Marie Smith(Hrsg.) Alle meine Mordgelüste 13 Kriminalgeschichten
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Marie Smith(Hrsg.) Alle meine Mordgelüste 13 Kriminalgeschichten
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Wie eiskalt ist dies Händchen! Vor allem wenn es darum geht, einen nörgelnden Ehemann oder einen abtrünnigen Liebhaber ins Jenseits zu befördern. Eine eindrucksvolle Palette weiblicher Mordstrategien und 13 teuflisch gute Geschichten von Mary Barrett, Christianna Brand, Gwendoline Butler, Anna Clarke, Susan Dunlap, Joyce Harrington, P. D. James, Virginia Jones, Mary Kelly, Florence V. Mayberry, Ruth Rendell und Nedra Tyre.
Marie Smith(Hrsg.) Alle meine Mordgelüste Titel der Originalausgabe: The Lady is a Killer Die Erzählungen wurden ins Deutsche übertragen von Helga Augustin, Anette Grube, Sonja Hauser, Tatjana Kruse, Elke Pacholek-Brandt, Claudia Rackwitz, Uda Strätling, Anne Vogt und Keto von Waberer. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München ISBN 3-423-11647-1
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Das Buch Wenn Frauen Mordgelüste hegen, zücken sie nicht einfach eine Pistole. Eine Prise Arsen an den Salat, ein Hauch von Knollenblätterpilz ins Gulasch, ja, selbst ein zwei Tage in der Hitze schmorender Sahnekuchen kann schon eine ordentliche Lebensmittelvergiftung hervorrufen. Sollte es den ewig nörgelnden Ehemann womöglich einmal krankheitshalber ins Bett werfen, sind der Phantasie der ihn »liebevoll« Pflegenden keine Grenzen gesetzt. Denn wo könnte die auf Rache sinnende Gattin unauffälliger dafür sorgen, daß ihr Angetrauter das Zeitliche segnet? Und wenn der Hausherr schon mal einen Möbelwagen für den Umzug zu seiner neuen Freundin organisiert hat, packt die tatkräftige Frau den Abtrünnigen doch am besten gleich selbst in die Kisten. Handelt es sich bei dem Killer um eine Lady, ist jedenfalls immer eine ganze Portion Raffinesse mit im Spiel, wie diese 13 Kriminalgeschichten von Christianna Brand, P. D. James, Joyce Harrington, Ruth Rendell u. a. aufs spannendste und unterhaltsamste unter Beweis stellen.
Alle meine Mordgelüste Wenn Frauen zu sehr hassen 13 Kriminalgeschichten Herausgegeben von Marie Smith
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ebenfalls von Marie Smith herausgegeben im Deutschen Taschenbuch Verlag: MordsFrauen (11377)
Deutsche Erstausgabe März 1993 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1991 Marie Smith Titel der englischen Originalausgabe: ›The Lady is a Killer‹ (Xanadu Publications Ltd., London) © 1993 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten (Siehe auch Quellenhinweise) Die Erzählungen wurden ins Deutsche übertragen von Helga Augustin, Anette Grube, Sonja Hauser, Tatjana Kruse, Elke Pacholek-Brandt, Claudia Rackwitz, Uda Strätling, Anne Vogt und Keto von Waberer. Umschlagtypographie: Celestino Piatti Umschlagbild: Rotraut Susanne Berner Satz: IB V Satz- und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-11647-1
Inhalt VIRGINIA JONES Die mustergültige Mörderin.............................. 6 MARY BARRETT Ein außerplanmäßiger Tod.............................. 15 ANNA CLARKE Cäsars Gemahlin ............................................... 25 SUSAN DUNLAP Nicht vor dem Morgenkaffee........................... 39 JOYCE HARRINGTON Das Au-pair-Mädchen .............................. 54 FLORENCE V. MAYBERRY Eine Frauengeschichte ..................... 89 RUTH RENDELL Eine goldene Zukunft..................................... 114 SUSAN GLASPELL Stumme Gesänge ........................................ 127 MARY KELLY Leben im Schatten des Todes............................ 159 GWENDOLINE BUTLER Der Bund der Schwestern.................... 194 P. D. JAMES Das Opfer ............................................................ 215 NEDRA TYRE Ein Mord aus Hilfsbereitschaft .......................... 241 CHRISTIANNA BRAND Aus Fäden werden Stricke.................... 257 Quellenhinweise ...................................................................... 297
VIRGINIA JONES Die mustergültige Mörderin
Mißmutigen Blicks rührte Mrs. Boswell und sah das zerstoßene Glas wegrieseln und im Kartoffelbrei verschwinden, den sie ihrem Ehemann zu Abend vorsetzen wollte, einem Ehemann, der sie zu verlassen beabsichtigte und dessen Verschwinden sie mittels dieses mit Bedacht zusammengestellten Menüs nachzuhelfen gedachte. Die Methode mochte etwas unorthodox sein, doch die Mahlzeit ließ sich auf ihre – zugegebenerweise – mörderische Art nicht anders als ausgewogen bezeichnen. Die Frikadellen enthielten eine Prise Kakerlakengift, den Salat zierten winzige Bambussplitter, Reste eines ausgedienten Untersetzers, und die Cremetorte hatte sie zwei Tage lang in der aufgestauten Hitze der Veranda Bakterienkulturen der tödlichsten Art ausbrüten lassen. Ihr Mann betrat das gemeinsame Heim Punkt sechs, schleuderte den Hut Richtung Ablage und verfehlte sie wie üblich. Er hängte den Mantel über den Türknauf, streifte im Wohnzimmer die Schuhe ab und legte sich mit der Abendzeitung aufs Sofa. Es dauerte keine fünf Minuten, und er schnarchte – wie üblich. Mrs. Boswell, die in der Schürze und mit in die Hüften gestemmten Händen dastand, musterte ihn zufrieden von der Tür aus. »Bald, ja bald soll er meinetwegen den letzten Schlaf schlafen«, frohlockte sie. Dann trat sie zu ihm hin, rüttelte ihn sanft und sagte: »Frank, das Essen steht auf dem Tisch.« Er wälzte sich vom Sofa, schob sich an ihr vorbei ins Eßzimmer und prüfte das Angebot. Er verzog die Mundwinkel. »Das habe ich erst heute mittag gegessen«, be-6-
schwerte er sich. »Hast du denn gar keine Phantasie? Mach mir Rührei!« Mrs. Boswell seufzte schicksalsergeben, kippte das Essen in den Abfall und schlug Eier in die Pfanne. Es wunderte sie nicht, daß ihr erster Versuch mißlang. Den Mördern in den Büchern, die sie gelesen hatte, erging es beim ersten Mal meist nicht anders. »Nicht verzagen, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«, sprach sie sich Mut zu. Was immer Amy Boswell, ein zartes, verhuschtes Wesen mit der Charakterfestigkeit einer Schüssel Gelatine, auch anpackte, es mißlang meistens. Sie glaubte kaum, daß sie als Mörderin sehr viel mehr Geschick beweisen würde denn als Ehefrau. Schon in den Flitterwochen hatte sie versagt. Frank hatte die Hochzeitsnacht in der zugigen, zünftigen Blockhütte in den Rocky Mountains damit verbracht, Forellenhaken zu knüpfen, während Amy vor dem Ölofen kauerte und sich alle Mühe gab, in ihrem bodenlangen Flanellnachthemd mit dem Sweatshirt darüber aufreizend weiblich zu wirken. Damals hatte sie noch nicht wissen können, daß Frank im Zweifelsfall beim Angeln mehr Leidenschaft bewies als im Bett. Bestimmte Köder fand er reizvoller als andere. An die darauffolgenden Tage dachte Amy nur ungern zurück. Sie hatte sich in Franks Augen unwiderruflich als hoffnungsloser Fall erwiesen, als ihre Wasserstiefel undicht wurden und sie mitten im reißenden Gebirgsbach fast ertrank. Sie hatte in der dünnen Höhenluft schlecht schlafen können, vom halbgaren, tranigen Fisch wurde ihr übel, und ihre helle, zarte Haut zog Mückenschwärme noch aus den entfernten Regionen um Cripple Creek an. Nach den Flitterwochen stellte Amy fest, daß Frank nicht nur leidenschaftlicher Angler war, sondern auch mit -7-
Begeisterung Badminton und Hockey spielte, Schlittschuh fuhr, segelte, tauchte und ritt. Garage und Abstellkammer quollen über vor Sportgerät aller Art, der Zeitschriftenständer war gespickt mit Sportjournalen, im Keller lagerten Taucherbrillen, Flossen, Schläger, Harpunen, Skier und ein riesiger Außenbordmotor. Für seine Frau Amy, die sich unter angenehmem Zeitvertreib ein Essen in der Stadt mit anschließendem Kinobesuch vorstellte, blieb Frank ein Rätsel. Umgekehrt betrachtete Frank seine Frau Amy bald als den Unglücksbringer eines jeden Sportsfreunds. In den langen Jahren ihrer Ehe hatte Amy trotz größter Anstrengungen nie einen einzigen Fisch an Land gezogen; verhakte sich ihre Schnur entweder im Gebüsch oder in Franks Hosenboden. Außenbordmotoren gaben den Geist auf, kaum daß Amy ein Boot bestieg, Segel rissen, Golfbälle flogen magisch angezogen ins Wasser und Tennisbälle wie ferngesteuert ins Netz. Auf Wanderungen verstauchte sie sich die Knöchel, und man konnte noch nicht einmal im eigenen Hobbykeller mit ihr Tischtennis spielen, ohne daß sie sich den Kopf an den Heizungsrohren stieß. Dabei war Frank äußerst ausdauernd gewesen. Jahrelang hatte er Amy auf die Jagd mitgeschleift, mit dem Effekt, daß die übrige Jagdgesellschaft mit Stoßgebeten auf den Lippen immer in alle Himmelsrichtungen die Flucht antrat, wenn die nicht mehr ganz junge Amy in rotkariertem Hemd und Khakihosen auftauchte und wild auf alles draufhielt, was sich regte. Erst als sie eines Morgens in aller Herrgottsfrüh bei der Entenjagd Frank den Hut vom Kopf schoß, gab er sich schließlich geschlagen. Von da an ließ er sie daheim und ging in angenehmerer Gesellschaft auf die Jagd. Längst hatte er einsehen müssen, daß Amy nicht nur in freier Wildbahn zu nichts zu gebrauchen war, sondern auch in den eigenen vier Wän-8-
den wenig Talent entfaltete. Sie konnte nicht nur Fisch, sondern überhaupt alles nicht sonderlich gut kochen. Das Essen kam selten pünktlich auf den Tisch, und was Frank schließlich vorgesetzt bekam, erschöpfte sich meist in nach uralten Rezepten aus verstaubten Büchern lieblos zusammengeschusterten Aufläufen aller Art. Seine Hemden vergaß sie aus der Wäscherei zu holen, wenn sie nicht sogar vergaß, in welcher Wäscherei sie sie abgeliefert hatte. Nicht, daß es Amy an Intelligenz gemangelt hätte. Eher bestand das Problem darin, daß ihr Geist sich den profaneren Seiten des täglichen Lebens eher ungern widmete. Und doch hätte es trotz dieser Unverträglichkeiten gutgehen können, wäre Frank nicht schließlich in dem Klub, in dem er Samstag nachmittag regelmäßig Tennis spielte, einer Anderen begegnet. Dort fand er sich eines Tages zum gemischten Doppel mit einer attraktiven geschiedenen Frau alliiert – rank und fit in frischen weißen Shorts –, die einen kräftigen Aufschlag hatte und eine vorzügliche Rückhand spielte. Sie gewannen spielend die ersten beiden Sätze 6–2, 6–1. Anschließend saßen sie auf dem Rasen beieinander und tranken im Schatten Martini. Frank konnte nicht umhin festzustellen, daß seine Partnerin ebenso hübsch wie sportlich war. Er hielt es für klüger, Amy nicht wissen zu lassen, wie oft er von nun an mit Sylvie Morton Tennis und auch Golf spielte. Nur kam Amy leider eines Sommerabends von selbst dahinter, als Frank nach zu vielen Drinks im Klub die sportliche Sylvia vor aller Augen liebkoste, während Amy kalkweiß und wie gelähmt vor Schreck mit Freunden am Nebentisch saß. »Ich möchte die Scheidung«, eröffnete er ihr noch in derselben Nacht, als sie streitend im Wohnzimmer saßen. »Kommt gar nicht in Frage!« fauchte Amy und zeigte Zähne, von denen sie nicht gewußt hatte, daß sie sie besaß. »Ich liebe dich nämlich, Frank.« -9-
»Aber ich dich nicht«, hielt Frank ihr gnadenlos entgegen. »Du weißt genau, daß wir nicht glücklich sind miteinander.« »Aber ja! Ich bin vollkommen glücklich und zufrieden«, hatte Amy daraufhin mit erstaunter Miene beteuert. Sie verstand die Welt nicht mehr. »Nun, ich nicht. Ich reiche die Scheidung ein, und wenn du dich auf den Kopf stellst!« »Du kommst nicht durch damit«, meinte Amy ganz gelassen. »Was habe ich denn falsch gemacht?« »Falsch?! Richtig, meinst du wohl!« brüllte Frank. »Du bist absolut unfähig, ein hoffnungsloser Fall, eine Versagerin, und ich kann dich nicht mehr ertragen!« Amy hatte ihn nur entgeistert und voller Entsetzen angestarrt. Sie geriet ebenso schwer in Rage, wie sie auch sonst zu allem lange brauchte, doch als sie nach und nach im Geiste ihr Eheleben noch einmal Revue passieren ließ, empfand sie tiefe Verbitterung. »Daß ich mich weigere, mich scheiden zu lassen, ist nicht Strafe genug. Er soll genauso leiden, wie ich gelitten habe«, beschloß sie und dachte an die zahllosen Waldmärsche, bei denen sie kalt, naß und müde hinter Frank hergestapft war, an die endlosen Tage in Booten, deren schwere, nasse Segel ihr ins sonnenverbrannte Gesicht geklatscht waren, an die toten, kalten Augen der vielen Fische, die sie geschuppt hatte… Schon bald hatte sie sich einen Vollstreckungsplan für die ausgedehnten Folterungen zurechtgelegt, die, wie sie hoffte, in einem Mord gipfeln würden. Sie begann – ganz blauäugig – mit dem zerstoßenen Glas für den Kartoffelbrei. Nach diesem Reinfall versuchte sie ihn eines Abends zwischen Wagen und Garagentor zu zermalmen, als er eben das Tor hochschob. -10-
»Paß doch auf, was du tust!« brüllte er, als er sich mit einem Sprung rasch in Sicherheit brachte. »Du bringst mich noch um!« »Verzeih, Schatz«, hatte sie mit Bedauern gesagt, einem Bedauern, das aufrichtiger war, als Frank ahnen konnte. »Ich habe das falsche Pedal erwischt.« Sie begleitete ihn zum Abschluß der Saison an den See in ihr Ferienhaus. Bei dieser Gelegenheit brachte sie das Kanu zum Kentern, was für sie nicht weiter ungewöhnlich war, doch klammerte sie sich unter Wasser an Frank, schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn zwei Minuten lang unter Wasser. Der Rekord lag angeblich bei dreien, nur konnte Frank natürlich nicht wissen, daß er angetreten war, Rekorde zu brechen. Um Luft ringend lag Amy triefend und erbittert am Ufer und dachte voll Wehmut an die verpaßte Chance damals auf der Entenjagd, als sie Frank den Hut weggeschossen hatte statt den Kopf. Sie verbrachte ganze Stunden in der Leihbücherei, las sich durch unzählige Kriminalromane, sammelte Ideen und Anregungen, von denen sie allerdings die meisten verwarf, denn es müßte ja wie ein Unfall aussehen. Rattengift konnte sie vergessen, fand sie. »Ich denke gar nicht daran, wegen so einem Saukerl zu brummen.« Die Lektüre färbte bereits auf Amys Ausdrucksweise ab. Eines Tages entdeckte sie einen schmalen Band, der halb verdeckt zwischen verstaubten Bücherrücken stand. ›Die hohe Kunst des Mordens‹ lautete der Titel auf dem verschossenen Pergamentdeckel. Sie schlug das Buch auf. Es bot, alphabetisch geordnet, Anleitungen zum Mord nach diversen esoterischen Methoden, beginnend mit der Anaphylaxie. Anaphylaxie klang hübsch. Frank war gegen Wespenstiche allergisch, doch wie sollte sie ihn dazu kriegen stillzuhalten, bis eine Wespe richtig zustach. Curare -11-
fand sie auch interessant, doch woher den Pygmäen mit vergiftetem Speer nehmen? Als sie bei Zombie angelangt war, klappte sie das Buch enttäuscht zu. Mit Zombies konnte sie auch nichts weiter anfangen als zu hoffen, daß Frank bald einer von ihnen sein würde. Alle möglichen Schnapsideen gingen ihr durch den Kopf. »Wenn wir doch nur in einer größeren Stadt lebten«, träumte sie, »dann könnte ich ihn vor die Untergrundbahn schubsen.« Sie stellte sich Frank von einem wildgewordenen Bullen zertrampelt, im Fahrstuhl gefangen, aus dem Riesenrad stürzend vor… Einmal vergaß sie sich sogar so weit, daß sie ihn um ein Haar aufs Korn nahm, als sie mit Nachbarn im Hobbykeller Darts spielten. Frank pflückte noch Darts aus dem Brett, und sie schleuderte schon ihr Geschoß und hätte ihn fast mit dem Ohr an die Wand gepinnt. Das Ausbleiben der Inspiration zum »perfekten Mord« zehrte an Amy. Ihre Nerven waren gespannt wie die Saiten einer Violine, und sie war drauf und dran aufzugeben. Und doch:…ein oder zwei Möglichkeiten blieben noch offen. An einem Freitag abend, als Frank in seinem Zimmer die Schrotflinte, Kaliber 12, von den Haken an der holzgetäfelten Wand herunternahm und verliebt mit der Hand über den glatten, geschmeidigen Kolben fuhr, löste sich ein Schuß, der ihn beinahe die Zehen seines rechten Fußes gekostet hätte. Als Amy herbeigelaufen kam, trat ihr ein erboster Frank bereits auf der Schwelle entgegen. »Hast du dich an meinen Flinten zu schaffen gemacht?« schrie er wütend. Amy schaute ihn aus großen, unschuldigen Augen an. Ihre Lippen bebten vor Enttäuschung. »Aber Schatz, du weißt doch, daß ich die Dinger nicht anrühre! Du hast mir doch oft genug eingeschärft, wie gefährlich Gewehre sind.« -12-
Frank deutete fuchtelnd auf das Einschußloch im Fußboden und erregte sich: »Ich habe mir um ein Haar den Fuß weggepustet! Ja, bin ich denn verrückt? Ich habe noch nie eine Flinte geladen herumliegen lassen!« Amy zog sich in ihr Zimmer zurück und sank auf die Bettkante nieder. »Ganz ruhig. Immer mit der Ruhe«, mahnte sie sich. »Sonst vergesse ich mich noch und prügele ihn mit einer Lockente zu Tode.« Eine ganze Woche unternahm sie nichts, und sie reicherte auch sein Essen nicht groß an, abgesehen von einer bescheidenen Dosis Black Leaf 40 in seiner Tomatensuppe – und das nur, um nicht aus der Übung zu kommen, während sie sich in Geduld übte. An dem darauffolgenden Donnerstagabend kündigte Frank beiläufig an, er werde ausgehen. Amy sah ihn an und zuckte bloß mit den Achseln. »Wie du meinst«, murmelte sie. Frank aalte sich in der Wanne und malte sich genüßlich den Kegelabend mit Sylvia aus, als Amy mit einem Transistorradio das Bad betrat. »Ich dachte, du würdest vielleicht gern die Sportnachrichten hören«, erklärte sie und stellte das Gerät auf der Ablage oberhalb des Waschbeckens ab. Doch im Umdrehen verhedderte sich ihr Absatz wie zufällig in der Schnur, und sie riß das Radio herunter. Leider – Pech für Amy wurde von dem Ruck der Stecker gleich mit herausgezogen, und das Gerät fiel Frank lediglich auf den Kopf, richtete aber keinen weiteren Schaden an. »Verdammt noch mal!« brüllte er. »Nimm das blöde Ding weg!« Er stürmte wutentbrannt aus dem Badezimmer, kleidete sich an und trat zur Haustür hinaus. Auf den Eingangsstufen blieb er kurz stehen. -13-
»Du bringst mir nichts als Unglück!« rief er, immer noch außer sich. »Das ist doch kein Leben!« Er wandte sich um und hastete die Stufen hinunter, doch in dem Moment blieb er mit der Schuhspitze an einem losen Backstein hängen und stürzte vornüber auf den Gehweg. Mit einem dumpfen Knall schlug sein Kopf auf dem Asphalt auf. Er blieb reglos liegen. Amy stand in der Tür und wartete, bis auf ihr Geschrei hin von überall Menschen zusammenliefen. Dann flog sie die Stufen hinunter und bettete Franks Kopf in ihren Schoß. »Einen Arzt! Rufen Sie einen Arzt!« flehte sie. Frank stöhnte, versuchte sich aufzurichten, sank wieder zurück. Er schaute hoch in Amys Gesicht. Es blieben ihm nur wenige Momente geistiger Klarheit, ehe er starb. Er nutzte sie. Was immer er in Amys Augen gelesen haben mochte – Erleichterung, Genugtuung oder vielleicht nur Schock und Überraschung –, eines wurde ihm klar: Liebe war es nicht. Als sich daher der Polizist zu ihm auf den Gehweg kniete, sagte er laut und deutlich: »Sie ist schuld. Sie hat mich gestoßen.«
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MARY BARRETT Ein außerplanmäßiger Tod
Miss Witherspoon kniete in ihrem Kräutergarten. Mit einer kleinen Pflanzkelle lockerte sie die Erde und achtete sorgsam darauf, daß sie ja nicht zu tief grub und womöglich die zarten Wurzeln der Kräuterpflanzen verletzte. Miss Witherspoon ging bei ihrer Gärtnerarbeit äußerst bedächtig vor, und ihr Garten dankte es ihr: Von allen im Ort war er der prächtigste, nirgendwo gediehen Blumen und Kräuter üppiger. Jeder ihrer Nachbarn hätte zugeben müssen, daß er sie beneidete. Britomar strich Miss Witherspoon schnurrend um die Fesseln. Geistesabwesend kraulte sie die schwarze Katze mit einem Gartenhandschuh. »Tag, Miss Witherspoon«, rief eine Frau ihr vom Gehsteig jenseits des weiß getünchten Staketenzauns zu. Es war Mrs. Laurel, die stets nach der neuesten Mode gekleidete junge geschiedene Frau, die kürzlich erst nebenan eingezogen war. »Haben Sie Ihre weitgerühmten Maikörbchen in Arbeit, von denen ich schon so viel gehört habe?« Aus Mrs. Laurels geheuchelt freundlichem Ton war deutlich Verachtung herauszuhören. Miss Witherspoon richtete sich auf. »Ja, das habe ich«, antwortete sie höflich, aber kühl. Mrs. Laurel lächelte geziert und trippelte ihres Weges. Miss Witherspoon machte sich mit Hingabe wieder an die Arbeit – so als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit Mrs. Laurels Unverschämtheiten aufzuhalten. -15-
Außerdem war Miss Witherspoon es mittlerweile gewohnt, Zielscheibe des Spottes zu sein, denn im Laufe der Jahre hatte sie den Ruf errungen, äußerst verschroben zu sein. Zwar wichen auch andere Ortsansässige auf diese oder jene Weise von der Norm ab, sei es, daß sie tranken oder schwachsinnig waren, sogar ein Mörder war darunter, wenn man die Raserei, die Jake Holbys befiel, als er seine klapperdürre Frau oben auf dem Heuboden mit dem Knecht erwischt und zu Tode geprügelt hatte, als Mord bezeichnen wollte, doch galt keiner dieser Fälle als annähernd so merkwürdig wie das hartnäckige Beharren der alten Miss Witherspoon auf ihrer Eigenbrötlerei. Kein Mensch hatte je ihr bescheidenes Haus betreten, und selbst von den Lausebengeln des Ortes trauten sich nur die größten Draufgänger, aufgestachelt durch Hänseleien ihrer Spielkameraden, gelegentlich durch ihr Gartentor oder über den weiß getünchten Staketenzaun in ihren gepflegten Garten – und auch das nur des Nachts, wenn die alte Hexe schlief. Vor Jahren hatten die Kinder im Ort einen bösen kleinen Spottreim erdacht, der von einer Generation an die nächste weitergegeben und immer noch skandiert wurde: »Miss Witherspoon, dummes Huhn, kann mir nichts tun.« Das fanden die Kinder zum Schreien komisch, doch die allerwenigsten trauten sich, es in Hörweite der so Geschmähten zu singen. Denn, obwohl sie es weder sich selbst oder gar den Spielkameraden eingestanden hätten, sie fürchteten sich vor der Alten. Es gab niemanden, der sich entsinnen konnte, ob Miss Witherspoon auf der Straße von sich aus je das Wort an irgend jemand gerichtet oder einen netten, nachbarschaftlichen Gruß über den Gartenzaun geschickt hätte. Nie hatte sie den Kranken Suppe hingetragen, noch bei Trauerfällen Gebäck vorbeigebracht. Kurzum, sie hielt sich an keine der ortsüblichen Gepflogenheiten. Hätte sich je einer -16-
getraut, sie zu fragen, weshalb, hätte sie geantwortet, daß sie ihren Mitmenschen die Pflanzen vorziehe, deshalb vor allem, weil Pflanzen nicht sündigten, vollkommen unschuldig seien und keinem etwas zuleide täten. Außerdem, hätte sie vielleicht zu bedenken gegeben, erlaube ihr diese Eigenbrötlerei, die Missetaten der anderen um sie herum um so schärfer und leidenschaftsloser zu beobachten. Einen etwas eigenwilligen, mehr oder weniger von Gemeinschaftssinn zeugenden Brauch wahrte Miss Witherspoon allerdings mit großer Verläßlichkeit einmal im Jahr, und zwar in der Walpurgisnacht. Es war dies das jährlich wiederkehrende Ereignis, auf das Mrs. Laurel angespielt hatte, doch kannte Mrs. Laurel ebensowenig wie die übrige Dorfgemeinschaft das Ritual in allen Einzelheiten. In diesem Jahr dachte Miss Witherspoon erstmals daran, von der sonstigen strikten Abfolge ein klein wenig abzuweichen. Schließlich kam sie in die Jahre, ihre Hände wurden durch die Arthritis zunehmend steif, und es war nicht ausgeschlossen, daß ihr nicht mehr die Zeit vergönnt wäre, ihr Vorhaben zu Ende zu bringen. Vielleicht sollte sie sich daher in diesem Jahr ausnahmsweise gleich zweier Personen annehmen. Doch nein, befand sie schließlich: Wozu von einem bewährten Verfahren abrücken? Die Walpurgisnacht war der einzige Termin im Jahr, der für Miss Witherspoon besondere Bedeutung besaß, der einzige, den sie auf ihrem Kalender ankreuzte. Traditionell handelte es sich um den Vorabend des Maifeiertages, benannt nach einer englischen Benediktinerin und Äbtissin, die sich als Beschützerin von Hexen einen Namen gemacht hatte. Wie jeder weiß, der in der Literatur ein wenig beschlagen ist, versteht man unter der Walpurgisnacht die Nacht, in der die Hexen unterwegs sind. Jedes Jahr zur Walpurgisnacht richtete Miss Witherspoon genau zehn Maikörbchen her. Und jedes Jahr häng-17-
te sie diese in der Walpurgisnacht in aller Stille an die Türen von zehn Häusern. Nie dieselben zehn Häuser, obwohl sie sich im Laufe der Jahre zwangsläufig wiederholen mußte. Und jedesmal enthielt eines der Maikörbchen eine besondere kleine Aufmerksamkeit. Natürlich waren sich die Dorfbewohner über die Identität der Maigängerin im klaren; kein anderer als der Garten von Miss Witherspoon lieferte eine entsprechende Vielfalt an Zier- und Heilgewächsen. Die Bewohner machten sich geradezu einen Sport daraus zu erraten, wer die nächsten Empfänger der kleinen Körbchen mit Blumen- und Kräuterbuketts wären, zu denen immer auch ein beschriftetes Kärtchen, ein in Miss Witherspoons sauberer Handschrift verfaßtes Sprüchlein oder geflügeltes Wort gehörte. Dieser jährlich erbrachte Beweis der Exzentrizität der alten Dame bot jedesmal wieder Anlaß zu großer Heiterkeit. Was dabei übersehen wurde, war die Tatsache, daß stets einen der Empfänger ein ungewöhnliches, unerwartetes Schicksal ereilte. Sei’s drum, es kam Miss Witherspoon nicht darauf an, für ihre Leistung Anerkennung zu erringen oder Berühmtheit zu erlangen. Die Sonne schien ihr warm auf den Buckel, als sie mit großer Sorgfalt für jedes einzelne Körbchen die Blumen auswählte. Im stillen ließ sie sich deren wunderschöne lateinische Namen auf der Zunge zergehen: Lathyrus odoratus (Spanische Wicke), Lobularia maritima (Duftsteinrich), Convallaria majalis (Maiglöckchen) und, natürlich, die der Sage nach aus dem Blut des sterbenden Hyakinthos, dem Freund des Apoll, entsprossene Hyazinthe. Schließlich waren alle Körbchen bestückt. Sie stellte sie in den Schatten des Ahornbaums. Jetzt stand die endgültige, die maßgebliche Entscheidung an: Welches Kraut käme in das besondere zehnte Körbchen? Denkbar war der -18-
Wurzelstock des Maiapfels, doch war der vielleicht nicht ansprechend genug, um die Aufmerksamkeit im gebotenen Maße auf sich zu ziehen, auch Rittersporn kam in Frage, doch dann müßte sie zuvor die Samen trocknen, und das machte mehr Arbeit als nötig. Gern hätte Miss Witherspoon die Tollkirsche verwendet, wegen ihres symbolträchtigen Beinamens Belladonna (schöne Frau) oder auch den Eisenhut, der bei den alten Germanen Wolfstod hieß. Doch nein, am besten geeignet schien ihr Digitalis purpurea, der Fingerhut. In ihrem Garten wuchs zwar nur die amerikanische Sorte, die Kermesbeere, doch deren hübsche dunkle Beeren waren reizvoll und würden dem Zweck ebensogut dienen. Hinein mit ihnen in das zehnte Körbchen, zusammen mit einem Verslein von Rudyard Kipling, das sie sorgfältig abgeschrieben hatte und das die vorzüglichen Heilkräfte der Kräuter der Vorväter pries. Als Nachsatz hatte sie wie beiläufig hinzugefügt: »In beliebiger Form eingenommen, machen die dunklen Beeren aus dem mäßigen Liebhaber einen leidenschaftlichen und aus dem leidenschaftlichen einen feurigen.« Es schmerzte Miss Witherspoon, zu einer ausgesprochenen Lüge Zuflucht nehmen zu müssen, denn sie betrachtete ihr Handwerk als Kunst, und lieber wäre ihr gewesen, ihr Jahresritual hätte in jeder Hinsicht vollkommen sein können. Doch würde sie sich diesen kleinen Makel im Interesse höherer Zwecke nachsehen müssen. In der Dunkelheit drehte Miss Witherspoon ihre Runde, begleitet nur von Britomar. Im hellen Mondschein, in der lauen Luft, die von Frühling kündete, rezitierte Miss Witherspoon Passagen aus dem ›Kaufmann von Venedig‹: »In solcher Nacht las einst Medea jene Zauberkräuter…« Und flugs waren neun Körbchen an neun verschiedene Türklinken und -klopfer gehängt, und zuletzt das zehnte bei Mrs. Laurel. -19-
Völlig unerwartet fiel zwei Tage später der Schneider Edward Johnston einer Vergiftung zum Opfer und starb einen qualvollen Tod. Offenbar hatte er versehentlich ein starkes Emetikum zu sich genommen, das einem von der attraktiven Mrs. Laurel zubereiteten Essen beigemischt war. Bemerkenswert an dem Fall war, daß er nicht zu Hause, bei seiner Frau und den vier Kindern, gestorben war, sondern im Haus von Miss Witherspoons flotter Nachbarin. Miss Witherspoon konnte dies allerdings nicht überraschen. Schließlich waren ihr allein die häufigen klandestinen Besuche des Schneiders nicht entgangen, und sie allein hatte sich denken können, welches der Zehn Gebote nebenan bei Mrs. Laurel gebrochen wurde. Während sich die Schreckensnachricht am Morgen wie ein Lauffeuer im Ort verbreitete, arbeitete Miss Witherspoon wie immer ganz gemächlich in ihren Beeten, als sich ein seltener Gast auf dem Gartenweg der alten Frau näherte: der Sheriff. »Guten Morgen, Miss Witherspoon«, rief er ihr schon von weitem über den kurzgehaltenen Rasen zu. Sie blickte von ihrem Beet auf. »Guten Morgen, Sheriff«, erwiderte sie seelenruhig den Gruß. »Wollen Sie zu mir?« »Ja, das möchte ich.« Der zögernde Tonfall ließ erkennen, wie unwohl dem Sheriff war und wie wenig er sich seiner Sache sicher sein konnte. Aus der Nähe betrachtet, wirkte die Alte unglaublich harmlos und unschuldig, unfähig, irgend jemandem auch nur ein Haar zu krümmen. Und doch war ihm am Morgen, als sich sein Verdacht erhärtet hatte, der Hergang einleuchtend – wenn auch wunderlich – erschienen. »Gehen wir doch hinein«, schlug Miss Witherspoon vor. »Dort können wir uns ungestört unterhalten.« -20-
Sie betraten die kühle, dämmrige Stube und setzten sich an einen kleinen Teetisch. Britomar sprang Miss Witherspoon auf den Schoß, und die alte Dame strich der Katze übers Fell, während sie sprach. »Ich rechne schon seit Jahren mit Ihrem Besuch«, erklärte sie. »So?« Der Sheriff war sichtlich verdutzt. »Aber ja. Ich weiß, daß Sie nicht dumm sind, und ich war mir darüber im klaren, daß Sie einmal doch dahinterkommen mußten, was hinter meinem kleinen Maibrauch steckt.« »Sie wollen damit sagen, daß es… äh… nicht das erstemal ist?« Miss Witherspoon nickte. »Sie haben gewußt, daß man Ihnen auf die Schliche kommen mußte, und dennoch haben Sie damit weitergemacht?« »Selbstverständlich habe ich weitergemacht. Hätten Sie an meiner Stelle Ihr Lebenswerk, Ihre Lebensaufgabe so einfach verraten, Sheriff?« Die Alte wartete, obgleich die Frage offensichtlich eine rein rhetorische war. »Nein, hätten Sie nicht«, gab sie schließlich selbst zur Antwort. »Ebensowenig wie ich. Wir sind ja auf demselben Gebiet tätig, nicht wahr, und keiner von uns würde sich vor seiner Pflicht drücken. Wir haben auf dieser Welt eine wichtige Aufgabe.« Der Sheriff hatte eine leise Ahnung, was die alte Dame meinte. Milde fragte er: »Und worin besteht diese Ihrer Meinung nach?« »Aber wie können Sie da noch fragen! Den Ort von Übeltätern zu befreien, natürlich«, erklärte Miss Witherspoon energisch. »Es sind ihrer viel zu viele, als -21-
daß Sie die Aufgabe allein bewältigen könnten. Und nicht alle geraten in Ihr Blickfeld. Aus diesem Grund wähle ich jedes Jahr einen Kandidaten zur Elimination aus.« Der Sheriff wußte darauf so schnell nichts zu sagen. Miss Witherspoon schob die Katze von ihrem Schoß und erhob sich. »Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen, bereite ich uns einen Tee.« Wenige Minuten darauf kehrte sie mit einem Tablett aus der Küche wieder, auf dem die notwendigen Utensilien bereitstanden. Der Sheriff hatte sich in ihrer Abwesenheit die nächste Frage zurechtgelegt. »Und nach welchen Kriterien haben Sie Ihre, äh, Todeskandidaten ausgewählt?« »Ich habe ganz einfach geprüft, welche Dorfbewohner welche der Zehn Gebote verletzten, und dann habe ich sie beseitigt, der Reihe nach. In diesem Jahr bin ich beim Siebten Gebot angelangt.« Sie blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände hinab. Sie genierte sich, einem Mann gegenüber davon zu sprechen. »Du sollst nicht die Ehe brechen.« »Wollen Sie sagen«, fragte der Sheriff entsetzt, »daß Sie bereits, äh, sechs Menschen ›beseitigt‹ haben?« »Ja«, antwortete Miss Witherspoon mit unverkennbarem Stolz. »Angefangen mit demjenigen, der auf ganz unverhohlene Weise das erste der Zehn Gebote verletzt hat, dem nur dem Geld huldigenden Bankdirektor John Leger, bis hin, wie gesagt, zur Nummer Sieben.« Sie hielt einen Augenblick inne, als warte sie auf ein paar lobende Worte. Als diese ausblieben, fuhr sie fort: »Das größte Problem stellte sich im vergangenen Jahr: einen Kandidaten für das Sechste Gebot zu finden. Denn Sie werden zugeben, daß Sie selbst gute Arbeit leisten, wenn es um die Ergreifung derer geht, die regelrecht morden.« -22-
Miss Witherspoon sprach jetzt in geradezu fachsimpelndem Tonfall. »Aber schließlich wurde ich doch noch fündig. Denn es steht ja nicht geschrieben, wen oder was man nicht töten soll, und es ist ja allgemein bekannt, daß Edna Fairbanks vergiftete Fleischköder für Katzen ausgelegt hat.« »Das war’s also!« rief der Sheriff, für den sich plötzlich ein uraltes Rätsel löste. Dann wollte er wissen: »Aber was ist mit Ihnen, Miss Witherspoon? Haben Sie nicht selbst gegen das Sechste Gebot verstoßen?« »Nein, streng genommen nicht«, erklärte ihm die alte Dame. Ihre Augen blitzten vor Vergnügen, sie freute sich wie ein kleines Kind, endlich ihr Geschick und ihre Klugheit vorführen zu können. »Darüber habe ich lange und gründlich nachgedacht. Sehen Sie, ich bringe ja faktisch niemanden um; ich mache lediglich anderen die nötigen Mittel zugänglich. Dagegen gibt es kein Gebot.« Die Alte ist verrückter, als ich dachte, sagte sich der Sheriff im stillen. Laut sagte er: »Aber Sie haben nach Kräften dafür gesorgt, daß die Kandidaten zum entsprechenden Mittel griffen, oder nicht? Wegen des Kärtchens in Mrs. Laurels Maikörbchen bin ich stutzig geworden und Ihnen auf die Spur gekommen.« »Es stimmt, daß meine kleinen Botschaften die Leute ermutigt haben dürften, die Kräuter zu verwenden, doch gelang es ausschließlich deshalb, weil diese Botschaften bei ihnen jeweils den schon vorhandenen Willen zum Bösen ansprachen und herausbrachten, die Neigung zu eben der Verfehlung, deretwegen sie bestraft werden mußten.« »Nun«, räumte der Sheriff mit unfreiwilliger Bewunderung ein, »Sie haben ganze Arbeit geleistet. Trotzdem können wir Sie nicht laufenlassen, das werden Sie verstehen, nicht?« -23-
»Natürlich verstehe ich das«, versicherte ihm Miss Witherspoon sonnig. »Sie haben auch Ihre Arbeit zu tun.« Der Sheriff seufzte erleichtert. Sie würde sich ihrer Festnahme also nicht, wie er befürchtet hatte, widersetzen. Er meinte: »Sie haben Zeit, ganz in Ruhe Ihre Angelegenheiten ein wenig zu ordnen; ich komme später mit einem Haftbefehl wieder.« »Einverstanden«, sagte Miss Witherspoon und brachte ihn zur Tür. Sie wußte ja, daß die zerriebene Hundspetersilie, die sie seinem Tee beigemischt hatte, rasch und zuverlässig wirkte – und so giftig war wie der Schierlingsbecher, den Sokrates geleert hatte. Sie bedauerte diesen einen außerplanmäßigen Tod. Aber schließlich handelte es sich um einen Notfall. Leider hatte sie ja versäumt, dem Sheriff von dem einen Gebot zu erzählen, das sie notgedrungen hatte übergehen müssen, denn der Sheriff hatte ihres Wissens nie gestohlen. Dafür war er jedoch ohne Zweifel drauf und dran gewesen, das Neunte Gebot zu übertreten, denn hatte er etwa nicht die Absicht gehabt, gegen sie falsch auszusagen? Eben. Das hatte sie sich doch gleich gedacht.
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ANNA CLARKE Cäsars Gemahlin
Die Tür ging auf. Es war eine weiße Tür, genau wie alle anderen Türen in der Klinik. Auch die Zimmerwände, Bettlaken und Kissen waren weiß. Der Mann im Bett hatte dunkles Haar, und sein Gesicht war nicht alt, obwohl man ihm Schmerzen und Anspannung anmerkte. In der linken Hand hielt er ein grellfarbenes Taschenbuch, in dem er mit der anderen Hand ungeduldig blätterte. Er blickte nicht auf, als die Frau ins Zimmer trat. »Stellen Sie das Tablett hierher, Schwester. Ich werde mir selbst eingießen.« Er hatte eine kräftige Stimme, die daran gewöhnt zu sein schien, Befehle zu erteilen. Hastig blätterte er zwei weitere Seiten des Buches um. Vom Rascheln des Papiers abgesehen, herrschte Stille im Zimmer. Die weiße Türe war geschlossen. Durch die hohen Fenster sah man den Schnee auf Rasen und Bäumen liegen. Es war Neujahrstag. Der Mann im Bett blickte kurz zur Seite und sah die blaßblaue Schwesterntracht nicht weit von sich entfernt. »Worauf warten Sie noch?« fragte er müde. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich mich selbst bediene, wenn ich Tee möchte.« »Ja, Sir. Ich hörte es.« Die Stimme war tief und angenehm mit einem ganz leichten schottischen Akzent. »Ich dachte aber, du würdest vielleicht gerne mit einer alten Bekannten sprechen.« Endlich blickte der Mann im Bett auf. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder und starrte die Frau dann wie hyp-25-
notisiert an. Sein Mund öffnete sich zum Sprechen, aber außer einem Ringen nach Luft kam kein Ton heraus. Die Frau in der Schwesterntracht setzte sich auf den Rand seines Bettes und faßte sein Handgelenk. »Es geht dir nicht gut, Will«, sagte sie. »Natürlich nicht. Sonst wäre ich ja nicht hier.« Noch immer atmete er schwer. Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr. »Du hättest nicht einfach so ohne Vorankündigung hereinkommen sollen. Ich darf keinerlei Aufregungen ausgesetzt werden.« »Es hätte tödlich für dich sein können?« Sie lächelte ihn an. Sie war eine tüchtig aussehende Frau Mitte vierzig mit haselnußbraunen Augen und kräftigem dunkelrotem Haar. »Was machst du denn hier, Maggie?« Seine Stimme hatte ihre Festigkeit wieder erlangt, war aber noch voller Mißtrauen, vielleicht schwang sogar ein wenig Angst mit. »Warum haben sie dich hereingelassen?« Sie lachte. »Ich gehöre zum Personal. Seit gestern. Ich habe im Institut angerufen, und deine Sekretärin sagte mir, du seist hier. Deshalb rief ich die Oberin an und fragte, ob sie eine freie Stelle hätte. In diesen feinen Kliniken wechselt das Personal oft recht schnell. Und es kann ja keiner sagen, daß ich für die Tätigkeit nicht gut geeignet wäre. Nicht wahr, Will?« Er antwortete nicht. Seine Finger tasteten nach der Glokke. Sie wartete so lange, bis er gerade den Knopf drücken wollte. Dann beugte sie sich vor und zog ihm plötzlich die Schnur weg, so daß er sie nicht mehr erreichen konnte. »Falls du die Hilfe einer Schwester brauchst, ist es nicht nötig, nach jemand anderem zu läuten.« -26-
Er sank in seine Kissen zurück und atmete wieder angestrengt. Seine Augen waren voller Haß. »Hast du Angst vor mir, Will? Glaubst du, ich bin gekommen, um Rache zu nehmen?« Sie lächelte ihn an und nahm das Buch in die Hand, das auf der Bettdecke lag. »›Eines natürlichen Todes‹. Ist das nicht die Geschichte, in der jemand ermordet wird, indem man ihm Luft ins Blut spritzt?« Sie ließ die Seiten durch die Finger gleiten. »Ja, genau. Ich habe mich oft gefragt, ob das wirklich funktioniert. Aber sicher hätte Dorothy Sayers niemals etwas geschrieben, was theoretisch nicht stimmt. Eine sehr interessante Idee.« Sie legte das Buch wieder hin und schaute ihn nachdenklich an. Er hatte nun seinen Atem wieder unter Kontrolle und schaffte es, mit einer gewissen Bestimmtheit zu sprechen. »Bevor du dich hier in einem perfekten Mord versuchst, darf ich dich darauf hinweisen, daß er vielleicht überflüssig ist? Ich bin schwer krank und warte darauf, mich einer gefährlichen Herzoperation zu unterziehen.« »Das weiß ich«, sagte sie. »Was ist dann der Zweck dieses Gesprächs? Du hast mir einen bösen Schrecken eingejagt. Du hast andeutungsweise gedroht, meinem Leben früher ein Ende zu setzen, als es ohnehin beendet sein wird. Falls du das willst, kann ich dich nicht aufhalten. Ich bin hilflos. Aber ich kann nicht erkennen, welche Befriedigung es dir verschaffen würde. Es wäre vielmehr sogar eine Wohltat für mich, schnell und schmerzlos zu sterben, statt langsam dahinzusiechen. Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.« »Du hast dich nicht verändert«, sagte sie sanft. »Sir William Freeborn, Direktor des Morris Forschungsinstituts, ist noch immer derselbe. Nur daß der junge Dr. Will Freeborn -27-
wenig Geld hatte. Aber viel Ehrgeiz hatte er auch damals schon. Du bist kalt wie Eis und hart wie Eis. So warst du immer.« Plötzlich lachte sie. »Herzoperation! Das ist wirklich sehr komisch. Du hast ja gar kein Herz. Du hattest nie eines.« »Das habe ich auch nie behauptet. Du hattest beschlossen, daß ich in dich verliebt sei.« »Es hat dir nichts ausgemacht, meine Gefühle für dich zu benutzen.« »Natürlich nicht. Es war ein Angebot.« »Du hattest mich sogar gebeten, dich zu heiraten. Erinnerst du dich?« »Ich erinnere mich. Ärzte heiraten häufig Krankenschwestern. Das kann sehr praktisch sein, wenn man eine Praxis eröffnet.« »Aber nicht ganz so praktisch, wie eine reiche Erbin zu heiraten.« Es herrschte ein kurzes Schweigen, bevor er sagte: »Ich gebe zu, daß ich mich dir gegenüber schäbig benommen habe, Maggie. Aber ich bin nicht der einzige – weder unter den Männern, noch unter den Frauen –, der eine Verlobung aufgelöst hat. Das ist immer noch besser als eine unglückliche Ehe.« Sie stand auf, ging zum Fenster, wo sie einen Augenblick stehen blieb und in den schneebedeckten Garten, den dunkler werdenden Himmel und zu den hell erleuchteten Fenstern der Nachbarhäuser hinausschaute. Dann zog sie die Vorhänge zu. Sie bildeten ein großes goldfarbenes Rechteck inmitten der weißen Zimmerwände. Sie wandte sich zum Bett zurück. Der Kranke war nach einer Seite gesunken und schien kaum zu atmen. -28-
»Ich habe gesehen, wie du die Glocke geläutet hast«, sagte sie ruhig. »Du hast dich in der Fensterscheibe gespiegelt.« Sie kam näher heran. »Du hast wirklich Angst vor mir, nicht wahr, Will?« In ihrer Stimme lag eine Art erstaunten Jubels. Einen Moment später wurden ihre Augen wieder sanft, besorgt und zweifelnd. Er sah die Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck nicht. Schmerz und Schwäche hatten die Oberhand über seinen Körper gewonnen, aber sein Verstand arbeitete schnell und klar. Jemand anderer würde auf das Klingeln hin kommen. Und da war auch noch Cynthias täglicher Besuch. Das einzige, was er tun mußte, war, die tödliche Spritze so lange fernzuhalten, bis Cynthia kam. Wenn es dieser verrückten Person auch gelingen sollte, ein Gespräch mit jemand anderem vom Personal zu verhindern, so konnte sie doch nicht verhindern, daß er mit seiner Frau sprach. Und wenn Cynthia erst einmal bemerkt hat, wer sie ist und warum sie hier ist Die weiße Tür ging wieder auf. Eine forsche Stimme sagte: »Ja, Sir William, bitte schön? Ah, Schwester Mackay – Sie sind schon hier.« »Ich dachte, es wäre vielleicht dringend, Schwester Oberin.« Das leise Geräusch von sich bewegendem, gestärktem Stoff war zu hören. Dann fühlte der Mann im Bett eine kühle Hand auf seiner Stirn. Ich bin in Gefahr, Schwester Oberin. Seine Lippen bewegten sich nicht, aber sein Geist wollte ihr seine Gedanken aufzwingen. Retten Sie mich, Schwester Oberin. Diese Frau hat mir niemals verziehen, daß ich ihr den Laufpaß gegeben habe. Sie will mich umbringen. -29-
»Es scheint ihm irgendwie schlecht zu gehen«, sagte die Oberin. »Aus den Anweisungen entnehme ich, daß er im Notfall eine Valiumspritze bekommen kann«, antwortete Schwester Mackay. Der Kopf, den die Oberin leicht berührte, zuckte heftig unter ihrer Hand. »Ist schon gut, Sir William«, beruhigte sie ihn. »Wir können Ihnen etwas geben, damit es Ihnen wieder besser geht.« »Nein, nein.« Endlich fand er seine Stimme wieder. Er öffnete seine Augen und sah ein rundes, rosiges Gesicht über sich gebeugt. »Schwester Oberin – meine Frau wird bald hier sein. Ich möchte mit ihr sprechen. Ich möchte nicht betäubt werden.« »Es handelt sich nur um Valium, Sir William. Wir geben Ihnen kein Schlafmittel.« »Schwester Oberin.« Er ergriff ihre Hand mit beiden Händen. »Bleiben Sie bei mir, bis meine Frau kommt.« »Das geht leider nicht, Sir William. Ich muß in zwei Minuten woanders hin.« »Dann geben Sie mir wenigstens selbst die Spritze.« Er flehte sie mit seinen Augen an. Sie richtete sich auf und blickte Schwester Mackay ratlos an. »Ich glaube, ein fremdes Gesicht macht ihn nervös, Schwester Oberin«, sagte die rothaarige Schwester. »Ich habe das schon früher bei Herzpatienten beobachtet.« Die beiden uniformierten Gestalten bewegten sich in Richtung Waschnische. Sie flüsterten miteinander, aber der Mann im Bett, dessen Gehör außerordentlich fein war, verstand dennoch, was sie sagten. -30-
»Es macht Ihnen doch nichts aus, Schwester?« sagte die Stimme der Oberin. »Das bedeutet keinesfalls einen Mangel an Vertrauen Ihnen gegenüber, aber ich denke, es ist am besten, wenn wir ihm seinen Willen lassen.« »Natürlich. Ich verstehe. Männer sind solche Feiglinge, nicht wahr?« »Ganz besonders Ärzte, wenn sie krank sind.« Kurz darauf sagte die Oberin: »Hier, Sir William. Das wird den Schmerz lindern und das Atmen erleichtern, so daß Sie sich über Lady Freeborns Besuch freuen können.« Er schaffte es, eine passende Antwort zu geben, obwohl seine Gedanken wieder von panischer Angst rasten. Während die beiden in der Nische standen, hörte er sie zwar sprechen, aber er konnte sie nicht sehen. Welche von beiden hatte die Spritze aufgezogen? Oder nicht aufgezogen? Seine Vernunft gewann die Oberhand. Die Injektion war völlig korrekt. Maggie konnte wirklich nichts tun, solange die Oberin im Zimmer war. Auf irgendeine Weise mußte er sie zurückhalten, bis Cynthia kam. Schließlich war er ein VIP-Patient. Oder erfuhren etwa irgendwelche Politiker oder Popstars eine bevorzugtere Behandlung? »Ich denke, wir lassen Sir William nun ruhen, Schwester«, sagte die Oberin und nahm das unberührte Teetablett auf. »Gewiß.« Die rothaarige Schwester folgte ihrer Vorgesetzten. Die weiße Tür schloß sich hinter ihnen. Der Mann im Bett atmete freier. Im Foyer der Klinik stand ein großer Christbaum. Girlanden aus Stechpalmen und glitzerndem Silber hingen von der weißen Decke. Das Mädchen an der Rezeption war -31-
jung und rosig. Sie lächelte zu der großen, mageren Frau empor, die ihren Pelzmantel vorne zusammenraffte, als wäre er ihr Schild gegen eine feindliche Welt. »Guten Tag, Lady Freeborn.« »Guten Tag«, entgegnete eine schüchterne und verunsicherte Stimme. Die rothaarige Schwester, die gerade noch mit der Baumdekoration beschäftigt war, kam herbei, um die neu Angekommene zu begrüßen. »Ich bin Schwester Mackay«, sagte sie. »Ich kümmere mich jetzt um Ihren Gatten. Ich fürchte, er wird wohl ein wenig schläfrig sein. Die Schwester Oberin hat ihm eine Spritze gegeben, um seine Schmerzen zu lindern und ihn zu beruhigen.« »Ah. Tatsächlich?« Cynthia Freeborn hatte ein schmales, nervöses Gesicht. Keine Schönheit, dachte Maggie, keine Persönlichkeit. Keine besonderen Fähigkeiten. Bloß Geld. Ob sie wohl weiß, daß er sie nur deswegen geheiratet hat? Natürlich! Sie muß es wissen. Sie sieht sehr unglücklich aus. »Versuchen Sie doch, sich nicht so viele Sorgen zu machen, Lady Freeborn«, sagte sie aufmunternd, als sie den weißen Korridor entlanggingen. »Es besteht alle Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung und neues Leben für ihn.« Bei diesen Worten schaute Cynthia Freeborn um nichts fröhlicher. Maggie öffnete die Tür für sie und nahm sich viel Zeit, um sie wieder zu schließen. Während sie noch offen war, stand sie im Korridor und hörte, wie Sir William sagte: »Du bist wieder zu spät dran, wie gewöhnlich.« »Es tut mir leid. Der Verkehr war schrecklich. Die Bücher, die du wolltest, habe ich dir mitgebracht, Will.« -32-
»Das interessiert mich im Moment gar nicht. Ich muß dir etwas äußerst Wichtiges erzählen. Du mußt etwas für mich tun. Und zwar sofort. Hör bitte auf, so nervös herumzuhampeln, Cynthia, setz dich und versuche wenigstens einmal, dich zu konzentrieren. Ist diese Tür richtig geschlossen?« Vor der geschlossenen Tür stand Maggie Mackay und horchte, aber sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Eine Schwester schob einen Teewagen den Korridor entlang. Sie lächelten sich kurz an. Dann ging Schwester Mackay zielstrebig ins Foyer zurück. »Falls Lady Freeborn nach der Schwester Oberin fragen sollte«, sagte sie zu dem Mädchen an der Rezeption, »dann sagen Sie ihr bitte, daß die Schwester Oberin gerade verhindert ist und mich gebeten hat, mit ihr zu sprechen. Ich bin in Zimmer siebzehn.« Das rosige Mädchen nickte. Sie sprach gerade mit jemand am Telefon. In Zimmer siebzehn lag ein Junge im Teenageralter, der bei einem Unfall schwere Verbrennungen erlitten hatte und nun immer wieder aus dem Schlaf geschreckt wurde. Schwester Mackay blieb lange bei ihm und versuchte, ihn zu beruhigen und es ihm bequem zu machen. Sie war eine tüchtige und einfühlsame Krankenpflegerin. Während sie die unverletzte Hand des Jungen hielt, dachte sie an Cynthia und was für ein armes Geschöpf sie doch war. Ich möchte gerne wissen, wie sie sich verhält, wenn er ihr erzählt, daß ich ihn zu ermorden drohte. Sicherlich tyrannisiert er sie. »Ich weiß, daß es sehr schwer ist, geduldig zu sein, Robert«, sagte sie laut, »aber ich verspreche dir, daß du wieder ganz gesund werden wirst. Die Haut ist ein ganz wunderbares Gebilde. Sie wird wieder nachwachsen wie neu.« -33-
Es klopfte an der Tür, und die Schwester, die den Teewagen geschoben hatte, streckte den Kopf herein. »Sind Sie Schwester Mackay? Wenn ja, dann werden Sie an der Rezeption verlangt.« Im Foyer herrschte eine Auseinandersetzung zwischen Lady Freeborn und dem rosigen Mädchen. »Aber ich muß die Schwester Oberin sprechen!« rief Cynthia Freeborn. »Es ist sehr wichtig, daß ich mit ihr spreche! Unverzüglich!« Der Pelzmantel hing lose herab, das schmale Gesicht war gerötet, und die hellblauen Augen waren weit aufgerissen. Sie wirkte wie ein verängstigtes Kaninchen. »Es tut mir sehr leid«, entgegnete das rosige Mädchen, »aber sie ist noch mindestens eine halbe Stunde lang nicht zu erreichen. In der Zwischenzeit wird Schwester Mackay –« »Nein, nein!« Es war ein mitleiderregender kurzer Aufschrei. »Ich will nicht mit Schwester Mackay sprechen!« Maggie kam näher. »Ich glaube, hier handelt es sich um ein Mißverständnis. Lassen Sie mich bitte erklären, Lady Freeborn. Falls Sie mit meiner Erklärung nicht einverstanden sind, dann können Sie mit der Schwester Oberin sprechen, sobald sie frei ist.« In ihrer Stimme lag etwas Beschwichtigendes und Zwingendes zugleich. Es war die Stimme der Autorität: Eine Krankenschwester duldet keinen Widerspruch. Cynthia Freeborn folgte ihr in eine ruhige Ecke des Foyers. Dort setzten sie sich und blickten sich über einen niedrigen Tisch hinweg an. »Ich weiß nicht, ob Sir William Ihnen jemals etwas davon erzählt hat, daß ich mit ihm verlobt war, bevor er Ih-34-
nen begegnete. Er löste die Verlobung am Tag vor unserer Hochzeit. Eine Erklärung gab er mir nie. Nur, daß er es sich anders überlegt habe. Wußten Sie das? Ich meine vor dem heutigen Abend?« »Er erzählte mir, Sie hätten die Verlobung gelöst«, murmelte Cynthia Freeborn. Dabei spielte sie mit der Schließe ihrer Handtasche herum und vermied es, Maggie in die Augen zu schauen. »Glaubten Sie ihm das?« »Nun, ich wußte nicht so recht.« Das blasse Gesicht lief rot an – aber nicht auf so hübsche Weise wie das Gesicht des Mädchens an der Rezeption, sondern es zeigten sich häßliche Flecken. »Ich meine, ich selbst hätte ihn niemals aufgegeben. Ich hielt mich für sehr vom Glück begünstigt. Natürlich kannte ich ihn damals kaum.« Die letzten Worte waren kaum zu hören. Lady Freeborn öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr ein winziges, besticktes Taschentuch, mit dem sie ihre Augen abtupfte. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie unglücklich gemacht habe«, fuhr sie mit festerer Stimme fort. »Ach, das ist alles längst vorbei«, antwortete Maggie Mackay. »Ich erholte mich davon und lebte mein Leben weiter. Doch jetzt konnte ich einfach nicht anders, als ihn etwas zu necken. Es sieht aber so aus, als hätte er das, was ich ihm gesagt habe, für bare Münze genommen. Das ist es, was ich Ihnen erklären wollte. Erzählte er Ihnen, daß ich ihm gedroht hatte, ihn zu ermorden?« »Ja.« Das Taschentuch wurde wieder weggesteckt und die Handtasche mit einem endgültigen Schnappen geschlossen. Zum ersten Mal blickten die hellblauen Augen Maggie offen an. »Er erzählte mir, daß Sie mit einer leeren Kanüle -35-
Luft in seine Arterie spritzen und so die Blutzirkulation unterbrechen wollten. Er bestand darauf, daß ich das sofort der Schwester Oberin sagen müßte und daß Sie sich auf keinen Fall in seiner Nähe aufhalten dürften. Er hatte wirklich Angst. Ich habe nie vorher erlebt, daß er Angst hatte.« »Ich auch nicht.« Die beiden Frauen blickten einander starr an. Sie liebt ihn nicht mehr, dachte Maggie; ich vermute, er hat sie ständig betrogen. »Natürlich habe ich ihm nicht gedroht, Lady Freeborn«, sagte sie laut. »Ganz abgesehen von allem anderen würde ich so etwas niemals tun, denn ich liebe meinen Beruf und möchte meine Schwesternlaufbahn nicht gefährden. Es passierte weiter nichts, als daß ich sagte, ich erinnerte mich an die Art und Weise, wie der Mord in dem Buch verübt wird, in dem er gerade las, und daß ich gerne wüßte, ob das wirklich funktionieren würde. Er war es, der auf den Gedanken kam, daß ich Rachepläne schmiedete. Ich nehme an, er hat mir gegenüber Schuldgefühle.« »Das will ich doch hoffen«, entgegnete die andere Frau mit überraschender Heftigkeit. »Denken Sie wirklich, daß er diese Operation überleben wird?« fügte sie dann etwas leiser hinzu. »Ja, ich glaube schon.« Maggie erklärte kurz, was getan werden mußte. Cynthia Freeborn hörte aufmerksam zu. Die Köpfe der beiden kamen einander näher. »Ich habe selbst einmal ein wenig Krankenpflege gemacht«, sagte Cynthia schließlich. »Meine Schwester war Diabetikerin. Ich gab ihr die Spritzen, weil sie es so ungern selber tat.« Maggie zeigte höfliches Interesse. Sie sprachen noch eine Weile miteinander. Dann erhob sich Cynthia. -36-
»Ich glaube, ich brauche doch nicht auf die Schwester Oberin zu warten«, sagte sie. »Ich verstehe all das, was Sie mir erzählt haben, sehr gut. Ich habe volles Vertrauen in Ihre Fähigkeiten und in Ihre Diskretion. Vielen Dank für alles, Schwester Mackay.« »Danke, daß Sie mir zugehört haben, Lady Freeborn.« Sie gingen gemeinsam zum Haupteingang des Gebäudes. Maggie hatte den Eindruck, als hätte Cynthia eine neue Würde gewonnen. Sie wirkte nicht mehr so nervös, sondern wesentlich ruhiger. Sie schien sogar aufrechter zu gehen. »Ich werde am späten Abend noch einmal wiederkommen, um meinen Mann zu besuchen«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie dann zu sehen, Schwester Mackay.« »Das hoffe ich auch«, antwortete Maggie. Sie trafen sich jedoch nicht mehr. Um zehn Uhr kam Schwester Mackay in Sir Williams Zimmer, um ihren Patienten auf die Nacht vorzubereiten, und fand ihn still und starr in seinem Bett. Sie ergriff sein Handgelenk, öffnete sein geschlossenes Augenlid und verrichtete noch verschiedene Handgriffe. Dann blickte sie sich mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht im Zimmer um und ging schließlich zum Erker hinüber. Auf der Ablage neben dem Waschbecken befand sich das Tablett mit den Pflegeutensilien. Auch die Injektionsspritze, die die Oberin am frühen Nachmittag benutzt hatte, lag dabei. Schwester Mackay nahm sie in die Hand und betrachtete sie eingehend. »Äußerst merkwürdig«, murmelte sie vor sich hin. »Es kann doch wohl nicht sein –.« Ihr verdutztes Stirnrunzeln verstärkte sich noch. Dann hellte sich ihre Miene auf. Sie warf einen flüchtigen Blick zum Bett hinüber und rief: »Nun! Wer hätte das gedacht?« -37-
Sie ergriff einen Wattebausch und wollte gerade damit die Spritze abwischen, als sie innehielt und sagte: »Nein, das ist nicht notwendig. Niemand wird sie auf Fingerabdrücke hin überprüfen. Was könnte denn wohl natürlicher sein als dieser Tod zu dieser Zeit?« Sie ging zum Bett zurück und schüttelte langsam den Kopf. »Armer Will. Du hast der falschen Frau vertraut. Ich hätte dir niemals etwas getan. Aber Cynthia – Ich vermute, es ist dir niemals aufgefallen, daß sie allmählich gelernt hat, dich zu hassen. Und Cäsars Gemahlin ist natürlich über jeden Verdacht erhaben.«
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SUSAN DUNLAP Nicht vor dem Morgenkaffee
Seit einer Woche lag Berkeley eingehüllt im Nebel. Jeden Nachmittag um vier lichtete er sich immer nur solange, um jeden daran zu erinnern, wie ein schöner Tag hätte aussehen können. Letzte Nacht hatte er sich zu einem dicken grauen Schleier verdichtet, der das Licht der Straßenlaternen mehr und mehr dämpfte, bis der Bürgersteig schließlich gänzlich der Dunkelheit überlassen war. Aber irgendwann in der Nacht hatte sich der pazifische Wind in einen heftigen Sturm verwandelt. Palmwedel waren gegen das Schlafzimmerfenster des Hauses gepeitscht, das ich gerade hütete. Ich war kurz aufgewacht. Seth Howard hatte weitergeschlafen. Die Sturmböen müssen so stark gewesen sein, daß sie den Nebel sich in nichts auflösen ließen. Als mich um 9 Uhr die kreischenden Autoreifen vor dem Fenster endgültig aus dem Schlaf rissen, erwartete mich nicht das eintönige Grau, mit dem meist auch schöne Tage beginnen, sondern Sonnenstrahlen fluteten durch das Fenster und spielten mit dem Spinnennetz in der oberen Zimmerecke. (Ich bin keine besonders gute Hausfrau und werde das Haus wohl putzen lassen, bevor die Besitzer zurückkommen.) Auf dem Fußboden lagen Howards Jeans, deren Messingknöpfe in der Sonne glitzerten (auch er ist nicht gerade ein Meister Proper). Diese seltene Morgensonne war hier in Berkeley immer ein Grund zum Feiern, genau wie im Osten des Landes die ersten Anzeichen des nahenden Frühlings. Sie versprach einen Tag, der wie geschaffen war für Spaziergänge im Tilden Park oder vorbei an den Straßenhändlern auf der Telegraph Avenue, -39-
oder – mit einem Seitenblick auf Howards Schulter, die sich gerade von der Bettdecke befreite – für andere Dinge. Jedenfalls ein freier Tag für uns beide. An so einem Tag machte es mir nichts aus, um 9 Uhr aufgeweckt zu werden. Es störte mich nicht einmal, daß Howard sich streckte, die Augen öffnete und den Polizeifunk andrehte. Als er noch Polizeistreife fuhr, hatte er ihn nur selten gleich nach dem Aufwachen eingeschaltet. Erst nach seiner Beförderung ins Sitten- und Drogendezernat hatte er sich dies angewöhnt. Wir von der Mordkommission waren eigentlich auch danach süchtig. Aber ich wartete wenigstens bis nach dem ersten Schluck Kaffee. Das Funkgerät war noch keine zwei Minuten an, als es die Meldung ausspuckte: Zwei Häuserblocks von hier hatte man eine Leiche gefunden, beim Eintreffen der Polizei war der Körper bereits kalt gewesen. Das bedeutete Ambulanz und Alarmstufe drei (Blaulicht und Sirene). Ich kann nicht behaupten, daß ich direkt hochschreckte – der Fall fiel nicht in meine Zuständigkeit –, aber man blieb auch nicht einfach im Bett liegen, wenn ein Nachbar umgebracht worden war. Die Leute hier in der Gegend versammelten sich gewöhnlich in Peet’s Coffee Shop, wie Dorfbewohner um den Dorfbrunnen. Es herrschte dort ein gewisser Cliquengeist, sogar unter jenen, die nur kurz auf eine Tasse Kaffee vorbeischauten. Aber die meisten von uns unterhielten sich ein wenig, stellten Vermutungen darüber an, ob heute die koffeinfreie Indonesienmischung oder die Wiener Röstung dran war, ob es verwässerten Sumatra oder Java Mokka gab. Wir kannten uns alle nur oberflächlich und tauschten höfliche Nettigkeiten aus. Der Tag war eindeutig zu schön zum Sterben. Howard stützte sich auf einen Ellbogen auf. Seine roten Locken waren auf einer Seite plattgedrückt. »Wo ist das passiert?« -40-
»Zwei Straßen unterhalb der Walnut Avenue, hinterm Walnut Square.« »Mensch, einer meiner Informanten wohnt da. Wilson, der kleine Mann mit dem Leberfleck neben der Nase.« Ich war aufgestanden und holte mir Unterwäsche aus der Schublade. »Wilson? Ach ja. Ich hab’ ihn gelegentlich auf seinen Kaffee warten sehn, an Wochenenden, glaube ich. Er erinnert mich irgendwie an einen häßlichen Hund. Einer, der häßlich geboren wird und der sich hinten im Karton verkriecht und nach dir schnappt, wenn du ihn zu streicheln versuchst.« »Genau das ist Wilson. Oder besser gesagt, das ist Wilson, wenn er gerade nicht high ist. Wenn er Kokain geschnupft hat, verkriecht er sich nicht, bevor er zuschnappt. Als Dealer ist er ein kleiner Fisch.« »Na, so klein kann er auch nicht sein, wenn er hier in der Gegend lebt.« »Wenn er noch lebt.« Um zehn nach neun waren wir auf dem Weg zum Walnut Square, einem rechteckigen Geschäftekomplex an der Ecke von Walnut und Vine Avenue. Eine Straße weiter, in zweiter Reihe geparkt, standen Krankenwagen und Polizeiautos. Das kreisende Blaulicht zeichnete auf beiden Seiten der Straße ein Lichtmuster auf die Autos, das hoch bis zu den noch immer taufeuchten Blättern der Platanen reichte. Vor uns gingen zwei Morgenstammgäste, denen ich früher schon ein paarmal begegnet war, an den baumbeschatteten Holzhäusern vorbei in Richtung Walnut Square; ihre lila bestickten, grellen Thai-Hemden leuchteten im Sonnenschein. Die Frau beugte sich plötzlich nach unten, um eine Katze zu kraulen, die sich gerade putzte. Wir waren so dicht hinter ihnen, daß Howard beinahe über sie gestolpert wäre. Unschlüssig murmelte er eine Entschuldigung. -41-
Aber sein Gesichtsausdruck sagte: »Mach dich aus dem Weg!« Bevor sie das sehen konnten, konnte ich ihm gerade noch einen Schubs geben. »Geh weiter.« Ich wandte mich dem Paar zu, um mich für ihn zu entschuldigen. Aber die beiden zuckten nur mit den Schultern. Der Tag war zu schön, um sich über so was aufzuregen. Howard überholte inzwischen ein paar Spaziergänger und eilte zum Ort des Geschehens. Die Hoffnung trieb ihn voran. Für ihn bestand die Chance, sich bald besser zu fühlen, falls sich herausstellte, daß die Leiche nicht Wilson, sein Informant, war. Bei mir war das anders, denn wenn es nicht Wilson war, dann bestimmt sonst jemand, den ich kannte. Beim Überqueren der Straße in Richtung Walnut Square stellte ich fest, daß ich dabei war, Gesichter zu zählen, so, als könne, wenn ich jeden, den ich kannte, auch sah, niemand tot sein. An der Straßenecke holte mich der Kaffeeduft von Peet’s zurück in die Wirklichkeit. Trotzdem ging ich im Geiste die »Stammgäste« durch: die Frau, die immer ihre Nase in einem Gedichtband hatte, während sie ihren Kaffee trank, der Mann mit dem langen, blond gewellten Bart, die Frau mit dem Stock – sie waren alle noch am Leben. Vor fünfzehn Minuten, um fünf vor neun, wäre die Straße noch leer gewesen. Wenn ich um neun erschienen wäre, hätten sich bereits zwanzig Leute vor Peet’s Tür gedrängelt. Niemand war im Bademantel hier, aber offensichtlich waren einige der Stammgäste auch noch nicht länger aus den Federn als ich. Eine Frau, die ein buntes Tuch um ihr krauses braunes Haar trug, lehnte lächelnd am sonnenbeschienenen Eingang des Shops und unterhielt sich mit einem Mann in Jeans und löchrigem T-Shirt, das »McGovern for President« verkündete. Ich war ungefähr zehn Mal morgens hiergewesen, hatte sie dabei jedesmal gese-42-
hen und niemals ohne das Kopftuch. Heute, im Sonnenschein, wirkte das nicht mehr ganz neue Stück geradezu festlich. Sie hatte allen Grund, sich ihres Lebens zu freuen, auch wenn ihr das sicher nicht klar war. In der Nähe stand eine Gruppe glücklich schwitzender, nylonbehoster Jogger, deren Laufleistungen in Kilometern auf ihren T-Shirts prangten. Zwei von ihnen kannte ich. Und Henry – auch er war da, saß auf »seiner« Bank. Sogar ohne seinen gewohnten 9-Uhr-Kaffee schien er glücklich, am Leben zu sein. Meine Erleichterung über seine Anwesenheit war geradezu lächerlich, zumal ich ja wußte, daß er hier nicht lebte. Es hatten sich schon viele gefragt, wo er die Nächte verbrachte. Daß er ein Leben auf der Straße bevorzugte, hielt ihn aber nicht davon ab, hier seinen täglichen Gewohnheiten nachzukommen oder die Außenpolitik aufs genaueste zu verfolgen (gegenüber Ländern, die mit einem Vokal anfingen, war er mißtrauisch). Henry strahlte eine bewundernswerte Unabhängigkeit aus, für die die Einwohner Berkeleys empfänglich waren. Er hatte sich für dieses Leben entschieden und machte das Beste daraus. Außerdem hatte er seine Grundsätze und hielt sich daran. Jeden Morgen um 9 Uhr saß er auf seiner Bank mit dem ›Chronicle‹, einer Tageszeitung, die er von einem bärtigen Mann in khakifarbenen Hosen bekam, der immer gleich davoneilte, um einen Freund zum Frühstück zu treffen. (Henry hatte ihn »Kaffeehaus« getauft.) Die gestrige ›New York Times‹ hatte er von einer Frau bekommen, die den 9-Uhr-Bus nach San Francisco erwischen mußte. (Er nannte sie »Exec.«, von »Executive«, leitende Angestellte). Und seine Tasse Kaffee kam von einer grauhaarigen Dame in rotem T-Shirt mit dem Aufdruck »Masters Swim Team« (»Sporty«); sie kam gleich nach den 5-Minuten-Nachrichten um 8 Uhr 50. Es schien ihr eine besondere Genugtuung zu verschaffen, Henry -43-
immer die neuesten Nachrichten zu liefern. (Sporty schwamm, fuhr Rad, spielte Tennis, machte zweimal täglich Aerobic und hatte trotzdem noch Zeit, wochentags hier jeden Morgen fast eine Stunde bei einer Tasse Kaffee zu sitzen. Henry sorgte sich um sie, da sie weder Arbeit noch anderweitig Einkünfte hatte. Diese Sorge hielt ihn aber nicht davon ab, die morgendliche Tasse Kaffee anzunehmen.) Andere hatten ihm Kaffee oder Zeitungen angeboten, aber Henry akzeptierte sie nur von diesen drei bewährten Gönnern. Als wir einmal morgens auf seiner Bank saßen, hatte er mir seine Kriterien aufgezählt. Die Leute, denen er vertraute, mußten hier in der Gegend wohnen; Autos waren unzuverlässig. Sie mußten ein Haus besitzen; Mieter zogen um. Und was am wichtigsten war, sie mußten pünktlich sein. Henry duldete keine Verspätung. Wenn er in einem der Parks oder im Obdachlosenheim schlafen und pünktlich um 9 Uhr hier sein konnte, gab es seiner Meinung nach keinen Grund, warum andere das nicht auch konnten. Wenn sie versagten, warteten schon die nächsten. Viele Leute würden sich geehrt fühlen, ihn mit seinen drei Annehmlichkeiten versorgen zu dürfen. Wilson, der Informant, wäre über eine solche Anerkennung zweifellos hocherfreut gewesen. Diese Arrangements waren nicht einseitig. Henry bezahlte auf seine Art und Weise. Er war ein kritischer Nachrichtenleser und, noch wichtiger, eine zuverlässige Instanz am Square. Einmal angekommen, verließ er selten seinen Posten. Er wußte, wer gekommen war und wer nicht; er vergaß niemals, etwas auszurichten. Für die Stammgäste war er praktischer als ein Telefonanrufbeantworter. Nicht einmal jetzt hatten ihn die Blinklichter der Streifenwagen von seinem Posten weggelockt. Ich winkte Henry zu. Noch ein Streifenwagen fuhr vorbei; sein Blaulicht kreiste im Sonnenschein. Als ich an der Tür -44-
von Peet’s vorbeiging, lockte mich der Duft frischgemahlenen Kaffees aufs neue an. Lang und tief sog ich ihn ein. Ich umkreiste die Hundeversammlung neben einer der Holzkisten, die als Sitz dienten. Sechs Hunde, plus Besitzer. Sonst waren es mehr. Wer fehlte? Ein alter, blauer Cadillac schlich die Straße entlang, während der Fahrer vergebens nach einem Parkplatz Ausschau hielt. Als ich den Tatort erreichte, fing mich erneut Kaffeeduft ein. Zehn oder zwölf Leute hatten sich auf dem Bürgersteig versammelt, jeder mit einem Becher Kaffee in der Hand. Ich eilte an ihnen vorbei zu dem Reporter, den ich kannte. Das mit braunen Schindeln verkleidete Haus war eines jener zweistöckigen Gebäude mit sechs Zimmern, viel dunklem Holz, bleiverglasten Bücherregalen und orientalischen Teppichen. Obwohl ich mit Kälte im Haus gerechnet hatte, erschauderte ich doch. Und irgendwie war nach all dem Kaffeearoma der Geruch von Tod um so schlimmer. Die Leiche lag auf dem Fußboden, mit Löchern in Brust und Bauch. Es war Wilson. Ein Revolver der Marke Colt Diamondback lag neben ihm. Howard stand am Kamin, in der Hand einen Backstein, den er aus der Wand gezogen hatte. Ein stechender Geruch wie von Chlor haftete an dem Stein. Howard sah wütend in das leere Loch. »Hier hatte Wilson seine Notizen aufbewahrt«, sagte er mit erregter Stimme. »Verdammt! Ich hab’s gewußt. Ich wußte es in dem Moment, als ich die Meldung hörte. Ich wollte es einfach nicht glauben. Er war ein ganz kleiner Fisch. Fast hätte ich an ihm gar kein Interesse gehabt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er genug gewußt haben könnte, um dafür umgelegt zu werden.« -45-
»Vielleicht ist er aus ganz anderen Gründen umgebracht worden.« Howard knallte den Backstein zurück ins Loch. »Andere Gründe! Wilson hatte keine anderen Gründe. Ich kannte den Typ und hab’ hier genug gesehen, um zu wissen, wer ihn umgelegt hat. Glaub mir. Außer seinen Notizen ist nichts verschwunden. Und niemand außer seinem Lieferanten und mir wußte davon.« »Er hatte ihm das Versteck gezeigt?« fragte ich, nicht wenig erstaunt. »Warum hat er sich dann überhaupt noch Mühe mit einem Versteck gemacht. Wenn er’s den Guten und den Bösen zeigte, vor wem mußte er das Zeug dann noch verstecken?« »Jill, ich hab’ dir doch gesagt, daß er ein Hohlkopf war. Ich hätte ihn sofort festnageln sollen, als er das erste Mal einwilligte, mir den Namen seines Lieferanten zu geben. Statt dessen habe ich zugelassen, daß er mich bis nächste Woche warten läßt. Hätte ich ihm nur mehr Druck gemacht, dann wäre er jetzt noch am Leben.« »Okay«, sagte ich mit der Absicht, das Thema zu wechseln. Sich selbst in den Hintern zu treten würde Howard auch nicht helfen. »Also hatte der Lieferant mitgekriegt, daß Wilson ihn verraten wollte.« Howard nickte. »So ein Hohlkopf, dieser Wilson.« »Der Lieferant tötete Wilson, um sich selbst zu schützen, stimmt’s? Und, wo ist er?« Aber Howard hörte schon nicht mehr zu. Er starrte auf Wilson. »Dummkopf! Das Dealen war für ihn nur ein Spiel. Um die Ausgaben zu decken, hatte er mir erzählt. Als würde dadurch alles legal. Wie wenn man im Theater als Platzanweiser arbeitet, damit man umsonst reinkommt. Er hatte nie im Ernst daran geglaubt, eines Tages im Gefängnis zu landen, er hielt sich für ’ne zu kleine Nummer. -46-
