Olav Krämer Denken erzählen
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Olav Krämer Denken erzählen
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spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature Komparatistische Studien / Comparative Studies
Herausgegeben von / Edited by Angelika Corbineau-Hoffmann · Werner Frick
Wissenschaftlicher Beirat / Editorial Board Sam-Huan Ahn · Peter-Andre´ Alt · Aleida Assmann · Francis Claudon Marcus Deufert · Wolfgang Matzat · Fritz Paul · Terence James Reed Herta Schmid · Simone Winko · Bernhard Zimmermann Theodore Ziolkowski
20
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Olav Krämer
Denken erzählen Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Vale´ry
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-021095-8 ISSN 1860-210X Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Druckfassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2007/2008 von der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. angenommen wurde. Danken möchte ich an erster Stelle und besonders nachdrücklich meinem Doktorvater Prof. Werner Frick. Sein Zuspruch und sein Interesse, sein inhaltlicher Rat und seine engagierte Unterstützung in praktischen Dingen haben sehr viel zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen und bedeuteten für mich eine Hilfe von unschätzbarem Wert. Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Rolf G. Renner und Prof. Thomas Klinkert, die die Rolle des Zweit- bzw. Drittgutachters übernommen haben. Prof. Olaf Breidbach, Prof. Gerhard Lauer, Prof. Sandra Richter und Prof. Horst Thomé danke ich dafür, dass sie mir für Gespräche zur Verfügung standen, die mir wichtige Anregungen vermittelt haben. Sehr wertvoll waren für mich auch die vielen Gespräche, die ich über die Jahre hinweg mit Andrea Albrecht, Tilmann Köppe und Fabian Lampart geführt habe; ihnen sowie Prof. Fred Lönker danke ich außerdem für Kommentare und Kritik zu einzelnen Teilen der Arbeit. Bei Gesa von Essen und Claudius Sittig möchte ich mich herzlich für kollegiale Unterstützung und freundschaftliche Aufmunterung bedanken, bei den Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Prof. Frick für konstruktive Kritik und bei Anna Kohn für ihre Hilfe beim Korrekturlesen. Dem Evangelischen Studienwerk Villigst gilt mein aufrichtiger Dank für langjährige Förderung. Für die Aufnahme des Buchs in die Reihe spectrum Literaturwissenschaft danke ich den beiden Herausgebern und dem Walter de Gruyter Verlag. Friederike Carl danke ich von ganzem Herzen für Hilfe, Rückhalt, Ermutigung und für die Erinnerungen daran, was wirklich wichtig ist. Meinen Geschwistern bin ich für Anteilnahme, Aufmunterung und Ablenkung dankbar. Last but not least danke ich meinen Eltern dafür, dass sie mich während des Studiums und der Promotion auf vielerlei Weisen, aber immer mit der gleichen Großzügigkeit unterstützt haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Freiburg i. Br., im März 2009
Olav Krämer
Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................................... V
I.
Einleitung
1. 2. 3.
Fragestellung und Absichten ...................................................................... 1 Einordnung in die literaturwissenschaftliche Moderneforschung .....11 Theoretische Grundlagen, Methode, Aufbau .......................................15
II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie zwischen 1890 und 1940 1. 2.
3.
4.
5. 6.
Vorbemerkungen .......................................................................................22 Die Vorgeschichte: Traditionelle Theorien des Denkens ...................25 2.1. Die Assoziationstheorie ..................................................................26 2.2. Die vormoderne Logik ....................................................................29 2.3. Die Evolutionstheorie .....................................................................31 Von der Assoziation zu Reflexen und Gestalten: Die Psychologie und die Frage nach den ‘Mechanismen’ des Denkens .........................35 3.1. Späte Varianten der Assoziationslehre .........................................36 3.1.1. Wundt: Denken als Zusammenfassen und Ordnen .....36 3.1.2. Ribot: Assoziation und Aufmerksamkeit ...................... 40 3.2. Die Anfänge der experimentellen Denkpsychologie: Die Würzburger Schule ...................................................................46 3.3. Otto Selz: Intellektuelle Operationen als Reflexe .......................50 3.4. Gestaltpsychologie: Umzentrierung und Einsicht ......................53 3.5. Zusammenfassung ...........................................................................58 Debatten über Wesen und Leistung des Denkens ...............................60 4.1. Mach: Die Denkökonomie .............................................................61 4.2. Husserl: Das Denken und die idealen Gesetze der Logik ..........65 4.3. Bergson: Die Leistungen von ‘intelligence’ und ‘intuition’ ........70 Das Denken, die Triebe und das Unbewusste ......................................77 5.1. Nietzsche: Triebgeleitetes Denken und freie Geister .................78 5.2. Freud: Denken als ‘Umweg zur Wunscherfüllung’ .....................81 Zusammenfassung .....................................................................................83
VIII
Inhaltsverzeichnis
III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil 1.
Musils Konzeption des Denkens ........................................................... 91 1.1. Die Ausführungen über das Denken im Kapitel I.28 ............... 94 1.2. Das mathematisch-wissenschaftliche Denken .......................... 102 1.2.1. Training der seelischen Kampfkraft und Ethos der Wahrheitssuche ............................................. 103 1.2.2. Die Wissenschaft und das Böse .................................... 108 1.2.3. Wahrheit als Droge: Wie die Wissenschaftler wirklich sind ..................................................................... 115 1.2.4. Zusammenfassung .......................................................... 118 1.3. Lebende Gedanken: Denken mit Beteiligung der ganzen Person ..........................................................................119 1.3.1. Lebende und tote Gedanken ......................................... 119 1.3.2. Ratioïd und nicht-ratioïd ................................................ 122 1.4. Denken und ‘Systeme des Gleichgewichts’ ............................... 133 1.5. Die anthropologischen Grundlagen von Musils Konzeption des Denkens ................................................ 138 1.5.1. Gewalt und Liebe, Normalzustand und anderer Zustand................................................................ 138 1.5.2. Das Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit ...... 150 1.5.3. Die Beziehungen zwischen Musils Anthropologie und seiner Konzeption des Denkens ........................... 155 1.6. Musils Konzeption des Denkens im Verhältnis zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext .............................. 159
2.
Musil über die Darstellung von Denken in der Literatur ................. 162 2.1. Analyse der „Gefühls- und Ideenwelt“ ...................................... 163 2.2. Der Essay als Medium eines lebenden Denkens ...................... 165 2.3. Die ‘Entwicklungslinie gewisser Gedanken durch ein junges Leben’ ............................................................... 169 2.4. Zusammenfassung ........................................................................ 173
3.
Erzähltes Denken in Der Mann ohne Eigenschaften ............................... 175 3.1. Vorbemerkungen. Zur Forschungslage ..................................... 175 3.2. Arnheim (Kapitel I.112) ............................................................... 180 3.2.1. Arnheims Suche nach einer ‘befriedigenden’ Beschreibung und Erklärung seiner Gefühle ............. 183 3.2.2. Unwahrhaftigkeit und Ungenauigkeit .......................... 191 3.3. Agathe (Kapitel II.9) ..................................................................... 196 3.4. Hagauer (Kapitel II.29) ................................................................ 204 3.5. Clarisse und Moosbrugger (Kapitel I.97 und I.59) .................. 212 3.6. Zwischenresümee .......................................................................... 224
Inhaltsverzeichnis
IX
3.7. Ulrichs Denkweise und ihre Veränderung ................................ 230 3.7.1. Die krisenhafte Ausgangssituation (Kap. I.28) ........... 236 3.7.2. Der Beginn von Ulrichs Selbsterforschung: Undurchschaute Widersprüche (I.34, 39, 40) ............. 246 3.7.3. Artikulation von Gefühlen und Wünschen (Kapitel II.22) .................................................................. 275 3.7.4. Fazit ................................................................................... 285 3.8. Zusammenfassung. Das Verhältnis von Theorie und literarischer Gestaltung.......................................................... 291
IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry 1.
Valérys Konzeption des Denkens ........................................................ 297 1.1. Valérys Konzeption des Mentalen .............................................. 300 1.1.1. Die formale und objektivierende Sichtweise .............. 300 1.1.2. Die Unordnung des Mentalen. Geist, Körper und Welt ................................................. 303 1.1.3. ‘Demande – Réponse’ .................................................... 310 1.1.4. Instanzen der Ordnung .................................................. 313 1.1.5. Valérys Konzeption des Mentalen im Verhältnis zur Psychologie seiner Zeit ............................................ 319 1.2. Operationen und Leistungen des Denkens ............................... 327 1.3. Der frühe Valéry über Ziele und Aufgaben des Denkens ...... 334 1.4. Note et digression: Valérys reductio ad absurdum seiner früheren Ansichten ............................................................ 338 1.5. Der spätere Valéry über Ziele und Aufgaben des Denkens ... 359 1.5.1. Anthropologische Prämissen: Die Überschüsse und Defizite der conditio humana .................................... 360 1.5.2. Intellektuelles Training: Denken als Sport .................. 365 1.5.3. Echte und künstliche Probleme .................................... 366 1.5.4. Selbstaufklärung und Selbst-Rekonstruktion .............. 369 1.6. Zusammenfassung ........................................................................ 377
2.
Valéry über die Darstellung von Denken in der Literatur ............... 381 2.1. Die „Comédie intellectuelle“ und die „sensibilité de l’intellect“............................................................... 382 2.2. Der „Art de la prose“ und das Ideal der „Pureté“ ................... 388 2.3. „modèles de pensée“: Wirkung und Gebrauchswert der Literatur ....................................................... 393 2.4. Zusammenfassung ........................................................................ 396
X
3.
Inhaltsverzeichnis
Erzähltes Denken bei Valéry ................................................................ 398 3.1. Ein Ornament aus Ideen: die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci ........................... 399 3.1.1. Die Introduction als Repräsentation eines Denkprozesses ....................................................... 399 3.1.2. Problemstellung und Argumentationsgang ................. 402 3.1.3. Die Introduction als Umsetzung der beschriebenen Methode .......................................... 416 3.1.4. Fazit: Ordnungskonstruktion als Selbstbehauptung ............................................................ 427 3.2. Den Bezirk des Möglichen ausmessen: La Soirée avec Monsieur Teste ............................................................ 431 3.2.1. Die Soirée als Darstellung der Denkvorgänge des Erzählers ........................................ 431 3.2.2. Testes Ideale: Selbstbeherrschung und Ausschöpfung des ihm Möglichen ............................... 437 3.2.3. Der Stil: Verfügen über das Sprachmaterial ................ 443 3.2.4. Grenzen und Endlichkeit ............................................... 447 3.2.5. Fazit zur Introduction und zur Soirée ............................... 458 3.3. Die Erklärung einer Muschel als Selbstaufklärung des Menschen: L’homme et la coquille ............. 460 3.3.1. Die Struktur des Gedankengangs: Unwillkürliche Reaktionen und ihre Entfaltung ........ 463 3.3.2. Die Beziehung zu Valérys Konzeption des Denkens ..................................................................... 472 3.3.3. L’homme et la coquille als repräsentativ für das spätere Werk Valérys ......................................... 476 3.4. Momente aus der „vie de l’intelligence“: Prosagedichte und Kurzprosa ..................................................... 479 3.4.1. Denken unter der Kontrolle von Körper und „sensibilité“ ................................................ 481 3.4.2. Die „Aubades“: Der Intellekt zwischen Stolz und Resignation ................................... 490 3.4.3. Zusammenfassung .......................................................... 496 3.5. Fazit: Arten des Denkens und der Denkdarstellung ............... 501
V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich 1.
Anthropologische und psychologische Grundannahmen .................504 1.1. Basiskonzepte: Musils ‘Grundhaltungen’ und Valérys Schema ‘Demande / Réponse’ ......................................504
Inhaltsverzeichnis
XI
1.2. Der Körper und sein Verhältnis zum Mentalen ........................510 1.3. Naturbegriffe und Realitätsmodelle ............................................512 2.
Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens ................................515 2.1. Die psychischen Grundlagen des Denkens .............................. 515 2.2. Die Leistungen des Denkens ....................................................... 516 2.3. Wertmaßstäbe für das Denken ................................................... 519
3.
Erzähltes Denken bei Musil und Valéry ............................................. 525 3.1. Inhalte und Grundstrukturen der Denkprozesse ..................... 525 3.2. Denken im Verhältnis zu Gefühl, Wahrnehmung und Situation: Musils Holismus und Valérys Abstraktionen .......... 529 3.3. Deuten und Begründen vs. Erklären und Vergleichen ........... 532
4.
Denkromane. Musils und Valérys Repräsentationen des Intellekts im Kontext der klassischen Moderne ......................... 535
Literaturverzeichnis Siglenverzeichnis
....................................................................................... 550
........................................................................................551 Quellen Literarische Quellen ............................................................................... 551 Sonstige Quellen ..................................................................................... 553 Forschungsliteratur ....................................................................................... 558
Personenregister ................................................................................. 585
I. Einleitung 1. Fragestellung und Absichten Die Annahme, der Mensch sei ein animal rationale, gehört zu den ältesten Kernbestandteilen menschlicher Selbstdeutungen; Philosophen von Platon und Aristoteles bis zu Donald Davidson haben die Frage, was den Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet, unter anderem mit dem Hinweis auf seine Ausstattung mit Vernunft beziehungsweise mit Verstand beantwortet.1 Aber die Kontinuität, die mit dieser Feststellung suggeriert wird, ist sogleich nachdrücklich zu relativieren: Denn es liegt auf der Hand, dass man unter einem animal rationale zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Dinge verstanden hat. Historischen Wandlungen unterlagen sowohl die Auffassungen darüber, was der Verstand überhaupt sei und in welchen Leistungen er sich manifestiere, als auch das Verständnis des Begriffs ‘Lebewesen’ sowie die Ansichten darüber, welche anderen Fähigkeiten und Vermögen der Mensch neben dem Verstand besitze und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Eine Annahme über den Verstand hat sich über einen besonders langen Zeitraum hinweg behauptet, nämlich die Annahme, dass er an die Seele oder den Geist des Menschen gebunden sei, sich in den Fähigkeiten oder Aktivitäten des Geistes manifestiere. Allerdings ist auch mit dieser Aussage nur in begrenztem Maße eine Kontinuität bezeichnet, da die Be_____________ 1
Zur Geschichte der Unterscheidung von Vernunft und Verstand und zu den Tendenzen zur Einebnung dieser Differenzierung in der Neuzeit vgl.: Werner Schneiders, Vernunft und Verstand – Krisen eines Begriffspaares. In: Lothar Kreimendahl (Hg.) in Verbindung mit Hans-Ulrich Hoche und Werner Strube, Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Günter Gawlick zum 65. Geburtstag. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 199-220. Vgl. zur philosophischen Begriffsgeschichte von ‘Vernunft’ und ‘Verstand’ außerdem: Red. [u.a.], Art. ‘Vernunft; Verstand’. In: Joachim Ritter u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11: U–V. Darmstadt 2001, Spp. 748-863. – Im Folgenden verwende ich den Ausdruck ‘Verstand’, weil der Ausdruck ‘Vernunft’ in der deutschen Philosophie der Neuzeit mit besonderen Bedeutungen und Konnotationen „aufgeladen“ worden ist, die in anderen Sprachen keine Entsprechung haben (Schneiders, Vernunft und Verstand, S. 209). – Für Donald Davidsons Adaption der Formel vom animal rationale vgl.: D. D., Rational Animals. In: D. D., Subjective, Intersubjective, Objective. Oxford 2001, S. 95-105 [zuerst 1982].
2
I. Einleitung
griffe der Seele und des Geistes in der Geschichte ebenfalls sehr unterschiedliche Deutungen und Definitionen erhalten haben. Aber immerhin lässt sich mit dem Werk von Descartes ein philosophischer Neuansatz benennen, der einem weithin etablierten Konsens zufolge für die Diskussionen über den menschlichen Geist wie über den Verstand und den Intellekt2 in der gesamten neuzeitlichen Philosophie richtungweisend war. Descartes definierte den Begriff der Seele oder des Geistes neu, indem er ihn an den Begriff des Bewusstseins knüpfte: Die Seele ist ihrem Wesen nach eine res cogitans, und unter cogitatio fällt ‘alles das, was, indem wir uns dessen bewusst sind, in uns geschieht’;3 zu den verschiedenen Arten der cogitatio gehören neben dem Wollen, Fühlen und Imaginieren auch die Aktivitäten des Verstandes, also die Einsicht, das Erfassen von Ideen, das Urteilen und das Begreifen (intelligere).4 Descartes hatte damit den Begriff des Verstandes und den der Seele oder des Geistes in einer Weise verknüpft, die für die europäische Philosophie der folgenden Jahrhunderte weithin bestimmend bleiben sollte. Als Bezeichnungen für diejenigen geistigen Vorgänge oder Tätigkeiten, in denen sich der Verstand manifestiert, setzten sich in der deutschen Sprache vor allem die Ausdrücke ‘denken’, ‘nachdenken’ und ‘überlegen’ durch, in der französischen die Ausdrücke ‘penser’, ‘réfléchir’ und ‘raisonner’, in der englischen vor allem ‘to think’ und ‘to reason’. Unterschiedliche Bestimmungen des Begriffs ‘Denken’ und theoretische Erörterungen über das Denken standen im Mittelpunkt der Reflexionen über das Verhältnis von Geist, Verstand und Erkenntnis, die in der nach-cartesianischen Philosophie entwickelt wurden.5 _____________ 2
3 4
5
Mit der Unterscheidung zwischen ratio und intellectus hatte die mittelalterliche Philosophie die aus der griechischen Tradition stammende Differenzierung zwischen den menschlichen Erkenntnisvermögen dianoia und nous wiedergegeben (vgl. Schneiders, Vernunft und Verstand, S. 202f.). Vgl. dazu sowie zu verschiedenen Begriffen des Intellekts in der frühneuzeitlichen Philosophie auch: Gary Hatfield, The Workings of the Intellect: Mind and Psychology. In: Patricia A. Easton (Hg.), Logic and the Workings of the Mind: The Logic of Ideas and Faculty Psychology in Early Modern Philosophy. Atascadero (California) 1997, S. 21-45; ders., The Cognitive Faculties. In: Daniel Garber / Michael Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy. Cambridge 1998, S. 953-1002. Vgl.: [René Descartes,] Œuvres de Descartes. Publiées par Charles Adam et Paul Tannery. 13 vols. VIII: Principia Philosophiae. Paris 1957, S. 7 (I, § 9). Vgl. zu der Bedeutung von Descartes’ Ansatz für die Geschichte der philosophischen Konzeptionen des Verstandes bzw. der Vernunft: Schneiders, Vernunft und Verstand, S. 204f. – Zu den Unterschieden zwischen Descartes’ Konzepten der Seele und des Intellekts und den älteren, auf Thomas von Aquin und Aristoteles zurückgehenden Auffassungen vgl. etwa: Hatfield, The Workings of the Intellect; M. R. Bennett / P. M. S. Hacker, Philosophical Foundations of Neuroscience. Malden (Mass.) u.a. 2007, S. 15f., 25-27. Zur philosophischen Begriffsgeschichte von ‘Denken’ vgl.: C. v. Bormann / R. Kuhlen / L. Oeing-Hanhoff, Art. ‘Denken I.’. In: Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2 (1972), Spp. 60-102. Der Ausdruck ‘denken’ ist aber natürlich auch in der Umgangssprache geläufig und wird dort mit vielfältigen Bedeutungen verwendet; unter ande-
1. Fragestellung und Absichten
3
Eine wichtige Etappe in der Geschichte dieser Reflexionen bildete das Werk der britischen Empiristen, das die Grundlage für die so genannte Assoziationstheorie schuf, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die psychologische Theorienbildung maßgeblich prägte. Als die Assoziationspsychologie um 1900 zunehmend in die Kritik geriet, war dies nur ein Teil eines umfassenderen Wandels.6 Eine Ausgangsannahme der vorliegenden Untersuchung lautet, dass der Zeitraum zwischen etwa 1890 und 1940 eine Umbruchsphase in der Geschichte philosophischer und wissenschaftlicher Konzeptionen des Denkens7 darstellte. Für diesen Umbruch war zunächst kennzeichnend, dass die Zahl der Disziplinen, die das Denken als ihren Untersuchungsgegenstand beanspruchten, anstieg und damit zugleich die Begriffe und Theorien des Denkens sich vervielfachten. In den vorangegangenen Jahrhunderten war das Denken fast ausschließlich in der Philosophie zum Thema gemacht worden. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aber etablierte sich die so genannte ‘neue’ Psychologie allmählich als eigenständige akademische (Sub-)Disziplin, die ihre relative Unabhängigkeit gegenüber der Philosophie zu behaupten suchte, und die Vertreter dieser jungen Disziplin betrachteten selbstverständlich auch die ‘höheren’ geistigen Funktionen als Teil ihres Gegenstandsbereichs.8 Um 1900 begannen die _____________
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8
rem wird er auch ungefähr im Sinne von Descartes’ Begriff der cogitatio gebraucht, also für Bewusstseinsvorgänge im Allgemeinen (vgl. ebd., Sp. 61). Fritz Mauthner bemerkt hierzu in seinem Wörterbucheintrag zu „denken“: „Vernunftarbeit, Verstandesarbeit, ein Erinnerungsbild, ja sogar die bloße Flucht von Assoziationen [...] faßt die Sprache unter denken zusammen.“ (Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band. A – Intuition. Zürich 1980 [Nachdruck der Erstausgabe von 1910/11], S. 177.) Diese historischen Entwicklungen werden hier nur grob charakterisiert, um die Fragestellung der Untersuchung zu exponieren; Kapitel II wird sie ausführlicher und unter Angabe von Literaturhinweisen darstellen. Mit dem Ausdruck ‘Denken’ wird in der vorliegenden Untersuchung stets der eben eingeführte Begriff gemeint, also der Begriff der Verstandestätigkeit oder der Aktivität des Intellekts als eines mentalen oder psychischen Vorgangs. Als Synonym verwende ich die Wendung ‘Tätigkeit des Intellekts’; diese Ausdrucksweise findet sich auch in: v. Bormann / Kuhlen / Oeing-Hanhoff, Art. ‘Denken I.’, etwa Spp. 61f. Der Ausdruck ‘new psychology’ als Bezeichnung für diese Psychologen, die die akademische Institutionalisierung des Fachs durchsetzten, ist in der Geschichtsschreibung der Psychologie verbreitet; er verweist auf das Selbstverständnis dieser Psychologen, die sich von der älteren, als metaphysisch kritisierten Psychologie abzugrenzen suchten. – Zu der Etablierung der ‘neuen’ Psychologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vgl.: Mitchell G. Ash, Psychology. In: Theodore M. Porter, Dorothy Ross (Hg.), The Cambridge History of Science. Vol. 7: The Modern Social Sciences. Cambridge 2003, S. 251-274; Kurt Danziger, Constructing the subject. Historical origins of psychological research. Cambridge u.a. 1990, vor allem S. 1-67. Speziell zur deutschen Psychologie vgl.: Mitchell G. Ash, Psychologie in Deutschland um 1900. Reflexiver Diskurs des Bildungsbürgertums, Teilgebiet der Philosophie, akademische Disziplin. In: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurren-
4
I. Einleitung
ersten experimentellen Untersuchungen des Denkens. Viele, wenn auch keineswegs alle Protagonisten der neuen Psychologie suchten die Erforschung des Mentalen auf physiologische oder biologische Grundlagen zu stellen, und folglich war auch die psychologische Analyse des Denkens vielfach mit dem Streben nach einer ‘Naturalisierung’ des Denkens, einer Rückführung des Denkens auf physiologische oder biologische Mechanismen und Strukturen verbunden. Allerdings war die neue Psychologie um und nach 1900 keineswegs ein einheitliches Gebilde; die Bemühungen um eine naturalistische Erklärung des Denkens nahmen unterschiedliche Formen an und stießen auch innerhalb der Psychologie selbst auf Widerspruch. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts reklamierte aber auch noch eine andere junge Disziplin das Denken als Untersuchungsgegenstand, nämlich die Soziologie: Während in der Psychologie vielfach versucht wurde, das Denken mithilfe physiologischer oder biologischer Gesetze zu erklären, traten Forscher wie Lucien Lévy-Bruhl, Wilhelm Jerusalem, Karl Mannheim und Ludwik Fleck mit je spezifischen Argumenten und Akzentsetzungen dafür ein, das Denken als ein wesentlich soziales Phänomen zu untersuchen und die gesellschaftliche Bedingtheit des Denkens in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen.9 Doch es waren nicht nur die vergleichsweise jungen Disziplinen der Psychologie und Soziologie, die um und kurz nach 1900 neue, miteinander konkurrierende Begriffe und Theorien des Denkens vorlegten; auch in der Philosophie selbst erweiterte sich das Spektrum der Ansätze und Perspektiven. Die von Edmund Husserl begründete Phänomenologie entwickelte eine originelle und höchst einflussreiche Sichtweise auf die psychischen Vorgänge insgesamt und auch auf das Denken, eine Sichtweise, die von den späteren Vertretern der phänomenologischen Richtung weitergeführt oder mehr oder weniger radikal verwandelt wurde. Zur gleichen Zeit entfalteten auch die vernunftkritischen oder anti-intellektualistischen Perspektiven auf das Denken ihre Wirkung, die von Nietzsche und Bergson beziehungsweise aus der diffusen Strömung der Lebensphilosophie stammten.10 _____________
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10
ten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt/M. 1999, S. 78-93; Martin Kusch, Psychologism. A Case Study in the Sociology of Philosophical Knowledge. London, New York 1995, S. 122-159. Diese Autoren, die heute als Pioniere der Wissenssoziologie betrachtet werden, arbeiteten im Gegensatz zu späteren Versionen dieser Forschungsrichtung noch meist mit psychologischen Kategorien wie ‘Denken’ oder ‘mentalité’ und profilierten ihre Ansätze oft durch Abgrenzungen von der Art und Weise, in der das Denken in Philosophie und Psychologie untersucht wurde. Für einen knappen Überblick zur Vernunftkritik in der Moderne vgl.: Christoph Jamme, Grenzziehungen. Die Vernunft in der Moderne. Einleitung. In: C. J. (Hg.), Grundlinien der Vernunftkritik. Frankfurt/M. 1997, S. 9-32.
1. Fragestellung und Absichten
5
Diese neuen Entwicklungen in der wissenschaftlichen und philosophischen Erforschung des Denkens wurden nicht nur in Fachkreisen diskutiert, sondern auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Im Hinblick auf die Philosophien Nietzsches und Bergsons muss dies kaum eigens erwähnt werden; es gilt aber bis zu einem gewissen Grad auch für die neuen Begriffe und Theorien des Denkens, die in der Psychologie und in der Soziologie entworfen wurden. In Deutschland bildeten die Ambitionen und Verfahrensweisen der neuen, experimentell und naturwissenschaftsnah ausgerichteten Psychologie den Gegenstand einiger öffentlicher Kontroversen, in denen meist auch die Fragen nach dem Denken und seiner angemessenen Erforschung verhandelt wurden: Zu nennen sind hier vor allem Wilhelm Diltheys Kritik an der zeitgenössischen Psychologie in seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, die von dem Psychologen Ebbinghaus energisch zurückgewiesen wurde, sowie die ausgedehnte Debatte um den Psychologismus, die von Husserls Prolegomena zu seinen Logischen Untersuchungen hervorgerufen wurde;11 in dieser letzteren Debatte ging es ausdrücklich um das Thema des Denkens und um die Frage, ob es in den Kompetenzbereich der Logik oder den der Psychologie gehöre. Aber die neuen psychologischen Ansätze der Denkforschung konnten auch unabhängig von solchen Kontroversen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden, und dies nicht zuletzt deshalb, weil diese Forschung teilweise mit der ausdrücklichen Zielsetzung einer praktischen Verwertung (etwa in der Pädagogik) unternommen wurde und die Psychologen die Nützlichkeit und das Anwendungspotential ihrer Untersuchungen öffentlich darzulegen suchten.12 Der Begriff der Intelligenz etwa, der im Zuge der psychologischen Analyse des Denkens bzw. der intellektuellen Vorgänge und Fähigkeiten entwickelt worden war und sich kurz nach 1900 fest etablierte, wurde von vornherein als eine graduier- und messbare Größe entworfen, und Intelligenzmessungen wurden von Beginn an auch als ein nützliches Instrument in Schulwesen, Berufswelt und Armee betrachtet und praktiziert.13 Der Pädagoge Georg Kerschensteiner legte in seinem erstmals 1914 erschienenen Buch über Wert und Wesen des naturwissenschaftlichen Unterrichts Richtlinien für die angemessene Schulung des Denkens nieder und rekurrierte dabei auf John Deweys Theorie des Denkens;14 gut anderthalb Jahrzehnte später erhielten Kerschensteiner und seine Dewey-Rezeption ein satirisches Denkmal im zwei_____________ 11 12 13 14
Vgl. Ash, Psychologie in Deutschland um 1900, S. 83, 86f.; Kusch, Psychologism. Vgl. Ash, Psychologie in Deutschland, S. 83f. Vgl. Kurt Danziger, Naming the mind. How psychology found its language. London u.a. 1997, S. 66-84. Vgl. Georg Kerschensteiner, Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Dritte Auflage. Leipzig, Berlin 1928, S. 54-56.
6
I. Einleitung
ten Buch von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, wo Professor Hagauer angesichts einer schwierigen Entscheidung die Abhandlung des englischen Schriftstellers „Surway“ über methodisches Denken konsultiert (vgl. MoE 949f.).15 Ob beziehungsweise wie sich der Umbruch in der philosophischen und wissenschaftlichen Erforschung des Denkens, der sich zwischen etwa 1890 und 1940 vollzog, in der Literatur jenes Zeitraums niederschlug, ist noch nicht systematisch untersucht worden. Schon bei einer flüchtigen Musterung dieser Literatur fallen aber eine Reihe von Autoren auf, die sich auf theoretische Weise mit dem Begriff des Denkens (im Sinne der Tätigkeit des Intellekts) auseinandergesetzt oder in ihren literarischen Werken Denkprozesse gestaltet haben und die insofern für eine kontextualisierende Untersuchung unter diesem Gesichtspunkt in Frage kommen: Zu nennen wären etwa Hermann Broch, Gottfried Benn, Carl Einstein und Robert Müller,16 in einer europäisch erweiterten Perspektive ferner Marcel Proust und James Joyce sowie schließlich die zwei Autoren, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen: Robert Musil und Paul Valéry. Musil und Valéry haben sich beide ausgiebig in theoretischer Form mit dem Thema des Denkens befasst und in intensiver Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklungen ihrer Zeit eigenständige Konzeptionen des Denkens entwickelt; darüber hinaus haben sie in ihren literarischen Texten vielfach Denkprozesse dargestellt und dabei originelle Schreibverfahren ausgebildet. Die Absicht dieser Untersuchung ist zum einen, Musils und Valérys theoretische Konzeptionen des Denkens zu rekonstruieren, sie im Kontext der oben skizzierten Umbruchsphase zu verorten und miteinander zu vergleichen; zum anderen sollen ihre literarischen Darstellungen des Denkens analysiert und vor allem daraufhin befragt werden, inwiefern die Schreibverfahren dieser Texte durch ihre theoretischen Konzeptionen des Denkens geprägt sind. Im Folgenden sei noch etwas näher begründet, weshalb Musils und Valérys Konzeptionen und Darstellungen des Denkens miteinander verglichen werden sollen und weshalb gerade ihre Vorstellungen über das Denken verglichen werden sollen. Es könnte zwar scheinen, als ob das Unter_____________ 15
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Stellenangaben zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften werden in dieser Arbeit stets nach diesem Muster gegeben, also im Haupttext, mit der Sigle ‘MoE’ und der Seitenzahl. Zu den verwendeten Abkürzungen vgl. generell das Siglenverzeichnis am Ende der Arbeit. Vgl. vor allem die folgenden Texte: Carl Einstein, Bebuqin. Hg. von Erich Kleinschmidt. Stuttgart 1985; Robert Müller, Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Hg. von Günter Helmes. Stuttgart 1993; Hermann Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler. Bd. I. Frankfurt/M. 1994; Gottfried Benn, Weinhaus Wolf [1937]. In: G. B., Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster. Band IV. Prosa 2. Stuttgart 1989, S. 219-241.
1. Fragestellung und Absichten
7
fangen eines Vergleichs zwischen Musil und Valéry kaum einer Begründung bedürfte: In der Musil-Forschung wurde schon sehr früh, in den 1950ern und 1960ern, die Ansicht formuliert, dass es eine große geistige Affinität zwischen Musil und Valéry gebe,17 und der Verweis auf diese Geistesverwandtschaft ist in der Musil-Literatur seitdem zu einem Topos geworden.18 Entsprechende Hinweise auf Musil finden sich, wenn auch _____________ 17
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Nennenswerte Rezeptions- oder Wirkungsbeziehungen zwischen den zwei Autoren sind dagegen bislang nicht nachweisbar. Es gibt, soweit ich sehe, keine Hinweise darauf, dass Valéry von Musils Werk Notiz genommen hätte; er wäre ohnehin auf Übersetzungen angewiesen gewesen, und die erste französische Übersetzung von Der Mann ohne Eigenschaften erschien erst 1956. Musil hingegen erwähnt Valéry in einigen Briefen und Tagebucheinträgen der 1930er Jahre; sofern in den kurzen Bemerkungen überhaupt eine wertende Einstellung zum Ausdruck kommt, lassen sie am ehesten skeptische Distanz erkennen. Ein Tagebucheintrag lautet: „Morgens ohne Anlaß eifersüchtig ärgerlich an Valery gedacht. An das de l’Acad. franç, an Bodmer, an die vermutete Flachheit .. [...].“ (Robert Musil, Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 947 [Heft 33: 1937-etwa Ende 1941]) Was Musils Kenntnis von Texten Valérys betrifft, so scheint er zumindest einige seiner Aphorismen und Kurzprosatexte gelesen zu haben, von denen seit den 1920ern einige als Übersetzungen in deutschen Zeitschriften veröffentlicht worden waren; in den 1930ern spielte er mit dem Gedanken, selbst Notizen oder Aphorismen im Stile von Nietzsche oder Valéry zu veröffentlichen. Vgl.: Robert Musil an Toni Cassirer [17. November 1933]. In: Robert Musil, Briefe 1901-1942. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 594f., hier S. 595; Robert Musil an Hubertus Prinz zu Löwenstein [18. April 1939]. In: Ebd., S. 973-976, hier S. 976. Für einen Überblick über deutschsprachige Übersetzungen von Aphorismen- und Kurzprosa-Sammlungen Valérys vgl.: Œ II, S. 1626f. Außerdem fand sich in Musils Nachlass ein Zettel, auf dem Hinweise auf einige Werke Valérys notiert waren („Léonard de Vinci“, „Poésies“, „Monsieur Teste“); vgl. Robert Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 715. Da der Zettel zu „Monsieur Teste“ auch „übers. v. Rychner“ vermerkt, kann er frühestens 1926/1927 entstanden sein (vgl. Œ II, S. 1624). Dass auf demselben Zettel auch der Name „Jean-Paul Sartre“ notiert ist, lässt ein noch späteres Entstehungsdatum vermuten; dieselbe Einschätzung bei: Phillan Joung, Passion der Indifferenz. Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Münster 1997, S. 32, Anm. 9. – Cornelia Klettke hat am Rande eines Aufsatzes die Ansicht vertreten, dass die zu beobachtende Parallelität zwischen Ulrich und Monsieur Teste „auf einer Inspiration Musils durch Valérys Figur beruh[e]“. (C. K., Aspekte einer ‘Kunst’ des Sehens: Zu Paul Valérys Philosophie des Blicks. In: Jürgen Schmidt-Radefeldt [Hg.], Paul Valéry. Philosophie der Politik, Wissenschaft und Kultur. Tübingen 1999, S. 101-127, hier S. 113, Anm. 23.) Klettke führt aber keine Argumente oder Belege zur Stützung ihrer These an; angesichts der Tatsache, dass die erste deutsche Übersetzung von La Soirée avec Monsieur Teste erst 1926 erschien, als Musil schon seit längerer Zeit an seinem Romanprojekt arbeitete, erscheint mir ein solcher Einfluss zumindest unwahrscheinlich. Im Übrigen sind die Parallelen zwischen Ulrich und Teste nicht so weitreichend, dass sich die Vermutung einer Inspiration Musils durch Valérys Figur aufdrängen müsste; vgl. dazu unten in dieser Arbeit, S. 442, Anm. 351. Vgl. etwa: Günter Blöcker, Robert Musil. In: G. B., Die neuen Wirklichkeiten. Linien und Profile der modernen Literatur. Berlin 1957, S. 319-328, hier S. 319; Elisabeth Albertsen, Ratio und ‘Mystik’ im Werk Robert Musils. München 1968, S. 39, 158 (Anm. 57), 154 (Anm. 26); Dieter Kühn, Analogie und Variation. Zur Analyse von Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Bonn 1965, S. 14f.; Roger Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert
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I. Einleitung
weniger häufig, in der Literatur zu Valéry.19 Gleichwohl gibt es noch keine ausführliche vergleichende Untersuchung zu diesen zwei Autoren, sondern lediglich einige kürzere Aufsätze.20 Doch die Absicht der vorliegenden Untersuchung ist es nicht, diese verbreitete Annahme über die Nähe zwischen Musil und Valéry zu überprüfen oder zu präzisieren, also etwa ganz allgemein nach Parallelen und Unterschieden zwischen ihren philosophischen, anthropologischen, literarästhetischen oder sonstigen Grundüberzeugungen zu fragen. Der Ausgangspunkt des Vergleichs ist speziellerer Art und leitet sich von der oben skizzierten Sicht auf den Wandel philosophischer und wissenschaftlicher Theorien des Denkens um und nach 1900 her: Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens sollen als unterschiedliche Antworten auf diese historische Situation untersucht und miteinander verglichen werden.21 Unter dieser Voraussetzung aber stellt sich tatsächlich die Frage, weshalb gerade sie und nur sie in den Blick genommen werden sollen; wie oben erwähnt, gibt es noch eine Reihe _____________
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Musils. München 1984, S. 208, 216, 253, 275, 320 (Anm. 7); Gerhart Baumann, Robert Musil. Ein Entwurf. Freiburg i. Br. 1997, S. 49, 72, 84, 102; Joung, Passion der Indifferenz, S. 33-47. Vgl. Stephan Grätzel, Valérys taghelle Mystik. In: Forschungen zu Paul Valéry / Recherches Valéryennes 8 (1995), S. 45-57, hier S. 45f.; Daniel Oster, Monsieur Valéry. Essai. Paris 1981, S. 13f.; Peter Bürger, Funktion und Bedeutung des ‘orgueil’ bei Paul Valéry. In: Romanistisches Jahrbuch 16 (1965), S. 149-168, hier S. 160 (Anm. 42). – Der Philosoph Jacques Bouveresse hat einschlägige Beiträge zu beiden Autoren vorgelegt (mit einem deutlichen Schwerpunkt bei Musil); vgl.: J. B., L’homme probable. Robert Musil, le hasard, la moyenne et l’escargot de l’histoire. Combas 1993; ders., La philosophie d’un antiphilosophe: Paul Valéry. In: J. B., Essais IV. Pourquoi pas des philosophes? Marseille 2004, S. 243-278, 288 (Anm.). Vgl.: Chantal Edet-Ghomari, Musil et Valéry: quand deux écrivains prônent une approche scientifique. In: Chantal Foucrier (Hg.), Les réécritures littéraires des discours scientifiques. Paris 2005, S. 52-62; Jacques Dugast, Robert Musil et Paul Valéry. Deux vivisecteurs de l’esprit. In: Austriaca 20 (1995), S. 27-35; Hanna Charney, Monsieur Teste and der Mann ohne Eigenschaften: Homo Possibilis in Fiction. In: Comparative Literature 27 (1975), S. 1-7. – Vgl. auch: Martin Anders, Präsenz zu denken ... Die Entgrenzung des Körperbegriffs und Lösungswege von Leibkonzeptionen bei Ernst Mach, Robert Musil und Paul Valéry. St. Augustin 2002. Anders will anhand der Texte Machs, Musils und Valérys Möglichkeiten erkunden, wie leibliche Erfahrung „zur Sprache kommen“ (ebd., S. 9) kann; die Auseinandersetzung mit diesem Problem und dem Phänomen des Leibes überhaupt spiele in den Werken aller drei Autoren eine zentrale Rolle. Von der Voraussetzung dieses „gemeinsame[n] Nenner[s]“ (ebd., S. 23) abgesehen, geht es ihm aber ausdrücklich nicht um einen Vergleich der Konzeptionen Machs, Musils und Valérys (vgl. ebd., S. 22f.). Für eine Unterscheidung der wichtigsten Typen vergleichender Verfahren in der Literaturwissenschaft vgl.: Manfred Schmeling, Einleitung: Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Aspekte einer komparatistischen Methodologie. In: M. S. (Hg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis. Wiesbaden 1981, S. 1-24, vor allem S. 11-18. Der hier unternommene Vergleich entspricht dem dritten der von Schmeling unterschiedenen Typen, bei dem die Vergleichsgrundlage in einem „den verschiedenen Vergleichsgliedern gemeinsamen außerliterarischen Hintergrund“ besteht (ebd., S. 14; Hervorhebung im Text).
1. Fragestellung und Absichten
9
anderer Autoren, deren Erörterungen oder literarische Gestaltungen des Denkens unter dieser Perspektive analysiert werden könnten. Musil und Valéry aber stellen aus mehreren Gründen besonders geeignete und ergiebige Untersuchungsgegenstände dar. Der erste Hauptgrund ist, dass die Beschäftigung mit dem Thema des Denkens sowie die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklungen bei beiden eine Intensität und einen Facettenreichtum besitzt, die zumindest auf den ersten Blick bei kaum einem der anderen genannten Autoren erkennbar ist. Nach einer eingehenderen Untersuchung der Konzeptionen etwa Prousts, Joyces oder Brochs mag diese Einschätzung revidiert werden müssen; doch bei Musil und Valéry ist fast auf Anhieb zu sehen, dass sie das Thema des Denkens eingehend und über lange Zeit hinweg verfolgt und dass ihre Konzeptionen des Denkens einen beträchtlichen Grad der Ausarbeitung erreicht haben. Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens können ferner in einem gewissen Maß und in bestimmten Punkten als repräsentativ gelten, insofern sie jeweils von philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen und Richtungen geprägt sind, die für die ideengeschichtlichen Entwicklungen im frühen 20. Jahrhundert insgesamt charakteristisch sind. Ein Vergleich ihrer Konzeptionen des Denkens ist schließlich vor allem deshalb ergiebig, weil ihre Positionen neben einigen Gemeinsamkeiten vor allem einige fundamentale Differenzen aufweisen und weil sich an ihnen somit das Neben- oder Gegeneinander ganz unterschiedlicher Begriffe des Verstandes, des Geistes, der Natur und des Menschen in der Literatur der Moderne aufzeigen lässt. Damit ist auch bereits gesagt, dass der hier unternommene Vergleich in erster Linie auf eine Kontrastierung, nicht auf das Aufdecken von Übereinstimmungen abzielt: Die Arbeit wird nicht primär Ähnlichkeiten zwischen Musils und Valérys Konzeptionen herausstellen, aufgrund derer sie als Beispiele für einen umfassenderen Trend aufgefasst werden könnten, sondern, ausgehend von einem gemeinsamen historischen Kontext, vor allem Unterschiede herauspräparieren, die wiederum auf allgemeinere Tendenzen und Strömungen in der Moderne und auf die Differenzen zwischen ihnen verweisen.22 _____________ 22
In der Geschichtswissenschaft werden „Grundtypen des historischen Vergleichs“ unter anderem danach unterschieden, ob sie „eher der Kontrastierung, mithin der Einsicht in die Unterschiede und damit der genaueren Erkenntnis der einzelnen Vergleichsfälle“ dienen oder aber „eher die Einsicht in Übereinstimmungen, also die Generalisierung und damit die Erkenntnis allgemeiner Zusammenhänge befördern“ sollen. (Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka, Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung. In: H.-G. H. / J. K. [Hg.], Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt / New York 1996, S. 9-45, hier S. 11.) Der hier unternommene Vergleich zwischen Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens wäre dem ersten dieser Grundtypen zuzuordnen.
10
I. Einleitung
Der beabsichtigte Vergleich zwischen Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens setzt voraus, dass beide vor dem Hintergrund eines gemeinsamen wissenschafts- und ideengeschichtlichen Kontextes betrachtet werden können, wie er oben umrissen wurde. Die Annahme, dass es sich hier um einen gemeinsamen historischen Kontext handle, ist aber nicht selbstverständlich, denn die Entwicklungen von Philosophie und Wissenschaften in Österreich und Deutschland einerseits und Frankreich andererseits besitzen offensichtlich viele je spezifische Eigenheiten; so ist etwa von Psychologiehistorikern dargelegt worden, dass die Psychologie in Deutschland, England und Frankreich zwar etwa zur selben Zeit, nämlich Ende des 19. Jahrhunderts, eine institutionelle akademische Basis erhielt, dass sie aber in jedem dieser Länder ein ganz eigenes Gepräge besaß, was ihre Gegenstände und Methoden sowie ihre Einordnung innerhalb des universitären Fächerspektrums anging.23 Andererseits gab es in Philosophie und Wissenschaften um 1900 intensive Kommunikations- und Transferbeziehungen zwischen diesen Ländern; die französische Psychologie und Philosophie wurde auch im deutschsprachigen Raum rezipiert und vice versa. Die Untersuchung der psychologischen und philosophischen Erforschungen des Denkens um und nach 1900 zeigt denn auch, dass die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum und in Frankreich neben vielen Unterschieden auch grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen, allgemeinere Tendenzen, die sich in verschiedenen nationalen Kontexten gleichermaßen ausprägen. Im Einzelnen wird dies in Kapitel II zu zeigen sein; hier sei nur schon einmal knapp darauf hingewiesen, um welche Tendenzen es sich dabei in erster Linie handelt: Die Theorien der Evolutionsbiologie üben auf die deutschsprachige Psychologie ebenso wie auf die französische Psychologie einen immensen Einfluss aus, gerade auch auf die Erforschung und Konzeptualisierung des Denkens; Bestrebungen nach ‘naturalistischen’, physiologischen oder biologischen Erklärungen des Denkens finden sich in Deutschland wie in Frankreich, ebenso wie die Proteste gegen solche Ansätze. In beiden Ländern schließlich sind die Diskussionen über das Denken unter anderem durch Tendenzen der Vernunft- und Wissenschaftskritik oder des Anti-Intellektualismus geprägt. Kurz: Zwischen den Entwicklungen in Österreich und Deutschland einerseits und Frankreich andererseits scheint es mir so viele Durchlässigkeiten und Überlappungen zu geben, dass es legitim ist, sie als einen gemeinsamen Kontext zu betrachten, in dem sowohl die Reflexionen Musils als auch die Valérys situiert werden können. Mit den übergreifenden Gemeinsamkeiten ist eine Basis geschaffen, auf der ihre Konzeptionen sinnvoll miteinander verglichen werden können; die Besonderheiten der französischen und der _____________ 23
Vgl. Ash, Psychology, S. 252-262; Danziger, Constructing the subject, vor allem S. 17-67.
2. Einordnung in die literaturwissenschaftliche Moderneforschung
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deutschen Entwicklungen können und müssen dann innerhalb dieses Vergleichs berücksichtigt werden.
2. Einordnung in die literaturwissenschaftliche Moderneforschung Das Vorhaben dieser Untersuchung situiert sich im Schnittbereich zweier Gebiete der literaturwissenschaftlichen Moderneforschung: Indem sie Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens zu analysieren und zu kontextualisieren sucht, will sie einen Beitrag leisten zu der Erforschung der anthropologischen und psychologischen Konzepte und Theorien, die für die moderne Literatur charakteristisch sind; dabei wird hier im Einklang mit einer Reihe jüngerer Studien angenommen, dass diese Konzepte wesentlich in Auseinandersetzung mit Entwicklungen in der Wissenschaft entstanden sind.24 Mit der Analyse von Musils und Valérys Arten, Denken zu erzählen, knüpft die Arbeit an die Forschungen zur Entstehung spezifisch moderner Schreibweisen und zum Wandel literarischer Gattungen in der Moderne an.25 _____________ 24
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Wolfgang Riedel hat in einer Reihe von Publikationen die These entfaltet, dass für die moderne Literatur eine intensive Auseinandersetzung mit den „physiologisch-medizinischen, psychologischen und biologischen Naturwissenschaften vom Menschen“ konstitutiv sei; vgl. W. R., Literatur und Wissen. Thomas Mann: ‘Der Zauberberg’. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Bd. 238, Jg. 153 (2001), S. 1-18, Zitat S. 4. Vgl. auch: ders., Anthropologie et littérature à l’époque moderne. Le paradigme Schiller. In: Roland Krebs (Hg.), Friedrich Schiller. La modernité d’un classique. Paris 2004, S. 195-209, v.a. S. 201. Vgl. ferner: ders., ‘Homo Natura’. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin, New York 1996. Weitere Studien aus diesem Forschungszusammenhang: Horst Thomé, Autonomes Ich und ‘Inneres Ausland’. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993; Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. Vgl. zu diesen Studien und zu weiteren jüngeren Arbeiten mit ähnlichen Fragestellungen auch den Forschungsbericht von Walter Erhart: W. E., Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Scientia Poetica 1 (1997), S. 224-267. – Aus der Forschung zur französischen Literatur der Moderne vgl.: Edward Bizub, Proust et le moi divisé. La Recherche: creuset de la psychologie expérimentale (18741914). Genève 2006; Rudolf Behrens / Roland Galle (Hg.), Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman. Würzburg 1995. – Zu den Beziehungen zwischen Literatur und Wissenschaften um 1900 im Allgemeinen vgl.: Michael Titzmann, 1890–1930. Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaften. In: Karl Richter / Jörg Schönert / Michael Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 297-322; Christine Maillard / Michael Titzmann, Vorstellung eines Forschungsprojekts: ‘Literatur und Wissen(schaften) in der Frühen Moderne’. In: C. M. / M. T. (Hg.), Literatur und Wissen(schaften) 1890-1935. Stuttgart, Weimar 2002, S. 7-37. An jüngeren Arbeiten zu diesem Forschungsgebiet (mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen) wären etwa zu nennen: Tom Kindt, Unzuverlässiges Erzählen und literarische
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I. Einleitung
Zu den Grundzügen der literatur- und ideengeschichtlichen Entwicklungen in den Jahrzehnten um 1900 wird seit langem die Entstehung und Verbreitung verschiedener Formen der Vernunftkritik und Vernunftskepsis sowie des Anti-Intellektualismus und Irrationalismus gezählt.26 Prägend für diese Epoche waren demnach Lehren und Theorien, die überlieferte Vorstellungen vom vernünftigen und autonomen Subjekt infrage stellten, die Wahrheitsmächtigkeit des Intellekts anzweifelten oder die Vernunft als lebensfeindlich oder repressiv anprangerten. Diese Sicht auf die Epoche bestimmte auch die Perspektive, aus der Auffassungen vom Denken und vom Intellekt in der literaturwissenschaftlichen Moderneforschung besonders häufig betrachtet wurden. Das heißt, diese Begriffe gerieten vor allem dort in den Blick, wo literarische Artikulationen der Vernunftkritik, der Erkenntnisskepsis oder der Depotenzierung des Intellekts untersucht werden.27 Das Interesse richtet sich in dieser Perspektive vor allem darauf, _____________
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Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008; Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hg.), Essayismus um 1900. Heidelberg 2006; Horst Thomé, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 338380; Moritz Baßler [u.a.], Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs. Tübingen 1996. Eine ältere und insbesondere im englischsprachigen Raum einflussreiche Studie, die eine solche Sicht auf die Jahrzehnte um 1900 entworfen hat, ist: H. Stuart Hughes, Consciousness and Society. The Reorientation of European Social Thought 1890-1930. New York 1961 [zuerst 1958]. Zu dem Einfluss dieses Buchs und zu Weiterführungen und Modifikationen der darin entfalteten Darstellung in der angloamerikanischen Moderneforschung vgl.: Dorothy Ross, Modernism Reconsidered. In: D. R. (Hg.), Modernist Impulses in the Human Sciences 1870-1930. Baltimore, London 1994, S. 1-25, 309-311 (Anm.). – Zu Erkenntnisskepsis und Zweifeln am vernünftigen Subjekt speziell in der Literatur vgl.: Silvio Vietta / Hans Georg-Kemper, Expressionismus. 5., verbesserte Aufl. München 1994, S. 134-153; Stephen D. Dowden, Sympathy for the Abyss. A Study in the Novel of German Modernism: Kafka, Broch, Musil, and Thomas Mann. Tübingen 1986, S. 12-16. Zu erkenntnistheoretischen Konzepten in der Literatur der Moderne vgl. aber auch den folgenden Band, dessen Beiträge auch, aber keineswegs nur skeptische Positionen untersuchen: Christine Maillard (Hg.), Littérature et théorie de la connaissance 1890-1935. Literatur und Erkenntnistheorie 1890-1935. Strasbourg 2004. Riedel zufolge ist die Anthropologie, welche die moderne Literatur in der Auseinandersetzung mit den ‘Naturwissenschaften vom Menschen’ entwickelt habe, wesentlich durch die skeptische Infragestellung von ‘starken’ Vernunft- und Autonomiebegriffen gekennzeichnet; vgl. Riedel, Anthropologie et littérature, S. 198f.; ders., Art. ‘Literarische Anthropologie’. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band II: H–O. Hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 432-434, hier S. 434. Zur „Depotenzierung“ bzw. „Dezentrierung der Vernunft“ bei Schopenhauer und ihrem Einfluss auf die Literatur der Moderne vgl.: ders., ‘Homo Natura’; die Zitate ebd., S. 28, 41. – Zu Vernunft- und Wissenschaftskritik in der Literatur der Moderne: Walter Müller-Seidel, Wissenschaftskritik. Zur Entstehung der literarischen Moderne und zur Trennung der Kulturen um 1900. In: Jamme (Hg.), Grundlinien der Vernunftkritik, S. 355-420. Zu irrationalistischen Strömungen und den Reaktionen auf sie: Helmuth Kiesel, Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik. In: Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der eu-
2. Einordnung in die literaturwissenschaftliche Moderneforschung
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wie in den literarischen Texten das ‘Kräfteverhältnis’ zwischen dem Intellekt einerseits und den Trieben oder dem Körper andererseits entworfen wird oder wie die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Verstandesprodukte eingeschätzt werden. Dass die diversen Formen der Vernunftskepsis und Vernunftkritik für die Jahrzehnte um 1900 von grundlegender Bedeutung waren, ist unbestreitbar, und die Berechtigung der eben skizzierten Sicht auf die Epoche soll hier nicht angezweifelt werden. Aber innerhalb der Diskussionen über Denken und Intellekt im genannten Zeitraum bilden die Tendenzen der Skepsis und Depotenzierung gleichwohl nur eine Dimension, wie auch die Fragen nach dem Kräfteverhältnis zwischen Intellekt und Trieben oder nach der Wahrheitsmächtigkeit des Denkens jeweils nur eine Facette von Konzeptionen des Denkens erfassen. Indem die vorliegende Untersuchung den Begriff des Denkens ins Zentrum stellt und Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens miteinander vergleicht, will sie die oben angedeuteten Blickrichtungen um weitere Perspektiven ergänzen und auf Ebenen der Auseinandersetzung mit dem Denken aufmerksam machen, die bisher weniger beachtet wurden. Zwischen Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens, so wird sich zeigen, bestanden fundamentale Differenzen; aber diese Unterschiede betrafen nicht die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Denkens oder die Frage nach der Überlegenheit oder Unterlegenheit des Intellekts im Verhältnis zu den Trieben, sondern in erster Linie die Fragen, was überhaupt die paradigmatischen Leistungen des Denkens sind, was für Arten des Denkens es gibt und was den Wert des Denkens oder bestimmter Arten des Denkens ausmacht. Dies waren zugleich Fragen, die in den philosophischen und wissenschaftlichen Debatten um das Denken kontrovers diskutiert und auf vielfältige Weisen beantwortet wurden. Die Diskussionen darüber, was die spezifischen Leistungen des Denkens sind und was seinen Wert ausmacht, entwickelten sich großenteils als Auseinandersetzung mit einer biologischen Konzeption, der zufolge der Wert des Denkens in seinem Beitrag zur Selbsterhaltung bestehe. Diese Sichtweise fand in dem betrachteten Zeitraum immer mehr Anhänger, provozierte aber auch viele Gegenentwürfe, die den Wert und die Leistung des Denkens auf andere Weise bestimmten. Auch Musil und Valéry lehnten die Auffassung ab, dass das Denken allein im Dienste der Selbsterhaltung stehe; aber jenseits dieser Gemeinsamkeit gingen ihre Ansichten darüber, welche Leistungen oder Arten des Denkens besonders wertvoll seien, in sehr verschiedene Richtungen. Diese Unterschiede hingen eng mit den umfassenderen psychologischen Modellen und anthropo_____________ ropäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 497-521.
14
I. Einleitung
logischen Grundannahmen zusammen, an denen sie sich orientierten. Die vorliegende Untersuchung soll daher auch deutlich machen, wie die Konzeptionen des Denkens, die von Musil und Valéry sowie in Wissenschaften und Philosophie ihrer Zeit entworfen wurden, mit Begriffen des Mentalen, des Menschen und der Natur verwoben waren und auf welche unterschiedlichen Weisen diese allgemeinen Größen um und kurz nach 1900 entworfen wurden. Aber Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens sind auch noch in einer weiteren Hinsicht von Interesse. Beide Autoren haben, wie bereits erwähnt, in ihren literarischen Texten ausführlich Denkprozesse dargestellt; diese Repräsentationen von Denkvorgängen können hinsichtlich ihrer Formen und Schreibverfahren jeweils zu den spezifisch modernen oder jedenfalls innovativen Partien ihrer Werke gezählt werden. Das Eindringen diskursiver, reflektierender oder essayistischer Schreibweisen in den Roman gilt seit langem als eine der Tendenzen, die für die Entwicklung dieses Genres in der Moderne besonders charakteristisch sind,28 und Musils Der Mann ohne Eigenschaften wird regelmäßig als prototypisches Beispiel für den diskursiven oder essayistischen Roman genannt; die diskursiven oder essayistischen Partien dieses Romans nun bestehen zu einem beträchtlichen Teil aus Darstellungen von Denkprozessen der Figuren. Valéry hat unter anderem in seiner Erzählung La Soirée avec Monsieur Teste Denkvorgänge in Szene gesetzt, in einem Text mithin, der eine Skepsis gegenüber dem herkömmlichen Erzählen erkennen lässt, die oft als typischer Zug der Erzählliteratur der Moderne gilt.29 Außerdem hat er sich der Genres des Essays sowie der Kurzprosa und des Prosagedichts bedient, um Denkvorgänge darzustellen, und sein Gebrauch dieser Formen kann ebenfalls in vielen Fällen als ein eigenständiger oder spezifisch ‘moderner’ gelten; evident ist das etwa bei der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. Eine zentrale These dieser Studie lautet, dass die Schreibverfahren von Musils und Valérys literarischen Darstellungen von Denkprozessen durch _____________ 28
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Zum ‘diskursiven’ Roman: Christian Schärf, Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart [u.a.] 2001, S. 8-10; Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung. Stuttgart 1991, S. 182-200. Zum Essay und zum ‘essayistischen’ Roman vgl. auch: Dieter Bachmann, Essay und Essayismus. Stuttgart u.a. 1969. Das Durchbrechen der „Formimmanenz“ durch die „Reflexion“ galt schon Adorno als ein Merkmal des modernen Romans; vgl. Theodor W. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman [1954]. In: T. W. A., Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 2003, S. 4148, hier S. 45. Michel Raimond behandelt diesen Text in einem Kapitel mit der Überschrift „Le mépris du roman“ und bezeichnet ihn einmal als ‘anti-roman’; vgl. M. R., La Crise du Roman. Des lendemains du Naturalisme aux années vingt. 4e édition. Paris 1985, S. 77-79; für die Bezeichnung ‘anti-roman’ vgl. ebd., S. 533.
3. Theoretische Grundlagen, Methode, Aufbau
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ihre theoretischen Konzeptionen des Denkens geprägt oder bedingt waren, dass mithin diese Konzeptionen an der Konstitution dieser Schreibverfahren gleichsam mitgewirkt haben. Die Arbeit wird eine exemplarische Auswahl von literarischen Repräsentationen des Denkens bei Musil und Valéry eingehend analysieren und aufzuzeigen suchen, dass die Besonderheiten ihrer Formen und Strukturen, bis in Einzelheiten hinein, erhellend zu ihren Konzeptionen des Denkens in Beziehung gesetzt werden können.
3. Theoretische Grundlagen, Methode, Aufbau Diese Untersuchung will die Überzeugungen und Absichten einzelner Autoren rekonstruieren, sie in ihrem historischen Kontext verorten und ihre literarischen Verfahren zu ihren theoretischen Auffassungen in Beziehung setzen. Im Unterschied zu diskursgeschichtlich ausgerichteten Studien richtet sie den Fokus also nicht primär auf die Regelmäßigkeiten größerer Text- und Aussagemengen, sondern auf die sprachlichen Handlungen einzelner Akteure und auf die Intentionen und Überzeugungen, die in diesen Handlungen verwirklicht werden oder zum Ausdruck kommen. Dieses Erkenntnisinteresse kann als ein ideengeschichtliches bezeichnet werden, wobei ich den Ausdruck ‘Ideengeschichte’ im Sinne der jüngeren angloamerikanischen „history of ideas“ oder „intellectual history“ verstehe. Die theoretischen und methodologischen Grundlagen für historische Untersuchungen der skizzierten Art hat unter anderem Quentin Skinner ausgearbeitet,30 indem er etwa zentrale Begriffe wie ‘Intentionen’ expliziert31 und dargelegt hat, wie überlieferte sprachliche Äußerungen als in_____________ 30
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Die wichtigsten einschlägigen Arbeiten Skinners sind versammelt in dem Band: James Tully (Hg.), Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics. Princeton (N.J.) 1988. Für eine Darstellung von Skinners Ansatz und eine Verortung im Kontext anderer neuerer ideen-, begriffs- und diskursgeschichtlicher Ansätze vgl.: Günther Lottes, ‘The State of the Art’. Stand und Perspektiven der ‘intellectual history’. In: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Paderborn u.a. 1996, S. 27-45. Vgl. vor allem: Quentin Skinner, Motives, intentions and the interpretation of texts. In: Tully (Hg.), Meaning and Context, S. 68-78; ders., A reply to my critics. In: ebd., S. 231288, vor allem S. 263-285. Wichtig ist unter anderem Skinners Kritik an einer älteren, verbreiteten Auffassung über Intentionen, der zufolge Intentionen mentale Zustände oder Episoden und als solche wesentlich ‘privater’ Natur, ‘im Kopf’ des jeweils Sprechenden oder Schreibenden verborgen und unzugänglich sind. Dieser Auffassung liegt eine fragwürdige, letztlich cartesianisch-dualistische Konzeption des Mentalen zugrunde (vgl. ders., Motives, intentions and the interpretation of texts, S. 71). – Die Auseinandersetzung mit der Konzeption von Intentionen als privaten mentalen Einheiten spielte auch in der Literaturtheorie eine wichtige Rolle; vgl. etwa die knappe Zusammenfassung der Kritik an dieser Position bei: Noël Carroll, Art, Intention, and Conversation. In: Gary Iseminger (Hg.), Intention
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I. Einleitung
tentionale Handlungen analysiert werden können und welches Interesse Untersuchungen mit dieser Perspektive besitzen.32 Diesen theoretischen Klärungen Skinners, dessen Ansatz wesentlich von der Philosophie des späten Wittgenstein und der Sprechakttheorie beeinflusst ist, ist auch die vorliegende Studie verpflichtet.33 Damit sind die grundsätzlichen und allgemeinen theoretischen Grundannahmen und Orientierungen der vorliegenden Arbeit angedeutet. Die Zielsetzungen der Untersuchung werfen darüber hinaus aber auch einige speziellere theoretische und methodologische Fragen auf. Eine ihrer Hauptabsichten ist es, Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens sowie die allgemeineren psychologischen Überzeugungen oder Theorien, in die sie eingebettet sind, zu rekonstruieren. Bei solchen Analysen stellt sich prinzipiell die Frage, welches Vokabular zur Reformulierung und Explikation der psychologischen Theorien und Konzepte der historischen Akteure verwendet werden soll. Grob gesprochen, lassen sich hier zwei Optionen unterscheiden: Die Reformulierung kann sich der Begrifflichkeit eines bestimmten psychologischen Ansatzes bedienen, also etwa der Freud’schen oder Lacan’schen Psychoanalyse oder der Kognitionspsychologie, oder sie kann sich auf das Vokabular stützen, das in der Alltagssprache zum Reden über mentale Vorgänge und Zustände gebraucht wird. Die vorliegende Untersuchung wird dieses zweite Verfahren wählen. Die Gründe für den Rekurs auf das psychologische Vokabular der Alltagssprache haben mit den Besonderheiten der Untersuchungsgegenstände zu tun: Musils und Valérys psychologische und anthropologische Konzeptionen sind, wie sich zeigen wird, in beträchtlichem Maße idiosynkratischer und synkretistischer Natur. Beide Autoren haben Begriffe und Theorien oder Vorstellungen ganz unterschiedlicher Provenienz aufgegriffen, mehr oder weniger stark modifiziert und miteinander verknüpft; beide scheinen dabei auf je besondere Weise danach getrachtet zu haben, einerseits wissenschaftliche Konzepte aufzunehmen und in gewissem Sinne mit dem Entwicklungsgang der Wissenschaften ‘Schritt zu halten’, andererseits aber auch die Eigenständigkeit ihrer Überlegungen herauszustellen und sie von zeitgenössischen Theorien abzugrenzen. Der synkretistische und eigenwillige Charakter von Musils und Valérys Konzeptionen bringt es auch mit sich, dass verschiedene jüngere Theorien in ihnen affine Bestandteile ent-
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and Interpretation. Philadelphia 1992, S. 97-131, hier S. 100f.; vgl. auch: Colin Lyas, Wittgensteinian Intentions. In: Ebd., S. 132-151, vor allem S. 135-141. Vgl. etwa Skinners Antwort auf Kritiker, nach denen historische Untersuchungen, welche die Intentionen der Akteure freizulegen suchen, nur ‘antiquarisches’ Interesse besitzen: Skinner, A reply to my critics, S. 286f. Vgl. für eine jüngere, umfassende Klärung der zentralen Kategorien der Ideengeschichte, die sich unter anderem auf Wittgenstein und Donald Davidson stützt: Mark Bevir, The Logic of the History of Ideas. Cambridge 1999.
3. Theoretische Grundlagen, Methode, Aufbau
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decken und sie in ihre eigenen Terminologien übertragen könnten. Gerade deswegen aber erscheint es sinnvoll oder zumindest legitim, in der historischen Rekonstruktion diese Konzeptionen nicht durch die Wahl des Vokabulars einer speziellen psychologischen oder philosophischen Richtung ‘zuzuschlagen’, sondern zu versuchen, unter Verwendung einer alltagssprachlichen Ausdrucksweise die Inhalte und Prämissen dieser Konzeptionen verständlich zu machen und dabei auch ihre Eigentümlichkeiten erkennbar werden zu lassen.34 Die Analysen werden also bei der Explikation Musil’scher oder Valéry’scher Konzeptionen vor allem Ausdrücke wie ‘Überlegungen’, ‘Gefühle’, ‘Wünsche’ und ‘Bedürfnisse’ verwenden, und zwar jeweils im Sinne ihres normalsprachlichen Gebrauchs; wenn etwa der Ausdruck ‘unbewusst’ ohne zusätzliche Erläuterung benutzt wird, so ist nicht der psychoanalytische Begriff gemeint, sondern der alltagssprachliche, der ungefähr so viel bedeutet wie ‘nicht bewusst’.35 Methodologische Probleme ergeben sich ferner und besonders aus dem Vorhaben, die literarischen Darstellungen von Denkvorgängen bei Musil und Valéry zu untersuchen und zu ihren theoretischen Konzeptionen des Denkens in Beziehung zu setzen. Das Problem besteht darin, dass diese Untersuchungen nicht auf ein bewährtes Analyseinstrumentarium zurückgreifen können, von dem man voraussetzen könnte, dass es alle relevanten Merkmale dieser Darstellungen von Denkvorgängen erfasst. Die Narratologie hat zwar Kategorien zur Analyse von Bewusstseinsdarstellungen entwickelt; neben den einschlägigen Werken zur Erzähltextanalyse überhaupt, etwa den Schriften Genettes,36 ist hier vor allem Dorrit Cohns grundlegende Studie Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting _____________ 34
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Auch bei der Untersuchung der philosophischen und psychologischen Theorien des Denkens, die hier als Kontexte betrachtet werden sollen, scheint es mir sinnvoll, zur Reformulierung nicht die Begrifflichkeit einer speziellen Schule oder Richtung zu gebrauchen. Horst Thomé dagegen verwendet in seiner Untersuchung von tiefenpsychologischen und psychiatrischen Konzepten in Wissenschaften und Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausdrücklich die Freud’sche Psychoanalyse zur Reformulierung der Objektsprache der Quellen und begründet dies damit, dass Freud „mit seiner Theorie des Unbewußten die Bemühungen zumindest einer wichtigen Traditionslinie der anthropologischen Diskussion des 19. Jahrhunderts zum Abschluß gebracht“ habe (Thomé, Autonomes Ich, S. 7). Für die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Theorien des Denkens lässt sich aber nichts Vergleichbares behaupten: Sie gehören verschiedenen Traditionslinien an und wurden im späteren 20. Jahrhundert auch in unterschiedlichen Disziplinen oder philosophischen Richtungen weitergeführt. Es ist umstritten, inwiefern das psychologische Vokabular der Alltagssprache selbst ‘theoriegeladen’ ist und in welchem Verhältnis es zu Konzepten der wissenschaftlichen Psychologie steht. Die hier vorgelegte Begründung für den Rekurs auf dieses Vokabular scheint mir aber unabhängig davon zu sein, wie man zu dieser Frage Stellung bezieht. Vgl. vor allem: Gérard Genette, Discours du récit. essai de méthode. In: G. G., Figures III. Paris 1972, S. 65-282; zur Darstellung von Bewusstseinsvorgängen v.a. S. 191-199.
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I. Einleitung
Consciousness in Fiction zu nennen.37 Diese narratologischen Kategorien werden auch in dieser Arbeit herangezogen. Doch mit ihnen lassen sich nur einige und nicht unbedingt die wichtigsten Aspekte der Darstellungen von Denkvorgängen erfassen: Die Kategorie der Fokalisierung und Begriffe wie ‘Bewusstseinsbericht’ oder ‘erlebte Rede’ beziehen sich, grob gesagt, auf die Perspektive und die Distanz, aus der ein mentaler Vorgang, etwa ein Denkvorgang, präsentiert wird; was sich mit ihnen nicht beschreiben lässt, ist die innere Struktur dieser mentalen Vorgänge, also etwa die inhaltlichen Beziehungen zwischen den Abschnitten eines Denkvorgangs. Gerade diese Aspekte sind aber im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung von zentralem Interesse; um zu klären, welche Leistung ein dargestellter Denkvorgang vollbringt und welche Auffassung vom Denken dieser Darstellung somit zugrunde liegt, müssen auch und gerade die Inhalte dieses Denkvorgangs sowie die Art ihrer Entfaltung berücksichtigt werden. Die Untersuchung der erzählten Denkvorgänge wird also eine Reihe unterschiedlicher Analysekategorien verwenden, die im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung der Arbeit als relevant erscheinen und gewissermaßen ad hoc für die Zwecke dieser Untersuchung zusammengestellt werden. Der Begriff des Denkens, dessen genauere theoretische Ausdeutung bei Musil und Valéry hier untersucht werden soll, bezeichnet prinzipiell einen psychischen Vorgang oder eine psychische Tätigkeit, in dem bzw. in der sich der Verstand oder Intellekt manifestiert. Die Analyse der erzählten Denkvorgänge wird daher unter anderem darauf achten, wie das Denken als psychischer Vorgang präsentiert wird, wie also etwa das Zusammenspiel von Gedanken, sinnlicher Wahrnehmung und Gefühlen oder die Einwirkung des räumlichen und zeitlichen Kontextes auf einen Denkvorgang gestaltet werden. Denkvorgänge haben außerdem, zumindest einem gängigen Vorverständnis nach, immer einen Inhalt oder ein Thema; man denkt immer über etwas nach. Die Untersuchungen werden also auch nach dem Thema der Denkprozesse zu fragen haben sowie danach, wie eine denkende Figur – etwa im Mann ohne Eigenschaften – dazu kommt, über ein bestimmtes Thema nachzudenken. Die inhaltlichen Merkmale der Denkvorgänge können unter anderem mit der in der Philosophie gebräuchlichen Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Überlegungen beschrieben werden: Theoretische Überlegungen gelten Fragen danach, was der Fall ist oder wie sich etwas verhält, prakti-
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Vgl. Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton, N.J. 1978.
3. Theoretische Grundlagen, Methode, Aufbau
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sche Überlegungen dagegen kreisen um Fragen des Typs ‘Was soll ich tun?’.38 Die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Überlegungen liefert allerdings nur eine eher grobe Charakterisierung von Denkvorgängen. Um differenziertere Beschreibungen zu erreichen, werden die Analysen darüber hinaus auf Kategorien der linguistischen Pragmatik und der Textlinguistik rekurrieren, insbesondere auf den Begriff der sprachlichen Handlung und auf die Kategorie der Themenentfaltung oder des Vertextungsmusters, die auf semantische und thematische Beziehungen zwischen Textteilen zielt. Mit einer mittlerweile recht gängigen Klassifikation unterscheidet man hier zwischen deskriptiven, narrativen, erklärenden (explikativen) und argumentativen Vertextungsmustern bzw. Formen der Themenentfaltung.39 Insbesondere die Unterscheidung zwischen erklärenden und argumentativen Textstrukturen wird sich in den Analysen als hilfreich erweisen. Da die Begriffe ‘Argumentation’ und ‘Erklärung’ nicht einheitlich verwendet werden und insbesondere über ihre Abgrenzung voneinander kein Konsens besteht, sei hier erläutert, was in der vorliegenden Arbeit unter Argumentationen und Erklärungen verstanden wird.40 _____________ 38 39
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Vgl. Holmer Steinfath, Orientierung am Guten. Praktisches Überlegen und die Konstitution von Personen. Frankfurt/M. 2001, S. 14f. Die Kategorie der „Themenentfaltung“ bzw. der „Grundformen thematischer Entfaltung“ hat Klaus Brinker eingeführt; vgl. K. B., Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 4., durchges. und erg. Aufl. Berlin 1997; zu dem Begriff der thematischen Entfaltung vgl. ebd., S. 60-63; zu den Grundformen thematischer Entfaltung (deskriptiv, narrativ, explikativ, argumentativ) vgl. ebd., S. 63-80. Unter explikativ verfahrenden Texten versteht Brinker erklärende Texte (vgl. ebd., S. 63); ich werde für diese Art von Texten den Ausdruck ‘erklärend’ anstelle von ‘explikativ’ verwenden, um Verwechslungen mit der Explikation als einem Typ der Worterklärung oder Definition vorzubeugen. Brinkers Klassifikation hat mittlerweile Eingang in die Duden-Grammatik gefunden; vgl.: Duden, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Hg. von der Dudenredaktion. Bearb. von Peter Eisenberg u.a. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim u.a. 1998, S. 836-839. Die Kategorie des „Vertextungsmusters“ wird im HSK-Band zur Textlinguistik verwendet, der zwischen den Vertextungsmustern der Narration, Explikation und Argumentation unterscheidet; vgl.: Elisabeth Gülich / Heiko Hausendorf, Vertextungsmuster Narration. In: Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation. Hg. von Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann, Sven F. Sager. 1. Halbband. Berlin, New York 2000 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 16.1), S. 369-385; Silke Jahr, Vertextungsmuster Explikation. In: Ebd., S. 385-397; Ekkehard Eggs, Vertextungsmuster Argumentation: Logische Grundlagen. In: Ebd., S. 397-414. Die folgende Abgrenzung von Argumentation und Erklärung orientiert sich vor allem an: Werner Sökeland, Erklärungen und Argumentationen in wissenschaftlicher Kommunikation. In: Theo Bungarten (Hg.), Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München 1981, S. 261-293. – Zu erklärenden Texten außerdem hilfreich: Wolfgang Settekorn, Konversationelle Erklärungen. Zur Beziehung von Erklärungsbegriffen in wissenschaftstheoretischen und konversationsanalytischen Überlegungen. In: Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft (Hg.), Linguistische Interaktionsanalysen. Tübingen 1991, S. 235-262. – Ein weiterer Begriff von
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I. Einleitung
Als Argumentation wird eine Sprachhandlung bezeichnet, die eine strittige These bzw. eine Behauptung stützen oder angreifen soll; eine These zu stützen heißt, Gründe für sie anzuführen. Wo in dieser Arbeit von Begründungen die Rede ist, sind also Teile von argumentativen Sprachhandlungen gemeint. Ekkehard Eggs hat eine Unterscheidung zwischen drei Arten von Argumentationen vorgeschlagen: Epistemische Argumentationen präsentieren Gründe für Thesen des Typs ‘T ist der Fall’, deontische Argumentationen stützen Thesen der Form ‘wir sollten T tun’, und ethisch-ästhetische Argumentationen gelten Thesen wie ‘X ist gut/schön’.41 Unter Erklärungen werden hier dagegen Sprachhandlungen verstanden, in denen ein Sachverhalt oder Ereignis als tatsächlich vorausgesetzt wird und seine Ursachen oder Bedingungen angegeben werden.42 Verkürzt ausgedrückt: Argumentativ begründet werden Behauptungen; erklärt werden Sachverhalte.43 – Die Unterscheidung zwischen erzählenden, beschreibenden, erklärenden und argumentativen Sprachhandlungen ist zugegebenermaßen sehr grobkörnig, aber sie bietet immerhin etwas mehr Trennschärfe als etwa die bloße Differenzierung zwischen narrativen und ‘diskursiven’ Textteilen. Zum Aufbau der Arbeit: Kapitel II wird zunächst den ideengeschichtlichen Kontext vorstellen, in dem Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens verortet werden sollen, also die Entwicklung der wissenschaftlichen und philosophischen Forschungen über das Denken zwischen etwa 1890 und 1940; diese Entwicklung kann selbstverständlich nur in Grundzügen nachgezeichnet werden, und die Darstellung wird sich in Auswahl und Akzentsetzung bereits daran orientieren, welche Ansätze für Musil und Valéry besonders wichtig waren. Es mag unbefriedigend wirken, dass diese wissenschaftlichen und philosophischen Konzepte zunächst so ausführlich separat präsentiert werden, bevor in den Ausführungen zu Musil und Valéry ihre Relevanz für diese Autoren aufgezeigt wird. Aber es geht der folgenden Untersuchung auch darum, einige Hauptlinien der wissenschaftlichen Diskussionen im Zusammenhang darzustellen und die einzelnen Traditionen, Ansätze und Theorien, auf die sich Musil und Valéry _____________
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‘Erklärungstext’, der auch begründende und rechtfertigende Äußerungen umfasst, wird verwendet bei: Ewald Lang, Erklärungstexte. In: František Daneš / Dieter Viehweger (Hg.), Probleme der Textgrammatik. Berlin 1976, S. 147-181. Vgl. Eggs, Vertextungsmuster Argumentation, S. 398f.; ders., Grammaire du discours argumentatif. Paris 1994, S. 14-17. Vgl. Sökeland, Erklärungen und Argumentationen, S. 267-280, vor allem S. 267-269, 274f. Es versteht sich, dass dies eine sehr schematische und vereinfachende Auffassung von Erklärungen ist, die der Vielfalt und Komplexität empirisch vorkommender Erklärungshandlungen nicht gerecht wird; hier ging es aber vor allem um eine klare Abgrenzung zwischen Argumentationen und Erklärungen. Vgl. ebd., S. 275.
3. Theoretische Grundlagen, Methode, Aufbau
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bezogen, in dieser Gesamtentwicklung zu situieren. Die Alternative wäre daher gewesen, die Ausführungen zu den Autoren und literarischen Texten häufig durch längere Exkurse über wissenschaftliche Theorien zu unterbrechen; demgegenüber dürfte das hier gewählte Vorgehen das übersichtlichere und letztlich auch ökonomischere sein. – Es folgen je ein ausführliches Kapitel über Musil und Valéry; beide Kapitel sind systematisch untergliedert, und zwar in paralleler Weise: Das erste Teilkapitel untersucht jeweils die theoretische Konzeption des Denkens und ihre Beziehung zu dem ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext; ein zweites, kürzeres Teilkapitel widmet sich programmatischen und poetologischen Aussagen über die Darstellung des Denkens in literarischen Texten, also Äußerungen Musils bzw. Valérys, die die Fragen betreffen, weshalb und auf welche Weise in literarischen Texten Denkvorgänge dargestellt werden können oder sollten; das dritte Teilkapitel enthält jeweils eingehende Analysen erzählter Denkvorgänge. Nachdem somit für jeden der zwei Autoren die theoretischen Konzeptionen, die programmatischen Absichten und die literarischen Darstellungsweisen sowie die Beziehungen zwischen diesen Ebenen untersucht worden sind, wird ein weiteres Kapitel Musils und Valérys Ideen und Schreibweisen direkt miteinander vergleichen, die Parallelen und vor allem die Unterschiede herausstellen und einer vertiefenden Analyse unterziehen; der kurze Schlussabschnitt dieses Kapitels wird außerdem Musil und Valéry im Verhältnis zu anderen Autoren der klassischen Moderne verorten, die dem Begriff des Denkens eine wichtige Stellung in ihrer Poetik eingeräumt und in ihren Texten Denkprozesse dargestellt haben.
II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie zwischen 1890 und 1940 1. Vorbemerkungen In diesem Kapitel werden die philosophischen und wissenschaftlichen Diskussionen über das Denken zwischen etwa 1890 und 1940 nachgezeichnet, die der Ausgangshypothese dieser Arbeit zufolge als Kontext von Musils und Valérys Auseinandersetzung mit dem Denken betrachtet werden können. Die folgende Darstellung hat nicht den Anspruch, alle Stränge der philosophischen und wissenschaftlichen1 Erörterungen des Denkens in dem genannten Zeitraum zu erfassen; sie ist von vornherein auf die Fragestellung der gesamten Untersuchung zugeschnitten, konzentriert sich also vornehmlich auf jene Diskussionen, Forschungsrichtungen und Autoren, die für Musil und Valéry relevant waren. Diese Perspektivierung auf Musil und Valéry hat unter anderem zur Folge, dass die soziologischen Ansätze zur Erforschung des Denkens, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entworfen wurden (etwa von Ludwik Fleck und Karl Mannheim2), nicht in den Blick genommen werden, da sie von den zwei Autoren gar nicht wahrgenommen wurden oder für ihre eigenen theoretischen Konzepte nur von geringer Relevanz waren;3 dasselbe gilt _____________ 1
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Der Ausdruck ‘Wissenschaften’ dient in dieser Arbeit als Sammelbezeichnung für die Fächer oder Disziplinen, die im Untersuchungszeitraum als Wissenschaften galten; ein solcher „historisch-pragmatischer Begriff von ‘Wissenschaft’“ wird ebenfalls vorausgesetzt und näher erläutert bei: Karl Richter / Jörg Schönert / Michael Titzmann, Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: K. R. / J. S. / M. T. (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, S. 9-36, Zitat S. 11. Die Redeweise ‘Wissenschaften und Philosophie’ soll dem Umstand Rechnung tragen, dass mit Nietzsche auch ein Vertreter der außerakademischen Philosophie behandelt wird, der seine Philosophie nicht als Wissenschaft verstanden haben dürfte. Generell war es in dem untersuchten Zeitraum umstritten, ob die Philosophie oder eine bestimmte Art von Philosophie eine Wissenschaft sei oder sein sollte. Außerdem hat der deutsche Begriff ‘Wissenschaften’, der gegebenenfalls die Philosophie einschließen kann, im Französischen keine Entsprechung. Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit mehreren Abbildungen. Basel 1935; Karl Mannheim, Art. ‘Wissenssoziologie’. In: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1931, S. 659-680. Eine Ausnahme bildet natürlich Lucien Lévy-Bruhls Studie Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, die Musil bekanntlich rezipiert hat und auf die er in dem Essay „Ansätze
1. Vorbemerkungen
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für die philosophischen Richtungen des Neukantianismus und des Idealismus. Die Autoren oder theoretischen Ansätze hingegen, mit denen sich Musil oder Valéry auseinandergesetzt haben, werden im Folgenden nicht isoliert vorgestellt, sondern in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verortet und in längerfristige Entwicklungen eingeordnet. Die Ausführungen sollen nicht nur die speziellen Inhalte einzelner Theorien des Denkens charakterisieren, sondern auch und vor allem größere Konturen der Diskussionen, zentrale Streitfragen und allgemeine Prämissen verdeutlichen. Es ist sinnvoll, vor dem Einstieg in die historische Diskussion noch einen Blick auf den Begriff ‘Denken’ im Allgemeinen zu werfen und sich einige generelle Grundzüge von Theorien des Denkens bewusst zu machen, die sich aus den Besonderheiten dieses Begriffs ergeben.4 Der Begriff ‘Denken’ besitzt, etwas lose ausgedrückt, eine deskriptive und eine evaluative Komponente: Er bezeichnet eine Art von mentalen Vorgängen oder mentalen Tätigkeiten, die gegenüber anderen mentalen Vorgängen oder Tätigkeiten auf bestimmte Weise ausgezeichnet werden. Der evaluative Aspekt des Begriffs tritt deutlich zutage in einigen Ausdrücken, mit denen seine allgemeine Bedeutung umschrieben wird, so vor allem in der Rede von ‘höheren geistigen Prozessen’ oder ‘höheren kognitiven Funktionen’.5 Was das Denken zu einer höheren oder wertvollen Tätigkeit macht, sind – ganz allgemein gesprochen – die Produkte oder Resultate dieser Tätigkeit. Der Anspruch von psychologischen oder philosophischen Theorien des Denkens nun zielt meist darauf, zu beschreiben oder zu erklären, wie mentale Prozesse einer bestimmten Art diese wertvollen Produkte oder Resultate hervorbringen. Dieser grundlegende Anspruch von _____________
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zu neuer Ästhetik“ zustimmend hinweist (vgl. Robert Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: GW 8, S. 1137-1154, hier S. 1141). Aber gerade seine Bemerkungen in diesem Aufsatz deuten darauf hin, dass ihn an LévyBruhls Arbeit nicht primär die soziologische Dimension, also der Nachweis einer gesellschaftlichen Prägung des Denkens, interessierte; ihm ging es eher um die anthropologischen Implikationen von Lévy-Bruhls Erkenntnissen, also um Indizien für die Existenz eines in der menschlichen Natur verankerten Grunderlebnisses, das sich sowohl in der ‘partizipierenden’ Denkweise der ‘Naturvölker’ als auch in der Erfahrung von Kunst ausprägt. Auf diese anthropologische Komponente von Lévy-Bruhls Untersuchung wird unten knapp eingegangen (in dem Abschnitt zu Bergson). Zum alltagssprachlichen Begriff ‘Denken’ und seinem Verhältnis zu philosophischen und psychologischen Theorien des Denkens vgl.: Bennett / Hacker, Philosophical Foundations, S. 175-180; P. M. S. Hacker, Thinking: methodological muddles and categorial confusions. In: P. M. S. H., Wittgenstein. Meaning and Mind. Part I: Essays. Oxford (UK), Cambridge (USA) 1993, S. 143-160; Peter Bieri, Die Idee einer denkenden Maschine. In: Norbert Oellers (Hg.), Neue Technologien und Medien in Germanistik und Deutschunterricht. Tübingen 1988, S. 3-15. Vgl. etwa: J[ürgen] M[ittelstraß], Art. ‘Denken’. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 1: A–G. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Mannheim u.a. 1980, S. 449f., hier S. 449.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
Theorien des Denkens wird auf prägnante Weise formuliert in dem folgenden Satz, der sich in der Einleitung eines einschlägigen Werks über Theorien des Denkens von Aristoteles bis zur Gestaltpsychologie findet: Any theory of thought constructs a theory of the structure of mind, of the transformations that give rise to creative, rational, contemplative products.6
Das Denken wird als eine mentale Tätigkeit aufgefasst, deren Produkte sich durch Eigenschaften wie „creative“ oder „rational“ auszeichnen; Theorien des Denkens suchen die Genese dieser Produkte zu erklären, indem sie auf der Grundlage einer Theorie des Geistes („a theory of the structure of mind“) die spezifischen Prozesse, Mechanismen oder ‘Transformationen’ („transformations“) beschreiben, die diese Produkte hervorbringen.7 Diese Theorien müssen also stets eine Brücke schlagen zwischen einer Konzeption des Geistes oder der mentalen Vorgänge überhaupt und bestimmten Annahmen über das Wesen von Denkprodukten, also letztlich darüber, was rationale oder kreative Leistungen sind. Verschiedene Theorien des Denkens unterscheiden sich nicht nur in ihren Auffassungen von der ‘Struktur des Geistes’ und von den spezifischen Mechanismen des Denkens, sondern auch in ihren Annahmen darüber, wie die Produkte des Denkens beschaffen sind, was also die besonderen Qualitäten dieser Produkte – ihren ‘kreativen’, ‘rationalen’ oder ‘kontemplativen’ Charakter – ausmacht. Für Ernst Mach bestanden die Produkte von Denkvorgängen in einer Anpassung der Gedanken an die Tatsachen, und dieses Verhältnis der Entsprechung zwischen Gedanken und Tatsachen sowie der daraus folgende ‘ökonomische’ Nutzen machten für ihn den Wert der Denkprodukte aus. Nach Wilhelm Wundt dagegen zeichneten sich Denkvorgänge dadurch aus, dass sie aus einer Vielzahl von Vorstellungen einige auswählen, sie zusammenfassen, gliedern und in eine logische und syntaktische Ordnung bringen.8 Diese divergierenden Konzeptionen der Denkprodukte beruhten offenkundig auf unterschiedlichen Begriffen von Rationalität und waren außerdem mit verschiedenartigen Auffassungen von der Struktur mentaler Vorgänge überhaupt verbunden. Man kann nicht voraussetzen, dass die Auffassungen über mentale Vorgänge überhaupt, über die für Denkvorgänge charakteristischen mentalen ‘Transformationen’ sowie über die Eigenschaften der Denkprodukte sich in allen Theorien des Denkens klar voneinander trennen lassen. Aber _____________ 6 7
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Jean Matter Mandler / George Mandler, Introduction. In: J. M. M. / G. M. (Hg.), Thinking: From Association to Gestalt. New York u.a. 1964, S. 1-6, hier S. 4. Vgl. auch die Kritik an dem Aufbau traditioneller philosophischer und psychologischer Theorien des Denkens bei: Gilbert Ryle, The Concept of Mind. With an Introduction by Daniel C. Dennett. London 2000 [zuerst 1949], S. 264-300 („Chapter IX: The Intellect“). Auf Machs und Wundts Theorien des Denkens wird unten näher eingegangen.
2. Die Vorgeschichte: Traditionelle Theorien des Denkens
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die Unterscheidung zwischen diesen Ebenen von Theorien des Denkens ist in heuristischer Hinsicht dennoch nützlich und wird daher in diesem Kapitel mehrfach herangezogen werden. Mit ihrer Hilfe lassen sich in vielen Fällen die Differenzen zwischen verschiedenen Theorien des Denkens und die zentralen Streitfragen bestimmter Debatten klarer lokalisieren: So wird zu sehen sein, dass die Erforschung des Denkens in der Psychologie zu einem großen Teil um die Frage kreiste, wie die dem Denken zugrunde liegenden mentalen „transformations“ oder Mechanismen zu beschreiben sind, während bestimmte Annahmen darüber, wie typische Produkte des Denkens aussehen und was ihre Besonderheit und ihren Wert ausmacht, in diesen Diskussionen als selbstverständlich vorausgesetzt wurden; in manchen Fällen aber brachte eine neue Konzeption der grundlegenden Mechanismen des Denkens auch eine neue Charakterisierung der Denkprodukte mit sich, ohne dass diese Verschiebung – und damit das veränderte Verständnis von ‘rational’ oder ‘kreativ’ – explizit gemacht und thematisiert wurde. Auf der anderen Seite entzündeten sich manche Debatten etwa in der Philosophie ausdrücklich an der Frage, was den Wert des Denkens und seiner Produkte ausmachte, wie also die Produkte oder Ergebnisse des Denkens adäquat zu charakterisieren waren.
2. Die Vorgeschichte: Traditionelle Theorien des Denkens In diesem Unterkapitel sind die theoretischen Voraussetzungen zu skizzieren, vor deren Hintergrund sich die Diskussionen über das Denken im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelten. Diese Diskussionen sind zunächst geprägt durch zwei Basiskonzeptionen, deren Geschichte jeweils bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Die eine Konzeption betrachtet das Denken als eine bestimmten Gesetzen unterliegende Sukzession von Vorstellungen, also von Kopien von Sinneseindrücken; diese Konzeption wurde vor allem im Rahmen der sogenannten Assoziationstheorie entwickelt.9 Die andere stammt aus der neuzeitlichen Logik und betrachtet das Denken als eine mentale Tätigkeit des Urteilens und Schlussfolgerns.10 _____________ 9
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Zur Assoziationslehre als der noch im späten 19. Jahrhundert dominanten Theorie des Denkens vgl.: Gerd Lüer, Geburt eines neuen Mentalismus: Psychologische Erforschung des menschlichen Denkens. In: Ulrich Mölk (Hg.), Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900. Göttingen 1999, S. 205-226, hierzu S. 207-209; Carl Friedrich Graumann, Erster Teil: Denken und Denkpsychologie. In: C. F. G. (Hg.), Denken. Köln, Berlin 1965, S. 13-43, hierzu S. 23f.; George Humphrey, Thinking. An Introduction to its Experimental Psychology. New York 1963, S. 67. Auch der Gestaltpsychologe Max Wertheimer präsentiert in seinem Buch über produktives Denken die Theorien des Denkens, die aus der traditionellen Logik und aus dem Assoziationismus stammen, als die zwei großen traditionellen Ansätze der Denkforschung; vgl.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
Diese zwei Theorien waren keine Rivalen, die sich gegenseitig ausgeschlossen hätten, sondern wurden von verschiedenen Autoren miteinander verbunden. Beide traditionelle Konzeptionen wurden in den Jahren um und nach 1900 grundsätzlich infrage gestellt, verworfen oder zumindest grundlegend modifiziert: In der Psychologie verabschiedete man sich schließlich von dem Konzept der Assoziation; in der philosophischen Logik wurde der ‘Psychologismus’ von verschiedenen Seiten einer massiven Kritik unterzogen und nach kontroversen Debatten von der Mehrheit der Philosophen als eine überwundene Position angesehen. Im Folgenden sollen die Grundzüge und die Geschichte dieser zwei traditionellen Konzeptionen des Denkens kurz skizziert werden. Darüber hinaus ist auf eine jüngere, im 19. Jahrhundert entwickelte theoretische Innovation einzugehen, die für die Diskussionen über das Denken um 1900 von eminenter Bedeutung war: die biologische Evolutionslehre und ihre Einführung in die Psychologie durch Herbert Spencer. 2.1. Die Assoziationstheorie Die Anfänge der Assoziationstheorie liegen in der Philosophie des englischen Empirismus.11 Wichtige Ansätze zu dieser Theorie finden sich bei David Hume; als ihr eigentlicher Begründer gilt David Hartley, der den Begriff der Assoziation zum Zentrum einer umfassenden Theorie der mentalen Prozesse machte und so der Lehre von der „Association of Ideas“ erstmals eine systematische Form gab.12 Im 19. Jahrhundert war es _____________ 11
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Max Wertheimer, Produktives Denken. Übersetzt von Wolfgang Metzger. Frankfurt/M. 1957 [amer. Orig. 1945 unter dem Titel „Productive Thinking“], S. 5-13. Zur Geschichte der Assoziationstheorie vgl.: Robert M. Young, Art. ‘Association of Ideas’. In: Philip P. Wiener (Hg.), Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas. Vol. I. New York 1973, S. 111-118; Edwin G. Boring, A History of Experimental Psychology. Second edition. New York 1950, S. 179-202, 219-245. In der Psychologiegeschichte sind häufig auch Hobbes und Locke und sogar Aristoteles als Mitbegründer, Vorläufer oder frühe Vertreter der Assoziationslehre bezeichnet worden; in einer Anthologie mit Texten zur Denkpsychologie etwa werden Passagen von Aristoteles, Hobbes und Locke in dem Kapitel „Early Associationism: The Philosophers“ aufgeführt; vgl. Mandler / Mandler (Hg.), Thinking: From Association to Gestalt, S. 7-69. Kurt Danziger hat eine überzeugende Kritik an dieser Auffassung formuliert und dabei auch die problematischen theoretischen Annahmen über das Wesen psychologischer Begriffe aufgedeckt, auf denen solche Zuordnungen beruhen; vgl. Kurt Danziger, Generative metaphor and the history of psychological discourse. In: David E. Leary (Hg.), Metaphors in the history of psychology. Cambridge 1990, S. 331-356, hier S. 339-344. Zunächst sei schlicht darauf hinzuweisen, dass Aristoteles und Hobbes den Begriff der Ideenassoziation nicht verwenden und dass Locke ihn nur am Rande benutzt, und zwar zur Bezeichnung von unnatürlich zustande gekommenen mentalen Verbindungen (vgl. ebd., S. 339). Danziger vertritt ferner die These, dass die Assoziationstheorie auf einer „generative metaphor“ beruh-
2. Die Vorgeschichte: Traditionelle Theorien des Denkens
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James Mill, der die Assoziationslehre wiederbelebte und in besonders konsequenter Weise entfaltete; sein Werk gilt häufig als Kulminationspunkt der klassischen Assoziationstheorie.13 Die Grundgedanken der Assoziationstheorie, die sich unbeschadet diverser Abweichungen in Einzelheiten bei den Hauptvertretern dieser Theorie in weitgehend konstanter Form wiederfinden, lassen sich wie folgt zusammenfassen:14 Mentale Vorgänge sind eine Aufeinanderfolge von Entitäten, deren einfachste Bestandteile in zwei Klassen eingeteilt werden können. Diese zwei Hauptarten mentaler Einheiten wurden in der englischen Psychologie meist als „sensations“ und „ideas“, in der französischen als „sensations“ und „idées“, in der deutschen als „Empfindungen“ und „Vorstellungen“ bezeichnet. Empfindungen sind aktuelle Wahrnehmungsinhalte oder Sinneseindrücke, Vorstellungen sind die im Gedächtnis gespeicherten ‘Kopien’ der Empfindungen. Zwischen den im Gedächtnis bewahrten Vorstellungen bestehen Verbindungen (Assoziationen), die auf verschiedenen Beziehungen beruhen. Über die Art dieser Beziehungen gab es divergierende Auffassungen: Hume unterschied zwischen drei Prinzipien der assoziativen Vorstellungsverknüpfung, nämlich Ähnlichkeit, raumzeitliche Berührung (Kontiguität) sowie Ursache oder Wirkung;15 James Mill zufolge ließen sich diese drei Prinzipien auf ein einziges zurückführen, das der Kontiguität. Aber wie auch immer diese Assoziationsprinzipien im Detail konzipiert wurden, der entscheidende Grundgedanke der Theorie jedenfalls besagte, dass es die assoziativen Verbindungen zwischen Empfindungen und Vorstellungen sind, die den Ablauf mentaler Vorgänge determinieren: Eine Empfindung oder Vorstellung, die sich im Bewusstsein präsentiert, ruft eine oder mehrere assoziativ mit ihr verknüpfte Vorstellungen hervor und ins Bewusstsein. Auch komplexe mentale Vorgänge, etwa logisches Schlussfolgern, Abstrahieren und Klassifizieren, lassen sich der Assoziationslehre zufolge als komplizierte Ausprägungen dieses elementaren Prozesses begreifen. _____________
13 14 15
te, der „metaphor of aggregation“. Diese Basismetapher legt fest, dass alle psychologischen Phänomene aus Elementen zusammengesetzt sind, deren Identität invariabel und unabhängig von ihrer Einordnung in komplexe Strukturen ist. Wo die Metapher des Aggregats fehle, könne man nicht sinnvoll von einer Assoziationstheorie sprechen (vgl. ebd., S. 343f.). Vgl. Richard Lowry, The Evolution of Psychological Theory. 1650 to the present. Chicago, New York 1971, S. 31-37. Ich orientiere mich im Folgenden an den in den vorigen Fußnoten genannten Darstellungen von Young, Boring, Danziger und Lowry. Vgl. David Hume, An Enquiry concerning Human Understanding. In: D. H., Enquiries concerning the human understanding and concerning the principles of morals. Reprinted from the posthumous edition of 1777 and edited [...] by L. A. Selby-Bigge. Second edition. Oxford 1955, S. 24.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
Einige wichtige Aspekte dieser Theorie seien noch einzeln hervorgehoben. Erstens: Die Assoziationslehre ist eine Theorie, die mit der Absicht entworfen wurde, Methoden und Begriffe, die aus der Erforschung der physischen Natur stammten, auf die Untersuchung der menschlichen Psyche zu übertragen. Diese Ausrichtung manifestiert sich bereits in dem Bestreben, das Wesen der mentalen Vorgänge dadurch zu erfassen, dass man ihre elementaren Bestandteile sowie die Art ihrer Verbindung und ihres Zusammenwirkens bestimmt;16 vor allem aber zeigt sie sich in der Art und Weise, wie die elementaren Bestandteile und ihre Verbindung konzipiert werden. Humes und Hartleys Theorien sind beide geleitet von der Annahme, dass die psychischen Vorgänge in Analogie zu physikalischen Vorgängen, wie die Newtonsche Mechanik sie beschreibt, verstanden werden können; die Ideen mit ihren assoziativen Verbindungen werden als vergleichbar mit materiellen Körpern und den zwischen ihnen wirkenden Anziehungskräften dargestellt.17 Zweitens: Was in der Sicht der Assoziationstheorie also den Verlauf von Denkvorgängen steuerte, waren die einzelnen Ideen und ihre assoziativen Verknüpfungen, nicht der denkende Mensch. Hume begreift diese Beziehungen zwischen den Ideen, wie bereits angedeutet, nach dem Vorbild mechanischer Kräfte wie den Gravitationskräften. Spätere Vertreter der Assoziationstheorie haben diese mechanistische Sichtweise eingeschränkt, indem sie Funktionen wie die Aufmerksamkeit eingeführt haben, die hemmend oder fördernd auf die assoziative Sukzession von Ideen einwirken konnten. Ihrem Grundcharakter nach aber blieb die Assoziationslehre eine mechanistische Theorie,18 welche die Kontrolle des Denkverlaufs zumindest teilweise den ‘reproduktiven Tendenzen’ der Ideen zuschrieb und somit stets die Fragen aufwerfen konnte, wie autonom das Subjekt im Denken war und welcher Art die zwischen den Ideen wirkenden Kräfte waren, mit denen es um die Kontrolle über die Denkvorgänge konkurrierte. Drittens: Die Assoziationslehre beruht wesentlich auf dem Konzept der mentalen Repräsentation, sie entwirft das Denken also als ein Operieren mit mentalen Abbildern von Teilen der Außenwelt. Die Auffassung, dass der Geist solche mentalen Repräsentationen der Außenwelt enthalte, bildete allerdings keine Besonderheit der Assoziationstheorie, sondern gehörte zu den _____________ 16 17
18
Vgl. Gary Hatfield, The Natural and the Normative. Theories of Spatial Perception from Kant to Helmholtz. Cambridge (Mass.), London (England) 1990, S. viii. Vgl. Danziger, Generative metaphor, S. 341-343; Young, Art. ‘Association of Ideas’, S. 113, 117. – Im 19. Jahrhundert wird John Stuart Mill das Vorbild der Mechanik durch das der Chemie ersetzen; mit seiner Rede von einer „mental chemistry“ will er ausdrücken, dass die Verbindung mehrerer einzelner Ideen ein komplexes Gebilde ergibt, in dem die Bestandteile miteinander verschmelzen und nicht mehr ohne weiteres zu erkennen sind (vgl. Lüer, Geburt eines neuen Mentalismus, S. 208f.). Vgl. Humphrey, Thinking, S. 7f.
2. Die Vorgeschichte: Traditionelle Theorien des Denkens
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Grundannahmen, die von den meisten post-cartesianischen Theorien des Geistes und des Denkens geteilt wurden, auch von jenen, die das Konzept der Assoziation nicht aufgriffen.19 2.2. Die vormoderne Logik Eine neuere Einführung in die Logik teilt die Geschichte dieser Disziplin in drei Perioden ein.20 Auf die ältere Logik, die von Aristoteles bis zum ausgehenden Mittelalter reiche, sei die „neuzeitliche Logik“ gefolgt, deren Beginn mit dem Erscheinen der sogenannten „Logik von Port-Royal“ (1662) angesetzt werden könne; die Periode der modernen Logik schließlich beginne mit Freges Begriffsschrift (1879). Der eigentliche Titel der von Antoine Arnauld und Pierre Nicole verfassten „Logik von Port-Royal“, die die mittlere Periode in der Geschichte der Logik einleitete, lautete La Logique ou l’art de penser. Dieser Titel mit der Rede von einer ‘Kunst des Denkens’ kann insofern als bezeichnend für diese Periode gelten, als sie durch „ein Vorherrschen erkenntnistheoretischer und psychologischer Fragestellungen“ und durch ein psychologisches Verständnis der Logik charakterisiert war,21 also den Begriff des Denkens ins Zentrum rückte. Den Inhalt der Logik von Port-Royal etwa bilden ausführliche Erörterungen zu den wichtigsten Operationen des menschlichen Geistes („concevoir, juger, raisonner, & ordonner“); ihre zentrale Absicht ist es, die Menschen zur richtigen Verwendung ihrer geistigen Fähigkeiten anzuleiten und auf mögliche Fehler in den geistigen Operationen hinzuweisen.22 John Lockes Ende des 17. Jahrhunderts entstandener Essay concerning Human Understanding verfolgte ähnliche Zielsetzungen, wenn er sich auch in Vorgehen und Resultaten wesentlich von der Logik von Port-Royal unterschied. Locke wollte die geistigen Fähigkeiten („Faculties“) und Operationen analysieren, deren sich der Mensch beim Erwerb von Erkenntnissen bedient, um die Regeln und Prinzipien für einen richtigen, zur Wahrheit führenden _____________ 19
20 21 22
Zu der zentralen Rolle, die das Konzept der mentalen Abbildung der Außenwelt und die Frage nach den Bedingungen einer korrekten Widerspiegelung in der neuzeitlichen Philosophie spielte, vgl.: Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature. Second printing, with corrections. Princeton (N.J.) 1980, vor allem S. 129-312 („Part II: Mirroring“). Vgl. auch: Peter Bieri, Generelle Einführung. In: P. B. (Hg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis. 2., durchges. Aufl. Frankfurt/M. 1992, S. 9-72, hier S. 47, 49f. Vgl. Ernst Tugendhat / Ursula Wolf, Logisch-semantische Propädeutik. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart 1993, S. 7f. Vgl. ebd., S. 7-9, Zitat S. 7. Vgl. Antoine Arnauld et Pierre Nicole, La Logique ou l’Art de penser, contenant, outre les règles communes, plusieurs observations nouvelles, propres à former le jugement. Éd. critique par Pierre Clair et François Girbal. 2nde éd. revue. Paris 1981, S. 37f., Zitat S. 37.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
Gebrauch dieser Fähigkeiten festzustellen.23 Damit lieferte er das Modell für viele englischsprachige Philosophen des 18. Jahrhunderts, die ihre derselben Zielsetzung verpflichteten Werke meist als einen Beitrag zur „Logic“ präsentierten; wegen ihrer Fokussierung der geistigen „Faculties“ hat man diese Version der Logik in der Forschung als „facultative logic“ tituliert.24 In dieser Tradition steht letztlich auch noch die Logik von John Stuart Mill, eine der einflussreichsten Logiken des 19. Jahrhunderts. Mill war denn auch eine der Zielscheiben von Edmund Husserls Abrechnung mit dem Psychologismus in der Logik, die er in den „Prolegomena“ der Logischen Untersuchungen (1900) vollzog. Diese Tradition der neuzeitlichen oder ‘vormodernen’ Logik entwickelte eine Konzeption des Denkens, die ebenfalls zu den Voraussetzungen der Diskussionen um 1900 gehörte und die wesentlich andere Akzente setzte als die assoziationstheoretische Konzeption. Während die Assoziationstheorie die Natur des Denkens zu erfassen sucht, indem sie die elementaren Bestandteile der Denkvorgänge sowie die Art ihrer Verbindung und ihres Zusammenwirkens bestimmt, beschreibt die Logik das Wesen des Denkens, indem sie die in Denkvorgängen vollzogenen Erkenntnisoperationen herausarbeitet. Das Denken erscheint hier als Medium oder Träger von Begriffsbildung, Urteilen und induktivem wie deduktivem Schließen, von Analogie und Generalisierung. Damit hängt ein zweiter Unterschied direkt zusammen: Die Assoziationstheorie begreift das Denken als einen Vorgang, der durch die assoziativen Verknüpfungen zwischen Vorstellungen gesteuert wird und letztlich mechanisch abläuft; sie sieht also, zumindest solange sie nicht durch ergänzende Annahmen modifiziert wird, kein eigentliches Subjekt des Denkens im Sinne einer lenkenden Instanz vor. Die Logik dagegen mit ihrer gleichsam didaktischen und präskriptiven, Regeln und Prinzipien vermittelnden Ausrichtung fasst das Denken als eine Art des Handelns auf. Dieses Handeln besteht in einem Bearbeiten und Kombinieren von Vorstellungen und setzt somit ein Subjekt voraus, das seine eigenen Bewusstseinsinhalte ‘objektivieren’ kann, sie zum Gegenstand machen kann. Diese Konzeption des Denkens war somit, wie Charles Taylor dargestellt hat, eng verbunden mit der Herausbildung eines Begriffs vom Subjekt, der dieses wesentlich über seine Fähigkeit zur Distanzierung und Selbstobjektivierung definierte
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Vgl. James G. Buickerood, The Natural History of the Understanding: Locke and the Rise of Facultative Logic in the Eighteenth Century. In: History and Philosophy of Logic 6 (1985), S. 157-190, vor allem S. 163-169. Vgl. ebd.; zu dem Begriff „facultative logic“ vgl. vor allem ebd., S. 165.
2. Die Vorgeschichte: Traditionelle Theorien des Denkens
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und es somit tendenziell zu einer substanzlosen Analyse- und Steuerungsinstanz, einem „punctual self“, verflüchtigte.25 2.3. Die Evolutionstheorie Die in Assoziationstheorie und Logik entwickelten Theorien des Denkens stellten maßgebliche Referenzpunkte für die Diskussionen über das Denken um 1900 dar.26 Neben diesen älteren Modellen gab es eine Konzeption jüngeren Datums, die zu den entscheidenden theoretischen Voraussetzungen dieser Diskussionen zu rechnen ist: jene Sicht auf das Denken, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Evolutionsbiologie und in der von ihr beeinflussten Psychologie entwickelt – oder zumindest umrissen – worden war. Die Geschichte dieser Konzeption des Denkens ist eng verbunden mit der Karriere des Begriffs der Intelligenz, der sich im frühen 20. Jahrhundert als Terminus der Psychologie durchsetzte.27 Der Grundgedanke evolutionstheoretischer Konzeptionen des Denkens lautet, dass das menschliche Denken (nur) eine komplexere Version der einfachen kognitiven Leistungen sei, die auch von Tieren vollzogen werden, dass also zwischen dem menschlichen Denken und den kognitiven Leistungen der Tiere nur ein gradueller Unterschied bestehe. Frühe Ansätze einer solchen Theorie wurden schon im 18. und frühen 19. Jahrhundert formuliert, meist von Vertretern einer sensualistischen Psychologie und empiristischen Erkenntnistheorie; das Denken galt in dieser Theorietradition als ein Arrangieren von Sinneseindrücken und deren mentalen Abbildern, und es schien plausibel, Tieren zumindest rudimentäre Formen dieser Aktivität zuzugestehen.28 Frédéric Cuvier verwendete in den _____________ 25
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Vgl. Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge (Mass.) 1989, S. 143-176; der Ausdruck „punctual self“ bezieht sich auf Lockes Konzeption (ebd., S. 159). Eine Darstellung der Geschichte philosophischer Konzeptionen des Denkens, die – anders als die vorliegende – Vollständigkeit anstrebte, hätte selbstverständlich auf Kant einzugehen. Aber der hier präsentierte Überblick ist, wie eingangs erwähnt, auf Musil und Valéry zugeschnitten, und für sie besaßen Kants Erkenntnistheorie und die an sie anknüpfende Diskussion keine zentrale Bedeutung. Vgl. Danziger, Naming the mind, S. 66-84 (Kap. 5: „Putting Intelligence on the Map“); zu der Etablierung des Intelligenzbegriffs im frühen 20. Jahrhundert vgl. vor allem ebd., S. 66f., 74-83. Die folgenden Ausführungen sind zu einem großen Teil diesem Kapitel in Danzigers Buch verpflichtet. Vgl. Robert J. Richards, Darwin and the emergence of evolutionary theories of mind and behavior. Chicago, London 1987, S. 22-31 für einen knappen Überblick über „Controversies over Animal Instinct and Intelligence in the Seventeenth and Eighteenth Centuries“ sowie ebd., S. 31-69, für Darstellungen der Theorien von Erasmus Darwin, Cabanis, Lamarck, Georges Cuvier und Frédéric Cuvier.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
1820ern den Ausdruck „l’intelligence“ als Bezeichnung für jene Verhaltensweisen von Tieren, die den Gebrauch des Verstandes oder verstandesähnlicher Fähigkeiten anzuzeigen schienen.29 Charles Darwin formulierte in The Descent of Man ausdrücklich die These, dass zwischen der „mental power“ des Menschen und derjenigen der Tiere „no fundamental difference“ bestehe, sondern allein ein gradueller Unterschied;30 Darwin gebrauchte gelegentlich den Ausdruck ‘intelligence’, sprach aber ebenso häufig von ‘intellectual faculties’ oder eben von ‘mental power’ oder ‘mental powers’.31 Herbert Spencer aber hatte schon 1855, wenige Jahre vor Darwins Origin of Species und zwei Jahrzehnte vor The Descent of Man, sein Werk The Principles of Psychology vorgelegt, das die Psychologie systematisch in eine umfassende Evolutionstheorie integrierte und in dem der Begriff „Intelligence“ eine Schlüsselrolle spielte. Spencers evolutionistische Konzeption der Intelligenz schuf eine der wichtigsten Grundlagen für die psychologische Intelligenzforschung der folgenden Jahrzehnte; ihre immense Wirkung blieb aber nicht auf die Fachgrenzen der Psychologie beschränkt, sondern entfaltete sich auch in der Philosophie, etwa in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.32 Daher sei seine Theorie im Folgenden kurz vorgestellt.33 Spencers Begriff der Intelligenz ist aufs engste verknüpft mit dem der Anpassung, der für ihn das Wesensmerkmal aller Lebensvorgänge bezeichnet. Das Leben eines jeden Organismus besteht in einer unaufhörlichen Anpassung an seine Umgebung.34 Je komplexer, vielgestaltiger und variabler die Umgebung, in der sich ein Lebewesen behaupten muss, desto komplexer, differenzierter und spezialisierter seine innere Organisation. Die Entstehung des psychischen Lebens oder des Geistes (‘mind’) ist ein Schritt in der Entwicklung der Lebewesen hin zu größerer Differenzierung; zu diesem Schritt kommt es, sobald das Nervensystem einen gewissen Grad der Komplexität erreicht hat und die Lebewesen zu mehr als _____________ 29 30
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Ebd., S. 67. Charles Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. Part One. Washington Square, New York 1989 (= The Works of Charles Darwin. Ed. by Paul H. Barrett and R. B. Freeman. Vol. 21), S. 69f. Vgl. ebd., S. 71f. („intelligence“), 133 („intellectual faculties“), 69, 72 („mental powers“, „mental power“). Vgl. auch: Danziger, Naming the mind, S. 68. Vgl. Milič Čapek, Ernst Mach’s biological theory of knowledge. In: Synthese 18 (1968), S. 171-191, hier S. 173f. Zu Spencers Principles of Psychology vgl. die folgenden Darstellungen: R. J. Richards, Darwin, S. 280-287; Daniel Becquemont / Laurent Mucchielli, Le cas Spencer. Religion, science et politique. Paris 1998, S. 69-84. „The life of every organism is a continuous adaptation of its inner actions to outer actions; [...].“ (Herbert Spencer, The Principles of Psychology. Vol. I. Fourth edition. London, Edinburgh 1899, S. 134.)
2. Die Vorgeschichte: Traditionelle Theorien des Denkens
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simpelsten Reflexen fähig sind.35 Auch der Geist erscheint wie das Leben insgesamt als eine fortgesetzte Anpassung der inneren Vorgänge und Beziehungen an die äußeren Vorgänge und Beziehungen. Der Begriff „Intelligence“ bezeichnet diesen Prozess der fortschreitenden Anpassung: Regarded under every variety of aspect, intelligence is found to consist in the establishment of correspondences between relations in the organism and relations in the environment; and the entire development of intelligence may be formulated as the progress of such correspondences in Space, in Time, in Speciality, in Generality, in Complexity.36
Was unter „correspondences between relations in the organism and relations in the environment“ zu verstehen ist, erläutert Spencer wie folgt: Zwei Dinge oder Ereignisse in der äußeren Umgebung können notwendig zusammengehören oder nur zufällig zusammen auftreten; zwischen der notwendigen und der rein zufälligen Verbindung gibt es zahllose Zwischenstufen. Die Anpassung der inneren Beziehungen an die äußeren Beziehungen besteht darin, dass die Tendenz eines Bewusstseinszustands a, den Bewusstseinszustand d hervorzurufen, denselben Grad der Notwendigkeit oder Zufälligkeit besitzt wie die Verbindung zwischen den diese Bewusstseinszustände erregenden äußeren Gegenständen A und D. Eine adäquate Anpassung liegt also vor, wenn der Anblick einer Flamme ebenso unweigerlich den Gedanken an Schmerz und die Gefahr der Verbrennung bewirkt, wie Feuer mit Hitze verbunden ist.37 Die Verbesserung der Anpassung innerer an äußere Beziehungen wird allein durch Erfahrung bewirkt; je häufiger die Verbindung von A und D in der äußeren Umgebung wahrgenommen wurde, desto fester wird die Verbindung zwischen den Bewusstseinszuständen a und d.38 Diese Konzeption der Arbeitsweise der „Intelligence“ greift offenkundig auf die Assoziationstheorie der empiristischen Tradition zurück, auch wenn Spencer kaum von Assoziationen spricht, sondern meist den allgemeineren Begriff „relations“ (oder „connexions“) verwendet.39 _____________ 35 36 37 38
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Vgl. ebd., S. 293f., 391f., 427f. Ebd., S. 385. Vgl. ebd., S. 408f. Vgl. ebd., S. 418-426 („The Growth of Intelligence“). Spencer nimmt darüber hinaus an, dass solche durch Erfahrung erworbenen Kopplungen zwischen Bewusstseinszuständen vererbt werden können. Für eine ausdrückliche und zustimmende Bezugnahme auf das Konzept der Assoziation vgl. ebd., S. 250-271. Der französische Psychologe Théodule Ribot konstatierte in seiner Darstellung der Spencer’schen Psychologie: „L’intelligence considérée dans son fond se réduit donc à l’association des idées, qui en est comme la propriété fondamentale.“ (Th[éodule] Ribot, La psychologie anglaise contemporaine (École expérimentale). 3ème édition. Paris 1887, S. 210.) Als „associationnisme“ wird Spencers Theorie auch bezeichnet bei: Becquemont / Mucchielli, Le cas Spencer, S. 77f.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
Alle psychischen Vorgänge und Funktionen sind für Spencer Ausprägungen der Intelligenz: „Instinct, Reason, Perception, Conception, Memory, Imagination, Will &c.“ sind nur „various modes of Intelligence“, verschiedene Formen des umfassenden Prozesses der Anpassung innerer an äußere Beziehungen.40 Zwischen diesen Arten geistiger Vorgänge liegen nur graduelle Unterschiede und gleitende Übergänge; auch zwischen Instinkt und Verstand besteht nur eine graduelle Differenz: „[T]he commonly-assumed hiatus between Reason and Instinct has no existence“.41 Die niedrigste Form des psychischen Lebens, eigentlich ein Übergangsphänomen zwischen physischem und psychischem Leben, ist der Reflex; der Instinkt ist eine Art zusammengesetzter Reflex,42 und alle höheren Formen des psychischen Lebens bzw. der Intelligenz stellen komplexere Formen von Instinkten, letztlich also von Reflexen dar. Was die Verstandesaktivität von einfachen Instinkten unterscheidet, ist unter anderem die Tatsache, dass sie eine Anpassung nicht nur an gegenwärtige, sondern auch an zukünftige Zustände ermöglicht, also eine Antizipation zukünftiger Ereignisse auf der Grundlage von aktuellen Wahrnehmungen und der Erinnerung an ähnliche Situationen.43 Außerdem ist für die Verstandestätigkeit wie für die höheren Formen intelligenter Reaktionen (Gedächtnis, Wille, Emotion) insgesamt kennzeichnend, dass sie nicht mehr ‘rein automatisch’ ablaufen, sondern eine Phase des Zögerns und der „deliberation“ enthalten, in der verschiedene Reaktionen aufgerufen werden und gleichsam in einen Wettstreit treten, bevor sich die stärkste durchsetzt; die stärkste Reaktion ist im Normalfall diejenige, die bereits am häufigsten ausgeübt wurde – so dass das Moment des Überlegens und Entscheidens in diesem Vorgang, sein ‘deliberativer’ Charakter, wieder stark relativiert wird.44 Zwei Aspekte von Spencers Theorie verdienen im Kontext dieser Untersuchung besondere Beachtung. Erstens: Spencer deutete das Denken als ein Instrument im Dienste der Anpassung des Lebewesens an seine Umgebung, was unter anderem hieß: im Dienste der exakten Vorausberechung zukünftiger Ereignisse und der effektiven Handlungsplanung. Der Wert des Denkens bemaß sich an dem Nutzen, den es für die Sicherung des Überlebens und zur Verbesserung der Lebensbedingungen besaß. Spencer vertrat damit ein „purely instrumental understanding of intellec_____________ 40 41 42 43 44
Spencer, Principles of Psychology. Vol. I, S. 389; vgl. auch ebd., S. 392. Ebd., S. 453. Vgl. ebd., S. 432 („compound reflex action“). Vgl. ebd., S. 320-328, 323-327. Vgl. ebd., S. 454-456 (über „Reason“); zu dem nicht-automatischen Charakter von „Memory“ und „Will“ vgl. S. 450 bzw. S. 496-499; der Ausdruck „hesitation“ auf S. 455, „deliberation“ auf S. 495.
3. Von der Assoziation zu Reflexen und Gestalten
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tual activity“,45 wie es für die psychologische Intelligenzforschung in hohem Maße verbindlich werden sollte; wenn in der Psychologie des 20. Jahrhunderts das Problemlösen schließlich als eine paradigmatische Art des Denkens konzipiert wurde,46 so lag das ganz auf der Linie der Spencer’schen Theorie. Zweitens: Wie die Intelligenz eine Eigenschaft war, die in unterschiedlichen Abstufungen beim Menschen wie bei einfachsten Tieren vorkommt, so ist das Denken nur die verfeinerte und komplexere Variante von physiologischen und psychischen Vorgängen elementarster Art; simple Instinkte und abstraktes wissenschaftliches Denken sind zwei weit voneinander entfernte Punkte auf einer kontinuierlichen Skala.47 Diese zwei Merkmale der Spencer’schen Konzeption des Denkens stellten keine absoluten Neuheiten dar, sondern eher eine Radikalisierung von Auffassungen, die bereits bei älteren Vertretern der empiristischen und sensualistischen Tradition aufzufinden waren. Auch Condillac und Cabanis neigten zu der Ansicht, dass der menschliche Verstand nur eine graduelle Weiterentwicklung von Fähigkeiten war, über die auch Tiere verfügen;48 und Locke ebenso wie Hume gaben ihren Konzeptionen des Denkens eine instrumentelle Färbung, indem sie den Verstand als ein Werkzeug zur Verwirklichung von Zwecken beschrieben.49
3. Von der Assoziation zu Reflexen und Gestalten: Die Psychologie und die Frage nach den ‘Mechanismen’ des Denkens Historische Darstellungen der Denkpsychologie beschreiben als die wichtigste Entwicklung des Zeitraums zwischen etwa 1900 und 1930 die Abwendung von der Assoziationstheorie. Diese Theorie war bereits im späten 19. Jahrhundert von verschiedenen Seiten nachdrücklich kritisiert worden, aber ohne dass ihre Stellung dadurch effektiv erschüttert worden wäre; in den Jahren um 1900 bildete das Konzept der Assoziation immer noch die geläufigste, weithin akzeptierte Grundlage psychologischer Theo_____________ 45 46
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Danziger, Naming the mind, S. 73f. Vgl. etwa: John R. Anderson, Cognitive Psychology and Its Implications. San Francisco 1980, S. 255-364 (Kap. „Problem Solving and Reasoning“), vor allem S. 259, 293f. Vgl. auch ein Pionierwerk aus der Kognitiven Psychologie: Allen Newell / Herbert A. Simon, Human problem solving. Englewood Cliffs (N.J.) 1972. Vgl. zu diesen Merkmalen der Spencer’schen Konzeption von Intelligenz und ihrer Festschreibung in dem Intelligenzbegriff der modernen Psychologie: Danziger, Naming the mind, S. 69-74. Vgl. R. J. Richards, Darwin, S. 24-30. Vgl. Danziger, Naming the mind, S. 42-44, 73f.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
rien des Denkens. Die entscheidenden Anstöße zur endgültigen Abkehr von der Assoziationstheorie gingen in der deutschsprachigen Psychologie vor allem von der experimentellen Erforschung des Denkens aus, die um 1900 mit den Pionierarbeiten der so genannten Würzburger Schule einsetzte. Im Folgenden werden zunächst die Konzeptionen des Denkens von Wilhelm Wundt und Théodule Ribot vorgestellt. Wundt und Ribot können als ‘Gründungsväter’ der neuen Psychologie in Deutschland beziehungsweise Frankreich gelten; sie waren jedenfalls im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert führende Autoritäten ihres Fachs und Verfasser weit verbreiteter Bücher, und schon aufgrund dieser herausgehobenen Position verdienen ihre Auffassungen des Denkens im vorliegenden Zusammenhang Beachtung. In einem nächsten Schritt werden die Anfänge der experimentellen Denkforschung zu untersuchen sein; dabei wird der Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Psychologie liegen, da aus ihr besonders innovative und einflussreiche Konzeptionen hervorgingen. In den Vorbemerkungen zu diesem Kapitel wurde dargelegt, dass Theorien des Denkens die mentalen Prozesse oder Mechanismen beschreiben, welche Produkte mit bestimmten Qualitäten („creative, rational, contemplative products“50) erzeugen. Die Entwicklungen in der psychologischen Theoriebildung, die in diesem Teilkapitel nachgezeichnet werden, betreffen vor allem die erste dieser zwei Komponenten: die Auffassungen über die mentalen Prozesse, Mechanismen oder „transformations“, die dem Denken zugrunde liegen. Die Assoziationslehre lieferte eine Beschreibung und Erklärung eben dieser grundlegenden mentalen Ablaufweisen. Wundts und Ribots Konzeptionen beruhten noch auf dieser Theorie, wenn auch – vor allem im Falle Wundts – auf einer beträchtlich modifizierten Version; als die Assoziationslehre an Plausibilität verloren hatte, zogen deutsche Psychologen verschiedene andere Konzepte zur Beschreibung der grundlegenden Mechanismen des Denkens heran. Die elaboriertesten neuen Theorien stützten sich auf das Konzept des Reflexes oder auf das der Gestalt. 3.1. Späte Varianten der Assoziationslehre 3.1.1. Wundt: Denken als Zusammenfassen und Ordnen Wilhelm Wundt wurde 1875 auf einen Lehrstuhl für Philosophie nach Leipzig berufen, gründete dort 1879 ein Labor für experimentelle Psycho_____________ 50
Mandler / Mandler, Introduction, S. 4.
3. Von der Assoziation zu Reflexen und Gestalten
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logie und zwei Jahre später die Zeitschrift Philosophische Studien, die großenteils der Veröffentlichung von psychologischen Arbeiten vorbehalten war.51 Mit diesen Einrichtungen sowie mit seiner effektiven Organisation der Forschungstätigkeit in seinem Labor schuf er die institutionellen Grundlagen für die akademische Durchsetzung der so genannten ‘neuen’ Psychologie in Deutschland.52 Seine Handbücher und Überblicksdarstellungen, insbesondere die umfassenden Grundzüge der physiologischen Psychologie und der knappe Grundriß der Psychologie, wurden bald nach ihrem Erscheinen zu Standardwerken und erfuhren in kurzer Zeit viele Neuauflagen.53 Im Zentrum von Wundts Konzeption des Denkens wie letztlich seiner Psychologie insgesamt steht der Begriff der Apperzeption. Dieser Begriff bezeichnet bei Wundt neben der Assoziation die zweite Form, in der komplexe psychische Gebilde wie Vorstellungen aufeinander folgen und sich miteinander verbinden können.54 Was man gewöhnlich als „Denken“ oder „Verstandestätigkeit“ bezeichnet, fällt unter die „Apperceptionsverbindungen“.55 Die Assoziation, die von Wundt weitgehend in Übereinstimmung mit der traditionellen Assoziationstheorie beschrieben wird, ist im Vergleich zur Apperzeption der einfachere Vorgang; sie vollzieht sich wesentlich passiv und unwillkürlich, während es sich bei der Apperzeption um einen Willensvorgang handelt, der von einem Gefühl der Tätigkeit begleitet ist. Die Apperzeptionsverbindungen setzen zwar Assoziationen voraus und bedienen sich ihrer, sind aber durch eine deutlich komplexere und kategorial verschiedene Verlaufsweise gekennzeichnet, die nicht auf Assoziationen zurückgeführt werden kann.56 Die spezifi_____________ 51
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Zur Biographie von Wundt vgl.: Wolfgang Nitsche, Einleitung. In: Wilhelm Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Eingeleitet und mit Materialien zur Rezeptionsgeschichte versehen von W. N. Zwei Bände. Berlin u.a. 1990, Band 1, S. 11-61. Zu diesen Leistungen Wundts und zu seiner Bedeutung für die institutionelle Etablierung der Psychologie in Deutschland vgl.: Kurt Danziger, Wilhelm Wundt and the emergence of experimental psychology. In: R. C. Olby u.a. (Hg.), Companion to the History of Modern Science. London, New York 1990, S. 396-409. Vgl. Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. Fünfte völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig 1903; ders., Grundriß der Psychologie. Zweite Auflage. Leipzig 1897. Vgl. Wundt, Grundriß, S. 292; zu „Associationen“: ebd., S. 262-291; zu „Apperceptionsverbindungen“: ebd., S. 291-314. Vgl. zu Wundts Apperzeptionsbegriff auch: Eckart Scheerer, Einmal Kopf, zweimal Kognition: Geschichte und Gegenwart eines Problem. In: Gerhard Roth / Wolfgang Prinz (Hg.), Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg u.a. 1996, S. 87-116, hierzu S. 97f. „Die Apperceptionsverbindungen erstrecken sich über eine Menge psychischer Vorgänge, die die gewöhnliche Erfahrung durch gewisse Allgemeinbezeichnungen, wie Denken, Reflexion, Phantasie- und Verstandesthätigkeit u. dgl., zu unterscheiden pflegt.“ (Wundt, Grundriß, S. 292.) Vgl. ebd., S. 293.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
sche Eigenart und Leistung dieser Vorgänge ist bündig formuliert in der Feststellung, die „Apperception“ sei „theils verbindende theils zerlegende Function“, in beiden Fällen aber „zugleich beziehende Function“.57 Apperzeptionsvorgänge sind Willensvorgänge, die eine Vielheit von psychischen Gebilden zu einer Ganzheit verbinden und diese dann in ihre Bestandteile gliedert.58 Der Ablauf eines Apperzeptionsvorgangs enthält somit einen Akt der Synthese und einen der Analyse. Am Anfang steht immer eine Synthese: Aus einer Menge von assoziativ bereitgestellten „Vorstellungsund Gefühlsbestandtheilen“ werden einige gezielt ausgewählt und zu einer „Gesammtvorstellung“ verbunden.59 Auf diesen Vorgang folgt die apperzeptive Analyse, in der die Gesamtvorstellung in ihre Bestandteile zerlegt wird, wobei diese Bestandteile aber wohlgemerkt aufeinander bezogen bleiben und nicht etwa auseinander fallen. Diese Analyse kann sich auf zwei verschiedene Weisen vollziehen; die zwei Grundformen der Apperzeptionsprozesse, die sich somit ergeben, entsprechen dem, was man üblicherweise als Phantasietätigkeit und Verstandestätigkeit bezeichnet. Im Falle der Verstandestätigkeit besteht das Ziel der apperzeptiven Analyse darin, die Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Bestandteilen der Gesamtvorstellung festzustellen und zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist der konkrete Verlauf der Analyse bestimmt durch das „Gesetz der Dualität der logischen Denkformen“; die Analyse zerlegt „den Inhalt einer Gesammtvorstellung zunächst in zwei Theile [...], Subject und Prädicat, worauf dann an jedem dieser Theile die ähnliche Zweigliederung sich eventuell noch einmal oder mehrmals wiederholen kann.“60 Die Struktur, die sich aus dieser Abfolge von binären Gliederungen ergibt, drückt sich sprachlich in der syntaktischen Ordnung des Satzes aus: „Auf diese Weise geht hier aus dem Vorgang der apperceptiven Analyse das Urtheil, das sprachlich in dem Satze seinen Ausdruck findet, hervor.“61 Wundts Begriff der Apperzeption stellte nicht nur eine geringfügige und partielle Abweichung von der klassischen Assoziationstheorie dar, sondern beruhte auf einer Konzeption der mentalen Vorgänge überhaupt, _____________ 57 58
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Wundt, Grundzüge. Bd. 3, S. 573. Vgl. dazu und zum Folgenden: Wundt, Grundriß, S. 291-314; vgl. auch den Abschnitt über ‘intellectuelle Processe’ in: Ders., Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Dritte umgearbeitete Auflage. Hamburg, Leipzig 1897, S. 351-359. – Vgl. dort etwa die folgende Charakterisierung des Denkens: „Das Denken ist überall unterscheidende und beziehende Thätigkeit. Es gliedert nach der angegebenen Regel, weil es die Bestandtheile einer Gesammtvorstellung nur scheidet, um sie zugleich in eine Beziehung zu einander zu bringen, für deren Aufstellung die Vergleichung zahlreicher theils übereinstimmender theils verschiedener Vorstellungen maßgebend ist.“ (Ebd., S. 357f.) Wundt, Grundriß, S. 306. Ebd., S. 310. Ebd., S. 311.
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die in grundsätzlichem Widerspruch zu dieser Theorie stand. Die Assoziationslehre basierte auf der mehr oder weniger ausdrücklichen Annahme, dass psychische Vorgänge denselben oder analogen Gesetzen gehorchen wie Vorgänge in der physischen Natur, also etwa mechanischen Gesetzen; Wundt dagegen vertrat ausdrücklich die Auffassung, dass im Bereich des Psychischen grundlegend andere Gesetze gelten als in der physischen Natur, dass es neben der ‘physischen Kausalität’ eine eigenständige ‘psychische Kausalität’ gebe.62 Unter dem Begriff der psychischen Kausalität fasste Wundt Gesetzmäßigkeiten psychischer Prozesse und Gebilde zusammen (etwa das „Prinzip der schöpferischen Synthese“ und das „Prinzip der beziehenden Analyse“63), die sich besonders deutlich in Apperzeptionsvorgängen ausprägten. Wundts theoretische Konzepte fanden zwar über seine systematischen Überblicksdarstellungen und seine zahlreichen übrigen Schriften weite Verbreitung, konnten sich aber nicht längerfristig durchsetzen. Die Psychologen, die neben Wundt für die akademische Institutionalisierung dieser Disziplin in Deutschland verantwortlich waren, sowie jene, die in den Jahren um 1900 in führende Positionen einrückten, lehnten zu einem großen Teil sein Konzept einer psychischen Kausalität ebenso wie seine methodologischen Ansichten ab; insbesondere vertraten sie im Gegensatz zu Wundt die Meinung, dass prinzipiell alle, auch die höheren psychischen Funktionen auf experimentelle Weise erforscht werden konnten.64 Diese Kritik an Wundt, die unter anderem Oswald Külpe und Hermann Ebbinghaus unter Berufung auf die Wissenschaftstheorie von Richard Avenarius und Ernst Mach formulierten, wurde von Kurt Danziger als „positivist repudiation of Wundt“ bezeichnet.65 Neben dieser ‘positivistischen’ Fraktion gab es noch eine weitere Richtung innerhalb der deutschsprachigen Psychologie, die sich kritisch von Wundt abgrenzte und im Hinblick auf theoretische und begriffliche Entwicklungen letztlich wirkungsmächtiger war als er: die Psychologie Franz Brentanos und seiner Schüler, zu _____________ 62
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Vgl. ebd., S. 363-384 (Kap. V: „Die psychische Causalität und ihre Gesetze“); vgl. auch: Ders., Über psychische Kausalität. In: W. W., Kleine Schriften. 2. Band. Leipzig 1911, S. 1112. – Zu Wundts Begriff der psychischen Kausalität vgl. auch: Kurt Danziger, Wundt’s Psychological Experiment in the Light of His Philosophy of Science. In: Psychological Research 42 (1980) (Wundt Centennial Issue), S. 109-122; Theodore Mischel, Wundt and the Conceptual Foundations of Psychology. In: Philosophy and Phenomenological Research 31 (1970/1971), S. 1-26, vor allem S. 5-9. Vgl. Wundt, Über psychische Kausalität, S. 88-112. Vgl. dazu: Kurt Danziger, The Positivist Repudiation of Wundt. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 15 (1979), S. 205-230; ders., Wilhelm Wundt and the emergence of experimental psychology, vor allem S. 402-406. Vgl. Danziger, Positivist Repudiation; zu der Kritik von Külpe und Ebbinghaus vgl. ebd., S. 208-215; vgl. auch ders., Constructing the subject, S. 34-48, vor allem S. 39-42.
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denen unter anderem Carl Stumpf zählte.66 Stumpf wiederum war der Lehrer der Berliner Gestaltpsychologen Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka. Aus der ‘positivistischen’ Richtung ebenso wie aus der gestaltpsychologischen Schule sollten wichtige Beiträge zur Denkpsychologie hervorgehen; sie werden weiter unten (in den Abschnitten 3.2 und 3.3) behandelt. 3.1.2. Ribot: Assoziation und Aufmerksamkeit Auch in Frankreich etablierte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine ‘neue’, betont empirische und experimentell ausgerichtete Psychologie als akademisches Fachgebiet; allerdings bildete die Psychologie hier – wie auch in Deutschland – zunächst keine selbständige Disziplin und besaß zudem eine schmalere institutionelle Basis als die deutsche, die um 1900 bereits von Laboratorien und Lehrstühlen an mehreren Universitäten getragen wurde.67 Maßgeblichen Anteil an der Etablierung der neuen Psychologie in Frankreich hatte Théodule Armand Ribot (1839-1916), der 1870 im manifestartigen Vorwort seines Buchs La psychologie anglaise contemporaine die Ablösung der bisherigen, metaphysisch orientierten Psychologie durch eine streng empirische Erforschung des Psychischen forderte und in den folgenden Jahren eine Reihe von Monographien zu zentralen psychologischen Themen verfasste (Gedächtnis, Wille, Persönlichkeit, Aufmerksamkeit, Gefühle).68 Im Jahr 1888 erhielt Ribot schließlich einen _____________ 66
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Zur Psychologie Brentanos als einer „‘zweiten Kraft’“ neben der Wundt’schen vgl.: E. Scheerer, Art. ‘Psychologie’. In: Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7: P–Q, Spp. 1599-1653, hier Sp. 1626. Vgl. dazu: Ash, Psychology, S. 254f., 266f.; die folgende Skizze stützt sich vor allem auf: Serge Nicolas / Agnès Charvillat, Introducing Psychology as an Academic Discipline in France: Théodule Ribot and the Collège de France (1888-1901). In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 37 (2001), S. 143-164; Laurent Mucchielli, Aux origines de la psychologie universitaire en France (1870-1900): enjeux intellectuels, contexte politique, réseaux et stratégies d’alliance autour de la Revue philosophique de Théodule Ribot. In: Annals of Science 55 (1998), S. 263-289; Jacqueline Carroy / Régine Plas, The origins of French experimental psychology: experiment and experimentalism. In: History of the Human Sciences 9,1 (1996), S. 73-84; Jan Goldstein, The Advent of Psychological Modernism in France: An Alternate Narrative. In: Dorothy Ross (Hg.), Modernist Impulses in the Human Sciences 1870-1930. Baltimore, London 1994, S. 190-209, Anm. S. 342-346. Vgl. Th[éodule] Ribot, Les maladies de la mémoire. Paris 1881; ders., Les maladies de la volonté. 27e edition. Paris 1912 [zuerst 1883]; ders., Les maladies de la personnalité. 11e édition. Paris 1904 [zuerst 1885]; ders., Psychologie de l’attention. 5e édition. Paris 1919 [zuerst 1889]. – Eine wichtige Etappe auf dem Weg der Institutionalisierung der neuen Psychologie stellte die Gründung der Zeitschrift Revue philosophique im Jahr 1876 dar, die von Ribot herausgegeben wurde und die vor allem ein Forum für Forschungen in der ex-
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Lehrstuhl am Collège de France, der die Denomination „Psychologie expérimentale et comparée“ trug. Zu den wichtigsten Protagonisten der neuen Psychologie in Frankreich gehörten neben ihm Hippolyte Taine, der eine Art Wegbereiter und Referenzfigur der jüngeren Generation um Ribot darstellte, sowie Pierre Janet und Alfred Binet. Die theoretische und methodische Ausrichtung der von Ribot repräsentierten Psychologie war vor allem durch drei Grundzüge gekennzeichnet. Zum Programm seiner Psychologie gehörte erstens eine enge Zusammenarbeit mit Physiologie und Hirnforschung; psychische Phänomene sollten möglichst, soweit der Kenntnisstand in diesen Disziplinen das erlaubte, durch Rückführung auf physiologische und neuroanatomische Sachverhalte erklärt werden. Ribots Position zur Frage nach der Beziehung zwischen körperlichen und psychischen Vorgängen stand dem Epiphänomenalismus zumindest nahe, auch wenn er diesen Begriff selbst nicht verwendete und sich von den Verfechtern der ‘Automaten-Theorie’ des Bewusstseins distanzierte69. Doch er vertrat ausdrücklich die Ansicht, dass in einem psychischen Vorgang allein der darin enthaltene neurophysiologische Vorgang (der „processus nerveux“) das aktive und fundamentale Element sei, während der Bewusstseinszustand nur ein Begleiter („concomitant“) sei, der in manchen Fällen auftaucht und in anderen nicht.70 Dass der physiologische Vorgang das ‘aktive’ und ‘fundamentale’ Element sei, der Bewusstseinszustand aber nur ein Begleiter, soll offenkundig heißen, dass nur jener kausal wirksam ist; so lautet die zentrale These von Ribots Buch über den Willen, dass jeder Willensakt einerseits einen Bewusstseinszustand des „‘Je veux’“ enthalte, andererseits einen „processus nerveux“ oder „mécanisme psychophysiologique“, und dass allein der letztere verursachende Kraft habe.71 Ein zweites charakteristi_____________ 69 70
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perimentellen Psychologie und Psychopathologie darstellte; vgl. dazu: Mucchielli, Aux origines de la psychologie universitaire en France. Vgl. die Ausführungen über „la nature de la conscience“ in: Ribot, Maladies de la personnalité, S. 4-19; die Auseinandersetzung mit der ‘Automaten-Theorie’ ebd., S. 15-19. Diese Formulierung steht im Zusammenhang einer Passage, in der Ribot die Bedeutung des Begriffs ‘unbewusst’ (im Rahmen seiner Theorie) erläutert: „Le terme inconscient peut toujours être traduit par cette périphrase: un état physiologique qui étant quelquefois et même le plus souvent accompagné de conscience ou l’ayant été à l’origine, ne l’est pas actuellement. Cette caractéristique, négative comme psychologie, est positive comme physiologie. Elle affirme que dans tout événement psychique, l’élément fondamental et actif est le processus nerveux, que l’autre n’est que concomitant. Par suite, il n’y a plus de difficulté à comprendre que toutes les manifestations de la vie psychique puissent être tour à tour inconscientes et conscientes.“ (Ribot, Maladies de la personnalité, S. 13) Zu der Auffassung vom Bewusstsein als einem Phänomen, das unter bestimmten Bedingungen zu einer Aktivität des Gehirns hinzutritt und unter anderen fortbleibt, vgl. auch ebd., S. 4, 6, 12f. Diese These formuliert Ribot gleich in der Einleitung: „J’essayerai de montrer au terme de cette étude que, dans tout acte volontaire, il y a deux éléments bien distincts: l’état de conscience, le ‘Je veux’, qui constate une situation, mais qui n’a par lui-même aucune efficacité;
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sches Merkmal der von Ribot vertretenen Psychologie bestand in der zentralen Stellung, die sie der Psychopathologie einräumte.72 Es war ein methodisches Credo von Ribot und anderen Vertretern der neuen Psychologie, dass die Analyse pathologischer Veränderungen der psychischen Leistungen Aufschlüsse über die normale, gesunde Funktionsweise dieser Leistungen liefern konnte; Krankheiten, so Ribot, lassen sich studieren wie von der Natur veranstaltete Experimente.73 Diese Auffassung besaß bereits eine langjährige Tradition in der französischen Medizin und Physiologie und konnte sich etwa auf Claude Bernard berufen.74 In der Psychologie Ribots erhielt diese ältere Vorstellung eine besondere Färbung durch die Verbindung mit der Evolutionslehre; der durchgehende Bezug auf diese, namentlich auf die Version Herbert Spencers, kann als das dritte wesentliche Merkmal der Ribot’schen Psychologie betrachtet werden. Die Orientierung an der Evolutionslehre schlug sich vor allem in Ribots konsequenten Bestrebungen nieder, die so genannten höheren psychischen Leistungen (Gedächtnis, Wille, willkürliche Aufmerksamkeit) als Weiterentwicklungen elementarer oder primitiver Leistungen des Organismus zu erklären, wobei er die höheren Leistungen stets als nur graduell oder quantitativ, nicht qualitativ verschieden von den elementaren Varianten auffasst.75 Als den einfachsten psychischen Vorgang und zugleich als Basis und Grundtyp aller psychischen Vorgänge fasste Ribot in Übereinstimmung mit Spencer den Reflex auf.76 Willensakte, Anstrengungen der Aufmerksamkeit und abstrakte Reflexionen sind für ihn verfeinerte und komplizierte Ausformungen von Reflexakten. Der Zweck, dem Reflexe in ihren simplen wie ihren komplexen Varianten dienen, wird von Ribot _____________
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et un mécanisme psychophysiologique très complexe, en qui seul réside le pouvoir d’agir ou d’empêcher.“ (Ribot, Maladies de la volonté, S. 3) An anderen Stellen bezeichnet Ribot das verursachende Element nicht als „mécanisme psychophysiologique“, sondern als „état physiologique“ oder „processus nerveux“ (ebd., S. 8; vgl. auch ebd., S. 29, 178f.). – In seinen Büchern über Gedächtnis, Wille, Aufmerksamkeit und Persönlichkeit insistiert Ribot durchgehend auf der Wichtigkeit physiologischer und neuroanatomischer Fakten und zieht Studien aus Medizin, Physiologie und Hirnforschung heran; vgl. etwa ebd., S. 89-94; ders., Maladies de la personnalité, S. 20-56 (Ch. I: „Les troubles organiques“). Zu der traditionellen Konzentration auf pathologische Phänomene in der französischen Psychologie vgl.: Graham Richards, Mental Machinery. The Origins and Consequences of Psychological Ideas. Part 1: 1600–1850. London 1992, S. 375f., 387f.; Alexandre Métraux, French Crowd Psychology: Between Theory and Ideology. In: William R. Woodward / Mitchell G. Ash (Hg.), The Problematic Science. Psychology in Nineteenth-Century Thought. New York 1982, S. 276-299, hier S. 287; Robert A. Nye, The Origins of Crowd Psychology. Gustave LeBon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic. London, Beverly Hills 1975, S. 31. Vgl. Ribot, Maladies de la volonté, S. 49, 94; ders., Maladies de la personnalité, S. 2, 40. Vgl. Goldstein, Advent of Psychological Modernism, S. 205f. Vgl. Mucchielli, Aux origines, S. 284f. Vgl. Ribot, Maladies de la volonté, S. 4-6, 11-14; ders., Maladies de la personnalité, S. 14.
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allgemein als Anpassung („adaptation“) bestimmt.77 Mentale Krankheiten, so eine Grundannahme Ribots, beschreiten den Weg des Evolutionsprozesses rückwärts, zerstören also zuerst die komplexesten Leistungen als die jüngsten Errungenschaften, während die elementaren Funktionen auch noch bei schweren Krankheiten bestehen bleiben. Die Untersuchung psychopathologischer Fälle erlaubt es also, verschiedene Entwicklungsstufen psychischer Funktionen und Fähigkeiten zu studieren.78 Wie wurde nun in Ribots Psychologie das Thema des Denkens, der Intelligenz oder der Funktionen des Intellekts behandelt? Ribot widmete dem Intellekt oder der Intelligenz keine eigene Monographie, untersuchte aber in seinen Büchern über Aufmerksamkeit und über die Entwicklung der allgemeinen Ideen wesentliche Aspekte der intellektuellen Vorgänge und kam in seinen Studien zu anderen Themen wie Persönlichkeit, Wille und „imagination créatrice“ immer wieder auch auf den Intellekt und das Denken zu sprechen. Dabei stellte er sich vorbehaltlos auf den Boden der Assoziationstheorie; in seinem frühen Buch über La psychologie anglaise contemporaine referierte er zustimmend Alexander Bains Theorie des Intellekts und zeigte sich dabei besonders davon beeindruckt, wie der englische Psychologe und Neurophysiologe alle Formen intellektueller Leistungen, die die ältere Psychologie als verschiedene Vermögen aufgefasst hatte („jugement, raisonnement, abstraction, perception, etc.“), als unterschiedliche Arten assoziativer Verknüpfungen erklärte und sie so alle auf das grundlegende Gesetz der Assoziation zurückführte.79 Das war 1870; in seinen während der 1880er Jahre veröffentlichten Monographien über den Willen, die Persönlichkeit und die Aufmerksamkeit formulierte Ribot eine Sicht auf den Intellekt, die etwas anders akzentuiert war. Zwar betrachtete er weiterhin die Assoziation als Grundlage der intellektuellen wie aller übrigen mentalen Vorgänge, doch dieser Mechanismus allein erschien bei ihm nun eher als ein Produzent von Unordnung denn als ein Faktor von Ordnung: Der Assoziationsmechanismus als solcher entspricht dem simplen „automatisme cérébral“; wo er sich selbst überlassen bleibt und keiner Steuerung unterworfen wird, nehmen die mentalen Abläufe chaotische _____________ 77
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Vgl. ders., Maladies de la volonté, S. 24-26, 28, 73, 76, 88. Zur Herstellung einer „adaptation“ zwischen Individuum und Umwelt als Grundzug aller mentalen Vorgänge vgl. auch: ders., Psychologie de l’attention, S. 8; ders., Maladies de la personnalité, S. 112 (mit ausdrücklicher Berufung auf Spencer). Ribot bezeichnete dieses Prinzip als die „loi de dissolution“; vgl. Ribot, Maladies de la volonté, S. 1, 154f., 161, 165. Vgl. Ribot, La psychologie anglaise contemporaine, S. 270-288; das erwähnte Lob für Bain auf S. 270-273, das Zitat auf S. 272. In demselben Buch äußerte Ribot auch die Vermutung, dass die „loi d’association“ für längere Zeit „le dernier mode d’explication des phénomènes psychiques“ sein werde und somit für die Welt der Ideen eine analoge Rolle spielen werde wie das Gravitationsgesetz für die Welt der Materie (vgl. ebd., S. 271).
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Züge an.80 Für den intellektuellen Vorgang der „réflexion“ ist gerade kennzeichnend, dass dem Assoziationsprinzip ein Antagonist in Gestalt der Aufmerksamkeit gegenübersteht, der aus den zahlreichen Assoziationen, die ein einzelner Bewusstseinszustand hervorruft, einige auswählt und alle anderen unterdrückt.81 Diesen Akt des Auswählens allerdings kann man nach Ribot nicht einer unabhängigen Instanz des Ichs oder des Willens zuschreiben, die wie ein deus ex machina aus dem Nichts kommend auf die Assoziationsvorgänge einwirkt; dieses Auswählen beruht vielmehr wie jeder Willensakt auf einem Zusammenwirken der aktuell im Organismus vorhandenen Tendenzen.82 – Ribot wich ferner dadurch von Bain ab, dass er das Festlegen eines Ziels und die Bestimmung der geeigneten Mittel zum Erreichen des Ziels als die charakteristischen Leistungen der Intelligenz betrachtete;83 während Bain die Feststellung von Unterschieden und Ähnlichkeiten als die grundlegende Leistung der Intelligenz beschrieben und den Akzent so auf den theoretischen und realitätsabbildenden Aspekt der intellektuellen Vorgänge gelegt hatte, hob Ribots neue Sichtweise die praktische oder pragmatische Seite und den instrumentellen Aspekt des Intellekts hervor. Ein Grundzug von Ribots Psychologie, der sie auf markante Weise von dem Vorbild Herbert Spencers unterscheidet, verdient besondere Beachtung. Spencer zufolge hat sich die Weiterentwicklung der „Intelligence“, der Anpassung geistiger Prozesse an die Umwelt, auf kontinuierliche und bruchlose Weise vollzogen, von den einfachsten Lebewesen bis zum Menschen, von ‘Wilden’ bis zu Newton und Shakespeare.84 Der Er_____________ 80
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Vgl. Ribot, Psychologie de l’attention, S. 118, 152. – Vgl. auch ders., Maladies de la personnalité, S. 90: Die Persönlichkeitsstörungen von Menschen, die sich für Gott oder den Papst halten, entsteht aus der Keimzelle einer ursprünglichen „conception morbide“, die sich mithilfe des „automatisme pur et simple de l’association“ vergrößert und zur Vorstellung einer ganzen Persönlichkeit wird. Vgl. auch ebd., S. 167: Die mentalen Abläufe sind stets durch einen „conflit de forces“ geprägt, der sich zwischen „associations et antagonismes“ abspielt. Vgl. Ribot, Psychologie de l’attention, S. 92-95; zur „réflexion“ als einer Form der Aufmerksamkeit : ebd., S. 76-86. „Dans l’état normal, un but est choisi, affirmé, réalisé; c’est-à-dire que les éléments du moi, en totalité ou en majorité, y concourent: les états de conscience (sentiments, idées, avec leurs tendances motrices), les mouvements de nos membres forment un consensus qui converge vers le but avec plus ou moins d’effort, par un mécanisme complexe, composé à la fois d’impulsions et d’arrêts.“ (Ribot, Maladies de la volonté, S. 85; vgl. zum Ablauf eines kompletten Willensvorgangs auch ebd., S. 26-28, 178-180.) In seinem Buch über den Willen spricht Ribot einmal von „les actions cérébrales qui sont la base de l’activité intellectuelle (conception d’un but et des moyens, choix, etc.)“ (Ribot, Maladies de la volonté, S. 73). Vgl. auch ebd., S. 26: Dort erläutert Ribot, inwiefern die intellektuellen Vorgänge eine „adaptation“ als Ergebnis haben; die Phasen eines intellektuellen Vorgangs bestehen in der Wahl eines Ziels und der Wahl von Mitteln. Vgl. Spencer, Principles of Psychology. Vol. I, S. 471.
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werb immer neuer Erfahrungen durch die Individuen sowie die Vererbung erworbener Anpassungsleistungen garantieren für Spencer diese kontinuierliche Höherentwicklung, die somit gewissermaßen von einem natürlichen Entwicklungstrieb des Lebens selbst getragen wird.85 Ribot dagegen schließt sich zwar der Auffassung an, dass auch die höchsten geistigen Fähigkeiten des Menschen sich aus einfachen Reflexen entwickelt haben und selbst nur ungemein verfeinerte Ausformungen von Reflexmechanismen sind, aber für ihn handelt es sich dabei nicht um eine kontinuierliche, bruchlose, gleichsam von selbst verlaufende Entwicklung, die in der Natur des Lebens oder des Geistes angelegt wäre. Die Natur hat vielmehr nur das Material in Form der einfachen Reflexfunktionen geliefert, die Funktionen von Wille, willkürlicher Aufmerksamkeit und Intellekt aber mussten in einem mühsamen und langwierigen Prozess mithilfe von Erziehung, Erfahrung und einer artifiziellen Umfunktionierung natürlicher Anlagen aufgebaut und erobert werden; sie sind keine Natur-, sondern Kunstprodukte.86 Die willkürliche Aufmerksamkeit etwa, entstanden aus dem Bedürfnis und zusammen mit der Intelligenz gewachsen, ist für Ribot „un appareil de perfectionnement et un produit de la civilisation“, „à la fois effet et cause de la civilisation“.87 Als späte Errungenschaften besitzen diese höheren Funktionen daher auch stets einen prekären Status und können leicht wieder verloren gehen, da sie noch nicht über lange Zeit hinweg vererbt und im Organismus fixiert worden sind; größere Komplexität ist untrennbar verbunden mit geringerer Stabilität.88 Die einfachsten Funktionen dagegen, die Reflexe, Empfindungen und Instinkte, sind angeboren, in der Anatomie und Physiologie verwurzelt und werden zudem durch ihre ständig wiederholte Ausführung stabilisiert; insofern ist es erstaunlich, dass sich die auf Wille und Intelligenz basierende „activité raisonnable“ trotz _____________ 85 86
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Vgl. ebd., S. 424f. So heißt es bei Ribot über den Willen: „Telle est la volonté sous sa forme achevée, typique; mais ce n’est pas là un produit naturel. C’est le résultat de l’art, de l’éducation, de l’expérience. C’est un édifice construit lentement, pièce à pièce. L’observation objective et subjective montre que chaque forme de l’activité volontaire est le fruit d’une conquête. La nature ne fournit que les matériaux: quelques mouvements simples dans l’ordre physiologique, quelques associations simples dans l’ordre psychologique.“ (Ribot, Maladies de la volonté, S. 85) – Die willkürliche Aufmerksamkeit, die Ribot von der spontanen abgrenzt, wird von ihm auch als „attention artificielle“ bezeichnet, da sie auf einer künstlichen Umgestaltung und Nutzung natürlicher Funktionen beruhe: „Partout, à l’origine de l’attention volontaire, on retrouve ce mécanisme toujours le même, avec des variations sans nombre, aboutissant à un succès, à un demi-succès ou à un échec: prendre les mobiles naturels, les détourner de leur but direct, s’en servir (si l’on peut) comme moyens pour un autre but. L’art plie la nature à ses desseins, et c’est à ce titre que j’appelle cette forme de l’attention: artificielle.“ (ders., Psychologie de l’attention, S. 53) Ribot, Psychologie de l’attention, S. 58f. Vgl. ders., Maladies de la volonté, S. 86.
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ihrer relativen Fragilität überhaupt so häufig zu behaupten vermag: der Wille, so Ribot, ist „un accident heureux“89. Wie also in einzelnen psychischen Abläufen die Assoziationsverbindungen allein keinen kohärenten und geordneten Vorstellungsablauf hervorbringen können, sondern dazu der Intervention von Aufmerksamkeit und Wille bedürfen, so vermag in der Evolutionsgeschichte die natürliche Anpassungstendenz des Menschen allein nicht die Entwicklung höherer geistiger Fähigkeiten zu tragen, sondern muss durch künstliche Erziehung und Formung ergänzt werden. Diesen Auffassungen liegt offenbar eine skeptische Konzeption der lebenden Natur zugrunde. Ribot schrieb dieser Natur ein weit geringeres Maß an Regelmäßigkeit und Ordnungsstreben zu, als dies Herbert Spencer oder auch Ernst Mach taten. 3.2. Die Anfänge der experimentellen Denkpsychologie: Die Würzburger Schule Wilhelm Wundt war der Ansicht, die höheren psychischen Vorgänge, etwa das Denken, könnten nicht experimentell im Labor untersucht werden, sondern nur mit den Methoden der Völkerpsychologie, also vor allem über das Studium schriftlicher Dokumente.90 Die übrigen führenden Vertreter der neuen Psychologie in Deutschland waren überwiegend anderer Ansicht und wollten der experimentellen Methode, in der viele von ihnen einen Ausweis der wissenschaftlichen Exaktheit wie der methodischen Eigenständigkeit ihrer Disziplin sahen, keine solchen Restriktionen auferlegen. Zu diesen führenden Psychologen der Generation nach Wundt gehörte Oswald Külpe, Professor für Philosophie und Direktor des Psychologischen Instituts in Würzburg. Auf seine Anregung hin und mit seiner Unterstützung begannen um das Jahr 1900 einige Psychologen an seinem Institut, das menschliche Denken auf experimentellem Wege zu untersuchen. Die Forschungen, die von diesen Psychologen zwischen 1900 und 1910 durchgeführt wurden, gelten gemeinhin als der Beginn der experimentellen psychologischen Erforschung des Denkens und als eine bedeutende Pionierleistung.91 _____________ 89 90 91
Ebd., S. 87, 177. Vgl. etwa: Wilhelm Wundt, Die Aufgabe der experimentellen Psychologie. In: W. W., Essays. Leipzig 1885, S. 127-153, hier S. 145. Vgl. dazu: Danziger, Wilhelm Wundt and the emergence of experimental psychology, S. 403; ders., Constructing the subject, S. 36f. Der britische Psychologe George Humphrey widmete 1951 vier der zehn Kapitel seiner Monographie Thinking. An Introduction to its Experimental Psychology den Arbeiten der Würzburger Denkpsychologie und rechtfertigte dies mit den Worten: „The contribution of this group still stands in its own right as the most massive, sustained, and acute experimental attack on the problem of thought.“ (Humphrey, Thinking, S. VII) – Die wichtigsten Arbei-
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Das Erkenntnisinteresse, das die Untersuchungen der Würzburger leitete, zielte darauf, die ‘Bestandteile’ von Denkvorgängen zu erfassen und zu klassifizieren sowie die Gesetze zu eruieren, die der Verbindung dieser Bestandteile, der Aufeinanderfolge von einzelnen mentalen Einheiten und Zuständen zugrunde lagen.92 Bei den Versuchen, welche die Würzburger zu diesem Zweck durchführten, handelte es sich um so genannte „Reaktionsversuche“93, genauer „Versuche über sogenannte Assoziationsreaktionen“94. Die Versuchspersonen in Watts Studie etwa erhielten die Aufgabe, zu dem ihnen dargebotenen „Reizwort“ – etwa ‘Kellner’ oder ‘Balg’ – einen „übergeordneten Begriff, einen untergeordneten Begriff, ein Ganzes, einen Teil, einen koordinierten Begriff, einen andern Teil eines ge-
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ten der Würzburger Denkpsychologie sind: K[arl] Marbe, Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik. Leipzig 1901; Henry J. Watt, Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. In: Archiv für die gesamte Psychologie 4 (1905), S. 289-436; Narziß Ach, Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche Chronoskop. Göttingen 1905; August Messer, Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken. In: Archiv für die gesamte Psychologie 8 (1906), S. 1-224; Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Über Gedanken. In: Archiv für die gesamte Psychologie 9 (1907), S. 297-365; ders., Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Über Gedankenzusammenhänge. In: Archiv für die gesamte Psychologie 12 (1908), S. 1-23; ders., Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. III. Über Gedankenerinnerungen. In: Archiv für die gesamte Psychologie 12 (1908), S. 24-92. – Vgl. zur Würzburger Denkpsychologie: Humphrey, Thinking, S. 3065; Lüer, Geburt eines neuen Mentalismus; Martin Kusch, Psychological Knowledge. A social history and philosophy. London, New York 1999, vor allem S. 18-70; Wilhelm Janke / Wolfgang Schneider (Hg.), Hundert Jahre Institut für Psychologie und Würzburger Schule der Denkpsychologie. Göttingen u.a. 1999. Dieses Erkenntnisinteresse wird allerdings in kaum einer dieser Untersuchungen ausdrücklich formuliert; in mehreren von ihnen vermisst man überhaupt irgendeine explizite Angabe der leitenden Fragestellungen. Das mag daran liegen, dass sich die Zielsetzung, die Bestandteile von Denkvorgängen sowie die Gesetze ihrer Abfolge zu eruieren, von selbst verstand. Beiläufige Hinweise auf dieses Untersuchungsziel finden sich in mehreren der Würzburger Studien; so heißt es in der Arbeit von Watt: „Wir gehen also von dem Psychischen, das wir kennen, aus, analysieren die gesammelten Beobachtungen und experimentellen Daten und nähern uns allmählich der Feststellung etwaiger einheitlicher Zustände und deren regelmäßiger Aufeinanderfolge als einem fernen Ziele.“ (Watt, Experimentelle Beiträge, S. 418) – Messer bezeichnet die verschiedenen Schritte oder Ebenen seiner Untersuchung als „Feststellung und Zergliederung des im Bewußtsein Vorgefundenen“ sowie „Versuche[ ], es zu erklären“ (Messer, Experimentell-psychologische Untersuchungen, S. 3). – Bühler geht von der allgemeinen Frage „Was erleben wir, wenn wir denken?“ aus und fragt dann nach den „Bestandstücke[n] unserer Denkerlebnisse“ (Bühler, Tatsachen und Probleme [...] I, S. 303, 314f.). Ach, Über die Willenstätigkeit, S. V. Watt, Experimentelle Beiträge, S. 289.
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meinsamen Ganzen“ zu finden und zu nennen.95 Danach sollten sie alles zu Protokoll geben, „was sie erlebt hatte[n], und alles, was sie über ihre Erlebnisse sagen wollte[n]“.96 Die Ergebnisse ihrer Experimente führten die Würzburger Psychologen vor allem zu zwei generellen Schlussfolgerungen, von denen eine die Klassifikation der mentalen Entitäten betraf, während die andere sich auf die Aufeinanderfolge dieser Entitäten bezog:97 Erstens zeigte sich, dass die herkömmliche Taxonomie mentaler Inhalte, die üblicherweise kaum mehr als Empfindungen und Vorstellungen enthielt,98 erweitert werden musste. Die Berichte der Versuchspersonen ergaben, dass in Denkvorgängen neben den anschaulichen Vorstellungen auch unanschauliche Bewusstseinsinhalte enthalten waren; als Bezeichnungen für diese unanschaulichen Inhalte wurden unter anderem ‘Bewusstseinslage’, ‘Bewusstheit’ oder ‘Gedanke’ vorgeschlagen.99 Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist das zweite Ergebnis der Würzburger von größerem Interesse, ihre Kritik an der traditionellen Assoziationstheorie: Die experimentellen Forschungen führten zu dem Ergebnis, dass sich anhand der Assoziationsprinzipien allein die Gerichtetheit der analysierten Denkvorgänge nicht erklären ließ.100 Es galt also, über die assoziativen Verbindungen der Vorstellungen – in der Ausdrucksweise der Würzburger: die „Reproduktionstendenzen“ – hinaus weitere Faktoren aufzufinden, die den Verlauf des Denkvorgangs determinierten und ihm seine Richtung gaben. Henry J. Watt zieht in seiner Studie zunächst die Wundt’sche Apperzeption, die er als eine innere Wahltätigkeit begreift, als Kandidaten für diesen zusätzlichen Einflussfaktor in Betracht, doch die experimentellen Resultate liefern ihm keinen Hinweis auf das Stattfinden solcher apperzeptiven Wahlvorgänge.101 Er kommt zu dem Schluss, dass die gestellte Aufgabe einen _____________ 95
Ebd. Für Beispiele vgl. etwa ebd., S. 322, Anm. 1: „Vgl. Balg. Ich suchte nach etwas anderem, ich weiß nicht was – sagte ‘Kind’. 1530 σ. / Ragout. Ich suchte nach dem (nachträglich eingefallenen) Wort ‘Gericht’, das nicht einfiel. Sagte dann ‘eßbarer Gegenstand’.“ 96 Ebd., S. 289. 97 Humphrey stellt fest, die Ergebnisse der Würzburger Forscher könnten grob den Rubriken ‘the matter of thinking’ und ‘the mechanism of thinking’ zugeordnet werden (vgl. Humphrey, Thinking, S. 31). Kusch gliedert seine Darstellung in drei Abschnitte, die der Reihe nach „the Würzburgers’ new method“, „the Würzburgers’ new conscious mental contents“ und „their new ‘laws of thought’“ behandeln (Kusch, Psychological knowledge, S. 18). 98 Vgl. Graumann, Erster Teil: Denken und Denkpsychologie, S. 23; Kusch, Psychological knowledge, S. 30. (Kusch nennt noch Gefühle und Willensakte als weitere Klassen mentaler Vorgänge, die in traditionellen Einteilungen gelegentlich enthalten waren.) 99 Vgl. Ach, Über die Willenstätigkeit, S. 210, 238; Bühler, Tatsachen und Probleme [...] I, S. 315, 317f. – Vgl. dazu: Kusch, Psychological knowledge, S. 30-43; Humphrey, Thinking, S. 30-65. 100 Vgl. Kusch, Psychological knowledge, S. 43-70; Humphrey, Thinking, S. 66-105. 101 Vgl. Watt, Experimentelle Beiträge, S. 358-360.
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maßgeblichen Einfluss auf den Verlauf des Denkvorgangs ausübe;102 allerdings nimmt er an, dass die Aufgabe ebenfalls als ein „Reproduktionsmotiv“ aufzufassen sei, welches aber von den an die Reizwörter gebundenen Reproduktionstendenzen verschieden und stärker als diese sei.103 Insofern bleiben seine Überlegungen noch weitgehend im Rahmen der assoziationstheoretischen Begriffe und Prämissen.104 Narziß Ach führte kurz darauf in seiner Studie Über die Willenstätigkeit und das Denken den Begriff der „determinierenden Tendenzen“ als Bezeichnung für die zusätzlichen Einflussfaktoren ein, die in Willenshandlungen und Denkvorgängen zu den assoziativen Reproduktionstendenzen hinzutraten und für die Ordnung und Zielgerichtetheit dieser Vorgänge verantwortlich waren.105 Die Verwendung dieses Begriffs zeigt, dass diese zusätzlichen Einflussfaktoren für Ach etwas grundlegend anderes als assoziative Reproduktionstendenzen waren und eine eigene Kategorie bildeten; Wesen und Ursprung der determinierenden Tendenzen allerdings blieben im Dunkeln, denn Ach charakterisierte sie praktisch nur über ihre Wirkungen, das heißt, indem er bestimmte Qualitäten von geistigen Prozessen beschrieb, die auf die determinierenden Tendenzen zurückzuführen seien.106 Watt und Ach kamen also beide zu dem Schluss, dass die Assoziationsprinzipien allein nicht die Zielgerichtetheit von Denkvorgängen erklären konnten, und schlugen in etwas unentschiedener und tentativer Weise zusätzliche Einflussfaktoren wie die Aufgabe oder die determinierenden Tendenzen vor. Sie verfügten aber nicht über eine umfassende neue Theorie der Grundprinzipien oder ‘Mechanismen’ der mentalen Vorgänge, in die sie ihre Ergebnisse hätten integrieren können. Einige der Psychologen, _____________ 102 Vgl. ders., S. 298-303, 420-422, 429. 103 Ebd., S. 420. 104 Ähnlich die Einschätzung Humphreys, der Watts Theorie als „emended associationalism“ charakterisiert (Humphrey, Thinking, S. 80). – Watt scheint allerdings die Differenz gegenüber der Assoziationslehre hervorheben zu wollen, indem er die Vielheit und Variabilität der den Denkvorgang beeinflussenden Faktoren betont: „Das Denken ist demnach das Zusammentreffen und -wirken verschiedener Gruppen von Faktoren in einem sie verbindenden Bewußtsein [...].“ (Watt, Experimentelle Beiträge, S. 422.) 105 Vgl. Ach, Über die Willenstätigkeit, S. 187, 195f., 209f., 228. 106 Auch Humphrey konstatiert, dass Ach die Funktionen der determinierenden Tendenz beschreibt, aber nichts über „its nature“ sagt und offenbar an dieser Frage auch nicht interessiert war; diese Tendenzen seien für Ach „hypothetical agencies“ gewesen, „known by their effects but apparently by their nature unobservable“ (Humphrey, Thinking, S. 85). – Oswald Külpe stellte in seiner Rezension zu Achs Untersuchung fest: „Wenn wir auch noch nichts Näheres über die Entstehung einer determinierenden Tendenz wissen, so ist doch ihre Wirksamkeit durch Achs und Watts Untersuchungen einigermaßen aufgeklärt worden.“ (O. Külpe, [Rez. von:] Narciss Ach, Ueber die Willenstätigkeit und das Denken. […]. Göttingen 1905. Vandenhoeck und Ruprecht. In: Göttingische gelehrte Anzeigen. 169. Jg., Nr. VII [Juli 1907]. S. 595-608, hier S. 607.)
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die in den folgenden Jahrzehnten an ihre Forschungen anknüpften, besaßen oder entwickelten solch eine Theorie. 3.3. Otto Selz: Intellektuelle Operationen als Reflexe Nachdem die Würzburger Psychologen die experimentelle Erforschung des Denkens auf den Weg gebracht hatten, setzten Psychologen an verschiedenen anderen Instituten diese Forschung fort. Zu den bekanntesten denkpsychologischen Studien, die im Zeitraum zwischen etwa 1910 und 1940 im deutschsprachigen Raum entstanden, gehörten die Arbeiten von Otto Selz und den Gestaltpsychologen Max Wertheimer und Karl Duncker. Eine Gemeinsamkeit dieser Untersuchungen kann man darin sehen, dass sie sich ganz oder zum großen Teil auf eine bestimmte Art des Denkens konzentrierten, auf das „produktive Denken“ oder das „Problemlösen“. Diese Fokussierung hatte zur Folge, dass sich auch die Frageweise dieser Studien gegenüber derjenigen der Würzburger Arbeiten verschob: Das Ziel bestand nun nicht mehr darin, die in Denkvorgängen enthaltenen mentalen Einheiten sowie die Gesetze ihrer Verbindung und Aufeinanderfolge zu bestimmen, sondern darin, die Operationen, Arbeitsschritte oder Lösungsetappen zu identifizieren, aus denen sich der produktive Vorgang oder die Problemlösung zusammensetzte.107 Das untersuchte Denken wurde von vornherein wesentlich über seine Funktion oder Leistung definiert, und die Frage lautete, auf welche Weise, mithilfe welcher Operationen es diese Leistung vollbrachte; der Begriff der ‘Operationen’ spielte sowohl bei Selz als auch bei Duncker eine wichtige Rolle. Diese Konzentration auf die problemlösende oder produktive Funktion des Denkens war es auch, die die Arbeiten von Selz, Wertheimer und Duncker später für die Pioniere der kognitiven Psychologie, wo das Denken tendenziell mit dem Problemlösen identifiziert wurde, interessant und ‘anschlussfähig’ machte. Allen Newell und Herbert A. Simon nennen in ihrem Buch Human problem solving die genannten drei Psychologen als Vertreter der „Cognitive Psychology Before 1945“ und erkennen Selz als einen wichtigen Anreger ihrer eigenen Arbeit an.108 – Stellt also das Interesse für das produktive Denken eine Gemeinsamkeit von Selz, Wertheimer und Duncker dar, so entwickelten sie gleichwohl sehr unterschiedliche Auffassungen über das Wesen dieses Denkens; vor allem zwischen _____________ 107 Der Unterschied zwischen den Erkenntniszielen von Selz und den Würzburgern wird auf ähnliche Weise beschrieben bei: Michel Ter Hark, Popper, Otto Selz, and the Rise of Evolutionary Epistemology. Cambridge 2004, S. 91. 108 Vgl. Newell / Simon, Human problem solving, S. 874f.
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den Theorien von Selz auf der einen und denen der Gestaltpsychologen auf der anderen Seite gab es beträchtliche Differenzen. Selz’ denkpsychologische Forschungen fanden ihren schriftlichen Niederschlag vor allem in seiner umfangreichen Habilitationsschrift, die von Oswald Külpe betreut wurde und deren zwei Bände 1913 und 1922 erschienen.109 Die Arbeiten der Würzburger Schule bildeten einen wichtigen Hintergrund für seine Untersuchungen,110 auch wenn er schließlich eine Theorie des Denkens entwickelte, die sich grundlegend von den Theorien der Würzburger unterschied. An den Anfang seiner Studie stellte Selz eine klare Formulierung der Frage, die die Würzburger Watt und Ach mit ihrer Kritik an der Assoziationstheorie aufgeworfen, mit ihren Konzepten der „Aufgabe“ und „determinierenden Tendenzen“ aber – in Selz’ Augen – noch nicht befriedigend beantwortet hatten: die Frage nach den „richtunggebenden Faktoren, die den geordneten Ablauf des Denkens herbeiführen“.111 Um diese Frage zu beantworten, entwarf Selz auf der Grundlage seiner experimentellen Ergebnisse eine Theorie des Denkens, die einen vollständigen Bruch mit den meisten älteren Theorien bedeutete. Diese herkömmlichen Theorien enthielten nach Selz mehrere fatale Fehler: Zum einen betrachteten sie das Denkgeschehen als einen Ablauf von _____________ 109 Vgl. Otto Selz, Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Untersuchung. Erster Teil. Stuttgart 1913; ders., Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Zweiter Teil: Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums. Bonn 1922. – Selz hat außerdem die Hauptpunkte seiner Theorie in einigen Aufsätzen und kleineren Schriften zusammengefasst; vgl.: ders., Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Kurzgefasste Darstellung. Bonn 1924; ders., Die Umgestaltung der Grundanschauungen vom intellektuellen Geschehen. In: Kant-Studien 32 (1927), S. 273280. – Vgl. zu Selz’ Theorie: Humphrey, Thinking, S. 132-149; Theo Herrmann, Otto Selz und die Würzburger Schule. In: Janke / Schneider (Hg.), Hundert Jahre Institut für Psychologie und Würzburger Schule der Denkpsychologie, S. 159-167; Alexandre Métraux / Theo Herrmann, Zur Biographie und Werkgeschichte von Otto Selz. In: Otto Selz, Wahrnehmungsaufbau und Denkprozeß. Ausgewählte Schriften. Hg. von A. M. und Th. H. Bern u.a. 1991, S. 1-22; Ter Hark, Popper, Otto Selz, and the Rise of Evolutionary Epistemology, bes. S. 91-114. 110 So waren auch die Experimente, auf die Selz seine Theorie des Denkens stützte, weitgehend von derselben Art wie die, welche die Würzburger Forscher im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts durchgeführt hatten. Den Versuchspersonen wurden meist einfache Aufgaben gestellt wie die, einen übergeordneten Begriff zu dem dargebotenen Reizwort zu nennen. Das Reizwort lautete dann etwa: ‘Landwirt’. Die Versuchsperson sollte mit einem passenden Begriff antworten (also etwa: ‘Beruf’) und danach alles zu Protokoll geben, was sie zwischen der Darbietung des Reizworts und der Antwort erlebt hatte. – Zu diesem Beispiel vgl.: Selz, Die Umgestaltung, S. 274. Vgl. auch: ders., Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, S. 8f. 111 Selz, Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, S. 1; vgl. auch das Vorwort des zweiten Bandes von Selz’ Untersuchung, wo er als ihren Ausgangspunkt die Frage nennt, wie „Richtung und Ordnung in unser Denken kommen“ (ders., Zur Psychologie des produktiven Denkens, S. VII).
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Vorstellungen; und zum anderen nahmen sie an, dass dieses Geschehen einen chaotischen „Untergrund“ in Gestalt diffuser, miteinander konkurrierender Assoziationen oder ‘Reproduktionstendenzen’ besitze, auf den dann ordnende Faktoren einwirken.112 Aber das intellektuelle Geschehen, so Selz, ist seinem Wesen nach nicht ein Ablauf von Vorstellungen, sondern von Operationen, genauer von „intellektuellen Operationen“113; diese werden jeweils durch spezifische „Auslösungsbedingungen“114 aktiviert und sind von vornherein „so beschaffen, daß sie zu zweckmäßigen Gebilden führen müssen“115. Diese zwei Eigenschaften, die eindeutige Zuordnung zu Auslösungsbedingungen und den ‘objektiv zweckmäßigen oder sinnvollen’116 Charakter, haben die intellektuellen Operationen mit den motorischen Reflexen gemeinsam. Die „Vermutung einer weitgehenden Analogie zwischen der Struktur der intellektuellen und der motorischen Prozesse“, so Selz im Vorwort seiner Studie, „lag der Problemstellung von Anfang an zugrunde“, und sie habe sich im Verlauf der Untersuchung bestätigt.117 Hinsichtlich ihrer Funktion für die Aufgabenbewältigung wurden die intellektuellen Operationen von Selz als „Lösungsmethoden“ charakterisiert; was in diesen Operationen ‘bearbeitet’ wird, sind „Wissenskomplex[e]“; zu den intellektuellen Grundoperationen zählen etwa „Komplexergänzung, Abstraktion oder Kombination“.118 Selz unterschied zwischen zwei Grundarten des Denkens, dem reproduktiven und dem produktiven Denken. Das produktive Denken bedient sich prinzipiell derselben Operationen wie das reproduktive, aber indem es alte Lösungsmethoden auf neuartige Situationen anwendet und auf der Grundlage von bewährten Lösungsmethoden neue ausbildet, kann es zu neuen Erkenntnissen führen.119 _____________ 112 Vgl. ders., Zur Psychologie des produktiven Denkens, S. VIII; ders., Die Umgestaltung, S. 273. 113 Vgl. ders., Die Umgestaltung, S. 275f., Zitat S. 276. 114 Ebd., S 276. 115 Ders., Zur Psychologie des produktiven Denkens, S. VIII. 116 „Im Gegensatz zu einem System diffuser Reproduktionen besitzt ferner das Teilgeschehen in einem System spezifischer Reaktionen, z. B. in einem System von Reflexbewegungen, einen ganzheitsbezogenen Charakter, es erfüllt eine bestimmte Teilleistung in der Gesamtleistung des Systems und ist daher objektiv zweckmäßig oder sinnvoll.“ (Ders., Die Umgestaltung, S. 276; kursivierte Teile im Original gesperrt.) 117 Ders., Zur Psychologie des produktiven Denkens, S. VIIIf.; vgl. zur Ähnlichkeit zwischen intellektuellen Operationen und Reflexen auch: ders., Die Umgestaltung, S. 273, 276; ders., Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Kurzgefasste Darstellung, S. 11. 118 Ders., Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Kurzgefasste Darstellung, S. 11-14. 119 Vgl. ders., Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums, S. XIIf.
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Selz verfolgte ausdrücklich das Ziel, das Denken ebenso wie alle psychischen Vorgänge auf der Grundlage von Naturgesetzen zu erklären und so die Psychologie mit den anderen Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie zu verbinden: „Wir stehen vielleicht am Anfange einer Biologie von innen“, so konstatiert er am Ende einer Zusammenfassung seiner Theorie des Denkens; die „[...] Psychologie tritt damit in die Reihe der biologischen Wissenschaften.“120 Mit seiner Rückführung des produktiven Denkens auf Operationen mit konstanten Auslösungsbedingungen wollte er auch der Auffassung entgegentreten, dass sich die menschliche Geistestätigkeit aufgrund ihres schöpferischen Charakters der naturgesetzlichen Erklärung entziehe.121 Die Schlüsselbegriffe, deren er sich zu diesem Zweck bediente, waren die des Reflexes, der Operationen und der Lösungsmethode: Die zugrunde liegenden Prozesse oder ‘Mechanismen’ des Denkens konnten demnach als verwandt mit den in der Physiologie erforschten motorischen Reflexen gelten; das Denken begriff Selz prinzipiell als ein Lösen von Aufgaben, die intellektuellen Operationen als Lösungsmethoden, und diesen Operationen und ihren Leistungen schrieb er einen ‘objektiv zweckmäßigen und sinnvollen’, „Leben bezw. Lebenswerte fördernden“122 Charakter zu. Hatte die klassische Assoziationstheorie das Denken und alle mentalen Vorgänge mithilfe mechanischer, also physikalischer Gesetze zu erklären gesucht, so stützte sich Selz’ naturalistische Erklärung des Denkens auf Konzepte der Biologie.123 3.4. Gestaltpsychologie: Umzentrierung und Einsicht In den 1910er Jahren entwickelten Wolfgang Köhler, Max Wertheimer und Kurt Koffka in enger Zusammenarbeit einen neuen Ansatz zur psychologischen Erforschung von Wahrnehmung, Denken und Verhalten, den sie als ‘Gestalttheorie’ bezeichneten.124 In den 1920er Jahren hatten sie sich als eine eigene ‘Schule’ etabliert; sie wird gewöhnlich als die Berliner Schule der Gestaltpsychologie bezeichnet, weil ihre drei Hauptvertreter alle zwischen 1900 und 1910 in Berlin bei Carl Stumpf studiert oder _____________ 120 Ders., Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Kurzgefasste Darstellung, S. 31. 121 Aufschlussreich hierzu: Ders., Kants Stellung in der Geistesgeschichte [1923/1924]. In: Otto Selz, Wahrnehmungsaufbau und Denkprozess, S. 145-154, hier S. 153f. 122 Ders., Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Kurzgefasste Darstellung, S. 30. 123 Zum ‘biologisch-funktionalistischen Gedankengut’ bei Selz vgl. auch: Herrmann, Otto Selz, S. 165. 124 Vgl., auch zum Folgenden: Ash, Gestalt psychology.
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promoviert und von ihm wesentliche Prägungen erfahren hatten.125 Köhler wurde außerdem 1922 Stumpfs Nachfolger in Berlin.126 Das erste Werk aus ihrer Schule, das sich dem Thema der intellektuellen Prozesse näherte, war Köhlers Studie über Intelligenzprüfungen an Menschenaffen (1917/1921);127 darin führte Köhler den Begriff der Einsicht beziehungsweise des einsichtigen Verhaltens ein, der auch in späteren gestaltpsychologischen Untersuchungen zum Denken eine wichtige Rolle spielen sollte.128 Dem menschlichen Denken wandte sich dann erstmals Wertheimer in seinem 1925 veröffentlichten Aufsatz „Über Schlussprozesse im produktiven Denken“129 zu; Karl Duncker, ein Schüler Köhlers, legte mit seinen 1926 und 1935 erschienenen Arbeiten die eingehendsten gestaltpsychologischen Studien über das Denken aus jenem Zeitraum vor.130 Wertheimer und Duncker analysierten den Ablauf von produktiven Denkprozessen und beschrieben deren Struktur mithilfe gestalttheoretischer Konzepte wie ‘Umzentrierung’ und ‘Einsicht’. Die übergeordnete Frage, der Wertheimer in seiner Abhandlung nachgehen will, ist die Frage danach, „[w]ie recht eigentlich das Denken arbeite; was vor sich gehe, wenn das Denken irgendwann wirklich vorwärtsdringt“131. Die speziellere Fragestellung, die er sich vorlegt, knüpft an „ein altes Problem der Logik an[ ]“ und wird von ihm so formuliert: Wie kommt es, dass syllogistische Schlussprozesse nach dem Modus Barbara, wenn wir sie im täglichen Leben vollziehen, meistens „erstaunlich dürftig“, „belanglos“, „ja leer und nichtssagend“ erscheinen, während sie in manchen Fällen „etwas von dem Schönen des Eindringens, Vorwärtsdringens von Erkenntnis“ haben?132 Wertheimer sucht diese Frage nicht anhand experimenteller Untersuchun-
_____________
125 Vgl. ebd., S. 28-41, 103-117. 126 Vgl. ebd., S. 203. 127 Vgl. Wolfgang Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Zweite, durchgesehene Auflage der „Intelligenzprüfungen an Anthropoiden I“ [...]. Berlin 1921. – Zu diesem Werk vgl.: Ash, Gestalt psychology, S. 148-167; Humphrey, Thinking, S. 161-166. 128 Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen, vor allem S. 1-3, 137. Vgl. dazu Ash, Gestalt psychology, S. 157-159. 129 Vgl. Max Wertheimer, Über Schlussprozesse im produktiven Denken. In: M. W., Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie. Neuherausgabe. Erlangen 1925, S. 164-184. Wertheimer befasste sich auch in den folgenden Jahren mit dem Thema des produktiven Denkens; 1945 erschien posthum seine Studie Productive Thinking (vgl. ders., Produktives Denken). – Zu Wertheimers Aufsatz „Über Schlussprozesse im produktiven Denken“ vgl.: Ash, Gestalt psychology, S. 190-195. 130 Vgl. Karl Duncker, A Qualitative (Experimental and Theoretical) Study of Productive Thinking (Solving of Comprehensible Problems). In: Journal of Genetic Psychology / Pedagogical Seminary 33 (1926), S. 642-708; ders., Zur Psychologie des produktiven Denkens. Mit 27 Abbildungen. Berlin 1935. – Zu Dunckers Studien vgl.: Ash, Gestalt psychology, S. 238-240; Humphrey, Thinking, S. 166-171. 131 Wertheimer, Über Schlussprozesse, S. 164. 132 Ebd., S. 165.
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gen zu beantworten, sondern entwirft fiktive Alltagssituationen, in denen Personen anhand von syllogistischen Schlussfolgerungen zu neuen Einsichten gelangen. Für diese Vorgänge ist es kennzeichnend, dass eine Person für einen Moment beide Prämissen kennt, ohne noch die Schlussfolgerung zu sehen; dann vollzieht sich eine „Umzentrierung“133, die an den Gegenständen, um die es in den Prämissen geht, andere Merkmale hervortreten lässt als bisher, so dass die Beziehung zwischen den Prämissen deutlich wird und zu der Konklusion führt. So ein Schlussprozess wird als sinnvoll erfahren, wenn diese entscheidende Beziehung nicht nur auf kontingenten Eigenschaften der betreffenden Gegenstände beruht, sondern durch eine „innere Notwendigkeit“, einen „Zusammenhang aus dem Innern der Struktur“ gegeben wird.134 Duncker ging in seinen Untersuchungen von ähnlichen Fragen aus wie Wertheimer, bearbeitete sie aber auf der Grundlage ausgedehnter Versuchsreihen und entwickelte eine weit detailliertere Beschreibung von produktiven Denkvorgängen. Die Probleme, die seine Versuchspersonen zu lösen hatten, waren ungleich komplexer als die Fragen, mit denen die Würzburger und Selz ihre Versuchspersonen konfrontierten. Eine der von ihm verwendeten Aufgaben lautete: „gesucht ein Verfahren, um einen Menschen von einer inoperablen Magengeschwulst zu befreien mit Hilfe von Strahlen, die bei genügender Intensität organisches Gewebe zerstören – unter Vermeidung einer Mitzerstörung der umliegenden gesunden Körperpartien.“135 Die Versuchspersonen sollten laut nachdenken und alle Einfälle mitteilen.136 In seiner Auswertung der Versuche stellt Duncker zunächst fest, dass die endgültige Lösung des Problems „durch sukzessive Problemumformungen vermittelt“ werde und dass diese „Problemumformungen oder Lösungsphasen ihrerseits durch allgemeine ‘heuristische Methoden’ vermittelt werden“137; diese heuristischen Methoden, die Duncker als „Situationsanalyse“ und „Zielanalyse“ bezeichnet, bestehen etwa im Variieren einzelner Momente der Problemsituation, in der Klärung der Ursachen des Konflikts und der Analyse des Ziels.138 Duncker sucht ferner die Natur dieser heuristischen Methoden genauer zu klären und kommt zu dem Schluss, dass es sich um Formen „einsichtiger Ablesungen“ handelt, also – verkürzt gesagt – um Formen des Aspektwechsels, _____________ 133 134 135 136
Ebd., S. 179, Anm. 1; vgl. auch ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 179-184, Zitate S. 183. Duncker, Zur Psychologie des produktiven Denkens, S. 1. Ebd., S. 2. – Die ‘beste’ Lösung war nach Duncker: „Kreuzung mehrerer schwacher Strahlenbündel in der Geschwulst, so daß nur hier die zur Zerstörung nötige Strahlenintensität erreicht wird.“ (Ebd., S. 3, Anm. 1). 137 Ebd., S. 55f. 138 Vgl. ebd., S. 24-28.
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die an einem Sachverhalt bisher unbeachtete Funktionen hervortreten lassen.139 Es fällt auf, dass einige Fragen und Zielsetzungen, die in den Studien der Würzburger sowie bei Selz im Vordergrund gestanden hatten, bei Wertheimer und Duncker keine Rolle spielten. Keiner von beiden setzte sich länger mit der Assoziationstheorie auseinander, die aufgrund ihres mechanistischen und elementaristischen oder atomistischen Charakters von den Gestaltpsychologen grundsätzlich als verfehlt abgelehnt wurde.140 Doch sie versuchten auch nicht wie Selz, den Ablauf von Denkprozessen auf elementare biologische oder physiologische Funktionen wie den Reflex zurückzuführen. Statt dessen beschrieben sie die Phasen und Wendepunkte des Denkprozesses im Hinblick darauf, wie sie von der denkenden Person erlebt und welche Aspekte oder Strukturen der Problemsituation jeweils von ihr wahrgenommen werden. Damit zeigten sich Wertheimer und Duncker auch als Schüler von Carl Stumpf141 und letztlich als Erben von Stumpfs Lehrer Franz Brentano. Dieser hatte zwischen zwei Teildisziplinen der Psychologie unterschieden, der deskriptiven Psychologie (oder Psychognosie) und der genetischen Psychologie; Aufgabe der deskriptiven Psychologie war die Beschreibung und Einteilung der psychischen Phänomene, während die genetische Psychologie nach den kausalen Entstehungsgesetzen dieser Phänomene fragte.142 Was die Methode der deskriptiven Psychologie anging, so sollte sie sich auf die innere Wahrnehmung stützen, in der Brentano zufolge die psychischen Phänomene mit unmittelbarer Evidenz erfasst werden.143 Sein Schüler Stumpf blieb dieser Auffassung von der Priorität der beschreibenden gegenüber der erklärenden Psychologie verpflichtet.144 – Der deskriptive oder (im weiten Sinn) _____________
139 Vgl. ebd., S. 55-74; der Ausdruck „einsichtige[ ] Ablesungen“ auf S. 72. 140 Duncker erachtet es als offensichtlich, dass die von ihm gestellte Frage nach der „Lösungsentstehung“ nicht durch den Rekurs auf Assoziationen beantwortet werden kann; vgl. ebd., S. 21. – Zur generellen Ablehnung der Assoziationstheorie durch die Gestaltpsychologen vgl.: Humphrey, Thinking, S. 150; Ash, Gestalt psychology, etwa S. 135f., 175; Barry Smith, Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano. Chicago, La Salle (Ill.) 1994, S. 244. 141 Zu Stumpf als akademischem Lehrer der Berliner Gestaltpsychologen vgl.: Ash, Gestalt psychology, S. 28-41, 103-117. 142 Vgl. Franz Brentano, Deskriptive Psychologie. Aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Roderick M. Chisholm und Wilhelm Baumgartner. Hamburg 1982, S. 1-9. 143 Vgl. ders., Psychologie vom empirischen Standpunkt. Mit ausführlicher Einleitung, Anmerkungen und Register hg. von Oskar Kraus. Erster Band. Leipzig 1924, S. 14, 128f. 144 Vgl. Ash, Gestalt psychology, S. 39f. – Für eine Äußerung Stumpfs zu dieser Frage vgl. etwa: Carl Stumpf, Richtungen und Gegensätze in der heutigen Psychologie. In: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik. 19. Oktober 1907. Spp. 903914, hier Spp. 906f. Dort schreibt Stumpf: „Ganz mißlingen müssen aber Versuche, durch subtilste Ausbildung physiologischer Vorstellungsweisen Erklärungen zu gewinnen, wenn man die zu erklärenden psychischen Vorgänge nicht vorher so gewissenhaft wie möglich in sich selbst studiert und analysiert hat.“
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phänomenologische Ansatz sowie die Ablehnung der elementaristischen Assoziationstheorie verbanden die Gestaltpsychologen mit Philosophen wie William James, Bergson, Dilthey und Husserl, die ebenfalls mit unterschiedlichen Akzentsetzungen dafür eintraten, die psychischen Vorträge aus der Erlebnisperspektive zu erforschen und sie als komplexe Ganzheiten zu beschreiben, anstatt sie in atomartige Elemente zu zerlegen.145 Im Gegensatz allerdings zu den meisten dieser Philosophen hielten die Gestaltpsychologen gleichwohl die Anwendung naturwissenschaftlicher Verfahren in der Psychologie für möglich und geboten.146 Von Selz unterschieden sich Wertheimer und Duncker ferner in ihrer Charakterisierung der Ergebnisse eines erfolgreichen Denkvorgangs. Als definierendes Merkmal des erfolgreichen produktiven Denkens oder Problemlösens galt beiden, dass in ihm tatsächliche Struktureigenschaften der Sachverhalte erfasst werden: Die „Zentrierung“ als eine Form des Umzentrierens führt, so Wertheimer, „zum Eindringen in einen Sachverhalt, zur Erfassung eines bestimmten Strukturzusammenhangs des Ganzen; zum Erfassen innerer Notwendigkeiten.“147 Während Selz den Erfolg und damit auch den Wert des produktiven Denkens tendenziell mit der Bewältigung des Problems als solcher gleichsetzt, ihn also eher im Sinne eines erkenntnistheoretischen Pragmatismus auffasst, besteht für Wertheimer und Duncker der Erfolg des Denkens darin, dass es Strukturen der Wirklichkeit ‘begreift’, sie ‘einsichtig’ erfasst, in sie ‘eindringt’.148 Beide entwerfen in ihrer Theorie des Denkens somit auch Ansätze einer realistischen Erkenntnistheorie oder konzipieren das Denken zumindest so, dass es mit einer solchen Erkenntnistheorie vereinbar wäre. Auch mit dem Bekennt_____________ 145 Zu den Berührungspunkten zwischen diesen Philosophen vgl.: Ash, Gestalt psychology, S. 68-79, zu dem Verhältnis der Gestaltpsychologen ihnen gegenüber ebd., S. 69. Vgl. ferner: Herbert Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction. Third revised and enlarged edition. With the collaboration of Karl Schuhmann. The Hague, Boston, London 1982, S. 109-111 (zu Husserl und Dilthey), 428f. (über die Affinitäten zwischen Bergsons Philosophie und der Phänomenologie). 146 Vgl. Ash, Gestalt psychology, S. 69. 147 Wertheimer, Über Schlussprozesse, S. 181; vgl. auch ebd., S. 182-184. Bei Duncker finden sich verwandte Ausführungen, wenn auch in etwas anderen Begriffen formuliert, unter anderem in dem Kapitel „Über totale Einsicht bzw. Evidenz“; vgl. Duncker, Zur Psychologie des produktiven Denkens, S. 55-74; vgl. auch ebd., S. 24-28. Im Vorwort seines Buchs erklärt er, seine Forschungen zum Phänomen der Einsicht stellten einen Versuch dar, „das alte erkenntnistheoretische Problem, wie ein Erkennen ‘sachlicher Notwendigkeiten’ möglich sei, von einem neuen Ansatz her – teilweise – zu lösen“; sie schließen sich, so Duncker, damit „an eine Problementwicklung an, die durch die Namen HUME, KANT, HUSSERL und WERTHEIMER [...] gekennzeichnet ist.“ (Ebd., S. IV) – Vgl. auch ders., A Qualitative [...] Study of Productive Thinking, S. 696-702. 148 Vgl. Wertheimer, Über Schlussprozesse, S. 182 („beim ‘Begreifen’ im prägnanten Sinne des Wortes“), 181, 184; Duncker, Zur Psychologie des produktiven Denkens, S. 25 (die Situationsanalyse dient dazu, „tiefer in die Natur, in die Gründe des Konflikts einzudringen“).
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nis zum erkenntnistheoretischen Realismus und dem Interesse an der Frage, wie die realen Struktureigenschaften von Sachverhalten in Denkvorgängen erfasst werden können, stehen sie in der Tradition der Philosophie Brentanos.149 3.5. Zusammenfassung Theorien des Denkens, so wurde in den Vorbemerkungen zu diesem Untersuchungsteil festgestellt, beschreiben mentale Prozesse oder Mechanismen, aus denen Produkte hervorgehen sollen, die als Manifestation von Rationalität oder Kreativität bewertet werden: „Any theory of thought constructs a theory of the structure of mind, of the transformations that give rise to creative, rational, contemplative products.“150 Eine Theorie des Denkens verbindet also Aussagen über die Struktur des Geistes und über mentale ‘Transformationen’ mit Aussagen darüber, was ‘kreative’ und ‘rationale’ Produkte sind. Die Entwicklungen in der psychologischen Denkforschung, die in diesem Teilkapitel untersucht wurden, betrafen sowohl die Auffassungen über „the structure of mind“ und über die dem Denken zugrunde liegenden mentalen „transformations“ als auch die Auffassungen darüber, was überhaupt „creative, rational, contemplative products“ sind. Ausdrücklich thematisiert wurde dabei aber vor allem die Frage nach den mentalen ‘Transformationen’ oder Mechanismen, auf denen das Denken beruhte. Die traditionelle Antwort auf diese Frage stützte sich auf die Assoziationstheorie, beschrieb also die grundlegenden mentalen Prozesse als letztlich mechanische Vorgänge, die sich zwischen isolierten, atomartigen mentalen Elementen abspielten. Als diese Theorie an Überzeugungskraft verloren hatte, entwarf Otto Selz eine neue Sicht auf die dem Denken zugrunde liegenden mentalen „transformations“, indem er sie als weitgehend analog zu den motorischen Reflexen auffasste, mithin als determiniert durch die konstanten Zuordnungen von spezifischen Auslösungsbedingungen und Reaktionen. Das Modell des Geistes, an dem sich Selz orientierte, bildete nicht mehr wie bei der Assoziationstheorie eine ‘Physik’ oder eine ‘Chemie’ des Geistes, sondern eine „Biologie von innen“151 – wobei aber hinzugefügt werden muss, dass die Biologie in Selz’ Verständnis offenbar auf lückenlosen Kausalgesetzen beruhte, so dass seine biologisch und physiologisch inspirierte Theorie des Denkens als eine deterministische erschien. Eine alternative Sicht auf die mentalen _____________ 149 Vgl. dazu (mit Bezug auf Wertheimer): Smith, Austrian Philosophy, S. 269. 150 Mandler / Mandler, Introduction, S. 4. 151 Selz, Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Kurzgefasste Darstellung, S. 31.
3. Von der Assoziation zu Reflexen und Gestalten
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„transformations“, die einen Denkvorgang ausmachen, entwickelten die Gestaltpsychologen. Ohne die Frage nach Erklärungen für den Denkverlauf und nach den Beziehungen zwischen physiologischen und psychischen Vorgängen prinzipiell zu verwerfen, konzentrierten sie sich zunächst auf die Beschreibung der Denkprozesse aus der Perspektive der denkenden Person; dabei legten sie den Akzent auf die strukturellen, ganzheitlichen Eigenschaften der Problemsituation und des Denkprozesses und beschrieben den Verlauf des Prozesses nicht als determiniert durch feste Zuordnungen von Auslösungsbedingungen und Reaktionen, sondern als ein aktives und oft kreatives Suchen und Probieren. Aber nicht nur die Konzeptionen der mentalen „transformations“, auch die Auffassungen über das Wesen von „creative, rational, contemplative products“ veränderten sich in der Psychologie zwischen 1890 und den 1930ern, ohne dass diese Veränderungen allerdings in den hier untersuchten Studien explizit thematisiert worden wären. Für die klassische Assoziationstheorie bestanden die rationalen Produkte des Denkens in Kombinationen oder Abfolgen von Vorstellungen, die die raumzeitlichen und kausalen Beziehungen sowie die Ähnlichkeiten zwischen Dingen der Welt abbildeten. Wundt und Ribot ergänzten oder modifizierten diese Konzeption jeder auf seine Weise: Jener machte die ordnende Zusammenfassung einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zum eigentlichen Wesensmerkmal von Denkprodukten, dieser betonte die Ordnung und Kohärenz, welche in Denkvorgängen die willkürliche Aufmerksamkeit dem chaotischen Treiben der Assoziationen aufzwingt. In der experimentellen Erforschung des Denkens dagegen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einsetzte, etablierte und verbreitete sich nach und nach die Auffassung, dass die Produkte des Denkens ihrem Wesen nach Problemlösungen sind.152 Diese Überzeugung war durch die evolutionsbiologische Sicht auf das Denken als einer Form der Anpassung an die Umwelt vorbereitet worden, dürfte aber auch durch die schlichte Tatsache befördert worden sein, dass das Verständnis von Denken als Problemlösen sich zu der experimentellen Methode gewissermaßen kongenial verhielt: Das Lösen von Aufgaben oder Problemen ist eine Leistung, die sich einfacher in eine Experimentsituation übersetzen lassen dürfte als etwa das Zusammenfassen und Gliedern von Vorstellungen oder die Herstellung mentaler Abbilder von Weltausschnitten. Aber die Auffassung von Denkprodukten als Problemlösungen beherrschte nicht allein und unangefochten die experimentelle Denkpsychologie. Für Max Wertheimer zeichnete sich ein pro_____________ 152 Der Begriff des Problemlösens hat sich in der psychologischen Denkforschung dauerhaft etabliert; vgl. etwa: Anderson, Cognitive Psychology, S. 255-364; Gerd Lüer / Hans Spada, Denken und Problemlösen. In: Hans Spada (Hg.), Lehrbuch Allgemeine Psychologie. 2., korr. Aufl. Bern [u.a.] 1992, S. 189-280.
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duktiver Denkvorgang nicht durch die erfolgreiche Lösung eines Problems aus, sondern dadurch, dass er zu einer Einsicht in innere Strukturzusammenhänge eines Sachverhalts führte;153 bei Karl Duncker stand die Rede vom Denken als Problemlösen neben der Wertheimer’schen Deutung des Denkergebnisses als eines einsichtigen Erfassens notwendiger Zusammenhänge. Das Denken als ein Problemlösen zu konzipieren bedeutet zumindest der Tendenz nach, es als Instrument im Dienste praktischer Aufgaben zu betrachten. Die allmähliche Verbreitung und Durchsetzung dieser Konzeption in der Psychologie besaß eine Parallele in der Philosophie, und zwar in Gestalt des entstehenden Pragmatismus sowie des Aufstiegs ‘biologischer’ Erkenntnistheorien. Diese Entwicklungen provozierten heftige Debatten um die Frage, was den eigentlichen Wert des Denkens ausmache.
4. Debatten über Wesen und Leistung des Denkens Die Untersuchungen des Denkens in der neuen Psychologie, die im vorangegangenen Teilkapitel analysiert wurden, kreisten in erster Linie um die Frage, welche elementaren mentalen Prozesse oder Mechanismen dem Denken zugrunde lagen. Im Zuge dieser Forschungen verschoben sich aber auch die Auffassungen darüber, was die spezifische Leistung des Denkens ist. Dieses Teilkapitel wendet sich nun Debatten zu, die sich hauptsächlich in der Philosophie abspielten und in denen es ausdrücklich um die Frage ging, wie die charakteristischen Leistungen des Denkens zu beschreiben seien. Die psychologischen Untersuchungen setzten meist voraus, dass das Denken eine bestimmte Leistung vollbringt, und fragten danach, wie es das tut; die im Folgenden zu behandelnden philosophischen Stellungnahmen widmeten sich der Frage, worin überhaupt die spezifische Leistung des Denkens bestand. Diese Frage ist eng verknüpft mit der Frage, was den Wert oder die Dignität des Denkens ausmacht und wie dieser Wert einzuschätzen sei. Diese Fragen nach Leistung und Wert des Denkens wurden vor allem in Erörterungen zur Erkenntnistheorie verhandelt, denn die fast ausschließlich ‘mentalistisch’ geprägte Erkenntnistheorie jener Zeit suchte zu klären, welchen Status und welchen Wert die Produkte des menschlichen _____________ 153 In einer später entstandenen Untersuchung über ‘produktives Denken’ widersprach Wertheimer ausdrücklich der Auffassung, dass das Denken bloß im Lösen gestellter Aufgaben bestehe; das gestellte Problem selbst könne „sinnvoll oder töricht“ sein, und zum Denken gehöre es auch, gegebenenfalls ein Ziel oder Problem als töricht zu erkennen und fallen zu lassen. (Vgl. Wertheimer, Produktives Denken, S. 89-91, Zitat S. 90.)
4. Debatten über Wesen und Leistung des Denkens
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Denkens hatten, ob bzw. in welchem Maße sie etwa willkürliche Erzeugnisse des menschlichen Geistes oder aber exakte Abbildungen der Außenwelt waren. Es ist kaum möglich, aber auch nicht sinnvoll, hier alle wesentlichen Entwicklungen der philosophischen Erkenntnistheorie im deutschsprachigen und französischen Raum zwischen etwa 1890 und 1940 nachzuzeichnen. Ich werde mich im Folgenden daher auf einen Diskussionsstrang konzentrieren, der mir für die Entwicklungen jenes Zeitraums wichtig und charakteristisch zu sein scheint und der auf jeden Fall als Hintergrund für Musil und Valéry von Bedeutung war: Gemeint sind die Diskussionen um eine biologische Deutung des menschlichen Denkens und Erkennens, wie sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Philosophen entwickelt wurde und unter anderem in der um 1900 entstehenden Richtung des Pragmatismus aufgegriffen wurde. In Deutschland wurde eine solche biologische Sicht, die die Leistung und den Wert des Denkens primär in seinem Beitrag zur Selbsterhaltung verortet, in besonders einflussreicher Weise von Ernst Mach vertreten. Neben seiner Theorie soll im Folgenden die Kritik behandelt werden, die Edmund Husserl in den Prolegomena zu seinen Logischen Untersuchungen an Machs Konzept der Denkökonomie übte; diese Schrift Husserls verdient im Übrigen schon deshalb Erwähnung, weil die darin entwickelte Sicht auf das Verhältnis von Denken und Logik zwischen 1900 und 1920 intensiv und kontrovers diskutiert wurde. Um schließlich ein Schlaglicht auf die französischen Debatten zu diesem Themenkomplex zu werfen, wird das folgende Unterkapitel Henri Bergsons Unterscheidung zwischen „intelligence“ und „intuition“ vorstellen, die er in kritischer Abgrenzung – unter anderem – von einer bestimmten biologischen Konzeption des Denkens und der Intelligenz entwickelte. 4.1. Mach: Die Denkökonomie Der Physiker Ernst Mach, der 1895 auf den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für „Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften“ an die Universität Wien berufen wurde,154 entwickelte seine biologische Sicht auf Erkenntnis und Wissenschaft zunächst im Rahmen seiner wissenschaftshistorischen Studien und in populärwissenschaftlichen Vorlesungen,155 bevor er seine Auffassungen 1905 in _____________ 154 Vgl. Friedrich Stadler, Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung. In: Rudolf Haller / F. St. (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung. Wien 1988, S. 11-63, hier S. 24. 155 Vgl. etwa Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt. Reprograf. Nachdruck der 9. Aufl., Leipzig 1933. Mit einem Vorwort [...] von Gereon Wolters. Darmstadt 1988 [zuerst 1883], S. XX-XXI, 5f., 457-471; ders., Über Umbildung und
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dem Buch Erkenntnis und Irrtum in systematischerer Form darlegte und mithilfe zahlreicher Beispiele illustrierte.156 Die Grundannahme seiner biologischen Erkenntnistheorie lautet, dass man, „den Anregungen der Darwinschen Theorie folgend, das ganze psychische Leben – die Wissenschaft eingeschlossen – als biologische Erscheinung“ auffassen und „die Darwinschen Vorstellungen vom Kampf ums Dasein, von der Entwicklung und Auslese auf dieselbe anwende[n]“ könne.157 Alle psychischen Vorgänge und Funktionen stehen also im Dienste der Lebenserhaltung, der Bedürfnisbefriedigung und Entwicklung. Das Denken dient dem Leben, indem es eine Anpassung der Gedanken an die Tatsachen sowie eine Anpassung der Gedanken untereinander herstellt.158 Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen bzw. die gedankliche Nachbildung der Tatsachen erfüllt einen ökonomischen Zweck: Der Mensch bewahrt auf diese Weise Abbildungen von Erfahrungen auf, die ihm in der Folge „Erfahrung ersetzen und demnach ersparen“159 sollen. Das Streben nach Ökonomie zeigt sich ferner in den Bemühungen, die gedanklichen Abbildungen der Tatsachen möglichst übersichtlich und sparsam zu ordnen. Die Tendenz zur Anpassung der Gedanken an die Tatsachen ist als Instinkt in der biologischen Natur des Menschen verankert,160 sie gehört zur „ökonomischen Konstitution des Menschengeistes“161. Die Wissenschaften stellen eine Weiterentwicklung der instinktiven Gedankenanpassung dar; zwischen dem instinktiven oder vulgären und dem wissenschaftlichen Denken gibt es keinen qualitativen Sprung, sondern einen kontinuierlichen Übergang. Diese Kontinuität betrifft sowohl die Zwecke und leitenden Prinzipien als auch die Verfahren des Denkens: Auch das wissenschaftliche Denken verfolgt das Ziel, die Tatsachen eines Gebiets möglichst voll_____________
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Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken. In: E. M., Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. 3., verm. und durchges. Aufl. Leipzig 1903, S. 243-262, vor allem S. 243-247, 261; ders., Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung. In: ebd., S. 215-242. Vgl. ders., Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Unveränd. reprograf. Nachdr. der 5., mit der 4. übereinstimmenden Aufl., Leipzig 1926. Darmstadt 1991. – Vgl. zu Machs biologischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie: Gereon Wolters, Mach. In: W[illiam] H. Newton-Smith (Hg.), A Companion to the Philosophy of Science. Malden (Mass.), Oxford (UK) 2000, S. 252-256; Čapek, Ernst Mach’s biological theory of knowledge. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Nachdr. der 9. Aufl., Jena, Fischer, 1922. Mit einem Vorwort [...] von Gereon Wolters. Darmstadt 1991 [zuerst 1886], S. 41. „Im Dienste des Lebens passen sich die Gedanken den Tatsachen an, im Dienste des Lebens setzen sich die Gedanken auch untereinander ins Gleichgewicht.“ (Ders., Erkenntnis, S. 166; vgl. auch ebd., S. 303.) Ders., Die ökonomische Natur, S. 222; vgl. ders., Die Mechanik, S. 457. Vgl. ders., Die ökonomische Natur, S. 218f. Ders., Erkenntnis, S. 14 (Anm. 1).
4. Debatten über Wesen und Leistung des Denkens
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ständig und zugleich in möglichst sparsamer Weise nachzubilden und überschaubar zu machen;162 einige Stellen bei Mach scheinen zu besagen, dass auch die Wissenschaften damit noch biologischen Bedürfnissen dienen163 oder jedenfalls darauf abzielen, „dem vollsinnigen menschlichen Individuum eine möglichst vollständige Orientierung zu bieten“164; an anderen Stellen betont Mach, dass sich in der modernen Wissenschaft das Streben nach ökonomischen Abbildungen der Tatsachen von praktischen Zwecken gelöst habe und immer mehr „reinen Erkenntniszwecken“165 diene. Was die Verfahren des Denkens angeht, so sind Mach zufolge alle Denkweisen der Wissenschaft, wie etwa Abstraktion, Analogie, Hypothese und Gedankenexperiment, nur „methodisch geklärte, verschärfte und verfeinerte Abart[en]“166 von Formen des instinktiven oder vulgären Denkens.167 Machs Ausführungen über die ökonomische Natur der Wissenschaft wurden von einigen zeitgenössischen Lesern als eine skeptische Erkenntnistheorie verstanden, der zufolge die Aussagen der Wissenschaft zwar biologische Bedürfnisse befriedigen, aber darüber hinaus nicht gerechtfertigt werden können.168 Eine solche skeptische Lesart mag sich vor allem aufgrund von Machs Kritik an den Begriffen der Kausalität, der Substanz und des Naturgesetzes aufgedrängt haben.169 Aber es finden sich auch genug Stellen bei Mach, die keineswegs auf einen umfassenden Skeptizismus hinausliefen; dazu gehören etwa die Passagen, die die biologische _____________ 162 Vgl. Mach, Erkenntnis, S. 287-290, 452-456; ders., Die Mechanik, S. 457, 464f.; ders., Analyse, S. 256-258; ders., Die ökonomische Natur, S. 222-224; 163 Vgl. Mach, Erkenntnis, S. 109, 451, 453f. 164 Mach, Analyse, S. 29. 165 Ders., Erkenntnis, S. 2; vgl. auch ebd., S. 60, 84-87; ders., Analyse, S. 256. 166 Ders., Erkenntnis, S. V. 167 Vgl. ebd., unter anderem S. 1-3, 23, 183f., 232, 258, 261; vgl. auch Mach, Analyse, S. 258. 168 Musil unterschied in seiner Dissertation zwischen einer in erkenntnistheoretischer Hinsicht indifferenten und einer skeptischen Ausprägung der denkökonomischen Betrachtungsweise und fand bei Mach Belegstellen für beide Richtungen; vgl. Robert Musil, Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. Inaugural-Dissertation (1908). In: R. M., Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 9-134, hier S. 31-36. Musil formuliert die skeptische Interpretation zum Teil in Anlehnung an die Ausführungen zu Mach in Hans Kleinpeters Buch Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart, die Mach als im Wesentlichen zutreffend bezeichnet hatte (vgl. ebd., S. 35). Zu Musils Mach-Dissertation vgl.: Hans-Joachim Pieper, Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002, S. 128-139; Tim Mehigan, Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 264-287; Georg Henrik von Wright, Musil and Mach. In: G. H. v. W., The Tree of Knowledge and other Essays. Leiden u.a. 1993, S. 53-61; Claudia Monti, Funktion und Fiktion. Die Mach-Dissertation von Robert Musil. In: Musil-Forum 5 (1979), S. 38-67, 154-183. 169 Vgl. etwa Mach, Analyse, S. 1-4, 72-75, 270f.
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Nützlichkeit von Gedanken und wissenschaftlichen Theorien gerade darauf zurückführen, dass sie Nachbilder von Tatsachen sind. So schreibt Mach etwa: „Im Dienste des Lebens passen sich die Gedanken den Tatsachen an [...]“; „[d]ie Vorstellungen passen sich den Tatsachen allmählich so an, daß sie ein den biologischen Bedürfnissen entsprechendes, hinreichend genaues Abbild der ersteren darstellen.“170 Das Bedürfnis nach Ökonomie verlangt dann zwar auch, die Gedanken in eine sparsame Ordnung zu bringen und zu diesem Zweck Idealisierungen, Abstraktionen und Zusammenfassungen vorzunehmen. Aber diese Gedanken selbst sind zunächst Abbildungen der Tatsachen, und als solche dienen sie den Lebensinteressen beziehungsweise den biologischen Bedürfnissen. Andersherum formuliert: Das „biologische Interesse“171 lässt den Menschen immer genauere gedankliche Nachbildungen der Tatsachen hervorbringen und treibt ihn zudem an, diese in eine immer einfachere und harmonischere Ordnung zu bringen.172 Auch der Grundton der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ausführungen Machs war nicht von Pessimismus oder Resignation geprägt, sondern von Zuversicht; die Geschichte der Naturwissenschaften stellte sich ihm im Ganzen als eine Fortschrittsbewegung dar, in deren Verlauf sich die Gedanken immer genauer den Tatsachen angeschmiegt hätten,173 und die Forscher hatten ihm zufolge Grund zu der Hoffnung, in dieser Gedankenanpassung wie in der vereinheitlichenden Zusammenführung der Einzelwissenschaften weitere Fortschritte zu machen.174 Machs Auffassungen vom Wert des wissenschaftlichen Denkens haben noch weitere Facetten. Wie oben erwähnt, vertrat er in Erkenntnis und Irrtum die Ansicht, dass die modernen Naturwissenschaften zwar weiterhin dem ökonomischen Streben nach übersichtlichen Tatsachenabbildern verpflichtet seien, dabei aber nicht mehr biologischen oder praktischen Bedürfnissen dienten, sondern „reinen Erkenntniszwecken“175. Das heißt aber nicht, dass der Wert dieser wissenschaftlichen Tätigkeit für ihn allein in der Erweiterung der Naturerkenntnis als solcher lag. Der Fortschritt der Wissenschaft und die Verbreitung des wissenschaftlichen Denkens beförderten in Machs Augen auch die Höherentwicklung der Kultur in ethi_____________ 170 Ders., Erkenntnis, S. 166, 164. Vgl. auch ders., Die ökonomische Natur, S. 222, 224; ders., Die Mechanik, S. 457. – Bei den Tatsachen, die von den wissenschaftlichen Aussagen oder Theorien korrekt oder zumindest befriedigend nachgebildet werden, handelte es sich nach Mach stets um gegenseitige Abhängigkeiten zwischen Elementen; vgl. ders., Erkenntnis, S. 15, 202f.; ders., Analyse, S. 74f. 171 Ders., Erkenntnis, S. 111; vgl. auch ebd., S. 164, 451. 172 Vgl. ebd., S. 164. 173 Vgl. ebd., S. 289f. (dort über die Astronomie). 174 Vgl. ebd., S. 458f.; vgl. auch ders., Analyse, S. 255, 292, 298. 175 Ders., Erkenntnis, S. 2; vgl. auch ebd., S. 60, 84-87; ders., Analyse, S. 256.
4. Debatten über Wesen und Leistung des Denkens
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scher und rechtlicher Hinsicht, wenn sie nicht sogar als der wichtigste Motor dieses zivilisatorischen Fortschritts gelten konnten: Die Wissenschaft habe sich „zum biologisch und kulturell förderlichsten Faktor entwickelt“.176 Diese förderliche Wirkung erzielte die Wissenschaft, indem sie den Menschen ein immer tatsachengerechteres Bild von der Welt und von sich selbst vermittelte177 und ihrem Denken die Tugenden des wissenschaftlichen Denkens aufprägte: „Ethik und Recht gehören zur sozialen Kulturtechnik, und stehen desto höher, je mehr das vulgäre Denken durch wissenschaftliches Denken aus beiden Gebieten verdrängt ist“.178 In einem Vortrag über den „relativen Bildungswert der philologischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer“ benannte er die Qualitäten des mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens, die es für ihn zum Vorbild des Denkens überhaupt machten; dazu gehörten etwa die Orientierung an den beobachtbaren Tatsachen, die „Folgerichtigkeit und Stetigkeit der Vorstellungen“, das Bemühen um eine „vollständige Übersicht aller möglichen Fälle“ und „die daraus hervorgehende ökonomische Ordnung und organische Verbindung der Gedanken“.179 – Mach setzte somit in seinen Beschreibungen dessen, was den Wert der Naturwissenschaften ausmachte, bei verschiedenen Gelegenheiten unterschiedliche Akzente; aber seine Aussagen hierzu trafen sich immer wieder in der Überzeugung, dass es sich bei dem wissenschaftlichen um das am höchsten entwickelte Denken handle, das folglich auch ein Vorbild für das Denken in allen Bereichen sei. 4.2. Husserl: Das Denken und die idealen Gesetze der Logik Die zentrale Absicht des 1900 veröffentlichten ersten Teils von Edmund Husserls Werk Logische Untersuchungen war es, eine bestimmte Auffassung über das Wesen der Gesetze der Logik zu widerlegen, die auch mit einer bestimmten Konzeption des Denkens verbunden war. Genau genommen richtete sich Husserls Kritik gegen eine ganze Gruppe verwandter Positionen, die er unter der Bezeichnung ‘Psychologismus’ zusammenfasste. Ihr verbindendes Merkmal sah Husserl in der Überzeugung, dass die Fundamente der Logik als einer normativen Disziplin von der Psychologie gelie_____________ 176 Ders., Erkenntnis, S. 462. 177 Vgl. ebd., S. 104f.; ders., Die ökonomische Natur, S. 242; ders., Über Umbildung und Anpassung, S. 261f.; ders., Analyse, S. 20. 178 Ders., Erkenntnis, S. 105. 179 Ernst Mach, Über den relativen Bildungswert der philologischen und der mathematischnaturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer der höheren Schulen. In: E. M., Populärwissenschaftliche Vorlesungen, S. 309-350, Zitate S. 332, 334.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
fert werden müssten.180 Diese These wurde von vielen oder den meisten Anhängern des Psychologismus mit der Auffassung begründet, dass die Gesetze der Logik letztlich eine empirisch gegebene Art des Denkens beschreiben, und zwar eine Art des Denkens, die sich besonders bewährt hat; in der erfahrungsmäßig gegebenen Bewährtheit dieses Denkens gründe der normative Status der logischen Gesetze. Es obliege also der Psychologie, die Eigenart und die Bedingungen dieses Denkens zu erforschen und somit die Grundlagen der normativen Logik bereitzustellen. Diese Lehre, so Husserl, verkannte auf fatale Weise das Wesen und den Status der logischen Gesetze. Diese seien keine Realgesetze, sondern „Idealgesetze“, die im Sinn von Begriffen wie ‘Wahrheit’, ‘Satz’ und ‘Gegenstand’ gründen und apodiktische Evidenz besitzen.181 Diese idealen Gesetze und Begriffe begründen die Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt, ihre Geltung ist unabhängig von allen faktischen Eigenschaften des menschlichen Denkens, welche die Psychologie feststellen kann. Das reale Denken als psychischer Vorgang kann sich mehr oder weniger in Übereinstimmung mit diesen Begriffen und Gesetzen befinden; die Übereinstimmung mit diesen Gesetzen ist die Voraussetzung für ein formal stimmiges, von Widersinn freies Denken und damit auch für objektive Erkenntnis. Indem der Psychologismus die logischen Gesetze auf die empirische Beschaffenheit des menschlichen Denkens zurückzuführen sucht, läuft er für Husserl zwangsläufig auf einen Relativismus hinaus.182 Das Prinzip der Ökonomie des Denkens, wie es von Ernst Mach und Richard Avenarius entwickelt wurde, war für Husserl eng mit dem Psychologismus verwandt und beruhte somit ebenfalls auf einem fatalen Irrtum. Dabei bilde das Konzept der Denkökonomie zunächst einen plausiblen und fruchtbaren Gesichtspunkt für die Erforschung der geistigen Leistungen des Menschen durch die Biologie bzw. die „psychische Anthropologie“ sowie für die wissenschaftliche Methodenlehre: Es sei offenkundig, dass die geistigen Leistungen, einschließlich der wissenschaftlichen Forschung, der Selbsterhaltung und Gattungserhaltung zugute kommen und dass ein Wesen seinen Lebensbedingungen desto besser angepasst sei, je ökonomischer es seine geistigen Leistungen gestalte; daher sei es sinnvoll, die tatsächlichen Leistungen des Menschen auf ihren ökonomischen Charakter hin zu prüfen. Die Untersuchung wissenschaftlicher Verfahrensweisen unter diesem Gesichtspunkt könne wertvolle Einsichten für die „practische Erkenntnislehre“ und die „Methodologie der wissenschaft_____________ 180 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Theil. Prolegomena zur reinen Logik. Halle a.S. 1900, S. 50f. (§ 17). 181 Vgl. ebd., § 37. 182 Vgl. ebd., §§ 37f.
