Fast sechs Monate hat Jacques vergeblich auf die Rückkehr von Constance gewartet. Als die Erinnerung an die Frau, die e...
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Fast sechs Monate hat Jacques vergeblich auf die Rückkehr von Constance gewartet. Als die Erinnerung an die Frau, die er geliebt hat, verblaßt und der Staub in seiner Wohnung überhand nimmt, beschließt er, daß es Zeit ist, sich eine Putzfrau zu nehmen. Schnell hat er sich mit der zurückhaltenden, aber charmanten Laura geeinigt − sie kommt montags, wenn er arbeitet und nicht zu Hause ist. Bald kommt Laura auch an einem zweiten Tag, wenn er nicht arbeitet und sehr wohl zu Hause ist. Mit Wohlgefallen genießt Jacques das gegenseitige Einvernehmen, das nicht viele Worte braucht, tadelt ihren überstürzten Einzug in seine Wohnung mit koketter Nonchalance und erfüllt Lauras Verlangen nach Sex so selbstverständlich wie ein langjähriger Liebhaber. Alles scheint perfekt − bis eines Tages Constance wieder vor der Wohnungstür steht ... Prickelnd, komisch, elegant: ein hintergründiger Sommerroman über einen Mann zwischen zwei Frauen, der die Melancholie mit der Wahrheit des Erotischen versöhnt.
Christian Oster lebt in Paris. Der Autor hat mehrere Romane und Kinderbücher veröffentlicht und zahlreiche Preise gewonnen. Meine Putzfrau stand in Frankreich monatelang auf den Bestsellerlisten und ist gerade verfilmt worden. Bei Eichborn Berlin ist erschienen: Meine große Wohnung (2001). »Christian Oster vermag seine Geschichte eben hauchzart mit Humor oder Trauer einzufärben, und das Ergebnis ist eine Prosa, deren eigenwilligem Klang sich derzeit nichts Vergleichbares an die Seite stellen läßt.« Berliner Morgenpost
Christian Oster
Meine Putzfrau Aus dem Französischen von Lis Künzli
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.
Originaltitel: Une femme de menage © Les Editions de Minuit
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© für die deutsche Übersetzung: Eichborn AG, Frankfurt am Main 2003 Umschlaggestaltung: Christina Hucke Umschlagfoto: © Zefa/Miles Lektorat: Andrea Spingier Layout: Cosima Schneider Satz: Fuldaer Verlagsagentur GmbH, Fulda Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck (Eichborn Berlin) ISBN: 3-8218-0709-1 Verlagsverzeichnis schickt gerne: Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, 60329 Frankfurt am Main www.eichborn.de
Ich habe mir eine Putzfrau genommen. Sie trat eines Tages unversehens in mein Leben, als ich in der Apotheke einen dieser Papierstreifen mit Telefonnummer abgerissen hatte. Es war der letzte der sechs, die unter einer Anzeige vorgeschnitten am Schaufenster klebten. Ein kleiner, vertikaler Streifen aus Papier mit den acht übereinandergereihten Ziffern ihrer Telefonnummer. Alle anderen, die eventuell mein Interesse hätten erwecken können, waren bereits weg. So sagte ich mir, es sei höchste Zeit, daß ich einen Augenblick vor diesem Schaufenster stehenblieb. Die Anzeige war allgemein gehalten und betraf Putzen und Babysitten. So jemanden hätte ich natürlich nie als Babysitter genommen, das ist klar. Nicht, daß es ein richtiger Beruf wäre, das Babysitten, aber trotzdem. Ich konnte mir schlecht vorstellen, daß man mit dem Staubsauger in der Hand Babys hätschelt. Ein etwas zweifelhafter Babysitter hingegen, der vielleicht unfähig war, den Staublappen aus der Hand zu legen, um ein paar Tränen zu verhüten, konnte von mir aus gerne ein bißchen bei mir saubermachen, ja. Davon werden meine Möbel keine Kratzer bekommen, sagte ich mir. Und das wird das Kind nicht umbringen, das ich Constance nicht gemacht habe. Denn das alles war nur wegen Constance. Ohne sie hätte ich diesen Papierstreifen nie abgerissen. 6
Ich hatte sechs Monate gewartet. Sechs Monate ohne Saubermachen, sechs Monate ohne Constance. Die Frau, die unablässig meinen Geist und mein Herz beschäftigt hatte, die ich nur anzusehen oder an die ich nur zu denken brauchte, damit mein Leben eine Form besaß. Und darum war es völlig sinnlos, bei mir noch aufzuräumen. Die Ordnung aufrechtzuerhalten. Staubzusaugen. Zu Constances Zeiten hatte ich übrigens den Staub gar nicht bemerkt, sie war es, die mich eines Tages darauf aufmerksam gemacht hat. Mit dem Zeigefinger auf einer Kommode. Schwer abzustreiten. Na gut, habe ich gesagt. Und habe staubgesaugt. Immer wieder. Ich haßte es. Constance auch. Wir haßten beide das Staubsaugen. Wir liebten uns. Und dann kommt der Tag, wo es zu Ende ist. Wo man nicht mehr an sie denkt. Nicht mehr auf dieselbe Weise. Es ist eine entrückte Frau jetzt, eine Frau aus der Vergangenheit, deren Bild langsam, ja. Verblaßt. Und was übrigbleibt, das ist, ja. Natürlich. Eine Leere. Eine unendlich qualvolle und traurige Leere, aber doch nur eine Leere. Keine Form, nichts, das weh tut, das sich bewegt und durch seine Bewegung weh tut, wie ein Körper im Innern eines Körpers, der mit dem Ellbogen Stöße verabreicht. Nur noch eine Leere, eine Wunde, die sich über einer Leere schließt. Und man lebt damit. Man findet sich damit ab. Man ist bloß nicht mehr so stark, nicht mehr so muskulös jetzt. Hat etwas Fett angesetzt um diese Leere herum. Weil man besser ißt. Mehr. Daher die Krümel in der Küche. Die man schließlich sogar selber bemerkt. Weil man auf einmal genug hat. 7
Genug von schmutzigen Tellern, genug von trüben Gläsern. Verschimmelten Vorräten. Fettspuren. Stapeln im Wohnzimmer. Von Beinverrenkungen, immer gewagteren, um sich einen Weg zum Sessel zu bahnen. Von einem ständig ungemachten Bett mit gräulich werdenden Laken, von Klingen, Rasierklingen, die nicht mehr schneiden. Kaputten Töpfen. Vom Fernseher, der leer läuft in der Nacht. Von zugezogenen Vorhängen. Von stickiger Luft. Ich brauchte Ordnung. Die Kraft dazu brachte ich aber nicht auf, nein. Der Staubsauger, der Schlauch, die Düse, das Kabel, die Steckdosen, nein. War zu früh dafür. Ich hatte einfach nur das Bedürfnis nach Sauberkeit. So kam es also, daß ich sie anrief, diese, wie soll ich sagen, J. F. Aber das war kein Notruf. Ein Hilferuf eher, ja. Ich sag J. F., weil es noch nicht wirklich eine junge Frau war. Nur zwei Initialen auf einem Fetzen Papier, zwei Initialen in der Entwicklung, die nach ein paar weiteren, ein paar greifbaren Zeichen verlangten, um Gestalt anzunehmen. Ich würde Sie gern treffen, sprach ich ihr ins Telefon entgegen, dieser zukünftigen jungen Frau. Natürlich, sagte sie mit klarer Stimme. Und wo? Ich weiß nicht, schlug ich vor, bei mir zu Hause, nicht? Das ist das Einfachste. Das heißt, sagte sie. Es ist mir etwas unangenehm. Ich lächelte ins Telefon. Dann lachte ich. Mit ihr. Über ihr Mißtrauen. Eine Putzfrau, die sich nicht traut, zu ihrem zukünftigen Arbeitgeber zu gehen, sagte ich mir, weil sie Angst hat, daß er. Das ist doch lustig. Sie lachte übrigens nicht sofort, ganz und gar nicht. Ich mußte sie erst für mich einnehmen. Ihr sagen, das mache nichts, wir könnten uns auch draußen 8
sehen, in einem Cafe. Das hat sie entspannt. Daher das Lachen danach. Ein Typ, der so schnell aufgibt, mich zu sich nach Hause zu locken, muß sie sich gesagt haben, kann nicht wirklich gefährlich sein. Oder er ist gut organisiert. Denkt weit voraus. Aber so kann ich mir das Ganze mal in Ruhe ansehen. Es war also eine abgesicherte Begegnung, in einem Cafe bei der Metrostation La Fourche. (Die Geschichte spielt in Paris, wo ich lebe.) Ihre Haare, das fiel mir sofort auf, waren bis auf den Ansatz vom Färben geschädigt. Trocken. Ein Kindergesicht, obwohl sie mindestens ein junges Mädchen war, fast schon eine Frau, aber jetzt bringe ich alles durcheinander. Ich gab ihr fünfundzwanzig Jahre, um auf Nummer sicher zu gehen. Ich fand sie hübsch, aber schmutzig. Ungewaschenes Gesicht. Spuren von Erde. Sind Sie in den Dreck gefallen, fragte ich. Ich richtete den Zeigefinger auf ihre Wange, sie wich zurück, obwohl ich gar nicht die Absicht hatte, sie zu berühren, es war nur, damit sie wußte, wovon wir sprachen. Sie benetzte den ihren, wischte den Fleck weg und erklärte mir, das käme von ihren Blumentöpfen. Haben Sie mit Erde zu tun, fragte ich. Ich fand mich aggressiv. Vielleicht wegen ihres Mißtrauens, dem ich eine Legitimation geben wollte. Im Grunde, um ihr einen Gefallen zu tun. Ihrem Mißtrauen, das nicht von ihr wich, obwohl sie lächelte, gelegentlich sogar lachte, als ob es sich bei diesem Treffen nicht um eine seriöse Sache handelte. Mochte vielleicht kein ausgemachter Schabernack sein, gut, aber trotzdem. Ein Witz im besten Fall. Sie wollte sich gerne offen zeigen für einen Witz, bei ihrer Verfügbar9
keit. Ihrer Armut. Ihrer Bedürftigkeit. Sie hatte nicht viel zu verlieren in diesem Cafe, offenbar nicht einmal ihre Zeit. Arbeitete wohl kaum. Hütete keine Kinder und machte auch nirgendwo sauber. Fing gerade damit an. Oder wünschte sich das eher. Lauerte auf die Früchte ihrer Kleinanzeige. Ja, ich gab mich ein klein wenig aggressiv. Aber liebenswürdig. Zwar wollte diese junge Frau nichts Liebenswürdiges von mir. Auch nichts Ernsthaftes. Sie war gekommen, um mal zu sehen. Wollte arbeiten, nehme ich an. Beugte sich. Ging das Risiko ein. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Etwas Härte, das konnte ich ihr bieten. Zumal ich der Härte fähig bin, wenn es mir gut geht. Und es ging mir gut. Jedenfalls nicht so schlecht, nein. Mein Vorgehen bewies es. Ich fragte sie, ob sie bereits arbeitete. Für jemand anderen. Ja, sagte sie. Log mehr schlecht als recht. Frei heraus. Gab sich kein bißchen Mühe. Ich mußte es ja nicht glauben. Hingegen fühlte ich mich gehalten, so zu tun als ob. Ich fragte sie, ob ihr diese Arbeit zusage. Sie antwortete ja, noch einmal, aber diesmal stimmte es. Sie mochte diese Arbeit. Das war klar. Sie mochte diese Arbeit, die sie noch nie gemacht hatte. Hatte beschlossen, sie zu mögen. Und da, ich weiß nicht, was in mich gefahren war, sagte ich zu ihr, sie sei noch jung. Daß sie das nicht ihr ganzes Leben machen würde, nicht? Doch? Doch. Das gefällt mir, wiederholte sie. Ich mag es, wenn es sauber ist bei den anderen. (Genierte sich kein bißchen und schwindelte frisch drauflos. Und doch kam sie mir aufrichtig vor.) Das macht mich stolz. Und ich mag es vor allem. Die Handbewegungen. Die Handbewegungen kann ich gut. 10
Würde ich gerne gut können, übersetzte ich also. Oder mache ich bei mir zu Hause gerne. Und das Babysitten, fragte ich. Ich ging natürlich etwas weit. Aber ich wollte wissen, mit wem ich es zu tun hatte, sie nicht anhand ihrer Augen beurteilen. Groß, tief, mit einer Traurigkeit, die zum Nachdenken anregte. Über ihr Lachen vor allem. Ein unfröhliches, irgendwie brüchiges Lachen. Ich wollte sie auch nicht anhand ihrer Knie beurteilen, die sie zur Schau stellte. Ich habe, ganz objektiv, noch nicht viele solche Knie in meinem Leben gesehen. Sehr zart, und sehr klar, wie sie unter dem Rock hervorschauen, und es ragt genau so weit heraus, wie nötig ist, damit man es sieht, wenn sie ein Bein beugt. Und die ihren Mechanismus vorführen, während sie sich bewegen. Eine Freude. Schöne Beine obendrein. Schöner Mund. Und dann also diese kaputten Haare. Aber ich wollte es wissen. Sie schwindelte auch in Sachen Babysitten. Weniger gut. Sprach wahrscheinlich von ihren Nichten. Sie spielte mit ihrem Löffel herum, schlug ihn an die Tasse. Aber Sie wollten mich nicht deswegen treffen, sagte sie. Nein, sagte ich. Natürlich nicht. Aber ich muß Sie kennenlernen. Sie werden zu mir nach Hause kommen. Ich glaube, das dürfte gehen. Wie ist Ihr Vorname? Möchten Sie noch einen Kaffee? Haben Sie einen bestimmten Tarif? Wir gingen auch diese Frage an. Laura konnte nicht sagen, ich wollte sie schlecht bezahlen. Ich schlug ihr vor, nächste Woche anzufangen. Montag, ja, am Morgen. Von acht bis zwölf. Ich hatte für einen Zweitschlüssel gesorgt. Es ist sehr schmutzig, 11
sagte ich, als ich ihn ihr entgegenstreckte, auch alles vollgestellt, aber das werden Sie selbst sehen. Sie wollten ja nicht, daß ich es Ihnen zeige. Sie können auch die Anrufe entgegennehmen. Ich hatte ein bißchen Mühe, zu gehen, weil sie sich nicht rührte. Ihr Tag war wahrscheinlich zu Ende. Aber ich konnte nicht mit ihr zusammenbleiben. Ich hatte auch nichts zu tun und wollte nicht, daß man das sah. Ich grüßte sie und verließ das Cafe, ließ sie auf ihrem Stuhl zurück. Draußen drehte ich mich um. Ich machte ihr ein kleines Zeichen, weil ich die Trennungen von Frauen ganz allgemein schlecht ertrage. Sie erwiderte es mit einem Kopfnicken. Dann verkroch ich mich mit meiner Scham in der Metro, die sich glücklicherweise bald vor mir auftat.
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Da es Freitag war (der Tag, an dem ich in meinem Teilzeitjob nicht arbeite), lag der Montag noch in weiter Ferne. Es war idiotisch, aber ich wußte, daß Laura am Montag anfing, und für mich stellte das einen Fixpunkt dar. Da war nichts zu machen, ich hatte diesen Tag im Kopf und mußte irgendwie über die Runden kommen. Das Gute daran war, daß ich zu tun hatte, denn bis dahin mußte bei mir zu Hause für ein Durchkommen gesorgt werden. Das Wohnzimmer schon mal freigeschaufelt werden. Laura mußte vorbeikönnen. Ich ordnete also Papiere, warf Zeitungen weg, schob Bücherstapel zur Seite und beförderte die dicksten Wollmäuse aus dem Fenster. Als es Sonntag abend wurde, sah es bei mir aus wie nach einem Einzug. Ein deutlicher Fortschritt. In der Küche hatte ich auch noch die Kaffeelöffel versammelt, das Geschirr zusammengetragen und das schmutzige in zwei Bereiche aufgeteilt. Ein einziger war nicht möglich. Die Stapel wären zu hoch geworden. Dann ging ich aus, schaute auf gut Glück bei Stephane vorbei, der natürlich nicht da war, aber ich hätte ihm sowieso nichts zu sagen gehabt. Nach diesen sechs Monaten befand ich mich auf dem Weg der Genesung, und ich brauchte Stabilität in meinen Beziehungen. Ich ging aus Pflichtgefühl bei ihm vorbei, weil er sich nach Constance ein wenig meiner ange13
nommen hatte. Nach mir gefragt hatte. Meine Einsilbigkeit ertragen. Mein Schweigen ausgefüllt. Und es wäre mir jetzt schwergefallen, ihm zu erklären, daß ich zwar vorbeikam, aber nicht bleiben wollte. War noch viel zu sehr mit mir selber beschäftigt. Auch mit der Straße mußte erst wieder Fühlung aufgenommen werden. Ich war in dieser ganzen Zeit nur noch zum Einkaufen auf die Straße gegangen. Ohne irgend etwas zu sehen. Da war nur Lärm, Hitze, Kälte, je nachdem. Ein großer Krach, alles in allem, mit leichter Temperatur. Von Fieber konnte man noch lange nicht sprechen. Ach, wie viel besser es mir doch schon geht, dachte ich. Am Sonntag rief ich Claire an, eine alte Freundin von mir, die weinte. Sie wollte derzeit nicht, daß ich sie sah, wegen der Augenringe. Ich habe ihr zu einer Brille geraten, zu einer undurchsichtigen natürlich, aber nein. Sie wollte mich lieber gar nicht sehen. Zwei Monate zuvor war ihre Tochter von Zuhause ausgezogen. Dann der Vater ihrer Tochter. Hat ihr den Hund dagelassen. Ich sortiere mich langsam wieder, sagte sie. Wir führten kein langes Gespräch. Ihre Stimme versagte, ich mußte ihr Geschichten über mich erzählen. Ich wußte keine. Also erfand ich welche. Eigentlich fütterte ich sie mit Anekdoten. Langsam, löffelweise. Sie hatte schnell genug. Eine Frau, die ich heute in der Metro getroffen habe, sagte ich also zu ihr. Weißt du was? Weißt du, was sie las? Du kommst nie drauf. Nein, sagte sie. Ich komme nicht drauf. Sag es mir. Offener Brief des Papstes an die älteren Menschen, sagte ich. Stell dir vor. Ja, sagte sie. Ja. Natürlich. Und du? Ich, fragte ich. Es geht. Lucien hat mich kürzlich angerufen. Es geht ihm wesentlich besser. Das heißt, 14
das sagt er. Er sagt nicht einmal besser, er sagt gut. Er läßt dich grüßen. Ich meinte, ein Schluchzen zu hören. Ruf mich, sagte sie in zwei Anläufen, besser ein andermal an. Doch, es liegt mir daran. Aber nicht jetzt. Ich muß schlafen. Es war mir durchaus bewußt, daß ich im Moment nicht in der Lage war, viele Leute zu trösten. Versuchen konnte ich es. Das machte mir keine Angst. Dazu fühlte ich mich fähig. Am Montag betrat ich in bester Verfassung das Büro, im Wissen, daß Laura zur gleichen Zeit bei mir eintraf, um sich meiner Wohnung anzunehmen. Dabei wurde mir warm. Ich wartete ein paar Minuten, bevor ich sie anrief, um zu wissen, ob alles in Ordnung sei, ob sie die Sachen fand. Ich denke an die Scheuermilch, sagte ich. Alles in Ordnung, sagte sie, ich finde sie, ich komme zurecht. Ich habe mit der Küche angefangen. Es stört Sie doch nicht, daß ich mit der Küche anfange? Keineswegs, sage ich. Keineswegs. Ich wollte freundlich sein zu ihr. Sie zu mir offenbar auch. Diese Sache mit der Küche, was überhaupt keine Bedeutung hatte, war so ein Zeichen. Unser Vertrag steht aber unter einem verdammt guten Stern, dachte ich. Und infolgedessen benahm ich mich herzlich gegenüber jedermann. Ich fragte Desrosiers nach seinem Vater, erkundigte mich nach dem Stand seiner Sklerose. Noch sechs Monate, sagte er mir. Vielleicht ein Jahr. Ich bedachte ihn mit einem Kopfnicken, das er angesichts des kleinen Hoffnungsschimmers, den ich vor dem Hintergrund des Mitleids in meinem Blick aufleuchten Heß, so oder so interpretieren konnte. Dann beschimpfte ich fröhlich Levasseur, der mit seinen Unterlagen nie hinterherkommt, tätigte drei 15
Anrufe, um einen Mitarbeiter zu erreichen, der sich seit langem mit einer Hautkrankheit herumplagt, fragte ihn, ob seine letzte Behandlung erfolgreich gewesen sei, aber nein, war sie nicht, er mußte eine getönte Brille tragen, er auch, die Umgebung seiner Augen war von seiner Krankheit immer noch aufgedunsen. Es stimmt, ich hatte viele Beziehungen mit Leuten, deren Erscheinungsbild in punkto Gesicht gerade zu wünschen übrig ließ. Wenn ich noch meine Nachbarin über mir hinzufüge, von ihrem ExMann halb verbrüht, kann man von einer ganzen Gruppe sprechen. Die Gruppe der Leute, die den Kopf senkten. Mehr oder weniger verletzt oder krank. Ich kannte auch ein paar Leute bei guter Gesundheit, aber zu denen wußte ich nicht so recht, was ich sagen sollte. Die Frage »Wie geht's?« rief in ihnen nichts Besonderes wach. Mir selbst ging es also in körperlicher Hinsicht eher gut, und ich fühlte, wie ich nach und nach wieder in die Norm zurückfand, sprich in die Elite. Keine Probleme, eine abflauende Verzweiflung, ein Beruf, eine Putzfrau, es fehlte mir nur noch das Glück. Aber ich hatte Zeit, ich war noch nicht mal ganz fünfzig.
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Als ich abends nach Hause kam, hängte ich meine Jacke beim Eingang an den Kleiderhaken, schlüpfte aus den Schuhen und eilte in die Küche. Was ich sah, erinnerte mich an die Zeit, als ich noch aufräumte, an die Zeit mit Constance. Als ich Geschirr spülte. Unvollständig nämlich. Blieb stets ein schmutziger Teller zurück, ein Löffel in irgendeiner Ecke. Mit Laura war es genauso. Auf dem Tisch lagen ein paar Krümel, neben der Kaffeemaschine stand eine Tasse. Mangelhafter Überblick, folgerte ich. Ich versuchte mich ihr gegenüber kritisch zu zeigen, aber es fiel mir schwer. Ich war noch immer nicht ganz sicher, ob ich es verdiente, daß jemand bei mir einwandfrei saubermachte. Ich sah mir das Wohnzimmer an. Kniff man die Augen zusammen, wirkte es sauber. Eine Reinheit für Kurzsichtige. Ich gab mich mit einer Gesamtsicht zufrieden, ohne die Oberfläche der Möbel zu kontrollieren. Die Kuhle, die ich auf der linken Seite des Sofas, neben dem Regal hinterlassen hatte, war verschwunden. Laura hatte alles abgeklopft, den Stoff mit dem Handrücken glattgestrichen. Von meinem Platz aus konnte ich auf einer Lampe Staub erkennen. Das war kein böser Wille, das spürte ich. Einfach eine Unachtsamkeit. Ein oder zwei Bemerkungen, sagte ich mir, und es würde nicht mehr vorkommen. 17
Die Woche verging wie die vorangegangene, in einem Zustand von Halbwohlbefinden. Ab und zu rief ich einen Freund an, um ihm zu sagen, daß ich keine Zeit hätte, daß ich nicht frei sei. Dienstag und Donnerstag rief ich Claire an, die nicht weinte. Ich esse wieder, sagte sie zu mir. Wie ich, sagte ich. Gestern habe ich mir Wellhornschnecken zubereitet. Ach nein, sagte sie, nein, bei mir reicht es erst bis zum Chinesen. Der Feinkostladen unten auf dem Platz, du weißt schon. Um Wasser aufzusetzen, fehlt mir doch noch die Kraft. Abends verbrachte ich einen beachtlichen Teil meiner Zeit damit, auf das Wochenende zu warten, mit dem ich nichts anzufangen wußte. Eine kleine Spritztour in den Wald vielleicht, sagte ich mir. Die Knospen betrachten, in leichten Schuhen Zweige zertreten, diese Dinge. Das war natürlich nur Spaß. Ich habe es noch nie fertiggebracht, allein spazierenzugehen. Ohne eine Frau, meine ich. Im übrigen bin ich noch nie länger als fünf Minuten neben einem Mann hergegangen. Und dabei hatten wir stets eine oder zwei Frauen vor oder hinter uns, die ich früher oder später einholte, damit sie den Gesprächen, die der andere und ich angefangen hatten, etwas Körper verliehen. Von Seele will ich gar nicht sprechen. Ich spreche vom Inhalt. Vom Inhalt der Gespräche mit Frauen. Auch nur zwei, drei Worte manchmal, das war schon genug. Von den Pausen ganz zu schweigen. Den Gesprächspausen der Frauen. Den kleinen Pausen, genau auf die Wörter abgestimmt, die nichts mit einem Mangel zu tun haben. Manchmal von echten Blicken begleitet. Es fing an, mir zu fehlen, das alles. 18
Aber gut. Ich spreche von der Woche. Das Wochenende, das ergab keinen Sinn, da ich niemanden sehen wollte. Es war nur eine Dauer, Zeit, die es totzuschlagen galt. Ich hatte schon so viel zu tun, mit der, die vor mir lag, daß mir das über meine Kräfte zu gehen schien. Sogar jetzt, wo ich mich gut fühlte, nicht wahr. Die Sterne holte ich mir allerdings noch nicht so bald vom Himmel. Und außerdem war mir etwas aufgefallen. Etwas, was nicht ging. Daß Laura montags kam, das nervte mich. War ich etwa am Montag zu Hause? Nein. Und dann sie. Ihre Anwesenheit. Vier Stunden Anwesenheit. Und wenn ich zurückkam diese Spuren. Was sie gemacht hat, nicht gemacht hat. Sie aber. Auf und davon. Das war wie Diebstahl. Ihre Ehrlichkeit stellte ich übrigens nicht in Frage. Den kleinen Vorrat an Kleingeld, den ich jede Woche erneuerte, versteckte ich nicht. Zu viel Ärger mit defekten Fahrscheinautomaten. Nein. Und doch nahm Laura mir etwas weg. Ich konnte nicht sehen, was es war, aber ich spürte es. Von der ersten Woche an spürte ich es. Und am Ende dieser ersten Woche, ja, da fing ich an, mißtrauisch zu werden. Ich sah dem kommenden Montag wie einer Prüfung entgegen. Dabei war es doch vorige Woche genau das Gegenteil. Ein Vergnügen. Eine Befriedigung. Jetzt aber hatte ich gar keine Lust mehr, daß es Montag wurde. Das half mir immerhin, das Wochenende zu überstehen, denn ich sagte mir, nutz es aus, es ist noch nicht so weit, es ist noch nicht Montag, beschäftige dich. So gut du kannst. An jenem Sonntag vervielfachte ich meine Anrufe. Ach nein, sagte ich, ich bin im Augenblick etwas beschäftigt. Aber sobald ich 19
eine Lücke habe, kein Problem. Tschüs. Oder, ich küsse dich. Manche Frauen küßte ich am Telefon an diesem Wochenende. Ich kenne einige Frauen. Frauen, die weinen, Frauen, die nicht weinen. Was bin ich doch begehrt, dachte ich. Am nächsten Montag also ging es gar nicht gut. Ich fragte Desrosiers nicht nach dem Befinden seines Vaters. Ich konnte nicht arbeiten, ich überlegte. Und merkwürdigerweise war es beim Arbeiten nicht schwieriger zu überlegen. Wenn man beschäftigt ist, das ist bekannt, findet man oft die Energie für alles andere. Und als ich mit Rouvier telefonierte, meinem Kollegen im dritten Stock, da begriff ich. Laura verbrachte am Montag — also namentlich an jenem Tag — vier Stunden ihres Lebens bei mir. Staubsaugte wahrscheinlich. Aber dachte auch. Man denkt, während man staubsaugt. Und diese Gedanken beim Staubsaugen, die spielten sich bei mir ab. Und genau dieses Leben war es. Dieses Stück Leben. Es gehörte natürlich ihr, aber der Ort, wo das geschah, wie soll ich sagen. Den stellte ich zur Verfügung, ich. Nicht nur stellte ich ihn zur Verfügung, es war meiner. Mein eigener Ort. An dem ich lebte. Und sie. Das war es, was sie mir nahm, Laura, wenn sie zu mir nach Hause kam. Dieses Stück Leben, dieses Stück Leben, das ihr gehörte. Das sie wieder mit sich fortnahm. Sie ließ ein paar Spuren zurück, gut. Aber aus drei Staubflocken auf einer Lampe konnte ich dieses Stück Leben nicht zusammensetzen. Egoistisch, sagte ich mir. Egoistisch, diese Frau, die zu mir nach Hause kommt und mir nichts da läßt. Nichts, im Grunde. Sauberkeit. Ich hätte das natürlich auch positiv aufnehmen können. Mich am Anblick erfreuen. Ein bißchen Ord20
nung, Klarheit. So etwas wie ein Geschenk. Ein Geschenk gegen Bezahlung, aber trotzdem. Aber nein. Was ich an der Sauberkeit sah, das war der Staub. Ich spreche nicht von dem, der übrigblieb. Nein. Ich spreche von dem anderen. Den sie wegnahm. Den sie mir wegnahm. So, wie sie mir die Flecken wegnahm. Wie sie sich selbst wegnahm, von mir zu Hause, wenn sie fertig war. Ich glaube nicht, daß das ernsthaft so weitergehen kann, sagte ich mir. An diesem Montag rief ich sie an. Wie weit sind Sie, fragte ich. Ich hörte den Staubsauger nicht, sie konnte ihn natürlich ausgeschaltet haben, um das Telefon abzunehmen. Ich mache gerade das Wohnzimmer, sagte sie. Nachher kommt das Badezimmer. Geht's gut, fragte ich. Brauchen Sie nichts? Sie haben mich das schon letzte Woche gefragt, sagte sie. Ja, natürlich, sagte ich, ich will Sie nicht stören, ich wollte nur wissen. Gut also, jetzt wissen Sie es, sagte sie. Brauchen Sie mich nicht, fragte ich. Aber nein, sagte sie, übrigens sind es eher Sie, die mich brauchen, darum haben Sie mich eingestellt, nicht? In der Tat, sagte ich, in der Tat. Auf jeden Fall geht es gut, sagte sie, seien Sie unbesorgt, ich mache sauber, das letzte Mal habe ich das doch auch gemacht, oder nicht? Ja, sagte ich. Hören Sie, Laura, fügte ich hinzu, ich kann Sie doch Laura nennen? So heiße ich, sagte sie. Laura, sagte ich, es gibt nur ein Problem. Ich denke an den Tag. Den Tag, fragte Laura. Ja, sagte ich, den Montag. Ja, sagte sie. Das paßt mir nicht mit dem Montag, sagte ich. Ach so, sagte sie. Ja, sagte ich. Es ist zu weit weg vom Wochenende. Im zeitlichen Ablauf gesehen, wissen Sie. Ich meine, wenn man vom Montag her zählt, ist das Wochenende weit weg, erklärte ich. Der Staub 21
bildet sich wieder, verstehen Sie? Das ist fatal. Ich lasse vielleicht ein wenig übrig, sagte sie. Nein, sagte ich, nein, das wollte ich nicht sagen, Laura. Sie können nichts dafür. Der Staub bildet sich wieder, ganz einfach. Und dann habe ich ihn am Wochenende. Das bißchen Extrastaub. Aber wenn Sie am Freitag kämen, verstehen Sie? Dann hätte ich am Wochenende meine Ruhe. Und der Wochenstaub, das ist nicht dasselbe. Der Abendstaub, wenn Sie wollen. Können Sie mir folgen? Der Wochenstaub, wiederholte sie. Ah ja. Ja. Aber ich verstehe nicht warum, sagte sie. Warum was, antwortete ich, und ließ sie den Satz nicht beenden, aber sie schnitt mir ihrerseits das Wort ab: Warum haben Sie nicht früher daran gedacht, fragte sie. Da blieb ich einen Moment stumm, ich überlegte, sehr schnell, und antwortete, daß ich im Grunde kein Fachmann sei. Er interessiert mich nicht besonders, sagte ich, der Staub. Ich befasse mich noch nicht sehr lange damit. Wäre es also möglich? Ich werde vielleicht versuchen, es einzurichten, sagte sie. Vielleicht? Nein, sagte sie. Ich werde versuchen, es einzurichten. Ich bin im Augenblick nicht allzu beschäftigt. Aber was diesen Freitag betrifft, sagte sie. Was, fragte ich. Diesen Freitag oder den nächsten, fragte sie. Dieser Freitag ist vielleicht etwas nah. Der nächste ein bißchen weit weg. Diesen, sagte ich. Außerdem, fugte ich hinzu, da kommt mir eine Idee. Sie köntnen vielleicht zwei Mal kommen. Etwas bügeln. Bügeln Sie? Ja, sagte sie, natürlich. Möchten Sie, daß ich Montag und Freitag komme, fragte sie. Ja, sagte ich. Zum Beispiel. 22
Ich war froh, daß wir uns einig geworden waren. Am Freitag morgen also stand ich früh auf, um sie zu erwarten. Ich hatte am Abend zuvor ein paar Stichproben gemacht, und am Morgen schon, um zu sehen, wie es mit der Oberfläche der Möbel stand, ob das wieder losging oder nicht, ich sammelte mit der Zeigefingerspitze ein bißchen was auf, aber es war nichts wirklich Greifbares festzustellen. Kaum ein Ansatz von Flaum, ein paar Flusen in Wahrheit, die aber noch lange keine Häufchen, geschweige denn eine Schicht bildeten. An diesem Morgen sah es dann zum Glück schon etwas besser aus. Auf dem Kamin im Wohnzimmer zum Beispiel konnte ich hellere Zonen ausmachen, ich sage heller, weil das Grau da und dort das Schwarz des Marmors aufhellte. Außerdem warteten zwei saubere Hemden, die ich am Vortag aus der Maschine genommen hatte, noch nicht ganz trocken, aber auf genau diese Feuchtigkeit gründete ich meine Hoffnungen, ohne destilliertes Wasser auszukommen, ich meine, wer in seinem Leben schon mal ein Dampfbügeleisen in der Hand gehalten hat, wird mir wahrscheinlich folgen können, das mußte eigentlich funktionieren. Laura wußte natürlich nicht, daß ich auf sie wartete, ich habe sie nicht noch mal angerufen, um ihr zu sagen, daß ich am Freitag da wäre, es handelte sich 23
also nicht um eine Verabredung im strengen Sinne, sagte ich mir, aber das war noch kein Grund, zu spät zu kommen. Ich bezahlte sie von acht bis zwölf. Und es war jetzt bereits fünf nach acht. Aber ich machte mir weniger Sorgen über ihre Verspätung als über meine stetig wachsende Anspannung, ich fürchtete, man könnte sie sehen und Laura würde das mißverstehen. Ich wartete nicht auf sie, um ihre zeitliche Disziplin zu überwachen. Ich wollte aber auch nicht, daß sie glaubte, ich wartete auf sie, um sie zu sehen. Oder gar, um mit ihr zusammenzusein. Von daher also meine Anspannung, das spiegelte sie wider, meine Anspannung, meine Angst, sie könnte nicht kommen. Es wäre vielleicht sogar besser so, sagte ich mir. Wie sollte ich es sonst anstellen, normal zu erscheinen? Da hörte ich das Klappern ihres Schlüssels im Schloß. Sie konnte die Tür nicht öffnen. Stimmt, mein Zweitschlüssel klemmte ein bißchen, man mußte, um das Schloß ganz zu öffnen, etwas Druck ausüben, aber doch nicht zuviel, es war eine Frage von Fingerspitzengefühl, und da Laura sowieso überrascht sein würde, mich zu sehen, kam ich ihr zuvor und öffnete von innen. Guten Tag, sagte ich als erster, mit der Miene dessen, der empfängt. Sie erwiderte den Gruß höflich, aber ich sah genau, daß sie das nicht normal fand, daß es ihr merkwürdig, wenn nicht sogar suspekt vorkam, mich bei mir zu Hause anzutreffen. Im übrigen war ich angekleidet, offensichtlich zum Ausgehen bereit, mochte sie sich sagen, aber in Wirklichkeit war ich überhaupt nicht bereit auszugehen, eher mußte ich mir Mühe 24
geben, nicht so auszusehen, als wollte ich mich breitmachen. Kommen Sie herein, sagte ich. Macht es Ihnen etwas aus, mit der Küche anzufangen wie das letzte Mal? Es sei denn, ich mache Ihnen da einen Kaffee, möchten Sie einen Kaffee? Gerne, sagte sie. Das ließ sich nicht schlecht an. Während ich die Kaffeemaschine vorbereitete, hörte ich ein kurzes, trockenes Geräusch auf dem Boden beim Eingang, und als Laura zu mir kam, sah ich, daß sie sich Hausschuhe übergestreift hatte. Da sagte ich mir, daß es sich auch nicht so schlecht fortsetzte. Aber ich machte mir nichts vor, ich habe schon von diesen Geschichten von Putzfrauen und ihren Hausschuhen gehört, das hieß natürlich nicht, daß sie sich häuslich einrichtete. Es war einfach nur, um es bequem zu haben, und vielleicht, um die Nachbarn von unten nicht zu stören, wenn es in ihrer Vorstellung unter der Woche überhaupt Nachbarn von unten gab. Trotzdem, ich war gerührt. Ich servierte uns den Kaffee, den wir schweigend tranken, während ich beobachtete, wie sie sich fragte, was ich wohl an einem Freitag morgen hier trieb, daß ich seelenruhig mit ihr einen Kaffee trinken konnte, und wie sie mich anschaute, um zu versuchen, klarer zu sehen. Unsere Blicke kreuzten sich also, aber vorsichtig, wie sie waren, begegneten sie einander nicht. Einmal in gewissem Sinne gekreuzt, glitten sie ohne Zusammenstoß aneinander vorbei und verfolgten ihren Weg im Blick des anderen auf der Suche nach einer Antwort. Das waren im Grunde erste Sondierungen, Blicke noch vor dem Austausch, in denen jedoch etwas von jener gemein25
