betraten durch die hinteren Schwingtüren zwei Männer den OP - der Stationsarzt Peter Jackson und Dr. van Doorninck. Der Doktor war größer als sein Kollege und hatte breite Schultern, die jetzt unter dem grünen Kittel verborgen waren. Er sah sich kurz im OP um, vermisste nichts und trat an den Operationstisch. Sein Gruß für Oberschwester Culpeper fiel knapp aus, und der Blick, der sie unter schweren Lidern hervor traf, war kurz. Sie erwiderte den Gruß zurückhaltend und fragte sich zum hundertsten Mal, wie eine vernünftige Frau so albern sein konnte, sich blind und hoffnungslos in einen Mann zu verlieben, der nicht mehr als einige höfliche Worte mit ihr gewechselt hatte. Doch sie liebte ihn, und diese Liebe hatte sich in den beiden Jahren ihrer Zusammenarbeit so vertieft, dass sie zwei Heiratsanträge abgelehnt hatte. Sie seufzte unhörbar und begann routinemäßig damit, den inzwischen bewusstlosen Patienten mit sterilen Tüchern abzudecken. Sie arbeitete schnell und umsichtig, denn sie wusste aus Erfahrung, wie Dr. van Doorninck die Tücher gelegt haben wollte. Sie wusste sogar noch mehr über ihn - dass er ruhig, aber eher unzugänglich war, dass er einen beachtlichen Zorn entwickeln konnte, wenn die Gelegenheit es erforderte, und dass er bei aller Freundlichkeit und Rücksicht nie über sich selbst sprach. Von seinem Leben außerhalb des OPs wusste sie kaum etwas. Die Lernschwestern, die er unterrichtete, schmachteten ihn an, und die älteren Schwestern verfolgten ihn mit ernsteren Absichten. Wo er wohnte und was er in seiner Freizeit tat, war allgemein ein Rätsel. Manchmal erfuhr man, dass er nach Holland fahren wollte oder gerade von dort zurückkam. Eins allerdings war unbestrittene Tatsache: Dr. van Doorninck war nicht verheiratet, was vor allem die hübscheren Schwestern dazu bewog, sich in die Rolle seiner Ehefrau hineinzuträumen. Gelegentlich hatte er Deborah gegenüber erwähnt, dass seine Eltern in Holland lebten, ebenso seine Brüder und eine Schwes ter, die ihn schon in London besucht habe. Deborah hätte gern genauere Fragen gestellt, aber sie hielt sich zurück, um sich sein Vertrauen nicht ein für alle Mal zu verscherzen. Sie beendete die Vorbereitungen und sah den Doktor an. „Fertig, Oberschwester?" fragte er. „Ja, Sir", antwortete sie und konzentrierte sich voll auf ihre Arbeit. Skalpell, Zange, Pinzette, Wundhaken ... ein Instrument nach dem anderen reichte sie ihm zu, immer eine Sekunde bevor er die Hand danach ausstreckte. Dabei bewunderte sie seine vollendete Technik und die Sicherheit, mit der er arbeitete. Nicht umsonst hatte er sich unter den orthopädischen Chirurgen eine führende Position geschaffen. Der Patient war ein junger Mann mit einem bösartigen Tumor im Oberschenkel. Seine einzige Chance bestand in der vollständigen Entfernung der Wucherung, die Dr. van Doorninck gründlich vornahm. Abgesehen von einer leisen Bemerkung zu seinem Kollegen oder der gelegentlichen Bitte um ein besonderes Instrument, sagte er nichts. Erst beim Zunähen der Wunde meinte er: „Die Chancen für eine vollständige Heilung stehen gut, Peter. Bitte erinnern Sie mich daran, dass ich den Fall mit Oberschwes ter Prosser bespreche." Er zog die Gummihandschuhe aus, warf sie in eine Schale und verließ den OP. Während Peter den Abtransport des Patienten überwachte, bereitete Deborah alles für die nächste Operation vor. Dabei dachte sie an Oberschwester Prosser, die trotz ihrer rundlichen Figur und ihrer fünfzig Jahre von allen beneidet wurde, weil sie Dr. van Doorninck täglich zu sehen bekam. Er trank sogar häufig seinen Kaffee bei ihr, und es war allgemein bekannt, dass er ihre Meinung über den Zustand seiner Patienten sehr hoch einschätzte. Der nächste Patient war ein Kind, bei dem trotz aller chirurgischen Kunst wenig Aussicht auf
langfristige Heilung bestand, und dann war eine ältere Frau an der Reihe, deren gebrochene Hüfte genagelt werden musste. Es ist wie in einer Zimmermannswerkstatt, dachte Deborah, während sie auf das helle Summen der elektrischen Geräte lauschte, die Bob betreute. Bohren, sägen, hämmern ... Auch nach fünf Jahren war sie noch nicht taub gegen die Geräuschkulisse, die die Arbeit im OP begleitete. Sie hatte sich schon früh für Knochenerkrankungen interessiert und sofort zugegriffen, als man ihr nach dem Abschluss ihrer Ausbildung eine Stelle im OP angeboten hatte. Schon ein Jahr später rückte sie auf den Posten der scheidenden Oberschwester nach, was sie vollends mit ihrem Schicksal aussöhnte. Ans Heiraten dachte sie seitdem nicht mehr. Sie wollte beruflich etwas leis ten, und das gelang ihr so gut, dass alle privaten Dinge in immer weitere Ferne rückten. Deborah war gerade fünfundzwanzig geworden, als Dr. van Doorninck eines schönen Tages in den OP kam und als neuer orthopädischer Chefarzt und Chirurg vorgestellt wurde. Seitdem wollte sie nur noch einen Mann heiraten - Gerard van Doorninck. Schon nach kurzer Zeit begriff sie, wie aussichtslos dieser Wunsch war. Um sich nicht vor sich selbst lächerlich zu machen, ging sie mit den jüngeren Ärzten des Clare's Hospital aus. Sie ließ sich in schnellen Sportautos spazieren fahren, besuchte klassische Konzerte und sah sich Filme und Theaterstücke an, die ihre Begleiter aussuchten, aber alles war umsonst. Am Ende blieb immer nur das Gefühl, ihre eigene Zeit und die der jungen Männer vergeudet zu haben. Dr. van Doornincks Bild lebte weiter in ihrem Herzen und ließ sich nicht mehr daraus vertreiben. Während der letzten Monate war ihr klar geworden, dass es nur eine Möglichkeit gab, sich den Schlingen, in denen der Doktor sie unwissentlich gefangen hielt, zu entziehen. Sie musste das Krankenhaus verlassen und irgendwo anders neu anfangen. Dieser Plan war bereits so weit gediehen, dass sie regelmäßig die Anzeigen in der „Nursing Times" studierte, um möglichst weit entfernt von London eine geeignete Stellung zu finden. Nachdem Dr. van Doorninck die Hüfte der alten Dame wieder kunstgerecht zusammengefügt und mit einer Metallplatte verstärkt hatte, gab es eine kurze Kaffeepause. Das Gespräch drehte sich naturgemäß um die Patienten. Als das Thema wechselte und man auf die Vorzüge von Peters neuem Auto zu sprechen kam, verschwand Deborah, um sich fertig zu machen und im OP aufzuräumen. Der nächste Fall war ein zertrümmerter Ellbogen, den Dr. van Doorninck mit Hilfe von Draht und mehreren Schrauben wie ein Puzzlespiel neu zusammensetzte. Danach wandte er seine Aufmerksamkeit dem letzten Patienten zu - einem jungen Motorradfahrer, der sich bei einem unglücklichen Sturz das Becken gebrochen hatte und erst kurz vor der Operation eingeliefert worden war. Der Fall beschäftigte ihn länger als erwartet, und es war nach zwei Uhr, als er mit einer höflichen Entschuldigung wegen der überzogenen Zeit den OP verließ. Deborah blickte ihm nach. Sie wusste, dass sie ihn vor Donnerstag nicht wieder sehen würde. Er operierte dreimal in der Woche, und heute war Montag. Der Nachmittag verging mit der Reinigung des OPs, und danach zog sich Deborah in ihr Büro zurück, um Schreibarbeiten zu erledigen. Sie zog den grünen Kittel aus und blieb einen Moment vor dem Spiegel stehen. Ihre Stupsnase glänzte ein wenig, und das streng zurückgekämmte Haar hatte sich gelockert. Sie ordnete ihre Frisur, setzte das Musselinhäubchen auf und schminkte sich den großen, ausdrucksvollen Mund. Dann betrachtete sie nachdenklich das Ergebnis. Man hatte ihr unzählige Male versichert, dass sie außergewöhnlich hübsch sei. Einige ihrer glühendsten Verehrer hatten sich sogar dazu hinreißen lassen, sie schön zu nennen. Deborah selbst wäre nie so weit gegangen und fand nur, dass sie sich sehen lassen konnte. Natürlich wusste sie nicht, wie bezaubernd ihr Lächeln wirkte und wie reizend sich ihre Augenwinkel zusammenzogen, wenn sie lachte. Sie ahnte auch nichts von dem warmen Ausdruck ihrer Augen, die fast die Farbe dunkler Stiefmütterchen hatten und von langen, geschwungenen Wimpern überschattet wurden, um die sie alle ihre Kolleginnen beneideten. „Alles so lala", murmelte sie vor sich hin, schnitt ein Gesicht und setzte sich an den Schreibtisch, auf dem nicht gerade Ordnung herrschte. Doch schon nach wenigen Minuten ließ sie alles liegen und nahm die letzte Ausgabe der „Nursing Times" zur Hand. Vielleicht fand sie diesmal ein geeignetes Angebot. Sie fand eins - hunderte von Meilen entfernt in Schottland. In einem kleinen, aber betriebsamen Krankenhaus wurde eine Oberschwester gesucht, die gut organisieren und die jüngeren Schwestern in die Geheimnisse der Orthopädie einweihen konnte. Deborah markierte die Anzeige mit einem Kreuz. Genau das hatte sie gesucht. Wenn sie die Stellung bekam, würde ganz England zwischen ihr und Dr. van Doorninck liegen, aber leider auch zwischen ihr und ihrem Elternhaus in Somerset. Seit sie einem der Stationsärzte seinen alten Wagen abgekauft hatte, fuhr sie einmal im Monat über das lange Wochenende nach Hause, aber von Schottland aus würde das unmöglich sein. Selbst wenn sie bei Tante Mary übernachtete, die in der Nähe des Hadrianswalls in einem kleinen Dorf mit dem verrückten Namen „Twice Brewed" wohnte, würde sie es am nächsten Tag nicht bis Somerset schaffen. Und was würden ihre Kolleginnen sagen, wenn sie im Clare's Hospital kündigte? Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, denn bis zu Dr. van Doornincks Erscheinen war sie immer glücklich und zufrieden gewesen. In gewissem Sinn war sie es auch jetzt noch, weil sie wusste, dass sie dem Doktor mindestens dreimal in der Woche begegnen würde. Deborah runzelte die Stirn. Das alles hörte sich ziemlich unlogisch an, und wenn sie wirklich kündigen wollte, musste sie einen guten Grund dafür finden. Sie griff nach ihrem Kugelschreiber und beugte sieh
wieder über den Dienstplan der Schwestern. Es war nicht leicht, ihre Freizeit einzuteilen, wenn der Betrieb nicht darunter leiden sollte. Auch am nächsten Tag fand Deborah keine Zeit, über die Stellung in Schottland und einen guten Kündigungsgrund nachzudenken, denn am frühen Morgen wurden drei Opfer eines Verkehrsunfalls eingeliefert, und der OP musste vorzeitig für die notwendigen Operationen geöffnet werden. „Haben Sie schon gehört, Oberschwester?" fragte Cynthia neugierig, als Deborah erschien. „Sie sollen in einem furchtbaren Zustand sein. Lottie Jones von der Notaufnahme sagt, sie hätten sich buchstäblich jeden Knochen gebrochen." Deborah legte ihre Instrumente zurecht und überprüfte die elektrischen Geräte. „Dann werden wir hier viele Stunden verbringen", antwortete sie ungerührt. „Wo ist Schwester Patterson?" Die Genannte erschien gerade verschlafen auf der Türschwelle. Sie wünschte Deborah gähnend einen guten Morgen und fuhr fort: „Die Unfallopfer sind doch nicht zu retten, Oberschwester, jedenfalls sagt man das. Wo sind die Kolleginnen von der Nachtschicht? Hätten sie nicht wenigstens mit den Vorbereitungen anfangen können?" „Wir drei sind nicht die Einzigen, die arbeiten", antwortete Deborah. „Die Nachtschwestern haben genug zu tun gehabt, denn der allgemeine OP ist schon seit Mitternacht in Betrieb. Kümmern Sie sich um den Gipsraum, Schwester, und stellen Sie die Schalen bereit." Deborah wollte gerade in den Umkleideraum gehen, um sich fertig zu machen, als Dr. van Doorninck hereinkam. Sie kannte ihn nur im grünen Kittel oder in maßgeschneiderten grauen Anzügen, die er privat bevorzugte. In der weiten Baumwollhose und dem lässigen Pullover wirkte er jünger und umgänglicher, was sich sofort bestätigte, denn er sagte freundlich: „Hallo, Oberschwester. Es tut mir Leid, dass Sie früher zum Dienst kommen mussten, aber ich wollte nicht auf Sie verzichten. Ob man uns Kaffee heraufschicken kann? Ich erzähle Ihnen, was ich vorhabe, während wir ihn trinken." Er blickte sich im OP um. „Ihre beiden Kolleginnen sehen aus, als könnten sie auch eine Tasse vertragen." Das ließ sich Schwester Patterson nicht zweimal sagen. Sie lief zum Haustelefon und bestellte in der Kantine Kaffee für vier Personen. „Für Dr. van Doorninck", fügte sie stolz hinzu. „Er wartet nicht gern." Deborah führte den Doktor in ihr Büro, bot ihm einen Stuhl an, den er ablehnte, und setzte sich an den Schreibtisch. Selbstvergessen nahm sie das Musselinhäubchen ab und begann ihr Haar zu ordnen, das sie in der Eile nur flüchtig hochgesteckt hatte. Sie merkte nicht, wie natürlich und unbefangen sie dabei wirkte, aber dem Doktor entging keine ihrer Bewegungen. Er schwieg so auffällig, dass sie überrascht aufsah und sagte: „Entschuldigen Sie, Sir, ich hatte vorhin nicht genug Zeit, aber ich höre Ihnen zu. Ah, da kommt der Kaffee." „Wir haben drei Fälle", begann Dr. van Doorninck, nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte. „Der erste ist ein junger Mann, fast noch ein Kind, mit gebrochenem Becken, gebrochenen Oberschenkeln und einem zertrümmerten Knie, das ich wahrscheinlich ganz neu einsetzen muss. Die beiden anderen sind etwas gnädiger davongekommen. Oberschenkelhalsbrüche, ein komplizierter Schienbeinbruch und mehrere Rippen ... Wir sollten uns den schwersten Fall zuerst vornehmen und vor den beiden anderen eine Pause machen. Ist Kollege Squires heute für den OP vorgesehen? Ich glaube, er beginnt immer um elf Uhr." Deborah nickte. „Das stimmt, aber er hat heute nicht viel zu tun. Er wird sicher warten, bis wir mit den Notfällen fertig sind. Wann möchten Sie anfangen?" Der Doktor trank seinen Kaffee aus und sah auf die Uhr. „In zehn Minuten. Können Sie das schaffen?" Deborah stand auf. „Wir werden fertig sein. Ich nehme an, Sie brauchen die Smith-Petersen-Nägel und die McLaughlin-Platte. Werden Sie bei dem gebrochenen Schienbein eine Knochenübertragung vornehmen?" „Höchstwahrscheinlich. Legen Sie alles zurecht, dann nehme ich mir, was ich brauche, sobald ich das Ausmaß der Verletzungen übersehe." Sie verließen das Büro und gingen gemeinsam zum Umkleideraum, wo Peter Jackson bereits an einem der Waschbecken stand. Deborah wünschte ihm guten Morgen und ging zum nächsten Becken. Zehn Minuten waren nicht viel, und sie hatte noch einiges zu tun. Die erste Operation dauerte sehr lange, denn es durfte nichts überstürzt werden. Die gebrochenen Knochen mussten freigelegt, gesäubert, neu zusammengefügt und mit Draht und Nägeln befestigt werden. Dr. van Doorninck arbeitete ausdauernd und konzentriert, ohne sich durch irgendetwas ablenken zu lassen. Als der Patient endlich in den Aufwachraum gerollt wurde, verließ er mit Peter den OP. „Zwanzig Minuten Pause?" fragte er im Hinausgehen. „Das soll wohl ein Scherz sein", antwortete Deborah entrüstet und erstarrte, als der Doktor stehen blieb. „Sie haben Recht", räumte er ein. „Eine halbe Stunde. Klingt das besser?" „Ja, Sir", antwortete Deborah beflissen und stürzte sich erneut in die Arbeit. Zum Glück waren inzwischen Schwester Perkins und die beiden Lernschwestern erschienen, die im Aufräumen schon einige Übung hatten, und bei der nächsten Operation wollte Bob wieder die elektrischen Geräte übernehmen. Die letzten zehn Minuten der Pause verbrachte Deborah in ihrem Büro, wo man Tee und Buttertoast für
sie bereitgestellt hatte. Sie aß mit wenig Appetit, aber es war fraglich, wann sie die nächste Mahlzeit bekommen würde. Wie sie vermutet hatte, fiel das Mittagessen aus. Die zweite Operation verlief zwar eher routinemäßig, aber die dritte erforderte wieder Dr. van Doornincks ganze Geschicklichkeit. Der Oberschenkelknochen war so zertrümmert, dass eine Amputation gerechtfertigt erschien, aber der Doktor war entschlossen, dem Patienten das Bein zu erhalten. Er ging so langsam und gründlich vor, dass Deborah Schwester Perkins zu Dr. Squires schickte und ihn bitten ließ, ausnahmsweise auf den allgemeinen OP auszuweichen. Es war fast drei Uhr, als der Doktor sich endlich mit einem tiefen Atemzug aufrichtete, Deborah für ihre Ausdauer dankte und mit Peter den OP verließ. Sie schickte Bob und die Schwestern zu ihrem verspäteten Mittagessen, überwachte den Abtransport des Patienten und ging dann zum Schwesternheim hinüber, um sich in ihrem Zimmer notdürftig zurechtzumachen. Sie hatte keinen Appetit, Es genügte ihr, die Kekse zu essen, die sie für Ausnahmetage wie diesen immer vorrätig hatte. Kurz nach vier Uhr rief man von der Notaufnahme an, um einen weiteren Fall anzumelden - ein Kind mit einem komplizierten Oberarmbruch. Deborah musste die Schwestern gehörig umherscheuchen, aber alles war vorbereitet, als der Patient hereingerollt wurde, gefolgt von Peter und Dr. van Doorninck. „Oh", sagte Deborah freudig überrascht. „Ich wusste nicht, dass es Ihr Fall ist, Sir." „Ich war noch im Haus, Oberschwester", antwortete er gelassen. „Hatten Sie schon Dienstschluss?" „Nein", erklärte Deborah. „Aber heute Abend haben Sie frei?" Sie reichte ihm ein Skalpell und griff nach der Zange für Peter. „Erst ab acht Uhr, Sir." Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, fügte sie hinzu: „Es macht mir wirklich nichts aus." Der Doktor murmelte etwas hinter seinem Mundschutz und schwieg bis zum Ende der Operation, die glatt und problemlos verlief. Trotzdem war es nach sechs Uhr, als der Patient weggerollt wurde. Dummerweise musste Peter noch ein Bein eingipsen. Es war ein ganz normaler Vorgang, aber der kleine Gipsraum sah bald wie ein Schlachtfeld aus, und Deborah, die die Binden in warmem Wasser vorweichte, war mit den Nerven am Ende. Der Tag war anstrengend genug gewesen. Deborah hatte sich nicht geschont, war inzwischen halb verhungert und musste noch die Bücher auf den neusten Stand bringen. Nur gut, dass sie sich jetzt nicht im Spiegel sehen konnte! Sie blickte auf die Uhr. Schwester Perkins und die Lernschwestern konnten in zehn Minuten gehen, aber sie musste noch den Gipsraum sauber machen und sich dann an den Schreibtisch setzen. Sie seufzte leise, und Peter fragte mitfühlend: „Müde, Debbie?" „Müde und hungrig, und wie ich aussehe, will ich gar nicht wissen. Ich habe den ganzen Tag kaum Zeit gehabt, in den Spiegel zu sehen." Deborahs Stimme klang gereizt, aber Peter hörte darüber hinweg. „Sie sind hübsch wie immer, Debbie. Bei Ihnen spielt es wirklich keine Rolle, wenn das Haar etwas unordentlich ist." Deborah lachte und klatschte ihm eine nasse Binde in die ausgestreckte Hand. „Und wenn schon ... es sieht mich ja keiner. Ich werde mich heute Abend richtig satt essen und anschließend ins Bett fallen." „Glückliches Geschöpf. Ich habe noch bis Mitternacht Dienst." Deborah empfand spontan Mitleid. „Nach diesem mörderischen Tag? O Peter, wie schrecklich! Aber trösten Sie sich, Dr. Squires wird Sie morgen kaum beanspruchen. Es stehen nur wenige Routinefälle auf dem Programm. Vielleicht finden Sie sogar einen Vertreter." Peter nickte. „Clare's hat Notdienst, nicht wahr?" „Leider noch bis Donnerstag. Ich drücke Ihnen die Daumen, dass die Nacht ruhig verläuft. Und nun ab mit Ihnen und Ihrem Patienten. Ich will endlich aufräumen."
2. KAPITEL Es wurde still, als die Schwestern und Peter gegangen waren. Deborah nahm ihr Häubchen ab, schlüpfte aus den Schuhen und setzte sich an ihren Schreibtisch. Noch eine halbe Stunde, dann war auch für sie Feierabend. Sie schob die Gedanken an das Abendessen und ein anschließendes heißes Bad beiseite und beugte sich über den Operationsplan. Während sie noch den letzten Patientennamen eintrug, erklangen draußen auf dem Gang Schritte, und kurz darauf stand Dr. van Doorninck auf der Türschwelle. Ausgerechnet jetzt, da sie wie eine Vogelscheuche aussah! Da sie ihre Schuhe nicht gleich finden konnte, stand sie auf, wie sie war, und kam sich dabei noch unmöglicher vor - umso mehr, als der Doktor untadelig aussah, gar nicht so, als hätte er seit dem frühen Morgen ununterbrochen operiert. Er wirkte nicht einmal müde. Sein sympathisches Gesicht mit der geraden Nase und dem festen Mund hatte den entspannten und freundlichen Ausdruck wie immer. „Du meine Güte", platzte Deborah heraus. „Ich habe niemanden erwartet und daher..." Sie schwieg verwirrt, denn der Doktor lächelte besonders nett. „Ich muss fürchterlich aussehen. Haben wir einen neuen Fall, oder brauchen Sie ein bestimmtes Instrument? Einen Augenblick, bitte. Ich muss erst meine Schuhe ..." Dr. van Doorninck lachte unbekümmert. „Sie brauchen keine Schuhe, und ich brauche keine Instrumente." Er kam weiter ins Zimmer und blieb vor Deborah stehen, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Sie erwiderte den Blick und fragte sich, warum sein holländischer Akzent so viel deutlicher als sonst zu hören war. „Was halten Sie davon, mich zu heiraten?" Deborah war so verblüfft, dass sie keine Worte fand. Einen Moment lang gab sie sich der beglückenden Vorstellung hin, der Doktor habe sich in sie verliebt, aber die Anwandlung ging rasch vorüber. Verliebte Männer zeigten zumindest einen Hauch von Gefühl, so peinlich ihnen die Situation auch sein mochte. Dagegen hatte die Frage des Doktors geklungen, als ersuchte er sie um einen zusätzlichen Termin auf seiner nächsten Operationsliste! Schließlich fand sie die Sprache wieder und fragte mit überraschend fester Stimme: „Warum machen Sie mir diesen Vorschlag?" Der Doktor nickte befriedigt, und Deborah bemerkte zum ersten Mal, dass sein aschblondes Haar an den Seiten weiß zu werden begann. „Was für eine vernünftige Frau Sie sind, Oberschwester Culpeper! Jede andere hätte empört gefragt, ob ich mir einen Scherz mit ihr erlaube. Ich habe Ihre ruhige Art bei unserer gemeinsamen Arbeit schätzen gelernt und freue mich doppelt, dass Sie auch außerhalb des OPs gelassen bleiben." Er schwieg einen Moment, und da Deborah keine passende Antwort einfiel, setzte sie sich wieder hin und schob die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu beliebigen Häufchen zusammen. Dass es Zeit und Mühe kosten würde, sie am nächsten Morgen wieder zu sortieren, fiel ihr dabei nicht ein. Der Doktor mochte sie für vernünftig und ruh ig halten, aber unter ihrer dunkelblauen Tracht sah es ganz anders aus. „Ich will meine Frage präzisieren", fuhr er in demselben freundlichen Ton fort. „Ich kehre bald für immer nach Holland zurück. Mein Vater ist kürzlich gestorben, und gewisse Verpflichtungen", er erklärte nicht, um welche es sich handelte, „zwingen mich zur Rückkehr. Natürlich werde ich weiter arbeiten, aber meine Familie ist groß, und ich habe viele Freunde, was Besuche und gesellschaftliche Verpflichtungen mit sich bringt. Ich habe weder Lust noch Zeit, mich um derartige Dinge zu kümmern, und die Führung eines Haushalts ist mir ein Buch mit sieben Siegeln. Ich brauche eine Frau, die das alles für mich wahrnimmt und Freunde und Gäste in meinem Haus empfängt." Er schwieg, aber Deborah sah ihn nicht an. Auf dem Schreibtisch lag eine Operationszange, die repariert werden sollte. Sie nahm sie auf und begann sie unwillkürlich mit dem Einwickeltuch zu putzen, bis der Doktor sie ihr aus der Hand nahm und fortfuhr: „Ich muss Ihnen noch sagen, dass ich bereits verheiratet war. Meine Frau starb vor acht Jahren, und an eine neue tiefere Bindung habe ich nie gedacht. Ich suche keine großen Gefühle, aber die dürften zwischen uns von vornherein ausgeschlossen sein. Wir arbeiten seit zwei Jahren zusammen, und ich glaube Sie inzwischen zu kennen. Ich suche Ihre Freundschaft und Gesellschaft, mehr nicht. Natürlich weiß ich, dass die meisten Frauen aus Liebe heiraten wollen und dann häufig unglücklich werden. Vielleicht genügt auch Ihnen mein Angebot nicht, aber ich bin überzeugt, dass wir ideal zueinander passen. Sie haben Verstand, tadellose Manieren und, so scheint es mir wenigstens, in vielen Dingen den gleichen Geschmack wie ich. Unser gemeinsames Leben würde sich äußerst angenehm gestalten." Der Doktor sah Deborah an. „Sie sind siebenundzwanzig Jahre alt und hübsch genug, um mehr als einen Mann zu einem Heiratsantrag zu bewegen und mit ihm eine Familie zu gründen. Doch das war nicht Ihr Wunsch, oder irre ich mich da?" Deborah schüttelte stumm den Kopf und verscheuchte das flüchtige Bild eines blonden neugeborenen Van Doornincks, das die Fantasie ihr vorgaukelte. Stattdessen fragte sie: „Haben Sie Kinder?" „Nein." Das klang so frostig, dass Deborah die Frage sofort bereute. „Meine beiden Brüder und meine Schwester sind verheiratet und haben Kinder. Das genügt für die Familie." Der Gedanke, dass sich Deborah vielleicht Kinder wünschte, schien ihm nicht zu kommen. Sie ließ eine
Minute verstreichen und fragte dann leise: „Darf ich darüber nachdenken, Doktor? Um ehrlich zu sein, ich habe mir immer vorgestellt, einen Mann zu heiraten, der mich ..." Sie schwieg, denn sie traute ihrer Stimme nicht mehr. „Liebt?" beendete er den Satz in erschreckend nüchternem Ton. „Das tun die meisten Frauen, aber es bringt ihnen oft nichts ein. Gegenseitige Sympathie, Rücksichtnahme und gleiche Interessen sind eine weitaus bessere Grundlage für eine gute Ehe." Deborah sah den Doktor mit ihren großen dunklen Augen an. Sie hatte ihn bisher nicht für zynisch gehalten, aber jetzt sprach er wie ein Zyniker. Entweder war seine erste Ehe unglücklich gewesen, oder er hatte seine Frau so sehr geliebt, dass für andere keine Liebe mehr übrig war. Beide Möglichkeiten befriedigten sie nicht. Trotzdem versuchte sie seinen sachlichen Ton nachzuahmen und fragte: „Dann wünschen Sie sich weder Kinder noch eine richtige Frau?" Der Doktor lächelte. „Wollen wir das nicht lieber später besprechen? Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich schätze und bewundere Sie, aber ich liebe Sie nicht. Gerade deshalb glaube ich, dass wir miteinander glücklich werden können. Wir sind vernünftige erwachsene Menschen ohne falsche romantische Gefühle ..." Wie Unrecht du hast! hätte Deborah am liebsten dazwischengerufen, aber sie fragte nur: „Dann glauben Sie nicht an die Liebe?" Sein Lächeln vertiefte sich, aber es schnitt Deborah ins Herz. „So wenig wie Sie, Deborah. Wenn Sie daran glauben würden, wären Sie längst verheiratet. Sie sind freiwillig allein geblieben." Also das glaubte er - dass ihr die Ehe, ein Heim und Kinder gleichgültig waren! Sie hielt den Blick gesenkt und schwieg. „Ich habe Sie gekränkt", sagte der Doktor, der sie beobachtete. „Das tut mir Leid, aber ich muss Ihnen gegenüber ehrlich sein." Deborah hob den Kopf und sah ihrem Gegenüber direkt in die blauen Augen. „Ich hätte mehrmals heiraten können", gab sie zu. Zum Glück wusste er nicht, dass sie die Anträge seinetwegen zurückgewiesen hatte. „Haben Sie Ihre Frau geliebt?" Deborah merkte sofort, dass sie die Frage unüberlegt gestellt hatte. Der Blick des Doktors wurde kalt, und sein Lächeln wurde so maskenhaft starr, dass es ihr Angst machte. „Wie neugierig Frauen doch sind!" „Nicht alle", versicherte sie gereizt, „und ich schon gar nicht." Das war wieder eine Lüge. „Trotzdem sollten Sie die Frage beantworten. Sie haben selbst gesagt, dass Sie mir gegenüber ehrlich sein wollen." Der Doktor sah sie nachdenklich an. „Damit haben Sie allerdings Recht. Wir werden eines Tages über meine Frau sprechen. Für heute muss es Ihnen genügen, wenn ich sage, dass unsere Ehe ein Fehler war." Sein starrer Gesichtsausdruck verschwand. „Jetzt habe ich Ihnen so viel von mir erzählt, dass Sie meinen Antrag annehmen müssen." Deborah hätte am liebsten gleich Ja gesagt, aber am Ende siegte die Vernunft. Sie musste sich jedenfalls eine Bedenkzeit erbitten. Dagegen hatte der Doktor nichts einzuwenden. „Wir sehen uns am Donnerstag", erklärte er und ging zur Tür. „Jetzt will ich Sie nicht länger stören. Gute Nacht, Deborah." „Gute Nacht, Dr. van Doorninck", erwiderte sie gefasst. Der Doktor blieb noch einmal stehen. „Nennen Sie mich Gerard. Vielleicht können Sie sich dann leichter entscheiden." Deborah ließ den Rest der Schreibarbeit liegen. Sie wartete, bis die Schritte auf dem Gang verklungen waren, und stopfte dann alle Papiere in die oberste Schreibtischschublade. Da konnten sie bis morgen liegen bleiben. Es gab wichtigere Dinge als Dienstpläne, Krankenhauswäsche und Operationszangen, die repariert werden mussten. Deborah setzte ihr Häubchen auf - ziemlich schief, aber das störte sie nicht -, fand endlich ihre Schuhe und ging zum Abendessen hinunter. Einige Kolleginnen waren genauso spät dran. Sie riefen Deborah an ihren Tisch und versuchten sie ins Gespräch zu ziehen, aber das erwies sich als unmöglich. „Was hast du bloß?" fragte Lottie Jones von der Notaufnahme und stieß Deborah freundschaftlich in die Seite. „Ich frage dich jetzt zum dritten Mal, was Dr. van Doorninck mit den drei Unfallopfern gemacht hat, die wir euch geschickt haben. Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?" „Entschuldige", antwortete Deborah, „ich habe nachgedacht." Die Antwort erntete allgemeines Gelächter, was Deborah veranlasste, eine eingehende Schilderung der drei Operationen folgen zu lassen. „Glückliches Mädchen", seufzte eine hübsche dunkelhaarige Kollegin, als sie zu Ende erzählt hatte. „Den ganzen Tag mit ihm zusammen ... Bestimmt hat er dich mit seinem Charme betört, sonst hättest du nicht durchgehalten." „Würde es dir anders ergehen?" fragte Lottie. „Der schmucke Dr. van Doorninck ist leider ein eingefleischter Junggeselle und hält es nur mit Debbie aus, weil sie nicht das geringste Interesse an ihm zeigt. Stimmt das nicht, Debbie?" Deborah errötete selten und konnte es auch jetzt mit äußerster Willensanstrengung verhindern. Sie stimmte scheinbar unbekümmert zu und konzentrierte sich auf den Reispudding, den sie als Nachtisch
gewählt hatte. Sie mochte keinen Reispudding und aß ihn nur, weil er satt machte. Von jetzt an würde sie nie wieder Reispudding essen, auch nicht, wenn Gerard ... Deborah nahm sich zusammen. Ihre Entscheidung war noch nicht gefallen. Es war unsinnig, den Vorschlag auch nur zu erwägen. Andererseits würde sie Gerard bei einer Weigerung nie wieder sehen und entweder allein bleiben oder einen Mann bekommen, den sie nicht liebte. War es da nicht besser, den Doktor zu heiraten, auch wenn er ihre Gefühle nicht erwiderte? Sie würde den Rest ihres Lebens mit ihm zusammen sein, und er brauchte nie zu erfahren, dass sie ihn liebte. Er hatte es bisher auch nicht gemerkt. Warum sollte sich das später ändern? Beim letzten Bissen des verhassten Reispuddings beschloss Deborah, den Doktor zu heiraten. Vielleicht würde sie den Ents chluss eines Tages bereuen, aber dann war sie selbst daran schuld. Deborah atmete auf. Es war eine Wohltat, sich entschieden zu haben, obwohl sie vielleicht gar nicht geschwankt hatte. Schließlich war der überraschende Antrag die Erfüllung all ihrer Träume. Deborah entschuldigte sich mit dem anstrengenden Tag und beginnenden Kopfschmerzen und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Sie hatte sich vorgenommen, alles noch einmal in Ruhe zu überdenken, aber sobald sie im Bett lag, war sie auch schon eingeschlafen. Aufregende und verwirrende Gefühle begleiteten sie in ihre Träume. Am nächsten Tag blieb genug Zeit zum Nachdenken. Wenn keine Notfälle eingeliefert wurden, war Mittwoch meist ein ruhiger Tag im OP. Deborah hielt sich überwiegend in ihrem Büro auf, um Verwaltungsarbeit zu erledigen, und machte nur ab und zu eine Runde, um festzustellen, ob alle Schwestern ihrer Arbeit nachgingen. Um fünf Uhr hatte sie Dienstschluss und verließ die Station insgeheim enttäuscht, dass Dr. van Doorninck nicht aufgetaucht war. Gewiss, er hatte sie auf Donnerstag vertröstet, aber wäre es so verwerflich gewesen, etwas Ungeduld zu zeigen? Nach längerem Grübeln wurde ihr klar, dass das ja gerade der entscheidende Punkt war. Der Doktor spürte keine Ungeduld und konnte sie daher auch nicht zeigen. Sie verbrachte den Abend damit, sich die Haare zu waschen und ihre Fingernägel zu pflegen. Sie wollte den allerbesten Eindruck machen, wenn Gerard morgen um zehn Uhr in den OP kam. Doch er erschien nicht um zehn. Deborah kniete gerade unter dem Operationstisch, um einen Fehler zu beheben, den eine Lernschwester gemeldet hatte, als er leise hereinkam. Erst der Anblick seiner großen, auf Hochglanz polierten Schuhe veranlasste sie aufzustehen, wobei ihr Häubchen verrutschte. Er half ihr ohne die geringste Anstrengung auf die Füße, was sie zu dem ärgerlichen Ausruf veranlasste: „Nicht doch ... ich bin viel zu schwer! Zu schwer und zu groß, wie Sie sicher inzwischen bemerkt haben." „Umso besser passen wir zusammen", antwortete er gleichmü tig. „Sie nehmen meinen Antrag doch an, Deborah?" Deborah rückte ihr Häubchen zurecht und zögerte mit der Antwort. Seine Nähe, die verwirrende Situation ... Er bemerkte ihre Verlegenheit und fragte lächelnd: „Wünschen Sie sich doch ein wenig Romantik? Essen Sie heute Abend mit mir. Dann mache ich alles wieder gut." Deborahs Augen waren genau auf der Höhe seines Kinns. „Ich habe noch nicht gesagt..." „Dann sag es jetzt." Deborah gab sich geschlagen. Es war absurd, im OP einen Heiratsantrag anzunehmen, aber was blieb ihr übrig? „Ja, Dr. van Doorninck", sagte sie mit einem tiefen Atemzug. „Ich werde Sie heiraten/' Der Doktor lachte. „Gerard. Klingt das nicht viel besser? Wirst du es bis sieben Uhr schaffen?" Deborah sah ihm offen in die Augen. „Ich glaube, ja." „Schön. Ich hole dich ab. Wir gehen ins .Empress', wenn es dir recht ist." Soweit sich Deborah erinnerte, war das „Empress" ein Luxusrestaurant. „Das wäre nett." Eine unpassende Antwort, aber das schien den Doktor nicht zu stören. Er nahm ihre Hände, drückte sie leicht und sagte: „Beim -Essen lässt sich alles besser besprechen. Wir wollen von Anfang an ganz offen miteinander sein, meinst du nicht auch?" Das klang wieder so nüchtern und geschäftsmäßig, dass Deborah ihre Entscheidung beinahe bereute. Aber war nicht alles besser, als ihn für immer gehen zu lassen? „Das wäre nett", wiederholte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel, und fügte dann hinzu: „Ich muss mich fertig machen. Wir haben eine lange Operationsliste." Der Vormittag zog sich länger hin, als Deborah erwartet hatte. Vor allem der zweite Fall hielt sie auf, weil bei dem Patienten überraschend ein Herzstillstand eintrat. Dr. van Doorninck ließ sich durch nichts beirren, und Deborah tat alles, um ihm seine Aufgabe zu erleichtern. Als sich der Patient erholte, atmeten alle auf. Die Operation wurde fortgesetzt, und nachdem der Patient weggerollt worden war, gab es eine kurze Kaffeepause. Deborah lud den Doktor, Peter und Bob in ihr Büro ein, wo der Kaffee schon bereitstand. Leider hatte sie vergessen, die Keksdose nachzufüllen, so dass sie im Handumdrehen leer war. Drei erwachsene Männer Teegebäck verschlingen zu sehen, als hätten sie tagelang nichts gegessen, rührte an ihr
Herz. Sie nahm sich vor, in Zukunft für einen Extravorrat zu sorgen. Der restliche Vormittag verlief glatt, obwohl die vorgesehene Zeit auch diesmal nicht ausreichte. Als der letzte Patient den OP endlich verlassen hatte, fragte der Doktor: „Steht etwas für den Nachmittag an, Oberschwester?" „Nicht vor drei Uhr, Sir", antwortete Deborah, „und alle Fälle betreffen Dr. Jackson." „Dann sind Sie frei für unseren gemeinsamen Abend?" „Ja, Sir." Hatte sie das nicht schon gesagt? Was versprach er sich davon, die Frage vor aller Ohren zu wiederholen? Die Luft prickelte förmlich, so neugierig hörten alle zu. Der Doktor schien das nicht zu bemerken. „Oberschwester Culpeper und ich haben uns verlobt", verkündete er gelassen. „Das wollen wir heute Abend feiern." Jetzt war Deborah wirklich wütend. Wie konnte er die Verlobung bekannt geben, ohne sich vorher mit ihr zu besprechen? Warte nur, bis wir allein sind, dachte sie und hatte Mühe, die Glückwünsche, mit denen sie von allen Seiten überschüttet wurde, gefasst entgegenzunehmen. Die Hoffnung, ihrem zukünftigen Ehemann gleich die Meinung sagen zu können, erfüllte sich nicht. Gleich nach der sensationellen Ankündigung verließ er den OP mit so großen Schritten, dass Deborah ihn nur im Laufschritt eingeholt hätte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm mit zornblitzenden Augen nachzusehen und die neugierigen Fragen der anderen Schwestern wohl oder übel zu beantworten.
