Jiirgen Habermas Der philosophische Diskurs cler Moderne Zw61f Vorlesungen
Suhrkamp Verlag
Inhalt Vorwort
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Jiirgen Habermas Der philosophische Diskurs cler Moderne Zw61f Vorlesungen
Suhrkamp Verlag
Inhalt Vorwort
B 3d56 H3tJ3
Ps~ 11 Br:; Erste Auflage 1985 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1985 AIle Rechte vorbehalten Druck: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Printed in Germany CIP-KurztitelaufnalIme der Deutschen Bibliothek Habermas, ] urgen: Der philosophische Diskurs der Moderne : I2 Vorlesungen / Jiirgen Habermas.I. Aufl. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. ISBN 3-518-57722-0 kart. ISBN 3-518-57702-6 Gewebe
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I. Das ZeitbewuBtsein der Moderne und ihr Bediirfnis nach Selbstvergewisserung . . . II. Hegels Begriff der Moderne . . . . . . . . Exkurs zu Schillers Briefen iiber die asthetische ErziehungdesMenschen . . . . . . . . . . . . III. Drei Perspektiven: Linkshegelianer, Rechtshegelianer und Nietzsche . . . . . . . . . Exkurs zum Veralten des Produktionsparadigmas IV. Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Verschlingung von Mythos und AufkHirung: Horkheimer und Adorno . . . . . . . . . VI. Die metaphysikkritische Unterwanderung /-- . des okzidentalen Rationalismus: Heidegger ( VII.; Dberbietung der temporalisierten Ursprungs"----~ philosophie: Derridas Kritik am Phonozentrismus Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur. . . . . . . . . VIII. Zwischen Erotismus und Allgemeiner bkonomie: Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Vernunftkritische Entlarvung der Humanwissenschaften: Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . .
~~lAporien einer Machttheorie
.. . . . . . . . . . . ~I. Ein anderer Ausweg aus der Subjektphilosophie: '--./Kommunikative vs. subjektzentrierte Vernunft . . , Exkurs zu Castoriadis: »Die imagina~e Institution« \. XII,) Der normative Gehalt der Moderne . . . . . . . Exkurs zu Luhmanns systemtheoretischer Aneignurig der subjekphilosophischen Erbmasse .;Die Moderne - ein unvollendetes Projekt« hieB der Titel einer Rede, die ich im September 1980 bei der Entgegennahme des Adorno-Preises gehalten habe. 1 Dieses Thema, umstritten und facettenreich, hat mich nicht mehr losgelassen. Seine philosophischen Aspekte sind im Zuge der Rezeption des franzosischen Neostrukturalismus noch starker ins offentliche BewuBtsein geriickt - so auch das Schlagwort der »Postmoderne« im AnschluB an eine Veroffentlichung von F. Lyotard. 2 Die Herausforderung durch die neostrukturalistische Vernunftkritik bildet deshalb die Perspektive, aus der ich den philosophischen Diskurs der Moderne schrittweise zu rekonstruieren suche. In diesem Diskurs ist die Moderne, seit dem spaten 18. Jahrhundert, zum philosophischen Thema erhoben worden. Der philosophische Diskurs der Moderne beriihrt und iiberschneidet sich vielfach mit dem asthetischen. Gleichwohl habe ich das Thema begrenzen miissen; die Vorlesungen behandeln nicht den Modernismus in Kunst und Literatur. 3 Nach meiner Riickkehr an die Universitat Frankfurt habe ich im Sommersemester 1983 und im Wintersemester 1983/84 Vorlesungen iiber jenen Gegenstand gehalten. Nachtraglich eingefiigt und in dies em Sinne fiktiv sind die fiinfte Vorlesung, die einen bereits veroffentlichten Text aufnimmt\ sowie die letzte, erst in dies en Tagen ausgearbeitete Vorlesung. Die ersten vier Vorlesungen habe ich im Marz 1983 zunachst am College de France in Paris vorgetragen. Mit anderen Teilen habe ich im September 1984 an der Cornell 1 J. Habermas, Kleine politische Schriften I-IV, Ffm. 1981,444-464 2 J. F. Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979 (deutsch: Wien 1982); vgl. dazu A. Honneth, Der Affekt gegen das Allgemeine, in: Merkur H. 430, Dez. 1984, 893ff.; R. Rorty, Habermas and Lyotard on Postmodernity, in: Praxis International, Vol. 4, No. I 1984; 32ff.; sowie meine Antwort: J. Habermas, Questions and Counterquestions, in: Praxis International, Vol. 4 NO.3, 1984. 3 Vgl. dazu P. Biirger, Zur Kritik der idealistischen Asthetik, Ffm. 1983; H. R. JauB, Der literarische ProzeB des Modernismus von Rousseau bis Adorno, in: L. v. Friedeburg, J. Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Ffm. 1983, 95 H.; A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Ffm. 1985. 4 Enthalten in K. H. Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne, Ffm. 1982,415-430.
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1. Das ZeitbewuBtsein der Moderne und ihr Bediirfnis nach Selbstvergewisserung
University, Ithaca N. Y., die Messenger Lectures bestritten. Die wichtigsten Thesen habe ich auch in Seminaren am Boston College behandelt. Aus den lebhaften Diskussionen, die ich bei allen dies en Gelegenheiten mit Kollegen und Studenten fiihren konnte, habe ich mehr Anregungen empfangen als sich retrospektiv in FuBnoten festhalten lieBen. In einem gleichzeitig erscheinenden Band der edition suhrkamp5 sind politisch akzentuierte Erganzungen zum philosophischen Dis:kurs der Moderne enthalten. Frankfurt/M., im Dezember 1984
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In der beriihmten Vorbemerkung zur Sammlung seiner religionssoziologischen Aufsatze entwickelt Max Weber jenes »universalgeschichtliche Problem«, dem er sein wissenschaftliches Lebenswerk gewidmet hat, die Frage namlich, warum auBerhalb Europas »weder die wissenschaftliche, noch die kiinstlerische, noch die staatliche, noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung einlenken, welche dem Okzident eigen sind.«l Fiir Max Weber war die innere, d.h. nicht nur kontingente Beziehung zwischen der Moderne und dem, was er okzidentalen Rationalismus 2 genannt hat;' noch selbstverstandlich. Als >rational< beschrieb er jenen EntzauberungsprozeB, der in Europa dazu gefiihrt hat, daB die zerfallenden religiosen Weltbilder eine profane Kultur aus sich entlieBen. Mit den modernen Erfahrungswissenschaften, mit den autonom gewordenen Kiinsten und den aus Prinzipien begriindeten 11oral- und Rechtstheorien bildete~ sich hier kulturelle Wertspharen aus, die Lernprozesse jeweils nach den inneren GesetzmaBigkeiten theoretischer, asthetischer oder moralisch-praktischer Probleme ermoglichten. Aber nicht nur die Profanisierung der westlichen Kultur, vor allem die Entwicklung moderner Gesellschaften hat Max Weber unter Gesichtspunkten der Rationalisierung beschrieben. Die neuen Gesellschaftsstrukturen sind durch die Ausdifferenzierung jener beiden funktional ineinandergreifenden Systeme gepragt, die sich urn die organisatorischen Kerne des kapitalistischen Betriebs und desbiirokratischen Staatsapparates herum kristallisiert haben. Diesen Vorgang versteht Weber als die Institutionalisierung eines zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns. In dem MaBe wie der Alltag von dieser kulturellen und gesellschaftlichen
J.H.
1 M. Weber, Die protestantische Ethik, Bd. I, Hbg. 1973. 2 Vgl. dazu J. Habermas, Theorie des kornrnunikativen Handelns, Ffrn. 1981, Bd. 5
J. Habermas, Die Neue Uniibersichtlichkeit, Ffrn. 1985.
1, 225
ff.