4. Debatten über Wesen und Leistung des Denkens
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lichen Forschung“ liefern.183 Aber Mach, Avenarius und ihre Anhänger glauben Husserl zufolge, dass sie mit dem Prinzip der Denkökonomie auch die Grundfragen der reinen Erkenntnislehre beantworten könnten, und damit gehen sie in die Irre. Die Vertreter der Denkökonomie-Theorie meinen etwa, dass einfache und allgemeine Gesetze deshalb als Norm des Denkens dienen, weil sie ökonomisch und somit der Anpassung förderlich sind, und dass der „objective[ ] Werth und Sinn rationaler Wissenschaft“ in ihrem der Anpassung und Kraftersparung dienlichen Charakter liege.184 Doch das ist, so Husserl, „eine Summe von Verirrungen“.185 Die Norm, nach der wir das empirische Denken beurteilen, bildet das ideale Denken bzw. bilden die „idealen Principien“ des Denkens. Zu diesen Prinzipien gehört das „Princip größtmöglicher Rationalität“, das die Rückführung aller Tatsachenerkenntnisse auf möglichst allgemeine und umfassende „‘Grundgesetze’“ zum Ziel erhebt; dass solche allgemeineren Gesetze erstrebenswert sind, ist unmittelbar evident, da diese Gesetze „eben auf tiefere und weit umfassendere Gründe“ zurückführen.186 Was den „objectiven Werth“ der Wissenschaft und des Denkens ausmacht, ist ihre Annäherung an die als evident erfassbaren idealen Prinzipien des Denkens, etwa das Ideal möglichst allgemeiner Gesetze, nicht aber ihre ökonomische Zweckmäßigkeit unter dem Gesichtspunkt der Anpassung und Lebenserhaltung. Auf einem Irrtum beruht nach Husserl auch Machs Annahme, „den Unterschied zwischen logischem und natürlichem Denken nivelliren, die wissenschaftliche Thätigkeit als eine bloße ‘Fortsetzung’ der natürlichen und blinden darstellen zu können“; das logische Denken und die Wissenschaft verfolgen bewusst und ausdrücklich ein Ziel, das durch die idealen Prinzipien bezeichnet wird, während wir in die natürliche und blinde Denktätigkeit nur nachträglich ein Ziel hineintragen, indem wir feststellen, dass es Ergebnisse hervorbringt, „die so sind, als ob sie logisch einsichtigem Denken entsprossen [...] wären.“187 Husserls Kritik am Psychologismus in den Prolegomena zu den Logischen Untersuchungen wurde zwischen etwa 1900 und 1920 eindringlich und kontrovers diskutiert; sie erhielt viel Lob, unter anderem vom Dilthey, wurde aber auch ihrerseits heftig kritisiert, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: Husserl wurde unter anderem vorgeworfen, seine Zurückweisung des Psychologismus sei nicht originell gewesen; er habe den Psychologismus falsch charakterisiert; seine Argumente gegen den Psychologismus enthielten eine petitio principii oder seien in anderer Weise _____________ 183 184 185 186 187
Ebd., § 55, S. 203. Ebd., § 56, S. 208. Ebd., § 56, S. 207. Ebd. Ebd., S. 209.
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unzureichend; er sei selbst in den Psychologismus zurückgefallen.188 Ernst Mach erklärte in einer knappen Reaktion auf Husserls Kritik am Konzept der Denkökonomie zunächst, die Kritik beruhe zumindest teilweise auf einem Missverständnis seiner Position; die von ihm durchgeführte „biologisch-psychologische Untersuchung“ der Wissenschaften solle eine logische Analyse nicht ausschließen oder ersetzen, auch eine „Zurückführung“ der Denkökonomie „auf tiefere Grundlagen“ habe er nicht ausschließen, sondern geradezu fordern wollen.189 Eine Differenz zwischen Husserls und seiner Position hob Mach allerdings ausdrücklich hervor; im Gegensatz zu Husserl betrachte er den Nachweis einer Kontinuität zwischen wissenschaftlichem und ‘vulgärem’ Denken nicht als eine „Erniedrigung des wissenschaftlichen Denkens“, sondern als eine „Erhebung“: „Aus einer bloßen Gelehrtenstubenangelegenheit wird eine solche, die tief in dem Leben der Menschheit wurzelt und mächtig wieder auf dieses zurückwirkt.“190 In dieser Formulierung tritt der diametrale Gegensatz zwischen den zwei Auffassungen deutlich zutage: Was in Machs Augen dem wissenschaftlichen Denken ein solides Fundament, eine ‘Verwurzelung’, geben und somit den Wert dieses Denkens verbürgen kann, ist seine evolutionäre Herkunft aus den ‘vulgären’ oder ‘primitiven’, im täglichen Leben geübten geistigen Leistungen der Menschen und Tiere; was in Husserls Augen dem wissenschaftlichen Denken seine Objektivität und seinen Wert gibt, ist seine Ausrichtung an idealen Prinzipien und logischen Gesetzen. Ein anderer von Husserl kritisierter Autor, der den Anschauungen Machs sehr nahe stand, reagierte weit offensiver auf Husserls Psychologismus-Kritik und seine Forderung nach einer reinen Logik: Der Wiener Philosophieprofessor Wilhelm Jerusalem veröffentlichte 1905 eine Schrift mit dem Titel Der kritische Idealismus und die reine Logik. Ein Ruf im Streite, in _____________ 188 Für eine systematisch gegliederte Darstellung der gegen Husserl vorgebrachten Einwände vgl.: Kusch, Psychologism, S. 63-94; ein Fazit ebd., S. 92. – Indem er die große Anzahl kritischer Reaktionen, aber auch die Vielfalt von Interpretationen der Husserl’schen Positionen aufzeigt, sucht Kusch auch die in Philosophiegeschichten verbreitete Ansicht zu korrigieren, Husserl habe mit seinen Prolegomena einen vernichtenden Schlag gegen den bis dato herrschenden Psychologismus geführt; zu dieser Standarderzählung („‘The same old story’“) vgl. ebd., S. 2f.; dort auch Hinweise auf entsprechende Literatur. Kusch weist ferner nach, dass der Ausdruck ‘Psychologismus’ in der deutschen und österreichischen Philosophie zwischen 1866 und 1930 ebenso häufig wie vieldeutig verwendet wurde und dass Vertreter fast jeder philosophischen Richtung sowohl anderen Schulen den Vorwurf des Psychologismus machten als auch selbst von anderen des Psychologismus bezichtigt wurden (vgl. ebd., S. 95-121). 189 Mach, Die Mechanik, S. 471. 190 Ebd.; dort auch die Formulierung „die Anknüpfung an das vulgäre (‘blinde’?) Denken“.
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der er sich ausdrücklich zum Psychologismus bekannte191 und für eine empirische, auf biologische und psychologische Forschungen gestützte Grundlegung der Logik plädierte.192 Diese Schrift sei hier auch deshalb erwähnt, weil Jerusalem wenige Jahre später William James’ Buch Pragmatism ins Deutsche übersetzte und somit maßgeblich zur Bekanntmachung des Pragmatismus im deutschsprachigen Raum beitrug;193 in den frühen 1920er Jahren schrieb er ein Vorwort zur deutschen Übersetzung von Lévy-Bruhls Buch über Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures194 und entwarf Ansätze zu einer soziologischen Erforschung des Denkens195. Seine Streitschrift von 1905 enthielt eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit Husserls Psychologismus-Kritik und seinem Projekt einer reinen Logik. Husserls Verurteilung des Psychologismus, so Jerusalem, stütze sich allein auf die dogmatisch und begründungsfrei hingestellte Behauptung, dass die logischen Gesetze Wahrheiten seien, „die a priori mit Evidenz erkannt werden“196; Husserls reine Logik, in der Jerusalem eine Wiederbelebung der scholastischen Logik sieht, kranke an demselben Dogmatismus.197 Anstelle einer solchen reinen Logik, die auf metaphysischen Voraussetzungen beruhe und die apriorische Geltung ihrer Sätze dekretieren wolle, sei eine biologische und psychologische Erkenntnistheorie erforderlich, die das „menschliche Erkennen“ als einen „Lebensvorgang“ untersucht.198 Denn der „Trieb nach Erkenntnis“ sei „nur eine spezielle Betätigungsweise des Erhaltungstriebes“, die Erkenntnis sei aus dem „Willen zum Leben“ hervorgegangen und besitze eine „biologische Funktion“.199 Die Ausdrücke ‘wahr’ und ‘falsch’ bedeuteten „ursprünglich gar nichts anderes als nützlich oder schädlich in biologischem Sinne“200; _____________ 191 Vgl. Wilh[elm] Jerusalem, Der kritische Idealismus und die reine Logik. Ein Ruf im Streite. Wien, Leipzig 1905, S. 77f., 95, 216 („wir Psychologisten“). Nur wenige Autoren bekannten sich in jener Debatte selbst zum Psychologismus; Kusch nennt außer Jerusalem noch G. Heymans und Julius Schultz; vgl. Kusch, Psychologism, S. 114f. 192 Vgl. Jerusalem, Der kritische Idealismus, S. III-VII, 78. 193 Vgl. William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden. Volkstümliche philosophische Vorlesungen. Aus dem Englischen übers. von Wilhelm Jerusalem. Leipzig 1908. 194 Vgl. Wilhelm Jerusalem, Vorwort des Herausgebers. In: L[ucien] Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker. Aus dem Frz. übers. von Dr. Paul Friedländer. Hg. und eingeleitet von Dr. W. J. 2. Aufl. Wien, Leipzig 1926 [1. Aufl. der dtsch. Übers. 1921], S. V-XVII. 195 Vgl. ders., Die soziologische Bedingtheit des Denkens und der Denkformen [1924]. In: Volker Meja / Nico Stehr (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie. Erster Band: Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1982, S. 27-56. 196 Jerusalem, Der kritische Idealismus, S. 96. 197 Vgl. ebd., S. 91f., 132. 198 Ebd., S. 213. 199 Ebd., S. 136, 146, 152. 200 Ebd., S. 162.
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im Laufe der Entwicklung erweise es sich dann allerdings, dass Urteile desto nützlicher sind, je genauer sie dem tatsächlichen Verhalten der Dinge entsprechen, und daher bilde sich beim Menschen die Fähigkeit zum „rein theoretische[n], möglichst objektive[n] Urteilen“201 heraus. Die Erkenntnistheorie soll untersuchen, wie der Mensch nach und nach „die theoretische Betrachtung der Dinge, also das denkende Erkennen, als ein Mittel zur Erhaltung und zur Bereicherung des eigenen wie des Gattungslebens“ entwickelt hat.202 Auf diese Weise kann sie dem Menschen der Gegenwart helfen, sich „der durch jahrtausendelange Arbeit errungenen Geisteskraft bewußt [zu] werden und wieder Vertrauen zu fassen zu der Erkenntnisfähigkeit [seines] Denkens“.203 Ähnlich wie Mach sieht also auch Jerusalem in der entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung des menschlichen Denkens und seiner Herleitung aus dem Erhaltungstrieb ein Heilmittel gegen skeptische Verunsicherungen, das den Forschern und allen Menschen das Vertrauen in die Kräfte ihres Denkens wiedergeben könne. Ein Projekt wie die reine Logik Husserls dagegen schwebe „in der Luft“ und könne nur dazu führen, die Philosophie „in noch höherem Grade, als dies bereits der Fall ist, der Wissenschaft und dem Leben zu entfremden.“204 Wie Husserl mit seiner Psychologismus-Kritik den Relativismus bekämpfen und mit seiner reinen Logik das Fundament der wissenschaftlichen Erkenntnis freilegen wollte, so wollten auf der anderen Seite Mach und Jerusalem haltlosen Spekulationen über angebliche ideale und apriorische Grundlagen der Erkenntnis entgegentreten, die in ihren Augen nur die Verunsicherung vermehren und die Philosophie vom praktischen Leben entfernen konnten. 4.3. Bergson: Die Leistungen von ‘intelligence’ und ‘intuition’ In der französischen Philosophie des Zeitraums zwischen 1890 und 1940 wurde die Frage nach der Leistung und dem Wert des Denkens auf besonders einflussreiche Weise von Henri Bergson beantwortet. Seine Position zu dieser Frage hat er vor allem in seiner Unterscheidung zwischen „intelligence“ und „intuition“ ausgedrückt. Bergson schloss sich der Auffassung an, der zufolge das begriffliche und insbesondere das wissenschaftliche Denken – die „intelligence“ – sich als ein Instrument des Selbsterhaltungsstrebens entwickelt habe und den praktischen Zwecken des täglichen Lebens diene. Aber er bewertet das Denken noch nach ei-
_____________ 201 202 203 204
Ebd., S. 169. Ebd., S. 146. Ebd., S. VII. Ebd., S. VI.
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nem anderen Maßstab als dem der pragmatischen oder biologischen Zweckmäßigkeit, nämlich danach, inwiefern es die Phänomene der „durée réelle“ erfassen kann; dies vermag die „intelligence“ nicht, sondern nur der zweite Modus des Denkens und Erkennens, über den der Mensch verfügt, die „intuition“. Der Begriff der „durée réelle“ bildet das Zentrum der Philosophie Bergsons. Er bezeichnet das wahre Wesen der Zeit, das Bergson zufolge durch den Begriff der Zeit, der in den Wissenschaften und der Philosophie, aber auch in unserer Alltagssprache geläufig ist, verdeckt und verfälscht wird. Die ‘wahre Dauer’ manifestiert sich zunächst und vor allem im Bewusstsein und in der Art, wie ein mit Bewusstsein ausgestattetes Lebewesen die Zeit erlebt; ihre wichtigsten Eigenschaften sind: Kontinuität; qualitative Vielheit; Heterogenität; Unvorhersehbarkeit.205 Die Bewusstseinszustände bilden eine Sukzession von Momenten, die nicht scharf voneinander getrennt sind, sondern fließend ineinander übergehen. Diese Momente sind nicht als Entitäten innerhalb eines homogenen Mediums anzusehen, sondern stellen eine reine Heterogenität dar; sie besitzen keine quantitativ erfassbaren Eigenschaften, sondern nur qualitative, sie bilden somit eine „qualité pure ou multiplicité qualitative“206. Die erlebte Dauer hat schließlich einen unvorhersehbaren und schöpferischen Charakter: Der gegenwärtige Bewusstseinszustand ist zwar stets mitbestimmt durch die vorangegangenen, fügt aber den von diesen konstituierten Bedingungen noch etwas Neues hinzu, und diese Erweiterung oder dieser Fortschritt lässt sich nicht im Voraus berechnen.207 Nachdem Bergson in seinem ersten Werk die „durée“ als Wesensmerkmal des Bewusstseins oder des Erlebens beschrieben hatte, suchte er in seinen folgenden Studien zu zeigen, wie sie sich in den Lebensprozessen aller Organismen überhaupt manifestiert, insbesondere in der Evolution der Lebewesen.208 Aber die Sprache, das alltägliche Denken und die Wissenschaften verfälschen das wahre Wesen der Dauer, indem sie zeitliche Abläufe mithilfe räumlicher Begriffe beschreiben. Die Ursache dafür, dass diese verfehlte Auffassung von der Zeit so fest im common sense verankert ist und auch die _____________ 205 Vgl. dazu und zum Folgenden: Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience. In: H. B., Œuvres. Textes annotés par André Robinet. Introduction par Henri Gouthier. 3e édition. Paris 1970 (Édition du centenaire), S. 1-156, vor allem S. 51-92 („Chapitre II: De la multiplicité des états de conscience. L’idée de durée“). 206 Ebd., S. 147. 207 Vgl. Henri Bergson, L’évolution créatrice. In: H. B., Œuvres, S. 487-809, hier etwa S. 499f.; vgl. ferner: ders., La pensée et le mouvant. Essais et conférences. In: ebd., S. 1249-1482, hier etwa S. 1259, 1262. 208 Vgl. ders., La pensée et le mouvant, S. 1255-1262. Vgl. zu dieser Entwicklung des „durée“Begriffs bei Bergson: Gilles Deleuze, Le bergsonisme. 2e édition. Paris 1998 [zuerst 1966], S. 27.
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Wissenschaften dominiert, liegt in ihrer praktischen und sozialen Nützlichkeit: Wir können nur feste und abgegrenzte Dinge effektiv behandeln und beherrschen; deshalb ignorieren die Wissenschaften wie das Alltagsdenken die Erscheinungsformen der Dauer und stellen alle Phänomene als stabile, distinkte Objekte und als messbare Größen dar.209 Die menschliche Fähigkeit, die für diese Unterdrückung der wahren Dauer verantwortlich ist, ist die Intelligenz.210 Sie dient den elementaren Lebensbedürfnissen, dem Handeln und der Orientierung in der Umwelt, und als solche erfasst sie nur die Oberfläche der Wirklichkeit. Die Wissenschaften haben die Intelligenz weiter entwickelt, an ihrer Ausrichtung am Handeln und der Befriedigung von Bedürfnissen aber nichts geändert. Neben der Intelligenz besitzt der Mensch aber noch ein weiteres Erkenntnisvermögen, die Intuition. Dieser Begriff ist in den Debatten um den Bergsonismus besonders heftig kritisiert und – Bergson zufolge – von Anhängern wie Gegnern besonders häufig missverstanden worden;211 dies dürfte zum Teil daran liegen, dass Bergsons Erläuterungen zu diesem Begriff zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Ein definierendes Merkmal der Intuition allerdings wird von Bergson unmissverständlich klar formuliert: Die Intuition ist ein Erkennen oder Denken in der Form der Dauer,212 sie ist der Erkenntnismodus, der die Manifestationen der Dauer erfasst. Aber wie leistet die Intuition das? In dem Aufsatz „Introduction à la métaphysique“213 von 1903 führt Bergson die Intuition als Kontrast zur Analyse ein. Einen Gegenstand zu analysieren bedeutet, ihn zu anderen, bekannten Elementen in Bezug zu setzen und ihn mithilfe von Symbolen zu beschreiben; die Analyse reiht so verschiedene Ansichten des Gegenstandes aneinander und bleibt doch stets unvollständig. Die Intuition dagegen ist ein Akt der „sympathie“, mit dem man sich in das Innere des Gegenstands versetzt und dasjenige erfasst, was an ihm einzigartig und folglich unausdrückbar ist;214 sie erlaubt ein direktes, unvermit_____________ 209 Vgl. Bergson, La pensée et le mouvant, S. 1256f.; vgl. auch ders., Les données immédiates, S. 86f., 91f. 210 Vgl. Bergson, La pensée et le mouvant, S. 1257, 1275-1277; ders., L’évolution créatrice, S. 622-628. 211 Zu der kontroversen Rezeption von Bergsons Werk in Frankreich vgl.: R. C. Grogin, The Bergsonian Controversy in France 1900-1914. Calgary 1988. Bergsons Konzept der Intuition und seine Abwertung der Intelligenz stießen sowohl bei Wissenschaftlern wie Henri Poincaré als auch bei Vertretern des thomistischen Katholizismus auf Kritik; vgl. ebd., S. 159, 162f., 178f. 212 Vgl. Bergson, La pensée et le mouvant, S. 1275. 213 Der Text wurde von Bergson später in die Aufsatzsammlung „La pensée et le mouvant“ (vgl. ebd., S. 1392-1432) aufgenommen. 214 „Nous appelons ici intuition la sympathie par laquelle on se transporte à l’intérieur d’un objet pour coïncider avec ce qu’il a d’unique et par conséquent d’inexprimable.“ (Ebd., S. 1395.)
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teltes Erkennen der Dauer und des eigenen Ich.215 Einerseits bezeichnet Bergson die Intuition also als einen „acte simple“216 und weckt mit dem Wort „sympathie“ den Eindruck, dass sie auf einer besonderen Art des Fühlens beruhe; andererseits sagt er auch einmal, dass sie nicht ein einzelner Akt sei, sondern „une série indéfinie d’actes“,217 und er betont vor allem immer wieder, dass sie große Anstrengung und mühsame Arbeit erfordere.218 In einem späteren Aufsatz wird er diesen letzteren Punkt ausdrücklich hervorheben und sich gegen die Deutung der Intuition als eines Triebs, Instinkts oder Gefühls verwahren: In keiner Zeile habe er sich je zugunsten der „facilité“ oder eines „relâchement de l’esprit“ ausgesprochen, die Intuition sei vielmehr eine Form der „réflexion“, „une certaine manière difficultueuse de penser“;219 in demselben Aufsatz bezeichnet er sie auch als eine Methode und die Intuition und die Intelligenz als die zwei „fonctions intellectuelles“ des Menschen.220 Wie lassen sich diese unterschiedlichen Erläuterungen der Intuition miteinander vereinbaren? Wenn Bergson die Leistung der Intuition als ein unmittelbares Erfassen eines Gegenstandes ‘von innen’ bestimmt, so dürfte das vor allem den Sachverhalt ausdrücken, dass der Mensch das Wesen der Dauer, welches freizulegen die Aufgabe der Intuition ist, aus seinem eigenen Erleben kennt bzw. kennen kann. Die Dauer mit ihren Eigenschaften der Kontinuität, Heterogenität und Kreativität manifestiert sich sowohl im Bewusstseinsleben jedes Menschen als auch in allen Phänomenen der organischen Natur; diese Wesensverwandtschaft erlaubt es dem Menschen prinzipiell, die Besonderheiten von Erscheinungsformen des Geistes und des Lebens direkt und ‘von innen’ zu erfassen. Nun ist aber zu bedenken, dass der Mensch selbst zwar gewissermaßen ‘in’ der Dauer existiert, sich dessen aber normalerweise nicht bewusst, sondern vielmehr gewohnt ist, sich und sein Leben in den räumlichen Kategorien des Alltagsverstandes und der Wissenschaften zu verstehen. Wie Bergson schon in seinem ersten Werk, dem Essai sur les données immédiates de la conscience, betont, erfordert es eine große Anstrengung, sich aus diesen habituell gewordenen und den Ansprüchen des Handelns und des gesellschaftli_____________ 215 216 217 218 219
Vgl. ebd., S. 1399, 1402f., 1409. Vgl. auch ders., L’évolution créatrice, S. 645, 721f. Bergson, La pensée et le mouvant, S. 1396, 1431. Ebd., S. 1416. Vgl. ebd., S. 1400, 1408, 1418, 1430. „Nous répudions ainsi la facilité. Nous recommandons une certaine manière difficultueuse de penser. Nous prisons par-dessus tout l’effort. Comment quelques-uns ont-ils pu s’y tromper? Nous ne dirons rien de celui qui voudrait que notre ‘intuition’ fût instinct ou sentiment. Pas une ligne de ce que nous avons écrit ne se prête à une telle interprétation. Et dans tout ce que nous avons écrit il y a l’affirmation du contraire: notre intuition est réflexion.“ (Ebd., S. 1328.) 220 Vgl. ebd., S. 1271, 1277 („méthode“), 1319 („fonctions intellectuelles“).
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chen Zusammenlebens angepassten Kategorien zu befreien. Aber es ist jedem Menschen prinzipiell möglich, sich in die reine Dauer zu versetzen und ihre Wesensmerkmale unmittelbar zu erfahren; diese Erfahrung kann er dann gleichsam als Referenzpunkt nutzen, um andere Erscheinungsformen der Dauer, also etwa das Bewusstsein anderer Menschen oder die belebte Natur, zu verstehen.221 Doch im Zusammenhang dieser Untersuchung ist Bergsons Begriff der „intelligence“ von ebenso großem Interesse wie die „intuition“. Der junge Bergson war ein Anhänger Herbert Spencers, wandte sich dann aber kritisch gegen seine Philosophie; ausschlaggebend sei dabei, so Bergson im Rückblick, die Erkenntnis gewesen, dass in Spencers Philosophie, die doch um den Begriff der Evolution zentriert war, die Zeit keine Rolle spielte.222 Wie er seine Konzeption der Dauer und der Evolution offenkundig als Gegenmodelle zur Spencer’schen Evolutionstheorie entworfen hat, so dürfte auch Bergsons Begriff der Intelligenz als Einspruch gegen Spencers Fassung dieses Begriffs zu verstehen sein. Bei Spencer bezeichnet „Intelligence“ die grundlegende Eigenschaft aller Formen des Lebens, die fortschreitende Anpassung an die Umwelt.223 Diese an Komplexität und Reichweite zunehmende Anpassung erlaubt es dem Lebewesen, sich in einer widrigen Umwelt zu behaupten und sie zu beherrschen, sein Überleben zu sichern und seine Lebensbedingungen zu verbessern. Bergson übernimmt die Auffassung von der Intelligenz als einer Fähigkeit, die im Dienste der Selbsterhaltung und des nützlichen Handelns steht, die sich im Laufe der Evolution entwickelt und ihre (bisher) machtvollste Verkörperung in den modernen Wissenschaften erhalten hat. Aber er bestreitet erstens, dass alle Lebensvorgänge als Erscheinungsformen der Intelligenz in diesem Sinne zu begreifen seien, und zweitens, dass diese Anpassung an die Umwelt stetig fortschreitet und prinzipiell alle ihre Dimensionen angemessen erfassen kann. Bergsons „durée“ bezeichnet sowohl eine Art der menschlichen Erfahrung, die nicht von der Intelligenz als einem Streben nach Anpassung geleitet ist, als auch eine Dimension der Welt überhaupt, die durch die Intelligenz nicht abgebildet, sondern im Gegenteil ausgeblendet und verleugnet wird. Die Ausschaltung der Dauer gehört _____________ 221 Vgl. auch die Deutung von Deleuze: „L’intuition n’est pas la durée même. L’intuition est plutôt le mouvement par lequel nous sortons de notre propre durée, par lequel nous nous servons de notre durée pour affirmer et reconnaître immédiatement l’existence d’autres durées, au-dessus ou au-dessous de nous.“ (Deleuze, Le bergsonisme, S. 24f.) 222 Vgl. Bergson, La pensée et le mouvant, S. 1254. Zum Verhältnis Bergsons zu Spencer vgl. auch: Becquemont / Mucchielli, Le cas Spencer, S. 327-332. 223 Spencer definiert „Intelligence“ als „the establishment of correspondences between relations in the organism and relations in the environment“ bzw. als „an adjustment of inner to outer relations that gradually extends in Space and Time, that becomes increasingly special and complex“ (Spencer, Principles, S. 385, 392).
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geradezu zu den Aufgaben der Intelligenz, so Bergson. Die geistige Tätigkeit des Menschen, die von seinen Bedürfnissen und dem Zwang des nützlichen Handelns geleitet ist, verbirgt systematisch die wahre Natur des Bewusstseins wie der Lebensprozesse insgesamt.224 Deshalb gelte es, eine geistige Tätigkeit zu kultivieren, die sich auf die Erkenntnis eben dieser verleugneten Dimensionen des Bewusstseins und des Lebens richtet; die Methode dieser geistigen Anstrengung ist die Intuition, ihr Gegenstand sind die Erscheinungsformen der Dauer, und die Disziplin, die sich diesem intuitiven Denken widmen sollte, ist für Bergson die Metaphysik.225 Was der Differenz zwischen Bergsons Konzeption und der evolutionsbiologischen Sicht auf das Denken bei Autoren wie Spencer, Mach oder Jerusalem letztlich zugrunde liegt, ist der Unterschied zwischen den jeweils vorausgesetzten Anthropologien. Für Spencer oder Mach ist die Natur des Menschen durch einen Grundtrieb definiert, durch den Trieb der Anpassung und Selbsterhaltung. Was also den Wert und die Wichtigkeit einer menschlichen Tätigkeit oder Fähigkeit konstituieren kann, ist allein oder zumindest in erster Linie ihre Förderlichkeit im Hinblick auf Selbsterhaltung und Anpassung. Für Bergson dagegen ist der Mensch außer durch seinen Trieb der Selbsterhaltung wesentlich durch jene Fähigkeiten und Erlebnisweisen gekennzeichnet, die er unter dem Begriff der Dauer zusammenfasst und die unter dem Gesichtspunkt des Erhaltungsstrebens irrelevant sind; sie befinden sich sogar in einem gewissen Konflikt mit den Erfordernissen der Selbsterhaltung und des praktischen Handelns, so dass sie im täglichen Leben meist unterdrückt werden. Diese Erlebnisweisen und Fähigkeiten aber werden von Bergson als wichtig und wertvoll ausgezeichnet; die Erfahrung der wahren Dauer bringt den Menschen in Kontakt mit seinem eigentlichen, tiefen Ich und lässt ihn außerdem seiner Freiheit und seiner schöpferischen Kraft gewahr werden. Mit der wahren Dauer stellt Bergson somit einen Maßstab zur Beurteilung des Denkens auf, der ebenso wie der Selbsterhaltungstrieb in der Natur des Menschen verankert ist. So kann er den Wert der Intuition als einer Art des Denkens behaupten, die nichts zur Selbsterhaltung beiträgt, aber den Menschen mit den tieferen, durch die Anforderungen des praktischen und sozialen Lebens verdeckten Ebenen seiner selbst bekannt machen kann. Die Popularität der Philosophie Bergsons wie auch die Intensität der von ihr ausgelösten Kontroverse erreichten einen Höhepunkt nach dem Erscheinen von L’évolution créatrice im Jahr 1907.226 Drei Jahre später erschien Lucien Lévy-Bruhls Buch Les fonctions mentales dans les sociétés inférieu_____________ 224 Vgl. Bergson, La pensée et le mouvant, S. 1257f., 1275f., 1319f. 225 Vgl. ebd., S. 1271-1289. 226 Vgl. Grogin, The Bergsonian Controversy, S. 81-98, 127-132, 175-183.
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res, das auf den ersten Blick nichts mit der Bergson’schen Philosophie und der um sie geführten Debatte zu tun hatte. Es handelte sich um ein ethnologisches Werk, dessen zentrale These lautete, dass der menschliche Geist nicht in allen Zeiten und Kulturen dieselbe Grundstruktur aufweise, sondern in ‘primitiven Gesellschaften’ fundamental anderen Gesetzen gehorche als in den modernen, zivilisierten Gesellschaften.227 Insbesondere waren Lévy-Bruhl zufolge dem ‘Denken der Naturvölker’ (so der Titel der deutschen Übersetzung) das Kausalitätsprinzip und logische Gesetze wie der Satz vom Widerspruch fremd; charakteristisch für die kollektiven Vorstellungen der primitiven Mentalität war vielmehr, dass in ihnen verschiedene Wesen und Gegenstände zugleich sie selbst und etwas anderes sein können. Das von diesem Prinzip der Partizipation („loi de participation“)228 bestimmte Denken, an dem das Gefühl einen großen Anteil hat, gewähre dem Menschen eine weit höhere Befriedigung als das logische und kausale Denken, dem immer etwas Indifferentes, Blasses und Kaltes anhafte.229 Auf den letzten Seiten des Buchs nun führte Lévy-Bruhl aus, dass sich auch im Denken der modernen, zivilisierten Menschen noch Spuren der „mentalité primitive“ finden ließen, insbesondere in ihren moralischen und religiösen Vorstellungen, und dass auch die modernen Menschen sich noch unterschwellig an das ‘partizipierende Denken’ und die damit verbundene Befriedigung erinnern; diese Erinnerung sowie das Ungenügen an der Kälte und Äußerlichkeit des logischen und kausalen Denkens seien verantwortlich für die Attraktivität der periodisch wiederkehrenden ‘anti-intellektualistischen’ Doktrinen.230 Für Lévy-Bruhls Leser dürfte evident gewesen sein, dass damit auch die Philosophie Bergsons gemeint war;231 ‘intellectualisme’ war der Name, mit dem Bergson und _____________ 227 228 229 230
Vgl. Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales, S. 1-10, 425. Vgl. ebd., S. 76f. Vgl. ebd., S. 452f. Vgl. Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales, S. 453: „Cette expérience d’une possession intime et complète de l’objet, possession plus profonde que toutes celles dont l’activité intellectuelle peut être l’origine, fait sans doute le ressort principal des doctrines dites antiintellectualistes. Ces doctrines reparaissent périodiquement, et à chaque réapparition elles retrouvent faveur. Car elles promettent ce que ni la science positive pure ni les autres doctrines philosophiques ne peuvent se flatter d’atteindre: le contact intime et immédiat avec l’être, par l’intuition, par la compénétration, par la communion réciproque du sujet et de l’objet, par la pleine participation, en un mot, que Plotin a décrite sous le nom d’extase. Elles montrent que la connaissance soumise aux formes logiques est impuissante à surmonter la dualité, qu’elle n’est pas une possession véritable, qu’elle demeure à la surface extérieure des choses. Or le besoin de participation reste sûrement plus impérieux et plus intense, même dans nos sociétés, que le besoin de connaître ou de se conformer aux exigences logiques. Il est plus profond, il vient de plus loin.“ 231 Als Anspielung auf Bergson kann nicht zuletzt die Verwendung des Begriffs „intuition“ in der zitierten Passage (vgl. die vorangegangene Anmerkung) aufgefasst werden. – Bergson und Lévy-Bruhl besuchten zur gleichen Zeit die École Normale Supérieure und pflegten
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seine Anhänger vorzugsweise die von ihnen bekämpfte philosophische Richtung bezeichneten.232 Einerseits erhob Lévy-Bruhl mit diesen Bemerkungen über den AntiIntellektualismus den Anspruch, die tieferen Ursprünge der Bergson’schen Lehre und die eigentlichen Ursachen ihres Erfolgs freigelegt zu haben, die von ihren Verfechtern selbst nicht durchschaut wurden; andererseits lief diese Analyse aber auch nicht auf eine Destruktion oder Delegitimierung der Bergson’schen Theorie von Intelligenz und Intuition hinaus, sondern gestand ihr zu, eine reale Basis in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes zu besitzen. Die Leser Lévy-Bruhls konnten aus seinem Buch den Schluss ziehen, dass es neben dem kalten Denken mithilfe der Intelligenz tatsächlich noch ein anderes, ein ‘partizipierendes’ oder ‘intuitives’ Denken gebe, das den vom logischen und kausalen Denken unerfüllt gelassenen Bedürfnissen gerecht werde.
5. Das Denken, die Triebe und das Unbewusste Nietzsches und Freuds Konzeptionen des Denkens ähneln sich insofern, als sie beide auf vertikalen Modellen des menschlichen Geistes beruhen, die die Existenz einer ‘unter’ dem bewussten Erleben und den bewussten Motiven befindlichen Tiefenschicht postulieren; in dieser Tiefe werden die Triebe oder das Unbewusste situiert. Nietzsche und Freud waren nicht die einzigen und nicht die ersten Autoren, die solche tiefenpsychologischen oder ‘tiefenphilosophischen’233 Theorien entwarfen und das Denken im Rahmen solcher Theorien konzipierten; ein wichtiges Modell für beide lieferte Schopenhauer mit seinem Begriff des Willens und seiner These von der Steuerung des Intellekts durch den Willen.234 Da ihre Konzeptio_____________ danach ein von gegenseitiger Achtung geprägtes oder sogar freundschaftliches Verhältnis; vgl.: Henri Bergson, Lettres à Lucien Lévy-Bruhl (1889-1932). In: Revue Philosophique de la France et de l’Etranger 174 (1989), S. 483-487; vgl. auch: Philippe Soulez, Commentaire de la correspondance Bergson/Lévy-Bruhl. In: Ebd., S. 488-492. Ihr Verhältnis scheint also nicht darunter gelitten zu haben, dass Durkheim, dem Lévy-Bruhl mit seiner Forschung stark verpflichtet war, als der vielleicht wichtigste Antipode Bergsons in der zeitgenössischen französischen Wissenschaft galt (vgl. Grogin, The Bergsonian Controversy, S. 113117). 232 Vgl. etwa: Édouard Le Roy, Sur quelques objections adressées à la nouvelle philosophie. In: Revue de Métaphysique et de Morale 9 (1901), S. 292-327, 407-432, dort etwa S. 326f. 233 Lütkehaus hat den Ausdruck ‘Tiefenphilosophie’ als Sammelbegriff für vor-freudianische Theorien des Unbewussten von Jean Paul bis Nietzsche und Eduard von Hartmann verwendet; vgl. Ludger Lütkehaus, ‘Tiefenphilosophie’. In: L. L. (Hg.), Tiefenphilosophie. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Hamburg 1995, S. 2-45. 234 Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zwei Bände. Zürich 1988 (= Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hg.
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nen aber anerkanntermaßen zu den wirkungsmächtigsten Vertretern dieser Reihe gehörten, sollen sie im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Die Grundzüge ihrer Theorien können weitgehend als bekannt vorausgesetzt werden, daher wird sich die Darstellung auf die spezielleren Punkte konzentrieren, die im vorliegenden Zusammenhang von Interesse sind. Tiefenpsychologische Modelle, die das Denken zu Grundtrieben oder unbewussten Wünschen in Beziehung setzen, enthalten Aussagen sowohl über die dem Denken zugrunde liegenden mentalen Mechanismen als auch über die charakteristischen Leistungen des Denkens, also über jeden der zwei Aspekte des Denkens und der Theorien des Denkens, die in diesem Kapitel unterschieden wurden. Die Besonderheit und die eigentliche Pointe dieser Modelle liegt dabei in der Art, wie sie die Leistungen des Denkens beschreiben; wenn das Denken durch eine Tiefenschicht der Triebe oder unbewussten Wünsche determiniert ist, so folgt daraus, dass es ‘eigentlich’ einem anderen Zweck dient als dem vom Bewusstsein angenommenen. So verbindet sich das vertikal gegliederte, tiefenpsychologische Modell des Geistes fast zwangsläufig mit einem Gestus der Entlarvung. 5.1. Nietzsche: Triebgeleitetes Denken und freie Geister Ein Passus aus Jenseits von Gut und Böse beginnt mit der Annahme: „Gesetzt, dass nichts Anderes als real ‘gegeben’ ist als unsere Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ‘Realität’ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unserer Triebe –“; und in Parenthese fügt Nietzsche hinzu: „denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander“.235 Fast wortgleich findet sich diese Feststellung in Die fröhliche Wissenschaft.236 Solche Aussagen über die Lenkung des Denkens durch Triebe, Begierden und Leidenschaften treten bei Nietzsche in großer Zahl auf; sie werden aber an verschiedenen Stellen auf sehr unterschiedliche Weisen akzentuiert und mit divergierenden Wertungen verknüpft. In manchen Fällen ist die These von der Triebgeleitetheit des Denkens primär abwertend oder depotenzierend gemeint: Das Denken ist nur ein Verhalten der Triebe zueinander; mit solchen Behauptungen will Nietz_____________
von Ludger Lütkehaus. Bdd. I, II), Zweiter Band, vor allem die Kapitel 14 und 19 (S. 154158, 232-285). 235 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 36. In: KSA 5, S. 55. – NietzscheZitate werden im Folgenden stets nach diesem Muster nachgewiesen, also mit der KSABandnummer, der Nummer des Abschnitts oder des Aphorismus und der Seitenzahl. – Zu Nietzsches Triebbegriff vgl.: Volker Caysa, Art. ‘Trieb’. In: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 339-341. 236 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 333. In: KSA 3, S. 559.
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sche offenbar idealistische oder rationalistische Konzeptionen attackieren, die das Denken als Tätigkeit eines autonomen, von Körper, Sinnen und Leidenschaften unabhängigen Verstandesorgans begreifen. Gegen Auffassungen dieser Art stellt er etwa die These, das Bewusstsein sowie alle Urteile und Wertschätzungen seien nur mehr oder weniger beliebige Interpretationen eines chaotischen Spiels der Triebe beziehungsweise der Nervenreize und der Bewegungen des Bluts und der Eingeweide, die sich in diesen Triebimpulsen äußern.237 Solche Ausführungen, die unbekannten physiologischen Prozessen eine fast unbeschränkte Herrschaft über den Menschen zusprechen und die Bewusstseinsvorgänge tendenziell zu einem Epiphänomen reduzieren, zeigen die Spuren von Nietzsches Auseinandersetzung mit den stark physiologisch ausgerichteten Psychologien etwa Théodule Ribots und Henry Maudsleys.238 Aber die Aussagen über die Einflüsse der Triebe und Leidenschaften auf das Denken sind bei Nietzsche keineswegs immer als Abwertung des Denkens gemeint. Eine Verbindung zwischen dem Denken und den Trieben, Affekten und Leidenschaften gehört vielmehr zu den Hauptmerkmalen der ‘freien Geister’ und ‘neuen Philosophen’, die Nietzsche in den Schriften seiner mittleren, von Menschliches Allzumenschliches über Morgenröthe bis zu Die fröhliche Wissenschaft reichenden Schaffensperiode als Ideal entwarf und zu deren Sprecher er sich machte. Diese neuen Philosophen heben stolz hervor, dass sie „keine denkenden Frösche“ seien, „keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden“, sondern ihren „Gedanken“ alles mitgeben, was sie an „Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss“ in sich tragen.239 Die Erkenntnis, so Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft, könne selbst eine Leidenschaft werden,240 die sogar das Leben nur noch als ein Mittel begreift: „‘Das Leben ein Mittel der Erkenntniss’ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen!“241 _____________ 237 Vgl. ders., Morgenröte, Nr. 119. In: KSA 3, S. 111-114. 238 Zu Nietzsches Beschäftigung mit Ribot, Janet, Bain, Maudsley und anderen französischen und britischen Psychologen vgl.: Hans Erich Lampe, Flair du livre. Friedrich Nietzsche und Théodule Ribot. In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 573-586, vor allem S. 574, 578f. 239 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Vorrede zur zweiten Ausgabe. In: KSA 3, S. 349. 240 Vgl. ebd., Nr. 123. In: KSA 3, S. 479f. – Zu der Entstehung und Entwicklung des Begriffs „Leidenschaft der Erkenntnis“ bei Nietzsche vgl. umfassend: Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra. Berlin, New York 1997; einige Grundgedanken dieser Untersuchung sind zusammengefasst in dem Aufsatz: ders., Erkenntnis als Passion. Nietzsches Denkweg zwischen Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft. In: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 199-225. 241 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 324. In: KSA 3, S. 552f., Zitat S. 553.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
Das Denken der freien Geister und neuen Philosophen, wie Nietzsche sie in den Büchern seiner mittleren Phase schildert, gilt ihm offenbar als wertvoll und vorbildlich; doch es muss noch genauer geklärt werden, was für ihn den Wert dieses Denkens ausmacht. Festhalten kann man zunächst, dass das Denken der freien Geister nicht deshalb wertvoll ist, weil es nützliche oder erhaltungsförderliche Ergebnisse hervorbrächte, also ein effektives Instrument des Selbsterhaltungsstrebens wäre. Die freien Geister suchen in der Wissenschaft nicht nützliche, erhaltungsdienliche Erkenntnisse, sondern Strenge, Kampf, Eroberung und Heroentum; die Eigenschaften, welche sie im Streben nach Erkenntnis ausbilden oder bewähren müssen, sind Mut, Redlichkeit und Entbehrungsfähigkeit.242 Was das leidenschaftliche Erkenntnisstreben der Freigeister und neuen Philosophen in Nietzsches Augen wertvoll macht, dürfte die Tatsache sein, dass es diese Eigenschaften hervortreibt und fördert. In Die fröhliche Wissenschaft widerspricht Nietzsche ausdrücklich der Lehre vom Selbsterhaltungstrieb als dem entscheidenden Grundtrieb der Menschen; diese Auffassung könne nur von Philosophen und Wissenschaftlern, die sich in materiellen Notlagen befanden, in die Welt gesetzt und verbreitet worden sein. Der eigentliche ‘Lebens-Grundtrieb’ sei der Wille zur Macht, das Streben nach „Machterweiterung“, Ausdehnung und Wachstum.243 Das Denken und Erkenntnisstreben der freien Geister stellt offenbar eine besonders wertvolle Ausprägung dieses Grundtriebs dar, da es auf eine Überwindung der gegenwärtigen Situation der Menschheit zielt, die freien Geister zur Abkehr von allen alten Werten und Idealen drängt und ‘auf die Schiffe’ treibt.244 In der Genealogie der Moral wird Nietzsche die Vorbildlichkeit der freien Geister und den Wert ihres Erkenntnisstrebens relativieren, indem er sie als letzte Vertreter des asketischen Ideals beschreibt und die Grenze ihrer Erkenntnisse wie der Wissenschaft überhaupt markiert: Die Wissenschaft könne keine neuen Werte schaffen.245 Damit ist aber der Wert des freigeistigen Denkens nur relativiert, nicht gänzlich _____________ 242 Vgl. ebd., Nr. 283, 293, 296, 319, 335. In: KSA 3, S. 526f., 533f., 536f., 550f., 560-564. – Zu Nietzsches Wissenschaftsbegriff vgl.: Claus Zittel, Art. ‘Wissenschaft’. In: Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, S. 355f. 243 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 349. In: KSA 3, S. 585f. – Für eine differenzierte Analyse von Nietzsches Bewertung des Selbsterhaltungstriebs in den verschiedenen Phasen seines Werks vgl.: Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches. Berlin, New York 1996, S. 129-140. 244 Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 289, 377. In: KSA 3, S. 529f., 628-631. 245 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, vor allem §§ III.24 und III.25. – Zu Nietzsches Begriff der asketischen Ideale und zu dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft, freien Geistern und asketischen Idealen vgl.: Maudemarie Clark, Nietzsche on truth and philosophy. Cambridge u.a. 1990, S. 159-204.
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negiert worden; die asketischen Ideale als Ausformungen des Willens zur Macht haben nach Nietzsche auch positive Wirkungen hervorgebracht, und die fröhliche Wissenschaft der freien Geister ist die letzte und höchste Verkörperung der asketischen Ideale.246 5.2. Freud: Denken als ‘Umweg zur Wunscherfüllung’ Welchen Ort das Denken oder die Tätigkeit des Intellekts in Sigmund Freuds Theorie der psychischen Vorgänge hat, geht etwa aus seiner kurzen Schrift Formulierungen über die zwei Prinzipen des psychischen Geschehens von 1911 hervor;247 Freud greift hier Überlegungen aus dem letzten Kapitel der Traumdeutung wieder auf248 und entfaltet sie ausführlicher. In beiden Texten skizziert er die Genese des psychischen Apparats. Auf seiner frühesten Entwicklungsstufe, die von Freud mehr oder weniger hypothetisch entworfen wird, aber in etwa dem Säuglingsalter entsprechen soll, untersteht der Apparat allein dem Lustprinzip. Nachdem ein Bedürfnis wie etwa der Hunger einmal befriedigt worden ist, bleibt es mit der zu diesem Befriedigungserlebnis gehörenden Wahrnehmung assoziiert. Taucht das Bedürfnis erneut auf, so sucht das Kind den damit entstehenden Wunsch nach jener Wahrnehmung zunächst auf dem kürzesten Weg zu befriedigen, nämlich durch Halluzinieren. Für die energetische Ebene des Geschehens bedeutet das, dass der psychische Apparat die mit dem Bedürfnisreiz verbundene Erregung sofort abführt. Das Halluzinieren bewirkt aber keine Befriedigung, und so muss „sich der psychische Apparat entschließen, die realen Verhältnisse der Außenwelt vorzustellen und die reale Veränderung anzustreben“249, also etwa auf den Erhalt von Nahrung hinzuwirken. Damit wird als zweites Prinzip der seelischen Tätigkeit neben dem Lustprinzip das Realitätsprinzip eingeführt. Mit seiner Einsetzung sind verschiedene Adaptierungen des seelischen Apparats verbunden: Unter anderem bildet sich das Denken heraus, das zwischen den Wunsch und das auf Wunscherfüllung zielende Handeln eingespannt wird; es ist im _____________ 246 Vgl. Clark, Nietzsche on truth and philosophy, S. 163-165, 180f., 200f. – Zu der Bedeutung, die der Begriff der Wahrheit und das Ideal der Wahrhaftigkeit sowie die mit ihnen assoziierten Werte (etwa der Widerstand gegen Selbsttäuschungen und tröstliche Illusionen) für Nietzsche besaßen, vgl. auch: Bernard Williams, Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy. Princeton, Oxford 2004 [zuerst 2002], S. 12-18. 247 Vgl. Sigmund Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. In: S.F., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. London 1943. Band VIII, S. 229-238. 248 Vgl. ders., Die Traumdeutung. In: Gesammelte Werke. Band II/III, S. 1-642, hier S. 570573. 249 Freud, Formulierungen, S. 231.
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Wesentlichen ein „Probehandeln“,250 das zeitweilig die Erregungsabfuhr durch echtes Handeln hemmt und nur kleine Energiequantitäten verschiebt. Das bedeutet: „All die komplizierte Denktätigkeit aber, welche sich vom Erinnerungsbild bis zur Herstellung der Wahrnehmungsidentität durch die Außenwelt fortspinnt, stellt doch nur einen durch die Erfahrung notwendig gewordenen Umweg zur Wunscherfüllung dar.“251 Welcher Art und Herkunft die Wünsche und Bedürfnisse sind, die das Denken wie das Handeln und Verhalten des Menschen determinieren, behandelt Freuds Trieblehre, die man als den „biologischen Teil“ seiner Psychoanalyse betrachten und neben den „psychologischen“, die „Lehre vom Unbewußten und der Verdrängung“, stellen kann.252 Freud setzt das Reflexschema, die Abfolge von Reiz und der Erregungsabfuhr dienender Reaktion, als Grundmodell der psychischen Vorgänge voraus und subsumiert auch den Trieb unter die Reize.253 Was den Triebreiz von anderen auf das Seelische einwirkenden Reizen unterscheidet, ist die Tatsache, dass er „nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Organismus selbst“ stammt und dass er „nicht wie eine momentane Stoßkraft, sondern immer wie eine konstante Kraft“ wirkt.254 Triebreize veranlassen das Nervensystem zu weit komplexeren Tätigkeiten als einfache physiologische Reize; sie sind die eigentlichen „Motoren“ des Handelns und Fortschritts.255 Freuds erste Systematik der Triebe teilte diese in Sexualtriebe und Selbsterhaltungstriebe ein und stand damit noch den Auffassungen über die menschlichen Grundantriebe (‘instincts’) nahe, die sich im Gefolge von Darwins Evolutionsbiologie verbreitet hatten; mit seinen zwei späteren Modellen, insbesondere dem einen Dualismus von Lebenstrieb und Todestrieb postulierenden dritten Triebmodell, ging Freud dagegen eigene und zunehmend spekulative Wege.256 In Erinnerung gerufen sei schließlich die Ambivalenz, die viele Konzepte der Freud’schen Psychoanalyse kennzeichnet und die Habermas zu der Einschätzung bewogen hat, Freud sei einem „szientistische[n] Selbstmißverständnis“ erlegen:257 Seine Psychoanalyse bedient sich einerseits interpretierender Verfahren und sucht hinter oder unter neuroti_____________ 250 251 252 253 254 255 256 257
Ebd., S. 233. Freud, Die Traumdeutung, S. 572. Thomas Köhler, Freuds Psychoanalyse. Eine Einführung. Stuttgart u.a. 1995, S. 61. Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale [1915]. In: Gesammelte Werke, Band X, S. 209-232, hier S. 211. Ebd., S. 211f. Ebd., S. 213. Vgl. zu Freuds Triebmodellen: Köhler, Freuds Psychoanalyse, S. 63-72. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort. 11. Aufl. Frankfurt/M. 1994, S. 300.
6. Zusammenfassung
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schem Verhalten und Fehlleistungen den „Sinn eines biographischen Zusammenhangs“ freizulegen, der „für das Subjekt selbst unzugänglich geworden“ ist, zielt auf die „Reorganisation des umgangssprachlich strukturierten handlungsorientierenden Selbstverständnisses von vergesellschafteten Individuen“ und liefert somit ein Modell der methodischen „Selbstreflexion“.258 Andererseits fasste Freud die Psychoanalyse stets als eine Naturwissenschaft auf, die möglichst an die Biologie anzubinden war, und bediente sich gerade im Zusammenhang der Trieblehre einer um den Begriff der Energie zentrierten Ausdrucksweise, die das psychische Geschehen als ein strikt kausal determiniertes erscheinen ließ, welches prinzipiell auf biologische oder letztlich physikalische Gesetze rückführbar sei.259
6. Zusammenfassung Theorien des Denkens, so wurde zu Beginn dieses Kapitels festgestellt, verbinden in der Regel Aussagen über die spezifische Leistung oder die Produkte des Denkens mit Aussagen über die mentalen Grundvorgänge oder ‘Mechanismen’, aus denen diese Leistungen und Produkte hervorgehen. Diese sehr allgemeine Beschreibung der Grundstruktur von Denktheorien kann dabei helfen, die in diesem Kapitel untersuchten Entwicklungen in der Konzeptualisierung des Denkens systematisch zu ordnen. Die Erforschung des Denkens in der Psychologie zwischen etwa 1890 und 1940 kreiste vor allem um die Frage, welches die dem Denken zugrunde liegenden mentalen Basisprozesse oder Mechanismen waren. Diese Basisprozesse waren traditionell meist als Abfolge assoziativ verbundener Vorstellungen beschrieben worden. In dem betrachteten Zeitraum nun wurde das Konzept der Assoziation schließlich verworfen, und an seine Stelle traten in einer an der Physiologie orientierten Richtung der Psychologie der Begriff des Reflexes, in der Gestaltpsychologie dagegen der Begriff der Gestalt. Diese zwei Begriffe und die auf sie gestützten Denktheorien standen im Kontext von psychologischen Ansätzen mit sehr unterschiedlichen Prämissen und Zielsetzungen: Der Begriff des Reflexes wurde ebenso wie zuvor der Assoziationsbegriff mit der Absicht verwendet, Denkabläufe durch eine Rückführung auf einfachere Vorgänge kausal zu erklären. Der Gestaltbegriff hingegen wurde im Rahmen einer in der Tradition Franz Brentanos stehenden Psychologie entwickelt, die zu_____________ 258 Ebd., S. 266, 302, 262. 259 Vgl. ebd., S. 300f.; Köhler, Freuds Psychoanalyse, S. 21-25; Lowry, Evolution of Psychological Theory, S. 151-165.
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nächst und vor allem das Ziel verfolgte, genaue Beschreibungen der psychischen Phänomene aus der Erlebnisperspektive zu entwickeln, ohne vorerst nach kausalen, letztlich physiologischen Erklärungen zu suchen. Daneben vollzog sich in der psychologischen Denkforschung aber auch eine Veränderung, welche die Frage nach den Leistungen und Produkten des Denkens betraf: Immer mehr Psychologen gingen dazu über, das Problemlösen als eine prototypische Leistung des Denkens zu begreifen oder das Denken kurzerhand mit dem Problemlösen zu identifizieren. Diese konzeptuelle Verschiebung, die wesentlich durch die Evolutionsbiologie beeinflusst war, besaß eine Parallele in philosophischen Diskussionen um die Leistung und den Wert des Denkens; diese Diskussionen waren in beträchtlichem Maße geprägt durch den Aufstieg einer biologischen Sichtweise, die das Denken als ein Mittel im Dienst des Selbsterhaltungsstrebens begriff, und durch die kritischen Reaktionen auf diese Theorie. Die Konzeptionen Nietzsches und Freuds schließlich, die das Denken aus einer entlarvungspsychologischen Perspektive anvisierten und sich dabei der Begriffe des Triebs und des Unbewussten bedienten, beschrieben sowohl die mentalen Grundprozesse als auch die Leistungen des Denkens in neuer Weise: Die Begriffe des Triebs und des unbewussten Wunsches sind zum einen verbunden mit spezifischen Auffassungen über die Funktionsweise mentaler Prozesse oder des ‘psychischen Apparats’; die Handlungen und mentalen Vorgänge des Menschen erscheinen in dieser Auffassung als determiniert durch ‘verborgene’ Triebkräfte oder Energiequellen, die dem Bewusstsein nicht oder nicht ohne weiteres zugänglich sind. Zum anderen besagen diese Konzepte etwas über die Leistung oder den Wert des Denkens: Die ‘eigentliche’ Leistung des Denkens besteht diesen Auffassungen zufolge in der Befriedigung bestimmter Triebe oder unbewusster Wünsche (Wille zur Macht, Selbsterhaltung, Lustprinzip). Viele, wenn auch nicht alle der hier behandelten philosophischen und psychologischen Theorien des Denkens waren einem übergeordneten Ziel verpflichtet, das man als ‘Naturalisierung des Denkens’ bezeichnen kann; darunter soll hier das Ziel verstanden werden, die Verwandtschaft des Denkens mit anderen, einfacheren Tätigkeiten des Menschen oder Prozessen innerhalb des menschlichen Organismus aufzuzeigen und es so in ein Gesamtbild der menschlichen Natur und eventuell auch der belebten Natur überhaupt zu integrieren. Die Bezeichnung wird hier also nicht allein für solche Ansätze verwendet, die psychische Vorgänge im strengen Sinne auf physikalische oder physiologische Prozesse zu reduzieren oder als von ihnen abhängig darzustellen suchten.260 Solche Bemühungen um _____________ 260 In diesem Sinne gebrauchte Husserl die Ausdrücke ‘Naturalismus’ und ‘Naturalisierung’ in seinem programmatischen Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft, in dem er eine grundsätzliche Kritik an der ‘naturalistischen Philosophie’ seiner Zeit entwickelte (vgl. Edmund
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eine Naturalisierung des Denkens in dem erläuterten Sinn konnten sowohl bei den grundlegenden Mechanismen als auch bei den Produkten oder Leistungen des Denkens ansetzen. Beispiele für Theorien, die die Mechanismen des Denkens auf naturalistische Weise konzipieren, waren sowohl die klassische Assoziationstheorie als auch die jüngeren Theorien, die Denkprozesse als komplizierte Ausprägungen von Reflexvorgängen auffassten. Eine naturalisierende Sicht auf die Leistungen des Denkens entwarfen insbesondere die evolutionsbiologisch inspirierten Theorien, denen zufolge das Denken der Anpassung des Menschen an die Umwelt und der Selbsterhaltung diente. Wilhelm Wundt hingegen, obwohl Verfasser eines Standardwerks zu ‘physiologischen Psychologie’, lehnte naturalistische Konzeptionen des Denkens ab. Für ihn waren Apperzeptionsvorgänge qualitativ verschieden von rein assoziativen Prozessen und konnten nicht auf solche einfacheren Vorgänge zurückgeführt werden; außerdem vertrat er die Ansicht, dass psychische Vorgänge und Prozesse in der physischen Natur durch verschiedene Arten von Kausalität bestimmt waren und somit prinzipiell nicht anhand derselben Gesetze erklärt werden konnten. Die meisten der hier untersuchten Ansätze jedoch zielten, wie gesagt, auf eine naturalistische Konzeption des Denkens; aber die Konzeptionen der menschlichen Natur und der Natur überhaupt, die in diesen Bestrebungen vorausgesetzt wurden, waren sehr unterschiedlicher Art. Die Differenzen zwischen den oben zusammengefassten Auffassungen über die Mechanismen wie über die Leistungen des Denkens lassen sich vielfach auf die jeweils zugrunde gelegten Naturbegriffe zurückführen. Otto Selz etwa ging in seiner ausdrücklich an Biologie und Physiologie orientierten Theorie des Denkens von einem Begriff der Natur aus, der Naturvorgänge als streng kausal determiniert, aber zugleich Lebewesen als zweckmäßig organisiert auffasste. Diese Naturauffassung prägte auch seine Konzeption des Reflexes, die für seine Theorie des Denkens von zentraler Bedeutung war: Reflexe waren ihm zufolge an konstante Auslösungsbedingungen gebunden und somit stets Teile eines kausalgesetzlichen Geschehens, aber zugleich als objektiv sinnvolle Teilsysteme in ein umfassenderes System eingegliedert und auf dieses bezogen. Sein Naturbegriff ließ somit ein höheres Maß an zweckmäßiger Ordnung zu als der von Théodule Ribot, _____________ Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft. In: Logos 1 [1910/1911], S. 289-341). Die Grundüberzeugung des Naturalismus wird von Husserl wie folgt referiert: „Der Naturalist also [...] sieht nichts anderes als Natur und zunächst physische Natur. Alles was ist, ist entweder selbst physisch, es gehört dem einheitlichen Zusammenhang der physischen Natur an, oder es ist zwar Psychisches, aber dann bloße abhängig Veränderliche von Physischem, bestenfalls eine sekundäre ‘parallele Begleitatsache’ [sic].“ (Ebd, S. 294.) Ein Kennzeichen aller Formen des „konsequenten Naturalismus“ war in seiner Sicht das Streben nach einer „Naturalisierung des Bewußtseins“ und nach einer „Naturalisierung der Ideen und damit aller absoluten Ideale und Normen.“ (Ebd., S. 294f.)
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der die Psychologie ebenfalls an die Physiologie anzunähern suchte und der den Reflex als Grundtyp aller mentalen Prozesse begriff; bei ihm erscheinen Reflexe aber als isolierte und regellose Impulse, die alleine keine geordneten Denkvorgänge hervorbringen können, sondern durch Aufmerksamkeit und Wille kontrolliert werden müssen. Die Berliner Gestaltpsychologen schließlich vertraten eine Naturauffassung, die der Natur mehr und gewissermaßen wertvollere Ordnung zuschrieb als die meisten anderen naturwissenschaftlich ausgerichteten Ansätze in der Psychologie ihrer Zeit.261 Für sie besaßen produktive Denkvorgänge den Charakter ‘einsichtiger’ Leistungen und waren als solche qualitativ verschieden von uneinsichtigen Verhaltensweisen; das hieß aber nicht, dass solche Denkvorgänge nicht naturalistisch aufgefasst und erklärt werden konnten: In seiner Studie über Intelligenzprüfungen an Menschenaffen vertrat Köhler auf der Basis seiner Versuchsergebnisse die These, dass auch Schimpansen zu einsichtigen Leistungen fähig seien.262 Außerdem suchte Köhler in seiner ‘naturphilosophischen Untersuchung’ Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1924) nachzuweisen, dass es auch in der anorganischen Natur Zustände und Prozesse mit Gestaltcharakter gab.263 Dabei legte Köhler Wert darauf, diese gestalttheoretische Naturauffassung von der Lehre Bergsons abzugrenzen, die mithilfe der Konzepte der ‘durée’ und des ‘élan vital’ die psychischen Vorgänge in ein Gesamtbild der belebten Natur eingegliedert hatte; im Gegensatz zu Bergson postuliere die Gestalttheorie keine „Agentien jenseits der Erfahrung“.264 So unterschiedlich die Naturauffassungen im Einzelnen waren, die in den oben untersuchten Diskussionen über das Denken vorausgesetzt oder (seltener) explizit diskutiert wurden, kann doch eine Grundtendenz herausgehoben werden: Während die ältere Psychologie, insbesondere die Assoziationspsychologie, ihren Bemühungen um eine Naturalisierung des Psychischen meist eine an der Physik ausgerichtete Naturauffassung zugrunde gelegt hatte, orientierten sich die Psychologen in den Jahrzehnten um und kurz nach 1900, wenn sie sich auf eine einheitliche Konzepti_____________ 261 Vgl. Ash, Gestalt psychology in German culture, S. 1: „In opposition to what Köhler called ‘machine theory,’ that is, to technological conceptions of science, life, and mind that equated knowledge of nature with its effective manipulation and control, the Gestalt theorists attempted to introduce an aesthetic dimension of inherent order, meaning, and simplicity into the evaluation of scientific theories, and into the fabric of experience and nature itself.“ 262 Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen, S. 2f., 191. 263 Vgl. Wolfgang Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung. Erlangen 1924. Vgl. zu diesem Buch: Ash, Gestalt psychology, S. 168-186. 264 Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen, S. 152f., Zitat S. 153.
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on der Natur beriefen, vor allem an der Biologie265 und insbesondere an evolutionsbiologischen Konzepten wie Selbsterhaltung, Entwicklung, Anpassung oder Daseinskampf.266 Diese Begriffe konnten unterschiedlich gedeutet werden und so zu Grundpfeilern recht unterschiedlicher Naturauffassungen werden;267 für die Diskussionen über das Denken in der Psychologie wie in Teilen der Philosophie war vor allem eine ‘pragmatische’ oder ‘utilitäre’ Ausdeutung dieser Begriffe leitend,268 die in der Formel von der Ökonomie des Denkens ihren griffigsten Ausdruck erhielt und sich auch in der Annäherung von Denken und Problemlösen in Teilen der Psychologie niederschlug. Die Auffassung, dass das Denken als ein Instrument des Selbsterhaltungsstrebens betrachtet werden könne und dass sein Wert vor allem in seinem nützlichen Beitrag zur praktischen Daseinsbewältigung bestand, entwickelte sich in dem betrachteten Zeitraum zu einer Standardsichtweise. _____________ 265 Diese Aussage ist freilich mit einer wichtigen Einschränkung zu versehen: Es gab eine physikalische Theorie, nämlich die Thermodynamik, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vielfach zur Grundlage eines umfassenden Bildes der belebten und unbelebten Natur gemacht wurde und so auch auf Konzeptionen des Menschen und des Mentalen in der Psychologie ausstrahlte. Vgl. dazu grundlegend: Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. [o. O.] 1990; vgl. dort etwa die Abschnitte zur Psychotechnik (ebd., S. 202-205, 278-282). 266 Der Psychologe Hermann Ebbinghaus wies 1896 in seiner Replik auf Diltheys Grundsatzkritik an der ‘erklärenden Psychologie’ darauf hin, dass sich die aktuelle Psychologie im Gegensatz zu der älteren Assoziationspsychologie nicht mehr von „physikalischchemischen Analogien“ leiten lasse, sondern von „biologischen“ (Herm[ann] Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9 [1896], S. 161-205, Zitate S. 175, 176). Mit dieser Ausrichtung an biologischen Analogien sei es verbunden, dass die neuere Psychologie durchaus – entgegen der Meinung Diltheys – die Einheit des Seelenlebens betone, nämlich die „Einheit des Zweckes“ (ebd., S. 176, auch 178). Wie alle Organe und Funktionen eines Organismus durch das letzte Ziel der „Erhaltung des individuellen Lebens“ und der „Erhaltung der Art“ verbunden seien, so diene das gesamte „seelische Getriebe“ dem einheitlichen Zweck der „Erhaltung und freie[n] Bethätigung der gesamten geistigen Eigenart, Verwirklichung und Aneignung dessen, was ihr zusagt, Abstossung und Verhütung dessen, was ihr widrig ist.“ (Ebd., S. 177, 176.) Die Psychologie habe damit einen „Hauptgedanke[n] SCHOPENHAUERs“ aufgegriffen, der sich, „in biologischem Gewande“, auch bei Herbert Spencer finde (ebd., S. 178). 267 So hat Wolfgang Riedel gezeigt, dass in Literatur, Lebensphilosophie und Weltanschauungsliteratur um 1900 die Orientierung an der Biologie vielfach die Sexualität ins Zentrum des Naturbegriffs rücken ließ. Vgl. Riedel, ‘Homo Natura’, vor allem S. XIII, 151-207. – Zu anderen Ausprägungen eines evolutionsbiologisch inspirierten Naturbegriffs in der Literatur jener Zeit vgl.: Peter Sprengel, Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1998. Sprengel untersucht unter anderem die Rolle der Themen vom ‘Kampf ums Dasein’ und vom ‘neuen Menschen’ in der Literatur um 1900; vgl. ebd., S. 15-46. 268 Den Ausdruck ‘utilitär’ übernehme ich hier von einer zeitgenössischen Darstellung des Pragmatismus; vgl.: René Berthelot, Un romantisme utilitaire. Étude sur le mouvement pragmatiste. [3 Bde.] Paris 1911-1922.
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Das bedeutet keineswegs, dass die Konzeption des Denkens als eines Instruments des Selbsterhaltungsstrebens allgemein akzeptiert worden wäre; aber es ist signifikant, dass mehrere Philosophen ihre Auffassungen über das Denken in kritischer Auseinandersetzung mit ihr entwickelten. Nietzsche, Bergson und Husserl übten Kritik an dieser Auffassung, aber auf sehr unterschiedliche Weisen. Husserl konzedierte in seiner Auseinandersetzung mit Mach, dass die geistigen Leistungen, einschließlich des wissenschaftlichen Denkens, erhaltungsfördernd seien und daher sinnvoll unter dem Gesichtspunkt der Denkökonomie untersucht werden können; aber er bestritt erstens, dass das Streben nach Ökonomie tatsächlich das menschliche Denken antreibe oder lenke, und zweitens, dass die biologische Nützlichkeit der Denkergebnisse ihren eigentlichen Wert ausmache.269 Ihren „objectiven Werth und Sinn“ besitze die Wissenschaft vielmehr aufgrund ihrer Annäherung an das Ideal, die „Thatsachen [...] unter möglichst allgemeine Gesetze“ zu ordnen.270 Wandte Husserl sich somit gegen das Bild von der Wissenschaft und der Erkenntnis, das die biologische Konzeption des Denkens entwarf, so bestritten Nietzsche und Bergson das Bild vom Menschen, das diese Konzeption voraussetzte. So unterschiedlich ihre Theorien im Übrigen sind, besitzen ihre Einwände gegen diese biologische Sicht auf den Menschen und das Denken doch eine strukturelle Verwandtschaft: Beide protestierten gegen die Auffassung vom Selbsterhaltungstrieb als dem einen grundlegenden Antrieb des Menschen, indem sie ihn als eine Ausprägung eines noch fundamentaleren Antriebs deuteten (Nietzsche, der Wille zur Macht) oder ihm eine zweite, ebenso tiefe und ursprüngliche Anlage zur Seite stellten (Bergson, die ‘durée’). Auch ihre Konzeptionen des Denkens können als naturalistisch in dem oben erläuterten Sinne bezeichnet werden; aber beide verwarfen die Auffassung von der menschlichen Natur und der belebten Natur insgesamt, die etwa Herbert Spencer vertrat. Bergson leitete aus seiner Konzeption der menschlichen Natur eine Unterscheidung zwischen den Erkenntnisvermögen der Intelligenz und der Intuition ab; ihm zufolge stützten sich die Naturwissenschaften in ihrer Erforschung der physischen Wirklichkeit ganz auf die Intelligenz, während es Aufgabe der Metaphysik war, die Intuition als ein ‘Denken in der Form der Dauer’ zu kultivieren und mit ihrer Hilfe das Gebiet des Geistes und des Lebens zu erkunden. Bergson war damit einer von mehreren Autoren, die ihre Theorien des Denkens und des Mentalen mit Aussagen über Disziplinen und Fächer verknüpften, über ihre Aufgaben, Kompetenzen und Methoden und in manchen Fällen auch über ihren _____________ 269 Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen I, S. 194-196, 208. 270 Ebd., S. 208, 206.
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Rang. Husserl begründete mit seiner Konzeption des menschlichen Bewusstseins und des Denkens auch die These, dass die Naturwissenschaften und die an ihnen orientierte Psychologie das Wesen des Denkens wie der Bewusstseinsvorgänge insgesamt nicht erfassen konnten und dass es dazu vielmehr einer neuen philosophischen Disziplin bedurfte, der Phänomenologie.271 Zu Diltheys Konzeption des menschlichen Seelenlebens gehörte die Annahme, dass dieses Seelenleben und seine Objektivationen dem Verstehen zugänglich seien, während die physische Natur nur erklärt werden könne; die Abgrenzung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften stützte sich somit wesentlich auf eine Unterscheidung zwischen den geistigen Tätigkeiten des Verstehens und Erklärens.272 Bergson, Husserl und Dilthey standen damit in mehrfacher Hinsicht im Gegensatz zur Position Ernst Machs. Dieser betrachtete ausdrücklich die Zusammenführung der Wissenschaften in einem „einheitlichen monistischen Bau“ als erstrebenswert; um dieses Ziel zu erreichen, sollten die Wissenschaften die Erforschung der Abhängigkeiten zwischen den gleichartigen Elementen, in die sich die physische wie die psychische Welt auflösen ließ, als ihre „einzige Aufgabe“ ansehen.273 Zudem erhob Mach das in den Naturwissenschaften praktizierte Denken als die am höchsten entwickelte Ausprägung des natürlichen ökonomischen Denkens zum Vorbild für das Denken überhaupt.274 Die Bemühungen um eine Naturalisierung des Denkens, das ist abschließend festzuhalten, liefen nicht einsinnig auf eine Abwertung des Denkens hinaus. Ohnehin zeigt der Disput zwischen Husserl und Mach, dass das, was dem einen als eine „Erniedrigung des wissenschaftlichen Denkens“ erscheinen mochte, in den Augen des anderen eine „Erhebung“ sein konnte.275 Wolfgang Köhlers naturalistische Konzeption ‘einsichtiger’ Leistungen zielte gerade nicht auf eine Rangminderung der Intelligenz, sondern suchte umgekehrt zu zeigen, dass die Anerkennung der Existenz ‘hochwertiger’ Leistungen mit einem konsequent naturalistischen Ansatz vereinbar war. Nietzsche und Bergson schließlich verbanden ihre naturalistischen Konzeptionen nicht mit einer pauschalen Abwertung des Denkens, sondern mit einer hierarchisierenden Differenzierung zwischen verschiedenen Ausprägungen des Denkens, in denen sich unterschiedliche _____________ 271 Vgl. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 298-302. 272 Vgl. zu dem „Zusammenhang von Psychologie und Hermeneutik“ bei Dilthey: Helmut Johach, W. Dilthey: Die Struktur der geschichtlichen Erfahrung. In: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit IV. Göttingen 1986, S. 52-90, hier S. 72-77, Zitat S. 72. 273 Mach, Analyse, S. 255. 274 Vgl. ders., Über den relativen Bildungswert. 275 Ders., Die Mechanik, S. 471.
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II. Theorien des Denkens in Wissenschaften und Philosophie
Anlagen und Fähigkeiten des Menschen manifestierten. Jene naturalistischen Theorien, die das Denken auf die Funktion der Selbsterhaltung festlegten (ohne dies unbedingt als eine Abwertung zu verstehen), provozierten gewissermaßen erneuerte Reflexionen darüber, welche Funktionen das Denken noch besitzen konnte und welchen ‘Ort’ diese Funktionen in der Natur des Menschen hatten. Festzuhalten ist ferner, dass die naturalistischen ebenso wie die anti-naturalistischen Theorien häufig Rangurteile über die Arten des Denkens implizierten, die in verschiedenen Disziplinen praktiziert und kultiviert wurden. Für Robert Musil und Paul Valéry hatte auch die Literatur etwas mit dem Denken zu tun, und das in mehrfacher Hinsicht: In dem Sinne, dass an der Entstehung der Literatur nicht allein Gefühl und Inspiration, sondern auch das Denken beteiligt war, ferner in dem Sinne, dass die Literatur Denkprozesse darstellen konnte, schließlich in dem Sinne, dass sie auf das Denken der Leser einwirken konnte. Beide Autoren hatten den Anspruch, den Begriff des Denkens theoretisch zu reflektieren, und beide brachten den Wissenschaften genug Respekt oder zumindest Interesse entgegen, um sich in ihren theoretischen Bemühungen auch mit den dort geführten Diskussionen auseinander zu setzen. Auch sie entwarfen Konzeptionen des Denkens, die naturalistischen Charakter hatten oder solchen Ansätzen zumindest ähnelten, ohne aber aus ihnen pauschale Abwertungen des Denkens zu folgern; beide grenzten von dem Denken im Dienst der Selbsterhaltung andere Arten des Denkens ab, denen sie einen höheren Wert zuschrieben. Aber zwischen ihren Auffassungen von der menschlichen Natur bestanden erhebliche Unterschiede, ebenso wie zwischen den wissenschaftlichen Begriffen und Theorien, auf die sie rekurrierten; so gingen auch ihre Auffassungen darüber, welches Denken besonders wertvoll sei, in unterschiedliche Richtungen.
III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil 1. Musils Konzeption des Denkens Eine zentrale These dieser Untersuchung lautet, dass die Art und Weise, in der im Mann ohne Eigenschaften Denkvorgänge erzählt werden, beeinflusst ist von Musils theoretischen Überlegungen über das Denken, von seiner Konzeption des Denkens. Diese Konzeption des Denkens wird in dem folgenden Kapitel rekonstruiert, analysiert und zu dem oben entfalteten wissenschaftsgeschichtlichen Kontext in Beziehung gesetzt werden. Zu diesem Zweck werde ich einschlägige Partien aus dem Mann ohne Eigenschaften sowie aus Musils Essays untersuchen. Es ist keineswegs selbstverständlich oder erwartbar, dass ein Autor die theoretischen Überzeugungen, die er seinen literarischen Darstellungen mentaler Abläufe zugrunde legt, auch in diesen literarischen Werken selbst thematisiert.1 Der Mann ohne Eigenschaften aber enthält eine ganze Reihe von Reflexionen über das Denken, und wie sich anhand eines Vergleichs mit Musils Essays und Tagebüchern zeigen lässt, sind es zu einem großen Teil seine eigenen Annahmen über das Denken, die er im fiktionalen Kontext des Romans andeutet, entfaltet oder variiert. Zunächst einmal müssen allerdings der Erzähler, Ulrich oder andere Romanfiguren als Urheber dieser Reflexionen angesehen werden, und es wird in jedem einzelnen Fall darzulegen sein, inwiefern diese Reflexionen Aufschlüsse über Musils Konzeption des Denkens liefern. Die Tatsache, dass Der Mann ohne Eigenschaften solche _____________ 1
Vgl. Michael Titzmann, Psychoanalytisches Wissen und literarische Darstellungsformen des Unbewußten in der Frühen Moderne. In: Thomas Anz (Hg.) in Zusammenarbeit mit Christine Kanz, Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg 1999, S. 183-217, hier S. 187. Titzmann weist darauf hin, dass die ‘textinterne Anthropologie’ eines Textes bzw. die in ihm präsupponierte anthropologische und psychologische Wissensmenge im Text selbst thematisiert werden kann (auf der Ebene der Erzählinstanz oder auf der der Figuren) oder auch nicht. Zum Begriff der ‘textinternen Anthropologie’ vgl. ebd., S. 184. Man kann etwa annehmen, dass Arthur Schnitzlers narrative Darstellungen von Bewusstseinsvorgängen durch einige relativ ausgearbeitete psychologische Konzepte geprägt waren oder sie präsupponierten, aber Schnitzler hat diese theoretischen Konzepte nicht in seinen Erzählungen selbst offen gelegt. Zu Schnitzlers psychologischen Konzepten und ihrer Bedeutung für sein erzählerisches Werk vgl.: Thomé, Autonomes Ich, S. 598-722.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Erörterungen über das Denken enthält, kann aber bereits als Indiz dafür dienen, dass dieses Thema für Musil große Bedeutung hatte. Außerdem erscheint die Annahme nahe liegend, dass Musil diese theoretischen Erörterungen über das Denken auch als einen Referenzrahmen für die ausführlichen narrativen Darstellungen des Denkens im Roman intendiert hat. Während Musils Theorie des Gefühls in der Forschung bereits mehrfach eingehend untersucht worden ist,2 liegen noch keine Studien vor, die systematisch und umfassend seine Konzeption des Denkens – wobei mit Denken hier wie in der gesamten vorliegenden Arbeit die Tätigkeit des Intellekts als mentaler Prozess gemeint ist – zu rekonstruieren suchen. Untersuchungen, die Ausdrücke wie ‘Denken’ oder ‘Intellekt’ ins Zentrum stellen, verwenden diese meist in einem weiten Sinne als Sammelbegriffe, unter denen etwa eine rationale Weltsicht, Ideale wie Objektivität, Genauigkeit und Ordnung und die Institution und Praxis der Wissenschaft zusammengefasst werden.3 Aber auch wenn diese Arbeiten nicht den Begriff ‘Denken’ in dem engeren, hier interessierenden Sinne fokussieren, so überschneidet sich ihr Gegenstand doch offenkundig mit dem des vorliegenden Kapitels. So gilt generell, dass in der folgenden Rekonstruktion von Musils Konzeption des Denkens viele Begriffe und Themen in den _____________ 2
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Vgl. vor allem: Sabine A. Döring, Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999, vor allem S. 19-70, 107-188; Kevin Mulligan, Musils Analyse des Gefühls. In: Bernhard Böschenstein / Marie-Louise Roth (Hg.), Hommage à Robert Musil. Bern 1995, S. 87-110; Uwe M. Maier, Sinn und Gefühl in der Moderne. Zu Robert Musils Gefühlstheorie und einer Soziologie der Emotionen. Aachen 1999. Das gilt für: Stephan Reinhardt, Studien zur Antinomie von Intellekt und Gefühl in Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Bonn 1969; vgl. zur Verwendung der Begriffe von Intellekt und Gefühl vor allem ebd., S. 1f. Ähnliches trifft für Albertsens Gebrauch des Begriffs ‘Ratio’ zu; vgl. Albertsen, Ratio und ‘Mystik’, vor allem S. 11, 21f. – Auch eine jüngere Arbeit, die den Ausdruck ‘Denken’ im Titel führt, verwendet ihn nicht in dem engeren Sinne, um den es in der vorliegenden Untersuchung geht: Annette Gies, Musils Konzeption des ‘Sentimentalen Denkens’. ‘Der Mann ohne Eigenschaften’ als literarische Erkenntnistheorie. Würzburg 2003. Die Studie will eine „Analyse der in der Figur Ulrich vorgestellten und diskutierten Erkenntnistheorie“ leisten (ebd., S. 9); ihre zentralen Analysekategorien sind die des ‘funktionalen Erkennens’ und des ‘emotionalen Erkennens’. Das funktionale und das emotionale Erkennen werden von Gies als zwei „aufeinander aufbauende Erkenntnismethoden“ (ebd., S. 10) bestimmt, die im ersten respektive zweiten Teil des Mann ohne Eigenschaften gestaltet bzw. ‘literarisch verschlüsselt’ worden seien (ebd., S. 9f., 49). Vor allem das funktionale Erkennen, wie es in der Studie gefasst wird, stellt nicht nur eine bestimmte Art des Denkens im hier verwendeten Sinne dar, sondern ist eine Art der „Weltbetrachtung“ (ebd., S. 11); für diese „von Mach vorgeführte funktionale Weltbetrachtung“, die in Musils Roman aufgegriffen und auf die alltägliche Lebenswelt übertragen werde, sei kennzeichnend, dass in ihr „das Subjekt von bestehenden Urteilen über das Geschehen abrückt, um neue Perspektiven einzunehmen und so andere Zusammenhänge zu entdecken“ (ebd.).
1. Musils Konzeption des Denkens
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Blick zu nehmen sind, die in der Forschung zu Musils psychologischen und erkenntnistheoretischen Konzepten bereits eingehend behandelt worden sind, etwa seine Unterscheidungen zwischen ‘ratioïd’ und ‘nichtratioïd’ sowie zwischen ‘lebenden und toten Gedanken’;4 auch Musils Sicht auf die Wissenschaft, die in diesem Kapitel ebenfalls zu untersuchen sein wird, ist schon häufig zum Thema gemacht worden. Die folgenden Analysen werden diese Musil’schen Konzepte und Annahmen aber aus einer speziellen Perspektive in den Blick nehmen, indem sie die in ihnen enthaltenen Auffassungen über das Denken herauszuarbeiten suchen; das bedeutet auch, dass sie besonderes Gewicht auf die Frage legen werden, wie die verschiedenen Konzepte Musils zusammenhängen, welche allgemeineren psychologischen oder anthropologischen Annahmen ihnen also zugrunde liegen. Im Hinblick auf diese Frage gibt es in der Forschung keinen Konsens; jüngere Untersuchungen, die Musils Anthropologie zu rekonstruieren suchen, stellen unterschiedliche Konzepte in den Mittelpunkt (etwa die Dualität von ‘Gewalt und Liebe’ oder den Begriff der Gestaltlosigkeit) und fassen ihre Inhalte und die Beziehungen zwischen ihnen unterschiedlich auf. Auch deshalb scheint es gerechtfertigt und sinnvoll, die für Musils Konzeption des Denkens einschlägigen Begriffe eingehend zu analysieren.5
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Die relevanten Forschungsbeiträge werden im Folgenden jeweils in den Ausführungen zu den betreffenden Konzepten angeführt. – Nebenbei sei angemerkt, dass Musil’sche Konzepte wie ‘ratioïd / nicht-ratioïd’ zwar in der Forschung seit langem geläufig sind, aber vielfach nicht als Begriffe behandelt wurden, die es auf ihre Bedeutungen und Implikationen hin zu befragen gilt, sondern als idiosynkratische Bezeichnungen für Phänomenbereiche, die sich unproblematisch identifizieren ließen. So heißt es etwa bei Martin Menges: „Vom ‘nicht-ratioiden Gebiet’ – so nennt Musil den unreglementierten, sinnlichen, reaktiven Bereich der Existenz (vgl. 8, 1028) – mag man […]“ (Martin Menges, Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit. Eine Interpretation von Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’ unter dem Leitbegriff der Abstraktion. Frankfurt/M., Bern 1982, S. 19). Diese ‘Übersetzung’ lässt unter anderem außer Acht, dass der nicht-ratioïde Bereich für Musil das Gebiet der Werte und Bewertungen ist. Vgl. auch: Albertsen, Ratio und ‘Mystik’, S. 11. Dem Begriffspaar von ‘Gewalt und Liebe’ weist Döring eine zentrale Bedeutung zu; vgl. Döring, Ästhetische Erfahrung, S. 71-106, 189-248. Das Konzept der Gestaltlosigkeit dagegen rückt in den Mittelpunkt bei: Florence Vatan, Robert Musil et la question anthropologique. Préface de Jacques Bouveresse. Paris 2000; Wolfgang Riedel, Reise ans Ende des Ich: Das Subjekt und sein Grund bei Robert Musil (‘Die Vollendung der Liebe’, 1911). In: Reto Luzius Fetz / Roland Hagenbüchle / Peter Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Band 2. Berlin, New York 1998, S. 1151-1173. Für einen weiteren Ansatz vgl.: Fred Lönker, Der Fall Moosbrugger. Zum Verhältnis von Psychopathologie und Anthropologie in Robert Musils ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), S. 280-302; ders., Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen ‘Vereinigungen’. München 2002. – Auf diese Interpretationen wird unten näher eingegangen.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
1.1. Die Ausführungen über das Denken im Kapitel I.28 Im ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften gibt es ein Kapitel, das im Hinblick auf das Thema des Denkens von hervorragender Bedeutung ist: gemeint ist das 28. Kapitel mit dem Titel „Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat“ (MoE 111-114). Dieses Kapitel exponiert das Denken als ein wichtiges Thema innerhalb des Romans; in ihm stellen sowohl der Erzähler als auch Ulrich Überlegungen über das Denken an, und der Erzähler äußert sich darüber hinaus über die Probleme, die mit der literarischen Darstellung des Denkens verbunden sind. Dieses Kapitel steht außerdem am Anfang einer Kapitelsequenz, die ausführlich längere Gedankengänge Ulrichs präsentiert,6 so dass man vermuten kann, dass die theoretischen Überlegungen des Kapitels I.28 auch ein Koordinatensystem zur Einschätzung dieser Denkvorgänge aufspannen sollen. Jedenfalls erscheint es als sinnvoll, die Untersuchung mit einer Analyse dieses Kapitels zu beginnen und herauszuarbeiten, wie das Denken hier als Thema entworfen wird. Im weiteren Fortgang der Untersuchung wird sich zeigen, dass die Thesen und Problemstellungen, die hier formuliert werden, die Auseinandersetzung mit dem Denken im Mann ohne Eigenschaften insgesamt strukturieren und auf Grundzüge von Musils Konzeption des Denkens verweisen. Die folgenden Ausführungen versuchen nicht, das Kapitel I.28 umfassend zu analysieren, sondern konzentrieren sich auf einige zentrale Punkte der darin enthaltenen Reflexionen. Was dabei zunächst nicht berücksichtigt wird, ist vor allem der Umstand, dass dieses Kapitel nicht nur Reflexionen über das Denken enthält, sondern auch Ulrich beim Denken zeigt. Dieser Denkvorgang, die Art und Weise seiner narrativen Vermittlung sowie seine Funktion im Romantext werden an späterer Stelle ausführlich analysiert, in dem Teil der Untersuchung, der dem erzählten Denken im Mann ohne Eigenschaften gewidmet ist. Das 28. Kapitel setzt ein mit der Charakterisierung einer Art des Denkens, die im Mann ohne Eigenschaften wie in Musils Werk überhaupt eine prominente Rolle spielt, nämlich des mathematischen Denkens. Die Eingangspassage des Kapitels zeigt Ulrich beim Arbeiten an einer mathematischen Untersuchung: Ulrich saß inzwischen zu Hause an seinem Schreibtisch und arbeitete. Er hatte die Untersuchung hervorgeholt, die er vor Wochen, als er den Entschluß zur Rückkehr faßte, mitten abgebrochen hatte; er wollte sie nicht zu Ende führen, es
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Vgl. die Kapitel I.29-34, 39-40; eine ausführliche Analyse der Kapitel I.34, 39 und 40 findet sich unten, im Abschnitt 3.7 dieses Untersuchungsteils. – In den Bezeichnungen von Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften verweist die römische Ziffer auf das Buch (I oder II).
1. Musils Konzeption des Denkens
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machte ihm bloß Vergnügen, daß er alles das noch immer zuwege brachte. Das Wetter war schön, aber er hatte in den letzten Tagen nur für kurze Wege das Haus verlassen, er ging nicht einmal in den Garten hinaus, er hatte die Vorhänge zugezogen und arbeitete im gedämpften Licht wie ein Akrobat, der in einem halbdunklen Zirkus, ehe noch die Zuschauer zugelassen sind, einem Parkett von Kennern gefährliche neue Sprünge vorführt. Die Genauigkeit, Kraft und Sicherheit dieses Denkens, die nirgends im Leben ihresgleichen hat, erfüllte ihn fast mit Schwermut. [MoE 111]
Der Vergleich mit dem Akrobaten, der hier zur Charakterisierung von Ulrichs Arbeiten herangezogen wird, hat mehrere Bedeutungsfacetten. Eine Facette ist klar und eindeutig: Ulrichs Arbeit wird als eine gezeigt, die sich aus gefährlichen, neuen Kunststücken zusammensetzt und die elegante, spektakulär-kunstvolle und wagemutige Züge besitzt. Aber der Vergleich betont auch die große Distanz, die zwischen Ulrichs Tun und der Realität des alltäglichen Lebens liegt: Der Zirkus an sich stellt bereits eine Sphäre dar, die von der Alltagswelt der praktischen und nutzenorientierten Tätigkeiten getrennt ist, und in diesem Falle handelt es sich zudem nicht um eine normale Vorstellung vor zahlendem Publikum, sondern um eine Privatvorstellung vor ausgewählten Kennern. Diese Facette des Akrobaten-Bildes könnte allein auf die zurückgezogene, klausurartige Arbeitsweise zielen, in der Ulrich sich hinter zugezogenen Vorhängen seiner mathematischen Untersuchung widmet; sie könnte aber auch damit zusammenhängen, dass es gerade eine mathematische Arbeit ist, mit der Ulrich befasst ist, also auf einen Zug der Welt- und Lebensferne hinweisen, der der Mathematik als solcher eigen sei. Ein solches Verständnis des Vergleichs wird auch durch den letzten Satz des Absatzes nahe gelegt, der ebenfalls eine Distanz zwischen dem mathematischen Denken und dem Leben hervorhebt. Dieser Satz („Die Genauigkeit, Kraft und Sicherheit dieses Denkens, die nirgends im Leben ihresgleichen hat, erfüllte ihn fast mit Schwermut“) lässt sich auf zweierlei Weisen lesen: Einerseits scheint er ein negatives Urteil über das Leben auszudrücken, das offenbar von zu großer Unordnung, Widersprüchlichkeit und Kontingenz geprägt ist, als dass sich in ihm eine „Genauigkeit, Kraft und Sicherheit“ wie die des mathematischen Denkens entfalten könnte;7 andererseits kann man in dem Satz aber auch Skepsis gegenüber dem mathematischen Denken angedeutet _____________ 7
Ungefähr in diesem Sinne äußert sich Ulrich einmal gegenüber Diotima, als sie ihm vorwirft, dass er immer nur spöttele, anstatt sich „dem Leben zu widmen“: „‘Es ist einfach meine Überzeugung,’ erwiderte Ulrich ‘daß Denken eine Einrichtung für sich ist, und das wirkliche Leben eine andere. Denn der Stufenunterschied zwischen den beiden ist gegenwärtig zu groß. Unser Gehirn ist einige tausend Jahre alt, aber wenn es alles nur halb zu Ende gedacht und zur andern Hälfte vergessen hätte, so wäre sein getreues Abbild die Wirklichkeit. Man kann ihr nur die geistige Teilnahme verweigern.’“ (MoE 274; vgl. auch MoE 305)
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
finden, denn wenn die „Genauigkeit, Kraft und Sicherheit“ dieses Denkens „nirgends im Leben ihresgleichen hat“, so stellt sich die Frage, welchen Wert es dann besitzt. Seine „Genauigkeit“ und „Sicherheit“ haben im Leben keine Entsprechung und somit offenbar auch keine Angriffspunkte; die Tugenden dieses Denkens sind durch eine völlige Ablösung vom realen Leben erkauft. Insofern scheint es einen kunstvollen und imposanten, aber nutzlosen Luxus oder eine Form des l’art pour l’art darzustellen – was wiederum zu dem Bild des Akrobaten bei seiner Privatvorführung für ausgewählte Kenner passt. Auf den zitierten Anfang des Kapitels folgen zwei kurze Absätze, die schildern, wie Ulrichs Gedanken von seiner mathematischen Arbeit abschweifen. In dem darauf folgenden Absatz beginnt eine längere Reflexion über das Denken, die hauptsächlich um die These kreist, dass das Denken wenigstens zum Teil etwas Unpersönliches sei; dieser teils persönliche, teils unpersönliche Charakter des Denkens ist wiederum der Grund dafür, dass „leider in der schönen Literatur nichts so schwer wiederzugeben [ist] wie ein denkender Mensch“ (MoE 111). Nicht zuletzt aufgrund der Verknüpfung mit dieser meta-narrativen Aussage scheint es zunächst eindeutig der Erzähler zu sein, der die folgenden Überlegungen entwickelt; erst bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Gedanken ab einem gewissen Punkt auch Ulrich zugeschrieben werden können oder müssen. Der Übergang zwischen den selbständigen Reflexionen des Erzählers und den Gedanken Ulrichs wird dabei nicht markiert, sondern verwischt. Auf diese Eigenheit der Erzählweise werde ich später, in der ausführlichen Analyse des Kapitels zurückkommen; an dieser Stelle kann vorläufig der Erzähler als Urheber der Reflexionen angesehen werden. Diese Ausführungen des Erzählers nun zeichnen ein Bild vom Denken, das im Vergleich mit der grandiosen Erscheinung des Mathematiker-Akrobaten vom Kapitelanfang weit nüchterner und banaler ausfällt. Zunächst zitiert der Erzähler den „große[n] Entdecker“, der auf die Frage, „wie er es anstelle, daß ihm so viel Neues eingefallen sei“, geantwortet habe: „indem ich unablässig daran dachte“ (ebd.). In der Tat, pflichtet ihm der Erzähler bei, die „unerwarteten Einfälle“ stellen sich nur dadurch ein, „daß man sie erwartet“, sie sind „zu einem nicht kleinen Teil ein Erfolg des Charakters, beständiger Neigungen, ausdauernden Ehrgeizes und unablässiger Beschäftigung. Wie langweilig muß solche Beständigkeit sein!“ (MoE 111f.) Zeichnete sich das mathematische Denken noch durch Wagemut und Eleganz aus, durch „Genauigkeit, Kraft und Sicherheit“, so ist das Denken nun zu einer Bewährungsprobe vergleichsweise prosaischer Tugenden wie Ausdauer und Beständigkeit geworden. Der Erzähler setzt die Entzauberung noch fort, indem er auf die Verwandtschaft zwischen dem Lösen einer geistigen Aufgabe und Verhaltensweisen eines Hundes aufmerksam macht:
1. Musils Konzeption des Denkens
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In anderer Hinsicht wieder vollzieht sich die Lösung einer geistigen Aufgabe nicht viel anders, wie wenn ein Hund, der einen Stock im Maul trägt, durch eine schmale Tür will; er dreht dann den Kopf solange links und rechts, bis der Stock hindurchrutscht, und ganz ähnlich tun wir’s, bloß mit dem Unterschied, daß wir nicht ganz wahllos darauflos versuchen, sondern schon durch Erfahrung ungefähr wissen, wie man es zu machen hat. Und wenn ein kluger Kopf natürlich auch weit mehr Geschick und Erfahrung in den Drehungen hat als ein dummer, so kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verdutztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, daß sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihren Urheber zu warten. [MoE 112]
Der Vergleich mit dem Hund soll hier zum einen zu der These hinführen, dass das Denken zu einem wesentlichen Teil etwas Unpersönliches sei, insofern nämlich der erfolgreiche Abschluss eines Denkvorgangs darauf beruhe, dass die zusammengehörigen Sachen im Kopf zusammenfinden, die Gedanken sich also ‘selbst machen’, ohne dass die denkende Person daran einen Anteil hat. Zum anderen aber spielt dieser Vergleich deutlich auf eine Entwicklung in der Psychologie an, auf die evolutionsbiologisch begründete Theorie vom nur graduellen Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Intelligenz, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Psychologen formuliert und empirisch zu untermauern versucht hatten.8 Vor allem die Aussage, dass das gezieltere Vorgehen des Menschen nur auf einem Vorsprung an „Erfahrung“ beruhe, erinnert an diese Annahme vom bloß graduellen Unterschied zwischen tierischen und menschlichen Fähigkeiten. Über Herkunft und Hintergrund dieses Hunde-Vergleichs können aber auch noch präzisere Vermutungen angestellt werden: Der englische Psychologe Conwy Lloyd Morgan führte Ende des 19. Jahrhunderts Experimente mit Hunden durch, in denen er sie unter anderem einen Stock _____________ 8
Vgl. dazu Kapitel II, Abschnitt 2.3 der vorliegenden Arbeit. – Musil war mit dieser These und den Ansätzen der Tierpsychologie zweifellos seit seinem Psychologie-Studium vertraut, und dies nicht nur aufgrund seiner Beschäftigung mit Ernst Mach. Ein Mitarbeiter von Carl Stumpf, Oskar Pfungst, befasste sich mit dem Thema der Intelligenzleistungen von Tieren und veröffentlichte ein Buch über ein berühmtes Pferd, das angeblich rechnen konnte; vgl. Oskar Pfungst, Das Pferd des Herrn von Osten (Der kluge Hans). Ein Beitrag zur experimentellen Tier- und Menschen-Psychologie. Leipzig 1907. Vgl. hierzu auch: Ash, Gestalt psychology in German culture, S. 151f. Musil erwähnt Pfungst gelegentlich in seinem Tagebuch; vgl. Musil, Tagebücher, S. 84, 87, 101, 110 [Heft 3: 1899? – 1905/06]. Allerdings schreibt er hier stets „Pfingst“, vielleicht weil er Pfungst als Vorbild für eine Figur in seinem geplanten Roman nutzen wollte, für den er hier Notizen sammelt; vgl. aber die spätere Erwähnung mit korrekter Schreibweise in: Ebd., S. 208 [Heft 15: 11. Februar–24. April 1907]. Frisé vermutet irrtümlich, dass „Pfingst“ die richtige Schreibweise sei; vgl. Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 53 (Anm. 103), 127 (Anm. 12). Musil hat auch aus Houston St. Chamberlains Buch Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts eine Passage über psychologische Untersuchungen zu tierischer Intelligenz exzerpiert; vgl.: Musil, Tagebücher, S. 492 [Heft 10: 1918-1921 (1929, 1939)].
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
durch eine Tür tragen ließ.9 Ernst Mach verwies in zwei Kapiteln seines Buchs Erkenntnis und Irrtum auf diese Versuche.10 Die zentrale These von Machs Buchs lautete, dass die „bewußte psychische Tätigkeit des Forschers [...] eine methodisch geklärte, verschärfte und verfeinerte Abart der instinktiven Tätigkeit der Tiere und Menschen [ist], die im Natur- und Kulturleben täglich geübt wird.“11 Was die ‘instinktive Tätigkeit’ der Morgan’schen Hunde anging, so wurde sie von Mach als eine primitive Form des Experiments aufgefasst;12 sie galt ihm außerdem als Indiz dafür, dass Tiere „Associationen, welche der Zufall herbeiführt, zu ihrem Vorteil zu nützen“ wissen.13 Morgan selbst hatte die Vorgehensweise der Hunde im Anschluss an Alexander Bain als ‘trial and error’ bzw. als ‘trial-and-error learning with accidental success’ bezeichnet.14 Einspruch gegen die These, wonach Problemlösungen auch bei höherstehenden Tieren und beim Menschen nur auf graduellen Verfeinerungen eines solchen ‘trial and error’-Verfahrens mit seinen Zufallserfolgen beruhten, erhob Wolfgang Köhler in seiner erstmals 1917 erschienenen Studie über Intelligenzprüfungen _____________ 9
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Morgan verfolgte in seinen Forschungen zur vergleichenden bzw. Tierpsychologie ausdrücklich die Absicht, angebliche ‘Verstandesleistungen’ von Tieren auf möglichst einfache Mechanismen zurückzuführen. Er stellte eine Maxime für die Tierpsychologie auf, die als ‘Morgan’s canon’ bekannt wurde und besagte, dass Handlungen nie als das Ergebnis der Ausübung eines ‘höheren’ Vermögens aufgefasst werden sollten, wenn sie sich als Ergebnis der Ausübung niedrigerer Vermögen auffassen ließen; vgl. dazu: Ash, Gestalt psychology, S. 150. Vgl. zu Morgan ferner: Robert J. Richards, Darwin, S. 375-405; zu ‘Morgan’s canon’: ebd., S. 385, zu seinen Experimenten mit Hunden S. 394f. – Außerdem: Robert Boakes, From Darwin to behaviourism. Psychology and the mind of animals. Cambridge u.a. 1984, S. 32-44, 49-51; zu Morgans Hunde-Experimenten S. 36, 41. Vgl. Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. 71f., 185. Auch Birgit Nübel verweist in ihrer Diskussion des zitierten Hunde-Vergleichs aus dem Mann ohne Eigenschaften auf diese Stellen bei Mach; vgl. Birgit Nübel, Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 493f. Zu Musils Mach-Rezeption vgl.: von Wright, Musil and Mach; Pieper, Musils Philosophie; Jan Aler, Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach. Robert Musils literarisch-philosophische Anfänge. In: Fritz Martini (Hg.), Probleme des Erzählens in der Weltliteratur. Stuttgart 1971, S. 234-290. Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. V. – Vgl. auch ebd., S. 74: „Die Unterschiede, welche der Mensch in psychischer Beziehung gegen die Tiere darbietet, sind nicht qualitativer, sondern bloß quantitativer Art.“ Vgl. ebd., S. 185. Ebd., S. 72. Mach fasst hier die Feststellungen zusammen, die ihm zufolge aus den Beobachtungen an den Morgan’schen Hunden und verwandten Beispielen abgeleitet werden können: „1. Die Tiere wissen Associationen, welche der Zufall herbeiführt, zu ihrem Vorteil zu nützen. 2. Wegen Komplikation der Tatsachen können auch nicht fest zusammenhängende Merkmale sich associieren; [...]. 3. Nur oft erneuerte, biologisch wichtige Associationen erhalten sich. – Man wird zugeben, daß das Verhalten der meisten Menschen nach denselben Regeln verständlich ist.“ (Ebd., S. 72.) Vgl. Boakes, From Darwin to behaviourism, S. 9, 35f., 69.
1. Musils Konzeption des Denkens
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an Menschenaffen.15 Angesichts von Musils großem Interesse an dem Werk Köhlers und der Gestaltpsychologie insgesamt16 erscheint die Vermutung legitim, dass ihm diese Untersuchung oder zumindest die Grundzüge der darin vertretenen Position bekannt waren.17 Köhlers Studie ging von einer Unterscheidung zwischen einsichtigem und uneinsichtigem Verhalten aus und sollte die Frage klären, ob Schimpansen zu einsichtigem Verhalten fähig seien. Von ‘einsichtigem’ Verhalten konnte nach Köhler gesprochen werden, wenn ein Lebewesen in einer Situation, in der ein Ziel nicht auf direktem Weg, sondern nur mittels eines Umwegs erreichbar ist, diesen Umweg einschlägt.18 Die Ergebnisse seiner Experimente erlaubten es Köhler zufolge, die „Zufallstheorie“ zurückzuweisen19 und die Ausgangsfrage der Untersuchung zu bejahen: „Die Schimpansen zeigen einsichtiges Verhalten von der Art des beim Menschen bekannten.“20 Musils Erzähler scheint sich an dieser Stelle also eher den Positionen Machs und Morgans als der Position Köhlers anzuschließen, wenn er behauptet, das Lösen einer geistigen Aufgabe komme nicht durch ‘Einsicht’ im Sinne Köhlers zustande, sondern durch ein planloses ‘trial and error’-Verhalten, das prinzipiell den Kopfdrehungen des Hundes ähnelt und nur aufgrund von Erfahrung schneller und gezielter ausfallen kann. Auch das mathematische Denken, wie es am Anfang des Kapitels durch den Vergleich mit dem Zirkusakrobaten charakterisiert worden ist, wäre demnach nur eine graduell verfeinerte Version dieses primitiven Problemlösens; es hätte sich zwar von der unmittelbaren praktischen Zweckgebundenheit befreit, die das Verhalten des Hundes kennzeichnet,21 aber es _____________ 15
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Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen, vor allem S. 133-163. Vgl. auch Köhlers kritische Bemerkungen zu den Forschungen des amerikanischen Psychologen Edward Thorndike, ebd., S. 16f. Thorndike hatte in seinen Untersuchungen zur tierischen Intelligenz um 1900 an Morgan angeknüpft, seine Prämissen und Zielsetzungen weitgehend übernommen und seine Thesen teilweise noch zugespitzt; vgl. Boakes, From Darwin to behaviourism, S. 5878, vor allem S. 68f. – Zu Köhlers Arbeit über die Intelligenzprüfungen mit Schimpansen vgl.: Ash, Gestalt psychology, S. 148-167; zu Thorndike und zu Köhlers Kritik an seiner Theorie: vgl. ebd., S. 151, 159f. Zu Musils Rezeption der Gestaltpsychologie vgl. vor allem: Silvia Bonacchi, Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern 1998. Die Vermutung, dass Musil diese Studie Köhlers gekannt haben könnte, äußert auch: Riedel, Literatur und Wissen, S. 5 (Anm. 11). Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen, S. 3, 137. Vgl. hierzu vor allem das 7. Kapitel von Köhlers Untersuchung, das den Titel „‘Zufall’ und ‘Nachahmung’“ trägt (ebd., S. 133-163). Die „Zufallstheorie“ wird von Köhler auf S. 134, 147 und 149 referiert. Ihre Kernthese lautet, dass sich die erfolgreichen Lösungen der Aufgaben durch die Tiere „im Spiel des Zufalls und der selektiven Wirkung des Erfolgs ausgebildet“ haben (ebd., S. 149). Ebd., S. 191. Dieser Aspekt der praktischen Zweckgerichtetheit wird noch zusätzlich betont durch die romaninterne Anspielung, welche das Bild mit dem Hund und der Tür enthält: Es verweist
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
wäre seinem Wesen nach immer noch ein (zunächst) planloses Ausprobieren verschiedener ‘Stockpositionen’,22 das lediglich aufgrund seiner hochgradigen Verfeinerung ein ästhetisch eindrucksvolles, wagemutiges und kraftvolles Gepräge angenommen hat. Die Formulierung „In anderer Hinsicht wiederum [...]“ zeigt allerdings auch an, dass die Ähnlichkeit zwischen dem mathematischen Denken und dem Verhalten des Hundes nur in einer Hinsicht besteht, also nicht alle Eigenschaften dieses Denkens erschöpft. Die Vergleiche mit dem Zirkusakrobaten und mit dem Hund sowie die Anekdote von dem charakterfesten Erfinder scheinen dazu zu dienen, verschiedene Aspekte oder Ausprägungen des Denkens beziehungsweise des geistigen Aufgabenlösens zu veranschaulichen; dabei verzichtet der Erzähler darauf, diese verschiedenen Charakterisierungen in einer allgemeinen Aussage zusammenzufassen oder aus ihnen Schlussfolgerungen abzuleiten. Während die im ersten Teil des Kapitels formulierten Bemerkungen über verschiedene Aspekte des Denkens also meist nicht weiter expliziert werden, sondern eher Aperçu-Charakter haben, wird eine These ausführlicher entwickelt und begründet, und zwar vom Erzähler wie von Ulrich: Das ist die durch den Hunde-Vergleich mit vorbereitete These, dass das Denken „wenigstens zum Teil keine persönliche Angelegenheit“ sei, sondern vor allem unpersönliche Züge aufweise. Was ist damit gemeint? Die Aussage wird in dem Kapitel auf mehrfache Weise erläutert und begründet. Erstens ist Denken als ein mentaler Vorgang dadurch gekennzeichnet, dass „Sachen“ oder „Seiten der Welt“ in einem Kopf ‘aus- und eingehen’, sich in dem Kopf bewegen und „zusammenbilden“ (MoE 112). Zweitens wird der Verlauf dieses Vorgangs nicht von der Person gesteuert, sondern von diesen Sachen selbst, das heißt von der „Affinität und Zusammenge_____________
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auf jene „Forderung des Wirklichkeitssinns“, die zu Beginn des Romans als Maxime von Ulrichs Vater zitiert wird, auf den Grundsatz also, dass man, wenn man „gut durch geöffnete Türen kommen will, [...] die Tatsache achten [muß], daß sie einen festen Rahmen haben“ (MoE 16). Die Aussage, dass das Lösen einer geistigen Aufgabe durch einen Menschen dem Verhalten des Hundes mit dem Stock ähnle, scheint mir also in erster Linie auf eine Abwertung oder ‘Entzauberung’ der menschlichen Verstandesleistungen hinauszulaufen, denn das Verhalten des Hundes stellt sich im Kontrast zu dem vorher beschriebenen Denken des Mathematikers als eine besonders schlichte, anspruchslose Leistung dar. In einer Tagebuchnotiz dagegen erwähnt Musil das Verhalten des Hundes mit dem Stock einmal als Beispiel für eine respektable und geradezu vorbildliche Vorgehensweise, die er dort als „planlose[s] Verändern und später planvolle[s] Versuchen“ beschreibt. Dieses Verfahren habe sich in Alltag und Technik bewährt und offenbar wesentlich zum „Aufstieg“ der „Menschheit“ beigetragen; aus unklaren und fragwürdigen Gründen aber sei es allein „auf dem Gebiet des Rechts und der Sitte [...] verpönt“ (Musil, Tagebücher, S. 644 [Heft 25: 19211923?]). Die Tagebuchnotiz legt den Akzent also auf das vorurteilsfreie, uneingeschränkte Ausprobieren; die Romanpassage betont neben der Beharrlichkeit des Ausprobierens auch den Mangel an ‘Einsicht’ bzw. an einem direkten Durchschauen der Problemsituation.
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hörigkeit der Sachen selbst“, welche diese schließlich zusammentreffen und sich verbinden lässt (ebd.). Drittens hat das Resultat eines erfolgreichen Denkprozesses stets eine „unpersönliche“ Form, denn „der Gedanke ist dann nach außen gewandt und für die Mitteilung an die Welt hergerichtet.“ (Ebd.) Schließlich wird am Ende des Kapitels noch ein weiterer Aspekt dieser Unpersönlichkeit erwähnt, der weniger neben den anderen zu stehen als aus ihnen zu folgen scheint: Dort ist die Rede von der geringen „persönliche[n] Erlebnishaftigkeit“ des Denkens (MoE 113); das Denken wird nicht als etwas Persönliches erlebt. Aus den Ausführungen dieses Kapitels allein geht allerdings noch nicht klar hervor, was unter dieser persönlichen Erlebnishaftigkeit zu verstehen ist, wie also ein stärker persönliches Denken aussähe; außerdem ist zu fragen, weshalb die Einsicht, dass das Denken großenteils etwas Unpersönliches ist und als unpersönlich erlebt wird, Ulrich am Kapitelende so ärgert und niedergeschlagen macht, weshalb er also eine größere „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens als wünschenswert empfindet. An dieser Stelle soll die Analyse des Kapitels I.28 zunächst beendet werden, bevor ich mich ihm in einem späteren Untersuchungsteil noch einmal ausführlicher zuwende. Die in diesem Kapitel entwickelten Reflexionen über das Denken haben zum Teil die Funktion, den geistigen Zustand zu charakterisieren, in dem sich Ulrich gerade befindet; dieser Aspekt wird später eingehend zu behandeln sein. Abgesehen davon dürften sie die allgemeinere Funktion haben, das Denken als ein wichtiges Thema des Romans einzuführen. Zu diesem Zweck skizzieren sie einige unterschiedliche Formen, die das Denken annehmen kann, sowie verschiedene Perspektiven und Maßstäbe, unter denen es betrachtet und bewertet werden kann: Denken kann einerseits ein Mittel zur Bewältigung praktischer Probleme sein; es kann aber auch als eine Art zweckfreies Spiel betrieben werden, in dem der Mensch seine geistigen Fähigkeiten genießt bzw. sich seiner intellektuellen Kraft vergewissert. Außerdem ist es eine Tätigkeit, in der sich Charaktereigenschaften wie Beständigkeit, Ausdauer und Wagemut ausdrücken und verwirklichen können. Schließlich besitzt das Denken auch einen Erlebnisaspekt, es wird auf spezifische Weise erlebt. Diese verschiedenen Aspekte des Denkens, die im Kapitel I.28 nur kurz angedeutet werden, verweisen jeweils auf Grundlinien von Musils Konzeption des Denkens, die wiederum zu allgemeineren anthropologischen und psychologischen Annahmen führen. Um das zu zeigen, werden die folgenden Ausführungen zunächst ausführlicher Musils Bild vom mathematischen und allgemeiner vom wissenschaftlichen Denken untersuchen und dann der Frage nachgehen, was unter dem persönlichen oder unpersönlichen Wesen des Denkens zu verstehen ist und ob das Denken für Musil tatsächlich zwangsläufig unpersönlicher Natur ist; es wird sich
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herausstellen, dass die diesbezüglichen Aussagen Ulrichs und des Erzählers aus dem Kapitel I.28 noch nicht ihr letztes Wort in dieser Angelegenheit sind. 1.2. Das mathematisch-wissenschaftliche Denken Das mathematische Denken, das am Anfang des Kapitels I.28 kurz charakterisiert wird, steht für eine Art des Denkens, die im Mann ohne Eigenschaften besonders ausführlich erörtert wird und in Musils Konzeption des Denkens einen zentralen Ort einnimmt. Die Mathematik gilt Ulrich und dem Erzähler als die „Denklehre“ der modernen (Natur-)Wissenschaft (MoE 39), das mathematische Denken als eine besonders reine und konsequente Ausprägung des modernen (natur-)wissenschaftlichen Denkens;23 daher werden im Folgenden die Ausführungen über das Denken in der Mathematik und in den Wissenschaften insgesamt gemeinsam unter dem Titel des ‘mathematisch-wissenschaftlichen Denkens’ behandelt.24 Die wichtigsten Erörterungen über dieses Denken im Roman finden sich in den Kapiteln 11 und 13 des ersten Buchs, wo die Faszination des jungen Ulrich durch Mathematik und Wissenschaft sowie seine spätere Enttäuschung geschildert werden; wichtige Parallelstellen zu diesen Romanabschnitten enthält Musils früher Essay „Der mathematische Mensch“ aus dem Jahr 1913. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang ferner das Romankapitel I.72 mit dem Titel „Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen“, in dem das wissenschaftliche Denken stärker problematisiert und zugleich ansatzweise auf seine anthropologischen Grundlagen hin durchleuchtet wird. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass in Musils Roman neben Ulrich auch einige andere Wissenschaftler auftreten, die ebenfalls Aspekte des mathematischwissenschaftlichen Denkens verkörpern. _____________ 23 24
Vgl. vor allem das Kapitel I.11 („Der wichtigste Versuch“; MoE 38-41). Zu Musils Wissenschaftsbegriff und dem Thema der Wissenschaft im Roman vgl.: Albertsen, Ratio und ‘Mystik’, S. 21-38; Menges, Abstrakte Welt, S. 43-53; Renate von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Romans ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966, S. 48-57; Klaus Laermann, Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Stuttgart 1970, S. 106-130; Hartmut Böhme, Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Kronberg Taunus 1974, S. 32-46; Jacques Bouveresse, ‘La science sourit dans sa barbe ...’. In: J. B., La voix de l’âme et les chemins de l’esprit. Dix études sur Robert Musil. Paris 2001, S. 85-122. – Zur Mathematik bei Musil: Jürgen Kaizik, Die Mathematik im Werk Robert Musils. Zur Rolle des Rationalismus in der Kunst. Wien 1980.
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1.2.1. Training der seelischen Kampfkraft und Ethos der Wahrheitssuche Der junge Ulrich, der den Beruf des Mathematikers wählt, bewundert das mathematisch-wissenschaftliche Denken und betrachtet es als vorbildlich, als ein Vorbild für das Denken überhaupt, wenn nicht für das Leben überhaupt. Die Qualitäten dieses Denkens, denen seine Bewunderung gilt, sind von zweierlei Art: Erstens zeichnet sich das wissenschaftliche Denken dadurch aus, dass in ihm geistige Kraft, Beweglichkeit und Genauigkeit geschult werden und sich entfalten können; zweitens ist es durchdrungen von einem spezifischen Ethos, einer geistigen und moralischen Gesamthaltung, die Ulrich als vorbildlich erscheint. Zu dem ersten Punkt: Der junge Ulrich betrachtet die Wissenschaft „als eine Vorbereitung, Abhärtung und Art von Training“ (MoE 46). Die Wissenschaft und insbesondere die Mathematik erscheint ihm als Mittel, seinen Geist auszubilden und leistungsfähig zu machen. Insofern besteht eine enge Verwandtschaft zwischen Ulrichs wissenschaftlichem Arbeiten und seinem körperlichen Training, eine Verwandtschaft, die vom Erzähler und auch von Ulrich selbst konstatiert wird (vgl. MoE 46f., 129, 592).25 Diese Ähnlichkeit erstreckt sich dem Erzähler zufolge auch auf die „Tugenden und Fähigkeiten“, die einerseits in der Wissenschaft, andererseits in einem Sport wie dem Boxen herausragende Leistungen ermöglichen: In beiden Fällen sind Eigenschaften wie „Schlauheit“, „Genauigkeit“, „Kombinatorik“, Beweglichkeit und Reaktionsschnelle gefragt.26 Durch das wissenschaftliche Denken schult man diese Qualitäten und steigert so die „allgemeine seelische Kampfkraft“ (MoE 45). Der Ausdruck „Kampfkraft“ und die Vergleiche mit körperlichem Training und Wettkampf schreiben dem wissenschaftlichen Denken einen latent aggressiven oder zumindest agonalen Zug zu. Außerdem sind die Eigenschaften, die durch das wissenschaftliche Denken vermittelt und trainiert werden, männlich _____________ 25
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Vgl. dazu auch Albertsen, Ratio und ‘Mystik’, S. 27-29. Allerdings beschränkt sich Albertsen weitgehend darauf, die im Mann ohne Eigenschaften hergestellte „Analogie“ zwischen „Wissenschaft und Sport“ zu konstatieren, ohne sie eingehender zu interpretieren; wo sie deutende Aussagen macht, bleiben diese etwas diffus. Die Aussage, Musil rechne „sowohl Wissenschaft als auch Sport [...] der triebhaften, gefräßigen, animalischen Seite des Lebens zu“ (ebd., S. 29), verfehlt die Stoßrichtung der Parallelisierung. – In Böhmes ideologiekritischer Perspektive ist Ulrichs körperliches Training „ein Zwangsritual, das er, von Machtwillen gezeichnet, in der Erwartung großer ‘Abenteuer’ auf sich nimmt“ (Böhme, Anomie, S. 243). Der Mathematiker Ulrich zeige sich als ein „technizistische[r] Rationalist, durch Leistungsideologie und ihren Gegenpart, die ‘innerweltliche Askese’ (Weber) gekennzeichnet, mit Tendenzen zur Rücksichtslosigkeit und Gewalt, mit dem ‘Willen zur Macht’, der deutlich Züge seiner infantilen Allmachtphantasien trägt.“ (Ebd., S. 244) Vgl. das Kapitel I.13 („Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“), insbesondere MoE 45; dort auch die Zitate.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
konnotiert beziehungsweise konstitutiv für ein bestimmtes Männlichkeitsideal.27 Dass das wissenschaftliche Denken ein „Training“ (MoE 46) darstellt, in dem die „Kampfkraft“ gesteigert wird, bedeutet ferner, dass die Fähigkeiten und Qualitäten des wissenschaftlich geschulten Intellekts sich neutral oder indifferent gegenüber möglichen Anwendungen verhalten, dass sie sich also zu beliebigen Zwecken verwenden lassen: Ulrichs Haltung gegenüber seiner wissenschaftlichen Arbeit war von einer „Lust an der Kraft des Geistes“ bestimmt; aber „[e]s erschien ihm ungewiß, was er mit dieser Kraft zu Ende führen werde; man konnte alles mit ihr machen oder nichts, ein Erlöser der Welt werden oder ein Verbrecher.“ (MoE 45) Das wissenschaftliche Denken macht den Intellekt zu einem hochwirksamen Instrument oder, genauer gesagt, zu einer Waffe, die auf unterschiedlichste Weisen eingesetzt werden kann und keine Tendenz zu einer bestimmten Art von Zwecken oder Zielen in sich trägt. Doch in Ulrichs Augen ist die Denklehre der Mathematik nicht allein deshalb vorbildlich und bewundernswert, weil sie die Kraft, Beweglichkeit und Schärfe des Geistes schult. Mindestens ebenso wichtig ist für ihn, der „weniger wissenschaftlich als menschlich verliebt in die Wissenschaft“ ist (MoE 40), die moralisch-geistige Gesamthaltung, welche diese Wissenschaft trägt und durchdringt.28 Diese Gesamthaltung, die einen Komplex aus affektiv besetzten Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen darstellt, werde ich im Folgenden als das ‘Ethos’ des mathematischwissenschaftlichen Denkens bezeichnen. Eine ähnliche Sicht auf dieses Ethos, wie sie der junge Ulrich vertritt, hat Musil auch in seinem frühen Essay „Der mathematische Mensch“29 formuliert. In diesem Artikel sucht _____________ 27
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Vgl. wiederum MoE 45; der wissenschaftlich geschulte große Geist, dessen Fähigkeiten mit denen eines Boxlandesmeisters verglichen werden, wird hier ausdrücklich als Kandidat für „ein neues Bild der Männlichkeit“ vorgestellt; nach solch einem neuen Männlichkeitsideal musste sich das Leben umsehen, als das alte Ideal, dem zufolge sich ein bewundernswürdiger männlicher Geist durch Sittlichkeit, solide Überzeugungen und Festigkeit „des Herzens und der Tugend“ auszeichne, unzeitgemäß geworden war (vgl. MoE 44f.). Dieser Punkt wird in der Forschung nicht immer beachtet; vgl. etwa die Bemerkungen über Musils und Ulrichs Auffassungen von der Stärke und Vorbildlichkeit der Wissenschaft bei: Menges, Abstrakte Welt, S. 43-53. Auch in Dörings Ausführungen über Musils Auffassung von Wissenschaft, Mathematik und Logistik kommt dieser Punkt kaum zur Geltung; vgl. Döring, Ästhetische Erfahrung, S. 73f., 82f., 162-164. Hinweise auf diese Aspekte von Ulrichs Wissenschaftsauffassung finden sich etwa bei: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 54-57. – Deutlich als solche gekennzeichnet und erörtert wird die ethische Dimension von Ulrichs Bewunderung für die Wissenschaft von: Bouveresse, ‘La science sourit dans sa barbe ...’, S. 91-93. Vgl. Robert Musil, Der mathematische Mensch. In: GW 8, S. 1004-1008. – Vgl. zu diesem Essay: Andrea Albrecht, Mathematische und ästhetische Moderne. Zu Robert Musils Essay ‘Der mathematische Mensch’. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 218-250; Nübel, Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion, S. 165-168; Döring, Ästhetische Erfahrung, S. 162165; Kaizik, Mathematik, S. 21-28.
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Musil zunächst auf halb scherzhafte, halb ernsthafte Weise30 das „Wesen“ der Mathematik zu beschreiben. Doch wie schon der Titel andeutet, geht es ihm letztlich weniger um die Mathematik als wissenschaftliche Disziplin denn um den Mathematiker als eine besondere Möglichkeit des Menschseins. Die ausdrücklich im „Ernst“ formulierte These, die er an das Ende seiner teilweise ironisch-witzig gefärbten Ausführungen stellt, lautet denn auch, dass die besondere Existenzweise der Mathematiker den Menschen der Gegenwart als ein Vorbild dienen könne, dass die Mathematiker „eine Analogie sind [...] für den geistigen Menschen, der kommen soll.“31 Als Ausgangspunkt seiner Betrachtung nimmt Musil die verbreitete Auffassung, nach der die Mathematik „eine äußerste Ökonomie des Denkens“ sei. Er nennt keinen Vertreter dieser These mit Namen, doch die Wendung von der „Ökonomie des Denkens“ lässt sich kaum anders verstehen denn als Anspielung auf Ernst Mach.32 Diese Deutung der Mathematik als einer „äußerste[n] Ökonomie des Denkens“, so Musil, sei zwar nicht gänzlich falsch, treffe aber nicht das eigentliche Wesen der Mathematik. Denn das eigentliche Gesicht dieser Wissenschaft sei „nicht zweckbedacht, sondern unökonomisch und leidenschaftlich.“33 Diese Leidenschaft der Mathematiker gilt der Wahrheit: Er [i.e. der Mathematiker; O.K.] glaubt, daß das, was er treibt, irgendwann wohl auch einen praktisch liquidierbaren Nutzen abwerfen wird, aber nicht der spornt ihn; er dient der Wahrheit, das heißt seinem Schicksal und nicht dessen Zweck. Mag der Effekt tausendmal Ökonomie sein, immanent ist das ein Allesdahingeben und Passion. Die Mathematik ist Tapferkeitsluxus der reinen Ratio, einer der wenigen, die es heute gibt.34
Das erste konstitutive Merkmal des Ethos der Mathematiker besteht also darin, dass sie nach Wahrheit als einem Wert an sich streben, und zwar auf leidenschaftliche, ‘alles dahin gebende’ Weise; der praktische Nutzen dagegen, etwa die technische Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse, macht gerade nicht den primären Antrieb ihres Tuns aus. Eine zweite Komponente des wissenschaftlichen Ethos wird in der zitierten Passage mit dem Stichwort ‘Tapferkeit’ („Tapferkeitsluxus“) ange_____________ 30
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Vgl. Musil, Der mathematische Mensch, in: GW 8, S. 1007: „Wenn durch den Spaß, der hier aus ihrem Wesen angerichtet wurde, ein wenig dieser Ernst schaut, mögen die folgenden Schlußfolgerungen nicht als unvermittelt angesehen werden: [...].“ Vollständig lautet der Satz: „Darin besteht die beträchtliche Lehre und Vorbildlichkeit ihrer Existenz; eine Analogie sind sie für den geistigen Menschen, der kommen soll.“ (Ebd.) So auch: Albrecht, Mathematische und ästhetische Moderne, S. 224f. – Eine Passage bei Mach, die fast wörtlich die hier von Musil aufgegriffene Deutung der Mathematik formuliert, findet sich in: Mach, Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung, S. 224. Musil, Der mathematische Mensch, in: GW 8, S. 1005. Ebd., S. 1006.
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deutet; im Mann ohne Eigenschaften heißt es, dass die Arbeit der großen Naturforscher und Mathematiker Exempel von „Mut und Umsturzkraft“ darstelle (MoE 40). Mut oder Tapferkeit zeichnet die Haltung der Wissenschaftler insofern aus, als sie in ihrem Streben nach Wahrheit stets bereit sind, aufgrund von neuen Erkenntnissen alle bisher geltenden Anschauungen umzukehren, sich gegen die Autorität der tradierten Lehren zu stellen und gegebenenfalls auch den Verlust sicherer Grundlagen hinzunehmen.35 Der Mut der Wissenschaftler ist also eng verknüpft mit einem weiteren Moment ihrer Gesamthaltung, nämlich ihrer Unbekümmertheit gegenüber Autoritäten und Traditionen, ihrer Ablehnung dogmatischer Fixierungen und ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zum „Umsturz[ ]“.36 Eine dritte Eigenschaft, die in den Augen des jungen Ulrich für das vorbildliche Ethos des wissenschaftlichen Denkens wesentlich ist, ist ein Talent zur Askese, die Fähigkeit, Entbehrungen zu ertragen:37 Wenn es sich ergab, daß dieses Denken zu trocken, scharf, eng und ohne Ausblick war, so mußte man es eben so hinnehmen wie den Ausdruck von Entbehrung und Anspannung, der bei großen Körper- und Willensleistungen auf einem Gesicht liegt. Er [i.e. Ulrich; O.K.] hatte jahrelang die geistige Entbehrung geliebt. Er haßte die Menschen, die nicht nach dem Nietzsche-Wort ‘um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden’ können; die Umkehrenden, Verzagten, Weichlichen, die ihre Seele mit Faseleien von der Seele trösten und sie, weil ihr der Verstand angeblich Steine statt Brot gibt, mit religiösen, philosophischen und er-
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Im Essay „Der mathematische Mensch“ verdeutlicht Musil diese Tugend anhand einer ironisch-scherzhaften Schilderung der so genannten Grundlagenkrise der Mathematik, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Entdeckung der Antinomien der Mengenlehre ausgelöst wurde. Die Mathematiker hätten festgestellt, so Musil, dass die mathematischen Lehren, die in der modernen Zivilisation letztlich das gesamte Dasein durchdringen und tragen, in ihren untersten Grundlagen fehlerhaft seien, „daß das ganze Gebäude in der Luft stehe. Aber die Maschinen liefen! [...] Diesen intellektuellen Skandal trägt der Mathematiker in vorbildlicher Weise, das heißt mit Zuversicht und Stolz auf die verteufelte Gefährlichkeit seines Verstandes.“ (Ebd., S. 1006f.) – Zum mathematikgeschichtlichen Kontext vgl.: Albrecht, Mathematische und ästhetische Moderne, S. 235-238. Vgl. MoE 40f. sowie das Kapitel I.72, das unten noch ausführlich untersucht wird. – Vgl. zur Ablehnung dogmatischer Verfestigungen bei den Mathematikern auch: Kaizik, Mathematik, S. 23. Kaiziks Darlegung der Eigenschaften der Mathematik, deretwegen sie in dem Essay als vorbildlich gezeigt werde, enthält daneben auch weniger überzeugende Punkte; so meint er etwa, die Mathematik werde in dem Essay wegen ihrer Inhaltsunabhängigkeit und ihrer Fähigkeit zum Ordnen von Inhalten ausgezeichnet, und den Beweis für diese Fähigkeiten habe Musil „in der Bewältigung der mathematischen Grundlagenkrise am Beginn unseres Jahrhunderts“ gesehen (ebd., S. 22). Aber in dem Essay gibt es keinen Hinweis darauf, dass Musil die Grundlagenkrise zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes als bewältigt gesehen hätte. Vgl. dazu auch Albertsen, Ratio und ‘Mystik’, S. 24-27. Dieser Abschnitt bei Albertsen ist mit „Wissenschaft und Askese“ überschrieben; die Autorin geht aber kaum über das Paraphrasieren hinaus und fragt nicht danach, was es bedeutet, dass das wissenschaftliche Denken Ulrich zufolge Askese verlangt.
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dichteten Gefühlen ernähren, die wie in Milch aufgeweichte Semmeln sind. [MoE 46]
Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Passage von einem realen Bedürfnis im Menschen spricht, einem Bedürfnis, das ihn Hunger und Entbehrung leiden lässt, wenn es nicht befriedigt wird; und es ist weiterhin wichtig, dass das Denken als eine Tätigkeit betrachtet wird, die prinzipiell dieses Bedürfnis befriedigen könnte. Nur unter diesen Voraussetzungen ist es verständlich, dass ein Denken, das um der Wahrheit willen die Befriedigung dieses Bedürfnisses verweigert, als „trocken, scharf, eng und ohne Ausblick“ erscheint und eine Haltung der Askese, des stolz ertragenen Verzichts, erfordert. Dieser Verzicht wird allerdings auch von Ulrich nicht als ein endgültiger betrachtet; das rigorose und asketische Streben nach Wahrheit ist bei ihm bzw. bei den Wissenschaftlern, die dieses Ethos verkörpern, verbunden mit der Hoffnung, dass „ein ferner Tag kommen wird, wo eine Rasse geistiger Eroberer in die Täler der seelischen Fruchtbarkeit niedersteigt.“ (Ebd.) Das wissenschaftliche, allein an Wahrheit interessierte Denken ist insofern nur eine Vorbereitung oder nur der Weg zu einem fernen Ziel. Die zuletzt zitierte Passage nennt mit Nietzsche auch den Autor, der unübersehbar eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Ulrichs und Musils Bild vom mathematisch-wissenschaftlichen Ethos abgab.38 Dieses Ethos entspricht weitgehend der Haltung der freien Geister, wie sie Nietzsche vor allem in Die fröhliche Wissenschaft entworfen hat.39 Ein leidenschaftliches Streben nach Wahrheit, unbedingte Redlichkeit, verachtungsvolle Ablehnung von Werten wie Selbsterhaltung und Nutzen sowie die Bereitschaft zu Entbehrungen und Askese zeichnen auch Nietzsches Freigeister und neue Philosophen aus. Das Pathos der nietzscheanischen Beschwörungen erscheint vor allem in „Der mathematische Mensch“, aber auch in dem oben zitierten Passus aus dem Roman als ironisch gebrochen. Was den frühen Essay betrifft, so hat diese Ironie offenbar damit zu tun, dass es hier ausdrücklich um Mathematiker geht, deren Treiben zwar einerseits als mutig, kraftvoll und leidenschaftlich, aber nichtsdestotrotz auch als etwas weltfern und absonderlich geschildert wird. Bei den überlieferten Lehren, welche Nietzsches freigeistige Philo_____________ 38
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Vgl. Albrecht, Mathematische und ästhetische Moderne, S. 234, 241f.; von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 59-61. Zu Ähnlichkeiten zwischen Ulrich und Nietzsches ‘freien Geistern’ vgl. ferner: Barbara Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Heidelberg 2005, S. 395, 406f.; Wolfgang Rzehak, Musil und Nietzsche: Beziehungen der Erkenntnisperspektiven. Frankfurt/M. u.a. 1993, S. 199-209; Charlotte Dresler-Brumme, Nietzsches Philosophie in Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis. 2. Auflage. Wien u.a. 1993, S. 60-65. Vgl. dazu die Ausführungen in Teil II dieser Arbeit, Kapitel 5.1.
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sophen mutig und rücksichtslos zerstören, handelt es sich nicht zuletzt um moralische Vorstellungen und religiöse Weltbilder; der Mut, der hierzu erforderlich ist, ist offenkundig von anderer Art als die Tapferkeit, welche die Mathematiker beim Aufdecken von Ungereimtheiten in den Grundlagen der Mathematik unter Beweis gestellt haben, und zu diesem Mut der Freigeister mag das nietzscheanische Pathos noch eher passen. In der oben zitierten Romanpassage allerdings geht es nicht mehr um eine Unterminierung mathematischer Lehren, sondern um die Zerstörung der „alten metaphysischen und moralischen Vorstellungen des Menschengeschlechtes“ (MoE 46); wenn in diesem Passus gleichwohl eine ironische Distanz gegenüber der ebenso stolzen und rücksichtslosen wie hoffnungsvollen Haltung der „geistige[n] Eroberer“ spürbar wird, so dürfte dies die Distanz des Erzählers oder auch die des älteren und ernüchterten Ulrich gegenüber seinen Jugendträumen sein.40 1.2.2. Die Wissenschaft und das Böse Das Ethos des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens, wie es in dem Essay „Der mathematische Mensch“ und in den Mann ohne EigenschaftenKapiteln „Der wichtigste Versuch“ und „Ein geniales Rennpferd [...]“ skizziert wird, ist also definiert durch die Abwesenheit von Nützlichkeitserwägungen und Profitstreben, durch die Orientierung an der Wahrheit als einem absoluten Wert, ferner durch Leidenschaftlichkeit und Mut – vor allem den Mut zum ‘Umsturz’ – sowie schließlich durch die Fähigkeit zum asketischen Verzicht auf Trost und Nahrung für die Seele. Während die Haltung der Mathematiker und Wissenschaftler somit in den bisher betrachteten Texten und Textauszügen fast ausschließlich als vorbildlich und bewundernswert erscheint, wird sie im Kapitel I.72 des Romans einer Analyse unterzogen, in der sie sich als ein höchst ambivalentes Phänomen erweist.41 Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Feststellung des Erzählers, dass das moderne wissenschaftliche Denken wesentlich durch einen „Hang zum Bösen“ (MoE 301) gekennzeichnet sei, dass dieser Hang ein „in die Nüchternheit der Wissenschaft eingeschlossenes Grundgefühl“ (MoE 303) sei. Diese Neigung äußere sich etwa „in der eigenartigen Vorliebe [...], die das wissenschaftliche Denken für mechanische, statistische, materielle Erklärungen hat, denen gleichsam das Herz ausgestochen ist.“ _____________ 40 41
Für eine Stelle, wo die distanzierte und ernüchterte Haltung Ulrichs gegenüber seinen Jugendträumen dieser Art besonders deutlich zutage tritt, vgl.: MoE 216. Vgl. zu diesem Kapitel: Bouveresse, ‘La science sourit dans sa barbe ...’; Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 34, 40-45, 54.
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(MoE 303) Beispiele hierfür sind etwa die Vorstellungen, dass die „Güte“ nur „eine besondere Form des Egoismus“ und „Schönheit auf gute Verdauung und ordentliche Fettgewebe zurückzuführen“ sei, dass „Gemütsbewegungen“ mit „inneren Ausscheidungen“ zusammenhängen und „die berühmte sittliche Freiheit des Charakters als ein automatisch entstandenes Gedankenanhängsel des Freihandels“ erklärt werden könne (MoE 303f.). Es handelt sich also um reduktionistische Erklärungen, welche Phänomene, die als Verkörperungen ethischer oder ästhetischer Werte gelten, auf elementarere Phänomene oder Gesetze biologischer, materieller oder statistischer Natur zurückführen. Die Antriebe und Vorlieben, die solchen Erklärungen zugrunde liegen, werden vom Erzähler wie folgt beschrieben: Es ist allerdings die Wahrheit, was man da liebt; aber rings um diese blanke Liebe liegt eine Vorliebe für Desillusion, Zwang, Unerbittlichkeit, kalte Abschreckung und trockene Zurechtweisung, eine hämische Vorliebe oder wenigstens eine unfreiwillige Gefühlsausstrahlung von solcher Art. [MoE 304]
Dieser Hang zum Bösen nun, den der Erzähler bei den Gelehrten in Diotimas Salon und im wissenschaftlichen Denken überhaupt konstatiert, wird von ihm von zwei verschiedenen Seiten beleuchtet und stellt sich schließlich als eine hochgradig ambivalente Disposition dar. Zunächst zeichnet der Erzähler in knapper Form die Entstehung und Entwicklung der modernen Wissenschaft nach und entwirft dabei etwas wie eine nietzscheanische Genealogie der leitenden Werte und Antriebe der Wissenschaft.42 So stellt er fest, dass, ehe „geistige Menschen ihre Lust an den Tatsachen entdeckten, nur Krieger, Jäger und Kaufleute, gerade also listige und gewalttätige Naturen, diese besessen“ haben (MoE 303). Die „Lust an den Tatsachen“ verband sich bei den Jägern, Kriegern und Kaufleuten noch mit einer Reihe anderer Eigenschaften, genauer gesagt mit mehreren Lastern, und die Wissenschaftler haben zusammen mit der Lust an den Tatsachen auch diese „alten Jäger-, Soldaten- und Händlerlaster“ übernommen und sie „bloß ins Geistige übertragen und in Tugenden umgedeutet“; bei diesen Lastern oder Tugenden handelt es sich um: [...] Freiheit von übernommener Rücksicht und Hemmung, Mut, ebensoviel Unternehmungs- wie Zerstörungslust, Ausschluß moralischer Überlegungen, geduldiges Feilschen um den kleinsten Vorteil, zähes Warten auf dem Weg zum Ziel, falls es sein muß, und eine Verehrung für Maß und Zahl, die der schärfste Ausdruck des Mißtrauens gegen alles Ungewisse ist [...]. [MoE 303]
Diese Aufzählung der charakteristischen Eigenschaften von Wissenschaftlern entspricht in mehreren Punkten den oben analysierten Darstellungen des wissenschaftlichen Ethos: Vor allem „Mut“ und „Freiheit von über_____________ 42
Zu Nietzsches Begriff und Verfahren der Genealogie vgl.: Williams, Truth and Truthfulness, S. 13, 22, 37f.
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nommener Rücksicht und Hemmung“ wurden auch in den Kapiteln „Der wichtigste Versuch“ und „Ein geniales Rennpferd [...]“ als zentrale Merkmale der Haltung von Mathematikern und Wissenschaftlern genannt. Und noch in einem weiteren Punkt stimmt diese Darstellung der Wissenschaftler mit den oben untersuchten überein, in der Abwesenheit von egoistischen Nutzenerwägungen und Profitstreben: Die Wissenschaftler, so heißt es hier, haben die Jäger-, Soldaten und Händlerlaster „dem Streben nach persönlichem und verhältnismäßig gemeinem Vorteil entrückt“ (MoE 303). Was die zu Tugenden umgedeuteten Laster aber bewahrt haben, ist „das Element des Urbösen“: Dieses „ist scheinbar unzerstörbar und ewig, wenigstens so ewig wie alles menschlich Hohe, da es in nichts geringerem und anderem als der Lust besteht, dieser Höhe ein Bein zu stellen und sie auf die Nase fallen zu sehen.“ (Ebd.) Dieses Element des Urbösen äußert sich unter anderem in der oben erwähnten Neigung zu reduktionistisch-desillusionierenden Erklärungen und der heroischbitteren Grundüberzeugung, dass „man sich im Leben auf nichts verlassen könne, als was niet- und nagelfest sei“ (MoE 303). Was die Haltung der Wissenschaftler noch mit derjenigen der Jäger, Krieger und Kaufleute verbindet, ist also gerade nicht das Streben nach persönlichem Vorteil, sondern eine Neigung zu Erniedrigung und Zerstörung, die sich mit einer „Lust an Tatsachen“ verbindet.43 Aber nachdem der Erzähler den „Hang zum Bösen“, der das wissenschaftliche Denken kennzeichne, in dieser genealogischen Sichtweise betrachtet und aus Jäger- und Kriegerlastern hergeleitet hat, nimmt er ihn noch aus einer anderen Perspektive in den Blick. Dieser Hang zum Bösen _____________ 43
Daher scheint mir Böhmes Interpretation nicht überzeugend, der zufolge Musil im Anschluss an Mach „Wissenschaft und Gesellschaft zu Derivaten der im Daseinskampf geforderten ‘Ichsucht’ verkümmern“ lasse (Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 43; vgl. auch ebd., S. 34, 41-45). Es ist eine Frage für sich, ob Machs Position damit zutreffend charakterisiert ist; aber die im Mann ohne Eigenschaften skizzierte Genealogie des wissenschaftlichen Denkens legt als dessen verborgenen Ursprung nicht ‘Ichsucht’ und „Selbsterhaltungstrieb“ (ebd., S. 43) frei, sondern einen bösen Hang zur Erniedrigung. Böhme meint allerdings, dass Musil den Wissenschaftsbegriff Machs mit Nietzsches Konzept des Willens zur Macht verbinde (vgl. ebd., S. 45); aber ob das ‘Böse’ bei Musil mit Nietzsches Willen zur Macht identifiziert werden kann, ist zweifelhaft. – In einem späteren Aufsatz hat Böhme Musils Darstellung der Wissenschaft als von einer radikalen Vernunftkritik geprägt beschrieben, die weitreichende Parallelen zur Vernunftkritik bei Foucault aufweise; „Rationalität“, etwa „in der Gestalt der Wissenschaft“, bilde bei Musil wie bei Foucault „die historische Endstufe institutionalisierter Macht“ und funktioniere „subjektlos“ (vgl. Hartmut Böhme, Die ‘Zeit ohne Eigenschaften’ und die ‘Neue Unübersichtlichkeit’. Robert Musil und die posthistoire. In: Josef Strutz [Hg.], Kunst, Wissenschaft und Politik von Robert Musil bis Ingeborg Bachmann. München 1986, S. 9-33, hierzu S. 15-19, Zitate S. 17). Auf Musils Überlegungen zur Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften, die Böhme in seiner Dissertation als Naturalisierung von „Machttrieb und Profitstreben“ kritisiert hat (ders., Anomie und Entfremdung, S. 43), geht er in dem jüngeren Aufsatz nicht ein.
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bzw. die „hämische“ Vorliebe der Wissenschaftler für „Desillusion, Zwang, Unerbittlichkeit“ könne auch als ein unterdrücktes „Nebengeräusch“ begriffen werden, das die „Stimme der Wahrheit“ begleite.44 Die Psychologie kenne „viele solcher unterdrückten Nebengeräusche, und sie hat auch den Rat bereit, daß man sie hervorholen und sich so deutlich wie möglich machen solle, um ihre schädlichen Wirkungen zu verhindern.“ (MoE 304) Wenn man diesen Rat befolge und also „den zweideutigen Geschmack an der Wahrheit und ihren boshaften Nebenstimmen“ offen zur Schau trage, vertrauensvoll ins Leben wende und sich ungestört entfalten lasse – dann käme „ungefähr jener Mangel an Idealismus heraus, der unter dem Titel einer Utopie des exakten Lebens schon beschrieben worden ist, eine Gesinnung auf Versuch und Widerruf, aber dem eisernen Kriegsgesetz der geistigen Eroberung unterstehend.“ (MoE 304) Dieses Verhalten zur Lebensgestaltung ist nun freilich keineswegs pflegend und befriedend; es würde das Lebenswürdige keineswegs nur mit Ehrfurcht ansehen, sondern eher wie eine Demarkationslinie, die der Kampf um die innere Wahrheit beständig verschiebt. Es würde an der Heiligkeit des Augenblickszustandes der Welt zweifeln, aber nicht aus Skepsis, sondern in der Gesinnung des Steigens, wo der Fuß, der fest steht, jederzeit auch der tiefere ist. Und in dem Feuer einer solchen Ecclesia militans, welche die Lehre haßt um des noch nicht Geoffenbarten willen und Gesetz und Gültiges beiseite schiebt im Namen einer anspruchsvollen Liebe zu ihrer nächsten Gestalt, würde der Teufel wieder zu Gott zurückfinden, oder, einfacher gesprochen, die Wahrheit wäre dort wieder die Schwester der Tugend und müßte nicht mehr gegen sie die versteckten Bosheiten verüben, welche eine junge Nichte gegen eine altjüngferliche Tante ausheckt. [MoE 304]45
Die Haltung der Wissenschaftler mit ihrem „Hang zum Bösen“ wird hier also auf zwei verschiedene Weisen gedeutet: Einerseits stellt sie eine weiterentwickelte und veredelte, da von eigennützigem Vorteilsdenken abgelöste Variante von Jäger- Soldaten- und Händlerlastern dar, andererseits erscheint sie als die unreine, unterdrückte und entstellte Manifestation einer großartigen, die Tugenden von Kriegern und Heiligen vereinenden Gesinnung. Diese zwei Deutungen lassen sich nicht ohne weiteres mitein_____________ 44
45
Reinhardt nimmt in seiner Deutung dieser Stelle an, dass die Metapher der ‘Nebengeräusche’ für die „Konsequenzen“, namentlich für die problematischen Konsequenzen stehe, „die wissenschaftlicher und technischer Fortschritt bedingen.“ (Reinhardt, Antinomie, S. 21, Anm. 42) Diese Deutung scheint mir keine Grundlage im Text zu haben; dort bezieht sich die Rede von den ‘Nebengeräuschen’ und vom ‘Bösen’ eindeutig auf Antriebe der wissenschaftlichen Forschung, nicht auf ihre Konsequenzen. Legt man Reinhardts Verständnis der ‘Nebengeräusche’ zugrunde, kann man außerdem den folgenden Überlegungen des Romankapitels über das Hervorholen und freie Entfalten der unterdrückten Nebengeräusche kaum einen Sinn abgewinnen. Zu den religiösen Ausdrücken in dieser Passage und in dem gesamten Romankapitel vgl. die unterschiedlichen Deutungen bei: Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 54; Dietrich Hochstätter, Sprache des Möglichen. Stilistischer Perspektivismus in Robert Musils ‘Mann ohne Eigenschaften’. Frankfurt/M. 1972, S. 32 (Anm. 10), 206, 223-225.
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ander vereinbaren. In der ersten Perspektive werden die gehässigen Züge der modernen Wissenschaft als Ausprägung eines „Element[s] des Urbösen“ betrachtet, das „scheinbar unzerstörbar und ewig“ ist und das eine besondere Affinität zum Wahrheitsstreben oder zur „Lust an den Tatsachen“ besitzt; unter der Voraussetzung, dass es ein solches unzerstörbares Element des Urbösen gibt, erscheint der „Hang zum Bösen“ in der Wissenschaft somit nicht mehr weiter erklärungsbedürftig. Dies scheint der Erzähler in der Mitte seiner Ausführungen dann aber zu vergessen, denn indem er die Vorliebe der Wissenschaftler für Desillusion und Unerbittlichkeit als ein „verdächtiges Nebengeräusch“ bezeichnet, macht er sie wiederum zu einem erklärungsbedürftigen Faktum. Seine zweite Deutung dieses Sachverhalts betrachtet dann nicht mehr die Existenz eines Elements des Urbösen als die primäre Gegebenheit und den wissenschaftlichen Hang zum Bösen als deren Manifestation, sondern entwickelt die Hypothese, dass dieses Böse nur die verzerrte Äußerung einer ursprünglich guten Anlage sei, die Wahrheitsliebe also eigentlich eine heroische und mit der Tugend verschwisterte Haltung, die in der Wissenschaft nur deshalb eine so bösartige Gestalt annimmt, weil sie sich nicht ungehindert entfalten darf. Aber ungeachtet dieser kleinen Unklarheit kann man einige Grundgedanken dieser Ausführungen festhalten. Wie oben bereits angedeutet, wird die Haltung, die das wissenschaftliche Denken leitet, im Kapitel I.72 auf sehr ähnliche Weise charakterisiert wie in den anderen Romanabschnitten über das wissenschaftliche Ethos: Diese Haltung erscheint wiederum als geprägt durch eine ausschließliche Orientierung an der Wahrheit und ein Desinteresse gegenüber persönlichem Nutzen und „verhältnismäßig gemeinem Vorteil“, ferner durch Mut und die Nichtachtung überlieferter Lehren, „Rücksichten und Hemmungen“.46 Das Kapitel I.72 ergänzt und vertieft aber die anderen Erörterungen, indem es auf das dem wissenschaftlichen Ethos inhärente Moment des Bösen aufmerksam macht, eine Entwicklungsgeschichte dieses Ethos skizziert und dabei auch andeutet, dass die zwiespältige Allianz von Wahrheitsdrang, Mut und Zerstörungslust eine anthropologische Grundlage besitzt. Im Hinblick auf das Element des Bösen, das hier als ein allem Anschein nach unzerstörbarer Zug der menschlichen Natur und als verbindendes Merkmal von Jägern, Kriegern, Kaufleuten und Wissenschaftlern präsentiert wird, ist ein Punkt zu betonen: Dieses Böse ist nicht zu verwechseln mit einem Grundtrieb des Egoismus oder mit einem Selbsterhal_____________ 46
Allerdings werden dieser Mut, die Kraft zum Umsturz und die hoffnungsvolle Ausrichtung auf die Zukunft, zumindest in ihrer reinen und vollständigen Ausprägung, erst den tugendhaft-kriegerischen Angehörigen der utopischen „Ecclesia militans“ zugeschrieben, nicht den Wissenschaftlern der Gegenwart.
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tungsstreben, das seine Grundlagen im biologischen Daseinskampf hat. Das Böse wird im Kapitel I.72 vielmehr ausdrücklich als eine Lust an der Erniedrigung und Zerstörung alles Guten und Hohen beschrieben, als ein Drang, die Unterlegenheit der Idee und alles dessen, was für gut, schön und edel gehalten wird, gegenüber der rohen Gewalt zu demonstrieren; die primäre Natur dieses Impulses ist nicht egoistischer, sondern aggressiver und destruktiver Art, er ist nicht ein Streben nach Selbsterhaltung oder Selbstbereicherung, das Gewalt als ein Mittel zum Zweck akzeptiert, sondern ein Drang zur Zerstörung alles Hohen um dieser Zerstörung selbst willen.47 Für einen solchen Impuls erscheinen denn auch die Bezeichnung ‘das Böse’ und die Vergleiche mit dem Teufel als treffend, während sie als Charakterisierungen eines Selbsterhaltungstriebs unangemessen wären. Der Hang zum Bösen, wie er in dem Kapitel geschildert wird, kann sich mit einem egoistischen Streben nach persönlichem Vorteil und Gewinn verbinden, wie es bei den Jägern, Kriegern und Kaufleuten der Fall ist; aber er muss dies nicht tun, sondern kann sich auch in einem Handeln manifestieren, das keinen egoistischen Zwecken dient, etwa in der Wahrheits- und Tatsachensuche der Wissenschaftler. Der ‘Hang zum Bösen’ erscheint somit als weitgehend identisch mit der Grundverhaltensweise oder der Grundhaltung der ‘Gewalt’, wie sie von Ulrich im Kapitel I.116 (vgl. MoE 591f.) und von Musil in seinen Essays beschrieben und der Grundhaltung der ‘Liebe’ gegenübergestellt wird. Auf diesen Gegensatz zwischen ‘Gewalt’ und ‘Liebe’, der von zentraler Bedeutung für Musils Anthropologie ist, wird später noch ausführlicher einzugehen sein. Wie oben durch die Rede von einer ‘genealogischen’ Sichtweise schon angedeutet wurde, lässt auch der Gedankengang des Kapitels I.72 deutlich die Inspiration durch Nietzsche erkennen. Die Nähe zu diesem besteht vor allem auf der Ebene der Methode oder Betrachtungsweise: Die Analyse der Abstammung und Herkunft der leitenden Werte und Antriebe der Wissenschaft, die zu den Lastern von Jägern, Kriegern und Kaufleuten führt, erinnert stark an die Untersuchungen der „Herkunft unserer morali_____________ 47
Das wird auch in den Passagen aus dem letzten Teil des Kapitels I.72 deutlich, in dem der Erzähler die These formuliert und zu belegen sucht, dass nicht nur die moderne Wissenschaft, sondern weite Teile der modernen Gesellschaft insgesamt durch eine „namenlose Lebensstimmung“ mit einer Tendenz zum Bösen charakterisiert seien, durch „ein Gewärtigsein des Böseren, eine Tumultbereitschaft, ein Mißtrauen gegen alles, was man verehrt.“ (MoE 305) Dies zeige sich unter anderem darin, „daß zumindest der zweite Gedanke eines jeden Menschen, der vor eine überwältigende Erscheinung gestellt wird, und sei es auch, daß sie ihn durch ihre Schönheit überwältige, heute der ist: du wirst mir nichts vormachen, ich werde dich schon kleinkriegen! Und diese Verkleinerungswut einer nicht nur mit allen Hunden gehetzten, sondern auch hetzenden Zeit ist wohl kaum noch die dem Leben natürliche Zweiteilung in Rohes und Hohes, weit eher ein selbstquälerischer Zug des Geistes, eine unaussprechliche Lust an dem Schauspiel, daß sich das Gute erniedrigen und wunderbar einfach zerstören lasse.“ (MoE 306)
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
schen Vorurtheile“48, die Nietzsche in seiner Genealogie der Moral durchgeführt hat. In dieser Schrift analysiert Nietzsche auch die Haltung der freien Geister unter den Philosophen und Gelehrten, und er kommt zu dem Schluss, dass diese Skeptiker, Immoralisten und Verfechter des intellektuellen Gewissens selbst die letzte, verfeinertste, „vergeistigste Ausgeburt“ des asketischen Ideals sind, für dessen leidenschaftliche Gegner sie sich halten.49 Der „unbedingte Wille zur Wahrheit“ dieser freien Geister ist „der Glaube an das asketische Ideal selbst“.50 Das aber bedeutet, dass sich in dem Wahrheitsstreben der freien Geister letztlich auch ihr ‘Wille zur Macht’ ausgedrückt hat, dass sie auch deshalb so unbedingt und unerbittlich nach Erkenntnissen gejagt, sich selbst geopfert und verleugnet und jederzeit die Wahrheit über das Wünschbare gestellt haben, weil ihnen dieses asketische Erkenntnisstreben ein Gefühl der Macht verliehen hat.51 In Musils Romankapitel führt die ‘genealogische’ Prüfung der wissenschaftlichen Ideale zu einem etwas anderen Ergebnis, hier erweist sich als Wesenselement des wissenschaftlichen Ethos nicht der Wille zur Macht in Gestalt des asketischen Ideals, sondern ein mit dem Wahrheitsstreben gekoppelter Hang zum Bösen, zur Vernichtung alles Schönen und Hohen. Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass die bei Musil entwickelte Hypothese von einem „Element des Urbösen“ ausgeht, also einen als ursprünglich und konstant angenommenen Wesenszug des Menschen als ‘böse’ qualifiziert, während es Nietzsche gerade darum geht, die menschlichen Grundantriebe aufzuspüren, die vor oder unter den Wertbegriffen von Gut und Böse liegen und diese moralischen Wertungen erst hervorgebracht haben.52 Eine Nähe zwischen Nietzsche und Musil kann man wiederum darin sehen, dass beide die von ihnen postulierten elementaren Grundantriebe und -eigenschaften als höchst variable und plastische Anlagen mit komplizierten und umwegigen Ausdrucksformen konzipieren. So kann man auch zu der spekulativen Überlegung des Musil’schen Kapitels I.72, dass die der Wissenschaft eigene „Neigung zum Lästerlichen“, wenn sie sich nur frei entfalten dürfte, sich zu einer großartigen, heroischen, tugendhaften Haltung entwickeln würde, Parallelen bei Nietzsche entdecken; die von ihm anvisierte „Psychologie“ als „Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht“ enthält auch eine „Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen.“53 _____________ 48 49 50 51 52 53
Nietzsche, Genealogie der Moral. Vorrede, Nr. 2. In: KSA 5, S. 248. Ebd., Nr. III.24. In: KSA 5, S. 399. Ebd., S. 400. Vgl. auch ebd., Nr. III.27, S. 408-411. Vgl. ebd., vor allem Nr. III.10-13; ders., Jenseits von Gut und Böse, Nr. 230. In: KSA 5, S. 167-170. – Vgl. dazu auch: Clark, Nietzsche on truth and philosophy, S. 196, 232-236. Vgl. etwa Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Nr. 2, 3. In: KSA 5, S. 16-18. Ebd., Nr. 23. In: KSA 5, S. 38f., hier S. 38.
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1.2.3. Wahrheit als Droge: Wie die Wissenschaftler wirklich sind Das Ethos des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens, wie es von Ulrich und dem Erzähler beschrieben wird, ist eine Idealisierung. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, mit denen Ulrich in der Realität zu tun hat, weichen teilweise beträchtlich von diesem idealisierten Modell ab und erscheinen weniger vorbildlich als vielmehr abschreckend. Es gibt zwei ganz verschiedene Merkmale dieser Wissenschaftler, deretwegen Ulrich sie kritisiert oder sich von ihnen abgeschreckt fühlt. Erstens unterlassen die meisten dieser Wissenschaftler es, die Kühnheit und Genauigkeit ihres wissenschaftlichen Denkens auch außerhalb der Grenzen von Fachaufgaben anzuwenden, sie also auf ihr Leben zu übertragen.54 Zweitens aber, dieser Punkt ist hier besonders wichtig, legen die Wissenschaftler auch in ihrer Arbeit selbst meist nicht die oben skizzierte mutige, draufgängerische und leidenschaftliche Haltung an den Tag, sondern eine problematische Verfallsform dieser Haltung. In dem Moment, als Ulrich seinen Abschied von der Mathematik nimmt, kommen ihm „[s]eine Fachgenossen [...] zum Teil wie unerbittlich verfolgungssüchtige Staatsanwälte und Sicherheitschefs der Logik vor, zum Teil wie Opiatiker und Esser einer seltsam bleichen Droge, die ihnen die Welt mit der Vision von Zahlen und dinglosen Verhältnissen bevölkerte.“ (MoE 47)55 Diese Vergleiche enthalten mehrere Aussagen über die Mathematiker. So weist der Vergleich mit „Staatsanwälte[n] und Sicherheitschefs der Logik“ darauf hin, dass diese Mathematiker die Regeln der Logik als Normen und Autoritätsinstanzen betrachten, die von ihnen nicht hinterfragt werden und denen sie eifrig, ehrgeizig und fast fanatisch dienen; damit bilden sie einen scharfen Kontrast zu dem revolutionären, keinerlei Gesetze und Traditionen respektierenden Gestus, welcher die oben analysierte, musterhafte Ausprägung der Mathematiker auszeichnete. Aber das wichtigste Stichwort dieser Passage ist jenes, das die beiden Vergleichsbilder der „verfolgungs_____________ 54
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Auf diese Weigerung der Wissenschaftler, von der wissenschaftlichen „Gesinnung“ auch „außerhalb der Grenzen besonderer Fachaufgaben Gebrauch zu machen“, weist der Erzähler im oben analysierten Kapitel I.72 hin; vgl. MoE 305. Auch die Mathematikerin Dr. Strastil, der Ulrich im Kapitel II.22 begegnet (vgl. MoE 865-867), könnte man als Beispiel für eine solche Diskrepanz zwischen wissenschaftlichem Berufsethos und Lebensweise nennen; allerdings erfährt man nichts darüber, ob sie sich in ihrer Arbeit durch ‘Kühnheit’ und ‘Umsturzkraft’ auszeichnet. Schließlich liefern die Ingenieure, die zeitweilig Ulrichs Kollegen waren, ein anschauliches Exempel für eine solche Diskrepanz; vgl. MoE 38. Die Passage lautet vollständig: „Da hörte er mitten in einer großen und aussichtsreichen Arbeit auf. Seine Fachgenossen kamen ihm zum Teil wie unerbittlich verfolgungssüchtige Staatsanwälte und Sicherheitschefs der Logik vor, zum Teil wie Opiatiker und Esser einer seltsam bleichen Droge, die ihnen die Welt mit der Vision von Zahlen und dinglosen Verhältnissen bevölkerte. ‘Bei allen Heiligen!’ dachte er ‘ich habe doch nie die Absicht gehabt, mein ganzes Leben lang Mathematiker zu sein?’“ (MoE 47)
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
süchtige[n] Staatsanwälte“ und der „Opiatiker“ verbindet: ‘süchtig’ bzw. ‘Sucht’. Auch an anderer Stelle, in einem Gespräch mit Walter und Clarisse, beschreibt Ulrich den modernen Wissenschaftler als einen Süchtigen, der von dem „Zwang, wissen zu müssen“, einer „Trunksucht am Tatsächlichen“, beherrscht wird und daran leidet (MoE 215).56 Es liegt nahe, diese Sucht der Wissenschaftler als eine degenerierte Abart des leidenschaftlichen, unbedingten Wahrheitsstrebens zu begreifen, welches das wissenschaftliche Ethos charakterisiert. Wie die vorbildlichen Wissenschaftler, so streben auch Ulrichs Fachgenossen leidenschaftlich nach der Wahrheit um ihrer selbst willen, doch bei ihnen ist dieses Streben in eine Sucht umgeschlagen. Aber wie kommt es zu dieser Degeneration? Die oben zitierten Sätze über Ulrichs Mathematikerkollegen stehen in demselben Kapitel wie die Passage über die Askese, die in Ulrichs Augen zum wissenschaftlichen Ethos gehört, die Bereitschaft, „‘um der Wahrheit willen an der Seele Hunger [zu] leiden’“ (MoE 46). Die ‘Seele’ vertritt hier also die Bedürfnisse, die von der Wissenschaft beziehungsweise der Wahrheit vorläufig oder prinzipiell nicht befriedigt werden können. Die „Verzagten, Weichlichen“, die diesen Hunger nicht aushalten können, trösten „ihre Seele mit Faseleien von der Seele“ und ernähren sie „mit religiösen, philosophischen und erdichteten Gefühlen [...], die wie in Milch aufgeweichte Semmeln sind“ (ebd.). Zu diesen „Verzagten“ gehören Ulrichs Mathematikerkollegen zweifellos nicht; aber sie üben sich auch nicht in Entbehrung, sondern scheinen zu versuchen, ihre Seele mit den Erkenntnissen der Logik und Mathematik zu ernähren. Doch mathematische und logische Erkenntnisse können offenbar die Bedürfnisse der Seele nicht befriedigen; sie wirken vielmehr wie eine Droge, sie verschaffen nur eine oberflächliche und kurzzeitige Erleichterung und erzeugen zugleich _____________ 56
„‘Aber ich will dir noch etwas ganz anderes zugeben’ fuhr Ulrich nach einiger Überlegung fort. ‘Die Fachleute werden niemals fertig. Nicht nur sind sie heute unfertig; sondern sie vermögen sich die Vollendung ihrer Tätigkeit überhaupt nicht auszudenken. Vielleicht nicht einmal zu wünschen. Kann man sich zum Beispiel vorstellen, daß der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald er sie biologisch und psychologisch völlig zu begreifen und behandeln gelernt hat? Trotzdem streben wir diesen Zustand an! Das ist es. Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhalten; denn wie die Trunksucht, die Geschlechtssucht und die Gewaltsucht, so bildet auch der Zwang, wissen zu müssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht ist. Es ist gar nicht richtig, daß der Forscher der Wahrheit nachstellt, sie stellt ihm nach. Er erleidet sie. Das Wahre ist wahr, und die Tatsache ist wirklich, ohne sich um ihn zu kümmern: er hat bloß die Leidenschaft dafür, die Trunksucht am Tatsächlichen, die seinen Charakter zeichnet, und schert sich den Teufel darum, ob ein Ganzes, Menschliches, Vollkommenes oder was überhaupt aus seinen Feststellungen wird. Das ist ein widerspruchsvolles, ein leidendes und dabei ungeheuer tatkräftiges Wesen!’“ (MoE 215) – Vgl. zu dieser Stelle: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 54; von Heydebrand nimmt an, dass Ulrich die Rede von einer ‘Sucht’ und den Vergleich mit anderen verbotenen Verhaltenweisen ironisch meine. Dafür scheint es mir im Text aber keinen Hinweis zu geben.
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ein immer stärkeres Bedürfnis, verursachen also in dem geistigen Organismus des Wissenschaftlers eine pathologische Deformation. Der Vergleich mit Drogensüchtigen suggeriert, dass es reale Bedürfnisse des Menschen gibt, die mit dem Verhalten der Mathematiker, ihrem leidenschaftlichen und ausschließlichen Streben nach mathematischen Wahrheiten, nicht verträglich sind. Dasselbe gilt für die Metaphern des seelischen Hungers und der Ernährung in der Passage über die Entbehrungsfähigkeit der Wissenschaftler: Auch sie legen es nahe, die Wünsche der Seele als real vorhandene, geradezu physiologisch verankerte Bedürfnisse aufzufassen. Das Kapitel I.72 macht auf die Verbindung des wissenschaftlichen Ethos mit einem Element des Bösen aufmerksam, somit auf den in moralischer Hinsicht zweifelhaften Charakter des wissenschaftlichen Denkens. Die eben untersuchte Beschreibung von Ulrichs Mathematikerkollegen weist auf einen anderen problematischen Aspekt dieses Denkens und seines Ethos hin, der nicht seine moralische Qualität betrifft, sondern seine Verträglichkeit mit dem menschlichen Bedürfnishaushalt. Das wissenschaftliche Ethos besitzt einen prekären, spannungsvollen, geradezu widernatürlichen Zug, der sein Umschlagen in pathologische Syndrome begünstigt: Als moderner Wissenschaftler lernt man, die Wahrheit als einen absoluten Wert zu betrachten und das Streben nach Erkenntnissen auf unbedingte, leidenschaftliche und mutige Weise zu betreiben; aber die Ziele dieses Strebens, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, können die ‘seelischen’ Bedürfnisse des Menschen – was auch immer genau unter diesen zu verstehen ist – zumindest gegenwärtig nicht befriedigen. Zwischen der Art und Weise, in der die Wissenschaftler nach Erkenntnissen streben, und den Zielen dieses Strebens besteht somit ein Missverhältnis; die leidenschaftliche, aufopferungsvolle Intensität und Ausschließlichkeit, mit der die Wissenschaftler nach der Wahrheit jagen, kann durch diese Wahrheit nicht auf ‘angemessene’ Weise entlohnt werden. Diese Art von Missverhältnis wird in Musils Roman nicht als ein Phänomen präsentiert, das ausschließlich in der Wissenschaft anzutreffen wäre; eine verwandte Erscheinung stellen etwa die zahllosen selbstberufenen Welterlöser dar, die alle den einen Punkt ausgemacht haben, von dem aus alles Unheil der Welt zu kurieren sei, und die nun die Verantwortlichen der Parallelaktion mit ihren Reformvorschlägen bedrängen (vgl. vor allem MoE 140f.). Aber in der Wissenschaft tritt dieses Phänomen in besonderer Schärfe und mit einer gewissen tragischen Qualität auf, weil sie mit der Wahrheit einem Ideal von hoher, allgemein anerkannter Dignität dient, zudem beeindruckende Erfolge vorzuweisen hat und folglich ihre Jünger zu einer besonders leidenschaftlichen, aufopferungsvollen, unbedingten Gefolgschaft zu bewegen vermag. Da es den Wissenschaftlern außerdem um die Wahrheit
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
als solche geht, nicht um ihren praktischen Nutzen, und ihre Anstrengungen somit uneigennütziger Art sind, besitzt ihr Schicksal etwas wie eine tragische Dimension, wenn sie in ihrem selbstlos-leidenschaftlichen Wahrheitsstreben schließlich zu leidenden, gehetzten Suchtkranken werden. Ulrich ist von diesem Schicksal der Sucht offenbar deshalb verschont geblieben, weil er bei allem leidenschaftlichen Engagement für die Mathematik dennoch eine innere Distanz gewahrt hat, indem er nämlich zumindest unterschwellig davon überzeugt ist, dass die Wissenschaft nur eine Vorbereitung oder der Weg zu einem fernen Ziel ist, aber noch nicht ‘das Eigentliche’; zu dieser inneren Distanz gehört auch seine Überzeugung, dass „nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.“ (MoE 255) 1.2.4. Zusammenfassung Abschließend seien einige der wichtigsten Punkte zusammengefasst, zu denen die Analyse des Bildes des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens im Mann ohne Eigenschaften geführt hat. Das wissenschaftliche und vor allem das mathematische Denken erscheint Ulrich zunächst deshalb als vorbildlich und bewundernswert, weil es die ‘Kampfkraft’, die Schärfe und Beweglichkeit des Geistes schult und vermehrt und sich daher besonders als Training des Geistes eignet. Als vorbildlich betrachten Ulrich und – in einem Essay wie „Der mathematische Mensch“ – sein Autor Musil außerdem die geistige und sittliche Gesamthaltung, das Ethos, von dem das mathematisch-wissenschaftliche zumindest in seiner idealtypischen Form durchdrungen ist. Für dieses Ethos sind das Streben nach Wahrheit und die Abwesenheit einer Orientierung an praktischen Zwecken und ökonomischem Nutzen charakteristisch, ferner Leidenschaftlichkeit, Mut und die Fähigkeit, Entbehrungen zu ertragen. Der Zug des Bösen, der dem wissenschaftlichen Denken vielfach eignet und sich vor allem in der Neigung zu desillusionierenden reduktionistischen Erklärungen alles Schönen, Guten und Hohen äußert, ist eine unvollkommene, unterdrückte und verzerrte Ausgestaltung einer Anlage, deren volle und ungehinderte Entfaltung eine Verbindung der Tugenden von Kriegern und Heiligen hervorbringen würde. Das mathematisch-wissenschaftliche Denken erscheint also in mehreren Hinsichten als vorbildlich, weist aber in Ulrichs (und vermutlich auch Musils) Sicht auch ein entscheidendes Defizit auf: Es kann bestimmte Bedürfnisse des Menschen nicht befriedigen, die vorläufig als ‘seelische’ Bedürfnisse bezeichnet werden können. Warum das wissenschaftliche Denken dies nicht kann, ist noch zu klären, doch die bisher analysierten
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Textpartien deuten bereits darauf hin, dass dies mit den spezifischen Inhalten dieses Denkens zu tun hat, mit der Art der Erkenntnisse, auf die es zielt: Die Tatsachen und Wahrheiten, um die es in der Wissenschaft geht, sind wahr oder wirklich, „ohne sich um [den Forscher] zu kümmern“, wie Ulrich einmal sagt (MoE 215); sie haben keinen Bezug zu der Person des Wissenschaftlers, können von ihm also nicht als in emphatischem Sinne wichtig erlebt werden. Das Defizit des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens scheint demnach mit jenem Makel zusammenzuhängen, den das Kapitel I.28 dem Denken überhaupt zuschreibt: mit seinem ‘unpersönlichen’ Wesen, seinem Mangel an persönlicher Erlebnishaftigkeit. Im Hinblick auf die Ausführungen des Kapitels I.28 könnte man daher die Vermutung äußern, dass sie eine am mathematischen Denken gemachte Beobachtung57 zu einer These über das Denken insgesamt verallgemeinern. Die bisher analysierten Bemerkungen und Reflexionen über das Denken enthielten noch keinen Hinweis darauf, dass es neben dem unpersönlichen wissenschaftlichen Denken auch noch ein persönliches Denken gebe, das die durch logische Wahrheiten nicht zu stillenden Bedürfnisse befriedigen könnte; aber Musils und Ulrichs Äußerungen über ‘lebende Gedanken’ beschreiben genau solch ein Denken. 1.3. Lebende Gedanken: Denken mit Beteiligung der ganzen Person 1.3.1. Lebende und tote Gedanken Unter Musils Kapitel-Skizzen für den zweiten Band des Mann ohne Eigenschaften befinden sich Entwürfe für ein Kapitel, das einen TagebuchEintrag Ulrichs mit der Überschrift „Lebende Gedanken“ enthalten sollte (vgl. MoE 1914-1920).58 Den Kontext dieser Notizen innerhalb des Tagebuchs bilden Ulrichs Überlegungen zu einer „Utopie des motivierten Lebens“ (MoE 1914) oder einer „Utopie der Höflichkeit“ (MoE 1918); während Ulrich diese utopischen Lebensweisen zu charakterisieren sucht, erinnert er sich eines Jugenderlebnisses, an dem ihm der „Unterschied von lebenden u toten Gedanken“ (MoE 1915) aufgegangen sei. Diese Unterscheidung zwischen lebenden und toten Gedanken taucht in Musils Werk erstmals in Die Verwirrungen des Zöglings Törleß auf, wo sie der Erzähler formuliert, und wird auch in Tagebuchnotizen aus der Entstehungszeit _____________ 57 58
Immerhin arbeitet Ulrich zu Beginn dieses Kapitels an einer mathematischen Aufgabe. Diese Skizzen gehören zu den Kapitelentwürfen, deren Entstehungszeit Frisé auf die Jahre zwischen 1932 und 1941 datiert hat.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
dieses Romans thematisiert.59 Musil hat sie später in Notizen wieder aufgegriffen, die nach Frisé 1923 oder später entstanden sind.60 In diesen Notizen schildert Musil auch ein Erlebnis aus seiner Brünner Militärzeit, das ihn zu dieser Unterscheidung inspiriert habe und dem das von Ulrich in seinem Tagebuch geschilderte Jugenderlebnis bis ins Detail nachgebildet ist.61 Die Tatsache, dass Musil diese Unterscheidung zwischen lebenden und toten Gedanken so früh entwickelt hat, über Jahrzehnte hinweg an ihr festgehalten hat und immer wieder auf sie zurückgekommen ist, verleiht ihr ein besonderes Interesse: Der Begriff der lebenden Gedanken ist älter als die Konzepte des anderen Zustands und des Nicht-Ratioïden, wurde aber von Musil nicht aufgegeben, als er diese zentralen Konzepte seiner Anthropologie und Erkenntnistheorie formulierte, sondern modifiziert und mit ihnen verknüpft. Die Beschreibung von lebenden und toten Gedanken, die Ulrich in den späten Kapitelentwürfen formuliert, weist gegenüber Musils früheren Versionen dieser Unterscheidung einige Umakzentuierungen auf, doch die wesentlichen Grundzüge sind weitgehend dieselben geblieben. Ulrich hat aus seinem Jugenderlebnis die Feststellung mitgenommen, dass es Gedanken gibt, die plötzlich lebendig werden können, während sie zu anderen Zeiten, vor und nach diesem Lebendigwerden, als tot erfahren werden. Wenn ein Gedanke als tot erfahren wird, so bedeutet das, dass man lediglich seine konventionelle Bedeutung nachvollzieht und gegebenenfalls seine logische Richtigkeit und Wahrheit konstatiert, dass er einem aber gleichgültig bleibt. Dass in einem Menschen ein Gedanke lebendig wird, heißt, dass er sich von diesem Gedanken in seinem Innersten, in seinem individuellen Wesen ergriffen, mit Leben erfüllt, bereichert und verändert fühlt. In den 1923 oder später entstandenen Tagebuchnotizen Musils heißt es: „‘Lebende Gedanken’ ‘leuchten ein’. Ein Satz leuchtet mir ‘ein’, heißt, er dringt verändernd in mein Inneres.“62 Das lebende Denken unterscheide sich vom toten dadurch, „daß das eine das Ich einschließt, das _____________ 59
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61
62
Vgl. Musil, Tagebücher, S. 117f. – Vgl. zu der Unterscheidung von lebenden und toten Gedanken: Hannah Hickman, ‘Lebende Gedanken’ und Emersons Kreise. In: Uwe Baur / Elisabeth Castex (Hg.), Robert Musil. Untersuchungen. Königstein/Ts. 1980, S. 139-151; Jean-Pierre Cometti, Musil philosophe. L’utopie de l’essayisme. Paris 2001, S. 117-120; Hartmut Cellbrot, Die Bewegung des Sinnes. Zur Phänomenologie Robert Musils im Hinblick auf Edmund Husserl. München 1988, S. 33-39; Maier, Sinn und Gefühl, S. 210-214. Vgl. Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 849-853. – Eine knappe Beschreibung dieser Nachlass-Papiere und Angaben zur Entstehungszeit liefert: Hickman, ‘Lebende Gedanken’, S. 140f. Vgl. Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 850. – Musil schildert hier, wie er sich auf einem Rückweg in die Kaserne an die Musik des Pianisten Paderewski erinnerte, den er einige Monate zuvor gehört hatte. Vgl. Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 186-189. Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 850.
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andere nicht.“63 Ulrich kreist in seinen Aufzeichnungen das Wesen der lebenden Gedanken unter anderem mit den folgenden Charakterisierungen ein: Ein lebender Gedanke ist einer, der zum Mittelpunkt einer augenblicklichen Kristallisation unseres ganzen Wesens zu werden scheint. [...] Er ist bedeutend. [...] Und was ist bedeutend? Etwas, das nicht dem Verstand, sondern der Seele etwas sagt. Aber was ist Seele? Also: tiefere Gefühlseinbettung? Genügt nicht. Es muß etwas sein wie: Gefühls- u. Ideenaufbau der Person tangieren. [MoE 1917]
Lebende Gedanken sind in höherem Maße als tote mit Gefühlen verbunden; sie besitzen im Gegensatz zu diesen keine oder nur eine geringe allgemeingültige Wahrheit, dafür aber eine große Wichtigkeit für die Person, die sie erlebt (vgl. MoE 1915). Nicht alle Gedanken können zwischen dem lebenden und dem toten Zustand wechseln: Mathematische Gedanken etwa und wissenschaftliche Gedanken generell können dies nicht oder „sogut wie überhaupt nicht“: „Ihr Gehalt bleibt ein- für allemal der gleiche, mögen wir ihn erkennen oder nicht; u sie sind wahr oder falsch unabhängig von dem Einzelwesen, das sie denkt. Was wir Wahrheit nennen, soll immer wahr sein, u. der einzige persönliche Unterschied ihr gegenüber besteht darin, daß wir sie mehr oder weniger vollständig erfassen.“ (MoE 1915) Das Lebendigwerden eines Gedankens kann vom Subjekt nicht willkürlich bewirkt oder herbeigeführt werden, es ist eine Erfahrung, die ihm unvermittelt und plötzlich zuteil wird, ohne dass die Ursachen dieses Vorgangs ersichtlich wären.64 Während die bisher genannten Eigenschaften der lebenden Gedanken großenteils auch schon in den betreffenden Passagen der Verwirrungen des Zöglings Törleß und der früheren Tagebücher genannt werden, fügen Ulrichs Notizen in den späten Kapitelentwürfen den lebenden Gedanken noch eine neue, nämlich eine moralische Dimension hinzu: Diese Gedanken, so Ulrich, machen „alles zum moral. Erlebnis“; nachdem „uns ein lebendiger Gedanke ergriffen hat, [...] scheint uns, daß es kein größeres Laster gebe, als an Geld zu denken oder an Berufsfragen, an Notwendigkeiten oder an Gewißheiten.“ (MoE 1917) Im Hinblick auf die Frage, was dieser Begriff der lebenden Gedanken über Musils Konzeption des Denkens überhaupt aussagt, sind die folgenden Punkte festzuhalten: Das Lebendigwerden von Gedanken wird als ein unwillkürlicher, der willentlichen Kontrolle entzogener Vorgang beschrieben. Auch in dieser Hinsicht – abgesehen von den unterschiedlichen Inhalten der Gedanken – bilden die lebenden Gedanken einen Gegensatz zum mathematisch-wissenschaftlichen Denken, das bei Musil meist aus_____________ 63 64
Ebd., S. 851. Vgl. MoE 1914f.; Musil, Tagebücher, S. 117f.; ders., Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register‚ S. 849.
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drücklich als ein willensgeleitetes Handeln charakterisiert wird; dieses aktive, bewusst kontrollierte Wesen des wissenschaftlichen Denkens zeigt sich unter anderem in den Vergleichen der Wissenschaftler mit Kriegern, Boxern und Abenteurern. Ferner liegen die Eigenheiten der lebenden Gedanken fast ausschließlich auf der Ebene der Erlebnisqualitäten; was ihre Besonderheit ausmacht, teilt sich nur in der Perspektive des Erlebenden mit, nicht etwa in den mitteilbaren Inhalten der Gedanken. Für die Art dieser Erlebnisse ist vor allem ihr Bezug zum individuellen Wesen der Person kennzeichnend: Die Person spürt, dass es ihr innerstes Wesen ist, das durch diesen Gedanken geweckt und bereichert wird, dass der Gedanke in einem emphatischen Sinne für ihr „Dasein“, ihre „Situation als Individualität“65 wichtig ist. Dieses Erlebnis hat Evidenzcharakter: Die Bedeutung und Wichtigkeit des Gedankens werden als evident oder unbezweifelbar erlebt, ohne dass sie begründet werden könnten. Dieses Evidenzgefühl wird weder von Musil noch von Ulrich als bloßer Schein, Selbstbetrug oder subjektive Einbildung abgetan: Sie nehmen an, dass es tatsächlich das ‘Innere’, ‘das Ich’, die Seele oder der „Gefühls- u. Ideenaufbau der Person“ ist, was sich in diesen Erlebnissen manifestiert.66 1.3.2. Ratioïd und nicht-ratioïd Die Unterscheidung zwischen lebenden und toten Gedanken hat Musil nur in fiktionalen Kontexten sowie in seinen Tagebüchern formuliert, die Unterscheidung zwischen ratioïd und nicht-ratioïd dagegen nur in seinen Essays. So äußert er sich auch fast nirgends ausdrücklich zu der Frage, ob und wie diese Unterscheidungen zusammenhängen; am ehesten könnte man hier seine Spengler-Rezension „Geist und Erfahrung“ (1921) heranziehen, in der er auf seinen einige Jahre zuvor geprägten Begriff des nichtratioïden Gebiets zurückgreift und mit seiner Hilfe auch den Unterschied „zwischen lebendem und totem Erkennen“ erläutert.67 Wie dieser Essayabschnitt andeutet, gibt es Verbindungen zwischen diesen Musil’schen Begriffen und Unterscheidungen. Sie sind vor allem durch ihre Beziehungen zu bestimmten psychologischen und anthropologischen Grundannahmen Musils miteinander verbunden. Ein Blick auf Musils Begriffe des _____________ 65 66
67
Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 853. Das muss nicht ausschließen, dass Musil wie Ulrich auch Fälle von Irrtum oder Selbsttäuschung für möglich halten, also Fälle, wo Menschen meinen, es sei der innerste Kern ihres Wesens, was durch einen Gedanken zum Leben erweckt wird, während es in Wahrheit nur momentane Neigungen oder Triebe sind. Robert Musil, Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: GW 8, S. 1042-1059, hierzu S. 1049-1052, Zitat S. 1051.
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Ratioïden und Nicht-Ratioïden kann daher helfen, die Voraussetzungen besser zu verstehen, auf denen die Unterscheidung zwischen lebenden und toten Gedanken und seine gesamte Konzeption des Denkens ruhen. Da Musils Konzeption des Ratioïden und des Nicht-Ratioïden in der Forschung bereits vielfach behandelt worden ist,68 sei sie hier nur in knapper Form referiert. Eingeführt hat Musil diese Unterscheidung in seinem Essay „Skizze der Erkenntnis des Dichters“ (1918);69 diesen Text betrachtete er offenbar als eine Darlegung seiner theoretischen Grundüberzeugungen, zu der er sich auch später noch ausdrücklich bekannte: In Aufsätzen von 1921 und 1931 finden sich ausdrückliche Verweise auf die „Skizze“ und die in ihr entwickelte Konzeption von ‘ratioïd’ und ‘nichtratioïd’.70 Diese Ausdrücke bezeichnen zunächst zwei verschiedene Bereiche der Welt, zwei Gegenstandsbereiche oder „Objektswelt[en]“71; ihnen ‘entspricht’ jeweils eine spezifische „Erkenntnishaltung und Erkenntniserfahrung“72, so dass Musil auch einmal vom „nicht-ratioïde[n] Denken“ sprechen und es dem „wissenschaftlichen als dem ratioïden“73 gegenüberstellen kann. Das ratioïde Gebiet „umfaßt – roh umgrenzt – alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln zusammenfaßbare, vor allem also die physische Natur [...].“74 Die Tatsachen dieses Gebiets wiederholen sich regelmäßig und sind relativ unabhängig voneinander, daher lassen sie sich in Gesetzen und Regeln zusammenfassen; außerdem lassen sie sich „eindeutig beschreiben und vermitteln“, also in Begriffen oder Vorstellungen ausdrücken, die eine „objektive, universal übertragbare Bedeutung“ besitzen.75 Das nicht-ratioïde Gebiet dagegen ist „das Gebiet der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen [...], das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee“.76 Auch alle „Äußerungen _____________ 68
69 70 71 72
73 74 75 76
Vgl. vor allem: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 80-83; Maier, Sinn und Gefühl, S. 214-217; Cometti, Musil philosophe, S. 79-81; Vatan, Robert Musil et la question anthropologique, S. 11-18; Armin Westerhoff, Poetologie als Erkenntnistheorie: Robert Musil. In: Christine Maillard (Hg.), Littérature et théorie de la connaissance 1890-1935. Literatur und Erkenntnistheorie 1890-1935. Strasbourg 2004, S. 191-208; Heribert Brosthaus, Robert Musils ‘wahre Antithese’. In: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 120-140. Vgl. Robert Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: GW 8, S. 1025-1030. Vgl. Ders., Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049f.; ders., Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu. In: ebd., S. 1203-1225, hier S. 1214. Ders., Skizze, in: GW 8, S. 1026. „Dies sind nur einzelne Beispiele und Einzelbeispiele. Ihnen allen entspricht aber oder vielmehr liegt zugrunde eine bestimmte Erkenntnishaltung und Erkenntniserfahrung wie auch die dieser entsprechende Objektswelt.“ (Ebd.) Musil, Literat und Literatur, in: GW 8, S. 1214. Ders., Skizze, in: GW 8, S. 1026f. Ebd., S. 1027. Ebd., S. 1028.
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des praktischen Lebens“ gehören zu diesem Gebiet, alle Entschlüsse, persönlichen Überzeugungen und Beziehungen zwischen den Menschen.77 Das „Hauptbeispiel“, gewissermaßen der prototypische Ausschnitt dieses Gebiets, ist die Moral, wie das Hauptbeispiel des ratioïden Gebiets die physische Natur und die Naturwissenschaft sind.78 Das nicht-ratioïde Gebiet unterscheidet sich vom ratioïden zunächst dadurch, dass es eine andere Erkenntnisart erfordert: Die Tatsachen des nicht-ratioïden Gebiets sind „unbeschränkt variabel und individuell“79, können daher nicht in Begriffen mit festen Bedeutungen und in allgemeingültigen Gesetzen eingefangen werden. Die „Vorstellungen in diesem Interessenkreis“ haben „keine feste Bedeutung“, sondern sind „mehr oder minder individuelle Erlebnisse [...], die man nur soweit versteht, als man sich ähnlicher erinnert“; sie besitzen im Gegensatz zu den Vorstellungen des ratioïden Gebiets kein objektives Fundament aus sinnlichen Wahrnehmungen oder definierten Begriffen, sondern ruhen auf Komplexen aus Gefühl, Wille und „schwer wiederholbaren Eindrücken“.80 Die Phänomene des nichtratioïden Gebiets unterscheiden sich aber nicht nur dadurch von denen des ratioïden Gebiets, dass sie aufgrund ihrer größeren Vielfalt, Wandelbarkeit und Unregelmäßigkeit eine andere Erkenntnisweise erfordern, sondern auch dadurch, dass sie eine andere und ‘höhere’ Wichtigkeit als die ratioïden Gegenstände besitzen: Das deutet sich schon in der Aussage an, das nicht-ratioïde Gebiet sei das der „Werte und Bewertungen“, und es zeigt sich durchgehend in den Attributen, die Musil zur Kennzeichnung dieses Gebiets verwendet; Gedanken dieses Gebiets, so heißt es in der Spengler-Rezension, sind „lebend“ oder können es zumindest sein, man kann sie sich „menschlich aneignen“81. In anderen Essays spricht Musil – ohne immer den Begriff ‘nicht-ratioïdes Gebiet’ zu verwenden, aber erkennbar dieses meinend – von dem Bereich „des Gefühls, Willens, Lebenden, Wechselbaren, insgesamt der Menschlichkeit“82, oder von dem Gebiet, das „alles im weitesten Sinne Religiöse und Politische“ umfasse, „alles Künstlerische, alles Menschliche“, oder auch: „alles, was man zum inneren Leben braucht“83. Die Phänomene des nicht-ratioïden Gebiets _____________ 77 78 79 80 81 82 83
Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049. Ders., Skizze, in: GW 8, S. 1028. Ebd. Ders., Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049; vgl. auch ebd., S. 1051. Ebd., S. 1051, 1049. Ders., Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1092. Ders., Franz Blei. In: GW 8, S. 1022-1025, hier S. 1023; vgl. die ähnliche Formulierung in: ders., Essaybücher. In: GW 9, S. 1450-1457, hier S. 1452 („[...] in gewissen Fragen reiche der Verstand nicht aus, von ihm allein können wir innerlich nicht leben [...]“). Vgl. außerdem: ders., Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1048; hier stellt Musil fest, dass „empiristi-
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können somit menschliche Bedürfnisse befriedigen, denen die ratioïden Gedanken nichts oder so gut wie nichts zu bieten haben. Die oben zitierten Aussagen Musils über das nicht-ratioïde Gebiet und die Vorstellungen in diesem „Interessenkreis“ weisen eine leichte Zweideutigkeit auf, die in vielen seiner Äußerungen zu diesem Thema erkennbar ist: Das nicht-ratioïde Gebiet definiert sich zwar für Musil ebenso wie das ratioïde über eine spezifische Art von Gegenständen (eine „Objektswelt“) sowie über eine bestimmte Erkenntnishaltung oder Erkenntniserfahrung; doch in seinen Ausführungen über dieses Gebiet ist häufig nicht ganz klar, ob er gerade über die nicht-ratioïden Gegenstände oder über das Erkennen dieser Gegenstände bzw. das Denken über diese Gegenstände spricht. Das liegt offenkundig daran, dass auf dem nicht-ratioïden Gebiet die Gegenstände und die Gedanken über diese Gegenstände sich nicht so klar voneinander unterscheiden lassen wie auf dem ratioïden Gebiet, da sie gewissermaßen derselben ontologischen Klasse angehören: Die Gegenstände des nicht-ratioïden Gebiets bilden wertende Erlebnisse, Einstellungen und Überzeugungen von menschlichen Individuen, nicht zuletzt also Gedanken oder Denkerlebnisse bestimmter Art. Die Gedanken über die nicht-ratioïden Gegenstände sind also von diesen Gegenständen selbst ihrem Wesen nach nicht verschieden. Trotzdem erscheint es prinzipiell keineswegs unmöglich, die Grenzlinie zwischen ihnen zu markieren und hervorzuheben: Man kann ethische und religiöse Überzeugungen einerseits und Gedanken über solche Überzeugungen andererseits gleichermaßen als Gedanken auffassen und dabei gleichwohl an der Differenz zwischen ihnen festhalten. Für Musils Ausführungen über das nicht-ratioïde Gebiet ist aber charakteristisch, dass er diese Differenz häufig verwischt – nicht zuletzt dadurch, dass er schlicht von dem „Gebiet“ oder „Interessenkreis“ spricht und offen lässt, ob er gerade die Gegenstände dieses Gebiets oder die ihm angemessenen Erkenntnisbemühungen meint; wenn er etwa die Schriften Nietzsches, Emersons oder Novalis’ als Beispiele für den nicht-ratioïden „Interessenkreis“84 nennt, so ist nicht klar, ob er sie eher als Erforschungen nicht-ratioïder Gegenstände (Moral, Religion, Ästhetik) oder aber als Verkörperungen solcher Gegenstände, also als Ausdruck moralischer und ethischer Überzeugungen ansah. Man kann vermuten, dass die Essays dieser Autoren für Musil tatsächlich beides zugleich waren. Die Ambiguität solcher Passagen fällt vor allem deshalb ins Auge, weil Musil an anderen Stellen durchaus die Differenz zwischen nicht-ratioïden Gegenständen und dem auf Erkenntnis zielenden Denken über solche Gegenstände deutlich macht: Denn während er an einigen _____________ 84
sches Denken“ – womit an dieser Stelle in etwa dasselbe wie ratioïdes Denken gemeint ist – „natürlich den Geist ein[engt]“. Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049.
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Stellen behauptet, nicht-ratioïde Gedanken könnten nicht analysiert, sondern nur ‘nacherlebt’ oder ‘wiedererlebt’ werden, charakterisiert er in anderen Abschnitten die angemessene Untersuchung solcher Gegenstände auf eine Weise, die mit Nacherleben nichts zu tun hat. Dort fordert er vielmehr, dass nicht-ratioïde Phänomene analysiert werden müssten, indem man etwa die kompliziert verästelten Erfahrungen, Gründe und Motive, die einer Handlung oder einer ethischen Behauptung eines Menschen ihre Bedeutung geben, nachzeichnet; eine solche Untersuchung kann nie zu einem definitiven Ergebnis kommen, aber gleichwohl zu einem besseren Verständnis dieser Phänomene und zu einer „Übersicht“ über ihre komplexen Beziehungen führen.85 Die eben beschriebenen Zweideutigkeiten in Musils Ausführungen über das nicht-ratioïde Gebiet hängen zumindest teilweise mit einer anderen, grundsätzlicheren Ambivalenz des Konzepts des Nicht-Ratioïden zusammen. Die Unterscheidung zwischen ratioïd und nicht-ratioïd ist von Musil als eine Unterscheidung entworfen worden, die sich in zwei verschiedenen kommunikativen Kontexten bewähren sollte: im wissenschaftlichen Kontext einerseits und im Kontext der literarästhetischen Programmatik sowie der öffentlichen intellektuellen Debatten andererseits. Zum einen betrachtet Musil diese Unterscheidung als eine, die sachlich begründet ist und die zwar vielleicht nicht den strengen Anforderungen wissenschaftlicher Begriffsbildung genügt, aber zumindest nicht im Gegensatz zum wissenschaftlichen Diskussionsstand steht und sich an psychologische oder philosophische Fachbegriffe ‘anschließen’ lässt. Das wird deutlich, wenn er in seinen Exzerpten zu Hugo Münsterbergs Grundzüge der Psychotechnik die darin formulierte Unterscheidung von ‘kausaler’ und ‘intentionaler’ Psychologie notiert, sie mit seiner Unterscheidung zwischen ratioïd und nicht-ratioïd vergleicht und einen Vorzug seines eigenen Begriffspaars gegenüber dem Münsterberg’schen festhält.86 Zum anderen nutzt Musil diese Begriffe aber auch, um seine Annahmen über die Leistungsfähigkeit und die Wirkungsmöglichkeiten der Literatur sowie vor allem seine programmatischen Auffassungen von den Aufgaben der _____________ 85
86
Vgl. Robert Musil, Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: GW 8, S. 1075-1094, hierzu S. 1093f., die Rede von einer „Übersicht“ auf S. 1094. Vgl. ferner etwa die folgende Aussage aus der „Skizze der Erkenntnis des Dichters“: Bei einer „ethische[n] Behauptung“ wie etwa „‘es gibt keine Meinung, für die man sich opfern und in die Versuchung des Todes begeben darf –’“ bedürfe es „einer langen Abhandlung [...], bloß um zu zeigen, in welchem Sinn man es meint, bloß um Erfahrungen in einer Wegweiserrichtung aneinanderzureihen, die dann doch irgendwo sich unübersehbar verästelt, aber doch irgendwie ihren Zweck erfüllt hat.“ (Musil, Skizze, in: GW 8, S. 1028) Vgl. ders., Tagebücher, S. 521-523. – Vgl.: Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig 1914; die Unterscheidung zwischen den zwei Arten der Psychologie, der kausalen und der teleologischen oder intentionalen: ebd., S. 10-18.
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Literatur zu formulieren. Diese Aufgaben und möglichen Wirkungen haben bei ihm einen utopischen Zug: Die Dichtung soll den „inneren Menschen erfinden“87, sie soll nicht nur die nicht-ratioïde Dimension des menschlichen Lebens erforschen und besser verstehen lernen, sondern auch neue Möglichkeiten des Menschseins entwerfen. Diese Auffassung schlägt auch auf die Charakterisierung des nicht-ratioïden Gebiets durch, wenn es etwa heißt, der „wesentliche Aufbau“ von Schriften aus diesem Gebiet sei „nicht mehr systematisch, sondern schöpferisch“;88 solche Aussagen stehen unverbunden neben den anderen Charakterisierungen des nicht-ratioïden Gebiets, die dieses über seine spezifischen Gegenstände sowie die ihnen angemessene Erkenntnishaltung bestimmen, also allein vom Untersuchen und Erkennen bestimmter Phänomene handeln. Darüber hinaus ist wichtig zu beachten, dass Musil mit seiner Unterscheidung zwischen ratioïd und nicht-ratioïd auch auf die anti-intellektualistischen Strömungen seiner Zeit reagieren will.89 Musil ist der Ansicht, dass die verbreitete anti-intellektualistische Stimmung, die sich etwa in dem Erfolg von Autoren wie Spengler und Klages zeigt, zwar teilweise realen, begründeten und ernstzunehmenden Bedürfnissen und Sorgen entspringt, dass diese aber in den verstandesfeindlichen Parolen, in Oppositionen wie ‘Verstand vs. Seele’ oder ‘Verstand vs. Gefühl’ und in den Theorien von Spengler, Klages oder Rathenau einen gefährlich verzerrten Ausdruck erhalten haben, der die wahre Natur dieser Probleme verdeckt und zu verfehlten Abhilfeversuchen verleitet. In seinen Essays versucht er immer wieder, zu zeigen, dass die realen Bedürfnisse und Unsicherheiten anders beschrieben werden müssen, dass andere Begriffe adäquatere Beschreibungen der Probleme und eine gezieltere Suche nach Therapien ermöglichen.90 Die Unterscheidung von ratioïd und nicht-ratioïd ist eines der Konzepte, die er zu diesem Zweck anbietet. Das heißt aber, dass er deutlich machen muss, dass sein Begriff des Nicht-Ratioïden auch tatsächlich jene Sorgen, Bedürfnisse und Wünsche einzufangen vermag, die sich in jenen anti-intellektualistischen Strömungen verzerrt artikulieren. Diese Absicht dürfte zumindest teilweise die Erklärung dafür liefern, dass Musil das nicht-ratioïde Gebiet, das er manchmal in sachlich-nüchternen, wis-
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Musil, Skizze, in: GW 8, S. 1029. Ders., Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1050. Vgl. etwa: Jacques Bouveresse, Robert Musil, la philosophie de la vie et les illusions de l’Action parallèle. In: J. B., La voix de l’âme, S. 189-226. Vgl. vor allem: Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, vor allem S. 1047-1059; ders., Das hilflose Europa, in: ebd., vor allem S. 1091-1094; ders., Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Ebd., S. 1137-1154, vor allem S. 1145-1147.
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senschaftsnahen Formulierungen charakterisiert, gelegentlich auch in sehr emphatischen Formulierungen beschreibt. 91 Die voranstehenden Absätze haben einige allgemeine Merkmale der Musil’schen Unterscheidung zwischen ratioïd und nicht-ratioïd etwas eingehender analysiert, weil diese in späteren Abschnitten der Arbeit relevant sein werden, namentlich dort, wo es um Musils Absichten bei der literarischen Darstellung von Denkprozessen geht.92 Ich komme nun zur Hauptlinie meiner Argumentation zurück und damit zu den Auffassungen über das Denken, die Musils Begriffspaar ‘ratioïd / nicht-ratioïd’ zugrunde liegen. Von zentraler Bedeutung sind die Annahmen über die Beziehung zwischen Denken, Gefühl und Individualität, die in diesen Konzepten enthalten sind. Die Vorstellungen, aus denen das nicht-ratioïde Denken besteht, enthalten Worte, Begriffe oder Urteile, die umgeben sind von einer persönlichen ‘Erlebnishülle’, also etwa von dem Erlebnis jenes Moments, in dem die jeweilige Person ein Wort kennen gelernt oder ein Urteil geäußert hat; diese Erlebnishülle wiederum setzt sich zusammen aus Gefühlen, Willensregungen und „schwer wiederholbaren Eindrücken“.93 Das Wesentliche und das eigentlich Charakteristische an diesen Vorstellungen ist dabei jeweils nicht der benennbare Inhalt der Begriffe oder Urteile, sondern der Erlebnisanteil. Entscheidend ist nun Musils Annahme, dass nur Vorstellungen bzw. Vorstellungsinhalte einer bestimmten Art eine solche Verbindung mit einer gefühlsbasierten Erlebnishülle gestatten: Alle wissenschaftlichen Gedanken etwa, die auf fest definierten Begriffen beruhen und Allgemeingültigkeit anstreben, weisen keine solche Einbettung in Erlebnisse auf. Moralische und ästhetische Vorstellungen dagegen wurzeln fast immer in solchen persönlichen Erlebnissen, sind folglich wandelbar und nicht in eindeutigen Begriffen zu erfassen; darüber hinaus gehören alle persönlichen Überzeugungen und Meinungen, die mit Wertungen verbunden sind, in diesen Bereich, alles „im weitesten Sinne Religiöse und Politische“94 und alles, was dem „Geist des Meinens, Glaubens, Ahnens, Fühlens“ – im Gegensatz zur „wissenden Sicherheit“ 95 – angehört. Mit der Gefühlsbeteiligung und dem individuellen Erlebnischarakter weist das nicht-ratioïde Denken zwei Merkmale auf, die auch die lebenden Gedanken kennzeichnen. Nicht-ratioïde Gedanken dürften allerdings für Musil nicht schlicht dasselbe gewesen sein wie lebende Gedanken; seine Ausführungen über das nicht-ratioïde Gebiet und ‘lebendes und totes _____________ 91 92 93 94 95
Vgl. etwa: Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1047-1053. Vgl. dazu Kapitel III.2 dieser Arbeit. Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049. Ders., Franz Blei, in: GW 8, S. 1023f. Ders., Literat und Literatur, in: GW 8, S. 1214.
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Erkennen’ in dem Essay „Geist und Erfahrung“ könnten zwar in diesem Sinne aufgefasst werden, doch die Mehrzahl seiner Äußerungen über diese Arten von Gedanken legt es eher nahe, lebende Gedanken als eine Unterklasse oder einen Spezialfall von nicht-ratioïden Gedanken zu verstehen. Lebende Gedanken werden von Musil meist als seltene Erlebnisse von besonders eindringlicher, beglückender und bereichernder Wirkung geschildert. Das nicht-ratioïde Gebiet dagegen scheint auch ganz alltägliche Gedanken, Meinungen und Stellungnahmen zu umfassen – „alle Äußerungen des praktischen Lebens“96, wie Musil einmal sagt. Zum nichtratioïden Denken dürfte also auch das gewöhnliche Nachdenken einer Person über moralische Fragen oder über ihre Beziehungen zu anderen Menschen gehören, das nicht durch besonders beglückende Erlebnisqualitäten ausgezeichnet ist. Musil deutet an verschiedenen Stellen an, dass der Gefühlsanteil an Gedanken viele verschiedene Grade annehmen kann und dass zwischen den eindeutig ratioïden und den eindeutig nicht-ratioïden Vorstellungen stetige Übergänge liegen;97 auch dies dürfte dafür sprechen, lebende Gedanken als eine Untergruppe innerhalb eines breiteren Spektrums von nicht-ratioïden Gedanken anzusehen. Für nicht-ratioïde, insbesondere für lebende Gedanken gilt, dass sie mit Gefühlen verbunden sind und dass sie das Ich des Denkenden involvieren, dass sie vom Denkenden als etwas erlebt werden, an dem die innere, persönliche Schicht ihrer selbst beteiligt ist. Diese zwei Merkmale – die Gefühlskomponente und die Beteiligung des Ich – treten nicht zufällig gemeinsam auf, sondern hängen zusammen: Die Gefühle sind wesentlich oder ausschließlich verantwortlich für den persönlichen, das Ich einschließenden Charakter dieser Gedanken. Diese Deutung wird zumindest durch die Betrachtungen zur Gefühlspsychologie nahe gelegt, die Ulrich während des Zusammenlebens mit Agathe in seinem Tagebuch entwickelt. Ulrichs Überlegungen kreisen hier unter anderem um die Fragen, wie das Gefühl sich zum Ich oder zur Person verhält und ob es sich aus dem ‘Innern’ der Person bildet und verändert oder aber aus dem ‘Außen’ (vgl. MoE 1158-1161). Über diese Fragen gebe es in der aktuellen Psychologie viele disparate Meinungen, konstatiert Ulrich; zu den unbestreitbaren Tatsachen gehöre aber jedenfalls, dass „sich ein Gefühl nicht irgendwo in der Welt, sondern im Innern eines lebenden Wesens bildet, und daß ‘Ich’ es bin, der fühlt oder in der Erregung sich selbst fühlt. [...] [O]bwohl das Gefühl eine lebhaftere Beziehung zur Außenwelt herstellt als eine Sinnesempfindung scheint es mir ‘innerlicher’ zu sein als sie.“ (MoE 1161) Außerdem sei „mit dem Gefühl aber auch eine Stellungnahme der ganzen _____________ 96 97
Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049. Vgl. ders., Literat und Literatur, in: GW 8, S. 1214.
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Person verbunden [...]. Ich weiß vom Gefühl, im Unterschied von der Sinnesempfindung, daß es mehr als diese ‘mich ganz’ angeht.“ (ebd.)98 Ulrich fasst seine Beobachtungen schließlich in der Feststellung zusammen, dass ein Gefühl sich „in mir und außer mir“ bilde, „sich von innen und von außen“ verändere, und dass „die Frage, was an einem Gefühl innen und was außen sei und was davon Ich und was Welt sei“, kaum einen Sinn habe (ebd.). Gefühle sind also auf die äußere Umgebung der Person bezogen und werden von ihr beeinflusst, bilden sich aber in ihrem Innern und sind eine Äußerung der „ganzen Person“, etwas, das sie ‘ganz’ angeht. Diese Annahmen über das Wesen von Gefühlen stimmen also zusammen mit Musils Konzepten der lebenden und der nicht-ratioïden Gedanken und bestätigen, dass die Gefühlsbeteiligung und der persönliche, das Ich involvierende Charakter dieser Gedanken zusammengehören.99 Die Frage, ob und wie das Ich oder die ‘ganze Person’ eines Menschen in sein Denken involviert sein kann, ist auch das Thema einer wichtigen Passage aus Musils gegenwartsdiagnostischem Essay „Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste“ (1922).100 Musil widerspricht hier dem in literarisch-intellektuellen Kreisen weit verbreiteten Vorurteil, „daß an aller Mißentwicklung der Zivilisation und vor allem an der seelischen Zersetzung der Verstand schuld sei, dem sie fröne.“101 Der Verstand wirke nicht zwangsläufig zersetzend und stehe ebenso wenig prinzipiell in einem feindlichen Verhältnis zur Seele. Das eigentliche Problem bestehe vielmehr im Folgenden: „[...] es geht der Gewohnheitsweg unsrer Gedanken unter Ausschaltung des Ich von Gedanke zu Gedanke und Tatsache zu Tatsache, wir denken und handeln nicht über unser Ich.“ Die gewohnte, verbreitetste Art des Denkens vollzieht sich unter Ausschluss des Ich und verbindet nur Tatsachen miteinander; der Grund dafür ist, dass dieser „Gewohnheitsweg“ des Denkens sich an dem Ideal der Objektivität orientiert und sich daher allein für das Sachliche und Allge_____________ 98
Vgl. auch MoE 1158f.: Das Gefühl, so notiert Ulrich dort, „drängt nach innen; es ‘erfaßt den ganzen Menschen’, wie die Umgangssprache nicht unzutreffend sagt“ (MoE 1158), es „unterwirft“ das Innere (MoE 1159). 99 Es ist bekannt, dass Musil in den Gefühlspsychologie-Kapiteln des zweiten Bandes unter anderem auf die Schriften des Schriften des Psychologen Traugott Konstantin Oesterreich zurückgegriffen hat. Diese dürften ihm auch und besonders für die eben skizzierte Sicht auf die Beziehung der Gefühle zum Ich oder zur ‘ganzen Person’ Anregung oder Bestätigung geliefert haben. Vgl.: Konstantin Oesterreich, Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen. Erster Band: Das Ich und das Selbstbewußtsein. Die scheinbare Spaltung des Ich. Leipzig 1910; vgl. zu dem Verhältnis von Ich und Gefühl etwa ebd., S. 70, 115, 227. Zu Musils Oesterreich-Rezeption vgl.: Bonacchi, Die Gestalt der Dichtung, S. 9499; Maier, Sinn und Gefühl, S. 168-170. 100 Vgl. Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, hier S. 1092-1094. 101 Ebd., S. 1092.
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meingültige interessiere, also das „Innerliche an den Dingen“ ignoriere und eo ipso auch nicht die „Persönlichkeit“ des Denkenden involvieren könne.102 Musil verweist hier zustimmend auf einen Aufsatz von Walter Strich103, in dem es heißt: „Dafür daß 2 * 2 = 4 ist, kann ich mich mit meiner Person nicht einsetzen“104; Musil zitiert das mit den Worten: „für eine Wahrheit kann man nicht mit der Person einstehn.“105 Der Gegensatz zu diesem auf das Allgemeingültige und Sachliche ausgerichteten Denken wäre ein Denken, das „eine tiefere Einbettung [...] in die Gefühlssphäre, eine persönlichere Beziehung zum Erlebenden“106 aufweist. Die Inhalte und Fragen, die ein solches Denken erfordern und in deren Namen ein solches Denken immer wieder angestrebt worden ist, sind solche, die dem _____________
102 Ebd. 103 Vgl. Walter Strich, Der Fluch des objektiven Geistes. In: Der Neue Merkur. 3. Jahrg. (1919/1920), Heft 7, S. 493-504. – Strichs Aufsatz entwickelt eine Sicht auf das Verhältnis zwischen der individuellen Seele und dem objektiven Denken, die Musil offenbar als weitgehend affin zu eigenen Auffassungen empfunden hat, wie seine Exzerpte zu Strichs Aufsatz erkennen lassen (vgl. Musil, Tagebücher, S. 361-363). Strichs zentrale These lautet, dass der moderne europäische Mensch in allen Bereichen des Lebens nur noch das objektiv Messbare und Begründbare, das Allgemeingültige und gesetzlich Festgeschriebene als Richtschnur betrachte und sich in nichts mehr auf das Eigene seiner Seele verlasse. So betrachten die Menschen etwa die Moral als ein „System des beweisbar richtigen oder guten Handelns“ und bewerten die anderen Menschen danach, ob ihre Werke diesen allgemeinen Vorstellungen vom Guten und Richtigen entsprechen. Dagegen macht Strich unter Berufung auf Luther und Schiller geltend, dass der Mensch als Person nur nach persönlichen Kriterien bewertet werden kann, dass der „persönliche Wagemut, das Handeln auf eigene Faust und das persönliche Eintreten dafür“ moralischer seien als „der blinde Glaube an das, was ‘man’ zu tun hat“, und dass die „Vollendung der Seele in ihrem Sein [liege], das jedes objektiven Maßstabes spotte[ ]“ (Strich, Der Fluch, S. 498). – Strichs Konzeption der Person und der Seele, die seiner Polemik gegen den modernen Objektivitätsglauben zugrunde liegt, kann man wie folgt zusammenfassen: Die Seele jedes Menschen enthält als ihr individuelles „Eigene[s]“ Kräfte, Gewissheiten, Forderungen und Pflichten, die jenseits des rational Erklärbaren und Begründbaren liegen. Auf dieser persönlichen und irrationalen ‘Tiefenschicht’ der menschlichen Seele beruhen der echte religiöse Glaube, das Ethische und alle wertenden und kreativen Tätigkeiten des Menschen (vgl. ebd., S. 497, 500, 504). Der einzelne Mensch sollte also bestrebt sein, seine eigene Seele zu entdecken bzw. sich, wie Strich mit einer Wendung von Novalis sagt, „seines transzendenten Ichs [zu] bemächtigen“ (ebd., S. 503), um dann den eigenen Gewissheiten und Pflichten zu folgen, aus innerer Notwendigkeit heraus zu handeln, persönliche Verantwortung für die eigenen Handlungen, Urteile und Meinungen zu übernehmen und auf diese Weise das Sein der eigenen Seele zu vollenden. – Musils Notizen deuten an, dass er sich Strichs Kritik am Objektivitätsideal zumindest nicht in dieser Grundsätzlichkeit anschließt; Strichs Auffassung von der individuellen Seele scheint aber seiner Sicht auf das Innere, die Persönlichkeit oder das Ich des Menschen sehr nahe gewesen zu sein. Für Renate von Heydebrand handelt Strichs Aufsatz das „Problem der Übermacht der Rationalität in der modernen Welt [...] so eindringlich ab, daß er, bis in Einzelheiten der Argumentation, als Exposé wichtiger Teile des Romans gelten könnte.“ (von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 206, Anm. 37) 104 Strich, Der Fluch, S. 503. 105 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1092. 106 Ebd., S. 1092f.
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Bereich „des Gefühls, Willens, Lebenden, Wechselbaren, insgesamt der Menschlichkeit“ entstammen; Beispiele für ein solches Denken liefern die Mystiker, aber auch „das ganze Schrifttum unmystischer Lebensweisheit von Kungfutse bis Emerson“ und insgesamt der Bereich der Ethik oder der ethischen Erlebnisse im Unterschied zur begrifflich fixierenden und normierenden Moral.107 Musil konstatiert in diesem Essayabschnitt also wiederum eine Korrelation zwischen Gegenstand oder Inhalt des Denkens einerseits, Art des Denkens andererseits, wie sie auch für die Konzeption des ratioïden und des nicht-ratioïden Gebiets konstitutiv ist: Ein Denken, das allein auf das Allgemeingültige und Objektive zielt, muss das Ich oder die Persönlichkeit des Denkenden ausschließen; die Gegenstände aus dem Bereich des Menschlichen, des Gefühls- und Willenslebens dagegen erlauben und erfordern ein Denken, an dem die Gefühle und die Persönlichkeit des Denkenden beteiligt sind. Mithilfe von Musils Ausführungen über das ratioïde und das nichtratioïde Denken in seinen Essays lässt sich besser verstehen, worin die Defizite und Gefahren des mathematischen und wissenschaftlichen Denkens bestehen, die im Mann ohne Eigenschaften benannt oder angedeutet werden. Die ‘menschlichen’ Inhalte, die Fragen des Gefühlslebens und alles das, „was man zum inneren Leben braucht“, liegen außerhalb des Bereichs von Gegenständen, die dem wissenschaftlichen Denken zugänglich sind. Dieses Denken lässt tatsächlich die Seele „Hunger leiden“ und kann ihr nur „Steine statt Brot“ (MoE 46) geben.108 Der Roman fügt dieser Sicht auf das wissenschaftliche Denken, wie sie in den Essays ausdrücklich formuliert wird, noch einen Gedanken hinzu, indem er andeutet, dass die leidenschaftliche, ausschließliche Fixierung auf dieses Denken, das der Seele oder dem ‘inneren Leben’ keine Nahrung bietet, zu charakterlichen Deformationen führen kann, genauer gesagt: zu suchtähnlichen Erscheinungen. Dass Ulrichs Mathematikerkollegen in ihrer Jagd nach logischen und mathematischen Wahrheiten schließlich Opiumsüchtigen ähneln (vgl. MoE 47), scheint damit zu tun zu haben, dass diese Wahrheiten die Bedürfnisse des inneren, auf Gefühl und Willen beruhenden Lebens nicht befriedigen können, so dass das ausschließliche Streben nach ihnen dieses menschliche Innere veröden lässt. _____________ 107 Ebd. 108 Aber die „Umkehrenden, Verzagten, Weichlichen“, deren Ansicht an dieser Stelle wiedergegeben wird, liegen insofern falsch, als sie meinen, dass es „der Verstand“ überhaupt sei, welcher der Seele nur Steine bieten könnte; dies gilt vielmehr, wie Musil etwa im Essay „Das hilflose Europa“ betont, nur für den auf Objektivität und allgemeingültige Wahrheit zielenden Verstand. Der Verstand als solcher kann sich auch der Seele zuwenden, ohne sie zu ‘zersetzen’. Vgl. Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1092.
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Musils Konzepte des nicht-ratioïden Denkens und der lebenden Gedanken ermöglichen es außerdem, Ulrichs Reflexionen über den unpersönlichen Charakter des Denkens in Kapitel I.28 genauer einzuordnen. Wenn Ulrich dort die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens konstatiert und dabei Ärger und Resignation empfindet (MoE 113), so zeigt sich darin, dass auch er den Wunsch oder das Bedürfnis nach einem ‘persönlicheren’ Denken kennt. Sein Urteil aber, dass das Denken generell etwas weitgehend Unpersönliches sei, muss angesichts seiner – für die Romanfortsetzung vorgesehenen – Notizen über das lebende Denken109 und angesichts von Musils Essays als eine Übertreibung angesehen werden, als unzulässige Verallgemeinerung einer auf das mathematische Denken bezogenen Beobachtung. Dass Ulrich sich an dieser Stelle auf diese Weise irrt, lässt sich aus der Lebenssituation erklären, in der er sich gerade befindet: Im Kapitel I.28 steht er noch am Anfang seines Urlaubsjahrs; in den vergangenen Jahren seiner Mathematikerlaufbahn hat er offenbar weitgehend vergessen, verdrängt oder nicht anerkennen wollen, dass es neben dem wissenschaftlichen Denken noch eine andere Art des Denkens gibt. Erst im Laufe seines Urlaubsjahrs wird sich das ändern. 1.4. Denken und ‘Systeme des Gleichgewichts’ Die Untersuchung von Musils Konzeption des Denkens ist bisher von seinen Charakterisierungen zweier sehr verschiedener Arten des Denkens ausgegangen, des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens und des nicht-ratioïden und lebendigen Denkens. Relevant sind in diesem Zusammenhang ferner die Erörterungen einer bestimmten Funktion oder Aufgabe des Denkens, die Musils Erzähler im Kapitel „Bonadea, Kakanien; Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ (MoE, Kapitel I.109) entwickelt.110 Bei dem Denken, dessen Leistung und Funktion dort beschrieben wird, handelt es sich nicht um ein Denken in Spezialkontexten wie der Wissenschaft oder um erleuchtungsartige Ausnahmeerfahrungen wie die lebenden Gedanken, sondern zumindest zum Teil auch um das alltägliche Denken gewöhnlicher Menschen. Der größte und in mancher Hinsicht wichtigste Teil dieses Denkens, so die These des Erzählers, dient „der Erhaltung eines beständigen Gemütszustandes“ (MoE 527) und der Er_____________ 109 Aber auch in den veröffentlichten Teilen des Romans finden sich Äußerungen Ulrichs, in denen er die Existenz einer anderen, ‘persönlichen’ Art des Denkens anerkennt; vgl. etwa seine im Gespräch mit Clarisse formulierten Aussagen über das Wesen einer „Idee“ (MoE 354). 110 Zu diesem Kapitel und dem Konzept der „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ vgl. auch: Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 308-314, 323-330.
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zeugung eines Zustands des persönlichen Glücks oder Gleichgewichts (vgl. MoE 523). Das bedeutet zunächst, dass die Menschen unbewusst beträchtliche geistige Anstrengungen unternehmen, um sich über ihre höchst unsichere Stellung im Weltall, „zwischen einem offenen Himmelsabgrund über [dem] Kopf und einem leicht zugedeckten Himmelsabgrund unter den Füßen“, hinwegzutäuschen und „ihre gehobene Gemütsruhe zu bewahren“ (MoE 526f.). Es bedeutet ferner, dass jeder Mensch über „eine Methode“ verfügt, um „die Bilanz seiner Eindrücke zu seinen Gunsten umzudeuten, so daß gewissermaßen das tägliche Existenzminimum an Lust daraus hervorgeht, das in gewöhnlichen Zeiten genügt.“ (MoE 523) Zu den Mitteln, auf die sich diese Methoden der Bilanzfälschung stützen, gehören „Überzeugungen, Vorurteile, Theorien, Hoffnungen, der Glaube an irgendetwas, Gedanken, ja selbst die Gedankenlosigkeit [...], sofern sie nur kraft ihrer selbst von ihrer Richtigkeit durchdrungen ist.“ (MoE 526) Die konkreten Fälle, die dem Erzähler als Exempel für diese allgemeinen Thesen dienen, sind Bonadea und Kakanien. Bonadea bedient sich, um ihren Zustand des Glücks oder Gleichgewichts herzustellen, eines Systems, nämlich des Doppellebens als Ehefrau und Geliebte. Das Familienund Gesellschaftsleben stillt ihren Ehrgeiz und verschafft ihr die „Genugtuung, für eine hochgebildete und distinguierte Dame zu gelten“; ihr zweites Leben als nymphomanische Ehebrecherin rechtfertigt sie vor sich selbst mit der Ausrede, „daß sie das Opfer einer überreizten Konstitution sei, oder auch, daß sie ein Herz habe, welches zu Torheiten verleite, denn Torheiten des Herzens sind ähnlich ehrenvoll wie romantisch-politische Verbrechen“ (MoE 522). Dieses System funktioniert allerdings nicht ganz verlust- und störungsfrei (vgl. MoE 522f.); Kakanien aber verfügt über gar kein System und keine Methode mehr, es hat den Glauben an die Richtigkeit der eigenen Ordnung sowie die „nützliche Einbildung“, eine Aufgabe zu haben, gänzlich verloren (MoE 528). Diese Entwicklung in Kakanien ist dem Erzähler zufolge kein bizarrer Einzelfall, sondern entspricht den allgemeinen Gesetzen, denen die „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ (MoE 522) unterliegen. Von Zeit zu Zeit werden die „Zufriedenheitszustände[ ]“, die durch die „Gleichgewichtsvorkehrungen von Gesellschaft und Gesamtheit“ aufrechterhalten werden, plötzlich durch einen Vorgang beendet, der dem psychopathologischen Phänomen der „Ideenflucht“ ähnelt und eine Revolution mit sich bringt, die schließlich ein neues Gleichgewichtssystem installiert. Die tiefe Ursache solcher Revolutionen „liegt nicht in der angehäuften Unzuträglichkeit, sondern in der Abnützung des Zusammenhalts, der die künstliche Zufriedenheit der Seelen gestützt hat“ (MoE 527). Die Zufriedenheit, die durch Gleichgewichtssysteme von Individuen und Gesellschaften hergestellt wird, ist also ‘künstlicher’ Art und besitzt deshalb nur eine begrenzte
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Haltbarkeit. Jedes „menschliche Credo“ ähnelt einem „Kredit“, der irgendwann aufgebraucht ist; Kakanien war „das erste Land im gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt, dem Gott den Kredit, die Lebenslust, den Glauben an sich selbst und die Fähigkeit aller Kulturstaaten entzog, die nützliche Einbildung zu verbreiten, daß sie eine Aufgabe hätten.“ (MoE 528). Die im Kapitel I.109 skizzierte Theorie der Gleichgewichtssysteme ist verwandt mit der Unterscheidung „Für – In“ beziehungsweise ‘Für und in etwas leben’, die in verschiedenen Kapitelentwürfen aus Musils Nachlass entwickelt wird und dort mit der Charakterisierung des sozialistischen Studenten Schmeißer verbunden ist (vgl. MoE 1454-1462, 1627-1636).111 Eine frühe, in den zwanziger Jahren entstandene Fassung dieser Abschnitte enthält einige Formulierungen, die dann in leicht veränderter Form in das Kapitel I.109 über die „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ eingegangen sind (vgl. MoE 1632 und MoE 526f.). Der Grundgedanke dieser Ausführungen zu ‘Für und In’ lautet, dass die meisten Menschen für ein Ideal leben und dass dieses unaufhörliche Streben nach einem Ideal ihnen Zufriedenheit verschafft, indem es die Welt auf übersichtliche Weise ordnet und dem Leben einen Inhalt und eine Richtung gibt. Ein Leben im Zustand ihres Ideals dagegen erscheint diesen Menschen meist unvorstellbar oder wird von vornherein für unerreichbar erklärt. Zurück zum Kapitel I.109: Wie lassen sich diese Annahmen über die Rolle des Denkens bei der Herstellung eines „seelischen Gleichgewichts“ (MoE 528) mit jenen Musil’schen Konzepten verbinden, die weiter oben betrachtet wurden, also mit seiner Sicht auf das wissenschaftliche Denken sowie das nicht-ratioïde Denken? Für Musils Konzept des nicht-ratioïden Denkens ist, wie oben ausgeführt wurde, die Annahme zentral, dass der Mensch bestimmte Bedürfnisse besitzt, die seinem ‘inneren Leben’ oder seiner ‘Seele’ entstammen. Diese Bedürfnisse können nicht durch wissenschaftliche, sondern nur durch nicht-ratioïde Gedanken befriedigt werden; die Dignität der nicht-ratioïden Gedanken beruht für Musil wesentlich darauf, dass sie auf diese im emphatischen Sinne ‘menschlichen’, inneren, seelischen Bedürfnisse antworten können. Man kann das Streben nach einem Zustand des Glücks oder des Gleichgewichts, der im Kapitel I.109 als „das automatische innerste Ziel der Person“ bezeichnet wird (MoE 523), als eine Ausprägung dieser seelischen Bedürfnisse ansehen. Doch während Musil in seinen Essays diese Bedürfnisse als legitim und wichtig darstellt, lässt das Kapitel I.109 sie in einem fragwürdigen Licht erscheinen, indem es darauf hinweist, dass sie – wenn auch nur für eine _____________ 111 Vgl. dazu vor allem: Marina Foschi, Für oder in etwas leben? In: Musil-Forum 10 (1984), S. 226-232; vgl. ferner: Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 286-290; Maier, Sinn und Gefühl, S. 208-210.