3. KAPITEL Deborahs Zorn hielt an, bis sie Dienstschluss hatte und die Station verlassen konnte. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Sie wurde angerufen, auf den Gängen festgehalten und beim Tee in der Kantine geradezu belagert. Alle beneideten sie, aber sie freuten sich auch, denn Deborah war im ganzen Krankenhaus beliebt. Die größte Verwunderung rief die Tatsache hervor, dass sie ihr Geheimnis so lange für sich behalten hatte. „Ich hätte das nicht fertig gebracht", gestand die Oberschwester der Frauenstation. „Ein Mann wie Dr. van Doorninck, und dann nichts zu sagen! Er wird ein himmlischer Ehemann sein." Sie verdrehte theatralisch die Augen. „Sich vorzustellen, mit ihm zusammenzuleben ... Ist er sehr reich, Debbie?" „Das weiß ich wirklich nicht." Deborah hatte längst genug, und es fiel ihr immer schwerer, ihren Unmut zu verbergen. Sie war heilfroh, als ihr Dienst endlich vorbei war und sie sich in ihr Zimmer zurückziehen konnte. Trotz ihrer gereizten Stimmung machte sie sorgfältig Garderobe. Sie wählte ein Schürzenkleid aus grüner gerippter Seide, das über einer weißen Batistbluse mit Puffärmeln und Rüschenkragen getragen wurde. Zum Glück waren die späten Augusttage noch warm, denn sie besaß keinen Mantel, der zu diesem verspielten Aufzug passte. Nach einigem Suchen entdeckte sie in ihrem Schrank einen zarten Wollschal, den sie sich locker um die Schultern legte. Wenn Gerard sie so nicht leiden mochte ... bitte! Getragen von ihrer berechtigten Empörung, eilte sie die Treppe hinunter und blieb unvermittelt stehen, denn Gerard erwartete sie an der Eingangstür zum Schwesternheim. Er kam auf sie zu, blieb vor ihr stehen und sagte: „Ich wusste nicht, dass du eine so stattliche Figur hast." Etwas Falscheres hätte er nicht sagen können, denn seine Worte gaben Deborah das Gefühl, eine in ein Korsett eingezwängte Matrone zu sein, wo sie viel lieber eine zierliche, anschmiegsame Elfe gewesen wäre. Sie wich seinem Blick aus und antwortete schroff: „Ich weiß, der Arbeitskittel ist eine gute Verkleidung ..." Weiter kam sie nicht, denn Gerard begann zu lachen. „Entschuldige, Deborah, das war dumm von mir. Siehst du jetzt ein, wie nötig ich eine Frau brauche? Ich habe verlernt, die richtigen Komplimente zu machen. Ich mag dich genauso, wie du bist, und hoffe, dass du mir glaubst. Und nun sag mir, warum du mit so empörtem Gesicht heruntergekommen bist." Deborah war schon halb versöhnt, und außerdem schämte sie sich. „Ich war wütend, weil du heute im OP unsere Verlobung bekannt gegeben hast, ohne mir vorher etwas zu sagen", gab sie ehrlich zu, „Damit hatte ich nicht gerechnet." Gerard zog es vor, sie misszuverstehen. „Und mir war nicht klar, dass du ein Geheimnis daraus machen wolltest", erklärte er mit entwaffnendem Lächeln. „Das ... wollte ich auch nicht." „Warum dann die Empörung?" Auf diese Frage gab es keine vernünftige Antwort. „Oh, ich ..." Deborah gab sich seufzend geschlagen. „Wahrscheinlich war alles noch zu neu." Gerard sah sie forschend an. „Du hast es dir doch nicht anders überlegt?" „Nein ... nein, wirklich nicht." Er lächelte wieder. „Dann lass uns gehen." Sie verließen das Schwesternheim, und Deborah ahnte, wie viele ihrer Kolleginnen sie jetzt durch die Gardinen beobachteten. Sie fühlte sich befangen, wie auf der Bühne, bis sie das Auto sah, das vor dem Heim geparkt war. Sie hatte sich manchmal gefragt, welches Auto am besten zu Gerard passen würde, aber auf ein BMW Sportcoupe wäre sie nie gekommen. „Ist das dein Auto?" fragte sie gespannt. Er nickte. „Ich könnte mehr Platz brauchen, aber sobald ich am Steuer sitze, wünsche ich mir kein anderes, und es ist schnell wie ein Vogel. Natürlich schaffen wir uns einen größeren Wagen an, wenn du möchtest." Deborah machte es sich auf dem tiefen, weichen Ledersitz bequem. „Wo denkst du hin? Der Wagen ist ein Traum." Sie sah ihn von der Seite an. „Dabei hätte ich gewettet, dass du eine schwere Limousine fährst." Gerard lachte. „Wie schmeichelhaft, dass du so gründlich über mich nachgedacht hast! Ich besitze zu Hause noch einen Citroen SM ... sehr geräumig, aber lange nicht so schnell wie dieser. Du bist doch selbst Autofahrerin?" „Ja, aber leider keine sehr gute", gestand Deborah. „Allerdings hatte ich kaum Gelegenheit, um zu üben ..." „Dann müssen wir das schleunigst nachholen. Du brauchst unbedingt ein eigenes Auto." Sie erreichten Piccadilly und bogen in die Berkeley Street ein, in der das Restaurant „Empress" lag. Pompös, aber eindrucksvoll, dachte Deborah, während sie die roten Plüschmöbel und den mächtigen Kristalllüster des Speisesaals bewunderte. Sie wartete, bis sie an ihrem Tisch saßen, und sagte dann mit entwaffnender Naivität: „Das übersteigt alle meine Vorstellungen."
Gerard sah sie lächelnd an, und sie wunderte sich wieder, wie leuchtend blau seine Augen waren. „Der Anlass verlangt einen üppigen Rahmen, meinst du nicht auch?" Deborah antwortete nicht gleich. Ihr war plötzlich bewusst geworden, wie gut Gerard aussah und wie elegant er in der Smo kingjacke wirkte. „Bist du mit mir zufrieden?" fragte er leise. Deborah errötete. „Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht anstarren, aber im OP bekommt man sich nie richtig zu sehen." Gerard nickte. „Man gewinnt einen falschen Eindruck und macht Fehler. Ein solcher Fehler war es, dich stattlich zu nennen. In Wirklichkeit bist du schön." Deborah errötete noch tiefer, und das irritierte ihn. „Zieh bitte keine falschen Schlüsse", sagte er schroffer als sonst. „Ich bin nicht der sentimentale Typ, und wenn ich dich schön nenne, heißt das nicht, dass ich in dich verliebt bin." „Das hast du bereits deutlich zum Ausdruck gebracht", antwortete Deborah betont locker. „Aber wenn du dich nun einmal verlieben solltest? Du bist noch nicht zu alt dafür." „Ich bin siebenunddreißig", erklärte er in dem gleichen, leicht abweisenden Ton. „Nach Saskias Tod hat es andere Frauen für mich gegeben. Ich fand sie anziehend, aber ich mochte sie nicht. Dich mag ich, Deborah." Deborah trank den Aperitif, den er bestellt hatte, und konzentrierte sich auf die Speisekarte. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass seine Worte sie kränkten. Er sprach mit ihr, als würde er sie in eine neue Stellung einweisen, und in gewissem Sinn tat er das ja auch. Ich muss lernen, darüber hinwegzuhören, dachte sie und entschied sich für Kaviar als Vorspeise und Steinbuttfilet „Mogador" als Hauptgericht. Es gelang ihr, im weiteren Verlauf des Gesprächs alle persönlichen Themen zu meiden, und erst bei der Eistorte fragte Gerard: „Du hast doch nichts dagegen, dass wir gleich heiraten? Ich muss nach Holland zurück und bleibe nur noch zehn Tage im Clare's Hospital." „Zehn Tage?" Deborah ließ die Gabel sinken. „Das ist unmöglich. Ich muss mich an die vierwöchige Kündigungsfrist halten." „Keine Sorge, dafür finden wir eine Lösung. Hast du noch andere Einwände?" „Du kennst meine Familie nicht." „Du kommst aus Somerset, nicht wahr? Wir könnten nach der Trauung hinfahren - es sei denn, du möchtest zu Hause heiraten." Es ging alles so schnell. Deborah hatte das Gefühl, von einem reißenden Strom davongetragen zu werden. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht." „Was hältst du davon, wenn wir in London heiraten und anschließend deine Eltern besuchen?" „Möchtest du sie überraschen?" Gerard schüttelte den Kopf. „Ich möchte sie mit dir kennen lernen." Wie bescheiden das klingt, dachte Deborah, aber der Gedanke ist gut. „Dad ist Historiker", erklärte sie. „Er lebt in seiner eigenen Welt, und Mum ... Mum ist eigentlich durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Sie sind bestimmt nicht böse, wenn wir ohne sie heiraten, aber ich wünsche mir eine kirchliche Trauung." Gerard sah sie fast gekränkt an. „Selbstverständlich. Ich bin zwar Calvinist, aber es macht mir nichts aus, anglikanisch getraut zu werden. Möchtest du jemanden einladen?" Deborah schüttelte den Kopf. Es erschien ihr unredlich, andere zu einer Hochzeit einzuladen, die eigentlich keine war. Sie heirateten aus den falschen Gründen, und den einzigen richtigen Grund - ihre Liebe - musste sie verschweigen. Sie trank ihren Kaffee aus und stimmte mit der nötigen Begeisterung zu, als Gerard den Vorschlag machte, noch tanzen zu gehen. Er führte sie ins „Savoy", wo sie fast zwei Stunden tanzten und in den Pausen Champagner tranken. Deborah war eine ausgezeichnete Tänzerin, und Gerard tanzte ebenfalls gut, wenn sein Stil auch etwas altmodisch war. Für einen kurzen, glücklichen Moment vergaß Deborah ihre Sorgen und gab sich ganz dem Zauber des Abends hin. Als Gerard nach Mitternacht vorschlug, irgendwo noch eine Kleinigkeit zu essen, stimmte sie unbedenklich zu. Kurz vor drei Uhr morgens hielten sie wieder vor dem Eingang zum Schwesternhaus. Gerard stieg aus, nahm Deborah den Schlüssel ab und öffnete die Tür. „Danke für den wundervollen Abend", sagte sie und versuchte sich klarzumachen, dass sie diesen großen, schweigsamen Mann in zehn Tagen heiraten sollte. Ein Anflug von Panik verdrängte ihre champagnerselige Stimmung, und sie hätte die unmöglichsten Dinge gesagt, wenn Gerard ihr nicht zuvorgekommen wäre. „Fürchte dich nicht vor der Zukunft", bat er sie. „Das ist nur eine vorübergehende Reaktion. Morgen früh wird dir alles wieder ganz normal erscheinen. Bitte glaub mir das." Er küsste sie auf die Wange, als würde er ein ängstliches Kind trösten. „Geh jetzt schlafen. Wir sehen uns morgen." Deborah widersprach nicht. Sie war zu verwirrt, und außerdem begann ihr der Kopf wehzutun. Mit einem leisen Gutenachtgruß verschwand sie im Haus und ging die Treppe hinauf, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ob Gerard stehen geblieben war und ihr nachsah? Sie zog sich aus, sank todmüde ins Bett und schlief traumlos, bis der Wecker sie aufschreckte. Erstaunt
stellte sie fest, dass Gerard Recht gehabt hatte: Im Licht des neuen Tages erschien ihr alles wieder normal. Sie ging zum Frühstück hinunter, gab ihren Kolleginnen eine getreue Schilderung des vergangenen Abends und machte sich - gestärkt von mehreren Tassen starken Tees -auf den Weg zum OP, wo Dr. Squires sie erwartete. Es standen nur leichte Fälle auf der Liste, und bis ein Uhr mittags war alles erledigt. Deborah gab dem OPTeam dienstfrei und beschloss, den Nachmittag für eine Überprüfung der Instrumente zu nutzen. Einige mussten repariert, andere aus den Vorräten ergänzt werden. Sie wollte sich gerade auf den Weg ins Untergeschoss machen, wo die Werkstätten und Vorratslager untergebracht waren, als Gerard in ihr Büro kam. „Hallo", begrüßte er sie, „störe ich?" „Ich wollte nur in den Keller", antwortete sie und zeigte auf die Instrumente, die sie ausgesondert hatte. „Gleich", sagte er. „Ich halte dich nicht lange auf." Er betrachtete sie forschend, und ihre gelassene Haltung beruhigte ihn. „Ich hatte also Recht, als ich sagte, dass alles wieder in Ordnung sein würde." Deborah nickte, obwohl sie ihm gern widersprochen hätte. Nichts war in Ordnung, und wenn er es noch so hartnäckig behauptete! „Ich habe mich inzwischen um die Heiratserlaubnis gekümmert. Dicht beim Krankenhaus liegt eine hübsche kleine Kirche ... St. Joram's. Sieh sie dir an, und sag mir, ob du dort heiraten möchtest." Deborahs Herz klopfte schneller. Sie hatte sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, in wenigen Tagen eine verheiratete Frau zu sein. Zum Glück verriet ihr Gesicht nichts davon. „Ich kenne St. Joram's gut", antwortete sie, „und würde gern dort getraut werden." „Das freut mich." Gerard nickte zufrieden, als hätte er nicht mit einer so raschen Lösung des Problems gerechnet. „Ich fahre übers Wochenende nach Holland. Wir sehen uns am Montag ... wie üblich um zehn Uhr." Er drückte kurz ihre Hand, verabschiedete sich noch kürzer und ging. Deborah lauschte, bis seine Schritte auf dem Korridor verhallt waren. Dann nahm sie die Instrumente vom Schreibtisch und machte sich auf den Weg ins Untergeschoss. Die ersten Septembertage waren schon so kühl, dass man es bis in die kleine Kirche hinein spürte. Deborah stand an der offenen Tür. In wenigen Minuten würde sie mit Gerard den Mittelgang hinuntergehen und vor dem Altar seine Frau werden. Einen Moment lang wünschte sie, er hätte sie nicht allein gelassen, um das Auto zu parken und abzuschließen. Dann hätte sie keine Zeit zum Nachdenken gehabt, und die Ereignisse der letzten zehn Tage wären nicht noch einmal an ihrem inneren Auge vorbeigezogen. Wie freundlich Miss Bright, die Leiterin des Personalbüros, ihre Kündigung entgegengenommen hatte, ohne an der zu kurzen Frist den geringsten Anstoß zu nehmen. „Für Dr. van Doorninck machen wir gern eine Ausnahme", hatte sie gesagt und augenzwinkernd hinzugefügt: „Für seine zukünftige Frau natürlich auch. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch, Oberschwester Culpeper." Nicht nur Miss Bright hatte ihr gratuliert, sondern jeder, der sie im Krankenhaus kannte. Es war kaum möglich gewesen, den Termin der Trauung zu verschweigen, und sie hatte mehr als einmal zu der Notlüge gegriffen, dass sie nur nach Somerset fahren würden, um Gerard ihren Eltern vorzustellen. Natürlich war viel über Deborahs Brautkleid spekuliert worden. Sie hatte sich die verschiedenen Vorschläge hinsichtlich Material, Farbe und Schnitt schweigend angehört und war in einem unbeobachteten Moment in die Stadt gegangen, um ein zartblaues Jackenkleid und ein zauberhaftes Nichts von Hut zu kaufen. Das Kleid konnte keinen Argwohn erwecken, aber den Hut hatte sie erst im Auto aufgesetzt, denn er hätte alles verraten. Er war die einzige Extravaganz, die sie sich geleistet hatte, sonst wirkte sie würdig und gefasst, und obwohl ihr Herz lebhaft klopfte, sah sie Gerard mit ruhiger Miene entgegen. Er kam mit einem kleinen Strauß aus Rosen, Orangenblüten und dunkelgrünen Blättern. „Für dich", sagte er und reichte ihn ihr. „Du hättest einen größeren Strauß verdient, aber den hätten wir schwerlich vor deinen Kolleginnen verbergen können." Er befestigte den Strauß an ihrem Kleid und trat zurück, um das Ergebnis zu betrachten. „Sehr hübsch", lautete sein Urteil, „und welches Glück wir mit dem Wetter haben. Wir sind fünf Minuten zu früh. Wollen wir noch einen Rundgang durch die Kirche machen?" Sie betrachteten die Gedenktafeln an den Wänden und die in den Fußboden eingelassenen Grabplatten, als wären sie kein Brautpaar, sondern ganz normale Touristen. Erst als sie die Kanzel erreichten, bemerkte Deborah, wie reich der Altarraum mit Blumen geschmückt war. Sie blieb vor einem besonders üppigen Strauß stehen und sagte: „Wie prächtig die Blumen sind, und wie verschwenderisch man damit umgegangen ist. Ich hätte die Ge meinde für ärmer gehalten." Sie drehte sich zu Gerard um und erkannte im selben Moment die Wahrheit. „Natürlich, das ist dein Werk. Du hast die Blumen aufstellen lassen. Wie aufmerksam von dir!" „Es freut mich, dass sie dir gefallen. Die Kirche erschien mir etwas düster, als ich gestern herkam, und die Frau des Pfarrers war gern bereit, meine Wünsche zu erfüllen." „Ich danke dir"; sagte Deborah bewegt und berührte den Strauß an ihrem Kleid. „Auch für diese
Blumen." Inzwischen war der Pfarrer erschienen und erwartete sie am Altar. Einige Schritte von ihm entfernt standen die Zeuginnen: die Frau des Pfarrers und - so vermutete Deborah - ihre Putzfrau, die man um diesen Liebesdienst gebeten hatte. Die Zeremonie war kurz. Deborah lauschte auf jedes Wort und verstand nichts. Selbst als der kühle Goldring über ihren Finger glitt, hatte sie das Gefühl, sich nur zuzusehen. Sie trug ihren Namen in das Register ein, ließ sich von Gerard küssen und reichte dem Pfarrer und den beiden Zeuginnen die Hand. Dann verließ sie an Gerards Seite die Kirche. Er hielt ihre Hand und sprach beruhigend auf sie ein, während sie selbst kein Wort herausbrachte. Dafür bemerkte sie jede Einzelheit seiner äußeren Erscheinung: den grauen Anzug, die goldenen Manschettenknöpfe, die glänzenden Schuhe - wer mochte sie ihm so blank putzen? - und sein ruhiges, unbefangenes Gesicht. Als sie das Portal erreichten, sah er Deborah lächelnd an, und in einer plötzlichen Aufwallung von Liebe und Hoffnung erwiderte sie das Lächeln. Sie war jung und hübsch, einige nannten sie sogar schön. Sie gefiel den Männern. Zwei hatten sie schon heiraten wollen. Warum sollte es so ganz unmöglich sein, dass Gerard sich in sie verliebte? Sie würde jetzt regelmäßig mit ihm zusammen sein, an seinem Leben und seiner Arbeit Anteil nehmen, hübsche Kleider tragen, sich unentbehrlich machen... „Meine liebe Deborah", erklang es an ihrer Seite, „wie geistesabwesend du bist! Hoffentlich hängst du nur glücklichen Gedanken nach." Sie standen inzwischen am Auto, und Gerard hielt ihr die Tür auf. Seine Stimme klang warm, und sein Blick war freundlich. Seltsamerweise ärgerte sich Deborah darüber. „Ich denke noch an die schöne Trauung", antwortete sie abweisend. Gerard nickte und setzte sich hinter das Steuer. „Bei einer schlichten Zeremonie gewinnt jedes Wort an Gewicht, und man hört besser zu. Große Hochzeiten mit viel Publikum sind mir immer wie Theateraufführungen erschienen." Fast hätte Deborah gefragt, ob seine Hochzeit mit Saskia so eine Theateraufführung gewesen war, aber sie spürte, dass sie damit die ihr gesteckten Grenzen überschritten hätte. Stattdessen begann sie eine belanglose Unterhaltung, die anhielt, bis sie die Londoner City durchquert hatten und die Autobahn nach Westen erreichten.
4. KAPITEL Sobald sie freie Fahrt hatten und Gerard richtig Gas geben konnte, verfiel Deborah in Schweigen. Sie betrachtete die vorüberfliegende Landschaft und suchte vergeblich nach einem neuen Thema. Es gab so viel zu sagen, und gleichzeitig erschien jedes Wort überflüssig. Als sie zum dritten Mal eine Bemerkung über das Wetter machen wollte, kam Gerard ihr zuvor. „Wir sollten in Nately Scures eine Mittagspause einlegen. Ich kenne dort einen gemütlichen Pub - das ,Baredown'. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mich scheint Heiraten ausgesprochen hungrig zu machen." Seine natürliche Art half Deborah, sich zu entspannen. „Ich bin auch hungrig", gestand sie, „und es überrascht mich, dass es schon Mittagszeit ist. Zum Tee müssten wir eigentlich zu Hause sein." Während des Essens kam Deborah ein Gedanke, der sie so beunruhigte, dass sie mehr und mehr verstummte. Gerard sagte zunächst nichts dazu. Erst als sie beim Kaffee angelangt waren, brach er das verlegene Schweigen und fragte: „Was bekümmert dich, meine Liebe?" Deborah nahm zwei Stück Zucker und rührte umständlich in ihrer Tasse, denn sie musste sich irgendwie beschäftigen. „Ich wüsste gern, ob ... nein, ich hoffe, dass mein älterer Bruder und seine Frau uns zu Hause erwarten." „Warum ist das so wichtig?" „Nun, ich dachte an die Zimmer. Das Haus ist alt und hat wenig ..." Deborah versuchte es von neuem. „Es gibt Dads und Mums Schlafzimmer und ein großes Gä stezimmer, alle anderen Schlafzimmer sind klein. Wenn Mike und Helen da sind, benutzen sie gewöhnlich das Gästezimmer, was uns die Situation erleichtern würde. Wir hätten dann jeder ein Zimmer für uns, und ich musste mir keine Entschuldigung ausdenken, warum wir nicht zusammen schlafen." Sie warf Gerard einen gespielt gleichgültigen Blick zu, den er ebenso erwiderte. „Du hast wohl noch nicht darüber nachgedacht?" „Doch, das habe ich, und dabei ist mir die gute alte Migräne eingefallen." „Du leidest unter Migräne?" Gerard lachte laut auf. „Beste Deborah! Sollten wir eine Ausrede brauchen, wirst du natürlich die Migräne übernehmen." Deborah schüttelte unwillig den Kopf. „Ich habe noch nie Migräne gehabt und weiß nicht mal, wie man sich dabei fühlt. Es wäre dumm ..." „Beruhige dich", unterbrach Gerard sie. „Die Situation wird sich nicht ergeben, denn wir können deinen Bruder und deine Schwägerin nicht für eine Nacht aus ihrem Zimmer vertreiben." Er lächelte zuversichtlich und wechselte das Thema. „Es ist nett von dir, mich so kurz nach der Trauung nach Holland zu begleiten", sagte er, als sie wieder im Auto saßen. „Ich verspreche dir, dass wir Ferien machen, sobald ich im ,Grotehof alles geregelt habe." „Der Name deines Krankenhauses, ich weiß. Hast du außerdem viele Privatpatienten?" „Ziemlich viele, und es werden im Lauf der Zeit immer mehr werden." Gerard überholte einen Lastwagen. „Ich freue mich darauf, deine Familie kennen zu lernen." Deborah sah wieder aus dem Fenster. „Dad ist ein typischer Gelehrter, der nur für seine Bücher lebt. Auch Mum sieht die Wirklichkeit mit ihren Augen, aber sie ist ein Schatz und findet nie etwas an mir auszusetzen. Über Mike und Helen haben wir schon gesprochen, und dann kommen meine jüngeren Geschwister: der sechzehnjährige Billy, der vierzehnjährige John und die elfjährige Maureen. Unsere Geburtsjahre liegen weit auseinander, aber das hat uns niemals gestört." Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Und deine Familie? Ich weiß nichts über sie und fürchte mich vor der ersten Begegnung." Gerard trat auf die Bremse, lenkte den Wagen auf den linken Grasstreifen und hielt an. „Meine liebe Deborah", sagte er, „du fürchtest dich? Warum, um alles in der Welt? Meine Mutter ist wie jede andere Mutter, wenn auch vielleicht etwas älter. Sie muss ... ja, sie müsste jetzt fast sechzig sein. Meine beiden Brüder, Pieter und Willem, sind jünger als ich, und Lia kommt zwischen uns. Sie ist mit einem Architekten verheiratet und wohnt bei Hilversum. Pieter ist Pathologe in Utrecht, und Willem hat eine Anwaltskanzlei in Den Haag." „Lebt deine Mutter bei dir?" „Nein, sie wollte nach dem Tod meines Vaters nicht in dem alten Haus bleiben. Den genauen Grund dafür habe ich nie erfahren. Sie bewohnt jetzt eine hübsche kleine Etagenwohnung in der Nähe, so dass wir uns regelmäßig sehen können." „Dann lebst du allein?" „Ich habe Wim, der sich um alles kümmert. Bei euch würde man ihn wahrscheinlich einen Butler nennen, aber er ist mehr, fast schon ein Mitglied der Familie. Marijke ist Köchin und Haushälterin, und Mevrouw Smit kommt täglich zum Saubermachen. Leen, unsere alte Kinderfrau, wollte sich nicht von meiner Mutter trennen und ist ihr in die neue Wohnung gefolgt." „Wohnst du in einem großen Haus?" Gerard dachte einen Augenblick nach. „Ich würde es nicht groß nennen, aber es ist alt und hat viele Treppen und verwinkelte Gänge. Ein Paradies zum Wohnen, aber die Hölle zum Saubermachen." Er warf
Deborah rasch einen Blick zu. „Natürlich halten Marijke und Mevrouw Smit alles tadellos in Ordnung. Du wirst genug Zeit haben, dich mit anderen Dingen zu beschäftigen." „Mit anderen Dingen?" wiederholte Deborah misstrauisch. „Ich habe dir schon gesagt, dass ich häufig Gäste empfangen muss. Keine Sorge, ich gebe keine wilden Partys, aber es kommen immer wieder Kollegen zu Besuch, die häufig ihre Frauen mitbringen. Ab und zu gibt es die übliche Dinnerparty, und zwischendurch werden wir ebenfalls eingeladen." „Wie bist du mit all dem allein zurechtgekommen?" Gerard zuckte die Schultern. „Mehr schlecht als recht. Marijke tat ihr Bestes, wenn Gäste kamen, und in wichtigen Fällen übernahm meine Mutter die Rolle der Hausfrau. Vergiss nicht, dass ich die letzten zwei Jahre überwiegend in London gelebt habe und nur zu kurzen Besuchen nach Hause gefahren bin. Das wird sich jetzt ändern. Amsterdam soll wieder mein Zuhause werden, und das bringt gesellschaftliche Verpflichtungen mit sich. Du wirst mir eine unschätzbare Hilfe sein, wenn du diesen Teil unseres gemeinsamen Lebens übernimmst." „Ich werde mir die größte Mühe geben", versprach Deborah und begann zu lachen. „Wenn ich daran denke, dass es bisher meine Aufgabe war, im richtigen Moment die richtigen Instrumente für dich bereitzuhalten ..." Gerard lachte ebenfalls. „Du hast Recht. Einen größeren Unterschied kann es nicht geben, aber wenn du bei deiner neuen Aufgabe genauso erfolgreich bist, verdienst du dir meine ewige Dankbarkeit." Deborah wünschte sich nicht seine Dankbarkeit, sondern seine Liebe, aber der Gedanke schien ihm nicht zu kommen. Allerdings würden Dinnerpartys ihr die Möglichkeit geben, hübsche Kleider zu tragen und sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Vielleicht gelang es ihr, ihn mehr auf sich aufmerksam zu machen. Hinter Salisbury ließ der Verkehr erheblich nach. In Warminster bogen sie nach Frome ab, und von da an übernahm Deborah die Führung. Die Straßen wurden immer schmaler und kurvenreicher und die Dörfer immer kleiner. Nunney, Chantry ... der Zauber der südenglischen Landschaft nahm sie immer mehr gefangen. Deborahs Elternhaus lag eine Meile hinter Chantry - ein für Somerset typisches Landhaus, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft, restauriert und wunderbar gepflegt. Im Schein der Nachmittagssonne entwickelte es seinen ganzen Charme. Fenster und Haustür standen offen, der Garten war ein einziges Farbenmeer und ging unmerklich in offenes Land über. Deborah seufzte glücklich. „Wir sind da, Gerard. Gefällt es dir?" „Es ist bezaubernd", meinte er. „Bezaubernd und ungewöhnlich. Die Fenster auf der rechten Seite ..." Er wies in die entsprechende Richtung. „Ich habe solche Giebel noch nie gesehen." „Dad wird glücklich sein, dass du sie bemerkt hast. Sie sind sehr selten und sein ganzer Stolz. Er wird wahrscheinlich über nichts anderes sprechen und vergessen, dass wir verheiratet sind." Sie hielten vor dem Haus, und Gerard half Deborah beim Aussteigen. „Verstehst du etwas von der Architektur des sechzehnten Jahrhunderts?" „Ein bisschen." Gerard sah sie lächelnd an. „Du siehst reizend aus in dem blauen Kleid. Soll ich jetzt klingeln?" Deborah schüttelte den Kopf und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Von drinnen kam eine ebenso durchdringende Antwort, und dann rief jemand: „Bist du es, Debbie? Ich bin im Wohnzimmer. Komm herein, Darling. Ich kann hier nicht weg." Der Flur war mit Steinplatten ausgelegt und bis auf eine alte Eichentruhe und eine Standuhr unmöbliert. Mehrere Türen gingen davon ab, die alle offen standen. Eine führte ins Wohnzimmer, wo Deborahs Mutter auf dem verblichenen, aber immer noch ausnehmend schönen Teppich kniete, umgeben von einem Haufen loser Schreibmaschinenseiten. „Dein Vater hat sein Manuskript fallen lassen", sagte sie. „Ich muss es wieder in die richtige Reihenfolge bringen." Rita Culpeper war wesentlich kleiner als ihre älteste Tochter, aber sie hatte das gleiche anmutige Gesicht und die gleichen dunkelvioletten Augen. Sie richtete sich halb auf, um Deborah zu umarmen, und fuhr lebhaft fort: „Was für eine nette Überraschung! Hast du Ferien, oder ist dies nur ein kurzer Besuch?" Ein rascher Seitenblick streifte Gerard, den sie erst jetzt zu bemerken schien. „Oh, jemand hat dich hergebracht. Wer ist dieser Mann? Er sieht sehr gut aus." Sie lächelte, und Gerard erwiderte das Lächeln so charmant, dass sie aufstand und ihm die Hand entgegenstreckte. „Mum", sagte Deborah in dem unbekümmerten Ton, den sie sich im Lauf der Jahre angeeignet hatte, „das ist Gerard van Doorninck. Wir haben heute Morgen geheiratet." Mrs. Culpeper blieb bewundernswert ruhig. „Also wirklich!" rief sie. „Was für eine nette Überraschung! Debbie hat schon als Kind ihren eigenen Kopf gehabt. Ich wäre gern bei der Hochzeit dabei gewesen, aber die Gelegenheit ist verpasst. Wir werden hier feiern." Sie sah Gerard auffordernd an. „Da ich jetzt Ihre Schwiegermutter bin, dürfen Sie mich küssen." Gerard kam der Aufforderung formvollendet nach. „Ich hoffe, dass Debbie Sie vor uns gewarnt hat. Mein Mann und ich gehen selten aus. Wir fühlen uns nirgends so wohl wie hier, wo George die Ruhe hat, um ungestört zu arbeiten. Mir selbst fällt immer
eine Beschäftigung ein, und ehe ich mich's versehe, ist der Tag herum. Welchen Beruf üben Sie aus, Gerard?" „Ich bin orthopädischer Chirurg und war während der letzten zwei Jahre im Londoner Clare's Hospital beschäftigt. Deborah war meine Operationsschwester." Mrs. Culpeper nickte, wobei sich ihre Frisur weiter lockerte. „Kein angenehmer Ort, so ein Operationssaal, aber die Liebe macht vor keiner Tür Halt." Sie sah Deborah zerstreut an. „Wie lange wollt ihr bleiben, Darling, und wann, sagst du, habt ihr geheiratet?" „Heute Morgen, Mum, und wir bleiben nur für eine Nacht." „Ihr habt euch doch hoffentlich in der Kirche trauen lassen?" Deborah nickte. „In St. Joram's, ganz dicht beim Krankenhaus. " „Das freut mich." Mrs. Culpeper übergab Gerard geistesabwesend das aufgesammelte Manuskript. „Mike und Helen schlafen im Gästezimmer. Wo soll ich euch nur unterbringen?" „Keine Sorge", sagte Deborah schnell. „Ich schlafe in meinem alten Zimmer, und Gerard bekommt das von Billy. Es würde uns nicht einfallen, Mike und Helen zu vertreiben." Mrs. Culpeper bedachte ihre Tochter mit einem nachdenklichen Blick. „Natürlich nicht, Darling, und ihr habt ja noch das ganze Leben vor euch." Deborah nickte, ohne Gerard anzusehen. „Das Zimmerproblem wäre damit gelöst. Gerard, Lieber, würden Sie das Manuskript in Georges Arbeitszimmer bringen und ihm sagen, dass ihr da seid? Wahrscheinlich müssen Sie es zweimal sagen, ehe er aufmerksam wird. Er hat heute Morgen im Garten einen interessanten Stein gefunden ... ich glaube, man bezeichnet ihn als Hexenstein. Sie haben einen holländischen Namen?" „Ich bin Holländer, Mrs. Culpeper." Zu Deborahs großer Erleichterung ließ sich Gerard durch nichts verwirren. „Ich habe einmal Königin Wilhelmina gesehen", fuhr ihre Mutter vertraulich fort. „In London, während des Krieges. Dein Vater wird hocherfreut sein, Debbie. Würdest du jetzt Teewasser aufsetzen?" „Natürlich, Mum." Deborah hakte sich bei ihrer Mutter ein. „Sollte ich Gerard nicht zu Dad begleiten?" Mrs. Culpeper schüttelte den Kopf. „Dein Mann macht den Eindruck, als könnte er sich sehr gut allein vorstellen. Ich wollte schon vor Stunden Tee trinken. Komm in die Küche, Darling." Gerard hielt immer noch das Manuskript in den Händen, und Deborah sah ihn unsicher an. „Macht es dir auch nichts aus?" „Nicht das Geringste. Ich finde den Vorschlag deiner Mutter sehr vernünftig." Gerard lächelte bei diesen Worten, und Deborah stellte überrascht fest, dass er sich uneingeschränkt wohl fühlte. Zehn Minuten später trafen alle in der Küche zusammen. Deborah machte gerade belegte Brote und lauschte dem Geplauder ihrer Mutter, als die Tür aufging und die beiden Männer hereinkamen. George Culpeper war fast so groß wie Gerard, hatte eine schlanke Figur und ein markantes Gesicht, auf dem der übliche geistesabwesende Ausdruck lag. Sein Kopf war fast kahl, aber Schnurrbart und Kinnbärtchen wuchsen noch üppig nach. Er ging auf Deborah zu, legte ihr den Arm um die Schultern und küsste sie herzlich. „Dein Mann gefällt mir, Debbie. Er besitzt einen klaren Verstand, und ich habe endlich jemanden in der Familie, der etwas von Giebeln versteht." Mr. Culpepers Blick fiel auf den Teller mit den belegten Broten. Er nahm eins, biss herzhaft hinein und fuhr fort: „Mike und Helen kommen erst später zurück. Wir brauchen mit dem Tee nicht auf sie zu warten." Er nahm das Tablett mit dem teuren Spode-Service und trug es ins Wohnzimmer. Das Teetrinken verlief in entspannter Atmosphäre. Gerard beteiligte sich so mühelos am Gespräch, dass Deborah ihn später beim Auspacken fragte: „Du langweilst dich wirklich nicht? Wir alle lieben unsere Eltern, und es stört uns nicht, wenn sie Dinge verges sen oder so sprechen, als wären wir nicht da." Gerard nahm ihre Hand. „Nein, Deborah, ich langweile mich nicht und würde es bei deinen Eltern niemals tun. Sie sind liebenswert und charmant, und man spürt, wie glücklich sie miteinander sind. Ich beneide eine Frau wie deine Mutter, die ihre Tasse hinstellt und in den Garten hinausläuft, weil eine Drossel besonders schön singt. Und dein Vater ... ich glaube, sie sind sich sehr zugetan." „Ja, das sind sie." Deborah spürte Gerards Hände mehr, als ihr lieb war. „Deshalb können sie das Leben auch so positiv und heiter betrachten. Sie haben sich in ihre eigene Welt zurückgezogen, die mit der äußeren nichts zu tun hat. Ich und meine Geschwister sind ganz anders als sie. Wir denken nüchtern und praktisch und haben uns daran gewöhnt, die Eltern zu beschützen." Sie lächelte. „Sogar die kleine Maureen." Gerard beugte sich zu Deborah hinunter und küsste sie zart auf die Wange. „Deshalb bist du auch ein so bezauberndes Ge schöpf. Ob du es glaubst oder nicht, ich hatte vergessen, dass Menschen so zusammenleben können. Vielleicht machen wir anderen etwas falsch. Vielleicht arbeiten wir zu viel. Vielleicht lassen wir uns zu sehr vom Geld verführen, und anstatt zu Hause zu bleiben, reisen wir durch die Welt, ohne eigentlich das Bedürfnis zu haben. Wir tun es, weil alle anderen es tun."
