Gruselspannung pur!
Der Todesbote aus Greifswald
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Dichter Nebel waberte über...
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Gruselspannung pur!
Der Todesbote aus Greifswald
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Dichter Nebel waberte über den Asphalt der Greifswalder Brüggstraße. Ein Leichenwagen fuhr vor dem Haus mit der Nummer achtunddreißig vor, und zwei feierlich gekleidete Herren vom Bestattungsinstitut Knobus stiegen aus. Sie läuteten bei Familie Keick, die erst seit drei Wochen dort wohnte. Angela Keick öffnete die Tür, und die Männer erklärten, sie kämen, um die sterblichen Überreste Ihres Gatten abzuholen. Angela Keick erlitt einen Schreikrampf, denn ihr Mann erfreute sich bester Gesundheit. Er war gerade im Badezimmer… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! Bis dahin war alles nachtschwarz gewesen. Jetzt aber sah er den schmalen Streifen Licht. Der Drak steckte schon so lange in dem Kästchen, das er jegliches Empfinden für Raum und Zeit verloren hatte. Draußen, außerhalb seiner winzigen, düsteren Welt, erklangen Stimmen.
Die eine Stimme kannte er. Sie gehörte Walter Buchhester, dem Inhaber des Trödelladens. Die andere Stimme hörte sich rauh und ein wenig zittrig an. Ein Kunde, der eine Kuriosität kaufen wollte. Geradezu zwanghaft starrte der Drak auf den hellen Streifen. Erhoffte inständig, daß jemand das Kästchen öffnen und er endlich frei sein würde. Ein Schatten verdunkelte den Schlitz. Jemand machte sich am Kästchen zu schaffen. Rüttelte daran, probierte, mit einem Stück Metall das Schloß aufzubekommen. Es knirschte gräßlich. Der Drak purzelte von einer Ecke in die andere. Er kam sich vor, als ritte er auf einer Windböe über das Land. Trotzdem, er stieß sich zwar, aber er tat sich nicht weh. Draks empfanden keine Schmerzen. Wieder wurde er gegen eine Wand seines engen Gefängnisses geschleudert. Am liebsten hätte der Drak hinausgeschrien, daß er diesen Kasten endlich verlassen wollte. Doch er hatte keine Stimme mehr. Sie war weg, seit er in der Kiste saß. Wie das kam, wußte er nicht. Er konnte froh sein, daß er überhaupt noch lebte. Möglicherweise war er sogar der Letzte seiner Art. Der Drak erschrak bei diesem Gedanken. Zum tausendsten Male erinnerte er sich an die letzten Ereignisse, bevor er für Ewigkeiten in dem Holzkästchen verschwunden war. Da war dieser Junge in der Tunika aus Sackleinen. Sie hatten in der Küche auf dem Ofen gesessen, sich unterhalten wie zwei Seelenverwandte. Es war ein böser, einfältiger Knabe von zwölf Jahren, der andere Kinder peinigte und wehrlose alte Menschen mit Pferdeäpfeln bewarf. Er war der beste Freund des Draks. Sie ähnelten sich sehr. Mitten in ihrem Gespräch überfielen die Büttel des Vogtes die Bewohner der Hütte. Einige warfen brennende Fackeln auf das Schilfdach. Andere stürzten herein und brachten die schlafenden Eltern des Jungen um. Die Büttel rissen sie von ihren Strohsäcken und erschlugen sie mit Holzkeulen. Die Eltern des Jungen waren mit den Abgaben in Verzug. Für Vogt Matthias das größte Verbrechen, das es gab. Gebannt starrte der gefangene Drak auf den gelblichen Schlitz des Kästchens. Als die Männer des Vogtes in die Hütte stürzten, war er behende ins Kästchen geschlüpft. Der Junge - der Drak wußte gar nicht mehr, wie er hieß - hatte noch zuschließen können, da waren bereits die Männer des Vogts über ihm. Der Junge kam nie wieder. Seitdem steckte der Drak in seinem engen, nachtschwarzen Gefängnis.
Das geschah in dem Jahre, als auf Geheiß des Pommerschen Herzogs Johann Friedrich der Hofnarr Claus Hintze mit einer Bratwurst hingerichtet wurde. Im März 1599. * Walter Buchhesters Antiklädchen lag zwischen der Rathenaustraße und der Bushaltestelle St. Georgsfeld. Die Wände des Geschäfts waren mit Rauhfasertapete beklebt und weiß übergetüncht. Dicht an dicht hingen Gemälde in abgewetzten Goldrahmen und vergilbte Familienfotos von Anno Dazumal nebeneinander. Auf den staubigen Kommoden und Anrichten standen neben altertümlichem Zierrat unzählige Bücher, die einen muffigen Geruch verströmten. An den beiden Fenstern baumelten nikotingelbe, verschlissene Stores und schwere, dunkelblaue Samtvorhänge. Buchhester lehnte an der Ladentheke und schüttelte ein kleines, verwittertes Holzkästchen. »Ich denke, achtzig Mark sind ein fairer Preis«, sagte er zu einem weißhaarigen Greis, der gedankenvoll an den Enden seines seehundartigen Schnurrbartes zupfte. Walter Buchhester war ein Mann von knapp vierzig Jahren. Er trug Blue Jeans, ein mintfarbenes Freizeithemd und hatte seine pomadigen Haare streng nach hinten gekämmt. Er witterte ein Geschäft. »Fünfzig, mit dem passenden Schlüssel«, sagte der Alte starrköpfig. »Was soll ich mit einem Kästchen anfangen, das ich überhaupt nicht aufbekomme?« Buchhester betrachtete den Zankapfel. »Nun gut, wenn Sie's nicht wollen, dann eben nicht. Aber für fünfzig kann ich's Ihnen nicht lassen. Da könnte ich mich gleich hinstellen und alles verschenken.« »Woher stammt das Kästchen eigentlich?« forschte der Alte einlenkend. »Eine Haushaltsauflösung?« Buchhester hüstelte. Der Interessent hatte ins Schwarze getroffen. »Von wegen«, ereiferte sich der Geschäftsmann. »Was glauben Sie denn? Ein Sammler, der nicht genannt werden will, hat es mir verkauft.« »Mm, aber der Schlüssel…« Buchhester zog die Augenbrauen in die Höhe. »Mal andersherum: Was wollen Sie darin denn aufbewahren? Briefmarken, Stecknadeln, Büroklammern? Viel zu schade. Vielleicht gab's für das Kästchen nie einen Schlüssel.«
Der Alte grinste schief. »Wieso sollte man hier ein verschlossenes Kästchen hinstellen?« Es dauerte eine Weile, bis sich Buchhester von seiner Verblüffung erholt hatte. »Zum Kuckuck!« jammerte er. »Woher soll ich den Schlüssel nehmen? Solange ich dieses Kästchen habe, war es immer ohne Schlüssel.« Der Alte hieß Herrmann Grapenthin. Er war zweiundsiebzig und hatte davon fünfzig Jahre in den Greifswalder Restaurants und Kneipen als Oberkellner gearbeitet. Irgendwann, als er um die Vierzig war, erwachte seine Liebe für kleine, bezahlbare Kuriositäten. »Wollten Sie nie wissen, was da drin ist?« wollte er wissen. »Es ist leer.« Buchhester rollte mit den Augen. »So glauben Sie mir doch! Warum sollte ich es mit Gewalt öffnen? Wenn sowieso nichts drin ist. Sagen Sie's mir!« Obwohl er anderer Ansicht war, erhob Grapenthin zunächst keinen Einwand. Er streckte den Arm aus. Bereitwillig legte Buchhester das Kästchen in die knorrige Hand des Greises. Grapenthin beäugte es aufmerksam. Das Kästchen war nicht größer als die geballte Faust einer Frau. Die Oberfläche war fast quadratisch. Ringsum war es verwittert wie das verrunzelte Gesicht eines Hundertjährigen. Der Deckel war mit einigen schlangenähnlichen Schnörkeln versehen. Das Schloß war nicht größer als der Filter einer Zigarette und arg verrostet. Das Kästchen stand auf drei knubbeligen Füßchen. Füßchen vier fehlte. Grapenthin wiegte seinen Graukopf. »Ich glaube, auch wenn man den Schlüssel hätte, würde man diese Krankheit von einem Schloß kaum noch aufkriegen.« Walter Buchhester atmete auf. »Mein Reden«, meinte er. »Siebzig Mark, und Sie können es mit nach Hause nehmen.« »Hm.« »Wenn es Ihnen partout nicht gefällt, dann…« »Also gut.« Grapenthin nickte. »Sie sind einverstanden?« Auf Buchhesters Miene lag ein triumphierender Zug. »Hier, siebzig Mark.« Grapenthin blätterte einen Zwanziger und fünf Zehnmarkscheine auf die Ladentheke. »Aber 'n Tütchen hätt' ich noch gern dazu.« Buchhester grinste breit. »Klar doch, Sie kriegen Ihr Tütchen.« Grapenthin ging. Draußen, auf dem Weg zum Parkplatz, schwankte er zwischen
Hochstimmung und Beklommenheit. Eigentlich hatte ihm Petra, seine Tochter, das Geld gegeben, damit er einige Lebensmittel einkaufen konnte. Sie hatte ihn zu sich in ihr Eigenheim genommen, als Hedwig, seine Frau, vor drei Jahren verstorben war. Und jetzt? Kam er statt mit Butter und Brot mit einem verrotteten Kästchen nach Hause, das nicht mal aufging. Auf dem Parkplatz neben dem Antiklädchen blieb er stehen. Er schaute zum Himmel. Es war einer dieser grauenvollen Herbsttage, an denen es nicht richtig hell werden wollte. Graue, dickbäuchige Wolken versperrten der Sonne den Blick auf die Erde. Wenn man die Wolgaster Straße entlangspähte, erkannte man die Spitze des Domes St. Nikolai. Es sah so aus, als würde der Turm der Basilika bis in den Himmel stoßen. Schwer atmend stieg Herrmann Grapenthin in den Honda Accord, den ihm seine Tochter zur Verfügung gestellt hatte. Die weißliche Plastiktüte mit dem Kästchen landete auf dem Beifahrersitz. Grapenthin ließ den Motor an und gab Gas. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Er mußte Petra unbedingt erklären, wieso er heute ohne Lebensmittel nach Hause kam. Das geheimnisvolle Kästchen! Er würde den Deckel schon aufbekommen. Zehn zu eins, daß doch irgendwas darin verborgen war. Voller Vorfreude schaltete er in den dritten Gang. Die Reifen schmatzten und zischten über den nassen Asphalt. Noch zwanzig Minuten, dann würde es soweit sein… * »Hast du schon mal was geklaut?« fragte Basti. Michael stutzte. »Jemandem heimlich etwas weggenommen?« Die Jungen standen vor dem Supermarkt im Gewerbegebiet Neuenkirchen, direkt an der B96. »Ja-ah«, preßte Basti leise hervor, »irgendeinen Gegenstand, der dir gefiel, aber jemand anderem gehörte?« Michael überlegte. »Ich glaube nicht.« »Na, dann wird's aber höchste Eisenbahn, Kleiner!« sagte Basti vorwurfsvoll. »Wieso, meinst du, muß man mal was gestohlen haben?«
Der Siebzehnjährige grinste höhnisch. Er beugte sich näher an Michaels Ohr und raunte: »Eine Mutprobe. Verstehst du? Du willst doch, daß alle Kids im Ort Respekt vor dir haben. Ohne, daß du mal beweist, was in dir steckt, geht's aber nicht. Capito?« Michael schluckte. »Klauen finde ich blöd. Außerdem bringt es nichts als Scherereien. Wenn man erwischt wird, kommt die Polizei und…« »Kein Aas verlangt, daß du dich erwischen läßt.« Basti suchte etwas in seinen Hosentaschen. Als er die Hand wieder vorzog, sah der kleine Michael etwas Glänzendes darin. »Was hast du da?« fragt der aufgeregt. »Etwas Gestohlenes?« Ein dicker Mann mit einer speckigen Schiebermütze blieb auf einmal neben den beiden Jungen stehen. Er reckte seinen Hals und spähte auf den angrenzenden Parkplatz. Daraufhin fluchte er leise und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Als der Mann fort war, öffnete Basti seine Faust. Darin kam ein goldenes Kettchen zum Vorschein. »Hier«, sagte er stolz, »frisch geklaut. Hat kein Mensch mitgekriegt. War 'n echt geiles Gefühl.« Michael starrte ungläubig auf die Kette. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen. »Was willst du damit? Dir um den Hals hängen?« »Blödmann!« schnauzte Basti den Jüngeren an. »Ich will dir damit beweisen, daß ich's ernst meine.« In Michael rumorte es. Er verabscheute Unehrlichkeit. Aber andererseits mußte es ihm endlich gelingen, von den Jungs im Ort anerkannt zu werden. Seitdem er mit seinen Eltern und seinem Großvater das Eigenheim in Neuenkirchen bewohnte, hatte er nur einen einzigen echten Freund: Basti. Und dessen Meinung galt hier etwas. Das hatte Michael schon herausgefunden. »Ich bin kein Feigling«, sagte er. »Im Schwimmbad springe ich glattweg vom Dreimeterbrett, wenn's drauf ankommt. Aber stehlen…?« Basti lachte leise. Die Kette verschwand wieder in seiner Hosentasche. »Mach's gut, Lilliput«, sagte er geringschätzig. »Ich seh schon, du hast die Hosen voll. Und ich dachte, du würdest mal beweisen, daß du kein Muttersöhnchen bist. Bis später, Kumpel!« Basti drehte sich um, im Begriff, Michael stehenzulassen. Der Jüngere kämpfte mit sich. Dann gab er auf. »Warte, Basti!« keuchte er. »Ich werde es dir beweisen. Jetzt sofort, wenn's sein muß.«
»Na bitte. Ich hab's doch gewußt, daß du keine Memme bist.« »Was soll ich tun?« Michael schauderte. Basti legte die Stirn in Falten. Forschend betrachtete er den Kleineren. Mit einemmal hellte sich sein Gesicht auf. »Geh in den Supermarkt und hol mir 'ne Pulle Bourbon!« »Bourbon?« »Das ist Whisky, du Nasenbär. Amerikanischer. Anderen trinke ich nicht.« »Schnaps willst du haben?« »Bingo. Krall dir den Whisky und bring ihn mir. Aber paß auf, daß dir nicht halb Neuenkirchen dabei zuguckt.« »Bin doch kein Baby mehr.« »Schieb ab!« Basti gab Michael einen Schubs. »Wenn du's schaffst, reicht mir das als Beweis, daß du…« »Jaja, ich weiß schon.« Kurz entschlossen griff Michael nach einem der herumstehenden Einkaufswagen. Mit trotzigem Gesicht rollte er ihn dem Eingang zu. Die Glastüren sprangen auf. Ein warmer Luftzug ließ ihn zusammenfahren. Er preßte die Zähne aufeinander. Unbeirrt setzte er seinen Weg fort. Zu den Getränkeregalen. Basti blieb grinsend zurück. Er war kräftig gebaut und hatte streichholzlange, mittelblonde Haare. Er trug zerknitterte schwarze Jeans, T-Shirt und eine abgewetzte Lederjacke mit Bündchen. Er befühlte das billige Kettchen in seiner Tasche, das er von seiner kleinen Schwester gegen einen Tintenkiller eingetauscht hatte. Dabei leckte er sich über seine spröden Lippen. Basti dachte an Michael, der jetzt tausend Ängste ausstand. Dieser Dreikäsehoch meinte tatsächlich, daß dies eine Mutprobe für ihn sein sollte. Dabei hatte er, Basti, nur Trick 17 angewandt, um selber Eindruck vor den älteren Kumpels der Clique zu schinden. Und selber klauen? Basti schüttelte sich. Brrr! Viel zu gefährlich! Zumal seine Mutter im Supermarkt arbeitete. Wenn sie Wind davon kriegen würde, daß er hier lange Finger machte, könnte er sich gleich das Gesicht schwarz anmalen. Mutter war streng. Sie würde auf der Stelle Konfetti aus seiner Anmeldung für den Führerschein machen. Und das, wo ihm der starke Werner schon einen günstigen Polo in Aussicht gestellt hatte. Basti mußte noch mehr grinsen. Doch da erstarrte sein Gesicht zur Maske! Der kleine Michael sprang aus dem Supermarkt und rannte an ihm vorbei auf den Parkplatz. Triumphierend schwenkte er die Whiskeyflaschen. Hinter ihm hasteten zwei wütende Frauen in hellblauen Kitteln.
Bevor Michael zwischen den parkenden Autos untertauchte, hatte er noch eine Nachricht für seinen Freund: »Hau ab, Basti! Es hat geklappt! Ich hab deinen Whisky. Wir treffen uns am alten Platz!« Die zwei Frauen stoppten. Finster musterten sie den verblüfften Auftraggeber des dreisten Diebstahls. Eine sprach Basti an: »Sag mal? Du bist doch der Sebastian Klatt, nicht wahr? Arbeitet nicht deine Mutter bei uns? Ich hab' dich doch schon mal im Laden gesehen.« Ein Kloß würgte in Bastis Hals. Angstschlotternd setzte er sich in Bewegung. Er rannte und rannte. Er hörte erst auf zu rennen, als ihm die Seitenstiche die Luft zum Atmen nahmen. Glücklicherweise hatte er die Verfolger abschütteln können. Basti setzte sich auf einen großen Feldstein. Er war geradewegs in den nahen Wald gelaufen. Über ihm rauschte das Laub der Eichen und Buchen. Düster starrte er eine Weile vor sich hin. Dann ballte er die Fäuste. »Mach dein Testament, Michael Grapenthin!« zischte Basti durch die Zähne. »Ich werde jetzt kommen und dir den Hintern aufreißen!« Geduckt lief der Siebzehnjährige durch den Wald. Die Seitenstiche hatten nachgelassen. Zum Grapenthinschen Haus waren es nur ein paar hundert Schritte… * Das Kästchen sprang auf! Herrmann Grapenthin war in seinem Leben noch nie so überrascht gewesen. Nach langer Fummelei hatte er es endlich mit Hilfe eines gebogenen Drahtes geschafft! Es war, als detonierte ein Sprengsatz. Nicht irgendwo, sondern direkt vor ihm auf seinem antiken Sekretär. Darauf stand das Kästchen, vielmehr hatte es gestanden. Jetzt flog es irgendwo durch die Luft. Und der neugierige Großvater flog gleich mit. Ein unglaublicher Luftdruck fegte ihn geradezu von seinem Stuhl und klatschte ihn wie ein welkes Blatt gegen die Wand. Die Fensterscheiben klirrten, drohten zu zerbersten. Grapenthin hörte seine Knochen krachen. Er brüllte vor Schmerzen. Niemand hörte seine gellenden Schreie. Der alte Mann war allein im Haus.
Das ganze Firmament funkelte vor seinen Augen. Mit aller Kraft versuchte er, seine Augenlider hochzuziehen. Sehen… Es ging nicht. Die Dinger schienen aus Gußeisen zu sein. Grapenthin hatte nicht im geringsten eine Vorstellung davon, was hier mit ihm abgezogen wurde. Er hatte doch nur am Deckel eines altertümlichen Kästchens herumgefummelt. Mit einer Haarnadel, die er in Petras Nachtschränkchen aufgestöbert hatte! Was war passiert? Grapenthins runzliges Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Ächzend sank er zu Boden. Eine scharfe Kante bohrte sich in seinen Rücken. Die Ecke des Wandregals. Er riß es herunter und hörte, wie die Nippessachen auf den Teppich purzelten. Glas splitterte. Porzellan zersprang. Er wimmerte, als er zur Seite kippte und mit dem Kopf gegen das eichene Bücherregal knallte. Sein Schädel brummte, als würde er von einer durchzechten Nacht erwachen. Sehen… Alles war schwarz. Nur Sterne. Grapenthin spürte, wie Tränen über seine runzligen Wangen kullerten. Ein Geräusch! Dumpf, weit weg, als riefe jemand, der tief in einem Brunnen saß. Nein, es war kein Rufen - es war ein Kichern, ein gespenstisches Kichern, das nicht von dieser Welt zu sein schien. »Frei«, kicherte die Stimme. »Ich bin frei…« »Wer ist da?« röchelte Grapenthin. Das Kichern verebbte. Doch das Brummen im Kopf des alten Mannes blieb. Es war sehr still. Nur Brummen. Dann: »Ich bin ein Drak.« Grapenthin verstand kein Wort. »Wer bist du?« »Ein Drak«, sagte die Stimme in durchdringendem Ton, als hätte man an der hohen E-Seite einer Gitarre gezupft. Grapenthins Herz pochte wild. »Was, um alles in der Welt, ist ein Drak?« japste er schmerzerfüllt. »Hab ich noch nie gehört.« »Du kennst uns nicht?« Sehen… Es klappte einfach nicht. Grapenthin probierte, einen Arm zu heben.
Möglicherweise funktionierte es, wenn er ein Augenlid hochschob. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Körper, als er einen Arm hob. Stöhnend ließ er den Arm wieder sinken. »Nein, verdammt!« rief er aus. »Ich kenne euch nicht.« »Du siehst nicht aus, als würdest du an Antoniusfeuer leiden«, meinte die Stimme. »Ein jeder kennt uns.« Antoniusfeuer! Grapenthin erstarrte, vergaß für einen Augenblick seine qualvollen Schmerzen. Hielt ihn der unheimliche Besucher für verrückt? Antoniusfeuer war eine der gefährlichsten Krankheiten des Mittelalters. Auch Kribbelkrankheit genannt. Von Mutterkornpilz befallener Roggen löste schlimmste Vergiftungen beim Menschen aus, wenn sie damit gebackenes Brot aßen. Die Unglücklichen wurden wahnsinnig, ihre Blutgefäße wurden zerfressen, dann starben ihnen die Gliedmaßen ab. Ein langsamer, ein fürchterlicher Tod. In einem Museum hatte Grapenthin unlängst ein mittelalterliches Tafelbild gesehen, das diese Krüppel beim Betteln und Almosensammeln zeigte. Aber das Antoniusfeuer war seit Jahrhunderten ausgerottet! Wenn er nur etwas sehen könnte! Grapenthin fluchte. Die Stimme: »Wir Draks sind nützliche Hausgeister. Die meisten von uns sehen aus wie richtige Menschen, nur viel kleiner. Wir bringen Vorräte ins Haus, halten Ordnung unter dem Gesinde und leben im Kamin. Wenn wir Lust dazu haben, schweben wir mit einem Feuerschweif ums Haus.« Der Alte überlegte. Eine böse Vorahnung legte sich wie ein zentnerschwerer Feldstein auf seinen Brustkorb. »Du sagtest, die meisten von euch. Was ist mit den anderen?« Der Drak kicherte wieder. »Die sind wie ich. Es sind Schwarze Draks.« Grapenthin glaubte, in seinem eigenen Alptraum mitzuspielen. Plötzlich fiel der Groschen. Er hatte sich einen Dämon ins Haus geholt. Das war so klar wie das Amen in der Kirche. Das kleine Mistding hatte sich in grauer Vorzeit in das Kästchen abgeseilt und so irgendwie die Jahrhunderte überstanden. Möglicherweise entging er damit dem Tod durch die Pest oder die Cholera?! Jetzt war er da! Wieder da. Und ich Idiot hab ihm die Rückkehr ermöglicht! Grapenthin war verzweifelt. Ein Schwarzer Drak. Nach dem, was er soeben mit diesem Höllenboten erlebt hatte, konnte diese Satansbrut mehr als eine Schale Pudding auslöffeln. Wer wußte schon, welche Trümpfe dieser Drak noch im
Ärmel versteckt hielt? Grapenthin erschrak. Ob der Drak ihn töten würde? Grapenthin merkte, daß seine Augenlider spürbar leichter wurden. Doch er ließ sie erst mal unten. Er hatte einfach Angst, diesem Ungeheuer in seine diabolische Höllenfratze zu sehen. Neugierde… Herrmann Grapenthin riß die Augen auf. Mit einem Ruck. Was er erblickte, ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen. Der alte Mann erblickte - sich selbst! Er stand sich selbst gegenüber, mit weißem Schnauzbart und grauem Haar. In den braunen Manchesterhosen, dem beigen Oberhemd und der wollenen Hausjacke, die Petra ihm Weihnachten unter den Christbaum gelegt hatte. Um die Gestalt, die wie er selbst aussah, waberte dicker, stinkender Nebel, der unter die Zimmerdecke zog und dort eine schmutziggraue Wolke bildete. Die Gestalt sah ihn prüfend an. Dann kicherte sie hohl. »Ich bin ein Schwarzer Drak«, sagte sie und verwandelte sich vor den Augen des Alten in eine amorphe, pulsierende Masse. Als Grapenthin aufschrie, tönten draußen, vor dem Haus, andere Schreie. Die Hilferufe eines Kindes. Sein Enkel Michael brüllte wie am Spieß. Sebastian Klatt war dabei, ihn zu verprügeln. * »Du mieser kleiner Scheißer!« Basti hielt den Achtjährigen am Schlafittchen gepackt. »Du hast mich voll angemeiert. Dafür wirst du büßen.« Es klatschte ein paarmal. Basti gab Michael ein paar deftige Backpfeifen. Die Wangen des Jüngeren färbten sich flammendrot. »Laß mich los!« jammerte er. »Ich hab doch alles gemacht, was du wolltest.« Klapp! Jäh schlugen Michaels Zahnleisten aufeinander. Basti hatte ihm einen Kinnhaken verpaßt. Ansatzlos, doch mit großer Wucht. »Pah - alles gemacht, was ich wollte…« Basti schäumte vor Wut. »Auch noch vergackeiern, wie?« Er schlug erneut zu.