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gewisse Zeit – auf künstliche, betrügerische oder illusionäre Weise befriedigt werden können und offenbar in den meisten Fällen auch tatsächlich so befriedigt werden. Die Frage, wie sich diese unterschiedlichen Einschätzungen der seelischen Bedürfnisse erklären lassen, soll hier noch zurückgestellt werden; zunächst verdienen die Ausdrücke der Bilanzfälschung, der Verblendung und der künstlichen Zufriedenheit, die das Kapitel I.109 durchziehen, nähere Betrachtung. Inwiefern beruhen die Gleichgewichtssysteme der Menschen und Gesellschaften auf Fälschung und Verblendung? Offensichtlich ist dies, wann immer die Gleichgewichtsvorkehrungen ein Leugnen oder Verfälschen von Tatsachen implizieren. Wenn Bonadea sich einredet, dass sie „ein Herz habe, welches zu Torheiten verleite“ (MoE 522), so kann man das als eine verzerrende Beschreibung der Tatsache ansehen, dass sie durch sexuelle Wünsche zu ihren Affären getrieben wird. Die Ausführungen des Erzählers über persönliche und gesellschaftliche Gleichgewichtssysteme deuten an, dass solche Verfälschungen und Beschönigungen einen typischen Bestandteil dieser Gleichgewichtsvorkehrungen bilden. Andererseits können solche geradewegs verfälschenden Selbst- und Weltbilder auch nicht das ganze Wesen und die Funktionsweise dieser Systeme erschöpfen; das zeigt sich etwa in der Bemerkung, dass diese Systeme auch auf „Hoffnungen“ oder dem „Glaube[n] an irgendetwas“ (MoE 526) beruhen können. Hoffnungen oder ein Glaube an etwas haben nicht den Anspruch, die Realität abzubilden, können also auch nicht der Realitätsverfälschung überführt werden. Sie sind allerdings auch nicht beweisbar und begründbar und können insofern mit einem Kredit verglichen werden, „für den es keine Rechenschaft und keine Deckung gibt“ (MoE 528); aber angesichts des Nachdrucks, mit dem Musil in seinen Essays die Legitimität und Eigenständigkeit des Gebiets des NichtBeweisbaren, des Glaubens, Meinens und Ahnens verteidigt,112 erscheint es kaum wahrscheinlich, dass die Erörterungen über die Systeme des Gleichgewichts alle Arten von Hoffnung, Glauben und nicht begründbaren Überzeugungen als solche verurteilen wollen. Entweder, so wäre zu folgern, lässt Musil im Kapitel I.109 seinen Erzähler als advocatus diaboli eine Argumentation durchspielen, die er eigentlich ablehnt, oder aber die Mängel der hier inkriminierten Hoffnungen, Überzeugungen und Glaubensbekenntnisse sind von besonderer Art und lassen sich nicht darauf reduzieren, dass es sich eben nur um Hoffnungen und Glauben handelt. Zu ähnlichen Fragen und Überlegungen kann die Rede von einer „künstliche[n] Zufriedenheit der Seelen“ (MoE 527) veranlassen. Worin besteht _____________ 112 In dem Essay „Literat und Literatur“ charakterisiert Musil den „Geist der Literatur“, dem das nicht-ratioïde Gegenstandsgebiet zugeordnet sei, als den „Geist des Meinens, Glaubens, Ahnens, Fühlens“ (Musil, Literat und Literatur, in: GW 8, S. 1214).
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das ‘Künstliche’ dieser Zufriedenheit, sofern damit nicht nur gemeint ist, dass die Zufriedenheit durch Lügen und Fälschungen bewirkt wird? Dieser Ausdruck setzt die Existenz einer natürlichen, echten Zufriedenheit als Maßstab und Kontrast voraus und weckt so die Frage, was eine solche echte Zufriedenheit konstituiert. Die plausibelste Antwort ist, dass die Ausdrücke des Künstlichen, des Betrugs und der Fälschung ihren Sinn letztlich aus dem Bezug zu einem Konzept gewinnen, das im Kapitel I.109 selbst nicht ausdrücklich genannt wird, dem Konzept des anderen Zustands. Die Erfahrung des anderen Zustands oder des Zustands der Liebe verkörpert für Musil ein echtes, natürliches Glück und Gleichgewicht und bildet den impliziten Maßstab (und das geheime, meist unbewusste Vorbild) aller anderen, künstlichen, provisorischen und surrogathaften Glücks- und Gleichgewichtszustände. Diese Deutung kann sich auch auf die oben erwähnte Nähe der Vorstellung von Gleichgewichtssystemen zur Unterscheidung zwischen ‘Für und in etwas leben’ stützen, denn der Begriff des ‘In’ wurde von Musil in späteren Fassungen mit dem des anderen Zustands verknüpft.113 Die Konzepte des anderen Zustands und des Normalzustands aber bilden den Hintergrund nicht nur der im Kapitel I.109 skizzierten Theorie der Glücks- und Gleichgewichtssysteme, sondern auch der Konzeptionen des wissenschaftlichen und des lebenden Denkens. Daher soll im Folgenden die Unterscheidung zwischen Normalzustand und anderem Zustand, die im Zentrum von Musils Anthropologie steht, ausführlicher untersucht werden.114
_____________ 113 Vgl. Foschi, Für oder in etwas leben, S. 229f. 114 Fred Lönker hat in einer einleuchtenden Interpretation der Moosbrugger-Figur die These vertreten, dass an dieser Figur „die anthropologische Bedeutung von Sinnerleben und Sinnstiftung“ und zugleich die Fragilität der menschlichen Sinnentwürfe demonstriert werden solle (vgl. Lönker, Der Fall Moosbrugger, S. 284, 290, 292, 302; Zitat S. 284). Die Auffassung, dass zu Musils Anthropologie die Annahme eines Sinnbedürfnisses gehöre, könnte sich auch auf das Romankapitel über „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ (I.109) stützen und steht im Einklang mit der im Folgenden vorgeschlagenen Rekonstruktion von Musils anthropologischen Grundannahmen. Allerdings scheint mir für Musils Position die zusätzliche Annahme wesentlich zu sein, dass nicht alle Gleichgewichte auf dieselbe Weise künstlich und nicht alle Sinnentwürfe gleichermaßen fragil sind, sondern dass es mit dem anderen Zustand einen Zustand des Menschen gibt, der ein ‘echtes’, gültiges Erlebnis von Sinn, Glück oder Bedeutung gewährt, während alle anderen Sinnentwürfe und Gleichgewichtssysteme den Status von Surrogaten haben.
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1.5. Die anthropologischen Grundlagen von Musils Konzeption des Denkens In den Untersuchungen dieses Kapitels hat sich an mehreren Stellen angedeutet, dass Musils Konzeption des Denkens mit allgemeineren Annahmen über die Natur des Menschen verknüpft ist; ein solcher Zusammenhang wird sowohl durch die Ausführungen über die Beziehung zwischen dem wissenschaftlichen Denken und einem „Element des Urbösen“ (MoE 303) nahe gelegt als auch durch die Annahme von seelischen Grundbedürfnissen, die nicht durch wissenschaftliche, sondern nur durch ‘lebende’ Gedanken befriedigt werden können. Auch die Erörterungen über ‘Systeme des Glücks und Gleichgewichts’ im Kapitel I.109 implizieren bestimmte Auffassungen von Grundmerkmalen der menschlichen Natur. Ausdrücklich hat Musil diese anthropologischen Annahmen in jenen Essay- und Romanpassagen formuliert, die um die menschlichen Grundanlagen von ‘Gewalt und Liebe’ oder um den Gegensatz zwischen ‘Normalzustand und anderem Zustand’ kreisen. 1.5.1. Gewalt und Liebe, Normalzustand und anderer Zustand Die menschlichen Grundanlagen von „Gewalt und Liebe“ werden von Ulrich in der Reflexion über die beiden „Bäume“ seines Lebens beschrieben (vgl. MoE 591-594); er bezeichnet damit zunächst zwei „Bahnen“ seiner individuellen Lebensgeschichte, die er dann als Ausprägungen zweier menschlicher „Grundverhaltensweisen“ oder „Grundsphären der Menschlichkeit“ (MoE 593, 594) auffasst.115 Unter „Gewalt“ versteht Ulrich seine „Neigung zum Bösen und Harten“, die sich in allen Formen „ungläubigen, sachlichen und wachen Verhaltens“ manifestiert hat (MoE 591); dazu gehört aber auch sein „Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber“, der sich unter anderem „als Ablehnung bestehender oder als wechselndes Streben nach neuer Ordnung, als logisches, als moralisches oder sogar bloß als das Verlangen nach athletischer Vorbereitung des Körpers dargestellt“ hat (MoE 592). Der Seite der „Liebe“ dagegen ordnet Ulrich eine „[u]rsprüngliche Erinnerung an ein kindhaftes Verhältnis zur Welt, an Vertrauen und Hingabe“ zu, ferner die „Geschichte mit der Frau Major“ sowie schließlich seine „unwillkürliche[ ] _____________ 115 Vgl. zu dieser Reflexion Ulrichs in Kapitel I.116 und zu der dort entwickelten Unterscheidung von „Gewalt“ und „Liebe“: Döring, Ästhetische Erfahrung, S. 213f.; Erhard von Büren, Zur Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils. Zürich, Freiburg i. Br. 1970, S. 99-102; Jörg Kühne, Das Gleichnis. Studien zur inneren Form von Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Tübingen 1968, S. 36-61.
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Überzeugung von der bloß vorläufigen Nützlichkeit der tätigen und rührigen Hälfte [scil. seines Wesens; O.K.] [...], den sie wie ein Schatten auf diese warf“ (MoE 592). Er zählt zu den Manifestationen der „Liebe“-Seite also sowohl ein ekstatisches Erlebnis – seine ‘Fernliebe’ zur Frau Major, die ihn „ins Herz der Welt geraten“ (MoE 125) ließ – als auch die Erinnerung an solch ein Verhältnis zur Welt sowie schließlich die nur negativ definierte, „unwillkürliche[ ] Überzeugung“, dass die im Zeichen der „Gewalt“ stehende Tätigkeit etwas Defizitäres sei, etwas bloß Vorläufiges und Vorbereitendes, aber nicht das Eigentliche; er nimmt also offenbar an, dass diese Überzeugung von der nur relativen und vorläufigen Wichtigkeit seiner ‘gewalttätigen’ Aktivitäten darauf beruht, dass er das von ihnen bestimmte Leben unbewusst an dem ekstatischen, vertrauens- und hingabevollen Verhältnis zur Welt misst, von dem er zumindest Ahnungen und undeutliche Erinnerungen besitzt, und dabei dieses „Gewalt“Leben als defizitär, als weniger wichtig, gültig oder befriedigend empfindet. Ulrichs Begriffspaar von „Gewalt“ und „Liebe“ ist nicht gleichbedeutend, aber eng verwandt mit dem Gegensatz zwischen Normalzustand und anderem Zustand, den Musil in seinen Essays – vor allem in „Ansätze zu neuer Ästhetik“ (1925)116 – entwirft; in dem Essayfragment „Der deutsche Mensch als Symptom“ (1923), wo er diese Opposition erstmals skizziert, charakterisiert er die zwei gegensätzlichen Zustände oder „Grundhaltungen“ auch mit den Begriffen von „Gewalt“ (hier allerdings noch weitgehend wörtlich verstanden) und „Liebe“117. Der Komplex aus Neigungen, Bestrebungen und Verhaltensweisen, den Ulrich als den ‘Baum der Gewalt’ bezeichnet, entspricht weitgehend demjenigen, was Musil in „Ansätze zu neuer Ästhetik“ als den „Normalzustand unserer Beziehungen zu Welt, Menschen und eigenem Ich“ charakterisiert; dieser Normalzustand ist geprägt durch mehr oder weniger abgemilderte Ausprägungen derjenigen Eigenschaften, mit deren Hilfe der Mensch sich im Daseinskampf behauptet und zum „Herren [der] Erde“ gemacht hat: das ist ganz allgemein die „Schärfe unsres Geistes“, verbunden mit „Aktivität, Tapferkeit, List, Falschheit, Ruhelosigkeit, Böses, Jägerhaftigkeit, Kriegslust und dergleichen“.118 In dieser Charakterisierung des Normalzustandes oder der „Normalhaltung“ lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, von denen Musil an verschiedenen Stellen mal den einen, mal den anderen stärker hervorhebt: Einerseits ist die Haltung des Normalzustandes diejenige, die _____________ 116 Vgl. Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, vor allem S. 1143-1147. 117 Vgl. ders., Der deutsche Mensch als Symptom. In: GW 8, S. 1353-1400, vor allem S. 13881400; zu „Gewalt“ vgl. S. 1388, 1391, zu „Liebe“ vgl. S. 1399, der Ausdruck „Grundhaltungen“ auf S. 1400. 118 Ders., Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1143.
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zur „Bewältigung der Welt“, zur Behauptung im Daseinskampf erfordert wird beziehungsweise die der „Notdurft des Lebens“ (MoE 593) entspringt; das bedeutet, dass sie wesentlich durch ein Streben nach Selbsterhaltung bestimmt ist. Andererseits ist sie gekennzeichnet durch das eben zitierte Ensemble von Eigenschaften, deren gemeinsamen Nenner Musil und Ulrich meist mit den Ausdrücken ‘Gewalt’ oder ‘das Böse’ bezeichnen, also durch Aggressivität, Tatkraft, Unternehmungsdrang, Tapferkeit. Diese Eigenschaften werden von Musil offenbar nicht als bloßes Derivat des Selbsterhaltungsstrebens aufgefasst, sondern als eine ursprüngliche Anlage der menschlichen Natur, die sich freilich im Daseinskampf als besonders nützlich erwiesen hat; diese Annahme lässt es dann plausibel erscheinen, dass sich diese ‘bösen’, aggressiven Eigenschaften vom Selbsterhaltungsstreben und von egoistischen Antrieben lösen können und im Streben nach anderen Zielen eingesetzt werden können – wie es in der Wissenschaft tatsächlich geschieht und auch für Ulrichs im Zeichen der „Gewalt“ stehende Lebensabschnitte charakteristisch ist. Die Haltung des Normalzustandes kann bei Musil also mal ein eher pragmatisches, utilitaristisches, auf Daseinsbewältigung abgestelltes Gepräge besitzen, mal ein eher aggressives und tatkräftiges, dessen ‘böse’ Züge auf ambivalente Weise mit Tugenden wie Mut oder Tapferkeit verbunden sind. Doch ob der Normalzustand nun primär durch das Streben nach Selbsterhaltung oder durch aggressive und ‘böse’ Tendenzen gekennzeichnet ist, in jedem Fall ist er nach Musil mit einer Orientierung an Tatsachen verbunden, einer Haltung der Objektivität, die sich nur auf das Greif- und Messbare verlässt.119 Diese Charakterisierungen des Normalzustandes stehen aber auf den ersten Blick im Widerspruch zu den Beschreibungen des alltäglichen Lebens, die im Romankapitel über die „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ von Musils Erzähler und in den nachgelassenen Romanabschnitten über den Gegensatz zwischen ‘Für und in etwas leben’ vom Erzähler und von Ulrich formuliert werden: Diesen Ausführungen zufolge ist der gewöhnliche Zustand des Menschen durch ein Bedürfnis nach Sinn, nach Glück oder Zufriedenheit oder nach einem Gleichgewicht geprägt. Dieses Bedürfnis kann sich als ein Gefühl des Mangels bemerkbar machen, wird aber bei den meisten Menschen auf mehr oder minder stabile Weise befriedigt, indem sie sich bestimmte Ideale, Überzeugungen, Ideologien, Selbst- und Weltbilder zu Eigen machen.120 Diese Glücks- und Gleichgewichtssysteme beruhen großenteils _____________ 119 Vgl. Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1387-1389, 1391f. 120 Vgl. vor allem das oben analysierte Kapitel über „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ (I.109). Vgl. ferner die Ausführungen des Erzählers über das Phänomen der „Seele“; der Ausdruck ‘Seele’ ist dem Erzähler zufolge vor allem als Chiffre für ein Gefühl des Mangels
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auf einem systematischen Umdeuten und Verfälschen der Wirklichkeit oder zumindest auf einer Ergänzung des Tatsachenwissens durch Glauben oder Hoffnungen. Der einen Charakterisierung zufolge ist das normale, alltägliche Weltverhältnis des Menschen also durch ein Streben nach nüchterner, sachlicher Wirklichkeitserfassung gekennzeichnet, der anderen zufolge durch die Tendenz zur systematischen, das seelische Gleichgewicht erhaltenden ‘Bilanzfälschung’. Dieser Widerspruch zwischen den verschiedenen Charakterisierungen des Normalzustandes ist aber nur ein scheinbarer, denn wie zu zeigen sein wird, betrachtet Musil das Bedürfnis nach Glück oder Gleichgewicht und die aus diesem Bedürfnis resultierenden Verhaltensweisen nicht als genuine Merkmale des Normalzustandes selbst, sondern als ‘Spuren’, die der andere Zustand im Normalzustand zurückgelassen hat. Über den „anderen Zustand“ sagt Musil in „Ansätze zu neuer Ästhetik“ zunächst, er sei in der Geschichte unter anderem als der „Zustand der Liebe“ bezeichnet worden, als Zustand „der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des Schauens, der Annäherung an Gott“; diese vielfältigen Namen verweisen jeweils auf verschiedene „Seiten eines Grunderlebnisses, das in Religion, Mystik und Ethik aller historischen Völker ebenso übereinstimmend wiederkehrt, wie es merkwürdig entwicklungslos geblieben ist.“121 Konstitutiv für den anderen Zustand ist erstens die Art und Weise, wie der Mensch in diesem Zustand sein Verhältnis zur Welt, zu den anderen Menschen und Dingen, erlebt; diese Erlebnisqualitäten werden von Musil in dem Essay als „eine außerbegriffliche Korrespondenz des Menschen mit der Welt und abnormale Mitbewegung“ und als „ein geheimnisvoll schwellendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen Menschen“ beschrieben.122 Zweitens ist für den anderen Zustand die Nähe zu Religion, Mystik und Ethik kennzeichnend. Aber worin besteht genau diese Affinität? Auf die Mystik bezogen, erscheint die Aussage ohne weiteres nachvollziehbar: Musil nimmt offenbar an, dass es ein in der Natur des Menschen verankertes ‘Grunderlebnis’ gebe, das den Mystikern verschiedener Epochen und Kulturen vermutlich in besonders intensiver Weise zuteil wurde und das sie mit je spezifischen Lehren verknüpft haben. Die Verbindung des anderen Zustands zur Religion mag sich für Musil dann aufgrund der zusätzlichen Annahme ergeben, dass Ausprägungen eines solchen ‘mystischen’ Einheitserlebnisses einen ursprünglichen Bestandteil aller religiösen Traditionen bilden; Musil wäre damit einem Verständnis von Religion ver_____________ zu verstehen, als Name für ein „Loch“ (MoE 185), das mit „den verschiedensten Arten von Ersätzen und je nach Temperament“ (MoE 184) gefüllt wird. 121 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1144. 122 Ebd., S. 1141, 1144.
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pflichtet gewesen, dem zufolge deren Kern und Ursprung nicht in besonderen Doktrinen, sondern in bestimmten Erlebnissen besteht.123 Weniger klar ist auf den ersten Blick, wie die von Musil behauptete Nähe des anderen Zustands zur Ethik aufzufassen ist; gerade sie war für ihn aber offenkundig von großer Bedeutung: In seinem Tagebuch hat er den anderen Zustand als den „Grundzustand der Ethik“124 bezeichnet, und Ulrichs und Agathes Gespräche über diesen Zustand kreisen großenteils um seine Bedeutung für Fragen der Moral (vgl. MoE 748f., 753-755, 761-770, 1024-1029). Mit der Bemerkung, der andere Zustand sei der „Grundzustand der Ethik“, dürfte Musil zunächst und vor allem gemeint haben, dass der Mensch in diesem Zustand nur gut oder ethisch wertvoll handeln und fühlen könne, gewissermaßen nur aus Güte und Liebe bestehe. In diese Richtung weist schon die Rede vom „Zustand der Liebe“ und „Güte“125, und Agathe sagt einmal ausdrücklich, man könne in diesem Zustand „nichts Niedriges tun“ und sich „nicht niedrig verhalten“; Ulrich stimmt zu (MoE 763).126 Diese Deutung kann sich außerdem auf die Tatsache stützen, dass Musil sich zustimmend über den Ansatz der Ethik Max Schelers geäußert hat.127 Schelers Ethik aber war eine ‘materiale _____________ 123 Damit stand Musil einer Tendenz nahe, die laut einer 1915 erschienenen Studie von Konstantin Oesterreich die jüngste Entwicklung sowohl der Religionswissenschaft als auch der allgemein vorherrschenden Einstellung zur Religion kennzeichnete: Man habe gelernt, „die Religionen von innen zu sehen“, und sei zu der Überzeugung gelangt, dass nicht die „religiösen Glaubensätze [...] die Hauptsache und das Ganze der Religiosität“ seien, sondern dass erst das „seelische Leben, mit denen dieser Glaube sich in seinen Bekennern erfüllt“, ihre Religiosität ausmache (vgl. Konstantin Oesterreich, Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem. Berlin 1915, S. 8 [kursivierte Teile im Original gesperrt]; vgl. auch ebd., S. 7). – Vgl. zu Musils Verständnis von Mystik und Religiosität auch den folgenden Aufsatz, dem ich mich in den wesentlichen Punkten anschließe: Barbara Hyams, Was ist ‘säkularisierte Mystik’ bei Musil? In: Uwe Baur / Elisabeth Castex (Hg.), Robert Musil. Untersuchungen. Königstein/Ts. 1980, S. 85-98, vor allem S. 95f. 124 Musil, Tagebücher, S. 660 [Heft 25: 1921-1923?]. 125 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1144. 126 Ulrich widerspricht erst, als Agathe darüber hinaus die Ansicht vertritt, dass ein Mensch in diesem Zustand nicht nur nichts Niedriges tun könne, sondern auch „alles gut [mache]“, so dass ihm nichts Böses oder Niedriges begegnen oder zugefügt werden könne (vgl. MoE 763f., Zitat MoE 763). 127 Vgl. Musil, Tagebücher, S. 918f. [Heft 33: 1937–etwa Ende 1941]. – Zu den Affinitäten zwischen Musil und Scheler vgl.: Kevin Mulligan, Geist (and Gemüt) vs Life – Max Scheler and Robert Musil. http://www.unige.ch/lettres/philo/enseignants/km/doc/MusilCalacaterra.pdf (letzter Zugriff: 27.11.2008). Laut Mulligan gehört zu den Gemeinsamkeiten zwischen Scheler und Musil ihre geteilte Überzeugung, „that values are more fundamental than norms or rules“ (vgl. ebd., S. 2). Häufiger als Musils Verhältnis zu Schelers Ethik ist seine Auseinandersetzung mit dessen Konzeption von Liebe, Sympathie und Einsfühlung untersucht worden; vgl. hierzu: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 150-156; Gerd Müller, Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen ‘Die Verwirrungen des Zöglings Törless’ und ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Uppsala 1971, S. 204-208.
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Wertethik’,128 und eine ihrer Grundannahmen lautete, dass unter den psychischen Akten die Liebe „der ursprünglichste Träger [...] des ‘Guten’“129 sei. Von zentraler Bedeutung ist nun der Umstand, dass Normalzustand und anderer Zustand, wie Musil sie entwirft, zwar einen radikalen Gegensatz bilden, aber im realen Leben nicht durch eine Kluft getrennt sind und diskontinuierlich nebeneinander stehen; nach Musil hat vielmehr der andere Zustand „seine Spuren in unzähligen Einzelheiten unseres gewöhnlichen Lebens hinterlassen“ und bildet „das Mark unsrer Moral und Idealität“.130 Was ist mit diesen „Spuren“ gemeint? Um diese Frage zu beantworten, könnte man zunächst auf Ulrichs Ausführungen über die zwei Bäume des Lebens und insbesondere über den Baum der Liebe zurückgreifen: Die „Geschichte mit der Frau Major“, die er als den „einzigen Versuch zu voller Ausbildung“ seiner „Liebe“-Seite betrachtet, ist offenkundig ein Beispiel für dieses Grunderlebnis des anderen Zustands. Aber wie oben gesehen, rechnet Ulrich zu den Manifestationen der „Liebe“-Seite seines Wesens nicht nur das ekstatische Erlebnis der Geschichte mit der Frau Major selbst, sondern auch seine „[u]rsprüngliche Erinnerung an ein kindhaftes Verhältnis zur Welt“ sowie seine unwillkürliche Überzeugung von der nur vorläufigen Wichtigkeit seiner leidenschaftlichen, ‘gewalttätigen’ Aktivitäten. Diese Erinnerungen, Ahnungen und unwillkürlichen Überzeugungen, die mit dem mehr oder weniger starken und ausdrücklichen Wunsch nach einer Rückkehr zu jenem anderen „Verhältnis zur Welt“ verbunden zu sein scheinen, dürften für Musil zu den ‘Spuren’ des anderen Zustands gehören. Außerdem zählte er zu diesen Spuren, wie aus einem Notizbucheintrag hervorgeht, auch die „Abformen“ des anderen Zustands: Zur Grundhaltung: Es handelt sich nicht darum, den andern Zust. zum Träger des Gesellschaftslebens zu machen. Er ist viel zu flüchtig. Ich selbst kann mich heute kaum genau seiner erinnern. Aber er läßt Spuren in allen Ideologien, in der Liebe zur Kunst usw. u. in diesen Abformen, das Bewußtsein von ihm zu wecken, das gilt es, denn darin beruht das Leben dieser Erscheinungen, die im Erstarren begriffen sind.131
„Ideologien“ und die „Liebe zur Kunst“ als „Abformen“ des anderen Zustands dürften mit den anderen „Spuren“ dieses Zustands, den zuvor _____________ 128 Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. 4., durchgesehene Auflage. Bern 1954. – Vgl. zu Schelers Ethik und seiner Werttheorie: Wolfhart Henckmann, Max Scheler. München 1998, S. 100-137. 129 Vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie. Der ‘Phänomenologie der Sympathiegefühle’ 2. vermehrte und durchgesehene Auflage. Bonn 1923, S. 188. 130 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1144. 131 Ders., Tagebücher, S. 660 [Heft 25: 1921–1923?].
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erwähnten Erinnerungen und unwillkürlichen Überzeugungen, dadurch verbunden sein, dass der Mensch ihnen höchste Wichtigkeit zuschreibt und von ihnen einen (minderwertigen) Ersatz für jene Geborgenheit empfängt, die jenes andere, ‘kindhafte’ Verhältnis zur Welt kennzeichnet. Eben diese Funktionen erfüllen auch die „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ (MoE 522), die der Erzähler im Kapitel I.109 erörtert, und daher erscheint es plausibel, auch sie als „Abformen“ des anderen Zustands zu begreifen. Die oben zitierte Bemerkung aus Musils Notizbuch ist noch in anderer Hinsicht sehr aufschlussreich. Sie zeigt vor allem eins: Auch wenn aufgrund der Flüchtigkeit des anderen Zustands feststeht, dass er nicht „zum Träger des Gesellschaftslebens“ gemacht werden kann, ist es in Musils Augen dennoch wichtig, dass die Menschen von der Existenz und dem Wesen dieses Zustands wissen. Das Bewusstsein von diesem Zustand nämlich ist die Voraussetzung dafür, dass seine „Abformen“ von „Leben“ erfüllt bleiben und nicht dem „Erstarren“ anheim fallen. Dieser Gedanke enthält die Prämisse, dass die „Abformen“ des anderen Zustands nicht qua Abformen alle gleichermaßen minderwertig oder wertlos sind; sie können mit Leben erfüllt oder erstarrt sein und besitzen je nach ihrem Grad an Leben einen unterschiedlichen Wert. Einen verwandten Gedanken hat Musil in einem „Exposé“ für den zweiten Band von Der Mann ohne Eigenschaften formuliert: Die allgemeineren Untersuchungen des I Bdes gestatten mir, mich hier mehr auf die moralische Frage zu sammeln oder, nach einem alten Wort, auf die Frage des rechten Lebens. Ich suche zu zeigen, was ich ‘das Loch in der europäischen Moral’ nenne (wie beim Billard, wo der Ball früher oder später in einem solchen Loch stecken bleibt), weil es das rechte Handeln hindert: es ist, kurz gesagt, die falsche Behandlung, die das mystische Erlebnis erfahren hat. [MoE 1845]
Auch hier gibt es kein Indiz dafür, dass Musil sich der Hoffnung hingäbe, man könnte das mystische Erlebnis zum Dauerzustand strecken; aber dieses Erlebnis ist für ihn gleichwohl wichtig, weil die „falsche Behandlung“, die es erfahren habe, die Menschen daran hindere, auf die ‘rechte’, ethisch wertvolle Weise zu handeln und zu leben. Seine Hoffnung scheint zu sein, dass die Kritik an dieser falschen Behandlung und die Bewusstmachung des wahren Charakters des mystischen Erlebnisses auch ein ethisch wertvolleres Handeln ermöglichen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen erklärt sich auch, weshalb die „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ von Musils Erzähler im Roman so ironisch kommentiert und kritisch bewertet werden, während Musil in seinen Essays die Bedürfnisse des ‘inneren Lebens’, auf deren Befriedigung auch die Gleichgewichtssysteme ausgerichtet zu sein scheinen, als legitim und wichtig darstellt: Das Problematische an den im Kapi-
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tel I.109 beschriebenen Glücks- und Gleichgewichtssystemen ist, dass ihre Anhänger kein Bewusstsein mehr von jenem ‘Grunderlebnis’ besitzen, dessen Stelle ihre Systeme in gewissem Sinne einnehmen sollen; sie sind sich somit auch nicht über das Wesen der Bedürfnisse im Klaren, die ihre Ideologien oder Glaubenssysteme befriedigen sollen.132 Wie sich Musil zufolge das Bewusstsein und das fehlende Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen dem anderen Zustand und seinen Abformen konkret äußern können, dürfte sich am besten an den Figuren seines Romans studieren lassen: Nicht nur Ulrich und Agathe, sondern auch Arnheim, Diotima und andere Figuren haben in ihrem Leben irgendwann euphorische Einheitserlebnisse kennen gelernt, aber sie sind auf unterschiedliche Weisen mit diesen Erlebnissen umgegangen;133 vor allem bei Arnheim drängt sich der Gedanke auf, dass er als Erwachsener das schwärmerische „Ur- und Weltliebeserlebnis“ (MoE 387) seiner Jugend in eine fragwürdige Ideologie der ‘Seele’ und der Verbindung von Geist und Geschäft eingeordnet hat und dass er sich über den wahren Charakter _____________
132 Sabine A. Döring hat sowohl die ethische Bedeutung des anderen Zustands als auch das Verhältnis zwischen Normalzustand und anderem Zustand etwas anders interpretiert, als es hier vorgeschlagen wurde. Nach ihr war Musil der Ansicht, dass die dem anderen Zustand „entsprechende Sichtweise des Lebens und der Welt [...] die höchste und beste dem Menschen mögliche oder kurz die rechte Sichtweise sei und daß somit jede in diesem Zustand entworfene Lebensmöglichkeit eine Möglichkeit des rechten Lebens und jede in diesem Zustand gewonnene Erkenntnis eine ethische Erkenntnis“ sei (Döring, Ästhetische Erfahrung, S. 214). Aber sobald der Mensch in den Normalzustand zurückkehre und nach der im anderen Zustand gewonnenen Idee zu leben versuche, verliere die Idee ihren eigentlichen Gehalt und verwandle sich in eine feste Formel, „die es ihrerseits wieder zu sprengen gilt und die mithin zur Zielscheibe neuer Ideen wird“ (ebd., S. 243). Döring folgt hier teilweise der Interpretation von: Claus Erhart, Der ästhetische Mensch bei Robert Musil. Vom Ästhetizismus zur schöpferischen Moral. Innsbruck 1991, vor allem S. 111-113. – Mir scheint es nicht offensichtlich zu sein, dass Musil die ethische Bedeutung des anderen Zustands vor allem an den in diesem Zustand gewonnenen Ideen festgemacht habe. Die oben angeführten Musil-Zitate weisen jedenfalls darauf hin, dass die im Normalzustand enthaltenen Abformen oder Spuren des anderen Zustands nicht zwangsläufig zu Formeln degenerieren und ihren Wert verlieren müssen, sondern richtig oder falsch behandelt werden und dementsprechend lebendig bleiben oder erstarren können. 133 Vgl. hierzu die treffenden Bemerkungen Willemsens: „Die meisten der tragenden Figuren im ‘Mann ohne Eigenschaften’ erfahren Durchbrüche von Einheitsideen, die nach ihrer Erlebnisstruktur vormoralisch, prinzipiell gleichförmig und erst darin abweichend klassifizierbar sind, daß sie individuell verschieden verarbeitet und systematisiert werden. Nicht die Erlebnisse selbst differieren wesentlich zwischen Arnheim und Hans Sepp, sondern das auf sie antwortende System sowie der Grad der Autonomie, welche die unmittelbare Erfahrung unter dessen Zugriff im Bewußtsein bewahrt.“ (Roger Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils. München 1984, S. 270) Lediglich die Bezeichnung der Erlebnisse des anderen Zustands als ‘vormoralisch’ oder „amoralisch[ ]“ (ebd.) erscheint mir problematisch oder zumindest nur unter Zugrundelegung eines bestimmten Moralverständnisses plausibel; es gilt aber zu berücksichtigen, dass Musil den anderen Zustand auch als „Grundzustand der Ethik“ betrachtet.
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dieser Ideologie und ihrer Beziehung zu seinen ursprünglichen Erlebnissen täuscht. Nachdem die Bedeutung der Musil’schen Konzepte von Gewalt und Liebe, Normalzustand und anderem Zustand in ihren Grundzügen rekonstruiert worden ist, gilt es nun noch näher zu untersuchen, welcher Art diese Konzepte sind, welchen psychologischen oder sonstigen Termini sie nahe stehen und welche Funktionen und Implikationen sie besitzen. Es ist bekannt, dass Musil auf vielfältige Quellen zurückgegriffen hat, um Belege für die Existenz des anderen Zustands zu finden, seine Merkmale zu beschreiben und ihn in umfassendere psychologische und entwicklungsgeschichtliche Theorien einzuordnen; neben Werken der Mystik gehörten dazu etwa Lucien Lévy-Bruhls Studien über die ‘mentalité primitive’ sowie Arbeiten aus der Psychopathologie.134 Seine Konzepte des anderen Zustands und des Normalzustands sowie der Grundhaltungen von Gewalt und Liebe weisen denn auch Affinitäten zu verschiedenen wissenschaftlichen Begriffen und Kategorien auf, können aber nicht mit ihnen identifiziert werden, sondern sind Begriffsbildungen eigener Art. Vier Merkmale dieser Konzepte seien hervorgehoben: (1) Die Zentralbegriffe von Musils Anthropologie bezeichnen Grundhaltungen, Grundverhaltensweisen, Grundbedürfnisse und Grundantriebe, die sich auf vielfältige Weisen, in ganz unterschiedlichen Handlungen, Verhaltensweisen und Erlebnissen manifestieren können. Diese Konzepte ermöglichen also eine bestimmte Art von Erklärungen oder Deutungen; sie erlauben es, eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen und Erlebnisse als variable und vermittelte Manifestationen weniger menschlicher Grundhaltungen zu interpretieren oder zu erklären. (2) Diese von Musil angenommenen Konstanten der menschlichen Natur bestehen nicht in einzelnen Fähigkeiten, Bedürfnissen oder Trieben, sondern in Zuständen oder Haltungen, die durch eine Verbindung von spezifischen Erlebnisqualitäten mit bestimmten Verhaltensweisen, Arten der Weltwahrnehmung, Bedürfnissen oder Antrieben definiert sind, also einen ausgesprochen komplexen und gewissermaßen holistischen Charakter haben. In dieser Hinsicht weisen Musils anthropologische Konzepte eine gewisse Ähnlichkeit mit den zentralen Kategorien von Ernst _____________ 134 Vgl.: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 95-171, 220-252 (Anm.). Für Musils Bezugnahme auf Lévy-Bruhl vgl.: Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1141. Zu Musils Rezeption von Lévy-Bruhl vgl.: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 106111; Ritchie Robertson, Musil and the ‘primitive mentality’. In: Hannah Hickman (Hg.), Robert Musil and the literary landscape of his time. Department of Modern Languages, University of Salford 1991, S. 13-33. – Zu Musils Mystik-Rezeption vgl.: Jochen Schmidt, Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Tübingen 1975; Dietmar Goltschnigg, Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers ‘Ekstatische Konfessionen’ im ‘Mann ohne Eigenschaften’. Heidelberg 1974.
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Kretschmers Temperamententheorie und Konstitutionstypologie auf, die bei ihm bekanntlich auf großes Interesse stieß.135 Auch Kretschmers Kategorien der Konstitution und des Temperaments sind ganzheitliche oder holistische Größen, die jeweils eine Gesamtheit von psychischen und körperlichen Anlagen eines Individuums erfassen sollen.136 Unter ‘Temperament’ etwa versteht Kretschmer die „für eine ganze Individualität generell charakteristische Gesamthaltung der Affektivität“137; diese umfasse Merkmale der Stimmungslagen, der sinnlichen Auffassung, intellektuellen Leistungen und der Antriebe oder triebhaften Tendenzen.138 (3) Die zwei von Musil angenommenen Grundhaltungen sind nicht nur durch Verhaltens- und Erlebensweisen gekennzeichnet, sondern enthalten auch jeweils ein dynamisches, bedürfnis- oder triebartiges Moment; diese Antriebs- oder Bedürfniskomponenten stehen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander. Das bedeutet, dass die Musil’schen Konzepte von Gewalt und Liebe, Normalzustand und anderem Zustand eine Dimension enthalten, für deren Bezeichnung sich am ehesten der Begriff des Triebes anzubieten scheint – wobei wohlgemerkt diese Triebdimensionen hinsichtlich ihres Inhalts oder Ziels nicht mit den in der Biologie oder der Psychoanalyse angenommenen Trieben übereinstimmen. Dass Ulrichs Wesensseite der „Gewalt“ ebenso wie die Haltung des Normalzustands ein dynamisches Moment des Drängenden und Antreibenden besitzt, äußert sich in Ausdrücken wie „Drang zum Angriff auf das Leben“ und „Streben nach neuer Ordnung“ (MoE 592) bzw. „Jägerhaftigkeit“ _____________
135 Vgl. Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1141; ders., Literat und Literatur, in: ebd., S. 1214. Im Zusammenhang von Ausführungen über Intuition und mystische Erfahrungen gebraucht Musil in seiner Spengler-Rezension den Kretschmer’schen Begriff der Zyklothymie; vgl. ders., Geist und Erfahrung, in: ebd., S. 1054. Vgl. außerdem Musils Brief an Arne Laurin vom 10. November 1923, in: Musil, Briefe, S. 317. Zu Musils KretschmerRezeption vgl.: Bonacchi, Die Gestalt der Dichtung, S. 196-203; von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 6f., 125f. 136 Vgl. Ernst Kretschmer, Medizinische Psychologie. 9., unveränderte Auflage. Stuttgart 1947, vor allem S. 142-166; ders., Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten. 2., vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1922, vor allem S. 79-89 („Konstitutionsaufbau“), 187-195 („Theorie der Temperamente“). 137 Kretschmer, Medizinische Psychologie, S. 142. Das Wort ‘Temperament’ umfasse dabei, so Kretschmer, „von alters her mit der Affektivität zusammen ihre humoral-nervösen Grundlagen, woraus sich dann auch der Zusammenhang des Temperaments mit dem Körperbau, also zwischen körperlicher und seelischer Persönlichkeit ergibt“ (ebd.). Für eine Beschreibung der von Kretschmer angenommenen drei großen Temperamentstypen bzw. ‘Temperamentskreise’ vgl. ebd., S. 143-155. Vgl. auch die Erläuterungen zu den Begriffen ‘Konstitution’ und ‘Temperament’ in: ders., Körperbau und Charakter, S. 187f. 138 Die zwei „Hauptfaktoren“ der Affektivität sind nach Kretschmer „Affizierbarkeit und Antrieb“ (ders., Medizinische Psychologie, S. 142); für eine Erläuterung dieser Begriffe vgl. ebd., S. 50-58, vor allem S. 51. Vgl. ferner die Ausführungen über Triebe und ihr Verhältnis zu Temperament, Charakter und Persönlichkeit: ebd., S. 121-142.
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und „Kriegslust“139. Das Erlebnis des anderen Zustands dagegen ist gerade durch Ruhe und das Fehlen von Bedürfnissen, Drängen und Begehren geprägt; doch die „Spuren“, die dieses Erlebnis im gewöhnlichen Leben hinterlässt, bestehen unter anderem in einem mehr oder minder bewussten Wunsch nach der Rückkehr in diesen Zustand, und dieser Wunsch, über dessen eigentliches Wesen sich der Mensch nicht unbedingt im Klaren sein muss, wirkt als Movens des Handelns, indem er den Menschen Ersatzbefriedigungen suchen lässt. Wichtig ist ferner Ulrichs Annahme, dass die zwei Hälften seines Wesens sich in einem Konflikt befinden, der sich darin zeige, dass die „Liebe“-Hälfte die Antriebskraft der „Gewalt“Hälfte schwäche (vgl. MoE 592f.).140 Auch diese gewissermaßen ‘energetische’ Deutung von „Gewalt“ und „Liebe“ rückt sie in die Nähe des Triebbegriffs.141 Dass Ulrich und Musil in ihren Ausführungen zu Gewalt und Liebe, Normalzustand und anderem Zustand den Ausdruck ‘Trieb’ gleichwohl vermeiden, dürfte zum Teil daran liegen, dass diese Zustände eben nicht in ihren Triebkomponenten aufgehen, sondern darüber hinaus durch besondere Verhaltensweisen, Erlebnisqualitäten und Arten der Selbst- und Weltwahrnehmung gekennzeichnet sind; außerdem war Musil _____________ 139 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1143. 140 Seine „sanfte[ ] Schattenseite“, so nimmt Ulrich an, habe dafür gesorgt, dass ihm in seinen leidenschaftlichen geistigen und körperlichen Unternehmungen schließlich „das Gefühl der Notwendigkeit ausgegangen [sei] wie das Öl in einer Lampe“ (MoE 592f.). Der Erzähler verwendet in seiner Deutung von Ulrichs Entwicklung vor Beginn seines Urlaubsjahrs eine ganz ähnliche Metaphorik: „Es gab etwas in Ulrichs Wesen, das in einer zerstreuten, lähmenden, entwaffnenden Weise gegen das logische Ordnen, gegen den eindeutigen Willen, gegen die bestimmt gerichteten Antriebe des Ehrgeizes wirkte, [...].“ (MoE 253) „Wahrscheinlich war es trotzdem eine unterirdische Bewegung von solcher Art, was ihn mit der Zeit in der wissenschaftlichen Arbeit verlangsamte und daran hinderte, in sie seinen ganzen Willen zu setzen.“ (MoE 256) 141 Musil selbst notiert in seinen Skizzen für den Essay „Der deutsche Mensch als Symptom“ die Hypothese, dass sich in den Einstellungen des Normalzustands und des anderen Zustands „die zwei Grundtriebe jedes Lebewesens [...] ausprägen: das Streben nach Nahrung und individueller Erhaltung, das den Kampf einschließt, [...] und der Fortpflanzungstrieb“; der andere Zustand sei deswegen nur zu einer „Ausnahme“ gegenüber dem Normalzustand geworden, weil „die ‘Liebe’ nur periodisch oder bei Menschen fallweise auftritt“ (Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1399). Er betont aber, dass solche Überlegungen beim gegenwärtigen Wissensstand nur Spekulation sein könnten (vgl. ebd., S. 1399f.). Zu beachten ist außerdem, dass Musil hier nicht in Erwägung zieht, dass die Grundhaltungen von ‘Gewalt’ und ‘Liebe’ mit dem Nahrungs- und Selbsterhaltungstrieb bzw. dem Fortpflanzungstrieb gleichzusetzen sein könnten; er spricht vielmehr davon, dass sich in den zwei Grundhaltungen diese biologischen Grundtriebe ‘ausprägen’ könnten. Die Anlage der „Gewalt“, wie sie von Ulrich charakterisiert wird, besteht denn auch aus Antrieben und Verhaltensweisen, die nicht allein dem Zweck der Selbsterhaltung dienen, und die Seite der „Liebe“ hat gerade nichts mit sexuellem Begehren zu tun, sondern mit einem von Begierden und Bedürfnissen freien Einssein von Mensch und Welt.
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wahrscheinlich darauf bedacht, seine Konzepte von jenen der Psychoanalyse abzugrenzen.142 (4) Musils Begriffe des Normalzustands und des anderen Zustands besitzen zunächst, wie oben bereits erwähnt, eine explanatorische Funktion. Musil sucht konkrete Handlungen, Verhaltensweisen und Erlebnisse, aber auch kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären oder zu deuten, indem er sie als Manifestationen dieser anthropologischen Grundhaltungen oder Grundzustände beschreibt. Darüber hinaus aber erfüllen diese Konzepte auch evaluative und normative Funktionen, sie bilden die Grundlage für die Bewertung von konkreten Handlungen und Erlebnissen.143 Der andere Zustand wird von Musil wie von Ulrich unzweideutig als gut und wertvoll ausgezeichnet, und zwar als wertvoll im ethischen Sinne: Er ist der „Grundzustand der Ethik“144, der Zustand der „Liebe“ und „Güte“.145 Dass der andere Zustand einen „sehr bemerkenswerten Nebenast im Pathologischen“ besitzt,146 ist für Musil offensichtlich eine _____________
142 Zu Musils Verhältnis zur Psychoanalyse vgl.: Oliver Pfohlmann, ‘Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht’? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003, S. 364-377; Pfohlmann diskutiert auch ausführlich ältere Studien zu Beziehungen zwischen Musil und der Psychoanalyse. 143 Vgl. auch Dörings Rekonstruktion von Musils Position: „Im Mittelpunkt der Anthropologie Musils steht nun die These, daß die Natur des Menschen zwar sowohl durch Gewalt als auch durch Liebe konstituiert werde, daß aber das, was den Menschen vor allen übrigen Lebewesen auszeichne, der andere Geisteszustand der Liebe sei. Hieraus zieht der Autor den normativen Schluß, daß die diesem Geisteszustand entsprechende Sichtweise des Lebens und der Welt, d.h. die ‘Kontemplation und Phantasie’, die höchste und beste dem Menschen mögliche oder kurz die rechte Sichtweise sei [...].“ (Döring, Ästhetische Erfahrung, S. 214) Die hier entwickelte Analyse von Musils Anthropologie schließt sich in den meisten Punkten diesen Ausführungen Dörings an, expliziert aber, wie oben dargelegt wurde, die normativ ausgezeichnete Stellung des Zustands der Liebe etwas anders. 144 Musil, Tagebücher, S. 660 [Heft 25: 1921-1923?]. 145 Schon als Ulrich in der Reflexion über die beiden „Bäume“ seines Lebens die Begriffe „Gewalt“ und „Liebe“ einführt, verwendet er sie nicht als wertneutrale, rein deskriptive Ausdrücke, sondern verbindet mit ihnen Wertungen und Zielsetzungen: Er kommt zu dem Schluss, dass sowohl seine persönliche Krise als auch die Krise der modernen Kultur auf die fehlende Vermittlung zwischen „Gewalt“ und „Liebe“, auf das Auseinanderfallen dieser zwei „Grundsphären der Menschlichkeit“ zurückzuführen seien und dass folglich er selbst ebenso wie die Gesellschaft vor der Aufgabe stehe, „das Auseinandergefallene von neuem zusammenzubringen“ (MoE 593f.). Diese Reflexion Ulrichs besitzt insofern einen normativen und evaluativen Gehalt, als sie die Verbindung der zwei „Grundsphären“ von Gewalt und Liebe als etwas Gutes und Erstrebenswertes setzt, ihr Auseinanderfallen als etwas Schlechtes und Schädliches. Ulrichs spätere Reflexionen über den anderen Zustand sowie Musils einschlägige Ausführungen präzisieren diese Auffassung, indem sie den positiven Wert fast ausschließlich der Seite der Liebe oder des anderen Zustands zuschreiben; das „Auseinanderfallen“ der zwei Grundsphären in Ulrichs Leben wie in der modernen Kultur führt in dieser Perspektive deshalb zu einer Krise, weil es mit einer Unterdrückung oder Entstellung der Seite der Liebe verbunden ist. 146 Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1054. Vgl. hierzu: von Büren, Zur Bedeutung der Psychologie, S. 116f.
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sehr wichtige Tatsache, die aber den Wert der nicht-pathologischen Hauptform dieses Zustands nicht zerstört. Die ‘Abformen’ des anderen Zustands, zu denen etwa Ideologien und Glaubenssysteme gerechnet werden können, sind von weit geringerem Wert als die Erlebnisse des anderen Zustands selbst; wie das oben angeführte Tagebuchzitat andeutet, bemisst sich der Wert dieses Umgangs mit den ‘Abformen’ des anderen Zustands im gewöhnlichen Leben aber vor allem danach, inwieweit die Menschen ein Bewusstsein von der Existenz des anderen Zustands und von dem Derivat- oder Surrogatcharakter der ‘Abformen’ besitzen. Die Anlage der Gewalt und die Haltung des Normalzustands selbst werden von Musil und Ulrich zumeist als in ethischer Hinsicht niedrigstehend eingeschätzt oder geradezu als Verkörperung des Bösen bezeichnet. Allerdings neigen Ulrich, vor allem in seinen jüngeren Jahren, und gelegentlich auch der Erzähler zu der Auffassung, dass die konsequente Entfaltung dieser Anlage der Gewalt, wenn sie ihre egoistischen Komponenten abstößt, ethischen Wert besitzen könnte, zumindest aber eine Qualität der Größe oder ‘Großartigkeit’.147 1.5.2. Das Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit Zu den anthropologischen Konzepten, die Musil seit den 1920er Jahren entwickelte, gehörte außer dem der zwei menschlichen Grundzustände auch das von ihm so genannte „Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit“. Eine ausführliche Formulierung dieses ‘Theorems’ findet sich in dem Essayfragment „Der deutsche Mensch als Symptom“ von 1923, in dem Musil auch die Vorstellung von den zwei Grundzuständen skizzierte;148 kürzere Darstellungen von Grundgedanken des Theorems sind bereits in zwei kurz zuvor erschienenen Essays enthalten.149 Mehrere Interpreten haben das Theorem der Gestaltlosigkeit als das eigentliche Zentrum von Musils Anthropologie betrachtet.150 Daher gilt es zu fragen, _____________ 147 Vgl. das oben untersuchte Kapitel über die Wissenschaft und das Böse; dort wird die Art von „Geist“, in der sich die Anlage des Bösen oder der Gewalt entfaltet, als ein „sehr männlicher Heiliger mit kriegerischen und jägerischen Nebenuntugenden“ vorgestellt, dessen „Neigung zum Lästerlichen“ in der Gegenwart „nirgends in ihrer immerhin großartigen Gänze herauskönne“ (MoE 305). 148 Vgl. Musil, Der deutsche Mensch als Symptom. In: GW 8, S. 1353-1400, vor allem S. 13681375. 149 Vgl. ders., Das hilflose Europa, in GW 8, S. 1079-1082; ders., Die Nation als Ideal und Wirklichkeit. In: Ebd., S. 1059-1075, hierzu S. 1072f. Der zuerst genannte Text erschien 1922, der zweite 1921. 150 Vgl.: Böhme, Anomie und Entfremdung, vor allem S. 102-156; Vatan, Robert Musil et la question anthropologique, S. 57-71; Riedel, Reise ans Ende des Ich, S. 1167-1170.
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wie sich dieses Theorem zu der Konzeption der zwei menschlichen Grundhaltungen von Gewalt und Liebe verhält, der in der vorliegenden Deutung von Musils Anthropologie eine zentrale Stellung zugeschrieben wird. Die Erörterung dieser Frage erscheint umso mehr geboten, als die Konzeption der zwei Grundhaltungen und das Theorem der Gestaltlosigkeit zumindest auf den ersten Blick im Widerspruch zueinander zu stehen scheinen: Das Theorem besagt, dass von dem Menschen, wenn man von ihm alles „zeitbedingte[ ] Convenu“ abziehe, nur „etwas ganz Ungestaltetes“ bleibe, dass der Mensch nur in „Formen“ existiere, die „ihm von außen geliefert werden“.151 Diese pointierte Formulierung scheint zu bestreiten, dass die menschliche Natur, das gleichsam vorgesellschaftliche menschliche Substrat, irgendwelche Strukturen aufweise; damit stünde sie im Gegensatz zu der Annahme, dass sich „durch die ganze Geschichte der Menschheit eine Zweiteilung [...] in zwei Geisteszustände“152 ziehe, die also allen sozialen und „zeitbedingte[n]“ Prägungen vorausliege und bereits das menschliche Substrat kennzeichne. Mit Blick auf jene Interpretationen, die das Theorem der Gestaltlosigkeit als das Zentrum der Musil’schen Anthropologie deuten, gilt es zunächst zu betonen, dass Musil dieses Theorem in „Der deutsche Mensch als Symptom“ ausdrücklich als eine „Hilfsvorstellung“ einführt, die ihre „Bedeutung“ vielleicht „nur in einer Vorstellungskorrektur“ habe.153 Das Theorem soll der „richtigen Bewertung kultureller Erscheinungen“154 dienen, und die Vorstellung, die es korrigieren soll, läuft darauf hinaus, dass historische Entwicklungen und kulturelle Phänomene durch Rückführung auf die besondere Beschaffenheit der beteiligten Menschen erklärt werden könnten. Als Ausprägungen dieses Erklärungsmusters, das auf der Annahme eines gleichsam zerebral verankerten „physiologische[n] Substrat[s]“ basiere und insofern eine „Art historischer Phrenologie“ darstelle, betrachtet Musil all jene Theorien, die beim Erklären historischer Phänomene die Besonderheiten von „Nationen, Rassen und geheimnisvollen Epochen oder Kulturen“ als Explanans bemühen.155 Solche Theorien entspringen Musil zufolge einem „Bedürfnis unzulässiger Vereinfachung“156; um sie zu korrigieren, müsse eine „andre Grundvorstellung“ entwickelt werden, „welche, extrem gefaßt, folgende Behauptung enthält: _____________ 151 Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1370. 152 Ders., Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1143. 153 Ders., Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1368. – Diese relativierende Vorbemerkung Musils wird in den oben zitierten Arbeiten von Böhme, Vatan und Riedel nicht erwähnt. 154 Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1368. 155 Ebd. 156 Ebd., S. 1369.
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Das Substrat, der Mensch, ist überhaupt nur eines und das gleiche durch alle Kulturen und historischen Formen hindurch; wodurch sie und somit auch er sich unterscheiden, kommt von außen und nicht von innen.“157 Oder, mit der oben bereits zitierten Formulierung: „Versuchen wir von uns abzuziehen, was zeitbedingtes Convenu ist, so bleibt etwas ganz Ungestaltetes, denn auch unser Persönlichstes ist als Abweichung auf das System der Umwelt bezogen. Der Mensch existiert nur in Formen, die ihm von außen geliefert werden.“158 Das ‘Außen’, das den Menschen formt, besteht für Musil aus „Religion, Kunst, Staatsform, Wirtschaftsweise, gesellschaftliche[r] Tradition usw.“ beziehungsweise aus „dem ganzen organisatorischen u. ausorganisierten Apparat und Inbegriff“.159 Es handelt sich also, wie Musil betont, um äußere Bedingungen, die der Mensch selbst geschaffen hat; er wolle keineswegs einer Milieutheorie das Wort reden, welche die geographischen Gegebenheiten für die Prägung der Menschen verantwortlich macht.160 Die äußeren Umstände, die den Menschen ihre Gestalt geben, etwa die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen, sind selbst Produkte menschlichen Handelns, die „unpersönlichsten (oder überpersönlichsten) Produkte ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens“161. Das heißt freilich nicht, dass sie geplante oder intendierte Produkte sind. Sie gehen laut Musil vielmehr aus dem komplizierten Zusammentreffen zahlloser einzelner Handlungen und Ereignisse hervor, aus einem „Gestrüpp von Ursachen“, das zwar nicht im strengen Sinne durch den Zufall bestimmt sei, „aber doch in der durchreichenden _____________ 157 158 159 160
Ebd., S. 1368. Ebd., S. 1370. Ebd., S. 1368. Vgl. ebd., S. 1369. – Diesen Teil von Musils Argumentation scheint mir Böhme zu übersehen, wenn er Musil vorwirft, „abhängige und unabhängige Variablen [...] undialektisch auf das Verhältnis von Mensch und Umwelt zu verteilen“, indem er den Menschen zum „bloßen ‘Kreuzungspunkt’ sich überlagernder Determinanten der Umwelt“ degradiere, ihn auf eine „tabula rasa“ und eine „‘bildsame Masse’“ reduziere (Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 112). Böhme meint ferner, dass Musils Gestaltlosigkeits-Theorem, indem es die gleichzeitige Anwesenheit zivilisierter und archaischer Entwicklungsstufen im modernen Menschen postuliere, die „historisch ‘kultivierte’ Gestalt des Menschen [...] in überhistorische Gestaltlosigkeit auf[löse]“ und so „Historie“ durch „Ontologie“ ersetze (ebd., S. 106f.). Beide Paraphrasen von Musils Theorem sind ungenau; in beiden Fällen setzt sich Böhme über die Tatsache hinweg, dass Musil die „Besonderheiten“ der Menschen eines bestimmten Zeitabschnitts ausdrücklich auf die „Rückwirkungen“ der vom Menschen geschaffenen Institutionen und Strukturen zurückführen will (Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1369). Musil fasst das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt also durchaus in ‘dialektischer’ Weise auf und plädiert außerdem für eine historische, die Spezifika der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Strukturen berücksichtigende Betrachtungsweise. 161 Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1373.
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Aneinanderkettung von keinem Gesetz beherrscht“ werde.162 Das wiederum bedeutet für Musil auch, dass die Umstände, in die sich der europäische Mensch der Gegenwart gestellt finde, weder „die Phase eines gesetzlichen Prozesses“ noch „ein Schicksal“ bilden, sondern einfach „eine Situation“, und Situationen in diesem Sinne könne man ändern.163 Das Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit wird von Musil also als eine „Hilfsvorstellung“ für die Erklärung und Bewertung kultureller Phänomene eingeführt, die komplexere und plausiblere Erklärungen ermöglichen, aber auch erzwingen soll, als sie von Rassen- und Milieutheorien geliefert werden. Die konkreten historischen Erfahrungen, die nach Musil die Unzulänglichkeit der kritisierten Theorien zeigen und statt dessen eine Vorstellung wie das Gestaltlosigkeitstheorem nahe legen, sind die des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Jahre seit 1914 hätten gelehrt, „[w]elcher Ausschreitungen entgegengesetzter Ausdrücke das gleiche menschliche Material fähig ist“164; niemand würde behaupten wollen, dass die Deutschen und Franzosen, die im Krieg ärgste Grausamkeiten begangen hätten, einem anderen Menschentyp angehörten als die Deutschen und Franzosen von 1923.165 Musil skizziert daher in dem Essayfragment „Der deutsche Mensch als Symptom“ wie zuvor schon in dem Essay „Das hilflose Europa“ eine Erklärung des Krieges, die dessen Ursachen in dem Zustand der europäischen Kultur zu verorten sucht und diesen Kulturzustand wiederum als einen vom Menschen hervorgebrachten darstellt; zu den wichtigsten Merkmalen dieses komplizierten und unübersichtlichen Zustands zählt Musil die beherrschende Stellung der Wissenschaft und die Verbreitung eines wissenschaftsaffinen Tatsachendenkens sowie die kapitalistische Wirtschaftsordnung.166 Berücksichtigt man den argumentativen Kontext, in dem Musil das „Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit“ einführt, so zeigt sich, dass zwischen diesem Theorem und der Annahme der zwei menschlichen Grundhaltungen von ‘Gewalt’ und ‘Liebe’ doch kein Widerspruch besteht. _____________ 162 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1082, 1081. Vgl. auch ders., Der deutsche Mensch als Symptom, in: ebd., S. 1374. Vgl. hierzu: Bouveresse, L’homme probable, S. 256f. 163 Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1375. 164 Ebd., S. 1369. – In seinen Tagebüchern notiert Musil, der Mensch habe sich beim Kriegsausbruch plötzlich in einen „Heros“ und zugleich in eine „Bestie“ verwandelt; vgl. Musil, Tagebücher, S. 673 [Heft 26: 1921-1923?]; vgl. auch ebd., S. 544f. [Heft 19: 19191921]. 165 In dem Essay „Das hilflose Europa“ heißt es, die „Erfahrung des Kriegs“ habe „in einem ungeheuren Massenexperiment allen bestätigt, daß der Mensch sich leicht zu den äußersten Extremen und wieder zurück bewegen kann, ohne sich im Wesen zu ändern. Er ändert sich, aber er ändert nicht sich.“ (Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1080) 166 Vgl. ebd., vor allem S. 1082-1090; ders., Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1375-1398.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Aus Musils Erläuterungen des Theorems geht hervor, dass er unter ‘Gestalt’ hier relativ komplexe und vollständig ausgebildete Lebensweisen mitsamt ihren konstitutiven Werten, Normen und sozialen Praktiken versteht.167 Eben solche Gestalten werden durch die Grundzustände von Gewalt und Liebe aber nicht konstituiert. Der Grundzustand der Gewalt kann sich vielmehr in vielen sehr verschiedenen ‘Gestalten’ ausprägen, in derjenigen des Jägers und Kriegers wie in der des Wissenschaftlers oder des kapitalistischen Unternehmers; auch der Grundzustand der Liebe kann sich in vielen verschiedenen Formen manifestieren. Daher kann Musil das überzeitliche menschliche ‘Substrat’ zugleich als gestaltlos und als gekennzeichnet durch die Zweiteilung in die Grundzustände von Gewalt und Liebe auffassen. Auch die polemische Stoßrichtung von Musils „Theorem“, also die Kritik an den Simplifizierungen der Rassen- wie der Milieutheorien, ist mit der Annahme der zwei Grundhaltungen vereinbar: Die Grundhaltungen von Gewalt und Liebe gehören zum anthropologischen ‘Substrat’ des Menschen, doch um zu erklären, weshalb sie sich in einer bestimmten Zeit und Kultur auf eine spezifische Weise manifestieren, muss man die besonderen Umstände dieser Kultur berücksichtigen, die wiederum Produkte menschlichen Handelns sind. Dass das Gestaltlosigkeitstheorem mit der Annahme der zwei Grundhaltungen von Gewalt und Liebe kompatibel ist, heißt allerdings nicht, dass das eine aus dem anderen hergeleitet werden könne. Die in der Forschung gelegentlich vorgebrachte These, wonach das Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit die Grundlage für das Konzept des anderen Zustands darstelle,168 ist mit Musils Charakterisierungen dieses Zustands kaum vereinbar. Diese These scheint sich vor allem auf die Beobachtung zu stützen, dass der andere Zustand typischerweise als eine ‘Auflösung’ von Grenzen und festen Formen erlebt wird, in der insbesondere die Grenzen zwischen dem Einzelnen und der Welt aufgehoben werden. Aber der andere Zustand ist darüber hinaus noch durch weitere Merkmale definiert, insbesondere durch jene, die seine ethische Bedeutung ausmachen; es ist nicht erkennbar, wie die menschliche Gestaltlosigkeit die Grundlage für diese Qualitäten des anderen Zustands abgeben könnte. Das Theorem der Gestaltlosigkeit und die Annahme der zwei Grundhaltungen oder Grundzustände sind am ehesten als zwei weitgehend unabhängige Hypothesen Musils zu begreifen, die von verschiedenen Erfahrungen _____________ 167 Vgl. etwa: „Gerade die Ungestalt seiner Anlage nötigt den Menschen, sich in Formen zu passen, Charaktere, Sitten, Moral, Lebensstile und den ganzen Apparat einer Organisation anzunehmen.“ (Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1374) 168 So ausdrücklich Riedel, Reise ans Ende des Ich, S. 1169. Auch Vatan betrachtet die Erlebnisse des anderen Zustands als eine Manifestation der Gestaltlosigkeit; vgl. Vatan, Robert Musil et la question anthropologique, S. 62-66.
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ausgehen und Erklärungsansätze für diese Erfahrungen aufstellen oder auch bestimmte Erklärungen auszuschließen suchen. Dabei enthält das Theorem der Gestaltlosigkeit, wie sein Name schon andeutet, in erster Linie negative Aussagen über den Menschen, mit denen bestimmte konkurrierende Theorien bestritten werden. Musils positive Annahmen über den Menschen finden sich dagegen vor allem in seinen Ausführungen über Normalzustand und anderen Zustand beziehungsweise über die Grundhaltungen von Gewalt und Liebe sowie über das menschliche Bedürfnis nach einem ‘Gleichgewicht’. 1.5.3. Die Beziehungen zwischen Musils Anthropologie und seiner Konzeption des Denkens Eingangs dieses Unterkapitels wurde gesagt, dass Musils Konzeption des Denkens mit den Grundannahmen seiner Anthropologie, namentlich seinen Begriffspaaren von Gewalt und Liebe, Normalzustand und anderem Zustand, verknüpft sei; nachdem diese Begriffe und Grundannahmen dargestellt worden sind, bleibt noch zu erläutern, wie Musils Konzeption des Denkens mit ihnen zusammenhängt. Für Musils Konzeption des Denkens ist zunächst die Beschreibung und Unterscheidung verschiedener Typen des Denkens wesentlich, insbesondere der Typen des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens und des lebendigen Denkens, die jeweils besonders reine oder extreme Ausprägungen einer Art des Denkens sind. In welchem Verhältnis stehen nun diese Arten des Denkens zu den zwei Geisteszuständen des Menschen beziehungsweise zu den zwei Grundeinstellungen von Gewalt und Liebe? Für das mathematisch-wissenschaftliche Denken ist die Frage leicht zu beantworten: Dieses Denken ist eine der reinsten Manifestationen der Grundeinstellung der Gewalt bzw. der Haltung des Normalzustands; das Element des Bösen, das dem wissenschaftlichen Denken innewohnt, zeigt seine Abstammung aus dieser sachlichen, misstrauischen, „scharfen und bösen“169 Grundeinstellung des Menschen an. Die lebenden Gedanken dagegen sind offenkundig mit dem anderen Zustand und der Grundeinstellung der Liebe verbunden; dies hält Ulrich auch in seinen Tagebuchnotizen über die lebenden Gedanken fest.170 Wie Musil aber die Beziehung zwischen diesen Gedanken und dem anderen Zustand genau verstanden hat, ist nicht ganz einfach zu bestimmen. _____________ 169 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1144. 170 Die Notizen, in denen Ulrich die Eigenheiten der lebenden Gedanken umkreist, enthalten die Bemerkung: „Auf das bescheidenste weitergeführt, geht es zu Kunst u.ä., auf das unbescheidenste zu aZ.“ (MoE 1917)
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Die Begegnung mit einem lebendig werdenden Gedanken ist zwar ein außergewöhnliches, positives und beglückendes Erlebnis, aber sie ist nicht identisch mit der ekstatischen Erfahrung des anderen Zustands selbst, sondern stellt eher eine vorahnungsartige Andeutung desselben und einen Hinweis auf ihn dar. Das bedeutet zunächst, dass das Lebendigwerden eines Gedankens mit Erlebnisqualitäten verbunden ist, die denen des anderen Zustands ähneln, allerdings eine abgeschwächte Version zu bieten scheinen. Ein lebendiger Gedanke zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Person von ihm in dem Teil ihrer selbst ergriffen fühlt, den sie im emphatischen Sinne als ihr Inneres und Eigenes empfindet; im anderen Zustand hat der Mensch den Eindruck, ganz in diesem innersten und eigensten Teil seiner selbst zu ruhen, mit ihm identisch und zugleich mit der ganzen Welt vereint zu sein (vgl. etwa MoE 751, 753, 907f.). Lebende Gedanken und anderer Zustand sind außerdem durch den entscheidenden Anteil des Gefühls an beiden Erlebnissen miteinander verbunden. Insofern erscheinen also beide Erlebnisarten hinsichtlich ihrer phänomenologischen Qualitäten als miteinander verwandt. Vor allem aber sind sie insofern miteinander verbunden, als lebende Gedanken im Individuum typischerweise ein Bewusstsein von Wünschen und von Fähigkeiten wachrufen, die im anderen Zustand konvergieren. Ein Großteil der Eigenschaften lebender Gedanken, die Ulrich in seinen Tagebuchnotizen festhält, lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass diese Gedanken im Menschen den Wunsch nach einer bestimmten Art des Lebens und Handelns wecken – nämlich nach einer ‘motivierten’, moralisch wertvollen –, zugleich aber auch das Bewusstsein, zu dieser Art des Lebens und Handelns fähig zu sein.171 Zu dieser charakteristischen Wirkung der lebenden Gedanken passt es, dass ihr Inhalt, nach Musils gelegentlich angeführten Beispielen zu urteilen, häufig in der Aufstellung eines Ideals des wertvollen Handelns oder in einem Hinweis auf die (noch unverwirklichten) Möglichkeiten des Menschen besteht.172 Die Art des _____________ 171 Ulrich schreibt in seinem Bericht von dem frühesten, aus seiner Leutnantszeit stammenden Erlebnis, an dem ihm der Unterschied zwischen lebenden und toten Gedanken klar geworden sei: „Im gleichen Augenblick fühlte ich mich von einem völlig veränderten geistigen Leben erfüllt, das an der Seite dieser Frau das meine sein sollte. Dabei blieb mir bewußt, daß diese Vorstellung, anders leben zu können, die mich so jäh vom Dasein abwandte, völlig unanschaulich war u. bloß durch eine inhaltslose /verschwommene/ verblassende Erinnerung an Musik vertreten wurde.“ (MoE 1914) 172 Einige von Musils Notizen über lebende Gedanken befinden sich auf Blättern, die auch Exzerpte aus Emersons Essay „Kreise“ enthalten; Musil hat außerdem einige seiner Aussagen über lebende Gedanken mit Beispielen aus diesem Essay illustriert. Die Grundaussage des Essays von Emerson lautet, dass alle großen Taten und Gedanken der Menschen noch übertroffen werden können, dass um jeden Kreis noch ein weiterer Kreis gezogen werden kann. Vgl.: Hickman, ‘Lebende Gedanken’ und Emersons Kreise. – Vgl. zu Musils Emerson-Rezeption auch: Dies., Der junge Musil und R. W. Emerson. In: Musil-Forum 6
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Lebens und Handelns, nach der lebende Gedanken im Individuum den Wunsch wecken, ist aber letztlich die des anderen Zustands, der zugleich der Zustand der Liebe und der Güte ist. Ohne dass sich das Individuum über diese tiefere Bedeutung des Erlebnisses im Klaren sein muss, wecken die lebenden Gedanken in ihm das Bewusstsein, einer veränderten Art des Lebens und einer anderen Einstellung zur Welt, kurz: des anderen Zustands fähig zu sein. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass Musil zufolge der andere Geisteszustand nicht nur in ‘reiner’ Ausprägung vorkommt, sondern „Spuren in unzähligen Einzelheiten unseres gewöhnlichen Lebens“173 hinterlassen habe, in vielfachen „Übergängen“ mit diesem gewöhnlichen Leben „verflochten“174 sei. Damit verband Musil ferner die Überzeugung, dass die Menschen sich in sehr unterschiedlichen Graden der Existenz und der Natur des anderen Zustands bewusst sein und dass die Erinnerungen an Erlebnisse dieses Zustands oder Ahnungen von ihm unterschiedlich deutlich oder verfälscht sein können. Die lebenden Gedanken gehören zu den Erlebnissen, die wie Spuren oder Hinweisschilder auf den anderen Zustand verweisen, die ein Bewusstsein von seiner Existenz und seinem Wesen (wieder-)erwecken können. Musils Konzeption des Denkens enthält aber nicht nur die Charakterisierungen des wissenschaftlichen und des lebenden Denkens, die beide etwas wie Sonder- und Extremfälle des Denkens darstellen, sondern auch Aussagen über das gewöhnliche, alltägliche Denken des Normalzustands und insbesondere über die Funktion dieses Denkens: Wie die Untersuchung des Romankapitels über „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ (MoE Kap. I.109) gezeigt hat, dient dem Erzähler zufolge ein Großteil dieser alltäglichen Geistesanstrengungen der Herstellung eines notwendigen Minimums an Gleichgewicht, Zufriedenheit oder Glück; dieses Gleichgewicht erzeugen die Menschen, indem sie die „Bilanz“ (MoE 523) ihrer täglichen Erlebnisse mithilfe von Idealen, Vorurteilen, Theorien und Überzeugungen manipulieren. Dass und wie diese Auffassung mit Musils anthropologischen und psychologischen Grundannahmen zusammenhängt, dürfte oben in den Ausführungen über die Konzepte von Normalzustand und anderem Zustand bereits deutlich geworden sein: Die Ideale, Glaubensüberzeugungen und Theorien, welche die Menschen zur Aufrechterhaltung ihres seelischen Gleichgewichts nutzen, werden von Musil großenteils oder sämtlich als Surrogate für das Erlebnis des anderen Zu_____________ (1980), S. 3-13; Geoffrey C. Howes, Emerson’s Image in Turn-of-the-Century Austria: The Cases of Kassner, Friedell, and Musil. In: Modern Austrian Literature 22 (1989), S. 227240, hier S. 233-237. 173 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1144. 174 Robert Musil, Der literarische Nachlaß. Hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl, Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992 [CD-ROM], Blatt VII/11/1.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
stands aufgefasst, also für jenes Erlebnis, das vom Menschen als mit Sinn und Wert gefüllt empfunden wird und in dem er sich als aufgehoben in und eins mit der Welt erfährt. Zugespitzt formuliert: Das Bedürfnis nach Gleichgewicht und Sinn, das die Ideale befriedigen sollen, ist für Musil letztlich eine Äußerung der in der menschlichen Natur verankerten Anlage zur „Liebe“ und zum anderen Zustand, da es auf der unwillkürlichen ‘Erinnerung’ des Individuums an diesen anderen Zustand als den Zustand des Mit-sich-eins-Seins, der Bedeutung und des Glücks beruht. Wie sich in der Analyse von Musils Konzeptionen verschiedener Arten des Denkens deutlich gezeigt hat, werden diese verschiedenen Denkarten – das wissenschaftliche Denken, das alltägliche Denken, das lebende Denken – von Musil und von Ulrich nicht wertungsfrei betrachtet; die Reflexionen des Kapitels I.28, die zu Beginn dieses Untersuchungsteils analysiert wurden, kreisen gerade um ein von Ulrich konstatiertes Defizit, das er hier noch dem Denken überhaupt anlastet, das aber, wie er selbst andernorts feststellt und von Musil in seinen Essays bestätigt wird, letztlich nur das ‘tote’ Denken kennzeichnet. Die Normen oder Maßstäbe, die dieser Bewertung verschiedener Arten des Denkens zugrunde liegen, werden von Musil in seinen anthropologischen Überlegungen über die zwei Grundzustände und Grundanlagen des Menschen explizit gemacht: Sein Konzept des anderen Zustands liefert letztlich die Begründung dafür, dass er den lebendigen Gedanken und dem nicht-ratioïden Denken einen ausgezeichneten Rang zuweist. Nur das nicht-ratioïde Denken kann einerseits die ‘Spuren’ oder indirekten Manifestationen des anderen Zustands untersuchen und verstehen, und nur ein Denken dieser Art kann jene Bedürfnisse des ‘inneren Lebens’175 befriedigen, die der ‘Liebe’-Anlage des Menschen entstammen; dies begründet den herausgehobenen Rang dieses Denkens. Die anderen Arten des Denkens erscheinen demgegenüber alle als mehr oder weniger defizitär – was aber nicht bedeutet, dass sie wertlos oder illegitim wären. Das tote, allein an Tatsachen orientierte Denken des Normalzustands, das die Alltagsvariante des ‘Gewalt’-Denkens repräsentiert, kann zwar nicht als besonders wertvoll gelten, vor allem nicht in ethischer Hinsicht, ist aber gleichwohl legitim und unverzichtbar, da es durch die „Notdurft des Lebens“ (MoE 593) gefordert wird; Musil insistiert in seinen Essays immer wieder auf der Notwendigkeit dieses toten Denkens, und Ulrich bestreitet auch in der Zeit seines Zusammenlebens mit Agathe, als sein Interesse sich immer mehr auf den anderen Zustand konzentriert, nicht die nützlichen oder geradezu unverzichtbaren Leistungen dieses Denkens (vgl. etwa MoE 770). Höher als dieses pragmatischnützliche, der Selbstbehauptung und der Organisation des Zusammenle_____________ 175 Vgl. Musil, Franz Blei, in: GW 8, S. 1023.
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bens dienende Denken steht das wissenschaftliche Denken als eine andere Variante des ‘Gewalt’-Denkens, die sich von eigensüchtigen Zwecken gelöst hat und positive Eigenschaften wie Mut, Unbedingtheit und Umsturzkraft freizusetzen vermag. Doch dieses Denken bleibt insofern stets defizitär, als es die ‘seelischen’ Bedürfnisse des Menschen nicht befriedigen kann, sein Ich unbeteiligt lässt und ihm kein Gefühl des Sinns und des inneren Gleichgewichts gewähren kann. Auf andere Weise problematisch und defizitär ist ein Denken, das eben diese Bedürfnisse zu stillen versucht, dies aber mithilfe vorgefertigter, erstarrter Ideale und Glaubenssysteme tut; dieses Denken stellt etwas wie die depravierte oder degenerierte Version eines nicht-ratioïden Denkens dar. 1.6. Musils Konzeption des Denkens im Verhältnis zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext Eine der Ausgangsannahmen der vorliegenden Arbeit lautet, dass Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens sich sinnvoll im Kontext der zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen über das Denken platzieren lassen, da sie in Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen in Wissenschaft – insbesondere in der Psychologie – und Philosophie entstanden seien. Es gilt nun darzustellen, in welchem Verhältnis Musils Konzeption des Denkens zu diesem ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext steht. Wie in dem Überblick über die Forschungen zum Denken um und kurz nach 1900 ausgeführt wurde, existierten in der Psychologie und den benachbarten Disziplinen eine Reihe unterschiedlicher Ansätze und Richtungen, die sich dem Thema des Denkens zuwandten; neben physiologisch und evolutionsbiologisch ausgerichteten Ansätzen standen etwa eine ‘phänomenologische’ Richtung der Psychologie sowie tiefenpsychologische Theorien. Musils Konzeption des Denkens verbindet, schematisch gesagt, phänomenologische Charakterisierungen bestimmter Denkweisen mit einer Konzeption von menschlichen Grundhaltungen, die Ähnlichkeiten zu evolutionsbiologischen und tiefenpsychologischen aufweist, daneben auch zu konstitutionstypologischen. Eine Nähe zu phänomenologischen Ansätzen ergibt sich daraus, dass Musil die spezifischen Merkmale bestimmter Arten des Denkens, insbesondere des nicht-ratioïden Denkens und der lebendigen Gedanken, über ihre subjektiven Erlebnisqualitäten bestimmt.176 Musil beschreibt aber die lebenden Gedanken _____________ 176 Noch konsequenter wird solch ein beschreibendes und von der Erlebnisperspektive ausgehendes Verfahren von Ulrich in seinen Ausführungen zur Gefühlspsychologie in den
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
nicht nur hinsichtlich ihrer phänomenologisch erfassbaren Eigenheiten, sondern deutet sie – wie auch das ratioïde und tote Denken, etwa das wissenschaftliche Denken – zudem als Realisierung eines menschlichen Grundzustandes oder einer Grundhaltung. Diese Begriffe des Normalzustands und des anderen Zustands bzw. der menschlichen Grundhaltungen von Gewalt und Liebe nun werden von Musil, wie oben bereits festgestellt, zu offen und vieldeutig definiert, als dass sie einer in der zeitgenössischen Psychologie etablierten Kategorie zugeordnet werden könnten. Sie weisen aber gleichwohl Ähnlichkeiten zu solchen Kategorien auf: Insbesondere enthalten die Zustände oder Verhaltensweisen von Gewalt und Liebe beide eine dynamische, antreibende Komponente, die durch psychologische Begriffe wie ‘Trieb’ oder ‘Bedürfnis’ eingefangen werden kann. Eine Anlehnung an evolutionsbiologische Ansätze kann man vor allem in Musils Ausführungen über die Grundhaltung der Gewalt entdecken, die sich in früheren Entwicklungsstadien des Menschen in Jägerund Krieger-Eigenschaften ausgeprägt habe und sich in der modernen Kultur unter anderem in den ‘bösen’, reduktionistischen Zügen des wissenschaftlichen Denkens manifestiere. Schließlich ähneln die von Musil angenommenen Zustände oder Verhaltensweisen in manchen Hinsichten, vor allem aufgrund ihres ‘holistischen’ Charakters, den von Ernst Kretschmer aufgestellten Konstitutionstypen. Wie Teil II dieser Untersuchung dargelegt hat, suchten viele Philosophen und Psychologen um 1900 eine ‘naturalistische’ Theorie des Denkens zu entwerfen, indem sie das Denken als abhängig von oder zumindest als verwandt mit einfacheren menschlichen Leistungen oder einfacheren Prozessen im menschlichen Organismus beschrieben und es so in ein Gesamtbild der menschlichen Natur einfügten. Diese naturalistischen Ansätze setzten zum einen bei den ‘Mechanismen’ des Denkens an und suchten aufzuzeigen, dass diese sich auf elementare Funktionsweisen des Geistes oder des Organismus zurückführen ließen, also etwa auf Assoziationsvorgänge oder auf Reflexe; zum anderen setzten sie bei der Leistung des Denkens an, indem sie diese etwa als Beitrag zur Selbsterhaltung deuteten und so den Funktionen oder Leistungen anderer und einfacherer Lebensvorgänge assimilierten. Musils Konzeption des Denkens lehnt sich ihrer Struktur nach an solche naturalistische Theorien an, und zwar an die zweite der hier unterschiedenen Strategien. Seine Charakterisierungen verschiedener Arten des Denkens sind unter anderem von der Absicht geleitet, diese Denkarten als Manifestationen allgemeinerer, elementarer menschlicher Grundzustände oder Grundhaltungen zu präsentieren: Das _____________ Nachlass-Kapiteln eingesetzt, etwa in dem Kapitel „Naive Beschreibung, wie sich ein Gefühl bildet“ (vgl. MoE 1156-1163).
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Denken erscheint als geleitet entweder durch das Selbsterhaltungsstreben und die böse Neigung zu Zerstörung und Erniedrigung oder durch das Bedürfnis nach ‘seelischer Nahrung’, nach Sinn, Glück oder Gleichgewicht. Damit weist Musils Konzeption des Denkens, wie gesagt, ihrer Struktur nach Parallelen zu evolutionsbiologischen Theorien des Denkens auf, nicht aber ihrem Inhalt nach: Die Grundanlagen, die Musil als konstitutiv für die menschliche Natur annimmt, sind andere als die von der Evolutionsbiologie vorausgesetzten. Musil versucht also, das Wesen des Denkens und der ihn interessierenden Arten des Denkens auf ähnliche Weise zu beschreiben und zu erklären wie die naturalistischen psychologischen Theorien seiner Zeit; zugleich grenzt er sich von diesen Theorien, zumindest von den evolutionsbiologisch ausgerichteten, entschieden ab, indem er die allgemeinen Grundanlagen des Menschen anders konzipiert als sie und der Auffassung entgegentritt, das Selbsterhaltungsstreben sei der einzige, alles beherrschende Antrieb des Menschen. In dieser Hinsicht erscheint seine Konzeption des Denkens derjenigen Nietzsches verwandt, der ebenfalls das Denken als eine Äußerungsform elementarer menschlicher Grundanlagen oder Triebe deutete, diese Grundanlagen aber im Widerspruch zur Evolutionslehre nicht auf das Selbsterhaltungsstreben zurückführte, sondern auf den Willen zur Macht. Musil schließt sich Nietzsche in der Ablehnung der evolutionstheoretischen Verabsolutierung des Selbsterhaltungsstrebens an, entwirft die menschlichen Grundanlagen allerdings wieder anders als dieser. Indem das Verhältnis von Musils Konzeption des Denkens zu naturalistischen, insbesondere evolutionsbiologischen Theorien des Denkens beschrieben wurde, wurde implizit auch schon Musils Position zu der Frage angedeutet, was den Wert des Denkens ausmache – also zu einer der Fragen über das Denken, die, wie Teil II zu zeigen versucht hat, in Philosophie und Psychologie um 1900 besonders akut waren. Für Musil stellt die Nützlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Selbsterhaltung und ökonomischen Daseinsbewältigung zwar einen, aber keineswegs den einzigen oder wichtigsten Maßstab zur Bewertung des Denkens dar. Dass sie es dem Menschen ermöglichen, sich angesichts der „Notdurft des Lebens“ (MoE 593) zu behaupten, macht die Legitimität und den Wert der toten Gedanken aus. Höher als dieses allein dem Überleben dienende Denken aber steht das wissenschaftliche Denken, das ausschließlich dem Streben nach Wahrheit verpflichtet ist, in diesem leidenschaftlichen Streben Eigenschaften und Tugenden wie Mut, Leidenschaft, Askese und Umsturzkraft freizusetzen vermag und auf diese Weise eine Höherentwicklung des Menschen antreiben könnte, anstatt nur sein Überleben zu garantieren. Aber jedes wissenschaftliche Denken weist insofern ein Defizit auf, als es den Bedürfnissen des ‘inneren Lebens’ nicht gerecht werden
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kann; dies vermag allein das nicht-ratioïde Denken, dem daher bei Musil ein ausgezeichneter Status zukommt. Nur das nicht-ratioïde Denken, das selbst mit Gefühlen und individuellen Erlebnisqualitäten verbunden ist, kann den Fragen des Gefühlslebens und der Ethik gerecht werden; das heißt auch, dass nur dieses Denken auf angemessene Weise mit jenen Erlebnissen ‘umgehen’ kann, in denen sich die Grundhaltung der ‘Liebe’ äußert beziehungsweise die als ‘Spuren’ des anderen Zustands erscheinen. Die lebendigen Gedanken stellen Erlebnisse von besonderem Wert dar, weil sie im Menschen die Ahnung vom anderen Zustand der Liebe und Güte wecken, zusammen mit dem Wunsch, in diesen Zustand zu gelangen. Mit einer sehr allgemeinen Formulierung könnte man also sagen, dass der Wert einer Art des Denkens sich für Musil zum einen nach ihrem selbsterhaltungsdienlichen Nutzen bemisst, zum anderen und vor allem aber nach den Anlagen, Eigenschaften und Tugenden, die sie im Menschen weckt; die höchste, wertvollste Anlage des Menschen aber ist seine Fähigkeit zum Zustand der Liebe und Güte, und das wertvollste Denken ist demnach jenes, das in ihm das Bewusstsein von der Existenz dieses Zustands weckt oder wach hält. Ein etwas zweideutiger und schillernder Wert, gewissermaßen eine ‘luziferische’ Größe, kommt außerdem bestimmten Ausprägungen der Gewalt-Anlage des Menschen zu, nämlich den Eigenschaften von Mut, Unbedingtheit, Tat- und Zerstörungskraft. Das nicht-ratioïde Denken erhält von Musil also einen besonderen Wert zugesprochen; aber gerade seine Charakterisierungen dieses Denkens bleiben in manchen Hinsichten unbestimmt. Explizit und deutlich werden in seinen Ausführungen hierzu vor allem die Gegenstände oder Themen benannt, denen dieses Denken zugeordnet ist, sowie die Wirkungen, die es auf den Menschen auszuüben vermag. Weniger deutlich ist hingegen, ob für dieses Denken auch Fragestellungen und Verfahrensweisen einer spezifischen Art kennzeichnend sind – wie etwa auf der anderen Seite für das wissenschaftliche Denken reduktionistische, mechanische und statistische Erklärungen charakteristisch sind. In Musils theoretischen Äußerungen finden sich einige Andeutungen hierzu, unter anderem auch in seinen Bemerkungen über das Wesen des Essays, auf die im Folgenden einzugehen sein wird. Aber was genau für ihn die spezifischen Leistungen des nicht-ratioïden Denkens sind, wird vor allem in seinem Roman deutlich, und nicht zuletzt in den Darstellungen des Denkens der Figuren.
2. Musil über die Darstellung von Denken in der Literatur Zu den theoretischen Überzeugungen Musils, die seine erzählerische Darstellung von Denkvorgängen im Mann ohne Eigenschaften beeinflusst und
2. Musil über die Darstellung von Denken in der Literatur
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orientiert haben, gehören neben seiner theoretischen Konzeption des Denkens vor allem seine poetologischen oder programmatischen Auffassungen über literarische Darstellungen des Denkens, über die Funktionen, die solche Darstellungen des Denkens haben können, sowie über die Formen, die sie annehmen können oder sollten.177 Ansichten zu diesen Fragen hat Musil in seinen Essays, Rezensionen und Tagebüchern formuliert oder angedeutet. Diese Äußerungen haben keinen systematischen Charakter, lassen aber doch einige Grundlinien erkennen. Musil deutet in diesen Texten mehrere Gesichtspunkte oder Ziele an, die für literarische Darstellungen des Denkens leitend sein könnten. In diesem Kapitel sollen diese verschiedenen Linien seiner Überlegungen nachgezeichnet werden; das folgende Kapitel, das sich dem erzählten Denken im Mann ohne Eigenschaften zuwendet, wird unter anderem darlegen, welche dieser Gesichtspunkte in welchem Maße für die Darstellungen des Denkens in diesem Roman leitend waren. 2.1. Analyse der „Gefühls- und Ideenwelt“ In seinem Essay „Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste“ von 1922 entwickelt Musil eine umfassende Diagnose der gegenwärtigen Krise der europäischen Kultur und formuliert am Ende eine Aufgabe, die sich aus dieser Krisensituation ergebe. Die zeitgenössische Kultur, so Musil, leide an einer tiefgreifenden „Unruhe“ und „Unsicherheit“, da ihr „die Ordnungsbegriffe des Lebens fehlen“.178 Die Gegenwart werde beherrscht durch jene nüchterne, anti-idealistische Geisteshaltung, die sich nur auf das Feste und Reale verlassen will und als solches die Tatsachen, die „Niedrigkeiten des Menschen“ und die Mittel von „Zwang und List“ betrachtet; von dieser Haltung sind die Wissenschaften ebenso wie Politik und Wirtschaftsleben durchdrungen.179 Die Wissenschaft fördern immer mehr Tatsachen zutage, die aber nicht in eine Ordnung eingefügt sind und den Menschen unkontrolliert überschwemmen. Als Reaktion auf diese Erscheinungen verbreitet sich eine diffuse Abneigung gegen den Verstand. „Populärphilosophie“ und „Tagesdiskussion“ haben angesichts dieser Situation nichts anzubieten als entweder die „liberalen Fetzen eines ungegründeten Vernunft- und Fortschrittsglaubens“ oder aber „die bekannten Fetische der Epoche, der Nation, der Rasse, des Katholizismus, des Intuitionsmenschen, welchen allen negativ _____________ 177 Zu Musils Poetik vgl.: Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung; Peter Nusser, Musils Romantheorie. The Hague, Paris 1967. 178 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1076, 1086. 179 Vgl. ebd., S. 1085f., Zitate S. 1086.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
gemeinsam ist eine sentimentale Nörgelei am Verstand und positiv das Bedürfnis nach einem Halt“.180 Kunst und Essayistik variieren immer wieder dieselben Gefühle, Ideen und rationalitätskritischen Reflexe und präsentieren insgesamt ein Bild der Stagnation, „eine dumpfe, sich zu unbeständigen Erscheinungen überspitzende Unzufriedenheit“.181 Kurz: „Alles, was zum Geist gehört, befindet sich [...] heute in größter Unordnung.“182 Eine der dringlichsten Aufgaben, die sich der Gegenwart stellt, besteht also darin, Ordnung und Übersichtlichkeit auf diesem Gebiet herzustellen; dazu bedarf es gerade nicht einer Absage an den Verstand, sondern einer Anwendung der Verstandeskräfte auf die Fragen der „Seele“, der „Gefühls- und Ideenwelt“: Solche Ordnung der Kunst, Ethik und Mystik, das ist der Gefühls- und Ideenwelt, vergleicht allerdings und analysiert und faßt zusammen und ist insoweit rational und den stärksten Instinkten unsrer Zeit wesensverwandt, aber sie ist kein Widerspruch gegen die Seele; sie hat ihr eigenes Ziel, und dieses ist nicht jene Eindeutigkeit, bei der sich etwa Ethos zur Moral verdichtet oder Gefühl zur kausalen Psychologie, sondern eine Übersicht der Gründe, der Verknüpfungen, der Einschränkungen, der fließenden Bedeutungen menschlicher Motive und Handlungen, – eine Auslegung des Lebens.183
Auch wenn Musil das an dieser Stelle nicht ausdrücklich sagt, kann kaum ein Zweifel bestehen, dass in seinen Augen auch die Literatur sich dieser „Ordnungsaufgaben“184 annehmen sollte. Ein Roman, der sich dieser Aufgabe widmet, würde also eine „Übersicht“ auszubreiten suchen, eine Übersicht über die Gefühle, Gedanken, Gründe, Motive und Handlungen von Menschen und über ihre vielfältigen Verknüpfungen. Im Rahmen eines solchen Unterfangens hätte offenkundig auch die Darstellung von Denkvorgängen der Figuren ihren Ort. Diese erzählerische Gestaltung des Denkens wäre dabei vor allem von der Absicht geleitet, die Gedanken der Figur in den größeren Zusammenhang ihrer Gefühle, Wünsche und Handlungen einzuordnen. Allgemeiner gesagt: Die Aufgabe, die Musil hier formuliert, weist der narrativen Kontextualisierung von Gedanken, Gefühlen und Handlungen einen zentralen Stellenwert zu. Zu beachten ist dabei, dass die in dem zitierten Passus gestellte Aufgabe zwei Dimensionen zu haben scheint, eine zeitgeschichtlich-aktuelle und eine gewissermaßen allgemeinmenschliche oder anthropologische. Da dieser Aufruf Musils sich an seine ausführliche Beschreibung der Misere der zeitgenössischen Kultur anschließt, liegt der Gedanke zumindest sehr _____________ 180 181 182 183 184
Ebd., S. 1087. Ebd., S. 1093. Ebd., S. 1087. Ebd., S. 1094. Ebd.
2. Musil über die Darstellung von Denken in der Literatur
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nahe, dass die von ihm geforderte Analyse der „Gefühls- und Ideenwelt“ auch eine Analyse der aktuell im Umlauf befindlichen Ideen, Ideologien, Stimmungen, Ressentiments und Wertschätzungen enthalten soll. Zugleich scheinen Ausdrücke wie ‘die fließenden Bedeutungen menschlicher Motive und Handlungen’ und ‘Auslegung des Lebens’ auch auf allgemeinere, überzeitliche, den Menschen überhaupt betreffende Strukturen und Zusammenhänge zu zielen. In den Schlusssätzen seiner RathenauRezension von 1914 hatte Musil mit ähnlichen Formulierungen ein Desiderat markiert, das in diesem Fall nun eindeutig den Mangel an anthropologischen, nicht historischen Forschungen betraf: „Wir Deutschen haben – außer dem einen großen Versuch Nietzsches – keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens.“185 2.2. Der Essay als Medium eines lebenden Denkens Wenn man nach poetologischen Konzepten Musils fragt, die für seine Darstellung von Denkprozessen im Roman Der Mann ohne Eigenschaften leitend gewesen sein könnten, so drängt sich unweigerlich der Begriff des Essays auf. Musil selbst notierte einmal, dieser Roman sei eigentlich „überhaupt kein Roman, sondern ein Essay von ungeheuren Dimensionen“,186 und was ihm in seinen Augen diesen essayistischen Charakter gab, dürfte auch oder vor allem der hohe Anteil an Reflexionen sein. Man kann ferner annehmen, dass Musil dabei nicht nur die Reflexionen des Erzählers, sondern auch die ausgedehnten Denkvorgänge der Figuren im Blick hatte. Daher soll im Folgenden untersucht werden, was für Musil einen Essay ausmachte und welche Rückschlüsse sich daraus im Hinblick auf die möglichen Intentionen ableiten lassen, die er bei der Darstellung der Gedankengänge seiner Romanfiguren verfolgt haben könnte. Musil hat seine Auffassungen über das Wesen des Essays in diversen Aufsätzen, Essays, Fragmenten und Notizen niedergelegt; sie können hier nicht im Detail untersucht, sondern nur in ihren Grundlinien nachvollzogen werden. Die folgenden Punkte sind besonders relevant: (1) Die Gegenstände, von denen Essays handeln, entstammen dem nicht-ratioïden Gebiet, also dem Bereich der Werte und Bewertungen, der _____________ 185 Musil, Anmerkung zu einer Metapsychik. In: GW 8, S. 1015-1019, hier S. 1019. 186 Robert Musil, Die Krisis des Romans. In: GW 8, S. 1408-1412, hier S. 1410. – Zu Musils Essaybegriff vgl. vor allem: Marie-Louise Roth, Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München 1972, S. 281-288; Barbara Neymeyr, Utopie und Experiment. Zur Konzeption des Essays bei Musil und Adorno. In: Euphorion 94 (2000), S. 79-111. Zu Musils Begriff des Essayismus vgl.: Pieper, Musils Philosophie, S. 22-44; Christian Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999, S. 229-240.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Ethik und Ästhetik. Der Essay wird von Musil immer wieder als ein Hauptbeispiel für das nicht-ratioïde Denken bzw. das Denken über nichtratioïde Gegenstände angeführt.187 (2) Die weiteren Eigenheiten, die Musil dem Essay zuschreibt, hängen alle mehr oder weniger direkt mit dem nicht-ratioïden Charakter seiner Gegenstände zusammen. Diese Eigenheiten betreffen unter anderem die Rezeption des Essays durch den Leser: Da essayistische Gedanken stets in einem „Mutterboden“ aus Gefühl, Willen und persönlichen Erfahrungen wurzeln und ihre Bedeutungen wesentlich aus der „seelischen Atmosphäre einer einzigen inneren Situation“188 beziehen, kann der Leser sie nicht wie ratioïde Gedanken durch Nachvollzug der festen Wortbedeutungen und logischen Verknüpfungen verstehen, sondern muss sie ‘wiedererleben’.189 Die Durchdringung mit Gefühl, Wille und persönlicher Erfahrung bedeutet aber auch, dass diese Gedanken auf den Leser, wenn ihm denn dieses Wiedererleben gelingt, eine außerordentlich intensive Wirkung ausüben können: Sie können dann auch in ihm ganze Komplexe aus Gedanken und Gefühlen ‘umschmelzen’ und in eine neue Lage rücken, so dass er „mit einemmal sich selbst und die Welt anders versteht“190; sie „wirken wie Menschen, die uns ergreifen und entgleiten, ohne daß wir sie rational fixieren könnten, und die uns geistig mit etwas anstecken, das sich nicht beweisen läßt.“191 (3) Die Gegenstände des nicht-ratioïden Gebiets zeichnen sich durch Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit aus, durch die „Herrschaft der Ausnahmen über die Regel“192; dementsprechend kann auch der Essay nicht allgemeingültige, gesetzesartige Aussagen voraussetzen oder hervorbringen, wie er sich auch nicht eindeutig definierter Begriffe und strenger logischer Schlussfolgerungen bedienen kann. Der Essay ist somit aufgrund der Eigenart seiner Gegenstände von den in der Wissenschaft geltenden Rationalitätsanforderungen dispensiert, soll aber an ihre Stelle keine Will_____________ 187 Vgl. Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049; ders., Literat und Literatur, in: ebd., S. 1214; ders., [Über den Essay]. In: Ebd., S. 1334-1337. 188 Ders., Essaybücher, in: GW 9, S. 1450. 189 Das ist generell eine Eigenschaft nicht-ratioïder Gedanken; in seiner Spengler-Rezension schreibt Musil über die „Vorstellungen“ in dem nicht-ratioïden, unter anderem durch Autoren wie Emerson, Maeterlinck und Nietzsche repräsentierten „Interessenkreis“, dass sie „keine feste Bedeutung haben, sondern mehr oder minder individuelle Erlebnisse sind, die man nur soweit versteht, als man sich ähnlicher erinnert.“ (Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1049) 190 Musil, [Über den Essay], in: GW 8, S. 1337. 191 Ders., Essaybücher, in: GW 9, S. 1450. – Vgl. hierzu auch: Roth, Robert Musil. Ethik und Ästhetik, S. 285f. 192 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1028.
2. Musil über die Darstellung von Denken in der Literatur
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kür setzen, sondern andere methodische Verfahren und Tugenden.193 Welcher Art diese Verfahren sind, wird von Musil nur angedeutet. Unter anderem erklärt er, dass der Essay nicht mit Gleichsetzungen, sondern mit Analogien arbeite, sich auf eine „Logik des Analogischen“194 stütze. Außerdem dürfte Musil ein perspektivistisches Vorgehen, die Beleuchtung eines Gegenstands von vielen verschiedenen Seiten aus, für ein charakteristisches Merkmal des Essays gehalten haben.195 Aufschlussreich ist schließlich Musils wiederholter Hinweis auf eine Qualität der Essays von Franz Blei, die er in seinen Artikeln und Rezensionen meist als vorbildliche, mustergültige Exempel dieser Gattung wertet. Blei, so Musil, scheine ständig seine Anschauungen zu ändern und schreibe liebevoll und bewundernd über vieles, „das sich nach gemeiner Ansicht nicht miteinander vertragen darf“.196 Das aber liege daran, dass bei Blei „die Meinung [...] nur ein schöpferischer Vorwand für ihre Gründe“197 sei, dass es ihm weniger wichtig sei, was er jeweils „liebt oder bekämpft“, als warum er es tut198. Bleis Essays zeichnen sich also für Musil durch ihren hohen Gehalt an Gründen aus, dadurch, dass sie Meinungen mit Begründungen ausstatten. Offenbar hält Musil die Darlegung der Gründe, die eine bestimmte Meinung stützen können, schon als solche für wertvoll und erhellend, selbst wenn man sich dieser Meinung nicht anschließen mag (weil man vielleicht die Begründung nicht ausreichend findet oder Gegengründe kennt).199 (4) Die Funktion und Aufgabe des Essays besteht für Musil zunächst darin, die Tatsachen des nicht-ratioïden Gebiets mit den diesem Gebiet angemessenen Verfahren zu analysieren: Dabei gibt der Essay zwar „keine _____________ 193 Vgl. Musil, Essaybücher, in: GW 9, S. 1450; ders., Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1050. 194 Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1050. Vgl. dazu: Neymeyr, Utopie und Experiment, S. 99-101. 195 Vgl. Neymeyr, Utopie und Experiment, S. 93. 196 Musil, Franz Blei, in: GW 8, S. 1023. 197 Musil, Essaybücher, in: GW 9, S. 1455. 198 „Auf Blei angewandt, genügt das hier Feststellbare, um zu verstehen, daß es eine aktive Wandelbarkeit der Anschauungen eines Essayisten gibt, die weder mit Fortschritt und Bekehrung zu neuen Anschauungen, noch mit innerer Unsicherheit etwas zu tun hat, und daß es eine vermeintliche Anteillosigkeit gibt, der es tatsächlich gleichgültiger sein darf, was sie liebt oder bekämpft, als warum sie es tut.“ (Musil, Franz Blei, in: GW 8, S. 1024) 199 Das Wesentliche und das „Bestrickende“ an den Schriften Bleis, so Musil in einer Rezension von 1913, sei ihre „Atmosphäre“; diese sei geprägt durch ein „von allen Richtungen schwingendes Leben des Arguments“, das die Luft mit Licht durchdringe, so dass die Gegenstände „keine Schattenseite“ haben. „Nicht auf die Resultate kommt es an, gegen die man manchmal Einwände fühlt, sondern auf jene Frühstimmung, aus der Welten von Geschöpfen versuchsweise sich erheben und wieder zurücksinken.“ (Musil, Essaybücher, in: GW 9, S. 1454f.) Dass die Geschöpfe sich „versuchsweise [...] erheben und wieder zurücksinken“, soll in diesem Zusammenhang offenbar bedeuten, dass für oder gegen sie argumentiert wird.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Totallösung, sondern nur eine Reihe von partikularen. Aber er sagt aus und untersucht.“200 Der Essay kann und soll aber nicht nur analysieren und ordnen, sondern auch experimentieren und Gedanken versuchsweise durchspielen.201 Diese experimentelle und kreative Dimension des Essays ist für Musil verbunden mit einem utopischen Impetus, den er auch in den Schriften Bleis ausmacht: Die Artikulation des Gefühls durch den Verstand, die Wegwendung des Verstands von den belanglosen Wissensaufgaben zu den Aufgaben des Gefühls, das ist das Ziel des Essayisten, mit dem ferneren Ziel der menschlichen Seligkeit, und Bleis Wirkung besteht darin, immer zu dieser Einung im Beispiel gemahnt und für sie gewirkt zu haben.202
Damit sind die Grundzüge von Musils Essaybegriff knapp dargestellt worden. Es liegt auf der Hand, dass Denkvorgänge von Romanfiguren, die essayistischen Charakter haben oder zur essayistischen Beschaffenheit des Romans insgesamt beitragen sollen, anderen Forderungen genügen müssen als Denkprozesse, die im Rahmen des oben untersuchten Projekts einer Analyse der „Gefühls- und Ideenwelt“ präsentiert werden. Literarische Werke, die der letzteren Aufgabe verpflichtet sind, dürften es bei der Darstellung von Denkvorgängen vor allem darauf anlegen, die Beziehung der Gedanken einer Figur zu ihren Erfahrungen, Gefühlen, Motiven und Handlungen aufzuzeigen. Wenn dagegen die Gedankengänge der Romanfiguren den Charakter von Essays haben sollen, so impliziert das unter anderem, dass an diesen Gedanken zunächst ihr Inhalt selbst von Bedeutung ist, nicht ihre Einbettung in einen Kontext aus Gefühlen und Motiven, Erlebnissen und Handlungen der jeweiligen Figur. Gegenstand oder Thema dieser Reflexionen können in erster Linie Fragen aus dem Bereich des Ethischen und Ästhetischen, des im weiten Sine Religiösen oder des ‘Menschlichen’ sein; vor allem aber sollten sie jene Qualitäten besitzen, die Musil von Essays fordert, also einer ‘biegsamen’ und beweglichen Logik gehorchen, nicht vereindeutigen, aber scharf unterscheiden und Gründe und Argumente liefern. Die zwei Funktionen, die sich so für literarische Darstellungen von Denkvorgängen ergeben, müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Die Einbettung von Gedankengängen in die Erfahrungen, Gefühle und Handlungen einer Figur kann als ein perspektivistisches und in diesem Sinne essayistisches Verfahren eingesetzt werden. Gleichwohl handelt es sich um zwei unterschiedliche Funktionen, aus denen sich jeweils unterschiedliche Maßgaben für die Gestaltung von Denkvorgängen ableiten lassen, _____________ 200 Ders., [Über den Essay], in: GW 8, S. 1335. 201 Vgl. ders., Essaybücher, in: GW 9, S. 1455; ders., Tagebücher, S. 643 [Heft 25: 19211923?]. 202 Ders., Franz Blei, in: GW 8, S. 1024.
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somit auch unterschiedliche Gesichtspunkte für die Analyse solcher erzählten Denkprozesse. Daher ist es sinnvoll, an dieser Stelle den Unterschied zwischen diesen zwei Funktionen und Aufgabenbestimmungen möglichst scharf herauszustellen. Bei der Analyse des erzählten Denkens im Mann ohne Eigenschaften wird unter anderem zu fragen sein, inwiefern die Denkvorgänge der Figuren eher der einen oder eher der anderen Zweckbestimmung verpflichtet sind. So könnte auf den ersten Blick die Annahme nahe liegend erscheinen, dass die Denkvorgänge von Figuren wie Arnheim und Hagauer und Lindner vor allem die Beziehungen zwischen ihren Gefühlen, ihren bewussten und unbewussten Wünschen und ihren Gedanken sichtbar machen sollen, und zwar meist in entlarvender Absicht, während die Denkvorgänge Ulrichs eher als Essays, als relativ selbständige, essayistische Erörterungen nicht-ratioïder Gegenstände dargeboten werden. Die Analysen des folgenden Kapitels werden aber zeigen, dass auch die Darstellung von Ulrichs Reflexionen in hohem Maße durch die Absicht geleitet ist, den Zusammenhang zwischen diesen Reflexionen und dem jeweiligen inneren Entwicklungsstadium Ulrichs, seinen aktuellen Gefühlen, Wünschen und Erfahrungen deutlich werden zu lassen. 2.3. Die ‘Entwicklungslinie gewisser Gedanken durch ein junges Leben’ Anfang der 1920er Jahre plante Musil, eine Sammlung seiner Essays zu veröffentlichen, und schrieb in seinen Tagebuchheften 25 und 26 Entwürfe für die Einleitung dieser Essaysammlung nieder, die dann doch nicht realisiert wurde.203 In einem der Entwürfe für die Einleitung erklärte er, er habe sich bei der Zusammenstellung der Texte bemüht, „neben der sachlichen Gliederung [...] eine Art biographischen Zusammenhangs einzuhalten“: [...] [S]o ist es auch eine Art Biogramm, was ich geben will, die Entwicklungslinie gewisser Gedanken durch ein junges Leben oder vielleicht nur eine Annäherungslinie an sie. Wo ich es vermochte habe ich dann auch die Richtung angegeben, in der das weiterführen müßte.204
Diese Absicht, eine Art intellektueller Autobiographie zu verfassen und die „Entwicklungslinie“ seiner Gedanken nachzuzeichnen, taucht in Musils Tagebüchern an verschiedenen Stellen auf und verbindet sich auch mit seinen Romanplänen. Einen späten Reflex dieser Überlegungen kann man _____________ 203 Vgl. hierzu: Adolf Frisé, Von einer ‘Geschichte dreier Personen’ zum ‘Mann ohne Eigenschaften’. Zur Entstehung von Robert Musils Romanwerk. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 428-444, hier S. 433. 204 Musil, Tagebücher, S. 667 [Heft 26: 1921-1923?].
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
in einer Notiz entdecken, die wohl 1939 entstand, also zu einem Zeitpunkt, als die Fertigstellung des Romans schon seit Jahren auf sich warten ließ und immer mehr in eine unbestimmte Ferne rückte. Musil scheint dort mit dem Gedanken zu spielen, seine Hefte nicht mehr als Vorbereitung und Materiallager für seinen Roman zu nutzen, sondern sie und ihre Entstehung selbst wiederum zum Gegenstand des Schreibens zu machen: Wenn es noch eine Rettung geben sollte, müßte ich wohl nicht aus diesen Heften schreiben, denn zu Ende werde ich diese Gedanken niemals führen können, ja nicht einmal zur Bedeutung; sondern ich müßte über diese Hefte schreiben, mich u. ihren Inhalt beurteilen, die Ziele u. Hindernisse darstellen. Das ergäbe eine Vereinigung des Biographischen mit dem Gegenständlichen, also der beiden lange miteinander konkurrierenden Pläne. Titel: Die 40 Hefte. Haltung: die eines Mannes, der auch mit sich nicht einverstanden ist.205
Wie Musil in der geplanten Essaysammlung die ‘sachliche Gliederung’ mit einem ‘biographischen Zusammenhang’ verbinden wollte, so visierte er auch in dieser späten Notiz eine „Vereinigung des Biographischen mit dem Gegenständlichen“ an. Aber diese Rede von einer Verbindung des Sachlichen mit dem Biographischen darf nicht missverstanden werden. Es ging Musil ausdrücklich nicht darum, Beziehungen zwischen seinen gedanklichen Entwürfen und seiner privaten Lebensgeschichte oder seinen persönlichen Charakterzügen herzustellen, sondern darum, die zeitliche Entwicklung dieser Gedanken nachzuvollziehen. In einem Entwurf für die Einleitung des geplanten Essaybandes betonte er, wichtig sei ihm „nicht der Zusammenhang der zum Vortrag gelangenden Gedanken und Gefühle in einer Person, und also auch nicht in [s]einer Person“ sondern nur „ihr Zusammenhang untereinander“.206 Sollte dieser Zusammenhang der Ideen untereinander „kein ganz genügender sein“, so wolle er es gleichwohl „verschmäh[en]“, die Essays und Gedanken mithilfe der „Person des Autors“, also durch irgendeine „Art von persönlicher Tuschung und indirekter Zeichnung eines interessanten Autors“ zu einer Einheit zu verbinden.207 In ähnlicher Weise kritisierte Musil in einem Artikel von 1918 die „subjektiven ‘temperamentvollen’ wissenschaftlichen Bücher[ ]“, die nur dadurch so etwas wie Einheit und Geschlossenheit erhalten, dass sich überall der „‘Charakterkopf’“ des Autors „aufdrängt“.208 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Kritik, die Musil in einem Essay an der Praxis des zeitgenössischen „Humanismus“ übt, der stets „das Ganze von _____________ 205 206 207 208
Musil, Tagebücher, S. 944 [Heft 33: 1937-etwa Ende 1941]. Ebd., S. 663 [Heft 26: 1921-1923?]. Ebd., S. 664. Musil, Franz Blei, in: GW 8, S. 1024f.
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Persönlichkeiten, Zeiten und Kulturen zu verstehn und als Muster aufzustellen“ versuche.209 Indem dieser Humanismus etwa Autoren wie Goethe und Lessing als „in sich geschlossene[ ] einmalige[ ] Totalitäten“ präsentiere, vernachlässige er über dem „Biographischen“ das „Ideographische“ beziehungsweise den „Sachwert“; um diesen herauszuarbeiten, müsse man aus den Ganzheiten „Lebenselemente herauslösen[ ]“ und sie mit verwandten Phänomenen vergleichen.210 Auch hier plädiert Musil für eine Sicht auf geistige Biographien, die den sachlichen Zusammenhängen der Ideen den Vorrang gibt gegenüber der geschlossenen Totalität der Lebensgeschichte oder Persönlichkeit. Musil hatte es also nicht auf die Verquickung von einer Darstellung seiner Ideen mit seiner persönlichen Lebensgeschichte oder seinem Charakter abgesehen. Aber wozu sollte das diachrone Nachzeichnen der Entwicklung gewisser Gedanken durch sein Leben dann dienen, worin bestand für ihn der Wert einer solchen ‘biographischen’ Darstellung seiner Ideenentwicklung? Musils knappe und verstreute Äußerungen hierzu gestatten kaum mehr als Vermutungen. Prinzipiell scheint die Aufgabe einer biographischen Darstellungsform für ihn darin bestanden zu haben, die Genese seiner geistigen Haltung und seiner aktuellen Auffassungen zu erklären und zugleich zu begründen. Dieses Ziel einer biographischgenetischen Herleitung seines ‘Standpunkts’ formulierte er bereits 1911 in seinem Tagebuch: „Roman: Wie eine Autobiographie. Darlegung wie man zu meinem gemiedenen Standpunkt kommt, an Szenen erläutert.“211 Auch in einem um 1920 in einem Tagebuch verfassten Ansatz zu einer geistigen Positionsbestimmung heißt es zu Beginn: „Ich will nur sagen, was ich denke, und deutlich machen, warum ich es denke.“212 Aber weshalb galt Musil die Genese und zeitliche Entwicklung dieser Gedanken als wichtig und mitteilenswert, weshalb beschränkte er sich nicht darauf, seine jeweils aktuellen Auffassungen darzulegen und argumentativ zu begründen? Hierbei dürfte zunächst von Bedeutung sein, dass Gegenstände des nicht_____________ 209 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1093. 210 Ebd., S. 1093f. – Musil hat diese Passage teilweise wortgleich in einem zwei Jahre später veröffentlichten Essay, „Der ‘Untergang’ des Theaters“, wiederholt (in: GW 8, S. 11161131, hier S. 1130). Dort begründet er seine Forderung nach einer analysierenden, vergleichenden und „Lebenselemente herauslösend[en]“ Betrachtungsweise etwas ausführlicher: „Jedes menschliche Werk besteht aus Elementen, die auch in unzähligen andern Verbindungen vorkommen“; nur eine Untersuchung, die das Werk in solche Elemente zerlegt und diese einordnet in „die fließenden Reihen der Seele [...], welche von Anbeginn bis heute laufen“, bietet wirklich eine „Auslegung des Lebens“ und einen Inhalt, den der Mensch sich aneignen kann (ebd., S. 1130). – Vgl. auch ders., Tagebücher, S. 552 [Heft 19: 19191921]. 211 Musil, Tagebücher, S. 238 [Heft 5: 8. August 1910 – 14. Oktober 1911 oder später]. 212 Ebd., S. 527 [Heft 19: 1919-1921].
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
ratioïden Gebiets ihm zufolge grundsätzlich keine streng systematische Bearbeitung erlaubten und folglich andere Verfahren der Ordnung und Kohärenzbildung erforderten.213 Außerdem betrachtete er den jeweils letzten Stand seiner Überlegungen offenkundig stets als vorläufig und unabgeschlossen;214 auch dies könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass er die zeitliche Entwicklung der Gedanken für bedeutsam hielt, da sie Hinweise dazu liefern mochte, wie die Gedanken weiterzuführen waren.215 Und schließlich scheint Musil angenommen zu haben, dass die Bedeutung oder der Gehalt von nicht-ratioïden Phänomenen vor allem durch ihre Situierung innerhalb eine ‘Reihe’ verwandter Phänomene geklärt und präzisiert werden konnte; so erklärt er einmal, ein Goethe-Gedicht, in dem Menschenliebe oder Güte zum Ausdruck komme, bilde damit „eine Masche in der Reihe der Menschenliebe oder der Güte“ und werde durch seinen „Platz in dieser Reihe“, die „durch die Vorstellungswelt von Anbeginn bis heute“ laufe, „erst wesentlich bestimmt“.216 In entsprechender Weise könnte Musil auch die Meinung vertreten haben, dass die Bedeutung von nicht-ratioïden Gedanken besonders klar hervortrete, wenn sie in eine zeitliche Entwicklungsreihe eingeordnet werden. Musils Bemerkungen zur biographisch strukturierten Exposition von Ideen verweisen auch auf einen bestimmten literaturgeschichtlichen Kontext. Seine oben erwähnten kritischen Bemerkungen über ‘subjektive’ wissenschaftliche Bücher und über ‘Werke des Geistes’, in denen sich der ‘Charakterkopf’ des Autors aufdrängt und zugleich mit der Darlegung von Ideen auch das Porträt einer ‘interessanten’ Autorpersönlichkeit gezeichnet wird – diese Bemerkungen Musils zielen offensichtlich konkret auf Autoren und Veröffentlichungen seiner Zeit, die er an diesen Stellen freilich nicht namentlich nennt. Zu den Werken, von denen er sich hier kritisch distanziert, dürften aber zumindest unter anderem auch Vertreter jenes Textkorpus zählen, das Horst Thomé als Weltanschauungsliteratur bezeichnet hat und zu dem etwa Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel und Houston Stewart Chamberlain prominente Titel beigesteuert haben.217 Wie Thomé gezeigt hat, gehört zu den konstitutiven Merkmalen dieses Texttyps die textinterne Konstruktion eines Verfassersubjekts, das durch einen privilegierten Beobachterstandpunkt und besondere Wahrheits_____________
213 Vgl. etwa Musil, Franz Blei, in: GW 8, S. 1024. 214 Vgl. etwa Musil, Tagebücher, S. 664-667 [Heft 26: 1921-1923?]. 215 Vgl. die oben zitierte Stelle aus dem Entwurf für die Einleitung des Essaybandes: „[...] [S]o ist es auch eine Art Biogramm, was ich geben will, die Entwicklungslinie gewisser Gedanken durch ein junges Leben oder vielleicht nur eine Annäherungslinie an sie. Wo ich es vermochte habe ich dann auch die Richtung angegeben, in der das weiterführen müßte.“ (Musil, Tagebücher, S. 667 [Heft 26: 1921-1923?]) 216 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094. 217 Vgl. Thomé, Weltanschauungsliteratur.
2. Musil über die Darstellung von Denken in der Literatur
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mächtigkeit ausgezeichnet erscheint; dieses Bild vom Verfasser wird innerhalb des Textes nicht zuletzt mithilfe von Mitteilungen über seine Biographie aufgebaut.218 Diese sorgfältige Gestaltung des Verfassersubjekts soll in der Regel das „Defizit“ ausgleichen oder verbergen, das daraus entsteht, dass in den Weltanschauungstexten „Gewißheitsbehauptungen“ vorgebracht werden, die sich aber „weder auf die Rationalitätskriterien des Empirismus noch auf die einer konsequenten Systemphilosophie berufen“ können.219 Musil verfolgte in seinen Essays offensichtlich bescheidenere Ziele als die Weltanschauungstexte; weder behauptete er, eine umfassende Sicht auf das ‘Ganze’ der Welt zu bieten, noch reklamierte er Gewissheit für seine Aussagen. Aber seine Essays und seine Dichtung widmeten sich seinem Verständnis zufolge zumindest partiell demselben Fragen- und Gegenstandsgebiet wie Titel der Weltanschauungsliteratur, dem Bereich des Nicht-Ratioïden, und dieser Umstand ließ ihm offenbar eine ausdrückliche Abgrenzung von konstitutiven Verfahren dieser Literatur als geboten erscheinen. Wenn er die Vermischung einer Darlegung von Ideen mit der indirekten Zeichnung einer ‘interessanten’, ‘charaktervollen’ Autorpersönlichkeit ablehnte, so lag dieser Haltung die Annahme zugrunde, dass auch Ideen des nicht-ratioïden Gebiets auf ihren ‘sachlichen’ Gehalt hin, unabhängig von der Person ihres Urhebers oder Propagandisten, analysiert, geprüft und beurteilt werden können. Die Darstellung der ‘Entwicklungslinie gewisser Gedanken durch ein junges Leben’, wie er sie anvisierte oder befürwortete, sollte offenbar nicht einer suggestiv-indirekten Plausibilisierung dieser Gedanken dienen, sondern letztlich wohl zu dem übergeordneten Ziel beitragen, eine auf Analyse und Vergleich gegründete „Ordnung“ der „Gefühls- und Ideenwelt“220 zu erarbeiten. 2.4. Zusammenfassung Den Gegenstand dieses Kapitels bildeten die Überlegungen, die Musil in Artikeln, Rezensionen und Notizen über die Darstellung von Gedanken in literarischen Werken und die Entfaltung von Gedankengängen im Essay angestellt hat, über die Zielsetzungen, welche mit der Darstellung von Gedanken verbunden sein können, über die Formen, die sie annehmen kann, und über die Ansprüche, die an sie zu stellen sind. Eine zentrale Zielsetzung ergibt sich aus Musils Konzeption des nicht-ratioïden Gebiets _____________ 218 Vgl. ebd., vor allem S. 351-359. 219 Ebd., S. 351. 220 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
und seiner Ansicht, der Dichter habe in seinen Werken dieses Gebiet zu erforschen und Erkenntnisse darüber zu vermitteln; dies impliziert unter anderem die Aufgabe, die Gedanken der Figuren in Beziehung zu setzen zu ihren Motiven, Wünschen, Gefühlen und Handlungen. Diese Zielsetzung steht bei Musil einerseits im Rahmen eines – im weiten Sinne – anthropologischen Programms, das sich in seinen Forderungen nach „Bücher[n] über den Menschen“221 oder Werken, die eine „Auslegung des Lebens“222 liefern, ausdrückt. Andererseits wird diese Aufgabe, die Zusammenhänge zwischen den Gedanken der Menschen und ihren Motiven, Gefühlen und Handlungen aufzudecken, von Musil aber auch mit dem Projekt einer kritischen Gegenwartsdiagnose verbunden. Auch Musils Ausführungen zum Essay sind relevant im Hinblick auf seine möglichen Intentionen bei der Darstellung des Denkens im Roman. Konstitutiv für den Essay ist nach Musil die gedankliche Auseinandersetzung mit Gegenständen des nicht-ratioïden Gebiets, die Bemühung um eine „Artikulation des Gefühls durch den Verstand“223. Dass es der Verstand ist, mit dessen Hilfe im Essay die Phänomene des nichtratioïden Gebiets beleuchtet werden, dürfte sich darin zeigen, dass nach Musil auch im Essay analysiert, unterschieden, verglichen und argumentiert werden sollte. An anderen Stellen hingegen legt er den Akzent mehr darauf, dass die Gedanken eines Essays, da sie nicht-ratioïder Natur sind, aus einer engen Verbindung mit Gefühlen und persönlichen Erfahrungen hervorgehen und vom Leser nicht nur intellektuell und sachlich nachvollzogen, sondern ‘wiedererlebt’ werden können und sollen. Insofern schließlich der Essay den Bereich des Gefühls und der Werte zu analysieren sucht und damit den Menschen eine authentische Erfüllung der Bedürfnisse des ‘inneren Lebens’ zu ermöglichen trachtet, besitzt er nach Musil auch einen utopischen, auf das ferne „Ziel der menschlichen Seligkeit“224 gerichteten Grundzug. Musil deutete außerdem im Kontext verschiedener schriftstellerischer Pläne die Absicht an, die zeitliche Entwicklung seiner Ideen und gedanklichen Entwürfe nachzuzeichnen. Dabei ging es ihm ausdrücklich nicht darum, seine private Lebensgeschichte mit seinen theoretischen Konzeptionen zu verschränken oder die Darlegung seiner Ideen mit einer Inszenierung seiner persönlichen Charaktereigenschaften zu verbinden, um auf diese Weise die Ideen mit einer oberflächlichen Geschlossenheit oder zusätzlicher Überzeugungskraft zu versehen. Der Nachvollzug der diachronen Entwicklung seiner Ideen sollte vielmehr in erster Linie diese _____________
221 222 223 224
Musil, Anmerkung zu einer Metapsychik, in: GW 8, S. 1019. Ders., Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094. Ders., Franz Blei, in: GW 8, S. 1024. Ebd.
3. Erzähltes Denken in Der Mann ohne Eigenschaften
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Ideen selbst, ihre Herkunft und Gründe verständlicher machen und damit ihre Analyse und Bewertung ermöglichen oder erleichtern. Insofern sind Musils Pläne einer diachron-biographisch strukturierten Darstellung seiner Ideenentwicklung kompatibel mit seiner übergeordneten Forderung nach einer Untersuchung und übersichtlichen ‘Ordnung’ der ‘Gefühls- und Ideenwelt’. Alle diese Überlegungen Musils betreffen letztlich auch die Fragen, in welcher Form und mit welchen Zielsetzungen in literarischen Werken Denken erzählt werden könne. Die Art und Weise, in der er in seinem Roman die Denkvorgänge der Figuren dargestellt hat, enthält Niederschläge oder Reflexe der meisten dieser programmatischen und theoretischen Überlegungen.
3. Erzähltes Denken in Der Mann ohne Eigenschaften 3.1. Vorbemerkungen. Zur Forschungslage Wilfried Berghahn hat in seiner Untersuchung über die Erzähltechnik des Mann ohne Eigenschaften zwischen verschiedenen „Darstellungsweise[n] des Gedanklichen“ unterschieden; eine von ihnen sei die, welche Figuren „in Nachdenken versunken“ zeige.225 Ulrich ist zweifellos die Figur, die am häufigsten so erscheint, aber keineswegs die einzige: Arnheim, Clarisse, Moosbrugger, Stumm, Agathe, Hagauer und Lindner erhalten jeweils in einem oder mehreren Kapiteln Gelegenheit, ausführlich stumme Gedankengänge zu entwickeln.226 Diese Darstellungen von Figurenreflexionen sind in der Forschung zum Mann ohne Eigenschaften bisher vor allem unter zwei Gesichtspunkten untersucht worden: zum einen im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Erzählhandlung, zum anderen im Hinblick auf ihre erzähltechnische Gestaltung. Die Untersuchungen, die von dem ersten Gesichtspunkt ausgehen, fassen häufig die Gedankengänge der Figuren mit den Erörterungen des Erzählers und manchmal auch mit Gesprächen der Figuren unter Sammelbegriffen wie ‘Reflexion’ oder ‘gedankliche Partien’ zusammen und widmen sich der Frage, ob und wie diese gedanklichen Partien in die Romanhandlung integriert seien. Berghahn, der diese Frage ins Zentrum seiner Untersu_____________ 225 Wilfried Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik Robert Musils. Eine morphologische Untersuchung zur Organisation und Integration des Romans ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Diss. masch. Bonn [1956], S. 153. 226 Nach Berghahn machen die entsprechenden Kapitel „etwa 15% des Werkes aus“ (ebd.).
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chung stellte, suchte ebenso wie Renate von Heydebrand227 die enge Verknüpfung der Reflexionen mit der Handlung nachzuweisen, wobei es beiden noch ausdrücklich darum ging, Musil gegen den Vorwurf des Philosophierens in Romanform zu verteidigen.228 Berghahn sah diese Integration wesentlich durch die Einordnung der einzelnen Reflexionen in einen fortschreitenden Gesamtgedankengang gewährleistet,229 während von Heydebrand an den Reflexionen Ulrichs stärker ihre Bezüge zum jeweiligen situativen Kontext und zu der inneren Entwicklung des Protagonisten betonte.230 Dagegen vertrat Werner Hoffmeister die These, dass die „inneren Monologe“ Ulrichs sich losgelöst von allen raumzeitlichen Bezügen entfalteten und keine konkreten Ursachen oder Anlässe im Romangeschehen hätten.231 Noch zugespitzter wurde die These einer Unabhängigkeit der reflektierenden Partien von Siegfried Rinderknecht formuliert, dem zufolge die Reflexion den Handlungszusammenhang „zersprengt und zurückgedrängt“ habe: Die Handlungs- und Figurenkonstellation biete nur noch den letztlich beliebigen „Anlaß essayistischer Gedankenarbeit“, in der sich die „Autorsubjektivität Musil“ äußere.232 Simon Jander hat in einem jüngeren Aufsatz diese Dominanz der Reflexion gegenüber der Narration bestritten und die Ansicht vertreten, das Verhältnis der essayistischen Abschnitte zu ihrem narrativen Kontext sei weder als Isolation noch als Integration zu begreifen; die Reflexion verselbstständige sich zwar immer wieder, aber dieses „Entstehen einer autonomen Textwelt“ ermögliche erst eine facettenreiche, dialektisch strukturierte Interaktion zwischen essayistischen Reflexionen und narrativen Passagen.233 Aus ideologiekritischer Perspektive hat Ulf Schramm die Verbindung von „Fiktion und Reflexion“ in Musils Roman untersucht.234 Schramm nimmt an, Musil habe im Mann ohne Eigenschaften auf ein fundamentales Problem der Moderne reagieren wollen, auf die „Entfremdung zwischen _____________ 227 Vgl. das Kapitel „Die erzählerische Integration der Reflexionen Ulrichs“ in: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 172-193. 228 Vgl. Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik, etwa S. 1-9, 116f., 143, 148f.; von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 172. 229 Vgl. Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik, etwa S. 97f., 116-118, 152. 230 Vgl. von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 172, 192f. 231 Vgl. Werner Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede bei Thomas Mann und Robert Musil. The Hague 1965, S. 94-103, Zitat S. 103. 232 Siegfried Rinderknecht, Denkphantasie und Reflexionsleidenschaft. Musils Formsynthese im Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Frankfurt/M. 1979, S. 286. 233 Vgl. Simon Jander, Die Ästhetik des essayistischen Romans. Zum Verhältnis von Reflexion und Narration in Musils ‘Der Mann ohne Eigenschaften’ und Brochs ‘Huguenau oder die Sachlichkeit’. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 527-548; vgl. vor allem S. 529-538, 546-548, das Zitat S. 538. 234 Vgl. Ulf Schramm, Fiktion und Reflexion. Überlegungen zu Musil und Beckett. Frankfurt/M. 1967.
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der sachlich-naturwissenschaftlichen Wirklichkeitseinstellung und der persönlich-existentiellen“, und mit dem „Zusammenspiel der theoretischen Reflexionen und der epischen Fiktion“ habe er auf eine „Überwindung“ dieser Spaltung hinwirken wollen.235 Dieser Versuch Musils sei gescheitert, so Schramm; als Beispiel für einen adäquaten Umgang mit dem genannten Problem und mit den Mitteln von Fiktion und Reflexion führt er Beckett an. Die Reflexionen im Mann ohne Eigenschaften sind nach Schramm gekennzeichnet durch einen assoziativen, richtungslos wuchernden Fortgang, durch das „Ausbilden polarer Gedankenfiguren“ und durch „Ergebnislosigkeit“.236 Außerdem lasse der Roman einen klar herausgearbeiteten Erzählerstandpunkt und eine scharfe Trennung von Erzähler- und Figurenperspektive vermissen; das habe zur Folge, dass die Reflexionen keiner Instanz zugeordnet werden können, dass in diesem Roman letztlich nur ein anonymes „‘Man’“ reflektiere.237 – Schramms Analysen enthalten eine Reihe überzeugender Beobachtungen, kranken aber häufig daran, dass er einzelne Passagen oder Sätze isoliert betrachtet und auf der Basis weniger Textstellen sehr weitreichende Verallgemeinerungen über Ulrichs oder Musils Denken formuliert. Seine Prämisse über die zentrale Absicht Musils, verbunden mit der unplausiblen Annahme, dass über weite Strecken dieser selbst in dem Roman reflektiere,238 führen dazu, dass er die herausgearbeiteten Merkmale von Musils Schreibweise nie auf ihre Funktion innerhalb des Romankontexts hin befragt, sondern sie nur daran misst, inwiefern sie zur Überwindung des behaupteten Grundproblems der Moderne taugen. Einen wichtigen Hinweis auf Charakter und Funktion der Reflexionen Ulrichs gab Hartmut Böhme in seinem Aufsatz über theoretische Probleme der Interpretation von Musils Roman; im Mann ohne Eigenschaften, so Böhme, werde nicht mehr wie im klassischen Bildungsroman eine Lebensgeschichte als Strukturzusammenhang erzählt, die Lebensgeschichte Ulrichs werde vielmehr erst allmählich im Medium seiner Reflexionen rekonstruiert und gedeutet.239 Die Interpretationen dieses Kapitels werden ebenfalls die These vertreten, dass die Gedankengänge Ulrichs zu einem großen Teil den Charakter von Selbstreflexionen haben, in denen er seine gegenwärtige Situation und seine Lebensgeschichte besser zu verstehen versucht. In den Analysen wird vor allem genauer zu untersuchen sein, wie _____________ 235 236 237 238 239
Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 75, 80. Ebd., S. 166. Vgl. ebd., etwa S. 105-107, 154f. Vgl. Hartmut Böhme, Theoretische Probleme der Interpretation von Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. In: Renate von Heydebrand (Hg.), Robert Musil. Darmstadt 1982, S. 120-159 [zuerst 1976], hier S. 146-150.
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diese Selbstdeutungen entwickelt werden; dabei wird sich zeigen, dass auch theoretische Überlegungen Ulrichs, die auf den ersten Blick nichts mit seiner Person und Biographie zu tun haben, in den Kontext seiner Bemühungen um Selbstaufklärung gehören. Die Analysen werden auch erweisen, dass die anderen Figuren in ihren Denkprozessen ebenfalls häufig Selbstdeutungen entfalten und dabei Teile ihrer Lebensgeschichte rekonstruieren. Wo in der Forschung die erzähltechnische Gestaltung der Darstellung von Figurenreflexionen zum Thema gemacht worden ist, da hat man immer wieder auf zwei auffällige Merkmale der Musil’schen Erzählweise hingewiesen: auf die wechselnde Distanz zwischen Erzähler und Figur240 und – eng damit verbunden – auf die „hochgradige Übergänglichkeit“241 zwischen Erzählerrede und Figurenreflexion. Diese ‘Übergänglichkeit’ entsteht dort, wo an Textabschnitte, die eindeutig Gedanken einer Figur wiedergeben, Sätze oder Passagen angeschlossen werden, die einen Duktus allgemeiner Erörterung annehmen und teilweise im Präsens stehen, so dass zumindest auf den ersten Blick nicht leicht zu entscheiden ist, ob sie weiterhin in erlebter Rede die Überlegungen der Figur abbilden oder eigenständige Erörterungen des Erzählers darstellen.242 Diesem auffälligen Zug der Musil’schen Erzählweise sind unterschiedliche Funktionen zugeschrieben worden: Berghahn sah in ihr ein Indiz dafür, dass Musil sich primär nicht für die Personen, sondern für den Gedankengang interessierte und dass die Figuren für ihn als „tragende und dienende Glieder“ in einem „Gesamtgedankengang“ fungieren sollten.243 Hoffmeister meinte, dass Musil mit dieser „Tendenz zur Verschleierung“ und der damit verbundenen „Beweglichkeit und Verschiebbarkeit der Perspektive“ eine Erzählhaltung habe schaffen wollen, die der experimentellen Einstellung des Möglichkeitsmenschen Ulrich gegenüber dem Leben entsprechen sollte.244 Irmgard Honnef-Becker dagegen zählte das Verwischen der Grenze zwischen Erzählerrede und Figurenreflexion zu den erzähltechnischen Verfahren der Relativierung und der illusionsstörenden Selbstrefe_____________ 240 Vgl. Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede, S. 110-117; Irmgard Honnef-Becker, ‘Ulrich lächelte’. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Frankfurt/M. [u.a.] 1991, S. 39. 241 Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik, S. 149. 242 Vgl. ebd., S. 148-154; Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede, S. 115, 124; Honnef-Becker, ‘Ulrich lächelte’, S. 47-51; Alan Holmes, Robert Musil, ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. An Examination of the Relationship between Author, Narrator and Protagonist. Bonn 1978, S. 261-268. 243 Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik, S. 152. 244 Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede, S. 124.
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renz, mit deren Hilfe Musil auf die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem habe aufmerksam machen wollen.245 Die folgenden Analysen werden in einigen Fällen argumentieren, dass die Urheberschaft bestimmter Reflexionen nicht als so ungewiss betrachtet werden muss, wie es manchmal dargestellt wird, und dass es insbesondere dort, wo Reflexionspassagen durch ‘nachträgliche Zuweisungen’ an eine Figur zurückgebunden werden, in der Regel keinen Grund gibt, sie nicht tatsächlich dieser Figur zuzuschreiben.246 Gleichwohl ist unbestreitbar, dass die beschriebene Erzählweise vielfach die Figurenreflexionen zumindest formal an die Erzählerrede annähert und die Grenzen zwischen ihnen unsicher werden lässt. Ob man dieser Erzählweise pauschal eine bestimmte Funktion zuschreiben kann, ist nicht sicher, zumal sie, wie auch mehrere der oben angeführten Interpreten feststellen, nicht alle Darstellungen von Figurenreflexionen gleichermaßen kennzeichnet. So werden die folgenden Analysen etwa zeigen, dass der Erzähler in einem Kapitel des zweiten Buchs Ulrichs Reflexionen auf deutlich andere Weise wiedergibt als in einigen Kapiteln des ersten Buchs und dass dieser Unterschied als Hinweis auf die innere Entwicklung Ulrichs interpretiert werden kann. Wenn es aber darum geht, einen allgemeinen Ansatz zur Deutung der umrissenen Erzählweise zu entwerfen, so scheint es mir nahe liegend, dabei die Ausführungen des Erzählers im Kapitel I.28 heranzuziehen, in denen er auf die Schwierigkeit hinweist, bei der Darstellung denkender Personen „den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen [zu] erwischen“ (MoE 112). Das Changieren zwischen eindeutig identifizierbaren Darstellungen von Figurenreflexion und scheinbar unabhängigen, schwer zuzuordnenden Überlegungen, dieses Changieren kann als der Versuch aufgefasst werden, der Verschränkung zwischen persönlichen und unpersönlichen Dimensionen im Denken gerecht zu werden, also der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein Denkvorgang einerseits die Tätigkeit und das Erleben einer Person involviert, andererseits aber einen sachlichen Gehalt mit semantischen Strukturen besitzt. Insofern dieser Gehalt aus „Seiten der Welt, die sich in einem Kopf zusammenbilden“ (MoE 112), besteht, schließt er das Denken der Person immer auch an die Sprachweisen, Vokabulare und Meinungssysteme (wenn man will: an die Diskurse) ihrer kulturellen Umwelt an. Die changierende Erzählweise dürfte unter anderem indizieren, dass es Musil wesentlich darum geht, diese sachliche Dimension der Gedanken mit ihren eigenständigen Strukturen zur Geltung zu bringen. Das schließt aber keinesfalls aus, dass es in jedem einzelnen Fall zugleich wichtig ist, dass dieser bestimmte sach_____________ 245 Vgl. Honnef-Becker, ‘Ulrich lächelte’, S. 3, 51f. 246 Zu diesem Verfahren der ‘nachträglichen Zuweisung’ vgl.: ebd., S. 45.
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liche Gedankenzusammenhang gerade von dieser Person, zu diesem Zeitpunkt und auf diese Weise entwickelt wird.247 Aus den genannten Zügen der Musil’schen Erzähltechnik kann jedenfalls nicht ohne weiteres gefolgert werden, dass die Figurenreflexionen nicht sinnvoll als ein besonderes Textelement mit eigenen Merkmalen betrachtet werden könnten, sondern nur Teilflächen innerhalb eines undifferenzierten, den Erzähler und die Figuren einschließenden Reflexionsgewebes seien. Die folgenden Analysen werden zeigen, dass diese Reflexionen durchaus als Gedankengänge von Personen gestaltet sind – was auch heißt: als psychische Vorgänge – und dass sie in der Art ihrer Themen und ihrer Struktur einige typische, wiederkehrende Züge aufweisen und insofern ein distinktes Textelement darstellen. Die Strukturierung dieser Reflexionen erweist sich dabei in mehreren Hinsichten als Musils theoretischer Konzeption des Denkens verpflichtet. Im Folgenden werden zunächst nicht die Gedankengänge Ulrichs, sondern die anderer Figuren analysiert, da sie meist kürzer und insgesamt einfacher strukturiert sind. An ihnen lassen sich wesentliche Grundmuster von Musils erzählerischer Darstellung des Denkens herausarbeiten; vor dem Hintergrund dieser Analysen wird dann besser zu erkennen sein, inwiefern Ulrichs ausführlichere Reflexionen ähnlichen Mustern folgen und was ihre Besonderheit ausmacht. 3.2. Arnheim (Kapitel I.112) Es gibt im ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften vier Kapitel, die längere Denkvorgänge Arnheims erzählen. In den Kapiteln I.89 und I.90 erinnert er sich, während er in seinem Hotelzimmer seine Morgenzigarre raucht, an eine Zusammenkunft bei Diotima, die am Abend zuvor stattgefunden hat; die Gedanken an die jungen Intellektuellen und Künstler, denen er dort begegnet ist, veranlassen ihn zu allgemeineren Reflexionen über die „neue[ ] Zeit“ und die besondere Art der Produktivität, die für sie kennzeichnend ist. Auch das Kapitel I.106 zeigt ihn allein in seiner Hotelwohnung; er denkt über Seele und Seelenlosigkeit nach, über den Gegensatz zwischen dem Geist des Geldes, der Vernunft und Moral einerseits und dem Reich der Seele oder der Religion andererseits. Das eigentliche Zentrum seines Gedankengangs aber bilden seine Beziehung zu Diotima und der lähmende Konflikt, den diese Beziehung in seinem Inneren verursacht hat, der Widerstreit zwischen der „Stimme der Vernunft“ und dem „An_____________ 247 Etwas ähnlich, aber mit anderen Akzentuierungen und Gewichtungen, argumentiert auch Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik, S. 152.
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fangs- und Endgefühl, das Diotima in ihm erregt[ ]“ (MoE 510). Das Kapitel I.112 scheint direkt an das Kapitel I.106 anzuschließen. Arnheim befindet sich weiterhin im Hotelzimmer; seine Gedanken beschäftigen sich nun vor allem mit Ulrich und mit seinem Verhältnis zu diesem, außerdem mit seinem Vater sowie weiterhin mit seiner Beziehung zu Diotima. Er hat Soliman zu sich kommen lassen, wie er es am Ende von Kapitel 106 beschlossen hat, und während er über diese verschiedenen Themen nachdenkt, hält er seinem Diener geistesabwesend einen kurzen, bruchstückhaften Erziehungsvortrag. – In der folgenden Untersuchung werde ich mich auf das Kapitel 112 konzentrieren, da der darin erzählte Gedankengang besonders komplex und besonders aufschlussreich im Hinblick auf das Erzählen von Denkvorgängen im Mann ohne Eigenschaften insgesamt ist. Zunächst seien Inhalt und Verlauf von Arnheims Gedankengang knapp zusammengefasst. Am Anfang seiner Reflexionen steht die Feststellung, dass es „Ulrichs Widerspruch endlich gelungen [sei], [ihn] zu verletzen.“ (MoE 539) Er ruft sich ins Bewusstsein, wie sich diese Oppositionshaltung Ulrichs ihm gegenüber äußert, und denkt über die Eigenschaft Ulrichs nach, die er als seinen „Witz“ bezeichnet. Als Soliman das Zimmer betritt, hat Arnheim „größtenteils vergessen, weswegen er ihn kommen ließ“; er lässt ihn Platz nehmen und beginnt zu dozieren, versinkt aber immer wieder in Gedanken, so dass seine belehrenden Ausführungen einen diskontinuierlichen und fragmentarischen Charakter erhalten. Arnheim empfindet „ein unbezwingliches Bedürfnis“, über seinen Vater und über Intuition zu sprechen; in Solimans Gegenwart kann er aber nicht alles sagen, was er denkt, und so bricht er seine Bemerkungen zu diesen Themen gleich wieder ab und spricht stattdessen über das Streben nach Geld, das unangenehm Rationale, Würdelose und Unadelige des Geldes sowie über die Entwicklung des Adels und der adligen Gesinnung. Dabei drängen sich ihm Gedanken auf, die im Widerspruch zu seinen laut formulierten Ausführungen stehen, die er aber für sich behält. Dann unterbricht Soliman Arnheim plötzlich mit der Frage, ob sein Vater ein König gewesen sei. Arnheim teilt ihm mit, dass er ihn vielmehr in einer Truppe von Gauklern gefunden habe, ermahnt ihn, dass ihn das nicht kümmern solle, und schildert ihm die Perspektiven, die sich ihm als Kaufmann eröffnen können, wenn er das pflege, was „geistig adelig“ in ihm sei. In einer „anderen Schichte“ seiner Gedanken hat Arnheim das Thema der Intuition weiter verfolgt, und nun erinnert er sich daran, wie er seinem Vater einst erklärt hat, „daß dieser seine Geschäfte durch Intuition mache“ (MoE 545). An diese Erinnerung schließen sich Überlegungen an, an deren Ende er wieder in das Gesicht Solimans blickt, aus dem das „gierige Verlangen“ spricht, „Genaueres darüber zu erfahren, durch welche
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Intrigen aus einem Königssohn ein Diener werde.“ (MoE 546) Durch diesen Blick wird Arnheim an den Gärtnergehilfen erinnert, der ihn einst bestohlen hat; er denkt daran, dass ihm selbst „der einfache Erwerbstrieb wohl immer fehlen werde“, und von hier aus gelangen seine Gedanken über wenige Zwischenschritte wieder zu Ulrich. Arnheim stellt fest, dass es zwischen ihnen eine bedeutende Ähnlichkeit gebe, dass „auf dem Leben dieses Mannes der gleiche Schatten lag wie auf dem seinen, dort aber eine andere Wirkung hatte!“ (MoE 547) Er vergleicht Ulrich und sich unter verschiedenen Gesichtspunkten und kann sich zunächst nicht dazu durchringen, „in irgendeiner einzelnen Frage Ulrich den Vorrang einzuräumen“, bevor ihm plötzlich der Gedanke kommt, Ulrich besitze „noch unverbrauchte Seele“ (MoE 548). Er hat den Eindruck, eine Entdeckung gemacht und als einziger das Geheimnis Ulrichs durchschaut zu haben; schließlich fasst er die Absicht, „diesen Mann, der ihm das anders verkörperte Abenteuer seiner selbst zu sein schien, um jeden Preis an sich zu ziehen, und sei es, daß er ihn dazu an Sohnes Statt annehmen müßte!“ (MoE 549) Zur Erzählweise des Kapitels ist zunächst allgemein festzustellen, dass Arnheims Gedanken und sonstige mentale Vorgänge mit den Mitteln von Bewusstseinsbericht248, Gedankenzitat249 und erlebter Rede250 wiedergegeben werden.251 Dabei nutzt der Erzähler die Form des Bewusstseinsbe_____________ 248 „Es war das in dem Augenblick, wo Arnheim es überdeutlich vor sich sah, ein so beunruhigender Eindruck, daß er daran seine ganze Neigung für Ulrich wieder erkannte; fast hätte man diesem Gesicht ein Urteil vorhersagen können. Er grübelte diesem zwiespältigen Empfinden von Neid und Sorge nach; es war eine traurige Genugtuung, wie sie jemand empfinden mag, der sich selbst mit Feigheit in Sicherheit gebracht hat, und plötzlich warf eine heftige Anwallung von Neid und Mißbilligung den Gedanken empor, den er unbewußt gesucht und gemieden hatte.“ (MoE 540) – „Da Arnheim lange nicht so vertraut mit Soliman gesprochen hatte, fühlte er, daß es ihn vor einem Zuhörer lächerlich machen würde, aber es war keiner da, und überdies war das, was er sagte, nur die Decklage tieferer Gedankenverbindungen, die er für sich behielt.“ (MoE 544) – „Es kam ihm [i.e. Arnheim; O.K.] plötzlich vor, daß dieser Einfall auch seine Beziehungen zu Diotima mit einem einzigen Wort kennzeichne.“ (MoE 547) 249 „Das gestand sich Arnheim nun allerdings nicht mit diesen Worten ein, aber er dachte: ‘Ich vertrage keinen Widerspruch, weil nur der Verstand durch Widerspruch gedeiht, und wenn jemand nur Verstand hat, so verachte ich ihn!’“ (MoE 539; vgl. auch MoE 541, 546, 548) 250 „Neugierig musterte Arnheim ihrer beider Wesen in dieser Vergleichung. Der grobe Erwerbstrieb für die Vorteile des Lebens fehlte Ulrich noch mehr als ihm, und der sublime Erwerbstrieb, der Wunsch, sich die Würden und Wichtigkeiten des Daseins zu eigen zu machen, fehlte ihm in einer geradezu ärgerlichen Weise.“ (MoE 547) Der erste Satz hat die Form des Bewusstseinsberichts, der zweite die der erlebten Rede, hier erkennbar vor allem an der Wertung „in einer geradezu ärgerlichen Weise“ und an der Unterscheidung zwischen grobem und sublimem Erwerbstrieb, in denen sich Arnheims Perspektive ausdrückt. 251 Bei der Unterscheidung und Bezeichnung verschiedener Formen der Bewusstseinsdarstellung beziehungsweise der Präsentation von Gedanken folge ich: Matias Martinez / Michael
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richts unter anderem zum Zwecke der Entlarvung, indem er wiederholt auf die ‘tieferen’ Wünsche und Gefühle Arnheims hinweist, die er sich selbst nicht oder nur unvollständig bewusst macht (vgl. MoE 539f., 542, 548). Der Erzähler streut außerdem einige Kommentare meist ironischsarkastischer Art zu einzelnen Gedanken Arnheims in seine Darstellung ein und markiert so zusätzlich die Distanz zu dem Großschriftsteller und seinen Reflexionen (vgl. MoE 542, 545, 548).252 3.2.1. Arnheims Suche nach einer ‘befriedigenden’ Beschreibung und Erklärung seiner Gefühle Arnheims Gedankengang scheint auf den ersten Blick nur ein geringes Maß an Kohärenz und Stringenz aufzuweisen und sich über weite Strecken sprunghaft und assoziativ zu entwickeln. Dieser Eindruck kommt vor allem dadurch zustande, dass Arnheim zunächst über Ulrich, seinen „Witz“ und seine Opposition gegen ihn, Arnheim, nachdenkt, dann aber ausgedehnte Reflexionen über seinen Vater, über Vernunft und Gelderwerb sowie über Adel und adelige Gesinnung anstellt; wenn er am Ende doch wieder auf Ulrich zurückkommt, scheint das eher Zufall zu sein und sich selbst wieder einem gedanklichen Sprung zu verdanken. Der Eindruck einer geringen Stringenz wird ferner dadurch verstärkt, dass Arnheim während seines Nachdenkens zugleich mit Soliman spricht; zwar konzentriert er sich kaum auf dieses Gespräch, sondern vergisst zwischenzeitlich fast die Anwesenheit seines Dieners und verfolgt stumm seine Gedanken weiter, aber an einigen Stellen lenken doch Solimans Fragen oder auch nur sein Anblick Arnheims Gedanken in eine neue Richtung (vgl. MoE 543f., 546f.). Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Arnheims Gedankengang durchaus ein hohes Maß an Zusammenhang besitzt und geradezu ein geschlossenes Gebilde darstellt. Dieser Zusammenhang wird aber weniger _____________ Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2., durchges. Aufl. München 2000, hierzu S. 5563. 252 Zu der Gestaltung der Erzählerrede in Der Mann ohne Eigenschaften und insbesondere zu den ‘auktorialen’ Zügen dieser Erzählerrede vgl. ausführlich: Gunther Martens, Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs ‘Die Schlafwandler’ und Robert Musils ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006, S. 109-190; zu dem dabei verwendeten Begriff von Auktorialität vgl. ebd., S. 38-41. Martens weist unter anderem darauf hin, dass der Erzähler häufig Schilderungen der Redeaktivität von Figuren dazu nutzt, ihre Rede als ideologisch zu charakterisieren (vgl. ebd., S. 144); besonders ausgiebig geschehe dies bei Darstellungen von Arnheims Sprechen (vgl. ebd., S. 146-148). Die oben erwähnten Kommentare des Erzählers zu Arnheims Denkaktivität erfüllen eine ähnliche Funktion.
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durch die ausdrücklichen inhaltlichen und logischen Verbindungen zwischen den Abschnitten des Gedankengangs gestiftet als durch einen vielschichtigen psychischen Zustand Arnheims, einen Komplex aus Gefühlen und Wünschen, der als Ausgangspunkt und geheimes Gravitationszentrum der Überlegungen fungiert: Es sind Arnheims Ärger über Ulrich, sein Gefühl der Gekränktheit und sein Wunsch, sich der Opposition Ulrichs auf eine bestimmte Weise zu entledigen, die seinen Gedankengang lenken; und sie tun das insofern, als Arnheim in seinen Überlegungen nach befriedigenden Gründen und Erklärungen für diese Gefühle und Wünsche sucht. Die Gefühle und Wünsche, die den Ausgangspunkt von Arnheims Gedankengang bilden, werden in den ersten fünf Absätzen des Kapitels geschildert und lassen sich so zusammenfassen: Arnheim fühlt sich durch Ulrichs Widerspruch verletzt. Wie der Erzähler andeutet, hat dieses Gefühl der Verletztheit unter anderem den Grund, dass „die Wirkung eines großen und ganzen Mannes“, wie Arnheim sie ausstrahlen will, keine „Leugnung“ verträgt (MoE 539). Arnheim selbst dagegen erklärt sich seinen Ärger zunächst damit, dass „nur der Verstand durch Widerspruch gedeih[e]“ und dass er Menschen verachte, die nur Verstand haben (ebd.). Er will sich gegen die Infragestellung durch Ulrich wehren, aber nicht auf irgendeine beliebige Weise; er will diesen „gewinnen, beeinflussen, erziehen und seine Bewunderung erzwingen. Um sich das zu erleichtern, hatte er sich eingeredet, daß er ihn mit einem tiefen und widerspruchsvollen Gefallen liebe, und hätte nicht gewußt, womit er es begründen solle.“ (Ebd.) – Einerseits fühlt sich Arnheim also durch Ulrich verletzt, ohne sich die wahren Gründe dafür einzugestehen; andererseits redet er sich ein, Ulrich auf widerspruchsvolle Weise zu lieben, weiß aber nicht, wie er das begründen soll. Diese komplexe Konstellation aus echten und eingeredeten Gefühlen sowie verborgenen, vorgetäuschten und fehlenden Gründen für diese Gefühle stellt den Ausgangspunkt von Arnheims Überlegungen dar; diese werden durch seine unbewusste Absicht geleitet, zu einer befriedigenden, akzeptablen Deutung seiner eigenen Gefühle und ihrer Gründe zu gelangen. Es ist also nicht eine explizit formulierte Frage, die den Anstoß zu Arnheims Reflexionen gibt, sondern ein komplexer Gefühlszustand. Aber was genau bedeutet es, dass seine auf Ulrich bezogenen Gefühle und Wünsche den Ausgangspunkt seiner Überlegungen darstellen? Nachdem zu Beginn des Kapitels der Gedanke an Ulrich, verbunden mit den geschilderten Gefühlen, in Arnheim aufgetaucht ist, ruft er sich verschiedene Züge Ulrichs und seiner Beziehungen zu diesem ins Bewusstsein (vgl. MoE 540). Diese Gedanken scheinen von keiner besonderen Absicht geleitet zu sein, sondern frei zu schweifen, doch sie richten sich bald gera-
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de auf diejenigen Eigenschaften Ulrichs, die für Arnheims eingangs benannte Gefühle ihm gegenüber verantwortlich sind. Diese Gedanken an Ulrich lösen wiederum Gefühlsreaktionen in Arnheim aus, die er nun genauer auf ihr Wesen und ihre Ursachen hin ins Auge fasst. Im Laufe seines Gedankengangs entwickelt er so immer neue Beschreibungen, Erklärungen und Deutungen dieser Gefühle. – Dieses Wechselspiel zwischen Gedanken und Gefühlen beginnt damit, dass Arnheim über das nachdenkt, was er „Ulrichs Witz [nennt]“ (MoE 540). Wie sich bald zeigt, verwendet er diesen Ausdruck als Sammelbegriff für Eigenschaften Ulrichs, die ihn besonders irritieren. Als er Ulrich vor seinem inneren Auge mustert, konstatiert er das „bedingungslos Unabhängige[ ]“ in seinem Gesicht, stellt aber auch fest, dass in diesem Gesicht das „Leben“ fehle. Dieser Eindruck weckt in ihm Unruhe und Sorge, so dass „er daran seine ganze Neigung für Ulrich wieder [erkennt]“ (MoE 540); schließlich hat er sich „eingeredet, daß er [Ulrich] mit einem tiefen und widerspruchsvollen Gefallen liebe“ (MoE 539), und dies scheint er hier bestätigt zu finden. Aber die Empfindung der Sorge, die der Gedanke an Ulrichs Gesicht in ihm wachruft, ist mit Neid vermischt; er „grübelt[ ] diesem zwiespältigen Empfinden von Neid und Sorge nach“, und schließlich wirft „eine heftige Aufwallung von Neid und Mißbilligung den Gedanken empor, den er unbewußt gesucht und gemieden hatte. Es war ihm eingefallen, Ulrich wäre wohl ein Mann, der nicht nur die Zinsen, sondern das ganze Kapital seiner Seele zum Opfer bringen würde, wenn die Umstände es von ihm verlangten!“ (MoE 540f.) Arnheim bezieht sich mit dieser Formulierung auf Überlegungen, die er kurz zuvor über sein Verhältnis zu Diotima angestellt hat (vgl. MoE 511). Zieht man diesen Kontext hinzu, so wird klar, was hier den „Neid“ bei Arnheim bewirkt: Er sagt sich, dass Ulrich gegebenenfalls mit mehr Mut, Unbedingtheit und Opferbereitschaft den Wünschen seiner „Seele“ folgen würde, als er selbst das vermag. Diesen unangenehmen Gedanken revidiert Arnheim aber fast umgehend, wobei ihm Soliman, der in diesem Moment das Zimmer betritt, zu Hilfe kommt. Arnheim spürt „die Beruhigung, die von einem lebendigen und ergebenen Wesen“ ausgeht, und eine Maxime Goethes, die er seinem Diener gegenüber zitiert („Denken, um zu tun; tun, um zu denken!“), liefert ihm einen Anhaltspunkt, um seine Ulrich betreffende Feststellung umzuformulieren und aus der neiderregenden Qualität Ulrichs ein Defizit zu machen: Ulrich kennt von der Goethe’schen Devise nur die eine Hälfte, das Denken; seine Bereitschaft, „das ganze Kapital seiner Seele zum Opfer [zu] bringen“, ist in Wahrheit die für alle reinen Intellektmenschen charakteristische Weigerung, die „gegebenen Grenzen“ zu respektieren, „vor denen der voll Fühlende haltmacht. So war die Angelegenheit mit Diotima und
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der Kapitalssubstanz der Seele unter einen erfreulicheren Gesichtspunkt gebracht [...].“ (MoE 541) An dieser Stelle folgt eine Zäsur innerhalb von Arnheims Gedankengang. Er empfindet „ein unbezwingliches Bedürfnis, über seinen Vater zu reden“, kann Soliman gegenüber aber nicht alles sagen, was ihm in den Sinn kommt, und verfolgt seine Gedanken stumm weiter. Es scheint, als sei das Thema ‘Ulrich’ in dem Moment für ihn abgetan, in dem er „die Angelegenheit mit Diotima und der Kapitalssubstanz der Seele unter einen erfreulicheren Gesichtspunkt“ gebracht hat. Doch gegen Ende des Kapitels zeigt sich, dass das Ulrich-Thema für Arnheim noch nicht ‘erledigt’ ist: Er stellt fest, dass ihm „der einfache Erwerbstrieb“ fehlt, dass sich ein „Schatten [...] zwischen ihn und die Gegenstände seines Verlangens“ gelegt habe und dass das auch für sein Verhältnis zu Diotima gelte; in diesem Moment fällt ihm „wie ein sehr unangenehmer Schmerz, der bloß auf eine Berührung gewartet hat, [...] wieder Ulrich ein“ (MoE 547). Seine früheren Gedanken an Ulrich waren unter anderem von der unausgesprochenen Frage geleitet, wie Ulrich sich an Arnheims Stelle gegenüber Diotima verhalten würde; dies ist offenbar der Grund, weshalb er nun über den Gedanken an Diotima wieder zum Thema ‘Ulrich’ zurückkehrt. Der Vergleich mit einem „Schmerz“, der „gewartet hat“, macht zum einen deutlich, dass dieses Thema als unerledigtes im Hintergrund von Arnheims Geist geblieben ist, zum anderen, dass es nicht eine präzise Fragestellung ist, die Arnheim mit Blick auf Ulrich bedrängt, sondern ein schmerzvoller Geistes- oder Gemütszustand. Dass ihm gerade in diesem Moment Ulrich wieder einfällt, liegt ferner daran, dass seine eben formulierten Gedanken über seinen mangelnden „Erwerbstrieb“ ihn zu einer neuen Beschreibung und Erklärung seiner Gefühle gegenüber Ulrich anregen, dem ja auch der Erwerbstrieb fehlt: Folglich liegt auf Ulrichs Leben „der gleiche Schatten [...] wie auf dem seinen“, hat „dort aber eine andere Wirkung“ (MoE 547). Arnheim macht die „Entdeckung, daß sein ohnmächtiger Ärger über Ulrich in einem tieferen Grunde der feindlichen Begegnung zweier Brüder ähnle, die sich nicht erkannt haben“, und diese Entdeckung vermittelt ihm „ein sehr starkes und zugleich wohltuendes Gefühl“ (ebd.). Im Folgenden versucht er, diese neue Beschreibung und Erklärung seiner Gefühle gegenüber Ulrich zu präzisieren, indem er die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen genauer zu benennen sucht: Auch Ulrich fehlt der „grobe Erwerbstrieb für die Vorteile des Lebens“, sogar noch mehr als Arnheim (ebd.). Was die Unterschiede angeht, so kann sich Arnheim auch nach längerem Überlegen nicht dazu durchringen, „in irgendeiner einzelnen Frage Ulrich den Vorrang einzuräumen“, tendiert also zu dem Schluss, „der entscheidende Unterschied bestehe am wahrscheinlichsten darin, daß Ulrich etwas abgehe“ (ebd.).
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Dann aber fällt ihm „ganz ohne seinen Willen“ ein, Ulrich habe „noch unverbrauchte Seele“ (ebd.). Dieser Gedanke verträgt sich mit der Annahme, dass Ulrich ihm wie ein bisher unerkannter Bruder ähnle, dass er „das anders verkörperte Abenteuer seiner selbst“ (MoE 549) sei253; außerdem erfüllt dieser Gedanke Arnheim mit dem Stolz des Entdeckers und der Vorfreude auf das Ausbeuten seiner Entdeckung. Damit ist er offenbar zu einer Erklärung oder Deutung seiner Gefühle gegenüber Ulrich gekommen, die ihn zufrieden stellt; er fasst den „Vorsatz, diesen Mann [...] an sich zu ziehen“ (ebd.), und beendet seine Reflexionen. Am Anfang von Arnheims Gedankengang stehen also seine ebenso komplexen wie diffusen Gefühle gegenüber Ulrich; am Ende seiner Überlegungen steht eine Beschreibung und Erklärung dieser Gefühle, die ihn zufrieden stellt. Die Gedanken an seinen Vater, denen Arnheim im Mittelteil seiner Reflexionen nachgeht, können auf den ersten Blick als eine Abschweifung erscheinen; doch auch sie sind bezogen auf jenen Komplex aus Gefühlen und Wünschen, der oben als Gravitationszentrum von Arnheims Gedankengang bezeichnet wurde. Der Zusammenhang zwischen den Gedanken an Ulrich und jenen an seinen Vater, den Arnheim selbst sich nur unvollständig und indirekt bewusst macht, besteht darin, dass sein Vater ebenso wie Ulrich ein kränkendes Gefühl der Unterlegenheit in Arnheim hervorruft oder hervorgerufen hat. Was Ulrich angeht, so hat Arnheim das unangenehme Gefühl, dass dieser ihm an Mut, Unbedingtheit und Konsequenz überlegen sei. Im Falle von Arnheims Vater ist es dessen „überlegene[ ] Geschäftsbegabung“, die den Sohn „beständig bedrückt[ ]“ (MoE 546), und dies umso mehr, als sie mit einer mangelnden Achtung vor seinen eigenen, auf der Verbindung von Geist, Politik und Geschäft beruhenden Fähigkeiten verbunden zu sein scheint: Wenn schwierige Fragen zu entscheiden sind, lässt der alte Arnheim sie zwar _____________ 253 Dass Ulrich „noch unverbrauchte Seele“ habe, bedeutet für Arnheim das Folgende: „[...] [I]rgendwie war es so, daß jeder Mensch, wie er wußte, seine Seele mit der Zeit in Verstand, Moral und große Ideen auflöst, was ein unwiderruflicher Vorgang ist; und bei seinem Freundfeind war der nicht bis zu Ende geraten, so daß etwas übrig blieb, dessen zweideutigen Reiz man nicht recht bezeichnen konnte, aber daran erkannte, daß dieses Etwas ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen einherging, die sich nicht mehr recht zu den Kulturinhalten zählen ließen.“ (MoE 548) Arnheim beschreibt Ulrichs Charakter und Entwicklung hier offensichtlich so, dass sie vage Parallelen zu seiner eigenen Person und seinem Leben aufweisen, ohne dass er diese Ähnlichkeiten ausdrücklich herausstellte und präzisierte: Aber er ist zweifellos davon überzeugt, dass auch bei ihm selbst die Auflösung der Seele nicht ganz „bis zu Ende geraten“ sei, dass er noch über „unverbrauchte Seele“ verfüge („das ‘Geheimnis des Ganzen’“), und auch bei ihm selbst ist dieser Rest an Seele „ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen“ eingegangen, nämlich mit der Wirtschaft („Die Vereinigung von Seele und Wirtschaft“).
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tagelang diskutieren, befiehlt dann aber „nicht selten das Gegenteil von dem, was man ihm [vorschlägt]“, und behält jedes Mal „auf die eine oder andere Weise recht“ (MoE 542). Der jüngere Arnheim entwickelte schließlich die Überzeugung, dass es sich bei dieser Fähigkeit seines Vaters um „Intuition“ handle; er erinnert sich nun daran, wie er seinem Vater zum ersten Mal erklärte, dass dieser „seine Geschäfte durch Intuition mache“, dass er „die Gabe des Gesichts und Willens [habe], wie sie in den alten großen Zeiten die Könige und Propheten besessen haben, die noch von Gott geleitet wurden“ (ebd.). Diese Erklärung der Fähigkeiten seines Vaters war, wie der Erzähler darlegt, ein „Doppelkunstgriff“, mit dem Arnheim gleich in mehrfacher Hinsicht sein Selbstwertgefühl aufrichtete: Er deutete die überlegene Geschäftsbegabung seines Vaters als eine mythische „Urkraft“, entrückte sie somit „dem Bereich vergeblicher Anstrengungen“ und stellte sich selbst, indem er „seinen Urahn unter die Götter“ versetzte, einen „Adelsbrief der Abstammung“ aus. Nebenbei rechtfertigte er damit auch noch seine Empfindung, dass sein Vater und sein mythischer „Urahn“ zwar mächtiger und ursprünglicher waren als er, zugleich aber auch „ein wenig primitiv“ im Vergleich mit ihm selbst, dem „komplizierteren Sohn“ (MoE 546).254 Die Pointe des Kapitels nun besteht darin, dass Arnheim am Ende seines Gedankengangs einen ganz ähnlichen Kunstgriff einsetzt, um seine quälenden Empfindungen von Neid, Ärger und Minderwertigkeit gegenüber Ulrich zu beseitigen: Er kommt zu dem Schluss, dass Ulrich eine andere Variante seiner selbst sei und „noch unverbrauchte Seele“ (MoE 548) habe. Bei dieser Deutung von Ulrichs Wesen und seinen eigenen Gefühlen kommt Arnheim, wie schon bei der mythisierenden Verklärung der Geschäftsbegabung seines Vaters, „gut davon“ (MoE 546): Seine „intuitive Eingebung“ (MoE 548) löst in ihm keinen Neid auf Ulrichs Qualitäten aus, sondern nur Stolz auf seine eigenen Entdeckerfähigkeiten, außerdem Befriedigung darüber, „der einzige zu sein, der seines Widersachers Geheimnis [kennt]“, und schließlich den Wunsch, seine Entdeckung auszubeuten; er fühlt für Ulrich „die Liebe, die ein Wucherer für sein Opfer empfindet, in dem er sein Kapital stecken hat“ (MoE 549). Diese positiven Gefühle sind so stark, dass er gar nicht auf den Gedanken kommt, Ulrich seinen Besitz an ‘Seele’ als ein _____________ 254 „Er sah in der überlegenen Geschäftsbegabung seines Vaters, die ihn beständig bedrückte, etwas wie eine Urkraft, die dem komplizierteren Sohn unerreichbar bleiben mußte, womit er das Vorbild aus dem Bereich vergeblicher Anstrengungen entrückte und sich gleichzeitig einen Adelsbrief seiner Abstammung schuf. Er kam durch diesen Doppelkunstgriff gut davon. Das Geld wurde zu einer überpersönlichen, mythischen Macht, der nur die Ursprünglichsten ganz gewachsen sind, und er versetzte seinen Urahn unter die Götter, genau so, wie es die alten Krieger getan haben, denen ihr mythischer Vorfahr trotz allen Schauers wahrscheinlich auch ein wenig primitiv vorgekommen sein dürfte im Vergleich mit ihnen selbst.“ (MoE 546)
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Verdienst zuzuschreiben. – Dieser Abschluss von Arnheims Gedankengang legt eine Erklärung dafür nahe, dass er nach der ersten, um Ulrich kreisenden Phase seiner Überlegungen plötzlich über seinen Vater nachzudenken begann: Arnheim wurde dort durch das neidische Gefühl beunruhigt, Ulrich könnte ihm an Mut, Unbedingtheit und Unabhängigkeit überlegen sein; wenn er dann ein „unbezwingliches Bedürfnis“ verspürt, „über seinen Vater zu reden“ (MoE 541f.), so verbirgt sich darin offenbar das Bedürfnis, sich an einen Fall zu erinnern, in dem er ein quälendes Gefühl der Unterlegenheit erfolgreich ausgeschaltet hat. Die Erinnerung an den Moment, wo er die überlegene Geschäftsbegabung seines Vaters auf befriedigende Weise durch Intuition erklärt hat, scheint am Ende seiner Überlegungen als unbewusste Inspiration zu wirken und ihm die „intuitive Eingebung“ zu schenken, Ulrichs besondere Qualitäten beruhten auf seinem Rest an unverbrauchter „Seele“. Arnheims komplexe Gefühle gegenüber Ulrich leiten seinen Gedankengang also nicht nur dort, wo er ausdrücklich über Ulrich und über seine Gefühle nachdenkt, um sie genauer zu erfassen; darüber hinaus lenken sie seine Gedanken auch in mehr indirekter, ihm selbst nur undeutlich bewusster Weise, indem sie in ihm die Erinnerung an seinen Vater wecken, dem gegenüber er ähnliche Gefühle verspürt hat wie gegenüber Ulrich. Mit dem bisher Gesagten soll aber nicht behauptet werden, dass alle Schritte von Arnheims Reflexionen einen direkten oder indirekten Bezug zu seinen Gefühlen gegenüber Ulrich haben oder durch diesen Gefühlskomplex vollständig determiniert wären. Der Verlauf seiner Überlegungen wird auch durch andere Faktoren beeinflusst, insbesondere durch die Gegenwart Solimans sowie durch die Eigendynamik einzelner Themen, die Arnheim beim Nachdenken über seinen Vater in den Sinn kommen und ihn zu Abschweifungen veranlassen. So führen die Gedanken an seinen Vater Arnheim zu allgemeineren Überlegungen über den Adel und über die Beziehungen zwischen „Gemeinheit“ und „Größe der Gesinnung“ (MoE 545); der Anblick Solimans, aus dessen Gesicht das „gierige Verlangen“ nach Informationen über seine Herkunft spricht, erinnert Arnheim an den Gärtnergehilfen, der ihn einst bestohlen hat, und veranlasst ihn zu der Feststellung, dass ihm selbst „der einfache Erwerbstrieb wohl immer fehlen werde“ (MoE 547). Doch während dieser Phasen der Ablenkung bleiben die irritierenden Gefühle und Fragen, die am Anfang des Gedankengangs standen und noch nicht ‘erledigt’ sind, gewissermaßen im Hintergrund, „wie ein sehr unangenehmer Schmerz, der bloß auf eine Berührung gewartet hat“ (ebd.). Arnheims Gedanke an seinen fehlenden Erwerbstrieb und an seine Beziehung zu Diotima berührt diesen Schmerz wieder, und seine Überlegungen wenden sich wieder Ulrich zu. Statt von einem auf Berührung wartenden Schmerz könnte man auch
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von einem Kraftfeld sprechen, aus dessen Wirkungsbereich sich Arnheims Gedanken zeitweilig entfernt haben; mit den melancholischen Gedanken an Diotima und an den „Schatten“ auf seinem Leben kehren seine Reflexionen wieder in diesen Wirkungsbereich zurück und werden in die Richtung dieser Kraftlinien gelenkt. In diesem Sinne wurde der Komplex von Arnheims Gefühlen gegenüber Ulrich oben als das ‘Gravitationszentrum’ seiner Überlegungen bezeichnet: Diese Gefühle determinieren nicht jeden einzelnen Schritt von Arnheims Gedanken, ihre Wirkung kann zeitweilig durch andere Einflussfaktoren überlagert werden; aber sie bleiben als ein Kraftfeld präsent und können sich irgendwann aufs neue direkt bemerkbar machen, indem sie die Gedanken wieder in ihre Richtung lenken. Die Feststellung, dass ein Komplex von Gefühlen und Wünschen wie ein Gravitationszentrum Arnheims Gedankengang leitet, betrifft das psychologische Modell, das dieser Darstellung von Arnheims Denkvorgang zugrunde liegt. Was dagegen die sprachliche und textuelle Seite dieser Darstellung von Denken betrifft, insbesondere die Frage nach den vorherrschenden Sprachhandlungen oder thematischen Entfaltungsformen, so ist in dem bisher Gesagten impliziert, dass Arnheims Gedankengang hinsichtlich seiner Makrostruktur vor allem erklärenden oder auch interpretierenden Charakter hat: Arnheim sucht nach einer ‘befriedigenden’ Erklärung oder Deutung seiner Gefühle gegenüber Ulrich. Er nähert sich dem erfolgreichen Abschluss dieses Bemühens, als er die „Entdeckung“ macht, „daß sein ohnmächtiger Ärger über Ulrich in einem tieferen Grunde der feindlichen Begegnung zweier Brüder ähnle, die sich nicht erkannt haben“ (MoE 547). Was Arnheim hier in der ‘Tiefe’ auszumachen meint, kann als die verborgene Ursache oder als die wahre Beschaffenheit und Bedeutung des vordergründig als ‘oberflächlicher Ärger’ erscheinenden Phänomens verstanden werden; je nachdem, welcher Auffassung man sich anschließt und welche Definitionen von ‘Erklärung’ und ‘Interpretation’ man zudem voraussetzt, kann man die Aussage Arnheims über seinen ohnmächtigen Ärger als eine erklärende oder als eine interpretierende einordnen. Ein bezeichnendes Merkmal von Arnheims Suche nach einer Erklärung oder Deutung seiner Gefühle gegenüber Ulrich ist jedenfalls, dass das Explanandum oder Interpretandum zunächst flexibel und unscharf formuliert wird: Erst am Ende, als er eine befriedigende Erklärung gefunden hat, bezeichnet Arnheim seine Gefühle gegenüber Ulrich als ‘ohnmächtigen Ärger’; vorher spricht er von seiner ‘widerspruchsvollen Liebe’ zu Ulrich, seiner ‘Neigung’ für ihn, seinem ‘zwiespältigen Empfinden von Neid und Sorge’. Die Einordnung als ‘ohnmächtiger Ärger’ ist die für Arnheim am wenigsten schmeichelhafte; sie wird von ihm denn auch erst dann zugelassen, als er ‘entdeckt’ hat, dass dieser Ärger „in einem tieferen Grunde“ etwas anderes ist. Beachtung verdient außerdem der
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folgende Punkt: Was Arnheim zu erklären oder zu deuten sucht, sind wertende Gefühle gegenüber einer anderen Person; das bedeutet, dass sein Gedankengang auch argumentative, begründende Züge hat, denn indem er schließlich eine bestimmte Beschreibung und Erklärung seiner Gefühle gegenüber Ulrich annimmt, betrachtet er auch eine bestimmte Bewertung Ulrichs als zutreffend, und als er diese Erklärung seiner Gefühle durch die Behauptung präzisiert, dass Ulrich noch unverbrauchte Seele habe, da führt er zugleich eine Begründung für seine eben herausgebildete Bewertung an. Seiner übergeordneten Struktur nach hat Arnheims Gedankengang also erklärenden oder interpretierenden Charakter, wobei die schließlich akzeptierte Erklärung auch mit der Rechtfertigung einer Bewertung verbunden ist; in diese erklärende Makrostruktur sind vor allem erzählende und beschreibende, aber auch argumentierende Textabschnitte eingefügt.255 3.2.2. Unwahrhaftigkeit und Ungenauigkeit Den Ausgangspunkt und Anstoß von Arnheims Gedankengang, so wurde oben dargelegt, bilden seine auf Ulrich bezogene Gefühle, sein Ärger und seine Verletztheit sowie die widerspruchsvolle Zuneigung, die er sich eingeredet hat. Er kann sich über die Natur und die Gründe dieser seiner Gefühle nur unzureichend Rechenschaft geben; im Laufe seiner Reflexionen entwickelt er verschiedene Beschreibungen und Erklärungen seiner Gefühle gegenüber Ulrich, indem er sich verschiedene Charakterzüge Ulrichs vor Augen führt und seine eigenen Gefühlsreaktionen auf diese Vorstellungen registriert, bis er schließlich zu einer Deutung Ulrichs und seiner eigenen Gefühle gelangt, die ihn zufrieden stellt. Eine ähnliche Grundstruktur findet sich, wie in den folgenden Analysen noch zu zeigen sein wird, bei vielen der im Mann ohne Eigenschaften dargestellten Denkprozesse: Viele der erzählten Denkvorgänge verschiedener Figuren nehmen ihren Ausgang von irritierenden oder unklaren Gefühlszuständen, welche die Denkenden im Laufe ihrer Reflexionen neu beschreiben und erklären. Die Untersuchung hat aber auch bereits auf einige Merkmale von Arnheims Denkvorgang hingewiesen, die als Kennzeichen seiner individuellen Denkweise gelten können, wenngleich sie in verwandten Formen auch bei _____________ 255 Erzählende Abschnitte werden etwa durch Arnheims Erinnerungen an seinen Vater konstituiert (vgl. MoE 541f., 545f.); eine beschreibende Passage findet sich dort, wo er sich Ulrichs äußere Erscheinung vor sein geistiges Auge stellt (vgl. MoE 540); eine kurze Argumentation entwickelt Arnheim etwa dort, wo er auf den Gedanken kommt, dass sogar eine große und reine Gesinnung mithilfe von Gemeinheit entstehe, und diese These knapp mithilfe von Beispielen begründet (vgl. MoE 545).
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anderen Figuren, etwa Hagauer, zu beobachten sind: Gemeint sind die Züge der Unaufrichtigkeit und des Selbstbetrugs, die Arnheims Überlegungen prägen und die seinen uneingestandenen Wunsch erkennen lassen, eine möglichst schmeichelhafte, befriedigende Erklärung seiner Gefühle für Ulrich zu formulieren. Arnheims Denken ist geprägt durch Unwahrhaftigkeit und durch Selbsttäuschungen, die der Aufrechterhaltung seines Selbstbildes dienen. Der Erzähler weist gleich zu Beginn des Kapitels ausdrücklich auf die Diskrepanz zwischen Arnheims echten und eingeredeten Gefühlen, seinen tatsächlichen und vorgeblichen Motiven hin: Dass Ulrichs Oppositionshaltung ihm gegenüber ihn so verletzt, liegt unter anderem daran, dass dieser fortgesetzte Widerstand auf die Dauer seine Wirkung als ‘großer und ganzer Mann’ untergräbt, doch diesen Grund seines Ärgers mag Arnheim sich nicht ausdrücklich eingestehen (vgl. MoE 539). Auch im weiteren Verlauf seines Gedankengangs zeigt sich mehrfach Arnheims mangelnde Wahrhaftigkeit im Umgang mit seinen eigenen Gefühlen und Einstellungen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass bestimmte Gefühlsregungen und Gedanken vom Erzähler als spontan, ursprünglich und somit ‘echt’ ausgewiesen werden und dass Arnheim dazu neigt, gerade diese unwillkürlichen und spontanen Äußerungen umzudeuten und zu verfälschen, falls sie nicht mit seinem Selbstbild übereinstimmen. Das deutlichste Beispiel hierfür ist die nachträgliche Umdeutung seines neidund eifersuchtsbeladenen Gedankens, dass Ulrich fähig wäre, „nicht nur die Zinsen, sondern das ganze Kapital seiner Seele zum Opfer [zu] bringen“ (MoE 541). Diesen Gedanken, so der Erzähler, wirft „eine heftige Aufwallung von Neid und Mißbilligung empor“, nachdem Arnheim ihn „unbewußt gesucht und gemieden“ hat (MoE 540); diese Beschreibung der Genese des Gedankens zeichnet ihn als einen gültigen und authentischen aus, als einen Gedanken, den Arnheim „unbewußt“ selbst als zutreffend anerkennt. Eben diese Einsicht formuliert er aber kurz danach so um, dass sein eigenes Verhalten und der Unterschied zwischen Ulrich und ihm unter einem „erfreulicheren Gesichtspunkt“ erscheinen: Ulrich als ein Mann, der ‘bloß Witz hat’, ist „vorwitzig“ und „setzt sich über die gegebenen Grenzen hinweg, an denen der voll Fühlende haltmacht“ (MoE 541); der Kontrast zwischen Ulrich und Arnheim ist nicht länger der zwischen Mut und Feigheit, sondern der zwischen bloßem Intellekt und vollem Gefühl. Ein weiteres Beispiel für Arnheims Umdeutung seiner eigenen unmittelbaren Gefühle und Affekte bringt der Abschnitt seiner Überlegungen, in dem er über die Unvereinbarkeit von Gelderwerb und vornehmer Lebensgestaltung nachdenkt. Nachdem er zu Soliman einige Sätze in diesem Sinne gesagt hat, erinnert er sich „an seine Verwandten, wie sie ihm, als er ein Kind war, über den Kopf strichen und dabei sagten,
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daß er ein gutes Köpfchen hätte. Ein Rechenköpfchen. Er haßte diese Gesinnung! In den blanken Goldstücken spiegelte sich die Vernunft einer Familie, die sich emporgearbeitet hatte!“ (MoE 543) Die unredigierte Form dieser Gedanken, die kurzen Sätze, die unverblümte Wortwahl („haßte“) und die emotionale Erregung (Ausrufezeichen) lassen den hier ausgedrückten Affekt ‘echt’ oder unmittelbar wirken. In dieser affektiv aufgeladenen Erinnerung aber zeigt sich, dass Arnheim die Verehrung seiner Familie für Rechenkünste und Vernunft eigentlich deswegen hasst und fürchtet, weil er in ihr ein Stigma der Emporkömmlinge sieht, das ihn „auf den Höhen der Menschheit unmöglich mache[n]“ könnte (ebd.). Vor seinem eigenen Bewusstsein und vor anderen Menschen gibt er aber nur einen Widerwillen gegen das Rechnen selbst zu, den er als eine allgemeine Abneigung gegen alles Rationale und Seelenlose verbrämen kann. Wie Arnheim seine unmittelbaren Gefühlsregungen umdeutet, wenn sie sich nicht in sein Selbstbild einfügen, so neigt er dazu, über Gedanken und Fragen hinwegzugehen, die ihn zu einer weitergehenden Infragestellung seiner Überzeugungen und Prinzipien veranlassen könnten. Im Laufe seiner Reflexionen in Kapitel I.112 gelangt er an zwei Stellen zu solchen Gedanken oder Fragen, die wichtige Einsichten zu enthalten oder zumindest einer Vertiefung wert zu sein scheinen, die Arnheim aber nicht weiter verfolgt. Während er zu Soliman über den Adel und adelige Gesinnung spricht, „drängt[ ] sich ihm der Gedanke auf, daß noch niemals seit Bestehen der Welt etwas aus geistiger Reinheit und guter Gesinnung allein entstanden sei, sondern alles nur aus Gemeinheit, die sich mit der Zeit die Hörner abläuft, und am Schluß entsteht sogar die große und reine Gesinnung aus ihr!“ (MoE 545) Auch der Aufstieg des Arnheim’schen Familienkonzerns und somit Arnheims Ruhm selbst können nicht ohne Beteiligung der „Gemeinheit“ zustande gekommen sein; das „Leben stellte ihm somit eindeutig eine Aufgabe, die er am richtigsten in die tief zwiespältige Frage fassen zu können glaubte: welches Maß von Gemeinheit ist notwendig und zulässig, um Größe der Gesinnung zu schaffen?“ (Ebd.) Dieser „tief zwiespältige[n] Frage“ geht Arnheim im Folgenden aber nicht weiter nach. In einer späteren Phase seines Gedankengangs stellt Arnheim fest, dass er sich „auf der Höhe seines Lebens von allem, was er berührt hatte, durch einen kalten Schatten getrennt“ fühle, und „zu seiner Überraschung“ glaubt er zu erkennen, dass dieser Schatten „mit jenen lichtzarten Schauern“ zusammenhänge, „die seine Jugend umschleiert hatten“ (MoE 547).256 Auch diese Einsicht verfolgt Arnheim nicht weiter, da ihm in diesem Moment der Gedanke kommt, dass auf Ulrichs Leben „der _____________ 256 An seine Jugend und an den „romantisch ahnungsvolle[n] Zustand“ (MoE 386), von dem diese bestimmt war, hat sich Arnheim ausführlich in Kapitel I.86 erinnert; vgl. MoE 380393, vor allem MoE 383-387.
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gleiche Schatten [liege] wie auf dem seinen“ (ebd.). Bemerkenswert ist, dass diese zwei Gedanken, die Arnheim freilegt, aber dann fallen lässt, eine auffällige Ähnlichkeit zu Ulrichs Einsichten über die zwei Bäume seines Lebens besitzen, zu denen dieser nur wenige Kapitel später gelangt. Wie Ulrich über die Rolle von „Gewalt und Liebe“ in seinem Leben, aber auch in der Geschichte der Menschheit überhaupt nachdenkt (vgl. MoE 591-594), so stößt Arnheim auf das komplizierte Verhältnis zwischen „Gemeinheit“ und großer und guter Gesinnung. Vor allem aber dringt er beinahe zu der Einsicht vor, dass die Unerfülltheit seines Lebens mit den „lichtzarten Schauern“ seiner Jugend zusammenhängt, die er offenbar durch eine „falsche Behandlung“ in eine „hauchdünne Eisschicht“ verwandelt hat (MoE 547); in ähnlicher Weise kommt Ulrich zu dem Schluss, die Geschichte mit der Frau Major sei der „Beginn eines Rückschlags“ gewesen, „der nicht mehr endete“, und es sei ihm bisher nicht gelungen, die beiden „Bahnen“ seines Lebens „zu vereinen“ (MoE 592f.). Aber während Ulrich seinen unvermittelten Einfall über das Verhältnis von „Gewalt und Liebe“257 ausführlich entfaltet und seine verschiedenen Facetten und Implikationen ans Licht zu holen sucht, geht Arnheim über seine Einfälle und Einsichten hinweg. Dabei gibt es keine ausdrücklichen Hinweise darauf, dass Arnheim diese Gedanken bewusst verdrängt, weil er etwa spürt, dass sie ihn zu unbequemen Erkenntnissen führen könnten; es zeigt sich aber zumindest, dass diese Gedanken nicht seine Aufmerksamkeit zu fesseln vermögen, weil andere Gedanken und Gefühle ihn stärker beschäftigen, namentlich sein Bedürfnis, seine Beziehung zu Ulrich auf befriedigende Weise zu deuten. Die mangelnde Wahrhaftigkeit und die Neigung zum Selbstbetrug stellen moralische Defizite Arnheims dar, die seine Art des Denkens prägen. Diese moralischen Mängel sind verbunden mit intellektuellen Schwächen seiner Reflexionen; seine Unwahrhaftigkeit alliiert sich mit seiner Ungenauigkeit. Diese intellektuelle oder gewissermaßen ‘epistemische’ Unzulänglichkeit seiner Überlegungen tritt besonders deutlich in den zwei ‘Entdeckungen’ zutage, von denen in diesem Kapitel berichtet wird: Seine Entdeckung, dass sein Vater seine Geschäfte durch „Intuition“ mache, ist ebenso ein Beispiel für ungenaues Denken wie die ‘Entdeckung’, dass Ulrich noch unverbrauchte „Seele“ besitze. Mit beiden Feststellungen meint Arnheim etwas erklären zu können. Die Intuition seines Vaters _____________ 257 Den Ausgangspunkt von Ulrichs längerer Reflexion über Gewalt und Liebe bildet der folgende Gedanke: „‘Mit einem Wort, die Schöpfung’ dachte er [i.e. Ulrich; O.K.] ‘ist nicht einer Theorie zuliebe entstanden, sondern’ und er wollte sagen aus Gewalt, doch da sprang ein anderes Wort ein, als er erwartet hatte, und sein Gedanke ging so zu Ende: ‘sondern sie entsteht aus Gewalt und Liebe, und die übliche Verbindung zwischen diesen beiden ist falsch!’“ (MoE 591)
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erklärt dessen geschäftliche Erfolge und insbesondere die Tatsache, dass er auch mit seinen allen Beratermeinungen zuwider laufenden Entscheidungen regelmäßig recht behält; dass Ulrich noch unverbrauchte Seele besitze, dient Arnheim als Erklärung für seine ambivalenten Gefühle gegenüber seinem „Freundfeind“ (MoE 548). Doch der Erklärungswert dieser Entdeckungen ist sehr zweifelhaft, da ‘Intuition’ und ‘Seele’ höchst unklare Begriffe sind, die auch von Arnheim willkürlich und ohne gehaltvolle Bedeutungserläuterungen gebraucht werden.258 Vor allem aber ist in beiden Fällen unverkennbar, dass die Erklärungen mithilfe von „Intuition“ beziehungsweise „Seele“ überflüssig sind, da es für die fraglichen Sachverhalte einfachere Erklärungen gibt, die Arnheim eigentlich bekannt sind oder bekannt sein könnten. Was Arnheims Vater betrifft, so weist der Erzähler ausdrücklich darauf hin, dass seine geschäftlichen Erfolge nichts Mysteriöses an sich haben: Dass der alte Arnheim mit seinen eigensinnigen Entscheidungen immer wieder gegen seine Berater recht behält, lasse sich schlicht darauf zurückführen, dass „ein alter Praktikus eine Menge weiß und kann, was sich theoretisch nicht vorhersehen läßt“; dies zu verstehen, hätte Arnheim „eigentlich nicht schwerfallen dürfen“ (MoE 542). Und was Arnheims zwiespältige Gefühle gegenüber Ulrich angeht, so hat er, bevor er zu der Erkenntnis von Ulrichs „Seele“ gelangt, schon einige andere Beschreibungen und Erklärungen dieser widersprüchlichen Gefühle formuliert. Er hat sich zunächst einige Eigenschaften Ulrichs ins Bewusstsein gerufen, die in ihm Neid, Sorge und Missbilligung auslösen und die er unter dem Stichwort „Ulrichs Witz“ zusammenfasst: Ulrichs Gleichgültigkeit gegenüber den Vorteilen des Lebens, seine Unabhängig_____________ 258 Arnheims Gebrauch des Ausdrucks ‘Seele’ unterscheidet sich insofern von demjenigen des Erzählers, der das Wort als ein von Diotima und Arnheim verwendetes aufgreift, seine Bedeutung zunächst dahingestellt sein lässt und eine Vielzahl typischer Verwendungen des Ausdrucks aufzählt und beschreibt, um so seinen Gehalt zu klären; vgl. vor allem MoE 183f., außerdem MoE 103f., MoE 186. – Wenn ich annehme, dass Arnheims Verwendung des Ausdrucks ‘Seele’ von Musil als ein Beispiel für Ungenauigkeit intendiert war, so greife ich damit eine Anregung Mulligans auf, der in einem Aufsatz darauf hingewiesen hat, dass die intensiven und facettenreichen Diskussionen um die Abgrenzung von Genauigkeit und ‘Geschwätz’, die im frühen 20. Jahrhundert von österreichischen Philosophen, Literaten und Künstlern geführt wurden, großenteils in der Tradition der Philosophie Franz Brentanos standen; vgl. Kevin Mulligan, Genauigkeit und Geschwätz – Glossen zu einem paradigmatischen Gegensatz in der Philosophie. In: Helmut Bachmaier (Hg.), Paradigmen der Moderne. Amsterdam (Philadelphia) 1990, S. 209-236. Brentano, so Mulligan, hatte eine Taxonomie von genauen und ungenauen Arten des Philosophierens entwickelt und eine Methode des Philosophierens praktiziert und propagiert, die dem Ideal der Genauigkeit verpflichtet war. In dieser Methode spielte der Gebrauch von Beispielen eine zentrale Rolle; sie sollten unter anderem dazu dienen, „philosophischen Termini oder Unterscheidungen eine Bedeutung zu geben und deren Bedeutung zu fixieren.“ (Ebd., S. 215) Eine solche Fixierung der Bedeutung des Ausdrucks ‘Seele’ mithilfe von Beispielen ist es, was die Redeweise des Erzählers von derjenigen Arnheims unterscheidet.
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keit, seine Bereitschaft, gegebenenfalls „das ganze Kapital seiner Seele zum Opfer [zu] bringen“, und seine mangelnde Achtung vor den „gegebenen Grenzen“ (MoE 541). Später kommt Arnheim auf den Gedanken, dass Ulrich und er durch eine brüderliche Ähnlichkeit verbunden seien (MoE 547); dies macht er zunächst daran fest, dass auf ihrer beider Leben ein „Schatten“ liege und dass ihnen gleichermaßen „der grobe Erwerbstrieb für die Vorteile des Lebens“ fehle (ebd.). Diese Beschreibungen Ulrichs und die damit verbundenen Erklärungen von Arnheims Gefühlen kann man zwar teilweise als einseitig und vorurteilsbelastet kritisieren, aber sie haben zumindest einen prägnanten Gehalt, und einige von ihnen scheinen der Wahrheit nahe zu kommen (wenn Arnheim Ulrich mehr Unbedingtheit und Mut zuspricht als sich selbst und darüber Neid empfindet). Die Feststellung aber, dass Ulrich „noch unverbrauchte Seele“ besitze, erscheint demgegenüber vage und fast nichtssagend; der Erzähler weist selbst darauf hin, dass Arnheim „nicht genau [hätte] angeben können, was er damit meinte“, da „es sich um eine intuitive Eingebung handelte“ (MoE 548). – Der explanatorische Wert von Arnheims Erkenntnissen über die Intuition seines Vaters und die Seele Ulrichs ist also sehr gering oder nicht vorhanden; was diese ‘Erklärungen’ für Arnheim attraktiv macht, ist die Tatsache, dass sie seinem Selbstwertgefühl aufhelfen, dass er dabei jeweils ‘gut davonkommt’ (vgl. MoE 546). Arnheims Gedankengang im Kapitel I.112 illustriert die Funktionsweise dessen, was der Erzähler im Kapitel I.109 als „Systeme des Glücks und Gleichgewichts“ beschreibt. Die Mechanismen von Arnheims Gleichgewichtssystem lassen sich in diesem Kapitel so gut beobachten, weil sein Gleichgewicht hier als bedroht erscheint: Sein unklares Verhältnis zu Diotima einerseits und seine gespannte Beziehung zu Ulrich andererseits haben sein gewohntes Gleichgewicht ins Wanken gebracht, wie sich auch in einigen anderen Kapiteln zeigt.259 Das Kapitel I.112 führt vor, wie Arnheim eine dieser Irritationen abwehrt, und liefert damit ein anschauliches Beispiel für die Umdeutungen und ‘Bilanzfälschungen’, mit deren Hilfe dem Erzähler zufolge persönliche Gleichgewichtssysteme typischerweise aufrechterhalten werden. 3.3. Agathe (Kapitel II.9) Innerhalb der veröffentlichten Teile des Mann ohne Eigenschaften gibt es drei Kapitel, die längere Denkvorgänge Agathes darstellen: das Kapitel II.9 („Agathe, wenn sie nicht mit Ulrich sprechen kann“), in dem Agathe mit _____________ 259 Vgl. vor allem Kapitel I.86 sowie Kapitel I.105 und I.106.
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Ulrich auf dem Weg zur Schwedenschanze ist, das Kapitel II.21 („Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen“), das Agathe allein im Haus ihres Vaters, vor der Reise zu Ulrich zeigt, sowie das Kapitel II.31 („Agathe möchte Selbstmord begehn und macht eine Herrenbekanntschaft“), in dem Agathe mit der Absicht, sich zu töten, in den Wald flieht und Lindner trifft. Im Folgenden soll der erste dieser Denkvorgänge, der im Kapitel II.9 platziert ist, analysiert werden. Agathe und Ulrich befinden sich hier in einem Taxi auf dem Weg zum Stadtrand, von wo aus sie zur Schwedenschanze spazieren wollen; die „Stöße des Taxis, das durch schlecht gepflasterte Straßen fuhr, verhinderten ein Gespräch.“ (MoE 726) Art und Verlauf von Agathes Denkvorgang seien zunächst in allgemeiner Weise charakterisiert. Ihre Reflexionen in diesem Kapitel ähneln insofern dem oben untersuchten Gedankengang Arnheims, als sie ebenfalls von einem irritierenden und hinsichtlich seiner Gründe und Ursachen unklaren Gefühlszustand ausgehen. Agathes Überlegungen beginnen damit, dass sie sich an den Moment erinnert, wo sie den Zug bestiegen hatte, um zu ihrem kranken Vater zu reisen; in diesem Moment hatte sie plötzlich und unvermittelt den Entschluss gefasst, nicht mehr zu Hagauer zurückzukehren (vgl. MoE 725). Die Erinnerung an diesen Moment nun weckt in Agathe ein Gefühl der Unzufriedenheit. Sie geht diesem Gefühl, dessen Gründe ihr nicht gänzlich klar zu sein scheinen, nach, indem sie sich andere Erlebnisse und typische Verhaltensweisen ihrer selbst ins Bewusstsein ruft, die eine ähnliche Unzufriedenheit in ihr auslösen. Während sie versucht, sich über diese Unzufriedenheit klar zu werden, erwägt sie verschiedene Bewertungen ihrer Person und ihres Verhaltens und vergewissert sich der Gründe und Überzeugungen, die für ihre Lebensweise bestimmend waren. Dabei erinnert sie sich nach und nach an verschiedene Abschnitte ihres Lebens, von der Kindheit und Jugend über ihre Ehe mit Hagauer bis zu den Gesprächen mit Ulrich in der jüngsten Zeit und dem Begräbnis ihres Vaters. Ihre Unzufriedenheit mit sich selbst wird im Laufe ihres Nachdenkens zeitweilig durch eine selbstbewusstere, zustimmende Einschätzung ihrer bisherigen Lebensweise verdrängt; am Ende ihrer Überlegungen aber macht sie sich leidenschaftliche, verzweifelte Selbstvorwürfe. Doch es ist nicht mehr ihr plötzlicher Entschluss zur Trennung von Hagauer, was ihre Missbilligung erregt, sondern die Tatsache, dass sie so lange bei ihm geblieben ist. Agathes Gedankengang kreist vor allem um die Bewertung ihrer Person und ihres Lebens. Das Fortschreiten und die Umschwünge in ihren Reflexionen kommen wesentlich dadurch zustande, dass sie sich nach und nach verschiedene Gründe für ihre charakteristische Verhaltensweise bewusst macht und verschiedene Bewertungsmaßstäbe daran anlegt. Seiner über-
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geordneten Struktur nach ist ihr Gedankengang insofern primär argumentativer Art: Agathe formuliert nacheinander verschiedene Bewertungen ihrer Person oder einzelner Handlungen und Verhaltensweisen und überprüft jeweils, ob sie sich diesen Urteilen anschließen kann, ob sie diese Bewertungn also begründen kann.260 Zugleich hat ihr Denkvorgang auch, wie der oben analysierte Denkprozess Arnheims, erklärende oder interpretierende Züge, insofern sie eine Erklärung oder Deutung ihres Gefühls der Unzufriedenheit mit sich selbst zu entwickeln sucht. Eingebettet in diese argumentierenden und erklärenden Strukturen sind vor allem narrative und deskriptive Passagen, in denen Agathe sich verschiedene Phasen ihres Lebens und Ereignisse der jüngsten Vergangenheit erzählend in Erinnerung ruft und sich, ihren Charakter und ihre Verhaltensweisen beschreibt. Der Aufbau dieses teils argumentativen und erklärenden, teils erzählenden und beschreibenden Denkvorgangs sei nun eingehender analysiert. Am Anfang von Agathes Überlegungen steht ein Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst, das sie beim Gedanken an ihren plötzlichen Entschluss zur Trennung von ihrem Ehemann empfindet. Was sie zunächst an diesem abrupten Entschluss missbilligt, ist die Tatsache, dass sie durch die „Form“ dieses Verhaltens „an eine wunderliche Krankheit erinnert wurde, der sie als Kind verfallen war“ (MoE 725). Damals hatte sie über ein Jahr lang an einem hohen Fieber gelitten, dessen Ursache die Ärzte nicht ausmachen konnten, und war dann plötzlich wieder genesen. Sie hat ihre Krankheit als etwas Merkwürdiges im Gedächtnis behalten, vermag aber nicht recht zu erklären, was daran „merkwürdig“ gewesen sei (MoE 726); beim Zurückdenken an diese Episode nun tendiert sie dazu, in ihr eine Manifestation jener unwillkürlichen Lebenseinstellung zu sehen, die von Kindheit an für sie charakteristisch gewesen sei: Während der Schulzeit habe sie den Forderungen von Lehrern und anderen Autoritäten meist bereitwillig und widerstandslos Folge geleistet, dabei eine „tiefe[ ] innere[ ] Gleichgültigkeit“ gegenüber den Zwecken dieser Forderungen und der Erziehungsanstalten empfunden und im Übrigen „dort, wo ihre Wünsche ihren Überzeugungen widersprachen, in gelassener Weise das [getan], was sie wollte“ (MoE 727). Im Rückblick erscheint es ihr möglich, dass sich auch hinter ihrer Krankheit nur ihr Wunsch verbarg, „es sich bequem zu machen“ (ebd.). Wenn nun ihr unvermittelter Entschluss zur Trennung von Hagauer sie an diese Krankheit erinnert und dadurch ihr Missfallen erregt, kann man dies so deuten, dass sie auch diesen plötzli_____________ 260 Nach Eggs’ Klassifikation von Argumentationsarten handelt es sich also um eine ethische Argumentation; die zwei weiteren von Eggs angenommenen Typen sind die epistemische und die deontische Argumentation. Vgl. Eggs, Vertextungsmuster Argumentation, S. 398f. Vgl. dazu oben, S. 19f. dieser Arbeit.
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chen Entschluss im Verdacht hat, lediglich aus einem Hang zur Bequemlichkeit hervorgegangen zu sein. Die Erinnerung an ihre Kindheit aber hat jedenfalls Agathe dazu geführt, sich die Haltung gegenüber dem Leben und der Welt vor Augen zu führen, die sie als kennzeichnend für sich ansieht: die Verbindung von Folgsamkeit, innerer Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit. Diese Lebenseinstellung bildet das übergeordnete Thema der folgenden Überlegungen Agathes, in denen sie sich bewusst macht, wie diese Einstellung sich in ihrem Leben ausgeprägt hat, und zu einer Bewertung dieser Haltung zu kommen versucht. Zunächst formuliert sie „unsicher“ die folgende Selbsteinschätzung: „‘Also einfach ein träger und wertloser Charakter!’“ (MoE 727) Dass sie sich bei dieser Bewertung selbst „unsicher“ ist, liegt daran, dass das Urteil einen Wertmaßstab vorauszusetzen scheint, an den sie nicht glaubt. Die Freundinnen aus der Schulzeit, die einst am leidenschaftlichsten „gegen die starre Internatszucht gemeutert“ hatten, haben sich später „mit dem Ganzen des Lebens auf das Beste“ abgefunden und sind „gut gebettete Frauen“ geworden, „die ihre Kinder nicht viel anders erzogen, als es ihnen selbst widerfahren war.“ Agathe „war darum trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich auch nicht überzeugt, daß es besser sei, ein tätiger und guter Charakter zu sein.“ (MoE 727) Hier zeigt sich besonders deutlich, dass Agathes Unzufriedenheit mit sich ein erklärungs- oder deutungsbedürftiges Phänomen ist, und zwar auch für sie selbst; sie empfindet diese Unzufriedenheit, ohne sagen zu können, aus welchen Gründen oder im Namen welches Ideals sie sich und ihr Verhalten verurteilt. Nachdem sie es abgelehnt hat, sich und ihr Leben anhand des Ideals eines ‘tätigen und guten Charakters’ zu bewerten, ruft sie sich ihre eigenen Überzeugungen und Lebensmaximen ins Bewusstsein: Wenn sie sich fragte, wovon sie eigentlich überzeugt wäre, so antwortete ihr ein Gefühl, daß sie ausersehen sei, etwas Ungewöhnliches und Andersgeartetes zu erleben; schon damals, als sie noch so gut wie nichts von der Welt wußte und das wenige, das man sie gelehrt hatte, nicht glaubte. Und es war ihr immer als eine geheimnisvolle, diesem Eindruck entsprechende Aktivität erschienen, einstweilen, wenn es sein müßte, alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu überschätzen. [MoE 727f.]261
_____________ 261 Diese Überzeugung Agathes ähnelt einer Überzeugung Ulrichs, die dieser ebenfalls schon von Kindheit oder früher Jugend an besessen hat: Ulrich „war es gewohnt, sich aus natürlichem Trieb und ohne Eitelkeit für das Werkzeug zu einem nicht unbedeutenden Zweck zu halten, den er schon noch rechtzeitig zu erfahren gedachte [...].“ (MoE 151) Die Gemeinsamkeit zwischen Agathes und Ulrichs Überzeugung liegt darin, dass sie beide sich für ausersehen halten, etwas Bedeutendes oder Ungewöhnliches zu leisten oder zu erleben, dass sie aber beide keine Vorstellung haben, was dieses Bedeutende oder Ungewöhnliche sein könnte. Bei Ulrich hat diese Überzeugung eine mehr aktive, bei Agathe eine mehr passive Färbung; ein spezifisches Merkmal von Ulrichs Überzeugung, das bei Agathe kein Pendant
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Diese Überzeugungen prägten auch ihre Einstellung gegenüber ihrer Ehe mit Hagauer. Nachdem sie sich dieser gefühlsgestützten Überzeugungen vergewissert hat, kann sie auch jetzt diese Ehe wieder mit gelassener Distanz betrachten, ohne sie „zu überschätzen“; sie „lächelt[ ]“ beim Gedanken daran, wie unbegreiflich es Ulrich erschienen war, „daß sie ihrem Gatten nicht schon in der Brautnacht davongelaufen sei“ (MoE 728), und in Gedanken weist sie „widerspenstig“ seine „große[n] Worte wie Schreck, Schock und Vergewaltigung“ zurück (MoE 729). „Liebe hatte sie sich nicht gewünscht“, als sie Hagauer heiratete; „sie hatte sich gedacht, es werde irgendwie gehn, er war ja ein guter Mensch.“ (Ebd.) Doch dieser Begründung ihrer Einwilligung zur Ehe entzieht Agathe im Folgenden selbst den Boden. Der Ausdruck „ein guter Mensch“ weckt in ihr die Erinnerung an ihre Gespräche mit Ulrich und an das, was sie über Güte und gute Menschen gesagt haben. In der Perspektive, die sie in diesen Gesprächen eingenommen haben, ist Hagauer kaum ein guter Mensch, sondern nur „einer jener Menschen, die immer gut handeln“ (ebd.). Agathe erinnert sich außerdem an das fast schmerzhaft eindringliche Glück, das diese Gespräche mit Ulrich und manche seiner Sätze in ihr hervorgerufen haben; während dieser Gespräche war ihr auch plötzlich „bewußt geworden, wie nachlässig sie immer gehandelt habe, und so auch damals, als sie sich einfach gedacht hatte, es werde ‘schon irgendwie’ mit Hagauer gehn, weil er ein ‘guter Mensch’ sei!“ (MoE 730) Kurz darauf fällt ihr ein, wie sich die Begegnung mit Hagauer beim Begräbnis vollzogen hat; dabei verschwindet die „gerechte Art, in der sie bisher an ihn gedacht hatte“, ihre „Kehle [zieht] sich bitter zusammen“ (ebd.), der Gedanke an Hagauers Abschiedskuss scheint sie „zu vernichten“: ‘Wie hat es geschehen können,’ fragte sie sich bestürzt ‘daß ich so lange an der Seite dieses Mannes ausgeharrt habe? Aber habe ich denn nicht mein ganzes Leben widerstandslos hingenommen?!’ Sie warf sich leidenschaftlich vor: ‘Wenn ich auch nur ein wenig wert wäre, hätte es niemals mit mir so weit kommen können!’ [MoE 732]
Wenige Momente zuvor hat sich Agathe ihre unwillkürlichen, gefühlsbasierten Überzeugungen ins Bewusstsein gerufen, deretwegen es ihr immer als eine gerechtfertigte und „geheimnisvolle [...] Aktivität erschienen [war], einstweilen, wenn es sein müßte, alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu überschätzen“ (MoE 728). Nun widerruft sie diese Einschätzung und macht sich leidenschaftliche Vorwürfe wegen der Widerstands_____________ hat, besteht außerdem in der Auffassung seiner selbst als eines Instruments, eines „Werkzeug[s]“. Diese Vorstellung, welche die Person gegenüber ihrer Funktion und gegenüber dem überpersönlichen Zweck zurücksetzt, ist charakteristisch für die Gesamthaltung des jungen Ulrich, die vor allem von der „Gewalt“-Seite seines Wesens bestimmt war.
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losigkeit und Gleichgültigkeit, mit der sie ihre Ehe oder gar ihr ganzes Leben hingenommen habe. Sie wiederholt und bekräftigt damit noch einmal den plötzlichen Wandel ihrer Selbsteinschätzung, der sich auch schon während ihrer Gespräche mit Ulrich vollzogen hat, als ihr „bewußt geworden [war], wie nachlässig sie immer gehandelt habe“, nicht zuletzt bei ihrer Einwilligung in die Ehe (MoE 730). Aber weder in der Erinnerung an jene Gespräche mit Ulrich noch in ihrer eben zitierten Selbstkritik vom Ende ihrer Überlegungen finden sich ausdrückliche Hinweise darauf, warum Agathe die Einschätzung ihrer selbst und ihres Lebens plötzlich so radikal ändert, warum sie die Lebenshaltung, mit der sie eben noch einverstanden zu sein schien, nun so vehement verurteilt. Die Formulierung, die fatale Nachlässigkeit ihrer Lebensweise sei ihr „plötzlich [...] bewußt geworden“, zeigt an, dass diese Einsicht für sie eine unmittelbare, keiner weiteren Begründung bedürftige Evidenz besitzt. Aber diese plötzliche Bewusstwerdung kommt nicht aus dem Nichts, sondern ist durch die Gespräche mit Ulrich ausgelöst worden, die bei Agathe, wie es andernorts heißt, den „Zustand einer inneren Wiedererweckung“ bewirkt (MoE 755) und ihr offenbar etwas wie einen neuen Maßstab vermittelt haben, an dem sie nun ihr Leben und ihre Ehe mit Hagauer misst. Das Ideal des ‘tätigen und guten Charakters’, wie es ihre Freundinnen aus der Internatszeit verkörpern, und eine auf diese Norm gestützte Kritik an ihrem Leben konnten sie nicht überzeugen und nicht erschüttern. Doch die Gespräche mit Ulrich und nun die Erinnerung an diese Gespräche führen dazu, dass diese Verhaltensweise ihr als unbegreiflich „nachlässig“ und geradezu als Beweis für die gänzliche Wertlosigkeit ihrer Person erscheint. Als Agathe sich im letzten Abschnitt ihres Gedankengangs an die Gespräche mit Ulrich und die Begegnung mit Hagauer erinnert und ihre Selbsteinschätzung revidiert, schlägt nicht nur ihr Gefühl von beinahe heiterer Gelassenheit in Bestürzung um, sondern verändern sich auch ihr Körperempfinden und die Wahrnehmung ihrer Umgebung; es ist ihr Gesamtzustand, der hier in kürzester Zeit ‘umkippt’. Bis zu dem Moment, wo sie sich an das letzte Zusammentreffen mit Hagauer erinnert, fühlt sie sich „zwischen den Sprüngen und Stößen des Wagens, der über holprige Vorstadtstraßen fuhr und die beiden des Sprechens Ohnmächtigen in ein Netz mechanischer Erschütterungen hüllte, [...] sehr wohl[ ]“ (MoE 730). Das angenehme Gefühl, das ihr die Erschütterungen ihres Körpers durch die Sprünge des Wagens bereiten, erscheint als Entsprechung zu jener gleichgültigen Gelassenheit, mit der sie ihr Leben einschließlich ihrer Ehe mit Hagauer hingenommen hat und die sie sich hier zunächst noch zustimmend bewusst macht. Als sie sich aber am Ende ihres Gedankengangs aus diesem widerstandslosen Hinnehmen ihres Lebens einen leidenschaftlichen Vorwurf macht, nimmt sie erstmals die Hässlichkeit und Öde der
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Vorstadtstraßen wahr, die ihr die selbstverschuldete „Einöde“ ihres Lebens widerzuspiegeln scheinen, und empfindet das Schütteln und Beuteln ihres Körpers durch die Wagenstöße als „unheimlich[ ]“: Sie saß jetzt nicht mehr aufrecht, sondern hatte sich in die nach Alter riechenden Polster der Droschke etwas hinabgleiten lassen, um bequemer durch das Fenster sehen zu können, und änderte diese unschöne Haltung nicht mehr, in der sie von den Stößen des Wagens grob am Bauch gepackt und geschüttelt wurde. Dieser Körper verursachte ihr ein unheimliches Gefühl, wie er gleich einem Fetzen gebeutelt wurde, denn er war das einzige, was sie besaß. [MoE 732]
Die Resultate von Agathes Gedankengang drücken sich für sie wesentlich in einer bestimmten Wahrnehmung ihres eigenen Körpers aus, der „das einzige“ ist, „was sie [besitzt]“, und dessen „Selbstgewißheit“ (ebd.) für sie der maßgebliche Bezugspunkt ist. Dieser Körper erinnert sie nun an die Vergänglichkeit seiner „Schönheit“ und der aus ihm stammenden „Gefühle“ und macht ihr die Gefahr bewusst, dass „in wenigen Jahren“ „alles vorbei“ sein könnte, „ohne daß etwas dagewesen wäre“ (ebd.). Diese körperlichen Empfindungen in Verbindung mit ihren vorangegangenen Gedanken lassen in ihr die Absicht entstehen, Ulrich über seine ähnlich gelagerten Erfahrungen auszufragen: „Es fiel ihr ein, daß Ulrich in ähnlicher Weise von der Nutzlosigkeit seines Sports gesprochen habe, und während sie ihr Gesicht zwang, abgewandt am Fenster zu bleiben, nahm sie sich vor, ihn auszufragen.“ (Ebd.) Agathes Gedankengang kreist, wie oben bereits festgestellt wurde, wesentlich um die Frage, wie ihr Charakter und ihre Lebensweise zu bewerten seien; das Ergebnis ihrer Reflexionen besteht in einem vernichtenden Urteil über sich selbst und ihr bisheriges Leben sowie in dem – noch eher undeutlichen und unbestimmten – Wunsch, einen „seelische[n] Inhalt“ (MoE 732) für ihr Leben zu finden, bevor es zu spät sei. Aber damit sind der Denkvorgang und sein Ergebnis nicht erschöpfend charakterisiert: Die Selbstbewertung, die Agathe hier entwickelt, ist verbunden mit einer Selbstaufklärung oder Selbstdeutung, und zu den Resultaten ihres Gedankengangs gehört auch eine größere Klarheit über sich selbst. Indem sie sich an verschiedene Lebensphasen und Erfahrungen erinnert und sich ihre bestimmenden Gefühle und Überzeugungen bewusst macht, konfrontiert sie auch verschiedene Teile oder Seiten ihrer selbst miteinander. Wenn sie sich kurzzeitig wieder in die fast gleichgültige Gelassenheit hineinzuversetzen vermag, mit der sie in die Heirat mit Hagauer eingewilligt hat, so zeigt das, dass auch diese Haltung ein Teil von ihr ist, eine Basis in ihren Gefühlen besitzt. Diesen Teil ihrer selbst und ihres Lebens konfrontiert sie mit den Gefühlsreaktionen, welche die Gespräche mit Ulrich in ihr ausgelöst haben, mit jenem Teil ihrer selbst, den die Begegnung mit Ulrich in ihr ‘wiedererweckt’ hat. Das Ergebnis dieser Konfrontation ist
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eindeutig: Agathe identifiziert sich ganz mit dem durch Ulrich ‘wiedererweckten’ Teil ihrer selbst und wendet sich ab von der Einstellung, die in den zurückliegenden Jahren für sie bestimmend gewesen ist. Ihr ist zwar, wie aus ihren Erinnerungen in diesem Kapitel hervorgeht, schon während der Gespräche mit Ulrich einmal „plötzlich [...] bewußt geworden, wie nachlässig sie immer gehandelt habe“ (MoE 730). Doch diese plötzliche, momenthafte Bewusstwerdung allein hat offenbar nicht ausgereicht, um eine gänzliche Abkehr von ihrer bisherigen Lebenshaltung in ihr zu bewirken. Zu dieser definitiven Befestigung ihrer Selbstkritik wie ihrer neu erwachten Gefühle und Wünsche kommt es erst am Ende eines längeren Gedankengangs, in dem sie auch diese Lebenseinstellung der zurückliegenden Jahre noch einmal vollständig ‘artikuliert’ hat, sich also die Erfahrungen und gefühlsmäßigen Überzeugungen, auf denen sie beruhte, ausdrücklich ins Bewusstsein gerufen hat; diese Einstellung und die in ihr ausgedrückten Gefühle und Überzeugungen verlieren aber ihre Anziehungskraft, als sie mit der stärkeren Evidenz der jüngsten Erlebnisse Agathes konfrontiert werden. Agathe besitzt also am Ende ihres Gedankengangs insofern eine größere Klarheit über sich selbst, als sie sich ihre zunächst noch unsicher und diffus miteinander konkurrierenden Einstellungen bewusst macht und die ihnen zugrunde liegenden Gefühle und Erfahrungen ans Licht holt, um beim direkten Aufeinandertreffen dieser Einstellungen und Gefühle festzustellen, welche von ihnen für sie die größere Überzeugungskraft besitzen. Agathes Überlegungen im Kapitel II.9 besitzen, was ihre Art und Struktur betrifft, einige Ähnlichkeiten mit dem zuvor analysierten Gedankengang Arnheims. Wie dieser, so versucht auch Agathe, sich über die Bedeutung von Gefühlen klar zu werden, die sie irritieren. Sowohl Arnheim als auch Agathe rufen sich Episoden ihres Lebens in Erinnerung und entwickeln Beschreibungen und Charakterisierungen ihrer selbst; beide befragen sich selbst über ihre leitenden Überzeugungen, Einstellungen und Wünsche. Doch hinsichtlich der konkreten Durchführung bilden die Reflexionen Arnheims und Agathes einen scharfen Kontrast: Wird Arnheims Gedankengang geradezu als Musterbeispiel für Unaufrichtigkeit und Selbsttäuschung dargestellt, so erscheinen Agathes Überlegungen als Exempel einer schonungslos ehrlichen Selbsterforschung. Agathe scheint, anders als Arnheim und – dem Erzähler zufolge – die meisten Menschen, nicht über ein ‘System des Gleichgewichts’ oder eine Methode der Bilanzfälschung zu verfügen. Sie zeigt an keinem Punkt ihrer Reflexionen eine Neigung, ihre Gefühle, Erlebnisse oder Handlungen so zu deuten oder umzudeuten, dass sie ein beruhigendes, schmeichelhaftes Selbstbild ergeben; ihr Gedankengang lässt sogar eher eine gegenteilige Tendenz erkennen, einen Hang zur Selbstanklage und ‘Selbstverkleinerung’, wie ihn an-
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dernorts Ulrich und der Erzähler bei ihr ausmachen.262 Während es Arnheim schließlich gelingt, die Irritation, die den Anstoß zu seinem Gedankengang gibt, zu beseitigen, seine Gefühle auf ‘befriedigende’ Weise zu deuten und sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen, steigert sich im Falle Agathes eine leichte Unzufriedenheit schließlich zu offener Verzweiflung und leidenschaftlichen Selbstvorwürfen. 3.4. Hagauer (Kapitel II.29) Das 29. Kapitel des zweiten Buchs zeigt Hagauer beim Abfassen eines Briefs an Agathe und schildert ausführlich die Überlegungen, die dem Schreiben dieses Briefs vorangehen und es begleiten. Zu diesem Brief hat Hagauer sich genötigt gesehen, nachdem Ulrich ihm brieflich den Scheidungswunsch Agathes mitgeteilt hat. Auf zwei Briefe Hagauers, in denen er dieses Ansinnen zurückwies und Agathes Rückkehr forderte, hat Ulrich ablehnend und mit einer Bekräftigung des Scheidungswunsches reagiert; daraufhin entschließt sich Hagauer, „auf Agathe selbst einzuwirken“ (MoE 949). Hagauers Gedankengang in diesem Kapitel ist kürzer und weniger komplex als die oben untersuchten Denkvorgänge Arnheims und Agathes und kann daher knapper analysiert werden. Hagauers Denkprozess weist einige Parallelen zu Arnheims Überlegungen in Kapitel I.112 auf: Wie im Falle Arnheims ist es eine Störung des ‘Gleichgewichts’, was Hagauers Überlegungen in Gang setzt, und auch seine Gedanken führen schließlich zu einer Wiederherstellung und Stabilisierung dieses Gleichgewichts. Bei Hagauer treten dieser Grundzug seines Gedankengangs und die damit verbundenen fragwürdigen Merkmale seines Denkens noch unverhüllter zutage als bei Arnheim; der Duktus des Kapitels ist noch weit direkter und konsequenter satirisch als der des oben untersuchten Arnheim-Kapitels. Die ersten Abschnitte des Kapitels II.29 schildern, wie Hagauers inneres Gleichgewicht durch die fortgesetzte Abwesenheit seiner Frau allmählich verunsichert und durch den von Ulrich mitgeteilten Scheidungswunsch schließlich massiv erschüttert wird: Nach Ulrichs zweitem Brief leidet er zwei Tage lang „an einem Gefühl, das so war, als hätte ihn jemand vor das _____________ 262 In dem Kapitel II.10, das auf das hier analysierte folgt und den weiteren Verlauf des „Ausflugs auf die Schwedenschanze“ beschreibt, spricht Agathe zu Ulrich von der Reue, die sie stets über ihre „wenigen Unternehmungen“ empfunden habe, und von dem „unbeleuchteten Zustand“, der dann über sie komme. Diese Äußerungen erinnern Ulrich „daran, daß seine Schwester sich schon manchmal in auffälliger Weise über sich selbst beklagt hatte.“ (MoE 736) – Von „Selbstverkleinerung“ spricht der Erzähler in dem Kapitel, in dem Agathe sich mit Selbstmordabsichten von Ulrich entfernt und in den Wald geht (MoE 963).