„Du nicht, Gerard. Du bist anders." „Wie nett von dir, das zu sagen! Ich hoffe, dass du Recht hast, aber manchmal bin ich mit meinem Leben doch sehr unzufrieden. Vielleicht ändert sich das jetzt, da ich dich als Gefährtin gefunden habe." Deborahs Herz klopfte schneller, aber sie hütete sich, das zu zeigen. Sie entzog Gerard vorsichtig die Hand und fuhr betont locker fort: „Was an mir liegt, werde ich tun, damit du zufriedener und glücklicher wirst. Dazu muss ich nur wissen, was dir gefällt und was dir nicht gefällt. Du darfst niemals denken, dass ich mich langweile oder das Leben eintönig finde. Es gibt so viel zu entdecken. Herumzubummeln und die Dinge in mich aufzunehmen ist geradezu eine Leidenschaft von mir." Gerard lachte. „Wie beruhigend und friedlich das klingt! Übrigens teile ich diese Leidenschaft, und wenn meine Zeit es zulässt, werde ich dich auf deinen Entdeckungsreisen begleiten. Zum Beispiel in Friesland, wo ich ein kleines Haus besitze und in der Nachbarschaft gute Freunde habe. Es gibt keinen schöneren Ort für mich, um das Wochenende zu verbringen." „Noch ein Haus, Gerard?" Deborah sah ihn bestürzt an. „Ich habe dich nie nach deinen persönlichen Verhältnissen gefragt. Es war nicht genug Zeit dafür, aber jetzt muss ich die Wahrheit wissen. Bist du sehr vermögend?" Gerard unterdrückte ein Lächeln. „In diesem Punkt muss ich mich leider schuldig bekennen, Deborah. Ich besitze viel Geld und weite Ländereien. Hättest du meinen Antrag abgelehnt, wenn du das gewusst hättest?" „Ich weiß nicht, denn ... Nein, ich hätte dich trotzdem geheiratet. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass dein Geld meine Entscheidung nie beeinflusst hätte." Deborah bemerkte den Schatten, der über Gerards Gesicht glitt, und fragte ängstlich: „Habe ich dich verärgert?" Der Ausdruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. „Nein, Deborah, im Gegenteil. Ich bin froh, dass du so denkst. Was hältst du davon, wenn wir meine Sachen in Billys Zimmer bringen und dann einen Spaziergang durch den schönen Garten machen?" Mike und Helen staunten über Deborahs plötzliche Heirat, waren aber nicht wirklich überrascht. Sie hatten längst etwas Ähnliches erwartet und wünschten ihr und Gerard für die Zukunft alles Gute. Es wurde ein fröhlicher, einträchtiger Familienabend. Mr. Culpeper spendierte eine Flasche alten Madeira, um auf das Brautpaar anzustoßen, und als Maureen und ihre Brüder aus dem Internat anriefen, wurde ihnen die erfreuliche Neuigkeit mitgeteilt. Für Deborah war alles wie ein Träum. Ab und zu blickte sie verstohlen auf den Ring, den Gerard ihr im Garten überreicht hatte. Es war ein altmodischer, überaus kostbarer Ring mit einem großen Diamanten, der von vier Händen gehalten wurde. „Es ist der traditionelle Brautring in meiner Familie", hatte Gerard erklärt, während Deborah das Feuer des Steins bewunderte. „Es gibt zwei davon. Diesen hat mir meine Großmutter als ältestem Enkel vermacht." „Und der andere?" fragte Deborah neugierig. „Der andere hat seine eigene Geschichte und wird streng unter Verschluss gehalten. Ein Vorfahre von mir hatte sehr früh geheiratet. Als sein ältester Sohn sich verlobte, lehnte die junge, bildschöne Mutter es rundweg ab, den Ring wieder herzugeben. Aus übergroßer Liebe zu ihr ließ mein Vorfahr einen zweiten Ring anfertigen, der dem ersten bis ins Detail glich." Sie hatten über die Geschichte gelacht, und auch die anderen lachten, als Deborah ihnen den Ring zeigte und seine Geschichte erzählte. Erst später, als alle ins Bett gegangen waren und Deborah allein in ihrem alten Zimmer lag, war ihr nicht mehr nach Lachen zu Mute. Sie vergoss sogar einige Tränen, denn ihr heimlichster Wunsch würde nie in Erfüllung gehen. Sie würde Gerard eine gute Ehefrau sein, aber mit mehr als seiner Sympathie durfte sie nicht rechnen. Und doch werde ich alles daransetzen, dass er mich eines Tages liebt, schwor sie sich, ehe sie mit tränennassen Augen einschlief. Einmal wird er mich lieben, und wenn ich Jahre darauf warten muss. Deborah erwachte früh, denn die Morgensonne schien hell in das offene Fenster. Sie wollte gerade aufstehen, als es leise an der Tür klopfte und Gerard hereinkam. Er war noch unrasiert und trug einen ausnehmend eleganten Morgenmantel. „Ich hatte gehofft, du würdest schon wach sein", sagte er und setzte sich ans Fußende des Betts. „Mir ist heute Nacht ein Gedanke gekommen. Hättest du Lust, deine Geschwister zu besuchen, bevor wir nach Holland fahren? Bis Wells, wo die Jungen zur Schule gehen, sind es nur zwölf Meilen, und von da aus brauchen wir nur einen kleinen Umweg über Sherborne zu machen. Die Fähre legt erst am späten Abend ab. Wenn wir keine unnötig langen Pausen einlegen, müssten wir es spielend schaffen. Was sagst du dazu?" Deborah strahlte über das ganze Gesicht. „O Gerard, wie lieb von dir, daran zu denken! Das wäre eine große Freude für mich, aber haben wir auch genug Zeit?" „Ganz bestimmt." Gerard sah auf die Uhr. „Es ist jetzt halb sieben, vielleicht noch etwas zu früh, um ..." „Mum steht immer um sieben Uhr auf. Ich werde unten Tee machen und ihr dann Bescheid sagen. Wir können frühstücken, wann wir wollen. Wann möchtest du aufbrechen?"
„Um halb neun. Ich werde dich nach unten begleiten und ... nein, noch besser." Gerard stand vom Bett auf. „Ich werde vorgehen und den Kessel aufsetzen." Als Deborah in die Küche kam, kochte das Teewasser, und auf einem Tablett standen Tassen, Milch und Zucker bereit. Das überraschte sie. Sie hatte Gerard eher für unpraktisch und in häuslichen Dingen unbewandert gehalten, aber er bewegte sich in der Küche so sicher und selbstverständlich wie im Operationssaal. Anscheinend gab es Seiten an ihm, von denen sie noch nicht die geringste Ahnung hatte. Sie trug das Tablett hinauf und teilte ihrer Mutter im Flüsterton Gerards Vorschlag mit. Wie sie erwartet hatte, erhob Mrs. Culpeper keine Einwände. Sie fand den Plan großartig, und Deborah ging wieder hinunter, um Gerard die Nachricht zu überbringen. Sie tranken gemeinsam ihren Tee, und weil es ein so schöner Morgen war, nahmen sie die Tassen mit in den Garten hinaus, spazierten zwischen den Beeten auf und ab und blieben zwischendurch stehen, um einen Schluck zu trinken. „Was für eine angenehme Art, den Tag zu beginnen", meinte Gerard, als sie wieder in der Küche waren. Deborah nickte. „Und das Beste daran ist... man braucht nur ein kleines Stück Rasen dazu, ein oder zwei Blumenbeete oder wenigstens eine Terrasse. Hast du einen Hund?" „Ja, aber in letzter Zeit hat er mich kaum zu sehen bekommen. Wim musste meinen Platz einnehmen. Wir haben auch zwei Katzen, die gehören Marijke." „Wie heißt der Hund?" „Smith. Es ist ein Jack Russell. Wenn ich zu Hause bin, weicht er mir nicht von der Seite." „Hoffentlich mag er mich, dann könnte ich immer mit ihm spazieren gehen." „Er wird dich so gern haben wie mich." Gerard nahm Deborah die leere Tasse ab und stellte sie ins Abwaschbecken. „Wir sollten uns jetzt anziehen. Was ist mit dem Frühstück?" „Die anderen werden bald unten sein, aber wir können jederzeit anfangen." Sie brachen pünktlich auf, begleitet von herzlichen Abschiedsgrüßen und der Aufforderung, bald wiederzukommen. Den Kopf voller Ermahnungen ihrer Mutter für die Jungen und Maureen, stieg Deborah in den Wagen und winkte, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Billy und John hörten sich die Ermahnungen geduldig an, hatten aber nur Augen für das BMW Sportcoupe. Wie Deborah erleichtert feststellte, verstand sich Gerard prächtig mit ihnen. Seine ruhige, etwas reservierte Art vermochte sie nicht einzuschüchtern, und er selbst schien aufrichtig Gefallen an ihnen zu finden. Gegen elf Uhr hielten sie vor Maureens Schule in Sherborne. Maureen wurde aus der Klasse gerufen und warf sich Deborah aufjubelnd in die Arme. „O Debbie, wie romantisch!" rief sie. „Erzähl mir von der Hochzeit. Was hattest du an?" Sie unterbrach sich, musterte Gerard mit unschuldiger Koketterie und fuhr fort: „Sie sehen nett aus. Die Mädchen aus meiner Klasse werden staunen, wenn ich ihnen von meinem neuen Schwager erzähle. Darf ich bald nach Holland kommen und euch besuchen? Ein Glück, dass Sie gut aussehen und so groß sind. Jetzt kann Debbie endlich hohe Absätze tragen, wenn sie ausgeht." Maureen wartete keine Antwort ab und wandte sich wieder an ihre Schwester. „Du hast mir noch nicht gesagt, wie dein Kleid aussah." „Ich habe so geheiratet, wie ich vor dir stehe, Schatz. Es war eine sehr stille Hochzeit." Maureen hatte als Einzige die zierliche Figur ihrer Mutter geerbt. Sie war noch zu jung, als dass man sie hübsch nennen konnte, aber ihr kindlicher Charme und ihr Liebreiz mussten jeden für sie einnehmen. „Darf ich mit euch zu Mittag essen?" fragte sie begierig. Gerard nahm Deborah die Antwort ab. „Das geht leider nicht, Maureen", sagte er. „Wir sind auf dem Weg nach Holland, aber wenn du willst, kannst du uns in den nächsten Ferien besuchen. Wir kommen herüber und holen dich ab." Maureen umarmte ihn begeistert. „Wirklich?" fragte sie. „Holt ihr mich wirklich ab?" „Ich verspreche es", erklärte Gerard und küsste sie zum Abschied auf die Wange. „Bis bald, Maureen. Und jetzt sag deiner Schwester Auf Wiedersehen." Er lächelte Deborah über Maureens Kopf hinweg an. „Wir müssen weiter, meine Liebe."
5. KAPITEL Sie erreichten Dover lange vor der Abfahrtszeit der Fähre, denn sie waren zügig gefahren und hatten nur zweimal eine kurze Pause eingelegt. Gerard reihte sich mit dem Auto in die Warteschlange ein und forderte Deborah auf auszusteigen. „Außerhalb der Hafenanlagen befindet sich ein Hotel", sagte er. „Dort können wir in Ruhe zu Abend essen, ehe wir an Bord gehen." Die eigentliche Dinnerzeit war schon vorüber, als sie das Hotel erreichten, aber Gerard überredete den Oberkellner, eine Ausnahme zu machen. Sie bestellten ein einfaches Menü und genossen das Panorama des nächtlichen Hafens, das sie von ihrem Tisch aus gut überblicken konnten. Zu Deborahs Überraschung war an Bord eine Kabine für sie gebucht. Die Überfahrt sollte nur wenige Stunden dauern, und sie war überhaupt nicht müde, aber Gerard lächelte nur, als er ihren Protest hörte. „Leg dich hin, und versuch ein wenig zu schlafen", riet er ihr. „Falls es zu laut ist und du keine Ruhe findest, kannst du lesen. Ich bringe dir einige Zeitschriften. Meine Kabine liegt direkt neben deiner. Wenn dir etwas fehlt, brauchst du nur zu klopfen." Deborah bedankte sich, obwohl sie sich lieber weiter mit Gerard unterhalten hätte. Sie hatten bisher wenig Zeit dafür gehabt, und nach der Ankunft würde ihn sein Beruf wieder voll in Anspruch nehmen. Er hatte bereits mehrere Jahre im „Grotehof" gearbeitet und war jetzt für den Posten eines Chefarztes vorgesehen. Wenn Deborah nicht alles täuschte, würde er kaum noch Zeit für sie haben. Sie legte sich auf die Koje, deckte sich locker zu und schlug die erste Zeitschrift auf. Lange bevor die Fähre ablegte, war sie fest eingeschlafen. Der Steward weckte sie mit einer Tasse Tee und teilte ihr mit, dass sie im Salon der ersten Klasse von Mr. van Doorninck erwartet würde. Wie immer sah Gerard tadellos gepflegt aus, und es freute Deborah, dass sie ihm in nichts nachstand. Ihr Gesicht war dezent zurechtgemacht, ihr Haar saß so ordentlich wie immer, und das blaue Kleid wies nicht die geringste Falte auf, denn sie hatte es während der Überfahrt auf einen Bügel gehängt. Es war noch dunkel, als sie in Oostende anlegten, aber Gerard setzte die Fahrt fort, als würde er sich blind zurechtfinden. Er erklärte, in welche Richtung sie fuhren, nannte die Städte, durch die sie kamen, und machte Deborah rechtzeitig aufmerksam, als sie sich der belgisch-holländischen Grenze näherten. Allmählich wurde es draußen heller. Sie passierten Sluis mit seinen engen, gewundenen Straßen, in denen noch kein Mensch unterwegs war, und nahmen von dort die baumgesäumte Straße nach Breskens. „Es gibt noch einen anderen Weg", meinte Gerard, „über Antwerpen und Breda. Meist herrscht dort sehr viel Verkehr, deshalb ziehe ich diese Strecke vor. Selbst wenn sich die Fähre nach Vlissingen verspätet, spart man Zeit, seit die neuen Brücken bei Rotterdam fertig geworden sind." Vlissingen machte im ersten Morgengrauen wenig Eindruck auf Deborah, aber hinter Goes ging die Sonne auf und tauchte das Land in wärmeres Licht. Es erinnerte sie jetzt mehr an So merset, und sie konnte sich an den Häusern mit ihren steilen roten Dächern und den gepflegten Bauernhöfen nicht satt sehen. Von Rotterdam war außer Hochhäusern, Fabriken und Dockanlagen wenig zu sehen. Gerard schlängelte sich geschickt durch den zunehmenden Verkehr und meinte: „Wir hätten die Maas auch weiter abwärts überqueren können, aber diese Strecke ist interessanter für dich. In Delft werden wir anhalten und frühstücken. ,Reyndorps Prinsenhof müsste schon geöffnet sein." • Deborah erkannte auf den ersten Blick, wie viel hübscher Delft im Vergleich zu den anderen Städten war. Gerard parkte den Wagen auf einer der Hauptstraßen und führte sie in „Reyndorps Prinsenhof", wo ihnen ein reichliches Frühstück serviert wurde. Von ihrem Tisch aus hatte Deborah einen hervorragenden Blick auf die Straße. Viele Menschen fuhren auf ihren Rädern zur Arbeit und mussten sich zwischen Milch- und Brotwagen und Gemüsekarren hindurchwinden. Scharen von Schulkindern drängten sich auf den Gehwegen, andere benutzten Fahrräder oder Mopeds. Die halbe Stadt schien unterwegs zu sein. „Der Tag fängt hier früh an", bemerkte Deborah. „Sieh nur, gegenüber wird bereits ein Geschäft geöffnet!" „Viele Läden öffnen schon um acht Uhr, manche noch früher", antwortete Gerard. „Wir frühstücken früher als in England, und auch das Mittag- und Abendessen wird früher eingenommen." „Und der restliche Abend? Wird er euch nicht zu lang?" Gerard lachte und zwinkerte ihr zu. „Das mag sein, aber jeder Holländer sitzt abends gern zu Hause, liest seine Zeitung und trinkt ein Glas Genever dazu. Er umgibt sich gern mit Frau und Kindern und findet das gar nicht langweilig." Es ist auch nicht langweilig, dachte Deborah und hatte eine flüchtige Vision von sich und Gerard, rechts und links vom Ka min mit einer Schar kleiner Van Doornincks zwischen ihnen. Doch das Bild verschwand so rasch, wie es gekommen war. Es würde keine kleinen Van Doornincks geben. Stattdessen würden sie Gäste haben oder selbst ausgehen und sich dadurch die langen Abende verkürzen.
Bis Amsterdam waren es jetzt noch gut sechzig Meilen, die sie wie im Fluge zurücklegten. Die Stadt tauchte ganz plötzlich aus dem flachen Land auf, und Gerard musste langsamer fahren, weil der Verkehr dichter und die Straßen enger wurden. Sie durchquerten das Zentrum, kreuzten mehrere Hauptstraßen und bogen endlich in eine schmale Villenstraße ein, die an einem Kanal entlangführte. „Wo sind wir jetzt?" fragte Deborah, die am liebsten an jeder Ecke angehalten hätte, um die Schönheiten zu bewundern. „In der Keizersgracht", antwortete Gerard. „Sie läuft ringförmig um die ganze Stadt. Parallel zu ihr verlaufen - einem Spinnennetz gleich - andere Grachten. An allen stehen schöne alte Häuser, die heute meist als Konsulate, Speicher oder Büros genutzt werden." Deborah blickte sich neugierig um. Die Häuser waren breit und hoch, hatten große Fenster und schwere Türen und sahen trotzdem wohnlich aus. Als sie das zu Gerard sagte, atmete er auf und meinte: „Es freut mich, dass dir die Häuser gefallen, denn wir sind da. Dies ist mein ... unser Haus." Er hielt vor einem roten Backsteinhaus, zu dem mehrere Doppelstufen hinaufführten. Die Fenster waren groß und beinahe quadratisch, das Dach lag so hoch, dass Deborah den Kopf weit nach hinten beugen musste, um bis zum Giebel hinaufsehen zu können. Am liebsten wäre sie länger stehen geblieben, aber Gerard nahm ihre Hand und führte sie die Stufen zur Tür hinauf, die im selben Augenblick geöffnet wurde. Das muss Wim sein, dachte Deborah, als sie den kleinen, untersetzten Mann mit dem grauen Haar und den blauen Augen erblickte. Er schüttelte Gerard die Hand und sagte, nachdem er Deborah vorgestellt worden war: „Ich freue mich, Mevrouw. Heute ist ein besonderer Tag. Meine allerherzlichsten Glückwünsche." Sein Englisch klang etwas altmodisch und hatte einen starken Akzent. Deborah bedankte sich, machte ihm ein Kompliment wegen seiner Englischkenntnisse und schloss die Bemerkung an, dass sie hoffentlich bald genauso gut Holländisch sprechen würde. Nach diesem freundlichen Wortwechsel betraten sie den Flur, und Wim schloss hinter ihnen die Tür. Der Flur war schmal und hatte auf der einen Seite zwei tiefe Alkoven, in denen Wandtische mit Spiegeln standen. Dazwischen befand sich eine gewölbte, kunstvoll geschnitzte Doppeltür, und weiter hinten begann eine Treppe. Auf der anderen Seite befanden sich drei weitere Türen und ein offener Durchgang, zu dem mehrere Stufen hinunterführten. Eine große, überschlanke Frau mittleren Alters tauchte im Durchgang auf und kam die Stufen herauf. Sie trug ein altmodisches schwarzes Kleid, eine lange Schürze und hätte streng gewirkt, wenn sie nicht gelächelt hätte. Sie brach sofort in einen holländischen Redeschwall aus, zu dem Deborah nur lächeln und zustimmend nicken konnte. Als endlich eine Pause eintrat, bat sie Gerard: „Bitte sag Marijke, dass ich mich bemühen werde, schnell Holländisch zu lernen, damit wir uns besser unterhalten können." Gerard kam der Bitte nach. Was er sagte, ergab für Deborah nicht den geringsten Sinn, aber sie schien die richtigen Worte gefunden zu haben, denn Marijke strahlte noch mehr, schüttelte ihr kräftig die Hand und sagte etwas, aus dem das Wort „Koffie" deutlich herauszuhören war. Dann zog sie sich zurück, und Wim öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Es war ein sehr hoher Raum mit Stuckdecke und Wandtäfelung, die in Zweidrittelhöhe mit einem Sims abschloss, auf dem Delfter Porzellan stand. Die Sitzmöbel waren gemütlich. Ihre rotbraunen Samtbezüge passten gut zu den dunklen Blau-, Grün-und Goldtönen des großen Aubussonteppichs. Auf den niedrigen Tischen standen Lampen, zierliche Porzellanfiguren, die cremefarbene oder rostrote Schinne trugen. So ansprechend die Einrichtung auch war, die unerwartete Pracht bedrückte Deborah, und das unangenehme Gefühl wuchs, als Wim mit einem antiken silbernen Kaffeeservice hereinkam, das jedem Museum Ehre gemacht hätte. Mit Komfort, ja sogar mit Luxus hatte Deborah gerechnet, aber nicht mit einem Lebensstil, der sich in Jahrhunderten herausgebildet hatte und an den sie sich erst gewöhnen musste. Sie dachte an die Gesellschaften, die sie geben sollte, und spürte ein leichtes Frösteln. Wahrscheinlich würde sie den Gästen nicht gefallen ... „Du fühlst dich sicher noch fremd", sagte Gerard freundlich, „aber hier ist von nun an dein Zuhause. All dies ist in Generationen zusammengetragen und uns vererbt worden, ob es uns nun gefiel oder nicht. Doch ich will ehrlich sein. Ich hänge an jedem einzelnen Stück und hoffe, dass es dir bald ebenso geht." Er stellte seine Tasse hin. „Du bist bestimmt müde. Möchtest du dich etwas hinlegen?" Deborah schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht müde, aber vielleicht könnte ich in mein Zimmer gehen, um auszupacken und mich umzuziehen. Auf dich wartet sicher viel Arbeit." Die kaum verhohlene Erleichterung auf Gerards Gesicht bewies Deborah, dass sie das Richtige gesagt hatte. „Allerdings", gab er unumwunden zu, „aber beim Essen sehen wir uns wieder. Ich habe meine Mutter dazugebeten. Du wirst dich wohler fühlen, wenn du sie kennen gelernt hast." Gerard begleitete Deborah zur Tür und rief nach Marijke. Deborah folgte ihr die Treppe hinauf, und bevor sie den oberen Absatz erreicht hatte, hörte sie Gerard das Haus verlassen. Ihr Zimmer lag an der Rückseite des Hauses, und sobald sie allein war, öffnete sie das Fenster. Unter
ihr befand sich ein kleiner Garten, mit einem Springbrunnen in der Mitte, um den sich mehrere Blumenbeete gruppierten. Daran schloss sich ein schmaler Rasenstreifen an, und über allem wölbte sich eine Blutbuche, deren Blätter leise im Wind rauschten. Deborah kehrte dem idyllischen Bild den Rücken und betrachtete das Zimmer. Es war groß und luftig und im Chippendalestil eingerichtet. Bestimmt ist jedes Stück echt, dachte sie und ließ die Finger liebevoll über den Frisiertisch gleiten. Es gab einen Schrank, eine Kommode und ein breites Bett mit einer zartrosa Decke, die aus dem gleichen Material gearbeitet war wie die Gardinen. Der helle Teppich war weich und dick, ein kleiner Sessel und die Schirme der Nachttischlampen waren mit rosa gestreifter Seide bezogen. Deborah seufzte erleichtert. In diesem freundlichen, beinahe verspielt wirkenden Zimmer würde sie sich wohl fühlen. Neben dem Schrank und der Kommode befand sich je eine Tür. Die eine führte in das angrenzende Badezimmer, die andere auf einen kurzen Nebenkorridor, an dem noch ein Zimmer lag. Deborah sah kurz hinein und erkannte an dem Gepäck, dass es von Gerard bewohnt wurde. Es war kleiner als ihr eigenes und strenger, aber nicht weniger kostbar eingerichtet. Auch hier führte eine zweite Tür auf den Hauptkorridor, und in einem tiefen Alkoven befand sich das eingebaute Badezimmer. Deborah nahm ein ausgiebiges Bad, zog ein schlichtes aprikosenfarbenes Jerseykleid an und setzte sich an den Frisiertisch, um sich sorgfältig zurechtzumachen. Zum Schluss steckte sie den Diamantring wieder an, warf einen letzten Blick in den zierlichen goldgerahmten Spiegel und verließ das Zimmer. Von unten klangen Stimmen und leises Lachen herauf, also war Mevrouw van Doorninck inzwischen eingetroffen. Deborah ging mutig weiter und hatte fast den Fuß der Treppe erreicht, als Gerard aus dem Wohnzimmer kam. „Mir war so, als hätte ich dich gehört", sagte er lächelnd und stieß einen leisen Pfiff aus. Ein kleiner Hund drängte sich an ihm vorbei und lief auf Deborah zu. „Das ist Smith. Ich habe ihn eben vom Tierarzt geholt." Deborah setzte sich auf die unterste Stufe und streckte eine Hand aus. „Hallo, Smith", sagte sie. „Ich hoffe, wir werden Freunde." Smith musterte sie mit seinen dunklen Augen und begann mit dem Schwanz zu wedeln. Deborah streichelte ihn behutsam, und als sie aufstand, folgte er ihr bis zur Wohnzimmertür, wo Gerard sie erwartete. Mevrouw van Doorninck saß in einem Sessel am Fenster und entsprach keineswegs Deborahs Erwartungen. Sie war klein, fast so klein wie ihre eigene Mutter, und hatte sanfte braune Augen. Ihre Nase war klein und gebogen, aber der weiche Mund glich das wieder aus. Als Deborah sie erreichte, stand sie auf und sagte in fehlerlosem Englisch: „Deborah, meine Liebe, willkommen in der Familie. Sie ahnen nicht, wie glücklich es mich macht, dass Gerard wieder verheiratet ist, noch dazu mit einer so hübschen Frau. Er hat Sie gut beschrieben, aber ich konnte es nicht erwarten, Sie persönlich kennen zu lernen. Gerard, mein Guter, rück einen Stuhl heran, damit Deborah sich zu mir setzen kann. Ich möchte mich mit ihr unterhalten. Und dann bring uns etwas zu trinken." Als Deborah sich hingesetzt hatte und Gerard zur Anrichte ging, um die Getränke zu holen, fuhr sie fort: „Sie dürfen nicht denken, dass ich Gerard herumkommandiere, aber manchmal tun wir so, als richtete er sich noch nach meinen Wünschen ... ein Spiel, das uns beiden Spaß macht. Und nun sagen Sie mir, wie Ihnen das Haus gefällt." „Ich habe noch nicht viel davon gesehen", gestand Deborah. „Gerard hatte zu tun, und ich ... Was ich gesehen habe, gefällt mir aber ausnehmend gut." Mevrouw van Doorninck nickte befriedigt. „Ich wusste, dass es Ihnen gefallen würde, und mit der Zeit werden Sie es lieb gewinnen. Ich liebe es immer noch, aber ohne meinen Mann ist es nicht mehr dasselbe Haus. Außerdem wollte ich nicht bleiben, nachdem Gerard mir von Ihnen erzählt hatte." Sie lächelte wehmütig. „Eine Ahnung war mir schon vorher gekommen. Damals hatte Gerard noch die große Etagenwohnung. Er verabscheute sie, obwohl er sich niemals beklagte ..." Sie verstummte, denn Gerard brachte die Getränke. „Champagner", erklärte er. „Wie es sich für einen solchen Anlass gehört." Sie aßen mit Muße, aber gleich nach dem Kaffee entschuldigte sich Gerard, um im Krankenhaus und in seiner Privatpraxis nach dem Rechten zu sehen. „Meine Mutter wird dir liebend gern das Haus zeigen", tröstete er Deborah, bevor er ging. „Und warte nicht mit dem Tee auf mich. Vor sechs Uhr werde ich nicht zurück sein." Deborah nahm das schweigend hin. Etwas anderes wurde nicht von ihr erwartet, und je schneller sie es lernte, umso besser. Sie würde Gerard jetzt täglich zur Tür bringen, ihm nachsehen und sich fragen, wohin er ging, was er vorhatte und mit wem er sich traf. Es war eine Qual, sich das auszumalen. Sie rang sich ein Lächeln ab und kehrte zu ihrer Schwiegermutter zurück und erklärte sich bereit, das Haus kennen zu lernen. Gerard hatte mit Recht von vielen Treppen und verwinkelten Gängen gesprochen. Einige Zimmer waren sehr klein, aber immer geschmackvoll eingerichtet. Deborah folgte Mevrouw van Doorninck
treppauf und treppab, von einem Raum zum nächsten und blieb immer wieder stehen, um ein Familienporträt, eine niederländische Landschaft, einen Spiegel oder altes Silber und Porzellan zu bewundern. „Es kommt mir vor, als hätte ich Sie von hier vertrieben", bekannte sie am Ende des Rundgangs. „Wie konnten Sie es über sich bringen, dieses Paradies zu verlassen?" „Es ist mir sehr schwer gefallen", gestand Gerards Mutter, „aber ich habe einige Möbel und alle persönlichen Dinge mitgenommen. Ich wünschte mir so sehr, dass Gerard wieder heiraten würde, und wenn ich hier geblieben wäre, hätte er es vielleicht nie getan. Er hat oft von Ihnen gesprochen, wenn er von London herüberkam. Er schilderte Sie als ruhig, vernünftig, tüchtig und sehr charmant, und ich hatte nur noch den Wunsch, dass er Ihnen einen Antrag machen würde." Mevrouw van Doorninck legte eine Hand auf Deborahs Arm. „Wie Sie sehen, ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Sie müssen mich bald in meiner neuen Wohnung besuchen - möglichst schon morgen, wenn Gerard Zeit dazu findet. Einige Tage später gebe ich dann eine kleine Dinnerparty, damit Sie die Familie begrüßen können. Anfangs wird Ihnen alles etwas fremd sein, aber das gibt sich schnell. Gerard wird dafür sorgen, dass Sie Holländisch lernen. Er wird Ihnen Amsterdam zeigen, Sie seinen Freunden vorstellen ... Glauben Sie mir, mein Kind. Sie werden sich hier sehr bald zu Hause fühlen." Mevrouw van Doorninck behielt Recht. Mit jedem Tag wuchs Deborah mehr in die neue Umgebung hinein. Sie zeigte den Menschen ein freundliches Gesicht, war zu jedem gleich liebenswürdig und bewies mit ihrem Lächeln, dass sie ihr neues Leben akzeptiert hatte. Gerards Mutter hielt Wort und arrangierte eine Dinnerparty, bei der Deborah Gerards Geschwister kennen lernte. Sie waren erheblich jünger als er und gewannen sofort ihr Herz. Auch die folgende Generation war vertreten. Lia hatte zwei Söhne, Pieter und Willem hatten dagegen je einen Sohn und eine Tochter. Alle besaßen blondes Haar und blaue Augen und nahmen Deborah so begeistert in der Familie auf wie ihre Eltern. Da Gerard nichts wegen ihres Sprachunterrichts unternahm, fragte sie Wim um Rat und suchte einen alten Professor auf, der sich schon vor Jahren von seinem Lehrstuhl in Leiden zurückgezogen hatte. Er erklärte sich bereit, ihr Unterricht zu geben, und sie setzte ihren ganzen Eifer daran, obwohl sie anfangs große Schwierigkeiten hatte. Die unmögliche Aussprache, die fremde Grammatik, die ungewohnte Stellung der Verben am Satzende ... Es war zum Verzweifeln, aber Professor de Wit ließ nicht locker, bis sie die ersten richtigen Sätze bilden und die Worte perfekt aussprechen konnte. Deborah staunte, wie rasch es danach aufwärts ging. Sie musste nur genug üben, und Zeit dazu hatte sie ja leider Gottes. Nach und nach lernte sie auch Gerards Freunde kennen. Sie gefielen ihr alle, bis auf einen: Claude van Trapp. Er war jünger als Gerard und galt seit seiner Kindheit als Familienfreund. Er sah gut aus, war intelligent und witzig, und doch misstraute Deborah ihm. Sie fand seinen Charme falsch, sein Lächeln anzüglich und seinen Witz zu gehässig. Es wunderte sie immer wieder, dass Gerard ihn im Haus duldete und sich sogar über ihn zu amüsieren schien. Als sie ihn bei einer günstigen Gelegenheit nach dem Grund fragte, erhielt sie die kurz angebundene Antwort: „Vielleicht hat er eine etwas zu scharfe Zunge, aber wir kennen uns nun mal von der Wiege an." Deborah verfolgte das Thema nicht weiter, denn Gerard duldete Claudes Kommen und Gehen ohne jede Einschränkung. Vermutlich sah er immer noch den einstigen Jugendfreund in ihm und war auf Grund seines eigenen noblen Charakters unfähig, an seinen Freunden schlechte Seiten zu entdecken. • Deborah schwieg dazu und gewöhnte sich an, unter einem Vorsatz zu verschwinden, wenn Claude zu Besuch kam. Das war nicht weiter schwierig, denn sie nahm ihre häuslichen Pflichten ernst, und es gab immer etwas für sie zu tun. Wenn ein Zusammensein unvermeidlich war, blieb sie besonders höflich. Sie missverstand Claudes Anspielungen absichtlich, wich jedem schärferen Wortwechsel aus und ignorierte seine Verachtung wegen ihrer scheinbaren Begriffsstutzigkeit ebenso wie seine bewundernden oder anzüglichen Blicke.