Diesmal in Michaels Magengrube. Der Steppke heulte auf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er kriegte kaum noch Luft. Er wollte sich aus dem harten Griff des älteren losreißen, aber das klappte nicht. Bastis Linke war fast ebenso stark wie seine Rechte, mit der er jetzt wieder zuschlug. Sie standen auf der granitsteingepflasterten Auffahrt des gepflegten Grundstückes. Im braun gestrichenen Carport parkte der Honda Accord. Eine halbhohe Backsteinmauer zur Straße versperrte Neugierigen die Sicht. Die Whiskyflasche lag unbeachtet an einem Pfosten des Carports. »Hör auf, Sebastian!« schrie Michael auf. »Ich ergebe mich! Es tut so weh! Se-ba-stian!« Das Wort hallte gegen das weiß verputzte Gebäude, wurde als Echo zurückgeworfen und verhallte. Se-ba-stian! Die Haustür ging auf. »Opa?« schrie Michael. »Opa? Bist du da?« »Halt die Fresse!« Basti schubste ihn zur Seite, unter das Carport. Jetzt konnte man sie von der Haustür aus nicht mehr sehen. »Opa!« plärrte der Kleine. »Hilfe!« Jemand antwortete. Es war aber nicht die Stimme von Michaels Großvater. »Se-ba-stian?« Dann erklang ein gespenstisches Heulen, als würde eine Windböe durch den Kamin pfeifen. Basti drückte Michael hinunter, spähte zur Haustür - und riß verblüfft die Augen auf. Obgleich es Tag war, kräuselten sich seine Nackenhaare. Basti spürte plötzlich, wie etwas Kaltes unter sein Hemd schlüpfte. Erschrocken ließ er Michael los und sprang ein Stück beiseite. »Hab' keine Angst, Sebastian«, gurgelte es leise. »Nimm mich mit nach Hause…« * Basti und der Drak verstanden sich auf Anhieb. Das Zimmer des Jungen war ein Rechteck von zwölf Quadratmetern. An der Wandschräge stand sein ungemachtes Bett. Daneben ein Schrank aus Kiefernholz für seine Kleidung. Ein winziger Schreibtisch, zwei Holzstühle und ein runder Tisch, auf dem ein Stapel Grusel-Comics lag, komplettierten
die Einrichtung. Gedankenverloren betrachtete Basti den Drak. In Gestalt eines puppengroßen Männleins kauerte er auf dem Kopfkissen des Bettes. Gerade hatte ihm der Geist von seinem besten Freund erzählt. Der Junge, der das Kästchen verschlossen hatte und anscheinend kurz darauf von den Bütteln des Vogtes ermordet worden war. Vor vierhundert Jahren. Der Junge hieß Sebastian - so wie Basti. Als der Drak den Namen vor dem Haus der Grapenthins gehört hatte, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Die Erinnerung stellte sich wieder ein. Kurzerhand war er unter Bastis Hemd geschlüpft. Auch Schwarze Draks brauchten Menschen. Diese mußten nur entsprechend böse, heimtückisch und kaltblütig sein - vielleicht so wie Basti? »Der arme Kerl«, meinte Basti nach einer Weile. »Er tut mir leid. Wie du sagtest, muß dein Freund 'ne coole Type gewesen sein.« »Cool?« »Na ja, ich meine, locker und zu allerlei geilen Spaßen aufgelegt.« »Das stimmt. Und du? Was hast du auf Lager?« Der Drak starrte Basti aus schwarzfunkelnden Äuglein an. »Ich?« Basti dachte nach. Der makabre Joke, den er sich mit seiner Klassenlehrerin, Frau Keick, erlaubt hatte, fiel ihm ein. Grinsend berichtete er seinem neuen Freund davon, daß er die Männer von dem Bestattungsinstitut auf eine falsche Fährte gelockt hatte. Auf die Fährte eines Lebenden. Das Männlein lachte, bis es vom Kissen plumpste. »Großartig!« quietschte es. »Ein Späßchen, wie es mir gefällt.« Basti griente selbstgefällig. »Und wie ging es weiter?« forschte der Drak, als er sich beruhigt hatte. Basti war baff. »Wie, weiter?« Was meinte der Drak? Der Zwerg wälzte sich wieder auf das Kissen. Er hatte das rosige, pausbäckige Gesicht einer Babypuppe. Seine rötlichen Haare hingen bis auf die schmalen Schultern. Er trug eine indigofarbene Latzhose und einen rotweiß gestreiften, kurzärmeligen Pulli mit ausgefransten Säumen. Die Füßchen steckten in knalligroten Plastiksandalen. »Was ist mit dem Kerl, dem du die Leichenmänner auf den Hals geschickt hast?« »Ich verstehe nicht«, hauchte Basti. »Lebt er noch?« erkundigte sich der Zwerg.
»Na klar lebt er. Die Leichenmänner holen doch nur Tote!« »Nun ja«, meinte der Drak. »Eigentlich schon. Aber wäre es nicht lustiger gewesen, diesen Kerl einen Tag später umzubringen?« »Ihn…?« Basti starrte den Drak an. Er rang um seine Fassung. »…umbringen.« Der Zwerg in der Latzhose kicherte. »Stell dir mal vor, einen Tag später kommen dieselben Leichenmänner ein zweites Mal. Diesmal, um einen echten Toten mitzunehmen. Wäre das nicht ein schaurig-schönes Späßchen?« Späßchen? Er hatte wahrhaftig Späßchen gesagt! Perplex glotzte Basti ins Leere. Sein Mund war plötzlich staubtrocken. Seine Zunge pelzig, als wäre er tagelang ohne einen Tropfen Wasser in der Sahara herumgeirrt. Die Standuhr im Wohnzimmer schlug neun. Basti fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Um kurz nach neun kommt Mutter nach Hause«, sagte er. »Ich muß ihr das Abendessen hinstellen.« Der Drak grinste schief. »Ich glaube, ich muß dir noch allerhand beibringen. Aber ich denke, das ist nicht weiter schlimm. Du scheinst ja ein ausgeschlafenes Bürschchen zu sein.« Basti ging in die Küche. Der Zwerg verkroch sich unter der aufgeschlagenen Zudecke am Fußende. Er klappte seine Murmelaugen zu. Die langen Wimpern stachen bis auf seine fleischfarbene Plastikwange. Aber er schlief nicht. Er dachte nach. Über die Sache mit den Leichenmännern. Nebenan, im Korridor, knirschte ein Schlüssel im Schloß der Wohnungstür. Die Mutter kam. Sie sprach mit Sebastian. Ihre Stimme klang laut. Der Plastikmund des Zwerges spaltete sich zu einem bösartigen Grinsen. Er hatte einen Plan. Um ihn ausführen zu können, brauchte er gerade mal ein paar Roggenähren. Kein Problem, die zu beschaffen. Der Rest würde sich finden. Der Schwarze Drak strampelte vor Vergnügen. Das Antoniusfeuer! Er würde dafür sorgen, daß es zurückkehrte. Dann würde es so sein wie früher. Vor seinem geistigen Auge krochen Menschen, denen die Gliedmaßen abgefallen waren, über den nackten Erdboden. Er hörte schon ihre Entsetzensschreie. Sie klangen wie süße Musik in seinen Plastikohren. Welch ein Spaß! Er konnte es kaum erwarten, seinem Freund Sebastian von seinem Vorhaben zu berichten. Der würde vielleicht Augen machen! Doch vorher
werde ich einen kleinen nächtlichen Ausflug unternehmen. Allein! Das nahm er sich fest vor.
Voller Vorfreude kuschelte der Drak seinen Plastikkörper in die flauschige Bettdecke. Er beschloß, die Gestalt eines Menschen auszunehmen… * Mitternacht war vorbei. Es war kühl. Der Mond klebte wie ein heller Pfannkuchen am finsteren Himmel. Der Schwarze Drak hatte den Körper des erstbesten Mannes gewählt, der ihm über den Weg lief. Ein hagerer Mann mit Allerweltsgesicht, offenem Lodenmantel, Bundfaltenhose. Er ging den breiten Asphaltweg hinauf, der das Dorf Neuenkirchen mit der Universitätsstadt Greifswald verband. Daneben verlief die B96. Es herrschte kaum Verkehr. Hin und wieder sauste ein Radfahrer an ihm vorbei. Der Drak hatte beide Hände tief in den Hosentaschen. Als Verwandlungskünstler, im wahrsten Sinne des Wortes, fiel ihm das Tragen der modernen Kleidungsstücke nicht schwer. Gemächlich schlenderte er über eine Brücke. Linkerhand lag der Stadthafen. Träge schaukelten einige vertäute Segelyachten im nachtschwarzen Wasser. Nachdenklich sah er sich um. Die Gaststätte Alter Speicher befand sich in einem vierstöckigen, karminroten Fachwerkhaus. Die Fenster waren hell erleuchtet. Der Drak öffnete die Tür des Lokals und ging hinein. Konfuses Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Der im Bauernstil eingerichtete Gastraum verströmte gemütliche Atmosphäre. Es roch nach Bier, Tabakqualm und fritierten Kartoffeln. Eine junge Frau mit aufgebauschtem platinblondem Wuschelkopf bediente die Gäste. Er ging zu ihr. Hübsche Frauen mochte er. In der Gestalt von anderen hatte er schon heftige Erlebnisse mit ihnen gehabt. Auch Draks hatten ihre kleine Schwächen. Inzwischen war der Wuschelkopf in einer Nische an der Registrierkasse und bongte. Als er hinter der jungen Frau stand, langte er unter ihren Rock. Mit schrägem Grinsen kniff er sie in ihr Hinterteil. Das hatte er vor vierhundert Jahren schon gern gemocht. Jetzt erwartete er, daß sie schimpfte. Die meisten Frauen, die er kennengelernt hatte, reagierten so. Doch nicht die Blondine an der Kasse.
»Laß das, Trompi«, sagte sie leichthin. »Ich muß mich konzentrieren.« Der Drak runzelte die Stirn. Ihm schien etwas eingefallen zu sein. »Wieso trägst du keinen Schlüpfer?« fragte er. Sie stieß ein spöttisches Kichern aus. »Noch nie was von String-Tangas gehört?« fragte sie zurück. »Schlüpfer - wir sind doch nicht mehr im Mittelalter!« Er schluckte eine bissige Bemerkung hinunter. Im Gastraum lachte eine Frau über einen Witz. Es klang, als schüttete jemand gefrorene Erbsen über ein dünnes Aluminiumblech. Gläser klangen hell gegeneinander. Aus der Musicbox tönte To Know Hirn Is To Love Hirn von den Teddybears. Der Drak dachte nach. Zeit für einen deftigen Spaß! Neben der Kasse lag ein Holzbrett mit Fleischrinne rundum. Darauf zwei lange Messer mit schmaler Klinge und feinziseliertem Griff. Tranchiermesser. Er erkannte mit einem Blick, daß die Klingen sehr scharf waren. Er griff nach den Messern. Hielt sie mit beiden Händen umschlossen. Niemand beachtete ihn. Die Serviererin bongte. Die Gäste konnten nicht in die Nische sehen. »Du da!« zischte er. Sie tippte unentwegt auf die Tasten der Computerkasse. Der Drak piekste sie mit dem Messer. »Ich will, daß du dich ausziehst!« verlangte er. »Und das ein bißchen flink!« Da fuhr die Platinblonde herum. Ihre grünen Augen funkelten vor unterdrücktem Zorn. Erst jetzt erkannte sie, daß es nicht Trompi war. »Haben Sie einen Knall?« fauchte sie. »Noch ein Wort, und Sie erleben Ihr blaues Wunder.« Er pikste sie heftiger. Diesmal in den Arm. Die Haut platzte. Blut sickerte hervor. Sie wollte schreien. Dann bemerkte sie seinen unsteten, starräugigen Blick. Ein Kloß würgte in ihrem Hals. Sie zitterte. Plötzlich hatte sie Todesangst. Ein innerer Impuls warnte sie vor einer schrecklichen Gefahr. »Was ist mit Ihnen, mein Herr?« Sie hauchte es nur. »Wollen Sie 'n Bier oder 'n Cocktail? Ich spendiere es. Aber legen Sie das Messer weg, ja?« Er schwieg. Betrachtete ihre Hand, die noch auf der Tastatur der Kasse lag.
Und stach blitzschnell das Messer hinein. Sie brüllte auf, hüpfte von einem Bein aufs andere, als müßte sie dringend austreten. Das Messer hatte die Tastatur durchschlagen und stak in der Tischplatte. Ihr Aufschrei ging ein wenig unter. Die Creedence Clearwater zelebrierten gerade Hey Tonight. Dennoch war jemand aufmerksam geworden. »He, was machen Sie da?« sagte eine Stimme hinter dem Drak. »Hatte ich Ihnen nicht schon ein paarmal gesagt, Sie sollen Anke in Ruhe lassen?!« Der Drak drehte sich um. Vor ihm ein löwenmähniger, dürrer Mann mit dicken Brillengläsern und aufgekrempelten Hemdsärmeln. Hänschen Tromp, Inhaber des Speichers. Er hatte bereits ein paar Bier intus. Tromp stand geduckt, mit gespannten Muskeln. Der Drak grinste. »Zieh du das Mädchen aus!« befahl er. »Wenn nicht, ramme ich euch beiden diese Messer in den Leib.« Das zweite Messer pfiff durch die Luft. Mit affenartiger Geschwindigkeit senkte es sich und ritzte Tromps Nasenspitze auf. Sie fing sofort an zu bluten. Tromp stand da wie ein begossener Pudel. Von seiner Nase tropfte Blut auf seine Schuhe und das Parkett. »Wie gefällt dir das?« posaunte der Drak. Endlich fand der Lokalinhaber seine Stimme wieder. »Du Saukerl bist ja völlig irre!« keuchte er. »Total durchgedreht! Ich werde…« »…jetzt die Kleine ausziehen!« fiel ihm der Drak ins Wort. »Ansonsten kannst du schon mal Eimer und Lappen aus der Küche holen, um das Blut aufzuwischen, das hier gleich durch die Gegend spritzen wird. Glaubst du, ich mache nur Spaß, Vierauge? Du wirst es bereuen…« Der Chef des Speichers arbeitete seit zwanzig Jahren im Gastgewerbe. Da bekam man so allerhand Einblicke in die menschliche Psyche. Besonders, wenn Alkohol mit im Spiel war. Er hatte schon einen Universitätsprofessor erlebt, der mit heruntergelassenen Nadelstreifenhosen auf den Bartresen geklettert war. Doch der Anblick dieses zu allem entschlossenen Mannes jagte ihm den größten Schrecken seines Lebens ein. »Verdammt, machen Sie's doch endlich!« wimmerte Anke. »Sehen Sie ihn doch an! Der sticht tatsächlich zu.« Die Musik verklang. Tromp pumpte wie ein Maikäfer. Wie in Trance hob er langsam seine Hände.
Er knöpfte seiner Angestellten die Bluse auf, öffnete den Reißverschluß des Rockes und >knipste< den BH auf. Die Kleidungsstücke fielen zu Boden. Scheu bedeckte Anke ihre Brüste. Der schwarze String-Tanga. Ungläubig starrte der Drak auf das schwarzglänzende Etwas. »Das Ding da auch!« zischte er den Wirt an. »Was immer es auch sein mag.« Tromp gehorchte. Behutsam pellte er die vor Todesangst Zitternde aus ihrem Slip. Hüftwackelnd half sie ein bißchen nach. Dann stieg sie aus dem Tanga. Der Drak nickte befriedigt. Mit der Rechten faßte er an den Griff des Messers und zog es mit ungeheurer Kraft aus ihrer Hand. Es war ein glatter Durchstich, der keine Adern und Muskeln verletzt hatte. »Ich will, daß du tanzt!« forderte er. »Ein Tänzchen würde das Publikum jetzt bestimmt entzücken. Also los! Stell dich vor den Tresen und zeig, was du drauf hast. Gib dir Mühe! Hast du das kapiert?« Die blonde Anke nickte eilig. »Ja, ich tu's«, wisperte sie, den Tränen nahe. Einer Ohnmacht nahe, taumelte sie zu dem bezeichneten Platz. Tromp schloß die Augen. Er konnte dieses teuflische Schauspiel nicht länger mit ansehen. Vor ein paar Tagen hatte er mit der Kellnerin eine Affäre gehabt. Eines Nachts, nach Feierabend, war es über sie gekommen. Die Gäste waren alle weg. Auch der Koch war schon nach Hause gegangen. Seitdem versuchte er ständig, ein weiteres Mal bei der hübschen Blondine zu landen. Nicht nur seine Chancen standen gut… Der Drak hatte sich getäuscht! Als die anwesenden Gäste das verstörte, nackte Mädchen bemerkten, erhob sich kein ohrenbetäubendes Jubeln, sondern gespenstische Stille. Obwohl über zwanzig Leute im Saal waren, hätte man gehört, wenn eine Büroklammer aufs Parkett gefallen wäre. Ungelenk bot die platinblonde Serviererin einige Tanzschritte dar. Sie kreiste mit den Armen, wiegte sich zaghaft in den Hüften und weinte dabei. Es war das einzige Geräusch im Gastraum. Leises, verängstigtes Weinen. Mit dieser Reaktion der Anwesenden hatte der Drak nicht gerechnet. Was ist mit den Leuten bloß los? fragte er sich. Womöglich gibt es in diesem
Jahrhundert nicht mal mehr öffentliche Hinrichtungen? Verstehen die keinen deftigen Spaß mehr?
Der Drak kochte vor Wut. Verdammte Spielverderber! Hol euch doch der Teufel! Wie von Sinnen knirschte er mit den Zähnen. Sein Blick fiel auf Tromp. Der dünne Mann zitterte wie Espenlaub. Er stand da wie einbetoniert, unfähig, sich zu rühren. Der Drak mußte sich abreagieren. Es war nur ein Zucken, als er Tromp das Messer in den Bauch trieb. Dem Sterbenden rutschte die Brille auf seine blutige Nasenspitze. * »Ich habe Hunger«, quäkte Vincent van Euyen. »Wenn wir nicht bald anhalten, um einen Happen zu essen, dann garantiere ich für nichts.« Ich verbiß mir ein Grinsen. »Keine Angst, Vince«, beruhigte ich meinen Freund. »In zwanzig Minuten sind wir am Ziel. Hält's du noch so lange aus?« Mürrisch befühlte Vincent seinen vorspringenden Bauch. »Wird knapp werden«, sagte er kläglich. Ich saß am Steuer meines BMW und ärgerte mich im stillen über das miese Wetter. Da kam man schon mal von Weimar an die idyllische Ostseeküste, und was war? Regen, Regen und nochmals Regen. Es war zum Haareausraufen. Die Scheibenwischer ratschten über das Frontglas. Neben mir, auf dem Beifahrersitz, erklang ein knarrendes Geräusch. »Hast du das gehört, Mark?« fragte mich Vincent. Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Vincent van Euyen war unverbesserlich. Wenn sein kugeliges Bäuchlein knurrte, wurde er weich wie Götterspeise. Vincent war Bildreporter bei der Weimarer Rundschau. Dort hatte ich ihn kennengelernt. Nach meiner Zeit als Wissenschaftlicher Assistent beim Museum für Völkerkunde hatte er mir einige Tricks und Kniffe beigebracht. Von ihm hatte ich auch den Hinweis erhalten, in Greifswald mal nach dem Rechten zu sehen. In der alten Hansestadt am Bodden passierten momentan Dinge, die mich brennend interessierten. Überirdische Phänomene. Vor zwei Wochen hatte es damit begonnen, daß der Inhaber eines Lokals und eine Kellnerin in ihrem eigenen Restaurant tot aufgefunden wurden. Obwohl zwanzig Leute in der Nähe waren, als sie regelrecht hingerichtet wurden, löste sich der Täter in stinkenden Qualm auf. »Wenn ich wenigstens ein paar Katzenpfötchen aus Lakritz hatte«, riß mich Vincent aus meinen Gedanken. »Da könnte ich die Zeit bis zum Abendessen besser überbrücken.«
»Du hättest zuhause bleiben sollen.« Ich überholte einen klapprigen Wartburg. »Keiner hat dich gezwungen, mitzukommen.« »Das könnte dir so passen, Mark.« »Was könnte mir passen?« Ich war baff. Was meinte Vincent? »Mich abzuschieben, sobald es um die Wurst geht. Du unterschätzt mich!« Ich verstand kein Wort. Der Hunger schien Vincents graue Zellen lahmgelegt zu haben. Schnell warf ich ihm einen Blick zu. Zusammengesunken kauerte er da wie ein Häufchen Unglück. Fast konnte er einem leid tun. Vincent war zweiundvierzig, hatte holländische Vorfahren und hellblondes, widerspenstiges Haar mit weiten Geheimratsecken. In den letzten Jahren hatte sein Bauch kolossal an Umfang zugenommen. »Du wirst unsachlich, Vince«, sagte ich schroffer, als ich wollte, denn Vince war ein feiner Kerl. Er sagte eine Zeitlang nichts. Dann lenkte er ein. »Tut mir leid, Mark. Dieses tumbe Brummen in meinem Magen macht mich richtig närrisch.« Ich zeigte nach vorn. »Sieh mal!« Der Himmel war eine Spur heller geworden. Wir erkannten verschwommen die Umrisse des Greifswalder Domes St. Nikolai. Ich schätzte seine Höhe auf knappe hundert Meter. Vincent versuchte, seinen Ausraster mit einem Gag zu überspielen. »Mark, kennst du den kleinsten Dom, den es auf der Welt gibt?« Wieder eines von seinen zotigen Rätseln. Ich kannte sie zur Genüge. Aber dieses war mir neu. »Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Aber du bestimmt, nicht wahr?« Er strahlte. »Aber immer. Es ist der Kon-DOM. Der ist so klein, daß nur einer drin stehen kann und sogar die Glocken draußen hängen müssen.« Mein Freund schlug sich vor Lachen auf die Schenkel, als hatte er die Pointe zum ersten Mal gehört. »Über den eigenen Witz lacht es sich immer noch am besten«, sagte ich - und stieg auf die Bremse. POLIZEIKONTROLLE. 40 KM. Das Schild stand am Straßenrand. »Nanu?« fragte Vincent. »Was wollen die denn?« »Katzenpfötchen aus Lakritz verteilen«, tippte ich. »Die Polizei, dein Freund und Helfer.« Vincent zeigte mir einen Vogel.