samen Schüchternheit lag, die von unserem schlechten Gewissen herrührte, das wir voreinander zu verstecken suchten. Ein solches Unbehagen schafft natürlich Berührungspunkte. Wir versuchten nun ein paar Worte zu wechseln, die uns nicht verraten und uns gleichzeitig vom Gewicht unserer Geheimnisse befreien sollten, und durch dieses Unterfangen, auch wenn es nicht zum Ziel führte, kamen wir uns näher, ein Phänomen, von dem unser wechselseitiges Schweigen Zeugnis ablegte. Kurz, wir schwiegen einander aufmerksam an, und ich stellte meine Tasse so ungestüm wieder ab, daß sie auf den Kacheln der Arbeitsfläche beinahe zerbrochen wäre. Worauf mich der Gedanke lähmte, daß ich die Heftigkeit meiner Geste kaum durch den Koffeingehalt meines Getränks erklären konnte, der noch gar nicht die Zeit gehabt hatte, seine Wirkung zu entfalten. Gut, sagte Laura, dann werde ich mal loslegen, und ich sah, wie sie die Tür zur Toilette aufstieß, diese dann mit dem Besen in der Hand wieder verließ. Das mag vielleicht eine Vorstellung davon geben, wie es bei mir zu Hause aussieht, wo ich keinen anderen Platz für meinen Besen habe. Mir aber gab das vor allem eine Vorstellung von Lauras Auffassung vom Putzen. Ich verschwand aus der Küche und ließ sie allein mit meinem Besen — meinem normalen Besen, he, nicht etwa mit dem Schrubber −, und ging ins Wohnzimmer, wo ich mich auf dem Sofa niederließ und mich fragte, was ich machen sollte. Auf dem Beistelltisch lagen ein paar Zeitschriften herum, die ich schon zu gewöhnlichen Zeiten nicht las, wie sollte ich also unter den gegebenen Umständen Lust haben, 26
mich darin zu vertiefen. Vor mir stand zwar der Fernseher, aber morgens sehe ich nie fern. Ich sagte mir also, das Beste sei wohl, ein wenig auf die Geräusche zu horchen, die Laura in der Küche machte, aber ein Besen macht keine großartigen Geräusche, vor allem nicht aus einer solchen Entfernung, und außerdem hatte Laura das Radio angestellt. Ich habe ein Radio in der Küche. Worauf ich aber wartete, denn ich wartete auf etwas Bestimmtes, ich sag es lieber gleich, bevor es auf das übrige aufgesetzt scheint, denn es war in diesem Moment überhaupt nicht aufgesetzt, es war ein Aspekt meiner Frustration, was ich also von dieser Frau erwartete, das war in erster Linie, daß sie staubsaugte. Das beruhigende Geräusch des Staubsaugers, durch das sie mir dieses Minimum an akustischer Unbehaglichkeit bescheren sollte, die das Versprechen ihres Gegenteils in sich birgt, sprich die vollkommene Behaglichkeit, das Resultat gründlicher Reinigung. Mit anderen Worten, was ich mir von Anfang an mit einigem Recht erhoffen durfte, war dieses nervtötende Brummen des Apparates, der sich an die allmähliche Wiederherstellung der Sauberkeit machte, eben in diesem, wie mir schien, für die Wahrnehmung von Ruhe, die es unterderhand fördert, unumgänglichen Weltuntergangsgetöse. Aber nein, nein, sagte ich mir dann. Laura hat nicht den Staubsauger angestellt. Nur mein Radio. Aber nicht etwa meinen Sender. Der ihre brachte eine Tanzmusik mit hämmerndem Rhythmus. Ich sagte mir, na, das gefällt mir aber nicht besonders, und ich begann mich zu fragen, ob diese Geschichte mit dem Nicht-Einschalten einerseits und dem Einschal27
ten andererseits am Ende nicht damit zusammenhing, daß der Staubsaugerlärm das Radio übertönt hätte. Das würde übrigens auch erklären, warum ich, wenn ich sie aus dem Büro anrief, den Staubsauger nicht hörte. Aber auch das bewies noch nichts, ich weiß, denn sie konnte ebensogut den Staubsauger ausmachen, um ans Telefon zu gehen. Jetzt jedenfalls hat sie ihn nicht angemacht, den Staubsauger, dachte ich, wir werden ja sehen, ob sie ihn benutzt, wenn sie das Wohnzimmer in Angriff nimmt. Mir kamen also hier gewisse Zweifel an meiner Putzfrau. Auf der anderen Seite sagte ich mir, sie ist es doch. Mit der Frau wolltest du doch an diesem Freitag hier sein, oder nicht? Mit dieser Putzfrau, ja. Nein, sagte ich mir, vielleicht auch nicht. Vielleicht bei genauerem Nachdenken nicht unbedingt mit der Putzfrau. Oder nicht nur. Mit der Frau allerdings schon. Mit einer Frau. Die da sein soll. Und die, weil sie Putzfrau ist, nicht aus freien Stücken hier ist. Ich weiß schon, was ich meine: die du nicht gezwungen hast, aus freien Stücken hierzusein. Eine freie Frau alles in allem, die sich zwar aufgrund eines Vertrages bei dir aufhält. Aber in gewissem Sinne doch auf selbstverständliche Weise. Nicht so wie du. Du hältst dich alles andere als selbstverständlich bei dir auf. Daher die Unmöglichkeit, noch länger hierzubleiben. Also stand ich auf. Ich ging im Wohnzimmer, das einen Eßbereich umfaßt, auf und ab, dann um den Tisch herum, es ist ein recht schöner Raum, der diese Bewegungsfreiheit erlaubt. Aber so herumzugehen gefiel mir auch nicht besonders, es sei denn, ich tat es mit dem Telefon in der Hand, einem schnurlosen, ver28
steht sich, ich ging gern mit meinem schnurlosen Telefon um den Tisch herum. Ich nahm den Hörer, suchte rasch nach einer Nummer, bevor der lange Eröffnungston sich auflösen würde, fand die von Luden, wählte sie, schaute auf die Uhr, zu früh, sagte ich mir. Zu spät natürlich, Lucien nahm ab, ich mußte wohl oder übel etwas zu ihm sagen. Er kam mir allerdings zu Hilfe mit der Frage, wie es mir gehe. Sehr gut, konnte ich also sagen, und fing an, um den Tisch herumzugehen. Ich fragte ihn, ob er im Augenblick auch um den Tisch herumgehe. Nein, sagte er, ich bin noch im Bett. Ich hab dich doch nicht etwa geweckt? Doch, sagte er, aber das ist sehr gut. Ich sollte sowieso aufstehen. Hast du heute mittag schon etwas vor, fuhr er fort. Heute mittag, ja, sagte ich. Und morgen, fragte er. Oh nein, morgen geht nicht, unmöglich. Auch Sonntag nicht. Das Beste ist wohl, wir telefonieren wieder, sagte er. Ja, sagte ich. Aber dann rufst du an, fügte ich hinzu. Du kannst ruhig auch ab und zu anrufen, hm? Einverstanden, sagte er. Wir legten auf. Als Laura hereintrat, um das Wohnzimmer zu machen, hatte ich kein Telefon mehr in der Hand. Sie hingegen hatte immer noch den Besen. Nun empfiehlt es sich, wie mir eben klar wurde, wenn die Putzfrau mit dem Besen das Wohnzimmer betritt, auch etwas in der Hand zu halten. Oder, wenn das nicht geht, wenigstens beschäftigt auszusehen, ohne etwas in der Hand zu halten, aber, und ich wäge meine Worte vorsichtig ab, ich habe seither darüber nachgedacht, das ist leichter gesagt als getan. Und ich hielt nichts in der Hand. Und fatalerweise sah ich gar nicht beschäftigt aus. Ich hatte mich nach meinem Anruf wieder aufs Sofa gesetzt, und als Laura herein29
kam, war ich aufgestanden. Es war idiotisch, denn ich mußte ausgesehen haben, als wollte ich sie an diesem Morgen ununterbrochen empfangen, fehlte nur noch, daß ich mich danach ins Badezimmer zurückzog, um sie da zu erwarten, das wäre der Gipfel, vom Schlafzimmer gar nicht zu reden. Ich muß mich beruhigen, sagte ich mir, ich muß mich unbedingt beschäftigen, während sie mit dem Besen überall durchgeht, und vor allem muß ich auf der Stelle von hier verschwinden. Ich gab mir also große Mühe, ohne Willkommensmiene an ihr vorbeizugehen, als wäre ich gerade dabei, das Wohnzimmer zu verlassen. Aber in dem Augenblick, als ich zur Seite trat, damit sie vorbeikonnte, fragte sie mich, ob sie die Stereoanlage anmachen könne. Das Interesse für den Besen, für die Geräuschlosigkeit des Besens im Gegensatz zum Staubsauger bestätigte sich also, und ich sagte, ja, könne sie. Ins Schlafzimmer zurückgezogen kam mir dieselbe Musik zu Ohren, die sie schon in der Küche zum Leben erweckt hatte und die mein Radio übrigens immer noch ausstrahlte, so daß es mir unmöglich war, wo immer ich mich aufhielt, ihrem Hämmern zu entkommen. Aber es war gar nicht so sehr diese Art Musik, die mich störte, als die Wand, die sie zwischen meiner Putzfrau und mir errichtete, im Gegensatz zum Staubsaugerlärm, dessen ihm innewohnende und beruhigende Zweckdienlichkeit so etwas wie einen Bund zwischen uns hergestellt hätte. Wenn Laura Musik anmachte, das spürte ich lebhaft, dann, um sich von mir abzuschneiden, und obwohl ich ihr dieses Recht zugestand, fand ich keinen besonderen Grund, mich darüber zu freuen. 30
Ich suchte jedoch nach einem, führte schließlich ins Feld, daß Laura mir damit immerhin bewies, daß sie sich bei mir wohl fühlte, so fühlte sich doch wenigstens einer wohl, und das in meiner Anwesenheit, was ja im Grunde ziemlich grandios war, und so beschloß ich, mich damit zufriedenzugeben. Ich schwankte zwischen Einverständnis und Enttäuschung, die mit dem trennenden Aspekt der Musik verbunden war, aber da für den Augenblick alles möglich blieb, beschloß ich weiter, erst einmal abzuwarten. Aber noch bevor Laura mit dem Wohnzimmer fertig war, hatte ich mich anders entschieden. Es sollte doch lieber der Eindruck entstehen, daß ich es nicht uneingeschränkt guthieß, wenn meine Putzfrau nur den Besen benutzte in einem Haushalt, in dem der Staub ganz offensichtlich so allgegenwärtig war, daß er von dem dürftigen Gerät nur aufgewirbelt wurde, um sich gleich wieder abzusetzen. Ich trat also ins Wohnzimmer mit der Absicht, Laura ernsthaft über ihre Auffassung vom Putzen zu befragen, aber, abgesehen davon, daß die Musik eine solche Lautstärke erreicht hatte, daß ich sie erst hätte bitten müssen, etwas leiser zu stellen, damit sie mich überhaupt hören konnte, hatte sie den Besen weggelegt und hielt in der Hand einen Lappen, mit dem sie in verwirrendem Eifer den Kaminsims wischte. Wo hat sie diesen Lappen her, ein Rätsel, sagte ich mir nun. Dann erinnerte ich mich, daß Constance die Gewohnheit hatte, an die dreißig Stück davon unter das Spülbecken in der Küche zu stopfen, in einen Plastikeimer — gelb, erinnerte ich mich auch, mußte ich mich sogar erinnern, es gab gar keine andere Möglichkeit, denn ich 31
hatte mich seit ihrem Weggang nie unter das Spülbecken gewagt. Blieb der Umstand, daß ich Laura zuvor nicht damit ins Wohnzimmer hatte gehen sehen. Verwirrender Eifer, sagte ich. Denn ich war in der Tat verwirrt. Ich hatte es bereits erwähnt, Laura wirkte von hinten ausdrucksstark, aber da, diese Art, wie sie gleichsam an den Grenzen ihres Rockes zu leben schien, aus denen die konstante, wenn auch diskrete Bewegung der Hüften sie ständig zu vertreiben drohte, eine Bewegung, die dem Hin und Her des Lappens folgte und mit der Musik in Schwingung geriet, wobei jene möglicherweise diese verursachte, tja, das sprang mir in die Augen. Und zum ersten Mal wurde mir bewußt, daß es nicht ausgeschlossen war, daß meine Putzfrau eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausüben konnte, die nicht in Beziehung zur Ordnung stand, sogar mit dem Gegenteil von Ordnung zu tun hatte, ich dachte natürlich daran, wie nicht mehr der Staub, sondern bestimmte Kleidungsstücke fliegen und dann irgendwohin fallen, wenn das Bewußtsein nachläßt, überwältigt, und wir mit ihm schlafen, mit unserem Bewußtsein, ja, in diesem Gefühl von Ertrinken, diesem Notstand, wo sich alle Gegensätze chaotisch vermählen, das mag nach einer Übertreibung klingen, aber nein, genau das ging mir durch den Kopf. Aber soweit war es natürlich noch nicht mit mir, es war erst das zweite Mal, daß ich Laura sah. Und wenn ich mich, da ich nicht zu der berechnenden Sorte Männer gehöre, auch nicht gerade hütete, etwas länger an diese Dinge zu denken, so dachte ich doch auch nicht obsessiv daran, weil ich nicht so gerne mit solchen Bildern allein bleibe, nein, das ist nicht gut. 32
Ich beobachtete Laura jetzt also mit etwas mehr Selbstkontrolle, wobei ich zum Beispiel feststellen mußte, daß sie die Nippsachen auf dem Kaminsims umging, denn ich habe Nippsachen bei mir zu Hause, ich schaffe es nicht, sie wegzuschmeißen, und ich sagte mir, daß ich ihr, Laura, eines schönen Tages sagen müßte, daß man die Nippsachen hochhebt, aber ich fühlte mich noch nicht reif dazu, oder sie war noch nicht reif, so jung in Wahrheit, daß ich befürchtete, ich könnte sie durch meine Ratschläge brüskieren, zu schnell vorgehen, aufdringlich sein. Für dieses Mal also sagte ich mir, laß gut sein, das hier ist eine Frage der Zeit, der Dauer, der gemeinsamen Vergangenheit, ohne die nichts möglich ist. Von jetzt an mußte ich mich nur konzentrieren, um die richtige Haltung zu finden, die angemessene Beschäftigung in dieser Situation, daß eine Frau in meiner Anwesenheit schwarz bei mir arbeitete, denn Laura wollte nicht gemeldet werden. Und gerade, als ich entschlossen auf das Bücherregal zuging, um ein Buch herauszunehmen, dann aber aus übrigens, wie mir scheint, anfechtbaren Gründen zögerte, klingelte das Telefon. Aber es war niemand am Ende der Leitung, jedenfalls hörte ich niemanden. Und ich konnte noch so sehr in den Hörer rufen, man solle sich melden, es drang kein anderer Laut zu mir als ein unbestimmtes Geräusch urbaner Art. Danach nahm ich im Apparat nur noch ein Rauschen wahr, dann brach auch das Rauschen ab und mir blieb nichts anderes übrig, als aufzulegen. Dies muß eindeutig als Scheitern betrachtet werden, nicht genug, daß ich vor Lauras Augen müßig herumstand, ich war auch noch unfähig, ein Tele33
fon erfolgreich abzunehmen, zu sprechen, mit einem Wort zu leben, und meine wiederholten Fragen waren auf ein sichtbares Schweigen gestoßen, wenn ich so sagen darf, das unbedingt überbrückt werden mußte. Laura, sagte ich, und ich war darauf und dran, ihr das mit den Nippsachen zu sagen, weil mir nichts Besseres einfiel, oder das mit dem Staubsauger, aber als sie mich anschaute mit ihrem Lappen in der Hand, hatte ich nicht mehr den Mut. Ich schwieg. Ja, fragte sie. Nein, nichts, sagte ich, denn ich sah genau, daß sie mich jetzt auch von vorne verwirrte, aber vielleicht, sagte ich mir, bist du nur sensibel in diesem Augenblick, sensibel für Frauen, nicht speziell für Putzfrauen, sensibel für alle, für alles, obwohl, sagte ich mir. Obwohl du Fortschritte machst, du weißt, daß du Fortschritte machst. Und wenn du heute da stehst mit ihr, dann eben darum, weil du noch fragil, entsetzlich fragil bist, und weil du jemanden brauchst, jemanden in deinem Leben, der kein Mann ist, auch keine Frau in der Ferne, oder eine Freundin, nein, einfach eine Frau, selbst eine Frau, die du nicht berührst, die du nicht liebst, die dich nicht berührt, die dich nicht liebt, einfach eine Frau, die da ist und die dir erlaubt, weiterzumachen und Constance noch endgültiger zu vergessen, denn du bist auf dem richtigen Weg mit Constance, du siehst doch, daß es im Grunde keine große Sache ist. Nein, es war keine große Sache. Ich spreche von Laura. Etwas Gefühl war wohl schon im Spiel. Etwas Liebe, wenn man will, wir werden uns nicht um Worte streiten, Liebe geben oder nehmen, während man auf Besseres wartet, keine große Sache, nein. Eigentlich überhaupt kein Grund zur Verwirrung. Laura, 34
wiederholte ich also. Ich gehe raus, muß etwas erledigen. Ich steh Ihnen nicht mehr länger im Weg herum. Sie tun, was Ihnen gefällt, sagte sie. Natürlich, sagte ich. Gut, fügte ich hinzu. Bis später. Und ich ließ sie allein. Ich fühlte mich besser. Das heißt gut. Ich hatte nichts zu tun draußen. Mein Kühlschrank war voll, oder leer, ich erinnerte mich nicht mehr, und die Zeit reichte nicht, um bei Claire vorbeizuschauen, außerdem war ich mir nicht sicher, ob sie sich über meinen Besuch gefreut hätte. Über die Geste bestimmt, aber nicht über den Besuch. Ich würde sie später anrufen. Von zu Hause aus. Ich wollte schon zurückkehren, bevor Laura ging. Ich hatte beschlossen, ihr auf Wiedersehen zu sagen.
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Ja, so ist das. So ist es gekommen, daß Laura zwei Mal die Woche bei mir war. Einmal ohne mich, am Montag, einmal mit mir, am Freitag. Aber ich blieb nicht da, nein. Wir tranken diesen Kaffee in der Küche, sie machte das Radio an, dann die Stereoanlage, ich ging, schließlich kehrte ich zurück, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. Die Wochen zogen ins Land, und allmählich sprach ich vorsichtig die Sache mit den Nippsachen an. Die mit dem Staubsauger allerdings nicht. Die Musik hatte inzwischen eine andere Bedeutung angenommen, sie schnitt mich nicht mehr von ihr ab, sie war zum Zeichen ihrer Anwesenheit geworden. Und so wurde es bei mir sauber, ich lebte im großen und ganzen in Ordnung und gar ein wenig in Schönheit, abgesehen von der Musik natürlich. Laura reifte mit der Zeit unter meinem Blick, ihr Körper präsentierte seine eigenwillige Gestalt, die nicht ganz schlanke Taille zum Beispiel schien mir eine Konzession an die Breite der Hüften, an ihren Schwung zu sein, in ihrem Gesicht zeigte sich nun eine Spur von Augenringen, als wäre sie merklich gereift, ihre spektakuläre Jugend brachte mich nicht mehr auf andere Gedanken. Einmal habe ich an ihren Lidern sogar eine gewisse Schwellung bemerkt, die von einem Kummer oder zumindest von einer Sorge herrühren musste, und diese geheime Entdeckung 36
glitt über mich wie ein Schatten, mit der Traurigkeit, aber auch der Sanftheit eines Schattens. Ich begann mich an sie zu gewöhnen, so wie man sich an eine Anwesenheit gewöhnt, an die Anwesenheit von jemandem, der schon lange da lebt, dessen man aber nicht überdrüssig wird, weil er im wesentlichen, es mag blöd klingen, anderswo lebt. Und die paar Anwandlungen von Lust, die mich ab und zu ergriffen, erledigten sich immer von selbst, so wie sich die Versuchung zum Exzeß erledigt, wenn sie nicht mit wahrer Liebe einhergeht, in einem Leben, das letztendlich nicht ohne sie auszukommen weiß. Erst recht, da Laura mich auf dieser Schiene nicht ermutigte. Sinnlich war sie allerdings, vor allem bei der Arbeit, sobald sie etwas in der Hand hielt, Besen, Lappen, Spender irgendeiner schmierigen Flüssigkeit, mit diesen ständigen Bewegungen, die einem Tanz nahekamen, ein Blick hingegen war da nie. Einer zu viel, meine ich. Hätte man die, die wir aufeinander richteten, am Ende des Monats zusammenrechnen müssen, so wäre irgendeine gerade Zahl herausgekommen, teilbar durch uns zwei, die diesen minimalen Austausch nun von der ungetrübten Seiten nahmen. So dankten wir einander, wir beide, daß wir auf gesunder Basis miteinander zu tun hatten. Keine Seitenblicke, mit Ausnahme der meinen natürlich, aber ich nervte niemanden damit, nicht einmal mich. Ich fühlte mich gut, leidenschaftslos, ruhig. Ich verließ das Haus nicht nur am Freitag, wenn Laura da war, sondern auch am Wochenende, denn meine Anwesenheit zu Hause schien mir nicht mehr unabdingbar. Und draußen hatte ich jetzt weniger das Bedürfnis, allein zu sein, ich fing an, mir nicht mehr zu genügen, suchte nach 37
Ausdehnung des Raumes, ja, der Zeit, dachte mir nützliche Spaziergänge aus, nahm manchmal die kommende Stunde vorweg, indem ich mir zum Beispiel verordnete, unter Menschen zu gehen. Ich fühlte, wie ich an Boden gewann, wie ich das Bedürfnis bekam, zu sprechen oder zumindest dazu in der Lage zu sein. Einmal ging ich bei Claire vorbei, nachdem ich telefonisch ihr Einverständnis eingeholt hatte, und sie empfing mich ohne Brille, mit bleichem Gesicht, von den Tränen ganz ausgewaschen, aber gar nicht geschwollen, so als hätte der Kummer, wie unlängst bei mir, angefangen, das Feld zu räumen und einen sauberen Platz zu hinterlassen. Wir hatten einander noch nicht viel zu sagen, zu unsicher waren wir noch, um ein Gespräch anzuknüpfen, eine Diskussion in Gang zu setzen, aber wir fühlten uns gut und kosteten in der Zwischenzeit unser Schweigen ungeniert aus. Ich hatte ein paar Tage zuvor im Hinblick auf unser Treffen sogar die Initiative ergriffen, etwas unter die Erde zu reisen, mit dem ausschließlichen Ziel, meinen Vorrat an Anekdoten aufzufrischen, und ich hatte Glück. Ich hatte Glück, sagte ich also an jenem Tag zu Claire nach einer längeren Pause, die mir die Zeit gab, in ihrem aufgeweichten Gesicht ein Zeichen von Entspannung zu entdecken, neulich stand eine Frau auf dem Bahnsteig gegenüber. Sie schien nicht auf den Zug, sondern auf eine Person zu warten. Und bevor der Zug einfuhr, stand ein Mann neben ihr, der sie flüchtig küßte, ich hatte ihn gar nicht kommen sehen. In der rechten Hand trug er eine aufgeblähte Aktentasche aus Leinen, die er nun an die Brust preßte, an seine, und mit dem linken Unterarm abstützte, so daß 38
er mit der freien Hand auf das Schnappschloß drükken und die Tasche öffnen konnte. Nachdem er umständlich darin gewühlt hatte, als suchte er einen Füller oder irgend einen anderen Gegenstand von geringem Ausmaß, entnahm er ihr ein Sandwich. Er reichte es ihr mit einem sanften, aber auch verschwörerischen Lächeln, und sie nahm es mit demselben Lächeln in Empfang. Noch bevor der Zug da war, hatte sie hineingebissen. Das Ungewöhnliche daran ist, erklärte ich Claire, daß das alles, obwohl oder weil überhaupt kein Geld im Spiel war, aussah wie ein Sandwich-Deal, vielleicht wegen der Aktenmappe, die mir nicht für einen solchen Inhalt gedacht schien, aber auch, weil der Mann, wie ein wachsamer Dealer, nichts aß, während er die Frau nicht aus den Augen ließ, deren außerordentlicher Appetit ihn übrigens zu verwirren schien, als hätte das Sandwich etwas enthalten, das für seine Gefährtin eine gefährliche Überdosis hätte werden können. Aber das ist nicht das Wesentliche, das Wesentliche war schon passiert, als der Mann der Frau das Sandwich gereicht hatte. Es lag in seiner Geste etwas Schalkhaftes und gleichzeitig Liebe, und ich versuchte, mir vorzustellen, was einer solchen Szene hätte vorangehen können. Ich habe da so meine Vorstellung. Und du? Ich weiß nicht, sagte Claire. Vielleicht wollte er ihr zu Essen geben, vielleicht ist das seine Art, sie zu lieben. Das glaube ich nicht, sagte ich. Ich glaube, sie hatten es eilig, der Mann muß schon vor ihr, unterwegs, etwas gegessen haben, warum weiß ich nicht, aus Heißhunger vielleicht, Hunger vor der Lust, denn sie würden miteinander schlafen, das spürte ich. Sie sah auch aus, als würde sie ihn lieben. 39
Etwas platt, deine Erklärung, sagte Claire. Finde eine bessere, sagte ich. Sie schwieg. Ich hatte sie aufheitern wollen, und nun war sie den Tränen nahe. Du wirst mir doch nicht weinen, sagte ich. Ich würde gerne, doch, sagte sie. Dann los, sagte ich, aber ich bin nicht schuld, ich wollte dich nur zum Schmunzeln bringen. Du hast mich auch zum Schmunzeln gebracht, sagte sie. Sie weinte, nicht allzu sehr, ich hatte Schlimmeres erwartet, dann gingen wir auseinander. Früh. Ich hatte ihre Kräfte doch noch überschätzt. Meine nicht. Ich fühlte mich im Augenblick der Lage nicht nur gewachsen, ich war, wie soll ich sagen, unbekümmert gegenüber dem Schmerz anderer und hatte in zunehmendem Maße das Gefühl, voranzukommen. Unter der Woche besuchte ich sogar Charles, den ich schon seit Urzeiten nicht mehr anzurufen gewagt hatte, um ihm zu sagen, es sei schön, ihn zu sehen, es sei eine Ewigkeit her. Da sein verantwortungsvoller Job ihm zur Zeit den Schlaf raubte, gab ich mir Mühe, ihn zu beruhigen, indem ich ihn ermahnte, seinem Ehrgeiz jetzt nicht den Rücken zu kehren, das käme für ihn von nun an einem Scheitern gleich. Halte dich ran, ermutigte ich ihn also. Mach deine Rivalen fertig. Geh bis ans Ende deiner Kräfte. Vergiß deine politischen Präferenzen. Du treibst ja eh keine Politik. Setz dich durch, das mit den Gewerkschaften kannst du später regeln. Betrachte den Rücktritt als letztes Mittel. Und du, fragte er. Mir geht's gut, sagte ich. Ich habe zwölf Leute über mir, fünf unter mir. Ich kann nicht weiter auf40
steigen. Oder ich müßte Vollzeit arbeiten. Das will ich nicht. Hast du immer noch deinen freien Tag? Ja. Ich werde Maryse verlassen, sagte er. Das ist gut, sagte ich. Ich freue mich für dich. Hast du jemand anderen? Nein, sagte er. Gut so, sagte ich. Ich suche, sagte er. Ausgezeichnet, sagte ich. Und du, fragte er. Ich schaute auf die Uhr. Ich geh dann mal, sagte ich. Ich bin um acht mit einer wunderbaren Frau verabredet, von seltener Intelligenz, sie gefällt mir unheimlich gut, ich glaube, sie liebt mich, es ist halb acht. Schau wieder vorbei, sagte er. Du auch, du kannst auch vorbeikommen. Äh, nicht sofort allerdings, schränkte ich ein, nicht in den nächsten Wochen, ich denke eher an den August. Laß uns telefonieren, sagte er. Weil im August, ich weiß nicht. Wie du willst, sagte ich. Aber jetzt bist du mal dran. In der folgenden Zeit hielt ich Distanz zu Laura. Am Montag rief ich sie statt um acht Uhr morgens erst gegen Mittag aus dem Büro an, wenn sie ein letztes Mal über den Rand des Spülbeckens wischte oder die Schuhe anzog, um zu gehen. Ich fragte sie kurz, was es Neues gebe, über sie, nicht über den Haushalt, aber ohne ins Detail zu gehen, das ich im übrigen gar nicht kannte. Sie antwortete unveränderlich, es gehe gut. Einmal erzählte sie mir von ihrer Mutter, sie war 41
krank, aber nicht schlimm, sagte sie. Sind Sie sicher? Ja, sagte sie. Während der übrigen Woche ging ich abends oft aus, klingelte ohne Vorwarnung an Türen, besuchte Pierre, Paul, Jacques, verabschiedete mich bald wieder, telefonierte mit Claire, deren Rückkehr ich behutsam vorbereitete, die Rückkehr ins Leben meine ich, sie hatte mich nie verlassen, sie mich nicht und ich sie nicht, das ist doch schön, dachte ich, die Freundschaft mit einer Frau, es genügt, wenn sich die Lust nicht einmischt, hat sie übrigens nie gemacht, die Lust, vielleicht, weil wir sie überwachen, wir legen keinen Wert darauf, daß sie uns belästigt, die Lust, und uns ins Gespräch pfuscht. Kurz, ich war froh, daß sie zu meinem Leben gehörte, Claire, und ich betete, daß sie zu ihrer guten Laune zurückfand, sie fehlte mir. Was den Freitag betraf, so war es einfach, ich sah Laura kaum, Guten Tag — Auf Wiedersehen, kaum mehr, einmal ging ich sogar früher weg, ich hatte nicht auf sie gewartet und kam erst gegen elf zurück, und der Unterschied zu den vorangegangenen Malen war, daß ich ihr beim Eintreten, bei meinem Eintreten, guten Tag sagte. Und da hatte ich den Eindruck, daß sie auf mich wartete, aber ich sagte nichts. Sie, ja. Kann ich Sie zwei Minuten sprechen, fragte sie. Natürlich, sagte ich. Wie geht es Ihrer Mutter? Nicht sehr gut, sagte sie und fügte hinzu, aber es geht nicht um sie, es geht um mich, doch in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Entschuldigen Sie, sagte ich. Ich nahm ab, niemand antwortete, ich wiederholte dreimal hallo in den Apparat, aber kein viertes Mal, ich legte wieder auf, ich sagte ja, Laura, ich höre Ihnen zu. 42
Ich arbeite nicht genug, sagte sie. Wollen Sie einen dritten Tag, fragte ich. Das schien mir etwas übertrieben, aber na ja, es ist mir halt so herausgerutscht. Nein, sagte sie. Aber falls Sie jemanden kennen. Ja, sagte ich. Ich kenne einige Leute. Ich kann mit ihnen reden. Aber ich kenne nicht viele, die eine Putzfrau brauchen. Oder die eine wollen. Die Leute um mich herum putzen selber. Aber Sie nicht, sagte sie. Ich nicht, sagte ich. Sie putzen nicht gerne, sagte sie. Nein, sagte ich. Aber warum all diese Fragen? Ich kenne Sie nicht sehr gut, sagte sie. An dieser Stelle trat ein Schweigen ein, dann bemerkte ich, ich Sie auch nicht, fugte dann hinzu, bei den anderen sei das nicht so sehr, daß sie gerne putzen. Es ist eher, daß sie keine Putzfrau wollen, sagte ich. Es ist eher das. Das Problem ist, daß ich meine Miete nicht mehr bezahlen kann, erklärte sie. Ach so, sagte ich nach einem Augenblick der Überraschung, ja aber, fügte ich nach einem Augenblick des Zögern hinzu, man wirft die Leute nicht einfach so auf die Straße, machen Sie sich nicht zu viele Sorgen, aber ich werde mich trotzdem etwas umhören. Das Problem ist, fuhr Laura fort, daß die Person, mit der ich lebe, nicht mehr will, daß ich bleibe. Er fordert mich auf zu gehen. Es ist ein Mann, schloß ich daraus. Sie leben mit ihm zusammen. 43
Ja, sagte sie. Und er meint, wenn wir uns nicht mehr lieben, sollte ich besser nicht bleiben. Das stimmt nicht mehr. Stimmt schon, sagte ich. Weil Schluß ist, sagte sie. Ja, sagte ich. Verstehe. Und da habe ich mir gesagt, sagte sie. Naja, ich verstehe sehr gut, Laura, sagte ich. Aber Sie wollen sagen, Sie wollen, stimmt's? Ich weiß nicht, sagte sie. Ich dachte mir. Ich verstehe, fuhr ich fort, verstehe, aber ich kenne niemanden. Niemanden, der. Natürlich, sagte Laura, aber ich dachte mir. Ich verstehe, wiederholte ich, ja, ich glaube zu verstehen, aber, fugte ich hinzu, und ich suchte nach Worten, und dann wurde ich forscher, sie müsse doch auch verstehen, wir auch nicht, Laura, aber ich wagte nicht, zu präzisieren, daß wir uns auch nicht liebten, wir beide, und daß uns das wohl kaum weit bringen würde, wenn wir uns nicht liebten und sie bei mir einzog, auch nur provisorisch, das ging mir nun doch zu weit, und es hatte auch nichts damit zu tun, aber dann sagte ich doch, wir sind nicht zusammen, Laura, und dann gibt es da ein Platzproblem, und außerdem sind Sie jung. Wie das, fragte sie. Nein, nein, sagte ich, aber es geht um den Platz. Es gibt doch das Bettsofa im Wohnzimmer, sagte sie. Sie sind aber hartnäckig, Laura, betonte ich. Sie sind hartnäckig, und was ist mit mir. Ich dachte, ich kann ja mal fragen, sagte sie. 44
Vielleicht als Übergang, sagte ich, als Übergang will ich nichts sagen, wenn es bei Ihrer Mutter zu eng ist, aber. Ich kann doch nicht bei meiner Mutter wohnen, sagte sie. Ich weiß nicht. Also sind Sie einverstanden? Ich weiß nicht, wiederholte ich. Haben Sie viele Sachen zu Hause? Denn man muß auch an die Ordnung denken, und außerdem habe ich Nachbarn. Pfeifen wir auf die Nachbarn, sagte Laura. Sicher, sagte ich. Ich bin nicht so. Aber Laura, vielleicht renkt sich das wieder ein mit Ihrem Freund. Sie sind nicht witzig. Für ein paar Tage als Übergang will ich nichts sagen, gab ich nach, denn ich hatte im Grunde ein bißchen Lust, nachzugeben, ich hatte, wenn ich es recht bedachte, ein bißchen Lust auf diese Frau bei mir zu Hause, vielleicht weil sie eine war, ich weiß nicht, jung, aber auch schön, und nicht unangenehm im Ganzen, und außerdem putzte sie bereits bei mir, ich hoffe, mich klar auszudrücken, nur hatte ich Angst vor den Folgen, wenn sie sich hier mit der Zeit wirklich wohlfühlen sollte, sagte ich mir, werde ich doch nicht anfangen, mit ihr zusammenzuleben, das wäre übertrieben, und außerdem sehe ich nicht ein, warum sie den Platz einer anderen einnehmen sollte, dieses Mädchen interessiert mich im Grunde kein bißchen, da kann sie noch so hübsch sein, ich kann ihre Haare nicht ausstehen, es sei denn, sie schneidet sie. Kurz natürlich. Und fängt wieder bei Null an. Aber selbst dann. Das bringt mich in die Zwickmühle. Haben Sie viele Sachen, fragte ich. Einen großen Koffer? 45
Eher zwei große Taschen, glaube ich, sagte sie. Aber ich muß ja nicht alles auspacken. Der Kleiderschrank ist klein, sagte ich. Das Regal im Bad ist fast leer, rief sie mir in Erinnerung. Ah, sagte ich. Nein, aber ich kann alles in den Taschen lassen, sagte sie. Es geht mehr darum, daß ich die Gewohnheit habe, meine Hemden auf Bügel zu hängen, sagte ich. Ich möchte doch gerne meine Bügel behalten. Für die Oberteile kein Problem, sagte Laura, ich habe fast keine Blusen, und die Röcke kann ich auch falten. In einer Tasche unter das Bett legen, erklärte sie. Ich kann auch alles unter das Bett tun. Und wie ziehen Sie sich morgens an, fragte ich. Wenn ich schlafe? Hm, das ist auch kein Problem, sagte sie. Ich werde auch schlafen. Ich werde warten. Ich ließ ein Zungenschnalzen vernehmen, so auf gut Glück. Aber es löste nichts aus. Ich will keine Musik außerhalb des Putzens, sagte ich. Ich ertrage sie nicht, Ihre Musik. Das hätten Sie mir sagen sollen. Beim Putzen verbiete ich Ihnen nichts, stellte ich klar. Ich habe sowieso einen Walkman, sagte sie. Sie schleppen keine Geräte hier an, sagte ich. Ihre Kleider, einverstanden, was haben Sie an Geräten? Ich habe nichts, sagte sie. Nichts gehört mir dort. Hier haben Sie alles, was Sie benötigen, sagte ich. Danke. 46
Ich meine, Sie brauchen nichts. Sie müssen sich nur am Essen beteiligen. Fünfzig Francs am Tag. Wenn Sie hier essen. Das ist viel. Fünfundzwanzig. Einverstanden, fünfundzwanzig, sagte sie. Wenn ich hier esse. Wann darf ich kommen? Was ist heute für ein Tag? Das wissen Sie doch, sagte sie. Sie können morgen kommen, sagte ich. Warum nicht gleich? Die Schlüssel haben Sie. Sie sind meine Rettung. Hören Sie, Laura, sagte ich, nein. Ich dachte mir, sagte sie. Ja? Warum nicht heute? Was macht das für einen Unterschied für Sie? Ich rieb mir kurz die Stirn. Wollen Sie, daß ich Ihnen mit den Taschen helfe? Nein, geht schon, sagte sie. Wenn schon, denn schon, sagte ich. Ich hatte meine Jacke noch nicht ausgezogen. Sie mußte nur die ihre überstreifen. Als wir draußen waren, fiel mir auf, daß es nun acht Monate her war, daß ich mit jemandem gemeinsam das Haus verlassen hatte. Und dann gingen wir auch noch nebeneinander her. Ich gehe neben einer Frau, sagte ich mir. Die bei mir wohnen wird. Man konnte mit gutem Gewissen sagen, es tut sich was. Zum Glück begleitete ich sie, sonst hätte ich es um ein Haar gar nicht gemerkt. Wo wohnen Sie, fragte ich.