6. KAPITEL Knapp drei Wochen nach Deborahs Ankunft in Amsterdam erschien Claude zu einem überraschenden Besuch. Deborah war mit Smith in den Garten gegangen. Sie saß unter der Buche und lernte die Lektion, die Professor de Wit ihr aufgegeben hatte. Es war ein schöner Nachmittag, und die Wärme machte Deborah etwas schläfrig. Sie hatte am vergangenen Abend ihre erste Dinnerparty gegeben, und die ausgestandene Aufregung wirkte noch nach. Zum Glück war das Fest ein Erfolg gewesen, und Gerards anschließendes Lob hatte sie überglücklich gemacht. Auch ihr neues zartgrünes Seidenkleid hatte ihm gefallen. Sie hatte es extra für die Party gekauft und Mevrouw van Doornincks schwere Goldkette - ein nachträgliches Hochzeitsgeschenk - und natürlich den Diamantring dazu getragen. Während sie anschließend im Wohnzimmer aufräumte, lehnte Gerard an der Wand und sah ihr zu. Deborah hatte sich inzwischen an die kostbare Einrichtung gewöhnt und liebte das Zimmer wegen seiner gemütlichen Atmosphäre. Sie schüttelte die Kissen auf, rückte die Sessel zurecht und schob die Tische an ihren Platz. „So", meinte sie zufrieden, als sie eine kostbare Delfter Vase wieder auf dem Wandbord in Sicherheit gebracht hatte, „jetzt sieht alles wieder so aus wie immer. Es muss für deine Freunde ein Erlebnis sein, hierher zu kommen." „Schon möglich." Gerard kam lächelnd auf sie zu. „Es war ein amüsanter und erfolgreicher Abend, Deborah, und du warst eine wunderbare Gastgeberin." Ein flüchtiger KUSS streifte ihre Lippen. „Ich danke dir, meine Liebe." Deborahs Herz begann schneller zu klopfen. Würde Gerard noch mehr sagen? Würde er sagen, dass sie überaus anziehend sei und er sich Hals über Kopf in sie verliebt habe? Doch sein nüchternes: „Was für eine kluge Wahl ich getroffen habe", stürzte sie aus allen Himmeln. „Es freut mich, dass ich deine Erwartungen erfüllt habe", antwortete sie steif. „Gute Nacht, Gerard." Oben in ihrem Zimmer lag sie bis in die frühen Morgenstunden wach. Erst drei Wochen, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Das ganze Leben lag noch vor ihr - ein Leben, in dem sie Gastgeberin spielen, Gerards Haus führen und an seiner Arbeit teilnehmen musste, ohne mit mehr als freundlicher Anerkennung belohnt zu werden. Deborah wusste noch nicht einmal, wo der „Grotehof" und Gerards Privatpraxis lagen. Er wahrte strengen Abstand zwischen ihnen, obwohl er gleichzeitig zuvorkommend und überaus großzügig war. Er hatte ihr ein eigenes Bankkonto und Guthaben in mehreren Kaufhäusern und Boutiquen eingerichtet. Er hatte ihr einen kleinen Wagen geschenkt, und als sie beim Spazierengehen eine Handtasche aus Krokodilleder bewundert hatte, war er spontan in das Geschäft gegangen und hatte sie gekauft. Und er hatte das Versprechen erneuert, Maureen in den Ferien nach Amsterdam zu holen. In der nächsten Woche würde es so weit sein. Ja, Gerard war großzügig, und Deborah revanchierte sich, so gut sie konnte. Sie frühstückte morgens mit ihm, obwohl er nur seine Post las. Sie legte alles Notwendige für die Sekretärin zurecht, die jeden Vormittag ins Haus kam, und sie erwartete ihn, wenn er abends zurückkam entweder im Wohnzimmer oder im Garten. Ob das alles seinen Erwartungen entsprach, war schwer zu sagen, denn er blieb immer gleich höflich zu ihr. Sie hätte ihn fragen können, aber dafür fühlte sie sich an seiner Seite noch zu fremd. In einigen Wochen, wenn sie ihn besser kannte ... Deborah konzentrierte sich wieder auf die holländische Grammatik und spielte dabei mit Smith's Ohr. Wim würde den Tee erst in einer Stunde bringen, und Gerard wollte erst am späten Nachmittag zurückkommen. Seufzend schlug sie die nächste Seite auf und vertiefte sich in die Konjugation des Verbs „sein". Claudes Erscheinen störte sie in ihrer Konzentration, aber sie bemühte sich, höflich zu bleiben. „Hallo, Claude", begrüßte sie ihn. „Ich habe Sie nicht klingeln hören." „Ich wollte Wim nicht bemühen und habe die Gartentür benutzt", antwortete er. „Was für ein schöner Nachmittag, viel zu schön, um allein zu sein. Da kam mir der Gedanke, mich zum Tee einzuladen." „Warum auch nicht?" Deborah schlug das Buch zu und war unangenehm berührt, als Claude es ihr aus der Hand nahm und sich neben sie auf die Bank setzte. „Was sehe ich? Eine holländis che Grammatik ... Sie geben sich wirklich Mühe! Weiß Gerard davon, oder stammt die Idee sogar von ihm?" „Ich nehme Stunden", antwortete sie ausweichend. „Bei einem netten alten Professor. Holländisch ist schwer, aber ich habe inzwischen einen kleinen Wortschatz und kann schon richtige Sätze bilden." „Zum Beispiel ,Ich liebe dich' oder besser ,Liebst du mich?'" Claude hatte ihr Gesicht beobachtet und fuhr schnell fort: „Oh, ich habe Sie verletzt und bitte um Verzeihung. Aber der Gedanke, Gerard könnte jemanden lieben, ist einfach zu komisch." Deborah drehte sich zu Claude um und versuchte ihren aufsteigenden Ärger zu unterdrücken. „Ich
weiß, dass Sie ein alter Freund von Gerard sind, aber deswegen werde ich nicht mit Ihnen über ihn sprechen. Hoffentlich verstehen Sie das." „Natürlich", antwortete Claude betont locker. „Ich muss sagen, ich bewundere Sie, Debbie. Ihre Lage ist wirklich nicht beneidenswert." „Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich Deborah nennen", sagte sie abweisend, aber dann siegte doch die Neugierde. „Welche Lage meinen Sie?" Claude lächelte spöttisch. „Nun, mit Gerard verheiratet zu sein. Jeder weiß, welches Desaster seine erste Ehe war. Kein Wunder, dass die arme Saskia starb." Das genügte Deborah. Wenn Claude sie ärgern wollte, hatte er seinen Zweck erreicht. Sie sprang auf und konnte sich kaum zurückhalten, Claude in sein hämisch lächelndes Gesicht zu schlagen. „Man hat mir gesagt, Sie wären Gerards Freund", sagte sie mit vor Empörung zitternder Stimme, „aber Sie benehmen sich nicht wie ein Freund. Ich weiß nicht, wovon Sie reden, und will es auch nicht wissen. Bitte gehen Sie ... jetzt gleich!" Claude rührte sich nicht und sah weiter lächelnd zu ihr auf. „Wenn ich Sie besser kennen würde, könnte ich Ihnen einige interessante Fragen stellen, obwohl Sie sie wahrscheinlich nicht beantworten würden. Was für ein garstiges Temperament Sie haben, Debbie. Weiß Gerard das?" „Weiß Gerard was?" fragte jemand von der offenen Tür her. Deborah zuckte beim Klang von Gerards Stimme zusammen, aber Claude war weniger schreckhaft. „Hallo, alter Freund", sagte er. „Schon so früh zurück? Na ja, wenn man frisch verheiratet ist..." Plötzlich war es Deborah gleichgültig, ob Claude als alter Hausfreund galt oder nicht. „Ich habe Claude gerade gebeten, das Haus zu verlassen", erklärte sie hitzig. „Da du jetzt hier bist, sollte er dir den Grund dafür sagen." „Nicht nötig, meine Liebe. Ich muss zugeben, dass ich gelauscht habe. Eure Unterhaltung war zu interessant, als dass ich mir auch nur ein Wort entgehen lassen wollte." Gerard kam langsam näher. „Steh auf", sagte er zu Claude. Seine Stimme war fast nicht wieder zu erkennen, so kalt und verächtlich klang sie. „Es ist merkwürdig, wie blind man seinen Freunden gegenüber sein kann, aber vielleicht sollte ich das Wort .Freund' lieber vermeiden. Deborah hat Recht, wenn sie dich aus dem Haus weist. Geh jetzt, und komm nie mehr zurück." Claude war langsam aufgestanden. „Das muss ein Scherz sein..." „Nein." „Nur weil ich Debbie ..." Claude warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Verzeihung, weil ich Deborah von Saskia erzählen wollte? Sei nicht albern, Gerard. Wenn ich es ihr nicht sage, tut es jemand anders." „Schon möglich, aber dann erfährt sie wenigstens die Wahrheit. Was wolltest du ihr1 denn erzählen, Claude? Das würde mich direkt interessieren." „Nicht mehr als ..." Deborah hielt es nicht mehr aus. „Ich gehe in mein Zimmer", erklärte sie. Gerard hielt sie am Arm zurück, ohne Claude dabei aus den Augen zu lassen. „Geh", wiederholte er gefährlich leise. „Geh, ehe ich vergesse, dass du einmal mein Freund warst. Solltest du jemals wagen, wiederzukommen und meine Frau zu kränken, schlage ich dich krankenhausreif." Deborah sah Claude nach, ohne auf seinen höhnischen Abschiedsgruß zu reagieren. Auch Gerard wagte sie nicht anzusehen. Erst als die Haustür endgültig hinter Claude van Trapp ins Schloss gefallen war, befreite sie ihren Arm und sagte: „Wenn du mich bitte entschuldigst ... Ich habe Kopfschmerzen und werde Wim bitten, dir Tee zu bringen." „Warte, Deborah." Gerard fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. „Ich bedauere das alles sehr. Ich hatte keine Ahnung, dass Claude ... Danke, dass du in dieser schwierigen Situation zu mir gehalten hast. Du bist böse auf mich, und mit Recht. Ich hätte dir die ganze traurige Geschichte vor unserer Hochzeit erzählen müssen, aber ich wollte sie vergessen. Der Ge danke, alles noch einmal zu durchleben ..." „Du musst keine Beichte ablegen, Gerard", erklärte Deborah bitter. „Was würde sich dadurch ändern? Wir sind ja nicht... sind kein..." „Verliebtes Paar?" kam er ihr zu Hilfe. „Nein, aber wir sind Freunde ... gute Kameraden, wenn du so willst. Wir führen ein gemeinsames Leben, und wenn wir uns auch nicht lieben, sollten wir doch aufrichtig zueinander sein." Gerard hatte Deborah dichter an sich gezogen, und seine Nähe war trotz allem tröstlich. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sagte leise: „Also gut. Ich höre dir zu." „Ich heiratete Saskia mit achtundzwanzig Jahren. Sie war neunzehn, sehr jung, sehr hübsch und sehr fröhlich. Ich qualifizierte mich gerade für meine erste Stellung, denn ich liebte - und liebe - meinen Beruf und wollte vorwärts kommen. Ich arbeitete Nacht für Nacht, während Saskia ausgehen, tanzen und ihr Leben genießen wollte. Sie verstand nicht, dass ich so wenig Zeit für sie hatte, und ich verstand nicht, warum sie nicht etwas mehr Geduld aufbrachte, bis ich die erste Sprosse der Karriereleiter erklommen hatte." Gerard seufzte. „Wir wohnten in einer modernen Etagenwohnung in Amsterdam, aber es war ein Fehler, anzunehmen, dass es ihr genügen würde, uns den Haushalt zu führen und sich später um die
Kinder zu kümmern." Nach einer Pause fügte er bitter hinzu: „Sie wollte gar keine Kinder, und meine Arbeit interessierte sie auch nicht. Nach etwa einem Jahr begegnete sie einem anderen Mann, was ich Gott vergebe mir - erst bemerkte, als sie gemeinsam mit dem Flugzeug abstürzten." „Wie traurig", sagte Deborah, „aber ich bin froh, dass du es mir erzählt hast." Sie richtete sich auf. „Ich hätte Claude am liebsten geohrfeigt. Hätte ich es doch nur getan!" Gerard strich ihr lächelnd über die Wange. „Welch unerwartetes Temperament, Deborah! Aber in gewisser Weise hat Claude Recht. Ich war für Saskias Tod verantwortlich." „Nein, er hat nicht Recht. Er zog alles ins Schmutzige und Verächtliche, und so war es nicht. Dich trifft keine Schuld." „Doch, Deborah. Ich heiratete die falsche Frau, nur weil ich vorübergehend in sie verliebt war. Verstehst du jetzt, warum ich mich nicht wieder binden wollte? Warum ich dich geheiratet habe?" Wenn das ein Kompliment sein soll, ist es missglückt, dachte Deborah und kämpfte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen. Laut sagte sie: „Du hast mir von Saskia erzählt, und jetzt wollen wir nie mehr von ihr sprechen. Oder liebst du sie immer noch?" Gerard schüttelte den Kopf. „Meine Liebe erlosch schon nach wenigen Monaten, und als Saskia starb, war nichts mehr davon übrig." In Deborahs Herz sah es plötzlich heller aus. Saskia tat ihr aufrichtig Leid, aber ihr Tod lag lange zurück, und sie hatte Gerard bestimmt nicht richtig behandelt. Falls sich eine günstige Gelegenheit bot, würde sie ihre Schwiegermutter noch einmal nach der traurigen Geschichte fragen. Gerard fühlte sich schuldig, und sie war sicher, dass ihn keine Schuld traf. Bestimmt konnte seine Mutter ihr genauere Auskunft geben. Sie befreite sich aus seinen Armen und trat einen Schritt zurück. „Ich werde mich um den Tee kümmern. Möchtest du ihn hier draußen trinken?" Deborah war froh, einige Minuten allein zu sein, um sich zu beruhigen und in die gelassene Gefährtin zurückzuverwandeln, die Gerards Wünschen entsprach. Sie half Wim, das Teegeschirr in den Garten zu tragen, und setzte sich wieder unter die Buche. Gerard hatte inzwischen in ihrem Grammatikbuch geblättert. „Wieder etwas, das ich vergessen habe", sagte er, während sie den Tee einschenkte. „Ich hätte dafür sorgen müssen, dass du Unterricht bekommst." Deborah tat Zucker in seine Tasse, rührte um und reichte sie ihm. „Um ehrlich zu sein, Gerard ... ich nehme bereits Unterricht. Wim hat sich für mich umgehört und einen emeritierten Professor entdeckt, den ich viermal wöchentlich aufsuche. Professor de Wit ... ein freundlicher alter Herr, aber sehr erfahren und furchtbar streng. Er gibt mir Berge von Hausaufgaben mit." Gerard kostete den Tee und stellte die Tasse hin. „Ich habe dich unterschätzt, Deborah. Warum gibst du dir so viel Mühe?" „Mühe?" wiederholte sie erstaunt. „Es ist keine Mühe, Gerard. Es macht mir Spaß und hilft, die Zeit zu vertreiben. Aber nicht nur das. Wie kann ich eine gute Ehefrau sein, wenn ich die Sprache meines Mannes nicht verstehe? Nicht alle deine Freunde sprechen Englisch." Gerard musterte sie mit gerunzelter Stirn. „Betrachtest du unsere Ehe als eine Aufgabe, die du bestmöglich erfüllen musst?" fragte er. „Ist es so?" Deborah griff nach einem Sandwich, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Nur jetzt keinen Fehler machen! Sich nur nicht verraten! „Ja", antwortete sie gespielt fröhlich. „Wolltest du das denn nicht?" Als er schwieg, fuhr sie in demselben Ton fort: „Maureen bekommt in der nächsten Woche Ferien. Du wirst keine Zeit für sie haben, aber vielleicht nennst du mir die Dinge, die am interessantesten für sie sind. Ich wollte mit ihr nach Volendamm fahren - man soll dort so viele alte Trachten sehen -, und natürlich muss sie das Rijksmuseum kennen lernen. Eine Grachtenfahrt wird ihr bestimmt Spaß machen, und vielleicht ist das Schloss geöffnet." „Arme Deborah. Ich habe dich vernachlässigt." „Nein, nein. Ich wusste von Anfang an, dass du viel zu tun hast. Du hast es mir selbst gesagt. Außerdem brauchte ich die Zeit, um mich in der neuen Umgebung zurechtzufinden." Gerard lächelte. „Du bist als Ehefrau und Gastgeberin so perfekt wie als Operationsschwester", sagte er und sah sie so erwartungsvoll an, dass sie lachte und versicherte, genau das sei ihre Absicht. Wenig später stand Gerard auf. „Ich erwarte noch einige Patienten in meiner Praxis", erklärte er, „aber es wird nicht länger als eine Stunde dauern. Haben wir heute Abend etwas vor?" Deborah schüttelte den Kopf. Ob er mit ihr ausgehen wollte? Sie würde das neue Kleid anziehen ... „Sehr gut. Wäre es ausnahmsweise mö glich, etwas früher zu essen? Ich ertrinke in Arbeit, und einige ruhige Stunden am Schreibtisch wären ein Himmelsgeschenk für mich." Es gelang Deborah zu lächeln. „Natürlich ist das möglich. Passt es dir um halb sieben? Dann hast du den ganzen langen Abend für dich." Gerard zögerte. „Und du?" Sie strahlte ihn mit ihren dunkelvioletten Augen an. „Ich muss endlich einmal Briefe schreiben."
7. KAPITEL In der folgenden Woche holten sie Maureen im Internat ab. Sie nahmen die Nachtfähre von Oostende nach Dover und erreichten Sherborne am frühen Vormittag. Maureen erwartete sie bereits ungeduldig, und es gefiel ihr gar nicht, dass erst ein Umweg über ihr Elternhaus gemacht wurde. Billy und John waren bereits aus Wells eingetroffen und verursachten so viel Lärm, dass Mr. Culpeper seine ganze Vaterliebe aufbringen musste, um nicht die Nerven zu verlieren. Beim Essen unterhielt er sich ausschließlich mit Gerard, der, wie er meinte, als Einziger fähig sei, ein intelligentes Gespräch zu führen. Deborah bezweifelte, dass Gerard sich wirklich für das seltene angelsächsische Dokument interessierte, das ihr Vater gerade übersetzt hatte, aber wenn es so war, ließ er sich nichts anmerken. Kurz nach dem Essen ging es weiter, denn Gerard wollte wieder die Nachtfähre bekommen. Maureen durfte neben ihm sit zen und war so stolz darauf, dass sie kaum zu bewegen war, sich während der Überfahrt von ihm zu trennen und mit Deborah die „langweilige" Kabine aufzusuchen. Sie schlief trotzdem gleich ein und war am nächsten Morgen so munter, dass sie Gerard abermals in Atem hielt, was er gutmütig ertrug. Deborah, die hinten saß, kam kaum zu Wort. Manchmal, wenn Maureen gerade eine Pause machte, richtete Gerard das Wort an sie. Seine Stimme schien dann wärmer und freundlicher als sonst zu klingen, aber das konnte genauso gut Einbildung sein. Nach der peinlichen Affäre mit Claude und den anschließenden Enthüllungen über Saskia hatte Deborah zwar neue Hoffnung geschöpft, aber der Beweis dafür, dass sich Gerards Gefühle geändert hatten, stand noch aus. Während der nächsten Tage nahm er sich viel Zeit für Maureen, und Deborah fragte sich, ob er die Gelegenheit nutzte, um diesen Beweis zu erbringen. Er fuhr sogar mit ihnen nach Volendämm, suchte mit Maureen Postkarten und Andenken aus und bewunderte mit ihr die. kostümierten Dorfbewohner, die sich zum Fotografieren für die Touristen bereithielten. Als Maureen den Wunsch äußerte, selbst Aufnahmen zu machen, kaufte er ihr einen Apparat und wurde gar nicht verlegen, als sie ihm jubelnd um den Hals fiel. Nach einer kurzen Rundfahrt durch Hoorn aßen sie in Wieringerwerf zu Mittag. Das Restaurant lag an der Hauptstraße, und Gerard wählte einen Tisch auf der gut besuchten Terrasse, die mit bunten Sonnenschirmen und Blumenkästen geschmückt war. Deborah vermutete, dass er derartig lebhafte Plätze sonst mied, aber Maureen fand alles „super". „Du bist auch super", sagte sie begeistert zu Gerard, nachdem sie die umfangreiche Speisekarte studiert und ihre Wahl getroffen hatte. „Es wundert mich nicht, dass Debbie dich geheiratet hat. Wenn du ein oder zwei Jahre gewartet hättest, wäre ich ihr bestimmt zuvorgekommen. Du hast nicht zufällig einen jüngeren Bruder?" „Sogar zwei, aber leider sind beide verheiratet." Gerard amü sierte sich köstlich. „Würde es auch ein Vetter tun? Davon gibt es mehrere. Wenn du das nächste Mal kommst, werde ich sie dir vorführen, damit du dir einen aussuchen kannst." Maureen war einverstanden, fügte aber gleich hinzu: „Wahrscheinlich muss ich auf den nächsten Besuch lange warten. Wir sind so viele. Bis alle dran waren ..." „Nicht unbedingt." Gerard sah Deborah an. „Wie wäre es, wenn deine ganze Familie bei uns Weihnachten feiern würde? Wir haben Platz genug." Maureen ließ ihrer Schwester keine Zeit zu antworten. „Fantastisch!" rief sie. „Du bist wirklich der Größte! Ich werde es gleich Mum erzählen. Dad würde es sowieso wieder vergessen." Maureens Nachtisch kam - ein Eisbecher mit Schlagsahne, Schokoladenstreuseln, Nüssen und Früchten - und ließ sie vorübergehend verstummen. Schließlich seufzte sie zufrieden und fragte: „Wohin fahren wir jetzt?" Gerard sah auf die Uhr. „Leider nach Hause. Ich muss um vier Uhr im Krankenhaus sein." „Kommst du zum Abendessen?" fragte Deborah. „Ich fürchte, nein. Könnt ihr euch auch zu zweit amüsieren?" „Selbstverständlich." Wie oft war sie in den vergangenen Wochen ganz allein gewesen! „Möchtest du noch warm essen, wenn du kommst?" „Wäre das möglich? Es kann spät werden." Es war sogar sehr spät, als Gerard endlich nach Hause kam. Marijke und Wim hatten sich bereits zurückgezogen, und Deborah ging selbst in die Küche, um die Suppe heiß zu machen und ein frisches Omelett zuzubereiten. Sie trug alles ins Esszimmer und setzte sich etwas entfernt in einen der wuchtigen Sessel an der Wand. „Hattest du Erfolg?" fragte sie auf gut Glück, denn es war möglich, dass Gerard lieber schweigen wollte. Er aß etwas Suppe. „Sogar großen Erfolg. Du meinst doch den Fall von heute Nachmittag? Dann wusstest du Bescheid ...?" „Nein, aber du operierst jeden Donnerstagnachmittag. Allerdings kommst du meist früher nach Hause." Gerard lächelte. „Ich vergesse immer wieder, dass du zwei Jahre mit mir gearbeitet hast. Ja, heute hat es
lange gedauert. Ein wichtiger Patient, der extra hierher gekommen ist, um sich von mir behandeln zu lassen." „Ein Knochengeschwür?" „ja. Gerard begann mit dem Omelett, und da er den Fall nicht weiterverfolgte, sagte Deborah: „Danke, dass du uns heute wieder so viel Zeit gewidmet hast. Maureen war begeistert." „Und du?" „Ich natürlich auch. Ich lebe jetzt hier, aber alles ist neu und fremd für mich." „Das vergesse ich immer wieder. Mein alter Fehler, Deborah. Morgen habe ich keine Minute Zeit für euch, aber übermorgen Nachmittag ... Habt ihr schon Pläne?" „Könnten wir irgendwo Tee trinken? Und mach dir wegen morgen keine Gedanken. Wir werden die längste Grachtenfahrt machen, die angeboten wird." Gerard nickte. „Ihr habt nur den Vormittag, denn nachmittags erwartet euch meine Mutter zum Tee. Wollt ihr vorher das Krankenhaus besichtigen? Ich könnte euch mittags abholen und einem jungen Kollegen übergeben. Er würde euch herumführen und anschließend in ein Taxi setzen. Was hältst du davon?" Deborahs Augen leuchteten. „Ich wünsche mir schon lange, den ,Grotehof kennen zu lernen. Sag mir nur, wann wir fertig sein sollen, dann erwarten wir dich." Sie stand auf. „Ich hole jetzt den Kaffee. Möchtest du einen Cognac dazu?" „Gern." Gerard stand ebenfalls auf. „Wollen wir den Kaffee im Wohnzimmer trinken? Ich nehme an, du leistest mir Gesellschaft." Deborah trank so spät nicht gern Kaffee, aber was machte das aus, wenn Gerard mit ihr reden wollte? Vielleicht hatte ihn die Operation ungewöhnlich angestrengt. Ein wichtiger Patient ... Das konnte alles bedeuten, und sie war zu klug, um genauer nachzufragen. Nachdem sie den Kaffee eingeschenkt hatte, sagte sie wie nebenbei: „Ich würde gern mehr über die Operation hören, falls es dich nicht langweilt. Welche Methode hast du angewandt?" Sie spürte sofort, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte. Gerard begann zu erzählen, konnte Fachausdrücke benutzen, die er nicht erklären musste, und fand ihre Zwischenbemerkungen so anregend, dass es Mitternacht wurde, ehe sie das Gespräch beendeten. Gerard entschuldigte sich, sie so lange wach gehalten zu haben, aber Deborah schüttelte nur den Kopf und antwortete: „Nicht doch, Gerard. Der Fall hat mich sehr interessiert." Sie trug das Kaffeetablett in die Küche, wünschte ihm gute Nacht und ging schnell nach oben. Es wäre verhängnisvoll gewesen, im letzten Moment noch die Nerven zu verlieren. Gerard wollte um halb zwei vorbeikommen, und Deborah und Maureen standen rechtzeitig bereit. Während der kurzen Fahrt erfuhren sie, dass der „Grotehof" im ältesten Teil von Amsterdam lag und während der letzten Jahrzehnte ständig modernisiert und durch Anbauten erweitert worden war. „Paul van Goor ist einer unserer hoffnungsvollsten Assistenzärzte" , sagte Gerard zum Schluss. „Er betrachtet es als Auszeichnung, euch das Krankenhaus zeigen zu dürfen." Dr. van Goor erwartete sie am Eingang und übernahm die Führung. Deborah, die sich auf vertrautem Boden befand, nahm alles mit großem Interesse auf, aber Maureen begann sich bald zu langweilen, und so endete der Rundgang im Krankenhausgarten, wo einige Gewächshäuser standen, die Maureen in helles Entzücken versetzten. Zum Schluss bestellte Paul ein Taxi, nannte dem Fahrer Mevrouw van Doornincks Adresse und verabschiedete sich mit dem Wunsch, so angenehme Gä ste bald wieder zu sehen. Mevrouw van Doorninck hatte Lia und ihre beiden Söhne eingeladen, um es für Maureen leichter zu machen, und so wurde es ein fröhlicher Familiennachmittag. „Schade, dass Gerard nicht bei uns ist", sagte Mevrouw van Doorninck zu Deborah, während Maureen mit den Jungen spielte. „Ich hatte gehofft, dass er nach der Heirat ..." Sie schwieg, seufzte leise und fuhr fort: „Manchmal habe ich den Eindruck, dass er sich gegen ein neues Glück wehrt." Sie sah Deborah an, als erwartete sie eine Antwort. Da keine kam, wechselte sie das Thema. „Gerard scheint Maureen ins Herz geschlossen zu haben. Kein Wunder, ein so reizendes Mädchen ... Ich freue mich schon darauf, Ihre restliche Familie kennen zu lernen." „Meine Eltern und Brüder freuen sich genauso, Mevrouw", antwortete Deborah erleichtert, denn es fiel ihr schwer, über Gerard zu sprechen. „Es besteht der Plan, dass sie uns zu Weihnachten besuchen." „Zu Weihnachten?" Ihre Schwiegermutter betrachtete sie nachdenklich. „Mein liebes Kind, bis dahin kann noch viel geschehen. " Deborah hätte gern gefragt, was in der von Luxus gesättigten, übersichtlichen und bestens geordneten Welt, in der sie jetzt lebte, eigentlich geschehen sollte. Ein heftiger Streit, ein öffentlicher Skandal ... ja, das wäre eine Abwechslung in dieser erstickenden Monotonie gewesen! Doch es war schwer, mit Gerard zu streiten. Gab es ausnahmsweise eine kleine Unstimmigkeit, reagierte er so höflich, dass keine Aussprache zu Stande kam. Dafür gab es nur eine Erklärung: Sie war ihm nicht wichtig genug, um sich ihretwegen aufzuregen. Mevrouw van Doorninck wollte wieder ein Taxi rufen, aber Deborah bestand darauf, zu Fuß zur
Keizersgracht zurückzugehen. Gerard hatte versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein, aber kurz vorher rief er an, um zu sagen, dass er im Krankenhaus aufgehalten worden sei. „Ich esse mit einem Kollegen", fügte er hinzu. „Es kann spät werden. Bitte warte nicht auf mich." Als Maureen längst schlief und Marijke und Wim sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, saß Deborah immer noch im Wohnraum und wartete. Sie hatte sich Professor de Wits Hausaufgaben vorgenommen, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Alle paar Minuten sah sie zu der hübschen Kaminuhr hinüber, und als es leise zwölf schlug, löschte sie das Licht und ging in ihr Zimmer hinauf. Stunde um Stunde lag sie wach. Kurz vor Morgengrauen hörte sie Gerard leise nach Hause kommen und in sein Zimmer gehen. Ihr brannten die Augen vor Müdigkeit, aber sie fand keinen Schlaf, bis es Zeit wurde, aufzustehen und zum Frühstück hinunterzugehen. Gerard sah etwas erschöpft aus, bot aber sonst das untadelige Bild, das Deborah inzwischen gewohnt war. Sie hätte ihn gern gefragt, mit wem er die ganze Nacht verbracht hatte, doch ihre Klugheit hinderte sie daran. Sie wünschte ihm höflich guten Morgen, sagte, dass Maureen später herunterkommen würde, und überließ ihn seiner Post. Ihre Rücksicht wurde umgehend belohnt, denn er meinte freundlich: „Ich habe versprochen, heute Nachmittag einen Ausflug mit euch zu machen, aber leider ist etwas dazwischengekommen. Ob ihr ohne mich etwas unternehmen könnt?" „Natürlich", antwortete Deborah schnell, um sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Maureen hat noch eine endlose Wunschliste. Wir finden bestimmt etwas. Natürlich wird sie enttäuscht sein ..." „Und du?" Gerard sah sie prüfend an. „Oh, ich bin natürlich auch enttäuscht. Ich liebe Ausflüge, genauso wie Maureen. Außerdem ist heute ihr letzter Tag. Ich werde mit ihr nach Scheveningen fahren. Die Strandpromenade wird ihr gefallen, und deine Mutter hat mir eine hübsche Teestube empfohlen." Deborah lächelte unbefangen, als wäre es ihr völlig gleichgültig, was Gerard daran hinderte, sein Versprechen zu erfüllen. Sie öffnete den Brief von zu Hause, den Wim neben ihren Platz gelegt hatte, aber bevor sie zu lesen begann, kam ihr ein Gedanke. „Eine Frage, Gerard, könnte ich Maureen morgen nicht nach Zeebrugge bringen? Nach dem Citroen wird ihr der kleine Wagen ärmlich vorkommen, aber er ist groß genug. Ich bin inzwischen viel unterwegs gewesen. Du hast selbst gesagt, mein Fahrstil hätte sich verbessert." Gerard runzelte die Stirn. „Ich lasse dich ungern die weite Strecke fahren, aber wenn ich ehrlich bin ... es würde mir mo rgen sehr schlecht passen." „Dann ist die Sache entschieden. Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich zu Hause übernachte. Hinund Rückfahrt an einem Tag ... ich fürchte, das ist nichts für mich." „Eine gute Idee." Gerard schien immer noch nachzudenken. „Es müsste doch jemanden geben, der euch fahren könnte. Wenn Wim nicht versprochen hätte, meine Mutter nach Friesland zu bringen ... Vielleicht habe ich im Krankenhaus Glück." „Bemüh dich nicht unnötig", bat Deborah. „Du hast schon genug Sorgen. Die Fahrt wird mir Spaß machen. Bitte denk nicht mehr daran." „Also gut", gab Gerard nach. „Allerdings, wenn du es nicht wärst..." Er überließ es Deborah, zu entscheiden, ob das als Kompliment gemeint war. Der Ausflug nach Scheveningen verlief so erfolgreich, dass Maureen während der ganzen Rückfahrt davon schwärmte. Die Strandpromenade, das Seeaquarium und nicht zuletzt die Teestube mit den üppigen Torten sorgten für unbegrenzten Ge sprächsstoff. Deborah brauchte kaum etwas zu sagen und konnte sich auf den Verkehr konzentrieren, der für sie immer noch auf der „falschen" Seite ablief. Als sie sich schon dem Zentrum von Amsterdam näherten, erkannte Deborah plötzlich vor sich den Citroen. Gerard saß am Steuer und neben ihm eine kleine, dunkelhaarige und sehr attraktive Frau. Zum Glück hatte Maureen auf der anderen Straßenseite gerade eine Drehorgel entdeckt. Sie erkannte den Citroen nicht und wurde auch nicht misstrauisch, als Deborah ihn in einem günstigen Moment überholte. Also deshalb hatte Gerard heute keine Zeit für sie gehabt. Nicht weil er im Krankenhaus oder in seiner Praxis zu tun hatte ... o nein! Er hatte keine Zeit, weil er eine hübsche Frau durch die Gegend fahren musste! Deborah fühlte einen unbändigen Zorn in sich aufsteigen. Sie würde nicht nur eine Nacht, sie würde zehn Nächte zu Hause bleiben. Mochten noch so viele gesellschaftliche Verpflichtungen anstehen ... sollte er sich doch allein darum kümmern oder seine entzückende dunkelhaarige Begleiterin als Gastgeberin und Partnerin engagieren! Gerard kam pünktlich zum Abendessen nach Hause. Deborah begrüßte ihn so ruhig und freundlich wie immer, äußerte die vorsichtige Hoffnung, dass sein Tag nicht allzu anstrengend gewesen sei, und begann mit einem ausführlichen Bericht über den Ausflug nach Scheveningen, bei dem Maureen sie lebhaft und aufgeregt unterstützte. Gerard hörte schweigend zu, und wenn Deborah gehofft hatte, etwas über die dunkelhaarige Begleiterin
zu erfahren, wurde sie enttäuscht. Unmittelbar nach dem Essen zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und versprach nur noch, sich am nächsten Morgen genug Zeit zu nehmen, um Maureen Lebewohl zu sagen. Obwohl Deborah daran zweifelte, hielt Gerard Wort. Er schenkte Maureen zum Abschied einen großen Konfektkasten, scherzte wie immer mit ihr und trug ihr Grüße für zu Hause auf. Deborah hatte er nicht so viel zu sagen. Er wünschte ihr eine gute Fahrt und bat sie, vorsichtig zu sein. Das war alles. Sie erreichten Zeebrugge eine knappe Stunde vor Abfahrt der Fähre. Im Bordrestaurant wurde bereits das Mittagessen serviert, und Maureen hielt sich bei ihrer Bestellung nicht zurück. Sie redete ununterbrochen und war so von ihren Reiseeindrücken erfüllt, dass sie nicht bemerkte, wie wenig Deborah aß und dass sie kaum etwas sagte. Die Fahrt nach Somerset verlief ohne besondere Ereignisse. Maureen war allmählich müde geworden und schlummerte immer wieder ein - angeblich, um für den Empfang zu Hause wieder munter zu sein. Deborah hatte Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Es waren trübsinnige Gedanken, und alle drehten sich um Gerard. Kurz vor Mitternacht kamen sie zu Hause an. Ihre Eltern erwarteten sie mit belegten Broten, warmen Getränken und endlosen Fragen. Deborah war noch mitten in ihrem Bericht, als das Telefon klingelte. Mr. Culpeper ärgerte sich über die späte Störung und meldete sich ziemlich unwirsch. Dann änderte sich sein Ton. „Es ist Gerard", sagte er. „Er möchte dich sprechen, Debbie." Deborah hatte von Dover aus in Amsterdam angerufen, obwohl sie wusste, dass Gerard nicht zu Hause sein würde. Wim hatte versprochen, von ihr zu grüßen, und es überraschte sie, dass Gerard trotzdem anrief. „Hallo?" fragte sie in dem neutralen Ton, der ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden war. „Hallo, Deborah", antwortete Gerard. „Wim hat deinen Gruß bestellt, aber ich wollte mich persönlich davon überzeugen, dass du gut angekommen bist. Hoffentlich hast du nicht schon geschlafen?" „Nein, wir unterhalten uns noch über Maureens Ferien. Du bist selbst spät dran." „Ja", bestätigte er kurz. „Übrigens will ich nicht länger stören. Schlaf gut, und fahr morgen vorsichtig. Gute Nacht, Debbie." „Gute Nacht", antwortete sie und legte den Hörer auf. Debbie ... So hatte Gerard sie noch nie genannt. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Vielleicht, aber sie war zu müde, um darüber nachzudenken.