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Rationalisierung ergriffen wurde, losten sich auch die traditionalen, in der friihen Moderne vor allem berufsstandisch differenzierten Lebensformen auf. Die Modernisierung der Lebenswelt ist freilich nicht nur durch Strukturen der Zweckrationalitat bestimmt. E. Durkheim und G. H. Mead sahen vielmehr die rationalisierten Lebenswelten gepragt durch einen reflexiv gewordenen Umgang mit Traditionen, die ihre Naturwiichsigkeit eingebiiBt haben; durch die U niversalisierung von Handlungsnormen und eine Generalisierung von Werten, die kommunikatives Handeln in erweiterten Optionsspielraumen von eng umschriebenen Kontexten entbinden; schlieBlich durch Sozialisationsmuster, die auf eine Ausbildung abstrakter Ich-Identitaten angelegt sind und die Individ.uierung der Heranwachsenden forcieren. Dies ist in groben Umnssen das Bild der Moderne, wie es die Klassiker der Gesellschaftstheorie gezeichnet haben. . Heute ist Max Webers Thema in ein anderes Licht geriickt - durch die Arbeit derer, die sich auf ihn berufen, nicht weniger als durch die seiner Kritiker. Das Wort »Modernisierung« ist erst in den 50ern als Terminus eingefiihrt worden; dieser kennzeichnet seitdem einen theoretischen Ansatz, der Max Webers Fragestellung aufnimmt, aber mit den Mitteln des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus bearbeitet. Der Begriff Modernisierung bezieht sich auf ein Biindel kumulativer und sich wechselseitig verstarkender Prozesse: auf Kapitalbildung und Ressourcenmobilisierung; auf die Entwicklung der Produktivkrafte und die Steigerung der Arbeitsproduktivitat; auf die Durchsetzung politischer Zentralgewalten und die Ausbildung nationaler Identitaten; auf die Ausbreitungvon politischen Teilnahmerechten, urbanen Lebensformen, formaler Schulbildung; auf die Sakularisierung von Werten und Normen usw. Die Modernisierungstheorie nimmt an Webers Begriff der »Moderne« eine folgenreiche Abstraktion vor. Sie lost die Moderne von ihren neuzeitlich-europaischen Urspriingen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten Muster fiir soziale Entwicklungsprozesse iiberhaupt. Sie unterbricht zudem die internen Verbindungen zwischen der Moderne und dem geschichtlichen Zusammenhang des okzidentalen Rationalismus in der W eise, daB die· Modernisierungsvorgange nicht mehr als Rationalisierung, als eine 10
geschichtliche Objektivation verniinftiger Strukturen begriffen werden konnen. James Coleman sieht darin den Vorzug, daB der evolutionstheoretisch verallgemeinerte Begriff der Modernisierung nicht Hinger mit der Vorstellung einer Vollendung der Moderne belastet wird, also eines Zielzustandes, nach dem »postmoderne« Entwicklungen einsetzen miiBten. 3 Freilich hat gerade die ModerJ;lisierungsforschung der 50er und 60er Jahre die Voraussetzungen dafiir geschaffen, daB der Ausdruck »Postmoderne« auch unter Sozialwissenschaftlern in Umlauf kommen konnte. Denn im Anblick einer evolutionar verfelbstandigten, einer selbstlaufigen Modernisierung kann der sozialwissenschaftliche Beobachter umso eher von jenem begrifflichen Horizont des westlichen Rationalismus, in dem die Moderne entstanden ist, Abschied nehmen. Wenn aber die internen Verkniipfungen zwischen dem Begriff der Moderne und dem aus dem Horizont der abendlandischen Vernunft gewonnenen Selbstverstindnis der Moderneerst einmal aufgelost sind, lassen sich die gleichsam automatisch weiterlaufenden Modernisierungsprozesse von der dis tanzierten Warte eines postmodernen Beobachters aus relativieren. Arnold Gehlen hat das auf eine einpragsame Formel gebracht: die Pramissen der Aufklarung sind tot, nur ihre Konsequenzen laufen weiter. \ Aus dieser Sicht hat sich eine selbstgeniigsam weiterlaufende gesellschaftliche Modernisierung von den Antrieben einer scheinbar obsolet gewordenen kulturelle!!: M_oderne abgehoben; sie vollstreckt nur die Funktion~ges;;t;e von Okonomie und Staat, Technik und Wissenschaft, die sich angeblich zu einem unbeeinfluBbaren System zusammeng~schlossen haben. Die unaufhaltsame Beschleunigung der gesellschaftlichen Prozesse erscheint dann als die Kehrseite einer erschopften, in kristalline Zustande iibergegangenen Kultu.!:J»Kristallisiert« nennt Gehlen die moderne Kultur, weil »die darin angelegten Moglichkeiten in ihren grundsatzlichen Bestanden alle entwickelt sind. Man hat auch die GegenJUf-~~}ie~i ten und Antithesen entdeckt und hineingenommen, sO'dill nitfi:'mehr Veranderungen in den Pramissen zunehmend unwahrscheinlich werden... Wenn Sie diese Vorstellung haben, werden Sie selbst in einem so erstaunlich bewegten und bunten Bereich wie 3 Art. Modernization, in: Encyel. Soc. Science, Vol.
10,
386ff., hier 397. II
dem der modernen Malerei ... Kristallisation wahrnehmen.« 4 W eil die »Ideengeschichte abgeschlossen« ist, kann Gehlen aufatmend feststellen, »daB wir im Posthistoire angekommen sind« (ebd. 323). Mit Gottfried Benn erteilt er den Rat: »Rechne mit deinen Bestanden«. Dieser neukonservative Abschied von der Moderne gilt also nicht der ungebremsten Dynamik der gesellschaftlichen Modernisierung, sondern der Hiilse eines, wie es scheint, iiberholten kulturellen Selbstverstandnisses der Moderne. 5 ~_.In einer ganz anderen politischen Gestalt, namlich anarchistisch, tritt die Idee der Postmoderne hingegen bei den Theoretikern auf, die nicht damit rechnen, daB eine Entkoppelung von Modernitat und Rationalitat eingetreten ist. Auch sie reklamieren das Ende cler Aufklarung, iiberschreiten den Horizont der Vernunfttradition, aus dem sich die europaische Moderne einmal verstanden hat - auch sie fassen FuB im Posthistoire; Aber anders als der neokonservative bezieht sich der anarchistische Abschied auf die Moderne im ganzen. Wmrend jener Kontinent von Grundbegriffen, der Max Webers okzidentalen Rationalismus tragt, ~ersinkt, gibt die Vernunft ihr wahres Gesicht zu erkennen - sie wird als unterwerfende und zugleich selbst unterjochte Subjektivitat, als Wille zur instrumentellen Bemachtigung demaskiert. Die subversive Kraft einer Kritik ala Heidegger oder Bataille, die den Schleier der Vernunft vor dem schieren Willen zur Macht wegzieht, soll gleichzeitig das stahlerne Gehause zum Wanken bringen, in dem sich der Geist der Moderne gesellschaftlich objektiviert hat. Aus dieser Sicht kann die gesellschaftliche Modernisierung das Ende der kulturellen Moderne, der sie entsprungen ist, nicht iiberleben - sie soll dem »unvordenklichen« Anarchismus, in des sen Zeichen die Postmoderne sich anbahnt, nicht standhalten konnen. Wie immer sich diese Les~rten einer Theorie der Postmoderne unterscheiden, beide nehmen von dem grundbegrifflichen Horizont Abstand, in dem sich das Selbstverstandnis der europaischen 4 A. Gehlen, Uber kulturelle Kristallisation, in: ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963,321. 5 Ich entnehrne einern Aufsatz von H. E. Holthusen, Heirnweh nach Geschichte, in: Merkur, H. 430, Dez. 1984,916, daB Gehlen den Ausdruck "Posthistoire« dern Gesinnungsfreund Hendrik de Man entlehnt haben konnte. 12
Moderne ausgebildet hat. Beide Theorien der Postmoderne beanspruchen, aus diesem Horizont herausgetreten zu sein, ihn als den Horizont einer vergangenen Epoche hinter sich gelassen zu haben. Nun war Hegel der erste Philosoph, der einen klaren Begriff der Moderne entwickelt hat; auf Hegel miissen wir deshalb zUrUckgehen, wenn wir verstehen wollen, was die bis Max Weber selbstverstandlich gebli~bene und heute in Frage gestellte inteme Beziehung zwischen Modernitat und Rationalitat bedeutet hat. Wir miissen uns des Hegelschen Begriffs der Moderne vergewissern, urn beurteilen zukonnen, ob der Anspruch derer, die ihre Analysen unter andere Pramissen stellen, zu Recht besteht. Jedenfalls konnen wir nicht a priori den Verdacht von der Hand ~eisen, daB sich das postmoderne Denken eine transzendente Stellung bloB anmaBt, wahrend es den von Hegel zur Geltung gebrachten Voraussetzungen des modernen Selbstverstandnisses tatsachlich verhaftet bleibt. Wir konnen nicht von vornherein ausschlieBen, daB der Neokonservatismus oder der asthetisch inspirierte Anarchismus im Namen eines Abschieds von der Moderne erneut den Aufstand gegen sie proben. Es konnte ja sein, daB sie ihre Komplizenschaft mit einer ehrwiirdigen Tradition der Gegenaufklarung als Nachaufklarung lediglich bemanteln. ' II
Hegel verwendet den Begriff der Moderne zunachst einmal in histoSeele< nennt. Die ganze innere Welt, urspriinglich diinn wie zwischen zwei Haute eingespannt, ist in dem MaBe auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, H6he bekommen, als die Entladung des Menschen nach auBen gehemmt worden ist.«13 SchlieBlich verbinden und verfestigen sich die beiden Elemente einer Herrschaft iiber die auBere und die inn ere Natur in der institutionalisierten Herrschaft von Menschen iiber Menschen: »Der Bann des Friedens und der Gesellschaft« ruht auf allen 1nstitutionen, weil sie den Menschen zur Entsagung zwingen: »Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten 1nstinkte der Freiheit schiitzte - die Strafen geh6ren vor allem zu diesen Bollwerken - brachten zuwege, daB alle jene 1nstinkte des wilden, freien, schweifenden Menschen sich riickwarts, sich gegen den Menschen selbst wandten.«14 Ebenso nimmt Nietzsches Kritik der Erkenntnis und der Moral einen Gedanken vorweg, den Horkheimer und Adorno in Form einer Kritik der instrumentellen Vernunft entwickeln: hinter den Objektivitatsidealen und den Wahrheitsanspriichen des Positivismus, hinter den asketischen 1dealen und den Richtigkeitsanspriichen der universalistischen Moral verbergen sich Selbsterhaltungsund Herrschaftsimperative. Eine pragmatische Erkenntnistheorie und eine Affektenlehre der Moral entlarven die theoretische und die praktische Vernunft als pure Fiktionen, in denen sich Machtanspriiche ein wirkungsvolles Alibi verschaffen - und dies mit Hilfe der Einbildungskraft, des »Triebes zur Metaphernbildung«, fiir den externe Reize bloB den AnlaB zu projektiven Antworten bieten, zu 12 N. Bd. 5, 322.