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Meine Frage war beinahe schon anachronistisch. Es ist direkt mit der Metro zu erreichen, sagte Laura, sieben Stationen. Wir nahmen sie. Im Wagen war nur noch ein Klappsitz frei, ich forderte sie auf, sich zu setzen. Ich befand mich über ihr, die Hand auf den Griff des Sitzes gestützt, der ihr als Rückenlehne diente. Ich sah ihren Haaransatz. Sie hatte keine schönen Haare, aber, das mußte man ihr lassen, ihr Haaransatz war nicht übel. Übrigens mußte ich mich zweimal über ihren Haaransatz beugen, weil ich bei dem Lärm schlecht hörte, was sie zu mir sagte. Das erste Mal ging es wieder um Dankeschöns, und ich schnitt ihr das Wort ab. Das zweite Mal wollte sie meinen Vornamen wissen. Wir haben einander nicht richtig verstanden, sagte ich. Sie ziehen nicht bei mir ein, Laura. Wir kennen uns nicht. (Ich mußte mich also niederbeugen, um ihr das alles zu erklären.) Ich will kein Aufeinanderhocken, fuhr ich fort. Das scheint mir nicht erstrebenswert. Sie war beleidigt. Nun aber habe ich seit langem ein großes Problem, ich ertrage es nicht, jemandem weh zu tun. So erklärte ich Laura, daß ich sie nicht beleidigen wollte und daß es ihr Problem sei, wenn sie sich wegen einer solchen Lappalie beleidigen lasse, aber es klang nicht sehr überzeugend. Ich wollte wenigstens, daß sie sich ruhig verhielt, wenn sie schon 48
nicht glücklich aussah, so viel konnte ich natürlich nicht von ihr verlangen. Aber ich konnte mir schlecht vorstellen, mit einer traurigen Frau zusammenzuwohnen. Ich werde Ihnen meinen Vornamen verraten, sagte ich, dagegen ist nichts einzuwenden, ich kenne Ihren ja auch. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihn so wenig wie möglich benutzen würden. Wir kamen bisher sehr gut ohne ihn aus. Danke trotzdem, sagte sie. Dann schwiegen wir bis zu ihr. Laura wohnte im obersten Stock eines Gebäudes, das sich leicht gegen den Hof neigte, in einem Zimmer in der Nähe der Außentoiletten. Ihre Tür ließ sich nur zu dreißig Grad öffnen, mit einem einzigen flachen Schlüssel. Wir traten nacheinander ein. Ihr Freund war nicht da, das hätte man sofort gesehen. Sie machte sich an einem Kleiderschrank zu schaffen, der einen Drittel des Raumes ausfüllte, während ich meinen Blick zum Fenster schweifen ließ, durch das man auf eine nahe Fassade sah. An seiner schmiedeeisernen Brüstung waren drei Blumentöpfe aufgereiht. Da fielen mir diese Blumentöpfe und mein erstes Treffen mit Laura wieder ein, die auf dem Gesicht Spuren von Erde hatte. Diese Spuren waren mit der Zeit, während Laura ganz langsam mein Heim auf Vordermann brachte, verschwunden, und das hatte mich nicht über Gebühr beschäftigt, vielleicht weil man davon ausgeht, daß Leute, die ein Zuhause haben, nie lange schmutzig bleiben, man weiß, daß sie es früher oder später merken. Aber ich machte mir Sorgen wegen der Blumentöpfe, ich befürchtete, Laura wollte sie mitnehmen, ich fand das. sperrig und schwer, nicht nur im Hinblick auf die Beförderung. Ich schnitt die Frage aller49
dings nicht an, und Laura schien nicht daran zu denken, schien nicht die Unverfrorenheit zu besitzen, auch nur daran zu denken. Tatsächlich war sie ganz in den Inhalt ihres Kleiderschrankes vertieft, und als sie mit beiden Händen, eine über der anderen, die Handflächen gegeneinander, einen kleinen Stapel in diversen Farben herausnahm, der offenbar zur Sorte Feinwäsche gehörte oder auch nicht, jedenfalls zur Leibwäsche, fragte ich sie, ob es ihr etwas ausmache, wenn ich im Treppenhaus auf sie wartete, während sie ihre Sachen packte. Nein, sagte sie, aber Sie können auch hierbleiben. Dann warte ich draußen, sagte ich und ging hinaus. Da mußte natürlich gleich ein Mann auftauchen, der aber an einer anderen Tür mit einem Schlüssel hantierte. Ich seufzte. Ich wollte nicht mit Laura überrascht werden. Ich schämte mich erneut ein wenig und hatte keine Lust, mich einem Mann erklären zu müssen, der mir nichts bedeutete. Dieser da, der nicht mal mit ihr zusammenlebte, warf mir einen vernichtenden Blick zu, den ich nicht erwiderte. Bald darauf kam Laura mit ihren besagten Taschen, und wir gingen gemeinsam die Treppe hinunter. Da es dreizehn Uhr war, stellte sich die Frage des Mittagessens, die ich vorsorglicherweise anschnitt. Wir werden uns nicht in die Küche stellen, sagte ich zu Laura, wir haben bereits auszupacken, ich schlage vor, wir essen eine Kleinigkeit und gehen dann nach Hause, einverstanden? Ich kannte bei mir in der Nähe eine Brasserie mit einem großen Hinterraum, der nach Provinz aussah, etwas teuer, aber was soll's, ich wollte mich ja nicht jeden Tag mit meiner Putzfrau hier niederlassen. Ich 50
sagte niederlassen, denn genau so wirkte das in diesem hinteren Saal. Und ich hatte alles andere als das im Sinn. Suchen Sie sich etwas aus, sage ich, als sie die Speisekarte las, ich lade Sie ein. Sie hatte Appetit. Es ist eine gute Sache, daß die Frauen essen, daß sie auch essen, dachte ich, während ich sie aus den Augenwinkeln beobachtete, dagegen ist nichts einzuwenden, sie sind schließlich wie wir, auf jeden Fall macht es sie uns ähnlicher, es macht sie menschlicher. Oder animalischer, was auf dasselbe herauskommt. Es kommt auf dasselbe heraus, weil das im Grunde nicht das Problem ist, Essen macht sie uns nicht ähnlicher, es macht sie autonomer. Das heißt abhängig, abhängig von Fleischern, Bäckern, was wir nicht sind. Und unsere Ohnmacht angesichts dieses Phänomens des weiblichen Hungers schwächt uns, aber gerade diese Abhängigkeit rührt uns auch. Diese kindliche Seite. Dieses Bedürfnis. Wenn es nach uns ginge, würden wir für sie den Teig kneten. Wir würden sie zu unserem bloßen Vergnügen ernähren. Aber das hat nichts damit zu tun, daß ich hier bezahlte. Das ist eine Ausnahme. Ich werde dieses Mädchen nicht aushalten. Hat's geschmeckt, fragte ich sie vor dem Kaffee. Hat es Ihnen gefallen? Sehr, sagte sie. Wir kommen vielleicht wieder her, sagte ich. Wir gehen gleich hoch, nach dem Kaffee. Ich bestelle welchen. Ich bestellte ihn. Wir tranken ihn. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte es auf einmal eilig, von hier wegzukommen. Daß sie ihre Taschen abstellte. Bei mir war sie so taktvoll, sich nicht wie zu Hause aufzuführen. Es war ein außerordentlich wohltuen51
des Gefühl, zu sehen, wie sie zögerte, als sie ihre Taschen aufmachte. Und dann zu sehen, wie sie ihre kleinen Sachen schamhaft auseinander faltete, ich sage klein, weil Laura zierlich war, wenn man von den Formen einer Frau spricht, sollte man immer den Maßstab angeben, das kann den Blick verändern. Ich persönlich mag die Frauen lieber etwas kleiner, ich schätzte es also, daß Laura nicht sehr groß war und zierlich, das paßte gut zu ihrer Jugend. Stellen wir uns im Gegenteil eine große junge Frau vor, ich weiß natürlich, daß so etwas vorkommt, aber wenn sie groß sind, dann habe ich sie doch lieber älter, das heißt auch nicht zu groß, und nicht übertrieben alt, kurz, ich mag sie eher klein und nicht allzu alt, so wie alle meiner Art, alle Männer, stelle ich mir vor, auch wenn ich in meinem Leben durchaus fähig gewesen bin, unterschiedliche Wahlen zu treffen, ich bin kein Kostverächter, das paßt nicht zu mir, und sowieso habe ich keinen Frauentyp, außerdem gibt es das gar nicht, Frauentypen, es gibt nur den Typus Frau, scheint mir. Ich will sagen, ich spreche höchstens von einer Vorliebe. Es war mir also recht, daß Laura war, wie sie war, das traf sich gut, denn sie war genauso, wie sie war, das half mir bei meinem etwas beschämenden Vorhaben ihrer Unterbringung. Ich spreche vom beschämenden Vorhaben ihrer Unterbringung, um auf das Spektrum hinzuweisen, in dem sich meine Haltung bewegte, nämlich zwischen der bloßen Unterbringung einerseits und dem richtigen Einzug andererseits, den beiden Extremen, wenn es ums Wohnen ging, und auch, um zum Ausdruck zu bringen, daß ich nicht auf reflektierte Weise handelte. Ich handelte im Gegenteil 52
spontan, ich weiß, das will nichts heißen. Das will überhaupt nichts heißen, denn das alles war inzwischen vollkommen durchdacht, mir war vollkommen bewußt, daß Laura ihr Gepäck bei mir abstellte und daß mich das für eine unbestimmte Zeit festlegen würde. Ich bin nicht gerade leichtfertig, und auch wenn ich nicht so recht wußte, woran ich war, so wollte ich mich doch den Problemen, die mit meiner Entscheidung zusammenhingen, stellen. Es war bloß so, daß ich diese Probleme gar nicht aufzählte, ich betrachtete sie nicht einmal näher, ich schob sie beiseite, in eine Ecke der Zukunft, denn ich interessierte mich in erster Linie für die Gegenwart. Und die Gegenwart war die Aufteilung meiner Wohnstätte in zwei Orte, wo geschlafen werden konnte. Denn ich wollte Laura nicht das Sofa überlassen, das nahm ich lieber selber und gab ihr das Zimmer, auch wenn Constance darin geschlafen hatte, in diesem Zimmer. Aber Constance war ja nicht mehr da, sie war aus meinem Leben verschwunden, und wenn ich sie jetzt sah, dann ausschließlich von hinten, ich rannte ihr nicht einmal mehr hinterher, um sie zu überholen und mich vor sie hinzustellen. Ich konnte also Laura das Zimmer überlassen, die Frage war nur, ob sie es akzeptieren würde. Nun gab es in dieser Hinsicht eine angenehme Überraschung: Sie weigerte sich. Ich mußte sie überreden, das Zimmer zu nehmen, was mir bequemer schien, ich spreche nicht nur vom Zimmer, ich spreche auch von meiner Haltung. Und dann, als sie erst einmal grundsätzlich einverstanden war, mußte ich darauf beharren, daß sie auch wirklich in dieses Zimmer hineinging, nachdem ich die Laken ausgewechselt hatte, nicht ohne ihr zu sa53
gen, daß ich das lieber ohne ihre Hilfe täte und sie möge doch so freundlich sein, im Wohnzimmer zu warten, wo ich das Sofa später herrichten würde, während sie ihre Sachen unter das Bett packte. Es handelte sich also um eine sehr aktive Phase zwischen uns, jeder führte seinen Teil der Arbeit aus, ich schlug mich mit den Laken herum, die sich, ich hatte ja nur zwei Hände, über dem Bett blähten und sinnlos neben der Matratze niedersanken, sie schob ihre Kleider in die große Plastiktüte, die ich ihr überlassen hatte und die sie vorläufig auf den Tisch legte, bis sie sie unter das Bett schieben konnte, das das ihre werden sollte. Dabei kreuzten sich manchmal unsere Wege, während wir gemeinsam einen Raum in Besitz nahmen, der nicht ganz der unsere war, ich hatte, außer einmal, als ich mich mit Constance gestritten hatte, noch nie im Wohnzimmer geschlafen, und Laura hatte noch nirgendwo bei mir geschlafen und entdeckte ein Zimmer, das sie bisher nur mit einem zweifelhaften Besen betreten hatte und wo sie sich außerhalb der Arbeitszeit von jetzt an liegend aufhalten würde. Unsere Wege kreuzten sich, ja, und auch unsre Blicke kreuzten sich, begegneten sich gelegentlich oberflächlich, der eine im anderen verweilend, aber ohne Nachdruck, so wie man eine Pause einlegt, bevor man wieder weitermacht, doch mit einer gewissen Verblüffung über unsere Effizienz in einer Situation, in der ein Hauch Zögern durchaus am Platze gewesen wäre. Eine Verblüffung, die wir übrigens gemeinsam auflösten, indem wir uns mit einem Lächeln anlächelten, in das wir etwas Verschwörerisches, aber Leichtes, Gleitendes legten, und so glitten auch wir von einem 54
Raum zum anderen, ich mit der ziemlich zusammengewürfelten Bettwäsche, sie mit ihren Röcken, ihren Oberteilen und ihrer Leibwäsche, die sie im Wohnzimmer, entgegen meinen Anweisungen, nicht vollständig in Plastik gepackt hatte und die, soweit ich das beim Vorbeigehen beurteilen konnte, eher gut zusammenpaßten. Ich spreche natürlich von den Farben, ich hatte Laura verboten, daß ihre Kleider woanders Form annehmen als an ihr selbst, ich muß allerdings sagen, daß mir das nun etwas hart vorkam für sie. Aber im Stadium, in dem ich mich befand, wollte ich lieber keinen Rückzieher machen, das schien mir klüger. Für uns hatte, und wir wussten das, gerade die einfachste Phase begonnen, die des Einzugs eben, aber danach. Danach drohte es weniger einfach zu werden. Und dieser Augenblick war bald da, weil es nicht sehr viel zu tun gab. Es war mitten am Nachmittag. Eine hohle Stunde, wenn man so will, für Leute, die nicht bei der Arbeit sind, und ich schlug Laura vor, einen Tee zu trinken. Dies tat ich vor allem, damit es einen Tisch zwischen uns gab, Tassen und eine Teekanne, mit dem bescheidenen Zeremoniell des Bedienens und dem Austausch der damit verbundenen Aufmerksamkeiten, nehmen Sie noch einen Schluck, ja, nein, würden Sie mir bitte den Zucker reichen, ja, nein, da, hinter der Tasse, also gut, sagte ich. Von jetzt an, tun Sie, was Sie wollen, Laura. Ich muß gehen. Und ohne eine Antwort abzuwarten, zog ich ganz selbstverständlich meine Jacke über und ebenso selbstverständlich die Tür hinter mir zu. Bis auf den Umstand, daß ich, nachdem ich sie hinter mir und zugleich hinter ihr zugezogen hatte, den Schlüssel zweimal umdrehte, was ich in umge55
kehrter Richtung wiederholen mußte, um bei Laura nicht den Anschein zu erwecken, ich wollte sie einschließen. Den Anschein nur, denn sie hatte ja ihre eigenen Schlüssel. Tatsache ist, daß ich über den Sinn dieser Geste grübelte und nicht wußte, ob ich Laura einschließen wollte oder ob ich im Gegenteil, ihrer Anwesenheit keinerlei Beachtung schenkend, bereits vergessen hatte, daß sie sich drinnen befand. Später, auf der Straße, wo ich herumirrte und mich fragte, was ich bis zum Abend zu tun gedachte, wußte ich immerhin, bei minimaler Fehlerquote, daß dies die Geste eines alleinstehenden Mannes war. Laura bei mir, das war das genaue Gegenteil einer Gewohnheit. Und so begann es natürlicher-, logischer- und selbstverständlicherweise genau wie das Gegenteil einer Gewohnheit.
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Ich hatte nicht den Mut, allein draußen zu bleiben oder bei Francine und Jean vorbeizuschauen, die zwei Straßen weiter wohnten. Ich hatte sie seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen, und sie wußten über Constance nicht Bescheid. Wenn ich sie in dem kleinen Supermarkt traf, konnte ich es ihnen ja wohl schlecht erzählen. Und da wir geographisch nah beieinander waren, riefen wir uns nicht an. Im ganzen sind wir uns vielleicht ein Dutzend Mal begegnet, seit Constance weg ist, beim Einkaufen, wir, sie und ich, haben das Glück, in einem sehr kommerziellen Viertel zu wohnen, und ich habe ihre Einladung, auf ein Glas zu ihnen oder auch nur in ein Cafe zu gehen, stets abgelehnt. Weil ich allein war, hatte ich zu sehr das Bedürfnis, es auch zu bleiben. Und vor allem zu schweigen. Ich brauchte Ruhe. Und außerdem waren Francine und Jean keine Freunde, ich spreche nur von ihnen, weil ich draußen an sie gedacht habe, und ich habe an sie gedacht, weil ich an jenem Abend ein schnelles Mittel suchte, nicht nach Hause zurückzukehren. Schnell, weil ich Lust hatte, nach Hause zu gehen. Und sehr schnell eine Gelegenheit finden mußte, es nicht zu tun. Allein draußen zu bleiben hätte nicht genügt, ich hätte mich die ganze Zeit gefragt, ob Laura auch hier draußen war. Was ich wissen wollte, war, ob sie 57
dort drin bleiben wollte, bei mir. Das konnte verschiedene Gründe haben: Entweder fühlte sie sich wohl, oder ihr Leben war nicht so, daß sie, nachdem sie ihren Freund verlassen hatte, zu einer Freundin hätte gehen können, oder auch zu einem anderen Freund, oder auch zum selben, sowas kommt vor, sagte ich mir. Und außerdem mußte ich auch wissen, wie ich zurechtkam zu Hause mit ihr. Um herauszufinden, woran ich war, kehrte ich also gegen acht zurück. Auf dem Treppenabsatz hörte ich den Fernseher laufen. Ich drehte meinen Schlüssel im Schloß, trat ein und ging ins Wohnzimmer, wo Laura erwartungsgemäß fernsah, auf das Sofa gefläzt mit der Fernbedienung in der Hand. Das freute mich, ich fragte mich aber, ob es mich vielleicht noch mehr gefreut hätte, wenn sie das Abendessen zubereitet hätte. Ich kannte die Antwort nicht. Es hat jemand angerufen, sagte Laura und stellte den Ton leiser, eine Frau, sie hat gefragt, ob Sie da seien, und ich habe gesagt, Sie seien ausgegangen. Ich habe sie gefragt, ob sie eine Nachricht hinterlassen wolle, sie hat nein gesagt und "wollte wissen, wer ich sei. Ich habe gesagt, ich sei die Putzfrau, das macht Ihnen doch nichts aus? Was macht mir nichts aus, fragte ich. Daß ich das gesagt habe, sagte sie. Aber nein, sagte ich, warum sollte mir das was ausmachen? Sind Sie nicht weggegangen? Seit wann schauen Sie fern? Seit eben, sagte sie, ich habe die Nachrichten angemacht. Das geht ziemlich ab da unten, fugte sie hinzu und zeigte mit der Hand, in der sie die Fernbedienung hielt, auf den Bildschirm. Und Sie? Sie kommen früh nach Hause. 58
Moment, sagte ich, Laura, Moment. Ich komme weder früh noch spät. Ich komme, das ist alles. Ich wohne hier. Ich komme, wenn es mir paßt. Seien Sie nicht böse, sagte Laura. Ich habe das einfach so gesagt. Ich habe die Reste vom Ragout aufgesetzt. Es kocht. Wir können essen, wenn Sie wollen. Ich hatte nichts gerochen. Laura hatte die Küchentür zugemacht. Haben Sie das Essen vorbereitet, fragte ich. Sollte ich nicht? Ich weiß es nicht. Ich faßte mich leicht an die Stirn. Ich hoffe, das macht keine Probleme, sagte Laura. Nein, nein, sagte ich. Möchten Sie vorher etwas trinken? Einen Aperitif? Oh, gerne, sagte Laura. Ja, warum nicht? Ja, warum eigentlich nicht, sagte ich. Bleiben Sie sitzen, ich bringe ihn ins Wohnzimmer. Einen kleinen Vin cuit. Oder einen Punsch? Einen Punsch, ja, sagte Laura. In Ordnung, sagte ich. Was tu ich denn da, fragte ich mich in der Küche. Was mach ich da eigentlich? Nichts, sagte ich. Einen Punsch. Einen Punsch für dich und deine Putzfrau. Einen kleinen Planter's Punsch. Und weiter? Weiter nichts. Ich kehrte mit dem Tablett zu ihr zurück. Die Nachrichten traten inzwischen etwas auf der Stelle, viele Archivbilder für eine Lappalie, ein Mord in einem abgelegenen Dorf, man sah das Dorf, aber den Mord natürlich nicht, nicht einmal die Ermordete, es war eine Frau, man sah sie lebendig, nur auf dem Photo, und ich stellte fest, daß Laura sie betrachtete, 59
als stände sie ihr nahe, sie schien bekümmert, bewegt, mir war sie egal, diese Frau, aber ich wagte Laura nicht zu stören, ich stellte das Tablett auf das Tischchen und streckte ihr das Glas entgegen. Sie sagte danke, ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden, obwohl bereits von etwas anderem die Rede war, und ich beschloß, mit ihr weiterzuschauen, ich hatte sowieso nicht viel zu sagen. Gemeinsam schauten wir die Nachrichten zu Ende, während wir in kleinen Schlucken tranken, mit Erdnüssen dazwischen, dann kam die Werbung, und ich sagte, jetzt könnten wir vielleicht ausmachen, wir essen in der Küche, ja? Laura machte aus, wir standen auf und gingen, ich hinter ihr her, in die Küche, wo das Problem mit dem Bedienen am Tisch aufkam, aber ich nahm kurzentschlossen die Sache in die Hand. Ich bat Laura, sich zu setzen. Sie hatte den Tisch bereits gedeckt. Ich nahm also den Topf in die Hand und gab ihr, direkt aus dem Topf in den Teller. Ich wollte für sie keine Schüssel herausnehmen, um so mehr, als die Gefahr bestand, daß sich das wiederholte, das alles, und ich sagte mir, zwischen uns muß der richtige Ton gefunden werden, eine Ungezwungenheit gleich von Anfang an, sonst seh ich schwarz. Einfach mußte es sein. Dann ging es ans Essen, und ob man bei Tisch spricht oder nicht, das kommt darauf an, vor allem auf mich kam es an, denn Laura sagte nichts, sie betrachtete die Küchenwände um sich herum, und manchmal schaute sie mich an, ich wußte immer noch nichts zu sagen. Ich fragte sie, wie es gehe. Sie sagte, gut, sie sah zufrieden aus. Danach wurde es schwieriger, ich fing wieder von ihrer Mutter an, aber sie nicht. Dann sprach ich von ihrem Freund, aber sie 60
nicht. Ich fragte mich, was sie eigentlich wollte. Daß ich sie in Ruhe ließ oder was. Ich wußte es nicht. Ich wagte sie nicht zu fragen. Sie hatte, glaube ich, zuviel getrunken, sie hatte einen verschleierten Blick, ich ermahnte sie, vorsichtig zu sein mit dem Wein. Das macht mich müde, all das, sagte sie. Oder es ist der Punsch. Ich würde gerne schlafen gehen. Schon, fragte ich. Was fallt mir ein, fragte ich mich. Ich war tatsächlich unzufrieden, daß Laura so früh schlafen gehen wollte. Ich hatte keinerlei Pläne mehr für den Abend, keine Lust, fernzusehen, und von Lesen konnte gar keine Rede sein. Das wäre der Gipfel, sagte ich mir, wenn ich mich jetzt, wo sie da ist, anfange zu langweilen. Und nicht wegen ihr. Wegen mir. Wegen mir ohne sie. Das ist wirklich die Höhe. Ich gab mir einen Ruck. Ich sagte zu Laura, sie solle schlafen gehen, ich würde den Tisch abräumen. Ich räumte den Tisch ab, dann begann ich, das Bettsofa herzurichten. Langsam. Der Vorteil bestand darin, daß ich mich, war es erst ausgezogen, nicht mehr setzen konnte, außer auf einen Sessel im Eßbereich, und mich auch nicht entspannen konnte. Ich war gar nicht müde. So nahm ich das Telefon und drehte meine Runden um den Tisch. Ja, sagte ich zu Claire. Eine Putzfrau. Du suchst nicht zufällig eine?
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Nein, Claire suchte keine Putzfrau. Ich erklärte ihr, ich hätte mir eine genommen und die sei einigermaßen seriös. Wie das, einigermaßen, fragte Claire. Das war mir etwas peinlich, denn da war doch die Sache mit dem Staubsauger. Ich konnte Claire schlecht eine Putzfrau empfehlen, die den Staubsauger nicht anmacht. Erst recht, wo sie gar keine Putzfrau wollte. Das lief nicht besonders gut, ich fragte Claire, ob sie jemanden kannte. Sie sagte, sie wolle darüber nachdenken, aber sie sei kein Vermittlungsbüro. Im Laufe des Gesprächs wurde mir klar, daß es zu früh war, ihr von Lauras Einzug bei mir zu erzählen. Das wäre zu hart gewesen. Da ich nun nicht mehr bei ihr nach einer Arbeit für Laura suchte, fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht doch den Mut aufbrachte, ihr alles zu sagen. Aber ich schaffte es nicht. Ich überlegte mir, ob ich ihr einen kleinen Wink geben sollte, indem ich gestand, daß ich eine Putzfrau eingestellt hatte, die nur mit dem Besen arbeitete, was die Annahme zuließe, ich hätte sie nicht nur zum Putzen eingestellt, was aber auch wieder nicht ganz zutreffend war, denn man mag denken, was man will, ich habe Laura zuerst sehr wohl zum Putzen eingestellt, aber nicht einmal das ging, nicht mal diese Geschichte mit dem Besen, ich wagte mich ihr einfach nicht anzuvertrauen. In dieser Hinsicht Scheitern auf der ganzen Linie. 62
Zum Glück blieb meine Beziehung zu Claire gut. Wir riefen uns regelmäßig an, und unsere nächste Verabredung hatten wir binnen vierzehn Tagen anvisiert. Da ich beruhigt war, was uns betraf, konnte ich meine Kräfte nun gelassen auf das Verfolgen anderer Fährten konzentrieren. Ich rief so gut wie alle an und unterrichtete meine Bekannten über meine neuen häuslichen Gegebenheiten. Allen aber verschwieg ich das Detail mit dem Besen. Schließlich beschloß ich, mit Laura darüber zu reden, ihr zu sagen, mich persönlich störe es nicht, aber man müsse die anderen verstehen. Das hätte aber auch ihren Argwohn erwecken können. Ich zögerte wieder. Mein Leben gewann inzwischen an Intensität. Meine Wohnung kam immer besser in Schuß, und ich verdächtigte Laura sogar, daß sie außerhalb der Arbeitsstunden noch ein wenig Hand anlegte. Von Zeit zu Zeit ging sie sogar so weit, in meiner Anwesenheit eine kleine Nippsache hochzuheben, am Wochenende zum Beispiel, und Staub zu wischen. Da ich sie nicht ausbeuten wollte, forderte ich sie auf, sich zu bremsen, aber gleichzeitig sah ich, daß es ihr Vergnügen bereitete. Und mir erst. Daß eine junge Frau vor meinen Augen eine solche Sorgfalt auf meine Umgebung verwendete, mußte mich zwangsläufig rühren. Ich sagte nichts, ließ sie mit ihrem Staublappen wischen, dann noch einmal, dann faßte ich sie am Arm. Laura, sagte ich. Sie verstand. Legte ihren Lappen weg und nahm eine Zeitschrift vom kleinen Tisch. Oder zog sie darunter hervor, denn mein Tischchen hat zwei Etagen. Dann verhielt sich Laura wie in einem Friseursalon, blätterte mit wartendem Ausdruck in ihrer Zeitschrift. Ich stellte sie mir in einem echten Fri63
seursalon vor, wie sie wartete, bis sie an die Reihe kam und man ihr nach meiner Anweisung die Haare schnitt. Kurz, wie vorgesehen. Ich lauerte auf ein Zeichen des Gehorsams in ihrem Gesicht. Aber sie sah nicht sehr unterwürfig aus. Sie sah wartend aus. Ich hatte wirklich den Eindruck, daß sie auf etwas wartete, aber ich wußte nicht worauf. Sie schien nichts Größeres zu erhoffen, man hätte glauben können, sie überließe das Leben seinem Lauf. Es kam vor, daß ich neben ihr saß und in einer anderen Zeitschrift blätterte, als würde auch ich warten, bis ich an die Reihe kam. Wir sahen wohl beide aus, als würden wir warten. Wahrscheinlich darauf, daß die Zeit verging. Tatsache war, daß sie langsam verging. Die Atmosphäre war ruhig. Aber, um mich genauer auszudrücken, es lag Intensität in dieser Ruhe. Ich habe mit Constance solche Augenblicke erlebt, mitten in unserer Beziehung. Nur daß wir auf eine andere Vergangenheit zurückblickten, Constance und ich. Wir hatten ein gemeinsames Leben hinter uns. Ich versuchte trotzdem, unsere Zeit irgendwie einzuteilen. Ich beharrte auf Montag und Freitag als Putz- und Bügeltagen. Am Montag rief ich Laura nicht an. Am Freitag verschwand ich bis Mittag. Danach begann das Wochenende, aber ich bin zu voreilig. Erst kam noch die Woche. Die Abende der Woche. Wir wohnten zusammen, Laura und ich. Aßen zusammen. Fast jeden Abend. Ich ging nur zögerlich aus. Und wenn ich es tat, teilte ich es ihr während des Tages am Telefon mit. Auch sie rief mich von Zeit zu Zeit im Büro an, um sich ein bißchen zu zerstreuen. Ich hatte nicht viel Zeit für sie, das Unternehmen befand sich in einer Umstrukturierungsphase, ich muß64
te dranbleiben, um meine Kompetenzen geltend zu machen. Laura hatte mir nichts zu sagen, sie rief einfach so an, sagte sie. Wir wechselten drei Sätze, von denen der letzte, den ich sagte, etwas Sanftes enthielt. So entstand über den Umweg des Telefons zwischen uns eine Art Zuneigung. Zu Hause war das nicht so klar, da waren wir eher höflich zueinander. Abends also aßen wir, dann schauten wir fern, weil Laura das gerne tat. Mir war es egal. Ich war froh, sie neben mir zu haben. So nah, daß ich manchmal Lust bekam, ihr die Hand aufs Bein zu legen, um so mehr, als sie Röcke trug. Ich fragte mich, ob sie mich aufreizen wollte, aber ihr Blick ermutigte mich nicht. Ihre Hand war mit der Fernbedienung beschäftigt, die ich ihr überlassen hatte. Gelegentlich bat ich sie, während der Werbung etwas leiser zu stellen, weil ich sie nach ihrer Mutter fragen wollte, von der ich bei Tisch nicht gesprochen hatte, oder von ihrem Freund, der nicht mehr mit ihr lebte. Sie antwortete zerstreut, und ich sagte mir, es könne nicht allzu schlecht um sie stehen. An manchen Abenden hatte ich große Lust, sie zu berühren. Sie zu küssen nie. Ich war nicht in sie verliebt. Sie schien nicht in mich verliebt. Es kam vor, daß ich an eine kurze Affäre mit ihr dachte, wegen ihrer Figur, und in diesen Momenten zog ich ein saures Gesicht. Diese Anwandlungen ließen sie nicht kalt. Sie sehen bekümmert aus, sagte sie dann zu mir. Es ist nichts, sagte ich. Die Arbeit. Uninteressant. Und genoß nebenbei das Privileg, sie in dieser Hinsicht nicht anzulügen. Dann schauten wir eine amerikanische Serie und gingen schlafen. Das war der Moment, wo Laura im Schlafanzug erschien, wo sich zwischen uns das winzige Badezimmerritual abspielte. Laura hatte 65
für ihre Sachen nur die Hälfte der Waschbeckenablage in Beschlag genommen. Ich hörte, wie sie sich wusch, während ich wartete, bis ich an der Reihe war. Ich trat ihr aus Höflichkeit den ersten Platz im Badezimmer ab. Ich sage nicht, daß da viel dahinter steckte, aber es war einfacher, diese Ordnung einzuhalten. Die Ordnung war wichtig in unserem Leben. Auf diese Weise hat es angefangen zwischen uns, im Zeichen der Ordnung, und ich sagte mir, wir müssten daran festhalten, wenn wir wollten, daß es andauerte. Ich sage wir, aber ich spreche von mir. Laura ließ allerdings nie durchblicken, daß sie eine Unterkunft oder eine Arbeit suchte, ich konnte davon ausgehen, daß sie bleiben wollte. Ich verlor kein Wort darüber. Es hätte mir nicht gefallen, wenn sie mit ihrer Suche vorangekommen wäre. Im großen ganzen wurden die Putz- und Bügelzeiten eingehalten. Laura überforderte sich nicht. Um mich klar auszudrücken, sie fing so gut wie nichts an mit ihren Tagen, außer daß sie fernsah. Zumindest stellte ich mir das so vor, denn ich war nicht da, um sie zu kontrollieren. Wenn ich nach Hause kam, wagte ich sie nicht zu fragen, wie sie ihre Zeit verbracht hatte. Mit der Zeit hatte sie gemerkt, daß ich es nicht ungern sah, wenn sie während meiner Abwesenheit einkaufen ging. Ich erinnere daran, daß sie keinerlei Miete bezahlte. Was das Kochen anging, so gab es immer ungefähr dasselbe, aber sie kochte auch. Ich verlangte nie etwas von ihr. Ich bedankte mich jedes Mal. Ich begann mich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen, außer was die Musik und das Fernsehen betraf. Was das Fernsehen betraf, muß man gerechtigkeitshalber sagen, daß Laura mir den Reiz gewisser 66
amerikanischer Serien nahebrachte. Sie machte mich offener. Dafür hat sie nie einen Blick in mein Bücherregal geworfen. Eine Zeitlang habe ich mit dem Gedanken gespielt, ihr einen kleinen Fernseher für ihr Zimmer zu kaufen, so daß ich meine Abende hätte mit Lesen verbringen können. Aber ich blieb lieber neben ihr sitzen, manchmal in der Hoffnung, sie werde die Fernbedienung beiseite legen, um nach meiner Hand zu greifen. Es gab allerdings keinerlei Zeichen, das mich zu einer solchen Hoffnung ermutigt hätte. Das war auch der Grund, warum ich so selten wie möglich hoffte. Im übrigen, glaube ich, war es besser so. Dank ihrer Anwesenheit begann ich, die Frauen zu begehren, die mir auf der Straße begegneten. Ich sprach sie nicht an, irgendwie fühlte ich mich nicht ganz frei, aber auch aus Schüchternheit. Es sah nicht so aus, als würde ich ihnen gefallen. Keine schaute mich eindringlich an. Trotzdem wartete ich darauf, daß sich eines Tages eine von ihnen nach mir umdrehen würde. Ich wäre nicht untätig geblieben. In dieser Erwartung machte ich mich einen Teil des Wochenendes selbständig. Ich ging aus, alleine, und fand Gefallen daran. Aber nichts geschah. Ich ging nach Hause, manchmal war Laura nicht da. Sie kehrte allerdings vor acht zurück. Ich spürte, daß sich unser Vertrag seit ihrer Einstellung ausgeweitet hatte. Sie wartete vielleicht auf einen Wink von mir, auf ein Mehr an Aufmerksamkeit. Aber wir verbrachten eine Menge Zeit miteinander, ohne daß es mit unserer Beziehung spürbar voranging. In gewissem Sinne war es jetzt, als würden wir jeden Tag etwas verpassen und als sei es zu spät gewesen, um noch einmal von vorn an67
zufangen. Wir brauchten einander, aber wir wußten nicht, was wir mit diesem Bedürfnis tun sollten. Das mit dem Besen konnte ich ihr nicht sagen. Auch dafür war es zu spät. Er war inzwischen zu einer festen Gewohnheit geworden. Ich dachte einfach, daß sie tat, was sie konnte, und das war so schlecht nicht. Sie vermied immerhin das Schlimmste, was den Staub betraf. Sie drängte ihn zurück, den Staub, hielt ihn auf Distanz. Ich wagte nicht von ihr zu verlangen, ihn ganz zu beseitigen. Manchmal hatte ich eine Vision von schwebendem Staub. Und wenn er sich wieder absetzt, fragte ich mich. Es wird sich wieder absetzen, unausweichlich. So was setzt sich wieder ab. Eines Tages, an einem Freitag, hatte ich es sogar in einem Sonnenstrahl selbst gesehen. Laura putzte, mit Musik, und der Staub tanzte. Sie tanzten beide. Das war ein Ballett, ja. Aber das setzt sich wieder ab, sagte ich mir. Ich wollte mir das lieber nicht mit ansehen. Ich verließ das Zimmer, kontrollierte in der Küche den Stand der Putzmittel. Es fehlte Ajax-Glasrein. Laura benutzte es für bestimmte Oberflächen. Nicht für die Fensterscheiben. Die Fensterscheiben bei mir waren schmutzig, nehme ich an. Ich war aber noch nicht so weit, mich darum zu kümmern. Nicht mal in den großen Momenten des Glücks in meinem Leben, in diesen großen Augenblicken, da Friede sich ausbreitet, da nichts mehr außer Reichweite scheint, habe ich dem Zustand meiner Fensterscheiben Beachtung geschenkt. All das, um zu sagen, daß Laura, wenn der Zerstäuber von Ajax-Glasrein leer war, ihn auf die Arbeitsplatte in der Küche stellte. Da es vorkam, daß ich die eine oder andere Besorgung erledig68
te, Laura dachte bei weitem nicht an alles, brachte ich ihr bei Gelegenheit auch mal ein Reinigungsmittel mit. Ein bißchen Reinigungsmittel, das fehlte. Ich richtete es jeweils so ein, daß sie da war, wenn ich den Inhalt meines Korbes auf den Tisch schüttete. Schauen Sie, Laura, sagte ich dann, ich habe Ihnen Ajax-Glasrein mitgebracht. Sie bedankte sich. Das war natürlich nur eine Kleinigkeit, aber sie schien es als nette Geste anzusehen. Es lag mir noch fern, ihr Blumen mitzubringen. Aber, in Ermangelung eines Besseren, sagte ich mir, ist ein bißchen Reinigungsmittel, auch wenn es nicht die Welt ist, doch auch schon was. Eine Art, die Hand auszustrecken. Eines Abends, als es Zeit war, ins Bett zu gehen, kam Laura ins Wohnzimmer. Das Sofa war ausgezogen, wir waren einer nach dem andern im Badezimmer gewesen, und in meiner Wohnung brannten nur noch zwei kleine Lampen, nehme ich an, denn Laura schloß natürlich die Tür zu meinem Zimmer, wenn sie schlafen ging. Das einzige, was vor meinen Augen leuchtete, war also die kleine Lampe, die an die Lehne des Sofas geklemmt war. Das übrige Wohnzimmer befand sich im Dämmerlicht. Ich lag auf der Seite, das Laken bis zu den Schultern hochgezogen, ein Buch in der rechten Hand, die Lampe darüber, und hörte keinen Laut. Ich hatte zwar mein Ohropax drin, aber Ohropax macht nicht taub, es läßt ein paar Geräusche durch, und die Stille jenes Abends hatte ihren Grund anderswo. Die Nachbarin über mir hatte sich in die Provinz verzogen. Sie konnte also nicht mehr mitten in der Nacht aufstehen, um Möbel zu verrücken, indem sie sie mit einem Grollen, das sich zum Donner ausweitete, über das blanke Parkett zog, wie sie es ge69
wöhnlich zwei oder drei Mal wöchentlich tat, wahrscheinlich um mit geringem Aufwand die Einrichtung zu ändern. Aus diesem Grund konnte ich hören, daß die Schlafzimmertür aufging. Sie ging nicht wieder zu. Da löste ich mich etwas von meinem Buch. Laura stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer, im Schlafanzug. Ich wollte sie fragen, was los sei, aber ich tat es nicht, ich hätte das Gefühl gehabt, etwas zu zerstören. Es war das erste Mal, daß Laura mich im Bett überraschte. Sie stand im Türrahmen und sah aus, als wagte sie nicht einzutreten, ich wartete schweigend. Immer noch reglos, abgesehen davon, daß sie sich an den Türpfosten lehnte und also diese Bewegung ausführte, so, als wollte sie sich provisorisch einrichten, wenn man so will, bewegte Laura deutlich die Lippen, aber ich verstand nicht, was sie sagte. Ich war dabei, mir diskret einen Pfropfen aus dem linken Ohr zu entfernen, und hatte immer noch den im rechten, auf der Kissenseite, drin. Ich sagte zu ihr, entschuldigen Sie, Laura, einen Augenblick, und entfernte ungeschickt den zweiten, dann schob ich beide unter das Kissen. Da sagte Laura, oder wiederholte, ich weiß es nicht, mit einer Stimme, die mir heiser schien, oder vielleicht nur unsicher, daß wir, sie und ich, wenn mir danach sei, einmal miteinander schlafen könnten. Ich hatte nicht verstanden, was sie mit diesem einmal meinte, aber es ging mir danach nicht aus dem Kopf. Es beschäftigte mich die ganze Zeit. Ich sagte mir, daß sie mir bedeuten wollte, daß das natürlich eine Ausnahme sei, man sich aber doch fragen könne, ob es eine bleiben müsse. Oder sogar, ob es normal sei, wenn es eine bliebe. Da kamen also einige Fragen 70
zusammen, und als sie sich dem Bettsofa näherte, begann ich mir zu sagen, daß das mit einem Mangel bei ihr zu tun haben mußte. Sie brauchte es wohl, daß ich mit ihr schlief. Und zwar schon eine ganze Weile. Paar Tage, paar Wochen, was weiß ich. Ich war natürlich gerührt, ich sah in erster Linie, daß sie sich dem Sofa näherte, ohne meine Antwort abzuwarten, oder in der Erwartung, sie in meinem Augen zu lesen, die sie fixierte. Übrigens mußte sie nicht lange warten, mein Blick sagte klar, daß ich für einmal nun wirklich keinen Grund hatte, mich einem Wunsch zu widersetzen, den ich auf der Stelle teilte. Ich hatte noch keine Erektion, aber ich fühlte mich bereit. Ich sah Laura auf mich zukommen wie eine Unausweichlichkeit. Eine Unausweichlichkeit, die ein klein wenig lächelte, nur mit den Augen. In den meinen, nehme ich an, konnte Laura nicht so sehr Lüsternheit, eher eine Erwartung lesen. Sie setzte sich auf den Bettrand, und ich legte immerhin mein Buch weg, aber mein Licht schien ihr in die Augen. Ich zog den Lampenschirm tiefer. Ich wartete darauf, daß sie mich mit der Hand berühren würde, aber so ist es nicht gelaufen. Sie fragte mich, ob ich ihr ein bißchen Platz machen würde. Ich schlug das Laken zurück und rückte zur Seite. Sie schlüpfte zu mir und legte sich auf den Rücken. Das war's. Ich konnte mich nicht entschließen. Lieber wäre mir eine Zärtlichkeit von ihr gewesen. Eine bestimmte Zärtlichkeit sogar. Ich sah mich nicht in der aktiven Rolle, war aber ganz offen für Annäherungsversuche. Dann dachte ich nach und sagte mir, ich solle mal nicht übertreiben, sie habe immerhin getan, was man den ersten Schritt nennt. 71
So knöpfte ich also langsam die Jacke ihres Schlafanzugs auf. Ich war immer sehr empfänglich für das Vorspiel gewesen, und abgesehen von den paar Wochen, die wir zusammen verbracht hatten, fehlte uns das, wie ich fand, an jenem Abend. Ich hatte Laura noch nie nackt gesehen, und ich hatte mir gesagt, als Einstieg wäre das ja wohl das mindeste. Hingegen wollte ich nicht meine Hand unter ihre Jacke oder in die Hose ihres Schlafanzugs schieben. Einfach so, ohne zu wissen. Ich wollte nicht blind handeln. Ich betrachtete ihre Brüste, etwas kurz nur, denn sie fielen unweigerlich zur Seite, und Lauras Position erlaubte es mir so wenig wie meine, ein Urteil darüber zu fällen. Danach zog ich ihr die Hose aus, sie stemmte sich freundlich hoch, um mir behilflich zu sein. Das ist nichts Besonderes, ich weiß, aber ich fühlte mich sofort angezogen von ihrem Pelz. Genau, was ich brauchte an jenem Abend, glaube ich, einen hübschen, kleinen, nicht allzu üppigen Pelz, und ein bißchen von dieser so zarten Haut neben der Falte, um meine Lippen darauf zu legen, damit ich mich konzentrieren und alles andere vergessen konnte. Ich denke an das einmal. Ich hörte auf, daran zu denken. Ich beschäftigte mich mit Lauras Geschlecht, ein besonderes Geschlecht, wie jedes Mal, trotz dieser Universalität, die sie annehmen, wenn sie unter der Einwirkung aufmerksamer Zärtlichkeiten ihre Öffnung erkennen lassen. Aber ich will von vorher sprechen. Vor dieser klinischen Sicht. Von Lauras Geschlecht in Ruheposition. Geschlossen. Nicht ganz geschlossen allerdings. Mit Lippen, die leicht hervortreten und darauf verweisen. Nicht wie dieser Schlitz zum Beispiel — schon 72
seltener, scheint mir — mit den knappen Rändern, der ein Stadium zu übergehen scheint, indem er verhindert, daß die Haut sich vor dem Eindringen auseinanderfaltet, sondern eine dezente Verdickung, die als Schwelle dient und wo die Lippen, die des anderen, vorübergehend Halt finden und eine Sanftheit entdecken, die sich von der entschieden glatten, samtenen, die später kommt, noch unterscheidet. Eine Pause also, ein Innehalten, das auszudehnen unmöglich und doch wünschenswert erscheint und das für die ideale und unerreichbare Bewegungslosigkeit der Lust steht. Da es schwierig ist, in diesem Bereich absolut präzise zu sein, ver-suche ich hier weniger einen Anblick als eine Atmo-sphäre zu schildern, die sich aus dem genannten Anblick ergibt, wobei ich natürlich auch etwas sehen lasse, ich will ja auch nicht darauf verzichten, die Dinge beim Namen zu nennen. Jedenfalls ließ ich mir Zeit. Laura war übrigens langsam, jedenfalls an jenem Abend mit mir war sie langsam in ihren Äußerungen. Zumindest am Anfang, denn sie blieb nicht reglos. Irgendwann umschlang sie mich. Schließlich drang ich in sie ein in der Annahme, daß es das war, was sie wollte, aber ich sagte kein Wort dazu. Wir kannten uns schlecht. Wir sahen einander nicht an. Keiner von uns beiden, schien mir, hatte Grund, in diesem Fall stolz zu sein. Das Vergnügen überstieg ganz offensichtlich unsere Vorstellungen, und wir hatten uns etwas feige entschlossen, schien mir weiter, uns ihm hinzugeben, ohne auch nur einen Ansatz von Theorie daraus abzuleiten. Hier wurde nichts Großartiges besiegelt, was durch meinen Orgasmus zunichte gemacht worden wäre. Ich war müde. Ich fühlte mich gut. Aber ich 73
hatte keine Lust zu singen, zu tanzen, das Fenster zu öffnen, um den Nachbarn unsere baldige Hochzeit zu verkünden. Nichts Exzessives. Laura ihrerseits schlief. Ich nahm mir nur die Freiheit, das nicht gern zu sehen. Das schien mir übertrieben. Ich, ich dachte beim Einschlafen an sie.