Ich blinkte und fuhr langsam in eine Parktasche. Ein uniformierter Beamter wies mich mit einer Leuchtkelle ein. Ich stoppte, schaltete das Standlicht ein und betätigte den elektrischen Fensterheber. Die Seitenscheibe glitt hinunter. Ein anderer Uniformierter trat ans Auto und entpuppte sich als eine Polizistin. »Ihre Fahrzeugpapiere bitte«, sagte sie, nachdem sie uns einen guten Abend gewünscht hatte. Ich kriegte eine Gänsehaut. Das lag am Klang ihrer Stimme. Selten hatte ich so etwas Erotisches gehört. Ich reichte die Papiere durchs Fenster und unterzog die Frau einer eingehenden Musterung. Mitte Zwanzig, hochgestecktes, kastanienbraunes Haar, volle, geschwungene Lippen. Ein Mädchen zum Anbeißen. Von ihrer Figur war wegen der Uniform leider nicht viel zu erkennen. »Grün steht Ihnen wirklich gut«, sagte ich anerkennend. Sie verglich das Foto im Fahrausweis mit dem Original. Nach einer Weile klappte sie alles zusammen und reichte es mir zurück. »Ihr linkes Abblendlicht ist im Eimer.« Sie schaute mich streng an. »Lasse ich sofort reparieren.« »Haben Sie ein Warndreieck?« »Im Kofferraum.« »Einen Verbandskasten?« »Unter dem Beifahrersitz.« Meine Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen. Das schien die Beamtin zu ärgern. »Möchte ich sehen!« Auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte. »Bitte steigen Sie aus und zeigen mir Verbandskasten und Warndreieck.« »Im Regen?« »Ja.« Vom Beifahrersitz klang ein ersticktes Röcheln. Vincent van Eugen stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen. »Mir wird schon schwarz vor Augen«, behauptete er. »Dürfen wir ausnahmsweise weiterfahren?« fragte ich. »Wir haben es wirklich eilig.« Die Polizistin trat einen Schritt zurück. »Bitte tun Sie, was ich Ihnen eben sagte.« Ihr Gesicht wurde hart. Regentropfen kullerten über ihre Wangen. Unwillkürlich mußte ich an meine Freundin Tessa Hayden denken. Tessa war Fahnderin bei der Weimarer Polizei. Wir verstanden uns prima, doch ich wollte meine Freiheit noch eine Weile behalten und vorerst nicht heiraten, das nahm sie mir übel.
Gehorsam stieg ich aus, präsentierte der Polizistin das Warndreieck. »Jetzt den Verbandskasten.« Ich ging ums Auto. Mit rollenden Augen grätschte Vincent die Beine. Ich zerrte das Geforderte unter dem Sitz hervor. Als ich aufsah, trafen sich unsere Blicke, und jetzt weckte die Natur mein Interesse. »In Ordnung. Sie können weiterfahren.« Grüßend legte die Polizistin zwei Finger an die Schirmmütze. »Darf ich Sie wiedersehen«, fragte ich wie von Sinnen, als ich wieder einstieg. Sie nickte. »Vielleicht bei der nächsten Polizeikontrolle.« Dann widmete sie sich dem nächsten Fahrzeug. Wir rollten aus der Parktasche. »Ganz schön keß, die Kleine«, meinte Vincent. »Sie hat dich sauber abfahren lassen.« »Pah.« Ich beschloß, das Thema zu den Akten zu legen, erst einmal. Man sah sich im Leben sowieso immer mindestens zweimal. Außerdem gab es jetzt bedeutend wichtigere Dinge. Beispielsweise, Vincent van Eugen zu Katzenpfötchen zu verhelfen - und einen kauzigen, alten Mann aufzusuchen, der in Neuenkirchen wohnte, Herrmann Grapenthin hieß und vor einer Woche im Reality-TV großes Aufsehen erregt hatte, als er von einem unglaublichen Erlebnis berichte… * Das Anwesen der Grapenthins lag mitten im Ort, in einer Kurve der asphaltierten Dorfstraße. Hinter der halbhohen Mauer aus Backsteinen war Rasen, daneben ein braungestrichener Carport, mit einem Geräteschuppen dran. Im Haus brannte kein Licht. Wir standen auf der halbrunden Steintreppe. Auch nach mehrmaligem Läuten machte niemand auf. »Grapenthin«, las Vincent. »Wir sind richtig. Aber es scheint keiner zu Hause zu sein. Ich würde vorschlagen, wir gehen erst mal essen und kommen dann noch mal wieder.« Ich probierte es ein letztes Mal. Im Haus schlug die Klingel an, doch danach blieb es still. Plötzlich war mir, als hätte ich ein leises Schlurfen hinter der verriegelten Haustür gehört. »Machen Sie bitte auf!« Ich pochte mit dem Knöchel gegen das Holz.
»Wir müssen unbedingt mit Ihnen reden.« Keine Reaktion. Dann: »Ich darf niemanden hereinlassen.« * Vincent und ich wechselten bedeutsame Blicke. Es war eine Kinderstimme gewesen. »Bist du allein im Haus, Junge?« fragte ich. »Ja.« »Hermann Grapenthin? Ist er dein Großvater?« Schweigen. »Wer sind Sie?« kam es zögernd. »Ich bin Mark Hellmann aus Weimar. Mein Kumpel heißt Vincent van Euyen. Wir müssen unbedingt deinen Großvater sprechen.« »Das wollen in letzter Zeit viele.« »Die Polizei?« »Nein, die nicht so. Waren nur einmal da. Es sind meist Leute von irgendwelchen Zeitungen. Sind Sie auch von der Zeitung?« »Nein«, antwortete ich gepreßt. Ich belüge nicht gern Kinder. »Wir sind keine Reporter. Hm, du verstehst sicher, daß wir nicht über die Straße brüllen können, weshalb wir deinen Opa sprechen wollen.« »Wieso nicht?« kam es trotzig zurück. »Pfeifen doch sowieso schon die Spatzen von den Dächern.« Ich war ganz Ohr. »Was pfeifen sie denn, die Spatzen?« »Na, daß Großvater plemplem sein soll, das pfeifen sie.« »Und? Glaubst du das auch?« »Nein! Tue ich nicht!« sagte der Junge hinter der Tür voller Überzeugung. Ich schwieg eine Zeitlang. Vor meinem inneren Auge sah ich den grauköpfigen Herrmann Grapenthin. Vincent hatte die Sendung auf Video aufgenommen. Der alte Mann hockte vor der Kamera und blinzelte nervös. Die Moderatorin quetschte ihn aus wegen eines Kästchens, das er unlängst in einem Trödelladen aufgegabelt hatte. Angeblich gab es eine Explosion im Haus, als er den Deckel geöffnet hatte. Der Mann schwor bei allem, was ihm heilig war, daß aus dem Kästchen etwas entwich, das übernatürlich war. Er sprach von einer qualmenden Masse, die plötzlich genauso aussah wie er selbst… Ich ahnte, wie dem Jungen zumute war. Offenbar war er der einzige, der dem alten Mann die Geschichte abnahm.
Und möglicherweise bereitete ihm dieser Umstand Probleme mit seinen Erzeugern. »Wo sind deine Eltern?« erkundigte ich mich. »Weißt du, wann sie wiederkommen?« »Vati ist auf Montage, schon drei Wochen.« »Und deine Mutter?« »Hm, meine Mutter«, wiederholte er, »sie ist bei Großvater, in der Klinik.« Mir fiel sein Auftritt im Fernsehen ein. Dort hatte er recht gesund gewirkt, von ein paar Abschürfungen im Gesicht abgesehen. Ein dumpfes Gefühl beschlich mich. »Was ist das für eine Klinik?« »Die Klapsmühle!« sagte der Junge rauhhalsig. »Sie hat ihn in die Klapsmühle gebracht. Vor drei Tagen haben ihn zwei Männer in weißen Kitteln abgeholt. Mutter hat zugesehen, wie sie Großvater in das Auto gesteckt und fortgeschafft haben. Ich durfte ihn noch nicht besuchen.« »Das ist schlimm«, meinte ich betroffen. Wir schwiegen. Da tauchte im Scheinwerferlicht die Backsteinmauer auf, und ein Honda Accord fuhr unter den Carport. »Meine Mutter«, sagte der Junge, »jetzt können Sie mit ihr sprechen, wenn Sie wollen.« Eine hochgewachsene Frau stieg aus dem Auto und kam auf uns zu. Sie trug einen weiten, knöchellangen Mantel mit über dem Kopf gestülpter Kapuze. »Wer sind Sie denn schon wieder?« begrüßte sie uns. »Ihr Brüder gebt wohl nie Ruhe, wie?« Vom Absatz der Treppe schaute sie erzürnt zu uns hinauf. Wahrscheinlich hielt sie uns für Reporter, die sie ausquetschen wollten. »Wir sind keine Brüder«, berichtigte ich sie. »Auch keine Zeitungsschmierer, falls Sie das glauben. Wir kommen aus einem völlig anderen Grund.« Sie lächelte verächtlich. »Kochtöpfe, Versicherungen, Plastikschüsseln, Lexika und Zeitschriften brauche ich nicht. Sie vergeuden Ihre Zeit.« In meinem Kopf schwirrte es wie in einem Bienenhaus. Ich mußte unbedingt in das Zimmer des Großvaters. Womöglich gab es noch Anzeichen der überirdischen Erscheinung, wenn es denn eine war. Ich trug einen Siegelring aus massivem Silber. 1980, im Alter von zehn Jahren, wurde ich in der Nähe von Weimar gefunden, ohne Gedächtnis, aber mit einem Lederband um den Hals, an dem der Ring gehangen hatte. Später fand ich heraus, daß der Ring auf dämonische Aktivitäten mit einem
Glimmen und Wärme reagierte. Am Ort der höchsten Konzentration sandte er einen laserartigen Lichtstrahl aus, mit dem ich Symbole aus dem Futhark-Alphabet auf den Erdboden zeichnen konnte. Wir mußten ins Haus! Doch was sollte ich auftischen, ohne noch mehr Mißtrauen zu säen? Mit der Frau schien nicht gut Kirschen essen. Sie hatte halt schlimme Erfahrungen mit meinen Kollegen gemacht; wer konnte ihr dieses kritische Auftreten verübeln? Verlegen räusperte ich mich. »Tut mir leid, daß wir uns mißverstehen. Ich hatte versucht, Sie telefonisch zu erreichen, Frau Grapenthin. Aber niemand ging an den Apparat. Wir sind hier, um…« Wir bekamen unerwartet Hilfe. »Ich kenne die Männer, Mutti!« krähte es von drinnen. »Das sind Herr Hellmann und Herr van - Eumelen. Die sind von meiner Schule. Sie machen eine Studie. Es geht um Gewalt und so.« Ich verzog keine Miene. Der Junge war reif für einen Oscar! »Stimmt das?« fragte seine Mutter argwöhnisch. Wir nickten fleißig - und wurden hereingelassen! * Er schlug die Augen auf. Das verdunkelte Zimmer schien voller schemenhafter Gestalten. Er lag allein. Der Pfleger hatte ihm auf Geheiß Dr. Hartmanns ein Beruhigungsmittel gegeben. Aber er war nicht ruhig. Er hatte die Kapsel unter der Zunge behalten. Als sie weggegangen waren, hatte er sie ins Klobecken gespuckt. Herrmann Grapenthin stöhnte gequält. Ihm war, als sei er der einzige Mensch auf der Welt. Es war fürchterlich, wenn niemand glaubte, was man sagte. Besonders dann, wenn man etwas Einzigartiges erlebt hatte und sich jemandem anvertrauen wollte. Der alte Mann lauschte, wie der Regen an die Scheibe seines Zimmers prasselte. Immer wieder erschien die amorphe, milchige Nebelmasse in seinem Geist. Der Schwarze Drak? Pustekuchen - für einen Wirrkopf hielten sie ihn. Erst die ignorante Moderatorin, die ihn vor Millionen Fernsehzuschauern geschickt in Widersprüche verstrickte. Zuletzt seine eigene Tochter Petra,
die ihn in die Psychiatrische Abteilung der Universitätsklinik hatte einliefern lassen. Ich meine es nur gut, Paps! Zur Beobachtung, wie sich Dr. Hartmann gewählt ausdrückte. Eine Schande! Sie hielten ihn für senil, schlimmer noch: für schwachsinnig. Er seufzte, versuchte, wieder einzuschlafen. Ohne Erfolg. Seine Gedanken schossen Purzelbäume. Er ließ ganze Herden Schäfchen über einen Zaun springen. Als ihre Zahl zu groß wurde, hörte er auf, wacher als vorher. Er rief sich die Einrichtung des Krankenzimmers in Erinnerung. Das Bett, auf dem er lag, ein Wandschrank, ein Tischchen, ein Stuhl, ein Regal für Bücher, ein Nachtschränkchen auf Rollen, dann die Naßzelle… Ein Surren. Als hätte jemand einen Pfeil abgeschossen. Dicht an seinem Ohr! Grapenthin schreckte auf. Zittrig nestelte er am Knipser der Nachttischlampe. Das Licht flammte auf. Der riesige Mann kauerte vor dem Wandschrank. Er trug einen klinikeigenen Schlafanzug. Jacke wie Hose saßen hauteng, wie Wurstpellen. Der Mann war gut zwei Meter groß, hatte einen glattrasierten Schädel und war so fett und schwabblig wie ein riesengroßes Eisbein. Sein rosiges Babygesicht ähnelte einer angebratenen Speckschwarte. Er kicherte und sabberte dabei. Seine Schweinsäuglein irrten ruhelos im Raum umher. Dann glotzten sie Grapenthin an. »Weißt du, wer ich bin?« piepste er. Grapenthin schluckte. Der Hals war ihm wie zugeschnürt. Der Mistkerl aus dem Kästchen! Kam er, um ihn obendrein noch zu verhöhnen? »Was willst du?« Dem alten Mann fiel das Reden schwer. Er hatte Angst. »Ich wollte sehen, wie es dir geht. Schließlich bist du es gewesen, der mich befreit hat.« »Mir geht es großartig«, schnaufte Grapenthin. »Konnte nicht besser sein.« »Dich aufzustöbern, war nicht einfach.« Der pausbäckige Riese kam näher. »Zuerst war ich auf der falschen Station. Dort ist es nicht so romantisch wie bei dir.« Die geschlossene Abteilung, ging es Grapenthin durch den Kopf, die Kreatur hat das Aussehen eines der Kranken angenommen. Er wandte den Blick ab. »Was hast du vor?« Keine Antwort. Der Schwarze Drak sabberte stärker. Ein farbloses Rinnsal lief aus seinem
Mundwinkel bis zum Kinn. Von dort tropfte es auf seine fetten Füße. »Ich will Spaß«, sagte der Drak. »Vierhundert Jahre Langeweile sind sehr schlimm. Magst du Späße?« Dicht vor Grapenthins Bett blieb er stehen. Er glotzte auf ihn hinab, als wäre der Mann im Bett ein niedliches Kuscheltier. »Ich hatte einen schweren Tag«, raunte der Alte. »Mir ist nicht nach Spaßen zumute. Vielleicht ein andermal.« Die Furcht strömte wie Eiswasser durch seine Adern. Jäh erklangen hallende Schritte auf dem Gang. Grapenthin schöpfte wieder Mut. Der lange Gießmann hatte Nachtdienst auf der Männerstation. Das Getapse auf dem Flur war wie Musik in seinen Ohren. Aber er war nur für einen kurzen Augenblick erleichtert. Dann sah er, daß der Drak den Kopf schief hielt, angestrengt horchte und sich zur Tür wandte. Zu Grapenthins Leidwesen machte er aber keine Anstalten, zu verschwinden. Der alte Mann erschrak. In seinem Innern wuchs plötzlich die Besorgnis, Gießmann könne etwas zustoßen, wenn er ins Zimmer käme. Der Pfleger war ein netter, zuvorkommender Enddreißiger, hatte drei schulpflichtige Töchter und kümmerte sich rührend um die Patienten. Die Schritte wurde leiser, verhallten. Grapenthin atmete auf. Der Schwarze Drak drehte sich wieder zu ihm. »Ich werde dir einen Gefallen tun«, piepste er. »Du wirst begeistert sein.« »Und der wäre?« Der Drak kicherte. »Rate einfach!« Grapenthin kämpfte eine aufsteigende Panik nieder. Er traute dem Schwarzen Drak jede Scheußlichkeit zu. Doch wer sollte diesen wandelfähigen Bastard stoppen? »Nun mach schon!« ermunterte ihn der Drak. »Rate mal, was ich vorhabe!« Im benachbarten Krankenzimmer schrie ein Patient auf. Eilige Schritte hallten über den Flur. Der lange Gießmann bekam Arbeit. Grapenthin schwieg verbissen. Sein Gesicht war vor Erregung wachsbleich geworden. Ich bin schuld, dachte er immerzu. Ich habe dieses Scheusal wiedergeboren… Als der Drak ihm sagte, was er vorhatte, bebte der alte Mann vor Entsetzen. Die Worte hämmerten noch durch seinen Schädel, als der nächtliche Besucher längst über alle Berge war:
»Ich werde deiner Tochter einen Besuch abstatten, Alter. Es war nicht nett, was sie getan hat. Sie wird es bereuen. Verlaß dich drauf!« * Wir hatten den BMW auf einem wilden Parkplatz in der Nähe des Hanserings abgestellt und marschierten durch die Innenstadt. Es war halb neun. Die Straßen um den Marktplatz waren verwaist. Das wunderte mich nicht, gab es hier ja nur Geldinstitute, Arztpraxen und Rechtsanwaltbüros. Hier herrschte abends tote Hose. Vincent hatte seinen unbändigen Appetit an einem Imbißstand gestillt. Jetzt war er wieder der alte. »Ob der kleine Michael Katzenpfötchen mag?« fragte er mich kauend. Ich nickte halbherzig. »Wenn wir das nächste Mal eine Studie über Gewalt an den Schulen machen, bringen wir ihm ein paar Pfund vorbei.« Ich war zutiefst beunruhigt. Als ich einen Blick in Grapenthins Zimmer geworfen hatte, hatte mein Ring zwar nur schwach reagiert, aber ich spürte, daß wir einer großen Sache auf der Spur waren. Leider war der einzige Mensch, der uns weiterhelfen konnte, heute nicht mehr greifbar. Er saß in der Klapsmühle. Gleich morgen früh wollten wir zu ihm. Es hatte wohl kaum Zweck, am späten Abend in der Klinik vorzusprechen. Die Patienten brauchten ihre Ruhe, und die Hausordnung mußte befolgt werden, damit die Verwaltung streßfrei leben konnte. Gegenüber dem Rathaus gab es eine zünftige Bierkneipe: das Brauhaus Alter Fritz. Links daneben erhob sich der prächtige Schaugiebel eines spätgotischen Backsteingebäudes. Wir stiegen die Stufen zum Lokal hinauf. Der Gastraum war gerammelt voll. »Hier drin gibt's mehr Menschen als in der gesamten Innenstadt«, staunte Vincent. »Ganz hinten rechts sind noch zwei Plätze«, begrüßte uns der Büfettier, ein schwarzhaariger Mann mit Seitenscheitel und Oberlippenbart. Er zapfte Bier am laufenden Band und kam trotzdem kaum nach. Die Serviererinnen trugen Bluejeans und buntkarierte Blusen. Sie flitzten durch den verwinkelten Raum, als hätten sie Rollschuhe unter den Füßen. Wir setzten uns und bestellten die Spezialität das Hauses: Zwickelfritz, ein hausgebrautes Jungbier. Vincent trank sein Glas in einem Zug leer. Begeistert wischte er sich den Schaum von den Lippen. »Noch zwei Bier, die Herren?« fragte uns die Kellnerin. »Na klar, Sweety«, trompetete Vincent. »Auf einem Bein kann kein
Mensch stehen.« Er boxte mich übermütig. Die Bedienung verschwand wie ein geölter Blitz. Ich wollte mit Vincent van Euyen einige Dinge erörtern, die wir am nächsten Tag zu erledigen hatten, da spürte ich plötzlich, daß mich jemand beobachtete. Unauffällig blickte ich in die Runde. Vom Nebentisch zwinkerte mir eine Dame zu, so um die Siebzig. Sie nahm gerade einen sehr langen Zug aus ihrem Bierhumpen. Vincent war meinem Blick gefolgt. »Kennst du die Lady, Mark?« feixte er. Ich nippte an meinem Bier. »Nicht daß ich wüßte.« Vincent und ich plauderten eine Zeitlang. Mein Freund schmauchte dabei gemütlich seine Pfeife, während ich noch immer spürte, daß mich jemand ansah. Aus dem Augenwinkel spähte ich zum Nebentisch. Und wieder lächelte mir die bejahrte Dame zu und schwenkte ihren Biertopf. Was will das alte Mädchen von mir? fragte ich mich. Sie hätte meine Großmutter sein können, wenn ich je eine gehabt hätte. Ich unterhielt mich mit Vincent. Die Kellnerin brachte unser Bier. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. »Habense mal 'n Streichholz?« Die Stimme klang rauchig. Ich sah auf und blickte in ein zerknittertes Damenantlitz. Die Frau vom Nebentisch! Sie trug ein rotglitzerndes Brokatkleid und sah aus, als wäre sie geradewegs aus einem Großraumkessel geklettert, der mit ampelroter Farbe gefüllt war. »Nein, bedaure«, sagte ich abweisend. »Bin Nichtraucher. Fragen Sie doch mal eine der Serviererinnen.« Aber so schnell gab die Dame nicht auf. Vertraulich knuffte sie mich. »Sie heißen Mark, hab ich recht?« Sie lächelte kokett. »Und wenn? Was ändert das?« Ich blickte zu Vincent. Eine Hand um sein Bier gelegt, hockte er da, sog an seiner Pfeife und grinste blöde. »Ich kannte mal einen Mark, der hat auch nie gequalmt. Trotzdem siechte er jahrelang vor sich hin. Dann starb er. An Lungenkrebs. - Mark Rietentiet. Kennen Sie ihn?« »Nein«, entgegnete ich verdrießlich. »Ich stamme nicht von hier. Und bei uns zuhause gibt es keine Rietentiets.« »Aus welcher Ecke kommen Sie denn?« »Weimar«, antwortete ich knapp. »Kenne ich. Hatte dort mal dienstlich zu tun. Im Gasthaus Zum
Schwarzen Bären. Weimars älteste Kneipe. Gibt's schon seit über vierhundert Jahren. Kennen Sie den Laden?« Ich nickte stumm. Als unsere Bedienung vorbeisauste, hielt die alte Dame sie am Ärmel fest. Leise flüsterte sie ihr etwas ins Ohr. Darauf stellte die Kellnerin einen angetrunkenen Bierhumpen auf den freien Platz an meiner Seite. »Sie gestatten?« Verblüfft schnappte ich nach Luft. Die Dame setzte sich zu ihrem Getränk. »Sekt, halbtrocken?« Die Serviererin lächelte dienstbeflissen. Meine Tischnachbarin strahlte. »Aber immer, Herzchen. Die Herren hier sind so frei. Meine Marke kennst du.« Sie zwinkerte mir wieder zu. »Rotkäppchen, Rieslingsekt, aber halbtrocken muß er sein. Ich trinke das Zeug seit Jahren. Sogar die Ärzte empfehlen zuweilen ein Schlückchen Sekt. Gut für den Kreislauf.« Ich starrte Vincent an. Und er mich. Dann deutete mein Freund auf einen knollennasigen Hünen, der uns vom Bartresen her unwirsch belugte. Ich zuckte mit den Schultern. Irgendwas braute sich hier zusammen. »Ich bin Luzy.« Sie piekte sich mit dem Daumen an den Halsansatz. »Luzy Gerlach, verwitwete Splettstößer. Ich bringe 'n bißchen Schwung hier in den Laden.« »Vermutlich seit fünfzig Jahren«, nahm Vincent plötzlich den Gesprächsfaden auf. »Ich kann…« Hatte Vincent eine Meise? Ich trat ihn unterm Tisch. Glaubte er etwa, wir wären hier, um die anwesenden Großmütter mit Sekt zu versorgen? Die gesellige Großmutter kniff mir vergnügt in die Wange. »Bist ein gutaussehendes Kerlchen, Mark. Obwohl du nicht aus unserer Gegend stammst. Hast doch nix dagegen, wenn ich dich Mark nenne?« »I wo«, antwortete Vincent hämisch für mich. »Er ist ganz okay.« Narrte mich ein Spuk? Da quartierte sich eine steinalte Animierdame bei uns ein, und Vincent, dieser bierselige Quatschkopf, ermunterte sie noch dazu! Ich beschloß, es meinem Freund bei Gelegenheit gehörig heimzuzahlen. Ich hatte ein gutes Gedächtnis. Die Kellnerin servierte den Sekt, und Luzy Gerlach trank, ohne innezuhalten. Nachdem ihr größter Durst gestillt war, begann sie, Vincent und mir Episoden aus ihrem bewegten Leben zu erzählen. Zwangsläufig erfuhr ich, daß sie eigentlich eine gebürtige Charlottenburgerin war. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, hatte es sie an den Greifswalder Bodden gezogen. Der Markt für ihr Gewerbe war im Osten geradezu jungfräulich. Und die rostige Rentnerin beschloß, sich um
den Nachwuchs zu kümmern. Hin und wieder übermannte sie dann ein Nostalgieanfall, und sie wurde selbst aktiv - so wie heute. Nach fünf Gläsern Schampus ging ihr die Puste aus. Sie wechselte das Thema. »Gib mir mal dein Patschhändchen, Mark«, sagte sie. »Mal sehen, was du so für 'ne Type bist.« »Aus der Hand lesen können Sie auch?« Ich verbarg ein Grinsen. »Bei jedem Wetter, Jungchen«, versetzte sie. »Eigentlich ziehe ich es vor, mit einem Abdruck der Hand zu arbeiten. Aber zur Not geht's auch mit dem Original.« Wäre ich nur meinem Instinkt gefolgt und geflüchtet! Viel Ärger wäre mir erspart geblieben. Aber nein, ich blieb sitzen und kehrte meine Handfläche nach oben. Luzy Gerlach ergriff mein Handgelenk. Eine Weile betrachtete sie gleichmütig das Durcheinander der Linien. Dann verlangte sie meine rechte Hand. Ich gab sie ihr. Sie preßte mein Gelenk stärker. Ihr Blick wurde starr. Sie schüttelte den Kopf und murmelte einige unverständliche Worte. »Was haben Sie?« fragte ich. »Etwas nicht in Ordnung?« »Ihre Marslinie«, keuchte sie. »Sie erscheint nur auf der linken Hand. Und eine Intuitionslinie, die vom untersten Teil des Mondberges zum Merkur verläuft, haben Sie auch.« »Was bedeutet das?« Lucy Gerlach antwortete nicht. Statt dessen ließ sie meine Hand los, als hatte sie in einen Topf mit Giftschlangen gefaßt. Aus verglasten Augen stierte sie mich an. Dann sprangen ihre grell geschminkten Lippen auseinander. Sie schrie. Der knollennasige Hüne, der am Tresen lehnte, setzte sich im Eilzugtempo in Bewegung. Luzys Leibgardist, da bestand kein Zweifel. Ich war gespannt, womit er sein Auftauchen begründen würde. Während der Fleischberg näher kam, zog sich Luzy Gerlach japsend am Tisch hoch. Wahrscheinlich wollte sie die Kurve kratzen. Der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, glitt knirschend über den Boden. »Der Schampus, Frau Gerlach!« sagte ich laut. »Bevor Sie sich in die Büsche schlagen, wäre es günstig, wenn Sie erst einmal Ihre Drinks bezahlen.« Sie zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Ihr Erschrecken wich blanker Wut. »Aber Sie haben…« stammelte sie. »Irrtum. Ich habe nichts für Sie bestellt. Ebensowenig mein Kumpel.