Du weißt ja, wie wenn Leute bestimmte Dinge zwar wissen, aber nicht wirklich daran glauben – wer glaubt zum Beispiel wirklich, daß er sterben wird?« Ich zuckte mit den Schultern. »Und er konnte einfach nicht den Mund halten. Wer weiß, was ihm rausgerutscht ist. Dieser Narr, dieser tote Narr!« Ich folgte Howards Blick auf Wilsons Leiche. Das Blut war ihm schon ein wenig aus dem Gesicht gewichen, wodurch der Leberfleck neben der Nase noch dunkler wirkte. Er sah wirklich aus wie ein kleiner Hund, den niemand haben wollte. Wie ein Kind, das Koks verhökerte, um sich dadurch Anerkennung zu erkaufen. Hätte Henry ihn zu einem seiner drei Auserwählten gemacht, dachte ich für mich, hätte Wilson vielleicht gar nicht erst mit Koks anfangen müssen. Ich schüttelte den Kopf. Quatsch. Der Kerl war ein Dealer; er kannte die Gefahren. Ich fragte den Arzt, der sich im Eßzimmer über seine Tasche beugte: »Wie lange ist er schon tot?« Aber an seiner Stelle antwortete Burke, der das Ganze hier beaufsichtigte: »Die Frau im Haus dahinter hörte die Schüsse. Der Anruf kam um zwei nach neun. Zu schade, daß er nicht durch die Hintertür weggerannt ist; dann hätte sie ihn gesehen. Die Nachbarn aus den Häusern links und rechts sind nicht da.« »Wie praktisch für den Mörder.« Ich warf dem Arzt einen fragenden Blick zu. »Er ist immer noch warm«, sagte er. »Ich war sechs Minuten später hier. Das Blut war noch nicht geronnen.« »Aber der Mörder war weg, richtig?« fragte Howard. »O ja«, sagte Burke. »Verschwunden.« Ich frage Burke nicht, ob jemand die übrigen Nachbarn -47-
verhörte. Er würde das schon veranlassen. Ich wandte mich Howard zu und fragte: »Wilson lebte allein?« »Mit seiner Sucht.« Durch das Fenster sah ich Raksen vom Erkennungsdienst aus dem Wagen steigen, der in zweiter Reihe geparkt war. In ein paar Minuten würde er sich, die Kamera startklar, gelassen Wilsons Leiche ansehen. Bis zu dem Zeitpunkt würden sicher Eggs oder Jackson, je nachdem, wer den Fall übernahm, auch hier sein und ihn zurückhalten, um selbst erstmal einen Blick auf die Leiche zu werfen. »Laß uns den Leuten hier Kaffee bringen«, sagte ich zu Howard. Noch bevor er antworten konnte, meinte Burke: »Aber richtigen, nicht das koffeinfreie Zeug. Und sieh zu, daß du auch ein bißchen Milch kriegst, okay?« »Wird gemacht.« Als wir den Bürgersteig erreichten, fuhr Eggs gerade mit seinem Wagen vor. Ich deutete auf Peet’s. »Darjeeling«, rief er. Eggs trank diesen Monat keinen Kaffee. Howard schob sich durch die Leute. Sie wichen auseinander. Selbst Fremde, die nicht wußten, wie selten diese Anspannung in seinem Gesicht zu sehen war, die seinen »Scheuklappengang« nicht kannten, traten zur Seite. Ich wollte ihm etwas Tröstliches sagen, aber mir fiel nichts ein. Auch ich hatte schon Informanten verloren. Selbst wenn sie auf natürliche Weise gestorben waren, hinterließ dies einen bitteren Nachgeschmack. Zwischen ihnen und uns existierte eine merkwürdig symbiotische Beziehung, zumindest mit manchen; ich bin mir über deren Ursprünge nie so recht klar geworden. Aber im Moment fiel mir nichts ein, was ich hätte sagen können. Statt dessen ging ich auf den blauen Cadillac zu, der eine Zeitlang um den Häuserblock gekreist war. Er parkte jetzt -48-
in dritter Reihe hinter Raksens Wagen, und der Fahrer sah, über den Beifahrersitz gelehnt, aus dem Fenster. Als ich auf seiner Höhe angelangt war, saß er wieder aufrecht auf dem Fahrersitz und war gerade dabei, nach dem Schaltknüppel zu greifen. Ich hob die Hand. Er ließ den Schaltknüppel los und sagte: »Sagen Sie mal, was geht denn hier vor sich?« Ich ignorierte seine Frage und zog meine Polizeimarke heraus. »Ich bin Detektiv Smith. Ich hab’ Sie vorhin schon mal gesehen. Auf der Suche nach einem Parkplatz, stimmt’s?« »Suche ist der richtige Ausdruck.« Sein Atem strömte den dicken, sauren Geruch ungeputzter Zähne aus. »Könnte genauso gut nach Gold graben. Wissen Sie, die Polizei sollte mal was wegen der Parkplätze in der Stadt machen. Ihr habt überall diese ZweiStunden-Zonen, Eine-Stunde-Zonen und »Nur-fürAnlieger«-Zonen. Ich würde mein Leben für ’nen Parkplatz geben. Und für den hier«, mit einer Handbewegung verwies er auf die Länge des alten Caddys, »kann ich nur noch auf ein Wunder hoffen.« »Wie früh waren Sie schon hier?« »So um viertel vor.« »Und keine Parklücken zu der Zeit?« »Also wirklich, glauben Sie, ich würde noch immer rumkurven, wenn’s welche gegeben hätte?« Er schenkte mir ein breites Grinsen. Seine Zähne hatten mehr als nur Putzen nötig. In den Zwischenräumen lagerte das halbe Dinner von gestern abend. »Vielleicht haben Sie eine Lücke übersehen?« »Ich übersehe nichts. Seit zehn Jahren lebe ich in dieser Stadt. Ich bin Profi. Ich seh’ ’ne Lücke schon, wenn ich -49-
noch ’ne Straße entfernt bin. Glauben Sie mir, in diesem Block oder in den beiden umliegenden ist zwischen viertel vor neun und jetzt kein Auto weggefahren.« »Sind Sie sicher? Vielleicht ist jemand weggefahren, als Sie am anderen Ende der Straße waren. Vielleicht hat jemand anders den Platz ergattert.« »Hören Sie, ich hab’ Ihnen doch gesagt, ich bin Profi. Wenn hier jemand rumläuft, seh’ ich ihn. Ich frage, ob er wegfährt, oder ich warte einfach, bis ihn seine Schuldgefühle packen. Entdecken tu’ ich die Leute in jedem Fall. Und ich bring’ sie auch dazu wegzufahren. Wissen Sie was, ihr solltet mich als Streife einsetzen. Ich würde eure Verbrechensquote reduzieren.« Ich dachte: Eine Autofahrt mit dir, mit diesem Mundgeruch, würde bestimmt jeden umhauen. Zu ihm sagte ich: »Also, Sie haben niemanden in einem Auto, niemanden auf der Straße, niemanden in einem Hof gesehen, richtig? Nichts hat sich bewegt?« »Ich bin in diesem Block so oft rumgefahren, ich könnte jeden Wagen beschreiben. Wenn Leute auf der Straße waren, sind sie zu Peet’s gegangen, und jetzt zu dieser Show.« Er nickte in Richtung des Menschenauflaufs bei dem Haus. Ich schrieb seinen Namen auf und sagte ihm, er solle in der Gegend bleiben. Dann winkte ich einen der Polizisten herbei, der die Schaulustigen zurückhielt, und erzählte ihm kurz die Geschichte des Fahrers. Eggs würde das sicherlich interessieren. Weiter unten auf der Straße holte ich Howard ein und informierte auch ihn. Er nickte, mehr zu sich selbst als zu mir. »Herrgott«, murmelte er, »wenn Wilson doch nur vernünftig gewesen wäre und mir den Namen gegeben hätte, als ich ihn danach fragte, anstatt mich hinzuhalten.« -50-
Ich legte die Hand auf seinen Arm. »Sieh mal, Wilson war erwachsen. Er hat selbst entschieden. Und du kannst jetzt entscheiden, ob du über ihn oder seinen Mörder nachdenken willst.« Howard sah finster drein. »Also, hör mal zu…« Kurz darauf zuckte er mit den Schultern. »Ja, okay. Der Kerl ging also nicht durch die Hintertür, sonst hätte ihn der Nachbar gesehen. Und weggefahren ist er auch nicht. Wenn er zu Fuß war, wo wäre er dann hingegangen? Du planst ja nicht einen Mord und wartest dann auf den Bus, um abzuhauen.« »Um diese Zeit ist morgens nur Peet’s offen«, sagte ich, als wir uns der Menschenansammlung vor dem Lokal näherten. Als ihm die Anzahl der Gäste klar wurde, stöhnte er auf. »Sollen wir mit den Joggern anfangen oder mit den Hundebesitzern, was meinst du? Wahrscheinlich ist der Täter sowieso schon gegangen. Wenn er nur ein bißchen Verstand besitzt, hat er seinen Kaffee getrunken und sich davongemacht.« Zwei Hunde umkreisten einander halbherzig und blokkierten dabei den Bürgersteig. Ich trat auf die Straße. »Es ist nicht so schlimm, wie du glaubst. Wenn heute Samstag oder Sonntag wäre, hätten wir echt Schwierigkeiten. Aber an einem Dienstagmorgen sind fast nur Stammgäste da. Und was Mister »Schlechte Zähne« in puncto Parkplätze weiß, kann Henry in puncto Leute sagen. Wenn ein Fremder hier war, wird Henry uns das mitteilen können.« Beim Coffee-Shop angekommen, trat ich wieder auf den Bürgersteig. »Hol du den Kaffee für die anderen und bring Henry auch ’ne Tasse…«, sagte ich, als wir uns der Bank näherten. Aber Henry hatte schon seinen Kaffee. Ich schob die ›New York Times‹ zur Seite und setzte mich neben ihn. »War heute jemand Neues hier?« -51-
Er legte den ›Chronicle‹ beiseite. »Nee.« »Niemand?« »Heute ist Dienstag. Die Leute kaufen samstags ihre Kaffeebohnen. Wenn sie die übers Wochenende verbrauchen, holen sie am Montag neue. Dienstags haben sie welche. Nun, mittwochs…« »Du bist absolut sicher, daß niemand hier war, der nicht zu den Stammgästen zählt?« »Natürlich bin ich sicher«, meinte er ärgerlich. »Ich kenne die Leute hier doch.« Ich ließ meine Schultern hängen. Durch das Fenster sah ich, wie Howard die Leute befragte. Wenn der Mörder nicht im Auto weggefahren und auch nicht durch die Hinterhöfe entkommen war, nicht vom Walnut Square wegspaziert und auch nicht hier war… Ich sah hinunter auf Henrys Kaffee. Er nahm ihn immer pünktlich um neun zu sich. Heute, als ich gegen viertel nach vorbeigekommen war, allerdings nicht. Er würde seinen Kaffee von niemand anderem als von »Sporty« akzeptieren, der Frau mit den nassen Haaren und dem »Master’s Swim Team«-T-Shirt, der Frau, die allein in einem teuren Haus ganz in der Nähe wohnte, ihren Hobbys frönte und keine bekannten Einkommensquellen hatte. Ich brauchte einen Moment, um sie in der Nähe der Hunde aufzuspüren, wo sie jeden Morgen stand. Um diese Zeit hatte sie schon geschwommen, war zum Umkleiden nach Hause gegangen und hatte die Nachrichten gehört, die um 8 Uhr 55 zu Ende waren. Danach hatte sie noch fünf Minuten Zeit gehabt, um pünktlich hier zu sein, wenn Peet’s Shop aufmachte, und sich für einen Kaffee für sich selbst und Henry anzustellen. Niemand außer Henry würde bemerken, daß sie heute zehn Minuten später hier war. Zehn Minuten reichten, um Wilson zu töten, waren aber -52-
nicht genug, um einen Mord zu begehen und auch noch für Kaffee anzustehen. Das erklärte auch den Geruch an dem Backstein in Wilsons Wohnung – Chlor von ihrem tropfnassen Haar.
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JOYCE HARRINGTON Das Au-pair-Mädchen
Als ich nach New York kam, um Schauspielerin zu werden, hätte ich nie gedacht, daß ich mal als Kindermädchen enden würde. Doch genau das war der Fall, auch wenn Carl und Stacy mich immer »Au-pair-Mädchen« nennen. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich habe das Wort erst nachschlagen müssen, um herauszufinden, was es bedeutet, und so ganz sicher bin ich mir immer noch nicht. Es klingt fast so, als müßte es mich zweimal geben, einmal zum Windelwechseln und einmal für den Französischunterricht. Und zierlich und dunkelhaarig müßte ich sein. Windelwechseln kann ich ganz gut. Da habe ich jede Menge Erfahrung, mit dem Babysitten für wenig Geld, meine ich, und mit dem Aufpassen auf jedes neue Kind, das meine Mutter so ganz nebenbei in die Welt zu setzen schien, während sie an etwas anderes dachte, aber mit Französisch und allen anderen Sachen, die man so in der Schule lernt, habe ich immer meine Probleme gehabt. Wahrscheinlich war ich zu sehr mit Nachdenken darüber beschäftigt, wie ich am besten aus Mudville herauskomme. Und zierlich und dunkelhaarig bin ich auch nicht. Fast einsachtzig bin ich, und blond von oben bis unten. Sogar die Augenbrauen. Meine Heimatstadt heißt eigentlich nicht wirklich Mudville. Ich sage nur so dazu, weil der Name einfach paßt und weil ich nicht möchte, daß irgend jemand dort erfährt, was hier passiert ist. Ich habe auch meinen eigenen Namen geändert, allerdings schon damals, als ich von zu Hause weg bin, damit er meinem neuen Leben etwas angemesse-54-
ner wäre. Ich meine übrigens nicht mein Leben als Aupair-Mädchen damit. Denn letztlich träume ich immer noch davon, als Nadya Nystrom am Broadway aufzutreten, auch wenn ich, unter uns gesagt, schon zufrieden wäre mit einer Off-Broadway – oder auch einer Off-OffBroadway-Produktion, vielleicht sogar mit einem Werbespot für einen Autohändler in New Jersey – in paillettenbesetztem Kleid und breitem Lächeln, nur für den Anfang. Stacy sagt, Nadya Nystrom ist der ideale Name für ein Au-pair-Mädchen. Sie kann unglaublich unsensibel sein. Ihren eingebildeten Freunden erzählt sie, sie hat mich aus einem winzigen Dorf in Schweden mitgebracht, wo ich nur einen Jungen aus der Gegend hätte heiraten können und vor der Zeit alt geworden wäre. Das klingt mir sehr nach Mudville, also streite ich mich nicht mit ihr deswegen. Wenn ihre Freunde vorbeischauen, gebe ich mir sogar Mühe, mit einem leichten schwedischen Akzent zu sprechen. Wahrscheinlich ist das als Übung für die Bühne gar nicht so schlecht. Stacy und Carl haben schon eine große Tragödie erlebt, obwohl sie reich und jung sind. Ich weiß nicht so genau, wie reich, aber sie zahlen mir mehr, als ich mir als Kellnerin verdienen könnte, sogar mit Trinkgeld, und sie wohnen in einer gigantischen Maisonettewohnung mit Blick über die ganze Stadt – so eine Wohnung werde ich später auch mal haben. Natürlich wohne ich auch hier, damit ich auf das Baby aufpassen kann. Stacy kann sich nicht um das kleine Mädchen kümmern, weil sie zu nervös ist. Stacy, meine ich, nicht das Baby. Alles, wirklich jede Kleinigkeit, bringt sie aus der Fassung. Am meisten macht ihr das Alter zu schaffen. Daß sie in ein paar Jahren dreißig wird. Man möchte meinen, daß sie bald das Zeitliche segnet, dabei weiß ich ganz genau, daß meine Mutter schon weit über Vierzig ist, und die hat an einem Bowlingabend mehr -55-
Spaß als Stacy in einem ganzen Jahr bei den Sachen, die sie so macht. Carl ist schon dreißig. Ich habe am Tag nach dem Fest zu seinem dreißigsten Geburtstag hier zu arbeiten angefangen, und da mußte ich auch gleich ran. Am nächsten Morgen das Chaos beseitigen. Ich hätte mich am liebsten gleich wieder aus dem Staub gemacht, aber schließlich mußte sich ja jemand um das Baby kümmern, und Stacy lag völlig fertig auf dem Bett, mit einem von diesen blauen Eisbeuteln auf dem Kopf. Und außerdem, das habe ich schon gesagt, stimmt das Geld, und ich habe mein eigenes Zimmer, und wenn ich zum Vorsprechen muß, besorgt Stacy einen Babysitter. Sie meint, ihr gefällt der Gedanke, einem zukünftigen Star zu helfen. Und dagegen sage ich natürlich nichts. Aber eigentlich wollte ich Ihnen ja von der großen Tragödie erzählen. Das Baby, das sie jetzt haben, Alyssa Morgana Winston, ist adoptiert. Das liegt daran, daß Stacy keine Kinder mehr haben kann. Sie hat schon zwei eigene gehabt, aber die sind beide gestorben. Noch ganz klein. Eins nach dem anderen. Das waren Zwillinge, und sie sind beide im selben Monat gestorben, im Oktober, vor fast zwei Jahren. Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum Stacy so ein Nervenbündel ist. Carl hat mir mal erzählt, daß er, gleich nachdem die Sache passiert ist, Angst gehabt hat, auch noch sie zu verlieren. Sie wissen schon, was ich meine. Das Große S. Selbstmord. Ich glaube, Carl kann mich ganz gut leiden. Tja. Jetzt, wo Sie ein bißchen was über die Hintergründe erfahren haben, sollte ich Ihnen vielleicht auch was über die vordergründigeren Sachen erzählen. Über Dinge, die in Mudville, USA, besser nicht die Runde machen. Nicht, daß ich jemals wieder dorthin zurück möchte, aber man kann ja schließlich nie wissen, oder? Sie erinnern sich noch: Ich habe gerade gesagt, ich glaube, daß Carl mich ganz gut leiden kann. Das war eher eine -56-
Untertreibung. Carl kann mich ziemlich gut leiden. So gut, daß er mir sogar bei der Szene geholfen hat, die ich für die Schauspielschule einstudieren muß. Die Szene ist aus ›Endstation Sehnsucht‹. Sie wissen schon, die Szene, wo Stanley und Blanche… o la, la und so weiter. Mein Südstaatenakzent ist gar nicht so schlecht. Aber wenn Carl versucht, brutal und sexy zu wirken, ist das ziemlich lächerlich. Nicht, daß er nicht gut aussieht und so, aber er ist einfach so anständig. Ich glaube nicht, daß seine Polohemden mit dem kleinen Krokodil schon jemals Bekanntschaft mit Schweiß gemacht haben. Ich habe so kichern müssen, daß er beleidigt war, also mußte ich das irgendwie wiedergutmachen. Das eine hat zum anderen geführt, und schon hatten wir die Chose. Eigentlich sollte ich sagen, wir haben die Chose. Denn das war vor einer Woche, und seitdem kommt er jede Nacht zu mir ins Zimmer. Mein Zimmer ist unten, neben der Küche und dem Waschraum und Alyssa Morganas Zimmer und so. Und Carls Bude. Sein »Büro« nennt er es in seiner Einkommensteuererklärung, das hat er mir selbst erzählt. Er erzählt mir ziemlich viel. Manchmal kommt er nur zum Reden zu mir ins Zimmer. Fast, als hätte er noch nie jemanden zum Reden gehabt. Na ja, es stimmt schon: Es ist nicht ganz einfach, bei Stacy auch mal zu Wort zu kommen. Also höre ich zu. Ich höre ihm zu, und ich höre ihr zu, und so allmählich weiß ich mehr von den beiden, als sie voneinander wissen. Ich glaube, das kann mir bei meiner Karriere als Schauspielerin nur nützen. Man kann gar nicht genug über die Menschen erfahren, wenn man eine große Schauspielerin werden möchte. Gestern allerdings ist eine höchst merkwürdige Sache passiert. Ich bin gerade mit Alyssa Morgana und dem Kinderwagen von einem Ausflug in den Park zurückge-57-
kommen. Wir sind aus dem Aufzug raus, der direkt in die Wohnung geht, und ich habe Alyssa Morgana in ihr Zimmer verfrachtet, um ihr die Windel zu wechseln. Und wissen Sie was? Da lag Stacy, zusammengerollt in Alyssa Morganas Bettchen, den Daumen im Mund. Na ja, ich habe mal einen alten Film gesehn – ›Baby Doll‹ –, wo Carrol Baker das gleiche macht. Ich liebe Tennessee Williams, Sie doch sicher auch, oder? Er ist so schräg. Ich habe gesagt: »Hallo, Baby Doll. Einen wunderschönen guten Morgen.« Das hat meine Mutter immer zu mir gesagt, wenn ich versucht habe, noch ein paar Minuten im Bett herauszuschinden. »Einen wunderschönen guten Morgen.« Nur daß sie nicht Baby Doll zu mir gesagt hat. Dafür hat sie mir jede Menge andere Sachen an den Kopf geworfen, die ich hier lieber nicht wiederhole, nichts davon auch nur annähernd salonfähig. Meine Mutter hat eine so spitze Zunge, sie könnte einem Alligator die Haut damit abziehen, aber sie geht in die Kirche und singt dort voller Inbrunst Lieder, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Stacy drehte sich auf die Seite und vergrub das Gesicht in Alyssa Morganas Schmusekissen. Dabei stieß sie ein Heulen aus, das sehr nach ›Nacht der lebenden Toten‹ klang. Auch Alyssa Morgana fing zu weinen an, so daß ich alle Hände voll zu tun hatte. Ich legte Alyssa Morgana auf der Wickelkommode ab, aber da konnte ich sie nicht lassen, weil sie inzwischen schon groß genug ist wegzurobben, aber noch nicht groß genug, um zu wissen, daß sie auf den Boden fällt und sich das Genick bricht, wenn sie das tut. Also hielt ich sie fest, wechselte die Windel und puderte sie und kitzelte sie, und schon bald lachte sie fröhlich vor sich hin. Aber Stacy jammerte und heulte noch immer in dem -58-
Bettchen. Zwischen dem Schluchzen und Stöhnen und Ächzen kamen auch immer mal wieder ein paar Worte heraus. Sie drangen unweigerlich an mein Ohr. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Sie flüsterte nicht und machte auch kein Geheimnis aus dem, was sie da vor sich hinjammerte. Ich hörte so Dinge wie »ich wünschte, ich wäre tot« oder »er macht sich nichts aus mir« oder, noch schlimmer, »schickt doch das Baby dahin zurück, wo es herkommt«. Tja. Ohne Alyssa Morgana hätte ich keinen Job und auch nicht das hübsche Zimmer. Ganz zu schweigen davon, daß Carl sich vermutlich nicht die Mühe machen würde, mich zu besuchen, wenn ich in einem winzigen Zimmer in einer billigen Absteige wohnen würde. Und das wäre das einzige, was ich mir leisten könnte, wenn ich wieder als Kellnerin arbeiten müßte, was ich nie mehr in meinem Leben machen möchte. Also fing ich an nachzudenken. Zum Beispiel darüber, wie schwer es doch war, als große Schauspielerin Fuß zu fassen. Schließlich gibt es ja nur ungefähr zwei Millionen Mädchen aus all den Mudvilles in diesem unserem Land, die hier in New York große Schauspielerinnen werden wollen. Die anderen zwei Millionen stecken in Hollywood. Und von diesen vier Millionen werden vielleicht ganze drei – ich wiederhole: drei – tatsächlich große Stars. Und selbst das könnte noch zu hoch gegriffen sein. Andererseits lag da Stacy Winston im Kinderbett, völlig antriebslos, jämmerlich vor sich hinwinselnd wie ein Baby, obwohl sie alles hatte, was andere sich nur erträumen konnten. Und sie wünschte sich den Tod. Keine schlechte Idee. Also machte Carl sich nichts aus ihr. Tja, das war mir schon vor einiger Zeit klar geworden, ohne daß sie mir das gesagt hätte. Aber Alyssa Morgana wieder zurückschicken? Nur über meine Leiche! Oder über die von Stacy. -59-
Mit diesem Gedanken mußte ich mich noch genauer auseinandersetzen. Da lag sie also vor mir in dem Bettchen und bettelte darum, von ihrem Elend erlöst zu werden. Es war nicht dasselbe Bettchen, in dem ihre eigenen beiden Jungen gestorben sind. Es hatte sogar zwei Bettchen gegeben, und Carl hat mir erzählt, daß sie sie beide einem von diesen schicken Secondhand-Läden an der Third Avenue vermacht haben. Also schlafen jetzt andere Babys darin, und Alyssa Morgana hat ein nagelneues Bettchen, ein hochmodernes, teures Ding. Von Bloomingdale’s. Das hat mir Stacy erzählt. Aber egal. Bei dem ganzen Gekreische war das Nachdenken gar nicht so einfach, insbesondere das Nachdenken darüber, wie man Stacy ihren Wunsch erfüllen konnte. Ich steckte Alyssa Morgana in ihren Laufstall und gab ihr einen Keks zum Knabbern, weil sie gerade Zähne bekam. Dann ging ich zu dem Bettchen hinüber, um mir Stacy genauer anzusehen. Sie trug ihren taubengrauen Designerjogginganzug, also hatte sie vermutlich gerade ihre Sportübungen gemacht, als sie den Anfall bekam. Irgendwie hat sie einen Schlag weg mit der Fitneß, auch wenn sie, sogar mit einem von ihren fünf Pelzmänteln, noch nicht einmal fünfzig Kilo wiegt. Wenn es Sie interessiert: zwei davon sind Nerze, die sind für jeden Tag, einer ist ein russischer Zobel für den Abend, und einer ist ein kanadischer Luchs, für den ich morden würde, wenn er mir nicht zu klein wäre. Und dann hat sie einen alten, kurzhaarigen Biber, aus ihrer Collegezeit, den sie jetzt nicht mehr trägt. Auch mein Wintermantel stammt noch aus alten Tagen. Aus High-School-Tagen. Er ist orange, grün und lila kariert, und das einzig Gute, was man über ihn sagen kann, ist wahrscheinlich, daß er warm ist und Straßenräuber abschreckt. -60-
Stacys Gesicht war ganz rot und naß. In diesem Zustand retteten nicht einmal mehr die fünf Pelzmäntel ihr Aussehen. Ich sagte: »Stacy, was ist denn los, meine Liebe?« Sie jammerte noch ein bißchen vor sich hin, aber schon ein wenig leiser. Vielleicht verlor sie die Stimme. Ich sagte: »Nun kommen Sie schon, Stacy. Alyssa Morgana muß ein bißchen schlafen.« Vielleicht wundert es Sie, daß ich Stacy zu ihr sage und nicht Mrs. Winston, wie sich das für eine Bedienstete gehören würde. Aber sie will das so. Sie hat zu mir gesagt, sie möchte nicht, daß ich das Gefühl habe, ein Dienstmädchen zu sein, weil ich doch eigentlich Schauspielerin bin, und außerdem ist sie viel zu tolerant, als daß sie andere Leute von oben herab behandeln würde. Die Köchin sagt ganz offen Stacy zu ihr, und Mrs. Flintstone macht es hinter ihrem Rücken auch. »Ach«, wimmerte sie vor sich hin, »das Baby. Wo ist denn die Kleine?« »Da drüben im Laufstall«, teilte ich ihr mit. »Sie hätten ihr fast einen Schrecken eingejagt mit Ihrem Geheule.« »Ich bin einfach nicht für die Mutterrolle geschaffen«, jammerte sie weiter. Es geht doch nichts über ein bißchen Selbstmitleid, um wieder bessere Laune zu bekommen. »Tja«, sagte ich, »die wenigsten Frauen sind für die Mutterrolle geschaffen. Meine Mutter hat das auch nie richtig gelernt. Aber das hat sie auch nicht daran gehindert, sechs von uns in die Welt zu setzen. Vielleicht sind’s ja inzwischen auch schon sieben.« Ich sagte genau das Falsche. Wieder fing sie damit an, wie nichtsnutzig und wertlos sie doch war, weil sie keine eigenen Kinder haben konnte. Was sagt man dazu! Und das in unserer Zeit. Sie konnte ja nur ungefähr eine Million Sachen mit ihrem Geld und ihrer Zeit anfangen, und -61-
die kleine Alyssa Morgana war für ein Baby auch ziemlich süß, aber Stacy hatte einfach kein Interesse. Alberta, die Köchin, steckte gerade den Kopf zur Tür herein, um zu fragen, was Stacy sich zum Abendessen vorstellte, eigentlich jedoch, um herauszufinden, was los war. Ich sagte: »Stacy ist nicht so gut beisammen, also mag sie vielleicht nur ein bißchen Tee und ein Ei im Glas, aber ich glaube, Carl hätte gern gegrillten Schwertfisch und ein Spinatsoufflé.« Er hatte mir in der Nacht zuvor erzählt, daß das seine Lieblingsgerichte waren, daß er sie aber zu Hause nie bekam. »Ach, tatsächlich?« antwortete Alberta, ein wenig außer Atem. »Tja, er wird sich wohl mit Hühnchen, Klößen und gedünsteten Karotten begnügen müssen. Ich habe schon eingekauft.« Alberta trifft ihre Entscheidungen ziemlich selbständig. Das kommt von Stacys Toleranz. »Wenn sowieso schon alles entschieden war, warum haben Sie dann überhaupt gefragt?« »Weil sie mir immer sagt, ich soll kochen, was ich will. Und das will ich heute. Also machen Sie sich mal keine falschen Hoffnungen. Was ist denn los mit ihr?« Jetzt oder nie. Ich hatte einen Gedanken gefaßt. »Ich weiß es nicht«, sagte ich so kleinlaut wie irgend möglich, damit nur Alberta mich verstehen konnte. »Ich bin mit Alyssa Morgana aus dem Park heimgekommen, und da liegt sie in dem Bettchen und jammert, daß sie sich umbringen will.« »So, so«, antwortete Alberta. »Das ist doch nichts Neues. Sie meint das nicht ernst. Sie möchte nur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber Sie sollten gar nicht drauf eingehen. Das macht die Sache nur noch schlimmer.« -62-
»Aber jemand muß doch ein Auge auf sie haben«, protestierte ich. »Was ist, wenn sie es wirklich macht?« »Das macht sie nicht«, meinte Alberta mit verächtlicher Stimme, »sie hat zuviel Schiß.« »Aber was ist, wenn sie es doch macht?« beharrte ich. »Ach, Sie sind einfach noch zu jung und unerfahren.« Alberta kann mich nicht sonderlich gut leiden. Aber das ist mir nur recht. Ich könnte nichts damit anfangen, wenn sie mich gern hätte und mir ständig in der Küche ihren furchtbaren Kaffee auf den Tisch stellen würde, um mit mir zu plaudern. Nun verschwand sie schnaufend den Flur hinunter, um nach ihrem Hühnchen und den Klößen zu sehen. Vielleicht klingt das undankbar, aber das Essen hier ist schlechter als in Mudville, und das heißt schon was. Also ging ich zurück zu dem Kinderbettchen. Stacy hatte sich inzwischen ein bißchen beruhigt und den Daumen wieder in den Mund gesteckt. Sie starrte mich von unten herauf mit ihren großen, verängstigten Augen an. Wovor muß sie bloß Angst haben, fragte ich mich. Sie hat doch alles, und ich habe nichts. Nichts als Hoffnungen und Träume, und jeden Tag erlebe ich aufs neue, wie sie sich vor meinen Augen in Luft auflösen. Wie damals, als ich zum Vorsprechen bin, so hieß es jedenfalls, und wo dieser Typ, ich weiß nicht so genau, wer er war, mit Sicherheit aber nicht der Regisseur, vielleicht der Inspizient oder der Hausmeister, sagte, ich sei genau die Richtige für die Rolle, ob es mir nichts ausmacht, eins von den Kostümen anzuprobieren, weil sie die ganze Show mitsamt Kostümen kaufen. Also sagte ich: »Na schön, wo ist die Garderobe?« Und er sagte: »Tut mir leid, aber eine Garderobe gibt es hier nicht, Sie können sich gleich hier umziehen.« -63-
Und ich sagte: »Was sind Sie denn für einer? Stehen Sie auf Beine, auf Ärsche oder auf Titten? Was soll ich zuerst ausziehen?« Und, ob Sie das glauben oder nicht: Er sagte: »Ziehen Sie alles aus, schön langsam, und dann beschäftigen Sie sich ein bißchen mit mir.« Der muß mich für eine ganz schöne Pute gehalten haben. Was ich gemacht habe? Ich habe mich mit ihm beschäftigt. Ich habe seine Krawatte gepackt, speckig, wie sie war, habe sie ihm von seinem dürren Hals gezogen, sie ihm zweimal rumgeschlungen und dann richtig fest gezogen. Für ein Mädchen habe ich ganz schön Kraft. Ich sagte: »Wollen Sie immer noch, daß ich mich schön langsam ausziehe?« Er sagte kein Wort, wurde nur rot im Gesicht. Ich ließ los, bevor er auch noch blau wurde. Die Rolle bekam ich nicht. Jetzt bin ich schon sechs Monate in New York und habe noch immer keine einzige Rolle. Das einzige, was ich habe, ist diese Stelle als Au-Pair-Mädchen und Alyssa Morgana, die mich wirklich mag. Und dann ist da noch Carl. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Doch, das weiß ich schon. Bloß weiß ich noch nicht so recht, wie ich es machen soll. So etwas habe ich schließlich noch nie getan, auch wenn ich schon etliche Male gute Lust dazu gehabt hätte. »Was wollen Sie, Stacy?« fragte ich. Ich erwartete keine Antwort von ihr, bekam aber eine. »Schlaf«, jammerte sie. »Ich kann nicht schlafen.« »Wie wär’s mit einer heißen Ovomaltine?« fragte ich. Das hat unsere Mutter uns immer zu trinken gegeben, wenn wir zu aufgekratzt waren. Ich hasse heiße Ovomaltine.« -64-
Und Stacy auch, hatte ich den Eindruck. Jedenfalls gab sie widerliche Würggeräusche von sich. »Tja, was wollen Sie dann?« fragte ich sie wieder. »Pillen«, flüsterte sie. »Aber sagen Sie Carl nichts davon.« »Was für Pillen?« fragte ich. Als ob ich das nicht wüßte. Carl hatte mir gesagt, er halte sie unter Verschluß in seinem Schreibtisch und gebe sie ihr nur hin und wieder, immer nur eine, weil sie einmal eine ganze Handvoll davon genommen habe, und dann habe man ihr den Magen auspumpen müssen. »Schlaftabletten!« kreischte sie. »Gott, was sind Sie begriffsstutzig!« Ich bin nicht begriffsstutzig, aber wenn sie meint, soll mir das recht sein. Ich streite mich nicht mit ihr herum. Carl hält mich nicht für begriffsstutzig. Er hält mich für ziemlich clever und hübsch. Das hat er mir selbst gesagt. Er hat gesagt: »Was macht denn ein cleveres, hübsches Mädchen wie du allein hier in New York, so ganz ohne Freund?« Als ich dann sagte: »Mir sind die Typen alle nicht clever oder hübsch genug«, hat er gelacht. »Du hast einfach noch nicht den Richtigen gefunden«, sagte er dann und lächelte weise vor sich hin, als könne er einem ein großes Geheimnis verraten, wenn man nur seine Karten richtig ausspielt. Ich drängte ihn nicht, aber ich glaube, ich wußte, was er meinte. Aber zurück zu Stacy und ihren Schlaftabletten. »Wo sind sie?« fragte ich mit Unschuldsmiene. Schließlich bin ich eine gute Schauspielerin. »Ich hole sie Ihnen.« »Ich weiß es nicht«, jammerte sie. »Sie müssen irgendwo in Carls Arbeitszimmer sein. Ich habe schon nach ih-65-
nen gesucht, aber ich habe sie nicht finden können. Sehen Sie doch mal nach.« »Na schön«, sagte ich. »Aber Sie passen inzwischen auf das Baby auf.« Sie schaute mich an, als wäre ich die Verrücktere von uns beiden. Ich fürchte, daß sie Alyssa Morgana wirklich nicht so gern hat. Allerdings begreife ich dann nicht, warum sie sie adoptiert hat. Wie meine eigene Mutter, nur daß sie das Vergnügen hatte, genau zu wissen, daß wir alle von ihr waren. Als ich alt genug war, habe ich meine Mutter einmal gefragt, warum sie nicht die Pille nimmt oder was anderes. Sie hat gesagt, sie vergißt das immer, und ob ich nicht froh bin, daß sie es nicht macht. Wahrscheinlich bin ich tatsächlich froh, aber wenn ich nicht auf die Welt gekommen wäre, hätte ich es eben nicht besser gewußt. Ich ging zum Laufstall hinüber, um zu sehen, was Alyssa Morgana machte. Sie lächelte mich an, das ganze Gesicht mit Keks und Spucke verschmiert, und streckte mir die Arme entgegen, damit ich sie hochnahm. »Jetzt nicht, mein kleines Schweinchen«, sagte ich ihr. »Ich komme gleich wieder. Sei ein braves Mädchen und paß ein bißchen auf deine Mutter auf. Sie ist ziemlich durcheinander.« Alyssa Morgana nickte, als wisse sie genau, worüber ich sprach. Und dann ging ich in Carls Arbeitszimmer, um zu sehen, was ich dort finden konnte. Stacy hatte ganze Arbeit geleistet, als sie versuchte, die Pillen zu finden. Alle Bücher waren aus den Regalen gerissen, manche von ihnen zerfetzt, als glaubte sie, die Tabletten könnten sich zwischen den Seiten befinden. Carl hatte eine ganze Reihe von Duftschalen auf dem Kaminsims; jetzt lagen sie alle auf dem Boden verstreut. Eine davon, aus blauweißem Porzellan, war zerbrochen, und -66-
überall war Pfeifentabak. Und das ist nur ein kleiner Teil von dem Durcheinander, das die liebe kleine Stacy veranstaltet hatte. Jemand würde das saubermachen müssen, aber nicht ich. Das fiel nicht in den Zuständigkeitsbereich eines Au-pair-Mädchens. Sie hatte die Pillen nicht gefunden. Ich sah, daß sie die Schreibtischschubladen mit dem Brieföffner bearbeitet hatte. Carl würde es nicht sonderlich gefallen, daß das Mahagoni überall verkratzt und abgesplittert war. Stacy war ja so dumm. So machte man doch kein Schloß auf, schon gar nicht, wenn keiner merken sollte, daß man es geöffnet hatte. Seit ich ein kleines Kind war, sammle ich geheimnisvolle Schlüssel. Sie wissen schon, was ich meine – Schlüssel, von denen man nicht weiß, wozu sie gehören. Ich hatte früher so ungefähr zweihundert in meiner Kommodenschublade versteckt, alle nach Größe und Form sortiert. Schließlich wußte man nie, wann man so etwas brauchen konnte. Zum Beispiel in diesem Moment. Ich verschwand in mein Zimmer und suchte unter meiner Unterwäsche nach der Pralinenschachtel von Whitman’s Sampler, in der ich meine Sammlung aufbewahrte. Darin lag ein Schlüsselbund mit ungefähr fünfzehn oder zwanzig kleinen Schlüsseln. Solche, wie man sie für Schreibtischschubladen braucht. Stacy jammerte und schluchzte noch immer vor sich hin. Nicht besonders laut, aber laut genug, daß ich sie hören konnte. Alberta würde nicht heraufgeschlichen kommen, um herauszufinden, was los war. Das hatte sie schon einmal gemacht, und ich wußte, daß sie nichts mit Stacys Anfällen zu tun haben wollte. Sie würde in der Küche bleiben, ihre dummen Karotten dünsten und ihre Kanonenklöße zusammenmanschen. Die Luft war also rein. -67-
Ich ging wieder zurück in Carls Arbeitszimmer und versuchte dabei, so gut wie möglich dem verschütteten Tabak auszuweichen. Ich nahm mir vor, die Schuhe gründlich abzuputzen, wenn alles vorbei war, damit niemand irgendwelche Tabakkrümel darauf finden konnte. Alles andere war ganz einfach. Schon nach fünf oder sechs Versuchen hatte ich den Schreibtisch geöffnet und fand das Pillenfläschchen ganz hinten in der obersten Schublade. Das Fläschchen war fast noch ganz voll. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn es fast leer gewesen wäre. Aber schließlich mußte ich doch auch mal Glück haben, finden Sie nicht auch? An Alyssa Morganas Zimmer war ein eigenes Bad angeschlossen, das ich mitbenutzte. Es hatte zwei Türen, die eine führte in Alyssas Zimmer, die andere in meins. Wieder Glück. Wahrscheinlich würde ich ganz schön viele Gläser Wasser brauchen. Ich ging hinein und füllte das erste, und dann ging ich wieder zu Stacy und dem Bettchen. »Da, meine Liebe«, sagte ich. »Setzen Sie sich auf. Ich habe Ihre Pillen gefunden, aber Sie bekommen nur eine.« Sie setzte sich auf und schaute mich mit großen Augen an. Rote Augen, rote Nase, und das ganze Make-up verschmiert. Ich würde mich in diesem Zustand ja nicht blikken lassen. »Zwei«, flehte sie mich an. »Zum Einschlafen brauche ich mindestens zwei.« »Na ja, ich weiß ja nicht.« Es war köstlich, sie so auf die Folter zu spannen. »Wie viele würde Carl Ihnen geben?« »Ach, Carl«, stöhnte sie. »Der hätte es am liebsten, wenn ich überhaupt keine nehme. Bitte. Zwei. Ich bin ja so müde.« »Na schön. Aber dann ist Schluß. Sonst bekommen Sie nie mehr eine von mir.« -68-
Sie streckte die Hand nach dem Wasserglas aus, und ich öffnete das Pillenfläschchen und schüttelte zwei Kapseln auf meine Handfläche. Eine dritte rutschte wie aus Zufall noch dazu. Bevor ich sie wieder zurückstecken konnte, hatte Stacy sich schon alle drei geschnappt und in den Mund gestopft. Ich sagte nichts, stand nur da, das offene Fläschchen in der Hand. Sie schluckte die Pillen und trank das ganze Glas Wasser aus. Dann lächelte sie mich an. »Danke«, sagte sie. »Gern geschehen«, antwortete ich. Sie streckte mir das leere Glas entgegen. »Ich habe solchen Durst«, sagte sie. »Würden Sie mir noch ein Glas bringen?« »Aber sicher.« Ich nahm das Glas, stellte das offene Pillenfläschchen auf die Wickelkommode neben dem Bettchen, direkt vor Alyssa Morganas Entchenlampe, und ging zurück ins Bad. Als ich mit dem Glas Wasser zurückkam, befand sich das Pillenfläschchen nicht mehr genau an derselben Stelle, und Stacys Gesicht ähnelte dem eines Eichhörnchens, das Eicheln oder etwas Ähnliches in den Backen hatte. Sie packte das Glas Wasser und kippte es in sich hinein. Dabei rann ihr die Flüssigkeit das Kinn hinunter, und sie verschluckte sich fast daran. Eigentlich hatte ich ja nicht erwartet, daß sie so schön mitmachen würde, aber c’est la vie; wie man so schön sagt. Das Pillenfläschchen war noch nicht ganz leer. Ich nahm es in die Hand und tat so, als wolle ich den Deckel wieder daraufschrauben. »Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn ich es wieder dorthin zurückbringe, wo ich es herhabe.« -69-
»Einen Augenblick«, sagte sie. »Was würden Sie machen, wenn Sie Ihr Leben nicht mehr aushalten könnten?« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete ich. »Aber wenn das jemals passieren sollte, würde ich mir wahrscheinlich das Hirn aus dem Kopf pusten oder mich vor eine U-Bahn schmeißen.« Ein Schauer durchlief sie. »Sie können das nicht verstehen«, sagte sie. »Sie haben schließlich noch nie etwas so Böses getan, daß es Sie Ihr ganzes Leben lang verfolgen wird.« Da mußte ich ihr allerdings recht geben. So leicht ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen. Aber sie wollte auf irgend etwas hinaus, und ich wollte wissen, was dieses Etwas war. »Tatsächlich?« erkundigte ich mich also. Sie nickte und fiel dabei völlig in sich zusammen. »Ich muß jemandem davon erzählen. Die Erinnerung macht mich noch ganz wahnsinnig. Ich kann nicht schlafen. Ich bin wie gelähmt. Ich werde den Gedanken einfach nicht los. Ich glaube, Carl weiß es, aber eigentlich möchte er es nicht wissen, also redet er nicht darüber, und er hört auch nicht zu. Er macht sich einfach nur vor, daß alles ganz normal ist und daß ich mich nach einer Weile schon wieder fange. Aber das werde ich nicht. Das weiß ich ganz genau. Darf ich Ihnen davon erzählen?« »Aber natürlich. Warum denn nicht?« Ich war ganz Ohr. »Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Sie halten mich dann sicher für ein Ungeheuer.« »Nein, das tue ich nicht.« »Es ist egal, was Sie denken. Bald wird alles egal sein. Hören Sie einfach zu.« »Mach’ ich.« -70-
Ganz plötzlich fing Alyssa Morgana zu weinen an. Sie hatte bis jetzt ruhig in ihrem Laufstall gespielt, und ich hatte sie fast vergessen. Sie hätte schon längst ihr Schläfchen halten sollen, deshalb wurde sie allmählich quengelig. Sie würde sich beruhigen, wenn sie ihr Fläschchen bekäme, aber jetzt konnte ich unmöglich in die Küche gehen und es holen. Ich nahm sie hoch und trug sie zum Bettchen hinüber. Stacy starrte sie mit wütendem Blick an und knurrte: »Bringen Sie sie weg.« »Wie soll das gehen?« fragte ich sie mit meiner nüchternsten Stimme. »Schließlich liegen Sie in ihrem Bett, und sie würde gern ein Schläfchen halten.« »Ich habe sie nie gewollt. Das will ich Ihnen doch gerade erklären. Das war alles seine Idee.« Stacys Stimme wurde immer undeutlicher, ihr Blick wurde glasig. »Eigentlich hätte sie mir dabei helfen sollen zu vergessen, aber statt dessen erinnert sie mich nur wieder an alles. Ich habe Angst.« »Wovor?« fragte ich. Alyssa Morgana legte mir den Kopf auf die Schulter und fing an, an einer meiner Haarsträhnen zu nuckeln. »Mein Gott!« Die Art und Weise, wie sie das sagte, machte mir eine Gänsehaut. Allmählich dämmerte mir, daß hier offenbar mehr im Busch war als nur so eine reiche, verwöhnte Hexe, die gerade einen Anfall hatte. »So schlimm kann es doch gar nicht sein«, sagte ich. »Sagen Sie mir, wovor Sie Angst haben.« Sie atmete tief durch, und dann sprudelte alles aus ihr heraus. »Ich habe Angst davor, daß ich mit ihr das gleiche mache wie mit den anderen.« -71-
Ich hatte noch immer keine rechte Ahnung, auch wenn mir allmählich ein paar Dinge dämmerten. Allzusehr gefiel mir das nicht, was da langsam zum Vorschein kam, aber inzwischen war es zu spät, um noch haltzumachen. Ich mußte die ganze Geschichte erfahren. »Was haben Sie gemacht?« fragte ich. Ich wußte schon, bevor sie es mir erzählte, was sie sagen würde, aber ich gab die Hoffnung nicht auf, daß es doch etwas anderes wäre. Ich weiß, daß ich selbst nicht unbedingt ein Unschuldslamm bin, aber so etwas Schreckliches würde ich nie machen. Nicht einmal das, was ich gerade im Augenblick tat, war damit zu vergleichen. »Ich habe sie umgebracht«, sagte sie. »Ich habe ihnen ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, bis sie aufgehört haben zu atmen. Zuerst dem einen und dann, ein paar Tage später, auch noch dem anderen. Fragen Sie mich nicht, warum. Das kann ich meinem Psychiater nicht sagen, also kann ich es auch nicht herausfinden.« »Weiß Carl davon?« »Ich weiß nicht, was er weiß. So wie er mich manchmal anschaut, habe ich fast den Eindruck, daß er es weiß. Aber wenn dies tatsächlich der Fall ist, warum hat er dann darauf bestanden, sie zu adoptieren?« Sie schnitt dem Baby eine Grimasse und ließ sich dann wieder in das Bettchen zurücksinken. Sie lag einfach nur da und starrte die Decke an. Keine Tränen mehr und kein Stöhnen. Sie war still. »Ich bin ja so müde«, murmelte sie. »Wollen Sie noch ein bißchen Wasser?« Etwas anderes fiel mir im Moment nicht ein. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, sich selbst den Garaus zu machen, konnte ich ihr genausogut dabei helfen. Das wäre nicht einmal Mord, wie ich ihn ursprünglich im Sinn gehabt hatte. Eher so etwas wie höhere Gerechtigkeit. Wie -72-
konnte eine Mutter ihre eigenen Kinder umbringen? Meine Mutter war vielleicht nicht die Zuverlässigste gewesen, aber sie hatte jeden von uns auf ihre eigene Art und Weise geliebt. Doch ich glaubte Stacy, was sie mir erzählte. Das erklärte schließlich vieles, sogar, daß Carl jede Nacht zu mir ins Zimmer kam. Die Situation mußte ich doch eigentlich ausnützen. »Wollen Sie noch Wasser?« fragte ich. Ihre Stimme klang schwach und ziemlich weit weg. »Ja, das wäre schön. Ich habe schrecklichen Durst.« Ich setzte Alyssa Morgana wieder in ihren Laufstall, wo sie sich einfach zusammenrollte und einschlief. Die arme Kleine. Sie wird nie erfahren, was mit ihr hätte passieren können, wenn ich nicht dagewesen wäre, um sie zu retten. Ich mußte Stacys Kopf halten und ihr jede Kapsel einzeln geben. Sie war so groggy, daß sie kaum noch schlukken konnte, aber sie schaffte es dann doch, alle hinunterzuwürgen. Dann ließ ich sie sanft zurückgleiten und deckte sie zu mit Alyssa Morganas Häschendecke. Abgesehen von dem verschmierten Make-up schaute sie aus wie ein friedlich schlummerndes Baby. Friedlich und unschuldig. Ich wischte ihr das Gesicht ab, damit sie nicht wie ein toter Clown aussah, wenn man sie fand. Dann wischte ich auch noch das leere Pillenfläschchen ab und steckte es unter die Matratze des Bettchens, brachte das Wasserglas ins Bad zurück, wusch es ab, trocknete es und schloß Stacys Finger darum. Die Hand sank einfach herunter, aber das war in Ordnung so. Das Fläschchen war leer. Ich trug Alyssa Morgana in mein Zimmer und legte sie in mein Bett. Sie wimmerte ein bißchen vor sich hin und wäre fast aufgewacht. Ich wollte sie nicht allein lassen, weil sie sich vielleicht umdrehen und aus dem Bett fallen würde, aber ich dachte mir, es wäre wahrscheinlich besser, wenn ich mich bei Alberta blicken ließ. -73-
Schon auf dem Flur schlugen mir grauenvolle Küchendüfte entgegen. Ich hoffte, daß Alberta mir meine Tat nicht ansehen würde. Sie saß am Küchentisch und aß ein riesiges Stück Schokoladenkuchen. Das war etwas, was sie ziemlich gut konnte, essen, aber mir bot sie nichts an. »Stacy ist eingeschlafen«, sagte ich ihr. »Ich habe sie nicht aus dem Kinderbettchen herauslocken können, also habe ich das Baby in mein Bett gelegt.« »Wenn sie reinpinkelt, dürfen Sie es aber selber neu beziehen«, brummelte Alberta. »Das macht mir nichts aus.« Währenddessen wärmte ich ein Milchfläschchen für Alyssa Morgana, ganz wie sonst auch. Ich wollte, daß alles so normal wie möglich aussah. »Meinen Sie wirklich, sie möchte nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken? Ich würde mir Vorwürfe machen, wenn sie sich tatsächlich etwas antut.« »Mrs. Winston? Hah! Wenn Sie mich fragen: Ihr würde es viel besser gehen, wenn sie sich selbst um das Baby kümmern würde. Natürlich hätten Sie dann keinen Job mehr, aber das wäre ja vielleicht auch nicht das schlechteste. Ich habe doch gesehen, wie er hinter ihnen herschaut. Lassen Sie sich nicht täuschen von seinem verträumten Blick. Der hat was ganz anderes im Kopf.« »Wer? Carl?« Ich fürchte, daß meine Unschuldsmiene in diesem Augenblick ziemlich in sich zusammengefallen ist, und ich hoffte, daß Alberta nichts merkte. Aber viel entgeht Alberta im Regelfall nicht. »Er schaut hinter mir her?« Wie peinlich – mir kippte die Stimme um, als ich das sagte. -74-
»Ja, Sie. Genauso, wie er auch hinter den ganzen anderen Mädchen hergeschaut hat, die vor Ihnen da waren, und den hübschen jungen Schwestern, die sich um Ihre Hoheit gekümmert haben. Und die sind alle mit einem einzigen Wochenlohn abserviert worden. So macht er das immer. Sobald er sie erst mal im Bett hat, ist alles nur noch eine Frage der Zeit – die armen Dinger. Sie glauben alle, er gibt ihr den Laufpaß und heiratet sie. Aber eins wissen sie nicht: Wenn er ihr tatsächlich mal den Laufpaß gibt, hat er die nächste Mrs. Winston schon an der Hand.« »Ist das wahr?« sagte ich und goß die Milch in Alyssa Morganas Fläschchen. »Das ist ja furchtbar. Aber die Mädchen haben nur bekommen, was sie verdient haben. Stellen Sie sich das mal vor: Die versuchen einfach, sich zwischen ein Ehepaar zu drängen. Ich glaube, ich werde mich nie an die Sitten in New York City gewöhnen.« Ich wollte natürlich nicht, daß Alberta jetzt zu reden aufhörte, und die sicherste Methode, sie zum Weiterreden zu bringen, bestand darin, einfach den pikantesten Teil dessen, was sie zu sagen hatte, zu ignorieren. »Na, da schau her.« Alberta malmte an einem riesigen Stück Schokoladenkuchen. »Unser braves Unschuldslämmchen. Glaubt, ich merke nicht, was direkt vor meiner Nase vor sich geht.« Im Moment hing unter ihrer Nase jedoch nichts anderes als ein Stück Zuckerguß. Der Zuckerguß klebte ihr auch an Hals und Zähnen, so daß ihre Stimme ganz dunkel und belegt klang. Jetzt war der Zeitpunkt für die beste schauspielerische Leistung meiner ganzen Laufbahn gekommen. »Ach, Alberta«, flüsterte ich, »sagen Sie mir doch bitte, was ich tun soll. Ich habe niemanden, an den ich mich wenden könnte, und wenn ich diesen Job hier verliere, sitze ich auf der Straße. Ich habe Angst.« -75-
Ich versuchte, nicht zu dick aufzutragen, aber wie ich Alberta kannte, hatte sie ein Faible für Seifenopern, so daß ich praktisch gar nicht dick genug auftragen konnte. »Das sollten Sie auch.« Jetzt klang Alberta salbungsvoll. Das Wort habe ich eigens nachgeschaut, weil mir der Klang gefällt. Außerdem wird es heutzutage ziemlich häufig verwendet. »Mir gefällt die Vorstellung nicht, daß Sie sich mit ihm einlassen, Sie sind doch noch so jung. Die anderen waren älter und hätten es besser wissen müssen. Aber bei Ihnen ist das anders: Ich weiß tief in meinem Innersten, daß Sie einfach noch zu jung und ein bißchen einfältig sind.« Haben Sie schon irgendwann einmal jemandem auf sein großes Maul hauen wollen? Aber jetzt gab es für sie kein Halten mehr. Ich stellte Alyssa Morganas Fläschchen in einen Topf mit Wasser, um es auf dem Herd zu erhitzen. »Ich hoffe, Sie haben sich noch auf nichts eingelassen«, sagte sie. »Lassen Sie ihn ja in der Nacht nicht in Ihr Zimmer. Man kann ihm nicht trauen. Keinem von den beiden kann man trauen.« Der Schokoladenkuchen verschwand genauso schnell, wie die süffisanten Worte aus ihrem Mund hervorsprudelten. »Eines Tages kommt sie dahinter, und dann haben wir bloß wieder die übliche Geschichte. Ich bin ja froh, daß ich nicht hier schlafen muß. Ich wüßte nicht, was ich machen würde, wenn er es jemals bei mir probieren würde.« Fast hätte ich laut aufgelacht. Alberta hatte schon eine ziemlich hohe Meinung von sich. Doch dann dämmerte es mir. Sie war eifersüchtig. Sie würde alles dafür geben, wenn Carl ihr tatsächlich ein bißchen Aufmerksamkeit schenken würde, ihr, diesem vierzigjährigen Fettkloß, deshalb wollte sie auch mich gegen ihn aufhetzen. »Stellen Sie sich mal vor, Stacy passiert tatsächlich -76-
was«, sagte ich, »wer ist denn dann die Glückliche, die er im Auge hat?« »Das würden Sie wohl gern wissen, was?« blökte sie. »Sie müssen mir das einfach glauben und sich nicht zu große Hoffnungen machen. Ich habe schon geraume Zeit ein Auge auf alles, was hier vor sich geht. Er würde sich von ihr scheiden lassen, wenn sie nicht so ein Häufchen Elend wäre. Außerdem: Was glauben Sie denn, wer hier das ganze Geld hat? Das gibt er nicht einfach von heute auf morgen auf. Wird die Milch nicht ein bißchen heiß?« Sie hatte recht, und ich wollte auch nicht den Eindruck erwecken, daß ich auf jede Einzelheit scharf war. Ich sagte: »Danke für den guten Rat, Alberta. Ich weiß es wirklich zu schätzen, daß Sie sich so für mein Wohl interessieren. Ich hatte ja keine Ahnung.« »Gern geschehen«, sagte sie. »Kommen Sie doch und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir, wenn Ihnen danach ist. Ich könnte Ihnen noch ganze Romane erzählen. Sie sind ein nettes Mädchen, aber ein bißchen klüger müssen Sie schon noch werden.« Ich verließ die Küche, ohne ihr zu sagen, wie widerwärtig ich sie fand. Aber Stoff zum Nachdenken hatte sie mir weiß Gott genug gegeben. Wenn das, was sie sagte, stimmte, hatte ich Carl einen großen Gefallen getan und würde vermutlich nichts dafür bekommen als eine Einladung zur Hochzeit. Ich warf einen schnellen Blick in Alyssa Morganas Zimmer. Es war ganz still. Stacy hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Irgendwie wünschte ich mir fast, ich könnte sie aufwecken und ihr ein paar Fragen stellen, nur um mir darüber klarzuwerden, was ich als nächstes tun sollte. Carl würde in ein paar Stunden nach Hause kommen. Ich konnte ja warten und sehen, wie er die Neuigkeiten aufnahm. -77-
Nadya Nystrom konnte sich natürlich auch einfach in Luft auflösen, und ich konnte den ersten Bus zurück nach Mudville nehmen, was weder mich noch meine Mutter sonderlich glücklich machen würde. Oder ich konnte ganz plötzlich »entdecken«, daß Stacy die ganzen Tabletten heruntergewürgt hatte, und Alarm schlagen. Aber das würde meine Situation auch nicht verändern. Ich muß gestehen, ich hatte die Sache wirklich nicht bis zu Ende gedacht, sondern lediglich eine günstige Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Alyssa Morgana hatte es sich in meinem Bett richtig gemütlich gemacht. Sie würde ich wirklich vermissen, wenn ich wegginge. Ich fühlte mich mehr wie ihre Mutter, als Stacy das jemals tun würde. Und ich muß zugeben, daß ich mir schon ausgemalt hatte, tatsächlich ihre Mutter zu werden, wenn Stacy nicht mehr da wäre. Alberta hatte sich in dieser Hinsicht nicht getäuscht. Also lag sie vielleicht auch bei dem ganzen anderen Schund, den sie mir erzählt hatte, richtig. Ich meine damit besonders die Sache mit der nächsten Mrs. Winston. Ich setzte mich auf die Bettkante und versuchte nachzudenken. Aber je mehr ich nachdachte, desto wütender wurde ich. Und je wütender ich wurde, desto klarer wurde mir, daß ich diesen Waschlappen Carl genausowenig heiraten wollte, wie ich mich absichtlich in die Nesseln setzte. Überließ er mir nicht die ganze Drecksarbeit, während er auf einfache Art und Weise Stacy loswurde und sich wieder ganz frei und ungebunden bewegen konnte? Allmählich bekam ich das Gefühl, daß ich mir wegen ihm auch noch etwas einfallen lassen mußte. Aber was? Ich legte mich neben Alyssa Morgana ins Bett, um nachzudenken. -78-
Und natürlich schlief ich ein. Nachdenken ist ziemlich anstrengend, und schließlich hatte ich schon eine ganze Menge nachgedacht. Als ich aufwachte, brannte mir die spätnachmittägliche Sonne direkt in die Augen, und Alyssa Morgana hopste auf meinem Bauch herum. »Hallo, Schweinchen«, sagte ich, »was machen wir jetzt?« Sie gurgelte fröhlich vor sich hin und grinste mich mit ihrem zahnlosen Mund an. Nett, aber nicht gerade eine große Hilfe. Ich rollte mich mit dem Kind im Arm vom Bett, stand auf und betrachtete uns beide im Spiegel. Wir sahen uns wirklich ähnlich, beide blond, beide blauäugig, beide hübsch, wenn ich mal so sagen darf. Aber wir konnten beide ein Bad vertragen. Carl spielte immer gerne zwanzig Minuten oder so mit Alyssa Morgana, wenn er abends vom Büro nach Hause kam, und ich gab gerne eine gute Figur ab, während er das tat. Mit Alyssa Morgana im Arm ging ich auf Zehenspitzen durchs Bad und zurück in ihr Zimmer. Dort war alles leise. Ich wollte eigentlich keinen Blick auf das Bettchen werfen, aber irgendwie konnte ich dann doch nicht anders. Stacy hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Und auch die Häschendecke rührte sich nicht. Ich ging nicht nahe genug heran, um herauszufinden, ob das daran lag, daß sie nicht mehr atmete. Schnell wie ein Häschen packte ich frische Kleidung für Alyssa Morgana zusammen und ging wieder ins Bad zurück. Ich machte die Tür zu. Alyssa Morgana und ich hatten viel Spaß miteinander in der Badewanne. Das war immer so. Wir spielten U-Boot und setzten einander Seifenblasen auf die Nase, so daß wir aussahen wie Mickymaus, und dabei kicherten wir wie zwei Bekloppte. Doch dabei zermarterte ich mir unablässig den Kopf, was ich tun würde, wenn Carl nach Hause kam und Stacy fand. Als wir uns abgetrocknet hatten, brachte ich Alyssa Morgana zurück in mein Zimmer, um -79-
ihr frische Sachen anzuziehen. Stacy wollte ich nicht stören, ich wollte nicht einmal mehr einen Blick auf sie werfen. Ich zog Alyssa Morgana ihr blaues Trägerröckchen an setzte sie auf den Boden, wo sie auf dem Teppich herumkrabbelte, während ich selbst mein Vorsprechkleid für Jungmädchenrollen anzog, etwas Weißes mit kleinen blauen Blümchen und einem Spitzenkrägelchen. Kein Make-up, abgesehen von einem bißchen Rouge, weil ich ziemlich blaß aussah, und einem Hauch pinkfarbenen Lippenstift. Die Haare trug ich offen und band mir nur ein schmales blaues Band um den Kopf. Ich schaute gar nicht schlecht aus, wie Alice im Wunderland, aber ich war immer noch zu keinem Schluß gekommen. Ich mußte einfach improvisieren, genau wie in der Schauspielschule. Als wir fertig waren, trug ich Alyssa Morgana in die Küche, um zu sehen, ob Alberta geschnüffelt hatte, während wir schliefen. Sie brütete am Herd vor sich hin. Offenbar hatte sie die Sachen immer noch nicht genug verkocht. »Riecht wirklich gut«, sagte ich und hoffte dabei, nicht an der Lüge zu ersticken. »Ich kann nicht mehr bis zum Abendessen warten. Ich komme um vor Hunger.« »Das ist ein Rezept meiner Mutter«, sagte Alberta mit ehrfurchtsvoller Miene. »Sie hat’s aus ihrer Heimat mitgebracht.« »Und wo war diese Heimat?« »In Böhmen«, antwortete sie. »Ich komme eigentlich aus Böhmen. Viele sind nicht mehr übrig von uns. Übrigens hat jemand für Sie angerufen. Ich habe ihm gesagt, Sie schlafen.« Sie warf mir einen stirnrunzelnden Blick zu, als verdiene jeder, der während der Arbeitszeit. schlief, im Morgengrauen standrechtlich erschossen zu werden. -80-
»Ach?« sagte ich mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck. »Und wer war am Apparat?« »Das weiß ich nicht. Jemand, der was von einer Show gequasselt hat.« Wieder dieses Stirnrunzeln, als ob man in solchen Shows gehenkt, gevierteilt, geteert und gefedert würde. »Tja«, sagte ich. »Wahrscheinlich die nächste Fehlanzeige.« Aber ich wußte genau, daß in New York niemand höflich genug war, einen wegen einer Absage anzurufen. »Er hat keine Nummer hinterlassen, oder?« »Doch, das hat er schon. Wenn mir noch einfällt, wo ich sie hingelegt habe.« Haben Sie schon mal Lust gehabt, jemanden in seinem eigenen Hühnchentopf zu kochen? Und die Reste dann an die Hunde zu verfüttern? Endlich fand sie die Nummer, die sie auf ein ausgerissenes Stück des ›Soap Opera Digest‹ gekritzelt hatte, und zwar in ihrer Schürzentasche, wo der Zettel die ganze Zeit über gewesen war, was sie mit Sicherheit genau wußte. »Ich bin mir nicht so sicher, ob ich den Namen richtig verstanden habe«, sagte sie. »Er klang, als hätte er Drogen genommen oder so was. Für mich hat es sich jedenfalls wie Hervy Scury angehört.« Sie überreichte mir den Zettel wie ein Todesurteil. Harvey Scovill! Mein Gott! Harvey Scovill rief mich an! Er war der Regisseur eines Stücks, für das ich vor fast zwei Wochen vorgesprochen hatte. In der Zwischenzeit hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben. Das war die Traumrolle überhaupt. Natürlich war das Stück von einem unbekannten Dramatiker, und es war auch eine OffBroadway-Produktion; es ging darin um ein junges Mäd-81-
chen, das in einer kleinen Stadt im Mittleren Westen wohnt und Gedichte schreiben möchte, aber keinen Stoff findet, und der nichts einfällt als über die alten Damen zu schreiben, die zu ihr in den Schönheitssalon kommen, wo sie die Maniküre macht. Das Stück hatte den Titel ›Finger‹. ›Finger‹ war auch der Titel des Gedichtbandes, den sie geschrieben hatte. Die Geschichte war gleichzeitig dämlich und lustig und traurig, weil sie sich am Ende umbringt, indem sie Nagellackentferner trinkt. Es war mir egal, wie furchtbar das Stück war. Schließlich ging es um die Hauptrolle. Und Harvey Scovill rief mich an! »Würden Sie bitte ein paar Minuten für mich auf Alyssa Morgana aufpassen?« fragte ich. »Na ja, ich weiß ja nicht so recht«, sagte Alberta. »Warum lassen Sie sie nicht bei Mrs. Winston? Ich muß mich um das Abendessen kümmern.« Fast hätte ich gesagt, ich kann sie doch schlecht einer Leiche anvertrauen, aber ich hielt mich gerade noch zurück. Ich drückte ihr einfach Alyssa Morgana in die Hand und rannte zum Telefon in Carls Arbeitszimmer. Den ganzen Weg den Flur hinunter hörte ich Alyssa Morgana weinen und Alberta darüber jammern, wie unfair es doch war, daß sie dauernd die Arbeit anderer Menschen erledigen müßte. Ich machte einfach die Tür zu und bahnte mir meinen Weg durch das Durcheinander auf dem Boden zum Schreibtisch. Es war gar kein schlechtes Gefühl, so an diesem großen, gewichtigen Schreibtisch zu sitzen, den Telefonhörer abzunehmen und das wichtigste Gespräch meines Lebens zu führen. Ich wählte die Nummer. Am anderen Ende der Leitung klingelte es. Und klingelte und klingelte und klingelte. Als endlich jemand abhob, war dieser Jemand nicht Harvey Scovill. -82-
»Haallo«, sagte eine gelangweilte Frauenstimme. »Ist Mr. Scovill da?« fragte ich. »Jaa. Aber er kann nicht ans Telefon kommen. Er spricht gerade mit seinem Reflexologen.« Ich erinnerte mich an eine große, hagere Frau, die während des Vorsprechens neben Harvey Scovill gesessen und Notizen auf ein Clipboard gekritzelt hatte, wenn sie ihm nicht gerade etwas ins Ohr flüsterte. Sie hatte während meines ganzen Vortrags geflüstert und mir fast meine ganze Konzentration geraubt. Ich verfluchte sie innerlich deswegen. »Ich bin Nadya Nystrom«, sagte ich ihr. »Mr. Scovill hat heute nachmittag bei mir angerufen.« »Aach jaa. Wir hätten gerne, daß Sie noch mal zum Vorsprechen bei uns vorbeischauen. Morgen früh um zehn Uhr. Ist das möglich?« »Jaa«, antwortete ich und merkte in diesem Moment, wie ich unbewußt ihren merkwürdigen Akzent nachahmte. »Ich bin da«, fügte ich in forschem Tonfall hinzu. »Selbe Stelle?« »Jaa.« »Was ist ein Reflexologe?« fragte ich. Aber sie hatte bereits aufgelegt. Ich hoffte, daß sie nicht wütend war auf mich, weil ich sie nachgeäfft hatte. Das machte ich nämlich ganz automatisch. Darauf würde ich morgen früh achten müssen. Als ich aufgelegt hatte, lehnte plötzlich Alberta mit schokkiertem Gesichtsausdruck in der Tür. Ihr fiel nicht einmal auf, was für ein Durcheinander in dem Raum herrschte. »Was ist denn los?« rief ich aus, hastete zu ihr hinüber und dirigierte sie auf den Flur zurück, bevor sie noch Gelegenheit hatte, zur Besinnung zu kommen und an mir herumzunörgeln. -83-
»Diesmal hat sie es wirklich getan!« keuchte sie. »Rufen Sie den Arzt! Rufen Sie die Polizei!« Sie sank gegen die Wand, und ich hatte meine liebe Mühe, sie zu stützen. »Ach, meine Nerven!« jammerte sie. »Ich halte das nicht mehr aus. Das bringt mich noch ins Grab.« »Was hat sie getan?« fragte ich. »Wo ist Alyssa Morgana?« »In ihrem Zimmer«, ächzte Alberta. »Ich habe sie hinlegen müssen, weil mir die Karotten übergekocht sind. Sie hätten sie nicht bei mir lassen sollen. Sie wissen ganz genau, daß das nicht mein Job ist.« Ich ließ sie los, worauf sie auf den Boden herabsank und, an die Wand gelehnt, wie ein gestrandeter Wal dasaß, ihre riesigen, plumpen Beine vor sich auf dem Boden ausgestreckt. Ich rannte den Flur hinunter zu Alyssa Morganas Zimmer. Sie umschlang meinen Hals, und ich drückte ihren warmen kleinen Körper. Es war ein schönes Gefühl, etwas Warmes zu spüren. »Schweinchen«, sagte ich, »gleich ist hier die Hölle los. Wünsch mir Glück.« Sie versuchte, mir in die Nase zu beißen. Im Flur zappelte Alberta noch immer auf dem Boden herum, mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Aber wenigstens atmete sie noch. Das konnte ich schon aus drei Metern Entfernung hören. »Alberta!« brüllte ich sie an. »Machen Sie doch was! Stacy fehlt irgendwas!« Sie zwinkerte ein bißchen und rollte den Kopf auf ihrem feisten Hals. »Unternehmen Sie doch was«, murmelte sie. »Sehen Sie denn nicht, daß ich einen Anfall habe? Was ist, wenn es ein Herzanfall ist? Rufen Sie den Arzt. Drehen Sie den Herd aus. Wenn ich das überlebe, kündige ich.« -84-
»Was ist denn hier los?« Das war Carl. Ich hatte nicht gehört, wie die Aufzugtür aufging, aber da stand er, starrte zuerst Alberta an und dann mich, hin- und hergerissen zwischen Zorn und Mitgefühl. »War sie wieder an der Brandyflasche?« »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete ich mit unsicherer Stimme. Aber vielleicht könnte sie tatsächlich einen Schluck gebrauchen. »Es geht um Stacy…« Und dann brach ich in Tränen aus. Das war ein großes Plus für eine Schauspielerin, einfach so in Tränen ausbrechen zu können, wann immer es nötig war. Mit zitternder Hand deutete ich in die Richtung von Alyssa Morganas Zimmer. Er hastete an mir vorbei in das Zimmer. Alberta starrte mich mit wütendem Blick an. »Sie hätten das schon ein bißchen bestimmter sagen können«, knurrte sie mich an. »Ich bin noch nie betrunken zur Arbeit erschienen.« Sie rappelte sich auf die Beine und schwankte zur Küche zurück. Ich glaubte, so etwas wie »Was für ein Glück, daß wir die los sind« zu hören. Ich ging auf Zehenspitzen zu der Tür von Alyssa Morganas Zimmer hinüber und lugte hinein. Carl beugte sich gerade über das Kinderbettchen und starrte hinunter auf seine Frau. Ich hätte viel darum gegeben, herauszufinden, was im Moment gerade in seinem Kopf vorging. Alyssa Morgana suchte sich ausgerechnet diesen Augenblick aus, um das einzige Wort zu sagen, das sie schon konnte. »Da!« Müde wandte Carl den Kopf. Unsere Blicke trafen sich, und mir traten wieder die Tränen in die Augen. Er seufzte und beugte sich dann erneut hinunter, um Stacy mit der Kinderdecke zuzudecken. »Tja«, meinte er. »Jetzt hat sie es also endlich geschafft. Obwohl ich nicht begreife, wie -85-
das möglich war, wo du doch im Haus warst. Und Alberta auch.« Ich zwinkerte ein wenig, um die Tränen aus den Augen zu drücken, und betrachtete sein Gesicht genauer. Ich konnte keinerlei Gefühle für mich darin entdecken. Also hatte Alberta recht gehabt. Gut, gut. Das einzige, was ich im Augenblick tun konnte, war weiterhin traurig und mitfühlend auszusehen. »Soll ich den Arzt rufen?« flüsterte ich. »Er kann auch nichts mehr für sie tun. Aber wahrscheinlich müssen wir ihn trotzdem rufen. Das sieht mir ganz nach Schlaftabletten aus, wieder einmal. Aber wie ist sie an die Dinger rangekommen? Ich habe sie doch weggeschlossen.« »Werfen Sie doch mal einen Blick in Ihr Arbeitszimmer«, schlug ich vor. Ich trottete hinter ihm her. Ich wollte keine Sekunde seiner Reaktion auf das Durcheinander darin verpassen. Und ich mußte wissen, ob er die Geschichte mit dem Selbstmord tatsächlich glaubte. Schließlich war das ganz schön wichtig für meine Zukunft. Er machte die Tür zu und stand einfach nur da, den Blick unverwandt auf das Chaos gerichtet. Schließlich sagte er: »Jemand, der so entschlossen ist, hat es wahrscheinlich verdient, seinen Willen durchzusetzen.« Und dann wandte er sich mir zu. »Nadya«, sagte er, »ich hoffe, daß du dich dadurch nicht verjagen läßt. Ich brauche dich jetzt.« Ich sagte kein Wort, aber so etwas wie Befriedigung schlich sich in mein Herz. Vielleicht täuschte Alberta sich doch. Vielleicht mußte ich wegen Carl doch nichts unternehmen. Ich versuchte es mit einem breiten Lächeln, aber das Gefühl der Erleichterung hielt nicht lange vor. -86-
»Alyssa Morgana braucht dich«, fuhr er fort, »jedenfalls, bis ich die Angelegenheit ein bißchen besser im Griff habe. Stacy war keine sonderlich gute Mutter – auch keine besonders gute Ehefrau, wenn ich ganz ehrlich bin. Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, daß mir ihr Tod sehr leid tut. Unser Eheleben besteht seit langem nur noch auf dem Papier. Aber das weißt du ja wahrscheinlich.« Ich nickte und wartete darauf, daß er sich weiter sein eigenes Grab schaufelte. »Ich hole jetzt den Arzt. Und wahrscheinlich muß ich auch die Polizei rufen. Aber bevor ich das mache, rufe ich noch eine Freundin an, eine sensible, herzensgute Frau, die uns allen eine große Hilfe sein wird. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du alles tun würdest, was sie von dir möchte.« »Na schön«, sagte ich. Dann konnte ich es mir allerdings nicht verkneifen zu fragen: »Ist sie denn eine so gute Freundin?« »Was?« fragte er erschrocken. »Ach so, jetzt verstehe ich, was du meinst. Tja, ich glaube schon. Nur ist es jetzt noch zu früh, um über Dinge nachzudenken, die vielleicht in sechs Monaten oder einem Jahr akut sein können. Nadya, glaub bitte nicht, daß ich nicht dankbar bin für die Abende, die ich mit dir verbracht habe. Ich war einsam, und du warst nett zu mir. Das werde ich dir nie vergessen. Du wirst es nicht bereuen. Ich werde mich erkenntlich zeigen. Ich hoffe, daß wir auch weiterhin Freunde bleiben.« Aber nicht so gute Freunde, sagte ich zu mir selbst. »Aber sicher«, antwortete ich ihm. »Solange wir beide leben.« Er sah mich mit merkwürdigem Blick an, tat die Sache jedoch dann mit einem Achselzucken ab, ging in sein Arbeitszimmer und schloß die Tür hinter sich. -87-
Ich öffnete sie noch einmal und sagte: »Ich muß morgen früh zum Vorsprechen. Ist es in Ordnung, wenn ich mich um einen Babysitter kümmere? Das hat Stacy in solchen Fällen immer gemacht.« »Natürlich«, antwortete er, während er auf seine Schreibtischschublade hinunterstarrte und die Schrammen von dem Brieföffner befingerte. »Du mußt schließlich an deine Karriere denken. Viel Glück.« Er nahm den Hörer ab und begann zu wählen. Ich machte die Tür zu und drückte mein Gesicht in Alyssa Morganas süßen Babypudergeruch. »Es muß bald etwas geschehen«, flüsterte ich ihr zu. »Etwas ganz Ähnliches. Ohne sie könnte er nicht leben. Ich weiß noch nicht, wie es passieren soll. Vielleicht springt er aus dem Fenster. Oder vergiftet sich mit seinem Tequila Sunrise. Der arme Kerl. Er war ja so durcheinander und deprimiert. Hat sich die schlimmsten Vorwürfe gemacht für das, was passiert ist. Mach dir mal keine Sorgen. Ich schaukle das Kind schon. Denn eins muß ein Au-pair-Mädchen können: Es muß Einfälle haben.« Alyssa Morgana gurgelte lustig vor sich hin und zog mir das blaue Band aus den Haaren. Mir machte das nichts aus. Dieses Kostüm hatte seinen Zweck erfüllt. Und um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Stacy hatte mir ein paar schöne Anregungen für die Selbstmordszene gegeben, die ich am nächsten Morgen spielen würde. Schließlich hatte sie doch immer gesagt, sie wolle einem zukünftigen Star helfen.