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Das schuf natürlich einen Präzedenzfall. Für mich zumindest. Laura hat unser altes Leben wieder aufgenommen, ich spreche dabei lieber von unserem Leben. Es kam mir nicht so vor, als führte Laura bei mir ihr eigenes Leben. Eigentlich schien sie sogar eher meines zu leben. Und ich lebte auch nicht so wahnsinnig, aber sie konnte vielleicht meinen Wunsch danach spüren, meinen Wunsch zu leben. Was sie dachte, worauf sie wartete, wußte ich nicht, vielleicht auf gar nichts, ich würde nicht einmal sagen, daß sie nicht glücklich gewesen war. Auf ihre Art war sie es vielleicht. Glücklich, da zu sein, bei mir, und zu warten. Sie kam mir vor wie zwischen Klammern, Laura, mit dem, was Klammern an Geschlossenem an sich haben, ich muß an eine Blase denken, und auch mit dem, was sie an Offenem an sich haben. Sie war offen, jetzt schon offen mir gegenüber, zufrieden wahrscheinlich, daß ich sie beherbergte und daß ich sie an jenem berühmten Abend auf ihren Wunsch beehrt hatte. Sie konnte ja sehen, daß ich sie nicht zurückstieß. Sie konnte auch sehen, daß es mir Spaß gemacht hatte mit ihr, und das war für sie eher ein positiver Punkt. Das Merkwürdige war, daß sie nicht mehr darüber sprach. Am nächsten Abend, am Samstag, tauchte sie nicht wieder im Wohnzimmer auf. Gut, das wäre et75
was kurz hintereinander gewesen, und es bestand noch kein Grund zur Beunruhigung. Ich war auch nicht beunruhigt. Als sie jedoch am Sonntag immer noch nicht auftauchte, begann ich mir Fragen zu stellen. Aber erst möchte ich mich erklären und ein paar Dinge festhalten. In der Tat gab es an jenem Wochenende keine Annäherung zwischen uns. Ich für meinen Teil hatte mich nicht getraut, ich ging davon aus, daß sie mir am Freitag abend keinen Blankoscheck unterzeichnet hatte, sie zu berühren. Nicht einmal sie zu küssen hatte ich gewagt. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich große Lust dazu verspürt hätte. Ich wollte nicht unbedingt etwas von Laura. Und sie selbst hielt sich zurück. Im großen ganzen sah es aus, als wäre das Geschehene der Vergessenheit anheimgegeben. Aber das waren nicht meine Fragen. Wir hatten einmal miteinander geschlafen. Und ich weiß nicht, ob ich mich dafür schämen soll, aber das war mir noch nie passiert. Nur ein Mal mit einer Frau zu schlafen, meine ich. Ein Mal und nie wieder. Die Lust erschöpft sich nicht so bei mir. Nicht, daß ich Laura leidenschaftlich begehrt hätte an jenem Wochenende, ich habe sogar das Gegenteil behauptet, nein, aber die Frage blieb im Raum. Erst recht, da wir zusammen wohnten. Es würde zwangsläufig zu einem zweiten Mal kommen. Und logischerweise zu einem dritten Mal. Aus Gründen der Systematik ging ich zuerst die Frage nach dem zweiten Mal an. Ich fragte mich, wann es eintreten würde. Da wir nicht unter dem Einfluß der Leidenschaft standen, keiner von uns beiden, war es schwierig vorherzusehen. Der Bezugs76
punkt der Liebe fehlte uns, ziemlich sogar, und die Frage, die nun angeschnitten war, stand einsam im Raum, ohne eine Antwort zu finden. Das Beste wäre vielleicht gewesen, nicht mehr miteinander zu schlafen, nie mehr, und die Sache damit abzuschließen. Gleichzeitig fiel mir diese Vorstellung schwer. Schließlich gab ich mir eine Woche. Wenn nach einer Woche nichts geschehen wäre, würde ich den Stier bei den Hörnern packen. Ich würde ihr die Hand auf eine Brust legen. Am hellichten Tag. Im Stehen. Sie würde schon verstehen. Es war zum Glück nicht nötig. Vor Ablauf der Frist stand Laura eines Abends wieder im Wohnzimmer. Sie fragte, ob ich keine Lust mehr auf sie hätte. Natürlich hatte ich meine Antwort bereit. Offensichtlich nicht, Laura, sagte ich. Kommen Sie. Wir haben uns nicht über diese Pause verständigt. Wir schliefen miteinander wie beim ersten Mal, mit demselben Vergnügen, glaube ich. Ich hatte ein kleines Problem mit ihren Haaren, als sie mir in die Augen kamen, ich fand sie vielleicht etwas trocken, spröde beinahe, und außerdem standen die ihr überhaupt nicht, diese Haare, aber alles in allem hatte ich nicht den Eindruck, daß wir Rückschritte machten. Wir befanden uns gerade am Ende des Vorspiels, als das Telefon klingelte. Es war das erste Mal, daß in einer solchen Situation das Telefon klingelte, mit Laura, meine ich. Ich hatte den Beantworter nicht eingeschaltet. Ich zögerte, weil ich gerade dabei war, in Laura einzudringen, ich hatte große Lust dazu, sie auch, es wäre unschicklich und vor allem dumm von mir gewesen, aufzustehen und dranzugehen. Laura je77
doch hatte mein Zögern bemerkt und sagte, ich solle doch lieber abheben, wir könnten später weitermachen, wir hätten ja in gewissem Sinne noch gar nicht richtig angefangen. Naja, sie hat das nicht alles gesagt, aber ich konnte es in ihren Augen lesen. Ich stand auf, nackt wie ich war, und griff zum Telefon. Es war einer dieser Anrufe, bei denen man nichts hört, an jenem Abend nicht einmal das Geräusch des Apparats. Wütend wollte ich gleich wieder auflegen, aber da hörte ich etwas. Ein Atmen. Sehr schwach, wie wenn man stirbt, oder vielleicht weit weg, jedenfalls ein unwillkürliches Atmen, das nicht zum Hören bestimmt war. Ich sagte mehrmals hallo, und es wurde nicht wieder aufgelegt wie die vorigen Male. Ich fing an, beunruhigt zu sein, dann regte ich mich wieder auf, schließlich kam mir ein Verdacht, und dieser Verdacht ließ mich nicht mehr los, solange ich den Hörer in der Hand hielt. Genauer gesagt, weil ich von diesem Verdacht gequält wurde, behielt ich den Hörer in der Hand. Das Atmen erreichte mich nicht ständig, aber da ich das Ohr am Hörer ließ, hatte es Zeit, wiederzukehren, und es kehrte wieder, wie nach einer Pause, oder eher nein, nicht wie nach einer Pause. Die Person, die da atmete, wurde in regelmäßigen Abständen von der Angst gepackt, und darum geriet sie periodisch außer Atem. Ich ging aus dem Zimmer, denn ich hatte nun eine Vorstellung von dieser Angst und wollte nicht, daß Laura mich hörte, falls ich mich äußern sollte. Denn die Quelle dieser Angst, dachte ich, sei ich. Ich, anwesend, aber auch schweigend. Gegenüber dem Schweigen dieser Person. Ich fühlte, daß ich mit ihr 78
sprechen mußte. Ich sagte noch einmal hallo. Und dann, als niemand antwortete, war ich mir sicher, wer es war. Dieses Nichtantworten nahm ich als Bestätigung. Es war eine. Ich ließ mich nicht länger täuschen. Von nun an wußte ich, alles Schweigen dieser Welt, alles Atmen, das nach einer Pause wiederkehrt, das war sie. Ich sagte, bist du es, Constance? Bist du das? Antworte bitte! Es gelang mir, nicht zu schreien. Aber ich bekam keine Antwort. Also sagte ich noch, wenn du es nicht bist, Constance, können Sie auch antworten. Nein? Sie wollen nicht antworten? Sie schnaufen lieber? Sind Sie etwa außer Atem? Mache ich Ihnen Angst? Seit wann hast du Angst vor mir, Constance? Hast du mir etwas zu sagen? Nein? Dann werde ich jetzt auflegen. Und ruf mich nicht wieder an, bitte. Abgemacht? Du machst keine anonymen Anrufe mehr. Warst du das, hm, die ganze Zeit? Warum schreibst du mir nicht, wenn du mir etwas zu sagen hast? Oder du könntest eigentlich auch einfach reden. Was hindert dich daran, mit mir zu reden? Könntest du nicht einmal im Leben unkompliziert sein? Nein? Also laß mich in Frieden, habe ich gesagt. Vergiß mich ein wenig. Ich vergesse dich auch. Ich vergesse dich, Constance. Tschüs, schloß ich. Ich legte auf, weil ich nichts mehr zu sagen wußte. Ich hatte das Problem von ungefähr allen Seiten beleuchtet, wie mir schien. Ich kehrte zu Laura zurück, die mich mit aufgestütztem Ellenbogen erwartete. Sie hatte wirklich schöne Brüste, auch schöne Augen, und dieser Mund, sagte ich mir, einen tollen Mund hat dieses Mädchen. Ich kehrte ins Bett zurück und nahm sie ziemlich schnell. Ich beeilte mich, 79
denn, ich weiß, daß es idiotisch ist, aber ich hatte den Eindruck, Constance zu betrügen. Ich fühlte mich überwacht. Im übrigen war es eher angenehm als Empfindung, und ich sagte mir, Constance kann tun und lassen, was sie will, sie wird mich nicht an meinen Vorwärtskommen hindern. Im Gegenteil. Ich fühlte mich nicht einmal schuldig. Oder besser, ich fühlte mich schuldig, und das war gut so. Ich schaute Laura ins Gesicht, während ich die wachsende Lust in mir unter Kontrolle hielt und mich bei klarem Bewußtsein rein und raus bewegte. Ich wartete, bis auch sie die Augen öffnete, und irgendwann war sie soweit, mit ihren Augen meine ich, sie öffnete sie, nicht lange, aber ich nutzte die Gelegenheit, um ihr zu sagen, Sie gefallen mir, Laura, Sie gefallen mir, und sie schaute mich an, überrascht, aber glücklich, glaube ich, und es sah nicht so aus, als würde sie mir meinen Höhepunkt übelnehmen. Ich war zufrieden. Ich schlief fast sofort danach ein und sie bestimmt auch nicht viel später. Ich erinnere mich, daß ich an jenem Abend im ersten Schlaf jemand ganz Ruhiges neben mir spürte, der atmete wie ein Kind. In den folgenden Tagen fühlte ich mich um so besser, als es keine anonymen Anrufe mehr gab. Ich sagte mir, Constance mußte an meinem Ton gemerkt haben, daß es nichts bringt. Sie hatte nicht nur meinen Zorn verstanden, sie hatte auch meine Ungezwungenheit ihr gegenüber bemerkt. Ich weiß nicht, ob sie ahnte, was ich erlebte, und ich wußte nicht, ob ich es ahnte, aber mir schien, daß ich etwas erlebte, auch wenn ich nicht wußte, was. Laura nahm inzwischen meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und ich wußte nicht, was ich noch hätte tun können, um 80
ihr zu gefallen. Im Vorbeigehen hatte sie mir mehrmals mit der Hand über das Gesicht gestrichen, übrigens war das merkwürdig als Eindruck, es kam mir so vor, als hätte ich das tun sollen, und wenn wir nicht wieder miteinander geschlafen haben, dann einfach, weil wir nicht wieder nebeneinander geschlafen haben. In Wirklichkeit fühlten wir, daß es jetzt jeden Abend geschehen würde, wenn wir uns gehen ließen, und wir fürchteten wahrscheinlich beide um das Gleichgewicht unserer Beziehung. Laura mußte meine Angestellte bleiben, das lasen wir gegenseitig in unseren Blicken. Sie hörte auf, mich zu berühren. Hingegen waren wir sehr aufmerksam zueinander. Wir begegneten uns mit großer Sanftheit, auch Vertrautheit, aber wir hielten uns zurück. Drei oder vier Tage befolgten wir unsere Diät, dann gab Laura sich geschlagen, stelle ich mir vor, sie erschien wieder in der Wohnzimmertür, und ich hatte nicht die Kraft, sie abzuweisen. Von da an schliefen wir gelegentlich miteinander, nicht jeden Tag, das nicht, im großen ganzen kann ich sagen, daß wir uns an die zwei Putztage hielten. Was das mit der Liebe betraf. Manchmal warteten wir nicht einmal den Abend ab. Mittags, wenn alles schön sauber war, gingen wir aufeinander zu, und ich zog Laura ins Schlafzimmer. Das brachte uns etwas Abwechslung vom Bettsofa, und ich persönlich bezog nach so langer Zeit mit großem Vergnügen wieder mein eigenes Zimmer. Ich eignete mir den Ort neu an. Ich nahm mich allerdings in acht, denn ich fürchtete physische Abhängigkeit. Denn je enger die Beziehung zwischen Laura und mir wurde, desto mehr fühlte ich mich verpflichtet, 81
etwas mit ihr aufzubauen. Die Bekanntschaft unserer Körper drängte mich unweigerlich zur Kommunikation, und ich fragte mich, wohin das noch fuhren sollte mit uns beiden. Denn in diesem Bereich machten wir keinerlei Fortschritte. Wir sprachen immer weniger, ich fragte sie nicht einmal mehr nach ihrer Mutter. Sie sprach auch nicht über sie. Vielleicht war sie zu dieser Stunde bereits tot. Es sah aus, als hätte Laura, falls das zutraf, kein Bedürfnis verspürt, es mir zu sagen. Wir drückten uns wieder mit Gesten aus und mit Blicken, nur daß unsere Hände sich nie berührten und wir uns außerhalb des Bettes nicht küßten. Wir spürten die absolute Notwendigkeit, uns nicht hemmungslos zu lieben und zogen es vor, uns dem zu überlassen, was unser unwahrscheinliches Zusammenleben gelegentlich an Tastempfindungen im weiteren Sinne mit sich brachte. Ich sage unwahrscheinlich, denn es gab Tage, an denen wir es nicht mehr glauben konnten. Wahrscheinlich machte uns diese Abhängigkeit inzwischen etwas zu schaffen. Zum Glück gab es den Fernseher, als unser großes verbindendes Moment. Die Abenteuer der anderen genügten uns vollkommen. Hätten wir die Kraft aufgebracht, hätten wir auch über die Liebe oder sogar über andere Dinge sprechen können. Aber wir schwiegen lieber. Und gingen schlafen, meist zusammen. So baute sich ein Leben auf in Sanftheit, ich sagte es bereits, aber auch in gegenseitiger Unkenntnis und im Schweigen. Ich war mir bewußt, daß sich da etwas anbahnte, und fühlte mich immer weniger frei, oder besser immer freier, denn Laura und ich gehörten einander, ohne daß wir uns festhielten. Ich ging weiter82
hin aus, hoffte weiterhin, anderen Frauen zu begegnen, begegnete aber keiner. Ich hielt nach ihnen Ausschau, und einmal tat sich sogar eine auf. Ich hätte sie beinahe angesprochen, aber im letzten Moment ließ ich es bleiben. Ich ging nach Hause, und als ich hinter ihr stand, tippte ich Laura auf die Schulter. Laura, sagte ich. Sie drehte sich um. Ich küßte sie. Wenn das nur kein schlechtes Ende nahm. Ich liebte Laura nicht, aber ich führte mich genau so auf, als würde sie über mein Leben bestimmen. Eines Abends überwand ich mich, Claire anzurufen, und alles, was ich zu sagen wußte, war, daß ich nicht frei wäre. Und daß wir uns am nächsten Tag sehen müßten. Wir hätten uns beinahe gestritten. Darum sagte ich zu Claire, ich würde ihr die Gründe für meine Reserviertheit bald erklären, und sie erwiderte, es sei nicht schlimm. Sie könne warten. Sie sagte mehrmals, sie wolle nur wissen, wie es mir ginge. Ja, sagte ich. Bleiben wir in Kontakt. Wir werden uns auf jeden Fall sehen. Das wissen wir. Ja, sagte sie zu mir. Das ist etwas, was wir wissen. Eines Abends meldete sich Constance wieder. Sie hatte seit drei Wochen nicht mehr angerufen. Falls es überhaupt sie war. Aber davon war ich überzeugt. Diesmal rief sie nicht an. Sie klingelte. Stand hinter der Tür. Ich wußte es. Ich wußte, daß es nicht Lucien war. Ich hatte zu Lucien gesagt, er solle zum Aperitif vorbeikommen — zum Abendessen, da warte ich lieber noch etwas, entschuldigte ich mich, das könnte ein bisschen zuviel werden, du weißt schon, was ich meine, wir haben uns immerhin eine ganze Weile nicht mehr gesehen −, aber er mußte gespürt haben, daß meine Einladung nicht ehrlich gemeint war. Lu83
cien konnte es also nicht sein. Er wäre mir aber lieber gewesen. Auch wenn ich ihm nichts zu sagen hatte. Und Laura wollte ich ihm auch nicht vorstellen. Ich weiß nicht einmal, warum ich ihm gesagt hatte, er solle vorbeikommen. Warum er und nicht Claire zum Beispiel, da wir uns doch eines schönen Tages sowieso sehen mußten, Claire und ich. Daß ich Lucien vor Claire den Vorrang gegeben habe, mag ein Licht auf das ganze Durcheinander werfen, das bei mir herrschte. Und auf mein Bedürfnis, weiterzukommen. Claire, das war, als würde ich sie in der Hinterhand behalten. Ich wartete lieber. Gleichzeitig wollte ich Leute sehen. Es ihnen sagen. Den Freunden, den Bekannten. Ich führe ein Leben. Aber zu Claire nicht. Ich fürchtete ihre kritische Art. Es konnte also nicht Claire sein an jenem Abend. Und ich spürte genau, daß das Constance war, da, hinter der Tür. Wenn es nur nicht Lucien ist, sagte ich also zu mir selbst. Ich werde ihn abwimmeln. Wird mir schon was einfallen. Aber es war nicht Lucien. Mit der Intuition ist es auch nicht weit her. Ich konnte noch so sehr an Constance denken, ihr die Tür aufmachen, als ich sie da zwei Meter vor mir auf dem Treppenabsatz stehen sah, versetzte mir das einen fürchterlichen Schock. Sie zeigte sich also. Sie zeigte sich mir. Dachte wohl, wenn sie nach acht, neun Monaten Abwesenheit einfach so in voller Lebensgröße bei mir aufkreuzte, würde sie etwas bei mir bewirken. Als erstes aber sah ich nicht das Ganze, die aus der nahen Vergangenheit aufgetauchte Constance, neu eingekleidet, mit einem Rock, den ich nicht kannte, vorne geknöpft, mit einer Frisur, die ich nicht mehr an ihr kannte, kurz, und Beinen, die ich gut kannte, 84
genau denselben, ich würde gern sagen mittellang, denn Constance war von mittlerer Größe im Vergleich zu Laura, die klein ist, aber nebenbei gesagt, sie verwirrten mich nicht, ihre Beine, nicht einmal so, denn Lauras Beine sind auch toll, sie hat nicht nur schöne Knie, Laura, aber ich schweife ab. Ich sah nicht ihre Beine, oder kaum. Auch nicht das Ganze. Ich sah ihr Gesicht. Es schien mir härter, wenn auch runder, Constance hatte Wangen bekommen, aber es war vor allem der Blick. Hart nicht, nein, aber bestimmt. Mutig. Dieser Mut entsprach vielleicht einer Geisteshaltung, mittlerweile fand ich es ziemlich mutig von Constance, hier auf meinem Treppenabsatz zu stehen, nachdem sie neun Monate zu spät bei mir geklingelt hatte. Mehr als mutig. Sie war vollkommen verrückt, einfach so aufzutauchen, ja. Ich weiß nicht, was sie dachte, was sie wollte, was sie erhoffte, ich an ihrer Stelle wäre längst davongerannt, allein schon, wenn ich dieses Gesicht gesehen hätte, ich spreche von meinem. Erfreut über ihren Anblick konnte man das nicht nennen, nein. Darf ich hereinkommen, sagte sie. Aber bevor sie den Mund aufmachte, um mich das zu fragen, kam erst noch dieses Schweigen. Ich dachte, wir würden Wurzeln schlagen, sie und ich, zehn lange Sekunden lang, wir würden hier in alle Ewigkeit stehenbleiben, starr vor Überraschung und Unbehagen. Aber nein. Ich ließ sie eintreten.
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Ich hatte an diesem Punkt ein kleines Problem, und dieses kleine Problem bewirkte, daß mich Constance durch ihr Auftauchen an jenem Abend nicht völlig entnervte. Weil es zu meinen Scherereien noch hinzukam. Nur hatte dieses Problem nichts mit dem anderen, jenem von Costance zu tun. Kurz, dieses kleine Problem war Laura. Ich wollte Laura ungern sitzen lassen. Sie saß im Wohnzimmer, als Constance klingelte. Man konnte übrigens den Fernseher hören. Du bist nicht allein, sagte Constance. Nicht ganz, sagte ich. Ich würde dich gerne allein sehen, sagte Constance. Gut, dann bleiben wir im Flur, schlug ich vor. Laura würde jedenfalls nicht aufstehen, um uns zu überraschen. Sie wußte, daß ich ein Leben hatte unabhängig von ihr. Sie kannte meine Freunde nicht, bekam aber manchmal etwas von ihrer Existenz mit. Lucien zum Beispiel, ich hatte ihr gesagt, daß er vielleicht vorbeikommen würde. Ich hatte es ihr nicht so gesagt, als ginge sie das etwas an. Ich hatte es ihr so gesagt, als ginge das mich etwas an. Sie konnte sich durch sein Klingeln also nicht gestört fühlen. Als Constance, tatsächlich Constance klingelte, forderte ich Laura gar nicht erst auf, den Fernseher auszumachen, denn ich ahnte, daß das nicht Lucien war. Wenn es Constance war und nicht Lucien, konn86
te Laura den Fernseher ruhig anlassen, im Gegenteil. Ich wollte unsere Gewohnheiten nicht wegen Constance durcheinanderbringen. Also blieben wir im Flur stehen, während der Ton des Fernsehers zu uns drang, nicht sehr laut zum Glück, und Constance wiederholte, sie wolle mich sehen. Du siehst mich, hier, sagte ich. Das war boshaft von mir, aber ich hatte keine Lust, mir Zwang anzutun. Ich hatte gelernt, sie zu vergessen, diese Constance, und da, nur schon bei ihrem Anblick, haßte ich sie. Aber das war noch nicht alles. Das war nicht alles, nein, ganz und gar nicht, denn Constance schaute mich an mit Augen, das letzte Mal, daß ich sie mit diesen Augen gesehen hatte, das war, als sie mich verließ. Und dann sagte sie etwas, aber ich werde nicht alles wortwörtlich wiedergeben, ich berichte lieber, das ist natürlich nur so dahingesagt. Sie sagte zu mir, sie glaube, daß sie mich noch immer hebe, und deswegen sei sie zurückgekommen. Und da, das kann ich sagen, außerdem kann niemand es an meiner Stelle tun, da mußte ich mich setzen. Aber ich wollte Constance nicht ins Wohnzimmer bitten. Ich wollte nicht, daß Laura sie sah. Daß sie mich sah, vor allem. Schlimmer hätte ich mich nicht fühlen können. Ich kannte Constance gut, ich hatte eine irrsinnige Zeit gebraucht, um von ihr loszukommen, mich nicht mehr zu erinnern, wer sie war, aber jetzt fiel es mir wieder ein. Auch ihre Lebenslust. Ihre Lust, etwas auszukosten. Und ich begriff, daß ich dieses Etwas war, daß sie beschlossen hatte, daß ich das 87
wieder sein sollte, daß es mit diesem Typen, den sie getroffen hatte und den ich nie gesehen habe, aus war, aber darum geht es nicht, es hat mich noch nie gestört, ein Etwas zu sein, sofern man mich liebt, das meine ich nicht. Man kann gut etwas sein, das geliebt wird. Auch ein Körper von mir aus. Nur, was Constance mir da sagte, und falls ich sie falsch verstanden hatte, brauchte ich ihr nur in die Augen zu sehen, und sie waren nicht aufrichtig, ihre Augen, nun ja doch, sie waren aufrichtig, aber sie waren alles andere als stolz, was sie mir sagte, war, daß sie es nach reiflicher Überlegung doch nicht satt habe, mich zu lieben. Das wagten sie mir zu sagen, ihre Augen. Daß sie mir noch etwas abzugeben hatte. Reste. Denn das wollte sie noch loswerden, diesen Liebesrest. Ich habe es wohl gesehen, im Flur, wie sie meinen Blick suchte, damit ich ihr half. Damit ich ihr half, mich noch zu lieben. Sie lauerte auf eine Öffnung, auf Reue. Sie wollte sich leeren. Denn das drückte sie, ihre drei Gramm Liebe. Ihr Quentchen Zuneigung. Sie war gekommen, um etwas daraus zu machen. Um es mir zu geben, nicht ganz uneigennützig. Denn es hätte ja sein können, daß ich es erwidert hätte. Eigentlich war sie doch aufrichtig. Großzügig sogar. Und was sie mir an jenem Abend geben wollte, das besaß sie auch noch. Dieses bißchen. Es existierte. Aber ich. Ich konnte nichts daraus machen, wollte nichts daraus machen. Denn ich wußte schon, wie das enden würde. Jeder an meiner Stelle hätte es gewußt. Ich wollte nicht, daß sie mich fertigmachte, indem sie sich leerte. Ich hatte andere Pläne für mich. Und doch rührte es mich. Es rührte mich, sie zu sehen. Es war tödlich. 88
Ich sagte, kommt nicht in Frage, Constance. Und fugte hinzu, ich will das nicht. Und dann fragte ich sie noch: Läuft wohl nicht so gut bei dir? Bist du darum zurückgekommen? In diesem Moment fühlte ich mich beinahe stark. Überhaupt nicht, sagte sie. Ich finde es nur schade, daß. Schade daß was. Mein Ton war schroff, glaube ich. Ich will dich sehen, sagte sie. Du siehst mich. Sei mir nicht böse. Ich bin immerhin gekommen. Es paßt mir nicht, daß du gekommen bist, sagte ich. Ich möchte, daß du jetzt wieder gehst. Geh, wiederholte ich ganz ruhig. Du hast mich nicht verstanden, sagte sie im Türrahmen. (Sie wich vor mir zurück, weil sie jetzt wahrscheinlich verstanden hatte.) Ich will dich wiedersehen. Sehen wir uns wieder. Nicht hier. Du hast jemand anderen. Ich sagte nichts. Ich habe nichts zu ihr gesagt, genau so muß man das lesen. Ich habe ihr nicht geantwortet. Es war ja auch keine Frage. Ich wohne im Augenblick bei Lucie, fuhr sie fort. Hier unten auf dem Platz ist doch dieses Cafe. Du weißt schon, das Cafe unten. Ich weiß. Ich erwarte dich da morgen abend, sagte sie. Um die gleiche Zeit. Ich verlange nicht von dir, daß du mir antwortest, Jacques. Auch nicht, daß du mich wieder nimmst. Nicht das will ich dir vorschlagen. Ich 89
möchte leben, was wir nicht zu Ende gelebt haben, fügte sie hinzu. Das ist alles. Ich wußte nicht einmal mehr so recht, wer das war, ich, Jacques. Die Leute rufen mich nicht beim Namen. Nicht einmal sie. Gegen Ende jedenfalls haben wir uns selten mit Namen angesprochen. Es ist zu spät, sagte ich. Es ist zu wenig. Es ist viel zu viel für mich. Ich möchte es nicht. Ich liebe dich, fügte ich hinzu. Ich werde dich nicht wiedersehen, Constance. Ich verachte dich inzwischen. Geh. Ich war schon viel weniger ruhig. Ich warte auf dich, sagte sie. Ich werde nicht kommen, stellte ich klar. Ich, ich werde kommen, wiederholte sie. Ich bin morgen abend im Cafe auf dem Platz. Geh bitte, bat ich. Bis morgen, beharrte sie, und wich auf den Treppenabsatz zurück. Sie stand mir immer noch gegenüber. Ich hatte Lust zu heulen, sie voller Inbrunst zu küssen, sie anzuflehen, nicht zu gehen. Nur war das leider nicht möglich. Sie ging nicht. Ich mußte ihr die Tür vor der Nase zumachen. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück. Laura zappte. Machen Sie diesen Fernseher aus, sagte ich. Können Sie bitte diesen Fernseher ausmachen? Sie machte ihn aus. Ich stürzte ins Schlafzimmer, in meines, in ihres, was kümmert es mich, da befanden sich jedenfalls fast alle meine Sachen. Ich nahm eine große Reisetasche, die größte, die ich finden konnte, und stopfte irgend etwas hinein. Ich dachte vor allem an die Slips. Weniger an die Socken. Es war 90
Sommer, ich brauchte keine Berge von Socken. Danach griff ich zum Telefon. Laura kam zu mir. Meine Hand zitterte. Was machen Sie da, fragte sie. Ich telefoniere. Nein, vorher, sagte sie. Die Tasche. Ich verreise. Sie wollte wissen wann. Ich sagte morgen. Sie wollte wissen wohin. Ich sagte, ich weiß es nicht, ich überlege noch. Ich nahm das Adreßbuch vom Schreibtisch und blätterte mit der freien Hand darin. Ich schaffte es, es fallen zu lassen. Ich hob es auf und stieß ziemlich rasch auf Ralphs Telefonnummer. Ich wählte sie. Ich schwitzte. Wenn er nur nicht ausgegangen ist, sagte ich mir. Oder verreist. Oder tot. Es meldete sich jemand am anderen Ende. Ich sagte, hier ist Jacques. Oh, Jacques, sagte Ralph. Wir wechselten ein paar Worte. Ralph ging es überhaupt nicht gut, aber das war nichts Neues. Ich werde jetzt nicht sein Leben erzählen, sagen wir einfach, daß er alleine lebte. Am Atlantik. In Ronce-surMer. Seit sieben Jahren. Das ist nicht groß, Ronce-surMer. Es schien mir nie sehr groß. Vor allem im Winter nicht. Eigentlich weiß ich es nicht, ich hatte noch nie einen Fuß dahingesetzt. Ich hatte Ralph seit sechs Monaten nicht mehr angerufen. Ich fragte ihn, ob ich vorbeikommen könnte. Wie gesagt, bin ich noch nie dort gewesen. Ich hatte nie etwas zu tun gehabt in Ronce-sur-Mer, außer Ralph zu besuchen. Aber ich hatte nie Lust gehabt, Ralph zu besuchen, seit er allein dort lebte. Vorher, wer weiß. Er hat mich aber nie eingeladen. Kurz, ich fragte ihn, ob ich diese Woche kommen könne. Es 91
hätte mir gar nicht gefallen, wenn er nein gesagt hätte. Er hat ja gesagt. Ich sagte, das ist phantastisch, und dann werden wir uns ja sehen können. Nein. Das hat er gesagt. Ich weiß nicht mehr. Wir wurden uns jedenfalls einig. Ich legte wieder auf. Verreisen Sie diese Woche, fragte Laura. Sie war im Zimmer geblieben, während wir sprachen, Ralph und ich. Ohne ihre Neugier vor mir zu verbergen. Ich sagte, ja, diese Woche. Ja und ich, sagte sie. Ich werfe Sie nicht hinaus, sagte ich. Sie fühlen sich hier wie zu Hause. Sie halten einfach die Räumlichkeiten sauber. Ich habe keine Lust, sagte sie. Ich werde doch wohl noch verreisen können, sagte ich. Sie werden nicht sterben ohne mich. Das ist nicht der Weltuntergang. Ich komme wieder. Ich habe keine Lust, allein zu sein, sagte Laura. Ich bin im Moment ziemlich gefragt bei den Frauen, dachte ich flüchtig. Ich sagte, warten Sie, Laura. Es ist besser, wenn Sie bleiben, das garantiere ich Ihnen. Sie müssen arbeiten, Arbeit suchen. Sie verdienen kein Geld, Sie haben keines. Ich esse nicht viel, sagte Laura, als würde ich sie aushalten. Bei der Gelegenheit möchte ich daran erinnern, daß sie ihren Anteil für die Mahlzeiten bezahlte. Ansonsten kam sie mir nicht teuer zu stehen, das ist wahr. Ich sagte, vielleicht, Laura. Aber Sie müssen an die Zukunft denken. Die interessiert mich nicht, sagte sie. Was macht das schon, wenn Sie mich mitnehmen. Ich würde nicht sagen, sie war rührend. Dickköp92
fig eher. Aber ich war gerührt. Es waren vielleicht ihre Worte. Sie scheinen zu vergessen, Laura, erklärte ich ihr, daß wir nie zusammen ausgegangen sind. Wir leben hier drin, wir beide. Aber draußen? Was würden wir draußen machen? Das hat nichts zu bedeuten, daß ich Sie einmal ins Restaurant eingeladen habe. Und außerdem liebe ich Sie nicht, Laura. Und Sie mich auch nicht. Nein, sagte sie. Aber ich bin gern mit Ihnen zusammen. Ich mag es, wenn Sie am Abend ihre Hausschuhe anziehen. Und mit Ihnen zu schlafen mag ich auch. Sie nicht? Doch, sagte ich. Und ich mag es, wenn Sie morgens Ihre Hausschuhe anziehen. Vor allem freitags. Am Anfang vor allem. Aber nun ja. Ich nehme meine Hausschuhe nicht mit in die Ferien. Laura. Und ich fahre nicht in die Ferien. Ich meine, das sind keine Ferien. Es sind nicht einmal Ferien. Ich werde Sie ablenken. Nein, sagte ich. Ich habe keine Lust, mich abzulenken. Ich werde putzen. Wir gehen zu jemandem nach Hause, rief ich ihr in Erinnerung. Wir. Sie lächelte nur selten. Zu jemandem nach Hause, wiederholte ich. Ralph braucht keine Putzfrau. Außerdem, Laura, betrachte ich Sie nicht als Putzfrau. Sie benutzen ja nicht einmal den Staubsauger. Sie wurde böse. Das tat mir gut. Wie, fragte sie. Was wollen Sie damit sagen? Sie 93
meinen, der Staub setzt sich wieder ab? Das denken Sie? Ist es etwa nicht sauber hier? Sie strich mit dem Finger über ein Möbel. Hielt ihn mir unter die Nase. Das steht Ihnen gut, die Wut, sagte ich. Das ist nicht wie mit Ihren Haaren. Was ist mit meinen Haaren? Sie sind trocken. Schneiden Sie sie. Sie verlor die Fassung. Ich auch. Ihnen geht's wohl nicht gut, sagte Sie. Was ist in Sie gefahren? Schneiden Sie sie morgen, sagte ich. Wenn wir da sind. Oder unterwegs. Es wird ja wohl auf dem Weg Friseure geben. Sie schaute mich an. Ich musterte sie. Ich nehme Sie mit, wenn Sie sich die Haare schneiden, Laura. Sie sah nicht aus, als würde sie lange nachdenken. Einverstanden, sagte sie. Oh Scheiße. Was ist los? Ich wäre gerne froh gewesen. Diese Haare passen wirklich nicht zu Ihnen, Laura. Wenn ich Ihnen mal was sagen darf. Es ist wahr, gab sie zu. Hauptsache, wir fahren, sagte ich. Und ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht Lust hätten, sagte sie zu mir. Also jetzt. Nein, jetzt nicht, sagte ich. Warum nicht, fragte sie. Sie kam näher. Ich erlebe schwierige Dinge im Augenblick, Laura. Sehen wir morgen. Ist doch nicht meine Schuld. 94
Sie kam näher. Ich dachte an Constance. Hilf mir, lieber Gott, sagte ich zu mir, zu ihm meinetwegen, ich sprach zu ihm, ja, ich brauchte eine Instanz, hilf mir, nicht zu leiden. Ich will nicht mehr leiden. Ich habe eine gewaltige Arbeit geleistet die letzten Monate. Hilf mir, nicht alles hinzuschmeißen. Nimm es hin, sagte ich zu mir. Schau sie an. Begehre sie. Du bist fähig dazu. Ich öffnete die Arme. Für mich hätte ich mir die Arme einer Mutter gewünscht. Da war aber keine mehr. Keine Mutter weit und breit. Laura flüchtete sich an meine Brust. Es wird schon werden, sagte ich. Ist schon gut. Meine kleine Laura. Ich ging mit ihr ins Zimmer. Setzte sie aufs Bett. Zog ihr die Hausschuhe aus. Ich brachte die Kraft auf, mich um sie zu kümmern. Ich sagte mir, daß sie mich inzwischen liebte. Daß es Liebe war. Was soll ich denn nur machen, fragte ich mich. Komm, forderte sie mich auf. Ich nahm sie. Es war gut. Es ging. Was kannst du dafür, wenn es geht, dachte ich. Gut, murmelte ich in ihre Schulter hinein. Gehen wir nicht zu spät schlafen, Laura. Wir brechen morgen zeitig auf.