8. KAPITEL Deborah schlief, bis sie am nächsten Morgen von ihrer Mutter geweckt wurde. Wie verabredet, brachte sie Maureen ins Internat zurück und fuhr von Sherborne weiter nach Dover. Ohne Maureen war es plötzlich sehr einsam. Nichts lenkte Deborah von ihren trüben Gedanken ab, und auch die Erinnerung an die Stunden zu Hause tröstete sie wenig. Für eine richtige Unterhaltung war kaum Zeit gewesen, was sie nachträglich nicht einmal bedauerte. Ein Wort zu viel oder zu wenig, und sie hätte sich verraten. Ihre Eltern hielten es für selbstverständlich, dass sie glücklich war, und stellten keine Fragen. Nachdem sie sich kurz nach Gerard erkundigt und die Weihnachtseinladung angenommen hatten, war nur noch von Maureens Ferien gesprochen worden, und auch dieses Thema hatte sie schnell ermüdet. Sie lebten in ihrer eigenen Welt, und alles, was von außen kam, war eher eine Störung als eine Bereicherung. Es wäre schön, sich jemandem anvertrauen zu können, dachte Deborah und fuhr langsamer, um die Abfahrt zur Autobahn nicht zu verpassen. Winchester lag bereits hinter ihr, aber bis Dover war es noch weit, und sie durfte sich nicht verfahren, wenn sie die Mittagsfähre erreichen wollte. Es regnete während der Überfahrt. Nachdem Deborah in der Cafeteria ein Sandwich gegessen und sich am Kiosk einen Kriminalroman gekauft hatte, setzte sie sich in den großen Aufenthalts raum und las, bis sie vor Erschöpfung einschlief. In Zeebrugge regnete es immer noch, und die Fahrt bis Amsterdam kam ihr plötzlich endlos und bedrohlich vor. Am Fuß der Autorampe setzte plötzlich der Motor aus, aber sie brachte ihn wieder in Gang und folgte der Schlange bis zum Zoll. Sie reichte dem Beamten ihren Pass und erschrak, als er sie aufforderte, links auszuscheren. „Ich will nach Holland", sagte sie irritiert. „Muss ich da nicht geradeaus fahren?" Der Beamte lächelte, blieb aber unerbittlich. „Nach links, bitte, Mevrouw." Es war bereits dunkel, und Deborah hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Plötzlich tauchte vor ihr im Scheinwerferlicht ein Wagen auf. Es war der BMW, und Gerard lehnte lässig am Kofferraum. In dem schwankenden Licht wirkte er sehr groß und sehr zuverlässig, und Deborah merkte, wie sehr sie ihn vermisst hatte. „Hallo, meine Liebe", begrüßte er sie, nachdem sie das Fenster heruntergelassen hatte. „Ich hielt es für besser, dich abzuholen und nach Hause zu bringen. Bei diesem Wetter ..." Deborah fand vor Überraschung nicht gleich die richtigen Worte. Ihr „Hallo, Gerard" war kaum zu verstehen, und sie musste sich anstrengen, lauter zu sprechen. „Ich kann den Wagen nicht einfach stehen lassen." Gerard zeigte auf sein Auto, und Deborah erkannte einen zweiten Mann, der sich respektvoll im Hintergrund gehalten hatte. „Ich habe Wim mitgebracht. Er wird den Wagen übernehmen." Gerard öffnete die Tür. „Komm, Deborah. In wenigen Stunden sind wir zu Hause." Deborah stieg aus und ließ sich willig zum BMW führen. Sie begrüßte Wim und meinte entschuldigend: „Ich mache Ihnen so viel Mühe, noch dazu bei dem schlechten Wetter." Davon wollte Wim nichts wissen. „Es ist mir ein Vergnügen, Mevrouw", erklärte er und setzte lächelnd hinzu: „Sie werden allerdings früher zu Hause sein als ich." Gerard passierte die Zollschranke, ohne angehalten zu werden, und fuhr in die dunkle Nacht hinein. „Also deshalb hat mich der Beamte nach links geschickt", sagte Deborah. Gerard nickte. „Ich fürchtete, wir könnten dich hinter dem Zoll verpassen. Hattest du eine angenehme Fahrt?" Zu Deborahs größter Bestürzung versagte ihr die Stimme, und sie brach in Tränen aus. Sie wollte aufhören, aber es ging nicht. Die Tränen quollen nach und strömten über ihr Gesicht. Gerard fuhr an den rechten Straßenrand und stellte den Motor ab. „Was ist passiert, Debbie?" fragte er. Sein Gesicht war im Schein des Armaturenbretts kaum zu erkennen. „Ich habe dich noch nie weinen sehen." Deborah putzte sich heftig die Nase und versuchte, ihre Fassung zurückzugewinnen. .„Entschuldige", stieß sie mühsam hervor. „Ich weine fast nie, und eigentlich gibt es gar keinen Grund. Ich bin nur müde, und diese schrecklichen Autorampen ... Mit Maureen hatte ich keine Angst, aber allein ... und dann die lange Fahrt in der Dunkelheit und bei Regen ..." Sie schwieg, putzte sich wieder die Nase und betupfte Augen und Wangen. „Ich hätte dich nicht allein fahren lassen dürfen", sagte Gerard zerknirscht. „Armes Kind, wie gedankenlos ich gewesen bin. Du bist immer so ruhig und selbstsicher, aber als ich gestern Abend am Telefon deine Stimme hörte ... Sie klang so müde, dass ich meinen Arbeitsplan umstellte, um dich von der Fähre abzuholen. Mir fiel ein, wie lang und dunkel die Strecke sein kann." Er legte tröstend den Arm um ihre Schultern. „Verzeihst du mir?" Deborahs Tränen waren langsam versiegt. „Ach Gerard, es war doch mein eigener Wunsch. Wenn es nicht so grässliches Wetter wäre ..."
„Ich habe Kaffee da." Gerard griff nach hinten, wo ein kleiner Korb stand. „Für Marijke beginnt zehn Kilometer hinter Amsterdam die Wüste, in der man verhungert und verdurstet, wenn man nichts bei sich hat. Hier sind auch belegte Brote." Sie aßen und tranken schweigend, und erst nach einer Weile begann Gerard wieder zu sprechen. Er sprach von Deborahs Eltern, von Maureen, von dem Haus in der Keizersgracht und von Smith. So beruhigt er vor der Operation seine Patienten, dachte Deborah schläfrig. Er redet so lange, bis ihre Angst weg ist, damit sie sich nicht mehr wehren ... „Schlaf jetzt", sagte er und nahm ihr den leeren Becher aus der Hand. „Es gibt jetzt sowieso nichts zu sehen. Ich wecke dich, wenn wir Amsterdam erreichen." Bevor Deborah beteuern konnte, dass sie gar nicht mehr müde sei, war sie fest eingeschlafen. Sie erwachte von Gerards Berührung. „In wenigen Minuten sind wir da", sagte er, und sie sah blinzelnd auf die hell erleuchteten Straßen, die ihr inzwischen fast vertraut waren. In der Keizersgracht brannten nur wenige Laternen, deren Licht sich im dunklen Wasser des Kanals spiegelte. Es regnete kaum noch, und in den meisten Wohnungen war es bereits dunkel. Als sie vor dem Haus hielten, ging die Tür auf, und Deborah sah Marijke und Smith im hellen Flurlicht stehen. Zum ersten Mal wurde ihr klar, wie sehr sie ihr neues Heim inzwischen liebte. Sie begrüßte Marijke mit einem matten Lächeln, nahm den ekstatischen Smith auf den Arm und ging ins Wohnzimmer, wo Gerard ihr aus dem Mantel half. Gleich darauf erschien Marijke mit heißem Kaffee und hauchdünnen Appetithäppchen. Während sie alles zurechtstellte, redete sie heftig auf Gerard ein, aber Deborah war zu erschöpft, um etwas davon zu verstehen. „Was wollte Marijke?" fragte sie, als sie mit Gerard allein war. Er hatte sich ihr gegenübergesetzt, und sie bemerkte erst jetzt, wie müde er aussah. „Hattest du einen sehr anstrengenden Tag?" Er lächelte. „Ja." „Du hast in letzter Zeit zu viel gearbeitet." „Trotzdem hätte ich dich nicht allein fahren lassen dürfen." „Es war zumindest eine gute Übung für mich. Beim nächsten Mal werde ich mich schon sicherer fühlen." „Es wird kein nächstes Mal geben", erwiderte Gerard kurz. „Übrigens galten Marijkes Worte dir." „Mir?" Deborah musste lachen. „Dabei habe ich nur ein Wort verstanden ... das Wort ,Magen'." „Sie fand, dass du müde aussiehst, und hält das bei schönen Frauen für ein Verbrechen. Du sollst schnell etwas essen - sie sagte, in den Magen bekommen - und danach wie eine Rose schlafen." „Wie lieb von ihr... ich meine das mit der Rose. Die gute Marijke und der gute Wim. Sie sind wie dieses Haus, nicht wahr?" Deborah bedauerte sofort, was sie gesagt hatte. Gerard würde sie nicht verstehen, aber sein Blick bewies ihr das Gegenteil. Sie lächelte erleichtert, und plötzlich fragte er: „Du hast mich vorgestern Nachmittag gesehen, nicht wahr? Du hast dich gewundert, dass ich mit einer attraktiven Frau herumfuhr, nachdem ich den Ausflug mit Maureen und dir aus Zeitgründen abgesagt hatte. Sie war attraktiv, nicht wahr?" „Ja." „Du weißt, dass ich nicht gern über meine Patienten spreche, aber ich möchte auf keinen Fall, dass Missverständnisse zwischen uns aufkommen. Es geht um den Patienten, den ich neulich Abend operiert habe." Gerard nannte einen Namen, bei dem Deborah überrascht aufhorchte. „Du verstehst jetzt sicher, warum ich so besorgt und verschwiegen war. Die Dame im Auto war die Ehefrau, die ich vom Flugplatz abgeholt hatte. Ich weiß nicht, warum ich dir die Situation nicht erklärt habe. Vielleicht war ich gekränkt, weil du so gleichgültig darüber hinweggegangen bist. Jede andere Frau hätte Fragen gestellt." „Es ging mich nichts an", antwortete Deborah abweisend. „Außerdem wusste ich ja nicht..." „Ob sie eine Freundin von mir war?" ergänzte Gerard lächelnd, aber sie spürte seinen verhaltenen Ärger. „Meinetwegen", gab sie unwillig zu. „Vielleicht habe ich das gedacht, aber deswegen geht es mich trotzdem nichts an. Ich habe kein Recht, mich in deine Angelegenheiten einzumischen." Gerard stand auf und zog sie sanft von ihrem Stuhl. „Du hast alles Recht der Welt", versicherte er. „Der Vertrag, den wir geschlossen haben, beinhaltet nicht gegenseitigen Betrug." „Ich weiß", antwortete Deborah, ohne ihn anzusehen. „Mein Verdacht war hässlich. Es tut mir Leid." Sie verließen zusammen das Wohnzimmer, und im Flur sagte Gerard: „Ich werde noch auf Wim warten. Er müsste jetzt bald hier sein. Und falls es dich interessiert... ich habe mir einige Tage freigenommen. Wir werden nach Friesland fahren, damit du mein Haus und meine Freunde kennen lernst. Abigail ist auch Engländerin." Deborah war schon halb auf der Treppe. „Das klingt verlockend", sagte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Danke, dass du meinetwegen den weiten Weg gemacht hast. Es muss nach dem anstrengenden Tag hart für dich gewesen sein." Gerard antwortete nicht, aber Deborah spürte, dass er ihr nachsah, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war. Bevor sie nach Friesland fuhren, lernte Deborah noch andere Freunde der Familie kennen. Sie hatte einen ruhigen Tag verbracht und erwartete Gerard zum Tee, als das Telefon klingelte.
„Ist Mijnheer van Doorninck zu Hause?" fragte eine melodische weibliche Stimme. „Nein", antwortete Deborah und überlegte, wer die Anruferin sein könnte. „Soll ich ihm etwas ausrichten?" Sie sprach langsam und deutlich, wie Professor de Wit es ihr beigebracht hatte. „Sind Sie Gerards Frau?" fragte die Anruferin jetzt auf Englisch. Und als Deborah das bestätigte, fuhr sie fort: „Oh, das trifft sich gut. Ich bin Adelaide van Essen. Mein Mann arbeitet als Kinderarzt am ,Grotehof und ist mit Gerard befreundet. Wir sind gestern Abend aus England zurückgekommen und haben gerade erst von Ihnen erfahren. Es stört Sie doch nicht, dass ich anrufe?" „Im Gegenteil, ich freue mich. Ich kenne hier sonst keine Engländer." „Dann machen Sie bei uns den Anfang ... gleich heute Abend. Die Einladung kommt etwas plötzlich, aber Coenraad und Gerard haben sich schon im Krankenhaus geeinigt. Sie sind doch einverstanden?" „Von ganzem Herzen, aber ob Gerard es schaffen wird? Er arbeitet oft bis spät abends." Deborah hatte den Eindruck, dass Adelaide bei diesen Worten stutzte. „Er wird es schon schaffen", versicherte sie. „Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen, und die Männer sind alte Freunde. Wir wohnen ganz in der Nähe - in der Heerengracht. Ist sieben Uhr zu früh? Ich gebe Ihnen unsere Telefonnummer, falls Sie zurückrufen wollen. Also dann bis sieben. Ich freue mich darauf, Sie kennen zu lernen." Deborah setzte sich wieder in ihren Sessel. Eine angenehme Stimme, dachte sie und überlegte, was sie anziehen sollte. Sie hatte sich noch nicht entschieden, als Gerard ins Wohnzimmer kam. „Hallo", begrüßte er sie und zog sich einen Sessel heran. „Ich habe heute Nachmittag im Krankenhaus einen Freund getroffen ... Coenraad van Essen. Seine Frau ist Engländerin, und sie sind gerade aus London zurückgekommen. Sie haben uns für heute Abend zum Essen eingeladen. Hättest du Lust hinzugehen? Es kommt etwas plötzlich und bringt vielleicht deine Pläne durcheinander." „Adelaide hat vor wenigen Minuten angerufen", erzählte Deborah, „und ich würde sehr gern hingehen. Sie hat sieben Uhr vorgeschlagen, daher sollte ich jetzt mit Marijke sprechen." Marijke hatte mit der Zubereitung der Koteletts und des Käse-Soufflees noch nicht begonnen. Unterstützt von Wim, machte Deborah den Vorschlag, das Menü auf morgen zu verschieben, was sofort akzeptiert wurde. Was Marijke sonst sagte, verstand Deborah nicht, bis Wim es auf ihre Bitte hin übersetzte. „Marijke meint, dass es gut für Sie ist, eine gleichaltrige Dame kennen zu lernen, die ebenfalls aus England kommt. Sie wünscht Ihnen einen netten Abend." Mit einem Lächeln setzte er hinzu: „Ich schließe mich dem Wunsch an, Mevrouw." Deborah wählte das Kleid aus pinkfarbenem Seidenjersey, dem sie bei ihrem letzten Besuch bei „Metz" - einer eleganten, ganz in der Nähe liegenden Modeboutique - nicht hatte widerstehen können. „Komme ich zu spät?" fragte sie, denn Gerard wartete bereits, als sie herunterkam. „Nein", antwortete er. „Ich habe noch etwas auf dem Herzen. Wollen wir ins Wohnzimmer gehen?" Deborah erschrak. Was wollte Gerard ihr sagen? Dass er eine Vortragsreise antreten müsse und deshalb nicht mit ihr nach Friesland fahren könne? Was auch immer, es kostete sie Mühe, ein gelassenes Gesicht zu machen. „Hast du dich nie gefragt, warum du kein Hochzeitsgeschenk von mir bekommen hast?" Gerard schloss hinter ihr die Tür. „Ich habe durchaus daran gedacht, aber es waren Änderungen notwendig, die erst heute fertig geworden sind." Er zog ein schmales Samtetui aus der Tasche und öffnete es. Es enthielt zwei Ohrgehänge - ausgesucht schöne, in Diamanten gefasste Perlen. Deborah betrachtete sie staunend. „So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen", gestand sie endlich. Gerard nahm die Schmuckstücke heraus. „Probier sie an", forderte er Deborah auf. „Sie sind sehr alt, nur die Fassung war nicht stilecht. Ich habe sie nach eigenen Angaben erneuern lassen. Du bist groß genug, um etwas Ausgefallenes zu tragen." Deborah ging zum Kaminspiegel und legte die Schmuckstücke an. Sie sahen hinreißend aus und passten zu ihr, genau wie Gerard gesagt hatte. Sie wandte den Kopf hin und her und ließ die Diamanten blitzen. „Sieh nur das Feuer, Gerard. Oh, ich danke dir!" Doch Dank allein war nicht genug, deshalb ging sie zu ihm und küsste ihn scheu auf die Wange. „Ob ich sie heute Abend tragen kann?" „Warum nicht?" Er ging zu dem kleinen Rosenholzsekretär am Fenster, zog eine Schublade auf und kam mit einem größeren Etui zurück. „Dies ist ebenfalls seit langem im Familienbesitz", erklärte er. „Ich habe die Kette neu aufziehen und einen dazu passenden Verschluss anbringen lassen." Das Etui enthielt eine doppelreihige Perlenkette mit einem Diamantverschluss, der genau zu dem Ohrschmuck passte. „Oh!" hauchte Deborah. Mehr fiel ihr in diesem Moment nicht ein. Gerard nahm die Kette heraus, legte sie ihr um und führte sie wieder vor den Spiegel. Die Kette war an Pracht und Schönheit nicht zu überbieten. „Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll", sagte Deborah, nachdem sie sich lange betrachtet hatte. „Von einem schöneren Schmuck kann keine Frau träumen." Gerard stand hinter ihr, und ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. „Du bist meine Frau", sagte er lächelnd, „und hast alles Recht, ihn zu tragen." Das Leuchten auf Deborahs Gesicht erlosch. Hatte Gerard das unbedingt sagen müssen? Also hatte er
den Schmuck seiner Frau und nicht ihr persönlich geschenkt. Sie brauchte einen Moment, um die Enttäuschung zu überwinden. „Gehen wir zu Fuß?" fragte sie und nahm ihren Mantel, den sie über einen Sessel gelegt hatte. Gerard half ihr hinein, höflich wie immer, aber so zurückhaltend, als wäre sie eine Fremde. „Wir nehmen das Auto", erklärte er dabei. „Es ist kurz vor sieben Uhr, und wir wollen nicht zu spät kommen." Das Haus in der Heerengracht war größer als das Van Doornincksche, aber im Stil sehr ähnlich. Ehe sie klingeln konnten, wurde die Tür geöffnet, und ein älterer Mann begrüßte sie. „Guten Abend, Mevrouw ... Mijnheer." Gerard schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Wie geht es Ihnen, Tweedle? Sie haben mich lange nicht ,Mijnheer' genannt." Er wandte sich an Deborah. „Das ist Tweedle, meine Liebe. Er betreut Coenraad von der Wiege an, und wo er auftaucht, ist Mrs. Tweedle nicht fern." „Meine Frau wird entzückt sein", bestätigte Tweedle würdevoll. „Der Baron und die Baronin sind im kleinen Salon, Mr. Gerard." Er ging voran und öffnete eine Tür. „Mijnheer und Mevrouw van Doorninck", meldete er förmlich und zog sich gleich wieder zurück. Der „kleine" Salon war beeindruckend groß und museumsreif eingerichtet. Trotzdem verbreitete er eine behagliche Atmosphäre, die Deborah sofort gefangen nahm. Auf einem kleinen Intarsientischchen lag ein Strickzeug, auf der Couch häuften sich Zeitschriften, und in den Duft von Blumen und Tabak mischte sich ein Hauch von Bienenwachs. Zwei Personen waren anwesend, ein Mann und eine Frau. Der Mann hatte etwa Gerards Größe, war aber älter und trug eine dunkle Hornbrille auf der markanten Nase. Er sah trotz seines vorgerückten Alters gut aus und hatte dabei einen freundlichen Gesichtsausdruck, der Deborah spontan Vertrauen einflößte. Die attraktive Frau, die zugleich mit ihm aufstand, war klein, zierlich und lebhaft. Sie hatte üppiges rotes Haar und dunkle Augen und trug zu ihrem schlichten cremefarbenen Seidenkleid die schönsten Saphire, die Deborah je gesehen hatte. Sie küsste Gerard schwesterlich auf die Wange und führte Deborah zu einem kleinen Sofa; wo sie sich neben sie setzte. „Wie nett von Ihnen, der kurzfristigen Einladung zu folgen!" sagte sie. „Es hat Ihnen doch nichts ausgemacht?" Deborah schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil, ich habe mich gefreut. Sie sind die erste Engländerin, die ich hier kennen lerne. Gerard hat immer so viel zu tun, und wir sind noch nicht lange verheiratet. Natürlich habe ich einige Kollegen von ihm kennen gelernt ..." Adelaide winkte ab. „Pflichtdinner, ich weiß, und sonst nichts als Arbeit. Coenraad hat mir erzählt, dass Sie Gerards Operationsschwester waren." „Ja, das stimmt. Ich habe zwei Jahre im Clare's Hospital mit ihm zusammengearbeitet." Deborah hatte das Gefühl, noch mehr sagen zu müssen, aber ihr fiel nichts ein. Nach einer kleinen Pause fragte Adelaide: „Gefällt Ihnen Amsterdam? Ich bin geradezu verliebt in die Stadt. Wir besitzen ein Haus in Dorset, wo wir regelmäßig Ferien machen, und natürlich besuchen wir meine Eltern, aber nichts geht über Ams terdam." Adelaide wirkte fast noch zu jung, um Kinder zu haben. „Wie viele Kinder haben Sie?" erkundigte sich Deborah. „Zwei ... Champers und Lisa. Lisa ist erst achtzehn Monate alt." Adelaide betrachtete Deborah mit sichtlicher Bewunderung. „Wie schön Sie sind!" sagte sie ohne jeden Anflug von Neid. „Jetzt verstehe ich noch besser, warum Gerard Sie geheiratet hat." Sie berührte Deborahs Ohrgehänge. „Wunderschön, und die Perlen ... beides wie für Sie gemacht. Ich beneide große, gut gebaute Frauen. Sie können so viel Schmuck tragen, wie sie wollen. Sehen Sie dagegen mich an. Ich verschwinde schon unter einem Hals band." Sie lachten beide, und bevor Coenraad einen zweiten Drink einschenken konnte, bat Tweedle zu Tisch. Das Essen hatte höchstes Niveau. Zwischen den exquisiten Gängen sah sich Deborah in dem kostbar eingerichteten Esszimmer um. Wie üppig diese holländischen Patrizierfamilien lebten! Sie hatten große Häuser, die mit unbezahlbaren Antiquitäten eingerichtet waren. Sie aßen von antikem Porzellan und Silber, tranken aus handgeschliffenen Kristallgläsern und konnten sich auf ein geschultes Personal verlassen, das sie liebte und sich den uralten Familienbesitz selbst zur Ehre anrechnete. Adelaide unterbrach Deborahs Gedanken. „Sie fahren nach Friesland?" fragte sie. „Dann werden Sie Dominic und Abigail, eine Landsmännin von uns, kennen lernen. Zwei liebe Menschen. Natürlich besitzen sie auch ein Haus in Amsterdam, aber in Fries land fühlen sie sich am wohlsten. Abigail erwartet in sechs Monaten ein Baby." Adelaide lachte glücklich. „Wäre es nicht nett, wenn wir alle nah genug wohnten, um uns zwanglos zu besuchen? Die Kinder könnten zusammen spielen ..." Deborah merkte, dass Gerard zuhörte, und versuchte das Thema zu wechseln. „Wie sieht es mit den Schulen aus?" fragte sie, und es klang, als würde ihr diese Frage wirklich am Herzen liegen. Es war spät, als sie nach Hause kamen. Marijke und Wim schliefen schon, aber im Flur und im Wohnzimmer brannte Licht. „Hat dir der Abend gefallen?" fragte Gerard, während er noch einen Schlummertrunk einschenkte. „O ja, sehr." Deborah setzte sich auf die Armlehne eines Sessels. „Adelaide ist reizend und Coenraad
ebenfalls. Es war doch richtig, sie zu unserer nächsten Dinnerparty einzuladen?" „Natürlich. Coenraad gehört zu meinen ältesten Freunden. Er und Adelaide lieben sich abgöttisch." „Ja, das merkt man." Deborah wollte nichts mehr davon hören. Nichts von verliebten Ehepaaren und nichts von ihren Kindern - es tat zu weh. „Ich freue mich schon darauf, Abigail kennen zu lernen." „Wenn wir am Sonnabend früh aufbrechen, haben wir genug Zeit, erst das Haus zu besichtigen und anschließend die Ter Borgs zu besuchen. Sie werden uns zum Abendessen einladen, aber da ich am nächsten Tag nicht ins Krankenhaus muss, können wir spät zurückfahren." Deborah stand auf. „Ein verlockender Plan. Bist du noch nicht müde? Ich glaube, ich gehe ins Bett." Sie ließ die Fingerspitzen behutsam über die Perlen gleiten. „Ich danke dir noch einmal für dein Geschenk, Gerard. Ich werde die Kette und die Ohrringe in Ehren halten." „Das weiß ich." Gerards Ton verriet, dass er nichts anderes erwartet hatte. „Generationen von VanDoorninck-Frauen haben sie vor dir in Ehren gehalten, und ich hoffe, dass es noch viele nach dir tun werden." Deborah ging langsam die Treppe hinauf. Seltsam, dachte sie, immer wenn Gerard mich daran erinnert, dass ich mit ihm verheiratet und daher eine Van Doorninck bin, komme ich mir wie eine Außenseiterin vor.
9. KAPITEL Insgeheim rechnete Deborah damit, dass irgendetwas die Fahrt nach Friesland verhindern würde, aber es geschah nichts. Sie verließen Amsterdam kurz nach acht Uhr, passierten Hoorn und Den Oever und gelangten über den Afsluitdijk nach Friesland. Gerard vermied die verkehrsreiche Straße nach Leeuwarden und erreichte über Bolsward und Sneek das ausgedehnte friesische Seengebiet, das Deborah begeisterte. „Ich hatte keine Ahnung, dass es hier so viel Wasser gibt", meinte sie verwundert. „Besitzt du ein Segelboot?" „Sogar eine kleine Yacht mit etwa zehn Tonnen Wasserverdrängung." Die Straße war schmal geworden und führte oben auf einem Deich entlang. „Sie fährt wie ein Traum und ist mein ganzer Stolz." Deborah hatte keine genaue Vorstellung davon, was zehn Tonnen Wasserverdrängung bedeutete. „Wo liegt sie?" „In Domwier. Von dort führt ein Kanal direkt ins Sneeker Meer. In diesem Sommer bin ich kaum zum Segeln gekommen, aber wenn der Herbst schön wird, findet sich vielleicht noch eine Gelegenheit. Würdest du mich begleiten?" „O ja, bitte, wenn ich dich nicht störe. Ich verstehe nichts vom Segeln, aber du könntest mir das Nötigste beibringen." „Abgemacht. Hoffen wir also auf gutes Wetter. Siehst du vor uns den Kirchturm? Der gehört zu Domwier. Eine Kirche, ein Geschäft und einige Häuser, das ist alles. Unser Haus liegt hinter dem Dorf." Gerard hatte nicht übertrieben, denn kaum näherten sie sich dem Dorf, lag es auch schon hinter ihnen. Noch ein, zwei Kilometer, dann bogen sie in einen schmalen Sandweg ein, und da lag das Haus - alt, solide, mit kleinen Fenstern und zwei steinernen Schwänen über der mächtigen Tür. Die Auffahrt war von Blu menbeeten mit Dahlien und Chrysanthemen, die ihre spätsommerliche Pracht entfalteten, eingefasst. Dahinter öffnete sich der Garten, durch dessen dichtes Grün hin und wieder Wasser hindurchblitzte. Die Haustür stand offen, und als sie den Flur betraten, kam ihnen vom anderen Ende eine große, kräftige Frau entgegen, die sofort ein lebhaftes Gespräch mit Gerard begann. Erst nach einer Weile drehte er sich zu Deborah um und sagte: „Entschuldige, dass wir Friesisch sprechen, aber Sien spricht aus Überzeugung keine andere Sprache ... nicht einmal Holländisch." Sien drückte Deborah die Hand, sagte etwas, das wie eine Begrüßung klang, und verschwand wieder in der Küche. „Sie bringt uns Kaffee", übersetzte Gerard und nahm Deborahs Arm. „Wir trinken ihn im Wohnzimmer, und danach zeige ich dir das Haus." Das Wohnzimmer war einfach und ganz im friesischen Stil eingerichtet. Die Schränke waren bemalt, die Stühle mit Stroh bespannt, und eine Wand wurde ganz von dem gekachelten Kamin eingenommen. Ein Telefon und ein tragbares Fernsehgerät, das diskret in einer Ecke stand, waren die einzigen Zugeständnisse an die moderne Zeit. „Alles ländlich und schlicht", meinte Gerard, der Deborahs Blick gefolgt war. „Aber es fehlt uns nicht an der nötigen Bequemlichkeit." Allerdings nicht, dachte sie, als Sien mit einem schweren Silbertablett in den Händen hereinkam, auf dem ein kostbares silbernes Kaffeeservice und zierliche, hauchdünne Tassen standen. Unter „ländlich schlicht" hatte sie sich bisher etwas anderes vorgestellt. Der Kaffee war stark und heiß, und der selbst gebackene Rosinenkuchen schmeckte köstlich. Deborah, die das Gespräch möglichst unpersönlich halten wollte, fragte nach dem Haus, den Möbeln und den kleinen Ölbildern, die rechts und links vom Kamin hingen und überwiegend Feldtiere in ihrer natürlichen Umgebung darstellten. „Sie stammen von Jacob de Gheyn", erklärte Gerard. „Eine meiner Vorfahrinnen liebte die kleinen Geschöpfe der Natur, und so wurden diese Bilder in Auftrag gegeben. Seitdem hängen sie hier und entzücken jeden, der ein Auge dafür hat. Und nun komm, und sieh dir das Haus an." Das Esszimmer lag auf der anderen Seite des Flurs und hatte ein großes Erkerfenster mit Blick auf Garten und See. Um den ovalen Eichentisch standen hochlehnige, mit buntem Damast bezogene Stühle, die mächtige Anrichte diente zugleich als Schauschrank für Delfter Porzellan. Deborah hatte noch nie so große Platten und so makellos erhaltene Terrinen gesehen. In der Küche befand sich eine ähnliche Anrichte, aber die übrige Ausstattung genügte modernsten Ansprüchen, was auch für die beiden Badezimmer im ersten Stock galt. Die Schlafzimmer waren bequem, aber nicht unnötig luxuriös eingerichtet, ebenso die beiden Dachkammern, die man über eine schmale, fast senkrecht ansteigende Treppe erreichte. „Was für ein bezauberndes Haus!" sagte Deborah, als sie wieder hinuntergingen. „Wie geschaffen, um nach einem anstrengenden Tag Kühe und Frieden zu finden. Ich liebe das Haus in Amsterdam, aber hier könnte ich mich ebenso wohl fühlen."