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FLORENCE V. MAYBERRY Eine Frauengeschichte
Ich habe noch nie gern in Reno gelebt. Ich bin eine Wüstenfrau, bin ein bißchen außerhalb von Winnemucca, Nevada geboren und aufgewachsen. Bäume und Gebäude, und die Menschenmassen, die sich Tag und Nacht auf den Straßen dahinwälzen, stören mich. Ich habe gern einen unverstellten Blick in die Ferne. Der Horizont und die Berge sind mir wichtig. Selbst die Menschen sind klarer in der Wüste. Man sieht sie kommen, ganz allein und für sich, nicht in dem Einheitsbrei der Stadt versteckt. Haben Sie schon mal den Salbei gerochen nach einem Regenguß in der Wüste? Der saubere, süße Geruch steigt einem zu Kopf. Scheuert so richtig die Lunge aus und erfrischt das Gehirn. Plötzlich erinnert man sich wieder, daß man ein Herz, ja, sogar eine Seele, hat. Tja, und genau das hätte ich Paddy mal wieder gegönnt. Paddy gehört in die Wüste. – Wyoming, hier ist er geboren. Da, wo einem ständig der Wind um den Hintern streicht und wo man sich abmühen muß, um ein bißchen Sauerstoff in die Lungen zu kriegen, weil der so hoch oben am Himmel ist. Ein paar Jahre nach unserer Heirat hat Paddy mich mit zu der alten Ranch seiner Eltern mitgenommen. Na ja, zu der Zeit gehörte sie schon nicht mehr ihm – er hatte sie in Nevada verspielt. Aber die Leute, die sie von der Bank gekauft haben, sind anständig, alte Freunde der Familie, und sie taten einfach so, als gehörte die Farm noch immer Paddy. Paddy und ich ritten dicht nebeneinander, und manchmal hielten wir die Pferde an, damit wir uns einen Kuß geben -89-
konnten. »Paddy«, sagte ich zu ihm, »laß uns doch ein bißchen Geld sparen und deine Ranch zurückkaufen. Die Stadt ist nichts für uns, wir gehören einfach aufs Land.« Besonders für Paddy war die Stadt nichts, dachte ich mir, und das wußte er auch. Er grinste und sagte: »Du hast recht, Mädchen. Da draußen gibt’s keine Würfeltische.« Er tätschelte mir den Arm und fügte hinzu: »Wenn ich erst mal einen großen Treffer lande, und den lande ich bald, dann kaufe ich uns ein ordentliches Stück Land, und darauf baue ich uns ein nagelneues Haus mit allem Drum und Dran, so gut wie das in Reno.« So gut wie das in Reno. Mein Gott. Eine Zweizimmerwohnung mit Kochnische. Ein Herd mit einem Backofen, in dem die Sachen immer ganz unregelmäßig braun werden. Ein winziger Kühlschrank. Und alle Spieltische dieser Welt ein paar Häuser weiter – so kam es mir zumindest vor. »Paddy, ich brauche keine tollen Sachen, ich bin in dieser Hinsicht nicht verwöhnt. Mir würde es Spaß machen, draußen in einer Hütte zu wohnen und auf einem Kohlenofen zu kochen – zum Kochen gibt es nichts Besseres. Das wäre dann wie damals, als ich noch ein Kind war. Selbstgebackenes Brot – meine Mutter hat immer selbst gebakken, und das hat sie mir beigebracht. Und wir könnten einen kleinen Garten haben, Paddy. Du könntest die ganze Zeit an der frischen Luft sein – immer drinnen, das ist nichts für dich, Paddy, die ganze Zeit schwere Lasten hin und herhieven in dem Lagerhaus.« »Schwere Lasten hin und herhieven, sagst du, Frau?« Er bekam wieder diesen abwesenden Gesichtsausdruck, der sich immer einstellte, wenn er sich einbildete, ich würde mich zu sehr in seine Männerangelegenheiten einmischen. »Du meinst, ich muß mich zu sehr anstrengen -90-
mit den ganzen Hebeln, die die schweren Sachen nach oben befördern. Ein Neunzig-Kilo-Kerl mit fast einsneunzig? Tja, Angie, ich habe schon wirklich ein schweres Leben.« Ich wollte sagen, daß eher die Würfel das Problem waren für einen Neunzig-Kilo-Kerl mit fast einsneunzig das Aufheben, Schütteln und Werfen. Aber wenn Paddy diesen Gesichtsausdruck bekam, machte er mir immer Angst. Nein, nein, verstehen Sie mich nicht falsch: Er hat mich noch nie geschlagen oder zu rauh angefaßt. Niemals. Wenn er hörte, daß Männer ihre Frauen schlugen, spuckte er einfach nur auf den Boden. Sagte, nur aggressive kleine Würstchen machen das, die Angst davor haben, sich mit einem Mann anzulegen. Aber einmal, als Paddy so dreinschaute, verschwand er einfach aus unserer Wohnung und kam nicht mehr zurück. Ich brauchte eine Woche, um ihn wiederzufinden. In Vegas. Und noch eine Woche, bis ich ihn wieder heimgelockt hatte. Damals wünschte ich mir, daß er mich geschlagen hätte. Das ganze Geld, das wir uns gemeinsam zusammengespart hatten, 715 Dollar, ging damals drauf. Bis auf den letzten Penny. Man muß ganz schön lange auf den Beinen sein und Kunden bedienen in einem Kaufhaus, bis man so viel auf die Seite gelegt hat. Paddy hatte kein rechtes Vertrauen zu Sparbüchern, obwohl das unsere auf seinen Namen lief. Er sagte, das sei etwas für Männer oder auch Frauen, die nicht den Mumm hätten, auch einmal etwas zu riskieren. Deshalb hat es ihm auch kein Kopfzerbrechen gemacht, als er das ganze Geld einfach abgehoben hat. Er hat gegrinst, mir auf den Rükken geklopft und gesagt, er würde es mir irgendwann mit Zinsen zurückzahlen. Mir war es letztlich egal, ob er mir das Geld jemals zurückzahlte. Ich wollte nur Paddy. -91-
Wie damals, an dem Abend, als ich mein Gesicht an das seine kuschelte und ihm ins Ohr flüsterte, ich würde dich nicht für die Welt eintauschen, und wenn noch so schöne Geschenkbänder drum rum wären. Er küßte mich und flüsterte zurück: »Du bist ein braves Mädchen.« Dann scheuchte er mich von seinem Schoß herunter, stand auf, gab mir einen kleinen Klaps auf den Hintern und sagte: »Ich glaube, ich fange heute abend gleich mit meiner ersten Million an. Dann kann ich dir endlich die kleine Ranch kaufen, von der du mir die ganze Zeit vorschwärmst. Aber ich kaufe uns eine größere. Vielleicht versuche ich es lieber gleich mit zwei Millionen. Dann kann ich die Zäune aus den Bändern machen, von denen du immer redest.« »Ach, Paddy, hör doch auf! Geh nicht weg, Paddy, ich will gar nicht reich sein. Und eine Ranch brauch’ ich auch nicht. Paddy, du weißt genau, daß ich nur dich brauche. Und in letzter Zeit bist du so viel weggewesen. Jeden Abend in den letzten Wochen.« »Es könnten noch ein paar Abende mehr werden«, sagte er locker. »Du wirst sehen, eines Abends lande ich den großen Treffer.« »Ich begleite dich, Paddy.« Sein Gesicht umwölkte sich. »Nein. Du nervst mich nur am Spieltisch.« Es hatte keinen Sinn, sich mit Paddy herumzustreiten. Es sei denn, ich wollte wieder in ganz Nevada nach ihm suchen. Ich weiß noch, an jenem Abend regnete es in Reno. Und zwar ordentlich. Irgendwann dachte ich, ich könnte einfach die Virginia Street entlang gehen, an den Klubs vorbei, nachschauen, in welchem Paddy steckte, sagen, es -92-
hätte so stark geregnet und ich hätte ihm einen Schirm mitgebracht. Aber ich hatte Angst vor seinem Gesichtsausdruck – Ich bin ein erwachsener Mann, Angie, komm mir nicht wie ein Kindermädchen. Du störst mich am Spieltisch, Angie. Oder vielleicht würde er auch überhaupt nichts sagen. Und einfach nicht heimkommen. Mir wäre es wirklich lieber, wenn er mich mal schlagen würde, ehrlich. Ich wachte am Morgen auf und tastete im Bett nach ihm. Das Laken war kühl, unberührt. Und in der ganzen Wohnung, überall, lag dieser süße Salbeigeruch, der in der Wüste nach einem Regenguß aufsteigt. Aber meinen Kopfschmerzen half das nicht. Ich machte mir einen Kaffee, wartete eine Weile mit dem Essen und hoffte ansonsten, daß er noch auftauchen würde, bevor er in die Arbeit mußte. Und ich sagte mir: »Verfluchte Spielerei, verfluchte Spieler und verfluchtes Reno.« Wissen Sie, Reno wäre eigentlich gar nicht so schlecht gewesen. Ein hübsches Städtchen, durch das der Truckee River fließt, und überall Weiden entlang des Flusses. Drüben im Westen der Mount Rose, auf dem sogar im Sommer Schnee liegt. Im Norden hockt breit und fett der Peavine Mountain. Und dann noch die schöne, klare Wüste im Osten. Mein Gott, das Städtchen hätte wirklich ganz nett sein können zum Leben, zusammen mit dem Mann, den man liebt. Aber in Wirklichkeit war eben alles ganz anders. Ich deckte einen Platz am Tisch für ihn, für den Fall, daß er es sich doch noch überlegte aufzutauchen. Dann ging ich die Virginia Street hinunter und tat so, als mache ich einen Schaufensterbummel. Und das um halb sieben in der Früh! Ich hoffte, ihn zu sehen, ohne daß er mich entdeckte: Angie, willst du denn ein Waschweib aus mir machen? Ich habe gedacht, du hast mich geheiratet, weil ich ein -93-
Mann bin. Um halb sieben machte er vielleicht gerade einen kleinen Imbiß, weil er um sieben in der Arbeit sein mußte. Dann sah ich ihn. Er kam mit einer großen Rotblonden am Arm aus einem Klub, die fast genauso groß wie er selbst war. Sie lachte, warf den Kopf zurück. Sie hatte langes, glänzendes Haar und trug ein langes schwarzes Kleid, und es paßte ihr wie angegossen, als sei es für sie gemacht worden. Mir fällt so etwas auf, weil ich selbst eher klein und stämmig bin, eine von der kräftigen Sorte. Ich habe meinem Vater früher immer beim Holzhacken geholfen meine Mutter und mein Vater haben nie einen Jungen gehabt. Ich wollte zu ihnen hinübergehen und dem Mädchen eine Ohrfeige geben. Aber irgendwie bin ich auch in solchen Situationen fair. Schließlich hätte Paddy die Ohrfeige eher verdient. Wie sollte das Mädchen wissen, daß Paddy zu mir gehörte, wenn er es ihr nicht sagte? Ich ging ein bißchen schneller und war gerade auf gleicher Höhe wie sie, als sie sich zu ihm hinüberbeugte und ihm einen Kuß auf die Wange gab. Paddy winkte gerade ein Taxi herbei. Ich sagte: »Hallo, Paddy, kommst du nicht zu spät zur Arbeit?« Paddy war eine Spielernatur. Sein Gesicht blieb ganz kühl und ausdruckslos, und seine Augen wirkten fast, als habe er plötzlich Kapuzen darübergestülpt, damit ich nicht mehr darin lesen konnte. »Hallo Angie«, sagte er, doch das war nur sein Mund. Und ich spürte, wie sein Inneres sagte: »Verpiß dich.« Das war einfach nicht fair. Schließlich war er derjenige, der Dreck am Stecken hatte, nicht ich. Außerdem war das hier eine Frauengeschichte. Und Frauengeschichten hatte Paddy bis jetzt noch nie gehabt. Jedenfalls, soweit ich -94-
wußte. Eine Frau kann doch nicht einfach klein beigeben, wenn es um eine andere Frau geht. »Ich habe dir dein Frühstück gedeckt – du solltest nicht mit leerem Magen in die Arbeit. Paddy, ich glaube nicht, daß du mir deine Freundin schon vorgestellt hast.« Ich redete mit Paddy, aber ich schaute dieser Frau ins Gesicht. Sie war wirklich eine richtige Frau, so zwischen fünfundzwanzig und dreißig, nicht viel jünger als ich selbst, aber sie hatte die Haut und das Aussehen einer Achtzehnjährigen, nur daß Mädchen noch nicht so viel Selbstvertrauen haben. Diese Frau wirkte stark und selbstbewußt, als habe sie sich im Leben alles erkämpft. Sie war schön. Das muß ich ihr lassen. Ihre Augen waren so blau, daß es einem fast wehtat, sie anzusehen. Und groß. Nur daß sie mich damit ganz schön unverfroren und durchdringend anschaute. Sie wußte schon nach einem Blick, was Sache war, und offenbar amüsierte sie das. Sie lächelte ein bißchen verquält, als müsse sie innerlich grinsen. Sie wußte ganz genau, wie man sich richtig schminkte, gerade genug, damit ihre Haut wie eine Mischung aus Honig und Rosen aussah. Oder vielleicht hatte sie ja tatsächlich so eine Haut. Aber die Augen hatte sie geschminkt, und die Wimpern waren so lang, daß sie ihr fast bis auf die Wangen reichten. Und die ganzen rotblonden Haare – wie ein Heiligenschein. »Ist das deine Frau?« fragte sie Paddy. Er nickte und sagte, ganz locker: »Klar. Angie, darf ich dir Molly vorstellen.« Sie sah ihm direkt in die Augen, lachte und sagte: »Du bist ganz schön cool, wenn du mich fragst.« Sie sah mich an. »Kopf hoch, meine Liebe, damit er besser trifft, wenn er dir eine knallt.« -95-
Sie lachte noch einmal, stieg in ein Taxi und fuhr weg. Ihre Worte brachten Paddy aus der Fassung. Er riß den Blick von dem Taxi los, als habe man ihm eine Ohrfeige gegeben. Er sah mich aber nicht mit dem Abschiedsblick an, wie damals vor Vegas. Er sagte: »Tut mir leid, Angie. Aber du hättest nicht nach mir suchen sollen. Ich will dir nichts vormachen und dir erzählen, daß ich sie bloß schnell zum Taxi gebracht habe. Ich bin schon eine Weile mit ihr zusammen.« Tja, nach dieser Eröffnung konnte ich ihm wohl kaum die Augen auskratzen. Schließlich hatte er mir tatsächlich nichts vorgemacht. Also sagte ich: »Mir tut’s auch leid, Paddy. Bis heute abend dann. Ich habe einen schönen Braten fürs Abendessen vorbereitet.« Gestern nacht, als du diese Molly mit ihrem dreisten, lachenden, schönen Gesicht angemacht hast, war ich daheim und habe für dich gekocht. Ich bin auch nicht häßlich, Paddy, ich habe große braune Augen und gar kein schlechtes Gesicht – du hast mir selbst gesagt, du magst braune Augen, nicht blaue, wie die deinen. Du hast gesagt, daß du braunen Augen einfach nicht widerstehen kannst. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Okay. Also dann bis heute abend.« »Du hast mich noch nie geschlagen, Paddy, kein einziges Mal. Das hätte sie nicht sagen sollen.« Er klang irgendwie verletzt, und er antwortete: »Sie hat das aber schon erlebt.« Dann drehte er sich um und ging weg. Was macht man bloß, wenn man einen Mann liebt, der bis jetzt noch nie fremdgegangen ist, und plötzlich erwischt man ihn – oder war vielleicht noch gar nichts passiert? Und dann kommt man so ins Grübeln. Die ganzen -96-
Nächte in den Spielhöllen und das Geld, die 715 Dollar vom Sparbuch – möglicherweise ist das ja doch nicht alles fürs Spielen draufgegangen? Man grübelt einfach drüber nach, wenn man so ist wie ich. Den ganzen lieben langen Tag verkaufte ich Gürtel, Strumpfhosen und solche Sachen und mußte immer an die große, freche Molly denken. Daran, wie sie lachte und Paddy runterputzte und er einfach nur dastand. Und an die Verachtung, die sie seiner doofen Frau entgegenbrachte. Paddy war daheim, als ich nach Hause kam. Er sagte nichts, sondern zog mich nur auf seinen Schoß und küßte mich auf Stirn und Augen. »Du hast schöne Augen, Angie«, sagte er. »Die haben noch nie was Schlechtes in mir gesehen. Du hast schöne, liebevolle Augen.« Das war’s dann auch schon. Ich hatte einen so dicken Kloß im Hals, daß ich lieber nichts sagte. Also gab ich ihm nur einen Kuß. Aber nach dem Essen sagte ich: »Paddy, laß uns hier verschwinden und rauf nach Wyoming ziehen. Da oben könnten wir genausogut für die kleine Farm sparen – vielleicht sogar besser – als hier in Reno. Ich könnte mir einen Job suchen, und vielleicht könntest du auf einer Ranch arbeiten und dort ein kleines Häuschen für uns organisieren. Auf der Farm deiner Eltern gibt’s doch auch eine Hütte, vielleicht könnten wir die mieten und ein bißchen herrichten. Damit wir auch mal Wurzeln schlagen.« »Irgendwann mal«, sagte er. »Vielleicht.« Er half mir an jenem Abend beim Abspülen – normalerweise tat er das nicht, er sagte immer, er komme sich komisch vor, wenn er Teetassen abtrockne. Aber an jenem Abend half er mir. Und er küßte mich. So richtig zärtlich war er. Und die Spielklubs erwähnte er nicht mehr. Es war einfach wunderbar. -97-
Aber manchmal in der Nacht – so gegen zwei Uhr –, wenn ich das Licht anschaltete, stellte ich plötzlich fest, daß ich allein im Bett war. Paddy war nirgends in der Wohnung zu finden. Molly hieß sie. Angie, darf ich dir Molly vorstellen. Das war alles, kein Familienname. Wie sollte man eine Molly finden in einer Stadt, so groß wie Reno? Man steht auf und zieht sich an und geht hinunter in die Klubs und fängt an, nach Paddy zu suchen. Oder nach Molly. Aber ich ging nicht. Soviel Ehre mußte ich ihm im Leib lassen. So gegen vier Uhr bereitete ich ein paar Kartoffeln zum Braten vor, so wie Paddy sie gern hat. Und ich deckte den Tisch schön. Dann lauschte ich auf das Knarren des Aufzuges, das mir sagte, daß jemand kam. Ich ging ins Bad, um mein Gesicht so schön wie möglich zu machen. Bläuliche Ringe unter meinen Augen verunstalteten den oberen Teil meines Gesichts, das ganz angeschwollen war vor Sorge und Schlafmangel – ich sah aus wie eine wütende Puffotter kurz vor dem Zubeißen. Ich war erst Anfang dreißig, aber an jenem Morgen sah ich älter aus als vierzig. Eine kleine, pummelige Frau. Warum wollte Paddy, der blauäugige Paddy mit seinen muskulösen Einsneunzig und seinem schiefen Grinsen, warum wollte er nicht »Hör auf damit!« sagte ich zu meinem Spiegelbild. »Hör auf damit!« Paddy liebte mich. Das hatte er mir schon oft genug gesagt. Und Paddy log nie, egal, was er sonst noch anstellte. Ich stellte die Kartoffeln in den Kühlschrank, trank eine Tasse Kaffee und ging in die Arbeit zu Fuß. Mein Arbeitsplatz war nicht weit weg, und außerdem hatten wir sowieso kein Auto mehr. Früher hatten wir mal eins ge-98-
habt, aber vor einem Jahr oder so hatte Paddy eine Glückssträhne und erhöhte die Einsätze. Also habe ich den Wagen auf seinen Namen umschreiben lassen, und Paddy hat ihn verkauft. Na ja, das Benzin ist sowieso teuer. Es ist ganz schön hart, wenn man den ganzen Tag auf den Beinen ist und die Verkaufstische wieder in Ordnung bringt, die die Kunden durchwühlen, sobald man die Sachen zusammengefaltet hat. Es ist ganz schön hart, ständig lächeln zu müssen, wenn einem doch eigentlich übel ist vor Sorge darüber, wo Paddy steckt. Einmal habe ich tatsächlich überlegt, ob ich ihn nicht in der Arbeit anrufen soll. Aber wenn ich ihn dort erreichen würde, wäre er sicher wütend. Und wenn er nicht da wäre, wäre sicher sein Chef wütend, weil Paddys Frau wieder nach ihrem Mann sucht. Ich versuchte, zum Mittagessen ein Sandwich herunterzuwürgen, aber es wollte einfach nicht in den Magen. Also fragte ich meinen Chef, ob ich nach Hause gehen könne, weil mir nicht gut sei. Er war richtig nett und sagte mir, ich solle erst wiederkommen, wenn ich ganz gesund sei. Sie mögen mich in der Arbeit. Zuverlässig und immer pünktlich. Eine doofe, zuverlässige Verkäuferin, die tagein, tagaus ihren Job macht – die rothaarige Molly würde doch tot umfallen, wenn sie so etwas machen müßte. Ich ging nach Hause und nahm ein paar Aspirin. Versuchte, mich hinzulegen und zu entspannen. Stand wieder auf und schrubbte Küche und Bad. Duschte. Zog meinen neuen korallenroten Hosenanzug an. Zog ihn wieder aus. Mein Hintern war darin breit wie ein Scheunentor. Zog ein langes, gerade geschnittenes Jerseykleid an. Sah damit aus wie ein japanischer Ringer im Nachthemd. Schließlich zog ich wieder das schwarze Kleid an, das ich in der Arbeit getragen hatte. Es war inzwischen schon nach fünf, und von Paddy noch immer keine Spur. -99-
Tja, in Reno ist alles frei zugänglich und offen – hier kann jeder in die Klubs und für ein paar Groschen an den Spielautomaten spielen. Das würde ich Paddy auch sagen, wenn ich ihn erwischte. Aber vielleicht bekäme er mich gar nicht zu Gesicht. Ich konnte mich hinter den Spielautomaten verstecken und gehen, sobald ich genug wußte nein. Nicht, wenn er mit Molly zusammen war. Ich lief mir fast die Schuhsohlen ab an dem Abend. Versuchte, einen Hamburger zu essen. Schaffte es nicht. Ging so gegen drei in der Früh ins Bett. Allein. Am nächsten Morgen rief ich in der Arbeit an und sagte, ich sei immer noch krank. Das war keine Lüge. Ich war tatsächlich krank. Der Chef war nett und sagte, ich solle auf mich aufpassen. Also schämte ich mich, draußen auf der Straße herumzurennen und mich in den Klubs herumzutreiben. Ich blieb in der Wohnung. Was ganz gut war, weil Paddys Chef anrief und fragte, wo er denn die letzten beiden Tage gesteckt hatte. »Wir sind krank«, sagte ich. Aber was hatten wir? »Wir müssen was Falsches gegessen haben. Uns ist übel.« »Ja«, antwortete der Chef. »Er ist doch nicht etwa wieder unten in Vegas, oder, Angie, und Sie müssen ihn erst wieder aufstöbern?« »Hören Sie, Pete, kann denn einem Mann nicht schlecht sein, ohne daß er gleich –« »Okay, okay, Angie, nun beruhigen Sie sich mal wieder. Passen Sie auf sich auf. Sagen Sie Paddy, er soll sich morgen gar nicht erst die Mühe machen, da ist Samstag, er soll lieber am Montag wieder gesund ins Geschäft kommen.« »Danke, Pete, das sage ich ihm.« Wenn Paddy tatsächlich in den Klubs unterwegs war, machte er das offenbar wie ein Geist, weil ich bei allen vorbeischaute. Das war eigentlich überhaupt nicht Paddys -100-
Stil. Selbst wenn er verlor, blieb er am Tisch sitzen und wartete darauf, daß das Glück sich ihm wieder zuwandte. Und Paddy war nicht nach Vegas abgehauen, er war immer noch in Reno. Das sagte mir mein Instinkt. Und wenn mir auch alle Leute was anderes erzählten: Paddy war bei Molly. Also konzentrierte ich mich darauf, Molly zu finden. Haben Sie schon die Sparte mit den Anwälten in den Gelben Seiten durchgeschaut? In Reno? Man kommt ins Grübeln, wie sie alle was zu beißen haben, aber schließlich gründet sich der Ruf von Reno ja nicht nur aufs Spielen, sondern auch auf Scheidungen – ist das nicht eine nette Empfehlung für eine Stadt? Und Molly war bestimmt so ein Scheidungsfall. Ich rief nacheinander alle Anwaltskanzleien an, und da sagte man mir immer wieder das gleiche: »Molly? Könnten Sie mir bitte ihren Familiennamen geben? Sie sagen, Sie haben gesehen, wie die Dame in einem von den Klubs ihre Tasche verloren hat, aber daß kein Ausweis darin ist. Woher wissen Sie dann, daß sie Molly heißt. Oh. Einer von den Kartengebern. Tja, dann würde ich sagen, wäre es wohl am vernünftigsten, wenn Sie auch diesen Kartengeber nach ihr fragen oder die Tasche an der Kasse oder bei der Polizei abgeben.« Langes Schweigen. »Darf ich fragen, warum Sie die Tasche nicht einfach gleich der Dame gegeben haben?« Oder: »Tut mir leid, aber wir geben die Namen unserer Mandanten nicht an Dritte weiter. Warum versuchen Sie es nicht bei der Polizei?« Tja, die Methode war sowieso ziemlich dämlich. Dann dachte ich mir, warum gehe ich eigentlich nicht in den Klub, wo ich Paddy und sie zum erstenmal zusammen gesehen habe und frage da. -101-
In den Klub. Das blecherne Klimpern von Spielautomaten, geschäftiges Treiben allüberall. Alle zogen an den Hebeln, als ginge es um ihr Leben, jedesmal, wenn sie eine Münze einwarfen. Meistens kam nichts mehr wieder, kein Laib Brot und auch keine Büchse Bohnen, nichts. Hin und wieder kam ein bißchen Kleingeld zum Vorschein, das postwendend wieder in dem Schlitz des Automaten verschwand. »Sagen Sie, kennen Sie eine hübsche Rothaarige namens Molly? Groß und gutgekleidet. Sie ist neulich abend mal hiergewesen – ich habe etwas, das vermutlich ihr gehört. Ich muß sie finden.« Der Kartengeber am Kartentisch lächelte mich schief an und sagte: »Süße, ich hoffe, Sie haben was Schönes für sie. Wenn ja, könnten Sie’s im Büro versuchen. Wenn nicht, sollten Sie’s wieder mit nach Hause nehmen. Nein, ich kenne keine große Rothaarige namens Molly.« Ich versuchte es mit ein paar weiteren Kartengebern. Dann mit der Erfrischungstheke. Eine Kellnerin dort meinte: »Sagen Sie mal, sind Sie nicht die Frau von Paddy Finley?« Ich nickte, und sie sagte: »Das habe ich mir schon gedacht. Wissen Sie, ich habe früher im selben Haus wie Sie gewohnt, nur ein paar Stockwerke tiefer, aber ich habe immer gesehen, wie Sie zusammen nach Hause gekommen sind.« »Ich habe da etwas, das vielleicht dieser Molly gehört«, sagte ich wieder. »Neulich habe ich sie hier zusammen mit – Aber ich weiß nicht, wo ich sie finden kann. Ich habe mir nur gedacht, möglicherweise kennt sie jemand hier.« Sie schenkte mir ein schräges Lächeln. »Ich kenne sie nicht, Süße, aber ich kenne Paddy, er kommt ziemlich oft -102-
her. Paddy kann man auch schlecht übersehen, der schaut so aus, wie sich Kinder früher wohl ihre Cowboyhelden vorgestellt haben. Scheidungskandidaten von der Ostküste denken das wahrscheinlich immer noch. Wissen Sie was, Mrs. Finley – ich an Ihrer Stelle würde heimgehen, zwei oder drei Aspirin nehmen und mich ein bißchen ausruhen. Wenn Paddy dann heimkommt, haben Sie wieder die Kraft, ihm was entgegenzusetzen. Wollen Sie eine Tasse Kaffee? Ich gebe Ihnen dann auch das Aspirin.« Es ist schon merkwürdig, aber wenn der Kopf durcheinander ist, tut einem plötzlich der Magen weh. Als säße dort ein Kloß. Aber die ganze Zeit sitzt der wirkliche Schmerz im Kopf, wo man ihn nicht erwischt. Draußen auf der Straße wurde mir plötzlich ganz komisch. Als ob ich gleich zu zittern anfangen wollte, mir aber selbst dafür zu kalt gewesen wäre. Ich hatte das Gefühl, als würde etwas an mir ziehen oder mich anhauchen. Das war ganz schön gruselig, als ob ich ein Geigerzähler wäre und das entdeckt hätte, was ich suchte. Ich drehte mich um. Drüben auf der anderen Seite der Second Street, auf der schmalen Straße, die zu den Klubs führt, war Molly. Sie trug einen leuchtend grünen langen Rock und einen weißen Pullover mit Stehkragen. Sie hatte ihre schönen roten Haare nach oben gesteckt, was sie noch größer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Ganz schön auffällig. Paddy war nicht dabei. Ich war so erleichtert, daß ich das Gefühl hatte, ich müsse zu ihr hinübergehen und mich bei ihr entschuldigen. Statt dessen trat ich ganz nah an die Schaufenster heran, drehte mich um und sah ihr nach, wie sie die Straße hinunterflanierte. Als ob ihr Reno ganz selbstverständlich gehörte. -103-
Dann sah ich ihn, Paddy. Er folgte ihr mit langen Schritten und mit dem typischen Cowboygang, den man nie richtig loswird. Er holte sie ein, packte sie am Arm und riß sie zu sich herum. Sie war nicht überrascht. Schaute ihm nur dreist in die Augen. Und sagte etwas. Lachte. Er packte sie am Hals und beutelte sie hin und her. Sie trat mit ihren langen Beinen nach ihm, und mit den Fingern zerkratzte sie ihm die Wangen. Dann stieß sie ihm das Knie in den Unterleib. Paddy wankte zurück, zusammengekrümmt. Sogar von meiner Straßenseite aus konnte ich sehen, daß er blaß war. Vermutlich war ihm übel. Molly drehte sich weg, kalt wie eine Hundeschnauze, und fühlte nicht einmal ihren Hals, obwohl ihr der wahrscheinlich ganz nett wehtat. Ganz schön mutig, die Frau. Und sie tat immer noch so, als gehöre ihr die ganze Stadt. Ich bahnte mir meinen Weg durch den Verkehr zu Paddy hinüber. Er lehnte an einem Gebäude, umringt von einer Traube von Menschen, die ihn alle mit großen Augen anschauten, wie bei Filmaufnahmen. »Paddy, laß uns heimgehen.« Jemand kicherte. Flammen schienen durch meinen Körper zu schießen. Wie bei einem Kamin, der lange nicht mehr angezündet worden ist und in den man zuviel Papier stopft. Dann fängt der Ruß Feuer, und das Haus geht in Flammen auf. Ich drängte mich zwischen die Schaulustigen, stieß sie weg und schrie sie an, daß sie sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und Paddy in Frieden lassen sollten. Plötzlich spürte ich Hände auf meiner Schulter. Paddys Hände. »Angie, jetzt reicht’s. Laß uns hier verschwinden.« Die Menge gab uns den Weg frei, und wir gingen in Richtung Fluß. Paddy winkte ein Taxi heran, in das wir einstiegen. Paddy war nicht so gut zu Fuß. -104-
»Diese Molly – diese Molly, warum hast du –« fing ich an, nachdem wir die Tür unserer Wohnung hinter uns geschlossen hatten. Ich machte uns einen Kaffee und stellte mich an den Herd, um zu überlegen, ob er wohl lieber Steak oder Suppe essen würde. Und ob wir überhaupt jemals wieder etwas essen wollten. Es ist gar nicht so leicht, einen Mann, mit dem man seit zwölf Jahren verheiratet ist, nicht zu fragen, warum er ein Mädchen fast erwürgt, das er kaum kennt. Wenn er es tatsächlich kaum kennt. Besonders, wenn man bedenkt, daß er doch immer auf den Boden spuckt, wenn er etwas von Männern hört, die ihre Frauen schlagen. Er sagt immer, sie sollten ihr Mütchen an Pferden kühlen, oder sich einen gleich starken oder kräftigeren Mann suchen. Und jetzt erwürgt er fast Molly. Als ob sie ihm etwas getan hätte. Und dann läßt sie ihn auch noch ganz schlecht aussehen, mitten in Reno, vor den Augen seiner Frau und einer Menschenmenge. Behandelte ihn wie den letzten Deppen. Mein Gott, Paddy, wie hätte das denn ausgesehen in der Zeitung, wenn ein Bulle in der Gegend gewesen wäre und euch beide aufs Revier mitgenommen hätte und mich noch dazu? In den Zeitungen hätte dann gestanden: Freundin verprügelt Mann, und Ehefrau drischt auf Schaulustige ein, weil sie lachen. Als könnten die Frauen einfach machen mit dir, was sie wollen. Verdammt, Paddy, wie hätte dir das gefallen? Paddy ließ sich ziemlich viel Zeit im Bad. Ich hörte, wie er das Badewasser einließ. Als er wieder herauskam, war er rasiert und hatte frische Unterwäsche an, die ich ihm immer in ein Schränkchen im Bad legte. »Ich habe heiße Suppe und ein Steak für dich auf dem Herd«, sagte ich, als er durchs Wohnzimmer ins Schlafzimmer ging – unsere Wohnung hat nun mal so einen komischen Grundriß. -105-
»Ich möchte gar nichts.« Ich hörte ihn im Schlafzimmer herumhantierten. Schon bald kam er wieder heraus, herausgeputzt, einen Koffer in der Hand. »Mach’s gut, Angie«, sagte er. »Du kannst nicht einfach so gehen, Paddy. Das geht nicht, das ist mir gegenüber nicht fair. Wir müssen miteinander reden. Hör zu, Paddy, ich weiß nicht, was passiert ist, und wenn du willst, verliere ich keinen Ton mehr darüber, aber sag mir, was los ist.« »Du brauchst mich diesmal nicht zu suchen«, sagte er und starrte dabei mit unverwandtem Blick die Haustür an. »Paddy, du willst doch wohl nach dem, was sie dir angetan hat, nicht mehr zu ihr – sie will dich doch gar nicht, und du willst doch wohl keine Frau, die dich nicht will. Aber ich will dich.« »Mach’s gut, Angie.« »Paddy, laß uns unsere Siebensachen packen und nach Wyoming gehen, raus aus diesem verdammten, nichtsnutzigen Staat mit den ganzen Klubs und den leichten Mädchen wie –« Er wirbelte zu mir herum, die Augen blaue Funken sprühend. »Nimm ihren Namen nicht in den Mund!« Er machte die Tür auf und ging hinaus, und ich folgte ihm auf dem Fuße, wie ein Hündchen, dem man einen Tritt versetzt hat, das aber trotzdem nicht zu Hause bleiben will. Den Flur entlang, immer hinter ihm her. Er benutzte die Treppe, nicht den Aufzug, schritt mit langen Beinen aus. Aber ich hielt Schritt. Hinaus auf den Gehsteig, um die Ecke, ich ohne Handtasche und alles. Er drehte sich um und sagte: »Angie, ich hab’ die Schnauze voll von dir.« Dann ging er weiter, ich immer noch hinter ihm her. -106-
Er fing zu laufen an. Ich bin zwar eher klein und stämmig, aber ich habe ein ganz schönes Durchhaltevermögen. Ich rannte ihm nach, fast bis zur Virginia Street hinunter. Paddy blieb stehen, ich neben ihm. »Möchtest du mitkommen und hören, wie ich ihr sage, daß ich sie liebe, bevor ich sie umbringe?« »Du bringst niemanden um.« »Okay, dann komm mal mit.« Er setzte sich wieder in Bewegung, und ich auch. Wir überquerten die Truckee Bridge, drüben beim alten Post Office, vorbei am Holiday Hotel. Und dann gingen wir wieder ein Stück zurück, weil er versuchte, mich abzuhängen, dann den Hügel über dem Fluß hinauf, und danach kehrten wir wieder um. »Du hast einfach keinen Stolz, Angie«, sagte er, über die Schulter gewandt. Was ist schon Stolz? Die Leere füllt er jedenfalls nicht aus. Ich folgte ihm weiter. Endlich blieb er, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, vor einem schönen alten Haus über dem Fluß stehen, das in einzelne Wohnungen aufgeteilt war. »Hier wohnt sie«, sagte Paddy, »und ich gehe jetzt da hinein. Wenn sie nicht da ist, warte ich auf sie. Weil sie mir gehört. Sie wird es sich nicht anders überlegen, weil sie ihre Scheidungsurkunde in der Tasche hat und es satt hat, sich auf Spielereien einzulassen. Angie, an deiner Stelle würde ich mich auch um die Scheidung bemühen. Ich heirate Molly. So oder so.« Er ging die Stufen zur Veranda hinauf, durch die Haustür, die Stufen hinauf, ich immer hinterher. Am oberen Ende der Treppe drehte er sich um und sagte: »Du hast es ja nicht anders gewollt, Angie«, und holte aus. Ich stand da und erwartete den Schlag. Wenn er mich schlug, viel-107-
leicht sah er mich dann mit denselben Augen wie Molly. Aber er ließ die Hand wieder sinken. Er klopfte an eine Tür, auf der Nummer drei stand. Drinnen hörte man Schritte, und eine Frauenstimme fragte: »Wer ist da?« Molly. »Du weißt ganz genau, wer«, antwortete Paddy. Sie lachte. »Möchtest du dich wieder mit mir anlegen?« Sie schob einen Riegel vor und ging wieder weg von der Tür. Paddy machte einen Schritt rückwärts und trat gegen die Tür. Eine normale Tür hätte unter der Wucht seiner Tritte nachgegeben. Aber die Türen in diesem alten Haus waren aus massiver Eiche, so daß Paddy nur eine tiefe Schramme ins Holz riß. Er trat und trat und trat auf die Tür ein wie ein Bronco mit einem Kaktus unter dem Sattel, das Gesicht kränklich grau, die Augen funkelnd. Ich versuchte, ihn zu bremsen. Er schüttelte mich ab und trat weiter gegen die Tür. Aus der Wohnung auf der anderen Seite des Flurs kam niemand – wahrscheinlich waren die Leute nicht daheim. Unten brüllte eine Frau irgendwas. Die Hauswirtin, wie sich später herausstellte, die wieder in ihre Wohnung zurückging und die Polizei rief. Plötzlich waren die Polizisten da, ganz ohne Sirenen und so, und sie gingen nicht gerade sanft mit Paddy um. Es waren zwei Polizisten nötig, um ihm die Handschellen anzulegen und ihn nach unten zu zerren. Ich stand da wie erstarrt. Einer von den Bullen kam zurück, klopfte an Mollys Tür, forderte sie auf, aufzumachen und ihm zu sagen, was los war. »Ich habe keine Probleme«, sagte sie durch die geschlossene Tür hindurch. »Ich habe Sie nicht gerufen. In meine Wohnung ist niemand eingedrungen. Da hat nur so ein armer Trottel gegen meine Tür getreten. Gehen Sie doch zu dem Menschen, der Sie gerufen hat.« -108-
»Hier ist die Polizei. Wir brauchen ein paar Informationen.« Sie gab keine Antwort. Deshalb wandte der Bulle sich mir zu. »Haben Sie auch mit der Sache zu tun, Lady? Sie wollten auch da hinein?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin seine Frau. Ich habe die Tür überhaupt nicht angerührt. Er wollte nur mit ihr reden. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, und da ist er wütend geworden. Mehr steckt nicht dahinter, er hat nur die Nerven verloren.« »Nerven hat er offenbar genug, so wie die Tür ausschaut. Kommen Sie mal lieber mit aufs Revier und erzählen Sie unserem Chef die Geschichte.« »Ich bin seine Frau. Ich habe keinen Anlaß zur Beschwerde. Und selbst wenn, könnten Sie mich nicht dazu bringen, etwas gegen Paddy zu sagen. Schließlich bin ich seine Frau. Kein Anlaß zur Beschwerde.« »Tja, aber ich!« brüllte die Hauswirtin hinter uns. »Tritt mir die Tür ein, stört meine Mieter – Sie können Gift drauf nehmen, daß ich Anzeige erstatte. Ich folge Ihnen mit meinem Wagen aufs Revier.« »Ich komm’ für den Schaden auf«, sagte ich. »Sagen Sie das ruhig Ihrem Chef.« Der Polizist und die Hauswirtin verschwanden, und ich setzte mich oben auf die Treppe. Ich zitterte, als wäre ein Schneesturm über mich hinweggefegt. Nach einer Weile hörte ich den Riegel an Mollys Tür, die sich langsam öffnete. Sie entdeckte mich und sagte nur »Oh«. Ich sagte überhaupt nichts. »Sie sind doch seine Frau, oder?« Ich nickte. -109-
»Hören Sie zu, ich will ganz ehrlich sein mit Ihnen. Ich bin Paddy über den Weg gelaufen, als ich gerade in die Stadt gekommen bin. In einem von den Klubs. Ich war gerade dabei, Fuß zu fassen, hatte damals noch niemanden, an den ich mich wenden konnte. Und Paddy – na ja, der hat eben so eine Art. Jedenfalls wußte ich nicht, daß er verheiratet ist, also haben wir ein kleines Spielchen begonnen. Dann sind Sie aufgetaucht und haben was von Frühstück erzählt. Also habe ich mich aus dem Staub gemacht. Und danach ist er wieder bei mir aufgetaucht und hat mir erzählt, daß er Sie verlassen hat. Ich habe ihn einfach nicht mehr losgebracht. Aber ich sag’s Ihnen ganz ehrlich, Lady: Paddy und ich, das sind zwei Paar Stiefel. Ich orientiere mich nach oben, nicht nach unten. Also habe ich bye, bye gesagt, aber er wollte es nicht hören. Da hat er’s mit Gewalt versucht.« Sie lachte, schrill und hart. »Das zeigt doch nur, wie dumm so ein gutaussehender Kerl sein kann. Ich habe bei Profis gelernt, aber er ist ein Amateur.« »Paddy hat mich nie geschlagen.« Sie sah mich mit weisem und ein wenig traurigem Blick an. »Vielleicht hätte es besser geklappt, wenn er es einmal getan hätte. Ehrlich. Diese Frauen!« Sie ging wieder in die Wohnung und schloß die Tür. Ich hatte versucht, sie zu hassen. Aber das konnte ich nicht. Ich konnte nicht einmal Paddy hassen. Ich empfand nur ein Gefühl der Übelkeit, als ich da an einem wildfremden Ort saß wie eine Strohpuppe, der man die Innereien herausgerissen hat. Ich stand auf und ging auf die Straße. Wie gesagt, es war ein altmodisches Haus, aufgeteilt in Wohnungen. Derjenige, der es umgebaut hatte, war wohl stolz darauf, daß es so altmodisch aussah. Jedenfalls hatte -110-
er die alte, L-förmige Veranda beibehalten und eine altmodische Schaukel vorne an der Ecke angebracht. Ich fühlte mich so beschissen, daß ich mich in die Schaukel setzte. Nach einer Weile kam ein Wagen. Es war die Hauswirtin, die aussah, als habe sie in eine Eisenstange gebissen. Sie trampelte herein, ohne mich zu sehen. Es wurde allmählich dunkel, aber ich blieb einfach sitzen. Vielleicht hatte ich eine Vorahnung gehabt, was passieren würde. Molly kam aus dem Haus. Sie ging die Stufen zum Gehsteig hinunter. Auf ihrem Haar lag ein heller Schimmer, und an dem schwarzen Kleid waren Stickereien, die farblich zu ihren Haaren paßten. Als sie am Gehsteig angekommen war, wandte sie sich Richtung Stadt. Ich hörte Schritte, die sich von einer Baumgruppe auf der anderen Straßenseite her näherten. Ich stand auf, das Herz sprengte mir fast die Brust. Molly blieb stehen, groß und trotzig, und sah dem Mann ins Gesicht, der auf sie zueilte. Paddy. Ich wußte, daß dies Paddy war. Sie lachte, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Hat die arme närrische Frau dich ausgelöst?« »Sie haben mich nicht dabehalten. Ich habe für die Tür bezahlt.« »Na herrlich! Hau ab! Mich kannst du nicht kaufen. Der Preis ist zu hoch.« Er rief ihren Namen. Dann streckte er die Hände fast flehend aus, als wolle er eine rutschige, verschlammte Uferböschung hinaufklettern. »Bitte, Molly. Bitte! Ich flehe dich an, Molly. Ich habe noch nie so viel für einen Menschen empfunden. Ich muß dich haben, Molly!« »Fahr zur Hölle«, sagte sie. »Ich bin kein Pferd, das du einfach einreiten kannst. Also hör auf mit dem Wild-WestGehabe.« -111-
Paddy holte aus. Sie duckte sich, aber der Schlag traf sie am Kopf. Sie stolperte rückwärts. Er stürzte sich wieder auf sie. Offenbar hatte sie in ihre Tasche gegriffen. Ich konnte das nicht so genau sehen. Ich hörte nur einen scharfen Knall, und der Klang hallte in meinen Ohren wider, bis mir fast schwindelig wurde. Paddy lag auf dem Boden, kroch da unten herum, als suche er etwas. Ich trieb die Stufen fast wie in Trance hinunter, hinaus auf den Gehsteig. Und schon war Molly am Boden, und ich knallte ihren Schädel immer wieder aufs Pflaster. Sehen Sie Paddy da draußen? Er ist der sanfteste Mann der Welt. Sanft und ruhig, schaukelt nur immer auf der Veranda hin und her. Summt vor sich hin und schaukelt. Tja, ab und zu geht er hinaus zu dem kleinen Korral, den ich ihm gebaut habe, und streichelt die Stute, die ich ihm besorgt habe, nachdem wir hier rauf nach Wyoming gezogen sind. Aber Paddy bleibt immer sanft und ruhig, das ist eben sein Wesen. Diese Molly hatte kein Recht, ihn so durcheinanderzubringen und sich über ihn lustig zu machen. Und dann noch zu versuchen, ihn umzubringen. Sie hat ihn verrückt gemacht mit ihrem Gesicht und ihrem Gehabe. Gleich nach der Verhandlung habe ich Paddy nach Wyoming zurückgebracht. Ja, vor der Verhandlung habe ich schon Angst gehabt. Nicht wegen mir, sondern wegen Paddy. Denn wenn sie mich hinter Gitter steckten, wer sollte sich dann um ihn kümmern? Er ist verwirrt seit Mollys Schuß. Hat ihn am Kopf getroffen. Hat ihn wieder zu einem Kind gemacht. Manchmal weint er in der Nacht, rutscht auf den Boden und kriecht darauf herum. Genau wie damals. Als suchte er vergeblich nach etwas. -112-
Molly starb nicht gleich. Erst fast zwei Wochen nach dieser Nacht. Aber das hat mir auch nichts genützt. Es war trotzdem Totschlag. Im Affekt. Mein Anwalt hat argumentiert, daß ich meinen Mann beschützt habe. Also haben sie mir drei Jahre mit Bewährung gegeben. Ich muß mich jeden Monat melden. Deshalb habe ich das kleine Häuschen auf der Farm von Paddys Eltern gemietet, von den Freunden seiner Familie. Sie haben ein Auge auf Paddy, während ich in der Arbeit bin. Abgesehen von manchen Nächten ist Paddy glücklich. Er hält die Stute für eine ganze Koppel von Pferden und gibt ihr die unterschiedlichsten Namen. Und ich? Tja, ich bin eigentlich auch ganz glücklich. Könnte man sagen. Jedenfalls muß ich mir jetzt keine Sorgen mehr machen, daß Paddy ständig in die Klubs rennt. Und inzwischen habe ich mich auch daran gewöhnt. An was gewöhnt? Ach, na ja, mich ruft Paddy, ähnlich wie die Stute, auch bei einem anderen Namen. Allerdings nur bei einem. Molly. Das tut mir schon ein bißchen weh, aber ich stelle mir dann einfach vor, daß trotzdem ich ihm antworte. Ich, Angie.