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Es war die Angst, die mich trieb. In erster Linie die Angst. Mehr als das Bedürfnis nach Luftveränderung. Ich wollte Constance nicht sehen. Nie mehr. Sie machte mich immer noch fertig. Schon aus der Entfernung. Geschweige denn da. Unten bei mir. Morgen abend. Schnell, sagte ich mir. Mach dich aus dem Staub. Bevor du es dir anders überlegst. Ganz schnell. Einmal auf der Straße, wird es schon besser gehen. Du wirst nicht den Mut haben, umzukehren. Vor allem nicht mit Laura. Du wirst es nicht wagen. Nutze deine Scham aus. Bediene dich deiner Schwächen. Stehe zu deinen Verpflichtungen. Tu, als wärst du anständig. Nimm sie mit. Schnell. Manchmal ganz praktisch, die Frauen. Ganz hilfreich. Bei näherer Betrachtung weiß ich nicht, ob ich ohne sie überhaupt gefahren wäre. Aber ich habe schlecht geschlafen in jener Nacht. Ich dachte an die Vorbereitungen. Nicht an das Gepäck, nein. Laura besaß nicht viel, und meins war bereit. Ich dachte an das Büro. Ich müßte Bescheid geben. Krankschreibung aus Gefälligkeit, Todesfall in der Familie, plötzlicher Urlaub, ich suchte nach einer Lösung. Keine war gut. Ich war mit keinem Arzt befreundet. Familie hatte ich auch kaum. Meinen Vater wollte ich nicht umbringen. Mit dem Büro sah es schlecht aus. 96
Ich überging es. Das konnte man später sehen. Allzu spät aber auch nicht. Das Dringlichste war Claire. Sie wollte ich auch benachrichtigen. Das konnte nicht allzu schwierig sein. Das würde ich schon erledigen. Blieb Laura. Ihre Mutter. Sie wollte doch nicht einfach so verreisen. Ich mußte mit ihr reden. Ich fühlte mich verantwortlich. Es gefiel mir gar nicht, daß sie ihre Mutter einfach so im Stich lassen wollte. Ich hätte sie in der Nacht beinahe an den Schultern gerüttelt. Wir schliefen zusammen. Unser letzter Tag. Was danach kam, wußte ich nicht. Ich sah mich nicht mit ihr zusammen. Ohne sie auch nicht. Ich existierte so wenig, jetzt, mit der zurückgekehrten Constance, daß ich den Morgen abwarten mußte, um klarer zu sehen. In jener Nacht fuhr ich bereits durch den Nebel. Mit dem Auto. Ich meine nicht im Traum. Schon vor dem Schlafen, und danach in der Nacht auch. Ich versuchte mich auf der Straße zu sehen. Da war niemand. Auch keine Autofahrer. Ich sah die Straße, und ein Stück Laura rechts von mir. Ein ganz klein wenig Frau zu meiner Rechten. Aber mich, nirgends. Mach dir keine Gedanken darüber, sagte ich mir. Das ist die Definition des Fahrens, genau das. Man vergißt sich am Steuer. Man denkt an die anderen. An die, die man mit sich fuhrt. An die Frau. Das war, glaube ich, meine Hoffnung. Ich sagte mir, es ist ein Leben, das du beförderst. Während der Fahrt wirst du ruhig sein. Deine wahre Gefährtin, du kennst ihren Namen: Vorsicht. Danach, in Ronce, muß man mal sehen. Aber das ist noch weit. So habe ich geschlafen. Indem ich mich auf den Weg konzentrierte. Das beruhigte mich. Hatte auch 97
keinen Alptraum von einem Unfall. In jener Nacht hatte ich eigentlich eine ganz gute Reise. Am Morgen stand ich um sieben auf, wie für das Büro. Laura schlief noch. Was ist sie friedlich, dieses Mädchen, sagte ich mir. Nichts vor sich, im Leben, nur ich, der sie irgendwohin befördern wird, und sie schläft. Die Jugend vielleicht. Obwohl in ihrem Alter, das glaube ich nicht. Nein. Ich schlief nicht so gut. Bin zumindest immer früh aufgestanden. Kurz, diesmal berührte ich sie an der Schulter. Es war Zeit. Wir müssen uns fertigmachen, flüsterte ich ihr ins Ohr. Wir stehen auf. Wir frühstücken. Wir waschen uns. Laura? Ja? Sie hob ein Lid. Wir gehen, sagte ich zu ihr. Sie sah aus, als hätte sie vergessen, was heute war. Und dann, als würde es ihr wieder einfallen, wie man sich an ein nicht sehr wichtiges Datum erinnert, rein symbolisch, auf das es aber in der Lebensorganisation ankommt. Samstag zur Bank, so ungefähr. Ja, sagte sie noch einmal, ja. Die schläfrige Stimme der Frauen im allgemeinen. Und dieser da im besonderen. Gut. Sie protestierte jedenfalls nicht. Schien meinen Entschluß nicht rückgängig machen zu wollen. Auch nicht ihren Wunsch. In ihrem Kopf, wo die Dinge sich rasch klärten, war sie bereit. Sie stand auf. Das Ritual von Leuten, die gemeinsam verreisen. Beinahe Routine. Auf meiner Seite Geschäftigkeit. Auf ihrer Langsamkeit. Für sie war das praktisch ein Tag wie jeder andere. Das glaubte ich zumindest. Ich hätte mir mehr gewünscht. Ich mochte Laura vielleicht nicht lieben, aber trotzdem. Wir verreisten. Ich sagte es ihr. Es ist nicht nichts, Laura, zu verreisen. Was soll ich machen, fragte sie. Einen Knoten? 98
Warten Sie, sagte ich, ich verstehe Sie, Laura. Aber ich möchte, daß es zwischen uns nicht so gespannt ist. Könnte man vielleicht etwas Vergnügliches daraus machen, was meinen Sie? Das kann warten, mit Ihren Haaren. Nein, sagte sie. Je früher desto besser. Ich will meine Haare nicht mehr. Wir müssen einen Friseur finden, schnell. Das wird nicht so einfach sein, sagte ich. Ein Friseur unterwegs. Ich fügte hinzu, daß man durch die Dörfer nicht sehr schnell fährt. Denn wir nehmen nicht die Autobahn, fragte sie. Auf der Autobahn gibt es keine Friseure, belehrte ich sie. Das wird eine nette Reise. Hören Sie, wiederholte ich. Ich fühlte mich nun doch ziemlich schlecht. Das fing schlecht an. Es ging mir entsetzlich schlecht. Ich wollte mit ihr etwas ganz Ungetrübtes. Ich hätte beinahe nachgegeben wegen der Haare. Aber dafür war es nun zu spät. Für sie, für mich. Unser Vorleben konnte nicht mehr ignoriert werden. Also Konflikt. Damit leben. Das weckte Erinnerungen. Sollte es denn immer das gleiche sein, fragte ich mich. Konnte es also nicht von Dauer sein zwischen uns? Und warum? Warum nicht? Haargeschichte hin oder her. Ich hoffte, daß es sich entspannte. Ich hätte alles getan, um sie zu besänftigen. Ich machte eine Bewegung auf sie zu, sie wich aus. Allerdings ohne mich zurückzustoßen. Ich spürte, daß sie nicht mehr los99
kam. Immerhin etwas. Ich mochte die Vorstellung, sie zu halten. Ich hatte Lust, jemanden zu halten. Dann ging es nur noch bergab. Da es zu früh war für alles, außer abzufahren, rief ich nicht im Büro an. Auch Claire nicht. Ich stahl mich davon wie ein Dieb. Ich drängte Laura, die rumtrödelte. Sie schmierte sich noch einen Zwieback. Tunkte ihn ein. Betrachtete die Wand, als hätte sie noch das ganze Leben vor sich. Ich war bereits vom Tisch aufgestanden. Ich war fertig. Mit dem Frühstück, mit dem Leben hier. Und sie, mit ihrer Wand, ihrem leeren Blick, sie war da. Jetzt. Gegen mich. Was sie interessierte, war unsere Beziehung. Nicht die Abfahrt. Sie hätte genausogut bleiben können. Nicht ohne mich natürlich. Ich sagte, gut, ich hole schon mal den Wagen, ich komme noch mal zurück. Das Gas hatte ich bereits abgedreht. Und den Anrufbeantworter nicht angestellt. Ich parkte den Wagen auf dem Zebrastreifen, gleich vor dem Haus, ging hinauf (ich wohne im Dritten), griff nach meiner Tasche, nach ihrer, sah, daß sie nicht da war. Ich rief der Toilettentür zu, ist gut, Laura, ich habe Ihre Tasche genommen, Sie brauchen nur noch herunterzukommen, ich warte im Auto auf Sie, die Schlüssel haben Sie, schließen Sie ab? Und ging wieder hinunter. Ich packte die Taschen in den Kofferraum, es blieb noch viel Platz, ich dachte, was soll's, ich geh nicht noch mal hoch, und außerdem wußte ich nicht, was ich mitnehmen sollte. Ich setzte mich nicht ans Steuer, ich wartete auf dem Gehsteig. Leute gingen an mir vorbei, nicht viele zu dieser Stunde, ich sagte mir, wenn ich die Augen schließe, wird die Nächste, die vorbeigeht, wenn ich sie wieder aufmache, Constance 100
sein. Und ich spielte dieses Spielchen, bis ich Angst bekam, es könnte wirklich Constance sein. Ich wollte lieber hinter dem Steuer auf Laura warten. Im Auto fühlte ich mich geschützt. Was macht sie denn bloß, fragte ich mich aber doch. Sie wird doch hoffentlich nicht den Boden fegen. Dazu ist jetzt keine Zeit. Und dann sah ich sie, sie kam über den Gehsteig. Es war ja auch der einzige Weg. Ich will damit sagen, daß Laura wirklich über den Gehsteig kam, daß sie kam, daß sich alles wie vorgesehen abspielte. Außer. Außer daß ich meinen Platz verließ und ihr entgegenging, weil sie beide Hände voll hatte. Ich fragte mich, ob ich träumte. Was ist das denn, fragte ich. Laura war mit dem Staubsauger heruntergekommen. Sie hielt mit der einen Hand den Apparat am Griff, in der anderen den Schlauch mit der Bürste am Ende, und ich stellte fest, daß sie die Schachteln mit den Düsen, die für den Teppich und die andere, schmal und lang, für die Leisten, nicht mitgebracht hatte. Der Schlauch schlug gegen ihre Beine. Sie sehen doch, was das ist. So war es nicht gemeint, Laura, sagte ich sanft. Ich hatte mich gestern ein wenig aufgeregt. Wir nehmen ihn mit, sagte sie. Hören Sie zu, Laura. Ich möchte ihn gerne mitnehmen. Ralph hat bestimmt einen, sagte ich noch sanfter, und außerdem nehme ich Sie nicht dafür mit. Mit dem Putzen ist jetzt Schluß. Ich sagte mir, der Besen geht nicht, beharrte Laura. Ist nicht sehr praktisch fürs Auto. Während der da. 101
Sie hob den Schlauch auf Augenhöhe. Ein Typ ging an uns vorbei, ihm voran sein Hund. Er schaute mich an, mich. Ist gut, Laura, sagte ich. Stellen Sie das ab. Ich hatte keine Lust, noch einmal hochzugehen, meinte auch keine Zeit zu haben. Ich nahm den Staubsauger, drehte den Schlauch ab und stopfte alles in den Kofferraum. Steigen Sie ein, sagte ich. Wir fuhren los.
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Erst einmal ließ ich unser Viertel hinter mir und stieß zum Boulevard vor. Da wurde ich ruhiger. Dekameterweise kamen wir voran, getragen von der Strömung, wir waren da, sie und ich, wie Hunderte andere, unsichtbar. Und schon war es gut. Auf meine Anweisung hatte sich Laura angeschnallt. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen. Sie fühlte sich jetzt wie zu Hause in diesem Auto, ich dachte, wir haben es gut, ja, wir haben alles, was wir brauchen an diesem Tag, wir beide: ein Dach über dem Kopf, Wände nah beim Körper, die Möglichkeit, die Fenster zu öffnen. Räder natürlich, und darüber hinaus einen kleinen Motor. Aber nachdem Laura die Frage des Staubsaugers auf ihre Art geregelt hatte, ging ihr diese Haargeschichte nicht aus dem Kopf, während es bei mir langsam vorbeiging, genauso wie die Sache mit dem Staubsauger. Sie hatte sogar den Make-up-Spiegel heruntergeklappt, nicht, um sich zu sehen, nehme ich an, sondern damit ich sie sah, während sie so tat, als würde sie sich ansehen. Und sie schaute immer wieder aus dem Fenster, auf die Schaufenster, zum Glück gab es keinen Friseursalon, ich schaute auch. Ich war froh, denn ich hatte keine Lust, sofort anzuhalten, erst wollte ich Paris hinter mir haben, danach würde sich zeigen, ob sie immer noch wollte, daß ich mir 103
wünschte, daß sie sich die Haare schneiden ließ. Jedenfalls war es auf der Autobahn schwieriger anzuhalten, wie übrigens auch einen Friseursalon zu finden, und ich sagte mir, daß sich das ebensogut an Ort und Stelle erledigen ließe, wenn wir da wären, falls wir beide es dann noch immer wollten. An diesem Punkt fiel mir ein, daß es sich dabei, mochte es für sie auch unangenehm sein, um ein gemeinsames Projekt handelte, das wir in Zukunft wahrscheinlich schlecht umgehen konnten. Und in Anbetracht dessen ist es wohl besser, sagte ich mir, daß du deinen Teil dazu beiträgst. Ich packte also das Übel an den Wurzeln. Ich teilte Laura mir, daß ich zuerst Paris hinter mir lassen wollte, um freier zu sein, danach könnten wir weitersehen, wir würden uns umsehen, versprochen. Nun schien es ihr aber auf einmal nicht mehr so wichtig zu sein. Sie antwortete nicht. Betrachtete sich nicht mehr im Spiegel. Dagegen fragte sie mich, und es erschien mir wie eine Begabung, so schnell von einem Gedanken zum nächsten wechseln zu können, warum ich es so eilig hätte, Paris zu verlassen. Und ob es mit dieser Frau zu tun habe. Und weiter, wer diese Frau sei. Auf eine solche Schamlosigkeit von ihrer Seite war ich nicht gefaßt. Darüber hinaus hatten diese Fraugen mit einem Ereignis zu tun, das sich am Vorabend abgespielt hatte, bei ihrem Verhältnis zur Zeit ziemlich lange her, fand ich, und überhaupt eine Frage, die sie nichts anging. Ich sagte zu Laura, das geht Sie nichts an, ich werde Ihnen nicht mein ganzes Leben erzählen. Mag sein, daß ich etwas überstürzt losgefahren bin, fügte ich hinzu, ich kann es nicht vor Ihnen verbergen, aber Sie haben doch wohl bemerkt, daß ich 104
mit Ihnen fahre. Ich habe nicht lange gezögert, Sie mitzunehmen. Ja, sagte sie, das will schon was heißen. Ja, stimmte ich zu, das will was heißen. Das heißt, daß wir es nicht so schlecht haben zusammen, Laura, auch wenn ich Ihre Haare nicht mag. Das ist ein Detail, Ihre Haare. Was zählt, ist, daß wir uns verstehen. Ja, aber es ist nicht Liebe, sagte Laura. Es hätte mir besser gefallen, es wäre Liebe. Schon verrückt, wie schnell die Ansprüche wachsen bei gewissen Frauen, dachte ich flüchtig. Es gibt immerhin die Lust zwischen uns, sagte ich zu ihr und legte meine rechte Hand auf ihren Schenkel, ich fuhr im Dritten, wir waren gerade auf die Ringautobahn gekommen, und das ist eher selten, fügte ich hinzu, finden Sie nicht, daß das selten ist? Ich weiß nicht, sagte sie. Es wäre mir lieber, Sie würden das Lenkrad festhalten. Ich zog meine Hand zurück. Auf Dauer ist es selten, sagte ich. Ich bin froh, daß wir gemeinsam verreisen, Laura. Ich möchte, daß Sie es auch sind. Ich will's versuchen, sagte sie. Ich habe immerhin Lust, es zu versuchen. Wenn Sie sich vielleicht angewöhnen könnten, ein wenig zu lächeln, sagte ich. Ich lächelte. Sie nicht. Sie zwang sich. Ist gut, sagte ich. Ich glaube, das müßte gehen. Was müßte gehen, fragte Laura. Das Heiraten? Ich zuckte nicht zusammen, das ist nicht meine Art, außerdem gehörte die Frage zu ihrem Lächeln, sie war mit ihrem Lächeln verknüpft, man konnte sie gut als lächelnde Frage auffassen. Auf jeden Fall war 105
das nicht die Art Frage, die mich aufzucken läßt. Aber sie hatte mein Interesse geweckt. Ich fuhr auf der mittleren Spur, im Vierten, der Verkehr war flüssig. Möchten Sie heiraten, Laura, fragte ich. Was ich möchte, irgendwann, sind Kinder, sagte sie. Ihre Bemerkung gehörte nicht mehr zu ihrem Lächeln, das sich ganz langsam verflüchtigte, wie Niederschlag auf einer Fensterscheibe. Aber nicht mit mir stellte ich klar. Warum nicht? Was macht das Ihnen schon aus, wenn es mit Ihnen ist? Was stört Sie daran? Erstens bin ich zu alt, sagte ich, und Sie sind jung. Und es stört mich, weil man nicht damit beginnt, Kinder zu wollen, man beginnt damit, sich zu lieben, und dann. Sie sind ganz schön kompliziert, sagte sie. Sie sind nicht mal richtig alt. Und ich, ich liebe Sie. Es gibt nur noch Sie, und das ist gut. Aber ist nicht schlimm. Ich kann warten. Ich will Sie nicht heiraten, Laura. Ich will nicht einmal mit Ihnen leben. Ich kenne Sie nicht gut genug. Es zwingt Sie niemand, taktlos zu sein, sagte sie. Scheiße! Was ist los? Hören Sie auf zu fluchen, Laura, regte ich mich auf, und in Zukunft schreien Sie nicht so, wenn jemand am Steuer sitzt, so etwas kann Unfälle verursachen. Ich habe vergessen, meine Mutter zu benachrichtigen. Ach, sagte ich. Ich wollte noch mit Ihnen darüber reden. Sie hätten bei ihr vorbeigehen können, bevor 106
wir losgefahren sind. Ich weiß nicht einmal, wie es ihr geht. Sie reden nicht mehr von ihr. Sie auch nicht. Ich wollte Ihnen nicht lästig sein. Es geht ihr schlecht, sagte Laura. Sehr schlecht. Sie wird sterben. Vielleicht ist sie schon tot. Und dabei ist sie jung. Wollen Sie, daß ich kehrtmache, fragte ich. Wo ist sie? Im Krankenhaus? Ich nehme die nächste Ausfahrt, wenn Sie wollen. Lieber nicht, sagte Laura. Ich werde sie anrufen. Und außerdem ist meine Schwester bei ihr. Sie wacht bei ihr. Und sie ist sowieso verrückt. Ihre Mutter? Ja, sagte Laura. Sie ist verrückt und wird sterben. Deswegen liebe ich sie trotzdem. Aber ich will sie lieber nicht sehen. Fahren wir weiter. Gut, sagte ich. Die Atmosphäre hatte sich wieder verdüstert.
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Ich verließ die Ringautobahn und nahm die N 20. Schweigend durchquerten wir das Pariser Umland. Ich sagte mir, sobald die ersten Wiesen auftauchen, werden wir uns langsam entspannen, aber die kamen nicht vor Etrechy. Da lag also ein weiter Raum für Gedanken zwischen uns, akzentuiert von Türmen in der Ferne, durchzogen von ausgedehnten Industriegebieten mit ihren bunt blinkenden Schildern und kleinen verschmutzten Gebäuden, die von banalen Feldern abgelöst wurden. Danach konnte man bald von Land, bald von wuchernden Wohnsiedlungen sprechen, ab und an war sogar die Spitze eines Glockenturms zu sehen oder das Portal einer Kirche, und manchmal schmückten Blumenbeete die verengte Fahrbahn, im Augenblick fuhren wir langsam durch eine Ortschaft, auf einer Falte meiner Michelin — Karte. Ich hatte eine im Handschuhfach liegen, sie war schon ziemlich alt. Ich hatte Laura gebeten, sie herauszunehmen. Sie sind viel gereist, sagte sie, als sie das Loch betrachtete, das sich auf der Höhe von Circonvelay ausbreitete. Nein, viel nicht, sagte ich. Aber es ist schon eine ganze Weile, daß ich auf der Welt bin und ein Auto habe, und sowas nützt sich ab. Ich hätte gerne, Laura, schob ich ziemlich rasch hinterher, daß Sie mir jedes 108
Mal die nächste Stadt ansagen. Auch die kleinen, ja. Jede, die angegeben ist. Und dann auch die nächste große, damit ich mich orientieren kann. Das ist Orleans, sagte Laura. Und Angerville die kleine. Wollen Sie, daß ich Ihnen die Kilometer zähle? Bis zur großen? Ja, gerne. Und so fing Laura an, unsere Kilometer zu berechnen. Das tat mir gut. Sie schaute bald auf die Karte, bald auf die Straßen in den Dörfern, während ich den Blick eher auf die Fahrbahn richtete. So daß eigentlich niemand die Landschaft sah, nur ich ein kleines bißchen, und ich fand das schade. Darum sagte ich zu Laura, sie könne die Nase ruhig hin und wieder von der Karte lösen. Schauen Sie, bemerkte ich als Beispiel, diesen Hang da, ich finde ihn unglaublich sanft, mit den Kühen unten, und dem gelben Raps-Strich gleich vor der Baumlinie, und überhaupt, haben Sie den Himmel gesehen? Die Wolkengebilde? Das Licht? Warten Sie, sagte Laura, nicht alles auf einmal. Das Licht, sagte ich. Ja, sagte Laura. Ich sehe es. Das Wetter meint es gut mit uns. Wollen Sie die Brille? Ich hatte sie auf das Armaturenbrett gelegt wegen einer Wolke. Bei einer Kurve war sie zu ihr hinübergerutscht. Danke, sagte ich. Was ich möchte, ist, daß es Ihnen gefällt. Es gefällt mir. Ich legte eine Hand auf ihren Schenkel. Ich möchte, daß wir es gut haben. Es geht mir gut. 109
Ich habe wohl gesehen, daß das nicht stimmte. Nicht ganz. Ihr Schenkel unter meiner Hand, das war schon etwas, aber ihre Hand legte sich nicht auf meine. Ich weiß nicht, durch welches Wunder ich ihn in diesem Augenblick bemerkt hatte, den Friseursalon auf der rechten Seite, aber ich hatte ihn gesehen, wir trafen gerade in Chevilly ein, und er war offen. Hinter einer spiegelnden Schaufensterscheibe zeichnete sich eine Frau unter ihrer Haube ab. Ich bremste, blinkte und hielt in der zweiten Reihe. Draußen ein halbmondförmiger Platz mit Platanen. Sehen Sie schon mal nach, ob sie Sie nehmen, sagte ich zu Laura. Ich stelle inzwischen das Auto ab. Laura warf mir einen kurzen fragenden Blick zu, das heißt sich selbst fragend, mich fragte sie nichts, und ich fragte mich, ob sie nicht erst gedacht hatte, das mit dem Friseur sei ein Scherz gewesen. Das mit der Frisur natürlich nicht, aber das mit dem Friseur. Und ob sie jetzt plötzlich merkte, daß dem nicht so war. Daß es Realität war. Daß sie mit einem Mann verreiste, der von ihr verlangte, die Frisur zu ändern, und daß er es ernst meinte. Es war vielleicht nicht existentiell für ihn — das hatte ich ja betont −, aber es war ihm ernst damit. Sie sah nicht gerade erfreut aus, sicher, aber ich glaube, sie hat mir gegenüber an Respekt gewonnen, und uns beiden tat es im Grunde gut, das Ganze. Sie, sie begann an etwas zu glauben bei mir, ohne es mit einem Namen zu versehen, aber unwichtig, und mir gab das Gefühl, daß ich so energisch durchzugreifen imstande war, eine Leichtigkeit, und ich wurde sogar ein bißchen mutiger als noch bei der Abfahrt. Das war kein Luxus, denn auch wenn die 110
Angst unterwegs von mir gewichen war, so blieb sie doch immer noch als Punkt im Rückspiegel. Ein Punkt, der sich nicht entfernen wollte. Ein kleiner Fleck eigentlich, nicht größer als ein Stecknadelkopf. Mit dem Nagel wegzukratzen. Es fehlten mir bloß noch ein wenig die Nägel. Ich fand einen Platz vor einem kleinen Supermarkt und folgte Laura rasch hinterher. Frisuren Christine, stand auf dem Schild. Ich trat ein, es gab nur Frauen, auf beiden Seiten, aber nur wenige an jenem Morgen. Laura saß mit einer Zeitschrift da. Ich atmete auf. Ich sagte Guten Tag, gab zu verstehen, daß ich zu Laura gehörte, und setzte mich mit einer anderen Zeitschrift neben sie, mit einer Marie-Claire, weil es keine Elle mehr gab. Laura blätterte in einer alten Biba, und ich mußte daran denken, wie wir bei mir zu Hause, abgesehen vom unterschiedlichen kulturellen Niveau natürlich, am Anfang also, im Wohnzimmer in Zeitschriften blätterten statt fernzusehen. Und ich hatte den Eindruck, daß wir flexibel waren, wir beide, daß wir fähig waren, jede erdenkliche Situation anzugehen, so wie jetzt dieses Haarproblem, das sich uns in den Weg stellen wollte, denn wir trotzten ihm gemeinsam, dem Problem, wir regten uns nicht einmal auf. Laura neben mir war ruhig, kein bißchen mürrisch, sie schien ganz willig jetzt, und ich sagte mir, das ist ein erster Schritt, das ist ein Schritt, den wir gemeinsam tun, und nicht irgendeiner, er wird weitere nach sich ziehen. Ich dachte an die Fortsetzung der Reise. Nicht an ihr Ende. Langsam begann ich an dieser Reise Gefallen zu finden. Nach dem Friseur würden wir gemeinsam weiterfahren, und es würde gut sein. Besser. Hart vielleicht zwischendurch, aber bes111
ser. Sie würde etwas von mir an sich tragen. Ein Zeichen. Dann kamen wir an die Reihe. Laura wurde einschamponiert, ich warf einen Blick auf die Friseurinnen, und Laura sah eher besser aus als sie alle, außer einer vielleicht, mit grünen Augen und sehr schlanker Taille, aber ich unternahm nichts. Zuckte nicht mit der Wimper. Ich blätterte meine Zeitschrift bis zu Ende durch, und Laura setzte sich auf den Stuhl. Ich sah sie im Spiegel. Das Mädchen, das sich um sie kümmerte, war soweit hübsch, aber auch nicht mehr, ungefähr in ihrem Alter, und sie betrachtete Laura im Spiegel. Laura schaute im Spiegel mich an. Ich sah auch die Friseurin, die ich schließlich auch im Spiegel anschaute, denn niemand hatte die Frage, die wir uns alle stellten, die Frage nach dem Schnitt, auch nur ansatzweise angesprochen. Schließlich sprach die Friseurin sie mit lauter Stimme aus, während sie uns beide, Laura und mich anschaute. Worauf Laura wieder mich anschaute, ich schaute beide an, und auf einmal sagte Laura, kurz. Sie hatte es ziemlich laut gesagt, die Friseurin war etwas zusammengezuckt. Sie schaute mich an, als müßte ich die Fortsetzung kennen. Also sagte ich, im Prinzip sehr kurz. Die Friseurin schaute Laura an. Dann schaute Laura mich an. Dann schaute sie die Friseurin an und sagte, rasieren. Die Friseurin schaute mich an. Ich sagte, ja, wie Sinead O'Connor auf dem Umschlag ihres ersten Albums, oder des zweiten, ich weiß nicht mehr, und begriff, daß keine der beiden Sinead O'Connor kannte, aber es war zu spät. Übrigens kannte im ganzen Salon niemand Sinead O'Connor, oder doch, eine Kundin vielleicht, wenn ich es mir recht überlege, in den Dreißigern, ziemlich 112
hübsch — letztlich gab es doch einige ziemlich hübsche Mädchen in diesem Salon −, aber ich habe wohl gesehen, daß sie, falls sie sie wirklich kannte, nicht bereit war, aus ihrer Reserve herauszutreten. Ich mag zwar Sinead O'Connor kennen, auf dem Umschlag ihres zweiten Albums, schien sie mir mitzuteilen vor ihrem Spiegel, von ihrem hübschen Kopf herab, der aufrecht auf dem Halse saß, aber das geht nur mich etwas an, und ich werde mich nicht in eure Geschichte einmischen, und erst recht nicht, indem ich meine musikalischen Kenntnisse ausbreite. Kurz, ich habe eine allgemeine Verlegenheit ausgelöst. Um das wieder wettzumachen, sagte ich, ganz nah am Kopf. In diesem Moment bemerkte ich, daß die anderen Friseurinnen uns anschauten. Und die anderen Kundinnen auch. Ich starrte sie alle an, eine nach der anderen, angefangen bei der, die Sinead O'Connor vielleicht kannte, und fragte, ob das denn zuviel verlangt sei. Wo doch Schnitte dieser Art gerade in Mode seien. Niemand antwortete mir. Lauras Friseurin nahm Kamm und Schere und fing an zu schneiden. Es war das erste Mal, daß ich eine Friseurin sah, die Haare schneidet, um sich zu beherrschen. Sie ging langsam vor, und in ihrem Blick lag Furcht. Ich ermutigte sie mit dem meinen, und der von Laura blieb, so viel ich weiß, neutral. Die Haare fielen büschelweise zu Boden, weil die Friseurin nun begriffen hatte, daß sie großzügig schneiden mußte, bis die ernsthafteren Dinge an die Reihe kamen. Laura schaute mit regloser Miene zu, wie die Haare verschwanden, sie schien sich zu sagen, so ist es nun mal ohne Haare, oder fast ohne. Ich versuchte herauszufinden, ob Laura, während sich die Friseurin vorarbei113
tete, von Traurigkeit übermannt wurde, oder von Groll, ich spekulierte eher auf Groll, denn wie ich bereits erwähnte, konnte ich für diese Pseudoferien nicht unbedingt eine traurige Frau neben mir brauchen. Aber nein. Laura hatte jetzt eher Augen für mich als für ihre Haare. Sie interessierte sich für meine Reaktion. Sie lauerte auf irgend etwas in meinem Blick. Also grübelte ich nicht mehr länger, was sie über all das denken mochte, und konzentrierte mich statt dessen auf die Arbeit der Friseurin. Sie war bei den Schläfen angekommen, die sie mit dem Rasierer freimachte, während der Scheitel noch voller Haare war, und Lauras Gesicht sah schon ganz verändert aus. Sie schien wieder sehr jung, noch jünger als vorher, aber vor allem fand ich sie so halb nackt. Das hatte ich nicht kommen sehen. Ich betrachtete die Haarbüschel auf dem Boden. Wie Unterwäsche, die sie ausgezogen hatte, ohne daß ich etwas davon mitbekam. Aber selbst mit dieser Verspätung übte es seine Wirkung auf mich aus. Ich bekam Lust auf sie. Und als die Friseurin fertig war und Laura mit dem nackten Gesicht vor mir erschien, mit den größer gewordenen Augen, die nicht mehr wußten, wohin sie blicken sollten, mit ihren verblüffend perfekten Ohren, ideal vom Kopf abgesetzt, und mit einem Mund, daß man Lust bekam, ihn mit der Hand zu bedecken, um ihn zu entblößen und zu beißen, da hatte ich es auf einmal eilig. Zum Glück war bei diesem Schnitt kein Fönen nötig. Ich zahlte, und wir gingen Richtung Wagen. Auf dem Gehsteig blickte ich Laura von der Seite an. Ich sagte mir mit Genugtuung, daß sie wieder blond geworden war, daß sie zu ihren Wurzeln zu114
rückgefunden hatte und daß von jetzt an nicht nur die Haare wieder wachsen konnten, falls sie das wollte, sondern daß alles zwischen uns wachsen konnte, daß wir nun jedenfalls Spielraum hatten, um gemeinsam weiterzugehen, auch wenn wir nicht wußten wie weit. Ich fühlte mich tatsächlich weniger gedrängt, als hätten wir uns durch die Entscheidung, wieder bei Nichts, bei Null anzufangen, Zeit gegeben und als hätten wir diese Zeit der Zeit weggenommen, damit sie sich nicht ansammelt und uns altern läßt. Ich spreche natürlich vor allem für mich. Ich hatte übrigens selbst kurze Haare, da ich mich unlängst verändert hatte, als mein Leben eine Wendung nahm. Damit ich es besser kommen sehe, hatte ich mir gesagt, und damit das Leben auch mich mit anderen Augen sieht. Wir stiegen wieder ins Auto, und ich fuhr ganz unangestrengt, den Fuß locker auf dem Gaspedal, so daß ich mal an Geschwindigkeit gewann, mal verlor. Schlafen Sie ein, fragte mich Laura, als wir an der Loire entlangfuhren. Nein, sagte ich und war verwirrt, seit dem neuen Haarschnitt war es das erste Mal, daß Laura das Wort an mich richtete. Und ich sagte mir, daß auch die Stimme dazu paßte. Sie stand ihr sogar noch besser mit dem neuen Schnitt. Eine kurze Stimme, wenn man so will, direkt, mit beinahe trockener Lautbildung, eine Stimme, die ihre Lage nicht erst suchen mußte. Ich hatte das Gefühl, sie sei versöhnt. Ich ging vielleicht etwas weit, als ich sie aufforderte, sich im Make-up-Spiegel des Autos zu betrachten, aber als es ausgesprochen war, gehorchte sie, und das bedeutete ja wohl, daß sie versöhnt war, wenigstens mit mir. Dann fragte ich sie, was sie davon halte, und sie schien verlegen. Ich fand das richtig gut, diesen verle115
genen Ausdruck. Was ist sie doch manchmal schüchtern, diese Frau, oder ergeben, ich weiß es nicht, sagte ich mir, oder sie liebt mich, das hat sie ja schließlich auch gesagt, und niemand zwingt mich, es nicht zu glauben. Ich sagte zu ihr, das steht Ihnen sehr gut, Laura, und sah, daß sich die Fahrbahn rechts zu einem Rastplatz verbreiterte. Ich blinkte und hielt an, machte den Motor aus und drehte mich zu ihr. Ich küßte sie. Sie ließ es geschehen, sie gab sich hin, meine ich, so, als würde sie mich nicht kennen oder kaum, als hätte ihre neue Frisur mich in ihren Augen auch verändert, und als hätte sie mich vorher nicht erkannt. Sie überließ sich mir mit jener Passivität, die bei den Frauen manchmal aus der Scham kommt, wenn sie sich für ihren Geschmack zu früh ergeben und sich jemandem in die Arme werfen, den sie sich noch gar nicht genauer angesehen haben, oder den sie sich ganz bewußt nicht näher ansehen wollen. Als ich sie auf den Hals küßte, flüsterte mir Laura meinen Namen ins Ohr, das nehme ich zumindest an, denn sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und redete in die Luft, aber das charakteristische Klacken der letzten Silbe hatte ich mitbekommen. Ich faßte mit der Hand unter ihren Rock und berührte den Baumwollstoff ihrer Unterhose. Danach wußte ich nicht mehr, was ich tat, ich riß alles von ihr, was mich hinderte. Die Unterhose zog ich, so gut es ging, zu mir hin, am Schritt, dabei streiften meine Fingerglieder ihre Scham, und ich stellte fest, daß sie nicht trocken war, dann sagte ich, heb den Po ein wenig, Liebling, ich schaff es nicht. Sie hob ihn, und ich erwischte den oberen Teil der Unterhose seitlich am Gummi. Mithilfe der anderen Hand ging es endlich, 116
ich warf die Unterhose Richtung Heckablage, schob ihr den Rock bis zu den Hüften hoch und tauchte Kopf voran zwischen ihre Beine, während draußen die Wagen vorbeifuhren, und Laura sagte zu mir, bleib so, das ist diskreter, man denkt, ich sei allein. Ich küßte sie lange auf diese Weise, ermutigt durch ihre Komplizenschaft, eine sehr starke, sehr enge Komplizenschaft, mehr kann man sich eigentlich gar nicht wünschen, sagte ich mir, und ich sagte mir auch, daß ich Stunden dort zubringen könnte, zwischen ihren Schenkeln, daß ich mein ganzes Leben da zubringen könnte. Irgendwann hielt ich aber trotzdem inne, denn ich wollte nicht, daß Laura glaubte, sie halte mich durch den Sex, und ich wollte es auch nicht glauben, ich wollte zwischen uns keine allzu begrenzten Sachen, aber ich hatte trotzdem Lust, sie zu nehmen. Ich sagte es ihr. Laura sagte, ja, aber nicht im Auto, das ist nicht bequem, und außerdem kann man es sehen. Immer noch fuhren die Autos vorbei, ich begann sie nun wirklich zu hören und gab nach. Ich sagte, einverstanden, aber du ziehst dich nicht an, bitte, du bleibst, wie du bist, ich duzte sie wie wahnsinnig, du ziehst bloß deinen Rock herunter, und die Unterhose behalte ich. Ich weiß nicht, ob ich das als Liebesbeweis ansehen soll, sagte sie. Ich weiß es nicht, sagte ich. Aber es ist schon mal der Beweis, daß mit dir. Du wirst sie doch nicht auf der Ablage lassen, sagte sie. Natürlich nicht, sagte ich, da kennst du mich aber schlecht, ein Höschen auf einer Heckablage liegenlassen, du machst wohl Witze, man könnte glauben, du hast meinen Ordnungssinn vergessen, fugte ich in scherzhafter Absicht hinzu, wie gut ich mich doch fühlte in diesem Augenblick. Ich stieg aus. Ich 117
öffnete die Hintertür, schnappte die Unterhose und steckte sie in meine Hosentasche. Wir fuhren weiter und suchten diesmal ein Motel, lieber ein Motel als ein Hotel, oder auch eine Wiese, lieber eine Wiese, ja, sagte ich mir, bei diesem Wetter gefiel mir die Vorstellung einer Wiese, aber auch wenn die französische Landschaft nicht lange auf sich warten ließ, so gab es doch nicht viele Wiesen, die am Rand der Autobahn eine wirklich vertrauenerweckende Atmosphäre ausstrahlten. Und da ich am Steuer saß, meine Hoffnungen sich allmählich verflüchtigten und wir systematisch alle Abzweigungen verpaßten, und obwohl Laura noch nichts gesagt hatte, fühlte ich mich peinlich berührt, daß sie so offen war unter ihrem Rock, und so sagte ich schließlich, es wäre wohl besser, sie zöge sich wieder an, wir könnten ja wieder von vorn anfangen, sobald uns danach sei. Ich erinnerte mich, daß sie einmal etwas in der Art gesagt hatte, als Constance anrief. Und dachte, das müsse wohl daran liegen, daß wir vielleicht doch kleine Berührungspunkte hatten. Sie nahm mir meinen Vorschlag jedenfalls nicht krumm. Ich hatte übrigens in dieser Hinsicht keinerlei Befürchtungen, ich glaube, es kam ihr sogar eher gelegen. Sie sagte, ja, ich glaube, das ist besser, und als sie sich, ohne den Schatten eines Schattens auf dem Gesicht, wieder anzog, sagte ich mir, daß wir langsam stark würden wir zwei, so wie wir mit solchen Pausen wie dieser da umgingen, in einer Atmosphäre, die nicht einmal die Lust in Frage stellte. Und daß die ohne Krise zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrte Unterhose doch wohl der Beweis dafür wäre, daß wir den Alltag nicht zu fürchten brauchten, denn dabei 118
mußte ich an den Alltag denken, ja, bei dieser Geschichte, das war natürlich ein zu einem ganz kurzen Moment komprimierter Alltag, aber immerhin, ich mußte an diese Augenblicke der Leere denken, die man sich in einem gemeinsamen Leben teilt oder nicht teilt. Ich spreche vom Leben, ja, nicht vom Zusammenwohnen. Ich hatte den Eindruck, daß wir erst jetzt, seit gerade eben, angefangen hatten, zusammenzuleben, Laura und ich, und daß wir beide diese Augenblicke der Leere miteinander teilten. Daß wir Bescheid wußten. Mit allem, was ein solches Wissen voraussetzt. Eine Kraft. Ich möchte noch hinzufügen, daß wir in meiner Vorstellung diese Augenblicke der Leere teilten und um so besser teilten, als ich Lauras Gesicht weiterhin als eine Opfergabe betrachtete, einen ständigen Aufruf zur Betrachtung oder zum Kuß, ein Gesicht, das sämtliche Reflexe des Interesses oder gar der Liebe auslöst, wenn man so freundlich sein will, sich nicht allzu sehr beim einzelnen Wort aufzuhalten und das Augenmerk statt dessen auf das zu legen, wofür dieses Wort steht und das man provisorischer auch einfach Anziehung nennen kann, das tut niemandem weh, während das zweite Wort, jenes, das ihm Gewicht verleiht, so problematisch belastet ist, daß man darob ins Zweifeln gerät. Kurz, bis unsere Beziehung benennbar würde, war sie besser als gut, und das war nicht so schlecht, das war sogar mehr als nicht schlecht, und dieser erste Eindruck wurde von der Fortsetzung unserer Reise keineswegs Lügen gestraft. Da war aber noch etwas. Nämlich daß Constance insgeheim vielleicht doch ihre Rolle gespielt hat bei der Tatsache, daß Laura und ich unterwegs nicht mit119
einander geschlafen haben. Vielleicht, sagte ich mir, weil wir noch nicht ganz am Ende des Weges angekommen sind. Und sind wir erst einmal angekommen. Ich war mir nicht sicher, aber da ich diesen Verdacht hegte, gab ich lieber Gas. So daß die Schlösser der Loire nur so vorbeiflogen und Laura keine Zeit hatte, einen Halt vorzuschlagen, um unserem Ausflug einen Höhepunkt zu verschaffen und das Schloß von Chambord zu unserem persönlichen Venedig zu küren. Das ist aber nur eine Vermutung, Laura hat nie etwas in die Richtung geäußert, sie ist nur über die Turmspitzen von Chenonceaux in der Ferne in Verzückung geraten, was ich, nebenbei erwähnt, ermutigend fand für künftige Gespräche. Fernsehserien und Architektur, sagte ich mir, das ist doch schon mal ein Anfang. Ich sage das so, aber im Grunde war es mir gleichgültig. In Sachen Kultur bin ich nicht sehr anspruchsvoll, ich fürchte eher das Ausufernde in diesem Bereich. Ich hätte zum Beispiel nie mit einer Akademikerin Zusammensein können. Mit einer Lehrerin, warum nicht. Constance hatte fünfzehn Berufe ausgeübt. Nichts wirklich Seriöses. Das nur zur Erinnerung. Und hopplahopp erreichten wir Poitiers, dann Saintes. All dies wurde natürlich umfahren, es stand nicht zur Debatte, daß wir in der Stadt anhielten. Wir aßen bloß unterwegs zu Mittag. Ein kleines Restaurant mit Parkplatz davor, auf den man schräg einparkt. Beim Essen schauten wir uns an, Laura und ich, mit zurückhaltendem Lächeln, wir hatten einander fast nichts zu sagen zu diesem Zeitpunkt, wir fühlten nur, 120
sie und ich, und hielten uns mit den Blicken fest, ja, wie zwei, die sich nicht mehr verlieren wollten, jetzt, wo sie herausgefunden hatten, wie man sich nahekommt. Nur verhindert das natürlich nicht die Pausen zwischendurch, denn es gibt auch Pausen innerhalb des Schweigens, und das gab mir Gelegenheit, an Claire zu denken. Nicht so sehr an Constance, wegen der Kilometer, die dabei wahrscheinlich hilfreich waren, vor allem seit der Loire, und dann noch mehr seit Charente-Maritime, ich hatte es auf einem Schild gelesen, CharenteMaritime, das war entscheidend für meine Ruhe. Nein, ich dachte an Claire, und auch ans Büro, natürlich ohne die beiden miteinander in Verbindung zu bringen, und fragte mich, wann rufe ich an? Aber so sehr ich mich auch fragte, ich konnte mich zu keiner Entscheidung durchringen. Und bald fuhren wir wieder weiter, Laura und ich, dem Meer entgegen, durch die bewaldete Landschaft der Saintonge, die mir vorkam wie ein Ableger des Landes, den der Wind über die Girondemündung herübergeweht hat. In der Ferne ein großes Stück Wald, und ganz am Ende das Meer. Laura wollte es sehen. Ich hatte das nicht sofort vorgehabt. Mein erster Gedanke war, Ralph Guten Tag zu sagen, der etwas weiter landeinwärts wohnte, bei den Austernparks. Das Gepäck abstellen und so. Aber Laura ließ nicht locker. Ich war froh darüber.