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Herz gestoßen.“ (MoE 948) Es handelt sich dabei um eine schmerzhafte, „tiefe Unbequemlichkeit“ (ebd.), deren genaues Wesen und deren Gründe ihm nicht deutlich bewusst sind; auch in dieser Hinsicht ist seine Ausgangslage mit derjenigen Arnheims (und auch mit derjenigen Agathes) vergleichbar, dessen Gedankengang ebenfalls von einem unangenehmen, mit Ulrich zusammenhängenden Gefühl angestoßen wurde, über dessen genaue Ursachen er sich nicht recht klar war. Als Hagauer schließlich den Brief an Agathe zu Ende geschrieben hat, ist sein inneres Gleichgewicht unverkennbar wieder intakt, und er kann „die ungewohnte, stolz bewältigte Anstrengung, über seine Frau nachzudenken, als kräftige Ausatmung durch den Schnurrbart blasen[ ]“ (MoE 953). Er erreicht diese Wiederherstellung seines Gleichgewichts, indem er eine Erklärung des Verhaltens seiner Frau entwickelt, die mit seinen moralischen und wissenschaftlichen Überzeugungen übereinstimmt, die den Scheidungswunsch Agathes als Ausdruck einer pathologischen Veranlagung deutet und ihre baldige Rückkehr zu ihm als – in ihrem eigenen Interesse – dringend geboten erscheinen lässt. Hagauers Denkvorgang ist durch ähnliche Defizite gekennzeichnet wie der oben analysierte Gedankengang Arnheims. Allerdings treten diese Unzulänglichkeiten bei ihm noch in gröberer und unverstellterer Form auf; der Erzähler verzichtet hier denn auch fast vollständig auf explizite Hinweise auf Widersprüche und Selbsttäuschungen, wie sie seine Darstellung von Arnheims Überlegungen durchziehen, er beschränkt sich weitgehend auf die unkommentierte Wiedergabe der Gedanken Hagauers und lässt sie sich selbst disqualifizieren.263 Ein hervorstechendes Defizit von Hagauers Denken besteht in seiner Unfähigkeit, sich die wahre Natur seiner Gefühle und Wünsche bewusst zu machen. Als Arnheim sich über seine Gefühle gegenüber Ulrich klar zu werden versucht, gelangt er zwischenzeitlich zu Beschreibungen und Deutungen dieser Gefühle, die der Wahrheit zumindest sehr nahe zu kommen scheinen (als er nämlich in diesen Gefühlen den Neid dessen, der sich feige in Sicherheit gebracht hat, auf den Mutigeren und Unbedingteren freilegt); doch er ersetzt diese Deutungen schnell durch andere, die sein Verhältnis zu Ulrich „unter einen erfreulicheren Gesichtspunkt“ bringen (MoE 541). Arnheim zeigt sich hier wie an anderen Stellen als fähig, zumindest zeitweilig und in gewissem Maße den wahren Charakter seiner Gefühle, Motive und Wünsche zu erkennen, auch wenn diese Einsichten etwas Unangenehmes haben; aber sein Bedürfnis, sein Selbstbild und sein Selbstwertgefühl zu wahren, erweist sich stets als stärker und führt ihn zu schmeichelhaft-beruhigenden _____________ 263 Zu dem Brief, den Hagauer schreibt, bemerkt Arntzen, Hagauer „formulier[e] seine eigene Satire, indem er nur zu Wort kommt.“ (Helmut Arntzen, Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im ‘Mann ohne Eigenschaften’. 3. Auflage. Bonn 1983, S. 63)
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Umdeutungen seiner unbequemen Einsichten. Hagauer dagegen gelangt gar nicht erst zu solchen unangenehmen Erkenntnissen über seine eigenen Gefühle und Wünsche. Als er vor einem Bogen Briefpapier sitzt und an Agathe schreiben will, ist er sich zunächst unsicher, wie er auf ihren Scheidungswunsch reagieren soll, da das „‘rechte Gefühl’“, auf das er sich in persönlichen Angelegenheiten verlässt und das „eine Mischung aller in der weißen Rasse im gegebenen Fall möglichen und im Umlauf befindlichen Gefühle darstellt“, ihm widersprüchliche Auskünfte gibt, wie es „bei Schwierigkeiten, die einen persönlich angehen“, meistens der Fall ist (MoE 950). Hagauer weiß aber, wie er sich Klarheit verschaffen kann: In einem solchen Fall, das war Hagauer bekannt, muß sich ein moderner Mensch ‘entspannen’, das heißt seine Aufmerksamkeit zerstreun, eine gelockerte Körperhaltung annehmen und auf das horchen, was dabei aus der größten Tiefe seines Inneren vernehmlich wird. Vorsichtig hielt er seine Überlegungen an, starrte auf den verwaisten Wandkalender und lauschte in sich hinein; nach einer Weile antwortete ihm denn auch eine Stimme, die von innen aus einer unter dem bewußten Denken liegenden Tiefe kam, genau das, was er sich schon gedacht hatte: die Stimme sagte, daß er sich ein derart unbegründetes Ansinnen wie das Agathes schließlich denn doch nicht bieten zu lassen brauche! [MoE 950]
Es ist aus mehreren Gründen offensichtlich, dass die „Stimme“, die Hagauer vernimmt, nicht aus einer „unter dem bewußten Denken liegenden Tiefe“ kommt und dass er den wahren Charakter der Gefühle, die Agathes Scheidungswunsch in ihm ausgelöst hat, nicht einmal andeutungsweise erkennt. Der Erzähler hat die Verfassung, in der sich Hagauer nach dem Erhalt von Ulrichs ersten Briefen befand, als einen Zustand „wirklicher Qual“ (MoE 949) charakterisiert, als eine „tiefe Unbequemlichkeit“, die sich ähnlich wie „gekränkte Liebe“ geäußert habe und mit einer „unbestimmbare[n] Eifersucht“, die sich „gegen ein unbegreifbares Etwas“ richtete, sowie mit einer „Art Beschämung“ verbunden gewesen sei (MoE 948). In diesen Zustand kam schließlich wieder „Festigkeit“, als Hagauer auf den Gedanken kam, dass „alle Schuld an Agathens Verhalten“ Ulrich zuzuschreiben sei (MoE 949). Aber auch nun, wo er den Brief an Agathe schreiben will, sind seine Gefühle der Kränkung und Eifersucht noch nicht verschwunden; beim Schreiben wird er sich in den „prophetischen Ingrimm des verschmähten Liebhabers und Pädagogen“ hineinsteigern (MoE 952). Doch von diesen Gefühlen nimmt Hagauer nichts wahr, als er auf das zu „horchen“ versucht, was „aus der größten Tiefe seines Inneren vernehmlich wird“. Was er bei diesem Horchen vernimmt beziehungsweise sich bewusst macht, sind überhaupt keine Gefühle oder Wünsche – also etwa sein Wunsch, eine Scheidung zu verhindern, oder die Gefühle oder Überzeugungen, die diesem Wunsch zugrunde liegen; er vernimmt allein die Bestätigung, dass er im Recht und Agathe im Unrecht sei, dass „er sich ein derart unbegründetes Ansinnen wie das Agathes
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schließlich denn doch nicht bieten zu lassen brauche!“ (MoE 950) Diese Äußerung seiner inneren Stimme impliziert, dass Hagauer den Scheidungswunsch Agathes in erster Linie als eine Beleidigung und als einen Angriff auf ihn wahrnimmt (den er sich „nicht bieten zu lassen“ braucht) und dass er sich dieses Ansinnen nicht bieten lassen möchte. Doch diese vorgängigen, elementareren Affekte, Gefühle und Wünsche macht Hagauer sich nicht als solche bewusst. Er scheint nicht in der Lage zu sein, sich Gefühle oder Wünsche einzugestehen, die nicht schon in seine Normen und Wertvorstellungen verpackt und mit dem Siegel der Rechtmäßigkeit versehen sind. Diese Auskunft seiner ‘inneren Stimme’ beseitigt Hagauers erste Unsicherheit, löst aber noch nicht alle seine Probleme. Er sucht nun nach einer Erklärung für den „peinlichen Vorfall“, nach der „Ursache“ von Agathes Scheidungswunsch (MoE 950). Ließ sein Versuch, die Regungen „aus der größten Tiefe seines Inneren“ zu vernehmen, seine Unaufrichtigkeit und Unwahrhaftigkeit erkennen, so sind die Überlegungen, in denen er ‘erfolgreich’ eine Erklärung für Agathes Verhalten entwickelt, durch andere negative Merkmale gekennzeichnet: vor allem durch die Verwendung starrer, schematischer und zudem normativ besetzter Klassifikationen und Kategorisierungen. Hagauer versucht, die wesentlichen Charakterzüge Agathes zu erfassen, um die Gründe und Ursachen ihres Scheidungswunschs zu eruieren, und es ist wichtig festzuhalten, dass seine in Gedanken angefertigte Beschreibung Agathes in vielen Punkten als durchaus zutreffend, wenn auch unvollständig erscheint: Wenn er die „Teilnahmlosigkeit“ und „Trägheit“ konstatiert, die sie gegenüber dem, was man ihr mitteilte, an den Tag legte, die Geistesabwesenheit und Gleichgültigkeit, mit der sie ihrer Umwelt begegnete, so überschneidet sich das weitgehend mit Charakterisierungen Agathes, die sie selbst und der Erzähler an anderen Stellen formulieren.264 Agathe neigt sogar, wie oben gesehen, selbst dazu, sich wegen ihrer Gleichgültigkeit und Trägheit Vorwürfe zu machen, und so wird Hagauers Brief denn auch „nicht ohne Eindruck auf sie“ bleiben (MoE 953). Hagauers Beschreibung enthält zwar auch Lücken und voreilige Schlussfolgerungen;265 außerdem sieht er gleichsam nur die Außenseite der teilnahmslos-gleichgültigen Haltung Agathes, weiß und versteht aber nicht, welche Erfahrungen, Gefühle und Überzeugungen dieser Haltung zugrunde liegen. Doch diese Irrtümer und Begrenztheiten machen nicht das eigentliche Defizit seines Denkens aus. Was seinen Gedanken_____________ 264 Vgl. auch Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 220. 265 Einen besonders eklatanten Fehlschluss begeht er, als er aus der Tatsache, dass Agathe ihm nie mit einer „voll geöffneten und traumverlorenen Hingabe“ begegnet ist, ihre geringe Leidenschaftlichkeit oder tendenziell frigide Veranlagung folgern und die Möglichkeit ehelicher Untreue ihrerseits ausschließen zu können meint (MoE 951).
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gang als fragwürdig erscheinen lässt, ist vor allem die dogmatischselbstsichere Art und Weise, in der er von der Beschreibung Agathes direkt zur Bewertung und pathologisierenden Klassifikation übergeht. Die eben zitierten Charakterisierungen Agathes entwickelt Hagauer nur in Gedanken; dann beginnt er plötzlich zu schreiben, und in seinen schriftlich fixierten Sätzen verwendet er nicht mehr vergleichsweise neutrale, deskriptive Ausdrücke wie ‘teilnahmslos’, ‘gleichgültig’, ‘zerstreut’, sondern stellt Agathes Verhalten sogleich als moralisch verwerflich dar: Das Leben, das er Agathe bieten könne, sei „ein reines und volles Leben“; sie aber halte sich für zu gut, dieses Leben zu lieben, und verweigere sich „dem Reichtum des Menschlichen und Sittlichen“, das es enthalte (MoE 951). Hagauer sucht dann nach einem vergleichbaren Fall oder einer allgemeinen Kategorie, um Agathes Verhalten einordnen zu können, und wird „zu seiner Freude unausweichlich auf die grundlegende, der modernen Pädagogik bekannte Annahme geführt, daß es ihr an der Fähigkeit übersubjektiver Überlegung und an sicherem geistigen Kontakt mit der Umwelt fehle!“ (MoE 952) Kurz darauf sieht er bereits einen „geschlossenen Typus vor seinem geistigen Auge, den er im Anschluß an schon bestehende Bestimmungen am ehesten geneigt war als eine ‘im ganzen ausreichend intelligente Sonderart des moralischen Blödseins zu bezeichnen, das sich dann bloß in bestimmten Ausfallserscheinungen ausdrückt’.“ (Ebd.) Aus „Ritterlichkeit“ verzichtet Hagauer im Brief auf diesen Ausdruck und ersetzt ihn durch die Bezeichnung „sozialer Schwachsinn“ (ebd.). Hagauer ist noch weniger als Arnheim fähig oder bereit, an dem Wert und der Richtigkeit seiner Ideale und seiner Lebensweise zu zweifeln; die Überzeugung, dass er selbst und sein Leben die Werte des „Menschlichen und Sittlichen“ verkörpern, legt sich automatisch über seine Wahrnehmung der Welt und anderer Menschen und entstellt auch seine in gewissem Maße zutreffenden Beobachtungen.266 Dieses Merkmal seiner Denkweise erscheint zunächst als ein moralischer Mangel, als eine Verbindung von Selbstliebe und Dogmatismus; dieser moralisch fragwürdige Zug stellt aber, ähnlich wie bei Arnheim, zugleich ein Defizit in intellektueller oder epistemischer Hinsicht dar: Die Beobachtungen über Agathes Verhalten, die Hagauer in Gedanken zusammenträgt, stellen kaum eine hinreichende Basis dar, um die Einordnung Agathes in irgendeinen „geschlossenen Typus“ zu rechtfertigen. Vor allem aber wirken die wissenschaftlichen _____________ 266 In seinen Tagebuchnotizen hebt Musil als hervorstechendes Merkmal von Georg Kerschensteiner, dem Pädagogen, der als Vorbild der Hagauer-Figur diente, seine Selbstgerechtigkeit hervor: „Dieser sehr kluge und sich selbst gerechte Schulpabst. In allen Sätteln gerecht; Rezept Göthe und doch nicht Göthe.“ (Musil, Tagebücher, S. 572 [Heft 21: 19201926])
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Kategorien, deren sich Hagauer hier bedient, weit vager und unbestimmter als die Beschreibungen Agathes, die er zunächst in Gedanken angefertigt hat; sie stellen hinsichtlich ihrer Genauigkeit und Klarheit einen deutlichen Rückschritt gegenüber der vorangegangenen deskriptiven Erfassung Agathes dar. In Arnheims Gedankengang manifestierten sich Ungenauigkeit und intellektuelle Unzulänglichkeit vor allem in seinem Gebrauch diffuser, mystifizierender und beliebig einsetzbarer Modeworte wie „Intuition“ und „Seele“. Bei Hagauer äußern sich ähnliche Defizite in dem Rekurs auf wissenschaftliche Kategorien und Rubrizierungen, die relativ vage und unklar definiert, aber mit massiven moralischen Wertungen verbunden sind. Hagauers Gedankengang im Kapitel II.29 besitzt noch einen weiteren wichtigen Aspekt, der bisher nicht angesprochen worden ist. Hagauer wendet in seinen Überlegungen „das bestens bekannte ‘Verfahren der Knöpfe’“ an, das darin besteht, „daß man auf seine Gedanken methodisch einwirkt, und zwar auch vor erregenden Aufgaben, ähnlich wie ein Mensch an seinen Kleidern Knöpfe annähen läßt, weil er nur Zeitverluste zu beklagen hätte, wenn er vermeinte, jene ohne diese rascher vom Leib zu bringen.“ Solch ein Verfahren des methodischen Einwirkens auf die Gedanken habe der „englische Schriftsteller Surway“ beschrieben, dessen Arbeit über die fünf Schritte „im Vorgang des erfolgreichen Denkens“ Hagauer nochmals konsultiert, bevor er sich der Aufgabe zuwendet, über den Wunsch seiner Frau nachzudenken und ihr zu antworten. Es ist bekannt, dass Musil die Figur des Hagauer nach dem Vorbild des Pädagogen Georg Kerschensteiner entworfen und dabei vor allem dessen Buch Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts verwendet hat.267 In diesem Buch bezieht sich Kerschensteiner zustimmend auf John Dewey und seine Theorie des Denkens, die er in der Abhandlung How We Think vorgestellt hat;268 in Musils Roman wird aus dem amerikanischen Philosophen und Psychologen Dewey der „englische Schriftsteller Surway“. Die Beschreibung der fünf „Knöpfe im Vorgang des erfolgreichen Denkens“ entspricht im wesentlichen den fünf Schritten eines Denkprozesses, die Dewey in How We Think unterschieden hat:269 _____________ 267 Vgl. Musils Tagebuchnotizen zu Kerschensteiner und seinem Buch: Musil, Tagebücher, S. 572-574 [Heft 21: 1920-1926]. – Zu Kerschensteiners Leben und Werk vgl.: Gerhard Wehle, Einführung. In: G. W. (Hg.), Kerschensteiner. Darmstadt 1979, S. 1-46. 268 Vgl.: Georg Kerschensteiner, Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Dritte Auflage. Leipzig, Berlin 1928; zu Dewey und seiner Konzeption der „fünf Stufen im Prozeß des logischen Denkens“ siehe S. 54-56, Zitat S. 56. – Kerschensteiner hat auch eine Übersetzung von Deweys Buch angefertigt (oder auch nur begonnen), die aber nicht gedruckt wurde; vgl. Wehle, Einführung, S. 13. 269 Dewey zufolge kann man in allen Formen des reflektierenden Denkens „mehr oder weniger deutlich fünf logisch verschiedene Stufen erkennen: I. Man begegnet einer Schwierig-
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Der englische Schriftsteller Surway zum Beispiel [...] unterscheidet fünf solcher Knöpfe im Vorgang des erfolgreichen Denkens: a) Beobachtungen an einem Ereignis, die eine Schwierigkeit in seiner Deutung unmittelbar empfinden lassen; b) die nähere Umgrenzung und Feststellung dieser Schwierigkeiten; c) die Vermutung einer möglichen Lösung; d) die vernunftgemäße Entwicklung der Folgen dieser Vermutung; e) weitere Beobachtung für ihre Annahme oder Ablehnung und damit Erfolg des Denkens. [MoE 949]
Dieses Verfahren der Knöpfe kommt zum Einsatz, nachdem Hagauer auf seine innere Stimme gehorcht und von ihr bestätigt bekommen hat, dass er sich „ein derart unbegründetes Ansinnen wie das Agathes schließlich denn doch nicht bieten zu lassen brauche“: Damit war aber Professor Hagauers Geist auch schon unversehens vor Knopf a) bis e) Surways oder einer äquivalenten Knopfreihe niedergesetzt worden und empfand frisch belebt die Schwierigkeiten in der Deutung des von ihm zu beobachtenden Ereignisses. [MoE 950]
Als das zu deutende Ereignis betrachtet Hagauer offenbar den Scheidungswunsch Agathes. Die erste mögliche Lösung, die er in Betracht zieht und sogleich wieder verwirft, gibt ihm selbst die Schuld an diesem „peinlichen Vorfall“. Als zweites erwägt er die Möglichkeit, Agathe könne einen anderen Mann lieben; auch diesen Gedanken verwirft er bald, da Agathe nach seiner Erfahrung zu jenen Frauen gehört, „in denen die Liebe zum anderen Geschlecht ganz und gar keine tiefe oder leidenschaftliche ist.“ (MoE 951) Daraufhin gelangt Hagauer zu der Überzeugung, Agathes „unbegreifliches Benehmen“ sei als eine jener „Versuchungen zur Lebensverneinung“ zu erklären, wie sie bei Naturen vorkommen, „die nicht wissen, was sie wollen.“ (Ebd.) Wie ist diese indirekte Bezugnahme auf Deweys Theorie des Denkens zu deuten? Welche Sicht auf Deweys Theorie vermittelt Musil in diesem Romankapitel? Allein die Tatsache, dass es Hagauer ist, der Surway/Dewey als Autorität betrachtet und sich seine Theorie zu Eigen macht, lässt diese in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Auf den Verlauf von Hagauers Gedankengang hat die Orientierung an der Surway’schen Methode keinen sichtbaren Einfluss, zumindest nicht im Sinne eines wirksamen Korrektivs gegen Selbsttäuschungen oder Vorurteile: Hagauer kommt unter Anwendung dieser Methode schnell zu dem Schluss, dass er selbst keine Schuld an Agathes Verhalten trage und dass _____________ keit, II. sie wird lokalisiert und präzisiert, III. Ansatz einer möglichen Lösung, IV. logische Entwicklung der Konsequenzen des Ansatzes, V. weitere Beobachtung und experimentelles Vorgehen führen zur Annahme oder Ablehnung, das heißt, der Denkprozeß findet seinen Abschluß, indem man sich für oder wider die bedingt angenommene Lösung entscheidet.“ (John Dewey, Wie wir denken. Eine Untersuchung über die Beziehung des reflektiven Denkens zum Prozeß der Erziehung. Mit einer Einleitung von Leopold Deuel. Zürich 1951 [amer. Orig. 1910], S. 75)
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dieses vielmehr ein Symptom ihrer problematischen, mehr oder minder krankhaften Veranlagung sei. Man könnte allerdings einwenden, dass Surway oder Dewey das Verfahren der fünf Denkschritte nicht unbedingt für Fragen der Art entworfen haben müsse, wie sie Hagauer hier beschäftigen, also für Fragen, die „Gefühlsangelegenheiten“ (MoE 950) betreffen und eine Analyse individueller Charaktere und zwischenmenschlicher Beziehungen erfordern; in diesem Fall träfe die kritische, satirische Tendenz des Textes hier nicht Surway/Dewey, sondern Hagauer, der das Denkverfahren seinem Zweck entfremde.270 Hagauer und die Art, wie er das Surway’sche Verfahren benutzt, bilden zweifellos das Hauptziel der Satire; aber die Ironie richtet sich zu einem gewissen Teil auch gegen dieses Verfahren und damit indirekt gegen Deweys Theorie des Denkens selbst. Die ironisch-kritische Haltung des Erzählers drückt sich schon in der Bezeichnung „‘Verfahren der Knöpfe’“ (ebd.) aus; die Darstellung von Hagauers Denkvorgang lässt dann vor allem die Nutzlosigkeit dieses Verfahrens hervortreten, das den von Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit geleiteten Gedanken Hagauers keinen Widerstand entgegensetzt. Entscheidend ist letztlich, so suggeriert der Text, was die denkende Person als Bestätigung oder Widerlegung einer möglichen Lösung gelten lässt; für diese Entscheidungen aber gibt das Verfahren der fünf Schritte keine Anleitung, sie scheinen allein von den moralischen und intellektuellen Qualitäten des Denkenden abzuhängen. So legt das Kapitel die Auffassung nahe, das Verfahren von Dewey sei redundant, insofern es sich auf die Anweisung reduzieren lasse, die richtige Lösung für eine gegebene Schwierigkeit zu finden, aber die Entscheidung darüber, ob eine mögliche Lösung zu akzeptieren sei oder nicht, der Willkür des Denkenden anheim stelle.271 _____________ 270 Eine solche ironische Kritik an Hagauers Umgang mit Surways Theorie ist offenbar intendiert, wenn der Erzähler mitteilt, Hagauer habe diese Theorie bereits „mit Vorteil auf ein so weltmännisches Geschäft wie das Lawn-Tennis angewendet“ (MoE 949). 271 Vgl. auch die anders akzentuierte Deutung der Bezugnahme auf Dewey bei: Götz Müller, Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. München 1972, S. 74-77. Müller zufolge macht Musils Darstellung von Hagauers Denkvorgang darauf aufmerksam, dass die Methode Deweys, die Denken als ein erfolgsorientiertes soziales Handeln begreife, dem „stabilisierten und angepaßten Verhalten im Zuge einer technischen Rationalisierung der Gesellschaft“ angemessen sei, also nur dann funktioniere, „wenn der Andere in vorhersehbarer Weise denkt und handelt, also entweder nach bekannten Verhaltensmustern, die statistisch eruierbar sind, oder eben rational erfolgskontrolliert, so daß sich sein Verhalten rational nachvollziehen läßt. Die normfeindlichen und praxisenthobenen Entscheidungen Agathes nach einer ‘Moral des nächsten Schritts’ entziehen sich jedoch vollkommen dem Zugriff dieser Methode.“ (Ebd., S. 77; Hervorhebungen im Text.) Aus diesem Scheitern der Methode ziehe Hagauer den ‘folgerichtigen’ Schluss, dass Agathe ‘sozial schwachsinnig’ sein müsse (vgl. ebd.). Diese Interpretation ist plausibel, scheint mir allerdings insofern ergänzungsbedürftig zu sein, als sie den Ausgang von Hagauers Denkvorgang ausschließlich auf Schwächen der Methode Deweys zurückführt und nicht auf die
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3.5. Clarisse und Moosbrugger (Kapitel I.97 und I.59) Dass Musil in seinem Roman ein ganzes Spektrum verschiedener Denkweisen präsentieren wollte, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er auch Denkvorgänge der zwei geisteskranken Figuren, Clarisse und Moosbrugger, ausführlich darstellt. Musil übernahm von Psychiatern wie Kretschmer und Bleuler die Auffassung, dass zwischen Geisteskrankheit und gesunder oder normaler Geistesverfassung nur ein gradueller Unterschied bestehe; er nahm ferner an, dass bestimmte psychopathologische Erscheinungen mit dem Erlebnis des anderen Zustands verwandt seien. Diese Denkvorgänge weisen strukturelle Parallelen zu den Gedankengängen der gesunden Romanfiguren auf; eine vergleichende Betrachtung ihrer Gedankengänge und derjenigen von Arnheim, Agathe und Ulrich lässt einerseits bestimmte Aspekte ihrer Krankheiten deutlicher hervortreten und kann andererseits dabei helfen, einige gemeinsame Grundzüge der Denkvorgänge aller Musil’schen Figuren, gesunder wie kranker, herauszuarbeiten. Im Folgenden soll zum einen der Gedankengang Clarisses analysiert werden, der im Kapitel I.97 („Clarissens geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben“) dargestellt wird, zum anderen der Gedankengang Moosbruggers, den das Kapitel I.59 („Moosbrugger denkt nach“) präsentiert. Zwischen diesen Denkvorgängen Clarisses und Moosbruggers bestehen einige Ähnlichkeiten, die sie zugleich mit einigen der bereits untersuchten Denkprozesse anderer Figuren verbinden. Die Überlegungen Clarisses wie diejenigen Moosbruggers zielen wesentlich auf Selbstaufklärung oder Selbstdeutung; beide versuchen, Klarheit über sich selbst und über ihren bisherigen Lebensweg zu gewinnen. Dementsprechend enthalten beide Gedankengänge ausführliche Erinnerungspassagen, in denen Clarisse und Moosbrugger sich frühere Lebensabschnitte und Erlebnisse vergegenwärtigen. In diesen Grundzügen ähneln ihre Denkprozesse den oben analysierten Reflexionen Arnheims und Agathes, die ebenfalls von einem Streben nach Selbstaufklärung geleitet sind und längere Erinnerungen integrieren. Clarisse und Moosbrugger nun sehen sich beide beim Versuch, sich selbst und ihr bisheriges Leben zu beschreiben und zu deuten, mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, da ihre Leben ein besonders hohes Maß an Diskontinuität aufweisen und in disparate, radikal verschiedene und unverbundene Phasen zu zerfallen drohen. In Clarisses Leben wechseln die Abschnitte, in denen sie von dem beglückenden Bewusstsein ihrer Aufgabe, ihres Schicksals und ihrer Wichtigkeit durchdrungen ist (vgl. MoE 442), mit „Tage[n] und Wochen“, die „unter einem _____________ Bedeutung eingeht, die Hagauers persönliche Involviertheit, seine Gekränktheit, Eifersucht und Verunsicherung, für den Verlauf dieses Denkprozesses hat.
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bleiernen Druck stehen“ (MoE 443), und mit noch anderen Augenblicken, „allzu befreite[n] und gegendrucklose[n], wo manchmal ein Wort genügt, um sie gleichsam aus den Schienen springen zu machen“ (ebd.). Moosbruggers Leben teilt sich in die Zeiten „guter Laune“ und „schlechter Laune“, in denen er die Welt und die Mitmenschen auf grundverschiedene Weisen wahrnimmt (MoE 241), und in jene euphorischen Ausnahmezeiten, die „ganz Sinn“ sind und an die er sich nur ungenau erinnern kann (MoE 239; vgl. MoE 241). In ihren Denkvorgängen versuchen Clarisse und Moosbrugger unter anderem, Grundmuster oder Entwicklungslinien in ihrem Leben auszumachen und auch den Wechsel zwischen ihren gegensätzlichen Zuständen zu verstehen. Dabei sind sie in sehr unterschiedlichem Maße ‘erfolgreich’: Clarisse verfügt über ein umfangreiches Repertoire an Deutungsmustern, und ihr gelingt es, eine umfassende, allerdings phantastisch-irrationale Deutung ihrer selbst und ihres Lebens zu entwickeln, in der ihre euphorischen wie ihre bleiernen, niedergeschlagenen Zustände sowie zahlreiche Einzelerlebnisse ihren Ort finden. Moosbrugger dagegen vermag, während er in seiner Zelle über sein Leben nachdenkt, keinen Zusammenhang in demselben zu stiften. Er kann sich an seine beglückenden Ausnahmeerlebnisse nur noch sehr undeutlich erinnern, weiß nicht, was diese besonderen Zustände und den Wechsel zwischen den gegensätzlichen Phasen seines Lebens bewirkt, und versteht nicht, „was das eigentlich war, woran ihn die Leute immer zu packen bekamen und weshalb sie ihn in die Gefängnisse und Irrenanstalten warfen“ (MoE 237). Clarisse gelangt am Ende ihres Gedankengangs – lachend und ihre Nase reibend – zu neuen Einsichten darüber, was ihre Aufgaben seien und was sie zu unternehmen habe (vgl. MoE 444f.); Moosbruggers Überlegungen münden in Ärger und Resignation und in den Wunsch, „das alles“ möge „so bald wie möglich ein Ende nehmen“ (MoE 242). Clarisse befindet sich im Kapitel I.97 allein in einem Zimmer ihres Hauses. Es scheint Abend zu sein, Clarisse trägt einen Schlafrock und hält einen Apfel in der Hand. Sie wollte gerade Walter suchen gehen, vergisst das aber und verliert sich statt dessen in längeren Überlegungen. Dieser Gedankengang kann in drei Phasen gegliedert werden. Im ersten Abschnitt kommen ihr ungeordnete, meist bruchstückhafte Gedanken an Moosbrugger, Ulrich und Walter in den Sinn. Nachdem sie kurz an Walters Kinderwunsch gedacht hat, „[geht] etwas in ihrem Körper vor“: Die Brüste füllten sich, durch die Adern an Armen und Beinen rollte ein dickerer Blutstrom, sie spürte ein unbestimmtes Drängen gegen Blase und Darm. [...]; ein Kind lag licht und lächelnd in ihrem Arm; von ihren Schultern strahlte das Goldkleid der Gottesmutter zu Boden, und die Gemeinde sang. Es war außer ihr, der Herr war der Welt geboren! [MoE 436]
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Diese Vision und die mit ihr verbundene körperliche Empfindung sind abrupt wieder vorbei, Clarisse fühlt sich wieder schlank und hart, „ekelt[ ] sich, fühlt[ ] eine grausame Heiterkeit“ (ebd.). Kurz darauf wandern ihre Gedanken „um Jahre zurück“ (ebd.), und damit beginnt der lange Mittelteil des Kapitels. Clarisse erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend, vor allem an die Zeit, die sie als junges Mädchen in einem Sommerquartier am See verbracht hat, zusammen mit ihrer Familie und Bekannten, unter denen Dr. Meingast, sein Schüler Georg Gröschl sowie Walter waren. Was diese Erinnerungen in ihr hervorruft, ist vermutlich der Umstand, dass Dr. Meingast vor kurzem Walter und Clarisse in einem Brief seinen Besuch angekündigt hat (vgl. MoE 439). Dies fällt Clarisse allerdings erst mitten in ihren Erinnerungen an die Erlebnisse mit Meingast und Georg Gröschl wieder ein. Noch später erinnert sie sich dann auch daran, dass sie diese Geschichten über Meingast eigentlich Ulrich hatte erzählen wollen (vgl. MoE 441). Diesen Moment kann man als Beginn des dritten und letzten Abschnitts ihrer Überlegungen ansehen; dieser Teil kreist vor allem um ihre eigenen „geheimnisvollen Kräfte und Aufgaben“ (vgl. Kapitelüberschrift) sowie um Ulrich. Am Ende ihres Gedankengangs kommt sie zu dem Schluss, dass sie Ulrich, in dem „etwas Böses, teuflisch dem Schlendergang der Welt Anhängendes“ sei, „lösen“ und aus sich herausreißen müsse (MoE 444). Ähnlich wie die bereits untersuchten Gedankengänge Arnheims und Agathes mündet also auch Clarisses Denkvorgang in den Entschluss zu einer Handlung. Der Erzähler beschränkt sich in diesem Kapitel weitgehend darauf, Clarisses Gedanken, Erinnerungen und Empfindungen aus ihrer eigenen Perspektive wiederzugeben, und tritt kaum mit eigenen Kommentaren hervor, wie sie etwa in der oben untersuchten Darstellung von Arnheims Gedankengang im Kapitel I.112 relativ häufig begegnen. Diese konsequent personale Perspektive macht sich besonders deutlich am Kapitelanfang geltend, wo der räumliche, zeitliche und situative Kontext der folgenden Gedankengänge Clarisses nur höchst allgemein und unvollständig umrissen werden. Damit passt sich der Erzähler der Wahrnehmung Clarisses an, die in diesem Moment nur ein sehr schattenhaftes Bewusstsein davon zu haben scheint, wo und wann sie sich befindet und was sie gerade noch vorhatte. Die ersten Sätze des Kapitels lauten: Clarisse im Zimmer; Walter war ihr abhanden gekommen, sie hat einen Apfel und ihren Schlafrock. Das sind, Apfel und Schlafrock, die zwei Quellen, aus denen ein unbeachteter, dünner Strahl von Wirklichkeit in ihr Bewußtsein fließt. Warum erschien ihr Moosbrugger musikalisch? Sie wußte es nicht. Vielleicht sind alle Mörder musikalisch. Sie weiß, daß sie einen Brief an Se. Erlaucht Graf Leinsdorf geschrieben hat, wegen dieser Frage; sie erinnert sich auch ungefähr an den Inhalt, doch hat sie keinen Zugang dazu. Aber der Mann ohne Eigenschaften war unmusikalisch?
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Da ihr keine rechte Antwort einfiel, ließ sie diesen Gedanken stehn und ging weiter. [MoE 435]
Die kurzen, parataktischen Sätze, die mit punktuell gesetzten und fragmentarisch wirkenden Informationen die Situation umreißen, sollen offenbar den aktuellen Geisteszustand Clarisses veranschaulichen, der vor allem auf negative Weise charakterisiert wird, als gekennzeichnet durch Leerstellen: Walter ist ihr „abhanden gekommen“; der dünne Strahl von Wirklichkeit, der von Apfel und Schlafrock in ihr Bewusstsein fließt, bleibt „unbeachtet[ ]“, sie scheint von ihrer räumlichen Umgebung abgetrennt und in ihren Gedanken versunken zu sein. Aber auch diese Gedanken sind vor allem durch Lücken und Blockaden bestimmt: Sie weiß nicht, weshalb ihr Moosbrugger musikalisch erschien und was sie im Einzelnen an Leinsdorf geschrieben hat; das heißt, sie hat nur noch bedingt Zugang zu ihren eigenen früheren Gedanken, Absichten und Handlungen. Der Gedankengang, den Clarisse von diesem Ausgangspunkt aus entwickelt, erscheint als ein Prozess der Ausdehnung und Wiedergewinnung, in dessen Verlauf Clarisse Teile ihrer älteren und ihrer jüngsten Vergangenheit ‘zurückerobert’ und in einen Zusammenhang bringt, um auf diesem Hintergrund auch ihre gegenwärtige Situation einzuordnen und ihre Aufgaben zu bestimmen. Allerdings vollzieht sich dieser Vorgang nicht zielbewusst und absichtsvoll: Als Clarisse nach ihrer Vision, in der sie sich selbst als „Gottesmutter“ gesehen hat, ihre Gedanken in der Erinnerung zurückschweifen lässt, verbindet sie damit keine bewusste Absicht; Walter und sie haben generell eine Vorliebe für solche Rückblicke und nehmen „ihre Erinnerungen sehr wichtig“ (MoE 436). Bei Clarisse zeigt sich dieses Wichtignehmen vor allem darin, dass sie in den vergangenen Erlebnissen und Ereignissen unwillkürlich tiefere Bedeutungen und verborgene Zusammenhänge aufzuspüren sucht. Nachdem sie sich verschiedene Episoden ihres Lebens, insbesondere die Erlebnisse mit Meingast und Walter im Sommerquartier ihrer Familie, ausführlich in Gedanken erzählt hat, beginnt sie damit, Erklärungen und Interpretationen zu entwickeln und die Ereignisse in ein Deutungsmuster einzufügen, in dessen Zentrum sie und ihre schicksalhaften Aufgaben und Fähigkeiten stehen. War ihr Zustand zu Beginn des Kapitels vor allem durch Nichtwissen und Sich-nichterinnern-Können geprägt, so häufen sich in den späteren Abschnitten Ausdrücke des Verstehens und Erkennens: ‘ihr war klar’, ‘sie sah deutlicher’, ‘nun weiß sie auch’, ‘Clarisse versteht’, ‘ein Zufall schenkte ihr die Entdeckung’ (vgl. MoE 441-444). Als erstes wird Clarisse klar, welchen Anteil sie an Meingasts „Verwandlung“ vom „leichtfertigen Lebemann“ zum „berühmten Denker“ hat: Sie hat damals „alles, was sein Wesen trübte, [...] auf sich gezogen“ (MoE 441). Nach Meingasts Abreise hat sie eine schwärmerische, von
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kleinen Ausschweifungen gefüllte Zeit mit Walter erlebt; schon damals hatten beide dies so gedeutet, dass Meingast ihnen „seine Sünden zurückgelassen hätte, damit sie in einem höheren Sinn noch einmal durchlebt [...] würden“, und heute versteht Clarisse außerdem, dass der „Rausch des Liebesdurstes, der sie in solchem Ausmaß toll gemacht hatte“, in Wahrheit die „Einfleischung [...] von etwas Unfleischlichem“ war, von „einem Sinn, einer Aufgabe, einem Schicksal“ (MoE 442). Diese Vorstellung, dass sie eine besondere Aufgabe, eine schicksalhafte Pflicht und Mission habe, bildet das Zentrum oder die Grundlage von Clarisses Deutungen ihrer selbst und ihres Lebens. Diese inhaltlich ganz unbestimmte Grundüberzeugung wird von ihr mit verschiedensten Ereignissen und Erfahrungen in Verbindung gebracht;272 sie liefert ihr auch Erklärungen dafür, dass „manche Tage und Wochen in ihrem Leben unter einem bleiernen Druck stehen“ und dass sie zu anderen Zeiten wieder „allzu befreite und gegendrucklose“ Augenblicke erlebt, in denen sie „außer sich“, gewissermaßen „inwesend, in einem tieferen Raum“ ist: Die schweren, bleiernen Zeiten erklären sich dadurch, dass große Genies und Menschen, die „unliebsames Aufsehen erregen“, immer den Druck und Widerstand der Welt zu spüren bekommen, die allzu befreiten und haltlosen Augenblicke dagegen sind „offenbar Vorbereitungen und Proben“ (MoE 443). Die Episode mit Meingast zeigt Clarisse, dass ihre schicksalhafte Aufgabe mit ihrer Fähigkeit zu tun habe, Männer von ihren Sünden zu befreien; dass sie die Kraft dazu besitzt, hat sie nicht nur an Meingast, sondern auch an ihrem Vater und an Georg Gröschl bewiesen. Bei Walter „waren noch Anstrengungen nötig“; seit einiger Zeit hat Clarisse außerdem die Absicht, „ihre Kraft an dem Mann ohne Eigenschaften zu beweisen“ (MoE 443). Die „Vision“, die sie gerade erlebt hat, bringt sie auf den Gedanken, ihre Aufgabe könne darin bestehen, „daß sie Gottesmutter werden sollte“; als ihr in diesem Moment auch noch einfällt, „daß das Wort Mutter in dem Wort Muttermal enthalten sei“, bedeutet das für sie so viel, „als ob ihr Schicksal plötzlich in den Sternen geschrieben stünde“ (MoE 444). – Cla_____________ 272 „Er hatte von ihr gesagt: Du bist mädchen- und heldenhaft. [...] Die Wärme stieg ihr in die Wangen. Es erwuchs daraus eine Pflicht, die ihr nicht klar wurde.“ (MoE 435) – „Die Sinnlichkeit ging in ihre Familie um, wie der Wein unter Weinbauern. Es war ein Schicksal, Sie trug eine schwere Last.“ (MoE 437) – „Und heute, wo Clarisse sich so wenig auf Walters Liebe machte, daß sie oft von ihr angewidert wurde, sah sie es noch deutlicher, daß der Rausch des Liebesdurstes, der sie in solchem Ausmaß toll gemacht hatte, nichts gewesen sein konnte als eine Inkarnation, was, wie sie wußte, Einfleischung hieß, von etwas Unfleischlichem, einem Sinn, einer Aufgabe, einem Schicksal, wie sie für Auserwählte zwischen den Sternen vorbereitet werden.“ (MoE 442) – „Clarisse saß da und kam sich wie eine Schauspielerin in der Pause vor. Allerdings wußte sie nicht, was kommen sollte; aber sie war überzeugt, daß es die unendliche Aufgabe aller Liebenden sei, sich als das zu erhalten, was man füreinander in den höchsten Augenblicken gewesen ist.“ (MoE 442)
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risse hat also einerseits die Absicht, ihre Kraft an Ulrich zu beweisen und ihn aus seiner Verfallenheit an den „Schlendergang der Welt“ zu lösen; andererseits gewinnt sie die Überzeugung, es sei ihre Aufgabe, Mutter zu werden. Diese Gedanken und Absichten werden sich bei ihr, ohne dass das in diesem Kapitel schon ausdrücklich sichtbar würde, zu dem Vorhaben verbinden, ein Kind von Ulrich zu bekommen (vgl. MoE 657-662). „Moosbrugger denkt nach“, so lautet die Überschrift des Kapitels I.59. Die ersten zwei Absätze des Kapitels fassen in raffender Erzählweise zusammen, wie Moosbrugger sich in seinem neuen Gefängnis eingerichtet hat: Man hat ihn in eine Einzelzelle gesteckt, ihm mit Prügeln gedroht und ihn noch auf andere Weisen vorschriftswidrig behandelt; die Beschwerden, die er beim Gefangenhausleiter, beim Anstaltsgeistlichen und beim Anstaltsarzt vorbringt, bleiben erfolglos. Trotzdem ist Moosbrugger „im ganzen nicht unzufrieden“; er kann „an vielem bemerken, daß er hier eine wichtige Person sei, und das schmeichelt[ ] ihm“. Allerdings will er auf keinen Fall dauerhaft im Gefängnis oder in der Irrenanstalt bleiben und daher notfalls gegen eine Wiederaufnahme des Verfahrens protestieren und darauf „bestehen, daß man ihn töte.“ (MoE 236) Die folgenden etwa sechs Seiten bis zum Ende des Kapitels geben einen längeren Denkvorgang Moosbruggers wieder. In seiner Einzelzelle sitzend, versucht er angestrengt, größere Klarheit über den Verlauf seines Lebens zu gewinnen und zu verstehen, weshalb er jetzt dort ist, wo er ist. Sein Leben ist für ihn „ein Kampf um sein Recht gewesen“, und so denkt er zunächst darüber nach, „was sein Recht sei“. Er kann zunächst nur sagen, dass sein Recht das war, „was man ihm sein Leben lang vorenthalten hatte“; dann fällt ihm ein, dass sein Recht „sein Jus“ sei (MoE 236). Als ein Beispiel dafür, wie man ihm sein Jus vorenthalten hat, ruft er sich in Erinnerung, wie er sich als Sechzehnjähriger seiner Meisterin mit den Worten „‘Meisterin, [...] ich möchte Ihnen etwas Liebes tun ...’“ und einer obszönen Geste – deren Bedeutung ihm nicht klar war – genähert und dafür Prügel erhalten hat; „[a]lle Weiber“, so stellt er zusammenfassend fest, „waren schon das Jus von irgendwem, und alle Äpfel und Schlafstätten“ (MoE 237). Dann formuliert Moosbrugger in Gedanken ausdrücklich die Frage, die er im Folgenden zu beantworten sucht: Aber was das eigentlich war, woran ihn die Leute immer zu packen bekamen und weshalb sie ihn in die Gefängnisse und Irrenanstalten warfen, das konnte Moosbrugger niemals recht herauskriegen. Er stierte lange zu Boden und starrte angestrengt in die Ecken seiner Zelle; ihm war zumute wie jemand, dem ein Schlüssel auf die Erde gefallen ist. [...] Moosbrugger nahm seine ganze Logik zusammen. [MoE 237]
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Moosbrugger ist offenbar bewusst, dass die Gründe, deretwegen man ihn immer wieder eingesperrt hat, mit dem zu tun haben, was er in bestimmten außergewöhnlichen Episoden seines Lebens erlebte und tat; so ruft er sich im Folgenden den typischen Ablauf dieser Episoden ins Gedächtnis. Am Anfang stand meist ein Zustand der „schlechte[n] Laune“, in dem ihm das Denken und Reden immer schwerer fiel und der irgendwann in „Angst“ überging, bevor „plötzlich eine scharfe, man könnte fast auch sagen lautlose Grenze [kam]“ (MoE 238); damit begann dann jeweils „die Zeit, von der sie alle etwas erfahren wollten und immerzu redeten“ (MoE 238f.). Leider kann er sich an diese Erlebnisse „nur unscharf und dem Sinn nach erinnern. Denn diese Zeiten waren ganz Sinn!“ (MoE 239) Daher wendet er sich in Gedanken zunächst den ähnlichen, aber einfacher zu beschreibenden Zeiten zu, in denen er Stimmen, Musik und Geräusche hörte, die von überall her kamen, und „schöne Landschaften und höllische Tiere“ sah; er weiß, dass „man das Halluzinieren nennt, und [ist] einverstanden damit, daß er diese Eigenschaft Halluzinieren vor anderen voraus habe, die es nicht können“; aber ihm scheint „die Wichtigkeit, die man dem beilegte, sehr übertrieben“ (MoE 239). In seinen „großen Zeiten“ achtet Moosbrugger denn auch nicht auf diese Halluzinationen, sondern denkt: Und in seinen großen Zeiten beachtete Moosbrugger gar nicht die Stimmen und Gesichte, sondern er dachte. Er nannte das so, weil ihm dieses Wort immer Eindruck gemacht hatte. Er dachte besser als andere, denn er dachte außen und innen. Es wurde gegen seinen Willen in ihm gedacht. Er sagte, Gedanken würden ihm gemacht. Und ohne daß er seine langsame männliche Bedächtigkeit verlor, erregten ihn auch die geringsten Nebensachen, wie es einer Frau geschieht, wenn ihr die Milch in den Brüsten steht. Sein Denken floß dann wie ein von Hunderten springender Bäche getränkter Bach durch eine fette Wiese. Moosbrugger hatte nun den Kopf sinken lassen und sah auf das Holz zwischen seinen Fingern. ‘Da sagen hier die Leute zu einem Eichhörnchen Eichkatzl’ fiel ihm ein; ‘aber es sollte bloß einmal einer versuchen, mit dem richtigen Ernst auf der Zunge und im Gesicht ‘Die Eichenkatze’ zu sagen! Alle würden aufschaun, wie wenn mitten im furzenden Plänklerfeuer eines Manöverangriffs ein scharfer Schuß fällt! In Hessen sagen sie dagegen Baumfuchs. Ein weitgewanderter Mensch weiß so etwas.’ [MoE 240]
Beachtung verdient in dieser Passage vor allem der abrupte Themen- und Perspektivenwechsel, der sich mit dem Satz „Moosbrugger hatte nun den Kopf sinken lassen [...]“ vollzieht. Auf die Schilderung des euphorischen, erregenden, von einer fremden Instanz kontrollierten Denkens, das seine ‘große Zeiten’ kennzeichnet, folgt ein Blick auf Moosbruggers gegenwärtige Situation in seiner Einzelzelle. Die Bemerkungen über die verschiedenen Bezeichnungen für Eichhörnchen, zu denen seine Gedanken hier abschweifen, könnte man zunächst als Illustration seines Denken in den
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‘großen Zeiten’ auffassen, das auch durch „die geringsten Nebensachen“ erregt wird. Aber es finden sich keine Hinweise darauf, dass diese Gedanken Moosbruggers von Erregung und einem Gefühl der Vitalität und Fruchtbarkeit („wie ein von Hunderten springender Bäche getränkter Bach durch eine fette Wiese“) begleitet sind. Die Gedanken über die Eichhörnchen können eher als ernüchternder Kontrast zu jenen ekstatischen Denkerfahrungen wirken. In der Folge zeigt sich aber, dass sie noch eine andere, tiefere Bedeutung haben; sie wecken in Moosbrugger Erinnerungen an Erfahrungen, die keine ekstatisch-beglückende, sondern eine beunruhigende und bedrohliche Qualität besaßen. Das Eichhörnchen, das auch „Eichkatzl“ oder „Baumfuchs“ genannt wird, aber weder eine Katze noch ein Fuchs ist und auch kein Horn hat, gilt Moosbrugger als Beispiel für die komplizierte, vielfach zusammengesetzte Beschaffenheit aller Dinge sowie für die Fragilität aller Ordnungen, in die diese Dinge gebracht werden. Moosbrugger hat es erlebt, wie ein Wort wie „Rosenmund“ „in den Nähten nach[ließ]“ und wie sich ein Gesicht in etwas anderes verwandelte; seine Gewaltausbrüche stellten zumindest teilweise Versuche dar, in solchen Momenten die zerfallende Ordnung wiederherzustellen: „Gewiß, Moosbrugger nahm nicht immer gleich das Messer; er tat das nur, wenn er nicht mehr anders fertig wurde. Gewöhnlich wendete er eben seine ganze Riesenkraft an, um die Welt zusammenzuhalten.“ (MoE 240f.) Somit hat sich Moosbrugger, als er unvermittelt über die verschiedenen Bezeichnungen für Eichhörnchen nachzudenken begonnen hat, doch nicht weit vom zentralen Thema seines Gedankengangs entfernt. Nachdem Moosbrugger sich zunächst nur beschreibend und erzählend die Eigenarten verschiedener wiederkehrender Erlebnisse und „Zeiten“ vergegenwärtigt hat (die Zeiten schlechter Laune, die Halluzinationen, seine „großen Zeiten“), deutet die eben betrachtete Passage auch eine Erklärung bestimmter Erfahrungen und Handlungen an, legt die ‘tieferen’ Gründe dieser Handlungen frei. Diese Erklärung wird allerdings zunächst kaum begrifflich und explizit formuliert, sondern geht eher indirekt aus der Art hervor, wie die betreffenden Erfahrungen Moosbruggers – die Momente, wenn ein Wort „in den Nähten nach[ließ]“ – beschrieben werden. Während diese Schilderung seiner Erlebnisse noch zur Wiedergabe von Moosbruggers Erinnerungen gehören und seine Perspektive nachbilden dürfte, erscheint es bei der Aussage „Gewöhnlich wendete er eben seine ganze Riesenkraft an, um die Welt zusammenzuhalten“ schon fraglich, ob sie Moosbruggers eigene Sicht ausdrückt oder eine Deutung des Erzählers darstellt. Der folgende Absatz enthält dann einen Passus, der eindeutig als Kommentar des Erzählers aufzufassen ist; dieser schaltet sich hier unvermittelt mit einigen allgemeinen Thesen und Beobachtungen ein,
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die offenbar dazu dienen sollen, Moosbruggers Wahrnehmung der Welt als plausible und begründete auszuweisen: Er konnte bei guter Laune einem Mann ins Gesicht schauen und bemerkte darin sein eigenes Gesicht, wie es zwischen Fischchen und hellen Steinen aus einem seichten Bach zurückblickt; in schlechter Laune brauchte er aber nur flüchtig das Gesicht eines Mannes zu prüfen und erkannte, daß es derselbe Mann war, mit dem er noch überall Streit bekommen hatte, wie sehr sich der auch jedesmal anders verstellte. Was will man ihm einwenden?! Wir alle haben fast immer mit dem gleichen Mann Streit. Wenn man untersuchen würde, wer die Menschen sind, an denen wir so unsinnig hängen bleiben, so müßte sich zeigen, es ist der Mann mit dem Schlüsselbart, zu dem wir das Schloß haben. [...] Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge. Moosbrugger stand immer mit den Beinen auf zwei Schollen und hielt sie zusammen, vernünftig bemüht, alles zu vermeiden, was ihn verwirren konnte; aber manchmal brach ihm ein Wort im Munde auf, und welche Revolution und welcher Traum der Dinge quoll dann aus so einem erkalteten, ausgeglühten Doppelwort wie Eichkätzchen oder Rosenlippe! [MoE 241]
Der Erzähler unterbricht seine Schilderung von Moosbruggers Wahrnehmungen bei „schlechter Laune“ mit der rhetorischen Frage „Was will man ihm einwenden?!“, der er eine Aufzählung verschiedener Erscheinungen des alltäglichen menschlichen Zusammenlebens folgen lässt; es ist nicht auf den ersten Blick einsichtig, was der gemeinsame Nenner der aufgezählten Phänomene ist und wie sie mit Moosbruggers Wahrnehmung bei schlechter Laune zusammenhängen, bis der Erzähler die allgemeine Sentenz formuliert, die in seinen Augen offenbar durch die genannten Phänomene nahe gelegt wird: „Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge.“ Moosbrugger, so behauptet oder suggeriert er in den folgenden Sätzen, durchschaut die Zufälligkeit und Labilität der sich als notwendig gebenden Oberfläche, nimmt das Treiben und Drängen der Dinge unter der Oberfläche wahr und versucht, sich dadurch nicht „verwirren“ zu lassen.273 Moosbrugger beendet seine Überlegungen in einer Stimmung der Ohnmacht und Resignation, die durch Hunger und körperliche Mattigkeit noch verstärkt werden. Er beklagt, dass er aufgrund seiner mangelhaften Erziehung seine Erfahrungen nicht so ausdrücken kann, „wie es sein müßte“; er weiß von den Ereignissen, über die man ihn ständig ausfragt, auch nicht mehr als das, was im Polizeiprotokoll steht, und weiß „nicht einmal, wie das dort hineingekommen war“: Die Gründe, die Überlegungen, an die er sich erinnerte, die hatte er ohnedies schon in der Verhandlung gesagt; aber was wirklich geschehen war, das kam ihm
_____________ 273 Vgl. hierzu auch: Lönker, Der Fall Moosbrugger, vor allem S. 288-292.
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so vor, als ob er plötzlich fließend etwas in einer fremden Sprache gesprochen hätte, das ihn sehr glücklich gemacht hatte, das er aber nicht mehr wiederholen konnte. ‘Soll das alles nur so bald wie möglich ein Ende nehmen!’ dachte Moosbrugger. [MoE 241f.]
Der Zustand, in dem sich Moosbrugger am Ende seiner Reflexionen befindet, wird vor allem auf negative Weise gekennzeichnet: Moosbrugger kann sich nicht so ausdrücken, wie er möchte, er kann sich nicht erinnern, und er kann nicht willentlich jenes Sprechen in einer fremden Sprache wiederholen, das ihn glücklich gemacht hat. Diese glücklichen Erlebnisse wie seine übrigen außergewöhnlichen Erfahrungen (die Halluzinationen usw.) stellen Einbrüche von etwas Fremdem und Unverfügbarem in sein Leben dar, die er hinnehmen und ansatzweise beschreiben kann, die sich aber teilweise schon seinem Gedächtnis entziehen und die er jedenfalls nicht durch Erklärungen in einen größeren Zusammenhang integrieren kann. Diesen Ausgang von Moosbruggers Überlegungen sowie seinen gesamten Denkprozess kann man im Lichte der erklärenden und deutenden Kommentare betrachten, die der Erzähler in seine Wiedergabe von Moosbruggers Gedanken eingefügt hat und mit denen er Moosbrugger gleichsam Gründe und Rechtfertigungen für seine Wahrnehmung der Welt zuschiebt. Moosbrugger tut in seinem gesamten Gedankengang nicht viel mehr, als seine Erlebnisse zu beschreiben, soweit ihm seine Erinnerungen das erlauben. So zeichnet er ein Bild von unterschiedlichen Zuständen, die diskontinuierlich aufeinander folgen, ohne dass er über das Wie oder Warum dieser Wechsel viel zu sagen vermag: „Es war eben so eine Veränderung gekommen [...].“ (MoE 241) Wie die schlechte Laune, die Halluzinationen und das rauschhafte Denken etwas waren, das ihm einfach widerfuhr oder zustieß, ohne dass er selbst einen Einfluss darauf gehabt hätte, so sind auch bestimmte Phasen seines Lebens aus seinem Gedächtnis verschwunden, ohne dass er sie zurückrufen kann. Wenn nun der Erzähler in seinem kommentierenden Exkurs von dem Treiben der Dinge unter der scheinbar stabilen und sich als notwendig präsentierenden Oberfläche spricht, so kann man das als Hinweis darauf verstehen, dass das fragmentarische und diskontinuierliche Bild, das Moosbrugger von seinem Leben entwirft, der Realität gerade angemessen ist. Die Beziehungen zwischen den Dingen und ihre Einordnung in größere Zusammenhänge, so könnte man in diesem Sinne extrapolieren, sind höchst unsicher und wandelbar, und insofern kann eine Darstellung des Lebens, welche die verschiedenen Erlebnisse und Zustände einfach beschreibt und in keine darüber hinausgehende Ordnung einfügt, geradezu als besonders wahrheitsgetreu gelten.
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Stellt man nun allerdings das hier untersuchte Kapitel in den Kontext des ganzen Romans, so zeigt sich, dass diese Deutung relativiert oder präzisiert werden muss. Wie auch immer es um die Dinge überhaupt und um ihre Ordnung oder Unordnung bestellt sein mag: Moosbruggers außergewöhnliche Erlebnisse jedenfalls erscheinen innerhalb des Romans nicht als isolierte Fakten, die nicht in größere Zusammenhänge eingeordnet werden könnten; sie werden vielmehr, kurz gesagt, als eine pathologische Nebenvariante des anderen Zustands präsentiert und stehen in einer Reihe mit Ulrichs, Agathes und Arnheims ‘mystischen’ Entgrenzungserfahrungen sowie Clarisses krankhaften Erregungszuständen.274 Musil – aber auch Ulrich – meinen also nicht, dass die Erlebnisse Moosbruggers sich jeglicher Einordnung in psychologische oder anthropologische Kategorien entziehen. Doch indem Moosbruggers Gedankengang eine solche Einordnung weitgehend unterlässt, hebt er sich gleichwohl positiv vom Denken jener Figuren ab, die ‘falsche’ Einordnungen vornehmen, indem sie die ekstatischen Ausnahmeerlebnisse mithilfe von unscharfen Modebegriffen und ideologieförmigen Theorien deuten; Beispiele hierfür liefern insbesondere Arnheim und Diotima.275 Die Denkprozesse Clarisses und Moosbruggers dienen ähnlichen Zwecken wie die zuvor analysierten Reflexionen Arnheims und Agathes; diese Zwecke können sehr allgemein als Selbstaufklärung und Selbstdeutung bezeichnet werden. Wie Arnheim und Agathe, so versuchen auch Clarisse und Moosbrugger, sich über Gründe oder Bedeutungen ihrer Gefühle und Erlebnisse klar zu werden und ein Bild von ihrer Person und ihrem Leben zu entwerfen, in das sie einzelne Handlungen, Erfahrungen, Anlagen und Wünsche einordnen können. Wie der Vergleich zwischen Arnheim und Agathe gezeigt hat, können solche Reflexionen primär von einem Streben nach aufrichtiger und wahrhaftiger Selbsterkenntnis oder aber von dem Bedürfnis nach Stabilisierung des seelischen Gleichgewichts geleitet werden. Bei Arnheim erweist sich, ähnlich wie bei Hagauer, der Wunsch nach einer Festigung des Selbstwertgefühls als der dominierende Antrieb des Denkens. Clarisses Gedankengang scheint von einer pathologischen Variante eines solchen Gleichgewichtsstrebens bestimmt zu sein, insofern sie alle ihre Erlebnisse in eine Selbstdeutung zu integrieren sucht, die um die Überzeugung von ihrer schicksalhaften Berufung zur leidenden Erlöserin zentriert ist. Allerdings kann man Clarisse im Gegensatz zu Arnheim nicht mangelnde Wahrhaftigkeit vorwerfen, da ihr offenbar nicht bewusst ist, dass sie den Erlebnissen und Vorfällen ein künstliches Deutungssystem
_____________
274 Vgl. etwa: von Büren, Zur Bedeutung der Psychologie, S. 110-117, vor allem S. 116f.; Kühn, Analogie und Variation, S. 40f., 51-53, 58f. 275 Zu Diotima vgl. etwa MoE 102f.; zu Arnheim vgl. etwa MoE 386-390.
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überstülpt; sie scheint keine Maßstäbe oder Kriterien mehr zu besitzen, anhand derer sie die Plausibilität solcher Deutungen beurteilen könnte. Die Darstellung von Arnheims Gedankengang dagegen macht deutlich, dass er die wahre Natur seiner Gefühle und Wünsche zumindest manchmal zutreffend zu erfassen vermag, aber solche Einsichten über sich selbst verdrängt oder umdeutet, wenn sie sein Selbstbild und Gleichgewicht zu zerstören drohen. Moosbrugger schließlich zeigt beim Nachdenken im Gegensatz zu Clarisse keine Tendenz dazu, seine Erfahrungen in Deutungsmuster einzufügen, die mit seinem idealen Selbstbild übereinstimmten und insofern seinem seelischen Gleichgewicht dienen könnten. Er verfügt nicht über die religiös, philosophisch und mythologisch inspirierten Deutungsmuster Clarisses; während sie mithilfe dieser Muster auch ihren leidvollen Erlebnissen – dem „Druck der Welt“ und ihren bleiernen, niedergeschlagenen Zeiten – einen positiven Sinn geben kann, bleiben für Moosbrugger seine Angstzustände ebenso wie die Bestrafung durch die staatlichen Autoritäten etwas Unangenehmes und Schmerzhaftes, das ihm einfach zustößt, ohne dass er die Ursachen dieser Vorgänge erkennen könnte. Bei der Gestaltung von Clarisses und Moosbruggers Denkvorgängen dürfte es Musils Absicht gewesen sein, an ihren Denkweisen einerseits Defizite, andererseits besondere Qualitäten hervortreten zu lassen. Clarisses Gedanken über ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten oder über ihre Bestimmung, „Gottesmutter“ zu werden, erscheinen ebenso wie die Ausfälle von Moosbruggers Gedächtnis und seine eingeschränkte Fähigkeit zu logischem und begrifflichem Denken einerseits als kognitive Defizite oder Störungen. Andererseits können die Eigenheiten ihres Denkens auch bis zu einem gewissen Grad als positiv gewertet werden, vor allem, wenn man ihre Gedankengänge mit denen von ‘Ideologen’ wie Arnheim oder Hagauer vergleicht. Worin die Qualität von Moosbruggers Denken gesehen werden kann, wurde oben schon angedeutet: Indem er seine Erfahrungen nicht in einen kohärenten, erklärenden Zusammenhang bringt, wird er dem tatsächlichen Charakter dieser Erfahrungen (oder sogar der Dinge überhaupt) eher gerecht, als wenn er wie Arnheim oder Hagauer unscharfe, von Eitelkeit diktierte Pseudo-Erklärungen heranzöge. Auch Clarisses Denken zeichnet sich gegenüber demjenigen Arnheims, Diotimas oder Stumms zunächst schlicht durch seine radikale Andersartigkeit aus, dadurch, dass es sich nicht auf modische Begriffe, starre Normen und etablierte Ideologien stützt, sondern eine konsequent ‘eigensinnige’ Weltsicht entwickelt. Darüber hinaus enthalten Clarisses Gedanken immer wieder Vorstellungen, die nicht nur eine solche Fremdheitsqualität besitzen, sondern in entstellter Form Überzeugungen ausdrücken, die manchen Auffas-
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sungen Ulrichs nahe kommen und insofern als plausibel und sogar scharfsinnig erscheinen können (vgl. MoE 356f., 660, 662). 3.6. Zwischenresümee An dieser Stelle sollen die wichtigsten Grundzüge der bisher untersuchten Darstellungen des Denkens zusammengefasst werden. Dieses Zwischenresümee hat auch eine heuristische Funktion im Hinblick auf die folgende Analyse der erzählten Denkvorgänge Ulrichs: Die Untersuchung wird unter anderem darauf zu achten haben, inwiefern Ulrichs Reflexionen, die insgesamt zahlreicher, häufig länger und teilweise komplizierter sind als die der anderen Figuren, ähnliche Grundstrukturen wie diese aufweisen oder abweichende Muster realisieren. Die bisher untersuchten Denkvorgänge haben zunächst den Grundzug gemein, dass sie dem Zweck der Selbstaufklärung oder Selbstdeutung dienen: Die Figuren versuchen, sich über die Natur und die Gründe ihrer Gefühle klar zu werden (Arnheim, Agathe, Clarisse); sie rufen sich Teile ihrer Lebensgeschichte ins Bewusstsein und stellen Beziehungen zwischen verschiedenen Episoden her (Arnheim, Agathe, Clarisse, Moosbrugger); sie formulieren auf dieser Grundlage zusammenfassende Charakterisierungen und Bewertungen ihrer selbst (Arnheim, Agathe, Clarisse); und schließlich machen sie sich klar, was sie wollen oder wünschen – fast alle hier analysierten Denkprozesse enden mit dem Entschluss zu einer Handlung oder enthalten einen solchen. Der Denkvorgang Hagauers weist am wenigsten dieser Merkmale auf und scheint kaum mit Begriffen wie ‘Selbstaufklärung’ oder ‘Selbstdeutung’ charakterisiert werden zu können, da seine Überlegungen zum größten Teil nicht um ihn selbst, sondern um Agathe und die Frage nach den Ursachen ihres Verhaltens kreisen. Aber auch Hagauer muss sich zunächst darüber klar werden, wie er auf Agathes Scheidungswunsch antworten will, und befragt zu diesem Zweck seine ‘innere Stimme’ (oder was er dafür hält); außerdem enthält seine brieflich fixierte Diagnose von Agathes defizitärer Veranlagung auch implizite und explizite Selbstcharakterisierungen. Sein Gedankengang erscheint als eine unzulängliche, vorzeitig abgebrochene Selbstbefragung. Die Feststellung, dass die untersuchten Gedankengänge dem Zweck der Selbstaufklärung und Selbstdeutung dienen, soll denn auch nicht besagen, dass sie alle gelungene, erfolgreiche oder überzeugende Bemühungen um Selbsterkenntnis und Selbstdeutung darstellen, sondern nur, dass sie von der Absicht geleitet sind, Selbstbilder zu entwerfen und – aktuelle und vergangene – Gefühle, Wünsche und Erfahrungen in solche Selbstbilder zu integrieren. Der Grad an Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Genauig-
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keit, den die Figuren dabei aufbringen, macht das wichtigste differenzierende Merkmal zwischen ihren Denkweisen aus: Ihre Gedankengänge unterscheiden sich vor allem darin, ob sie primär von einem Streben nach einer ehrlichen und wahrhaftigen Erkenntnis der eigenen Gefühle und Wünsche oder aber von einem uneingestandenen Streben nach einem stabilen seelischen Gleichgewicht geleitet werden. Das heißt andererseits aber auch, dass diese Selbstdeutungen der Figuren, die unter anderem einen erzählenden Nachvollzug der eigenen Lebensgeschichte enthalten können, nicht schon per se als fragwürdige, artifizielle Konstrukte im Dienste der Selbstberuhigung aufzufassen sind, als Formen einer – wie es in den vielzitierten Passagen des „Heimweg“-Kapitels heißt – „perspektivische[n] Verkürzung des Verstandes“ (MoE 648); ebenso erscheint es nicht immer und prinzipiell als trügerische Rationalisierung, wenn die Figuren ihre eigenen Gefühle zu erklären oder zu deuten suchen oder nachträglich die Gründe für ihre Handlungen und Verhaltensweisen zu eruieren trachten, wie dies etwa Arnheim und Agathe tun. Die Darstellung der Überlegungen Agathes, in denen sie ihren Lebensweg rekapituliert, enthält keinen Hinweis darauf, dass dies als eine problematische Komplexitätsreduktion und als beruhigende Selbsttäuschung zu verstehen sei; schließlich führt diese erzählende Vergegenwärtigung ihres Lebens, obwohl sie ein Moment der Kontinuität in diesem Leben aufdeckt, nämlich ihre Neigung zu gleichgültiger Passivität, ja auch keineswegs dazu, dass sie sich beruhigt und „im Chaos geborgen“ (MoE 650) fühlte. Und wenn Arnheim beim Nachsinnen über seine Gefühle gegenüber Ulrich zwischenzeitlich zu der Einsicht kommt, dass diese Gefühle „Neid und Sorge“ enthalten und der „traurige[n] Genugtuung“ eines Menschen gleichen, „der sich selbst mit Feigheit in Sicherheit gebracht hat“, so ist dies offenbar als eine weitgehend zutreffende und ehrliche Charakterisierung dieser Gefühle aufzufassen; dies wird vor allem durch den Hinweis angezeigt, dass diese Gedanken sich Arnheim unwillkürlich aufdrängen, dass sie durch „eine heftige Aufwallung von Neid und Mißbilligung“ emporgeworfen werden und dass er sie „unbewußt gesucht und gemieden hatte“ (MoE 540). Dass Figuren die Stabilisierung ihres seelischen Gleichgewichts über Aufrichtigkeit und Genauigkeit stellen, zeigt sich etwa darin, dass sie unbequeme Einsichten nachträglich umdeuten, um sie „unter einen erfreulicheren Gesichtspunkt“ zu bringen (Arnheim; MoE 541), oder darin, dass sie solche unbequemen Einsichten über die Natur ihrer Gefühle und Wünsche gar nicht erst zulassen (Hagauer). Dass die bisher untersuchten Denkvorgänge dem Zweck der Selbstaufklärung oder Selbstdeutung dienen, heißt aber nicht, dass die Figuren ihre Gedankengänge immer mit dem ausdrücklichen Vorsatz beginnen, sich über ihre Gefühle, über ihre Wünsche oder über die Hauptlinien ihrer
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Lebensgeschichte klar zu werden. Vielmehr gilt für die bisher analysierten wie für viele oder die meisten übrigen Denkprozesse in Musils Roman, dass an ihrem Anfang gerade keine klar formulierte Frage oder Absicht, kein scharf umrissenes und ausdrücklich anvisiertes Problem steht. Arnheims oben untersuchter Gedankengang ebenso wie derjenige Agathes beginnen jeweils mit einem Gefühl der Unzufriedenheit oder des Ärgers, das eher diffusen Charakter hat, jedenfalls zunächst nicht einer ausdrücklichen Frage oder Problemstellung verbunden ist. Dieses unbehagliche Gefühl, das man – in Anlehnung an Musils eigenen Ausdruck – auch als eine Störung des Gleichgewichts beschreiben kann, veranlasst die Figuren dazu, über die Personen oder Ereignisse nachzudenken, auf die sich das Gefühl bezieht; dabei scheinen sie bei diesem Nachdenken zunächst kaum ein erkennbares Ziel zu verfolgen, sondern rufen sich einfach die betreffenden Personen (Ulrich) oder Ereignisse (Agathes Abschied von Hagauer; ihre Erkrankung als Kind) wieder in Erinnerung. Diese Erinnerungen aber beziehen sie dann früher oder später wieder auf den Gefühlszustand zurück, der den Anstoß zu ihren Überlegungen gab; das heißt, dass sie mithilfe der erinnerten Tatsachen ihre Gefühle zu erklären, zu deuten oder auch nur genauer zu beschreiben versuchen. Dabei formulieren sie allmählich ausdrückliche Fragen oder Probleme, die dann wieder den Impuls zu neuen Erinnerungen oder zur Rekapitulation von Überzeugungen und Einstellungen geben. Die Figuren gelangen also im Verlauf ihres Denkprozesses erst nach und nach dazu, ihre initialen Gefühle von Ärger, Unzufriedenheit oder Unbequemlichkeit in klar umrissene Fragen oder Probleme zu ‘übersetzen’. Gelegentlich wird eine Frage von einer Figur erstmals in dem Moment explizit benannt, in der sie eine mögliche Antwort auf diese Frage findet: Als Arnheim die „Entdeckung“ macht, „daß sein ohnmächtiger Ärger über Ulrich in einem tieferen Grunde der feindlichen Begegnung zweier Brüder ähnle, die sich nicht erkannt haben“, da ist dies das erste Mal, dass er sein Gefühl gegenüber Ulrich als „ohnmächtige[n] Ärger“ bezeichnet (MoE 547). Im Hinblick auf die Textstruktur impliziert das eben Gesagte, dass die untersuchten Denkvorgänge der Musil’schen Figuren typischerweise eine Verbindung von narrativen und deskriptiven mit erklärenden und argumentativen Strukturen präsentieren; dabei sind die narrativen und deskriptiven Passagen meist in die erklärenden und argumentativen Strukturen eingebunden, insofern die Figuren ihre narrativ verfassten Erinnerungen und ihre Beschreibungen ihrer selbst und anderer Menschen nutzen, um ihre Gefühle zu erklären und ihre Bewertungen zu begründen. Was die psychologische Konzeption betrifft, die diesen Darstellungen von Denkvorgängen zugrunde liegt, so wurde bereits auf die Affinität zu Musils Begriff des Gleichgewichts hingewiesen: Die unangenehmen Ge-
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fühle von Unzufriedenheit, Ärger oder Unsicherheit, die den Ausgangspunkt mehrerer der untersuchten Denkvorgänge bilden, können als Störungen des Gleichgewichts in Musils Sinne betrachtet werden; besonders augenfällig ist das bei Arnheim und Hagauer, die mithilfe ihrer Überlegungen und unter Rekurs auf vage Modebegriffe wie ‘Intuition’ und ‘Seele’ sowie auf „Überzeugungen, Vorurteile, Theorien“ (MoE 522) ihr Gleichgewicht wieder stabilisieren. Allgemeiner kann man feststellen, dass Musils Darstellungen von Denkvorgängen häufig auf einer Unterscheidung zwischen zwei psychischen Ebenen beruhen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen gestalten: Es gibt zum einen die bewusst und ausdrücklich ‘formulierten’ Gedanken und zum anderen, gleichsam unter diesen Gedanken liegend, den psychischen Gesamtzustand der Person, der durch Gefühle, Wünsche oder Bedürfnisse definiert ist, den sich die Person selbst nicht zwangsläufig bewusst macht und der unter anderem die Form eines gestörten Gleichgewichts haben kann. Dass es sich hier um zwei verschiedene Ebenen handelt, tritt vor allem in dem untersuchten Gedankengang Arnheims deutlich zutage: Arnheim macht sich über weite Strecken nicht bewusst, dass sein „ohnmächtiger Ärger“ über Ulrich ihn weiterhin als ein ungelöstes, störendes Problem beschäftigt, sondern denkt über verschiedene andere Dinge nach; doch dann zeigt es sich, dass der Wunsch, eine befriedigende Erklärung für diesen Ärger zu finden, als unbewusste Disposition dennoch präsent und wirksam war, und in dem Moment, wo Arnheim auf den Ansatz zu einer solchen Erklärung stößt, taucht der Gedanke an Ulrich wieder an der Oberfläche seines Bewusstseins auf. Oben wurde diese Art und Weise, in der sich Arnheims komplexer Gefühlszustand zur Geltung bringt, mit den Metaphern des Gravitationszentrums oder Kraftfelds charakterisiert. Auch bei Hagauer und in gewissem Sinne auch bei Clarisse kann man solche Konstellationen von Gefühlen und Wünschen ausmachen, die wie ein Kraftfeld ihre Gedanken in bestimmte Richtungen lenken. Eine psychologische Begrifflichkeit und Theorie, die sich zur Beschreibung dieser Strukturen anbietet und die Musil bekannt war, findet sich in Kurt Lewins Studien zur Handlungs- und Affektpsychologie.276 Im Zentrum von Lewins Handlungstheorie standen die Begriffe des Bedürfnisses, des Quasibedürfnisses und des Spannungszustandes: Was zu einer Handlung drängt, ist ein Bedürfnis oder eine Vornahme, die als ein ‘Qua_____________ 276 Vgl. Kurt Lewin, Vorsatz, Wille und Bedürfnis. Mit Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und die Struktur der Seele. Berlin 1926. – Vgl. zu Lewin und seinen Forschungen zur Handlungs-, Affekt- und Willenspsychologie: Ash, Gestalt psychology, S. 263-275; Josef Schwermer, Die experimentelle Willenspsychologie Kurt Lewins. Diss. masch. Köln 1964. – Zu Musils Lewin-Rezeption vgl.: von Büren, Zur Bedeutung der Psychologie, S. 151.
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sibedürfnis’ betrachtet werden kann; Bedürfnisse und Quasibedürfnisse erzeugen Spannungszustände bzw. gespannte Systeme, die durch die Bedürfnisbefriedigung entspannt werden.277 Spannungszustände müssen nicht, können aber bewusst erlebt werden.278 Die Spannungszustände machen sich nicht nur als ein Drängen zu bestimmten, auf Bedürfnisbefriedigung zielenden Handlungen bemerkbar, sondern beeinflussen auch die gesamte Wahrnehmung der Person, indem sie etwa bestimmten Gegenständen einen ‘Aufforderungscharakter’ verleihen: Wenn ich einen Brief in der Hand halte, den ich abschicken will, dann besitzen Briefkästen oder Postschilder einen Aufforderungscharakter für mich, sie scheinen gleichsam aus der Umgebung herauszuspringen.279 Der Komplex aus Gefühlen und Wünschen, der bei Musil meist am Anfang der Denkvorgänge seiner Figuren steht und häufig den Charakter eines gestörten Gleichgewichts hat, besitzt die wichtigsten Züge eines gespannten Systems oder Spannungszustands in Lewins Sinne. So sind die Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse, die das gestörte Gleichgewicht ausmachen, den Figuren nicht immer bewusst, aber prinzipiell bewusstseinsfähig; außerdem macht sich der gestörte Gleichgewichtszustand nicht nur geltend, indem er direkt auf eine Beseitigung dieser Störung drängt, sondern auch auf mehr indirekte Weise, indem er die Wahrnehmung der eigenen Gedanken prägt und bestimmten Gedanken einen ‘Aufforderungscharakter’ verleiht: Als Arnheim gar nicht mehr an Ulrich denkt, sondern über sich selbst reflektiert und dabei seinen mangelnden „Erwerbstrieb“ und den „Schatten“ auf seinem Leben konstatiert, da fällt ihm plötzlich ein, dass diese Merkmale auch Ulrich kennzeichnen und dass diese Ähnlichkeit zwischen ihnen der wahre Grund für seine zwiespältigen Gefühle Ulrich gegenüber sein könnte (MoE 547). Der Verlauf der bei Musil erzählten Denkvorgänge ist also häufig durch komplexe psychische Zustände bestimmt, die als Spannungszustände oder gespannte Systeme im Sinne Kurt Lewins charakterisiert werden können. Diese These stützt sich bisher noch auf die Analyse einer relativ geringen Zahl von erzählten Denkvorgängen; am deutlichsten zeigt sich die Wirkung eines solchen Spannungszustandes bei Arnheim und Hagauer sowie in gewisser Weise bei Clarisse. Doch die Untersuchung der Denkvorgänge Ulrichs wird weitere Beispiele und Belege liefern und die hier formulierten Thesen weiter zu präzisieren erlauben. _____________ 277 Vgl. Lewin, Vorsatz, vor allem S. 57-82; Schwermer, Die experimentelle Willenspsychologie, S. 25-30. 278 Vgl. Lewin, Vorsatz, S. 89; Schwermer, Die experimentelle Willenspsychologie, S. 30. 279 Vgl. Lewin, Vorsatz, S. 28; vgl. hierzu auch: Ash, Gestalt psychology, S. 270f.; Schwermer, Die experimentelle Willenspsychologie, S. 40-46.
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Was lässt sich schließlich aufgrund der bisher untersuchten Beispiele über die Funktion der Darstellungen von Denkprozessen innerhalb des Romans sagen? Zunächst kann man allgemein feststellen, dass sie der Charakterisierung der Figuren dienen, indem sie etwa Arnheims Neigung zu Selbstbetrug und Unwahrhaftigkeit, Hagauers Selbstgerechtigkeit und Agathes Wahrhaftigkeit und ihre Neigung zur „Selbstverkleinerung“ hervortreten lassen. Es handelt sich hier also meist um Eigenschaften, die den Figuren auch noch mittels anderer Techniken der Charakterisierung zugeschrieben werden, etwa in Erzähleraussagen und in Bewertungen durch andere Figuren. Die ausführlichen Darstellungen von Denkvorgängen veranschaulichen und präzisieren somit Charakterzüge der Figuren, die andernorts auch direkt benannt werden. Doch die Ausführlichkeit und die große Zahl der erzählten Denkvorgänge deuten darauf hin, dass Musil mit ihnen auch noch einen über die Figurenzeichnung im engeren Sinne hinausgehenden Zweck verfolgt hat: Es scheint ihm nicht nur darum gegangen zu sein, die Figuren etwa als wahrhaftig oder unwahrhaftig zu charakterisieren, sondern auch darum, die Feinstruktur von Denkprozessen aufzuzeigen, und zwar insbesondere solcher Denkprozesse, die der Selbstaufklärung und Selbstdeutung dienen und die in Entschlüsse zu Handlungen münden. Die Darstellung der Denkvorgänge bietet Musil die Gelegenheit, das Zusammenspiel zwischen Gefühlen, Wünschen, Bedürfnissen, Überzeugungen, Selbstbildern und Selbstbewertungen im Detail zu gestalten und etwa die Genese einer Handlung aus vielfältigen, sich überlagernden Motiven nachzuvollziehen. Insofern zeigen diese Darstellungen von Denkprozessen sich jener programmatischen Forderung verpflichtet, die Musil in seinem Essay über „Das hilflose Europa“ aufgestellt hat, der Forderung nach einer „Übersicht der Gründe, der Verknüpfungen, der Einschränkungen, der fließenden Bedeutungen menschlicher Motive und Handlungen“280. Wie oben in der Diskussion dieser programmatischen Passage ausgeführt wurde, besitzt die von Musil formulierte Aufgabe einer „Ordnung [...] der Gefühls- und Ideenwelt“281 einerseits eine zeitgeschichtliche oder gegenwartsdiagnostische, andererseits eine anthropologische Dimension. Die bisher untersuchten Darstellungen von Denkvorgängen im Roman realisieren teils vorrangig die eine, teils die andere dieser zwei Grundintentionen. Vor allem Arnheim und Hagauer, die erkennbar nach realen Vorbildern gestaltet sind (Rathenau und Kerschensteiner), waren von Musil offensichtlich als Repräsentanten typischer geistiger Haltungen, Ideologien oder Weltanschauungen seiner Zeit intendiert; die Darstellungen ihrer _____________ 280 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094. 281 Ebd.
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Denkprozesse gewähren Einblick in die innerpsychische Genese dieser Haltungen und führen vor, wie bestimmte Schlagwörter, Glaubenssätze und Theorien der Aufrechterhaltung des ‘seelischen Gleichgewichts’ dienen können.282 Agathe hingegen fungiert nicht als Verkörperung einer zeitgenössischen Weltanschauung, und die Wiedergabe ihrer Reflexionen ist vor allem im Horizont von Musils anthropologischem Interesse, seinem Projekt einer „Auslegung des Lebens“283, zu sehen; dasselbe gilt im Großen und Ganzen für Clarisse und Moosbrugger. 3.7. Ulrichs Denkweise und ihre Veränderung Ulrich ist die Figur, deren Denkvorgänge in Der Mann ohne Eigenschaften mit Abstand am häufigsten und am ausführlichsten wiedergegeben werden. Seine Denkprozesse weisen teilweise strukturelle Ähnlichkeiten zu den bereits untersuchten Reflexionen der anderen Figuren auf; die folgenden Analysen werden sich daher mehrfach auf die voranstehenden Teilkapitel zurückbeziehen, einige der dort herausgearbeiteten Feststellungen ergänzen und präzisieren und so die generellen Grundzüge von Musils narrativen Darstellungen des Denkens genauer zu bestimmen suchen. Zugleich sollen die folgenden Untersuchungen aber auch die spezifischen, individuellen Merkmale von Ulrichs Denkweise ermitteln. Diese Denkweise nun bleibt sich nicht gleich, sondern erfährt im Laufe der Romanhandlung eine _____________ 282 Diese Deutung der Figurenreflexionen lässt sich anschließen an Thomés überzeugenden Hinweis, dem zufolge Musils Roman sich in Tendenzen des zeitgenössischen Weltanschauungsdiskurses wie auch der Weltanschauungsforschung einfüge. Der Mann ohne Eigenschaften, so Thomé, erzähle „die verwirrende Konkurrenz der Weltanschauungen mit dem Ziel, auf der Ebene der Figuren die Genesis von Überzeugungen zu erfassen und zugleich einer Desorientierung der Zeit entgegenzuwirken, die die Instanz des Autors teilt.“ (Thomé, Weltanschauungsliteratur, S. 366f.) Ein solches Interesse an der „Genesis von Überzeugungen“ lasse sich auch im ‘Weltanschauungsdiskurs’ der Zeit beobachten; dieser bewege sich bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert „von der Beglaubigung einer Position zur Frage, welche Menschen welche Meinungen nötig haben, und wendet sich damit, parallel zur entstehenden Weltanschauungsforschung, den psychischen und sozialen Wurzeln von Meinungen zu.“ (Ebd., S. 366) Diesem Zweck dienen im Mann ohne Eigenschaften viele der dargestellten Figurenreflexionen in Verbindung mit psychologischen Theorieansätzen, insbesondere dem Konzept des seelischen Gleichgewichtssystems; diese Darstellungen von Gedankengängen der Figuren zeigen, dass und inwiefern diese Figuren bestimmte Meinungen ‘nötig haben’. – Zu den Beziehungen zwischen Musils Roman und der Weltanschauungsliteratur vgl. auch: Friedrich Vollhardt, ‘Welt–an=Schauung’. Problemkonstellationen in Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. In: Uta Klein / Katja Mellmann / Steffanie Metzger (Hg.), Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 505-525; zur Integration der „diskursiven Momente“ in den „Erzählerbericht“ vgl. ebd., S. 520. 283 Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094.
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Veränderung, in der sich die umfassendere innere Entwicklung Ulrichs niederschlägt. Mit dieser Grundthese knüpft die vorliegende Untersuchung an eine These Renate von Heydebrands an; von Heydebrand ist der Frage nach der erzählerischen Integration von Ulrichs Reflexionen am Beispiel seiner Variationen des Durchschnittsgedankens nachgegangen und zu dem Ergebnis gelangt, dass sich „in den wechselnden Einstellungen zum Durchschnittsproblem [...] eine innere Entwicklung Ulrichs [spiegele].“284 Die folgenden Interpretationen werden nachzuweisen suchen, dass sich diese innere Entwicklung Ulrichs nicht nur in seiner gewandelten Einstellung gegenüber bestimmten Themen oder Problemen manifestiert, sondern auch in seiner gesamten Art des Denkens. Da im Fortgang der Untersuchung die einzelnen Denkvorgänge Ulrichs also immer wieder zu seiner inneren Entwicklung während der Romanhandlung in Bezug gesetzt werden, bietet es sich an, diese Entwicklung vorab einmal zusammenzufassen beziehungsweise die Sicht auf diese Entwicklung, welche im Folgenden vorausgesetzt werden wird, explizit zu formulieren. Diese Sicht entspricht weitgehend derjenigen, die Ulrich selbst in seiner Reflexion über die beiden „Bäume“ seines Lebens formuliert (vgl. Kap. I.116, vor allem MoE 591-593); diese wird an anderer Stelle durch Bemerkungen des Erzählers bestätigt und steht außerdem weitgehend im Einklang mit dem Verhalten, den Handlungen und Erlebnissen Ulrichs, wie sie dem Leser in den anderen Romanteilen präsentiert werden.285 Die Grundlage dieser Selbst- und Fremdcharakterisierungen besteht in der Feststellung, dass Ulrich über zwei gegensätzliche Wesensseiten verfügt, die er als „Gewalt“ und „Liebe“ bezeichnet und die, wie er in seiner Reflexion im Kapitel I.116 annimmt, zwei menschlichen Grundverhaltensweisen entsprechen. Schon früh in seinem Leben hat Ulrich begonnen, die „Liebe“-Seite seines Wesens zu unterdrücken und allein seine Veranlagung zur „Gewalt“, seine Vorliebe für nüchterne, sachliche Rationalität, seinen Hang zum Zerstören alter und zum Konstruieren neuer Ordnungen, nach Kräften zu entfalten. Seine „Liebe“-Seite, die Sehnsucht nach einem vertrauens- und hingabevollen Verhältnis zur Welt, hat sich daher nur auf versteckte, indirekte Weise bemerkbar gemacht, nämlich in Form der Überzeugung, dass seine wissenschaftlichen und sonstigen Aktivitäten nur eine vorläufige Nützlichkeit und den begrenzten Wert eines vorbereitenden Trainings besitzen. Diese unwillkürliche Überzeugung hat ihn daran gehindert, sich mit ganzem Willen seiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen (vgl. MoE 256, 592f.), und sich schließlich _____________ 284 von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 192; vgl. ebd., S. 172-192, vor allem S. 186192. 285 Die besondere Wichtigkeit des Kapitels I.116 wird auch hervorgehoben bei: Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 403f.; Kühne, Das Gleichnis, S. 36.
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zu dem bedrückenden Gefühl verschärft, der „Gefangene von Vorbereitungen“ zu sein, „die nicht zu ihrem eigentlichen Ende [kommen]“ und deren Sinn ihm immer zweifelhafter geworden ist (MoE 593). Aus dieser krisenhaften Verfassung heraus entschließt sich Ulrich zu dem Urlaub von seinem Leben.286 Dabei ist es wichtig zu betonen, dass er sich in diesem Moment über die tieferen Ursachen seiner Unzufriedenheit nicht klar ist; das heißt vor allem, dass er hier noch nicht jenen Zusammenhang zwischen seiner Frustration und der sanften „Liebe“-Seite seines Wesens sieht, den er später in der Reflexion über die zwei „Bäume“ seines Lebens herausstellen wird. Nachdem er seinen Urlaub begonnen hat, bringt sich diese „Liebe“-Seite seines Wesens, die sich zuletzt nur indirekt und als hemmender Faktor geäußert hat, allmählich offener und mit ihrem positiven Inhalt zur Geltung; er selbst stellt einmal fest, dass „in der letzten Zeit [...] Veränderungen mit ihm vor sich [gehen]“: „er erweichte, seine innere Form, die immer die des Angriffs gewesen war, ließ nach und zeigte Neigung, umzuschlagen und in das Verlangen nach Zärtlichkeit, Traum, Verwandtschaft oder weiß Gott was überzugehn“ (MoE 567). Dieses allmähliche innere Erweichen zeigt sich vor allem in Ulrichs plötzlich auftauchender Erinnerung an die Frau Major, in seiner Faszination durch Moosbrugger und in seinen Gesprächen mit Diotima, Gerda und Bonadea, in denen er immer häufiger von Gefühl, Liebe und Ekstase spricht und wiederholt eine ‘weiche’ Seite zu erkennen gibt (vgl. MoE 550, 558f., 575).287 Zugleich denkt Ulrich während seines Urlaubsjahrs immer _____________ 286 Die Gründe, die Ulrich zu seinem Urlaub bewegen, werden in der Forschung gelegentlich ungenau oder unzutreffend charakterisiert; vor allem wird dieser Entschluss oft primär oder ausschließlich als Akt des Protests gegen die Gesellschaft oder die Wissenschaft gedeutet. Vgl. etwa: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 9; Menges, Abstrakte Welt, S. 23-26, 41. Aber was durch die Rennpferd-Nachricht in Ulrich ausgelöst wird und was ihn zu dem Urlaub motiviert, ist nicht in erster Linie eine kritische Einsicht über die Gesellschaft, sondern eine kritische Einsicht über sich selbst: Er wird sich bewusst, dass er sich in ‘Vorbereitungen’ verloren hat, ohne seinem Ziel näher zu kommen, und dass er nicht einmal mehr genau sagen kann, was seine ursprüngliche Absicht war (vgl. MoE 46f.). Es scheint mir auch fraglich, ob man den Urlaubsentschluss auf Ulrichs Ideal des Möglichkeitssinns zurückführen kann (so etwa Vatan, Robert Musil et la question anthropologique, S. 249f.); es geht ihm bei seinem Urlaub schließlich nicht darum, sich zugunsten der Möglichkeiten von allen Festlegungen freizuhalten, sondern darum, „eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen“ (MoE 47). – Ich stimme in diesem Punkt weitgehend mit Böhme überein, der einen „Entfremdungsschock“ und den daraus folgenden „Orientierungsverlust“ als Gründe für Ulrichs Urlaub nennt; vgl. Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 232-234, 246-249, Zitat S. 248; ders., Theoretische Probleme, S. 147. 287 Düsing dagegen scheint zu meinen, dass Ulrichs innere Veränderung erst mit dem Beginn des zweiten Buchs bzw. kurz davor, im „Umkehr“-Kapitel, einsetzt (vgl. Wolfgang Düsing, Erinnerung und Identität. Untersuchungen zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und Doderer. München 1982, S. 91). Da Düsing sich vor allem für die Erinnerungen im Mann ohne Eigenschaften und ihre Funktion für die Identitätsthematik interessiert, überrascht es, dass er nicht auf die Erinnerung an die Geschichte mit der Frau Major eingeht.
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wieder über sich und sein Leben nach und sucht die bestimmenden Motive dieses Lebens zu verstehen,288 wobei diese Reflexionen mehrmals in resignierte Resümees oder bittere Selbstvorwürfe münden;289 diese Selbsterforschungen erreichen einen entscheidenden Höhe- und Wendepunkt in Ulrichs Überlegungen über die beiden „Bäume“ seines Lebens (Kapitel I.116), wo er seine Anlagen und den bisherigen Verlauf seines Lebens in einer Weise deutet, die mit der Sicht des Erzählers im Einklang steht290 und im Folgenden nicht mehr grundlegend revidiert wird. Nachdem Ulrich in der Reflexion über die zwei Bäume die „Liebe“-Seite als einen Teil seines Wesens identifiziert und anerkannt hat, stellt sich für ihn gegen Ende des ersten Buchs immer drängender die Frage, ob er mit dieser seiner Wesenshälfte „Ernst machen“ (MoE 653) will – wobei er zunächst noch keine klaren Vorstellungen davon zu haben scheint, was das konkret heißen könnte. Das Wiedersehen mit Agathe führt dazu, dass die ‘Wiedererweckung’ von Ulrichs „Liebe“-Seite sich fortsetzt und noch verstärkt und dass die Option, mit diesen Erfahrungen und Wünschen ‘Ernst zu machen’, eine konkretere Gestalt erhält. Diese innere Entwicklung Ulrichs, so eine zentrale These dieses Kapitels, schlägt sich auch in einer Veränderung seiner Denkweise nieder, wie sie in seinen ausführlich wiedergegebenen Denkprozessen zutage tritt: In Überlegungen, die Ulrich noch am Anfang seines Urlaubsjahrs anstellt, drückt sich allgemein seine krisenhafte Verfassung und konkret der noch unbewusste, unartikulierte Konflikt zwischen seiner bislang dominierenden „Gewalt“-Seite und der allmählich wiedererwachenden „Liebe“-Seite aus. Die Überlegungen dagegen, die Ulrich nach seiner Wiederbegegnung mit Agathe entwickelt, lassen nicht nur in ihren ausdrücklichen Inhalten, sondern auch in der Art des Denkens erkennen, dass Ulrich seine Krise zumindest insofern überwunden hat, als er sich seine zuvor unterdrückten Wünsche, Gefühle und Sehnsüchte bewusst gemacht hat und somit sich selbst in höherem Maße kennt und versteht. Die folgenden Analysen sollen allerdings nicht nur und nicht in erster Linie nachweisen, dass auch Ulrichs Denkweise sich im Zuge seiner umfassenden inneren Entwicklung verändert, sondern vor allem im Detail aufzeigen, wie seine spezifische Denkweise und ihre Veränderung sprachlich gestaltet werden. _____________ 288 Vgl. Böhme, Theoretische Probleme, S. 150; Böhme spricht hier von der „über den ganzen Roman sich vollziehende[n] Selbstaufklärung Ulrichs“. Zu ergänzen wäre der eben genannte Punkt: Die Selbstaufklärung ist mit einem inneren ‘Erweichen’ verbunden, das einer Wiederbelebung ähnelt. 289 „Er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens und verachtete sich für seine Unterlassungen“, heißt es einmal (MoE 257); vgl. auch MoE 155, 265. 290 Vgl. vor allem MoE 253, 256.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Die Kapitel und Kapitelfolgen aus den veröffentlichen Teilen des Mann ohne Eigenschaften, welche längere Gedankengänge Ulrichs enthalten, seien hier kurz im Überblick dargestellt: Kap. I.28–I.40: Ulrich sitzt zu Hause und arbeitet an einer mathematischen Untersuchung, bis seine Gedanken abschweifen (Kap. 28). Er erhält Besuch von Bonadea, denkt in ihrer Gegenwart unter anderem an den Fall Moosbrugger und erinnert sich an die Geschichte mit der Frau Major. Nachdem ihn Bonadea verlassen hat, macht er sich zu Fuß auf den Weg zu Walter und Clarisse und denkt auf dem Gang durch die Stadt über Verschiedenes nach, bis er schließlich in eine Auseinandersetzung zwischen einem Betrunkenen und einem Schutzmann gerät und verhaftet wird. Kap. I.83: Das Kapitel ist Teil einer zusammenhängenden Kapitelsequenz von Kap. I.82 bis I.85. Zunächst besucht Ulrich Clarisse, die ihm erklärt, weshalb sie ein Nietzsche-Jahr gefordert hat, und ihm wegen seiner Passivität Vorwürfe macht (I.82). Auf dem Heimweg denkt er darüber nach, was er ihr noch hätte antworten können, und wendet sich von da aus dem allgemeineren Thema der Geschichte und der Frage zu, warum man nicht Geschichte ‘macht’ (I.83). Zu Hause findet er neue Schriftstücke vor, die die Parallelaktion betreffen, sieht sie durch, kehrt zu Walter und Clarisse zurück und entwickelt vor ihnen das Programm, „Ideengeschichte statt Weltgeschichte zu leben“ (I.84; MoE 364). Als er wieder nach Hause zurückkehrt, trifft er dort General Stumm an, der ihm von seinen Bemühungen berichtet, „Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“ (I.85). Kap. I.116: Während einer Besprechung im Hause Diotimas, an der neben der Gastgeberin und ihm auch Tuzzi, Arnheim, Leinsdorf und Stumm beteiligt sind, denkt Ulrich über die beiden Bäume seines Lebens und die Grundverhaltensweisen der Eindeutigkeit und des Gleichnisses nach, bevor er seinen Vorschlag vorbringt, ein „Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele“ (MoE 597) zu gründen. Kap. I.120–I.122: An dem Tag der großen Demonstration gegen die Parallelaktion begibt sich Ulrich zunächst in das Palais des Grafen Leinsdorf, dann zu Diotima, wo er Arnheim antrifft. Sowohl bei Graf Leinsdorf als auch während des Gesprächs mit Arnheim versinkt er zwischendurch in längere Überlegungen. Nach der „Aussprache“ mit Arnheim geht er nachts nach Hause; auf diesem „Heimweg“ denkt er unter anderem über sein Unvermögen nach, sein eigenes Leben als einen geschlossenen Zusammenhang zu empfinden (Kap I.122). Kap. II.3: Am ersten Morgen nach seiner Ankunft im Haus seines verstorbenen Vaters will sich Ulrich die mathematische Untersuchung wieder vornehmen, die er Monate zuvor unterbrochen hatte, denkt dann aber darüber nach, dass der Mensch „in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe“ (MoE 687), deren Verhältnis zueinander mit der Beziehung zwischen ‘Konkav- und Konvexempfinden’, aber auch mit dem Unterschied zwischen Mann und Frau zusammenzuhängen scheine.
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Kap. II.18: Nachdem er nach Wien zurückgekehrt ist, will Ulrich einen Brief an Agathe schreiben, um sie zu ermahnen, die Testamentsfälschung rückgängig zu machen. Beim Nachdenken über diesen Vorfall gerät er in eine ausführliche allgemeine Reflexion über Moral; am Ende beschließt er, den Brief an Agathe doch nicht zu schreiben. Kap. II.22: Nach einem Besuch bei Graf Leinsdorf begibt sich Ulrich teils mit der Straßenbahn, teils zu Fuß nach Hause. Unterwegs begegnet er der Astronomin Dr. Strastil. Ulrichs Gedanken kreisen zunächst um die „vergebliche Aktualität“ der Literatur und des Lebens, dann um Agathe. Schließlich sucht er sich klarzumachen, was genau er gemeint und „auf sich genommen“ hat, als er Agathe gegenüber vom ‘Tausendjährigen Reich’ gesprochen hat.
In der Forschungsliteratur trifft man gelegentlich auf die Auffassung, dass auch das Kapitel I.62, das von der Utopie des Essayismus handelt, einen Gedankengang Ulrichs aus der Zeit seines Urlaubsjahrs wiedergibt.291 Aber wie eine Reihe von strukturierenden Sätzen deutlich macht, fasst in diesem Kapitel der Erzähler die wesentlichen Etappen der intellektuellen Entwicklung Ulrichs zusammen, die dem Beginn seines Urlaubsjahrs vorausging. Auch die Utopie des Essayismus hat Ulrich demnach schon längere Zeit vor Beginn der Romanhandlung entworfen.292 Die in den aufgelisteten Kapiteln dargestellten Reflexionen Ulrichs können im Folgenden nicht alle gleichermaßen ausführlich analysiert werden. Die Untersuchung wird sich vielmehr auf einzelne Gedankengänge aus den verschiedenen Phasen der Romanhandlung konzentrieren und sie exemplarisch analysieren, um die Besonderheiten von Ulrichs Denken in dem jeweiligen ‘Entwicklungsstadium’ herauszuarbeiten und die Veränderungen seiner Denkweise aufzuzeigen. Zunächst werden Ulrichs Überlegungen im Kapitel I.28 und in den Kapiteln I.34, 39 und 40 in den Blick genommen; hier gilt es darzulegen, inwiefern seine Denkweise von dem krisenhaften Zustand geprägt ist, in dem er sich zu Beginn seines Urlaubsjahrs befindet. Wie sich seine Denkweise in einer späteren Entwicklungs_____________ 291 Vgl. von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 61, 176; Böhme, Theoretische Probleme, S. 149. 292 Vgl.: „Ulrich hatte sich dagegen aufgelehnt, das ernst zu nehmen, und bildete nun seine geistigen Neigungen auf eigene Art weiter.“ (MoE 249) „In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen, daraus eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband.“ (MoE 250) „Aber es war gerade in den Jahren, die ihn hätten aneifern sollen, mit ihm etwas Merkwürdiges vor sich gegangen.“ (MoE 252f.) „[...] [A]uch das hing mit dem seinerzeit von ihm gewählten Namen Essayismus zusammen, wenn es auch gerade die Bestandteile enthielt, die er mit der Zeit und mit unbewußter Sorgfalt aus diesem Begriff ausgeschaltet hatte.“ (MoE 253) „[...] [A]ls er das tat, was er etwas spöttisch seinen ‘Urlaub vom Leben’ nannte, besaß er in der einen wie in der anderen Richtung nichts, was ihm Frieden gab.“ (MoE 256)
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phase, nach dem Wiedersehen mit Agathe, darstellt, soll anhand einer Untersuchung des Kapitels II.22 deutlich gemacht werden. 3.7.1. Die krisenhafte Ausgangssituation: Kapitel I.28 Das Kapitel I.28 zeigt Ulrich beim Nachdenken in seinem Arbeitszimmer; es ist das erste einer Reihe von Kapiteln, die die Geschehnisse eines einzigen Tages berichten, in dessen Verlauf Ulrich schließlich verhaftet, von Graf Leinsdorf wieder ‘befreit’ und zum Sekretär der Parallelaktion gemacht wird. Das Kapitel I.28 enthält zum einen eine ausführliche Erörterung über das Denken, insbesondere über den weitgehend unpersönlichen Charakter des Denkens und die sich daraus ergebende Schwierigkeit, in der schönen Literatur einen denkenden Menschen wiederzugeben; diese Ausführungen wurden oben, in dem Abschnitt über Musils Konzeption des Denkens, analysiert. Zum anderen erzählt dieses Kapitel einen Denkvorgang Ulrichs. Dieser Denkvorgang sowie die Art, wie er erzählt wird, illustrieren erstens die Aussagen des Erzählers über das Unpersönliche des Denkens; zweitens gibt der Verlauf dieses Gedankengangs aber auch Aufschlüsse über die aktuelle geistige Verfassung Ulrichs. Beide Aspekte sollen im Folgenden näher ausgeführt werden. Um zu erläutern, inwiefern das Kapitel die Aussagen des Erzählers über das weitgehend unpersönliche Wesen des Denkens veranschaulicht, ist es notwendig, kurz seinen Inhalt und Aufbau nachzuvollziehen. Die ersten drei des insgesamt elf Absätze umfassenden Kapitels zeigen den arbeitenden Ulrich an seinem Schreibtisch und geben mithilfe von Bewusstseinsbericht und Gedankenzitat den Inhalt seiner Gedanken wieder: Er beschäftigt sich mit einem neuen mathematischen Vorgang, konstruiert ein physikalisches Beispiel, für das er unter anderem eine Zustandsgleichung des Wassers braucht, und fragt sich dann: „‘Habe ich nicht Clarisse etwas vom Wasser erzählt?’“ Damit entfernen sich seine Gedanken von der mathematischen Untersuchung und „breite[n] sich nachlässig aus“. Dann beginnt der vierte Absatz mit dem Satz: „Es ist leider in der schönen Literatur nichts so schwer wiederzugeben wie ein denkender Mensch.“ (MoE 111) Da es sich um eine meta-narrative Aussage handelt, fasst man sie unweigerlich als eine Äußerung des Erzählers auf, nicht als eine Wiedergabe von Ulrichs Gedanken in erlebter Rede. Auf diesen Satz folgen längere Ausführungen über das Denken und vor allem über die unpersönliche Wesensart des Denkens. Am Beginn des sechsten Absatzes dann wendet sich der Erzähler wieder Ulrichs Gedanken über das Wasser zu und veranschaulicht an ihnen, dass das Denken tatsächlich „wenigstens zum Teil keine persönliche Angelegenheit“ ist, sondern „[a]us- und einge-
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hende Welt; Seiten der Welt, die sich in einem Kopf zusammenbilden.“ (MoE 112) Der sechste Absatz zählt die Feststellungen zum Thema Wasser auf, die Ulrich eingefallen sind, bevor er sich im siebten Absatz erinnert, dass er „alles das wirklich Clarisse erzählt hatte“. Man hat es also zunächst mit zwei klar voneinander getrennten Reflexionssträngen zu tun: Da ist zum einen Ulrich, der über Mathematik, über Wasser und über Clarisse nachdenkt, und da ist zum anderen der Erzähler, der über das Denken, die Unpersönlichkeit des Denkens und die daraus resultierenden Schwierigkeiten für Schriftsteller nachdenkt. Doch gegen Ende des Kapitels erscheinen die Verhältnisse nicht mehr so klar und eindeutig. Der achte Absatz besteht nur aus den drei Worten „Er ärgerte sich“; der neunte Absatz bringt dann Ausführungen über die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens – aber diese Gedanken werden nun Ulrich zugeschrieben.293 Damit kreisen jetzt plötzlich Ulrichs Gedanken um das Thema, das vom Erzähler in seinen selbständigen Reflexionen eingeführt und entfaltet worden war. Wie ist Ulrich von seinen Gedanken über das Wasser und Clarisse zu dem Thema der Unpersönlichkeit des Denkens gekommen? Beim Nachdenken über das Wasser hat er sich Wissen vielfältiger Art ins Bewusstsein gerufen, mythologisches, historisches und naturwissenschaftliches Wissen. Diese Überlegungen mündeten in eine Feststellung, bei der zunächst nicht zu erkennen ist, ob sie vom Erzähler oder von Ulrich stammt: Selbst von „einem so einfachen Ding, wie es Wasser ist“, werde in zahllosen verschiedenen Sprachen und disparaten Kontexten gesprochen, so dass man folgern könne, „daß ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewissermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät!“ (MoE 113)294 Wenn Ulrich etwas später über die ‘soziale’ und ‘außenweltliche’ Wesensart der Gedanken reflektiert, so kann man vermuten, dass die eben zitierte Schlussfolgerung über die „unordentliche Gesellschaft“ von ihm stammte und dass er diese Feststellung hier aufgreift. Es lässt sich also in etwa nachvollziehen, wie Ulrich zu dem Problem der Unpersönlichkeit des _____________ 293 Der folgende, zehnte Absatz beginnt mit dem Gedankenzitat: „‘Dumm,’ dachte Ulrich ‘aber es ist so.’“ (MoE 113) Das „es“ kann sich hier nur auf die unmittelbar vorangehenden Feststellungen über die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens beziehen, die folglich als Gedanken Ulrichs aufgefasst werden müssen. Damit kann man diese Feststellungen nun auch als Grund für den im achten Absatz erwähnten Ärger Ulrichs („Er ärgerte sich“) einsetzen. 294 Vgl. zu der Passage über das Wasser und ihrer Schlussfolgerung: Reinhardt, Studien, S. 16f. (Anm. 38); in einem anderen Abschnitt seiner Untersuchung analysiert Reinhardt ausführlich die Bedeutung des ‘Wasserbildes’ in Musils Roman, konzentriert sich dabei aber auf die Stellen, wo dieses Bild im Kontext von Beschreibungen des anderen Zustands oder Anspielungen auf ihn gebraucht wird (vgl. ebd., S. 147-167). Für eine weitere Analyse der Variationen des Wasserbildes im Roman, die allerdings auf die Stelle in Kapitel I.28 nicht näher eingeht, vgl.: Menges, Abstrakte Welt, S. 219-242.
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Denkens gelangt; jedenfalls aber beziehen sich seine Gedanken nun auf ein Thema, das innerhalb des Kapitels zunächst in einer meta-narrativen Reflexion des Erzählers, also ganz unabhängig von Ulrich eingeführt worden ist. Wie generell gilt, dass „ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewissermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät“, so gerät Ulrich hier im Zuge seines Nachdenkens unversehens in die – immerhin vergleichsweise ‘ordentliche’ – Gesellschaft des Erzählers. Insofern kann man in der Erzählweise des Kapitels, namentlich in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Ulrichs Gedankengang und dem des Erzählers, eine Illustration der Thesen über den weitgehend unpersönlichen Charakter des Denkens sehen. Aber diese Erzählweise hat noch eine weitere, speziellere Pointe. Diese wird deutlich, sobald man sich einige Implikationen von Ulrichs Gedanken über die Unpersönlichkeit des Denkens klar macht. Wenn Ulrich am Ende des Kapitels die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens beklagt, so stellt er damit einen Anspruch an das Denken, der ihm zu Beginn des Kapitels, als er mit seiner mathematischen Arbeit befasst war, noch fremd gewesen sein dürfte. Dort arbeitet er zunächst wie „ein Akrobat, der [...] einem Parkett von Kennern gefährliche neue Sprünge vorführt“, und die „Genauigkeit, Kraft und Sicherheit dieses Denkens, die nirgends im Leben ihresgleichen hat“, erfüllt ihn „fast mit Schwermut“ (MoE 111). Das mathematische Denken erscheint hier nicht primär als ein persönliches Erlebnis, sondern als eine Art des Handelns, als eine kraftvolle und präzise, Geschick, Konzentration und Wagemut erfordernde Tätigkeit. Wenn auch das „fast“ schon andeutet, dass Ulrich diese Eigenschaften des mathematischen Denkens nicht ganz vorbehaltlos genießt, ist doch offenkundig, dass ihm diese „Genauigkeit, Kraft und Sicherheit“ hier Freude und Befriedigung bereiten; es gibt an dieser Stelle noch keinen Hinweis darauf, dass er vom Denken etwas anderes als solche Qualitäten erwartet, oder zumindest kein Anzeichen dafür, dass er die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ dieses Denkens als solche wahrnimmt und bedauert. Erst später im Kapitel werden in ihm Unzufriedenheit und Ärger über die Unpersönlichkeit dieses Denkens wach und treten ausdrücklich in sein Bewusstsein. In dieser Unzufriedenheit nun, die den Wunsch nach einem mehr ‘persönlichen’ Denken impliziert, kann der Leser die erste undeutliche Äußerung eines Wunsches erkennen, den Ulrich im Laufe desselben Tages und der folgenden Wochen und Monate immer bewusster und stärker empfinden wird295: das ist der Wunsch nach einem Leben, das ihn ‘innerlich angeht’, der letztlich zu den Ausdrucksformen seiner „Liebe“-Seite zu rechnen ist. Ulrichs ärgerliche Gedanken über die _____________ 295 Vgl. MoE 129f., 153, 265.
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geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens im Kapitel I.28 haben insofern einen sehr ‘persönlichen’ Ursprung, sie entspringen tief verwurzelten Anlagen und Neigungen seiner selbst. Aber eben die Genese dieser Gedanken in seinem persönlichen Inneren bleibt weitgehend im Dunkeln, wie oben angedeutet wurde: Man kann nur erschließen, dass diese Gedanken bei Ulrich irgendwie durch das Nachdenken über Wasser und die Erinnerung an Clarisse ausgelöst wurden, aber die Verbindungslinien zwischen diesen Momenten seines Gedankengangs werden kaum markiert. Was dagegen offen zutage liegt, ist die inhaltliche Kontinuität, die Ulrichs Feststellungen über die Unpersönlichkeit des Denkens mit den Ausführungen des Erzählers verbindet, also gewissermaßen der ‘unpersönliche’, rein sachliche Zusammenhang, in den sie eingeordnet werden können. Diese Erzählweise, welche die individuelle oder persönliche Genese von Ulrichs Gedanken gegenüber ihrem sachlichen Zusammenhang mit den Bemerkungen des Erzählers zurücktreten lässt, dürfte nicht nur der Illustration der Aussagen des Erzählers dienen,296 sondern vor allem darauf verweisen, dass Ulrich selbst sich über die ‘Herkunft’ seiner ärgerlichen Gedanken über die Unpersönlichkeit des Denkens nicht im Klaren ist: Er stellt sich nicht die Frage, weshalb diese Unpersönlichkeit, die ihn kurz zuvor beim Arbeiten an der mathematischen Untersuchung noch nicht gestört zu haben scheint, nun plötzlich eine ärgerliche Unzufriedenheit in ihm hervorruft, die ihn schließlich zum Abbruch seiner Arbeit bewegt; folglich macht er sich auch nicht die tiefere Bedeutung dieser Unzufriedenheit bewusst, also die Wünsche und Bedürfnisse, die sich in ihr äußern. Insofern haben seine ärgerliche Enttäuschung über die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens und sein Wunsch nach einem persönlicheren Denken hier noch einen unklaren, unartikulierten Charakter. Eine solche Unartikuliertheit seiner Gefühle und Wünsche ist für Ulrichs innere Verfassung in diesem Kapitel insgesamt kennzeichnend. Eine übergeordnete These dieses Untersuchungsteils lautet, dass sich die inneren Entwicklungszustände, die Ulrich durchläuft, auch in seiner Denkweise und ihren Veränderungen manifestieren. Für seine Reflexionen im Kapitel I.28 bedeutet dies, dass sie von der krisenhaften Verfassung gezeichnet sind, in der er sich zu Beginn seines Urlaubsjahrs befindet: Die Merkmale dieses Denkvorgangs lassen sich also in Einklang bringen mit dem, was andernorts im Roman über diese innere Krise Ulrichs gesagt wird, und sie erlauben es zugleich, das Wesen dieser Krise genauer zu _____________ 296 Dabei denke ich vor allem an die folgende Aussage: „Man kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen erwischen, und darum ist offenbar das Denken eine solche Verlegenheit für die Schriftsteller, daß sie es gern vermeiden.“ (MoE 112)
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bestimmen. Die geistige Verfassung Ulrichs, die in diesem Denkvorgang zutage tritt, ist zunächst charakterisiert durch eine Art innerer Spaltung oder Dissoziation; seine intellektuellen Fähigkeiten haben sich gleichsam verselbständigt und funktionieren nun fast wie ein abgetrennter Apparat, der nicht mit seinen Gefühlen und Wünschen vermittelt ist. Diese Dissoziation zwischen Intellekt und den übrigen ‘Teilen’ seiner Person ist verbunden mit der eben erwähnten Unartikuliertheit seiner Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse. Als unartikuliert erscheint seine innere Verfassung vor allem dann, wenn er im Laufe des Kapitels in einen diffusen Zustand von Unzufriedenheit, Ärger und Resignation gerät, ohne die unbefriedigten Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, die seinem Ärger zugrunde liegen. Beide Merkmale, die Dissoziation und die Unartikuliertheit, treten besonders deutlich zutage in dem Mittelteil des Kapitels, wo Ulrich zunächst über das Wasser nachdenkt und ihm dann Clarisse einfällt. Nachdem Ulrich eine „Zustandsgleichung des Wassers“ notiert hat, breiten sich seine Gedanken „nachlässig aus“ (MoE 111). Was ihm zum Thema ‘Wasser’ einfällt, gibt der Erzähler in einem längeren Abschnitt wieder, in dem es unter anderem heißt: Nach der Meinung der Griechen waren die Welt und das Leben aus dem Wasser hervorgegangen. Es war ein Gott; Okeanos. Später erfand man Nixen, Elfen, Undinen, Nymphen. Man hat Tempel und Orakel an seinen Ufern gegründet. Man hat aber auch die Dome von Hildesheim, Paderborn, Bremen über Quellen gebaut, und siehe, diese Dome stehen doch noch? Und man tauft auch noch mit Wasser? Und gibt es nicht Wasserfreunde und Naturheilapostel, deren Seele so etwas eigenartig grabhaft Gesundes hat? Da war also in der Welt eine Stelle wie ein verwischter Punkt oder niedergetretenes Gras. Und natürlich hatte der Mann ohne Eigenschaften auch das neuzeitliche Wissen irgendwo im Bewußtsein, [...]. [MoE 112f.]
Der Passus beginnt als eine schlichte Aufzählung von einzelnen Feststellungen, die in kurzen, parataktischen Sätzen aneinander gereiht werden. Gegen dieses ruhige und sachliche Referieren hebt sich die Reihung von drei rhetorischen Fragen ab („Man hat aber auch die Dome [...]?“), die in die konkludierende Formulierung „Da war also in der Welt [...]“ mündet. Es ist nicht ganz klar, was Ulrich mit der Wendung „eine Stelle wie ein verwischter Punkt oder niedergetretenes Gras“ meint und worauf er hier hinauswill. Man kann vermuten, dass ihm die Dome, das Ritual der Taufe und die „Wasserfreunde und Naturheilapostel“ der Gegenwart als ein anachronistisches Überbleibsel aus der Zeit erscheinen, wo man dem Wasser göttliche Eigenschaften zugeschrieben hat; dieser Anachronismus könnte ihm als Beispiel für die widerspruchsvolle, auf willkürliche Weise aus neuester Technik und altmodischen Gefühlen zusammengesetzte Beschaffenheit der modernen Kultur gelten, die seit seiner Jugend immer
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wieder seine Kritik erregt hat.297 Wichtig ist aber, dass Ulrich diesen Gedankengang hier kurz andeutet und ihm durch die rhetorischen Fragen und die methodisch-sorgfältige Formulierung „Da war also [...]“ auch einen gewissen Nachdruck verleiht, aber über das skizzenhafte Umreißen des Gedankens nicht hinausgeht und ihn danach sogleich wieder fallen lässt. Man gewinnt den Eindruck, dass das Feststellen solcher widersprüchlichen Phänomene bei Ulrich zu einer Gewohnheit geworden und fast automatisiert worden ist, so dass er auch nun, während er seine Gedanken „nachlässig“ und absichtslos um das Thema ‘Wasser’ kreisen lässt, sogleich einen Sachverhalt dieser Art aufdeckt. Dass er keine Anstalten zur gedanklichen Vertiefung seiner ‘Entdeckung’ macht, zeigt, dass sie in diesem Moment kein größeres Interesse bei ihm erregt; allein die rhetorische Pointierung seines Aperçu scheint sich auch in diesem nachlässigabschweifenden Gedankengang wie von selbst einzustellen. Dieser Abschnitt von Ulrichs Überlegungen kann also als Indiz dafür betrachtet werden, dass sein Intellekt bestimmte Verfahren – etwa Verfahren des Aufdeckens und Kritisierens von Widersprüchen – ausgebildet hat, die sich verselbständigt haben und fast automatisch ablaufen, ohne dass Ulrich in besonderem Maße Interesse oder Aufmerksamkeit für den jeweiligen Gegenstand aufbringen müsste. Während in dem eben betrachteten Passus Ulrichs Intellekt fast als ein selbständiger Apparat erscheint, der auch ohne Beteiligung seiner übrigen Person, seiner Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche funktioniert, haben andererseits seine Gefühle und Empfindungen in diesem Kapitel einen unklaren, unartikulierten und gleichsam rudimentären Charakter. Nachdem Ulrichs Gedanken über das Wasser zusammengefasst wurden, heißt es: Und nun erinnerte sich Ulrich auch, daß er alles das wirklich Clarisse erzählt hatte, und sie war ungebildet wie ein kleines Tier, aber ungeachtet allen Aberglaubens, aus dem sie bestand, fühlte man undeutlich eine Einheit mit ihr. Es gab ihm einen Stich wie eine warme Nadel. [MoE 113]
In dem Moment, wo Ulrich sich wieder an Clarisse erinnert, scheinen ihm seine Gedanken unkontrolliert zu entgleiten; diese geringe Kontrolle wird vor allem durch den parataktischen Satzbau, die Anapher „Und nun [...], und sie [...]“ sowie durch den überraschenden, mitten im Satz erfolgenden Wechsel von Bewusstseinsbericht („erinnerte sich Ulrich“) zu erlebter Rede („und sie war“) hervorgehoben.298 Es passt zu der geringen Strin_____________ 297 Vgl. etwa MoE 36f. (wo die Weltsicht charakterisiert wird, die den jungen Ulrich zur Wahl der Ingenieurslaufbahn veranlasst hat) sowie MoE 32f. (über die Mischung aus Tradition und Fortschritt in Kakanien). 298 Auch den drastischen Vergleich „ungebildet wie ein kleines Tier“ kann man als Indiz dafür werten, dass Ulrichs Gedanken nicht mehr von seinem Bewusstsein ‘zensiert’ werden.
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genz dieser Gedanken, dass sie Ulrich ein „undeutlich[es]“ Gefühl ins Gedächtnis rufen und eine körperlich-sinnliche Empfindung bewirken, die mit einem „Stich“ von einer „warme[n] Nadel“ verglichen wird und so zugleich banal, intensiv und idiosynkratisch erscheint. Ulrichs Gefühl einer „Einheit“ mit Clarisse aber, das ist an dieser Stelle wichtig, ist keineswegs ein banales oder rein zufälliges Faktum, wie sich im weiteren Verlauf der Romanhandlung zeigen wird. So wird Ulrich im letzten Kapitel des ersten Buchs zu dem Schluss kommen, dass Clarisse „im geheimen wohl bereits ein geisteskrankes Wesen“ sei, und zugleich konstatieren, dass sie „in ihrem Anfall [...] Aussprüche getan [hatte], die manchen seiner eigenen bedenklich ähnlich waren“ (MoE 662).299 Auch zu diesem späteren Zeitpunkt wird Ulrich es vermeiden, sich über diese Ähnlichkeit zwischen Clarisses und seinen Äußerungen genauer Rechenschaft abzulegen, aber er nimmt diese Nähe dort ausdrücklich wahr. Im Kapitel I.28 dagegen fühlt er diese „Einheit“ nur „undeutlich“, und wie die unpersönliche „man“-Formulierung („fühlte man undeutlich eine Einheit mit ihr“) andeutet, betrachtet er dieses Gefühl der Einheit hier nicht als eine individuelle Erfahrung, die etwas speziell über ihn aussagen könnte. Anstatt die eigentliche Bedeutung seines Gefühls der Einheit mit Clarisse wahrzunehmen, konstatiert Ulrich offenbar nur, dass dieses Gefühl ihn trotz seiner vermeintlichen Banalität intensiv berührt, ihm „einen Stich wie eine warme Nadel“ gibt; ohne dass dieser Zusammenhang ausdrücklich hergestellt würde, scheint diese Wahrnehmung Ulrichs dafür verantwortlich zu sein, dass er am Ende des Kapitels in einen Zustand des Ärgers, der Unzufriedenheit und Resignation gerät. Dieser Ärger wird durch die Feststellung hervorgerufen, dass auch bedeutende Gedanken nur eine sehr geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ besitzen, während „Taten, Gefühle und Empfindungen“, selbst wenn sie gewöhnlicher und unpersönlicher Art sind, im Rückblick stets als große persönliche Geschehnisse wahrgenommen werden. Der Abschnitt, der diese Gedanken Ulrichs und die sie begleitenden Gefühle und Stimmungen schildert, sei hier ausführlich zitiert: Er ärgerte sich. Die bekannte, von den Ärzten entdeckte Fähigkeit der Gedanken, tief wuchernden, krankhaft verfilzten Hader, der aus dumpfen Bezirken des Ich entsteht, aufzulösen und zu zerstreuen, beruht wahrscheinlich auf nichts anderem als ihrer sozialen und außenweltlichen, das Einzelgeschöpf mit anderen Menschen und Dingen verknüpfenden Wesensart; aber leider scheint das, was ihnen ihre
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299 Vgl. auch MoE 660: „Ihre Worte stießen ihn aber nicht ab, obwohl sie die Vernunft beleidigten; denn indem sie seinem Inneren nahekamen und sich davon wieder bis zur Absurdität entfernten, wirkte diese dauernde rasche Bewegung wie ein Schwirren oder Summen, dessen Tonschönheit oder -häßlichkeit neben der Heftigkeit der Schwingung nicht zur Geltung kam.“
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Heilkraft gibt, das gleiche zu sein, was ihre persönliche Erlebnishaftigkeit vermindert. Die beiläufige Erwähnung eines Haares auf einer Nase wiegt mehr als der bedeutendste Gedanke, und Taten, Gefühle und Empfindungen vermitteln bei ihrer Wiederholung den Eindruck, einem Vorgang, einem mehr oder weniger großen persönlichen Geschehnis beigewohnt zu haben, mögen sie noch so gewöhnlich und unpersönlich sein. ‘Dumm,’ dachte Ulrich ‘aber es ist so.’ Er erinnerte an jenen dummtiefen, erregenden, unmittelbar das Ich berührenden Eindruck, den man hat, wenn man an seiner Haut riecht. Er stand auf und zog die Vorhänge seines Fensters beiseite. [MoE 113]
Auch diese Passage verweist sowohl auf die Dissoziation zwischen Gefühlen und Intellekt als auch auf die Unartikuliertheit von Ulrichs Gefühlen beziehungsweise seiner gesamten inneren Verfassung. Die Entkopplung der Gedanken vom gefühlsbasierten Gesamtzustand der Person wird hier vor allem graphisch – durch die Anordnung der Absätze – und syntaktisch ausgedrückt: Zwei sehr kurze Absätze, die in höchst lapidaren Sätzen Ulrichs Stimmung und Gefühle charakterisieren, umrahmen einen längeren Absatz, der in umfangreicheren und komplexeren Satzkonstruktionen die Gedanken darlegt, die offenbar Ulrichs Ärger hervorrufen. Dabei enthält dieser längere Absatz aber keine Erwähnung Ulrichs; allein das anaphorische „es“ in dem folgenden Absatz („‘aber es ist so’“) macht deutlich, dass es seine Überlegungen über die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens sind, die hier wiedergegeben werden. Als unartikuliert erscheint sein Zustand zunächst insofern, als nicht klar wird, weshalb ihm auf einmal die „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens so wichtig ist. Das bedeutet auch, dass die tieferen Gründe für den Ärger und die deprimierte Stimmung, die sich hier Ulrichs bemächtigen, im Dunkel bleiben. Die Erinnerung an Clarisse, die ihm „einen Stich wie eine warme Nadel“ gab, ist offenbar der unmittelbare Auslöser für den sarkastischen Gedanken, selbst die „beiläufige Erwähnung eines Haares auf einer Nase [wiege] mehr als der bedeutendste Gedanke“. Aber weshalb diese Feststellung Ulrich, der kurz zuvor noch „Vergnügen“ an der „Genauigkeit, Kraft und Sicherheit“ des mathematischen Denkens gefunden hat und sich um die „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens nicht zu kümmern schien, so zu ärgern und zu deprimieren vermag, wird im Text nicht erklärt, weil es offenbar Ulrich selbst nicht klar ist.300 Die Unartikuliertheit und Unklarheit seiner Gefühle, die ihnen etwas Dumpfes und Lähmendes zu geben scheint, sind schließlich auch mit einem Irrtum oder zumindest einer Einseitigkeit in Ulrichs Gedanken verbunden: Wenn er bitter feststellt, dass banale, gewöhnliche und unpersönliche „Taten, Ge_____________ 300 Auch die minimalistisch reduzierte Form und die isolierte Stellung des Satzes „Er ärgerte sich“ weisen darauf hin, dass dieser Gefühlszustand schlicht auf einmal ‘da ist’, wie ein factum brutum, ohne dass Ulrich sich seiner Ursachen bewusst wäre.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
fühle und Empfindungen“ in der Erinnerung stets als persönliche Erlebnisse erscheinen, so übersieht er dabei, dass es auch ungewöhnliche, bedeutende, ganz und gar nicht banale Gefühle und Empfindungen gibt, die als persönliche Erlebnisse wahrgenommen werden, ja dass diese ungewöhnlichen und bedeutenden Gefühlserlebnisse (die sich mehr oder weniger dem anderen Zustand nähern) die eigentlichen persönlichen Erlebnisse sind. Ulrich ignoriert hier diese bedeutenden, positiven persönlichen Erlebnisse, weil er sie offenbar weitgehend vergessen hat; dieser Gedankengang im Kapitel I.28 spielt sich einige Stunden vor dem Moment ab, wo er sich nach langer Zeit erstmals wieder an die Geschichte mit der Frau Major erinnern wird. Diese Erinnerung und die kurz darauf folgende ‘Vision’, in der er Moosbrugger hört und sieht, liefern Ulrich wieder Paradigmen von ‘echten’ und bedeutenden persönlichen Erlebnissen. Wenn Ulrich am Ende des Kapitels ans Fenster tritt, die Vorhänge beiseite zieht und somit seine Arbeitsklausur beendet, so erscheint dies weniger als eine erwartungsfrohe Begrüßung des neuen Tags denn als eine Geste der Resignation, fast der Kapitulation. Die letzten Sätze des Kapitels schildern den Anblick von Garten und Straße, der sich ihm darbietet, und evozieren dabei einen Gegensatz zwischen diesen konkreten sinnlichen Details und der abstrakten Welt der wissenschaftlichen Gedanken, in die Ulrich sich zurückgezogen hatte.301 So wird zum Abschluss eines Kapitels, das die Dissoziation zwischen Ulrichs Intellekt und seinen Gefühlen wie auch die Kluft zwischen mathematischem Denken und dem Leben vor Augen geführt hat, noch einmal eine Distanz markiert, in diesem Fall die Distanz zwischen dem abstrakten Denken und der sinnlichen Erfahrung. Das Kapitel I.28 bietet mit alledem etwas wie eine Abbreviatur jenes inneren Entwicklungsprozesses, der bei Ulrich schließlich in den Abschied von seinem Beruf und in den Entschluss, sich ein Jahr ‘Urlaub’ zu nehmen, gemündet ist. Wie der Erzähler und Ulrich selbst andernorts feststellen werden, war es eine „unterirdische Bewegung“, die ihn „mit der Zeit in der wissenschaftlichen Arbeit verlangsamte und daran hinderte, in _____________ 301 Die Schlusssätze lauten: „Die Rinde der Bäume war noch vom Morgen feucht. Draußen auf der Straße lag veilchenblauer Benzindunst. Die Sonne schien hinein, und die Menschen bewegten sich lebhaft. Es war ein Asphaltfrühling, ein jahreszeitenloser Frühlingstag im Herbst, wie ihn die Städte hervorzaubern.“ (MoE 114) Ein Kontrast zwischen den abstrakten Gedanken und der Erscheinungswelt wird vor allem durch die Hervorhebung schwer zu kategorisierender Details aufgebaut (veilchenblauer Benzindunst, jahreszeitenloser Frühlingstag im Herbst). Das Oxymoron „ein jahreszeitenloser Frühlingstag im Herbst“ verweist auf die Differenz zwischen einer konventionellen, in diesem Fall kalendarischen Einordnung und der konkreten Realität, wie sie sinnlich erfahren wird. Der Tau auf den Bäumen als eine konkrete Erscheinungsform des Wassers bildet einen Kontrast zu dem allgemeinen Begriff ‘Wasser’, um den Ulrichs Denken sich zuvor bewegt hat.
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sie seinen ganzen Willen zu setzen“ (MoE 256); diese „unterirdische Bewegung“ äußerte sich vor allem in einer zunehmenden Enttäuschung, einem sich steigernden Gefühl der Nutzlosigkeit oder fehlenden Notwendigkeit seiner Arbeit. Dieses enttäuschte Gefühl, seine Zeit für sinnlose und vergebliche Vorbereitungen verschwendet zu haben, wird bei der Konfrontation mit dem „geniale[n] Rennpferd“ (MoE 44) akut und veranlasst Ulrich zur Abkehr von der Mathematik. In diesem Moment vermag er allerdings noch kaum genau zu sagen, was seiner Enttäuschung zugrunde liegt, welches das ursprünglich angestrebte Ziel war, das er verfehlt hat;302 erst in der Reflexion über die beiden „Bäume“ seines Lebens wird er diese Enttäuschung mit der „Liebe“-Seite seines Wesens in Verbindung bringen. Im Kapitel I.28 befasst sich Ulrich noch einmal mit seiner mathematischen Untersuchung, weil es ihm „Vergnügen“ bereitet, „daß er alles das noch immer zuwege“ bringt (MoE 111). Doch auch diese kurzzeitige und unverbindliche Wiederaufnahme der mathematischen Arbeit wird durch etwas wie eine „unterirdische Bewegung“ beendet:303 Zunächst schweifen Ulrichs Gedanken zu Clarisse ab, dann steigt in ihm Ärger über die geringe „persönliche Erlebnishaftigkeit“ des Denkens auf, und am Ende des Kapitels befindet er sich in einem Zustand aus Ärger und resignierter Enttäuschung, dem etwas Dumpfes und Lähmendes anhaftet, vor allem weil Ulrich selbst sich der eigentlichen Gründe seines Ärgers nur unzureichend bewusst ist. Für den Leser dagegen ist erkennbar, dass sich in dieser Unzufriedenheit letztlich der Wunsch nach Gedanken und Erlebnissen äußert, die ihn persönlich ‘angehen’ (vgl. MoE 129, 155). Die Veränderung, die Ulrichs Denkweise im Laufe der Romanhandlung durchläuft, vollzieht sich vor allem als eine allmähliche Überwindung dieser Spaltung und Unartikuliertheit. In den späteren Denkvorgängen wendet Ulrich sich häufiger seinen eigenen Gefühlsregungen zu und versucht denkend zu artikulieren, welche Wünsche, Bedürfnisse oder Sehnsüchte sich in ihnen ausdrücken.
_____________ 302 „Er konnte nur sagen, daß er sich von dem, was er eigentlich hatte sein wollen, weiter entfernt fühlte als in seiner Jugend, falls es ihm nicht überhaupt ganz und gar unbekannt geblieben war.“ (MoE 47) 303 Dass dem Motiv dieser mathematischen Untersuchung eine kompositorische Funktion zukommt, zeigt sich auch darin, dass Ulrich zu Beginn des zweiten Buchs, nach der Begegnung mit Agathe, an ihr weiterarbeitet und sie bald Ende führt (vgl. MoE 687, 719f.).
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
3.7.2. Der Beginn von Ulrichs Selbsterforschung: Undurchschaute Widersprüche (Kap. I.34, 39, 40) Die Kapitel I.29 bis I.40 schildern den weiteren Verlauf des Tages, von dessen Morgen oder Vormittag in Kapitel I.28 berichtet wird. Diese folgenden Kapitel geben unter anderem ausführlich die Gedankengänge wieder, denen Ulrich sich bei verschiedenen Gelegenheiten widmet und die den Beginn seiner Versuche darstellen, sich über sich selbst und sein bisheriges Leben Rechenschaft abzulegen. Da einige Kapitel dieser Sequenz im Folgenden ausführlich analysiert werden sollen, dürfte es sinnvoll sein, zunächst zur Orientierung einen Überblick über ihren Inhalt und Verlauf zu geben:304 Kap. 28:
Ulrich sitzt zu Hause und arbeitet an einer mathematischen Untersuchung, bevor seine Gedanken abschweifen und er sich schließlich von der Arbeit abwendet.
Kap. 29:
Ulrich erhält Besuch von Bonadea, die ihm zunächst einen „leidenschaftlichen Auftritt“ macht und deren Anblick ihn dann „zu Zärtlichkeiten verführt“. Während er darauf wartet, dass sie sich wieder ankleidet, denkt er nach und entwickelt eine „kleine Theorie“. Ulrich „hört Stimmen“ und sieht eine Szene aus der Gerichtsverhandlung mit Moosbrugger vor sich. Ulrich verwickelt Bonadea in ein Gespräch über Moosbrugger. Ulrich erinnert sich an die „Geschichte mit der Gattin eines Majors“. Bonadea fühlt sich durch Ulrichs Verhalten und seine Bemerkungen über moralische Fragen verletzt, es kommt zum „Bruch“ zwischen beiden, und sie verabschiedet sich.
Kap. 30: Kap. 31: Kap. 32: Kap. 33:
Kap. 34:
Kap. 35:
Kap. 36:
Ulrich lässt Walter und Clarisse seinen Besuch für den Abend ankündigen und beschließt am Nachmittag, zu Fuß zu ihnen zu gehen. Auf dem Weg durch die Stadt denkt er über die Konfrontation von jungen Menschen mit der vorgeformten Welt nach, auf die im Leben der meisten Menschen ein Prozess der Anpassung und Erstarrung folge. Ulrich wird in seinen Überlegungen von Leo Fischel unterbrochen, der ihn plötzlich anspricht; Fischel hat das Rundschreiben von Graf Leinsdorf über die große vaterländische Aktion erhalten und fragt Ulrich, was es damit auf sich habe. Die Vorgeschichte dieser Frage Fischels: Er hat sich bereits bei seinem Generaldirektor nach der vaterländischen Aktion erkundigt, dieser wiederum hat mit einem Gouverneur und dieser mit zwei ehemaligen Ministern darüber gesprochen.
_____________ 304 Die Leerzeilen sollen inhaltliche Zäsuren innerhalb dieser Kapitelfolge andeuten.
3. Erzähltes Denken in Der Mann ohne Eigenschaften
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Kap. 37:
Die Geschichte dieser Einladung zu der vaterländischen Aktion: Graf Leinsdorf hat in viele Richtungen Aufforderungen verschickt; ein Publizist bringt ihn durch zwei große Aufsätze über das ‘Österreichische Jahr’ in Verlegenheit; Leinsdorf lässt durch einen Journalisten seine Vorstellungen von der Aktion verbreiten, sieht sich danach mit einer Unmenge von Weltverbesserungsplänen konfrontiert, sehnt sich nach Ulrichs Beistand und begibt sich, um diesen ausfindig zu machen, zum Polizeipräsidenten.
Kap. 38:
Walter und Clarisse spielen Klavier, als der Dienstmann ihnen Ulrichs Schreiben mit der Ankündigung seines Besuchs bringt.
Kap. 39:
Ulrich setzt, nachdem ihn Leo Fischel verlassen hat, seine Überlegungen fort. Es ist mittlerweile Abend geworden. Ulrich geht weiter durch die Stadt und denkt nach, bis er schließlich für einen Augenblick in einen außergewöhnlichen Zustand gerät, der Züge des ‘anderen Zustands’ hat. In diesem Moment kommt es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen einem betrunkenen Arbeiter, zwei Bürgern und einem Schutzmann, Ulrich mischt sich ein, wird verhaftet und schließlich freigelassen, da Graf Leinsdorf sich gerade beim Polizeipräsidenten befindet.
Kap. 40:
Besonders ergiebig im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung sind neben dem schon untersuchten Kapitel I.28 jene Kapitel, in denen er nachdenkend durch die Straßen geht, also die Kapitel I.34, I.39 und I.40. Sie sollen im Folgenden eingehend analysiert werden. In der Vorbemerkung zu diesem Kapitel wurde bereits jenes Merkmal von Musils Erzählweise im Mann ohne Eigenschaften erwähnt, das Berghahn als die „hochgradige Übergänglichkeit“305 zwischen Erzählerrede und Figurenreflexion bezeichnet hat. In den Kapiteln I.34, I.39 und I.40 wie auch in anderen Darstellungen von Denkvorgängen Ulrichs im ersten Buch zeigt sich diese Übergänglichkeit noch in einer besonderen Weise. Jedes dieser Kapitel enthält mehr oder weniger lange Passagen in der Form des Bewusstseinsberichts oder des direkten oder indirekten Gedankenzitats, Passagen mithin, die eindeutig als Wiedergabe von Ulrichs Denkprozessen gekennzeichnet sind.306 Diese Abschnitte werden immer wieder von Textpartien unterbrochen, in denen der Erzähler eigenständige Reflexionen zu entwickeln scheint: Sie sind im Präsens verfasst und behandeln meist allgemeine Fragen oder Themen; oft scheinen sie ein _____________ 305 Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik, S. 149. 306 Vgl. etwa MoE 129 („Ulrich erinnerte sich“), MoE 132 („Er gedachte seiner Jugendfreunde“), MoE 148 („‘Man kommt gerade dann immer einen Schritt vorwärts, wenn man lügt’ dachte er“), MoE 153 („Ohne Zweifel, – sagte er sich –“), MoE 155 („Und mit einemmal stellte sich Ulrich das Ganze komischer Weise in der Frage dar“).
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Stichwort oder eine These aus Ulrichs Überlegungen aufzugreifen und eine Abschweifung oder eine prinzipielle, von Ulrichs Perspektive unabhängige Erörterung daran anzuknüpfen.307 Doch diese Passagen werden wiederum in vielen Fällen durch Bemerkungen beendet oder interpunktiert, die erneut Ulrich als Denkenden zeigen, aber zugleich mithilfe anaphorischer Ausdrücke wie ‘alles das’, ‘dadurch’ oder ‘angesichts dieser Bedenken’ auf die vorangegangenen, im Präsens verfassten und scheinbar vom Erzähler stammenden Reflexionen verweisen. Ein Beispiel hierfür bietet etwa der Schlusssatz des Kapitels I.39; im Anschluss an längere Ausführungen über das Entstehen einer „Welt von Eigenschaften ohne Mann“, die im Präsens stehen und nicht auf Ulrich Bezug nehmen, heißt es dort unvermittelt: „Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben.“ (MoE 150)308 In einem solchen Fall ist es nahe liegend, auch die vorangegangenen, im Präsens gehaltenen Reflexionsabschnitte, die somit zwischen zwei explizit auf Ulrich Bezug nehmenden Passagen stehen, als eine Wiedergabe seiner Gedanken aufzufassen.309 Diese Form der Gedanken- oder Bewusstseinsdarstellung wäre demnach als eine Variante der erlebten Rede zu begreifen, die sich von der ‘klassischen’ erlebten Rede durch die Versetzung ins Präsens unterscheidet. Bei der Frage, wie diese Technik der Gedankendarstellung zu interpretieren sei, ist zu berücksichtigen, dass sie nicht in allen Darstellungen von Reflexionen Ulrichs im selben Ausmaß verwendet wird. Die Wiedergabe von Ulrichs Gedankengang im Kapitel II.22, die später noch ausführlich zu analysieren ist, enthält keine längeren Reflexionspassagen, die im Prä_____________ 307 Vgl. MoE 130-132, MoE 149f., MoE 152 („Es ist so natürlich, daß der Geist [...]“), MoE 153 („Der Geist hat erfahren, [...]“). 308 Vgl. außerdem: „Auf nichts anderem beruht – dachte Ulrich, und natürlich berührte ihn alles das auch persönlich; [...] – auf nichts anderem, dachte er, beruht also auch die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, [...] nennt.“ (MoE 132) – „Dadurch wurde nun Ulrich wieder an jene recht fragwürdige Vorstellung erinnert, [...] daß die Welt am besten von einem Senat der Wissenden und Vorgeschrittenen gelenkt würde.“ (MoE 154) 309 Honnef-Becker hat auf die Häufigkeit von ‘nachträglichen Zuweisungen’ im Mann ohne Eigenschaften hingewiesen; sowohl gesprochene Aussagen als auch Gedanken und längere Reflexionen werden oft erst nachträglich einer Figur zugeschrieben (vgl. Honnef-Becker, ‘Ulrich lächelte’, S. 45). Wird dieses Verfahren bei längeren Reflexionen eingesetzt, ist es für Honnef-Becker zugleich eines der Mittel, die eine ‘Assimilation’ zwischen Erzählerund Figurenrede bewirken (vgl. ebd., S. 48). Als ein Beispiel führt auch sie einen Reflexionsabschnitt des Kapitels I.34 an (vgl. MoE 130-132). Sie nimmt allerdings an, dass der erst im Schlussteil des Abschnitts platzierte Hinweis auf Ulrich eine Unsicherheit hinsichtlich der Urheberschaft der Gedanken hinterlasse: „Da Ulrich die Folge aus dem Vorhergesagten zieht, muß er an den Überlegungen beteiligt gewesen sein. Wer hat reflektiert: Der Erzähler oder Ulrich?“ (Honnef-Becker, ‘Ulrich lächelte’, S. 48)
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sens stehen und erst nachträglich Ulrich zugeschrieben werden. Daher ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Gebrauch des Erzählverfahrens in Kapiteln wie I.34, I.39 und I.40 auf Merkmale von Ulrichs Denken in dem spezifischen ‘Entwicklungsstadium’ verweist, in dem er sich dort befindet. Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen zur Erzählweise seien die in den genannten Kapiteln dargestellten Denkprozesse Ulrichs nun näher analysiert. Es lohnt sich, den Beginn dieser Reflexionen im Kapitel I.34 besonders eingehend zu betrachten und nachzuvollziehen, wie Ulrich zu dem Thema gelangt, das im Mittelpunkt seiner ausgedehnten Überlegungen steht. Seine Zuwendung zu diesem Thema erscheint als Zielpunkt und Resultat verschiedener mentaler Prozesse, als ein psychischer Akt, in dem die Einflüsse mehrerer vergangener und gegenwärtiger Erlebnisse und Eindrücke zusammenfließen. Was Ulrichs gedankenversunkenem Gang durch die Stadt unmittelbar vorausliegt, ist der Besuch Bonadeas, der die Kapitel I.29 bis I.33 füllt. Die Gedanken und Erinnerungen, die Ulrich in dieser Zeit beschäftigen, bereiten die Reflexionen auf seinem Weg durch die Stadt vor; sie führen Themen ein, die er in seinen folgenden Überlegungen weiter entwickeln wird, und sie erzeugen in ihm unterschwellig eine Tendenz dazu, diese Themen auf eine bestimmte Weite zu beleuchten. Zwei Vorgänge in diesen Kapiteln sind in dieser Hinsicht entscheidend: Zum einen erfindet Ulrich, während er darauf wartet, dass Bonadea sich wieder ankleidet, spontan eine „kleine Theorie“, der zufolge die Entwicklung von „geistig bewegt[en]“ jungen Menschen entscheidend durch den nivellierenden und standardisierenden Einfluss ihrer gesellschaftlichen Umgebung bestimmt wird (MoE 116f.).310 Zum anderen ‘hört er Stimmen’, sieht eine Szene aus der Gerichtsverhandlung gegen Moosbrugger vor sich und erinnert sich unmittelbar darauf an die „Geschichte mit der Gattin eines Majors“ (MoE 117-126). Der Geschichte mit der Frau Major und der Gestalt Moosbruggers ist gemeinsam, dass Ulrich sich von ihnen unmittelbar persönlich berührt fühlt, dass er sie als wichtig und bedeutsam für seine eigene Person empfindet.311 Damit bilden sie einen Kontrast zu Ulrichs Affäre mit Bonadea, der ihm zumindest unterschwellig bewusst zu sein scheint; nachdem er sich durch sie zu „Zärtlichkeiten“ hat verführen lassen, fühlt er gleich darauf wieder, „wie wenig es ihn anging“ (MoE 115), und während seine Gedanken zu Moosbrugger und der Frau Major abschweifen, erfüllt ihn ihre Gegenwart immer mehr mit Gereiztheit. _____________ 310 Zu den Variationen des ‘Durchschnittsgedankens’, die Ulrich im Laufe des Romangeschehens entwickelt, vgl.: von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 172-193; zu der Erfindung der ‘kleinen Theorie’ im Kapitel I.29 vgl. ebd., S. 172-174. 311 Moosbrugger, so fühlt Ulrich, „ging ihn durch etwas Unbekanntes näher an als sein eigenes Leben, das er führte“ (MoE 121).
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Im Kapitel I.34 selbst beginnt der Gedankengang Ulrichs, der den größten Teil dieses Kapitels ausmacht, erst im dritten Absatz; die ersten zwei Absätze schildern Wahrnehmungen und Eindrücke Ulrichs beim Verlassen seines Hauses und beim Weg durch die Stadt, die diesen Gedankengang mit vorbereiten, ohne dass dies freilich explizit festgestellt würde. Im ersten Absatz geht Ulrich nach seinem Abschied von Bonadea durch eine kleine Halle seines Hauses und nimmt für einen Moment lang seine Wohnungseinrichtung auf eine besondere, enthabitualisierte Weise wahr. Ein „Zug von Gewohnheit, Erwartung und Spannung“ reißt für einen Augenblick ab, ein „fließendes, geheimes Gleichgewicht zwischen Gefühl und Welt“ wird für eine Sekunde beunruhigt, und in diesem Augenblick drängt sich Ulrich die Feststellung auf, dass seine aus ornamentalen Figuren und Verzierungen zusammengesetzte Wohnungseinrichtung „weder Natur noch innere Notwendigkeit“ besitzt, sondern „bis ins Einzelne von barocker Überüppigkeit“ starrt (MoE 128). Auch der zweite Absatz des Kapitels beschreibt, wie Ulrich plötzlich etwas mit einer neuen Distanz betrachtet und einen solchen Mangel an „innere[r] Notwendigkeit“ entdeckt; aber hier sind es sein eigener Körper und sein Intellekt, an denen er diesen Mangel wahrnimmt. Sowohl sein „gymnastisch durchgebildete[r] Körper“ als auch sein „Inneres“, so erscheint es Ulrich, haben ihre gegenwärtige Gestalt durch ein jahrelanges Training erhalten, also durch Betätigungen, die den Charakter der Gleichförmigkeit, Routine und Gewohnheit haben, und der „Ausdruck“, den sie auf diese Weise angenommen haben, kommt ihm als ein „unwahre[r] und komödienhafte[r]“ vor.312 Was an dieser kritischen Selbstwahrnehmung Ulrichs besonders wichtig ist, ist der darin vorausgesetzte Maßstab: Die ‘Unwahrheit’ dieses Ausdrucks muss sich in Relation zu irgendetwas bestimmen, zu etwas wie einem eigentlichen Selbst, und Ulrich kann den gegenwärtigen „Ausdruck“ seines Inneren nur als ‘unwahr’ empfinden, wenn er davon ausgeht, dass dieses Innere oder das eigentliche Selbst auch einen ‘wahren’ Ausdruck erhalten kann. In den ersten zwei Absätzen des Kapitels stellt Ulrich also an seiner äußeren Lebensumgebung wie an der Gestalt seines Körpers und seines Inneren einen Mangel an „Natur“ oder „innere[r] Notwendigkeit“ oder an ‘Wahrheit’ beziehungsweise Wahrhaftigkeit fest. Diese Vorgänge ähneln _____________ 312 „Er bemühte sich, freundlich und nachgiebig zu gehen. In einem gymnastisch durchgebildeten Körper liegt soviel Bereitschaft zu Bewegung und Kampf, daß es ihn heute unangenehm anmutete wie das Gesicht eines alten Komödianten, das voll oft gespielter unwahrer Leidenschaften ist. In der gleichen Weise hatte das Streben nach Wahrheit sein Inneres mit Bewegungsformen des Geistes angefüllt, es in gut gegeneinander exerzierende Gruppen von Gedanken zerlegt und ihm einen, streng genommen, unwahren und komödienhaften Ausdruck gegeben, den alles, sogar die Aufrichtigkeit selbst, in dem Augenblick annimmt, wo sie zur Gewohnheit wird. So dachte Ulrich.“ (MoE 129)
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somit dem einige Kapitel zuvor geschilderten Moment desselben Tages, in dem Ulrich nach dem Austausch von Zärtlichkeiten empfindet, wie wenig ihn die Affäre mit Bonadea ‘angeht’ (vgl. MoE 115): Auch dort war es etwas wie ein Mangel an „Notwendigkeit“ oder an Echtheit und Wahrhaftigkeit, der ihm unangenehm bewusst geworden ist. Zugleich wirken diese Erlebnisse an der Herausbildung des Themas mit, das im Mittelpunkt der folgenden Reflexionen stehen wird. Der eigentliche Hauptgedankengang des Kapitels setzt im dritten Absatz mit einer Erinnerung Ulrichs ein. Der Absatz beginnt wie folgt: In einem solchen Augenblick mag nichts so fern liegen wie die Vorstellung, daß das Leben, das sie führen, und das sie führt, die Menschen nicht viel, nicht innerlich angeht. Dennoch weiß das jeder Mensch, solange er jung ist. Ulrich erinnerte sich, wie ein solcher Tag in diesen Straßen vor einem oder anderthalb Jahrzehnten für ihn ausgesehen hatte. Da war alles noch einmal so herrlich, und doch war ganz deutlich in diesem siedenden Begehren eine quälende Ahnung des Gefangenwerdens; ein beunruhigendes Gefühl: alles, was ich zu erreichen meine, erreicht mich; eine nagende Vermutung, daß in dieser Welt die unwahren, achtlosen und persönlich unwichtigen Äußerungen kräftiger widerhallen werden als die eigensten und eigentlichen. Diese Schönheit? – hat man gedacht – ganz gut, aber ist es die meine? Ist denn die Wahrheit, die ich kennen lerne, meine Wahrheit? [MoE 129]
Diese Erinnerung an eine „Ahnung“ und ein „Gefühl“ seiner Jugend scheint hier auf den ersten Blick unvermittelt aufzutauchen, und sie wird von Ulrich vielleicht auch so erlebt.313 Aber der Leser kann in den vorangegangenen Textabschnitten eine Reihe von Faktoren entdecken, deren Zusammenwirken das Auftauchen eben dieser Erinnerung begünstigen oder herbeiführen: a) Die genussvolle Freude, die Ulrich in diesem Moment angesichts des „Spätfrühling-Herbsttag[s]“ und der Rückkehr in die Gemeinschaft der Menschen empfindet, lässt ihn daran denken, wie „ein solcher Tag“ vor zehn oder fünfzehn Jahren für ihn ausgesehen hatte (nämlich „noch einmal so herrlich“). _____________ 313 Martin Menges sieht in der hier zitierten Passage ein Beispiel für den plötzlichen Umschlag einer unmittelbaren, affektiv gefärbten Teilhabe in kritisch-distanziertes Räsonnement, der für Ulrich typisch sei: „Diese Verhärtung, diese plötzliche Distanzierung von dem, was affektiv lockt und verzaubert, ist zunächst lediglich Resultat eines Perspektivenwechsels: an die Stelle unreflektierter Teilhabe tritt kritisches Räsonnement. Aber solcher Umschlag ist typisch für Ulrich, er setzt regelmäßig in allen ähnlichen Situationen, die der Roman schildert, nahezu reflexartig ein.“ (Menges, Abstrakte Welt, S. 237) – Es gibt im Roman vermutlich Beispiele für solche Momente, aber auf diese Stelle aus Kapitel I.34 trifft Menges’ Charakteristik nicht zu. Es ist gerade nicht ein Akt der kritischen Reflexion, was Ulrichs unbekümmerte Hingabe an das schöne Wetter und den Strom der Mitmenschen unterbricht, sondern die Erinnerung an eine unbestimmte „Ahnung“ und ein „Gefühl“, die ihn als jungen Mann umgetrieben haben.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
b) Diese Erinnerung an Erlebnisse seiner Jugend dürfte aber auch dadurch begünstigt werden, dass Ulrich an demselben Tag schon einmal (und das erste Mal seit langer Zeit) an eine zentrale Episode seiner Jugend gedacht hat, an die Geschichte mit der Frau Major. c) Ulrich erinnert sich nicht an irgendwelche Erlebnisse seiner Jugend, sondern an seine Wahrnehmung, „daß das Leben, das sie führen, [...] die Menschen nicht viel, nicht innerlich angeht“. Dass er sich gerade hieran erinnert, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass er an diesem Tag selbst schon mehrfach einen Mangel an Wahrhaftigkeit, Echtheit oder innerer Notwendigkeit in seinem Leben wahrgenommen hat (Bonadea; seine Wohnungseinrichtung; sein Körper, sein Geist). d) Die „nagende Vermutung“, die ihn als jungen Mann umgetrieben hat und an die er sich hier erinnert („daß in dieser Welt die unwahren, achtlosen und persönlich unwichtigen Äußerungen kräftiger widerhallen werden als die eigensten und eigentlichen“), entspricht exakt der „kleine[n] Theorie“, die Ulrich am selben Tag im Beisein Bonadeas entworfen hat und der zufolge nur die „gewöhnlichen und unpersönlichen Einfälle“ eines Menschen auf die Resonanz seiner Umgebung treffen und sich verstärken (MoE 117). Musils Text zeigt also die Genese der Erinnerung und der Gedanken, die den Ausgangspunkt von Ulrichs Reflexionen in Kapitel I.34 bilden; allerdings wird dieser Zusammenhang zwischen den vorangegangenen Erlebnissen und Gedanken und der hier auftauchenden Erinnerung tatsächlich nur gezeigt oder suggeriert, nicht explizit vom Erzähler als solcher beschrieben. Andererseits werden die Verbindungen – etwa zwischen der hier geschilderten „nagende[n] Vermutung“ der jungen Menschen und Ulrichs kleiner Theorie – so deutlich markiert, dass es sehr nahe liegt, die früheren Erlebnisse und Gedanken als Voraussetzung der späteren zu betrachten, die Genese der oben zitierten Erinnerungen und Gedanken also etwa wie folgt aufzufassen: Die Wahrnehmung der mangelnden Wahrhaftigkeit und inneren Notwendigkeit in seinem Leben, die „kleine Theorie“ und die Erinnerung an die Frau Major erzeugen in Ulrich eine spezifische Disposition; die aktuellen Wahrnehmungen der anderen Menschen und des beseligenden „Spätfrühling-Herbsttag[s]“ treffen auf diese Disposition, und aus diesem Zusammentreffen geht die Erinnerung an die beunruhigenden Gefühle und Ahnungen des jungen Ulrich hervor.314 _____________ 314 Als Anregung für diese Gestaltung von psychischen Abläufen, die durch eine untergründig wirkende aktuelle Disposition geprägt sind, könnten Musil wiederum die oben bereits erwähnten willenspsychologischen Arbeiten des Gestaltpsychologen Kurt Lewin gedient haben. Lewin nahm an, dass Bedürfnisse und Quasi-Bedürfnisse psychische ‘Spannungszustände’ erzeugen, die unter anderem die Wahrnehmung der Umwelt beeinflussen (indem
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Oben wurde gesagt, dass die Erinnerung, deren Genese hier im Detail nachvollzogen wurde, den Ausgangspunkt von Ulrichs Reflexionen im Kapitel I.34 darstellt; es gilt nun zu betrachten, in welcher Weise sie als ein solcher Ausgangspunkt dient, was also Ulrich mit dieser Erinnerung macht. Nachdem er sich an das „beunruhigende[ ] Gefühl“ und die „quälende Ahnung des Gefangenwerdens“ erinnert hat, stellt er zunächst fest: „Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle.“ (MoE 129) Dieser Satz liefert eine Erklärung oder Deutung der zuvor beschriebenen Gefühle und Ahnungen der jungen Menschen; er charakterisiert zusammenfassend die Phänomene, die diese quälende Ahnung entstehen lassen.315 Auch der weitere Verlauf von Ulrichs Gedankengang ist geprägt durch ein solches Muster: Auf unwillkürlich auftauchende Gefühle, Einfälle und Wünsche folgen Gedankenketten, welche diese Gefühle, Wünsche und Ideen erklären oder deuten. Zunächst bleibt Ulrich vor einer Kirche stehen und integriert sie in seinen Gedankengang, indem er sie als Verkörperung jener „fertigen Einteilungen und Formen des Lebens“ betrachtet, die er gerade als Ursache des jugendlichen Misstrauens gegenüber der Welt namhaft gemacht hat. Während er, angeregt durch das „heilige Bauwerk“, das Thema der fertigen Formen der Welt und ihrer Wirkung auf den jungen Menschen weiter entfaltet, wird er auch emotional durch diese Gedanken und den Anblick der Kirche affiziert und empfindet noch einmal den „ganzen Urwiderstand, den man ursprünglich gegen diese zu Millionen Zentnern Stein verhärtete Welt [...] hat“ (MoE 130). Die Gedanken Ulrichs, die sich an den Anblick der Kirche knüpfen, leiten dann über in eine allgemeinere Reflexion; dieser Übergang ist besonders aufschlussreich und sei deshalb ausführlich zitiert: _____________ sie etwa bestimmte Gegenstände mit ‘Aufforderungscharakter’ versehen); diese Spannungszustände müssen dabei nicht als solche bewusst sein. – Vgl. Lewin, Vorsatz, Wille und Bedürfnis; dazu auch: Ash, Gestalt psychology, S. 263-275. 315 Stephan Reinhardt diskutiert diese Passage und das gesamte Kapitel I.34 in einem Abschnitt mit der Überschrift „Der Autonomieanspruch der Jugend“ (Reinhardt, Studien, S. 94; vgl. zu Kapitel I.34 ebd., S. 97-101). Das Kapitel schildere eine Haltung der Jugend, die aus einem umfassenden Autonomieanspruch heraus eine Wirklichkeitskritik übe, die sich „generell gegen alle Wirklichkeit richtet“ und die sich „dabei die These zu eigen [macht], daß Wirklichkeit nur noch in funktionalisierter Form auftrete.“ (Ebd., S. 101) Mir schiene es etwas treffender, nicht oder nicht nur von einem Anspruch auf Autonomie, sondern von einem Ideal der Authentizität zu sprechen. Die kritische Haltung der in Kapitel I.34 beschriebenen Jugend entspringt vor allem dem Wunsch, gegenüber der fertigen und starr eingeteilten Welt ihren „eigensten und eigentlichen“ (MoE 129) Äußerungen Raum und Geltung zu verschaffen.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Es drang Ulrich, während er mit vollem Verständnis für die architektonische Feinheit das heilige Bauwerk betrachtete, überraschend lebhaft ins Bewußtsein, daß man genau so leicht Menschen fressen könnte, wie solche Sehenswürdigkeiten zu bauen oder stehen zu lassen. Die Häuser daneben, die Himmelsdecke darüber, überhaupt [...] ...: das alles ist ja manchmal so steif wie spanische Wände und so hart wie der geschnittene Stempel einer Presse und so – man kann gar nicht anders sagen als vollständig, so vollständig und fertig, daß man ein überflüssiger Nebel daneben ist, ein ausgestoßener kleiner Atemzug, um den sich Gott nicht weiter kümmert. In diesem Augenblick wünschte er es sich, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein. Aber so ganz unähnlich ist das wohl überhaupt bei niemandem. Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sich nun nicht mehr viel ändern kann. [MoE 130f.]
Der auf diesen Passus folgende Gedankengang steht im Präsens, hat aber, wie etwa zwei Seiten später eine ‘nachträgliche Zuweisung’ zu erkennen gibt, weiterhin Ulrich und nicht den Erzähler zum Urheber.316 Dieser Gedankengang kreist um diese Menschen „in der Jahre der Lebensmitte“ und um die Art und Weise, wie ihre gefestigte soziale Identität zustande gekommen ist. Den Ausgangspunkt dieser Reflexionen bildet in der eben zitierten Passage Ulrichs spontan empfundener Wunsch, „ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“. Er betrachtet diesen Wunsch nicht als etwas rein Individuelles, sondern als etwas, das viele oder so gut wie alle Menschen, die „in den Jahren der Lebensmitte“ angekommen sind, in dieser oder ähnlicher Form erleben: „Aber so ganz unähnlich ist das wohl überhaupt bei niemandem.“ Die folgenden Reflexionen entwickeln wiederum eine Erklärung dieses Wunsches und Gefühls („das Gefühl, daß sich nun nicht mehr viel ändern kann“), das Ulrich dem typischen Menschen mittleren Alters unterstellt: Diese Reflexionen skizzieren den Lebensweg dieser Menschen, der dazu führt, dass sie am „Mittag“ ihres Lebens nicht mehr wissen, wie sie zu ihren Eigenschaften bzw. „zu sich selbst“ gekommen sind, aber das Gefühl haben, „daß sich nun nicht mehr viel ändern kann“ – so dass sie den Wunsch empfinden oder empfinden könnten, dieser Eigenschaften ledig und „ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“. Ulrichs Gedankengang ist somit von dem folgenden Verlaufsmuster geprägt: Am Anfang stehen unwillkürliche innere Regungen, Erinnerungen, Gefühle und Wünsche; diese Regungen begreift Ulrich nicht als rein individuelle Phänomene, sondern als besondere Ausprägungen allgemei_____________ 316 Für den Begriff der ‘nachträglichen Zuweisung’ vgl. Honnef-Becker, ‘Ulrich lächelte’, S. 45. Honnef-Becker meint allerdings, dass in dem vorliegenden Fall ungewiss bleibe, ob Ulrich oder der Erzähler reflektiert habe (vgl. ebd., S. 48.) Aber wenn der Anfangs- und der Endpunkt einer Reflexion ausdrücklich als Gedanken einer Figur präsentiert werden, so scheint es mir nahe liegend, auch den Abschnitt dazwischen dieser Figur zuzuschreiben.
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nerer Erfahrungen, wie sie von vielen Menschen gemacht werden; er versucht dann, diese als typisch aufgefassten Erfahrungen zu erklären oder zu interpretieren, indem er etwa soziale Mechanismen oder lebensgeschichtliche Entwicklungen beschreibt, welche solche Gefühle oder Wünsche bewirken können. Der Argumentationsgang Ulrichs, der dieses Muster realisiert, tut dies allerdings nicht ohne leichte Unstimmigkeiten; diese zeigen sich vor allem beim generalisierenden Schritt von dem Gefühlserlebnis Ulrichs zu dem allgemeinen, verbreiteten oder typischen Phänomen. In der eben untersuchten Passage, die eine Scharnierstelle innerhalb der Reflexionen des Kapitels bildet, wird dieser Schritt vom Individuellen zum Allgemeinen durch die folgenden drei Sätze geleistet: 1) 2) 3)
In diesem Augenblick wünschte er es sich, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein. Aber so ganz unähnlich ist das wohl überhaupt bei niemandem. Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sich nun nicht mehr viel ändern kann. [MoE 130f.]
Der Übergang von dem zweiten zum dritten Satz leuchtet nicht unmittelbar ein. Der zweite Satz impliziert, dass alle oder die meisten Menschen sich irgendwann wünschen, „ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“. Als Leser erwartet man nun vielleicht noch eine ausdrückliche Bekräftigung, vor allem aber eine Erläuterung oder Begründung dieser implizierten Aussage. Doch eine solche liefert der dritte Satz nicht: Von den dort charakterisierten Menschen wird gar nicht gesagt, dass sie den Wunsch empfinden, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein; die Beschreibung macht nur deutlich, dass sie guten Grund hätten, einen solchen Wunsch zu verspüren. So stellen sich zwei Fragen: Kann Ulrichs Wunsch, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein, auf eine Ursache zurückgeführt werden, wie sie im dritten Satz, bezogen auf die Menschen im Allgemeinen, angedeutet wird? Schließlich trifft auf ihn doch gerade nicht zu, dass er über eine feste und fertige, durch Beruf, Ehefrau, Weltanschauung und Charakter definierte Identität verfügt. Und zweitens fragt sich, ob die im dritten Satz geschilderten Menschen auch den „Wunsch, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“, verspüren und insofern Ulrich ähneln. In dem folgenden Gedankengang, der die typischen Lebensläufe solcher Menschen erörtert, wird dies gerade verneint und vielmehr festgestellt, dass die „meisten Menschen“ nicht bemerken, dass ihr Leben und ihre Identität nicht von ihnen selbst bestimmt wurden, sondern das Produkt äußerer Umstände und zufälliger Ereignisse und Launen sind: Sie „adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat“ (MoE 131).
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
So können Ulrichs Reflexionen über typische Lebensläufe und Mechanismen der Identitätsbildung zwar verständlich machen, weshalb die meisten Menschen mittleren Alters sich als Träger verfestigter Eigenschaften wahrnehmen, ohne dass sie sagen könnten, wie sie zu diesen Eigenschaften gekommen sind. Doch es ist unklar, wie viel diese Reflexionen zur Erhellung von Ulrichs eigener Situation und zur Deutung seines Wunsches, „ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“, beitragen; denn im Zuge seiner Reflexionen wird immer deutlicher, dass die zunächst behauptete Ähnlichkeit zwischen ihm und den typischen Menschen, deren Biographien er hier analysiert, nicht sehr weit reicht. Dieses Moment der Inkonsistenz in Ulrichs Gedankengang ist selbst signifikant und muss daher nicht als zufällige Fahrlässigkeit Ulrichs oder Musils abgetan werden: Ulrich weicht hier noch der Frage aus, weshalb er und weshalb er in diesem Moment den Wunsch empfindet, „ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“. Statt dessen beantwortet er die Frage, weshalb alle oder die meisten Menschen diesen Wunsch empfinden könnten oder müssten – um dann zu der Frage überzugehen, weshalb sie diesen Wunsch de facto nicht empfinden.317 Die eben beschriebene Inkonsistenz in Ulrichs Gedankengang ist verbunden mit einer zunehmenden Entfernung und Loslösung seiner Gedanken von seinen aktuellen Gefühlen und Empfindungen. Im ersten Teil des Kapitels, bis zu der Betrachtung der Kirche, werden mehrfach Ulrichs Wahrnehmungen seiner Umgebung geschildert und die Gefühle charakterisiert, die seine Überlegungen anregen und selbst wieder durch seine Gedanken beeinflusst werden;318 etwa ab der Mitte des Kapitels aber, wo Ulrich über die Menschen in der Lebensmitte und ihre von äußeren Umständen hervorgebrachte Identität nachzudenken beginnt, werden über eine längere Strecke hinweg nur seine Gedanken wiedergegeben, ohne dass er selbst als denkendes Subjekt erwähnt und etwas über seine Gefüh_____________ 317 Die Passage taugt also auf den ersten Blick als Beleg für Schramms These, nach der die Reflexionen im Mann ohne Eigenschaften einen wesentlich assoziativen Charakter haben (vgl. Schramm, Fiktion und Reflexion, S. 75); die Reflexionen, so Schramm, halten nie einen Gedanken fest, um ihn zu vertiefen und zu begründen, sondern eilen sofort „wie getrieben weiter“ und wenden sich in immer neue Richtungen (ebd., S. 77). Aber wie eben dargelegt wurde, kann der argumentativen Unstimmigkeit in dem analysierten Textabschnitt eine präzise Funktion zugeschrieben werden. Diese Möglichkeit, das assoziative Reflektieren „zu rechtfertigen“ (ebd., S. 105), wird von Schramm ebenso wie andere Möglichkeiten der ‘Rechtfertigung’ ohne überzeugende Begründung verworfen (vgl. ebd., S. 105-109). 318 Als Ulrich vor der Kirche steht, nutzt er sie als Exempel und Illustration für seine Überlegungen über die fertigen Formen und Einteilungen der Welt; der Anblick der Kirche wird so gewissermaßen mit diesen pessimistischen Reflexionen imprägniert und wirkt bedrückend auf ihn: „Es waren nur Sekunden, die Ulrich vor dieser Kirche stand, aber sie wuchsen in die Tiefe und preßten sein Herz mit dem ganzen Urwiderstand, den man ursprünglich gegen diese zu Millionen Zentnern Stein verhärtete Welt, gegen diese erstarrte Mondlandschaft des Gefühls hat, in die man willenlos hineingesetzt wurde.“ (MoE 130)
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le und Wahrnehmungen gesagt würde (vgl. MoE 131). Dies kann man als Hinweis darauf verstehen, dass sich Ulrichs Reflexionen zunehmend von den unwillkürlich entstandenen Gefühlen, Erinnerungen und Wünschen lösen, von denen sie ihren Ausgang nahmen, dass sie also nicht mehr auf eine Deutung und Erhellung dieser Gefühle und Wünsche zielen, sondern das Thema der sozialen Prägungs- und Entfremdungsmechanismen um seiner selbst willen verfolgen. Der erste Satz, der dann doch wieder Ulrich namentlich erwähnt und ihn als denkendes Subjekt in den Blick nimmt, bestätigt diese Annahme. Ulrich ist hier zu der Auffassung gelangt, dass auch in den Menschen, die als Erwachsene schließlich ihre von außen aufgenötigte und durch zufällige Umstände produzierte Identität als ihre eigene akzeptieren, während der Jugend noch eine „Gegenkraft“ wirksam war, die sich gegen alle Festlegungen und Vereinnahmungen wehrte.319 Doch diese Kraft ist selbst ziel- und richtungslos; im Innern der jungen Menschen ist nur ein „haltlos beweglicher Nebel“, während außen eine schwere, starre, erkaltete Welt liegt. Die Folge ist, dass die „jungen Seelen“ sich begierig auf jeden „schönen neuen Gestus“, stürzen, den irgendwer erfindet und in dem sie „sich selbst zu erkennen vermein[en]“ (MoE 131f.). Dann heißt es: Auf nichts anderem beruht – dachte Ulrich, und natürlich berührte ihn alles das auch persönlich; er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht sah so still und schlafend glücklich aus, als stürbe er in den Sonnenstrahlen, die hineinwirbelten, einen milden Erfrierungstod – auf nichts anderem, dachte er, beruht also auch die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung nennt. [MoE 132]
Die parenthetisch eingeschobene Bemerkung über Ulrichs Gesichtsausdruck enthält gleich mehrere Paradoxa oder Oxymora. Der Mechanismus, den Ulrich hier als verborgenes Prinzip der typischen Entwicklung eines Menschen zwischen Jugend und Erwachsenenalter betrachtet, hat offenkundig etwas Unbefriedigendes, da er auf Selbsttäuschung beruht und einen sinnlosen Kreislauf von Umwälzungen produziert; wenn zudem „alles das [Ulrich] auch persönlich [berührte]“, so muss es umso befremd_____________ 319 Böhme zufolge geht es in diesen Abschnitten des Kapitels um den „revolutionäre[n]“ Widerstand der Jugend gegen die „bestehenden Mächte“, um den „Widerstand gegen den Apparat“, gegen die Gesetze und das Hebelwerk des Staates, unter anderem gegen seine Bürokratie; dieser Widerstand werde von Ulrich und Musil hier als vergeblich beurteilt (Böhme, Anomie und Entfremdung, S. 147f.). Es gibt im Text aber keinen Hinweis darauf, dass mit dem Widerstand der Jugend ein politisch motivierter Widerstand gemeint wäre, der sich gegen Machtapparate, repressive Institutionen etc. richtete; der jugendliche Widerstand, von dem hier die Rede ist, entspringt dem Wunsch nach individueller ‘Selbstverwirklichung’ und wendet sich gegen alle verfestigten, ‘fertigen’ Formen des gesellschaftlichen Lebens, die diesem Wunsch entgegen zu stehen scheinen.
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licher erscheinen, dass sein Gesicht „glücklich“ aussieht. Allerdings wird dieser glückliche Gesichtsausdruck durch den Erzähler mithilfe eines bezeichnenden, selbst wieder paradoxen Vergleichs charakterisiert: Es ist der glückliche Gesichtsausdruck dessen, der „einen milden Erfrierungstod“ stirbt. Die Parenthese über Ulrichs Miene und Körperhaltung weist so darauf hin, dass er zwar über Gegenstände nachdenkt, die ihn ‘persönlich berühren’ und ihn eigentlich beunruhigen müssten, dass er sich aber von diesen Gedanken eben nicht emotional tangieren lässt, sondern ruhig über das allgemeine Phänomen der sozial bedingten Deformation des Ich nachdenkt, während sein eigenes Ich selbst den Erfrierungstod zu sterben droht. Kurz zuvor hat noch der Anblick der Kirche sein „Herz“ mit dem ganzen „Urwiderstand“ gegen diese erstarrte und verhärtete Welt ‘gepresst’ (MoE 130); nun bleiben Ulrichs Gedanken für ihn gleichsam abstrakt, sie wirken trotz ihres unmittelbar relevanten Inhalts nicht mehr auf seine Gefühle ein. In diesem Zustand der emotionalen Unbeteiligtheit wird Ulrich, während er seinen Weg durch die Stadt und seine Reflexionen fortsetzt, noch einige Zeit verharren (im Kapitel I.39), bevor seine Überlegungen schließlich eine Mischung aus Traurigkeit, Zorn und Enttäuschung in ihm auslösen (Kapitel I.40). Der oben beschriebene leichte Bruch in Ulrichs Gedankengang sowie die zunehmende Entfernung seiner Überlegungen von seinen Gefühlen und Empfindungen können als Defizite dieser Reflexion beschrieben werden: Diese Merkmale verweisen darauf, dass Ulrich hier etwas nicht leistet, nämlich eine genauere Befragung und Deutung der Gefühle, die das Eintauchen in die Menschenmenge und der Anblick der Kirche in ihm ausgelöst haben. Über der Analyse dieser Defizite darf aber nicht übersehen werden, dass Ulrichs Reflexion gleichwohl auch einen positiven Ertrag hat: Sie entwickelt eine Charakterisierung typischer Sozialisationsprozesse und mündet schließlich in der oben zitierten Passage in eine neue Erkenntnis oder, vorsichtiger ausgedrückt, in einen neuen Gedanken, der Ulrich in diesem Moment als wahr und somit als eine neue Einsicht erscheint. Diese Erkenntnis hat die Gestalt eines Erklärungszusammenhangs: Ulrich kommt auf den Gedanken, dass das Bedürfnis der jungen Menschen, ihr zugleich kraftvoll-drängendes und nebelhaft-konturloses Ich in einer festen Form zu stabilisieren, die „Renoviersucht des Daseins“ zur Folge hat, also alle jene Erscheinungen, die mit Stichwörtern wie „Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung“ zusammengefasst werden können (MoE 132). Dass diese „Renoviersucht“ sich unaufhörlich fortzeuge und einem „Perpetuum mobile“ gleiche, erkläre sich daher, dass die jungen Menschen ihr Nebel-Ich immer in „ein Schein-Ich, eine ungefähr passende Gruppenseele“ zwän-
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gen (ebd.), das ihnen – so eine zu ergänzende Prämisse – keine dauerhafte Befriedigung gewähren kann. Auffällig an der von Ulrich entwickelten Erklärung ist, dass das Explanandum in dem Moment erstmals überhaupt erwähnt wird, in dem Ulrich seine Ursache gefunden zu haben meint. Die „Renoviersucht des Daseins“ spielte in seinem Gedankengang bisher keine Rolle, ist also auch nirgends ausdrücklich als erklärungsbedürftiges Phänomen exponiert worden. Dass es diese „Renoviersucht“ gibt, dass also die geschichtliche Entwicklung sich tatsächlich als eine solche Folge von immerneuen Umwälzungen vollzieht, wird von Ulrich auch gar nicht erst eigens festgestellt und begründet, sondern schlicht vorausgesetzt; es handelt sich offenbar um eine Überzeugung, die Ulrich schon seit längerem herausgebildet hat, und diese Überzeugung sowie die Frage nach den Ursachen dieser „Renoviersucht“ scheinen gleichsam im Hintergrund seiner Gedanken bereitzuliegen, bis sie in dem Moment in sein Bewusstsein dringen, als ein von anderen Beobachtungen ausgehender Gedankengang ihm eine Erklärung für das Problem anbietet. An dieser Stelle soll die Analyse des Kapitels I.34 abgeschlossen und ein erstes Zwischenresümee versucht werden, bevor der weitere Verlauf von Ulrichs Reflexionen in den Kapiteln I.39 und I.40 untersucht wird. Als Anstoß und ‘Themenlieferant’ von Ulrichs Überlegungen in Kapitel I.34 fungieren, so wurde oben gezeigt, Erinnerungen, Gefühle und Wünsche, die unwillkürlich in ihm entstehen und deren Bedeutung er dann in seinen Reflexionen genauer zu bestimmen sucht. Dabei neigt er dazu, diese seine inneren Regungen nicht als rein individuelle Phänomene zu betrachten, sondern als Beispiele eines Typs oder einer Klasse von Erfahrungen, die bei vielen Menschen zu beobachten seien. Er entwickelt Deutungen dieser Gefühle und Wünsche, indem er etwa Aspekte der gesellschaftlichen Realität benennt oder lebensgeschichtliche Abläufe schildert, welche solche Gefühle hervorrufen können. Dabei lösen sich Ulrichs Reflexionen ab einem gewissen Punkt zunehmend von den unmittelbar empfundenen Gefühlen und Wünschen, die ihren Ausgangspunkt bildeten, indem er einerseits Lebenssituationen skizziert, die der seinen höchstens bedingt entsprechen und somit kaum als Deutung seiner eigenen aktuellen Selbstwahrnehmung taugen, und indem er andererseits über Gegenstände, die ihn persönlich berühren und beunruhigen müssten, emotional distanziert und unbeteiligt nachdenkt. Ulrich geht somit rasch von der Beobachtung seiner eigenen Gefühle und Wünsche zu Überlegungen über allgemeine Phänomene über und vermeidet es – ohne dass dies als intentionales Verhalten aufgefasst werden müsste –, sich genauere Rechenschaft über die Beschaffenheit und Bedeutung seiner Gefühle und
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Wünsche abzulegen. Stattdessen entwickelt er aus der Beobachtung seines eigenen Gefühlszustands mithilfe von Generalisierungen und Ergänzungen eine allgemeine Theorie über das Ich und seine Deformation im Zuge der Sozialisation und nutzt diese schließlich als Explanans, um ein fatales Grundmuster geschichtlicher Prozesse zu erklären, das er hier als gegeben voraussetzt. Welche Merkmale dieses erzählten Denkprozesses sind repräsentativ für Musils Darstellungen von Denken insgesamt, welche sind kennzeichnend für Ulrichs Denkweise, und welche sind kennzeichnend für sein Denken in dieser spezifischen Phase seiner inneren Entwicklung? Diese Fragen können erst auf der Grundlage einer Analyse mehrerer Denkvorgänge Ulrichs angemessen beantwortet werden; doch an dieser Stelle können bereits einige vorläufige Resultate festgehalten werden, die durch einige vorwegnehmende Thesen ergänzt seien. Zunächst ist zu konstatieren, dass Ulrichs Denkvorgang in Kapitel I.34 hinsichtlich seiner Grundstruktur einigen der oben analysierten Denkvorgänge der anderen Figuren ähnelt, insbesondere den Überlegungen Arnheims und Agathes: Auch ihre Denkprozesse nehmen von Gefühlen, Wünschen oder Stimmungen ihren Ausgang und sind von der – mehr oder weniger bewussten – Absicht geleitet, diesen Gefühlen oder Stimmungen auf den Grund zu gehen, ihr Wesen und ihre Bedeutung genauer zu bestimmen. Was nun für Ulrich spezifisch ist, ist zum einen der Charakter der Gefühle und Empfindungen, die am Anfang seiner Überlegungen stehen, zum anderen und vor allem die Art und Weise, in der er denkend mit diesen Gefühlsregungen umgeht. Die Gefühle und Empfindungen sind als zaghafte Äußerungen der ‘Liebe’-Hälfte von Ulrichs Wesen aufzufassen: In dem Wunsch nach einem Leben, das einen „innerlich angeht“, das durch die „eigensten und eigentlichen“ Vorstellungen gestaltet wird und insofern „innere Notwendigkeit“ besitzt (MoE 128), drückt sich die Sehnsucht nach einem „‘Mitten-inne-Sein’“, einem „Zustand der unzerstörten ‘Innigkeit’ des Lebens“ (MoE 908) aus, wie er in reiner Form in den mystischen oder quasimystischen Erlebnissen des anderen Zustands realisiert ist. Die Art und Weise dagegen, wie Ulrich mit diesen Gefühlsregungen umgeht, ist durch seine Vorliebe für sachliches und allgemeines Denken und Planen in großen Dimensionen geprägt, also eher durch jenen Komplex von Anlagen, der seine ‘Gewalt’-Seite ausmacht: Er betrachtet diese Gefühlsregungen nicht als individuelle Erlebnisse, die im Kontext seiner unmittelbar vorangegangenen Erlebnisse und seiner spezifischen Lebensgeschichte zu deuten wären, sondern ordnet sie umgehend in allgemeine Zusammenhänge ein und stellt Überlegungen über die Sozialisationsmechanismen in modernen Gesellschaften an, wobei er seine eigene Situation und seine Gefühle zunehmend aus dem Auge verliert. Dieser sachliche, objektive Blick
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auf sich selbst sowie die Neigung zum Theoretisieren und Planen in großen, gesamtgesellschaftlichen Dimensionen werden im Roman mehrfach als Manifestationen der harten, wissenschaftlichen ‘Gewalt’-Seite von Ulrichs Wesen bezeichnet; es sind zugleich Tendenzen, von denen er sich im weiteren Verlauf seines Urlaubsjahrs, vor allem nach dem Wiedersehen mit Agathe, zunehmend abwendet.320 Zusammenfassend kann man also sagen, dass den Anstoß zu Ulrichs Reflexionen im Kapitel I.34 Gefühle, Erinnerungen und Wünsche bilden, in denen sich die lange unterdrückte ‘Liebe’-Seite seines Wesens wieder bemerkbar macht, dass aber im Laufe dieser Überlegungen bald seine gewohnte, der ‘Gewalt’-Hälfte verpflichtete Denkweise die Oberhand gewinnt. Im Kapitel I.35 wird Ulrich in seinen Gedanken durch Direktor Leo Fischel unterbrochen, der ihn fragt, was es mit der großen vaterländischen Aktion auf sich habe. Ulrich, „aus seiner Stimmung aufgeschreckt und doch diese fortsetzend“, erläutert Fischel daraufhin das „Prinzip des unzureichenden Grundes“ (MoE 134f.). Die Kapitel I.36 bis I.38 befassen sich mit Fischel, Graf Leinsdorf und Walter und Clarisse; erst das Kapitel I.39 wendet sich wieder Ulrich zu und lässt ihn seine Überlegungen fortsetzen: „Nachdem ihn Direktor Fischel eilig verlassen hatte, beschäftigte ihn wieder die Frage seiner Jugend, warum alle uneigentlichen und im höheren Sinn unwahren Äußerungen von der Welt so unheimlich begünstigt werden“ (MoE 148), so heißt es im ersten Absatz dieses Kapitels.321 Er versucht aber nicht, diese Frage in ihrer allgemeinen Form zu beantworten, sondern wendet sich seinem eigenen Leben zu und scheint zu prüfen, inwiefern es durch solche „uneigentlichen und im höheren Sinn unwahren Äußerungen“ geprägt war. In diesem Passus ist teilweise schwer zu entscheiden, welche Sätze als Bemerkungen des Erzählers über Ulrich und welche als Wiedergabe von Ulrichs Gedanken aufzufassen sind; doch in dem folgenden Abschnitt wird vor allem durch das Wort „jetzt“ signali_____________ 320 Vgl. MoE 250-253; MoE 822-827. 321 Zum Kapitel I.39 vgl. auch die Analyse bei: Jander, Die Ästhetik des essayistischen Romans, S. 531-537. Jander will an diesem Kapitel exemplarisch das Verhältnis zwischen essayistischen Reflexionen und narrativem Kontext in Musils Roman untersuchen. Er macht vor allem auf thematische Beziehungen zwischen den Reflexionen im Kapitel I.39 und den von der Parallelaktion und von Clarisse handelnden Kapiteln I.36, I.37 und I.38 aufmerksam und entwickelt plausible Ansätze zu ihrer Interpretation. Dass das Kapitel I.39 den mittleren Abschnitt eines Gedankengangs Ulrichs präsentiert, der im Kapitel I.34 begonnen und im Kapitel I.40 weitergeführt wird, erwähnt er dagegen nicht. Unbefriedigend scheint mir außerdem, dass Jander kaum zwischen dem Denkvorgang Ulrichs und den Ausführungen des Erzählers zu trennen versucht, sondern sie fast durchgehend unter dem Begriff der ‘Reflexion’ zusammenfasst. Unter dieser fehlenden Differenzierung leiden meines Erachtens auch die allgemeineren Thesen und Überlegungen des Aufsatzes.
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siert, dass hier Gedanken und Gefühle dargestellt werden, die in diesem Moment in Ulrichs Innerem auftauchen: Er hatte so ziemlich alles mitgemacht, was es gibt, und fühlte, daß er sich noch jetzt jederzeit in etwas hineinstürzen könnte, das ihm gar nichts zu bedeuten brauchte, wenn es bloß seinen Aktionstrieb reizte. Mit wenig Übertreibung durfte er darum von seinem Leben sagen, daß sich alles darin so vollzogen habe, wie wenn es mehr zueinander gehörte als zu ihm. [...] Und so mußte er wohl auch glauben, daß die persönlichen Eigenschaften, die er dabei erwarb, mehr zueinander als zu ihm gehörten, ja jede einzelne von ihnen hatte, wenn er sich genau prüfte, mit ihm nicht inniger zu tun als mit anderen Menschen, die sie auch besitzen mochten. [MoE 148]
In den folgenden Sätzen schaltet sich zunächst der Erzähler mit einigen allgemeinen Bemerkungen über Ulrich, sein geringes Bedürfnis nach Selbsterforschung und seine dementsprechend begrenzte Selbstkenntnis ein, richtet dann aber wieder den Blick auf Ulrichs aktuellen Gedankengang und teilt mit, wie dieser die eben konstatierte Tatsache, dass ihm seine eigenen Erlebnisse und Eigenschaften fremd geblieben seien, einordnet und bewertet: Auch jetzt zweifelte er nicht daran, daß dieser Unterschied zwischen dem Haben der eigenen Erlebnisse und Eigenschaften und ihrem Fremdbleiben nur ein Haltungsunterschied sei, in gewissem Sinn ein Willensbeschluß oder ein gewählter Grad zwischen Allgemeinheit und Personhaftigkeit, auf dem man lebt. [MoE 149]
Dieser Satz etabliert das Thema, dem sich die folgenden Überlegungen Ulrichs in diesem Kapitel322 widmen werden. Ulrich erläutert zunächst den _____________ 322 Man kann beim ersten Lesen zunächst den Eindruck erhalten, dass die Reflexionen dieses Kapitels zumindest ab einem gewissen Punkt (etwa Mitte Seite 149) vom Erzähler entwickelt werden, da sie nicht als Gedankenzitat Ulrichs ausgewiesen werden und im Präsens stehen. So hat auch Berghahn dieses Kapitel nicht zu jenen gezählt, die Figuren „allein, im Selbstgespräch oder in Nachdenken versunken“ zeigen (vgl. Berghahn, Die essayistische Erzähltechnik, S. 153, Anm. 1), sondern zu jenen, in denen der Erzähler eigenständige Reflexionen entwickelt (vgl. ebd., S. 138f.). – Aber auch hier gibt es eine ‘nachträgliche Zuweisung’, die Ulrich als Urheber des Gedankengangs erscheinen lässt; der letzte Satz des Kapitels lautet: „Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben.“ (MoE 150) Dieser Satz mit dem anaphorisch verwendeten Pronomen „dieser“ macht klar, dass die vorangegangenen Überlegungen von Ulrich angestellt wurden. Außerdem wird im folgenden Kapitel I.40 die Darstellung von Ulrichs Gedanken mit dem Satz eingeleitet: „Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt.“ (MoE 152) Mit diesem „Vergleich“ ist offenbar der folgende Satz aus dem Schlussabschnitt von Kapitel I.39 gemeint: „Sie [i.e. die Erlebnisse; O.K.] sind aufs Theater gegangen; [...], in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften, die bestimmte Arten des Erlebens auf Kosten anderer ausbilden wie in einem sozialen Experimentalversuch, [...].“ (MoE 150) Also sind es Gedanken Ulrichs, die der oben zitierte Satz und die ihn umgebenden Sätze wiedergeben; bei der Form der Gedankenwiedergabe handelt es sich erneut um eine ins Präsens versetzte erlebte Rede.
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Unterschied zwischen allgemeinem und persönlichem Verhalten und erweitert dann die Perspektive seines Gedankengangs von einer individuellautobiographischen zu einer gesellschaftlich-zeitdiagnostischen, indem er Beobachtungen dazu versammelt, in welchen Kontexten gegenwärtig ein persönliches beziehungsweise ein allgemeines Verhalten gefordert werde. In vielen besonderen Situationen werde mit auffälliger „Unsicherheit“ ein „Kompromiß zwischen sachlich richtigem und persönlich richtigem Verhalten geschlossen“ (MoE 149f.); generell aber könne man kaum noch mit gutem Gewissen ‘Person sein’ und persönlich leben, da sich die Erlebnisse und Eigenschaften „vom Menschen unabhängig gemacht“ haben und das Leben von den „Sachzusammenhängen“ strukturiert werde (MoE 150). Den „meisten Menschen“ erscheine denn auch eine persönliche Lebenseinstellung, also der „Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe“, als „eine Naivität“ (ebd.). Wie gelangt Ulrich also zu dem Thema seiner Reflexionen, und welcher Logik folgt die inhaltliche Entwicklung seiner Überlegungen? Zu Beginn des Kapitels bezieht er die allgemeinen Gedanken, mit denen er sich zuvor beschäftigt hat, auf sich selbst und sein eigenes Leben; er macht sich bewusst, welche Antriebe für sein Handeln leitend waren und sind und wie „innig[ ]“ seine eigenen „persönlichen Eigenschaften“ zu ihm gehören. Es sind Aspekte seiner subjektiven, gefühlsbasierten Selbstwahrnehmung, über die er sich hier Rechenschaft ablegt. Die Feststellung, dass seine eigenen Erlebnisse und Eigenschaften nicht besonders eng mit ihm zu tun haben, ihm in gewissem Sinne fremd geblieben sind, gibt den Anstoß zu einem längeren Gedankengang, der teils erklärenden, teils argumentierenden Charakter hat: Ulrich führt das Fremdbleiben seiner Erlebnisse und Eigenschaften auf eine freiwillig gewählte Haltung zurück und ruft sich dann Merkmale der modernen Gesellschaft in Erinnerung, die diese Haltung als naheliegend oder angemessen erscheinen lassen können, die offenbar schon viele Menschen zur Einnahme einer derartigen Haltung bewogen haben und somit auch von Ulrich als Begründungen seiner Entscheidung für ein allgemeines Verhalten gegenüber dem Leben angeführt werden können. Dieser Abschnitt des Gedankengangs realisiert damit in besonders deutlicher Weise ein Strukturmuster, das in mehreren Reflexionen Ulrichs variiert wird, nämlich ein Muster der begründenden Rekapitulation: Ulrich ruft sich Überzeugungen, Hypothesen oder Absichten wieder ins Bewusstsein, die er schon früher ausgebildet hat, reformuliert sie, vollzieht noch einmal die Gründe für sie nach und bezieht sie in einigen Fällen auf neue Kontexte, die durch seiner aktuellen Situation entstammende Gedanken und Gefühle gebildet werden. Zwischen diesen rekapitulierenden Reflexionen des Kapitels I.39 und den im Kapitel I.34 entfalteten Gedanken nun bestehen in mehreren Hin-
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sichten Spannungen, wenn nicht offene Widersprüche. Im Kapitel I.34 erinnert Ulrich sich an die Vermutung, die ihn als jungen Mann beunruhigt hat, dass „das Leben, das sie führen, und das sie führt, die Menschen nicht viel, nicht innerlich angeht.“ (MoE 129) Diese Fremdheit zwischen dem ‘innerlichen’ und ‘eigentlichen’ Teil der Menschen und ihrem Leben wird in den Reflexionen des Kapitels auf die Anpassungszwänge und Prägemechanismen der Gesellschaft sowie auf den nebelhaften, konturlosen Zustand des eigenen Ichs junger Menschen zurückgeführt und negativ, als ein Prozess des Gefangennehmens, Verformens und Erstarrens bewertet. Wenn Ulrich dann im Kapitel I.39 konstatiert, dass sich in seinem Leben „alles [...] so vollzogen habe, wie wenn es mehr zueinander gehörte als zu ihm“, so beschreibt er damit wiederum eine Art von Fremdheit zwischen seinem Leben und ihm selbst; aber diese wird nun ganz anders beleuchtet als in dem früheren Kapitel. Dass seine Erlebnisse und Eigenschaften nicht wirklich ‘zu ihm gehören’, wird von Ulrich hier nicht als Effekt der Anpassungszwänge einer fertigen und erstarrten Welt betrachtet, sondern als Folge seiner eigenen Lebenseinstellung. Die größte und entscheidende Differenz zu den Reflexionen des Kapitels I.34 aber besteht darin, dass Ulrichs folgende Überlegungen über allgemeines und persönliches Verhalten die im Kapitel I.34 erörterten Probleme als obsolet oder irrelevant erscheinen lassen: Wenn in der modernen Gesellschaft ohnehin nur eine allgemeine, nicht-persönliche Haltung gegenüber den eigenen Erlebnissen und Eigenschaften angemessen ist, dann ist das „beunruhigende[ ] Gefühl“, an das Ulrich sich kurz zuvor erinnert hat – also das Gefühl, „daß in dieser Welt die unwahren, achtlosen und persönlich unwichtigen Äußerungen kräftiger widerhallen werden als die eigensten und eigentlichen“ –, nur Ausdruck einer überholten und naiven Haltung. Im Kapitel I.39 konstatiert Ulrich, die „Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens“ sei nun wahrscheinlich „endlich beim Ich selbst angelangt“ (MoE 150); aber die im Kapitel I.34 geschilderte „quälende Ahnung des Gefangenwerdens“ und die Fragen „Diese Schönheit? [...] – ganz gut, aber ist es die meine? Ist denn die Wahrheit, die ich kennen lerne, meine Wahrheit?“ (MoE 129) zeugen von einem ausgesprochen anthropozentrischen Verhalten gegenüber dem eigenen Ich. Die Reflexionen des Kapitels I.39 ziehen wohlgemerkt nicht nur in Zweifel, dass eine authentische Selbstverwirklichung, wie sie im Kapitel I.34 als – schwer zu erreichendes – Ideal angenommen wird, in der modernen Gesellschaft möglich sei, sondern sie stellen grundsätzlich infrage, ob unter den Voraussetzungen der Moderne die Beziehung zwischen einer Person und ihren Erlebnissen und Eigenschaften überhaupt noch Interesse beanspruchen könne. Wenn aber an Eigenschaften und Erlebnissen nicht mehr der Bezug zu einem Subjekt relevant ist, sondern nur ihre Stellung in Ereignisketten und Sachzusammenhän-
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gen, dann kann es a fortiori nicht von Belang sein, ob die Eigenschaften und die Lebensweise einer Person ein wahrhafter Ausdruck ihres eigentlichen Selbst sind oder nicht.323 Der latente Widerspruch zwischen den Gedankengängen der Kapitel I.34 und I.39 verweist wiederum auf den Kontrast zwischen den zwei Wesenshälften Ulrichs. In dem Wunsch nach einem Leben, das einen ‘innerlich angeht’, und in der beunruhigten Wahrnehmung, dass sich in dieser Gesellschaft ein solches Leben nicht entwickeln könne, äußert sich, wie oben festgestellt, letztlich die ‘Liebe’-Seite von Ulrichs Wesen; dass Ulrich sich im Kapitel I.34 an diese Gedanken seiner Jugend erinnert und sie (zunächst) lebhaft nachvollziehen kann, hängt damit zusammen, dass er kurz zuvor an das Erlebnis mit der Frau Major gedacht und das Unechte und Zufällige seiner Affäre mit Bonadea empfunden hat. Im Kapitel I.39 dagegen ruft Ulrich sich Überzeugungen und Einstellungen ins Bewusstsein, die die im Zeichen der Wissenschaft stehende Phase seines Lebens geprägt haben und somit eher zu der ‘Gewalt’-Seite seines Wesens gehören: In seiner Auffassung, das Fremdbleiben seiner Eigenschaften und Erlebnisse sei auf eine von ihm selbst gewählte Haltung zurückzuführen, drückt sich, so der Erzähler, sein Vertrauen in seine eigene „Kraft“ aus;324 diese allgemeine und unpersönliche Haltung selbst orientiert sich offenbar am Vorbild der modernen Wissenschaft, indem sie Erlebnisse und Handlungen nur als Funktionsgrößen zu betrachten sucht.325 Ulrich _____________ 323 Ich kann mich Jander also nicht anschließen, wenn er meint, dass in den Reflexionen über die moderne Gesellschaft auf MoE 150 die „Dezentrierung des Subjekts“, die in dem vorangegangenen Abschnitt des Kapitels noch positiv bewertet worden sei, nun – „wenn auch ironisch gebrochen“ – „unter negativen Vorzeichen“ präsentiert werde, als Gegenstand einer „pessimistische[n] Gegenwartsdiagnose zu Kultur und Gesellschaft, die als nivellierende Entfremdungsphänomene erscheinen, in denen Individualität absurd und lächerlich wird.“ (Jander, Die Ästhetik des essayistischen Romans, S. 531f.) Solche negativen Wertungen finden sich in der Passage über die „Welt von Eigenschaften ohne Mann“ eben nicht, anders als in den Ausführungen des Kapitels I.34 über die „zu Millionen Zentnern Stein verhärtete Welt“ (MoE 130). Die Gesellschaft, in der Erlebnisse und Eigenschaften sich vom Menschen unabhängig gemacht haben, ist nur dann ein Anlass zu Pessimismus und Kritik, wenn man bestimmte Normen, Ideale oder Wertmaßstäbe als gültig voraussetzt, und Ulrich nimmt in seinen Reflexionen im Kapitel I.39 eine Perspektive ein, die diese Normen und Ideale – etwa das der Individualität – gerade außer Kraft setzt. 324 „War er ein starker Mensch? Das wußte er nicht; darüber befand er sich vielleicht in einem verhängnisvollen Irrtum. Aber sicher war er immer ein Mensch gewesen, der seiner Kraft vertraute.“ (MoE 149) 325 Die allgemeine, sachliche oder unpersönliche Einstellung gegenüber den eigenen Erlebnissen wird so beschrieben: Ein Mensch, der ein Erlebnis „nicht als ein nur persönliches Geschehnis, sondern als eine Herausforderung seiner geistigen Kraft ansieht“, wird feststellen, dass es „seine Bedeutung, ja seinen Inhalt erst durch seine Stellung in einer Kette folgerichtiger Handlungen erhält“ (MoE 149). Diese allgemeine Haltung verbindet sich demnach fast zwangsläufig mit einer funktionalen oder kontextualistischen Sichtweise, wie sie etwa von Ernst Mach propagiert wurde.
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artikuliert in diesen Reflexionen also einen Aspekt seiner Neigungen und Überzeugungen, der für sein bisheriges Leben von großer Bedeutung war, den er in seinem Gedankengang in Kapitel I.34 aber zunächst außer Acht gelassen hatte; dagegen blendet er hier, in Kapitel I.39, einstweilen die Tatsache aus, dass die Vorstellung, sein eigenes Leben sei ihm fremd und ‘gehe ihn nicht innerlich an’, ihn in anderen Momenten mit beklemmender Unruhe erfüllt hat. Nun, im Kapitel I.39, scheinen ihn dagegen die Reflexionen über das Fremdbleiben seiner eigenen Eigenschaften und Erlebnisse kaum emotional zu berühren; der letzte Satz des Kapitels jedenfalls deutet mit dem Wort „lächelnd“ an, dass Ulrich immer noch eine ähnlich ungerührte und unbeteiligte Haltung gegenüber seinen Überlegungen einnimmt wie am Ende von Kapitel I.34: „Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben.“ (MoE 150) Während er im Kapitel I.40 seine Reflexionen fortsetzt, wird Ulrich zunehmend die emotional unbeteiligte Haltung aufgeben und in einen Zustand aus Traurigkeit, Zorn und Enttäuschung geraten. Außerdem wird dieser Gedankengang unterschiedliche Regungen und Gedanken Ulrichs direkt aufeinander stoßen lassen, bis er schließlich als innerlich gespalten erscheint („Zwei Ulriche gingen in diesem Augenblick“; MoE 155). Das heißt allerdings nicht, dass er hier bereits die zwei Seiten seines Wesens (‘Gewalt’ und ‘Liebe’) als solche wahrnimmt; das geschieht erst deutlich später, im Kapitel I.116. Für Ulrichs Zustand im Kapitel I.40 ist eher kennzeichnend, dass er den Kontrast zwischen unterschiedlichen inneren Impulsen erfährt, ohne sich schon über deren Natur und tiefere Bedeutung im Klaren zu sein. Der erste Absatz von Kapitel I.40 enthält Ausführungen des Erzählers, der Ulrichs „Grundzüge[ ]“ beschreibt und von der Schwierigkeit spricht, in einer Natur wie der seinen „die sie treibende Leidenschaft zu erkennen“ (MoE 151). Der zweite Absatz dann fährt mit der Wiedergabe von Ulrichs Gedankengang fort. Im Kapitel zuvor hatte Ulrich festgestellt, dass sich „die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben“, dass sie unter anderem in die „Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften“ gegangen seien, „die bestimmte Arten des Erlebens auf Kosten der anderen ausbilden wie in einem sozialen Experimentalversuch“ (MoE 150). An diesen Vergleich mit einem „Experimentalversuch“ knüpft Ulrich im Kapitel I.40 wieder an; der zweite Absatz dieses Kapitels beginnt: Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müßten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. Daß das Gesamtlabo-
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ratorium etwas planlos arbeitete und daß die Leiter und Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte auf ein anderes Blatt. Man konnte ja wohl sagen, daß er selbst so etwas wie ein Fürst und Herr des Geistes hätte werden wollen: Wer allerdings nicht?! [MoE 152]
Diese Gedanken etablieren mehrere Themen und Stichwörter, die Ulrich in seinen folgenden Überlegungen – das heißt auf den nächsten vier Seiten – aufgreifen und auf unterschiedliche Weisen verbinden wird: das Stichwort ‘Geist’; die Planlosigkeit der Vorgänge in der Versuchsstätte ‘Welt’ und das Fehlen einer steuernden Instanz; die Ambitionen des jungen Ulrich, der selbst ein „Fürst [...] des Geistes“ werden, sich also für die Aufgabe eines „Leiter[s] und Theoretiker[s] des Ganzen“ qualifizieren wollte. Die Erinnerung daran, dass er ein „Fürst und Herr des Geistes hätte werden wollen“, veranlasst Ulrich zu einer längeren Reflexion über das Wort ‘Geist’ und das Phänomen des Geistes als einer geschichtlichen Wirkungsmacht (vgl. MoE 152-155).326 Diese Reflexion ist weitgehend theoretischer und abstrakter Art und wird fast durchgehend im Präsens und über weite Strecken ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Ulrich als den Urheber dieser Gedanken wiedergegeben.327 Doch dieser Gedankengang über den Geist entwickelt sich nicht ganz kontinuierlich, sondern wird durch eine kurze Episode unterbrochen, in der sich Ulrichs Wahrnehmung seiner räumlichen Umgebung und seine Gefühle zur Geltung bringen und die abstrakte Reflexion zwischenzeitlich zurückdrängen. Nachdem Ulrich eine Weile über das „Hauptwort Geist“ (MoE 152) nachgedacht hat, setzt ein neuer Absatz mit der Schilderung der abendlichen Stadtszenerie ein, in der Ulrich sich befindet; die Beschreibung soll offenbar seine Wahrnehmung dieser Szenerie vermitteln, denn sie entwickelt aus der abendlichen Stadtlandschaft eine komplexe Metapher für jenen Prozess des Gefangenwerdens, Erkaltens und Erstarrens, über den er in Kapitel I.34 nachgedacht hat. Die Stadt erscheint ihm als eine „erkaltende Muschel“: „Die Muttermuschel, voll kindlicher, freudiger, zorniger Menschenbewegung. Wo jeder Tropf als Tröpfchen anfängt, das sprüht und spritzt; mit einem Explosiönchen beginnt, von den Wänden aufge_____________ 326 Es ist nicht leicht zu bestimmen, was Ulrich unter „Geist“ versteht. Musil hat sein eigenes Verständnis dieses Begriffs in Essays unter anderem so expliziert: „Geist hat ein Element in sich, das Verstand ist und an der Entwicklung teilnimmt, und ein anderes Element, das unberechenbar ist, entwicklungslos, widerspruchsvoll und von langsam wechselnden Grundgefühlen abhängt, wie sie Gedanken, die gestern tot waren, heute wieder lebendig machen, ohne daß sich an ihrer Wahrheit etwas anderes geändert hat als wir.“ (Musil, Franz Blei. In: GW 8, S. 1022-1025, hier S. 1023) 327 Gegen Ende dieser Reflexion wird Ulrich allerdings doch erwähnt, und zwar wiederum in einem Satz, der mit einem anaphorischen Ausdruck („Dadurch“) deutlich macht, dass die vorangegangenen Überlegungen von ihm entwickelt wurden: „Dadurch wurde nun Ulrich wieder an jene recht fragwürdige Vorstellung erinnert, [...].“ (MoE 154)
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fangen und abgekühlt wird, milder, unbeweglicher wird, zärtlich an der Schale der Muttermuschel hängen bleibt und schließlich zu einem Körnchen an ihrer Wand erstarrt.“ (MoE 152f.) Die Metaphern drücken vor allem Widerstand gegen die harten Einteilungen der Welt und Furcht vor Vereinnahmung und Erstarrung aus, aber in die Furcht und Ablehnung mischt sich auch eine unterschwellige Sehnsucht nach Bindung („zärtlich“, „Muttermuschel“). Formuliert Ulrich selbst in Gedanken dieses Bild von der Muttermuschel und den Tropfen – oder soll das Bild die Gefühle und die Stimmung suggerieren, welche der Anblick der Häuser und Straßen in Ulrich weckt, ohne dass er diese schon ausdrücklich mit seinen Reflexionen aus Kapitel I.34 verbinden müsste? Diese Frage ist kaum eindeutig zu beantworten; festhalten kann man aber auf jeden Fall, dass die Wörter ‘Wände’, ‘abkühlen’ und ‘erstarren’ eine Verbindung zum Kapitel I.34 herstellen und somit signalisieren, dass die Gedanken und Gefühle, die ihn dort bewegt haben, hier nachwirken und sich mit seiner Wahrnehmung der Stadt verbinden. Ferner kann man festhalten, dass in Ulrich unmittelbar darauf Fragen und Gedanken entstehen, die jene ambivalente Verbindung einer Abwehr aller Festlegungen und einer Sehnsucht nach Bindung ausdrücklich artikulieren, durch die sein Blick auf die Stadtlandschaft eingefärbt war: Ulrich befragt sich selbst daraufhin, zu welchen Existenzweisen er Neigung verspürt und Anlagen besitzt und ob er sich tatsächlich für eine von ihnen entscheiden könnte; er kommt zu dem Ergebnis: „[Z]u allem, was es gab, zog ihn etwas hin, und etwas Stärkeres ließ ihn nicht dazu kommen.“ (MoE 153) Damit hat er ein Merkmal seiner selbst und seines Lebens herauspräpariert, für das er sogleich tieferreichende Erklärungen oder Deutungen sucht: „Warum lebte er also unklar und unentschieden?“ Ihm fallen kurz nacheinander gleich mehrere, unterschiedliche Deutungen oder Erklärungen ein, ohne dass er allerdings die Differenz zwischen ihnen wahrzunehmen scheint: [...] [Z]u allem, was es gab, zog ihn etwas hin, und etwas Stärkeres ließ ihn nicht dazu kommen. Warum lebte er also unklar und unentschieden? Ohne Zweifel, – sagte er sich – was ihn in eine abgeschiedene und unbenannte Daseinsform bannte, war nichts als der Zwang zu jenem Lösen und Binden der Welt, das man mit einem Wort, dem man nicht gerne allein begegnet, Geist nennt. Und Ulrich wußte selbst nicht warum, aber er wurde mit einemmal traurig und dachte: ‘Ich liebe mich einfach selbst nicht.’ In dem erfrorenen, versteinten Körper der Stadt fühlte er ganz zu innerst sein Herz schlagen. Da war etwas in ihm, das hatte nirgends bleiben wollen, hatte sich die Wände der Welt entlang gefühlt und gedacht, es gibt ja noch Millionen anderer Wände; dieser langsam erkaltende, lächerliche Tropfen Ich, der sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben wollte. [MoE 153]
Um seine unentschiedene Lebensweise zu erklären, greift Ulrich einerseits auf die Reflexionen über das „Hauptwort Geist“ zurück, die er kurz zuvor
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unterbrochen hat und schon aus dem Blick verloren zu haben schien: Was ihn in diese „Daseinsform“ banne, sei der Geist als ein „Zwang zum Lösen und Binden der Welt“. Andererseits entwirft Ulrich – nachdem er „mit einemmal traurig“ geworden ist und inmitten der kalten, steinernen Stadt sein Herz schlagen fühlt – ein melancholisches Bild von seinem „Tropfen Ich, der sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben“ wolle. Die „Geist“-Erklärung führt Ulrichs unentschiedene Lebensweise auf einen „Zwang“ zum „Lösen und Binden der Welt“ und somit auf ein aktives, geradezu aggressives Verhalten seinerseits zurück, die „Tropfen Ich“-Erklärung dagegen verweist auf eine passive Haltung der Verweigerung und Selbstbewahrung, die mit einer unstillbaren Sehnsucht verbunden zu sein scheint. Oben wurde auf den Kontrast zwischen Ulrichs Überlegungen in den Kapiteln I.34 und I.39 hingewiesen, zwischen seinen kritisch und pessimistisch gefärbten Gedanken über das uneigentliche Leben der meisten Menschen und seinen tendenziell affirmativen Reflexionen über eine unpersönliche Einstellung zum eigenen Leben und über jene Entwicklungen der modernen Gesellschaft, die eine persönliche Lebenshaltung als naiv und inadäquat erscheinen lassen. Mit seinen Gedanken über den „Tropfen Ich“ in ihm, der sich an keiner Wand niederlassen und „sein Feuer [...] nicht abgeben wollte“, schließt Ulrich an die Metaphorik und an die Stoßrichtung seiner Überlegungen in Kapitel I.34 an, allerdings nicht ohne dabei neue Akzente zu setzen.328 Mit den Ausführungen des Kapitels I.39 dagegen lässt sich dieser Gedanke kaum vereinbaren: Von der Warte der dort entwickelten Position aus muss es als Manifestation einer antiquierten Einstellung erscheinen, wenn jemandes Leben von den Neigungen seines Ich-Tropfens bestimmt wird; zumindest ist das Leiden eines Menschen, dessen „Tropfen Ich“ sich nicht auf eine der vorgegebenen Existenzformen festlegen will und dabei langsam erkaltet, Ausdruck einer solchen Einstellung und kann kein besonderes Interesse beanspruchen. Daneben gibt es noch eine weitere Differenz zwischen den Reflexionen aus Kapitel I.39 und der oben zitierten Passage. Im Kapitel I.39 hatte Ulrich festgestellt, dass ihm seine eigenen Erlebnisse und Eigenschaften fremd geblieben seien, um dieses Fremdbleiben dann auf seine bewusst gewählte Lebenshaltung, geradezu auf einen „Willensbeschluß“ zurückzuführen (MoE 149). Nun, im Kapitel I.40, konstatiert Ulrich erneut eine Distanz zwischen sich selbst und seinem Leben, ja zwischen sich und allen möglichen Daseinsformen, die er sich vorstellen kann; aber er führt diese Dis_____________ 328 Diese veränderte Akzentsetzung manifestiert sich unter anderem darin, dass Ulrich nun von einem „Tropfen Ich“ mit einem „Glutkern“ spricht (MoE 153), während in Kapitel I.34 das Ich der jungen Menschen als ein „haltlos beweglicher Nebel“ (MoE 132) beschrieben wurde.
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tanz nicht auf eine willentlich eingenommene Haltung zurück, sondern auf die Wirkung einer inneren Instanz, die er vorläufig nur unbestimmt als „etwas“ oder „etwas Stärkeres“ bezeichnen kann. Dieses ‘Etwas’ identifiziert er im Folgenden zunächst mit dem „Geist“, dann mit mangelnder Selbstliebe und schließlich mit seinem „Tropfen Ich“. Im Kapitel I.39 hatte Ulrich für das „Fremdbleiben“ seiner Eigenschaften und Erlebnisse eine Erklärung skizziert, die auf seine Neigung zu Sachlichkeit, Objektivität und Wissenschaftlichkeit rekurrierte und in der sich zudem sein Vertrauen in seine eigene „Kraft“ manifestierte. Insofern war jene Selbstdeutung der „Gewalt“-Seite seines Wesens verpflichtet, während die Annahme eines Ich-Tropfens und Glutkerns, der sein Feuer nicht abgeben wolle, auf die Gefühle und Sehnsüchte der „Liebe“-Seite verweist. So abrupt, wie Ulrichs Gedanken über den Geist durch die stark emotional getönte Reflexion über seine „abgeschiedene und unbenannte Daseinsform“ unterbrochen wurden, so unvermittelt kehrt er nach der oben zitierten Passage wieder zum Thema des Geistes zurück. Es kann scheinen, als ob er sich in dieser Reflexion gleichsam treiben ließe und einfach Gedanken ausbreite, die ihm zum Stichwort ‘Geist’ einfallen, ohne sich an einer Frage oder einem Argumentationsziel zu orientieren. Doch der Gedankengang kehrt schließlich genau zu seinem Ausgangspunkt zurück, als ob er untergründig doch von einem bestimmten Interesse gesteuert gewesen wäre: Diesen Ausgangspunkt bildete Ulrichs Erinnerung daran, dass er früher das Leben oder die Welt gerne als eine „große Versuchsstätte“ betrachtet hatte, in dem freilich die „Leiter und Theoretiker des Ganzen fehlten“, und dass er selbst „ein Fürst und Herr des Geistes“ hatte werden wollen. Seine Gedanken über den Geist und das Wort ‘Geist’, die sich daran anschließen, entwickeln sich zunächst sehr assoziativ, steuern aber bald auf eine grundsätzliche Feststellung zu, die dann ausführlich erläutert, belegt und veranschaulicht wird: die Feststellung, dass es in der modernen Kultur zwar große Mengen an Geist in vielfältiger Gestalt gebe, dass er aber keine dauerhaften positiven Wirkungen hervorbringe, ja, dass „von seiner Wirkung nichts als Zerfall“ übrig zu bleiben scheine (MoE 154). Dies ist aber eine Beobachtung von eben der Art, die den jungen Ulrich in dem Ehrgeiz bestärkt hat, ein „Fürst und Herr des Geistes“ zu werden und der Planlosigkeit, die in der Welt als einer großen Versuchsstätte herrsche, ein Ende zu bereiten. Indem Ulrich über den Geist und seine geringen konstruktiven Wirkungen nachdenkt, vollzieht er Überlegungen nach, die seinen früheren Ambitionen zugrunde lagen. Diese Ambitionen, die auf diese Weise wieder mit einem Fundament aus Überzeugungen und Gründen ausgestattet worden sind, konfrontiert er dann mit seiner aktuellen Situation; die Folge ist, dass er sich innerlich in „[z]wei Ulriche“ spaltet, von denen einer ironisch-lächelnd sein Scheitern eingesteht und die
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Pläne der Jugend aufgibt, während der andere den früheren Ehrgeiz noch als lebendig empfindet: Und mit einemmal stellte sich Ulrich das Ganze komischer Weise in der Frage dar, ob es nicht am Ende, da es doch sicher genug Geist gebe, bloß daran fehle, daß der Geist selbst keinen Geist habe? Er wollte darüber lachen. Er war ja selbst einer von diesen Verzichtenden. Aber enttäuschter, noch lebendiger Ehrgeiz fuhr durch ihn wie ein Schwert. Zwei Ulriche gingen in diesem Augenblick. Der eine sah sich lächelnd um und dachte: „Da habe ich also einmal eine Rolle spielen wollen, zwischen solchen Kulissen wie diesen. Ich bin eines Tags erwacht, nicht weich wie in Mutters Körbchen, sondern mit der harten Überzeugung, etwas ausrichten zu müssen. Man hat mir Stichworte gegeben, und ich habe gefühlt, sie gehen mich nichts an. Wie von flimmerndem Lampenfieber war damals alles mit meinen eigenen Vorsätzen und Erwartungen ausgefüllt gewesen. Unmerklich hat sich aber inzwischen der Boden gedreht, ich bin ein Stück meines Wegs voran gekommen und stehe vielleicht schon beim Ausgang. Über kurz wird es mich hinausgedreht haben, und ich werde von meiner großen Rolle gerade gesagt haben: ‘Die Pferde sind gesattelt.’ Möge euch alle der Teufel holen!“ Aber während der eine mit diesen Gedanken lächelnd durch den schwebenden Abend ging, hielt der andre die Fäuste geballt, in Schmerz und Zorn; er war der weniger sichtbare, und woran er dachte, war, eine Beschwörungsformel zu finden, einen Griff, den man vielleicht packen könnte, den eigentlichen Geist des Geistes, das fehlende, vielleicht nur kleine Stück, das den zerbrochenen Kreis schließt. [MoE 155]
Nachdem in den hier untersuchten Kapiteln schon mehrfach Gefühle als Anstöße für Reflexionen gewirkt haben, welche diese Gefühle zu erhellen suchten, münden hier längere Reflexionen in eine starke Gefühlserregung. Allerdings wird an dieser Stelle nicht ganz klar, weshalb die vorangegangenen Überlegungen gerade diese Wirkung auf Ulrich ausüben, ihn also in die zwei beschriebenen Teile spalten. Der zweite Ulrich gibt kaum Rätsel auf, denn angesichts der geringen Fortschritte, die Ulrich bisher in seinen Bemühungen um den „eigentlichen Geist des Geistes“ zu verzeichnen hatte, erscheint es verständlich, dass sein wiedererweckter Ehrgeiz mit „Schmerz und Zorn“ vermischt ist. Aber die Reaktion des ersten, verzichtenden Ulrichs ist auf den ersten Blick weniger verständlich. Sein selbstironisches, leicht bitteres Lebensresümee lässt im Dunkeln, warum sein Leben diesen Verlauf genommen hat, warum er nun meint, sein Auftritt auf der Bühne der Welt sei vielleicht schon fast vorbei, ohne dass von seinen „Vorsätzen“ etwas verwirklicht hätte. Ulrich scheint die Ursache für dieses Im-Sande-Verlaufen seiner Ambitionen andeuten zu wollen, wenn er denkt: „Man hat mir Stichworte gegeben, und ich habe gefühlt, sie gehen mich nichts an.“ Hier greift er offenbar jene melancholische Einsicht über seinen „Tropfen Ich“ wieder auf, zu der er kurz zuvor gelangt ist: Es gebe etwas in ihm, „das hatte nirgends bleiben wollen, hatte sich die Wände der Welt entlang gefühlt und gedacht, es gibt ja noch Mil-
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lionen anderer Wände; dieser langsam erkaltende, lächerliche Tropfen Ich [...].“ (MoE 153) Aber im Kontext der vorliegenden Passage muss die Bemerkung über die „Stichworte“ dennoch befremdlich erscheinen, denn der Wunsch des jungen Ulrich, ein „Fürst und Herr des Geistes“ zu werden und sich zu einem „Leiter und Theoretiker des Ganzen“ zu qualifizieren, scheint schließlich ein ‘echter’, authentischer Wunsch Ulrichs gewesen zu sein und nicht ein „Stichwort[ ]“, das ihm von anderen souffliert worden wäre. So bleibt hier offen, wie in Ulrich das Gefühl entstehen konnte, dass ihn die „Stichworte“, die ihm im Leben gegeben wurden, nichts angehen. Dieser Teil Ulrichs empfindet also jene undeutliche Resignation und Unzufriedenheit, die ihn auch zu dem Urlaub von seinem Leben veranlasst hat, deren tiefere Bedeutung er aber erst später erkennen wird: Erst im Kapitel I.116, in der Reflexion über die „beiden Bäume“ seines Lebens, wird er feststellen, dass der Baum der Liebe beziehungsweise die „sanfte[ ] Schattenseite seines Wesens“ verantwortlich dafür war, dass er sich mit seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten nie voll und ganz identifizieren konnte (MoE 592). Nachdem Ulrich im mittleren Abschnitt der hier untersuchten Reflexionen eine emotional distanzierte und unbeteiligte Haltung an den Tag gelegt hat, obgleich die Gegenstände der Reflexion ihn ‘persönlich berührten’, wirken seine Gedanken im Kapitel I.40 immer stärker auf seine Gefühle und seine Stimmung ein und involvieren immer ‘tiefere’ Bereiche seines Ich: sein „Herz“ (MoE 153) und den „dunklen Bereich, wo man wurzelt“ (MoE 155). Diese allmähliche Steigerung seiner innerlichen Beteiligung erreicht unmittelbar nach der oben zitierten Passage und der ‘Spaltung’ in einen verzichtenden und einen zornigen Ulrich einen Höhepunkt: Er erlebt für einen Moment eine Veränderung seiner Wahrnehmung, wie sie für die Erfahrungen des anderen Zustands kennzeichnend ist, einen „Zustand der Bekehrung, der Umkehrung“ (MoE 155), in dem er mit „allem, was ihm begegnete“, durch Liebe verbunden ist und in dem der „kleine Zweig am Baum und die blasse Fensterscheibe im Abendlicht [...] zu einem tief ins eigene Wesen versenkten Erlebnis [wurden], das sich kaum mit Worten aussprechen ließ.“ Als Ulrich gerade denkt: „‘Nun will ich einmal da bleiben, wohin es mich getragen hat’“ (MoE 156), wird er in seiner Versenkung durch einen betrunkenen Arbeiter und seine Auseinandersetzung mit einem Schutzmann gestört. Abschließend seien die wichtigsten Ergebnisse dieses Untersuchungsteils zusammengefasst. In dem nach der Analyse von Kapitel I.34 formulierten Zwischenresümee wurde festgestellt, dass der Ausgangspunkt von Ulrichs Überlegungen dort in Erinnerungen, Gefühlen und Wünschen besteht, die unwillkürlich in ihm auftauchen und die er dann zu deuten
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versucht. In ähnlicher Weise nehmen seine Reflexionen in den Kapiteln I.39 und I.40 ihren Ausgang mehrfach von Beobachtungen, die er an sich selbst macht, während er sich ausdrücklich sich selbst und seinem Leben zuwendet. Was er sich dabei bewusst macht, sind Aspekte seiner subjektiven Selbstwahrnehmung, die durch bestimmte Gefühle definiert sind: so etwa, wenn er fühlt, dass er sich immer noch jederzeit in Tätigkeiten stürzen könnte, die nur seinen Aktionstrieb reizen, dass ihm seine eigenen Eigenschaften und Erlebnisse fremd geblieben sind oder dass er zu vielfältigsten Existenzformen Lust und Neigung fühlt und doch zugleich spürt, dass er keine von ihnen tatsächlich wählen könnte. An diese Selbstbeobachtungen knüpft Ulrich Reflexionen, die Erklärungen für diese Aspekte seines Lebens und seiner aktuellen inneren Verfassung entwickeln. Er führt diese unter anderem auf Überzeugungen und Haltungen zurück, die für sein bisheriges Leben bestimmend waren, und vergegenwärtigt sich die Gedanken und Ideale, welche jenen Überzeugungen und Haltungen zugrunde lagen; dadurch erhalten seine Reflexionen über weite Strecken einen rekapitulierenden Charakter. Im Hinblick auf die Frage, wie die Beziehung zwischen Denkvorgang, räumlicher Umgebung, Gefühlen und Wahrnehmungen des Denkenden dargestellt werden, sind die Kapitel I.34 und I.40 besonders aufschlussreich. Sie präsentieren dieses Verhältnis als eines der gegenseitigen Beeinflussung: Ulrichs Reflexionen kontaminieren seine Wahrnehmung der räumlichen Umgebung, so dass er die Gebäude und Straßen als Bildspender für metaphorische oder allegorische Verdichtungen seiner Gedanken über gesellschaftliche Prägungs- und Entfremdungsmechanismen nutzt (vgl. MoE 130-132). Andererseits wirkt der Anblick dieser Stadtlandschaft, die auf diese Weise schon mit gedanklichen Gehalten aufgeladen ist, im Kapitel I.40 wieder auf Ulrichs Gedankengang ein, indem sie ihn an die Daseinsformen denken lässt, von denen er sich angezogen fühlt und auf die er sich doch nicht einlassen kann (vgl. MoE 152f.).329 In welcher Weise Gefühle als Ausgangspunkte von Ulrichs Reflexionen fungieren, wurde an mehreren Stellen gezeigt; doch wie im Kapitel I.40 deutlich wird, können die Gedankengänge auch wieder in Gefühlserlebnisse münden: In einer längeren Reflexion vergegenwärtigt sich Ulrich wieder seine früheren Überzeugungen (die Welt als Versuchsstätte), seine Ambitionen (ein Herr des Geistes werden) sowie die diesen zugrunde liegenden Beobachtungen _____________ 329 Pott dagegen hat über das „Heimweg“-Kapitel (I.122) geschrieben, dass der „wechselnde Raum“ dort auf „assoziativ-analogisch[e]“ Weise Gedanken in Ulrich „erweck[e]“, ihn „zum Analogiedenken verführ[e]“ (Hans-Georg Pott, Robert Musil. München 1984, S. 109). Aber auch bei diesem Kapitel ließe sich argumentieren, dass Ulrichs Wahrnehmung des Raums zunächst durch den psychischen Zustand beeinflusst wird, in dem er sich zu Beginn des Heimwegs befindet, dass also die Einflussbeziehung nicht einseitig ist.