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RUTH RENDELL Eine goldene Zukunft
»Sechs müßten genügen«, sagte er. »Sagen wir sechs hölzerne Teekisten und einen Schrankkoffer. Wenn Sie sie morgen vorbeibringen, pack’ ich das Zeug ein, und Ihre Leute können sie dann am Mittwoch abholen.« Er notierte etwas auf einen Zettel. »Gut«, sagte er. »Morgen gegen Mittag.« Sie saß völlig reglos in dem schweren Eichensessel am anderen Ende des Zimmers. Er zwang sich, sie anzublikken, und brachte so etwas wie ein Grinsen zustande, tat so, als sei alles in Ordnung. »Keine Sorge«, sagte er. »Sie sind überaus effizient.« »Ich habe nicht geglaubt«, sagte sie, »daß du das wirklich tun würdest. Jetzt erst, nachdem ich’s mit eigenen Ohren gehört habe, glaube ich es. Ich habe es einfach nicht für möglich gehalten. Du wirst wirklich die ganzen Sachen einpacken und sie zu ihr schicken.« Sie würden noch einmal alles durchkauen müssen. Soviel war sicher. Es würde nicht enden, bis die Sachen und er fort wären, endgültig weg aus London und von ihr. Er hatte nicht vor, lange zu diskutieren oder sich zu verteidigen. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete darauf, daß sie anfing, überlegte, daß die Pubs in einer Stunde öffneten und daß er dann gehen und etwas trinken könnte. »Ich versteh’ nicht, warum du überhaupt hierhergekommen bist«, sagte sie. Er antwortete nicht. Er hielt noch immer das Zigaretten-114-
etui in der Hand. Jetzt klappte er den Deckel zu, strich mit den Fingerspitzen über den kühlen Onyx. Sie war blaß geworden. »Nur um deine Sachen zu holen? Maurice, bist du wirklich nur deswegen gekommen?« »Sie gehören mir«, sagte er gleichgültig. »Du hättest jemand anders schicken können. Oder mir schreiben und mich bitten können, sie dir –« »Ich schreibe nie«, sagte er. Jetzt rührte sie sich. Sie machte eine kurze, nervöse Geste. »Als ob ich das nicht wüßte.« Sie rang nach Luft, und unter großen Anstrengungen gelang es ihr, ihre Stimme zu kontrollieren. »Du warst ein Jahr in Australien, ein ganzes Jahr, und hast mir nicht einmal geschrieben.« »Ich habe dich angerufen.« »Ja, zweimal. Das erstemal, um mir zu sagen, daß du mich liebst, mich vermißt und dich danach sehnst, mich wiederzusehen, und daß ich auf dich warten soll, und daß es außer mir keine andere gibt, stimmt’s? Und das zweitemal vor einer Woche, um mir mitzuteilen, daß du am Samstag kommst, und ob ich – ob ich dich bei mir aufnehmen könnte. Meine Güte, wir haben zwei Jahre zusammengelebt, waren praktisch verheiratet, und dann rufst du an und fragst, ob ich dich aufnehmen könnte!« »Worte«, sagte er. »Wie hättest du dich ausgedrückt?« »Zum einen hätte ich Patricia erwähnt. O ja, ich hätte sie erwähnt. So anständig, so menschlich wäre ich gewesen. Weißt du, was ich dachte, als du gesagt hast, du würdest kommen? Ich dachte, mittlerweile müßte ich eigentlich wissen, wie eigen er ist, wie unberechenbar, er schreibt nicht, er ruft nicht an und so weiter. Aber so ist er eben, der gute Maurice, der Mann, den ich liebe. Und er kommt -115-
zu mir zurück, und wir werden heiraten, und ich bin überglücklich.« »Ich habe dir von Patricia erzählt.« »Aber erst, nachdem du mit mir geschlafen hast.« Er wand sich. Das war ein Fehler gewesen. Selbstverständlich hatte er nicht vorgehabt, sie über den üblichen Begrüßungskuß hinaus zu berühren. Aber sie war sehr attraktiv, und er war an sie gewöhnt, und sie schien es zu erwarten – und, ach zum Teufel damit. Frauen hatten keine Ahnung von Männern und Sex. Und außerdem gab es nur ein Bett, oder etwa nicht? Eine höllische Szene hätte sie ihm hingelegt, hätte er gleich am ersten Abend vorgeschlagen, auf dem Sofa zu schlafen. »Du hast mit mir geschlafen«, sagte sie. »Du warst so leidenschaftlich, es war so wie früher, und am nächsten Morgen hast du mir dann reinen Wein eingeschenkt. Daß du eine Aufenthaltsgenehmigung für Australien hast, daß du dort Arbeit gefunden und ein Mädchen kennengelernt hast, das du heiraten möchtest. Einfach so hast du mir das erzählt, beim Frühstück. Hast du schon einmal einen solchen Schlag ins Gesicht bekommen, Maurice? Hat schon mal jemand deine Träume so mit Füßen getreten?« »Wär’s dir lieber gewesen, ich hätte es dir später erzählt? Und was Schläge ins Gesicht angeht« – er rieb sich die Backe – »da bist du nicht gerade von Pappe.« Sie schauderte. Sie stand auf und begann, langsam und steif durchs Zimmer zu gehen. »Ich hab’ dich kaum berührt. Ich wünschte, ich hätte dich umgebracht.« Neben einem kleinen Tisch blieb sie stehen. Eine kleine Porzellanfigur stand darauf, ein Behälter für Stifte aus Onyx, passend zum Aschenbecher, daneben lag ein bronzener Brieföffner. »All diese Dinge«, sagte sie. »Ich habe sie für dich verwahrt. Sie in Ehren gehalten. Und jetzt läßt -116-
du sie alle zu ihr verschiffen. Die Dinge, mit denen wir gelebt haben. Ich habe sie mir oft angesehen und gedacht: Maurice liebt dieses Stück, Maurice wollte, daß es genau hier steht. Maurice hat das gekauft, als wir damals in – o Gott. Ich glaub’s einfach nicht. Diese Sachen gehen jetzt an sie!« Er starrte sie an und nickte. »Die großen Sachen kannst du behalten«, sagte er. »Besonders gern überlaß’ ich dir das Sofa. Seit zwei Nächten versuche ich, darauf zu schlafen, und ich will das verdammte Ding nie wiedersehen.« Sie nahm die Porzellanfigur und schleuderte sie in seine Richtung. Sie traf ihn nicht, weil er sich rechtzeitig duckte und die Figur an der Wand zerbrach, knapp neben einer gerahmten Zeichnung. »Paß auf den Lowry auf«, sagte er lakonisch. »Ich habe eine Menge Geld dafür bezahlt.« Sie warf sich aufs Sofa und brach in Schluchzen aus. Sie schlug um sich, trommelte mit den Fäusten auf die Kissen ein. Davon würde er sich nicht rühren lassen – er würde sich von überhaupt nichts rühren lassen. Sobald er die Sachen eingepackt hätte, würde er von hier verschwinden und für die nächsten drei Monate durch Europa reisen. Ein freier Mann, offen für Sehenswürdigkeiten, Spaß und Mädchen, frei, um sich ein letztesmal die Hörner abzustoßen. Danach würde er zu Patricia, seinem Job und zur Verantwortung zurückkehren. Ihm stand eine goldene Zukunft bevor, die er sich von dieser hysterischen Frau nicht vermasseln lassen würde. »Um Gottes willen, halt den Mund, Betsy«, sagte er. Er schüttelte sie grob an der Schulter, und dann ging er, weil es elf war und er jetzt etwas zu trinken bekommen würde. Betsy kochte Kaffee und wusch sich das verschwollene Gesicht. Sie wanderte umher und betrachtete den Krims-117-
krams und die Bücher, die Gläser und Vasen und Lampen, die er ihr morgen wegnehmen würde. Dabei war es nicht so, daß der Verlust der Sachen ihr so viel ausmachte, vielmehr setzte ihr die Leere zu, die sie hinterließen, und das Wissen, daß sie Patricia gehören würden. In der Nacht war sie aufgestanden, hatte seine Brieftasche gesucht, die Fotos von Patricia herausgenommen und sie zerrissen. Aber sie erinnerte sich noch an das hübsche Gesicht mit den harten, habgierigen Zügen, und sie stellte sich vor, wie Patricias helle Augen größer werden würden, während sie die Kisten auspackte und ihre beutegierigen Hände auf der Suche nach weiteren Schätzen im Koffer wühlten. Möglicherweise würde das noch vor Maurices Ankunft vonstatten gehen, und Patricia würde die Lampen und die Gläser und den Nippes in ihrem Zuhause arrangieren, zu seinem persönlichen Wohlgefallen, wenn er endlich einträfe. Natürlich würde er sie heiraten. Vermutlich glaubt sie, daß er ihr treu ist, dachte Betsy, so wie ich geglaubt habe, daß er mir treu ist. Jetzt bin ich klüger. Das arme, dumme Mädchen, sie hatte keine Ahnung, was er tat, kaum daß er wieder bei ihr gewesen war, oder was er sich in Frankreich und Italien noch anlachen würde. Damit könnte man ihr bestimmt eine große Freude zur Hochzeit machen, zusammen mit dem ganzen geschmackvollen Kram in dem Koffer, oder? Tja, warum nicht? Warum nicht ihre Ehe erschüttern, noch bevor sie begonnen hatte? Ein Brief. Ein Brief, den sie, sagen wir, in dem blauweißen Ingwertopf verstecken würde. Sie setzte sich, um zu schreiben. Liebe Patricia – was für ein dämlicher Anfang, aber schließlich mußte auch ein Brief an ihre Feindin einen Anfang haben. -118-
Liebe Patricia, ich weiß nicht, was Maurice Ihnen über mich erzählt hat, aber jedenfalls leben wir hier seit seiner Ankunft als Paar. Um mich noch deutlicher auszudrücken, wir haben miteinander geschlafen. Maurice ist unfähig, irgend jemandem treu zu sein. Falls Sie mir nicht glauben, dann überlegen Sie doch einmal, warum er nicht in einem Hotel abgestiegen ist, wenn er mich nicht wollte. Das ist alles. Mit freundlichen Grüßen – und sie unterschrieb mit ihrem Namen und fühlte sich ein bißchen besser, so daß sie ein Bad nehmen und etwas zu Abend essen konnte. Am nächsten Tag trafen sechs hölzerne Teekisten und ein Schrankkoffer ein. Die Kisten rochen nach Tee, und vereinzelt lagen noch Teeblätter auf dem Boden. Der Koffer war aus silberfarbenem Metall, die Schlösser waren goldfarben. Es war ein wunderschöner Gegenstand, einen Meter fünfzig lang, neunzig Zentimeter hoch und sechzig Zentimeter breit, und der Deckel schloß so gut, daß der Koffer hermetisch versiegelt schien. Um zwei Uhr begann Maurice zu packen. Er benutzte Küchenpapier und Zeitungen. Er füllte die Teekisten mit Küchenutensilien, mit Tassen und Tellern und Besteck, mit Büchern und mit den Kleidungsstücken, die er vor einem Jahr bei ihr zurückgelassen hatte. Mit Bedacht und mit einem gewissen erbarmungslosen Vergnügen vermied er alles, was Betsy für sich fordern konnte – die armseligen, billigen Sachen, die rostfreien Löffel und Gabeln, das Geschirr von Woolworth, die scheußlich bunte Bettwäsche, in Rot und Orange und Olivgrün, die er schon immer gehaßt hatte. Er und Patricia würden nur in weißem Bettzeug schlafen. -119-
Betsy half ihm nicht. Sie beobachtete ihn und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er nagelte die Kisten zu, und auf jeden Deckel schrieb er mit weißer Farbe seine Adresse in Australien. Jedoch malte er nicht seinen Namen darauf, sondern Patricias. Nicht um Betsy absichtlich zu ärgern, aber es freute ihn trotzdem, daß es sie wütend machte. Er war erst um ein Uhr früh zurückgekommen, und natürlich hatte er keine Schlüssel. Betsy hatte sich geweigert, ihm zu öffnen, hatte ihn unten auf der Straße stehen lassen, und er hatte sich bis sieben Uhr morgens in das Auto gesetzt, das er gemietet hatte. Sie sah ebenfalls aus, als hätte sie nicht geschlafen. Miss Patricia Gordon, schrieb er, malte die Buchstaben rasch und geschickt. »Vergiß deinen Ingwertopf nicht«, sagte Betsy. »Ich will ihn nicht.« »Der kommt in den Koffer.« Miss Patricia Gordon, 23 Burwood Park Avenue, Kew, Victoria, Australia, 3101. »Die besonders schönen Sachen kommen in den Koffer.’ Er ist mein spezielles Geschenk für Patricia.« Er nahm den Lowry von der Wand, wickelte ihn sorgfältig ein und verpackte ihn. Er wickelte den Onyxaschenbecher ein, den Behälter für die Stifte, die Alabasterschale, den bronzenen Brieföffner, die kleinen chinesischen Tassen, die großen Weißweingläser. Die kleine Porzellanfigur… Er öffnete den Kofferdeckel. »Hoffentlich öffnet ihn der Zoll!« schrie Betsy ihn an. »Hoffentlich wird er konfisziert, und hoffentlich geht was kaputt. Ich werde jede Nacht darum beten, daß er auf den Meeresboden sinkt, bevor er ankommt.« »Die Schiffsreise«, sagte er, »ist ein Risiko, das ich auf mich nehmen muß. Was den Zoll betrifft –« -120-
Er lächelte. »Patricia arbeitet beim Zoll. Sie ist Zollbeamtin – hab’ ich dir das nicht erzählt? Wahrscheinlich werden sie keinen einzigen Blick auf ihn werfen.« Er beschriftete einen Aufkleber und klebte ihn auf eine Seite des Koffers. Miss Patricia Gordon, 23 Burwood Park Avenue, Kew… »Ich muß jetzt ein Vorhängeschloß kaufen gehen. Die Schlüssel bitte. Wenn du mich wieder nicht hereinlassen willst, rufe ich die Polizei. Ich bin noch immer der offizielle Mieter dieser Wohnung, vergiß das nicht.« Sie gab ihm die Schlüssel. Als er weg war, steckte sie den Brief in den Ingwertopf. Sie hoffte, er würde den Koffer direkt nach seiner Rückkehr abschließen, aber das tat er nicht. Er ließ ihn mit geöffnetem Deckel stehen, und das neue Vorhängeschloß baumelte an der goldfarbenen Kofferschließe. »Gibt’s was zu essen?« fragte er. »Kummer dich doch selbst um dein verdammtes Essen. Such dir eine andere Frau, die dich füttert!« Er mochte es, wenn sie ärgerlich und wütend war; es war ihre Liebe, vor der er sich fürchtete. Um Mitternacht kam er zurück; in der Wohnung war es dunkel, und er legte sich aufs Sofa. Die Teekisten standen um ihn herum wie eine Verteidigungsanlage, wie Barrikaden, die weiße Farbe leuchtete schwach in der Dunkelheit. Miss Patricia Gordon… Wenig später kam Betsy herein. Sie schaltete das Licht nicht an. Sie bahnte sich einen Weg zwischen den Kisten hindurch und trug dabei auf einer Untertasse eine Kerze vor sich her, die sie auf dem Koffer abstellte. Sie hatte ein langes weißes Nachthemd an, und im Kerzenlicht sah sie aus wie ein Gespenst, wie eine umherirrende Verrückte, eine Mrs. Rochester, eine Frau in Weiß. -121-
»Maurice.« »Geh, Betsy, ich bin müde.« »Maurice, bitte. Es tut mir leid, daß ich all die schrecklichen Dinge gesagt habe. Es tut mir leid, daß ich dich nicht hereingelassen habe.« »In Ordnung, mir tut’s auch leid. Es ist eine blöde Situation, und vielleicht hätte ich mich anders verhalten sollen, als ich es getan habe. Aber die beste Lösung für mich und meine Sachen scheint zu sein, einfach zu verschwinden und einen klaren Schlußstrich zu ziehen. Findest du nicht auch? Und jetzt sei ein braves Mädchen und geh und laß mich schlafen.« Mit dem, was als nächstes geschah, hatte er überhaupt nicht gerechnet. Darauf wäre er nie gekommen. Männer haben keine Ahnung von Frauen und Sex. Sie warf sich auf ihn, ungeschickt und gierig. Sie riß sein Hemd auf und begann, ihn auf Hals und Brust zu küssen, sie hielt seinen Kopf fest und preßte ihren Mund auf den seinen, sie legte sich auf ihn und nahm seine Beine mit ihren Knien in den Schraubstock. Er versetzte ihr einen heftigen Stoß. Er trat nach ihr, und sie fiel hin und schlug sich den Kopf am Koffer an. Die Kerze fiel herunter, flackerte und erstarb in einer Pfütze aus Wachs. In der Dunkelheit fluchte er wild drauflos. Er schaltete das Licht an, und sie stand auf, hielt die Hand an den Kopf, wo ein wenig Blut zu sehen war. »Verschwinde um Himmels willen«, sagte er und schob sie zur Tür hinaus, die er hinter ihr zuknallte… Als sie am Morgen das Zimmer betrat, einen Bluterguß auf der Stirn, schlief er, voll bekleidet und alle Viere von sich gestreckt, auf dem Sofa. Bei seinem Anblick schauderte sie. Sie machte sich Frühstück, konnte jedoch keinen Bissen essen. Sie würgte einen Schluck Kaffee hinunter, -122-
und eine Welle der Übelkeit überflutete sie. Als sie zu ihm zurückging, saß er auf dem Sofa und studierte sein Flugticket nach Paris. »Das Zeug wird um zehn abgeholt«, sagte er, als sei nichts geschehen, »hoffentlich verspäten sich die Männer nicht. Ich muß mittags am Flughafen sein.« Sie zuckte die Achseln. Sie war so tief gefallen, daß sie nicht glaubte, er könne sie noch mehr verletzen. »Dann schließ den Koffer ab«, sagte sie gedankenverloren.« »Alles zu seiner Zeit.« In seinen Augen blitzte es. »Ich muß noch einen Brief dazulegen.« Sie neigte den Kopf – die verletzte Stelle war wund und geschwollen – und sah ihn von unten herauf an. »Du schreibst doch keine Briefe.« »Nur ein paar Worte. Man kann doch ein Geschenk nicht ohne Begleitschreiben schicken, oder?« Er holte den Ingwertopf aus dem Koffer, zog ihren Brief aus ihm heraus, ohne einen Blick darauf zu werfen, und ließ ihn auf den Boden fallen. Schnell und demonstrativ kritzelte er auf einen Zettel, wobei er sich versicherte, daß Betsy alles lesen konnte: Alles das gehört dir, meine liebste Patricia, von nun an und für alle Ewigkeit. »Wie ich dich hasse«, sagte sie. »Du hättest mich zum Narren machen können.« Er nahm eine große Schreibtischlampe aus dem Koffer und stellte sie auf den Boden. Dann steckte er den Zettel in den Ingwertopf, wickelte ihn wieder ein und verstaute ihn zwischen den Handtüchern und Kissen, die die zerbrechlichen Gegenstände schützten. »Haß ist nicht das Wort, das ich benutzen würde, um deinen Annäherungsversuch der letzten Nacht zu beschreiben.« -123-
Sie antwortete nicht. Vielleicht hätte er einen so schweren Gegenstand wie die Lampe in einer der Teekisten unterbringen sollen, vielleicht sollte er doch besser noch einmal eine Teekiste öffnen. Er drehte sich nach der Lampe um. Sie war nicht mehr da. Sie hielt sie mit beiden Händen. »Kann ich sie bitte haben?« »Bist du jemals ins Gesicht geschlagen worden, Maurice?« fragte sie atemlos, und sie hob die Lampe hoch und schlug sie ihm mitten auf die Stirn. Er taumelte, und wieder schlug sie zu und wieder und wieder, wie eine Wahnsinnige, Schläge nagelten in sein Gesicht, auf seinen Kopf. Er schrie. Er sackte zusammen, bedeckte das Gesicht mit blutverschmierten Händen. Dann holte sie mit aller Kraft aus und schwang ihm die Lampe noch einmal ins Gesicht, und er ging in die Knie, kippte zur Seite und lag endlich reglos und stumm da. Eine Menge Blut war geflossen, aber er hörte schnell auf zu bluten. Sie stand da und sah ihn an, und sie schluchzte. Hatte sie die ganze Zeit über geschluchzt? Sie war blutbesudelt. Sie zog sich aus und warf die Kleidungsstücke auf einen Haufen neben sich. Einen Augenblick lang kniete sie neben ihm, nackt und weinend, sie schaukelte vor und zurück, sagte wieder und wieder seinen Namen, biß sich in die Finger, an denen sein Blut klebte. Aber der Selbsterhaltungstrieb ist der stärkste aller Instinkte. Er ist mächtiger als Liebe oder Kummer, Haß oder Reue. Es war neun Uhr, und in einer Stunde würden diese Männer kommen. Betsy holte einen Eimer mit Wasser, Waschmittel, Lumpen und einen Schwamm. Über der harten Arbeit, dem Großreinemachen hörte sie auf zu weinen, ihr Herz beruhigte sich, und sie wurde von ihren Gedanken abgelenkt. Sie arbeitete hektisch, dachte an nichts mehr, ihr Geist war leer. -124-
Nachdem sie Eimer über Eimer rötlichen Wassers ins Spülbecken gekippt hatte, der Teppich durchnäßt, aber sauber, die Lampe gewaschen, getrocknet und poliert war, warf sie ihre Kleidungsstücke in den Wäschekorb im Bad und legte sich in die Badewanne. Dann zog sie sich sorgfältig an und kämmte sich. Acht Minuten vor zehn. Alles war sauber, und sie hatte das Fenster geöffnet, um zu lüften, aber das tote Ding lag noch immer da, auf einem Haufen rotgefärbtem Zeitungspapier. »Ich habe ihn geliebt«, sagte sie laut und ballte die Fäuste. »Ich habe ihn gehaßt.« Die Männer waren pünktlich. Sie kamen um Punkt zehn Uhr. Sie trugen die sechs Teekisten und den silberfarbenen Schrankkoffer mit den goldfarbenen Schlössern die Treppe hinunter. Als sie gegangen und der Lastwagen abgefahren war, setzte sich Betty aufs Sofa. Sie betrachtete die Schreibtischlampe, den Stiftbehälter und den Aschenbecher aus Onyx, den Ingwertopf, die Alabasterschale, die Weißweingläser, den bronzenen Brieföffner, die kleinen chinesischen Tassen und den Lowry, der wieder an der Wand hing. Sie war jetzt ziemlich ruhig, und sie brauchte den Cognac, den sie sich eingegossen hatte, eigentlich gar nicht. An sie Vergangenheit dachte sie überhaupt nicht, und die Gegenwart schien nur als ein fühlbares Nichts zu existieren, als ein dichtes Schweigen um sie herum. Sie dachte an die Zukunft, an einen Zeitpunkt in drei Monaten, und das Schweigen erfüllte sich mit einem beständigen, tonlosen lauten Lachen. Miss Patricia Gordon, 23 Burwood Park Avenue, Kew, Victoria, Australia, 3101. Das hübsche Gesicht mit den habgierigen, harten Zügen, die Hände, die unbedingt das Vorhängeschloß und die goldfarbenen Schlösser öffnen wollten, um nach den Schätzen zu greifen… -125-
Und wie interessant dieser Schatz in drei Monaten aussehen würde, so etwas hatte Miss Patricia Gordon ihr Lebtag noch nicht gesehen! Damit sie ihn wiedererkennen würde, lag oben drauf ein Zettel mit der wohlbekannten Handschrift: Alles das gehört dir, meine liebste Patricia, von nun an und für alle Ewigkeit.
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SUSAN GLASPELL Stumme Gesänge
Als Martha Hale die Sturmtür öffnete und den schneidend kalten Nordwind spürte, eilte sie zurück, um ihren großen Wollschal zu holen. Während sie ihn hastig um ihren Kopf schlang, streifte ihr Blick schockiert durch die Küche. Es war nichts Gewöhnliches, was sie fortrief– ja, wahrscheinlich war es ungewöhnlicher als alles, was je in Dickson County geschehen war. Dennoch entging ihr nicht, daß ihre Küche keineswegs in einer Verfassung war, in der man sie verlassen sollte: Der Brotteig lag halb angefangen da, die eine Hälfte des Mehles war schon gesiebt, die andere noch nicht. Sie haßte unerledigte Dinge, aber sie war nun einmal mitten aus allem herausgerissen worden, als die Gruppe aus der Stadt kam, um Mr. Hale mitzunehmen. Und dann war der Sheriff hereingestürmt gekommen und hatte den Wunsch seiner Frau ausgerichtet, Mrs. Hale möge doch auch mitkommen. Grinsend hatte er hinzugefügt, er nehme an, sie habe es mit der Angst bekommen und wolle eine Frau dabeihaben. Also hatte sie einfach alles stehen und liegen gelassen. »Martha!« hörte sie jetzt die ungeduldige Stimme ihres Mannes rufen. »Laß die Leute nicht hier draußen in der Kälte warten.« Wieder öffnete sie die Sturmtür und ging nun endlich zu den drei Männern und der Frau, die auf sie in dem großen mehrsitzigen Einspänner warteten. Nachdem sie sich rundherum fest in ihre Kleider eingewickelt hatte, warf sie einen weiteren Blick auf die Frau, -127-
die neben ihr auf dem Rücksitz saß. Sie hatte Mrs. Peters im Jahr zuvor auf der Kirmes getroffen, und das einzige, was sie noch in Erinnerung hatte, war, daß Mrs. Peters überhaupt nicht wirkte wie die Frau eines Sheriffs. Sie war klein und dünn und hatte eine leise Stimme. Mrs. Gormann, die Frau des letzten Sheriffs, hatte eine Stimme gehabt, die irgendwie mit jedem Wort den Arm des Gesetzes zu bekräftigen schien. Aber wenn Mrs. Peters auch nicht wie die Frau eines Sheriffs aussah, so galt für ihren Mann doch das entsprechende Gegenteil. Er war genau die Art von Mann, die man zum Sheriff wählt – ein schwerer Kerl mit einer lauten Stimme, die besonders leutselig gegenüber Gesetzestreuen war, als ob er deutlich machen wolle, daß er zwischen Kriminellen und NichtKriminellen sehr wohl zu unterscheiden wußte. Genau in diesem Moment fiel es Mrs. Hale mit einem Schlag wieder ein, daß dieser Mann, der gewöhnlich so freundlich zu ihnen allen war und immer zu Späßen aufgelegt, sich jetzt in seiner Funktion als Sheriff auf den Weg zu den Wrights machte. »Diese Jahreszeit ist auf dem Land nicht sehr angenehm«, wagte Mrs. Peters schließlich zu bemerken. Offenbar meinte sie, sich ebenso wie die Männer unterhalten zu müssen. Mrs. Hale brachte kaum noch einen Antwortsatz heraus, denn schon waren sie auf einem kleinen Hügel angelangt und konnten das Haus der Wrights vor sich sehen. Bei diesem Anblick war ihr nicht nach reden zumute. An diesem kalten Märzmorgen sah es sehr einsam aus. Schon immer hatte dieser Ort verlassen gewirkt. Das Haus lag in einer kleinen Senke, und auch die Pappeln, die um das Haus herum standen, sahen irgendwie einsam aus. Die Männer sahen hinunter und sprachen über das, was passiert war. Der Bezirksanwalt beugte sich auf -128-
der einen Seite aus dem Einspänner heraus und ließ das Haus, während sie sich ihm näherten, nicht aus dem Auge. »Ich bin froh, daß Sie mitgekommen sind«, meinte Mrs. Peters nervös, als die beiden Frauen hinter den Männern durch die Küchentür gingen. Als Mrs. Hale ihren Fuß auf die Türschwelle stellte und ihre Hand auf den Türknauf legte, fühlte sie sich einen Augenblick lang so, als wäre es ihr unmöglich, diese Schwelle zu übertreten. Der Grund dafür war ganz einfach ihr schlechtes Gewissen, nicht früher schon einmal gekommen zu sein. Immer und immer wieder hatte sie gedacht, ›ich sollte rübergehen und Minnie Foster besuchen‹ – sie dachte immer noch an sie als Minnie Foster, obwohl sie seit zwanzig Jahren Mrs. Wright war. Und dann kam immer etwas dazwischen, und sie vergaß Minnie Foster. Ausgerechnet heute aber konnte sie kommen. Die Männer gingen zum Ofen hinüber, während die Frauen dicht beisammen an der Tür stehenblieben. Der junge Henderson, der Bezirksanwalt, drehte sich um und sagte: »Kommen Sie doch ans Feuer, meine Damen.« Mrs. Peters machte einen Schritt nach vorn, dann blieb sie stehen. »Ich friere nicht.« Die Männer unterhielten sich eine Minute lang darüber, wie gut es war, daß der Sheriff heute morgen seinen Deputy herausgeschickt hatte, um ihnen Feuer zu machen. Dann trat Sheriff Peters ein Stück vom Ofen zurück, knöpfte seinen Mantel auf und stützte sich mit den Händen auf den Küchentisch in einer Weise, die den Anfang des offiziellen Teils anzudeuten schien. »Nun, Mr. Hale«, sagte er mit so etwas wie einer halboffiziellen Stimme, »bevor wir hier etwas verändern, erzählen Sie mal Mr. Henderson, was genau sie gesehen haben, als sie gestern morgen herkamen.« -129-
Der Bezirksanwalt blickte sich in der Küche um. »Sagen Sie, ist bisher nichts geändert worden?« Er wandte sich an den Sheriff. »Ist hier alles ganz genauso, wie Sie es gestern verlassen haben?« Peters sah vom Schrank zur Spüle, von dort zu dem kleinen, abgenutzten Schaukelstuhl, der neben dem Küchentisch stand. »Alles ganz genauso.« »Irgendeiner hätte gestern hierbleiben sollen«, sagte der Bezirksanwalt. »Ach – gestern«, erwiderte der Sheriff mit einer schwachen Geste, wie wenn an gestern zu denken mehr gewesen wäre, als er ertragen konnte. »Frank mußte ich gestern wegen diesem Mann, der verrückt gespielt hat, in die Stadt schicken – also, ich kann Ihnen sagen, ich hatte alle Hände voll zu tun. Ich wußte, Sie könnten bis heute von Omaha zurück sein, George, und solange ich hier selbst alles in Augenschein nahm…« »Gut. Mr. Hale«, meinte der Bezirksanwalt auf eine Art, die Vergangenes vergangen sein ließ, »erzählen Sie mir einfach, was geschah, als Sie gestern morgen hier herkamen.« Mrs. Hale, die immer noch gegen die Tür lehnte, spürte im Magen das flaue Gefühl einer Mutter, deren Kind etwas aufsagen soll. Lewis vergaloppierte sich oft und brachte seine Geschichten durcheinander. Sie hoffte, er würde kurz und klar erzählen und nicht unnötige Dinge sagen, die alles nur schwerer für Minnie Foster machten. Mr. Hale fing nicht gleich an, und sie bemerkte, wie seltsam er aussah – als ob das Stehen in dieser Küche und das Erzählen dessen, was er dort gestern gesehen hatte, ihn beinahe krank machten. -130-
»Harry und ich waren auf dem Weg zur Stadt mit einer Ladung Kartoffeln«, begann Mrs. Hales Ehemann. Harry war Mrs. Hales ältester Sohn. Er war jetzt nicht bei ihnen, aus dem guten Grund, daß jene Kartoffeln gestern eben nicht bis zur Stadt gelangt waren und er sie deshalb an diesem Morgen hinbrachte. Harry war also nicht zu Hause gewesen, als der Sheriff angehalten hatte, um zu sagen, daß er Mr. Hale mit zum Haus der Wrights nehmen wollte, damit er dem Bezirksanwalt dort seine Geschichte erzählen und alles zeigen konnte. »Wir kamen diese Straße entlang«, fuhr Mr. Hale fort und zeigte mit der Hand auf die Straße, auf der sie gerade gekommen waren, »und als wir in Sichtweite des Hauses kamen, sagte ich zu Harry: ›Ich werd’ mal seh’n, ob ich John Wright nicht dazu bringen kann, sich auch ein Telefon anzuschaffen.‹ Sehen Sie«, erklärte er Henderson, »wegen einem Einzelanschluß wollen sie in dieser Nebenstraße keine Leitungen verlegen – oder nur zu einem Preis, den ich nicht bezahlen kann. Ich hatte schon mal mit Wright darüber gesprochen, aber er hat mich hingehalten. Er meinte, die Leute redeten eh zuviel, und alles, was er wolle, sei Ruhe und Frieden – ich schätze, Sie wissen, wieviel er selbst redete. Aber ich dachte – vielleicht –, wenn ich ins Haus geh’ und vor seiner Frau darüber sprech’ und erklär’, daß das Weibervolk gerne telefoniert und daß es an diesem einsamen Ende der Straße eine gute Sache wäre nun, ich sagte zu Harry, daß ich genau das sagen wollte. Obwohl ich wußte, daß John sich nicht allzusehr um das kümmerte, was seine Frau wollte…« Er sagte schon wieder lauter überflüssige Dinge. Mrs. Hale versuchte, den Blick ihres Ehemannes zu erhaschen, aber glücklicherweise unterbrach ihn der Bezirksanwalt: »Verschieben wir dieses Thema auf später, Mr. Hale. Ich möchte schon mit Ihnen darüber reden, aber im Augen-131-
blick liegt mir sehr daran, daß wir zu dem kommen, was genau sich ereignet hat, als Sie hier eintrafen.« Als er dieses Mal anfing, gab er sich sehr entschlossen und überlegt. »Ich habe nichts gehört oder gesehen. Ich klopfte an die Tür, aber drinnen rührte sich weiterhin nichts. Ich wußte, daß sie bereits auf sein mußten – es war nach acht Uhr. Also klopfte ich noch mal, lauter, und ich dachte, ich hätte gehört, wie jemand ›Herein‹ gesagt hat. Ich war mir nicht sicher. Aber ich machte die Tür auf – diese Tür«, er wies mit einer Hand in Richtung auf die Tür, bei der die beiden Frauen standen, »und dort, in diesem Schaukelstuhl –« er zeigte darauf, »saß Mrs. Wright.« Jeder in der Küche sah zu dem Schaukelstuhl hin. Mrs. Hale stellte fest, daß dieser Schaukelstuhl nicht im mindesten zu Minnie Foster passen wollte – der Minnie Foster von vor zwanzig Jahren. Er war in einem schmuddeligen Rot gestrichen, mit hölzernen Querstäben auf der Rückenlehne. Der mittlere Querstab fehlte, und der Stuhl sackte nach einer Seite durch. »Wie – sah sie aus« erkundigte sich der Bezirksanwalt. »Tja«, sagte Hale, »sie sah – seltsam aus.« »Wie meinen Sie das – seltsam?« Während der Bezirksanwalt seine Frage stellte, holte er ein Notizbuch und einen Bleistift heraus. Mrs. Hale war nicht wohl beim Anblick dieses Bleistifts. Sie hielt ihren Blick fest auf ihren Ehemann gerichtet, als könnte sie ihn damit davon abhalten, unnötige Dinge zu sagen, die in dieses Notizbuch gelangen und Ärger verursachen könnten. Hale war jetzt eine gewisse Vorsicht anzumerken, als ob der Bleistift auch ihn beeinflußt hätte. -132-
»Tja, als ob sie nicht genau gewußt hätte, was sie als nächstes tun sollte. Und irgendwie – erledigt.« »Wie schien sie auf Ihr Kommen zu reagieren?« »Vollkommen gleichgültig. Sie schenkte mir nicht viel Beachtung. Ich sagte: ›Wie geht’s, Mrs. Wright? Kalt, was?‹ Und sie sagte: ›Ach ja?‹ und fuhr fort, ihre Schürze zu fälteln. Tja, ich war überrascht. Sie bat mich nicht, zum Ofen rüberzukommen oder mich zu setzen, sie saß nur da, sah mich nicht einmal an. Also sagte ich ›Könnte ich mal eben mit John sprechen?‹ Worauf sie lachte. Ich schätze, Sie würden das lachen nennen. Ich dachte an Harry und die Jungs draußen, also sagte ich ein wenig scharf: ›Kann ich John sprechen?‹ – ›Nein‹, sagte sie – ein wenig unbeteiligt. ›Ist er nicht zu Hause?‹ fragte ich. Da sieht sie mich an: ›Doch‹, sagte sie, ›er ist zu Hause.‹ – ›Warum kann ich ihn dann nicht sprechen?‹ fragte ich. Ich verlor langsam die Geduld mit ihr. ›Weil er tot ist‹, sagte sie, genau so ruhig und unbeteiligt wie zuvor – und fältelte weiter ihre Schürze. ›Tot?‹ fragte ich, wie man eben fragt, wenn man das, was man gehört hat, nicht fassen kann. Sie nickte nur mit dem Kopf und war überhaupt nicht aufgeregt, sondern schaukelte nur vor und zurück. ›Ja – und wo ist er?‹ fragte ich. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie zeigte nur nach oben – ungefähr so«, er zeigte auf den Raum über uns. »Ich stand auf und wollte hinaufgehen. Aber dann wußte ich nicht mehr – was ich tun sollte. Ich ging ziellos umher, schließlich sagte ich: ›Woran ist er denn gestorben?‹« »›Er starb an einem Seil um den Hals‹, sagte sie und fältelte weiter an ihrer Schürze.« -133-
Hale verstummte, stand da und starrte auf den Schaukelstuhl, als sähe er noch immer die Frau vor sich, die am Morgen zuvor darin gesessen hatte. Niemand sprach; es war, als ob jeder dieses Bild vor Augen hatte. »Und was taten Sie dann?« Der Bezirksanwalt brach schließlich das Schweigen. »Ich ging raus und rief Harry. Ich dachte, ich brauchte vielleicht – Hilfe. Ich holte Harry herein, und wir gingen hinauf.« Seine Stimme wurde beinahe zum Flüstern. »Da war er – lag über dem –« »Es wäre mir recht, wenn Sie das oben näher erläutern würden«, unterbrach der Bezirksanwalt, »wo Sie uns alles zeigen können. Fahren Sie jetzt einfach mit dem Rest der Geschichte fort.« »Tja, mein erster Gedanke war, das Seil abzunehmen. Es sah –« Er hielt inne, sein Gesicht zuckte. »Aber Harry, Harry ging hin zu ihm und sagte: ›Nein, er ist wirklich tot, und wir rühren besser nichts an.‹ Also gingen wir hinunter. Sie saß immer noch genauso da. ›Ist schon irgend jemand benachrichtigt worden?‹ fragte ich. ›Nein‹, sagte sie ungerührt. ›Wer hat das getan, Mrs. Wright?‹ fragte Harry. Er sagte es in geschäftsmäßigem Ton, und sie hörte auf, ihre Schürze zu fälteln. ›Ich weiß es nicht‹, sagte sie. ›Sie wissen es nicht?‹ fragte Harry. ›Haben Sie nicht mit ihm im selben Bett geschlafen?‹ ›Doch‹, sagte sie, ›aber ich lag an der Wandseite.‹ ›Jemand hat ihm ein Seil um den Hals gelegt und ihn erdrosselt, und Sie sind nicht aufgewacht?‹ fragte Harry. ›Ich bin nicht aufgewacht‹, erwiderte sie ihm. -134-
Sie hat uns wahrscheinlich angesehen, daß wir uns nicht vorstellen konnten, wie das gehen konnte, denn nach einer Minute sagte sie: ›Ich schlafe sehr tief.‹ Harry wollte ihr noch mehr Fragen stellen, aber ich sagte, das sei wohl nicht unsere Angelegenheit, vielleicht sollten wir sie ihre Geschichte zuerst dem Coroner oder dem Sheriff erzählen lassen. Also ging Harry, so schnell er konnte, zur High Road hinüber – zum Haus der Rivers, wo es ein Telefon gibt.« »Und was tat sie, als sie sah, daß Sie nach dem Coroner schickten?« Der Bezirksanwalt nahm schreibbereit seinen Bleistift in die Hand. »Sie ging von jenem Stuhl zu diesem hier«, Hale deutete auf einen kleinen Stuhl in der Ecke, »setzte sich, preßte ihre Hände zusammen und sah auf den Boden. Ich hatte so ein Gefühl, als ob ich ein bißchen Konversation mit ihr machen sollte, also sagte ich, daß ich gekommen war, um zu sehen, ob John ein Telefon installieren wollte, und da fing sie an zu lachen. Dann hörte sie auf und sah mich an voller Angst.« Das Geräusch des sich bewegenden Bleistifts ließ den Mann, der die Geschichte erzählte, aufsehen. »Ich weiß nicht – vielleicht war es nicht voller Angst«, meinte er hastig. »Ich möchte nicht behaupten, daß es das war. Harry kam bald zurück, und dann kamen Dr. Lloyd und Sie, Mr. Peters, und ich schätze, das ist alles, was ich Ihnen an Wissen voraushabe.« Letzteres sagte er mit Erleichterung und bewegte sich ein wenig. Jeder rührte sich ein bißchen. Der Bezirksanwalt ging zu der Tür, die zur Treppe führte. »Ich würde sagen, wir gehen zuerst nach oben – dann raus zur Scheune und machen einen Rundgang.« -135-
Er hielt inne und sah sich in der Küche um. »Ihnen ist nichts von Bedeutung aufgefallen?« fragte er den Sheriff. »Nichts was – auf irgendein Motiv deuten würde?« Der Sheriff sah sich um, als ob er auch sich selbst wieder überzeugen müsse. »Hier war nichts außer Küchenutensilien«, sagte er und lächelte ein wenig angesichts der Bedeutungslosigkeit solcher Dinge. Der Bezirksanwalt sah den Schrank an – eine eigenartig unansehnliche Konstruktion, halb Wandschrank und halb Küchenschrank. Der obere Teil war in die Wand hineingebaut, und der untere Teil war eben der traditionelle Küchenschrank. Als ob ihn diese Eigenartigkeit anzog, nahm er den Stuhl, öffnete den oberen Teil und sah hinein. Einen Augenblick später zog er seine Hand – klebrig – zurück. »Das hier ist ja eine schöne Bescherung«, sagte er ärgerlich. Die zwei Frauen waren nähergekommen, und nun sprach die Frau des Sheriffs. »Oh, ihr Obst.« Sie sah Mrs. Hale um Mitgefühl und Verständnis bittend an. Mrs. Peters drehte sich zum Anwalt um und erklärte: »Genau das hatte sie befürchtet, als es letzte Nacht so kalt wurde. Sie sagte, das Feuer würde ausgehen und ihre Gläser platzen.« Mrs. Peters Mann brach in Lachen aus. »Da soll jemand die Frauen verstehen! Wegen Mord in Haft und sorgt sich um ihr Eingemachtes!« Der junge Bezirksanwalt verzog den Mund. »Ich vermute, bis wir fertig sind, wird sie sich vielleicht über etwas ernstere Dinge Sorgen machen müssen.« -136-
»Tja«, meinte Mrs. Hales Mann mit gutmütiger Überheblichkeit, »Frauen sind daran gewöhnt, sich um Kleinigkeiten zu sorgen.« Die zwei Frauen rückten etwas näher zusammen. Keine von beiden sprach. Auf einmal schien der Anwalt sich an seine Kinderstube zu erinnern – und vielleicht auch an seine Zukunft zu denken. »Und dennoch«, meinte er mit der Höflichkeit eines jungen Politikers, »trotz alledem, was würden wir ohne die Damen machen?« Die Frauen sprachen nicht, zeigten keine Reaktion. Der Bezirksanwalt ging zur Spüle und wusch sich die Hände. Er kam zurück, um sich an dem Rollhandtuch die Hände zu trocknen – drehte es, um eine saubere Stelle zu finden. »Schmutzige Handtücher! Keine besonders gute Hausfrau, was meinen Sie, meine Damen?« Er trat mit dem Fuß gegen einige schmutzige Töpfe unter der Spüle. »Auf einer Farm gibt es eine Unmenge Arbeit«, meinte Mrs. Hale steif. »Mit Sicherheit. Und trotzdem« – er beugte sich in ihre Richtung – »weiß ich, daß es in Dickson County Farmhäuser gibt, die nicht solche Rollhandtücher haben.« »Diese Handtücher werden furchtbar schnell schmutzig. Männerhände sind auch nicht immer so sauber, wie sie sein könnten.« »Ah, Sie sind sehr loyal, wie ich sehe«, lachte er. Er blieb stehen und warf ihr einen scharfen Blick zu. »Sie und Mrs. Wright waren Nachbarn. Ich nehme an, Sie waren auch Freundinnen.« Martha Hale schüttelte den Kopf. »Ich habe sie in den letzten Jahren selten genug gesehen. -137-
Ich bin nicht mehr in diesem Haus gewesen seit – das ist jetzt über ein Jahr her.« »Und woher kommt das? Mochten Sie sie nicht?« »Ich mochte sie schon«, erwiderte sie mit Inbrunst. »Farmerfrauen haben alle Hände voll zu tun, Mr. Henderson. Und dann –« sie schaute sich in der Küche um. »Ja?« ermutigte er. »Dies schien nie ein besonders fröhliches Haus zu sein«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. »Nein«, stimmte er zu, »Ich denke nicht, daß irgend jemand es fröhlich nennen würde. Ich würde nicht gerade sagen, daß sie ein besonderes Gefühl für eine heimelige Atmosphäre hatte.« »Nun, ich glaube, das gilt ebenso für Mr. Wright«, murmelte sie. »Meinen Sie, Sie kamen nicht gut miteinander aus?« Er war sehr schnell mit dieser Frage. »Nein, ich meine gar nichts«, antwortete sie entschieden. Sie drehte sich etwas von ihm weg und fügte hinzu: »Aber ich denke nicht, daß irgendein Ort durch die Anwesenheit von John Wright heiterer geworden wäre.« »Darüber würde ich später gerne mit Ihnen sprechen, Mrs. Hale«, sagte der Anwalt. »Jetzt möchte ich zuerst die Sachlage inspizieren.« Er ging zur Treppenhaustür, gefolgt von den beiden Männern. »Ich nehme an, daß es in Ordnung geht, was Mrs. Peters macht«, sagte der Sheriff. »Sie sollte ein paar Kleider für Mrs. Wright einpacken, wissen Sie – und noch ein paar Kleinigkeiten. Wir sind gestern so hastig aufgebrochen.« Der Anwalt sah die beiden Frauen an, die sie inmitten der Küchenutensilien zurückließen. -138-
»Natürlich – Mrs. Peters«, sagte er und sein Blick ruhte auf der Frau, die nicht Mrs. Peters war, der großen Farmerfrau, die hinter der Frau des Sheriffs stand. »Natürlich ist Mrs. Peters eine von uns«, sagte er und drückte gleichzeitig Vertrauen und Verantwortung aus. »Halten Sie Ihre Augen nach allem offen, was nützlich sein könnte, Mrs. Peters. Man weiß nie: Ihr Frauen könntet einen Hinweis auf das Motiv finden – und genau das brauchen wir.« Mr. Hale rieb sich das Gesicht wie ein Showmaster, der gleich zu einem Scherz anhebt. »Aber würden die Frauen denn einen Hinweis erkennen, wenn ihnen einer über den Weg liefe?« fragte er, und nachdem er das von sich gegeben hatte, folgte er den anderen zur Treppenhaustür. Die Frauen standen reglos und still. Sie hörten auf die Schritte – erst auf den Stufen, dann im Raum über ihnen. Dann – als ob sie sich von etwas Seltsamem befreite fing Mrs. Hale an, die schmutzigen Töpfe unter der Spüle, die der verächtliche Fußtritt des Anwalts durcheinandergebracht hatte, wieder ineinander zu stellen. »Ich hasse es, wenn Männer so in die Küche kommen«, meinte sie, »herumschnüffelnd und meckernd.« »Sie tun nur ihre Pflicht«, sagte die Frau des Sheriffs in schüchterner Ergebenheit. »Pflicht, na gut«, erwiderte Mrs. Hale rauh, aber herzlich. »Bloß schätze ich, der Deputy, der hier heraus kam, um das Feuer zu machen, ist hieran nicht ganz unschuldig.« Sie zog an dem Rollhandtuch: »Ich wollte, ich hätte früher daran gedacht! Es ist gemein, ihr vorzuwerfen, sie hätte das Haus nicht picobello sauber gehalten, wo sie doch in solcher Eile weggehen mußte.« -139-
Sie sah sich in der Küche um. »Picobello war es hier gewißlich nicht.« Ihre Augen fielen auf eine Zuckerdose auf einem niedrigen Regal. Der Deckel lag neben der hölzernen Dose und ebenso eine Papiertüte – halb voll. Mrs. Hale ging darauf zu. »Sie war dabei, das hier hineinzuschütten«, sagte sie sich langsam. Sie dachte an das halb gesiebte Mehl bei sich daheim in der Küche. Sie war unterbrochen worden und hatte die Dinge halb erledigt zurückgelassen. Was hatte Minnie Foster unterbrochen? Warum hatte sie ihre Arbeit halb erledigt zurückgelassen? Mrs. Hale machte eine Bewegung, als ob sie sie beenden wollte – unerledigte Dinge störten sie immer – doch dann schaute sie hinter sich und sah, daß Mrs. Peters sie beobachtete – und sie wollte nicht, daß Mrs. Peters darauf aufmerksam würde und sich plötzlich dieselben Fragen wie sie stellen würde. »Das mit ihrem Obst ist eine Schande«, sagte sie und ging zu dem Schrank, den der Bezirksanwalt geöffnet hatte, nahm sich den Stuhl und murmelte: »Ich frage mich, ob alles hinüber ist.« Der Anblick war traurig genug. »Hier ist ein Glas, das noch in Ordnung ist«, sagte sie zu guter Letzt. Sie hielt es gegen das Licht. »Das sind sogar Kirschen.« Sie besah sich das Glas noch mal. »Meiner Meinung nach ist dies das einzige.« Mit einem Seufzer stieg sie vom Stuhl herunter, ging zur Spüle und wischte das Glas ab. »Das wird sie sicher traurig stimmen, nach all der harten Arbeit in der Hitze. Ich erinnere mich an den Nachmittag im letzten Sommer, an dem ich meine Kirschen eingemacht habe.« -140-
Sie stellte das Glas auf den Tisch und wollte sich mit einem weiteren Seufzer auf den Schaukelstuhl setzen. Aber sie tat es nicht. Etwas hielt sie davon ab, sich auf diesen Stuhl zu setzen. Sie richtete sich auf – trat einen Schritt zurück und stand halb abgewendet da. Sie sah den Stuhl an, sah die Frau, wie sie darauf saß und ihre Schürze fältelte. Die dünne Stimme der Frau des Sheriffs unterbrach sie: »Ich muß jetzt ihre Sachen aus dem Schrank im vorderen Zimmer holen.« Sie öffnete die Tür zu dem anderen Raum, wollte hineingehen, trat zurück. »Kommen Sie mit, Mrs. Hale?« fragte sie nervös. »Sie – Sie könnten mir helfen, die Sachen zusammenzusuchen.« Sie waren bald zurück – die eisige Kälte des verschlossenen Zimmers lud nicht zum Verweilen ein. »O je«, sagte Mrs. Peters, warf die Sachen auf den Tisch und eilte zum Herd. Mrs. Hale untersuchte die Kleider, nach der die Frau, die in der Stadt gefangen gehalten wurde, verlangt hatte. »Wright war geizig«, rief sie aus und hielt einen schäbigen schwarzen Rock hoch, der augenscheinlich häufig geflickt worden war. »Ich denke, daran lag es vielleicht, warum sie so viel für sich blieb. Ich nehme an, sie dachte, sie hätte nicht das Richtige anzuziehen. Und man genießt die Dinge nicht, wenn man sich schäbig fühlt. Früher trug sie schöne Kleider und war lebhaft – als sie noch Minnie Foster war, ein Mädchen aus der Stadt, das im Chor sang. Aber das – ach, das war vor zwanzig Jahren.« Mit einer Sorgfältigkeit, in der etwas Zärtliches lag, faltete sie die schäbigen Kleider und häufte sie in einer Ecke auf dem Tisch. Sie sah zu Mrs. Peters auf, und es lag etwas in dem Blick der anderen Frau, das sie ärgerte. -141-
›Der ist es egal‹, sagte sie zu sich. ›Das macht ihr nicht viel, ob Minnie Foster schöne Kleider trug, als sie noch ein Mädchen war.‹ Dann sah sie erneut hinüber und war sich nicht mehr so sicher; tatsächlich war sie sich über Mrs. Peters zu keiner Zeit wirklich sicher gewesen. Sie hatte so eine scheue Art, und doch sahen ihre Augen aus, als ob sie tief in die Dinge hineinsehen könnten. »Ist das alles, was Sie einpacken wollen?« fragte Mrs. Hale. »Nein«, sagte die Frau des Sheriffs. »Sie sagte, sie wolle eine Schürze. Komisch der Wunsch«, wagte sie in ihrer leicht nervösen Art zu sagen. »Es gibt weiß Gott nicht viel, woran man sich im Gefängnis schmutzig machen kann. Aber ich nehme an, sie fühlt sich damit wohler in ihrer Haut. Wenn man daran gewöhnt ist, eine Schürze zu tragen… Sie sagte, die Schürzen seien in der untersten Schublade in diesem Schrank. Ja – da sind sie. Und dann noch ihr Schal, den sie immer an der Treppenhaustür aufhängte.« Sie nahm den kurzen grauen Schal, der hinten an der Tür hing, die zu der Treppe führte. Plötzlich machte Mrs. Hale einen schnellen Schritt auf die andere Frau zu. »Mrs. Peters!« »Ja, Mrs. Hale?« »Glauben Sie, daß – sie es getan hat?« Angst lag in Mrs. Peters Blick. »Oh, ich weiß nicht«, sagte sie mit einer Stimme, die vor diesem Thema wegzuschrecken schien. »Also, ich denke nicht, daß sie es getan hat«, bekräftigte Mrs. Hale beherzt. »Sonst würde sie wohl kaum nach ihrer -142-
Schürze und ihrem kurzen Schal fragen und sich um ihr Obst zu sorgen.« »Mr. Peters sagt…«, im Zimmer über ihnen waren Schritte zu hören. Sie hielt inne, sah nach oben und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Mr. Peters sagt – es sieht schlecht aus für sie. Mr. Henderson hat eine ausgesprochen sarkastische Art, und er wird sich einen Spaß daraus machen, daß sie sagt, sie sei nicht – aufgewacht.« Einen Augenblick lang fand Mrs. Hale keine Worte. Dann murmelte sie: »Tja, ich schätze, John Wright ist nicht aufgewacht, als ihm das Seil um den Hals gelegt wurde.« »Ach, es ist schon merkwürdig«, Mrs. Peters atmete hörbar. »Sie sagen, daß vor allem die Art, den Mann zu töten, so seltsam ist.« »Genau das hat auch Mr. Hale gesagt«, sagte Mrs. Hale mit natürlicher, resoluter Stimme. »Es gab ein Gewehr im Haus. Er sagt, das sei’s, was er nicht verstehen kann.« »Als er herauskam, sagte Mr. Henderson, was der Fall brauchte, sei ein Motiv. Etwas, das Wut zeigte – oder ein plötzliches Gefühl.« »Tja, ich sehe hier keine Anzeichen von Wut«, sagte Mrs. Hale. »Ich…« Sie hielt inne. Es war, als ob ihr Inneres über etwas stolperte. Ihr Blick fiel auf ein Geschirrspültuch in der Mitte des Küchentisches. Langsam ging sie auf den Tisch zu. Eine Hälfte war saubergewischt, die andere noch schmutzig. Ihre Augen wanderten langsam – fast unwillig – herum zu der Zuckerdose und der halbleeren Tüte daneben. Angefangene Dinge – nicht beendet. Wenig später kam sie wieder zurück und sagte in ihrer befreienden Art: »Ich frage mich, wie es oben ausschaut? Ich hoffe, sie hat oben etwas besser aufgeräumt. Wissen Sie…« -143-
Mrs. Hale machte eine Pause und sammelte sich. »Mir kommt es wie Schnüffeln vor: Mrs. Wright in der Stadt einzusperren und hier herauszukommen, um ihr eigenes Haus gegen sie zu wenden!« »Aber Mrs. Hale«, sagte die Frau des Sheriffs, »Gesetz ist Gesetz.« »Ich nehme an, daß es das ist«, antwortete Mrs. Hale kurz. Sie drehte sich zum Herd um und hantierte eine Minute lang daran herum. Dann richtete sie sich auf und sagte aggressiv: »Gesetz ist Gesetz – und ein schlechter Herd ist ein schlechter Herd. Wie würde es Ihnen gefallen, auf so etwas zu kochen?« Mit dem Schürhaken zeigte sie auf die beschädigte Oberfläche. Sie öffnete die Ofentür und wollte ihrer Meinung über diesen Ofen Ausdruck geben; aber ihre Gedanken schweiften ab, sie dachte darüber nach, was es bedeutete, Jahr für Jahr mit diesem Herd kämpfen zu müssen. Der Gedanke daran, wie Minnie Foster versuchte, in diesem Ofen zu backen – und der Gedanke daran, daß sie nie herübergekommen war, um Minnie Foster zu besuchen… Sie schreckte auf, als Mrs. Peters sagte: »Wenn man einen Menschen ständig entmutigt, nimmt man ihm jeden Biß.« Die Frau des Sheriffs sah vom Herd zu dem Eimer mit Wasser, der von draußen hereingebracht worden war. Die beiden Frauen standen stumm da, über ihnen die Schritte der Männer, die nach einem Beweis gegen die Frau suchten, die in dieser Küche gearbeitet hatte. Dieser Blick, der in die Dinge hineinsieht, und der durch die Dinge hindurch etwas anderes sieht, lag jetzt in den Augen der Frau des Sheriffs. Als Mrs. Hale wieder mit ihr sprach, nahm sie einen sanften Tonfall an: -144-
»Wollen Sie nicht lieber ablegen, Mrs. Peters. Sonst spüren Sie die Kälte um so mehr, wenn Sie rausgehen.« Mrs. Peters ging in den hinteren Teil des Raumes, um den Pelzkragen, den sie trug, aufzuhängen. Einen Augenblick später rief sie aus: »Sie arbeitete an einem Quilt«, und hielt einen großen Nähkorb hoch, in dem Quilt-Stücke aufgetürmt waren. Mrs. Hale verteilte einige der Vierecke auf dem Tisch. »Es ist das Blockhüttenmuster«, meinte sie und legte ein paar Vierecke zusammen. »Schön, nicht?« Sie waren so mit dem Quilt beschäftigt, daß sie die Schritte auf der Treppe nicht hörten. Gerade als die Tür zum Treppenhaus aufging, sagte Mrs. Hale: »Meinen Sie, sie wollte sie steppen oder verknoten?« Der Sheriff warf die Hände in die Luft. »Sie diskutieren, ob sie sie aufsteppen, ein- oder zusammennähen wollte!« Es wurde lauthals über das Wesen der Frauen gelacht, man wärmte sich die Hände über dem Herd, und dann sagte der Bezirksanwalt energisch: »Also, lassen Sie uns jetzt zur Scheune hinausgehen und die Sachlage dort klären.« »Ich weiß nicht, was daran so komisch sein soll«, sagte Mrs. Hale ärgerlich, nachdem sich die äußere Tür hinter den drei Männern geschlossen hatte – »daß wir uns über ein paar nette Kleinigkeiten unterhalten, während wir darauf warteten, daß sie die Beweise anbringen. Ich finde nicht, daß das etwas ist, worüber man lachen sollte.« »Sie haben natürlich wichtigere Dinge im Kopf«, sagte die Frau des Sheriffs entschuldigend. Sie wandten sich wieder der Untersuchung der Vierecke für den Quilt zu. Mrs. Hale sah sich die feine, gleichmäßi-145-
ge Näharbeit an und dachte gerade über die Frau nach, die an ihr gesessen hatte, als sie die Frau des Sheriffs mit seltsamer Stimme sagen hörte: »Schauen Sie sich das mal an.« Sie drehte sich und nahm das Stoffviereck in die Hand, das ihr entgegengehalten wurde. »Die Nähte«, sagte Mrs. Peters besorgt. »All die anderen sind so nett und gleichmäßig – aber – dieses hier. Es sieht aus, als ob sie nicht gewußt hätte, was sie tat!« Ihre Blicke trafen sich – irgend etwas flammte zwischen ihnen auf, so etwas wie ein geheimes Einverständnis, das sie aber dann doch wieder nicht recht zulassen wollten. Einen Augenblick saß Mrs. Hale da und hatte die Hände über dieser Näharbeit gefaltet, die dem Rest so unähnlich war. Dann löste sie den Knoten und zog die Fäden. »Oh, was tun Sie da, Mrs. Hale?« fragte die Frau des Sheriffs. »Ich trenne nur ein oder zwei Stiche auf, die nicht sehr ordentlich genäht wurden«, antwortete Mrs. Hale milde. »Ich glaube nicht, daß wir die Sachen anrühren sollten«, meinte Mrs. Peters etwas hilflos. »Ich mache nur diese Ecke fertig«, erwiderte Mrs. Hale, immer noch milde und sachlich. Sie fädelte einen Faden ein und begann, die schlechte Naht durch eine gute zu ersetzen. Eine Weile nähte sie in aller Stille. Dann hörte sie diese dünne, schüchterne Stimme sagen: »Mrs. Hale!« »Ja, Mrs. Peters?« »Was glauben Sie, warum sie so – nervös war?« »Oh, ich weiß nicht«, sagte Mrs. Hale, als wäre ihr die Sache keiner längeren Erörterung wert. »Ich weiß nicht, -146-
ob sie – nervös war. Ich fabriziere manchmal fürchterliche Nähte, nur weil ich müde bin.« Sie riß den Faden ab und sah aus dem Augenwinkel zu Mrs. Peters hoch. Das kleine, schmale Gesicht der Frau des Sheriffs schien sich zusammengezogen zu haben. Ihre Augen hatten diesen etwas starren, nachdenklichen Ausdruck. Aber im nächsten Moment bewegte sie sich und sagte auf ihre unentschlossene Art: »Nun, ich muß jetzt die Kleider einpacken. Sie sind vielleicht früher fertig, als wir denken. Ich frage mich, wo ich Papier finden kann – und eine Schnur.« »Vielleicht in dem Schrank dort«, schlug Mrs. Hale vor, nachdem sie sich umgeblickt hatte. Ein Stück dieser verrückten Näharbeit war noch unaufgetrennt. Mrs. Peters hatte ihr den Rücken zugekehrt. Martha Hale betrachtete forschend dieses Stück und verglich es mit den zierlichen, akkuraten Nähten der anderen Vierecke. Der Unterschied war erstaunlich. Dieses Viereck in der Hand zu halten war eigenartig, als ob sich ihr die aufgewühlten Gedanken der Frau mitteilen wollten, die möglicherweise zu ihrer Näharbeit zurückgekehrt war in dem Versuch, sich damit zu beruhigen. Die Stimme von Mrs. Peters schreckte sie auf. »Hier ist ein Vogelkäfig«, sagte sie. »Hatte sie denn einen Vogel, Mrs. Hale?« »Ich weiß nicht, ob sie einen hatte oder nicht.« Mrs. Hale drehte sich um und sah den Käfig an, den Mrs. Peters hochhielt. »Ich bin ewig nicht hier gewesen.« Sie seufzte. »Letztes Jahr war ein Mann da, der billig Kanarienvögel verkaufte – aber ich weiß nicht, ob sie einen genommen hat. Vielleicht tat sie es. Sie hat selbst einmal wunderschön gesungen.« -147-
»Scheint irgendwie komisch, sich hier einen Vogel vorzustellen«, sagte Mrs. Peters fast lachend – in dem Versuch, eine gewisse Distanz herzustellen. »Aber sie muß einen gehabt haben – warum hätte sie sonst einen Käfig? Ich frage mich, was aus ihm geworden ist.« »Vielleicht hat ihn sich die Katze geholt«, mutmaßte Mrs. Hale und nahm sich wieder die Näharbeit vor. »Nein, sie hatte keine Katze. Sie hat dieses Gefühl, das manche Menschen Katzen gegenüber hegen – sie hat Angst vor ihnen. Als man sie gestern in unser Haus brachte, kam meine Katze ins Zimmer, und sie regte sich ernstlich auf und bat mich, sie hinauszubringen.« »Meine Schwester Bessie war genauso«, lachte Mrs. Hale. Die Frau des Sheriffs antwortete nicht. Die Stille veranlaßte Mrs. Hale, sich umzudrehen. Mrs. Peters untersuchte den Vogelkäfig. »Sehen Sie sich diese Tür an«, sagte sie langsam. »Sie ist zerbrochen. Eine Angel ist herausgerissen worden.« Mrs. Hale kam näher. »Sieht so aus, als ob jemand – grob damit umgegangen wäre.« Wieder trafen sich ihre Blicke – erschreckt, fragend, ängstlich. Einen Moment lang sprach und rührte sich keine von beiden. Dann drehte sich Mrs. Hale um und sagte brüsk: »Ich wünsche, sie würden sich mit ihrer Beweissuche beeilen. Ich mag diesen Ort nicht.« »Ich bin furchtbar froh, daß Sie mich begleitet haben, Mrs. Hale.« Mrs. Peters stellte den Vogelkäfig auf den Tisch und setzte sich. »Es wäre einsam für mich gewesen hier allein zu sitzen.« -148-
»Ja, das wäre es wohl gewesen«, stimmte Mrs. Hale zu mit betont natürlicher Stimme. Sie hatte die Näharbeit wieder aufgenommen, ließ sie jetzt aber in ihren Schoß fallen und murmelte in verändertem Tonfall: »Ich sage Ihnen, was ich mir wirklich wünschte, Mrs. Peters. Ich wünschte, ich wäre öfter herübergekommen, als sie noch hier war. Ich wünschte – ich hätte das getan.« »Sie hatten doch aber immer so viel zu tun, Mrs. Hale. Ihr Haus – und Ihre Kinder.« »Ich hätte es einrichten können«, erwiderte Mrs. Hale kurz angebunden. »Ich bin weggeblieben, weil es kein fröhlicher Ort war – und das ist der Grund, warum ich hätte kommen sollen. Ich –«, sie sah sich um –, »ich habe diesen Ort nie gemocht. Vielleicht weil er in einer Senke liegt und man die Straße nicht sieht. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es ist ein einsamer Ort, schon immer gewesen. Ich wünschte, ich wäre einmal herübergekommen und hätte Minnie Foster besucht. Jetzt sehe ich…« Sie sprach es nicht aus. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen«, riet Mrs. Peters. »Uns entgeht häufig, wie es um andere Menschen steht – bis etwas passiert.« »Keine Kinder zu haben bedeutet weniger Arbeit«, grübelte Mrs. Hale nach einer Weile, »aber es läßt das Haus still sein – und da Wright den ganzen Tag draußen bei der Arbeit war und auch keine Gesellschaft darstellte, wenn er heimkam… Kannten Sie John Wright, Mrs. Peters?« »Nicht richtig. Ich habe ihn manchmal in der Stadt gesehen. Es heißt, er war ein guter Mann.« »Ja – gut«, räumte die Nachbarin von John Wright grimmig ein. »Er trank nicht und hielt sein Wort so gut wie die meisten, nehme ich an, und er zahlte seine Schul-149-
den. Aber er war ein harter Mann, Mrs. Peters. Auch nur einen Tag mit ihm zu verbringen…« Sie hielt inne und schauderte leicht. »Wie ein rauher Wind, der bis auf die Knochen geht.« Ihr Blick fiel auf den Käfig vor ihr auf dem Tisch, und sie fügte fast bitter hinzu: »Ich kann mir schon denken, daß sie einen Vogel haben wollte.« Plötzlich lehnte sie sich vor und sah den Käfig forschend an. »Was glauben Sie, was mit ihm passiert ist?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Mrs. Peters, »außer daß er vielleicht krank geworden und gestorben ist.« Aber nachdem sie das gesagt hatte, langte sie hinüber und bewegte die gebrochene Tür. Beide Frauen starrten sie gebannt an. »Sie kannten – sie nicht?« fragte Mrs. Hale mit einer sanfteren Note in ihrer Stimme. »Nicht, bis sie sie gestern brachten«, sagte die Frau des Sheriffs. »Jetzt, wo wir davon reden: Sie war früher selbst einmal wie ein Vogel. Wirklich süß und schön, aber etwas schüchtern und – unruhig. Wie sie sich verändert hat.« Mrs. Hale hing diesem Gedanken eine Weile nach. Schließlich, als ob sie ein glücklicher Gedanke gestreift hätte, und erleichtert, zu alltäglichen Dingen zurückkehren zu können, rief sie aus: »Soll ich Ihnen was sagen, Mrs. Peters. Warum nehmen Sie den Quilt nicht mit? Vielleicht lenkt er sie ab.« »Das ist wirklich eine reizende Idee, Mrs. Hale«, stimmte die Frau des Sheriffs zu, als ob auch sie glücklich wäre, in solch eine Atmosphäre einfacher Freundlichkeit einzutauchen. »Da kann wirklich niemand etwas dagegen haben, oder? Was nehm’ ich denn mit? Ich frage mich, ob ihre Flicken hier drin sind – und ihre Nähsachen.« -150-
Sie wandten sich dem Nähkorb zu. »Hier ist etwas Rot«, sagte Mrs. Hale und nahm eine Stoffrolle heraus. Darunter lag eine Schachtel. »Hier, vielleicht ist ihre Schere hier drin – und ihre anderen Sachen.« Sie hielt sie hoch. »Was für eine schöne Schachtel! Die besitzt sie garantiert schon seit ihrer Jugendzeit.« Sie hielt die Schachtel einen Augenblick in der Hand, schließlich öffnete sie sie mit einem Seufzer. Sofort faßte sie sich mit der Hand an die Nase. »Was –!« Mrs. Peters kam näher – dann wandte sie sich ab. »In dieses Stück Seide ist etwas eingewickelt.« Mrs. Hale zögerte. Sie hob mit zitternder Hand das Stück Seide an. »Oh, Mrs. Peters!« rief sie. »Es ist –« Mrs. Peters beugte sich näher. »Es ist der Vogel«, flüsterte sie. »Mrs. Peters!« rief Mrs. Hale. »Sehen Sie sich das an! Sein Hals – sehen Sie sich seinen Hals an. Er ist – völlig verdreht.« Die Frau des Sheriffs beugte sich wieder näher herab. »Jemand hat ihm den Hals umgedreht«, sagte sie mit einer Stimme, die leise und tief war. Und wieder trafen sich die Blicke der Frauen – diesmal in erwachender Erkenntnis, in wachsendem Schrecken. Mrs. Peters sah von dem toten Vogel zu der zerbrochenen Tür des Käfigs. Noch einmal trafen sich ihre Blicke. In diesem Augenblick hörten sie ein Geräusch von der Außentür. Mrs. Hale ließ die Schachtel unter die Quilt-Teile im Korb gleiten und sank auf den Stuhl vor ihr. Mrs. Peters blieb stehen und hielt sich am Tisch fest. Der Bezirksanwalt und der Sheriff kamen herein. -151-
»Nun, meine Damen«, sagte der Bezirksanwalt wie einer, der von ernsten Dingen zu kleinen Vergnüglichkeiten zurückkehrte, »haben Sie sich entschieden, ob sie den Quilt steppen oder verknoten wollte?« »Wir denken«, begann die Frau des Sheriffs mit beunruhigter Stimme, »daß sie ihn – verknoten wollte.« Er war zu beschäftigt, um die Veränderung zu bemerken, die sich am Schluß in ihre Stimme geschlichen hatte. »Nun, das ist ganz sicher sehr interessant«, sagte er nachsichtig. Sein Blick fiel auf den Käfig. »Ist der Vogel entflogen?« »Wir glauben, daß die Katze ihn geholt hat«, sagte Mrs. Hale seltsam eintönig. Er ging auf und ab, als ob er über etwas nachdachte. »Gibt es hier eine Katze?« fragte er abwesend. Mrs. Hale sah zur Frau des Sheriffs auf. »Im Moment nicht«, sagte Mrs. Peters. »Sie sind abergläubisch, wissen Sie, sie laufen fort.« Der Bezirksanwalt schenkte ihr keine Beachtung. »Es gibt kein Anzeichen dafür, daß jemand von draußen eingedrungen ist«, sagte er zu Peters, so als ob sie ein unterbrochenes Gespräch fortführten. »Das Seil stammte von hier. Lassen Sie uns noch mal nach oben gehen und alles durchsehen, Stück für Stück. Es muß jemand gewesen sein, der einfach wußte, daß…« Die Tür zum Treppenhaus schloß sich hinter ihnen, und ihre Stimmen verklangen. Die beiden Frauen saßen bewegungslos da. Sie sahen sich nicht an, sondern starrten ins Leere. Als sie nun sprachen, war es, als ob sie vor dem, was sie sagten, Angst hätten. Aber sie mußten es einfach aussprechen. -152-
»Sie hatte den Vogel gern«, sagte Martha Hale, leise und langsam. »Sie wollte ihn in dieser schönen Schachtel beerdigen.« »Als ich ein Mädchen war«, sagte Mrs. Peters im Flüsterton, »da hatte ich ein Kätzchen – da war ein Junge mit einem Beil, und vor meinen Augen – bevor ich etwas tun konnte…« Sie bedeckte einen Augenblick ihr Gesicht. »Wenn sie mich nicht zurückgehalten hätten, dann hätte ich –«, sie fing sich wieder, sah nach oben, wo man Schritte hörte, und schloß mit schwacher Stimme – »ihm etwas angetan.« Dann saßen sie da, ohne zu sprechen, oder sich zu bewegen. »Ich frage mich, wie es ist«, fing Mrs. Hale schließlich an, als ob sie sich einen Weg durch fremdes Gelände bahnte – »niemals Kinder um sich zu haben.« Ihre Augen wanderten langsam durch die Küche, als ob sie sehen wollte, was diese Küche all die Jahre über bedeutet hatte. »Nein, Wright hat diesen Vogel sicher nicht gemocht«, sagte sie im Anschluß, »etwas, das singt. Sie hat früher gesungen. Das hat er auch getötet.« Ihre Stimme verkrampfte sich. Mrs. Peters schien sich unbehaglich zu fühlen. »Natürlich wissen wir nicht, wer den Vogel getötet hat.« »Ich kannte John Wright«, lautete Mrs. Hales Antwort. »Wir dürfen nicht vergessen, daß vorletzte Nacht in diesem Haus Schreckliches passiert ist«, sagte die Frau des Sheriffs. »Einen Mann im Schlaf umzubringen – etwas um seinen Hals zu legen und das Leben aus ihm herauszudrosseln.« Mrs. Hale berührte mit der Hand den Vogelkäfig. »Sein Hals. Er hat das Leben aus ihm herausgedrosselt.« -153-
»Wir wissen nicht, wer ihn getötet hat«, flüsterte Mrs. Peters heftig. »Wir wissen es nicht.« Mrs. Hale hatte sich nicht bewegt. »Wenn es Jahr um Jahr nur – nichts gegeben hat und dann ein Vogel für Sie sang, dann war es sicher furchtbar – still, nachdem der Vogel verstummt war.« Es war, als ob etwas in ihr gesprochen hätte und nicht sie selbst, und es ließ in Mrs. Peters etwas anklingen, von dem sie nicht wußte, daß es in ihr war. »Ich weiß, was Stille ist«, sagte sie mit einer seltsam monotonen Stimme. »Als wir in Dakota wohnten und mein erstes Baby starb – nachdem es zwei Jahre alt war – und ich kein anderes Kind hatte, da –« Mrs. Hale rührte sich. »Was glauben Sie, wie schnell sie mit der Beweissuche fertig sind?« »Ich weiß, was Stille ist«, wiederholte Mrs. Peters, auf genau die gleiche Weise. Dann machte auch sie einen Rückzieher. »Das Gesetz muß Verbrechen bestrafen, Mrs. Hale«, sagte sie auf die ihr eigene leicht gepreßte Art. »Ich wollte, Sie hätten Minnie Foster gesehen«, war die Antwort, »als sie ein weißes Kleid mit blauen Bändern trug und oben im Chor stand und sang.« Das Bild dieses Mädchens, die Tatsache, daß sie als Nachbarin zwanzig Jahre neben diesem Mädchen gewohnt hatte und es aus Mangel an Leben hatte sterben lassen, war plötzlich mehr als sie ertragen konnte. »Ach, ich wünschte, ich wäre hin und wieder herübergekommen!« schluchzte sie. »Das war ein Verbrechen. Das war ein Verbrechen! Und wer bestraft das?« »Wir dürfen so nicht weitermachen«, sagte Mrs. Peters mit einem furchtsamen Blick auf die Treppe. -154-