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Es roch nach dem, was man sah: nach Kiefern. Dann auch bald nach Meer, das man noch nicht sah. Und da war auch schon der Wind, der die Haare zu Berge stehen ließ. Wir kreuzten Radfahrer. Wir waren in Ronce angekommen, überall Autos, träge Leute in Sandalen, mit nackten Beinen und Armen, die vor den Schaufenstern stehenblieben. Kinder. Mützen mit Logos. Hitze, und ständig der Wind. Gehupe. Der Himmel war blau. Ich stellte meinen Wagen auf einen Platz mit Parkuhr. Laura und ich stiegen aus und legten etwa hundert Meter gemeinsam mit den Leuten zurück, die ein Badetuch um die Schultern und in der Hand einen Korb trugen. Andere, zahlreichere, kamen uns aus der anderen Richtung entgegen, blieben bei einem Auto stehen, stellten Taschen ab, förderten einen Schlüssel zu Tage. Laura nahm meine Hand, da waren immer noch Kiefern, und ich hielt ihre Hand fest. Ich drückte sie sogar. Öffnete sie, schob meine Finger hinein, schloß sie wieder und drückte zu. Ließ sie los, um Laura am Handgelenk zu fassen und nahm sie dann wieder. Sie reagierte auf meinen Druck. Einmal kam sie ihm sogar zuvor. Ich drückte stärker zu. Wir gingen leicht bergauf, dem Himmel entgegen. Dann noch einmal zwanzig Schritte, und vor uns lag der Strand. 122
Es war ein Sommer wie aus dem Bilderbuch, mit all diesen nackten Leuten, die nebeneinander auf dem Boden lagen. Aber vor allem weit kam mir das alles vor. Sowohl rechts wie links. Und das Wasser danach, das erschien mir wie ein Ende, ein Ende von etwas, aber auch wie der Anfang von etwas anderem, das nicht aufhören wollte. Auf jeden Fall öffnete es sich links zum Atlantik hin, soviel war klar. Da dachte ich, also noch bevor wir Ralph gesehen hatten, so, da wären wir. Und Laura dachte dasselbe. Das weiß ich, weil sie mich angesehen hat. Sie hat mich angelächelt. Vielleicht war sie zufrieden, das Meer zu sehen. Ich wagte nicht, sie zu fragen, ob es das erste Mal sei, ich hatte da so meine Zweifel. Aber wir sahen uns noch einmal an, und ich begriff, sie wollte über den Sand gehen. Wir gingen also beide vor, und Laura zog ihre Schuhe aus. Ich nicht. Ich gehe gern mit Schuhen über den Sand, so, daß er nicht hineingelangt. Das ist schwierig. Schier unmöglich. Unmöglich nicht. Es war mir früher schon mal gelungen. Kein einziges Sandkorn, zumindest auf dem Hinweg, in Land-Meer-Richtung, und dann betritt man das Wattenmeer wie einen Gehsteig. Nur noch aufpassen, daß die Schuhe nicht naß werden. Zurückweichen, wenn das Wasser steigt. Genau das tat ich jetzt vor Laura, ich wollte etwas Zurückhaltung üben, weil es stark wurde. Ich spürte, wie Laura vorwärtsdrängte und wollte nicht, daß sie mich überrundete, ließ mir aber trotzdem etwas Zeit, bevor ich sie einholte. Ich glaube, ich hatte Angst. Wovor wußte ich nicht. Es war alles so weit. Laura hielt mich noch immer an der Hand, ich folgte ihr. Ich paßte gut auf meine Schuhe auf. Ich achtete auch auf die Leute im 123
Sand, ging den Badetüchern aus dem Weg. Nicht so Laura, sie ging nichts aus dem Weg und achtete auf niemanden. Und dann hatte ich auf einmal Lust, es ihr gleichzutun. Ich sagte, warte, und zog die Schuhe aus. Wir gingen, durch die Wellen, ganz am Rand. Laura wollte tiefer ins Wasser. Ich hatte keine Lust, meine Hosenbeine aufzurollen und brauchte meine Hose in trockenem Zustand, es war wie eine Fürsorglichkeit. Sie drängte sich auf. Nicht nur für mich. Für sie. Daß ich trocken bleibe. Wenigstens einer. Ich sagte, na los, ich warte auf dich. Sie ließ meine Hand los, ich wußte, daß sie zurückkommen würde. Mit Sicherheit. Ich sah ihr zu, wie sie tiefer ins Wasser ging, und wartete auf sie. Es blieb nicht lange bei den nassen Beinen. Die Wellen hatten den Saum ihres Rocks erfaßt. Sie drehte mir ihr Gesicht zu. Ihren neuen Kopf. Ich wartete auf sie, was wahrscheinlich nicht zu übersehen war. Also tat ich, als würde ich den Himmel betrachten. Sie rannte auf mich zu. Als ich die Arme nach ihr ausstreckte, spritzte sie mich naß.
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Wir nahmen uns wieder bei der Hand und liefen den Strand empor. Es gab einen großen Unterschied: Die Menge blickte uns entgegen. Das Land auch. Wir gingen auf sie zu, teilten die Welt wie Wasser. Wir schritten über Körper, traten auf Köpfe, man konnte überhaupt nichts sehen. Die Neugier ließ nach. Es gab nirgendwo etwas Aufregendes, außer der Luft, aber es war gar nicht die Luft. Es war unser Atem. Unsere eigene Luft. Wir produzierten Jod. Ich fühlte mich gesund und hatte Lust, Laura in den Sand zu legen. Ich sagte mir, wir werden oft miteinander schlafen, denn das Verlangen wird nicht von uns lassen, und wir voneinander auch nicht. Wir werden den Hunger kennenlernen, einen fürstlichen, luxuriösen Hunger, serviert in seiner Sättigung. Wir legten die paar Kilometer zurück, die uns von Ralphs Haus trennten. Er hatte mir die Adresse angegeben, die Farbe der Fensterläden, die Lage. Sicht auf die Austern, abseits des Kanals. Wir kamen direkt vor den Fensterläden zu stehen. Grün. Ein kleines Haus, das ich, außer in Worten, am Telefon, noch nie gesehen hatte. Die Tür war halboffen. Wir traten ein. Ralph hatte den Wagen nicht gehört, er staubsaugte. Drehte uns den Rücken zu. Ich schaute Laura an. Sie warf mir nur einen kurzen Blick zu. Ich wartete auf ihre Reak125
tion, wollte lächeln, aber sie lächelte nicht. Diese Staubsaugergeschichte, die lag für sie schon zu weit zurück, nehme ich an. Das war am Morgen. Ich wußte immerhin noch, daß wir ihn im Kofferraum hatten. Ralph hörte nichts, ich mußte husten. Als er sich umdrehte, war es zu spät, mir fiel ein, daß ich ihm nichts gesagt hatte wegen Laura. Er hatte mich alleine erwartet. Konnte es nicht wissen. Laura stand neben mir, und Ralph begrüßte mich und drückte gleich darauf Lauras Hand, erst danach wandte er sich wieder mir zu und sagte Jacques. Er freute sich, mich zu sehen. Auch mit ihr. Er hatte Constance nicht gekannt, für ihn mußte Laura jemand sein wie Constance, jemand, mit dem ich zusammenlebte. Ich hatte ihm von Constance erzählt, aber nicht sehr viel. Ich hatte sie nur nebenbei erwähnt, aus Aberglauben. Und wir sprachen sowieso wenig am Telefon. Sein Leben kannte ich, und unsere Gespräche waren nie lang. Er brauchte mir nicht zu sagen, wie es ging, ich wußte, die Antwort hieß schlecht. Es ging ihm immer schlecht. Einfach hierher zu ziehen, an den Rand der Austernparks, mit einer Frau, die einen neun Monate später verläßt, und da zu bleiben, weil man am Ende ist und nicht mehr die Kraft zum Aufbruch hat, das konnte nur schlecht gehen. Ralph wirkte neben mir irgendwie verloren. Ich war in gewisser Weise auf der Suche nach mir, das beschäftigte mich. Ihm gegenüber war ich im Vorteil. Hatte außerdem einen Beruf. Er ging auf den Markt und kaufte einen Haufen Ramsch zusammen, das war ja unerträglich, ich fragte mich immer, warum er nicht ein für allemal Schluß machte. Aber nein, er schien gegen eine Wand anzukämpfen und das auch noch zu mögen. Nie eine Kla126
ge in der Stimme. Im Gegenteil. Seine Stimme war ernst, gesetzt. Er war ein großer Typ. Ziemlich stark. Große Hände. Er sagte, ich freue mich. Er lächelte, er hätte mich beruhigt, wenn das nötig gewesen wäre. Auch Laura fühlte sich wohl. Ralph sagte, ich habe versucht, etwas Ordnung zu schaffen, bevor du kommst, aber er läßt mich gerade im Stich. Er saugt nicht mehr richtig. Die Tüte habe ich ausgewechselt, und er saugt trotzdem nicht. Mist. Ich sagte nichts. Jetzt schaute Laura mich doch an. Sie fragte sich. Ich mich auch. Dann sagte ich mir nein. Ralph hätte sich gewundert, wenn ich einen funktionstüchtigen Staubsauger aus dem Kofferraum gezogen hätte. Ich wußte nicht, wie ich ihm das hätte beibringen sollen. Ich gab Laura ein kleines Zeichen, das nein bedeuten sollte. Ich nahm an, sie verstand, daß ich unseren Staubsauger nicht holen wollte, nicht weil Ralph Fragen gestellt hätte, sondern weil mir lieber war, das blieb unter uns. Dieser Staubsauger im Kofferraum gehörte uns. Ein Fetisch. Ein großer Fetisch, den ich gelegentlich mit einer Decke oder irgend etwas anderem zudecken mußte. Kam nicht in Frage, daß Ralph uns half, den Kofferraum auszuräumen. Ralph war allerdings einer, der gerne hilft. Man mußte mit dem Schlimmsten rechnen. Ich sagte, daß er sich wegen der Ordnung keine Sorgen machen solle. Daß ich und der Staub. Jetzt kam Bewegung in Laura, sie hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Augen glänzten. Was für eine Natur, dachte ich, dieses Mädchen. Mit mir zu sein und jetzt zu lachen. Ich glaubte meinen Augen nicht, oder eher doch. Ich fand das normal. Ich fand es normal, daß sie mich liebte. Ich hatte mich vollständig daran ge127
wohnt. Ich fühlte mich wohl. Wir fühlten uns alle wohl. Sogar Ralph, mit seinem Staubsauger. Wir fühlten uns alle sehr wohl mit unseren Staubsaugern. Ralph stellte seinen schließlich wieder weg. Er sagte, und bei dem ganzen Sand sowieso. Er zeigte uns das Haus. Ich hatte es beim Hereinkommen schon flüchtig gesehen. Die Gemälde an den Wänden vor allem. Ich war nicht näher darauf eingegangen wegen des Staubsaugers, der die ganze Atmosphäre dominierte. Jetzt aber, ja, zollte ich dem, was man sah, Beachtung. Wie soll ich sagen. Ralph malte Hühner. Federvieh. Ich sagte Ralph malte, das harrte noch eines Beweises, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wer außer ihm alle diese Hühner gemalt haben sollte. Man malt nicht einfach so Hühner, sagte ich mir, und wenn doch einer darauf verfällt, so kauft ihm doch niemand seine gesamten Bilder ab. Eins meinetwegen. Zwei, wenn's denn sein muß. Aber zehn. Ich kam auf ungefähr zehn. Sie reichten bis zur Decke. Eines neben dem anderen. Ich meine, es handelte sich um Porträts, Einzelporträts. Keine Gruppenbilder. Es war auch kein Hühnerhof zu sehen im Hintergrund. Nein, es waren Darstellungen von Hennen. In ganzer Figur. Nicht sehr professionell in der Ausführung. Außer einem. Ich sagte mir, Ralph müsse Fortschritte gemacht haben, er müsse es auf dem Gebiet vor nicht so langer Zeit zur Meisterschaft gebracht haben. Oder aber dieses eine Bild stammte nicht von ihm und er hatte sich von ihm inspirieren lassen. Es war nichts Genaueres in Erfahrung zu bringen, er schwieg sich darüber aus. Er sagte, hier ist das Wohnzimmer, wie du siehst, die Schlafzimmer sind oben, und mit der Küche bin ich 128
ziemlich zufrieden. Hier lang. Das war alles. Als gäbe es für ihn nichts zu sagen über diese Bilder, oder als hätte er es nicht gewagt, oder aber als genügten sie sich selbst. Als sagten sie genug über ihn aus. Über sein Innerstes. Denn genau darum ging es dabei, um sein Innerstes. In diesem Ausmaß Hühner zu malen, das hatte zwangsläufig mit dem Innersten zu tun. Mit einem Geheimnis. Das er somit ausstellte. So daß alles gesagt war, auf Anhieb preisgegeben, und der Rest war Schweigen. Er hatte die Ruhe weg mit seinen Porträts, Ralph. Das genaue Gegenteil von uns eigentlich, von Laura und mir, mit unserem Staubsauger, den wir verstecken mußten. Deswegen kann man sich trotzdem gut verstehen, sagte ich mir. Wir verließen das Wohnzimmer, wo es nicht nur Hühner an den Wänden gab, es war eine einzige Rumpelkammer, dieses Wohnzimmer, mit seinen zerschlissenen Clubsesseln, der abgeschmirgelten Empirekommode, dem altersschwachen Apothekerschrank, dem Perlenkronleuchter, dem weißen Spitzenkleid auf der Schneiderpuppe, dem abgeblätterten Wandschirm, und Ralph zeigte uns die Küche. Das Gute daran, sagte er, ist der Ausblick. Sie ging auf den Garten hinaus, seine Küche, ein trapezförmiger Garten, der sich nach hinten verjüngte. Die Parks konnte man nicht sehen, nur einen kleinen Flecken Land. Aber es stimmt, sie war hell, seine Küche. Sie ist hell, sagte ich zu ihm. Ich warf Laura einen Blick zu. Sie schien sich wohl zu fühlen. Wir machten den Rundgang gemeinsam. Ich hatte Lust, ihre Hand zu nehmen, aber ich mag das nicht vor anderen. Vor allem vor Ralph zögerte ich. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen mit unserer Liebe. Ich zeige euch noch den Rest, sagte er. 129
Ralph stieß eine Tür auf. Sie führte zur Garage, und da verstand ich auf einmal, verstand ich, daß er das tat, damit wir verstanden. Ein Huhn lief uns zwischen den Beinen durch. Der Boden war bedeckt mit Kot. Weiter hinten, in dem Teil, wo er seinen Wagen abstellt, zeigte uns Ralph seine Käfige. Käfige verschiedenster Provenienz: ein vergittertes Waschmaschinengehäuse, ein umfunktioniertes Bücherregal mit kleinen Lampen in allen Fächern, für die Wärme. Hühnerfamilien. Hähne natürlich. Etwa fünfzehn verschiedene Exemplare. Eins habe ich wiedererkannt, mit einer Art Haube. Das da ist aber schön, sagte ich. Ralph sagte uns seinen Namen. Dann den der anderen. Exotische Hühner. Ich verkaufe sie an Sammler, erklärte er. Das fängt langsam zu laufen an. Bessert meine Sozialhilfe etwas auf. Da der Tag sich dem Ende zuneigte, nahmen wir auf einem Eisentisch im Garten den Aperitif ein. Laura hatte sich auf einen Confident gesetzt. Es war ein alter, abgewetzter Confident, über den ein Segeltuch gebreitet war als Schutz vor dem Regen. Ralph kam mit einem Vin cuit. Er blieb stehen und betrachtete uns mit dem Glas in der Hand. Er fragte, ob wir eine gute Reise gehabt hätten, und mir gefiel diese verspätete Frage. Das war die ihm eigene Großzügigkeit. Auf die anderen einzugehen. Ich entdeckte ihn wieder. Die eigenen Hühner zeigen, weil das wichtig war für ihn, und dann wieder auf die Leute zurückkommen. Eins nach dem anderen. Sich früher oder später nach dem Ergehen erkundigen. Und als erstes nach der Reise fragen. Mit dem Nebensächlichen beginnen. Erst danach wurde es ernster. Ernster, aber nicht ernst. Ralph fragte mich, ob ich immer noch im Büro 130
arbeitete. Beim selben Unternehmen. Ich sagte ja, beim selben Unternehmen, und dachte wieder, ich müsse anrufen. Morgen. Dienstag. Dann wandte sich Ralph zu Laura, sagte aber nichts. Ich arbeite nicht, sagte Laura. Mit Ralph fühlte sie sich offensichtlich wohl. In sozialer Hinsicht. Aber nicht nur. Ich habe keine richtige Arbeit, erklärte Laura. Ferien kann man trotzdem haben. Langsam lernte ich ihr Schmunzeln kennen. Wir unterhielten uns ein wenig. Über Ralph vor allem. Der mich aber immerhin nach Lucien fragte, und nach Claire, die er mal kennengelernt hatte. Sie telefonierten gelegentlich miteinander. Doch eigentlich sprachen wir vor allem über seine Zucht. Und vor allem sprach er. Wir ließen es uns gefallen. Dann stand Ralph auf und sagte etwas von Abendessen. Wir wollten ihm beide in die Küche folgen, aber er wehrte ab. Ich überließ es Laura, darauf zu bestehen. Er wehrte wieder ab. Wir blieben beide im Garten, und ich setzte mich auf die andere Seite des Confident. Unsere Hände trafen sich auf der Lehne. Es war immer noch heiß, wir hatten zu viel an, wir hätten uns umziehen müssen. Das Gepäck holen. Der Kofferraum, sagte ich plötzlich. Ich hatte den Kofferraum vergessen. Ich stand auf, ging zurück durch die Küche, sagte zu Ralph, ich ginge zum Wagen. Stimmt, ich habe euch das Schlafzimmer nicht gezeigt, sagte er. Hat keine Eile, sagte ich. Das war gelogen. Ich hatte es eilig, mit Laura allein zu sein. Wollte früh zu Abend essen. Ich mochte Ralph, so wie er war, hier, heute, zehn Jahre danach, aber ich brauchte Laura. Verrückt, wie ich sie brauche, sagte ich mir. Dermaßen, das fin131
de ich schon ein ganz klein bißchen seltsam. Dahinter verbirgt sich was. Ich verberge etwas vor mir. Constance. Nein. Ganz objektiv, ich dachte nicht mehr an Constance. Jetzt nicht mehr. Hier nicht mehr. Ich dachte an Laura. Ganz ruhig. Ganz sehnsüchtig. Na na, Alter, dachte ich. Beinahe hätte ich gelacht. Ich nahm das Gepäck aus dem Kofferraum und deckte den Staubsauger mit Lappen zu. Etwas Großes hatte ich nicht. Ich brauch was Großes, sagte ich mir. Vielleicht finde ich bei Ralph etwas. Hier gibt es bestimmt allerhand zu finden.
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Es war nicht anders möglich, wir mußten eine Ewigkeit am Tisch sitzenbleiben. Ralph war froh, reden zu können, schließlich hörten wir ihm ganz geduldig zu, bis zum Schluß. Dann stand ich auf und sagte spaßeshalber, wir müßten morgen früh arbeiten, und in dieser guten Laune gingen wir auseinander. Vor allem am nächsten Morgen dachte ich, daß es jetzt wirklich anfing, das Leben mit ihr. Hier. Bei einem alten und entfernten Freund, der seine Wunden hinter Tierporträts verbarg. So etwas ist an keinen Ort gebunden, sagte ich mir. Wir verbrachten eine herrliche, schlaflose Nacht, bis wir von allem genug hatten. Beim Morgengrauen, nach einem kurzen Nickerchen noch ganz verschlafen, konnten wir einander nicht mehr ertragen. Die leichteste Berührung brachte uns um, küssen war unmöglich geworden, berührten sich unsere Füße, bekamen wir schwere Lider. Wir hatten keinen Körper mehr. Wir waren so spät wieder eingeschlafen, daß Ralph bereits weg war, als wir zum Frühstück hinuntergingen. Er hatte uns eine Nachricht hinterlassen. Bin einkaufen gegangen. Ohne finanziellen Zuschuß, dachte ich. Das war mir unangenehm. Laura war es auch unangenehm. Wenn Ralph nicht da war, fühlte sie sich weniger zu Hause. Doch dann faßten wir uns wieder. Es ging hier um uns. Es 133
war unser erster Tag. Was machen wir, fragte Laura. Ich sagte, ich weiß es nicht. Was du willst. Nein, was du willst, sagte sie. Ich spürte, daß das Gespräch etwas eintönig zu werden drohte. Wir können das Auto nehmen, schlug ich vor. Die Landschaft besichtigen. Wir können einen Reiseführer kaufen. Oder an den Strand gehen. Ich wollte hinzufügen, ganz wie du willst, und biß mich auf die Lippen, aber Laura sagte, ja. An den Strand. Mit Strandsachen. Ich habe nämlich keinen Badeanzug. Ich habe nichts. Ich auch nicht, sagte ich. Ich bin nicht dazu weggefahren. Ich habe dir gesagt, es seien keine Ferien. Aber jetzt, sagte Laura. Jetzt sind es immer noch keine Ferien, sagte ich. Es ist das Leben. Also machen wir folgendes. Wir gehen Badeanzüge kaufen. Genial, sagte Laura. Und Schläger. Schläger, fragte ich. Und einen windresistenten Ball, sagte Laura. Wenn du willst, sagte ich. Meinetwegen können wir auch zusammen Beachtennis spielen. Das wird mir guttun, dachte ich mir. Ein bißchen Sport. Wir gingen in die Stadt, suchten die Läden auf. Laura probierte Badeanzüge an. Von mir will ich nicht sprechen. Sie bat mich, einen für sie auszuwählen. Ich wußte nicht welchen, sie standen ihr alle. Ich habe vielleicht schon angedeutet, daß Laura gut gebaut war. Mit Hüften. Einer Taille. Brüsten. Von den Beinen war schon die Rede. Sie hat alles, dieses Mädchen, dachte ich frech und flüchtig, was vergeudet sie ihre Zeit mit Putzen, sie könnte. Ich fühlte mich plötzlich weit weg von ihr, wie am Anfang, nur anders. Aber war ich überhaupt jemals weit weg von ihr, das war die Frage, ich wußte keine Antwort mehr darauf. Jedenfalls verspürte ich in diesem Laden sofort 134
Lust, von meinem etwas entfernten Platz auf sie zuzugehen. Genau das muß Liebe sein, sagte ich mir, diese Regung, oder ich versteh gar nichts davon, und außerdem ist es mir egal. Den da, sagte ich, als sie den Badeanzug anprobierte, den ich als den letzten betrachtete, denn das wurde mit der Zeit doch etwas lang, ich wollte zu etwas anderem übergehen. Ich kaufte meinen auch gleich, anderswo dann die Schläger und wieder anderswo eine Tasche, um all das mit den Badetüchern zusammen hineinzupacken. Wir hatten Badetücher mitgebracht, Ralph hatte ein ganzes Dutzend davon. Wir gingen zum Strand wie alle anderen und fanden wie alle anderen einen freien Platz. Wir breiteten unsere Badetüchern zwei Schritte von den anderen aus, als würden wir sie nicht sehen, so wie alle anderen. Mit ihr hätte ich sogar Clubferien verbracht. Mit abendlichem Vergnügungsprogramm. Laura wollte schwimmen. Warum nicht, sagte ich mir. Bei dem vielen Wasser. Ich folgte ihr bis zum Ufer, wie am Abend zuvor. Ich fühlte mich wohl mit ihr in den Badeshorts, mit nacktem Oberkörper, ihre Hand, die ich nicht mehr losließ, in der meinen, oder die ich losließ, um wieder nach ihr zu greifen ohne jedes Zögern von ihrer Seite. Oder von meiner Seite. Wir gingen gemeinsam ins Wasser, ich fand es kalt, sagte aber nichts. Laura auch nicht. Wir fanden es wohl alle beide kalt, aber wir sagten nichts. Nicht aus Verlegenheit, aus Lust. Aus Lust, gemeinsam reinzugehen.Wir waren sofort naß. Dann schwamm Laura los, und ich begleitete sie bis zu einem bestimmten Punkt. Dann zog ich es vor, auf sie zu warten. Ich war offenbar nicht so abgehärtet wie sie, auch schlechter trainiert, aber das tat nichts zur Sache. Auf sie zu war135
ten, sie zurückkommen zu sehen, das gefiel mir. Das hatte mir gefallen. Wir legten uns auf unsere Badetücher, und mir fiel auf, daß ich kein Buch dabei hatte. Aber ich hatte am Strand sowieso noch nie lesen können. Ich mag die Sonne nicht. Kann den Sand nicht ausstehen. Und das Meer finde ich zu groß. Im Juli mache ich einen Bogen darum. Ich schloß die Augen. Laura suchte meine Hand, fand sie. Ich fühlte mich wohl. Etwas zu heiß, vor allem auf dem Kopf. Ich dachte, ich sollte vielleicht eine Mütze kaufen, ich hatte meine in Paris gelassen.
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Zum Mittagessen kehrten wir zurück, wegen Ralph. Wir hatten ihm noch nicht mal guten Tag gesagt. Ich schlug ihm eine finanzielle Beteiligung vor, für Essen, Strom und Gas. Ich fragte ihn, ob ein Scheck in Ordnung sei. Ich nahm ihn beiseite, ohne Laura, ich wollte vor ihr nicht über Geldprobleme reden. Ich drängte Ralph, der sich erst weigerte, das Geld anzunehmen, es war nicht allzu schwierig. Arm, wie er doch war. Ich war froh darüber. Ich hatte nicht so viele arme Leute um mich herum, mit den Mittellosen in meinem Viertel sprach ich nie, ich hatte immer Angst, sie könnten mich um Obdach fragen. Ich war ein zaghafter Mann. Abgesehen von der Liebe taugte ich nicht sehr viel. Abgesehen von der Annäherung an die Liebe, meine ich. Von Erfolg spreche ich nicht, Erbarmen. Keine Ahnung warum genau, aber dabei mußte ich ans Büro denken. Ich fragte Ralph, ob ich mal telefonieren könnte, gegen Bezahlung. Ich rief Segolene von der Personalabteilung an, ich kannte sie ein bißchen, und teilte ihr mit, daß ich krank sei. Wie lange, fragte sie. Ich antwortete, woher soll ich denn wissen, wie lange ich krank bin. Aber dann wollte ich ihr nicht auf die Nerven fallen, ich sagte, wenigstens eine Woche, es ist der Hals. Ich versuchte meine Stimme zu verstellen, erfolglos, ich war schon immer ein schlechter Lügner. Du machst mir was vor, sagte Se137
golene, ich kenne dich nicht gut, Jacques, aber du machst mir was vor. Man hört genau, daß du dich anstrengst. Ich nehme an, du hast eine Bescheinigung. Natürlich, sagte ich. Ich kenne einen Arzt. Ich legte auf. Dann griff ich erneut zum Telefon, um Desrosiers anzurufen, wollte ihn fragen, wie es ging. Ich bin froh, daß du anrufst, sagte Desrosiers. Kommst du heute vorbei? Es ist dringend. Die Smerep. Sie rufen wieder an. Sind in heller Aufregung. Ich versuchte sie zu beruhigen, aber sie wollen nichts hören, sie sehen dich als ihren Verhandlungspartner an. Und der bist du auch, Jacques, der Verhandlungspartner. Wann kommst du? Ich antwortete Desrosiers, daß ich krank sei. Kannst du nicht raus, fragte er mich. Auf einen Sprung? Nein, sagte ich, ich bin am Meer. Was treibst du denn krank am Meer, fragte Desrosiers. Ich kuriere mich, antwortete ich. Ich beendete das Gespräch, ich hatte keine Lust, mit Desrosiers über die Smerep zu sprechen und auch mit niemand anderem. Ich legte auf. Nichts war geregelt, aber nun war es wenigstens klar. Ich geriet ins Schleudern. All das alles wegen Constance. Denn Laura konnte nichts dafür. Ich war wegen Constance weggefahren, nicht wegen Laura. Wegen Laura allerdings blieb ich, wie sich langsam herausstellte. Ach Scheiße, sagte ich mir, all das ist nur wegen der Frauen, was hast du eigentlich gemacht in deinem Leben, abgesehen von den Frauen, hm? Du willst deine Arbeit behalten, stimmt's? Ja, das stimmt, antwortete ich mir. Nun, dann werde ich eben mit der Smerep Kontakt aufnehmen, ich werde sie diese Woche anrufen. Und Schluß damit. 138
Schluß Punkt. Ich werde mich doch nicht mit diesen Problemen herumplagen. Ich kehrte zu Laura und Ralph zurück, der übrigens gar nicht Ralph heißt, das wußte ich. Kann ich dich etwas fragen, sagte ich unvermittelt zu ihm, wie hat eigentlich diese Geschichte mit Ralph angefangen? Ich war etwas angespannt. Wie lange ist das schon her? Ja, ich weiß, daß du weißt, daß ich eigentlich Raphael heiße, sagte Ralph, und ich spürte, daß hier plötzlich eine Beichte angesagt war, eine Beichte, die ich jäh provoziert hatte wegen Segolene und der Smerep, eine Beichte mit der dazugehörigen Sammlung, mit unserem Schweigen, unserem Zuhören, einer Spur Spannung, die wir, so gut es ging, zu teilen versuchten. Und daß es wegen einer Frau ist, fuhr Ralph fort. Habe ich dir das nie erzählt? Nein, antwortete ich. Du hast mir das mit Raphael gesagt, aber nichts mit einer Frau. Welche Frau? Florence Abitbol? Wir beide wußten, wer Florence Abitbol war. Nein, sagte Ralph. Kurz davor. Wir kannten uns noch nicht, du und ich. Wir trafen uns danach auf dem Campingplatz, wie du weißt, und da war Florence, danach haben wir uns aus den Augen verloren, so daß wir uns eigentlich gar nicht gut kennen. Das Mädchen davor. Sie wollte es. Wollte was, fragte ich. Ich war unkonzentriert, ich schaute Laura an, sie war konzentrierter als ich, diese Geschichte interessierte sie. Es gefiel mir, daß es sie interessierte. Ich entdeckte ihre Neugierde. Ich steh auf die Neugierde bei den Frauen. Mich Ralph nennen, sagte Ralph. Ich nickte. 139
Sie hat mir nie genau gesagt, warum, fügte er hinzu. Ich habe mich daran gewöhnt. Die anderen auch. Offensichtlich, sagte ich. Es paßt übrigens gut zu dir. Ich mach mir sowieso nichts draus, aus meinem Namen, sagte Ralph. Ich mir auch nicht, sagte ich. Jacques, sagte Laura. Das heißt eigentlich schon, stellte ich richtig. Und dann berührte ich doch Lauras Hand vor Ralph. Der sagte, ich muß euch noch die anderen zeigen. Die anderen, wiederholte ich. Die anderen Hühner, sagte er. Ich habe noch ein kleines Stück Land etwas weiter weg, am Ende des Weges, der hinter dem Haus vorbeiführt. Ich habe sogar einen Esel. Einen Esel, fragte ich. Ja, einen Esel, sagte Ralph, einen kleinen Esel. Den würde ich aber gerne sehen, sagte Laura. Das taten wir am frühen Nachmittag. Wir gingen die anderen Hühner und den Esel besichtigen, das war alles. Ich hätte mir beinahe noch Emus angeschafft, sagte Ralph zu uns, ein Pärchen, aber dann hab ich wieder davon Abstand genommen, die sind kompliziert, die Emus. Wild. Kann ich mir vorstellen, sagte ich. Ralph schien zufrieden mit all dem, der große, starke, unglückliche Ralph, er zeigte uns seine Käfige mitten auf der Wiese, mit ihren diversen Öffnungsvorrichtungen und Verbindungsgängen. Ein paar Hühner besaßen übrigens wirklich Stil, sie spazierten weit weg von uns mit hoch erhobenem Kopf, den Kamm aufgerichtet, die Federn zum Fächer ausgebreitet. Da war auch ein riesiger, grimmiger Hahn, der sich nicht von der Stelle rührte. Aber Laura gefiel 140
der Esel besser. Das heißt, sie interessierte sich für alles. Ich hatte den Eindruck, sie war zum ersten Mal von zu Hause weg, sie lebte. Vorher nicht. Stimmt schon, mit ihren Haaren, dachte ich. Man muß sich fragen, ob das mit solchen Haaren überhaupt denkbar war. Meine Gedanken nahmen ihren Lauf, ganz ungeniert, ich folgte ihnen, ohne mir Fragen zu stellen. Außer einer, übrigens bekannten. Das heißt, ich war nicht gerade kreativ geworden. Daß ich selbst auch lebte, hatte nichts zu besagen. Kurz, ich dachte wieder an ihre Mutter, fragte mich, ob sie auch an sie dachte, an ihre Mutter. Ich wagte noch immer nicht, mit ihr darüber zu sprechen. Ich glaube, sie wartete ein wenig ab. Es war mir sogar mehrere Male aufgestoßen, dieses Problem, insbesondere in der vorangegangenen Nacht, dann hat es sich gelegt. Auch ich vergaß Lauras Mutter. Brauchte also keiner dem anderen etwas vorzumachen. Später kehrten wir zum Strand zurück. Ohne Ralph. Er schob die Hühner vor, aber ich glaube eher, er mag den Strand nicht. Wie ich. In gewisser Hinsicht waren wir uns ähnlich. Er war nicht allein hierher gekommen. Wir waren nie allein irgendwo hingegangen, er nicht und ich nicht. Aber allein zurückgeblieben, das ja. Das hat mir ein kleines bißchen Angst gemacht. Laura mochte ihn, den Strand. Das Wasser, den Sand, die Sonne, und ich glaube, sie mochte sogar die Leute. Die Menge. Die Sonne mochte ich immer noch nicht, aber den Sand inzwischen, und das Wasser, abgesehen vom Salz, ja, und selbst die Leute störten mich nicht mehr. Ab und zu betrachtete ich sie ringsherum. Die Nachbarn vor allem. Ich wagte mich 141
sogar ganz nahe ran mit meinem Blick. Das Titelblatt einer Illustrierten, die Konturen einer Pobacke, selbst ein Kind. Manchmal sah ich einem spielenden Kind zu. Ich fühlte mich offen für alles. Ich hatte unterwegs eine Mütze gekauft. Ein Buch noch immer nicht. Kein Bedürfnis. Zum Lesen blieb noch Zeit genug. Lieber, und lieber noch, als mit Laura zu schwimmen, wartete ich auf sie. Allein auf meinem Badetuch. Schloß die Augen, die Mütze auf der Nase. Lauschte dem Lärm. Den kleinen Geräuschen um mich herum: Rufe, Klappern, Schreie. Dann und wann rannte ein Kind vorbei und wirbelte Sand auf. Dann wischte ich ihn mir vom Bauch. Laura war eine gute Schwimmerin. An jenem Tag begleitete ich sie nur einmal hinaus bis zur Reihe der Boote, wo ich mich an einer Kette festhielt. Sie schwamm weiter. Ich sagte zu ihr, ich kehre um. Normalerweise schwamm ich nicht, übte keinerlei Sport aus, ich hatte Angst, mich zu verausgaben. Ich kannte meine Grenzen. Jetzt konnte ich sie gut spüren. Ich kehrte zum Sand zurück. Ich warf einen Blick auf die Leute, um sie mir später, auf meinem Badetuch, in Erinnerung zu rufen. Im Vorbeigehen versuchte ich sie im einzelnen zu erfassen, Körperfülle, Busen, Sonnenbrände, dann, wieder im Sand, machte ich die Augen zu. Laura kam eine halbe Stunde später zurück, ich hatte meine Uhr dabei. Als sie trocken war, bat sie mich, sie einzucremen. Ich hatte ihr Sonnencreme gekauft. Ihr die Schultern massieren, den Bauch, das war mir recht, ihr war das auch recht, jedes Mal, wenn ich sie berührte, war es uns recht, wir brauchten jetzt ständig Berührung. Wir vergaßen den Körper des anderen nie, er war ständig in unserem Bewußtsein prä142
sent. Und als sofortige Verlängerung des Bewußtseins gab es die Geste. Die Vergewisserung. Die Hand. Die Haut. Das Bedürfnis. Danach spielten wir ein bißchen Beachtennis, aber Laura war nicht sehr begabt. Sie war eine entzückende Null. Ich beglückwünschte sie dazu, und wir legten die Schläger beiseite. Wir kehrten früh zurück, weil ich genug hatte vom Strand. Jedenfalls, wenn ich Laura folgte, so folgte sie mir auch, wir waren fähig, füreinander Opfer zu bringen. Es machte uns Freude. Ich schlug ihr sogar vor, spazierenzugehen, ein bißchen auf der Promenade zu promenieren, um die anderen Leute zu sehen und das Meer zu betrachten. Überall längs des Mäuerchens klopften die Sommerfrischler den Sand ab. Wir kehrten durch den Ort zurück, schlenderten an den ungünstig gelegenen Läden vorbei. Sahen das Schild einer ehemaligen Pferdemetzgerei, Laura gefiel es, wie ich merkte. Ich wünschte mir, daß sie die Vergangenheit liebte. Sie zierte sich nicht. Ralph war nicht zu sehen, als wir nach Hause kamen. Er malte in der Garage ein Huhn. Er malte auf den Knien, ohne Staffelei, die Farben auf einem Sperrholzbrett. Das Modell bewegte sich ein wenig in seinem Käfig, aber das war Ralph egal. Er malte sein Huhn auch von hinten. Ich sah, daß er das Gitter nicht darstellte, kurz, daß er ziemlich frei war in der Gestaltung, abgesehen von der Farbe. Ralph arbeitete stark an der Farbe. Da war er sehr um getreue Wiedergabe bemüht. Wir schauten ihm einen Augenblick zu, Laura und ich, ermunterten ihn, aber ich wollte ihn nicht stören. Ich bot an, mich in einer Stunde ums Abendessen zu kümmern. Dann verzo143
gen wir beide uns ins Wohnzimmer, und ich sagte zu Laura, ich müsse einen Anruf machen. Ich wählte Claires Nummer, aber niemand antwortete. Auch kein Anrufbeantworter. Und meinen hatte ich nicht angestellt. Ich erwog, die Smerep anzurufen, doch dann sagte ich mir nein. Allmählich fühlte ich mich so richtig in Ferienstimmung und hatte keine Lust, die Genres zu vermischen. Ich sah sehr wohl, daß das für mich gefährlich werden konnte, aber da war nichts zu machen. Ich schaffte es einfach nicht. Als ich aufgelegt hatte, bat mich Laura um das Telefon. Ich reichte ihr den Hörer. Wir sagten nichts weiter, aber ich hatte verstanden, daß sie ihre Mutter anrufen wollte. Was etwas besagt. Was besagt, daß man den Leuten die Gedanken nicht immer ansieht. Oder daß sie, wie bei Laura, abrupt an die Oberfläche gelangen und eine Handlung auslösen können. Wie die Berührungen zwischen uns. Oder aber sie war durch meinen Anruf auf die Idee gekommen. Was wiederum bedeutet hätte, daß sie nicht allzusehr an ihre Mutter dachte. Man sieht, daß mich dieses Problem beschäftigte, und ich sah es auch. Ich glaube, ich wünschte mir, daß Laura eine Moral besaß. Ein Herz für die anderen. Für mich allein, ich fürchtete, das wäre zu viel gewesen. Zu schön oder zu groß, vielleicht beides. Beides wäre blöd gewesen. Aber dann merkte ich, daß Laura nicht mit ihrer Mutter sprach. Übrigens auch nicht mit ihrem Freund. Ich dachte immer noch an ihren Freund. Daß wir kein Wort darüber verloren, sie und ich, hatte nichts zu bedeuten. Er hat sie schließlich rausgeschmissen, dieser Typ. Naja, das war auf jeden Fall 144
Schnee von gestern, und im übrigen wurde mir kurz darauf klar, daß Laura mit ihrer Schwester sprach. Sie stellte keine Fragen, sie reagierte auf Sätze. Auf kurze Sätze. Sie sah konzentriert aus, als würde sie gegen etwas ankämpfen. Sie antwortete einsilbig. Ja, nein. Manchmal eine Pause. Dann hörte sie wieder zu, antwortete kurz. Am Schluß sagte sie, sie sei in der Vendee, am Meer, und fragte mich nach Ralphs Telefonnummer. Ich hatte sie bei mir, in meinem Adreßbuch. Laura teilte sie ihrer Schwester, wie ich immer noch annahm, mit, dann legte sie auf. Schmiegte sich an mich. Ich streichelte ihr über den Kopf. Massierte ein wenig den Hals. Sie bat mich, sie fester zu drücken. Ich verstärkte den Druck, mir war, als würde ich sie zerquetschen und als würde sie genau das wollen, daß ich sie mir einverleibe, sie in mir auflöse. Ich fragte mich, ob sie weinte, aber ich spürte auf meinem Hemd nichts Feuchtes. Jedenfalls schluchzte sie nicht. Vielleicht wollte sie sich ausweinen, ich schlug ihr vor, es doch zu tun. Sie schüttelte leicht den Kopf an meiner Brust. Das wird dir guttun, sagte ich. Später vielleicht, antwortete sie. Sie blieb noch eine Minute an mich geschmiegt und ließ sich drücken. Dann befreite sie sich, schaute mich an, als versuchte sie herauszufinden, ob ich für sie eine Kraft darstellte. Sie mußte es gedacht haben, denn auf einmal kam ihr Gesicht näher, und ich brauchte auch nur noch näher zu kommen. Sie tat alles, damit ich sie küßte, die Lippen, die Augen, alles, ich hatte sie einfach gepflückt, als fiele sie herab, in den Kuß hinein, auf den sie es abgesehen hatte. Ich gab ihn ihr, sie erwiderte ihn, und ich sagte mir, sie verfüge über Reserven, oder über 145
Kraft, und es sei Teil ihrer Kraft, daß sie sie blindlings in mir fand. Sie hatte die Augen übrigens geschlossen. Dann wollte sie, daß ich sie nahm, und zwar schnell, sie schlug vor, aufs Zimmer hinaufzugehen. Ich sagte, es sei zu kurz vor dem Abendessen und ich wolle Ralph nicht warten lassen, ich hätte ihm versprochen, das Essen zuzubereiten. Und dann beschäftigte mich vor allem ein Gedanke. Wie war's, sagte ich mir, wenn du zwischendurch mal ein bißchen damit aufhören würdest? Aber nein, das verfolgte mich, ich dachte an die Beerdigung. Denn ihre Mutter war doch gestorben. Laura hatte mir nur wenig über ihre Mutter erzählt, als sie krank war, das heißt im Sterben lag, und jetzt, wo sie tot war, sprach sie überhaupt nicht über die Beerdigung. Ich glaube, es war eine Manie von ihr, über die wichtigen Dinge nicht zu reden. Denn sie mußte doch an diese Beerdigung denken. Ich wußte genau, daß sie ja gesagt hatte am Telefon, mehrmals, und ein oder zwei Mal nein, und ich dachte, eines dieser Neins müßte zwangsläufig die Beerdigung betreffen. Daß sie nicht hingehen würde. Nicht gehen wollte. Aus Kummer. Oder wegen mir. Oder wegen beidem. Weil sie hier bleiben wollte, nicht mehr weg wollte. Weil das Leben sich jetzt hier abspielte, und ihre Mutter. Auch wenn sie sie geliebt hatte. Das tat nichts zur Sache. Also im Grunde hatte ich keine Ahnung. Und so wie ich mich nicht mit ihr über ihre kranke Mutter zu reden getraut hatte, so traute ich mich jetzt nicht, das Thema ihrer toten Mutter anzuschneiden. Das war vielleicht eine Manie von mir, diese Gehemmtheit. Ich wollte mich ja auch nicht an ihrer Stelle darum kümmern. Und Gefahr laufen, sie 146
zu beschämen. Aber wahrscheinlich hätte sie sich gar nicht geschämt. Das war nicht das Problem. Ich war es. Es war mein Problem. Kaum zu glauben, in welch kurzer Zeit, dachte ich, das Problem der Beerdigung ihrer Mutter zu meinem geworden war. Und nur zu meinem. So schnell, ja. Scheinbar vielleicht nur, gut. Aber trotzdem. Ich hätte wirklich darüber reden müssen. Also noch etwas, daß ich aufschieben "würde. Ich spürte es. Ich würde den Mut nicht aufbringen. Einzig in Sachen Zimmer bin ich eisern geblieben. Ich sagte, nein, Laura. Nicht jetzt. Es ist ganz einfach. Ich könnte nicht.