Fragen Sie die Bedienung. Sie wird's bestätigen.« Der Knollennasige baute sich neben mir auf. Er trug ein ärmelloses TShirt, aus dessen Öffnungen Muskelberge quollen. Sein breites Gesicht war feuerrot. »Gibt's Ärger, Luzy?« ranzte er. Ihre Augen funkelten. »Und ob, Bolle. Die Type mit den blonden Locken da will Zicken machen. Lädt mich ein und kneift dann beim Bezahlen. So benimmt sich kein Gentleman.« Mir wurde es zu bunt. Ohne mich weiter um das seltsame Pärchen zu kümmern, begann ich mit Vincent über einige Belanglosigkeiten zu plauschen. Möglicherweise verschwanden die beiden von selbst, wenn man sie einfach ignorierte. Doch ich sollte mich gehörig irren. Jäh spürte ich eine Pranke auf meiner Schulter. »He, Sie da!« tönte es. »Ich habe ein Wörtchen mit Ihnen zu reden. Die Dame hier steht nämlich unter meinem Schutz. Sie ist es nicht gewohnt, von Leuten Ihres Schlages belästigt zu werden.« Ich blieb die Ruhe selbst. »Um die Ecke habe ich ein nettes, kleines Hotel gesehen«, sagte ich zu Vincent. »Heißt Zum Kronprinzen oder so ähnlich. Wie wär's? Wollen wir allmählich die Hühner satteln?« Mein Freund nickte unbekümmert. »Klar doch. Ich schmauche nur noch gemütlich meine Pfeife zu Ende, okay?« »Ich spreche mit Ihnen!!!« röhrte der Fleischklumpen an meiner Seite. Seine Faust krallte sich wie eine Vogelklaue in mein Fleisch. Obwohl ich stets bemüht bin, Keilereien aus dem Wege zu gehen, entzündete der Anblick des anhänglichen Kerls in mir ein strammes Feuerchen. Ich schraubte mich in die Höhe. Mit einer kurzen Bewegung schüttelte ich seine Hand ab. »Merken Sie nicht, daß Sie stören?« Ich sah ihn an. Der Dicke kicherte. »Hast wohl die Hosen voll, was, Bürschchen?« Ich hielt seinem Blick stand. »Nein. Sollte ich?« Er blinzelte böse. »Sie entschuldigen sich jetzt bei Luzy und bezahlen die Flasche Sekt, sonst…« »Was sonst?« fragte ich scharf. Da drehte der Fleischberg endgültig durch. Wahrscheinlich haßte er Widerworte. Seine Rechte schnellte hoch. Sie war bereits auf dem Weg an meine Kinnspitze, da riß ich meinen Kopf beiseite und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. Ganz locker, aber mit viel Schwung. Das vertrugen die
wenigsten. Hat erst einmal jemand sein Gleichgewicht eingebüßt, ist der Rest nur noch Formsache. Der dicke Bolle strauchelte. Seine feisten Arme kreisten wie zwei Propeller. Ich spürte den Luftzug an meinen Ohren. Es war der Moment für den finalen Schlag. Aber der Teufel schien mich zu reiten. Ich ließ die Hände unten und beobachtete ihn lediglich. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Vincent van Euyen aufgesprungen war. Laut rief er nach dem Wirt. Bolle griff erneut an. Die Fäuste in Schulterhöhe, kam er auf mich zu. Die Gäste der umliegenden Tische drehten ihre Köpfe. Vereinzelte Anfeuerungsrufe erklangen. »Dein letztes Stündlein hat geschlagen.« Bolle wackelte mit dem Unterkiefer. »Glaub ja nicht, du könntest mich mit deinen Faxen beeindrucken.« Ich war gut in Form. In meiner Studentenzeit war ich lange Zeit Hochleistungssportler, Zehnkämpfer. Noch heute trainiere ich regelmäßig. Aber mehr asiatische Kampfsportarten. Zeit, meinen heißblütigen Gegner zu warnen, hatte ich momentan nicht. Er probierte gerade, mich mit einem Schwinger von den Beinen zu holen. Ich tänzelte beiseite. Meine Gerade stach wie ein Bajonett zwischen seinen erhobenen Armen hindurch und explodierte auf seiner Knollennase. Bolle schrie vor Schmerz. Blut sickerte aus seinen behaarten Nasenlöchern. Er tat mir fast leid, wie er dastand und sich seine tropfende Nase hielt. Aber wer nicht hören will, muß fühlen, sagte Lydia, meine Mutter, immer. Und ich fand, recht hatte sie. Geduckt lauerte ich auf den Konter des pausbäckigen Schlägers. Aber der dicke Bolle schien aufgesteckt zu haben. Er rieb sich den Riechkolben und schniefte mitleiderregend. Ich blieb wachsam. Es konnte eine Falle sein. Oft tat jemand nur so, als wäre er down. Dann, wenn der andere unaufmerksam wurde, bekam er dafür die Quittung. Die Leute ringsum drehten sich zurück. Die Show war beendet. Ohne mich oder Vincent eines Blickes zu würdigen, trotteten Luzy Gerlach und ihr Bodyguard davon. Die Spannung wich aus meinem Körper. »Sie halten dich für einen Spielverderber«, meinte Vincent. »Du warst nicht gerade nett zu ihnen.« »Ich werde mich bessern, Vince.« Wir zahlten und wandten uns dem Ausgang zu. Wir mußten ins Bett, denn es stand uns ein schwerer Tag bevor.
Als wir an der Theke vorbeikamen, sagte eine aufgeregte Frauenstimme: »Was sagtest du da eben, Rolf? Ein stahlblauer BMW? Auf dem wilden Parkplatz am Hansering? Aufgebrochen…?« Ich merkte, wie mir das Gesicht einschlief. * Der Mann, der in der Tankstelle Nachtdienst tat, war Anfang Dreißig, brünett, trug eine sorgfältig gebügelte Bundfaltenhose und ein hellblaues Oberhemd. Er hieß Achim Dittmer. Er las gerade in einem Männermagazin, als es plötzlich an die Scheibe klopfte. Beflissen sah Dittmer auf. Und er glaubte zu träumen. Vor dem Fenster des Nachtschalters stand ein riesengroßer Kerl im Schlafanzug und sabberte. »Was, zum Teufel, wollen Sie?« fragte Dittmer. »Geld!« piepste es von draußen. »Ich will Geld. Gib mir alles, was du hast. Auch die Taler.« »Taler?« Der Mann im Pyjama nickte. »Ich habe einen Freund, dem es dreckig geht. Rück die Kröten raus, und du kannst dir deine Bildchen weiter angucken. Abgemacht?« »Hast du 'n Stich, Alter?« Dittmer fühlte sich hinter dem Panzerglas sicher wie in Fort Knox. »Scher dich zurück in deine Zelle, sonst hetz ich dir die Polente auf den Hals.« »Du willst mir kein Geld geben?« »Nein, will ich nicht!« äffte Dittmer. Er stemmte beide Hände in die Seiten und beäugte den rotgesichtigen Riesen mit unverhohlenem Interesse. Noch nie hatte er einen waschechten Irren aus der Nähe gesehen. »Dann hole ich's mir.« Der Riese trat näher. »Viel Vergnügen.« »Aber ich werde dich wahrscheinlich dabei umlegen.« Dittmer nickte. »Nur zu, du Großmaul.« Der Mann im Pyjama betastete behutsam die kleinen Sprechlöcher im Fensterglas. »Ich glaub, ich spinne«, kicherte Dittmer. Dann mußte er husten, weil ihn bestialisch stinkender Qualm einhüllte. Als sich der Qualm verzogen hatte, stand der Pyjamamann direkt vor ihm. »Du hattest die Wahl!« sabberte der Eindringling und hob einen Arm.
Dittmer antwortete nicht. Er konnte nicht mehr sprechen. Eigentlich konnte er überhaupt nichts mehr… * »Basti!« Die Mutter rief ihn. Basti blickte träge auf. Er hockte in seinem Zimmer und las in einem zerfledderten Comic-Heft. Der Stuhl, auf dem er saß, knarrte, als er sein Gewicht verlagerte. »Basti! Hörst du nicht?« Sie tut, als wäre ich drei und nicht siebzehn! Basti ärgerte sich. »Was ist los?« raunte er. »Ich muß mit dir reden!« Mutters Stimme klang streng. »Komm mal!« Er leierte sich hoch und trabte in die Küche. Sie stand am Kühlschrank, als er hereinkam. »Setz dich!« Sie deutete auf einen Hocker. Barbara Klatt war eine Frau von vierzig Jahren. Im Haus trug sie immer schwarze Radlerhosen und ein XXL-Shirt mit Wolfgang Petry drauf. Basti sank auf den Hocker. Was hatte Mutter? fragte er sich. Sie sah besorgt aus. Ahnte sie etwas? Wußte sie, daß es den Schwarzen Drak gab und er mit dieser Kreatur gemeinsame Sache machte? Rasch verwarf er seinen Verdacht. Nein, sie schien sich bloß wegen irgendwas Sorgen zu machen. Das mußte es ein. Hm, wie sie mich ansieht! Er wurde unruhig. Mutter schaute ihm fest in die Augen. »Als du in der Schule warst, habe ich dein Zimmer aufgeräumt…« »Na und?« »Es war ziemlich unordentlich. Ich meine, du bist siebzehn, könntest mehr auf bestimmte Sachen achten. Bei Tinchen sieht's nicht mal annähernd so wüst aus.« Tina war Bastis zehnjährige Schwester. »Danke fürs Aufräumen«, brummte er. Sie nickte abwesend. »Aber das ist es nicht, weswegen ich mit dir sprechen wollte.« Er hatte ein ungutes Gefühl. »Über was denn?« Die Mutter seufzte und schwieg dann eine Zeitlang. Sie hörten, wie draußen die Bremsen eines Autos quietschten. Der Sekundenzeiger der Wanduhr kreiste über das Zifferblatt. »Über das Geld, Basti«, sagte sie. »Ich habe es beim Bettabziehen gefunden. Es war ein Zufall. Sag mir die Wahrheit. Woher hast du es?« Basti schoß in die Höhe. »Was für Geld?« Seine Gesichtszüge machten
sich selbständig. »Ich kapiere das nicht!« »Unter deiner Matratze habe ich zweitausenddreihundert Mark gefunden. Hab's gezählt. Sag nicht, du hättest keine Ahnung, wie es in dein Bett gekommen ist.« »Aber genauso ist es!« Basti war einszweiundachtzig. Barbara Klatt mußte den Blick heben, um ihren Sohn anzusehen. Er wich ihrem Blick aus. »Bist du in was reingeschlittert?« bohrte sie. Er ballte die Fauste. »Mutter, glaub mir! Ich weiß nicht, woher diese Knete kommt. Jemand muß es mir…« Plötzlich wußte er, was es mit dem Geld auf sich hatte. Der Drak! Sein neuer Freund hatte es ihm vorbeigebracht, als er nicht zuhause war. Irgendwann sprachen sie mal über ihre geheimsten Wünsche. Er, Basti, hatte gesagt, er würde sehr gern viel Geld haben wollen… Aber wie sollte Basti das seiner Mutter erklären? Ihr sagen, schuld sei ein übernatürliches Wesen aus dem Mittelalter? Keine Silbe würde sie ihm abnehmen. Betrübt senkte Basti den Kopf. Sein Vater fiel ihm ein. Er haßte diesen Kerl wie die Pest. Drei Wochen nach der Wende, Basti war gerade acht, Tinchen noch ein Baby, hatte er sich aus dem Staub gemacht, in den Westen, auf Nimmerwiedersehen. Ein Jahr später wurde Mutter gefeuert. Die HO-Läden lösten sich in Luft auf. Arbeit bekam nur noch der, der gut mit den alten Seilschaften konnte. Die hatten ihre SED-Abzeichen verschwinden lassen, trugen jetzt Nadelstreifen und spielten Frühkapitalismus. Mutter hatte es trotzdem geschafft, allein. Ihm und Tinchen hatte es an nichts gemangelt. Basti respektierte seine Mutter. Er liebte sie. »Das Geld muß zurück«, sagte Barbara Klatt. »Zu demjenigen, dem es gehört. Je eher, desto besser. Brauchst du meine Hilfe?« »Ich weiß doch nichts!« brüllte Basti. »Du weißt nicht, daß zweitausend Mark in deinem Bett versteckt sind? Glaubst du etwa, Tinchen hätte es dir untergemogelt?« »Nein!« Der Linoleumboden, auf dem Basti stand, brannte unter seinen Sohlen. Ohne ein Wort stürzte er aus der Küche. Er riß die Wohnungstür auf und hastete die Treppe hinunter. Es klang, als ob jemand einen Sack Kohlen ins Treppenhaus gekippt hätte. Ziellos marschierte er durch die Straßen. Er mußte sich abreagieren.