13 Ebd.
14 Ebd. 147
einem Gespinst von Interpretationen, hinter dem der Text verschwindet. 15 Anders freilich als die Dialektik der Aufkliirung kehrt Nietzsche die Perspektive hervor, aus der er die Moderne betrachtet. Und erst dieser Blickwinkel erklart, warum objektivierte Natur und moralisierte Gesellschaft zu korrespondierenden Erscheinungsformen derselben mythischen Gewalt, sei es nun des pervertierten Willens zur Macht oder der instrumentellen Vernunft, herabsinken. Diese Perspektive hat sich mit der asthetischen Moderne geoffnet, mit jener hartnackigen, in der avantgardistischen Kunst forcierten Selbstenthiillung einer dezentrierten, von allen Beschrankungen d€r Kognition und Zwecktatigkeit, allen Imperativen der Arbeit und der Niitzlichkeit befreiten Subjektividit. Nietzsche ist nicht nur Zeitgenosse und Geistesverwandter Mallarmes 16 ; er hat nicht nur den spatromantischen Geist Richard Wagners in sich aufgenommen; er bringt als erster die Gesinnung der asthetischen Moderne auf den Begriff, bevor noch das avantgardistische BewuBtsein in der Literatur, der Malerei und der Musik des 20. Jahrhupderts objektive Gestalt annehmen - und von Adorno zur .Asthetischen Theorie verarbeitet werden kann. In der Aufwertung des Transitorischen, in der Feier des Dynamismus, in der Verherrlichung der Aktualitat und des Neuen spricht sich ein asthetisch motiviertes ZeitbewuBtsein, die Sehnsucht nach einer unbefleckten, irinehaltenden Gegenwart aus. Die anarchistische Absicht der Surrealisten, das Kontinuum der Verfallsgeschichte aufzusprengen, ist schon in Nietzsche wirksam. Die subversive Kraft eines asthetischen Widerstandes, die spater die Reflexionen von Benjamin, noch von Peter Weiss speisen wird, entspringt schon bei Nietzsche der Erfahrung der Rebellion gegen alles Normative. Es ist diesselbe Kraft, die das moralisch Gute wie das praktisch Niitzliche neutralisiert, die '~ich in der Dialektik von Geheimnis und Skandal, in der Lust am Schrecken der Profanierung auBert. Nietzsche baut Sokrates und Christus, jene Anwalte eines Glaubens an die Wahrheitund 15 J. Habermas, N achwort zu F .. Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Ffm. 1968, 237ff. 16 Worauf G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Miinchen 1976, 38ff. hinweist.
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ans asketische Ideal, als die groBen Gegenspieler auf: sie sind es, die die asthetischen Werte negieren! Allein der Kunst, »in der gerade die Liige sich heiligt, der Wille zur Tauschung 346f· 2! N. Bd. 5,271. 22 Die vermittelnde Funktion des Geschmacksurteils bei der Reduktion der Ja-I Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsanspriichen auf das ,>Ja« und das "Nein« zu irnperativischen WillensauBerungen zeigt sich auch in der Art un4 Weise, wie Nietzsche, zusammen mit dem Begriff der Aussagenwahrheit, den in unsere Grammatik eingebauten Begriff der Welt revidiert: "Was zwingt uns iiberhaupt zur Annahme, daB es einen wesenhaften Gegensatz von >wahr< und ,falsch< gibt? Geniigt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere
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Wenn sich aber das Denken nichtmehr im Element der Wahrheit, der Geltungsanspriiche iiberhaupt bewegen kann23 , verlieren Widerspruch und Kritikihren Sinn. Widersprechen, Neinsagen behaltnurmehr den Sinn von »anders sein wollen«. Damit kann sich Nietzsche bei der Durchfiihrung seiner Kulturkritik schlecht begniigen. Diese soIl sich ja nicht in Agitation erschopfen, sondern zeigen, warum es falsch oder unrichtig oder schlecht ist, die Herrschaft der lebensfeindlichen Ideale von Wissenschaft und universalistischer Moral anzuerkennen. Nachdem aber alle Geltungspradikate entwertet sind, nachdem sich in den Wertschatzungen Macht- und keine Geltungsanspriiche ausdriicken - nach welchem MaBstab solI die Kritik Unterscheidungen dann noch vornehmen konnen? Sie muB mindestens diskriminieren konnen zwischen einer Macht, die es verdient, geschatzt, und einer, die es verdient, abgewertet zu werden. Aus dieser Aporie solI nun eine Theorie der Macht heraushelfen, die zwischen »aktiven« und bloB »reaktiven« Kraften unterscheidet. Aber Nietzsche darf diese Theorie der Macht nicht als Theorie, die wahr oder falsch sein kann, zulassen. Er seIber bewegt sich, der eigenen Analyse zufolge, in einer Welt des Scheins, in der sich hellere von dunkleren Schatten unterscheiden lassen, nich~ aber Vernunft von Unvernunft. Das ist die gleichsam an den Mythos zuriickgefallene Welt, in der Machte aufeinander einwirken und kein Element zuriickgeblieben ist, das den Kampf der Machte transzendieren konnte. Vielleicht ist es ohnehin typisch fiir die unhistorische Wahrnehmungsweise der asthetischen Moderne, daB die einzelnen Epochen ihr Gesicht verlieren zugunsten einer hero is chen Affinitat der Gegenwart mit dem Fernsten und dem Urspriinglichsten: das Dekadente will sich mit einem Sprung in Beziehung setzen zum Barbarischen, Wilden, Primitiven. Jedenfalls paBt Nietzsches Erneuerung des ursprungsmythischen Rahmens zu dieser MentaliSchatten und Gesamttone des Scheins - verschiedene valeurs, urn die Sprache der Maler zu reden? Warum diirfte die Welt, die uns etwas angeht - nicht eine Fiktion sem.? Und wer da fragt: >aber zur Fiktion gehort ein Urheber?< - diirfte dem nicht rund geantwortet werden: Warum? Gehort dieses >Gehort< nicht vielleicht mit zur Fiktion? 1st es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Pradikat und Objekt, nachgerade ein wenig ironisch zu sein? Diirfte sich der Philosoph nicht iiber die GHiubigkeit an die Grarnmatik erheben?« (N. Bd. 5, 53£.) 23 G. Deleuze, a.a.O., II4ff.