»Ich hätte wissen müssen, daß sie Hilfe brauchte! Ich sage Ihnen, es ist wirklich seltsam, Mrs. Peters. Wir leben nahe beisammen und leben doch weit entfernt. Wir machen alle dasselbe durch – nur immer auf eine neue Art! Wenn das nicht so wäre – wie könnten Sie und ich es dann verstehen? Warum wissen wir – was wir in dieser Minute wissen?« Mit einer heftigen Bewegung schlug sich Mrs. Hale die Hand vor die Augen. Dann sah sie das Glas mit den eingeweckten Früchten auf dem Tisch, sie langte danach und würgte hervor: »Wenn ich Sie wäre, würde ich ihr nicht sagen, daß ihre Früchte verdorben sind! Sagen Sie ihr, sie wären es nicht. Sagen Sie ihr, sie seien in Ordnung – alle. Hier – nehmen Sie dies, um es ihr zu beweisen! Sie – sie wird es vielleicht nie erfahren, ob die Gläser zerbrochen waren oder nicht.« Mrs. Peters langte nach dem Glas mit den Früchten, als ob sie froh wäre, es nehmen zu können – als ob sie etwas Vertrautes berührte, als ob es sie von etwas anderem ablenkte. Sie stand auf, sah sich nach etwas um, in das sie das Einmachglas wickeln konnte, nahm einen Unterrock von dem Kleiderhaufen, den sie aus dem Vorderraum gebracht hatte, und fing an, ihn nervös um das runde Glas zu wickeln. »O je!« fing sie mit hoher, falscher Stimme an. »Wie gut, daß uns die Männer nicht hören können! Sich so aufzuregen wegen einer Kleinigkeit wie einem – toten Kanarienvogel.« Sie wickelte hastig. »Als ob das irgend etwas zu tun haben könnte mit – mit – oje, die würden bestimmt lachen.« Man konnte Schritte auf den Stufen hören. »Vielleicht würden sie das«, murmelte Mrs. Hale – »aber vielleicht auch nicht.« -155-
»Nein, Peters«, sagte der Bezirksanwalt entschieden, »es ist alles völlig klar, außer dem Tatmotiv. Aber Sie kennen ja Geschworene, wenn es um Frauen geht. Wenn wir etwas Eindeutiges hätten – etwas zum Vorzeigen. Etwas, aus dem wir eine Geschichte machen können. Eine Sache, die sich in Zusammenhang bringen ließe mit dieser ungeschickten Art, in der es getan wurde.« Mrs. Hale sah Mrs. Peters verstohlen an. Mrs. Peters sah Mrs. Hale an. Schnell sahen beide weg. Die Außentür öffnete sich, und Mr. Hale kam herein. »Ich habe die Jungs rumgeführt«, sagte er. »Ziemlich kalt draußen.« »Ich werde noch etwas allein dableiben«, verkündete plötzlich der Bezirksanwalt. »Sie können doch Frank zu mir herausschicken, oder?« fragte er den Sheriff. »Ich möchte noch einmal alles durchgehen. Ich bin sehr unzufrieden damit, daß wir nicht mehr herausgebracht haben.« Wieder trafen sich für einen kurzen Augenblick die Blicke der beiden Frauen. Der Sheriff trat an den Tisch. »Wollen Sie einen Blick darauf werfen, was Mrs. Peters eingepackt hat?« Der Bezirksanwalt nahm die Schürze hoch. Er lachte. »Ach, ich nehme an, es sind keine gefährlichen Sachen, die die Damen herausgesucht haben.« Mrs. Hales Hand lag auf dem Nähkorb, in dem die Schachtel verborgen war. Sie fühlte, daß sie ihre Hand vom Korb nehmen müsse. Sie schien dessen nicht fähig zu sein. Der Bezirksanwalt nahm eines der Quiltvierecke hoch, mit denen sie die Schachtel zu bedecken versucht hatte. Ihre Augen brannten wie Feuer. Sie hatte das Gefühl, daß sie, wenn er den Korb anfassen würde, ihm den Korb entreißen würde. -156-
Aber er faßte ihn nicht an. Mit einem weiteren kleinen Lachen wandte er sich ab. »Nein, Mrs. Peters bedarf keiner Überprüfung. Schließlich ist die Frau eines Sheriffs mit dem Gesetz verheiratet. Haben Sie je darüber nachgedacht, Mrs. Peters?« Mrs. Peters stand neben dem Tisch. Mrs. Hale sah zu ihr auf; aber sie konnte ihr Gesicht nicht sehen. Mrs. Peters hatte sich abgewandt. Als sie sprach, klang ihre Stimme gedämpft. »Noch nicht so – genau«, sagte sie. »Mit dem Gesetz verheiratet!« gluckste Mrs. Peters Ehemann. Er ging zu der Tür, die zum Vorderraum führte, und sagte zum Bezirksanwalt: »Ich möchte, daß Sie einen Moment hier hereinkommen, George. Wir sollten uns diese Fenster einmal ansehen.« »Oh – Fenster«, spöttelte der Bezirksanwalt. »Wir kommen gleich raus, Mr. Hale«, sagte der Sheriff zu dem Farmer. Hale ging, um nach den Pferden zu sehen. Der Sheriff folgte dem Bezirksanwalt in das andere Zimmer. Wieder – zum letzten Mal – waren die beiden Frauen in der Küche allein. Martha Hale sprang auf, preßte ihre Hände zusammen, sah die andere Frau an, ließ den Blick auf ihr ruhen. Anfänglich konnte sie ihre Augen nicht sehen, denn die Frau des Sheriffs hatte sich nicht umgedreht, seit sie sich bei dem Gedanken, mit dem Gesetz verheiratet zu sein, abgewandt hatte. Jetzt aber brachte sie Mrs. Hale dazu, sich umzudrehen. Ihre Augen brachten sie dazu, sich umzudrehen. Langsam, unwillig drehte Mrs. Peters ihren Kopf, bis ihr Blick den Blick der anderen Frau traf. Für einen Moment waren ihre brennenden Blicke ineinander gefangen, es gab kein Ausweichen oder Zurückschrecken. -157-
Dann richtete Martha Hale ihren Blick auf den Korb, in dem das Ding versteckt war, das mit Sicherheit zur Verurteilung der anderen Frau führen würde – der Frau, die nicht da war und doch die ganze letzte Stunde mit ihnen verbracht hatte. Einen Augenblick lang blieb Mrs. Peters völlig unbewegt. Dann tat sie es. Hastig warf sie die Quilt-Teile zur Seite, nahm die Schachtel und versuchte, sie in ihre Handtasche zu stecken. Die Schachtel war zu groß. Verzweifelt öffnete sie sie und wollte den Vogel herausnehmen. Doch plötzlich war sie zu keiner Handbewegung mehr fähig. Sie brachte es einfach nicht über sich, den Vogel zu berühren. Sie stand völlig hilflos da, töricht. Der Türknauf der inneren Tür wurde umgedreht. Martha Hale riß der Frau des Sheriffs die Schachtel aus der Hand und steckte sie in die Tasche ihres großen Mantels gerade als der Sheriff und der Bezirksanwalt zurückkamen. »Tja, Henry«, sagte der Bezirksanwalt scherzhaft, »zumindest haben wir herausgefunden, daß sie den Quilt nicht steppen wollte. Sie wollte ihn – wie nennen Sie das, meine Damen?« Mrs. Hale preßte ihre Hand gegen die Manteltasche. »Wir nennen es – verknoten, Mr. Henderson.«
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MARY KELLY Leben im Schatten des Todes
Der Frühling von 1950 wurde zum Frühsommer, und sie gerieten allmählich in Verzweiflung. Wer weiß, in welche Gefahren sie sich womöglich begeben hätten, wenn Graham nicht das Cottage gefunden hätte – nicht, daß es wirklich ein Cottage war: Graham hatte, als er es zum ersten Mal beschrieb, das Wort schnell berichtigt und dabei die Hand ausgestreckt, um das heftige Verlangen, das in Rosemarys Gesicht aufgestiegen war, einzudämmen. Das Haus war ein schmaler Kasten aus rosa Backsteinen unter einem rosa Ziegeldach. Es war nie bewohnt gewesen. Die Wände in seinem Inneren waren nicht weiter als bis zum nackten grauen Verputz gediehen. In der Küche befand sich ein Spülstein und ein hölzernes Abtropfbrett, aber aus dem Wasserhahn kam kein Wasser. Im Erdgeschoß waren zwar ein paar Fensterscheiben geborsten, aber die Fenster waren fest geschlossen; in dem verlassenen Haus waren ihre Rahmen durch die Feuchtigkeit so gequollen, daß sich die Eisengriffe bis zur Unbeweglichkeit verklemmt hatten. Beide Türen, die hintere und die vordere, waren jeweils durch zwei schwere Riegel von innen zu verschließen. Graham sagte, es sei ein Wunder, daß keiner sie abgeschraubt und mitgenommen habe, aber Rosemary wunderte das nicht. Die elementare Trostlosigkeit des Hauses versprach keine noch brauchbaren Überreste. Wer hatte es wohl gebaut? Wer hatte sich vorstellen können, hier zu leben, fast eine Meile von der Straße entfernt, von der ein Pfad, den verwilderte Hecken verbargen, hierherführte? Hinter dem Haus lag ein umzäuntes, fast undurchdringliches Stück Waldland, davor das Röhrenfeld. -159-
Rosemary nannte es in Gedanken immer das »Röhrenfeld«. Eines Tages rutschte ihr das Wort heraus, als sie mit Graham sprach. Er lächelte. »Was würdest du denn sagen, wozu es da ist?« fragte sie. »Sie haben bestimmt irgendwas bauen wollen. Eine Fabrik vielleicht.« »Meilenweit von überall entfernt?« »Vom Fluß ist es nicht so weit weg.« Als sie das erste Mal auf das Röhrenfeld gekommen waren, war sie vor panischer Angst beinahe erstarrt, und nur die Tatsache, daß Graham unbeirrt vor ihr herradelte, bewog sie zur Weiterfahrt. Sie starrte so weit wie möglich nach links, zur Hecke hin. Dennoch sah sie am Rande ihres Gesichtsfeldes die offene Fläche zu ihrer Rechten, den gelben Lehm, der aufgeschüttet war wie Lagerhausdächer, die breiten Gräben zwischen den Lehmwällen, gefüllt mit Wasser, auf dem streifiger Schaum trieb, die riesigen steinernen Abflußrohre, die zufällig verstreut in der Gegend herumlagen, einige halb in den Gräben versunken, andere in gefährlicher Neigung das Gleichgewicht auf den Wällen haltend. Und dann wich zu ihrem Entsetzen die Hecke links von ihr zurück, bildete einen Winkel und lag im nächsten Moment hinter ihr. Die Lehmaufschüttungen und wassergefüllten Gräben und die aufgegebenen Rohre befanden sich nun auf beiden Seiten des Weges. Sie fuhr auf einem schmalen Damm durch einen Alptraum, der sich unendlich weit zu erstrecken schien, weil die kahlen Erdaufschüttungen seine Begrenzungslinien verbargen. Ein kläglicher Ton entrang sich ihrer Kehle. Graham wandte den Kopf nach ihr um. Blind, oder vielmehr sich bemühend, blind zu sein, trat sie weiter in die Pedale, bis sie das Hinterrad seines Fahrrads wieder direkt vor sich hatte, seine Füße und Beine. -160-
»Was ist los?« fragte er. »Es gefällt mir hier nicht. Mach schnell! Schnell!« Er half ihr durch seinen Zuspruch über die letzten paar Meter des Weges hinweg, um das Haus herum bis zu einem mit Schotter befestigten Hof, durch die Hintertür, die kein Schloß hatte, nur eine Klinke und die Riegel auf der Innenseite. Von der Küche aus öffnete sich eine Tür auf einen engen Flur, von dem eine Treppe nach oben ging. Auf der anderen Seite des Flurs lag noch ein Zimmer, kleiner als die Küche, mit einem schäbigen Kamin, der von gesprenkelten gelbbraunen Fliesen umgeben war. »Laß uns nach oben gehen«, sagte Graham. »Stell dir vor, es sind Leute oben.« »Wir hätten sie gehört.« »Sie könnten ganz still sein.« »Wer in aller Welt sollte denn da oben sein?« »Landstreicher vielleicht?« Er schüttelte den Kopf. »Zu weit von der Straße weg. Wenn Landstreicher das Haus benutzen würden, wären draußen Spuren zu sehen. Sie machen Kreidezeichen, um anderen Landstreichern zu verstehen zu geben, daß die Unterkunft gut ist. Warte – ich gehe vor dir hinauf.« Rosemary starrte nervös auf die Tür zum Hof, die sie hinter sich verriegelt hatten. Ihre Fahrräder lehnten an der kahlen verputzten Wand. Der Raum war schmutzig, aber nur verstaubt. Es lag weder tierischer noch menschlicher Abfall herum, es gab keine Flecken, kein Gekritzel an den Wänden. »Komm rauf«, rief Graham von oben. »Es ist alles in Ordnung.« Die beiden Zimmer im ersten Stock entsprachen den unteren. Es gab kein Bad, und es war auch keines vorgesehen. -161-
»Gibt es nicht einmal eine Toilette?« fragte sie. »Draußen. Aber sie geht nicht. Brauchst du eine?« »Nein.« Sie wählten das Zimmer, das nach hinten ging, weil man, wenn man im richtigen Winkel aus dem schmutzigen Fenster blickte, den Anblick des Lehms und der Gräben vermeiden und so tun konnte, als sei nur der Wald da. Dennoch war das Zimmer trübselig und wenig einladend, und Rosemary zitterte immer noch innerlich von der Fahrt hierher. Graham hatte seinen Regenmantel auf dem Boden ausgebreitet, aber sie machte keine Bewegung. Er wandte sich ihr zu, mit einem halben Lächeln, das gegen die Anspannung und Erregung in seinem Gesicht ankämpfen mußte. Er legte die Arme um sie. »Wir sind vollkommen sicher«, sagte er. »Es kann unmöglich jemand hereinkommen.« Er küßte sie zuerst besänftigend, aber schon nach wenigen Augenblicken ganz wie sonst, als sei es ihm unmöglich, jemals genug von der Berührung ihrer Lippen zu bekommen. Er zog ihren Baumwollpullover aus dem Rock und schob seine Hand darunter. Worauf sie Raum und Lehm und Gräben vergaß. Die Wandlung ergriff Besitz von ihr, das Mysterium: Eben noch nicht gewahr, etwas Besonderes zu sein oder zu fühlen, dafür aber der Zeit gewahr, der Außenwelt gewahr, gleich darauf war die Welt draußen ein körperloses verschwommenes Etwas, ein leichter Nebel, hörte die Zeit auf zu existieren, war die Realität nur mehr in ihrem Inneren da, in ihrem Fühlen, in ihrem Verschmelzen, in der Wonne, die unerträglich war, die sich lösen mußte. Sie lagen auf seinem Regenmantel, Arme und Beine verschlungen. Ihre Kleidungsstücke waren neben ihnen aufgeschichtet, auf ihrem Regenmantel. -162-
»Könnten wir es nicht einfach versuchen?« sagte sie. »Nur eine Minute lang.« »Nein. Viel zu gefährlich.« Sie sagte: »Es gibt so Dinger, weißt du, die man…« »Ich weiß, aber wo?« »Man bekommt sie in manchen Drogerien.« »Das weiß ich auch. Ich meine, wo würde mich hier in der Gegend keiner erkennen?« »Hat dein Vater keine?« »Mein Vater?« »Ich meine, für seine Praxis. Zum Verteilen, zum Verschreiben.« Graham blickte erstaunt. »Glaub ich nicht. Es ist doch keine Krankheit, oder? Aber ich könnte sowieso an nichts aus der Praxis herankommen, selbst wenn dort welche wären.« »Und wie ist es mit jemandem in der Schule?« Er schwieg. »Wenn man es zu bestimmten Zeiten tut, passiert nichts«, fuhr sie fort. »Die Schwester von Jennifer Garrett versucht schon die ganze Zeit, ein Baby zu bekommen. Man hat ihr gesagt, sie muß es unmittelbar vorher tun, vielleicht kommt also die ungefährliche Zeit danach. Könntest du deinen Vater nicht wenigstens soviel fragen? Einfach aus Interesse. Hat er denn keine Bücher, in denen du nachschauen kannst?« Seine Schule stand an dem einen und ihre an dem anderen Ende der Kingswood Lane, einer breiten Straße, die von großen Platanen beschattet war. Graham und Rosemary pflegten aneinander vorbeizugehen, jeder auf seiner Stra-163-
ßenseite, jeder gewöhnlich mit Freunden unterwegs. Zwischen den Gruppen gingen Blicke hin und her oder auch manchmal eine bewußte Weigerung zu blicken. Rosemary hatte für Jungen immer nur einen höchst flüchtigen Blick übrig gehabt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie angefangen hatte, Graham Wilkinson aufmerksam anzusehen, sein Näherkommen zu beobachten und an den seltenen Tagen, wenn sie nicht an ihm in der Kingswood Lane vorbeiging, Enttäuschung zu verspüren. Sie erfuhr seinen Namen und die Namen seiner Freunde von den Mädchen, mit denen sie ging, und daß er Dr. Wilkinsons ältester Sohn war. Die Wilkinsons waren im Sommer 1948 in die Stadt gezogen. Graham besuchte seit September dieses Jahres die Schule: er mußte also schon viereinhalb Trimester die Kingswood Lane entlanggegangen sein, bevor sie ihn auch nur bemerkte. Das konnte sie nicht verstehen. Eines Nachmittags gingen sie und Graham allein aneinander vorbei. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelten nicht. Am nächsten Tag, als sie mit Jennifer ging, war Graham wieder allein. Rosemary bedauerte, daß ihre Freundin dabei war. Sie gewöhnte sich an, sich Entschuldigungen auszudenken, um ein paar Minuten später als die anderen aufbrechen zu können. Meistens ging sie an Graham vorbei. Sie pflegten langsam zu gehen und einander dabei anzuschauen. Wenn einer von ihnen oder beide es nicht vermeiden konnten, mit Freunden zusammen zu sein, waren ihre Blicke nicht länger, als es sich gehört. Rosemary hatte einmal zufällig mitgehört, wie ein paar Mädchen ihre Gleichgültigkeit Jungen gegenüber als Ziererei und Vornehmtuerei abtaten. Sie spürten, daß sie auf ihr aufgeregtes Getue und ihre kleinen Schachzüge herabsah, aber sie durchschauten nicht, daß es nicht die Sache selbst war, die sie langweilig fand, sondern ihren beschränkten Umfang, die armseligen Belohnungen und Tri-164-
umphe, und vor allem die hoch aufgeschossenen, aufgeblasenen grünen Jungen des Städtchens. Während der Pfingstferien fuhr sie eines Tages mit Jennifer bis nach Clenham. Am Nachmittag bezog sich der Himmel mit Wolken, und als sie sich am Abend trennten, fürchteten sie, es nicht mehr nach Hause zu schaffen, ehe ein Platzregen einsetzte. Rosemary trat auf der ansteigenden Straße, die um die Stadt herumführte, kräftig in die Pedale. Die Landschaft hatte die Farben eines Blutergusses: zartgrüne Blätter und ein gelblicher Grasabhang vor einem tintenfarbenen Himmel. Über den Hügel wand sich ein Weg wie eine rauhe Narbe auf die Straße zu. Sie sah eine Gestalt auf einem Fahrrad den Weg herunterkommen, langsam, weil er so holperig und rissig war, und mit Kiesel und zerbrochenen Kalksteinen bedeckt. Die Routen der beiden Fahrräder liefen aufeinander zu; sie würden sich auf der Straße begegnen. Sie erkannte Graham. Er lächelte, als sie an ihm vorbeifuhr, holte sie ein und fuhr neben ihr her. Er sagte: »Wir werden bis auf die Haut naß werden.« »Ja.« Der Regen setzte ein. Nach einer Minute fragte er: »Mußt du zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein?« »Eigentlich nicht«, log sie. »Wir könnten warten, bis er aufhört, im Steinbruch. Sie sperren die Tore nie zu.« »Wo können wir uns dort unterstellen, in einer Höhle?« »In einer Art Brennofen.« Es handelte sich dabei um ein würfelartiges Gebilde aus Ziegelsteinen, ungefähr drei Meter hoch, das man durch eine Maueröffnung betrat. Im Inneren nahm eine Mittelsäule aus Schamottestein, die zum Dach hinauf- und durch es hindurchführte, fast den ganzen Raum ein. Der Brenn-165-
ofen, wenn es einer war, wurde nicht mehr benutzt; dort, wo eine Tür gewesen sein mußte, war die Säule mit gewöhnlichen Ziegelsteinen zugemauert. Sie schoben ihre Fahrräder in den halbdunklen Raum zwischen dem Brennofen und der Wand. Der Boden war weich von Kalkstaub, der mit einer Schicht hereingewehter, staubig grauer Blätter bedeckt war. Sie standen da, beobachteten den Regen und schauten einander alle paar Augenblicke an. Er sagte: »Du bist naß.« »Du auch.« Sie konnte sich undeutlich erinnern, daß sich ihre Arme berührten, daß sie unzusammenhängend sprachen; wahrscheinlich hätte sie sich an mehr erinnern können, wenn sie sich bemüht hätte. Sie mußten sich vom Eingang wegbewegt haben, denn sie stand an der Ofenwand, als er sie so küßte, daß es ihren Kopf zurückbog. Ohne seinen Mund von dem ihren zu lösen, fing er an, ihren Oberarm zu streicheln, und sie machte eine bestürzende Erfahrung: Sie hatte das Gefühl, daß ihre linke Brust ein unabhängiges Leben zu führen begann, daß sie gewillt war (nicht sie, Rosemary), von seiner Hand berührt zu werden. Sie versuchte, mit dem Körper ein wenig zur Seite auszuweichen, aber er rückte mit ihr von der Stelle. Sie hätte um ein Haar seine Hand ergriffen, als er sie aus eigenem Antrieb, zaghaft, über ihre Brust streichen ließ. Sie hatte gedacht, das würde sie erleichtern, die Spannung lösen. Doch was sie durchdrang, war eine Erregung, die so köstlich war, daß der Gedanke, sie zu beenden oder fortzusetzen, ihr gleichermaßen unerträglich schien. Daran erinnerte sie sich, als sie auf dem staubigen Fußboden des Cottage auf seinem Regenmantel lag: Das war das -166-
Wesen ihrer Beziehung und ihr immer frisch im Gedächtnis, weil ständig erneuert. Natürlich gab es auch andere Aspekte, alltägliche Aspekte, die einer öffentlichen Untersuchung durchaus standgehalten hätten: Stunden, die sie damit verbrachten, einander in erschöpfenden Details von ihren Elternhäusern, Freunden, Schulen, Büchern, die sie gelesen hatten, Filmen, die sie gesehen hatten, zu erzählen. Sie unterhielten sich auf ihren langen Radfahrten zu Stellen, die weit entfernt von der Stadt waren und Abgeschiedenheit versprachen. Sie mußten einen Platz haben, der nur ihnen gehörte. Zuerst dachten sie, sie könnten im Kreidebruch ungestört sein; Teile davon waren schon seit Jahren stillgelegt, und die Klippen und Hohlräume waren von Kletterpflanzen, Wicken und Baldrian überwuchert; aber sie waren enttäuscht über die mangelnde Sicherheit, die er bot, besonders von oben. Der Brennofen ihrer ersten Begegnung war nur für den eingeschränkten Gebrauch, den sie von ihm gemacht hatten, geeignet, und lag in jedem Fall zu nah am Haupteingang. Als sie eines Abends entmutigt Wege entlanggingen, die mit wilden Erdbeeren bedeckt waren, bot sich ihnen, nachdem sie einen Vorsprung aus verwittertem Kalkgestein umrundet hatten, ein Überblick über das entfernteste und älteste Abbaugebiet. Keine hundert Meter vor ihnen stand eine Gruppe von Männern und Frauen, etwa ein Dutzend, alle in mittleren Jahren. Die meisten hatten den Ankömmlingen mehr oder weniger den Rücken zugedreht. Sie betrachteten die Pflanzen, die am Wegrand wuchsen. Graham und Rosemary ergriffen eilends die Flucht. Als sie aus dem Kreidebruch heraus waren, sagte Graham, daß er unter den Männern zwei Freunde seines Vaters erkannt habe. Er glaube, daß es sich bei der Gruppe um den städtischen Naturfreunde-Verein handele, der eine Exkursion mache.
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Grahams Vater war Mitglied in mehreren städtischen Vereinen; seine Mutter ebenfalls, und obwohl sie erst seit zwei Jahren in der Stadt lebte, war sie die Hauptstütze der Vereine, denen sie angehörte. Sie war neununddreißig, rothaarig und flink in ihren Bewegungen. Sie hatte eine Frau namens Mrs. Eade, die ihr bei der Hausarbeit half, jeden Vormittag kam und die Graham, wie alle Wilkinsons, Eady nannte. Das war eine Vertraulichkeit, die Rosemarys Gefühle verletzte; sie war dazu gedacht, freundliche Ungezwungenheit zu demonstrieren, aber Rosemary schien diese Vertraulichkeit eher dazu angetan, Abstand von der Person zu schaffen und sie herabzusetzen. Eine polnische Flüchtlingsfrau mit Namen Sophie lebte seit Grahams sechstem Lebensjahr bei den Wilkinsons. Jetzt war er sechzehn, genauso alt wie Rosemary. Er hatte drei Brüder und zwei Schwestern, alle jünger als er. Sein Vater hielt jeden Vormittag Sprechstunde und dreimal pro Woche auch abends. Das Haus schien nie still zu sein: Ständig waren irgendwo Leute. Nie war man ungestört – Graham teilte sich mit seinem Bruder Tony ein Zimmer; Heimlichkeiten gab es nicht, und wenn es sie gegeben hätte, hätte man sie mißbilligt. Graham konnte nicht verstehen, warum Rosemary nicht begeisterter über ihr Elternhaus war; er fand, sie wisse gar nicht, wie glücklich sie sei. Rosemary lebte mit ihrem Vater, ihrer Tante und ihrer Großmutter in einem größeren Haus als Graham. Doch hatte sie nicht das Gefühl, darin zu leben. Sie lebte in der Schule, mit ihren Freundinnen oder wenn sie auf ihrem Rad in der Gegend herumfuhr. Sie verschwendete kaum je einen Gedanken an ihre Verwandten. Diese gehörten zur Ausstattung des Hauses, düster, ältlich, verdrießlich. Ihre Angehörigen machten auf sie den Eindruck, als seien sie in Desillusion erstarrt, als erwarteten sie aus keiner Ecke mehr irgend etwas, als sei nichts mehr die Mühe des Hin-168-
hörens wert, geschweige denn die Mühe des Redens. Doch steckte in ihrer Wortkargheit eine geballte Energie, als nährten sie in ihrem Innern einen Kummer oder eine Bitterkeit; etwas, das für das heimliche Trinken ihres Vaters verantwortlich war, für die Verdauungsstörungen ihrer Tante, für die grimmige Zurückgezogenheit ihrer Großmutter. Rosemary hatte all dies über die Jahre hinweg ohne echtes Interesse beobachtet, aber sie dachte nicht weiter darüber nach. Ihr Leben hatte nichts mit dem Leben ihrer Verwandten zu tun, abgesehen davon, daß sie für ihre Nahrung, Unterkunft und Kleidung sorgten, Dinge, die sie auf ihre unpersönliche und gleichgültige Art erledigten. Sie bekam kein regelmäßiges Taschengeld, aber sie wurde nicht kurz gehalten; sie gaben ihr alles, worum sie bat, aber sie bat um wenig. Als sie müßig darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluß, daß es sie in Verlegenheit gebracht hätte, sie als eigenständige Persönlichkeit anzuerkennen. Sie schreckten vor persönlichem Kontakt zurück. Sie hatte begriffen, solange sie sich erinnern konnte, daß sie genausowenig von ihr Anerkennung brauchten wie sie von ihnen. Sie fand das vollkommen in Ordnung; sie hätte nicht im Traum daran gedacht, sie um Taschengeld zu bitten. Sie hatte das ausrangierte Fahrrad ihrer Tante, einen Bibliotheksausweis, ein Radio in ihrem Zimmer, sie hatte ein Leben außerhalb des Hauses. Sie wußte, daß sich, wenn alle ihre Verwandten gestorben wären, entweder ein anderer Zweig der Familie um sie gekümmert hätte oder irgendein Wohlfahrtsverband; und es wäre ihr ziemlich gleichgültig gewesen, welche Form von Fürsorge es war, da nur noch wenige Jahre vor ihr lagen, in denen sie auf fremde Hilfe angewiesen war: Und bis dahin zählte nichts. Oder genauer, so war es gewesen, bevor sie Graham kennenlernte. »Gehen denn deine Tante und Großmutter nie weg?« fragte er. -169-
»An manchen Abenden. Aber dann ist immer mein Vater da.« Es war bemerkenswert: Sie konnte sich nicht daran erinnern, auch nur ein einziges Mal das Haus für sich allein gehabt zu haben. Sie fanden eine winzige Lichtung in einem Wald auf der anderen Seite von Clenham. Sie schien selten betreten zu werden, aber durch den Wald führte ein Fußweg – sie waren ihn selbst gekommen –, und seine Nähe machte sie nervös und gehemmt. Sie legten sich auf den Boden, umarmten einander, öffneten sich gegenseitig die Hemden, aber Rosemary war nicht willens, an solch einem ungeschützten Ort weiterzugehen, und ihre Bedenken stellten sich schnell als gerechtfertigt heraus. Ein blecherner Ton riß sie aus ihrer Versunkenheit. Sie klammerten sich aneinander. Rosemary hielt den Atem an, und als Graham den Kopf wandte, um in dieselbe Richtung zu blicken, brauste die Musik schnarrend ein zweites Mal auf, zwei Akkorde, die einander in schneller Folge abwechselten. Am Rand der Lichtung stand grinsend eine alte Frau, nickte mit dem Kopf und schlug sich mit dem einen Arm an die Seite. Mit der anderen Hand hielt sie unmittelbar unter dem Kinn eine Mundharmonika. Sie trug Gummistiefel, einen Mantel und ein kastanienbraunes Soldatenbarett, aus dem ihr das graue Haar um das gebräunte, irre Gesicht in Rattenschwänzen hervorhing. Sie setzte die Mundharmonika an die Lippen und blies ein paar weitere Töne hinein, während sie sich heftig auf die Flanken schlug, als wolle sie ein Pferd antreiben. Graham rappelte sich auf. Die alte Frau machte auf dem Absatz kehrt. Er bückte sich, hob einen Stock vom Boden auf und warf ihn nach ihr. Der Stock flog leicht und ein wenig richtungslos durch die Luft, traf einen Ast und fiel -170-
in einen Busch. Die alte Frau machte sich hastig humpelnd zwischen den Bäumen davon, bis sie außer Sicht war. Sie knöpften ihre Hemden zu, nahmen ihre Fahrräder, schoben sie zum Fußweg hinüber und fuhren den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Der Schock und die Enttäuschung saßen tief. Sie versuchten es mit verschiedenen Zufluchtsorten – Schuppen, Scheunen, einmal sogar mit der Sakristei einer einsamen ländlichen Kirche –, aber solange sie nicht hinter sich zusperren konnten, fühlten sie sich nicht sicher. Es gab eine Menge Dinge, die sie tun konnten, ohne es, wie Rosemary sich ausdrückte, ganz zu tun; aber selbst diese Halbheiten mußten mit einem wachen Ohr und Auge auf Geräusche oder Bewegungen getan werden. Außerdem stellte Rosemary fest, daß sie um so mehr wollte, je weiter sie gingen, und dieses Wollen als beinahe schmerzhafter Druck fühlbar war. Als Graham das Haus im Röhrenfeld fand, am freien Nachmittag der Jungen, war sie der Meinung, daß ihre tastenden Versuche ein Ende finden mußten. Sie pflegten am späten Nachmittag hinauszufahren. Sie kamen beide um vier Uhr aus der Schule. Rosemary brauchte fünf Minuten nach Hause, Graham acht. Graham bekam einen Tee mit Sandwiches oder Kuchen serviert, wenn er nach Hause kam, Rosemary machte sich selbst einen. Sie verließen die Stadt getrennt und fuhren auf verschiedenen Wegen zur Kreuzung auf dem Tunnel Hill. Die Straße, die von dort nirgendwo anders hin als zum Marschland führte, hielten sie für sicher genug, um zusammen zu fahren, und wer von ihnen als erster auf dem Tunnel Hill war, pflegte hinter der Straßenbiegung zu warten. Sie kamen gewöhnlich um fünf im Cottage an; vor halb sieben mußten sie nicht zurückfahren. Rosemary stellte fest, daß die Abgeschiedenheit und Sicherheit dieselbe Wirkung auf sie hatten wie der Moment, -171-
als Grahams Hand ihre Brust berührt hatte; die Lösung führte nur zu einer noch größeren Spannung, einer Steigerung des Gefühls, die ihr beinahe den Boden unter den Füßen wegzog und selbst die Zeit, die sie nicht im Cottage verbrachte, zu durchdringen schien. Wenn sie jetzt in der Schule an Graham dachte, pflegte sie oft eine Woge von Sehnsucht zu überrollen, die ganz anders war als das Gefühl, mit dem sie sich früher auf ein Treffen gefreut hatte: Es war, als freue sich ihr Körper mehr als ihre Seele. Sie pflegte sich auch genüßlich zu fragen, was ihre Klassenkameradinnen wohl sagen würden, wenn sie wüßten, daß sie am Abend zuvor an Graham Wilkinsons biegsamen, blassen Körper geschmiegt dagelegen hatte und daß sie in ein paar Stunden wieder daliegen würde. Bei der einfachen Überlegung, daß sie die einzige Person war, die wußte, wie Grahams Körper wirklich war, überlief sie ein lustvoller Schauer. Nicht einmal sein Vater und seine Mutter wußten soviel wie sie. Ihre Intimität war einmalig. Sie fuhren beinahe täglich zum Cottage; sie mußten einfach dorthin. Das Röhrenfeld hatte für Rosemary seinen Schrecken verloren, obwohl sie ihre Abneigung dagegen nie ganz überwand. Sie stibitzte aus einem Schrank im Gästezimmer eine karierte Reisedecke und brachte sie, eng in ihre Satteltasche gerollt, zu ihren Zusammenkünften mit. Graham hatte gewöhnlich Kekse, Kuchen und verdünnten Baby-Orangensaft in einer luftdichten Flasche dabei. Aber trotz dieser Tröstungen konnte sich Rosemary nicht mit der Schäbigkeit des Cottage anfreunden. Sie wünschte, sie könnten im Freien unter einem Baum liegen oder die ganze Nacht im Bett in einem dunklen Zimmer bei offenem Fenster verbringen. Sie fand, daß diese Umgebungen besser zu ihrem Liebeserlebnis passen würden. Sie stieß sich auch an der Geheimhaltung, zu der sie verpflichtet waren. Verpflichtet durch was? Heuchelei. Sie -172-
taten etwas, was für die Leute ein Grund zum Heiraten war, was alle Eltern auf der ganzen Welt getan hatten: Es war natürlich und allgemein üblich, und es war spontan zwischen ihr und Graham entstanden, niemand und nichts hatte sie dazu verleitet. Doch wenn sie jemandem begegnete, den sie kannte, während sie auf dem Weg zum oder vom Cottage war, schrak sie ängstlich zusammen und machte sich noch Tage danach Sorgen. Strenggenommen taten sie nicht genau das, was alle taten, nicht ganz. Graham hatte die Bücherregale seines Vaters auf Rosemarys Drängen hin durchsucht, ohne etwas Brauchbares zu finden. Von einem Vertrauensschüler in einer höheren Klasse hatte er sich ein Buch mit dem Titel ›Körperliche Harmonie in der Ehe‹ geliehen – es war in einen braunen Papierumschlag eingebunden – und mit ins Cottage gebracht, um Rosemary davon zu überzeugen, daß die sogenannte sichere Zeit vom Autor nur bedingt empfohlen und mit allen möglichen Warnungen versehen wurde. Rosemary konnte nichts gegen das Buch vorbringen, und ein Kind wollte sie ganz bestimmt nicht kriegen: Der Skandal und die Schande hätten sie nicht weiter gestört – die Geschichte und die Literatur waren voll von illegitimen Kindern, die ihren Weg gegangen waren –, und der Ablauf von Schwangerschaft und Geburt faszinierten sie in einer Weise, die verwandt mit ihren Gefühlen für Graham war. Aber sie durfte nicht schwanger werden, weil das Entdeckung bedeuten würde, und sie machte sich keinerlei Illusionen darüber, was diese wiederum bedeuten würde: Man würde der Beziehung zwischen ihr und Graham ein Ende setzen und Besserungsmaßnahmen mit dem Ziel ergreifen, ihre Erfahrung ungeschehen zu machen und sie in einen Zustand zurückzuversetzen, den ihre Angehörigen als ihrem Alter angemessener betrachteten.
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Am ersten Tag der Sommerferien fanden sie auf dem Küchenboden ein angebissenes Pasteten-Sandwich liegen und auf dem Abtropfbrett ein zerknülltes Butterbrotpapier. »Ich habe gesagt, daß Landstreicher herkommen könnten«, bemerkte Rosemary, jedoch ohne Furcht. »Woher weißt du, daß es ein Landstreicher war? Es könnte auch ein Spaziergänger gewesen sein.« »Hier?« »Na ja, er könnte den Weg abgeschnitten haben. Die Leute gehen doch auf dem Flußdamm spazieren. Bernard Player von meiner Schule – er ist oft im Marschland und sammelt Insekten. Es könnte ein Naturfreund gewesen sein.« »Ich glaube, daß Naturfreunde im Freien essen«, sagte Rosemary. »Sie können keinen Unterstand gebraucht haben, es hat seit Tagen nicht geregnet.« Sie lehnte ihr Fahrrad an die Küchenwand und ging auf die Tür zur Treppe zu. »Warte einen Moment«, sagte Graham. »Sie könnten noch da sein.« Rosemary blieb stehen, überrascht, dann öffnete sie die Tür. »Ist jemand da?« rief sie. Sie schaute Graham an, der mitten in der Küche stand und immer noch sein Fahrrad hielt. »Komm«, sagte sie, »es ist alles in Ordnung.« »Warte. Ich gehe hinauf und überzeuge mich davon. Bring dein Rad nach draußen, für alle Fälle.« Er schob sein Fahrrad rückwärts über die Schwelle. Nachdem sie einen Augenblick gezögert hatte, schob Rosemary ihres ebenfalls hinaus. Sie wollte mit ihm hineingehen, aber als er darauf bestand, daß sie wartete, gab sie nach und ließ ihn allein das Haus absuchen. Sie bewunderte seinen Mut und seine Entschlossenheit, auch -174-
wenn sie nicht ernsthaft beunruhigt war. Tatsächlich erschien er in weniger als einer Minute wieder in der Küchentür; aber sie fand, daß er immer noch besorgt aussah. Während sie die Decke in dem oberen Zimmer ausbreitete, erzählte er ihr, daß er, als er mit den Gedanken woanders, von zu Hause aufgebrochen war, beinahe mit seinem Fahrrad Eady angefahren hätte, die nach dem Mittagessen nach Hause ging. Sie hatte in scharfem Ton zu ihm gesagt: »Du hast es wohl mächtig eilig?« und dabei hatte sie wissend und zugleich mißbilligend ausgesehen. Rosemary überlegte, daß Mrs. Eade die Anspannung in Grahams Gesicht gesehen haben könnte, die sie selbst oft bemerkte, wenn sie sich trafen. Sie fragte ihn, ob er in Gedanken bei dem, was er im Cottage vorhatte, war, und er gab zu, daß das wahrscheinlich war. Sie fragten sich, ob Mrs. Eade wohl einen Verdacht hegte. Dabei waren beide der Meinung, daß sie ihr Geheimnis intuitiv erfaßt haben könnte. Es kam ihnen nicht in den Sinn, daß sie Grahams Erregung erkannt und mit ihrer eigenen Erfahrung in Zusammenhang gebracht haben könnte. Sie wußten, daß Männer und Frauen es auch in fortgeschrittenem Alter noch taten – Grahams jüngste Schwester war zum Beispiel erst vor vier Jahren geboren worden, als seine Mutter fünfunddreißig war –, aber obwohl sie dieses Zugeständnis vom Verstand her durchaus machten, betrachteten sie die Sexualität ihrer Angehörigen als harmlose Routineübung. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß sich ältere Leute in qualvollen Wonnen verloren, die den ihren vergleichbar waren, nicht einmal in der Erinnerung: und am allerwenigsten Mrs. Eade. Zwei Tage später erzählte Graham von Bruchstücken einer Unterhaltung zwischen seinem Vater und seiner Mutter, die er belauscht hatte. -175-
»…er trifft sich ein bißchen zu oft mit einer gewissen jungen Dame –« »…du kannst kaum erwarten, daß er es uns erzählt –« »…eine seltsame Familie – üble Geschäfte – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm –« »…du müßtest dir aber ganz sicher sein, sonst könnten sie sehr unangenehm werden –« Rosemary sagte: »Warum sollte es dabei um uns gegangen sein?« »Ich kenne ihre Stimmen. So klingen sie, wenn sie über mich reden.« Rosemary dachte über die Einschätzung ihrer Familie nach; sie konnte ihr nicht widersprechen. »Was hat er damit gemeint: der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? Mich? Was für üble Geschäfte?« Graham zuckte mit den Achseln. Er machte einen düsteren, gequälten Eindruck. Rosemary brachte ihn nur mit liebevollen Schmeicheleien dazu, sich zu ihr auf die Dekke zu legen, und mußte ihn dann zu ihrem Erstaunen überreden und geradezu aufreizen, damit er sie überhaupt berührte. Doch gelang es ihr schließlich. Am nächsten Morgen, als Rosemary vom Frühstückstisch aufstand, folgte ihr ihre Tante aus dem Zimmer. »Rosemary«, sagte sie, »bring alles, was du an schmutziger Wäsche hast, herunter.« Rosemary war überrascht: Mittwoch war nicht der übliche Waschtag. An Rosemarys Schulter vorbeiblickend, sagte ihre Tante: »Dein Onkel Albert kommt am Freitag. Er holt dich ab, weil du ein paar Wochen bei ihm und Tante Evelyn verbringen wirst.« -176-
Rosemary war so verblüfft, daß sie nicht sofort sprechen konnte. Erst als ihre Tante eine Bewegung machte, als wolle sie weggehen, fand sie die Sprache wieder. »Warum?« »Es wird dir guttun.« »Mir fehlt nichts. Ich will nicht weggehen.« Auf die Scheuerleiste blickend, sagte ihre Tante: »Es ist alles in die Wege geleitet.« Rosemarys Gefühle waren verletzt. »Keiner hat mich gefragt. Warum soll ich gehen, wenn ich nicht will?« »Dein Vater wünscht es, und damit basta.« Rosemarys Empörung wuchs. »Keiner hat es mir gesagt. Wenn man mich gefragt hätte, hätte man leicht herausfinden können, daß ich nicht weg will. Und ich gehe nicht.« Sie schaute ihre Tante, die zusammenzuckte, böse an. Rosemary wurde schlagartig klar, daß ihre Tante vor ihr Angst hatte. Sie sagte laut: »Was soll’s, ich fahre jetzt weg«, und ging auf die Seitentür zum Garten zu. »Nein – Rosemary – dein Vater hat gesagt, daß du zu Hause bleiben sollst.« Der Schock brachte Rosemary zum Stehen. Sie wußte sofort, daß sie einem Angriff ausgesetzt war, daß man Verrat an ihrem Privatleben beging. Dieser noch nie dagewesene Vorschlag, sie zu anderen Verwandten zu schikken, war kein zufälliges Ärgernis, sondern der Beginn von Einmischung und Überwachung. Sie drehte sich um und war in drei Schritten bei ihrer Tante, die erschrocken an die Wand zurückwich: Rosemary sah in ihr plötzlich nichts als eine graue leere Hülse, die sich von ihrer Wut und Stärke einfach wegblasen ließ. »Er hat es nicht zu mir gesagt«, sagte sie wütend. »Er soll es mir selbst sagen. Ich gehe jetzt. Du kannst mich nicht aufhalten.« -177-
Die leere Hülse sprach mit zitternder Stimme. »Wir werden dich von der Polizei heimholen lassen.« Bei dieser Drohung, die sie an ihre früheste Kindheit erinnerte, fror Rosemarys Zorn zu Verachtung. Als ob ihre schweigsamen, zurückgezogenen Verwandten eine öffentliche Bloßstellung heraufbeschwören würden! In der nächsten Sekunde erkannte sie mit plötzlich aufsteigender Angst die Gefahr, in der sie sich schlicht dadurch befand, daß sie ihr in den eigenen vier Wänden alles mögliche antun konnten. Man hatte schon Pläne gegen sie geschmiedet, sie mußten gestern abend, als sie vom Cottage nach Hause kam, schon im Gange gewesen sein. Hatten sie ihr das Fahrrad weggenommen? Sie rannte den Korridor entlang, durch die Küche und hinaus; dabei schlug sie die Tür hinter sich zu, eilte durch den Garten und warf sich gegen das Garagentor, in Panik, es könnte abgesperrt und der Schlüssel versteckt sein; es ging sofort auf, und mit einem Seufzer der Erleichterung sah sie ihr Fahrrad dort lehnen, wo sie es hingestellt hatte. Sie schob es durch das halboffene Tor hinaus. Was für Dummköpfe sie sind, dachte sie, während sie wütend die Zufahrt hinunterradelte. Offensichtlich hatten sie sich eingebildet, sie brauchten es ihr nur zu sagen und sie bliebe zu Hause. Aber für sie war es ein Glück, daß sie sich das eingebildet hatten. Am Gartentor wandte sie sich nach links und folgte der Straße, die aus der Stadt hinausführte; es war nicht ihr üblicher Weg zum Cottage, aber die Richtung stimmte ungefähr. Als sie über eine halbe Meile vom Haus entfernt war, bog sie in eine Straße ein, von der sie wußte, daß es in ihr eine Telefonzelle gab. Sie war erstaunt, wie schnell sie gefahren war; ihre Arme und Beine zitterten. Als sie bei der Telefonzelle angekommen war, zerrte sie hastig an den Riemen ihrer Satteltasche und zog ihren Geldbeutel -178-
unter der zusammengerollten Decke hervor. Voller Bestürzung sah sie, daß sie nur eine halbe Krone und ein paar Kupfermünzen hatte. Sie steckte zwei Pence in den Münzschacht und wählte die Nummer von Grahams Elternhaus. Seine Mutter oder Sophie oder Mrs. Eade kamen ans Telefon. Mit möglichst tiefer Stimme fragte Rosemary nach Graham. Sie versuchte, wie ein Junge zu klingen. Offenbar mit Erfolg. Im selben Moment, in dem sie Graham sprechen hörte, sagte sie: »Ich bin es. Kannst du zum Cottage kommen? Es ist etwas passiert.« »Jetzt?« »Ja. Ich mache mich gerade auf den Weg. Bring etwas zu essen mit. Und Geld, wenn du kannst. Ich warte an der Straße auf dich. Aber beeil dich!« Sie wartete eine Stunde. Sie begann schon zu fürchten, daß Graham aufgehalten worden war, daß er ebenfalls schon unter Beschuß stand. Es machte sie fast wahnsinnig zu denken, daß sie getrennt werden könnten, bevor sie Pläne gemacht hatten, wie sie miteinander in Verbindung bleiben könnten. Die Drohungen ihrer Tante waren lächerlich, aber die empörende Wahrheit war, daß sie in die Tat umgesetzt werden konnten. Man würde auf die Aufwiegelung einer leeren Hülse, die man kaum als lebendig bezeichnen konnte, hören und ihr von seiten der Erwachsenenverschwörung große Bedeutung beimessen. Weil sie und Graham sechzehn waren, konnten sie eingesperrt und bestraft und überhaupt derartig schikaniert werden, daß – hätte man die Erwachsenen selbst oder gar Kinder so behandelt – jedermann mit dem Ruf nach Freiheit und Gesetz zu den Waffen greifen würde. Rosemary hatte das ganze Gewirk aus scheinheiligem Getue und Verstellung und doppelter Moral gründlich satt. -179-
Endlich tauchte Graham auf. »Ist etwas passiert?« fragte Rosemary. »Du hast eine Ewigkeit gebraucht.« »Ich konnte nicht einfach davonstürzen, es ist so früh. Was ist los?« Während sie zusammen den Weg entlangfuhren, erzählte sie ihm alles; und als er ihr finster zustimmte, daß sich düstere Wolken am Horizont auftürmten, merkte sie, daß sie heimlich gehofft hatte, er würde ihre Neuigkeiten in einem weniger bedenklichen Licht sehen. »Wie haben sie es bloß erfahren?« fragte sie. »Doch nicht von Mrs. Eade, sie hat keine konkreten Anhaltspunkte. Sie könnte es höchstens vermutet haben.« »Ich nehme an, daß uns jemand gesehen hat«, sagte Graham. »Wie sollte das möglich gewesen sein? Wo? Wir sind immer so vorsichtig gewesen.« »Wir sind weiter draußen miteinander Fahrrad gefahren, in der Gegend von Clenham. Mein Vater kennt dort ziemlich viele Leute. Und wir treffen uns mit niemandem mehr. Ich nehme an, es fällt den anderen auf. Sie sagen womöglich etwas.« »Was – unsere Freunde?« Rosemary fuhr ohne Beklemmung durch das Röhrenfeld; sie brachte es sogar fertig, sich zu überlegen, wie anders es im Morgenlicht aussah. Im Cottage angekommen, verriegelte sie automatisch die Tür hinter sich, obwohl sie kaum vollkommene Sicherheit brauchten, um zu reden, denn das war alles, was sie im Sinn gehabt hatte. Sie fragte: »Hast du etwas zu essen mitgebracht?« »Kuchen, Äpfel, etwas zu trinken.« Graham öffnete seine Satteltasche und holte die Flasche heraus. »Wir wollen einen Schluck zu uns nehmen. Ich habe Durst.« -180-
Sie zögerte. »Da wird dann aber nicht mehr viel übrig sein. Na ja, wir können sie ja nachfüllen lassen. Irgendwie bekommen wir schon Wasser.« »Warum willst du sie nachfüllen lassen?« »Ich habe vor hierzubleiben. Ich kann auf der Decke schlafen, mich in sie einrollen.« »Die ganze Nacht?« »Warum nicht? Hast du Geld mitgebracht?« »Nur das, was ich hatte. Sieben Shilling und sechs Pence.« Er holte ein paar Münzen aus der Tasche und legte sie auf das Abtropfbrett. »Ich muß Geld haben. Hast du kein Sparbuch, das du einlösen kannst?« »Aber was hast du denn vor?« »Auf einem Bauernhof zu arbeiten, irgendwo werden sie mich schon leben lassen.« »Hör doch zu – sie haben doch nicht gesagt, daß sie dich für immer zu deiner Tante schicken. Du kommst ganz bestimmt im nächsten Trimester zurück.« Das nächste Trimester begann erst in sechs Wochen. Rosemary konnte sich keine sechs Tage ohne Graham vorstellen. Machten ihm sechs entbehrungsreiche Wochen nichts aus? Sie sagte: »Wenn ich zurückkomme, werden sie sich etwas anderes einfallen lassen, um uns daran zu hindern, einander zu sehen.« »Ach, ich weiß nicht. Sie können uns doch nicht gut einsperren.« »Willst du damit sagen, daß sie von einem Tag auf den anderen einfach nachgeben könnten? Warum haben wir uns dann die ganze Zeit versteckt?« -181-
Sie hatte sich nicht verstecken wollen, weil sie sich dessen, was sie taten, schämte – sie schämte sich nicht, hatte sich nie geschämt; aber sie hatte gewußt, daß sie es verheimlichen mußte, wenn sie wollte, daß sie zusammenblieben, weil sich andere Leute schämten; sich schämten oder darüber kicherten oder verrückt waren, wie die alte Frau, die sich ihnen am Rand der Lichtung aufgedrängt hatte. Sie wußte nicht, warum sich die Leute schämten oder so schmutzige Gedanken hatten oder verrückt waren, wenn sie älter wurden, aber es war so; und wegen der Leute stand sie jetzt all diesen Schwierigkeiten gegenüber. »Ach, der Teufel soll sie holen«, sagte sie, »warum können sie nicht sterben?« »Wer?« »Alle. Sterben, wenn sie auf die dreißig zugehen.« Einen Augenblick später sagte Graham: »Ich muß zum Mittagessen zurück sein. Sie wissen nicht, daß ich weg bin. Wir gehen heute nachmittag zu meiner Großmutter.« »Komm heute abend.« »Wir kommen erst spät zurück.« »Dann morgen. Ich brauche mehr Essen.« »Du wirst doch nicht wirklich hierbleiben wollen?« sagte er. »Du weißt, daß das nicht geht. Warum fährst du nicht erst einmal wieder nach Hause? Es wird alles in Ordnung kommen. Mach mein Vorhängeschloß an dein Rad, dann kann es niemand wegschieben.« Rosemary hatte das Bedürfnis zu weinen. Sie wußte, daß Graham nur den Tatsachen ins Auge sah, denen sie sich am Ende auch unterwerfen mußte, aber er hätte die Realität nicht so schnell und bereitwillig hinnehmen und sie nicht mit sich drängen müssen. Rosemary ließ ihren Gefühlen instinktiv Zeit, damit sie auf diese Weise etwas von -182-
ihrer Energie einbüßten; sonst hätte sie nicht gewußt, wie sie die Stärke ihrer Gefühle mit der schwachen Person, die die Welt aus ihr machte, in Einklang hätte bringen sollen. Und schließlich war Graham früher nur zu bereit gewesen, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Das unterdrückte Weinen schnürte Rosemary die Kehle zu; sie konnte nicht sprechen; und während dieser kurzen Stille hörten sie Geräusche von oben, einen dumpfen Schlag, Fußtritte, das Knarren eines Bretts. Sie standen wie gelähmt da. Es war wieder still. Dann hörten sie Fußtritte auf der Treppe. Sie stürzten auf die Tür zu und rempelten sich gegenseitig, als Rosemary sich anders entschloß und versuchte, zu den Fahrrädern zu gehen. Graham riß sich los, packte den oberen Türriegel und zog ihn zurück. Rosemary wollte ihn anschreien, sich zu beeilen, Lärm spielte keine Rolle. Er fing an, den unteren Riegel zurückzuschieben, aber bevor er ihn halb zurückgezogen hatte, öffnete sich die Tür, die vom Treppenhaus in die Küche führte. Dahinter tauchte ein alter Mann auf, gebeugt unter einem Mantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Eine Sekunde lang schauten sie ihm ins Gesicht, das mit aschgrauen Stoppeln gesprenkelt war, dann schleuderte ein gewaltiger Ruck oder Krampf seinen gesamten Rumpf nach hinten. Das Stocken seines Atems klang wie ein Schluckauf. Seine Augen blickten starr, verkrampften sich und rollten dann langsam nach oben, so daß man nur noch das gelbliche Weiß der Augäpfel sah. Er stieß den Atem mit einem quieksenden Pfeifton aus. Dann schien er inmitten seines Mantels zusammenzubrechen und stürzte zu Boden. Seine Hose war um die Fesseln mit Sisalschnüren zusammengebunden, das Oberleder seiner Stiefel war gespalten. Ein Landstreicher, dachte Rosemary: Sie hatte immer gesagt, daß Landstreicher hierher kommen würden. -183-
Sie blickte Graham an; sein Gesicht war blaß. »Ist er tot?« flüsterte sie. Graham trat einen Schritt von der Tür weg. Er schluckte zweimal, nahm dann die Flasche, schraubte den Becher und den Stöpsel ab und goß etwas Orangensaft in den Becher. »Mach die Tür auf«, sagte er. »Laß frische Luft rein.« Rosemary bewegte sich nicht. Grahams Gesicht war so weiß, daß sie ihre Augen nicht von ihm wenden konnte. Er beugte sich über das Bündel auf dem Boden und hielt den Becher nach unten. Rosemary dachte, er würde dem Landstreicher das Getränk gewaltsam einflößen, und vielleicht hatte Graham das auch vorgehabt; statt dessen richtete er sich jedoch auf und schüttete dem alten Mann den Saft in einer Weise an den Kopf, daß er ihm über die eine Gesichtshälfte lief, und ohne die Wirkung der Befeuchtung abzuwarten, wankte er auf Rosemary zu, die den unteren Riegel zurückzog und die Tür öffnete. Der Becher fiel Graham aus der Hand. Er warf sich mit dem Rücken gegen die Hausmauer und atmete mit weit geöffnetem Mund. Er schloß die Augen. Nach einigen Sekunden ging er in die Hocke, immer noch an der Mauer lehnend, um sich auf den Boden zu setzen. Er zog die Knie an und ließ den Kopf auf sie sinken. Der Landstreicher hatte sich nicht bewegt. Rosemary stellte fest, daß ihr der Anblick nichts ausmachte; es war für sie wie ein Haufen Asche. Der Kopf des alten Mannes lag mit der Seite auf dem Boden. Sein Gesicht hatte die Farbe von altem gefrorenem Schneematsch; selbst das durchsichtige Gelb des Orangensafts hob sich deutlich davon ab. Der Saft war auf den Boden unter seinen Kopf gesickert, und ein paar Tropfen rannen immer noch herab. Sein Auge war halboffen; das trübe Weiß des Augapfels war noch zwischen den Lidern zu erkennen. Sein Mund -184-
war ebenfalls leicht geöffnet. Sie hatte gelesen, daß man solchen Leuten einen Spiegel an die Lippen halten sollte, um zu sehen, ob er beschlug, aber sie hatte keinen dabei. Nach einem Augenblick des Zögerns suchte sie nach der Hand des Landstreichers; sie war im Ärmel seines Mantels verborgen, der über seine Fingerspitzen reichte, eine fleischlose Hand wie eine Klaue, dunkelgrau vor Schmutz und sehr kalt. Sie hielt ihre Finger an sein Handgelenk, wie sie es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Da sie an der richtigen Stelle keinen Puls fühlte, versuchte sie es am ganzen Handgelenk; aber es war nichts zu spüren, nicht eine Regung. Sie ließ die Hand fallen und ging zu Graham hinaus. »Ich glaube, er ist tot«, sagte sie. »Ich kann seinen Puls nicht fühlen.« Ohne den Kopf zu heben, sagte Graham: »Manchmal ist er so schwach, daß sogar Ärzte ihn nicht mehr feststellen können.« Rosemary ging in die Küche zurück. Sie hob den Becher auf und den Stöpsel, schraubte sie auf die Flasche und stellte sie in Grahams Satteltasche. Sie konnten nichts anderes tun, als die Leiche des Landstreichers da liegenzulassen, wo sie war. Irgendwann würde sie jemand finden; vielleicht würde schon heute abend ein anderer Landstreicher einen Unterschlupf in dem Haus suchen – in dem Haus, in dem sie selbst vorgehabt hatte zu schlafen. Sie fragte sich, ob ein anderer Landstreicher erzählen würde, was er vorgefunden hatte. Wenn ja, würde es keine Rolle spielen. Der alte Mann war an einer Herzattacke oder einem Schlaganfall oder vielleicht einem Schock gestorben; das konnten sie durch eine Leichenöffnung eindeutig feststellen. Es würde keinen Anlaß für weitere Nachforschungen geben. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß den Behörden jemals ein toter Landstreicher schlaflose Nächte bereiten könnte. -185-
Sie schob Grahams Fahrrad nach draußen und lehnte es gegen die Mauer, an der er immer noch, den Kopf auf den Knien liegend, dasaß; dann ging sie zurück, um ihr eigenes zu holen. Die Leiche des Landstreichers konnte natürlich Monate lang daliegen, sie konnte verwesen. Ob man wohl noch feststellen konnte, wenn er sich mehr oder weniger aufgelöst hatte, daß er eines natürlichen Todes gestorben war? Oder wenigstens, daß es sich um einen Landstreicher gehandelt hatte? – Ja, die alten verschlissenen Stiefel würden nicht verrotten. Aber wenn man an der Todesursache zweifelte, könnte es sein, daß sie das Haus gründlich durchsuchten. Sie und Graham hatten bestimmt Hunderte von Fingerabdrücken hinterlassen und auch andere Spuren – den verschütteten Orangensaft. Doch konnte den sicherlich keiner nachweisen. »Er hat sich nicht bewegt«, sagte sie. »Ich bin davon überzeugt, daß er tot ist. Wir sollten ihn auf den Weg hinausschaffen.« Sie sagte Graham, was sie sich wegen der Fingerabdrükke überlegt hatte. Er hob den Kopf. »Wir werden es jemandem sagen müssen.« »Warum? Wozu soll das gut sein, wenn er tot ist? Und wenn er nicht tot ist, dann kommt er so und so wieder zu sich.« »Nein – manchmal bedürfen sie einer Behandlung, bevor sie zu sich kommen. Er könnte im Koma liegen. Er könnte sterben.« »Macht das was? Er ist doch bloß ein Landstreicher.« Graham schaute schweigend zu ihr auf. »Wenn du es jemandem sagst, mußt du erklären, warum du hier warst«, sagte Rosemary. -186-
»Ich werde sagen, ich kam hierher, um nach Insekten zu suchen, wie Player. Ich werde nicht sagen, daß du hier warst.« »Sie würden es dir nicht glauben. Sie würden herausfinden, daß ich mein Fahrrad um dieselbe Zeit aus der Garage geholt habe. Sie haben uns bereits in Verdacht.« »Dann hat es sowieso keinen Sinn, es ihnen nicht zu sagen. Sie können uns doch wegen des alten Mannes keinen Vorwurf machen. Wir haben es nicht getan.« »Aber sobald sie wirklich über uns Bescheid wissen, sind sie zu allem fähig, sie könnten uns beide für immer wegschicken – aber wenn sie es nie wirklich beweisen können, wenn wir von jetzt an vorsichtig sind – ich will sogar ein wenig zu meinem Onkel und meiner Tante fahren, es wird sich am Ende auszahlen –, dann werden sie sich beruhigen, sie werden denken, es ist alles vorbei, und wir können uns einen anderen Platz suchen –« Graham schüttelte den Kopf. »Warum – möchtest du nicht weitermachen?« Er gab keine Antwort. Als er Rosemarys Augen begegnete, blickte er schnell weg und sagte: »Auf jeden Fall wollen wir ihn herausschaffen. Damit hast du recht.« Der Landstreicher stank entsetzlich, aber er war nicht schwer zu tragen: ein Haufen Asche, eine leere Hülse. Graham packte ihn an den Schultern, Rosemary an den Füßen. Sie trugen ihn vor das Haus und den Pfad entlang, der zum Wald führte, so daß sie in der anderen Richtung freie Fahrt hatten. Der Landstreicher schien schwerer zu werden, je länger sie ihn trugen. »Hier«, sagte Graham. »Leg ihn so hin, wie er im Haus lag.« Als sie den Leib auf den Boden legten, hatte Rosemary den Eindruck, daß die Augenlider flatterten. Sie sagte nichts. Sie rannten zum Haus zurück. Graham sagte: »Hör -187-
zu – nimm das Essen, alles. Fahr hinten herum nach Horsley. Wir sind auf diesen Wegen nie jemandem begegnet. Dann fährst du weiter nach Clenham, egal wohin, nur bleib den ganzen Tag weg. Und komm von der anderen Seite in die Stadt zurück.« Sie öffneten die Satteltaschen. Graham holte den Kuchen und die Äpfel heraus und reichte ihr beides: sie zwängte den Proviant auf die Decke in die Satteltasche. Er begann, die Riemen seiner Tasche festzuzurren. »Die Flasche«, sagte sie. »Die kann ich dir nicht überlassen, du könntest sie mir nicht rechtzeitig zurückgeben. Sie gehört Sophie.« Sie schoben ihre Fahrräder hinaus und schlossen die Tür des Cottage hinter sich. Graham fuhr durch das Röhrenfeld voraus, wie immer, und den Pfad an den Hecken entlang. Auf dem Feldweg fuhren sie schweigend bis zur Straßenbiegung unter dem Tunnel Hill nebeneinander her, wo sie wie gewöhnlich stehenblieben. »Ich fahre als erster«, sagte Graham. »Warte nicht lange hier, du mußt oben nur über die Kreuzung und den anderen Weg hinunterfahren.« Er machte eine Pause. Er schaute sie nicht an. »Morgen. Hol dein Fahrrad nicht raus! Geh um ungefähr zehn Uhr zu Fuß die Kingswood Lane hinunter. Ich lasse dich wissen, was passiert ist. Okay dann.« Er warf ihr einen schnellen Blick zu, nickte und fuhr davon. Es würde nie mehr sein wie vorher, er hatte sich geändert, er schaute sie nicht an, er wollte nicht mehr mit ihr gehen. Die Erinnerung an sein Schweigen und seine Abwehr schmerzte wie eine Brandwunde in ihr. Es hatte ge-188-
stern bereits angefangen, er hatte sie nicht berühren wollen. Der größte Schatz ihres Lebens war dahin, schon bevor der Landstreicher auftrat, um die Zerstörung zu besiegeln. Als sie ihn heute morgen hilfesuchend angerufen hatte, hatte er sich nicht beeilt, er wollte ihr die Flasche nicht lassen, er hatte nicht um mehr Geld gebeten, um es ihr zu bringen – Rosemary fielen die sieben Shilling und sechs Pence ein. Sie hatte sie nicht genommen. Sie war sicher, daß auch Graham sie nicht eingesteckt hatte. Sie lagen noch auf dem Abtropfbrett. Machte es etwas aus? Der Landstreicher lag auf dem Weg. Aber was war mit den Fingerabdrükken? Egal – sie brauchte soviel Geld wie möglich. Sie wußte noch nicht, was sie tun würde, aber Geld würde sie brauchen. Sie machte kehrt und fuhr den Feldweg zurück. Sie war noch nie allein durch das Röhrenfeld gefahren, aber sie war jetzt viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als daß sie dem Bedeutung zugemessen hätte. Sie konnte nicht denken. In ihrem Gehirn herrschte ein Chaos, als habe sich in ihrem Kopf ein großer Schwarm Vögel mit heftigem Flügelflattern in die Luft erhoben und kreiste darin herum. Und doch war sie, als sie auf das Röhrenfeld kam, konzentriert genug, um aus der Entfernung zu erkennen, daß sich der Haufen auf dem Pfad bewegte. Sie brachte ihr Fahrrad schleudernd zum Stehen. Der Landstreicher war am Leben. Er kroch wie eine Krabbe oder eine Schildkröte am Wegrand entlang, vom Haus weg: kriechen, ausruhen, kriechen. Sie stieg vom Fahrrad und legte es behutsam auf den Boden. Vorsichtig schlich sie weiter. Der Landstreicher schleppte sich zum Rand eines der wassergefüllten Gräben. Wollte er trinken? Oder war sein Geist so verwirrt, daß er den Graben für ein Bad oder womöglich für ein -189-
Bett hielt? Sie fragte sich, ob er das Wasser überhaupt sehen konnte, er hielt den Kopf so tief. Sie war viel näher an ihn herangekommen, aber immer noch mehrere Meter entfernt, als er den Rand des Grabens berührte. Er streckte seine Klauenhände, die aus den hochgerutschten Mantelärmeln standen, nach der Wasseroberfläche aus, die sich 15 Zentimeter unter dem Pfad befand. Rosemary blieb stehen. Der Leib des Landstreichers krümmte sich langsam zusammen, so daß er fast über den Grabenrand glitt. Im selben Augenblick stießen seine Arme nach vorne und nach unten und berührten das Wasser. Er schien sie tiefer hineinzutauchen, dann unter der Wasseroberfläche zu sich heranzuziehen, vielleicht versuchte er, am Ufer einen Griff zu finden; und durch diese Bewegung im Wasser rutschte sein Körper auf dem feuchten Lehm aus. Er verlor das Gleichgewicht und fiel schwerfällig und ganz langsam vom Wegrand hinunter, mit dem Kopf und den Schultern voraus. Rosemary machte einen Schritt nach vorne. Der alte Mann war völlig untergegangen. Der Graben war schätzungsweise mannstief oder tiefer: Die Lehmaufschüttungen waren höher als Gartenschuppen, aber niedriger als Scheunen. Das Wasser hob und senkte sich und spritzte. Der Arm des Landstreichers und ein Teil seines Kopfes durchbrachen die Oberfläche. Der Arm suchte 15 Zentimeter vom linken Ufer entfernt nach einem Griff im Wasser. Dann tauchte er wieder unter. Rosemary hatte gelesen, daß ein Ertrinkender dreimal kurz nach oben schnellt, bevor er endgültig sinkt. Ob das auch auf eine alte Hülse zutraf, die einen Mantel trug, der ihr sechs Nummern zu groß war? Sie wußte es nicht, und es war sowieso egal, es spielte keine Rolle, der Landstreicher ging sie nichts an. Sie drehte sich um und beeilte sich, zur Tür des Cottage zu kommen. -190-
Die sieben Shilling und sechs Pence lagen noch auf dem Abtropfbrett. Sie nahm die Münzen und steckte sie in die Brusttasche ihres Blazers. Sie merkte, daß der Vogelschwarm aufgehört hatte, in ihrem Kopf herumzukreisen, und ihn vollkommen klar hinterlassen hatte. Sie ging wieder zu dem Graben hinaus. Der schleimige Überzug war durchbrochen und bildete kleine Strudel, aber die Wasseroberfläche war ruhig, abgesehen davon, daß der durcheinandergewirbelte Schaum hier und da eine Blase warf. Sie sah sich das eine Minute lang an, dann ging sie auf ihr Fahrrad zu. Beim nächsten Graben kniete sie sich hin und tauchte ihren rechten Arm ins Wasser, bis der Ärmel ihres Blazers vollkommen durchnäßt war, dann hielt sie den linken Arm hinein, wenn auch nicht so weit. Sie legte sich auf den Bauch und sorgte dafür, daß ihre Kleidung lehmverschmiert war, indem sie das Ärmelfutter an dem nassen Rand des Grabens entlangzog. Als sie das Gefühl hatte, es reichte, stand sie auf, ging zu ihrem Fahrrad und drehte es um. Sie warf noch einmal einen Blick zurück auf den Pfad, stieg auf und fuhr auf den Feldweg zu. Sie würde zur Kreuzung auf dem Hügel fahren müssen: Aber sie wußte nicht, ob sie dort darauf warten sollte, daß Graham mit irgend einem, den er um Hilfe gebeten hatte, zurückkam, oder ob sie eine vernünftig aussehende Person ansprechen sollte, die des Weges kam – wenn Graham nicht bereits beim erstbesten Fremden mit allem herausgeplatzt war und sie ihnen auf dem Rückweg begegnete, noch bevor sie den Feldweg hinter sich hatte. Sie bereitete ihren Bericht vor: Nachdem Graham sie verlassen hatte, fielen ihr die sieben Shilling und sechs Pence ein, und sie war zurückgefahren, um sie zu holen, gerade zur rechten Zeit, um den alten Mann in den Graben rutschen, nein, rollen zu sehen, aus dem herauszuziehen -191-
sie sich vergeblich bemüht hatte. Sie dachte, einen Rettungsversuch würde man erwarten. Angriff ist die beste Verteidigung. Wenn sie ihre eigene Geschichte vorbrachte, blieb sie Herr der Lage; und der Gedanke, daß sie die Geschichte, die Graham bereits erzählt hatte, oder das Schweigen, für das er sich vielleicht schließlich doch entschieden hatte, zerriß, verschaffte ihr eine würgende, schmerzliche Befriedigung; und diese Befriedigung war etwas, was sie den anderen Folgen ihrer Entscheidung entgegensetzen konnte, den Monaten der Entbehrung und Trübsal, die vor ihr lagen. Ob sie redete oder nicht, sie würde auf jeden Fall bestraft werden, bestraft für die Einmischung anderer Leute. Wenn sie und Graham nicht gezwungen gewesen wären, sich zu verbergen, wem wäre dann ein Leid geschehen? War das, was passiert war, etwa nicht die Schuld der Angst und Scheinheiligkeit und Furchtsamkeit anderer Leute? Und doch war sie diejenige, die bestraft werden würde. Nicht mehr lange, dachte sie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie unabhängig war; und dann, dann würden sie nicht wissen, was für ein Schlag sie getroffen hatte, sie würden wanken und schwanken und sich nach den Tagen sehnen, als sie nichts Schlimmeres als Gleichgültigkeit und Verachtung für sie gefühlt hatte. Der Gedanke, wie sie jeden einzelnen behandeln konnte, wenn sie frei war, und daß man ihr gegenüber machtlos war, veranlaßte sie dazu, die Lenkstange fest zu umklammern und wild in die Pedale zu treten. Sie würde es schaffen, sie würde es durchstehen; sie würden sie nicht brechen. Noch bevor sie anfingen, es zu versuchen, waren sie besiegt, weil sie eine Kraftquelle hatte, die sie ihr nicht wegnehmen konnten, von der sie nicht wußten, daß es sie gab, die Kraft nämlich, sie heimlich abgrundtief zu hassen, nie auch nur eine Sekunde nachzulassen, nie weich zu werden, nie zu vergessen und ganz bestimmt nie, nie zu vergeben. -192-
Wartet, dachte sie, wartet nur. Sie hielt auf dem Pfad zwischen den Hecken an, zog ihren nassen, lehmverschmierten Blazer aus und legte ihn zusammengefaltet über die Lenkstange. Er war wirklich zu unbequem zu tragen. Sie fuhr auf den Feldweg hinaus und trat mit aller Kraft in die Pedale; sie hielt die Augen starr nach vorne gerichtet, den Hügel hinauf. Ihr fest geschlossener Mund gab ihr ein Aussehen von erbarmungslos geballter Energie, und die Ähnlichkeit mit ihrer übrigen Familie war auffallend groß.