* Der Mann mit der Plastiktüte lehnte sich an die Friedhofsmauer und rang nach Luft. Vor ihm, auf der Straße, rollten Autos, Stoßstange an Stoßstange. Im Schrittempo. Auf der Wolgaster Straße herrschte Hochbetrieb. Den ganzen Tag ging das so. Um von einem Ende der Stadt ans andere zu gelangen, brauchte man ewig. Plane mit, arbeite mit, regiere mit! Der Mann keuchte verächtlich. Das entsetzliche Kribbeln hatte soeben wieder eingesetzt. Er stellte die Tüte, aus der der Hals einer Schnapsflasche sah, neben sich auf die Erde. Dann schob er den Ärmel seiner lädierten Kunstlederjacke hoch und begann, sich ausgiebig zu jucken: Ihm war, als zögen Kompanien von Krabbelkäfern unter seiner Haut entlang. Er bedauerte, keine Drahtbürste zu haben. Eine Mutter, mit einem Kind an der Hand, ging an ihm vorüber. »Guck mal, Mami!« sagte das kleine Mädchen. »Der Onkel da mit den kaputten Schuhen hat Flöhe. Mami, beißen Flöhe auch Kinder?« Der Mann hörte, wie die Mutter leise >Pst!< sagte und das Mädchen schnell mit sich fortzog. Wenn das verflixte Jucken doch endlich aufhören würde! dachte er. Von Mal zu Mal wird es schlimmer. Ich halte es bald nicht mehr aus. Seit fast zehn Tagen geht das nun schon so. Vielleicht sollte ich doch irgendwann einmal zu einem Arzt gehen. Sein Blick fiel auf den Schnaps. Die Flasche war noch halbvoll. Ein kräftiger Schluck würde ihm jetzt guttun. Er angelte nach der Flasche. Voller Vorfreude beleckte er seine spröden Lippen. Plötzlich erstarrte er. Mitten in der Bewegung. Dem zerlumpten Mann traten die Augen aus den Höhlen. Was war mit seiner Hand los? Schlaff wie ein Segel bei Flaute baumelte sie an seinem Arm. Er probierte, sie wieder hochzunehmen. Es klappte nicht. Zwar gehorchte sein Arm, die Hand aber nicht - sie hing einfach hinunter, als wäre sie tonnenschwer und gar nicht für einen solch schwachen Arm geeignet. Die unheimliche Schwere stieg höher, passierte das Handgelenk und breitete sich in seinem Unterarm aus. Eine unsichtbare Kraft zog ihn regelrecht zu Boden. Er kämpfte dagegen an. »He, Martin!« sprach er zu sich. »Reiß dich gefälligst zusammen, alter
Berber. Seit wann kippst du aus den Latschen, wenn dich dein Fell juckt!« Den Rücken an die Mauer gepreßt, sackte er in sich zusammen. Es klirrte, als sein Lebenselixier aus der Tüte rutschte und gegen Stein schlug. Jetzt saß er wie ein Kleinkind auf dem Gehsteig, die Beine rechts und links von sich gestreckt. Seine Arme hingen wie Würste hinab. Armeen von Käfern schienen unter seiner Haut entlangzukrabbeln. Er wimmerte leise vor sich hin. Passanten, die vorbeikamen, machten einen Bogen und taten, als gäbe es den Mann gar nicht. »Gott im Himmel«, röchelte er. »Was ist das bloß?« Obwohl es heller Tag war, spürte er, daß sich die Nacht wie mit riesigen Fledermausflügeln über ihn senkte. Ein kurzes Gefühl tiefer Dankbarkeit erfüllte ihn. Die Natur war gnädig zu ihren Geschöpfen. Wer schlief, der fühlte keinen Schmerz. Sein Kopf prallte gegen die Friedhofsmauer. Martin Henk war in Ohnmacht gefallen. * Wir hatten Glück im Unglück gehabt, Vincent und ich. Die Autoknacker waren auf das Radio scharf gewesen. Das war alles. Nicht mal im Handschuhfach hatten sie herumgewühlt. Dort lag eine von Vincent van Euyens kostspieligen Spiegelreflexkameras. Manchmal brauchte man ganz fix einen Fotoapparat. Vincent schwor auf Schnappschüsse. Wir fuhren ins Hotel und verbrachten eine geruhsame Nacht. Am nächsten Morgen erwartete uns eine faustdicke Überraschung. Als wir ins Bettenhaus der Psychiatrie kamen und nach Herrmann Grapenthin fragten, erklärte uns die Dame von der Rezeption, der Patient wäre verlegt worden. Gestern nacht hätte er einen Herzinfarkt erlitten. Nähere Auskünfte dürfte sie nicht erteilen. Mit gemischten Gefühlen verließen wir die Klinik. »Bist du jemals einem Mann begegnet, der so einsam war wie dieser kauzige Grapenthin?« fragte mich Vincent. Wir saßen am Tisch in der Imbißecke einer Fleischerei am Boulevard und tranken Kaffee. Einige Kunden standen an der Fleischtheke und ergänzten ihre Vorräte. »Nun ja«, sagte ich, »wenn ich da an Barbara, die geächtete Tochter des Hexers Cedric Dunbar, denke, muß ich sagen, einen großen Freundeskreis hatte sie auch nicht.«
»Aber wenigstens einen Sohn, das Nixenkind«, warf Vincent ein. Dann starrte er auf die Speisekarte, die über dem Imbißtresen hing. »Sie haben Thüringer Rostbratwürste.« Vincent seufzte. »Magst du Bratwürste?« »Es wundert mich nicht, daß du immer mehr wirst«, sagte ich. »Schon wenn du in die Nähe von etwas Eßbarem kommst, schlagt dein Kugelbauch Alarm.« Vincent zeigte auf seine Uhr. »Es ist halb elf. Immerhin schon drei Stunden her, seit wir gefrühstückt haben.« »Und deine Katzenpfötchen, die du fortwährend in dich hineinstopfst?« »Reine Nervennahrung. Zählt doch überhaupt nicht.« Gedankenvoll fügte er hinzu: »So ein klitzekleines Würstchen hat, glaub ich, noch keinen umgeworfen. Was ist, Mark? Soll ich dir eins mitbringen?« Ich war mit den Gedanken ganz woanders und antwortete nicht. »Was hast du, Mark?« Vincent staunte mich an. Ich betrachtete meine nach oben gekehrte Handfläche. »Mir will nicht aus dem Kopf, wieso diese Luzy gestern abend mit einemmal so ein Spektakel gemacht hat. Es ging los, als sie meine Linien studiert hat.« »Die Lady hatte doch einen Tick unterm Pony.« (siehe MH Band 6) »Irgendwas muß ihr einen furchtbaren Schrecken eingejagt haben. Aber was?« Vincent war aufgestanden. Er trat von einem Bein aufs andere. Seine Augen flackerten. Inbrünstig inhalierte er den Duft des gegrillten Fleisches. »Geh schon«, seufzte ich. »Hol dir deinen Grillriemen!« »Ich beeile mich!« Er schoß davon. Derweil kramte ich in meinem Gedächtnis. Bruchstückweise erinnerte ich mich an Luzys Worte. Von einer Marslinie war die Rede gewesen, die ich nur auf einer Hand hatte. Und von einer Intuitionslinie. Dann vom Mondberg und dem Merkur. Diese Konstellation hatte ihr Angst eingeflößt. Ich zückte mein Handy und wählte. Vielleicht konnte mir Ulrich, mein Adoptivvater, einen Tip geben. Denkbar war es. Schließlich hatte er Kontakte zu mehreren Okkultisten und Parapsychologen. Und er sammelte diese Informationen und speicherte sie. Mit jedem Piepen, das an mein Ohr klang, wurde ich sicherer. Ja, Ulrich würde mir helfen können. Wer sonst, wenn nicht er? Endlich nahm er ab. »Hallo?« »Ich bin's, Mark. Wie geht es dir, Ulrich?« »Mittelprächtig«, sagte er. »Habe mir 'nen gehörigen Schnupfen geholt. Was liegt an, Junge?«
Ich erklärte ihm, was mich beschäftigte. »Und du sagtest, in der Kneipe hast du diese Frau getroffen?« forschte er. »Richtig. Im Alten Fritz in Greifswald. Sie setzte sich an unseren Tisch und drängte uns ein Gespräch auf.« »Ulkig.« Ulrich dachte nach. »Wie alt war sie? Ungefähr.« »Vielleicht siebzig.« »Und ihr Name?« Nanu? Ich wurde hellhörig. Kannte mein alter Herr etwa diese verrückte Großmutter? »Sie nannte sich Luzy Gerlach.« »Bist du sicher?« »Nein, warte, sie sagte: Luzy Gerlach, verwitwete Splettstößer. Sag bloß, du kennst das alte Mädchen?« »Nein.« Es kam zu schnell. »Kannst du mir einen Tip geben, was sie gemeint haben könnte.« Schnaufen. Dann: »Kann ich. Also, es heißt, wer die Marslinie nur auf der linken Handfläche hat, verfügt über übernatürliche Fähigkeiten.« Ich betrachtete meinen Fingerring. »Und was ist mit der Intuitionslinie?« »Wenn sie vom untersten Teil des Mondberges zum Merkur verläuft, bestätigt sie, daß derjenige über besondere Gaben, welche auch immer, verfügt. - Junge?« »Ja?« Ich horchte auf. Ich kannte meinen Vater. Wenn er in diesem Tonfall sprach, war es ein Zeichen dafür, daß er äußerst besorgt war. »Es ist nicht gut, wenn andere Menschen wissen, daß du… etwas Besonderes bist. Halte die Augen offen. Versprichst du mir das?« Seine Sorge rührte mich. »Keine Bange«, antwortete ich leichthin. »Ich passe auf mich auf.« Wir wechselten noch ein paar Nettigkeiten. Dann knipste ich das Handy aus. Ulrichs Besorgnis spukte mir durch den Kopf. Ich war fast sicher, daß er diese Luzy von irgendwoher kannte. Und er hatte mich gewarnt. Womöglich vor ihr und diesem rotgesichtigen Fleischklumpen. Daß dieses Gespann jedoch etwas mit den unheimlichen Ereignissen in Greifswald zu tun hatte, bezweifelte ich. Mein Ring, der mir dämonische Aktivitäten anzeigte, hätte sofort reagiert. Vincent van Euyen tauchte auf. Er balancierte einen Riesenteller an den Tisch und setzte ihn ungelenk auf seinen Platz. Ich riß die Augen auf. »Du wolltest nur ein klitzekleines Würstchen, Vince.«
»Die Verkäuferin ist schuld«, behauptete er. »Sie sagte, der Kartoffelsalat sei heute erstklassig - und den gemischten Rohkostsalat hatte sie eigenhändig zubereitet.« »Dann ist es okay, Vincent.« Er widmete sich mit allen Sinnen seinen Thüringer Rostbratwürsten. Es würde eine Zeitlang dauern, bis er wieder ansprechbar war. Ein Mann setzte sich an unseren Tisch. Er war Mitte Fünfzig und sah ziemlich verwahrlost aus. Seine grauen, strähnigen Haare stachen bis über den Kragen seiner groben Joppe. Er hatte eine Bulette und eine große Scheibe Weißbrot auf seinem Teller. Was mir nicht gefiel, war, daß er sich ständig während des Essens mit einer Hand an der anderen kratzte. Unangenehm berührt trank ich einen Schluck Kaffee. Fast wäre mir die Tasse aus der Hand gefallen. Mein Siegelring leuchtete auf und erwärmte sich zunehmend. Behutsam stellte ich die Tasse auf den Unterteller. Dann atmete ich tief durch. Endlich hatte ich ihn - den Anhaltspunkt, den ich so nötig brauchte. In Gestalt eines Berbers saß er mir gegenüber und mampfte. Ich wartete. In wenigen Minuten würde ich endlich mehr wissen. Als der Mann seine Bulette verputzt hatte, sprach ich ihn an. »Auf ein Wort, Herr…« Er kratzte sich. »Schröder«, raunte er. »Bin aber kein Herr, bloß Schröder.« Ich nickte. »Ich muß mit Ihnen reden. Kennen Sie einen ungestörten Ort in der Nähe?« Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. Ich machte ein harmloses Gesicht. »Klaro«, sagte er. »Kenn ich. Den Wall, gleich um die Ecke. Dort stehen ein paar Bänke.« »In Ordnung.« »Muß aber erst mal verschwinden«, sagte er und grinste schief, während er aufstand. »Mein Verdauungsapparat meldet sich. Bin gleich wieder da.« »Was sein muß, muß sein.« Ich schaute ihm nach. Schröder tappte zu einer beige lackierten Tür, über der der Hinweis >WC< angebracht war. Als er nach zehn Minuten noch nicht zurück war, ging ich nachsehen. Der Berber hatte uns hereingelegt. Durch den Hinterausgang hatte er sich aus dem Staub gemacht! Wieder standen wir am Anfang…
* Der kleine Michael konnte immer noch nicht glauben, daß sein Großvater verrückt sein sollte. »Wieso darf ich Opa nie besuchen, Mutti?« fragte er. Petra Grapenthin runzelte die Stirn. »Opa ist sehr krank, Micha. Er braucht unbedingt Ruhe.« Sie saßen am runden Küchentisch und aßen zu Abend. Es gab Fischstäbchen mit Pommes Frites, dazu Tomatenketchup und Gurkensalat. Im Hintergrund plärrte Michaels Recorder einen Song von den Backstreet Boys. Der Junge stocherte unmutig im Essen. »Schmeckt's dir nicht?« fragte die Mutter. Er sah sie an. »Was ist, wenn sich die Ärzte geirrt haben und Opa voll normal ist?« Das Küchenfenster war angekippt. Irgendwo bellte ein Hund. Es wurde langsam dunkel. Die Mutter streckte den Arm aus und drückte kurz seine Hand. »Du glaubst, ich hätte Opa böswillig in die Klinik einweisen lassen, nicht wahr? Aber das stimmt nicht. Er brauchte Hilfe.« Michael nickte. »Wir hätten ihm helfen können.« »Aber wir sind keine Mediziner, Micha.« »Mediziner nicht. Aber wir sind seine Familie. Da müssen wir doch zu ihm halten.« Petra Grapenthin biß sich auf die Unterlippe. Kindermund konnte manchmal ganz schön verletzend sein. Längere Zeit schwiegen beide. Dann fragte sie: »Du glaubst Opa, oder?« »Daß aus dem Kästchen diese Kanaille gekommen ist? Dieses Mistding, das sein ganzes Zimmer verwüstet hat?« Für eine Sekunde schloß die Frau die Augen. Welch ein Irrsinn! dachte sie. Der Junge glaubt den Unfug tatsächlich. Er scheint die bizarre Fantasie seines Großvaters geerbt zu haben. »Und?« fragte sie. »Glaubst du es?« »Ich glaube das, was Opa gesagt hat. Wozu sollte er uns belügen?« Die Mutter erkannte, wohin das Gespräch führte. Michael war felsenfest davon überzeugt, daß sein Großvater die Wahrheit gesagt hatte. Für ihn existierte dieses übernatürliche Wesen. Da war guter Rat teuer. Sie wagte einen letzten Versuch. »Sein Zimmer, Micha«, sagte sie. »Du hast es an diesem Tag gesehen. Wie sah es aus?«
»Verwüstet.« »Richtig. Es sah aus, als hätte jemand eine Granate hineingeworfen. Und Opa? Er kroch auf dem Boden herum und erzählte etwas von überirdischen Mächten.« Ihre Stimme wurde zunehmend lauter. »Weißt du, was ich glaube?« Der Junge starrte sie stumm an. »Opa hat einen schlimmen Anfall gehabt. Einen sehr schlimmen sogar. Und wenn er noch mal einen solchen Anfall kriegen sollte, weil wir nichts unternommen haben, als noch Zeit dazu war, was ist dann, Micha?« Kaum ausgesprochen, taten ihr die Worte leid. So sprach eine Mutter nicht zu ihrem Kind. Schließlich war Michael erst acht Jahre alt. Aber der Junge blieb gelassen. »Ich bleibe trotzdem dabei.« Er schlug die Augen nieder. »Da muß etwas gewesen sein. Opa wäre nie auf die Idee gekommen, uns auf den Arm zu nehmen.« Sie seufzte. Zwecklos. Michael war ein Sturkopf. Mit ihm war nicht zu reden. Am besten, sie wechselte das Thema. Und das auf der Stelle. »Noch Fischstäbchen?« »Nein. Ich bin satt.« Michael stand auf und wandte sich zum Wohnzimmer. Die Klinke in der Hand, blieb er stehen und blickte noch mal zurück. »Im Fernsehen gibt's um acht 'nen voll coolen Schocker. Abyss. Er läuft über drei Stunden. Darf ich bis zur dritten Werbung gucken?« Petra Grapenthin räumte die Schüssel mit den übrigen Pommes Frites und die Karaffe Birnensaft weg. Dann ging sie zum Tisch, um das restliche Geschirr zu holen. »Meinetwegen«, sagte sie. »Aber danach in die Federn. Ohne zu mosern. Verstanden?« »Ollroit.« Michael drehte sich zur Tür, halb versöhnt - und prallte zu Tode erschrocken zurück. »Mam…!« Die Frau wirbelte herum und erstarrte zu einem Eisblock. Im Türrahmen stand der größte Mann, den sie je im Leben gesehen hatte. Er war so groß, daß er den Kopf schief halten mußte, um in die Küche sehen zu können. Er hatte einen verdreckten Schlafanzug an. Sein feistes Gesicht war zu einem teuflischen Grinsen verzerrt. »Ich komme, um Grüße auszurichten«, piepste er. »Grüße vom alten Grapenthin. Ihr habt ihn ins Tollhaus geschickt. Erinnert ihr euch?« Instinktiv riß die Frau den Jungen an sich. »Wer sind Sie?« Ihre Zunge zitterte beim Sprechen. »Ein Freund.« Er sabberte. Mutter und Sohn wichen an die Wand zurück.
»Aber - ich kenne Sie gar nicht.« Petra Grapenthin überlegte fieberhaft. Der Kerl war aus der Klapsmühle in der Soldtmannstraße ausgebrochen. Das stand fest. Er trug noch den Pyjama. Wieso konnte ein solches Unikum den Pflegern entwischen? Und wieso kannte er ihren Vater? War der etwa sein Zimmergefährte? Voller Angst beobachtete sie ihn. Der Riese trat in die Küche und wischte sich den Speichel vom Kinn. »Der Alte hat mir einen großen Gefallen getan«, quäkte er. »Und jetzt werde ich es ihm vergelten.« Einen Augenblick empfand Petra Grapenthin eine Mordswut auf ihren Vater. Wenn der Kerl hier zu seinen neuen Freunden zählte, dann waren Hopfen und Malz endgültig verloren. Sie würgte ihre Furcht hinunter und flüsterte: »Was war das für ein Gefallen? Wie ich weiß, ist mein Vater bettlägerig. Und von früher wird er Sie wohl kaum kennen.« Der Riese kicherte belustigt. »Der Alte hat mich aus meinem Kerker befreit.« Ihre Pupillen wurden kugelrund. »Er hat Ihre Flucht aus der Klinik vorbereitet…?« »Zum Teufel, nein, er hat mich aus diesem verdammten Kästchen geholt. Wie findest du das?« Petra Grapenthin war, als fiele sie in einen bodenlosen Brunnen. Erst die Stimme ihres Sohnes riß sie aus ihrer kompletten Verwirrung. »Mutti!« keuchte er. »Mutti! Es ist, wie Opa gesagt hat. Der Mann da ist der Schwarze Drak. Das Ding aus dem Kästchen. Er hat's doch eben selbst zugegeben!« Sie spürte, wie der Junge vor Aufregung zitterte. »Ein Schwarzer Drak? Was, um Gottes willen, ist denn das schon wieder?« »Gleich werdet ihr es wissen!« Gemächlich watschelte der riesige Mann auf die beiden vor Angst Reglosen zu. Seine Schweinsäuglein glitzerten im Schein der Küchenlampe. Speichel lief in langen Fäden aus seinem Mundwinkel. Er hob beide Arme. Gleich würden seine knubbeligen Finger die Körper seiner Opfer berühren. »Lauf!« schrie Petra Grapenthin aus vollem Halse. »Lauf, Junge! Ich werde das Ungeheuer aufhalten…« *
Die Tür war nur angelehnt. »Denkst du dasselbe?« wisperte Vincent. Ich nickte düster. »Bleib du hier. Ich geh allein rein.« Die Dorfstraße lag im Dunkeln. Es nieselte leicht. Im Haus, das dem Grundstück der Grapenthins gegenüberlag, jaulte ein eingesperrter Hund. Ganz langsam drückte ich die Haustür auf. Geräuschlos betrat ich die Diele. Mein Siegelring leuchtete. Ich hielt den Atem an. Volltreffer! Das Metall an meinen Fingern erwärmte sich. Ich zog meine SIG Sauer aus dem Holster und entsicherte die Waffe. Im Haus war es mucksmäuschenstill. Nachdem uns Schröder in der Fleischerei durch die Lappen gegangen war, hatte ich beschlossen, den Grapenthins einen zweiten Besuch abzustatten. Ein Gespräch mit dem kleinen Michael konnte unsere Nachforschungen kolossal voranbringen, ob es nun seiner Mutter paßte oder nicht… Einem inneren Impuls folgend, wandte ich mich nach links. Dort war die Küche. Vorsichtig stupste ich die Tür an. Sie quietschte ein bißchen, als sie langsam aufschwang. Ich hob schnuppernd die Nase. Irgendwie roch es hier komisch. Ungefähr so, als hätte man statt eines Kuchens modrige Lumpen in der Backröhre aufgebacken. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Es schien niemand im Hause zu sein. Nicht die Mutter und nicht der Junge. Sein Vater ohnehin nicht. Der war auf Montage, wie ich wußte. Aber warum hatten sie die Haustür offenstehen lassen? Hatte sich ein Dämon Zutritt verschafft? Der Dämon, von dem der alte Grapenthin sprach? Diese und ähnliche Fragen schwirrten durch meine grauen Zellen, während ich dastand und angestrengt in die Dunkelheit lauschte. Ich zögerte, bevor ich die Küche betrat. Plötzlich regte sich in mir das Gefühl, beobachtet zu werden. Schnell spähte ich zu Vincent. Er stand da, auf der Treppe vor der Haustür, die Schultern angezogen, und äugte die dunkle Dorfstraße hinunter. Wenn es Vincent nicht war, der mich ansah, dann war es jemand anderes oder - etwas anderes? Aber wer oder was? Das Wesen, von dem der alte Grapenthin gesprochen hatte? Etwas belauerte mich. Das war gewiß.
Gleich links in der Küche war der Lichtschalter. Das wußte ich noch von meinem ersten Besuch. Ich knipste das Licht an. Die Küche war - leer. »Keiner zu Hause?« fragte Vincent halblaut. »Jedenfalls keiner in der Küche. Aber es gibt ja noch mehr Räume im Haus.« »Soll ich hereinkommen, Mark?« Vincent trat von einem Bein aufs andere. Seine Stimme klang unruhig. »Nein, warte noch.« Mein Ring funkelte eine Idee stärker. »Ich will mich erst gründlich hier umsehen. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir gleich eine deftige Überraschung erleben werden.« Unvermittelt ging mir die Sache mit der teuflischen Zaubermünze durch den Kopf. Dort hatten durch Entsetzensschreie alarmierte Mieter unter dem Küchentisch ihrer Nachbarn den verstümmelten Körper ihres Mitmieters entdeckt. Ich sah mich gewissenhaft um. Es bestand kein Zweifel: In dieser Küche war niemand, außer mir. Auf dem Tisch standen zwei Teller, von dem der eine noch nicht leergegessen war. Ein verschrumpeltes Fischstäbchen lag in einem Klecks Tomatenketchup. Oberhalb der Teller standen zwei Gläser, halb ausgetrunken. Messer und Gabeln lagen kreuz und quer. Und einer der drei Stühle stand schräg an die Wand gelehnt. Das merkwürdige Stilleben erhärtete meinen Verdacht. Frau Grapenthin war eine gute Hausfrau. Bei meinem letzten Besuch hatte ich bemerkt, daß sie sogar die Henkel der Tassen, die sie in den Schrank stellte, sorgfältig nach rechts ausgerichtet hatte. Niemals hätte sie die Küche in einem unaufgeräumten Zustand hinterlassen… Es deutete alles darauf hin, daß der kleine Michael und seine Mutter Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatten. Oder man hatte sie mit Gewalt fortgeschafft. Entführt! Ich drehte mich um und fragte Vincent, ob er draußen etwas Verdächtiges bemerkt hätte. »Nicht die Bohne«, sagte er trocken. »Bis auf den unwesentlichen Fakt, daß ich allmählich durchweiche und mein Katzenpfötchen-Vorrat zur Neige geht, ist alles in Butter.« Vincent war schon eine Marke. Aber vielleicht war es gerade seine Kauzigkeit, die mir so an ihm gefiel. Ich stöberte weiter. Als ich in die Hocke ging, um die untere Schranktür des Küchenbüfetts aufzuziehen, stutzte ich.
Mein Blick war auf eine Puppe gefallen, die mich von der Konsole des Büfetts anglotzte. Eine Babypuppe, mit pausbäckigem Gesicht, Latzhose, Pulli und Plastiksandalen. Die schwarzen Murmelaugen glitzerten im Licht der Deckenbeleuchtung. Im Begriff, mich abzuwenden, hörte ich plötzlich, wie es aus Richtung der Puppe leise rauschte. Eine schreckliche Vorahnung durchzuckte mich. Mein Herz pochte wild. Vor meinem inneren Ohr hörte ich die brüchige Stimme des alten Grapenthin. Im Reality-TV.
Das Mistding sah aus wie ein Klumpen Nebel, dann ähnelte es mir.
Höhnisch hatte man ihn belächelt. Hatte Mephisto, der Antichrist, etwa einen Körperwandler auf die ahnungslose Menschheit losgelassen? Ich spürte, wie mein Siegelring heiß wurde… Potz Blitz! Die Puppe! Der Dämon war in ihr. Einen halben Meter von mir entfernt. Bereit, mich für alle Zeiten aus dem Verkehr zu ziehen. Und ich? Hockte wie ein Blödmann da und starrte ihn an. Auf meiner Stirn kitzelte es. Schweißperlen. Sie kullerten über meine Wangen. Jetzt ging es um Leben und Tod! Obwohl mein Ring Hitze ausstrahlte, waren meine Hände kalt wie Eis. Ich riß mich zusammen. Ganze Legionen von Alarmglocken schrillten in mir. Meine Gedanken schossen wie Kanonenkugeln durch mein Gehirn. Ich befand mich in seiner Gewalt, wenigstens in diesem Augenblick. Mark, die Nerven behalten! Sonst bist du hinüber. Die Kreaturen des Satans kennen kein Erbarmen. Eine falsche Bewegung, und du bist nur noch ein Batzen zuckendes Fleisch, seelenlos, tot. Absolut ruhig, als wäre mir völlig schnuppe, daß da eines der teuflischsten Wesen der Unterwelt saß, wandte ich mich ab und öffnete die Flügeltüren des Unterschrankes. Geräuschlos schwangen sie auf. Ich durchsuchte den Schrank. Große Töpfe, kleine Töpfe, Pfannen mit und ohne Stiel, Kasserollen, ein blank poliertes Serviertablett, ein Fonduetopf mit Gestell und Brenner, ein Karton mit Brennpaste, ein Tranchierbrett mit Blutrinne… Mir war, als würde mir ein Gefieder wachsen.