„Tatsächlich?" Ihr Urteil schien Gerard zu freuen. „Ich liebe dieses Haus besonders, und auch meine Mutter kommt immer wieder her. Im Winter ist es allerdings ziemlich einsam." „Dann würde es mir wahrscheinlich am besten gefallen. Frieren die Seen zu?" Sie waren wieder im Esszimmer angekommen, wo Sien die letzten Vorbereitungen zum Lunch traf. „Ja, aber zum Schlittschuhlaufen ist das Eis oft nicht dick genug. Ich kann mich erinnern, dass ich in besonders kalten Wintern quer über den See bis zu Dominics Haus gelaufen bin." „Das müssen viele Kilometer sein ..." „Nicht mehr als zwei oder drei." Gerard schenkte zwei Gläser Sherry ein. „Mit dem Auto müssen wir um den halben See herumfahren. Das ist viel weiter." Nach dem Lunch brachen sie auf. Während des Essens hatte Deborah Gerard selten so heiter erlebt und sich ihm noch nie so nah gefühlt. Ob er das auch gespürt hatte? Sie war in großer Versuchung, ihn zu fragen. Nicht etwa, um ihm ihre Liebe zu gestehen, denn dann wäre alles aus gewesen. Aber ihm zu zeigen, wie glücklich sie war und wie frei sie sich in seiner Gegenwart fühlte, hätte alles noch schöner gemacht. Leider fand sie nicht gleich die richtigen Worte, und die Fahrt war zu kurz, um ein richtiges Gespräch anzufangen. Das Haus der Ter Borgs war größer als das in Domwier, aber ähnlich eingerichtet. Dominic und Abigail erwarteten sie an der Haustür. Dominic war so groß wie Gerard und sah, wie Deborah sofort feststellte, fast genauso gut aus. Abigail war klein und hatte keine besonderen Vorzüge. Sie war der unscheinbare Typ, und nur das Glück verlieh ihr einen Hauch von Anmut. Sie umarmte Gerard, gab Deborah die Hand und sagte mit einer unerwartet wohlklingenden Stimme: „Was für eine nette Überraschung! Als wir von Gerards Heirat hörten, wollten wir gleich einen Besuch machen, aber das Wetter ist noch so schön, dass wir uns nicht von hier trennen können. Der Winter kommt früh genug." Es gab so viel zu erzählen, dass es Teezeit war, bevor Abigail einen Rundgang durch das Haus und den Garten vorschlug. Als Gerard anschließend aufbrechen wollte, stieß er auf entschiedenen Protest. „Ihr bleibt zum Dinner", erklärte Abigail kategorisch. „Ich dulde keine Widerrede." Lächelnd fügte sie hinzu: „Frauen in meinem Zustand muss man ihren Willen lassen. Wie ich höre, bin ich nicht die Einzige. Adelaide van Essen soll ebenfalls schwanger sein. Ist sie nicht ein Schatz, Deborah?" „Sie ist reizend", stimmte Deborah zu, „und für mich ist es ein Glück, zwei Engländerinnen in der Nähe zu wissen. Nicht, dass ich mich einsam fühle", setzte sie mit einem Blick auf Gerard schnell hinzu, „aber es dauert doch länger, Holländisch zu lernen, als ich dachte." „Adelaide hat mir am Telefon erzählt, dass Professor de Wit Ihr Lehrer ist. Sie hat selbst Stunden bei ihm genommen, bevor sie Coenraad heiratete. Kommen Sie, Deborah. Wir wollen in die Küche gehen und Bollinger sagen, dass wir zwei Gäste haben. Bolly ist ein Juwel. Ich habe ihn aus England mitgebracht, und jetzt gehört er praktisch zur Familie." Deborah folgte Abigail in die Küche, aber sie hörte ihr nur noch mit halbem Ohr zu. Warum waren alle glücklich verheiratet und nur sie nicht? Abigail erwartete ihr erstes, Adelaide ihr drittes Kind. Beide liebten ihre Männer, und ihre Liebe wurde vorbehaltlos erwidert. Lag es an ihr, dass Gerard so reserviert blieb? Gab sie sich zu wenig oder zu viel Mühe? Verärgerte sie ihn, ohne es zu wissen, oder langweilte sie ihn vielleicht? Sie würde die Rückfahrt nutzen, um es herauszufinden. Der schwere Rotwein, den Dominic zum Essen ausgesucht hatte, half Deborah, ihrem Vorsatz treu zu bleiben. Als sie den Afs luitdijk erreicht hatten und eine lange, gerade Strecke vor ihnen lag, fragte sie ohne lange Einleitung: „Langweile ich dich, Gerard? Habe ich etwas an mir, das dich stört, oder ärgere ich dich, ohne es zu merken?" Gerard antwortete nicht gleich. Er sah unbeirrt geradeaus, überholte einen kleinen Lastwagen und sagte dann: „Was für eine Frage, Deborah. Warum solltest du mich langweilen oder ärgern, und was sollte mich an dir stören? Ich begreife nicht, wie du dir darum Gedanken machen kannst." „Ich auch nicht. Vielleicht wollte ich nur wissen, ob du mit unserer Ehe zufrieden bist und in mir die Frau gefunden hast, die du wolltest. Wir sind nicht oft zusammen, und ich weiß sehr wenig über dich. Vielleicht möchtest du in Ruhe gelassen werden, wenn du abends müde nach Hause kommst. Ich könnte das verstehen, und wenn es dir lieber wäre, dich bei einem Drink und der Zeitung zu entspannen ..." Sie näherten sich dem Ende des Deichs, wo die großen Schleusen lagen. Gerard fuhr langsamer, warf Deborah rasch einen Seitenblick zu und meinte lachend: „Ich habe den Eindruck, du willst mich zu einem typischen Holländer machen, der abends Zeitung liest und seinen Genever dazu trinkt. Ich habe dir dieses Bild selbst entworfen, aber in einem ganz anderen Zusammenhang." Gerard machte eine Pause, um die Abfahrt nach Den Oever und Wieringerwerf nicht zu verpassen. Als sie sich richtig eingereiht hatten, fuhr er fort: „Ich bin mit meinem Leben zufrieden, Deborah. Du bist die Frau, die ich mir gewünscht habe. Du langweilst mich nicht ein bisschen, und ich freue mich jeden Abend auf dich, auch wenn ich noch so müde bin. Genügt das, um dich von deinen Zweifeln zu befreien?" Es genügt, um mir die Hoffnungslosigkeit meiner Lage zu zeigen, dachte Deborah traurig. Sie hätte ihrem Herzen gern Luft gemacht, mit den Füßen getrampelt oder laut geschrieen, aber natürlich beherrschte sie sich - wie gewöhnlich. „Ich danke dir, Gerard", antwortete sie und begann über das Haus in Friesland zu sprechen. Als sie in
der Keizersgracht hielten, war das Thema peinlich erschöpft, aber von ihrer Ehe war wenigstens nicht mehr die Rede gewesen. Es war spät, und Deborah ging sofort in ihr Zimmer hinauf. Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, erfuhr sie von Wim, dass Gerard früh ins Krankenhaus gerufen worden war und sich seitdem nicht gemeldet hatte. Er kam zum Mittagessen, aber Deborah vermutete, dass diese Höflichkeit seiner Mutter galt, die er für diesen Tag eingeladen hatte. Sie liebte es nicht, wenn über das Krankenhaus gesprochen wurde, und so konnte Deborah keine Fragen stellen. Sie widmete sich ganz ihrer Schwiegermutter und setzte sich nach dem Essen mit ihr ins Wohnzimmer, um — wie Mevrouw van Doorninck es ausdrückte - etwas mehr über die Familie zu erfahren. Gerard war in sein Arbeitszimmer gegangen, um zu telefonieren, und hatte sich danach nicht mehr blicken lassen. Seine Mutter blieb zum Tee und ließ sich danach leicht überreden, auf Gerard zu warten und gemeinsam mit ihnen zu Abend zu essen. Zu Deborahs Erleichterung erschien er pünktlich, fragte höflich, ob sie einen angenehmen Nachmittag verbracht hätten, und hüllte sich über seine Arbeit weiter in Schweigen. Erst später am Abend, als er seine Mutter nach Hause gefahren hatte, erfuhr Deborah den Grund für seine Abwesenheit. „Bevor du mir irgendwelche Fragen stellst, möchte ich mich in aller Form entschuldigen", begann er das Gespräch. „Entschuldigen?" wiederholte Deborah erstaunt und klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte. „Wofür, um Himmels willen?" „Dafür, dass ich dich den ganzen Nachmittag mit meiner Mutter allein gelassen habe." „Aber du musstest telefonieren, wahrscheinlich wichtige Arbeiten erledigen..." Gerard lächelte und sah beinahe wie ein frecher Junge aus. So könnte er aussehen, wenn er glücklich wäre und sich nicht im Krankenhausdienst aufopfern würde, dachte Deborah. „Ich habe geschlafen", fuhr Gerard fort. „Ich weiß, das war ungehörig, aber ich wurde heute Nacht kurz nach unserer Rückkehr ins Krankenhaus gerufen. Als ich endlich fertig war und nach Hause fahren wollte, lagen zwei Unfallopfer in der Notaufnahme." „Armer Gerard!" rief Deborah voller Mitgefühl. „Du musst ja völlig erledigt gewesen sein. Warum hast du mir bloß nichts gesagt? Warum hast du dir nicht helfen lassen?" Um nicht aufdringlich zu erscheinen, fuhr sie schnell fort: „Und ich habe mich bei deiner Mutter beklagt, weil du angeblich nie Zeit für dich selbst hast und deine Sonntagnachmittage am Schreibtisch verbringst." Gerard sah sie betroffen an. „Du bist eine hingebungsvolle Ehefrau", sagte er leise. Deborah errötete. „Sind das nicht alle Ehefrauen?" fragte sie, aber sein Gesicht hatte schon wieder den üblichen reservierten Ausdruck angenommen. Dachte er an Saskia, die alles andere als hingebungsvoll gewesen war? „Wollen wir morgen Abend früher essen, damit du anschließend noch arbeiten kannst?" fragte sie. „Musst du übermorgen lange operieren?" „Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen", antwortete Gerard. „Ich operiere übermorgen nur vormittags. Am Nachmittag könnten wir einen Ausflug machen, wenn du Lust dazu hast." Diesmal errötete Deborah vor Freude, aber sie hütete sich, allzu große Begeisterung zu zeigen. „Wohin soll es denn gehen?" erkundigte sie sich. „Ich wollte dir die Vecht zeigen, an der die berühmten Kaufmannsvillen liegen. Sie stammen aus dem achtzehnten Jahrhundert, als mit der Holländisch-Ostindischen Kompanie viel Geld verdient wurde." Deborah stimmte überglücklich zu. Waren Gerards Vorstellungen von der Ehe am Ende doch nicht so streng, wie er behauptet hatte? War dies ein Anfang zu größerem Verständnis und mehr Gemeinsamkeit? Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.
10. KAPITEL Die Fahrt an der Vecht war ein Erlebnis für Deborah, und Gerards Verhalten nährte die Hoffnungen, die sie sich vor dem Einschlafen gemacht hatte. Sie ging auch an diesem Abend glücklicher als sonst ins Bett und träumte so schön wie lange nicht. Eigentlich hätte ihr schon vorher klar sein müssen, dass auf diese Träume nur Ernüchterung folgen konnte. Gerard sagte ihr kurz Guten Morgen und rückte dann mit einer ganzen Liste von Aufträgen heraus, die sie - natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten - für ihn erledigen sollte. Deborah wusste, dass er zu beschäftigt war, um sich selbst um diese Dinge zu kümmern, aber sie kam sich wie eine Sekretärin vor. Gerards nüchterner, geschäftsmäßiger Ton verstärkte diesen Eindruck noch. Sah er wirklich nur eine bessere Sekretärin in ihr, oder wollte er ihr zu verstehen geben, dass die letzten Tage weniger die Regel als die Ausnahme gewesen waren? Nur mit Mühe schaffte sie es am Vormittag, alle Aufträge zu erledigen. Deborah aß allein zu Mittag, nahm anschließend ihre Stunde bei Professor de Wit und ging von dort zu ihrer Schwiegermutter, die sie zum Tee erwartete. Sie ging schnell, denn die Luft war schon frisch, und sie hatte nur ihren leichten Sommermantel an. Ab und zu blieb sie stehen, um die Auslagen in einem Schaufenster zu betrachten. Ihre Herbstgarderobe wies noch erhebliche Lücken auf, und wenn es so kühl blieb, musste sie sich nach wärmeren Sachen umsehen. Mevrouw van Doorninck war entzückt, sie zu sehen. Deborah hatte inzwischen eine warme Zuneigung zu ihr gefasst, obwohl sie selten herzlich wurde und nie Interesse an persönlichen Bekenntnissen verriet. Sie wahrte bewusst Abstand, was sich auch darin zeigte, dass sie Deborah zwar zur Familie zählte, ihr aber noch nicht das vertrauliche Du angeboten hatte. Deborah war das eher recht. Sie respektierte in Mevrouw van Doorninck die ältere Frau und d ie Schwiegermutter, und die höfliche Aufmerksamkeit, mit der sie sich begegneten, machte ihr den Umgang leicht. Mevrouw van Doorninck ließ sich ausführlich von der Fahrt an die Vecht erzählen. Sie erinnerte sich an ähnliche Ausflüge, die sie früher mit ihrem Mann und den Kindern gemacht hatte, und einmal fiel sogar Saskias Name. Deborah hatte schon lange vorgehabt, ihre Schwiegermutter nach Gerards erster Frau zu fragen. Jetzt bot sich endlich eine Gelegenheit, die vielleicht so bald nicht wiederkommen würde. „Was für ein Mensch war Saskia?" fragte sie beherzt. „Gerard hat mir erzählt, sie sei sehr schön gewesen, aber wie war sie wirklich?" „Gerard hat Recht. Sie war sehr schön, aber auch herzlos, unmoralisch und eigensinnig. Sie machte Gerard das Leben zur Hölle. Ich hätte eingreifen können, aber Sie kennen ja meinen Sohn. Ich musste zusehen, wie er den größten Fehler seines Lebens machte und Saskia heiratete. Er war ihr verfallen. Das ist viel gefährlicher, als verliebt zu sein, denn es macht blind. Zum Glück hatte Gerard seine Arbeit, sonst wäre womöglich Schlimmeres passiert." Mevrouw van Doorninck seufzte. „Inzwischen arbeitet er allerdings zu viel und versäumt die Freuden des Lebens. Sie haben das gewiss bemerkt?" „Im ,Grotehof scheint einiges neu organisiert zu werden. Wenn das geschehen ist, wird er wahrscheinlich mehr Zeit haben." „Ja, wahrscheinlich." Der leise Unterton in Mevrouw van Doornincks Stimme machte Deborah stutzig. Ahnte sie, wie es um ihre Ehe stand? Eigentlich war das unwahrscheinlich, denn Gerard verhielt sich mustergültig, wenn Gäste oder Familienmitglieder dabei waren. Und nicht nur dann, verbesserte sie sich schnell. Auch wenn sie allein waren, konnte sie sich über sein Verhalten nicht beklagen. „Wahrscheinlich haben Sie Recht", sagte Mevrouw van Doorninck noch einmal. „Und nun erzählen Sie mir, wer morgen Abend zur Party kommt." Deborah nannte ihr die Namen der Gäste, von denen sie die meisten schon kannte. Zwei wurden von auswärts erwartet, und der eine - Dr. de Joufferie aus Paris - sollte über Nacht bleiben. Nachdem sie noch erzählt hatte, was sie anziehen würde, stand sie auf und verabschiedete sich. Sie küsste ihrer Schwiegermutter die Wange und war überrascht, wie herzlich der KUSS erwidert wurde. „Wenn Sie jemals Hilfe brauchen, Deborah, müssen Sie zu mir kommen. Ich bin immer für Sie da. Das eine oder andere Mal dachte ich schon ... aber lassen wir das. Auf Wiedersehen, mein Kind. Bis morgen Abend." Deborah verließ schnell die Wohnung. Was mochte ihre Schwiegermutter gemeint haben? Vermutlich spürte sie, dass weder ihr Sohn noch ihre Schwiegertochter so glücklich waren, wie man es von jungen Eheleuten erwarten konnte. Deborah zog sich früh um, denn sie wollte rechtzeitig unten sein, um den gedeckten Tisch zu überprüfen, nach den Blumen zu sehen und für vorteilhafte Beleuchtung zu sorgen. Diesmal sollte es ein besonders festlicher Abend werden, denn neben dem Direktor des Krankenhauses wurde auch der Bürgermeister erwartet. Deborah hatte sich mit ihrem Äußeren große Mühe gegeben. Sie trug ein lavendelfarbenes Chiffonkleid mit weiten, eng abschließenden Ärmeln und dezenten Rüschen am Ausschnitt. Der breite
Gürtel betonte ihre Taille, und der aufwendige Perlenschmuck war der Frau eines erfolgreichen Arztes würdig. „Elegant und nicht zu protzig", sagte sie, als sie einen letzten Blick in den großen Wandspiegel oberhalb der Treppe warf. In ihrem Zimmer gab es genug Spiegel, aber dieser gefiel ihr besonders. Er hatte einen kunstvollen Goldrahmen, und sie bildete sich ein, dass er ihr mehr schmeichelte als die anderen. „Ein zweifelhaftes Urteil", erklang es hinter ihr. Gerard war so leise heraufgekommen, dass Deborah ihn nicht gehört hatte. „Du bist schon da?" rief sie erfreut. „Ich habe deine Sachen herausgelegt und werde unten noch einmal nach dem Rechten sehen." „Einen Augenblick." Gerard überreichte ihr einen altmodischen, mit Plüsch bezogenen Kasten. „Ich wusste, dass du etwas Lavendelfarbenes träfst, und dachte, Großtante Emmilines Granatschmuck würde gut dazu passen." Deborah setzte sich auf die oberste Stufe und öffnete den Kasten. Großtante Emmiline musste Granat sehr geschätzt haben. Es gab Ringe, Broschen, Ohrstecker, zwei schwere goldene Armbänder und ein goldenes Kollier - jeweils mit großen Granatsteinen besetzt. Deborah war überwältigt. „Sie sind wunderschön. Darf ich sie wirklich ausleihen?" Gerard hatte sich neben sie gesetzt. „Sie gehören dir, Deborah. Ich habe sie dir eben geschenkt. Du kannst nicht alles auf einmal tragen, aber das eine oder andere Stück müsste dir eigentlich gefallen." „O ja, natürlich. Vielen Dank, Gerard. Du verwöhnst mich immer wieder." Sie nahm ein Armband heraus und legte es sich ums Handgelenk. Es passte ausgezeichnet, und nachdem sie die Perlen abgenommen hatte, legte sie auch das Kollier um. Ihren Verlobungsring wollte sie nicht abnehmen, aber sie steckte zwei Ringe an die andere Hand und vertauschte die Perlenohrringe gegen Granatstecker. Dann stand sie auf und trat wieder vor den Spiegel. Gerard hatte Recht, der Granatschmuck passte zu dem Kleid weit besser als die Perlen. „Habe ich zu viel genommen?" fragte sie ängstlich. „Nein, gerade genug. Übrigens ist das ein hübsches Kleid. Es steht dir wirklich gut." „Danke", antwortete Deborah glücklich. „Wenn du mich jetzt entschuldigst... ich möchte die Perlen und Großtante Emmilines Kasten in mein Zimmer bringen." Als Deborah zurückkam, war Gerard verschwunden. Sie ging hinunter, aber es gab nichts mehr für sie zu tun. Sie hatte tagsüber alles Notwendige vorbereitet, und Marijke und Wim brauchten keine Anweisungen. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Kamin, den Wim vorsorglich geheizt hatte. Wenig später kam auch Gerard. Der Smoking stand ihm ausgezeichnet, und Deborah dachte: Er wird nie sein gutes Aussehen verlieren, auch im Alter nicht. Sie hatte Bilder von seinem Vater gesehen und sich gewundert, wie ähnlich er seinem Sohn noch mit fünfundsiebzig Jahren gewesen war. Sie versuchte ein harmloses Gespräch anzufangen, aber Gerard antwortete so einsilbig, dass sie aufatmete, als die Haustürklingel den ersten Gast ankündigte. Der Abend wurde ein Erfolg, was bei Deborahs sorgfältigen Vorbereitungen kaum anders sein konnte. Das Essen schmeckte köstlich, und die Gäste kannten sich so gut, dass es nicht an gemeinsamem Gesprächsstoff mangelte. Der Bürgermeister, ein stattlicher jüngerer Mann, hatte Deborah zuerst etwas eingeschüchtert, aber seine Frau, eine kleine, rundliche Person, machte das durch ihre Freundlichkeit wett. Sie fragte Deborah in schlechtem Schulenglisch, ob sie schon etwas Holländisch sprechen könne, und gab ihr damit Gelegenheit, einige bei dem Professor gelernte Sätze anzubringen - mit fehlerhafter Grammatik, aber fast perfekter Aussprache. Es wurde gutmütig gelacht, und der Bürgermeister sagte würdevoll: „Ihr Holländisch ist eine Wohltat für meine Ohren", worauf der Abend gerettet war. Anfangs war keine Zeit gewesen, mit den Van Essens mehr als einige Worte zu wechseln, aber nach dem Essen, als sich alle im Wohnzimmer versammelt hatten, nahm Deborah Adelaide beiseite, um ihr Urteil über die Party zu erfahren. „Ein großer Erfolg", antwortete Adelaide spontan. „Man merkt, wie wunderbar Sie zu Gerard passen. Es ist ein großer Nachteil für einen erfolgreichen Mann, wenn er keine Frau hat, die die gesellschaftlichen Verpflichtungen übernimmt. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Früher nahm ich diese Dinge auf die leichte Schulter, aber sie sind wichtiger, als man denkt. Übrigens mag ich Ihr Kleid, und der Granatschmuck passt ideal dazu. Alte Erbstücke der Van Doornincks? Ich besitze auch Granatschmuck, aber zu meinem roten Haar ... da muss ich vorsichtig sein. Sind Sie nach Friesland gefahren?" Deborah nickte. „Ich habe mich auf Anhieb in das Haus verliebt. Nach dem Lunch haben wir Dominic und Abigail besucht. Es ist bezaubernd am See." Sie blieben noch einige Minuten zusammen, dann versprach Deborah, Adelaide in den nächsten Tagen anzurufen, und widmete sich ihrer Schwiegermutter. Nachdem alle Gäste gegangen waren und Dr. de Joufferie sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, erwähnte Gerard beiläufig, dass Claude wieder in der Stadt sei.
„Er war in Nizza", fügte er hinzu. „Angeblich will er sein Amsterdamer Haus verkaufen und nach Frankreich übersiedeln." „Oh." Deborah war im Begriff, ins Bett zu gehen. „Er wird hoffentlich nicht hierher kommen." „Das nehme ich nicht an. Würde es dir etwas ausmachen, wenn er käme?" „Nicht im Geringsten", beteuerte sie, obwohl sie sich kaum etwas Unangenehmeres vorstellen konnte. Gerard hatte keine andere Antwort erwartet. „Natürlich nicht", sagte er. „Dazu bist du viel zu vernünftig. Sollte er die Frechheit besitzen vorbeizukommen, wirst du bestimmt spielend mit ihm fertig." Er machte eine kurze Pause. „Ich glaube, ich sagte es schon, aber das ist wirklich ein hübsches Kleid." Deborah bedankte sich für das Kompliment und wünschte, er hätte sie und nicht das Kleid hübsch genannt. Offenbar spielte ihr Aussehen keine große Rolle für ihn. Es genügte ihm, dass sie „vernünftig" genug war, um mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Der Gedanke beschäftigte sie so, dass sie beinahe Gerards Dank für den gelungenen Abend überhörte. Sie murmelte eine belanglose Antwort, erklärte, dass sie müde sei, und ging bedrückt in ihr Zimmer hinauf. Für Gerard war alles zu vollster Zufriedenheit verlaufen, aber sie fand durchaus einiges auszusetzen. Sekretärin, Hausdame, Wirtschafterin ... von allem war sie etwas, nur eins nicht: Gerards Frau. Dr. de Joufferie frühstückte mit ihnen, und da er fließend Englisch sprach, ergab sich eine angeregte Unterhaltung. Erst gegen Ende der Mahlzeit wandten sich die Männer fachlichen Problemen zu. Gerard war zu einem Kongress nach Paris eingeladen worden, und Dr. de Joufferie äußerte die Hoffnung, dass Deborah ihn begleiten würde. „Meiner Frau wäre es eine Freude, Ihnen die Schönheiten der Stadt zu zeigen", fügte er hinzu. Deborah gab eine ausweichende Antwort. Sie wollte den Doktor nicht kränken, aber es erschien ihr zweifelhaft, dass Gerard ihre Begleitung wünschte. Er hatte nie einen ähnlichen Vorschlag gemacht, und auch jetzt verriet sein Gesicht keine Reaktion. Er war höflich und aufmerksam wie immer, vermied es aber, sich mit einem einzigen Wort zu dem Vorschlag zu äußern. Die Männer verließen gemeinsam das Haus, und Deborah begleitete sie bis zur Tür. Dr. de Joufferie verabschiedete sich mit einem Handkuss und drückte die Hoffnung aus, Deborah bald wieder zu sehen. Die deutliche Bewunderung, die in seinem Blick lag, ließ ihre Wangen erglühen, aber Gerards kühler KUSS brachte sie schnell in die Wirklichkeit zurück. Sie beschäftigte sich im Haus, bis sie Wim in die Quere kam, und setzte sich dann mit ihren Lehrbüchern ins Wohnzimmer. Lustlos blätterte sie hin und her und warf die Bücher endlich in die Sofaecke. Sie war einfach nicht in der richtigen Stimmung, um zu lernen. Gerard hatte vor einigen Tagen gesagt, sie solle häufiger einkaufen gehen, um sich die Zeit zu vertreiben, und genau das würde sie jetzt tun. Sie würde einige der teureren Boutiquen aufsuchen und sich nicht um die Preisschilder kümmern. Gerard gab ihr mehr als genug Geld, und außerdem durfte sie alle Rechnungen auf seinen Namen ausstellen lassen. Sie ging die Keizersgracht hinunter bis zu „Metz", wo sie kurzerhand die Haute-Couture-Abteilung aufsuchte. Sie sah sich mehrere sündhaft teure Wollkostüme an, konnte sich aber für keins entscheiden und wandte sich den Kleidern zu. „Die neue Herbstkollektion ist gerade eingetroffen, Mevrouw", sagte die Verkäuferin. „Nehmen Sie sich ruhig Zeit, dann finden Sie bestimmt etwas." Es dauerte nicht lange, bis Deborah das perfekte Kleid entdeckt hatte. Es war ein Modell von Gina Fratini - ein weißes Seidenkleid für den Abend, mit hochgeschlossenem Kragen, langen Ärmeln und echtem Spitzenbesatz. Deborah betrachtete es genauer. Sicher hatte es nicht die richtige Größe, und wann sollte sie es tragen? Vielleicht zum Weihnachtsball des Krankenhauses oder zum Empfang des Bürgermeisters im Rathaus. Die Verkäuferin, die sich dezent im Hintergrund gehalten hatte, machte Deborah Mut. Sie kannte sogar ihren Namen, was Deborah das Gefühl gab, eine alte, hoch geschätzte Kundin zu sein. „Ein bezauberndes Kleid, Mevrouw van Doorninck", sagte sie. „Genau Ihr Stil und vermutlich auch Ihre Größe." Sie legte das Kleid über den Arm, um die fließende Seide besser zur Geltung zu bringen. „Möchten Sie es vielleicht anprobieren?" Deborah zögerte. „Eigentlich habe ich etwas aus Tweed oder Jersey gesucht, aber ..." Sie bemerkte das aufmunternde Lächeln der Verkäuferin. „Also gut. Ich werde es anprobieren." Das Kleid passte genau und sah hinreißend aus, das erkannte Deborah auf den ersten Blick. Sie konnte nicht erklären, warum es ihr so gut stand, aber die Wirkung war auffallend, und die schmeichelhaften Bemerkungen der Verkäuferin bestätigten ihr Urteil. „Ich nehme es", erklärte sie schnell. „Würden Sie die Rechnung für meinen Mann ausstellen?" Erst als sie sich wieder angezogen hatte und zusah, wie das Kleid eingepackt wurde, fragte sie nach dem Preis. Er übertraf ihre Erwartungen bei weitem, aber sosehr sie auch in sich ging -ihr Gewissen regte sich nicht. Gerard hatte sie oft genug aufgefordert, Kleider auf seine Rechnung zu kaufen. Dann durfte er sich auch nicht wundern, wenn sie ihn beim Wort nahm. Die Verkäuferin fragte, ob das Kleid geliefert werden solle, aber Deborah nahm es selbst mit. Sie
wollte es zu Hause noch einmal anziehen und wäre gleich in ihr Zimmer hinaufgegangen, wenn Wim sie nicht zu Tisch gebeten hätte. Marijkes Soufflee durfte nicht warten, und Deborah musste ihre Ungeduld bis nach dem Essen bezwingen. Diesmal legte sie auch den Perlenschmuck an und schlüpfte in weiße Seidenpumps. Die Wirkung des Kleides wurde dadurch noch gehoben, und Deborah erkannte sich kaum wieder, als sie vor den großen Flurspiegel trat. „Aschenputtel auf dem Weg zum Ball", klang es von unten herauf. Deborah drehte sich um. Hatte sie richtig gehört? Ja, es war Claude. Er stand unten an der Treppe und lächelte so unbefangen, als hätte Gerard ihm nie das Haus verboten. „Was tun Sie hier?" fragte Deborah. Ihre Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. „Ich will mich verabschieden", antwortete Claude ungerührt. „Ich verschwinde von hier, zum Glück für immer. Sollte ich gehen, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen?" Er lachte anzüglich. „Keine Sorge, ich habe im Krankenhaus angerufen und mir sagen lassen, dass Gerard beschäftigt ist. Er kann uns also nicht überraschen. Wie bezaubernd Sie wieder aussehen! Erwarten Sie einen Freund?" Deborah war zu stolz, um darauf zu antworten. „Wer hat Ihnen erlaubt, das Haus zu betreten?" fragte sie stattdessen. „Warum haben Sie nicht geklingelt?" „Beste Deborah, Sie vergessen, dass ich jahrelang in diesem Haus ein und aus gegangen bin. Der Weg durch den Garten ist mir vertraut." „Gehen Sie", befahl Deborah scharf, „und benutzen Sie diesmal die Vordertür. Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Gerard wäre außer sich, wenn er wüsste, dass Sie hier eingedrungen sind." Claude kam langsam die Treppe herauf. „Mein Gott, Debbie, seien wir doch ehrlich. Woher wollen Sie wissen, was Gerard verärgert und was nicht? Sie kennen ihn doch kaum. Was er denkt oder tut, ist ein Geheimnis für Sie. Ich habe die Rolle durchschaut, die Sie hier spielen. Sie sind eine dekorative Gastgeberin, wenn Besuch kommt, und Sie hüten das Haus, wenn Gerard verreist. Was sind das wohl für Reisen? Kleine Abstecher nach Paris, Brüssel oder Wien, dringende Operationen, wichtige Vorträge ... Und das alles, während Sie hier herumsitzen und sich langweilen." Claude hatte den oberen Treppenabsatz erreicht und blieb vor Deborah stehen. „Ich habe Recht, nicht wahr? O ja, ich sehe es dir an. Arme, schöne Deborah. Warum lässt du Gerard nicht fahren und kommst lieber mit mir? Nizza ist eine schöne Stadt, und wir könnten viel Spaß zusammen haben." Deborah hatte nicht mit einem körperlichen Angriff gerechnet. Sie war kräftig, aber Claude hielt sie so fest, dass sie sich nicht rühren konnte. Außerdem hätte heftige Gegenwehr das kostbare Kleid gefährdet. Als Claude sie küssen wollte, wandte sie das Gesicht ab und bemerkte daher nicht, dass Gerard die Treppe heraufkam. Claude sah ihn sofort. „Hallo, Gerard, alter Junge", sagte er, ohne Deborah loszulassen. „Du verstehst sicher, dass ich zu einem Abschiedsbesuch kommen musste, und was soll ich dir sagen? Deine sonst so zurückhaltende Deborah wollte mich nicht ohne einen KUSS gehen lassen." Gerard befreite Deborah mit einem einzigen Griff, führte Claude am Arm die Treppe hinunter und beförderte ihn wortlos zur Tür hinaus. Gleich darauf war er wieder oben. Deborah merkte ihm nicht die geringste Anstrengung an, nur seine Augen glänzten unheilvoll. „Wusstest du, dass Claude kommen wollte?" fragte er in eisigem Ton. „Was für eine verrückte Annahme!" Deborah zitterte am ganzen Körper. „Wie ist er dann hereingekommen? Öffnet Wim nicht die Tür?" „Natürlich öffnet er sie ... vorausgesetzt, dass geklingelt wird. Claude ist durch den Garten hereingekommen. Ich bemerkte ihn erst, als er im Flur stand und mich ansprach." Deborah versuchte zu lächeln. „Ich bin froh, dass du gekommen bist." „Ach ja?" Gerard zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass du Claude sehr viel Widerstand entgegengebracht hast." „Er hat mich überrascht", fuhr Deborah auf. „Ich habe versucht, mich zu wehren." „Hast du nach Wim gerufen?" Deborah schüttelte den Kopf. Seltsamerweise war ihr der Gedanke nicht gekommen. Gerard fixierte sie kalt. „Eine große, stämmige Person wie du ... Keine Schläge? Keine Fußtritte?" Stämmige Person! Deborah hasste Gerard wegen dieser Worte. Sie hätte schreien oder weinen mögen, aber Brust und Kehle waren ihr wie zugeschnürt. „Ich wollte dieses Kleid anprobieren", begann sie mühsam und erntete spöttisches Lachen. „Du glaubst mir nicht. Du denkst wirklich, dass ich ihn ermutigt habe." Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. „Also gut. Wenn du das unbedingt denken willst, soll es mir recht sein! Übrigens habe ich das Kleid auf deine Rechnung gekauft. Es ist ein Modell und hat über tausend Gulden gekostet. Ein Jammer, dass es nicht zweitausend waren!" Sie lief in ihr Schlafzimmer, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Unnötigerweise, wie sie sich eingestehen musste. Wann hatte Gerard je versucht, ihr Zimmer zu betreten? Nachdem sie sich umgezogen und flüchtig zurechtgemacht hatte, ging sie wieder hinunter. Gerard war in seinem Arbeitszimmer und rief sie herein. „Willst du dich nicht setzen?" fragte er, aber sie schüttelte den Kopf und wartete stehend ab, was er ihr
zu sagen hatte. „Ich bin nach Hause gekommen, um eine Reisetasche zu packen", erklärte er so ruhig, als hätte der Streit niemals stattgefunden. „Man erwartet mich in Genf, wahrscheinlich muss ich operieren. Ich nehme die Fünfuhrmaschine und bleibe bis übermorgen fort. Steht irgendetwas Wichtiges an?" Deborah schüttelte den Kopf. Keine Macht der Welt hätte ihr entlockt, dass übermorgen ihr Geburtstag war. Sie hatte das Datum nie verraten, und Gerard hatte nicht danach gefragt. „Gut, das erleichtert meine plötzliche Abreise. Sobald ich ..." Gerard sprach nicht weiter, denn Wim kam mit einem Blumenstrauß herein und übergab ihn Deborah. „Die Blumen sind eben gebracht worden, Mevrouw", sagte er und zog sich wieder zurück. Deborah zögerte, den Umschlag zu öffnen, der an das Zellophanpapier geheftet war. Wenn der Strauß nun von Claude kam? Ein so geschmackloser Scherz hätte genau zu ihm gepasst. Da Gerard weiter schwieg, ging sie zur Tür. „Ich werde deine Tasche packen. Brauchst du auch einen Smoking, oder ist die Reise rein beruflich?" „Oh, rein beruflich", antwortete er. „Und wenn es nicht so wäre ... man braucht nicht .unbedingt einen Smoking, um sich zu amüsieren." Der spöttische Blick, der diese Worte begleitete, traf Deborah tief. Es war, als hätte Claude gesprochen und seine falschen Anschuldigungen von vorhin wiederholt. Draußen öffnete sie den Umschlag und las die Zeilen, die auf der kleinen Karte standen. Die Blumen kamen von Dr. de Joufferie. Sie unterdrückte den Wunsch, Gerard die Karte zu zeigen, und ging nach oben, um seine Tasche zu packen.