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tat: die eigentliche Kultur ist schon seit langem untergegangen; auf der Gegenwart liegt der Fluch der Entfernung von den U rspriingen; deshalb denkt Nietzsche das Heraufziehen der Kultur, die noch aussteht, antiutopisch, als Riickkehr und Wiederkehr. Dieser Rahmen hat nicht etwa einen bloB metaphorischen Stellenwert; er hat den systematischen Sinn, Platz zu machen fiir das paradoxe Geschaft einer von den Hypotheken aufgeklarten Denkens entlasteten Kritik. Bei Nietzsche schlagt namlich die total gewordene Ideologiekritik urn in das, was er »genealogische Kritik« nennt. Nachdem der kritische Sinn des Neinsagens suspendiert, das Verfahren der Negation auBer Kraft gesetzt worden ist, geht Nietzsche. auf diejenige Dimension des Ursprungsmythos zuriick, die eine aile anderen Dimensionen iibergreifende Unterscheidung erlaubt: das Altere ist das in der Kette der Geschlechter Friihere, dem Ursprung Nahere. Das Urspriinglichere gilt als das Ehrwiirdigere, Vornehmere, Unverdorbenere, Reinere; kurz: es gilt als das Bessere. Abstammung und H erkunft dienen als Kriterium des Ranges gleichzeitig im sozialen wie im logischen Sinne. In diesem Sinne stiitzt Nietzsche seine Kritik der Moral auf Genealogie. Er fiihrt die moralische Wertschatzung, die einer Person oder einer Handlungsweise einen Platz in einer nach Geltungskriterien gebildeten Rangordnung zuweist, auf die Herkunft und damit den sozialen Rang des moralisch Urteilenden zuriick: »Den Fingerzeig zum rechten Wege gab mir die Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgepragten Bezeichnungen des >Guten< in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben: da fand ich, daB sie allesamt auf die gleiche Begriffs-Verwandlung zuriickleiten - daB iiberall >vornehmedel< im standischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich >gut< im Sinne von >seelisch-vornehmedel< von >seelisch-hochgeartetseelisch-privilegiert< mit Notwendigkeit herausentwickelt: eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen lauft, welche >gemeinp6belhaftniedrigschlecht< iibergehn macht.«24 So erhalt die genealogische Lokalisierung der Machte einen kritischen Sinn: die der Abstammung nach friiheren und vornehmeren Krafte sind die aktiven, sch6pferischen, wahrend sich In den der Herkunft nach spateren, 24 N. Bd. 5, 261.
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niederen, reaktiven Kraften em pervertierter Wille zur Macht auBert. Damit halt Nietzsche die konzeptuellen Mittel in der Hand, mit denen er die Durchsetzung von Vernunftglauben und asketischem Ideal, 'von Wissenschaft und Moral als einen bloB faktischen, freilich das Schicksal der Moderne entscheidenden Sieg der niederen und reaktiven Krafte denunzieren kann. Bekanntlich sollen sie aus dem Ressentiment der Schwacheren, »dem Schutz- und HeilInstinkt eines degenerierenden Lebens«25 hervorgehen. 26
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Wir sind der totalisierenden, auf sich selbst bezogenen Kritik in . zwei Varianten gefolgt. Horkheimer und Adorno befinden sich in derselben Verlegenheit wie Nietzsche: wenn sie auf den Effekt einer letzten Enthiillung nicht verzichten und Kritik fortsetzen wollen, miissen sie fiir ihre Erklarung der Korruption ailer verniinftigen MaBstabe doch noch einen unversehrt zuriickbehalten. Angesichts dieser Paradoxie verliert die sich iiberschlagende Kritik die Richtung. Sie hat zwei Optionen. Nietzsche sucht Zuflucht bei einer Theorie der Macht, was konsequent ist, weil jene Fusion von Vernunft und Macht, die die Kritik enthiillt, die Welt, als sei es die mythische, dem unvers6hnlichen Kampf der Machte iiberlaBt. Mit Recht ist Nietzsche, vermittelt iiber Gilles Deleuze, im strukturalistischen Frankreich als Machttheoretiker wirksam geworden. Auch Foucault hat in seinen jiingeren Arbeiten das von Marx und Freud in der Tradition der Aufkla25 N. Bd. 5, 366. 26' Mich interessiert an dieser Stelle die Struktur des Argumentes. Nietzsche bewahrt sich nur durch den Riickgriff auf eine Figur des ursprungsmythischen Denkens die Position des enthiillenden Kritikers, nachdem er die Grundlagen der Ideologiekritik durch einen selbstbeziiglichen Gebrauch dieser Kritik zerst6rt hat. Auf ~inem anderen Blatt steht der ideologische Gehalt der »Genealogie der Moral«, iiberhaupt Nietzsches Kampf gegen die modemen Ideen, fUr den die Gebildeten unter den Verachtem der Demokratie nach wie vor ein auffalliges Interesse zeigen: R. Maurer, Nietzsche und die Kritische Theorie; G. Rohrmoser, Nietzsches Kritik der Moral, in: Nietzsches Studien, Bd. IO/II, Berlin 1982, 34ff. und 328ff.
rung entwickelte Repressionsmodell der Herrschaft durch einen Pluralismus von Machtstrategien ersetzt, die einander durchkreuzen, aufeinander folgen, die sich nach der Art der Diskursformation und dem Grad ihrer Intensitat unterscheiden, die sich aber nicht unter Geltungsaspekten, wie es mit bewuBten gegenuberunbewuBten Konfliktverarbeitungen der Fall war, beurteilen lassen. 27 Einen Ausweg aus der Verlegenheit einer Kritik, die die Voraussetzungen ihrer eigenen Geltung angreift, bietet freilich die Lehre von den aktiven und den bloB reaktiven Kriiften auch nicht - sie bahnt allenfalls den Weg fur einen Ausbruch aus dem Horizont der Moderne. Ais Theorie ist sie bodenlos, wenn denn die kategoriale Unterscheidung zwischen Macht- und Geltungsanspruchen der Boden ist, auf dem sich jede theoretische Arbeit vollziehen muB. Deshalb verwandelt sich auch der Effekt der Enthullung: nicht die blitzartige Einsicht in eine identitatsbedrohende Konfusion verursacht den Schock, wie beim Witz das Begreifen der Pointe das befreiende Lachen; den Schock versetzt die bejahte Entdifferenzierung, der bejahte Einsturz jener Kategorien, die ein Versehen, ein Vergessen oder Versprechen doch erst zum identitatsbedrohenden Kategorienfehler - oder die Kunst zum Schein - machen konnen. Diese regressive Wendung stellt noch die Kriifte der Emanzipation in den Dienst der Gegenaufklarung. Horkheimer und Adorno treffen eine andere Option, indem sie den performativen Widerspruch einer sich selbst uberbietenden Ideologiekritik schuren und offenhalten, nicht mehr theoretisch ubeiwinden wollen. Nachdem, auf dem erreichten Niveau der Reflexion, jeder Versuch, eine Theorie aufzustellen, ins Bodenlose gleiten muBte, verzichten sie auf Theorie und praktizieren ad hoc die bestimmte Negation, stemmen sich damit jener Fusion von Vernunft und Macht, die alle Ritzen verstopft, entgegen: »Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Gotzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhalt, der sie nicht genugen konnen. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zugen das Ein27 H. Fink-Eitel, Michel Foucaults Analytik der Macht, in: F. A. Kittler (Hg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980, 38ff.; A. Honneth, H. Joas, Soziales Handeln und rnenschliche Natur, Ffrn. 1980, 123ff.
gestandnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreiBt und sie der Wahrheit zueignet. Damit wird die Sprache mehr als ein bloBes Zeichensystem. Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben, das Aufklarung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zurechnet« (DA, 36). Der praktizierte Widerspruchsgeist ist, was yom »Geist der unnachgiebigen Theorie« ubrigbleibt. Und diese Praxis ist wie eine Beschworung, urn den Ungeist des erbarmungslosen Fortschritts doch noch »an seinem Ziel umzuwenden« (DA, 57). Wer an einem art, den die Philosophie einst mit ihren Letztbegriindungen besetzt hielt, in einer Paradoxie verharrt, nimmt nicht nur eine unbequeme Stellung ein; er kann die Stellung nur halten, wenn mindestens plausibel zu machen ist, daB es keinen Ausweg gibt. Auch der Ruckzug aus einer aporetischen Situation muB verlegt sein, sonst gibt es einen Weg, eben den zuriick. Dies, meine ich, ist aber der Fall. Lehrreich ist der Vergleich mit Nietzsche insofern, als er auf den asthetischen Erfahrungshorizont aufmerksam macht, der den zeitdiagnostischen Blick lenkt und motiviert. Ich habe gezeigt, wie Nietzsche jenes Moment der Vernunft, das sich im Eigensinn der asthetisch-expressiven Wertsphare, insbesondere in der avantgardistischen Kunstund Kunstkritikzur Geltung bringt, aus demZusammenhang mit theoretischer und praktischer Vernunft herausbricht und wie er die asthetische Urteilskraft am Leitfaden der ins Irrationale verstoBenen »Wertschatzung« zu einem Unterscheidungsvermogen jenseits von Wahr und Falsch, Gut und Bose stilisiert. Auf diesem Wege gewinnt Nietzsche MaBstabe fur eine Kulturkritik, die Wissenschaft und Moral in ahnlicher Weise als ideologische Ausdrucksformen eines pervertierten Willens zur Macht entlarvt, wie die Dialektik der Aufklarung diese Gebilde als Verkorperungen der instrumentellen Vernunft denunziert. Dieser U mstand legt die Vermutung nahe, daB Horkheimer und Adorno die kulturelle Moderne aus einem ahnlichen Erfahrungshorizont wahrnehmen, mit derselben gesteigerten Sensibilitat, auch mit derselben eingeengten Optik, die gegenuber den Spuren und den existierenden Formen kommunikativer Rationalitat unempfindlich macht. Dafur spricht auch die Architektonik der Adornoschen Spatphilosophie, in der Negative 155
Dialektik undAsthetische Theorie sich gegenseitig stiitzen - die eine, die den paradoxen Begriff des Nicht-Identischen entfaltet, verweist auf die andere, die den in den avancierten Kunstwerken vermummten mimetischen Gehalt dechiffriert. Hat die Problemlage, der sich Horkheimer und Adorno Anfang der vierziger Jahre konfrontiert sahen, keinen Ausweg gelassen? GewiB, die Theorie, auf die sie sich bis dahin gestiitzt hatten, und das ideologiekritische Verfahren trugen nicht mehr - weil die Produktivkrafte keine sprengende Kraft mehr entwickelten; weil Krisen und Klassenkonflikte kein revolutionares, iiberhaupt kein einheitliches, sondern ein fragmentiertes BewuBtsein forderten; weil schlieBlich die biirgerlichen Ideale eingezogen wurden, jedenfalls Formen annahmen, die einer immanent ansetzenden Kritik Angriffsflachen entzogen. Andererseits haben Horkheimer und Adorno .damals auf die sozialwissenschaftliche Revision der Theorie keine Miihe mehr verwendet, weil die Skepsis gegen den Wahrheitsgehalt der biirgerlichen Ideen die MaBstabe der Ideologiekritik selbst in Frage zu stellen schien. Angesichts dieses zweiten Elements haben Horkheimer und Adorno den eigentlich problematischen Zug getan; sie haben sich, wie der Historismus28 , einer hemmungslosen Vernunftskepsis iiberlassen, statt die Griinde zu erwagen, die an dieser Skepsis selber zweifeln lassen. Auf diesem Wege hatten sich die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie vielleicht so tieflegen lassen29 , daB sie von einer Dekomposition der biirgerlichen Kultur, wie sie sich damals in Deutschland vor aller Augen vollzogen hat, nicht beriihrt worden ware. T atsachlich hat die Ideologiekritik in einer Hinsicht die undialektische Aufklarung des ontologischen Denkens auch fortgesetzt. Sie blieb in der puristischen Vorstellung befangen, als stecke in den internen Beziehungen zwischen Genesis und Geltung der Teufel, der auszutreiben sei, damit sich die Theorie, von allen empirischen Beimengungen gereinigt, in ihrem eigenen Elemente bewegen konne. Dieses Erbes hat sich die total gewordene Kritik nicht entle28 H. Schnadelbach, Uber historische Aufklarung, in: Allgemeine Zeitschr. f. Philos. 1979, 17ff. 29 Vgl. meine Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Ffm. 1981.
digt. Denn erst recht verrat sich in der Intention einer »letzten Enthiillung«, die den Schleier iiber der Konfusion von Vernunft und Macht mit einem Ruck wegziehen soIl, ein puristisches Vorhabenahnlich dem Vorhaben der Ontologie, Sein und Schein kategorial, d.h. mit einem Schlage zu trennen. Beide Spharen sind aber, wie in der Kommunikationsgemeinschaft der Forscher der context of discovery und der context of justification, so miteinander verwoben, daB sie prozedural, durch vermittelndes Denken, und das heiBt: immer von neuem, geschieden werden miissen. In der Argumentation verschranken sich stets Kritik und Theorie, Aufklarung und Begriindung, auch wenn die Diskursteilnehmer unterstellen miissen, daB unter den unausweichlichen Kommunikationsvoraussetzungen der argumentativen Rede nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommt. Aber sie wissen, oder konnen es wissen, daB auch diese Idealisierung nur notig ist, weil sich Dberzeugungen in einem Medium bilden und bewahren, das nicht »rein« ist, nicht nach Art der platonischen Ideen der Welt der Erscheinungen enthoben ist. Allein eine Rede, die sich das eingesteht, mag den Bann des my this chen Denkens doch noch losen, ohne des Lichts der im Mythos auch aufbewahrten semantischen Potentiale verlustig zu gehen.
VI. Die metaphysikkritische Unterwanderung des okzidentalen Rationalismus: Heidegger
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Horkheimer und Adorno kampfen noch mit Nietzsche, Heidegger und Bataille versammeln sich unter Nietzsches Banner zum letzten Gefecht. Anhand der Nietzschevorlesungen aus den dreiBiger und friihen vierziger J ahren mochte ich zunachst verfolgen, wie Heidegger schrittweise den dionysischen Messianismus in das Unternehmen aufnimmt, das darauf abzielt, die Schwelle zum postmodernen Denken auf dem Wege einer intern ansetzenden Uberwindung der .r Metaphysik zu uberschreiten. Auf diesem Wege gelangt Heidegger ,,( ~.? eineJ:_~_e..mp..m:a.lj~i~n_e.n_Urspr-u.ngsphilQ~?phie. Was ich da.Dlllter '-----'''verstehe, will ich vorweg durch vier Operationen kennzeichnen, die Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche vornimmt. I) Als erstes setzt Heidegger die Philosophie wieder in die Herrschaftsposition ein, aus der sie durch die Kritik der Junghegelianer vertrieben worden war. Damals war die Entsublimierung des Geistes noch in Hegels eigenen Begriffen vollzogen worden - als eine Rehabilitierung des AuBeren gegenuber dem Inneren, des Materiellen gegenuber dem Spirituellen, des Seins gegenuber dem BewuBtsein, des Objektiven gegenuber dem Subjektiven, der Sinnlichkeit gegenuber dem Verstand und der Empirie gegenuber der Reflexion. Aus dieser Kritik des Idealismus hatte sich eine Entmachtigung der Philosophie ergeben - nicht nur gegenuber dem eigensinnigen Gang von Wissenschaft, Moral und Kunst, sondern auch gegenuber dem Eigenrecht der politisch-sozialen Welt. 1m Gegenzug gibt Heidegger der Philosophie die verlorene Machtfiille wieder zuruck. Nach seiner Auffassung sind namlich die historischen Schicksale einer Kultur oder einer Gesellschaft jeweils in ihrem Sinn festgelegt durch ein kollektiv verbindliches Vorverstandnis von allem, was sich in der Welt ereignen kann. Dieses ontologische Vorverstandnis hangt von horizontbildenden Grundbegriffen ab, die den Sinn des Seien-
den gewissermaBen prajudizieren: »Wie auch immer das Seiende ausgekgt werden mag, ob als Geist im Sinne des Spiritualismus, ob als Stoff und Kraft im Sinne des Materialismus, ob als Werden und Leben, ob als Wille, als Substanz oder Subjekt, ob als Energeia, ob . als Ewige Wiederkehr des Gleichen, jedesmal erscheint das Seiende als Seiendes im Lichte des Sein.«l 1m Abendland ist nun die Metaphysik der Ort, an dem sich dieses Vorverstandnis am klarsten artikuliert. Die epochalen Wandlungen des Seinsverstandnisses spiegeln sich in der Geschichte der Metaphysik. Schon fur Hegel war die Geschichte der Philosophie zum Schlussel fur die Philosophie der Geschichte geworden. Einen vergleichbaren Rang erhalt die Geschichte der Metaphysik fur Heidegger; mit ihr bemachtigt sich der Philosoph der Quellen, von denen jede. Epoche schicksalhaft ihr eigenes Licht empfangt. 2) Diese idealistische Optik hat Folgen fur Heideggers Kritik der Moderne. Zu Beginn der 40er Jahre - zur gleichen Zeit, als Horkheimer und Adorno in Kalifornien jene verzweifelten Fragmente niederschrieben, die spater als »Dialektik der Aufklarung« verOffentlicht wurden - sieht Heidegger in den politischen und militarischen Erscheinungsformen des T otalitaren die »Vollendung der europaisch-neuzeitlichen Weltherrschaft«. Er spricht yom »Kampf urn die Erdherrschaft«, yom »Kampf urn die unbeschrankte Ausnutzung der Erde als Rohstoffgebiet und urn die illusionslose Verwendung des Menschenmaterials im Dienste der unbedingten Ermachtigung des >Willens zur MachtSinn der ErdeKatastrophe< im Sinne der bejahenden Umwendung.«3 Heidegger sieht das totalitare Wesen seiner Epoche gekennzeichnet durch die global ausgreifenden Techniken der Naturbeherrschung, der Kriegfuhrung und der Rassenzuch1 Einleitung zu: Was ist Metaphysik, in Heidegger (1967), 36rf. 2 Heidegger (1961), Bd. 2, 333. 3 Heidegger (1961), Bd.