Alle meine Muskeln waren gespannt. Nur unter Aufbietung all meiner geistigen und körperlichen Kräfte bewahrte ich meine zur Schau getragene Kaltschnäuzigkeit. Jeden Augenblick konnte die Kreatur zuschlagen. Mein Lebenslicht ausblasen. Die Macht dazu hatte es! Ich war eine Kerze im Wind. »Mark!« rief Vincent ins Haus. »Ich glaube, die Polente rückt an. Jedenfalls kommt da vorn 'ne grüne Minna um die Ecke. Wenn die uns hier erwischen, denken sie noch, wir sind Einbrecher, und buchten uns ein.« Es war einer dieser Augenblicke, in dem ich Vincent um den Hals hätte fallen können. Sein Ausruf gab mir die Möglichkeit, mich unauffällig zurückzuziehen, bevor mich der Dämon vernichtete. Wahrscheinlich rettete mir Vincent van Euyen, Fotoreporter der Weimarer Rundschau, in diesem Moment das Leben… »Die Polizei?« Ich tat erschrocken, reckte mich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Bingo. Sie fahren im Schrittempo. Jeden Moment können sie hier auftauchen. Komm lieber raus, alter Junge!« Nur zu gern folgte ich Vincents Hinweis. Ich knipste das Licht aus und verließ die Küche. In mäßigem Tempo, obwohl der Boden unter meinen Sohlen aus glühenden Reißzwecken zu bestehen schien. Als ich neben Vincent stand, holte ich erleichtert Luft. Aber die Erleichterung währte nur eine Sekunde. Dann dachte ich an den kleinen Michael und seine Mutter. Befanden sie sich in der Gewalt des Wandlers? Waren sie noch am Leben? Das Polizeiauto kam langsam heran. Blitzschnell ließ ich meine Kanone im Holster verschwinden. Ich sah, wie der Beamte, der neben dem Fahrer saß, uns aufmerksam musterte. Er wechselte einige Worte mit seinem Kollegen. Der Wagen verlangsamte seine Fahrt. Vincent und ich gaben uns teilnahmslos, als stünden wir wartend auf der Treppe. So wie harmlose Besucher es tun. Also nichts Ungewöhnliches. Geistesgegenwärtig quetschte ich meinen Daumen auf den Klingelknopf. Ein Gong ertönte. Die Beamten hatten keinen Verdacht geschöpft. Sie verschwanden im Dunkeln. Ich konnte es kaum erwarten, in unser Hotel zurückzukehren. Ich brauchte dringend die Waffen aus meinem Einsatzkoffer! Als ich ins Auto stieg, fiel mir ein, wie Herrmann Grapenthin diese Ausgeburt der Halle genannt hatte:
Schwarzer Drak. Das klang nicht nur unheimlich. * »Notruf 110.« Der Beamte unterdrückte ein Gähnen. Versuchte es wenigstens. Die Stimme am anderen Ende der Leitung schnappte fast über. Es war eine Frau. »Es ist entsetzlich. Einfach grauenerregend. Ich…« Der Beamte nickte. »Wie heißen Sie?« »Wie ich heiße, wollen Sie wissen?« »Richtig. Dazu Ihre Anschrift und den Grund Ihres Anrufs. Fassen Sie sich aber bitte kurz. Es könnten noch mehr Leute Probleme haben. Verstehen Sie?« Der Wachtmeister ließ seinen Kugelschreiber zwischen seinen Wurstfingern wirbeln. Auf der Wache gab es nur noch zwei Kollegen, die das ebenso schnell konnten wie er. Er hieß Heinz Klabunde, wog hundertunddrei Kilo und war vergangene Woche vierzig geworden. »Ich heiße Wilma Rietschel«, sagte die Frau verblüfft. »Rietschel mit te?« »Nein, mit seh.« Klabunde nickte wieder. »In Ordnung. Hätte ja immerhin sein können. Mit Eigennamen ist das so eine Sache. Und man möchte ja seine Arbeit so gut wie möglich machen. Also mit seh in der Mitte. - Wo sind Sie gemeldet, Frau Rietschel?« »In Greifswald. Ich lebe schon seit vierunddreißig Jahren hier.« »Straße?« »Wolgaster 126. Gleich neben dem alten Friedhof, Ecke An den Wurthen. Wollen Sie noch wissen, in welcher Etage?« »Im Moment nicht. Sollte dieser Umstand jedoch für die Ermittlungen von Belang sein, komme ich darauf zurück.« Klabundes Kuli wirbelte wieder. »Also, Frau Rietschel. Aus welchem Grund rufen Sie an?« Es rauschte in der Leitung. Der Beamte malte seelenruhig die Anfangsbuchstaben der großgeschriebenen Wörter seines bisherigen Textes nach. »Hallo? Frau Rietschel?« »Ja, ich bin noch dran«, antwortete die Frau. »Ich bin nur ein wenig durcheinander.« »Bitte beruhigen Sie sich und machen Sie möglichst präzise Angaben. Jedes Detail könnte von unerhörter Bedeutung für uns sein.«
»Ja, also, hm, da ist dieser Mann auf dem Spielplatz…« »Ein Mann auf einem Kinderspielplatz?« Das war verdächtig. Klabunde spitzte die Ohren. Erwachsene auf Spielplätzen waren immer verdächtig. Er ahnte, worauf es hinauslief. Schließlich war er kein Greenhorn mehr. »Ja«, fuhr Frau Rietschel stockend fort. »Wie gesagt, neben unserem Haus gibt es einen Spielplatz. Ringsum sind Büsche und eine Hecke. Ich habe ihn nicht gleich gesehen, den Mann. Aber dann ist Struppi…« »Struppi?« Klabunde betrachtete seinen Kuli. »Mein Foxterrier«, erklärte sie. »Er mußte Gassi gehen. Also bin ich mit ihm ins Freie. Struppi ist davongerannt. Ich mußte ihn suchen. Gefunden habe ich ihn in einem Gebüsch, als er einen Mann beschnüffelte, der dort lag…« Klabunde ließ seine Augenbrauen hochschnellen. »Ein Betrunkener?« forschte er. »Dachte ich auch zuerst, aber…« Ihre Stimme zitterte. »Es ist einfach abscheulich.« Wachtmeister Klabunde räusperte sich. »Was ist mit diesem Mann, der da bei Ihnen im Gebüsch liegt? Sie sagten, betrunken sei er nicht. Hat er Sie in irgendeiner Form belästigt, Frau Rietschel?« »Nein. So etwas kann er nicht mehr.« »Ist er tot?« fragte Klabunde. Der Fall schien eine andere Wendung zu bekommen, als er anfangs vermutet hatte. »Nein. Er ist nicht tot. Er liegt da und hat, ach, es ist einfach abscheulich! Er liegt da und hat - weder Füße noch Hände.« Ein Klacken. Dem Wachtmeister war der Kuli aus der Hand gerutscht. Doch er kommentierte die Schilderung sofort. »Was Sie mir da auftischen, klingt im höchsten Sinne unglaubwürdig«, sagte er gepreßt. »Ein Mann ohne Hände und Füße? Hm, Sie trinken doch nicht etwa?« »Gott bewahre! Ich rühre keinen Alkohol an«, versetzte Frau Rietschel beleidigt. »Wenn Sie's mir nicht glauben, überzeugen Sie sich doch selbst. Und bringen Sie gleich einen Arzt und eine Ambulanz mit. Man muß dem Ärmsten helfen. Hören Sie?« Sagte es und legte auf. Klabunde saß einen Augenblick schweigend da. Er stierte aus dem Fenster. Feiner Nieselregen lief die Scheiben hinunter. Diese Frau Rietschel schien aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein wie seine Schwiegermutter. Er schüttelte den Kopf. Die alten Herrschaften wurden zuweilen recht wunderlich. Als er sich endlich aufraffte, um eine Streife zur Wolgaster Straße zu
beordern, klingelte das Telefon erneut. Professor Halbzeck, Ärztlicher Direktor der Universitäts-Frauenklinik, war am Apparat. In knappen Worten schilderte der Mediziner, daß er vor wenigen Minuten auf der Greifswalder Stadtwallanlage, in der Nähe des Heimatmuseums, einen haarsträubenden Fund gemacht hatte. Einen menschlichen Fuß! Noch während Klabunde mit dem Professor telefonierte, läutete sein zweiter Apparat. Der Wachtmeister hielt sich den Hörer ans andere Ohr. Eine hysterische Stimme meldete den Fund eines menschlichen Armes! Klabunde knallte den Hörer auf. Mit bebenden Fingern wählte er die Privatnummer des Polizeichefs… * Ich schloß mein Zimmer auf. Vincent war unten in der Brasserie geblieben. Auf einen Fingerhut Beaujolais, wie er sich ausdrückte. Das Hotelzimmer war mit stilvollen, nußbaumfarbenen Möbeln eingerichtet. An den Wänden hingen Ölgemälde mit historischen Stadtansichten. Im Badezimmer rauschte Wasser! Ich wirbelte meine Pistole aus dem Holster und horchte ein paar Sekunden. Mir war, als würde ich ein leises Trällern vernehmen. Die Melodie kannte ich. Es war >You're My Heart, You're My Soul< von Modern Talking. Die Band hatte 1998 ein furioses Comeback gefeiert und war nun im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde. Aber wer, zum Teufel, trällerte in meiner Abwesenheit in meinem Badezimmer einen Titel von Dieter Bohlen? Ohne ein Geräusch zu verursachen, pirschte ich näher. Die Badezimmertür stand halboffen. Die SIG Sauer in der Faust, spähte ich durch den Türspalt. Für einen Augenaufschlag stand ich, als hätte ich Wurzeln geschlagen. Hinter dem Duschvorhang räkelte sich ein bildhübsches, nacktes Mädchen! Sie hielt beide Arme erhoben und kreiste im Takt ihres Trällerns um die eigene Achse. Bei ihrem Anblick wurde mir kalt und heiß zugleich. Mein Blick senkte sich auf die Pistole in meiner Faust. Eine Schußwaffe war in der Tat jetzt das Letzte, was ich brauchte.
Schnell verstaute ich die SIG Sauer. Dann widmete ich mich voll und ganz meiner persönlichen Show. Das Mädchen trällerte; ich hörte und sah ihr zu; und ich beneidete die Wassertropfen, die diesem wunderschönen Körper ganz nahe waren. Irgendwann fingen meine Wangen an zu brennen, und ich hatte das Gefühl, daß meine Jeans zwei Nummern zu klein waren. Auch mit meinem Puls schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Er schlug beinahe schneller als bei meiner Begegnung mit dem Höllenwesen in Neuenkirchen. Plötzlich stieß das Mädchen einen spitzen Schrei aus. Der blonde Engel hatte mich bemerkt. Ich verbarg meine Enttäuschung und tat, als wäre ich eben erst zur Tür hereingekommen. »Nanu?« erkundigte ich mich. »Wenn ich mich nicht irre, ist dies mein Zimmer.« Der entzückende Nackedei versuchte, alles besonders Sehenswerte vor mir zu verstecken. Doch das war ein Ding der Unmöglichkeit: Die Hände der Süßen waren einfach zu klein. Viel zu klein für diesen prächtigen Busen! Die dunkelbraunen Brustwarzen lugten neugierig zwischen den Fingern hindurch. Ich sah, wie ihre Augen furchtsam im Schein der Wandleuchte glitzerten. »Es tut mir leid«, wisperte sie. »Es ist alles ein dummes Mißverständnis…« »Wer sind Sie?« Ich gab mich ruhig, obwohl ich sehr aufgeregt und >krank< war. Ich litt am Stangenfieber, denn die Kleine war genau meine Kragenweite. Nur sie hätte mich jetzt heilen können! »Die Schwester der Bardame aus der Brasserie«, erklärte sie, während sie die Brause abschaltete und sich trocken rubbelte. »Bei uns zu Hause ist die Dusche kaputt, und Monika, meine Zwillingsschwester, hat mir den Schlüssel zu Ihrem Zimmer gegeben. Sie glaubte, Sie kämen später.« Ich verstand. Mit Mühe verbiß ich ein Grinsen. »Sie sehen wirklich entzückend aus«, sagte ich. »Wie heißen Sie, wenn man fragen darf?« Hastig griff sie nach ihren Sachen, die vor dem Duschvorhang auf einem Hocker lagen. Ehe ich mich versah, trug sie bereits ihren Slip und hatte den BH umgeschnallt. Unwillkürlich fiel mir ein Witz aus Honeckers Zeiten ein. Warum ist der BH ein sozialistisches Kleidungsstück? Antwort: Er unterdrückt die Großen und fordert die Kleinen. »Sie verpetzen mich doch nicht, oder?« Sie lächelte. »Sie haben mir noch nicht gesagt, wie ich Sie ansprechen soll.« »Ich bin Clarissa.« »Clarissa.« Ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. »Sie sind
sehr schön, Clarissa.« Ihr Lächeln wurde stärker. Ich bemerkte, wie zwei Grübchen ihre Wange kerbten. Sie musterte mich, und was sie sah, schien ihr zu gefallen. Bevor sie in Rock und Bluse schlüpfte, schenkte sie mir einen koketten Blick. »Sie heißen Mark Hellmann, nicht wahr?« »Drei Punkte für Sie, Mademoiselle X. Sie sind gut informiert.« »Meine Schwester hat's mir gesagt.« Ein Wort gab das andere. Fünf Minuten später hielt ich die schöne Clarissa im Arm. Nach einem ersten leidenschaftlichen Kuß begann sie, sich für den Reißverschluß meiner Jeans zu interessieren. Ich ließ sie gewähren. Auch wenn ich gewollt hätte, ich hätte es ihr nicht verbieten können. Eine Hitzewelle durchströmte mich. Durch den dünnen Stoff meines T-Shirts fühlte ich, wie sich ihr Busen hob und senkte. Meine Hände glitten suchend über ihren Rücken. Ich öffnete den BH, und sie ließ ihn zu Boden gleiten. »Nimm mich!« hauchte sie. Clarissa stöhnte und wand sich schlangengleich in meiner Umarmung. Ich trug sie zum Bett. Behutsam ließ ich sie darauf sinken. »Komm«, flüsterte sie. »Laß mich nicht warten, Mark.« Ich warf mein Shirt beiseite. Wie ferngesteuert. Jede Faser meines Körpers fieberte dieser Frau entgegen. Wahnsinn! Alles andere schien unwichtig geworden zu sein. »Was hast du denn da auf deiner Brust?« fragte sie, als sie mir die Haare kraulen wollte. »So etwas wie ein Muttermal«, wich ich aus. »Bin damit schon zur Welt gekommen.« »Für ein Muttermal ist das aber groß. - Na ja, wie ich sehe, ist alles an dir groß«, sagte sie mit zitternder Stimme und schickte eine Hand in den Süden. Ich stöhnte, und ihr ging es nicht anders. »Ich halt's nicht mehr aus«, hauchte sie. »Das brauchst du auch nicht.« Als ich in sie eindrang, umklammerte sie mich mit festem Griff. Und wir beide ließen die Beherrschung fliegen. Es ging nicht anders. Wir verbrachten eine höchst vergnügliche Stunde. Aber nicht nur im Bett. Clarissa war Tischfetischistin, wie sie behauptete. Also tat ich ihr den Gefallen. Mehrmals! In der Tür trafen sie sich dann: Vincent, der mich abholen wollte, und Clarissa, die hier noch einen Reißverschluß und da ein paar Knöpfe zu schließen hatte.
»Hoffentlich hast du noch die Kraft, um gegen den Schwarzen Drak vorzugehen«, spottete er. * Etwas stieß gegen seinen Arm. Basti fuhr überrascht auf. Er lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, auf seinem Bett und hatte gedöst. Stundenlang war er ziellos durch die Stadt geirrt. Seine Wut hatte sich nach und nach verflüchtigt. Die frische Luft hatte ihn ermüdet. Die Mutter war noch auf der Arbeit. Das Geld nicht da. »Grüß dich, Sebastian.« Der Drak. In der Gestalt der bejeansten Plastikpuppe. »Wie geht es dir?« Der Siebzehnjährige gähnte. »Mies hoch drei. Als hätte mich jemand durch den Fleischwolf gedreht.« Die Puppe kniete auf der Bettkante und wackelte mit dem Kopf. Dann zog sie ihren Plastikmund breit. »Magst du Überraschungen?« fragte sie. Basti blinzelte. »Scherzkeks. Überraschungen hatte ich heute schon genug. Von der Knete unter meiner Matratze hättest du mir ruhig was sagen können.« »Du hast das Geld gefunden?« »Nicht ich. Meine Mutter. Mensch, da war was los!« Ein unterdrückter, kehliger Laut erklang. Dann zischte die Puppe: »Sie hat's dir also gestohlen, das Geld. Pah - die eigene Mutter!« »Nicht gestohlen«, begehrte Basti auf. »Mutter ist der ehrlichste Mensch, den ich kenne.« »Trotzdem«, beharrte der Drak. »Sie hat es weggenommen, ohne daß du davon wußtest. Das ist gemein.« Basti beschloß, seinen bizarren Gefährten auf andere Gedanken zu bringen. Er stand auf, reckte sich und blickte einen Moment aus dem Fenster. Hinter ihm, auf dem Bett, ertönte leises Rascheln. Basti schmunzelte. Verkroch sich der Drak mal wieder unter seinem angewärmten Bettzeug? Basti sah sich um. Nur der Kopf der Puppe lugte unter der Zudecke hervor. »In der Stadt ist die Hölle los!« sagte Basti. »Hast du schon davon gehört?« Die Puppenstirn krauste sich. »Was meinst du? Erzähl's mir, Sebastian!« »Jeden Tag werden irgendwelche Gliedmaßen von Menschen gefunden.
Füße, Hände, manchmal auch einzelne Finger. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln. Sie haben bloß herausgefunden, wem sie gehören. Meistens Pennern und Obdachlosen. Sie laufen herum und verlieren Hände und Füße. Man vermutet, daß jemand infiziertes Roggenbrot an sie verteilt hat. Die Ärzte sagen, es sei eine Form von Ergotismus, der Kribbelkrankheit. Wenn man sich rechtzeitig impfen läßt, kann einem angeblich nicht viel passieren.« »Impfen?« »Man bekommt eine Lösung unter die Haut oder in die Blutbahn gespritzt, die verhindert, daß diese Infektionskrankheit ausbricht. Gegen fast alles gibt es Impfstoffe: Pocken, Cholera, Typhus, Diphtherie, Tuberkulose, Masern, Röteln, Wundstarrkrampf…« »Auch gegen Antoniusfeuer?« »Antoniusfeuer?« »Du hast es Ergotismus genannt. Bei uns hieß es Kribbelkrankheit oder Antoniusfeuer.« »Schätze ja.« Basti sah das rosig glänzende Puppengesicht prüfend an. Ein entsetzlicher Verdacht flackerte in ihm auf. »Sag mal, hast du damit etwas zu tun? Ich meine, mit diesen abgefallenen Händen und Füßen?« »Und wenn?« Die Puppe strampelte vergnügt mit den Beinen. »Ich brauche eben Abwechslung. Spaß. Immerhin hab ich lange genug in diesem engen Kästchen schmachten müssen. Glaubst du, darin hat es irgendwelche Zerstreuung gegeben?« Basti schwieg. Spaß… Die Vorstellung, daß der Schwarze Drak schuld am Tod oder den Verstümmlungen von Menschen war, erschütterte ihn. Damit wollte er nichts zu tun haben. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, das kleine Scheusal zu vernichten. Vielleicht könnte er, Basti, es schaffen, den Drak erneut in einem Behältnis verschwinden zu lassen? Aber diesmal für alle Zeit! Der Drak riß ihn aus seinen Gedanken. »Will dir was zeigen«, piepste er. »Und was?« »Wirst schon sehen. Aber mach dich auf was gefaßt. Hast doch gute Nerven, oder?« Basti kriegte feuchte Hände. »Ja«, sagte er mit belegter Stimme. »Ein Feigling bin ich nicht. Wenn's sein muß, übernachte ich in einem frisch ausgehobenem Grab.«
Ich quatsche schon genauso dämlich wie dieser Dreikäsehoch Michael Grapenthin, dachte er, als er die Puppe vom Bett nahm und vorsichtig in
die Innentasche seiner Lederjacke schob. »Wohin soll's gehen?« fragte er. »Mühlenstraße«, kam es zurück. »Dort gab's früher mal 'n Franziskanerkloster. Ich hab den Eingang zu einem unterirdischen Gang ausfindig gemacht. In der Nähe der Stadtmauer. Nicht weit von hier.« Basti nickte. Sein Entschluß stand fest. Unwiderruflich. Das kleine Monster mußte vernichtet werden! Basti spürte eine brennende Ungeduld, ein instinktives Verlangen, den Schwarzen Drak fertigzumachen. Er konnte sich kaum vorstellen, daß sich das Biest durch blanke Worte von seinen gräßlichen Untaten abhalten ließ. Die Frage war nur, wie? Der Drak war furchtbar gefährlich. Er verfügte über magische Kräfte, die so mächtig waren, daß ein Kampf mit ihm von vornherein aussichtslos schien. Bastis Verzweiflung wuchs. Er überquerte den Boulevard und bog in die Lange Straße ein. Über den Dächern der Häuser kamen bereits die Wipfel der Kastanienbäume in Sicht, die auf dem Wall standen. Noch hundert Schritte, und sie waren am Ziel. Basti spürte den Druck der Puppe in seiner Innentasche. Sie bewegte sich. Wahrscheinlich, um bequemer hinausspähen zu können. Basti vermied, sie zu berühren. Ein Anflug von Ekel stieg in ihm auf. Er sammelte die Flüssigkeit in seinem Mund und spuckte aus. Die Kuhstraße. Noch vierzig Schritte. Die Mühlenstraße kam in Sicht. Der Siebzehnjährige ahnte noch nicht, daß ihm das furchtbarste Erlebnis seines Lebens bevorstand. * Die Stadtmauer. Hunderte Male war er daran vorbeigegangen, ohne sich einen Deut um das rote, verwitterte Gemäuer zu scheren. Aber heute schien es Basti, als sehe er es zum ersten Mal. Seine Sinne waren sonderbar geschärft. Mechanisch fielen ihm einige Daten über Greifswald ein. Verleihung der Stadtrechte durch Herzog Wartislaw II. von Pommern-Wolgast am 12 Mai 1250. Das Recht zur Befestigung der Stadt wurde 1264 im Rostocker Landfrieden festgeschrieben. Demnach feierte seine Heimatstadt im Jahre 2000 ihren 750. Geburtstag. Basti seufzte gedankenverloren. Eine Stimme katapultierte ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Hey, Basti, alter Sausack! Hast dich lange nicht mehr bei uns blicken lassen. Sind wir dir nicht mehr fein genug?« Basti erschrak, als er sah, wer da auf ihn zukam. Keule und der starke Werner. Beide aus seiner Clique. Sie kauten Kaugummi und starrten ihn finster an. »Hallo, Jungs!« Basti grinste schräg. »Bin momentan voll von der Rolle. Muß pauken, daß die Schwarte kracht. Wegen der Prüfungen, wißt ihr?« Keule und Werner sahen sich feixend an. Sie waren neunzehn, trainierten drei Tage in der Woche mit Hanteln und hielten sich für Schwarzeneggers Nachfahren. »Prüfungen im Herbst?« Werner trat einen Schritt auf Basti zu. »Prüfungen sind im Juni, schon immer gewesen. Das weiß jeder Hosenscheißer. Willst uns auf den Arm nehmen, he?« »Nein, ich…« Basti verhaspelte sich. Er wußte ja, was ihm da für ein Schläger gegenüberstand. »Schnauze!« Werners Augen wurden schmal. »Dein dämliches Gelaber geht mir auf die Nüsse.« Keule vergrub die Hände in seinen Taschen und griente verächtlich: »Der Kerl schleppt 'ne Puppe mit sich rum. Werner, ich glaube fast, unser Basti ist nicht mehr der alte. Er spielt neuerdings mit Puppen. Pah - was es nicht alles gibt!« Basti spürte, wie seine Knie weich wurden. Eine Eisenklammer krallte sich um sein Herz. Gehetzt blickte er sich um. Sie standen auf dem Wall, nur er und die beiden anderen. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Seine Chancen waren gleich null. Keule und Werner würden ihn zusammenschlagen. Das war ihre Spezialität. Oft genug hatte er es miterlebt. Widerstand zu leisten, grenzte an Selbstmord. Gegenwehr würde sie nur noch mehr anstacheln. Eine Stimme erschallte, dünn und schrill: »Macht den Weg frei. Sonst setzt es was!« Werner riß die Augen auf. »Was war 'n das?« Sein Kumpan winkte ab. »Unser Freund Basti scheint in der BauchrednerBranche mitzumischen. Gib ihm was aufs Maul und basta! - Verdammt, wo kommt denn dieser stinkende Qualm auf einmal her?« Der schmutzigweiße Nebel, dick wie Watte, quoll aus Bastis Jackentasche und hüllte alle ein. Dazu erklang ein leises Rauschen, als würde Luft aus einem porösen Gummischlauch entweichen. Die Jungen husteten und würgten. Als der Wind den Qualm fortblies, fielen den beiden Wegelagerern fast die Augen aus dem Kopf. Auch Basti staunte Bauklötze.