11. KAPITEL Es war still im Haus, als Gerard gegangen war. Deborah widmete sich ihrem Holländisch, spielte mit Smith und las nach dem Abendessen, bis sie Kopfschmerzen hatte und sich hinlegen musste. Gerard hatte entgegen ihrer Erwartung nicht angerufen. Auch am nächsten Morgen meldete er sich nicht. Deborah beschäftigte sich ziemlich sinnlos im Haus und ging nach dem Essen mit Smith spazieren. Auf dem Rückweg holte sie eine Gruppe uniformierter Kinder ein, die im Gänsemarsch vor ihr hergingen. Das letzte Kind stolperte und blieb weinend zurück. Deborah hob es auf, wischte ihm die Tränen ab und trug es hinter den anderen her. Die Nonne, die die Kinder betreute, hatte bisher nichts be merkt. Jetzt drehte sie sich um, kam angelaufen und redete lebhaft auf Deborah ein. Deborah setzte das Kind behutsam ab und sagte auf Englisch: „Ich spreche leider nur sehr wenig Holländisch." Die Nonne lächelte. „Dann werde ich es mit meinem schlechten Englisch versuchen. Danke, dass Sie der Kleinen geholfen haben. Ich habe ihr Fehlen nicht gleich bemerkt, und meine Begleiterin ist schon vorausgegangen." Sie zeigte auf ein altes Ge bäude, das neben der katholischen Kirche stand, an der Deborah oft vorbeigekommen war. „Das Weeshuis. Es gehört zu unserem Orden." Weeshuis konnte eigentlich nur Waisenhaus bedeuten. „Dann sind die Kinder Waisen?" Die Nonne nickte. „Ja. Wir betreuen viele Waisenkinder. Die älteren gehen zur Schule, aber die hier sind noch zu klein. Jetzt gehen wir nach Hause, um zu singen und zu spielen. Früher kam einmal in der Woche eine Dame, die den Kindern Geschichten erzählte oder mit ihnen spielte. Das gefiel ihnen sehr." Sie nahm das Kind an der Hand. „Noch einmal vielen Dank, Mevrouw." Die kleine Schar setzte sich wieder in Bewegung und war kurz darauf im Waisenhaus verschwunden. Während Deborah allein ihren Tee trank, kam ihr ein Gedanke. Sie zögerte nicht lange, ging zum Waisenhaus zurück und klingelte an der Tür. Die kleine Sprechluke wurde geöffnet, und das Gesicht einer alten Nonne erschien hinter dem Gitter. „Könnte ich die Mutter Oberin sprechen?" fragte Deborah. Als die Nonne zögerte, setzte sie hinzu: „Ich bin Mevrouw van Doorninck. Mein Mann ist Chefarzt im ,Grotehof." Eine halbe Stunde später war sie wieder zu Hause. Die Mutter Oberin hatte sie überrascht angehört und ihrem Vorschlag, einmal wöchentlich mit den Kindern zu spielen, erfreut zugestimmt. Dass Deborah keine Katholikin war, hatte sie nicht gestört. „Wer sich unserer Kinder annimmt, hat Gottes Segen, welchem Glauben er auch angehört", hatte sie gesagt. „Wäre Ihnen der Donnerstagabend recht? Wenn die Kinder zu anstrengend werden, brauchen Sie es nur zu sagen." Am nächsten Morgen brachte der Postbote mehrere Briefe und Glückwunschkarten. Deborah las alles beim Frühstück und wollte gerade aufstehen, als Wim mit einem großen Blumenstrauß und einem üppig verpackten Karton hereinkam. „Mijnheer hat mir aufgetragen, Ihnen dies zu übergeben", erklärte er väterlich. „Die herzlichsten Glückwünsche, Mevrouw... auch von Marijke und mir." Die Blumen waren prachtvoll. Rosen, Nelken, Wicken und Lilien - alles verspätete Sommerblumen, die ihren zarten Duft verströmten. Deborah atmete ihn tief ein und las die Karte, die dem Strauß beilag. „Mit den besten Wünschen, G." Also hatte Gerard ihren Geburtstag doch nicht vergessen! Sie arrangierte die Blumen liebevoll in einer Vase und öffnete dann den Karton. Er enthielt eine Silbergarnitur für den Frisiertisch mit ihren Initialen und dem Wappen der Van Doornincks darüber. Wieder lag eine Karte dabei, und diesmal klang der Gruß etwas herzlicher. „Für Deborah, der ich einen fröhlichen Geburtstag wünsche." Sie ging nach oben, verteilte die Garnitur auf dem Frisiertisch und bewunderte sie ausgiebig. Gerards Wappen und ihre Initialen - ein hübscher Einfall, der mehr Symp athie verriet, als Gerard kürzlich gezeigt hatte. Im Übrigen verlief der Geburtstag wie jeder andere Tag. Deborah besprach das Essen mit Marijke, nahm ihre Stunde bei Professor de Wit und ging abends zum ersten Mal ins Waisenhaus. Mevrouw van Doorninck besuchte ihre Kinder in Hilversum, sonst hätte Deborah vielleicht bei ihr Trost gesucht. Adelaide konnte sie auch nicht anrufen, denn was sollte sie sagen? Ich habe Geburtstag und fühle mich einsam ... Nein, das wäre ihr wie Verrat an Gerard erschienen. Als Deborah vom Waisenhaus zurückkam, erfuhr sie von Wim, dass Gerard angerufen hatte, um seine Rückkehr für den nächsten Abend anzukündigen. Eine persönliche Nachricht für Deborah hatte er nicht hinterlassen. Sie aß das Festmenü, das Marijke zur Feier des Tages zubereitet hatte, und musste sich zu jedem Bissen zwingen. Danach sah sie sich im Fernsehen einen Film an, den sie schon mehrmals in England gesehen hatte. Es war eine Erlösung, als sie endlich ins Bett gehen konnte, aber sie schlief schlecht und wachte am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen auf. Gerard kam schon am Nachmittag zurück. Deborah hatte sich den ganzen Tag überlegt, wie sie ihn begrüßen sollte. Sie konnte so tun, als wäre nichts geschehen. Sie konnte sich entschuldigen ... Nein, es
gab nichts, wofür sie sich entschuldigen musste! Sollte sie Gerard Vorhaltungen machen? Ihm sagen, wie unfair er gewesen war? Nach den schönen Blumen und der kostbaren Silbergarnitur war das kaum noch möglich. Sie beschloss, die richtigen Worte dem Zufall zu überlassen, aber auch das erwies sich schließlich als überflüssig. Gerard nahm ihr die Begrüßung auf seine Weise ab. Er war freundlich und höflich wie immer, fragte, ob es ihr gut ginge, und entschuldigte sich mit dringenden Telefongesprächen. „Liegt die Post auf meinem Schreibtisch?" erkundigte er sich noch, ehe er das Wohnzimmer verließ. „Ja", antwortete Deborah und fügte schnell hinzu: „Vielen Dank für die schönen Blumen und das kostbare Geschenk. Ich wusste nicht, dass du ..." „Unsere Heiratsurkunde", unterbrach er sie. „Dein Geburtstag ist darauf vermerkt. Schade, dass ich nicht hier sein konnte, um ihn auf typisch holländische Art mit dir zu feiern. Jetzt müssen wir ein Jahr warten." „Es hat mir wirklich nichts ausgemacht", versicherte Deborah. „Die wunderschöne Silbergarnitur ..." Gerard war schon halb im Flur. „Schön, dass sie dir gefällt. Es schien mir das passende Geschenk zu sein." Seine Stimme klang kalt, und er sah Deborah nicht an. Betont leise schloss er hinter sich die Tür. Deborah schleuderte ein Kissen dagegen. „Ich hasse ihn!" entfuhr es ihr. „Ich hasse ihn! Er ist hochmütig und kalt und verschwendet keinen freundlichen Gedanken an mich. Das passende Geschenk ... zum Teufel damit! Ich will wissen, was wirklich in Genf los war." Sie sah sich um, als könnten die Möbel ihr Auskunft geben. „Diese ewigen Operationen, diese berühmten und wichtigen Patienten, für die er um die halbe Welt fliegen muss ... ich glaube nicht mehr daran." Sie bemerkte, dass Smith in den Flur wollte, und ließ ihn hinaus. Er lief zum Arbeitszimmer, kratzte an der Tür und wurde nach wenigen Augenblicken eingelassen. Beim Essen war nichts von der herrschenden Spannung zu spüren. Deborah schnitt nur Themen an, die Gerard auch sonst interessierten, und erwähnte das Waisenhaus mit keinem Wort. Die Van Doornincks waren strenge Calvinisten, einige ihrer Vorfahren hatten während der spanischen Besetzung der Niederlande aus Glaubensgründen ihr Leben lassen müssen. Das war zwar schon lange her, aber die Holländer hatten ein starkes Geschichtsbewusstsein, und Gerard würde es keinesfalls gutheißen, dass sie in einem katholischen Waisenhaus aushalf. Es bedrückte Deborah ein wenig, ihn hintergehen zu müssen, aber da sie auch keine Katholikin war, fühlte sie sich im Recht. Sie beschloss, nicht länger darüber nachzudenken, und erkundigte sich wie nebenbei nach der Genfer Reise. Sie hätte sich die Mühe sparen können. Gerard äußerte sich zwar über Genf im Besonderen und die Schweiz im Allgemeinen, aber was er dort getan hatte, blieb im Dunkeln. Deborah stand enttäuscht und schlecht gelaunt vom Tisch auf. Da sie nicht gleich schlafen gehen konnte, setzte sie sich mit Gerard ins Wohnzimmer und arbeitete an ihrer Stickerei, wobei sie nur Fehler machte. Anfangs war Deborah der Meinung, das Leben könne ohne eine Aussprache mit Gerard nicht weitergehen, aber sie irrte sich gründlich. Alles blieb, wie es war. Sie gaben Partys, wurden zum Cocktail eingeladen, besuchten Mevrouw van Doorninck oder Gerards Geschwister und blieben zwischendurch zu Hause, um einen stillen Abend im Wohnzimmer zu verbringen. Jeden Donnerstag besuchte Deborah das Waisenhaus, wobei sie darauf achtete, dass sie vor Gerard wieder zu Hause war. Er musste an diesem Tag meist lange operieren, und so brauchte sie keine falschen Erklärungen für ihren „abendlichen Spaziergang" zu erfinden. Langsam ging der Herbst in den Winter über. Die Tage wurden kürzer, und die Bäume am Kanal warfen ihr Laub ab. Das Wasser sah jetzt dunkel und bedrohlich aus, und Deborah erkannte die vertraute Umgebung manchmal kaum wieder. An einem besonders unfreundlichen Abend saß Gerard im Wohnzimmer, als Deborah vom Waisenhaus zurückkam. „Ich bin spazieren gegangen", erklärte sie, ohne lange zu überlegen. „Der Abend war so schön." Gleich darauf hätte sie sich die Zunge abbeißen mögen, denn draußen heulte der Wind, und die ersten Regentropfen prasselten gegen die Scheiben. „Du bist früher als sonst zurück. Marijke kann sofort servieren, ich will nur schnell ein anderes Kleid anziehen." Auch das war die denkbar dümmste Bemerkung, denn Deborah trug kein Kleid, sondern ein leichtes Wollkostüm, dem man die Spuren der vielen Kinderhände deutlich ansah. Einem guten Beobachter wie Gerard konnte das nicht entgehen, aber er schwieg, und auch seine Miene verriet nichts. Einige Tage später teilte er ihr mit, dass er auswärts einen Termin habe und wahrscheinlich über Nacht fortbleiben werde. „Wieder in Genf?" fragte Deborah etwas zu schnell. „Nein, in Arnhem." Sie standen im Garten, wo Gerard den Hund bürstete. „Bis Arnhem sind es kaum hundert Kilometer", wandte Deborah ein. „Du könntest bequem nach Hause kommen." „Es würde zu spät werden, um den Abend gemeinsam zu verbringen. Nimm dir also ruhig etwas vor." Deborah sah ihn überrascht an. „Was soll ich mir vornehmen? Ich habe keine Pläne."
Gerard zuckte die Schultern. „Und wohin gehst du jeden Donnerstagabend?" Als Deborah mit der Antwort zögerte, fuhr er fort: „Entschuldige, das war unfair von mir. Ich habe es erst kürzlich einer Bemerkung von Wim entnommen und vermute, dass du nicht darüber sprechen willst." „Nein, lieber nicht", bestätigte Deborah. Gerard sah sie spöttisch an. „Wie du mir, so ich dir?" Sie errötete, ließ sich aber nicht einschüchtern. „Als wir heirateten, hast du deutlich gesagt, was du von mir erwartetest", verteidigte sie sich. „Wenn ich deine Erwartungen nicht erfüllt habe, tut es mir Leid, aber ich werde mich deswegen nicht auf deine fragwürdigen Methoden einlassen!" Sie lief wütend ins Haus und blieb den restlichen Abend in ihrem Zimmer. Als sie am nächsten Morgen herunterkam, war Gerard schon fort. Sie beschloss, nach dem Frühstück einen längeren Spaziergang zu machen, und wollte gerade aufbrechen, als das Telefon klingelte. Es war Sien, aber außer den Worten „Doktor" und „Mijnheer Gerard" konnte Deborah nichts verstehen. „Wim!" rief sie und wartete ungeduldig, bis sie den Hörer weitergeben konnte. „Es ist Sien, aber ich kann sie beim besten Willen nicht verstehen. Irgendetwas scheint passiert zu sein." „Sien hat sich in die Hand geschnitten", übersetzte Wim. „Der Arzt ist unterwegs, und in der Nachbarschaft kann niemand helfen. Um diese Zeit stehen die meisten Häuser schon leer. Sien hat die Hand verbunden, aber das Blut lässt sich nicht stillen. Sie fragt, ob die Wunde vielleicht genäht werden müsse. Mevrouw möge nicht böse sein, aber sie habe sich keinen Rat mehr gewusst." „Fragen Sie, wo der Schnitt ist und ob er immer noch blutet", drängte Deborah und gab dann genaue Anweisungen. „Sien soll sich hinsetzen und den Arm hochhalten", sagte sie zum Schluss. „Ich mache mich gleich auf den Weg und bin spätestens in zwei Stunden bei ihr." Sie eilte in Gerards Arbeitszimmer, wo ein Schränkchen mit Verbandsmaterial stand. Sie nahm alles mit, was sie vielleicht brauchen würde, und verabschiedete sich von Wim. „Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme. Ich werde Sien ins Krankenhaus bringen, damit die Wunde genäht wird, und dann müssen wir jemanden finden, der sich in den nächsten Tagen um sie kümmert. Sie darf nicht allein sein." „Sie werden schon das Richtige tun,Mevrouw", sagte Wim vertrauensvoll. „Bitte fahren Sie vorsichtig." Deborah lächelte, die väterliche Fürsorge tat ihr wohl. „Natürlich, Wim. Also bis heute Abend." „Und wenn Mijnheer nach Hause kommt?" „Vor morgen früh brauchen wir ihn nicht zu erwarten." Deborah fuhr schnell und wurde durch nichts aufgehalten. Als sie hinter Domwier in die Auffahrt einbog und das Haus vor sich liegen sah, fiel ihr ein, wie glücklich sie bei ihrem letzten Besuch gewesen war. Was hatte sich nur seitdem verändert? Hier draußen in der freien Natur schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Sien hatte sich genau an die Anweisungen gehalten. Sie sah blass aus, und der Notverband an ihrer Hand war blutdurchtränkt, aber sie begrüßte Deborah gefasst und ließ sie die Wunde untersuchen. „Ein, zwei Stiche werden nötig sein", erklärte Deborah, obwohl sie wusste, dass das kaum ausreichen würde. Der Schnitt war tief und lief über die ganze innere Handfläche. „Wir fahren gleich ins Krankenhaus." Sie half Sien, Mantel und Hut anzuziehen, und machte es ihr in dem kleinen Wagen so bequem wie möglich. Bis Leeuwarden war es nicht weit, und Sien wusste, wo das Krankenhaus lag. Deborah hatte nicht geahnt, dass Gerard auch hier bekannt war, aber die Nennung seines Namens genügte, und sie wurden bevorzugt behandelt. Seine Wunde wurde genäht und verbunden, und während sie auf die notwendige Tetanusspritze wartete, führte Deborah ein kurzes Gespräch mit dem Leiter der Notaufnahme. „Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein, Mevrouw van Doorninck?" erkundigte er sich bei einer Tasse Kaffee. Deborah lächelte dankbar und erklärte, dass Sien allein sei. „Wenn ich wusste, ob sie Freunde oder Verwandte in der Nähe hat, könnte ich dort vorbeifahren und jemanden bitten, für ein, zwei Tage mitzukommen. Wenn das nicht möglich ist, muss ich sie wohl nach Amsterdam mitnehmen oder selbst hier bleiben." Der junge Arzt verschwand, um Sien zu fragen, und kam mit guten Nachrichten zurück. „Juffrouw Sien hat eine Nichte in Warga, gar nicht weit von Ihrem Haus entfernt. Sie will sich gern einige Tage um ihre Tante kümmern." Deborah atmete auf. „Sie waren sehr freundlich, Doktor. Alles wird so schwierig, wenn man die Landessprache nicht spricht. Mein Mann wird dankbar sein, wenn er hört, wie bereitwillig Sie uns geholfen haben." Der junge Mann errötete. „Dr. van Doorninck ist ein berühmter Chirurg und unser aller Vorbild, Mevrouw." Deborah reichte ihm die Hand. „Er würde sich Ihrer nicht schämen", erwiderte sie und erntete ein glückliches Lächeln. „Nochmals vielen Dank." Siens Nichte war eine jüngere Ausgabe ihrer Tante - genauso groß, genauso stämmig und genauso
vernünftig. Deborah fuhr beide zum Haus zurück, schärfte Sien ein, das sie sich schonen müsse, und stieg, von guten Wünschen für ihre Genesung begleitet, wieder in ihr Auto. Es war noch früh am Nachmittag. Sie würde rechtzeitig zum Tee zu Hause sein.
12. KAPITEL Deborah war nicht rechtzeitig zu Hause. Als sie die Vororte von Amsterdam erreichte, begann es zu regnen. Sie hatte Mühe, sich in den engen, verkehrsreichen Straßen zurechtzufinden. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Regen und wurde immer glatter. Als ein schwerer Laster vor ihr aus der Spur kam und quer über die Straße rutschte, hatte sie keine Chance. Ihr kleiner Wagen wurde mitgerissen. Zum Glück überschlug er sich nicht, aber als der Laster endlich zum Stehen kam, war die Motorhaube nur noch eine formlose Blechmasse. Deborah stieg sofort aus. Sie zitterte am ganzen Körper, hatte aber keine Verletzungen davongetragen. Der Lastwagenfahrer stieg ebenfalls aus und verwickelte sie in ein Gespräch, von dem sie kein Wort verstand. Sie blickte sich Hilfe suchend um. Immer mehr Menschen waren stehen geblieben, um gute Ratschläge zu geben, aber das nützte ihr wenig. „Spricht irgendjemand Englisch?" fragte sie auf gut Glück. Eine kurze Pause entstand, dann erhob sich das Stimmengewirr von neuem. Deborah atmete auf, als ein Polizist in der Menge auftauchte. Er brach sich energisch Bahn, aber sein strenges Gesicht flößte ihr wenig Hoffnung ein. „Sie sprechen nicht zufällig Englisch?" fragte sie wieder. Der Polizist lächelte und wirkte plötzlich gar nicht mehr streng. „Ein wenig", antwortete er, „aber ich spreche erst mit diesem Mann." Die Diskussion mit dem Lastwagenfahrer zog sich hin und wurde immer lebhafter. Als sich der Polizist endlich wieder Deborah zuwandte, beteuerte sie: „Niemand hatte Schuld, Officer. Der Straße war glatt, und der Laster kam ins Rutschen. Der Mann ist nicht mal schnell gefahren." Der Polizist nickte. „Das behauptet er auch, Mevrouw. Haben Sie Ihre Papiere bei sich?" Deborah zeigte auf ihren Wagen, und der Polizist half ihr, die demolierte Tür zu öffnen. Nachdem er einen kurzen Blick auf ihren Führerschein geworfen hatte, fragte er: „Sind Sie die Frau des Chirurgen van Doorninck vom .Grotehof'?" Deborah nickte. „Sind Sie verletzt worden?" „Ich glaube, ich bin mit dem Schreck davongekommen." Der Polizist sah sie besorgt an. „Ich bringe Sie gleich ins Krankenhaus, Mevrouw. Bitte setzen Sie sich so lange in Ihr Auto." Deborah wartete geduldig, bis sich der Polizist mit dem Lastwagenfahrer geeinigt hatte und ihn aufforderte, die Straße zu räumen. „Ich sorge dafür, dass Ihr Auto in eine Garage gebracht wird, Mevrouw", sagte er dann zu Deborah. „Kümmern Sie sich nicht mehr darum. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden ..." Es war eine Wohltat, in den Polizeiwagen zu steigen und nicht länger Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Bis zum „Grotehof" war es nicht weit, und dort wirkte Gerards Name wie ein Zauberwort. Deborah hatte kaum Zeit, sich bei dem Polizisten zu bedanken, ehe sie auf einer Liege davongerollt wurde. Eine gründliche Untersuchung ergab, dass sie bis auf den Schock und leichte Prellungen am rechten Arm unverletzt geblieben war. „Ich werde Dr. van Doorninck benachrichtigen", erklärte der Arzt, der sie untersucht hatte. „Mein Mann ist nicht zu Hause", antwortete Deborah und musste insgeheim lachen, weil Gerards Name mit so viel Ehrerbietung ausgesprochen wurde. „Er ist in Arnhem, und im Übrigen ... mir fehlt doch nichts." „Wie Sie wünschen, Mevrouw. Ich lasse Ihnen Tee bringen, und wenn Sie sich ausgeruht haben, steht Ihrer Entlassung nichts im Weg." Die prompte Zustimmung hätte Deborah misstrauisch machen müssen. Sie trank den Tee, der sehr heiß und süß war und ihr half, sich zu entspannen. Was Gerard wohl sagen würde, wenn er nach Hause kam? Sie schloss die Augen und war im nächsten Moment eingeschlafen. Sie schlief über eine Stunde, und als sie aufwachte, stand Gerard neben ihrem Bett und sah auf sie hinunter. Er war sehr blass, nur in den blauen Augen glühte ein seltsames Feuer. Deborah erschrak, und dann fiel ihr ein, wo sie sich befand. „Warst du doch schon zu Hause?" fragte sie ängstlich. „Ich habe ausdrücklich darum gebeten, dich nicht anzurufen." „Ich war noch in Arnhem", antwortete er. „Wie fühlst du dich?" Deborah überhörte die Frage. „Diese Dummköpfe. Ich habe ihnen gesagt, dass du zu tun hättest und nicht gestört werden dürftest." „Zum Glück haben sie diese alberne Bemerkung nicht ernst genommen. Noch einmal... wie fühlst du dich?" Deborah setzte sich auf, um zu zeigen, wie gut es ihr ging. „Danke, ausgezeichnet. So ein Theater zu machen, wegen nichts und wieder nichts ..." Ein würgendes Gefühl stieg in ihr auf. „Es tut mir Leid, Gerard. Ich habe dich verärgert, nicht wahr? M usstest du meinetwegen etwas Wichtiges unterbrechen?" „Nein." Gerards Gesichtszüge entspannten sich, fast schien es, als lächelte er. „Ich hatte mir ohnehin vorgenommen, heute Abend zurückzukommen. Und warum sollte ich deinetwegen verärgert sein?" „Weil du ..." Deborah zögerte. Gerard sah irgendwie anders aus, aber das lag wahrscheinlich daran,
dass er eine lange und anstrengende Operation hinter sich hatte. „Wir können jederzeit nach Hause fahren, wenn du es wünschst." „Wenn ich es wünsche? Denkst du so über mich?" Gerard sah starr auf seine Hände. „Hältst du mich für jemanden, dessen Wünsche immer zuerst kommen? Für einen Mann, dem es nichts ausmacht, wenn seine Frau fast getötet wird? Mit einem Wort... für einen herzlosen Tyrannen?" Deborah saß immer noch auf der Bettkante. Das Haar hing ihr wirr über die Schultern, an einem Schuh fehlte der Absatz, und ihre Strümpfe waren voller Laufmaschen. „Du bist kein herzloser Tyrann", protestierte sie hitzig. „Du bist ein freundlicher und fürsorglicher Ehemann. Begreifst du nicht, dass ich dir deshalb so ungern Schwierigkeiten mache? Dich irgendwie zu behindern ... Lieber würde ich sterben!" Mit den letzten Worten war sie zu weit gegangen, aber das wurde ihr erst nachträglich klar. „Was willst du damit sagen?" fragte Gerard scharf. Ehe sich Deborah noch mehr verstricken konnte, erschien der Arzt, der sie untersucht hatte. Es war ihm anzumerken, wie stolz er war, die Frau des berühmten Chefarztes zu dessen Zufriedenheit behandelt zu haben. Deborah bedankte sich bei ihm, und als Gerard ebenfalls seinen Dank aussprach, wurde er vor Glück und Verlegenheit rot. Es ist wie in Leeuwarden, dachte Deborah. Gerard wird von seinen Kollegen wie ein Gott verehrt. Der BMW stand noch vor dem Eingang. Jeder andere wäre aufgefordert worden, sein Auto wegzufahren, aber Gerard durfte die Zufahrt ungehindert blockieren. Als sie durch das Haupttor fuhren, sagte Deborah kleinlaut: „Der Polizist hat versprochen, mein Auto in eine Garage bringen zu lassen. Es ist ziemlich mitgenommen. " „Sollen sie es doch verschrotten", lautete Gerards kurz angebundene Antwort. „Ich kaufe dir ein neues." Mehr sagte Gerard nicht, und auch Deborah fiel nichts Passendes ein. Wim und Marijke warteten im Flur, als sie nach Hause kamen. Gerard unterhielt sich kurz auf Holländisch mit ihnen und sagte dann: „Marijke wird dich ins Bett bringen. Ich schlage vor, dass du etwas isst und dann so lange wie möglich schläfst. Morgen wird es dir wieder besser gehen." Er betrachtete sie prüfend. „Du hast Kopfschmerzen, nicht wahr? Geh jetzt, ich bringe dir nachher etwas hinauf." Deborah hätte gern widersprochen, aber die Sehnsucht nach ihrem Bett siegte. Sie bedankte sich leise und ging langsam die Treppe hinauf, dicht gefolgt von Marijke. Von dem Essen, das Marijke später heraufbrachte, rührte Deborah kaum etwas an. Sie aß einige Löffel Suppe, kostete etwas kaltes Hühnchen und ließ den Rest auf dem Nachttisch stehen. Als Gerard hereinkam, lag sie mit geschlossenen Augen da. „Du hast nichts gegessen", bemerkte er, während er ihren Puls maß. „Ich habe keinen Appetit." Gerard nahm zwei Tabletten aus einer Schachtel und goss Wasser in ein Glas. „Hier, das wird deine Kopfschmerzen lindern und dir helfen zu schlafen." Deborah schluckte die Tabletten und lehnte sich wieder zurück. „Zehn Minuten", murmelte sie. „Die meisten Tabletten brauchen zehn Minuten, um zu wirken." „Dann wollen wir uns so lange unterhalten." Gerard setzte sich ans Fußende des Bettes. „Was ist das für eine Geschichte mit Sien? Wim hat mir erzählt, du seiest nach Domwier gefahren, weil sie sich in die Hand geschnitten hat." „Das stimmt. Der Arzt war nicht da, und es war unschwer zu erraten, dass die Wunde genäht werden musste. Ich dachte, es wäre in deinem Sinn, dass ich mich während deiner Abwesenheit um sie kümmere." Gerard nahm Deborahs Hand und hielt sie sanft fest. „Du hast Recht, das war genau in meinem Sinn. War es ein tiefer Schnitt?" Deborah nickte. „Über die ganze Handfläche. Zum Glück kannte Sien den Weg zum Krankenhaus, und dort genügte die Erwähnung deines Namens, um alles in Bewegung zu setzen. Hätte ich gewusst ..." Sie lächelte schläfrig. Es gab so viel, was sie nicht wusste. „Der junge Arzt in der Notaufnahme war sehr hilfsbereit. Er fragte Sien, ob sie Freunde oder Verwandte hätte. Wir holten auf dem Rückweg ihre Nichte ab. Die beiden scheinen sich gut zu verstehen." Deborah hatte inzwischen Mühe, die Augen offen zu halten. „Dabei fällt mir ein ... Ich habe versprochen, anzurufen und mich zu erkundigen, wie es Sien geht. Vielleicht könntest du ..." „Ich kümmere mich darum." Gerard ließ ihre Hand los und stand auf. „Danke, meine Liebe, Wie zuverlässig du bist! Nicht anders als damals im OP." So müde Deborah auch war, darauf musste sie noch antworten. „Nein, Gerard, das stimmt nicht. Ich habe das unsinnig teure Kleid nur gekauft, um dich zu ärgern. Und was ist mit Claude? Hast du den vergessen? Du denkst, ich hätte ihn ermuntert. Weißt du denn nicht, dass ich dich ....?" Fast wäre es zu spät gewesen, aber die Müdigkeit übermannte sie, bevor sie ihr Geheimnis verraten konnte. Abgesehen von den bläulichen Stellen am rechten Arm, fühlte sich Deborah am nächsten Morgen wieder frisch und munter. Trotzdem bestand Marijke darauf, dass sie im Bett frühstückte, und wenig später erschien auch Gerard, um ihr guten Morgen zu wünschen und sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
„Sollte sich jemand wegen deines Autos melden, wird Wim den Anruf zu mir durchstellen", sagte er, ehe er wieder ging. „Sien ist übrigens wohlauf. Ich habe vorhin mit ihr telefoniert. Sie sendet dir durch mich ihre besten Empfehlungen." Deborah lächelte. „Wie altmodisch das klingt... und wie nett! Aber Sien ist nett, nicht wahr? Ich wünschte, ich könnte ein bisschen Friesisch sprechen und mich mit ihr unterhalten." „Darüber würde sie sich bestimmt freuen." Gerard öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um. „Aber zunächst ist dein Holländisch wichtiger. Du hast gute Fortschritte gemacht, Deborah. Deine Grammatik ist noch etwas eigenwillig, aber an der Aussprache ist nichts zu tadeln." „Wirklich nicht?" Deborah errötete vor Freude. „Professor de Wit scheint von Lob wenig zu halten, deshalb habe ich manchmal das Gefühl, keinen Schritt voranzukommen. Es freut mich, dass du mit mir zufrieden bist." Gerard antwortete nicht darauf. „Ich würde mich heute schonen", war alles, was er sagte, ehe er die Tür schloss. Wäre er geblieben, hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass sie sich täglich schonte, weil es nichts für sie zu tun gab. Sie hatte alles - ein schönes Haus, Kleider, von denen sie früher nicht einmal geträumt hätte, ein Auto und pro Monat ein überaus großzügig bemessenes Taschengeld. All das hatte sie, aber ohne seine Liebe oder wenigstens seine Beachtung bedeutete es ihr nichts. Sie hatte sich früher manchmal gefragt, was die Leute meinten, wenn sie von einem „leeren Leben" sprachen. Inzwischen wusste sie es. Ohne Gerards Liebe war ihr Leben leer. Mit ihr hätte alles einen Sinn bekommen, sogar die Partys, die Konzert- und Theaterbesuche, die Begegnungen mit Freunden und vor allem seine Arbeit. Deborah stand auf und ging zum Fenster. Es war ein frischer, klarer Morgen. Die Blutbuche hatte alle Blätter verloren, aber auf den Beeten leuchteten Astern und Chrysanthemen. Sie beschloss, mit Smith einen Spaziergang durch den Garten zu machen und Adelaide zum zweiten Morgenkaffee herüberzubitten. Zwei Tage später erwähnte Deborah beim Frühstück, dass sie Gerards Privatpraxis noch nie besucht habe. Zu ihrer Überraschung lud er sie schon für denselben Nachmittag ein, das nachzuholen. „Ich werde nicht da sein", fügte er hinzu. „Donnerstagnachmittag bin ich nie in der Praxis, weil ich im .Grotehof operiere, aber das soll dich nicht abhalten. Meine Sekretärin Trudi wird dort sein. Sie spricht so gut Englisch wie du Holländisch, ihr könnt euch also bestens verständigen." Wenig später ging Gerard und ließ Deborah mit gemischten Empfindungen zurück. Hätte er nicht wenigstens sein Bedauern darüber äußern können, dass er nicht in der Praxis sein würde? Die Gleichgültigkeit, die sich darin ausdrückte, war mehr als kränkend. Fast hätte Deborah den Besuch verschoben, aber untätig zu Hause herumzusitzen war auch nicht erstrebenswert. Sie brach unmittelbar nach dem Lunch auf - zu Fuß und in einem neuen Tweedkostüm, in dem sie vielleicht etwas streng, aber ganz wie die Frau eines Chefarztes aussah. Bis zur Praxis war es nicht weit. Sie befand sich an einem der vornehmsten Plätze der Stadt, zusammen mit anderen Praxen, wie aus den zahlreichen Messingschildern an den Haustüren hervorging. Eine Art holländische Harley Street, dachte sie und ging zu Gerards Räumen hinauf, die im ersten Stock lagen. Schon der Empfangsraum beeindruckte sie mit seiner unaufdringlichen Eleganz. Er war mit einem weichen zartgrauen Teppich ausgelegt, die Stühle hatten bequeme Ledersitze, und auf den niedrigen Glastischen standen frische Blumen. In einer Ecke saß Trudi am Schreibtisch. Sie war jung und hübsch und in diskretes Grau gekleidet, um farblich mit der Umgebung zu verschmelzen. Obwohl sie Bescheid wusste, wirkte sie nervös und angespannt. Sie begrüßte Deborah in gebrochenem Englisch und führte sie durch alle Räume, deren Zweckmäßigkeit nur noch durch den Luxus der Einrichtung übertroffen wurde. Danach gab es Tee, aber da Trudi ständig auf die Uhr sah, rührte Deborah ihre Tasse kaum an. Als sie sich gerade verabschieden wollte, kam Claude hereinspaziert. Er schien sie nicht erwartet zu haben, denn die Überraschung und auch der Ärger auf seinem Gesicht waren echt. Er warf Trudi einen warnenden Blick zu und wandte sich gespielt lässig an Deborah. „Hallo, schönes Kind." Deborah überhörte das. „Was hat dieser Besuch zu bedeuten?" fragte sie scharf. „Bestimmt weiß Gerard nichts davon." „Kein Grund zur Aufregung", antwortete Claude. „Trudi wollte mir etwas geben, nicht wahr, Darling?" Trudi machte ein so schuldbewusstes Gesicht, dass sie Deborah fast Leid tat. „Ja", antwortete sie hastig, „ich muss es nur von unten heraufholen." Sie verließ fluchtartig das Zimmer, und Deborah blieb allein mit Claude zurück. Er hatte sich inzwischen von der Überraschung erholt und lächelte auf seine übliche spöttische Art. „Was haben Sie vor?" fragte Deborah. „Ich?" Er schien sich jetzt köstlich zu amüsieren. „Gar nichts, schönes Kind. Ich werde doch noch meine Freunde besuchen dürfen, ohne wie ein Schüler zurechtgewiesen zu werden." „Dies sind Gerards Räume."