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tung. In ihnen kommt die verabsolutierte Zweckrationalitat der »Durchrechnung alles Handelns und Planens« zum Ausdruck. Aber diese griindet wiederum in dem spezifisch neuzeitlichen Seinsverstandnis, das sich von Descartes bis Nietzsche radikalisierthat: »Das Zeitalter, das wir die Neuzeit nennen, ... bestimmt sich dadurch, daB der Mensch MaB und Mitte des Seienden wird. Der Mensch ist das allem Seienden, d. h. neuzeitlich aller Vergegenstandlichung und Vorstellbarkeit Zugrundeliegende, das subiectum.«4 Heideggers Originalitat besteht in der metaphysikgeschichtlichen Einordnung der neuzeitlichen Herrschaft des Subjekts. Descartes steht gleichsam in der Mitte zwischen Protagoras und Nietzsche. Er begreift die Subjektivitat des SelbstbewuBtseins als die absolut gewisse Grundlage des Vorstellens; damit verwandelt sich das Seiende im ganzen in die subjektive Welt vorgestellter Objekte, und die Wahrheit in subjektive GewiBheit. 5 Mit dieser Kritik des neuzeitlichen Subjektivismus nimmt Heidegger ein Motiv auf, das seit Hegel zum Themenbestand des Diskurses der Moderne gehort. Interessant ist weniger die ontologische Wendung, die Heidegger dem Thema gibt, als die Unzweideutigkeit, -{.. . I mit der er der subjektzentrierten Vernunft den ProzeB macht. Heidegger achtet kaum auf jene Differenz zwischen Vernunft und Verstand, aus der Hegel noch die Dialektik der .t...ufkl~g entwickeln ~-l' wolIte; d-em SelbstbewuBts€ln-vermag er auBer cler autoritaren Seite ; eine versohnende nicht mehr abzugewinnen. Heidegger selbst, nifjJ.t_die?()~~ie~~:~ufkl~~n~, nivelli.ert die Vernu!:~t_~um Ver~ i ~~d. Dasselbe Semsvefstahdms, das dIe Moderne zur unbegrenzten Ausdehnung ihrer Verfiigungsgewalt iiber vergegenstandlichte \ " Prozesse der N atur und der Gesellschaft anstachelt, zwingt namlich die losgelassene Subjektivitat auch zu Bindungen, die der Absicherung ihres imperativen Vorgehens dienen. Dabei bleiben die selbst geschaffenen normativen Verbindlichkeiten hohle Idole. Aus dieser Sicht kann Heidegger die neuzeitliche Vernunft so griindlich destruieren, daB er nicht mehr unterscheidet zwischen den universalistischen Gehalten von Humanismus, Aufklarung und selbst Positivismus auf der einen Seite, den partikularistischen Selbs~be-
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4 Heidegger (1961), Bd. 2, 61. 5 Heidegger (1961), Bd. 2, 141ff., 195ff.
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hauptungsvorstellungen von Rassismus und Nationalismus oder von riickwartsgewandten Typenlehren im Stile Spenglers undJiingers auf der anderen Seite. 6 Gleichviel, ob die modernen Ideen im Namen der Vernunft oder der Zerstorung der Vernunft auftreten, das Prisma des neuzeitlichen Seinsverstandnisses zerlegt aile normativen Orientierungen in Machtanspriiche einer auf Selbststeigerung versessenen Subjektivitat. Allerdings kann die kritische Rekonstruktion der Geschichte der Metaphysik nicht ohne eigenen MaBstab auskommen. Diesen entlehnt sie dem implizit normativen Begriff der »Vollendung« der Metaphysik. 3) Die Idee von Ursprung und Ende der Metaphysik verdankt ihr kritisches Potential dem Umstand, daB sich Heidegger nicht weniger als Nietzsche innerhalb des modernen ZeitbewuBtseins bewegt. Fiir ihn ist der Beginn der N euzeit durch den epochalen Einschnitt der mit Descartes anhebenden BewuBtseinsphilosophie gekennzeichnet; und Nietzsches. Radikalisierung dieses Seinsverstandnisses markiert die neueste Zeit, welche die Konstellation der Gegenwart bestimmt. 7 Diese wiederum erscheint als Zeitpunkt der Krise; die Gegenwart steht unter dem Druck der Entscheidung, »ob diese Endzeit der AbschluB der abendlandischen Geschichte sei oder das Gegenspiel zu einem anderen Anfang.«8 Es handelt sich urn die Entscheidung, »ob das Abendland sich noch zutraut, ein Ziel iiber sich und der Geschichte zu schaffen, oder ob es vorzieht, in die Wahrung und Steigerung von Handels- und Lebensinteressen abzusinken und sich mit der Berufung auf das Bisherige, als sei dies das Absolute, zu begniigen.«9 Die Notwendigkeit eines anderen AnfangslO zieht den Blick in den Sog der Zukunft. Das Zuriickkehren zu den Urspriingen, zur »Wesensherkunft«, ist nur im Modus des Voranschreitens in die »Wesenszukunft« denkbar. Diese Zukunft tritt unter die Kategorie des schlechthin N euen: »Die VolIendung eiqes Zeitalters ... 1st die erstmals unbedingte und im Voraus vollstandige Anlage des Nichterwarteten und nie zu Erwartenden ... das Neue.«l1 Allerdings verkehrt sich Nietzsches Messianis6 Heidegger (1961), Bd. 2, 145f. 8 Heidegger (1961), Bd. 1,480. 10 Heidegger (1961), Bd. 2, 656.