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Dieser Tod brachte uns einander näher. Und zum ersten Mal sagte ich mir, das sei gar nicht möglich. Wir waren uns schon vorher so nah, daß es mir manchmal zu viel schien. Manchmal nur. Und jetzt also über diese Lust, dieses Bedürfnis, diesen Durst hinaus, wir beide. Nein. Ich sagte mir, mit der Zeit würden wir uns ja auflösen, das Denken würde selbst mich verlassen. Wir hielten uns sogar beim Essen an der Hand. Unter dem Tisch. Ralph tat, als würde er nichts sehen. Ich war so verliebt in Laura, ich hielt sie so fest, daß ich langsam Angst um sie bekam. Für mich fand ich keinen Platz mehr. Ich gab gut acht, wenn wir eine Straße überquerten. Hielt sie mit dem Arm zurück. Am Strand wartete ich nicht mehr auf sie. Ich ging zum Wasser, spähte nach ihr. Kehrte wieder zu meinem Badetuch zurück, wenn ich mich vergewissert hatte, daß sie in die richtige Richtung schwamm, dem Land zu. Dann wurde ich ruhiger. Ich fragte mich, wie ich es fertigbringen sollte, mich zu beruhigen, aber ich brachte es fertig. Und es war diese Mischung aus Spannung und Ruhe, die jetzt unser Leben ausmachte. Für sie war es genauso. Sie hatte auch Angst, mich zu verlieren. Wir trafen uns auf halbem Weg, da, wo unsere Ängste verschmolzen. Das Herz, der Körper, 148
alles vermischte sich, kumulierte, es war so stark, daß wir das Bedürfnis nach Abwechslung bekamen. Aus hygienischen Gründen. Miteinander schlafen, dann ein zärtliches Wort. Nacheinander. Eine kurze Berührung, dann ein langer Satz. Oder umgekehrt. Wir suchten den Kontrast, die Aufteilung in der Zeit. Die Dinge nacheinander tun, ausbreiten, auf die Reihe bringen. So wie man Kostbarkeiten vor sich hinlegt. Was natürlich mehr Platz beansprucht, aber entlastet. Man hat den Eindruck, obenauf zu schwimmen. Doch es gab auch Augenblicke des Innehaltens. Wir brauchten Ruhe. Wir mochten es, uns gemeinsam auszuruhen. Ihr Kopf auf meiner Schulter, im Sand. Das ist übrigens das Gute am Strand, er macht nicht nur benommen. Auf Dauer entspannt er auch. Weit mehr als der Tourismus. Tourismus, Sehenswürdigkeiten, das haben wir mehrmals versucht, Laura und ich, aber es ermüdete uns sehr, wir bekamen Lust heimzukehren. So betrachtet war es gut. Aber Laura war nicht darauf versessen. Zum Beispiel zog sie der Austernzucht die Austern vor. Die Besichtigung der Parks war schnell erledigt. Den Wald mochte sie am liebsten vom Auto aus. Auf jeden Fall fuhren wir lieber an den Sachen vorbei, sie und ich. Zwischen zwei entfernten Punkten fühlten wir uns beide besser. Nicht allzu entfernten. Wir wollten uns schließlich zurechtfinden. Am Strand hingegen hatte es Laura nicht nur aufs Bräunen abgesehen, sie betrachtete auch gerne das Meer. Das Licht auf dem Wasser, der Glanz, das war etwas, worüber wir uns unterhielten. Sie mochte auch das Landesinnere, die Architektur, aber vor allem das Innere, das Innere der Architekturen. Ich denke an die 149
Kirchen. Sie mochte die Kühle. Das interessierte auch mich am meisten an den Kirchen. Natürlich waren da noch die Kirchenfenster, ich zeigte ihr von Zeit zu eine kleine Scheibe, ja, das gefiel ihr, glaube ich, jedenfalls drückte sie sich dann an mich, die brachten uns einander näher, die Glasfenster. Ich fing sogar an zu denken, daß wir eindeutig denselben Geschmack hatten, daß wir einander auch darin näherkamen und daß wir diesbezüglich Spielraum hatten. Daß unsere Liebe auf jeden Fall dehnbar war. Darüber, über die Dehnbarkeit der Liebe, hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht, aber ja, warum eigentlich nicht, sagte ich mir. Außer daß man sich das natürlich nicht vorstellen kann. Man ist absolut unfähig, sich Größeres vorzustellen. Ich möchte gerne ein Wort über Ralph verlieren, aber nicht gleich, erst möchte ich noch einmal auf den Strand zurückkommen. Denn wir kehrten immer wieder zu ihm zurück. Er war unser Draußen, der Strand. Der sommerliche Strand mit den Leuten. Am Anfang schaute ich sie mir etwas aus der Ferne an, oder etwas aus der Nähe, wie es mir gerade zumute war, ich brauchte einen Filter. Ich fand sie fett, lächerlich, leidenschaftslos, bestenfalls zeichnete sich manchmal eine hübsche Frauensilhouette ab zwischen dem Meer und mir, in dem ständigen Gegenlicht, das der Himmel hier mit sich bringt. Aber jetzt nicht mehr. Am dritten Tag also. Ich interessierte mich für niemanden im besonderen, aber ich vernachlässigte auch niemanden. Ich fand, die Leute hatten das Recht zu leben. Im Notfall hätte ich auch Hilfe geleistet. Ich brauchte sie sogar, die Leute, als Zeugen. So wie sie waren, schlapp, mit ihrem dicken Roman vor 150
der Nase und ihrem bedauerlichen Sonnenbrand, machten sie ihre Sache genau richtig. Manche verdächtigte ich gar, glücklich zu sein. Nicht ganz so wie wir, aber ich spürte die Nähe. Die Fähigkeit. Laura und ich bewegten uns am Strand — auch wenn das Bild nicht stimmt, da sich hier niemand groß bewegte — an der Spitze der Truppe. Ist wichtig, die Truppe. Jetzt also zu Ralph. Am Abend vor allem. Das Ganze hat sich zu einem Leben mit ihm entwickelt. Ich glaube, abends brauchten wir ihn. Der Beweis, daß alles gut lief, war, daß wir weniger sprachen. Wie Laura und ich früher. Wir fläzten uns in unsere Sessel. Schenkten uns noch ein Glas ein. Ralph schaltete die Nachrichten ein, wir schauten sie an. Laura mochte das. Manchmal mußte ich an die Beerdigung denken, ich fragte mich, was damit war. Aber nein, nichts. Es gab nur ihre Liebe. Deren Ausdehnung. Ich stellte eine kleine Verbindung zu ihrer Mutter her. Das erklärte natürlich nicht alles. Der Tod erklärt nicht alles. Die Liebe auch nicht. Ich schaffte es immer noch nicht, das Büro oder die Smerep anzurufen. Aber ich hatte Claire angerufen. Immer noch keiner, auch kein Beantworter. Ich sagte mir, vielleicht bin ich dabei, mich abzusondern. Und gleichzeitig bewies mir Ralphs Anwesenheit das Gegenteil. Wir lebten in kleinem Kreis. Mit Ralph, mit seinem kaum sichtbaren Unglück, das sich hinter Hühnerzucht und Malerei verbarg, das wir aber doch sahen und, glaube ich, schätzten, weil die Liebe allein nicht reicht. Sie wächst mit der Welt. Gegen die Welt, also mit ihr. Ralph, der war ideal dafür, mit seinen verdeckten Wunden. Wir hätten 151
ihn gepflegt, aber nein, er war ihm gewachsen. War uns gewachsen. Er war außerdem auch äußerst gastfreundlich. Aber eines Tages, es war der vierte, die Zeit verging im Flug, sagte ich zu Laura, was ist das denn. Wir waren unterwegs zum Strand. Ich hatte sie bei der Hand genommen, aus Leidenschaft, aus Gewohnheit, und fühlte etwas Hartes. Es war ein Ring. Laura trug nie Ringe. Dies hier war ein Ehering. Ein Ehering am Ringfinger. Ich fragte sie alles auf einmal, woher der komme, seit wann, wie, denn wir seien doch ständig zusammen. Warum war das einzige, das ich sie nicht fragte. Ich wußte genau warum. Ich brauchte nur ihren Blick aufzufangen. Und ich hatte ihn aufgefangen, als ich ihren Finger nahm. Er war symbolisch, ihr Blick, genau wie der Ring. Es war sonnenklar. Laura trug diesen Ehering für mich, für uns. Ich fand das diskret. Als Geste. Die Hochzeit so, in ihrem Kopf. Das rührte mich. Was die Fragen nicht verhinderte. Sie sagte, ich habe ihn gefunden. Gestern abend. Als ihr euch unterhalten habt. Stimmt, wir hatten uns unterhalten, Ralph und ich, am Abend zuvor, es war das erste Mal, das Laura ohne mich schlafen gegangen war. Aber Ralph wollte mit mir reden, ich spürte es. Ich blieb. Wir sprachen nicht viel, es war vor allem das Schweigen, das er brauchte an jenem Abend, das Schweigen mit mir. Mit der Möglichkeit zu sprechen. Ich gab sie ihm. Wir tranken noch ein Glas. Berührten unter Schwierigkeiten die Vergangenheit, die wir nicht gemeinsam hatten. Sprachen ein bißchen über Claire, um die wir uns Sorgen machten, wir beide. Und auch über Laura. Sie ist in Ordnung, deine Freundin, sagte er. Es war 152
das erste Mal, daß er etwas über sie sagte, ich glaube, es war auch das letzte Mal. Als ihr euch unterhalten habt, wollte ich nicht schlafen gehen, ich wollte auf dich warten, fuhr Laura fort. Ich ging in sein Schlafzimmer. Du weißt ja, daß ich neugierig bin. Ich weiß, sagte ich. Ich hätte sie am liebsten geküßt. Ich habe ein bißchen gestöbert, sagte sie. Und da fand ich ihn auf einem Regal. Allein. Ganz verstaubt, das Regal. Zeig mal, sagte ich. Denn Lauras Ehering erinnerte mich an etwas. Ich möchte, daß du ihn ausziehst, nur kurz, damit ich ihn ansehen kann. Sie streifte ihn ab. Er war etwas groß. Ich gab mich bereits verrückten Gedanken hin und wollte ihnen Einhalt gebieten. Ich schaute die Innenseite des Rings an. Mein Vorname war eingraviert. Es war eine dieser klaren, unverwüstlichen Erinnerungen, so, als wäre nicht dazwischen das Vergessen gewesen. Ich hatte denselben Ring mit Constance gekauft. Und einen zweiten für mich, in den ihr Name eingraviert war. Das Prinzip der symbolischen Heirat, ohne den Gang durch die Institution, ich kannte es also. Ich hatte es praktiziert. Nun ja, nichts ist jemals vollkommen neu, es ist wie mit den Wörtern, die Dinge kehren wieder und sind trotzdem neu. Sie ist trotzdem immer neu, die Liebe. Ich konnte mir denken, daß nicht Laura meinen Namen auf die Innenseite dieses Rings hatte eingravieren lassen, der so sehr jenem glich, in den Constance und ich meinen Namen hatten eingravieren lassen. Sie hatte gar keine Zeit dazu gehabt, wir ließen uns ja nicht aus den Augen. Es war folglich mein Ring. Das heißt Constances Ring, da mein Name drauf war. Den ihren hatten wir in meinen eingravieren lassen. Meinen 153
habe ich allerdings behalten. Was ich mich also fragte, war, was er bei Ralph zu suchen hatte, Constances Ring, mit meinem Namen auf der Innenseite. Denn wir waren nie hierher zu Ralph nach Ronce gekommen. Ich sagte zu Laura, entschuldige, das rührt mich sehr, aber es gibt da ein kleines Problem. Ich müßte mit Ralph darüber reden. Ich werde ihm nicht sagen, daß du ihn genommen hast. Ich werde sagen, ich sei es gewesen. Ich gab ihn wieder zurück. Gab ihn Laura zurück, meine ich. Aber ich hatte Angst, daß sie meinen Namen entdecken könnte, jetzt, wo ich mir vor ihren Augen die Innenseite angeschaut hatte. Wenn es nicht bereits geschehen war, das aber hätte einiges bedeuten können. Daß sie mich zum Beispiel so sehr liebte, daß sie als Beweis dafür sogar den Ring einer anderen Frau anzog, die ich vor ihr geliebt hatte. Ich sage zum Beispiel, aber das reichte natürlich schon. Das reichte schon, um zuviel zu sein. Sie streifte ihn nach einigem Zögern also wieder über, und danach fühlte ich mich die ganze Zeit schlecht. Was mir half, war, daß ich mir sagte, Laura mache mich glücklich mit dem Tragen dieses Ringes, der ansonsten meine Freundschaft mit Ralph und mein geistiges Gleichgewicht in Frage stellte. Und je näher ich Laura kam, denn sie bewies mir durch ihre Geste, daß es möglich war, daß ich ihr noch näherkam, desto weiter entfernte ich mich von Ralph und von mir selbst. Ich sah überhaupt nicht klar, und das mag ich gar nicht, außer in der Liebe. In der Liebe darf es von mir aus etwas unklar sein. Es ist sogar besser. Aber in der Freundschaft. Ich mußte unbedingt 154
wissen, warum Ralph zum Verwahrer dieses Ringes geworden war. Was zur Folge hatte, daß wir an jenem Morgen nicht einmal bis zum Strand gingen, sondern Hand in Hand nach Hause zurückkehrten, mit diesem Unbehagen und meinem Bedürfnis, die Angelegenheit zu klären. Ich hatte Glück in meinem kleinen Unglück, ich sage klein, weil sich das alles um Constance drehte, und mit Constance war es doch aus: Ralph war da, als wir ankamen. Ich nahm ihn beiseite. Ich wollte ihm nicht Lauras Finger unter die Nase halten, um ihm den Ring zu zeigen. Ich bat Laura, sich unauffällig zurückzuziehen, und erzählte Ralph, was Sache war. Laura trug noch immer den Ring, ich hatte nichts in der Hand als Beweis für das, was ich mutmaßte, übrigens mutmaßte ich gar nichts, ich sprach eine Tatsache aus, und Ralph sagte, du stöberst jetzt also in meinem Zimmer herum? Und ich spürte, daß sich in diesem Augenblick etwas veränderte zwischen uns, aber ich ließ mich nicht aus dem Konzept bringen, ich sagte, ich möchte, daß du mir das erklärst, denn bis jetzt hast du Constance doch, wenn ich mich nicht irre, nicht gekannt, und sie dich auch nicht. Ruft sie dich jetzt neuerdings an? Eines schönen Tages hat sie dich einfach angerufen, ja? Aber warum sollte sie dich angerufen haben? Die ganze Zeit hatte Ralph weder die Augen niedergeschlagen noch etwas anderes in der Art getan. Er hatte vielleicht erwartet, daß ich es tat. Immerhin kannte ich ihn ein bißchen, und jetzt erkannte ich ihn kaum wieder. Er antwortete ausweichend, als wäre meine Frage unwichtig oder als wollte er ihre Bedeu155
tung herunterspielen. Mit einem Mal mochte ich ihn weniger. Ich verachtete ihn nicht. Dazu war ich noch nicht bereit. Er sagte, Jacques, ich habe es dir nie gesagt, weil mir das unnütz oder gar schädlich schien, aber ich habe Constance schon vor dir gekannt. Er legte eine Pause ein. Um mich zu schonen. So hatte ich Zeit, mich wieder zu fassen. Ich hatte auch Zeit für eine Frage, oder eine Antwort, ich sagte dämlich, wie das, was überhaupt keinen Sinn ergab. Wenn Ralph Constance vor mir kennengelernt hatte, spielte es kaum eine Rolle wie. Es reichte, daß er sie vor mir gekannt hatte, um nichts zu verstehen. Es sei denn, man wollte an einen Zufall glauben. Aber ich hatte es noch nie mit dem Zufall, ich hatte ihm nie einen Platz eingeräumt. Hatte stets genug zu tun mit meinen kleinen Entscheidungen. Mit meinen Entscheidungen, will ich sagen. Ich lebte in Gordes vor Florence Abitbol, antwortete mir Ralph. Du weißt, daß ich in Gordes gelebt habe. Ja, sagte ich. Das heißt nein. Ich dachte, ich hätte es dir gesagt. Constance habe ich in Gordes kennengelernt. Hat sie dir nie von Gordes erzählt? Nein, sagte ich. Sie war übrigens, fuhr Ralph fort, für mich immer Constance aus Gordes geblieben. Sie war es, das Mädchen, das mich Ralph nannte. Mich hat sie nicht Jacques genannt, sagte ich. Ich redete irgendeinen Blödsinn daher, ich war am Boden zerstört. Dabei hatte ich überhaupt keinen Grund dazu. Schließlich konnte Ralph sehr wohl Constance ge156
kannt haben und sich von ihr umtaufen lassen. Es war nur meine Logik, die zusammenbrach. So etwas ist unangenehm. Als du mir von ihr erzählt hast, fuhr Ralph fort, habe ich keine Verbindung hergestellt, erst recht nicht, da du nie von Gordes gesprochen hast. Bis sie mich eines Tages anrief. Offenbar hast du ihr von mir erzählt. Sie hatte mich aus den Augen verloren und fand meine Telefonnummer in deinem Adreßbuch. Sie hat mir nie gesagt, daß sie dich kennt, bemerkte ich. Sie hat mir nie gesagt, daß sie es dir nie gesagt hat, sagte Ralph. Wir sprachen nicht darüber. Auch nicht, als sie hierherkam. Mit dem Ring, sagte ich. Ich nehme es an. Sie hat ihn nicht getragen. Ich werde dir etwas sagen: Ich wußte nicht mal, daß sie ihn hatte. Und noch etwas: Ich habe nie bemerkt, daß sie ihn hiergelassen hat. In deinem Zimmer, sagte ich. Ja. Aber das habe ich erst jetzt erfahren. Du weißt, ich und die Ordnung. Ich weiß, sagte ich. Sie hat mich doch nicht etwa verlassen, um zu dir zurückzukehren, fragte ich noch. Sie hat mir nie von dem Typen erzählt, der, für den, wegen dem, nicht mal, ob sie einen hatte. Damals hätte ich zehn Jahre meines Lebens gegeben, um es herauszufinden. Und heute erfahre ich also, daß du es warst, ist es so? So einfach ist es nicht, sagte Ralph. Es gab einen anderen, aber danach kam sie zu mir. Und wer ist dieser andere? 157
Ich kenne ihn nicht. Und ihr habt, sagte ich. Neulich, als du angerufen hast, um zu kommen, hast du mich nicht gefragt, warum ich so schnell einverstanden wäre, wo wir uns doch so schlecht kennen, sagte Ralph. Ich konnte nur noch den Mund halten. Ich fand, daß Ralph am Ende gar nicht so unglücklich wirkte, hinter seiner ganzen Lockerheit. Und locker war er. Er war viel stärker als ich, und ich verstand das nicht. Aber die Hühner, sagte ich. Die Hühner, sagte Ralph. Constance, was dachte sie über deine Hühner, fragte ich. Er schien die Frage nicht zu verstehen. Ich sehe nicht, was meine Hühner mit der Sache zu tun haben, sagte er. Ich auch nicht, sagte ich. Auf jeden Fall ist sie deinetwegen wieder gegangen, sagte er. Es ist nett, daß du mir das sagst, sagte ich. Ich hätte gern etwas mehr gewußt, um die Sachen besser einordnen zu können, aber eigentlich nein, es interessierte mich nicht mehr. Und außerdem war Ralph für mich nicht mehr derselbe, ich konnte ihm keine Fragen mehr stellen, die mich betrafen, erst recht jetzt, wo alles, was mich und Constance betraf, über ihn ging. Für mich war er aus dem Spiel. Wie ich selbst übrigens, und ich hatte Lust zu gehen. Ich tat es nicht. Ich wollte mir etwas Zeit lassen. Und außerdem fühlte ich mich gar nicht so schlecht hier, in dem kleinen Kreis. Etwas eingeschlossen vielleicht, das ist alles. Mit der Vergangenheit, die mir im 158
Weg stand, und der Notwendigkeit, sie neu zusammenzusetzen, aber gut. Eine Vergangenheit ist so viel wert wie eine andere. Bloß von der Zukunft hatte ich eine andere Vorstellung.
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Ich sagte bereits, daß Laura und ich angefangen hatten, hier zu leben. Nach dieser Geschichte fingen wir an, es uns gemütlich zu machen. Wir hatten dies bisher nur sehr zurückhaltend getan. Jetzt hatte ich beschlossen, mich breitzumachen. Ich ermutigte Laura in diesem Sinne. Ich schlug vor, hin und wieder zu Hause zu bleiben. Mit oder ohne Ralph. Mit genausogut. Damit er sich daran gewöhnte. Damit er Bescheid wußte. Daß wir da sind. Daß wir nicht gehen. Und dann sagte ich zu Laura, trag diesen Ring ruhig, jetzt, wo du ihn schon mal genommen hast, sein Pech. Sie konnte meine Animosität gegenüber Ralph nur schwer verstehen, ich habe ihr nichts erzählt. Aber ich bin nicht einmal sicher, ob sie das überhaupt interessierte. Dabei war es eine Lüge. Ich nahm ein gehöriges Risiko auf mich. Aber Laura zu gestehen, daß dieser Ring nichts mit ihr zu tun hatte, kam nicht in Frage. Denn inzwischen hatte er mit ihr zu tun. Er gehörte ihr. Ich wollte, daß er ihr gehörte. Ich konnte ihr nicht sagen, daß es der von Constance war. Ich wollte nicht. Denn sie wußte es vielleicht. Sie hatte es vielleicht gelesen auf der Innenseite. Und genau darin bestand das Risiko, daß sie es gelesen hatte, daß sie verstanden hatte, daß sie nichts sagte und dieses Geheimnis für 160
sich behielt wie eine Wunde, mit meiner Lüge als Verband, und daß sich das infiziert. Es sei denn. Es sei denn, sie wußte es, sie hatte verstanden und hatte auch meine Lüge verstanden. Und sie akzeptiert. Dann wäre alles gut gewesen. Außer daß. Außer daß ich keinen trug, keinen Ring. Also kaufte ich einen. Aber. Aber ich ließ Lauras Namen nicht eingravieren. Weil sie das mit meinem vielleicht gar nicht wußte. Oder sie wußte es, und ich habe ihren Namen trotzdem nicht eingravieren lassen. Das war das erste Kreuz, daß ich mit ihr zu tragen hatte. Diese Ungleichheit. Aber ich sagte mir, daß sie mich liebte und daß das alles, da sie mich liebte, nicht von Bedeutung war. Nichts war von Bedeutung. Nicht einmal meine Lüge. Um so mehr, als in der Liebe der eine immer mehr liebt als der andere. Und das war sie. Oder ich. Wie auch immer. So oder so war ich beruhigt. Wir trugen also Ringe, Laura und ich, ungleiche Ringe. Wir gingen wieder an den Strand, denn den Strand mochte sie noch immer. Manchmal blieben wir bei Ralph und unterhielten uns oder schauten ihm zu, wie er die Hühner malte oder futterte, und ich versuchte, dafür zu sorgen, daß es zwischen uns entspannter wurde, und es wurde entspannter. Ich spreche für mich, ich spreche natürlich von meiner eigenen Entspannung. Ralph hatte sich in meinen Augen bloß verändert. Ich habe nicht gesagt, er sei gereizt gewesen. Ich war es. Aber gar nicht allzusehr. Weil ich ihn jetzt zurückeroberte. Ich wollte ihn mir 161
zum Freund machen. Besser, zum Vermieter. Ein Vermieter, der nicht diskutierte, weil ein Vermieter nicht diskutiert, wenn er die Liebe beherbergt. Er verneigt sich. Er bedient sogar am Tisch. Wie früher. Wir fühlten uns wieder gut bei Ralph. Überdies erzählte er uns von seinen Mißgeschicken. Wir ließen die Geschichte von Florence Abitbol über uns ergehen und wie es kam, daß sie bei ihm geblieben war, ihn geliebt hatte, wieder gegangen war, und wie ihn das fertiggemacht hatte in letzter Zeit. Laura hörte ihm höflich zu, als wollte sie sich einem Außerirdischen gegenüber offen zeigen. Als wäre das zu weit weg von ihr, das Ende einer Liebe. Auch wenn sie sich ein paar Wochen zuvor selbst getrennt hatte, das sagte ihr nichts. Ich versuchte nicht, es ihr zu erklären. Und da wir uns gut fühlten, da das Leben weiterging zwischen uns dreien, da ich seit dieser Ringgeschichte überhaupt nicht mehr an Constance dachte, dieser Ring hatte mich, falls das noch nötig gewesen war, höchstens weitergebracht, fingen wir an, uns zurückzuziehen, Laura und ich. Wir gingen wieder aus, immer öfter. Der Strand war nicht mehr unser Draußen, er war unser Zuhause geworden, wir legten uns hin wie in einem Zimmer, mit den Leuten drum herum als Wände und dem Meer vor uns als Fenster. Bloß etwas heiß war es. Es war bereits der siebte Tag, und ich war nicht blöd, ich wußte noch, daß Ralph uns für eine Woche aufgenommen hatte. Oder eigentlich hatte ich von einer Woche gesprochen. Aber inzwischen. Inzwischen ergab das keinen Sinn mehr für mich, eine Woche. 162
Ich sprach nicht mit Ralph darüber. So wie ich nicht mit Laura über ihre Mutter sprach, seit deren Tod, so sprach ich nicht mit Ralph über diese Woche, seit diese Woche keinen Sinn mehr ergab. Ich will damit nicht sagen, daß der Tod ihrer Mutter keinen Sinn ergab. Ich will sagen, daß das Leben weiterging, daß einige Fragen in der Luft blieben, ohne Antwort, während das Leben, nein, das Leben stellte sich nicht vorrangig diese Fragen. Und was die Woche betraf, den Zeitpunkt der Abreise, so fragte ich mich bloß, was aus mir werden sollte, da ich nichts unternahm. Ich hatte das Büro aus meinem Kopf gestrichen. Und sowieso. Sowieso hatte ich mehr oder weniger beschlossen, mich mit Laura hier niederzulassen. Aber nicht bei Ralph. Wir fühlten uns wohl, aber das konnte nicht so weitergehen, wir waren dabei, mit ihm eine Art Perfektion zu erreichen, vielleicht dank dieser Ringgeschichte, die uns im Prinzip verband. Wir hätten genausogut sechs Wochen länger zu dritt leben können. Aber sieben vielleicht nicht, sagte ich mir. Ich fing an, mit Laura vor den Immobilienagenturen stehenzubleiben. Hier wohnen, nicht sehr weit vom Meer und von Ralph. Die Idee gefiel mir. Das Geld hätte mir Sorgen machen sollen. Also das Büro. Als Arbeitsloser wollte ich dann doch nicht enden. Das war wohl das mindeste. Aber ich schaffte es immer noch nicht. Es war zum Verzweifeln, denn noch nie habe ich mich so gut gefühlt und gleichzeitig, als würde ich untergehen. Alles mit mir geschehen lassen. Die Augen schließen. Vielleicht wollte ich Laura in ihrer Mittellosigkeit einholen. Von nichts leben. Wenn der Gedanke sich einnistete, und er nistete sich manchmal ein, sah ich mich arm, mit ihr, und wir 163
gingen alle beide unter, ja, und trotzdem blieb es gut, und es kam vor, daß ich an Ralph dachte. Daß ich mir sagte, im Grunde. Im Grunde könnte er uns auch eine Weile aufnehmen. Ich fühlte mich bereit dazu. Zum Faulenzen. Und außerdem grauste mir inzwischen beim Gedanken an die Arbeit. An Paris. Sogar das Landesinnere machte mir Angst. Bloß nicht bewegen. Ich wollte in der Nähe des Wassers bleiben. Am Rande der Welt. Wir machten weiter. Vor lauter Wohlbefinden sprachen Laura und ich über nichts mehr, ganz wie früher manchmal, nur über ganz unbedeutende Dinge und auch über die Liebe, aber ohne tiefer einzudringen, einfach nur, um unsere Gesten, unsere Umarmungen zu begleiten oder abzulösen. Ich hatte mir schließlich doch Bücher gekauft. So konnte ich mir die Zeit besser vertreiben, wenn ich auf meinem Badetuch auf sie wartete. Wir waren beim zehnten Tag angelangt, und ich hatte mir die Leute etwas genauer angesehen. Es waren dieselben. Ich kannte sie, aber wir beachteten einander nicht, denn die Liebe hatte mich nicht sehr kontaktfreudig gemacht, außer mit Ralph. Sogar mit Claire, nebenbei gesagt, hatte ich das Gefühl, es ging den Bach runter. Ich verschwendete keinen Gedanken mehr daran, sie anzurufen. Einmal hatte ich es immerhin versucht, und immer noch keiner da und auch kein Anrufbeantworter. Ich sagte mir, sie müsse vielleicht etwas Vergleichbares erleben, auch wenn mir das unmöglich schien, aber anders konnte ich mir das nicht vorstellen, nein, falls sie nicht gestorben war. Dieser Gedanke schreckte mich auf. So rief ich sie an, sie war nicht da. Das Leben hatte mich wieder. 164
Ich las also. Ich las sogar viel, vor allem über Astronomie und Biographien von Ministern des Ancien Regimes, in der Taschenbuchausgabe, das war nicht so schwer in der Tasche. Wenn Laura aus dem Wasser kam, las ich weiter. Sie griff mit einer Hand nach einer Illustrierten, die andere gab sie mir. Manchmal ließen wir uns sogar los, vergaßen einander für fünf Minuten. Und dann war es, als würden wir gemeinsam einen neuen Kontinent entdecken, den Kontinent der Abwesenheit, von dem wir zurückkehrten wie von einer Reise, die keine Angst macht, wo kein Platz mehr ist für die Angst. Wir hatten vor nichts mehr Angst, wir hätten uns beinahe wirklich verlassen können ohne Angst, einander zu verlieren. Wir mußten es nicht einmal ausprobieren, das war völlig überflüssig. Wir wußten es. Wir wußten es, und es war dieses Wissen, glaube ich, das mich am elften Tag einen Seitensprung machen ließ. Einen kleinen Seitensprung. Nichts Schlimmes, wirklich nicht. Laura war ins Wasser gegangen, und eine Frau hatte sich neben uns niedergelassen. Sie interessierte sich den Bruchteil einer Sekunde für mich. Vielleicht weil ich mich in der Viertelsekunde zuvor für sie interessiert hatte. Es war seit dieser ganzen Zeit das erste Mal, daß ich eine Frau sah. Im Sinne von sehen, wahrnehmen, ich meine die Augen. Ich spreche nicht von Körpern. Die Körper sah ich, das gehörte zur allgemeinen Ästhetik, ich habe nicht den Sinn für Schönheit verloren. Aber die Augen, nein, nie, mit dieser Art Sinn, den sie enthalten. Ich brauchte keinen zusätzlichen Sinn in meinem Leben. 165
Während da. Vielleicht weil ich so weit weg von mir selbst war, dieses Niveau von Gelassenheit erreicht hatte, da man sich mit den Dingen vermischt und keinen Widerstand mehr spürt. Man hat es verlernt, Entscheidungen zu fällen. Und der Blick trifft einen im wahrsten Sinne des Wortes. Entwaffnend. Und augenblicklich reagiert man, man versucht gar nicht erst zu verstehen. Dann versteht man und sucht instinktiv den Austausch. Wie um sich zu nähren, automatisch. Ein kleiner Hunger nur, der wieder vergehen wird. Aber der Blick ist immer noch da, man hat ihn gesehen, man weiß nicht, was man damit anfangen soll, aus lauter Verlegenheit erwidert man ihn, und es entsteht etwas. Und genau in dem Augenblick, als etwas entstanden war, wandte ich meinen ab. Ich dachte an Laura. Ich sagte mir, daß ich alles hatte und daß es Zeitverschwendung war, mich abzulenken. Auch noch während ihrer Abwesenheit. Es war zu einfach, zu dumm, dabei würde ich doch gleich wieder ihren Blick finden, mit mir darin, und sie würde wieder in meinem sein, mein ganzes Blickfeld ausmachen, und mit diesem Mädchen nebenan war Schluß. Es hatte umsonst angefangen mit ihr. Reine Vergeblichkeit. Von daher meine anschließende Leichtigkeit. Als ich kapiert hatte, daß nichts war, kämpfte ich nicht mehr länger. Erwiderte ihren Blick. Nur noch einmal. Um die Sache abzuschließen. Und wartete auf Laura. Sie kam nicht. Nicht so bald. Das Mädchen nebenan schaute mich an. Ich warf ihr schließlich doch noch ganz kurze Blicke zu, ich habe nie gesagt, ich sei vollkommen, nur glücklich, aber ich suchte die Begegnung nicht. Ich schaute sie nicht richtig an. Heute 166
bin ich unfähig zu sagen, ob sie dünn oder dick war, nicht mal an ihren Mund erinnere ich mich. Es war einzig dieser Blick. Den ich inzwischen endgültig verabschiedet hatte und der von ihrer Seite noch immer lebendig sein mußte. Es war mir egal, ich erinnerte mich gut genug an ihn, um mich noch an ihn zu erinnern, wenn ich es wollte, aber nicht gut genug, um ihn gegen meinen Willen im Gedächtnis zu behalten. Er war wie ein Schatten, der vorbeigleitet, während sich der Tag neigt. Nur war es Nachmittag, fünf Uhr, und der Tag neigte sich nicht. Und Laura kam nicht. Das Mädchen wurde es müde, sie packte ihre Sachen, das lief nicht gut für sie, unsere kleine Geschichte, ich konnte sie verstehen, und es tat mir ein bißchen leid für sie, aus moralischer Sicht, aber nicht sehr lange. Lange dauerte es hingegen, bis Laura aus dem Wasser kam. Eindeutig länger als gewöhnlich. Ich machte mir Sorgen. Ich machte mir ziemliche Sorgen. Ich stand nun selbst auf und ging zum Wasser. Ich betrachtete die Badenden, die Spieler, die Spritzenden, die in den ersten Metern neben all den Wellen, die sich brachen, ziemlichen Schaum verbreiteten. Dann die nicht sehr zahlreichen Schwimmer, die man im Licht immer so schlecht sieht.Vorwiegend Köpfe, alle gleich mit ihren angeklatschten Haaren, lauter schwarze Flecken in der Ferne, in unterschiedlichem Abstand voneinander, verbunden einzig in der Bemühung, sich abzusondern. Ich wartete, daß einige von ihnen in die Nähe des Ufers kamen und sich deutlicher abzeichneten, aber die Schwimmer kehrten nicht alle zurück, manche schwammen, als ich kam, auch erst ins offene Meer hinaus. Es blieben 167
fünf, sechs, vielleicht sieben, die immer weiter wegschwammen, und ich hatte keine Lust, auf sie zu warten. Laura war jedenfalls nicht hinausgeschwommen, als ich kam. Ich hätte sie gesehen. Sie hätte eindeutig zurückkehren, unter den Zurückkehrenden sein müssen. Jetzt bekam ich es aber wirklich mit der Angst zu tun. Ich befürchtete das Schlimmste. Aber wenn das Schlimmste eingetroffen wäre, wäre es ohnehin zu spät gewesen. Und ich konnte nicht denken, daß es zu spät war. Wenn es für jemanden zu spät gewesen wäre in unserem Leben, dann für mich, denke ich. Ich verscheuchte also diesen Gedanken und ging links den Strand hinunter, immer an den Wellen entlang, den Blick aufs Wasser gerichtet. Nach rechts ging ich nicht. Das hätte ich auf jeden Fall danach gemacht. Mußte ja wohl auf irgendeiner Seite anfangen. Erst nach fünfzig Metern blickte ich auch auf den Strand. Laura hätte nach links abgetrieben worden und geradeaus gegangen sein können, um dann schräg zu unseren Plätzen zu gelangen. Im Vorbeigehen betrachtete ich die Leute, ohne mich allzu sehr damit aufzuhalten, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß Laura hier im Sand geblieben war, und ich fand die Leute merkwürdig. Schlapp. Müde, mit ihren Büchern, die ihnen aufs Gesicht gesunken waren. Und gleichzeitig entschlossen. Ich fand sie entschlossen zum Nichtstun. Ein wenig wie ich in letzter Zeit, wenn man so will, aber bei ihnen haute das nicht hin. Ich sah nicht, wo da die Liebe war, die süße und alles durchdringende Trägheit der Liebe. Nur die Kinder, die da und dort spielten, hoben sich davon ab, weil sie lebendig waren. 168
Schließlich machte ich weiter, betrachtete die Menschheit nicht als Hindernis für die Hoffnung. Es war nur, daß ich mir eine andere Atmosphäre gewünscht hätte. Vielleicht stieg auch meine Beklemmung. Übrigens sah ich sie. Ich sah Laura. Sie war nicht allein.