„Na und? Wir treffen uns eben an den merkwürdigsten Orten." Claude kam einen Schritt näher. „Der gute Gerard ist doch nicht etwa eifersüchtig? Es würde ihm nicht einfallen, uns hier zu suchen, denn ..." „Hier, wie überall", erklang es leise und drohend von der Tür her. „Du hast meine Nachsicht wirklich lange genug missbraucht, Claude." Gerard hatte von der Tür aus alles gehört. Er schlug Claude mit der Faust zu Boden, packte ihn am Kragen und schleifte ihn zur Tür. Was weiter geschah, konnte Deborah nur ahnen, aber nach den Geräuschen zu schließen, wurde Claude ziemlich unsanft die Treppe hinunter- und zur Haustür hinausbefördert. Gleich darauf war Gerard wieder oben. „Wolltest du deshalb die Praxis besichtigen?" fragte er mit mühsam unterdrücktem Zorn. „Nein, und das weißt du." „Warum ist Trudi nicht hier?" „Trudi?" Deborah hatte die Sekretärin völlig vergessen. „Sie wollte etwas für Claude holen ... was, weiß ich nicht." „Trudi ist unten und befindet sich in heller Aufregung. Sie beteuert, außer dir niemanden erwartet zu haben." Deborah erschrak. „Hat sie das wirklich gesagt? Aber dann ..." Aber dann was? Es war immerhin möglich, dass Trudi die Wahrheit sagte und Claude wirklich nicht erwartet hatte. Andererseits war sie nach unten gegangen, um etwas zu holen, und Claude hatte sie „Darling" genannt. „Bitte, Gerard, lass mich erklären", drängte Deborah, aber er schüttelte nur den Kopf. „Dafür besteht kein Grund." Deborah sah ihn an. Nein, dafür bestand wirklich kein Grund. Gerard wünschte keine Erklärung, denn das hätte ein Mindestmaß an Interesse vorausgesetzt. Zum ersten Mal wurde Deborah klar, wie gleichgültig sie ihm war. Sie zählte nicht, so bitter lautete die Erkenntnis dieser Stunde. Wortlos verließ sie das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Unten begegnete sie Trudi, aber es wäre ihr unmöglich gewesen, stehen zu bleiben und noch einmal mit ihr zu sprechen. Stumm öffnete sie die Haustür und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen. Draußen schien immer noch die Sonne, aber auf Deborah wirkte alles öde und grau. Sie ging nach Hause, holte einen Koffer aus dem Schrank und begann wahllos zu packen. Sie hatte genug Geld im Portemonnaie, um es bis England zu schaffen. An ihre Eltern wollte sie sich nicht wenden, nicht bevor sie gründlich über alles nachgedacht hatte. Nein, sie würde zu Tante Mary fahren. Ihr abgelegenes Cottage war genau der Ort, nach dem sich Deborah jetzt sehnte. Sie wollte so weit weg wie möglich - von Amsterdam und Gerard. Sie trug den Koffer gerade die Treppe hinunter, als Gerard nach Hause kam. Er schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. „Ich muss mit dir sprechen, Deborah. Du hast noch genug Zeit, wenn du die Nachtfähre erreichen willst. Ich fahre dich selbst zum Bahnhof." Deborah reagierte nicht, aber die Haustür erwies sich als unüberwindliches Hindernis für ihre Flucht. „Würdest du mich bitte durchlassen?" fragte sie. „Ich nehme mir ein Taxi." „Nein", antwortete Gerard ruhig. „Du wirst bleiben und dir anhören, was ich zu sagen habe. Wenn du dann immer noch fort willst, wird dich niemand daran hindern." Er nahm ihr den Koffer aus der Hand, stellte ihn hin und lehnte sich wieder gegen die Tür. „Ich weiß nicht genau, was ich dachte, als ich Claude vorhin in der Praxis sah. Ich weiß nur, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie so wütend war, und meine Wut blendete mich. Als du fort warst, rückte Trudi mit der Wahrheit heraus. Claudes Besuch galt tatsächlich ihr. Sie begleitet ihn nach Nizza, aber das sollte ich erst morgen früh durch einen Brief erfahren." Gerard lächelte bitter. „Claude wollte sich an mir rächen, und da er dich nicht haben konnte, nahm er mit meiner Sekretärin vorlieb. Natürlich entschuldigt das nicht mein Verhalten dir gegenüber. Ich schäme mich dafür und würde es gern wieder gutmachen. Darf ich erfahren, wie du dich entscheidest?" „Ich gehe fort", antwortete Deborah mit tränenerstickter Stimme. „Ich habe eine Tante, die mich aufnehmen wird, bis ich über alles nachgedacht habe. Mein Gastspiel als Ehefrau war wohl nicht sehr erfolgreich. Ich sollte in meinen alten Beruf zurückkehren ..." „Nein", unterbrach Gerard sie. „Das stimmt nicht. Eine treue, aufrichtige und verständnisvolle Frau wie dich kann sich jeder Mann nur wünschen. Ich selbst habe große Fehler gemacht und zu spät begriffen ... Könnten wir nicht noch einmal von vorn anfangen?" Er betrachtete Deborah prüfend und schüttelte den Kopf. „Nein, ich sehe, du willst fort. Komm, ich fahre dich zum Bahnhof." Hätte Gerard gesägt, dass er sie vermissen würde, wäre sie vielleicht geblieben, aber er schien über ihren Entschluss eher erleichtert zu sein. Sie musste gehen, es gab kein Zurück. Schweigend folgte sie ihm zum Auto. Am Bahnhof kaufte er ihr eine Fahrkarte, steckte mehrere Geldscheine in ihre Handtasche und brachte sie auf den Bahnsteig. Deborah brach fast das Herz, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte und Gerard zurückblieb, bis sie ihn nicht mehr erkennen konnte.
13. KAPITEL Deborah traf erschöpft in Twice Brewed ein. Noch nie in ihrem Leben war sie so unglücklich gewesen. Sie erzählte ihrer verblüfften Tante eine Geschichte, in der sich Wahrheit und Einbildung so kunterbunt mischten, dass kein Sinn hineinzubringen war, und brach anschließend in Tränen aus. Tante Mary war klug und taktvoll genug, keine unnötigen Fragen zu stellen. Sie führte Deborah in das kleine Gästezimmer auf der Rückseite des Hauses und forderte sie auf, ihren Koffer auszupacken. „Ich koche uns etwas Gutes zum Abendessen", fügte sie hinzu, „und dann schläfst du dich erst einmal richtig aus. Morgen sehen wir weiter." Bis zum nächsten Morgen hatte Deborah eins begriffen: Es war ein großer Fehler gewesen, Gerard zu verlassen. Wenn er sie nun nicht zurückhaben wollte? Schließlich hatte er ihre Flucht beinahe begünstigt, oder etwa nicht? Es gab viele mögliche Erklärungen dafür, dass er ihr kein Hindernis in den Weg gelegt hatte. Vielleicht liebte er eine andere Frau und war über jeden Vorwand froh, der zu einer Lösung ihrer Ehe führte. Der Gedanke peinigte Deborah so sehr, dass sie mit einem Satz aus dem Bett sprang und sich schnell anzog. Als sie zum Frühstück erschien, sah Tante Mary kurz in ihr übernächtigtes Gesicht und sagte: „Du musst Geduld haben, mein Kind, und du darfst dich nicht unnötig quälen. Ich weiß nicht genau, warum du hier bist, aber ich bin sicher, dass sich alles regelt, wenn du dir genügend Zeit lässt. Iss jetzt dein Frühstück, und mach anschließend einen langen Spaziergang. Ich möchte, dass du mit einem Bärenhunger zurückkommst." Natürlich hatte Tante Mary Recht. Während der ersten Tage blieb Deborah still und niedergedrückt, aber die langen Spaziergänge, die kräftigen Mahlzeiten und der tiefe Schlaf, der die Folge der körperlichen Anstrengung war, taten ihre Wirkung. Deborah war noch immer todunglücklich, aber sie stellte sich dem Unglück und lief nicht mehr davor weg. Wenn sie an Gerard dachte - und das tat sie eigentlich immer -, kamen ihr jedes Mal die Tränen, aber sie zwang sich, dem Drang zum Weinen nicht nachzugeben. Tränen änderten nichts, das wusste sie auch ohne Tante Marys sanfte Ermahnungen. Sie würde noch einige Tage verstreichen lassen und dann an Gerard schreiben. Was sie schreiben wollte, war ihr nicht klar, aber sie baute darauf, dass ihr im richtigen Moment die richtigen Worte einfallen würden. Nach der ersten Woche änderte sich das Wetter. Die Sonne zeigte sich immer seltener, und die Heide verlor ihren herbstlich bunten Schimmer. Dunkle Wolken zogen über das Land, das jetzt düster und beinahe unheimlich wirkte. Auf der einsamen Straße war so gut wie kein Verkehr mehr. Die wenigen Häuser, die von Tante Marys Cottage aus zu sehen waren, schienen mit ihrer Umgebung zu verschmelzen und waren kaum noch in der trüben Moorlandschaft zu erkennen. Das alles hinderte Deborah nicht, ihren täglichen Spaziergang zu machen. Auch heute brach sie gleich nach d em Mittagessen auf, nicht ohne vorher zu versprechen, pünktlich zum Tee zurück zu sein. „Bleib vor allem auf der Straße!" rief Tante Mary ihr noch nach. „Es kann jederzeit Nebel geben, und dann bist du in der Heide verloren." Deborah versprach, die Straße nicht zu verlassen, aber als etwas abseits ein verfallenes Cottage auftauchte, siegte doch ihre Neugierde. Das alte Gebäude war so reizvoll, dass sie es näher in Augenschein nehmen wollte. Zu ihrer Enttäuschung enthielt es nichts Sehenswertes, aber dahinter begann eine Senke, in der ein kleiner See lag. Deborah setzte sich eine Weile ans Ufer und ging dann weiter, immer geradeaus, ohne an die Warnung ihrer Tante zu denken. Sie befand sich mitten auf einer ausgedehnten Heidefläche, als sie den Nebel herankriechen sah. Zuerst hielt sie ihn für eine Wolke, aber es war Nebel - grauer, feuchter Nebel, der mit unheimlicher Geschwindigkeit näher kam und sie einzuschließen drohte. Deborah machte auf der Stelle kehrt, um noch rechtzeitig die Straße zu erreichen, aber schon nach wenigen Schritten wusste sie nicht mehr, wohin sie ging. Sie setzte sich hin und überlegte. Der feuchte Nebel ließ sie frösteln, aber er würde sich lichten oder ganz abziehen. Sie musste Geduld haben und warten, dann konnte ihr nichts geschehen. Der Boden war kalt, deshalb stand sie von Zeit zu Zeit auf und lief ein wenig auf der Stelle. Sie durfte sich möglichst nicht von der Stelle rühren, sonst würde sie später die Straße nicht finden. Leider begann es inzwischen dunkel zu werden. Was sollte sie tun, wenn sich der Nebel über Nacht hielt? Leise Angst erfasste Deborah, denn es war einsam hier draußen. Sie hatte vorhin einige Schafe gesehen, aber das Haus, zu dem sie gehörten, lag zu weit entfernt, so dass sie sich durch Rufen nicht bemerkbar machen konnte. Bis zur Straße musste es etwa eine Meile sein. Das war nicht viel, aber bei diesem Nebel und der zunehmenden Dunkelheit konnte sie keine zehn Schritte gehen. Der Nebel hielt sich hartnäckig, und als es ganz dunkel geworden war, begann Deborah zu rufen. Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, die hohl und unwirklich klang. Zuerst kam keine Antwort, aber dann glaubte sie eine männliche Stimme zu hören. „Hier!" rief sie, so laut sie konnte. „Hierher!" Die Stimme antwortete in regelmäßigen Abständen, bald lauter, bald leiser, je nachdem, in welcher Richtung sich der Mann bewegte. Nach einer qualvoll langen Wartezeit glaubte Deborah endlich den
Schein einer Taschenlampe zu erkennen. „Hierher!" rief sie wieder. „Sie sind gleich da." Der Lichtkegel schwankte hin und her, wurde stärker und wieder schwächer, so dass Deborahs Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde. Endlich tauchte eine schemenhafte Gestalt vor ihr auf, und sie hörte Gerard sagen: „Was für starke Lungen du hast, Deborah! Ich habe deine Stimme gleich erkannt, obwohl sie sonst angenehmer klingt." „Gerard! Gerard, bist du es wirklich? Wie kommst du hierher? Wie konntest du wissen ...?" „Tante Mary hat mir erzählt, dass du spazieren gegangen bist. Da kam ich auf die Id ee, dir entgegenzufahren. Als der Nebel einsetzte, hielt ich an und wartete, bis ich dich rufen hörte." „Und das Auto?" „Steht unten auf der Straße. Ich habe mir den Weg gemerkt. Wenn wir vorsichtig sind, können wir es nicht verfehlen." Gerard nahm Deborah an der Hand. „Komm jetzt, deine Tante erwartet uns. Übrigens eine bemerkenswerte Frau, auf deren Rat man sich verlassen kann." Auf der Rückfahrt zum Cottage wollte Deborah Fragen stellen, aber Gerard schnitt ihr das Wort ab. „Später, meine Liebe. Ein heißes Bad und eine kräftige Mahlzeit sind jetzt wichtiger für dich." Als sie nach dem Essen vor dem Kamin saßen, versuchte Deborah es von neuem. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?" fragte sie Gerard. „Ich habe deine Mutter angerufen." „Oh. Hat sie Fragen gestellt? Ich meine, hat sie sich gewundert, dass ich ...?" „Falls es so war, hat sie sich nichts anmerken lassen. Deine Mutter ist eine kluge Frau, Deborah." „Warum bist du mir gefolgt?" Gerard hatte sich im Sessel ausgestreckt und hielt die Augen halb geschlossen. „Ich wollte feststellen, ob du bereit bist zurückzukommen. Smith vermisst dich schmerzlich. Geh jetzt schlafen, und denk darüber nach. Wir sprechen uns morgen früh." Deborah gehorchte schweigend. Also Smith vermisste sie, aber wie stand es mit Gerard? Nicht die kleinste Veränderung war an ihm zu bemerken. Er war freundlich und höflich wie immer -sonst nichts. Sie schlief fest und erschien am nächsten Morgen ausgeruht zum Frühstück. „Nun, Debbie?" begrüßte Tante Mary sie zufrieden. „Habe ich nicht gesagt, dass sich alles regeln würde, wenn du nur Geduld hast?" Deborah antwortete nicht. Als Gerard etwas später vom Garten hereinkam, teilte sie ihm mit wenigen Worten mit, dass sie bereit sei, nach Amsterdam zurückzukehren. Gerard blieb noch zwei Tage und ließ sich von Tante Mary bereitwillig anstellen. Er grub den Garten um, hackte Holz, führte kleinere Reparaturen im Haus aus und fuhr Tante und Nichte zum Einkaufen nach Carlisle. Am dritten Tag brachen sie nach dem Mittagessen auf, um die Nachtfähre von Hüll nach Rotterdam zu erreichen. Deborah hatte der Abreise mit wechselnden Empfindungen entgegengesehen. Sie war innerlich bereit, Gerard die Trennung anzubieten, und hoffte gleichzeitig auf ein Bekenntnis, wie sehr er sie vermisst habe. Doch dieses Bekenntnis kam nicht. Gerard sprach über Tante Mary, lobte ihre Lebensklugheit und ihre Kochkunst und bewunderte zwischendurch die Schönheit der herbstlichen Heidelandschaft. Jedes Mal, wenn Deborah das Gespräch auf ihre persönlichen Probleme bringen wollte, wich er aus, so dass sie den Versuch endlich aufgab. In Hüll, wo das Auto verladen, die Kabinen belegt und Plätze fürs Essen bestellt werden mussten, erübrigte sich jede Unterhaltung. In ihrer Enttäuschung schützte Deborah Kopfschmerzen vor und zog sich gleich nach dem Essen in ihre Kabine zurück. Da Gerard sie ausdrücklich darum gebeten hatte, frühstückte sie vor der Landung mit ihm an Bord. „Man erwartet mich dringend im ,Grotehof", lautete seine Begründung. „Wir haben nicht genug Zeit, um unterwegs anzuhalten." Während der Fahrt nach Amsterdam sprachen sie über alles Mögliche - nur nicht über das, was Deborah bedrückte. Vor dem Haus lud Gerard ihren Koffer aus, wartete, bis Wim die Tür geöffnet hatte, und fuhr ohne Gruß weiter zum Krankenhaus. Er hatte nicht einmal gesagt, wann er zurückkommen würde, und so verbrachte Deborah einen unruhigen Tag, der damit endete, dass sich Gerard wie üblich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Deborah hatte zu viel auf dem Herzen, um ihn einfach gehen zu lassen. Sie folgte ihm in den Flur und fragte: „Was ist mit Trudi? Hast du eine Nachfolgerin für sie gefunden?" Etwas Besseres fiel ihr in der Eile nicht ein. Gerard hatte sich umgedreht und betrachtete sie mit verhaltenem Spott. „O ja, eine verheiratete Frau mittleren Alters ... sehr solide und gewissenhaft. Du wirst sie sicher bald kennen lernen." Deborah blieb allein im Flur zurück. Was hatte er mit den letzten Worten gemeint? Glaubte er etwa, dass sie eifersüchtig war? O ja, das war sie! Gerard machte sie wütend. Er vernachlässigte und missachtete sie, aber sie war trotzdem eifersüchtig. Wenn es ihr nicht gelang, diese Eifersucht zu überwinden, ging sie einer traurigen Zukunft entgegen. Während der nächsten Tage fragte sich Deborah immer wieder, warum Gerard so weit gefahren war,
um sie zurückzuholen. Sein Verhalten ihr gegenüber änderte sich nicht. Er war eher noch zurückhaltender als vorher, und wenn er sie länger ansah -was jetzt häufiger als früher geschah -, war der Ausdruck seiner Augen nicht zu erkennen, weil er die Lider gesenkt hatte. Deborah besuchte ihre Schwiegermutter, arrangierte eine Party für einen berühmten Arztkollegen aus Wien und kaufte sich ein neues Kleid, das sie bei dieser Gelegenheit tragen wollte. Es war aus feinem Wollstoff mit einem Muster aus zarten Rosa- und Grüntönen und besonders hübsch. Deborah hängte es vorsichtig in den Schrank und machte sich anschließend für den Besuch im Waisenhaus fertig. Aus einem Gefühl heraus, das sie sich selbst nicht erklären konnte, nahm sie ihr ganzes restliches Taschengeld mit und steckte es in den Spendenkasten, der neben der Eingangstür angebracht war. Viele stumme Bitten gingen ihr dabei durch den Kopf, und eine von ihnen wurde erhört: Gerard bemerkte ihr neues Kleid. Er betrachtete sie so lange und intensiv, dass sie am Ende verlegen wurde und beinahe schnippisch fragte: „Was ist los? Gefällt dir mein Kleid nicht? Das würde mir Leid tun, denn zum Umziehen ist es jetzt zu spät." „Viel zu spät", bestätigte Gerard mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. „Aber warum etwas ändern? Du siehst bezaubernd aus." Er wandte sich ab, und im selben Moment ertönte die Türklingel. „Die ersten Gäste, meine Liebe. Wollen wir sie gemeinsam begrüßen?" Die anderen Bitten wurden nicht erhört, denn noch am selben Abend, als alle Gäste gegangen waren, teilte Gerard Deborah mit, dass er übermorgen zu einer fünftägigen Konferenz nach Wien fahren würde. Als er fragte, ob er ihr etwas Bestimmtes mitbringen solle, antwortete sie: „Nein, danke. Einige ruhige Tage werden mir gut tun. Vielleicht weihe ich mein neues Auto ein und mache Abigail einen Besuch. Sie ist immer noch in Fries land." „Eine gute Idee." Gerard legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. „Gute Nacht, meine Liebe." Am nächsten Morgen lag ein Zettel auf dem Frühstückstisch: „Bin zum Essen zurück ... nicht später als ein Uhr." Deborah ließ ein Uhr verstreichen, ehe sie sich allein an den Tisch setzte. So sah das Leben nun einmal aus, wenn man mit einem Chirurgen verheiratet war. Sie hatte das gewusst und nichts anderes erwartet. Ob Assistenzarzt, praktischer Arzt oder Chefarzt - die Frauen mussten sich mit solchen Unregelmäßigkeiten abfinden. Natürlich machte die Liebe alles leichter. Deborah seufzte. Ja, sie liebte Gerard über alles und konnte nur hoffen, dass er mit ihrer Ehe zufrieden war. Über Claude und alles, was mit ihm zusammenhing, sollte offenbar nicht mehr gesprochen werden. Alles blieb wie bisher, aber das war besser, als dieses schöne alte Haus zu verlassen und Gerard niemals wieder zu sehen. Deborah spielte mit Smith im Garten, als Gerard gegen sechs Uhr nach Hause kam. Er sah müder als sonst aus, und Deborah fragte mitfühlend: „Musst du morgen wirklich nach Wien fahren? Ist es so wichtig?" Gerard reichte ihr eins von den Sherrygläsern, die er mit herausgebracht hatte. „Ja, Deborah, es ist sogar sehr wichtig. Ich muss mir über etwas klar werden, das nicht nur mich allein betrifft." Deborah sank der Mut. „Also gut", sagte sie und wandte sich ab, „dann rufe ich jetzt Abigail an." „Ich dachte, das hättest du schon getan." „Ich wollte es tun und habe es dann vergessen." Das war eine Lüge. Sie hatte den Anruf aufgeschoben, weil sie bis zu diesem Augenblick gehofft hatte, Gerard würde sie auffordern, ihn nach Wien zu begleiten. Die Hoffnung war jetzt hinfällig. Hatte er nicht gerade gesagt, dass es bei dieser Reise nicht nur um ihn ging? Um wen sonst noch? Wohl kaum um einen Patienten. Bevor sie sich zum Essen hinsetzten, telefonierte Deborah mit Abigail und kündigte für den nächsten Tag ihren Besuch an. Am Donnerstagabend erschien Deborah etwas zu früh im Waisenhaus, aber die Kinder erwarteten sie schon in dem großen, kahlen Raum, der als Spielzimmer diente. Es war der letzte Abend vor Gerards Rückkehr aus Wien. Deborah sehnte sich unendlich nach ihm und fürchtete gleichzeitig seine Rückkehr. Würde er endlich mit ihr sprechen oder wieder nur schweigen? Das würde am schwersten zu ertragen sein. Sie zog ihren Mantel aus und wandte sich den Kindern zu, die sie lärmend umringten. Sie drängte die Vorlauten zurück, ermunterte die Schüchternen, näher zu kommen, und tröstete die Schwachen, die sich nicht gegen die Stärkeren wehren konnten. Innerhalb weniger Minuten war das erste Spiel im Gang: „Abschlagen". Die Kinder liebten es besonders, weil es mit viel Laufen und Schreien verbunden war. Es folgte „Alle mir nach", und dann wurde eine Pause gemacht, die Deborah nutzte, um ihr Haar notdürftig zu ordnen. „Eins, zwei, drei - um" sollte für heute das letzte Spiel sein. Deborah stellte sich mit dem Gesicht zur Wand, zählte bis drei und drehte sich um. Solange sie zählte, durften die Kinder näher kommen, aber sobald sie sich umdrehte, mussten sie unbeweglich dastehen, sonst wurden sie an den Ausgangspunkt zurückgeschickt. Das Spannende daran war, dass Deborah verschieden schnell zählen und die Kinder damit überrumpeln konnte. Den Größeren gelang es schon recht gut, mitten in der Bewegung zu erstarren, und wenn die Kleineren wackelten, wurde es möglichst übersehen. Wenn ein Kind Deborah
erreicht hatte, durfte es ihren Platz einnehmen und zählen. Doch noch war es nicht so weit. Deborah zählte wieder und drehte sich um. „Du da!" rief sie lachend. „Und du. Ihr habt gewackelt und müsst ..." Plötzlich versagte ihr die Stimme. In der Mitte des Zimmers, direkt hinter den Kindern, stand Gerard. Langsam kam er auf sie zu, wobei er das eine oder andere Kind behutsam beiseite schob. „Ich dachte schon, ich würde dich niemals finden", sagte er, als er sie erreicht hatte. „Diese allgemeine Verschwiegenheit..." Deborah legte sich erschrocken eine Hand auf den Mund. „Wim und Marijke ... Irgendwann haben sie es herausgefunden, aber sie wollten mich nicht verraten. Bitte, du darfst ihnen nicht böse sein." Gerard schwieg. Er schien zu lächeln, aber da er den Blick gesenkt hielt, konnte Deborah nur erraten, was in ihm vorging. „Das Waisenhaus gehört zu einem katholischen Orden", fuhr sie fort, „und deine Familie ist calvinistisch. Ich weiß, dass sich die Konfessionen in Holland streng voneinander getrennt halten. Eigene Schulen, eigene Krankenhäuser, eigene ..." „Waisenhäuser?" kam er ihr zuvor. Sie nickte und überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte. „Du bist einen Tag früher zurück." „Ah!" Gerard sah sie direkt an, und der Glanz in seinen blauen Augen erschreckte Deborah beinahe. „Darf ich das als Ausdruck der Enttäuschung nehmen?" „Der Enttäuschung?" Deborah sprach unnatürlich laut. Einige Kinder waren inzwischen näher gekommen, zupften an ihrem Rock und bettelten um ihre Aufmerksamkeit. Deborah bemerkte es kaum. Ihre seelische Kraft war endgültig erschöpft. „Enttäuschung?" wiederholte sie. „Enttäuschung, sagst du? Hast du eine Ahnung davon, wie endlos lang diese Woche war ... wie lang jeder Tag ist, an dem du nicht da bist? Ich kann nicht mehr, Gerard, und ich will so nicht weiterleben. Ich habe es satt, die vornehme Hausfrau zu spielen und mich jede Minute zu fragen, wo du bist und was du tust. Und dabei auch noch gleichgültig zu erscheinen ..." Alles, was Deborah so lange in sich unterdrückt hatte, brach aus ihr hervor, aber Gerard ließ sie nicht weitersprechen. Er zog sie mit beiden Armen fest an seine Brust und küsste sie so leidenschaftlich, dass ihre Zweifel wie durch Zauber vergessen waren. „Wie kann man nur so blind sein?" sagte er leise. „Ich habe dich aus dem Nebel geholt und lebte selbst wie in einem Nebel. Ich kannte nur noch meine Arbeit und wollte mich durch nichts mehr ablenken lassen. Und doch muss ich die ganze Zeit gewusst haben..." Er schob Deborah sanft zurück und sah ihr ins Gesicht. „Ich liebe dich, Debbie ... von ganzem Herzen." Er küsste sie wieder, und sie wären wohl noch länger so stehen geblieben, wenn die Kinder nicht auf ihre Rechte gepocht hätten. Deborah hatte ihnen noch keine Geschichte erzählt, und damit endete jede Spielstunde. „Gerard, Liebster ..." Deborah fand zuerst in die Wirklichkeit zurück. „Ich muss den Kindern eine Geschichte erzählen. Es ist noch nicht sieben Uhr." Sie lächelte, und ihre dunklen Augen strahlten vor Glück. Gerard drückte einen letzten, ganz sanften KUSS auf ihre Lippen und ließ sie los. „Ein Märchen, vielleicht ,Schneeweißchen und Rosenrot' ..." „In welcher Sprache, mein Herz?" „Natürlich in beiden, sonst käme ich über den ersten Satz nicht hinaus." Deborah musterte ihre kleine Schar. „Der Himmel mag wissen, was sie über uns denken." Gerard lächelte. „Ich weiß, was ich über dich denke, aber das kann warten." Er holte den alten, wackeligen Hocker, der sonst vor dem Harmonium stand, damit Deborah sich darauf setzen konnte. Nachdem sich die Kinder im Halbkreis um sie gelagert hatten, begann sie zu erzählen. Sie benutzte eine abenteuerliche Mischung aus Holländisch und Englisch, die sie reichlich mit Mimik unterstützte, ohne auch nur daran zu zweifeln, dass die Kinder sie verstanden. Das war auch der Fall. Sie saßen mucksmäuschenstill da, hörten mit offenen Mündern zu und protestierten lautstark, als es vom Kirchturm nebenan sieben Uhr schlug. „In der nächsten Woche erfahrt ihr, wie es weitergeht", sagte Deborah. Sie stand auf, ging zu ihrem Mantel, der auf einem Haken an der Wand hing, und holte die Bonbontüte heraus, mit der sie den Kindern regelmäßig das Ende der Spielstunde versüßte. Sie war gerade bemüht, alle in einer Reihe aufzustellen, als die Mutter Oberin hereinkam. Sie begrüßte Deborah herzlich, schenkte den Kindern ein gütiges Lächeln und streckte Gerard die Hand entgegen. Falls sie überrascht war, ihn hier anzutreffen, beherrschte sie sich meisterlich. „Waren die Kinder auch artig?" fragte sie Deborah. „Wie immer, ehrwürdige Mutter. Darf ich nächsten Donners tag wiederkommen?" „Werden Sie denn Zeit haben?" Ein fragender Blick streifte Gerard. „Ich bin mit allem einverstanden, was meine Frau tut", antwortete er prompt, „obwohl Sie und ich wie könnte man sagen? - zu entgegengesetzten Lagern gehören." Die Oberin nickte würdevoll, aber ihre hellen Augen verrieten viel Humor. „Es freut mich, das zu hören, Mijnheer van Doorninck. Mögen Sie Kinder?" Gerard warf Deborah rasch einen Blick zu. „Ja, ehrwürdige Mutter. Bisher habe ich allerdings kaum
mit ihnen zu tun gehabt." „Das wird sich ändern, wenn Sie eigene Kinder haben", versicherte die Oberin und wandte sich wieder an Deborah. „Vielen Dank für Ihre freundliche Hilfe, mein Kind. Wir müssen jetzt gehen." Die Kinder waren inzwischen unruhig geworden. Sie verstanden nichts von der englisch geführten Unterhaltung, warteten ungeduldig auf ihr Abendessen und wollten zum Abschied von Deborah geküsst werden. Sie küsste sie immer zum Schluss, denn wenn ihnen etwas fehlte, war es Zärtlichkeit. Sie begann am oberen Ende der Reihe, schloss jedes Kind in die Arme und sagte, nachdem sie beim letzten angekommen war: „Schlaft gut, ihr Lieben. Nächsten Donnerstag sehen wir uns wieder." Die Kinder verließen polternd den Raum und sprangen die Treppe hinunter. Ihre Schritte wurden immer leiser, und als Deborah nichts mehr hören konnte, drehte sie sich um und lief mit ausgebreiteten Armen auf Gerard zu. „Meine süße kleine Frau", sagte er andächtig, und das klang in ihren Ohren wie Sphärenmusik. Sie war ohne Schuhe ein Meter fünfundsiebzig groß und keineswegs gertenschlank. Niemand hatte sie je „klein" genannt, aber vielleicht musste man dazu noch zehn Zentimeter größer sein. „Du bist mir wegen der Waisenkinder doch nicht böse?" „Nein, Liebste. Sie sind eine ausgezeichnete Übung für dich." Deborah sah ihm forschend ins Gesicht. „Aber du willst kein eigenes Waisenhaus gründen?" Er lachte. „Nein, mein Herz. Ich hoffe, dass unsere Kinder immer ein Heim haben werden." „Oh." Sie seufzte glücklich und fügte hinzu: „Es sind genau achtundzwanzig." Gerard küsste sie zärtlich. „Wirklich? Ich hätte das Zehnfache geschätzt, aber auch so ..." Er begann zu lachen. „Ein Bruchteil davon würde genügen, meinst du nicht auch?" Ehe Deborah antworten konnte, fuhr er fort: „Möchtest du gar nicht wissen, warum ich früher zurückgekommen bin?" „O doch, aber im Augenblick zählt für mich nur, dass du da bist." „Die Sache ist ganz einfach, Schatz. Ich konnte es ohne dich nicht länger aushalten. Anfangs hatte ich mir geschworen, unser Verhältnis kühl und unpersönlich zu halten, aber bald fiel es mir immer schwerer, dich allein zu lassen oder einen Tag lang nicht zu sehen. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich dich liebte, obwohl ich in meinem Herzen wusste ... Ich hätte Claude umbringen können." „Und doch hast du mich gehen lassen ... den weiten Weg bis zu Tante Mary." „Liebste Deborah! Ich dachte, ich hätte es mir mit dir ein für alle Mal verscherzt." „Aber ich liebe dich doch ... schon seit Jahren ..." Er zog sie fest an sich. „Du hast mich das niemals merken lassen, Debbie. Trotzdem musste ich dir folgen, und wo habe ich dich gefunden? Mitten im dicksten Nebel, der mich plötzlich alles klar erkennen ließ." Gerard führte Deborah ans Fenster. Es war schon dunkel draußen, aber links vom Kirchturm schimmerte der Abendstern. „Siehst du die Venus?" fragte er. „Ihr Licht soll uns das ganze Leben begleiten." Deborah nickte und schmiegte sich in seine Arme. Das Glockenspiel des Kirchturms spielte die halbe Stunde, und andere Glockenspiele antworteten, überall in der Stadt. „Wie friedlich der Abend ist!" sagte Deborah leise und sah Gerard an. „Wollen wir nach Hause gehen? Zu uns nach Hause?" „Ja, Liebste", antwortete er, „aber mein Zuhause wird immer sein, wo du bist." „Wo wir beide sind", flüsterte sie und küsste ihn. - E N D E