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GWENDOLINE BUTLER Der Bund der Schwestern
Ich servierte gerade den ersten Kaffee an diesem Tag, als die beiden Frauen hereinkamen. Es war heiß, und ich bewegte mich langsam, aber ich war harte Arbeit gewohnt und kam irgendwie damit klar. Dieses Bild habe ich vor Augen, wenn ich zurückblicke. Ich könnte Hilfe brauchen, aber die Zeiten sind schlecht, und ich muß ohne Hilfe auskommen. Ehrlich gesagt, bin ich froh, daß ich einen Job habe, denn ich bin darauf angewiesen. Als mein Mann starb (sein Futter- und Getreidehandel machte Pleite, als Präsident Grover Cleveland sein Amt antrat), stand ich ohne einen Penny da. Also mache ich das, was ich kann. Ich kann Kaffee und Tee kochen und tadellos servieren, das Geschirr in Ordnung halten und Silber polieren und Wechselgeld richtig herausgeben. Außerdem bin ich ehrlich; ich bestehle meine Arbeitgeber nicht. Mein derzeitiger Arbeitgeber ist die Eisenbahngesellschaft, ein anonymer Arbeitgeber, aber wir kommen sehr gut miteinander aus. Ich werde nicht überbezahlt, und ich lasse keinen Kaffee oder Zucker mitgehen, viel mehr kann man dazu nicht sagen. Wir sind uns nichts schuldig. Am Anfang hab’ ich mich gefragt, ob es Gerede geben würde, weil ich Tee und Kaffee serviere, aber nichts dergleichen, keiner sagte was. Es war noch sehr früh, als die beiden Frauen hereinkamen, ein Indiz dafür, daß der Zug mal wieder mitten auf der Strecke aufgehalten worden war. Ich glaube nicht, daß unsere Eisenbahngesellschaft sich jemals selbst tragen wird, solange diese kleinen Zwischenfälle sich häufen. -194-
Diesmal war nur die Lok in Brand geraten; es gab keine Verletzten. Die beiden Frauen waren die Vorhut; ich konnte die ärgerlichen Stimmen der anderen hinter ihnen hören. »Es ist bestimmt nur eine kleine Verzögerung«, sagte eine der beiden. »Wir werden schon noch hinkommen. Nur Vater ist ärgerlich; uns kann es egal sein.« Sie war eine hübsche junge Frau, schlicht gekleidet (Popeline), aber sicher nicht arm. Ich kenne die Sorte – sie protzen nicht, aber sie haben ihre Schäfchen im trockenen. Die Frage war nur, wer über das Geld bestimmte. »Aber auf Vater kommt es an«, sagte die zweite. (Das war die Antwort auf meine Frage: In dieser Familie war es der Vater.) Sie war jünger als die andere – auch kein junges Mädchen mehr, sondern eine Frau in ihrem ersten Frühling. Sie sah aus, als ob sie fürchtete, dieser Frühling könnte unbemerkt vorübergehen. Ich kannte diesen hungrigen Blick. Als ich ihnen den Kaffee brachte, waren sie schon beim Thema Ehe angelangt – was deutlich machte, worum sich ihre Gedanken drehten. »Ehen werden im Himmel geschlossen«, sagte die ältere. Ich glaube, ich habe Tausende Tassen Kaffee serviert und Tausende von Unterhaltungen mitangehört; aber das hatte ich noch nie jemand sagen hören. »Ehen werden mit Geld geschlossen, Emma«, blaffte die jüngere. Zack. Ihr Mund schnappte zu wie ein Fangeisen. Na, damit hatte sie sicher recht. »Vater hat das Geld, und Abby wird dafür sorgen, daß sie heiraten.« »Glaubst du, sie schafft das, Elizabeth?« »Ja.« In diesem Augenblick erschienen Vater und Abby. Er war durch einen Wortwechsel mit dem Lokführer auf-195-
gehalten worden. Abby bestellte Eistee und Vater Wasser. Ob er bitte noch ein zweites Glas haben könnte. Ich behielt ihn im Auge, um zu sehen, was er wohl mit den zwei Gläsern machen würde. Vater und Abby saßen nicht am selben Tisch wie die beiden Mädchen, sondern ein bißchen von ihnen entfernt. An einem Tisch wäre nicht genug Platz gewesen bei einer Frau von Abbys Statur. Na ja, dafür trug sie ein elegantes Seidenkleid. »Meine Güte, ist mir heiß!« Das lag natürlich an ihrem Umfang. Außerdem war ihr Kleid rot, was auch nicht gerade für Kühlung sorgte. »Habt ihr etwas Eau de Cologne, Mädels?« Elizabeth reichte wortlos eine kleine Flasche Kölnischwasser rüber, damit Abby sich das Gesicht abtupfen konnte, und Vater nahm auch etwas und hielt die Flasche, während Abby sich Luft zufächelte. Das schien seine Art zu sein, ihr den Hof zu machen; und Abby nickte ihm zu und kicherte, was ihre Art war, ihm den Hof zu machen. Ich habe übrigens nicht mitbekommen, wofür er die beiden Gläser brauchte. Vielleicht mußte er ein Medikament einnehmen; aber er sah aus wie ein kräftiger, gesunder Mann, der ewig leben würde. Jedenfalls trank er sein Wasser, gab dann Elizabeth das Kölnischwasser zurück und legte seine Hand auf den Tisch, dicht neben die von Abby. Da saßen also Abby und Vater – ihr wurde langsam kühler (soweit bei ihr möglich), und ihm wurde wärmer. Andauernd schaute er zur Tür, als ob es jeden Moment weitergehen könnte. In der Tat waren hin und wieder ein paar Zuggeräusche zu hören, aber ich wußte, daß es noch nicht soweit sein konnte. Hier kommen am Tag nur drei Züge durch. Morgens der 9 Uhr 10 in Richtung Westen, der jetzt hier liegengeblieben war. Dann der Mittagszug, Richtung Osten. Dann der um 17 Uhr, wieder Richtung Westen. Ich wußte, daß sie noch ein Weilchen hierbleiben würden. -196-
Die Mädchen fingen wieder an, leise miteinander zu reden. »Ich finde nicht, daß sie auch nur im geringsten nett aussieht«, sagte die ältere, und mir war klar, über wen sie sprachen. Sie sprachen über den einzigen weiteren Gast, der außer ihnen noch anwesend war. Sie war schon die ganze Zeit dagewesen. Sie war nicht mit dem Zug gekommen wie die anderen. Nein, sie war schon dagewesen und hatte gewartet. Sie trug ein Kleid aus Seidenmoire und ein satingefaßtes Häubchen. Neben ihr wirkte Abby geradezu schäbig. Ihr hatte ich den ersten Kaffee an diesem Tag serviert, und sie saß noch immer da und trank schlückchenweise davon. Sicher wollte sie irgendwohin fahren, aber ich kannte ihr Ziel nicht, und sie lieferte mir keinerlei Hinweis – und eigentlich verstehe ich mich darauf, auch versteckte Hinweise zu deuten. Ich würde sagen, sie kam von weither. Und hatte noch eine lange Reise vor sich. »Nicht nett? Was soll das heißen?« fragte die Jüngere. »Starr mich nicht so empört an. Ich weiß, was ich rede. Sie sieht mondän aus. Erfahren.« »Sie sieht interessant aus.« Elizabeth betupfte jetzt auch ihr Gesicht mit Kölnischwasser. »Weltklug. Falls du das mit mondän meinst.« Das Kölnischwasser ließ ihre Nase glänzen. Sie hatte ein rundliches Gesicht mit vollen Wangen; später würde es vielleicht länglich und scharf geschnitten sein. Im Moment war sie eine dralle junge Frau. Schöner würde sie nicht mehr werden. Der Geruch von Kölnischwasser bekommt mir nicht mehr, seit mein Mann gestorben ist. Komisch: Kaffee kann ich riechen und fühle mich gut dabei. Kölnischwasser – und sofort wird mir übel. Kurz bevor mein Mann -197-
starb, habe ich viel Kölnischwasser benutzt. Er hatte einen leichten Tod. Ich war dabei, und ich kann nur sagen, es war ein leichter Tod, wenn auch kein freiwilliger. Um mich von meiner Übelkeit abzulenken, ging ich näher zu den Mädchen rüber. »Ich möchte mehr von der Welt kennenlernen«, sagte Elizabeth. »Wir könnten vielleicht nach Europa fahren.« »Mit Vater? Mit Abby? Sieht Abby etwa wie ein Globetrotter aus?« Nein, ganz gewiß nicht. Ich werde Ihnen verraten, wie ich ihre Unterhaltung mitbekommen konnte, obwohl sie leise sprachen. Ich bin eine Art Lippenleserin. Hab’ ich mir selbst beigebracht. Einer meiner Tricks. Sie unterhielten sich gedämpft, aber ich konnte alles von ihren Lippen ablesen. Abby redete ebenfalls ununterbrochen, aber bei ihr konnte ich nichts ablesen. Sie hielt den Kopf gesenkt. Ich nehme an, Abby war auch eine Lippenleserin. Die andere Dame (ich wollte schon sagen: die unbekannte, aber natürlich kannte ich sie alle nicht) schaute in ihre Richtung. Nur ein flüchtiger Blick. Nichts weiter. Aber ich wette, ihre Augen und ihre Beobachtungsgabe waren gut. Sie gehörte zu der Sorte von Leuten, die alles in sich aufnehmen und sorgfältig verpacken und verschnüren – zur späteren Verwendung. Sie hatte eine merkwürdige Art, jemanden anzusehen – blickte nur kurz hoch unter schweren Lidern mit dunklen Wimpern. Eigentlich ein hübsches Gesicht. Zumindest war es mal hübsch gewesen. Jetzt war es faltig. Außerdem benutzte sie Rouge. Ich warf selbst einen kurzen Blick in den Spiegel. Ah, dieser Ausdruck. Von Tag zu Tag schien er mir deutlicher zu werden – das einzig Lebendige an mir. -198-
»Sie sieht interessant aus – interessant, aber nicht ehrlich. Nicht geradeheraus«, sagte Elizabeth, als ob sie eine Entdeckung gemacht hätte. »Nicht geradeheraus! Du hast vielleicht eine Art zu reden, wie ein Mann.« Elizabeth fühlte sich anscheinend geschmeichelt, als ob man ihr ein Kompliment gemacht hätte. Ich sage Ihnen, sie ist eine von der einfältigen Sorte; sie hat nicht verstanden, daß sie wirklich wie ein Mann wirkte. Deshalb wird sie auch nie einen Mann abbekommen. Nicht weil Abby Vater hat und Vater das Geld hat und eine Ehe nur mit Geld zustande kommt, sondern weil sie ein Mann ist und weil jeder andere Mann das merkt. »Noch einen Kaffee, bitte«, rief die Dame. Seltsame Stimme, sanft und doch sehr durchdringend. Mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte. »Sie ist Engländerin«, flüsterte Emma. »Schottin«, sagte die Dame mit ihrer sanften, singenden Stimme. Sie lächelte. Sonst lächelte keiner. Es war eine richtige Begegnung, das konnte ich sehen, ein wirklich wichtiger Moment. Ich bin nicht viel gereist, deshalb wußte ich nicht, woher sie kam; aber es mußte eine seltsame Gegend sein, soviel stand fest. »Darf ich mich zu den Damen setzen?« Sie nahm ihren Kaffee mit an den anderen Tisch. »Wir müssen die Zeit ja schließlich irgendwie rumkriegen, oder?« Sie setzte sich direkt neben Elizabeth. »Es wäre äußerst gewöhnlich, sich aufzuregen. Aber öde ist die Warterei schon.« »Nein«, entgegnete Emma. »Ja«, sagte ihre Schwester. -199-
Das war also die Wirkung, die sie auf sie hatte – obwohl ich nicht glaube, daß sie überhaupt jemals einer Meinung waren. Ich hätte sie gerne gewarnt: Nehmt euch in acht! Sie weiß etwas, was ihr nicht wißt, und wenn ihr nicht aufpaßt, dann wird sie es euch sagen. Von draußen war ziemlicher Lärm zu hören. Nicht das Geräusch eines Zuges, auf das sie begierig warteten, sondern ein unbestimmter Lärm. Ich konnte sehen, daß Abby und Vater neugierig waren. Bald würden sie nach draußen gehen, um nachzusehen, was los war. Ich wußte, was es war: eine Beerdigung. Bei den Beerdigungen hier in unserem kleinen Ort geht es lautstark zu. Jedenfalls in letzter Zeit. Und es waren eine ganze Menge. Die Leute sterben hier wie die Fliegen. Abby erhob sich schwerfällig und wogte nach draußen. Vater eilte ihr nach, ganz wie ein heißblütiger Verehrer, obwohl man schon am Schnitt seines Anzugs sehen konnte, daß er ein eher unterkühlter Typ war. Gut, sie würde schon irgendwen heiraten, aber es würde eine Ehe von der Sorte sein, die ich nur zu genau kannte. Eine Art exklusiver Club mit nur zwei Mitgliedern. Ein Verehrer von mir, der gerade hereinkam, streifte sie in der Tür und entschuldigte sich. Ich vermutete zumindest, daß es ein Verehrer von mir war. Er war nämlich dauernd hier und unterhielt sich mit mir. Er war Versicherungsvertreter. Ich glaube nicht, daß er gedacht hat, er könnte mir eine andrehen. Ich schließe keine Versicherungen mehr ab. Für meinen Willy hab’ ich welche abgeschlossen, mehr braucht man nicht in einer Familie; für mich selbst werde ich keine abschließen. »Ich hab’ das Geschrei bis hier gehört«, sagte ich und deutete mit dem Kopf nach draußen. Ich stellte ihm seinen Kaffee hin. -200-
»Ja, verdammt traurige Geschichte. Maisie Gray.« »Ich hab’ davon gehört, daß sie im Sterben lag.« Er trank seinen Kaffee. »War es schlimm?« fragte ich. »Schlimmer als bei den meisten.« »Ich hab’s gehört.« Wir schwiegen einen Augenblick. Sozusagen im Gedenken an die Tote. »Also kein leichter Tod? Komisch. Ich hätte geschworen, daß Maisie eine Frau war, die einen leichten Tod haben würde. Irgendwie hätte das zu ihr gepaßt.« »Oh, in letzter Zeit gab’s nur solche Fälle. Muß wohl an der Jahreszeit liegen.« Er hörte sich bedrückt an. In seinem Beruf hatte er dauernd mit Ärzten und Bestattungsunternehmern zu tun. Deswegen wußte er immer genau, wer wie gestorben war. »Wer war denn das, der da so geschrien hat?« »Ach, das war Maisies Schwester. Ihr Weinen hat alles übertönt. Haben Sie’s gehört? Das Schlimme war, wie Maisie gestorben ist«, stieß er hervor. »Stück für Stück. Heute ein Fuß, am nächsten Tag ein Finger, und man wußte nie, was als nächstes drankommen würde. Zuletzt verbreitete es sich rasend schnell.« »Was glaubt man, was es war?« »Irgendein Infekt. So wie bei allen anderen in letzter Zeit.« Mein Will hatte einen leichten Tod, aber er wollte nicht sterben, und das kann man ihm nicht übelnehmen. Er wußte, was ihn erwartete: sein Bruder, den er übers Ohr gehauen hatte, seine Mutter, um die er sich nicht gekümmert hatte, und seine Schwester, an deren Tod er mit-201-
schuldig war. Er ließ mich hier zurück, aber ich bezweifle, daß ihn das besonders getröstet hat. »War sie versichert?« »Nein. Sie hatte keine einzige Versicherung. Von ihrem Tod hat keiner profitiert. Keiner.« Er schüttelte den Kopf. »Eine traurige Geschichte.« Er trank wieder an seinem Kaffee. Ich beobachtete die drei Frauen und sah, daß Emma aufstand. Ich nahm an, daß die Schottin sie auf einen Botengang geschickt hatte. Sie wußte, wie man Befehle erteilt und dafür sorgt, daß sie auch ausgeführt werden. Sie hatte eine Art, beim Sprechen die Lippen zu bewegen – richtig elegant. Ich muß zugeben, ich bewunderte sie. Elizabeth drückte sich einfach aus – klar, aber eben einfach. Einen Preis für elegante Sprache hätte sie jedenfalls nicht unbedingt bekommen. Aber bei beiden konnte ich gut von den Lippen lesen. »Sehr freundlich von Ihrer Schwester, diese kleine Besorgung für mich zu machen. Mir geht es ganz wie Ihnen: Ich könnte auch etwas Kölnischwasser vertragen.« »Sie ist gerne gegangen.« »Ja?« Das klang zweifelnd. Sie machte ein spitzes Mündchen. »Ich glaube, sie mag mich nicht.« »Emma denkt nicht darüber nach, ob sie Sie mag oder nicht; sie kennt Sie doch überhaupt nicht.« Wer von Elizabeth Komplimente erwartete, mußte ein Narr sein. »Oh, ihr Amerikanerinnen seid so geistreich. Davon können wir Europäerinnen uns direkt eine Scheibe abschneiden.« Es machte ihr nichts aus zu lügen, offenbar tat sie es sogar gerne. Vielleicht war es das, was sie ihrem Gegenüber beibringen wollte. -202-
»Wer ist diese Frau?« Die Frage kam von meinem Verehrer. Ich hatte ganz vergessen, daß er noch immer vor seinem Kaffee saß. »Ich glaube, sie ist Lehrerin.« »Wo unterrichtet sie?« Ich zuckte mit den Schultern. Ich für meinen Teil hatte das Gefühl, daß sie genau in diesem Augenblick jemandem Unterricht gab. Aber ich hatte ihn da an etwas erinnert. »Warum arbeiten Sie hier?« Er zeigte auf meine roten, schmutzigen Hände. »Sie waren doch früher Lehrerin. Sie könnten wieder unterrichten.« »Nein«, sagte ich. »Bloß nicht.« »Sie sieht mir nicht wie eine Lehrerin aus. Nein. Ich werde Ihnen sagen, wie sie aussieht –« Er runzelte die Stirn. Ich konnte die beiden Frauen im Spiegel hinter mir sehen, sie redeten immer noch unentwegt. »Also, sie sieht aus wie Sie«, sagte er schließlich. Er schien selbst überrascht. »Ja.« Es war mir auch aufgefallen. »Vielleicht sind wir verwandt.« »Wie bitte? Aber doch nicht blutsverwandt.« »Doch.« »Das versteh’ ich nicht.« »Pst. Hören Sie zu.« Die beiden Frauen waren ins Gespräch vertieft. Konversation – erst jetzt ging mir auf, was dieser Ausdruck bedeutet: Sie redeten auf mehreren Ebenen. Sie redeten mit -203-
den Augen, mit dem Körper, und auch ihr Schweigen war bedeutungsvoll. Und gerade darin drücken sich manchmal die wichtigsten Dinge aus. »Als ich Sie sah, war mir sofort klar: Das ist jemand, mit dem du reden mußt«, sagte die Schottin gerade. »Geht Ihnen das oft so?« Es fällt mir schwer, den eigentümlichen Tonfall zu beschreiben, in dem die junge Frau diese Frage stellte. Beiläufig, skeptisch und doch sehr an einer Antwort interessiert. Das, was sie sich vielleicht am wenigsten anmerken lassen wollte, war am offensichtlichsten. »Es passiert eben. Oft kann ich vorhersagen, wann es passieren wird. Ich bekomme dann so etwas wie ein Zeichen.« »Sie erhielten also ein Zeichen, als Emma und ich hier saßen?« »Schon vorher.« Sie lächelte. »Vorher. Ich will damit nicht behaupten, daß ich aus diesem Grund hierher gekommen bin.« »Das können Sie auch nicht. Ich wußte ja selber nicht, daß ich hierher kommen würde. Wir waren eigentlich auf der Durchfahrt, aber die Lok ist liegengeblieben.« »Als ob das etwas zu sagen hätte.« Sie lächelte immer noch. »Aber wie gesagt, ich behaupte ja gar nicht, daß ich wegen einer Vorahnung hierher gekommen bin. Nehmen Sie das zur Kenntnis. Ich behaupte es nicht.« Sie saßen da und schauten sich an. »Ich bin auf dem Weg zu einer Schwester, die meine Hilfe braucht. Eine junge Amerikanerin, die mit einem englischen Geschäftsmann verheiratet ist. In Liverpool. Textilbranche, glaube ich. Sie ist in großen Schwierigkei-204-
ten, und ich werde ihr helfen. Sie hat ziemlich unüberlegt gehandelt, das arme Ding.« »Sie ist Amerikanerin und Ihre Schwester? Aber Sie selbst sind doch nicht Amerikanerin.« »Nein, ich bin in Glasgow zur Welt gekommen. Eine geborene Smith.« »Und sie ist Ihre Schwester?« Elizabeth wußte nicht, was sie davon halten sollte. Aber ich wußte es. Ich fing an zu begreifen. Ich habe schon immer eine gute Auffassungsgabe gehabt. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie Abby und Vater schweigend auf und ab gingen. Emma war noch nicht in Sicht. Von der Trauerfeier war nichts mehr zu hören. Wahrscheinlich standen sie mittlerweile am Grab. Es gibt kein Geräusch, das lauter oder unerbittlicher ist als Erdklumpen, die auf die Kiste fallen. »Ich nenne sie meine Schwester«, antwortete die Schottin. »Und wie nennt sie Sie?« »Oh, wir sind uns bisher nicht begegnet. Ich bin auf dem Weg zu unserem ersten Treffen. Und das dürfte gar nicht so leicht zu arrangieren sein. Nein, es wird nicht leicht sein, an sie heranzukommen, aber ich werde es versuchen. Ich kenne meine Pflicht.« »Na, ich jedenfalls kenne meine Schwester«, erklärte Elizabeth. »Ich bin jeden Tag mit ihr zusammen – das ist es, was ich darunter verstehe, eine Schwester zu haben.« »Sie haben viele Schwestern, die Sie nicht kennen. Ich werde Ihnen etwas darüber beibringen müssen.« Na bitte, ich habe doch gesagt, daß sie Lehrerin ist. »Was ich über meine Familie wissen will, weiß ich.« -205-
»Haben Sie bemerkt«, sagte die Schottin, »daß die Sonne nicht zu sehen ist, obwohl es ein heißer Tag ist? Eine Stadt ohne Sonne.« Das war mir nichts Neues. Alle hier wußten es. Im Hochsommer kann das ganz schön unangenehm werden. Die Sterbenden haben es dann immer besonders schwer. »Ich lege keinen Wert auf eine Vergrößerung unserer Familie«, bemerkte Elizabeth in scharfem Ton. »Sprechen Sie von der Dame, die mit Ihrem Vater hinausgegangen ist? Ist es das, was Sie so erbittert?« »Ich traue ihr nicht. Wir haben schließlich auch unsere Anrechte.« »Anrechte?« »Geld«, sagte Elizabeth mürrisch. In diesem Moment stieß Emma die Tür auf. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, japste sie. »Ich habe kein Kölnischwasser bekommen. Alle Läden in der Stadt sind geschlossen. Als ich zurückkam, war der Rathausplatz voller Menschen. Ich hatte Schwierigkeiten durchzukommen. Ich weiß nicht, warum sie da versammelt waren. Von Zeit zu Zeit hat ein Mann irgendwas gesagt. Aber er sprach nicht sehr laut.« Keiner in unserer Stadt spricht besonders laut. Unsere Stimmen sind nicht unbedingt sanft zu nennen, aber wir schreien jedenfalls nicht oft. Nur bei Beerdigungen. »Ab und zu rief irgend jemand einen Namen, und dann war alles wieder still. Ich frage mich, was sie da machten.« Wahrscheinlich haben sie mit dem Wahlkampf für den neuen Bürgermeister begonnen. Das heißt, daß es mit Tom Edwards rapide bergab geht. Er ist jünger als die meisten, die in letzter Zeit gestorben sind. Im Durchschnitt werden die Leute in dieser Stadt 45 Jahre alt, und wir altern -206-
schnell. Tom ist noch ein junger Mann, aber er sieht alt aus. Es ist eine Schande, daß er sterben muß. Er war ein guter Bürgermeister. Ich hab’ gehört, daß er eine Geschwulst hat. Hinten im Rachen. Klar, daß er in den letzten Jahren nicht gut sprechen konnte. Aber viele hier haben solche Schwierigkeiten. Hier wird häufig innerhalb der Familien geheiratet. Es gibt nur drei oder vier große Sippen (wir nennen sie Clans), und wir sind alle miteinander verwandt. Toms Mutter war mit ihrem Vetter verheiratet. Einige Leute sagen, dessen Vater sei gleichzeitig sein Bruder gewesen, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Solche Geschichten hört man hier immer mal wieder, aber ich wüßte nicht, daß sich jemals eine davon als wahr herausgestellt hätte. Keiner sprach mit Emma, die die ganze Zeit über dastand, und nach kurzer Zeit murmelte sie etwas von ›frische Luft schöpfen‹ und ging wieder nach draußen. Ich bezweifle, daß ihr Fortgehen überhaupt bemerkt wurde. »Sie müssen lernen, sich zu wehren«, sagte die ältere. Ich konnte nicht einmal ihren Atem hören, als sie das sagte, ich konnte die Worte nur von ihren Lippen ablesen. »Geld ist wichtig. Ja, und Sie sollten Ihr Geld bekommen. Es kommt vor, daß eine Frau zu ihrem Recht kommt, aber in den meisten Fällen muß sie selbst dafür sorgen.« »Und wie soll sie das machen?« »Ein Mann wird ihr nicht dazu verhelfen, soviel ist sicher. Na ja, man kann ihn natürlich dazu bringen, aber das muß man geschickt einfädeln. Letzten Endes kann man sich nur auf sich selbst verlassen.« »Das tue ich immer.« »Ja, für den Anfang ist das schon ganz gut. Aber es ist nicht genug. Haben Sie studiert? Sind Sie Naturwissenschaftlerin? Oder vielleicht Ärztin?« -207-
»Nein.« »Zu schade.« Das klang bedauernd. »Es gäbe so viele Möglichkeiten für eine Schwester, die Ärztin ist. Nun, dann müssen Sie eben viel trainieren. Bleiben Sie gesund! Tun Sie etwas für Ihre Muskeln!« »Warum denn das?« »Es könnte sich als nützlich erweisen.« Sie beugte sich hinüber und prüfte den Arm des Mädchens. »Ja, ich habe mir gleich gedacht, daß Sie kräftig sind«, sagte sie anerkennend. »Mit dezent gebauschten Ärmeln kann eine Dame ihre Armmuskeln verbergen. Ich rate Ihnen, sie nicht zur Schau zu stellen. Denken Sie immer praxisnah! Es könnte einmal Ihre Rettung sein! Manche Schwestern haben mit Theorie Zeit verschwendet, in der sie sich besser praktischen Details gewidmet hätten.« »Soll ich auch meine Beine trainieren?« fragte Elizabeth und zog ihren Arm zurück. »Oh, ich kann nicht hellsehen. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Ihnen mal nützen könnte. Möglich, daß ich irgendwann einmal einer Dame empfehlen würde, ihre Beine zu trainieren, aber dazu kann ich jetzt nichts sagen. Möglich, daß Sie selbst einen genialen kleinen Plan aushecken, für den man kräftige Beine braucht. Das überlasse ich Ihnen. Abgesehen davon sind ein scharfer Verstand und gute Umgangsformen ohnehin Ihr bester Schutz. Nicht wenige Damen verdanken ihr Leben ihren guten Umgangsformen.« Ach ja, so jemanden wie sie hätte ich in meiner Vergangenheit gut brauchen können. Sie gab gute Ratschläge. Sie sagte genau die Dinge, die ich hören wollte. Ich ging etwas beiseite, um mich hinzusetzen, wobei ich Mühe hatte, mein Gleichgewicht zu bewahren. Bei heißem Wetter macht mir mein rechtes Bein noch mehr zu schaffen. -208-
»Wie sie hinkt, die Ärmste«, sagte die jüngere. Als ob sie das berührte! »Ich fürchte, ihr ist mal übel mitgespielt worden.« »Vielleicht ein Geburtsfehler.« »Nein. Das kann man an ihrem Gesicht sehen. Ihr Gesichtsausdruck wirkt nicht so, als ob sie von klein auf daran gewöhnt gewesen wäre. Sie mußte lernen, damit fertig zu werden.« »Sie hört uns zu.« »Unsinn. Es ist völlig unmöglich, daß sie etwas versteht.« So fand ich heraus, daß die Dame aus Glasgow einen Fehler hatte: Sie glaubte nur, was sie glauben wollte. Wahrscheinlich lag gerade darin ihre Stärke. Denn stark war sie. Ich bin selbst stark, und deshalb konnte ich sie einschätzen. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf«, fuhr sie fort, »achten Sie ein wenig mehr auf Ihre Garderobe.« »Da wo ich herkomme, machen die Damen nicht viel Aufhebens von ihrer Kleidung.« »Eine echte Dame wird immer darauf achten«, wies die Schottin sie zurecht. »Ein gut geschnittenes, hübsch verziertes Mieder oder ein kleidsamer Hut kann viel ausmachen, wenn die Stunde da ist, in der es drauf ankommt.« »Drauf ankommt?« »Diese Stunde wird kommen, meine Liebe«, sagte sie sanft. »Ah.« Ein langes, tiefes Ausatmen. Ich fühlte es mehr, als daß ich es hörte. »Und wenn sie da ist, müssen Sie diese Krise akzeptieren. Seien Sie stolz. Tragen Sie sie wie eine Krone.« -209-
»Wir haben keine Königinnen in diesem Land. Und ich bin nicht darauf aus, eine Märtyrerin zu werden.« »O nein, um keinen Preis. Märtyrerinnen sind unsere erfolglosesten Mitglieder.« »Sprechen Sie von einer Art Club?« »Ja, aber die Sache ist bedeutender als ein Club. Ihre Ziele heiliger.« »Muß ich einen Eid ablegen oder dergleichen?« »Sie haben den Eid schon abgelegt.« »Wie bitte?« Elizabeth wich zurück. »Ja, Sie haben ihn abgelegt, als… Lassen Sie mich überlegen.« Sie sah nachdenklich aus. »Es muß ein paar Minuten nach Beginn unseres Gesprächs gewesen sein. In dem Moment, als Sie sagten: ›Was ich über meine Familie wissen will, weiß ich.‹« Und so war es. Genau in dem Moment hatte sie den Eid abgelegt. Von da an gab es für sie kein Zurück mehr. »Nun sind Sie eine von uns.« Die Schottin streckte ihre fleischige Hand aus: »Meine Schwester!« »Aha, ein Bund von Schwestern also«, sagte Elizabeth, der gerade erst aufging, worauf sie sich eingelassen hatte. »Ja.« Die andere lächelte strahlend. »Oh, wir sind eine große Gemeinschaft, jahrhundertealt. Maria Stuart war eine von uns, und natürlich Madame Brinvilliers.« Und was ist mit all den Namenlosen, wollte ich schreien, mit all denen, deren Namen in keinem Geschichtsbuch auftauchen? -210-
»Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Aufnahme in den Bund«, fuhr die Ältere fort. »Ich war auf einer Wanderung in der Gegend von Glasgow. Die Worte der Alten jagten mir Angst ein. Aber was sie sagte, habe ich nie vergessen.« Sie wirkte erheitert. »Wie dem auch sei, wissen Sie, ich glaube, ich habe damals beschlossen, daß alles sauber und ordentlich arrangiert werden müßte, wenn für mich der Zeitpunkt gekommen wäre – keine schmutzigen Sachen wie bei dieser Alten. Pfui, sie roch nach Blut.« Elizabeth roch kurz an ihrem Kölnischwasser, was ich ihr nicht verdenken konnte. Mein Verehrer wachte auf. Während er über seiner Tasse Kaffee döste, hatte ich ihn ganz vergessen. »Das kommt alles aus der Gebärmutter«, sagte er, als er zu sich kam. Er ist der einzige Mann, den ich kenne, der das Wort ›Gebärmutter‹ so einfach ausspricht. Ich glaube, er trinkt. »Was?« »Die ganze Boshaftigkeit.« Das ist noch so ein Wort, das er geradeheraus sagt. »Sie gehen jetzt wohl besser nach Hause.« »O.K. Bin schon unterwegs.« Er schlurfte nach draußen. Morgen würde er wiederkommen. Sie sprach immer noch über den Tod, als ich mich wieder zu ihnen umdrehte. »Natürlich dürfen Sie das nicht wörtlich nehmen, wenn ich sage, daß sie nach Blut roch. Was ich roch, war vermutlich etwas ganz anderes. Schmutz, würde ich sagen.« »Ich glaube nicht, daß Blut riecht.« »Für Sie ist das vielleicht so. Sie gehören zu den Glücklichen. Aber für manche Leute schon. Für Sie wird Blut -211-
niemals riechen. Es wird nicht an Ihnen kleben und Ihnen keinerlei Sorgen machen. Seien Sie froh darüber.« »Das bin ich auch.« »Ich kann kein Blut sehen, deshalb mußte ich eine andere Waffe wählen. ›Komm, Louis, mein Liebster‹, sagte ich, ›trink den Kakao hier, dann wird es dir gleich besser gehen.‹« »Und ging es ihm dann besser?« »Uns allen geht es besser, wenn wir diese Welt mit all ihren Sorgen hinter uns lassen, meinen Sie nicht? Letzten Endes jedenfalls.« Sie war bereit, noch mehr zu erzählen. »Es war eine Herzensangelegenheit, verstehen Sie? Ich habe meinen armen Louis von ganzem Herzen geliebt. Aber er war nun einmal arm und machte keine Anstalten, sich zu verbessern.« Sie seufzte. »Der Arme, er hing an mir wie eine Klette, versuchte es jedenfalls. Zuletzt mußte ich in unser beider Interesse die Tapfere sein. Aber ich war damals noch zu unschuldig für dieses Leben, meine Liebe, mit der Folge, daß es eine Menge übles Gerede gab – bloße Vermutungen natürlich. Und meine Verhandlung mußte nach Edinburgh verlegt werden.« »Oh, es gab also eine Verhandlung?« »Man kann nicht darauf hoffen, allen Unannehmlichkeiten entgehen zu können«, sagte sie gelassen. »Und wie ist es ausgegangen?« »Das Urteil lautete: Freispruch mangels Beweisen.« »Und das bedeutet?« »Es bedeutet, ich konnte gehen.« »Weiter nichts?« -212-
»Meine Liebe, erlauben Sie mir die Bemerkung, daß das unter den gegebenen Umständen so ziemlich das einzige ist, was zählt.« Elizabeth verstummte. Sie hatte noch nicht ganz akzeptiert, daß das alles Wirklichkeit sein sollte, aber sie war auf dem besten Weg. Ich kenne solche Charaktere – es dauert, bis sie etwas begreifen, aber sie bemühen sich hartnäckig. Ich hatte schließlich Mädchen wie sie unterrichtet. Ich wußte, wie sie waren. Starrköpfig, ja, und auch skrupellos. Manchmal schwer von Begriff; man konnte pausenlos auf sie einreden, und es führte zu nichts. Dann plötzlich machte es klick, und sie hatten es begriffen und vergaßen es ihr Leben lang nicht mehr. Sie war auch so eine. »Und vergessen Sie eines nie«, sagte die Ältere gerade. »Sie sind eine Dame aus guter Familie, und das ist Ihr Schutz. Wer wird schon glauben, daß eine Dame aus guter Familie gewalttätig sein könnte? Wenn es nötig sein sollte, vollbringen Sie Ihre Tat nackt. Niemand wird glauben, daß es so war.« Elizabeth hielt sich die Ohren zu. Die andere zog ihr die Hände weg. »Haben Sie mich verstanden? Haben Sie zugehört? Sie werden es niemals mehr vergessen. Denken Sie immer daran: Wir sind Schwestern.« Sie sprach jetzt ziemlich laut. Es war ihr ganz egal, ob ich sie hören konnte; schließlich war sie eine Dame, und eine wie ich zählte nicht für sie. Ich wollte rufen: »Ich bin hier. Ich höre zu. Sie predigen vor Bekehrten. Sehen Sie nicht, daß wir uns ähnlich sind? Ich habe meine Tat vollbracht, ich bin eine von euch, ich bin Ihre Schwester. Ich habe meinem Mann Arsen in den Kaffee getan. Und ich habe mich nur auf mich selbst verlassen.« -213-
Vielleicht hätte ich auf meine Unabhängigkeit stolz sein sollen. Der Zug nach Osten mußte bald kommen. In der Ferne konnte ich ihn schon hören. Die Frau aus Glasgow stand auf, nahm ihre Sachen und ging langsam zur Tür. Wir beobachteten sie, bis sie den Raum verlassen hatte. Der Zug lief ein, und wir standen immer noch schweigend da. In dem Moment steckte Emma den Kopf zur Tür herein. »Komm, es geht wieder nach Hause. Papa hat die Reise abgeblasen. Wir fahren mit diesem Zug zurück.« Ihre Schwester stand immer noch da. Emma wurde ungeduldig. »Komm, Elizabeth. Nun kommen Sie schon, Miss Lizzie Borden.«
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P. D. JAMES Das Opfer
Natürlich kennen Sie Prinzessin Ilsa Mancelli. Ich meine, Sie haben sie sicher schon einmal auf der Leinwand gesehen, im Fernsehen und in Magazinen, wie sie gerade aus dem Flugzeug steigt an der Seite ihres neuesten Ehemannes, wie sie Erholung sucht auf einer Yacht, immer mit Juwelen behängt, zur Premiere, zur Soirée, zu allen Anlässen und in allen Nächten, in denen die Pflicht der Reichen und Erfolgreichen gebietet, sich zu zeigen. Selbst wenn Sie wie ich nichts als gelangweilte Verachtung erübrigen können für das, was man, glaube ich, den internationalen Jet-Set nennt, werden Sie es kaum schaffen, in unserer heutigen Welt zu leben, ohne Ilsa Mancelli zu kennen. Auch einige Details aus ihrer Vergangenheit können Ihnen einfach nicht entgangen sein. Ihre kurze und nicht eben erfolgreiche Filmkarriere etwa. Selbst ihre atemberaubende Schönheit konnte ihr mickriges Talent nicht wettmachen. Dann ihre diversen Ehen: zuerst die mit dem Produzenten ihres ersten Films, der eine zwanzigjährige Ehe aufgab, um sie zu erringen; dann die mit dem texanischen Ölmillionär und schließlich die mit dem Prinzen. Vor ungefähr zwei Monaten habe ich einen sentimentalen Film über sie und ihren zwei Tage alten Sohn gesehen, bei dem einem übel werden konnte. Der Streifen war in einem römischen Entbindungsheim gedreht. Es sieht also so aus, als habe sie mit dieser Ehe, die, wie sollte es auch anders sein, Geld mit sich bringt, einen Adelstitel und nun auch noch mit der Mutterschaft gesegnet ist, ihr letztes Abenteuer angesteuert. -215-
Von dem Ehemann, der vor dem Filmproduzenten kam, ist, wie ich bemerkt habe, nie mehr die Rede. Mag sein, daß ihre PR-Leute befürchteten, ein gewaltsamer Tod in ihrer Familie, noch dazu ein unaufgeklärter Todesfall, könnte ihr Image in der Öffentlichkeit beflecken. Blut und Schönheit! Im Frühstadium ihrer Karriere konnte keiner diesem billigen Klischee widerstehen. Heute ist das anders geworden. Heute liegt die Vergangenheit vor ihrer Ehe mit dem Produzenten im dunkeln, obwohl es Andeutungen gibt: arme, aber anständige Eltern, ein früher, tapferer Lebenskampf, der sich aber gelohnt hat. Ich bin jedoch die dunkelste Stelle in dieser Dunkelheit. Was immer Sie auch von Ilsa Mancelli gehört haben mögen, von mir haben Sie sicher nichts vernommen. Die Publizitätsmaschinen haben beschlossen, mich zu einem Wesen ohne Namen zu machen, gesichtslos, vergessen, nicht mehr existent. Ironischerweise haben sie recht damit. Im wahrsten Sinne des Wortes existiere ich nicht mehr. Ich habe sie geheiratet, als sie Elsie Bowman hieß und siebzehn Jahre alt war. Ich arbeitete als Assistent unseres hiesigen Büchereileiters und war fünfzehn Jahre älter als sie, mit meinen zweiunddreißig Jahren noch völlig jungfräulich, ein abtrünniger Scholar, schmalgesichtig, etwas gebeugt, mit sich lichtendem Haar. Sie war in der Kosmetikabteilung des zentralen Warenhauses beschäftigt. Sie war schön damals, eher von jener zarten, vorläufigen und einfachen Lieblichkeit, in der man die reife Schönheit, die sie heute auszeichnet, noch nicht erahnen konnte. Unsere Geschichte verlief denkbar normal. Eines Abends, als ich gerade Dienst hatte, brachte sie ein Buch zurück. Wir plauderten eine Weile. Sie bat mich um Rat bei der Auswahl von Romanen für ihre Mutter. Ich zögerte die Zeit solange wie möglich hinaus und suchte in den Regalen nach geeigneten Liebesgeschichten. Ich versuch-216-
te, sie für die Bücher zu interessieren, die mir selbst gefielen. Ich fragte sie aus, nach ihrem Leben, ihren Plänen und Zielen. Sie war die einzige Frau, mit der mir ein Gespräch gelang. Ich war von ihr verzaubert. Ich war vollkommen und wahnsinnig in sie verschossen. Ich fing an, meine Mittagspause früher zu nehmen, und pirschte mich heimlich in ihren Laden, wo ich sie, von einem Pfeiler geschützt, beobachtete. Dabei fällt mir eine Szene ein, die noch heute mein Herz zusammenpreßt: Sie hatte ihr Handgelenk mit Parfüm betupft und streckte einen nackten Arm über die Theke, damit der zukünftige Kunde den Duft einatmen konnte. Sie war so völlig bei der Sache, ihr junges Gesicht ernst und bemüht. Ich beobachtete sie still und fühlte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Es war wie ein Wunder, als sie einverstanden war, mich zu heiraten. Ihre Mutter (sie hatte keinen Vater) stimmte, wenn auch nicht gerade begeistert, ebenfalls zu. Sie hielt mich, wie sie mich immer wieder wissen ließ, keineswegs für eine gute Partie. Jedoch mein Arbeitsplatz war gesichert, und es gab Aufstiegschancen. Ich war gut erzogen, verläßlich und vertrauenerweckend. Ich sprach gutes Englisch, und dies hob, da sie dessen keineswegs fähig war, meinen Status in ihren Augen. Außerdem war jede Ehe für Elsie besser als gar keine. Wenn es mir ab und zu gelang, über Elsie nachzudenken und über ihre Beziehungen zu anderen Personen, hatte ich das leise Gefühl, daß sie und ihre Mutter nicht gerade gut miteinander auskamen. Mrs. Bowman richtete, wie sie es nannte, eine Feier aus, die etwas hermachte. Es gab einen großen Chor und Glokkengeläut. Die Gemeindehalle wurde angemietet, eine Sitzordnung wurde erstellt und ein eindeutig ungeeignetes und schlecht gekochtes mehrgängiges Menü an achtzig Gäste verfüttert. Zwischen meinen Anfällen von Nervosi-217-
tät und Bauchgrimmen bemerkte ich die hämischen Mienen der Kellner in ihren kurzen weißen Jacken, die kichernden Brautjungfern aus dem Laden, deren fette Arme sommersprossig aus rosa Taftärmeln quollen, daneben bodenständige männliche Verwandte, rotgesichtig und mit Nelken und Farnwedeln am Revers, die sich in anzüglichen Witzen ergingen und mir kräftig auf die Schulter klopften. Es gab Reden und warmen Champagner. Und zwischen all diesem Trubel Elsie, meine Elsie, wie eine weiße Rose. Ich glaube, es war töricht von mir, die Vorstellung zu haben, daß ich sie halten könnte. Allein unsere beiden Morgengesichter nebeneinander im Schlafzimmerspiegel hätten mich warnen sollen. Es konnte nicht von Dauer sein. Aber ich armer und liebesblinder Trottel konnte mir gar nicht vorstellen, sie zu verlieren, es sei denn durch den Tod. Mir ihren Tod vorzustellen ging über meine Kräfte, zum ersten Mal fürchtete ich um meine Existenz danach. Das Glück machte mich zum Feigling. Wir zogen in einen neuen Bungalow, den Elsie ausgesucht hatte, saßen auf neuen Stühlen, die Elsie ausgesucht hatte, schliefen in einem mit Rüschen besetzten Bett, das Elsie ausgesucht hatte. Ich war so glücklich, daß es mir so vorkam, als hätte ich ein neues Leben erhalten, würde andere Luft atmen, könnte die gewöhnlichsten Dinge so sehen, als wären sie eben erst erschaffen worden. Die große Liebe macht einen nicht zwangsläufig demütig. Ist es so unvernünftig, die Bedeutung einer solchen großen Liebe zu erkennen und anzunehmen, daß die Geliebte ebenso empfindet und sich ebenso verändert hat wie man selbst? Sie sagte, sie fühle sich noch nicht bereit, ein Baby zu bekommen, und ohne ihre Arbeit langweilte sie sich schnell. Sie machte einen Kurs in Kurzschrift und Schreibmaschine an unserem hiesigen College und suchte -218-
sich eine Stelle als Schreibkraft in der Firma Collingford & Major. So jedenfalls fing die Sache an: Schreibkraft, zuerst, und sodann Mr. Rodney Collingfords Sekretärin, dann Privatsekretärin, dann persönliche Vertrauenssekretärin. Ich in meinem seligen Eheglück bemerkte nur mit halbem Auge, wie sie die Stufenleiter hinaufklomm, vom gelegentlichen Diktat in Abwesenheit der Sekretärin bis zu den freimütig zur Schau gestellten Juwelen, die sie erhielt, und endlich dem Bett, das sie mit ihm teilte. Er war alles das, was ich nicht war: reich (sein Vater hatte kurz nach dem Krieg ein Vermögen in Plastik gemacht und die Fabrik seinem einzigen Sohn hinterlassen), auch war er auf eine grobschlächtige Art gutaussehend, rotgesichtig, muskulös, selbstüberzeugt, anziehend für Frauen. Er brüstete sich damit, sich das zu nehmen, was er haben wollte. Elsie hatte ihn wohl keine große Mühe gekostet. Warum, so fragte ich mich dennoch, warum wollte er sie heiraten? Damals glaubte ich, es habe ihn gereizt, einem armseligen, unterbemittelten und unattraktiven Ehemann seinen Siegespreis abzujagen, zu dem jener weder durch Aussehen noch Begabung berechtigt war. Ich habe diese Einstellung oft bei den Reichen und Erfolgreichen beobachtet. Sie ertragen es nicht, einen florieren zu sehen, der dies nicht verdient hat. Ich denke, die Hälfte des Spaßes lag für ihn in der Tatsache, daß er sie mir entreißen konnte, und das war es auch zum Teil, was in mir den Gedanken aufkeimen ließ, ihn umzubringen. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht habe ich ihm Unrecht getan. Vielleicht war das Ganze einfacher und komplizierter zugleich. Sie war, verstehen Sie – sie ist noch immer – einfach wunderschön. Heute verstehe ich sie besser. Sie hatte Herzensgüte, war ohne Launen, war großzügig, gesetzt den Fall, sie bekam, -219-
was sie wollte. Damals, als wir heirateten und vielleicht auch noch die achtzehn Monate danach, war ich es, den sie wollte. Weder ihr Egoismus, noch ihre Neugier konnten einer so schmeichelhaften und überströmenden Liebe widerstehen. Aber die Ehe war für sie kein Zustand auf Dauer. Sie war vielmehr der erste notwendige Schritt in ein Leben, wie sie es sich wünschte und wie sie es zu führen gedachte. Während sie mich begehrte, war sie liebevoll zu mir, ob im Bett oder außerhalb des Bettes. Aber als ihr der Sinn nach einem anderen stand, wurden meine Bedürfnisse, meine Eifersucht, meine Bitterkeit in ihren Augen zu einer grausamen und selbstsüchtigen Verweigerung meinerseits, ihr das Grundrecht auf eine eigene Existenz zuzubilligen: das Recht, das zu bekommen, was sie wollte. Ich hatte sie für fast drei Jahre, das waren zwei Jahre mehr, als mir zugestanden hätten. Das dachte sie, und auch ihr geliebter Rodney dachte das. Als meine Bekannten in der Bibliothek von der Scheidung hörten, konnte ich ihnen von den Augen ablesen, daß auch sie nicht anders dachten. Und, sie konnte nicht verstehen, was mich so verbitterte. Rodney gefiel sich durchaus in der Rolle des Scheidungsgrunds; sie beide, wie sie mir sarkastisch versicherte, hatten keineswegs von mir erwartet, daß ich mich als Gentleman erweisen würde. Die Kosten der Scheidung brauchte ich nicht zu übernehmen. Rodney würde das tun. Ich wurde auch nicht dazu gedrängt, ihr Alimente zu zahlen. Rodney besaß mehr als genug. Es gab einen Augenblick, in dem sie nahe daran war, mich mit Rodneys Geld zu bestechen, damit ich sie ohne großes Aufhebens gehen ließ. Und doch – war das alles wirklich so einfach? Sie hatte mich geliebt oder mich zumindestens gebraucht – für eine gewisse Zeit. Vielleicht hatte sie in mir den Vater gesehen, den sie mit fünf Jahren verloren hatte! -220-
Während der ganzen Scheidung, durch die ich, so wie die Dinge lagen, sehr behutsam geschleust wurde, und das von hochdotierten Rechtsexperten, als sei ich eine peinliche, aber unentbehrliche Last, die es ohne unziemliche Hast loszuwerden galt, konnte mich einzig der Gedanke am Irrsinnigwerden hindern, daß ich Collingford umbringen würde. Mir war klar, daß ich nicht in einer Welt zu leben vermochte, in der wir dieselbe Luft atmeten. Mein Hirn machte sich mit aller Energie über die Vorstellung seines Todes her, fand Genuß daran, begann, ihn systematisch und mit widerwärtiger Vorfreude zu planen. Ein erfolgreicher Mord hängt davon ab, wie gut man sein Opfer kennt, seinen Charakter, seine Alltagsroutine, seine Schwächen, all diese unveränderbaren und verräterischen Gewohnheiten, die den Kern seiner Person ausmachen. Ich wußte einiges über Rodney Collingford. Ich kannte Dinge, die Elsie in den ersten Wochen ihrer Anstellung hatte fallen lassen – typischen Sekretärinnenklatsch. Ich kannte auch eine Fülle intimerer Tatsachen, die sie mir in den frühen Tagen ihrer Verliebtheit verraten hatte, als weder ihre Klugheit noch ihr Mitleid ausreichten, um die obsessive Vernarrtheit in ihren neuen Boß zu verschleiern. Damals hätte ich die aufleuchtenden Warnlichter beobachten sollen. Aber nein, ich hatte nichts besseres zu tun, als mit ihr über ihren abwesenden Liebhaber zu sprechen. Was wußte ich von ihm? Dinge natürlich, die alle wußten. Er war reich, dreißig Jahre alt, ein anerkannter Amateurgolfer, er lebte in einem auffallenden neogregorianischen Haus am Ufer der Themse und wurde von einem überbezahlten, nicht im Hause lebenden Bediensteten versorgt, er besaß ein Motorboot, war etwas über einen Meter achtzig groß, ein guter Geschäftsmann, aber für seine Sparsamkeit berühmt. In seiner Lebensführung galt er als sehr methodisch. Ich verfügte also, was ihn betraf, über -221-
einen Berg von unzusammenhängenden und zufälligen Details. Einige würde man gebrauchen können, einige würden wichtig sein, einige waren nutzlos. Ich wußte – und das verblüffte mich –, daß er geschickte Hände hatte und daß es ihm gefiel, Gegenstände aus Metall oder Holz zu fertigen. Im Keller seines Hauses hatte er sich eine teuer ausgestattete große Werkstatt bauen lassen, und jeden Donnerstagabend verbrachte er dort ganz für sich. Er war ein Mann, der die Routine über alles schätzte. Jene Kreativität aber, obgleich sie recht irdisch war und trivial, fand ich faszinierend, erlaubte mir aber nicht, mich daran festzubeißen. An ihm selbst interessierten mich ja einzig die Details seiner Persönlichkeit und seiner Gewohnheiten, die seinem Tod förderlich sein konnten. Ich habe nie an ihn gedacht wie an ein menschliches Wesen. Außerhalb meines Hasses gab es keine Existenz für ihn. Er war Rodney Collingford, mein Opfer… Zuallererst entschied ich mich für die Waffe. Eine Pistole wäre wohl das sicherste gewesen, aber ich wußte nicht, wie ich mir eine verschaffen konnte, und war mir nur zu bewußt, daß ich sie nicht einmal hätte selber laden, geschweige denn abfeuern können. Außerdem las ich um diese Zeit einige Bücher über Mord, und es wurde mir klar, daß Pistolen, wie geschickt man es auch immer anstellte, sie zu erwerben, leicht zurückverfolgt werden konnten. Aber da war noch etwas. Eine Pistole war zu unpersönlich, zu ferngelenkt. Ich wünschte mir körperlichen Kontakt im Augenblick des Todes. Ich wollte so nahe dran sein, daß mir der letzte Blick nicht entging, der Blick von Ungläubigkeit und Entsetzen, in dem er gleichzeitig mich und seinen Tod erkannte. Ich wollte ihm ein Messer in die Kehle treiben. -222-
Zwei Tage nach der Scheidung kaufte ich es. Ich hatte keine Eile, Collingford zu töten. Ich wußte, ich mußte mir Zeit lassen, Geduld haben, wenn ich meine Sicherheit nicht gefährden wollte. Eines Tages, so dachte ich, wenn wir alt wären, würde ich Elsie alles erzählen. Ich hatte jedoch nicht die Absicht, entdeckt zu werden. Dies sollte der perfekte Mord werden, und das hieß, sich Zeit zu lassen. Er sollte noch ein ganzes Jahr zu leben haben. Ich wußte jedoch, daß es, je eher ich das Messer kaufte, desto schwieriger sein würde, es zwölf Monate später zu mir zurückzuverfolgen. Ich kaufte es nicht in meiner Gegend. Samstag morgens nahm ich den Zug und den Bus in eine der nordöstlich gelegenen Vorstädte und fand jenseits der Hauptstraße einen Laden mit einer Messerabteilung, der gut besucht war. Verschiedene Messer lagen zur Auswahl bereit. Die Klinge des Messers, das ich aussuchte, war etwa sechs Inches lang, aus dickem Stahl und in einen gewöhnlichen hölzernen Griff verschraubt. Ich nehme an, man benutzt dergleichen, um Linoleum zu schneiden. Im Laden wurde die rasiermesserscharfe Klinge von einer dicken Papphülle geschützt. Es fühlte sich gut an und genau richtig in meiner Hand. Ich stellte mich an die kleine Schlange vor dem Kassentisch, und der Kassierer blickte nicht einmal auf, als er mein Geld nahm und mir das Wechselgeld zuschob. Der wirklich befriedigende Teil des Unternehmens kam nun im zweiten Stadium: das Planen der Tat. Ich wollte, daß Collingford litt. Ich wollte, daß er seinen bevorstehenden Tod zur Kenntnis nahm. Es genügte mir nicht, daß er alles begreifen würde in der letzten Sekunde, ehe ich das Messer in ihn stieß, oder in der allerletzten Minute, ehe er für immer aufhören würde zu denken. Zwei Minuten der Agonie, wie grauenvoll sie auch immer sein mochten, wo-223-
gen niemals auf, was er mir angetan hatte. Ich wollte ihn wissen lassen, daß er ein zum Tode Verurteilter war, einer, der keinen Zweifel darüber verspürte, der sich jeden Morgen fragte, ob dies sein letzter Tag sei. Was aber, wenn dieses Wissen ihn vorsichtig machte, ihn wachsam werden ließ? In diesem Land war es ihm nicht erlaubt, bewaffnet herumzulaufen. Auch seinen Geschäften umgeben von gemieteten Bodyguards nachzugehen würde ihm nicht gelingen. Er konnte auch die Polizei nicht bestechen, damit sie ihn jede Sekunde des Tages im Auge behielte. Außerdem wollte er gewiß nicht, daß man ihn für einen Feigling hielt: Ich stellte mir vor, daß er nach außenhin versuchen würde, ein gänzlich normales Leben zu führen, so als wären die Bedrohungen illusionär, etwas, über das er lachte mit seinen Saufkumpanen. Er war der Typ, der Gefahren ins Gesicht lachte. Aber nie mehr würde er sich sicher fühlen. Am Ende wäre er mit den Nerven am Ende und sein Selbstvertrauen zerstört. Elsie würde ihn nicht mehr als den Mann erkennen, den sie geheiratet hatte. Gerne hätte ich ihn angerufen, aber das war, wie ich wußte, unmöglich. Telefonanrufe ließen sich zurückverfolgen, womöglich würde er sich weigern, mit mir zu sprechen. Ich war mir auch nicht so sicher, ob ich meine Stimme verstellen konnte. Sein Todesurteil mußte ihm also per Post zugestellt werden. Selbstverständlich durfte ich die Nachricht und die Adresse auf dem Kuvert nicht selbst schreiben. Meine Studien in Sachen Mord hatten mich gelehrt, wie schwierig es war, die Handschrift zu verstellen. Die Vorstellung aber, Buchstaben aus einer Zeitung auszuschneiden und zusammenzukleben schien mir schmuddelig, zeitaufwendig und kompliziert, wenn man bedachte, daß ich dabei Handschuhe tragen mußte. Mir war klar, wie verräterisch es sein konnte, meine eige-224-
ne kleine tragbare Schreibmaschine zu benutzen oder eine der Maschinen in der Bibliothek. Die Experten der Forensik konnten jede Maschine identifizieren. Und dann hatte ich eine Eingebung, die mich auf den richtigen Plan brachte, auf meinen Plan. Ich fing an, meine Samstage und gelegentlichen freien Nachmittage dazu zu nützen, in London herumzufahren. Ich suchte nach Läden, die alte Schreibmaschinen verkauften. Ich nehme an, Sie kennen diese Art von Läden, eine Vielzahl von Maschinen verschiedenen Alters werden angeboten, einige praktisch funktionsunfähig, andere vergleichsweise neu. Man hat sie auf Tischchen aufgestellt, damit der zukünftige Kunde die Möglichkeit findet, sie auszuprobieren. Es gab dort auch neue Maschinen, und der Besitzer machte sich gewöhnlich sofort daran, sie zu demonstrieren und ihre Vorzüge anzupreisen oder die Bedingungen darzulegen, unter denen sie gemietet werden konnten. Kunden wanderten ziellos im Laden herum, besahen die Maschinen, hielten manchmal inne, um probehalber einen Satz auf dieser oder jener zu tippen. Kleine Stöße von rauhem Notizpapier lagen bereit. Ich kam natürlich ausstaffiert mit meinen eigenen Schreibutensilien. Ich benutzte ein gewöhnliches, viel verkauftes Briefpapier, das man an jedem Bahnhofskiosk bekommen konnte. Alle zwei Monate kaufte ich mir einen kleinen Vorrat an Bogen und Umschlägen, und nie beim selben Laden. Immer wenn ich mich an dem Papier zu schaffen machte, trug ich ein Paar dünner Handschuhe, die ich abstreifte, sobald ich mit Tippen fertig war. Kam jemand in meine Nähe, tippte ich irgendeine Banalität über einen schlauen Rotfuchs oder darüber, daß alle guten Menschen der Partei zu Hilfe kämen. War ich aber allein, tippte ich etwas gänzlich anderes. -225-
»Dies ist meine erste Mitteilung an Sie, Collingford. Sie werden nun regelmäßig von mir hören, um Sie wissen zu lassen, daß ich Sie umbringen werde.« »Sie können mir nicht entkommen, Collingford. Sinnlos, sich an die Polizei zu wenden. Die kann Ihnen nicht helfen.« »Ich komme näher, Collingford. Haben Sie Ihr Testament gemacht?« »Lange dauert es nicht mehr, Collingford. Wie fühlt man sich als Todgeweihter?« Meine Warnungen waren nicht eben in elegantem Stil verfaßt. Als Bibliothekar hätte ich zwar einige Zitate parat gehabt, die der Sache einen Hauch von Individualität hätten verleihen können, womöglich sogar einigen ironischen Humor, um die nackte Todesdrohung zu umschreiben, aber ich wagte nicht, originell zu werden. Die Nachrichten mußten ganz gewöhnlich formuliert sein, Drohungen, wie sie jeder einzelne seiner Feinde hätte aussprechen können – ein Arbeiter, ein Geschäftsrivale, ein von ihm gehörnter Ehemann. Manchmal hatte ich Glück. Ein neuer Laden erwies sich als groß und gut bestückt. Es gelang mir, von Schreibmaschine zu Schreibmaschine zu wandern und dann mit etwa einem Dutzend Briefen und Umschlägen zu verschwinden. Immer trug ich eine gefaltete Zeitung bei mir, in der ich meinen Schreibblock und die Umschläge verbergen konnte und in die auch die frisch getippten Blätter verschwanden. Es war keine einfache Aufgabe, mich mit einem Vorrat getippter Briefe versorgt zu halten, und ich entdeckte interessante Londoner Stadtteile und dazu einige faszinierende Läden. Diesen Teil meines Unternehmens nun genoß ich am allermeisten. Ich wollte, daß Collingford zwei Nachrichten -226-
pro Woche erhielt. Eine ging am Sonntag an ihn ab, eine am Donnerstag. Ich wollte, daß er sich vor dem Freitagund Montagmorgen graute, wenn das bekannte Kuvert durch seinen Briefkastenschlitz auf seine Fußmatte plumpste. Ich wollte, daß er meine Drohungen ernst nahm. Und warum sollte er mir nicht glauben? Wie wäre es möglich gewesen, daß die Kraft meines Hasses und meiner Entschlossenheit sich nicht auf das Papier und auf die getippten Buchstaben übertrug und sein langsam immer aufnahmefähigeres Gehirn erreichten? Ich wollte mein Opfer im Auge behalten. Das sollte mir nicht schwer fallen – wir lebten in derselben Stadt –, aber unsere Leben waren durch Welten voneinander getrennt. Er war ein schwerer Trinker, der in Gesellschaft dem Alkohol zusprach. Ich besuchte niemals eine Kneipe und hätte mich in den Kneipen, die er frequentierte, ganz besonders unwohl gefühlt. Gelegentlich jedoch traf ich ihn in der Stadt. Gewöhnlich parkte er seinen Jaguar, und ich beobachtete die schnellen und beinahe verstohlenen Blikke, die er nach links und rechts warf, ehe er den Wagen verschloß. Bildete ich mir nur ein, daß er älter wirkte und daß sein Selbstvertrauen schwächer geworden war? Einmal, als ich am Fluß spazieren ging an einem Sonntag im Frühling, sah ich ihn sein Boot durch die Teddington Schleuse manövrieren. Ilsa – sie hatte, wie ich wußte, ihren Namen nach der Hochzeit geändert – war bei ihm. Sie trug einen weißen Hosenanzug, und ihr im Wind flutendes Haar war mit einem roten Band zusammengehalten. Sie waren mit Freunden unterwegs. Ich sah zwei weitere Männer und ein paar Mädchen und hörte das hohe Gezwitscher weiblichen Gelächters. Schnell wandte ich mich ab und machte mich davon, als wäre ich schuldig, aber nicht, ehe ich einen Blick auf Collingfords Gesicht geworfen hatte. Diesmal konnte ich mich nicht täuschen; sicher-227-
lich war es nicht die Anstrengung, die es ihn kostete, das Boot unbeschadet durch die Schleuse zu manövrieren, die sein Gesicht grau machte und überaus angespannt. Die dritte Phase meines Planes bedeutete, daß ich umziehen mußte. Leid tat mir das nicht. Der Bungalow, so weiblich und chintzgerüscht, nach frischer Farbe riechend und vollgestopft mit billigen Möbeln, die sie ausgesucht hatte, gehörte zu Elsie, war ihr Heim, nicht das meine. Ihr Duft hielt sich noch immer in den Schränken und in den Kissen. In dieser unangemessenen Umgebung hatte ich größere Glückseligkeit erlebt, als ich sie je wieder würde empfinden können. Nun aber tigerte ich ruhelos von einem leeren Zimmer ins nächste und wollte nichts anderes als ausziehen. Vier Monate brauchte ich, um das Haus zu finden, das ich haben wollte. Es mußte am oder aber ziemlich nahe beim Fluß liegen, etwa drei Meilen flußauf von Collingfords Haus. Es mußte klein sein und erschwinglich. Geld war zwar nicht mein Problem. Es war die Zeit der steigenden Hauspreise, und ich konnte den modernen Bungalow um dreihundert Pfund teurer veräußern, als ich ihn gekauft hatte. Ich hielt es jedoch für möglich, daß ich für das, was ich suchte, bar bezahlen mußte. Die Wohnungsagenten verstanden sofort, daß ein Junggeselle einen Bungalow mit drei Schlafzimmern zu groß für sich fand, und obgleich sie meine Vorstellungen von dem, was ich suchte, für ziemlich verschwommen hielten und von der Genauigkeit, mit der ich ihre Angebote verwarf, irritiert waren, schlugen sie mir dennoch immer wieder neue Objekte vor. Und dann, eines schönen Nachmittags im April, fand ich genau das, wonach ich suchte. Das Ding stand genau am Fluß, nur durch einen schmalen Pfad von ihm getrennt. Es war ein schuppenartiger Holzbungalow mit einem Schlafzimmer und Ziegeldach. Er lag auf einem schmalen Grundstück mit welkem Gras und über-228-
wucherten Blumenbeeten. Einmal hatte es einen hölzernen Steg gegeben, aber nun waren die beiden übrig gebliebenen Planken von Unkraut überwuchert und von verrotteten Seilen umwunden, halb im Schlamm des Flußufers versackt. Die Farbe der schmalen Veranda war lange schon abgeblättert. Die Tapete mit ihren verschlungenen Rosen im Wohnzimmer zeigte Flecken und war verschossen. Der Vormieter hatte zwei alte Rohrstühle und einen wackligen Tisch hinterlassen. Die Küche war dumpf und spärlich möbliert. Überall hing der Dunst von Feuchtigkeit und Fäulnis in der Luft, eine Aura von Depressionen und Zerfall. Im Sommer, konnte man sich vorstellen, wenn die Nachbarbungalows von Urlaubern besetzt waren und von Wochenendgästen, ließ es sich hier sicher aushalten. Aber im Oktober, und das war der Monat, in dem ich Collingford zu töten gedachte, würde hier alles verlassen sein, abgeschnitten vom Leben wie eine nicht mehr benutzte Leichenhalle. Ich kaufte das Ding und zahlte bar. Es gelang mir sogar, den Preis um einhundert Pfund herunterzuhandeln. Mein Leben in diesem Sommer konnte man fast als glücklich bezeichnen. Ich versah meine Arbeit in der Bibliothek gewissenhaft. Ich hauste allein in meinem Schuppen und sorgte für mich selbst, so wie ich es vor meiner Hochzeit getan hatte. Ich verbrachte meine Abende damit fernzusehen. Die Bilder flackerten an meinen Augen vorbei, ohne daß ich sie wirklich wahrnahm; ein monochromer Hintergrund für meine blutigen und obsessiven Gedanken. Ich übte mit dem Messer, bis es meiner Hand so vertraut war wie ein Eßbesteck. Collingford überragte mich um sechs Inches. Der Stoß mußte also aufwärts geführt werden. Das bestimmte die Art, wie ich das Messer hielt. Ich -229-