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und Theorien (die Richtungslosigkeit der sozialen Entwicklung; das Ausbleiben einer positiven Wirkung des Geistes); dieser rekapitulierende Denkvorgang weckt in Ulrich schließlich lebhafte Gefühle von Enttäuschung und „Ehrgeiz“, „Schmerz und Zorn“ (MoE 155). Werner Hoffmeister hat die Ansicht vertreten, die „langen inneren Monologe Ulrichs“ – zu denen für ihn etwa die Reflexionen des Kapitels I.40, vermutlich auch I.34 und I.39 gehören – seien „unabhängig von szenischer Lokalisierung. Sie sind weder in einen konkreten räumlichzeitlichen Zusammenhang eingeordnet, noch werden sie durch äussere Handlung oder andere Personen unmittelbar veranlasst.“330 Diese These erscheint im Licht der eben durchgeführten Analyse als nicht haltbar. Wie oben gezeigt wurde, stehen die Gedanken, mit denen Ulrichs Reflexionen im Kapitel I.34 beginnen, in einem offenkundigen Zusammenhang mit seinen vorangegangenen Erlebnissen desselben Tages, insbesondere mit seinem wiederholt auftretenden Eindruck, dass es seinem Leben an ‘innerer Notwendigkeit’, Wahrheit oder Echtheit fehle (vgl. MoE 128, 129, 115). Eben dieses Phänomen einer Fremdheit oder Distanz zwischen einer Person und dem Leben, das sie führt, bleibt als übergeordnetes Thema für die ausgedehnten Reflexionen der Kapitel I.34, I.39 und I.40 bestimmend. Die Traurigkeit und Wut, in die Ulrich im Kapitel I.40 beim Nachdenken über sein Leben gerät, erscheinen als Fortsetzung und Steigerung der Irritation und Beunruhigung, die er in Kapitel I.34 empfunden hat. Die Reflexionen sind somit durchaus in einen zeitlichen Zusammenhang eingeordnet und mit dem Kontext der Erzählhandlung verbunden. Dass sich außerdem Ulrichs Gedankengang nicht „unabhängig von szenischer Lokalisierung“ entfaltet, sondern durch die Wahrnehmung der Straßenszenerie beeinflusst wird, wurde gerade noch einmal hervorgehoben. Welche Merkmale von Ulrichs hier untersuchten Reflexionen können als Ausdruck der aktuellen Phase seiner inneren Entwicklung gedeutet werden? Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht das Nebeneinanderstehen von inkompatiblen oder einander widersprechenden Gedankengängen, das vor allem das Verhältnis des Kapitels I.39 zu den Überlegungen der Kapitel I.34 und I.40 prägt. In den Ausführungen über die Antiquiertheit einer persönlichen Haltung zum eigenen Leben in Kapitel I.39 manifestiert sich Ulrichs harte, sachliche, wissenschafts-affine Wesenshälfte; ihr entspricht auch der geringe Grad an emotionaler Involviertheit, der sein Denken in diesem Abschnitt kennzeichnet. Die Gedankengänge der Kapitel I.34 und I.40 dagegen artikulieren zum Teil Gefühle, Erinnerungen und Wünsche, die zu Ulrichs lange unterdrückter ‘Liebe’-Seite gehören. _____________ 330 Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede, S. 103. Zu Kapitel I.40 als einem Beispiel für die inneren Monologe Ulrichs vgl. ebd., S. 97-99.
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Auf seinem Weg durch die Stadt, der sich über die Kapitel I.34, I.39 und I.40 erstreckt, entfaltet Ulrich also sukzessiv unterschiedliche Haltungen, Neigungen, Gefühle und Wünsche, die gleichermaßen auf Seiten seines „Wesens“ verweisen (MoE 592). Als entscheidende Signatur seiner momentanen inneren Verfassung kann dabei die Tatsache gelten, dass die gegensätzlichen Überlegungen unvermittelt nebeneinander stehen, dass Ulrich selbst also die Spannung zwischen seinen Reflexionen im Kapitel I.39 und jenen der Kapitel I.34 und I.40 nicht wahrzunehmen scheint und folglich auch nicht zum Thema macht. Da er sich über diesen Widerstreit in sich selbst und über die Bedeutung der von seinem „Tropfen Ich“ ausgehenden Gefühle und Sehnsüchte noch nicht Rechenschaft abzulegen vermag, ist es folgerichtig, dass er am Ende seines Gedankengangs wieder jenes Gefühl der Resignation, Enttäuschung und des Gescheitertseins erlebt, das den Anlass zu seinem Urlaubsjahr gegeben hat, ohne sich aber über die Ursache dieses Gefühls klar geworden zu sein. Diese Defizite seiner Selbsterkenntnis in diesem Moment treten deutlich zutage, wenn man seine Reflexion über die zwei „Bäume“ seines Lebens im Kapitel I.116 zum Vergleich heranzieht: Dort benennt er die zwei unterschiedlichen Grundanlagen seines Wesens und führt das Gefühl des Stillstands, das ihn zum Abbruch seiner wissenschaftlichen Laufbahn veranlasst hat, auf die hemmende Wirkung der „Liebe“-Hälfte seines Wesens zurück. 3.7.3. Artikulation von Gefühlen und Wünschen (Kapitel II.22) Um zu zeigen, dass und wie sich Ulrichs Art des Denkens im Laufe seines Urlaubsjahrs verändert, soll im Folgenden eine längere Reflexion untersucht werden, die er einige Zeit nach seiner Begegnung mit Agathe anstellt und die im Kapitel 22 des zweiten Buchs („Von der Koniatowski’schen Kritik des Danielli’schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester“) wiedergegeben wird. Ulrich ist hier von dem Aufenthalt in seiner Heimatstadt nach Wien zurückgekehrt und erwartet die Ankunft Agathes, die in einigen Tagen nachkommen soll. Wie in den Kapiteln 34, 39 und 40 des ersten Buchs, so ist Ulrich auch im Kapitel II.22 in den Straßen Wiens unterwegs. Das Kapitel beginnt damit, dass er das Palais des Grafen Leinsdorf verlässt und eine Anschlagfläche mit Anzeigen und Bekanntmachungen sowie die Auslage eines Buchladens betrachtet, bevor er an einer Straßenbahnhaltestelle von der ihm bekannten Astronomin Frau Dr. Strastil angesprochen wird (vgl. MoE 864f.). Er steigt mit ihr in die Straßenbahn und unterhält sich eine Zeitlang mit ihr, verlässt dann plötzlich die Bahn mit der Begründung, schon zu weit gefahren zu sein, fährt mit einer anderen Bahn zurück Rich-
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tung Innenstadt und geht anschließend zu Fuß weiter. Dabei begegnet er einer Frau und folgt ihr mechanisch, bis er zufällig Bonadea trifft. Den größten Teil des etwa vierzehn Seiten langen Kapitels, nämlich etwa zehn Seiten, füllt die Darstellung des Zeitabschnitts zwischen Ulrichs Abschied von Frau Strastil (MoE 867) und seinem Zusammentreffen mit der unbekannten Frau (MoE 876); in diesem Abschnitt entwickelt Ulrich auch den Hauptteil seiner Reflexionen. Diese kreisen zunächst um die Literatur und um Gefühle im Allgemeinen: Der Anblick der Buchauslage im Schaufenster sowie einige Äußerungen Dr. Strastils regen Ulrich zu der These an, dass sowohl die Literatur als auch das Leben in „vergebliche“ oder „unbedeutende Aktualität“ (MoE 868f.), nämlich in immer dieselben alltäglichen Erlebnisse münden und dass diese entwicklungslose „ewige Augenblicklichkeit“ (MoE 868) letztlich auf eine verfehlte Einstellung gegenüber den Gefühlen zurückzuführen sei. Das Thema der Gefühle weckt in Ulrich die Erinnerung an Agathe, die sich allmählich in den Vordergrund seiner Überlegungen drängt, bis er sich schließlich von seinen allgemeinen Gedanken über die „ungeheure[ ] Verkehrtheit“ des üblichen Umgangs mit Gefühlen ab- und der Frage zuwendet, was er „auf sich genommen und versprochen“ habe (MoE 874), als er Agathe gegenüber gesagt hatte, sie würden gemeinsam „in das Tausendjährige Reich einziehn“ (MoE 801). Er macht sich klar, dass dieses „Versprechen [...] auf den Wunsch [hinauslief], mit der Hilfe gegenseitiger Liebe in einer so gehobenen weltlichen Verfassung zu leben, daß man nur noch das fühlen und tun kann, was diesen Zustand erhöht und erhält.“ (MoE 874) In der letzten Phase seiner Überlegungen bringt Ulrich Zweifel an dieser „Möglichkeit und Bedeutung einer anderen Art zu leben“ zum Ausdruck, muss sich aber gleichwohl eingestehen, dass sich sein „Gefühl“ vorbehaltlos auf diese Möglichkeit einlässt (MoE 875); er versucht, das „Versprechen eines Tausendjährigen Reichs“ auf „vernünftig[e]“ Weise aufzufassen und als „eine Art wohltuenden Werks“ zu begreifen (MoE 875), widerruft aber gleich darauf diese Konkretisierung als verfehlt (vgl. MoE 876); schließlich versucht er, sich über das Wesen seiner Gefühle für Agathe und über das Wesen der Liebe, die ihm als Ideal vorschwebt, klar zu werden (vgl. MoE 876-878). Im Hinblick auf die Erzählweise dieses Kapitels fällt auf, dass hier andere Techniken der Bewusstseinsdarstellung im Vordergrund stehen als in den oben analysierten Kapiteln des ersten Buchs. In den Kapiteln I.34, I.39 und I.40 werden Ulrichs Gedanken größtenteils in einer Variante der erlebten Rede wiedergegeben, genauer: in einer ins Präsens transponierten erlebten Rede; die langen Abschnitte der erlebten Rede werden durch wenige Gedankenzitate und Bewusstseinsberichte unterbrochen. Im Vergleich dazu enthält das Kapitel II.22 sehr viele Passagen in der Form des
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Bewusstseinsberichts sowie zahlreiche Gedankenzitate neben Abschnitten in erlebter Rede. Die Bewusstseinsberichte schildern psychische Zustände oder Erlebnisse, vor allem Gefühle, die Ulrichs Gedanken begleiten oder unterbrechen, oder sie präzisieren die Art und Weise, in der ihm bestimmte Gedanken in den Sinn kommen.331 Dank dieser Bewusstseinsberichte vermittelt der Text ein weit komplexeres und nuancierteres Bild von Ulrichs inneren Zuständen, als dies in den zuvor analysierten Kapiteln des ersten Buchs der Fall war; außerdem bewirken sie, ebenso wie die vielen direkten und indirekten Gedankenzitate332, dass Ulrich als denkendes Subjekt in jedem Moment ‘sichtbar’ bleibt, während die langen Passagen der erlebten Rede in den früheren Kapiteln geradezu vergessen lassen können, dass es Ulrich ist, dessen Gedanken wiedergegeben werden. Diese Veränderung der Erzählweise verweist auf eine Veränderung von Ulrichs Denkweise: Wenn der Erzähler mithilfe von Bewusstseinsberichten ein feiner nuanciertes und vielschichtiges Bild seiner inneren Vorgänge präsentiert, so passt er sich damit gewissermaßen dem veränderten Zustand Ulrichs an, der mittlerweile selbst zu einer weit aufmerksameren, bewussteren und klareren Wahrnehmung seiner eigenen Gefühle, Wünsche, Neigungen und Überzeugungen fähig ist. Die vorangegangenen Untersuchungsteile haben zu zeigen versucht, dass Ulrichs Gedankengänge in der Anfangszeit seines Urlaubsjahrs durch eine weitgehende Unartikuliertheit seiner inneren Verfassung gekennzeichnet sind. Damit war gemeint, dass seine Gefühle und Wünsche sich teilweise nur in unklarer und rudimentärer Weise äußern (Kapitel I.28) oder dass Ulrich es versäumt, seine Gefühlsregungen und Wünsche als seine Gefühle und Wünsche wahrzunehmen und auf ihre Ursprünge und Bedeutungen hin zu befragen, und sie stattdessen etwa als Beispiele für allgemeinere Phäno_____________ 331 Vgl. etwa: „Der Zustand, in dem Ulrich die Straße betreten hatte, als er das Palais des Grafen Leinsdorf verließ, ähnelte dem nüchternen Gefühl des Hungers [...].“ (MoE 864) – „Er fühlte sich keineswegs gut sprechen, es war ihm gleichgültig, was er sagte, er fuhr darin nur fort, weil es noch immer nicht das war, was er aus sich herausbefördern wollte.“ (MoE 866) – „‘Wenn die vernünftige Strastil ‘fühlen gemacht’ werden will’ dachte er [...], und wie das schon geschieht, dachte er teils in Worten, teils wirkte die Überlegung als wortloser Einwurf ins Bewußtsein hinein: wenn also die verständige Dr. Strastil fühlen gemacht werden wollte, so kam es auf das hinaus, was alle wollen, daß die Kunst den Menschen bewege, erschüttere, unterhalte, [...]. Und Ulrich wollte das auch gar nicht verwerfen. In einem Nebengedanken, der als ein Gemisch von leichter Rührung und widerstrebender Ironie endete, dachte er: [...].’“ (MoE 867) 332 Vgl. etwa: „Dabei kam ihm augenblicklich in den Sinn, daß man am besten und ohne Umschweife das, worauf er es abgesehen hätte, als die vergebliche Aktualität oder ewige Augenblicklichkeit der Literatur bezeichnen könnte. [...] ‘Eine Pfütze’ dachte er nun ‘hat schon jedem unwillkürlich viel öfter und stärker den Eindruck der Tiefe gemacht als der Ozean, und aus dem einfachen Grund, weil man mehr Gelegenheit hat, Pfützen zu erleben, als Ozeane’: So schien ihm, sei es auch mit dem Gefühl, [...].“ (MoE 868) – Vgl. auch MoE 870f., MoE 875f.
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mene betrachtet und zu erklären sucht (Kapitel I.34, I.40). Diese mangelnde Artikulation seiner eigenen Gefühle und Wünsche verbindet sich in der Anfangszeit seines Urlaubsjahrs mit einer inneren Spaltung oder Dissoziation, da sich seine unklaren Gefühle und Wünsche einerseits und seine intellektuellen Fähigkeiten sowie seine auf Planen, Ordnen und geistige Unterwerfung der Welt gerichteten Antriebe andererseits abwechselnd oder nebeneinander zur Geltung bringen, ohne miteinander vermittelt zu werden (Kapitel I.28, I.34, I.39, I.40). Im Kapitel II.22 dagegen ist Ulrich ausdrücklich und in hohem Maße ‘erfolgreich’ bemüht, seine eigenen Gefühle, Wünsche, Überzeugungen und Sehnsüchte zu artikulieren. Man kann den Grundcharakter dieses komplizierten, wendungsreichen und vielsträngigen Gedankengangs in der schlichten Aussage zusammenfassen, dass Ulrich sich hier klar macht, was er will. Dazu gehört auch, dass er Divergenzen zwischen seinen Neigungen, Gefühlen, Wünschen und Überzeugungen beobachtet; der Widerstreit zwischen verschiedenen Tendenzen seiner selbst ist also nicht verschwunden, aber anders als in früheren Denkvorgängen macht er sich diese inneren Konflikte nun ausdrücklich bewusst und stellt dabei fest, welche dieser Tendenzen – in diesem Moment – die stärkeren sind. Das Bemühen um eine Artikulierung seiner Wünsche, Gefühle und Überzeugungen prägt Ulrichs Reflexionen in diesem Kapitel in ganz konkreter Weise: Er ‘spürt’ im Verlauf seines Spazier- und Gedankengangs immer wieder, dass seine Gedanken oder sein Inneres ‘auf etwas hinauswollen’, auf eine Frage, ein Thema oder eine Entscheidung, und er versucht jeweils, sich über Ziel oder Inhalt dieses undeutlichen inneren Drängens klar zu werden und es in ausdrückliche Gedanken zu übersetzen. Dieser charakteristische Zug seiner veränderten Denkweise tritt besonders deutlich im ersten Teil des Kapitels II.22 zutage, der die Begegnung mit Fräulein Strastil schildert. Zunächst regt die Auslage des Buchladens etwas in Ulrich an; ihm fällt „ein alter Soldatenwitz“ ein, die Bezeichnung eines unbeliebten Generals als „Mortadella“ („[t]eils Schwein, teils Esel“), und er würde diesen Vergleich „angeregt fort[setzen]“, wenn ihn nicht in diesem Moment Fräulein Strastil anspräche (MoE 864f.). Das Thema der Literatur scheint Ulrich aber unterschwellig weiter zu beschäftigen; er steigt mit der Astronomin in die Straßenbahn, und es wird ausdrücklich vermerkt, dass er nicht weiß, warum er das tut: Vielleicht, weil ihr eine Kontroverse zwischen zwei Mathematikern so wichtig vorkam; vielleicht „wollte er mit ihr über schöne Literatur sprechen, von der sie nichts verstand.“ (MoE 866) Wie sich kurze Zeit später herausstellen wird, war es tatsächlich am ehesten dieser zweite Wunsch, der Ulrich unbewusst geleitet hat. Als er dann im Gespräch mit Fräulein Strastil ihrer Sehnsucht nach der Natur die elementare Ursprüng-
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lichkeit abspricht und sie als eine Form des „moderne[n] Rousseauismus“ deutet, geht es ihm keineswegs um die Sache, sondern darum, etwas aus sich „heraus[zu]befördern“: Er fühlte sich keineswegs gut sprechen, es war ihm gleichgültig, was er sagte, er fuhr darin nur fort, weil es noch immer nicht das war, was er aus sich herausbefördern wollte. [MoE 866]
Wenige Momente später fällt Ulrichs Blick auf eine Schlagzeile in der Zeitung seines Nachbarn, und „seine Gedanken sprangen plötzlich in das Geleise, das er brauchte.“ (ebd.) Die Metapher des Gleises weist unter anderem darauf hin, dass das, was Ulrich hier in sich ‘warten’ spürt und was er finden und „aus sich herausbefördern“ möchte, eher eine Frage oder ein Thema als eine Antwort und ein Ergebnis ist. Bei seinem Abschied von Fräulein Strastil und beim Verlassen der Straßenbahn ist ihm dann fast klar geworden, worauf seine Gedanken hinauswollten: [Er] [...] wußte nun und wußte es gleichwohl noch nicht ganz, warum seine Gedanken um die Sache der Literatur kreisten und was sie dort wollten, von dem unterbrochenen Mortadella-Vergleich an bis zur unbewußten Verleitung der guten Strastil zu Geständnissen.“ [MoE 867]
Nach einigen Überlegungen, die an die Äußerungen von Fräulein Strastil über die Literatur und das Fühlen anschließen und eine Abzweigung in Form eines Nebengedankens enthalten, gelangt Ulrich zu der Feststellung, „daß man am besten und ohne Umschweife das, worauf er es abgesehen hätte, als die vergebliche Aktualität oder ewige Augenblicklichkeit der Literatur bezeichnen könnte.“ (MoE 868) Auch im weiteren Verlauf seines Gedankengangs ist Ulrich geleitet von der Wahrnehmung solcher undeutlichen inneren Impulse und von dem Bestreben, sich ihren Inhalt oder Sinn bewusst zu machen, sie aus sich „heraus[zu]befördern“. Dabei können diese Impulse auch kritische Reaktionen auf seine eigenen, vorangegangenen Überlegungen sein. Die Einsicht in die „unbedeutende“ oder „vergebliche Aktualität“ der Literatur wie auch des Lebens allgemein (MoE 866f.), mit der die erste Etappe seines Gedankengang endet, provoziert ihn zu Überlegungen darüber, was man gegen diese entwicklungslose Augenblicklichkeit unternehmen könnte. Vor allem müsste eine „strenge Auffassung und Aufgabensetzung für die harmlose Beschäftigung des Fühlens, eine ernste Rangordnung“, durchgesetzt werden: „Gefühle müssen entweder dienen oder einem bis ins Letzte reichenden, noch keineswegs beschriebenen Zustand angehören, der groß wie das küstenlose Meer ist.“ (MoE 869f.) Gegen diese Gedanken regt sich bald darauf ein Widerstand in Ulrich, der ebenfalls zunächst die Form eines undeutlichen Impulses hat, so dass Ulrich erst nach und nach herausfinden muss, was genau diese Abneigung in ihm erregt, wo „die Schwäche seiner Überlegungen“ steckte (MoE 873). Er kritisiert
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zunächst einzelne Gedanken und Formulierungen (vgl. MoE 871), verfolgt aber diese Einwände nicht weiter, als er am Straßenrand eine barocke Steinsäule erblickt und sich durch den Kontrast zwischen dieser „Leidenschaft der alten Gebärde“ und der „technische[n] Bequemlichkeit“ der Straßenbahn wieder in seiner Diagnose der Kopflosigkeit des Lebens und der geschichtlichen Entwicklung bestätigt fühlt (MoE 872). Erst nachdem er auf seinem Gang durch die Straßen ausgiebig den farbenfrohen „Blumengarten aus Früchten, Edelsteinen, Stoffen, Formen und Verlockungen“ betrachtet hat, sich also genussvoll gerade jenen Erscheinungen gewidmet hat, welche „‘die vergebliche Aktualität des Lebens’“ (MoE 873) ausmachen – erst nachdem er sich solcherart „an der Welt [gesättigt]“ (ebd.) hat, kann er den Fehler in seinen früheren Überlegungen ausmachen, der seinen Widerstand erregt hatte: „‘Was soll es denn bedeuten,’ fragte er sich ‘angesichts dieser Selbstherrlichkeit auch noch ein Ergebnis zu verlangen, das darüber, dahinter, darunter sein soll?! Soll das wohl eine Philosophie sein? Eine alles umfassende Überzeugung, ein Gesetz? Oder Gottes Finger? [...]’“ (MoE 873) Aber Ulrich kritisiert hier nicht nur den spezifischen Inhalt seiner kurz zuvor entwickelten Gedanken zur Überwindung der ‘vergeblichen Aktualität’ des Lebens, sondern distanziert sich grundsätzlich vom allgemeinen, theoretischen Nachdenken über diese Fragen: „‘[...] [U]nd ich nehme an, daß es kein tiefes Glück gibt ohne eine tiefe Moral; dabei scheint es mir aber ein unnatürlicher, bleicher Zustand zu sein, daß ich darüber nachdenke, und es ist überhaupt nicht das, was ich will!’“ (MoE 874) Indem er sich von diesen allgemeinen Überlegungen abwendet und seiner „immer wachen Lust des feldherrlichen Planens“ (ebd.) Zügel anlegt, gelingt es ihm zugleich, jene Frage aus sich ‘herauszubefördern’, die bisher nur undeutlich im Hintergrund seiner Gedanken gewartet hatte, die Frage: „‘Was habe ich auf mich genommen?’“ (MoE 874) Über diese Frage heißt es: Sie war anfangs wie ein dunkler Ton nahe bei seinem Ohr gewesen, der ihn begleitete, dann lag der Ton in ihm selbst, nur eine Oktave tiefer als alles übrige, und nun war Ulrich endlich eins mit seiner Frage und kam sich selbst wie ein wunderlich tiefer Ton in der hell harten Welt vor, um den ein weites Intervall lag. [MoE 874]
Wie das Bild der plötzlich ins richtige „Geleise“ springenden Gedanken, so beschreibt auch dieser Satz das Erreichen einer Übereinstimmung. Auch hier ist es nicht eine Antwort oder ein Ziel, was Ulrich findet, sondern eine Frage; allerdings sind es hier nicht mehr nur seine Gedanken, die sich plötzlich auf dem Weg befinden, den er tastend gesucht hat, sondern es ist Ulrich selbst, der „eins mit seiner Frage“ wird. Die bisher untersuchten Aspekte von Ulrichs Gedankengang können in einem Zwischenfazit wie folgt zusammengefasst und interpretiert wer-
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den: Ulrich nimmt in verschiedenen Abschnitten seines Denkprozesses wahr, dass er innerlich ‘auf etwas hinauswill’, und er versucht, sich den Sinn oder Inhalt dieser undeutlichen Impulse bewusst zu machen. Was er beim Artikulieren dieser Regungen zutage fördert, sind Wünsche, Überzeugungen, charakteristische Dispositionen seiner selbst. Der erste Abschnitt seines Gedankengangs ist geprägt von seiner Neigung zur Kritik, zum umfassenden, „feldherrlichen Planen[ ]“ (MoE 874), also auch von jenem „Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber“, den er in der Reflexion über die beiden Bäume seines Lebens als Wesensmerkmal seiner „Gewalt“-Seite erkannt hat (MoE 592): Einige zufällige und punktuelle Wahrnehmungen (die Anschlagfläche mit Anzeigen, der Buchladen, Frau Strastil) erregen sein Interesse und seine Lust an der Kritik, da er in ihnen Symptome allgemeinerer Missstände wittert; er geht dieser Witterung nach und sucht seine spontane Reaktion zu präzisieren, bis er den Missstand auf einen Begriff gebracht (die „vergebliche Aktualität“ des Lebens“) und ein Gegenmittel ersonnen hat (eine strenge Aufgabensetzung für das Fühlen). Doch indem er dieser kritischen, aggressiven und ‘feldherrlich planenden’ Tendenz seiner selbst nachgegeben und sie vollständig zum Ausdruck gebracht hat, hat er zugleich den Widerstand seiner entgegengesetzten Neigung hervorgerufen, die sich schließlich als die – momentan – stärkere durchsetzt: So beginnt er nicht nur, an dem Sinn seiner eigenen feldherrlichen Pläne zu zweifeln, kaum dass er sie formuliert hat, sondern macht sich vor allem bewusst, dass das allgemeine Nachdenken über diese Fragen ganz grundsätzlich nicht das ist, „was [er] will“ (MoE 874). Was er will, ist vielmehr, den mit Agathe begonnenen Versuch einer „anderen Art zu leben“ (MoE 875) fortzusetzen und sich auf jenes Vorhaben und Versprechen, das er mit dem Ausdruck des ‘Tausendjährigen Reichs’ umschrieben hat, wirklich einzulassen. Wesentliche Grundzüge dieses Denkvorgangs, so wurde oben bereits vorgeschlagen, können in dem Begriff der Artikulation oder des Artikulierens zusammengefasst werden. Dieser Begriff verweist vor allem auf den Übergang von relativ undeutlichen, diffusen Impulsen zu bewussten, ausdrücklich formulierten Fragen, Wünschen und Überzeugungen; er bezieht sich also sowohl auf die Erlebnisseite des Denkvorgangs, auf die Art und Weise, in der Ulrich seine Wünsche, Gefühle und Empfindungen erlebt, als auch auf die intellektuelle oder kognitive Leistung, die er in diesem Denkvorgang vollzieht. Diese kognitiven Leistungen sowie die inhaltlichlogische Struktur der betreffenden Textpartien können noch etwas genauer beschrieben werden: Ulrichs Artikulieren seiner Gefühle, Wünsche und Überzeugungen vollzieht sich in der Form von Erklärungen und vor allem von Argumentationen oder Begründungen. Wenn Ulrich sich bewusst macht, dass die Literatur durch „vergebliche Aktualität oder ewige Augenblick-
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lichkeit“ gekennzeichnet zu sein scheint, so erklärt er damit, was beim Anblick der Schaufensterauslage des Buchladens sein Interesse erregt und ihn unbewusst dazu bewegt hat, Fräulein Strastil ‘zu Geständnissen zu verleiten’ (vgl. MoE 867). Aber Ulrich rekapituliert auch die Gründe, auf die er schon früher sein Urteil über die Literatur und ihr „Münden ins Leere“ (MoE 867) gestützt hat und die sich ihm unter dem Eindruck der „deutschen Geistesauslage“ (MoE 864) im Buchladen und der Bemerkungen von Fräulein Strastil wieder aufdrängen: „Hat sie [die Literatur; O.K.] denn ein Ergebnis? Entweder ist sie ein ungeheurer Umweg vom Erleben zum Erleben und läuft in sich selbst zurück, oder sie ist ein Inbegriff von Reizzuständen, aus dem in keiner Weise etwas Bestimmtes hervorgeht.“ (MoE 868) Als er an Agathe, die Testamentsfälschung und ihren Plan des Zusammenlebens denkt, legt er sich sowohl die Gründe vor, die dafür sprechen, vor dem Beginn des neuen Lebens die Angelegenheit mit Hagauer und dem Testament ins Reine zu bringen, als auch die Gründe, die dagegen sprechen (vgl. MoE 870f.). Etwas später denkt er wieder über die „unbedeutende Aktualität“ (MoE 869) des Lebens als ein umfassendes, den Geschichtsprozess und die gesamte Kultur betreffendes Problem und über seine ‘feldherrlichen’ Pläne zur Bekämpfung dieses Missstands nach (vgl. MoE 871-873): Der Anblick der barocken Steinsäule inspiriert Ulrich dazu, eine Erklärung für diese „Kopflosigkeit des Lebens“ und die „Vergänglichkeit“ von „Kultur“ und „Zeitwille“ zu formulieren, wobei diese Erklärung zugleich als Argument dafür dient, dass man diese fatale historische Dynamik mithilfe von ‘feldherrlichen’ Reformplänen wie den seinen bekämpfen sollte333; andererseits macht er sich die Gründe bewusst, die
_____________ 333 Vgl. MoE 872: „Er [i.e. Ulrich; O.K.] vermochte nicht daran zu zweifeln, daß die Vergänglichkeit dessen, was man für Stil, Kultur, Zeitwille oder Lebensgefühl ansieht und als solche bewundert, eine moralische Gebrechlichkeit sei. Denn im großen Maßstab der Zeiten bedeutet sie nichts anderes, als es im kleineren des eigenen Lebens wäre, wenn man sein Können ganz einseitig entwickelte und sich in auflösenden Übertreibungen zerstreute, nie ein Maß seines Willens gewänne, nie zu ganzer Bildung sich bildete, und in unzusammenhängenden Leidenschaften bald das, bald jenes täte. Darum schien ihm auch das, was man Wechsel oder gar Fortschritt der Zeiten nennt, nur ein Wort dafür zu sein, daß kein Versuch bis dorthin kommt, wo sich alle vereinen müßten, auf den Weg zu einer das Ganze umfassenden Überzeugung [...].“ – Ulrich deutet hier zum einen eine Erklärung für die Vergänglichkeit von „Stil, Kultur, Zeitwille oder Lebensgefühl“ an, indem er sie als „eine moralische Gebrechlichkeit“ bezeichnet; die Erklärung läuft darauf hinaus, dass die Menschen oder die Gesellschaften es an bewussten Bemühungen um viel- oder allseitige und kontinuierliche Entwicklung fehlen lassen und statt dessen „in unzusammenhängenden Leidenschaften bald das, bald jenes [tun]“. Die Ausführungen enthalten eine negative Bewertung dieses Verhaltens und fungieren zugleich als Argument für die These, dass man gegen diese „Vergänglichkeit“ etwas unternehmen könne und solle.
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diese allgemeinen Überlegungen zur Überwindung der vergeblichen Aktualität als fragwürdig erscheinen lassen (vgl. MoE 871f., 873f.).334 Es gilt nun noch genauer zu untersuchen, wie Ulrichs Denkprozess als psychischer Vorgang entworfen wird, oder genauer: als ein Vorgang, an dem Denken, sinnliche Wahrnehmung, Gefühle und körperliche Bewegung beteiligt sind. Denn Ulrich gelangt nicht zu einer klareren Artikulation seiner Gefühle, Wünsche und Überzeugungen, indem er sich nur in sich selbst versenkte oder in sich hineinhorchte; er unterhält sich mit Fräulein Strastil, mustert vorbeifahrende Straßenbahnen und nimmt auf dem Gang durch die Stadt aufmerksam die Passanten, ihre Kleider, die Details in Schaufensterauslagen und hinter Gasthausfenstern wahr. Sein Denkvorgang ist durch ein Wechselspiel zwischen konzentrierter Steuerung und Kontrollverzicht gekennzeichnet, zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften. Seine Aufmerksamkeit ist die meiste Zeit über geteilt, sie richtet sich zum Teil auf seine Gedanken und die ihn beschäftigenden Fragen und Probleme, zum Teil aber auch auf seine äußere Umgebung. Dass er also keineswegs Augen und Ohren zu verschließen sucht, sondern für die von außen kommenden Reize aller Art empfänglich ist, führt dazu, dass mehrfach diese äußeren Eindrücke auf seinen Gedankengang einwirken oder ihn ablenken; an einigen Stellen sucht er sogar bewusst eine solche Ablenkung. Das Entscheidende ist aber, dass diese Ablenkungen sich stets nur als scheinbare Ablenkungen erweisen; das Gespräch mit Fräulein Strastil, der Anblick der Straßenbahnen, die Passanten und Schaufenster mit ihrem „Blumengarten aus Früchten, Edelsteinen, Stoffen, Formen und Verlockungen“, schließlich die Frau, deren Blick mit dem seinen ‘zusammenstößt’ und der er „mechanisch“ folgt – sie alle wirken auf den Verlauf von Ulrichs Gedankengang ein, doch obwohl es sich um zufällige Einflüsse handelt, die sich zum Inhalt von Ulrichs Gedanken rein äußerlich oder kontingent verhalten, unterbrechen sie Ulrichs Hauptgedankengang nicht dauerhaft oder lenken ihn nicht in eine gänzlich andere Richtung, sondern werden in ihn integriert. Das Gespräch mit Fräulein Strastil und die Wahrnehmung einer Zeitungsüberschrift führen dazu, dass Ulrichs Gedanken ins richtige ‘Gleis’ springen; der Anblick der Straßenbahnen regt ihn zu Nebengedanken an, die sich aber kurz darauf an seinen „Hauptgedankenzug“ anschließen (MoE 869); der urbane „Blumengarten aus Früchten, Edelsteinen, Stoffen, Formen und Verlockungen“ (MoE 873), bewirkt bei Ulrich schließlich eine ‘Sättigung’, die wiederum dazu führt, dass sein „gegnerischer früherer Zustand wieder _____________ 334 Legt man die von Eggs vorgeschlagene Klassifikation von Argumentationsarten zugrunde, so wären die Argumentationen, die Ulrich hier entwickelt, teilweise als deontische (Thesen des Typs ‘Wir sollten T tun’), teilweise als ethische (Thesen des Typs ‘T ist gut’) einzuordnen. Vgl. Eggs, Vertextungsmuster Argumentation, S. 398f.
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entst[eht]“ und dass er die „Schwäche seiner Überlegungen“ genau lokalisieren kann. Die Frau mit dem frechen Blick, der Ulrich „mechanisch“ folgt, beeinflusst indirekt seine Gedanken über Agathe und über seine Gefühle ihr gegenüber; er registriert die Mischung von sexuellem „Verlangen“ und „Abneigung“, die der Anblick der Frau in ihm weckt, und verwendet diese kurz darauf als Kontrast, von dem er das Wesen seiner Gefühle für Agathe sowie das Ideal einer „seraphische[n] Liebe“ abgrenzt (vgl. MoE 877f.). Diese scheinbaren Ablenkungen, die durch die Empfänglichkeit von Körper und Sinnen für äußere Reize verschiedener Art verursacht werden, können also von Ulrich ‘sinnvoll’ in seinen Hauptgedankengang integriert werden, sie finden einen Ort in diesem Denkvorgang, der der Artikulation seiner eigenen Gefühle, Wünsche und Überzeugungen dient; das aber zeigt, dass diese Reaktionen der Sinne und des Körpers keine beliebigen, zufälligen oder chaotischen Impulse waren, sondern jeweils der Ausdruck von Tendenzen, die auch ein Teil von Ulrichs Person sind und von ihm entsprechend eingeordnet werden. Indem Ulrich diese momentanen Ablenkungen wieder in den Hauptgedankengang zurückführt, die in ihnen zutage tretenden Tendenzen als solche wahrnimmt und einordnet, setzt er ihrem partialen Eigensinn etwas wie eine zentripetale Kraft entgegen. Wie er in seinem Gedankengang seine gegensätzlichen Veranlagungen von „Gewalt“ und „Liebe“ beide zum Ausdruck bringt, aber auf den Konflikt dieser Neigungen reflektiert und bewusst der einen von ihnen den Vorzug gibt, so überlässt er sich zeitweilig und teilweise sinnlichen Bedürfnissen, Neigungen oder Begierden335, reflektiert aber auch auf diese, nimmt sie bewusst wahr und fügt sie in seine Artikulationsbemühungen ein. Man kann einen Großteil dessen, was hier über Ulrichs Denkweise in diesem Kapitel gesagt wurde, in der Feststellung zusammenfassen, dass Ulrich in den hier erzählten Denkprozess als ‘ganzer Mensch’ involviert ist. Er ist mit seinen leidenschaftlichen und ‘tiefen’ Wünschen wie mit seiner sinnlichen Wahrnehmung an diesem Denkvorgang beteiligt, mit seinen geistigen Veranlagungen wie mit seiner Empfänglichkeit für die _____________ 335 In diesem Zusammenhang ist auch beachtenswert, dass in diesem Kapitel an zwei Stellen Ausdrücke wie ‘Hunger’ und ‘sättigen’ als Metaphern gebraucht werden; vgl. MoE 864 (Ulrich „stillte seinen Hunger nach Bürgerlichkeit an den Bekanntmachungen und Anzeigen“), 872f. (Ulrich gibt sich dem Anblick des Straßenbetriebs „mit einem Behagen hin, als wäre es die letzte Mahlzeit vom Tisch des Lebens, die ihm seine Absichten gestatteten“; Ulrich „sättigte“ sich „an der Welt“). Diese Metaphern deuten die Bedürfnisse und Wünsche, die Ulrich in diesen Momenten empfindet, als elementare, physiologisch verankerte Bedürfnisse und wirken so als Indiz dafür, dass auch die elementaren körperlichen Funktionen Ulrichs Verhalten auf seinem Weg durch die Stadt mit bestimmen und den Verlauf seiner Überlegungen beeinflussen (da die Wahrnehmungen, mittels derer Ulrich seinen Hunger stillt, ihn zu bestimmten Gedanken führen).
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Reize der urbanen Straßenszenerie und mit seinem Begehren. Dass Ulrich als ‘ganzer’ Mensch in seinen Denkvorgang involviert ist, soll auch besagen, dass sein komplexes Tun und Erleben durch etwas wie ein Zentrum zusammengehalten wird und dass seine verschiedenen Funktionen, Vermögen und Veranlagungen diesem Zentrum gegenüber nicht als dissoziierte Einzelinstanzen oder zentrifugale Kräfte erscheinen; dieses Zentrum besteht, wie oben dargelegt wurde, vor allem in Ulrichs Empfindung eines Auf-etwas-Hinauswollens seiner Gedanken, in seinem Bestreben, diesem inneren Impetus zu folgen und ihn zur Klarheit zu bringen, sowie in der inneren Anspannung, welche mit diesem Bestreben einhergeht. Es stellt sich heraus, dass sich in diesem inneren Impetus sein Wunsch äußert, zusammen mit Agathe ein Leben im anderen Zustand der Liebe zu versuchen; letztlich ist also dieser Wunsch das Zentrum, welches die komplexen Interaktionen von Intellekt, sinnlicher Wahrnehmung, Gefühl, Aufmerksamkeit, Wille und Begehren zusammenhält und ihnen eine Richtung gibt. In einem späteren Gespräch mit Agathe wird Ulrich beklagen, dass in der Gegenwart die „perzentuelle Beteiligung des Menschen an seinen Erlebnissen und Taten“ „erschreckend gering“ sei, dass die Gegenwartsmenschen sich durch eine „Unabhängigkeit und Beweglichkeit in allem“ auszeichnen, eine „Souveränität der treibenden Teile und der Teilantriebe“, welche im Grunde nichts anderes sei „als eine Schwäche des Ganzen gegenüber seinen Teilen“ (MoE 906f.). Nutzt man diese Ausdrücke Ulrichs zur Charakterisierung seiner Denkweise im Kapitel II.22, so kann man festhalten, dass seine „perzentuelle Beteiligung“ an dem dort erzählten Denkvorgang sehr hoch ist und dass seine „treibenden Teile“ und „Teilantriebe“ dort zwar aktiv zu sein scheinen, aber nicht als souverän und autonom auftreten, sondern in ihrem Wirken auf ein Zentrum hin orientiert sind; insofern sind Ulrichs Zustand und seine Denkweise in diesem Kapitel nicht durch eine „Schwäche des Ganzen gegenüber seinen Teilen“ gekennzeichnet. 3.7.4 Fazit Ulrichs Denkweise wandelt sich im Laufe seines Urlaubsjahres, und diese Veränderung ist Teil oder Manifestation der umfassenderen inneren Entwicklung, die sich in ihm während dieses Zeitraums vollzieht. Diese umfassendere Entwicklung kann man zunächst allgemein als ein Wiedererwachen und zunehmendes Hervortreten der „Liebe“-Seite seines Wesens beschreiben; er selbst nimmt diese Veränderung zuerst als ein ‘Erweichen’ und Nachgeben seiner „innere[n] Form“ wahr (MoE 567). In seinen Reflexionen manifestiert sich dieser allmähliche Wandel zum einen darin,
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dass sich in ihnen eine bestimmte Art von Gefühlen und Wünschen immer häufiger und stärker zur Geltung bringt, insbesondere ein Gefühl der Unzufriedenheit mit seinem Leben, das sich in erster Linie an der mangelnden ‘Notwendigkeit’, Wahrhaftigkeit oder Authentizität dieses Lebens, seiner rein negativ definierten Freiheit und dem Fehlen einer positiven Orientierung entfacht.336 Letztlich handelt es sich dabei um wiederholte, stärker und deutlicher werdende Äußerungen jener Unzufriedenheit, die Ulrich zum Abbruch seiner Mathematiker-Laufbahn und zum Einschieben eines Urlaubsjahrs bewogen hat. Zum anderen und vor allem tritt die Veränderung seiner inneren Verfassung darin zutage, dass er in seinen Reflexionen mit diesen Gefühlen und mit seinen Gefühlen überhaupt auf eine neue Weise umgeht. Ulrich zeigt in allen Abschnitten des Urlaubsjahrs die Neigung, seine eigenen Erfahrungen als Ausformungen weitverbreiteter Phänomene zu betrachten, sie unter ad hoc entwickelte, umfassende Theorien zu subsumieren und sich im weiteren Verlauf der Reflexionen nur auf dieser allgemeinen und unpersönlichen Ebene zu bewegen. Zu Beginn des Urlaubsjahrs aber dominiert diese Neigung fast uneingeschränkt seine Gedankengänge, während sie in den späteren Phasen zunehmend durch eine entgegengesetzte Tendenz konterkariert wird. Wo er noch seiner Neigung zum Denken in umfassenden und überindividuellen Dimensionen folgt, da nutzt er die aus Verallgemeinerungen seiner eigenen Erfahrungen gewonnenen Theorien oder Hypothesen häufig dazu, größere historische Prozesse und kulturelle Erscheinungen – und zwar fast ausschließlich Missstände und defizitäre Entwicklungen – unter einem neuen Gesichtspunkt zu beschreiben und Erklärungen für sie zu entwerfen; auf diese Erklärungen lässt er in vielen Fällen Überlegungen dazu folgen, wie die herausgestellten Ursachen der Übel vermieden und die schlechten Zustände behoben werden können. Dieses Muster wird besonders deutlich in Ulrichs Reflexionen über die Konfrontation zwischen jungen Menschen und den ‘erstarrten Wänden’ der Welt in Kapitel I.34 realisiert, nur dass Ulrich dort nicht beginnt, Vorschläge für eine Bekämpfung des beschriebenen Übels zu entwickeln. Auch im Kapitel I.116 schließt Ulrich an seine Einsichten über die zwei ‘Bäume’ seines Lebens sogleich die Feststellung an, dass diese zwei Bäume den zwei menschlichen „Grundverhaltensweisen“ (MoE 593) des Gleichnisses und der Eindeutigkeit entsprechen, um aus diesen Konzepten dann eine Erklärung für einen Grundzug _____________ 336 Vgl. MoE 128f. (Ulrichs Wahrnehmung der mangelnden Authentizität seines Lebens); MoE 153-155 (Traurigkeit aufgrund der Bindungslosigkeit und Unentschiedenheit seiner Existenz); MoE 265 (Ulrichs Wunsch, etwas zu haben, wovon er sich ‘binden lassen möchte’), MoE 593 (das mangelnde Gefühl der Notwendigkeit); MoE 653 (Wunsch nach einer definitiven Entscheidung); MoE 738 (Sehnsucht nach ‘gültigen’ Erlebnissen).
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der modernen Kultur zu entwickeln, nämlich für ihre „Verehrung des Gemeinen“ (MoE 594); von dieser Erklärung gelangt Ulrich dann zur Forderung nach einem „Erdensekretariat für Genauigkeit und Seele“ (MoE 597), das dem unbefriedigenden Zustand abhelfen soll. Der im „Heimweg“-Kapitel entfaltete Gedankengang ist ebenfalls streckenweise durch eine generalisierende Tendenz geprägt (vgl. MoE 647-650), und auch im Kapitel II.22 gibt Ulrich seinen Reflexionen über das Thema des Gefühls zunächst eine betont allgemeine Wendung und stellt eine These auf, die eine „Verkehrtheit“ von geradezu „menschheitlichen Ausmaßen“ (MoE 869) zu erklären verspricht; auch hier geht die Erklärung der „Verkehrtheit“ in die Forderung nach Korrekturmaßnahmen über, in eine „strenge Auffassung und Aufgabensetzung für die harmlose Beschäftigung des Fühlens“ (ebd.). Aber in diesem Kapitel (II.22) regt sich schließlich in Ulrich selbst ein Widerstand gegen das allgemeine und theoretische Nachdenken über dieses Thema, und er versucht statt dessen ausdrücklich, sich über seine persönlichen Gefühle, Wünsche und Überzeugungen klar zu werden. Zu diesem Zweck ruft er sich frühere Erlebnisse in Erinnerung, die mit ähnlichen Gefühlen verbunden waren (insbesondere die ‘Geschichte mit der Frau Major’), und stellt sich mögliche Formen des Zusammenlebens mit Agathe vor, um herauszufinden, was genau sich in seinem Wunsch verbirgt, mit Agathe ins ‘Tausendjährige Reich’ einzuziehen. Diese Art, mit seinen Gefühlen umzugehen, unterscheidet sich somit fundamental von der Subsumtion unter allgemeine, als überindividuell gültig betrachtete Theorien oder Gesetzesannahmen. Um sich über die tieferen Gründe der Unzufriedenheit mit seinem Leben klar zu werden, die seinen Entschluss zu dem Urlaubsjahr veranlasst hat, muss Ulrich erstens dieses Gefühl der Unzufriedenheit als ein individuelles oder persönliches Phänomen auffassen und zweitens bereit und in der Lage sein, es zu Abschnitten oder Episoden seines Lebens in Beziehung zu setzen, die Aufschluss über Natur und Bedeutung dieses Gefühls geben können. Dieses zweite Erfordernis tritt ex negativo im Kapitel I.40 zutage, als Ulrich noch relativ zu Beginn seines Urlaubsjahrs doch einmal Anstalten macht, die Gefühle der Enttäuschung, Traurigkeit und Bitterkeit, die seine aktuelle Lebenssituation in ihm hervorruft, als ein individuelles Phänomen zu betrachten und auf seine Biographie und seine Veranlagungen zurückzuführen (vgl. MoE 153, 155). Die Erklärungsansätze, die er hier entwickelt, können zumindest dem Leser als inkonsistent und folglich wenig überzeugend erscheinen; sie scheinen auch Ulrich nicht den Eindruck zu geben, sein Leben und seine gegenwärtige Situation erheblich besser verstanden zu haben, sondern lassen ihn in einem unklaren, aus Resignation, Schmerz und kämpferischem Zorn gemischten Zustand
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
zurück. Im Kapitel I.116 hingegen führt er die Unzufriedenheit, die seinen Abschied vom Mathematiker-Beruf herbeigeführt hat, auf das ‘unterirdische’ Wirken der „Liebe“-Hälfte seines Wesens zurück (vgl. MoE 592f.). Um aber zu der Einsicht zu kommen, dass es in ihm diese ‘sanfte Schattenseite’ gibt, musste er zunächst seine Kindheit und die „leider etwas lächerliche“ (MoE 592) Geschichte mit der Frau Major als Teile seines Lebens und als Äußerungen einer Seite seines Wesens akzeptieren. Dass er dies mittlerweile getan hat, deutete sich vor allem dadurch an, dass er in seinen Unterhaltungen mit Gerda und Hans Sepp beziehungsweise mit Diotima von der Geschichte seiner jugendlichen Liebe und von seiner Kindheit gesprochen hat (vgl. MoE 550, 558f., 575). Ulrichs Reflexionen aus der Anfangsphase seines Urlaubsjahrs, so eine zentrale These der hier entwickelten Interpretation, werden großenteils als Denkprozesse präsentiert, die bestimmte Defizite aufweisen; diese Defizite können zusammenfassend als eine einseitige Dominanz der „Gewalt“Seite und als eine ungenügende Artikulation der „Liebe“-Seite von Ulrichs Wesen beschrieben werden. Sowohl die Neigung zum verallgemeinernden und unpersönlichen Umgang mit seinen eigenen Gefühlen und Erfahrungen als auch sein Widerwillen dagegen, sich an die Geschichte mit der Frau Major zu erinnern und sie als Hinweis auf eine Seite seines Wesens zu betrachten, sind als Ausdrucksformen der „Gewalt“-Hälfte Ulrichs aufzufassen. Das heißt aber nicht, dass Ulrichs Denken zu diesem Zeitpunkt nur als Symptom einer inneren Krise erscheint und ausschließlich in negativen Begriffen beschrieben werden kann. Eine solche Einschätzung wäre in mehrfacher Hinsicht unangemessen. Oben wurde darauf hingewiesen, dass Ulrich die allgemein formulierten Thesen oder Theorieansätze, unter die er seine eigenen Erfahrungen gerne subsumiert, häufig nutzt, um historische Prozesse und kulturelle Erscheinungen, insbesondere Missstände und problematische Entwicklungen, unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu beschreiben und Erklärungen für sie zu entwerfen. Der Wert dieser Gegenwartsdiagnosen und Erklärungen als solcher ist offensichtlich unabhängig davon, ob Ulrich mit diesen Reflexionen seiner eigenen individuellen Situation gerecht wird: Die Überlegungen zu Sozialisations- und Entfremdungsprozessen, die Ulrich in Kapitel I.34 entfaltet, und die Erklärung für die ewige „Renoviersucht des Daseins“, die er aus ihnen gewinnt (MoE 132), können als plausibel und fruchtbar bewertet werden, auch wenn er mit ihnen der Aufklärung seiner eigenen aktuellen Verfassung kaum näher gekommen ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass es Ulrich in den Reflexionen der Kapitel I.34, I.39 und I.40 zwar noch nicht gelingt, sich über die Bedeutung der Gefühle klar zu werden, die er später als Äußerungen seiner „Liebe“-Seite begreifen wird, dass er aber gleich-
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wohl an Selbsterkenntnis oder an innerer ‘Artikuliertheit’ gewinnt, indem er sich Überzeugungen, Haltungen und Ambitionen in Erinnerung ruft, die für sein bisheriges Leben leitend waren, und die Gründe rekapituliert, auf denen sie beruhten. Dabei handelt es sich um seine Auffassung, dass eine sachliche und allgemeine Haltung gegenüber den eigenen Erlebnissen und Eigenschaften unter den Bedingungen der Moderne angemessen sei (vgl. MoE 149f.), sowie um seine Ambition, ein „Fürst und Herr des Geistes“ zu werden (MoE 152), also um Einstellungen und Absichten, die seiner „Gewalt“-Seite zugeordnet werden können. Schließlich ist bei der Bewertung von Ulrichs Reflexionen dieser Phase auch zu bedenken, dass er dort, wo er zu einem kritischen Urteil über sein bisheriges Leben kommt (vgl. vor allem MoE 153-155), nicht den Versuch unternimmt, dieses Urteil nachträglich umzudeuten und mithilfe einer ‘Bilanzfälschung’ sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Diese Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber und die Bereitschaft zur Selbstkritik verbinden ihn mit Agathe und trennen ihn von Arnheim und Hagauer. In mehreren Interpretationen zum Mann ohne Eigenschaften begegnet man der Auffassung, Ulrichs Reflexionen hätten durchgehend oder größtenteils den Charakter von Experimenten, in denen er neue Möglichkeiten des Lebens, Handelns oder Denkens erfindet und erprobt; diese Einschätzung ist meist verbunden mit einer Deutung Ulrichs, die diesen in erster Linie als einen Menschen des Möglichkeitssinns oder des Essayismus betrachtet.337 Die Analysen dieses Kapitels haben ergeben, dass solche Charakterisierungen der Reflexionen Ulrichs zwar nicht verfehlt, aber doch einseitig sind und dementsprechend relativiert werden müssen. Diese Reflexionen enthalten zwar auch Beispiele für ein solches Entwerfen und Durchspielen von alternativen Möglichkeiten des Lebens und Handelns, aber ein Großteil der in den veröffentlichten Romanteilen dargestellten Denkprozesse Ulrichs ist nicht durch Strukturen des Erfindens und Experimentierens geprägt, sondern zielt auf Selbsterkenntnis; das heißt, diese Denkvorgänge sind vor allem durch Ulrichs Wunsch be-
_____________ 337 So etwa in Wolfdietrich Raschs grundlegender Interpretation, wo es heißt: „Ulrich führt ein radikal reflektierendes Dasein, seine Existenz besteht in Reflexion, in unaufhörlichen gedanklichen Experimenten.“ (Wolfdietrich Rasch, ‘Der Mann ohne Eigenschaften’. Eine Interpretation des Romans. In: Renate von Heydebrand [Hg.], Robert Musil. Darmstadt 1982, S. 54-119, Zitat S. 58; vgl. zu Ulrichs experimentierender Denkweise, seinem Möglichkeitssinn und seinem Utopismus auch: ebd., S. 59, 62, 77.) – Eine ähnliche Einschätzung von Ulrich und seiner Denkweise findet sich auch bei: Albrecht Schöne, Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil. In: Ebd., S. 19-53, hierzu vor allem S. 24-27. Vgl. ferner: Vatan, Robert Musil et la question anthropologique, S. 249f.; Peter Bürger, Prosa der Moderne. Unter Mitarbeit von Christa Bürger. Frankfurt/M. 1988, S. 423f., 432.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
stimmt, sich selbst, seine Gefühle und Wünsche besser zu verstehen.338 Zu den Gefühlen, über deren Gründe und Bedeutung er sich klar zu werden versucht, gehört an erster Stelle die vage Unzufriedenheit, die ihn zum Abbruch seiner Tätigkeit als Mathematiker und zu dem Antritt des Urlaubsjahrs veranlasst hat. Aber auch die Teile seiner Gedankengänge, die nicht oder nur indirekt der Aufklärung seiner eigenen inneren Verfassung dienen, werden in den meisten Fällen durch die Begriffe des Experiments oder des Möglichkeitsdenkens nicht angemessen charakterisiert, da sie vor allem Erklärungen für gesellschaftliche Zustände oder historische Prozesse skizzieren; diese Überlegungen können insofern kaum als ein gedankliches Experimentieren, aber als ein Entwerfen von (Erklärungs-)Hypothesen beschrieben werden. Die Interpretationen, die Ulrich als eine Verkörperung des Möglichkeitssinns und seine Reflexionen allein als ein Durchführen von Denkexperimenten darstellen, scheinen häufig zu übersehen, dass das Konzept des Möglichkeitssinns ebenso wie das des Essayismus von Ulrich in einer Phase seines Lebens entwickelt wurde, die bei Beginn der Romanhandlung beziehungsweise des Urlaubsjahrs schon einige Zeit zurück liegt und deren leitende Prinzipien und Ideale ihm aus der Distanz zunehmend als einseitig erscheinen.339 In der Reflexion über die beiden Bäume seines Lebens deutet er die Konzepte des Möglichkeitssinns und des Essayismus ausdrücklich als Äußerungen seiner „Gewalt“-Seite und schränkt damit ihre Gültigkeit ein (vgl. MoE 592). Seine Neigung zum Möglichkeitsdenken, zum Erfinden und Experimentieren verschwindet wohlgemerkt niemals, sondern bringt sich auch noch in seinem Urlaubsjahr zur Geltung, aber das geschieht hauptsächlich in seinen Gesprächen mit Diotima und Walter, nicht in seinen einsamen Reflexionen. So werden auch die utopisch gefärbten Forderungen, man solle Ideengeschichte statt Weltgeschichte leben oder so leben wie eine Gestalt in einem Buch, die Ulrich später ebenfalls als Äußerungen der „Gewalt“-Häfte einordnet, von ihm in Gesprächen mit Walter und Diotima formuliert (vgl. MoE 364f., 573f., 592).
_____________ 338 Vgl. bereits die in eine ähnliche Richtung zielenden Bemerkungen bei: Böhme, Theoretische Probleme, S. 146-149. Böhme weist vor allem darauf hin, dass Ulrichs Gedankengänge sich zu einem großen Teil der „lebensgeschichtliche[n] Selbstreflexion“ (ebd., S. 149) widmen. 339 Auch Böhme nimmt an, dass Ulrich die Utopie des Essayismus während seines Urlaubsjahrs entwickelt, und kommt so zu der Auffassung, dass auch in Ulrichs Utopien „lebensgeschichtliche Selbstreflexion“ eingehe (ebd., S. 149). – Vgl. zur ‘Datierung’ von Ulrichs Entwurf der Essayismus-Utopie die Bemerkungen oben, S. 235 dieser Arbeit.
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3.8. Zusammenfassung. Das Verhältnis von Theorie und literarischer Gestaltung Dieses Kapitel sollte vor allem herausarbeiten, inwiefern die narrativen Darstellungen von Denkprozessen im Mann ohne Eigenschaften durch Musils theoretische Konzeption des Denkens geprägt sind. Es hat sich gezeigt, dass hier tatsächlich eine enge Beziehung besteht; viele Merkmale der erzählten Denkvorgänge lassen sich sinnvoll im Lichte von Musils Begriffen des Nicht-Ratioïden, des seelischen Gleichgewichts und der Grundhaltungen von Gewalt und Liebe interpretieren. Diese erzählten Denkprozesse sind fast ausschließlich Beispiele für nicht-ratioïdes Denken in Musils Sinne; sie befassen sich mit Gegenständen wie Gefühlen, Wünschen und Motiven von Personen, mit Fragen der Moral und Phänomenen wie der Angst junger Menschen vor einem Leben, das sie ‘nicht innerlich angeht’. Mit der nicht-ratioïden Natur der meisten Gegenstände dieser Denkprozesse stimmt es zusammen, dass viele von ihnen durch eine Beunruhigung des seelischen Gleichgewichts angestoßen werden und der Wiederherstellung eines solchen Gleichgewichts dienen; denn was Musil zufolge dieses Gleichgewicht des Menschen konstituieren und stabilisieren kann, sind, so wurde in dem Untersuchungsteil zu Musils theoretischen Konzepten argumentiert, nicht-ratioïde Gedanken. Schließlich lässt die narrative Darbietung der Denkvorgänge Ulrichs deutlich die Absicht erkennen, das sich wandelnde Kräfteverhältnis zwischen seiner „Gewalt“und der „Liebe“-Seite auch in der allmählichen Veränderung seiner Denkweise deutlich zu machen. Für nicht-ratioïde Gedanken ist Musil zufolge kennzeichnend, dass sie mit Gefühlen verbunden sind oder sich mit ihnen verbinden können. Auch die im Roman dargestellten Denkprozesse sind großenteils mit Gefühlen verwoben. Das Verhältnis zwischen Gedanken und Gefühlen, wie es dort präsentiert wird, kann man in etwas zugespitzter und vereinfachender Weise so zusammenfassen: Gefühle bilden zum einen häufig den Anstoß zu Gedankengängen, insbesondere zu Gedankengängen, die auf eine Deutung oder Erklärung dieser Gefühle zielen; und Gefühle übernehmen zum anderen die Funktion der Bewertung von Gedanken. Es ist Arnheims Ärger über Ulrich, der im Kapitel I.112 seine Überlegungen in Gang setzt, und die verschiedenen Beschreibungen und Deutungen dieses Ärgers, die er nacheinander entwirft, rufen Gefühlsreaktionen in ihm hervor. Die Deutung, bei der er schließlich bleibt, hat in ihm ein „sehr starkes und zugleich wohltuendes Gefühl“ ausgelöst (MoE 547). Auch in Ulrichs Reflexionen im Kapitel II.22 zeigt sich diese evaluative Funktion der Gefühle sehr deutlich; in der Anfangsphase dieser Überlegungen fühlt er, dass seine Gedanken noch nicht das sind, worauf er eigentlich hinauswill
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
(vgl. MoE 866), und als er später über das Zusammenleben mit Agathe und „die Möglichkeit und Bedeutung einer anderen Art zu leben“ nachdenkt, lässt sich sein „Gefühl“ darauf ein wie auf eine sichere, lange erwartete Tatsache (MoE 875). Diese Bemerkungen über die im Roman vorgeführte Interaktion von Gedanken und Gefühlen deuten an, weshalb es nur bedingt angemessen wäre, die literarischen Darstellungen des Denkens in Musils Roman als eine narrative ‘Umsetzung’ von Musils theoretischer Konzeption zu beschreiben. Zum einen ist zu betonen, dass die Art und Weise, wie im Roman Denkprozesse dargestellt werden, nicht direkt aus den theoretischen Konzepten ableitbar wäre. Vielmehr sind für die erzählten Denkvorgänge eine Reihe von Merkmalen charakteristisch, die mit Musils theoretischer Konzeption kompatibel sind, ohne aber in ihr schon angelegt zu sein oder zwingend aus ihr zu folgen. Das gilt etwa für die Gestaltung der Anfangsphasen der Denkvorgänge, die sich in den Analysen als typisch für Musils Roman herausgestellt hat: Den Ausgangspunkt der Überlegungen, so wurde festgestellt, bildet so gut wie immer nicht ein klar formuliertes Problem oder eine präzise Frage, sondern ein vager oder diffuser, meist unangenehmer Gefühlszustand einer Figur, der mit dem Gedanken an eine Person oder Situation verbunden ist und der dazu führt, dass die Figur ihre Gedanken in zunächst ungerichteter Weise um die betreffende Person oder Situation kreisen lässt, bis sich allmählich das vage, unangenehme Gefühl zu einem schärfer umrissenen Problem oder einer Frage verdichtet. Diese spezifische Dynamik der Denkvorgänge, die von Musil mit beträchtlicher Sorgfalt gestaltet worden zu sein scheint, ist vereinbar mit seinen theoretischen Annahmen über das nicht-ratioïde Denken, ohne aber in ihnen impliziert zu sein. Insofern entwerfen die Darstellungen von Denkprozessen im Roman ein detaillierteres und präziseres Bild vom nicht-ratioïden Denken, als es Musils theoretische Erörterungen dieses Denkens in den Essays tun. Man könnte auch noch etwas weiter gehen und die Ansicht vertreten, dass einige Aspekte von Musils theoretischer Konzeption, die in den Essays eher vage und teilweise schwer verständlich formuliert werden, sich mithilfe der literarischen Darstellungen des Denkens im Roman präzisieren und besser greifbar machen lassen. Dies ließe sich insbesondere für den oben bereits angesprochenen Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Gedanken und Gefühlen behaupten. Die in Musils Essays enthaltenen Aussagen über die für das nicht-ratioïde Denken konstitutive Verbindung zwischen Gedanken und Gefühlen sind zwar nicht geradezu unverständlich, aber bleiben doch relativ unbestimmt und vage im Hinblick darauf, worin diese Verschränkung von Gedanke und Gefühl besteht, sofern sie über ein bloßes Zugleich oder Nebeneinander von beiden
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hinausgeht.340 In den erzählten Denkvorgängen des Romans dagegen wird häufig sehr präzise eine Interaktion zwischen Gefühl und Gedanken vorgeführt, wie in den Analysen ausführlich dargelegt und eben noch einmal zusammengefasst wurde: Gefühlszustände fungieren hier häufig als Initialmomente von Gedankengängen, die diese Gefühle genauer zu bestimmen, zu deuten oder zu erklären suchen; diese Gedanken wiederum können auf verschiedene Weisen auf die Gefühle zurückwirken. In einem Artikel über Franz Blei bezeichnet Musil einmal als „das Ziel des Essayisten“ die „Artikulation des Gefühls durch den Verstand“341; sein Roman macht deutlich, wie eine solche Artikulation aussehen kann. Wie im 2. Abschnitt dieses Untersuchungsteils dargelegt wurde, hat Musil in Essays und Notizen verschiedene Funktionen und Ziele umrissen, denen literarische Darstellungen von Denkvorgängen dienen können. Fragt man nun, welche dieser Zielsetzungen für die Gestaltung der Figurenreflexionen im Mann ohne Eigenschaften leitend war, so ist zunächst an jene Aufgabe zu erinnern, die Musil in dem Essay „Das hilflose Europa“ der Literatur seiner Zeit stellte: die Aufgabe, die „Gefühls- und Ideenwelt“ zu analysieren und zu ordnen, eine „Übersicht der Gründe, der Verknüpfungen, der Einschränkungen, der fließenden Bedeutungen menschlicher Motive und Handlungen, – eine Auslegung des Lebens“ anzufertigen.342 Diese Aufgabe, wie Musil sie entwarf, besaß zum einen eine gegenwartsdiagnostische Dimension, zum anderen eine im weiten Sinne anthropologische. Die gegenwartsdiagnostische Seite des Vorhabens lief auf die Absicht hinaus, die herrschenden Ideologien, Weltanschauungen oder Geisteshaltungen der Zeit darzustellen und auf ihre grundlegenden Motive und Antriebe hin zu durchleuchten. Diese Intention Musils überschnitt sich nicht nur mit den Zielen, denen Hermann Broch und Thomas Mann ihre Epochenromane Die Schlafwandler und Der Zauberberg widmeten, sondern ähnelte auch zentralen Anliegen der Weltanschauungsforschung, wie sie etwa Dilthey entwickelte.343 Die Figuren Arnheims und Hagauers, die jeweils leicht erkennbare reale Vorbilder besitzen, wurden von Musil offensichtlich als Repräsentanten zeitgenössischer Ideologien oder Weltanschauungen entworfen. Die Darstellungen ihrer Denkprozesse erfüllen _____________ 340 Vgl. Musil, Über Robert Musil’s Bücher. In: GW 8, S. 995-1001, hier S. 1000f.; ders., Geist und Erfahrung, in: ebd., S. 1049-1051; ders., Skizze der Erkenntnis, in: ebd., S. 1028. – In manchen Fällen kommt eine gewisse Vagheit oder Unklarheit der Aussagen durch die stark metaphorische Ausdrucksweise zustande; so etwa, wenn Musil feststellt, die Gedanken eines Essays säßen „unablösbar in einem Mutterboden fest aus Gefühl, Willen, persönlichen Erfahrungen [...]“ (ders., Essaybücher, in: GW 9, S. 1450). 341 Ders., Franz Blei, in: GW 8, S. 1024. 342 Ders., Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094. 343 Vgl. Thomé, Weltanschauungsliteratur; zur Weltanschauungsforschung vgl. ebd., S. 341345; zu den Parallelen zum Mann ohne Eigenschaften und zum Zauberberg ebd., S. 366f.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
vor allem eine entlarvende Funktion,344 indem sie zeigen, dass die Glaubenssätze, Schlagwörter und Phrasen, die für Arnheims und Hagauers geistige Haltungen konstitutiv sind, ihnen in erster Linie zur Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts und des Selbstwertgefühls dienen. Aber auch Ulrich ist von Musil als eine repräsentative Figur angelegt worden; die Wiedergabe seiner Denkprozesse zielt freilich nicht auf Entlarvung, sondern soll zeittypische Haltungen und Bestrebungen auf die ihnen zugrunde liegenden Antriebe hin durchsichtig machen und wohl auch den Grad ihrer Berechtigung oder Gültigkeit andeuten. Aber die narrative Ausstellung der Figurenreflexionen im Mann ohne Eigenschaften ist nicht ausschließlich dem Projekt eines Epochenporträts verpflichtet, sondern verweist auch auf die anthropologische Seite von Musils Vorhaben, die ‘Gefühls- und Ideenwelt’ zu analysieren und eine ‘Auslegung des Lebens’ zu entwickeln. Agathe etwa erscheint nicht als Verkörperung einer zeitgenössischen Ideologie, und die Darstellungen ihrer Denkprozesse lassen sich in erster Linie auf die anthropologischen Absichten Musils zu beziehen. Dabei scheint eine zentrale Intention Musils darin bestanden zu haben, die spezifischen Merkmale von Denkvorgängen herauszustellen, in denen der Mensch sich über die Bedeutung seiner Gefühle und über die Richtung seiner Wünsche klar zu werden und Fragen des Typs ‘Was soll ich tun?’ zu beantworten sucht. In dieser Hinsicht ist die ironische Schilderung von Hagauers Rekurs auf Professor Surways beziehungsweise John Deweys Theorie des Denkens besonders aufschlussreich. Hagauer nimmt zu dieser Theorie Zuflucht, als er über die Frage nachdenken muss, wie er auf Agathes Scheidungswunsch reagieren solle; die Episode legt den Schluss nahe, dass eine Theorie wie diejenige Deweys, die das Denken wesentlich als Mittel des Problemlösens auffasst, den spezifischen Anforderungen solcher Fragen nicht gerecht wird.345 _____________ 344 Zur Entlarvungspsychologie als einem zentralen Mittel der Kulturdiagnose im Mann ohne Eigenschaften vgl. zuletzt: Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose. 345 Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, können Musils literarische Darstellungen des Denkens als eine Auseinandersetzung mit Problemen betrachtet werden, die auch in jüngeren philosophischen Diskussionen über das ‘praktische Überlegen’ erörtert werden. Dieses Thema rückte in der Philosophie des angelsächsischen Raums wenige Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Musils Roman, seit den 1960er und 1970er Jahren, (wieder) in einen Brennpunkt des Interesses. Für eine Sammlung einschlägiger Diskussionsbeiträge, die zwischen 1962 und 1998 entstanden, vgl.: Elijah Millgram (Hg.), Varieties of Practical Reasoning. Cambridge (Mass.), London (Engl.) 2001. Die Behauptung, dass es zwischen Musils Roman und diesen philosophischen Diskussionen Berührungspunkte gebe, muss keinen Anachronismus darstellen. In den jüngeren philosophischen Diskussionen gilt als die Standardsicht auf das praktische Überlegen, als „the default view“, der Instrumentalismus (Elijah Millgram, Practical Reasoning: The Current State of Play. In: Ebd., S. 1-26, hier S. 4). Diese Position besagt: „you can reason about how to get what you want, but not about
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Das Vorhaben, eine ordnende Analyse der ‘Gefühls- und Ideenwelt’ durchzuführen, dürfte unter den Intentionen Musils, die für die Gestaltung der Figurenreflexionen leitend waren, die wichtigste oder dominante gewesen sein. Das impliziert die Annahme, dass auch die Darstellung der Reflexionen Ulrichs wesentlich durch die Absicht bestimmt war, an ihnen die Beziehungen zwischen Gefühlen, Gedanken, Grundhaltungen und Bedürfnissen hervortreten zu lassen – Beziehungen, die für den Leser teilweise aufgrund der narrativen Einbettung von Ulrichs Gedankengängen erkennbar werden, teilweise von diesem selbst in seinen Reflexionen aufgedeckt werden. Allerdings kommt man auch kaum um die Feststellung herum, dass viele der Überlegungen Ulrichs für Musil auch einen Eigenwert besessen haben dürften, insofern sie Perspektiven auf die Geschichte und die moderne Kultur entwarfen, die er für bedenkenswert und wichtig hielt.346 Diese Einschätzung drängt sich schon aufgrund der partiellen Übereinstimmungen zwischen einigen Gedankengängen Ulrichs und Passagen in Musils Essays auf.347 Somit kann man mit einer gewissen Zuspitzung sagen, dass Musil die Darstellung von Ulrichs Denkprozessen auch zur Fortsetzung seiner eigenen Essayistik nutzte. Allerdings bleibt hierbei zu bedenken, dass diese Überlegungen Ulrichs stets in einen narrativen Kontext und in einen Gang der fortschreitenden Selbstreflexion eingebunden sind und von ihnen aus vielfach eine Relativierung erfahren. _____________ what to want in the first place.“ (Ebd.) Man könnte die These formulieren, dass der Aufstieg dieser instrumentalistischen Sicht zum „default view“ in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann oder vorbereitet wurde, als nämlich in der Psychologie das Denken immer häufiger in instrumentalistischer Weise, als ein Problemlösen, aufgefasst wurde; Dewey wäre für diese Tendenz ein Beispiel. In Musils Bezugnahme auf Dewey und seinen Darstellungen von Denkprozessen insgesamt kann man Indizien für das Bestreben erkennen, auf die Spezifika von Denkvorgängen aufmerksam zu machen, in denen Personen sich darüber klar zu werden suchen, was sie wollen – und nicht darüber, wie sie bekommen können, was sie wollen. Im Übrigen stammte eine frühe und einschlägige Kritik am Instrumentalismus, der zuerst 1962 veröffentlichte Aufsatz „Deliberation Is of Ends“ (vgl. ebd., S. 259-278), von Aurel Kolnai, einem Philosophen, der in den 1920er Jahren in Wien studiert hatte und sich unter anderem an Husserl und Scheler orientierte. Vgl.: David Wiggins / Bernard Williams, Aurel Thomas Kolnai (1900-1973). In: Aurel Kolnai, Ethics, Value, and Reality. Selected Papers. London 1977, S ix-xxv. Für eine jüngere Kritik am Instrumentalismus vgl.: Steinfath, Orientierung am Guten. 346 Diese Reflexionen Ulrichs dürften für Musil somit eine ähnliche Bedeutung gehabt haben wie viele Ausführungen des Erzählers. 347 Solche Übereinstimmungen bestehen etwa zwischen der Sicht des jungen Ulrich auf die Wissenschaft (vgl. MoE 39-41, 45f.) und Musils frühem Essay Der mathematische Mensch (in: GW 8, S. 1004-1008) sowie zwischen einigen Reflexionen aus Ulrichs Urlaubsjahr und Musils Essay Das hilflose Europa und dem Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom; vgl. vor allem MoE 130 und Musil, Das hilflose Europa. In: GW 8, S. 1081; ders., Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1372f.; ferner MoE 361f. und Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1374f.; schließlich MoE 591-593 und Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, in: GW 8, S. 1392-1400.
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III. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Robert Musil
Die Berührungspunkte zwischen Ulrichs Reflexionen und Musils Essays müssen daher auch nicht notwendig so verstanden werden, dass Musil hier seinen Protagonisten einfach zum Sprachrohr für seine eigenen Ansichten gemacht habe. Man kann vielmehr annehmen, dass Musil in dem Roman eine Deutung seiner eigenen intellektuellen Biographie skizzierte, indem er Auffassungen, die er im Laufe der Jahre in seinen Essays vertreten hat, verschiedenen Etappen der geistigen Entwicklung Ulrichs zuordnete und auf diese Weise Beziehungen zwischen diesen Auffassungen und psychischen, biographischen und zeitgeschichtlichen Bedingungsfaktoren herstellte. Insofern hätte auch Musils in den frühen 1920er Jahren erwogener Plan, eine Sammlung seiner Essays zu veröffentlichen und darin zugleich „die Entwicklungslinie gewisser Gedanken durch ein junges Leben“348 nachzuzeichnen, schließlich einen Niederschlag in seinem Roman gefunden.
_____________ 348 Musil, Tagebücher, S. 667 [Heft 26: 1921-1923?].
IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry 1. Valérys Konzeption des Denkens 1892 gibt Paul Valéry, einundzwanzigjähriger Student der Rechtswissenschaft und Autor einiger in Zeitschriften veröffentlichter Gedichte, nach einer schweren persönlichen Krise seine literarischen Ambitionen auf.1 Er beschließt, sich stattdessen Studien und Reflexionen zu widmen, die ab 1894 ihren Niederschlag in Notizbüchern – den Cahiers – finden und die großenteils philosophischen oder wissenschaftlichen Charakter haben; diese Klassifizierung ist allerdings sogleich mit der doppelten Einschränkung zu versehen, dass Valérys Reflexionen sich vielfach der Zuordnung zu einer etablierten wissenschaftlichen Disziplin verweigern und dass er selbst immer wieder seine Distanz gegenüber dem herkömmlichen Verständnis von Philosophie betont und seine Zielsetzungen und Erkenntnisinteressen als nicht-philosophische bezeichnet hat.2 Will man diese Ziel_____________ 1
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Zur Biographie vgl.: Denis Bertholet, Paul Valéry 1871-1945. Paris 1995; zur Krise von 1892: ebd., S. 73-102. Ferner: Ned Bastet, Towards a biography of the mind. In: Paul Gifford / Brian Stimpson (Hg.), Reading Paul Valéry. Universe in Mind. Cambridge 1998, S. 17-35; Octave Nadal, La nuit de Gênes. In: O. N., A mesure haute. [Paris] 1964, S. 151164. Werner Helmich hat Valéry als den wichtigsten Erneuerer der Tradition des wissenschaftlichen Aphorismus im 20. Jahrhundert bezeichnet; vgl. Werner Helmich, Der moderne französische Aphorismus. Innovation und Gattungsreflexion. Tübingen 1991, S. 169-194, hier S. 169. Helmich weist aber auch darauf hin, dass viele Aufzeichnungen aus den Cahiers „in einer herkömmlichen Wissenschaftsrubrizierung keinen Platz [haben]“ und dass Valéry von „den einzelwissenschaftlichen Ergebnissen und Verfahren“ einen anderen Gebrauch macht „als die Fachwissenschaften selbst“ (ebd., S. 170f.). Für eine Charakterisierung der in den Cahiers festgehaltenen Reflexionen vgl. auch: Hartmut Köhler / Jürgen SchmidtRadefeldt, Einleitung zur deutschen Ausgabe. In: Paul Valéry, Cahiers/Hefte. Hg. von H. K. und J. S.-R. Bd. I. Frankfurt/M. 1987, S. 9-24. – Zu Valérys Verhältnis zu den Wissenschaften seiner Zeit allgemein vgl.: Judith Robinson-Valéry, The fascination of science. In: Gifford / Stimpson (Hg.), Reading Paul Valéry, S. 70-84; Reino Virtanen, Paul Valéry’s scientific education. In: Symposium 27 (1973), S. 362-378. Zu Valérys Verhältnis zur Philosophie und seiner Weigerung, sich selbst als Philosophen zu begreifen, vgl.: Régine Pietra, An art of rethinking: Valéry’s ‘negative philosophy’. In: Gifford / Stimpson (Hg.), Reading Paul Valéry, S. 85-101; Jacques Bouveresse, La philosophie d’un anti-philosophe: Paul Valéry. In: J. B., Essais IV. Pourquoi pas des philosophes? Marseille 2004, S. 243-278, 288 (Anm.). – Blumenberg bemerkt hierzu: „Valéry entging dem Schicksal derer nicht, die sich
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
setzungen knapp zusammenfassen, so wären vor allem zwei Punkte hervorzuheben: Valéry will den „fonctionnement d’ensemble de l’être humain“3 analysieren, das Zusammenspiel der geistigen und körperlichen Funktionen des Menschen in seiner Konfrontation mit der Welt; dieses rein sachlich definierte und prinzipiell auf allgemeingültige Erkenntnisse zielende Unternehmen wird von ihm zugleich aufgefasst als ein Mittel der Selbstverteidigung gegenüber den eigenen Affekten und als ein Projekt der Selbsterkenntnis und Selbsterziehung.4 Diese Verschränkung allgemeiner, wissenschaftsförmiger Fragestellungen mit einer betont persönlichen oder individualistischen Zielsetzung ist eine der Spannungen, die für Valérys Cahiers konstitutiv sind.5 Valérys übergeordnetes Vorhaben, den „fonctionnement d’ensemble de l’être humain“ zu analysieren, impliziert zunächst und vor allem die Absicht einer systematischen Untersuchung der mentalen Prozesse. Die hervorragende Rolle, die das Thema des Mentalen in Valérys Analysen einnimmt, drückt sich schon in den Listen von Rubriktiteln aus, die Valéry zur Ordnung seiner Notizen entworfen hat: Diese Listen, die im Zusammenhang mit Plänen zur Publikation der Aufzeichnungen entstanden und an denen sich auch die Auswahlausgabe der Pléiade orientiert hat, enthalten stets Rubriken wie „Esprit, pensée, conscience, psychologie“, „Le fonctionnement de l’esprit“ oder schlicht „Psychologie“ sowie eine Reihe von Überschriften, die einzelne Arten mentaler Vorgänge oder Funktionen bezeichnen: „Sensibilité“, „Attention“, „Conscience“, „Rêve“.6 In_____________
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unter wechselnden Titeln sträuben, Philosoph zu sein; sogar Antiphilosoph wäre er gern gewesen. Aber auch das kann man nur als Philosoph sein – es ist die Disziplin, die jeden, der sich ihr widersetzt, schon dadurch, daß er es tut, integriert hat.“ (Hans Blumenberg, Paul Valérys mögliche Welten. In: H. B., Lebensthemen. Aus dem Nachlaß. Stuttgart 1998, S. 141-152, Zitat S. 144f.) „Ce qu’il faut chercher à concevoir c’est le fonctionnement d’ensemble de l’être humain.“ (C Pl. I, S. 782; C facs. II, S. 770 [1902]). – Zur Zitierweise: Bei Zitaten aus den Cahiers, die in der Pléiade-Auswahlausgabe enthalten sind, gebe ich zunächst die Stellenangabe zu dieser Ausgabe mit der Abkürzung „C Pl.“; daneben wird die entsprechende Stelle in der vollständigen, 29bändigen Faksimile-Ausgabe nachgewiesen, diese mit der Abkürzung „C facs.“; die Bandnummer wird jeweils in römischen, die Seitenzahl in arabischen Ziffern angegeben. – Die veröffentlichten Werke Valérys werden nach der zweibändigen PléiadeAusgabe zitiert, deren Bände ich mit Œ I und Œ II bezeichne. Vgl. Judith Robinson, Comment aborder le ‘Système’ de Valéry? Problèmes de base. In: Huguette Laurenti (Hg.), Approche du ‘Système’. Paris 1979, S. 7-26, vor allem S. 7-10. Helmich konstatiert außerdem eine Spannung zwischen dem Ideal eines ‘Systems’ einerseits und dem Streben nach Perspektivenvielfalt andererseits; vgl. Helmich, Aphorismus, S. 172f. Vgl. die Rubrik-Überschriften und den Apparat der Pléiade-Auswahlausgabe der Cahiers. Vgl. zu Valérys Ansätzen zur Rubrizierung der Notizen: Judith Robinson, L’ordre interne des Cahiers de Valéry. In: Émilie Noulet-Carner (Hg.), Entretiens sur Paul Valéry. Paris, La Haye 1968, S. 255-269 (Diskussion S. 270-281).
1. Valérys Konzeption des Denkens
299
nerhalb dieser psychologischen Themen, die in den Cahiers erörtert werden, nehmen wiederum das Denken, der Intellekt und die Intelligenz eine zentrale Position ein. Bisher liegt in der Valéry-Forschung noch keine Studie vor, die Valérys Konzeption des Denkens umfassend und systematisch untersucht, ihre psychologischen und anthropologischen Grundannahmen freilegt und sie in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten verortet.7 Andererseits ist das Thema des Denkens aufgrund seiner prominenten Stellung in Valérys Werk bei einer Beschäftigung mit seinen theoretischen Positionen kaum zu umgehen und wird daher in mehreren Untersuchungen zu seiner Psychologie, seiner Analyse des Geistes oder seiner Konzeption des Ich mit behandelt.8 Außerdem sind einzelne Aspekte dieses Komplexes, etwa Valérys Vorstellung des mentalen Trainings,9 gesondert untersucht worden. Die Absicht der folgenden Analyse besteht vor allem darin, die verschiedenen Ebenen und Aspekte von Valérys Konzeption des Denkens möglichst umfassend darzustellen, die Verbindungen zwischen ihnen zu eruieren und sie zu Valérys allgemeinen psychologischen Grundannahmen in Beziehung zu setzen. Ein besonderes Interesse wird außerdem der Fra_____________ 7
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Für eine jüngere, besonders umfassende und mit systematischem Anspruch auftretende Untersuchung von Valérys Theorie der mentalen Vorgänge, die auch Aspekte seiner Konzeption des Intellekts behandelt, vgl.: Jean-Marc Guirao, Théorie analytique de la pensée selon Paul Valéry. Villeneuve d’Ascq 2000. Guirao verwendet den Ausdruck „pensée“ hierbei in einem weiten Sinne, als Bezeichnung für mentale Vorgänge überhaupt, nicht allein für die Aktivität des Intellekts; der Großteil seiner Studie widmet sich Valérys Überlegungen zu den fundamentalen Gesetzen der psychischen Abläufe insgesamt, etwa seinen Ansätzen zur Klassifikation der mentalen Phänomene, seinen Begriffen der Phase und des Zyklus, des Gedächtnisses, des Ich und der „sensibilité“, ferner seinen Überlegungen zum Unterschied zwischen Traum und Wachzustand. Auch die Themen der intellektuellen Operationen und der Erkenntnisvorgänge werden angesprochen (vgl. etwa ebd., S. 203ff.), stehen aber nicht im Zentrum, und Guirao lässt viele Aspekte von Valérys Konzeption des Intellekts unberücksichtigt, die in der folgenden Untersuchung zum Thema gemacht werden (etwa die Frage nach den Aufgaben des Denkens und Valérys Begriff der Selbsterkenntnis). Generell wäre zu der Arbeit von Guirao zu sagen, dass sie zwar sehr viele Themen und Konzepte der Valéry’schen Reflexionen über das Mentale untersucht, sich dabei aber großenteils eines additiv reihenden Verfahrens bedient und eine überzeugende Systematisierung weitgehend vermissen lässt. Die Frage nach Beziehungen zwischen Valérys Konzeptionen und der zeitgenössischen Psychologie und Philosophie wird von Guirao nicht gestellt. Vgl. zu diesem Buch auch die Rezension von Jürgen Schmidt-Radefeldt in: Forschungen zu Paul Valéry / Recherches Valéryennes 12 (1999), S. 162-164. Vgl. vor allem: Judith Robinson, L’analyse de l’esprit dans les Cahiers de Valéry. Paris 1963; Nicole Celeyrette-Pietri, Valéry et le Moi. Des Cahiers à l’œuvre. Paris 1979; Régine Pietra, Valéry. Directions spatiales et parcours verbal. Paris 1981. Vgl. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Glanz und Elend des ‘Gladiators’ – Geist und Sprache. In: Forschungen zu Paul Valéry / Recherches Valéryennes 8 (1995), S. 61-71; Karl Alfred Blüher, Valérys Methode einer ‘Selbstdressur’ des Geistes und die antike Tradition der philosophischen Selbsterziehung. In: Ebd., S. 73-140; Judith Robinson, Valéry’s conception of training the mind. In: French Studies 20 (1966), S. 227-235.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
ge nach dem Verhältnis von Valérys Konzeption zu den zeitgenössischen Erörterungen des Denkens in Philosophie und Wissenschaft gelten. Valérys Konzeption des Denkens steht auf der Grundlage seiner Auffassungen über mentale Vorgänge überhaupt und muss im Zusammenhang mit diesen betrachtet werden. Im Folgenden werde ich daher zunächst die Hauptlinien von Valérys Konzeption des Mentalen nachzeichnen (Teilkapitel 1.1.), bevor ich mich seiner Sicht auf das Denken und den Intellekt zuwende. Dort werden zuerst Valérys grundsätzliche Überzeugungen darüber, was das Denken ist, was also die charakteristischen Merkmale intellektueller Prozesse sind, zu untersuchen sein (1.2.). Ausführlicher wird dann vor allem die Frage erörtert werden, was Valéry zufolge die wichtigsten oder höchsten Aufgaben des Denkens sind; während viele Grundzüge seiner Auffassungen über das Mentale und das Denken über lange Zeit hinweg konstant blieben, hat sich seine Haltung zu der Frage nach den sinnvollen Zielen und Aufgaben des Denkens grundlegend gewandelt. Ich werde zunächst seine frühe Position zu dieser Frage und die tiefgreifende Kritik, der er in dem Essay Note et digression von 1919 seine früheren Überzeugungen unterzogen hat, zu rekonstruieren suchen (1.3.); im Anschluss daran sollen die Auffassungen des späteren Valéry zu diesem Komplex analysiert werden (1.4.). 1.1. Valérys Konzeption des Mentalen 1.1.1. Die formale und objektivierende Sichtweise Als Valéry nach 1892 mit seinen systematischen Analysen des Mentalen beginnt, da besteht sein ausdrückliches (Fern-)Ziel darin, die mentalen Phänomene sowie die Arten ihrer Sukzession systematisch zu erfassen und zu klassifizieren.10 Auch wenn er sich von dieser Zielsetzung später verabschiedet zu haben scheint, ist er doch der spezifischen Betrach_____________ 10
Vgl. hierzu: Jean Starobinski, Préface. In: Paul Valéry, Cahiers 1894-1914. Vol. III. Éd. intégrale établie, présentée et annotée sous la co-responsabilité de Nicole Celeyrette-Pietri et Judith Robinson-Valéry. Paris 1990, S. I-XIV, besonders S. I-VI. – Diese Zielsetzung Valérys kommt auch in den drei Artikeln zum Ausdruck, die er zwischen 1897 und 1899 im Mercure de France, in der Rubrik „Méthodes“, veröffentlicht hat, insbesondere im zweiten und dritten dieser Artikel. Diese Texte sind wieder abgedruckt in der Pléiade-Ausgabe; vgl. Œ II, S. 1447-1461, hier vor allem 1454f., 1459-1461. Wichtig sind in diesem Zusammenhang ferner zwei Briefe, die Valéry 1897 und 1898 an Gustave Fourment geschrieben hat und in denen er sein Ideal einer „Arithmetica universalis“ erläutert; vgl. Paul Valéry à Gustave Fourment [décembre 1897]. In: Paul Valéry / Gustave Fourment, Correspondance 18871933. Introduction, notes et documents par Octave Nadal. Paris 1957, S. 140-142; Paul Valéry à Gustave Fourment [4. 1. 1898]. In: Ebd., S. 145-151. Die Briefe sind auch abgedruckt im Anhang der Pléiade-Ausgabe; vgl. Œ II, S. 1461-1466.
1. Valérys Konzeption des Denkens
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tungsweise des Mentalen, die sich aus ihr ergab, weitgehend treu geblieben. Diese Betrachtungsweise war auf klare Unterscheidungen ausgerichtet und suchte die ‘formalen’ und objektivierbaren Eigenschaften der mentalen Vorgänge zu isolieren. Ein solcher Vorgang war für Valéry vor allem eine Folge von Veränderungen oder eine Sukzession von Entitäten verschiedener Art; Valéry zählt zu diesen Entitäten unter anderem „images“, „idées“ und „sensations“, verwendet aber mindestens ebenso häufig allgemeinere Ausdrücke wie „phénomènes mentaux“ oder „fait mental“.11 Der Gebrauch dieser unbestimmten Ausdrücke indiziert, dass Valéry sich weniger für die Eigenheiten der einzelnen mentalen Zustände interessiert als für die Modi ihrer Veränderung, ihrer Verbindung oder Aufeinanderfolge, weniger also für die Inhalte der mentalen Phänomene als für die Form ihres ‘Kommens und Gehens’ („va-et-vient“12). Er nimmt an, dass diese Formen der Sukzession und Variation unter Absehung von den spezifischen Inhalten der mentalen Phänomene beschrieben werden können und dass diese Formen zahlenmäßig begrenzt sind und daher prinzipiell vollständig erfassbar sein müssten. Zwei Grundtypen mentaler Abläufe, die in seinen Notizen besonders häufig genannt werden, sind die „substitution“ und die „transformation“. Die Analyse dieser Basisformen mentaler Abläufe ist bei Valéry eng verknüpft mit seinem Streben, die Operationen des Intellekts zu inventarisieren; auch diese intellektuellen Operationen stellen für ihn besondere Ausprägungen der Grundtypen von Transformation und Substitution dar.13 Die Frage nach den Prinzipien, welche die Aufeinanderfolge und Verbindung von mentalen Zuständen bzw. von Ideen oder Vorstellungen bestimmen, stand auch im Zentrum der Assoziationspsychologie; die Assoziationslehre, auf die sich auch noch die führenden französischen Psychologen am Ende des 19. Jahrhunderts stützten,14 war gerade als Antwort auf diese Frage entwickelt worden. Der Ausdruck „association“ taucht auch in Valérys Notizheften regelmäßig auf; an einigen Stellen gebraucht _____________ 11
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Vgl. etwa Paul Valéry à Gustave Fourment [4. 1. 1898]. In: Valéry / Fourment, Correspondance, S. 145-151. Vgl. außerdem für die Ausdrücke „faits mentaux“ und „images“ etwa: C Pl. I, S. 872 / C facs. I, S. 350 [1897-1899]; für den Ausdruck „phénomènes mentaux“ etwa: C Pl. I, S. 882f. / C facs. II, S. 203 [1900-1901]; für „sensations“ und „idées“ etwa: C Pl. I, S. 920 / C facs. VII, S. 331 [1911]. Vgl. etwa C Pl. I, S. 839 / C facs. XVII, S. 186 [1934]. Vgl. auch: Paul Valéry à André Gide [7 novembre 1899]. In: André Gide / Paul Valéry, Correspondance 1890-1942. Préface et notes par Robert Mallet. Paris 1955, S. 363-366, hier S. 365. Vgl. etwa: „Le fait élémentaire de l’intellect est le changement qui comprend substitutions et transformations [...].“ (C Pl. I, S. 878 / C facs. I, S. 865 [1900]) Vgl. auch C Pl. I, S. 892f. / C facs. II, S. 856f. [1902-1903]; C Pl. I, S. 952 / C facs. VI, S. 274 [1916]. Zu „substitutions“ und „transformations“ vgl. auch: Pietra, Valéry. Directions spatiales, S. 151-153. Vgl. dazu Kapitel II, Abschnitt 3.1.2 dieser Arbeit.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Valéry ihn ganz selbstverständlich und ohne ihn zu problematisieren,15 in mehreren Notizen aber wendet er sich auch kritisch gegen die Lehre von der Ideenassoziation: Er fragt sich, ob man statt von „Association des idées“ nicht eher von einer „Association d’états“ sprechen sollte16, hält außerdem den Ausdruck „substitution“ für angemessener als den der „association“17 und bestreitet vor allem den Grundgedanken des Assoziationismus, nach dem eine im Bewusstsein erscheinende Idee eine andere hervorruft; eine Idee werde nicht durch die ihr vorangegangene ausgelöst, sondern durch den momentanen Gesamtzustand des Individuums, der wiederum durch dessen gesamte Vergangenheit geprägt ist18. Aus dieser Kritik folgt aber nicht, dass es zwischen Valéry und der assoziationistisch ausgerichteten französischen Psychologie, etwa derjenigen Ribots, gar keine relevanten Berührungspunkte gebe. Wenn Valéry mentale ‘Entitäten’, Zustände und Vorgänge vor allem im Hinblick auf ihre formalen oder objektivierbaren Eigenschaften und unter Absehung von ihren Inhalten und Erlebnisqualitäten betrachtet und die Prinzipien ihrer Aufeinanderfolge zu identifizieren sucht, so steht er mit dieser Sichtweise der assoziationistischen Tradition der Psychologie zumindest nahe. Darüber hinaus können diese Betrachtungsweise und Valérys Erkenntnisziele an ältere Entwürfe einer sensualistischen Psychologie, etwa bei Condillac, erinnern.19 – Diese Bemerkungen zur ideengeschichtlichen Verortung von Valérys Ansatz sind allerdings als vorläufige zu verstehen, da sie sich nur auf einen Grundzug seiner Konzeption des Mentalen beziehen. Auf die Frage nach Valérys Verhältnis zur französischen Psychologie seiner Zeit wird später noch ausführlicher einzugehen sein, wenn auch die übrigen Leitideen seiner Konzeption erörtert worden sind. _____________ 15
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Vgl. C Pl. I, S. 873 / C facs. I, S. 384 [1898]; C Pl. I, S. 737 / C facs. XXVI, S. 103 [1942]. Robinsons Behauptung, Valéry habe den traditionellen Begriff der Ideenassoziation verworfen, scheint mir daher in dieser pauschalen Form nicht zutreffend zu sein; vgl. Robinson, Comment aborder le ‘Système’, S. 13. C Pl. I, S. 877f., hier S. 877 / C facs. I, S. 826f. [1900]. Vgl. C Pl. I, S. 1076 / C facs. XXII, S. 638f. [1939]. Vgl. C Pl. I, S. 893f. / C facs. II, S. 913f. [1902-1903]; vgl. auch C Pl. I, S. 1004 / C facs. XII, S. 658 [1927-1928]. – Außerdem sei es irreführend, von der Assoziation einzelner Ideen zu sprechen; im „syst[ème] nerveux“ sei vielmehr alles mit allem assoziiert. Vgl. C Pl. I, S. 969 / C facs. VIII, S. 417 [1921-1922]. Zu diesen Ähnlichkeiten zwischen den Ambitionen des jungen Valéry und den Theorien Condillacs sowie dem von Destutt de Tracy konzipierten Projekt einer „Idéologie“ vgl.: Bernard Lacorre, La matière de l’imagination. In: Nicole Celeyrette-Pietri (Hg.), Lecture des premiers Cahiers de Paul Valéry. Actes de la journée d’étude du 11 décembre 1982 à l’Université Paris XII. Paris 1983, S. 131-157, hier S. 133f. Lacorre zitiert hier auch die folgende Notiz Valérys: „Condillac est absurde, mais dans ses éléments surtout.“ (C facs. I, S. 137 [1896]) Dies könne man so verstehen, dass Valéry nicht das Projekt Condillacs, sondern nur die von ihm eingesetzten Mittel für verfehlt gehalten habe (vgl. Lacorre, La matière, S. 134).
1. Valérys Konzeption des Denkens
303
1.1.2. Die Unordnung des Mentalen; Geist, Körper und Welt Valérys Projekt einer systematischen Erfassung, Klassifikation und formalisierenden Darstellung der mentalen Vorgänge ist nicht von der Überzeugung getragen, dass die mentalen Phänomene sich durch besondere Ordnung und Regelmäßigkeit auszeichneten und insofern günstige Voraussetzungen für eine solche Analyse böten.20 Es verhält sich eher umgekehrt: Gerade weil die mentalen Prozesse ihrem primären Wesen nach zu Unordnung, Diskontinuität und Instabilität neigen, erscheint es Valéry als wünschenswert oder notwendig, die Ablaufweisen dieser Prozesse sowie die Möglichkeiten der gezielten Intervention und Kontrolle zu analysieren, um dem Chaos entgegenwirken zu können. Dass die mentalen Vorgänge in ihrem ‘natürlichen’ oder ursprünglichen Zustand durch Unordnung und Instabilität gekennzeichnet sind, ist für Valéry jedenfalls eine Tatsache,21 und zwar eine sehr wichtige: „L’instabilité mentale est chose si importante qu’on ne saurait trop l’observer.“22 Er stellt diese Eigenschaften des Mentalen oft, wie in dieser Notiz, einfach als ein Faktum hin, ohne Erklärungen dafür anzubieten. Doch aus anderen Aufzeichnungen geht hervor, dass dieser primär chaotische Charakter für ihn aufs engste mit einer anderen Eigenschaft der mentalen Vorgänge zusammenhängt, mit ihrer vielfachen Bedingtheit durch den Körper und die Außenwelt. Der Geist eines Menschen ist nach Valéry als Teil der ‘Antwort’ aufzufassen, welche die Welt dem Körper des Menschen entlockt: „L’esprit est un moment de la réponse du corps au monde.“23 Die drei Glieder _____________ 20
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Vgl. Valérys Reaktion auf Einwände seines Freundes Fourment gegen seine formalisierende und klassifizierende Analyse: Paul Valéry à Gustave Fourment [4. 1. 1898]. In: Valéry / Fourment, Correspondance, S. 145-151. Vgl. etwa: „Notre esprit est fait d’un désordre, plus un besoin de mettre en ordre.“ (C Pl. I, S. 1016 / C facs. XIII, S. 653 [1929]; auch in: Paul Valéry, Mauvaises pensées et autres. In: Œ II, S. 783-909, hier S. 793.) C Pl. I, S. 907 / C facs. III, S. 859 [1905-1906]. C Pl. I, S. 1125 / C facs. VIII, S. 153 [1921]. – Vgl. auch: „Toute la philosophie et la métaphysique sont fondées sur cette idée cachée – que le moi et l’esprit ou le cerveau sont source. L’univers formant une autre source. [§] Il faudrait essayer de les montrer comme de simples réponses d’une partie organisée d’un milieu à ce milieu même. [§] Et de plus: montrer [§] que l’organisation, la chose organisée, le produit de cette organisation et l’organisant sont inséparables“ (C facs. VII, S. 551 [1919-1920]). – „L’esprit, ô –, est ce que le monde fait / tire / d’un corps – et ce que le Tout tire de la partie. Relation ternaire. [§] La relation du Tout à la partie se nomme Dieu. Celle de la partie au Tout se nomme esprit.“ (C Pl. I, S. 1129 / C facs. IX, S. 470 [1923]) – Mit dem eingeklammerten Paragraphenzeichen ‘[§]’ gebe ich Absätze in Valérys Eintragungen wieder. Schrägstriche werden von den Herausgebern der Pléiade-Ausgabe genutzt, um eine „[h]ésitation de Valéry entre deux mots ou expressions“ anzuzeigen (C Pl. I, S. XLI); die zwischen den Schrägstrichen stehenden Ausdrücke hat Valéry jeweils über die davor stehenden Worte geschrieben (vgl. ebd., S. XXXIII).
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
dieser Relation, für die Valéry die Chiffre „CEM“ geprägt hat, dürfen daher, streng genommen, nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Diese Auffassung über die enge Beziehung zwischen Geist, Körper und Welt ist eine der grundlegendsten Annahmen von Valérys Konzeption des Mentalen, und ein großer Teil seiner Reflexionen über psychologische Themen lässt sich als Versuch begreifen, die Einzelheiten dieser „[r]elation ternaire“24 genauer zu durchleuchten. Wenn der Geist eine Antwort des Körpers auf die Welt darstellt, dann muss die Ordnung oder Unordnung der mentalen Vorgänge zu einem beträchtlichen Teil davon abhängen, welches Maß an Ordnung oder Unordnung die Welt aufweist. In dieser Welt aber dominiert Valéry zufolge die Unordnung; genauer gesagt: In der Welt findet sich eine Vielzahl von Ordnungen oder Regelmäßigkeiten, die aber jeweils nur in begrenzten Bereichen oder auf bestimmten Ebenen der ontologischen Hierarchie Geltung haben. Neben diesen lokal begrenzten Ordnungen kann es Bereiche geben, die keinerlei Regelmäßigkeiten zeigen, zumindest keine für den Menschen erkennbaren; solche Phänomene bezeichnet Valéry meist mit dem Prädikat „informe“25. Die Vorstellung einer Vielzahl von begrenzten und unregelmäßig ‘verstreuten’ Ordnungen hat Valéry schon in seiner frühen Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci skizziert und in einer Sentenz zusammengefasst: „Le monde est irrégulièrement semé de dispositions régulières.“26 In einer Notiz von 1920 heißt es ähnlich: „[Le monde] est une pluralité de machines rassemblée autour de nous et qui mêlent leurs périodes [...].“27 Das in diesen Sätzen angedeutete Weltmodell steht im Widerspruch zu einem Modell, das großen Teilen der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Wissenschaftstheorie zugrunde lag und – zumindest nach Ansicht mancher Beobachter28 – bis in die Gegenwart fortwirkt: Gemeint ist die Grundannahme, dass in allen Bereichen der Welt letztlich dieselben Gesetze gelten und dass alle Regelmäßigkeiten, die sich in einzelnen Domänen oder auf bestimmten Ebenen feststellen lassen, sich zumindest prinzipiell auf einheitliche Gesetze zurückführen lassen. Diese Auffassung wurde traditionell mit dem Bild ausgedrückt, die Welt stelle eine Art großer Maschine dar, etwa ein gigantisches Uhrwerk. Gegen dieses Modell, zu dessen Anhängern auch Ernst Mach und Mit_____________ 24 25 26 27 28
C Pl. I, S. 1129 / C facs. IX, S. 470 [1923]. Vgl. zu dem Begriff des „informe“ bei Valéry: Jeannine Jallat, Introduction aux figures valéryennes (Imaginaire et théorie). Pisa 1982, vor allem S. 19-32. Paul Valéry, Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. In: Œ I, S. 1153-1199, Zitat S. 1172. C Pl. I, S. 1307 / C facs. VII, S. 495 [1920]. Vgl., auch zum Folgenden: John Dupré, The Disorder of Things. Metaphysical Foundations of the Disunity of Science. Cambridge (Mass.), London 1993, S. 2-11.
1. Valérys Konzeption des Denkens
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glieder des Wiener Kreises gehörten, stellt Valéry das Bild einer „pluralité de machines [...] qui mêlent leurs périodes“. Die Welt enthält also viele, sich überlappende Ordnungen neben Zonen, in denen zumindest für den Menschen keine Regelmäßigkeiten zu erkennen sind. Hinzuzufügen wäre noch, dass für Valéry die gesamte physische Natur durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik regiert wurde und folglich von einer Tendenz zu Dissipation, Verfall und Unordnung bestimmt war;29 er sprach mithin ausgerechnet einem Gesetz, das eine Regelmäßigkeit der Natur in der Form eines Strebens nach Unordnung beschrieb, besonders weitreichende Geltung zu. Der menschliche Körper wird von Valéry innerhalb der Trias von Körper, Geist und Welt als ein Gegenüber der Welt betrachtet, ist aber natürlich zugleich ein Teil dieser Welt. Valérys Sicht auf den Körper und auf sein Verhältnis zum Geist besitzt denn auch weitreichende Parallelen zu seinem oben dargestellten Weltmodell. Der Mensch kann nach Valéry als ein Ensemble von Systemen beschrieben werden, die bis zu einem gewissen Grad unabhängig, aber gleichwohl miteinander verschränkt sind, wobei diese Abhängigkeiten und Wechselwirkungen unterschiedlich eng oder stark sein können; es gibt, wie Valéry einmal notiert, gleichsam verschiedene „degrés d’engrenage“30 zwischen den einzelnen Systemen. Sowohl das Verhältnis des Geistes zum Körper wie auch das einzelner Teile oder Funktionen des Körpers zueinander entspricht diesem Modell von miteinander verbundenen, aber bedingt autonomen Teilsystemen.31 Für die verschiedenen Funktionsebenen des Körpers sind jeweils besondere Gesetze oder Regelmäßigkeiten bestimmend, die der menschlichen Wahrnehmung nur zum Teil zugänglich sind. Diese Regelmäßigkeiten sind vielfach zyklischer Art, wie der Wechsel zwischen Schlaf und Wachen und die Zyklen von Ernährung und Verdauung; Valéry betrachtete diese elementaren Eigenschaften des Organismus als außerordentlich wichtige Rahmenbedingungen aller mentalen Vorgänge, deren Rolle aber gerade wegen ihres elementaren und alltäglichen Charakters zu wenig beachtet _____________ 29
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Zur Tendenz zur „dégradation“ in der physischen Natur vgl.: C Pl. II, S. 745 / C facs. XII, S. 444 [1927-1928]. Vgl. ferner: „La nature pensante est une sorte de révolte contre la nature physique. Puisque tandis que celle-ci impose la dissipation, la diffusion, le désordre – l’autre tend au contraire.“ (C Pl. I, S. 1180f. / C facs. XV, S. 569 [1931-1932]) Zu dem „accroissement d’entropie“ als „le caractère le plus frappant de la ‘nature’ physique“ vgl.: C Pl. II, S. 969 / C facs. XVII, S. 483f. [1934]. „L’être pensant est un ensemble de systèmes dépendants en acte, indépendants en puissance. Et il y a comme des degrés d’engrenage.“ (C facs. III, S. 750 [1905-1906]) Es ist anzunehmen, dass Valéry mit den „systèmes“, aus denen der denkende Mensch zusammengesetzt sei, sowohl verschiedene geistige Funktionen als auch körperliche Organe oder Funktionen meinte. Vgl. C Pl. I, S. 897 / C facs. III, S. 270 [1903-1905]; C Pl. I, S. 923 / C facs. IV, S. 548 [1911].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
werde.32 Mit seiner Fähigkeit zur zyklischen Regeneration widersetze sich der lebende Organismus der Tendenz zum Verfall („dégradation“), die dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge die Natur beherrscht; so hat Valéry gelegentlich den Kampf gegen das „principe de Carnot“ als das konstitutive Merkmal des Lebens oder der lebenden Materie bezeichnet.33 Die Rede von einem Kampf besagt einerseits, dass die belebte Natur nicht in derselben Weise von diesem thermodynamischen Gesetz bestimmt wird wie die unbelebte, andererseits aber auch, dass sie nicht gänzlich außerhalb seiner Reichweite steht. Vielmehr spielt sich innerhalb des Organismus ein Kampf zwischen der Tendenz zur Dissipation und dem Streben nach Regeneration, Wachstum und Ordnung ab. Valéry legt in seinen Reflexionen über die Beziehung zwischen Geist und Körper immer wieder den Akzent auf Diskrepanzen und Differenzen, die ihr Verhältnis bestimmen. Einem Aphorismus aus Tel Quel zufolge ist es nicht der Tod, der die Seele vom Körper trennt, sondern das Leben.34 Diese Trennung zwischen Körper und Geist hat verschiedene Aspekte. Zum einen meint Valéry damit den oben bereits erwähnten Umstand, dass der Geist von körperlichen Vorgängen abhängig ist, dass der Mensch aber diese Prozesse normalerweise nicht wahrnimmt – nur Störungen oder Ausfälle dieser Vorgänge machen sich bemerkbar – und dass ein großer Teil dieser Prozesse seinem Geist und seinen Verstehensbemühungen auch prinzipiell nicht zugänglich ist.35 Hinzu kommt, dass die Funktionsweisen des Körpers vom Geist vielfach als fremdartig oder geradezu feindlich wahrgenommen werden: Die zyklischen Abläufe von Wachen und Schlafen, Tätigkeit, Erschöpfung und Regeneration, so Valéry, können im Menschen Widerwillen und Ekel erzeugen, da diese Monotonie den Antrieben des Geistes widerstrebt; dieser „ennui“ des Geistes oder des Bewusstseins angesichts der öden Wiederholungen des organischen und des vegetativen Lebens sind auch ein Thema von Valérys Gedichten, insbesondere von La Jeune Parque.36 _____________ 32
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„Mon objet est de faire penser – et de me faire penser moi-même, – à des choses auxquelles on ne pensait pas à cause de leur présence ou trop proche ou perpétuelle, c’est-à-dire de leur importance même. Notre pensée, par sa fonction ordinaire, est naturellement sollicitée par ce qui n’est pas aussitôt résolu ou par ce qui demande une réponse spécialement faite pour la circonstance. Nous ne faisons aucune attention au sol uni sur lequel n[ou]s marchons [...]. Mais quand le terrain devient difficile, il y a un double renoncement à cette liberté. [...]“ (C Pl. I, S. 1089 / C facs. XXIV, S. 876 [1941]) C Pl. II, S. 752 / C facs. XV, S. 442 [1931-1932]; vgl. auch C Pl. II, S. 745 / C facs. XII, S. 444 [1927-1928]; C Pl. II, S. 760f. / C facs. XVIII, S. 127 [1935]. „C’est la vie, et non point la mort, qui divise l’âme du corps.“ (Paul Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 469-781, hier S. 502.) Vgl. C Pl. I, S. 1123f. / C facs. VII, S. 171f. [1918-1919]. Vgl. hierzu: Ned Bastet, Faust et le cycle. In: Émilie Noulet-Carnier (Hg.), Entretiens sur Paul Valéry. Paris, La Haye 1968, S. 115-128.
1. Valérys Konzeption des Denkens
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Einen weiteren, weniger ‘dramatischen’, aber sehr wichtigen Aspekt des Verhältnisses zwischen Geist und Körper hat Valéry mit der Unterscheidung zwischen „fonctionnel“ (oder „formel“37) und „significatif“ einzufangen gesucht. Diese Unterscheidung erläutert er in einer Aufzeichnung wie folgt: Ce que j’appelle formel – cela peut se comparer à l’œil et aux lois optiques et physiologiques de la vision – le significatif étant la vue, ce que l’on voit. Entre significatif et formel il y a dépendance et indépendance à la fois, comme l’œil voyant n’importe quel spectacle visible – et pourtant ce spectacle dépend de l’œil.38
Bei einem Sehvorgang besteht das „significatif“ also in dem Gesehenen, das „formel“ in dem Auge und den optischen und physiologischen Gesetzen, welche die Möglichkeiten und Grenzen des Sehens definieren. Aus der Beschaffenheit des Auges und aus diesen Gesetzen folgt etwa, dass der Mensch ultraviolette Strahlen nicht sehen kann,39 aber auch, dass sein Gesichtsfeld einen bestimmten Umfang hat und dass er nicht nahe und weit entfernte Gegenstände zugleich deutlich erfassen kann. Bei mentalen Vorgängen, etwa Denkprozessen, umfasst das „significatif“ die Inhalte dieser Vorgänge, also etwa die Gedanken und mentalen Bilder; die Ebene des „formel“ oder „fonctionnel“ dagegen enthält Bedingungen, denen alle diese mentalen Vorgänge unterliegen und die unabhängig sind von ihren Inhalten. Zu diesen Bedingungen gehören etwa die Tatsachen, dass der Mensch nicht ein und denselben Gedanken über längere Zeit im Bewusstsein festhalten kann, dass er nur einen begrenzten Ausschnitt seines Wissens auf einmal im Bewusstsein haben kann, dass er seine Aufmerksamkeit nur eine begrenzte Zeit aufrechterhalten kann; zu diesen Bedingungen zählt aber etwa auch die zyklische Abfolge der Phasen von Schlaf und Wachen.40 Diese Bedingungen beruhen offenbar zumindest großenteils auf Eigenschaften des Körpers und somit auf physiologischen, chemischen oder biologischen Gesetzen, ohne dass das genaue Wesen dieser Zusammenhänge bekannt wäre; Valéry bezeichnet daher diese funktionellen Bedingungen gelegentlich als ‘quasi-materielle’ oder ‘quasi-organische’ Bedingungen, als „ces conditions cachées et comme ‘matérielles’“41 oder _____________ 37
38 39 40 41
Valéry verwendet zunächst die Ausdrücke ‘formel’ und ‘significatif’, ersetzt aber schließlich ‘formel’ durch ‘fonctionnel’; in einer Notiz von 1936 nimmt er sich vor: „Au lieu de ‘formel’ mettre généralement ‘fonctionnel’ (dans mes notes).“ (C Pl. I, S. 1062 / C facs. XIX, S. 591 [1936]) Der Ausdruck ‘fonctionnel’ könnte ihm unter anderem wegen seiner Nähe zu „fonctionnement“, einem Zentralbegriff seiner Analysen, als angemessener erschienen sein. C Pl. I, S. 931f., Zitat S. 932 / C facs. V, S. 183 [1914]. Vgl. C Pl. I, 1078 / C facs. XXII, S. 878f. [1940]. Vgl. ebd. C Pl. II, S. 242f., Zitat S. 243 / C facs. XIX, S. 108f. [1936].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
„des conditions comme organiques [...] (ou physico-mécaniques ou quantitatives ou comme celles des sens (fréquences p[ar] ex[emple]))“42. Diese Bedingungen definieren die Grenzen, innerhalb dessen sich die ‘signifikative’, inhalts- und bedeutungsgeladene Dimension der mentalen Vorgänge abspielt: „Le significatif est borné par le fonctionnel.“43 In konkreten Denkvorgängen können diese funktionellen Bedingungen in unterschiedlich massiver Weise auf die Ebene des „significatif“ einwirken; Schwankungen der Aufmerksamkeit etwa können einen Denkvorgang unterbrechen und die Überprüfung eines Ergebnisses verhindern oder auch nicht.44 Die folgenden Aspekte von Valérys Unterscheidung zwischen „significatif“ und „fonctionnel“ verdienen es, festgehalten zu werden. (1) Dieses Begriffspaar betont die radikale, gewissermaßen kategoriale Verschiedenheit der damit bezeichneten Ebenen oder Sachverhalte. Indem Valéry die ‘funktionellen’, ‘quasi-organischen’ Bedingungen mentaler Vorgänge dem „significatif“ gegenüberstellt, verweist er darauf, dass diese Bedingungen und die ihnen zugrunde liegenden physikalischen oder sonstigen Gesetze sich indifferent und neutral gegenüber den Inhalten und Bedeutungen der Denkvorgänge, Erinnerungen oder Wahrnehmungen verhalten. Diese Bedingungen, die den Denkvorgängen mitsamt ihren ‘signifikativen’ Inhalten ihre Grenzen vorgeben, stehen insofern in einem rein ‘äußerlichen’ oder kontingenten Verhältnis zu diesen Inhalten. (2) Valéry hebt mit dieser Unterscheidung die weitreichende Abhängigkeit mentaler Phänomene von körperlichen Strukturen und Prozessen hervor, doch er deutet das Verhältnis von Geist und Körper dabei grundlegend anders als die meisten physiologisch oder neurologisch ausgerichteten Konzeptionen des Mentalen, die um und kurz nach 1900 verbreitet waren. Indem er das Verhältnis zwischen körperlichen oder ‘quasi-organischen’ Strukturen einerseits und mentalen ‘Produkten’ wie etwa Gedanken andererseits als ein Bedingungsverhältnis auffasst und dabei die kategoriale Verschiedenartigkeit der zwei Ebenen betont, grenzt er sich von Theorien ab, die das _____________ 42 43 44
C Pl. I, S. 1065f., Zitat S. 1065 / C facs. XX, S. 51f. [1937]. C Pl. I, S. 1086f., Zitat S. 1086 / C facs. XXIV, S. 455f. [1941]. „Si l’acte mental est assujetti à des conditions de production, ses résultats –: pensées, idées, précipités, combinaisons, choix, arrêts, etc. (images, formules, liaisons idéo-affectives etc.) sont (ou non) affectés de ces conditions générales. Voilà mon hypothèse – [...].“ (C Pl. I, S. 1028 / C facs. XV, S. 655 [1932]) – „Que si on songe alors à la valeur significative ou au contenu de tels systèmes ψ – c’est-à-dire en somme au résultat et aux conséquences de leur résolution comme acquisitions de la connaissance – on voit que toutes nos conclusions dépendent de ces conditions formelles – et de quoi qu’il s’agisse, quelles que soient nos ‘convictions’, notre impulsion vers telle solution, notre confiance dans la clarté croissante, le soulagement croissant dans telle direction, toutefois n[ou]s sommes assujettis à ces conditions cachées et comme ‘matérielles’. Un peu plus de durée et n[ou]s changerions d’avis, car les objets de pensée auraient changé eux-mêmes de connexions, de ‘dimensions’ etc.“ (C Pl. II, S. 242f., Zitat S. 243 / C facs. XIX, S. 108f. [1936])
1. Valérys Konzeption des Denkens
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Verhältnis zwischen körperlichen und geistigen Prozessen als ein kausales Verursachungsverhältnis, Gedanken also als Effekte physiologischer Vorgänge begreifen;45 ferner distanziert er sich damit von allen Theorien, die einen Parallelismus zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen annehmen oder aber psychische Vorgänge und Inhalte als Begleiterscheinung von physiologischen Vorgängen und Zuständen deuten. Konkret heißt das, dass Valéry das Verhältnis zwischen körperlichen und mentalen Vorgängen auf eine fundamental andere Weise konzipiert als etwa Ribot, bei dem der psychische Vorgang als bloße ‘Begleitung’ („accompagnement“, „concomitant“) eines physiologischen oder neurologischen aufgefasst wird und nur die physiologischen Zustände oder Vorgänge als kausal effizient gelten.46 (3) Valérys Begriffspaar ‘fonctionnel / significatif’ kann somit als ein origineller Beitrag zu dem kontroversen Problem, wie die Beziehung zwischen körperlichen und mentalen Prozessen aufzufassen sei, betrachtet werden. Zugleich dient es Valéry aber als ein Schema, mithilfe dessen bestimmte mentale Phänomene und Vorgänge als in gewissem Sinne irrelevant oder bedeutungslos disqualifiziert werden können: Wenn solche Phänomene als Manifestationen der ‘funktionellen’ Rahmenbedingungen mentaler Vorgänge aufgefasst werden, so wird damit auch ausgedrückt, dass sie sich ‘quasi-materiellen’ Strukturen bzw. ‘quasiphysikalischen’ Gesetzen verdanken, die sich allen Bedeutungen mentaler Inhalte gegenüber indifferent verhalten, und dass sie entsprechend wenig Respekt verdienen. So entstehen Valéry zufolge Gefühle und Affekte oder allgemeiner Phänomene der „sensibilité“ häufig dadurch, dass rein ‘funktionelle’ Prozesse auf die Ebene des ‘Signifikativen’ übergreifen, indem sie sich an bestimmte Personen, Gegenstände oder Ereignisse koppeln.47 Berücksichtigt man, wie Valéry einerseits die Anteile von Ordnung und Unordnung in der Welt einschätzt, andererseits den Körper und sein Verhältnis zum Geist beschreibt, und bedenkt man ferner, wie eng ihm zufolge die Beziehungen zwischen den Gliedern der Trias Corps-EspritMonde sind, so erscheint es nicht überraschend, dass er Unordnung, Diskontinuität und Instabilität als die ‘natürlichen’, primären Eigenschaften des Mentalen betrachtet. Die Welt enthält ihm zufolge eine Vielzahl von lokal begrenzten und sich überlagernden Ordnungen neben Zonen des _____________ 45
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Die körperlichen oder ‘quasi-organischen’ Strukturen und Vorgänge, die Valéry unter dem Begriff „fonctionnel“ zusammenfasst, verursachen nicht bestimmte signifikative Inhalte, sondern konstituieren Bedingungen, innerhalb derer die mentalen Vorgänge mit ihrer signifikativen Dimension ablaufen. Für die Auffassung vom Bewusstsein („la conscience“) als einem „simple accompagnement d’un processus nerveux“ vgl. etwa: Ribot, Les maladies de la volonté, S. 8f. Vgl. ferner: Ribot, Les maladies de la personnalité (111904), S. 6, 13. Vgl. etwa: C Pl. II, S. 373f. / C facs. XV, S. 464 [1931-1932]; C Pl. II, S. 488 / C facs. XI, S. 612 [1926].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
„informe“; der Körper ist ein Ensemble von Systemen, die jeweils ihre eigenen Regelmäßigkeiten aufweisen und in unterschiedlichem Maße miteinander verzahnt sind, so dass ihr Zusammenspiel neben zyklischen Ordnungen auch vielfältige Unregelmäßigkeiten aufweist; außerdem befindet sich der menschliche Körper wie jeder lebende Organismus in einem Kampf gegen die Tendenz zur Dissipation und Unordnung, welche die physische Natur beherrscht. – Für Valérys Sicht auf den Körper und sein Verhältnis zum Mentalen ist neben dieser Annahme über die Anteile von Ordnung und Unordnung eine weitere Grundüberzeugung von zentraler Bedeutung, die Überzeugung von der prinzipiellen Fremdheit zwischen dem Geist und dem Körper mit seinen Gesetzmäßigkeiten; diese Fremdheit hat, wie oben ausgeführt, wiederum mehrere Facetten. Der natürliche Ausgangszustand des Geistes ist also einer der Unordnung; aber der Geist ist nach Valéry dieser Unordnung und den destabilisierenden Einwirkungen von Körper und Welt nicht hilflos ausgeliefert, sondern verfügt über verschiedene Mittel, um zumindest zeitweilig und in begrenztem Maße Ordnung und Stabilität herzustellen. Diese Mittel werden gleich zu untersuchen sein; zuvor soll noch kurz ein anderer Aspekt von Valérys Konzeption des Mentalen in den Blick genommen werden. 1.1.3. ‘Demande – Réponse’ „L’esprit est un moment de la réponse du corps au monde.“48 Diese oben bereits zitierte Feststellung Valérys verweist auf ein Leitmotiv seiner Reflexionen über das Mentale und auf ein weiteres Begriffspaar, das – neben dem von ‘fonctionnel / significatif’ – eine prominente Stelle in ihnen besetzt: das Begriffspaar ‘demande / réponse’, das Valéry schließlich mit der Sigle „D.R.“ abkürzte.49 Schon 1902 hält er fest: Wie für die Mechanik jedes mechanische Phänomen sich in Zeit, Länge und Masse auflösen lasse, so seien alle mentalen Phänomene Frage und Antwort – „[t]out fait mental n’est que demande et réponse.“50 Gut zehn Jahre später bestätigt er: „Quoi qu’il arrive, quoi qu’il soit vu, pensé, cela est ou demande ou réponse.“51 Mit diesem Begriffspaar ‘demande / réponse’ lehnt sich Valéry an das Reflexmodell an, auf das er sich vielfach auch explizit bezieht. In einer Notiz von 1921 etwa stellt er fest, der „Réflexe“ sei die „notion capi_____________ 48 49 50 51
C Pl. I, S. 1125 / C facs. VIII, S. 153 [1921]. Vgl. Jeannine Jallat, Effets d’imaginaire dans le Système – le ‘système DR’. In: Huguette Laurenti (Hg.), Paul Valéry 3: approche du ‘Système’. Paris 1979, S. 113-134. C Pl. I, S. 891 / C facs. II, S. 793 [1902]. C Pl. I, S. 931 / C facs. V, S. 143 [1913].
1. Valérys Konzeption des Denkens
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tale“ und die „forme universelle“, die sich in den Domänen der Physiologie und der Psychologie, „[i]ntus et extra“, gleichermaßen finde.52 Aber was genau wollte Valéry damit sagen, dass alle mentalen Ereignisse entweder „demande“ oder „réponse“ seien? Das Konzept des Reflexes, das er mit diesem Begriffspaar aufgreift, stammte ursprünglich aus der Physiologie und besaß eine Vorgeschichte in Gestalt von physiologischen Theorien über das Verhältnis von Reiz und Reaktion, die ins 18. Jahrhundert zurückreichen.53 Im 19. Jahrhundert gab es zum einen verschiedene Versuche, den Reflexbegriff „als Grundlage für die Analyse komplexen Verhaltens zu verwenden“ und mit seiner Hilfe ein „streng deterministische[s] Modell willkürlichen Verhaltens“ zu entwickeln; zum anderen wurde das physiologische Modell von Reiz und Reaktion von britischen Psychologen aufgegriffen und mit der Assoziationspsychologie verbunden.54 Das Reflexmodell und das Schema von Reiz und Reaktion eignen sich also als Fundament für deterministische, etwa mechanistische Erklärungen von Verhalten oder auch von mentalen Vorgängen, auch wenn sie keineswegs immer im deterministischen Sinne ausgelegt worden sind. Valéry ging es bei seinem Rekurs auf den Reflexbegriff und auf die Begriffe von „demande“ und „réponse“ aber kaum um eine streng deterministische Deutung des mentalen Geschehens. Ein deterministisches Modell der klassischen, etwa mechanistischen Art, wäre nur schwer mit seinen oben skizzierten Überzeugungen über die irreduzible Pluralität von Ordnungen und Regelmäßigkeiten in der Welt vereinbar, und Valéry hat sich denn auch mehrmals explizit kritisch über den Determinismus geäußert.55 Was speziell sein Schema von ‘demande / réponse’ betrifft, so fasst er die ‘réponses’ nicht als dauerhaft fixierte und mit mechanischer Zwangsläufigkeit ausgelöste Reaktionen auf, sondern als Reaktionen, die zurückgehalten, verlangsamt und modifiziert werden können.56 _____________ 52
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C Pl. I, S. 806 / C facs. VII, S. 917 [1921]. – Vgl. auch: C Pl. I, S. 859f. / C facs. XXVII, S. 312 [1943]; C Pl. I, S. 1087f. / C facs. XXIV, S. 584 [1941]; C Pl. I, S. 1088f. / C facs. XXIV, S. 613 [1941]. Vgl. K[urt] Danziger, Art. ‘Reiz und Reaktion’. In: Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R–Sc (1992), Spp. 554-567. Vgl. ebd., Spp. 559f.; Zitat ebd. Vgl. etwa: „Le déterminisme rigoureux est profondément déiste. Car il faudrait un dieu pour apercevoir cet enchaînement infini complet. Il faut imaginer un dieu, un front de dieu pour imaginer cette logique. [...] Qu’on le veuille ou non, un dieu est posé nécessairement dans la pensée du déterministe – et c’est une rigoureuse ironie.“ (C Pl. I, S. 531 / C facs. V, S. 563 [1915]) Vgl. dazu eine Notiz in den Cahiers, in der Valéry eine Unterscheidung zwischen „actes réflexes ou automatiques“ und „actes réfléchis“ entwickelt: „La différence consiste en: l’acte réflexe est indivisible – et réalisé extérieurement avant qu’on ait pu l’arrêter. [...] L’acte réfléchi [...] est un réflexe retardé – jugé – et qu’une sensibilité spéciale – qui a le temps ou non de jouer – réprime, équilibre ou soutient.“ Dabei gelte es zu berücksichtigen, dass der An-
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Aber wenn es Valéry nicht um eine deterministische oder eine physiologisch-reduktionistische Deutung mentaler Vorgänge ging, worin bestand dann für ihn die Wichtigkeit des Schemas ‘demande / réponse’?57 Diese Begriffsprägung scheint vor allem die Grundüberzeugung auszudrücken, dass der Geist primär ein Vermögen des Antwortens oder Reagierens sei und dass die auslösenden Impulse, Anlässe und Ursachen mentaler Vorgänge zum großen Teil außerhalb des Menschen liegen. Was die Akzentuierung der antwortenden Tätigkeit des Geistes dagegen in den Hintergrund treten lässt, ist die Frage nach ‘inneren’ oder ursprünglichen, mit der menschlichen Natur oder der individuellen Anlage gegebenen Antriebe. In Valérys psychologischen Reflexionen ist zwar selbstverständlich auch von solchen inneren Antrieben die Rede, also etwa von „besoins“, „instincts“ oder „appétits“; doch sie erhalten insgesamt weit weniger Aufmerksamkeit als das Schema „D.R.“, was sich auch daran zeigt, dass Valéry für diese inneren Antriebe keine eigenen Termini wie ‘fonctionnel / significatif’, ‘nombres plus subtils’ oder eben ‘demande / réponse’ geprägt hat. Seine Konzeption des Mentalen unterscheidet sich damit grundlegend von allen Theorien, die das Konzept des Triebs in den Mittelpunkt stellen und die mentalen Vorgänge sowie das Handeln vor allem durch den Rekurs auf ein Set von menschlichen Grundtrieben zu erklären suchen. Valérys Auffassung vom Geist als einer wesentlich reagierenden oder antwortenden Instanz hat, wie noch zu zeigen sein wird, weitreichende Implikationen etwa für seine Konzeptionen des individuellen Selbst und der Selbsterkenntnis. _____________
57
fangszustand des ‘acte réfléchi’ noch „réflexe“ sei; dass dieser Reflex dann zurückgehalten, modifiziert oder unterdrückt werden kann, liege an der „réciprocité DR-RD“, die für alle höheren mentalen Funktionen charakteristisch sei (C Pl. I, S. 244 / C facs. XX, S. 399 [1937]). Zu Valérys Annahme einer Reziprozität der ‘demande/réponse’-Kopplung vgl. auch: Marcel Gauchet, L’inconscient cérébral. Paris 1992, S. 153-170, 212-215 (Anm.), hierzu S. 160-163. Starobinski zufolge nutzte Valéry dieses Schema, um die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts, eines „Moi“, zu unterminieren; die mentalen Vorgänge ebenso wie die Handlungen einer Person sollten ihren Ursprung nicht in einer zentralen Ich-Instanz haben, sondern jeweils einzelne Antworten auf spezifische Reize darstellen (vgl. Jean Starobinski, Action et réaction. Vie et aventures d’un couple. [Paris] 1999, S. 273-283, vor allem S. 278281). Diese Deutung besitzt einige Plausibilität, denn die Annahme, dass ein Mensch eine Vielzahl von relativ selbständigen Akteuren bzw. Aktionsweisen beherbergt, die jeweils durch besondere Situationen oder Kontexte aktiviert werden, spielt bei Valéry tatsächlich eine große Rolle. Allerdings ist auch mit Blick auf diese Deutung zu betonen, dass Valéry die einzelnen demande/réponse-Zuordnungen nicht als gänzlich stabile, unveränderliche und isolierte Kopplungen betrachtet, sondern dass der Mensch die ‘Antworten’, welche eine Situation in ihm aufruft, zurückhalten und modifizieren kann. Insofern besteht der Mensch nicht nur aus einer Vielzahl von Frage/Antwort-Paaren, sondern verfügt auch über die Fähigkeit, seine Antworten wahrzunehmen, bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren und zu modifizieren. Diese Fähigkeit ist eng verbunden mit Valérys Konzept des Bewusstseins, auf das weiter unten einzugehen sein wird.
1. Valérys Konzeption des Denkens
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1.1.4. Instanzen der Ordnung Für Valéry, so wurde oben festgestellt, ist der natürliche, primäre Charakter der mentalen Vorgänge geprägt durch Unordnung, Diskontinuität und Instabilität; diese Wesensmerkmale des Geistes ergeben sich vor allem aus seinen engen Beziehungen zum Körper und zur Außenwelt. Die Reize, mit welchen Körper und Außenwelt auf den Geist einwirken, stellen eine tendenziell chaotische Serie von „demandes“ dar, auf die der Geist, solange er sich dem „cours naturel des choses“ überlässt, mit einer ebenso chaotischen Abfolge von Antworten („réponses“) reagiert. Aber der Geist ist dieser natürlichen Tendenz zur Unordnung nicht hilflos ausgeliefert, sondern verfügt über verschiedene Funktionen oder Fähigkeiten, mit deren Hilfe er – partielle und zeitlich begrenzte – Ordnung und Stabilität herstellen kann. Für ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit und Stabilität in den mentalen Abläufen sorgt zunächst die natürliche Tendenz des Geistes zur Bildung von Automatismen. Mit diesem Ausdruck „automatisme“ lehnt sich Valéry an die Terminologie der zeitgenössischen französischen Psychologie und Psychopathologie an, wo dieser Begriff spätestens seit dem Buch L’automatisme psychologique (1889) von Pierre Janet zu einer zentralen Kategorie avanciert war.58 Nach der von Janet zugrunde gelegten Definition waren Tätigkeiten als ‘automatisch’ oder als ‘Automatismen’ zu bezeichnen, wenn sie – zumindest dem Anschein nach – nicht durch einen äußeren Reiz hervorgerufen werden, sondern ihren Ursprung im Lebewesen selbst haben, aber zugleich vollkommen regelmäßig ablaufen, streng determiniert zu sein scheinen.59 Die elementarsten menschlichen Tätigkeiten weisen Janet zufolge eben diese zwei Merkmale auf.60 Für viele Autoren, _____________ 58
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Vgl. Pierre Janet, L’automatisme psychologique. Essai de psychologie expérimentale sur les formes inférieures de l’activité humaine. 1ère éd. Paris: Alcan 1889. Réédition à partir de la 4ème éd. Paris 1989. – Der Begriff des Automatismus war zunächst im englischen Sprachraum und im Kontext hirnphysiologischer Forschungen geprägt worden; die Physiologen Thomas Laycock, William Carpenter und Thomas Huxley verwendeten ihn etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts, um Reflexvorgänge im Gehirn zu bezeichnen, bevor Frederic W. H. Myers ihn in seinen Untersuchungen zum Hypnotismus und zum ‘automatischen Schreiben’ aufgriff und ihn mit seiner Annahme verband, dass es in der Psyche einer Person eine Mehrzahl von Bewusstseinszentren gibt; die sekundären oder unterschwelligen Bewusstseinszentren oder Persönlichkeiten bilden Automatismen aus, die dem normalen Bewusstsein nicht zugänglich sind. Diese Verwendung des Begriffs bei Myers könnte dazu beigetragen haben, dass Janet das Konzept des Automatismus zu einer zentralen Kategorie seiner Forschungen über Hypnose, Somnambulismus und abgespaltene, unterbewusste Persönlichkeiten machte. Vgl. dazu: Adam Crabtree, ‘Automatism’ and the emergence of dynamic psychiatry. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 39 (2003), S. 5170. Vgl. Janet, L’automatisme, S. 24. Vgl. ebd.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
so Janet, impliziert die Bezeichnung einer Handlung als automatisch zudem, dass sie rein mechanisch und ohne Beteiligung des Bewusstseins ablaufe; dagegen vertritt er die Ansicht, dass Automatismen mit dem Bewusstsein vereinbar seien.61 Auch Valéry betrachtet die Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit als ein definierendes Merkmal der Automatismen, wobei diese Automatismen bei ihm aber offenbar auch Reaktionen auf äußere Reize sein können; darüber hinaus scheint für Automatismen nach seinem Verständnis aber auch kennzeichnend zu sein, dass sie sich ohne Bewusstsein, ohne Beteiligung des Denkens, gleichsam mechanisch vollziehen.62 Diese Automatismen erscheinen bei Valéry in einem sehr ambivalenten Licht.63 Eine bestimmte Art von Automatismen gilt ihm offenkundig aufgrund der fehlenden Beteiligung von Denken, Wille und Bewusstsein als eine defizitäre Form mentaler Vorgänge; dies zeigt sich unter anderem in Notizen, in denen er die Feststellung, gewisse Handlungen anderer Personen beruhten auf Automatismen, zur polemischen Abwertung dieser Handlungen verwendet.64 Doch an anderer Stelle bezeichnet er die verbreitete Auffassung, alle Automatismen seien Formen der „dégradation“, als absurd; von „dégradation“ könne nur die Rede sein, wenn Automatismen schlecht funktionieren oder wenn in einer Situation die falschen Automatismen anstelle der eigentlich geforderten aktiviert werden.65 In dieser Feststellung drückt sich die Annahme aus, dass der Mensch in vielen Bereichen seines Tuns auf Automatismen angewiesen ist und dass diese somit eine unverzichtbare Funktion erfüllen. Eine Art von Automatismen schließlich wird von Valéry noch positiver bewertet; er nimmt an, dass Automatismen erworben, dass also bewusste, willkürliche _____________ 61 62
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Vgl. ebd. Dass der automatische Charakter einer Handlung für Valéry das Fehlen des Bewusstseins bzw. der Bewusstheit impliziert, deutet sich etwa in den folgenden Sätzen aus seinen Notizheften an: „Le langage, dans son emploi conscient, est comparable aux actions dont l’ensemble est conscient, mais le détail devenu automatique. On sait que l’on marche, que l’on va là – et pourquoi etc. Mais on n’a aucune conscience de l’acte de chaque pas.“ (C Pl. II, S. 168f., Zitat S. 169 / C facs. XVIII, S. 544 [1935-1936]) Vgl. dazu auch: Pietra, Valéry. Directions spatiales, S. 158f. Vgl. C Pl. I, S. 139f. / C facs. XVII, S. 224 [1934]; C Pl. I, S. 148f. / C facs. XVIII, S. 784 [1936]; C Pl. I, S. 163 / C facs. XXI, S. 769f. [1938]. – Vgl. auch die Verwendung des Begriffs „automatisme“ in der folgenden Bemerkung, in der Valéry die Überzeugungen schildert, die nach der Krise von 1892 für ihn leitend wurden: „Finalement, j’ai été séduit par je ne sais quel Daimôn à opposer la conscience de ma pensée à ses productions, et l’acte réfléchi aux formations spontanées, (même très belles), aux hasards, (même très heureux), – en un mot, à tout ce qui peut être attribué à l’automatisme. [...] Toutes les productions spontanées du moment me parurent suspectes, et je considérai froidement ce que j’avais naguère tenu pour infiniment précieux.“ (aus einer „Réponse“, die in der Zeitschrift Commerce erschien, im Band 29 (Winter 1932), S. 7-14; abgedruckt in: Œ II, S. 1604-1606, hier S. 1605). Vgl. C Pl. I, S. 940 / C facs. V, S. 474 [1914-1915].
1. Valérys Konzeption des Denkens
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Tätigkeiten auf dem Wege häufiger Wiederholungen automatisiert werden können, und dieser Erwerb von Automatismen ist ein ausdrückliches Ziel in seinem Projekt der intellektuellen Selbsterziehung und ‘Dressur’.66 Ein solcher „automatisme supérieur“67 entsteht demnach erst auf der Basis von nicht-automatischen Aktivitäten der ‘höheren’ geistigen Funktionen, die im Folgenden noch zu erörtern sind, etwa des Denkens: „[...] [L]a perfection d’un exercice dépend d’abord de l’intelligence de cet exercice – et puis de l’absence de pensée. À chaque réitération il doit y avoir moins de pensée et plus d’automatisme.“68 Eine geistige Funktion, die Ordnung und Stabilität hervorbringt oder ermöglicht und von Valéry ohne Vorbehalte positiv dargestellt wird, ist die Aufmerksamkeit („l’attention“). Hierbei handelt es sich wiederum um einen Begriff, der auch in der französischen wie der deutschen und angloamerikanischen Psychologie um 1900 eine prominente Rolle spielte. Die Académie des Sciences morales et politiques bestimmte die Aufmerksamkeit als Gegenstand des Aufsatzwettbewerbs um den 1905 zu vergebenden Prix Saintour; Valéry begann mit der Abfassung eines Mémoire sur l’Attention, reichte ihn aber schließlich in unvollendetem Zustand (und erfolglos) ein.69 Valérys Begriff der Aufmerksamkeit ist im Wesentlichen kompatibel mit demjenigen der Psychologie seiner Zeit, etwa dem Théodule Ribots; wie für Ribot die Leistung der Aufmerksamkeit darin besteht, dass sie zeitweilig den „polyidéisme“ des Geistes durch einen „monoidéisme“, den raschen Wechsel einer Vielfalt von mentalen Ereignissen durch die Konzentration auf einen Bewusstseinszustand ersetzt, so beschreibt Valéry die Wirkung der Aufmerksamkeit unter anderem als eine ‘Spezialisierung’.70 Der Unterschied etwa zwischen Ribots Ausführungen und Valérys Notizen zu diesem Thema liegt vor allem darin, dass Valéry sich für andere Aspekte interessiert als jener; während Ribot etwa ausführlich die physischen Begleiterscheinungen und Bedingungen der Aufmerksamkeit untersucht, scheint es Valéry in vielen seiner Aufzeichnungen vor allem darum zu gehen, die charakteristische Leistung der Aufmerksamkeit möglichst präzise zu beschreiben. Diese Leistung besteht für ihn zunächst in einer ‘Spezialisierung’, in der Hervorhebung einiger _____________ 66 67 68 69
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Vgl. etwa: C Pl. I, S. 263 / C facs. XI, S. 643 [1926]; C Pl. I, S. 1018f. / C facs. XIV, S. 15 [1929]; C Pl. I, S. 1142f. / C facs. XXII, S. 757-759 [1939-1940]. C Pl. I, S. 906f., hier S. 906 / C facs. III, S. 810 [1905-1906]. C Pl. II, S. 206f., hier S. 206 / C facs. II, S. 758 [1902]. Vgl. Paul Valéry, Mémoire sur l’Attention. In: P. V., Cahiers 1894-1914. Édition intégrale établie, présentée et annotée sous la co-responsabilité de Nicole Celeyrette-Pietri et Judith Robinson-Valéry. Vol. VI. Paris 1997, S. 223-241. Vgl. auch die Anmerkungen der Herausgeber: Ebd., S. 273-275. „Attention est adaptation – spécialisée.“ (C Pl. II, S. 265f., Zitat S. 266 / C facs. VIII, S. 236f. [1921]) Vgl. auch: C Pl. II, S. 270f. / C facs. XVI, S. 164 [1933].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Bewusstseinsbestandteile auf Kosten anderer,71 ferner aber auch im Festhalten und Verlängern eines Bewusstseinszustands: Wenn man seine Aufmerksamkeit aktiviert, so sucht man eine mentale Einheit, etwa eine Idee oder ein Bild, etwas länger im Bewusstsein festzuhalten und stellt insofern dem unaufhörlichen Kommen und Gehen der mentalen Entitäten einen Widerstand entgegen. Das Festhalten von einem oder mehreren Bewusstseinsinhalten ermöglicht es, Vergleiche zwischen ihnen anzustellen, sie in verschiedene Kontexte zu stellen oder neue Verbindungen zwischen ihnen zu schaffen.72 Wichtig ist, dass die Aktivierung der Aufmerksamkeit eine Anstrengung, einen „effort“73, bedeutet und daher immer nur begrenzte Zeit aufrechterhalten werden kann; Valéry vergleicht den Menschen, der seine Aufmerksamkeit anstrengt, gelegentlich mit einem Taucher, der nur begrenzte Zeit unter Wasser bleiben kann.74 Der Zustand, in den sich der Mensch hier kurzzeitig versetzt, so Valéry in derselben Notiz, ist ein künstlicher und forcierter, der sich gegen die Natur und gegen den „cours naturel des choses“ richtet;75 dies unterscheidet die Aufmerksamkeit grundsätzlich von der Automatismenbildung, in der sich letztlich die natürliche Tendenz lebender Organismen zur Vermeidung von Kraftaufwand und somit der „cours naturel des choses“ manifestiert. Die Aufmerksamkeit erlaubt es dem Menschen, aus einer Menge von mentalen Inhalten einige herauszugreifen, sie ‘festzuhalten’ und zu ‘verfolgen’, wie die visuelle Aufmerksamkeit einen Ausschnitt des Gesichtsfelds auswählt und fokussiert. Darüber hinaus verfügt der menschliche Geist über die Fähigkeit, diese mentalen Inhalte als mentale Phänomene wahrzunehmen und sich selbst von ihnen abzuheben, so wie er alle in einem Moment gesehenen Gegenstände als das Gesehene dem Auge oder der _____________ 71
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Diesen Aspekt der Aufmerksamkeit hat Valéry häufig anhand des Beispiels der visuellen Wahrnehmung und der „attention visuelle“ verdeutlicht; die visuelle Aufmerksamkeit besteht in den Anpassungen und Bewegungen des Sehapparats, die unternommen werden, um einen Teil des Gesichtsfelds klarer zu sehen, einen Gegenstand zu fokussieren oder ein sich bewegendes Objekt im Blick zu behalten. (C Pl. II, S. 264f., Zitat auf S. 264 / C facs. V, S. 486 [1914-1915]) Vgl. auch C Pl. II, S. 259 / C facs. III, S. 354 [1903-1905]. „L’attention transforme toujours l’objet. Elle est une transformation d’un objet – et cette transformation a un sens, elle tend à faire de l’objet une chose entièrement connue – c’est-à-dire retenue par mémoire et située cependant dans le royaume des variables libres et volontaires – comme une fonction – avec toute généralité et variabilité – possédée. – Compensée – annexée. C’est un procédé de transform[ation] de mes pouvoirs sur l’objet – Le passage d’une coordination – à une autre plus étendue – plus liée – plus possédée.“ (C Pl. II, S. S. 258f. / C facs. III, S. 340 [1903-1905]) „L’attention est l’effort de prolongement, de continuité, dans le net.“ (C Pl. II, S. 268 / C facs. XI, S. 498 [1926]) Vgl. auch C Pl. II, S. 254 / C facs. II, S. 327 [1901]. Vgl. C Pl. II, S. 265f., hier S. 265 / C facs. VIII, S. 236f. [1921]. Vgl. ebd.: „Ce temps de plongée, de vie dans des conditions économisées, restreintes, forcées, contre-nature, contre le cours naturel des choses, dans l’attente, [...].“
1. Valérys Konzeption des Denkens
317
Sehfähigkeit gegenüberstellen kann. Diese Gegenüberstellung und Unterscheidung ist die Leistung des Selbstbewusstseins oder schlicht: des Bewusstseins; Valéry verwendet zur Bezeichnung dieser Funktion die Ausdrücke „Self-consciousness“, „Consciousness“ und „conscience“ nebeneinander, ohne dass er ihnen klar unterschiedene Bedeutungen zuzuweisen scheint.76 In einem Notizheft aus dem Jahr 1900 beschreibt er die Leistung der „conscience“ wie folgt: La conscience nous montre la pensée en tant que pensée. Donc, elle dégage à chaque instant celui qui pense de chaque pensée particulière. Elle lui permet de considérer chaque idée, chaque relation ou émotion comme un cas particulier. Elle l’engage de suite à supposer ou a figurer toute autre combinaison des mêmes termes, ou même de termes entièrement différents. À un certain point de vue l’usage de la propriété en question est un exercice ou un type de développement.77
Diese Notiz benennt die zwei Aspekte des Bewusstseins, die Valéry in den folgenden Jahren und Jahrzehnten besonders eingehend untersucht hat. Erstens hebt sich durch das Bewusstsein das Subjekt des Denkens – „celui qui pense“ – von den einzelnen Gedanken ab; an diese Annahme knüpfen sich Valérys ausführliche Reflexionen über die Beschaffenheit von „celui qui pense“, über das Wesen dieser Instanz, die sich durch die Distanzierung von einzelnen Bewusstseinsinhalten ihrer eigenen Existenz vergewissert oder sich durch diese Trennung überhaupt erst konstituiert. Diese Instanz hat Valéry meist als „Moi“ oder „Moi pur“ bezeichnet; seine ausführlichste und eindringlichste Erörterung dieses „Moi pur“ und seiner Beziehung zur „conscience“ findet sich in dem Essay Note et digression, auf den weiter unten zurückzukommen sein wird. Das obige Zitat lässt ferner erkennen, dass das Bewusstsein in Valérys Augen ein kognitives Vermögen von immensem Potential ist und dem Denken des Individuums weitreichende Möglichkeiten eröffnet; dies ist der zweite Aspekt des Bewusstseins, dem Valéry in vielen Einträgen seiner Notizhefte nachgeht. Wie sich in dem Zitat andeutet, ist die „conscience“ für Valéry zunächst und vor allem ein Vermögen der Distanzierung und Unterscheidung: Im Akt des „prendre conscience“ tritt das Subjekt gegenüber seinen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen gewissermaßen einen Schritt zurück, macht sich klar, dass sie Gedanken und Empfindungen, nicht etwa Dinge der Außenwelt sind, differenziert zwischen diesen _____________ 76
77
Vgl. zu Valérys Begriff des Bewusstseins (‘conscience’, ‘consciousness’): Karl Alfred Blüher, Valérys Begriff des ‘Self-consciousness’. In: Forschungen zu Paul Valéry – Recherches Valéryennes 12 (1999), S. 7-49; A. E. Pilkington, Valéry and Sartre: The nature of consciousness. In: French Studies 43 (1989), S. 182-194; Judith Robinson, Dreaming and the Analysis of Consciousness in Valéry’s ‘Cahiers’. In: French Studies 16 (1962), S. 101-123. C Pl. II, S. 204 / C facs. II, S. 40 [1900].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
verschiedenen Arten mentaler Phänomene und unterscheidet sich selbst von ihnen;78 dieser Akt der Distanzierung erlaubt es ihm, jeden Komplex von Gedanken oder Gefühlen als nur einen möglichen Fall zu erkennen („un cas particulier“) und andere Kombinationen und Variationen seiner Elemente zu imaginieren. Indem das Subjekt diese Partikularität der mentalen Inhalte erkennt und sich von ihnen unterscheidet, nimmt es zugleich sich selbst als etwas Allgemeineres wahr, als eine Instanz (ein „Moi“), welche ganz andere Gedanken und Gefühle haben könnte, dabei aber ihrerseits unverändert dieselbe wäre.79 Insofern kann man sagen, dass „[p]rendre conscience de sa pensée“ immer zugleich „prendre conscience de soi“ bedeutet, nämlich „prendre conscience [...] d’un être plus général“.80 Die „conscience“ ist für Valéry sodann ein Vermögen der gezielten Auswahl: Das Subjekt, das gegenüber seinen Gedanken und Gefühlen einen Schritt zurückgetreten ist, kann sie beurteilen und aus ihnen ein Element auswählen, das sich näher zu betrachten oder weiter zu entwickeln lohnt.81 Die „conscience“, die von Valéry solcherart als eine Fähigkeit der Distanzierung, Relativierung und Differenzierung bestimmt wird, kann unterschiedlich stark entwickelt sein; die „conscience“ scheint für ihn einen desto höheren Grad zu erreichen, je größer der Umfang der Gedanken und Gefühle ist, denen gegenüber das Subjekt den Akt der Distanzierung und Unterscheidung vollzieht, der für die „conscience“ konstitutiv ist.82 Valérys Konzeption der „conscience“ war eine weitgehend originelle Schöpfung; seine Annahmen über die differenzierenden, relativierenden und selektiven Leistungen des Bewusstseins haben etwa in der zeitgenössischen französischen Psychologie keine Vorbilder oder Entsprechungen. _____________ 78 79
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„Degré de conscience est degré de distinction.“ (C Pl. II, S. 221 / C facs. VII, S. 876 [1921]). – „Être plus conscient, c’est être plus sélectif.“ (C Pl. II, S. 235 / C facs. XIII, S. 110 [1928]) „La devise du conscient est: Je puis être infiniment autre. [§] La conscience est l’extérieur de toute chose – l’éternel dehors.“ (C Pl. II, S. 210f., Zitat S. 211 / C facs. III, S. 740 [19051906]) „On pourrait presque dire: Prendre conscience de sa pensée – c’est prendre conscience de soi = d’un être plus général, puis revenir à sa pensée dès lors perçue comme mouvement relatif. On a fait un changement d’axes ou de repères. On a perçu quelqu’un dont cette pensée est la pensée et auquel on se confondait naguère. [...]“ (C Pl. II, S. 215f., Zitat S. 216 / C facs. V, S. 473 [1914-1915]) „L’acte de l’esprit, en tant que se distinguant de son propre état, est de réprimer, repousser certaines de ses productions ou résonances – et de renouveler, conserver, renforcer, favoriser telles autres.“ (C Pl. II, S. 234 / C facs. XII, S. 517 [1927-1928]) „Que les idées qui viennent soient JUGEES .. C’est là un fait, – le plus étonnant de tous. Nous jugeons nos jugements. Mais tantôt plus, tantôt moins – il y a donc des degrés. Et tantôt par rapport à telle idée, tantôt par rapport à telle. Cette critique continuelle, variable en intensité, variable en principes – Parfois explicite, parfois implicite. [§] La différence entre Moi et mon Idée est une perception variable, – et capitale.“ (C Pl. I, S. 217 / C facs. VI, S. 379 [1916-1917]) – Vgl. auch C Pl. II, S. 215f. / C facs. V, S. 473 [1914-1915].
1. Valérys Konzeption des Denkens
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Wo Ribot in seinem Buch Les maladies de la personnalité das Wesen des Bewusstseins („la nature de la conscience“) erörtert, da stellt er zwei konkurrierende Hypothesen vor, deren eine das Bewusstsein als Wesensmerkmal der substanzialistisch verstandenen Seele auffasst, während die zweite es als ein Phänomen betrachtet, das bestimmte neurophysiologische Vorgänge als Bedingungen voraussetzt und dementsprechend manche Gehirnaktivitäten begleitet, andere nicht; es braucht kaum eigens erwähnt zu werden, dass er die zweite Hypothese als die bei weitem überlegene präsentiert.83 Für Ribot bezeichnet „conscience“ demnach allein die Bewusstheit der „manifestations de la vie psychique“84, und sein Interesse richtet sich vor allem auf die Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Bewusstsein und neurophysiologischen Vorgängen, nach der Kontinuität oder Diskontinuität des Bewusstseins und nach dem Verhältnis des Bewussten zum Unbewussten („le rapport du conscient à l’inconscient“85). – Die entscheidende Anregung zu seiner Konzeption des Bewusstseins erhielt Valéry, wie er in seinen Notizheften verschiedentlich festhielt, von Edgar Allan Poe, der ihm das Ideal einer bewussten Beobachtung des eigenen Denkens und seiner Operationen vermittelt habe.86 Bewusstsein, Aufmerksamkeit und die Fähigkeit zur Automatismenbildung liefern die Mittel und Voraussetzungen, aufgrund derer der Mensch die Unordnung und Instabilität seines Geistes bis zu einem gewissen Grad überwinden kann. Die geistige Tätigkeit, in der er diese Funktionen einsetzt und Instanzen von Ordnung und Regelmäßigkeit produziert, ist das Denken beziehungsweise die Aktivität des Intellekts. 1.1.5. Valérys Konzeption des Mentalen im Verhältnis zur Psychologie seiner Zeit Bevor Valérys Auffassung vom Denken und vom Intellekt in den Blick genommen wird, sei die Frage erörtert, wie sich seine Konzeption des Geistes oder des Mentalen im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verorten lässt. Während Musil sich in Aufsätzen ausdrücklich auf die Theorien etwa Köhlers, Lévy-Bruhls oder Kretschmers berufen hat, hat Valéry in seinen Aufzeichnungen, sofern er überhaupt auf die zeitgenössische Psychologie Bezug nahm, vor allem seine Distanz ihr gegenüber betont; in _____________ 83 84 85 86
Vgl. Ribot, Les maladies de la personnalité, S. 4-14; das Zitat „la nature de la conscience “ auf S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 13; vgl. dazu ebd., S. 6-13. Vgl. C facs. XVII, S. 561; C Pl. I, S. 178 / C facs. XXII, S. 842f.; [1939-1940]. Vgl. dazu: Blüher, Valérys Begriff des ‘Self-consciousness’, S. 11f.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
seinen veröffentlichten Texten finden sich so gut wie keine Äußerungen zu dieser Psychologie, und erst recht keine zustimmenden. Dies dürfte auch die Erklärung dafür liefern, dass man in der Forschung über lange Zeit hinweg zwar immer wieder Parallelen zwischen Valérys theoretischen Überzeugungen und philosophischen Entwürfen oder Richtungen konstatiert hat, aber kaum nach möglichen Vorbildern und Anregungen der Valéry’schen Psychologie gefragt, sondern dieselbe tendenziell – wie es Valérys Selbstdarstellung nahe legte – als eine in allen wesentlichen Punkten originelle Schöpfung ihres Autors betrachtet hat.87 Insbesondere die Frage nach den Beziehungen von Valérys psychologischen Konzepten zu der französischen Psychologie um 1900 wurde über lange Zeit gar nicht erst gestellt, da sie offenbar nicht für fruchtbar erachtet wurde. Erst 1997 hat Karl Alfred Blüher in einem Aufsatz auf diese Forschungslücke aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass Valérys Auseinandersetzung mit den Schriften führender Psychologen seiner Zeit durchaus in vielen Fällen belegbar, in anderen als sehr wahrscheinlich anzunehmen sei.88 Blüher sucht in diesem Aufsatz ferner aufzuzeigen, dass Valéry ab etwa 1902 „sporadisch“ Konzepte „aus der zeitgenössischen empirischen Psychologie“ übernommen habe, „wobei sich vor allem ein zunehmendes Interesse an neurologischen und reflexphysiologischen Phänomenen abzeichnet“89. Als Konzepte, an denen sich Valérys Rezeption der empirischen Psychologie seiner Zeit besonders gut nachvollziehen lasse, nennt Blüher die des Reflexes, des Automatismus und des Instinkts.90 Ganz generell bestehe eine Nähe zwischen Valérys Konzeptionen und den Ansätzen der „neuen empirisch-experimentellen Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts“, weil sich letztere „ebenso wie Valéry an naturwissenschaftlichen Prinzipien orientiert und eine funktionalistisch verstandene ‘Mechanik des Nervensystems’ zugrundegelegt“ habe.91 _____________ 87
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Vgl. etwa: Régine Pietra, Sentir, imaginer, abstraire. Éléments d’une théorie de la connaissance dans les premiers Cahiers de Paul Valéry. In: Celeyrette-Pietri (Hg.), Lectures des premiers Cahiers, S. 97-130, hierzu S. 123-125. Vgl. Karl Alfred Blüher, Paul Valéry und die empirisch-experimentelle Psychologie des 19. Jahrhunderts. In: Forschungen zu Paul Valéry – Recherches Valéryennes 10 (1997), S. 5785; zu den Autoren, deren Werke Valéry mit Sicherheit oder wahrscheinlich kannte (Ribot, Janet, William James, Darwin, Bergson), vgl. ebd., S. 59-64. – Virtanen hatte allerdings schon in einem Aufsatz von 1973 am Rande auf zwei Nennungen Ribots in den Cahiers hingewiesen; vgl. Virtanen, Paul Valéry’s scientific education, S. 374, 378 (Anm. 27). Valéry nennt an diesen Stellen kaum mehr als den Namen Ribot, einmal zusammen mit dem des englischen Psychologen Maudsley: vgl. C facs. III, S. 428 [1903-1906]; C facs. XII, S. 595 [1926-1928]. Blüher, Paul Valéry und die empirisch-experimentelle Psychologie, S. 64. Vgl. ebd., S. 65-69. Ebd., S. 57.
1. Valérys Konzeption des Denkens
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Die Grundthese, dass es relevante Beziehungen zwischen Valérys psychologischen Konzepten und der zeitgenössischen wissenschaftlichen Psychologie gebe, wird von Blüher plausibel begründet; auch seine Hinweise auf die Konzepte, an denen sich diese Berührungen aufzeigen lassen, sind überzeugend. Weniger einleuchtend scheint mir hingegen die zuletzt zitierte Aussage über die Orientierung an naturwissenschaftlichen Prinzipien und die „funktionalistisch verstandene ‘Mechanik des Nervensystems’“ als Gemeinsamkeiten zwischen Valéry und der zeitgenössischen Psychologie; diese Formulierungen werden der Heterogenität der in der damaligen Psychologie konkurrierenden Ansätze kaum gerecht und scheinen mir auch die Ausrichtung der Psychologie etwa Ribots nicht treffend zu charakterisieren.92 Jedenfalls aber lohnt es sich, Blühers Anregungen aufzugreifen und die Beziehungen zwischen Valérys Auffassungen und den Theorien der zeitgenössischen Psychologie, unter anderem und insbesondere der französischen Psychologie, eingehender zu untersuchen. Zunächst allerdings scheint es mir ratsam, auf einige fundamentale Differenzen zwischen Valérys Konzepten und der von Ribot repräsentierten französischen Psychologie hinzuweisen. Es gab zwei Grundprinzipien der von Ribot vertretenen Version von Psychologie, die Valéry explizit ablehnte oder sich zumindest nicht zu Eigen machte: Dies waren erstens die physiologische und zumindest tendenziell reduktionistische Erklärungsweise, zweitens die Verbindung von Psychopathologie und Evolutionstheorie. Zum ersten dieser Punkte: Es ist unbestreitbar, dass Valéry den Einfluss des Körpers auf mentale Vorgänge als sehr weitreichend und wichtig einschätzte und somit auch physiologischen Forschungen einen wichtigen Platz innerhalb der Psychologie einräumte. Doch die Art der Beziehung zwischen körperlichen und mentalen Prozessen wurde von ihm gleichwohl gänzlich anders konzipiert als etwa von Ribot; wie sich vor allem in seiner Unterscheidung der Ebenen des ‘fonctionnel’ und des ‘significatif’ zeigt, betrachtet er körperliche Vorgänge als Bedingungen oder Voraussetzungen mentaler Vorgänge, ohne aber zu meinen, dass einzelne mentale Ereignisse als Effekte bestimmter physiologischer Ereignisse begriffen oder dass mentale Ereignisse als ‘Begleiter’ von physiologischen aufgefasst und mit ihnen parallelisiert werden könnten. Die Positionen des Epiphänomenalismus oder des physiologi_____________ 92
Es müsste zumindest näher erläutert werden, was eine „funktionalistisch verstandene ‘Mechanik des Nervensystems’“ ist, da mechanische (oder mechanistische) und funktionalistische Perspektiven sich nicht ohne weiteres miteinander vertragen. Vor allem aber scheint mir das Attribut ‘funktionalistisch’ die Ausrichtung der französischen Psychologie um 1900, also etwa die Ribots, nicht zutreffend zu charakterisieren; insofern es Ribot und anderen Vertretern der physiologischen Psychologie in Frankreich um eine ‘Mechanik des Nervensystems’ ging, war das eine in physiologischen, physikalischen oder chemischen, nicht in funktionalistischen Begriffen verfasste ‘Mechanik’.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
schen Reduktionismus sowie die des psychophysischen Parallelismus, zwischen denen Ribot sich zu bewegen scheint, waren Valéry beide fremd. Diese grundsätzliche Differenz zwischen Valéry und Ribot zeigt sich auch in ihren unterschiedlichen Einstellungen zur Hirnforschung, insbesondere zur Lokalisationsforschung: Valéry beurteilte den Erkenntniswert hirnphysiologischer Forschungen für die Psychologie eher skeptisch und hielt es insbesondere für sinnlos oder ‘kindisch’, bestimmte Fähigkeiten in bestimmten Hirnarealen zu situieren, da die dabei verwendeten psychologischen Kategorien zu grobschlächtig und die angenommenen kausalen Beziehungen zwischen anatomisch-physiologischer und psychologischer Ebene zu direkt seien.93 Ribot dagegen zieht in seinen Büchern zustimmend Ergebnisse der Hirnforschung heran und bedauert lediglich, dass die Untersuchungen der „localisations cérébrales“ noch nicht weiter fortgeschritten seien.94 Zur zweiten der oben genannten Differenzen: Ribot und die von ihm vertretene physiologische Psychologie in Frankreich stützten sich in ihren Forschungen in erheblichem Maße auf die Untersuchung pathologischer Fälle, geleitet von der Annahme, dass Krankheiten die jüngeren Etappen der Evolutionsgeschichte rückgängig machen und folglich die einfachsten Entwicklungsstufen der psychischen Funktionen zum Vorschein kommen lassen.95 Valéry dagegen scheint psychopathologischen Erscheinungen zunächst kein großes Interesse entgegengebracht oder ihnen zumindest keine besondere Aufschlusskraft im Hinblick auf die Gesetze des mentalen Geschehens im gesunden Zustand zugeschrieben zu haben.96 Dies änderte sich spätestens im Laufe der 1920er Jahre, als er die Bekanntschaft des Neurologen Ludo van Bogaert machte und über ihn Einblicke in die
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„Il est enfantin de chercher à placer dans le cerveau, à tel lieu, telle faculté. [§] Ce n’est pas que cet ensemble de masses cellulaires ne soit composé de parties spécialisées et des connexions de ces parties – c’est que les notions ‘psychologiques’ que l’on veut caser sont généralement très grossières. [§] C’est comme si on voulait trouver dans une centrale électrique (étant ignorant de toutes choses électriques) la machine qui fait la lumière rouge de telle lampe.“ (C Pl. I, S. 1066 / C facs. XX, S. 467 [1937]) Vgl. Ribot, Les maladies de la volonté, S. 89-94, Zitat S. 94. Vgl. etwa: Ribot, Les maladies de la volonté, S. 161, 165; ders., Les maladies de la personnalité, S. 2. In einem Artikel von 1897 wirft er beiläufig der wissenschaftlichen Psychologie vor, dass sie sich nur im Bereich des Vagen aufhalte, zu dem auch das Gebiet der Ausnahmen („l’exception“) gehöre (vgl. Œ II, S. 1449). Außerdem scheint Valéry insgesamt dazu zu neigen, mentale Krankheiten oder Störungen auf Unregelmäßigkeiten in der Funktionsweise der „vie organique profonde“ zurückzuführen, deren Gesetze dem Menschen großenteils unbekannt sind und in gewissem Maße immer bleiben werden (vgl. Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1218, 1220f.; das Zitat auf S. 1224 [Marginalie]).
1. Valérys Konzeption des Denkens
323
aktuelle Forschung der Neuropathologie erhielt.97 In den folgenden Jahren hielt Valéry in einigen Einträgen in den Cahiers fest, worin in seinen Augen der Erkenntniswert der Untersuchungen pathologischer Fälle bestand. Anders als Ribot zog er dabei aber nicht die Evolutionstheorie heran und begriff die pathologisch veränderten Vorgänge daher auch nicht als Manifestation früherer Evolutionsstadien, sondern als Resultate des Ausfalls psychischer Teilfunktionen: Die pathologischen Fälle lieferten in seiner Sicht Belege dafür, dass normale geistige Leistungen, die scheinbar einfacher Natur waren, in Wahrheit auf dem Zusammenwirken vieler unabhängiger Funktionen und Bedingungen beruhten.98 Während Ribot also durch die Analyse pathologischer Phänomene den elementaren Ursprungsformen geistiger Leistungen auf die Spur zu kommen meinte, aus denen alle höheren Leistungen auf dem Wege gradueller Weiterentwicklung hervorgegangen seien, sah Valéry in diesen Phänomenen Indizien für den hochgradig zusammengesetzten Charakter der mentalen Aktivitäten. Gleichwohl lassen sich zwischen der Psychologie Valérys und derjenigen Ribots auch Gemeinsamkeiten feststellen, und zwar nicht nur auf der Ebene einzelner Konzepte oder spezieller Theoreme, sondern auch und gerade auf derjenigen der Grundannahmen. Eine solche Überschneidung ergibt sich zunächst schon dadurch, dass Valéry sich ganz selbstverständlich eines Vokabulars bedient, das ebenso wie das der physiologischen Psychologie Ribots letztlich in der Tradition des englischen Empirismus und der Assoziationspsychologie steht. Das Grundmodell der mentalen Vorgänge, das Valéry voraussetzt, beschreibt diese Vorgänge als eine Abfolge von mentalen Entitäten, zu denen „sensations“, „images“ und „idées“ gehören. Er übernimmt damit eine Sichtweise, die mentale Vorgänge und Zustände möglichst weitgehend zu objektivieren sucht und sie tendenziell elementaristisch oder atomistisch beschreibt. Diese Tatsache verdient festgehalten zu werden, auch wenn Valéry zentrale Bestandteile der Assoziationspsychologie, insbesondere ihre Auffassung von den Gesetzen, die die Sukzession der mentalen Entitäten regeln, abgelehnt hat. Dass er sich zumindest bis zu einem bestimmten Punkt der objektivierenden und atomistischen Sichtweise des englischen Empirismus anschloss, bedeutet eben auch, dass er sich nicht die eher phänomenologisch und _____________ 97
98
Vgl. C Pl. I, S. 991 / C facs. XI, S. 161 [1925-1926]. Vgl. auch: Ludo van Bogaert / Judith Robinson-Valéry, Valéry devant la neurologie en évolution. In: Robinson-Valéry (Hg.), Fonctions de l’esprit, S. 159-180. „La pathologie mentale ou neurologique a pour principal intérêt de montrer que des activités qui paraissaient simples et entières, sont en réalité extrêmement composées.“ (C Pl. I, S. 1056 / C facs. XVIII, S. 664 [1936]) Vgl. auch: C Pl. I, S. 991 / C facs. XI, S. 161 [19251926]; C Pl. I, S. 992 / C facs. XI, S. 179 [1925-1926].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
holistisch angelegten Ansätze zu Eigen machte, die etwa von Bergson oder William James entworfen wurden. Der wichtigste Konvergenzpunkt zwischen der Psychologie Valérys und derjenigen Ribots aber scheint mir ein anderer zu sein: Beide fassen den primären, natürlichen Ausgangszustand des Geistes als einen tendenziell chaotischen auf und die ‘höheren’ Willens- und Verstandesleistungen als das stets bedrohte und fragile Produkt einer ‘künstlichen’ Erziehung. Für Ribot besteht die basale, evolutionär früheste und folglich stabilste Schicht der mentalen Vorgänge aus simplen Reflexen und Automatismen, deren Aufeinanderfolge weitestgehend durch den Zufall äußerer Einflüsse beherrscht wird und sich dementsprechend ungeordnet und diskontinuierlich präsentiert. Willensakte, Intelligenzleistungen und willkürliche Anstrengungen der Aufmerksamkeit sind jüngere evolutionäre Errungenschaften, die mithilfe gezielter Erziehung und Arbeit erobert wurden und deren Aufrechterhaltung auf dem prekären Zusammenwirken zahlloser Einzelfaktoren beruht, so dass ihre Existenz geradezu einen „accident heureux“ darstellt.99 Diese Theorie besitzt offenkundige Affinitäten zu Valérys Auffassung vom natürlichen Grundzustand des Geistes als weitgehend ungeordnet oder chaotisch sowie zu seinen Überzeugungen vom Wert des mentalen Trainings, auch wenn diese Annahmen bei Valéry nicht in einem evolutionstheoretischen Rahmen stehen. Valéry und Ribot befinden sich damit beide im Gegensatz nicht nur zu Bergsons Konzeption der „durée réelle“, sondern auch zu allen Psychologen und Philosophen, die schon in den elementaren, ‘unbearbeiteten’ mentalen Prozessen Instanzen von Ordnung und Ansätze zu höheren Leistungen entdecken; auf je spezifische Weise tun dies sowohl Ernst Mach als auch die Gestaltpsychologen.100 Valéry und Ribot schätzen den Wert dieser mentalen Vorgänge in ihrem natürlichen Ausgangszustand gewissermaßen pessimistischer ein und sehen die höheren geistigen Leistungen weniger als das Ergebnis einer kontinuierlichen, organischen Höherentwicklung elementarer Prozesse, sondern als Produkt einer gezielten „éducation“, die einen _____________ 99
Vgl. Ribot, Les maladies de la volonté, S. 54, 85-87, 154; die Rede vom „accident heureux“, bezogen auf „la volonté“, ebd., S. 87, 177. Vgl. auch ders., Psychologie de l’attention, S. 4954, 58-60. 100 Mach findet schon in den einfachsten, instinktförmigen Arten psychischer Vorgänge Beispiele für die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und betont unermüdlich die Kontinuität der Übergänge zwischen primitiven und komplexesten Ausprägungen psychischer Tätigkeiten. (Vgl. Mach, Erkenntnis und Irrum, etwa S. V, 2f., 23, 232, 372; ders., Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken, vor allem S. 250f.) Für die Gestaltpsychologen stellen Gestalthaftigkeit und die Herausbildung ‘prägnanter’ Formen bereits Merkmale von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsvorgängen in ihrer ursprünglichen, natürlichen Erscheinungsweise dar.
1. Valérys Konzeption des Denkens
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Bruch mit den ursprünglichen oder natürlichen Tendenzen des Geistes voraussetzt. Die Frage, wie diese Konvergenz zwischen Valéry und der von Ribot repräsentierten physiologischen Psychologie zu erklären ist, inwiefern sie also auf andere gemeinsame Überzeugungen oder geteilte theoretische Traditionen zurückzuführen ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Valérys Annahme des wesentlich unordentlichen und diskontinuierlichen Charakters der ‘natürlichen’ mentalen Vorgänge hängt, wie oben ausgeführt wurde, eng mit seinen Auffassungen über die sich vielfach überlagernden Ordnungen und die Bereiche der Unordnung in der Natur zusammen sowie insbesondere auch mit seiner Sicht auf den Körper. Darüber hinaus dürfte diese Annahme ihm aufgrund persönlicher Erfahrungen plausibel oder zur Deutung dieser Erfahrungen geeignet erschienen sein; er bezeichnete wiederholt Diskontinuität und Unregelmäßigkeit als die vorherrschenden Tendenzen seiner eigenen geistigen Vorgänge und Zustände.101 Was Ribot und die physiologische Psychologie angeht, so kann man vermuten, dass ihre Sicht auf die natürlichen, elementaren mentalen Prozesse stark durch den Umstand beeinflusst wurde, dass sie das Verhalten geistig Kranker als Manifestation solcher elementaren Prozesse auffassten und analysierten. Gleichwohl dürfte die Annahme eines tendenziell chaotischen Wesens der ursprünglichen mentalen Vorgänge bei Valéry und in der Psychologie Ribots auch einen relevanten gemeinsamen theoretischen Hintergrund haben: Beide scheinen einen Begriff von der Natur vorauszusetzen, der diese vorwiegend als eine ordnungslose und menschlichen Bedürfnissen indifferent und fremd gegenüberstehende deutet. Auch mit diesem Naturbegriff stehen Valéry und Ribot im Gegensatz sowohl zu Ernst Mach als auch zur Gestaltpsychologie, die der Natur jeweils einen weit höheren Grad an Ordnung, Regelmäßigkeit und Harmonie zuschreiben. Valérys Konzeption der mentalen Vorgänge überhaupt trifft sich also, wenn auch keineswegs in allen, so doch in einigen wesentlichen Punkten mit den Grundannahmen der zeitgenössischen französischen physiologischen Psychologie. Später wird zu fragen sein, inwiefern sich diese Gemeinsamkeiten auch auf seine Konzeption des Denkens oder der intellektuellen Vorgänge erstrecken, der ich mich im Folgenden zuwende. Wenn in den voranstehenden Ausführungen die Auffassungen Valérys gelegentlich denjenigen Ernst Machs gegenübergestellt wurden, so sollte auch damit eine Diskussion der Forschung aufgegriffen werden. Es gibt zwar keine Belege dafür, dass Valéry Mach gelesen habe, aber man hat die _____________ 101 Vgl. etwa: Paul Valéry à André Gide [16 octobre 1899]. In: Gide / Valéry, Correspondance, S. 354-357, hier S. 354. Vgl. auch einen im Anhang der Pléiade-Ausgabe abgedrucken Auszug aus einem Notizbuch von 1897: Œ II, S. 1446f., hier S. 1447.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Vermutung geäußert, dass es eine Lektüre Machs gewesen sein könnte, die bei Valéry zu der so genannten ‘Krise von 1908’ geführt habe. In einem Brief vom März 1908 schrieb Valéry an Gide, er habe eine schwere, geradezu vernichtende intellektuelle Krise durchgemacht, nachdem er einige seiner wichtigsten und liebsten Ideen bei einem anderen Autor gefunden habe: „Imagine ce que c’est de trouver, en plein travail, deux ou trois idées les plus chères, les plus originales, les plus centrales – découvertes à peu près par autrui – utilisées largement.“102 In der Forschung sind verschiedene Vermutungen über die Identität des anderen Autors vorgebracht worden; Bernard Lacorre brachte zuerst den Namen Ernst Machs ins Spiel und wies darauf hin, dass die französische Übersetzung von Erkenntnis und Irrtum Anfang 1908 erschienen war und dass Valéry zudem durch Zeitschriftenaufsätze von diesem Buch und Machs Ideen hätte erfahren können.103 Lacorre und mehrere an ihn anschließende Forscher104 haben Ähnlichkeiten zwischen Machs und Valérys psychologischen und erkenntnistheoretischen Positionen herauszuarbeiten gesucht, die Valérys in dem erwähnten Brief beschriebene Reaktion erklären könnten. Die Thesen, die zum Verhältnis zwischen den Auffassungen Valérys und Machs vorgebracht worden sind, sollen hier nicht vollständig diskutiert werden, auch weil sie sich auf unterschiedliche systematische Ebenen beziehen. Stattdessen werden im Fortgang des Kapitels an verschiedenen Stellen die Positionen Machs zum Vergleich herangezogen werden. Generell aber dürfte es wichtig sein, einige grundlegende Differenzen zwischen Valérys und Machs Konzeptionen des Mentalen und des Denkens im Auge zu behalten. Valéry lehnte zwar ebenso wie Mach (und viele andere zeitgenössische Autoren) den Leib-Seele-Dualismus ab beziehungsweise hielt die Diskussion um Dualismus und Materialismus für Unsinn;105 aber _____________ 102 Paul Valéry à André Gide [19 mars 1908]. In: Gide / Valéry, Correspondance, S. 415f., Zitat S. 416. 103 Vgl. Bernard Lacorre, La catastrophe de 1908. In: Bulletin des études valéryennes 43 (1986), S. 19-26. 104 Vgl.: Nicole Celeyrette-Pietri / Robert Pickering, Les chantiers de l’écriture. In: Paul Valéry, Cahiers 1894-1914. Vol. IX: 1907-1909. Éd. intégrale établie, présentée et annotée sous la responsabilité de Nicole Celeyrette-Pietri et Robert Pickering. Paris 2003, S. 237-254, vor allem S. 247-252; Florence de Lussy, La crise de 1908. Paul Valéry et Ernst Mach. In: Jean Hainaut (Hg.), Valéry: Le partage de midi. ‘Midi le juste’. Actes du colloque international tenu au Collège de France le 18 novembre 1995. Paris 1998, S. 91-107; Jürgen SchmidtRadefeldt, Inwiefern kann interdisziplinäres Denken orientieren? Das Fallbeispiel Paul Valéry. In: Heiner Hastedt / Helmut Lethen / Dieter Thomä (Hg.), Orientierung, Gesellschaft, Erinnerung. Rostock 1997, S. 79-93, hierzu S. 88-91. 105 Zu Valérys Haltung zu den Diskussionen um Leib-Seele-Dualismus, Spiritualismus und Materialismus vgl.: Robinson, L’analyse de l’esprit, S. 82-103. – Ähnlichkeiten zwischen Valérys und Machs Auffassungen über das Verhältnis zwischen Psychischem und Physi-
1. Valérys Konzeption des Denkens
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seine Äußerungen zu diesem Thema lassen keine Affinität zu der von Mach vertretenen Form des Monismus, seiner Lehre von den Elementen/Empfindungen,106 erkennen. Außerdem attestiert Machs evolutionsbiologisch fundierte Sicht auf die Natur dem Menschen und seinen Lebensäußerungen eine durchgängige Tendenz zu fortschreitender Anpassung und Ökonomie, somit auch eine Einheitlichkeit, die in Valérys Auffassung von der Natur und vom Menschen keine Entsprechung haben. 1.2. Operationen und Leistungen des Denkens Denkvorgänge werden von Valéry wie alle mentalen Vorgänge zunächst als Sukzession mentaler Entitäten oder Zustände aufgefasst, deren Aufeinanderfolge aus Transformationen und Substitutionen besteht. Für das Denken ist vor allem kennzeichnend, dass diese Transformationen und Substitutionen großenteils bewusst und willentlich herbeigeführt werden; das Denken kann insofern als eine Folge von Operationen („opérations“) beschrieben werden,107 mit denen der Denkende ein Material bearbeitet, das aus mentalen Bildern oder Wissenselementen besteht.108 Diese Operationen sind durch formale oder strukturelle Merkmale definiert und insofern unabhängig von den mentalen Inhalten;109 die Zahl dieser Operatio_____________ 106
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schem werden behauptet oder erwogen bei: Lacorre, La catastrophe, S. 24f.; CeleyrettePietri / Pickering, Les chantiers de l’écriture, S. 249f. Zu Machs Elementenlehre vgl.: Mach, Analyse, vor allem S. 1-30; ders., Erkenntnis, vor allem S. 5-15. – Vgl. auch: Wolfram W. Swoboda, Physics, Physiology and Psychophysics: the Origins of Ernst Mach’s Empiriocriticism. In: Rivista di Filosofia 73 (1982), S. 234-274; Gereon Wolters, Verschmähte Liebe. Mach, Fechner und die Psychophysik. In: Josef Brožek / Horst Gundlach (Hg.), International Gustav Theodor Fechner Symposium Passau, 12 to 14 June 1987. Passau 1988, S. 103-116. Zu Valérys Begriff der geistigen „opérations“ vgl. auch: Pietra, Valéry. Directions spatiales, S. 151-157. Vgl. etwa: „Le fait élémentaire de l’intellect est le changement qui comprend substitutions et transformations [...].“ (C Pl. I, S. 878; C facs. I, S. 863 [1900]) – „La connaissance doit être une transformation (ou une substitution) de données en autres données ou productions.“ (C Pl. I, S. 892f., hier S. 892 / C facs. II, S. 856f. [1902-1903]) – „L’intelligence, l’esprit, ces mythes inévitables, chacun se les définit – se les donne, se les refuse à telle occasion. – [§] L’idée que j’en ai, ce matin, – je l’exprime ainsi: L’intelligence est le pouvoir des substitutions (en tant que plus adaptées). [...] [§] Comprendre est opérer une substitutiontraduction.“ (C Pl. I, S. 952 / C facs. VI, S. 274 [1916]) – Zu den „opérations“ vgl. etwa: „Il ne faut pas confondre les matériaux de la pensée avec ses opérations.“ (C Pl. I, S. 881 / C facs. II, S. 196 [1900-1901]) – Vgl. ferner: C Pl. I, S. 870 / C facs. I, S. 165f. [1897]; C Pl. I, S. 871 / C facs. I, S. 210 [1897-1899]; C Pl. I, S. 885f. / C facs. II, S. 423 [1901-1902]. „L’indépendance des opérations d’avec leurs contenus voilà le fait intellectuel éminent“ (C facs. II, S. 241 [1900-1901]).
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
nen, so nahm zumindest der junge Valéry an, ist begrenzt,110 so dass sie sich zumindest prinzipiell vollständig erfassen lassen. Um diese mentalen Operationen zu klassifizieren, hat er an verschiedenen Stellen eine Unterscheidung zwischen zwei Typen von Transformationen und Substitutionen eines Bewusstseinszustands formuliert, reversiblen und irreversiblen.111 Neben solchen elementaren Abläufen, die nur die Abfolge von zwei oder drei mentalen Zuständen umfassen, hat Valéry zu den Operationen aber offenbar auch komplexere Verfahren wie die Induktion112 oder die Analogie113 gezählt. Das Ziel einer systematischen Erfassung und Klassifikation aller Operationen des Denkens scheint Valéry relativ bald aufgegeben zu haben, ebenso wie andere seiner frühen, sehr weitreichenden Ambitionen; zumindest hat er nie solch ein systematisches Inventar vorgelegt und insgesamt nur wenige Andeutungen dazu gegeben, welcher Art diese Operationen sind. Was er dagegen über viele Jahre hinweg immer wieder zum Thema seiner Reflexionen gemacht und zugleich weit konkreter erörtert hat, sind die Leistungen des Denkens, die komplexen Aufgaben, die mithilfe der intellektuellen Operationen erfüllt werden. In einem kurzen Prosatext aus Tel Quel bezeichnet er „la compréhension“ und „l’invention“ als „les deux actes de l’intelligence“;114 in einer Notiz verwendet er „les choses de l’intelligence“ als Sammelbegriff für jene Tätigkeiten, die „le comprendre et le construire“ zum Gegenstand haben115. Das Verstehen einerseits, das Erfinden und Konstruieren andererseits bilden demnach für Valéry die Grundtypen der Leistungen des Denkens oder der Betätigungen der Intelligenz. Im Folgenden soll zunächst etwas näher betrachtet werden, was Valéry unter „comprendre“ versteht; dabei wird sich auch zeigen, dass die zwei Akte des Intellekts nicht ganz verschieden voneinander sind, insofern nämlich auch das Verstehen für Valéry eine inventive oder konstruktive Komponente enthält. _____________ 110 Vgl. C Pl. I, S. 873 / C facs. I, S. 384 [1898]; Paul Valéry à Gustave Fourment [4. 1. 1898]. In: Valéry / Fourment, Correspondance, S. 145-151, hier S. 147; Paul Valéry à André Gide [16 octobre 1899]. In: Gide / Valéry, Correspondance, S. 354-357, hier S. 356. 111 Vgl. C Pl. I, S. 869-871 / C facs. I, S. 165f. [1897]; C Pl. I, S. 885f. / C facs. II, S. 423 [1901-1902]. 112 Vgl. den Entwurf zu einem Brief über Lord Kelvin, der im Anmerkungsteil der PléiadeAusgabe abgedruckt ist: Œ II, S. 1436f.; dort heißt es: „L’induction est je crois l’acte mental par lequel on transporte un fait ou un objet dans son imagination au milieu des autres [...].“ (Ebd., S. 1436.) 113 Vgl. Valéry, Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. In: Œ I, vor allem S. 1174, 1193f. – Vgl. auch: Pietra, Valéry. Directions spatiales, S. 168-175. 114 Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 543. 115 C Pl. I, S. 623 / C facs. XII, S. 68 [1926-1927].
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Wie in den Ausführungen über Valérys Konzeption des Mentalen bereits gezeigt wurde, betrachtet Valéry mentale Vorgänge generell und so auch Denkvorgänge als eine Aufeinanderfolge von mentalen Entitäten, die zumindest teilweise Abbildungen von Ausschnitten der Welt sind: Ein großer Teil dieser Entitäten besteht aus „images“, die letztlich aus „sensations“ gewonnen wurden. Diese Konzeption der mentalen Vorgänge steht in der Tradition des Empirismus und wird auch in der zeitgenössischen Psychologie, etwa bei Ribot, als selbstverständlich vorausgesetzt. Umso mehr muss betont werden, dass Valéry die Aufgabe und Leistung des Denkens nicht so aufgefasst hat, wie es die Philosophen und Psychologen dieser empiristischen Tradition überwiegend getan haben und wie es die repräsentationalistische Konzeption des Mentalen nahe zu legen scheint, nämlich als die Herstellung exakter Abbildungen der Welt. Eine solche Auffassung von der Aufgabe des Denkens bildete noch eine wesentliche Grundlage der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Schriften Ernst Machs. Mach zufolge nimmt der Mensch mittels seiner sinnlichen Wahrnehmung Abbildungen der Welt auf; das Wissen eines Menschen wächst, indem er immer mehr solcher korrekter Abbildungen der Tatsachen erwirbt und sie zudem in eine übersichtliche, ökonomische Ordnung bringt.116 Valérys Konzeption von Verstehen und von Erkenntnis besitzt im Vergleich etwa zu der Mach’schen einen weniger rezeptiven, stärker aktiven und konstruktiven Charakter. Der Schlüsselbegriff seiner Explikationen von Verstehen und Erkenntnis ist nicht der Begriff der Abbildung, sondern der Begriff des Machens oder Machenkönnens.117 In einer frühen Notiz aus dem Jahr 1899 heißt es, eine Sache zu verstehen bedeute, mit ihr so umgehen zu können wie mit anderen, als vertraut betrachteten Dingen; dazu sei es erforderlich, diese Sache beziehungsweise ihr mentales Abbild auf eine bestimmte Weise zum ‘Rest’ des Geistes in Beziehung zu setzen.118 Noch häufiger begegnet bei Valéry allerdings eine Definition, die das Verstehen einer Sache nicht an die Fähigkeit bindet, etwas mit dieser Sache zu machen, sondern an die Fähigkeit, diese Sache selbst zu machen. _____________ 116 Vgl. Mach, Erkenntnis und Irrtum, besonders S. 164-182 (Kap. „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander“). 117 Vgl. zu der zentralen Stellung dieser Begriffe in Valérys ‘System’: Carl H. Buchner / Eckhardt Köhn, Einleitung. Paul Valérys Phänomenologie der Moderne und ihre Rezeption in Deutschland. In: C. H. B. / E. K. (Hg.), Herausforderung der Moderne. Annäherungen an Paul Valéry. Frankfurt/M. 1991, S. 9-95, hierzu S. 23-26. 118 „N[ou]s comprenons une chose lorsque n[ou]s pouvons opérer sur elle comme sur certaines autres choses dites connues. C’est une transformation mentale que la compréhension. Qu’est-ce qui a changé? Ce n’est pas les données – c’est la place ou la relation de ces données par rapport au reste de notre esprit, ou entre elles. [...] [§] L’explication la meilleure pour un être donné est celle qui le rend le plus maître de la chose donnée.“ (C Pl. I, S. 874 / C facs. I, S. 513 [1899])
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So hält er gleich 1894, in dem ersten seiner Notizhefte, fest: „J’ai compris une chose quand il me semble que j’aurais pu l’inventer.“119 Und in einer Notiz von 1899 beschreibt er schon rückblickend seinen einige Zeit zuvor gefassten Plan, jeden Gegenstand nur noch mit der Absicht zu betrachten, ihn in Operationen zu zerlegen, die zur Herstellung dieses Gegenstands erforderlich sind und zu denen er – das heißt sein Geist – fähig ist. Diese Operationen werden von ihm als Operationen des Denkens aufgefasst: Le dessein me vint [de] ne plus apprécier les œuvres humaines et même les autres choses, que par les procédés que j’y pouvais reconnaître: c’est-à-dire que je supposais, d’abord ingénument et puis, de toutes mes forces, que je devais dans chaque cas, exécuter moi-même la construction de chaque chose donnée; et je tâchais à la réduire à des opérations successives dont le premier caractère était que je savais les faire. De la sorte, j’éloignai de ma recherche / mon travail /, mais non de ma conscience, tout jugement incertain ou mobile, puisque je me bornais à mesurer chaque fois mes forces / ma force / , – ou, si l’on veut, à mesurer le donné par ce qui était possible à mon esprit. Toute chose proposée devenait ainsi rien qu’un nœud de problèmes. Chaque objet reposait sur une diversité d’expériences de ma pensée.120
In der Formulierung dieses Programms drücken sich eine kämpferischaggressive Haltung und ein Wille zur rigorosen Selbsterziehung aus, die für den Valéry dieser Jahre kennzeichnend sind; die Absicht, jeden Gegenstand auf die zu seiner Konstruktion erforderlichen Operationen zurückzuführen, ist nicht zuletzt von dem Willen getragen, sich durch nichts überwältigen oder auch nur beeindrucken zu lassen. Doch das Analyseund Erklärungsverfahren, das er in dieser Notiz beschreibt, gilt ihm gleichwohl nicht nur als eine Idiosynkrasie; den Grundgedanken, dass das mentale Konstruieren oder ‘Nachschaffen’ einer Sache ein ausgezeichneter oder sogar der einzige Weg zum Verstehen oder Erklären dieser Sache sei, wird er verallgemeinern, vielfach variieren und immer neu zuspitzen. Zu den Verlängerungen dieses Gedankens gehören die zahlreichen Äußerungen über das „Pouvoir“ als Kern jedes „Savoir“121 und über die Wis_____________ 119 C Pl. I, S. 19 / C facs. I, S. 53 [1894]. 120 C Pl. I, S. 323f. / C facs. I, S. 763 [1899]. (Die zwischen Schrägstriche gesetzten Ausdrücke hat Valéry über das jeweils davor stehende Wort geschrieben; vgl. C Pl. I, S. XXXIII.) – In einem Artikel, den Valéry ebenfalls 1899 im Mercure de France veröffentlichte, skizziert er ein Analyseverfahren, das weitestgehend dem in diesem Eintrag geschilderten entspricht und das er hier als eine „méthode neuve et extrêmement uniforme d’analyse“ bezeichnet; ihr Kern besteht darin, jeden Gegenstand des Denkens („tout objet de pensée“) in distinkte Operationen zu zerlegen, die unabhängig voneinander und von ihrem Inhalt sind (Vgl. Valéry, „Le temps [...]“. In: Œ II, S. 1456-1461 [erstm. in: Mercure de France. Mai 1899, Revue du mois, S. 481-488], hier S. 1458.) 121 Vgl. C Pl. I, S. 680 / C facs. XVII, S. 576 [1934]; C Pl. I, S. 684 / C facs. XVIII, S. 135 [1935].
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senschaften als die Sammlung der Rezepte, die immer gelingen122. Eine Weiterentwicklung dieser Ideen ist besonders wichtig: In dem oben angeführten Zitat bleibt die Rede von „procédés“, „opérations“ und „expériences de ma pensée“ relativ vage und unbestimmt; es wird nicht deutlich, welcher Art diese mentalen Operationen sind, wie der Bereich dessen, „ce qui était possible à mon esprit“, definiert ist und was folglich genau unter der „construction“ der gegebenen Sache zu verstehen ist. Später wird Valéry diesen Gedanken präzisieren, indem er das „faire“ ausdrücklich als ein körperliches Handeln begreift und den menschlichen Körper und die „action complète“ des Menschen zum Referenzsystem allen Verstehens und Erklärens macht. Der junge Valéry hat das Verstehen bzw. das erfolgreiche Analysieren eines Gegenstands auch noch auf eine etwas andere Weise gedeutet; diese Konzeption, die besonders ausführlich in der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci (1895) entwickelt wird, stellt nicht die Begriffe des Machens und des Machenkönnens ins Zentrum, sondern die des Bildes („image“) oder der Figur („figure“) sowie der Kontinuität. Verständlich sind für uns dieser Konzeption zufolge Gegenstände und Phänomene, in denen wir eine Regelmäßigkeit oder eine Struktur erkennen. Es gibt, so die Ausgangsfeststellung, in der Welt bestimmte Gegenstände und Phänomene, die uns unmittelbar verständlich erscheinen, weil sie eine offensichtliche Regelmäßigkeit aufweisen: dazu gehören etwa Kristalle oder die Spuren, die der Wind im Sand hinterlässt.123 Diese Instanzen der Regelmäßigkeit („dispositions régulières“) sind ihrerseits unregelmäßig in der Welt verteilt, zwischen ihnen liegen Zonen der Diskontinuität und Formlosigkeit. Sie repräsentieren für uns die Kontinuität, sie sind ‘die ersten Führer des menschlichen Geistes’.124 Um Gegenstände zu erklären, die uns unregelmäßig, diskontinuierlich oder amorph erscheinen, müssen wir sie zu den regelmäßig geformten und vertrauten Gegenständen in Beziehung setzen; diese Verbindung lässt sich über das Bild einer Struktur herstellen, das von dem bekannten, regelmäßigen Phänomen abstrahiert wird und welches sich in dem unbekannten, zu analysierenden Objekt wiederfinden lässt. Das Ziel jedes Erkenntnisstrebens ist also die Ausdehnung der Kontinuität, und das grundlegende Verfahren der Erkenntnis ist eines der Abstraktion, der Metaphern- oder der Analogienbildung: „Le sûr est que toutes les spéculations ont pour fondement et pour but l’extension de la continuité à l’aide de métaphores, d’abstractions et de langages.“125 So _____________ 122 Vgl. etwa C Pl. II, S. 852 / C facs. VIII, S. 725 [1922]; C Pl. II, S. 857 / C facs. X, S. 679 [1925]. 123 Vgl. Valéry, Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. In: Œ I, S. 1172. 124 Vgl. ebd., S. 1173. 125 Ebd., S. 1174.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
besteht auch der Kern von Leonardos Methode dem Essay zufolge in dem Finden oder Produzieren eines mentalen Bildes, das eine Verbindung zwischen zwei getrennten und heterogenen Phänomene – genauer: zwischen den mentalen Bildern dieser Phänomene – herstellt.126 Dieses passende Bild, die „relation mentale concrète“, wird allerdings in der Regel nur derjenige finden, der nicht nur über ein großes Repertoire mentaler Bilder verfügt, sondern sich diese in hohem Maße vertraut und verfügbar gemacht hat, der also gewohnt ist, diese Bilder zu zerlegen, zu variieren und neu zu kombinieren; eben diese Fähigkeiten und Gewohnheiten sind dem Leonardo des Essays eigen.127 Insofern setzt die ‘Methode Leonardos’ die Fähigkeit des Verstehens im oben erläuterten Sinne des Beherrschens oder Machenkönnens voraus; sie zielt aber über diese Beherrschung des mentalen Materials hinaus auf ein weiteres Ziel, auf die Entdeckung von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen heterogenen Phänomenen und folglich auf die Ausweitung des Regelmäßigkeit oder Kontinuität aufweisenden Weltbereichs. Wie oben erwähnt, betrachtet Valéry „la compréhension“ und „l’invention“ als die beiden fundamentalen Leistungen des Intellekts; an anderer Stelle nennt er „comprendre“ und „construire“. Doch wie immer er das zweite Glied in dieser Einteilung genau bezeichnet, es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass der Übergang zwischen diesen zwei Leistungen des Intellekts fließend ist, insofern nämlich das „comprendre“ für Valéry stets einen starken konstruktiven, kreativen oder inventiven Charakter hat. Dies gilt sowohl für die Explikation, der zufolge das Verstehen in einem Machen oder Machenkönnen besteht, als auch für diejenige, die es als die Rückführung eines formlos erscheinenden Gegenstandes oder Phänomens auf regelmäßige und vertraute Strukturen begreift; auch dieser letzteren Auffassung zufolge muss der Mensch, um den fraglichen Gegenstand zu verstehen, das mentale Bild einer Figur entwerfen, das die metaphorische oder analogisierende Annäherung zweier disparater Gegenstände aneinander erlaubt. Die Begriffe von „invention“ und „construction“ spielen vor allem in Valérys Schriften zur Kunst und Kunsttheorie eine zentrale Rolle. Sein Verständnis von Erfindung und Konstruktion, wie es in diesen Ausführungen zutage tritt, kann hier nicht ausführlich dargestellt werden. Es _____________ 126 Die Methode beruht auf „[...] l’émission d’une image, d’une relation mentale concrète entre des phénomènes, disons, pour être rigoureux, entre les images des phénomènes.“ (Ebd., S. 1193) Ein Beispiel ist Faradays Theorie des elektrischen Feldes: Faraday bediente sich des Bildes der regelmäßigen Linien, welche sich in den Eisenspänen um die Pole eines Magneten bilden, um die Phänomene der Elektrizität und des Magnetismus zu erklären (vgl. ebd., S. 1194f.). 127 Vgl. ebd., vor allem S. 1175-1181.
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genügt an dieser Stelle, die Grundzüge seiner Auffassungen knapp zu charakterisieren. Der Akt des Erfindens wird in einem kurzen Text aus der Cahier B 1910 betitelten Sammlung von Notizen und Aphorismen wie folgt charakterisiert: Inventer, doit ressembler beaucoup à reconnaître un air dans la chute monotone de gouttes d’eau, dans les battements du train et les coups d’une machine alternative ... Il faut, je crois, un objet, ou noyau, ou matière – vague et une disposition. Il y a une partie en l’homme qui ne se sent vivre qu’en créant: j’invente, donc je suis. La marche générale des inventions appartient à ce type général: une suite de déformations successives, presque continues, de la matière donnée, et un seuil – une perception brusque de l’avenir de l’un des états. Avenir, c’est-à-dire valeur utilisable, valeur significative, singularité.128
Zum Vorgang des Erfindens braucht es einerseits eine gegebene Materie, die ‘vage’ ist, keine bzw. keine differenzierte Struktur aufweist, andererseits eine Disposition auf der Seite des Menschen. Das Erfinden ähnelt dem plötzlichen Wiedererkennen einer Form oder Struktur in dem Gegenstand, der zunächst vage oder monoton erscheint; aber es besteht nicht nur aus einem kontemplativen Betrachten und Abwarten, sondern setzt vor allem ein aktives Verändern, ein Deformieren des gegebenen Gegenstands voraus. An einem Punkt innerhalb dieser Prozedur des schrittweisen Verformens nimmt der Mensch in dem momentanen Zustand des Objekts plötzlich eine „valeur utilisable, valeur significative“, eine „singularité“ wahr. Die Ausdrücke „valeur utilisable“ und „valeur significative“ weisen darauf hin, dass das Subjekt bestimmte Voraussetzungen zum Erfinden ‘mitbringt’ und mitbringen muss: Er kann nur dann einen verwendbaren oder bedeutungstragenden Wert in dem Zustand des Objekts erkennen, wenn er allgemeine Vorstellungen von Verwendbarkeit und Bedeutung besitzt. Diese Vorstellungen dürften einen Teil der „disposition“ ausmachen, die zum Akt des Erfindens erforderlich ist. – Wie also für Valéry das Verstehen einer Sache letztlich ein gedankliches Konstruieren oder Neuerfinden dieser Sache voraussetzt, so enthält andererseits das Erfinden für ihn ein Moment des Findens, es basiert auf der Wahrnehmung geeigneter, ‘zukunftsfähiger’ oder entwicklungsfähiger Eigenschaften eines Dings.
_____________ 128 Paul Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 469-781, hier S. 594.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
1.3. Der frühe Valéry über Ziele und Aufgaben des Denkens Zu Valérys Konzeption des Denkens sollen hier nicht nur seine Annahmen darüber, was Denken ist und was es leistet, gerechnet werden, sondern auch seine Auffassungen darüber, welchen Zielen, Zwecken oder Aufgaben das Denken dienen kann oder sollte beziehungsweise welche Verwendungen des Denkens besonders wertvoll sind. Während er an den in seinem Frühwerk entwickelten Grundannahmen darüber, was Denken ist, bis in die späten Jahre seines Schaffens weitgehend festhielt, haben sich seine Überzeugungen über die sinnvollen Zwecke und Aufgaben des Denkens in entscheidender Weise gewandelt. Diese Revision seiner früheren Ansichten hat Valéry am ausdrücklichsten in den Zusätzen formuliert, die er um 1920 Neuausgaben der zwei bedeutendsten Prosatexte seines Frühwerks hinzufügte: in der Note et digression, die er 1919 einer neuen Ausgabe der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci (1895) beigab, sowie in der „Préface“ zu einer 1925 erschienenen englischen Übersetzung von La Soirée avec Monsieur Teste (1896). Im Folgenden soll zunächst die Position des frühen Valéry, dann seine rückblickende Selbstkritik in Note et digression untersucht werden. Der frühe Valéry, der 1894 seine allmorgendlichen Reflexionen in Notizheften festzuhalten beginnt, beantwortet die Frage nach der sinnvollsten Verwendung und dem höchsten Zweck des Denkens, kurz gesagt, wie folgt: Das Denken sollte vor allem als ein Training des Intellekts betrieben werden, das der Ausbildung und Vervollkommnung der intellektuellen Fähigkeiten selbst dient. Etwas genauer gesagt: Das Denken soll zum einen der Analyse der mentalen Operationen gewidmet sein, zum anderen der gezielten Aneignung und Übung dieser Operationen und somit einem Training des Intellekts; diese Verbindung von Analyse und „exercices“ soll es dem Subjekt erlauben, sich möglichst umfassend des Potentials seines Intellekts zu bemächtigen, seine intellektuelle Macht und seine Kontrolle über seinen Geist und über sich so weit wie möglich zu steigern. Für diese Auffassung von den höchsten Zwecken des Denkens dürfte Valéry keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, doch für sich selbst hat er dieses Ideal in sehr grundsätzlicher Weise formuliert und zu begründen versucht; dabei hat er bei der Beschreibung und Begründung dieses Ideals bei verschiedenen Gelegenheiten unterschiedliche Akzente gesetzt. Einige dieser Akzentsetzungen seien im Folgenden kurz charakterisiert. Erstens betrachtet Valéry das Training des Intellekts ebenso wie die Analyse der mentalen Vorgänge und des „fonctionnement d’ensemble“ des Menschen als Mittel der Selbstverteidigung.129 Wie er selbst später im _____________ 129 Vgl. Robinson, Comment aborder le ‘Système’, S. 8f.
1. Valérys Konzeption des Denkens
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Rückblick mehrfach erklärte, hat er sich nach seiner Krise von 1892 zu diesem Programm der Analyse und der geistigen Selbsterziehung erschlossen, um sich gegen zerstörerische Überwältigungserfahrungen dieser Art zu wappnen und – in einem „Coup d’état“ – die Herrschaft über sich selbst zu übernehmen.130 Der entscheidende erste Schritt dieser Machtübernahme besteht in der Feststellung, dass die bedrohlichen Emotionen, Ängste und Gedanken alle ‘nur mentale Phänomene’ sind: „J’ai donc lutté – me suis consumé – et le résultat fut la bizarre formule: Tout ceci sont phénomènes mentaux ..“.131 Dann gilt es, diese mentalen Phänomene als mentale Phänomene zu analysieren, ihre ‘formellen’ oder ‘funktionellen’ Eigenschaften von ihren Inhalten zu trennen, ihre Bedingtheit zu durchschauen und sie auf diese Weise zu ‘reduzieren’ und beherrschbar zu machen. Aber die Ausbildung und Steigerung des Intellekts wird zweitens von Valéry auch häufig als ein ausgesprochen offensives Unternehmen präsentiert, als das Streben nach möglichst umfassender geistiger Macht, die prinzipiell unbegrenzte Anwendungen in Form von Analysen und Konstruktionen auf allen Gebieten ermöglichen soll. In einem Brief von 1898 skizziert er seine Vorstellung von einem „art de penser“, der auf der Grundlage einer umfassenden Analyse und Klassifikation der mentalen Phänomene und ihrer Beziehungen entwickelt werden könne.132 Wie dieses Ideal einer ‘Kunst des Denkens’, so ist auch das Projekt einer „Arithmetica universalis“, von dem Valéry in einem Brief aus derselben Zeit spricht, verbunden mit dem Ziel, alle Operationen des Intellekts verfügbar und alle Felder des menschlichen Wissens und Planens beherrschbar zu machen.133 – Wenn man annimmt, dass Valérys Krise von 1908 durch eine _____________ 130 Vgl.: C Pl. I, S. 178f., hier S. 178 / C facs. XXII, S. 842f. [1939-1940]. 131 Ebd. 132 Der Brief, der im Anhang der Pléiade-Ausgabe abgedruckt ist (vgl. Œ II, S. 1466), war gerichtet an Arthur Fontaine, einen „polytechnicien et haut fonctionnaire“ und Onkel von Valérys Freund Eugène Rouart (Bertholet, Paul Valéry 1871-1945, S. 197). – Der betreffende Passus des Briefs lautet: „Je ne puis me lasser de lire les ordres de bataille, par exemple, et je généralise tout de suite, je passe à l’art de penser. [...] Au fond c’est bien simple – (comme toutes les grandes choses, dirait X ...) – vous réduisez tout en sensations et phénomènes mentaux – vous répartissez ceux-ci en deux ou trois classes par leurs propriétés de substitution, vous recherchez une relation d’ensemble avec tous ces facteurs de la connaissance, etc., et vous avez aux mains un instrument d’analyse tout à fait général et inédit. Vous pouvez désormais envisager dans chaque cas particulier les propriétés de l’ensemble des combinaisons y relatif. Vous tenez l’origine de tous les développements possibles de ce qui est donné: suivant l’usage à faire vous adoptez une de ces voies, la littérature, la philosophie, la critique ou l’imagination etc., etc.“ 133 Vgl.: Paul Valéry à Gustave Fourment [4. 1. 1898]. In: Valéry / Fourment, Correspondance, S. 145-151; der Ausdruck „Arithmetica universalis“ ebd., S. 146. Vgl. zu diesem Brief und dem darin skizzierten Projekt Valérys: Octave Nadal, Arithmetica universalis. In: O. N., A mesure haute. [Paris] 1964, S. 181-190.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Begegnung mit Ernst Machs Erkenntnis und Irrtum ausgelöst wurde, so scheint mir am ehesten denkbar, dass er in diesem Werk Machs, das zahlreiche wissenschaftliche Verfahren als graduelle Verfeinerungen elementarer mentaler Prozesse beschrieb, ein Pendant zu seinem eigenen Projekt einer ‘Kunst des Denkens’ wahrnahm.134 Die Kontrolle über die geistigen Operationen, die das Analysieren und Trainieren des Denkens vermitteln soll, wird von Valéry also zum einen als ein Mittel der Selbstverteidigung gegen Affekte und Emotionen aufgefasst, zum anderen als Grundlage einer weitreichenden intellektuellen Macht mit universalen Anwendungsmöglichkeiten. Dies sind die zwei wichtigsten Begründungen, die der frühe Valéry seinem Projekt der Selbstanalyse und des intellektuellen Trainings gibt. Darüber hinaus hat das Ideal des bewusst geschulten Intellekts noch weitere Facetten. So setzt für Valéry drittens erst diese Kontrolle über die mentalen Operationen den Menschen in den Stand, in seinen geistigen Tätigkeiten etwas von seiner Individualität zu verwirklichen. Wie er in einem Brief an Gide von 1899 formuliert, ist der Mensch nicht verantwortlich dafür, welche Ideen ihm ‘kommen’, sondern lediglich dafür, was er aus ihnen macht. Inhalt und Wesen dessen, was im Geist des Menschen ‘kommt und geht’, werden über ihn verhängt wie ein Hiobsschicksal; es ist höchstens („tout au plus“) die Be- oder Verarbeitung dieser Ideen, die wir kontrollieren und in der wir etwas von uns selbst verwirklichen können.135 Dieser Auffassung dürfte Valérys oben skizzierte Sicht auf die Beziehungen zwischen Körper, Geist und Welt zugrunde liegen: Was uns an Gedanken und Empfindungen ‘kommt’, verdankt sich dem tendenziell chaotischen Zusammen_____________ 134 Die ‘Kunst des Denkens’ oder die ‘Arithmetica universalis’, wie Valéry sie anvisierte, konnte sich nur entfalten, wenn man zunächst alle Gegenstände ‘auf mentale Phänomene reduzierte’. Der Gedanke, dass die Verwendung einer einheitlichen ‘Währung’ bzw. eines einheitlichen Maßes zur Repräsentation vielfältiger Gegenstände immense Möglichkeiten der Analyse und Konstruktion eröffnet, begegnet bei Valéry sehr häufig. Mach nun geht in Erkenntnis und Irrtum davon aus, dass alle Phänomene aus einer Art von Elementen bzw. Empfindungen aufgebaut sind; und er vertritt ferner die Auffassung, dass alles Erkenntnisstreben letztlich auf die Feststellung funktionaler Abhängigkeiten zwischen Elementen zielt oder zielen sollte (vgl. Mach, Erkenntnis, S. 202-204, 266, 275f., 282). Dieser starke vereinheitlichende Zug in Machs Ansatz könnte Valéry beeindruckt haben. Es gilt allerdings zu bedenken, dass Valéry selbst die Reduktion aller Gegenstände auf mentale Phänomene als eine Methode verstand, die mit der Wahl eines einheitlichen Repräsentationssystems vergleichbar war; Mach hingegen nahm an, dass alle psychischen und physischen Phänomene tatsächlich aus Verbindungen einer Art von Elementen bestehen. 135 „Nous ne sommes pas responsables des idées qui nous viennent mais, tout au plus, du sort que nous leur faisons. Là, il y a peut-être quelque chose de nous. Notre main s’y sent ellemême plus nettement. Cette main, c’est ce qui m’intéresse. Le va-et-vient aussi, mais ce qui va et vient me laisse froid, fût-il ce que l’esprit des autres appelle idée de génie ou saleté ou et caetera, c’est la fortune de Job.“ (Paul Valéry à André Gide [7 novembre 1899]. In: Gide / Valéry, Correspondance, S. 363-366, hier S. 365.)
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spiel der vielfältigen Ordnungen und Unordnungen, aus denen der menschliche Körper und die Welt bestehen, und kann folglich nicht als etwas respektiert werden, das ‘von uns’ komme.136 Im Hinblick auf Valérys Begründungen seines Ideals des intellektuellen Trainings ist viertens noch sein 1892 verfasster, Fragment gebliebener Essai sur le mortel137 zu erwähnen, in dem er eine Theorie über den sterblichen Menschen und seine Stellung in der Welt entwarf und aus ihr eine ‘Ethik’138 ableitete, die das Streben nach möglichst umfassender Erkenntnis zum einzigen sinnvollen Ziel des Menschen erhebt.139 Die Welt enthält dieser Theorie zufolge eine begrenzte Zahl von Elementen, zwischen denen eine begrenzte Zahl von Kombinationen möglich ist, die sukzessive realisiert werden; das menschliche Denken produziert ebenfalls Kombinationen der Dinge beziehungsweise ihrer Abbildungen, und die Aufgabe des Menschen ist es, in seinem begrenzten Leben möglichst viele solcher Kombinationen zu realisieren, wodurch er sowohl die zerstörerische Wirkung seines individuellen Todes reduziert als auch zu der Bestimmung der gesamten Welt und der Menschheit, der Realisierung aller möglichen Kombinationen, beiträgt.140 Eine Grundidee dieses Essayfragments, die hier auf ein spekulativ-metaphysisches Fundament gestellt wird, taucht auch später noch wiederholt in Valérys Notizen auf: Der Geist eines Individuums enthalte ein begrenztes Potential an Kombinationen, und das Bestreben eines Menschen mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähig-
_____________ 136 Am Rande sei hier auf die Kluft hingewiesen, die zwischen dieser Position Valérys und den Überzeugungen Musils liegt: Der Letztere ging in der Früh- wie der Spätphase seines Werks stets davon aus, dass das eigentliche Ich eines Menschen sich gerade in einer bestimmten Art von Gedanken zeigt, die ihm einfach ‘kommen’ oder widerfahren, in jenen Erlebnissen nämlich, die Musil als ‘lebendige Gedanken’ bezeichnete. Diese Erlebnisse werden uns zuteil, ohne dass wir sie willkürlich herbeiführen können; doch was sich in ihnen manifestiert oder ausdrückt, ist unsere innere Persönlichkeit oder Seele. Valéry würde Musil vermutlich vorwerfen, dass er diesen Erlebnissen einen illusionären Wert andichte; er selbst aber müsste sich angesichts der oben zitierten Briefpassage fragen lassen, wie er das ‘Wir’ in der Formulierung „quelque chose de nous“ mit Substanz füllen will, wenn er nichts von dem, was uns einfach ‘kommt’, als Äußerung unserer selbst akzeptiert. Dieses Problem wird von Valéry selbst in Note et digression freigelegt werden. 137 Abgedruckt in: C int. III, S. 559-570. – Vgl. zu diesem Text: Jallat, Introduction, S. 79-86. 138 „Introduisons l’équation de la mort dans un nouveau problème, c’est-à-dire substituons aux généralités de ces termes les précisions fournies par un certain nombre de successives vies, quel résultat ou ETHIQUE avons-nous à obtenir?“ (C int. III, S. 568.) 139 „Nous apercevons dès l’abord que la Connaissance, Ars magna, est le seul but que l’on peut assigner à l’humain. C’est-à-dire le fait d’avoir rapproché son être du plus grand nombre de choses et d’y avoir emprunté une modification générale.“ (Ebd., S. 569.) 140 Vgl. ebd., S. 561-564, 568f.
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keiten sollte sich darauf richten, dieses ganze Potential auszuschöpfen und auf diese Weise seinen Tod herbeizuführen.141 1.4. Note et digression: Valérys reductio ad absurdum seiner früheren Ansichten In seinen späteren, nach dem ‘langen Schweigen’ verfassten Texten vertrat Valéry eine andere Auffassung von den Aufgaben und Zielen des Denkens als in seinen frühen Veröffentlichungen und Notizen; das heißt, er betrachtete nicht mehr den Erwerb einer vollständigen Kontrolle aller Operationen des Intellekts als das höchste oder einzig sinnvolle Ziel der Denktätigkeit. Über die Gründe für den Wandel seiner Ansichten geben einige Texte Aufschluss, die in den ersten Jahren nach seiner 1917 begonnenen Rückkehr in die literarische Öffentlichkeit entstanden und in denen er kritisch auf seine früheren Überzeugungen Bezug nahm. Eine besonders explizite, aber auch sehr knappe Selbstkritik findet sich in der 1925 publizierten „Préface“ zu einer Übersetzung von La Soirée avec Monsieur Teste; dort schildert Valéry die Ansichten, Ambitionen und Ideale, von denen er zur Zeit der Entstehung dieser Erzählung beherrscht gewesen sei, und vermerkt, er habe damals – wie alle jungen Menschen – den Sinn von Konventionen nicht verstanden.142 In weit ausführlicherer, aber auch indirekterer Weise setzte er sich mit seinen früheren Idealen in dem 1919 veröffentlichten Text Note et digression auseinander, den er als ein nachträgliches Vorwort für eine Neuausgabe der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci verfasste.143 Eine verborgene Kritik an seinen eigenen früheren Überzeugungen und Ambitionen kann man ferner auch in Valérys Dialog Eupalinos ou l’Architecte (1921) entdecken, der den toten Sokrates in der _____________ 141 Vgl. die Anmerkung der Herausgeber zum Essai sur le mortel: „L’Essai sur le mortel, qui figure dans les ‘Proses anciennes’ (BN ms, fo 223-233), date de 1892, et compte parmi les plus élaborés des travaux en prose de cette époque. C’est le premier texte important où apparaît l’idée, si souvent reprise par la suite, d’une combinatoire de l’esprit que l’homme (de génie) devrait épuiser pour parvenir à la ‘mort naturelle’. Il semble répondre, au moment de sa rédaction, au désir de neutraliser l’idée de la mort en la recouvrant, en quelque sorte, d’une structure mathématique dont la prégnance est pour Valéry très forte.“ (C int. III, S. 621) – Vgl. auch: C Pl. I, S. 331 / C facs. V, S. 395 [1914]. 142 Vgl. Paul Valéry, Préface. In: Œ II, S. 11-14, hier S. 12. 143 Der Titel des Textes lautete bei seinem ersten Erscheinen noch Note et digressions; in späteren Auflagen wurde der Plural „digressions“ in einen Singular verwandelt, außerdem wird der Text in der Pléiade-Ausgabe und in neueren Sammlungen von Valérys LeonardoEssays hinter der Introduction platziert. Vgl. dazu und zu weiteren Details der Publikationsgeschichte des Textes die Anmerkungen der Herausgeber in: Œ I, S. 1820f. – Für den Text selbst vgl.: Paul Valéry, Note et digression. In: ebd., S. 1199-1233. Auf Stellen dieses Essays verweise ich im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl in Klammern im Haupttext.
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Schattenwelt zeigt und ihn schließlich das Ideal der rein geistigen Erkenntnis, dem er sein Leben gewidmet hat, widerrufen lässt.144 Dieses Teilkapitel wird anhand einer Analyse von Note et digression herausarbeiten, wie und aus welchen Gründen Valéry sich von seinen früheren Ansichten über die höchsten Ziele des Denkens distanzierte und in welcher Weise er seine Position neu ausrichtete. Zu diesem Zweck soll der Essay vergleichsweise ausführlich untersucht werden. Das ist schon aufgrund der Dichte und Komplexität des Textes sinnvoll; es erscheint mir aber auch angesichts der Forschungslage gerechtfertigt, denn obwohl der Essay schon 1946 von Marcel Raymond als ein „texte classique“ bezeichnet und zu den „grands textes de la littérature française, sans doute aussi de la philosophie contemporaine“145 gezählt wurde, gibt es bis heute nur wenige eingehende Studien über ihn.146 Die ausführlichsten Analysen stammen von Nicole Celeyrette-Pietri und von Ned Bastet. CeleyrettePietri hat die in dem Text entfaltete Konzeption des „moi pur“ untersucht _____________ 144 Vgl. Paul Valéry, Eupalinos ou l’Architecte. In: Œ II, S. 79-147. – Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch ein kurzer, „Livres“ überschriebener Text, den Valéry 1923 für einen „Catalogue de livres anciens et modernes“ der Buchhandlung Gallimard verfasst hat; er beginnt mit den Sätzen: „Rien ne mène à la parfaite barbarie plus sûrement qu’un attachement exclusif à l’esprit pur. On méprise les objets et les corps. [...] J’ai connu de très près ce fanatisme.“ (Ders., Livres. In: Ebd., S. 1251f., hier S. 1251.) – In der Valéry-Forschung ist verschiedentlich auf einen Einstellungswandel Valérys hingewiesen worden, der sich zu Beginn seiner Rückkehr in die literarische Öffentlichkeit vollzogen beziehungsweise in der folgenden Phase seines Lebens und Schaffens manifestiert habe. Aber soweit ich sehe, ist der spezifische Aspekt dieses Wandels, um den es mir im Folgenden geht, also die Veränderung von Valérys Ansichten über die sinnvollen Ziele intellektueller Tätigkeit, als solcher noch nicht näher beschrieben worden. Eine Sicht auf den Wandel von Valérys Position, die der hier entwickelten nahe steht, findet sich bei: Bastet, Towards a biography of the mind, S. 27f. – Buchner und Köhn zufolge kommt es kurz nach Valérys Rückkehr in die literarische Öffentlichkeit zu einer grundlegenden, mit einer tiefen Krise verbundenen Neuorientierung Valérys; vgl. Buchner / Köhn, Einleitung, S. 32-36. Nach Buchner und Köhn wurden diese Krise und der Einstellungswandel vor allem durch Valérys Konfrontation mit dem literarischen Publikum und die 1920 begonnene Liebesaffäre mit Catherine Pozzi ausgelöst, außerdem durch den Tod von Valérys bisherigem Arbeitgeber im Jahr 1922; vgl. ebd., S. 32f.; zu dem Beginn von Valérys Beziehung zu Catherine Pozzi vgl. Bertholet, Paul Valéry 1871-1945, S. 222. Dagegen wird im Folgenden die These vertreten, dass schon in dem 1919, also vor der Begegnung mit Pozzi veröffentlichten Essay Note et digression ein tiefgreifender Wandel von Valérys Grundüberzeugungen zutage tritt. Die Bedeutung, die diesem Text im Hinblick auf Valérys intellektuelle Biographie zukommt, scheint mir bislang nicht hinreichend gewürdigt worden zu sein. 145 Raymond, Paul Valéry et La tentation de l’esprit, S. 37. – Zu der Anerkennung, die dem Essay schon bald nach seinem Erscheinen zuteil geworden sei, vgl. auch: Bertholet, Paul Valéry 1871-1945, S. 218. 146 Raymonds Buch selbst, dessen Titel auf einen Satz aus Note et digression anspielt, enthält einige wichtige Hinweise zu der zentralen Problematik des Essays; aber die Ausführungen sind relativ knapp gehalten, gehen streckenweise in allgemeinere Charakterisierungen Valérys über und bieten keine eingehende Analyse des Gedankengangs des Textes. Vgl.: Raymond, Paul Valéry et La tentation de l’esprit, S. 37-47, Anm. S. 177.