7 Heidegger (1961), Bd. 2, 149. 9 Heidegger (1961), Bd. 1,579. 11 Heidegger (1961), Bd. 2,479.
~ mus, der noch Spielraum lief~, urn (wie es in der jiidischen Mystik heiBt) »das Heil zu bedrangen«, bei Heidegger in die apokalyptische Erwartung des katastrophischen Eintritts des N euen. Gleichzeitig entlehnt Heidegger den romantischen Vorbildern, insbesondere Holderlin, die Denkfigur des abwesenden Gottes, urn das Ende der Metaphysik als »Vollendung« und damit als untriigliches Anzeichen eines »anderen Anfangs« begreifen zu konnen. 4 e sich Nietzsche einst von der Wagnerschen Oper den Tigersprung in die zukiinftige Vergangenheit der altgriechischen Tragodie erhoffte, so mochte sich Heidegger von Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht zu den vorsokratischen Urspriingen der Metaphysik zuriickfedern lassen. Bevor aber Heidegger die Geschichte des Abendlandes, zwischen den Anfangen der Metaphysik und ihrem Bnde, als die Nacht der Gotterferne, bevor er die Vollendung der Metaphysik als die Riickkehr des entwichenen Gottes beschreiben kann, muB er eine Korrespondenz herstellen zwischen Dionysos und dem Anliegen der Metaphysik, die es mit dem Sein des Seienden zu tun hat. Der Halbgott Dionysos hatte sich den Romantikern sowohl wie Nietzsche als der abwesende Gott angeboten, der einer gottverlassenen Moderne durch seine »groBte Entfernung« zu verstehen gibt, was ihr im Zuge ihres eigenen Fortschrittes an sozialen Bindungsenergien entzogen worden ist. Als \- Briicke zwischen dies em Dionysosgedanken und der Grundfrage \ der Metaphysik dient nun der Gedanke der ontologischen DiffeI renz. Heidegger trennt das Sein, das immer als das Sein des Seienden ',," verstanden worden war, yom Seienden abo DasSein kann namlich nur dann als Trager des dionysischen Geschehens fungieren, wenn es - als der geschichtliche Horizont, innerhalb des sen Seiendes allererst zur Erscheinung gelangt - gewissermaBen autonom wird. Erst das yom Seienden hypostasierend unterschiedeneSein kann die Rolle des Dionysos iibernehmen: »Das Seiende ist yom Sein selbst verlassen. Die Seinsverlassenheit geht das Seiende im ganzen an, nicht nur das Seiende von der Art des Menschen, der das Seiende als solches vorstellt, in welchem Vorstellen sich ihm das Sein selbst in seiner Wahrheit entzieht.«12 12 Heielegger (1961), Bd. 162
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Heid'gg'" ...hei", unmnudlich di, po,itiv< G,w.!, di"" Entzug, von Sein als ein Geschehen der Verweigerung heraus. »Das Ausbleiben des Seins ist das Sein selbst als dieses Ausbleiben.«13 In der totalen Seinsvergessenheit der Moderne wird das Negative der Seinsverlassenheit nicht einmal mehr empfunden. Daraus erklart sich die zentrale Bedeutung einer Anamnese der Seinsgeschichte, die sich jetzt als die Destruktion der Selbstvergessenheit der Metaphysik zu erkennen gibt. 14 Heideggers ganze Anstrengung geht dahin, »das Ausbleiben der Unverborgenheit des Seins als eine Ankunft des Seins selbst zu erfahren und das so Erfahrene zu bedenken.«15 4) Heidegger kann allerdings die Destruktion der Geschichte der Metaphysik nicht als entlarvende Kritik, die Uberwindung der Metaphysik nicht als einen letzten Akt der Enthiillung verstehen. Denn die Selbstreflexion, die das leistet, gehort ja noch in die Epo- ~ che der neuzeitlichen Subjektivitat. Also muB das Denken, das die ontologische Diffe.!~z als !-~!!fa4(!n beniitzt, eine Erkenntniskom- . ~ petenz ·ense.i!! der S - --e' on .enseits des diskursiven Denkens ~ .. erhaupt in Anspruch ne~en. ietzsche konnte sich-nocll-,r;:r--auf berufen, die Philosophie »auf den Boden der Kunst zu stellen«; Heidegger bleibt nur der versichernde Gestus, daB es fiir Eingeweihte »ein Denken gibt, das strenger ist als das begriffliche«.16 Das ~. szientifische Denken und die methodisch betriebene Forschung verfallen der pauschalen Abwertung, weil sie sich innerhalb des durch die Subjektphilosophie vorgezeichneten Seinsverstandnisses der Moderne bewegen. Selbst die Philosophie verharrt, solange sie auf Argumentation nicht verzichtet, im Bannkreis des Objektivismus. Auch sie muB sich vorhalten lassen, daB »alles Widerlegen im .>\ Felde des wesentlichen Denkens toricht (ist).«17 Urn die Notwendigkeit, Sonderwissen, d.h. einen privilegierten Zugang zur Wahrheit in Anspruch zu nehmen, auch nur oberflachlich plausibel zu machen, muB Heidegger freilich die differenzier-
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13 Heidegger (1961), Bd. 2, 353. 14 Schon in "Sein und Zeit«, Tiibingen 1949, § 6, spricht Heidegger von der »Destruktion der Geschichte der Ontologie«. 15 Heidegger (1961), Bd. 2, 367. 16 Heidegger (1967),353. 17 Heidegger (1967),333.
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ten Entwicklungen der Wissenschaften und der Philosophie nach Hegel auf verbliiffende Weise einebnen. In der 1939 gehaltenen Nietzsche-Vorlesung findet sich ein interessantes Kapitel, das die Uberschrift tragt: »Verstandigung und Berechnung«. Darin wendet sich Heidegger wie stets gegen den monologischel!._A!!.~~g___
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Person ist Aktvollzieher.«26 Heidegger gibt sich mit diesem Ansatz nicht zufrieden und fragt: »Aber welches ist der ontologische Sinn von >vollziehen< dentalen SubJekuvltat welterzutrelben; aber bel dleser RadlkallSle- ( rung halt er an der transzendentalen Einstellung einer reflexiven " Aufklarung der Bedingungen der Moglichkeit des Personseins al§...des In-der-Welt-Seins fest. Andernfalls mtiBte die artikulierte Ftille der Strukturen im entdifferenzierenden Sog des lebensphilosophischen Begriffsbreis versacken. Die Subjektphilosophie soll durch die ebenso scharfe und systematische, aber eben tiefergreifende Begrifflichkeit einer transzendental verfahrenden Existentialontologie tiberwunden werden. Unter dies em Titel zwingt Heidegger auf originelle Weise theoretische Ansatze zusammen, die bis dahin unvereinbar waren und die nun im Hinblick auf das Zieleiner systematischen Ersetzung der subjektphilosophischen Grundbegriffe eine sinnvolle Forschungsperspektive anzeigen. 1m Einleitungskapitel von »Sein und Zeit« nimmt Heidegger jene drei wuchtigen begriffsstrategischen Entscheidungen vor, die den Weg zur Fundamentalontologie freimachen. Erstens verleiht er der transzendentalen Fragestellung einen ontologischen Sinn. Die positiven Wissenschaften befassen sich mit ontischen Fragen, sie machen Aussagen tiber Natur und Kultur, tiber etwas in der Welt. Die in transzendentaler Einstellung vorgenommene Analyse der Bedingungen dieser ontischen Erkenntnisarten klart dann die kategoriale Verfassung von Objektbereichen als Seingebieten. In diesem Sinne versteht Heidegger Kants Kritik der reinen Vernunft nicht primar als Erkenntnistheorie, sondern als »apriorische Sachlogik des Seingebiets N atur« (I I). Diese ontologisierende Einfarbung der Transzendentalphilosophie wird verstandlich, wenn man in Betracht zieht, daB die Wissenschaften selbst nicht, wie es der Neukantianismus behauptet hatte, auf freischwebende kognitive Leistungen zurtickgehen, sondern in konkreten Lebenszusammenhangen angesiedelt sind: »Wissenschaften sind Seinsweisen des Daseins« (13). Husserl hatte das die Fundierung der Wissenschaften 26 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tbg. 1949, 47f.