experimentierte herum, um den bequemsten und effizientesten Halt am Griff zu finden. An der Schlafzimmertür hängte ich ein Keilkissen auf, an dem ich eine Markierung angebracht hatte. Ich übte zuzustechen, manchmal bis zu vier Stunden hintereinander. Selbstverständlich stach ich nicht wirklich zu, nichts durfte die scharfe Klinge stumpf machen. Einmal die Woche, zu meinem besonderen Vergnügen, schliff ich die Schneide zu noch größerer Schärfe zurecht. Zwei Tage, nachdem ich in den Bungalow gezogen war, kaufte ich mir einen dunkelblauen einfachen Trainingsanzug und ein Paar leichter Laufschuhe. Den ganzen Sommer verbrachte ich hin und wieder einen Abend damit, den Pfad vor meinem Haus entlang zu rennen. Die Leute, denen die benachbarten Chalets gehörten – wenn sie zu Hause waren, was selten vorkam –, gewöhnten sich an das Geräusch meines Fernsehers durch die geschlossenen Vorhänge und an den Anblick meiner Gestalt, die an ihren Fenstern vorbeijoggte. Ich hielt mich fern von ihnen, ich hielt mich fern von jedermann, und der Sommer ging allmählich in den Herbst über. Alle Chalets schlossen ihre Fensterläden, bis auf meines. Der Fußweg wurde schlüpfrig vom herabgefallenen Laub. Die Dämmerung kam immer früher, und die Sommerszenen und Geräusche, die den Fluß belebt hatten, erstarben langsam. Und es wurde Oktober. Seine Zeit zum Sterben war an einem Donnerstag, dem 17. Oktober gekommen, dem Tag, an dem unsere Scheidung endgültig ausgesprochen worden war. Es mußte ein Donnerstag sein, einer jener Abende, die er gewohnt war, allein in seiner Werkstatt zu verbringen, und es schien mir ein gutes Omen, daß der Jahrestag unserer Scheidung gerade auf jenen Donnerstag fiel. Ich wußte, er würde da -230-
sein. Jeden Donnerstag, fast ein ganzes Jahr hindurch, war ich am Abend bei Dämmerung die zweieinhalb Meilen des Pfades entlang gelaufen und hatte sodann kurz gerastet, um die hell erleuchteten Fenster im dunklen Würfel seines Hauses jenseits des Flusses zu beobachten. Es war ein warmer Abend. Es hatte den ganzen Tag leicht geregnet, aber nun, als es Abend wurde, klarte der Himmel auf. Ein zarter weißer Sichelmond spiegelte sich mit bebenden Lichtbändern im Fluß. Ich verließ die Bibliothek zur gewohnten Zeit und murmelte meine üblichen Abschiedsworte. Ich wußte, daß ich den ganzen Tag über mein normales Selbst gewesen war, einsam und gelegentlich ein wenig sarkastisch, ich war mir bewußt, daß ich keine Anzeichen innerer Erregung gezeigt hatte. Ich war nicht hungrig, als ich zu Hause ankam, aber ich zwang mich zu einem Omelette und zwei Tassen Kaffee. Ich zog meine Badehosen an und hängte eine Plastiktasche mit dem Messer um meinen Hals, darüber streifte ich den Trainingsanzug und steckte ein Paar Gummihandschuhe in die Tasche. Dann, etwa gegen sieben Uhr fünfzehn, verließ ich meine Hütte und lief in mäßigem Trott den Pfad entlang. Als ich zu dem von mir ausgewählten Platz gegenüber Collingfords Haus kam, sah ich sogleich, daß alles zum Besten stand. Das Haus lag im Dunkeln, aber wie gewöhnlich brannten die Lichter in der Werkstatt. Ich sah das Motorboot am Steg des Bootshauses verankert liegen. Ich stand ganz still da und lauschte. Kein Laut. Selbst die leichteste Brise hatte sich gelegt und die gelbgefärbten Blätter am Flußufer hingen bewegungslos herunter. Der Pfad lag völlig verlassen da. Ich schlüpfte in den Schatten an der Hecke, dort wo die Bäume am dichtesten standen, und fand die Stelle, die ich schon vor langer Zeit ausgespäht hatte. Ich zog die Gummihandschuhe über, schlüpfte aus dem Trainingsanzug und ließ ihn um die -231-
Turnschuhe gewickelt unter der Hecke zurück. Dann, immer noch vorsichtig nach rechts und links spähend, machte ich mich zum Fluß auf. Ich wußte genau, wo ich ins Wasser gehen und wo ich es verlassen mußte. Ich hatte eine Stelle ausgewählt, an der das Ufer eine sanfte Biegung machte. Das Wasser war dort seicht und der Grund fest und relativ wenig schlammig. Das Wasser kam mir kalt entgegen, aber damit hatte ich gerechnet. Jede Nacht in diesem Herbst hatte ich mich eiskalt gebadet, um mich auf diesen Schock vorzubereiten. Ich schwamm über den Fluß, mit ruhigen und methodischen Zügen, die kaum die dunkle Oberfläche des Wassers aufwühlten. Ich versuchte, mich von der hellen Mondspur auf dem Wasser fernzuhalten, aber ab und zu geriet ich in den silbernen Schimmer und sah meine rot behandschuhten Hände vor mir das Wasser teilen, als wären sie jetzt schon mit Blut besudelt. Ich benutzte Collingfords Landungssteg, um jenseits des Flusses herauszuklettern. Wieder stand ich da und lauschte. Nichts war zu hören, als das immerwährende Seufzen des Flusses und ab und zu der verlorene Ruf eines Nachtvogels. Leise pirschte ich mich über den Rasen. Vor der Tür seiner Werkstatt hielt ich abermals inne, denn von drinnen kam das Geräusch irgendeiner Maschine. Ich fragte mich, ob die Tür versperrt sei, aber sie öffnete sich sofort, als ich am Türknopf drehte. Ich trat in das gleißende Licht. Ich wußte genau, was ich zu tun hatte. Ich war vollkommen ruhig. In etwa vier Sekunden war alles vorbei. Ich glaube nicht, daß er eine Chance hatte. Er war so vertieft in das, was er tat, über die Drehbank gebeugt, und der plötzliche Anblick eines halbnackten Mannes, der entschlossen auf ihn zuschritt, traf ihn so überraschend, daß er wortwörtlich impotent war. Aber dann, nach dieser er-232-
sten lähmenden Sekunde, erkannte er mich. O ja! Er erkannte mich. Ich zog meine rechte Hand hinter meinem Rücken hervor und stieß zu. Das Messer senkte sich so wunderbar in sein Fleisch, als sei es Butter. Er taumelte und fiel. Das hatte ich erwartet, ich entspannte mich und ließ mich über ihn fallen. Seine Augen blickten glasig, aus seinem offenen Mund brach ein Schwall dunkelroten Bluts. Ich drehte das Messer grausam in der Wunde und genoß das Geräusch der reißenden Sehnen. Dann wartete ich. Ich zählte langsam bis fünf, hob mich dann von seiner hingestreckten Gestalt und kroch hinter ihn, ehe ich das Messer herauszog. Als ich es herauszog, stieg eine bogenförmige Fontäne süß duftenden Bluts aus seiner Kehle. Eines aber werde ich nie vergessen. Sein Blut muß rot gewesen sein, welche andere Farbe sollte es wohl gehabt haben? Aber in diesem Augenblick und für alle Zeiten sah es für mich aus wie ein goldener Strom. Ich untersuchte meinen Körper nach Blutspuren, ehe ich die Werkstatt verließ, und spülte meine Arme unter dem kalten Wasser ab, das aus dem Hahn seines Waschbeckens kam. Meine nackten Füße hinterließen keine Spuren auf dem Holzboden. Ich schloß die Tür leise hinter mir, und wieder stand ich still und lauschte. Kein Geräusch. Das Haus lag dunkel und leer. Der Rückweg erschien mir viel erschöpfender, als ich es je für möglich gehalten hätte. Der Fluß war in meinem Empfinden plötzlich viel breiter geworden, und ich fürchtete, mein Heimatufer nie mehr zu erreichen. Wie froh war ich, daß ich die seichte Stelle im Fluß gewählt hatte und das Ufer fest war. Ich glaube nicht, daß ich damals die Kraft gehabt hätte, mich durch Barrieren von Dreck und Schlamm zu arbeiten. Ich zitterte heftig, als ich den Reißverschluß meines Trainingsanzugs schloß, und ich verbrauchte wertvolle -233-
Sekunden, um in meine Turnschuhe zu kommen. Nachdem ich etwa eine Meile den Pfad entlanggetrabt war, beschwerte ich den Sack, in dem das Messer lag, mit einem Stein und schleuderte ihn in die Mitte des Flusses. Man würde einen Teil der Themse nach der Waffe abfischen, so dachte ich mir, aber ich hielt es für unwahrscheinlich, daß sie den gesamten Fluß durchkämmen würden. Und selbst, wenn dies geschehen sollte, sah der Plastiksack aus wie tausend andere und würde sie samt dem Messer schwerlich auf meine Spur führen. Ein halbe Stunde später langte ich in meinem Häuschen an. Der Fernseher lief, und gerade gingen die Nachrichten zu Ende. Ich machte mir eine Tasse Kakao und sah mir den Rest der Sendung an. Ich fühlte mich so erschöpft, kraftlos und leer im Kopf, als hätte ich gerade mit einer Frau geschlafen. Mein ganzes Bewußtsein war erfüllt von Müdigkeit und dem Gefühl der Wärme, die dort neben dem elektrischen Ofen und in dem großen Frieden langsam in meine Glieder zurückflutete. Gewiß hatte er einige Feinde gehabt, wahrscheinlich ziemlich viele. Es dauerte immerhin vierzehn Tage, ehe die Polizei bei mir auftauchte, um mich zu befragen. Zwei Beamte kamen: ein Detective Inspector und ein Sergeant, beide in Zivil. Der Sergeant übernahm das Reden, der andere saß da und schaute sich im Zimmer um, sah hinaus auf den Fluß und auf uns beide. Er betrachtete uns nachlässig und mit kalten grauen Augen, als wäre die ganze Untersuchung eine notwendige, aber langweilige Quälerei für ihn. Der Sergeant ließ die üblichen beruhigenden Platitüden hören, was die paar Fragen betraf, die er mir zu stellen gedachte. Ich war nervös, aber das flößte mir keine Furcht ein. Sie erwarteten von mir, daß ich nervös war. Ich ermahnte mich selbst nachdrücklich, auf keinen Fall den -234-
Schlaukopf spielen zu wollen. Ich durfte nicht zuviel sprechen. Ich hatte beschlossen, ihnen zu erzählen, ich hätte den ganzen Abend ferngesehen. Ich war mir ziemlich sicher, daß dies niemand widerlegen könne. Ich war mir sicher, daß kein Freund zufällig auf Besuch hereingeschneit sein könnte. Von meinen Kollegen in der Bibliothek wußte nicht ein einziger genau, wo ich hauste. Und ich hatte kein Telefon. Die Sorge, jemand hätte mich zur Mordzeit angerufen und keine Antwort erhalten, erübrigte sich. Im Ganzen gesehen war alles einfacher, als ich erwartet hatte. Nur einmal fühlte ich eine leise Gefahr. Das war, als sich der Inspektor ganz unvermutet einmischte. Er sagte mit grober Stimme: »Er hat Ihre Frau geheiratet, wie? Hat sie Ihnen weggeschnappt, würden einige Leute sagen. Und ein leckeres Frauchen – so wie die aussieht. Waren Sie nicht untröstlich? Oder lief alles nett und zivilisiert ab? Nimm sie dir, alter Junge, ich kann es Dir nicht verübeln… oder so in der Art?« Es fiel mir nicht leicht, die Verachtung in seiner Stimme hinzunehmen, aber wenn er glaubte, mich provozieren zu können, lag er schief. Diese Frage hatte ich erwartet. Ich war auf sie vorbereitet. Ich betrachtete meine Hände und wartete ein paar Sekunden, ehe ich sprach. Ich wußte genau, was ich sagen würde. »Ich hätte Collingford töten können, als sie mir zum ersten Mal von ihm erzählte. Aber ich habe die Geschichte verdaut. Sie war hinter dem Geld her, wissen Sie. Und wenn man eine Frau hat, die so ist, nun, dann kann man praktisch abwarten, daß sie einen früher oder später sitzen läßt. Besser früher als später, wenn man womöglich Familie hat. Man sagt sich, gottlob ist man sie los. Damit will ich nicht sagen, das hätte ich gleich zu Anfang so empfun-235-
den. Aber gegen Ende dann schon. Natürlich. Zuletzt war ich froh, daß sie ging, wirklich.« Mehr habe ich über Elsie nie gesagt, nicht in diesem Moment und auch später nicht mehr. Dreimal kamen sie wieder. Sie wollten sich in meinem Häuschen umsehen. Sie sahen sich um. Sie nahmen zwei Anzüge mit und den Trainingsanzug, um alles zu untersuchen. Zwei Wochen später waren sie wieder da, ganz ohne Erklärung. Ich wußte nie, was für einen Verdacht sie hegten oder ob sie überhaupt einen hatten. Jedesmal, wenn sie kamen, sagte ich eher weniger als mehr. Meine Geschichte erzählte ich stets auf die gleiche Weise. Nie ließ ich es zu, daß sie mich provozierten. Ich erlaubte ihnen nicht, in meiner Ehegeschichte herumzustochern oder mich dazu zu bringen, über den Mord zu sprechen. Ich saß einfach da und erzählte ihnen immer wieder dieselben Geschichten. Nie fühlte ich mich ernsthaft in Gefahr. Ich wußte, daß sie den Fluß ziemlich lange und akribisch abgefischt haben. Die Waffe kam nicht zu Tage. Schließlich gaben sie auf. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich auf ihrer Liste von Verdächtigen ziemlich weit unten rangierte und daß sie am Schluß nur noch zu mir kamen, um die Form zu wahren. Es dauerte drei Monate, ehe Elsie sich zu mir bequemte. Ich war froh, daß sie nicht früher kam. Es hätte Verdacht erregen können, wenn sie bei mir aufgetaucht und mit der Polizei zusammengetroffen wäre. Ich hatte sie seit Collingfords Tod nicht mehr gesehen. In den Lokalblättern und auch in der internationalen Presse waren Fotos von ihr erschienen: Elsie zerbrechlich in schlichten schwarzen Pelzen und mit einem schwarzen Hut bei der Vernehmung, Elsie tapfer und beherrscht im Krematorium, Elsie in ihrem Wohnzimmer im Nachmittagskleid mit Perlen in einem Sessel sitzend, den Hund ihres Gatten zu Füßen – die personifizierte Einsamkeit und Trauer. -236-
»Ich kann mir nicht vorstellen, wer so etwas getan hat. Das muß ein Verrückter gewesen sein. Rodney hatte in der ganzen Welt keinen einzigen Feind.« Diese Aussage erregte die Gemüter in der Bibliothek auf unterschiedlichste Weise. Ein Assistent sagte: »Er hat ihr ein Vermögen hinterlassen, höre ich. Was für ein Glück für sie, daß sie ein Alibi hatte. Sie war an diesem Abend im Theater, ›Macbeth‹. Anderenfalls – wenn man dem Glauben schenkt, was über unseren guten Rodney Collingford gemunkelt wird – hätten die Leute vielleicht seltsame Ideen entwickelt, was seine süße kleine Witwe betrifft.« Er warf mir einen verlegenen Blick zu, als ihm zu spät einfiel, von wem er da sprach. Also, an einem Freitag kam sie zu mir. Sie fuhr selbst und war alleine. Der dunkelgrüne Saab parkte vor meinem windschiefen Häuschen. Sie kam ins Wohnzimmer und sah verwirrt und mit ein wenig Verachtung um sich. Nach einem Augenblick, und sie sagte kein Wort, setzte sie sich in einen der Kaminstühle und kreuzte die Beine, wobei sie zärtlich die Knöchel aneinander rieb. So hatte ich sie früher oft sitzen sehen. Sie blickte zu mir auf. Ich stand mit trockenen Lippen und steifem Rücken vor ihr. Als ich sprach, konnte ich meine eigene Stimme kaum erkennen. »Du bist also zurückgekommen«, sagte ich. Sie starrte mich ungläubig an, und dann lachte sie: »Zu dir? Für immer? Sei doch nicht töricht, Liebling! Ich bin hier zu Besuch. Außerdem, würde ich mich wirklich trauen, zurückzukommen zu dir? Wohl kaum. Es könnte ja sein, daß ich Angst haben müßte, daß du mir ein Messer in die Kehle rammst.« Ich konnte nicht sprechen. Ich glotzte sie an und fühlte, wie alles Blut aus meinem Kopf strömte. Dann hörte ich -237-
ihre hohe und irgendwie kindliche Stimme. Sie klang beinahe freundlich. »Hab keine Angst. Ich werd’s niemandem erzählen. Du hattest recht mit ihm, Liebling, du hattest recht von Anfang an. Er war wirklich überhaupt nicht nett. Und geizig! Deinen Geiz habe ich ja nicht so schlimm gefunden. Immerhin verdienst du ja nicht gerade viel, nicht wahr. Aber er hatte eine halbe Million Pfund! Denk mal, Schatz. Er hat mir eine halbe Million Pfund hinterlassen! Und er war so ein Geizkragen, daß er mich weiterarbeiten lassen wollte nach der Hochzeit, als seine Sekretärin. Ich habe seine Briefe getippt! Wirklich, das habe ich getan! Jedenfalls alle, die er von zu Hause aus abschickte. Und ich mußte morgens jeden Tag seine Post öffnen, wenn da nicht kleine Geheimzeichen auf den Umschlägen waren. Die hatte er seinen Freunden beigebracht, damit ich wußte, daß diese Briefe privat waren.« Ich sagte mit steifen Lippen: »Also sind all meine Nachrichten…« »Die hat er nie gesehen, Liebling. Also, ich wollte ihn ja nun nicht ängstigen, oder? Und ich wußte, daß sie von dir waren! Das wußte ich sofort, als die ersten ankamen. Du konntest ja nie ›Mitteilung‹ richtig schreiben, nicht wahr? Ich habe das bemerkt, als du die Briefe an die Makler schriebst und an den Notar, ehe wir heirateten. Ich habe darüber lachen müssen, wenn man bedenkt, daß du ein Bibliothekar mit guter Schulbildung bist und ich nichts als ein Ladenmädchen.« »Du hast es die ganze Zeit gewußt? Du wußtest, was geschehen würde?« »Also, ich hielt es immerhin für möglich. Aber Schatz, er war wirklich widerlich. Du kannst dir das gar nicht vorstellen, und jetzt besitze ich eine halbe Million! Ist es nicht -238-
ein Glück, daß ich ein Alibi habe? Ich dachte mir irgendwie, daß du an diesem Donnerstag aufkreuzen würdest. Und Rodney hat sich ja aus Theater nie etwas gemacht.« Nach diesem kleinen Besuch habe ich sie nie mehr gesehen oder mit ihr gesprochen. Ich blieb in dem Häuschen wohnen, aber nach Collingfords Tod war das Leben irgendwie sinnlos geworden. Das Planen seines Mordes hatte trotz allem mein Dasein interessant gemacht. Ohne Elsie und ohne mein Opfer war es ein bißchen sinnlos weiterzumachen. Und etwa ein Jahr nach seinem Tod fing ich an zu träumen. Ich träume noch immer am Montag und Freitag. Ich durchlebe noch einmal alles: den lautlosen Lauf den aufgeweichten Pfad entlang, durch welke Blätter und Schlamm, und wie ich leise über den Fluß schwimme, wie ich leise die Tür öffne, wie ich zustoße mit dem Messer, wie ich es grausam in der Wunde umdrehe, das tierische Geräusch reißenden Gewebes, der gewölbte Strahl goldenen Blutes. Einzig, wenn ich zurückschwimme, ist es anders im Traum. Der Fluß in meinem Traum ist nicht klar und vom Sichelmond silbrig und durchscheinend, sondern dickflüssig und schwärzlich, ein träge dahinströmender Fluß aus klebrigem Blut, durch den ich mich kämpfe, in hilfloser Panik auf eine unaufhaltsam zurückweichende Uferlinie zu. Ich kenne die Bedeutung dieses Traums. Über die Psychologie der Schuldgefühle habe ich alles gelesen. Seit ich Elsie verloren hatte, lebte ich einzig durch meine Bücher. Aber lesen hilft nichts. Und ich weiß nicht mehr genau, wer ich bin. Ich weiß, wer ich einmal war: unser hiesiger Bibliotheks-Assistent, ein sanfter Scholar, furchtsam und Elsies Ehemann. Aber dann habe ich Collingford getötet. Der Mann, der ich einmal war, hätte so etwas nie fertiggebracht. Er war so ein sanfter Mann. Also, wer bin ich -239-
jetzt? Es wundert mich nicht, daß die Leitung der Bibliothek mir taktvoll vorschlug, eine weniger aufregende Arbeit anzunehmen. Einen weniger aufregenden Job als Bibliotheks-Assistent? Man kann ihnen keinen Vorwurf machen. Kein Mensch kann tüchtig und gewissenhaft sein und seinen Kopf bei der Arbeit haben, wenn er nicht genau weiß, wer er eigentlich ist. Manchmal, wenn ich in der Kneipe hocke – und ich glaube, seit ich arbeitslos bin, verbringe ich die meiste Zeit dort –, sehe ich jemandem über die Schulter und entdecke in der Zeitung ein Foto von Elsie: »Das ist die schöne Ilsa Mancelli«, sage ich. »Ich war ihr erster Ehemann.« Ich habe mich daran gewöhnt, daß die Leute von mir abrücken, von mir, dem stets präsenten Kneipenlangweiler: Sie schauen woanders hin, sie sprechen mit einem Mal lauter miteinander. Aber manchmal vielleicht, wenn sie gerade Glück gehabt haben, beim Pferderennen etwa, überkommt sie so etwas wie Mitleid für den armen verwirrten Sauhund, und sie schieben ein paar Münzen über die Theke, zum Barkeeper, damit er mir ein Glas einschenkt, wenn sie aus der Tür sind.
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NEDRA TYRE Ein Mord aus Hilfsbereitschaft
Dieser Frühsommermorgen hätte gar nicht schöner sein können, und Mary Williams hätte niemals gedacht, daß der Tod so nahe war wie die Rosen im Garten oder die Rotkehlchen im Kirschbaum vor dem Küchenfenster. Gewalt war etwas Fernes, und als der Morgen allmählich in den Mittag überging und das Essen im Backofen und auf dem Herd garte, war das große, weitläufige Haus von nichts als Liebe erfüllt. Dann war plötzlich alles gleichzeitig fertig, und sie war vollständig davon in Anspruch genommen, die Flammen abzudrehen und das Essen aus Töpfen und Pfannen auf Tellern anzurichten, die sie in das Speisezimmer trug und auf den Tisch stellte. Dann ging sie in die Küche zurück, um ihre gestreifte Baumwollschürze gegen eine aus Organdy auszutauschen. »Mary.« Ihr Mann rief von der Treppe, die zum Dachgeschoß führte, nach ihr. Das Dachgeschoß hatte es ihm angetan. Er arbeitete dort lieber als in seinem Arbeitszimmer. Den Krimskrams dort oben zu durchstöbern verlor nie seinen Reiz für ihn. »Ja, Liebling«, rief sie zu ihm hinauf. Die Zuneigung in ihrer Stimme entsprach ganz der, die in seiner lag. Seine Schritte näherten sich. Sie wirkten leicht und freudig – eine junge Gemse, die auf Bergeshöhen entlanghüpft, hätte sich nicht sicherer bewegen können. Es war immer noch unbegreiflich, daß ihr so agiler, lebhafter -241-
Mann als Leiter der Mordkommission schon vor fünf Jahren in den Ruhestand versetzt worden war. Seine flinken Schritte kamen näher, und schließlich hörte sie, wie er das Speisezimmer betrat. Dann war es still, und sie wußte, daß seine Augen beim Anblick des Spargels aufleuchten würden. Gepriesen sei Mr. Martin, der ihn extra für sie aufbewahrt hatte – er war wirklich ein liebenswürdiger Mensch und so ein tüchtiger Gemüsehändler. Der erwartungsvolle Blick ihres Mannes war sicher mit Behagen vom Spargel zum Schinken gewandert, dann weiter zu den gekochten Maiskolben und zum Gurkensalat. Bestimmt hatte seine Nase schon den Duft der Biskuits erschnuppert, die sie gerade aus dem Backofen holte; die Vorfreude auf das Essen hatte ihn von dem abgelenkt, was er eigentlich gerade sagen wollte, als er vom dritten Stock zu ihr heruntergerufen hatte. Welch eine Freude ihr Ehemann doch war! – ein charmanter Gesprächspartner, ein leidenschaftlicher Liebhaber, und welch ein Vergnügen war es doch, für ihn zu kochen! Mary Williams hatte erst spät geheiratet. Aber auch ohne Ehe hatte sie ein zufriedenes Leben geführt. Sie hatte zwar durchaus was für Männer übrig gehabt, sie hatte sie auch geliebt, und sie war zweimal verlobt gewesen. Aber als sie und Donald, ihr erster Verlobter, ans Heiraten gedacht hatten, war er versetzt worden. Ihre Mutter war erkrankt und wollte keine andere Pflegerin als Mary um sich haben. Donald wollte damals gerne heiraten, und man konnte von einem Mann wirklich nicht erwarten, daß er endlos wartete, besonders dann nicht, wenn er weit weg in einer fremden Stadt lebte. So hatte er eben ein Mädchen, das er dort kennengelernt hatte, geheiratet. -242-
Dann hatte sie sich in John verliebt. Aber gerade als sie heiraten wollten, hatte Cousine Margaret ihr eine Erbschaft hinterlassen, und Mary wollte reisen. John konnte sich nicht länger als sechs Wochen beurlauben lassen, und ganz abgesehen davon behauptete er auch, daß die guten alten Vereinigten Staaten das einzige wären, was er je sehen wollte. Er war davon überzeugt, daß Mary ihre Pläne mit Bangkok und Beirut, wo Cholera und Typhus und Gott weiß welche Krankheiten grassierten, gar nicht so ernst meinte. Aber sie hatte sie sehr wohl so gemeint. Sie war abgereist und hatte die interessanteste Zeit ihres Lebens verbracht. Deshalb hatte John Peggy Wilson geheiratet. Sie hatten zweimal Zwillinge und einmal Drillinge und waren glücklich und zufrieden. So kam eines zum anderen, und Mary blieb unverheiratet. Zuletzt dachte sie schon gar nicht mehr daran. Das Leben machte auch so Spaß. Auch als ihre Eltern gestorben und ihre Geschwister weggezogen waren, war ihr Leben ausgefüllt. Sie liebte ihr altes Elternhaus und kümmerte sich nicht darum, daß man sagte, es sei viel zu groß für sie, um alleine darin zu leben – man stelle sich nur vor, eine kaum fünf Fuß große Person hatte ein dreistöckiges Haus mit fünfzehn Zimmern ganz für sich alleine! Sie hatte sich tatsächlich alle Gedanken ans Heiraten aus dem Kopf geschlagen und sich damit abgefunden, nichts weiter als eine unter den drei Millionen – oder wie hoch die Zahl auch immer war – überschüssiger, unverheirateter Frauen zu sein. Wer hätte wohl gedacht, daß sich in einer Gesprächsrunde zu dem Thema ›Berühmte Bücher‹ eine Romanze für sie anbahnen würde? Aber genau so war es. Und das ausgerechnet in der Stadtbibliothek. Es waren eine ganze Reihe netter Männer in der Gruppe, aber Tom Williams war der netteste und intelligenteste unter ihnen. Und wie eindrucksvoll er über De Quinceys -243-
›Levana‹, Mills ›Die Freiheit‹ und Miltons ›Aeropagitica‹ zu diskutieren verstand. Eines Abends ergab es sich dann, daß er sie fragte, ob er sie nach Hause bringen dürfe. Sie sagte ja, und von da an blieb es dabei, daß sie ja zu seinen Vorschlägen sagte und – siehe da! – nach drei Monaten war sie mit einem pensionierten Polizisten verheiratet. Denn Tom Williams war zwar Leiter der Mordkommission gewesen, aber das war auch nichts anderes als Polizist. Er war schon in den Ruhestand getreten, bevor sie heirateten, aber er war immer noch sehr beschäftigt: Mit Gruppen von ehrenamtlichen Helfern bemühte er sich, etwas gegen die Jugendkriminalität zu unternehmen, und zweimal in der Woche hielt er Vorlesungen an der Universität zu diesem oder jenem Thema, das mit moderner Verbrechensaufklärung zu tun hatte. Aber sein Hauptvergnügen war es, sich in alte, ungelöste Kriminalfälle zu versenken, die sich in der Stadt oder im ganzen Land zugetragen hatten. Er glaubte fest daran, daß viele von ihnen noch aufgeklärt werden könnten. Sie liebte ihn, weil er gut aussah und so liebenswürdig, freundlich und intelligent war. Manchmal dachte sie, daß sie ihn aber am meisten wegen seines Appetits liebte. »Köstlich«, sagte er, als er noch eine Scheibe Schinken nahm und sie verspeiste. »Mary, die Jahre mit dir sind die glücklichsten in meinem Leben. Damit will ich Alice nicht herabsetzen. Sie war mir all die zwanzig Jahre eine vortreffliche Ehefrau. Es sind nicht nur deine Kochkünste«, fügte er hinzu, als er nach seinem vierten Biskuit griff. Als er das sagte, war er ganz ernst und feierlich. Ihre Augen leuchteten, als sie antwortete: »Ja, Liebling, ich weiß genau, daß es nicht nur an meinen Kochkünsten -244-
liegt. Aber was wolltest du mich fragen, als du vom Dachboden herabriefst?« »Über dieses köstliche Essen habe ich es vergessen. Ich wollte dich gerade fragen, ob du je einen Augustin Jason gekannt hast.« »Augustin Jason? Müßte ich ihn denn kennen? Nein, Liebling, ich glaube nicht.« Sie stand auf, um die Teller abzuräumen. Als sie das Geschirr ins Spülbecken gestellt hatte, holte sie Eiscreme aus dem Tiefkühlfach und füllte zwei Sorbetgläser. Dann goß sie noch Schokoladensoße über das Eis und trug das Dessert ins Eßzimmer. Die Augen ihres Mannes strahlten vor Freude wie die eines Kindes, das man mit einem Geschenk überrascht hat. »Das ist der würdige Abschluß eines perfekten Essens«, bemerkte er. Mary Williams dachte bei sich: Es gibt keine beglückendere Aufgabe für eine Frau, als einen kräftigen Appetit zu stillen. »Mach nun dein Mittagsschläfchen, Liebling«, drängte sie ihn, als er sein Dessert aufgegessen hatte. Dann frönten sie wieder ihrem liebevollen Geplänkel über das Geschirrspülen. Er hatte zwar, seit er in dieses Haus gezogen war, niemals Geschirr gespült. Aber er bot sich stets an und tat so, als ob es seiner Meinung nach eigentlich seine Aufgabe sei und nur ihre strengen Ansichten ihn davon abhielten. »Nun gut, Liebling«, kapitulierte er. »Aber nur, wenn du mich nach dem Abendessen abwaschen läßt.« Die Liebe zu ihrem Mann war die Quelle ihrer Lebensfreude, dachte sie, als sie das Spülbecken mit Wasser füllte, Spülmittel hinein gab und die Lauge durchrührte. Als -245-
sie mit dem Geschirr fertig war, fiel ihr ein, daß sie noch das ganze Silber putzen mußte. Augustin Jason. Irgendwie kam ihr der Name bekannt vor. Vielleicht kannte sie ihn doch. Augustin Jason. »O Gott, so hieß ja der Mann, den ich ermordet habe!« erinnerte sie sich plötzlich. Falls man das überhaupt als Mord bezeichnen konnte. Ihr Mann jedoch, der sich ein Leben lang für die Verschärfung der Gesetze eingesetzt hatte, würde es sicherlich so nennen. Verdammt! Was hatte ihr Mann eigentlich vor? Sie wußte, daß er einen großen Teil seiner Zeit damit verbrachte, ungelöste Kriminalfälle aufzuklären, und der Mordfall Jason war nie aufgeklärt worden. Ihr Mann, der verehrte und überschwenglich gepriesene pensionierte Leiter der Mordabteilung, war so brillant und so gründlich, daß er ihn sicherlich aufklären würde. Es war ihr Glück, daß er verübt worden war, lange bevor er nach Kingborough gezogen war. Der Mord war Mary Williams einfach so passiert – sie war hineingestolpert, wie in einen Unfall, und es war für sie die einfachste Sache der Welt gewesen. Selbst wenn sie damals ihre Schuld gestanden hätte, hätte ihr niemand geglaubt. Man konnte fast sagen, sie hatte den Mord aus Hilfsbereitschaft verübt – ja, als eine Art Gefälligkeit ihrer Freundin gegenüber. Nach einer Weile hatte sie überhaupt nicht mehr daran gedacht. Sie hatte das Ganze doch wirklich und wahrhaftig ganz und gar vergessen. War das nicht Beweis genug, daß -246-
sie sich nicht schuldig fühlte, wenn ihr nicht einmal der Name Augustin Jasons bekannt vorkam, als ihr Mann sie danach fragte? Und dieses Mädchen. Also, Mary Williams wußte nicht einmal mehr, wie das Mädchen geheißen hatte! Es war irgend ein simpler Name, der auf ungewöhnliche Weise geschrieben wurde. Oh, nun erinnerte sie sich – sie hieß Betty, aber Bety geschrieben. Ein bedauernswertes, trauriges, verrücktes kleines Ding. Sie hatten in demselben Büro, in derselben Reihe als Stenotypistinnen gearbeitet. Bety stammte aus einer kleinen Stadt im Osten des Landes. Sie sah so aus, als hätte sie nicht einmal genug Mumm in den Knochen, um zu einer Kuh Muh zu sagen; aber dennoch hatte sie sich auf eine unglückliche Liebesaffäre mit einem verheirateten Mann eingelassen. Eines Nachmittags, als sie gerade dabei war, einen Vertrag abzutippen, hatte sie einen hysterischen Anfall erlitten. Der Abteilungsleiter hatte Mary mit Bety nach Hause geschickt, und als die Hysterie ein wenig nachgelassen hatte, war das arme Mädchen in echte Verzweiflung verfallen. Sie bestand darauf, daß sie aufstehen und den Mann im Theater treffen müsse. Mary hatte sie dazu überredet, sich hinzulegen. Sie hatte einen Arzt gerufen, der ins Haus kam und Bety ein Beruhigungsmittel verabreichte. Daraufhin war Bety in tiefen Schlaf gesunken, und die Vermieterin hatte versprochen, während der Nacht nach ihr zu sehen. Als Mary sich zum Gehen angeschickt hatte, bemerkte sie die Theaterkarte, die aus Betys Portemonnaie gefallen war. Mary hatte sie aufgehoben – sie war entschlossen, den Mann zu treffen – egal wer er war, ihm gehörig Bescheid zu sagen und ihm klar zu machen, daß er Bety in Ruhe lassen solle. -247-
Zugegeben, Mary hatte Angst. Aber ihre Entrüstung half ihr darüber hinweg. Erst wollte sie schon einen ihrer Brüder, am liebsten Charlie, vielleicht auch Jim oder Sam, bitten, mit ihr zu gehen; aber dann fiel ihr ein, daß sie das Geheimnis des Mädchens nicht preisgeben durfte; und außerdem hatte sie ja auch nur eine Theaterkarte. Alles ging schief. Aus irgendeinem Grund war das Abendessen nicht zur üblichen Zeit fertig. Darüber hinaus war an dem Tag ausgerechnet der Pokerabend ihres Vaters, und es waren keine Erfrischungen für seine Gäste im Haus. Mary mußte sie noch in letzter Minute besorgen. Die Verzögerungen verstärkten ihre Ängstlichkeit und ihren Widerwillen nur noch mehr. Außerdem war die Nacht kalt und dunkel; und sie war nicht daran gewöhnt, alleine auszugehen – eine Reihe von Frauen waren in den letzten Wochen in Kingborough belästigt worden. Plötzlich fiel ihr die Pistolensammlung ihres Vetters Luther ein; er war aber gerade auf einer Geschäftsreise, und so konnte sie ihn nicht um Erlaubnis bitten. Sie ging davon aus, daß er wohl nichts dagegen hätte, und sein Zimmer war nie abgeschlossen. Niemand sah, wie sie den kleinsten Revolver aus dem Gehäuse auf dem Kaminsims nahm und ihn in ihre Tasche steckte. Durch all diese Verzögerungen kam sie erst ins Theater, als der dritte Akt schon begonnen hatte. Es war ein schrecklich wildes Musical, und der Mann, neben dem sie Platz genommen hatte, machte gleich einen Annäherungsversuch. »Ich bin nicht Bety«, sagte sie wütend. »Nun, das ist aber nett von Bety, solch einen charmanten Ersatz zu schicken«, hatte er geantwortet und dabei einen erneuten Annäherungsversuch unternommen. Noch nie zuvor war ihr etwas so unangenehm gewesen. Obwohl sie -248-
im Dunkeln und in der letzten Reihe saßen, war sie entsetzt bei dem Gedanken, daß jemand, der sie kannte, sie gesehen haben könnte. Dann grapschte er wieder nach ihr, dieses Mal etwas entschiedener. Die Musik dröhnte und dröhnte. Sie wirkte wie ein perfekter Schalldämpfer. So hatte sie ihn erschossen, und niemand hatte es bemerkt. Dann war Mary aufgestanden und gegangen – einfach so. Sie hatte einen Mann ermordet, dessen Namen sie erst erfuhr, als er am nächsten Tag auf den Titelseiten der Morgen- und Abendzeitungen prangte. Das war alles, was dazu zu sagen war. Offensichtlich hatte Bety nicht einmal die Theaterkarte vermißt – sie mußte zu aufgeregt gewesen sein. Niemand hatte Bety je wegen Augustin Jasons gewaltsamem Tod befragt – niemand hatte etwas von ihrem Verhältnis mit diesem Mann gewußt. Monate später waren von Bety, die lange schon wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt war, ein paar diskrete Zeilen gekommen. Sie dankte Mary darin für die Freundlichkeit, mit der sie sie damals am späten Nachmittag in ihre Pension zurückgebracht hatte, als sie total überarbeitet und nervlich so am Ende war. Ferner teilte sie Mary mit, daß sie in Kürze heiraten werde und daß sich alles zum Besten entwickelt hatte. Natürlich hätte Mary den Mord gestehen sollen. Es war schließlich nicht in Ordnung, jemand umzubringen und einfach seine Hände in Unschuld zu waschen. Aber es gab so viele Gründe, warum sie nicht gestanden hatte. Zum einen hatte ihre Mutter stets gesagt, daß der Name einer Dame niemals auf der Titelseite einer Zeitung erscheinen dürfe. Und ein Mord hätte Marys Namen nicht nur auf die Titelseite, sondern sogar in die Schlagzeilen gebracht. Zum andern stand ihr Onkel Henry gerade als Bürgermeisterkandidat im Wahlkampf. Die Opposition -249-
hatte alles nur denkbar Mögliche versucht, um seinem Ruf zu schaden. Was hätten sie nicht alles aus einer Nichte gemacht, die eine Mörderin war? Auch aus Rücksicht auf Onkel Henrys politischen Ehrgeiz hatte sie sich also nicht zu dem Mord bekannt. Dann hatte Mr. Joe Reed – er war Chefredakteur beim ›Kingborough Star‹ und kam jeden Donnerstag zum Pokern zu ihrem Vater – einen langen Artikel geschrieben, der jedermann davon überzeugte, daß es von außen angeheuerte Killer waren, die den zwielichtigen Agenten Augustin Jason ermordet haben. Und Mary wollte schließlich nicht dafür verantwortlich sein, daß Mr. Joe als Lügner dastand. Eigentlich bestand kein Grund, sich nach so langer Zeit noch aufzuregen. Aber trotz der Wärme des Spätfrühlingstages und der vom Kochen aufgeheizten Küche fühlte sie den eisigen Griff der Angst. Sie mußte arbeiten und nachdenken. Das Silber zu putzen, wie sie es geplant hatte, würde ihr gut tun. Sie spielte ein todernstes Spiel mit sich selbst: Wenn sie es schaffte, alle Gabeln zu putzen, bevor ihr Mann sein Mittagsschläfchen beendet hatte, dann würde alles wieder in Ordnung kommen. Es wäre ein Zeichen dafür, daß er den Mörder von Augustin Jason nicht entdecken würde. Obwohl die Gabeln, wie sie so mit der Rückseite nach oben in der Kommode lagen, aussahen wie kleine, in einem Massengrab nebeneinander aufgereihte Leichname, wurde sie immer zuversichtlicher, als die Zahl der geputzten ständig wuchs. Sie hatte schon elf fertig. Aber als sie gerade nach der zwölften, der letzten, griff und sich fast schon in Sicherheit wiegte, wurde sie ertappt. Sie blickte von ihrer Arbeit auf und sah ihren Mann in der Küchentür stehen. -250-
»Das war ein gutes Nickerchen«, sagte er. »Fein«, entgegnete sie und ließ die zwölfte Gabel fallen. Er hob sie auf und reichte sie ihr. Dann zögerte er. Es war sonst gar nicht seine Art, so unentschlossen herumzustehen. Er war gewöhnlich ein Mann der Tat und schneller Entschlüsse. »Mary?« »Ja, Liebling.« »Hat sonst noch jemand in diesem Haus gelebt?« »Nein, Liebling, nur die Familie. Opa hat das Haus gebaut und es an Papa vererbt.« Das war die Wahrheit, aber an dem Schweigen, das sie bei ihrem Mann auslöste, erkannte sie, daß die Antwort sie in Schwierigkeiten brachte. Die lastende Stille mußte überbrückt werden. »Was ich damit sagen wollte, Liebling, ist, daß wir immer hier gelebt haben. Aber natürlich haben auch andere Leute bei uns gewohnt. Während der Depression hielt Mutter fast Tag und Nacht das Haus offen für Gäste. Sie konnte es nicht ertragen, daß jemand, den wir kannten, keine Wohnung oder nichts zu essen hatte. Und natürlich waren auch immer wieder Verwandte da. Tante Madge besuchte uns einmal und blieb sechs Jahre lang bei uns. Und Vetter Luther –« Aber es schnürte ihr den Hals zu, als sie Vetter Luther erwähnte und an seine Pistolensammlung dachte. »Ich sehe schon, Liebling. Eine Menge anderer Leute haben hier gewohnt – das ist es, was ich wissen wollte.« Er ging zurück auf den Dachboden. Nach einer Weile kam er wieder herunter, um zu duschen. Dann war es Zeit für ihn, das Haus zu verlassen und zu seiner Vorlesung in die Universität zu gehen. Er sagte ihr, daß es vielleicht -251-
spät werden würde, weil er noch in die Bibliothek gehen und in alten Zeitungen lesen wollte. »Willst du etwas über den Mordfall Augustin Jason lesen?« fragte sie. »Ja, Liebling.« Er küßte sie beim Abschied. Sie stand in der Diele. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür, um ihm nachzusehen, bis sein Auto verschwand. Sie blieb stehen, wie wenn sie sehen wollte, ob sein Lebewohl nur ein Trick gewesen sei und er zurückkäme, um sie auszuspionieren. Dann rannte sie die Treppe hinauf zum Dachboden. Dort befand sich ein unglaubliches Sammelsurium aller möglichen Dinge, ein unüberschaubares Durcheinander. Er war vollgestopft mit ausrangierten Möbeln, aussortierten Büchern, alten Lampen mit angeschlagenem Fuß und kaputtem Schirm. Dazwischen befanden sich auch das erste Radio mit Lautsprecher, das ihr Vater gekauft hatte, eine Truhe, die ihrem Urgroßvater – einem Schiffahrtskapitän – gehört hatte, sowie ein riesiger Tisch aus Korbgeflecht, der in der Mitte der von ihnen so bezeichneten Sonnenterrasse gestanden hatte. Hier auf dem Dachboden standen auch riesige Schränke, in denen alte Kleider hingen – mehr als genug für einen Kostümverleiher. Der Anblick dieser vertrauten altmodischen Dinge hatte in ihr oft ein Gefühl der Freude geweckt; nun hatten sie etwas Bedrohliches an sich. Welches dieser leblosen Dinge war ihr Todfeind? Wo war der Beweis, daß sie einmal einen Mord begangen hatte? Welcher Gegenstand unter all dem Gerümpel hatte ihren Mann dazu gebracht aufzuschreien? Wo war der stille Lockvogel? -252-
Ihre Augen sortierten das Durcheinander um sie herum. Plötzlich sah sie, was ihr Mann gefunden hatte. Es war der Mantel, den sie in jener Nacht, als sie Augustin Jason ermordete, angehabt hatte. Es war ein naßkalter Abend gewesen, und sie hatte einen alten Mantel getragen, den sie haßte. Nach jener Schicksalsnacht hatte sie ihn nie wieder angezogen. Aber dieser Mantel konnte sie doch wohl jetzt nicht mehr belasten! Er konnte nicht ihr Ankläger oder Belastungszeuge sein. Aber dann fiel es ihr wieder ein. In der rechten Manteltasche steckte noch der Kontrollabschnitt ihrer Theaterkarte mit der Sitznummer und dem Tag der Aufführung darauf! Ihre Erinnerungen stürzten nun wie eine Flutwelle auf sie ein – was in all den Artikeln stand, die sich mit dem Verbrechen befaßt hatten: Der Fall wäre aufgeklärt, wenn nur irgend jemand die Person gekannt hätte, die an jenem Abend die betreffende Sitznummer gehabt hatte. Sie ließ sich in einen baufälligen Sessel sinken, dessen Federn sie kniffen, als sie mit ihnen in Berührung kam. Der Mantel legte sich wie ein Plaid über ihre Knie. Sie drückte ihn an sich, als ob sie seine Wärme gebraucht hätte, dann schleuderte sie ihn zu Boden. Wenn sie doch sterben könnte. Wenn sie doch ihren Mann niemals kennengelernt hätte. Wenn sie doch niemals geheiratet hätten. Ihr Mann war ein guter und gerechter Mensch und ein talentierter Polizist. Wenn er ihre Schuld nicht bereits aus ihrem Verhalten erraten hatte, dann würde er als Polizeioffizier schon wissen, wie er vorgehen mußte, um sie zu beweisen. Seine Integrität würde ihn dazu zwingen, seine Nachforschungen abzuschließen. Und die Ironie der Lö-253-
sung dieses längst vergessenen Verbrechens würde eine Farce aus seinem ganzen Leben machen – und aus ihrem ebenfalls. Sie konnte sich die Schlagzeilen schon vorstellen: Früherer Leiter der Mordkommission hatte Mörderin zur Ehefrau; oder: Polizist mit einer Leidenschaft für unaufgeklärte Verbrechen überführt seine eigene Frau. Nicht einmal aus Liebe zu ihr würde er es für sich behalten, daß sie den Mord begangen hatte – sie wußte das. Davon war sie überzeugt. Sein lebenslanger Sinn für Prinzipien würde ihn zwingen, ihre Straftat aufzudecken, auch wenn sein Leben danach keinen Sinn mehr hätte. Es würde nichts mehr geben, wofür es sich für ihn noch zu leben lohnen würde – er würde keine Vorlesungen mehr halten, er würde seinen unaufgeklärten Kriminalfällen nicht mehr nachgehen, ihre Ehe würde zerstört sein. Wenn das Problem doch durch ihren Tod gelöst werden könnte! Aber dazu bestand keine Hoffnung. Er würde ihre Schuld auf jeden Fall bekanntgeben und sich selbst damit ruinieren. Sie saß in Gedanken versunken. Ihr Gehirn brachte Aphorismen erster Güte hervor: Was einmal aus Empörung getan worden war, kann ein andermal auch aus Liebe getan werden. Was sein muß, muß sein. Nein, es würde sicherlich nicht notwendig sein. Ein Wunder würde geschehen. Ihrer Ehe drohte bestimmt keine Gefahr. Alles würde so harmonisch sein wie früher. Und in der Zwischenzeit würde sie sich wie immer verhalten: Sie würde das Haus so makellos sauber halten und gemütlich machen, wie sie nur konnte; sie würde die Lieblingsgerichte ihres Mannes kochen und sich selbst so hübsch machen wie nur möglich. -254-
Es war an der Zeit, sich wieder zu betätigen – alles mußte eine festliche Note erhalten. Sie wachste die Böden. Sie schnitt Blütenzweige vom Holzapfelbaum und verteilte sie im Haus. Sie holte die edelsten Gläser und das Royal-Doulton-Porzellan aus dem Schrank. Dann ging sie in die Küche, um mit der Zubereitung des Abendessens zu beginnen – es würde die Lieblingsspeise ihres Mannes geben: kurz gebratenes Steak mit jungen Erbsen in Sahne, Kartoffelkroketten, Frühlingszwiebeln und gedeckte Apfeltorte. Als die Zubereitung der Gerichte ihr ein wenig Zeit dazu ließ, nahm sie schnell ein Bad und zog das gelbe Kleid an, in dem ihr Mann sie so gerne sah. Dazu legte sie die Ohrringe an, die sie zum Valentinstag von ihm bekommen hatte. Kurz darauf kam er nach Hause. Er sah erschöpft und niedergeschlagen aus. Seine Miene heiterte sich auf, als er sie in dem gelben Kleid sah. Er küßte sie liebevoll. Sie tranken nur selten Alkohol, doch heute hatte sie die Flaschen auf den Tisch gestellt. Sie bat ihn, die Drinks zu mixen, und sie tranken auf ihr gemeinsames Wohl. Dabei hielten sie sich an den Händen. Das Essen schmeckte ihm sogar noch besser als sonst. Und Mary saß da und wartete auf das Wunder. Aber es geschah kein Wunder. Sie wußte, daß er immer noch nicht restlos davon überzeugt war, daß sie eine Mörderin war – aber sie wußte auch, daß es nicht mehr lange dauern konnte. Nachdem er ein zweites Stück von der Apfeltorte gegessen hatte, war ihr klar, daß nun alle Ablenkungsmanöver nichts mehr nützten. Er nahm die Kaffeetasse, die sie ihm gereicht hatte, und sagte: »Mary, sagtest du nicht heute morgen, daß du dich nicht mehr an den Fall Augustin Jason erinnerst?« -255-
Wie konnte sie ihm nur in die Augen blicken und lügen? »Nun, Liebling, das stimmt nicht ganz. Als du mich nach dem Namen fragtest, erinnerte ich mich wirklich nicht mehr daran. Jetzt erinnere ich mich aber wieder. Es handelte sich um einen Mordfall – hier in Kingborough vor langer Zeit. Er war kein sympathischer Mensch – so hieß es jedenfalls in den Zeitungen.« »Aber er wurde ermordet. Er war ein Mensch – und niemand hatte das Recht, ihm das Leben zu nehmen.« Ihre Intuition war richtig gewesen: Nichts, aber auch gar nichts würde ihren Mann ablenken. Es gab keinen Zweifel darüber: Gerechtigkeit, nicht Gnade stand an erster Stelle seiner Wertvorstellungen. »Entschuldige mich, Liebling«, sagte sie. »Ich gehe nur kurz nach oben. Ich bin gleich wieder da.« Die Hitze schlug über ihr zusammen, als sie den Dachboden betrat. Sie öffnete die Fenster und trat auf den kleinen Balkon, der auf den Garten hinausging. Die kühle Abendluft tat ihr wohl; die kalten, ewigen Sterne gaben ihr Mut. »Liebling.« Er antwortete sofort: »Ja, meine Liebe?« »Liebling, komm doch bitte einen Moment herauf. Ich bin auf dem Dachboden.« Er näherte sich mit raschen Schritten. In Sekundenschnelle war er auf dem Dachboden. »Komm heraus auf den Balkon, Liebling. Ich möchte dir etwas zeigen. Schau, Liebster, der Neumond. Ist er nicht schön?« Er stand neben ihr und lächelte sie an. Dann blickte er lächelnd zum Neumond empor. Sie brauchte ihm nur liebevoll einen kräftigen Stoß zu geben. -256-
CHRISTIANNA BRAND Aus Fäden werden Stricke
»In der alten Ulme ist ein Hornissennest«, verkündete Mr. Harold Caxton säuerlich, schlang seine letzte Auster hinunter und wischte sich die dicken Wurstfinger an der Serviette ab. »Interessante Biester, Hornissen.« Er unterbrach sich, zog ein gewaltiges weißes Taschentuch hervor und schneuzte sich geräuschvoll. »Immer diese verflixten Erkältungen!« »Wie ich sehe, unternimmst du etwas gegen sie«, meinte Inspektor Cockrill. Seine Bemerkung bezog sich auf die Hornissen. »Draußen auf dem Tisch in der Diele habe ich eine Dose mit Schädlingsbekämpfungsmittel liegen sehen.« Das überging Caxton. »Interessante Tiere«, sprach er weiter. »Ich habe einiges über sie gelesen.« Er bedachte die Runde der zur Hochzeitsfeier geladenen Gäste mit finsteren, mißmutigen Blicken. »Zu bestimmten Jahreszeiten treten vermehrt männliche Insekten mit riesigen Augen auf, Drohnen genannt. Sie tun nichts als fressen« – erneut fixierte er die Versammelten böse, besonders, wie es schien, die anwesenden Herren – »um dann beim Hochzeitsflug der Jungkönigin nachzuschwärmen.« Er musterte seine Braut nachdenklich. »Dein Name ist äußerst passend, Elizabeth, meine Liebe«, meinte er. »Elisabeth, die jungfräuliche Königin.« Unnötig bedeutungsvoll fügte er hinzu: »Hoffentlich.« »Nur eines der Männchen kann sich mit der Königin paaren«, brach Inspektor Cockrill das betretene Schweigen, »und muß dafür sein Leben lassen.« -257-
Er lehnte sich zurück und sah Harold Caxton unbeirrt direkt ins Gesicht, hielt dessen Blick stand, verschränkte die Hände und ließ die Daumen umeinander kreisen. Wirklich, Harold Caxton war ein altes Scheusal. Er war zu seiner ersten Frau scheußlich gewesen, und er hatte offenbar die Absicht, mit der zweiten ebenso zu verfahren. Elizabeth war die Pflegerin der jüngst verstorbenen Mrs. Caxton gewesen. Sie war noch recht jung und hübsch mit ihren wehmütigen blauen Augen. Auch gegenüber seinem Sohn, dem feisten Theo, der vermutlich seinem Schöpfer täglich dankte, daß er außer Reichweite des alten Herrn in London ungestört seinen Börsen- und Wertpapierspekulationen nachgehen konnte, benahm sich Harold Caxton scheußlich. Das Gleiche galt für seinen Stiefsohn Bill, der mit der mittlerweile verstorbenen Frau zur Familie gestoßen und von Harold Caxton gleich wieder verstoßen und zu Verwandten in die Staaten abgeschoben worden war. Unverschämt war auch sein Verhalten dem armen jungen Dr. Ross gegenüber, der die erste Mrs. Caxton mit rührender Fürsorge behandelt hatte und der sich nun ebenso bemüht Mr. Caxtons Bluthochdruck und der drohenden Schlaganfälle annahm, unverschämt den wenigen Bekannten und vielen verarmten Verwandten gegenüber, die er offenbar alle mit vagen Versprechungen von ihrer testamentarischen Berücksichtigung bis zu dem Tag hinzuhalten und sich gefügig zu machen gedachte, an dem ihn einer seiner Erstickungsanfälle endgültig dahinraffen würde. Zweifellos hätte er bei Inspektor Cockrill keine Ausnahme gemacht, doch kam ihm – da Mr. Caxton außerstande schien, sich friedlich an allgemeingültige Regeln barsten Anstands zu halten – Cockie zuvor und war scheußlich zu ihm. Die Einladung zur Hochzeit, überlegte der Inspektor, hatte er wohl eher Elizabeth zu verdanken. -258-
Die hübsche kleine Krankenschwester war nach dem Hinscheiden der ersten Ehefrau geblieben, hatte sich nützlich gemacht, war unentbehrlich geworden und hatte schließlich der Werbung des fettwanstigen Witwers nachgegeben. Nicht, wie Inspektor Cockrill, der ihr in den Tagen der drangsalierenden Werbung Mr. Caxtons gelegentlich eine starke Schulter zur Verfügung gestellt hatte, sehr wohl wußte, ohne Gewissensnöte, denn er hatte Tränen fließen sehen und hatte aus ihrem Munde von der einen großen Liebe gehört, der verlorenen, hatte sich beteuern lassen, daß sie sich von der Ehe ohnedies nicht das große Glück erhoffe, daß sie jedoch die ewige Plackerei herzlich leid sei, auch die Einsamkeit und die fehlende Absicherung. »Wieso?« hatte Inspektor Cockrill ihr entgegengehalten, »eine ausgebildete Krankenschwester wie Sie kann doch immer wieder eine interessante Arbeit finden. Reisen Sie, erkunden Sie die große weite Welt.« Die habe sie bereits gesehen, hatte sie ihm seinerzeit erklärt, und sie sei ihr zu groß, zu weit, ängstige sie. Alles was sie suche, sei eine Bleibe, ein Zuhause, und ein Zuhause heiße: einen Ehemann. »Es gibt doch jede Menge anderer Männer«, hatte er vorsichtig angedeutet, woraufhin sie damit herausgeplatzt war, daß es in der Tat jede Menge Männer gebe, zu viele, und alle seien nur hinter dem einen her. Ach, es sei furchtbar, besonders, wenn eine zu den Frauen gehöre, denen – der Himmel wisse warum – alle Männer nachstellten. »Bei ihm bin ich wenigstens davor sicher! Niemand wird es wagen, mich zu bedrängen und belästigen. Jedenfalls nicht in seiner Gegenwart.« Inspektor Cockrill hatte ihr etwas hastig seine starke Schulter entzogen. Er war noch ein recht junger Mann, in jenen Tagen, als Mr. Caxton zum zweiten Mal heiratete -259-
und dann von der Bühne abtrat, und er wollte keinerlei Risiko eingehen. Also hatte Harold Caxton Elizabeth den Hof gemacht, die Verlobung und der Hochzeitstermin wurden bekanntgegeben, woraufhin das Hauspersonal – selbst im Tode der ersten Hausherrin noch loyal ergeben – seinerseits bekanntgab, man »habe es kommen sehen« und werde die Koffer packen, und zwar geschlossen, denn alles sei besser als »dieser Person« zu dienen. Die Braut hatte sich, da keine Anstandsdame verblieb, notgedrungen dem moralischen Gebot Folge leistend, in ein Londoner Hotel zurückziehen müssen, so daß die Hauptlast der Festvorbereitungen Sohn Theo und Stiefsohn Bill zufiel. Theo pendelte zwischen London und dem Elternhaus hin und her, und Bill wurde, des besonderen Anlasses wegen, ausnahmsweise im Haus einquartiert. Trotz der Mühe, die auf dessen Ausrichtung verwandt worden war, schien Mr. Caxton mit dem Hochzeitsbrunch alles andere als zufrieden. »Ich habe Austern noch nie gemocht, wie du sehr wohl weißt, Elizabeth. Hätte es nicht Räucherlachs geben können? Und kalter Braten schmeckt mir auch nicht, in welcher Form auch immer. In welcher Gestalt auch immer«, wiederholte er noch einmal und bedachte seine Jungkönigin mit einem anzüglichen Grinsen. Inspektor Cockrill bemerkte auf den Gesichtern sämtlicher Anwesenden, Drohnen und Arbeiterinnen gleichermaßen, einen kaum verhohlenen Ausdruck tiefer Abscheu – ja geradezu des Hasses, stellte er erschrocken fest. Sie begehrte mit zitternder Stimme auf. »Aber Harold, es war ohnehin alles schwer zu bewerkstelligen, so ganz ohne Hilfe. Wir haben die einfachste Lösung gewählt.« »Und die schlechtere. Aber es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Also?« -260-
Er deutete auf die leeren Austernschalen. »Wie lange soll ich denn noch vor dreckigem Geschirr sitzen, wo es im Haus von Weibern wimmelt!« Auf diesen plumpen Wink hin reagierten die Frauen der Verwandtschaft wie ein Pulk aufgescheuchter Hühner, sprangen von ihren Stühlen auf und rannten hin und her, trugen ab, trugen auf, reichten Geflügel und Schinken. »Ihr bemüht euch ganz umsonst, meine Lieben«, bemerkte Mr. Caxton, der ihre Geschäftigkeit amüsiert beobachtete, sarkastisch, »ihr seid längst aus dem Testament gestrichen, wißt ihr.« Die Worte brachten in ihrer Ungeheuerlichkeit, ihrer Krudität alles zum Stillstand. Wie vom Donner gerührt verharrten die Frauen und glotzten blöde, Teller und Platten in bebenden Händen. Bestimmt der Hälfte der Damen waren die fünf oder seien es auch fünfundzwanzig Pfund, mit denen Harold Caxton sie vielleicht zu bedenken geruhen würde, wahrscheinlich vollkommen einerlei. Dennoch richteten sich fragende – oder waren es vorwurfsvolle? – Augenpaare auf die einheiratende Haupterbin. »Meine Güte, Harold, warum sagst du so etwas? Das stimmt doch gar nicht!« rief sie. Sie übertönte seine hämischen Bekräftigungen und beschwor die Anwesenden: »Harold hat sein bisheriges Testament vernichtet, das ist wahr, aber in dem neuen wird ganz sicher keiner… übergangen werden, der vorher auch bedacht war.« Man aß weiter. Wie um ihre Unbekümmertheit unter Beweis zu stellen, schleppten die Enterbten weiterhin artig Platten mit kaltem Braten, Kartoffelsalat und Gurkenscheiben, und schenkten – Mr. Caxton war ein entschiedener Gegner von Alkohol – von dem Gerstentrank in die Kristallkelche nach, die eines edleren Tropfens würdig gewesen wären. Der Bräutigam selbst tat sich am geschmähten kaltem Braten in einem Maße gütlich, das In-261-
spektor Cockrills Vermutung nach nichts Gutes verhieß für die arme Elizabeth, der spätestens jetzt dämmern durfte, was sie auf sich genommen hatte. Sie saß jedenfalls teilnahmslos in sich zusammengekauert an seiner Seite und tat kaum einen Handschlag. Sohn Theo tranchierte, Stiefsohn Bill reichte Braten herum, selbst Dr. Ross drehte mit der Salatschüssel seine Runden. Die Braut hingegen saß still und stumm wie ein Standbild, und Cockie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die drei kaum ihre Augen von dem schmalen, bleichen Gesichtchen mit seinem Ausdruck wachsenden Grauens losreißen konnten. Die Teller wurden abgeräumt. Aus hohen, schlanken Weckgläsern wurden Pfirsiche gefischt, auf die geblümten Dessertteller gelegt und großzügig mit Sirup übergossen. Stiefsohn Bill teilte silberne Dessertlöffel und gabeln aus, die griffbereit gefächert auf dem Sideboard gelegen hatten. Die Gäste saßen höflich wartend mit gezücktem Besteck. Harold Caxton wartete nicht. Nach einem letzten trompetenden Schneuzer steckte er sein Taschentuch weg, ergriff seinen Dessertlöffel, musterte ihn demonstrativ, um sich zu vergewissern, daß er auch sauber wäre, versenkte sodann Löffel und Gabel in den im Saft glitschenden Pfirsich, hackte einen großen Bissen heraus und ließ sich diesen in den Schlund gleiten, erstarrte, blickte wild forschend um sich, brüllte einmal röchelnd auf vor Schmerz und Wut, wurde kalkweiß, dann rot, dann womöglich noch dunkler, purpurfarben, und sackte vornüber mit dem Gesicht auf seinen Teller. Elizabeth rief bestürzt: »Er hat den Pfirsichkern verschluckt!« Dr. Ross durchquerte mit wenigen Schritten den Raum, griff den Mann beim Schopf, packte sein Kinn und stieß -262-
ihn gegen die Stuhllehne zurück. Das Gesicht des Opfers war durch das Sirupbad keineswegs ansehnlicher geworden; der Arzt wischte es mit einer Bewegung der Serviette sauber und stand dann, die Hände zu beiden Seiten auf die Lehnen des Stuhls gestützt, über das Opfer gebeugt, und blickte, wie es schien, ratlos auf dessen zuckende Lippen und rollende Augen nieder. Wie ein Spürhund, meinte Elizabeth nachher zu Inspektor Cockrill, witternd, aufmerkend, mißtrauisch schnüffelnd. Dann zerrte der Doktor mit einer weiteren blitzschnellen Bewegung Mr. Caxton aus seinem Stuhl, ließ ihn zu Boden gleiten und rief: »Elizabeth, meine Tasche! In der Diele. Auf dem Stuhl.« Doch sie schien von den Ereignissen so überwältigt, daß sie zum Handeln nicht fähig war. Sie stammelte bloß: »Theo?« Der feiste Theo, der Tür am nächsten, schoß in die Diele hinaus und kehrte binnen Sekunden mit der Tasche zurück. Stiefsohn Bill, der gleich dem Arzt neben der röchelnden Gestalt kniete, nahm die Tasche entgegen und klappte sie auf. Elizabeth, der plötzlich ein Schauder durch die Glieder lief, wiederholte die bereits geäußerte Befürchtung: »Er muß den Pfirsichkern verschluckt haben!« Der Arzt beachtete sie nicht weiter. Er hatte sich die zu Boden gerutschte Serviette gegriffen. Mit der Linken packte er damit Caxtons halb verschluckte Zunge und zog sie vor, um die blockierten Atemwege freizumachen, während er mit der Rechten blind nach seiner Arzttasche griff. »Einen Fingerling bitte – das Gummiding für den Finger – muß obenauf liegen irgendwo…« Bill fand den Fingerling sogleich und reichte ihn dem Arzt, dieser streifte ihn sich über und schob dem würgenden Opfer den Mittelfinger seiner rechten Hand in den -263-
Hals. »Nichts«, meldete er, richtete sich auf, wischte geistesabwesend die Finger an der Serviette ab, rollte den Fingerling ab – alles mit der gleichen witternden Aufmerksamkeit wie schon vorhin –, stürzte sich dann mit erneuter Heftigkeit auf den Körper des Opfers. Mit dem linken Handballen begann er in kurzen Pumpbewegungen mit aller Kraft Caxtons Brustkorb niederzudrücken, während er mit der Rechten wieder nach der Tasche langte. »Die Injektionsspritze. Adrenalinampullen im linken Seitenfach.« Bill kramte ungeschickt in der Tasche. Der Arzt hob kurz den Kopf und knurrte: »Elizabeth bitte!« Das wirkte. Sie machte einen Satz. »Ja?« meinte sie und schien endlich zu sich zu kommen. »Ja, natürlich. Laß mich das machen.« Sie sank neben der Arzttasche auf die Knie, fischte die Ampullen heraus und zog eine Spritze auf. »Halten Sie sie bereit«, befahl Ross. »Schneidet ihm den Ärmel weg.« Der Arzt hatte alle Hände voll mit der Herzmassage zu tun. »Während ich hiermit weitermache, sollte ihn jemand Mund zu Mund beatmen. Rasch!« Lange, sehr lange hatte niemand mehr – die Verlobte eingeschlossen – freiwillig seine Lippen auf die Mr. Caxtons gelegt, und auch jetzt drängte es offenbar niemanden, solches zu tun. Der Arzt ließ ein fragendes »Elizabeth?« vernehmen, jedoch in zweifelndem Ton. Sie blickte unwillig auf den aufgerissenen, verzerrten Mund hinab, aus dem der Speichel rann. »Muß ich wirklich?« meinte sie. »Sie sind Schwester«, empörte sich Dr. Ross. »Er stirbt. Also bitte, schnell jetzt!« »Ja, natürlich. Es muß sein.« -264-