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und dabei den mathematischen und physikalischen Metaphern besondere Aufmerksamkeit geschenkt;147 Bastet hat die These vertreten, dass der Essay durch Valérys Beschäftigung mit der Mystik geprägt sei und den systematischen, wenn auch verschleierten Versuch darstelle, eine persönliche ‘Mystik des Ich’ zu entwerfen.148 Beide Interpreten konzentrieren sich auf den Mittelteil des Textes, offenbar geleitet von der Annahme, dass dieser Teil als eine „digression“ weitgehend unabhängig von den rahmenden Abschnitten gedeutet werden könne, in denen Valéry von der Entstehung der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci berichtet; Bastet meint ausdrücklich, dass der Gedankengang des Mittelteils sich brüsk vom Vorwand des Essays entferne und eine ganz andere Richtung einschlage.149 – Die folgende Interpretation wird dagegen aufzuzeigen suchen, dass es zwischen der „digression“ und den Rahmenteilen durchaus präzise argumentative Beziehungen gibt, die für das Gesamtverständnis des Essays zentral sind; gerade wenn man die verschiedenen Teile des Textes im Verhältnis zueinander betrachtet, wird deutlich, inwiefern er eine Kritik Valérys an seinen früheren Überzeugungen und Ambitionen darstellt. Im Folgenden soll zunächst die Struktur des Essays charakterisiert und sein Argumentationsgang in großen Zügen zusammengefasst werden. Die Großstruktur des Essays ist dreigeteilt: Die rahmenden Abschnitte bilden die „Note“, die Anmerkung zur Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci, in der Valéry von der Entstehung dieses Essays im Jahr 1894 erzählt; der mittlere Teil, die „digression“, enthält vor allem eine ausgedehnte Reflexion über das Wesen des Bewusstseins und der „puissance intellectuelle“. Im ersten Teil schildert Valéry zunächst die Ratlosigkeit, in die ihn 1894 die Bitte um einen Aufsatz über Leonardo da Vinci versetzte. Er war im höchsten Maße fasziniert durch Leonardo, wusste aber nicht, was er über ihn schreiben sollte: Der Dreiundzwanzigjährige verfügte nicht über das nötige Wissen, um zu den gelehrten Debatten über Leonardos Forschungen oder seine künstlerischen Techniken beizutragen, und er war zu träge, aber auch zu wenig überzeugt vom Wert der eruditio, um sich dieses Wissen erst anzueignen (vgl. 1201-1204). Als Alternativen zur Vorgehensweise der Gelehrten boten sich ihm gebräuchliche Verfahren des literarischen Schaffens an: Er hätte sich in einen Zustand der Begeisterung versetzen und aus diesem Enthusiasmus heraus schreiben oder aber sich _____________ 147 Vgl. Nicole Celeyrette-Pietri, Le moi et Léonard – d’après ‘Note et digression’. In: Bulletin des études valéryennes 3 (1974), S. 32-44 (Diskussion S. 45-61); dies.,Valéry et le Moi, S. 42-48. 148 Vgl. Ned Bastet, ‘The Turning Point’. In: N. B., Valéry à l’extrème. Les au-delà de la raison. Paris 1999, S. 237-265, 283f. (Anm.); vgl. vor allem S. 246, 256. 149 Vgl. ebd., S. 244.
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auf Zufälle der Eingebung und der Inspiration verlassen können (vgl. 1204-1209). Aber beide Verfahren lehnte er ab, weil sie mit seinem Ideal des geistigen Arbeitens im Allgemeinen und der schriftstellerischen Arbeit im Besonderen unvereinbar waren.150 Der Enthusiasmus allein, so Valéry, könne nichts Wertvolles hervorbringen, da er nur das ‘Feuer’ („feu“, „ardeur“), also ein Quantum an Energie liefert; dieses Energiequantum aber wird richtungs- und wirkungslos verpuffen, wenn es nicht gezielt zur Überwindung von Widerständen eingesetzt wird, die zu diesem Zweck erst planmäßig konstruiert werden müssen. Das bedeutet, dass der Schriftsteller sich selbst teilen und ‘gegen sich selbst’ wenden muss („qu’il se divise contre lui-même“): Ein Teil von ihm muss den Impuls in Gestalt einer initialen Absicht oder Erregung beisteuern, ein anderer Teil stellt Widerstände in Gestalt von Fakten, Gesetzen der Logik oder anderen Zwängen auf, wieder ein anderer plant und organisiert den „discours“ (vgl. 1205). Auf diese Weise, und nur auf diese Weise kann der ‘ganze’ Mensch („l’homme totu entier“) wirklich Urheber des Geschriebenen sein (1205). Was den Zufall und die Intuition angeht, so macht Valéry ähnliche Einwände geltend wie hinsichtlich des Enthusiasmus: Der Geist ist zwar auf zufällige Eingebungen angewiesen, aber diese Einfälle besitzen in sich noch keinen besonderen Wert, selbst die glücklichsten Geistesblitze weisen noch bestimmte Mängel auf; vor allem aber könne der „mérite personnel“ nicht darin bestehen, solche Einfälle zu ‘erleiden’, sondern nur darin, einen bestimmten Gebrauch von ihnen zu machen (1207). Aus dem so skizzierten Ideal des ‘richtigen’ geistigen Arbeitens folgt fast zwangsläufig die Überzeugung, dass das höchste und wichtigste menschliche Vermögen die „conscience“ ist, denn das Bewusstsein erlaubt dem Menschen, seine inneren Vorgänge zu beobachten, zu bewerten und gezielt auf sie einzuwirken.151 Das oberste Ziel muss es sein, dieses Bewusstsein zu steigern bzw. jene Instanz in sich zu trainieren, welche beobachtet, auswählt und konstruiert: „[...] [C]’est celui en nous qui choisit, et c’est celui qui met en œuvre, qu’il faut exercer sans repos.“ (1208) – Die geistige Haltung, die Valéry hier im Rückblick seinem früheren Ich zuschreibt, ist also durch jene Wertschätzung des intellektuellen Trainings charakterisiert, die oben als Grundzug von Valérys früher Sicht auf das Denken und seine Aufgaben bestimmt wurde. Zugleich hat Valéry damit jene „idée [...] d’une puissance intellectuelle“ (1225) umrissen, die er im Mittelteil des Essays genauer ausleuchten und auf ihre Konsequenzen hin befragen wird. _____________ 150 Zu der Option des „enthousiasme“ vgl.: „[...] [J]e trouvais indigne, et je le trouve encore, d’écrire par le seul enthousiasme. L’enthousiasme n’est pas un état d’âme d’écrivain.“ (1204f.) 151 „[...] [J]e ne mettais rien au-dessus de la conscience [...].“ (1206)
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Auf diese Ausführungen folgt ein längerer Abschnitt über Leonardo (vgl. 1209-1215), der nur locker mit den vorangegangenen Überlegungen zusammenzuhängen scheint und somit schon als eine erste ‘digression’ aufgefasst werden kann. Seine Funktion ist zumindest auf den ersten Blick nicht ganz klar, zumal sich Valéry schließlich in Details zu verlieren scheint, wenn er einzelne Bemerkungen aus Leonardos Notizbüchern zitiert und ausführlich kommentiert. Der Abschnitt hat gleichwohl einen Bezug zu den zentralen Themen und Gedankengängen des Essays, der aber nicht offen zutage liegt; hierauf wird später zurückzukommen sein. Am Beginn des Mittelteils, der die eigentliche „digression“ entwickelt, formuliert Valéry die Absicht und das Thema dieses Teils wie folgt: Er wolle „la pente et la tentation de l’esprit“ (1215) verfolgen und zu diesem Zweck versuchen, „le système caché de quelque individu de la première grandeur“ (1216) aufzuklären. Während diese Themenbezeichnungen allgemein und unpersönlich gehalten sind, gibt eine spätere Stelle die persönliche Bedeutung des Themas zu erkennen und stellt zugleich eine Verbindung zu den Rahmenabschnitten des Essays her. Worum es ihm gehe, so Valéry dort, sei dies: „conduire à sa dernière conséquence l’idée que je me suis faite d’une puissance intellectuelle.“ (1225) Damit meint er offenbar die eben behandelten Überzeugungen und Ideale, denen er sich fünfundzwanzig Jahre zuvor beim Konzipieren des Leonardo-Essays verpflichtet fühlte. Diese Vorstellung vom intellektuellen Vermögen will er nun bis zu ihren letzten Konsequenzen treiben; ohne das zunächst näher zu erläutern, bezeichnet er diese Idee der intellektuellen Macht als die ‘Versuchung des Geistes’, die auch die Möglichkeit seines ‘Falls’ enthalte („la pente et la tentation de l’esprit“). Valéry entfaltet in der „digression“ die Implikationen seiner Vorstellung von der intellektuellen Macht, indem er die Entwicklung eines Individuums verfolgt, das dieser Versuchung des Geistes nachgibt;152 den ambivalenten, zugleich erhabenen und ärmlichen Endpunkt dieses Wegs bildet die Selbstreduktion des Individuums auf sein reines Bewusstsein oder sein reines Ich. Seine Entwicklung bis zu diesem Punkt ist bestimmt von einer unaufhörlichen Steigerung und Vervollkommnung des Bewusstseins und damit zugleich von einer immerfort wiederholten und immer weiter ausgedehnten Distanzierung und Verweigerung. Um die geistigen Fähigkeiten zu vermehren, so hatte Valéry im Rahmenteil festgestellt, sei _____________ 152 Celeyrette-Pietri zufolge schwankt der Text der „digression“ zwischen dem Versuch, eine Definition des ‘Moi pur’ zu formulieren, und dem Vorhaben, die „étapes d’une rigoureuse ascèse abstraite“ zu erzählen und damit zugleich eine „éthique“ zu entwickeln (CeleyrettePietri, Le moi et Léonard, S. 42). Sie berücksichtigt nicht, welche Funktion Valéry diesem teils definierenden, teils narrativen Textabschnitt zuweist: nämlich die, seine Vorstellung von einer „puissance intellectuelle“ bis zu ihren letzten Konsequenzen zu führen.
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es notwendig, unermüdlich denjenigen in uns zu trainieren, der auswählt und ins Werk setzt.153 Diese Instanz identifiziert Valéry offenbar mit dem Bewusstsein. Dabei legt er jene Konzeption der „conscience“ zugrunde, die oben bereits vorgestellt worden ist, spitzt sie allerdings noch weiter zu: Betrachtet er generell das Bewusstsein als das Vermögen des Menschen, sich von seinen einzelnen mentalen Zuständen zu distanzieren, sie in ihrer Partikularität wahrzunehmen und zwischen ihnen zu unterscheiden, so verschärft Valéry in Note et digression diese Leistung des SichUnterscheidens und Sich-Distanzierens zu einem Akt der Verweigerung und Negation, indem er die Tätigkeit des Bewusstseins nicht nur als ‘se reculer’ (1222) und „détachement“ (1225) beschreibt, sondern auch mit den Ausdürcken „refus“, „répulsion“, „condamnation uniforme“ (ebd.) sowie „nier une infinité de fois“ (1224) charakterisiert. Dem Bewusstsein erscheinen alle einzelnen Gedanken, Gefühle und Empfindungen als etwas Besonderes, Relatives und Transitorisches, während es sich selbst als etwas Allgemeineres, Unabhängiges und Beständiges wahrnimmt oder wahrzunehmen geneigt ist (vgl. 1218f., 1222). Das Individuum, welches der Versuchung des Geistes erlegen ist und allein nach Erweiterung seiner intellektuellen Macht strebt, muss es ablehnen, sich mit irgendetwas zu identifizieren, das als Gegenstand im Bewusstsein auftaucht und sich somit als relativ, partikular und zufällig erweist; es definiert sich nur über die allgemeinere und – scheinbar – unveränderliche Macht des Bewusstseins selbst und trachtet danach, dieses Bewusstsein immer weiter zu steigern und von allen akzidentiellen, zufälligen Inhalten zu reinigen (vgl. 12231225). Diese Steigerung oder Reinigung des Bewusstseins wird von Valéry als ein Prozess geschildert, der sich über einen längeren Zeitraum und mehrere Etappen vollzieht. Der ‘homme de l’esprit’ distanziert sich zunächst von den „nécessités et réalités communes“, indem er feststellt, dass er in sich etwas trägt, ein „secret de la connaissance séparée“ (1216), das diesen gewöhnlichen, äußeren, mit den Mitmenschen geteilten Lebensbedingungen nicht unterworfen ist und sich über sie nicht definieren lässt. Es ist dann aber vor allem die unermüdliche Betätigung des Intellekts, die dazu führt, dass sich das Bewusstsein dieses Individuums immer mehr von der Welt der Dinge und Menschen löst, sich verselbständigt und abschließt. Denn die Aktivität des Intellekts besteht nach Valéry wesentlich im Transformieren und Substituieren von Dingen beziehungsweise ihren mentalen Abbildern; je reibungsloser dieses „système complet de substitutions psychologiques“ (1219) funktioniert und je mehr Elemente es erfasst, desto _____________ 153 „[...] [C]’est celui en nous qui choisit, et c’est celui qui met en œuvre, qu’il faut exercer sans repos.“ (1208)
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stärker distanziert sich das Bewusstsein von allen diesen als austauschbar erkannten Gegenständen, und desto mehr nimmt es sich selbst als ein autonomes System wahr, als eine reine Tätigkeit, die keinen Ursprung hat und durch nichts beendet werden kann (vgl. 1219). Doch neben der fortgesetzten Aktivität des Intellekts trägt noch etwas anderes dazu bei, dass das Bewusstsein des Individuums, das der Versuchung des Geistes erlegen ist, sich immer weiter von der Welt entfernt. Eine entscheidende Rolle kommt hierbei Erfahrungen von Ausnahmezuständen zu, wie sie vor allem Traum, Ekstase und bestimmte Krankheiten mit sich bringen, aber auch die außergewöhnlichen Erlebnisse, die durch „les forces et les finesses [...] de l’attention, la logique la plus exquise, la mystique bien cultivée“ (1221f.)154 bewirkt werden können. In diesen Ausnahmezuständen lernt das Bewusstsein andere ‘Welten’ kennen, in denen die gewohnten Ordnungen von Raum, Zeit und Materie außer Kraft gesetzt sind (vgl. 1220f.); zugleich fühlt es sich bedrohlichen Mächten ausgesetzt und erhält so eine Ahnung von seiner eigenen Fragilität und Vergänglichkeit. Aus diesen Erlebnissen zieht das individuelle Bewusstsein daher zweierlei Lehren: Einerseits erfährt es, dass es doch nicht gänzlich autark ist, sondern selbst noch von allgemeineren Bedingungen abhängt und dass es in sich die Möglichkeit eines totalen Untergangs trägt.155 Andererseits konstatiert es, dass es selbst – in leicht veränderter Form – weiter existieren kann, während die gesamte Welt eine ganz andere ist. Folglich betrachtet es die gesamte Wirklichkeit, seine Welt und seinen Körper, als mehr oder weniger zufällige Realisierungen allgemeinerer Gesetzmäßigkeiten und schreibt sich selbst einen höheren Grad an Allgemeinheit als dieser zu (vgl. 1222). Es distanziert sich damit von dieser gesamten Welt und situiert sich außerhalb ihrer, da es ja entschlossen ist, „à ne jamais figurer dans quoi que ce soit qu’elle puisse concevoir ou se répondre“ (ebd.; Hervorhebung im Text). So betrachtet sich dieses Bewusstsein schließlich als direkte und ebenbürtige
_____________ 154 Vgl. zu den Bezügen zur Mystik: Ned Bastet, ‘The Turning Point’. 155 Wichtig ist, dass das Eintreten einer solchen Störung des psychischen Gleichgewichts für das Bewusstsein ein „événement incompréhensible“ (1220) ist, ein Ereignis, dessen Ursachen und Bedingungen dem Bewusstsein selbst nicht zugänglich sind. Wäre dies anders, so könnte das Bewusstsein diese Störungen ebenso behandeln wie alle anderen Gegenstände, die in ihm auftauchen und von denen es sich folglich distanzieren kann; aber diese „affres et sensations extraordinaires“ bleiben für das Bewusstsein unverständlich und lassen es auf diese Weise fühlen, dass es noch von Voraussetzungen abhängt, die es nicht einholen kann. – Valéry verdeutlicht diese Verfassung des Bewusstseins, indem er dieses mit einer Instanz vergleicht, die fühlt, dass sie alles sieht, und gleichwohl weiterhin fühlt, dass sie selbst auch noch sichtbar und „l’objet concevable d’une attention étrangère“ ist und nie zu einem Blick wird, der nichts mehr hinter sich hat (vgl. 1217).
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‘Tochter’ jenes unbekannten, gesichts- und ursprungslosen Wesens, dem „toute la tentative du cosmos“ (1222) zu verdanken ist.156 Hier ist das Bewusstsein am äußersten Punkt seines Strebens nach Vervollkommnung angekommen, es ist zu einem reinen Bewusstsein geworden, zu einer „présence pure“ (1223) oder „conscience accomplie“ (1224). Dieser Zustand des Bewusstseins nun erscheint als zutiefst ambivalent oder paradox, als eine „suprême pauvreté“: Er ist einerseits gekennzeichnet durch größte Unabhängigkeit, Reinheit und Allgemeinheit, andererseits aber auch durch das Fehlen jeglichen Identitätsgehalts und jeglichen Weltbezugs, durch die Abwesenheit von Instinkten, Zielen, Wünschen; er besteht in einer reinen und unbegrenzten Macht, die aber keinen Gegenstand mehr besitzt, an dem sie sich beweisen könnte: L’homme que l’exigence de l’infatigable esprit conduit à ce contact de ténèbres éveillées, et à ce point de présence pure, se perçoit comme nu et dépouillé, et réduit à la suprême pauvreté de la puissance sans objet; victime, chef-d’œuvre, accomplissement de la simplification et de l’ordre dialectique; [...]. Le voici sans instincts, presque sans images; et il n’a plus de but. Il n’a pas de semblables. Je dis: homme, et je dis: il, par analogie et par manque de mots. Il ne s’agit plus de choisir, ni de créer; et pas plus de se conserver que de s’accroître. Rien n’est à surmonter, et il ne peut pas même être question de se détruire. Tout génie est maintenant consumé, ne peut plus servir de rien. Ce ne fut qu’un moyen pour atteindre à la dernière simplicité. Il n’y a pas d’acte du génie qui ne soit moindre que l’acte d’être. [1223]
Dieses Bewusstsein kann nicht mehr die Absicht fassen, zu handeln und zu entscheiden, Werke hervorzubringen, Hindernisse zu überwinden oder sich selbst zu steigern, denn in jedem Akt würde es sich zu etwas herablassen und etwas als wichtig anerkennen, das es bereits als relativ und kontingent durchschaut hat. Indem es diesen Zustand der größten Unabhängigkeit und Einfachheit erreicht, verflüchtigt sich das Bewusstsein beinahe zu einem Nichts: „Enfin, cette conscience accomplie [...] – elle est donc différente du néant, d’aussi peu que l’on voudra.“ (1224) Dass das Bewusstsein sich bis zum äußersten Grad ‘gereinigt’ hat und zu einer „conscience accomplie“ geworden ist, bedeutet nicht, dass es jene Abhängigkeit überwunden hätte, an die es unter anderem durch die Zustände von Krankheit und Erschöpfung, aber auch durch die Erfahrungen von Traum und Rausch gemahnt wurde. Auch das zur „présence pure“ gesteigerte Bewusstsein ist noch bedingt durch körperliche Strukturen und _____________ 156 „[...]; forte de cette indépendance et d’invariance qu’elle est contrainte de s’accorder, elle se pose enfin comme fille directe et ressemblante de l’être sans visage, sans origine, auquel incombe et se rapporte toute la tentative du cosmos ... Encore un peu, et elle ne compterait plus comme existences nécessaires que deux entités essentiellement inconnues: Soi et X.“ (1222f.)
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Vorgänge, die ihm prinzipiell nicht zugänglich sind. Valéry drückt diesen Sachverhalt aus, indem er die „conscience accomplie“ mit dem Publikum im dunklen Zuschauerraum eines Theaters vergleicht (vgl. 1224). Dieses Publikum ist der erleuchteten Bühne zugewandt, auf der sich „tout le Sensible, l’Intelligible, le Possible“ (ebd.) bewegt; zugleich ‘spürt’ es, dass es aus einer Versammlung von atmenden, begierigen, sich drängelnden Organismen besteht, die es aber nicht sehen kann. So ist für das Bewusstsein alles das, was es ‘sehen’ kann, streng geschieden von dem geheimnisvollen Zusammenspiel der Organe, der „vie organique profonde“, von der es abhängt, die es aber nicht direkt ‘ins Auge fassen’ kann und die ihre Existenz vor allem durch Störungen („perturbations“) zu erkennen gibt.157 Nachdem er das Wesen des reinen Bewusstseins charakterisiert hat, fasst Valéry in knapper Form das Grundprinzip des beschriebenen Prozesses zusammen, um dann in einem zweiten, kürzeren Durchgang noch einmal diesen Weg der zunehmenden Distanzierung und Selbstreduzierung zu schildern, wobei er einen speziellen Aspekt hervorhebt: Zu den ‘Dingen’, von denen das Bewusstsein eines nach intellektueller Macht strebenden Individuums sich distanzieren müsse, gehört auch seine „personnalité“, die Gesamtheit seiner Erinnerungen, Gewohnheiten, Neigungen. Die Persönlichkeit kann für das Bewusstsein zum Gegenstand von Überlegungen und Berechnungen werden und erscheint ihm darin als etwas Kontingentes und Akzidentielles, Veränderliches und Diskontinuierliches. Der Gegenbegriff zur „personnalité“ ist der des „moi pur“ (1228): ‘Unter’ allen speziellen Eigenschaften und Wechselfällen der persönlichen Existenz befindet sich die dauerhafte und unveränderliche Instanz des reinen Ich, die dem Bewusstsein in seinem reinsten, abstraktesten Zustand entspricht (vgl. ebd.).158 Der Mensch, welcher der Versuchung des Geistes erlegen ist, wird sich von allen Dingen und auch von seiner eigenen Persönlichkeit distanzieren und sich allein über dieses reine Bewusstsein beziehungsweise sein „moi inqualifiable“ (ebd.) definie_____________ 157 Das Theaterbild wird in einer der Randbemerkungen, mit denen Valéry die LeonardoEssays in einer Neuauflage versehen hat, wie folgt erläutert: „Cette image de théâtre sert à joindre et à opposer la vie organique profonde à la vie superficielle que nous nommons esprit. La première est de nature régulière, périodique et ne se manifeste que par des perturbations; et non par toutes ses perturbations, car il en est de fort graves qui sont muettes, mais par certaines qu’une sorte de hasard nous rend sensibles, et même insupportables, sans relation avec leur importance pour la vie.“ (1224, Marginalie) 158 „Mais chaque vie si particulière possède toutefois, à la profondeur d’un trésor, la permanence fondamentale d’une conscience que rien ne supporte; et comme l’oreille retrouve et reperd, à travers les vicissitudes de la symphonie, un son grave et continu qui ne cesse jamais d’y résider, mais qui cesse à chaque instant d’être saisi, le moi pur, élément unique et monotone de l’être même dans le monde, retrouvé, reperdu par lui-même, habite éternellement notre sens; cette profonde note de l’existence domine, dès qu’on l’écoute, toute la complication des conditions et des variétés de l’existence.“ (1228)
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ren. Damit vollzieht sich eine eigentümliche, paradoxe Veränderung im Leben dieses Individuums (1229): Zunächst war es sein Ziel, außerordentliche Werke hervorzubringen; sein ungeheurer Ehrgeiz, sein Drang nach Einzigartigkeit und Allmacht führen dazu, dass es sich von seiner Individualität und damit auch von allen auf sich selbst bezogenen Wünschen distanziert und sich nur noch als reines Bewusstsein wahrnimmt. Die paradoxe Qualität dieses Vorgangs liegt darin, dass es der „orgueil“ war, der das Individuum zu diesem extremen Akt getrieben hat, dass sich dieser aber am Ende dieses Weges auflösen muss, da das reine Bewusstsein zusammen mit seiner Individualität, seinen Zielen und seinem Schaffensdrang auch Antriebe wie Hochmut und Ehrgeiz abgelegt hat. Vom „orgueil“ verlassen, bleibt dieses aufs Äußerste reduzierte Leben nackt und überrascht als Herrscher über ein Gebiet zurück, das einer öden Polarregion gleicht: „Son orgueil l’a conduite jusque-là, et là se consume. Cet orgueil conducteur l’abandonne étonnée, nue, infiniment simple sur le pôle de ses trésors.“ (1230) Der Zustand des „moi pur“ oder der „conscience accomplie“ wird fast ausschließlich über Negationen charakterisiert: Es ist ein Zustand der Nacktheit, der Armut, der Entleerung, ein Zustand, der dem des Nichts so nahe kommt, wie dies möglich ist. Ned Bastet zufolge hat Valéry den Prozess der Verweigerung und Selbstreduktion, der in diesen Zustand mündet, nach dem Vorbild einer mystischen via negationis gestaltet, wie sie etwa bei Johannes vom Kreuz beschrieben wird.159 Bastets Hinweise auf Formulierungen, die als Anspielungen auf diese Tradition gelesen werden können, sind großenteils überzeugend; seine These aber, die Negativität des Endpunktes dieses Wegs werde wie bei den Mystikern, so auch bei Valéry durch eine äußerste Positivität aufgewogen und gerechtfertigt, scheint mir nicht plausibel begründet zu sein.160 Dieser Endzustand wird _____________ 159 Vgl. Bastet, ‘The Turning Point’, S. 244-260. 160 Vgl. ebd., vor allem S. 254f., 258-260. Als Belege dafür, dass diesem Endzustand im Text eine „positivité“ (ebd., S. 254) zugeschrieben werde, wertet Bastet vor allem einen Satz über den „acte d’être“ als höchsten Akt, der ihm zufolge auf die Ontologie der Scholastik verweist (vgl. ebd., S. 254f.), sowie die Formulierung „[...] elle se pose enfin comme fille directe et ressemblante de l’être sans visage [...]“, in der er eine Anspielung auf das Motiv der mystischen Liebesvereinigung und einen „fantasme de la Dualité et de l’Union substantielle“ erkennt (vgl. ebd., S. 258f., 259f.). Diese Formulierungen befinden sich im Text aber noch kurz vor den Schilderungen des Endzustands des ‘reinen Bewusstseins’ und scheinen mir eher die Ambitionen und das Selbstverständnis des Ich auf den letzten Etappen seiner Selbstreinigung zu charakterisieren; außerdem wirkt vor allem die Deutung des Satzes über die „fille directe“ sehr forciert. Schließlich bleibt meines Erachtens unklar, was genau unter den positiven Qualitäten zu verstehen ist, die Valéry nach Bastets Deutung diesem extremen Zustand des reinen Ich zugeschrieben haben soll; es müsste genauer erläutert werden, welche positiven Werte Valéry mit den (laut Bastet) auf Mystik und Scholastik verweisenden Ausdrücken verbunden haben könnte, ohne die religiösen und theologischen bzw. me-
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bei Valéry nicht nur hauptsächlich über Negationen charakterisiert, sondern auch als negativ oder zumindest höchst ambivalent bewertet; der Weg des „homme de l’esprit“ endet in einer Einsamkeit und Reinheit, die als ‘verzweifelt’ apostrophiert wird. Vor allem gilt es zu bedenken, dass im Zentrum der „digression“ ein Ideal von intellektueller Macht steht; eben dieses Ideal wird durch die Beschreibungen des ‘reinen Ich’ und des ‘reinen Bewusstseins’ kritisch in Frage gestellt. Diese Kritik besteht nicht etwa darin, dass der Zustand des „homme de l’esprit“, der sich auf sein ‘reines Bewusstsein’ reduziert hat, als ein Zustand unbegrenzter Macht und Unabhängigkeit gezeigt würde, der aber durch eine unbarmherzig harte Askese erkauft wäre. Entscheidend ist vielmehr, dass das Streben nach intellektueller Macht, das hier beschrieben wird, sich am Ende selbst widerlegt oder ad absurdum führt: Die Macht des auf das reine Ich reduzierten Geistes ist eine „puissance sans objet“, seine souveräne Unabhängigkeit kann sich in keinerlei Tätigkeit mehr manifestieren und erscheint, da sie nicht mehr mit irgendwelchen Zielen oder Antrieben verbunden ist, tendenziell als leer und sinnlos. Valéry wollte seine „idée [...] d’une puissance intellectuelle“ bis zu ihrer letzten Konsequenz führen; in ihrer äußersten Steigerung und Reinheit nun erweist sich diese „puissance intellectuelle“, wie er sie begriffen hat, als eine „puissance sans objet“. Insofern hat sein Gedankengang die Struktur einer klassischen reductio ad absurdum.161 Von einer solchen Selbstwiderlegung kann man freilich nur sprechen, insofern das Streben des Individuums sich auf eine intellektuelle Macht richtete, die es auch im Handeln und im kreativen Schaffen manifestieren kann. Bei näherem Hinsehen nun zeigt sich, dass die Ziele des „homme de l’esprit“ in dieser Beziehung eine gewisse Zweideutigkeit aufweisen. Einerseits strebt dieses Individuum, dessen Weg im Mittelteil nachvollzogen wird, tatsächlich nach einer intellektuellen Macht, die es aktiv in der Pro_____________
taphysischen Prämissen der Mystik oder der Scholastik zu teilen. – Valéry hat in anderen Texten tatsächlich euphorische Erlebnisse eines Zustands des ‘reinen Seins’ geschildert, vor allem in ‘Mon Faust’ und in dem Prosagedicht „London-Bridge“ (vgl. P. V., ‘Mon Faust’. In: Œ II, S. 276-403, hier S. 321-323; ders., Choses tues. In: Ebd., S. 474-515, hier S. 512-514). Aber die Darstellungen dieser Erlebnisse unterscheiden sich grundlegend von der Beschreibung des Zustands des ‘reinen Bewusstseins’ in Note et digression. Vgl. zu diesem Motiv des ‘reinen Seins’ bei Valéry: Walter Ince, Être, Connaître et Mysticisme du Réel selon Valéry. In: Émilie Noulet-Carnier (Hg.), Entretiens sur Paul Valéry. Paris, La Haye 1968, S. 203-222; Robinson, L’analyse de l’esprit, S. 200-216; Pilkington, Valéry and Sartre, S. 190-192. 161 Celeyrette-Pietri hat eine Lesart der „digression“ vorgelegt, die sich sowohl von der hier entwickelten als auch von derjenigen Bastets unterscheidet: Ihr zufolge hat Valéry in dem Text versucht, ein reines Ich oder ein reines Bewusstsein freizulegen, das dem Tod entzogen wäre; dies sei ihm aber nur scheinbar, „par un jeu sur la notion d’existence“, gelungen, indem er dem reinen Ich die Existenzweise einer mathematischen Größe oder eines physikalischen Gesetzes zugeschrieben habe (vgl. Celeyrette-Pietri, Le moi et Léonard, S. 43f., Zitat S. 44). Diese Deutung scheint mir wenig plausibel.
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duktion von außerordentlichen Werken einsetzen kann (vgl. 1229). Diese Deutung des „homme de l’esprit“ wird auch durch die Tatsache nahe gelegt, dass am Ausgangspunkt der Überlegungen über die „puissance intellectuelle“ die Figur Leonardos stand und dass diese Reflexionen auch die Absicht verfolgten, „le système caché de quelque individu de la première grandeur“ (1216) aufzuklären. Leonardo aber, wie er im ersten Teil des Essays porträtiert wird (vgl. 1209-1212), verfügt über eine intellektuelle Macht, die sich unaufhörlich in Analysen, Erfindungen und Konstruktionen bewährt und die es ihm erlaubt, seine Gedanken bis zu den entlegensten und abstraktesten Folgerungen zu führen und von dort mühelos zur konkreten Realität zurückzufinden (vgl. 1210). All dies ist dem auf sein „moi pur“ reduzierten Individuum, das am Ende des Mittelteils charakterisiert wird, nicht mehr möglich; der Endpunkt seines Wegs unterscheidet sich somit in eklatanter Weise von dem Ort, zu dem es eigentlich gelangen wollte,162 beziehungsweise von dem Ideal, an dem es sich ursprünglich orientiert hat. – Andererseits verfolgte dieser „homme de l’esprit“, wie an einigen Stellen angedeutet wird, aber auch noch ein anderes Ziel, nämlich das einer maximalen geistigen Unabhängigkeit, wie sie die Distanzierung von allen als partikular und kontingent erkannten mentalen Inhalten gewährt (vgl. 1219, 1222); dieses Streben findet in der Selbstreduzierung auf das ‘reine Bewusstsein’ tatsächlich in dem Maße seine Erfüllung, wie es für den Menschen erreichbar ist. So macht der Endpunkt des im Mittelteil des Essays vorgeführten Prozesses auch darauf aufmerksam, dass die ‘Versuchung des Geistes’ verschiedene, widersprüchliche oder miteinander konfligierende Ziele umfasst, beziehungsweise darauf, dass der „homme de l’esprit“, der dieser Versuchung nachgibt, sich nicht hinreichend über das Wesen seiner Ziele im Klaren ist. Valéry bezeichnet die Idee, deren letzte, fragwürdige Konsequenzen er in der ‘digression’ seines Essays freilegt, als seine Konzeption einer „puissance intellectuelle“. Diese Konzeption aber steht offenkundig in der Tradition älterer und weit verbreiteter Auffassungen vom Subjekt und von persönlicher Autonomie und Identität. So erweist es sich als aufschlussreich, den eben untersuchten Gedankengang von Note et digression im Lichte von Charles Taylors Analyse der Entwicklung moderner Subjektkonzeptionen zu betrachten. Taylor zufolge wurde die reflexive Bezugnahme auf ein ‘Inneres’, die für die moderne Auffassung des Subjekts konstitutiv sei, vor allem anhand von zwei Grundmodellen ausgestaltet, dem der Selbstkontrolle und dem der Selbsterforschung.163 Wirkungsmächtige _____________ 162 Vgl.: „Ô quel point de transformation de l’orgueil, et comme il est arrivé où il ne savait pas qu’il allait!“ (1229) 163 Vgl. Taylor, Sources of the Self, S. 109-207 (Part II: „Inwardness“); vgl. auch: ders., Inwardness and the Culture of Modernity. In: Axel Honneth u.a. (Hg.), Zwischenbetrachtun-
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Formulierungen des modernen Ideals der Selbstkontrolle und des damit verbundenen Subjektverständnisses findet Taylor bei Descartes und insbesondere bei Locke.164 Entscheidend an ihrer Konzeption des Selbst und der Selbstkontrolle sei, dass sie eine Haltung des „disengagement“ als Weg zu rationaler Selbstkontrolle propagiert, wobei mit „disengagement“ eine Einstellung des Subjekts gemeint ist, in der es alle seine persönlichen Eigenschaften ebenso wie alle mentalen Inhalte, alle Gefühle, Wünsche und Gedanken, aus einer objektivierenden und neutralisierenden Distanz betrachtet, ihnen jeden intrinsischen Wert oder normativen Gehalt abspricht und sie souveränen Akten der Beurteilung, Auswahl und Neugestaltung unterwirft.165 Das Subjekt soll sich gemäß diesem Ideal nicht mit irgendeinem dieser Inhalte identifizieren, sondern allein mit der Fähigkeit zur objektivierenden Distanznahme gegenüber dem ‘Inneren’ und zu seiner Umformung; damit wird das Subjekt, so Taylor, gleichsam auf einen ausdehnungslosen ‘Punkt’ reduziert.166 Nach Taylor lieferte Locke mit seinem Verständnis des Selbst und seinem Ideal der Selbstkontrolle ein Modell, das in den folgenden Jahrhunderten eine immense Wirkung entwickelte und für viele Autoren vorbildlich blieb, auch wenn sie die spezielleren psychologischen, moralischen und religiösen Annahmen von Locke zurückwiesen. So könne etwa die Konzeption des Ich beim späteren Freud in diese Tradition gestellt werden.167 Auch die Konzeption der intellektuellen Macht und des „moi pur“ beziehungsweise der „conscience accomplie“, die Valéry im Mittelteil von Note et digression entfaltet, kann als eine Variation des Locke’schen Modells eines „punctual self“ aufgefasst werden. Der ‘homme de l’esprit’, dessen Entwicklung Valéry hier verfolgt, sucht mithilfe einer Haltung des „disengagement“ und mithilfe einer umfassenden Objektivierung aller inneren Vorgänge seine Selbstkontrolle und darüber hinaus seine Unabhängigkeit und seine intellektuellen Fähigkeiten zu erweitern. Aber Valéry schließt sich in seinem Essay nicht einfach affirmativ diesem Modell an, sondern arbeitet eine diesem Modell inhärente Problematik und Widersprüchlichkeit heraus, indem er das „moi pur“, das am Ende des Prozesses der fortgesetzten Distanzierung und Selbstobjektivierung steht, als ein einsames Wesen ohne Ziele, Wünsche und Antriebe präsentiert. Die Problematik des auf ‘disengagement’ gegründeten Ideals von Selbstbeherrschung, auf _____________ 164 165 166 167
gen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt/M. 1989, S. 601-623. Vgl. Taylor, Sources of the Self, S. 143-176. Vgl. ebd., S. 159-173; zu dem Zusammenhang zwischen „disengagement“, „objectification“ und „control“ vor allem S. 159-162. Vgl. ebd., S. 171f. Vgl. ebd., S. 174.
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die Valéry damit aufmerksam macht, ist in etwa dieselbe wie jene, die durch Taylors metaphorische Rede vom ‘punctual self’ angedeutet wird: Indem das Subjekt die Identifizierung mit irgendwelchen Inhalten seines Geistes verweigert und sich allein mit seinem Vermögen zur Distanzierung und Verweigerung identifiziert, reduziert es sich auf einen substanzlosen ‘Punkt’ und beraubt sich letztlich der Fähigkeit des Handelns und Entscheidens, da es über keine Werte, Wünsche oder Ziele mehr verfügt, auf die es Entschlüsse oder Präferenzen stützen könnte. Damit komme ich zu der Analyse des Gedankengangs von Note et digression zurück. Nachdem das Unterfangen, seine Vorstellung von einer „puissance intellectuelle“ bis zu ihrer letzten Konsequenz zu führen, Valéry in die „solitude“ und „netteté désespérée“ des reinen Bewusstseins und damit zu einem widersprüchlichen und problematischen Ergebnis geführt hat, könnte man erwarten, dass er sich von diesem Resultat seines Gedankengangs aus wieder zu seiner Vorstellung von einer „puissance intellectuelle“ zurückwendet, um sie im Lichte dieser letzten Konsequenz neu zu bewerten oder zu hinterfragen.168 Aber eine solche explizite Weiterführung des Gedankengangs bleibt aus; die lange „digression“ des Mittelteils endet mit der Charakterisierung des „moi pur“ bzw. des individuellen Geistes, der von seinem „orgueil“ zum Rückzug auf sein reines Bewusstsein getrieben wurde und schließlich einsam, nackt und überrascht „sur le pôle de ses trésors“ zurückbleibt. Dann wendet sich Valéry abrupt wieder seinem ursprünglichen Thema zu, der Entstehung der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci im Jahre 1894: „J’achève en peu de mots cette peinture un peu simplifiée de mon état: encore quelques instants à passer en 1894.“ (1230) Valéry unterlässt es also, nachdem er die problematischen Implikationen seiner „idée [...] d’une puissance intellectuelle“ freigelegt hat, sich ausdrücklich wieder auf diese „idée“ zurückzubeziehen und sie kritisch zu hinterfragen. Aber er fügt in seinen Text einige Passagen ein, die implizit eine Korrektur oder Revision dieser Vorstellung enthalten. Diese Passagen finden sich in den rahmenden Abschnitten des Essays; sie stehen in unterschiedlichen Kontexten und behandeln verschiedene Themen, doch sie alle legen implizit nahe oder sprechen direkt aus, dass der menschliche Geist und der Intellekt auf die Verbindung zu anderen ‘Teilen’ oder Dimensionen der menschlichen Existenz angewiesen ist: zum Körper, zum _____________ 168 Er könnte etwa verschiedene Prämissen seines Gedankengangs und seiner Vorstellung von einer „puissance intellectuelle“ hinterfragen, beispielsweise die Prämisse, der zufolge ein nach intellektueller Macht strebender „homme de l’esprit“ sich nur mit dem identifizieren dürfe, was bei allen Transformationen des Bewusstseins unveränderlich bleibt; eine Vorstufe des Essays enthält eine Passage, die auf die einer solchen Haltung zugrunde liegenden Illusionen hindeutet. Für ein Zitat dieser Passage vgl. Celeyrette-Pietri, Valéry et le Moi, S. 44f.
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Willen, zu Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten, zum gesamten „être“ des Individuums. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht bereits ein Passus aus dem ersten Teil des Essays, in dem Leonardo gefeiert wird: Mais Léonard, de recherche en recherche, se fait très simplement toujours plus admirable écuyer de sa propre nature; il dresse indéfiniment ses pensers, exerce ses regards, développe ses actes; il conduit l’une et l’autre main aux dessins les plus précis; il se dénoue et se rassemble, resserre la correspondance de ses volontés avec ses pouvoirs, pousse son raisonnement dans les arts, et préserve sa grâce. [1212]
Für den ‘homme de l’esprit’, dessen Entwicklung Valéry im Mittelteil schildert, kommt es zumindest ab einem gewissen Punkt nicht mehr in Frage, sich zum Dresseur seiner eigenen Natur zu machen, seine Kunstgriffe zu üben und das Zusammenspiel seines Wollens und seines Könnens zu entwickeln; dieser Mensch muss vielmehr schließlich auch seine eigenen „volontés“ als zufällige und partikulare mentale Ereignisse betrachten, die keinen prinzipiell anderen Status als alle anderen mentalen Vorkommnisse haben und von denen er sich folglich ebenso distanziert wie von allen anderen. Auch „sa propre nature“ zeigt sich gegenüber dem reinen Bewusstsein als ein kontingentes Faktum und als eine arbiträre Restriktion, von der sich dieses Bewusstsein nicht binden lassen darf. Der Leonardo aber, den Valéry hier zeichnet, scheint gerade nicht ausschließlich bestrebt zu sein, seine Autonomie zu bewahren, sein Bewusstsein als das Vermögen zu Distanzierung und Verweigerung zu entwickeln. Einen besonders aufschlussreichen Bezug zu den Ausführungen des Mittelteils über die „conscience pure“ weist eine Passage aus dem Anfangsteil auf, in der Valéry einige Zitate aus Leonardos Schriften kommentiert, darunter eine Notiz über den Tod; der Kerngedanke dieser Notiz lautet, dass die Seele, obgleich sie etwas Göttliches sei, die Vernichtung des Körpers als ein furchtbares Unglück empfinde und sich nur unter Tränen und tiefer Trauer von diesem Körper trenne: „‘Et je crois bien, dit Léonard, que ses larmes et sa douleur ne sont pas sans raison ...’“ (1213; Hervorhebung im Text). Diese Auffassung Leonardos, so Valéry im Folgenden, steht der Lehre der katholischen Kirche nahe, zumindest sofern diese thomistisch geprägt sei: Denn diese Lehre beschreibe die Existenzweise der vom Körper getrennten Seele als eine armselige, nichtige und öde Verfassung. Diese Seele hat alles Können, Wollen und Wissen verloren und besitzt lediglich ihre Autonomie, die ihr aber nichts nützen kann und nur ein leerer Ehrentitel ist.169 Diese Existenz werde von der thomisti_____________ 169 „Rien de plus pauvre que cette âme qui a perdu son corps. Elle n’a guère que l’être même: c’est un minimum logique, une sorte de vie latente dans laquelle elle est inconcevable pour nous, et sans doute, pour elle-même. Elle a tout dépouillé: pouvoir, vouloir, savoir, peut-
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schen Lehre freilich nur als eine befristete gedeutet, die schließlich von der „restitution de la chair“ beendet wird. Der Zustand der vom Körper getrennten Seele nun, wie er von Leonardo und Thomas von Aquin aufgefasst wird, hat große Ähnlichkeiten mit dem Zustand des reinen Bewusstseins und des reinen Ich, den Valéry im Mittelteil schildert: Dieser Zustand zeichnet sich durch vollkommene Autonomie aus, aber diese Autonomie erscheint als sinnlos, da die „conscience pure“, wie die körperlose Seele, über keine Substanz, keine Ziele, keine Wünsche und keinen Bezug zur Welt mehr verfügt. Wenn Valéry in seinem Kommentar zu der Notiz Leonardos nachzuvollziehen sucht, welche Bedeutung dieser dem Körper zugeschrieben habe, so kann man diese Ausführungen daher auch als kritischen Einwand gegen die Vorstellung von der „puissance intellectuelle“ auffassen, die in der „digression“ auf ihre letzten Konsequenzen hin befragt wird: Pour un tel amateur d’organismes, le corps n’est pas une guenille toute méprisable; ce corps a trop de propriétés, il résout trop de problèmes, il possède trop de fonctions et de ressources pour ne pas répondre à quelque exigence transcendante, assez puissante pour le construire, pas assez puissante pour se passer de sa complication. Il est œuvre et instrument de quelqu’un qui a besoin de lui, qui ne le rejette pas volontiers, qui le pleure comme on pleurerait le pouvoir ... Tel est le sentiment de Vinci. [1213f.; Hervorhebung im Text]
Es ist ein kompliziertes Verhältnis des wechselseitigen AufeinanderAngewiesenseins, das hier geschildert wird: Leonardos Beobachtungen am menschlichen Körper führen ihn zur Annahme einer Instanz, die zwar mächtig genug ist, um diesen Körper zu konstruieren, aber zugleich auf diesen angewiesen ist; der Körper ist das Werk und Produkt dieser Instanz, aber zugleich ihr unverzichtbares Instrument. Was den Körper so wertvoll macht, ist seine „complication“, die Vielfalt seiner Eigenschaften, Funktionen und Ressourcen. Eine solche Auffassung vom Körper und seiner Wichtigkeit170 hat in der Konzeption der „puissance intellectuelle“, die im Mittelteil entwickelt wird, keinen Ort; dort wird der Weg eines „homme de l’esprit“ geschildert, der sich im Streben nach intellektueller Macht von seinem Körper wie von allen als kontingent durchschauten Aspekten seiner Existenz distanziert und sich allein mit seinem Bewusstsein als dem Vermögen der Distanzierung und Verweigerung selbst identifiziert (vgl. 1222). _____________ être? Je ne sais même pas s’il lui peut souvenir d’avoir été, dans le temps et quelque part, la forme et l’acte de son corps? Il lui reste l’honneur de son autonomie ...“ (1214) 170 Die Sicht auf den Körper, die in dieser Passage angedeutet wird, hat große Ähnlichkeit mit derjenigen, die der Architekt Eupalinos in dem kurze Zeit nach Note et digression entstandenen Dialog artikulieren wird; vgl. Valéry, Eupalinos ou l’Architecte. In: Œ II, S. 98-100.
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Die Passagen über Leonardos Sicht auf den menschlichen Körper nun kann man als Hinweis darauf sehen, dass unter all den ‘Dingen’, von denen sich das Bewusstsein im Laufe seiner zunehmenden Reinigung und Verselbständigung distanziert, einige sind, die zu dem Bewusstsein im selben Verhältnis stehen wie – Leonardo zufolge – der Körper zur Seele: Es gibt Dinge, die dem Bewusstsein insofern unterlegen sind, als sie diesem gegenüber relativ, partikular und austauschbar erscheinen, so wie der Körper derjenigen Instanz unterlegen ist, die ihn erschaffen hat; aber das Bewusstsein ist gleichwohl auf diese Dinge angewiesen, es kann sie nicht aufgeben, ohne damit zugleich alle Antriebe und Ziele, alle Beziehungen zu irgendwelchen Gegenständen und damit auch alle Möglichkeiten des Handelns zu verlieren. Doch weshalb sollte man hier vage und allgemein von ‘Dingen’ sprechen, statt geradewegs vom Körper? Kann man die Passage über Leonardos Sicht auf Seele und Körper nicht einfach als Hinweis darauf verstehen, dass das, was die im Mittelteil geschilderte Existenzweise des reinen Bewusstseins so armselig macht, eben der Verlust des Körpers ist? Doch es gilt zu bedenken, dass Valéry in Note et digression solche ausdrücklichen und eindeutigen Schlussfolgerungen über die Bedeutung des Körpers für Intellekt und Bewusstsein des Menschen gerade nicht formuliert; er stellt die Reflexionen über die Versuchung des Geistes und das reine Bewusstsein sowie die Überlegungen zu Leonardos Sicht auf den Körper nebeneinander und lässt es offen, wie diese Gedanken sich miteinander verbinden und welche Schlussfolgerungen sich daraus ziehen lassen. Vor allem aber finden sich in dem Essay auch Hinweise darauf, dass es nicht nur der fehlende Bezug zum Körper ist, was die Existenzweise des reinen Bewusstseins so kläglich erscheinen lässt. Der Schlussteil des Essays, in dem Valéry seinen Bericht von der Entstehung der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci beendet, enthält ebenfalls Passagen, die man zu den Reflexionen des Mittelteils in Bezug setzen kann; auch sie verweisen auf den Wert und geradezu die Unverzichtbarkeit von Aspekten des menschlichen Daseins, von denen sich das reine Bewusstsein gelöst hat. Valéry evoziert in dieser Schlusspartie nochmals die verzweifelte Ratlosigkeit, in der er sich 1894 angesichts seiner Aufgabe befand, nachdem er alle Vorgehensweisen verworfen hatte, die seinen Vorlieben und Überzeugungen widerstrebten. Um sich aus dieser Notlage zu befreien, habe er schließlich keinen anderen Ausweg gesehen als den, seinen eigenen inneren Aufruhr aus Ambitionen, Wünschen, Zweifeln und Sorgen auf Leonardo zu projizieren, ihm die erfolgreiche Bewältigung dieser Schwierigkeiten zuzuschreiben und so seine eigene Unsicherheit in Leonardos Machtvollkommenheit zu verwan-
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deln.171 Die entscheidende Ressource, die ihm die Bewältigung seiner Aufgabe ermöglichte, bestand mithin in einem Chaos aus Begierden, Gefühlen und Empfindungen. Damit relativiert aber die Entstehungsgeschichte der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci selbst bis zu einem gewissen Grad jene Auffassungen über das intellektuelle Vermögen und Schöpfungen des Intellekts, an die Valéry selbst glaubte und deren Implikationen er im Mittelteil des Essays entwickelt. Wie Valéry zu Beginn des Essays sagt, sah er damals im Bewusstsein, verstanden als ein Vermögen der Distanzierung und Unterscheidung, das höchste Gut des Menschen und akzeptierte nur solche Werke des Geistes als wertvoll, deren Konstruktion sichtbar durch das Bewusstsein beherrscht war. Der Rückblick auf die Entstehung des ersten Leonardo-Essays nun macht implizit deutlich, dass das Bewusstsein allein nicht ausgereicht hätte, um die Konstruktion des Werks in Gang zu setzen; erst der Rekurs auf die „désirs“, „agitations“ und „embarras“ befreite den jungen Valéry aus seinem „état désespéré“.172 Bemerkenswert ist auch, dass Valéry seine Vorgehensweise mit der Formulierung resümiert, er habe damals seine „personne“ benutzt (1232): „personne“ und „personnalité“ standen in der „digression“ des Mittelteils für die wandelbaren und zufälligen Bestandteile der individuellen Existenz, von denen sich der Mensch, der der Versuchung des Geistes folgt, radikal distanziert. Die Entstehung des Leonardo-Aufsatzes nun zeigt, dass es die „personne“ oder Teile derselben sind, welche es dem Individuum ermöglichen, tätig und produktiv zu werden. Valéry behauptet allerdings auch nicht, dass die „personne“ oder das Bündel seiner „désirs“, „agitations“ und „difficultés“ allein für die Entstehung des Werks verantwortlich gewesen sei; er sagt vielmehr, dass er seine „personne“ benutzt habe. Die handelnde Instanz war also immer noch eine, die sich von der Unordnung aus Gefühlen, Problemen und Begierden distanzieren und zu ihnen verhalten konnte, also eine Form des Bewusstseins; aber für diese Instanz waren die chaotischen Begierden, Empfindungen und Gefühle unverzichtbar. Valéry war in ähnlicher Weise auf diese „désirs“, „agitations“ und „difficultés“ _____________ 171 „Enfin, je le confesse, je ne trouvai pas mieux que d’attribuer à l’infortuné Léonard mes propres agitations, transportant le désordre de mon esprit dans la complexité du sien. Je lui infligeai tous mes désirs à titre de choses possédées. Je lui prêtai bien des difficultés qui me hantaient dans ce temps-là, comme s’il les eût rencontrées et surmontées. Je changeai mes embarras en sa puissance supposée. J’osai me considérer sous son nom, et utiliser ma personne.“ (12312) 172 Das wirft allerdings die Frage auf, weshalb Valéry dann nicht schon 1894 das Ideal der auf Distanzierung und ‘disengagement’ gegründeten „puissance intellectuelle“ verworfen habe. Man kann Valérys Darstellung so verstehen, dass er 1894 in seinem Vorgehen eine Einsicht befolgt habe, ohne ihre Implikationen ganz zu überschauen und sie sich zu Eigen zu machen. Eine ähnliche Art der unvollständigen Erkenntnis wird in einem Satz aus dem ersten Teil des Essays angedeutet: „Il faut tant d’années pour que les vérités que l’on s’est faites deviennent notre chair même!“ (1206)
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angewiesen, wie es Leonardo und Thomas von Aquin zufolge die Seele auf den Körper ist. Die folgenden Absätze, zugleich die Schlussabsätze des Essays, enthalten die expliziteste Formulierung einer These, mit der Valéry jene Auffassungen von intellektueller Macht, die er im Mittelteil auf ihre letzten Konsequenzen hin befragt, korrigiert oder relativiert. Valéry verteidigt hier sein Vorgehen bei der Abfassung der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci, indem er darlegt, dass es das einzig mögliche Vorgehen sei; was er dabei rechtfertigt, ist allerdings nicht die Tatsache, dass er ungeordnete Ambitionen, Begierden und Sorgen zum Ausgangspunkt seines Schaffens gemacht hat, sondern der Umstand, dass er seine Probleme und Begierden auf Leonardo übertragen hat. Doch eine andere Möglichkeit, so Valéry, gibt es nicht: Une brève réflexion fait connaître qu’il n’y a pas d’autre parti que l’on puisse prendre. [...] C’est notre propre fonctionnement qui, seul, peut nous apprendre quelque chose sur toute chose. Notre connaissance, à mon sentiment, a pour limite la conscience que nous pouvons avoir de notre être, – et peut-être, de notre corps. Quel que soit X, la pensée que j’en ai, si je la presse, tend vers moi, quel que je sois. [...] L’intention de toute pensée est en nous. C’est avec notre propre substance que nous imaginons et que nous formons une pierre, une plante, un mouvement, un objet: une image quelconque n’est peut-être qu’un commencement de nous-mêmes ... [1232f.]
Unser Wissen über beliebige Gegenstände der Welt kann nur so weit reichen, wie unser Wissen um unser eigenes Sein – genauer: unser Bewusstsein unseres eigenen Seins – reicht. Das Bewusstsein, das wir von unserem eigenen Sein oder unserem „fonctionnement“ besitzen, bildet den Fundus, aus dem wir zwangläufig schöpfen müssen, wenn wir uns irgendwelche Gegenstände der Welt vorstellen und sie uns verständlich machen wollen. Im Hinblick auf die Reflexionen des Mittelteils nun ist vor allem beachtenswert, dass die entscheidende Rolle hier nicht dem Bewusstsein als solchem und in seiner abstrakten Form zugeschrieben wird, sondern dem Bewusstsein von etwas, nämlich von unserer eigenen Seinsweise: „la conscience que nous pouvons avoir de notre être, – et peut-être, de notre corps.“ Auf dieses Bewusstsein von dem eigenen Sein und dem eigenen Körper kommt es an, sobald der Mensch sein Wissen über irgendwelche Gegenstände erweitern will. Damit widerruft Valéry nicht die im Mittelteil des Essays entwickelte Ansicht, dass das Bewusstsein sich von allen diesen Gegenständen distanzieren kann, dass es sich selbst eine größere Allgemeinheit als diesen zuschreiben und sich somit über sie erheben kann. Der Mensch, den ein bestimmtes Ideal intellektueller Allmacht und Unabhängigkeit verführt hat, wird sich mit diesem abstrakten Bewusstsein identifizieren und sich auf dieses zurückziehen. Sobald es ihm aber darum geht, Wissen über irgendwelche Dinge zu erwerben, kann er nicht umhin,
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sich auf sein eigenes „fonctionnement“, sein besonderes geistiges und körperliches Sein zu beziehen und sich auf sein Bewusstsein von diesem Sein zu stützen – obwohl sein Bewusstsein diese Gegenstände, den Körper und die Besonderheiten dieses Daseins als willkürliche, partikulare Einzelfälle empfinden muss, denen es überlegen ist und von denen es sich gänzlich distanzieren könnte. Die Thesen und die Andeutungen von Thesen, in die die Reflexionen von Note et digression münden, werden als wesentliche Grundannahmen das Werk des späteren Valéry prägen. Vor allem zwei Ergebnisse des Essays sind hier hervorzuheben. Das erste folgt aus der ausführlich untersuchten Analyse und Hinterfragung der Idee einer „puissance intellectuelle“ im Mittelteil, die, wie oben festgestellt wurde, auch eine Kritik der traditionsreichen Konzeption eines „punctual self“ und des damit verbundenen Ideals von „disengagement“ und Selbstobjektivierung impliziert. Die „digression“ des Mittelteils legt dar, dass die „puissance intellectuelle“, die mithilfe einer konsequenten ‘Reinigung’ des Bewusstseins, einer fortgesetzten Distanzierung und Verweigerung gegenüber allen mentalen Inhalten erlangt werden kann, eine „puissance sans objet“ ist, dass das Subjekt sich auf diesem Wege schließlich aller Ziele, Absichten und Handlungsmöglichkeiten beraubt. Ein positives Komplement zu dieser reductio ad absurdum liefern einige Passagen der Rahmenteile, die jeweils den Wert oder die Wichtigkeit bestimmter Aspekte der menschlichen Existenz hervorheben, die dem im Mittelteil beschriebenen, nach größtmöglicher Macht und Reinheit strebenden Bewusstsein als ebenso zufällig und partikular wie alle anderen Bewusstseinsinhalte erschienen und von derselben Geste der Verweigerung und Reduktion getroffen wurden wie sie. Sofern das Subjekt Fähigkeiten erwerben will, die es in dieser Welt handelnd einsetzen kann, ist es zum einen auf den Körper angewiesen, zum anderen auf seine Wünsche, Ambitionen, Sorgen und Zweifel. Das heißt nicht, dass der Mensch die Zufälligkeit und Bedingtheit seiner körperlichen und raumzeitlichen Existenz übersehen und sich voll und ganz mit ihr identifizieren soll; er soll sich vielmehr seines Körpers wie seiner Wünsche und der gesamten ‘Unordnung’ seines Inneren bedienen, was voraussetzt, dass er zur Distanzierung von diesen Merkmalen seiner Existenz fähig bleibt. Die ideale Verkörperung einer solchen Haltung stellt Leonardo dar, von dem es heißt, dass er unermüdlich sein Denken wie seine Augen und seine Hände ausbildet, von abstraktesten Analysen mühelos zu den konkreten Details der Konstruktion zurückkehrt und seine Neugier mit seinen Fähigkeiten, sein Wollen mit seinem Können ausbalanciert (vgl. 1211f.). Was die Rahmenpartien von Note et digression somit als erstrebenswert erscheinen lassen und der im Mittelteil durchdeklinierten Idee einer „puissance intellectuelle“ entgegenstellen, ist eine Haltung des Subjekts zu sich
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und zu der Welt, die Distanzierung und Involvierung, objektivierende Analyse und partielle Identifikation auf spannungsvolle Weise miteinander verbindet. In Valérys ab 1920 entstandenen Werken werden verschiedene Varianten einer solchen Haltung beschrieben und als vorbildlich dargestellt. Valéry erörtert diese Haltung allerdings kaum einmal auf der theoretischen Ebene, sondern schreibt sie fiktiven oder historischen Gestalten zu, so etwa – neben dem Leonardo da Vinci aus Note et digression selbst – Descartes und Goethe sowie dem Architekten Eupalinos in dem nach ihm benannten Dialog.173 Das zweite Ergebnis der Reflexionen aus Note et digression, das zu einer Grundannahme und einem Leitmotiv in den Schriften des späteren Valéry werden sollte, hängt eng mit dem ersten zusammen und kann als eine erkenntnistheoretische Konkretisierung oder Applikation desselben betrachtet werden. Das körperliche Dasein des Individuums in Raum und Zeit, seine Wünsche, Begierden, Sorgen und Ängste sind nicht nur deshalb wichtig, weil sie ihm eine Verankerung in der Welt verschaffen, sein Handeln möglich machen und ihm eine Richtung geben; sie stellen auch die unverzichtbare Grundlage und das Referenzsystem aller menschlichen Erkenntnis dar. Wie es in der oben bereits zitierten Schlusspassage von Note et digression heißt: C’est notre propre fonctionnement qui, seul, peut nous apprendre quelque chose sur toute chose. Notre connaissance, à mon sentiment, a pour limite la conscience que nous pouvons avoir de notre être, – et peut-être, de notre corps. [1232f.]
Diese Sätze umreißen eine Auffassung vom Wesen der Erkenntnis und von den Bedingungen des Erkenntniserwerbs, die Valéry in seinen Notizen wie in veröffentlichten Essays der folgenden Jahre ausführlicher explizieren und begründen wird. Nach dieser Auffassung bilden der menschliche Körper und die menschlichen Fähigkeiten des ‘Machens’ („Faire“) das universale Referenzsystem aller Erklärungen beziehungsweise, wie es manchmal bei Valéry heißt, alles Wissens. Das einzige Verfahren, irgendeine Sache zu erklären, besteht demnach darin, sich die menschlichen Handlungen vorzustellen, welche diese Sache hervorbringen könnten: „‘Expliquer’, ce n’est jamais que décrire une manière de Faire: ce n’est que refaire par la pensée“,174 so heißt es in L’homme et la coquille, einem Essay, in dem Valéry diese Auffassung nicht nur theoretisch formuliert, sondern auch an einem konkreten Beispiel demonstriert hat. Da Valéry manuelle _____________ 173 Vgl. auch die – etwas anders akzentuierten – Ausführungen hierzu bei: Pilkington, Valéry and Sartre, S. 182f. Zu diesem Aspekt von Valérys Descartes-Bild vgl. die knappen Bemerkungen bei: Catherine Wilson / Christiane Schildknecht: The Cogito meant ‘No more philosophy’: Valéry’s Descartes. In: History of European Ideas 9 (1988), S. 47-62, hierzu vor allem S. 53-56. 174 Paul Valéry, L’homme et la coquille. In: Œ I, S. 886-907, hier S. 891.
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Herstellungstätigkeiten als den Prototyp des „Faire“ zu betrachten scheint und da solche Tätigkeiten in den Begriffen der Mechanik beschreibbar sind, können seine Aussagen über den Körper und das Machen als universales Referenzsystem den Eindruck erwecken, als wolle er letztlich mechanische oder ‘mechanistische’ Erklärungen als die einzig respektablen oder sinnvollen propagieren. Doch damit würde man die Stoßrichtung seiner Thesen verfehlen, wie etwa aus dem (wenig bekannten) Vorwort zu einer Neuausgabe von L’homme et la coquille hervorgeht: L’action humaine complète, avec son possible et son nécessaire propres, ses moyens, sa matière, son but, est le type inévitable et unique sur quoi toute ‘explication’ se façonne. Ce que nous savons de nous, de nos actes, de nos impulsions, de ce qui satisfait nos instincts et s’accorde à notre structure, les ‘forces’, le ‘temps’ et ‘l’espace’ qui nous conviennent, ce sont les ressources dont nous disposons pour réduire à notre mesure toutes choses.175
Dieser Passus kann als Erläuterung und Konkretisierung dessen gelesen werden, was in den oben zitierten Sätzen aus Note et digression in knapperen, eher enigmatischen Formulierungen behauptet wird: „Notre connaissance, à mon sentiment, a pour limite la conscience que nous pouvons avoir de notre être, – et peut-être, de notre corps.“ Vor allem wird hier deutlich, dass das Referenzsystem des Körpers und des „Faire“ nicht allein die in physikalischen Begriffen beschreibbaren Komponenten eines Herstellungsvorgangs umfasst, sondern alle Aspekte der „action humaine complète“ oder schlicht alles, ‘was wir von uns wissen’: also auch Ziele, Antriebe und Bedürfnisse sowie die spezifischen Grenzen, in die der Organismus des Menschen seine Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten einschließt. Die Pointe von Valérys These lautet also nicht, dass alle echten Erklärungen eine Reduktion auf mechanische Vorgänge enthalten, sondern dass sie eine Rückführung auf das ‘menschliche Maß’ („notre mesure“) voraussetzen. 1.5. Der spätere Valéry über Ziele und Aufgaben des Denkens Dem frühen Valéry galt, wie oben dargelegt wurde, die Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten selbst als der oberste Zweck des Denkens. Diese Auffassung erschien ihm selbst schließlich fragwürdig; sein 1919 veröffentlichter Essay Note et digression legte die inneren Widersprüche und Probleme in seinem früheren Ideal der „puissance intellectuelle“ frei und _____________ 175 Paul Valéry, [Préface]. In: P.V., L’homme et la coquille. Dessins par Henri Mondor. Paris 1982 [erstmals 1937], S. 9-18, Zitat S. 12. Dieses Vorwort, das Valéry erst anlässlich einer Buchausgabe von L’homme et la coquille verfasst hat, wurde nicht in die Pléiade-Ausgabe seiner Werke aufgenommen.
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deutete darüber hinaus an, wie die Ziele und Ideale der intellektuellen Tätigkeit auf angemessenere Weise bestimmt werden könnten. Dieser positive Entwurf einer sinnvolleren Auffassung von den Aufgaben und Zielen des Denkens bewegte sich allerdings auf einer recht allgemeinen und grundsätzlichen Ebene. In seinen ab 1920 entstandenen Texten hat Valéry sich dann vielfach konkreter darüber geäußert, was in seinen Augen wertvolle Denkweisen, Problemstellungen und Erkenntnisarten auszeichnete; seine Ausführungen hierzu erweisen sich großenteils als Weiterführungen oder Präzisisierungen jener Position, die in den Rahmenteilen von Note et digression angedeutet wird. 1.5.1. Anthropologische Prämissen: Die Überschüsse und Defizite der conditio humana Die Äußerungen des späteren Valéry über die Aufgaben des Denkens stehen oft im Kontext von grundsätzlichen Überlegungen anthropologischer Art, die gegenüber den Konzepten und Theorien seiner früheren Jahre neue Akzente setzen. Ein Grundgedanke seiner anthropologischen Reflexionen, der für seine Sicht auf das Denken besonders wichtig ist, besagt, dass der Mensch über mehr Möglichkeiten des Wahrnehmens, der körperlichen Bewegung und der geistigen Tätigkeit verfügt, als er zur Lebenserhaltung bzw. zur Befriedigung seiner vitalen Bedürfnisse braucht. Valéry hat diesen Gedanken unter anderem in seinem Vortrag Philosophie de la Danse formuliert,176 und der Tanz ist eines seiner bevorzugten Illustrationsbeispiele für diese Überlegung: Die Beine des Menschen, ihre Muskeln, Gelenke usw., stellen, grob gesprochen, ein bestimmtes Potential von Bewegungen dar. Um seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, muss der Mensch einen Teil dieses Potentials aktualisieren. Doch das Gehen und Laufen erschöpft die Möglichkeiten dieser Körperteile nicht; sobald der Mensch sich nicht mehr ununterbrochen um die Sicherung seines Überlebens kümmern muss, kann er sich daher daran geben, weitere Möglichkeiten seines Körpers, die nicht unmittelbar nützlich sind, zu verwirklichen und zu vervollkommnen. Der Tanz ist eine solche Realisierung von ‘überschüssigen’ Möglichkeiten des Bewegungsapparats, die mithilfe bewusster Formung und Einübung entwickelt wurde. Es ist aber zu beachten, dass der Tanz sich derselben Körperteile, Muskeln und Organe bedient wie das Gehen, wie auch die Poesie sich derselben Wörter und derselben Grammatik bedient wie die Sprache des alltäglichen Gebrauchs. Der menschliche Geist ist für Valéry ebenfalls eines der Bei_____________ 176 Vgl. Paul Valéry, Philosophie de la Danse. In: Œ I, S. 1390-1403, vor allem S. 1391f.
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spiele für den ‘Überschuss’ der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten; der Mensch ist zu mehr gedanklichen Produktionen fähig, als er zum Überleben bräuchte, und er kann die „puissance de transformation“, welche seinen Geist ausmacht, zu anderen Zwecken als den rein ‘pragmatischen’, der Selbsterhaltung dienenden verwenden.177 Dass der Mensch mehr wahrnimmt, mehr denkt und mehr Bewegungen vollführen kann, als er zum Überleben braucht, unterscheidet ihn noch nicht von anderen Lebewesen. Nicht nur der Mensch, auch ein Hund kann die Sterne sehen, die für ihn doch keinerlei Relevanz besitzen; doch der Hund, so Valéry, kümmert sich nicht um die Sterne, er benimmt sich so, als ob er sie nicht sähe.178 Für den Menschen dagegen ist kennzeichnend, dass er diesem unnützen Teil seiner Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmöglichkeiten eine große Bedeutung beimisst und ihn zu entwickeln sucht: L’homme est cet animal singulier qui se regarde vivre, qui se donne une valeur, et qui place toute cette valeur qu’il lui plaît de se donner dans l’importance qu’il attache à des perceptions inutiles et à des actes sans conséquence physique vitale. Pascal plaçait toute notre dignité dans la pensée; mais cette pensée qui nous édifie, – à nos propres yeux, – au-dessus de notre condition sensible est exactement la pensée qui ne sert à rien. Remarquez qu’il ne sert de rien à notre organisme que nous méditions sur l’origine des choses, sur la mort; et davantage, que les pensées de cet ordre si relevé seraient nuisibles plutôt, et même fatales à notre espèce. Nos pensées les plus profondes sont les plus indifférentes à notre conservation et, en quelque sorte, futiles par rapport à elles. Mais notre curiosité plus avide qu’il n’est nécessaire, mais notre activité plus excitable qu’aucun but vital ne l’exige, se sont développées jusqu’à l’invention des arts, des sciences, des problèmes universels, et jusqu’à la production d’objets, de formes, d’actions, dont on pouvait facilement se passer.179
Die Künste wie die Wissenschaften sind dieser Passage zufolge nicht aus ursprünglichen Bedürfnissen des Menschen hervorgegangen, sondern aus einem Überschuss der menschlichen Ausstattung heraus entstanden, aus seinem Überschuss an Möglichkeiten des Wahrnehmens, Handelns und Denkens, aber auch an Neugier und Tätigkeitsdrang; sie verdanken sich der bizarren Neigung des Menschen, gerade dem nutzlosen Teil seiner Fähigkeiten besonders hohen Wert zuzuschreiben und ihn zu kultivieren. _____________ 177 Vgl.: Paul Valéry, La liberté de l’esprit. In: Œ II, S. 1077-1099, hier S. 1077-1080; der Ausdruck „puissance de transformation“ auf S. 1078, die Rede von der „activité [...] pragmatique“ in Abgrenzung von der „activité [...] supérieure“ auf S. 1080. 178 „[...] J’ai besoin de voir les pierres, les bêtes, les arbres et non pas les astres. Mais je les vois par-dessus le marché. J’ai besoin de me soulager et non de rire – mais je ris et j’invente des choses qui fassent rire. Ce trop a fait les dieux. – Mon chien aussi voit les astres gratuitement – mais il fait comme s’il ne les voyait pas.“ (C Pl. II, S. 1365 / C facs. IV, S. 61 [19061907]) 179 Valéry, Philosophie de la Danse. In: Œ I, S. 1393f.
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Sobald allerdings die Künste und Wissenschaften etabliert und ihre Produkte im Umlauf sind, so Valéry im weiteren Verlauf seiner Ausführungen, erzeugen sie beim Menschen sekundäre Bedürfnisse.180 Im Hinblick auf das Thema dieses Kapitels sind vor allem die folgenden Aspekte dieser Valéry’schen Überlegungen relevant: Valéry konzipiert den Menschen als ein Wesen, dessen Potentiale des Wahrnehmens, Denkens und Handelns über das zur Selbsterhaltung erforderliche Maß hinausreichen, insofern also nicht vollständig durch seine natürlichen Grundbedürfnisse festgelegt sind. Die künstlerischen und intellektuellen Aktivitäten des Menschen oder zumindest ein großer Teil von ihnen gelten Valéry als Kultivierungen der ‘überschüssigen’, unnützen und nicht festgelegten Portion seiner Fähigkeiten. Er begreift also die Wissenschaften und die Künste nicht als Tätigkeiten, die in den elementaren Bedürfnissen oder Antrieben des Menschen angelegt sind und von ihnen her ihre Richtung erhalten; sie stellen vielmehr im Verhältnis zu allen Tätigkeiten des Menschen, die seinen Grundbedürfnissen entspringen, nicht eine kontinuierliche Fortsetzung dar, sondern eine „bizarrerie“ oder eine Folge von „écarts“. Damit unterscheiden sich Valérys Anthropologie und seine Sicht auf die Wissenschaft fundamental von all jenen Theorien, die alle Tätigkeiten des Menschen, insbesondere auch die Wissenschaft, als durch elementare Grundbedürfnisse oder Grundtriebe geleitet ansehen – seien dies nun das Streben nach Selbsterhaltung und Anpassung, wie in den evolutionsbiologisch inspirierten Theorien von Spencer und Mach, oder die Freud’schen Ichtriebe und Erhaltungstriebe. Dagegen besitzt Valérys Konzeption der nutzlosen Überschüsse in der menschlichen Ausstattung eine gewisse Nähe zu Nietzsches Sicht auf den Menschen als das ‘noch nicht festgestellte Tier’.181 Aber für die conditio humana sind nach Valéry nicht nur überschüssige, von dem Zweck der Selbsterhaltung nicht geforderte Potentiale konstitutiv, sondern auch spezifische Defizite des Wissens und Könnens. Auf einige dieser Defizite wurde oben bereits hingewiesen, wo Valérys Auffassungen über die Beziehung zwischen Körper, Geist und Welt erörtert wurden: Das erste und in mancher Hinsicht wichtigste Manko der menschlichen Verfassung besteht darin, dass der Körper, aus dem der Geist in gewissem Sinne hervorgeht und durch den er bedingt ist, Gesetzen gehorcht, die dem Geist großenteils unbekannt und prinzipiell unzu_____________ 180 Vgl. ebd., S. 1394. – Diese Entwicklung und der daraus folgende Zustand werden von Valéry oft in marktwirtschaftlichen Termini beschrieben: Die Werke des Geistes sind Produkte, die auf eine bestimmte Nachfrage antworten und mit denen getauscht und gehandelt wird wie mit anderen Waren. 181 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 62. In: KSA 5, S. 81-83, hier S. 81. – Zu Valérys zwiespältigem Verhältnis zu Nietzsche vgl.: Pietra, An art of rethinking, S. 91.
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gänglich sind.182 Außerdem ist der menschliche Organismus in eine Natur eingefügt, in der sich viele verschiedene Ordnungen auf komplizierte Weise überschneiden und die in weiten Teilen durch das Entropie-Prinzip bestimmt wird; daher ist seine ursprüngliche, ‘natürliche’ Verfassung in hohem Maße durch eine Tendenz zur Unordnung, Instabilität und Verausgabung sowie durch den Kampf gegen diese Tendenz gekennzeichnet. Das bedeutet auf einer konkreteren Ebene unter anderem, dass der Mensch zunächst Reaktionsweisen, Kommunikationsmittel und Erkenntnisse erwirbt und sich aneignet, die zur Bewältigung momentaner Herausforderung und zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse ausreichen, aber auch nur auf diese ‘Minimalanforderungen’ zugeschnitten sind.183 Er realisiert nur den Teil seiner Aktions- und Reflexionspotentiale, den er zur Sicherstellung seiner Grundbedürfnisse braucht, und begnügt sich mit einer Sprache, die zur alltäglichen Verständigung über Wünsche und Absichten hinreicht.184 Für diese pragmatischen Minimalzwecke aber genügen lückenhafte Fähigkeiten, simple und automatisierte Verhaltensweisen und eine vage, ungeordnete Sprache. So erscheint der Mensch, mit den Worten des Arztes Éryximaque aus dem Dialog L’âme et la danse, als „une incohérence qui fonctionne, et un désordre qui agit“.185 Die Tendenz zur Unordnung und Instabilität manifestiert sich ferner auf besonders starke und beunruhigende Weise in der „sensibilité“ des Menschen, in den Gefühlen, Affekten und Leidenschaften, die für Valéry wiederum eng mit der Funktionsweise des Körpers verbunden sind. Emotionen und Affekte stammen in seinen Augen aus Fehlfunktionen des Organismus186 oder aus _____________ 182 Vgl. etwa: „L’esprit est attaché au corps à peu près comme l’homme à la planète.“ (Paul Valéry, Histoires brisées. In: Œ II, S. 405-467, hier S. 417.) 183 In einem Brief an A. Coste von 1915 verwendet Valéry zur Charakterisierung der Erkenntnisse, mit denen man beim Training des Intellekts gezwungenermaßen beginnen müsse, den Ausdruck „purement suffisante“: „On commence forcément par la connaissance grossière et purement suffisante, on y acquiert des pouvoirs qui, développés en eux-mêmes par un entraînement général, sans spécialité prématurée, sans ignorance des conventions, etc., peuvent, tel jour, s’appliquer aux anciens et primitifs problèmes.“ (Paul Valéry, A A. Coste [1915]. In: P.V., Lettres à quelques-uns, S. 104-109, hier S. 106.) 184 Vgl. zu den Wörtern des „langage courant“, die zur alltäglichen Verständigung, zum raschen Überqueren des Grabens zwischen zwei Kommunizierenden taugen, aber keine eingehende Prüfung aushalten: Paul Valéry, Poésie et pensée abstraite. In: Œ I, S. 1314-1339, hier S. 1317f. – Zu Valérys Skepsis gegenüber der Alltagssprache vgl.: Jacques Bouveresse, Valéry, le langage et la logique. In: Robinson-Valéry (Hg.), Fonctions de l’esprit, S. 233-253, vor allem S. 233-239; Jürgen Schmidt-Radefeldt, Paul Valéry linguiste dans les Cahiers. Paris 1970, S. 69f. – Vgl. zu Valérys Sprachauffassung auch: Karl Löwith, Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens. Göttingen 1971, S. 26-56. 185 Paul Valéry, L’âme et la danse. In: Œ II, S. 148-176, Zitat S. 161. 186 Vgl. etwa: „Les émotions sont dues à des insuffisances dans le fonctionnement des organes ou moyens de diffusion ou d’amortissement / ou de dissipation / des énergies d’origine significative [...].“ (C Pl. II, S. 364f., Zitat S. 364 / C facs. X, S. 490 [1924-1925]) – Vgl. auch: C
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einem ‘Resonanzkörper’ im Menschen, einer Energiequelle, die Wertungen („valeurs“) schafft und verteilt, dabei ihren eigenen Gesetzen folgt und ebenso gut belebend wie zerstörerisch wirken kann187; die Ausdrücke und Metaphern, die Valéry für diese Instanz verwendet, lassen meist erkennen, dass er sie als einen bedrohlichen Fremdkörper innerhalb des Menschen wahrnimmt. Von diesen anthropologischen Grundannahmen aus erklären sich einige der zentralen Ideale und Wertbegriffe Valérys, die auch für seine Auffassung von den Aufgaben und Zielen des Denkens leitend sind.188 Zu diesen Idealen zählt zunächst die Vorstellung des „se refaire“ oder „se reconstruire“. Die Fähigkeiten und Überzeugungen, die ein Mensch zunächst erwirbt, sind stets ungeordnet, unvollständig und mangelhaft, da sie sich zufälligen Erfahrungen verdanken und zudem nur praktischen Zwecken genügen sollen; sie bilden insofern stets „une incohérence qui fonctionne“. Daher betrachtet Valéry es als ein Ideal, dieses zufällig entstandene Durcheinander durch Analyse aufzulösen, die allgemeineren Fähigkeiten unter den speziellen freizulegen, die vagen und lediglich ausreichenden Begriffe durch präzise definierte zu ersetzen und so alles mithilfe von reinen Materialien wieder aufzubauen – „de tout reconstruire en matériaux purs“189. Die Rede vom ‘se re-faire’ oder ‘se re-construire’ macht deutlich, dass hier nicht eine vollkommen freie Selbstschöpfung anvisiert wird, sondern eine bewusste und planmäßige, möglichst vollständige und ‘reine’ Verwirklichung des endlichen Potentials an Fähigkeiten, das dem einzelnen Menschen gegeben ist und von dem er normalerweise nur kleine und zufällige Teile realisiert. Mit diesem Ideal des „se refaire“ verwandt ist der Wert der „liberté“, der bei Valéry einen hohen Rang einnimmt.190 Für _____________
187 188 189
190
Pl. II, S. 357 / C facs. V, S. 835 [1915-1916]; C Pl. II, S. 372f. / C facs. XIV, S. 354 [19291930]; C Pl. II, S. 374 / C facs. XV, S. 464 [1931-1932]. – Zu Valérys Sicht auf Emotionen und Affekte vgl.: Robinson, L’analyse de l’esprit, S. 155-172. Vgl. C Pl. II, S. 350f. / C facs. IV, S. 692 [1912]; C Pl. II, S. 359f. / C facs. VI, S. 438 [1917]; C Pl. II, S. 388f. / C facs. XXIX, S. 908f. [1945]. Vgl. hierzu auch: Grätzel, Valérys taghelle Mystik, S. 51-55. C Pl. I, S. 791 / C facs. IV, S. 461 [1910]. – Zu dem Thema des „se refaire“ oder „se reconstruire“ vgl. auch: C Pl. I, S. 347f. / C facs. IX, S. 761 [1924]; C Pl. I, S. 349 / C facs. XI, S. 36 [1925]; C Pl. I, S. 351f. / C facs. XI, S. 590 [1926]; C Pl. I, S. 352 / C facs. XII, S. 6 [1926-1927]. Zum Ideal der „liberté de l’esprit“ bei Valéry vgl.: Édouard Gaède, Nietzsche et Valéry. Essai sur la comédie de l’esprit. Paris 1962, S. 121-146. – Generell ist zu berücksichtigen, dass der Begriff „liberté“ bei Valéry in zwei verschiedenen Kontexten und mit verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird: zum einen bezeichnet er die Freiheit von zufälligen Prägungen und Einschränkungen, die für Valéry ein Ziel der geistigen Selbsterziehung ist; zum anderen steht er bei ihm für das philosophische Problem der (Willens-)Freiheit, das in seinen Augen – wie so viele altehrwürdige Probleme der Philosophie – ein schlecht gestelltes oder ein Scheinproblem ist.
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die Ausgangssituation des Menschen, wie sie die oben referierten anthropologischen Grundüberzeugungen Valérys entwerfen, ist ja nicht nur der fragmentarische, ungeordnete und behelfsmäßige Charakter seiner Fähigkeiten kennzeichnend, sondern auch die Tatsache, dass er kaum als Herr seiner selbst gelten kann, sondern in hohem Maße den Zufällen der äußeren Ereignisse wie dem Eigensinn seines Körpers ausgeliefert erscheint; auch die zahllosen Meinungen und die Sprache, die er unwillkürlich aus seiner gesellschaftlichen Umgebung aufnimmt, schränken seine Autonomie ein, da er den Umfang alles dessen, was er unwillkürlich empfangen hat, sowie die Implikationen all dieser Meinungen nicht überblicken kann. Daher ist es für Valéry eines der höchsten Ziele, die der Mensch in seinen Tätigkeiten, insbesondere seinen geistigen Tätigkeiten verfolgen kann, seine Freiheit zu erweitern, sich in höherem Maße zum Herrn seiner Sprache, seiner Meinungen und Denkweisen zu machen. 1.5.2. Intellektuelles Training: Denken als Sport Im Folgenden sollen die Aufgaben und Ziele des Denkens, die der spätere Valéry als sinnvoll und erstrebenswert begreift, in einer Art aufsteigender Reihe oder Stufenfolge untersucht werden; der nach Valéry höchste und wichtigste Gebrauch des Denkvermögens wird also am Ende dieses Untersuchungsabschnitts ins Auge gefasst werden. Für den jungen Valéry stellte, wie oben gesehen, die Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten selbst und damit die Erweiterung von Selbstkontrolle und Macht das wichtigste, übergeordnete Ziel des Denkens dar. Diese Auffassung und die damit verbundene Vorstellung von der „puissance intellectuelle“ wurden Valéry schließlich fragwürdig; doch auch nachdem er diese Ideale und Überzeugungen seiner früheren Jahre kritisch hinterfragt und teilweise verworfen hatte, behielt die Idee eines intellektuellen Trainings, eines als ‘Sport’ betriebenen Denkens für ihn einen positiven Wert und wurde von ihm auch in einigen der öffentlichen Vorträge propagiert, die er vor allem in den 1930er Jahren hielt.191 Allerdings gab er der Idee des intellektuellen Trainings in diesen Vorträgen einen anderen Akzent als in seinen früheren Texten. Den Impetus des „sport intellectuel“192, wie er ihn dort beschrieb, bildete nicht das Streben des Individuums nach exzeptionellen und universal anwendbaren geistigen Fähigkeiten, nach einer Art intellektueller Allmacht, sondern der Wunsch, der _____________ 191 Vgl. Paul Valéry, Le Bilan de l’Intelligence. In: Œ I, S. 1058-1083, vor allem S. 1083; ders., La Liberté de l’Esprit. In: Œ II, S. 1077-1099, vor allem S. 1090f., 1096f. 192 Valéry, Le Bilan de l’Intelligence. In: Œ I, S. 1083.
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„dissipation naturelle des choses“193 etwas entgegenzusetzen, den Anteil der bewusst kontrollierten geistigen Akte gegenüber dem der unbewussten Impulse zu erhöhen und somit die geistige Freiheit zu erweitern. Diese Bekämpfung der natürlichen Tendenzen zu Unordnung und Instabilität und das Bemühen, die Potentiale des Denkens und Handelns möglichst weitgehend der bewussten Kontrolle zu unterstellen, sind nach Valéry für den Menschen als solchen konstitutiv und bilden zudem die Grundlage der Zivilisation. Für ihn gehört es zu den bedenklichsten Zügen der modernen Kultur, dass sie der Ausbildung und Pflege der individuellen geistigen Fähigkeiten und damit der Entwicklung geistiger Freiheit abträglich ist. Die Angehörigen moderner Gesellschaften, die durch die Beschleunigung und Vervielfältigung der Kommunikation und durch eine immer rigidere Organisation des Alltagslebens gekennzeichnet sind, verlieren Valéry zufolge immer mehr die Fähigkeiten zu Aufmerksamkeit, Konzentration und Ausdauer im intellektuellen Arbeiten, aber auch das Bedürfnis nach oder den ‘Geschmack’ an solcher Arbeit; dadurch zerstört die Zivilisation allmählich ihre eigenen Fundamente.194 1.5.3. Echte und künstliche Probleme Das Plädoyer für einen „sport intellectuel“, das sich beim späten Valéry vor allem im Kontext seiner kritischen Analysen der modernen Kultur findet, stellt aber keineswegs seine einzige Antwort auf die Frage nach einem sinnvollen oder wertvollen Gebrauch des Denkens dar. Wäre dies so, gälte ihm also der Trainingseffekt als einziger relevanter Aspekt bei der Beurteilung geistiger Tätigkeiten, so müsste er letztlich alle Gegenstände und Probleme, denen sich das Denken widmen kann, als gleichrangig betrachten, sofern sie nur den Intellekt zu Anstrengungen herausfordern. Aber an anderen Stellen bemisst er den Wert von Denkleistungen gerade nach der Art von Problemen, mit denen sie sich befassen; ausschlaggebend ist für ihn dabei die Unterscheidung zwischen den Problemen, die das Individuum wirklich als solche ‘spürt’, und allen anderen, bei denen das nicht der Fall ist und die dann eben nur die Probleme der anderen sind. Diese Unterscheidung zwischen echten – im Sinne von: persönlichen, tatsächlich ‘gespürten’ – Problemen und den Problemen der ande_____________ 193 Paul Valéry, Propos sur la poésie. In: Œ I, S. 1361-1378, hier S. 1364. Der vollständige Satz lautet: „Mais l’homme n’est homme que par la volonté et la puissance qu’il a de conserver ou de rétablir ce qu’il lui importe de soustraire à la dissipation naturelle des choses.“ 194 Vgl. Valéry, La Liberté de l’Esprit. In: Œ II, S. 1089-1099. – Zu Valérys Kritik der modernen Zivilisation vgl.: Peter Bürger, Prosa der Moderne. Unter Mitarbeit von Christa Bürger. Frankfurt/M. 1988, S. 234f. Vgl. auch: Buchner / Köhn, Einleitung, S. 64-70.
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ren hat Valéry besonders explizit in seinem Vortrag Poésie et pensée abstraite formuliert. In diesem Vortrag stellt er eingangs fest, dass es sich bei der Opposition zwischen „poésie“ und „pensée abstraite“ um einen allgemein anerkannten Gegensatz handle, dass also die Ansicht, das abstrakte Denken mit seinen Bemühungen um Präzision und Strenge vertrage sich nicht mit der Naivität, Phantasie und Anmut der Poesie, weit verbreitet sei.195 Aber er habe den Verdacht, dass man diese Antithese ohne jede Reflexion und Prüfung übernommen habe, als einen „contraste verbal“, dessen sachliche Begründetheit man ohne weiteres voraussetze.196 Daher nimmt er sich vor, diesen Kontrast daraufhin zu prüfen, ob er tatsächlich eine Basis in seinen realen Erfahrungen habe: Je me garderai donc de me fier à ce que ces termes de Poésie et de Pensée abstraite me suggèrent, à peine prononcés. Mais je me tournerai vers moi-même. J’y chercherai mes véritables difficultés et mes observations réelles de mes véritables états; j’y trouverai mon rationnel et mon irrationnel; je verrai si l’opposition alléguée existe, et comment elle existe à l’état vivant. Je confesse que j’ai coutume de distinguer dans les problèmes de l’esprit ceux que j’aurais inventés et qui expriment un besoin réellement ressenti par ma pensée, et les autres, qui sont les problèmes d’autrui. Parmi ceux-ci, il en est plus d’un (mettons 40 p. 100) qui me semblent ne pas exister, n’être que des apparences de problèmes: je ne les sens pas. Et quant au reste, il en est plus d’un qui me semble mal énoncé... Je ne dis pas que j’aie raison. Je dis que je regarde en moi ce qui se passe quand j’essaie de remplacer les formules verbales par des valeurs et des significations non verbales, qui soient indépendantes du langage adopté. J’y trouve des impulsions et des images naïves, des produits bruts de mes besoins et de mes expériences personnelles. C’est ma vie même qui s’étonne, et c’est elle qui me doit fournir, si elle le peut, mes réponses, car ce n’est que dans les réactions de notre vie que peut résider toute la force, et comme la nécessité, de notre vérité.197
Dieser Passage lassen sich eine Reihe von Überzeugungen entnehmen, die für die Auffassungen des späteren Valéry über das Denken und seine Aufgaben von zentraler Bedeutung sind. Die folgenden Punkte gilt es festzuhalten: (1) Um sprachliche Ausdrücke, Oppositionen und Problemstellungen auf ihren tatsächlichen Gehalt zu überprüfen, bezieht sich Valéry auf eine Ebene der ‘rohen’, naiven und unversprachlichten Erfahrung; sie konstituiert das, was als real gelten kann bzw. was für das jeweilige Individuum real ist. Die entscheidenden Attribute, mit denen Valéry diese Ebene der individuellen Erfahrung kennzeichnet, lauten ‘véritable’, ‘réel’, ‘naïf’, ‘brut’, ‘personnel’. Diese inneren Vorgänge oder Zustände werden von Valéry zwar einerseits als das Primäre, Ursprüngliche, in gewissem Sinne unmittelbar Gegebene beschrieben, scheinen aber andererseits für das _____________ 195 Vgl. Paul Valéry, Poésie et pensée abstraite. In: Œ I, S. 1314-1339, hier S. 1314f. 196 Ebd., S. 1315. 197 Ebd., S. 1318f.
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Individuum nicht notwendigerweise einfach zugänglich zu sein, da sie meist schon in Sprache eingekleidet und durch sie entstellt sind. Es bedarf also einer bewussten Anstrengung, um die sprachlichen Formeln beiseite zu schieben und die naiven Impulse freizulegen. (2) Die rohen Erfahrungen, um die es Valéry hier geht, sind von besonderer Art: Es handelt sich um Reaktionen („réactions“, „réponses“), und zwar um Reaktionen des Staunens (‘s’étonner’). Die echten Probleme sind solche, die aus einem naiven, unvermittelten Erstaunen hervorgehen. (3) Die unwillkürlichen Reaktionen des Erstaunens werden als eine Äußerung der Bedürfnisse und persönlichen Erfahrungen des Individuums aufgefasst („des produits bruts de mes besoins et de mes expériences personnelles“) beziehungsweise als eine Äußerung ihres ‘Lebens’: „C’est ma vie même qui s’étonne“. Damit wird zusätzlich die Gültigkeit und Wichtigkeit dieses Staunens und der aus ihm stammenden Problemstellungen betont: Dieses Staunen und diese Probleme verweisen auf eine tatsächliche Diskrepanz zwischen dem Menschen und einem Phänomen der Welt. Der ganze Passus über die naiven Reaktionen, die dem Denken als Ausgangspunkt dienen sollen, kann als Weiterführung von Gedanken aus den Rahmenabschnitten von Note et digression gelesen werden: Dort hieß es, dass der Mensch sich auf die konkreten Eigenschaften seiner körperlichen und raumzeitlichen Existenz, seines „être“, beziehen muss, wenn er seine intellektuellen Kapazitäten produktiv einsetzen und solide Erkenntnisse erwerben will.198 Die oben zitierte Passage aus Poésie et pensée abstraite nun gibt Aufschluss darüber, welcher Art die Manifestationen des „être“ oder der „vie“ sind, die als Grundlage und Initialmoment des Denkens dienen können oder sollten. (4) Die echten Probleme, die in den Reaktionen des unmittelbaren, naiven Staunens wurzeln, werden von Valéry auf zweierlei Weise charakterisiert: Es handelt sich um Probleme, die er selbst erfunden hätte und die ein wirklich verspürtes Bedürfnis seines Denkens ausdrücken.199 Valérys Rede von den Problemen, die er selbst erfunden hätte, weist darauf hin, dass die Ebene der unmittelbaren Erfahrungen noch keine fertig formulierten Probleme liefert, sondern nur gleichsam rohe Bedürfnisse und Erlebnisse, _____________ 198 Vgl. Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1232f. 199 Eine fast identische Wendung findet sich in einem von Valérys Essays über Descartes, wo er ebenfalls diese Unterscheidung zwischen echten, persönlichen Problemen und künstlichen Problemen formuliert: „Je distinguerais, en effet, chez lui, les problèmes qui naissaient de lui-même, et dont il a ressenti par soi-même l’aiguillon et la nécessité personnelle, des problèmes qu’il n’eût pas inventés, et qui furent, en quelque sorte, des besoins artificiels de son esprit.“ (Paul Valéry, Descartes. In: Œ I, S. 792-810, Zitat S. 805; vgl. auch ebd., S. 808.) Descartes könnte auch ein Vorbild für die Geste geliefert haben, mit der Valéry selbst immer wieder ‘das, was er selbst erfunden hätte’ (oder erfinden kann) als Maßstab oder Referenzpunkt heranzieht; vgl. dazu: Reino Virtanen, Paul Valéry and the Cartesian Cogito. In: The Romanic Review 77 (1986), S. 279-288, hier S. 280.
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Reaktionen des Erstaunens und der Verblüffung, so dass die Formulierung des Problems noch einen Akt des Erfindens und Konstruierens erfordert. 1.5.4. Selbstaufklärung und Selbst-Rekonstruktion Wie oben bereits erwähnt, sah Valéry ein übergeordnetes Ziel seiner intellektuellen Arbeit und eines der höchsten Ziele, das sich die Menschen überhaupt setzen können, darin, sich selbst in reiner Form ‘noch einmal zu machen’ oder ‘zu rekonstruieren’. Eine solche Re-Konstruktion setzt eine umfassende Kenntnis dessen voraus, was rekonstruiert werden soll, also des wiederherzustellenden Menschen: La beauté de l’homme est de se reconstruire – selon le maximum de sa connaissance de soi-même composé avec le maximum de son expérience de sa matière – qui est le reste.200
Diese Selbstkenntnis zu erwerben, ist eines der obersten Ziele der Reflexionen, die ihren Niederschlag in Valérys Cahiers gefunden haben, und die „connaissance de soi-même“ gilt Valéry als eine der wichtigsten Arten des Wissens überhaupt. Im Folgenden soll näher untersucht werden, was Valéry unter dieser Selbstkenntnis verstand und auf welche Weise sie ihm zufolge zu erreichen war. Als erstes ist festzuhalten, dass zu der Selbstkenntnis, um die es Valéry ging, sowohl das Wissen um anthropologische Fakten, um die Eigenheiten der menschlichen Verfassung überhaupt gehörte als auch die Kenntnis individueller Fähigkeiten, Neigungen und Veranlagungen. Die Bemerkungen in den Cahiers, in denen er den Gegenstand seiner Analysen beschreibt, setzen in dieser Hinsicht unterschiedliche Akzente; sie fassen mal den „fonctionnement d’ensemble de l’être humain“ ins Auge, mal „mon fonctionnement d’ensemble“ oder „moi-même“.201 Die Abgrenzung des_____________ 200 C Pl. I, S. 352 / C facs. XII, S. 6 [1926-1927]. 201 „Ce qu’il faut chercher à concevoir c’est le fonctionnement d’ensemble de l’être humain.“ (C Pl. I, S. 782 / C facs. II, S. 770 [1902]) „[...] Mon idéal n’a pas été de présenter une explication du monde, mais d’accroître les pouvoirs, le dressage du système humain: [...].“ (C Pl. I, S. 793 / C facs. V, S. 169 [1913]) „Mon but principal a été de me figurer aussi simplement, aussi nettement que possible mon propre fonctionnement d’ensemble, – monde, corps, pensées. [...]“ (C Pl. I, S. 793 / C facs. V, S. 211 [1914]) „Ma philosophie ne tend qu’à me rendre familier à moi-même. Mon but n’est pas de construire un monde où je pourrais ne pas figurer – Ni même de dresser une table et une classification universelle. [§] Mais me tirer à ma lumière, faire jouir mes ressorts, unir ce que les circonstances n’unissent pas; désunir ce que le hasard a uni –; amoindrir mon indéfini; m’étendre pour trouver mes limites, me circonscrire en général et me rejeter tout entier ..“ (C Pl. I, S. 331 / C facs. V, S. 395 [1914])
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sen, was individuell und spezifisch, von dem, was überindividuell gültig und für den Menschen als solchen kennzeichnend ist, scheint dabei kein vorrangiges Interesse Valérys zu sein. In einer Hinsicht zumindest sind die individuelle und die anthropologische Dimension in seinem Projekt ohnehin unauflösbar verschränkt: Valéry will unter anderem die Bedingtheiten und Eigenarten der menschlichen Verfasstheit überhaupt analysieren, aber er will sie sich verständlich machen, und dies erfordert ihm zufolge die Übersetzung allgemeingültiger Beobachtungen und Theorien, wie sie auch die Wissenschaft liefert, in ein Vokabular oder ein Repräsentationssystem, das seinen persönlichen Bedürfnissen und Anforderungen entspricht. Im Hinblick darauf, wie Valéry den Inhalt oder Gegenstand der Selbstkenntnis konzipierte, ist ferner seine früher erwähnte Auffassung von Bedeutung, dass alle geistigen Vorgänge oder auch das gesamte menschliche Verhalten anhand des Schemas „D.R.“ gedeutet, also als eine Folge von ‘demandes’ und ‘réponses’ begriffen werden können. Das Individuum erscheint in dieser Sichtweise als die Summe der Antworten oder Reaktionen, zu denen es fähig ist, und Selbstkenntnis besteht in einer Kenntnis dieser Reaktionen, die man virtuell ‘enthält’, und darüber hinaus womöglich in einem kontrollierten Verfügen über sie. Diese Überzeugungen scheinen Valérys Auffassung zugrunde zu liegen, dass ein Mensch immer nur das über sich wisse, was die Umstände aus ihm hervorgeholt haben: Soi. Nous ne connaissons de nous-mêmes que celui que les circonstances nous ont donné à connaître (j’ignorais bien des choses de moi). Le reste est induction, probabilité: Robespierre n’avait jamais imaginé qu’il guillotinerait à ce point; ni tel autre, qu’il aimerait à la folie.202
Die Gefühle und Verhaltensweisen, deren ein Mensch fähig ist, werden jeweils durch spezifische „circonstances“ aktiviert, und so hängt es von den Ereignissen und äußeren Umständen ab, welche Teile seiner selbst das Individuum kennen lernt. Nach Valéry ist also der Mensch in seinem Bemühen um Selbsterkenntnis stets auf die ‘Mitwirkung’ der Anderen oder der Umstände angewiesen.203 Außerdem ist festzuhalten, dass das Streben nach Selbstkenntnis in dieser Sicht als ein wesentlich quantitatives _____________ 202 Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 503. – Frühere Fassung in: C Pl. II, S. 458 / C facs. VIII, S. 677 [1922]. In dieser Notiz heißt es statt „ni tel autre [...]“ noch: „ni Léonard qu’il aimerait“. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Valéry mit dem Beispiel des Menschen, der nicht ahnte, dass er einmal bis zum Wahnsinn lieben würde, (auch) sich selbst meinte; „Léonard“ oder „Lionardo“ war ein Name, den ihm Catherine Pozzi gab. Vgl. die Anmerkung der Herausgeber in: C Pl. II, S. 1597; vgl. ferner: Lawrence Joseph, Catherine Pozzi. Une robe couleur du temps. Paris 1988, etwa S. 159. 203 Zum Angewiesensein auf die Anderen vgl.: Valéry, Mauvaises pensées et autres. In: Œ II, S. 823.
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Problem erscheint: Die Eigenheit eines Menschen ist durch den Umfang der verschiedenartigen Handlungsweisen und Erfahrungen bestimmt, die ihm möglich ist, und von dieser Menge der möglichen Reaktionen kennt er immer nur einen begrenzten Teil. Das Selbstwissen zu erweitern heißt demnach, das Gebiet der eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften, die durch die Umstände stimuliert wurden und so ins Bewusstsein gelangten, auszudehnen. Valérys Konzeption der Selbstkenntnis unterscheidet sich insofern von Theorien, welche die Selbstkenntnis vor allem an ein Erfassen der ‘tiefsten’ und eigentlichsten Antriebe knüpfen und dem Individuum die Aufgabe stellen, sich über die Hierarchie seiner Wünsche und Motive sowie gegebenenfalls über die uneingestandenen ‘wahren’ Antriebe klar zu werden, die unter den bewussten und eingestandenen Wünschen verborgen sein mögen. Metaphorisch könnte man diesen Unterschied in der Feststellung ausdrücken, dass für Valéry das ‘Selbst’, um das es im Streben nach der „connaissance de soi“ geht, nur horizontal nach verschiedenen Reaktionsarten, nicht vertikal nach bewussten und unbewussten, verborgenen Antrieben gegliedert sei. Allerdings ist sogleich relativierend hinzuzufügen, dass es auch bei Valéry eine Art vertikaler Gliederung gibt; an der Oberfläche befinden sich diejenigen Reaktionen, Handlungen und Verhaltensweisen, die durch die pragmatischen Erfordernisse des täglichen Lebens aktiviert werden, in der Tiefe diejenigen, die nur durch außergewöhnliche Umstände oder durch gezielte, artifiziell aufgebaute Aufgabenstellungen provoziert werden können. In dem letzten Satz wurde auf einen Gedanken hingewiesen, der für Valérys Konzeption der Selbsterkenntnis eine wesentliche Bedeutung besitzt: Der Mensch, der seine Selbstkenntnis erweitern und seine eigenen Potentiale entdecken möchte, ist nach Valéry nicht gänzlich auf die Gunst der Umstände angewiesen, die jeweils spezifische Aspekte seiner Veranlagungen und Fähigkeiten aus ihm herauslocken; er kann auch selbst äußere Umstände schaffen, die geeignet sind, bisher nichtrealisierte Seiten seiner selbst ans Licht zu holen. Das bedeutet, dass der Mensch sich mit Schwierigkeiten konfrontieren muss, die ihn zu ungewohnten Anstrengungen zwingen. Die Kunst im Allgemeinen und die Verskunst im Besonderen galten Valéry ab einem bestimmten Zeitpunkt als Paradebeispiel für solche Tätigkeiten, die mit bewusst etablierten, strengen und komplizierten Auflagen und Einschränkungen versehen sind und so den Menschen nötigen können, etwas aus sich ‘herauszuziehen’, das ihm bislang unbekannt war. In Valérys eigener Erfahrung stellte seine vier Jahre währende Arbeit an der Jeune Parque den Musterfall einer solchen Arbeit dar; in seinen retrospektiven Äußerungen über die Entstehung dieses Gedichts betonte er mehrfach, dass der wichtigste Ertrag der mehrjährigen Arbeit für ihn in den Beobachtungen an sich selbst bestand, die er beim Verfertigen des
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Gedichts machte.204 Die strengen formalen Vorgaben, die er sich selbst gemacht hatte, sollten als ein Zwang wirken, der ihm ein Spektrum an ‘réponses’, an Überlegungen, Erkundungen und Experimenten abverlangte, das er unter weniger anspruchsvollen Bedingungen nicht hätte freilegen müssen. In einer Antwort auf eine Zeitschriftenumfrage von 1932 erläuterte Valéry seine Haltung gegenüber der Dichtkunst, unter anderem auch seine Neigung, seiner poetischen Arbeit „des conditions fort strictes“ aufzuerlegen; er begründete diese Einstellung wie folgt: J’avoue que je m’attachais à elle [i.e. la Poésie; O.K.] dans la mesure où elle me paraissait un exercice supérieur, et une recherche de liberté par la contrainte. L’homme est ainsi fait qu’il ne peut découvrir tout ce qu’il possède que s’il est obligé de le tirer de soi, par un effort sévère et prolongé. On ne va au plus près de soi que contre soi.205
Das Problem der Selbstkenntnis wird in dieser Bemerkung wiederum in quantitativen Termini formuliert: es geht für den Menschen darum, alles zu entdecken und zu erschließen, was er besitzt – „découvrir tout ce qu’il possède“. Diese Erweiterung der Selbstkentnnis begreift Valéry hier zugleich als einen Zugewinn an Freiheit. Die entscheidende Pointe der Sätze freilich liegt in der Betonung des geradezu gewaltsamen Zwangs, den der Mensch einsetzen muss, um seine eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften ans Licht zu holen, sie sich wirklich zu Eigen zu machen und so auch seine Freiheit zu vergrößern. Die Selbstkenntnis eines Menschen hängt demnach davon ab, welche ‘réponses’ ihm durch zufällige äußere Umstände oder durch von ihm selbst gewählte und definierte Aufgaben abgefordert werden. Die bisher betrachteten Äußerungen Valérys stellen dieses Angewiesensein auf äuße_____________ 204 So äußerte sich Valéry unter anderem in Briefen, in denen er von der Genese der Jeune Parque und anderer Gedichte handelte: „Je puis dire en passant, que le véritable bénéfice tiré par moi de cette Parque, réside dans des observations sur moi-même prises pendant le travail.“ (Paul Valéry, A Albert Mockel [1917]. In: P.V., Lettres à quelques-uns, S. 122-125, hier S. 123f.) „Je considère que mon bénéfice le plus net retiré de mes poèmes (et singulièrement de la Jeune Parque) a été l’ensemble des observations que j’ai faites, pendant leur composition, sur moi-même les composant.“ (Ders., A Aimé Lafont [1922]. In: ebd., S. 143-145, hier S. 144) Außerdem ist in diesem Zusammenhang ein „A un ami“ überschriebener Briefentwurf von 1926 relevant; dort heißt es etwa: „Mes vers n’ont eu pour moi d’autre intérêt direct que de me suggérer bien des réflexions sur le poète. Que de fois je me suis perdu dans l’analyse de ces opérations si difficiles à définir, à démêler, à rendre distinctes et nettes!“ (Ders., A un ami. In: ebd., S. 159-162, hier S. 159) Blumenberg hat diese und verwandte Äußerungen im Kontext seiner Analyse von Valérys Auffassung der Kunst und des ästhetischen Gegenstands untersucht; vgl. Hans Blumenberg, Sokrates und das ‘Objet ambigu’. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes. In: Franz Wiedmann (Hg.), Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen. München 1964, S. 285-323, hier S. 318f. 205 Valéry, ‘Réponse’, in: Commerce 29 (hiver 1932), S. 7-14; abgedruckt in: Œ II, S. 16041606, hier S. 1606.
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re Stimuli heraus, lassen aber darüber hinaus weitgehend unbestimmt, um welche Arten von Stimuli (‘demandes’) es sich dabei handeln kann und wie das Aktivieren der virtuellen Dimensionen des Selbst, das „tirer de soi“, konkret aussieht. So kann der Eindruck entstehen, als ginge es Valéry zufolge beim Streben nach Selbstkenntnis nur darum, sich mit möglichst vielen, vielfältigen oder strengen ‘Forderungen’ (‘demandes’) zu konfrontieren, und als provozierten seiner Ansicht nach diese äußeren Stimuli dann gleichsam mechanisch bestimmte Facetten des Selbst. Aber Valéry hat an anderen Stellen auch näher bestimmt, welche Art von ‘demandes’ dem Bemühen um Selbsterkenntnis besonders förderlich sein kann und wie es auf diese Forderungen zu reagieren gilt. In diesem Zusammenhang sind vor allem seine Reflexionen über sinnvolle und sinnlose Probleme relevant, also seine Überlegungen darüber, welche Fragestellungen eine vertiefte Beschäftigung lohnen und welche Probleme nur wertlose gedankliche Spiegelfechtereien anregen können. Hier ist zunächst wieder an seine oben erörterte Unterscheidung zwischen den vom Individuum wirklich ‘gespürten’ Problemen und allen anderen zu erinnern. Für die erste Art von Problemen, die als echt empfundenen, ist nach Valéry kennzeichnend, dass sie in ihm ein spontanes Staunen hervorrufen, in dem sich ‘sein Leben selbst’ äußere, ein Staunen, das auf seine persönlichen Bedürfnisse und Erfahrungen verweise: „C’est ma vie même qui s’étonne [...].“206 Diesen Aussagen liegt offenbar die Annahme zugrunde, dass der Mensch in der Konfrontation mit einem Phänomen oder Problem unwillkürlich einen Abgleich zwischen diesem Phänomen und seinem eigenen Leben, seinen Erfahrungen und Bedürfnissen vollzieht. Das aber bedeutet, dass der Mensch, in dem die Konfrontation mit einem Phänomen eine spontane Empfindung des Staunens hervorruft, sich stets die Frage stellen kann, welche Aspekte seines Lebens, seiner Erfahrungen oder Bedürfnisse es sind, die sich in dieser Verblüffung zur Geltung bringen. So bietet die Auseinandersetzung mit einem ‘echten’ Problem, das unmittelbar als solches empfunden wird, immer auch Gelegenheit zur Erweiterung der Selbstkenntnis. In dem Essay L’homme et la coquille, der in einem späteren Kapitel dieser Arbeit noch ausführlich analysiert werden wird, hat Valéry das Muster eines solchen Denkvorgangs gestaltet, in dem die Untersuchung eines faszinierenden und irritierenden Gegenstands dem Denkenden zur Aufklärung über sich selbst dient. Besonders wertvoll sind für Valéry Probleme, die der Mensch als echte Probleme wahrnimmt, die er aber nicht endgültig lösen kann, sondern die ihn immer wieder auf die Grenzen seiner Verstehens- und Erklärungsfähigkeiten verweisen: Denn indem sie ihn auf diese Grenzen verweisen, _____________ 206 Vgl. Valéry, Poésie et pensée abstraite. In: Œ I, S. 1319.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
teilen sie ihm etwas mit über das Wesen dieser seiner Fähigkeiten; und da es nach Valéry die Eigenschaften des menschlichen Seins oder Lebens und insbesondere die Eigenschaften des Körpers sind, welche die Referenzgrößen für alle Erklärungen von was auch immer liefern, ermöglichen diese Probleme dem Menschen, seine Kenntnisse über diese Bedingungen seines eigenen Seins zu erweitern und zu präzisieren. Von diesen Überzeugungen her ist verständlich, weshalb Valéry sich ausdrücklich dazu bekannte, in seinen privaten Reflexionen und Analysen über Jahrzehnte hinweg immer wieder dieselben Probleme bearbeitet und dieselben Gedanken ‘wiedergekäut’ zu haben.207 In seinen Augen handelte es sich bei diesen Problemen um solche, die das menschliche Erklärungsvermögen mit etwas konfrontieren, das dieses Vermögen überfordert, und die gerade aus diesem Grund eine Präzisierung und Vertiefung der Erkenntnisse über den Menschen erlauben. Dass das Nichtverstehen und Nichtwissen etwas sei, das präzisiert werden könne, und dass diese Präzisierung etwas sehr Wertvolles darstelle, diese Auffassung hat Valéry ausdrücklich in einem nachträglich verfassten Vorwort zu L’homme et la coquille formuliert; dort bezeichnet er die „ignorance“ als einen Schatz von unermesslichem Wert, den die meisten Menschen vergeuden, anstatt sich seiner zu bedienen; dagegen habe er versucht, seine Unwissenheit über Muscheln zu bewahren und zu nutzen: „Quant aux coquilles, j’ai donc essayé de me préciser mon ignorance, de l’organiser, et surtout, de la préserver.“208 Eine hervorragende Rolle kommt innerhalb des Strebens nach Selbsterkenntnis und Selbst-‘Rekonstruktion’, wie Valéry es konzipiert, der Analyse der Sprache zu. Valéry vermerkt gelegentlich, dass seine Analysen des „fonctionnement d’ensemble“ des Menschen im Grunde auf ein Aufstellen immer neuer Definitionen hinauslaufen und dass sein ‘System’ gleichsam in einem Wörterbuch bestehe.209 Der Vorwurf, dass die Philosophie und die traditionelle Psychologie mit einem großenteils unbrauchbaren Vokabular arbeiten, kehrt in den Cahiers leitmotivisch immer wieder.210 Auch Valérys oben erwähnte Unterscheidung zwischen ‘echten’ Problemen und allen anderen Problemen ist mit dieser sprachkritischen Einstel_____________ 207 „Je suis comme une vache au piquet et les mêmes questions depuis 43 ans broutent le pré de mon cerveau.“ (C Pl. I, S. 11 / C facs. XVIII, S. 648 [1936]) – Vgl. auch: Paul Valéry, La création artistique. In: P. V., Vues, S. 285-309 [zuerst 1928], hier S. 291: „Je reviens toujours aux mêmes problèmes, à ceux que je crois fondamentaux, ou que ma nature d’esprit ramène toujours comme tels devant moi.“ 208 Valéry, L’homme et la coquille. Dessins par Henri Mondor, S. 11. – Vgl. auch: „La conscience sort des ténèbres, en vit, s’en alimente, et enfin les régénère, et plus épaisses, par les questions mêmes qu’elle se pose, en vertu et en raison directe de sa lucidité.“ (Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 497) 209 Vgl.: „S – Mon système est un dictionnaire.“ (C Pl. I, S. 829 / C facs. XIII, S. 823 [1929]) 210 Vgl. dazu auch: Robinson, L’analyse de l’esprit, S. 9-27.
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lung verbunden: Viele Fragen, so Valéry in dem Vortrag Poésie et pensée abstraite, erscheinen nur aufgrund der Vagheit und Mehrdeutigkeit der Wörter, mit denen sie formuliert werden, als tiefe und schwierige Probleme; daher habe er es sich zur Regel gemacht, in der Konfrontation mit irgendeiner Frage immer zuerst eine sprachliche Reinigungsaktion – „le nettoyage de la situation verbale“ – durchzuführen, indem er die sprachlichen Ausdrücke durch „des valeurs et des significations non verbales“ zu ersetzen versucht und somit überprüft, ob ihnen ein realer Gehalt entspricht.211 Dass auch diese kritische Analyse der Sprache im Horizont von Valérys Idealen der Selbsterkenntnis, der Selbstreform und der ‘possession de soi’ steht, zeigt sich in einer Passage seines Essays Au sujet d’Eurêka, in der er den Begriff ‘Universum’ kritisch beleuchtet und zu klären versucht, ob dieser eine brauchbare Definition erhalten könne. Es gelte zu prüfen, so Valéry, ob der Begriff das Folgende leisten könne: „de pouvoir servir notre intelligence, se prêter à nos raisonnements, et nous rendre un peu mieux instruits de notre condition, un peu plus possesseur de nousmêmes.“212 Valéry legt hier die Anforderungen offen, denen Begriffe für ihn unterliegen: Sie sollen als Werkzeuge für Reflexionen dienen können, in denen wir uns größere Klarheit über unsere „condition“ verschaffen und uns in etwas höherem Maße unserer selbst bemächtigen können. Der Begriff ‘Universum’ leistet dies nicht, so das Resultat von Valérys Analyse; kein Begriff kann einerseits die eben genannten Anforderungen erfüllen und andererseits alles erlauben, zu allem fähig sein und alles repräsentieren, wie es von dem Begriff ‘Universum’ verlangt werde. Daher sei er nur „une expression mythologique“.213 Die Haltung des späteren Valéry zu der Frage nach den wichtigsten Aufgaben und wertvollsten Verwendungen des Denkens kann wie folgt zusammengefasst werden: Das Denken sollte dem Menschen zunächst und vor allem dazu dienen, sich über sich selbst und seine „condition“ aufzuklären. Dabei umfasst diese Selbstkenntnis sowohl das Wissen um die Bedingungen der menschlichen Existenz überhaupt als auch die Kenntnis der individuellen Antriebe, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Schwächen. Diese Erweiterung der Selbstkenntnis wird von Valéry als eine Bedingung oder als Teil einer Selbsterziehung und Selbst-‘Rekonstruktion’ begriffen, in deren Verlauf der Mensch sich selbst, seine Fähigkeiten und Eigenschaften in bewusster und ‘gereinigter’ Weise neu aufbaut und so seine Verfügung über sich selbst, seine ‘possession de soi’, steigert. Die _____________ 211 Valéry, Poésie et pensée abstraite. In: Œ I, S. 1316, 1318. 212 Paul Valéry, Au sujet d’Eurêka. In: Œ I, S. 854-867, hier S. 866. 213 Ebd., S. 866.
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Selbsterkenntnis aber, um die es Valéry geht, lässt sich nicht in einer analysierenden Rückwendung des Individuums auf sich selbst erwerben, sondern nur in der Konfrontation mit der Welt, in der Auseinandersetzung mit konkreten Phänomenen und Problemen. Um herauszufinden, was er alles ‘enthält’, muss der Mensch sich mit unterschiedlichen Gegenständen und Situationen sowie mit bewusst aufgestellten Schwierigkeiten konfrontieren, die jeweils spezifische Reaktionen, Fragen, Wünsche und Fähigkeiten aus ihm herauslocken werden. Die Begegnungen mit Phänomenen und Problemen werden in dem Einzelnen unter anderem Reaktionen des Fragens und Staunens wecken; im Hinblick auf das Streben nach Selbsterkenntnis ist es von entscheidender Wichtigkeit, solche Reaktionen des unmittelbaren Staunens zu registrieren, denn in ihnen manifestiert sich die Diskrepanz zwischen dem Leben oder dem Sein des Individuums mit seinem Wissen und seinen Formen des Verstehens und Erklärens einerseits und den Phänomenen der Welt andererseits. Die Reflexionen, die von solchen unmittelbar empfundenen Fragen ausgehen, können dem Menschen helfen, sein Nichtwissen oder Nichtverstehen zu präzisieren und größere Klarheit über seine eigene Verfasstheit und über das Wesen und die Grenzen seines Wissens und Verstehens zu gewinnen. Die Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, die der Mensch auf diese Weise erwirbt, beziehen sich direkt auf sein Dasein als das eines in Raum und Zeit existierenden geistig-körperlichen Wesens; sie sind somit von ganz anderer Art als die „puissance intellectuelle“, die der junge Valéry zeitweilig anvisiert hatte und die auf einer unermüdlichen und immer weiter gesteigerten Distanzierung des Bewusstseins von allen kontingenten Besonderheiten des menschlichen Daseins beruhte.214 _____________ 214 Auf der Grundlage der hier entwickelten Rekonstruktion von Valérys Konzeption des Denkens lassen sich einige prinzipielle Einwände gegen die Deutung von Valérys Rationalitätsbegriff formulieren, die Peter Bürger in seiner Studie Prosa der Moderne vorgestellt hat (vgl. P. B., Prosa der Moderne, S. 212-235). Bürger zufolge betrachtete Valéry die Ratio als ein „Instrument der Herrschaft [...] über Dinge wie Menschen (sich selbst eingeschlossen)“ (ebd., S. 235) und die Zweck-Mittel-Kalkulation als Wesensprinzip der Rationalität (vgl. ebd., S. 232-234). Valéry habe zwar die von der Zweck-Mittel-Rationalität geprägte moderne Zivilisation einer dezidierten und facettenreichen Kritik unterzogen, dabei aber die Grundprinzipien dieser Zivilisation nicht in Frage gestellt (vgl. ebd., S. 233f.). Das Rationalitätsverständnis Valérys habe sich insbesondere in dem Projekt der Selbstformung und Selbstdisziplinierung gezeigt, dem er sein Leben unterworfen habe und das vor allem eine Steigerung des Vermögens, Probleme zu lösen, zum Ziel gehabt habe (vgl. ebd., S. 224f.). Der Ursprung und die Grundlage von Valérys „Lebens- und Denkform“ und seinem „cartesianische[n] Projekt der Selbstschaffung des Subjekts“ waren dabei, wie seine Selbstanalyse offenbare, selbst nicht rationaler Art, sondern bestanden in einem dezisionistischen Willensakt und einem methodisch gewendeten Zerstörungswillen (ebd., S. 221, 235). – Bürgers Charakterisierung von Valérys Rationalitätsverständnis stützt sich nicht ausschließlich, aber in hohem Maße auf Texte des frühen Valéry, und auf diesen scheint sie mir denn auch im Großen und Ganzen zuzutreffen, wenngleich man schon hier Bürgers
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1.6. Zusammenfassung Bei der Analyse von Theorien des Denkens, so wurde in Teil II dieser Untersuchung ausgeführt, lassen sich in der Regel zwei Komponenten dieser Theorien unterscheiden: zum einen die Annahmen darüber, was die Leistungen oder Produkte des Denkens sind, und zum anderen die Auffassungen über die mentalen Mechanismen oder Basisprozesse, aus denen diese Leistungen oder Produkte hervorgehen. Was Valérys Auffassung von diesen mentalen Mechanismen betrifft, die dem Denken zugrunde liegen, so ist sie vor allem in seinen früheren Jahren noch stark durch die Tradition empiristischer und sensualistischer Theorien des Geistes geprägt, wie sie in Gestalt des Assoziationismus auch für die französische Psychologie seiner Zeit bestimmend war. Mentale Vorgänge waren demnach als eine bestimmten Gesetzen unterliegende Abfolge von mentalen Bildern oder Vorstellungen aufzufassen, die Dinge der Welt repräsentierten. In Verbindung mit einem Realitätsmodell, dem zufolge die physische wie die psychische Natur in hohem Maße durch eine Tendenz zur Unordnung oder die Verschränkung unterschiedlicher Ordnungen gekennzeichnet war, musste diese elementaristische Konzeption des Geistes fast zwangsläufig die Kontinuität und Kohärenz mentaler Abläufe als unwahrscheinlich oder gefährdet erscheinen lassen und somit zu einem zentralen Problem machen. Diese Annahme, dass also der menschliche Geist eine natürliche Tendenz zur Unordnung, Diskontinuität und Dissipation besitze, behielt Valéry auch später bei, als er mentale Vorgänge nicht mehr primär als eine Sukzession von Bildern oder Ideen, sondern als Abfolgen von „Demande / Réponse“-Sequenzen konzipierte. Hinzuzufügen ist _____________ Betonung der aggressiven und repressiven Züge dieses Rationalitätsideals als forciert empfinden kann. Den Auffassungen des späteren Valéry aber scheint mir Bürgers Interpretation nicht gerecht zu werden. Für den Valéry der Zeit ab etwa 1920 gilt eben nicht, dass er die Steigerung der Fähigkeit zum Problemlösen als zentrales Ziel des Denkens und der Selbsterziehung betrachtet hätte. Valéry begriff ausdrücklich die Auseinandersetzung mit einer bestimmten Art von ‘unlösbaren’ Problemen und das fortgesetzte Bemühen um eine Präzisierung dieser Probleme als eine besonders wertvolle Form des Denkens; dieser Umstand allein macht bereits die These fragwürdig, Valéry habe die effektive Zweck-MittelKalkulation und die Herrschaft über Dinge und Menschen (sich selbst eingeschlossen) als Wesenskern der Rationalität betrachtet. Valérys Wertschätzung dieser Art von Problemen und dieser Art des Denkens rührt daher, dass er eine bestimmte Form der Selbsterkenntnis als eines der obersten Ziele des Denkens betrachtete; sein Begriff von Selbsterkenntnis ist dabei tatsächlich mit einem Ideal der Selbstbeherrschung und des ‘se refaire’ verbunden, aber diese Selbst-Rekonstruktion wird von ihm nicht als eine „Selbstschaffung des Subjekts“ verstanden und besitzt nicht den von Bürger unterstellten repressiven Charakter. Im Übrigen kann bereits ein Blick auf Valérys Essay L’homme et la coquille Zweifel an Bürgers Interpretation wecken; dieser Text vermittelt eine Auffassung von der Aufgabe und dem Wert des Denkens, die mit dem von Bürger beschriebenen Rationalitätsbegriff kaum vereinbar ist.
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allerdings, dass auch schon der frühe Valéry, der mentale Prozesse meist als Sukzession von Ideen betrachtete, an anderen Stellen den Geist als eine Domäne des Handelns, das geistige Geschehen als auf Akten und Operationen beruhend beschrieb. Die charakteristischen Leistungen des Denkens, die seinen Wert ausmachen, bestimmte Valéry allgemein als Verstehen einerseits, Erfinden oder Konstruieren andererseits. Ein wichtiger Nebeneffekt der analysierenden oder erfindenden Aktivität des Denkens bestand für ihn darin, dass sie der natürlichen Tendenz des Geistes zu Diskontinuität und Unordnung einen Widerstand entgegensetzt und ein gewisses Maß an Kohärenz und Ordnung herstellt. Die Tätigkeiten des Analysierens, Erfindens und Konstruierens beruhten für den jungen Valéry wesentlich auf einer effektiven Beherrschung intellektueller Operationen und auf dem Bearbeiten, Zerlegen und Kombinieren mentaler Bilder. Das übergeordnete Ziel des Denkens und des intellektuellen Trainings sah er darin, die Kontrolle des Subjekts über seinen Geist zu erweitern und eine umfassende Verfügungsgewalt über die intellektuellen Operationen und ein möglichst umfassendes Reservoir von mentalen Bildern auszubilden. Voraussetzung für diese Ausdehnung der „puissance intellectuelle“ war die Kultivierung des Bewusstseins als eines Vermögens der Distanzierung und Differenzierung. Dem späteren Valéry erschienen diese Zielsetzung und die damit verbundene Auffassung von intellektueller Macht als verfehlt. Für seine veränderte Konzeption der Aufgaben und möglichen Leistungen des Denkens war die Überzeugung zentral, dass der Mensch sein eigenes „être“ zur Basis und zum Referenzpunkt seines Denkens machen muss, um Erkenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, die diese Namen verdienen. Das reine Bewusstsein, das sich über alle Eigenschaften der menschlichen Existenz als über kontingente und partikulare Einschränkungen erhoben und von ihnen unabhängig erklärt hat, findet sich schließlich reduziert auf die „suprême pauvreté de la puissance sans objet“215; um reale Fähigkeiten und Erkenntnisse zu erlangen, die in dieser Welt einen Gegenstand haben und sich in ihr bewähren können, muss der Mensch sich auf seine eigene „condition“ beziehen, auf die Bedingungen seiner körperlich-geistigen Existenzweise. Konkret bedeutet das vor allem, dass er sich seine Fähigkeit des Handelns, ihre Bedingungen und Reichweite, bewusst machen muss, denn die „action complète“ des Menschen bildet das einzige Referenzsystem, dessen er sich beim Versuch, irgendetwas zu erklären oder zu verstehen, bedienen kann. Die Erkenntnisleistung des Denkens, wie der spätere Valéry sie konzipiert, hat insofern typischerweise einen Doppelaspekt, denn indem der Denkende das Modell der menschli_____________ 215 Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1223.
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chen „action complète“ mit irgendwelchen Phänomenen konfrontiert, expliziert er einerseits Eigenschaften dieses Phänomens, andererseits Charakteristika seines Handlungsvermögens, also seiner selbst. Dass Valéry ab einem gewissen Zeitpunkt die Abfolge von „Demande“ und „Réponse“ als Grundtyp der mentalen Vorgänge begreift, hat auch zur Folge, dass er die Eigenschaften und Fähigkeiten des Individuums vorzugsweise als die Menge von Antworten konzipiert, über die es – ohne sie alle zu kennen – verfügt. Bestimmte Antworten werden nur durch bestimmte Anforderungen aktiviert, so dass ein Individuum immer nur das von sich weiß, was die Umstände ihm zu erkennen gegeben oder aus ihm ‘herausgezogen’ haben. Daraus ergibt sich zum einen, dass der Mensch die zufälligen Ereignisse, die ihm widerfahren, nutzen kann oder sollte, um sich mit bislang unbekannten Seiten seiner selbst vertraut zu machen; für Valéry verbinden sich diese Grundannahmen außerdem mit dem Gedanken, dass der Einzelne sich künstliche Schwierigkeiten auferlegen und mit ungewöhnlichen Herausforderungen konfrontieren sollte, um Fähigkeiten und Eigenschaften aus sich herauszulocken, die das gewöhnliche Leben ihm nicht abverlangen und ihm somit auch nicht verfügbar machen würde. Wie Mach, Nietzsche und Bergson, so sucht auch Valéry das Wesen und den Wert des menschlichen Denkens – unter anderem – dadurch zu charakterisieren, dass er es zum evolutionsbiologischen Bild vom Menschen und zum Konzept der Selbsterhaltung in Beziehung setzt. Seine Position unterscheidet sich dabei in mehrfacher Hinsicht grundlegend von einer evolutionsbiologischen und pragmatistischen Konzeption des Denkens, wie sie von Spencer oder Mach vertreten wurde. Grundlegend ist für ihn zunächst die Annahme, dass der Mensch über mehr Fähigkeiten verfügt, als er zur Selbsterhaltung und Arterhaltung benötigt, und dass er diese ‘überschüssigen’ Fähigkeiten um ihrer selbst willen kultivieren kann, nachdem er die vitalen Grundbedürfnisse befriedigt und die Voraussetzungen für sein Überleben gesichert hat. Damit schreibt er bestimmten Fähigkeiten und Tätigkeiten einen Wert, eine „valeur“, zu, die sie nicht von sich aus besitzen, und er bildet schließlich ‘sekundäre Bedürfnisse’ aus. Die Entwicklung der Wissenschaften ist nach Valéry nicht, wie für Spencer und Mach, aber auch für Bergson, als eine schlichte Fortsetzung der durch den Selbsterhaltungstrieb geleiteten geistigen Tätigkeiten zu begreifen, sondern verdankt sich – ebenso wie Kunst und Philosophie – der Entscheidung, bestimmten ‘nutzlosen’ Fähigkeiten einen Wert zuzuschreiben und sie um ihrer selbst willen zu betreiben. Das heißt zum einen, dass der Wert ihrer Produkte oder Leistungen nicht in ihrem biologi-
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
schen Nutzen besteht;216 es bedeutet zum anderen, dass diese Aktivitäten nicht in der biologischen Konstitution des Menschen verankert und durch sie garantiert sind, sondern nur so lange fortbestehen, wie Individuen und Gesellschaften diese sekundären Bedürfnisse pflegen und diesen Aktivitäten weiterhin einen Wert zusprechen.217 Mit diesen Auffassungen hängt eine weitere Differenz zwischen Valérys Konzeption und den evolutionsbiologischen und pragmatistischen Positionen etwa Spencers und Machs eng zusammen. Für Mach sind die Ansprüche und Normen der Erkenntnis durch eine Art prästabilierter Harmonie mit dem Selbsterhaltungstrieb und mit den Anforderungen des täglichen Handelns, letztlich auch denen des gesellschaftlichen Fortschritts verbunden: Der Mensch besitzt demnach eine natürliche Tendenz zur Anpassung seiner Gedanken an die Tatsachen und zum ökonomischen Ordnen der gedanklichen Nachbildungen; diese Tendenz wurzelt im Selbsterhaltungsstreben, denn ökonomische Nachbildungen der Tatsachen bilden die Voraussetzung für effektives Handeln. Nach solchen ökonomischen Abbildungen von Tatsachen strebt auch noch die Wissenschaft, die somit nur graduell von dem instinktiven Denken verschieden ist.218 Valéry bestreitet demgegenüber zunächst, dass der Mensch über eine in seiner biologischen Natur verankerte Tendenz zur adäquaten Wirklichkeitserkenntnis verfüge. Sofern ein Mensch über einen solchen Drang nach Erkenntnis verfügt, konkurriert dieser prinzipiell mit anderen menschlichen Anlagen, vor allem mit seiner Neigung zur Kraftersparung oder Bequemlichkeit. Das Bestreben des Menschen, den praktischen Erfordernissen des Alltagslebens gerecht zu werden, bringt für Valéry keine _____________ 216 Vgl. Valérys ausdrückliche Bezugnahme auf das Konzept der Denkökonomie in: Paul Valéry, Vues personnelles sur la Science. In: P. V., Vues. Paris 1948, S. 45-58 [zuerst 1941], hier S. 57. Dort heißt es: „Si la Science tend et doit tendre vers l’économie de pensée, c’est heureusement au prix d’une débauche de pensée qu’elle y parvient [...].“ Mit dieser ‘Ausschweifung des Denkens’ meint Valéry, wie der Kontext zeigt, den von Ehrgeiz, Hoffnungen und Ungewissheit bestimmten Prozess der Forschung; in diesem Prozess, nicht in den ökonomischen Ergebnissen liege in den Augen mancher Personen – zu denen Valéry sich selbst zu zählen scheint – der größte Wert der Wissenschaft (vgl. ebd., S. 56f.). Zudem ist zu bedenken, dass Valéry auch die Nützlichkeit der Resultate der Wissenschaft anders konzipierte als Mach. Diese Resultate hatten für Valéry den Charakter von ‘Rezepten, die immer gelingen’; ihre Nützlichkeit beruhte auf der Erweiterung des Könnens, die sie gewährten, und für Valéry war nicht ausgemacht, dass diese Machterweiterung dem Menschen immer zum Vorteil gereichen musste (vgl. ebd., S. 57f.). 217 Für eine emphatische Verteidigung der intellektuellen Arbeit von Künstlern, Philosophen und Wissenschaftlern, die in der Gegenwart als ‘Luxus’-Tätigkeit ohne echten Nutzen angesehen und deshalb nicht ernst genommen werde, vgl.: Paul Valéry, L’esprit est-il un luxe? ou La nécessité de l’inutile. In: P. V., Vues, S. 89-93 [zuerst 1937]. 218 Vgl. Mach, Die ökonomische Natur; ders., Über Umbildung und Anpassung; ders., Erkenntnis und Irrtum, S. 2f., 20, 164-182 (Kapitel „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander“).
2. Valéry über die Darstellung von Denken in der Literatur
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Erkenntnis hervor, sondern eher das Gegenteil, wie sich vor allem in der Sprache zeigt: Diese besteht zu einem großen Teil aus Wörtern, die in der alltäglichen, pragmatischen Zwecken dienenden Kommunikation problemlos funktionieren, die sich aber bei näherer Prüfung häufig als unklar, mehrdeutig und unscharf erweisen und somit keine brauchbaren Instrumente der Erkenntnis sind. Das natürliche Streben der Menschen im Alltag zielt darauf, sich auf möglichst kraftschonende Weise ‘durchzuschlagen’, und dazu genügen in den meisten Fällen eine ungenaue Sprache und ein vermeintes Wissen anstelle eines echten Wissens. Mehr noch: Nicht nur verlangen die praktischen Erfordernisse des Alltags kein exaktes Wissen, sie verbieten es sogar ab einem gewissen Punkt. Denn da nach Valéry alle Phänomene von prinzipiell unbegrenzter Komplexität sind, führt ihre Erforschung zwangsläufig zu immer komplizierteren und subtileren Einsichten, die mit den groben Anforderungen des Handelns inkompatibel sind: L’on ne saurait être trop subtil; et l’on ne saurait être trop simple. Trop subtil, parce que les choses l’exigent; trop simple, parce que notre existence et nos actes le commandent.219
Auf eine allgemeine Formel gebracht, besteht die Differenz zwischen Valéry und der evolutionsbiologisch orientierten Position etwa Ernst Machs darin, dass Mach den Menschen als ein Lebewesen betrachtet, dessen sämtliche Antriebe und Bedürfnisse im biologisch verankerten Selbsterhaltungsstreben konvergieren oder zumindest konvergieren können, während Valéry den Menschen als ein Wesen mit verschiedenen und teilweise konfligierenden Bedürfnissen, Neigungen und Antrieben entwirft; das Streben nach Erkenntnis und Selbsterkenntnis ist nur ein Antrieb, der weder in der biologischen Konstitution des Menschen noch in den Anforderungen der Alltagspraxis ein stabiles Fundament besitzt, sondern häufig in Widerspruch zu ihnen gerät.
2. Valéry über die Darstellung von Denken in der Literatur Dieses Kapitel wird mehrere thematische Stränge verfolgen, die sich durch Valérys Überlegungen zur Literatur ziehen.220 Erstens sind jene Aussagen _____________ 219 Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 498. 220 Zu Valérys Poetik vgl. vor allem: Michel Jarrety, Valéry devant la littérature. Mesure de la limite. Paris 1991; Gérard Genette, La littérature comme telle. In: G. G., Figures. Essais. Paris 1966, S. 253-265; Helene Harth, Valérys Poetik. In: H. H. / Leo Pollmann, Paul Valéry. Frankfurt/M. 1972, S. 52-107; Silvio Yeschua, Valéry, le roman et l’œuvre à faire. Paris 1976; Jean Hytier, La poétique de Valéry. Seconde édition. Paris 1970; W. N. Ince, The Poetic Theory of Paul Valéry. Inspiration and Technique. Leicester 1961.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
zu untersuchen, die sich direkt auf die Frage einer literarischen Darstellung des Denkens beziehen, in denen Valéry also etwa Pläne für solche Romane oder Dramen des Intellekts skizziert, sie für wünschenswert erklärt oder ihre Möglichkeit diskutiert. Während die Relevanz dieser Überlegungen im Rahmen dieser Untersuchung auf der Hand liegt, ist bei der zweiten Gruppe von Äußerungen etwas weniger offensichtlich, wie sie mit dem Thema des erzählten Denkens zusammenhängen: Es handelt sich dabei um jene verstreuten Aufzeichnungen Valérys, in denen er die Grundlinien einer neuen Kunst der Prosa zu umreißen und Regeln und Prinzipien zu definieren sucht, mit deren Hilfe die Prosa zu einer der Lyrik vergleichbaren ars gemacht werden könnte; seine Reflexionen darüber, wie diese Regeln und Prinzipien aussehen könnten, weisen Parallelen zu seinen Auffassungen über den Intellekt und das Training des Intellekts auf. Die erste Gruppe der hier zu betrachtenden Äußerungen geht also vom Denken als einem bestimmten Wirklichkeitsbereich aus und fragt danach, wie dieser Bereich literarisch angemessen wiederzugeben wäre; die zweite Gruppe dagegen geht von der Prosa als einer literarischen Form aus und fragt danach, wie die Dignität dieser Form gesteigert werden kann. Die Forderungen oder Zielvorgaben, die aus diesen Reflexionen hervorgehen, können gelegentlich konvergieren, stehen aber zunächst und überwiegend in Spannung zueinander. Drittens schließlich sollen einige Äußerungen Valérys betrachtet werden, die sich auf die anzustrebende Wirkung literarischer Texte beziehen und das Denken nicht oder nicht nur als Gegenstand oder Inhalt, sondern als Effekt von Texten betrachten; das Ziel der literarischen Texte wird in diesen Bemerkungen gedeutet als: „faire penser“, „donner à penser“. 2.1. Die „Comédie intellectuelle“ und die „sensibilité de l’intellect“ Die literarische Darstellung des Denkens ist ein Thema, das in Valérys Äußerungen zur Literatur vielfach begegnet, von Briefen und Notizen des Zwanzigjährigen221 bis zu den Essays und Aufzeichnungen der 1930er und 1940er Jahre. Immer wieder weist Valéry darauf hin, dass es in der Literatur bisher so gut wie keine oder keine befriedigenden Darstellungen des Lebens und Arbeitens des Intellekts gebe, dass die „vie intellectuelle“ aber ein höchst attraktiver Gegenstand und ihre literarische Nachbildung mög_____________ 221 Vgl. den Brief an Pierre Louis vom 14. September 1890, in: Valéry, Lettres à quelques-uns, S. 18-22, hier S. 22. Hier beklagt Valéry, dass „nos élégants psychologues“ – gemeint sind offenbar Autoren psychologischer Romane – sich besser darauf verstünden, die „bouderies de chienne“ und „grifferies de chatte“ der Frauen aufzuzeichnen, als darauf, das komplizierte Gehirn eines Ampère, Delacroix oder Edgar Poe zu analysieren (ebd.).
2. Valéry über die Darstellung von Denken in der Literatur
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lich und wünschenswert sei. In den Jahren, die der Veröffentlichung der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und der Soirée avec Monsieur Teste vorausgingen, beschäftigte sich Valéry besonders intensiv mit der Frage, welche Formen solche literarischen Repräsentationen der „vie intellectuelle“ annehmen könnten. Jeannine Jallat hat die vielfältigen, mehr oder weniger präzisen Pläne und Projekte beschrieben, mit denen Valéry sich in den Jahren zwischen etwa 1889 und 1895 trug und von denen viele in irgendeiner Form einen Niederschlag in den genannten zwei Werken fanden.222 Mehrere dieser Projekte kreisten um die Grundidee einer literarischen – epischen oder dramatischen – Darstellung intellektueller Prozesse.223 Auf einem der Notizblätter zu dem Leonardo-Projekt findet sich die Bemerkung: „Hostinato rigore [...] Ce serait le titre du roman ou du drame de la vie intellectuelle“224. In seinen Notizen aus jenen Jahren entwirft er auch den Plan eines Werks, das die Geschichte einer „trouvaille d’une idée nouvelle“ erzählen sollte, etwa die Genese einer wissenschaftlichen Entdeckung; als geeigneten Gegenstand scheint Valéry Newtons Entdeckung des Gravitationsgesetzes anvisiert zu haben.225 „Décrire une nuit de travail“, lautet eine weitere Notiz aus jener Zeit.226 Valéry betrachtete aber nicht nur solche intellektuellen Prozesse von einigen Stunden als mögliche Sujets der Literatur, sondern auch die Entwicklung der Ideen eines Individuums über einen längeren Zeitraum hinweg: In einem vielzitierten Brief an Gide von 1894 bezeichnet er den Discours de la Méthode als Modell, an dem sich der moderne Roman orientieren solle; während der traditionelle Roman das Leben einer Leidenschaft erzählt und sich vor allem für den „couchage“-Aspekt interessiert habe, solle der moderne Roman das Leben einer Theorie erzählen.227 _____________ 222 Vgl. Jeannine Jallat, Figure de Léonard. Essai sur ‘L’Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci’. 2 tomes. [Lille] 1981, vor allem S. 321-522; dies., Introduction aux figures valéryennes (Imaginaire et théorie). Pisa 1982, S. 201-308. 223 Vgl. vor allem: Jallat, Figure de Léonard, S. 473-522 („Le livre du héros“). Dieses Kapitel ist nur in der daktylographischen Fassung der Thèse, nicht in der Buchfassung (dies., Introduction aux figures valéryennes) enthalten. 224 Zitiert nach: Jallat, Figure de Léonard, S. 474. 225 Vgl. Jallat, Figure de Léonard, S. 474-479. 226 Vgl. ebd., S. 479. 227 „J’ai relu Le Discours de la Méthode tantôt, c’est bien le roman moderne, comme il pourrait être fait. A remarquer que la philosophie postérieure a rejeté la part autobiographique. Cependant, c’est le point à reprendre et il faudra donc écrire la vie d’une théorie comme on a trop écrit celle d’une passion (couchage). Mais c’est un peu moins commode – car, puritain que je suis, je demande que la théorie soit mieux que du truquage comme dans Louis Lambert ...“ (Paul Valéry à André Gide [25 août 1894]. In: André Gide / Paul Valéry, Correspondance 1890-1942. Préface et notes par Robert Mallet. Paris 1955, S. 212f., Zitat S. 213. Der Briefauszug ist auch abgedruckt in: Œ II, S. 1381.)
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Mit diesen Projekten einer epischen oder dramatischen Würdigung der „vie intellectuelle“ war der junge Valéry keineswegs ein Einzelfall innerhalb der zeitgenössischen französischen Literatur. Sowohl Autoren in der Tradition des Realismus und Naturalismus wie die Brüder Goncourt oder Paul Bourget als auch Vertreter der Décadence und des Symbolismus wie Joris-Karl Huysmans, Remy de Gourmont oder Maurice Barrès hatten es sich – mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen – zur Aufgabe gemacht, das ‘Leben des Intellekts’ literarisch zu erschließen, indem sie Figuren mit ausgeprägt ‘zerebraler’ Veranlagung entwarfen und ihr Innenleben ausleuchteten.228 1889 erschien Barrès’ Roman Un homme libre, 1890 der Roman Sixtine von Remy de Gourmont, dessen Untertitel „Roman de la vie cérébrale“ lautete. 1898 verfasste Valéry für den „Mercure de France“ einen Artikel über Huysmans’ Romane Là-Bas (1891), En route (1895) und La Cathédrale (1898), die die Entwicklung des Schriftstellers Durtal vom dekadenten Ästhetizismus und der Faszination durch den Satanismus bis zur Konversion erzählen229; über En route schreibt Valéry: „C’est une longue inscription fidèle, c’est le flux des heures intactes, c’est la pensée même, dont le débit entraîne le total des impressions internes et externes, l’ensemble d’une réalité.“230 Die geplanten Romane oder Dramen des Intellekts, die der junge Valéry in Äußerungen wie den oben zitierten entwarf, sollten allerdings nicht nur die „vie cérébrale“ in einem allgemeinen Sinne, also das Innenleben besonders intellektuell veranlagter Menschen darbieten, sondern vor allem das Wesen der kreativen Prozesse selbst offen legen. Die Texte sollten zeigen, wie aus einer Folge mentaler Veränderungen schließlich die „trouvaille“ etwa eines wissenschaftlichen Gesetzes entspringt oder wie im Geist eines Menschen eine Theorie entsteht. Als Protagonisten dieser geplanten Werke sah Valéry meist Individuen von außerordentlicher intellektueller Macht vor; Cäsar und Napoleon lieferten die ausdrücklichen Vorbilder für diese Helden des Geistes.231 Von Valérys späteren Äußerungen über die literarische Darstellung des Denkens sind an erster Stelle die Bemerkungen über eine „Comédie _____________ 228 Vgl. dazu: Jallat, Figure de Léonard, S. 474f.; Christiane Vogel, Monsieur Teste et quelquesuns de ses précurseurs (recherche de quelques traits constants du héros cérébral; esquisse d’une évolution). In: Monique Parent / Jean Levaillant (Hg.), Paul Valéry contemporain. Colloques organisés en novembre 1971 [...]. Paris 1974, S. 251-276. 229 Vgl. Paul Valéry, Durtal. In: Œ I, S. 742-753. 230 Ebd., S. 744. 231 Zu Napoleon Bonaparte als einem häufig genannten Ideal in den frühen Cahiers vgl.: Jallat, Figure de Léonard, S. 486-489. Zu Napoleon als einem Modell für den Helden eines intellektuellen Dramas vgl. etwa ebd., S. 487: „Bonaparte est de 1893 à 1895 le héros rival du roman de l’inventeur et la rumeur du champ de bataille hante encore la représentation de la nuit de travail en 1899.“
2. Valéry über die Darstellung von Denken in der Literatur
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Intellectuelle“ von Interesse, die sich in einigen Aufsätzen und Vorträgen finden.232 Dort äußert er den Wunsch, dass neben Dantes Commedia divina und Balzacs Comédie Humaine einmal eine „Comédie Intellectuelle“ treten werde, ein Werk, das den „aventures et [...] passions de l’intelligence“ gewidmet wäre, dem „drame des existences vouées à comprendre et à créer“.233 Dieser Wunsch ist verbunden mit der Überzeugung, dass die „vie de l’intelligence“ der reichste und dankbarste poetische Gegenstand überhaupt sei, zumindest aber ebenso attraktiv und ergiebig an Sujets wie das affektive Leben bzw. die „vie ordinairement vécue“. Diese Überzeugung formulierte Valéry 1937 in einem Vortrag über Descartes, in dem er auch besonders ausführlich erläuterte, was er unter dem ‘Leben der Intelligenz’ verstand und was also den Gegenstand der „Comédie Intellectuelle“ bilden sollte.234 Zum einen gehören zu diesem Leben der Intelligenz einzelne Denkvorgänge oder ‘mentale Aktionen’; diese besitzen nach Valéry ausgesprochen dramatische Strukturen voller Peripetien, Retardationen, Katastrophen und Triumphe und stellen somit einen poetischen Gegenstand par excellence dar: Et puis, le détail même des instants de l’action mentale: l’attente du don d’une forme ou d’une idée; du simple mot qui changera l’impossible en chose faite; les désirs et les sacrifices, les victoires et les désastres; et les surprises, l’infini de la patience et l’aurore d’une ‘vérité’; et tels moments extraordinaires, comme l’est, par exemple, la brusque formation d’une sorte de solitude qui se déclare tout à coup, même au milieu de la foule, et tombe sur un homme comme un voile sous lequel va s’opérer le mystère d’une évidence immédiate ...235
Zum anderen umfasst die „vie de l’intelligence“ den großen Bereich dessen, was Valéry die „sensibilité intellectuelle“236 nennt. Mit diesem Begriff bezeichnet er die Affekte, Emotionen und Leidenschaften, die sich mit intellektuellen Tätigkeiten verbinden können; denn dem Leben der Intelligenz, so Valéry, ist nichts Menschliches fremd, es enthält Abenteuer und Leidenschaften, Schmerz und Komik, und bildet somit „un univers lyrique incomparable, un drame complet“.237 Beispiele für Phänomene der „sensibilité intellectuelle“ wären etwa Wissensdurst und Schaffensdrang, leidenschaftlicher Ehrgeiz oder Rivalenneid, Ruhmsucht und bescheidene _____________ 232 Zu dem Thema der „Comédie Intellectuelle“ bei Valéry vgl.: Yeschua, Valéry, le roman, S. 188-193. 233 Paul Valéry, Voltaire. In: Œ I, S. 518-530, hier S. 518. Vgl. außerdem: ders., Descartes. In: Œ I, S. 792-810, hier S. 797-799; ders., Note et digression. In: Œ I, S. 1201. 234 Vgl. ders., Descartes. In: Œ I, S. 795-799. 235 Ebd., S. 798. 236 Ebd.; vgl. auch: C Pl. I, S. 623 / C facs. XII, S. 68 [1926-1927]; C Pl. I, S. 736 / C facs. XXV, S. 767 [1942]. 237 Valéry, Descartes. In: Œ I, S. 796.
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Selbstverleugnung238, aber auch die Angst und Verzweiflung beim vergeblichen Suchen nach der Lösung eines Problems sowie der Stolz beim Entdecken einer Wahrheit.239 Es ist wichtig zu betonen, dass Valéry hier Gefühle und Leidenschaften anvisiert, die von vornherein mit der intellektuellen Tätigkeit des Menschen verbunden und auf diese bezogen sind: Wenn er die literarische Wiedergabe des ‘Lebens der Intelligenz’ mitsamt ihrer spezifischen „sensibilité“ fordert, so geht es dabei nicht darum, die geistigen Aktivitäten eines Menschen in die Gesamtheit seiner Gefühle, Leidenschaften, Wünsche und äußeren Lebensumstände einzuordnen, also etwa Liebesleidenschaften, materielle Sorgen, Existenzängste oder melancholische Stimmungen als Kontexte seines Denkens zu präsentieren. Die Pointe der Redeweise von dem ‘Leben der Intelligenz’ als einem ‘Universum’ und von einer spezifischen „sensibilité intellectuelle“ besteht vielmehr darin, dass die intellektuellen Tätigkeiten ihre eigenen Gefühle und Leidenschaften besitzen oder hervorbringen. Valéry plädiert hier also nicht dafür, den ‘Sitz im Leben’ des Denkens zu zeigen; er behauptet eher, dass das Denken ein eigenes Leben für sich sein könne.240 Die „Comédie Intellectuelle“, wie Valéry sie projiziert, soll demnach möglichst viele Dimensionen und Facetten der „vie de l’intelligence“ möglichst realitätsgetreu darstellen. Der Wunsch oder die Forderung nach literarischen Werken dieser Art steht aber zumindest auf den ersten Blick in einem auffälligen Widerspruch zu einem Grundzug von Valérys Poetik, seiner Ablehnung der mimetischen, auf Wirklichkeitsabbildung zielenden Literatur, die sich unter anderem in seinen abschätzigen Verdikten über _____________ 238 Vgl. ebd., S. 798. 239 Vgl. C Pl. I, S. 623 / C facs. XII, S. 68 [1926-1927]; C Pl. II, S. 1321 / C facs. VI, S. 647 [1917]; C Pl. II, S. 1145 / C facs. I, S. 108 [1896-1897]; C Pl. II, S. 1278f. / C facs. IX, S. 201 [1922-1923]. 240 Descartes, der sich als Soldat im Dreißigjährigen Krieg quer durch Europa habe treiben lassen und sich zugleich in seine philosophischen Probleme vertieft habe, liefert Valéry ein Beispiel für diese Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des intellektuellen Lebens gegenüber dem ‘äußeren Leben’; in einer Skizze über Descartes kommentiert er diese Episode so: „Quel luxe de liberté, quel mode élégant et voluptueux d’être soi-même, quand l’homme peut ainsi se dissiper dans les choses, sans laisser de se confirmer dans ses idées!“ (Paul Valéry, Fragment de Descartes. In: Œ I, S. 787-792, hier S. 790.) In dem schon erwähnten Vortrag über Descartes treibt er die Vorstellung der Eigenständigkeit und Vollwertigkeit der „vie intellectuelle“ noch weiter; das Denken, und zwar insbesondere das von jedem Praxisbezug gelöste Denken, sei nicht nur eine Tätigkeit, in der alles Menschliche seinen Platz hat, sondern auch diejenige Tätigkeit, in der sich das spezifisch Menschliche am vollständigsten und freiesten entfalten, der Mensch am meisten Mensch sein könne: „Qu’est-ce donc qui peut être plus spécifiquement humain, et de plus réservé à l’homme le plus homme, que l’effort intellectuel dégagé de toute pratique, et quoi de plus pur et de plus audacieux que son développement dans ces voies abstraites qui s’écartent parfois si étrangement vers les profondeurs de notre possible?“ (Valéry, Descartes. In: Œ I, S. 797.)
2. Valéry über die Darstellung von Denken in der Literatur
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die Gattung des Romans äußerte.241 Für Valéry, dessen Literaturbegriff stark am Paradigma der Lyrik orientiert ist, kann die Literatur am sinnvollsten als Nutzung und Ausweitung bestimmter Eigenschaften der Sprache betrachtet werden; diese poetische Nutzung des Sprachmaterials sollte durch willkürliche, möglichst klare und explizite Konventionen wie etwa die Gesetze der Metrik geregelt sein.242 Romane und die realistische Erzählliteratur im Allgemeinen entsprechen diesen Ansprüchen offenkundig nicht; sie lassen in Valérys Augen ausdrückliche Konventionen vermissen, sind an der Realitätsnachahmung statt an dem sprachlichen Material interessiert und verfahren zudem in diesem Streben nach realistischen Abbildungen des Lebens inkonsequent und naiv.243 Diese literarästhetischen Überzeugungen und Ansprüche scheint Valéry zeitweilig beiseite zu stellen, wenn er die Vorstellung einer „Comédie Intellectuelle“ entwirft und ein solches Werk für wünschenswert erklärt. Was in diesen Ausführungen über die „Comédie Intellectuelle“ zum Ausdruck kommt, ist vor allem die Tatsache, dass Valéry in der „vie de l’intelligence“ einen faszinierenden Gegenstand von großer Komplexität sieht, dessen vielfältige Facetten bisher nur unzureichend bekannt sind, den er eingehend studieren möchte und von dem er daher möglichst detaillierte und umfassende Ansichten besitzen möchte. Die Literatur gilt ihm dabei nur als Medium für solche Darstellungen eines wichtigen und faszinierenden Phänomenbereichs. Was er in diesen Äußerungen dagegen vorläufig ausblendet, ist die Frage, inwiefern solche Darstellungen des intellektuellen Lebens jenen Forderungen genügen könnten, die er prinzipiell an Literatur qua Literatur stellt. Seine Bemerkungen über die „Comédie Intellectuelle“ betonen denn auch vor allem, dass das intellektuelle Leben als Gegenstand ausgeprägte ‘poetische’ Qualitäten besitze, aber sie sagen kaum etwas über den poetischen Charakter des Werks, etwa über die Gattung, der es zugehören sollte. Indem Valéry einerseits die Comédie Humaine und die Commedia Divina als Modelle für diese ‘Komödie des Intellekts’ aufruft, andererseits aber immer wieder historische Gestalten wie Descartes, Leonardo da Vinci und Voltaire als Protagonisten dieser Komödie präsentiert, siedelt er dieses _____________ 241 Zu Valérys Ablehnung einer mimetischen Literatur vgl.: Genette, La littérature comme telle, S. 258f.; Hans Blumenberg, Sprachsituation und immanente Poetik. In: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Hg. von W[olfgang] Iser. München 1983 [zuerst 1966], S. 145-155, hier S. 151f. Speziell zu Valérys kritischer Haltung gegenüber dem Roman: Yeschua, Valéry, le roman, vor allem S. 93-163; Harth, Valérys Poetik, S. 103-107; Brian Stimpson, Counter-fiction. In: Gifford / Stimpson (ed.), Reading Paul Valéry, S. 138-154, hier S. 138-140. 242 Vgl. Genette, La littérature comme telle, S. 255-260. 243 Vgl. etwa: C Pl. I, S. 275 / C facs. XVI, S. 144 [1933]; C Pl. I, S. 290 / C facs. XX, S. 630 [1937]; C Pl. II, S. 1158 / C facs. IV, S. 488 [1910]; C Pl. II, S. 1162 / C facs. V, S. 101 [1913]; C Pl. II, S. 1192 / C facs. IX, S. 541 [1923].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
projizierte Werk zudem in einem ambivalenten Zwischenbereich zwischen faktualen und fiktionalen Texten an. Valérys Äußerungen über die „Comédie Intellectuelle“ verweisen somit auf eine generelle Spannung oder Ambivalenz in seiner Haltung zur Literatur: Einerseits insistiert er nachdrücklich darauf, die Literatur allein über ihren spezifischen Umgang mit der Sprache, also gänzlich unabhängig von ihren Inhalten und ihrem Realitätsbezug zu definieren. Andererseits bekundet auch er immer wieder den Wunsch, in der Literatur diejenigen Wirklichkeitsbereiche gewürdigt zu sehen, die ihn besonders interessieren oder ihm besonders wichtig sind; das bedeutet, er fällt gleichsam zurück in eine Sichtweise, welche die Literatur als Medium der Darstellung ausgezeichneter Realitätsausschnitte begreift. Zu diesen Wirklichkeitsbereichen, die für Valéry eine besondere Faszination besitzen, gehört an vorderster Stelle das ‘Leben der Intelligenz’. Valéry hat sich aber auch immer wieder mit der Frage befasst, wie die literarische Prosa den Ansprüchen genügen könnte, die für seinen Literaturbegriff zentral sind. Auch seine Überlegungen zu diesem Thema sind relevant für seine literarischen Darstellungen des Denkens und sollen daher im folgenden Teilkapitel untersucht werden. 2.2. Der „Art de la prose“ und das Ideal der „Pureté“ In den Cahiers hat Valéry wiederholt das Ideal eines „Art de la Prose“ skizziert, einer Prosakunst, von der in der bisher existierenden literarischen Prosa höchstens die Ansätze vorhanden seien.244 Er selbst habe es nie wirklich in Angriff genommen, dieses Ideal in die Praxis umzusetzen, schreibt er in einer späten Notiz;245 doch wie er andernorts erklärt, orientieren sich mehrere seiner Prosatexte, vor allem die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und La Soirée avec Monsieur Teste, zumindest bis zu einem gewissen Grad an diesem Ideal.246 Valéry hat seine Überlegungen zum „Art de la Prose“ nicht in eine systematische Form gebracht, sie auch nicht in einem seiner veröffentlichten Texte zusammenhängend entwickelt. Seine über viele Jahre hinweg angefertigten Notizen zu diesem Thema aber weisen bei wechselnden Akzentsetzungen eine Reihe von konstanten Grundzügen auf, so dass sich die wesentlichen Konturen dieses Ideals der Prosakunst benennen lassen. _____________ 244 Vgl. hierzu: Jarrety, Valéry devant la littérature, S. 261-269; Jallat, Introduction, S. 311-370, vor allem S. 311-323; Stimpson, Counter-fiction, S. 146f. 245 Vgl. C Pl. I, S. 295 / C facs. XXIII, S. 12 [1940]. 246 Vgl. C Pl. I, S. 303 / C facs. XXV, S. 617 [1942]. – Zur Introduction vgl. auch: C Pl. I, S. 315 / C facs. XXVIII, S. 586 [1944].
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Den Ausgangspunkt seiner Reflexionen zu diesem Thema bildet die Feststellung, dass Prosatexte im Gegensatz zu Verstexten üblicherweise keinen Regeln oder Gesetzen unterliegen; die allgemeinste Absicht der Überlegungen zum „Art de la Prose“ ist daher, solche Regeln oder Gesetze für die Prosa zu entwickeln und die Prosa somit zu einer ars im strengen Sinne zu machen: „En général le discours en prose est sans lois (par définition) – on lui donnerait des règles aussi rigoureuses qu’aux vers – rigoureux. Mais non des règles auditives – des règles de metrique [sic] intellectuelle. Règles invisibles. Alors il y’aurait un travail de mise en prose.“247 Die Gesetze, die Valéry entwirft oder auch nur andeutet, betreffen so gut wie immer die Strukturierung des „discours“, die Art und Weise, in der seine Teile angeordnet und miteinander verbunden werden.248 Der minderwertige Kontrast zu einer kunstgemäßen Organisation des Diskurses wird von Valéry vorzugsweise als „écrire à la suite“ bezeichnet249; darunter versteht er offenbar einen linearen oder planen Textaufbau, der mehr oder weniger der Eigendynamik der thematisierten Gegenstände folgt und benachbarte oder auseinander folgende Sachverhalte und Gedanken aneinander reiht. Was Valéry statt dessen fordert, sind Prosatexte, deren Teile klar voneinander getrennt und zugleich auf strenge und ‘nicht-arbiträre’ Weise miteinander verbunden sind.250 Diese Forderung nach klar voneinander abgegrenzten und zugleich auf strenge Weise zusammengefügten Teilen des Diskurses bildet die augenfälligste Konstante und den Grundgedanken von Valérys Überlegungen zum „Art de la Prose“. Die entscheidende Frage, die sich an diesen Grundgedanken anschließt und die Valéry in seinen einschlägigen Aufzeichnungen immer wieder umkreist, ist die nach der Art der Separation und der Verbindung, welche zwischen den Teilen des Prosadiskurses bestehen soll. Um die Art von innerer Organisation eines Werks zu umreißen, die ihm vorschwebt, zieht Valéry immer wieder bestimmte Vergleiche heran: Der Prosatext soll wie eine musikalische Komposition strukturiert sein, das heißt etwa wie eine Symphonie aufgebaut sein oder Allegro-, Scherzo- und Largo-Partien enthalten;251 oder er soll eine mathematische Ordnung aufweisen, etwa indem seine Teile verschiedenen Umformungen eines Polynoms entsprechen oder eine geometrische Struktur entwerfen; oder er soll eine architektonische Gliederung besitzen, deren Partien denen eines griechischen _____________ 247 248 249 250
C facs. VI, S. 552f. [1917]. Vgl. Jarrety, Valéry devant la littérature, S. 265. Vgl. Jallat, Introduction, S. 317. Vgl. C Pl. I, S. 295 / C facs. XXIII, S. 12 [1940]; C Pl. I, S. 304 / C facs. XXVI, S. 319 [1942]. 251 Zu dem Vergleich mit einer Symphonie vgl.: Jallat, Introduction, S. 334-344.
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Tempels gleichen.252 Eine zentrale Vorstellung Valérys, die sich auch in allen diesen Vergleichen ausdrückt, lautet, dass die Teile des Prosatextes nicht eine rein lineare oder sukzessive Ordnung bilden, sondern sich zu einer ‘simultanen’ Struktur oder Konfiguration zusammenschließen sollen. Für die Produktion eines solchen Textes bedeutet das, wie Valéry einmal notiert, dass der Autor die verschiedenen Partien eigentlich gleichzeitig und parallel schreiben sollte. Aber welches sind die sprachlichen und literarischen Pendants der musikalischen, architektonischen oder geometrischen Strukturierungsweisen? Die Aufzeichnungen Valérys äußern sich kaum einmal ausführlicher über die konkreten Mittel der sprachlichen Komposition, durch welche Prosawerke eine solche strenge Organisation erhalten können. Eine Art der Textstrukturierung allerdings wird in diesen Notizen wiederholt und in recht deutlicher und nachvollziehbarer Weise anvisiert: die Gliederung in Partien, die durch ein gemeinsames Thema zusammengehalten werden, sich aber unterschiedlicher ‘Tonarten’ oder sprachlicher ‘Register’ bedienen, von denen also eine räsonniert, eine andere beschreibt, die eine abstrakte Begriffe und die andere eine reiche Bildlichkeit entfaltet, die eine den Ernst des Themas unterstreicht und die andere mit einem spielerischen oder ausgelassenen Gestus daherkommt.253 Als Vorbild für eine solche Art der Textorganisation, wie Valéry sie wohl am konsequentesten in der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci umzusetzen versucht hat, betrachtete er vor allem musikalische Kompositionen – etwa die Struktur einer Symphonie –, aber auch die Geometrie und ihre Gliederung in Axiome und Theoreme.254 Während diese Form der Textstrukturierung also auf Variationen des Vokabulars, der Sprechweise und des Gestus basieren, fasst Valéry in anderen Notizen Prinzipien der Textorganisation ins Auge, die eher auf logischen oder anderen inhaltlichen Relationen zwischen den Partien des Diskurses zu beruhen scheinen. Die Texte können etwa in der Weise organisiert sein, dass die aufeinander folgenden Partien in einem argumentativen Zusammenhang stehen oder auch verschiedene Begriffe, die in einer als Ausgangspunkt dienenden These oder Problemstellung enthalten sind, ausführlich entfalten und mit Inhalt füllen. Auch die argumentativen und thematischen Strukturen, die die klassische Rhetorik kodifiziert hat und die etwa die „solidité“ des Stils eines Cicero oder Bossuet _____________ 252 Vgl. C Pl. II, S. 1009f. / C facs. VIII, S. 375 [1921-1922]. 253 „Musicaliser – ‘Harmoniser’ [...] Il s’agit de composer .. de vouloir ordonner des parties spécialisées – chacune consacrée à un mode – un mouvement – un registre de mots, un régime de substitutions (raisonnement, imagerie, sentiment –) et de ménager contrastes, symétries, et les modulations ou les discontinuités. [§] Allegro – Presto – etc.“ (C Pl. I, S. 315 / C facs. XXVIII, S. 586 [1944]) – Vgl. auch: Jallat, Introduction, S. 334-344. 254 Vgl. C Pl. I, S. 303 / C facs. XXV, S. 617 [1942].
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ausmachen, haben einen Ort in Valérys „art de la prose“, werden von ihm aber ausdrücklich nur als ein Spezialfall jener Gesetze der nicht-arbiträren Abfolge von Sätzen und Textpartien bewertet, auf die sich diese Prosakunst stützen sollte.255 Neben dem Organisationstyp des „raisonnement suivi“, der exemplarisch bei Cicero und Bossuet verwirklicht sei, gebe es noch „une autre ‘logique’ – c’est-à-dire convention ou possibilité de dépendance successive“.256 Valérys Entwurf eines Ideals der Prosa ist eng verknüpft mit seinen psychologischen und anthropologischen Überzeugungen und mit dem Programm der intellektuellen Selbsterziehung, das er nach der Krise von 1892 entwickelt hat. Ein Bindeglied zwischen ihnen bildet der Begriff der „Pureté“, einer der Leitbegriffe des „Gladiator“-Dossiers der Cahiers.257 Dieser Begriff wird bei Valéry ab einem gewissen Zeitpunkt zu einer bevorzugten Bezeichnung für das Ziel, dem ein – intellektuelles oder anderes – Training dienen sollte. Die ‘Reinheit’ wird dadurch erzielt, dass man eine Tätigkeit in ihre Konstituenten zerlegt, diese getrennt und unabhängig voneinander ausbildet und sie dann wieder zu der vollständigen Tätigkeit zusammenfügt: Gladiator. Pouvoirs. Séparation sensible ou Pureté des constituants, au sein des combinaisons. Comme l’algèbre, l’orchestre – et rarement, le discours. Refaire un procédé naturel en le traitant ainsi et lui substituer le produit de synthèse – tel fut mon travail – analyse et reconstitution en pur, des actes et donc des produits d’actes. Ce qu’on appelle entraînement, éducation, n’est que cela. Développements séparés, abstraits des fonctions composantes d’une activité donnée, puis reconstitution. [...]258
Indem man sich der verschiedenen Komponenten einer komplexen Tätigkeit bewusst geworden ist, sie gezielt trainiert hat und somit über sie verfügen kann, hat man, so die Überzeugung Valérys, seine Fähigkeiten erweitert und kann die ursprüngliche Tätigkeit nun auf weit effektivere und vielfältigere Weise ausüben.259 Die Überlegungen zum „art de la prose“ stellen einen Versuch dar, dieses Ideal der Reinheit auf die Literatur zu übertragen. Mit ihren klar voneinander getrennten und zugleich auf nicht-arbiträre Weise aufeinander folgenden Partien sollen die Werke einer solchen Prosakunst die „Pureté“ in diesem Sinne verkörpern, ein Beispiel für die Reinheit als Ergeb_____________ 255 Vgl. C facs. VI, S. 810: „La rhétorique n’est au fond que l’emploi (pratiquement restreint – et generalement inconscient) de ces développements ... On ne retient – on ne trouve – que les combinaisons les plus marquants et les plus simples d’ailleurs.“ 256 C Pl. I, S. 304 / C facs. XXVI, S. 319 [1942]. 257 Vgl. zu diesem Begriff etwa: C Pl. I, S. 340 / C facs. VII, S. 237 [1918-1919]; C Pl. I, S. 353 / C facs. XII, S. 172 [1927]; C Pl. I, S. 373 / C facs. XXIV, S. 52 [1940-1941]. 258 C Pl. I, S. 341f., hier S. 341 / C facs. VII, S. 693 [1920-1921]. 259 Vgl. auch C Pl. I, S.340 / C VII, S. 237 [1918-1919].
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nis eines Prozesses der „analyse et reconstitution“ abgeben. In einer mit „Mémoires de moi“ überschriebenen Notiz von 1942 erinnert sich Valéry an den „démon de la Pureté“, von dem er besessen gewesen sei, und an seine Versuche, dieses Ideal auf die Literatur anzuwenden. Diese Notiz versammelt die meisten der oben angesprochenen Aspekte von Valérys Reflexionen zur Prosakunst: Mémoires de Moi .. Je fus possédé par le démon de la Pureté. L’idée de séparer les constituants indépendants – de faire sentir leur différence dans la composition, au lieu de les employer mêlés.. je voulais l’appliquer en littérature et il y a dans Teste et Léonard (95) des traces de ce dessein. Mais je n’ai pas assez suivi mes propres idées – celles-ci d’origine géométrique et musicale – Géométrique? – Oui – Division formelle des membres = axiomes, lemmes, théorèmes etc. Musicales? Division de l’orchestre. En langage, les parties introductives, descriptives, raisonnées, animées, et les mots à grouper. Théorie des paragraphes.260
Wie die ‘Reinheit’ als Ergebnis eines geistigen oder körperlichen Trainings die Fähigkeiten des Menschen, seine Herrschaft über seine Funktionen erweitern soll, so sollen die dem Ideal der Reinheit verpflichteten literarischen Werke eine vollkommene Beherrschung der Möglichkeiten der Sprache sichtbar werden lassen. Diese Prosa, die „à la fois musique, algèbre et architecture“ sein soll, wäre auch eine „prose où toute la possession du langage se ferait ressentir ..“.261 Es ist vor allem diese Verknüpfung mit dem Ideal der „Pureté“, die Valérys Überlegungen zum „art de la prose“ im Rahmen dieses Untersuchungsteils relevant macht, obwohl diese Überlegungen nicht die literarische Darstellung von Denkvorgängen im engen Sinne betreffen. Valéry sagt nichts davon, dass die Werke dieser neuen Prosakunst Denkprozesse oder irgendwelche anderen menschlichen Aktivitäten darstellen sollen; von einer mimetischen Qualität dieser Werke ist in den betreffenden Notizen nicht die Rede. Doch die Struktur dieser Prosatexte soll jene Merkmale aufweisen, die Valéry auch als Zielpunkt des intellektuellen Trainings, also als Eigenschaften einer zur ‘Reinheit’ entwickelten, analysierten und neu zusammengesetzten menschlichen Tätigkeit projiziert: eine klare Trennung der einzelnen funktionalen Komponenten oder Phasen, die einerseits relativ unabhängig voneinander sind, andererseits effektiv ineinander greifen. Zwischen der Struktur dieser Prosatexte und derjenigen eines ‘reinen’ Denkens in diesem Sinne besteht insofern ein Analogieverhältnis. Wenn Valéry außerdem die Regeln des „art de la prose“ einmal als Regeln _____________ 260 C Pl. I, S. 303 / C facs. XXV, S. 617 [1942]. 261 C Pl. II, S. 1233f., hier S. 1233 / C facs. XXII, S. 869f. [1939-1940].
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einer „metrique intellectuelle“262 bezeichnet, so deutet er damit an, dass über diese Analogie hinaus auch noch direktere Beziehungen zwischen diesen Prosatexten und dem Denken bestehen könnten, dass nämlich die Relationen zwischen den einzelnen Textpartien die von Valéry angenommenen Operationen des Intellekts repräsentieren sollen. Solche Texte wären dann nicht nur als Analoga zu ‘reinen’ Denkvorgängen, sondern in einem engeren Sinne als Darstellungen solcher Denkvorgänge entworfen, als idealisierte Abbildungen der intellektuellen Operationen des Geistes. 2.3. „modèles de pensée“: Wirkung und Gebrauchswert der Literatur In diesem Kapitel wurden zunächst Äußerungen Valérys betrachtet, in denen er vom Denken oder dem Leben des Intellekts als einem Phänomen der Realität ausgeht und literarische Nachbildungen dieses Realitätsbereichs für wünschenswert erklärt; außerdem wurden Überlegungen in den Blick genommen, die von der Frage ausgehen, wie literarische Prosa zu einer Kunst im emphatischen Sinne gemacht werden könnte, und die unter diesem Blickwinkel mögliche Arten der Textorganisation skizzieren. Von Interesse sind im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung schließlich noch einige Äußerungen Valérys, die sich auf die erstrebenswerte Wirkung literarischer Werke beziehen. Zunächst seien einige Bemerkungen Valérys betrachtet, in denen er seine eigenen Erwartungen an literarische Werke oder an Bücher überhaupt charakterisiert. „J’avoue que je n’apprécie les écrivains que sub specie utilitatis“263, so hält er einmal in seinen Cahiers fest. Dem entspricht es, wenn er in seinen Aufzeichnungen immer wieder betont, dass er als Leser nicht bei seinen Gefühlen gepackt und gerührt werden, sondern etwas beigebracht bekommen möchte. Was er den Texten entnehmen und sich aneignen möchte, sind – wie es seinem Begriff von Wissen als Können entspricht – nicht in erster Linie Fakten264, sondern Verfahren, Mittel, Techniken oder auch, wie es gelegentlich heißt, ‘Waffen’265. Damit meint er sowohl schriftstellerische Techniken, „des tours des métiers“, als auch allgemeiner ‘Formen des Sprechens und Denkens’ („des formes de parler _____________ 262 Vgl. C facs. VI, S. 552f. 263 C Pl. II, S. 1225 / C facs. XVIII, S. 77 [1935]. 264 Allerdings ist die Vermittlung von Tatsachen bzw. von Erfahrungen für Valéry keine verächtliche oder irrelevante Funktion von Büchern: „il faut bien emprunter les résultats des expériences des autres et nous accroître de ce qu’ils ont vu et que nous n’avons pas vu.“ (Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 483) 265 Einer der Vorwürfe, die Valéry an Pascal richtet, lautet, dass dieser dem Leser keine ‘Waffen’ zur Verfügung stelle, sondern eher das Gegenteil tue (vgl. C Pl. II, S. 1184 / C facs. VII, S. 440 [1919-1920]).
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ou de penser“266), also sprachliche und zugleich gedankliche267 Verfahren des Transformierens, Organisierens und Erweiterns von etwas Gegebenem268. Der Anspruch, beim Lesen etwas lernen und das eigene Repertoire an Denk- und Sprachformen erweitern zu wollen, verbindet sich bei Valéry mit der Forderung, der Text solle ihm Widerstände entgegensetzen: „Quant à moi, je le confesse, je ne saisis à peu près rien d’un livre qui ne me résiste pas.“269 In Reden und Aufsätzen hat Valéry immer wieder den Wert schwieriger Texte verteidigt, wobei er diesem Plädoyer oft eine kulturpessimistische Spitze gegeben und die Aufmerksamkeit, Geduld und Konzentration, die solche Texte erfordern, als Tugenden bezeichnet hat, die die Leser des modernen Zeitalters in immer geringerem Maße besäßen. Aus dieser Favorisierung schwieriger und ‘widerständiger’ Texte ergibt sich im Hinblick auf den von Valéry gewünschten Lerneffekt des Lesens, dass die Denk- und Schreiboperationen, die er dem Text entnehmen möchte, nicht auf den ersten Blick erkennbar sein müssen, so dass der Leser sie wie ein bereitliegendes Gerät einsammeln könnte, sondern dass schon zu ihrer Wahrnehmung eine intellektuelle Anstrengung erforderlich ist. Werke, die in diesem Sinne die Fähigkeiten des Lesers erweitern, indem sie ihnen Widerstände entgegensetzen und sie zur Ausbildung neuer intellektueller Operationen oder zur Entdeckung bisher unbekannter sprachlicher Relationen nötigen, dürften diese Anforderungen Valérys in idealtypischer Weise erfüllen. Die Erwartungen, die er an die Texte anderer richtete, hat Valéry zumindest in gewissem Maße auch zu Richtlinien für seine eigene Produktion gemacht. So bezeichnet er es in seinen Aufzeichnungen mehrfach als Ziel seiner Werke, zum Denken zu provozieren. In einem Eintrag von 1912 heißt es: „Le but d’un ouvrage – honnête – est simple et clair: faire penser. Faire penser malgré lui, le lecteur. Provoquer des actes internes.“270 Und 1928 nennt er als eine seiner Absichten beim Schreiben: _____________
266 „Mais des livres, les uns sont excitants et ne font qu’agiter ce que je possède; les autres me sont des aliments dont la substance se changera dans la mienne. Ma nature propre y puisera des formes de parler ou de penser; ou bien des ressources définies et des réponses toutes faites: [...].“ (Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 483; vgl. C Pl. II, S. 1156 / C facs. IV, S. 421 [1910]; C Pl. II, S. 1222 / C facs. XVI, S. 408 [1933].) 267 Vgl. das Diktum: „La syntaxe est une faculté d’âme.“ (Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 481) 268 Vgl. C Pl. II, S. 1217f. (C facs. XIV, S. 662 [1930]): „Le chief-interest en littérature est peutêtre l’essai systématique qu’elle peut comporter de modifier, agrandir les cadres de la langue. ... objet inférieur: divertir; objet supérieur: développer le rôle du langage dans les rapports des propriétés passives de l’homme avec ses propriétés actives, c’est-à-dire des données de ses sens et de sa connaissance avec les fonctions d’organisation, de transformation, d’édification et de conservation.“ 269 Paul Valéry, Je disais quelquefois à Stéphane Mallarmé .... In: Œ I, S. 644-660, hier S. 645. 270 C Pl. I, S. 241 / C facs. IV, S. 788f. [1912].
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„donner à penser à quelques-uns“271. Das dürfte darauf schließen lassen, dass er es in der Konzeption seiner Werke auch bewusst darauf angelegt hat, diese ‘schwierig’ zu machen, sie mit zum Denken nötigenden ‘Widerständen’ auszustatten. Nun gibt es aber offenkundig viele Arten, mit einem literarischen Text Denkvorgänge anzustoßen oder etwas ‘zum Denken zu geben’, und diese allgemein gehaltenen Notizen enthalten noch keine konkreten Maßgaben für die Gestaltung der Texte, die diese Funktion erfüllen sollen. Wichtiger und aufschlussreicher im vorliegenden Zusammenhang sind Bemerkungen Valérys, in denen sich zeigt, dass er seine Texte nicht nur schwierig, sondern auch in dem oben genannten Sinne ‘nützlich’ gestalten wollte, indem er sie zum Vehikel von Formen des Denkens machte. Eine Aufzeichnung wiederum von 1912 lautet: La littérature n’a jamais été mon objet. Mais, quelquefois, écrire des modèles de pensée. Des programmes pour une imagination ou pour une relation. Des jeux de scène psychologiques, des moyens de se représenter quelque système.272
Die Ausdrücke „modèles“, „programmes“ und „moyens“ konvergieren in einem Moment des Instrumentellen, in der Vorstellung von wiederholt und vielfältig verwendbaren Werkzeugen oder ‘Mitteln’. Der Text soll demnach nicht nur in dem Sinne zum Denken anregen, dass er den Stimulus zu einer einmaligen hermeneutischen Anstrengung abgibt, sondern ein Muster oder eben ein ‘Programm’ sein, mit dessen Hilfe sich Denk- oder Imaginationsvorgänge vollziehen lassen. Was aber ist konkret darunter zu verstehen, dass Valéry zumindest in einigen seiner Texte versucht habe, „modèles de pensée“ niederzuschreiben? Kann man davon ausgehen, dass Valéry hier Texte vor Augen hat, die ausdrücklich Denkprozesse eines Subjekts darstellen? Das dürfte nicht unbedingt der Fall sein; prinzipiell könnten damit vermutlich Texte unterschiedlichster Art und vielfältigen Inhalts gemeint sein, die insofern ‘Denkmodelle’ darstellen oder als solche gelesen werden können, als der Leser spezifische mentale Operationen vollziehen muss, um etwa die Relationen zwischen den Textteilen oder die formalen Strukturen zu erfassen. Insofern umreißt Valéry in dieser Notiz eher die Rezeptionsweise, auf die hin er seine Texte konzipiert hat, als die Inhalte oder Strukturen der Texte selbst. Aber wenn auch als „modèles de pensée“ konzipierte Texte keine ausdrücklichen Darstellungen von Denkprozessen enthalten müssen, so können sie das doch zweifellos tun; solche Inszenierungen von fiktiven Denkprozessen wären nicht die einzige, aber eine besonders naheliegende Art, die in der Notiz umrissene Absicht umzusetzen. Diese Texte wären also „modèles de pensée“ und „programmes pour une imagination ou _____________ 271 C Pl. I, S. 114 / C facs. XIII, S. 206 [1928]. 272 C Pl. I, S. 241 / C facs. IV, S. 784 [1912].
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pour une relation“ auch in dem konkreteren Sinne, dass sie ‘modellhafte’, stilisierte oder idealisierte Denkprozesse präsentieren. Wie in dem folgenden Untersuchungsteil zu sehen sein wird, können mehrere Texte Valérys als Realisierungen eines solchen Programms gelesen werden, darunter nicht zuletzt die zwei wichtigsten Prosatexte seines Frühwerks, die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und La Soirée avec Monsieur Teste. Festzuhalten sind hier vor allem die folgenden zwei Punkte: (1) Die Redeweise von „modèles de pensée“ und „formes de penser“ und der Wunsch, solche Denkmodelle den Texten anderer zu entnehmen oder in den eigenen Texten zu objektivieren, setzen eine Konzeption des Denkens voraus, welche das Denken als eine Aktualisierung von festen Operationen oder Schemata betrachtet, die auf beliebige oder zumindest vielfältige Inhalte angewendet werden können. Oder, direkter formuliert: Diese Sicht auf Texte als Realisierungen oder Vehikel von Denkmodellen ist geprägt durch Valérys Konzeption des Denkens, zu deren wichtigsten Säulen eben der Begriff der Operationen und die Annahme einer Unabhängigkeit von Form und Inhalt der Denkoperationen zählen. (2) Man kann Vermutungen hinsichtlich der Art der Texte anstellen, die unter einer solchen Zielvorgabe – „écrire des modèles de pensée“ – entworfen werden. Sofern solche Texte tatsächlich Denkprozesse darstellen, ist zu erwarten, dass sie die Eigenschaften des denkenden Subjekts und den raumzeitlichen und situativen Kontext des Denkvorgangs nur in geringem Maße konturieren und individualisieren; was deutlich hervortreten soll, sind nicht die einmaligen Merkmale eines bestimmten Denkvorgangs eines bestimmten Subjekts, sondern die abstrahier- und übertragbaren Aspekte dieses Vorgangs, die Operationen und Relationen, die sich zu einem Modell oder Muster des Denkens zusammenfügen. 2.4. Zusammenfassung Die in diesem Kapitel untersuchten poetologischen Äußerungen Valérys entwerfen ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Beziehungen zwischen Literatur und Denken; sie skizzieren unterschiedliche Arten der literarischen Darstellung, Inszenierung oder Modellierung des Denkens, definieren verschiedene Zwecke, die die Darstellung von Denkvorgängen in literarischen Texten verfolgen kann, und damit zugleich unterschiedliche Ansprüche, die an solche literarischen Repräsentationen des Intellekts gestellt werden können. Zum einen fasst Valéry das reale ‘Leben der Intelligenz’, das sowohl die dramatischen Verlaufsformen einzelner Denkvorgänge als auch das weite Feld der „sensibilité intellectuelle“ einschließt, als einen möglichen Gegenstand literarischer Nachbildungen ins Auge und
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betont, dass es sich hinsichtlich seiner intrinsischen poetischen Qualitäten mit jedem anderen Gegenstand messen könne. Er entwirft das Ideal einer „Comédie Intellectuelle“, die sich dieses weitgehend unerforschten Realitätsbereichs annähme und die danach streben sollte, den ganzen Facettenreichtum der realen Abenteuer und Leidenschaften des Intellekts einzufangen. Dieser Wunsch nach einer „Comédie Intellectuelle“ steht aber in einem latenten Widerspruch zu Valérys poetologischer Grundüberzeugung, der zufolge die Literatur in erster Linie als eine methodische Bearbeitung der Sprache aufgefasst werden sollte und die Nachbildung der Realität nicht als ein respektables Ziel der Literatur gelten könne. Seine Überlegungen zu einem „Art de la Prose“ kreisen um das Problem, wie diese wesentlich am Vorbild der Lyrik herausgebildeten Anforderungen an die Literatur auf die Prosa übertragen werden können. Um die Dignität der Prosa zu erhöhen, ist es nach Valéry vor allem notwendig, sie mit expliziten Regeln und Konventionen auszustatten, wie sie die Versliteratur besitzt. Diese Regeln, die sich vor allem auf die Organisation der Teile eines Textes und ihre Relationen zu beziehen hätten, werden von Valéry einmal als eine „metrique intellectuelle“ bezeichnet; damit scheint er anzudeuten, dass eine Möglichkeit der Strukturierung des Prosadiskurses darin bestehen könnte, diesen als eine geordnete Abfolge von intellektuellen Operationen zu konstruieren. Texte dieser Art würden also nicht in möglichst realitätsnaher Weise Ausschnitte aus der ‘vie de l’intelligence’ darzubieten suchen, sondern idealisierte, ‘gereinigte’ Denkprozesse präsentieren. Damit berührt sich Valérys Ideal eines „Art de la Prose“ mit einer anderen Zielsetzung, zu der er sich ausdrücklich bekannt hat: Er habe in einigen seiner Texte „des modèles de pensée“ zu entwerfen gesucht, „[d]es programmes pour une imagination ou pour une relation“. Den Impetus hinter dieser Zielsetzung scheint aber nicht nur oder nicht in erster Linie das Bestreben zu bilden, Regeln und Konventionen für die literarische Prosa zu entwickeln und sie somit aufzuwerten, sondern der Wunsch, den literarischen Texten eine Art von Nutzwert zu geben; die Texte sollen den Leser zum Denken anregen oder ihm ‘Modelle’, ‘Programme’ oder ‘Mittel’ des Denkens, Vorstellens und Imaginierens liefern. Alle diese unterschiedlichen Absichten und programmatischen Vorgaben Valérys haben sich in seinen literarischen Darstellungen des Denkens niedergeschlagen, allerdings in sehr unterschiedlichem Maße. Die Analysen des folgenden Kapitels werden unter anderem herauszuarbeiten suchen, welche dieser Intentionen und Zielsetzungen am ehesten für die Gestaltung seiner Texte leitend war. Ein Punkt allerdings kann schon an dieser Stelle festgehalten werden: Eine „Comédie Intellectuelle“ im Sinne eines Werks, das in epischer Breite alle Dimensionen der ‘vie de l’intelligence’ auszuleuchten suchte, hat Valéry nicht verfasst; auch das
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Versprechen des Verlegers Gallimard, er werde Valéry zu einem reichen Mann machen, wenn dieser ihm einen „roman sensuel et cérébral“273 lieferte, konnte ihn nicht zur Abfassung eines solchen Romans bewegen. Dies mag ein Indiz dafür sein, dass seine Skepsis gegenüber der mimetischen Erzählliteratur letztlich größer war als der Wunsch, die dramatischen Abenteuer des Intellekts in möglichst umfassender Weise vorzuführen.
3. Erzähltes Denken bei Valéry Valéry hat sich verschiedener literarischer Gattungen bedient, um Denkvorgänge unterschiedlicher Art darzustellen: Sowohl einige seiner Essays als auch kürzere fiktionale Erzähltexte sowie schließlich Prosagedichte und Kurzprosatexte können plausibel als intendierte Darstellungen intellektueller Vorgänge gedeutet werden. Die folgenden Analysen werden Texte untersuchen, die jeweils repräsentativ für Valérys Gebrauch eines bestimmten Genres oder für eine bestimmte Phase seines Schaffens stehen können: Es handelt sich um die zwei bekanntesten Prosatexte des Frühwerks, also den Essay Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci sowie die Erzählung La Soirée avec Monsieur Teste, ferner um den Essay L’homme et la coquille, der das spätere Werk Valérys repräsentieren soll. Schließlich werden noch einige Prosagedichte und Kurzprosatexte analysiert. Die Untersuchung konzentriert sich bewusst auf veröffentlichte Texte, die als bewusst gestaltete und für den Leser bestimmte Darstellungen des Denkens betrachtet werden können; die ursprünglich nicht für die Veröffentlichung bestimmten Notizen der Cahiers dagegen werden nicht berücksichtigt.274
_____________ 273 Vgl. Bertholet, Paul Valéry 1871-1945, S. 249. 274 Zu Schreibweisen in den Cahiers vgl.: Christina Vogel, Les ‘Cahiers’ de Paul Valéry. Paris 1997; Robert Pickering, Paul Valéry, la page, l’écriture. Clermont-Ferrand 1996.
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3.1. Ein Ornament aus Ideen: die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci 3.1.1. Die Introduction als Repräsentation eines Denkprozesses Zunächst ist zu erläutern, inwiefern Valérys Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci (im Folgenden: Introduction)275, die 1895 in der Zeitschrift La Nouvelle Revue erschien, als ein Beispiel für erzähltes Denken betrachtet werden kann. Es handelt sich bei Valérys erstem Leonardo-Essay276 offenkundig nicht um einen fiktionalen Text, in dem eine fiktive Gestalt beim Denken gezeigt wird. Aber Valérys Text präsentiert sich dennoch ausdrücklich als die Wiedergabe eines Denkprozesses, und zwar eines Denkprozesses, den der Sprecher oder das Aussagesubjekt des Textes selbst entwickelt. Dieser Sprecher des Textes kann zwar gewiss weitgehend mit dem Autor Valéry identifiziert werden, insofern die von ihm formulierten Überzeugungen auch diejenigen Valérys sein dürften, aber dieses ‘Ich’ wird im Text auf besondere Weise eingeführt und fast wie eine Figur profiliert; daher wird das Aussagesubjekt der Introduction im Folgenden stets als ‘der Sprecher’ oder ‘das Ich’ bezeichnet, womit dann jeweils die Sprecherinstanz, wie sie im Text selbst aufgebaut wird, gemeint ist. Dieser Sprecher macht durch die häufige Verwendung des Personalpronomens „Je“ durchgehend seine Präsenz geltend und sorgt dafür, dass die im Text entfalteten Ausführungen stets als die Reflexionen eines einzelnen Ichs mit seinen individuellen Absichten und Fähigkeiten erkennbar sind:277 Zu Beginn beschreibt der Sprecher das Problem, mit dem er sich konfrontiert sieht, und die Art und Weise, in der er seine Aufgabe in Angriff nehmen will; seine folgenden Ausführungen sind durchsetzt mit kurzen meta-kommunikativen Einschüben, in denen er mitteilt, welches seine nächsten Schritte sein werden, welchen Themen er sich zu welchen Zwecken zuwenden wird, weshalb er ein bestimmtes Vorgehen wählt.278 Diese Meta-Kommentare lassen nicht nur immer wieder die Präsenz des Spre_____________ 275 Vgl. Paul Valéry, Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. In: Œ I, S. 1153-1199. Auf Stellen aus diesem Text verweise ich im Folgenden durch Angabe der Seitenzahlen in Klammern im Haupttext. 276 Die Zuordnung dieses Textes zur Gattung des Essays ist in der Forschung üblich. Für eine Charakterisierung von Valérys Leonardo-Essays und eine Einordnung seiner Essayistik in die Geschichte des französischen Essays vgl. die knappen (und nicht sehr ergiebigen) Bemerkungen bei: Theodore P. Fraser, The French Essay. Boston 1986, S. 150-152. 277 Vgl. zu der (Selbst-)Präsentation des „sujet de l’énonciation“ und zu der Verwendung von „je“ im Text: Jallat, Figure de Léonard, S. 658-667; dies., Introduction, S. 376-378. 278 Jallat unterscheidet zwischen Stellen, wo der Sprecher etwas ankündigt oder in Erinnerung ruft und dabei „je“ verwendet, und Stellen, an denen er seine Vorgehensweise erläutert; vgl. Jallat, Figure de Léonard, S. 658-661.
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chers besonders spürbar werden, sie heben auch den Prozesscharakter seines Unternehmens hervor. Zu Beginn des Textes formuliert der Sprecher seine Absichten und kündigt an, was er durchführen will: „Je me propose d’imaginer [...]. Et je veux qu’il ait un sentiment [...]. Je le suivrai se mouvant dans l’unité brute [...].“ (1155) Etwa in der Mitte des Essays markiert das Ich den Punkt, den es auf seinem Weg mittlerweile erreicht hat, und setzt das bereits Geleistete zu dem Bevorstehenden in Beziehung.279 Der letzte Absatz der Introduction schließlich beginnt mit dem Satz: „Je vois Léonard de Vinci [...]“ (1198); der Sprecher ist an seinem Ziel angekommen, er sieht den Mann, den er sich zu entwerfen vorgenommen hat,280 mit eigenen Augen. Hinzuzufügen wäre schließlich noch, dass das Ich in seinen Meta-Kommentaren das, was es tut, unter anderem als „imaginer“ oder „songer“ (1155, 1160) bezeichnet, also als eine mentale Tätigkeit. – Insofern präsentiert sich der Text der Introduction als Wiedergabe eines Denkprozesses, der gewissermaßen von der denkenden Person selbst im Vollzug des Denkens laut artikuliert (bzw. schriftlich fixiert) wird. Nachdem dargelegt worden ist, weshalb die Introduction als ein Beispiel für erzähltes Denken bei Valéry untersucht werden kann, sei knapp die Forschungssituation skizziert: Die bis heute eingehendste und umfassendste Untersuchung zur Introduction stellt Jeannine Jallats Studie Introduction aux figures valéryennes dar, die Buchfassung ihrer Thèse mit dem Titel Figure de Léonard.281 Jallat gebührt das Verdienst, auf der Grundlage eines intensiven Studiums der Cahiers und der Vorstufen der Introduction eine detaillierte Rekonstruktion der Textgenese entwickelt zu haben, wobei sie insbesondere die vielfältigen theoretischen Reflexionen und wissenschaftlichen Studien, die in Valérys Planung des Textes Eingang fanden, nachgezeichnet und zahlreiche intertextuelle Bezüge des Essays aufgedeckt hat.282 Neben ihrer eingehenden Analyse von Valérys theoretischen Über_____________ 279 „Nous touchons maintenant aux joies de la construction. Nous tenterons de justifier par quelques [...] Je voudrais que l’on vît [...].“ (1181) 280 „Je me propose d’imaginer un homme de qui auraient paru des actions tellement distinctes que si je viens à leur supposer une pensée, il n’y en aura pas de plus étendue.“ (1155) 281 Vgl. Jallat, Introduction; dies., Figure de Léonard. – Es lohnt sich, neben der überarbeiteten Buchfassung auch die ursprüngliche Version der Thèse (also den zuletzt genannten Titel) heranzuziehen, in der die Gedankengänge teilweise noch etwas ausführlicher ausgearbeitet sind. Diese Fassung enthält außerdem im Anhang auch eine Transkription von Valérys Notizheft „Figura di Lionardo“, in dem er Überlegungen zur Konzeption der Introduction festhielt (vgl. ebd., S. 869-896). Inzwischen ist allerdings eine vollständigere und editorisch aufwändiger gestaltete Transkription dieser und weiterer Notizen greifbar; vgl. dazu die folgende Fußnote. 282 Diese Untersuchungen zur Genese der Introduction sind in den Beiträgen eines kürzlich erschienenen Sammelbandes ergänzt und vertieft worden. Vgl.: Christina Vogel (Hg.), Valéry et Léonard: le drame d’une rencontre. Genèse de l’Introduction à la méthode de Léonard de
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legungen und seiner Rezeption unterschiedlichster literarischer, wissenschaftlicher und philosophischer Autoren stehen wichtige Hinweise zu Aufbau, Stil und Schreibverfahren der Introduction. Die folgenden Ausführungen sind der Untersuchung von Jallat in vieler Hinsicht verpflichtet, ihren detaillierten und materialreichen Rekonstruktionen von Valérys Theorien ebenso wie einigen ihrer Bemerkungen zu den Schreibverfahren der Introduction. Ihre eigentliche Interpretation dagegen erscheint mir aus mehreren Gründen problematisch. Die zentralen Begriffe dieser Interpretation sind die der „figure“ und des „informe“ sowie die der ‘Theorie’ und des ‘Imaginären’283: Valéry wolle in seinem Essay eine allgemeine Theorie der Figur sowie eine Geschichte der Figuren schreiben; dieses Vorhaben sei unterschwellig angetrieben von dem Wunsch des sprechenden Subjekts nach einer Vergewisserung seiner Identität (durch den Entwurf eines Spiegelbilds). Daher lasse sich an diesem Text exemplarisch die Beziehung zwischen der Theorie und ihrem Imaginären, zwischen theoretischem Diskurs und dem Begehren analysieren. Aber der Ursprung der Figuren, der eigentlich aufgespürt werden solle, erweise sich im Essay als uneinholbar verloren, und der totalisierende Diskurs der Theorie werde an seinen Rändern immer wieder irritiert durch Einbrüche des „informe“, des Unbenennbaren und Irreduziblen, das sich unter anderem in einer an Rimbaud gemahnenden poetischen Schreibweise manifestiere.284 Diese Interpretation Jallats verdankt ihre zentralen Begriffe und Grundannahmen offenkundig Theorien aus dem französischen Strukturalismus und vor allem Poststrukturalismus, insbesondere Lacan und Derrida, und ein wesentliches Defizit von Jallats Arbeit besteht darin, dass sie diese theoretischen Voraussetzungen nirgends ausdrücklich benennt und nie den methodischen Status der herangezogenen Theorien und Begriffe erläutert.285 Die Art und Weise, wie sie Aussagen und Problemstellungen Valérys sowie Textmerkmale der Introduction unter Begriffe wie „différence“, „imaginaire spéculaire“, „désir“ und „force“ subsumiert, wirkt vielfach unbegründet und willkürlich. Darüber hinaus erhält die Interpretation durch diese Begrifflichkeit einen widersprüchlichen Charakter, da sie einerseits _____________ Vinci. Frankfurt/M. 2007. Der Band enthält auch Reproduktionen und Transkriptionen von Vorstufen und Notizen zur Introduction (vgl. ebd., S. 231-324). – Die Ergebnisse dieses Bandes konnten nicht mehr in die vorliegende Analyse eingearbeitet werden; ich beschränke mich darauf, einige Beiträge in den Fußnoten zu nennen. 283 Vgl. zum Folgenden etwa die knappe Formulierung zentraler Fragestellungen und Thesen in: Jallat, Introduction, S. 11-13. 284 Vgl. u.a.: ebd., S. 385f. 285 Lacan, Derrida und Lyotard tauchen im Literaturverzeichnis auf und werden jeweils einbis dreimal beiläufig erwähnt (vgl. Jallat, Introduction, S. 36, 161, 198, 299). Auch Benveniste, Genette und Jean-Pierre Richard gehören zu den im Literaturverzeichnis aufgeführten theoretischen Stichwortgebern der Arbeit.
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um die Rekonstruktion der historischen Kontexte, also der von Valéry rezipierten wissenschaftlichen und ästhetischen Diskussionen bemüht ist, andererseits aber seinen Text und seine Problemstellungen dem intellektuellen Milieu des französischen Poststrukturalismus der 1960er und ’70er assimiliert.286 3.1.2. Problemstellung und Argumentationsgang Bevor die einzelnen Abschnitte der Introduction und ihr Verhältnis zueinander näher untersucht werden, sei zunächst der Aufbau des Textes mithilfe einer schematischen Übersicht dargestellt. Der Text ist durch Leerzeilen (‘blancs’) in dreizehn Abschnitte untergliedert, die im Folgenden als ‘Sektionen’ bezeichnet werden. Eine doppelte Leerzeile trennt die Sektionen 5 und 6 und teilt den Text so in zwei Hälften. Fasst man thematisch eng verbundene Sektionen zusammen, so kann man die Struktur des Essays etwa in der folgenden Weise abbilden:287 A B
C D E F
G
THEMA Einleitung Analyse der kognitiven Vorgänge B1 Mentale Prozesse (das ‘innere Drama’) B2 Die Wahrnehmung der Außenwelt
SEKTION 1
Die Welt; Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit Leonardo und seine Schöpfungen Theorie der Konstruktion E1 Allgemeine Theorie der Konstruktion Konstruktion in der Kunst: Das Ornament E2 Praxis der Konstruktion F1 Malerei F2 Architektur; Modelle in der Physik F3 Kunstwerke und ihre Wirkung Finale: Leonardo als Künstler und Wissenschaftler
2 3-5 6 7 8 9 10 11 12 13
_____________ 286 Vgl. zur Introduction ferner Jallats Abriss der früheren Phasen der Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Jeannine Jallat, Les essais sur Léonard de Vinci. In: Œuvres & Critiques IX, 1 (1984), S. 171-180. Das Heft von 1991 (Jahrgang 4) der Zeitschrift „Forschungen zu Paul Valéry / Recherches Valéryennes“ ist ausschließlich Valérys Leonardo-Essays gewidmet; vgl. darin vor allem den Beitrag des Kunsthistorikers und Leonardo-Forschers Martin Kemp („‘Hostinato rigore’: Valéry’s Leonardo from a Vincian perspective“; S. 25-46). 287 Mein Vorschlag zur Gliederung stimmt großenteils mit demjenigen Jallats überein; ich weiche vor allem in der Unterteilung der zweiten Hälfte von ihr ab. Vgl. Jallat, Introduction, S. 94f.
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Die Einleitung der Introduction definiert ein Problem und stellt das Subjekt vor, das dieses Problem angreifen wird. Das Problem lautet: Wie können wir uns eine Vorstellung von einem vor Jahrhunderten verstorbenen Mann bilden, wenn dieser Mann uns eine überwältigende Fülle von Schöpfungen ästhetischer wie künstlerischer und technischer Art hinterlassen hat? Wie können wir uns ein Individuum vorstellen, das der gemeinsame Ursprung so vielfältiger Meisterwerke war? Diese Frage wird im ersten Absatz des Textes formuliert. Der zweite Absatz beginnt mit dem Wort „Je“, das hier zum ersten Mal im Text auftaucht; dieses Ich kündigt an, eine Antwort auf die eben aufgeworfene Frage zu entwickeln: „Je me propose d’imaginer un homme de qui auraient paru des actions tellement distinctes que si je viens à leur supposer une pensée, il n’y en aura pas de plus étendue.“ (1155) Das Ziel des Sprechers ist es, das hypothetische Modell eines Geistes zu entwerfen, welcher der einheitliche Ursprung einer großen Zahl vielgestaltiger Schöpfungen auf den Gebieten von Kunst, Wissenschaft und Technik sein könnte. Dieser hypothetischen Konstruktion will der Sprecher den Namen ‘Leonardo da Vinci’ geben, da ihm kein anderer Name passender erscheint; es geht ihm aber ausdrücklich nicht darum, ein korrektes Porträt der historischen Gestalt Leonardos zu zeichnen (vgl. 1156f.). Das Problem, das der Sprecher in diesen Eingangsabsätzen ins Auge fasst, wird von ihm nicht als ein wissenschaftliches Problem von rein sachlicher Relevanz dargestellt, sondern als eine Herausforderung, die ihn als Person betrifft und geradezu bedroht. Das unüberschaubar umfangreiche und vielseitige Werk eines außerordentlichen Menschen wie Leonardo entzieht sich dem Versuch der Zusammenfassung und des Überblicks, es präsentiert sich dem Betrachter insofern als eine Manifestation von Diskontinuität oder übergroßer Komplexität, die die Einheit und Kohärenz seines Geistes aufzulösen droht: La continuité de cet ensemble manque à notre connaissance, comme s’y dérobent ces informes haillons d’espace qui séparent des objets connus, et traînent au hasard des intervalles; [...]. Il faut pourtant s’attarder, s’y faire, surmonter la peine qu’impose à notre imagination cette réunion d’éléments hétérogènes par rapport à elle. Toute intelligence, ici, se confond avec l’invention d’un ordre unique, d’un seul moteur et désire animer d’une sorte de semblable le système qu’elle s’impose. Elle s’applique à former une image décisive. Avec une violence qui dépend de son ampleur et de sa lucidité, elle finit par reconquérir sa propre unité. [1154]
Die Ausdrücke „violence“ und „reconquérir“ lassen das Problem des unüberschaubaren „ensemble“ als einen Angriff auf die Integrität des Subjekts erscheinen und seine Antwort auf dieses Problem, den Entwurf
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eines gemeinsamen Ursprungs aller Werke dieses Ensembles, als einen gewaltsamen Akt der Selbstverteidigung.288 Dass der Sprecher sein Bemühen um eine Beantwortung des Problems zugleich als einen Versuch der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung versteht, verleiht seinem Unternehmen einen agonalen Grundzug, der sich in seinen folgenden Ausführungen durchgehend bemerkbar macht. Gleich zu Beginn des Textes fällt die polemische Geste auf, mit der das Ich den Rekurs auf die gelehrten Forschungen über den historischen Leonardo zurückweist und die Kommentare und „anecdotes douteuses“, welche die „érudition“ anzubieten hat, als – zumindest im Hinblick auf seine Absichten – wertlos verwirft (1156). Wenn der Sprecher sich dann in den folgenden Partien einem bestimmten Thema zuwendet, erwähnt er fast immer zunächst eine verbreitete common sense-Auffassung zu dem jeweiligen Gegenstand, um diese dann als irrig oder oberflächlich zu verurteilen und sich entschieden von ihr abzugrenzen.289 So drückt sich in dem Duktus des Textes durchgehend der Wille des Sprechers aus, ein persönliches Projekt auf radikal persönliche Weise durchzuführen und nur das als wichtig oder gültig anzuerkennen, was ihm selbst so erscheint. Wie geht der Sprecher also vor, um seine Aufgabe zu bewältigen? Er wendet sich zunächst nicht der historischen Gestalt Leonardos zu, sondern entwickelt in der ersten Hälfte des Essays Überlegungen sehr grundsätzlicher und allgemeiner Art. Er entwirft der Reihe nach ein Modell des menschlichen Geistes, eine Theorie der (visuellen) Wahrnehmung und _____________ 288 In seinen Entwürfen für die Introduction hält Valéry fest, der Anfangsteil des Textes solle auch den tieferen, gewissermaßen existenziellen Ernst der theoretischen Überlegungen aufzeigen: „Il convient de montrer le sérieux des spéculations – ou comment tiennent aux choses importantes de tout le monde, aux images décisives, si fortes, de vie et de mort etc., les opérations qui se terminent en œuvres d’art ou de science. L’envers du peint et de l’imprimé.“ (Zitiert in: Vogel [Hg.], Valéry et Léonard, S. 283; auch in: Jallat, Figure de Léonard, S. 872) Diesem Zweck dürfte die eben zitierte Passage dienen, ebenso wie die Anfangssätze des Essays, die davon handeln, was ‘von einem Menschen bleibt’. Worin für Valéry dieser Ernst der wissenschaftlichen und künstlerischen Anstrengungen bestand, erschließt sich allerdings letztlich wohl nur auf Grundlage seiner im Essai sur le mortel formulierten Überzeugung, das Ziel eines Menschen müsse darin bestehen, alle ihm möglichen Kombinationen zu realisieren (vgl. auch ebd. den Vermerk „Limites; toutes les combinaisons“; siehe hierzu S. 337f. dieser Arbeit); dieser Gedanke aber wird in der Introduction selbst nicht ausdrücklich formuliert. 289 „Mainte erreur, gâtant les jugements qui se portent sur les œuvres humaines, est due à un oubli singulier de leur génération.“ (1156f.) „En pareil cas, il est d’usage de se référer à l’instinct pour éclaircir, mais ce qu’est l’instinct n’est pas trop éclairci lui-même [...].“ (1183) „Communément, l’architecture est méconnue.“ (1189) „J’en étonnerai sans doute plusieurs en disant que de telles difficultés relatives à l’effet sont généralement abordées et résolues à l’aide de notions et de mots extraordinairement obscurs et entraînant mille embarras.“ (1196f.) Vgl. auch 1164-1166, 1186f.
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eine Theorie über Art und Ausmaß der in der Welt zu beobachtenden Ordnung und Regelmäßigkeit. Während er den menschlichen Geist, die Wahrnehmung und die Objekte von Wahrnehmung und Denken in der Welt charakterisiert, legt er zugleich die Grundlagen der Methode Leonardos dar. Mit diesen allgemeinen Ausführungen sind die Voraussetzungen geschaffen, um zu verstehen, wie ein „homme universel“ wie Leonardo möglich ist und was ihn ausmacht: „[L]’homme universel peut maintenant s’imaginer.“ (1175) In der Mitte des Essays entfaltet der Sprecher daher ein reiches, farbenprächtiges und detailliertes Panorama der vielfältigen Schöpfungen Leonardos, er feiert in langen, amplifizierenden Aufzählungen die ungeheure Kreativität des „homme universel“. In der ersten Hälfte des Essays hat der Sprecher seine Hypothese über die mentalen Operationen entwickelt, auf denen die Methode Leonardos beruhe; die zweite Hälfte soll diese Hypothese stützen, sie illustrieren und ihren Wert demonstrieren, indem sie verschiedene Beispiele künstlerischer, wissenschaftlicher und technischer Werke diskutiert und sie als Ergebnisse konkreter Anwendungen jener Methode präsentiert. So erörtert der Sprecher zunächst im Allgemeinen die Tätigkeit des Konstruierens sowie das Phänomen des Ornaments und betrachtet dann konkrete Beispiele und Illustrationen für seine Ausführungen; die wichtigsten Exempel liefern ihm die Malerei, die Architektur sowie Theorien der Physik, vor allem Faradays Theorie des elektromagnetischen Kraftfeldes. Die Natur der Aufgabe, die der Sprecher der Introduction zu lösen unternimmt, die Art und Weise, in der er eingangs diese Aufgabe definiert, sowie schließlich sein Vorgehen bei ihrer Bewältigung besitzen auffällige Parallelen in einem Text, der als einer der wichtigsten Prätexte von Valérys Essay gelten kann, in Edgar Allan Poes Eurêka. A Prose Poem (1848), der in Baudelaires Übersetzung den Titel Eurêka ou Essai sur l’univers matériel et spirituel erhielt.290 Wie Valérys Ich-Instanz es sich zur Aufgabe macht, einen Menschen zu imaginieren, der zur Hervorbringung von Werken einer außerordentlichen Menge und Vielfalt fähig sein soll, so setzt Poes Sprecher es sich auf den ersten Seiten des Essays zum Ziel, den Ursprung, die gegenwärtige Verfassung und die zukünftige Bestimmung des Universums darzulegen, und er benennt ausdrücklich die Eigenschaften des Universums, die durch seine Theorie erklärt werden sollen.291 Beide Essays _____________
290 Vgl. Edgar [Allan] Poe, Eurêka. In: Charles Baudelaire, Œuvres complètes. VII: Edgar Poe, Aventures d’Arthur Gordon Pym. Eurêka. Traduction de Charles Baudelaire. Paris 1870, S. 307-476. 291 Vgl. ebd., S. 309-312. – Zu Valérys Rezeption dieses Essays von Poe vgl. zunächst seine eigenen Ausführungen: Paul Valéry, Au sujet d’Eurêka. In: Œ I, S. 854-867; ders., ‘Les idées d’Edgar Poe’. Conférence inédite prononcée à la Maison des Amis des Livres en 1922. In: James Lawler, Edgar Poe et les poètes français, suivi d’une conférence inédite de Paul Valéry. o. O. 1989, S. 87-123. Vgl. ferner: James Lawler, Poe, Valéry. In: Ebd., S. 47-75 (Anm.
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sind mithin ihrer Makrostruktur nach Erklärungstexte, die mit der Definition ihres Explanandums beginnen und dann eine hypothetische genetische Erklärung entfalten. Poes Sprecher erörtert zunächst in einem ‘apriorischen’ oder ‘deduktiven’ Vorgehen292 die Entstehung des Universums, indem er von der intuitiv gegebenen Voraussetzung ausgeht, Gott habe alle Bestandteile des Universums aus einer Materie im Zustand der Einheit und Einfachheit hervorgehen lassen, und daraus die Konsequenz entwickelt, dass das Universum von den entgegengesetzten Kräften der Abstoßung und der Anziehung durchwaltet werden muss.293 Valérys Sprecher schlägt einen ähnlichen Weg ein, wenn er zuerst alle Eigenheiten von künstlerischen, technischen oder wissenschaftlichen Werken außer Acht lässt und den ersten Ursprung aller dieser Schöpfungen in den mentalen Prozessen des Individuums aufsucht.294 Auch der selbstbewusst-agonale Gestus von Valérys Ich-Instanz hat ein Vorbild in Poes Eurêka, wo der Sprecher gleich auf der ersten Seite ankündigt, er werde die Schlussfolgerungen der größten und geachtetsten Männer bestreiten und ihre „sagacité“ in Zweifel ziehen.295 Ähnlich wie Valérys Sprecherfigur schließt er an die Formulierung seiner Aufgabenstellung einen ‘methodologischen’ Passus an, in dem er sich polemisch gegen herkömmliche Erklärungsweisen in Philosophie und Wissenschaft abgrenzt.296 Eine weitere Parallele besteht schließlich darin, dass in beiden Texten die Überzeugungskraft der vorgelegten Hypothesen unter anderem über die ästhetischen Qualitäten ihrer Darbietungsform hergestellt oder erhöht werden soll: Poes Sprecher zufolge bildet die „Consistance“ einer Theorie den Gradmesser ihrer Wahrheit, und diese „consistance“ drückt sich in Formen der Symmetrie aus;297 Valérys Sprecher beschreibt die Konstruktion regelmäßiger, ‘orna_____________ 292 293 294
295 296 297
S. 81-86); Lois Davis Vines, Valéry and Poe. A Literary Legacy. New York, London 1992, S. 159-176 (Anm. S. 201f.). Vgl. Poe, Eurêka, S. 314 (über die „philosophie déductive ou à priori“ als eine der zwei herkömmlichen Erkenntnisweisen). Vgl. ebd., S. 336-347. Auch dieses Bestreben, die dem kreativen Schaffensvorgang zugrunde liegenden mentalen Prozesse zu analysieren, wurde bei Valéry unter anderem durch die Lektüre Poes ausgelöst oder verstärkt, insbesondere durch den Aufsatz The Philosophy of Composition, den Lois D. Vines als maßgebliche Inspirationsquelle für die Vorgehensweise der Introduction betrachtet; Valéry habe von Poe die Idee übernommen, dass es in der Analyse und Bewertung künstlerischer Werke vor allem darauf ankomme, die dem kreativen Akt zugrunde liegenden mentalen Prozesse zu rekonstruieren (vgl. Vines, Valéry and Poe, S. 4f.). Für die Struktur der Introduction im Ganzen scheint mir aber Eurêka den wichtigeren Bezugstext darzustellen. Poe, Eurêka, S. 309. Vgl. ebd., S. 312-327. Vgl. ebd., S. 323f. („cette considération d’une importance vitale, qu’une parfaite consistance ne peut être qu’une vérité absolue“), 459f. („symétrie et consistance sont des termes réciproquement convertibles“).
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mentaler’ Ordnungen als gemeinsames Grundprinzip von Wissenschaften und Künsten, und er gestaltet, wie noch zu zeigen sein wird, seinen eigenen Diskurs als ein aus Symmetrien und Parallelismen zusammengesetztes Ornament.298 Die Etappen des in der Introduction entwickelten Gedankengangs sind nun ausführlicher zu untersuchen. Der Sprecher wendet sich als erstes den „opérations de l’esprit“ (1158) zu, weil diese Operationen den gemeinsamen, noch undifferenzierten Ursprung („fond commun“; 1157) aller wissenschaftlichen wie künstlerischen Hervorbringungen bilden. Was sich im Geist abspielt, ist ein ‘Drama’, eine Abfolge von Bewegungen, Ruhephasen und plötzlichen Zwischenfällen; die ‘Akteure’ dieses Dramas sind mentale Bilder („des images mentales“, 1159), die aufeinander folgen, sich miteinander verbinden und sich gegenseitig ersetzen. Die außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten bestimmter Individuen wie Leonardo nun beruhen darauf, dass sie die Vorgänge und Operationen in ihrem Geist bewusst beobachten; sobald sie diese „conscience des opérations de la pensée“ (1161) entwickelt haben, spielt sich ihr mentales Leben auf zwei Ebenen ab (vgl. 1162). Diese bewusste Beobachtung der mentalen Vorgänge und Operationen ermöglicht es dem Menschen, die Kombinationen und Transformationen mentaler Gebilde, die sein Geist produziert, zu bewerten und auf ihre Implikationen hin zu befragen; sie erlaubt es ihm, zu entscheiden, ob ein solches Gebilde eine „folie“, ein „idole“ oder eine „trouvaille“ darstellt (1161). Zugleich führt diese Einnahme eines Beobachterstandpunkts gegenüber den eigenen mentalen Vorgängen dazu, dass der Mensch die Homogenität aller Gebilde wahrnimmt, die sich in seinem Geist tummeln; sie alle sind „des images mentales“ und insofern miteinander vergleichbar, und alle Kombinationen dieser Bilder sind prinzipiell möglich und legitim (vgl. 1162).299 Der Mensch, der die Analyse der eigenen Denkoperationen über längere Zeit praktiziert, wird schließlich Re_____________ 298 Zu den Beziehungen zwischen Valérys Introduction und Poes Eurêka vgl. auch: Jallat, Introduction, S. 74-79; dies., Figure de Léonard, S. 117-130. Jallat konzentriert sich vor allem auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Valérys und Poes theoretischen Überzeugungen und Konzeptionen (insbesondere ihren Auffassungen von Ursprung, Zentrum und Differenz) und geht nicht auf die von mir hervorgehobenen, eher strukturellen Parallelen ein. Sie weist allerdings darauf hin, dass Poes Text auch ein Vorbild für den charakteristischen Tonfall der Introduction geliefert haben könnte; in beiden Essays finde sich „un régime passionnel du domaine des équations, une écriture affective de l’énoncé géométrique, un délire ludique des équivalences: bref, la transformation de l’énoncé théorique en un discours du désir“ (dies., Figure de Léonard, S. 129). 299 „La conscience des pensées que l’on a, en tant que ce sont des pensées, est de reconnaître cette sorte d’égalité ou d’homogénéité; de sentir que toutes les combinaisons de la sorte sont légitimes, naturelles, et que la méthode consiste à les exciter, à les voir avec précision, à chercher ce qu’elles impliquent.“ (1162)
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gelmäßigkeiten in diesen Abläufen wahrnehmen, „une continuité évidente de machine“ (1162). Dann kann in ihm der Wunsch wach werden, diese Operationen zu beschleunigen und abzukürzen, und er wird es sich zur Gewohnheit machen, die Resultate seiner intellektuellen Akte vorauszusehen und alle möglichen Transformationen und Entwicklungen einer Idee auf einen Blick zu übersehen (vgl. 1162f.). Diese mentale Praktik ähnelt dem mathematischen Verfahren des „raisonnement de récurrence“, dessen philosophische Bedeutung, wie der Sprecher in einer Fußnote vermerkt, Henri Poincaré kürzlich in einem Aufsatz hingewiesen habe.300 Auch in seiner Erörterung der Wahrnehmung sucht der Sprecher die elementaren Funktionen und Vorgänge freizulegen, auf denen komplexere Leistungen beruhen. Er spricht im wesentlichen über die visuelle Wahrnehmung, weil sich im menschlichen Geist vor allem Bilder befinden und der Gesichtssinn insofern als der ‘geistigste’ von allen Sinnen („le plus spirituel de tous“) gelten kann (1166, Anm.); seine Ausführungen sollen aber prinzipiell übertragbar sein auf die Wahrnehmung überhaupt. Auffällig an diesen Darlegungen ist vor allem, dass sie die Wahrnehmung als eine wesentlich produktive und kreative Leistung deuten, deren Übergänge zu „rêverie“ und ‘imagination’ einerseits, zur „pensée“ andererseits fließender Art sind (vgl. 1168f., 1171f.).301 Der Mensch, der mit unbekannten Gegenständen oder einem unvertrauten Raum konfrontiert wird, sucht diese mithilfe der Bilder vertrauter Objekte zu ergänzen und sich verständlich zu machen. Die Begegnung mit unbekannten Gegenständen konstituiert also ein Problem, das der Mensch durch eine kreative Kombination oder Variation vertrauter Wahrnehmungsbilder zu lösen sucht (vgl. 1168, 1171f.); darüber hinaus kann er, auch ohne dass dies durch eine Konfrontationen mit unbekannten Phänomenen gefordert würde, seine Eindrücke und Empfindungen analysieren, frei kombinieren und transformieren (vgl. 1168f.). So kann er unter anderem, indem er die zeitliche Dauer seiner _____________ 300 Es handelt sich um den Aufsatz: Henri Poincaré, Sur la nature du raisonnement mathématique. In: Revue de métaphysique et de morale 2 (1894), S. 371-384. Poincaré übernahm ihn später als erstes Kapitel in sein Buch La Science et l’Hypothèse (1902). – Zu Valéry und Poincaré vgl.: Régine Pietra, Valéry et la réflexion épistémologique dans les dix dernières années du XIXe siècle. Valéry et Poincaré. In: Nicole Celeyrette-Pietri / Antonia Soulez (Hg.), Valéry, la logique, le langage. Arles 1988, S. 47-68; zu dem „raisonnement par récurrence“ vgl. ebd., S. 64-66. 301 Zur „rêverie“ vgl. S. 1168, zu ‘imaginer’ unter anderem S. 1169; zur Berührung der Wahrnehmung mit der „pensée“ vgl. die folgenden Sätze auf S. 1171f.: „On voit que nous touchons ici à la pratique même de la pensée. Penser consiste, presque tout le temps que nous y donnons, à errer parmi des motifs dont nous savons, avant tout, que nous les connaissons plus ou moins bien. Les choses pourraient se classer d’après la facilité ou la difficulté qu’elles offrent à notre compréhension, d’après le degré de familiarité que nous avons avec elles, et selon les résistances diverses que nous opposent leurs conditions ou leurs parties pour être imaginées ensemble.“
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Wahrnehmungsakte variiert, beobachtete Bewegungen in Formen und stabile Formen in Bewegungen übersetzen, die Bewegung eines geworfenen Steins in eine Kurve oder die Form einer Statue in eine aufwärts gerichtete Bewegung (vgl. 1169f.). Schließlich beschreibt der Sprecher die äußersten Grade, welche die Versenkung in ein besonderes Objekt annehmen kann: Der Betrachter kann den Gegenstand so lange betrachten, bis er sich verändert, etwa aus einem festen in einen beweglichen Zustand übergeht, oder er kann versuchen, sich mit diesem Gegenstand zu identifizieren, sich in ihn hineinzuversetzen und alle Empfindungen zu imaginieren, die ihn und seine einzigartige Stellung in der Welt charakterisieren; diese äußersten Anstrengungen der Aufmerksamkeit und der Imaginationskraft können die Grenze zum Pathologischen überschreiten und sich in eine „stupidité croissante“ verwandeln (1171). Im Zusammenhang mit der „faculté d’identification“ verweist der Sprecher auf einen Abschnitt aus Edgar Poes Marginalia; in Notizen aus der Zeit der Entstehung der Introduction hat Valéry sich ausführlicher mit der mentalen Operation der „identification“ auseinandergesetzt, wobei ihm neben der Bemerkung aus den Marginalia verschiedene andere Texte Poes als Anregung und Orientierung gedient zu haben scheinen.302 Nachdem er die Operationen des Denkens und der Wahrnehmung untersucht hat, wendet sich der Sprecher der Welt zu, in der der Mensch seine geistigen Fähigkeiten ausüben und bewähren kann. Der erste Satz dieses Abschnitts formuliert seine zentrale Aussage in aphoristischer Verdichtung: „Le monde est irrégulièrement semé de dispositions régulières.“ (1172) In der Welt existieren Instanzen der Regelmäßigkeit, die wie Inseln unregelmäßig in einem Meer des Ungeordneten und Unregelmäßigen verstreut liegen – diese Koexistenz von Ordnung und Unordnung ist der allgemeinste, einfachste Tatbestand, mit dem sich der Geist des Menschen in der Welt konfrontiert sieht. Beispiele für „dispositions régulières“ sind Kristalle, Blumen, Muscheln, die Spuren des Windes im Sand. Allgemeiner gesprochen, handelt es sich um Gegenstände, die der naiven Wahrnehmung als gesetzmäßig geordnet erscheinen, um „objets qui font penser à des lois, des lois qui parlent aux yeux“; schon die Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Gegenständen ist ein Beispiel für solche Regelmäßigkeit (1173, Anm.). Denken besteht in dem Bemühen, unbekannte Ausschnitte _____________ 302 Vgl. dazu: Jallat, Figure de Léonard, S. 175-226 (Anm. 741-752); besonders aufschlussreich ist die auf S. 176 wiedergegebene unveröffentlichte Notiz Valérys mit der Überschrift „Principe de l’identification“. Weitere Texte Poes, in denen die mentale Operation der Identifikation erörtert wird, sind die Dupin-Geschichten sowie Bérénice; vgl. ebd., S. 177-188, 197-200. Valéry zufolge spielte das mentale Verfahren der Identifikation aber auch eine Rolle in den Praktiken der Mystik, mit denen er sich ebenfalls in den Jahren zwischen 1891 und 1894 befasst hatte; unter anderem hatte er zeitweilig geplant, die Exercices spirituels des Ignatius von Loyola zu übersetzen; vgl. dazu ebd., S. 218-226.