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:r Lebenswelt genannt. Der Sinn der kategorialen Verfassung v:issenschaftlichen Objektbereiche oder Seinsgebiete erschlieBt erst im Ruckgang auf das Seinsverstandnis derer, die sich schon in ihrer alltaglichen Existenz zu Seiendem in der Welt verhalten und diesen naiven Umgang zur Prazisionsform des Wissenschaftstreibens stilisieren konnen. Zur situierten, leiblich-geschichtlichen Existenz gehort das wie immer diffuse Verstandnis einer Welt, aus deren Horizont auch der Sinn des Seienden, das dann durch die Wissenschaften objektiviert werden kann, immer schon ausgelegt worden ist. Auf dieses vorontologische Seinsverstandnis stoBen wir, wenn wir in transzendentaler Einstellung hinter die von der Transzendentalphilosophie am Leitfaden der Wissenschaften freigelegte kategoriale Verfassung des Seienden zurUckfragen. Die Analyse des vorgangigen Weltverstandnisses erfaBt jene Strukturen der Lebenswelt oder des »In-der-Welt-Seins«, die Heidegger Existentialien nennt. Weil diese den Kategorien des Seienden im ganzen und speziell der Seinsgebiete, zu denen sich die Wissenschaftler in objektivierender Weise verhalten, vorgeordnet sind, verdient die existentiale Analytik des In-der-Welt-Seins den Namen einer fundamentalen Ontologie. Diese macht namlich erst die lebensweltlichen oder existentialen Grundlagen der ihrerseits in transzendentaler Einstellung ausgearbeiteten regionalen Ontologien durchsichtig. In einem zweiten Schritt verleiht Heidegger der phanomenologischen Methode den Sinn einer ontologischen H ermeneutik. Phanomen ist im Sinne Husserls alles, was sich von sich aus als es selbst zeigt. Indem Heidegger das Evidente als »das Offenbare« ubersetzt, spielt er auf die Oppositionsbegriffe des Verborgenen, Verhull ten, Verdeckten an. Phanomene kommen nur indirekt zur Erscheinung. Das Erscheinende ist das Seiende, das das Wie des Gegebenseins dieses Seienden gerade verdeckt. Die Phanomene entziehen sich dem direkten Zugriff, weil sie sich in ihren ontischen Erscheinungen gerade nicht zeigen als das, was sie von sich aus sind. Die Phanomenologie unterscheidet sich deshalb von den Wissenschaften dadurch, daB sie es nicht mit einer besonderen Art von Erscheinungen zu tun hat, sondern mit der Explikation dessen, was sich in allen Erscheinungen verbirgt, nur durch sie hindurch zu
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Wort meldet. Der Bereich der Phanomenologie ist das yom Seienden verstellte Sein. Deshalb bedarf es einer besonderen apophantischen Anstrengung, urn Phanomene zu vergegenwartigen. Ais Modell fur diese Anstrengung dient aber nicht mehr, wie bei Husserl, die Anschauung, sondern die Auslegung eines Textes. Nicht die intuitive Vergegenwartigung idealer Wesenheiten bringt die Phanomene zur Selbstgegebenheit, sondern das hermeneutische Verstehen eines komplexen Sinnzusammenhangs entbirgt das Sein. Damit bereitet Heidegger einen apophantischen Wahrheitsbegriff vor und verkehrt den methodischen Sinn der Phanomenologie der Wesensschau ins existenzialhermeneutische Gegenteil: an die Stelle der Beschreibung des unvermittelt Angeschauten tritt die Interpretation eines Sinnes, der sich jeder Evidenz entzieht. In einem letzten Schritt verknupft Heidegger die zugleich transzendental und hermeneutisch verfahrende Analytik des Daseins mit einem existenzphilosophischen Motiv. Das menschliche Dasein versteht sich selbst aus der Moglichkeit, es selbst oder nicht es selbst zu sein. Es steht vor der unausweichlichen Alternative von Uneigentlichkeitund Eigentlichkeit. Es ist ein Seiendes von der Art, das sein Sein »zu sein hat«. Das menschliche Dasein muB sich aus dem Horizont seiner Moglichkeiten ergreifen und seine Existenz selbst in die Hand nehmen. Wer dieser Alternative auszuweichen versucht, hat sich schon fur ein Leben im Modus des Dahintreibenlassens und der Verfallenheit entschieden. Dieses durch Kierkegaard existentialistisch zugespitzte Motiv der Verantwortung fur das eigene Heil ubersetzt Heidegger in die Formel von der Sorge urn die eigene Existenz: »Das Dasein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein urn dieses Selbst geht« (191). Dieses sakularisierte Heilsmotiv V'.erwendet nun Heidegger inhaltlich so, daB die zur Angst verscharfte Sorge urn das eigene Sein den Leitfaden fur die Analyse der zeitlichen Verfassung der menschlichen Existenz an die Hand gibt. Ebenso wichtig ist aber der methodische Gebrauch, den Heidegger von diesem Motiv macht. Nicht nur der Philosoph sieht sich bei der Frage nach dem Sinn von Sein an das vorontologische Welt- und Seinsverstandnis des Menschen in seiner leiblich-geschichtlichen Existenz verwiesen; vielmehr ist es eine Bestimmung dieser Existenz selbst, sich urn sein Sein zu kum173
mern, sich hermeneutisch der existentiellen Moglichkeiten seines »eigensten Seinkonnens« zu versichern. Insofern ist der Mensch von Haus aus ein ontologisches Wesen, dem die Seinsfrage existentiell aufgenotigt ist. Die existentiale Analytik entspringt dem tiefsten Antrieb der menschlichen Existenz selber. Heidegger nennt das die ontische Verwurzelung der existentialen Analytik: »Wenn die Interpretation des Sinnes von Sein Aufgabe wird, ist das Dasein nicht nur das primar zu befragende Seiende, es ist iiberdies das Seiende, das sich je schon in seinem Sein zu dem verhalt, wanach in dieser Frage gefragt wird. Die Seinsfrage ist dann aber nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst wesenhaft gehorenden Seinstendenz« (I 5). Die drei begriffsstrategischen Entscheidungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, daB Heidegger zunachst die Transzendentalphilosophie mit der Ontologie verklammert, urn die Existentialanalytik als Fundamentalontologie auszeichnen zu konnen; daB er fernet die Phanomenologie zur ontologischen Hermeneutik umdeutet, urn die Fundamentalontologie als Existentialhermeneutik durchfiihren zu konnen; und daB er schlieBlich die Existentialhermeneutik mit existenzphilosophischen Motiven besetzt, urn das Unternehmen der Fundamentalontologie doch noch in die ansonsten als bloB ontisch abgewerteten Interessenzusammenhange einbetten zu konnen. An dieser einzigen Stelle wird die ontologische Differenz iiberspielt und die strenge methodische Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen der transzendental zuganglichen Existentialien und dem Besonderen der konkret erfahrenen Existenzprobleme durchbrochen. ~urch diese Verklammerung scheint es Heidegger zu gelingen, der Subjekt-Objekt-Beziehung ihre paradigmatische Bedeutung zu nehmen. Mit der Wendung zur Ontologie sprengt er den Primat der Erkenntnistheorie, ohne dabei die transzendentale Fragestellung preiszugeben. Weil das Sein des Seienden intern auf das Seinsverstandnis bezogen bleibt, weil das Sein nur im Horizont des menschlichen Daseins zur Geltung kommt, bedeutet die Fundamentalontologie~ keinen Riickfall hinter die Transzendentalphilosophie, sondern sogar deren Radikalisierung. Die Wendung zur Existenzialhermeneutik beendet jedoch gleichzeitig die methodische Aus174
zeichnung der Selbstreflexion, die noch Husser! zum Verfahren der transzendentalen Reduktion genotigt hatte. An die Stelle der Selbstbeziehu~K£les ~.~~E2!.c:.~~~~,.?~~!>j~~!S, also .~~~..~,~!!>!tk~:Wllihs.ejn~" ..' ··x ~ Auslegung eines vorontologlschen Seinsverstandnisses, und damit die Explikation von Sinnzusammenhangen, in denen sich die alltagliche Existenz immer schon vorfindet. SchlieBlich·arbeitet Heidegger die existentialistischen Motive so ein, daB sich die Aufklarung iiber Strukturen des In-der-W elt-Seins (die an die Stelle der Bedingungen der Objektivitat der Erfahrung getreten sind) zugleich ali Antwort auf die praktische Frage nach dem richtigen Leben anbietet. Ein emphatischer Offenbarungsbegriff der Wahrheit fundiert die Geltung von Urteilen in der Authentizitat einer menschlichen Existenz, die sich vor aller Wissenschaft zu Seiendem verhalt. Dieser Wahrheitsbegriff dient als Leitfaden, anhand des sen Heidegger den Schliisselbegriff der Fundamentalontologie einfiihrt - den Begriff der Welt. Die Welt bildet den sinnerschlieBenden Horizont, innerhalb dessen sich Seiendes dem existentiell urn sein Sein besorgten Dasein zugleich entzieht und offenbart. Die Welt ist dem Subjekt, das sich handelnd oder erkennend auf Objekte bezieht, immer schon voraus. Denn nicht das Subjekt nimmt Beziehungen zu etwas .in der Welt auf, sondern die Welt stiftet allererst den Kontext, aus dessen Vorverstandnis Seiendes begegnen kann. Durch dieses vorontologische Seinsverstandnis ist der Mensch von Haus aus in Weltbeziige eingelassen und gegeniiber allem iibrigen innerweltlich Seienden privilegiert. Er ist dasjenige Seiende, das nicht nur in der Welt angetroffen werden kann; dank seiner besonderen Weise, in der Welt zu sein, ist der Mensch so mit den kontextbildenden, raumgebenden und zeitigenden Prozessen der WelterschlieBung verwoben, daB Heidegger seine Existenz als Da-sein charakterisiert, welches alles Seiende, indem es sich zu dies em verhalt, »sein laBt«. Das Da des Dasein ist der Ort, an dem sich die Lichtung des Seins offnet. Der begriffsstrategische Gewinn gegeniiber der Subjektphilosophie liegt auf der Hand: Erkennen und Handeln brauchen nicht mehr als Subjekt-Objekt-Beziehungen konzipiert zu werden. »Das Erkennen schafft weder allererst ein commercium des Subjekts mit einer
Welt (vorstellbarer oder manipulierbarer Gegenstande), noch entsteht dieses aus einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt. Erkennen ist ein im In-der-W elt-Sein fundierter Modus des Daseins« (62f.). An die Stelle des Subjekts, das der objektiven Welt als der Gesamtheit existierender Sachverhalte erkennend oder handelnd gegeniibertritt, konnen die in objektivierender Einstellung vollzogenen Akte des Erkennens und Handelns nun als Derivate von zugrundeliegenden Modis des Innestehens in einer Lebenswelt, einer als Kontext und Hintergrund intuitiv verstandenen Welt begriffen werden. Diese Weisen des lebensweltlichen In-Seins charakterisiert Heidegger im Hinblick auf ihre zeitliche Struktur