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Sie lag auf dem Sand. Drehte mir den Rücken zu, auf den Ellenbogen gestützt. Die Person, die ihr in symmetrischer Position gegenüber lag, war ein Mann. Ein junger Mann. Unsympathisch fand ich ihn nicht. Auch nicht häßlich. Nicht völlig blöd, und nicht übermäßig mit Muskeln bepackt. Ich hatte ihm nichts Bestimmtes vorzuwerfen. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht nicht auszuschließen gewesen, daß wir uns miteinander unterhalten hätten. Wer weiß. Sie sprachen, die beiden. Ich dachte keine Sekunde lang, es könnte der andere sein, der, mit dem sie zusammen gewesen war. Nein. Es war mir sofort klar, daß es ein anderer Anderer war. Ein frischer Anderer, neu und bedrohlich. Aber ich dachte gar nicht, ich hätte ihn zu fürchten. Ich fühlte mich bereits besiegt. Weil es aufhörte. Es hörte hier auf, am Ufer des Meeres. Ich ging nicht zu ihnen. Ich drehte um und kehrte zu unseren Plätzen zurück. Wieder schaute ich die Leute an, versuchte zu verstehen. Und ich mußte nicht lange suchen. Der Sand war schuld. Vom ersten Tag an wollte mir der Sand etwas sagen. Aber es war zu undeutlich, ich hatte mich nicht damit aufgehalten. Der Sand also war eher fein, rieselnd, klumpte nicht, es war eigentlich Stein, zerstoßener Stein, ich 170
will damit sagen, er hatte nichts oder fast nichts mit Staub zu tun gehabt. Aber jetzt schon. Denn der Sand flog doch auch auf. Und wie er aufflog, da, unter den Füßen der Kinder, und überall fiel er wieder herunter, und zum ersten Mal sah ich den Strand wie einen großen Staubstrand. Ich sage groß, weil ich noch nie so viel Staub gesehen hatte, nicht einmal bei mir, nachdem Constance gegangen war. Und ich mußte an Laura denken, aber das stimmt so nicht, ich mußte nicht an sie denken, natürlich dachte ich an sie, ich tat die ganze Zeit nichts anderes, aber jetzt dachte ich mit Abstand an sie, ich versuchte es wenigstens, weil das mindeste, was man sagen konnte, war, daß ich Distanz brauchte, aber ich fand keine, ich litt, das war auch das mindeste, was man sagen konnte, und das einzige Ergebnis meiner Anstrengung war das: Denken, daß ich mich getäuscht hatte, daß Laura eigentlich nie zu mir gepaßt hatte, von Anfang an nicht, nicht zum Putzen und also auch nicht als Frau, als Frau, die ein bißchen Ordnung in mein Leben bringen sollte, und jetzt fand ich die Gewißheit, hier auf dem Sand, auf diesem Sand, den ich im Grunde nie gemocht hatte, genausowenig wie den Staub, mit dem Laura mich nun allein ließ, bis ich darin ersticken würde. Und ich sah, daß die Leute sich drauflegten, auf diesen Sand, der jetzt nur noch Staub war, und ich sagte mir, ich bin wie sie, mit dem Unterschied, daß sie viel stärker waren. Weil sie übten. Sie übten, an den Ursprung zurückzukehren. Wieder zu Staub zu werden, ja. Das alles dachte ich natürlich auch, weil ich mich tot fühlte, aber trotzdem. Und ich dachte es auch, weil ich nicht dazu bereit gewesen war. Ich fühlte mich erst seit zwei Minuten tot. Tot, aber erstaunt. 171
Es kamen nicht einmal Tränen. Ich hatte nur Mühe beim Atmen. Biologisch war ich da. Brauchte also viel Luft, aber dieses Bedürfnis war neutral, ich spürte es nicht, nein, ich hatte keine Lust auf Luft. Logischerweise erstickte ich ohne sie unter dem Himmel, vor dem Wasser, dem Sand, man hätte genausogut sagen können, ich hätte den Sand im Mund gehabt. Was ich wollte, jetzt, war richtig ersticken. Die anderen hingegen, um wieder auf die Welt zurückzukommen. Denn ich kam wieder darauf. Ich fühlte mich tot und kam wieder auf die Welt, und das brachte mich nicht einmal zum Lachen. Die Welt, die Leute, es gelang mir nicht, sie nicht zu sehen. Sie waren genau wie ich und auch wiederum nicht. Denn sie befanden sich im Rückstand mir gegenüber. Im Rückstand, aber wohlweislich. Sie übten. Seelenruhig. Von daher die Müdigkeit, natürlich. Dieses Warten. Sogar die Verbrennungen auf ihren Körpern, auf den Gesichtern. Und dieser unter ihnen ausgehöhlte Sand. Eine Wiederholung, sagte ich mir. Eine banale Wiederholung, aber ohne jede Furcht. Ein großer Gymnastikkurs auf dem Strand. In vorliegendem Fall die Phase der Entspannung. Ich sah jetzt nicht einmal mehr Laura mit diesem Typen, sie waren woanders im Leben, ich sah nur noch die Leute, miteinander vereint. Und so standen sie auf, gingen ins Wasser, kamen wieder zurück, ertranken nicht, keineswegs, sie blieben am Leben, sie hatten Zeit. Legten sich wieder in den Sand, warteten. Bereiteten sich vor. Eine Versammlung von Weisen, die zu erforschen suchten, was der Tod ist, und die sich ihm annäherten, auf ihn warteten. Genau das sind Ferien, sagte ich mir. 172
Ganz anders ich. Ich war nicht vorbereitet. Es fehlte mir an Übung. Das war klar. Es überfiel mich. Das Ende von allem. Ich sammelte meine Sachen ein. Ich zögerte einen Augenblick, dann nahm ich auch die von Laura, ich wollte sie nicht unbeaufsichtigt liegenlassen. Ich machte mich auf den Weg zu Ralph, nicht, daß ich mich da noch immer zu Hause gefühlt hätte, aber ich wollte irgendwohin zurückkehren. Ich wollte nicht auf dem Sand zusammenbrechen. Die anderen, das mußten sie selber wissen, aber ich nein. Das war vielleicht der snobistische Zug an mir. Meine Weigerung, mich unter die Leute zu mischen. Mich neben sie zu legen und zu warten. Meine Füße sanken ein, bevor sie auf härteren Grund stießen, ich spürte, wie es mich bremste, als ich mich losriß, landeinwärts. Da lief mir ein Hund zwischen die Beine. Es gab auch ein paar Hunde am Strand. Aber keinen, der vor Claire herlief. Ich habe es richtig gesagt, Claire. Sie folgte dem Hund. Ich habe sie nicht sofort erkannt. Ich hatte sie noch nie im Badeanzug gesehen. Aber es ist immer dasselbe, man erkennt die Leute, die Freunde, man erkennt sie trotz allem. Ich habe sie erkannt. Ich habe nie mit ihr Ferien am Strand verbracht. Auch nicht anderswo. Und außerdem war ich nicht im Urlaub, ich befand mich im Leben. Vorher. Grade eben noch. Und da taucht sie plötzlich auf, wie eine Erinnerung. Eine Ermahnung. Ich kannte nicht einmal ihre Haut. Das war merkwürdig, wenn ich ein Wort herausgebracht hätte, hätte ich von ihrem Badeanzug gesprochen. Ich hätte sie zu ihren Brüsten beglückwünscht. Sie hatte hübsche Brüste. Es war erstaunlich, das jetzt zu entdecken. Ich sagte nichts. Ich 173
hätte beinahe gesagt, na sowas, so lange wie ich dich zu erreichen suche, das ist ein Ding, dann tauchst du hier auf, da könnte ich dich lange anrufen, aber ich sagte nichts. Ich wollte mein Erstaunen zeigen, um etwas zu zeigen, etwas, was nicht ich war, etwas, was wir waren, Claire und ich, unsere Freundschaft, aber ich konnte nicht. Ich senkte die Augen. Sie hatte mich im selben Augenblick erkannt, sie hatte meinen Blick bereits aufgefangen, sie mußte darin gelesen haben, was ich gerade erlebte, was ich nicht erleben konnte, oder besser, was ich nicht mehr erleben konnte, denn sie sagte auch nichts. Ich gab ihr durch Zeichen zu verstehen, daß ich für meinen Teil nicht länger am Strand bliebe. Ich ging weiter auf die Uferpromenade zu. Sie, die gerade gekommen war, hatte keine andere Möglichkeit, als mir zu folgen, wenn sie wollte, daß wir uns unterhielten. Sie wollte. Sie begleitete mich mit ihrem Hund. Beim Mäuerchen hielten wir an, und ich sagte ihr, daß ich nicht sprechen könne, daß ich einen trockenen Mund hätte, daß ich mich beschissen fühlte, es ist zu dumm, sagte ich, jetzt wo wir uns endlich sehen. Was machst du hier, sagte ich noch. Es war irgendeine Frage, der Form halber. Sie sagte, sie habe an Ralph gedacht, sie habe nicht gedacht, daß ich auch. Ich sagte, ich hätte nicht an Ralph gedacht, ich sei nur zufällig in meinem Adreßbuch auf seine Telefonnummer gestoßen. Ich wohne nicht bei ihm, fügte sie hinzu, ich wohne im Hotel. Wollen wir etwas trinken gehen? Ich sagte, nein, tut mir leid, später vielleicht, aber jetzt geht es nicht, Claire, es geht überhaupt nicht, und ich hatte Lust, daß sie mich an sich zog, an ihre 174
Brust, ihre hübsche Brust, ihre Hand auf meinen Kopf legte, aber das war nicht möglich, das war noch nie möglich zwischen ihr und mir. Ich sagte noch, es ist wirklich dumm, aber ich muß nach Hause. Bleibst du länger? Sie wußte es nicht. Ein hübsches Duo, wir zwei, sie, die nicht wußte, und ich. Ich nichts. Nichts. Nie mehr etwas von jetzt an, dachte ich, jetzt würde ich gerne krepieren, wenn ich könnte, endgültig, eher als. Jetzt kamen Tränen, aber innerlich, ich fühlte mich ausgehöhlt und feucht, und außen trocken. Ich hatte Bauchschmerzen. Und mein Hals tat mir weh. Fühlte sich nach einer Angina an. Oder einer Gastritis. Ich fühle mich nicht gut, sagte ich. Wir sehen uns auf jeden Fall noch. Wir geben uns ein Zeichen, schlug sie vor. Sie gab mir in der Tat ein Zeichen. Sie blieb mit ihrem Hund auf der Uferpromenade, und ich drehte mich noch einmal nach ihr um. Sie hatte sich bereits abgewandt. Ging Richtung Strand. Ich dachte, ihr geht es wohl besser. Ich setzte meinen Weg fort und sagte mir, jetzt werde ich gleich Desrosiers antreffen, oder Lucien, sie kommen alle nach Ronce, mit ihren Koffern, aber nein, ich sah niemanden. Ich kehrte mit unseren Sachen, Lauras und meinen, zu Ralph zurück, Ralph war am Telefon. Als er mich sah, legte er sofort auf. Er machte ein merkwürdiges Gesicht. Er hat auch mein Gesicht bemerkt, wir sahen beide sehr wohl, daß wir nicht normal aussahen, aber ich habe ihn als erster gefragt, was er denn für ein Gesicht mache, vielleicht weil ich dann nicht von meinem Gesicht sprechen mußte. Er sagte, es ist Constance, sie hat eben angerufen. 175
Ich suchte nach einem Grund zu lächeln. Constance, ich kann nicht sagen, wo sie war in meiner Erinnerung, ziemlich weit weg jedenfalls, soviel ist sicher, aber es war doch immerhin Constance. Das nehme ich an, daß sie angerufen hat, sagte ich, du hast ja gesagt, es sei Constance. Hörst du dich manchmal reden? Und dann fugte ich hinzu, das hat mir gerade noch gefehlt, damit Ralph wußte, daß es mir bereits schlecht ging. Ich sah keinen Grund, es lange vor ihm zu verheimlichen. Ein paar Sekunden also hatte ich durchgehalten. Sie kommt vielleicht, aber es ist nicht sicher, sagte er. Sie kommt vielleicht vorbei. Ich fragte ihn, ob sie wüßte, daß ich da sei, jetzt, wo sie sich am Telefon gesprochen hätten. Er sagte, hätte ich sie etwa belügen sollen? Willst du sie nicht sehn? Ich sagte nein. Aber macht nichts. Da ist noch etwas, sagte Ralph. Claire ist hier. In Ronce. Im Hotel. Sie ist vorbeigekommen. Ich habe sie gesehen, sagte ich. Und Laura? fragte Ralph. Hast du sie allein gelassen? Ich hatte den Strand ein wenig satt, sagte ich. Dann begleitete ich Ralph zu seinen Hühnern. Eins schlüpfte gerade. Er zeigte es mir. Ich war nicht gerade in Stimmung, um Küken anzusehen, aber ich sagte mir, na ja. Während ich auf Laura warte. Und auf Constance. Da kann ich mir auch Küken ansehen. Eigentlich wartete ich nicht auf Constance. Constance war mir egal, mit ihrem bißchen Liebe. Ich wartete auf Laura, ihre Unliebe. Ich setzte Prioritäten. Und außerdem mußte ich Bescheid wissen. Ich 176
war bei einem Eindruck stehengeblieben. Auch wenn es offensichtlich zu Ende ging mit uns beiden, so war doch noch nichts ausgesprochen. Ich wartete auf Wörter. Sie kam spät. Eine Stunde nach mir. Aber sie kam. Ich hatte ja auch das Geld. Sie mußte mich schonen. Jedenfalls kehrte sie zurück. In ihrem einteiligen Badeanzug. Sie sah anders aus. Das mit ihren Haaren hat sich wirklich gelohnt. Wir veränderten uns offenbar alle etwas in diesem Moment. Ich versuchte aus ihrem Blick herauszulesen, ob sie mich noch liebte, aber ich sah nichts Eindeutiges. Ich sagte mir, gut. Dann müssen wir wohl reden. Ich wartete auf die Wörter, aber mißtraute ihnen gleichzeitig. Wörter sind nicht sehr konstruktiv. Aber wir hatten keine andere Wahl. Ich habe jemanden getroffen, sagte sie. Sie stand vor mir. Die Transparenz zwischen uns war zu einer Gewohnheit geworden, abgesehen von ihrer Mutter. Abgesehen von ein paar Schattenzonen, stimmt. Aber im großen ganzen. Ich schätzte es, daß sie nicht zu lügen anfing. Ich sagte, ja, ich weiß. Ich habe euch gesehen. Hast du mir noch etwas zu sagen? Ich hatte Laura noch nie weinen gesehen, aber da schließlich doch. Beinahe jedenfalls. Ich mußte wieder an ihre Mutter denken. Aber sie immer noch nicht. Dieser Mann gefällt mir, sagte sie. Sie weinte also nicht, aber sie war den Tränen nah. Er gefällt mir, wiederholte sie. Sie fühlte sich schlecht, und sie wollte mir weh tun, das war klar, damit ich verstand. Sie hatte ihre Zweifel. Fürchtete, ich könnte es nicht für möglich halten. Aber nein. Es tat weh. Ich hatte von 177
Anfang an daran geglaubt, an dieses Ende. Seit ich sie zusammen gesehen habe, meine ich. Vorher nicht. Vorher nicht, nein. Und jetzt, fragte ich. Und wir? Ich erkundigte mich.Vor einem Schalter hätte ich mich besser gefühlt. Und außerdem hätte ich sagen sollen, und ich. Sie stellte es richtig. Du gefällst mir auch, sagte sie. Aber. Aber du hast eine Vorliebe, sagte ich. Manchmal richtig peinlich, dieses Bedürfnis, den Leuten zu Hilfe zu eilen, dachte ich. Es ist anders, sagte sie. Es ist besser, versuchte ich es. Das habe ich nicht gesagt. Aber wie kann es denn nur besser sein, fragte ich. Meine Ruhe war dahin. Ich bekam Lust, auszurasten. Damit es schnell ging. Ich sagte noch einmal ganz laut zu ihr, aber wie kann es denn besser sein. Ist er jünger? Nein, sagte sie. Es ist das Ganze, schlug ich vor. Im ganzen ziehst du ihn vor? Und wir. Ich mußte mich unbedingt beruhigen. Ich hätte sie am liebsten geohrfeigt. Aber sie sah nicht glücklich aus. Ich sehe ihn morgen wieder, sagte sie. Sie sah unglücklich aus. Das war vielleicht der schlimmste Moment. Und, fragte ich. Ich wartete, auf ihre Frage. Sie kam. Ich brauche dein Einverständnis. Es war nicht direkt eine Frage. 178
Auf mein Einverständnis kannst du verzichten, sagte ich. Was würdest du mit meinem Einverständnis anfangen? Sieh mal an, fügte ich hinzu. Du hast ihn verloren. Er ist mir vom Finger gerutscht. Er war zu groß, sagte ich. Es war nicht deiner. Er ist mir im Wasser entglitten, erklärte sie. Aber ich muß morgen auf jeden Fall noch einmal zum Strand, um ihm zu sagen, daß ich nicht komme. Dann komme ich wieder. Hierher, meine ich. Ich mache, was du willst, präzisierte sie. Wäre schön, wenn das möglich wäre. Ja. Ist es aber leider nicht, sagte ich. Doch. Nein, widersprach ich. Du wirst nie tun, was ich will, wenn du es nicht willst. Du kehrst schön zu ihm zurück. Bleibst bei ihm. Du wirst genau das tun, wozu du Lust hast. Ich hatte Angst, daß sie mir an die Kehle springt. Sie hielt sich zurück. Das konnte man sehen. Diesmal hätte ich sie wirklich gerne geohrfeigt. Zum Glück war Ralph in der Küche. Sonst hätte ich ihn angebrüllt. Ich suchte etwas zum Zerschmettern in der Nähe, aber die Auswahl war zu groß. Oder gleich alles zertrümmern, dachte ich. Alles zertrümmern und sie fertigmachen, beide. Ich dachte nicht einmal an diesen Typen, ich dachte an Ralph. Kaputtmachen, was ich vor Augen hatte. Angefangen bei Ralph, dann sie. Ich wußte schon, wenn ich so argumentierte, gab ich ihr eine Chance. Aber sie brauchte keine Chance. Auch nicht mein Geld. Sie überholte mich im Leben. Sie war schon weit weg. Und ich, ich blieb da. Mit 179
ihr. In mir. Ich dachte nach, dann fing ich an zu schreien. Ich brüllte. Keine Wörter. Hör auf, schrie Laura. Was ist los, fragte Ralph, der aus der Küche kam. Ich sagte, nichts. Es hat mir nicht einmal gut getan. Die Stille, die folgte, war lang. Aber die Nacht danach noch länger. Ich schlief unten, gegen Morgen. Ich war mit meiner Kraft am Ende. Ich hatte sie sogar trösten müssen. Ich hätte sie fast umgebracht. Als ich aufwachte, war niemand mehr da.
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Ich frühstückte. Besser, ich hatte was im Magen. Bei dem, was mir bevorstand. Ich hatte beschlossen, zu bleiben. Ich hätte ja auch fahren können. Außerdem wäre ich damit Constance aus dem Weg gegangen, falls sie kommen sollte. Aber ich war am Ende. Ich wollte es jetzt wissen. Wirklich wissen. Laura hätte sich ja auch täuschen können in diesem Typen. Vor allem hätte sie sich auch nicht täuschen können. Und mich geliebt haben. Während sie auf ihn wartete. Denn sie hatte mich geliebt. Kein Zweifel. Das half mir aber gar nichts. Gleichzeitig war es gut. Die Liebe bereut man nicht. Und ich bereute nichts. Gerade weil ich nichts bereute, wollte ich hingehen, zum Strand. Mit den anderen. Die anderen waren ruhig. Warteten einfach. Für mich war es ein bißchen anders, da war mein Platz. Bei ihnen, bei Laura und ihm. Ohne sie zu sehen natürlich, ich wollte mir nicht noch mehr weh tun. Also nicht zu nah. Ich wollte sie spüren. Da sein. Sehen, wie sich das ausnahm. Ich packte meine Strandsachen und ging. Um elf, wie vorgesehen, sie hatten keine Zeit verloren, um sich wiederzusehen. Laura hatte mir die Uhrzeit genannt, ich hatte ihr geglaubt. Sie hatte keinen Grund, mich wegen der Uhrzeit anzulügen. Obwohl. Na ja. Ich legte mich hin. Wir waren schon ganz viele. Es war heiß. Ich wartete wie alle anderen. Ich konzen181
trierte mich. Versuchte abzuschalten, leer zu werden. Ich stellte mir vor, daß das ihre Methode war. Damit hatte ich keine Probleme. Die Leere konnte ich spüren. Brauchte gar nichts zu unternehmen. Aber es war wie damals, als Constance mich verlassen hatte, es war eine Leere in Form einer Wunde. Ein Loch. Ein Abgrund. Es war völlig danebengegangen. Es fing wieder von vorne an, nur schlimmer. Mit den anderen hatte das überhaupt nichts zu tun. Ich versuchte es noch einmal. Versuchte, nichts zu fühlen, wie am Tag zuvor. Wieder anzuknüpfen an diese klare Empfindung, daß es soweit ist. Daß man am Rande ist. Ein Schnipser mit dem Finger, und man fällt. Aus, vorbei. Weil man völlig ungeschmeidig geworden ist. Man bestand bereits aus Glas. Nun ist man in die Brüche gegangen. Aber nein. Es kam nicht. Es ging nicht. Auch nicht, wenn ich die Augen schloß. Das ganze Leben zog vorbei, nicht sein Gegenteil. Ich bekam es satt. Ich dachte, das ist nichts für mich, diese Methode. Im Grunde war ich ein aktiver Typ. Ich sagte mir, wenn es nicht funktioniert, dann gehe ich halt zu ihnen. Kann genausogut zu ihnen gehen. Ich wandte mich nach links, schaute mir im Vorbeigehen die Leute an. Sie waren sich immer noch gleich, mit ihrer sanften Methode, und ich dachte, ich komme eindeutig schneller voran. Ich überhole euch gerade. Denn ich geh hin. Ich war beinahe stolz. Das ist die soldatische Seite in mir, wir haben alle eine, glaube ich. Dann kam ich an den Ort des Geschehens und sah sie. Eine Frau war bei ihnen. Ich versuchte zu verstehen. Ich war auf alles gefaßt, außer darauf, daß sie nicht allein sein könnten. Es sah aus wie eine Familie. 182
Sie waren zu dritt, und diese Frau, dachte ich einen Augenblick, war ihre Mutter. Ihre wiederauferstandene Mutter. Dann besann ich mich und sagte mir, es müsse die Mutter des Typen sein. Des jungen Typen. Das Witzige, aber ich lachte nicht, war, daß sie mich gesehen hatte. Sie, nicht Laura oder er. Die beiden hielten sich an der Hand, das habe ich vielleicht noch nicht gesagt. Es war grausam, ich fing an zu ersticken, unfreiwillig diesmal, schnappte nach Luft, und gleichzeitig hatte ich jetzt wirklich Lust, daß Schluß war, ich machte die Augen zu, drückte die Lider hinunter. Biß die Zähne zusammen. Ich versuchte mich abzuschotten. Beinahe wäre ich gefallen, ich hielt mich kaum mehr auf den Beinen. In diesem Augenblick sah mich Laura, und da konnte ich mich nur noch setzen. So wie man sich in den Sand neben die Leute setzt, wenn man sie trifft und mit ihnen sprechen will. Nur hatte ich ihr nichts zu sagen. Sie sagte, Jacques. Julien. Hélène, sagte die Frau. Ich fand, Laura integrierte sich schnell. Aber sie hatte sich ja auf diesem Gebiet bereits bewährt. Sie fühlte sich hier wohler als mit mir. Schon jetzt. Oder sie fühlte sich überall wohl. Und ich war für sie an jenem Morgen der andere. Jener, der von außen kommt. Wo ich doch von innen kam, von ihrem Innern. Ganz so, als müßte man eine Frau verlieren, wenn man sich ein kleines bißchen von ihr zurückzieht, als hätte ich bleiben müssen neulich. In ihr. Sie nicht loslassen dürfen. Hätte wenigstens mit ihr ins Wasser gehen müssen. Aber ich wußte nur zu gut. Das gibt es nicht. Was es gibt, das ist die Ablenkung. Man wendet einen Augenblick den Kopf ab, und vor sich hat man die Leere. Hélène also. 183
Hatte die Frau gesagt. Die Mutter des Typen. Julien. Wie anzunehmen war. Also nahm ich es an und tat wie alle anderen. Ich betrachtete Laura und dachte, daß sie sich wirklich schnell anpaßte. Sie hatte immerhin die Hand des Typen losgelassen. Ich werde jetzt die Lage der drei beschreiben. Hélène oben. Sitzend. Neben sich ein Buch. Die anderen beiden weiter unten. Auf die Ellbogen gestützt, dem Meer zugewandt. Julien senkrecht zu Hélène. Laura am spitzen Winkel des rechtwinkligen Dreiecks, das die drei bildeten. Und ich ging auf den rechten Winkel dieser Figur zu. Auf der verlängerten Grundlinie des Dreiecks. Hélène, die Mutter, befand sich allein oben. Ich ließ mich auf den Sand fallen, so daß ich den anderen beiden gegenübersaß. Außerhalb der Figur. Ich wechselte einen sehr kurzen Blick mit Julien und hatte Glück, er sagte nichts. Hielt meinem Blick nicht stand. Lächelte nicht. Was mir freie Hand ließ, zu explodieren oder mir Sand in den Mund zu stopfen. Reichlich Sand zu schlucken und bei der Notaufnahme zu landen. Oder ihn zu erwürgen. Oder guten Tag zu sagen. Ich sagte guten Tag. Mir sagte ich, es ist wie im Krieg, du gehst hin, das ist weniger gefährlich, als in die andere Richtung davonzurennen. 184
Dazu hatte ich sowieso nicht die Kraft. Ich wartete darauf, daß etwas geschah, etwas noch Schlimmeres. Und ich dachte, das noch Schlimmere müßte von mir kommen, ich war der einzige, der es noch schlimmer machen konnte. In welcher krankhaften Gestalt, keine Ahnung. Konnte mir nichts vorstellen. So streckte ich mich schließlich, nachdem ich guten Tag gesagt hatte, an Ort und Stelle aus, das schien mir das einfachste. Und schloß die Augen. Wenn Kommunikation angesagt war, beschloß ich, dann wäre das ihr Problem. Ich mußte nicht lange warten. In meiner von der Sonne etwas beeinträchtigten Dunkelheit hörte ich Laura sagen, also, wollen wir ins Wasser, kommst du? Ich habe verstanden, daß ihr Also sich an alle richtete und der Rest an den anderen, in einem Ton, den ich an ihr nicht kannte. Ich hatte gedacht, ich würde sämtliche Töne Lauras kennen. Vor allem im Register der Sanftheit, der Nähe. Aber nein. Ich hörte, wie sie aufstanden, ich öffnete ein Auge, sie gingen aufs Wasser zu. Ich schloß das Auge wieder. Ich rang nach Luft, ich wollte nicht mehr verschwinden, ich wollte überleben, mit fest geschlossenen Augen, mit einem normalen Atemrythmus. Für die Genesung war es vielleicht noch etwas zu früh, aber gut, ich lag da. Ich hörte, geht es Ihnen nicht gut? Das kam von oben, wahrscheinlich von Hélène. Ohne mich zu rühren sagte ich, nicht sehr. Zu Hélène, nahm ich an. Sie fragte, ob sie was für mich tun könne. 185
Immer noch Hélène, stellte ich mir vor. Ich hatte den Namen behalten. Wie jene Details, die man in einer insgesamt ernsten Situation erfaßt. Ich dachte, die Höflichkeit geböte, daß ich antworte. Oder der Instinkt. Wie auch immer, ich hatte jedenfalls vor, zu antworten. Aber da ich nicht wußte, was sie für mich tun konnte, stand ich auf und ging zu ihr. Das Stehen klappte einigermaßen. Ich setzte mich trotzdem wieder hin. Zwei Meter von ihr entfernt. Ich sagte, es geht schon, es geht vorbei, danke. Die beiden badeten in meinem Augenwinkel. Ich hatte Hélène angesehen, das ist normal, wenn man redet, aber mein Blick glitt an ihrem ab. So, wie wenn die Leute dich ansehen, weil sie dir zuhören, es dir aber so dreckig geht, daß sich ihre Aufmerksamkeit vor dir aufrichtet wie eine Wand. Ob sie es wollen oder nicht. Alles prallt ab. Kehrt zu dir zurück. Und bei dieser Frau, die ich nicht kannte, die ich zum ersten Mal sah, sah ich nur mich, das heißt nichts, das Nichts, das ich war, oder auch das Alles, diese Kugel aus Nichtverstehen und Schmerz, auf die ich mich reduziert fühlte, worin ich meine restlichen Kräfte versammelt hatte, und diese Kugel schmiß ich ihr ins Gesicht, da sie vor mir saß und war wie ich. Eigentlich mehr ein Spiegel als eine Wand. Ein trüber Spiegel, in dem man sich nur schlecht sieht, wie ein Reflex, der sich verliert. Und schließlich schwiegen wir. Dann schaute ich sie wieder an, richtig diesmal, und stellte fest, daß sie eine Frau in meinem Alter war. Damit sah die Sache etwas anders aus. Auf ihrem Gesicht lag eine interessante Müdigkeit. Ich mag die Müdigkeit bei Frauen. Ich fand sie interessant und ernst. 186
Ihr großer Fehler war, daß sie die Mutter des Typen war. Sie sah ihm ähnlich. Ich fühlte mich krank, hatte ein Bedürfnis nach Fürsorge. Ich stellte mir vor, mit ihr im Bett zu liegen, den Kopf dieses Typen vor mir. Nicht gerade ermutigend. Denn da ich Laura verlor und es mir weh tat, dachte ich automatisch daran, mich umzuorientieren, diesen Reflex hatte ich schon immer gehabt. Aber dieses Umorientierungsprojekt war noch sehr vage, ausgebrütet in fiebrigem Zustand, im Bewußtsein auch, daß ich nicht dafür geeignet war. Daß ich nur dazu taugte, gelebt zu haben, zu leben nicht. Ich wollte nicht ins Detail gehen, deshalb sagte ich zu ihr, ich hätte den Eindruck, die Leute seien hierhergekommen, um sich aufs Sterben vorzubereiten. Es war eine allgemeine Einschätzung, die mir etwas Größe verlieh, und das war kein Luxus. Sie sagte, Sie sind ja lustig, dann bat Sie mich, meinen Gedanken auszuführen. Ich lieferte ihr wenigstens einen Gesprächsgegenstand. Ich erklärte es ihr. Die Entspannung vor allem. Und dieser Wille, sich nicht mehr zu bewegen, auf einer beweglichen Unterlage. Sie sagte, das ist interessant, aber ich persönlich bin nicht dafür hergekommen. Ich sagte, Ausnahmen gebe es immer. Bei diesem Stand der Dinge hielt ich nach den beiden Ausschau, sah sie aber nicht mehr. Ich beobachtete die schwarzen Punkte auf dem Wasser, dann, als es mich blendete, gab ich es auf. Ich bin dabei, mich scheiden zu lassen, sagte Hélène. 187
Ich dachte, sie redete mit dem Sand. Offenbar nicht, sie sprach mit mir. Ich bin gekommen, um etwas Abstand zu gewinnen, sagte sie. Ich nickte. Sie fragte mich, ob ich mich für Scheidung interessiere. Ich sagte, äh, nein. Im Augenblick nicht. Aber ich interessiere mich für alles, fügte ich hinzu. Folglich auch für Scheidung. Ich hatte keine Lust, mich von ihr abzuschneiden. Nicht gleich. Dann sagte Hélène, es ist ein Glück, daß Sie das interessiert, denn ich persönlich bin unfähig, von etwas anderem zu sprechen. Ich mache bereits die Erfahrung der Einsamkeit. Und habe es auch noch geschafft, mich von der ganzen Welt abzusondern. Ich habe hier eine Ferienwohnung gemietet. Ich fragte, ob sie gut sei. In Ordnung, sagte Hélène. Ich habe ein Einigungsverfahren mit beiderseitigem Verschulden vorgeschlagen, aber er hat beschlossen, es abzulehnen. Er will mir die Schuld geben. Zwanzig Jahre gemeinsames Leben, um da anzukommen. Sie sah ihrem Sohn wirklich ähnlich. Bis auf die Augen. Er mußte die Augen von seinem Vater haben. Ich sagte, wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie diejenige, die geht. Das war offensichtlich, aber auch nicht weiter schlimm. Ich hatte ihr ein Stichwort gegeben. Sie sagte, ja natürlich, ich will es, das scheint mir klar zu sein. Ich versuche mich abzulenken, fügte sie hinzu, aber ich kann nicht lesen. Das Buch lag neben ihr. Ich las den Titel. 188
Haben Sie Probleme mit Ihrem Schutzengel, fragte ich. Lächelnd. Ich schlug mich nicht schlecht. Sie lächelte auch und sagte nein. Ich bereite mich vor, für alle Fälle. Ich dachte, ich muß mit Claire über diesen Titel sprechen, wenn ich mal zwei Minuten Zeit habe. Wie lebe ich im Einklang mit meinem Schutzengel. Das wird ihr gefallen. Ich bin froh, daß Sie mir zuhören, sagte Hélène. Es ist nicht einfach, Leute zu treffen, die zuhören können. Es interessieren sich eben nicht alle für Scheidungen, sagte ich. Ich will gar nicht mehr darüber reden, sagte sie. Haben Sie sich die Gegend angesehen? Nein, sagte ich. Um ehrlich zu sein, fügte ich hinzu, denn ich hatte Lust, mich auch etwas einzubringen, ich weiß nicht, warum ich es hätte verschweigen sollen, ich bin nicht ganz in der Verfassung dazu. Ich bin durcheinander. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich wollte mich aufspielen, aber ich glaube, ich bin sehr unglücklich. Machen Sie sich keine Sorgen, man sieht es Ihnen an, sagte Hélène. Kommen Sie ins Wasser? Sie stand auf. Ich tat es ihr nach. Ich komme mit, sagte ich. Ich war nicht sehr scharf aufs Baden. Ich konnte gerade ohne Schwierigkeiten gehen, aber Spaß machte es nicht. Ich ging mit Hélène bis zum Wasser. Sie war nicht sehr groß. Sie war schlank. Ich fand ihre Beine gut. 189
Sie tauchte ein. Ich nicht. Ich sagte, ich warte auf Sie, mir ist ein bißchen kalt, das ist mein Allgemeinzustand. Sie stürzte sich in die Wellen. Sie schwamm fünfzehn Meter und drehte sich um. Sie konnte noch stehen. Kommen Sie? Ich fragte mich, was schwieriger war, am Ufer zu bleiben oder hineinzugehen. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte mich aufgefordert, etwas trinken zu gehen. So wäre mir weniger kalt gewesen. Ich benetzte mich. Ich bewegte mich auf sie zu. Sie schwamm verdammt gut. Sie hatte ungefähr Lauras Niveau. Nein, sie war besser. Ich schwamm auf der Seite. Sie entfernte sich. Als sie die Boote erreicht hatte, drehte sie sich um, winkte und schwamm weiter. Ich sagte mir, na gut. In diesem Augenblick, fast sofort eigentlich, bekam ich diesen Krampf. Ich fragte mich gerade, ob es nötig sei, ihr hinterher zu schwimmen, ich hatte nicht mehr die Wahl. Ich kann ja in der Zwischenzeit den toten Mann machen, sagte ich mir. Aber der tote Mann wollte mir nicht gelingen. Gewöhnlich war ich ziemlich gut darin. Ich konnte es sogar ohne Arme, legte sie an den Körper. Jetzt zog mich mein Bein in die Tiefe. Und außerdem war mir kalt. Ich regte mich auf. Dadurch verlor ich an Kraft. Ich ging unter. Schluckte Wasser, dann kam ich mit den Armen wieder hoch. Von Anfang an hatte ich versucht, den Fuß des betroffenen Beines gegen den anderen zu drücken, so wie man es macht, wenn es im Bett passiert, aber ich beherrschte meine Beine nicht 190
mehr. Ich konnte nur das eine bewegen, und die Arme begannen mir weh zu tun. Ich trieb zu Hause überhaupt keinen Sport, das habe ich vielleicht schon erwähnt. Ich spürte, daß ich wieder unterging, und brachte es gerade noch fertig, zu rufen, ich hatte nicht mehr allzuviel Luft. Und während ich unterging, kam mir der Gedanke, das war's, ich muß mich getäuscht haben über dieses Gefühl, das ich hatte in bezug auf den Strand. Daß man sich hier vorbereitet. Ich habe mich nicht in der Bedeutung getäuscht, ich habe mich in der Ebene getäuscht. In der Bedeutungsebene. Es ist keine Metapher. Mit mir ist es aus, endgültig. Was im Grunde gut ist so, dachte ich. Ich kann genausogut Schluß machen. Schluß machen wegen einer Frau, die geht, wegen einer anderen, der man zu folgen versucht. Schluß machen mit den Frauen, denn sie sind mein Leben. Das jetzt dahingeht. Wie die anderen. So wie es mit mir stand, verwechselte ich mein Leben mit einer Frau. Zu meiner Entlastung kann ich hinzufügen: Ich war dabei zu ersticken. Man konnte ohne Übertreibung sagen, daß ich gerade ertrank. Das Wort schien mir nicht zu stark. Höchstens ein bißchen lächerlich. Ein bißchen platt. Doch der kritische Sinn hatte mich auch verlassen. Vielleicht wird man vulgär im Sterben, dachte ich. Aber was soll's, meinen letzten Satz wird sowieso keiner gehört haben. Da spürte ich eine Hand. Endlich fühlte ich etwas. Ich wurde hochgezogen. Ich war in ziemlich schlechter Form, etwas in Richtung Ohnmacht, wenn man so will, jedenfalls litt ich nicht. Oder merkte es nicht. Ich hatte das Gefühl von Wasser, von viel Wasser überall, um mich herum und vor allem in mir drin. Mit ei191
nem vagen Geschmack von Salz im Mund. Und dann wurde ich schwer. Ich machte keinerlei Anstrengung. Der andere da, die Hand, dann der Arm, zog fest an mir, ich empfand eine konfuse Dankbarkeit für ihn. Ich hätte gerne geholfen, aber offen gesagt, ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen, nicht noch mehr Wasser zu schlucken, bei diesem ganzen Wirbel. Ab und zu ging ich wieder unter, nicht für lange, es war eine unbequeme Rettung, aber ich will mich nicht beklagen. Ich wollte nur, daß wir endlich ankamen. Als wir Grund spürten, packte mich mein Retter um die Hüften. Legte meinen Arm über seine Schulter. Da kam noch ein zweiter Retter hinzu. Ich bewies letztlich doch eine ausgezeichnete Konstitution. Danach legten sie mich in den Sand, auf den Rücken, ich ließ es geschehen. Meine zwei Retter beugten sich über mich. Ich dachte, wenn ich die Augen aufmache, wird es hoffentlich nicht der andere sein. Der Typ. Der Junge. Er war es nicht. Ich sagte mir, ich könne von Glück reden. Um uns herum hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet. Dann sah ich Hélène, triefend naß, die sich jetzt auch über mich beugte. Ich begegnete ihrem Blick und hatte Lust, mich darin zu verlieren. Ich dachte, es geht besser. Nach einer Weile hatte ich sogar genug Luft, um etwas zu sagen: Wird schon wieder, warf ich in die Menge, ist gut, ich glaube, es geht wieder. Ich setzte mich auf. Die Leute verzogen sich, aber ich mußte mich der Badeaufsicht zeigen. Ich sagte, es geht schon wieder, ist alles in Ordnung, schauen Sie. Ich stand auf. Sehen Sie, sagte ich. Es drehte sich nicht einmal. Hélène faßte mich 192
mit dem Arm unter der Achsel, führte mich an ihren Platz. Auf dem Weg schüttelten wir die Neugierigen ab. Wir setzten uns beide. Erst in diesem Augenblick bemerkte ich, daß sie schuldbewußt aussah. Ich kam ihr zuvor. Es ist meine Schuld, sagte ich. Ich hätte Sie warnen sollen. Nein, ich hätte Sie warnen sollen, sagte sie.. Ich schwimme weit, wenn ich schwimme. Wir fingen an, über Gott und die Welt zu reden, sie und ich. Ich hatte mich ausgestreckt, so fühlte ich mich entschieden besser. Hélène war sitzengeblieben. Sie sprach mehr als ich. Einmal hielt sie mitten im Satz inne. Oh, sagte sie. Ich glaube, da kommt Ihre Tochter zurück.
Zentauer 2005-06-03
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