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der Welt auf solche bekannten Formen der Regelmäßigkeit und Ordnung zurückzuführen bzw. sie in solche Muster zu übersetzen (vgl. 1173f.). Die in der Welt verteilten „combinaisons régulières“ repräsentieren für den Menschen die ‘Kontinuität’ (1173); alle wissenschaftlichen Anstrengungen und in gewisser Hinsicht auch die künstlerische Tätigkeit dienen dem Zweck, diese Kontinuität auszudehnen: Le sûr est que toutes les spéculations ont pour fondement et pour but l’extension de la continuité à l’aide de métaphores, d’abstractions et de langages. Les arts en font un usage dont nous parlerons bientôt. [1174]
Doch nur ein Teil dessen, was in der Welt existiert, lässt sich auf Muster der Regelmäßigkeit und Ordnung zurückführen. Bis jetzt zumindest stießen diese Bemühungen immer auf eine Grenze, wo die Dinge zu komplex, die Ereignisse zu ungewöhnlich wurden, um sich reduzieren zu lassen; und es kann sein, dass es eine definitive, unübersteigbare Grenze für diese Bemühungen gibt (vgl. 1174). An dieser Stelle führt der Sprecher den Helden seines Diskurses ein: „C’est ici le royaume de notre héros.“ (1175) Leonardo verfüge über einen außerordentlichen Sinn der Symmetrie, der ihn überall die Lücken unseres Verstehens wahrnehmen lasse. Wenn der Sprecher betont, Leonardo als der „homme universel“ könne nun vorgestellt werden und ‘in unserem Geist existieren’, ohne ihn zu sehr verblüffen, so meint er damit offenbar, dass die von ihm entworfenen Konzeptionen des Geistes, der Wahrnehmung und Imagination die außergewöhnlichen Fähigkeiten Leonardos vorstellbar und verständlich machen können: Auch seine weitgespannte Produktivität, so die Hypothese, lässt sich zurückführen auf die vom Sprecher beschriebenen grundlegenden mentalen Operationen, die Leonardo in ungewöhnlichem Maße zu steigern versteht und die er zur Lösung vielfältigster Probleme einsetzt. Die zweite Hälfte des Essays hat diese Hypothese plausibel zu machen; sie analysiert verschiedene konkrete Beispiele kreativer Tätigkeiten, legt ihre grundlegenden Prinzipien und Verfahren frei und verfolgt dabei stets das Ziel, die verschiedenen künstlerischen und wissenschaftlichen Aktivitäten zu den fundamentalen Operationen des menschlichen Geistes in Beziehung zu setzen und sie so in einen kontinuierlichen Zusammenhang zu bringen. Der Sprecher erläutert die Aufgabe dieser zweiten Hälfte und ihr Verhältnis zum ersten Teil so: „Nous touchons maintenant aux joies de la construction. Nous tenterons de justifier par quelques exemples les précédentes vues, et de montrer, dans son application, la possibilité et presque la nécessité d’un jeu général de la pensée.“ (1181) Als erstes wendet sich der Sprecher, wie angekündigt, den „joies de la construction“ und damit der Tätigkeit des Konstruierens im Allgemeinen zu. Erst etwas später, zu Beginn des Abschnitts über die Architektur, wird er
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explizit sagen, worin die besondere Wichtigkeit dieser Tätigkeit besteht: Mit dem Wort „construction“ habe er „le problème de l’intervention humaine dans les choses du monde“ bezeichnen wollen (1188). In dem Abschnitt über die Konstruktion charakterisiert der Sprecher diese Tätigkeit zunächst wie folgt: Der Akt des Konstruierens verbindet eine bestimmte Vision oder ein Vorhaben mit dem jeweils gewählten Material; dieser Akt besteht in der Oktroyierung einer Ordnung, er ersetzt die gegebene Ordnung dieses Materials durch eine andere (vgl. 1182). Eine gelungene Konstruktion setzt voraus, dass man ein gemeinsames Maß, „une commune mesure“, in den verschiedenen involvierten Elementen und Materialien entdeckt; Konstruktionen vereinigen heterogene Gegenstände, und dies ist nur dann möglich, wenn der Konstrukteur irgendeine Gemeinsamkeit und Kontinuität zwischen ihnen entdeckt hat, die es ihm erlaubt hat, sie zusammen zu bearbeiten. Wer eine Konstruktion entwirft, abstrahiert immer von bestimmten Eigenschaften der beteiligten Materialien und Gegenstände und berücksichtigt nur jene Eigenschaften, welche sie vergleichbar machen. Nach diesen allgemeinen Überlegungen zur Konstruktion wendet sich der Sprecher dem spezielleren Fall der Konstruktion in der Kunst zu. Auch das Entwerfen von Kunstwerken beruht auf einer Abstraktionsleistung, wie sie in allen Konstruktionen enthalten ist (vgl. 1185); dieser Abstraktionsvorgang kann mit dem Begriff des Ornaments bezeichnet werden, der also alle Spielarten der Kunst umfasse und der zugleich die Verbindungsstelle zwischen Kunst, Sprachen und Wissenschaften sowie zwischen Kunst und Natur markiere (vgl. 1184f.).303 Kunstwerke können als ‘begrenzte Portionen von Raum oder Zeit’ aufgefasst werden, die eine spezifische Ordnung oder Regelmäßigkeit aufweisen; sie sind aus bestimmten Materialien gemacht und beziehen sich zumindest teilweise als Abbildungen auf bestimmte Gegenstände; aber diese Materialien und Gegenstände werden in eine Ordnung gebracht, welche die meisten ihrer Eigenschaften und ihrer gewöhnlichen Bedeutungen vernachlässigt: Der Maler betrachtet alle Dinge nur hinsichtlich ihrer Farben und Formen und die Farben und Formen als ‘Elemente seiner Handlungen’.304 Das Besondere an den Konstruktionen der Kunst ist, dass die auf dem Wege der Abstraktion geschaffenen, ornamentalen Ordnungen als Mittel zur Erzeu_____________ 303 Valérys Bemerkungen über das Ornament lassen Einflüsse von maßgeblichen kunsthistorischen und ästhetischen Werken über das Ornament und die ‘Grammatik des Ornaments’ erkennen, die er in den 1880er Jahren und um 1890 studiert hat; insbesondere handelt es sich dabei um die Werke von Owen Jones, Jules Bourgoin und Charles Blanc. Vgl. dazu: Jallat, Introduction, S. 254-260; dies., Figure de Léonard, S. 396-405. 304 Vgl. die Marginalie auf S. 1185: „Ainsi le peintre, pendant son opération, regarde les choses comme couleurs et les couleurs comme éléments de ses actes.“
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gung bestimmter Wirkungen beim Rezipienten entworfen werden (vgl. 1185). Die Konstruktion des Werks basiert also auf einer Leistung der Abstraktion, die Rezeption besteht in einer Art von ‘Induktion’, in einer Erzeugung mentaler Bilder, die – im Idealfall – von einer unvoreingenommenen Wahrnehmung der Strukturen des Werks ausgeht und sie in einer Reihe von Induktionen ergänzt oder metaphorisch erweitert (vgl. 1185f.). Der Sprecher bewegt sich weiter vom Allgemeinen zum Besonderen, indem er nach diesen Bemerkungen zur Kunst überhaupt die Architektur als konkretes Beispiel in den Blick nimmt. Dieser Abschnitt über die Architektur bildet in mancher Hinsicht das Zentrum, den Dreh- und Angelpunkt der zweiten Hälfte der Introduction. Die Architektur wird vom Sprecher herangezogen als „exemple saisissant [...] de la communication entre les diverses activités de la pensée“ (1187); der ihr gewidmete Abschnitt nimmt zum einen Gedanken aus den Sektionen über die Konstruktion und das Ornament auf, illustriert sie und führt sie weiter, und er stellt darüber hinaus die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft her. Die Werke der Architektur sind zunächst Konstruktionen von besonders komplexer Art, sie vereinigen vielfältige Materialien in einer Ordnung mit zahllosen Dimensionen und Aspekten (vgl. 1188-1190). Die Ausführungen über das Ornament hatten festgestellt, dass die Ordnung eines Kunstwerks stets den Zweck erfüllt, einen besonderen Effekt beim Rezipienten zu erzielen; so gehört es auch zu den Aufgaben des Architekten, die Wirkungen eines Gebäudes auf den Betrachter vorherzusehen und zu planen (vgl. 1189f.). Die Bemerkungen über die Architektur heben aber zudem einen anderen Gesichtspunkt hervor, der in den Abschnitten über Konstruktion und Ornament kaum eine Rolle gespielt hat: ein Werk der Architektur muss bestimmten Bedingungen genügen, Bedingungen, welche vor allem durch die Gegebenheiten eines Ortes, die Eigenschaften der verwendeten Materialien und die Gesetze der Statik definiert werden (vgl. 1188f.). Die „échafaudages imaginaires“ eines Gebäudes müssen die unterschiedlichen Anforderungen der Stabilität, Größe, räumlichen Lage sowie die beabsichtigen Wirkungen auf den Betrachter miteinander in Einklang bringen; das macht diese imaginären Gerüste zu paradigmatischen Manifestationen der „clarté d’une intelligence léonardienne“ (1189) und die Architektur zum Musterfall einer Kommunikation zwischen „les diverses activités de la pensée“ (1187). Inwiefern sich in der Architektur die Kontinuität zwischen dem Tun der Wissenschaftler und dem der Künstler zeigt, wird vom Sprecher im Folgenden noch konkreter begründet: Der Architekt sucht Konstruktionen zu entwerfen, die den „conditions de résistance, d’élasticité, etc., s’exerçant dans un espace donné“ (1191) genügen; von solchen Überlegungen führt ein kontinuierlicher Weg
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zu physikalischen Forschungen über den Raum und die Konstitution der Materie. Wer sich als Wissenschaftler eine Vorstellung von der Beschaffenheit eines Stoffs machen will, muss ihn sich als aus ‘Gebäuden’ einer bestimmten Art aufgebaut denken; jedes reale Gebäude stellt eine bestimmte Interpretation des Raumes dar und veranschaulicht bestimmte Eigenschaften der Materie (vgl. 1190-1192). Diese Kontinuität zwischen Wissenschaft und Kunst, die sich dem Sprecher zufolge in der Architektur offenbart, muss vor allem dann deutlich sichtbar werden, wenn man in der Wissenschaft von substantialistischen Auffassungen und der Forderung nach möglichst einfachen Erklärungen abrückt und statt dessen den Wert von Hypothesen und von Modellen anerkennt – wie es in der Wissenschaft der jüngsten Zeit der Fall sei (vgl. 1192). Die Methode Leonardos habe darin bestanden, mithilfe eines Bildes eine konkrete mentale Verbindung zwischen zwei distinkten Phänomenen herzustellen; in den folgenden Jahrhunderten habe man sich zwar unvermeidlicher Weise dieser Methode bedient, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, bis schließlich Faraday ausdrücklich von dieser Methode Gebrauch gemacht und sie so in die moderne Physik eingeführt habe (vgl. 1193f.). Faraday erklärte die Phänomene des Elektromagnetismus durch die Annahme von Kraftlinien, die er nach dem Vorbild der Linien entwarf, welche ein Magnet in einem Haufen von Eisenspänen verursacht. Er entwickelte damit „des conceptions d’une hardiesse admirable, qui ne furent littéralement que le prolongement, par son imagination, des phénomènes observés“ (1194). Weitere Beispiele für den bewussten Einsatz von Modellen und damit den Gebrauch der Methode Leonardos in der modernen Physik findet der Sprecher bei James Clerk Maxwell und Lord Kelvin (vgl. 1195).305 Die Feststellungen des Sprechers, dass der Gebrauch von Analogien und Modellen sowohl bei Leonardo als auch bei Physikern wie Faraday, Maxwell und Thomson (später Lord Kelvin) eine zentrale Rolle gespielt habe, sind durch die Quellen gedeckt und werden auch durch jüngere kunst- und wissenschaftshistorische Studien zu Leonardo und zur britischen Physik um die Mitte des 19. Jahrhunderts bestätigt.306 Allerdings _____________ 305 Vgl.: Masahiko Kimura, Valéry et Lord Kelvin. In: Vogel (Hg.), Valéry et Léonard, S. 153163. 306 Zu Analogien bei Leonardo vgl.: Martin Kemp, Analogy and Observation in the Codex Hammer. In: Mario Pedini (Hg.), Studi Vinciani in memoria di Nando de Toni. Brescia 1986, S. 103-134. – Zu Analogien und Modellen bei Faraday, Maxwell und Thomson (Lord Kelvin) vgl.: Theodore M. Porter, The Death of the Object: Fin de siècle Philosophy and Physics. In: Dorothy Ross (Hg.), Modernist Impulses in the Human Sciences 1870-1930. Baltimore, London 1994, S. 128-151 (Anm. S. 329-333), hierzu S. 130-134; Robert Kargon, Model and Analogy in Victorian Science: Maxwell’s Critique of the French Physicists. In: Journal of the History of Ideas 30 (1969), S. 423-436; M. Norton Wise, The Flow Analogy
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bestanden zwischen den Auffassungen von Modellen und Analogien, die Valérys Sprecher hier durch einen kühnen Brückenschlag verbindet, beträchtliche Unterschiede. Leonardos Gebrauch von Analogien, etwa zwischen Flüssen und menschlichen Blutgefäßen oder zwischen hydrodynamischen und akustischen Phänomenen, beruhten auf der Auffassung von der Natur als einem lesbaren Buch, auf der Annahme einer umfassenden Analogie zwischen dem Universum als Makrokosmos und dem Menschen als Mikrokosmos, sowie auf der Überzeugung, dass die gesamte Natur durch einheitliche und konstante mathematische Gesetze beherrscht wurde.307 James Clerk Maxwell dagegen nutzte im 19. Jahrhundert Analogien und Modelle primär als ‘Illustrationen’, die mathematische und physikalische Konzepte veranschaulichen sowie heuristische Funktionen erfüllen sollten.308 Zu diesen Zwecken entwarf er auch Modelle, die eingestandenermaßen ‘fiktiv’ waren, von ihm also nicht als wahrscheinliche Abbildungen der Realität aufgefasst wurden. Das bedeutete allerdings nicht, dass er beliebige Modelle und Analogien akzeptiert und freie Spekulationen befürwortet hätte: Seine Modelle berücksichtigten seine physikalischen Grundannahmen, was vor allem hieß, dass sie mechanischer Art waren; Maxwell fasste wie die meisten britischen Physiker seiner Zeit die Natur als eine mechanische auf.309 Die Differenzen zwischen den metaphysischen und erkenntnistheoretischen Konzepten, die dem Gebrauch von Analogien und Modellen bei Leonardo einerseits, in der jüngeren Physik andererseits zugrunde lagen, werden von Valérys Sprecher nicht erwähnt; er betont lediglich die Ähnlichkeiten zwischen ihren Methoden und stellt damit selbst eine Art von Analogie zwischen ihren analogischen Verfahren her. Worauf er ebenfalls nicht eingeht, ist die von Physikern wie Maxwell und Thomson durchaus eingehend diskutierte Frage nach dem genauen Status der Analogien und Modelle, also etwa danach, ob sie primär als hypothetische Abbildungen der Realität, als fiktive Illustrationen oder als heuristische Mittel zu verstehen waren und welchen Bedingungen sie unterlagen, wie weit sie sich von den bekannten Tatsachen, Gesetzen und Entitäten entfernen durften. Nach diesem Exkurs in das Feld der wissenschaftlichen, insbesondere physikalischen Hypothesenbildung wendet sich Valérys Sprecher schließ_____________ to Electricity and Magnetism, Part I: William Thomson’s Reformulation of Action at a Distance. In: Archive for History of Exact Sciences 25 (1981), S. 19-70. 307 Vgl. Kemp, Analogy and Observation, vor allem S. 103-105, 127, 134; zu der Analogie zwischen Flüssen und Blutgefäßen vgl. ebd., S. 107, zu der zwischen hydrodynamischen und akustischen Phänomenen S. 112f. 308 Vgl. dazu und zum Folgenden: Kargon, Model and Analogy, S. 432-435; Porter, The Death of the Object, S. 130-133. 309 Vgl. Porter, The Death of the Object, S. 132f.; Wise, The Flow Analogy, S. 20.
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lich noch einmal dem Gebiet der Kunst zu. Die Künstler und Kunstliebhaber unter seinen Lesern, so mutmaßt er ironisch, dürften zwar von seinen Ausführungen enttäuscht sein, aber gleichwohl habe er sich nicht weit von ihren Lieblingsthemen entfernt, sondern das zentrale Problem der „composition“ und ihrer Wirkung auf den Rezipienten gestreift (1196). Die Reflexionen, welche die Künstler über diese Probleme anstellen, kreisen zu einem großen Teil um vage oder obskure Begriffe wie ‘das Schöne’ oder ‘das Leben’ oder um die Frage, wie sich die individuellen Eindrücke und Gefühle des Künstlers in Sätzen oder auf einer Leinwand einfangen lassen. Diese Überlegungen sind sinnlos, denn es ist eine Illusion, zu meinen, man könne seine eigenen Phantasien im Geist eines anderen hervorrufen. Das wahre Problem, dem die Reflexionen des Künstlers gelten sollten, betrifft lediglich die Beschaffenheit seines Materials und den Geist seines Publikums, und es reduziert sich auf die Frage, wie das Kunstwerk aufgebaut sein muss, um mit der Zuverlässigkeit einer Maschine bestimmte mentale Gebilde im Rezipienten hervorzurufen; die Lösung dieses Problems setzt die Anwendung einiger allgemeiner Gesetze auf einen konkreten Fall voraus (vgl. 1197f.). Solche Überlegungen eines Künstlers wiederum ähneln – ohne dass der Sprecher diese Verbindung explizit herstellen würde – den Reflexionen des Architekten und denen des Wissenschaftlers, die ein Gebäude oder ein mechanisches Modell zu entwerfen suchen; auch sie müssen einerseits die Eigenschaften ihres Materials, andererseits die erwünschte Leistung oder Wirkung des Modells oder Gebäudes berücksichtigen. Worin besteht nun die im Titel genannte Methode Leonardos? Diese Frage wird in der Forschungsliteratur kaum ausdrücklich gestellt, offenbar weil sie nicht als problematisch betrachtet wird; aber sie ist keineswegs ganz einfach zu beantworten. Der Essay bietet mindestens zwei Bestimmungen dieser Methode an: Einerseits scheinen manche Stellen zu besagen, Leonardos Methode bestehe in der Beobachtung, Analyse und bewussten Kontrolle seiner mentalen Abläufe, in der „conscience des opérations de la pensée“ (1161); auch ein späterer Selbstkommentar Valérys weist in diese Richtung.310 Eine zentrale Passage aber hebt das analogische und metaphorische Verfahren als Grundprinzip von Leonardos Methode hervor (vgl. 1193). Diese zwei Beschreibungen sind freilich nicht unvereinbar; man kann den Text so verstehen, dass zu Leonardos Methode erstens die Analyse und Kontrolle der Denkoperationen gehöre und zweitens die Nutzung dieses selbstreflexiven und kontrollierten Denkens _____________ 310 „Ce que j’ai appelé constamment méthode de Léonard – c’est le gouvernement (non tant de la pensée) que de ses éléments.“ (C Pl. I, S. 250 / C facs. VII, S. 489 [1919-1920])
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zur Auffindung von Analogien, von Bildern, die sich als Bindeglieder zwischen disparaten Phänomenbereichen eignen. Auch wenn hier also nicht unbedingt eine Inkonsistenz vorliegt, kann diese leichte Unentschiedenheit des Textes doch als signifikant gewertet werden, da sie auf eine Unklarheit in der von Valéry präsentierten Theorie hinweist: Valéry vertrat die Auffassung, dass die bewusste Wahrnehmung der mentalen Inhalte als mentaler Inhalte und die damit verbundene ‘Homogenisierung’ all dieser Inhalte eine wesentliche Voraussetzung für intellektuelle Leistungen schaffe und weitreichende Erkenntnisse und Entdeckungen ermögliche; dabei neigte er gelegentlich dazu, diese Übersetzung aller Inhalte in das gemeinsame Maß der ‘mentalen Phänomene’ als den allein entscheidenden Schritt bei intellektuellen Anstrengungen darzustellen, nach dem alles Weitere sich gleichsam von selbst vollziehe (vgl. 1183, 1185f., 1191f.). Andere Passagen der Introduction dagegen scheinen eher zu besagen, dass diese Homogenisierung nur der erste Schritt ist und dass der eigentlich entscheidende Vorgang in dem Analysieren, Vergleichen und Kombinieren der mentalen Bilder liegt, das im Erfolgsfall zur Entdeckung bisher unbekannter Ähnlichkeiten, Beziehungen und Implikationen führt (vgl. 11601162). 3.1.3. Die Introduction als Umsetzung der beschriebenen Methode Die Introduction beschreibt und erläutert nicht nur eine Methode, sie präsentiert sich zugleich selbst als ein Beispiel für ihre praktische Anwendung. Der Essay ist somit durch eine spezifische Form der Reflexivität oder Selbstreferentialität gekennzeichnet, durch eine Strategie der Selbstillustration oder -exemplifikation. Im Text lassen sich mithin durchgehend zwei Ebenen unterscheiden: Auf der einen Ebene spricht das Ich über eine spezielle Methode der künstlerischen oder wissenschaftlichen Problembewältigung, auf einer anderen Ebene zeigt sich der Text selbst als ein Ergebnis der Umsetzung dieser Methode. Der Sprecher selbst weist gelegentlich auf diesen Doppelaspekt bzw. diese Reflexivität seines Diskurses hin, etwa wenn er die Methode Leonardos als „cette méthode qui va nous occuper et nous servir“ bezeichnet (1155).311 _____________ 311 Vgl. auch 1196; nachdem der Sprecher auf die Ähnlichkeit zwischen den Verfahren von Physikern wie Faraday und Lord Kelvin und der Methode Leonardos hingewiesen hat, fügt er die Bemerkung hinzu, dass man diese Verfahren auch einsetzen könnte, um „un modèle de la continuité des opérations intellectuelles d’un Léonard de Vinci“ zu entwerfen. – Auf diese reflexive und selbstillustrative Struktur der Introduction weist auch Jallat vielfach hin; so spricht sie einmal von „les théories valéryennes dont l’Introduction est à la fois le premier énoncé public et la pratique effective“ (Jallat, Figure de Léonard, S. 8f.); vgl. auch ebd., S. 111 („Cet objet exemplaire qui fait miroir à sa propre théorie [...]“), 153f. Vgl. ferner dies.,
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Dieses Verfahren der Selbstillustration wird im Essay selbst wieder auf verschiedene Weisen und auf mehreren Ebenen praktiziert. Mindestens die folgenden drei Ausprägungen lassen sich unterscheiden: (1) Am wichtigsten ist zweifellos die Parallele zwischen der vom Sprecher beschriebenen Methode Leonardos und seinem eigenen Vorgehen, das sich in der Makrostruktur des Essays niederschlägt. Die Methode Leonardos dient dem Zweck, zwischen Phänomenen, die gänzlich disparat oder heterogen zu sein scheinen, eine Kontinuität herzustellen oder zu entdecken. Sie leistet dies, indem sie ein Bild hervorbringt, das als Metapher, Analogie oder Modell wesentliche Eigenschaften der distinkten Phänomene einzufangen vermag und so als eine „relation mentale concrète“ zwischen ihnen fungieren kann (1193). Eben dieses Verfahren wendet auch der Sprecher der Introduction selbst an, der sich ebenfalls mit der Aufgabe konfrontiert sieht, scheinbar disparate Phänomene in einen kontinuierlichen Zusammenhang zu bringen, also verständlich zu machen, wie die zahlreichen und vielfältigen Meisterwerke Leonardos von einem einzelnen Menschen hervorgebracht werden konnten. Um diese Aufgabe zu lösen, entwickelt er ein anschauliches ‘Bild’312, nämlich ein Bild des menschlichen Geistes, der sinnlichen Wahrnehmung und der Welt mit ihren Zonen der Regelmäßigkeit und der Unordnung. Dieses Bild soll nachvollziehbar machen, wie aus den Wahrnehmungen und dem mentalen ‘inneren Drama’ eines außergewöhnlichen Individuums verschiedenartigste Werke künstlerischer, technischer und wissenschaftlicher Art hervorgehen können. Diesen explanatorischen Ertrag des in der ersten Texthälfte entworfenen Bildes oder Modells suchen der Mittelteil und die zweite Hälfte des Essays zu demonstrieren, indem sie aufzeigen, dass dieses Modell eine Verbindung zwischen den verschiedenen Bereichen von Leonardos Schaffen – Kunst, Wissenschaft und Technik – herzustellen vermag. Und wie die Methode Leonardos distinkte Phänomene nicht durch Rückführung auf allgemeine Gesetze, sondern mithilfe eines als Analogie oder Metapher funktionierenden Bildes, einer „relation mentale concrète“, in Bezug zueinander setzt, so erzeugt der Sprecher die Verbindungen zwischen den Partien seines Diskurses nicht primär über explizite Aussagen, sondern indem er in vielfältigen thematischen Kontexten auf dieselben zentralen Begriffe und Metaphern rekurriert und unterschiedliche Prozesse und Strukturen so beschreibt, dass die Ähnlichkeiten zwischen ihnen hervortreten. (2) Darüber hinaus weist der Aufbau des Textes eine Fülle von _____________ Introduction, S. 326-330, 371-374. Jallat liefert aber keine systematische Untersuchung der verschiedenen Aspekte dieser Strategie der Selbstillustration; daher scheint es mir sinnvoll, diese im Folgenden etwas detaillierter zu analysieren. 312 Zu Beginn des Textes beschreibt der Sprecher die Leistung, die zur Lösung des gegebenen Problems erforderlich ist, eben als die Produktion einer „image décisive“ (1154).
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Symmetrien, Parallelismen und Kontrastbeziehungen zwischen den Abschnitten auf; auch dieser Aspekt der Schreibweise kann als eine praktische Umsetzung der Methode Leonardos verstanden werden, insofern er den Text insgesamt als ein Ornament, eine regelmäßige Figur, erscheinen lässt und somit als eine Konstruktion von der Art, wie sie Leonardo als „relation mentale concrète“ zwischen heterogenen Phänomenen dient. (3) Zu den mentalen Operationen, mit deren Hilfe Leonardo Bilder transformiert und variiert, um neue Beziehungen zwischen ihnen zu entdecken, gehört unter anderem die Verwandlung von stabilen Formen in Bewegungen und vice versa, also etwa die Übersetzung der Bewegung eines fliegenden Körpers in eine geometrische Figur. Dieser Aspekt von Leonardos „logique imaginative“ wird durch den Stil einiger Passagen illustriert, insbesondere durch die Art und Weise, in der im Mittelteil des Essays Leonardos vielfältige schöpferische Tätigkeiten beschrieben werden. – Diese drei Facetten der selbstillustrativen Schreibweise der Introduction seien im Folgenden noch etwas ausführlicher untersucht. Zu dem ersten dieser Punkte: Achtet man darauf, wie die Beziehung zwischen den Partien der Introduction gestaltet wird, so fallen einem zunächst weniger die Verbindungen als die Brüche zwischen den Teilen auf. Verschiedene stilistische Mittel betonen den relativ eigenständigen Charakter der einzelnen Textpartien, die teilweise wie geschlossene Kurzabhandlungen zu den Themen von Wahrnehmung, Ornament und Architektur erscheinen. So beginnen die Teile häufig abrupt mit allgemeinen, oft apodiktisch formulierten Feststellungen, in denen sich der Anspruch auszudrücken scheint, das betreffende Phänomen in prinzipieller und definitiver Weise zu erfassen und aufzuklären: „Intérieurement, il y a un drame.“ (1158) „L’observateur est pris dans une sphère qui ne se brise jamais; [...].“ (1167) „Le monde est irrégulièrement semé de dispositions régulières.“ (1172) „Il y a dans l’art un mot qui peut en nommer tous les modes, toutes les fantaisies [...]: c’est ornement.“ (1184) Außerdem unterscheiden sich die Partien des Essays in stilistischer Hinsicht sehr stark: Auf die Erörterungen über Wahrnehmung und geistige Operationen mit ihrem vergleichsweise abstrakten Vokabular und ihrem theoretischen und systematischen Duktus folgt die Mittelpartie, die mit einem konkreten Wortschatz und in stark rhythmisierten, dynamischen Sätzen ein anschauliches Tableau von Leonardos Kreationen entfaltet. Die Ausführungen der zweiten Hälfte haben wieder den Charakter grundsätzlicher, teilweise theoretischer und abstrakter Erörterungen, sind aber mit vielen konkreten Beispielen durchsetzt; außerdem enthalten die Abschnitte über Konstruktion und Architektur einige Passagen, die durch weit ausholende und sorgfältig
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ausbalancierte Perioden im klassischen ‘style oratoire’ geprägt sind313 und in denen sich Enthusiasmus und Bewunderung des Sprechers auszudrücken scheinen. In den Notizen zur Konzeption der Introduction findet sich die Bemerkung: „constructions par fragments hétérogènes.“314 Die eben genannten stilistischen Mittel heben diese Heterogenität der einzelnen Teile hervor und verdeutlichen auf diese Weise, dass es ganz unterschiedliche Bereiche menschlicher Erfahrung und Aktivität sind, zwischen denen der Sprecher eine kontinuierliche Verbindung herzustellen hat. Diese Verbindungen zwischen den Partien und den in ihnen behandelten Bereichen menschlicher Tätigkeit werden auf verschiedene Weisen realisiert. Eine vergleichsweise geringe Rolle spielen dabei Aussagen, die ausdrücklich das Modell der geistigen Operationen zu den Tätigkeiten des Architekten, Malers oder Wissenschaftlers in Beziehung setzen und somit explizit erklären, wie aus denselben intellektuellen Verfahren sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische Werke hervorgehen können. Der Sprecher stellt diese Verbindungen überwiegend auf eher indirekte Weise her, indem er die in den verschiedenen Sektionen behandelten Phänomene und Prozesse so beschreibt, dass sich bestimmte Ähnlichkeiten zwischen ihnen aufdrängen, ohne aber explizit auf sie hinzuweisen. So sind die Partien über die geistigen Vorgänge, über die Konstruktion und das Ornament durch die Begriffe der „homogénéité“, „continuité“ und der „commune mesure“ miteinander verbunden: Die bewusste Beherrschung der mentalen Operationen, die für Leonardos Methode konstitutiv ist, setzt voraus, dass das Subjekt die Gleichartigkeit oder Homogenität wahrnimmt, die alle mentalen Bilder qua mentale Bilder charakterisiert (vgl. 1161f.); um irgendeine Konstruktion zu errichten, ist es notwendig, eine Homogenität oder ein gemeinsames Maß zwischen allen involvierten Materialien zu entdecken (vgl. 1183); ein Ornament verbindet verschiedenartige Elemente zu einer Ordnung, die sich einiger gemeinsamen Eigenschaften dieser Elemente bedient und die übrigen vernachlässigt, die also wiederum auf einer „commune mesure“ ihrer Bestandteile beruht (vgl. _____________ 313 Vgl. etwa den folgenden Satz aus dem Abschnitt über die Architektur: „Qu’on remarque autour de soi de quelles façons différentes l’espace est occupé, c’est-à-dire formé, concevable, et qu’on fasse un effort vers les conditions qu’impliquent, pour être perçues, avec leurs qualités particulières, les choses diverses, une étoffe, un minéral, un liquide, une fumée, on se s’en donnera une idée nette qu’en grossissant une particule de ces textures et en y intercalant un édifice tel que sa simple multiplication reproduise une structure ayant les mêmes propriétés que celle considérée ...“ (1191) Den zwei Konditionalsätzen „Qu’on remarque [...]“ und „qu’on fasse [...]“ stehen im anschließenden Hauptsatz zwei Gérondif-Konstruktionen „en grossissant“ und „en y intercalant“ gegenüber, wobei jeweils das zweite Glied länger als das erste ist. – Zu der „éloquence classique“ als einer Stilvariante in Valérys Prosa vgl.: Ernst Bendz, Paul Valéry et l’art de la prose. Göteborg 1936, S. 165-173; zu Beispielen für diesen Stil in der Introduction vgl. ebd., S. 167f. 314 Vgl. Jallat, Figure de Léonard, S. 871.
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1185). Außerdem beschreibt der Sprecher in verschiedenen Abschnitten, wie elementare Leistungen und Phänomene vervielfältigt, vergrößert oder beschleunigt werden; so sind die Sektionen über die intellektuellen Operationen, über die Wahrnehmung, über die Konstruktion und die Architektur verknüpft durch Ausdrücke wie „précipiter“ (1162), „agrandir“ (1171, 1182), ‘grossir’ und „multiplication“ (1191). Auffälliger und wichtiger als diese eher abstrakten Ähnlichkeiten, die durch den Gebrauch semantisch verwandter Wörter hervorgehoben werden, ist der durchgängige Rekurs des Sprechers auf Ausdrücke aus einigen zentralen Wortfeldern, die sich wie Leitmotive durch den gesamten Text ziehen und dabei teils metaphorisch, teils wörtlich gebraucht werden. Eine besonders große Bedeutung kommt dabei räumlichen Ausdrücken wie „espace“, „étendue“, „milieu“ und „lieu“ sowie dem Wortfeld des Sehens („voir“, „vision“)315 zu. Der Sprecher bedient sich räumlicher Bilder nicht nur in verschiedenen Partien, sondern auch auf verschiedenen Ebenen seiner Ausführungen, nämlich sowohl in den meta-diskursiven Äußerungen, in denen er über seine Problemstellung und sein Vorgehen spricht, als auch in den Analysen des Geistes und der konstruktiven Tätigkeiten in Kunst und Wissenschaft, mit denen er seine Aufgabe zu lösen sucht. In der Eingangspassage nutzt der Sprecher die Metapher einer unübersehbaren Fläche, um das Problem zu charakterisieren, das ein so umfangreiches und vielseitiges Gesamtwerk wie dasjenige Leonardos für den heutigen Betrachter aufwirft: „D’une extrémité de cette étendue mentale à une autre, il y a de telles distances que nous n’avons jamais parcourues“ (1154)316 Dieses Bild wird gleich darauf durch ein anderes ergänzt: Wir können nicht den kontinuierlichen Zusammenhang zwischen den vielfältigen Werken eines Genies wie Leonardo erkennen, insofern entzieht es sich uns ebenso wie die ‘formlosen Raumfetzen zwischen den vertrauten Objekten’, „ces informes haillons d’espace qui séparent des objets connus, et traînent au hasard des intervalles“ (ebd). Die Metaphorik, die dieser Eingang etabliert, zieht sich durch den ganzen Essay; an mehreren Stellen wird der Erwerb von Erkenntnissen durch das Bild der Ausdehnung einer Fläche ausgedrückt. So stellt der Sprecher einmal grundsätzlich fest: „Le sûr est que toutes les spéculations ont pour fondement et pour but _____________ 315 Vgl. zum Thema des Sehens in Valérys Beschäftigung mit Leonardo: Brian Stimpson, ‘L’œil affiné au dedans’. In: Vogel (Hg.), Valéry et Léonard, S. 127-140. 316 Unmittelbar zuvor wurde auch die Existenz und Aktivität eines „homme ordinaire“ anhand eines räumlichen Bildes beschrieben, eben als ein zusammenhängender, überschaubarer, leicht auszumessender Raum: „Aisément, nous nous représentons un homme ordinaire: de simples souvenirs en ressuscitent les mobiles et les réactions élémentaires. Parmi les actes indifférents qui constituent l’extérieur de son existence, nous trouvons la même suite qu’entre les nôtres; nous en sommes le lien aussi bien que lui, et le cercle d’activité que son être suggère ne déborde pas de celui qui nous appartient.“ (1153)
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l’extension de la continuité à l’aide de métaphores, d’abstractions et de langages.“ (1174)317 Eine besonders prominente Rolle spielen räumliche Ausdrücke dann – unvermeidlicher Weise – in dem Abschnitt über die Architektur, wo sie nicht metaphorisch, sondern im wörtlichen Sinne eingesetzt werden. Der Grundgedanke dieses Abschnitts lautet, dass architektonische Konstruktionen den von ihnen ausgefüllten Raum ‘interpretieren’, dass sie Hypothesen über die Natur des Raums verkörpern (vgl. 1190f.).318 Als der Sprecher etwas später die Verwandtschaft zwischen der Methode Leonardos und der Denkweise moderner Physiker wie Faraday aufzeigen will, verweist er darauf, dass Leonardo wie Faraday den scheinbar leeren Raum zwischen den Körpern als angefüllt mit Kraftlinien betrachteten; Leonardos Satz „L’aria e piena d’infinite linie rette e radiose [...]“ (1192) erhält ein Echo in James Clerk Maxwells Aussage über Faraday: „‘Faraday voyait, par les yeux de son esprit, des lignes de forces traversant tout l’espace où les mathématiciens voyaient des centres de force s’attirant à distance; Faraday voyait un milieu où ils ne voyaient que la distance.’“ (1195)319 Und wie der Sprecher zu Beginn seines Gedankengangs das Problem, mit dem er sich konfrontiert sieht, in die Bilder einer unüberschaubaren Fläche und unzusammenhängender Raumfetzen fasst, so markiert er den erfolgreichen Abschluss seines Unternehmens, indem er einen Ort evoziert, eine strahlende Ebene, wo sowohl die reinen, ins sfumato getauchten Gesichter der Gemälde Leonardos als auch seine mechanischen Theorien und seine technischen Apparate entstehen: Je vois Léonard de Vinci approfondir cette mécanique, qu’il appelait le paradis des sciences, avec la même puissance naturelle qu’il s’adonnait à l’invention de visages purs et fumeux. Et la même étendue lumineuse avec ses dociles êtres possibles, est le lieu de ces actions qui se ralentirent en œuvres distinctes. [1198]
Für das Wortfeld des Sehens ließe sich Ähnliches feststellen wie für die räumlichen Ausdrücke. In wörtlichem Sinne werden die Verben „voir“ und „regarder“ in dem Abschnitt über die visuelle Wahrnehmung in der ersten Hälfte des Essays verwendet (vgl. 1167-1169). Aber auch die Beo_____________ 317 Vgl. auch 1182: „[...] l’étendue spirituelle qu’illumine le fait conscient de construire“. 318 Da ein Gebäude sowohl den Gesetzen der Geometrie und der Statik als auch den Eigenschaften der verwendeten Materialien und den Bedingungen der geographischen Umgebung Rechnung tragen muss, vereinigt es sogar verschiedene Interpretationen des Raums in sich und erlaubt es so, kontinuierlich von einer Domäne des menschlichen Wissens und Produzierens zur nächsten überzugehen (vgl. 1188f., 1191f.). 319 Der Ausdruck „milieu“ ist in dem Text bereits in verschiedenen Abschnitten aufgetaucht: Der Geist des Individuums, in dem sich die mentalen Bilder bewegen, ablösen und verbinden, kann als ein „milieu“ aufgefasst werden (1159f.); die Außenwelt, die von einem Menschen wahrgenommen wird, bildet ein „milieu“ (1164); der Raum, den ein Gebäude ausfüllt, bildet ein „milieu“, dessen Eigenschaften eben von den Eigenschaften des Gebäudes abhängen (1191).
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bachtung der mentalen Abläufe und Bilder, die „conscience des opérations de la pensée“ (1161), wird vom Sprecher als ein Sehen und ein Aufnehmen von „des visions“ (1159) dargestellt. In der zweiten Hälfte geht es in den Abschnitten über die Malerei und die Architektur zunächst wieder um das Sehen im wörtlichen Sinne. Der entscheidende metaphorische Gebrauch der Ausdrücke des Sehens, der durch diese Verwendungen vorbereitet wird, erfolgt dann in den Passagen über die moderne Physik und über die Rolle, die konkrete Modelle und Analogien und somit die Methode Leonardos in ihr spielen: Faraday und Leonardo sahen gleichsam die Strukturen, mit deren Hilfe sie rätselhafte Phänomene mit bekannten in Beziehung setzen konnten; so heißt es über Faraday: „Lui aussi voyait des systèmes de lignes unissant tous les corps, remplissant tout l’espace, pour expliquer les phénomènes électriques et même la gravitation [...].“ (1194)320 – Es ließen sich noch weitere Ausdrücke nennen, die sich durch den ganzen Essay ziehen und seine verschiedenen Teile miteinander verbinden; besonders wichtig sind die Wort „imaginer“ und „imagination“, „formations“, „figure“ und „se figurer“, „problème“ und „conditions“. Die Verbindung thematisch heterogener Textsegmente mithilfe eines Sets von ‘leitmotivisch’ verwendeten Begriffen und Bildern stellt eines der charakteristischsten Schreibverfahren der Introduction dar und bildet den wichtigsten Aspekt der selbstillustrativen Struktur dieses Textes. Als zweite Ausprägung dieser Strategie der Selbstillustration wurden oben die Parallelismen, Symmetrie- und Kontrastbeziehungen zwischen Textpartien genannt, die den Essay insgesamt zu einer Art von Ornament machen. So schildert die erste Hälfte des Essays in allgemeiner Weise die elementaren Prozesse des Denkens und Wahrnehmens; die zweite Hälfte widmet sich verschiedenen spezifischen Gebieten, auf denen diese geistigen Verfahren – in sehr komplexer, hochentwickelter Ausprägung – angewendet werden, also etwa Malerei, Architektur, Physik. Diese Aufeinanderfolge des Allgemeinen und Elementaren sowie des Spezifischen und Komplexen wiederholt sich innerhalb der zweiten Hälfte des Essays, wo zunächst von der Tätigkeit des Konstruierens und dem Prinzip des Ornaments im Allgemeinen gehandelt wird, bevor dann Malerei, Architektur und Physik als spezifische Arten der Konstruktion oder des Ornaments diskutiert werden. Ferner gibt es Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen einzelnen Abschnitten der ersten und zweiten Hälfte des Essays, namentlich zwischen dem Abschnitt über das innere ‘Drama’ der mentalen Vorgänge (B1) und dem Passus über das Konstruieren (E1) sowie ferner zwischen den Ausführungen über die „dispositions régulières“ in der Welt (C) und dem _____________ 320 Vgl. auch 1195: „La précision de plus en plus grande demandée à la figuration des modes de l’énergie, la volonté de voir, et ce qu’on pourrait appeler la manie cinétique, ont fait apparaître des constructions hypothétiques d’un intérêt logique et psychologique immense.“
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Abschnitt über das Ornament (E2):321 Mit dem Ausdruck ‘Ornament’ bezeichnet der Sprecher die Wesensart der vom Menschen hervorgebrachten Instanzen von Regelmäßigkeit und Ordnung, während die „dispositions régulières“ die in der Welt vorgefundenen Instanzen von Ordnung darstellen. Diese Relationen zwischen den Teilen des Essays lassen den Text selbst als eine Figur und als eine Art von Ornament erscheinen, als ein sprachliches Gebilde, dessen Segmente eine komplexe, regelmäßige Ordnung bilden. In dem Notizheft mit Vorüberlegungen und Skizzen zur Introduction bezeichnet Valéry es gleich auf der ersten Seite als sein Ziel, ein „Ornement littéraire“ zu produzieren: Le sujet est: Ornement littéraire destiné à produire l’effet naturel, aisé, d’une vie surtout mentale ayant pour conditions la résolution continuelle de touts les problèmes que présente le monde.322
Zu den Verfahren, mit deren Hilfe Valéry seinem Text ‘ornamentale’ Qualitäten zu geben versuchte, dürften sowohl die durchgehende Verwendung eines Sets von Leitvokabeln („espace“, „lieu“, „voir“) als auch die eben beschriebenen Parallelismen und Spiegelungen zwischen einzelnen Abschnitten gehören. Im Übrigen zeigt sich in diesem Zitat aus dem Notizbuch ausdrücklich Valérys Absicht, zentrale Inhalte der Introduction zugleich durch die Schreibweise des Textes zu exemplifizieren: so auch den Begriff des Ornaments. Die dritte der oben genannten Ausformungen des Verfahrens der Selbstillustration besteht darin, dass einzelne Abschnitte des Textes in ihrem Stil bestimmte Aspekte der Methode Leonardos veranschaulichen. Für einen Geist wie den Leonardos, so der Sprecher, ist unter anderem ein immenser Reichtum an mentalen Bildern und eine außergewöhnliche Geschicklichkeit im ‘Bearbeiten’ dieser Bilder kennzeichnend; Leonardo vermag die sinnlichen Eindrücke, die er gespeichert hat, nach Belieben zu zerlegen und zusammenzusetzen, er kann wahrgenommene Bewegungen beschleunigen und verlangsamen, auf der Skala der Abstraktion nach oben oder unten steigen, feste geometrische Formen in Bewegungen übersetzen und vice versa (vgl. 1174-1176). Einige dieser Leistungen seines Intellekts und seiner Wahrnehmung erhalten eine anschauliche Illustration in der stilistischen und rhetorischen Gestaltung jenes Abschnitts in der Mitte des Essays, der Leonardos unerschöpfliche Kreativität feiert und in einer rasanten Abfolge Beispiele seiner technischen und künstlerischen Werke wie seiner wissenschaftlichen Studien vor Augen führt. Der Stil dieser Passage ist geprägt durch lange Aufzählungen, die konkrete Detaileindrücke von _____________ 321 Die Siglen beziehen sich auf das oben vorgeschlagene Schema der Disposition der Introduction. 322 Zitiert nach: Vogel (Hg.), Valéry et Léonard, S. 282; mit kleinen Abweichungen auch in: Jallat, Figure de Léonard, S. 871.
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Landschaften, Lebewesen und Gebäuden aneinander reihen und durch zahlreiche Anaphern und Parallelismen sowie durch einen Wechsel langer und kurzer Sätze einen markanten, dynamischen Rhythmus erhalten. Die folgenden zwei Auszüge lassen diese stilistischen Verfahren besonders deutlich erkennen; bei dem ersten Zitat, das vor allem den Wechsel verschiedener Geschwindigkeiten und die Prozesse der Ausdehnung und Kondensierung veranschaulichen kann, deute ich Parallelismen und Symmetrien durch die typographische Anordnung der Sätze und Satzteile sowie durch Fettdruck strukturierender Wörter an: Des précipitations ou des lenteurs simulées par les chutes des terres et des pierres, des courbures massives aux draperies multipliées; des fumées poussant sur les toits aux hêtres gazeux des horizons; des poissons aux oiseaux; des étincelles solaires de la mer aux mille minces miroirs des feuilles de bouleau ; des écailles aux éclats marchant sur les golfes; des oreilles et des boucles aux tourbillons figés des coquilles, il va. Il passe de la coquille à l’enroulement de la rumeur des ondes, de la peau des minces étangs à des veines qui la tiédiraient, à des mouvements élémentaires de reptation, aux couleuvres fluides. Il vivifie. L’eau, autour de lui, il la colle en écharpes, en langes moulant les efforts des muscles. L’air, il le fixe dans le sillage des alouettes en effilochures d’ombre [...]. [1176f.] Il jouit des choses distribuées dans les dimensions de l’espace; des voussures, des charpentes, des dômes tendus; des galeries et des loges alignées; des masses que retient en l’air leur poids dans des arcs; des ricochets, des ponts; des profondeurs de la verdure des arbres s’éloignant dans une atmosphère où elle boit; de la structure des vols migrateurs dont les triangles aigus vers le sud montrent une combinaison rationnelle d’êtres vivants. [1177f.]
Das zweite dieser Zitate illustriert mit seinem Stil verschiedene Grundideen des Essays, die jeweils auch als verschiedene Aspekte der Methode Leonardos aufgefasst werden können. Eine dieser Grundideen lautet, dass in der aktiven und kreativen Wahrnehmung eines Menschen wie Leonardo geometrische Formen und Bewegungen sich gegenseitig ersetzen können; die Bewegung fliegender Vögel lässt sich in eine geometrische Figur übersetzen, wie an die Stelle einer stabilen Form die schnelle und wiederholte Verlagerung eines Gegenstands treten kann (vgl. 1169).323 Diese gegensei_____________ 323 In dem Abschnitt über die Architektur heißt es, dass Stillstand und Bewegung relative Begriffe sind und dass Gebäude nur im Ausnahmefall als unbeweglich erscheinen; sobald
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tige Austauschbarkeit zwischen Formen und Bewegungen wird in dem obigen Zitat vor allem durch die Verben veranschaulicht. Die Wendungen „des dômes tendus“ und „des galeries et des loges alignées“ verleihen den Domen und Galerien einen dynamischen Aspekt, sie schreiben diesen Bauwerken eine Bewegungsrichtung zu; in vergleichbarer Weise heißt es von den Bäumen, dass sie sich entfernen („s’éloignant“). Darüber hinaus verdient die Variation der Verbformen Beachtung; das Partizip Perfekt („distribuées“, „tendus“, „alignées“) wird gefolgt von einer aktiven Präsensform („retient“), einem Partizip Präsens („s’éloignant“) und wiederum aktiven Präsensformen („boit“, „montrent“); diese Abfolge verschiedener Tempora sowie die unterschiedlichen Bewegungsarten, die diese Verben ausdrücken, spannen gleichsam die drei Dimensionen des Raumes auf. Und schließlich kombiniert diese Passage in ihrer Schilderung von Gebäuden, Landschaften und Tieren konkrete und individuelle Ausdrücke mit allgemeinen Begriffen und fächert so unterschiedliche Abstraktionsebenen der Wahrnehmung und Einordnung auf: Die Wendung „des profondeurs de la verdure des arbres“ weist darauf hin, dass eine Gruppe von Bäumen auch als ‘etwas Grünes’ in der Tiefe einer Landschaft gesehen werden kann; die Evokation eines Schwarms von Zugvögeln lässt diesen einerseits als eine Ansammlung von Lebewesen, andererseits als eine Struktur, eine geometrische Figur oder eine „combinaison rationnelle“ erscheinen. Dieses Verfahren einer graduell steigenden Abstraktion stellt eine der wesentlichen Leistungen dar, welche die Methode Leonardos erlaubt bzw. auf denen sie beruht; es wird in der zweiten Hälfte der Introduction auch in theoretischer Weise diskutiert (vgl. 1185f.). Einige Passagen aus der Beschreibung von Leonardos Schöpfungen veranschaulichen also den andernorts vom Sprecher erörterten Gedanken, dass „formes“ und „mouvements“ sich in der Wahrnehmung gegenseitig ersetzen, ineinander umgewandelt werden können. Man kann nun auch in dem Text der Introduction als Ganzem eine anschauliche Demonstration dieser gegenseitigen Konvertierbarkeit von Bewegungen in Formen sehen. Dies soll hier als letztes Beispiel für die selbst-illustrierenden oder -exemplifizierenden Schreibstrategien der Introduction angeführt werden. Die Introduction präsentiert sich einerseits als Darstellung eines Prozesses, eines kognitiven Unternehmens, das mit der Konstatierung eines Problems beginnt und in mehreren Etappen eine Antwort auf dieses Problem entwickelt. Dieser prozessuale Aspekt wird, wie oben festgestellt wurde, in den Meta-Kommentaren des Sprechers mehrfach hervorgehoben. Andererseits präsentiert sich die Introduction, wie oben dargelegt wurde, als eine _____________ wir unsere Position gegenüber einem Tempel verändern, beginnen seine Säulen und Wände sich zu bewegen (vgl. 1190).
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Art von Ornament, als ein statisches Gebilde, eine Konfiguration von Segmenten, die auf vielfältige Weisen, durch Parallelismen und Symmetrien, durch Beziehungen der Komplementarität oder des Kontrasts, miteinander verbunden sind; zu diesen Relationen zwischen den verschiedenen Partien kommen noch die Beziehungen zwischen den Ebenen des Textes hinzu, vor allem zwischen den Ebenen des Aussagegehalts und der rhetorisch-stilistischen Form, die verschiedene Aspekte der explizit formulierten Inhalte veranschaulicht. Die Abschnitte des Essays bilden somit einerseits die Schritte eines sich sukzessive vollziehenden Denkprozesses, andererseits die Bestandteile einer komplexen, aber regelmäßigen Figur. Die Strategie des Sprechers und des Textes kann zusammenfassend wie folgt beschrieben werden: Am Beginn des Textes steht ein Individuum, das sich einem Problem gegenüber sieht, das den Rückgriff auf überliefertes Wissen ablehnt und statt dessen seine eigene, persönliche Hypothese zur Bewältigung des Problems zu entwickeln beginnt. Der Sprecher analysiert zunächst das, was er als die allgemeinsten, elementaren Grundlagen des in Rede stehenden Phänomens betrachtet, charakterisiert dann die zentrale Methode selbst und entfaltet schließlich diverse Anwendungen und Konsequenzen seiner Theorie. Während er diese zielgerichtete und gerade Argumentationslinie verfolgt, produziert er in seinem Diskurs stillschweigend, nebenbei und implizit ein komplexes Muster; er lässt nicht nur die Etappen seines Gedankengangs aufeinander aufbauen, sondern sorgt zugleich dafür, dass sie durch Relationen der Symmetrie, der Wiederholung und des Kontrasts miteinander verbunden sind und aufeinander verweisen. Die Antwort des Sprechers auf sein Ausgangsproblem besteht ebenso sehr in seinem ausdrücklich formulierten Gedankengang wie in diesem Arrangement aus Symmetrien, Parallelismen und Illustrationen. Will man diese Doppelstrategie des Textes mithilfe seiner eigenen Metaphorik charakterisieren, so kann man sagen, dass das Ich zu Beginn eine Region der Welt vor sich hat, die diskontinuierlich, zerstückelt und „informe[ ]“ (1154) ist und sich insofern dem Verständnis entzieht. Im Verlauf seines Denkprozesses legt das Ich eine bestimmte Distanz in dieser Region zurück und konstituiert somit eine zusammenhängende Strecke. Zugleich produziert seine Bewegung durch diese Gegend etwas wie eine ornamentale Figur, eine räumliche Ordnung („figure“, „ordre unique“; 1154); auf diese Weise hat es Diskontinuität und Formlosigkeit durch Kohärenz und Ordnung ersetzt.
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3.1.4. Fazit: Ordnungskonstruktion als Selbstbehauptung Die leitende Absicht des Sprechers der Introduction ist es, viele verschiedene Bereiche menschlichen Wissens und schöpferischen Handelns in einen kontinuierlichen Zusammenhang zu bringen, also zu zeigen, wie ein Mensch sich mühelos zwischen diesen Bezirken bewegen und in allen brillieren kann. Zu diesem Zweck sucht er die Ähnlichkeiten zwischen diesen Tätigkeiten nachzuweisen und sie als mannigfaltige Konkretisierungen einiger grundlegender mentaler Prozesse erscheinen zu lassen. Der Sprecher beschränkt sich nicht darauf, diese Hypothese in theoretischen Aussagen zu formulieren, sondern versucht, sie durch die Verfahrensweise und den Stil seines Diskurses zu illustrieren und zu beglaubigen. Diese Aufgabe stellt für ihn, wie zu Beginn dieser Analyse dargelegt, nicht nur ein sachliches, theoretisches Problem dar, sondern eine Herausforderung an ihn als Person, eine bedrohliche Verunsicherung, gegen die er die „unité“ seines Geistes wiedergewinnen und behaupten muss. Den Impetus seines intellektuellen Unternehmens liefert also nicht zuletzt das Streben des Sprechers nach Selbstbehauptung, sein Wunsch, die Integrität und Potenz seines Geistes zu bestätigen; dieser gleichermaßen defensive wie offensive Ausgangsimpuls tritt zutage in der ‘radikalen’ Grundsätzlichkeit seines bei den elementaren Tatsachen von Wahrnehmung und mentalen Prozessen ansetzenden Vorgehens, in dem latent aggressiven Gestus, mit dem der Sprecher seine Konzeptionen gegen common sense-Ansichten ins Feld führt, sowie in der Konsequenz, mit der er die disparaten Gegenstände und die verschiedenen Ebenen seines Diskurses in eine geschlossene, ‘ornamentale’ Figur integriert. In dem 25 Jahre nach der Introduction entstandenen Nachtrag Note et digression bekannte Valéry, er habe in seinem ersten Leonardo-Essay seine eigenen Probleme, Unruhen und Begierden dem Renaissance-Genie zugeschrieben und sie in seine Leistungen, Errungenschaften und Fähigkeiten verwandelt.324 Zu diesen Problemen, die den jungen Valéry umtrieben und deren Bewältigung er seinem Helden auftrug, gehörte offenbar auch und insbesondere die Frage nach den Verbindungen zwischen den verschiedenen Bereichen theoretischer und praktischer Anstrengungen des Menschen, zwischen den Gebieten von Wissenschaft, Kunst und Technik. Valéry befasste sich in den Jahren nach der Krise von 1892 mit einer verwirrenden Vielzahl von Disziplinen, Themen und Forschungsfeldern; er unterrichtete sich im Privatstudium über diverse Gebiete der Physik, Mathematik und Wissenschaftstheorie wie über Kunstgeschichte und neuere Ansätze der Ästhetik. Dabei dürfte er nicht das Ziel verfolgt haben, sich _____________ 324 Vgl. Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1232.
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zum Experten in diesen Bereichen auszubilden, sondern vor allem die Fähigkeit angestrebt haben, sich zwischen diesen Regionen frei zu bewegen. Als er den Auftrag erhielt, einen Aufsatz über Leonardo da Vinci zu schreiben, deutete er diese „‘commande’“325 für sich um in die Aufgabe, eine Hypothese über die kontinuierliche Verbindung zwischen den zahlreichen Betätigungsfeldern des großen Künstlers und Wissenschaftlers zu entwerfen, den „seul moteur“ (1154) hinter den vielfältigen Werken zu konstruieren. In den Gedankengang, in dem er diese Hypothese aufstellte und rechtfertigte, nahm er viele der Disziplinen, Theorien und Konzepte, mit denen er sich in den vorangegangenen Jahren befasst hatte, als Exempel und Illustrationen auf: Poincarés Theorie über das Wesen des mathematischen Denkens, Faradays, Maxwells und Lord Kelvins Gebrauch physikalischer Analogien, die Theorien des Ornaments von Owen Jones und anderen Autoren, Edgar Allan Poes Ideen über die Psychologie der Produktion und Rezeption von Kunstwerken. Die Integration und Verknüpfung vieler verschiedener Wissensbereiche und Disziplinen ist ein typisches Merkmal wenn auch nicht der Gattung ‘Essay’ überhaupt, so doch einer bestimmten Spielart des Essays. Eine solche ausdrücklich angestrebte Interdiskursivität bildet auch einen Grundzug der deutschsprachigen Essayistik um 1900, wo sie vielfach als ein Therapeutikum gegen die Zersplitterung der modernen Kultur aufgefasst und kultiviert wurde: Im Essay wurden „Denk-, Rede- und Schreibverfahren erprobt, durch die sich unterschiedliche Wissensdisziplinen und Lebensformen in einen wie auch immer gearteten Sinnzusammenhang bringen ließen.“326 Auch die Argumentations- und Schreibstrategie der Introduction ließe sich als hochgradig interdiskursiv qualifizieren; doch sie ist nicht primär mit einer gegenwartskritischen Diagnose und dem Ziel einer Überwindung moderner Kulturzerklüftungen verbunden, sondern entspringt der Ambition eines Einzelnen, die Integrität und Spannweite seines Intellekts gegenüber der disparaten Vielheit der Phänomene und der Theorien zu behaupten. Dem Sprecher – und wohl auch dem Verfasser – der Introduction geht es nicht um die Ganzheit der Kultur, sondern um die Einheit seines Geistes. Allerdings kommt Valérys Text den kulturkritischen Tendenzen der zeitgenössischen Essayistik zumindest nahe, wo er als einen Gegner dieser Einheit des individuellen Geistes das moderne Spezialistentum ins Auge fasst: So heißt es einmal über Leonardo, den „homme universel“ (1175), er sei „fait pour désespérer l’homme moderne qui est détourné dès l’adolescence, dans une spécialité où l’on croit qu’il doit devenir supérieur parce qu’il y est enfermé [...].“ (1179f.) Wenngleich _____________
325 Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1200 (Marginalie). 326 Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann, Vorwort. In: W. B. / K. K. (Hg.), Essayismus um 1900, S. VII-XI, Zitat S. X.
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somit ein gegenwartskritisches Moment in dem Essay enthalten ist, richtet sich doch die primäre Absicht des Sprechers und des Autors nicht darauf, modernen Fehlentwicklungen entgegenzusteuern und auf die Überwindung gesellschaftlicher und kultureller Spaltungen hinzuwirken. Die geschlossene Ordnung, zu der im Text Elemente aus unterschiedlichen Wissensbereichen zusammengefügt werden, geht aus dem voluntaristischen Akt eines Individuums hervor, sie ist idiosynkratischen Ursprungs, und sie soll nach dem Willen ihres Schöpfers ihre Überzeugungskraft nicht zuletzt aus den ästhetischen und formalen Qualitäten ihrer komplexen inneren Struktur gewinnen. Als ein Vorbild für das Verfahren der ‘interdiskursiven’ Integration heterogener Wissenskomplexe wie für die Verbindung von theoretischer Erörterung mit ästhetischer Gestaltung dürfte Valéry insbesondere Poes Eurêka betrachtet haben. Der Sprecher der Introduction stellt sich zu Beginn eine ehrgeizige Aufgabe, er entwickelt zielstrebig und selbstbewusst seine Hypothese und konstatiert an verschiedenen Stellen die erfolgreiche Beendigung von Teilabschnitten seines Unternehmens (vgl. 1160, 1175, 1181, 1196); wenn er den letzten Absatz seines Diskurses mit den Worten „Je vois Léonard de Vinci [...]“ beginnt, so deklariert er damit seine Bemühungen um eine (Re-)Konstruktion des genialen Erfinders und seiner Methode als am Ziel angekommen, und aus der Emphase der Schlusssätze, der Evokation Leonardos und dem Zitat seiner Vision des fliegenden Menschen, kann man neben der Begeisterung für Leonardo und seine „suprême vie spirituelle“ (1198) auch die Befriedigung und das Triumphgefühl des Sprechers angesichts seiner eigenen Leistung heraushören. Aber wie erfolgreich ist das Projekt des Sprechers wirklich, wie überzeugend die von ihm entfaltete Hypothese? Für Jeannine Jallat wird der vom Sprecher behauptete Erfolg im Text selbst auf verschiedene Weisen fragwürdig gemacht, konterkariert oder untergraben. Die Frage nach dem Ursprung der Figuren bleibe ungeklärt und hinterlasse eine Leere, die der Sprecher vergeblich zu füllen versuche327; vor allem aber bringe sich in der „écriture“ verschiedener Passagen immer wieder etwas zur Geltung, das sich dem theoretischen Diskurs, der Einordnung und der Reduktion auf eine Figur entzieht und das sprechende Subjekt zugleich verunsichert und verführt328: „l’informe ou la poésie“329, die mit dem Körper und dem Begehren verbündet sind und die als eine „force“330 die Geometrie der Figuren aufbrechen. Die Auseinandersetzung mit diesen Thesen Jallats wird dadurch erschwert, dass sie von ihr häufig in einer stark metaphorischen und indirekten Ausdrucksweise for_____________ 327 328 329 330
Vgl. Jallat, Introduction, S. 108, 383f.; dies., Figure de Léonard, S. 171f. Vgl. Jallat, Introduction, S. 371-381; dies., Figure de Léonard, S. 658-673. Jallat, Introduction, S. 386. Ebd., S. 390; vgl. auch ebd., S. 380.
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muliert werden und sich nur bedingt auf explizite Argumentationen stützen; dass bestimmte stilistische Eigenheiten der Ausdruck einer „force“ oder einer ambivalenten Faszination durch das „informe“ seien, wird weniger begründet als autoritativ behauptet. Unter den von Jallat zugrunde gelegten, wenn auch leider kaum ausdrücklich genannten theoretischen Voraussetzungen, die unter anderem auf Derrida und Lacan zurückgehen, mag ihre Interpretation gleichwohl im Großen und Ganzen stimmig erscheinen. Die folgenden Punkte seien dennoch kritisch gegen Jallats Deutung angemerkt: Ob die Tatsache, dass der Sprecher der Introduction keine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Figuren gibt, als ein Scheitern zu werten ist und die im Essay entwickelte Konzeption in Frage stellt, scheint mir sehr zweifelhaft, denn die Klärung dieser Ursprungsfrage gehört nicht zu den erklärten Absichten des Sprechers und bildet auch keine notwendige Voraussetzung seiner zentralen Hypothese über die Methode Leonardos. Außerdem behauptet der Sprecher in seinen theoretischen Ausführungen nirgends, dass sich der Bereich des „informe“, des Formlosen, Unregelmäßigen und Uneindeutigen, restlos beseitigen und auf regelmäßige Ordnungen zurückführen lasse; ebenso wenig bestreiten seine Erörterungen die Existenz und die faszinierende oder bedrohliche Macht der Poesie, des Körpers oder der Sinnlichkeit. Auch wenn man also in der „écriture“ des Essays die Manifestation einer solchen Versuchung durch das ‘Andere’ der Figuren, das Formlose und die Poesie entdecken können sollte, so ergibt sich daraus noch nicht ein Widerspruch zu den ausdrücklichen, ‘offiziellen’ theoretischen Aussagen des Textes. Das soll nicht heißen, dass man der Erfolgsdeklaration des Sprechers der Introduction zustimmen und seine Hypothese als gänzlich überzeugend betrachten müsse. Seine Ausführungen scheinen auch mir problematische und unbefriedigende Züge aufzuweisen, doch diese sind anderer Art als die von Jallat genannten. So könnte man bei einigen Teilen der Argumentation kritisch nachfragen, wie gehaltvoll und aufschlussreich die in ihnen entwickelten Thesen sind. Die Auskunft etwa, dass die Vielzahl und die Mannigfaltigkeit von Leonardos Werken sich unter anderem der außergewöhnlichen Größe seines Reservoirs an mentalen Bildern und seiner Virtuosität im Analysieren und Kombinieren dieser Bilder verdankten (vgl. 1175f.), könnte als ans Triviale grenzend kritisiert werden; die Aussagekraft dieser These reduziert sich weitgehend darauf, dass sie die Grundlage von Leonardos Schöpfertum nicht in Eingebungen der Inspiration, sondern in souveräner Technikbeherrschung verortet. Gehaltvoller als diese allgemeinen Aussagen über die Ressourcen eines Geistes wie desjenigen Leonardos ist die These, dass die Methode da Vincis ebenso wie die moderner Physiker wie Faradays und Lord Kelvins auf Verfahren der Analogie oder der Metaphernbildung beruhe. Doch die Art und Weise, in der
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diese These oder Hypothese entwickelt wird, lässt Fragen offen. Der Kern der Methode Leonardos, so heißt es, bestehe in der Produktion eines Bildes, das als konkrete Verbindung zwischen den Bildern unterschiedlicher Phänomene fungieren kann (vgl. 1193); doch erstens teilt der Sprecher nichts darüber mit, wie man diese verbindenden, analogisch oder metaphorisch funktionierenden Bilder findet, und zweitens bleibt der Status dieser Bilder beziehungsweise der durch sie verkörperten Ähnlichkeiten zwischen anderen Bildern ungeklärt: Besteht eine Garantie dafür, dass den Ähnlichkeiten zwischen den mentalen Bildern auch Ähnlichkeiten zwischen den realen Phänomenen entsprechen? Woher kann man wissen, ob die in dem Verbindungsbild verkörperten, immer nur partiellen Ähnlichkeiten zwischen den Phänomenen bzw. ihren Bildern auch ein gleichartiges oder ähnliches Verhalten der Phänomene in ihrer ganzen Komplexität verbürgen? Die gleiche kritische Frage kann auch an das Argumentationsund Schreibverfahren der Introduction gerichtet werden, das ja die theoretisch beschriebene Methode praktisch umzusetzen und zu illustrieren sucht: Bei den mithilfe von Metaphern oder leitmotivisch verwendeten Grundvokabeln hergestellten Verbindungen zwischen mentalen Prozessen, Kunst, Architektur und wissenschaftlicher Hypothesenbildung wäre jeweils zu fragen, inwiefern sie tatsächlich eine „communication entre les diverses activités de la pensée“ (1187) aufzuzeigen vermögen oder lediglich eine vordergründige Assimilation dieser Tätigkeiten vollziehen. So könnte die folgende polemische Bemerkung aus Note et digression auch eine Kritik an dem ersten Leonardo-Essay mit seiner virtuos zelebrierten Metaphorik enthalten: „Le mal de prendre une hypallage pour une découverte, une métaphore pour une démonstration, un vomissement de mots pour un torrent de connaissances capitales, et soi-même pour un oracle, ce mal naît avec nous.“331 3.2. Den Bezirk des Möglichen ausmessen: La Soirée avec Monsieur Teste 3.2.1. Die Soirée als Darstellung der Denkvorgänge des Erzählers Dass in einer Untersuchung zum Thema des Denkens bei Valéry auch die Erzählung La Soirée avec Monsieur Teste (1896)332 – im Folgenden kurz: die _____________ 331 Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1209. 332 Paul Valéry, La Soirée avec Monsieur Teste. In: Œ II, S. 15-25. Seitenangaben zu diesem Text stehen im Folgenden in Klammern im Haupttext. – Die in meinen Augen erhellendsten und anregendsten Analysen dieser Erzählung sind: Jean Starobinski, Monsieur Teste face à la douleur. In: Valéry, pour quoi? précédé de Paul Valéry, Lettres et Notes sur Nietzsche. Paris 1987, S. 93-119; Walter Pabst, Paul Valéry: ‘Monsieur Teste’. In: W. P. (Hg.),
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Soirée – in den Blick genommen wird, bedarf kaum der Begründung; Monsieur Teste ist zweifellos eine der wichtigsten Denkerfiguren im Werk Valérys und vermutlich einer der berühmtesten intellektuellen Helden der Literatur überhaupt. Weniger selbstverständlich kann es erscheinen, dass die Soirée unter der Überschrift ‘Erzähltes Denken’ untersucht werden soll, denn die Denkvorgänge von Monsieur Teste werden in diesem Text kaum erzählerisch vergegenwärtigt – wenn man einmal absieht von dem Moment am Schluss der Erzählung, wo Teste unmittelbar vor dem Einschlafen die Erinnerungen und Gedankenfetzen, die ihm ins Bewusstsein kommen, fast zeitgleich zu verbalisieren scheint (vgl. 25). Ansonsten gehört es zu den Eigentümlichkeiten dieses Textes, dass er als hervorstechende Eigenschaft des Protagonisten seine singuläre Art des Denkens bezeichnet, diesen aber vorwiegend in der ‘Außensicht’ präsentiert und sein Denken nicht direkt vorführt. Dennoch liefert die Soirée ein Beispiel für erzähltes Denken; doch die Denkvorgänge, die in diesem Text narrativ dargestellt werden, sind nicht die von Monsieur Teste, sondern die des Ich-Erzählers. Dieser gibt zum einen wieder, wie er sich jetzt, in der Gegenwart, an die Zeit seiner Treffen mit Teste erinnert, und er verweist dabei ausdrücklich auf diese Tätigkeit des Denkens und Sicherinnerns, aus der seine Darstellung Testes und des mit ihm verbrachten Abends hervorgeht: „(Je pense maintenant aux traces qu’un homme laisse dans le petit espace où il se meut chaque jour.)“ (16) – „Il y a des jours où je le retrouve très nettement. Il se représente à mon souvenir, à côté de moi.“ (19) Zum anderen schildert der Erzähler Reflexionen, die er früher angestellt hat; in den ersten Absätzen des Textes berichtet er, wie er die Überzeugung entwickelt hat, dass die scharfsinnigsten Denker und die fähigsten Erfinder einsam lebende Unbekannte sein müssten, die es verschmähen, ihre intellektuellen Fähigkeiten auf irgendeine sichtbare und somit potentiell gewinnträchtige Weise zu manifestieren (vgl. 16). Am Ende dieses Abschnitts gibt der Erzähler genau an, wann er diese Vorstellung ausgebildet hat: „Ces idées me venaient pendant l’octobre de 93, dans les instants de loisir où la pensée se joue seule_____________ Der moderne französische Roman. Interpretationen. Berlin 1968, S. 52-76; C. A. Hackett, Teste and ‘La Soirée avec Monsieur Teste’. In: French Studies 21 (1967), S. 111-124; W. N. Ince, Composition in Valéry’s Writings on Monsieur Teste. In: L’esprit créateur 4 (1964), S. 19-27; Jean Levaillant, (Teste). In: Jean Bellemin-Noël (Hg.), Les critiques de notre temps et Valéry. Paris 1971, S. 88-95. Der Aufsatz von Levaillant ist ein Auszug oder ein Kondensat aus seiner Thèse mit dem Titel „Genèse et signification de la Soirée avec M. Teste“ (thèse complémentaire pour le doctorat, Paris-Sorbonne 1966); diese Studie ist vermutlich die umfassendste Untersuchung zur Soirée, wurde aber leider nie gedruckt und war mir nicht zugänglich. – Vgl. ferner: Alain Rey, Monsieur Teste de haut en bas. In: Poétique 3 (1972), S. 80-88; Kunio Tsunekawa, Essai d’une analyse de ‘La soirée avec Monsieur Teste’. In: Bulletin des Études Valéryennes 56-57 (1991), S. 55-77.
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ment à exister.“ (16) Kurz nachdem er sich mit diesen Reflexionen beschäftigt hatte, habe er Monsieur Teste kennen gelernt. In den folgenden Abschnitten charakterisiert der Erzähler auch andeutungsweise die Gedanken, zu denen ihn Teste angeregt hat: „Sa mémoire me donnait beaucoup à penser. Les traits par lesquels j’en pouvais juger, me firent imaginer une gymnastique intellectuelle sans exemple.“ (17) „A force d’y penser, j’ai fini par croire que M. Teste était arrivé à découvrir des lois de l’esprit que nous ignorons.“ (Ebd.) In einem Brief an Gide erklärte Valéry, dass sich der „récitant“ der Soirée in einer „sphère d’intellectualité complète“ bewegen sollte333; zur Erzeugung einer solchen geschlossenen Sphäre tragen wesentlich Sätze und Passagen wie die eben zitierten bei, in denen der „récitant“ immer wieder auf seine eigenen, gegenwärtigen oder vergangenen Denktätigkeiten verweist, wobei er eine breite Vielfalt von Verben und Substantiven aus dem Wortfeld des Denkens, Überlegens, Vorstellens, Wissens und Meinens aufbietet. Die Soirée kann aber noch in einem umfassenderen und ‘radikaleren’ Sinne als Wiedergabe der Gedanken des Erzählers aufgefasst werden: Einige Stellen des Textes deuten an, dass die Gestalt des Monsieur Teste als eine gedankliche Konstruktion des Erzählers zu verstehen sei, als ein imaginärer Entwurf oder ein Gedankenexperiment. Diese Deutung wird vor allem von der Passage in der Mitte der Erzählung nahe gelegt, die der Schilderung des im Titel genannten Abends mit Monsieur Teste unmittelbar vorausgeht und somit als eine deutliche Zäsur den Text in zwei Hälften teilt. Der Erzähler beschreibt hier, wie er „maintenant“, in der Erzählgegenwart, an Teste und an die gemeinsam verbrachten Abende zurückdenkt; dabei spricht er über diesen fast wie über ein Gedankenexperiment, dessen Aufbau er beliebig variieren kann: Il y a des jours où je le retrouve très nettement. Il se représente à mon souvenir, à côté de moi. [...] Et je tente encore quelques-unes de ces expériences illusoires qui me délectaient à l’époque de nos soirées. C’est-à-dire que je me le figure faisant ce que je ne lui ai pas vu faire. Que devient M. Teste souffrant? – Amoureux, comment raisonne-t-il? – Peut-il être triste? [...] Je cherchais. Je maintenais entière l’image de l’homme rigoureux, je tâchais de la faire répondre à mes questions ... Elle s’altérait. Il aime, il souffre, il s’ennuie. Tout le monde s’imite. Mais, au soupir, au gémissement élémentaire, je veux qu’il mêle les règles et les figures de tout son esprit. [19f.]
Dieser Abschnitt kann so die Vermutung wecken, dass Monsieur Teste eine gedankliche Konstruktion ist, ein fiktives Gebilde, bei dessen Hervorbringung der Erzähler bestimmte allgemeine Gesetzmäßigkeiten als _____________ 333 Paul Valéry à André Gide [5 octobre 1896]. In: Gide / Valéry, Correspondance 1890-1942, S. 280f., Zitat S. 281 [Briefstelle auch abgedruckt in: Œ II, S. 1382f., Zitat S. 1383].
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gültig und bestimmte Ausgangsbedingungen als gegeben postuliert hat. Wenn man von diesem Abschnitt aus auf den Anfang des Textes zurückblickt, so kann man schon in der ersten Erwähnung Monsieur Testes einen verborgenen Hinweis darauf entdecken, dass er als eine solche Konstruktion des Erzählers aufzufassen sein könnte. In diesen Anfangspassagen gibt der Erzähler zunächst die Überlegungen wieder, mit denen er sich in müßigen Augenblicken während des Oktobers ’93 beschäftigt habe: Er habe sich vorgestellt, wie sich Menschen mit überdurchschnittlichen intellektuellen Anlagen entwickeln könnten, wenn sie auf äußere Erfolge und öffentliche Anerkennung verzichteten und sich ausschließlich der Ausbildung ihrer Fähigkeiten widmeten, anstatt sie möglichst aufsehenerregenden und profitablen Anwendungen dienstbar zu machen (vgl. 15f.). Der Erzähler betont den methodischen Charakter seines Gedankengangs, indem er ihn als eine „induction“ bezeichnet: „L’induction était si facile que j’en voyais la formation à chaque instant. Il suffisait d’imaginer les grands hommes ordinaires, purs de leur première erreur [...].“ (16)334 Auf die Beschreibung und zeitliche Situierung dieser Reflexionen folgt der Satz: „Je commençais de n’y plus songer, quand je fis la connaissance de M. Teste.“ (Ebd.) In dem Moment also, wo der Erzähler sich von seinen Imaginationen einsamer und unbekannter Geisteshelden abzuwenden begann, sei er Monsieur Teste begegnet; dieser Mann nun erweist sich, ohne dass der Erzähler dies ausdrücklich sagt, als lebende Bestätigung seiner eben dargelegten Überlegungen. So kann der Eindruck entstehen, dass Teste aus den Gedanken des Erzählers ‘hervorgeht’, dass er das Resultat einer seiner ‘Induktionen’ ist. Ein weiteres Indiz hierfür kann man in der Formulierung „je fis la connaissance de M. Teste“ entdecken; angesichts der vorausgegangenen Schilderung der Gedankenoperationen des Erzählers scheint es möglich, sie nicht in der üblichen Weise zu verstehen, sondern im wörtlichen Sinne als: ‘ich machte, ich verfertigte das Wissen von M. Teste’. Es gibt somit Stellen im Text, die darauf hindeuten, dass Monsieur Teste eine gedankliche Konstruktion des Erzählers ist; doch diese Hinweise haben den Status von Andeutungen und können nicht als eindeutig _____________ 334 In einem vermutlich 1893 oder 1894 entstandenen Briefentwurf (abgedruckt in: Œ II, S. 1436f.) hat Valéry die „induction“ als eine spezifische mentale Operation beschrieben; in diesem Brief, dessen Adressat unbekannt ist, berichtet er von seiner Lektüre eines Werks von William Thomson und hält in diesem Zusammenhang fest: „L’induction est je crois l’acte mental par lequel on transporte un fait ou un objet dans son imagination au milieu d’autres, et on s’efforce de lier à ces autres par des images plus ou moins simples.“ (Œ II, S. 1436) Die „induction“, die der Erzähler der Soirée durchführt, weist nur vage Ähnlichkeiten mit dem so beschriebenen „acte mental“ auf; die Briefstelle gibt aber auf jeden Fall zu erkennen, dass Valéry unter „induction“ ein methodisches Erkenntnisverfahren in Gestalt einer mentalen Operation verstand.
3. Erzähltes Denken bei Valéry
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und zwingend gelten. Über weite Strecken des Textes erscheint Monsieur Teste als eine reale Gestalt der erzählten Welt, die der Erzähler zu einem bestimmten Zeitpunkt kennen lernt, der er mehrfach begegnet und über die er immer mehr erfährt. Valéry gibt in seinem Text Indizien für beide Deutungen der Teste-Figur und lässt es in der Schwebe, ob Teste nun – innerhalb der erzählten Welt – real ist oder nicht; der Text erlaubt dem Leser keine eindeutige und definitive Entscheidung. Den eben besprochenen Passagen aus dem Anfangs- und dem Mittelteil der Erzählung kommt aber auch dann, wenn man Teste als eine reale Gestalt auffasst, eine besondere Bedeutung zu: In diesem Fall machen sie deutlich, dass der Erzähler in Teste einige seiner eigenen spekulativen Überlegungen illustriert und bestätigt sieht und dass er ihn beobachtet, um Antworten auf bestimmte Fragen oder Bekräftigungen bestimmter Hypothesen zu erhalten. In dem Maße, in dem Monsieur Teste eine gedankliche Konstruktion des Erzählers ist oder eine real existierende Bestätigung seiner Spekulationen über die fähigsten Denker bietet, dürfte er keine Eigenschaften besitzen, die dem Erzähler unbekannt sein oder ihn überraschen könnten. Aber wie die oben zitierten Fragen aus der Passage in der Mitte des Textes zeigen („Que devient M. Teste souffrant? – Amoureux, comment raisonne-t-il?“; 20), kennt der Erzähler nicht von vornherein alle Seiten von Teste, ist dieser also nicht vollständig durch die Konstruktionsvorgabe des Erzählers beschrieben oder durch seine Vermutungen über das Wesen der namenlosen Geisteshelden umrissen. In den Fragen des Erzählers drückt sich sein Bewusstsein aus, dass Teste als ein Mensch, der durch gewisse Grundeigenschaften oder Konstruktionsanforderungen definiert ist, eben auch ein ‘ganzer’ Mensch ist und über seine gleichsam konstitutiven Merkmale hinaus weitere Eigenschaften besitzen muss, die er, der Erzähler, nicht im Voraus überblickt, sondern erst auf dem Wege von „expériences illusoires“ herausfinden muss. Nachdem die erste Hälfte der Erzählung vor allem jene Seiten Testes beleuchtet hat, die den Erwartungen oder Konstruktionsvorgaben des Erzählers entsprechen, widmet sich die zweite Hälfte den Zügen des Titelhelden, die dem Erzähler zunächst noch unbekannt sind, und liefert Antworten auf einige der in der Übergangspassage aufgeworfenen Fragen. Die Ausführungen bis zu diesem Punkt sollten vor allem zeigen, inwiefern in der Soirée ‘Denken erzählt wird’, und zugleich in großen Zügen die Struktur der Erzählung beziehungsweise der Denkvorgänge des Erzählers skizzieren. Damit sollte auch deutlich geworden sein, dass die Perspektive des Erzählers und seine Beziehung zu Teste von zentraler Bedeutung für den gesamten Text sind: Die Soirée inszeniert die Wechselwirkungen zwischen einem überlegenden, fragenden und beobachtenden Ich und einer zwischen Realität und Fiktion changierenden Gestalt, die
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
den Gegenstand seiner Befragungen und Beobachtungen bildet. Diese Aspekte des Textes scheinen mir, obwohl sie seine Gesamtstruktur betreffen und kaum als nebensächlich gelten können, in der Forschung bislang nicht in hinlänglicher Gründlichkeit und Genauigkeit untersucht worden zu sein. Interpretationen der Soirée konzentrieren sich häufig in erster Linie auf die Titelgestalt und schenken dem Erzähler sowie dem Aufbau des Textes weniger Beachtung.335 C. A. Hackett und Walter Pabst haben in ihren Analysen beiläufig darauf hingewiesen, dass Teste als „a part of the narrator’s mind“336 existiere oder dass er womöglich „nur die schattenhafte Ausgeburt der Wunschideen des ‘récitant’“337 sei, ohne aber diese Aussagen näher zu begründen und weiter auszuführen. Die Charakterisierungen der Erzählerfigur bleiben in ihren wie in den meisten anderen Interpretationen knapp und allgemein338, und Ähnliches gilt für ihre Be_____________ 335 Auch Hackett hat frühere Interpretationen wegen ihrer Vernachlässigung oder inadäquaten Behandlung des Erzählers kritisiert; er selbst liefert allerdings auch keine eingehendere Charakterisierung dieser Erzählerfigur, und seine Bemerkungen über die Funktion der Konfiguration von Erzähler und Titelheld bleiben vage und etwas unklar: „[...] [M]ost of the critics leave him [i.e. the ‘récitant’; O.K.] out of account, and speak of Teste alone. They then proceed to take him from his context and treat him as a mythical being; or they say that the narrator is Valéry, and that Teste is a separate ‘character’ who exists apart from the narrator. But two ‘characters’ are clearly necessary, as a device, so that Valéry can present his story in the form of a dialogue, which is later one of his favourite and most successful genres. Teste seems to exist as a part of the narrator’s mind; but both are parts, or projections, of the mind of Valéry, and together they express his experience when he wrote this work. La Soirée avec Monsieur Teste is, to quote the title of one of Valéry’s short essays, a ‘Tête-à-tête’; but it is also a complex pattern of words in which the ‘porte-parole’ is neither Teste alone nor the Narrator, but the whole work.“ (Hackett, Teste, S. 114f.) 336 Hackett, Teste, S. 114f. 337 Pabst, Paul Valéry: ‘Monsieur Teste’, S. 60. 338 Ince hat den Charakter des Erzählers zumindest auf einen prägnanten Begriff gebracht: Die Eingangsabsätze der Soirée präsentieren ihm zufolge den Erzähler als „a small-scale Monsieur Teste“, der auf die Titelfigur vorausweise (Ince, Composition, S. 21). Nach Ince dient die Erzählerfigur vor allem dem Zweck, Teste als einen Menschen von überragenden intellektuellen Fähigkeiten glaubwürdig erscheinen zu lassen; indem Valéry den Erzähler als Verkörperung eines „tight-lipped cerebralism“ entwirft und ihn dann mit ehrfürchtiger Faszination die geistige Überlegenheit von Teste beschwören lässt, kann er dessen fast übermenschliche Fähigkeiten andeuten, ohne diesen Eindruck durch ausführliche Darstellungen von Testes eigenen Gedankengängen oder Äußerungen zu gefährden (ebd.). Ince beschreibt damit plausibel einen Aspekt der Schreibstrategien der Soirée; aber die Erzählerfigur und ihre Beziehung zu Teste besitzt noch weitere und, wie mir scheint, wichtigere Facetten. Während Ince annimmt, dass es Valéry primär um die überzeugende Darstellung eines Menschen mit außerordentlichen geistigen Fähigkeiten ging und dass die Einführung des Erzählers ein Mittel zu diesem Zweck war, werde ich argumentieren, dass es vielmehr eine der zentralen Intentionen Valérys war, die Reflexionen einer Figur über einen Menschen mit solchen außerordentlichen Fähigkeiten zu entfalten, und dass die Erzählerfigur somit für das zentrale Anliegen des Textes wesentlich ist. – Für Jean Levaillant ist die Beziehung zwischen dem Erzähler und Teste ebenso wie die gesamte Struktur des Textes narzisstischer Art: „L’essentiel est ceci: sur tous les plans, la structure profonde de La Soirée
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merkungen über den Aufbau der Erzählung; außerdem unterlassen sie es, diesen Aufbau zu dem mehrschichtigen Verhältnis zwischen dem Erzähler und Teste in Beziehung zu setzen. Die folgende Analyse wird daher diesen Aspekten besondere Aufmerksamkeit schenken und das zu konkretisieren und mit Anschauung zu füllen versuchen, was oben in eher allgemeiner Weise über Art und Struktur der Gedankengänge des Erzählers gesagt wurde. Die Soirée gliedert sich, wie bereits erwähnt, in zwei sehr unterschiedliche Teile, denen sich je ein Abschnitt der Untersuchung widmet; zwischen diese Abschnitte ist ein Unterkapitel über den Stil der Erzählung eingefügt. 3.2.2. Testes Ideale: Selbstbeherrschung und Ausschöpfung des ihm Möglichen Die Soirée beginnt mit einigen Absätzen, in denen der Erzähler sich selbst knapp charakterisiert und sein bisheriges Leben resümiert. Diese Selbstbeschreibungen verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie Sichtweisen, Maßstäbe und Wertungen offenbaren, die auch für den Blick des Erzählers auf Teste konstitutiv sind. Die ersten Sätze lauten: La bêtise n’est pas mon fort. J’ai vu beaucoup d’individus; j’ai visité quelques nations; j’ai pris ma part d’entreprises diverses sans les aimer; j’ai mangé presque tous les jours; j’ai touché à des femmes. Je revois maintenant quelques centaines de visages, deux ou trois grand spectacles, et peut-être la substance de vingt livres. Je n’ai pas retenu le meilleur ni le pire de ces choses: est resté ce qui l’a pu. [15]
Was an dieser Eingangspassage als auffällig hervortritt, ist insbesondere die durchgehende Verwendung unbestimmter und allgemeiner Ausdrücke und die Betonung des durchschnittlichen und konventionellen Gepräges dieser Biographie. In Verbindung damit kann ferner auffallen – vor allem, wenn man diese Sätze bereits im Hinblick auf die späteren Beschreibungen von Monsieur Teste liest –, in wie geringem Maße der Lebenslauf des Erzählers und die Entwicklung seiner Person durch seinen bewussten Willen bestimmt waren. Besonders explizit wird diese Tatsache in dem letzten Satz des Absatzes ausgesprochen, der zudem einen Kontrast zwischen Teste und dem Erzähler augenfällig werden lässt; die Verben ‘rete_____________ est narcissique. [...] Les figures du mythe sont immédiatement présentes: l’enthousiasme de l’ami porté vers Teste, c’est l’amour de Narcisse pour son image idéale; [...].“ (Levaillant, (Teste), S. 88) Dass Teste ein ‘Idealbild’ des Erzählers darstellt, scheint mir zutreffend; der Begriff des Narzissmus führt aber meines Erachtens in die Irre, vor allem weil der Erzähler durchgehend den Abstand zwischen Teste als seinem Idealbild und sich selbst betont; außerdem ist seine Haltung gegenüber Teste keineswegs nur durch faszinierte Begeisterung („enthousiasme“) geprägt, wie später noch darzulegen sein wird.
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nir’ und ‘pouvoir’ verweisen als Signalwörter auf die betreffenden Aussagen über Teste. Der Erzähler wird sich später unter anderem von dem Erinnerungsvermögen Testes beeindruckt zeigen, das dieser offenkundig bewusst trainiert und bearbeitet habe. Teste wird dort mit dem Satz zitiert: „‘[...] Je retiens ce que je veux. [...]’“ (17) Während Teste sein Gedächtnis seinem Willen unterworfen hat, hängt es bei dem Erzähler von den Gegenständen selbst ab, ob sie in seinem Gedächtnis bleiben oder nicht: „[...]: est resté ce qui l’a pu.“ Es muss auffallen, dass das für Teste so entscheidende Wort ‘können’ hier mit den „choses“ als Subjekt gebraucht wird. Testes zentrale Frage lautet „Que peut un homme?“ (23, 25), sein Streben richtet sich darauf, die Grenzlinie zwischen dem, was er kann, und dem, was er nicht kann, zu verschieben, und dabei ist es ihm gelungen, sein Können um die willentliche Kontrolle seines Erinnerns zu erweitern. Der Erzähler hat dergleichen offenbar gar nicht versucht, und so verdankt sich der jetzige Zustand seines Gedächtnisses dem variablen Beharrungsvermögen der erinnerten oder einstmals erinnerten Dinge, nicht seinem Wollen und Können; immerhin ist ihm zuzugestehen, dass er sich über diesen Sachverhalt keine Illusionen macht. Auch die vagen und unspezifischen Formulierungen des Eingangsabsatzes („beaucoup d’individus“, „quelques nations“, „des femmes“, „quelques centaines de visages“) verweisen auf ein Defizit des Erzählers, das mit dem Können von Teste kontrastiert. Diese Ausdrucksweise kann zum einen als Indiz dafür gedeutet werden, dass der Erzähler es nicht für nötig hält, die betreffenden Menschen, Länder und Unternehmungen genauer zu kennzeichnen, weil es ohnehin nur kontingente Umstände waren, die ihnen eine Rolle in seinem Leben verschafft haben (vgl. „j’ai pris ma part d’entreprises diverses sans les aimer“); zum anderen kann sie darauf zurückzuführen sein, dass der Erzähler sich nicht mehr an ihre spezifischen Merkmale erinnert. In jedem Fall zeigt sich hier wiederum die Differenz zwischen dem Erzähler und Teste. Teste hat sein Leben konsequent seinem Gestaltungswillen unterworfen und verbringt seine Zeit nicht mit irgendwelchen Reisen oder Projekten, die ihm gleichgültig sind und sich nur kontingenten Umständen verdanken. Und sein Gedächtnis, so wird der Erzähler später feststellen, bewahrt von allen Eindrücken nur jenen spezifischen und individuellen Teil auf, den die Einbildungskraft allein nicht produzieren kann (vgl. 18). Damit bildet es einen scharfen Kontrast zu dem Erinnerungsfundus des Erzählers, in dem die Dinge und Menschen nur unter allgemeine Kategorien subsumiert werden. Auch hier gilt es aber wiederum hinzufügen, dass der Erzähler sich über diese defizitären Züge seiner Biographie wie seines Gedächtnisses immerhin im Klaren ist und sie entsprechend beschreibt.339 _____________ 339 In der Forschung hat die Selbstcharakterisierung des Erzählers, mit der die Soirée beginnt,
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Der Erzähler hebt also an seiner Person und an seinem Leben das Konventionelle und Gewöhnliche, das Zufällige und Beliebige hervor, und er lässt diese Züge (oder eher: den Mangel an individuellen Zügen) als Konsequenz eines Mangels an Willen und Kontrolle erscheinen. Teste dagegen wird von ihm als ein Mensch beschrieben, der eben dieses Streben nach größtmöglicher Kontrolle über sich selbst und sein Leben zu seiner obersten Maxime gemacht hat. Die Begriffe der Kontrolle und Selbstbeherrschung scheinen mir die entscheidenden Wesenszüge Monsieur Testes besser zu treffen als einige andere Charakterisierungen, die in der Forschung vorgeschlagen wurden. So hat Pabst Teste als „Verkörperer des ‘esprit pur’“340 charakterisiert und Hackett sein Wesen darin gesehen, dass er einen – scheinbaren – Sieg des Verstandes über die Emotionen erreicht habe341. Aber es sind nicht nur die Emotionen, die Teste zu beherrschen sucht; er hat vielmehr seine gesamte Person und sein ganzes Dasein einem konsequenten Regime der Kontrolle unterworfen, und das vom Erzähler entworfene Porträt konzentriert sich denn auch nicht ausschließlich auf seine geistigen Eigenschaften – zeigt ihn insofern auch nicht als rein geistige oder ‘zerebrale’ Gestalt –, sondern schildert zunächst ausführlich seine äußere Erscheinung sowie seine Lebensweise: Teste hat ‘militärische’ Schultern und einen ungewöhnlich regelmäßigen Gang (vgl. 17); er vermeidet alle überflüssigen Gesten, lächelt nie, gesteht Stimmungen und Launen keinen Einfluss auf sein Handeln und Verhalten zu und verweigert konventionelle Floskeln und Alltagsrituale wie das der Begrüßung (vgl. ebd.); er hat eine große Zahl von Wörtern aus seinem Vokabular verbannt, benutzt also offenbar nur jene Worte, die er für gut befunden hat und benutzen will (vgl. 18f.). Seine körperlichen Bedürfnisse sucht er nicht zu unterdrücken, sondern zu kanalisieren und auf kontrollierte Weise zu befriedigen: Er isst meistens so, ‘wie man ein Abführmittel zu sich nimmt’, gestattet sich aber manchmal ein ausgedehntes und edles Mahl; außerdem scheint er regelmäßig ein Bordell aufzusuchen (vgl. 17). _____________ nur wenig Beachtung gefunden. Ein knapper, aber prägnanter und überzeugender Hinweis findet sich bei Levaillant, dem zufolge in dieser Eingangspassage die Angst des Erzählers vor einer Fragmentierung und Auflösung seines Ich zum Ausdruck kommt (vgl. Levaillant, (Teste), S. 93). Weniger plausibel erscheint mir Levaillants daran anknüpfende These, Teste diene dem Erzähler als ideales Gegenbild von Einheit, Geschlossenheit und Autonomie, das ihn von dieser Angst heilen solle (vgl. ebd.). Aus dem Text scheint mir nur hervorzugehen, dass der Erzähler sich klar machen will, wie solch eine Verkörperung maximaler Einheit und Autonomie aussähe, nicht aber, dass er auf diese Weise seine Angst kurieren wolle. 340 Pabst, Paul Valéry: ‘Monsieur Teste’, S. 60; vgl. auch ebd., S. 61. 341 „He has achieved a victory (more apparent than real) of reason over the emotions.“ Nach Hackett ist Valérys „vindication of the intellect as opposed to the instincts“ auch das Thema, das alle seine Figuren von Teste bis Faust miteinander verbinde (Hackett, Teste, S. 117, 123).
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Den gemeinsamen Nenner dieser Eigenschaften und Gewohnheiten Testes kann man am ehesten als ein Streben nach dem größtmöglichen Maß an Autonomie und an Kontrolle über sich selbst und das eigene Leben bezeichnen.342 Testes systematisches Training seines Intellekts fügt sich als Kernstück in dieses umfassende Streben nach Selbstkontrolle ein. Wie er alle unwillkürlichen körperlichen Bewegungen, sogar jedes unfreiwillige Mienenspiel ausgeschaltet hat, so sucht er auch seine mentalen Vorgänge zu kontrollieren, indem er bestimmte Ideen regelmäßig wiederholt, seinen Erinnerungsbestand planvoll erweitert und seine Aufmerksamkeit in sorgfältiger Dosierung auf ausgewählte Dinge verteilt (vgl. 17f., 25). Aber es sind nicht nur seine mentalen Abläufe, die er zu beherrschen versucht, sondern in gewissem Sinne auch die Gegenstände seines Denkens: Testes außergewöhnliche intellektuelle Kraft äußert sich nicht zuletzt in seiner Fähigkeit, alles Gegebene nach Belieben zu bearbeiten und zu transformieren; der Erzähler beschreibt die verschiedenen Modi dieses Bearbeitens metaphorisch als ein Zerschneiden und Beleuchten, Vereisen und Erhitzen, Ertränken und Emporheben (vgl. 19). Wenn Teste die „puissance régulière de son esprit“ gegen die Welt richtete, so der Erzähler, würde ihm nichts widerstehen (19); Teste verschmäht solche praktischen, öffentlich sichtbaren Anwendungen seiner Geisteskraft, doch was der Erzähler über seine Sprache und die Wirkungen seiner Rede auf die Zuhörer sagt, lässt ansatzweise erkennen, dass die Macht, die er durch die Erziehung seines Intellekts erwirbt, potentiell auch eine Macht über andere Menschen ist.343 Testes übergeordnetes Ziel der Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung ist sowohl negativ als auch positiv definiert. Sein Bestreben richtet _____________ 342 Damit stimme ich Jean Starobinski zu, der in seiner Charakterisierung Testes ebenfalls den Hauptakzent auf dieses Streben nach Kontrolle und Herrschaft legt („une forme de domination totale“, „projet de maîtrise“); vgl. Starobinski, Monsieur Teste face à la douleur, S. 97f. – Für Jean Levaillant verkörpert Teste eine gesteigerte Ausprägung des Ideals des „rationalisme occidental“: „Teste voudrait rattraper le retard de l’esprit sur l’être et, par la ‘discipline effrayante’ de la répétition, chasser toute différence, figurant ainsi dans son excès, au faîte d’une culture scientifique, l’idéal même du rationalisme occidental, fondé sur la recherche de l’être à travers la connaissance et les lois.“ (Levaillant, (Teste), S. 91) Die tiefgreifenden Widersprüche in der Figur von Teste verweisen nach Levaillant auf „la crise de la conscience occidentale et la tragédie de l’aventure intellectuelle en notre siècle.“ (Ebd., S. 90) 343 „Il parlait, et on se sentait dans son idée, confondu avec les choses: on se sentait reculé, mêlé aux maisons, aux grandeurs de l’espace, au coloris remué de la rue, aux coins ... Et les paroles le plus adroitement touchantes, – celles même qui font leur auteur plus près de nous qu’aucun autre homme, celles qui font croire que le mur éternel entre les esprits tombe, – pouvaient venir à lui ... Il savait admirablement qu’elles auraient ému tout autre.“ (18)
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sich zunächst darauf, jede Form der Fremdbestimmung abzuwehren und den Zufällen der Ereignisse und Umstände keine Macht über sein Leben zu geben. Er scheint prinzipiell alle fremden Einwirkungen auf sein Leben und seine Person als feindselige, seine Freiheit bedrohende Akte anzusehen und nimmt dementsprechend in seiner Abwehr dieser Einflüsse selbst eine agonale und latent aggressive Haltung ein, die besonders deutlich in seinen Äußerungen beim Opernbesuch zutage tritt.344 Dieses negativ definierte Ziel der Abwehr von Fremdbestimmungen verlangt nach einer positiven Ergänzung, einer Festlegung dessen, was Teste mit der Kontrolle über sein Leben anfangen will. Dieses positive Ziel hat einen sehr allgemeinen und umfassenden Inhalt: Teste will für sich die Frage „‘Que peut un homme?’“ beantworten, er will den Raum dessen, was ihm möglich ist, ausmessen und beherrschen. Das eigene ‘possible’ zu erkunden und sich seiner zu bemächtigen,345 bedeutet für Teste offenbar, die Funktionsweise des eigenen Geistes und Körpers zu erforschen346 und die Gesamtheit der seinem Geist möglichen Operationen zu identifizieren, zu analysieren und so lange einzuüben, bis sie ‘in Fleisch und Blut übergegangen’ und nach Belieben verfügbar sind.347 In der Arbeit an sich selbst, der Teste sein Leben widmet, verschränken sich somit Selbsterforschung und Selbstkonstruktion, wobei der Erzähler in seiner Schilderung Testes den Anteil der Selbstkonstruktion besonders hervorhebt. So charakterisiert er Teste einmal als „l’être absorbé dans sa variation, celui qui devient
_____________ 344 Vgl. auch den Satz aus Testes Redefluss vor dem Einschlafen, am Ende der Erzählung: „‘[...] Celui qui me parle, s’il ne prouve pas, – c’est un ennemi. [...]’“ (25) Ein späterer Text aus dem Teste-Zyklus, „Dialogue“, enthält eine Passage, die als die ausführlichere Fassung dieser knappen Bemerkung erscheint; dort sagt Teste zu dem Ich-Erzähler: „Rappelezvous tout simplement qu’entre les hommes il n’existe que deux relations: la logique ou la guerre. Demandez toujours des preuves, la preuve est la politesse élémentaire qu’on se doit. Si l’on refuse, souvenez-vous que vous êtes attaqué et qu’on va vous faire obéir par tous les moyens.“ (Paul Valéry, Dialogue. In: Œ II, S. 59-62, hier S. 61.) 345 Vgl. Valérys Charakterisierungen seines Protagonisten in der später verfassten „Préface“: „[...] [M. Teste] n’est point autre que le démon même de la possibilité. Le souci de l’ensemble de ce qu’il peut le domine. [...] Il ne connaît que deux valeurs, deux catégories, qui sont celles de la conscience réduite à ses actes: le possible et l’impossible.“ (14) 346 Vgl.: „Maintenant, je me connais par cœur. Le cœur aussi.“ (24) 347 „A force d’y penser, j’ai fini par croire que M. Teste était arrivé à découvrir des lois de l’esprit que nous ignorons. Sûrement, il avait dû consacrer des années à cette recherche: plus sûrement, des années encore, et beaucoup d’autres années avaient été disposées pour mûrir ses inventions et pour en faire ses instincts. Trouver n’est rien. Le difficile est de s’ajouter ce qu’on trouve.“ (17) „[M. Teste] veillait à la répétition de certaines idées; il les arrosait de nombre. Ceci lui servait à rendre finalement machinale l’application de ses études conscientes. Il cherchait même à résumer ce travail. Il disait souvent: ‘Maturare! ...’“ (17f.)
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
son système“ (18).348 Dieses Projekt der Selbsterforschung und Selbstkonstruktion hat einen – im losen Sinne – solipsistischen Charakter,349 zumal sowohl der Erzähler als auch Teste überzeugt zu sein scheinen, dass es eine ‘ewige Mauer’ zwischen den Geistern gibt (vgl. 18)350, dass also die Erfahrungen und Gedanken jedes Menschen ein geschlossenes System von individueller Eigenart bilden, so dass das konsequente Bemühen eines Einzelnen um Selbsterforschung und Selbstbemächtigung auch seine Distanz gegenüber den anderen vergrößern oder verfestigen muss: „‘[...] Je suis chez MOI, je parle ma langue, [...]’“, so resümiert Teste einmal ein Ergebnis seiner Selbsterziehung (22).351
_____________ 348 Vgl. auch: „Cet homme avait connu de bonne heure l’importance de ce qu’on pourrait nommer la plasticité humaine. Il en avait cherché les limites et le mécanisme. Combien il avait dû rêver à sa propre malléabilité!“ (18) 349 Zu solipsistischen Motiven vor allem beim frühen Valéry vgl.: Reino Virtanen, The Egocentric Predicament: Paul Valéry and Some Contemporaries. In: Dalhousie French Studies (1981), S. 99-117, zu Teste S. 109. 350 Vgl. auch die Aussage des Erzählers: „L’esprit me paraît ainsi fait qu’il ne peut être incohérent pour soi-même.“ (22) 351 In der Forschung hat man gelegentlich Parallelen zwischen Monsieur Teste und Musils Ulrich-Figur gesehen; für Dieter Kühn etwa zeigen die zwei Figuren „in ihrer geistigen Sinnesart auffallende Verwandtschaft“ (D. K., Analogie und Variation, S. 14). Für Kühn wie für andere Forscher besteht eine Parallele zwischen den Figuren darin, dass die Kategorie des Möglichen für beide von zentraler Bedeutung sei; vgl. ebd. sowie, mit etwas anderen Akzenten: Bürger, Funktion und Bedeutung des ‘orgueil’, S. 160 (Anm. 42), 161; wiederum etwas anders akzentuiert (und insgesamt eher unklar): Charney, Monsieur Teste and der Mann ohne Eigenschaften. – Diese Interpreten scheinen mir zu übersehen, dass für Ulrich und Teste unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs des Möglichen zentral sind. Ulrichs Konzept des Möglichkeitssinns bezieht sich auf Möglichkeiten im Sinne von möglichen, aber nicht wirklichen Zuständen der Welt; diese Möglichkeiten werden durch den Kontrast zum Wirklichen definiert und als nicht durch eine feste Grenze limitiert betrachtet. Teste dagegen geht es um das Mögliche im Sinne der Gesamtheit dessen, was ihm möglich ist bzw. was er kann („l’ensemble de ce qu’il peut“, 14); dieses Mögliche wird vor allem durch den Kontrast zum Unmöglichen definiert und von vornherein als ein begrenzter Raum betrachtet (vgl. dazu ausführlicher unten). Dieser Unterschied zwischen den Begriffen des Möglichen, die für die zwei Figuren relevant sind, verweist auf die grundlegende Differenz zwischen ihnen, der gegenüber mir alle Ähnlichkeiten als peripher erscheinen: Zu den konstitutiven Zügen der Figur Ulrichs gehört sein Drang, aktiv und aggressiv ‘auf die Wirklichkeit einzuwirken’ (vgl. MoE 592) und den Zustand der Welt oder zumindest der Gesellschaft zu verbessern; für Teste dagegen ist gerade die Ablehnung solcher Ambitionen konstitutiv (vgl. zu diesem Unterschied bereits ähnlich: Bürger, Funktion und Bedeutung des ‘orgueil’, S. 160 [Anm. 42]). Die Frage nach dem rechten Leben, die für Ulrich die einzige ist, die „das Denken wirklich lohn[t]“ (MoE 255), scheint für Teste gerade keine des Nachdenkens werte Frage zu sein; zumindest hat er die Frage durch die Entscheidung für ein bestimmtes Lebensprojekt erledigt. Dass Teste sich nicht festlegen wolle (so Kühn, Analogie und Variation, S. 14), trifft nicht zu; sein ganzes Leben ist durch die Festlegung auf ein klar definiertes Ziel geprägt.
3. Erzähltes Denken bei Valéry
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3.2.3. Der Stil: Verfügen über das Sprachmaterial Bevor die Analyse sich dem zweiten Teil der Soirée zuwendet, soll kurz ein Blick auf den Stil der Erzählung geworfen werden; diese Betrachtung gerade hier zu platzieren, bietet sich insofern an, als die auffälligsten Merkmale dieses Stils als sprachliche Umsetzungen oder Veranschaulichungen der von Teste verkörperten Prinzipien und Ideale gedeutet werden können, die eben erörtert worden sind. Der vielleicht markanteste Grundzug der Schreibweise der Soirée kann mit Pabst und Starobinski als ihr ‘Staccato’-Charakter beschrieben werden.352 Dieser Eindruck des Staccato wird vor allem durch die zahlreichen kurzen bis sehr kurzen Sätze hervorgerufen, durch den vorwiegend parataktischen Satzbau und durch die Neigung zur asyndetischen, auf Konjunktionen und andere Bindeglieder verzichtende Aneinanderreihung der Sätze. „[L]e caractère abrupt de l’intervalle entre les phrases est remarquable“353, so Starobinski. Während die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci sich eines überwiegend hypotaktischen Satzbaus bedient und in einigen Passagen den symmetrischen Periodenbau des klassischen ‘style oratoire’ evoziert, ist die Soirée fast durchgehend der Tradition des ‘style coupé’ verpflichtet.354 Aber die Momente des Diskontinuierlichen und Abrupten finden sich hier nicht nur auf der Ebene der Syntax, sondern auch und vor allem auf der semantischen und inhaltlichen Ebene. Der gedankliche Zusammenhang zwischen zwei aufeinander folgenden Sätzen oder Absätzen ist häufig nicht auf den ersten Blick evident. Als Beispiel hierfür mag der Beginn der Erzählung dienen, der oben bereits zitiert wurde: La bêtise n’est pas mon fort. J’ai vu beaucoup d’individus; j’ai visité quelques nations; j’ai pris ma part d’entreprises diverses sans les aimer; j’ai mangé presque
_____________ 352 Vgl.: Starobinski, Monsieur Teste face à la douleur, S. 100f. – Bei Pabst heißt es: „Das Kompositionsprinzip der Testiana ist – bis in die Zerstückelung der Einzelteile, bis in die Syntax hinein – das Staccato, das aller Verschwommenheit, allen ‘blagues sur l’inspiration’ widersteht: die klare Artikulation.“ (Pabst, Paul Valéry: ‘Monsieur Teste’, S. 70) Vgl. zum Stil der Soirée auch: Maurice A. Lecuyer, Étude de la prose de Paul Valéry dans ‘La Soirée avec Monsieur Teste’. Paris 1964. 353 Starobinski, Monsieur Teste face à la douleur, S. 101. 354 Vgl. zu diesen Traditionen des französischen Prosastils: Bernd Spillner, Symmetrisches und asymmetrisches Prinzip in der Syntax Marcel Prousts. Ein Beitrag zur Geschichte des französischen Prosastils. Meisenheim am Glan 1971, S. 1-38. Lecuyer kommt in seiner Stiluntersuchung der Soirée zu dem Ergebnis, die Lautsymbolik in Verbindung mit dem Satzrhythmus bewirke hier einen „effet harmonieux, correspondant à l’esthétique classique“ (Lecuyer, Etude de la prose, S. 53). Diese Charakterisierung erscheint mir nur bedingt überzeugend; Lecuyer neigt insgesamt dazu, die sprachlichen Schroffheiten der Soirée, die kaum mit einem Harmonie-Ideal vereinbar sind, zu relativieren oder zu ignorieren (vgl. etwa ebd., S. 32f., 38, 42).
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tous les jours; j’ai touché à des femmes. Je revois maintenant quelques centaines de visages, deux ou trois grand spectacles, et peut-être la substance de vingt livres. Je n’ai pas retenu le meilleur ni le pire de ces choses: est resté ce qui l’a pu. Cette arithmétique m’épargne de m’étonner de vieillir. [15]
Dieser Eingang etabliert mit seiner asyndetischen Reihung kurzer Sätze sogleich den Staccato-Ton, der für die Erzählung insgesamt charakteristisch ist; aber auch auf der inhaltlichen Ebene ist diese Passage durch Brüche oder Sprünge gekennzeichnet. Schon der Übergang von dem berühmten ersten Satz „La bêtise n’est pas mon fort“ zu der folgenden Aufzählung hat zunächst etwas Überraschendes und Irritierendes; nach dem provozierend selbstbewussten und apodiktisch-knapp formulierten Anfangssatz erwartet man Aussagen, welche diese erste Behauptung erläutern oder begründen, doch bei der folgenden, mit „J’ai vu beaucoup d’individus’“ beginnenden Aufzählung ist nicht sofort zu erkennen, inwiefern sie eine solche Begründung darstellt. Auch der erste Satz des zweiten Absatzes wirkt, obwohl er mit dem Demonstrativpronomen „[c]ette“ an den ersten Absatz anknüpft, abrupt und unvermittelt. Dieser Satz impliziert die Annahme, dass das Erstaunen angesichts des eigenen Älterwerdens den Normalfall darstelle, so dass es als besondere Leistung der ‘arithmetischen’ Sichtweise des Erzählers gelten kann, dass sie ihm dieses Erstaunen erspart. Die Annahme, dass die meisten Menschen sich über ihr Älterwerden wundern, kann aber kaum als so selbstverständlich gelten, dass sie stillschweigend vorausgesetzt werden könnte.355 Der Erzähler unterlässt es, die Prämissen seiner Aussage explizit zu machen, und so liegt zwischen dem ersten und dem zweiten Absatz ein gedanklicher Sprung, ein Intervall, das der Leser auszufüllen hat. Dieser diskontinuierliche Duktus ist für den Text insgesamt kennzeichnend. Sehr häufig setzt der Erzähler am Beginn eines neuen Absatzes unvermittelt mit einem neuen Thema ein, ohne sich um Übergänge zu bemühen; er formuliert seine Behauptungen häufig in hochgradig verknappter Form und spart Zwischenglieder und Prämissen eines Gedankengangs aus. In dem Staccato der Soirée, so die plausible Deutung Pabsts, drücken sich die Abneigung gegen jegliche „Verschwommenheit“ und der Wunsch nach „klare[r] Artikulation“ aus.356 Die Parataxe und die schroffen Intervalle zwischen Sätzen und Absätzen erscheinen als sprachliche Gestalt eines Kontrollstrebens der Sprechinstanz, die in jedem Moment ihre Ver_____________ 355 Die folgenden Sätze des zweiten Absatzes deuten dann an, wie die meisten anderen Menschen ihr eigenes Leben wahrnehmen: „Je pourrais aussi faire le compte des moments victorieux de mon esprit, et les imaginer unis et soudés, composant une vie heureuse ... Mais je crois m’être toujours bien jugé.“ (15) Es wird deutlich, dass der Erzähler eine solche Sichtweise als illusionsbehaftet ablehnt; aber er erläutert nicht, inwiefern eine solche Sichtweise dazu führt, dass die Menschen sich über ihr Älterwerden wundern. 356 Pabst, Paul Valéry: ‘Monsieur Teste’, S. 70.
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fügungsgewalt über den Diskurs zu behaupten und zu manifestieren sucht; der größte Kontrast zu diesem Sprecher wäre ein Redner, der von seinem Eifer für die Sache oder von seiner Freude an der eigenen Redekunst davongetragen würde und sich dem Schwung seiner Eloquenz überließe. Der abrupte und antiklimaktische, klassischen Stilidealen widersprechende Verlauf einiger Sätze und Absätze verweist auf die Weigerung Testes und des Erzählers, sich gesellschaftlichen Konventionen, Sichtweisen und Wertmaßstäben anzupassen. Die diskontinuierlichen Sprünge auf der inhaltlichen Ebene schließlich kann man auch in Beziehung setzen zu den solipsistischen Zügen Testes und seines Lebensprojekts sowie zu den Überzeugungen des Erzählers über die Relativität der Kohärenz oder Inkohärenz eines Diskurses: „L’incohérence d’un discours dépend de celui qui l’écoute. L’esprit me paraît ainsi fait qu’il ne peut être incohérent pour soi-même.“ (22) Diese Aussagen, die der Erzähler im Kontext einer Wiedergabe von Äußerungen Testes formuliert, lassen sich offenkundig auf den Text der Soirée selbst beziehen. Demnach stellt all das, was der Leser als abrupte Sprünge oder Lücken innerhalb der Gedankengänge wahrnimmt, für den Erzähler keine Inkohärenz dar; dass sie dem Leser so erscheinen, ist auf die Differenz zwischen den Individuen und ihren „esprits“ („le mur éternel entre les esprits“, 18) zurückzuführen. Die diskontinuierlichen Momente wären insofern gerade als Indiz für die Einheit und Geschlossenheit dieses Diskurses zu verstehen, als Zeichen dafür, dass der Sprecher sich allein in der Sphäre seines Geistes bewegt und sich nicht nach den konventionellen Maßstäben der Kohärenz und Verständlichkeit richtet. Aber der Stil der Soirée ist nicht nur durch Züge der Diskontinuität und Abruptheit geprägt, sondern zugleich durch spezifische Formen der Kohärenzbildung und der Kontinuität, die sich vor allem der Dimensionen von Klang und Rhythmus bedienen. In dem oben zitierten Anfangsabsatz werden die kurzen, asyndetisch aneinandergereihten Sätze durch die mehrfache Wiederholung von „J’ai“ und „Je“ an den Satzanfängen zusammengehalten. Solche Anaphern finden sich vielfach in dem Text, wobei es meist die Personalpronomen „je“ oder „il“ sind, die am Beginn mehrerer aufeinander folgender Sätze wiederholt werden. Neben Anaphern begegnen auch andere Formen der Wiederholung, die häufig mit syntaktischen Parallelismen verbunden sind.357 Diese Anaphern und ande_____________ 357 Vgl.: „J’ai rêvé alors que les têtes les plus fortes, les inventeurs les plus sagaces, les connaisseurs le plus exactement de la pensée devaient être des inconnus, des avares, des hommes qui meurent sans avouer.“ (16) „Il était l’être absorbé dans sa variation, celui qui devient son système, celui qui se livre tout entier à la discipline effrayante de l’esprit libre, et qui fait tuer ses joies par ses joies, la plus faible par la plus forte, – la plus douce, la temporelle, celle de l’instant et de l’heure commencée, par la fondamentale – par l’espoir de la fonda-
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ren Wiederholungen konstituieren Strukturen und Ordnungsinstanzen innerhalb des Textes, die vor allem lautlicher und rhythmischer Natur sind; die wiederkehrenden Pronomina „je“ oder „il“ am Anfang der kurzen Sätze geben den betreffenden Passagen eine deutliche rhythmische Gliederung. Diese rhetorischen Figuren werden an einigen Textstellen noch ergänzt durch Stilmittel rein klanglicher Art, insbesondere durch Alliterationen und Assonanzen; so etwa in einem extrem kurzen Absatz aus dem Schlussteil der Erzählung: „Tout à coup, il se tut. Il souffrit.“ (23) Die zwei Sätze bestehen zusammen aus drei Kola mit jeweils drei Silben, wobei die letzten zwei Kola sich lautlich stark ähneln. Aber auch viele der längeren Absätze des Textes weisen eine ausgeprägte rhythmische Ordnung auf, die erzeugt wird durch Wiederholungen von Wörtern und Syntagmen sowie durch auffällige, sehr kalkuliert wirkende Wechsel von langen und kurzen Sätzen. Ein gutes Beispiel liefert der folgende Absatz, in dem der Erzähler die Sprechweise Monsieur Testes charakterisiert: Il parlait, et on se sentait dans son idée, confondu avec les choses: on se sentait reculé, mêlé aux maisons, aux grandeurs de l’espace, au coloris remué de la rue, aux coins ... Et les paroles le plus adroitement touchantes, – celles même qui font leur auteur plus près de nous qu’aucun autre homme, celles qui font croire que le mur éternel entre les esprits tombe, – pouvaient venir à lui ... Il savait admirablement qu’elles auraient ému tout autre. Il parlait, et sans pouvoir préciser les motifs ni l’étendue de la proscription, on constatait qu’un grand nombre de mots étaient bannis de son discours. Ceux dont il se servait, étaient parfois si curieusement tenus par sa voix ou éclairés par sa phrase que leur poids était altéré, leur valeur nouvelle. Parfois, ils perdaient tout leur sens, ils paraissaient remplir uniquement une place vide dont le terme destinataire était douteux encore ou imprévu par la langue. Je l’ai entendu désigner un objet matériel par un groupe de mots abstraits et de noms propres. [18f.]
In diesem Absatz finden sich zahlreiche Anaphern und Parallelismen: „on se sentait dans son idée [...]: on se sentait reculé [...]“; „celles même qui font [...], celles qui font [...]“; „tenus par sa voix ou éclairés par sa phrase“, „que leur poids était altéré, leur valeur nouvelle“. Diese Wiederholungsfiguren halten einerseits die Syntagmen und Sätze zusammen und geben den einzelnen Sätzen wie dem gesamten Absatz etwas Geschlossenes und Kompaktes; andererseits setzen sie Einschnitte innerhalb dieser Einheit. So beginnt in der Mitte des Abschnitts ein Satz mit denselben Worten wie der erste Satz: „Il parlait, et [...].“ Dieser Satzbeginn markiert damit eine Zäsur innerhalb des Absatzes, die durch die kursivierten Worten „tout autre“ am Ende des vorigen Satzes noch verstärkt wird. Die rhetorischen Wiederholungsfiguren konstituieren hier also zusammenhängende Satzfolgen und setzen klare Einschnitte, ohne dabei aber einen harmonisch_____________ mentale.“ (18) „Il toussa. Il se dit: ‘Que peut un homme? [...]’ Il me dit: ‘Vous connaissez un homme sachant qu’il ne sait ce qu’il dit!’“ (23)
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regelmäßigen Duktus zu erzeugen; dies wird vor allem durch den unvermittelten Wechsel zwischen langen und kurzen Sätzen verhindert. Auch die zahlreichen Wiederholungsfiguren sowie die klangliche und rhythmische Durchformung des Textes lassen sich als Ausdruck eines Willens zur Kontrolle und Beherrschung deuten. In den Momenten der Diskontinuität, in der Parataxe, den asyndetischen Reihungen und den inhaltlichen Sprüngen, manifestiert sich ein Kontrollstreben im Sinne eines Willens zur klaren Artikulation, zur Vermeidung alles überflüssigen Geschwätzes und aller bloß konventionellen Ausdrucksmittel. In den Anaphern und den Mitteln der klanglichen und rhythmischen Gestaltung hingegen zeigt sich ein solches Kontrollstreben als Wille zur Unterwerfung und Beherrschung des sprachlichen Materials. Der Sprecher zerteilt seine Rede mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit in meist kleine Einheiten und betont vielfach den Abstand, der diese Einheiten auf der inhaltlichen Ebene trennt, um ihnen zugleich durch Anaphern und Parallelismen sowie durch markante Wechsel der Satzlänge ein Ordnungsmuster aufzuzwingen. Es ist besonders signifikant, dass die Sätze und Absätze ihrem semantischen Gehalt nach häufig abrupt, unvermittelt und diskontinuierlich aufeinander zu folgen scheinen, während sie durch – im weiten Sinne – klangliche und rhythmische Strukturen zusammengehalten und in eine Ordnung gebracht werden. Diese Ordnungen, die durch Anaphern, Parallelismen und das Alternieren kurzer und langer Sätze erzeugt werden, geben sich besonders deutlich als vom Sprecher willkürlich und eigenmächtig gesetzte Ordnungen zu erkennen.358 3.2.4. Grenzen und Endlichkeit Nachdem oben die erste Hälfte der Soirée untersucht und die von Teste verkörperten Ideale und Prinzipien erörtert worden sind, gilt es nun, die zweite Hälfte der Erzählung in den Blick zu nehmen, die Schilderung des einen besonderen Abends, den der Erzähler mit Teste verbracht hat. Dem Bericht von diesem Abend geht der schon erwähnte Abschnitt voraus, in dem der Erzähler als erzählendes Ich hervortritt und beschreibt, wie er sich an die Epoche seiner Bekanntschaft mit Teste erinnert und welche Fragen diese Erinnerungen in ihm provozieren: _____________ 358 Außerdem beruhen solche Strukturen auf der Ebene von Klang und Rhythmus gewissermaßen auf einer Abstraktion oder Reduktion, mithin auf jenem Verfahren, das Teste zufolge das Grundprinzip des Geistes ist (vgl. seine Äußerung über das Gold als „l’esprit de la société“ [23]): Die klanglichen und rhythmischen Strukturen behandeln die Worte und Sätze allein als phonetisches Material, ohne sich um ihre semantischen und pragmatischen Dimensionen zu kümmern.
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Et je tente encore quelques-unes de ces expériences illusoires qui me délectaient à l’époque de nos soirées. C’est-à-dire que je me le figure faisant ce que je ne lui ai pas vu faire. Que devient M. Teste souffrant? – Amoureux, comment raisonne-til? – Peut-il être triste? – De quoi aurait-il peur? – Qu’est-ce qui le ferait trembler? – ... Je cherchais. Je maintenais entière l’image de l’homme rigoureux, je tâchais de la faire répondre à mes questions ... Elle s’altérait. Il aime, il souffre, il s’ennuie. Tout le monde s’imite. Mais, au soupir, au gémissement élémentaire, je veux qu’il mêle les règles et les figures de tout son esprit. [19f.]
Der Erzähler stellt sich Teste in Kontexten vor, in denen er ihn nicht beobachtet hat. Er sucht also Eigenschaften Testes ans Licht zu holen, über die seine eingangs geschilderten Gedanken über die einsame Existenzweise der fähigsten Denker noch nichts besagen. Berücksichtigt man die Möglichkeit, dass Monsieur Teste als eine fiktive Konstruktion des Erzählers aufgefasst werden kann, so lassen sich diese Aussagen über die „expériences illusoires“ in der Weise verstehen, dass der Erzähler hier nach jenen Eigenschaften seiner Kreation fragt, die in der Konstruktionsanleitung nicht festgelegt waren und die sich aus dem Umstand ergeben, dass Teste von ihm als ein menschliches Wesen entworfen worden ist und folglich auch mit den elementaren Erfahrungen des menschliches Daseins konfrontiert ist. Die Frage lautet, wie sich Teste als ein Mensch, dessen spezifische Eigenheit durch bestimmte Qualitäten seines Intellekts und seines Willens definiert ist, gegenüber diesen elementaren Erfahrungen und Bedingungen des Daseins verhält. Inwiefern lassen sich die Szenen der zweiten Hälfte des Textes als Schilderungen solcher Konfrontationen mit elementaren Grunderfahrungen lesen? Anders gefragt: Welches sind die elementaren Grundsituationen und -erfahrungen, mit denen Teste hier konfrontiert wird? Die Oper, die Teste und der Erzähler besuchen, steht offenbar für die Kunst, aber wohl auch allgemeiner für intensive sinnliche Reize, die auf gewöhnliche Menschen begeisternd und berauschend wirken können. Die Schlussszene in Testes Wohnung antwortet offenkundig auf eine der Fragen, die der Erzähler in der eben zitierten Passage aus der Mitte des Textes ausdrücklich gestellt hat: „Que devient M. Teste souffrant?“ Die Konfrontation mit dem körperlichen Schmerz steht im Vordergrund dieser Szene, die aber darüber hinaus auch Testes Haltung gegenüber dem Altern und dem Tod offenbar werden lässt und ihn schließlich beim Versinken in den Schlaf zeigt. Das übergeordnete Thema dieses Schlussteils kann mit den Stichworten der Grenzen und der Endlichkeit umschrieben werden; dieses Finale führt verschiedene Aspekte der Begrenztheit von Testes Kontrolle und Selbstbeherrschung sowie seine Haltung gegenüber diesen Grenzen vor Augen.
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Die Szene in der Oper präsentiert Teste in der Konfrontation mit einer Flut intensiver und vielfältiger sinnlicher Eindrücke, mit der Wirkung der Kunst und mit der anonymen Masse des Publikums. Testes Reaktion auf diese Situation bezeugt seine Fähigkeit zu Distanzierung und Selbstkontrolle und seine kritische, latent aggressive und verachtungsvolle Haltung gegenüber seinen Mitmenschen. Aufrecht in seiner Loge stehend, den Blick unverwandt auf den Zuschauersaal unter ihm gerichtet, mit maximaler Aufmerksamkeit jedes Detail der Szenerie registrierend, beschreibt Teste die Wirkung des Kunstwerks auf das Publikum, während er selbst sich dieser Wirkung entzieht: Die Zuschauer, so Teste, lassen sich durch Schauspiel, Musik und Licht gefangen nehmen und zu simplen und uniformen Wesen reduzieren (vgl. 20-22). Auf den Symbolwert dieser Szene haben verschiedene Interpreten hingewiesen: Der Beobachter Teste in seiner Loge vertritt das Bewusstsein, das sich mithilfe des Blicks und des Intellekts vom Spiel der Sinne und Triebe distanziert, es analysiert und zu beherrschen sucht.359 Der letzte Abschnitt der Erzählung, dessen Schauplatz die Wohnung Testes ist, offenbart die Grenzen seiner Selbstbeherrschung und Autonomie. Die wichtigste und offensichtlichste Grenze ist der körperliche Schmerz, dessen Überlegenheit Teste anerkennen muss, wenngleich er auch diesen Gegner so weit wie möglich in Schach zu halten versucht. Starobinski hat in einer eingehenden Untersuchung dieser Schlussszene gezeigt, wie Teste seinen Schmerz zu bewältigen sucht, indem er ihn me_____________ 359 So etwa die Deutung Hacketts: „Thus, Teste and the narrator, aloft in the box, may symbolize the conscious mind, or the consciousness, which can understand, and impose a pattern on the vital but blind forces, the ‘bêtise’ and the instincts, that exist beneath it.“ (Hackett, Teste, S. 120) Für Starobinski kulminiert in der Opern-Szene Testes „projet de maîtrise“: „[...] Teste, au comble de la puissance spectatrice, domine la somme des ensembles formés par le lieu, la représentation, et l’auditoire subjugué [...]. [...] Il se retranche dans le regard singulier, dans le coup d’œil qui embrasse tout au-dessus des autres regards, captifs, eux, d’une magie partielle. Son art mental réduit l’œuvre d’art totale – l’opéra – à n’être qu’un système d’excitants aisément efficaces.“ (Starobinski, Monsieur Teste face à la douleur, S. 98) Levaillant dagegen meint, dass Teste und der Erzähler in der Oper zwar wähnen, sich kraft ihres Intellekts von Sinnen und Trieben zu distanzieren und sie beherrschen, dass dieser Triumph aber nur ein scheinbarer sei; die Körperhaltung Testes, sein gerötetes Gesicht und die als Phallussymbol fungierende Säule neben ihm geben dem Leser zu erkennen, dass Teste gerade in dem Moment, wo er sich ganz über das sinnliche Begehren erhoben zu haben meint, von diesem überwältigt werde (vgl. Levaillant, (Teste), S. 92f.). Diese Deutung scheint mir zwar nicht abwegig, aber doch zu forciert; die Zeichen der Anspannung, Erregung oder Anstrengung im äußeren Erscheinen Testes können bis zu einem gewissen Grad auch auf die Konzentration, mit der er das gesamte Schauspiel aufnimmt („Il ne perdait pas un atome de tout ce qui devenait sensible, [...]“; 21) zurückgeführt oder als erste Hinweise auf seine Krankheit betrachtet werden. Und wie auch immer die körperliche Erscheinung Testes in diesen Momenten zu deuten ist, es bleibt festzuhalten, dass Teste in der Oper keineswegs die Kontrolle über sich verliert, sondern in konzisen Sätzen die Schwäche der anderen Zuschauer beschreibt und kritisiert.
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taphorisch visualisiert und objektiviert, eine „géométrie de ma souffrance“ entwirft, die „des zones de douleur, des anneaux, des pôles, des aigrettes de douleur“ enthält (24);360 doch wenn der Schmerz kommt und sich steigert („Quand cela va venir“; 25), sind diese Strategien der distanzierenden Objektivierung letztlich machtlos, ebenso wie die Versuche, sich abzulenken und die Aufmerksamkeit auf irgendein Problem zu richten; der Schmerz gestattet Teste keine freie Verfügung über seine Aufmerksamkeit mehr: ‘Que peut un homme? Je combats tout, – hors la souffrance de mon corps, audelà d’une certaine grandeur. C’est là, pourtant, que je devrais commencer. Car, souffrir, c’est donner à quelque chose une attention suprême, et je suis un peu l’homme de l’attention ... [...].’ [25]
Kurz nachdem er diese Worte gesprochen hat, scheint das Schmerzmittel zu wirken („Il devint calme“), und Teste versinkt allmählich in den Schlaf. Der körperliche Schmerz erweist sich also als eine unüberwindliche Schranke für Testes Streben nach Kontrolle und Verfügung über sich selbst. Aber die Schlussszene zeigt nicht nur, dass Teste dieses Ideal nur in einem begrenzten Maß verwirklicht hat; darüber hinaus – und dieser Aspekt ist in der Forschung weit weniger beachtet worden – lässt sie auch den Zustand des begrenzten Selbstbesitzes, den Teste tatsächlich erreicht hat, als ein Ziel von zweifelhafter Attraktivität erscheinen. Die Einsicht, dass auch die außerordentlichen Fähigkeiten eines Teste nichts gegen die Macht des Schmerzes vermögen, müsste an sich noch nicht sein Streben nach Selbstkontrolle insgesamt fragwürdig machen; die sehr weitreichende, wenn auch nicht unbegrenzte Verfügung über sich selbst, die Teste errungen hat, kann immer noch als der bestmögliche Zustand betrachtet werden. Dies wird im Text auch nicht ausdrücklich bestritten, weder von Teste selbst noch vom Erzähler. Aber in der Schlussszene erscheinen Testes Erfolge gleichwohl in einem nüchternen und tristen Licht, und zwar auch unabhängig von der Einsicht in die Einschränkung dieser Erfolge durch den Schmerz. Es ist Teste selbst, der hier beim Resümieren des von ihm Erreichten eine Mischung aus Überdruss, Geringschätzung und Melancholie artikuliert. Nachdem er sich ins Bett gelegt hat, gesteht er dem Erzähler, dass er sich alt fühle, und bilanziert die Fortschritte und Verluste, die ihn von seiner Kindheit und Jugend trennen: ‘[...] Autrefois, en m’assoupissant, je pensais à tous ceux qui m’avaient fait plaisir, figures, choses, minutes. Je les faisais venir pour que la pensée fût aussi douce que possible, facile comme le lit ... Je suis vieux. Je puis vous montrer que je me sens vieux ... Rappelez-vous! – Quand on est enfant on se découvre, on découvre lentement l’espace de son corps, on exprime la particularité de son corps par une série d’efforts, je suppose? On se tord et on se trouve ou on se retrouve, et on
_____________ 360 Vgl. Starobinski, Monsieur Teste face à la douleur, S. 108-111.
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s’étonne! on touche son talon, on saisit son pied droit avec sa main gauche, on obtient le pied froid dans la paume chaude! ... Maintenant, je me sais par cœur. Le cœur aussi. Bah! toute la terre est marquée, tous les pavillons couvrent tous les territoires ... Reste mon lit. J’aime ce courant de sommeil et de linge: ce linge qui se tend et se plisse, ou se froisse, – qui descend sur moi comme du sable, quand je fais le mort, – qui se caille autour de moi dans le sommeil ... C’est de la mécanique bien complexe. [...]’ [24]
Ein zentraler Teil von Testes Lebensprojekt bestand in dem Bemühen, sich selbst so umfassend wie möglich zu studieren, alle Regionen seines Körpers und Geistes zu erkunden und seiner Kontrolle zu unterwerfen. Das Resultat dieser Bemühungen hat Teste auf dem Heimweg von der Oper noch mit aggressivem Selbstbewusstsein beschrieben, als er dem Erzähler erklärte, weshalb er für die berauschenden Wirkungen der Oper nichts übrig habe: „Je suis chez MOI, je parle ma langue, je hais les choses extraordinaires.“ (22) Nun, in der Schlussszene, beleuchtet Teste dieses Resultat von einer anderen Seite: Er ‘kennt sich selbst auswendig’, er nimmt sich als ein Territorium wahr, das er restlos durchforscht, vermessen und besiedelt hat und in dem er folglich keine jener Entdeckungen mehr machen kann, die für die Beziehung eines Kindes zu sich und seinem Körper kennzeichnend sind und an die er sich hier mit unüberhörbarer Nostalgie erinnert. Nur die „mécanique bien complexe“ seiner Bettwäsche gewährt ihm nun noch angenehme Empfindungen und die Erregung, welche die Begegnung mit unbekannten, komplexen Figuren und Vorgängen begleitet. Die Ernüchterung und der Überdruss, die hier Testes Wahrnehmung seiner eigenen Erfolge prägen, entspringen direkt dem Bewusstsein der Endlichkeit und folglich Erschöpfbarkeit dessen, was einen Menschen ausmacht und was ihm möglich ist. Das Individuum mit seinen Eigenschaften und Fähigkeiten wird hier gedeutet als ein begrenztes Gebiet, das prinzipiell vollständig erforscht und kartographiert werden kann. Wer dieses Gebiet restlos ausgemessen hat, hat einerseits das Höchstmaß an Verfügungsgewalt über sich selbst und sein Potential errungen; andererseits kann er sich selbst keine Überraschungen mehr bereiten und sich keine Rätsel mehr aufgeben, er ist verurteilt dazu, sich unentwegt als ein endliches Wesen mit endlichen Fähigkeiten wahrzunehmen, und muss den ennui ertragen, den dieser Zustand mit sich bringt. Das zentrale Thema des letzten Abschnitts der Erzählung bilden somit nicht allein Körper und Schmerz, sondern allgemeiner die Endlichkeit und Begrenztheit der menschlichen Existenz und der menschlichen Möglichkeiten. Zunächst resümiert Teste das Ergebnis seines Strebens nach Selbstausbildung und Selbstkonstruktion in der Feststellung, dass diese Bemühungen, insofern sie erfolgreich waren, ihm ‘nur’ die Übersicht und Kontrolle über ein endliches Territorium von Fähigkeiten, Eigenschaften und Erfahrungen verschafft haben: „Toute la terre est marquée, tous les pa-
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villons couvrent tous les territoires ...“ (24). Dann zeigt sich in Gestalt des Schmerzes eine andere, besondere Art von Grenze, die Testes Streben nach Beherrschung seiner selbst gesetzt ist; Teste muss eingestehen, dass gegen den körperlichen Schmerz auch er nicht die freie Verfügungsgewalt über sich und seinen Geist behaupten kann. Wenn er schließlich seine Krankheit als etwas bezeichnet, das alle Menschen erwartet, als einen von vornherein ‘evidenten’ Teil der Zukunft, so fasst er sie damit nicht mehr nur als Einschränkung menschlicher Macht und Selbstkontrolle ins Auge, sondern als Erscheinungsweise der Sterblichkeit, und er skizziert die Haltung, die er gegenüber diesem unausweichlichen Schicksal für angemessen hielt und hält: „Sachez que j’avais prévu la maladie future. J’avais songé avec précision à ce dont tout le monde est sûr. Je crois que cette vue sur une portion évidente de l’avenir, devrait faire partie de l’éducation.“ (25) Was bedeutet der Schlussteil der Erzählung im Hinblick auf das Lebensprogramm und die Ambitionen Testes? Muss man das Programm Testes als gescheitert ansehen, da er mit all seiner Selbstkontrolle und Willenskraft sich nicht gegen den Schmerz behaupten kann? Oder wird dieses Programm durch Testes geringschätzig-melancholische Charakterisierung seiner eigenen Erfolge als ein von vornherein verfehltes und widersinniges entlarvt? Als ein Scheitern von Testes Lebensprojekt könnte all dies nur unter der Voraussetzung bewertet werden, dass er sich dieser diversen Grenzen nicht bewusst gewesen wäre und geglaubt hätte, seinem Streben nach Selbstbeherrschung seien keinerlei Grenzen gesetzt und seine Selbsterkundung und -erziehung würde ihm immer neue Entdeckungen und damit auch immer neue Befriedigung gewähren. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass Teste sich in diesen Hinsichten Illusionen hingegeben hätte; er selbst betont vielmehr, dass er seine Krankheit und den Schmerz vorhergesehen habe. Der Schlussabschnitt bringt insofern keine Widerlegung der ersten Hälfte des Teste-Porträts mit ihren Schilderungen der außergewöhnlichen Erfolge seiner Selbstkonstruktion, sondern einfach eine Vervollständigung dieses Porträts. Was der Schlussabschnitt korrigiert oder negiert, sind höchstens überschwängliche Vorstellungen, zu denen die vorangegangenen Schilderungen Testes den Leser hätten verführen können, Vorstellungen der Art etwa, Teste habe gewissermaßen die Grenzen des Menschenmöglichen überschritten oder verschoben. Die zweite Hälfte der Soirée stellt demgegenüber klar, dass für Teste nicht so sehr kennzeichnend ist, dass er irgendwelche Grenzen durchbrochen hätte, sondern dass er den begrenzten Raum der menschlichen Möglichkeiten vollständig ausgemessen und unter seine Kontrolle
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gebracht hat361 – wobei er sich über die Begrenztheit dieses Raums stets im Klaren war. Der Erzähler, so war oben festgestellt worden, sucht sich in seiner Beobachtung und Analyse Testes die Frage zu beantworten: ‘Wie sähe ein Mensch aus, der das Streben nach Herrschaft über sich selbst und sein Leben bis an die Grenze des Möglichen getrieben hätte?’ Die Schlussabschnitte der Erzählung sind gewissermaßen Teilaspekten dieser übergeordneten Frage gewidmet, nämlich den spezielleren Fragen: ‘Wie verhält sich ein solcher Mensch, wenn er körperlichem Leiden ausgesetzt ist? Wie verhält er sich grundsätzlich gegenüber den diversen Grenzen, die seinem Projekt der Selbstbeherrschung gesetzt sind?’ Doch die Fragestellung, die der Erzähler im Schlussteil wie in dem gesamten Text verfolgt, hat noch eine weitere Komponente, die in einigen Momenten der letzten Szene besonders deutlich hervortritt. Der Erzähler beantwortet sich in seinen Beschreibungen Testes immer auch die Frage: ‘Welchen Eindruck würde solch ein Mensch bzw. solch eine Existenz auf mich machen? Wie würde ich auf ihn reagieren?’ Er stellt sich vor Augen, wie die Verkörperung eines bestimmten Extrems aussähe, um sich dann darüber klar zu werden, in welchem Verhältnis er zu diesem Extrem steht, wie weit er also von diesem entfernt ist und in welchem Maße ihm dieses Extrem, wenn er es genau und von allen Seiten betrachtet, bewundernswert und erstrebenswert erscheint. Auch unter diesem Gesichtspunkt zeigen sich zwischen den zwei Hälften des Teste-Porträts bezeichnende Differenzen. Im ersten Teil reagiert der Erzähler ausdrücklich mit „enthousiasme“ (19) auf die Erscheinung Testes; die intellektuellen Fähigkeiten des „homme rigoureux“ (20), seine Souveränität in der geistigen Transformation und Bearbeitung alles Gegebenen, aber auch seine Autonomie, seine ‘Neuheit’ und seine Wahrhaftigkeit („Lui, si véritable! si neuf!“; 19), sein Verzicht auf Täuschungen und Vagheiten aller Art, all dies weckt im Erzähler eine Begeisterung, der er sich nicht entziehen kann (vgl. ebd.). In einem Absatz allerdings wird deutlich, dass die faszinierte Bewunderung, die Teste in ihm hervorruft, vermischt ist mit einem Erschrecken angesichts der „discipline effrayante“ Testes, seiner rücksichtslosen Strenge Testes gegenüber sich selbst: „J’entrevoyais des sentiments qui me faisaient frémir, une terrible obstination dans des expériences enivrantes.“ (18) Die Reaktionen, die Teste während des in der zweiten Hälfte des Textes erzählten Abends im Erzähler weckt, sind insgesamt komplexer und nicht auf einen einheitlichen Nenner zu bringen; aber sie sind alles in allem stärker durch das in _____________ 361 Vgl. die Bemerkung des Erzählers über Testes Gedächtnis: „Ce n’était pas chez lui une faculté excessive, – c’était une faculté éduquée ou transformée.“ (17)
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der ersten Hälfte nur angedeutete Schaudern und Erschrecken gekennzeichnet als durch den „enthousiasme“. Testes unempfindliche Haltung gegenüber der Musik in der Oper erregt den Protest des Erzählers, und der Anblick von Testes Wohnung wirkt auf ihn abschreckend; in beiden Fällen zeigt sich, dass der Erzähler noch Bedürfnisse besitzt, die Teste abgelegt hat. Die Musik in der Oper hat auf den Erzähler, wie er sagt, eine berauschende Wirkung, der er sich nicht entziehen kann und auch gar nicht möchte: Sie versetze ihn in eine „ivresse particulière“, schenke ihm ‘köstliche Figuren’ von allem, was er liebt, und flöße ihm die Illusion ein, mit neuer Kraft begabt und einer ungeheuren Anstrengung fähig zu werden (22). Teste sind solche Erlebnisse gleichgültig oder verächtlich; er hat alle Genüsse dieser Art der größeren Befriedigung geopfert, welche die Autarkie und der Selbstbesitz gewähren: „Je suis chez MOI, je parle ma langue, je hais les choses extraordinaires. C’est le besoin des esprit faibles.“ (22)362 Zu einer solchen rigorosen Askese kann und will der Erzähler sich offenbar nicht durchringen; so überrascht es auch nicht, dass ihn angesichts von Testes unpersönlich, banal und nüchtern-funktional eingerichteter Wohnung die Angst überkommt: Mon hôte existait dans l’intérieur le plus général. Je songeai aux heures qu’il faisait dans ce fauteuil. J’eus peur de l’infinie tristesse possible dans ce lieu pur et banal. J’ai vécu dans de telles chambres, je n’ai jamais pu les croire définitives, sans horreur. [23]
Testes Appartement veranschaulicht zentrale Aspekte der Methode, auf der seine Selbstbeherrschung und seine außerordentlichen geistigen Fähigkeiten beruhen: Um die Herrschaft über sich selbst und sein ‘possible’ zu erweitern, hat er sich von allen persönlichen Eigenheiten distanziert und sich nur mit demjenigen Teil seiner selbst identifiziert, der durch größte Abstraktheit, Allgemeinheit und Unabhängigkeit gekennzeichnet ist und insofern einem geometrischen Punkt gleicht. In den Augen des Erzählers ist der Raum von einer Reinheit und Banalität, die eine ‘unendliche Traurigkeit’ bewirken können; es ist aufschlussreich, was er im letzten Satz des Absatzes als Auslöser dieser Traurigkeit und des Entsetzens hervorhebt: „J’ai vécu dans de telles chambres, je n’ai jamais pu les croire définitives, sans horreur.“ Was in dem Erzähler Entsetzen hervorgerufen hat, war die Verbindung des Anblicks eines solchen Zimmers mit dem Gedan_____________ 362 Diese Äußerung Testes kann man als Bestätigung einer Aussage des Erzählers aus der ersten Hälfte der Soirée betrachten: „Il [i.e. M. Teste; O.K.] était l’être absorbé dans sa variation, celui qui devient son système, celui qui se livre tout entier à la discipline effrayante de l’esprit libre, et qui fait tuer ses joies par ses joies, la plus faible par la plus forte, – la plus douce, la temporelle, celle de l’instant et de l’heure commencée, par la fondamentale – par l’espoir de la fondamentale.“ (18)
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ken an seine Endlichkeit: Diese Zimmer für ‘definitiv’, für endgültig zu halten bedeutet, sich unentwegt bewusst zu machen, dass der verbleibende Rest des Lebens noch genau das und mehr nicht bieten wird, und dies ruft im Erzähler Traurigkeit und Entsetzen hervor363; für Teste scheint dagegen charakteristisch zu sein, dass er genau diese Art von Gedanken bewusst pflegt und aushalten kann. Dabei legt der Text die Auffassung nahe, dass das Zimmer Testes ein ehrliches und wahrhaftiges Bild von seiner Existenz bietet, während das Bedürfnis des Erzählers nach weniger anonym, banal und ‘rein’ eingerichteten Zimmern dasselbe Verlangen nach erhebenden Illusionen verrät, das sich auch in seiner Freude an der Musik bekundete („J’y trouve l’illusion d’un travail immense, qui, tout à coup me deviendrait possible ...“; 22). Für eine Deutung in dieser Richtung dürften auch die Allusionen auf Pascal sprechen, die man in der oben zitierten Passage über Testes Zimmer entdecken kann:364 Teste kann es im Gegensatz zum Erzähler aushalten, ruhig in einem Zimmer zu bleiben, das ihm unentwegt die Wahrheit über seine eigene Existenz vor Augen stellt.365 _____________ 363 Beachtung verdient auch der Ausdruck „infinie tristesse“ im Satz zuvor: Die schonungslose Konfrontation mit der Endlichkeit kann dem Erzähler zufolge eine unendliche Traurigkeit hervorrufen; die Verwendung von „infinie“ dürfte dabei ein Indiz dafür sein, dass die Ausdrucksweise des Erzählers durch eine geringere Präzision und eine größere Neigung zu Klischees gekennzeichnet ist als diejenige Testes. Teste würde auch diese Traurigkeit als etwas Begrenztes, als eine Emotion bestimmter Intensität und Dauer betrachten. 364 Die Passage scheint zum einen auf den Satz Pascals anzuspielen, nach dem alles Unglück der Menschen von ihrem Unvermögen herrühre, ruhig in ihrem Zimmer zu bleiben (vgl. Pascal, Pensées. In: Pascal, Œuvres complètes. Texte établi et annoté par Jacques Chevalier. Paris 1954, S. 1081-1347, hier S. 1138f. [Brunschvicg fr. 139]). Zum anderen kann man aus der Formulierung von der „infinie tristesse possible dans ce lieu pur et banal“, zumal sie sich in Nachbarschaft von „peur“ und „horreur“ befindet, eine Anspielung auf den Satz über den erschreckenden ‘silence éternel de ces espaces infinis’ heraushören, mithin auf jenen Satz, gegen den Valéry später besonders heftige und gründliche Polemiken richten sollte; vgl. vor allem: Paul Valéry, Variation. In: Œ I, S. 458-473. – Starobinski hat auf einen weiteren Pascal-Bezug in den Schlusspassagen der Soirée hingewiesen: Die in Testes letzten Äußerungen begegnenden Worte „Pensons de tout près“ (25) spielen an auf Pascals Satz: „Mais quand j’ai pensé de plus près, et qu’après avoir trouvé la cause de tous nos malheurs j’ai voulu en découvrir la raison, j’ai trouvé qu’il y en a une bien effective, qui consiste dans le malheur de notre condition faible et mortelle, et si misérable que rien ne peut nous en consoler si nous y pensons de près.“ (Vgl. Starobinski, Monsieur Teste face à la douleur, S. 115f.) 365 In den zitierten Sätzen über Testes Zimmer und über das Schreckliche der Vorstellung so eines Zimmers als eines ‘definitiven’ klingt somit auch das Thema der Antizipation des Todes an, das bereits früh in den Text eingeführt wird. In der Selbstcharakteristik des Erzählers, die den Eingang der Erzählung bildet, heißt es: „Souvent, j’ai supposé que tout était fini pour moi, et je me terminais de toutes mes forces, anxieux d’épuiser, d’éclairer quelque situation douloureuse.“ (15) Dieser Satz weist voraus auf die Äußerung Testes am Ende der Erzählung: „Sachez que j’avais prévu la maladie future. J’avais songé avec précision à ce dont tout le monde est sûr. Je crois que cette vue sur une portion évidente de l’avenir, devrait faire partie de l’éducation. Oui, j’avais prévu ce qui commence maintenant.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Die Fragen, die den Antrieb der in der Soirée entfalteten Gedankengänge des Erzählers bilden, lassen sich also wie folgt zusammenfassen: ‘Wie würde ein Mann aussehen, der mit äußerster Konsequenz die Herrschaft über sich und sein Leben zu behaupten und sich seines gesamten geistigen Potentials zu bemächtigen gesucht hat und der in diesem Streben so weit gekommen ist, wie es einem Menschen möglich ist? Und wie verhalte ich mich zu diesem Extrem?’ Der Text beantwortet diese Fragen, indem er die Lebensweise Testes skizziert, ferner den Charakter seines intellektuellen Trainings, seine Haltung gegenüber sich selbst und seinen Mitmenschen sowie einige seiner leitenden Maximen andeutungsweise beschreibt, indem er ferner die Macht charakterisiert, die Teste erreicht hat, sowie die Grenzen, die auch er nicht überschreiten kann. Während der Text dieses Porträt Testes entwickelt bzw. diese ‘Vivisektion’366 durchführt, bleibt der fragende und prüfende Blick des Erzählers stets gegenwärtig. Zusammen mit den verschiedenen Dimensionen der Gestalt Testes notiert der Erzähler jeweils seine eigenen Reaktionen auf die Eigenschaften, Verhaltensweisen und Haltungen seines Versuchsgegenstandes und verortet so seine Position im Verhältnis zu diesem Extrem. Es zeigt sich, dass Teste in vielen Hinsichten ähnliche Haltungen einnimmt wie der Erzähler, dass er diese aber radikalisiert und vor allem weit konsequenter sein Leben nach diesen Überzeugungen gestaltet; Testes intellektuelle Fähigkeiten sind denen des Erzählers, der immerhin auch die „bêtise“ nicht für seine Stärke hält, weit überlegen; Testes rigorose Askese schließlich und die Konsequenz, mit der er jegliche Ausstaffierung seiner Existenz mit persönlichen Attributen und jede Bemäntelung der Endlichkeit dieser Existenz verweigert, rufen im Erzähler Protest oder Entsetzen hervor. Die Fragen und Absichten des Erzählers, die seine Sicht auf Teste bestimmen, dürften in gewissem Maße Fragen und Absichten entsprechen, die Valéry selbst in den Jahren nach der Krise von 1892 umgetrieben haben. Valéry schrieb die Soirée kurze Zeit nach seinem Entschluss, _____________ C’était, alors, une idée comme les autres. Ainsi, j’ai pu la suivre.“ (25) Im Vergleich zwischen diesen Stellen tritt wiederum eine – graduelle – Differenz zwischen dem Erzähler und Teste zutage: Der Erzähler hat sich immer wieder vorgestellt („supposé“), alles sei zu Ende („fini“) für ihn; Teste dagegen ist sich zu jedem Zeitpunkt bewusst, dass alles für ihn „fini“ im Sinne von ‘endlich’ ist, und er konnte den Gedanken an seine künftige Krankheit und seinen Tod als eine Idee wie jede andere ansehen. 366 In einem Brief an Gide, der ungefähr aus der Zeit der Abfassung der Soirée stammt, schrieb Valéry, er wolle „l’histoire d’un bonhomme qui pense“ schreiben, und zwar als eine „vivisection“ oder eine „histologie [...], avec les procédés à vif“. (Paul Valéry à André Gide [18 mai 1896]. In: Gide / Valéry, Correspondance 1890-1942, S. 263f., Zitat S. 264; auch abgedruckt in: Œ II, S. 1382.)
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seine Ambitionen als Dichter aufzugeben und sich einem sehr umfassend und ehrgeizig konzipierten Studium der Gesetze des Mentalen zu widmen, das verbunden sein sollte mit einer systematischen Erziehung des eigenen Intellekts. Die Soirée kann man als einen Text verstehen, in dem sich der junge Valéry zu Beginn dieses Unternehmens Rechenschaft darüber abzulegen versucht, was ein Mensch auf diesem von ihm eingeschlagenen Weg im äußersten Falle erreichen kann. Die Figur des Teste ist das Ergebnis dieses Gedankenexperiments, sie verkörpert eine Hypothese über dieses Maximum des Erreichbaren. Valérys Text präsentiert allerdings nicht nur das Ergebnis dieses Gedankenexperiments, sondern lässt auch den Experimentator selbst auftreten und – im Eingang der Erzählung – die Erfahrungen und Überlegungen darlegen, die ihm den Anstoß zu den Fragen und Hypothesen über eine Gestalt wie Teste gegeben haben. So lässt Valéry auch innerhalb des Textes selbst deutlich werden, dass es spezifische Fragen, Probleme und Antriebe sind, die jemanden dazu bringen können, eine Figur wie Teste in Gedanken zu entwerfen bzw. einen solchen Menschen interessant zu finden. Valéry hat bekanntlich seine Krise des Jahres 1892 sowie die Entscheidungen, die aus dieser Krise hervorgingen, in seinen Cahiers immer wieder neu beschrieben und gedeutet. Eine der Deutungen jener Zäsur scheint mir im Hinblick auf die Soirée besonders erhellend zu sein. Es handelt sich um einen kurzen Text aus einem Heft von 1938, von dem Valéry später eine überarbeitete Fassung in seine Histoires brisées aufgenommen hat und der den Titel „La révélation anagogique“ trägt. Er sei hier auszugsweise zitiert: 1) En ce temps-là (MDCCCXCII), il me fut révélé par deux terribles anges, [Nous] et [Éros], l’existence d’une voie de destruction et de domination, et d’une Limite certaine à l’extrême de cette voie. Je connus la certitude de la Borne et l’importance de la connaître: ce qui est d’un intérêt comparable à celui de la connaissance du Solide – ou (autrement symbolisé) d’un usage analogue à celui du mur contre lequel le combattant adossé et ne redoutant nulle attaque a tergo, peut faire face à tous ses adversaires également affrontés, et par là, rendus comparables entre eux [...]. 2) J’ai cherché à voir cette borne et à définir ce mur. – J’ai voulu ‘écrire’ pour moi, et en moi, pour me servir de cette connaissance, les conditions de limite et de fermeture, ou (ce qui revient au même) celles d’unification de tout ce qui vient s’y heurter; et donc aussi celles qui font qu’on ne les perçoit ordinairement pas, et que la pensée se fait des domaines illusoires situés au delà de la Borne [...].367
Valéry sagt hier nicht, was die „voie de destruction et de domination“ war, die ihm damals offenbar wurde, doch die Vermutung liegt nahe, dass es sich um einen Weg der Selbstbemächtigung und Selbsterziehung handelte, _____________
367 Valéry, Histoires brisées. In: Œ II, S. 466f.; ‘Nous’ und ‘Éros’ dort in griechischen Buchstaben. – Vgl. die ursprüngliche Fassung des Textes in: C facs. XXI, S. 70-72 [1938].
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der dem Lebensprogramm Testes ähnelt. Bemerkenswert im Hinblick auf die Soirée ist vor allem, dass dieser Weg von vornherein als einer betrachtet wird, der zu einer „Limite certaine“ führt, und dass die Kenntnis dieser unverrückbaren Grenze als außerordentlich wichtig betrachtet wird: „Je connus la certitude de la Borne et l’importance de la connaître [...].“ Wer diese Grenze genau kennt, ist einem Fechter vergleichbar, der mit der Mauer im Rücken kämpft und nur frontal angegriffen werden kann. Auch die Intentionen des Erzählers in der Soirée zielen, so könnte man sagen, auf die Lokalisierung und Beschreibung einer solchen Grenze; indem er Teste beobachtet oder konstruiert und ihn sich in verschiedenen Situationen vorstellt, sucht er sich über die „Limite certaine“ einer bestimmten „voie de destruction et de domination“ klar zu werden, wie es Valéry zufolge auch seine eigene Absicht war: „J’ai cherché à voir cette borne et à définir ce mur.“ 3.2.5. Fazit zur Introduction und zur Soirée Die 1895 veröffentlichte Introduction und die 1896 erschienene Soirée, deren Entstehungsgeschichten eng miteinander verknüpft waren, sind die bekanntesten und wohl auch bedeutendsten Produkte der frühen Werkphase Valérys, die seinem ‘langen Schweigen’ vorausging. Daher bietet es sich an, an dieser Stelle ein Zwischenresümee einzuschalten und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Darstellungen des Denkens in diesen zwei Texten zu fragen. Es ist evident, in wie hohem Maße beide Texte den theoretischen Überzeugungen und Idealen des frühen Valéry verpflichtet sind, die oben untersucht wurden: Wie dort ausgeführt, betrachtete Valéry in den Jahren vor und um 1900 die Vervollkommnung des Intellekts und die Erweiterung der geistigen Fähigkeiten als höchstes Ziel des Denkens; Leonardo und Teste verkörpern zwei verschiedene Ausprägungen dieses Ideals intellektueller Macht, mit dem bedeutenden Unterschied, dass Teste im Gegensatz zu Leonardo diese Macht nicht in die Produktion von Werken umsetzt. Aber die Texte erweisen sich nicht nur hinsichtlich ihrer Protagonisten und ihres Inhalts als geprägt durch die theoretischen Konzeptionen des jungen Valéry, sondern auch hinsichtlich ihrer Schreibweisen. Die in diesem Zusammenhang wichtigste Ähnlichkeit zwischen der Introduction und der Soirée betrifft die Sprecherfiguren, ihre Art des Auftretens und der Selbstpräsentation sowie ihre Vorgehensweise beim Bearbeiten der selbstgestellten Probleme. Beide Sprecher betonen den kontrollierten, willensgeleiteten und planvollen Charakter ihres Denkvorgangs. Das bedeutet vor allem, dass sie zunächst ausdrücklich ihre Absichten benennen und
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diese dann konsequent in die Tat umsetzen: Der Sprecher in der Introduction evoziert in den Anfangsabschnitten des Textes ein allgemeines Problem, entwickelt daraus eine präzise Aufgabenstellung und deutet an, wie er diese Aufgabe zu bewältigen gedenkt, um dann Schritt für Schritt dieses Vorhaben durchzuführen. Der Erzähler der Soirée resümiert eingangs Erfahrungen und Beobachtungen, die ihn zu bestimmten Vermutungen und Hypothesen geführt haben, konkretisiert diese Hypothesen und entfaltet ihre Implikationen. In beiden Texten finden sich Sätze, die dem ‘voluntaristischen’ Gestus der denkenden und sprechenden Figuren, ihrem Anspruch auf Kontrolle, aber auch ihrem Bemühen um Offenlegung der Ausgangsbedingungen ihrer Gedankengänge, prägnant Ausdruck verleihen, etwa durch die Formel ‘je veux’.368 Darüber hinaus manifestiert sich der Anspruch des Sprechers auf Kontrolle über seinen Denkvorgang und Diskurs in beiden Texten auch in spezielleren Merkmalen der Schreibverfahren, etwa in der Verbindung von syntaktischem und inhaltlichem Staccato mit Verfahren der rhythmischen und klanglichen Organisation, die den Stil der Soirée kennzeichnet. Vor dem Hintergrund dieser Ähnlichkeit zeigen sich aber auch wichtige Differenzen zwischen den zwei Texten. Indem der Sprecher der Introduction mittels eines hypothetischen Modells des menschlichen Geistes die Bereiche von Kunst, Wissenschaft und Technik in eine kontinuierliche Verbindung zu bringen versucht, exerziert er selbst einen Gedankengang vor, der auf der Methode Leonardos basiert und diese demonstrieren soll. Er schreibt sich damit zwar nicht dieselben Fähigkeiten wie Leonardo zu, beansprucht aber immerhin, sich dessen Methode angeeignet zu haben und mit ihrer Hilfe ein schwieriges Problem gelöst zu haben. Der Erzähler der Soirée dagegen legt zwar auch Wert darauf, seine Überlegenheit gegenüber der Masse seiner Mitmenschen, ihrer „bêtise“, ihren Illusionen und Vagheiten hervorzukehren, aber er lässt andererseits auch keinen Zweifel an der Größe des Abstands, der ihn von Teste und seinen intellektuellen Fähigkeiten trennt. So erhebt er auch nicht – zumindest nicht ausdrücklich – den Anspruch, in seinen eigenen Reflexionen eine Illustration der Denkweise oder Methode von Teste zu liefern. Mit dieser größeren Bescheidenheit des Erzählers der Soirée sind zwei weitere, noch wichtigere Unterschiede zwischen den Texten verbunden. (1) Beide Sprecherfiguren, so wurde oben festgestellt, benennen zu Beginn _____________ 368 Vgl.: „Je me propose d’imaginer un homme de qui auraient paru des actions tellement distinctes que [...]. Et je veux qu’il ait un sentiment de la différence des choses infiniment vif, [...].“ (Valéry, Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. In: Œ I, S. 1155.) – „Il aime, il souffre, il s’ennuie. Tout le monde s’imite. Mais, au soupir, au gémissement élémentaire, je veux qu’il mêle les règles et les figures de tout son esprit.“ (Valéry, La Soirée avec Monsieur Teste. In: Œ II, S. 20.)
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ausdrücklich ihre Absichten und setzen diese im weiteren Verlauf des Textes in die Tat um. Aber während in der Introduction die Absicht des Sprechers darauf zielt, ein hypothetisches Modell zu konstruieren und dann seine Leistungsfähigkeit zu demonstrieren, will der Erzähler der Soirée im zweiten Teil des Textes ‘Experimente’ durchführen („expériences illusoires“). Der Sprecher der Introduction tritt insofern durchgehend als ein Wissender auf, der die Elemente seines Wissens zu einem bestimmten Zweck in einen neuen Zusammenhang bringt; der Erzähler der Soirée dagegen tritt zumindest in Teilen des Textes als jemand auf, der etwas herausfinden möchte, was er noch nicht weiß. (2) Das, was der Erzähler in seinen Experimenten ans Licht holen möchte, sind zunächst bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen Testes: „Que devient M. Teste souffrant?“ Aber darüber hinaus, so wurde oben argumentiert, will er auch klären, wie er selbst sich gegenüber einem Menschen wie Teste verhalten, wie er auf die verschiedenen Aspekte einer solchen Existenz reagieren würde. Die Erzählung registriert neben den charakteristischen Zügen Testes eben diese Reaktionen des Erzählers, in denen sich seine Position vis-à-vis des „homme rigoureux“ abzeichnet, seine Nähe und seine Distanz, seine Bewunderung und sein Entsetzen. Solche ‘Rückwirkungen’ der untersuchten oder beobachteten Gegenstände auf das denkende Subjekt, die weitere Konturen dieses Subjekts hervortreten lassen, gibt es in der Introduction nicht. Hier definiert sich der Sprecher eingangs über seine Absicht, ein bestimmtes Problem eigenständig zu lösen, um sich in dem folgenden Denkprozess dann allein als aktive und konstruktive Instanz zu präsentieren, die ihre methodische Kontrolle über den Reflexionsgang behauptet. Die Soirée dagegen verwirklicht, indem sie die Wechselwirkungen zwischen dem denkenden und beobachtenden Ich und seinem Beobachtungsgegenstand gestaltet, in Ansätzen eine Struktur, die in späteren Texten Valérys noch prägnanter ausgebildet werden wird, insbesondere in dem Essay L’homme et la coquille. 3.3. Die Erklärung einer Muschel als Selbstaufklärung des Menschen: L’homme et la coquille Bei dem Essay L’homme et la coquille (1937)369 ist es besonders offensichtlich, dass er als Beispiel für erzähltes Denken gelten kann, denn die narrativen Elemente sind in diesem Text weit stärker ausgeprägt als etwa in der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. Wie in diesem früheren Essay, _____________ 369 Vgl. Paul Valéry, L’homme et la coquille. In: Œ I, S. 886-907. – Stellenangaben zu diesem Essay stehen im Folgenden in Klammern im Haupttext.
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so werden auch in L’homme et la coquille Reflexionen von einer Sprecherinstanz entfaltet, die sich durch häufige Verwendung des Personalpronomens ‘ich’ stets als Urheber der Gedankengänge geltend macht und die zudem den Prozess-Charakter dieser Reflexionen hervorhebt, indem sie etwa die Resultate der vorangegangenen Reflexionsetappen zusammenfasst („J’ai donc pu séparer la forme de la matière“, 894) und die Zielsetzung und Vorgehensweise der folgenden ankündigt („Je vais donc introduire ici l’artifice d’un doute; [...]“, 892; „Mais il est temps à présent que je cesse de feindre et que je revienne à la certitude“, 898). Aber im Unterschied zur Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci wird in L’homme et la coquille auch die konkrete Situation, aus der heraus das Ich seine Überlegungen entwickelt, zumindest in groben Zügen umrissen: Das Ich hält eine spiralförmige Muschel in der Hand, die es am Strand aufgelesen hat. Diese Situation bleibt zwar hinsichtlich ihrer Verortung in Raum und Zeit unbestimmt, aber sie wird in anderer Weise konturiert. Bevor das Ich seine eigentlichen Reflexionen beginnt, schildert es die spontanen inneren Regungen, welche die Muschel in ihm auslöst; es handelt sich um eine Mischung aus Staunen und Aufmerksamkeit, naiven Fragen und Ansätzen von Gedanken: Ce coquillage que je tiens et retourne entre mes doigts, et qui m’offre un développement combiné des thèmes simples de l’hélice et de la spire, m’engage, d’autre part, dans un étonnement et une attention qui produisent ce qu’ils peuvent: remarques et précisions tout extérieures, questions naïves, comparaisons ‘poétiques’, imprudentes ‘théories’ à l’état naissant ... Et je me sens l’esprit vaguement pressentir tout le trésor infus des réponses qui s’ébauchent en moi devant une chose qui m’arrête et qui m’interroge ... [887f.]
Diese Schilderungen der mentalen Vorgänge, welche den Überlegungen des Ich vorausgehen oder sie begleiten, sind von großer Bedeutung im Hinblick auf die Vorstellung von Denken und Erkenntnis, welche in dem Essay gestaltet wird, und sie werden daher später noch ausführlicher betrachtet werden. Hier sei zunächst nur festgehalten, dass diese Passage einen konkreten Erfahrungsmoment skizziert, aus dem heraus sich die Gedankengänge des Sprecher-Ichs entwickeln. Auch an späteren Stellen im Essay wird das Ich immer wieder auf die Muschel in seiner Hand verweisen und so an die konkrete Situation erinnern, die den Kontext seiner Überlegungen bildet: „Je regarde au contraire à l’objet lui seul“ (892); „J’ai ramassé celle-ci [i.e. cette coque; O.K.] sur la sable“ (893); „Je puis donc faire une coquille assez semblable à celle-ci, telle que l’examen immédiat me la propose“ (896). Der letzte Absatz des Textes schließlich beginnt mit dem Satz: „Je vais rejeter ma trouvaille comme on rejette une cigarette consumée.“ (906) Zusammen konstituieren diese Passagen eine narrative
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Textstruktur, in die deskriptive und erklärende Strukturen eingelassen sind. Der Verlauf des Gedankengangs sei hier knapp zusammengefasst: Angeregt durch die Muschel, denkt das Ich darüber nach, aufgrund welcher Qualitäten Gegenstände wie Muscheln, Blumen oder Kristalle dem Menschen besonders auffallen, ob er selbst eine solche Muschel fabrizieren könnte und worin sich die menschliche Tätigkeit des Herstellens von natürlichen Wachstumsprozessen unterscheiden. Der Versuch, sich die Entstehung der Muschel begreiflich zu machen, führt ihn an die Grenzen des menschlichen Erklärens und Verstehens: Der Mensch könne eine Sache nur erklären, indem er sich vorstellt, wie er diese Sache herstellen würde. Der Sprecher kommt zwar zu dem Schluss, dass er eine Muschel wie die in seiner Hand liegende herstellen könnte; aber diese Herstellung hätte nichts gemein mit dem Prozess des Wachstums, aus dem die Muschel tatsächlich hervorgegangen ist, denn dieses Wachstum vollzieht sich um ein Vielfaches langsamer als jede menschliche Fabrikationstätigkeit und verläuft ohne jenes bewusste Nachdenken, Auswählen und Entscheiden, das für diese menschliche Tätigkeit kennzeichnend ist. Dieser Wachstumsvorgang und damit die Phänomene der „Nature vivante“ (900) liegen daher außerhalb des menschlichen Vorstellungs- und Erklärungsvermögen – und dies, obwohl der Mensch selbst ein Teil dieser lebenden Natur und aus einem solchen Wachstumsprozess hervorgegangen ist. Die Reflexion über die Muschel verweist den Menschen somit auf fundamentale Differenzen in der Verfasstheit des Menschen selbst, namentlich auf die Differenz zwischen dem, was er ist, und dem, was er weiß: ein großer Teil dessen, was der Mensch ist, ist den Erkenntnis- und Erklärungsanstrengungen seines Geistes nicht zugänglich. Der Essay enthält eine Reihe von Anspielungen auf bedeutende Texte und Autoren der abendländischen Philosophiegeschichte. Indem er das Verhältnis zwischen den Formen der lebenden Natur und dem menschlichen Handeln und Verstehen erörtert, greift er Themen und Fragen aus Kants Kritik der Urteilskraft auf.370 Die Rede von „celui qui fit, un jour, table _____________ 370 Vgl. dazu: Jean Petitot, ‘La vie ne sépare pas sa géométrie de sa physique’. Remarques sur quelques réflexions morphologiques de Paul Valéry. In: Jean Hainaut (Hg.), Valéry: Le partage de midi. ‘Midi le juste’. Paris 1998, S. 139-152. Vgl. ferner: Judith Robinson-Valéry, L’Homme et la coquille. La forme en devenir. In: Ebd., S. 197-211. – Diese Analysen konzentrieren sich weitgehend auf die Thesen und Argumente des Essays; die Struktur und die sprachliche Gestaltung des Textes sind dagegen bislang kaum ausführlich untersucht worden. Einige knappe, aber überzeugende Hinweise hierzu finden sich bei: Régine Pietra, L’architecte assassiné ou la coquille du philosophe. In: James Lawler / André Guyaux (Hg.), Littérature moderne 2. Paul Valéry. Paris, Genève 1991, S. 79-89. Weniger ergiebig ist dagegen: Jean-Claude Coquet, La bonne distance selon ‘L’homme et la coquille’ de Paul Valéry. In: Micromégas 10 (1983), S. 135-144. Der Verfasser präsentiert seine Analyse als
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rase“ (891) und der Ausdruck „l’artifice d’un doute“ (892) können Anspielungen auf Descartes enthalten; vor allem aber bedient sich der Essay mit seiner Verbindung von Erzählung und Reflexion in der ersten Person Singular Präsens einer Redeform, für die Descartes’ Meditationes ein Modell geliefert haben. Zudem mag die als Auslöser und Gegenstand der Reflexionen dienende Muschel in der Hand des Sprechers auch Erinnerungen an die berühmte Passage über das Wachsstück in der zweiten Meditatio wecken. Am Rande wird in Valérys Essay Spinoza erwähnt, wenn auch nur aufgrund seiner ‘Doppelexistenz’ als Philosoph und Linsenschleifer (vgl. 904). Schließlich verweist der Sprecher ironisch auf eine Ähnlichkeit zwischen seinem Vorgehen und dem typischen Verfahren der Philosophie, die ebenfalls – wie der Sprecher in einem Abschnitt seines Gedankengangs – Unwissenheit in Bezug auf wohlbekannte Dinge vorzutäuschen pflege (vgl. 897). Diese diversen, mehr oder weniger deutlichen Anspielungen auf Philosophen oder die Philosophie dürften unter anderem den Zweck zu haben, eine Nebenabsicht und einen Anspruch des Essays hervortreten zu lassen: Der Text soll nicht nur ein spezielles Thema erörtern, sondern zugleich eine bestimmte Vorgehensweise demonstrieren, und zwar eine Vorgehensweise, die sich als Alternative zu traditionellen Verfahren der Philosophie – die hier freilich kaum ausdrücklich genannt werden – anbietet.371 Die Abfolge der Schritte, in denen der Sprecher die von der Muschel aufgeworfenen Fragen und Probleme zu klären und zu lösen sucht, ist als eine exemplarische gemeint, als Modell einer intellektuellen Auseinandersetzung mit einem Gegenstand der Welt, in deren Verlauf der Denkende sich zugleich etwas mehr Klarheit über sich selbst verschafft. 3.3.1. Die Struktur des Gedankengangs: Unwillkürliche Reaktionen und ihre Entfaltung Am Ende des Essays, als der Sprecher die Muschel wieder wegwirft, charakterisiert er die vorangegangenen Reflexionen in dem Satz: „Je vais re_____________ eine semiotische, ohne aber anzugeben, welche semiotische Theorie er zugrunde legt. Seine Rekonstruktion und Analyse der Vorgehensweise des Sprechers enthält einige anregende Beobachtungen, wirkt aber teilweise auch willkürlich und an einigen Stellen unklar; auch die zentrale These der Studie, der zufolge der Text durch eine Homologie bzw. eine „correspondance réciproque entre le sujet observateur et l’objet observé“ (ebd., S. 136; vgl. auch 144) strukturiert sei, wird nicht überzeugend erläutert und begründet. 371 Auch Judith Robinson-Valéry liest diesen Essay als einen Text, in dem Valéry exemplarisch „sa propre manière de poser les questions philosophiques“ habe vorführen wollen; vgl. J. R.-V., L’apport de Valéry à la philosophie. In: Nuova Corrente 32 (1985), S. 451-484, hier S. 460-462, Zitat S. 460.
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jeter ma trouvaille, comme on rejette une cigarette consumée. Cette coquille m’a servi, excitant tour à tour ce que je suis, ce que je sais, ce que j’ignore ...“ (906). Diese Formulierung schreibt beiden Beteiligten des Denkprozesses, der Muschel wie dem Menschen, eine aktive, initiative und steuernde Rolle zu. Einerseits weckt die Muschel etwas im Menschen und löst so den Denkvorgang aus; wie in dem oben zitierten Satz, so werden an mehreren Stellen des Essays die Muschel oder beliebige Gegenstände von Reflexionen zum grammatischen Subjekt gemacht und als aktive Initiatoren von Denkprozessen gedeutet: Indem sie die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich ziehen und sein Staunen erregen, halten diese Gegenstände ihn gleichsam fest, bieten ihm etwas an oder fordern ihn zu etwas auf (vgl. 886, 887f., 890f., 893). Andererseits sagt der Sprecher im oben zitierten Satz, dass er die Muschel benutzt habe, und er wirft sie wie eine zu Ende gerauchte Zigarette fort, sobald sie ihren Zweck erfüllt hat; es sind also auch die Wünsche, Interessen oder Bedürfnisse des Menschen, die den Denkvorgang steuern. Diese zwei Aspekte des Denkvorgangs lassen sich verbinden in der Feststellung, dass der Sprecher sich offenbar der Muschel bedient, um etwas aus sich herauszulocken, auf das er keinen direkten Zugriff hat; zu diesem Etwas gehört sowohl das, was der Sprecher ist, als auch das, was er weiß, und das, was er nicht weiß. Diese Rollen von Sprecher und Muschel, Subjekt und Objekt der Reflexionen, wie sie der oben zitierte Satz charakterisiert, prägen auch die Struktur des erzählten Denkvorgangs. Am Anfang stehen die unwillkürlichen, ungeordneten und unfertigen Reaktionen, welche die Muschel im Sprecher hervorruft; dann übernimmt der Sprecher die aktive Rolle, indem er sich auf seine ersten, unwillkürlichen Reaktionen zurückwendet, sie ordnet, sukzessiv und methodisch entfaltet und sie selbst wiederum zum Gegenstand von Reflexionen macht. Die Passage, in der die ersten, vagen und konfusen Reaktionen des Sprechers geschildert werden, wurde oben bereits zitiert: Ce coquillage que je tiens et retourne entre mes doigts, et qui m’offre un développement combiné des thèmes simples de l’hélice et de la spire, m’engage, d’autre part, dans un étonnement et une attention qui produisent ce qu’ils peuvent: remarques et précisions tout extérieures, questions naïves, comparaisons ‘poétiques’, imprudentes ‘théories’ à l’état naissant ... Et je me sens l’esprit vaguement pressentir tout le trésor infus des réponses qui s’ébauchent en moi devant une chose qui m’arrête et qui m’interroge ... [887f.]
Die verschiedenen Arten von Reaktionen, die hier aufgezählt werden, entsprechen relativ genau den Abschnitten der im Essay folgenden Gedankengänge: Der Sprecher wird zunächst versuchen, die Form der Muschel möglichst exakt zu beschreiben, also „remarques et précisions tout extérieures“ ausbreiten. In einem nächsten Schritt wird er eine der
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„questions naïves“ aufgreifen, welche die Muschel in ihm auslöst; die von dieser naiven Frage ausgehenden Reflexionen bilden den zentralen und umfangreichsten Abschnitt seiner Überlegungen. Die „comparaisons ‘poétiques’“ in dem obigen Zitat können als Vorausdeutung auf einige spielerisch-skurrile Partien aus dem Schlussteil des Essays verstanden werden, in denen Einstein als Erfinder eines monströsen Tintenfisches auftritt, der Euklids Geometrie sowie Zeit und Materie einfängt und verschlingt (vgl. 903f.). Die Etappen des erzählten Gedankengangs werden mithin als Vertiefungen oder Entfaltungen der unwillkürlichen, rohen und entwurfsartigen Antwortimpulse präsentiert, welche die Muschel zu Beginn dem Sprecher-Ich entlockt. Das Wort „infus“ in der Formulierung „le trésor infus des réponses“ deutet darauf hin, dass der Sprecher diese spontanen Reaktionen als ein Teil von „ce que je suis“ begreift. Der zentrale und ausführlichste Abschnitt der Reflexionen ist, wie bereits erwähnt, derjenige, der von einer naiven Frage des Sprechers seinen Ausgang nimmt. Nachdem der Sprecher den „géomètre“ in sich aktiviert hat, um eine genaue Beschreibung der Muschel anzufertigen (890), versetzt er sich in einen Zustand künstlicher Naivität, ruft das unwissende und neugierige Kind in sich auf („l’enfant qui nous demeure“; ebd.) und versucht, die Muschel ‘zum ersten Mal zu sehen’. Die Frage, die daraufhin in ihm aufsteigt, ist: „Qui donc a fait ceci?“ (891) Die Überlegungen, die der Sprecher an diese Frage anschließt, suchen vor allem zu erhellen, weshalb die Muschel gerade diese Frage in ihm ausgelöst hat. So fragt sich der Sprecher kurz darauf, woran man überhaupt erkennt, ob ein gegebenes Objekt von Menschen hergestellt wurde (vgl. 892); er ruft sich ins Bewusstsein, aufgrund welcher Eigenschaften die Muschel ihm am Strand aufgefallen ist und aufgrund welcher Merkmale sie ihm als etwas Gemachtes erscheinen konnte (vgl. 892f.). Die Feststellungen, die er dabei trifft, sagen stets ebenso viel über den Menschen aus wie über die Muschel: Dass die Muschel ihm als ein Menschenfabrikat erscheinen konnte, so konstatiert er, liegt an der Abhängigkeit und dem Zusammenhang zwischen ihren Teilen, von denen jeder notwendig ein Ganzes zu fordern scheint; diese Einheit und Ganzheit der Muschelform weckt in dem Ich „l’idée d’une idée directrice de l’exécution“, wie sie für das menschliche Fabrizieren wesentlich ist (vgl. 893). Nachdem er sich bewusst gemacht hat, weshalb er die Muschel für einen menschengemachten Gegenstand gehalten hat, sucht der Sprecher sich vorzustellen, wie er bei der Herstellung einer solchen Muschel vorgehen würde; dabei macht er sich klar, was es überhaupt bedeutet, einen Gegenstand zu machen, was die Eigenarten der menschlichen Tätigkeit des „faire“ sind: Diese Tätigkeit ist geleitet durch eine „idée directrice“, die schon vor der eigentlichen Arbeit im Geist des Menschen existiert und während dieser Arbeit bewahrt werden
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muss (893); die Arbeit selbst besteht aus einzelnen, separaten Akten, bei denen der Mensch stets einen gewissen Grad an Freiheit besitzt und somit zur Auswahl und Entscheidung gezwungen ist; diese Entscheidungen, das Koordinieren der verschiedenen Einzelhandlungen im Hinblick auf das Gesamtziel und das Festhalten dieses Ziels im Bewusstsein erfordern alle die Beteiligung des Denkens, die „présence pensante“ des Menschen (vgl. 894-896). Indem er die Kennzeichen der menschlichen Produktionstätigkeit immer präziser zu beschreiben sucht, kommt der Sprecher schließlich zu der Feststellung, dass diese Tätigkeit durch den Ausdruck ‘faire un objet’ nur unvollkommen und missverständlich bezeichnet wird: „En vérité, je ne fais pas cet objet; je ne fais que substituer certains attributs à certains autres, et une certaine liaison, qui m’intéresse, à une certaine diversité de pouvoirs et de propriétés que je ne puis considérer et utiliser que un à un.“ (895) Etwa in der Mitte des Essays ist der Sprecher zu dem Resultat gelangt, dass er eine Muschel wie die in seiner Hand liegende herstellen könnte, und er hat sich klar gemacht, wie er bei der Fabrikation einer solchen Muschel vorgehen müsste. Damit hat er die Muschel – in einem bestimmten Sinne – verstanden und erklärt: „En somme, dans les limites que j’ai dites: j’ai compris cet objet. Je me le suis expliqué par un système d’actes miens, et j’ai par là épuisé mon problème [...].“ (896) Jeder Versuch, noch weiter zu gehen, würde das Problem verändern und den Sprecher von einer „explication de la coquille“ zu einer „explication de moi-même“ übergehen lassen (ebd.). Allerdings könnte man sagen, dass der Sprecher, genau genommen, schon mit einer „explication de moi-même“ begonnen hat, als er sich die spezifischen Eigenschaften der menschlichen Herstellungstätigkeit ins Bewusstsein gerufen hat. In jedem Fall bleibt zu fragen, inwiefern der Fortgang der Reflexionen als eine „explication de moi-même“ gedeutet werden kann. Kurz darauf hört der Sprecher auf, Naivität und Unwissenheit hinsichtlich der Entstehung der Muschel zu simulieren, begibt sich wieder an die „surface d’expérience commune“ (898) und zieht das verfügbare Wissen über das Wachstum von Muscheln heran (vgl. 898-902). Es scheint zunächst, als ob er damit die aus seiner naiven Frage „Qui donc a fait ceci?“ entsprungenen Reflexionen hinter sich lässt, und man kann sich fragen, worin überhaupt der Sinn dieser Episode fingierter Naivität bestand, wenn der Sprecher dann doch auf das wissenschaftliche Wissen über die Entstehung der Muschel rekurriert und es größtenteils akzeptiert. Aber tatsächlich erfüllen diese ‘naiven’ Überlegungen, insbesondere die darin enthaltene Analyse des menschlichen Machens („faire“), auch in diesem späteren Abschnitt des Gedankengangs eine zentrale Funktion. Während der Sprecher die Aussagen der Forscher über das Wachstum der Muschel
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resümiert, greift er auf das menschliche Machen als auf ein Referenzsystem zurück, mit dem er diesen Wachstumsprozess vergleicht. Da für ihn alles Erklären gleichbedeutend ist mit einem Machen, einem „refaire par la pensée“ (891),372 kann er durch diesen Vergleich zwischen dem menschlichen Machen und dem Wachstum der Muschel jene Merkmale des Wachstumsprozesses herauspräparieren, die den Bereich des für den Menschen Erklärbaren übersteigen und insofern auch kaum als echtes Wissen („savoir véritable“, 899) gelten können: Der Mensch kann sich keine Veränderungen vorstellen, die sich so langsam vollziehen wie das Wachstum der Muschel (vgl. 902f.); außerdem muss er die verschiedenen Konstituenten seiner Handlungen, die Kraft, das Material und die Zeit, stets getrennt auffassen, während sie sich im Wachsen des Weichtiers und seiner Muschel womöglich untrennbar miteinander verbinden (vgl. 903); schließlich ermöglicht das Bewusstsein seiner eigenen Tätigkeiten dem Menschen auch keine Vorstellung davon, wie die Muschel ohne Rekurs auf äußere Hilfsmittel, aber gleichwohl mit unfehlbarer Sicherheit die komplexe Ordnung ihres Gehäuses hervorbringen kann (vgl. 904f.). In diesem Abschnitt seiner Überlegungen unterzieht der Sprecher ferner zwei Begriffe einer kritischen Prüfung, die gängigerweise zur Einordnung der Muschel genutzt werden oder genutzt werden könnten, den Begriff der „Nature“ oder der „Nature vivante“ (897, 900) sowie den des „hasard“ (897f., 900); 373 auch in der Explikation dieser Begriffe nutzt der Sprecher das menschliche „faire“ als Bezugspunkt, wenn er etwa die Verwendungsweise des Ausdrucks „Nature“ so erläutert: „C’est à elle que nous donnons à produire tout ce que nous ne savons pas faire, et qui, pourtant, nous semble fait.“ (897) Die Einnahme einer naiven, unwissenden Haltung gegenüber der Muschel hatte mithin die Funktion, die ursprüngliche Neugier des Menschen, vor allem aber sein primäres, ursprüngliches oder angeborenes Verfahren der Erkenntnis zu aktivieren. Denn dass sich ihm in dem Zustand der künstlichen Naivität als erstes die Frage „Qui donc a fait ceci?“ aufdrängt, gilt dem Sprecher als Indiz für eine solche anthropologische Zentralstellung der Idee des Machens – „[l]’idée de Faire est la première et la plus humaine“ (891) –, und dementsprechend verwendet er diese Idee im weiteren Verlauf seiner Überlegungen als grundlegendes Referenzsystem, anhand dessen sich die Grenze zwischen dem „ce que je sais“ und dem „ce _____________ 372 „L’idée de Faire est la première et la plus humaine. ‘Expliquer’, ce n’est jamais que décrire une manière de Faire: ce n’est que refaire par la pensée.“ (891) 373 Zu Valérys Begriff des Zufalls vgl.: Christel Krauß, Der Begriff des Hasard bei Paul Valéry. Theorie und dichterische Praxis. Diss. masch. Heidelberg 1969.
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que j’ignore“ bestimmen und die Verwendungsweise problematischer Ausdrücke wie ‘Natur’ und ‘Zufall’ klären lässt.374 Inwiefern die Muschel den Sprecher dazu bewegt, sich über das, was er weiß, und über das, was er nicht weiß, Klarheit zu verschaffen, liegt recht offen zutage; wie oben referiert, legen die Ausführungen über die mögliche Herstellung einer Muschel und über ihren Wachstumsprozess ausdrücklich dar, was der Mensch weiß oder erklären kann und was nicht. Aber inwiefern ruft die Muschel in dem Sprecher auch das auf, was er ist („ce que je suis“), inwiefern gibt sie ihm den Anstoß zu einer „explication de moi-même“? Es dürften mehrere Teile und Aspekte des Gedankengangs sein, auf die der Sprecher mit diesen Formulierungen verweist. Wenn er darlegt, welche Aspekte des Wachstums der Muschel grundsätzlich von menschlichen Herstellungsvorgängen abweichen und insofern für den Menschen unvorstellbar und unerklärlich sind, so sagt er mit alldem auch etwas über das Wesen und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis- und Erklärungsfähigkeit, insofern also über einen Aspekt dessen, was er ist. Noch wichtiger allerdings ist die Tatsache, dass der zentrale Gegenstand der Überlegungen des zweiten Teils in der „nature vivante“ besteht, zu der der Mensch selbst gehört: Il est, d’ailleurs, étrange, et digne de quelque attention, qu’en dépit de tant de travaux et de moyens d’une merveilleuse subtilité, nous ayons jusqu’ici si peu de prise sur cette nature vivante, qui est la nôtre. [899]
Wenn der Sprecher daher die Eigenschaften der Muschel und ihres Wachstums beschreibt, die sich den menschlichen Erklärungsbemühungen entziehen, so beschreibt er damit großenteils auch Aspekte seines eigenen Seins, Aspekte des menschlichen Organismus und seiner verborgenen ‘Tätigkeiten’, von denen alle geistigen Erkenntnisanstrengungen abhängen, die diesen aber nur sehr begrenzt zugänglich sind. Dass die Muschel dem Sprecher ins Bewusstsein ruft, ‘was er ist’ („ce que je suis“), dürfte sich schließlich auch auf die Analogien zwischen dem Leben der Muschel und dem des Menschen beziehen, die der Sprecher gegen Ende des Essays skizziert: Wie die Molluske einerseits in ihrem Inneren an ihrem Gehäuse arbeitet und sich andererseits durch die äußere Welt des Meeres bewegen muss, die durch ganz andere Prinzipien und Gesetze, andere Räume, Zeiten und Formen bestimmt ist, so lebt auch der Mensch _____________ 374 Judith Robinson-Valéry dagegen meint, dass der gesamte auf die Frage „Qui donc a fait ceci?“ folgende Gedankengang dem Nachweis diene, dass ein Mensch kein ‘Äquivalent’ einer Muschel herstellen könne und dass diese Frage somit „tout à fait illégitime“ sei (RobinsonValéry, L’apport de Valéry à la philosophie, S. 462). Diese Deutung scheint mir den Gehalt und die Zielsetzung des Gedankengangs nicht zu treffen; die Bezugnahme auf das menschliche Machen wird vom Sprecher nicht als illegitim, sondern als unvermeidlich betrachtet, und sie erweist sich auch durchaus als fruchtbar.
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„tantôt dans ‘le monde des corps’, tantôt dans celui des ‘esprits’“ und versucht stets, die Unterschiede zwischen diesen Welten in einem einheitlichen Gesamtbild aufgehen zu lassen (906). Was bisher über die Struktur des Textes und des darin entfalteten Gedankengangs gesagt wurde, bezog sich vor allem auf die großen Linien dieser Reflexionen, auf die Ebene der Makrostruktur. Diese ist, wie gesehen, dadurch gekennzeichnet, dass der Sprecher aus seinen unwillkürlichen Reaktionen auf die Muschel einzelne herausgreift und sie sorgfältig und ausführlich entwickelt. Insofern schreitet der Gedankengang, auf dieser Makroebene betrachtet, weitgehend linear und stetig voran, als eine geordnete Abfolge von aufeinander aufbauenden Etappen. Die interne Struktur dieser einzelnen Etappen aber, gewissermaßen die mikrostrukturelle Ebene der Reflexionen, ist nicht nur und nicht in erster Linie durch eine solche lineare Progression geprägt. Auffällig ist zunächst, dass der Sprecher einige Themen und Gedanken in mehreren Abschnitten aufgreift, gleichsam mehrmals auf sie zurückkommt, wobei er sie jeweils etwas unterschiedlich akzentuiert und vor allem in unterschiedlichen Graden der Ausführlichkeit entfaltet. So wendet sich der Sprecher in mehreren Anläufen immer wieder der Muschel zu, um sie zu beschreiben und die Eigenschaften herauszupräparieren, aufgrund derer sie ihm aufgefallen ist und aufgrund derer sie ihm einem menschlichen Produkt vergleichbar erscheint (vgl. 887-890, 892, 893). Die These, dass „[e]xpliquer“ gleichbedeutend sei mit „refaire par la pensée“, wird an einer Stelle einfach apodiktisch behauptet und einige Seiten später dann ausführlicher erläutert und begründet (wobei der Sprecher in dieser zweiten Stelle die Ausdrücke ‘expliquer’ und ‘refaire par la pensée’ selbst nicht mehr verwendet, sondern durch längere, differenzierte Paraphrasen oder Explikationen ersetzt; vgl. 891, 899).375 Nachdem der Sprecher das erste Mal auf die Begriffe ‘Natur’ und ‘Zufall’ zu sprechen gekommen ist und darauf hingewiesen hat, dass die Natur über eine Differenz zum menschlichen „faire“ definiert ist (897), wendet er sich wieder den Aussagen der Wissen_____________ 375 Die erste Formulierung lautet: „L’idée de Faire est la première et la plus humaine. ‘Expliquer’, ce n’est que refaire par la pensée.“ (891) Einige Seiten später wird der Sprecher ausführlicher auf diesen Gedanken zurückkommen, als er den Grund dafür darzulegen sucht, dass der Mensch so wenig über die „choses de la vie“ beziehungsweise über die „nature vivante“ weiß. Hier legt er auch offen, was er unter „expliquer“ und unter „refaire par la pensée“ versteht: „En y regardant d’un peu plus près, on trouverait sans doute que notre esprit est défié par tout ce qui naît, se reproduit et meurt sur la planète, parce qu’il est rigoureusement borné, dans sa représentation ces choses, par la conscience qu’il a de ses moyens d’action extérieure, et du mode dont cette action procède de lui, sans qu’il ait besoin d’en connaître le mécanisme. Le type de cette action est, à mon sentiment, le seul modèle que nous possédions pour résoudre un phénomène en opérations imaginaires et volontaires qui nous permettent enfin ou de reproduire à notre gré, ou de prévoir, avec une bonne approximation, quelque résultat.“ (899)
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schaft über das Wachstum der Muschel zu, um dann noch einmal ausführlicher auf den Begriff der „Nature vivante“ und die Unterschiede zwischen ihrer ‘Arbeitsweise’ und derjenigen des Menschen zurückzukommen (900), bevor er wieder das Wachstum der Muschel in den Blick nimmt (901). Auch die Differenz zwischen den intentionalen Handlungen des Menschen und den unbewusst ablaufenden Vorgängen in seinem Körper („notre activité organique profonde“, 896), wird an mehreren Stellen und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen in den Blick genommen (vgl. 895f., 899, 906). Diese Aspekte des Textverlaufs kann man als Annäherungen an die Form einer Spirale auffassen, wie sie auch die vom Sprecher untersuchte Muschel aufweist.376 Außerdem wecken diese mehrfachen, unterschiedlich ausführlichen Formulierungen derselben Gedanken den Eindruck, dass jede dieser Fassungen immer nur eine vorläufige und unabgeschlossene ist, die noch weiter vertieft werden könnte. Kommt der Sprecher also einerseits mehrfach auf einige Grundideen seiner Überlegungen zurück, so fügt er andererseits immer wieder kurze Digressionen oder Exkurse in seinen Hauptgedankengang ein, etwa um den von ihm gerade erörterten Begriff oder Gegenstand mit anderen zu vergleichen, ihn von anderen abzugrenzen oder Analoga aus anderen Bereichen aufzusuchen. Diese gedanklichen Seitenwege entfernen sich also kurzzeitig von der Hauptstrecke der Argumentation, um gleichsam die begriffliche oder sachliche Umgebung des jeweils erörterten Gegenstands zu erkunden. Als der Sprecher beschließt, die naive Frage „Qui donc a fait ceci?“ zeitweilig ernst zu nehmen und die Möglichkeit einer Herstellung der Muschel durch den Menschen zu untersuchen, rechtfertigt er dieses Vorgehen mit der Bemerkung, dieses Problem sei auch nicht naiver oder sinnloser als die Frage, wer oder was ein Kunstwerk hervorgebracht habe, ob es sich etwa den Musen oder dem Schicksal oder einer langen, mühseligen Arbeit verdanke (vgl. 892). Später wird der Sprecher durch die Betrachtung des zwischen Nahrungssuche und Gehäusebau aufgeteilten Lebens der Muschel an Philosophen und Dichter erinnert, die neben ihrer intellektuellen oder künstlerischen Tätigkeit bürgerliche oder handwerkliche Berufe ausgeübt haben (vgl. 904). Während diese kurzen Abschweifungen sich jeweils Feststellungen von Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Phänomenen oder Bereichen verdanken, dienen andere eher der kontrastierenden Abgrenzung des gerade erörterten Gegenstands: Als er sich die konstitutiven Merkmale menschlicher Herstellungstätigkeiten bewusst macht, stellt er unter anderem fest, dass der Mensch nur dann eine be_____________ 376 Pietra weist auf den ‘spiralförmigen’ Verlauf der Reflexionen hin und schreibt diesem Verfahren unter anderem eine pädagogische Funktion zu: „Alternance et progression: spirale déployée. Admirable pédagogie: on revient mais sans passer exactement par le même chemin, ayant franchi une spire de plus [...].“ (Pietra, L’architecte assassiné, S. 87)
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stimmte Sache machen kann, wenn er auch viele andere machen könnte, dass für menschliches Herstellen also der Zwang zu Auswahl und Entscheidung kennzeichnend ist (vgl. 894f.); er beschränkt sich aber nicht auf diese Charakterisierung intentionaler Handlungen, sondern wendet sich auch den menschlichen Tätigkeiten zu, die nicht mit Entscheidungen verbunden und durch bewusstes Denken begleitet sind und die also auch nicht als spezifisch menschlich gelten können: atmen, gehen, sich erinnern (vgl. 895f.). Ein ähnlicher, der Abgrenzung dienender kurzer Exkurs schließt sich an die erste Erläuterung des Begriffs ‘Natur’ an: Die Natur, so die Explikation des Sprechers, werde von den Menschen als Produzentin alles dessen angesehen, was sie nicht herzustellen wissen, was aber hergestellt zu sein scheint; er ergänzt diese Erläuterung aber noch, indem er jene Instanz vorstellt, die der Mensch für die Entstehung aller übrigen Dinge und Ereignisse – die also weder dem Menschen noch der Natur zugeschrieben werden können – verantwortlich mache, nämlich den Zufall (vgl. 897). Auch der Begriff des Zufalls wird dann noch etwas näher untersucht (vgl. 897f.). Mehrere der kurzen Exkurse oder Digressionen münden in die Konstatierung offener Fragen und ungelöster Rätsel. Der Seitenblick auf die Produktion von Kunstwerken etwa läuft auf die Feststellung hinaus, dass die Frage, wer oder was ein Kunstwerk hervorgebracht habe („ce qui a fait un bel ouvrage de musique ou de poésie“; 892), ein „énigme“ darstelle, denn der Hinweis auf die Person des Künstlers helfe bei dieser Frage nicht viel weiter: Dire que quelqu’un l’a composé, qu’il s’appelait ou Mozart ou Virgile, ce n’est pas dire grand’chose; cela ne vit pas dans l’esprit, car ce qui crée en nous n’a point de nom; ce n’est qu’éliminer de notre affaire tous les hommes moins un, dans le mystère intime duquel l’énigme intacte se resserre ... [892]
Als der Sprecher die zwischen Selbsterhaltung und Gehäusefabrikation geteilte Existenz der Molluske mit dem Leben von Philosophen und Dichtern, die zugleich Handwerker oder Beamte waren, vergleicht, lässt er auch diese kurze Abschweifung mit einer Frage enden: „[...] [I]l se peut qu’une indépendance suffisante s’observe entre ces métiers exercés par le même. Après tout, qu’est-ce que le même?“ (904) Schon die Beschreibung der äußeren Form der Muschel, die der „géomètre“ im Sprecher zu Beginn des Essays anfertigt, führte zu solchen offenen Fragen: Der Sprecher kann weder erklären, weshalb die Windungen der spiralförmigen Muscheln überwiegend in einer der zwei möglichen Richtungen verlaufen, noch kann er beantworten, weshalb die Spirale nach einer bestimmten Zahl von Drehungen plötzlich abbricht (vgl. 890). Diese ungeklärten Fragen am Ende von Abschnitten des Gedankengangs stellen keine Ausnahmen dar, sondern sind für die Dynamik dieser Reflexionen insgesamt
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
charakteristisch, wie der Sprecher im letzten Satz des Essays ausdrücklich vermerkt: Die Muschel habe in ihm zahlreiche Gedanken geweckt, von denen keiner zu einem Abschluss gelange – „quantité de pensées, dont aucune ne s’achève ...“ (907). Aber dass viele oder alle der Reflexionsstrecken in offene Fragen münden, bedeutet nicht, dass der Sprecher gar nichts erreicht hätte und seine Denkanstrengung als gescheitert angesehen werden müsste. Das positive Resultat des Denkprozesses besteht vor allem darin, dass der Sprecher das intensive, aber vage und konfuse Staunen, das die Muschel zuerst in ihm ausgelöst hat, nach und nach in einen Zustand differenzierter und artikulierter Bewusstheit transformiert hat, indem er die Reaktionen verschiedener Teil-Ichs seiner selbst – des Geometrikers, des Kindes, des Poeten, des Metaphysikers – sorgfältig entfaltet hat;377 dabei hat er sich zugleich Aspekte dessen bewusst gemacht, was er weiß, was er nicht weiß und was er ist. Der Verlauf seiner Reflexionen ähnelt insofern jenem Vorgang, den er als Wesensmerkmal menschlicher Herstellungstätigkeiten beschreibt: Das menschliche Leben sei in den meisten Momenten ein Gleichgewicht aus verschiedenen verborgenen und nicht spezifisch menschlichen Handlungen wie Gehen, Atmen und Sicherinnern, die der Mensch ausführt, ohne zu wissen, wie er dies tut; nur wenn er sich etwa vornimmt, ein Haus zu bauen oder ein Werkzeug herzustellen, macht diese Absicht aus ihm selbst ein spezialisiertes Instrument, ‘organisiert’ ihn und koordiniert sein Sehen, Wollen und Können (vgl. 895). Die Muschel und die Bemühungen des Sprechers, seine unwillkürlichen Reaktionen auf diese zu präzisieren, haben eine vergleichbare Wirkung, indem sie verschiedene seiner Fähigkeiten aktivieren, koordinieren und organisieren. 3.3.2. Die Beziehung zu Valérys Konzeption des Denkens In dem Kapitel über Valérys Konzeption des Denkens wurde der Wandel beschrieben, dem seine Auffassungen von den sinnvollen Aufgaben und Zielen des Denkens im Laufe der Zeit unterworfen waren, ein Wandel, der seinen vermutlich prägnantesten Ausdruck in dem Essay Note et digression erhalten hat. Die Darstellungen des Denkens in der Introduction à la _____________ 377 Diesen verschiedenen ‘Teil-Ichs’ des Sprechers korrespondieren verschiedene nacheinander verwendete Stilregister; vgl. dazu: Pietra, L’architecte assassiné, S. 87. Der Text oszilliert, so Pietra, unter anderem zwischen „le discours descriptif d’expérience scientifique, neutre“ und „une parole qui revendique sa singularité dans un ‘je’ réitéré“, zwischen „les interrogations philosophiques abstraites“ und „la fantastique dérive des avant-dernières parties“ (ebd.). Die Funktion dieser Variationen der Sprechweise sieht Pietra vor allem in einem Überraschungs- und Verfremdungseffekt (vgl. ebd.).
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Méthode de Léonard de Vinci und in La Soirée avec Monsieur Teste, so wurde oben argumentiert, sind in ihrem Inhalt wie in ihren Schreibverfahren wesentlich durch die theoretischen Überzeugungen und Ideale des jungen Valéry geprägt, insbesondere durch die Ideale von Selbstkontrolle und intellektueller Macht. L’homme et la coquille dagegen ist deutlich den gewandelten Auffassungen über die sinnvollen Aufgabenstellungen und Vorgehensweisen des Denkens verpflichtet, wie er sie nach seiner Rückkehr in die literarische Öffentlichkeit formuliert hat. Dieser Essay kann unter anderem als eine praktische Demonstration und Illustration der pointierten erkenntnistheoretischen These gelesen werden, die sich in den Schlussabschnitten von Note et digression findet: „C’est notre propre fonctionnement qui, seul, peut nous apprendre quelque chose sur toute chose. Notre connaissance, à mon sentiment, a pour limite la conscience que nous pouvons avoir de notre être, – et peut-être, de notre corps.“378 Bevor Valéry in Note et digression zu diesen Schlussfolgerungen gelangt, verfolgt er den Weg eines Subjekts, das sich um der Steigerung seiner intellektuellen Macht und Unabhängigkeit willen rigoros von allen kontingenten Eigenschaften seines „être“ wie seines Körpers distanziert und auf sein ‘reines Bewusstsein’ zurückzieht und das schließlich, aller Antriebe, Ziele und Inhalte beraubt, nur über eine zugleich vollkommene und armselige ‘Macht ohne Gegenstand’ verfügt.379 Dem Sprecher in L’homme et la coquille nun geht es nicht in erster Linie um die Steigerung seiner „puissance intellectuelle“380, zumindest nicht einer intellektuellen Macht, die auf der möglichst weitreichenden Distanzierung von allen kontingenten Merkmalen seiner Existenz beruht. Er will vielmehr sein Wissen von der Muschel und letztlich sein Wissen von sich selbst erweitern, und zu diesem Zweck schlägt er den Weg ein, den die Schlusspassagen von Note et digression als den einzig möglichen oder sinnvollen propagieren: Er bezieht sich auf Manifestationen seines „être“ und auf Eigenschaften seines Körpers; das heißt, er nutzt seine unwillkürlichen Reaktionen als Antrieb, Ausgangspunkt und Material seiner Reflexionen, und er verwendet seinen Körper, seine Fähigkeit des Handelns und Herstellens sowie die Aufteilung des menschlichen Daseins zwischen der ‘Welt der Körper’ und der ‘Welt der Geister’ als Referenzsystem, mit dem er die Muschel, ihr Wachstum und ihre Existenzweise vergleicht. Die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und La Soirée avec Monsieur Teste waren wie der junge Valéry selbst einer Konzeption des Denkens verpflichtet, die dessen paradigmatische Leistung vor allem darin sah, die _____________ 378 Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1232f. 379 Vgl. ebd., S. 1223f., 1229f. 380 Ebd., S. 1225.
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Dinge der Welt gleichsam zu unterwerfen, sie dem Transformations- und Kombinationsvermögen des Intellekts verfügbar zu machen. In L’homme et la coquille erscheint es dagegen als die paradigmatische oder zumindest als eine besonders wertvolle Leistung des Denkens, dass es die Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen ans Licht zu holen und zu organisieren vermag – dies allerdings nur in der Konfrontation mit der Welt. Das Denken erscheint nicht mehr in erster Linie als ein Medium für die willensgeleitete Selbstbehauptung des Intellekts und seines Strebens nach Ordnung, Einheit und Macht, sondern als ein Mittel der Selbstaufklärung des Menschen. Wie sich dieser Unterschied zwischen den zugrunde liegenden Konzeptionen des Denkens auf der Ebene der Textstruktur niederschlägt, könnte vor allem anhand eines Vergleichs zwischen der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille im Einzelnen verfolgt werden. In beiden Essays tritt eine Sprecherfigur auf, die sich durchgehend als Urheberin der Reflexionen zur Geltung bringt, die den Prozesscharakter des Gedankengangs betont und die Überlegungen zu ihrem jeweiligen Gegenstand mit selbstreflexiven Bemerkungen über die verwendete Methode verbindet. Aber wo der Sprecher des Leonardo-Essays zu Beginn ein klar definiertes Problem vorstellt und dann in einem betont voluntaristischen Gestus erklärt, wie er diese Aufgabe zu bewältigen gedenkt („Je me propose [...]. Et je veux [...]“), da schildert der Sprecher des späteren Textes zunächst die konfusen unwillkürlichen Reaktionen, die der Anblick der Muschel in ihm hervorruft und aus denen sich erst allmählich präzise Fragen und Problemstellungen herausschälen. Derselbe Kontrast zeigt sich, wenn man die Vorgehensweisen der denkenden Protagonisten insgesamt betrachtet: Der Sprecher der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci präsentiert seinen Gedankengang wesentlich als eine Konstruktionsleistung, die auf dem souveränen Verfügen über vielfältige Wissensbereiche und dem souveränen Gebrauch von Analogien und Symmetrien beruht; das Ich in L’homme et la coquille dagegen will nicht konstruieren, sondern explizieren und organisieren. Es nimmt wahr, welche Fragen, Begriffe und Vergleiche sich ihm angesichts der Muschel aufdrängen und welches Wissen über die Muschel ihm von den Wissenschaften angeboten wird, und er wendet sich auf diese Fragen, sprachlichen Ausdrücke und Theorien zurück, um sie näher zu analysieren und in Bezug zueinander zu setzen. Eine besonders auffällige Differenz schließlich entsteht dadurch, dass der Gedankengang des Leonardo-Essays als ein erfolgreich zu Ende geführter und der Text als ein geschlossenes und ausbalanciertes Artefakt präsentiert wird, während in L’homme et la coquille alle Reflexionen
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ausdrücklich als unvollendet und in neue Fragen mündend dargestellt werden.381 Indem L’homme et la coquille zentrale Annahmen des späteren Valéry über Denken und Erkenntnis exemplifiziert, veranschaulicht der Essay auch andere wichtige Konzepte seiner Psychologie und Anthropologie; vor allem das Begriffspaar „demande / réponse“ und der Begriff „Implexe“ sind hier zu nennen. Valéry entwickelte in den Jahren nach 1900 die Vorstellung, dass alle mentalen Vorgänge und Ereignisse in den Begriffen von „demande“ und „réponse“ beschrieben werden können; 1902 notierte er: „Tout fait mental n’est que demande et réponse.“382 Als Bezeichnung für das gesamte Potential an ‘Antworten’, über die ein Individuum verfügt, kreierte er den Begriff „Implexe“.383 Der Denkvorgang in L’homme et la coquille wird als eine Antwort des Ichs auf einen Reiz oder Impuls der Außenwelt inszeniert und als ein Vorgang präsentiert, in dem dieses Ich einen Teil seines „Implexe“ aktualisiert und organisiert. Dass dieser Denkvorgang als eine Antwort dargestellt wird, bedeutet nicht nur, dass das Ich durch einen auffälligen Gegenstand ‘festgehalten’ und ‘angesprochen’ wird und sich dann denkend mit diesem auseinandersetzt; entscheidend ist, dass der Essay sowohl die unwillkürlichen Reaktionen des Ichs auf die Muschel als auch seine intentional gesteuerten Reflexionen auf diese Reaktionen in Szene setzt. Er gestaltet somit die unterschiedlichen Typen und Modifikationen von „réponses“, deren der menschliche Geist fähig ist, und weist ihnen jeweils einen bestimmten Stellenwert zu; dabei befindet er sich im Einklang mit theoretischen Überlegungen Valérys. Die unwillkürlichen Reaktionen des Ich bilden den Ausgangspunkt dieses Denkvorgangs und sind als Impulsgeber unverzichtbar; aber sie liefern eben auch nur den Ausgangspunkt und erfordern noch die willensgeleitete, gezielte Analyse und Vertiefung. Ihr Wert besteht nicht in erster Linie darin, dass sie den Weg zur Lösung eines Problems oder zu neuen Erkenntnissen über die Muschel weisen, sondern darin, dass sich in ihnen spezifisch menschliche Reaktionsweisen manifestieren. Indem das Ich seine spontanen ‘réponses’ auf die Muschel registriert, sie auf ihre Ursachen und Im_____________ 381 Vgl. auch den Satz aus der Schlusspassage des Essays: „Comme Hamlet ramassant dans la terre grasse un crâne, et l’approchant de sa face vivante, se mire affreusement en quelque manière, et comme il entre dans une méditation sans issue, que borne de toutes parts un cercle de stupeur, ainsi, sous le regard humain, ce petit corps calcaire creux et spiral appelle autour de soi quantité de pensées, dont aucune ne s’achève ... “ (907) 382 C Pl. I, S. 891 / C facs. II, S. 793 [1902]. 383 Vgl. etwa die folgende Definition: „Implexe, etc. / Il est étrange que nul terme (autre que celui de mémoire) ne désigne ce qui est en puissance dans chacun, et qui est actualisé, fourni comme réponse – aux excitations diverses! [...]“ (C Pl. I, S. 1072 / C facs. XXII, S. 109 [1939]) – Vgl. zu dem Begriff des „Implexe“ auch: Schmidt-Radefeldt, Paul Valéry linguiste, S. 36f.; Celeyrette-Pietri, Valéry et le Moi, S. 314-318.
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plikationen hin befragt und sie zu differenzieren und zu präzisieren sucht, indem es ferner seine Verfahren der Erklärung und Analyse mit dem Phänomen des Wachstums einer Muschel konfrontiert, aktualisiert es Potentiale seines Geistes und ‘organisiert’ diese Partien seines „Implexe“: Es macht sich die Bedeutung verschiedener Begriffe bewusst und grenzt sie voneinander ab, aktiviert Teile seines Wissens und seine Fähigkeiten des Beschreibens, Erklärens und Vergleichens und lokalisiert Grenzen und Lücken seiner Erkenntnisvermögen. 3.3.3. L’homme et la coquille als repräsentativ für das spätere Werk Valérys Die Vorgehensweise des Sprechers in L’homme et la coquille und die sich daraus ergebende Struktur seines Denkvorgangs lassen sich, wie oben ausgeführt wurde, als Veranschaulichung von Auffassungen über Denken und Erkenntnis deuten, zu denen sich Valéry in der späteren Phase seines Schaffens, nach seiner Rückkehr in die literarische Öffentlichkeit, bekannte. Es gibt keinen anderen Text Valérys aus jener Zeit, der diese Annahmen – über den notwendigen Rekurs des Denkens auf das „être“ und den Körper des Subjekts, über das menschliche Herstellen als unvermeidlichen Referenzpunkt aller Erklärungen und über die Analyse eines Gegenstands als Mittel der Selbstaufklärung des Menschen –, der diese Annahmen in derselben Vollständigkeit, Explizitheit und modellhaften Klarheit umsetzt und illustriert wie der Aufsatz über den Menschen und die Muschel. Aber in weniger konzentrierter und breit ausgeführter Form finden sich mehrere der wichtigsten Verfahren und Strukturelemente dieses Essays auch in anderen Texten des späteren Valéry, so dass er bis zu einem gewissen Grad als repräsentativ für diese Phase seines Werks gelten kann. Strukturelle Ähnlichkeiten zu L’homme et la coquille weisen zunächst zwei Texte auf, von denen man ebenfalls sagen kann, dass sie – im engen Sinne – ‘Denken erzählen’, da auch sie narrativ die Situation vorstellen, aus der heraus ein Denkprozess entwickelt wird: Gemeint sind Lettre d’un ami (1924)384 und Le retour de Hollande (1926)385. Diese zwei Texte sind kurz nacheinander entstanden und durch eine auffällige Ähnlichkeit miteinander verbunden; in beiden gibt die Sprecherfigur die Reflexionen wieder, die sie während einer Zugfahrt angestellt hat oder anstellt, und in beiden Fällen schildert sie zunächst die Wirkungen, die diese Situation der Fahrt _____________ 384 Vgl. Paul Valéry, Lettre d’un ami. In: Œ II, S. 46-55. 385 Vgl. ders., Le retour de Hollande. In: Œ I, S. 844-854.
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auf ihre körperliche und psychische Verfassung ausübt und die auch zu den prägenden Voraussetzungen der folgenden Reflexionen gehören. In beiden Texten werden Wahrnehmungseindrücke beim Blick durch das Zugfenster, die sich im einen Fall mit Erinnerungen an den zurückgelassenen Ort, im anderen Fall mit Gedanken an das Ziel der Reise verbinden, zum Ausgangspunkt längerer Gedankengänge. Wie in L’homme et la coquille, so werden also auch in diesen Denkerzählungen einerseits unwillkürliche ‘réponses’ der Sprecherfigur auf bestimmte Gegenstände oder Situationen dargestellt, andererseits willensgesteuerte Reflexionen, die von diesen spontanen Reaktionen ihren Ausgang nehmen. Aber auch Essays und Vorträge Valérys, die weniger ausgeprägte oder gar keine narrativen Züge besitzen, sind durch gewisse strukturelle Verwandtschaften mit L’homme et la coquille verbunden. Insbesondere gilt dies für viele Texte, deren Themen durch den Anlass der Rede oder des schriftlichen Beitrags vorgegeben waren oder Schlagworte und Fragestellungen aufgriffen, die im Zentrum zeitgenössischer politische oder kulturkritischer Diskussionen standen. Ein typischer Zug dieser Beiträge besteht darin, dass Valéry meist nicht gleich zu dem jeweiligen Thema Stellung bezieht oder die damit verbundene Frage zu beantworten sucht, sondern zunächst die Themenformulierung selbst näher in Augenschein nimmt; in der Regel heißt das, dass er sich den darin verwendeten sprachlichen Ausdrücken zuwendet und ihre Bedeutung zu klären versucht. Oft hebt er dabei hervor, dass die vertrauten und scheinbar unproblematischen Begriffe nicht so klar und verständlich sind, wie man meint, und führt dann aus, wie er aufgrund seiner Erfahrungen ihren Sinn bestimmen würde. Zu den Begriffen, die er auf diese Weise in Vorträgen und Aufsätzen kritisch prüft, gehören etwa „esthétique“, „intelligence“, „liberté“, „esprit“ und die Opposition von „[p]oésie et pensée abstraite“.386 Die Ähnlichkeit zu der Vorgehensweise von L’homme et la coquille besteht zum einen darin, dass Valéry sich auch in mehreren dieser anderen Vorträge und Essays auf seine spontanen Reaktionen bezieht, nämlich auf die mentalen Bilder, Assoziationen und Empfindungen der Verwirrung und des Staunens, die die betreffenden Schlagworte oder Fragen in ihm auslösen.387 Zum anderen ist es das Verfahren der kritischen Begriffsanalyse, das L’homme et la coquille mit vielen dieser Vorträge und Essays verbindet. Auch in L’homme et la coquille unternimmt der Sprecher, nachdem der Anblick der Muschel _____________ 386 Vgl. Paul Valéry, Propos sur l’intelligence. In: Œ I, S. 1040-1057, vor allem S. 1041-1043; ders., Discours sur l’esthétique. In: Ebd., S. 1294-1314; ders., Poésie et pensée abstraite. In: Ebd., S. 1314-1317; ders., Fluctuations sur la Liberté. In: Œ II, 951-969, vor allem S. 951f.; ders., La Liberté de l’Esprit. In: Ebd., S. 1077-1099, vor allem S. 1077f., 1092f. 387 Vgl. auch: Paul Valéry, Discours aux chirurgiens. In: Œ I, S. 907-923, vor allem S. 908-917; ders., Philosophie de la danse. In: Ebd., S. 1390-1403, vor allem S. 1394-1399.
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in ihm unter anderem die Vorstellungen des „Faire“ und der „Nature“ aufgerufen hat, eine Analyse dieser Begriffe. Darüber hinaus gibt es speziellere Schreibverfahren und Strukturelemente, die in L’homme et la coquille eine große Rolle spielen und sich auch in vielen anderen Essays und Vorträgen des späteren Valéry finden. Dazu gehört vor allem das Herausarbeiten von Ähnlichkeiten und Analogien sowie von Kontrasten und Differenzen zwischen unterschiedlichen Gegenständen und Bereichen. Wie der Sprecher in L’homme et la coquille eine Analogie zwischen der ‘gespaltenen’ Existenzweise der Muschel und derjenigen des Menschen herstellt oder das Wachstum der Muschel von der menschlichen Herstellungstätigkeit abhebt, so entwickelt Valéry in dem Vortrag Poésie et pensée abstraite eine Analogie zwischen dem Verhältnis von Gehen und Tanz und dem von Alltagssprache und poetischer Sprache und verdeutlicht außerdem die Besonderheiten der Poesie durch eine Abgrenzung von der Musik.388 In Le retour de l’Hollande profiliert er die Persönlichkeit und Methode von Descartes, indem er ihm den Typ des „homme des foules“ gegenüberstellt.389 Diese auf Ähnlichkeiten oder Kontraste abzielenden Vergleiche können sich zu längeren Abschweifungen oder Exkursen auswachsen, wie sie auch L’homme et la coquille kennzeichnen. Alle eben genannten Punkte hängen mit einem Grundzug vieler Prosatexte des späteren Valéry zusammen, der wiederum in L’homme et la coquille besonders deutlich hervortritt: Diese Texte zielen vielfach nicht darauf, eine klar umrissene Frage zu exponieren und dann eine Antwort oder eine hypothetische Lösung zu entwickeln, wie es noch von den frühen Essays Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und Une conquête méthodique behauptet werden kann. Stattdessen setzen die späteren Texte häufig bei Begriffen, Schlagwörtern oder Phänomenen an, die mit mehr oder weniger diffusen Fragen oder Thesen verbunden sind, und suchen dann durch Präzisierungen, Definitionen und Differenzierungen größere Klarheit über diesen Begriffs- oder Phänomenbereich zu gewinnen. Wo Valéry in diesen Texten selbst das Ziel und die Vorgehensweise dieser Reflexionen oder einzelner Teile benennt, verwendet er häufig Ausdrücke wie ‘préciser’ oder ‘reprendre et repenser sa pensée’.390 Anders als in der Intro_____________ 388 Vgl. Valéry, Poésie et pensée abstraite. In: Œ I, S. 1326f., 1329-1331. 389 Vgl. ders., Le retour de Hollande. In: Œ I, S. 848f. 390 Vgl. etwa: „Mais point de conclusions ... Mieux vaut reprendre un peu et repenser sa pensée. J’ai déjà dit qu’il n’était pas question de résoudre de tels problèmes. Je ne voudrais, avant de les abandonner, que renforcer quelques-unes des idées que j’ai rapidement éveillées.“ (Valéry, Propos sur l’Intelligence. In: Œ I, S. 1049) – „Je veux encore demeurer sur ce point quelque peu, pour montrer avec plus de précision comment cette puissance humaine se distingue [...] de la puissance animale [...].“ (Ders., La Liberté de l’Esprit. In: Œ II, S. 1079) – Vgl. auch ders., Discours sur l’esthétique. In: Œ I, S. 1311 („Ce retour sur mes
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duction à la Méthode de Léonard de Vinci wird die Beendigung dieser Reflexionen daher auch so gut wie nie mit der Feststellung verbunden, ein Problem gelöst oder zumindest eine plausible Lösungshypothese entwickelt zu haben; die Überlegungen dieser Essays und Vorträge sollen eher die Probleme überhaupt erst klar herausarbeiten und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie präziser und sorgfältiger diskutiert werden können. Es steht insofern ganz im Einklang mit einem typischen Vorgehen seiner Texte, wenn Valéry in den Cahiers einmal notiert, man könnte – und sollte vielleicht – der Philosophie als einzige Aufgabe die „épuration des questions“ zuweisen, das Aufstellen und Präzisieren der Probleme, ohne den Versuch, sie zu lösen.391 3.4. Momente aus der „vie de l’intelligence“: Prosagedichte und Kurzprosa In diesem Teilkapitel werden exemplarisch einige Prosagedichte und andere Kurzprosatexte392 Valérys analysiert, in denen Denkvorgänge dargestellt werden. Die meisten der untersuchten Texte sind in den KurzprosaBänden Tel Quel, Mélange und Mauvaises Pensées et autres veröffentlicht worden, in denen Valéry Notizen aus seinen Cahiers – meist in leicht überar_____________ réflexions [...]“). – Vgl. auch den kurzen Text „Ébauches de pensées. Un“ (Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 543f.). Dieser beginnt mit der Formulierung: „Je rêve quelquefois que l’intelligence de l’homme [...]“; nach der Darlegung dieser ‘geträumten’ Gedanken heißt es im dritten Absatz des Textes: „Pour y penser d’un peu plus près, il faudrait avant toute chose se faire de l’intelligence une idée assez précise. En cherchant vaguement cette précision, je trouve (ce matin) [...].“ (Ebd., S. 543) 391 Vgl. C Pl. I, S. 591 / C facs. IX, S. 642 [1923]. 392 Zum Begriff der Kurzprosa vgl.: Moritz Baßler, Art. ‘Kurzprosa’. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band II: H–O. Hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 371-374. Der Begriff der Kurzprosa wird demnach zum einen im weiten Sinne als „Oberbegriff für alle Prosagattungen geringen Umfangs vom Aphorismus bis zur Kurzgeschichte“ verwendet, zum anderen im engeren Sinne als Name einer „Restkategorie, die alle jene eigenständigen literarischen Kurzprosatexte umfaßt, die sich der Zuordnung zu definierten Genres entziehen.“ (Ebd., S. 371) Valérys Band Rhumbs wird von Baßler als Sammlung von Kurzprosatexten im engeren Sinne eingeordnet und als „Prototyp“ eines „neuen Buchtyps zwischen Philosophie und Literatur, in dem aphoristische mit anderen Kurzprosatexten abwechseln“, bezeichnet (ebd., S. 373). Ich schließe mich im Folgenden dieser Einordnung an und bezeichne die behandelten Texte aus Valérys Sammlungen wie Tel Quel oder Mélange als Kurzprosatexte im engeren Sinne. Einige der untersuchten Texte, in erster Linie die von Valéry als „Petits poèmes abstraits“ bezeichneten, stehen allerdings offenkundig in der Tradition des französischen Prosagedichts und werden daher auch so genannt. – Zum französischen Prosagedicht vgl. etwa: Joachim Hauck, Typen des französischen Prosagedichts. Zum Zusammenhang von moderner Poetik und Erfahrung. Tübingen 1994.