Vor ihnen stand ein riesengroßer, glatzköpfiger Mann. Er hatte ein rosiges Babygesicht und trug einen schmutzstarrenden, gestreiften Schlafanzug. Keule und Werner wichen zurück. Doch statt sich auf die Socken zu machen, starrten sie den Hünen ungläubig an. Noch ahnten sie nicht, daß sie sich in tödlicher Gefahr befanden. In den Laubkronen der Roßkastanien, die die aufgeschüttete Wallanlage umgaben, wurde es laut. Schwärme von Vögeln flatterten aufgeregt auf und flogen davon. Als spürten sie, daß Unheil nahte. »Wer ist denn das?« Keule schnalzte mit der Zunge. »Halloween ist doch erst in drei Wochen.« »Der Dicke scheint nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben.« Werner hängte seinen Daumen in seinen Gürtel. »Ich hab's im Urin.« Lässig versuchte er, seine Angst zu überspielen. Er war der Stärkste, the Greatest. Bisher hatte er jeden Typen auf die Matte gelegt. Was konnte ihm also groß passieren? »Ich mag euch nicht«, piepste der gestreifte Gigant. »Es gefällt mir nicht, wie ihr meinen Freund behandelt.« Geifer tropfte in langen Fäden aus seinem Mund. »Hört! Hört!« alberte Werner. »Das Riesenbaby mag uns nicht. Ei wie schlimm…« Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Der babygesichtige Riese ging auf sie los. Zuerst schnappte er sich Keule. Er packte den stämmigen Jungen am Schlafittchen und schmetterte ihn mit einem Ruck zu Boden. Das Geräusch, das dabei entstand, klang, als ob ein Sack Briketts bei voller Fahrt von der Ladefläche eines Lkws gedonnert wäre. Basti glaubte zu hören, wie Keules Rippen knackten. Keule wand sich auf dem morastigen Erdboden. Er jammerte und spuckte Blut. Sein rechter Arm! Er war unnatürlich verrenkt. Der Oberarmknochen hatte den gewaltigen Druck nicht überstanden. Er war aus dem Gelenk gesprungen und ragte nun wie ein Spieß aus dem dünnen Stoff des Blousons. Vor lauter Entsetzen biß sich Basti in den Finger. Werner schäumte vor Jähzorn. Keule war sein bester Kumpel. Sie waren unzertrennlich. Seit zehn Jahren gingen sie durch dick und dünn. »Du fetter Saukerl!« brüllte er. »Ich mach dich alle! Ich reib dich auf wie 'ne Zellophantüte!« Der Pyjamamann kicherte.
Seine nackten Zehen bohrten sich in den Boden, als machte er sich für einen Sprung bereit. Werner umtänzelte ihn geduckt. Er hatte sich seinen silbrig glänzenden Schlagring übergestreift. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit, dem Dicken das Gesicht zu zertrümmern. Basti stand da, reglos, schockiert, unfähig, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Mit herausquellenden Augen sah er zu, wie Keule sich zu seinen Füßen erbrach. Wieder und wieder. Eine dampfendes, breiige Pfütze bildete sich um ihn herum. Dann wurde Keules Wimmern allmählich leiser. Die Krämpfe, die seinen Körper erschütterten, wurden schwächer. Ein letztes Zucken… Der Drak ließ seinen Gegner zappeln. Sie umkreisten sich. Jeder lauerte auf die Reaktion des anderen. Eine Unachtsamkeit, und man hatte verspielt, endgültig. »Du vor Fett triefender Abschaum!« keuchte Werner. »Du hast Keule auf dem Gewissen. Dafür werde ich…« Weiter kam er nicht. Er wurde von einem furchtbaren Fausthieb getroffen. Ein Schlag wie aus heiterem Himmel. Werner taumelte um seine eigene Achse. Sein rechtes Auge schwoll sofort zu. Obwohl er erst neunzehn war, war er bereits ein erfahrener Kämpfer. Seine Instinkte waren hervorragend ausgeprägt, und er war sehr stolz darauf. Noch niemals hatte es jemand geschafft, ihm ein blaues Auge zu verpassen. Doch den Schlag eben hatte er nicht mal im Ansatz bemerkt. Werner taumelt und wich zurück. Doch er sammelte sich wieder. Grub die Fingernagel in seine Hände, bis Blut kam. Er ließ den Pyjamamann nicht aus den Augen. »Töte ihn nicht!« Endlich hatte Basti seine Stimme wieder. »Ich flehe dich an. Bitte, laß ihn am Leben!« »Warum?« kicherte der Drak. »Nenne mir einen guten Grund, Sebastian.« »Er ist ein - Mensch«, hauchte Basti. Der Drak wischte sich den Speichel von den Lippen. Er grinste geringschätzig. Seine Schweinsäuglein funkelten heimtückisch. Ehe Werner etwas sagen konnte, sprang er dem vor Schreck Aufbrüllenden an die Kehle. Der Schrei, der die Stille zerriß, währte nur eine einzige Sekunde.
Dann war da nur noch dieses gräßliche Sprudeln… * Ich war gerade dabei, die Utensilien zum Kampf gegen den Schwarzen Wandler in Vincents Hebammenkoffer zu verstauen, als mein Adoptivvater aus Weimar anrief. »Was gibt's Neues, Ulrich?« fragte ich. »Neuigkeiten.« Seine Stimme klang noch immer verschnupft. »Ich habe Erkundigungen eingeholt. Sie werden dich interessieren, Junge.« »Leg los!« Ich spitzte die Ohren. »Was hast du ausbaldowert?« Vater ließ sich nicht lange bitten. Er kam sofort zur Sache. »Nach allem, was ich über diese scheußlichen Dinge, die in Greifswald passieren, gehört habe, hat dein spezieller Freund Mephisto diesmal nicht seine Klauen im Spiel. Aber Vorsicht, Mark! Die Kreatur, die du jagst, ist nicht minder gefährlich. Dieser Grapenthin hat einen an für sich harmlosen Geist aus dem Mittelalter in die Gegenwart verfrachtet…« Ich war baff. »Sagtest du harmlos, Vater?« »Normalerweise sind Draks nützliche Hausgeister. In den pommerschen Sagen gibt es zahllose Beispiele dafür, daß sie Freunde der Menschen sind. Sie lebten bei ihnen im Haus, als wären sie ihre Angehörigen. In Zeiten der Not versorgten sie die Menschen mit Vorräten, daß sie nicht verhungern mußten. Der Drak jedoch, dem du auf der Fährte bist, ist die gefährliche Ausnahme.« »Ein Schwarzer Drak.« »Richtig«, bestätigte Ulrich. »Ich habe gerade mit Doktor Mayen, dem berühmten Okkultisten und Parapsychologen, telefoniert. Er vertritt die Ansicht, unter den Geistern gibt es, ähnlich wie bei uns Menschen, Spezies, die nicht der Norm entsprechen.« Ich verstand. Es klang einleuchtend. Auch manche Menschen mutierten zu blutrünstigen Ungeheuern. In ihnen brütete das Böse und wartete darauf, sich zu entfalten. Beispiele gab es genug. Die Zeitungen waren voll davon. Wieso sollte es nicht auch unter den Spukgestalten solche Fieslinge geben? »Hat dir Dr. Mayen auch gesagt, wie man diesem schwarzen Miststück das Fell über die Ohren ziehen kann?« Ulrich räusperte sich. »Dr. Mayen ist Wissenschaftler, kein Geisterjäger. Aber er meint, herkömmliche Dinge wie Silberkugeln, Kruzifixe, Beschwörungen, Weihwasser und angespitzte Holzscheite nützen nicht viel.«
Nervös strich ich eine widerspenstige Haarsträhne aus meiner Stirn. Diese Wende hatte ich nicht erwartet. Mein Blick fiel in den geöffneten Hebammenkoffer. »Soll ich etwa mit bloßen Fäusten auf diesen Bastard losgehen?« fragte ich. »Das hätte wenig Zweck«, antwortete Ulrich. »Du bist zwar ein kräftiger Kerl, aber in einem Zweikampf mit einem Schwarzen Drak würdest du den kürzeren ziehen.« »Dein Vorschlag?« Ich war ganz Ohr. Da ging die Tür auf, und Vincent kam ins Zimmer. Er sah mich fragend an. Ich legte schnell den Zeigefinger auf den Mund und deutete vielsagend auf mein Handy. Vincent ließ sich auf einen Stuhl fallen, zog seine Pfeife hervor und steckte sie umständlich in Brand. »Feuer«, sagte Vater. »Diese schwarzen Kanaillen fürchten sich vor Feuer.« Bei mir klingelte es. Die Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Dolch. »Natürlich!« rief ich aus. »Das ist es! Feuer! Das war der Grund, wieso dieses Höllenwesen damals in das Kästchen geschlüpft ist. Es fürchtete sich vor Feuer! Möglicherweise ist seinerzeit ein Brand ausgebrochen. Der Drak verfiel in Panik. Er ist ein Körperwandler. Also hat er sich kleingemacht und sich in den erstbesten Behälter verkrümelt. Pech, daß jemand das Ding abgeschlossen hat. Er war gefangen. Seine magischen Kräfte konnten sich nicht entfalten. Womöglich deswegen, weil er so klein war. Erst ein paar hundert Jahre später ist er wieder aufgetaucht. Irgendwie muß er überlebt haben.« »Du sagst es.« Vaters Stimme klang traurig. »Vor Freude, daß er wieder da war, fing er gleich damit an, Unheil zu stiften. Übermütig vergiftete er Obdachlose mit infiziertem Brot und tötete Menschen, wie es ihm gefiel. Es scheint, als ob die Bestie einiges nachzuholen hätte…« Mit abwesendem Blick verfolgte ich, wie Vincent dasaß und bläuliche Wölkchen ausstieß. »Seine Stunden sind gezählt«, sagte ich gepreßt. »Ich werde ihm Feuer unter dem Hintern machen.« »Viel Glück, Junge!« Ich legte auf. Im selben Augenblick klopfte jemand an die Tür. »Hast du den Zimmerservice bestellt?« fragte ich meinen Freund. »Nicht daß ich wüßte.« Vincent hustete. Er hatte Rauch verschluckt. Es klopfte zum zweiten Mal. Ich ging zur Tür, öffnete sie und stand dem dicken Bolle aus dem Alten Fritz gegenüber. Sein massiger Körper füllte fast den Türrahmen aus.
»Hallo!« krächzte er. »Ich wollte euch Heinis mal meine beiden Kumpels vorstellen. Die Jungs sind ganz schön sauer gewesen, als sie erfuhren, was ihr im Fritz mit mir angestellt habt. Sie wollten euch mal persönlich kennenlernen. Sie gaben einfach keine Ruhe. Naja, da bin ich schwach geworden.« * Michael fröstelte. Vor ein paar Sekunden war er aufgewacht. Um ihn herum war tiefe Finsternis. Modrige, feuchte Luft umgab ihn. Er spürte, wie ihm die Angst die Kehle zuschnürte. Gott im Himmel, wo bin ich? fragte sich der Achtjährige und richtete sich lauschend auf. Wer hat mich in diese Gruft gebracht? So sehr er sich auch anstrengte, seine Augen konnten die Dunkelheit nicht durchdringen. Sie lag wie ein gigantischer, schwarzer Mantel auf ihm. Es war gespenstisch still. War er allein? Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Der dicke Mann im Pyjama. Die Schreie der Mutter. Die ekelhaften Rauchschwaden, die ihm den Atem nahmen. Was war passiert? »Mutter?« wisperte er. »Mutter? Bist du da?« Keine Antwort. Statt dessen tröpfelte irgendwo über ihm eine Flüssigkeit. »Mutter?« Nichts. Nur Tropfen. Michael spürte, wie sein Schädel brummte. Als würde jemand mit einer Stimmgabel dagegenstoßen. Er bewegte seine Hände, seine Füße. Sie taten nicht weh und funktionierten. Er versuchte aufzustehen, stützte sich mit den Händen am klebrig nassen Steinboden und stand schließlich aufrecht. Zwar auf ziemlich wackeligen Beinen, aber er stand. »Mutter?« Steif wie ein Billardstock stand er da, wie gelähmt von der entsetzlichen Erinnerung, und horchte in die Tiefe des gespenstischen Raumes hinein. Von irgendwo ertönte ein dünnes Zirpen. »Ratten«, murmelte Michael. »Hier gibt es Ratten.« Ekel stieg in ihm auf. Er schüttelte sich. Er tastete nach einer Wand, fand aber keine. Behutsam schob er einen Fuß nach vorn, zog den anderen nach und
wiederholte dann die Prozedur. Bis er an eine glibberige, kalte Mauer stieß. Ängstlich betastete er die Wand. Möglicherweise fand er eine Tür. Jeder Raum hatte Türen. Oder? Die Hände ausgestreckt, glitt er an der feuchten steinernen Wand entlang. Wenn er in die Fugen kam, bröckelte Putz ab und kleckerte zu Boden. Plötzlich stolperte er. Fast wäre er gestürzt. Irgendwas lag im Weg. Es war nicht sehr hart. Womöglich ein Sack mit gestockten Lumpen? Vorsichtig ging der Junge in die Hocke, um den Gegenstand, der ihm den Weg versperrte, zu betasten. Als er mit den Fingerspitzen das Hindernis berührte, glaubte er, eine Rieseneidechse glitschte über seinen angstschlotternden Körper. Vor ihm lag der Körper eines Menschen. Reglos. Kalt. Tot. * Die Situation war hochgradig brenzlig. Bolle und seine beiden Kumpane hatten sich in mein Hotelzimmer geschoben und die Tür hinter sich zugedrückt. Sie, starrten mich finster an. Offenbar warteten sie, daß Bolle ihnen einen Wink gab, um Vincent und mich aufzurollen. Doch der Wink blieb aus. Fürs erste jedenfalls. Bolle genoß unsere Überraschung. »Schiß?« feixte er. Ich sah ihn an. »Vor wem?« Bolles grobschlächtige Rummelboxer standen da wie die Ölgötzen. Sie trugen prall sitzende Bluejeans mit ausgebeulten Knien, ungeputzte Schuhe und grünliche Kutten, die noch aus dem Fundus der Nationalen Volksarmee zu stammen schienen. Während sie die Tür flankierten, stolzierte Bolle, sich spreizend wie ein Pfau, durchs Zimmer. »Was wollt ihr?« fragte ich ruhig. Gelassenheit imponierte solchen Typen erfahrungsgemäß am meisten. Es machte sie unsicher, nagte an ihrem Selbstwertgefühl. Ich war ungefähr vierzehn, da wollten mir mal ein paar aufgehetzte FDJler ans Leder. Auf dem Schulweg lauerten sie mir auf, umzingelten mich. Verduften war nicht. Ich mußte mich der Übermacht stellen. Sie hielten sich für unüberwindlich. Bis ich dem, der die dickste Lippe riskierte, mit einem wuchtigen Uppercut
von den Beinen holte. Plötzlich hatten es die Blauhemden sehr eilig. Im Nu hatten sie sich in alle Winde verstreut. Bolle war aus anderem Holz geschnitzt. Zudem war er stinksauer auf mich, weil ich ihm das Gesicht verbogen hatte. Er gierte geradezu nach Vergeltung. »Er fragt tatsächlich, was wir wollen.« Bolle mimte den Dummerjahn. »Tja, eine gute Frage. Ehrlich. Was mögen Jungs wie wir wohl von euch Fuzzis wollen?« Seine Leibgarde bleckte die Zähne, als hätte Bolle den Witz des Jahrzehnts gerissen. »Ja, was mögen wir schon wollen?« raunte der Größere von ihnen, ein stoppelbärtiger Endzwanziger mit Doppelkinn. »Sag's ihm einfach, Bolle. Dann schnallen sie's.« »Unsere gemeinsame Freundin hat mich gebeten, dir 'nen Besuch abzustatten«, erklärte Bolle. »Luzy meint, sie kriegt noch 'n bissel Kleingeld von dir, Alter.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Vincent van Euyen seelenruhig seine Pfeife rauchte. Anscheinend teilnahmslos blätterte er in einer Illustrierten, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Wie dumm«, sagte ich. »Leider hab ich kein Bargeld bei mir. Sonst hätte ich euch wirklich gern unter die Arme gegriffen. Die arme Luzy scheint's bitter nötig zu haben, daß sie euch Boys anschaffen schickt.« In den Gesichtern der Gorillas zuckte es verräterisch. Der Größere der beiden knirschte mit den Zähnen. Es kostete ihm Mühe, sich zurückzuhalten. Ich war auf der Hut. Jeden Augenblick konnten sie sich auf mich stürzen. Meine Chancen standen nicht gerade rosig. Ich war allein. Auf Vincent konnte ich nicht zählen. Er war zwar ein erstklassiger Fotograf, aber nur ein drittklassiger Raufbold. Bolle ließ sich nichts anmerken. Betont lässig sah er sich im Zimmer um. Dann blieb sein Blick an meinem schweren Siegelring hängen. »Okay«, sagte er. »Sei's drum. Zur Not gebe ich mich auch mit dem Klunker zufrieden, den du da trägst.« Er streckte eine Hand aus. »Gib ihn mir - und du behältst deine Schneidezähne. Gebongt?« Ich wußte, es war keine leere Drohung. Doch langsam ging mir Bolles blasiertes Gehabe auf die Nerven. Wir waren auf dem Sprung. Ein knallharter Fight mit einem übernatürlichen Wesen erwartete uns. Und da spazierten diese Schießbudenfiguren herein und laberten uns voll. Ich mußte endlich Nägel mit Köpfen machen. Wir vertrödelten sonst nur
unsere kostbare Zeit. »Den Ring willst du?« »Bingo, Alter. Luzy ist 'ne bescheidene Person. Sie haßt Wucherei.« Da gab Vincent seine Passivität auf. Er lenkte die Aufmerksamkeit unserer Besucher auf sich. »Hm, die Luzy«, meinte er spöttisch. »Wie ist sie denn so im Bett, Bolle? Bundesligareif oder Kreisklasse?« »Du Mistkerl!« schimpfte Bolle. »Dich nehmen wir zuerst in die Mangel. Dann gnade dir Gott!« Bolle war rot angelaufen. Er stand da mit geballten Fäusten und bleckte die Zähne. Auch seine Begleiter wandten sich Vincent zu. Bravo, Vince! dachte ich und zog blank. Die SIG Sauer ist eine schwere Waffe, aber ich wirbelte sie aus dem Holster, wie es Billy The Kid in seinen besten Tagen nicht fixer fertiggekriegt hätte. »Patschhändchen hoch!« bellte ich. »Und das 'n bißchen plötzlich.« Sechs Arme flogen in die Luft. Im Zeitraffer. Es war fast wie in einem Film, in dem Charles Bronson eine Horde Desperados aufmischte. Die Kerle glotzten, als hätte ich mich vor ihren Augen in Dolly Buster verwandelt. Ich biß mir auf die Unterlippe. »Äh, ich…«, stotterte Bolle. Ich zog das böseste Gesicht, das ich in petto hatte. Kaltblütig zielte ich auf seinen Kopf. »…nur Spaß, ehrlich.« Bolle grinste schief. »Tut uns echt leid, wenn ihr Jungs uns mißverstanden habt.« »Spaß?« Mein Finger spielte am Abzugsbügel. Bolle nickte fleißig. »Klaro, Mann. War alles nicht so gemeint. Sehen wir aus wie Knochenbrecher?« Ich hörte Vincent hüsteln. »Verschwindet!« fuhr ich unsere ungebetenen Besucher an. »Macht euch auf die Socken! Ich zähle bis drei.« Doch ich kam bloß bis eins. Die Plagegeister parierten aufs Wort. Sie drängten sich durch die Tür und rannten polternd den Hotelgang hinunter. Ich steckte meinen Ballermann ein. Er hatte seine Pflicht getan. Dann drückte ich Vincent anerkennend die Hand. »Gib endlich zu, daß du ohne mich aufgeschmissen bist.« Mein Freund strahlte wie eine Hundertwattbirne. Ich tat ihm den Gefallen.