Sie fischte ein zierliches Taschentuch hervor, tupfte sich die eigenen Lippen ab, als müsse sie sich widersinnigerweise selbst den Mund säubern vor dieser unappetitlichen Operation, dann rutschte sie auf Knien dichter an Caxton heran, dort, wo sie Ross bei der Herzmassage nicht behindern würde. »Jetzt?« fragte sie. Doch gnädigerweise enthob Harold Caxton selbst sie ihrer unangenehmen Pflicht, denn plötzlich gab er unverkennbar seinen Geist auf: Er bäumte sich ein letztes Mal gewaltig auf, es schüttelte ihn, er stöhnte auf, dann verdrehten sich seine Augen, und die Pupillen rollten nach oben unter die Lider. Elizabeth sank auf die Fersen zurück, das geknüllte Taschentuch gegen den Mund gepreßt, die Augen weit aufgerissen. Dr. Ross gab die Herzmassage auf, schob sie beiseite, und versuchte es selbst noch mit der Mund-zu-MundBeatmung. Bald schon mußte er einsehen, daß alles zwecklos war. »Vorbei«, verkündete er, richtete sich auf und stemmte sich die Hände ins schmerzende Kreuz. »Er ist tot.« Tot. Und sehr wahrscheinlich war unter den in dem zugigen, ebenso häßlichen wie repräsentativen Eßzimmer Versammelten kein einziger, der nicht in gewissem Maße Erleichterung empfand, dem nicht ein klein wenig leichter wurde ums Herz – jetzt, da mit dem Hinscheiden von Harold Caxton auch etwas von der Häßlichkeit, der Roheit, der Bösartigkeit aus der Welt wich. Keiner gab vor, dem Verschiedenen nachzutrauern. Nur die Braut und Witwe, die immer noch neben dem schweren, schlaffen Körper kauerte, hob den Kopf und suchte mit einer stummen, schrecklichen Frage in den Augen den Blick des Arztes, sprang auf und stürzte hinaus in die Diele. Kurz darauf stand sie wieder in der Tür und blieb auf der Schwelle stehen. »Die Blausäuredose«, hauchte sie, »sie ist weg.« -265-
Dr. Ross griff die achtlos beiseite gelegte Serviette und breitete sie wortlos, beiläufig fast und doch durchaus mit Bedacht über den angebissenen Pfirsich. Inspektor Cockrills Stab wickelte die Vernehmung der Bekannten und Verwandten des Verstorbenen zügig ab und schickte sie zu ihrem Bedauern alsbald ihrer jeweiligen Wege und damit zurück in die Bedeutungslosigkeit der Unverdächtigen. Die Dose mit dem Gift konnte mühelos aufgefunden werden: Sie war in die Vase mit Pampasgras versenkt worden, das den Tisch in der Diele schmückte. Der Deckel der Dose fehlte, ebenso eine kleine Menge der giftigen Paste, die mit einem Instrument abgeschöpft worden war, das zu glatt war, um deutliche – jedenfalls mit bloßem Auge erkennbare – Spuren zu hinterlassen. Die Dose hatte schon am Tag vor der Trauung auf dem Tisch gelegen, und Cockie selbst hatte sie dort noch vor Beginn des Festmahls bemerkt. Der Inspektor bedachte die Sache gründlich und in aller Ruhe, denn es hatte sich zweifellos um einen gründlich und in aller Ruhe ausgeheckten Plan gehandelt. »Ich spreche selbst mit den vieren, die in Frage kommen«, ließ er seine Untergebenen wissen, »also mit Mrs. Caxton, dem Sohn, dem Stiefsohn und dem Arzt.« Er richtete sich im Arbeitszimmer ein und ließ zuerst Elizabeth rufen. »Nun, Mrs. Caxton?« Blendend weiße Zähne senkten sich in eine bebende Unterlippe, als müsse auf diese Weise aufsteigende Hysterie im Zaum gehalten werden. »Ach, Inspektor, bitte sprechen Sie mich doch nicht mit diesem schrecklichen Namen an!« »Aber es ist jetzt Ihr Name, und wir haben es hier mit der Aufklärung eines Mordes zu tun. Lassen wir also den Firlefanz, Elizabeth.« »Sie glauben doch nicht wirklich…« -266-
»Sie wissen genau, daß es Mord war«, meinte Cockie ungeduldig. »Sie sind Krankenschwester, Ihnen ist es zuallererst klargeworden.« »Dr. Ross war es als erstem klar«, stellte sie richtig. »Sie haben selbst gesehen, wie er sich über Harold gebeugt hat, als er zusammengesackt im Stuhl saß, Inspektor, irgendwie schnuppernd… wie ein witternder Hund. Er muß die Blausäure aus seinem Atem herausgerochen haben, bestimmt. Wie Bittermandel, heißt es doch.« »Wer hat die Speisen für das Hochzeitsessen besorgt, Mrs. Caxton?« »Nun, wir haben alles gemeinsam besprochen, Theo, Bill und ich. Es war ja alles so schwierig, wissen Sie, ohne Personal, und ich in London. Ich habe einen Großteil der Sachen von Harrod’s liefern lassen, und… nun… ein, zwei Kleinigkeiten hat Theo direkt bei Fortnum besorgt und mitgebracht.« Sie schien nicht glücklich darüber, das letzte erwähnen zu müssen. »Welche Kleinigkeiten? Die Pfirsiche etwa?« »Ja, auch die Pfirsiche. Er hat sie gestern eigens mitgebracht. Er ist ja ständig von London hin und hergefahren, um Bill beizustehen.« Aber es sei doch ganz undenkbar! rief sie, flehentlich fast. Weshalb sollte Theo etwas so Schreckliches getan haben? »Den eigenen Vater! Warum sollte überhaupt jemand so etwas getan haben?« »Tja«, murmelte Cockie. Hatte nicht Harold Caxton praktisch seinen eigenen Grabspruch geliefert? Zu bestimmten Jahreszeiten treten vermehrt männliche Insekten mit riesigen Augen auf, Drohnen genannt. Sie tun nichts als fressen, um dann beim Hochzeitsflug der Jungkönigin nachzuschwärmen… Er hatte sie mit eigenen -267-
Augen gesehen: wie sie sich Mr. Caxtons Austern munden ließen und die Hühnerbrust und den Schinken, mit großen, hungrigen Augen, den Blick in erstaunlicher Eintracht stier auf die junge Braut gerichtet. Nur eines der Männchen kann sich mit der Königin paaren und muß dafür sein Leben lassen. Auch das hatte sich bewahrheitet. »Elizabeth«, sagte Cockie, dem entfallen war, daß es sich um die Aufklärung eines Mordes handelte und daß sie doch den Firlefanz lassen wollten, »die HornissenAnalogie ist, fürchte ich, in der Tat sehr treffend.« Dann kam Theo an die Reihe, die junge Drohne Theo, feist, träge, Theo, der in seiner gemütlichen kleinen Junggesellenwohnung in London mit Wertpapieren und Aktien spielte… Inspektor Cockrill kannte Theo von Kindesbeinen an. »Sie brauchen gar nicht meinen, Cockie, daß ich hinter dem Geld des alten Herrn her war; ich habe bei ihrem Tod von meiner Mutter geerbt.« »So?« machte Cockrill. »Und ihr anderer Sohn? Bill?« »Die Entscheidung darüber hat sie meinem Vater überlassen.« »Bißchen ungerecht, oder nicht?« »Heutzutage ist es keine große Sache rüberzufliegen, aber er ist all die Jahre nicht einmal aus Amerika gekommen, um sie zu besuchen. Mutter hatte ihn in gewisser Weise abgeschrieben. Obwohl die beiden, glaube ich, ab dem Moment, als sie wußte, daß ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde, brieflich Kontakt hielten, allerdings heimlich. Das haben mir die Angestellten erzählt. Vater hätte es natürlich niemals geduldet.« »Natürlich«, wiederholte Cockie. Er ließ das Thema Geld fallen. »Wie gut kennst du die neue Frau deines Vaters, Theo?« -268-
»Gar nicht gut. Ich bin ihr immer dann begegnet, wenn ich meine Mutter besuchen kam, und habe sie bei der Beerdigung wiedergesehen, aber…« Sein Tonfall gab zu verstehen, daß man eine Frau wie Elizabeth nicht gut kennen mußte, um… naja, um dieses gewisse Etwas zu verspüren und in seinen Bann zu geraten. »Du hast nie daran gedacht, sie selbst zur Frau zu nehmen?« Gott bewahre, für den Ehestand war der träge, selbstund genußsüchtige Theo nicht geschaffen. »Aber ich will Ihnen etwas verraten, Inspektor, mir wurde ganz anders, wenn ich mir vorstellte… ich meine, mit meinem Vater…« War es denkbar, daß dem armen Theo – in der Rolle des mißgünstigen Neiders – schon die Vorstellung der Angebeteten in den Altmännerarmen des Vaters nahezu physische Pein verursacht haben könnte, und wäre Theo imstande, deswegen zu töten? »Die eingelegten Pfirsiche, Theo. Du hast sie ausgeteilt, soviel ist klar, aber wer hat die Gläser geöffnet? Waren sie vorher schon aufgemacht worden?« »Nein, dann hätte sich das Aroma des Kirschwassers verflüchtigt. Sie blieben deshalb bis zum allerletzten Moment geschlossen.« »Könntest du das beweisen?« »Elizabeth kann es bezeugen. Wir haben auf dem Weg zur Kirche – sie ist ja mit mir von London hergefahren – hier kurz Halt gemacht. Ich mußte mal verschwinden. In der Zeit hat sie rasch ein Auge auf die Festtafel geworfen, um sich zu vergewissern, daß alles ordentlich gerichtet war. Sie wird Ihnen sagen können, daß die Gläser zu dem Zeitpunkt noch verschlossen waren. Fragen Sie sie nur.« -269-
»Wie lang dauerte dieses ›ein Auge werfen‹? Erklär mir das mal genauer mit der Stippvisite.« »Meine Güte, Inspektor, die ganze Angelegenheit hat vielleicht drei Minuten in Anspruch genommen. Wir waren schon spät dran, und Sie wissen ja, wie der alte Herr war. Wir sind hereingestürzt, ich bin gleich ins Bad gerannt, und als ich wiederkam, stand sie in der Eßzimmertür und betrachtete die Tafel und meinte, es sehe alles wunderbar aus und wie fein Bill und ich das alles hingekriegt hätten. Sie verschwand selbst noch kurz im Bad, und dann haben wir uns wieder ins Auto gesetzt und sind losgefahren.« »Lag die Dose mit der Blausäure zu diesem Zeitpunkt auf dem Tisch in der Diele?« »Ja, das weiß ich deshalb genau, weil sie bemerkte, es sei ein Glück, daß Bill ihr das Zeug offenbar besorgt und ihr somit weitere Scherereien mit meinem Vater erspart habe.« »Es war sonst keiner im Haus?« »Nein, Bill war mit meinem Vater zur Kirche vorausgefahren.« »Gut. Nun, dann schick mir doch gleich Bill herein, ja? Und sag ihm, er möchte seinen Paß mitbringen.« Bill war zehn Jahre älter als sein Halbbruder, Mitte Dreißig etwa. Er schien aus härterem Stoff gemacht und erweckte mit dem kantigen, blonden Schädel den Eindruck, als könne er, wenn’s darauf ankam, sehr ungemütlich werden. Und doch hatte er etwas Einnehmendes an sich. Cockie blätterte im Paß. »Sie sind seit Ihrer Kindheit nicht mehr im Lande gewesen?« »Nein. Mich haben sie als Knirps ausgebootet – der Alte wollte mich nicht aufnehmen, und meine Mutter hat wohl nicht sonderlich erbittert darum gekämpft, mich dabehal-270-
ten zu können. Also war ich auch nicht gerade erpicht auf Familienbesuche.« »Auch nicht, als sie im Sterben lag?« »Da war ich verhindert«, sagte Bill knapp. »Wodurch, wenn ich fragen darf?« »Durch unüberwindbare Mauern«, gab Stiefsohn Bill verschämt zu. »Mit anderen Worten, ich saß. Ich hatte mich mit einem Kerl in der Wolle gehabt, hatte ihn übel zugerichtet und dafür sechs Monate aufgebrummt gekriegt. Ich bin erst vor wenigen Wochen entlassen worden.« »Worüber hatten Sie sich in der Wolle?« »Es ging um meine Frau, wenn Sie es unbedingt wissen wollen«, gestand Bill unwillig. »Ich habe mich herumgetrieben, ich geb’s ja zu, und der Kerl konnte im Gegenzug wohl bei ihr landen. Wie auch immer, ich habe sie rausgeworfen, und basta. Dann habe ich mir ihn vorgeknöpft und ihn fertig gemacht. Zumindest was seine Verführungskünste angeht.« »Sie haben sich also von Ihrer Frau scheiden lassen?« »Ja, wir sind geschieden.« Er musterte Inspektor Cockrill feindselig, dann wich der kalte Blick einem Ausdruck von, ja, beinahe Verzweiflung. »Ich habe ein paar schwere Fehler gemacht«, erklärte er, »das erkenne ich inzwischen.« »Und nach Ihrer Entlassung erfuhren Sie, daß Ihr Stiefvater beabsichtigte, die Pflegerin Ihrer Mutter zu heiraten, und da sahen Sie möglicherweise Ihren Erbteil in Gefahr? Also kamen Sie flugs herbeigeeilt, um die fragliche Dame unter die Lupe zu nehmen?« Und das Ergebnis der Inaugenscheinnahme: Eine weitere Drohne, magisch angezogen – um so leichter, da Bill über -271-
Monate der Gesellschaft von Frauen beraubt worden war durch den Verlust der Frau, die er immer noch liebte –, hineingezogen in den erregten Hochzeitsflug mit der Jungkönigin. »Sie waren derjenige, der das Gift beschafft hat, ist das richtig?« »Ja, das stimmt. Der Alte hatte einen fürchterlichen Zorn auf Elizabeth, weil sie das Zeug nicht bestellt hatte. Wie sollte sie denn, die Arme? Sie war ja kaum hier. Also bin ich los und hab’ das Gift in der Drogerie hier im Ort besorgt, damit sie nicht noch mehr Ärger kriegt, und ich habe die Dose auf den Tisch in der Diele gelegt, damit er annimmt, sie hätte sie mitgebracht.« »Wenn sie sich aber doch in London aufhielt, wie hätte er annehmen sollen, daß sie sie beschafft hatte?« »Ach, das spielte doch gar keine Rolle. Solange das Zeug nicht da war, war eben sie schuld.« »Und nach dem ganzen Aufruhr ist das Gift nie eingesetzt worden? Gegen die Hornissen, meine ich natürlich.« »Aber begreifen Sie denn nicht? Es ging doch nur darum, Elizabeth das Leben schwer zu machen.« »Aha. Nun, halten wir fest, daß Sie jedenfalls derjenige waren, der die Blausäure ins Haus schaffte. Haben Sie nicht auch Ihrem Stiefvater eine Portion Braten gereicht?« »Ich? Also hören Sie mal, Inspektor! Wo die ganzen Glucken kopflos herumgerannt sind und einem die Teller aus der Hand gerissen oder den Leuten beliebig vor die Nase geknallt haben?« »Wer weiß, vielleicht haben Sie zu einer der Damen gesagt: ›Diesen bekommt Mr. Caxton‹.« »Wer weiß, vielleicht habe ich das«, stimmte Bill leidenschaftslos zu. »Hören Sie sich um. Fragen Sie herum.« -272-
Er zuckte mit den Achseln. »Was macht das schon? Das Gift befand sich ja nicht auf dem Braten, habe ich recht? Es war der Pfirsich, der vergiftet war.« »Wenn das zutrifft«, gab Cockie zu bedenken, »dann muß die Sache sehr geschickt eingefädelt worden sein.« Er führte aus: »Wie kann das Gift dort so untergebracht worden sein, daß die gesamte Dosis – soweit wir wissen – in dem einen Bissen konzentriert war, den er sich zufällig in den Mund schob? Und noch dazu dem ersten Bissen.« Er schickte Bill fort und ließ Dr. Ross kommen. »Nun, Doktor was meinen Sie: Nur eines der Männchen kann sich mit der Königin paaren, und das Tier muß dafür sein Leben lassen.« »Sie spielen auf die Sache mit den Hornissen an?« fragte Dr. Ross leicht befremdet. »Genau: auf die Sache mit den Hornissen. Sie, lieber Doktor, können aber doch kaum als Drohne bezeichnet werden. Flink, wie Sie Ihre kleine Arzttasche zur Hand hatten, die einsatzbereit draußen in der Diele wartete.« »Etwa einmal pro Woche«, meinte Dr. Ross bissig, »muß ich mir Rügen von Seiten der Polizei anhören, ich dürfe auf gar keinen Fall meine Arzttasche unbeaufsichtigt im Wagen liegen lassen.« Er fixierte Inspektor Cockrill böse. »Wollen Sie vielleicht unterstellen, ich hätte eigenhändig einen meiner Patienten ins Jenseits befördert?« »Würden Sie sagen, Sie wären aus dem Rennen, was den Hochzeitsflug mit der Jungkönigin angeht, Dr. Ross? Sie müssen unsere kleine Königin doch recht oft zu Gesicht bekommen haben am Krankenbett der ersten Mrs. Caxton?« -273-
»Zufällig habe ich daheim schon eine kleine Königin sitzen, Inspektor. Ganz zu schweigen von den kleinen Drohnen, die allerdings zum Ausschwärmen noch zu jung sind.« »Ich weiß«, räumte Cockie ein und fuhr in sehr mildem Ton fort: »Das muß Sie in schlimme Konflikte gestürzt haben. Keine Bange, Doktor, gar nichts werfe ich Ihnen vor.« Entwaffnet, lenkte der Doktor sofort ein. »Ich bin ihr nie zu nahe getreten, Inspektor!«, beteuerte er kläglich. »Aber Sie haben recht, es ist etwas an dieser Frau… und sich ausmalen zu müssen, wie dieses alte Ekel…« »Nun, er ist nicht mehr«, konstatierte Cockie. »Direkt vor unseren Nasen ermordet. Apropos Nasen…« »Ja, ich habe es gerochen. Nur ein Hauch zwar, aber unverkennbar. Zunächst dachte ich, es läge am Branntwein, dem Kirschwasser, in den die Pfirsiche eingelegt waren.« »Überhaupt ein ungewöhnliches Festmenü«, sinnierte Inspektor Cockrill. »Man sollte doch eigentlich meinen, daß alle sich ein Bein ausgerissen hätten, um es dem Bräutigam und Gastgeber recht zu machen. Aber nein: Er kann sich für Austern nicht erwärmen, aber es gibt Austern, kalter Braten ist ihm zuwider, und es wird ausschließlich kalter Braten aufgetragen, er ist überzeugter Nichttrinker, und was wird ihm vorgesetzt? In Branntwein eingelegte Pfirsiche!« Cockrill saß mit nachdenklicher Miene, das Kinn in die Hand gestützt, den Blick seiner blanken, vogelähnlichen Augen in die Ferne gerichtet. »Es steckt ein Plan dahinter, Doktor. Es handelt sich hier nicht um einen Löffel voll Gift, rasch aus einer zufällig vorhandenen Dose geschrappt, rasch auf einen sich zufällig anbietenden Branntweinpfirsich gestrichen. Nein, wir haben es hier mit -274-
einem wohldurchdachten, sorgfältig in die Wege geleiteten, absolut unfehlbaren Plan zu tun. Doch wer ist sein Urheber? Wer hat den Plan durchgeführt, und aus welchem Grund?« Er unterbrach sich und hob dann erneut zu sprechen an: »Gleichgültig, wie das Testament aussieht, so wie die Gesetzeslage hierzulande ist, steht sie auf jeden Fall als eine wohlhabende Witwe da – was ihr angenehmer sein dürfte, denke ich, denn als gut versorgte Gattin.« »Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Elizabeth…?« »Elizabeth hatte mit der Vorbereitung der Speisen nicht das geringste zu tun; sie hat in den vergangenen drei Tagen nicht unter diesem Dach geweilt, mit Ausnahme des kurzen Moments, als sie mit Theo auf dem Weg zur Kirche hier anhielt. Auch dann waren die beiden jeweils höchstens ein, zwei Minuten allein – nicht lange genug, um das Wagnis eingegangen zu sein, die Dose Blausäure zu öffnen, eine geringe Menge zu entnehmen und mit ihr den Pfirsich – der darüber hinaus noch im fest verschlossenen Glas lag –, den Braten, die Austern oder irgend etwas anderes zu vergiften. Außerdem würde man das Gift auf dem Braten oder den Austern geschmeckt haben. Andererseits ist Elizabeth ausgebildete Krankenschwester.« Er überlegte. »Er war schwer erkältet. Wäre es denkbar, daß sie ihn dazu bewegt hat, das Gift in anderer Form zu sich zu nehmen? Beispielsweise auf der Rückfahrt von der Kirche?« »Er gehörte zu denen, die ihre Arzneimittel grundsätzlich nicht nehmen. Zwar erkältete er sich laufend, und es haben sich sicherlich zahllose Pillen und Säfte angesammelt, die ich verschrieben habe, aber genommen hat er nie -275-
etwas. Und wir wissen ja«, betonte er, wie vor ihm schon Bill, »daß das Gift im Pfirsich war, nicht wahr?« Schließlich sei es der Fettsack Theo gewesen, der die Pfirsiche besorgt habe. Nicht, beeilte der Doktor sich zu sagen, daß er unterstellen wolle, Theo habe seinen eigenen Vater umgebracht, aber… »Glauben Sie ja nicht, daß mir entgangen ist, wie er sie mit den Augen verschlingt.« »Glauben Sie ja nicht, mir sei entgangen, wie Sie alle sie mit Blicken verschlingen!« »Ich habe mir geschworen«, bekannte der Doktor mit leiser, gefaßter Stimme, »wenn ich heil aus dieser Geschichte herauskomme, ohne daß meine Familie daran zerbricht, werde ich willentlich nie wieder Elizabeths Gesellschaft suchen.« »Sie«, urteilte Cockie, »sind eine ›Arbeiterin‹, keine wahre Drohne. Für Sie wird es leichter sein. Bill ist eine Drohne; das gibt er freimütig zu. Er nennt sich nur anders. Herumtreiber.« Der feiste Theo war ebenfalls eine Drohne. Bill, Theo, der Doktor… Nein, der Doktor hatte Familie, und die würde er niemals im Stich lassen, auch nicht der Jungkönigin Elizabeth zuliebe. Doch Bill hatte gleichfalls eine Frau, an der er – auch jetzt noch, auch nachdem er Elizabeth kennengelernt hatte – hing. Theo wiederum genügte sich selbst und würde nicht mehr als ein klein wenig schmachtendes Verlangen riskieren wollen, ein gelegentliches sentimentales Flattern seines verfetteten Herzens. Nur eines der Männchen kann sich mit der Königin paaren… von den vier Drohnen, die hinter der Königin herschwirrten, hatte tatsächlich nur eine mit ihr Hochzeit gefeiert. Und hatte es in der Tat mit dem Leben bezahlt. Welche der drei verbleibenden Drohnen mochte imstande gewesen sein zu töten, um die Paarung zu verhindern? -276-
Nachforschungen und Vernehmungen – die Bestellungen bei Harrod’s und bei Fortnum, in der örtlichen Drogerie, Telefonate mit den Anwälten Mr. Caxtons, mit den wenigen amerikanischen Bekannten des Stiefsohns Bill, mit den ehemaligen Hausangestellten… Im Nu war der Nachmittag verstrichen und einem lauen, lichten Sommerabend gewichen. Cockrill stand mit den vier Verdächtigen draußen auf der Terrasse der großen, häßlichen, alles andere als begehrenswerten Residenz, die nun samt und sonders Elizabeth gehören mußte. »Elizabeth, Verzeihung: Mrs. Caxton, meine Herrn, es kommt bei dieser unschönen Sache eigentlich nur ein Motiv in Frage. Geld kann es nicht sein. Das neue Testament war bereits unterzeichnet, durch den Tod Mr. Caxtons zu diesem Zeitpunkt ist demnach nichts gewonnen. Keiner von ihnen scheint in akuten Geldnöten. Es bleibt uns nur ein möglicher Beweggrund, und deshalb kreist alles um die eine Frage: Wer wäre imstande, Harold Caxton zu töten, um zu verhindern, daß er jemals mit Elizabeth ein Bett teilte?« Theo, Bill, Dr. Ross, wer von den dreien? Immer sachte, mahnte sich Inspektor Cockrill: zu schnell fängt nichts. Laut sagte er: »Der Mord war vorausgeplant. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Wie, frage ich mich daher, kann jemand mit Sicherheit davon ausgegangen sein, daß der allererste Bissen Pfirsich tödlich wäre? Und komme auf den Löffel.« »Sie meinen den Löffel, mit dem Theo die Pfirsiche ausgeteilt hat?« fragte Elizabeth hastig. »Aber nein, das kann ja nicht sein, denn Theo hat seinem Vater nicht den Nachtisch gereicht. Er konnte nicht wissen, welchen Pfirsich sein Vater bekommen würde.« »Es sei denn, er hätte seinem Vater gezielt einen bestimmten Teller zugespielt?« -277-
Bill sprach die Vermutung stellvertretend für Inspektor Cockrill aus und warf diesem einen fragenden Blick zu. Im nächsten Augenblick mußte er einen plötzlich nach Luft ringenden Theo beschwichtigen: »Schon gut, schon gut, Bruderherz. Ruhig Blut! Die Möglichkeit hatten wir doch schon verworfen.« »Außerdem würde das immer noch nicht erklären, wieso der erste Bissen vergiftet gewesen sein soll. Und Elizabeth«, wies sie Inspektor Cockrill streng zurecht, »ich muß Sie wirklich bitten, das Verwirrspiel zu lassen! Sie haben mich mit Ihrem Löffel auf eine falsche Fährte locken wollen, nämlich von dem anderen Löffel ablenken wollen, den Ihr Mann von Bill überreicht bekam.« Da begann sie zu weinen, erschöpft, verzagt, hilflos, und preßte sich das kleine, geballte Taschentuch gegen die Zähne. »Inspektor! Harold ist tot. Nichts von alledem wird ihn wieder zum Leben erwecken. Können Sie nicht…? Können wir nicht…?« Und dann platzte sie damit heraus, daß sie es nicht ertragen könne, der Grund dafür zu sein, daß so viele nette Menschen in Schwierigkeiten gerieten. »Aber hören Sie, Ihr Mann ist ermordet worden! Was erwarten Sie denn? Daß ich die Sache auf sich beruhen lasse, bloß weil der Mörder ein Faible für Sie hatte?« Er kam auf den Löffel zurück. »Wenn dieser andere Löffel mit Gift bestrichen war…« Sie schluckte ihre Tränen und warf triumphierend den Kopf zurück. »Das ist aber nicht möglich! Harold hat ihn vorher genau unter die Lupe genommen, damit er auch ja sauber wäre – wie er es permanent tat, nachdem das Personal uns im Stich gelassen hatte. Er unterstellte mir, ich…« Ihre Unterlippe bebte. »Ich weiß, man soll von den Toten nicht schlecht reden, aber er war wirklich nicht besonders nett!« stieß sie hervor. -278-
Also nicht Theo, der nicht mit Sicherheit davon ausgehen konnte, daß ein vergifteter Pfirsich den Vater erreichen würde. Und nicht Bill, der keine Gelegenheit hatte, überhaupt einen Pfirsich zu präparieren. »Womit Sie bei mir wären«, stellte Dr. Ross fest. Es wurde totenstill auf der Terrasse. Die Sonne war untergegangen. Bald würden die Sterne ihren Platz einnehmen, unsichtbar fast am fahlen Himmel. Sie standen reglos beieinander. Eine Zeitlang sprach keiner. Dann sagte schließlich Elizabeth zögernd: »Inspektor, Dr. Ross ist verheiratet. Er hat eine Frau. Er hat Kinder.« »Und doch könnte es sein, daß ihm die Vorstellung zuwider war, daß Sie in den Armen dieses ›alten Ekels‹ – wie er sich ausdrückte – liegen müßten.« »Das gilt für uns alle«, gab der Arzt zu bedenken. »Aber Sie waren derjenige, der Mr. Caxton angesprungen hat, nicht wahr, Doktor? Oder sagen wir: hinzugesprungen sind. Ihm zu Hilfe geeilt sind und dem guten Mann den mit einem Fingerling geschützten Finger in den Rachen gerammt haben, einem Mann mit einem ganz gewöhnlichen Erstickungsanfall. Einem Fingerling, der zuvor in eine Dose Gift getaucht worden war.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« japste Dr. Ross empört. »Das können Sie doch nicht im Ernst glauben! Daß ich einen meiner Patienten umbringe?« Elizabeth hakte sich beim Doktor unter und rief: »Nein, nein, natürlich glaubt der Inspektor das nicht!« Der Arzt beachtete sie nicht weiter. »Und dann noch auf diese Weise! Woher hätte ich denn ahnen sollen, daß er genau im passenden Moment einen seiner Erstickungsanfälle bekäme?« »Er hatte sie ständig«, sagte Cockie. -279-
»Aber Dr. Ross hätte das Gift doch gar nicht beschaffen können«, wandte Elizabeth ein. »Er hat ja die Arzttasche nicht selbst aus der Diele hereingeholt.« Abrupt brach sie ab. »Ach, Theo, entschuldige, ich wollte damit nicht…« »Ja, ich habe die Tasche geholt«, gab Theo zu. »Aber das hat doch nichts zu bedeuten.« »Es könnte sehr wohl bedeuten, daß du derjenige warst, der den Fingerling ins Gift getaucht hat«, widersprach Cockrill. Aus Theos Mondgesicht wich alle Farbe. »Ich, Inspektor? Wie sollte ich? Wie sollte ich irgend etwas davon gewußt haben? Ich wußte nichts von Fingerlingen und wozu man sie benutzt.« »Außerdem hätte er gar nicht die Zeit dazu gehabt«, fügte Elizabeth hinzu. »Auf die Idee zu kommen, die Dose zu öffnen, den Fingerling zu finden. Fingerlinge werden stets im Seitenfach einer Arzttasche aufbewahrt, sie fliegen nicht irgendwo lose herum.« In diesem Fall allerdings hatte der Fingerling genau das getan, hatte zuoberst lose in der Tasche gelegen, wo ihn Bill, neben dem Doktor auf dem Boden über den sich im Todeskrampf Windenden gebeugt, ohne langes Suchen fand und weiterreichen konnte. »Ich hatte ihn zuvor bei einem Patienten benötigt, zu dem ich gerufen worden war, unmittelbar bevor ich zur Trauung in die Kirche kam«, erklärte Dr. Ross lahm. »Das können Sie ja überprüfen. Ich hatte den Fingerling in ein Desinfektionsmittel getaucht, getrocknet und einfach wieder in die Tasche geworfen. Ich hatte es eilig, zur Hochzeit zu kommen.« Eilig, zur Hochzeit zu kommen. »Aha. Dann hatten Sie den Fingerling noch frisch im Sinn, war es so, Doktor? Und als Sie die Tasche ins Haus trugen und auf dem Stuhl -280-
in der Diele absetzten, fiel ihnen die Dose mit dem Gift ins Auge. Alles lief durcheinander, alle waren soeben von der Trauung zurückgekehrt, hatten für nichts Augen als für Braut und Bräutigam. Da sind Sie mit dem Finger einmal kurz in die Paste gefahren, mit Fingerling, nur für den Fall, daß sich vielleicht eine Gelegenheit bieten würde. Und siehe da: sie bot sich tatsächlich. Was für ein glücklicher Zufall!« »Inspektor Cockrill«, fiel ihm jetzt Elizabeth mit ruhiger, entschiedener Stimme ins Wort. »Das ist doch alles Unsinn! Dr. Ross hat die Blausäure auf Harolds Atem gerochen, lange bevor er nach dem Fingerling griff. Sie haben doch selbst gesehen, wie er gewissermaßen an ihm schnupperte.« »So tat als ob, meinen Sie«, konterte Cockie. »Es gab nichts zu schnuppern, stimmt’s Doktor? Zu dem Zeitpunkt noch nicht. Nur rief es die Assoziation Gift hervor, und zwar vor der eigentlichen Vergiftung mit Hilfe des Fingerlings. Der Mann kriegt keine Luft, der Arzt beugt sich über ihn, gibt sich argwöhnisch. Dann wird der mit Gift bestrichene Fingerling dem Opfer in den Rachen geschoben, und nun gibt es in der Tat etwas zu erschnuppern. Später könnten etwaige bei der Laboruntersuchung am Fingerling festgestellte Blausäurespuren durch das Einführen in den Rachen eines schon vergifteten Mannes erklärt werden. Bleibt nur, eine frühere Giftquelle zu suggerieren. Kinderspiel. Der Doktor wischt den Fingerling an der Serviette ab und breitet diese – ganz unschuldig, ganz beiläufig – über den Pfirsich, der dadurch mit dem Gift in Berührung kommt.« Mit blanken Vogelaugen blickte Cockie selbstzufrieden in die Runde. Alle standen stocksteif da und starrten voller Entsetzen und Mißtrauen zum Arzt hinüber. Elizabeth rief: »Nein, nein! Das kann nicht sein!« -281-
Doch ein zweifelnder Unterton machte sich in ihrem Tonfall bemerkbar. »Nein«, pflichtete ihr Cockrill bei. »Denn wir haben es hier nicht mit einem Verbrechen zu tun, bei dem irgend etwas dem Zufall überlassen worden wäre.« Sie trat zu dem Arzt hin, legte ihm die zarten, kleinen Hände auf den Arm und ließ mit einer Bewegung, die bar jeder Koketterie war, einen Augenblick lang die Stirn an seine Schulter sinken. »Gott sei Dank! Was hat er mir für einen Schreck eingejagt!« »Mir nicht«, tönte Dr. Ross vollmundig, und wirkte doch sehr blaß. An Cockrill gerichtet, sagte er: »Er war für diese Attacken sehr anfällig, das wohl. Aber sie widerfuhren ihm höchstens ein- oder zweimal im Jahr. Wer würde alles von der eher geringen Wahrscheinlichkeit abhängig machen wollen, daß es ausgerechnet heute zu einem seiner Anfälle käme?« »Womit wir wieder bei dir landen, Theo«, stellte Inspektor Cockrill ungerührt fest. »Du hast Branntweinpfirsiche angeboten, und du hast darauf bestanden, daß er einen ißt.« Theo sah aus, als würde er jeden Augenblick Opfer eines der Anfälle, die seinen Vater geplagt hatten. »Ich soll darauf bestanden haben, daß er einen ißt?« entrüstete er sich. »Mein lieber Theo! Der Gute war überzeugter Nichttrinker. Du setzt ihm einen Pfirsich vor, der geradezu in Kirschwasser schwimmt. Du weißt, daß er schwer erkältet ist und daß er den Alkohol nicht riechen wird. Er schlingt einen Riesenbissen hinunter und begreift, daß er gefoppt worden ist, daß ihm Alkohol untergejubelt wurde. Du kanntest deinen jähzornigen Vater. Du wußtest, er würde in Rage geraten und nach Luft ringen und wenn nicht am Pfirsich, dann an seiner Wut ersticken. Und es liegt doch -282-
nahe, nicht wahr, daß du über diese Erstickungsanfälle bestens Bescheid weißt, beispielsweise auch weißt, daß man die Atemwege mit einem Finger, über den man einen Fingerling aus Gummi streift, freimachen kann. Du mußt ja den einen oder anderen Anfall schon miterlebt haben, schließlich litt dein Vater seit über zehn Jahren an ihnen.« Theo rang selbst nach Luft. »Aber, aber, ich hätte es doch gar nicht tun können – in die Diele heraustreten, um die Tasche zu holen und den Fingerling zu präparieren! Elizabeth hat doch schon darauf hingewiesen! Dazu hätte die Zeit nicht gereicht.« »Wir waren ja alle abgelenkt, waren damit beschäftigt, deinen Vater aus dem Stuhl zu bugsieren und auf den Boden zu betten. Da vergeht die Zeit rasch.« Doch auch Theo mochte Elizabeth nicht derart in die Enge getrieben sehen. »Hör nicht weiter auf ihn, Theo, laß dich nicht ins Bockshorn jagen. Daran ist genauso wenig wie an seinen anderen hanebüchenen Vermutungen. Er… er… spielt Katz und Maus mit uns, er will uns dazu verleiten, uns zu kompromittieren. Wenn es Theo getan hätte, Inspektor, was ist dann mit Dr. Ross? Weshalb sollte er an Harold geschnuppert haben, als dieser noch im Stuhl saß? Es hätte dann ja nichts gegeben – noch nicht –, wonach man hätte schnuppern können. Und angenommen, er hätte nur so getan, wozu, wenn es Theo war, der den Fingerling mit Gift bestrich? Es sei denn…« Sie brach ab, schlug sich die Hand vor den Mund, riß sie gleich wieder fort und zupfte nervös an ihrem Taschentuch. Inspektor Cockrill forderte sie auf fortzufahren: »Ja, Elizabeth? Es sei denn…« »Nichts«, winkte Elizabeth ab. »Ich meine bloß, der Doktor hätte ihn nicht gedeckt, wenn es Theo gewesen wäre.« -283-
»Es sei denn…« Der Inspektor dachte nach. Seine Augen leuchteten auf. »Es sei denn, wollten Sie sagen, Elizabeth, sie steckten beide unter einer Decke.« Da blickte sich der Inspektor um, musterte die drei Männer und lächelte ein lauerndes Raubtierlächeln. »Es sei denn, sie steckten alle drei unter einer Decke.« Drei Komplizen, vereint durch die Liebe zu ein und derselben Frau, vereint in ihrem Wunsch, sie zwar nicht selber besitzen, genausowenig aber einem vierten überlassen zu wollen. Eine erste beiläufige Äußerung, das Feststellen verwandter Gedanken, ähnlicher Empfindungen, die Entdeckung des gleichen Ekels, die erste unverbindliche Erörterung der Möglichkeiten, etwas zu unternehmen, eine Rettungsaktion in die Wege zu leiten, Verwünschungen, die sich zur Entschlossenheit verdichteten, zu Tatsachen, zu konkretem Pläneschmieden. Aber… Mord! Selbst mit der Rückendeckung der anderen, wer von ihnen war schon tatsächlich bereit zu morden? Keiner. Dann eben alle: Streuung der Verantwortung – wie bei einem Erschießungskommando, wo alle abdrücken, aber keiner allein Todesschütze ist. Bill würde das Gift beschaffen und dafür sorgen, daß es in der Diele bereitstand. Theo würde es nach Möglichkeit so einrichten, daß Gelegenheit entstände, einen vergifteten Fingerling einzusetzen. Dem Doktor fiele natürlich die Rolle desjenigen zu, der den Fingerling tatsächlich benutzte. Damit aber nicht einem Komplizen eine übermäßige Schuldlast aufgebürdet würde, müßte Theo in die Diele eilen, den Fingerling mit Gift bestreichen, während dann -284-
Bill die Arzttasche entgegennähme und den todbringenden Fingerling an den Doktor weitergab. Exekutionskommando. Mordet der mehr, der das Gift zuführt, oder der, der es beschafft? Mordet der weniger, der das Opfer dem Tod preisgibt, obwohl er nicht faktisch die Hand gegen es erhebt? Alle für einen, einer für alle! Und das alles um der Unbeflecktheit Elizabeths willen, der unberührten Jungkönigin. Elizabeth stand schluchzend neben ihm in der Diele, als ein Polizeibeamter die drei Männer in den riesigen, zugigen Salon schob, um sie dort zu bewachen, bis das Polizeiauto sie abholen kam. »Ich kann es nicht fassen, ich kann es einfach nicht fassen, Inspektor! Die drei? Alle drei?« Er hatte es gleich zu Anfang gesagt: »Ein wohldurchdachter, sorgfältig in die Wege geleiteter, absolut unfehlbarer Plan.« »Der Doktor und Theo, wenn Sie unbedingt meinen, aber Bill? Weshalb ziehen Sie Bill da mit hinein?« »Ah, Bill«, machte der Inspektor. »Aber ohne Bill…? Sie haben sich bisher sehr loyal verhalten, aber ich denke, wir sollten das Geheimnis um Bill jetzt lüften.« Und er versetzte sich in Gedanken etliche Wochen zurück, in die Zeit, als Harold Caxtons Heiratsabsichten offenkundig wurden. ›Eine ausgebildete Krankenschwester wird doch immer wieder gute Arbeit finden‹, hatte er ihr zu bedenken gegeben. ›Reisen Sie, erkunden Sie die große, weite Welt.‹ – ›Ich habe die Welt gesehen‹, hatte sie damals entgegnet. »Also gut«, gab sie jetzt kleinlaut zu. »Ja, ich war in Amerika. Ja, ich habe dort geheiratet. Harold wußte da-285-
von, wußte, daß ich verheiratet gewesen war und mich hatte scheiden lassen. Sonst habe ich das nicht an die große Glocke gehängt; er wollte das nicht.« Verheiratet. Geschieden. Verheiratet mit einem ›Herumtreiber‹, der von den alten, ergebenen Hausangestellten erfahren hatte, daß seine Mutter sich von ihrer Krankheit nicht erholen würde und daß der steinreiche, alternde Stiefvater bald Witwer wäre. »Inspektor, wir waren verzweifelt. Er weigerte sich, einer Arbeit nachzugehen, er trieb sich in Spielsalons herum. Ich konnte uns nicht mehr beide ernähren. Ich konnte ihn aber auch nicht verlassen. Ich habe Ihnen einmal von einer verlorenen Liebe erzählt… er war diese verlorene Liebe, wenn man so will. Er war meine große Liebe, er ist es noch und wird es immer sein. Wir Frauen sind eben so.« »Manche Männer auch«, räumte Cockie ein und dachte an den unvermittelt trostlosen Gesichtsausdruck bei Bill, als er sagte: »Ich habe ein paar schwere Fehler gemacht, das erkenne ich inzwischen.« »Was habe ich mich geschämt, Inspektor«, weinte sie. »Nicht nur dessen, was wir taten, sondern wegen der vielen Lügen, der Schauspielerei.« »Aber Sie haben weitergemacht?« »Sie kennen Bill nicht«, sagte sie tonlos. »Sie haben recht. Er schrieb an seine Mutter, heimlich, die Hausangestellten leiteten die Post weiter. Er schrieb, er kenne ein Mädchen, eine wunderbare Krankenpflegerin, die bald nach England käme. Er bat seine Mutter, dem alten Herrn nichts davon zu sagen, sich aber um die Einstellung dieses Mädchens als Pflegerin zu bemühen. Das Mädchen war natürlich ich, Inspektor. Dann kümmerte er sich um eine Scheidung. Er ging so weit, einen Kerl zu verprügeln, von dem er behauptete, er habe etwas mit mir. Er hat es etwas -286-
übertrieben und handelte sich eine Haftstrafe ein, aber das beschleunigte letzten Endes das Scheidungsverfahren.« »Weil Sie ohne Scheidung nicht hätten erben können, nehme ich an? Die Ehe mit Harold sollte unanfechtbar sein.« »Inspektor«, flehte sie, »glauben Sie mir. Es gab niemals ein Mordkomplott. Sein Stiefvater war nicht mehr jung, er war nicht gesund, er hätte nicht mehr lange zu leben gehabt. Ich fürchte allerdings, Bill hat ihn sich eher noch älter und gebrechlicher vorgestellt. Er war ja lange nicht mehr hier gewesen, und einem kleinen Jungen erscheinen die Eltern weit älter, als sie tatsächlich sind.« »Er hätte gewartet?« »Er dachte in Dimensionen von ein, zwei Jahren, mehr nicht. Er würde in der Zwischenzeit in England bleiben, wir würden uns regelmäßig sehen – schließlich gehörte er zur Familie. Ich hätte ihn mit Geld versorgt, und er hätte vermutlich weiter gespielt.« »Doch ehe an diese rosige Zukunft zu denken war, mußten Sie anreisen, die Mutter bis zu ihrem Tod pflegen und dann ihre Stelle an der Seite des Witwers einnehmen?« Sie wandte den Kopf ab. »Sie finden das abscheulich, nicht wahr, Inspektor? So wie Sie es darstellen, klingt es auch in meinen Ohren abscheulich, hat es immer so geklungen. Aber wie gesagt, Sie kennen Bill schlecht. Bills Wort ist Befehl. Und ich habe sie wirklich anständig gepflegt. Sie lag ja im Sterben, es hätte keinen Unterschied gemacht, aber ich habe ihr nach Kräften beigestanden und für sie gesorgt – ihre letzten Worte waren Dankesworte. Als sie gestorben war, hielt ich es kaum noch aus. Ich rief Bill in Amerika an und sagte ihm, ich könne die Sache unmöglich durchziehen. Er hat bloß… er hat gemeint…« -287-
»Daß Sie weitermachen müßten, und ist Ihnen dann nachgereist, um dafür zu sorgen, daß Sie nicht ausscherten?« »Um dafür zu sorgen und für etwas anderes«, hauchte sie. »Ja«, stimmte er nach einer nachdenklichen Pause zu. »Etwas anderes. Denn er liebt Sie nach wie vor, Elizabeth. Auf seine Weise. Er mag imstande sein, Sie als Braut eines widerwärtigen alten Ekels vor den Altar zu zwingen, er würde jedoch niemals zulassen, daß Sie mit ihm ins Bett gingen.« Und darin fand er Gleichgesinnte. »Ich könnte mir vorstellen, Inspektor, daß er die Absicht hatte, es allein zu tun, obwohl er weiß Gott einen solchen Plan mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt hat. Ich denke, wenn ich das sage, an die Zeit in Amerika zurück, als er noch eher das Verhältnis Tattergreis und Pflegerin vor Augen hatte. Aber er ist immer ein Spieler gewesen: Hier bot sich eine einmalige Chance. Nichts durfte dazwischen kommen. Also reiste er mir nach, wir sahen uns wieder, er sah mich zusammen mit seinem Stiefvater… und dann, vielleicht, als er merkte, wie die anderen darüber dachten, hat er sie langsam für seinen Plan gewinnen können. Das reinste Vabanquespiel! Typisch Bill. Mit dem Unterschied, daß ihm sein Coup dieses eine Mal gelingen wird, denn diesmal kann man ihm nichts anhängen.« »Wie meinen Sie, nichts anhängen?« »Nun, wer hat ein Verbrechen begangen? Bill hat eine Dose Insektengift gekauft – gegen Wespen. Das ist nicht verboten. Theo hat ein Glas Pfirsiche erstanden, auch das ist nicht verboten. Der Doktor, nun, es läßt sich nicht leugnen, daß er Harold den Finger mit dem Fingerling in den Hals geschoben hat, aber er hat den Fingerling nicht -288-
vergiftet. Genau genommen hat keiner von den dreien gegen das Gesetz verstoßen. Man wird sie nicht einmal ins Gefängnis stecken können!« »Nur vorübergehend«, stimmte Cockie zu. »Vorübergehend?« »Bis man sie henkt«, erklärte Inspektor Cockrill. »Aber… das ist doch nicht Ihr Ernst? Man könnte alle drei zum Tode verurteilen?« »Alle drei«, bestätigte Cockie. »Wegen Beihilfe zu Mord. So steht es im Gesetz. Der Hochzeitsflug der Königin, Elizabeth: zu bestimmten Jahreszeiten – die Drohnen tun nichts als fressen… Nun, wir haben es mit eigenen Augen gesehen. Und starren mit großen Augen auf die jungfräuliche Königin… Nun, auch das haben wir gesehen. Dann: der Hochzeitsflug mit der Königin… Auch dessen wurden wir Zeugen. Doch hier hinkt der Vergleich, denn es heißt, nur eine der Drohnen gelangt zur Paarung, und demzufolge stirbt nur eines der Tiere.« »Wollen Sie damit sagen, daß alle drei…« »Ich will damit sagen, daß keiner der drei sterben muß. Das wäre eine Überstrapazierung der Analogie.« »Was kann sie noch retten?« fragte Elizabeth und begann zu zittern. »Worte können sie retten, und Worte werden sie retten.« »Worte?« Ein Dutzend Worte, exakt ein Dutzend, achtlos hingeworfen, kaum beachtet. Doch wenn man es genau bedachte: Ach, wie klar lag da alles auf der Hand! Eigenartig, sinnierte Cockrill, eigenartig, wie doch zwei knappe Sätze, mit halbem Ohr aufgeschnappt, sich umeinander schlingen konnten, bis sie einen roten Faden ergaben – und schließlich einen Strick. -289-
Aus kleinen Worten, kaum beachtet… »Außer von meiner Wenigkeit, nachträglich fielen sie mir wieder ein. Ich hörte Ihren Mann sagen: ›Hätte es nicht Räucherlachs geben können?‹, und ich hörte Sie antworten: ›Wir haben die einfachste Lösung gewählt‹.« In diesem Augenblick erhob sich lautlos ein Zivilfahnder, der die ganze Zeit über still auf einem Stuhl neben der Haustür gesessen hatte, und trat zu ihnen hin. Inspektor Cockrills Hand schnellte vor und umschloß Elizabeths zartes Handgelenk. »Inwiefern waren Austern ›einfacher‹ als Räucherlachs, Elizabeth?« verlangte er streng. Ein wohldurchdachter, sorgfältig in die Wege geleiteter, absolut unfehlbarer Plan. Das perfide Zusammenspiel zweier Gatten, durch das in den Haushalt der sterbenden Mutter eine neue Braut für den baldigen Witwer eingeschleust wurde. Auf seiten des Mannes bestand der Plan wahrscheinlich aus wenig mehr als dem ungeduldigen Warten auf das Ende eines Lebens, dessen verbleibende Dauer etwas zu niedrig veranschlagt worden war. Auf ihrer Seite jedoch! Sie war diejenige gewesen, die gleich erkannt hatte, wie unerträglich sich die Jahre hinziehen mochten, die sie einem Mann zu Willen sein müßte, der beim geringsten Aufbegehren ihr Erbe auf das gesetzlich vorgesehene Minimum zusammenstreichen konnte. Hatte sie Harold Caxton gegenüber wirklich eine frühere Ehe erwähnt? Sehr wahrscheinlich nicht. Von allen Beteiligten war die Person, die die Ehe mit Mr. Caxton am meisten zu fürchten gehabt hatte, Elizabeth selbst gewesen, die »jungfräuliche Königin«. Der Mordplan wurde also sorgfältig gelegt, doch einzig und allein in einem Kopf. Der Ex-Ehemann, überflüssig geworden, ließe sich als Hauptverdächtiger aufbauen, ferner ließen sich mit erprobten Mitteln, den weiblichen Reizen, den Waffen einer Frau nämlich, möglichst viele ande-290-
re nützliche Idioten umgarnen, die zur weiteren Verdunkelung und Verwirrung beitragen würden. Altgediente, ergebene und daher lästige Angestellte wären durch sanft gesäte Zwietracht zu vertreiben. Und dann: Vorhang auf und mit engelsgleichem Lächeln, zarten, fliegenden Händen und verträumten blauen Augen sich in Pose setzen und alldieweil überlegen und planen, überdenken und planen… »Sie können nichts beweisen!« keifte sie, als sie unter den bestürzten Blicken dreier vollkommen fassungsloser Männer vom Haus abfuhren, sie zwischen dem Inspektor und dem Polizeibeamten auf dem Rücksitz der davongleitenden schwarzen Limousine eingezwängt und unablässig sich in ihrem Griff windend. »Sie können nichts beweisen! Sie wollen mich hereinlegen! Sie führen mich an der Nase herum!« »Nein«, entgegnete Cockrill. »Jetzt nicht mehr. Hier ist genug an der Nase herumgeführt worden, Sie haben mich an der Nase herumführen wollen.« Er vollzog mit dem Arm jede ihrer fuchtelnden Bewegungen mit, ohne auch nur einmal den eisernen Griff seiner Finger zu lockern. »Und wie geschickt haben Sie es angestellt! Haben mir ein Indiz nach dem anderen unter die Nase gehalten und wieder entrissen, sobald Sie erkennen mußten, daß ich nicht anbiß. Und das alles mit einem Anschein so rührender Fürsorge den tölpelhaften Verehrern gegenüber, die Ihnen ins Netz gegangen waren. Aber ich habe mich nicht beirren lassen«, fügte er mit stiller Selbstzufriedenheit hinzu, »ich habe mitgehalten, Zug um Zug.« »Sie haben nichts in der Hand!« Sie beharrte darauf. »Und doch lag es auf der Hand«, fuhr er fort. »Kaum hatte ich mich an seine vorwurfsvolle Frage erinnert, warum es nicht ebensogut Räucherlachs hatte geben können, -291-
ging mir ein Licht auf. Sie haben die Bestellungen fürs Festmahl aufgegeben. Warum also Austern, wenn die Wahl doch Unmut erregen mußte? Ich brauchte nur dieser Frage nachzugehen, die übrigen Faktoren miteinbeziehen und prompt lag die Antwort auf der Hand.« »Aber die Dose mit dem Gift! Sie haben sie doch selbst auf dem Tisch in der Diele bemerkt, als wir ins Eßzimmer gingen. Ich habe das Eßzimmer kein einziges Mal verlassen; wie sollte ich also die Dose in der Vase auf dem Tisch versteckt haben?« »Sie haben sie versteckt, als Sie kurz hinausliefen, um nachzusehen – das kann nur eine Sekunde gedauert haben, und Sie hatten ja Ihr kleines, niedliches Taschentuch zur Hand, nicht wahr, mit dem Sie die Fingerabdrücke verwischen konnten.« Mit seiner freien Hand schlug sich der Inspektor aufs Knie. »Potzblitz, bis ins Kleinste durchdacht! Bis hin zu einem Taschentuch!« Sie wand sich, wehrte sich verzweifelt gegen die Umklammerung ihrer Handgelenke. »Laßt mich los, ihr Gorillas! Ihr tut mir weh!« »Harold Caxton war vermutlich auch nicht besonders wohl zumute, als er starb.« »Dieses alte Schwein!« zischte sie verächtlich. »Wen interessiert es schon, wie ein solches Vieh verreckt?« »Solange es nur verreckt…« »Sie werden mir nie nachweisen können, daß ich ihn ermordet habe, Inspektor. Wie soll ich zum Beispiel«, rief sie auftrumpfend, »das Gift aus der Dose genommen haben?« »Das könnten Sie getan haben, als Sie mit Theo auf dem Weg zur Kirche am Haus anhielten. Theo verschwand im Bad…« -292-
»Eine halbe Minute vielleicht, oder wie lange, meinen Sie, braucht ein Mann, wenn er nur mal eben verschwinden muß? Doch nicht lange genug, um das Zeug aus der Dose zu kratzen und alles andere noch zu erledigen…« »Ah, aber ich habe ja auch gar nicht behauptet, daß Sie das ›andere‹ zu dem Zeitpunkt erledigt haben. Das ›andere‹ hatten Sie längst erledigt. Wir werden darauf stoßen – wenn wir nur lange genug suchen; und das werden wir, verlassen Sie sich darauf. Vermutlich bei irgendeinem Drogisten in London, wo Sie eine zweite Dose Blausäure erstanden. Die Dose in der Diele war eine Finte, die halbe Minute, die Theo im Bad verbrachte, reichte aus, um schnell einen Löffel voll herauszukratzen. Sie hatten sichergestellt, daß die Dose dort abgelegt würde. Das entnommene Gift haben Sie vermutlich im Bad beseitigt, das Sie nach Theo aufsuchten.« »Sie haben auf alles eine Antwort, wie?« höhnte Elizabeth, doch ihr Widerspruchsgeist erlahmte merklich. Sie saß jetzt zusammengesunken zwischen ihnen, sie wehrte sich nicht mehr. Ein wohldurchdachter, sorgfältig in die Wege geleiteter, absolut unfehlbarer Plan, von Anfang bis Ende von dieser kleinen, zarten Person ersonnen, einer Frau, die Opfer des alles vergiftenden Wissens um die eigene verheerende Wirkung auf die Herzen der Männer geworden war. Aber welche Gerissenheit! dachte Cockie, welcher Langmut! Die lange Vorbereitungszeit, die Ausarbeitung des Drehbuchs, Schritt für Schritt, der Aufbau der Kulisse, die Requisiten – sie hatte ähnlich einem Theaterproduzenten monatelang gearbeitet. Und dann, die Bühne ist endlich bereit, die Marionetten in Position gebracht… Vorhang auf! Eine Randbemerkung: ›Bill, ich flehe dich an, tu mir den Gefallen, besorg mir dieses verdammte Zeug aus der Drogerie; der Alte -293-
bringt mich um, wenn ich das verflixte Wespenmittel nicht zur Hand habe! Leg es einfach auf den Tisch in der Diele, damit er glaubt, ich hätte es besorgt und dort bereitgelegt.‹ Nächster Einsatz: ›Theo, ich habe die Sachen von Harrod’s bestellt, aber ich habe das Dessert vergessen! Kannst du nicht schnell zu Fortnum rüberflitzen und diese himmlischen in Kirsch eingelegten Pfirsiche besorgen, ich weiß, daß es die dort gibt, und sie sehen köstlich aus. Antialkoholiker? O ja, stimmt! Andererseits, warum sollten alle anderen deswegen verzichten? Es wäre doch eine kleine Entschädigung dafür, daß es keinen Champagner gibt. Außerdem ist er mal wieder erkältet; vermutlich merkt er gar nichts.‹ Wer würde sich in der Aufregung und dem Tohuwabohu der Vorbereitungen noch genau erinnern können, wer im Kopf behalten, welche vielerlei Anweisungen und Widerrufe, tausenderlei kleine Entscheidungen gefallen waren und wer sie gefällt hatte? Mehr noch, wer unter ihren drei Kavalieren würde sich hinter ihren Rockschößen verkriechen und petzen: ›Elizabeth hat es so gewollt!‹? Nein, Bill würde brav das Gift ins Haus schaffen, Theo die später verdächtigen Pfirsiche besorgen, und sollte der Doktor ausnahmsweise seine kleine schwarze Tasche nicht dabei haben, dann würde die gewissenhafte kleine Elizabeth, Ex-Krankenschwester, ihn flugs an die Mahnungen der Polizei erinnern, er dürfe seine Arzttasche nicht draußen im Wagen lassen. Die Bühne ist beleuchtet, die Besetzung komplett, die Marionetten – einschließlich des Inspektors in der Rolle des Beobachters – in Stellung gebracht und an unsichtbaren Fäden mit zarter und dennoch blutbesudelter Hand bald hierhin, bald dorthin dirigiert. Denn schon als er die letzte Auster verschlang, während er sich noch verärgert über den kalten Braten hermachte -294-
und als er sich den ersten Bissen seines Pfirsichs in den Schlund schob, war Harold Caxton ein toter Mann gewesen. ›Hätte es nicht Räucherlachs geben können?‹ hatte er verstimmt wissen wollen. Räucherlachs hätte ebenso mühelos von Harrod’s geliefert werden können wie Austern. Doch: ›Wir haben die einfachste Lösung gewählt‹ hatte sie erwidert, und irgendwann hatte sich Inspektor Cockrill gefragt, wieso? Wieso waren Austern ›einfacher‹ als Räucherlachs? Antwort: Weil man in einer Scheibe Räucherlachs eine Giftkapsel nicht so leicht unterbringen kann wie in einer Auster. Ein Freund von Austern wird diese einen Moment im Mund behalten, sie auf der Zunge zergehen lassen, den besonderen Geschmack genießen. Ein Mann, der nichts auf Austern gibt – und Mr. Caxton kannte in seinen Vorlieben und Abneigungen keine Kompromißbereitschaft –, wird seine Austern schlucken und damit basta. Harold Caxton war schwer erkältet gewesen – er hatte sich immer schnell verkühlt; im Haus gab es einen reichlichen Vorrat an Mitteln gegen Erkältung, die er nicht anrührte. Darunter würden sich sehr wahrscheinlich auch kleine Kapseln aus Gelatine befunden haben, gefüllt mit verschiedensten Arzneien. Eine geleerte Kapsel würde mit ausreichend Blausäure gefüllt werden können, um einen Mann zu töten. Eine Auster, mit einem scharfen Messer kurz aufgestemmt, würde eine solche Kapsel bereitwillig aufnehmen und sich wieder schließen und damit alle Spuren verwischen. Es blieb keine Zeit – in dem Punkt hatte sie die Wahrheit gesagt –, um das alles in der halben Minute zu vollbringen, die sie mit Theo im Haus gewesen war. Doch in London würde sich bestimmt, wenn Cockrill lange genug nach ihr fahnden ließ, eine Austernbar finden, in der eine zierli-295-
che, blauäugige Frau gestern ein Dutzend Austern bestellt, lediglich elf gegessen und auch nur elf Schalen zurückgelassen hatte. Ein kleiner Plastikbeutel, triefend vom Saft der nicht verspeisten Auster, hatte sich zweifellos im Badezimmer beseitigen lassen. Dann blieb nur noch, ins Eßzimmer zu schlüpfen – während Theo wie ein kleiner Schulbub zur Toilette geschickt wurde – und die vergiftete Auster gegen eine der anderen auf Harold Caxtons Teller auszutauschen. Zehn Minuten später würde Elizabeth, die Jungkönigin, ihre Hand einem Mann reichen, der binnen einer Stunde von dieser selben Hand, und das mit tödlicher Gewißheit, sterben würde, und hätte ihm im Guten wie im Schlechten die Treue geschworen, bis daß der Tod… Nun, wenn es ein Leben nach dem Tode gab, sinnierte Inspektor Cockrill, als er einige Monate später das Gerichtshaus Old Bailey verließ, dann würden sie ja bald wieder vereint sein. Er aber wollte daran denken, ›Hornissen‹ nachzuschlagen und zu lesen, ob auch die Königinnen stachen.
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Quellenhinweise MARY BARRETTS Erzählung ›Ein außerplanmäßiger Tod‹, deutsch von Uda Strätling, erschien erstmals unter dem Titel ›Death out of Season‹ im Februar 1971 in ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ (©1971 Mary Barrett) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt. CHRISTIANNA BRAND (Pseud. Mary Christianna Milne Lewis) wurde 1907 in Malaya geboren und wuchs zunächst in Indien auf. Dann besuchte sie eine englische Klosterschule. Nach dem Tod ihres Vaters brachte sie sich mehr schlecht als recht in allen möglichen Berufen durch. 1941 schrieb sie ihren ersten Krimi, als Racheakt an einer bösartigen Kollegin, wie erzählt wird. Nach ihrer Eheschließung mit einem Arzt konnte sie sich hauptberuflich dem Schriftstellern zuwenden und errang mit ihren Kriminalromanen und geschienten große Erfolge. Ihre Erzählung ›Aus Fäden werden Stricke‹, deutsch von Uda Strätling, erschien unter dem Titel ›Twist for Twist‹ erstmals im Vol. 49, Nr. 5 des ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ (© 1967 Christianna Brand) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Nachlaßverwalter Christianna Brands und der A. M. Heath Sc Co. Ltd. abgedruckt. GWENDOLINE BUTLER wurde in London geboren, studierte Geschichte und unterrichtete an zwei Colleges. 1956 debütierte sie als Schriftstellerin und hat inzwischen über 30 (Kriminal-)Romane veröffentlicht. Ihre Erzählung ›Der Bund der Schwestern‹, deutsch von Elke Pacholek-Brandt, erschien unter dem Titel ›The Sisterhood‹ erstmals in ›El-297-
lery Queen’s Murder Menu‹, Cleveland 1969 (© 1968 Gwendoline Butler), und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin und ihrer Agentur, John Farguharson Ltd., abgedruckt. ANNA CLARKE wurde am 28. April 1919 als Tochter britischer Eltern in Kapstadt, Südafrika, geboren, ging zunächst dort, dann in Oxford und Montreal zur Schule, studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete in verschiedenen Verlagen. 1968 begann sie zu schreiben. Ihre Erzählung ›Cäsars Gemahlin‹, deutsch von Anne Vogt, erschien unter dem Titel ›Caesar’s Wife‹ erstmals im Mai 1983 in ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ (© 1983 Anna Clarke) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt. SUSAN DUNLAPS Erzählung ›Nicht vor dem Morgenkaffee‹, deutsch von Helga Augustin, erschien unter dem Titel ›Not Before My Morning Coffee‹ erstmals in ›Lady on the Case‹, herausgegeben von Marcia Muller, Bill Pronzini und Martin H. Greenberg, New York 1988 (© 1988 Susan Dunlap), und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt. SUSAN GLASPELLS Erzählung ›Stumme Gesänge‹, aus dem Amerikanischen von Tatjana Kruse, erschien unter dem Titel ›A Jury Of Her Peers‹ erstmals in ›To the Queen’s Taste‹, herausgegeben von Ellery Queen, London 1949 (© 1918 Susan Glaspell, renewed), und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Curtis Brown Ltd. abgedruckt. JOYCE HARRINGTON wurde 1930 in Jersey, New Jersey, geboren, studierte am Pasadena Playhouse in Kalifornien -298-
und hat schon in den verschiedensten Berufen gearbeitet. Ihre Erzählung ›Das Au-pair-Mädchen‹, deutsch von Sonja Hauser, erschien erstmals unter dem Titel ›The Au Pair Girl‹ in ›A Matter of Crime‹, Vol. 1, herausgegeben von Matthew J. Bruccoli und Richard Layman, New York 1987 (© 1987 Joyce Harrington), und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der A. M. Heath & Co. Ltd. abgedruckt. P(HILLIS) D(OROTHY) JAMES wurde am 3. August 1920 in Oxford geboren und war, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte, im Gesundheits- und Polizeiwesen tätig. Sie gilt als eine der herausragendsten Kriminalautorinnen Englands. Ihre Erzählung ›Das Opfer‹, deutsch von Keto von Waberer, erschien erstmals unter dem Titel ›The Victim‹ im Februar 1984 in ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ (© 1984 P. D. James) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin und ihrer Agentur, Elaine Green Ltd., abgedruckt. VIRGINIA JONES’ Erzählung ›Die mustergültige Mörderin‹, deutsch von Uda Strätling, erschien erstmals unter dem Titel ›The Compleat Murderess‹ in ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ No. 38, März 1956, und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt. MARY KELLY wurde 1927 geboren, ist Engländerin und begann 1956 Bücher zu schreiben. Ihre Erzählung ›Leben im Schatten des Todes‹, deutsch von Claudia Rackwitz, erschien unter dem Titel ›Life the Shadow of Death‹ erstmals in ›Winter Crimes 8‹, London 1976 (© 1976 Mary Kelly), und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Curtis Brown Ltd. abgedruckt. -299-
FLORENCE V. MAYBERRYS Erzählung ›Eine Frauengeschichte‹, deutsch von Sonja Hauser, erschien erstmals 1973 unter dem Titel ›Woman Trouble‹ in ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ und in dem Sammelband ›Ellery Queen’s Masks of Mystery‹, New York 1978 (© 1973 Florence V. Mayberry), und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt. RUTH RENDELL wurde 1930 in London geboren, wuchs in Essex auf und arbeitete nach dem Schulabschluß als Journalistin für verschiedene Zeitungen. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches im Jahre 1964 schreibt sie fast jährlich einen Krimi und Kurzgeschichten, die zum Teil unter dem Pseudonym Barbara Vine veröffentlicht und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Ihre Erzählung ›Eine goldene Zukunft‹, deutsch von Anette Grube, erschien erstmals unter dem Titel ›A Glowing Future‹ 1977 in ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ (© 1977 Ruth Rendell) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt. NEDRA TYRE wurde 1921 in Georgia geboren und hat als Buchhändlerin, Lehrerin und Bibliothekarin gearbeitet. Seit 1947 hat sie eine stattliche Reihe Krimis publiziert, die häufig in den Südstaaten spielen. Ihre Erzählung ›Ein Mord aus Hilfsbereitschaft‹, deutsch von Anne Vogt, erschien erstmals unter dem Titel ›A Friendly Murder‹ in ›Ellery Queen’s Mystery Magazine‹ No. 109 (© 1962 Nedra Tyre) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt.
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