* Der Keller eines leerstehenden, halb eingestürzten Hauses, direkt am Stadtwall. Basti war, als ginge er auf Eiern. Sein Blut preschte ihm durch die Adern. Sein Puls hämmerte. Immer wieder zogen Bilder den Grauens vor seinem geistigen Auge vorüber. Keule, wie er zusammengerollt wie ein Regenwurm dalag und ununterbrochen spuckte, und Werner, wie er mit angstgeweiteten Augen dem heranfliegenden Drak entgegensah. Sie tappten über herumliegendes Gerumpel. Der Drak hatte die Gestalt des Pyjamamannes behalten. Oberhalb den Gewölbes gab es zwei Fenster mit zerbrochenen Scheiben. Schmutziggraues Licht fiel herein. »Wo wollen wir eigentlich hin?« flüsterte Basti matt. »Hast du einen Schatz gefunden?« Der Drak kicherte. »Bist du scharf auf einen Schatz? Was, wenn du einen hättest? Deine Mutter würde ihn dir abnehmen und treu und brav abliefern.« Basti sagte nichts. Sie gingen weiter. Ein Durchgang kam in Sicht. Die Tür war irgendwann abhanden gekommen. Die Angeln steckten noch in der Mauer, völlig verrostet. Der Drak mußte den Kopf einziehen, als er hindurchging. Basti folgte ihm. Unter der bröckelnden Decke verliefen Rohre. Eines war aus den Verankerungen gerissen. Wie der Rüssel eines Elefanten baumelte es herab. Der Drak schob es beiseite. Ein knarrendes Geräusch ertönte. Putz rieselte. Weiter. Es wurde immer dunkler. Basti schauderte. Er hob die Arme, tastete sich vorwärts. Dann stoppte der Drak. Er bückte sich, und Basti hörte es quietschen. Einen Augenaufschlag später stieg ihm ein widerlicher Gestank in die Nase. Der Geruch des Todes? Basti hielt sich die Nase zu. Sein teuflischer Begleiter bemerkte die spontane Reaktion. Piepsiges Gelächter hallte von den Wänden wider. Am liebsten hätte Basti kehrtgemacht und wäre davongerannt, im gestreckten Galopp. Doch er rannte nicht. Er war wie gelähmt. Er hörte, wie der Drak genießerisch schnupperte. Offenbar erregten ihn die scheußlichen Ausdünstungen. Geschöpfe der Finsternis setzten andere
Prioritäten. Basti spürte, wie sich sein Unterkiefer verselbständigte. Seine Zähne klapperten, obwohl er sein Kinn mit einer Hand festhielt. Es war eine Falltür. Das stand eindeutig fest. Aber wohin führte sie? Bastis Gedanken überschlugen sich. Ins Reich der Toten, der Begrabenen? Alles deutete auf einen unterirdischen Friedhof hin. Was wollte der Drak ihm zeigen? »Komm, Sebastian«, sagte der Drak. »Steigen wir runter. Du wirst Augen machen.« »Ich kann jetzt schon kaum noch etwas sehen.« Bastis Stimme zitterte. »Ich werde mir das Genick brechen, wenn ich im Dunkeln da hinuntersteige.« »Keine Angst. Ich paß schon auf dich auf. Und unten hab ich eine Funzel. Dir wird schon nichts entgehen, mein Freund.« Mein Freund… Basti zerquetschte einen Fluch. Dann schlüpfte er durch die Luke. * »Papi?« »Ja? Was hast du denn, Engelchen?« Schluchzend streckte die kleine Tanja dem Vater die Ärmchen entgegen. Gerald Köster saß auf seinem Lieblingssessel vor dem Fernsehapparat. Der Bildschirm flimmerte. Die Fünfjährige war im Nachthemd. Es kam häufig vor, daß das Mädchen noch einmal hereinschneite, besonders dann, wenn es nicht einschlafen konnte. Tanja kletterte auf seinen Schoß. »Darf ich ein bißchen bei dir bleiben, Papi?« Sie stupste mit dem Kopf an sein Kinn. Ohne den Blick von der Mattscheibe zu nehmen, strich Köster ihr über das Haar. Wie weich es ist, dachte er. Genau wie das von Anna. Anna war Tanjas Mutter. Sie mußte jeden Augenblick vom Dienst heimkommen. Neuerdings hatte das Eiscafe, in dem Anna arbeitete, bis abends um neun geöffnet. »Du sollst doch schlafen, Prinzeßchen«, sagte er gutmütig. »Der Sandmann war schon lange da.« Tanja schmiegte sich an seine Brust. »Ich habe solche Angst, Papi.« Der Spielfilm, den sich Köster ansah, wurde unterbrochen. Es kam „Werbung. Der erste Spot zeigte einen Steppke, der seine Freizeit in einer Kloake verbracht haben mußte. Bis an den Hals verdreckt, marschierte er
in eine blitzsaubere Küche und stillte seinen Durst. Eine überglückliche Mutter tauchte auf. Tolerant lächelnd entfernte sie die Schmutzspuren. Sie schien vom Tun ihres Sprößlings begeistert zu sein. Dann wurde der Name eines Allesreinigers eingeblendet. »Vor was hast du denn Angst, Engelchen?« fragte Köster seine Tochter. »Ich habe Angst um Mami«, sagte sie. Er sah auf die altertümliche Standuhr neben der Anbaureihe. Die Perpendikel schwangen monoton. »Noch zehn Minuten, dann ist deine Mami da«, beruhigte er Tanja. »Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.« Das Kind schluchzte. »Ich weiß, daß etwas sehr Schlimmes mit meiner Mami passiert ist.« »Woher willst du das wissen?« Köster schwitzte. »Du hast doch nebenan in deinem Bettchen gelegen. Und Mami ist in der Gaststätte, die Gäste bedienen.« »Ich weiß es eben«, sagte sie starrköpfig. Dann begann sie, eine traurige Melodie zu summen. Der nächste Werbespot. Köster rutschte unruhig hin und her. Still sah er zu, wie alle Frauen in einem Büro den Atem anhielten, als ein unrasierter Schönling hereinkam, eine Kiste Cola auf der Schulter, und freigiebig seinen Schweiß über die Anwesenden verteilte. Tanja hörte auf zu summen. Sie weinte. Zärtlich drückte der Mann das schluchzende Kind, versuchte es zu trösten. Es blieb bei dem Versuch. Jetzt weinte das Kind hemmungslos. Seine Tränen strömten geradezu aus ihren Augen. Der Vater war ratlos. Wo blieb Anna bloß? fragte er sich. Vom Cafe bis nach Hause war's doch nur ein Katzensprung. Nicht mal fünf Minuten… Das Telefon klingelte. Der schrille Signalton hatte etwas Alarmierendes. Kösters Herz schlug ein paar Takte schneller. Er hatte eine böse Vorahnung. Eine Zeitlang saß er völlig reglos da, starrte auf den Apparat, der neben ihm auf einem rustikalen Tischchen stand. Er fürchtete sich davor, den Hörer abzunehmen. Es klingelte und klingelte. Irgendwann nahm Köster ab, lauschte in die Muschel. Je länger er zuhörte, desto maskenhafter wurde sein Gesicht. Als er auflegte, fragte ihn seine kleine Tochter, ob es die Mami war, die angerufen hatte.
Gerald Kösters Stimme zitterte, als er sagte: »Ja, es war die Mami. Sie kommt heute nicht nach Hause. Sie hat noch etwas zu erledigen. Wir sollen uns keine Sorgen um sie machen.« Dann streikten seine Stimmbänder. Als wenn sie es verabscheuten, daß er log. * Unten angelangt, betrat Basti einen Raum, in dem es so dunkel war, daß er nicht die Hand vor Augen sah. »Warte«, hörte er den Drak sagen. »Gleich wird's heller. Ich mache Licht.« Ein Feuerzeug ratschte. Im flackernden Schein des gelbroten Flämmchens bekam Basti einen ungefähren Eindruck von den Ausmaßen des höhlenartigen Raumes, in dem er sich befand. Der Raum hatte die Größe eines Tanzsaales. Die Wände bestanden aus verwittertem Mauerwerk. Der Boden war mit Feldsteinen gepflastert. Es stank penetrant nach Verwesung. Basti sah, wie der Drak ein kleines Windlicht mit einer Kerze darin aus einer Mauernische nahm. »Was ist das für ein Raum?« fragte Basti. Seine Frage hallte verzerrt von den Wänden wider. »R-a-u-m - R-a-u-m?« Der Schwarze Drak ließ sich Zeit mit der Antwort. Mit geblähten Nasenflügeln inhalierte er genußvoll die verpestete Luft. Dann zirpte er: »Du bist der erste, Sebastian, dem ich es zeigen werde. Der erste Mensch seit vierhundert Jahren. Du kannst stolz darauf sein.« »R-a-u-m?« Der Drak hielt das Windlicht in die Höhe. Nach und nach gewöhnten sich Bastis Augen an die Finsternis. Was er erblickte, ließ sein Haar binnen weniger Minuten schlohweiß werden. Er wußte jetzt, wo er sich befand. Im Trophäensaal des Schwarzen Draks! Hier bewahrte das blutrünstige Höllenbiest die menschlich Reste seiner Opfer auf. Basti tappte ein paar Schritte vorwärts. Dann blieb er vor einem verkrümmten Körper stehen, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Als er den Torso einer genaueren Betrachtung unterzog, glaubte er, Frau Köster, die Bedienung aus dem Eiscafe, zu erkennen.
Vielmehr das, was von ihr noch übrig war… * Es donnerte. Die schwarzgrauen Wolken hatten sich verdichtet. Ein Gewitter zog auf. Die Dunkelheit nahm zu. Einem inneren Impuls folgend, war ich auf der Wallanlage gelandet. Dort meldete sich mein Ring. Mit jedem Schritt, den ich tat, verstärkte sich sein Fluoreszieren. Schillernde Farben erschienen auf seiner Oberfläche, zerschmolzen, pulsierten, als wolle mir mein Ring klarmachen, daß ich auf der richtigen Fährte war. Auf der Fährte des Schwarzen Drak. Ich blieb stehen. Vincent, der sich an meiner Seite hielt, deutete auf den Hebammenkoffer, den er trug. »Ich frage mich am laufenden Band, was passieren wird, wenn unsere Brandflaschen nicht ausreichen.« »Sie werden reichen, Vince.« Ich beobachtete den Ring. »Die Mischung darin wird unseren schwarzen Freund ein für allemal aus dieser Welt katapultieren.« Der Ring sandte einen dünnen Lichtstrahl aus. Es war soweit. Ich wußte genau, was ich zu tun hatte. Suche… In den Runenzeichen den Futhark-Alphabets schrieb ich das Wort auf den morastigen Erdboden. Suche… Der Strahl tanzte zittrig herum, als müßte er sich erst einmal mit dem Terrain vertraut machen. Er glitt durch das Gesträuch am Wegesrand, beleuchtete die Stämme der mächtigen Roßkastanienbäume, sauste bis hin zur Stadtmauer, hinter der die Häuser der Mühlenstraße aneinanderklebten. Blieb dann auf einem Punkt mitten in einem Gestrüpp haften. Wie gebannt verfolgten wir das optische Schauspiel. »Da«, flüsterte Vincent. »Das Licht. Es bewegt sich nicht mehr. Soll ich die Flaschen…?« »Nein«, entschied ich. »Noch sind wir nicht vor Ort. Erst wenn wir den Schlupfwinkel den Ungeheuers ausgemacht haben, werden wir ihm einheizen.« Wir näherten uns dem Gebüsch. Der Strahl blieb konstant und zitterte nur leicht. Das Geräusch eines anspringenden Autos erklang. Dann gab der Fahrer Vollgas, und es war
wieder still. Ich zog meine SIG Sauer. Mit dem Lauf bog ich die Zweige des Strauchs auseinander. »Da…« Vincent stand wie angewurzelt. »Da ist was!« Im Buschwerk hatte es geraschelt. Eine kleine Gestalt wurde sichtbar. Ich war baff, als ich erkannte, mit wem wir es zu tun hatten. Der Lurjahn. Der Hüter des Verborgenen. Ich hatte bereits auf der Insel Usedom mit ihm Bekanntschaft gemacht. Der kniehohe Zwerg stand da und sah zu uns auf. Der Wind zauste seinen struppigen Bart. »Mark Hellmann«, sagte er mit feierlicher Stimme. »So sieht man sich wieder. Ich bin gekommen, um dir zur Seite zu stehen. Wir wollen beide dasselbe. Den Schwarzen Drak.« Vincent stieß mir verdattert in die Rippen. »Ich krieg die Motten«, keuchte er. »Mark, dein Bekanntenkreis ist größer, als ich dachte.« Die Augen des Lurjahns funkelten, als würden zwei Kerzen darin brennen. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er. »Wenn wir den Drak heute nicht zur Strecke bringen, dann wird die Stadt ihren 750. Geburtstag nicht mehr erleben.« (siehe MH Band 4) »Und warum?« erkundigte sich Vincent. Der Lurjahn starrte ihn an. »Weil diese Kreatur außer Kontrolle geraten ist. Der Schwarze Drak liebt Gesellschaft. Noch ist er allein. Das gefällt ihm nicht. Noch in dieser Nacht wird er versuchen, andere Draks zu erschaffen. Für das nötige Material hat er bereits gesorgt.« »Das geht?« Ich packte die SIG Sauer fester. Der Lurjahn nickte. »Er hat die Zauberformel. In einem unterirdischen Gang, ganz in der Nähe, hat er sie aufgestöbert. Die Höhle gab es schon damals. Sie liegt direkt neben den Grundmauern eines Klosters. Seit Ewigkeiten dient sie als Unterschlupf der Schwarzen Draks.« Die Aussicht, einem ganzen Rudel Schwarzer Draks gegenüberzustehen, versetzte mich nicht gerade in Euphorie. Ich spähte zu Vincent. Mein Freund war fassungslos. Er stand da und stierte den Lurjahn an. Ich faßte mich als erster. »Also los! Rücken wir dem Bastard auf die Bude!« Wir setzten uns in Bewegung. Der Lurjahn wuselte voran. Hin und wieder traf ihn der laserartige Strahl, den mein Ring aussandte. Es donnerte wieder. Kurz darauf zuckte ein Blitz durch die Wolken.
Uns erwartete die Hölle… * Als das flackernde Licht auf ihn zukam, wollte sich Michael bemerkbar machen. Er hatte schon den Mund geöffnet, um zu schreien. Dann erkannte er, wer die Höhle betreten hatte. Der Schwarze Drak, in Gestalt des riesigen Pyjamamannes. Das Ungetüm hielt ein Windlicht über seinen Glatzkopf. Der Achtjährige biß auf seine Faust, stöhnte vor Schmerz. Lautlos sackte er in sich zusammen. Sterben… Plötzlich hörte er eine Stimme. Basti Klatt? Was tat der denn hier? Hoffnung… * »Hier ist es!« Der Lurjahn deutete auf eine Falltür. Wir standen im Keller eines Abrißhauses. Vincent leuchtete mit einer Taschenlampe. Wir kletterten eine wurmstichige Leiter hinab. Unten war es düster wie in einem Ofenloch. Es stank erbärmlich. Eine Gasmaske wäre angebracht gewesen. In der Dunkelheit tanzte ein Licht. Eine verzweifelte Kinderstimme. »Du bist an der Reihe, Mark Hellmann!« Der Lurjahn schaute zu mir auf. »Du bist der Kämpfer des Rings.« Ein häßlicher Ton. Dann ein Fluchen. »Meine Hose!« schimpfte Vincent. »Ich bin an einem Nagel hängengeblieben.« Der Strahl meines Ringes sauste durch den riesigen unterirdischen Raum. Ich kriegte eine Gänsehaut. Überall lagen menschliche Skelette herum. Manche lehnten an der Wand, als wären sie müde und müßten eine Pause machen. Einige hatten keine Schädel. Die lagen kreuz und quer auf dem Boden. Welch ein grausiges Szenario! Mir stockte der Atem. Der Schwarze Wandler. Zum erstenmal stand ich ihm gegenüber. Er trug einen Schlafanzug und
hielt einen kleinen Jungen gepackt. Den kleinen Michael! Neben der Bestie stand ein älterer Junge. Er hatte schlohweiße Haare und zitterte am ganzen Leib. Sicherlich hatte er einen Schock. »Feuer!« wisperte der Lurjahn. »Macht ihm die Hölle heiß! Dann ist er hinüber!« »Da sind zwei Jungs. Sie werden verbrennen.« Ich hielt die Pistole umklammert. Hinter mir klirrte Glas. Vincent hatte die Brandflaschen hervorgeholt. Höhnisches Gelächter erfüllte den Raum. Dann eine Stimme, hoch wie die eines Eunuchen. »Kommt nur, ihr Winzlinge! Ich werde euch zerquetschen wie Läuse. Glaubt ihr im Ernst, ihr könnt es mit mir aufnehmen? Hahaha, welch ein Spaß! Die Kuh springt aus freien Stücken auf die Schlachtbank!« Der gestreifte Gigant watschelte auf uns zu. Ich sah, wie der kleine Michael den Größeren beiseite zog. Kluges Kerlchen! Das Feuerwerk konnte beginnen. Der dämliche Drak hatte seine höchsten Trümpfe in den Skat gedrückt! Mir sollte es recht sein. »Vince!« Mein Freund verstand. Wir hatten jedes Detail zuvor besprochen. Die erste Brandflasche flog durch die Luft. Als sie sich über dem Kopf des Draks befand, visierte ich sie an. Wenn ich jetzt eine Fahrkarte schoß, dann würde es unser aller Fahrkarte ins Jenseits sein. Ich hielt den Atem an, zog behutsam den Abzugsbügel durch. Der Schuß peitschte durch das Gemäuer. Die Flasche platzte in tausend Stücke. Mein Spezialgemisch entzündete sich. Flüssiges Feuer ergoß sich über den gestreiften Pyjama des Draks. Sein Wutschrei dröhnte uns um die Ohren. Er war höchstens noch zehn Meter von uns entfernt. Der Schlafanzug fing sofort Feuer. Wie von Sinnen schlug der riesige Glatzkopf um sich. Seine Wutschreie nahmen an Intensität zu, waren nur noch ein irres Kreischen! Für eine Sekunde hatte ich Angst, daß meine Trommelfelle diese Belastung nicht aushalten würden und zerplatzten. Dann wurden die Schreie leiser. Die Gestalt des glatzköpfigen Riesen veränderte sich. Schwarzer Qualm quoll aus seinem Mund. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand. Einen Zauberspruch? Die züngelnden Flammen leckten über sein Gesicht. Brandblasen erschienen auf seinen Wangen, auf seiner Nase, seiner Stirn. Sein rechtes Auge trat unnatürlich weit vor und zerplatzte. Schwarzer Schleim lief über seine Wangen.
Der Drak schrumpfte, wurde zusehends kleiner. Jetzt trat der Lurjahn auf den Plan. Die Schatulle unterm Arm, tippelte er auf den in Flammen Stehenden zu. Ein Blitz zuckte auf. Ich wirbelte herum. Vincent hatte seine Kamera gezückt und ein Foto geschossen. »Diese Aufnahme wird Max vom Hocker reißen«, sagte er rauhhalsig. Max Unruh war der Chefredakteur der Weimarer Rundschau. »Maxchen wird einen Freudentanz aufführen.« Das irre Gekreische war verstummt. Die Pistole im Anschlag, ging ich auf den qualmenden Haufen zu, der von dem Schwarzen Drak übrig geblieben war. Vincent sorgte für die nötige Beleuchtung. Der Lurjahn hatte bereits den Deckel der Schatulle geöffnet. Plötzlich zuckte eine klauenartige Hand aus dem Qualm. Eine Hand - und nichts dran! Sie segelte auf mich zu. Ich prallte zurück. Zu spät! Lange Fingernägel ratschten über meine Haut, rissen sie auf und umkrallten meinen Hals. Ich spürte, wie meine Sinne schwanden. Ich schoß, bis das Magazin der SIG Sauer leer war. Es nützte nichts. Wie schwer meine Waffe mit einem Mal war! Ich ließ die Pistole fallen, hob mit letzter Kraft die Hände, um den eisernen Griff zu lockern. Statt dessen wurde die schraubstockartige Umklammerung noch stärker. Wieso kam mir niemand zur Hilfe? Ich hatte den Schwarzen Wandler unterschätzt… * Ich schlug die Augen auf. Sonnenlicht strömte durch die Jalousien. Ich lag, bis an die Kinnspitze zugedeckt, in einem weiß tapezierten Krankenzimmer. Mein Schädel brummte wie verrückt. Meine Knochen taten weh, als hätte ich gerade zwei Zehnkämpfe nacheinander absolviert. Und einen Durst hatte ich! Meine Zunge fühlte sich an wie ein gedörrter Stockfisch. Obendrein steckte noch ein Schlauch in meinem Mund. Ein zweiter war an meinem linken Arm befestigt. Ich klingelte nach der Schwester. Sollte sie mir erklären, wieso ich hier wie ein Schwerkranker im Bett lag und offenbar völlig austrocknen sollte. Die Krankenschwester kam hereingestürzt. »Sie sind aber fix«, staunte ich, »Haben Sie hinter der Tür gestanden
und gehorcht?« »Herr Hellmann«, sprudelte sie hervor. »Fühlen Sie sich besser? Haben Sie Schmerzen? Darf ich Ihnen etwas bringen?« Ich beleckte meine Lippen. »Nur eine Frage. Haben Sie die Absicht, mich zu mumifizieren?« »Wieso?« Die Schwester starrte mich verblüfft an. Sie mochte um die Zwanzig sein, hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, das von schwarzen Locken umrahmt war, und erinnerte mich vom Äußeren her entfernt an die schöne Uma Netzer, Mephistos Geliebte. Um ein Haar wäre ich dieser Satansjüngerin in die Netze gegangen. (siehe MH Band. 7) »Weil ich vor Durst fast den Verstand verliere.« Ich zog die Stirn kraus. »Sagen Sie, wieso bin ich eigentlich hier, in einem Krankenhaus? Soweit ich mich entsinne, fühlte ich mich vor kurzem noch wie ein Fisch im Wasser. Was ist mit mir passiert? Lassen Sie mich nicht dumm sterben.« »Ich werde Dr. Schmidt holen.« Sie wandte sich ab. Ich hielt sie am Handgelenk fest. »Warten Sie. Ich möchte es von Ihnen erfahren, Schwester.« »Und Sie können sich wirklich an nichts erinnern?« »Na ja«, druckste ich herum. »Ich kam mit Vincent, meinem Freund, nach Greifswald, um einen - Verbrecher unschädlich zu machen. Wir wohnten im Kronprinzen…« »Also gut.« Die hübsche Schwester seufzte. »Herr Hellmann, Sie haben eine Woche ohne Bewußtsein gelegen. Inzwischen sind Sie zur Legende geworden…« »Wie bitte?« Ich war baff. »Was hab ich denn angestellt?« Sie lächelte. »Sie haben den seit Jahrhunderten verschollenen unterirdischen Gang zum Franziskanerkloster entdeckt. Die Historiker und Archäologen sind außer Rand und Band.« »Und was noch?« »Nichts«, sagte sie. »Reicht Ihnen das nicht?« »Doch, doch.« Ich ließ die Schwester los, und sie eilte hinaus. * Die ganze Wahrheit erfuhr ich von Vincent van Euyen. »Da war auf einmal diese Klaue«, sagte er, auf meiner Bettkante sitzend. »Sie drohte, dich zu erwürgen. Ich versuchte, ihren Griff zu lösen, schaffte es jedoch nicht. Dann versuchte es dein kleiner, schwarzer Freund. Kaum zu glauben, was dieser Kobold für eine Kraft in seinen haarigen Fingern hat. Ihm haben wir's zu verdanken, daß der Drak futsch ist. Ich möchte
den Lurjahn nicht zum Feind haben.« Allmählich kehrte mein Gedächtnis wieder. »Da waren noch zwei Jungen, Michael und ein anderer!« Vincent nickte. »Sie leben, Mark. Sogar Michaels Mutter wird's überstehen. Wir fanden sie in einer Kiste. Ihr Zustand ist ernst, aber nicht lebensbedrohlich.« »Das ist schlimm.« Ich schaute zu Boden. »Aber es gibt auch erfreuliche Nachrichten.« Vincent steckte sich ein Katzenpfötchen in den Mund. »Diese gräßliche Krankheit, Ergotismus, ist eingedämmt. Die Ärzte an der Uni sind auf Draht. Allen Befallenen geht es schon wieder ganz gut.« Ich holte tief Luft. Mein Blick schweifte durch das helle, freundliche Krankenzimmer. Vor dem Fenster stand eine Porzellanvase. In ihr ein riesiges Blumenbukett. »Von wem sind eigentlich die schönen Blumen da?« fragte ich Vincent. Mein Freund griente wie ein Honigkuchenpferd. »Das rätst du nie, Mark.« »Tessa Hayden?« »Daneben.« »Von dir etwa?« »I wo«, meinte Vincent kauend. »Du kommst sowieso nicht drauf. Deswegen sag ich's dir: Die Blümchen hat dir der dicke Bolle vermacht.« »Wie bitte?« Vincent grinste. »Die Type erzählt überall herum, daß er ein guter Kumpel von dir ist. Gibt sogar Interviews in der Lokalpresse. - Mark, geht es dir wieder schlechter? Du siehst mit einem Mal so käsig aus…«
ENDE Mitternacht auf dem Friedhof! Dumpf klingen die Schläge der Kirchturmuhr durch die nächtliche Stille. Nach dem letzten Ton kommt Wind auf, der im Herbstlaub der Bäume rauscht und die Gräber mit vielfarbigen Blättern überschüttet. Ein Käuzchen meldet sich und scheint anzukündigen, was Geheimnisvolles auf dem hinteren Teil des Friedhofs geschieht: Ein Grab bricht auf, und jemand ruft: »Wacht auf! Die Zeit ist reif. Der Meister kehrt mit seinen Getreuen zurück. - Erhebt euch,
Der Leichenzug der lebenden Toten startet in wenigen Augenblicken…«
Wenn Ihr das Ziel erfahren wollt und Euch für ein paar Stunden spannend-gruselig unterhalten lassen möchtet, holt Euch Band 17 der noch jungen Serie! Die neue >Mark Hellmann