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beiteter Form – versammelt hat. Außerdem werden einige zu Lebzeiten unveröffentlichte Texte aus den Cahiers hinzugezogen. Viele der Texte, die im Folgenden analysiert werden, sind von Valéry einer Rubrik der Cahiers mit dem Titel „Petits poèmes abstraits“ zugeordnet worden.393 Wie diese Überschrift erwarten lässt, enthalten diese Prosagedichte zahlreiche Darstellungen von intellektuellen Prozessen, Erlebnismomenten des abstrakten Geistes.394 Diese Momentaufnahmen von der „vie de l’intelligence“ bedienen sich sehr vielfältiger Schreibverfahren und Darstellungsmodi. Besonders zahlreich vertreten sind Schilderungen von einzelnen Erfahrungsmomenten, an denen sinnliche Wahrnehmung, Gefühle und Intellekt beteiligt sind; zu diesen Texten gehören auch einige der „Aubades“, jener der Morgendämmerung gewidmeten Prosagedichte oder -skizzen, welche die vermutlich bekannteste und am häufigsten untersuchte Gruppe innerhalb der Valéry’schen Prosagedichte bilden. Andere Texte stellen nicht einzelne Erlebnismomente dar, sondern typische, regelmäßig wiederkehrende Abläufe, charakterisieren also etwa die Aktivität des Intellekts in bestimmten Momenten oder Phasen innerhalb des Tagesablaufs. Bringt dieser Bezug auf wiederkehrende Muster schon einen höheren Grad an Allgemeinheit und Abstraktion mit sich, so ist dieser Abstraktionsgrad noch höher in Notizen, die nicht mehr von einem menschlichen Individuum, sondern von „l’intellect“ oder „l’esprit“ sprechen und deren spezifische Attitüden, Ambitionen, Erfolge und Niederlagen charakterisieren, meist in einer teils abstrakt-begrifflichen, teils metaphorischen oder allegorischen Sprache. Wieder eine andere Sprechweise findet sich in den von Valéry als ‘Psalmen’ oder Gebete bezeichneten Texten, von denen einige ebenfalls das Denken und den Intellekt zum Gegenstand haben.395 Die folgenden Analysen werden sich auf zwei Arten von Texten konzentrieren. Zunächst sollen Darstellungen von Denkvorgängen untersucht werden, die das Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung, Gefühl, körperlichen Vorgängen und Denken hervorheben. Bei diesen Texten liegt es besonders nahe, zu fragen, inwiefern sie durch Valérys theoretische Konzeptionen von Geist und Körper geprägt sind. Zweitens wird die Analyse einige von Valérys „Aubades“ in den Blick nehmen, die innerhalb _____________ 393 Vgl. zu Valérys „Petits poèmes abstraits“: Robert Pickering, Paul Valéry poète en prose. La prose lyrique abstraite des Cahiers. Paris 1983; Michel Jarrety, Préface. In: Paul Valéry, Poésie perdue. Les poèmes en prose des Cahiers. Édition présentée, établie et annotée par Michel Jarrety. Paris 2000, S. 7-49; Stephen Romer, ‘Esprit, Attente pure, éternel suspens ...’: Valéry’s prose poetry. In: Gifford / Stimpson (Hg.), Reading Paul Valéry, S. 121-137. 394 Vgl. Jarrety, Préface, S. 29f. 395 Zu dieser zuletzt genannten Gruppe von Prosagedichten vgl.: Jarrety, Préface, S. 41-45.
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seiner Prosagedichte einen besonders prominenten Rang einnehmen und etwas andere Akzente setzen als die zuvor untersuchten Texte. Robert Pickering hat in einer Reihe von Aufsätzen und in einer längeren Studie zu Valérys Prosadichtung die These vertreten, dass diese ‘abstrakten Prosagedichte’ einem Ideal der Synthese und Harmonie verpflichtet seien, insbesondere dem Ideal einer Synthese von Intellekt und „sensibilité“.396 Valéry habe in diesen Gedichten einen Ausdrucksmodus zu entwickeln gesucht, der die „extrêmes de sensibilité et de spéculation abstraite“397 harmonisch miteinander verbinde; die Prosagedichte seien „une tentative d’intégration et de synthèse qui apparente les longs méandres analytiques de l’esprit aux éclairs créateurs de l’intuition et de l’imagination.“398 Es ist nicht ganz klar, was Pickering unter einer Synthese von „spéculation abstraite“ und „sensibilité“ versteht; das liegt auch daran, dass er wechselnde Bezeichnungen für die synthetisierten Bereiche verwendet („sensibilité“, „intuition“, „imagination“).399 Aber was auch immer damit genau gemeint ist, die These, dass die Prosagedichte Valérys eine Synthese oder Harmonie zwischen verschiedenen Bereichen der menschlichen Natur zu evozieren suchten, scheint mir zumindest in dieser allgemeinen und grundsätzlichen Form nicht plausibel zu sein. Wie die folgenden Analysen zu zeigen versuchen, treten in vielen dieser Texte gerade die fundamentalen Differenzen zwischen verschiedenen ‘Ebenen’ oder Funktionen des Menschen zutage. 3.4.1. Denken unter der Kontrolle von Körper und „sensibilité“ Der erste Text, der hier untersucht werden soll, stammt aus dem posthum veröffentlichten Band Histoires brisées, wo er in der Abteilung „Fragments“ platziert ist. _____________ 396 Vgl. Pickering, Paul Valéry poète en prose, S. 6, 29, 108-110; ders., Valéry’s ‘Poèmes et petits poèmes abstraits’: a general introduction. In: The Modern Language Review 77 (1982), S. 815-828, vor allem S. 815, 819-821; ders., Energy and Integrated Poetic Experience in the Abstract Poetic Prose of Valéry’s Cahiers. In: Australian Journal of French Studies 15 (1978), S. 244-256. 397 Pickering, Paul Valéry poète en prose, S. 6. 398 Ebd. 399 Vgl. auch die Formulierung der zentralen These in: Pickering, Valéry’s ‘Poèmes et petits poèmes abstraits’, S. 815. Hier spricht Pickering zunächst von der „interaction of intellect and sensibility“, dann von „[t]he complementary nature of the two halves of individual perception, analysed in other contexts as ‘Être’ and ‘Connaître’“ (ebd.). Es scheint mir fraglich, ob man die Unterscheidung zwischen Intellekt und ‘sensibilité’ so mit der zwischen ‘Être’ und ‘Connaître’ gleichsetzen oder parallelisieren kann.
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Variété Il pleuvait, des gouttes espacées tombaient comme des notes sous les doigts de celui qui cherche une sonore mélodie. Parfois, comme un coup d’inspiration, une fine poussière d’eau vivement chassée par un bond du vent tout à coup me fouettait les yeux d’une irritation légère. Errant et absent, je me perdais selon mes pas et me laissais me perdre dans de vieilles rues de plus en plus incertaines, et comme de plus en plus incapables de me conduire où j’avais eu, peut-être, l’intention première d’aller. Il arrive que les rues fassent de nous ce qu’elles veulent. J’avais oublié le principe de ma route, et me sentais plus faible, où en était l’heure, le jour. Mon but s’était égaré; et avec mon but, la notion de l’heure, et avec l’heure, tout le reste de l’époque et de moi-même, – ce qui fut, ce qui sera, et mon âge et le monde, tout cela se dissolvant dans cette humide fin de matinée, comme j’errais entre de vieux hôtels déshonorés. Je ne sais trop ce que l’on nomme ‘rêverie’, et je n’aime guère ce mot qui me fait toujours songer d’une littérature sans force, et excite en moi tout l’ennui, sinon tout le dégoût, d’une poésie qui se prostitue aux têtes les plus faciles. Mon regard ou ma pensée, c’est-à-dire l’instant même, volait, s’arrêtait, repartait, d’une pierre sculptée ou d’un de ces balcons de fer forgé où je trouve tant d’art, à quelque ombre d’idée, à un germe de thèse ou de poème, à un mot suivi d’un rien d’étymologie, à la piqûre d’un chagrin, au premier ou au dernier venu de l’un de ces objets de l’intellect ou du cœur qui constituent le bric-à-brac, le magasin d’antiquités d’une vie humaine. C’étaient, lueurs immédiates de l’esprit aussitôt éteintes, vides étranges, stations sans cause, brusques élans sans but, tout un être de pur caprice que je vivais, respirant les bouffées de fraîcheur dont les accès de la petite pluie harcelée par le vent ...400
Wie die meisten der in den Histoires brisées versammelten Texte, so präsentiert sich auch dieses „Fragment“ als eine rudimentäre Erzählung: Ein Sprecher erzählt im Rückblick davon, wie er im Regen durch die alten Straßen einer Stadt oder eines Dorfs gegangen ist. Die zeitliche Distanz, aus der heraus das Ich von seinem Erlebnis berichtet, wird besonders durch einige Sätze markiert, die in gnomischem Präsens allgemeine Sachverhalte formulieren („Il arrive que les rues fassent de nous ce qu’elles veulent“) oder sich auf Überzeugungen und Neigungen des Ich beziehen und die somit eindeutig dem erzählenden Ich zuzuschreiben sind, nicht aber Gedanken wiedergeben, die dem erzählten Ich auf seinem Weg durch den Regen gekommen sind („Je ne sais trop ce que l’on nomme ‘rêverie’, et je n’aime guère ce mot [...]“). Im Hinblick auf die Art und Weise, in der dieser Text einen Denkvorgang schildert, ist zunächst der Schlussteil relevant, insbesondere der mit „Mon regard ou ma pensée [...]“ beginnende Satz, der in einer langen Aufzählung die Arten von „objets de l’intellect ou du cœur“ nennt, die dem Ich durch das Bewusstsein ziehen: darunter etwa Schatten von Ideen, Ansätze zu Thesen oder Gedichten, Bruchstücke von Etymologien. Die _____________
400 Paul Valéry, Histoires brisées. In: Œ II, S. 405-467, hier S. 465.
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mentalen Vorgänge werden also ausdrücklich als solche charakterisiert, an denen der „intellect“ oder das Denken beteiligt ist; doch man erfährt nichts darüber, welche Ideen und Thesen, welche Wörter und Sorgen sich im Inneren des Ich präsentieren. Was der Sprecher stattdessen hervorhebt, ist die Art und Weise, in der die diversen Gegenstände seiner Wahrnehmung und seines Denkens aufeinander folgen: Er umschreibt eingehend sowohl die rasche und unstete Bewegung, mit der sein Blick über Details der Häuserfassaden gleitet, als auch den fragmentarischen, unregelmäßigen und ziellosen Charakter der Sukzession von „objets de l’intellect ou du cœur“, die in seinem Geist auftauchen. Dass er die Inhalte dieser Ideenfragmente und Gefühlsandeutungen nicht näher kennzeichnet, lässt sich gewiss damit erklären, dass die unordentlich durcheinander wirbelnden Gedanken und Gefühle für ihn nur ein „bric-à-brac“, zufällig herausgegriffene Objekte aus der Gerümpelkammer eines Lebens darstellen, dass also der Inhalt dieses mentalen Vorgangs keine Beachtung verdient. Umso mehr bleibt aber festzuhalten, dass Valéry beziehungsweise sein Erzähler-Ich einige Sorgfalt darauf verwendet, den ‘äußeren’ Charakter dieses Vorgangs, seine Ablaufweise und Dynamik, wiederzugeben. Das Ich abstrahiert in der Schilderung seines Erlebnisses also von einem bestimmten Aspekt der mentalen Vorgänge, nämlich von dem Inhalt der Gedankenfragmente, Erinnerungsfetzen und Gefühlsandeutungen. Nun gilt es, diese negative Feststellung um eine positive zu ergänzen, also unter Berücksichtigung des ganzen Textes zu untersuchen, welche Aspekte der mentalen Vorgänge hier – gewissermaßen anstelle der Inhalte – beschrieben werden. Der oben zitierte Satz hebt, wie erwähnt, den unsteten, raschen, sprunghaften Charakter des mentalen Geschehens sowie das Fragmentarische und Angedeutete der einzelnen Bewusstseinsmomente hervor. Betrachtet man nun den Text insgesamt, so kann man feststellen, dass das Ich zwei Aspekte besonders sorgfältig darstellt: die Beziehung zwischen der äußeren Umgebung und den inneren Vorgängen sowie die Rolle, welche Absicht, Wille und Kontrolle beziehungsweise ihre Abwesenheit in diesen Vorgängen spielen. Ein Verlust von Kontrolle und Orientierung, gefolgt von einem bereitwilligen Verzicht auf sie, steht am Anfang des beschriebenen Erlebnisses. Die Formulierung „je [...] me laissais me perdre“ drückt aus, dass das Ich selbst wahrnimmt, wie ihm Kontrolle und Orientierung entgleiten, und dass es dies zulässt und gleichsam die Führungsgewalt an die Straßen abgibt: „Il arrive que les rues fassent de nous ce qu’elles veulent.“ Zusammen mit dem Bewusstsein von Ziel und Zweck seines Weges verliert das Ich das Bewusstsein der Tageszeit und mit diesem auch das der Zeit insgesamt, seines Alters und schließlich der restlichen Welt überhaupt.
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Was übrig bleibt, nachdem das Ich sein Ziel, seine Identität sowie Ort und Zeit, wo er sich befindet, vergessen hat, ist „un être de pur caprice“. Unter diesem Begriff des „caprice“ fasst das Ich zusammen, was nun seine inneren Vorgänge determiniert; dazu gehören offenbar sowohl die willkürliche Ordnung oder Unordnung des in seinem Innern lagernden Gedanken- und Gefühlsgerümpels als auch die Zufälle des Straßenverlaufs und der von abrupten Windstößen begleitete Regen. Vor allem der letzte Satz stellt eine Parallele her zwischen den ‘inneren’ und den ‘äußeren’ Zufällen, zwischen den brüsken und ziellosen Impulsen des Geistes und den Windstößen, die dem Ich jeweils eine Salve feiner Regentropfen ins Gesicht treiben („lueurs immédiates de l’esprit aussitôt éteintes“, „brusques élans sans but“; „les bouffées de fraîcheur“, „les accès de la petite pluie harcelée par le vent“). Die Bewegungsweise des Bewusstseins passt sich hier ganz der Dynamik und dem Rhythmus der äußeren Vorgänge, dem Regen und dem Wind an. Damit wird nahe gelegt, dass die mentalen Vorgänge nunmehr ganz oder vorwiegend durch die äußeren Einflüsse gesteuert werden; nachdem Wille und Zielbewusstsein des Ich das Feld geräumt haben, übernehmen der Wind und der Regen die Kontrolle über die geistigen Abläufe. Am Rande sei noch angemerkt, dass Wind und Regen hier als Phänomene gedeutet werden, die auf eigentümliche Weise zwischen Chaos und Struktur, Unordnung und Ordnung stehen: Während die letzten Sätze des Textes vor allem das Abrupte, Unberechenbare und Chaotische hervorheben, deutet der Vergleich mit dem eine Melodie suchenden Klavierspieler im Eingangssatz an, dass aus dieser Unordnung Struktur und Ordnung hervorgehen könnten.401 Der Verlust von bewusster Kontrolle und die Auslieferung des Individuums an die zufälligen Impulse von Körper und Welt werden in anderen Texten Valérys als etwas Bedrohliches und potentiell Zerstörerisches _____________ 401 Diese Anfangssätze des Textes, die das Fallen der Regentropfen mit dem Spiel eines Pianisten vergleichen, der eine Melodie sucht, verweisen auf Valérys Interesse an Phänomenen des „informe“ und ihrem Verhältnis zu Form und Ordnung. Das Vergleichsbild evoziert einen Übergang von Formlosigkeit oder Monotonie zu Form und Struktur, und es wirft so die Frage auf, wie sich ein solcher Übergang vollzieht und ob dieser Vorgang eher als eine Entdeckung oder als eine Erfindung aufzufassen ist. Der Vergleich „comme un coup d’inspiration“ führt die Parallele zwischen den Naturphänomenen von Regen und Wind und menschlicher Kreativität weiter. Wie auch immer diese Vergleiche im Einzelnen gedeutet werden können, jedenfalls scheinen sie die Möglichkeit anzuzeigen, dass Phänomene, die regellos, unordentlich und willkürlich sind oder zu sein scheinen, Instanzen von Form, Ordnung und Struktur enthalten oder hervorbringen können. Insofern kann dieser Eingang die Erwartung wecken, dass ein mentaler Vorgang, der sich der Dynamik von Regen und Wind überlässt, in eine Inspiration wie die Entdeckung einer Melodie münden könnte. Eben diese Erwartung erfüllt der Text aber nicht; er beschränkt sich darauf, ein Erlebnis des „pur caprice“ als solches darzustellen und seine sinnlichen Qualitäten herauszupräparieren.
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gezeigt.402 Das in dem kurzen Text „Variété“ geschilderte Erlebnis hat kaum solche bedrohlichen Züge, es wird nicht als beunruhigendes Indiz für die Fragilität der Kontroll- und Orientierungsleistungen des Bewusstseins gewertet. Der Verlust ist in diesem Fall vergleichsweise harmloser Art, er scheint sich fast mit dem Einverständnis des Ich zu vollziehen und notfalls reversibel zu sein. Der Erzähler legt den Akzent jedenfalls nicht so sehr auf die beunruhigende Seite des Vorgangs, sondern zeigt sich eher fasziniert von der momentanen Verwandlung in ein „être de pur caprice“. Doch wie das Ich einerseits dieses Erlebnis nicht als ein bedrohliches oder krisenhaftes deutet, so verweigert es andererseits auch eine bestimmte positive Deutung oder Stilisierung dieses Erlebnisses: Der zeitweilige Verlust von Zielgerichtetheit, räumlichen und zeitlichen Koordinatensystemen und persönlicher, biographisch determinierter Identität werden nicht als ein Befreiungserlebnis gedeutet, welches privilegierte Einsichten hervorbrächte oder das Ich in Kontakt mit einer besonders authentischen Schicht seines Selbst setzte. Die Gedanken, Erinnerungen und Gefühle, die in diesen Momenten durch sein Bewusstsein wirbeln, werden nicht als besonders ursprünglich oder in anderer Weise wertvoll ausgezeichnet, sondern abfällig als altes Gerümpel klassifiziert. Mit der polemischen Äußerung über das Wort und die literarische Form der „rêverie“ in der Mitte des Textes könnte das Ich sich von Autoren distanzieren wollen, die solche ‘träumerischen’ Wanderungen in Randgebieten von Bewusstsein und urbaner Zivilisation emphatisch als Befreiungserlebnisse oder als Quelle außergewöhnlicher Einsichten bewerten. Konkret könnte diese Bemerkung auf die Rêveries du promeneur solitaire von Rousseau anspielen.403 Was in dieser Analyse vor allem deutlich werden sollte, ist aber der folgende Punkt: Der kurze Prosatext abstrahiert in seiner Schilderung des Denkvorgangs von den Inhalten dieses Vorgangs, charakterisiert dafür aber detailliert eine Reihe anderer Aspekte: den fragmentarischen Charakter der Ideen und Empfindungen, die rasche und abrupte Weise ihrer Aufeinanderfolge, die mit ihnen verbundenen sinnlichen Empfindungen, den Anteil von Willen und Kontrolle an diesem Vorgang, das Zusammenspiel von äußerer Umgebung und inneren Abläufen sowie schließlich die Willkür und Regellosigkeit dieses Geschehens, die zugleich das Potential von Form und Struktur zu bergen scheint. Es ist offenkundig, dass diese Aspekte eng miteinander verbunden sind: Der Verzicht auf bewusste _____________ 402 Vgl. etwa: Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1218-1222. 403 Über Rousseau hat Valéry sich fast nur kritisch geäußert; vgl. etwa: Paul Valéry, Rhumbs. In: Œ II, S. 597-650, hier S. 603 (über den ‘lächerlichen Irrtum’ Rousseaus, „une envie d’aller aux champs“ für eine tiefe Wahrheit zu halten). Vgl. auch C Pl. II, S. 1160 / C facs. IV, S. 682 [1912]; C Pl. II, S. 1164 / C facs. V, S. 626f. [1915]; C Pl. II, S. 1224 / C facs. XVII, S. 454 [1934].
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IV. Konzeption und Darstellung des Denkens bei Paul Valéry
Kontrolle führt dazu, dass die Steuerung der mentalen Abläufe weitgehend äußeren Einflüssen überlassen ist; diese äußeren Einflüsse, die Vertreter von ‘le monde’ in diesem Zusammenspiel von ‘corps’, ‘esprit’ und ‘monde’, sind hier durch Willkür, Zufälligkeit und Regellosigkeit gekennzeichnet, was als bezeichnend für Valérys Begriff der Natur gelten kann. Um diese Art der Darstellung des Denkens noch mehr Kontur gewinnen zu lassen, sei ein weiterer Text betrachtet, der ein Erlebnis etwas anderer Art schildert und sich auch formal in mehreren Punkten von dem eben behandelten unterscheidet, der aber in vergleichbarer Weise von den konkreten Inhalten der dargestellten Bewusstseinsprozesse absieht und statt dessen Aspekte wie die Dynamik und die Heterogenität und Unordnung dieser Vorgänge in den Vordergrund rückt. Es handelt sich um ein kurzes Prosagedicht aus den Cahiers, das 1924 entstand, von Valéry in das Dossier „Poèmes et PPA“ eingeordnet wurde und zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb. Je vais sur les bords de la mer et je me parle. Je ne vois rien au milieu de la vaste vue. Je marche dans mon incohérence propre, – abstraite et amoureuse et triste et irritée et extralucide et enflammée parfois ... Le vent tire la torche, brouille et excite la torche spirituelle.404
Der Text zählt zu jenen kurzen Prosagedichten, die sich als eine direkte, unmittelbare und ‘rohe’ Wiedergabe eines Erlebnisses geben;405 diese Direktheit und Unvermitteltheit wird vor allem durch die Verbindung von Präsens und erster Person Singular hergestellt, die eine Gleichzeitigkeit von Erleben und schriftlicher Fixierung suggeriert,406 sowie durch Parataxen, Ellipsen und tastende, nach dem treffenden Ausdruck suchende Reihungen von Wörtern.407 Im vorliegenden Text sind diese formalen Merkmale mit einer Reihe von Anaphern und Wiederholungsfiguren verbunden. Auch bei diesem Text ist es erhellend, darauf zu achten, welche Aspekte des Erlebnisses genau dargestellt werden und welche nicht. Was zunächst hervorgehoben wird, ist die Versunkenheit oder Absorbiertheit _____________ 404 C Pl. II, S. 1280; C facs. X, S. 117 [1924]. 405 Zu diesem Typ von ‘poèmes en prose’ bei Valéry vgl.: Jarrety, Préface, S. 11, 23f. 406 Das Suggerieren einer „Gleichzeitigkeit von ‘Objekterfassung’ und ‘Objektdarstellung’“ wird von Hauck als Merkmal des deskriptiven oder evozierenden Prosagedicht-Typs genannt, den er als einen von drei Grundtypen betrachtet (Hauck, Typen des französischen Prosagedichts, S. 29). Der vorliegende Valéry-Text stellt allerdings eher die Darstellung eines subjektiven Erlebnisses als die Beschreibung einer Situation oder eines Objekts in den Mittelpunkt und weist somit auch Merkmale des narrativen Typs auf (vgl. ebd.). 407 Der Stil dieses Textes kann vage an Rimbaud und insbesondere an die Illuminations erinnern, die Valéry sehr geschätzt hat. Zum Einfluss Rimbauds auf Valérys Prosagedichte vgl.: Jarrety, Préface, S. 17f.
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des Ich, die ihn nichts von der gewaltigen Meereslandschaft408 sehen lässt. Mit dem Satz „Je marche dans mon incohérence propre“ folgt eine abstrakte und gewissermaßen formale Charakterisierung des inneren Zustands des Sprechenden, die lediglich das Inkohärente oder Ungeordnete dieses Zustands herausstellt. Die folgende polysyndetische Reihung zählt die Bestandteile dieses ‘inkohärenten’ Zustandes auf; die Reihe von sechs Attributen erscheint einerseits als eine sehr genaue Zerlegung des Erlebnisses, andererseits bleibt auch diese Schilderung auf einer relativ abstrakten und allgemeinen Ebene. Anstatt seinen Zustand mit den Adjektiven „abstraite et amoureuse et triste“ zu kennzeichnen, könnte das Ich prinzipiell auch konkret benennen, welche abstrakten Gedanken ihm durch den Kopf gehen, wer die geliebte Person ist, an die er denkt, worüber er Traurigkeit empfindet – kurz, was die Inhalte dieser mentalen Vorgänge sind. Der Verzicht auf die Beschreibung dieses Aspekts der mentalen Vorgänge lässt sich nicht einfach darauf zurückführen, dass diese Vorgänge zu chaotisch seien, als dass sich einzelne Inhalte herauspräparieren ließen. Eine Beschreibung dieser Inhalte müsste nicht eine Abfolge einzelner, aufeinander folgende Gedanken, Gefühle und Empfindungen schildern; das Ich könnte auch pauschal zusammenfassen, welche Gegenstände sich in diesen Momenten durch sein Bewusstsein bewegen, an welche geliebte Person er denkt, ob die Empfindungen von Traurigkeit und Aufregung mit den Gedanken an bestimmte Begegnungen, mit Auseinandersetzungen, Trennungen, Eifersucht oder Schuldbewusstsein verbunden sind. Entscheidend ist, dass das Prosagedicht gar nicht versucht, diese Seite des Erlebnisses zu präsentieren, sondern sich auf andere Aspekte konzentriert, nämlich auf die Heterogenität der Erlebnisbestandteile und auf die unzusammenhängende, chaotische, turbulente Weise, in der sie sich verbinden und aufeinander folgen. Die Heterogenität des Erlebnisses kommt vor allem durch das Nebeneinander einer gesteigerten intellektuellen Aktivität und Anspannung und heftigen Emotionen und Empfindungen zustande: Das Ich nimmt sich als abstraktionsmächtigen Intellekt von außerordentlicher Klarheit, ja geradezu hellseherischer Begabung („extralucide“) wahr; das Bewusstsein dieser Fähigkeiten scheint in diesen Momenten selbst ins Enthusiastische gesteigert zu sein. Zugleich ist das Ich verliebt, traurig und gereizt, und seine Fähigkeiten der Abstraktion und der intellektuellen Durchleuchtung vermögen offenbar nichts gegen diese Gefühle. _____________ 408 Das Bild des Gehens am Meeresufer taucht in Valérys Werk mehrfach auf; vgl. vor allem das Gedicht „Comme au bord de la mer“, dessen erste Fassung von 1912 stammt und das in stark überarbeiteter Form in Autres Rhumbs aufgenommen wurde: C Pl. II, S. 1259f. / C facs. IV, S. 671 [1912]. Für die überarbeitete Fassung vgl.: Paul Valéry, Autres Rhumbs. In: Œ II, S. 651-699, hier S. 668f.
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Der letzte Satz schließlich fasst den Zustand des Ich in einem aufschlussreichen Bild zusammen: „Le vent tire la torche, brouille et excite la torche spirituelle.“ Die turbulenten mentalen Abläufe im Ich werden metaphorisch gleichgesetzt mit den Zuckungen einer Fackel, die ein heftiger Wind hin und her reißt, trübt und auflodern lässt. Unterstützt durch die Wiederholung von „la torche“ und den asymmetrischen Parallelismus, hebt dieses Bild noch einmal das Heftige, Abrupte, Chaotische der inneren Vorgänge des Ich hervor, lässt das Ich geradezu als Opfer einer gewalttätigen Attacke erscheinen und weckt den Eindruck einer Gefährdung des Ich, dessen Geist dem Ansturm der Gedanken und Gefühle ebenso erliegen könnte wie die Fackel dem Wind. Vor allem aber legt dieses Bild eine bestimmte Deutung der Ursachen der inneren Aufregung des Ichs nahe: Der Wind ist etwas, das der Flamme rein äußerlich und fremd ist; er ist außerdem ein Naturphänomen, das letztlich von physikalischen Gesetzen bestimmt ist. Was die mentalen Vorgänge des Ich in diesem Moment determiniert, so suggeriert die Metapher, sind natürliche Faktoren und Prozesse, die letztlich physikalischen oder anderen Naturgesetzen gehorchen, die aber der menschlichen Wahrnehmung schlicht als regellos und chaotisch erscheinen409 und die als etwas Äußerliches und Fremdes auf das Bewusstsein des Ich einwirken. Das dürfte konkret heißen, dass es sich bei diesen Ursachen des aufgewühlten Geisteszustands letztlich um körperliche Vorgänge beziehungsweise um Interaktionen zwischen Körper und Außenwelt handelt. Für diese Deutung spricht auch, dass Valéry in den Cahiers die Gefühle und die Regungen der „sensibilité“, wie sie hier den Zustand des Ich mit beherrschen, häufig mit physikalischen Metaphern charakterisiert und als Effekte körperlicher Vorgänge beschrieben hat, die nach quasi-mechanischen, dem Bewusstsein nicht zugänglichen und nicht verständlichen Gesetzen ablaufen.410 Das Bild von Wind und Fackel weist auch darauf hin, dass die „incohérence“ des geschilderten Bewusstseinsvorgangs nicht etwas ist, das gedeutet werden könnte; sie ist nicht der Ausdruck von irgendetwas ‘Tieferem’, etwa das Indiz einer Spannung zwischen unterschiedlichen _____________ 409 Pickering hat darauf hingewiesen, dass mehrere Texte aus Valérys „Poèmes et PPA“ die „vision d’un chaos élémentaire“ als Hintergrund entwerfen, vor dem sich die Bewusstseinsund Wahrnehmungsvorgänge des Ich abspielen. Dieses Bild eines elementaren Chaos, so der überzeugende Kommentar Pickerings, entspricht Valérys Auffassung über „la vraie nature de la réalité“, die gekennzeichnet sei durch „instabilité et désordre, dépourvus de sens“ (Pickering, Paul Valéry poète en prose, S. 26). 410 „Tout ce qui est inexplicable en moi est ‘physique’. Tout ce qui est inégalité, irréversibilité, discontinuité, tendance, choix, désir, plaisir, mal, croyance ou foi, Toutes ces irrationnelles et transcendantes, [...] tout cela résistances, interférences, résonances, [...].“ (C Pl. II, S. 350f. / C facs. IV, S. 692 [1912]) – Vgl. zu Valérys Einschätzung der Gefühle: Bürger, Prosa der Moderne, S. 225f.; Robinson, L’analyse de l’esprit, S. 155-172.
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Wünschen und Gefühlen des Ich, sondern besitzt ebenso wenig Sinn oder Bedeutung wie ein Windstoß. Damit macht das Vergleichsbild des letzten Satzes auch verständlich, weshalb das Ich die Inhalte seiner Gedanken und Gefühle nicht näher charakterisiert: Diese Inhalte verhalten sich zu der inkohärenten, turbulenten Ablaufweise dieses Vorgangs kontingent. Wenn aber die Gefühle und Gedanken inhaltlich beschrieben würden, so würde das fast zwangsläufig den Eindruck erwecken, als ob die Inhalte dieser Gedanken und Gefühle – die Liebe zu einer bestimmten Person, die Traurigkeit aufgrund eines bestimmten Ereignisses – für die aufgewühlte Unordnung im Innern des Ichs verantwortlich wären. Die zwei Texte, die bisher analysiert wurden, verweigern beide konkrete Aussagen über die Inhalte der dargestellten Denkvorgänge und konzentrieren sich statt dessen auf gleichsam ‘formale’ Merkmale ihrer Ablaufweise, also die Abruptheit, Unordnung und Inkohärenz der Gedankensukzession, sowie auf das Zusammenspiel zwischen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen und schließlich auf die Eigenheiten der räumlichen Umgebung, in der sich die Denkvorgänge abspielen. Diese Darstellungsweise kann zu Grundannahmen von Valérys Psychologie und Anthropologie in Beziehung gesetzt und in ihrem Lichte gedeutet werden. Valéry vertrat die Auffassung, dass mentale Vorgänge unter anderem durch körperliche Strukturen und Prozesse determiniert werden, die physikalischen, chemischen oder anderen Naturgesetzen unterstehen, jedenfalls aber von den Inhalten und Bedeutungen der mentalen Vorgänge unabhängig sind und sich diesen gegenüber indifferent verhalten. Diesen Gedanken hat er vor allem in seiner Unterscheidung zwischen den ‘signifikativen’ und den ‘funktionellen’ Aspekten oder Ebenen von mentalen Vorgängen ausgedrückt. Zu den funktionellen Merkmalen visueller Wahrnehmungsprozesse gehören etwa die Grenzen des menschlichen Gesichtsfeldes sowie die Tatsache, dass der Mensch kein ultraviolettes Licht sehen kann; die signifikative Ebene von Sehprozessen umfasst dagegen die jeweils wahrgenommenen Gegenstände. Die funktionellen Bedingungen der mentalen Vorgänge beziehungsweise die ihnen zugrunde liegenden Strukturen oder Prozesse können sich auf unterschiedlich massive Weise geltend machen; definieren sie normalerweise den Rahmen, innerhalb dessen sich die Denk- und Wahrnehmungsvorgänge mit ihrer signifikativen Schicht abspielen, so können sie diese Vorgänge zeitweilig auch gänzlich dominieren und den signifikativen Zusammenhängen ihre relative Eigenständigkeit nehmen. Eben dies scheint bei den Denkprozessen, die in den zwei oben analysierten Texten geschildert werden, der Fall zu sein: Sie werden ausschließlich oder überwiegend durch Faktoren determiniert, die den Inhalten der Gedanken äußerlich sind, etwa durch die räumliche Umgebung und die Launen des Wetters sowie durch körperliche Prozesse und
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Gefühlsregungen, die dem Ich zufolge von derselben Regellosigkeit, aber auch Bedeutungslosigkeit sind wie das Spiel des Windes. Diese Faktoren geben den mentalen Vorgängen eine diskontinuierliche und inkohärente Form, sie treiben in rascher Folge disparate Gedanken, Gefühle und Empfindungen aus dem Ich hervor und fügen sie zu einer tendenziell chaotischen Sequenz zusammen. Da die Denkvorgänge also vollständig durch Instanzen kontrolliert werden, die keinen ‘signifikativen’ Gesetzen gehorchen, sondern sich gegenüber den Bedeutungen der Gedanken äußerlich und indifferent verhalten, können die Inhalte dieser Denkvorgänge kein Interesse beanspruchen. Was an diesen mentalen Abläufen bemerkenswert und notationswürdig ist, ist ihre ‘äußere’ Gestalt, in der sich ein spezifischer Funktionsmodus des Organismus in seinem eigensinnigen Zusammenspiel mit der Welt niederschlägt; die Verbindung dieser äußeren Gestalt mit bestimmten Inhalten und Bedeutungen ist dagegen rein kontingent und verdient folglich keine nähere Beachtung. 3.4.2. Die „Aubades“: Der Intellekt zwischen Stolz und Resignation Viele Prosagedichte Valérys schildern oder evozieren den Moment der Morgendämmerung, also jenen Zeitabschnitt, den Valéry täglich seinen privaten, in den Cahiers fixierten Studien und Reflexionen widmete. Diese „Aubades“ werden daher in der Forschung häufig als eine eigenständige Gruppe innerhalb seiner Prosagedichte betrachtet.411 Sie sind, wie im Folgenden zu sehen sein wird, den im vorigen Kapitelteil analysierten Texten in vielen Hinsichten ähnlich, weisen aber auch einige Besonderheiten auf. Zunächst seien einige allgemeine Grundzüge der „Aubades“ beschrieben, bevor sich die Analyse der Darstellung des Denkens und des Intellekts in ihnen zuwendet. Der Tagesbeginn wird in diesen Prosagedichten auf unterschiedliche Weisen gedeutet und bewertet. Er erscheint häufig als ein Moment, in dem sich sowohl die Welt als auch das Bewusstsein des Ich in einem Zustand der reinen und uneingeschränkten Potentialität befinden, wo sie beide den Keim zu unbegrenzt vielfältigen Realisationen enthalten.412 Das Bewusstsein des Ich hat sich noch nicht mit seiner per_____________ 411 Vgl.: Romer, ‘Esprit, Attente pure, éternel suspens ...’, S. 125-134; Ursula Franklin, The Rhetoric of Valéry’s Prose ‘Aubades’. Toronto u.a. 1979. 412 Vgl. etwa einen „Réveil“ überschriebenen Text aus dem Dossier „Poèmes et PPA“, in: C Pl. II, S. 1261f. / C facs. V, S. 163f. [1913]. Dort heißt es unter anderem: „Le jour qui jamais encore ne fut, les pensées, le tout en germe considéré sans obstacle – le Tout qui s’ébauche dans l’or et que nulle chose particulière ne corrompt encore. [...] Je suis l’analogue de ce qui est. [...] J’équilibre le total du jour nouveau. / Ah! retarder d’être moi – Pourquoi, ce matin, me choisirais-je? – Si je laissais mon nom, mes maux, mes chaînes, mes vérités, comme rêves de la nuit? [...].“ – Vgl. auch das Prosagedicht, das zunächst unter
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sönlichen Identität gefüllt, es sucht diese Rückkehr in die normale Identität, die Anknüpfung an das Ich des Vortags und des Alltags hinauszuschieben und empfindet besonders lebhaft die Kontingenz dieser persönlichen Identität, die ihm in diesem Moment nicht näher ist als irgendeine andere: „Ah! retarder d’être moi – Pourquoi, ce matin, me choisiraisje?“413 Dieser Augenblick der reinen Möglichkeit und Unberührtheit wird in manchen Texten als beglückend erlebt und in einer fast hymnischen, hingebungsvollen Tonlage beschworen;414 in anderen Texten steht dieser Moment im Zeichen von Trauer oder Melancholie, entweder weil das Ich bereits die Zerstörung dieser Reinheit und Ganzheit durch die zufälligen Ereignisse und Konflikte des Tages voraussieht415 oder weil sich seine Seele gegenüber allen Realitäten des kommenden und des vorigen Tages als gleichermaßen fremd erfährt416. Der Intellekt und das Denken sind in Momenten der Morgendämmerung auf verschiedene Weisen gegenwärtig.417 Mehrere Prosagedichte zeigen den Tagesbeginn als einen Augenblick, in dem das Ich sich seiner intellektuellen Kraft vergewissert, die „puissance“ seines Geistes geradezu sinnlich empfindet, so wie er sich erneut seines Körpers und seiner körperlichen Kraft bewusst wird. Konkrete Aufgaben und Schwierigkeiten für Geist oder Körper sind in diesem Augenblick noch fern, die geistige wie die körperliche Kraft wird noch nicht im Verhältnis zu einer speziellen _____________
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dem Titel „Avant toute chose“ in einer Zeitschrift veröffentlicht und später unter der Überschrift „Méditation avant pensée I“ in die Sammlung Mélange aufgenommen wurde: Valéry, Mélange. In: Œ I, S. 351 (zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. ebd., S. 1728). Bei der Erstveröffentlichung in der Revue de France bildete dieser Text das erste einer Gruppe von vier Prosagedichten, die mit dem Titel „Petits poèmes abstraits“ versehen waren; die anderen drei Texte sind abgedruckt in: Œ I, S. 1728-1731. Für eine Analyse dieser vier Texte vgl.: Franklin, Rhetoric, S. 87-106. C Pl. II, S. 1261f.; C facs. V, S. 163f. [1913]. – Zu diesem Text vgl.: Romer, ‘Esprit, Attente pure, éternel suspens ...’, S. 129f. Romer teilt Valérys „Aubades“ in verschiedene Gruppen ein und ordnet diesen Text den „‘metaphysical’ or ‘phenomenological’ ‘Aubades’“ zu, die ihm zufolge um Fragen kreisen, wie sie auch bei Husserl, Merleau-Ponty oder Heidegger erörtert wurden, so etwa um Fragen über das Wesen der Wahrnehmung und das Verhältnis zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt (vgl. ebd., S. 128f.). Vgl. neben dem zuletzt zitierten Text etwa: C Pl. II, S. 1270f. / C facs. VII, S. 554 [1920]. Vgl. C Pl. II, S. 1272f. / C facs. VIII, S. 151 [1921]; eine leicht überarbeitete Fassung dieses Prosagedichts findet sich in der Abteilung „Poésie brute“ in: Paul Valéry, Mélange. In: Œ I, S. 283-421; die Abteilung „Poésie brute“ auf S. 351-359, der betreffende Text auf S. 355f. Vgl. C Pl. II, S. 1295 / C facs. XV, S. 271 [1931]. Zu der zentralen Rolle, die das Thema des Intellekts in Valérys „Aubades“ spielt, vgl. etwa die folgende Aussage Ursula Franklins: „But nowhere is the theme of the Intellect as fully and persistently elaborated as in the prose aubades, for their central theme is ‘la sensibilité de l’intellect.’ These morning prose poems celebrate both ‘l’intellect’ and its feelings, the ‘Esprit pur’ in its attempts to transcend the world on which it depends, and ‘ce qu’il y a d’amour, de jalousie, de piété, de désir, de jouissance, de courage, d’amertume ...’“ (Franklin, Rhetoric, S. 82).
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Herausforderung erfahren, sondern als ‘reine’ Macht selbst, als ein Vermögen, das jede einzelne Betätigung, welche der Tag noch bringen mag, übersteigt.418 Diese Vergewisserung der eigenen geistigen Fähigkeiten besitzt eine beglückende Qualität und sinnliche Intensität, die in dem folgenden Text etwa durch Worte wie „lumineuse“, „fraîcheur“, „bonheur“, „prodigieuse facilité“ und durch den Vergleich mit dem Spielen einer Serie von Tonleitern über die ganze Klaviatur ausgedrückt werden: Intellectus. Le lever de l’astre. La première gamme sur toute l’étendue du clavier jouée libre lumineuse devant l’assistance muette encore, le premier coup d’œil ensemble du général et du soleil à la fraîcheur immobile; le dictionnaire total frémit, le cadavre s’étire, jusqu’au bout des doigts. La prodigieuse facilité parcourt sa définition, son bonheur, avant qu’elle aille éveiller les impossibles, les ardus, les hasards, les lacunes, les résistances, les contre-parties. Mais pour le moment, tout est loisible [...]. Le son pur, le ton pur sont debout. [...]419
Allerdings weisen diese Zeilen auch bereits darauf hin, dass diese enthusiastische Erfahrung nicht dauerhaft sein kann, sondern nur einen Moment innerhalb eines Zyklus von Macht und Ohnmacht, Leichtigkeit und Mühe, Leben und Tod darstellt: Es ist ein ‘Kadaver’, der hier zu neuem Leben erwacht und seine Glieder streckt. Der Gedanke an die intellektuellen Arbeiten und Kämpfe, die der Tag bringen wird, kann in den MorgenGedichten unterschiedliche emotionale Färbungen aufweisen: Der eben zitierte Text, der mit den Worten „En avant! vers ... les ennuis – et les temps perdus!“ endet, wahrt eine leicht ironische Tonlage und steht damit in der Mitte zwischen Prosagedichten, in denen das seiner intellektuellen Macht gewisse Ich von Tatendrang und Durst nach Ideen und Erkenntnissen erfüllt ist420, und solchen, in denen die Aussicht auf die immergleichen und immer unvollendet bleibenden Verausgabungen von vornherein Melancholie oder Überdruss in ihm weckt421. In anderen „Aubades“ äußert sich der Intellekt des Ich nicht in dem beglückenden Bewusstsein geistiger „puissance“, sondern als eine Empfindung von besonderer Klarheit und Hellsichtigkeit, die aber etwas Bitteres oder Schmerzhaftes hat. Ein Gedicht skizziert den Zustand des Ich, das noch vor Sonnenaufgang aufgewacht ist und nun den Eindruck hat, eine Bühne zu betrachten, auf der die Kulissen noch nicht fertig aufgebaut sind, eine Welt, deren Leere und Zufälligkeit noch nicht durch den Schein von Fülle und Notwendigkeit verdeckt worden sind; all dies wird bezeich_____________ 418 419 420 421
Vgl. „Méditation avant pensée I“ in: Valéry, Mélange. In: Œ I, S. 351. C Pl. II, S. 1265f. / C facs. VI, S. 200 [1916]. Vgl. das „Petit poème abstrait“ mit dem Titel „L’Unique“ in: Œ I, S. 1728f. Vgl. C facs. IV, S. 416 [1910]. Dieses Prosagedicht ist auch abgedruckt in: Valéry, Poésie perdue. Éd. Jarrety, S. 87f.
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net als die „[i]mpression de clairvoyance tristissime du cerveau mal éveillé“.422 In einem anderen Prosagedicht empfindet das Ich beim Aufstehen „toute la montée amère et claire de la pensée, la présence du réel bien nette et détachée sur le sommeil qui vient de finir, sur l’ombre qui entoure la table“.423 Schließlich können Denken und Intellekt in den „Aubades“ auch als Instanzen innerhalb des Bewusstseins präsentiert werden, die sich im Konflikt mit anderen Partien des Ich befinden, vor allem mit der sinnlichen Wahrnehmung und dem Gefühl. Die Morgendämmerung erscheint in diesen Prosagedichten nicht nur als ein Moment der geistigen Klarheit, in dem das Ich die Kraft und Weite seines Intellekts empfindet, sondern immer wieder auch als ein Moment, in dem das Ich von besonders eindringlichen Gefühlen oder Stimmungen von Melancholie und Trauer heimgesucht wird oder in dem es von intensiven sinnlichen Wahrnehmungen überwältigt ist. Der Widerstreit, in dem sich das Denken und das Sehen in diesen Augenblicken befinden, wird besonders ausdrücklich etwa in einem Prosagedicht mit dem Titel „Accueil du jour“ gestaltet, das 1932 zusammen mit drei anderen Texten unter der Überschrift „Petits poèmes abstraits“ in der Revue de France veröffentlicht wurde.424 In diesem Prosagedicht tritt der Sprecher am Morgen auf die Terrasse und sieht sich einer glänzenden Szenerie mit Palmen und sonnenbeschienenen Dächern unter einem azurblauen Himmel gegenüber. Er erlebt diese Begegnung wie einen Schock, doch sein Geist („l’esprit“) wehrt sich sogleich gegen die Überwältigung durch diesen Anblick; für ihn sind dieser Ort und dieser Tag nur ein zufälliges, partikulares Vorkommnis, während er selbst unzählige weitere Möglichkeiten birgt und sich nicht in dem Bereich des Hier und Jetzt und des Realen bewegt, sondern in dem des NichtGegenwärtigen und Möglichen. Als das Ich noch weiter auf die Terrasse hinaustritt, wird die Anziehungskraft der äußeren Szenerie stärker und ruft erneut die abwehrende Reaktion des Geistes hervor; schließlich distanziert sich das Ich gleichermaßen von dem, was es sieht, und von dem, was es denkt, aber nur um sich zu fragen, ob es selbst – „ce que je suis“ – diesen widerstreitenden Impulsen gänzlich ausgeliefert ist: Que m’importe tout ce pays? Que m’importe toute la terre? Mais que m’importe aussi tout ce qui vient à mon esprit, tout ce qui naît et meurt dans mon esprit? Ce que je vois, ce que je pense – se disputent ce que je suis. Ils l’ignorent; ils le conduisent: ils le traitent comme une chose ... Suis-je la chose d’une idée, et le jouet de la splendeur d’un jour?425
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C Pl. II, S. 1258f. / C facs. VII, S. 352 [1911]. C facs. X, S. 282 [1924]; auch abgedruckt in: Valéry, Poésie perdue. Éd. Jarrety, S. 169. Diese vier Texte sind abgedruckt im Apparat der Pléiade-Ausgabe; vgl. Œ I, S. 1728-1731. Ebd., S. 1730.
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Auch ein zu Lebzeiten nicht veröffentlichtes Prosagedicht von 1917 zeigt einen solchen Konflikt zwischen sinnlichen Empfindungen, Emotionen und Intellekt, allerdings auf weit weniger geordnete Weise, in einem leicht impressionistischen, von Ellipsen und abrupten Einschnitten geprägten Stil, der den chaotischen und heftigen Charakter dieser seelischen Turbulenzen hervortreten lässt. Der kurze Text ist überschrieben mit „Matin du second jour de l’automne“ und beginnt: Réveil – Impressions singulières – La douceur des draps et le sentiment de la fraîcheur fine – Je me sens moi-même d’une finesse extrême, d’un délié dans le beau psychologique et tragique – Mon Alexandrie, mon vieillissant paganisme de l’intellect, touché par l’hiver – Mélange infiniment pur de considérations et d’images. 426
Die folgenden Zeilen schildern einige dieser „considérations“ und „images“, die sich im Bewusstsein des Ich verbinden: die „idée de l’inceste“ in ihrer „noblesse“ und „tendresse“, die Musik, die Vorstellung von zitternden und sich schließlich vereinigenden Händen. Dann wehrt sich der Intellekt gegen diese Gefühle und Empfindungen: Je me fâche de ces émotions. L’intellect jamais content hausse les épaules et se promène de long en large, au fond de la galerie cirée, qui n’existe pas, et qui donne sur la mer. Ouvrir la fenêtre. Le ciel délicat. Je fais une tragédie a parté en regardant dans la rue – où je regarde sans voir – Je sens cette ouverture de la journée avec l’ennui et l’impatience de ma lucidité qui lit dans ces merveilles un spectacle d’automne.427
Die Reaktion des Intellekts auf die „émotions“ wird hier mithilfe einer Personifizierung und eines ausgedehnten metaphorischen Bildes veranschaulicht („L’intellect jamais content hausse les épaules et se promène [...]“). Aber worin besteht genau diese Reaktion des Intellekts? Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das Ich hier eine Reflexion über irgendeinen Gegenstand begänne. Der Intellekt zuckt mit den Schultern und geht auf einer Galerie auf und ab, seine „lucidité“ ist verbunden mit „ennui“ und „impatience“: Das bedeutet, dass der Intellekt hier nicht einfach als ein Antagonist aller Gefühle als solcher erscheint, sondern sich vielmehr in seelischen Regungen manifestiert, die selbst eine Gefühls- oder Stimmungskomponente besitzen; was sich in diesem Schlussteil des Textes vollzieht, ist vor allem ein Wechsel zwischen verschiedenen komplexen Bewusstseinszuständen, die unter anderem durch spezifische Gefühle und Stimmungen charakterisiert sind, und dieser Übergang von einem Zustand zum anderen wird als Intervention des Intellekts gedeutet. _____________ 426 C facs. VI, S. 738f.; auch abgedruckt in: Valéry, Poésie perdue. Éd. Jarrety, S. 123. 427 Ebd.
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Was ist also kennzeichnend für die Darstellung des Denkens in diesen Prosagedichten über die Morgendämmerung? Wie die im vorigen Teilkapitel untersuchten Kurzprosa-Texte, so skizzieren auch diese „Aubades“ zumeist die räumliche Umgebung, in der sich die geschilderten Erlebnisse abspielen, und entwerfen so spezifische Konfigurationen von Körper, Geist und Welt. Wie die zuvor betrachteten Prosatexte, so teilen auch die Prosastücke über den Morgen kaum einmal irgendwelche Inhalte von Gedankengängen mit; allerdings kann man hier zumeist nicht davon sprechen, dass die Texte von diesen Inhalten abstrahieren, denn in den meisten Fällen gibt es keine Hinweise darauf, dass das Ich überhaupt solche Reflexionen mit angebbarem Inhalt anstellt. Gleichwohl werden diese Bewusstseinsvorgänge als solche präsentiert, an denen der Intellekt oder das Denken beteiligt ist; Ausdrücke wie „l’intellect“, „la pensée“, „idées“, „connaissance“ und „lucidité“ markieren die dargestellten Erlebnisse eindeutig als Ausschnitte aus der „vie de l’intelligence“. Der Intellekt manifestiert sich hier aber nicht in Gestalt von Reflexionen bzw. von mentalen Operationen, sondern in der Form von komplexen ‘états d’âme’, namentlich etwa in einem Bewusstsein von geistiger Kraft und Energie und in Empfindungen von Klarheit und Hellsichtigkeit, die verbunden sein können mit Stimmungen und Gefühlen wie aggressivem Tatendrang, Traurigkeit und Melancholie oder Überdruss. Bei den im vorigen Teilkapitel untersuchten Prosastücken, etwa dem mit „Je marche sur les bords de la mer [...]“ beginnenden, fiel auf, dass diese Texte zumindest für einen Moment eine objektive Perspektive auf die dargestellten Erlebnisse andeuten und den ‘Mechanismus’ ins Licht rücken, der diesen Erlebnissen zugrunde liegt. Diese objektive Sicht zeigte die Einflüsse äußerer, natürlicher und somit letztlich indifferenter und zufälliger Faktoren als entscheidende Determinanten der Erlebnisse und hatte insofern eine tendenziell relativierende oder entzaubernde Wirkung. Solche objektiven Perspektiven auf die Erlebnisse, welche die diesen zugrunde liegenden Funktionsmechanismen bloßlegen, finden sich zwar auch in manchen „Aubades“, aber bei weitem nicht in allen. Die meisten dieser Texte charakterisieren und deuten die Wahrnehmungen, die Selbstwahrnehmung und die Stimmung des Ich, ohne darauf hinzuweisen, dass und wie sich diese Stimmungen und Selbstwahrnehmungen als Effekt spezieller Funktionsweisen des Körpers im Zusammenspiel mit der Außenwelt erklären ließen. Die subjektive Selbsterfahrung und die Deutung dieser Erfahrung werden in den Texten selbst also nicht relativiert, sondern erscheinen zunächst einmal als ‘gültig’; ihnen scheint sogar eine besondere Aussagekraft zugesprochen zu werden, da mehrere Prosagedichte den Morgen als einen privilegierten Moment entwerfen, der besonders deutlich das Wesen des menschlichen Bewusstseins, sein Verhältnis zur
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Welt sowie die Beziehungen zwischen Intellekt, Gefühlen und sinnlicher Wahrnehmung hervortreten lässt. 3.4.3. Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden zwei Arten von Darstellungen des Denkens untersucht, die sich in Valérys Prosagedichten und Kurzprosa finden. Die zuerst analysierten Texte schildern Bewusstseinsvorgänge, die vom Ich nur in geringem Maße kontrolliert werden, in erster Linie durch die räumliche Umgebung, Affekte, Empfindungen und körperliche Zustände beeinflusst zu sein scheinen und sehr ungeordnet, diskontinuierlich und abrupt verlaufen: Diese mentalen Vorgänge werden ausdrücklich als solche gekennzeichnet, an denen auch der Intellekt oder das abstrakte Denken beteiligt ist, doch die Inhalte dieser Gedanken oder rudimentären Reflexionen werden nicht wiedergegeben. Die untersuchten „Aubades“ dagegen evozieren Erlebnisse, die kaum inhaltlich charakterisierbare Gedankengänge zu enthalten scheinen, sondern vor allem durch komplexe Stimmungen und Gefühle gekennzeichnet sind; diese Erlebnisse werden aber mithilfe von Ausdrücken wie „la pensée“ und „l’intellect“ beschrieben, die Stimmungen und Gefühle also als Manifestationen von Zuständen des Intellekts gedeutet. Die oben zitierte These Pickerings, der zufolge die Prosagedichte Valérys nach einer Synthese oder Harmonisierung von Intellekt und „sensibilité“ strebten, scheint mir die wesentlichen Merkmale zumindest der hier untersuchten Texte zu verfehlen und somit einer Einschränkung zu bedürfen. Pickering zufolge suchte Valéry in den abstrakten Prosagedichten nach einem „mode différent d’expression du moi, mode qui puisse harmoniser des extrêmes de sensibilité et de spéculation abstraite“; die Prosagedichte seien „une tentative d’intégration et de synthèse qui apparente les longs méandres analytiques de l’esprit aux éclairs créateurs de l’intuition et de l’imagination.“428 Aber in den Prosagedichten finden sich kaum Beispiele für ‘abstrakte Spekulationen’ und insbesondere keine Reflexionen, die man als „longs méandres analytiques de l’esprit“ bezeichnen könnte. Denkvorgänge dieser Art, in denen Probleme erörtert und Gegenstände analysiert werden, hat Valéry in Texten wie der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci, La Soirée avec Monsieur Teste und L’homme et la coquille entfaltet. In den Prosagedichten und Kurzprosatexten aber zeigt er gerade nicht die Verbindung solcher inhaltlich definierten Gedankengänge mit Gefühlen, Sinneseindrücken oder Stimmungen. Wie die erzählerische _____________ 428 Pickering, Paul Valéry poète en prose, S. 6.
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Darstellung solcher Wechselwirkungen zwischen Gefühlen und Denkinhalten aussehen kann, lässt sich etwa am Mann ohne Eigenschaften studieren: Musils Roman führt vor, wie die Gefühle oder Stimmungen der Romanfiguren sie zu Reflexionen mit bestimmten Inhalten anregen und wie die inhaltlichen Ergebnisse dieser Reflexionen auf die Gefühle zurückwirken. Die oben analysierten Kurzprosatexte und Prosagedichte Valérys aber gestalten keine derartigen Interaktionen zwischen Denkinhalten und Gefühlen. Einige von ihnen schildern Bewusstseinsvorgänge, die durch Ausdrücke wie ‘objets de l’intellect’, ‘abstraction’, ‘pensée’ als Denkvorgänge bzw. als den Intellekt involvierende Prozesse gekennzeichnet werden und die offenbar Gedanken mit prinzipiell benennbaren Inhalten enthalten, aber sie blenden diese Inhalte aus und konzentrieren sich auf andere Aspekte dieser Vorgänge. In den „Aubades“ dagegen manifestiert sich der Intellekt meist nicht in inhaltlich gefüllten Gedankengängen, sondern in Stimmungen oder Gefühlszuständen. Verbindungen oder Wechselwirkungen zwischen „sensibilité“ und „spéculation abstraite“ werden in keinem Fall präsentiert, und von einer ‘Synthese’ von „sensibilité“ und „intellect“ zu sprechen ist zumindest so lange irreführend, wie man nicht den Begriff „intellect“ näher erläutert und zwischen verschiedenen Manifestationsweisen des Intellekts unterschieden hat; denn es sind nicht die für Valérys Begriff des Denkens und des Intellekts zentralen ‘opérations intellectuelles’, die hier in Verbindung mit Phänomenen der „sensibilité“ gezeigt werden. Die Darstellungen des Denkens in Valérys Kurzprosatexten und Prosagedichten unterscheiden sich offensichtlich stark von den Darstellungen des Denkens in Essays wie der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille oder in einer Erzählung wie La Soirée avec Monsieur Teste. Diese Unterschiede gilt es noch präziser zu beschreiben und daraufhin zu befragen, ob und wie sie mit Valérys psychologischen und anthropologischen Konzepten zusammenhängen. Hält man den Essay L’homme et la coquille neben Erzählfragmente wie den oben betrachteten Text „Variété“ und Prosagedichte wie die „Aubades“, so kann man zunächst kosntatieren, dass diese Texte unterschiedliche Arten von Denkvorgängen darstellen: Die ausgedehnte, methodisch kontrollierte Reflexion aus L’homme et la coquille unterscheidet sich grundlegend von den häufig diskontinuierlichen und ungeordneten Denkvorgängen sowie den eindringlichen Erlebnissen intellektueller Energie und Klarheit, wie sie in den Prosagedichten präsentiert werden. Zudem rücken diese Texte aber auch unterschiedliche Aspekte des Denkens in den Vordergrund: In L’homme et la coquille erfährt man nichts über den räumlichen und zeitlichen Kontext, in dem sich die Reflexion des Ich abspielt, und so gut wie nichts über die Gefühle, sinnlichen Wahrnehmungen und Seelen-
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zustände, die den Denkvorgang begleiten. Zwar ist am Anfang von den „merveilles de l’intellect“ die Rede, für die es kein besseres Beispiel gebe als eben die Konfrontation mit Gegenständen wie einer Muschel; aber dieses Staunen wird im Folgenden kaum anschaulich gemacht, und die ausgedehnten Räsonnements, die auf diesen Moment der Überraschung und des Staunens folgen, scheinen durch keine anderen Gefühle, Stimmungen oder Sinneseindrücke unterbrochen oder abgelenkt zu werden. Prosagedichte wie die „Aubades“ sowie andere kurze Prosaskizzen dagegen schildern die Einflüsse der räumlichen Umgebung und der Tageszeit auf das Denken oder die emotional getönten „états d’âme“, in denen sich der Intellekt zu bestimmten Zeiten manifestiert; aber sie geben keine Inhalte von Reflexionen wieder. Auch bei den Texten dieser Gruppe lassen sich wieder unterschiedliche Akzentsetzungen ausmachen: Einige arbeiten vor allem ‘äußere’ Merkmale der Denkvorgänge wie ihre Heterogenität und ihre diskontinuierlich-abrupte Dynamik heraus, Eigenschaften der Denkvorgänge also, in denen sich Funktionen des Körpers und Einflüsse der äußeren Umgebung niederschlagen; andere Prosagedichte, vor allem aus der Gruppe der „Aubades“, verbleiben stärker in der Perspektive des subjektiven Erlebens und konzentrieren sich auf die Schilderung der komplexen Selbstwahrnehmung des Ich. Wichtiger als die unterschiedlichen Akzentsetzungen innerhalb der Prosagedichte ist aber zunächst der Unterschied zwischen zwei Grundarten von Darstellungen des Denkens bei Valéry, der sich in den voranstehenden Untersuchungen gezeigt hat: Auf der einen Seite stehen Texte wie L’homme et la coquille, welche die Inhalte von Denkvorgängen, aber nicht ihren raumzeitlichen Kontext sowie die Gefühle, Sinneswahrnehmungen und Stimmungen des Denkenden präsentieren; auf der anderen Seite stehen Texte, welche Denkvorgänge oder Denkerlebnisse in konkreten räumlichen und zeitlichen Kontexten platzieren und sie hinsichtlich ihrer ‘äußeren’ Form, ihrer Dynamik, Heterogenität und der sie begleitenden Sinneswahrnehmungen und Gefühle charakterisieren, aber keine Inhalte von Gedanken benennen. Lässt sich diese Trennung zwischen verschiedenen Aspekten des Denkens, ihre Verteilung auf unterschiedliche Texte und Textsorten, mithilfe von Valérys theoretischer Konzeption von Denken und Intellekt erklären? Eine Teilantwort auf diese Frage wurde weiter oben bereits angedeutet: Dass Valéry in manchen Darstellungen von Denkvorgängen die Inhalte der Gedanken unspezifiziert lässt und allein den räumlichen und zeitlichen Kontext dieser Vorgänge, ihre Diskontinuität oder Heterogenität sowie die sie begleitenden Sinneseindrücke und Gefühle schildert, kann auf jene theoretischen Überzeugungen zurückgeführt werden, die er vor allem in der Opposition „significatif / fonctionnel“ ausgedrückt hat: Mentale Vorgänge, so der Grundgedanke hinter dieser Unterscheidung, sind
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unter anderem durch Strukturen und Prozesse bedingt, die auf physikalischen, biologischen oder anderen Naturgesetzen beruhen und sich gegenüber den Inhalten und Bedeutungen von Gedanken oder Wahrnehmungen indifferent und gleichsam ‘blind’ verhalten. Wenn Valéry in manchen Essays Denkprozesse präsentiert, die nicht durch Gefühle, Sinneswahrnehmungen, körperliche Verfassung und räumliche Umgebung des Denkenden affiziert zu sein scheinen, so kann das daher nicht als Indiz der Überzeugung gewertet werden, dass reale Denkvorgänge gänzlich unbeeinflusst durch diese Faktoren ablaufen können; Valéry nahm an, dass sie wie alle mentalen Vorgänge innerhalb eines Geflechts von Wechselwirkungen zwischen ‘Corps’, ‘Esprit’ und ‘Monde’ ablaufen. Entscheidend ist aber, dass die Einwirkungen von Körper, Gefühl und Außenwelt auf den Denkprozess in seinen Augen zu einem großen Teil irrelevant sind – irrelevant insofern, als sie rein ‘äußerliche’, kontingente Einflüsse darstellen. Es gibt sie de facto, aber sie spielen de iure keine Rolle, sondern sind schlicht akzidentielle Störungen. Neben den psychologischen und anthropologischen Konzepten Valérys sind auch die unterschiedlichen Intentionen zu berücksichtigen, die er mutmaßlich mit den verschiedenen Texten und Textsorten verband. In Essays wie der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille, so wurde oben argumentiert, wollte Valéry durch die Sprecherinstanzen exemplarische, modellhafte Denkprozesse vorführen lassen, wobei er unter Denkprozessen vor allem methodisch kontrollierte Abfolgen von intellektuellen Akten oder Operationen verstand. Was an so verstandenen Denkprozessen qua Denkprozessen interessiert, sind die Verknüpfungen, die sie zwischen verschiedenen Gedanken und zwischen Fragen und Antworten herstellen, die Transformationen, denen sie Fragen und Antworten unterziehen; es sind ihre Qualitäten als konstruktive oder produktive Handlungen, und diese Qualitäten sind unabhängig von den Gefühlen, Stimmungen und Sinneseindrücken, die den Denkvorgang begleiten mögen, sowie von dem konkreten räumlichen, zeitlichen und situativen Kontext dieses Vorgangs. Den Unterschied zwischen den zwei Grundarten von Darstellungen des Denkens bei Valéry kann man auch noch auf etwas andere Weise beschreiben: Die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci, La Soirée avec Monsieur Teste und L’homme et la coquille, die primär die Inhalte von Denkvorgängen darstellen, zeigen das Denken als eine Art des Handelns,429 wäh_____________ 429 Dass das Denken in den Essays als ein Handeln entfaltet wird, kann man etwa an den meta-diskursiven Aussagen der Sprecher- und Denker-Figuren festmachen, die alle wiederholt die Denkschritte und intellektuellen Verfahren benennen, die sie vollzogen haben oder vollziehen werden: „Je me propose d’imaginer un homme [...]“ (Valéry, Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. In: Œ I, S. 1155); „Je maintenais entière l’image de l’homme
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rend in den Kurzprosatexten und Prosagedichten Denkvorgänge vor allem als Erlebnisse präsentiert werden. Die Darstellungen dieser Denkhandlungen in den Essays und in der Erzählung teilen wenig oder nichts darüber mit, wie diese Handlungen von der denkenden Figur erlebt werden. Die Prosagedichte und Kurzprosatexte dagegen schildern vielfach Denkvorgänge, die primär oder ausschließlich über ihre Erlebnisseite definiert werden. Dass Denkhandlungen und Denkerlebnisse in Valérys literarischen Darstellungen des Denkens überwiegend klar getrennt sind, steht im Einklang mit seinen theoretischen Konzepten. Der dominierende Strang seiner theoretischen Reflexionen über das Denken begreift dieses als ein Handeln, als ein Durchführen intellektueller Operationen. Die subjektiven Erlebnisse, welche diese Denkhandlungen begleiten mögen, haben dabei keine eigene Funktion, sondern tatsächlich nur den Status von Begleiterscheinungen. Der Erfolg oder Misserfolg der Denkhandlungen etwa bemisst sich Valéry zufolge nicht nach den subjektiven Empfindungen, welche die Resultate im Denkenden auslösen: Die Ziele der Denkhandlungen bestehen etwa darin, heterogene Phänomene in einen kontinuierlichen Zusammenhang zu bringen, Gegenstände in die zu ihrer Herstellung erforderlichen Arbeitsschritte zu zerlegen oder die Bedeutung von Wörtern zu klären; ob dies gelungen ist oder nicht, liegt am Ende offen zutage und muss nicht durch Evidenz- oder Befriedigungsgefühle des Denkenden bestätigt werden. Wo also Denkhandlungen als Denkhandlungen betrachtet werden, da können die Erlebnisaspekte dieser Handlungen für Valéry nur als akzidentielle Begleiterscheinungen gelten. Wer eine solche Auffassung vertritt, für den können aber gleichwohl die Erlebnisaspekte von Denkvorgängen als solche, als eine bestimmte Art von komplexen Erlebnissen, ein Interesse in eigener Sache beanspruchen. Diese Sichtweise scheint für viele der Kurzprosatexte und Prosagedichte Valérys bestimmend zu sein, die Momente der „vie de l’intelligence“ evozieren und diese vorwiegend oder ausschließlich hinsichtlich ihrer Erlebnisqualitäten beschreiben.
_____________ rigoureux, je tâchais de la faire répondre à mes questions ...“ (ders., La Soirée avec Monsieur Teste. In: Œ II, S. 20.); „Je vais donc introduire ici l’artifice d’un doute [...]“ (ders., L’homme et la coquille. In: Œ I, S. 892). Die Sprecherinstanzen stellen sich selbst Aufgaben, entwerfen Hypothesen, konstruieren Modelle, setzen verschiedene Phänomenbereiche in Beziehung zueinander, analysieren und verwandeln ihre eigenen Fragen und Antworten; in diesem Sinne hat ihr Denken den Charakter eines Handelns.
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3.5. Fazit: Arten des Denkens und der Denkdarstellung Valérys literarische Darstellungen des Denkens sind sehr vielfältiger Art und lassen sich daher nicht pauschal als Gesamtheit beschreiben. Betrachtet man alle hier analysierten Texte zusammen, so kann man zunächst zwischen zwei verschiedenen Grundarten von Darstellungen des Denkens unterscheiden, deren eine sich in den Essays und La Soirée avec Monsieur Teste realisiert findet, deren andere durch die Kurzprosatexte und die Prosagedichte vertreten wird. Die Essays und der Erzähltext präsentieren die Inhalte längerer Denkvorgänge und zeigen das Denken vor allem als ein willensgeleitetes und methodisches Handeln, als eine Folge geistiger Akte oder intellektueller Operationen; die Prosagedichte und Kurzprosatexte dagegen schildern häufig Denkvorgänge, die nur in geringem Maße durch das denkende Ich kontrolliert werden, sondern stark durch affektive Erregungen, körperliche Zustände und die äußere Umgebung beeinflusst werden, und sie charakterisieren vor allem die Erlebnisqualitäten dieser Denkvorgänge und sehen von ihren Inhalten ab. Innerhalb der ersten dieser Gruppen sind die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille durch einige strukturelle Ähnlichkeiten verbunden, während La Soirée avec Monsieur Teste eine Sonderstellung einnimmt: Die Gedankengänge in den zwei Essays kreisen um theoretische Fragen und suchen Erklärungen für bestimmte Phänomene zu entwickeln; La Soirée avec Monsieur Teste dagegen stellt die Überlegungen eines Erzählers dar, der die Bilanz seines bisherigen Lebenswegs zieht, einen alternativen Lebensentwurf konstruiert oder beobachtet und sich selbst zu diesem von Teste verkörperten Lebensentwurf ins Verhältnis setzt. Diese Überlegungen haben insofern theoretischen Charakter, als sie die Möglichkeiten und Grenzen eines bestimmten Lebensprojekts festzustellen suchen; zugleich scheint der Erzähler aber auch sich selbst Rechenschaft darüber ablegen zu wollen, wie er zu diesem von Teste verkörperten Lebensprojekt ‘steht’, und insofern haben seine Reflexionen auch einen praktischen Zug.430 Die in der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und in L’homme et la coquille entwickelten Gedankengänge schließlich ähneln sich insofern, als sie bestimmte Sachverhalte zu erklären suchen: im einen Fall den Umfang und die Vielseitigkeit der Werke eines Genies wie Leonardo, im anderen Fall das Wachstum und die äußere Form einer Muschel. Hinsichtlich der Art und Weise allerdings, wie die Sprecherfiguren diese Phänomene analysieren und zu erklären suchen, bestehen weitreichende Unterschiede: Der _____________ 430 Mit ‘praktischen Überlegungen’ sind hier wiederum Überlegungen zu Fragen des Typs ‘Was soll ich tun?’ gemeint, mit ‘theoretischen Überlegungen’ dagegen Überlegungen zu Fragen von der Sorte ‘Wie verhält es sich mit X?’ oder auch ‘Wie ist X zu erklären?’. Vgl. Steinfath, Orientierung am Guten, S. 14f.
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Sprecher in dem ersten Leonardo-Essay entwirft ein hypothetisches Modell des menschlichen Geistes und des Intellekts und beschreibt dann das Konstruieren von Kunstwerken verschiedener Art und von wissenschaftlichen Hypothesen in einer Weise, die ihre gemeinsame Herkunft aus den geschilderten geistigen Operationen plausibel machen soll. Dabei praktiziert der Sprecher in seiner Gedankenführung und in der stilistischen Gestaltung seines Diskurses selbst das Verfahren, das er als Kern von Leonardos Methode postuliert hat. Der Sprecher in L’homme et la coquille dagegen erklärt oder ‘expliziert’ die Eigenschaften der Muschel und ihres Wachstums, indem er sich die Merkmale menschlicher Herstellungstätigkeiten bewusst macht und die Muschel und ihr Wachstum an diesem Referenzsystem ‘misst’. Diese Schreibweisen und die Unterschiede zwischen ihnen lassen sich in vielfacher Weise zu Valérys Konzeption des Denkens in Bezug setzen: Der Trennung zwischen Denkhandlungen und Denkerlebnissen liegen, wie oben ausführlich dargelegt wurde, Valérys Auffassung vom Denken als einer Abfolge von intellektuellen Operationen sowie seine Annahmen über die Beziehungen zwischen der ‘funktionellen’ und der ‘signifikativen’ Ebene geistiger Vorgänge zugrunde. Die Unterschiede zwischen der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille lassen sich zurückführen auf einen Wandel in Valérys psychologischen und erkenntnistheoretischen Überzeugungen, der sich zwischen seiner frühen und seiner späteren Schaffensphase vollzogen hat. Der Sprecher des Leonardo-Essays präsentiert sich als eine Instanz, die fast nur aus dem Willen zur Lösung der Aufgabe und aus seiner Verfügungsgewalt über die zu behandelnden Phänomene besteht; der Sprecher von L’homme et la coquille dagegen tritt als eine reagierende, antwortende Figur auf, die durch die Muschel ‘angesprochen’ wird und ihre eigenen Reaktionen zu entfalten und zu präzisieren sucht. Die Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci setzt unterschiedliche Tätigkeiten und Phänomenbereiche in Verbindung miteinander, indem sie durch Metaphern und Analogien Ähnlichkeiten zwischen ihnen hervorhebt oder herstellt; der Sprecher des späteren Essays hingegen betrachtet die Tätigkeit des ‘Faire’ als notwendige Grundlage aller Erklärungsbemühungen und vergleicht folglich das Wachstum der Muschel mit der menschlichen Herstellungstätigkeit. Das 2. Kapitel dieses Untersuchungsteils hat gezeigt, dass Valéry in Notizen und Vorträgen sehr unterschiedliche Arten der literarischen Darstellung von Denken skizziert hat, die mit verschiedenen Zielsetzungen verbunden waren. Welche dieser Absichten Valéry in seinen literarischen Texten tatsächlich realisiert hat, ist zum Teil in der eben formulierten Zusammenfassung bereits angedeutet worden. Das Projekt einer „Comédie Intellectuelle“, die in epischer Breite die Schicksale der „vie de
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l’intelligence“ ausbreiten würde, hat Valéry nie in Angriff genommen; doch die Denkerlebnisse, die in seinen Prosagedichten und Kurzprosatexten evoziert werden, kann man als Phänomene aus dem Bereich der „sensibilité intellectuelle“ deuten, die für Valéry einen wesentlichen Aspekt dieses ‘Lebens der Intelligenz’ ausmachte. Die Erzählung und die zwei Essays dagegen sind in je spezifischer Weise zwei anderen Absichten oder Idealen verpflichtet, die Valéry in seinen Notizen formuliert hat: Alle drei lassen die Absicht des Autors erkennen, ‘Modelle des Denkens’ niederzuschreiben, sind aber auch in unterschiedlichem Maße durch das Ideal eines „Art de la Prose“ geprägt. Was die Texte als ‘Modelle des Denkens’ erscheinen lässt, sind insbesondere die meta-diskursiven Bemerkungen der Sprecher-Figuren, in denen diese jeweils ihre Problemstellungen, Zielsetzungen und Vorgehensweise explizit thematisieren. Hinzu kommt, dass die Texte von allem abstrahieren, was für den Denkvorgang als eine Abfolge von Problemen und intellektuellen Operationen nicht direkt relevant ist. So wird die denkende Ich-Figur auch in dem fiktionalen Erzähltext, La Soirée avec Monsieur Teste, fast ausschließlich über die Eigenschaften und Selbstbeobachtungen definiert, die für ihre Sicht auf Monsieur Teste konstitutiv sind bzw. die Basis für ihre hypothetische Konstruktion außergewöhnlicher ‘Menschen des Geistes’ bilden. Die Orientierung an dem Ideal eines „Art de la Prose“ ist am deutlichsten in der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci zu erkennen; ihre ‘ornamentale’ Struktur, die Symmetrien, Parallelismen und verbindungsstiftenden Metaphernketten verdanken sich unverkennbar auch dem Bestreben, eine auf strengen Regeln der Disposition beruhende und alle Dimensionen der Sprache ausschöpfende Prosakunst zu entwickeln. In geringerem Maße sind aber auch La Soirée avec Monsieur Teste sowie L’homme et la coquille durch diese literarästhetischen Überlegungen Valérys beeinflusst. Wie der frühe Text über Leonardo, so enthalten auch sie Partien, die sich durch besondere Stilregister von den anderen Teilen absetzen: In der Erzählung unterscheiden sich etwa die Opernszene und die Schlussszene in Testes Appartement stilistisch erheblich voneinander, aber beide auch von der ersten Hälfte des Textes; mit Blick auf L’homme et la coquille wäre auf die Abschnitte mit der geometrisch exakten Beschreibung der Muschel und auf die spielerisch-grotesken Abschweifungen am Ende des Essays zu verweisen. Dieses Verfahren, in der Abfolge der Textpartien unterschiedliche Stilregister durchzuspielen, verweist auf das von Valéry immer wieder umkreiste Ideal von Prosawerken, die wie Symphonien strukturiert wären.
V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich 1. Anthropologische und psychologische Grundannahmen 1.1. Basiskonzepte: Musils ‘Grundhaltungen’ und Valérys Schema ‘Demande / Réponse’ In den Analysen zu Musil wie in jenen zu Valéry wurde deutlich, dass ihre Konzeptionen des Denkens jeweils eingebettet sind in allgemeinere anthropologische und psychologische Grundannahmen. Die Differenzen zwischen ihren Konzeptionen des Denkens, aber auch zwischen ihren Arten, Denken zu erzählen, erklären sich zu einem großen Teil aus den Unterschieden zwischen den zugrunde liegenden anthropologischen und psychologischen Konzepten. Daher sollen zunächst diese knapp zusammengefasst und direkt miteinander kontrastiert werden. Für Musils anthropologische Überlegungen ist das Bestreben kennzeichnend, Grundhaltungen, Grundzustände oder Grundverhaltensweisen zu identifizieren, die gleichsam unter den beobachtbaren Handlungen, Erlebnisse und Verhaltensweisen der Menschen liegen und als deren vielgestaltige Ausprägungen sich diese deuten lassen sollen. Diesem Zweck diente etwa die Unterscheidung von ‘Für und in etwas leben’ sowie vor allem das Begriffspaar ‘Normalzustand / anderer Zustand’; das Letztere ist eng mit der Konzeption der Grundhaltungen von ‘Gewalt und Liebe’ verwandt, die auch Ulrich sich zu Eigen macht. Diese Grundzustände und Grundhaltungen können sich zwar auf unterschiedliche Weisen manifestieren, werden aber von Musil dennoch nicht bloß formal, sondern inhaltlich bestimmt; das heißt, sie werden von ihm definiert über bestimmte Arten von Bedürfnissen und Bestrebungen, Wünschen und Erlebnissen, in denen sie zutage treten: Zu der einen Grundhaltung gehören etwa das Bedürfnis nach Selbsterhaltung und das aggressive Streben nach Zerstörung und Erniedrigung, zu der anderen das Erlebnis einer von Hingabe und Vertrauen erfüllten Einheit mit der Welt sowie die Sehnsucht nach einem solchen Zustand. Auch das Bedürfnis nach einem ‘seelischen Gleichgewicht’ kann letztlich als eine vermittelte Ausprägung der Grund-
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haltung der Liebe aufgefasst werden, als eine der Spuren, die die Erinnerung an den anderen Zustand im Normalzustand hinterlassen hat. Diese Grundhaltungen nun werden von Musil nicht nur neutral als Tendenzen beschrieben, welche die menschliche Natur de facto prägen; er verbindet vielmehr die Charakterisierungen dieser Grundhaltungen mit Wertungen, die seiner Anthropologie auch eine normative Dimension verleihen. Der andere Zustand ist der „Grundzustand der Ethik“1, die reinste Ausprägung eines wertvollen, von Liebe oder Güte bestimmten Verhaltens gegenüber der Welt und den Mitmenschen, aus dem heraus der Mensch „nichts Niedriges tun“ kann (MoE 763). Die ‘gewalttätige’ Einstellung des Normalzustands wiederum ist unverzichtbar für die individuelle Selbsterhaltung wie für die Regelung des sozialen Zusammenlebens, für die Behauptung gegenüber der „Notdurft des Lebens“ (MoE 593). Daraus ergibt sich die Aufgabe, diese Tendenzen so miteinander in Einklang zu bringen, dass sie sich nicht gegenseitig blockieren. Das heißt für Musil zunächst, die Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte, die dem anderen Zustand oder der Grundhaltung der Liebe entstammen, auf unentstellte Weise zu artikulieren, sie von ideologischen Einkleidungen zu befreien und ihren tatsächlichen Ursprung zu Bewusstsein zu bringen; dazu gehört auch, Surrogate oder „Abformen“2 des anderen Zustands als solche zu durchschauen. Diese Bemühungen um ein ‘richtiges’ Verhältnis zum anderen Zustand gilt es nach Musil zu unternehmen, obwohl feststeht, dass man nicht dauerhaft in diesem Zustand leben kann; wie die „falsche Behandlung“ des mystischen Erlebnisses ihm zufolge das „rechte Handeln“ hindert (MoE 1845), so scheint er anzunehmen, dass ein unverfälschtes Bewusstsein von der Existenz und dem Wesen dieses Zustands ein ‘rechtes’, ethisch wertvolles Handeln und Leben ermögliche. Valéry unternimmt in seinen anthropologischen Reflexionen nicht den Versuch, einige Grundhaltungen, Grundzustände oder Grundtriebe zu identifizieren, auf die sich die Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen zurückführen ließe. In seiner Anthropologie finden sich denn auch keine Konzepte, die den Musil’schen Grundhaltungen von Gewalt und Liebe entsprechen; sein Begriff von der Natur des Menschen weist im Vergleich zu demjenigen Musils einen geringeren Grad an inhaltlicher Festlegung und an Ordnung auf. Zu den anthropologischen Annahmen Valérys, die einen ähnlich allgemeinen und fundamentalen Charakter besitzen wie Musils Konzeption der zwei Grundhaltungen, gehört erstens die Überzeugung, dass der Mensch als ein Ensemble von körperlichen und geistigen ‘Funktionssystemen’ betrachtet werden könne, die auf komplizierte _____________ 1 2
Musil, Tagebücher, S. 660 [Heft 25: 1921-1923?]. Ebd.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
Weisen miteinander verzahnt sind. Eine zweite Annahme lautet, dass Körper und Geist eines Menschen stets mit Teilen der Welt in einer Beziehung des wechselseitigen Einflusses stehen, dass also Körper, Geist und Welt drei Glieder eines Systems („C.E.M.“) bilden, das eigentlich stets als Ganzes wahrgenommen werden muss. Alle Handlungen ebenso wie alle mentalen Vorgänge des Menschen, so eine dritte Grundüberzeugung, lassen sich als Teil einer Sequenz von „Demande“ und „Réponse“ begreifen, etwa als Reaktionen auf ein Ereignis in der Außenwelt oder auf ein mentales Geschehen. Das Handeln und Verhalten des Menschen, also das Zusammenspiel der ihn konstituierenden Funktionssysteme im Hervorbringen von ‘réponses’ und neuen ‘demandes’, ist bis zu einem gewissen Grad bestimmt durch das Streben nach Selbsterhaltung. Doch Valéry meint nicht, dass sich alles menschliche Handeln auf einen solchen biologischen Grundtrieb zurückführen lasse, auch nicht auf einen weiter gefassten Grundtrieb, der etwa das Streben nach Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen einschlösse; als mögliche Antriebe menschlichen Handelns und Verhaltens dürften nach Valéry prinzipiell alle Augenblicksimpulse, Gefühls- und Wunschregungen fungieren, die als ‘demandes’ auf den Menschen einwirken. Da er mit reflexivem Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Willen begabt ist, kann der Mensch in einem gewissen Maß auf dieses Chaos vielfältiger Impulse einwirken, bestimmte Wünsche oder Bedürfnisse privilegieren und sich Ziele setzen. Valéry vertritt ferner die Auffassung, dass der Mensch über mehr Potentiale des Wahrnehmens, Denkens und Handelns verfügt, als er zur Selbsterhaltung benötigt. Im Streben nach seinen selbstgesetzten Zielen kann er sich auch dieser Potentiale zu bemächtigen und sie zu entwickeln suchen. Valérys Anthropologie unterscheidet sich von der Musil’schen also zunächst dadurch, dass sie die Diversität menschlicher Triebe, Bedürfnisse und Wünsche nicht auf eine geringe Zahl von Grundhaltungen zurückzuführen sucht; darin ist bereits impliziert, dass es bei Valéry auch keine in der menschlichen Natur angelegten Grundtriebe gibt, denen eine normative Qualität zukäme: Seine Anthropologie benennt keine Bedürfnisse, Wünsche oder Triebe, deren möglichst authentische Erfüllung oder Verwirklichung der Mensch anstreben sollte, um ein glückliches, wertvolles oder bedeutendes Leben zu führen. Damit ist der vermutlich wichtigste, grundlegende Unterschied zwischen Musils und Valérys anthropologischen Positionen benannt. Im Folgenden sollen einige speziellere, auf einzelne Konzepte bezogene Differenzen zwischen ihren anthropologischen und psychologischen Auffassungen betrachtet werden, in denen sich dieser fundamentale Unterschied manifestiert. Zunächst sei aber ein möglicher Einwand gegen die eben formulierte These erörtert, der zufolge es bei Valéry keine Konzepte
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gebe, die der Musil’schen Dualität der Grundhaltungen von Gewalt und Liebe entsprächen. Auch in Valérys Werk, so könnte kritisch angemerkt werden, spielt die Beschäftigung mit mystischen oder ‘quasi-mystischen’ Erfahrungen eine nicht unbedeutende Rolle; in verschiedenen Texten, etwa dem Prosagedicht „London Bridge“ und in Mon Faust, hat Valéry ‘mystische’ Ausnahmeerlebnisse gestaltet, in denen dem Subjekt die Erfahrung eines reinen Seins oder die Wahrnehmung der reinen Realität zuteil wird;3 den Gegensatz zwischen solchen Erfahrungen und dem intellektuell-distanzierten, auf Erkenntnis abzielenden Verhältnis gegenüber der Wirklichkeit hat er in den Cahiers meist anhand der Antithese ‘Être et Connaître’ zusammengefasst, in der man eine Verwandte der Musil’schen Dualität von „Gewalt und Liebe“ vermuten könnte. Tatsächlich zeigt sich aber gerade in einem Vergleich von Musils und Valérys Haltungen gegenüber mystischen Erfahrungen der oben beschriebene Unterschied. Für Musil macht es das Wesen der Erlebnisse des anderen Zustands aus, dass in ihnen kurzzeitig ein Grundbedürfnis als erfüllt oder befriedigt erlebt wird, das auch außerhalb dieser Erfahrungen das Verhalten und Erleben des Menschen beeinflusst, indem es sich als Sehnsucht, Mangelempfindung oder Unzufriedenheit bemerkbar macht und die Menschen zu Surrogaten wie Ideologien, Kunst- und Naturanbetung oder ‘Schleudermystik’ Zuflucht nehmen lässt (vgl. oben, Abschnitte III.1.4 und III.1.5). Vergleichbare Konzeptionen finden sich bei Valéry nicht. Zunächst muss betont werden, dass die mystischen Erlebnisse in seinen Reflexionen über die Natur des Menschen und des menschlichen Geistes bei weitem keine so prominente Stellung einnehmen wie bei Musil. Vor allem aber vertritt Valéry nirgends die Ansicht, dass die Erinnerung an mystische Erfahrungen eines reinen Seins oder die Ahnung von der Möglichkeit solcher Erfahrungen das gesamte normale Verhalten, Handeln und Erleben der Menschen beeinflusst; auch der Konflikt zwischen ‘Être et Connaître’ wird von ihm nicht als Spannung zwischen zwei Grundtrieben oder Grundbedürfnissen konzipiert, die in diesem Sinne als eine untergründige Tiefenstruktur das menschliche Leben bestimmte. Was sich in den Ausnahmeerfahrungen, in denen der Mensch die Realität in ihrem reinen Sein wahrnimmt, manifestiert oder realisiert, ist ein bestimmter Funktionsmodus des Bewusstseins oder der Triade von „Corps Esprit Monde“, nicht ein Grundbedürfnis des Menschen, das sein Leben insgesamt prägt. Die voranstehenden Bemerkungen haben bereits auf eine Implikation von Musils Annahme der zwei Grundhaltungen hingewiesen, die für seine Konzeption des Denkens von entscheidender Bedeutung ist und die wie_____________ 3
Vgl. Paul Valéry, ‘Mon Faust’. In: Œ II, S. 276-403, hier S. 321-323; ders., Choses tues. In: Ebd., S. 474-515, hier S. 512-514. Vgl. dazu: Ince, Être, Connaître et Mysticisme; Robinson, L’analyse de l’esprit, S. 200-216; Pilkington, Valéry and Sartre, S. 190-192.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
derum in deutlichem Kontrast zu Auffassungen Valérys steht: Musils Annahme der zwei Grundhaltungen besagt, dass einzelne Wünsche, Einstellungen und Erlebnisse eines Menschen gedeutet, nämlich als Äußerungen dieser Grundhaltungen begriffen werden können; insbesondere besagt diese Annahme auch, dass bestimmte Erlebnisse als Äußerungen der dem anderen Zustand zugeordneten menschlichen Wesensseite gedeutet werden können und dass ihnen dementsprechend besondere Wichtigkeit zukommt. Die Besonderheit dieser Erlebnisse zeigte sich für Musil vor allem in der außergewöhnlichen Qualität der Gefühle, mit denen sie verbunden waren. Davon, dass es Erlebnisse von dieser herausgehobenen Bedeutung gebe, die vor allem an ihren Gefühlskomponenten zu erkennen seien, war Musil allerdings schon weitgehend überzeugt, bevor er sein Konzept des anderen Zustands entwickelte: Vor allem jene Erfahrungen, die er als ‘lebendige Gedanken’ bezeichnete, wurden von ihm in dieser Weise aufgefasst. Das Lebendigwerden eines Gedankens beschrieb er als eine Erfahrung, die nicht willentlich herbeigeführt werden kann und die sich durch besondere Erlebnisqualitäten auszeichnet, durch ein Gefühl der inneren Belebung und des Ergriffenwerdens. Wo er in seinen Notizheften genauer zu bestimmen sucht, was in diesen Momenten ergriffen oder belebt werde, zieht er Ausdrücke wie ‘Seele’, ‘das Ich’, ‘mein Dasein’ heran;4 Ulrich, der sich in seinem Tagebuch mit derselben Frage auseinandersetzt, verwendet ähnliche Ausdrücke (vgl. MoE 1916f.). Musil und Ulrich bezweifeln mithin nicht, dass das intensive Gefühl des Ergriffen- und Belebtwerdens, das diese Momente auszeichnet, darauf zurückzuführen sei, dass sich in ihnen eine besonders wichtige oder wesentliche Instanz oder Schicht des Menschen zur Geltung bringe, wenngleich sie nicht sicher sind, wie diese Instanz zu benennen ist. Die Konzepte des anderen Zustands und des Normalzustands sowie die eng damit verknüpfte Annahme der zwei Grundhaltungen von Liebe und Gewalt lieferten Musil dann einen Rahmen, innerhalb dessen sich die Bedeutsamkeit der außergewöhnlichen Gefühlserlebnisse erläutern und begründen ließ. Valéry hingegen stand der Annahme, die außergewöhnlichen Erlebnisqualitäten, die einen psychischen Zustand oder Vorgang begleiten, könnten als Indiz der besonderen Wichtigkeit oder Bedeutsamkeit dieses Zustands aufgefasst werden, mit Skepsis oder offener Ablehnung gegenüber. Die Differenz, die in dieser Hinsicht zwischen seiner Position und derjenigen Musils besteht, verweist wiederum auf die Unterschiede zwischen ihren anthropologischen Grundannahmen; dass Valéry den betreffenden Erlebnissen keine herausgehobene Bedeutung zugestehen mochte, liegt wesentlich daran, dass er nicht an die Existenz einer besonders wich_____________ 4
Vgl. Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 853.
1. Anthropologische und psychologische Grundannahmen
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tigen Instanz oder Schicht in der ‘Tiefe’ des Menschen glaubte, die sich in diesen Erlebnissen ausdrücken könnte. Schon die metaphorische Redeweise von einer ‘Tiefe’ war ihm suspekt, zumindest in den Fällen, wo sie zusammen mit dem Ursprung bestimmter Erlebnisse auch ihre Wichtigkeit anzeigen soll.5 Charakteristisch für seine Position ist die folgende Bemerkung: Profondeur. Toute la profondeur que nous prêtons à de certains états n’est due qu’à leur éloignement de l’état de la vie normale, et non pas à leur rapprochement de choses très importantes et très cachées.6
Außergewöhnliche Erlebnisse oder Zustände als eine Annäherung (‘rapprochement’) an etwas sehr Wichtiges und Verborgenes zu betrachten ist dann plausibel, wenn man annimmt, dass es im Menschen eine wichtige Anlage gebe, die im normalen Leben meist unterdrückt werde oder nur entstellt zum Ausdruck komme – wie es, grob gesprochen, von der Grundhaltung der ‘Liebe’ in Musils Konzeption gilt. Wenn man dagegen wie Valéry der Ansicht ist, dass die psychischen Vorgänge nicht durch einige wenige Grundtriebe oder Grundhaltungen, sondern durch das Wechselspiel von ‘demandes’ und ‘réponses’, durch eine Interaktion von tendenziell chaotischen Reizeinwirkungen mit Bewusstsein und Aufmerksamkeit bestimmt sind, dann stellt sich eine Entfernung von dem normalen Ablauf dieser Vorgänge auch tatsächlich nur als eine Abweichung dar und kann nicht als das Zum-Vorschein-Kommen von etwas Verborgenem gedeutet werden. Solche Ideen über eine verborgene Tiefe im Menschen hatten für Valéry offenbar großenteils mythischen Charakter; so notiert er einmal in den Cahiers, die meisten Menschen hätten die vage Vorstellung, es gäbe einen „fond“ ihres Seins, und dieser „fond“ berge Wahrheiten, Geheimnisse, Willenskräfte und ein lebendes Wesen, das besonders elementar und besonders nah an der Natur und an Gott sei.7 Auch Musil, das gilt es zu betonen, war der Ansicht, dass die Vorstellungen von einer besonders wichtigen ‘Tiefenschicht’ im Menschen, die zu seiner Zeit kursierten, großenteils auf Illusionen oder Mystifikationen beruhten; seine sarkastischen Bemerkungen über den verbreiteten Glau_____________ 5 6 7
Vgl. zu Valérys Äußerungen über die „profondeur“ auch: Pietra, Valéry. Directions spatiales, S. 59-64. Valéry, Tel Quel. In: Œ II, S. 498. „La plupart imaginent vaguement qu’ils ont un fond de leur être, (quelque chose toujours avec eux et jamais devant eux); que dans ce fond, gisent des puissances, des secrets, des ‘vérités’, des ‘volontés’ et un être vivant à la fois plus élémentaire, plus près de la ‘nature’ et de Dieu, plus infaillible, plus immédiatement renseigné, plus libre à l’égard des lois du temps, capable de voir l’avenir comme nous voyons les choses éloignées, bon pour les prédictions, les créations, les orientations, fait pour choisir, aveugle et extra-lucide.“ (C Pl. II, S. 221f. / C facs. VII, S. 894 [1921].)
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
ben an die Intuition8 sowie der ironisch-distanzierte Umgang mit dem Ausdruck ‘Seele’ im Mann ohne Eigenschaften sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Aber Musil nahm gleichwohl an, dass diese vagen und modisch hergerichteten Ideen trotz allem etwas wie einen wahren Kern enthielten, den es freizulegen galt. Im Hinblick auf Valéry ist hervorzuheben, dass auch er – zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt – bestimmte ungewöhnliche Erlebnisse oder Zustände als wichtig und wertvoll betrachtete, so etwa unwillkürliche Regungen des Staunens oder der Faszination; aber der Wert, den er diesen Erlebnissen oder Zuständen zuschrieb, war von grundsätzlich anderer Art als der, den die ‘lebendigen Gedanken’ für Musil besaßen. Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein. 1.2. Der Körper und sein Verhältnis zum Mentalen Es ist aufschlussreich, in diesem Zusammenhang Musils und Valérys Begriffe des Körpers und ihre Auffassungen über die Beziehung zwischen mentalen Vorgängen und dem Körper zu betrachten. Auch hier zeigt sich ein Kontrast, der auf den oben geschilderten grundlegenden Unterschied zwischen ihren Anthropologien verweist. Musil hat sich freilich zu dem Thema der Beziehung zwischen körperlichen und mentalen Vorgängen weit weniger ausführlich geäußert als Valéry,9 daher lassen sich ihre einschlägigen Ansichten nur bedingt miteinander vergleichen; gleichwohl geben die Stellungnahmen, die sich in Musils Schriften finden, bereits hinreichend zu erkennen, dass seine Überlegungen in eine deutlich andere Richtung zielten als diejenigen Valérys. Aufschlussreich ist hier vor allem Musils Rezeption der Konstitutionstypenlehre Ernst Kretschmers, von der er einige Grundannahmen übernommen zu haben scheint.10 Kretschmer bewertet die von ihm festgestellten Korrelationen zwischen Körperbau, Temperament und Anfälligkeit für bestimmte Psychosen als Indizien für einen umfassenden „Parallelismus“ zwischen „Soma und Psyche“; _____________ 8 9
10
Vgl. etwa: Musil, Geist und Erfahrung, in: GW 8, S. 1053-1055; vgl. auch MoE 545. Die Rede ist hier wohlgemerkt nicht vom Thema des Körpers im Allgemeinen, sondern von der spezielleren Frage nach der Beziehung zwischen körperlichen und mentalen Vorgängen. Das Thema des Körpers im Allgemeinen und vor allem das des körperlichen Empfindens spielt bei Musil durchaus eine große Rolle, und seine Auseinandersetzung damit hat in der Forschung entsprechend Aufmerksamkeit gefunden; vgl. Lönker, Poetische Anthropologie, vor allem S. 135-153; Armin Westerhoff, ‘L’autre état’ et le corps. L’anthropologie poétique de Robert Musil (1899-1924). In: Recherches Germaniques 31 (2001), S. 145-177. Vgl. etwa: Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, in: GW 8, S. 1141; ferner Musils Brief an Arne Laurin vom 10. November 1923, in: Musil, Briefe, S. 317.
1. Anthropologische und psychologische Grundannahmen
511
seine Befunde deuten darauf hin, dass etwa Merkmale des Blutdrüsenapparats und der Hormonausstattung sich in paralleler Weise im Körperbau wie in psychischen Anlagen manifestieren.11 Kretschmers Theorie sieht das menschliche Seelenleben mitsamt seinen pathologischen Varianten sowie seinen Beziehungen zum Körper durch eine Ordnung von großer Einheitlichkeit und Einfachheit bestimmt.12 Damit besitzt sie eine starke Affinität zu einer Anthropologie der Grundhaltungen oder Grundzustände, wie Musil sie entwirft. Musil modifiziert zwar die inhaltlichen Bestimmungen der Triebe und Temperamente; aber Kretschmers Untersuchungen dürften für ihn die Annahme plausibel gemacht haben, dass die Triebe von Gewalt und Liebe ein körperliches Substrat besitzen und auch insofern als anthropologische Grundtriebe gelten können. Valérys Konzeption des Körpers und der Beziehung zwischen körperlichen und mentalen Vorgängen ist mit einer Theorie wie derjenigen Kretschmers unvereinbar. Seine Reflexionen über Geist und Körper betreffen zwar nicht oder kaum die Frage, welche Korrelationen es zwischen Charaktereigenschaften und Temperamenten einerseits und körperlichen Veranlagungen und Funktionen andererseits geben mag, sondern richten sich vor allem auf die Einflussbeziehungen zwischen körperlichen und mentalen Vorgängen. Doch die Annahme einer fundamentalen Fremdheit zwischen Körper und Geist, die ein Leitmotiv dieser Reflexionen bildet,13 steht in einem klaren Gegensatz zu Kretschmers Theorien über den Parallelismus zwischen Soma und Psyche. Bezeichnend für Valérys Sicht auf dieses Thema ist sein Begriffspaar „significatif – fonctionnel“, das gerade die kategoriale Verschiedenheit verschiedener ‘Ebenen’ und ihrer Gesetzmäßigkeiten und Strukturen herausstellen soll. Alle geistigen Vorgänge spielen sich demnach innerhalb eines Rahmens ab, der durch Gesetzmäßigkeiten und Strukturen konstituiert wird, die sich gegenüber allen Inhalten und Bedeutungen der geistigen Vorgänge unabhängig, indifferent und inkommensurabel verhalten. Auch die Kennzeichen der von Kretschmer angenommenen Temperamente dürften für Valéry alle auf der Ebene des „significatif“ zu verorten sein. Auf der Ebene der organischen Anlagen und physiologischen Vorgänge finden sich ihm zufolge aber keine ‘Parallelen’ oder Entsprechungen zu diesen Neigungen oder Tendenzen, sondern Prozesse, die ihren eigenen Gesetzen unterliegen und die den Bedingungsrahmen für alle ‘signifikativen’ Eigenschaften und Vorgänge schaffen. Darüber hinaus nimmt Valéry an, dass _____________ 11 12
13
Vgl. Kretschmer, Medizinische Psychologie, S. 9, 158. Vgl. etwa Kretschmers Formulierung von den „wenigen, allenthalben wiederkehrenden biologischen Grundmechanismen [...], auf die die verwirrende Fülle des reichen realen Lebens sich reduzieren läßt.“ (Kretschmer, Medizinische Psychologie, S. 2) Vgl., auch zum Folgenden: S. 306-309 dieser Arbeit.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
die Gesetze oder Prinzipien, denen die organischen Vorgänge gehorchen, dem Menschen großenteils unbekannt und das bis zu einem gewissen Grad auch unvermeidlich bleiben werden. Valérys Sicht auf den Körper und sein Verhältnis zum Geist wäre insofern nur schwer mit einer Anthropologie von „Grundtrieben“ in Einklang zu bringen, denn für ihn würde unter allen Trieben, die sich in den Wünschen, Bestrebungen, Bedürfnissen und Sehnsüchten des Menschen äußern, noch das „fonctionnement“ des Körpers liegen, das von diesen Trieben nichts ‘weiß’; daher könnten diese Triebe nicht als anthropologische Grundtriebe im starken Sinne gelten. 1.3. Naturbegriffe und Realitätsmodelle Musils und Valérys anthropologische Konzeptionen sind jeweils verbunden mit einem spezifischen Naturbegriff und bestimmten Auffassungen über die Strukturen und Ordnungen der Wirklichkeit. Die letzteren Auffassungen könnte man als die Ontologie oder Metaphysik der Autoren bezeichnen; da aber vor allem der Begriff der Metaphysik in der philosophischen Tradition auf sehr verschiedenartige Weisen gebraucht worden und entsprechend vieldeutig ist, sollen diese Überzeugungen hier unter dem vorsichtigeren und weniger vorbelasteten Begriff des Realitätsmodells zusammengefasst werden. Diese Naturbegriffe und Realitätsmodelle werden bei Musil und Valéry nur in begrenztem Maße systematisch entwickelt, wie auch die Beziehungen zwischen ihnen und den anthropologischen Konzeptionen nicht unbedingt ausdrücklich dargelegt werden, sondern großenteils implizit sind. Daher wurde oben auch der etwas vage Ausdruck ‘sind verbunden mit’ anstelle präziserer und stärkerer Wendungen wie ‘beruhen auf’ oder ‘leiten sich her aus’ verwendet. Dennoch erweisen sich in beiden Fällen die Begriffe vom Menschen als konsistent mit den Begriffen von Natur und Realitätsstrukturen, und man kann annehmen, dass diese Konsistenz auch von Musil und Valéry selbst wahrgenommen bzw. angestrebt worden ist und dass sie die Plausibilität ihrer anthropologischen Konzeptionen für sie erhöht hat. Musil nimmt, wie gesehen, an, dass die Natur des Menschen durch zwei Grundhaltungen bestimmt ist und dass einer dieser Grundhaltungen insofern ein normativ ausgezeichneter Status zukommt, als die ‘Nähe’ zu ihr, das richtige Bewusstsein von ihrem Wesen und der richtige Umgang mit den Erlebnissen, in denen sie sich manifestiert, die Voraussetzung für ein ethisch wertvolles Handeln und für das ‘rechte Leben’ sind. Es steht im Einklang mit dieser Anthropologie, dass bei Musil immer wieder das Spontane und Unwillkürliche, das Frühe und Ursprüngliche positiv bewer-
1. Anthropologische und psychologische Grundannahmen
513
tet und über das Bewusste und Gewollte, das Bearbeitete und Späte gestellt wird: „Glaube darf nicht eine Stunde alt sein“ (MoE 755); während die Liebe im höchsten Sinne einem Meer vergleichbar ist (vgl. MoE 367f.), ähneln die moderne Moral sowie die kirchlich institutionalisierte Religion einem verschalten Brunnen oder einem trockengelegten Sumpf (vgl. MoE 766, 768). Eine solche Anthropologie mit ihrer positiven Bewertung der ursprünglichen menschlichen Natur setzt einen spezifischen Naturbegriff voraus, eine Konzeption, die – etwas vage ausgedrückt – die Natur als zumindest teilweise durch Ordnungen strukturiert zeigt, in denen der Mensch Bedeutung und Wert entdecken kann. Dass Musil zu einem solchen Naturbegriff tendierte und an seiner wissenschaftlichen Plausibilisierung interessiert war, zeigt seine intensive und zustimmende Rezeption der Gestalttheorie, etwa seine positive Aufnahme von Wolfgang Köhlers Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand.14 Köhler vertrat in diesem Buch die These, dass es auch in der physischen Natur Phänomene mit Gestaltcharakter gab, mithin Prozesse, die sich nicht auf das zufällige Zusammenspiel einzelner Elemente oder Impulse zurückführen ließen, sondern eine ganzheitliche oder ‘gestalthafte’ Geschlossenheit besaßen und zudem eine Tendenz zu gleichmäßig geordneten Systemzuständen erkennen ließen.15 Deshalb geriet man ihm zufolge nicht in Widerspruch zu einer streng naturwissenschaftlichen, an der Physik orientierten Sicht der Natur, wenn man anerkannte, dass viele psychische Zustände und Vorgänge sowie die Verhaltensleistungen mancher Tiere Gestaltcharakter besaßen und dass etwa die ‘hochwertigen’, einsichtigen Leistungen seiner Schimpansen nicht durch ein „zufälliges Impulsdurcheinander“ von Assoziationen erklärt werden konnten.16 Für Musil besaßen die Darlegungen in Köhlers Buch über die physischen Gestalten offenbar weitreichende Implikationen; in diesem Buch, so teilte er in einem Essay mit, könne man „erleben, wie sich vom Boden der Tatsachenwissenschaften aus die Lösung uralter metaphysischer Schwierigkeiten schon andeutet.“17 _____________ 14
15 16
17
Vgl. Köhler, Die physischen Gestalten. – Für Musils Hinweise auf das Buch vgl.: Musil, Das hilflose Europa. In: GW 8, S. 1085; ders., Kulturchronik Philosophie. In: GW 9, S. 1689-1691, hier S. 1689f. – Zu Musils Rezeption der Gestalttheorie vgl. umfassend: Bonacchi, Gestalt der Dichtung; zu seinem Interesse an diesem Buch Köhlers ebd., S. 146-152. Vgl. auch: Vatan, Robert Musil et la question anthropologique, S. 201-209. Vgl. hierzu: Ash, Gestalt psychology, S. 168-186, v. a. S. 173-176, 182-186. Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen, S. 13, 135, 151-153; der Ausdruck „zufälliges Impulsdurcheinander“ auf S. 139, die Rede von ‘hochwertigen’ Prozessen etwa auf S. 141; auf S. 153 (Anm.) ein Hinweis auf das Buch über die physischen Gestalten. Vgl. auch ders., Die physischen Gestalten, etwa S. Xf., 192. – Siehe auch oben, S. 98f. dieser Arbeit. Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1085. In Musils Notizen zu seinem Roman findet sich außerdem einmal die Formulierung: „Entdeckung Gottes à la Köhler“ (MoE 1904).
514
V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
In Valérys Augen dagegen weist die Natur weniger Ordnung und eine andere Art von Ordnung auf als für Musil. Er nimmt nicht an, dass es einheitliche Grundstrukturen gebe, die sich in der gesamten Natur auffinden lassen, sondern rechnet eher mit lokal begrenzten und verschiedenartigen Instanzen von Ordnung und Regelmäßigkeit, zwischen denen es Weltausschnitte gibt, die zumindest für den Menschen als unförmig („informe“), unregelmäßig und chaotisch erscheinen: „Le monde est irrégulièrement semé de dispositions régulières“, wie es in der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci heißt.18 Die Ordnungen aber, die sich in der Natur finden lassen, sind keine Verkörperungen von menschlichen Vorstellungen von Sinn, Bedeutung, Schönheit oder Werten; sie verhalten sich dem Menschen und seinen Kategorien gegenüber indifferent oder neutral. Sofern diese Naturordnungen dem Menschen irgendein ‘Gesicht’ zeigen, ist es eher ein feindliches als ein freundliches; der auffälligste Grundzug der physischen Natur, so Valéry unter Verweis auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, sei eine Tendenz zu Verfall, Unordnung und Dissipation,19 und alles Leben stelle einen Widerstand und Kampf gegen diese Tendenzen dar.20 Es steht im Einklang mit dieser Naturauffassung, wenn Valéry bestimmte psychische Vorgänge und Tendenzen, die sich der willentlichen Kontrolle entziehen, als Manifestationen der ‘Physik’ im Menschen und zugleich als unerklärbar und unverständlich betrachtet; das betrifft in erster Linie die Emotionen und Affekte, aber zumindest in manchen Notizen ordnet Valéry auch alle Wünsche, Neigungen und Vorlieben so ein.21 Vor allem aber entspricht es diesem Naturbegriff, dass Valéry als Ideal nicht die möglichst authentische Verwirklichung oder Entfaltung von bestimmten natürlichen oder ursprünglich gegebenen Anlagen oder Tendenzen entwirft, sondern eine Form der bewussten und willensgeleiteten Selbst_____________
18 19 20 21
Vgl. hierzu: Vatan, Robert Musil et la question anthropologique, S. 208. Vgl. auch Vatans Ausführungen über einen Vortrag Köhlers von 1932 mit dem Titel „Wesen und Tatsachen“, in dem dieser Ansätze zu Überlegungen entwickelte, die er später in dem Buch The Place of Value in a World of Facts weiterführte: vgl. ebd., S. 203-205, 208. Valéry, Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. In: Œ I, S. 1172. – Vgl. auch oben, S. 304f. Vgl. C Pl. II, S. 969 / C facs. XVII, S. 483f. [1934]. Vgl. C Pl. II, S. 745 / C facs. XII, S. 444 [1927-1928]; C Pl. II, S. 752 / C facs. XV, S. 442 [1931-1932]; C Pl. I, S. 1180f. / C facs. XV, S. 569 [1931-1932]. Vgl. vor allem: C Pl. II, S. 350f. / C facs. IV, S. 692 [1912]; C Pl. II, S. 353f. / C facs. IV, S. 723f. [1912]. In der zuletzt genannten Notiz kritisiert Valéry Pascals Rede von den ‘raisons du cœur’; auch in einer späteren Aufzeichnung stellt er fest, das Herz äußere sich nicht in der Gestalt von Gründen, sondern in der von Kräften (‘forces’): vgl. C Pl. II, S. 554 / C facs. XXIX, S. 747 [1945]. – Vgl. ferner: C Pl. II, S. 388f. / C facs. XXIX, S. 908f. [1945]. Zu Gefühlen und Affekten vgl. auch: C Pl. II, S. 358 / C facs. VI, S. 236 [1916].
2. Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens
515
analyse und Selbsterziehung, die auf einen ‘Wiederaufbau’ des Menschen in ‘gereinigter’ Form zielt, auf ein „se refaire“.22
2. Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens 2.1. Die psychischen Grundlagen des Denkens Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens können auf den ersten Blick nicht nur als sehr unterschiedlich, sondern geradezu als unvergleichbar erscheinen, da sie sich ganz heterogener Kategorien bedienen: Musils Deutung des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens stellt Begriffe wie Leidenschaft, Mut, Umsturzkraft, Aggressivität und Rücksichtslosigkeit in den Mittelpunkt; darüber hinaus sind für seine Konzeption des Denkens der Gegensatz zwischen toten und lebendigen Gedanken sowie die Annahme eines seelischen ‘Gleichgewichtsbedürfnisses’ von großer Bedeutung. Valérys Beschreibung des Denkens dagegen stützt sich auf Begriffe wie Transformation und Substitution, Assoziation und Operation, ferner auf Kategorien wie Bewusstsein und Aufmerksamkeit. Wie sich diese Differenz erklärt, dürfte die Betrachtung der anthropologischen und psychologischen Grundannahmen der zwei Autoren deutlich gemacht haben: Musil legt seiner Konzeption des Denkens die Annahme von zwei anthropologischen Grundhaltungen zugrunde und beschreibt etwa das mathematische Denken vor allem im Hinblick darauf, wie sich in ihm eine bestimmte Grundhaltung – diejenige der „Gewalt“ – zum Ausdruck bringt. Das bedeutet nicht, dass Begriffe wie Operation, Transformation und Substitution, die bei Valéry eine zentrale Rolle spielen, in seiner Konzeption keinen Ort hätten: Auch für ihn ist das mathematische Denken eine Tätigkeit, in der bestimmte mentale Operationen beziehungsweise „Bewegungsformen des Geistes“ (MoE 129) erworben und perfektioniert werden. Doch in diesem geistigen Training, das einem „kriegerische[n] Spiel“ gleicht (MoE 45), manifestiert sich zugleich etwas ‘Tieferes’, nämlich die anthropologische Grundhaltung der „Gewalt“. Das gewöhnliche Alltagsdenken der meisten Menschen hingegen ist von einem anderen ‘tiefen’ Antrieb geleitet, nämlich von ihrem unbewussten Bemühen, einen ‘beständigen Gemütszustand’ beziehungsweise ihr ‘seelisches Gleichgewicht’ aufrechtzuerhalten (vgl. MoE 527, 528). Musils Ausführungen über das Denken legen den Hauptakzent auf diese ‘tiefere’ Ebene, die man als psychodynamische Ebene bezeichnen mag, da in ihr die treibenden Kräfte des psychischen Geschehens verortet werden. Valéry dagegen legt den _____________ 22
Vgl. dazu oben, S. 369-376 dieser Arbeit.
516
V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
Hauptakzent auf die formalen und funktionalen Eigenschaften des Denkens, indem er dieses vor allem als eine Abfolge von Transformationen, Substitutionen und weiteren, spezielleren Operationen beschreibt. Er nimmt, wie oben bereits ausgeführt, im Gegensatz zu Musil nicht an, dass es einige – gleichsam in der Tiefe liegende – menschliche Grundtriebe oder Grundzustände gebe, die alles Denken leiten oder sich in verschiedenen Denkweisen ausprägen. Die treibenden Faktoren des Denkgeschehens sind für Valéry einerseits Wille und Aufmerksamkeit, andererseits eine chaotische Vielzahl von Impulsen aus verschiedenen Regionen des Dreiecks „Corps-Esprit-Monde“. 2.2. Die Leistungen des Denkens Konzepte und Theorien des Denkens, so wurde in einem früheren Kapitel generell festgestellt, beschreiben in der Regel zum einen die psychischen Mechanismen oder Strukturen, die dem Denken zugrunde liegen, zum anderen die spezifische Leistung, über die das Denken sich definiert und von anderen mentalen Vorgängen abgrenzt. Musil schreibt den zwei von ihm angenommenen Grundtypen des Denkens, dem ratioïden und dem nicht-ratioïden Denken, fundamental verschiedene Leistungen zu. Das ratioïde Denken, das weitgehend mit dem ‘toten’ Denken identisch ist, stellt objektive Tatsachen und regelmäßige Zusammenhänge zwischen Sachverhalten fest, insbesondere solche, die für das tägliche Überleben und die Selbstbehauptung des Menschen relevant sind. Darüber hinaus kann eine Unterart des ratioïden Denkens, das wissenschaftliche und vor allem das mathematische Denken, aber auch Erkenntnisse liefern, die nicht einem unmittelbaren praktischen Zweck dienen; es kann verfestigte Anschauungen auflösen, Phänomene entzaubern und reduzieren, die Dinge in funktionale Beziehungen zerlegen und neue Seiten an ihnen freilegen. Es vermag aber eines nicht, nämlich das, was gerade die Leistung des nicht-ratioïden Denkens ausmacht: das Ich oder die Persönlichkeit des Denkenden involvieren und seine ‘inneren’ oder seelischen Bedürfnisse befriedigen. Das nicht-ratioïde Denken hingegen, das mit Gegenständen aus dem Bereich von zwischenmenschlichen Beziehungen, ethischen und ästhetischen Werten und Bewertungen befasst ist, bezieht stets auch Gefühle und persönliche Erfahrungen des Denkenden mit ein und kann allein dem Menschen das bieten, „was man zum inneren Leben braucht“23. Wo Musil die Verfahren und Leistungen dieses Denkens in seinen Essays konkreter charakterisiert, _____________ 23
Musil, Franz Blei, in: GW 8, S. 1023.
2. Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens
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deutet er vor allem zwei Varianten an: Das nicht-ratioïde Denken kann einen wesentlich schöpferischen Zug haben und dem Erfinden neuer Arten des Menschseins dienen, oder es kann auf die Analyse und Deutung menschlicher Motive und Handlungen gerichtet sein, auf eine „Auslegung des Lebens“24. Zu dieser Aufgabe einer Deutung des Lebens beziehungsweise einer Erforschung des nicht-ratioïden Gebiets gehört insbesondere auch eine Untersuchung der Gefühle, eine „Artikulation des Gefühls durch den Verstand“25. Die Denkprozesse, die Musil im Mann ohne Eigenschaften zeigt, haben großenteils den Charakter von Selbstdeutungen; das heißt, sie sind vom Bemühen der Figuren geleitet, sich über den Gehalt und die Gründe ihrer Gefühle und Wünsche Klarheit zu verschaffen, eine „Artikulation des Gefühls durch den Verstand“ zu leisten. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei, vor allem in den Denkprozessen Ulrichs und Agathes, Gefühle und Wünsche, die als Manifestationen der ‘Liebe’-Seite ihres Wesens verstanden werden können. Valérys Ansichten über die Leistungen des Denkens haben sich im Laufe der Jahre in manchen Hinsichten erheblich gewandelt und können daher kaum pauschal charakterisiert werden. Von vornherein kann man allerdings festhalten, dass es bei ihm keine Einteilung der Weltinhalte und damit der Denkgegenstände gibt, die der Musil’schen Unterscheidung zwischen ratioïdem und nicht-ratioïdem Gebiet vergleichbar wäre, und dass er folglich auch nicht zwischen verschiedenen Grundtypen des Denkens mit je spezifischen Leistungen unterscheidet. Der frühe Valéry begreift das Denken vor allem als ein Bearbeiten mentaler Entitäten, das sich einer begrenzten Zahl von Operationen bedient. Die Instanz des Bewusstseins erlaubt es dem Menschen, seine eigenen Denkoperationen zu beobachten und zu analysieren. Erkenntnisse erwirbt der Mensch, indem er Beziehungen zwischen den mentalen Entitäten entdeckt, die ihm neue Möglichkeiten eröffnen, sie zu kombinieren und zu transformieren. Das höchste Ziel des Denkens sieht der frühe Valéry darin, eine möglichst vollständige Beherrschung der intellektuellen Operationen zu erlangen. Diese Kontrolle über die Denkoperationen soll das Individuum in höherem Maße zum Analysieren und Konstruieren vielfältiger Gegenstände befähigen, aber auch die Einheit und Kohärenz seines Geistes sichern und ihm so zu einer Selbstbeherrschung im umfassenden Sinn verhelfen. Der spätere Valéry distanziert sich in mehreren Hinsichten von diesen Ambitionen und vertritt vor allem eine andere Auffassung von Erkenntnis und von den wichtigsten Leistungen des Denkens. Grundlegende Bedeutung erhält für ihn eine Überzeugung, die er am Ende von Note et digression _____________ 24 25
Ders., Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094. Ders., Franz Blei, in: GW 8, S. 1024.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
formuliert: Danach bildet das Bewusstsein, das der Mensch von seinem eigenen Sein und seinem Körper besitzt, die Bedingung und Grenze aller Erkenntnisse, die er erwerben kann.26 In diesem Grundgedanken sind verschiedene Annahmen gebündelt, die für Valérys spätere Konzeption des Denkens zentral sind. Dazu gehört an erster Stelle seine Überzeugung, dass alle Erklärungen und alles Verstehen und damit alle gehaltvollen Erkenntnisse eine Bezugnahme auf das ‘Sein’ des Menschen voraussetzen, wobei mit diesem ‘Sein’ hier in erster Linie all jene Fähigkeiten und Bedingtheiten gemeint sind, die den Menschen als ein handelndes und als ein körperliches Wesen ausmachen. Valéry bezeichnet mal die „action complète“, mal den Körper des Menschen als die einzige und unvermeidliche Referenzgröße aller Erklärungen.27 Um Erkenntnisse über einen Gegenstand zu erwerben, genügt es also nicht, irgendwelche Beziehungen zwischen den betreffenden mentalen Entitäten aufzudecken. Verständlich oder begreiflich werden Phänomene für den Menschen erst dadurch, dass er sie in das System seiner Fähigkeiten des Handelns und Machens überträgt, letztlich also dadurch, dass er sie sich als Produkte von menschlichen Absichten, Bedürfnissen und Aktionen vorstellt und sie so in ein menschliches Maß ‘übersetzt’. Dass der Mensch sich in seinen Erkenntnisbemühungen auf sein Bewusstsein von seinem eigenen Sein stützen solle, ist nicht so zu verstehen, als betrachte Valéry dieses Sein des Menschen als etwas, das er gleichsam übersichtlich vor sich hätte. Der einzelne Mensch besitzt ihm zufolge vielmehr normalerweise kaum ein Bewusstsein von diesen Eigenschaften und Bedingtheiten, die ihn als handelndes, geistig-körperliches Wesen ausmachen; erst die Konfrontation mit Fragen, Problemen und Aufgaben veranlasst ihn dazu, sich Aspekte dieses Seins bewusst zu machen. Das bedeutet, dass für den späteren Valéry Selbsterkenntnis und Erkenntnisse über Gegenstände der Welt eng verschränkt sind; in gewissem Sinne besitzt das Nachdenken über einen Gegenstand mit dem Ziel, ihn zu verstehen oder zu erklären, immer einen Doppelaspekt und ist zugleich Welterkenntnis und Selbsterkenntnis: Dieses Nachdenken bringt Erkenntnisse über den Gegenstand hervor, indem es ihn in Formen und Strukturen menschlicher Handlungen zu übersetzen sucht, somit eine dem Menschen _____________ 26
27
„C’est notre propre fonctionnement qui, seul, peut nous apprendre quelque chose sur toute chose. Notre connaissance, à mon sentiment, a pour limite la conscience que nous pouvons avoir de notre être, – et peut-être, de notre corps.“ (Valéry, Note et digression. In: Œ I, S. 1232f.) – Vgl. zum Folgenden oben, S. 356-359 und 366-369 dieser Arbeit. Zu der „action complète“ des Menschen als Referenzsystem aller Erklärungen vgl.: Valéry, [Préface]. In: P.V., L’homme et la coquille. Dessins par Henri Mondor, S. 12. Über den Körper als das einzige, wahre und unumgängliche „système de référence“: C Pl. I, S. 1127f., hier S. 1127 / C facs. VIII, S. 752f. [1922]. – Zu dem Körper als „explicateur universel“: C Pl. II, S. 849f., hier S. 850 / C facs. VIII, S. 407f. [1921-1922].
2. Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens
519
‘verständliche’ Form in ihm freilegt und die Übereinstimmungen und Differenzen zwischen dem fraglichen Phänomen und menschlichen Handlungen und Produkten herausarbeitet; zugleich bringt es Selbsterkenntnis hervor, insofern es das Subjekt dazu zwingt, Fähigkeiten zu aktivieren und sich Neigungen bewusst zu machen, also Aspekte seines Seins zu ‘explizieren’. Dieser letzte Gedanke wird bei Valéry noch zusätzlich dadurch akzentuiert, dass er die Abfolge von ‘demandes’ und ‘réponses’ als Grundmuster aller mentalen Abläufe auffasst. Was eine Person beziehungsweise ihr ‘Selbst’ ausmacht, ist daher in gewissem Sinne die Menge der Antworten oder Reaktionen, zu denen sie fähig ist, und sie lernt von sich selbst nur diejenigen Seiten beziehungsweise Antworten kennen, die durch die Konfrontation mit Dingen, Menschen und Situationen aus ihr herausgelockt werden. 2.3. Wertmaßstäbe für das Denken Musils und Valérys eben resümierte Auffassungen über die Leistungen des Denkens implizieren auch Kriterien oder Maßstäbe für die Bewertung konkreter Denkprozesse und spezifischer Arten des Denkens; ihre Haltungen zu der Frage, was das Denken prinzipiell kann, sind verknüpft mit Positionen zu der Frage, wie das Denken betrieben werden sollte beziehungsweise welche Arten des Denkens als besonders wichtig oder wertvoll gelten können. In Musils Konzeption des Denkens ist die evaluative Dimension besonders deutlich erkennbar; dieser wertende Zug ergibt sich aus der engen Beziehung dieser Konzeption zu Musils anthropologischen Grundannahmen mit ihren normativen Implikationen. Die zwei Grundtypen des Denkens, das ratioïde und das nicht-ratioïde, sind nach Musil zwar beide unverzichtbar und – in ihrem je eigenen Gegenstandsbereich – legitim, stehen also prinzipiell auch nicht in Konkurrenz zueinander, solange sie sich innerhalb ihres angestammten Kompetenzbereichs bewegen; gleichwohl besitzt das nicht-ratioïde Denken unverkennbar einen höheren Rang, was sich schon in den asymmetrischen, kaum als wertneutral zu verstehenden Bezeichnungen als ‘totes vs. lebendiges Denken’ verrät und sich zudem darin zeigt, dass das nicht-ratioïde Denken den Manifestationen des Zustands der ‘Liebe’ zugeordnet ist. Als wichtig und wertvoll im höchsten Sinne kann für Musil nur ein Denken gelten, das sich Gegenständen und Fragen des nicht-ratioïden Gebiets widmet, also jenes Gebiets, das die Reaktionen des „Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen“ umfasst, die „Werte und Bewertungen“, die „ethischen
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
und ästhetischen Beziehungen“28. Unter den Phänomenen des nichtratioïden Gebiets nehmen die Gefühlserlebnisse einen besonders wichtigen Platz ein; unter den Fragen dieses Gebiets kommt der „Frage des rechten Lebens“ eine zentrale, übergeordnete Bedeutung zu. Das Nachdenken über nicht-ratioïde Gegenstände ist zunächst insofern wertvoller als das über ratioïde Gegenstände, als es vom Individuum in einer Weise als wichtig und befriedigend erfahren wird oder zumindest erfahren werden kann, wie dies bei Gegenständen des ratioïden Gebiets – allen regelmäßig und berechenbar ablaufenden Naturvorgängen – nicht möglich ist; der nicht-ratioïde Bereich schließt, so Musil in einem Essay, alles ein, „was man zum inneren Leben braucht“29. Aber das nicht-ratioïde Denken wird nicht nur subjektiv als wichtig oder erfüllend erlebt, seine Wichtigkeit kann auch sachlich oder, wenn man so will, ‘objektiv’ begründet werden: Nur dieses Denken kann dem Menschen dazu verhelfen, jene Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse besser zu verstehen, die als ‘Spuren’ auf den anderen Zustand oder die Grundhaltung der Liebe verweisen und die sich, gerade wenn sie nicht richtig aufgefasst werden, auch auf problematische Weise, in der Kultivierung surrogatartiger Gleichgewichtssysteme, zur Geltung bringen können. Die Fragen des nicht-ratioïden Gebiets sind schließlich Musil zufolge nicht nur für jedes Individuum von hervorragender Wichtigkeit, sondern auch in einer umfassenderen, gesellschaftlichen Perspektive von besonderer Dringlichkeit, da die Krise der europäischen Kultur nur auf der Grundlage einer erweiterten Kenntnis der „Gefühls- und Ideenwelt“, der Felder von „Kunst, Ethik und Mystik“30, überwunden werden könne. Valéry hat keine Einteilung der Weltinhalte und somit der möglichen Denkgegenstände entwickelt, die der Musil’schen Unterscheidung zwischen ratioïdem und nicht-ratioïdem Gebiet vergleichbar wäre; so hängt für ihn auch der Wert oder die Wichtigkeit konkreter Denkanstrengungen nicht oder zumindest nicht primär von der Art der Gegenstände dieses Denkens ab, gewissermaßen von der ontologischen Kategorie, der die Gegenstände oder Fragen dieser Denkleistung angehören. Der frühe Valéry sieht die wichtigste Leistung des Denkens darin, dass es als mentales Training die Selbstkontrolle des Subjekts und seine Verfügungsgewalt über die Inhalte seines Geistes zu erweitern vermag; Denkprozesse stehen folglich desto höher, je mehr und je heterogenere Gegenstände bzw. mentale Bilder sie in eine kohärente Ordnung bringen. In dieser Perspektive erscheinen prinzipiell alle möglichen Gegenstände des Denkens als _____________ 28 29 30
Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters, in: GW 8, S. 1028. Ders., Franz Blei, in: GW 8, S. 1023. Ders., Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094.
2. Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens
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gleichwertig. Für den späteren Valéry besteht dagegen die wertvollste Leistung des Denkens darin, dass es dem Menschen zu einer erweiterten Einsicht in seine eigene, ihm nie vollständig transparente Verfasstheit verhelfen und ihn in höherem Maße zum Herrn seiner selbst machen kann. Aus dieser Annahme ergibt sich für Valéry vor allem eine Forderung und ein Bewertungsmaßstab: Die Denkanstrengungen des Einzelnen sollten sich nur Problemen widmen, die er selbst als Probleme ‘spürt’, die aus seinem unwillkürlichen Staunen oder seiner Neugier hervorgehen, nicht aber Problemen, die ihm lediglich durch den Fragenkatalog der philosophischen Tradition oder durch den common sense aufgedrängt werden. Nur wenn sein Denken bei Problemen ansetzt, die eine solche unmittelbare Irritation ausüben, kann der Mensch davon ausgehen, dass es ihn tatsächlich zu relevanten Einsichten über sich selbst führen und dabei eine Art von Notwendigkeit besitzen kann, denn diese Irritation verweist auf eine Diskrepanz zwischen dem fraglichen Phänomen und seinem Sein und Wissen, und in der Aufklärung und Präzisierung dieser Diskrepanz kann er sein Bewusstsein von den Bedingungen seines Seins und der Natur und den Grenzen seines Wissens erweitern. Valéry sagt aber nichts darüber, dass die Probleme, die vom Menschen auf diese Weise als ‘echte’ Probleme empfunden werden können, nur aus einem bestimmten Gegenstandsbereich stammen könnten; insbesondere nimmt er nicht an, dass zu diesen Problemen nur solche gehören, die für das jeweilige Individuum eine persönliche oder praktische Relevanz besitzen. Die echten, unmittelbar als drängend verspürten Probleme können vielmehr auch theoretischer und abstrakter Art sein und wissenschaftlichen Fragestellungen ähneln.31 Ferner ist an dieser Stelle wichtig, dass Valéry zufolge theoretische und abstrakte Probleme, die sich etwa auf Naturgegenstände beziehen, nicht nur Staunen und Neugier des Menschen wecken und insofern als ‘echte’ Probleme empfunden werden können, sondern dass das Nachdenken über diese Probleme auch Einsichten über den Menschen zutage fördern kann. Dieser Überzeugung liegt die erkenntnistheoretische Annahme zugrunde, dass alle menschlichen Bemühungen um das Erklären oder Verstehen eines Phänomens den Rekurs auf menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften einschließen, insbesondere auf die Merkmale des menschlichen Handelns. _____________ 31
Das zeigt sich etwa in Valérys Ausführungen über Descartes: Dieser habe sich zum Teil mit Problemen befasst, deren ‘Stachel’ er selbst verspürt habe, daneben aber auch mit solchen, die nur künstlichen oder sekundären Bedürfnissen seines Geistes entsprangen oder sich taktischen Erwägungen verdankten; zur ersten Gruppe zählt Valéry etwa die physikalischen, mathematischen und physiologischen Fragestellungen Descartes’, zur zweiten vor allem seine skeptische Frage nach seiner eigenen Existenz und der Existenz der Außenwelt. Vgl. Valéry, Descartes. In: Œ I, S. 792-810, hier S. 805f.; der größte Teil der betreffenden Passage findet sich auch in: Ders., Une vue de Descartes. In: ebd., S. 810-842, hier S. 838f.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
Valéry schreibt also, anders als Musil, dem Denken über Naturgegenstände, über theoretische oder technische Probleme prinzipiell dieselbe Dignität zu wie Reflexionen über Phänomene des menschlichen Lebens. Insofern allerdings dieses Denken für Valéry immer auch Einsichten über den Menschen hervorbringt, könnte man gleichwohl eine Konvergenz zwischen seiner und Musils Position darin sehen, dass beide die Förderung der menschlichen Selbsterkenntnis zum zentralen Bewertungsmaßstab für das Denken machen. Aber eine solche Feststellung wäre mit einem äquivoken Gebrauch des Ausdrucks ‘menschliche Selbsterkenntnis’ erkauft, denn Musil und Valéry geht es hierbei um verschiedene Arten von Erkenntnissen. Zum nicht-ratioïden Gebiet, mithin zu dem Gegenstandsund Problembereich, der für Musil die höchste Relevanz besitzt, gehören nur bestimmte Aspekte der menschlichen Natur und des menschlichen Lebens, nämlich die „Werte und Bewertungen“32, die sich insbesondere in Gefühlen manifestieren, ferner die „seelischen Motive“33 und der ganze Bereich des subjektiven Erlebens. All jene Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen des Menschen hingegen, die objektiv erfassbar, regelmäßig und berechenbar sind, gehören zum ratioïden Gebiet, zum Kompetenzbereich von Wissenschaften wie Biologie und Psychologie. Die Selbsterkenntnis, um die sich die Figuren in Musils Roman bemühen, betrifft offenkundig den nicht-ratioïden ‘Bereich’ ihrer selbst: Sie suchen sich etwa bewusst zu machen, was die leitenden Überzeugungen, Wünsche oder Absichten ihres Lebens waren, weshalb sie mit sich und ihrem Verhalten unzufrieden sind oder weshalb sie einer anderen Person gegenüber bestimmte Gefühle empfinden. – Die Erkenntnisse über den Menschen, an denen Valéry interessiert ist, betreffen dagegen keineswegs nur oder in erster Linie den Bereich der Gefühle, Bewertungen und Motive; sie richten sich tendenziell eher auf den Menschen im Allgemeinen als auf das Individuum, und sie beziehen sich auf alle Fähigkeiten, Funktionen und Bedingtheiten des Menschen als eines körperlich-geistigen Lebewesens. Die Fragen, um die es hierbei geht, ähneln also zumindest teilweise jenen, die in Wissenschaften wie Medizin und Biologie untersucht werden, vor allem aber jenen, die in den philosophischen Richtungen der Phänomenologie und der philosophischen Anthropologie diskutiert werden (die sich allerdings erst im untersuchten Zeitraum entwickelten und von Valéry offenbar nicht oder kaum wahrgenommen wurden);34 doch diese Fragen werden von Valéry so perspektiviert, wie sie sich dem einzelnen Menschen _____________ 32 33 34
Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters, in: GW 8, S. 1028. Ebd., S. 1029. Maurice Merleau-Ponty hat mehrfach auf Valéry Bezug genommen, insbesondere auf seine Reflexionen über Körper und Wahrnehmung; vgl. etwa Maurice Merleau-Ponty, L’homme et l’adversité [1951]. In: M. M.-P., Signes. Paris 1969, S. 284-308, vor allem S. 292-294.
2. Musils und Valérys Konzeptionen des Denkens
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allein auf der Grundlage der Reflexion und Selbstbeobachtung und ohne fachwissenschaftliche Anleitung stellen können. Hinzuzufügen wäre noch, dass zu den Gegenständen des menschlichen Strebens nach Selbsterkenntnis, wie Valéry es konzipiert, neben der Funktionsweise des Körpers und des Geistes auch die Sprache zählt; die Sprache eines Menschen macht ihn in gewissem Maße zu dem, der er ist,35 und indem der Mensch seine Sprache kritisch analysiert, sich die Bedeutung von Wörtern klar zu machen versucht und sinnvolle von leeren Ausdrücken unterscheidet, gewinnt er an Klarheit über sich selbst und sein Verhältnis zur Welt. Die Arten von Selbsterkenntnis, um die es bei Musil und Valéry geht, unterscheiden sich aber nicht nur hinsichtlich ihrer Inhalte, sondern auch hinsichtlich der Werte oder Ideale, in deren Namen sie angestrebt werden: Das Streben nach Selbsterkenntnis, das Musil in seinem Roman darstellt, ist eng verbunden mit einem Ideal von Authentizität, von einem Leben, das den Menschen, der es führt, „innerlich angeht“ (MoE 129); um ein solches Leben führen zu können, muss der Mensch zunächst sein eigenes Inneres, seine Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse, möglichst genau und umfassend verstehen. Das Streben nach Selbsterkenntnis, zu dem Valéry sich bekennt, ist dagegen eher mit einem Ideal von Freiheit oder Autonomie verknüpft: Indem der Mensch etwas mehr Klarheit über seine „condition“ erlangt, ergreift er in etwas höherem Maße von sich selbst Besitz.36 Musils und Valérys Ausführungen über die Leistungen des Denkens und über die Maßstäbe, nach denen es bewertet werden sollte, können als Antworten auf Entwicklungen innerhalb der zeitgenössischen Diskussionen über das Denken in Philosophie und Wissenschaften interpretiert werden. Die neuen Ansätze in diesen Erforschungen des Denkens brachten nicht nur neue Auffassungen über die dem Denken zugrunde liegenden psychischen Mechanismen oder Funktionen hervor, sondern auch veränderte Sichtweisen auf die spezifischen Leistungen, die den Wert des Denkens ausmachen. Eine Auffassung fand besonders viele Anhänger, wurde aber auch besonders kontrovers diskutiert: die von der Evolutionslehre inspirierte Annahme, dass das Denken im Dienste des Strebens nach Selbsterhaltung stehe, die sich auf der begrifflichen Ebene in der Annäherung oder Gleichsetzung von ‘Denken’ und ‘Problemlösen’ niederschlug. Musil und Valéry treten auf verschiedene Weisen der These entgegen, dass das Streben nach Selbsterhaltung der menschliche Grundantrieb sei, auf _____________ 35 36
„Il est bien sûr que [...] ce langage, quoique fait de conventions innombrables, est presque nous-mêmes.“ (Paul Valéry, Léonard et les philosophes. In: Œ I, S. 1234-1269, hier S. 1262.) Vgl. die oben bereits zitierte Formulierung aus dem Essay Au sujet d’Eurêka: „[...] nous rendre un peu mieux instruits de notre condition, un peu plus possesseurs de nousmêmes.“ (Valéry, Au sujet d’Eurêka, in: Œ I, S. 866) – Siehe dazu oben, S. 375 dieser Arbeit; zu Valérys Ideal der Freiheit S. 364f.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
den letztlich alles Handeln und Verhalten, aber auch alles Denken zurückgeführt werden könne. Beide greifen in ihren anthropologischen und psychologischen Theorien Begriffe und Ansätze der zeitgenössischen Wissenschaften auf, etwa das Konzept des Triebs oder das des Reflexes, und beide suchen auch das Denken in einer ‘zeitgemäßen’, an den Wissenschaften orientierten Anthropologie und Psychologie zu verorten; aber zugleich lehnen beide die Auffassung ab, alles Denken, oder zumindest alles ernst zu nehmende Denken, diene dem Zweck der Selbsterhaltung. Musil entwirft eine Anthropologie, die dem Menschen noch andere Grundtriebe – beziehungsweise ‘Grundhaltungen’ oder ‘Grundzustände’ – zuspricht als den der Selbsterhaltung, und erklärt das Denken zu einem Medium, in dem sich die zwei Grundhaltungen des Menschen entfalten können, in dem der Mensch aber auch Erkenntnisse über sich selbst und seine grundlegenden Antriebe und Bedürfnisse gewinnen kann. Valéry grenzt sich auf andere Weise von der evolutionsbiologischen Sicht auf den Zusammenhang zwischen Denken und Selbsterhaltung ab: Zum einen vertritt er die Auffassung, dass die vitalen Bedürfnisse des Menschen nur einen Teil seiner intellektuellen (und körperlichen) Potentiale beanspruchen und dass es dem Menschen überlassen ist, was er mit seinen ‘überschüssigen’ Fähigkeiten macht. Die Entwicklung der Wissenschaften wie die der menschlichen Zivilisation überhaupt lässt sich nach Valéry nicht, wie etwa Herbert Spencer und Ernst Mach meinen, als Produkt des Selbsterhaltungsstrebens oder anderer vitaler Grundantriebe des Menschen verstehen, sondern stellt ein ‘Abenteuer’ dar, auf das sich die menschliche Spezies begeben hat, indem sie nach der Sicherstellung der elementaren Grundbedürfnisse ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten um ihrer selbst willen weiter entwickelt und neue, sekundäre Bedürfnisse ausgebildet hat.37 Zum anderen nimmt Valéry an, dass der Mensch sich selbst zunächst prinzipiell fremd ist, dass die Bewältigung des alltäglichen Lebens auch keine vertiefte Selbstkenntnis erfordert und dass das Individuum daher, solange es den primären, natürlichen Tendenzen seines Geistes folgt, sich so weit wie möglich mit vagen und unklaren Begriffen von sich selbst und der Welt begnügen wird. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen erscheint die Erweiterung der Selbstkenntnis und damit der ‘possession de soi’ als eines der Ziele, das der Mensch sich setzen und dem er seine intellektuellen Bemühungen widmen kann – ohne dass aber das Streben nach solchen Erkenntnissen als eine Tendenz in der menschlichen Natur angelegt wäre; diese Vertiefung der Selbstkenntnis setzt
_____________ 37
Vgl. Paul Valéry, La Liberté de l’Esprit. In: Œ II, S. 1077-1099, hier S. 1077f.
3. Erzähltes Denken bei Musil und Valéry
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vielmehr eine forcierte Wendung gegen die natürlichen Tendenzen und Neigungen voraus.38
3. Erzähltes Denken bei Musil und Valéry Musils und Valérys literarische Darstellungen von Denkprozessen sind sehr unterschiedlicher Art: Die im Mann ohne Eigenschaften erzählten Denkvorgänge etwa Ulrichs oder Arnheims haben auf den ersten Blick kaum etwas gemein mit den Reflexionen in einem Essay wie der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci oder mit den Evokationen momentartiger Denkerlebnisse in Valérys Prosagedichten. Die folgenden Ausführungen sollen zum einen die wichtigsten dieser Unterschiede zusammenfassen, zum anderen und vor allem aufzeigen, dass sich diese Unterschiede zum Teil auf die Differenzen zwischen Musils und Valérys theoretischen Konzeptionen des Denkens und ihren anthropologischen Grundannahmen zurückführen lassen, zum Teil auf ihre divergierenden Wirkungsabsichten und ihre unterschiedlichen Auffassungen von den Möglichkeiten und Aufgaben der Literatur. 3.1. Inhalte und Grundstrukturen der erzählten Denkprozesse Die bei Musil und bei Valéry erzählten Denkvorgänge unterscheiden sich zunächst hinsichtlich der in ihnen erörterten Inhalte, Themen und Fragestellungen. Musil präsentiert im Mann ohne Eigenschaften zum einen Reflexionen der Figuren über ihre eigenen Erfahrungen, Handlungen, Wünsche und Absichten. Diese Denkvorgänge sind häufig an kritischen Momenten oder Wendepunkten im Leben der Figuren situiert, sie nehmen vielfach von unklaren Gefühlszuständen oder Wünschen ihren Ausgang und entfalten dann die Bemühungen der jeweiligen Figur, sich über das Wesen und die Gründe dieser Gefühle und Wünsche klar zu werden, sie in ihr Selbstbild zu integrieren oder diese Bilder aufgrund der neuen Erfahrungen zu revidieren. Diese Reflexionen haben somit den Charakter von Selbstdeutungen. Zum anderen lässt der Roman seine Figuren Überlegungen zu Themen wie der modernen Gesellschaft, der Geschichte und der Natur des Menschen anstellen; dabei werden diese allgemeinen und mehr _____________ 38
Vgl. den bereits einmal zitierten Satz: „L’homme est ainsi fait qu’il ne peut découvrir tout ce qu’il possède que s’il est obligé de le tirer de soi, par un effort sévère et prolongé. On ne va au plus près de soi que contre soi.“ (Valéry, Réponse. In: Œ II, S. 1604-1606 [erstmals in: Commerce XXIX, hiver 1932, S. 7-14], hier S. 1606.) – Siehe oben, S. 372.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
oder minder theoretischen Überlegungen häufig mit Gedanken über die eigene Person verschränkt. Diese Grundzüge der in Musils Roman erzählten Denkprozesse erscheinen als weitgehend konsistent mit seiner theoretischen Konzeption des Denkens und ihren anthropologischen Prämissen sowie mit seinen Auffassungen über die Aufgaben und Möglichkeiten der Literatur. Musil nahm an, dass Gefühle, Wünsche, Absichten und Gedanken gedeutet werden können, indem sie zu Grundtendenzen der menschlichen Natur in Beziehung gesetzt werden, und er betrachtete solch ein Deuten, Analysieren und Ordnen von Gefühlen und Gedanken als eine der dringendsten Aufgaben seiner Zeit und insbesondere auch als eine Aufgabe der Literatur.39 Dabei ging es ihm einerseits um eine Analyse der herrschenden geistigen Strömungen und Ideologien der Gegenwart, andererseits um allgemeinere und grundsätzlichere Untersuchungen des Menschen im Sinne einer „Auslegung des Lebens“40. Die Darstellungen von Gedankengängen in seinem Roman zeigen sich dieser Zielsetzung einer „Ordnung [...] der Gefühls- und Ideenwelt“41 verpflichtet, indem sie Zusammenhänge zwischen Gedanken, Gefühlen, Wünschen und ‘tieferen’ Grundtendenzen oder Grundhaltungen sichtbar machen. Zum Teil sind diese Zusammenhänge nur für den Leser erkennbar und werden von den Figuren selbst nicht durchschaut. Das ist etwa der Fall bei den Darstellungen der Gedankengänge Arnheims und Hagauers, die unter anderem die Arbeitsweise seelischer Gleichgewichtssysteme vorführen und die Funktion offen legen, die unscharfe Begriffe und Phrasen innerhalb solcher Stabilität und Selbstzufriedenheit garantierenden Gleichgewichtssysteme erfüllen; Arnheim und Hagauer sind von Musil dabei offensichtlich als Repräsentanten von Geisteshaltungen oder Ideologien gemeint, die in der zeitgenössischen Kultur verbreitet und erfolgreich waren. Aber auch bei Gedankengängen Ulrichs aus der Anfangszeit seines Urlaubsjahrs kann der Leser nachvollziehen, wie sich die lange unterdrückte ‘Liebe’-Hälfte seines Wesens in der Form von Gefühlen und Wünschen zur Geltung bringt, während Ulrich diese Gefühle noch nicht richtig einzuordnen weiß und wiederholt in einen Zustand der resignierten oder wütenden Unzufriedenheit mit sich selbst gerät, dessen Gründe er nicht durchschaut. In anderen Fällen hingegen arbeiten die Figuren in ihren Denkvorgängen selbst die Beziehungen zwischen ihren Gefühlen und Gedanken sowie ihren ‘tieferen’ Grundhaltungen oder Tendenzen heraus; so deutet Ulrich im Kapitel I.116 sein ganzes bisheriges Leben mithilfe des Bildes der Bäume von _____________ 39 40 41
Vgl. Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094. Ebd. Ebd.
3. Erzähltes Denken bei Musil und Valéry
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‘Gewalt’ und ‘Liebe’, und im Kapitel II.22 durchschaut er schließlich einen Abschnitt seiner Reflexionen als Ausdruck seiner „Lust des feldherrlichen Planens“ (MoE 874) und schlägt in seinen Überlegungen eine neue Richtung ein. Auch Agathe gelingt es in ihren Reflexionen im Kapitel II.9, sich Zusammenhänge zwischen verschiedenen Erlebnissen, Gedanken und Einstellungen und ihren ‘tieferen’, grundlegenden Wünschen und Tendenzen bewusst zu machen. Agathe scheint dabei von Musil nicht als Verkörperung einer typischen Weltanschauung oder Geisteshaltung seiner Zeit gemeint gewesen zu sein, die Darstellung ihrer Gedankengänge dürfte somit vor allem im Kontext des Vorhabens einer ‘Auslegung des Lebens’ zu verorten sein, nicht in dem der Zeitdiagnose. Valérys Darstellungen von Denkvorgängen lassen in ihren Inhalten und Themen wie in ihren Strukturen deutlich erkennen, dass er die Leistungen des Denkens, aber auch die Natur des Menschen und des Geistes grundlegend anders konzipiert als Musil. In der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci stellt sich der Sprecher eingangs eine Aufgabe, die theoretischer Art und wissenschaftlichen Fragestellungen verwandt ist, aber er präsentiert dieses Problem als eines, das ihn unmittelbar betrifft und geradezu bedroht, da es die Einheit und Kohärenz seines Geistes in Frage stellt. Indem er eine Antwort auf dieses Problem entwirft, sucht er diese Einheit zurückzuerobern, seine intellektuelle Kraft zu behaupten und seine Beherrschung einer heterogenen Vielfalt von Phänomenbereichen und Theorien zu demonstrieren. So integriert er in einen Gedankengang, in dessen Zentrum Leonardo da Vinci stehen soll, auch Ausführungen über mentale Prozesse und Wahrnehmung, über die Theorie des Ornaments, Entwicklungen in der modernen Physik und Edgar Allan Poes Konzeption der künstlerischen Wirkung. In Valérys frühem LeonardoEssay tritt somit ein Sprecher auf, der einem Ideal der intellektuellen Kraft und der Einheit des individuellen Geistes verpflichtet ist und der die Reichweite, Verfügungsgewalt und Geschlossenheit seines eigenen Intellekts in actu manifestiert. Die Erzählung La Soirée avec Monsieur Teste tritt im Vergleich dazu gewissermaßen einen Schritt zurück und zeigt, wie ein Individuum das Ideal eines „homme rigoureux“ mit außerordentlichen intellektuellen Fähigkeiten entwirft und seine eigene Nähe und Distanz zu diesem Extrem ausmisst. Die Gedankengänge des Erzählers in der Soirée ähneln insofern vielen Reflexionen von Figuren im Mann ohne Eigenschaften, als auch Valérys Erzähler eine Bilanz seines bisherigen Lebens zieht und eine Selbstcharakterisierung liefert. Aber anders als die Figuren Musils wendet er nicht viel Raum und Mühe für die Beschreibung seiner Erfahrungen, Gefühle, Wünsche und Ängste auf, und vor allem versucht er nicht, sie zu deuten oder zu erklären, indem er sie etwa auf grundlegende, ‘tiefere’ Bedürfnisse oder Wünsche zurückführte. Ihm geht es in erster
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
Linie um eine klare Bestandsaufnahme seiner Fähigkeiten und Defizite, Stärken und Schwächen; seine Beobachtungen Monsieur Testes dienen auch dem Zweck, sich Klarheit über das dem Menschen Erreichbare und über seine eigene Position im Verhältnis zu dieser Grenze zu verschaffen. Die Unterschiede zwischen dieser Art der Selbsterforschung und den Selbstdeutungen der Musil’schen Figuren verweisen letztlich auf die Differenzen zwischen Valérys und Musils anthropologischen Grundannahmen. Der Sprecher in L’homme et la coquille schließlich denkt ähnlich wie derjenige der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci vorwiegend über theoretische Fragen nach, insbesondere über die Wesensmerkmale des menschlichen „Faire“ und des natürlichen Wachstums; aber anders als der Sprecher des ersten Leonardo-Essays will er nicht die Einheit seines Geistes behaupten und die Reichweite seiner intellektuellen Fähigkeiten demonstrieren, sondern nutzt die am Strand aufgelesene Muschel, um sich in einer Sequenz von Gedanken, ‘von denen keiner zu einem Abschluss kommt’, Momente seines eigenen Seins, seines Wissens und seines Nichtwissens bewusst zu machen. Valéry notierte 1912 in einem seiner Hefte, es sei ihm beim Schreiben nie um ‘die Literatur’ als solche gegangen, sondern – in manchen Fällen – darum, „des modèles de pensée“ zu entwerfen, „[d]es programmes pour une imagination ou pour une relation“.42 Die Essays Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille ebenso wie die erste TesteErzählung lassen sich plausibel als Umsetzung einer solchen Absicht interpretieren; als Denk-Modelle („modèles de pensée“) können diese Darstellungen von Denkprozessen vor allem insofern gelten, als sie diejenigen Aspekte oder Dimensionen der Denkvorgänge hervorheben und isolieren, die für diese Vorgänge als Denkvorgänge relevant sind. Die Sprecher- und Erzählerinstanzen betonen stets den methodischen Charakter ihrer Reflexionen, indem sie etwa in meta-diskursiven Äußerungen angeben, welcher intellektueller Operationen oder Techniken sie sich bedienen („démontrer“, „hypothèse“, „modèle“ „induction“, „expliquer“), oder ausführlicher ihr eigenes Vorgehen reflektieren. Auf diese Weise lassen sie ihre Gedankengänge als exemplarisch, ihre Verfahren als übertragbar erscheinen. Während die Dimension des methodischen, planvollen Handelns oder Operierens in den Vordergrund gerückt wird, werden andere Merkmale der Denkvorgänge ganz oder weitgehend ausgeblendet, da sie in Valérys Augen offenbar kontingent und akzidentiell sind und für den Denkprozess als Denkprozess keine Bedeutung haben: Das betrifft vor allem Gefühle, sinnliche Wahrnehmungen und Empfindungen der denkenden Personen sowie den raumzeitlichen Kontext ihrer Reflexionen. In _____________ 42
C Pl. I, S. 241 / C facs. IV, S. 784 [1912].
3. Erzähltes Denken bei Musil und Valéry
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diesem Punkt zeigt sich ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen Musils und Valérys Darstellungen des Denkens, der eine eingehendere Behandlung verdient. 3.2. Denken im Verhältnis zu Gefühl, Wahrnehmung und Situation: Musils Holismus und Valérys Abstraktionen Ein zentraler Unterschied zwischen Musils und Valérys Darstellungen von Denkvorgängen betrifft die Art und Weise, in der sie die Beziehungen zwischen den Inhalten und der Erlebnisseite eines Denkvorgangs, somit auch das Verhältnis des Denkens zu Gefühlen und Wahrnehmungen sowie zu dem situativen Kontext des Denkvorgangs präsentieren. Musils Art der Darstellung kann in dieser Hinsicht als eine synthetische und holistische bezeichnet werden, da sie die Denkvorgänge einbettet in eine Gefühl und sinnliche Wahrnehmung einschließende Gesamtheit von geistigen und körperlichen Vorgängen sowie in die spezifische Lebenssituation des Denkenden; dabei werden die Beziehungen und Interaktionen zwischen den verschiedenen Aspekten und Kontexten des Denkgeschehens nicht nur der Vollständigkeit halber notiert, sondern als das Wesentliche in den Vordergrund gerückt. Valérys Darstellungen des Denkens dagegen sind durch einen abstrahierenden, separierenden oder isolierenden Zugriff gekennzeichnet, insofern sie bei verschiedenen Arten von Denkvorgängen jeweils nur bestimmte ‘Ebenen’ dieser Vorgänge gestalten und andere ausblenden: also entweder die Gedankeninhalte und ihre Relationen oder die sinnlich-affektive Erlebnisseite eines Denkvorgangs darbieten. Die Darstellungen von Denkvorgängen im Mann ohne Eigenschaften zeigen das Denken meist als einen Vorgang, der durch enge Wechselwirkungen mit dem Gefühl und der sinnlichen Wahrnehmung geprägt ist. Gefühle fungieren in dem Roman zum einen als Anstöße zu Gedankengängen, die zu klären suchen, weshalb ein Gedanke, eine Erinnerung oder ein Wahrnehmungseindruck im Subjekt ein bestimmtes Gefühl hervorgerufen hat. Zum anderen erscheinen die Gefühle als Bewertungen des Denkens: Die Gedankengänge lösen in den Denkenden Gefühle wie Traurigkeit oder Glück, Beklemmung, Neid oder Stolz aus, was sie wiederum dazu veranlasst, die jeweiligen Gedanken zu verwerfen oder zu akzeptieren, sie weiter zu verfolgen oder fallen zu lassen. Zu Interaktionen zwischen Denken und sinnlicher Wahrnehmung kommt es, wenn der Denkende etwa seine räumliche Umgebung gleichsam durch die Linse seiner aktuellen Gedanken betrachtet, die wahrgenommenen Gegenstände als Metaphern oder Illustrationen seiner Denkinhalte in seine Reflexionen einbaut und ihnen so einen neuen Akzent gibt.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
Für die Darstellungen des Denkens in Musils Roman ist ferner kennzeichnend, dass sie meist die Einbettung der einzelnen Denkvorgänge in die gesamte Lebenssituation des Denkenden betonen. Damit ist nicht nur der triviale Sachverhalt gemeint, dass jüngstvergangene Erfahrungen der Figuren zu Themen ihrer Denkvorgänge werden können, sondern vor allem der Umstand, dass solche Erfahrungen sowie die emotionale Gesamtverfassung der Figur ihre Denkvorgänge beeinflussen, ohne dass ihnen dies bewusst sein muss: etwa, indem sie die Gedankengänge in eine bestimmte thematische Richtung lenken oder ihren Gefühlsreaktionen eine spezifische Färbung geben. Diese ‘unterschwelligen’ Einflüsse der jüngsten Vergangenheit auf die Denkvorgänge bleiben von den Figuren häufig unbemerkt, sind aber für den Leser erkennbar und werden vom Erzähler gelegentlich ausdrücklich markiert (vgl. MoE 409). Während Musils Darstellungen des Denkens in diesem Sinne einen synthetischen und holistischen Zugriff auf das Denken praktizieren, drückt sich in Valérys Darstellungen des Denkens eher die entgegengesetzte Auffassung aus, die Auffassung also, dass bestimmte Aspekte des Denkens getrennt voneinander betrachtet werden können und sollten, dass diese Aspekte oder Ebenen jeweils für sich von Interesse sind, nicht aber ihre Interaktion. Denkprozesse sind für ihn, der den Menschen als eine Triade aus Körper, Geist und Welt betrachtet, zwar grundsätzlich immer durch Wechselwirkungen zwischen diesen drei Instanzen geprägt; doch seine Texte heben bei Denkvorgängen unterschiedlicher Art jeweils verschiedene Aspekte oder Ebenen dieses komplexen Zusammenspiels hervor und blenden andere aus. Dieser Trennung der Ebenen liegt die Überzeugung zugrunde, dass an einem Denkprozess und unter einem Gesichtspunkt jeweils bestimmte Aspekte von Bedeutung sind, andere dagegen zwar de facto vorhanden, aber irrelevant. Man kann Valérys Darstellungen des Denkens grob in zwei Gruppen unterteilen. Auf der einen Seite stehen Erzählungen und Essays, die sich als Wiedergabe von Denkprozessen präsentieren und dabei vor allem deren Inhalte darstellen. Diese Gedankengänge werden als Reflexionen eines Individuums ausgewiesen, das sich – vor allem durch metadiskursive Äußerungen über Ziele und Methoden des Denkvorgangs – auch nachdrücklich als Urheber der Überlegungen zur Geltung bringt; doch die räumliche und zeitliche Situierung dieser Denkvorgänge wird höchstens andeutungsweise umrissen, während über Gefühle, Empfindungen und Wahrnehmungen, die das Denken dieses Individuums begleiten mögen, so gut wie nicht verlautet. Das Denken erscheint in diesen Texten, zu denen vor allem die Erzählung La Soirée avec Monsieur Teste und die Essays Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille gehören, in erster Linie als ein mentales Handeln, in dem bestimmte
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Inhalte auf methodisch bewusste Weise bearbeitet werden; Denkprozesse werden präsentiert als Sequenzen willensgeleiteter Akte des Fragens und Antwortens, Konstruierens, Vergleichens und Analogisierens. Auf der anderen Seite stehen Prosagedichte, Petits poèmes abstraits und kurze Erzählfragmente, in denen Denkvorgänge vor allem als Erlebnisse oder Erfahrungen dargestellt, aber kaum inhaltlich charakterisiert werden. Dabei handelt es sich meist um Denkvorgänge, die nicht wie die in Essays wie Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci und L’homme et la coquille entfalteten weitgehend durch den Willen des Subjekts kontrolliert werden, sondern unter dem Einfluss des Körpers, der Tageszeit oder affektiver Erregungen stehen, aber durch Ausdrücke wie „intellect“, „idées“, „lucidité“ immer noch als Denkvorgänge bzw. intellektuelle Prozesse ausgewiesen werden. Was diese Texte in den Vordergrund stellen, sind denn auch die sinnlichen Eindrücke, Wahrnehmungen und Gefühle, die den Denkvorgang begleiten; außerdem schildern sie häufig konkrete Details des räumlichen und zeitlichen Kontextes. Manche der solcherart dargestellten Denkvorgänge enthalten zwar offenbar Gedanken oder Gedankenfragmente, deren Inhalte prinzipiell angebbar wären, doch diese werden größtenteils verschwiegen. In manchen Prosagedichten dagegen gibt es keine Hinweise mehr darauf, dass die dargestellten mentalen Vorgänge solche Gedankenfolgen mit benennbaren Inhalten aufweisen; sie schildern komplexe, aus Gefühlen, sinnlichen Wahrnehmungen und körperlichen Empfindungen zusammengesetzte Erlebnismomente und beschreiben diese als Äußerungen des Intellekts, etwa als Stolz oder Enthusiasmus, Tatendrang, Resignation oder Überdruss des Intellekts. Der Unterschied zwischen Musils synthetischer und holistischer, Valérys abstrahierender und trennender Darstellungsweise hängt aufs engste mit den Unterschieden zwischen ihren anthropologischen Grundüberzeugungen und den auf ihnen basierenden Konzeptionen des Denkens zusammen. Wenn Musil die Wechselwirkungen zwischen Denken, Gefühlen, sinnlicher Wahrnehmung sowie die Einbettung von Denkvorgängen in den lebensgeschichtlichen Kontext herauszustellen sucht, so deshalb, weil er diese Beziehungen und Wechselwirkungen für deutbar und für wichtig hält. Deutbar sind sie, weil ihnen letztlich anthropologische Konstanten wie die Grundhaltungen von Gewalt und Liebe und das Streben nach seelischem Gleichgewicht zugrunde liegen; wichtig sind sie, weil die Einsicht in die Art und Weise, in der sich die Grundhaltungen im individuellen Leben zum Ausdruck bringen, Bedingung für ein angemessenes Verhalten gegenüber diesen Grundhaltungen und somit für ein gelungenes Leben ist. Für Valéry dagegen sind Wechselwirkungen zwischen Denkinhalten, Gefühlen, sinnlicher Wahrnehmung und körperlichen Vorgängen nicht wichtig und nicht deutbar. Wichtig ist das Denken zunächst und vor
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allem als eine methodisch bewusste Bearbeitung von mentalen Inhalten. Gefühlserlebnisse eignen sich für Valéry kaum als Gegenstände, als Explananda oder Interpretanda des so gefassten Denkens, da Gefühle ebenso wie somatische Prozesse von chaotischer Zufälligkeit sind oder aber Gesetzen unterstehen, die dem Menschen weitgehend unbekannt sind und sich gegenüber menschlichen Bedeutungs- oder Sinnkategorien ohnehin fremd und indifferent verhalten. Aus diesem Grund können auch Gefühle, die durch Denkvorgänge ausgelöst werden, ihn begleiten oder unterbrechen, keine andere Rolle spielen als die von Störungen oder akzidentiellen Nebenerscheinungen. Es gibt allerdings für Valéry auch Denkvorgänge, die nicht primär als inhaltlich bestimmte Tätigkeiten, sondern als Erlebnisse von Interesse sind, als Erlebnisse, in denen das Zusammenspiel von „Corps, Esprit, Monde“ erfahren wird; in dieser Perspektive sind aber wiederum die Inhalte der Denkvorgänge nicht von Belang, da im Verhältnis zu den Erlebnisaspekten rein zufällig. 3.3. Deuten und Begründen vs. Erklären und Vergleichen Aus dem, was bisher über die Unterschiede zwischen den bei Musil und Valéry erzählten Denkvorgängen und zwischen ihren Darstellungsweisen gesagt wurde, ging implizit bereits hervor, dass in diesen dargestellten Denkvorgängen auch unterschiedliche Sprachhandlungen und Vertextungsmuster im Vordergrund stehen. Diese Unterschiede auf der Ebene der textuellen Feinstrukturen seien abschließend noch ausdrücklich hervorgehoben. Am Anfang der im Mann ohne Eigenschaften erzählten Denkvorgänge steht, wie erwähnt, meistens ein diffuses, mit dem Gedanken an irgendeine Person oder ein Ereignis verbundenes Gefühl oder auch ein Wunsch: so etwa Ulrichs beklemmende Erinnerung an das Gefühl des Gefangenwerdens, das ihn als jungen Mann bedrückte; oder Arnheims Ärger über Ulrich und sein Wunsch, diesen zu gewinnen und seine Bewunderung zu erzwingen; oder schließlich Agathes retrospektive Unzufriedenheit mit ihrem unvermittelten Entschluss zur Trennung von Hagauer. Auf diese Wahrnehmungen von Wünschen und mit Gedanken verbundenen Gefühlen folgen in der Regel erzählende und beschreibende Denk- und Textabschnitte, in denen die denkenden Figuren sich Ereignisse ihrer Lebensgeschichte, Charaktereigenschaften anderer Personen oder ihrer selbst und andere Sachverhalte ins Bewusstsein rufen, die mit diesen initialen Gefühlen, Gedanken und Wünschen verbunden sind. Dabei sind sie von der meist unausdrücklichen oder nur halbbewussten Absicht geleitet, sich über die Inhalte und Gründe ihrer Gefühle und Wünsche genauer Rechen-
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schaft zu geben; dass sie von solch einer unausdrücklichen Absicht geleitet sind, zeigt sich daran, dass diese erzählenden und beschreibenden Partien, in denen die Figuren teilweise ausführliche Erinnerungen ausbreiten oder theoretische Überlegungen entfalten, schließlich wieder in neue Beschreibungen ihrer anfänglichen Gefühle und Wünsche münden.43 Diese Selbstbeschreibungen suchen häufig den ‘gemeinsamen Nenner’ der aktuellen Verfassung des Denkenden und der ins Gedächtnis gerufenen früheren Episoden auf den Begriff zu bringen; sie präzisieren oder korrigieren meist die ersten Beschreibungen der betreffenden Gefühle und Wünsche und verweisen dabei oft (so etwa im Falle Arnheims) auf die „tieferen“, nicht auf den ersten Blick erkennbaren Motive oder Bedeutungen dieser Gefühle und Wünsche. Insofern handelt es sich bei diesen revidierten Selbstbeschreibungen meist, genau genommen, um Selbstdeutungen: Sie interpretieren bestimmte aktuelle Gefühle oder Wünsche als Manifestationen einer allgemeineren Veranlagung oder als mehr oder weniger entstellten Ausdruck ‘tieferer’ Gefühle und Wünsche. Diese Selbstdeutungen führen in den Gedankengängen mehrerer Figuren zu der Formulierung von neuen Handlungsabsichten: Die Gefühle und Wünsche, deren Bedeutung sich die Figuren klar gemacht haben oder – wie im Falle Arnheims – klar gemacht zu haben meinen, dienen ihnen als Gründe für Handlungsentschlüsse.44 Ulrichs Gedankengänge nehmen wie die der anderen Figuren ihren Ausgang meist von undeutlichen Gefühlen, Wünschen oder Stimmungen. Was seine besondere Denkweise kennzeichnet, ist vor allem seine starke Neigung, diese Gefühle und Wünsche wie seine Erfahrungen insgesamt nicht primär als persönliche oder individuelle Erlebnisse zu betrachten, sondern sie als Ausprägungen allgemeinerer Sachverhalte oder Tendenzen aufzufassen und seine Aufmerksamkeit auf diese größeren, gesellschaftlichen oder geschichtlichen Zusammenhänge zu richten. Konkret heißt das, dass er auf dem Wege einer Generalisierung seiner individuellen Erfahrungen zu neuen Beschreibungen und zu Erklärungen der defizitären sozialen Zustände und historischen Abläufe gelangt, die er schon seit langem beobachtet und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Diese Erklärungen selbst sind allerdings noch nicht das eigentliche Ziel von Ulrichs so gearteten Überlegungen; an die Feststellung der Ursachen der gesellschaftlichen Übel schließen sich bei ihm fast immer Vorschläge und Forderungen an, die auf eine Behebung dieser Ursachen zielen. Insofern haben diese Reflexionen auch einen argumentativen oder begründenden Charakter: Aus seinen hypothetischen Erklärungen der gesellschaftlichen _____________ 43 44
Vgl. etwa die oben untersuchte Reflexion Arnheims im Romankapitel I.112. Vgl. neben dem Gedankengang Arnheims im Kapitel I.112 auch die oben untersuchten Reflexionen Agathes und Clarisses sowie Ulrichs Denkprozess im Kapitel II.22.
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Missstände gewinnt Ulrich Gründe für die Forderung nach Maßnahmen, Projekten und veränderten Handlungsweisen. – Diese Tendenz zum Verallgemeinern, zu Diagnosen und Therapieentwürfen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene prägt vor allem im ersten Buch des Romans lange Zeit Ulrichs reflektierenden Umgang mit seinen eigenen Gefühlen und Wünschen; aber schon dort nimmt er diese Gefühle immer häufiger auch als individuelle Phänomene, als Ausdruck seiner persönlichen Verfassung wahr und versucht, sich über ihre Bedeutung klar zu werden und seine gegenwärtige Lage besser zu verstehen. Diese Anteile seiner Reflexionen sind insofern strukturell mit den auf Selbstdeutung zielenden Gedankengängen Arnheims, Agathes oder Clarisses verwandt; auch Ulrich entwickelt aus der Beschreibung und Deutung seiner Gefühle umfassendere Selbstdeutungen und artikuliert seine Wünsche und Hoffnungen. Anders ausgedrückt: Er macht sich bewusst, was er will und warum er es will. Im Falle Valérys ist es wiederum schwieriger, die typischen Sprachhandlungen oder Vertextungsmuster seiner Darstellungen des Denkens allgemein zu charakterisieren, da diese Darstellungen bei ihm sehr unterschiedlich geartete Texte umfassen. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich daher in erster Linie auf den Essay L’homme et la coquille, der aber in mehreren Hinsichten als repräsentativ für viele Texte des späteren Valéry gelten kann. Am Anfang des in diesem Essay entwickelten Gedankengangs steht, wie bei den meisten Figurenreflexionen in Musils Roman, nicht eine klar umrissene Frage, sondern ein diffuser psychischer Zustand. Allerdings ist dieser Zustand beim Sprecher in Valérys Text nicht durch Gefühle bestimmt, sondern besteht aus einer ungeordneten Mischung von Staunen, Faszination und Neugier, die der Anblick der Muschel in ihm ausgelöst hat. In vergleichbarer Weise schildert Valéry in Vorträgen und Aufsätzen häufig zu Beginn die unwillkürlichen Reaktionen, die bestimmte Fragen, Problemstellungen oder Begriffe in ihm wach rufen. Diese Eingangspassagen weisen darauf hin, dass die folgenden Reflexionen, obwohl meist theoretischer Art und von sehr abstraktem und allgemeinem Charakter, aus einer konkreten Situation heraus entstehen, aus einem Zustand des Staunens, der Irritation oder Unsicherheit, den die denkende Person in einen Zustand größerer Klarheit, Ordnung und Übersicht zu überführen sucht. Zu diesem Zweck wendet sich der Sprecher in L’homme et la coquille gleichsam auf seine unwillkürlichen Reaktionen zurück und beginnt, sie auf ihre Ursachen oder Bedingungen hin zu befragen, sie zu präzisieren und zu entfalten. Dazu gehört, dass er die sprachlichen Ausdrücke, die sich ihm beim Betrachten der Muschel aufdrängen, gezielt aufgreift und sie einer Analyse unterzieht, die erweisen soll, ob sie einen bestimmbaren Gehalt besitzen. Außerdem macht sich der Sprecher bewusst, welche Handlungen er durchführen müsste, um eine solche Mu-
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schel herzustellen; diese Überlegungen entspringen dem unwillkürlichen Bedürfnis, sich die Muschel verständlich oder begreiflich zu machen, sie zu ‘erklären’. Valéry zufolge kann sich der Mensch, wann immer er ein Phänomen erklären will, zu diesem Zweck nur auf das beziehen, was er von sich selbst und insbesondere von sich als einem handelnden Wesen weiß. Die Erklärung der Muschel, die in dem Essay entwickelt wird, ist somit eng verknüpft mit Vergleichen; der Sprecher notiert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Muschel und von Menschen angefertigten Objekten, und nachdem er in Gedanken die Herstellung einer Muschel durchgeführt hat, macht er sich die Differenzen zwischen dieser Tätigkeit und dem organischen Wachstum des Lebewesens bewusst. Daneben skizziert er weitere Vergleiche zwischen Muschel und Mensch, insbesondere zwischen der ‘Gespaltenheit’ der Muschelexistenz, die teils der Nahrungssuche, teils dem Gehäusebau gewidmet ist und sich zugleich im Außen des Meeres wie im Innern des Gehäuses abspielt, und den ‘Spaltungen’ der menschlichen Existenz. Diese Worterklärungen, Erklärungen und Vergleiche münden nicht in eine abschließende Beantwortung der aufgeworfenen Fragen. Die Präzisierungen und Differenzierungen, die der Sprecher im wiederholten Zurückkommen auf bestimmte Gedanken vornimmt, könnten offensichtlich noch weiter fortgesetzt werden. Zudem tauchen im Zuge seiner Überlegungen immer wieder neue Fragen auf, die der Sprecher unbeantwortet stehen lässt; am Ende seiner Reflexionen stellt er ausdrücklich fest, die Muschel habe eine Vielzahl von „pensées“ aufgerufen, „dont aucune ne s’achève“. Gleichwohl kann man nicht sagen, dass sein Gedankengang kein Resultat hätte; das Ergebnis besteht in einem Zugewinn an Bewusstheit, Klarheit und Differenziertheit. Der Sprecher hat auseinander gelegt, was in seiner unwillkürlichen Reaktion auf die Muschel enthalten war, und auf diese Weise eine Übersicht über Teile seiner Sprache, seiner Bedürfnisse und Neigungen und seiner Fähigkeiten erworben und somit – wie er selbst sagt – darüber, was er ist, was er weiß und was er nicht weiß („ce que je suis, ce que je sais, ce que j’ignore“).
4. Denkromane. Musils und Valérys Repräsentationen des Intellekts im Kontext der klassischen Moderne Die vorliegende Untersuchung hat zum einen Musils und Valérys theoretische Konzeptionen des Denkens rekonstruiert und in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verortet, zum anderen zu zeigen versucht, dass diese Konzeptionen auch Musils und Valérys literarische Darstellungen von Denkprozessen geprägt und insofern eine wichtige Rolle in der
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Konstitution ihrer Schreibweisen gespielt haben. Zum Abschluss der Arbeit sollen nun einige Hinweise andeuten, dass Musil und Valéry in dieser Hinsicht keine Einzelfälle innerhalb der Literatur der klassischen Moderne waren, dass sich also ein solcher Nexus zwischen Konzepten des Denkens oder Intellekts und literarischen Schreibweisen auch bei anderen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts findet. Bei den im Folgenden genannten Autoren ist anzunehmen oder offensichtlich, dass ihre Konzepte des Denkens in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien entwickelt worden sind; die Ausführungen werden diesem Zusammenhang aber nicht im Einzelfall nachgehen, sondern nur die Verknüpfung von Konzepten des Denkens und Schreibweisen plausibel zu machen versuchen. Einige Bemerkungen zu Berührungspunkten und Differenzen zwischen Musil, Valéry und den anderen Autoren sollen ansatzweise deutlich machen, wie Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im literaturgeschichtlichen Kontext ihrer Zeit situiert werden können. Die Begriffe des Denkens und des Intellekts besetzen eine prominente Position in den programmatischen Äußerungen mehrerer deutschsprachiger Autoren, die avantgardistischen Richtungen des frühen 20. Jahrhunderts angehörten. Walter H. Sokel hat 1969 in einem Beitrag zur Prosa des Expressionismus zwischen zwei Grundrichtungen innerhalb dieser Prosa unterschieden, als deren Hauptvertreter ihm einerseits Alfred Döblin, andererseits Carl Einstein galten. Einstein habe im „ernsten Spiel mit Ideen [...] die Substanz der neuen Dichtung“ gesehen und „die Idee des sich in freier, schöpferischer Willkür, im Spiel der Denkmöglichkeiten souverän konstituierenden Geistes“ wiederzubeleben versucht;45 so sei für die ganze ihm verwandte Richtung kennzeichnend gewesen, dass sie das „Durchdenken und Experimentieren mit geistigen und moralischen Problemen“ zur „raison d’être des Schreibens“46 erhoben habe. Dieser Linie, die zutiefst von Nietzsche beeinflusst sei, aber sich letztlich von der Romantik und dem deutschen Idealismus herleite,47 ordnete Sokel neben Einstein unter anderem Otto Flake mit dem Roman Die Stadt des Hirns und Musil mit Der Mann ohne Eigenschaften zu. Tatsächlich haben alle diese Autoren – denen man in dieser Hinsicht noch Robert Müller mit seinem Roman Tropen an die Seite stellen kann – in ihren programmatischen Forderungen an die moderne Literatur positiv bewertete Begriffe des Denkens in den Vordergrund gerückt und zudem in ihren literarischen Wer_____________ 45 46 47
Walter H. Sokel, Die Prosa des Expressionismus. In: Wolfgang Rothe (Hg.), Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern, München 1969, S. 153-170, Zitate S. 156. Ebd., S. 162. Vgl. ebd., S. 156.
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ken ausführlich Denkprozesse dargestellt.48 Dieser Umstand verdient zunächst festgehalten zu werden, wenngleich sich bei näherer Prüfung zeigen dürfte, dass die Autoren unter dem Begriff ‘Denken’ je Unterschiedliches verstanden und zwischen ihren literarästhetischen Positionen und ihren Schreibverfahren auch beträchtliche Differenzen bestanden, die ihre Zusammenfassung zu einer literarischen Richtung fragwürdig machen.49 Carl Einstein verband in seinem Artikel Über den Roman von 1912 die Ablehnung des traditionellen psychologischen und realistischen Romans mit polemischen Bemerkungen über alle Literatur, die der „Empfindung“ entstammte und folglich „meist auf die Liebe, das Weib usw. angewiesen“ sei; er forderte demgegenüber eine „Literatur für differenzierte Junggesellen“, die sich nicht auf Empfindung, sondern auf das „Denken“ als eine „Leidenschaft ersten Ranges“ stützen sollte.50 Dabei ging es ihm allerdings um ein sehr spezifisches Denken, das weder die Regeln der Logik respektieren noch praktisch verwendbare Resultate liefern sollte. Er verstand unter ‘Denken’ vielmehr, so eine Interpretin, den „actus purus subjektiver Dynamik, die synthetisierende Tätigkeit des produzierenden Selbst“;51 eine andere Studie akzentuiert vor allem den kreativen und konstruierenden Charakter des von Einstein propagierten Denkens, das identisch sei mit „der Hervorbringung ‘totaler’, in sich geschlossener Relationsgefüge“52. Einsteins Plädoyer für eine dem Denken entspringende und vom Denken geleitete Literatur implizierte insofern vor allem die Forderung nach literarischen Werken, die als unabhängige, nach eigenen Gesetzen organisierte Artefakte konstruiert waren. Die Produktion solcher ‘absoluten’ oder ‘totalen’ Gebilde sollte für Einstein allerdings kein Selbstzweck sein, son_____________ 48
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Auf Einstein und Müller wird im Folgenden näher eingegangen. Was Otto Flake betrifft, so ist hier vor allem sein Vorwort zum Roman Die Stadt des Hirns relevant; vgl. O. F., Die Stadt des Hirns. Berlin 1919, S. 9-11. Vgl. zu diesem Roman und dem programmatischen Vorwort: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne, 1910-1916. Tübingen 1994, S. 122-127; Dietrich Scheunemann, Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978, S. 118-124. Kritisch zu Sokels Einteilung: Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 179f.; Baßler kritisiert mehrere Aspekte von Sokels Charakterisierung der zwei Richtungen und weist unter anderem auf die Heterogenität der mit Einstein assoziierten Gruppe hin. – Kritisch zu Sokels Darstellung von Einsteins Position: Heidemarie Oehm, Die Kunsttheorie Carl Einsteins. München 1976, S. 98. Sokel übersieht Oehm zufolge die spezifische Bedeutung von Einsteins Begriff des Denkens. Carl Einstein, Über den Roman. Anmerkungen. In: C. E., Werke. Band 1. 1908-1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin: 1980, S. 127-129 [zuerst 1912], hier S. 129. Oehm, Die Kunsttheorie Carl Einsteins, S. 98. Thomas Krämer, Carl Einsteins ‘Bebuquin’. Romantheorie und Textkonstitution. Würzburg 1991, S. 51.
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dern dem übergeordneten utopischen Ziel dienen, die Menschen der modernen Kultur von den Standardisierungen des logisch-begrifflichen Denkens und der Unterwerfung unter ein ökonomisches Nützlichkeitsprinzip zu befreien.53 Was die konkreten Formen und Verfahren einer solchen Literatur betraf, so besagte Einsteins oben zitierte Forderung nicht unbedingt, dass die Literatur Denkprozesse darstellen, sondern vor allem, dass sie aus dem Denken hervorgehen sollte. Sein Roman Bebuquin allerdings gewährt den Reflexionen der Titelfigur tatsächlich viel Raum, ebenso wie abstrakten und spekulativ-philosophischen Erörterungen im Rahmen von Gesprächen;54 ein zeitgenössischer Rezensent lobte ihn denn auch als ein „Denk-Epos“, in dem erstmals „die ganze Tragikomödie des IntellektLebens (die Geographie des Kosmos ‘Hirn’)“ zum Gegenstand epischer Darstellung gemacht worden sei.55 Es liegt nahe, diese literarischen Darstellungen von Denkprozessen zu dem in Einsteins theoretischen und programmatischen Ausführungen avancierten Begriff des Denkens in Beziehung zu setzen; dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass die Gestalt des Bebuquin von Einstein nicht als vorbildliche Figur gemeint war,56 so dass auch seine Reflexionen nicht einfach als Exemplifikationen des programmatisch befürworteten Denkens interpretiert werden können.57 Auch Robert Müller betrachtete eine Art von ‘Denkroman’ als die zeitgemäße literarische Form der Moderne. „Der Denkroman“ war die Überschrift seiner 1921 veröffentlichten Rezension von Otto Flakes Roman Nein und Ja, der ihm als „der wichtigste heutige Roman“ und zugleich _____________ 53 54
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Vgl. Oehm, Die Kunsttheorie Carl Einsteins, S. 59-61. Vgl. Carl Einstein, Bebuquin. Hg. von Erich Kleinschmidt. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 1995, vor allem die Kapitel 2 bis 5 und 12 bis 15 (S. 7-16, 32-44). Max Herrmann-Neisse, Carl Einstein. In: Die weissen Blätter 3 (1916), Quartal April-Juni, S. 88-90, Zitate S. 89. Vgl. auch: Kurt Hiller, Bemerkungen zu ‘Bebuquin’. In: Carl Einstein, Werke. Band 1. 1908-1918, S. 500-503 [zuerst in: Pan 3-4, 11. April 1913]. Dies scheint in der Forschung zu Bebuquin Konsens zu sein; vgl. Krämer, Carl Einsteins ‘Bebuquin’, S. 122-130; Oehm, Die Kunsttheorie Carl Einsteins, etwa S. 109-112; Erich Kleinschmidt, Nachwort. In: Einstein, Bebuquin, S. 69-86, hier S. 81f. Silvio Vietta hat den Bebuquin-Roman der von ihm so bezeichneten ‘erkenntnistheoretischen Reflexionsprosa des Expressionismus’ zugeordnet, für die kennzeichnend sei, dass in ihr „explizit Grundlagen, Wahrheits- und Geltungsanspruch der modernen Wissenschaften und der Erkenntnisformen des Subjekts überhaupt“ thematisiert werden (Silvio Vietta / Hans-Georg Kemper, Expressionismus. 5., verbesserte Auflage. München 1994, S. 154). Einsteins Roman übe Kritik an dem Herrschaftsanspruch und der Verselbständigung logischer und naturwissenschaftlicher Denkformen (vgl. ebd., S. 161-168); als „Korrektiv zur kritisierten absoluten Herrschaft von Vernunft und ihrer Begriffswelt“ fungiere bei Einstein „eine surreal-visionäre Sprachform als Ausdruck phantastischer Phantasie“ (ebd., S. 166). Vietta geht nicht auf den positiv besetzten Begriff des Denkens in Einsteins theoretischen Schriften ein.
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als „der richtigste“ galt;58 die wichtigste Leistung von Flakes Buch bestand für Müller darin, dass es die „Bewegung“ eines „die Welt neuerlich aus seinem Geist regenerierenden Menschen von der wirklichen Neinheit zur wirkenden Jaheit“ darstellte.59 In diesem Urteil drückt sich ein Streben nach aktiver Krisenüberwindung und Erneuerung aus, das einen maßgeblichen Impetus des Müller’schen Werks darstellte und in seiner programmatischen Idee von einem neuen Typus Mensch am deutlichsten Gestalt angenommen hat. Das Ziel, zur Heranbildung eines neuen Menschen beizutragen, kann als ein gemeinsamer Fluchtpunkt seiner literarischen Programmatik und seiner politischen und kulturdiagnostischen Schriften betrachtet werden.60 Müllers Roman Tropen (1915), auf den die Bezeichnung ‘Denkroman’ ebenfalls zuträfe, enthält ausdrückliche Hinweise auf die zivilisationskritischen und utopischen Leitideen des Autors. Der IchErzähler ebenso wie der Protagonist Jack Slim werden schon im Vorwort jeweils als Vertreter eines „Typus“ bezeichnet;61 beide sind trotz der erheblichen Unterschiede zwischen ihnen durch eine intellektuelle Veranlagung und eine Neigung zum spekulativen Denken verbunden, und die Wiedergabe der – oft eigenwilligen und spekulativen – Reflexionen des Erzählers füllt einen Großteil des Romans.62 Außerdem entwirft Jack Slim im Roman selbst den Plan eines Buchs mit dem Titel „Tropen“, das ein „Epos der Ideen“ und eine „Komödie der Gedanken“ bieten soll und in dem er „den neuen Menschen höchsteigens auftreten lassen“ will.63 Wie freilich das Verhältnis zwischen theoretischen Überzeugungen und literarischem Text in diesem Fall genau zu bestimmen ist, welche Auffassungen Müllers also in dem Roman umgesetzt oder propagiert oder auch kritisch infrage gestellt werden, diese Fragen sind in der Forschung unterschiedlich beantwortet worden.64 Zwischen Musils und Valérys Konzeptionen und Darstellungen des Denkens einerseits und den Positionen Einsteins und Müllers andererseits _____________ 58 59 60
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Vgl. Robert Müller, Der Denkroman. In: R. M., Kritische Schriften III. Mit einem Anhang hg. von Thomas Köster. Paderborn 1996, S. 30-32. Ebd., S. 31. „Von Anbeginn ist Müllers kultur- und zivilisationskritisches und sein gesellschaftspolitisches Denken von der Absicht bestimmt, einen neuen ‘Typus’ Mensch zu schaffen.“ (Günter Helmes, Nachwort. In: Robert Müller, Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Hg. von Günter Helmes. Stuttgart 1993, S. 407-438, Zitat S. 416.) Robert Müller, Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Hg. von Günter Helmes. Stuttgart 1993, S. 10, 14. Vgl. etwa ebd., S. 11, 15, 108-114, 174-179, 228-230, 287, 301. Ebd., S. 345, 341. Vgl. zu Müllers Roman: Christian Liederer, Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk des Expressionisten Robert Müller. Würzburg 2004; Stephan Dietrich, Poetik der Paradoxie. Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa. Siegen 1997, S. 17-91.
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lassen sich einige Ähnlichkeiten und Überschneidungen feststellen, die zumindest teilweise auf gemeinsame Traditionslinien oder persönliche Bekanntschaften zurückführbar sind. So finden sich gewisse Parallelen zu den Konzepten des frühen Einstein beim jungen Valéry, insbesondere in Inhalt und Schreibverfahren der Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci. Die wichtigste Ähnlichkeit ergibt sich daraus, dass das Denken bei Einstein, aber auch bei Valéry (und insbesondere in dem frühen LeonardoEssay) wesentlich als eine Tätigkeit des Konstruierens aufgefasst wird und zudem als eine Tätigkeit, die entscheidend durch den Willen und die ‘Willkür’ des denkenden Subjekts bestimmt wird.65 Diese Ähnlichkeit dürfte nicht bloß vordergründiger oder zufälliger Art sein: Der frühe Valéry stellte sich mit der eben umrissenen Auffassung vom Denken ausdrücklich in die Nachfolge von Edgar Allan Poe als einer zentralen, von Baudelaire und Mallarmé geadelten Referenzfigur der französischen Literatur der Moderne; Einstein befasste sich schon früh und intensiv mit dem französischen Symbolismus und entwickelte seine literatur- und kunsttheoretischen Überzeugungen unter anderem in kritischer Auseinandersetzung mit dem Werk Mallarmés.66 Daher ist die Vermutung legitim, dass auch sein Begriff des Denkens unter anderem durch eine über Mallarmé auf Poe zurückführende Tradition geprägt war.67 Zwischen den Auffassungen des frühen Valéry und jenen des jungen Einstein gab es aber auch offensichtliche und wichtige Differenzen: Dass das konstruktive Denken ein Element subjektiver Willkür enthielt, schloss für Valéry nicht aus, dass es sich zugleich einer präzisen Methode bedienen konnte und sollte; dieser positiv besetzte Begriff der Methode dürfte bei Einstein keine Entsprechung haben und mit seiner vehementen Kritik an verfestigten Formen, Regeln und Routinen des Denkens kaum vereinbar sein. Es erscheint auch kaum vorstellbar, dass Einstein als Beispiele für ein vorbildliches Denken moderne Naturwissenschaftler präsentiert hätte, wie Valéry es in seinem ersten Leonardo-Aufsatz mit Faraday und Maxwell tat. Vor allem aber markieren die zivilisationskritischen und die utopischen Dimensionen von Einsteins ästhetischer Programmatik eine grundlegende Differenz gegenüber den Ansichten Valérys; dieser betrachtete es nicht als letztes Ziel der Dichtung, die Menschen von den Zwängen der Logik zu befreien und sie wieder mit einer Schicht des ursprünglichen Erlebens in Kontakt zu bringen. _____________ 65 66 67
Zu dem Begriff der ‘gesetzmäßigen Willkür’ bei Einstein vgl.: Krämer, Carl Einsteins ‘Bebuquin’, S. 43-48. Vgl. hierzu: Dirk Heißerer, Negative Dichtung. Zum Verfahren der literarischen Dekomposition bei Carl Einstein. München 1992, S. 39-45, 82-110. Zur Rezeption Poes bei Baudelaire, Mallarmé und Valéry vgl.: James Lawler, Daemons of the Intellect: The Symbolists and Poe. In: Critical Inquiry 14,1 (1987), S. 95-110.
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Was Musil betrifft, so ist in der Forschung verschiedentlich auf Affinitäten zwischen ihm und Robert Müller hingewiesen worden, am ausführlichsten und systematischsten bisher von Roger Willemsen.68 Musil kannte Müller persönlich und gehörte 1919 kurzzeitig zu der von diesem gegründeten Geheimgesellschaft „Katakombe“.69 Ähnlichkeiten, die im vorliegenden Zusammenhang von Interesse sind, lassen sich vor allem auf der Ebene ihrer Wirkungsabsichten und poetologischen Grundannahmen ausmachen, weniger hingegen auf der Ebene der literarischen Verfahren. Einige der eher frühen, kurz vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Essays und Artikel Musils evozieren vage das Idealbild eines ‘neuen Menschen’ und sprechen der Literatur die Fähigkeit und die Aufgabe zu, die Voraussetzungen für die Entstehung dieses Menschen zu schaffen, indem sie zum einen eine „infinitesimale verstehende Auflockerung des Menschen“70 betreibt und zum anderen vorbildliche Arten des Menschseins entwirft.71 Der Essay Der mathematische Mensch präsentiert die Mathematiker mit ihrem durch „Tiefe, Kühnheit und Neuheit“ ausgezeichneten Denken als eine „Analogie“ für „den geistigen Menschen, der kommen wird“.72 Musils und Müllers Literaturauffassungen und Absichten dürften sich somit vor allem in den Vorstellungen treffen, dass die Literatur zur Entstehung neuer Arten des Menschseins beitragen solle, dass sie zu diesem Zweck neuartige und beispielhafte Weisen des Denkens vorführen und vorbildliche menschliche Typen, insbesondere Typen des ‘geistigen Menschen’, auftreten lassen sollte.73 In Der Mann ohne Eigenschaf_____________ 68
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Vgl. Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung, S. 222-226; ders., Die sentimentale Gesellschaft. Zur Begründung einer aktivistischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils und Robert Müllers. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), S. 289-316. Vgl. Helmes, Nachwort, S. 412f.; Corino, Robert Musil, S. 594f. Robert Musil, Analyse und Synthese. In: GW 8, S. 1008f., hier S. 1009. Im Kontext dieser Formulierung rekurriert Musil auch auf die Formel vom ‘neuen Menschen’. Er wendet sich hier gegen die zeitgenössischen „Literaten, die auf die Analyse erbost sind und sich mit der Synthese schmeicheln“: Diese, so Musil, „wissen, daß ein Mensch, um suggestives Vorbild zu sein oder ein Kunstwerk zu schaffen, noch andere Eigenschaften braucht als Denken und moralische Phantasie, aber sie vergessen, daß man ihm diese hinzuwünschen und nicht das Denken ihm ausreden muß. Die infinitesimale verstehende Auflockerung des Menschen ist gewiß nicht der Neue Mensch, aber sie ist trotzdem die einzige Situation für jeden, der die Gabe hat, neue Menschen zu erzeugen.“ (Ebd., S. 1008f.) Vgl. Robert Musil, Europäertum, Krieg, Deutschtum. In: GW 8, S. 1020-1022, hier S. 1021; ders., Skizze der Erkenntnis des Dichters, in: ebd., hierzu S. 1029. Musil, Der mathematische Mensch, in: GW 8, S. 1007. Damit schließe ich mich in wesentlichen Punkten den Ausführungen Willemsens an, der die Affinitäten zwischen Musil und Müller vor allem an ihren Entwürfen eines Ideals des ‘neuen Menschen’ und an ihren damit verbundenen Auffassungen von Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten der Literatur festmacht. Zu Musils und Müllers Versionen der Vorstellung vom ‘neuen Menschen’ vgl.: Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung, S. 222-226.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
ten haben sich diese Auffassungen vor allem in der Konzeption der Figur Ulrichs niedergeschlagen. Zum einen erscheint hier der Wunsch, mithilfe eines kühn experimentierenden Denkens neue „Arten, Mensch zu sein“, zu entdecken und zu erproben (MoE 152), als charakteristischer Grundzug des jungen, einseitig seiner ‘Gewalt’-Seite folgenden Ulrich, wodurch diese Zielsetzung mit einem relativierenden Vorbehalt versehen wird; zum anderen aber ist Ulrich selbst von Musil als eine exemplarische Gestalt entworfen worden, als eine zumindest in gewissem Maße vorbildliche Verkörperung einer geistigen Existenz unter den Bedingungen der Moderne. Für Der Mann ohne Eigenschaften insgesamt aber war nicht nur das Ideal eines kühnen Experimentierens mit neuen ‘Arten, Mensch zu sein’, bestimmend, sondern auch und insbesondere die Absicht, eine ordnende Analyse der „Gefühls- und Ideenwelt“74 zu leisten – die Musil freilich auch als eine Voraussetzung für die Entstehung neuer Arten des Lebens oder Menschseins begriffen haben dürfte. Die Darstellungen der Denkprozesse der Figuren, so eine zentrale These der vorliegenden Arbeit, sind primär durch diese auf Analyse, Ordnung und ‘Auslegung des Lebens’ zielende Intention bestimmt, nicht durch die Forderung nach Erfindungen und Experimenten auf dem Gebiet des Menschlichen. Sokels Auffassung, Musils Roman stehe in einer von der Romantik über Nietzsche zu Carl Einstein führenden Linie der modernen Literatur, scheint mir vor allem deshalb nicht haltbar zu sein, weil sie an den Reflexionspartien bei Musil die Züge des Gedankenspiels und „Ideenexperiments“75 überbetont und die Dimension der Analyse und Deutung übersieht. Musils Unterfangen einer Analyse und Ordnung der „Gefühls- und Ideenwelt“ nun, wie er es in Essays skizziert und in Der Mann ohne Eigenschaften durchgeführt hat, besaß erstens eine gegenwartsdiagnostische und zweitens eine allgemeinere, im weiten Sinne anthropologische Dimension. In dem gegenwartsdiagnostischen Teil dieses Projekts, der vor allem eine Analyse zeitgenössischer Ideologien, Weltanschauungen, Denk- und Lebensweisen umfasste, verfolgte Musils Roman, wie in der Forschung vielfach festgestellt worden ist, ähnliche Absichten wie Thomas Mann in Der Zauberberg (1924) und
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Willemsen hebt hier auch hervor, dass Musil expressionistischen und lebensphilosophischen Ausprägungen dieses Topos ablehnend gegenüberstand und seine eigene Version dieser Idee in kritischer Abgrenzung von ihnen profilierte; vgl. ebd., S. 222f. Für eine eingehendere Analyse der Literaturauffassungen und Wirkungsabsichten Müllers und Musils vgl.: ders., Die sentimentale Gesellschaft. Musil, Das hilflose Europa, in: GW 8, S. 1094. Sokel, Die Prosa des Expressionismus, S. 156.
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Hermann Broch in seiner Schlafwandler-Trilogie (1931/1932).76 Unter dem leitenden Gesichtspunkt dieses Kapitels ist vor allem Brochs Variante dieses Unternehmens von Interesse, da zu den theoretischen Grundlagen seiner Epochenanalyse auch eine theoretische Konzeption des Denkens, oder genauer: ein Begriff des ‘Denkstils’ gehörte und da seine Schlafwandler-Romane, insbesondere die ersten zwei Teile der Trilogie, ausführlich die Denkvorgänge der Protagonisten darstellen. Die Parallelen und Unterschiede zwischen Musils und Brochs Romanprojekten, gerade auch im Hinblick auf ihre kulturdiagnostischen und ideologiekritischen Ambitionen, sind in der Forschung häufig zum Thema gemacht worden.77 Hier seien nur einige Punkte hervorgehoben, die im vorliegenden Zusammenhang besonders relevant sind. Zunächst ist festzuhalten, dass Musil und Broch sich bei ihren Analysen der zeitgenössischen Ideologien, Weltanschauungen und Denkstile auf anthropologische und psychologische Konzepte stützen, die gewisse strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen. Wo Musil die Konzepte der zwei Grundhaltungen von Gewalt und Liebe und die Annahme eines seelischen ‘Gleichgewichtsbedürfnisses’ heranzieht, da arbeitet Broch mit der Prämisse, dass es im Menschen eine Tiefenschicht des Irrationalen und Traumhaften gebe, die einerseits ‘Uraffekte’, ‘kindliche Haltungen’ und erotische Wünsche, andererseits eine Sehnsucht nach Erlösung, Gnade oder Lebenssinn enthalte; in Zeiten starker religiöser Bindung werde das Irrationale in bestimmten Werthaltungen gebunden, beim Zusammenbrechen alter ‘Kulturfiktionen’ trete es freier hervor.78 Neben strukturellen Ähnlichkeiten gibt es zwischen diesen Musil’schen und Broch’schen Konzepten aber auch wichtige inhaltliche und strukturelle Differenzen; ein Unterschied ist im Hinblick auf die Darstellung von Denkvorgängen der Romanfiguren besonders _____________ 76
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Zu diesen drei Romanen als „Metatexte[n]“, in denen „die Epoche sich selbst und ihren internen Wandel reflektiert“, vgl.: Maillard / Titzmann, Literatur und Wissen(schaften) in der Frühen Moderne, S. 10. Vgl. Martens, Beobachtungen der Moderne; Peter V. Zima, Ideologiekritik bei Hermann Broch und Robert Musil. In: Josef Strutz / Endre Kiss (Hg.), Genauigkeit und Seele. Zur österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle. München 1990, S. 43-51; Endre Kiss, Dialog der Meisterwerke oder Die ungleichen Zwillinge des polyhistorischen Romans. Musils ‘Mann ohne Eigenschaften’ versus Brochs ‘Die Schlafwandler’. In: Ebd., S. 83-96. Vgl. Hermann Broch, Problemkreis, Inhalt, Methode der ‘Schlafwandler’. In: H. B., Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie, S. 723-725; ders., Der Roman ‘Die Schlafwandler’. In: Ebd., S. 719-722. – Es muss betont werden, dass diese Parallele lediglich die anthropologischen und psychologischen Konzepte Musils und Brochs betrifft; zu der theoretischen Grundlage von Brochs Epochenanalyse gehören aber neben solchen anthropologischen Konzepten auch und insbesondere seine vom Rickert’schen Neukantianismus geprägte Werttheorie und seine Geschichtsphilosophie. Vgl. hierzu: Friedrich Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie ‘Die Schlafwandler’ (1914-1932). Tübingen 1986.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
relevant: Bei Musil sind die Zusammenhänge zwischen Ideen, Denkweisen oder Weltanschauungen sowie den ‘tieferen’ Antrieben und Bedürfnissen prinzipiell der Reflexion zugänglich, wie sich etwa in Ulrichs Gedanken über die zwei Bäume seines Lebens zeigt; für Broch dagegen gehört es gerade zu den Merkmalen bestimmter Stadien des Wertzerfalls, dass die Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich über die Beziehungen zwischen der irrationalen Tiefenschicht und dem Problem des Lebenssinns und der Werthaltungen bewusst Rechenschaft abzulegen. Die Denkprozesse Pasenows und Eschs kreisen denn auch großenteils um Themen wie Orientierungsverlust und Werteverfall, Schuld, Sühne und Erlösung, entwerfen dabei aber immer wieder willkürlich und absurd erscheinende Wirklichkeitsdeutungen, die als Äußerung des Irrationalen oder Traumhaften im Sinne Brochs gelesen werden können. Als ein französischer Autor der klassischen Moderne, dessen literarische Schreibweisen unter anderem durch spezifische Konzeptionen des Denkens geprägt waren, ist vor allem Marcel Proust mit seinem Romanzyklus À la recherche du temps perdu (1913-1927) zu nennen. Theoretische Erörterungen über das Denken und die „intelligence“ spielen eine zentrale Rolle in den poetologischen Passagen von Le temps retrouvé, dem Schlussband des Zyklus. Als der Protagonist ‘Marcel’ auf der Matinee der Guermantes die Schlussfolgerungen aus seinen unwillkürlichen Erinnerungserlebnissen zieht, sich zum Verfassen eines großen Romans entschließt und die Ziele und Prinzipien des zu schreibenden Werks entwirft, da definiert er auch die Arten von Wahrheiten, die seine Substanz bilden sollen, und zugleich die Arten des Denkens, aus denen es hervorgehen soll.79 Er unterscheidet zunächst zwischen zwei Aktivitäten des Intellekts und den ihnen erreichbaren Wahrheiten.80 Der Mensch kann sich einerseits mit seinem Verstand im hellen Tageslicht der jedermann zugänglichen Fakten und der Regeln der Logik bewegen; die Ideen, die er dabei entwickelt, können logisch richtig sein, haben aber keine ‘tiefe’ Wahrheit. Er kann seinen Intellekt aber auch nutzen, um Tiefendimensionen seines eigenen Erlebens zu ergründen, um Wahrnehmungs- und Erinnerungserlebnisse, die ihn besonders ergriffen haben, wie hieroglyphische Zeichen zu entziffern, zu deuten und in ein ‘geistiges Äquivalent’ zu übersetzen. Was der Mensch auf diese Weise aus dem Dunkel seines eigenen Inneren birgt und _____________ 79
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Für eine Analyse der Bemerkungen über die „intelligence“ in Le temps retrouvé, welche diese auch in der Entstehungsgeschichte von Prousts Roman situiert, vgl.: J. M. Cocking, The coherence of ‘Le temps retrouvé’. In: J. M. C., Proust. Collected essays on the writer and his art. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1982, S. 164-177, 267f. (Anm.). Vgl. zum Folgenden: Marcel Proust, Le temps retrouvé. In: M. P., À la recherche du temps perdu. Éd. Jean-Yves Tadié. [4 Bde.] Paris 1987-1989 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. IV, S. 273-625, hier S. 457-459, 477. Zu diesen Passagen vgl.: Gilles Deleuze, Proust et les signes. Deuxième édition augmentée. Paris 1970 [1ère éd. 1964], S. 186-193.
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ans Licht holt, ist seine individuelle Art, die Welt zu sehen, und damit zugleich sein ‘wahres Leben’, das ihm normalerweise unbekannt bleibt. Diese spezifische Sicht auf die Welt kann nur in dem Stil eines Kunstwerks ausgedrückt und anderen Menschen mitgeteilt werden. Die Wahrheiten, die aus einer solchen Deutung von Wahrnehmungs- und Erinnerungsmomenten hervorgehen, sollen die wichtigsten und wertvollsten Bestandteile des von ‘Marcel’ geplanten Romans ausmachen. Daneben sollen in diesem Roman aber auch Wahrheiten der anderen, bei Tageslicht zugänglichen Art ihren Platz finden, und zwar solche Erkenntnisse, die sich auf das Gebiet der Gefühle und Leidenschaften, Charaktere und Sitten beziehen.81 Diese Wahrheiten sollen allgemeiner Natur sein, können vom Dichter aber nur auf dem Wege einer Analyse seiner eigenen Erfahrungen, insbesondere seiner leidvollen Erfahrungen, gewonnen werden. – Die Bände von Prousts Roman enthalten tatsächlich zahlreiche Darstellungen von Reflexionen, die teils von der Absicht geleitet scheinen, in Erinnerungen und Wahrnehmungen die Besonderheit einer individuellen Sicht auf die Wirklichkeit freizulegen, teils darauf abzielen, aus der Analyse persönlicher Liebes- und Eifersuchtserfahrungen allgemeine Einsichten über die menschliche Psyche herzuleiten.82 Diese Repräsentationen des Denkens sind insofern offenkundig den theoretischen Überlegungen aus Le temps retrouvé verpflichtet, was freilich nicht heißt, dass sie unproblematische Umsetzungen der dort formulierten Forderungen darstellen83 oder dass sich ihre literarische Form allein aus diesem Zusammenhang heraus erschließt. Prousts theoretische Erörterungen über das Denken und die „intelligence“ sind hier insofern besonders interessant, als sie in mancher Hin_____________ 81 82
83
Vgl. Proust, Le temps retrouvé. In: M. P., À la recherche du temps perdu, Bd. IV, S. 477. Für eine exemplarische Analyse von Reflexionen aus La Prisonnière vgl.: Malcolm Bowie, Proust, jealousy, knowledge. In: M. B., Freud, Proust and Lacan. Theory as fiction. Cambridge u.a. 1987, S. 45-65, 185-191 (Anm.). In der Proust-Forschung hat sich schon vor einiger Zeit eine Interpretationsrichtung herausgebildet, deren Grundthese lautet, dass die ‘offizielle Poetik’ des Romans, die in den rahmenden Bänden Du côté de chez Swann und Le temps retrouvé niedergelegt ist, durch den Inhalt und die narrative Praxis der dazwischenliegenden Teile widerlegt und unterminiert werde. Besonders nachdrücklich wird diese These vertreten bei: Rainer Warning: Supplementäre Individualität – Prousts ‘Albertine endormie’. In: Manfred Frank / Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität. München 1988 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 13), S. 440468; ders., Vergessen, verdrängen und erinnern in Prousts ‘A la recherche du temps perdu’. In: Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.) unter Mitwirkung von Reinhart Herzog, Memoria. Vergessen und erinnern. München 1993 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 15), S. 160-194. – Wichtige Anstöße für diese Interpretationsrichtung lieferten: Gérard Genette, Proust palimpseste. In: G. G., Figures. Essais. Paris 1966, S. 39-67, hierzu vor allem S. 6567; Luzius Keller, Literaturtheorie und immanente Ästhetik im Werke Marcel Prousts. In: Edgar Mass / Volker Roloff (Hg.), Marcel Proust. Lesen und Schreiben. Frankfurt/M. 1983, S. 153-169, hier v. a. S. 166f.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
sicht den Auffassungen Musils nahe stehen, sich in anderen Punkten aber auch mit Überzeugungen Valérys berühren. Eine Nähe zwischen Proust und Musil ergibt sich dadurch, dass sie beide – anders als Valéry – ausdrücklich Gefühle als einen würdigen Gegenstand des Denkens betrachten und in ihren Romanen ausgedehnte Reflexionen präsentieren, die von Gefühlen ihren Ausgang nehmen. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass diese Reflexionen bei Proust explizit die Absicht verfolgen sollen, allgemeingültige ‘Gesetze’ des menschlichen Fühlens, Wünschens und Begehrens herauszuarbeiten, während in Der Mann ohne Eigenschaften die von Gefühlen angetriebenen Denkvorgänge meist eher als Bemühungen um eine individuelle und situationsbezogene Selbstdeutung erscheinen, in denen die Figuren sich in erster Linie über ihre eigenen Gefühle und Wünsche klar zu werden versuchen. Ein anderer Aspekt der Proust’schen Positionen hat dagegen eher bei Valéry als bei Musil eine Entsprechung: Prousts Erzähler erhebt Erlebnisse prinzipiell jeder Art, auch und insbesondere alltägliche, scheinbar geringfügige, nebensächliche oder triviale Erlebnisse, zu relevanten Gegenständen der Reflexion und der literarischen Darstellung, da grundsätzlich in allen diesen Erlebnissen das ‘enthalten’ sein kann, was im literarischen Werk eigentlich zum Ausdruck kommen soll: das ‘wahre Leben’ des Individuums oder, wie Jauß formuliert hat, die „qualitas der jemeinigen ‘Welt’“84. Diese Aufwertung des Geringfügigen ist verwandt mit der Überzeugung Valérys, dass alltägliche Erlebnisse und scheinbar vertraute Objekte – wie die Muschel in L’homme et la coquille – nicht nur respektable, sondern sogar besonders wertvolle und ergiebige Gegenstände des Denkens sein können.85 Bei Valéry wie bei Proust liegt dieser Hinwendung zum Gewöhnlichen und Unscheinbaren unter anderem die Prämisse zugrunde, dass der Mensch von seinem alltäglichen Leben nur eine oberflächliche oder verfälschte Vorstellung hat, da sein Denken und Wahrnehmen normalerweise aus verschiedenen Gründen reduziert oder verengt ist. Proust macht für diese Verengung vor allem die Ablenkung durch das soziale Leben und die Scheu vor Anstrengungen verantwortlich,86 Valéry eine menschliche Tendenz zu Bequemlichkeit und Illusionsgläubigkeit. Allerdings soll für Valéry die Analyse von alltäglichen Erfahrun_____________ 84 85
86
Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ‘A la recherche du temps perdu’. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Frankfurt/M. 1986 [erstm. 1955], S. 255. Diese Affinität deutet sich auch in der Art und Weise an, wie Valéry die Eigenart des Proust’schen Romanwerks bestimmt hat. Vgl. P. V., Hommage à Marcel Proust. In: Œ I, S. 769-774, vor allem S. 772f. Vgl. Marcel Proust, À l’ombre des jeunes filles en fleurs. In: M. P., À la recherche du temps perdu, Bd. II, S. 1-306, hier S. 95; ders., Le côté de Guermantes. In: Ebd., S. 307-884, hier S. 817, 836.
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gen oder Objekten dem Subjekt nicht dazu dienen, eine Schicht der individuellen Erlebnisqualitäten freizulegen, die es normalerweise unbeachtet lässt, sondern eher dazu, größere Klarheit über seine ‘condition’ und über die Grenzen seines Könnens und Wissens zu erhalten. – Die Annahme, dass die Menschen in ihrem alltäglichen Leben das wahre Wesen der Dinge und ihrer eigenen Erfahrungen übersehen oder verkennen und dass daher die ganz gewöhnlichen Erfahrungen würdige Gegenstände der Reflexion sind, verband Valéry und Proust mit der Phänomenologie oder zumindest mit einigen ihrer Spielarten; 1938 erschien mit Sartres La nausée ein weiterer Roman, der seinen Protagonisten solche Reflexionen im Ausgang von alltäglichen Erfahrungen entfalten ließ und der nun unmittelbar aus dem Kontext der philosophischen Phänomenologie hervorging.87 Es ließen sich noch weitere Autoren der klassischen Moderne aufführen, bei denen ein Nexus zwischen theoretischen Konzeptionen des Intellekts und literarischen Repräsentationen des Denkens zu beobachten ist,88 doch anstatt die Reihe weiter zu verlängern, soll abschließend die Frage gestellt werden, wie diese Konjunktur des Themas ‘Denken’ in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts erklärt werden kann. Die folgenden Überlegungen hierzu können freilich nur tentativen Charakter haben. Beim Überblick über die angeführten Autoren fällt auf, dass viele von ihnen eine Art des Denkens als positiv auszeichnen, sie von anderen Arten oder von ‘dem’ gewöhnlichen Denken abgrenzen und den Wert, die Wichtigkeit oder Legitimität der herausgehobenen Art des Denkens nachzuweisen suchen.89 Vergleichbare Bestrebungen fanden sich auch bei Musil, der die Wichtigkeit und Eigenständigkeit des Denkens über nicht-ratioïde Gegenstände darzulegen bemüht war, und bei Valéry, der ein Denken verteidigte, das von unmittelbar und ‘persönlich’ wahrgenommenen Problemen ausging und dabei keinen praktischen Zwecken diente. Diese Tendenz in den literarischen Auseinandersetzungen mit dem Denken lässt sich fruchtbar zu den zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Erörterungen über das Denken in Beziehung setzen. _____________ 87
88 89
Für eine Analyse des Romans, die ausführlich die Darstellung von Bewusstseins- und Denkvorgängen untersucht und Bezüge zu Sartres Philosophie herstellt, vgl.: Rhiannon Goldthorpe, Sartre: Literature and Theory. Cambridge 1984, S. 4-61, 203-214 (Anm.). Für einen Überblicksartikel zur Phänomenologie, in dem sowohl Prousts als auch Sartres Roman Erwähnung finden, vgl.: David Woodruff Smith, Art. ‘Phenomenology’. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy. URL: http://plato.stanford.edu/entries/phenomenology/. Zu nennen wäre etwa noch Gottfried Benn mit seinen Rönne-Novellen und den späteren Erzählungen Weinhaus Wolf, Der Ptolemäer und Der Radardenker. Das gilt für Einstein, Müller und Proust, nicht aber für Broch; dieser nutzt die Begriffe des Denkens und des Denkstils, um den Zustand der modernen europäischen Kultur zu beschreiben und zu erklären, aber nicht, um ausdrücklich eine bestimmte Art des Denkens auszuzeichnen oder aufzuwerten.
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V. Musils und Valérys Repräsentationen des Denkens im Vergleich
Wie Teil II der vorliegenden Arbeit gezeigt hat, wurde das Denken um und kurz nach 1900 in einer ganzen Reihe von Disziplinen zum Thema gemacht und auf neuartige Weisen konzeptualisiert. Einige Richtungen innerhalb der Psychologie rückten die physiologischen Grundlagen des Denkens in den Mittelpunkt, während eine andere, ‘phänomenologische’ Richtung sich auf die Beschreibung des Denkens aus der Erlebnisperspektive konzentrierte; verschiedene Ansätze entwarfen eine entwicklungsgeschichtliche Sicht auf das Denken, während andere Forscher auf die soziale Bedingtheit des Denkens aufmerksam machten. Die Erforschung des Denkens in diesem Zeitraum war somit durch eine Vervielfältigung der Ansätze geprägt, die teilweise auch mit einer Pluralisierung des Denkbegriffs selbst, nämlich einer Unterscheidung verschiedener Evolutionsstufen des Denkens, verschiedener Denkarten oder Denkstile einherging. Andererseits zielten einige der einflussreichsten Forschungsrichtungen auf eine vereinheitlichende Theorie des Denkens, indem sie dem Denken in allen seinen Ausprägungen eine zentrale Funktion zuschrieben – in der Regel die der Selbsterhaltung – oder indem sie eine Art des Denkens als prototypisch oder vorbildlich proklamierten – häufig die in den Naturwissenschaften praktizierte Art. Gerade die These von der Selbsterhaltung als zentralem oder einzigem Zweck des Denkens stieß, wie im Laufe dieser Arbeit mehrfach festgestellt wurde, bei vielen Autoren in Philosophie und Literatur auf Kritik, bei Nietzsche und Bergson ebenso wie bei Musil und Valéry. Diese kritischen Einwände gegen eine evolutionsbiologische Homogenisierung des Denkens bedienten sich häufig selbst einer biologisch und entwicklungsgeschichtlich inspirierten und anthropologisch fundierten Sicht auf das Denken, setzten dabei aber ein Bild der menschlichen Natur voraus, das nicht allein durch das Streben nach Selbsterhaltung bestimmt war. Mehrere der oben angeführten Literaten wandten sich, ähnlich wie Nietzsche oder Bergson, kritisch gegen die Auffassungen von der Selbsterhaltung als dem einzigen Zweck des Denkens oder vom naturwissenschaftlichen Denken als dem Paradigma des Denkens; dabei machten sie sich zugleich, so eine Vermutung, die Möglichkeiten zur Pluralisierung des Denkbegriffs zunutze, welche die wissenschaftliche Theorienlandschaft bot. Jedenfalls bedienten sie sich des Begriffs des Denkens, um bestimmte Tätigkeiten oder Leistungen, die sie als genuin literarische auffassten, aufzuwerten, zu legitimieren und in ihrer Eigenständigkeit von anderen abzugrenzen: so etwa die Konstruktion sprachlicher Gebilde nach eigenen, nicht der Logik gehorchenden Gesetzen, das Erzeugen und Durchspielen spekulativer Welt- und Menschenbilder oder auch das Beschreiben und Interpretieren alltäglicher Erfahrungen.
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Der Hinweis auf den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext sollte einen Gesichtspunkt etablieren, unter dem viele der Auseinandersetzungen mit dem Denken in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts gemeinsam betrachtet werden können. Diese in der Literatur entfalteten Denkbegriffe selbst aber waren, wie die kurze Aufzählung im vorigen Absatz noch einmal angedeutet hat, außerordentlich vielgestaltig und können nicht auf einen gemeinsamen Nenner reduziert werden. Die Untersuchungen zu Musil und Valéry haben gezeigt, dass ihre Konzeptionen des Denkens verwoben waren mit ihren anthropologischen Grundannahmen, ihren Naturbegriffen und Realitätsmodellen, außerdem mit ihren Begriffen von Erkenntnis und mit Wertvorstellungen und Idealen wie Freiheit, Authentizität oder der Idee des rechten Lebens. Alles deutet darauf hin, dass die Denkbegriffe Carl Einsteins, Robert Müllers und Marcel Prousts in ein ebenso dichtes Netz von Begriffen und Wertvorstellungen eingebunden waren. In programmatischen Entwürfen, die der Literatur des späteren 20. Jahrhunderts entstammen, scheint der Begriff des Denkens keine so prominente Rolle mehr zu spielen wie in dem hier behandelten Zeitraum. Man kann die produktive und vielseitige Auseinandersetzung mit dem Denkbegriff in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts vielleicht auch als Episode aus der Endphase eines ‘mentalistischen Paradigmas’90 der Philosophie- und Ideengeschichte betrachten. Es steht zu vermuten, dass in der zweiten Jahrhunderthälfte, nachdem der linguistic turn seine ganze Wirkung entfaltet hat, auch in literarischen Programmen und poetologischen Selbstverortungen die Begriffe der Sprache und des Zeichens vielfach eine ähnliche Funktion einnehmen wie der Begriff des Denkens zu Beginn des Jahrhunderts. Aber das ist eine andere Geschichte.
_____________ 90
So Herbert Schnädelbachs Bezeichnung für den mit Descartes beginnenden und mit Wittgenstein endenden Abschnitt der westlichen Philosophiegeschichte; vgl. H. Sch., Philosophie. In: Ekkehard Martens / Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 37-66, hier S. 58.
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Berghahn, Wilfried 175f., 178, 180, 247 Bergson, Henri 4f., 23, 57, 61, 70-77, 86, 88f., 320, 324, 379, 548 Bernard, Claude 42 Berthelot, René 87 Bertholet, Denis 297, 335, 339, 398 Bevir, Mark 16 Bieri, Peter 23, 29 Binet, Alfred 41 Bizub, Edward 11 Blanc, Charles 411 Blei, Franz 167, 168, 293 Bleuler, Eugen 212 Blöcker, Günter 7 Blüher, Karl Alfred 299, 317, 319, 320f. Blumenberg, Hans 297f., 372, 387 Boakes, Robert 98, 99 Bogaert, Ludo van 322, 323 Böhme, Hartmut 102, 103, 108, 110, 111, 133, 135, 150, 151, 152, 177, 232, 233, 235, 257, 290 Bölsche, Wilhelm 172 Bonacchi, Silvia 99, 130, 147, 513 Boring, Edwin G. 26, 27, Bormann, C. v. 2, 3, Bossuet, Jacques-Bénigne 390f.
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Personenregister
Bourget, Paul 384 Bourgoin, Jules 411 Bouveresse, Jacques 8, 102, 104, 108, 127, 153, 297, 363 Bowie, Malcolm 545 Braungart, Wolfgang 12, 428 Brentano, Franz 39, 56, 58, 195 Brinker, Klaus 19 Broch, Hermann 6, 9, 293, 543f., 547 Brosthaus, Heribert 123 Brusotti, Marco 79 Buchner, Carl H. 329, 339, 366 Bühler, Karl 47 Buickerood, James G. 30 Büren, Erhard von 138, 149, 222, 227 Bürger, Peter 8, 289, 366, 376f., 442, 488 Cabanis, Pierre Jean George 31, 35 Caesar, Julius 384 Čapek, Milič 32, 62 Carnot, Nicolas Léonard Sadi 306 Carpenter, William 313 Carroll, Noël 15f. Carroy, Jacqueline 40 Cassirer, Toni 7 Caysa, Volker 78 Celeyrette-Pietri, Nicole 299, 326, 327, 339, 340, 342, 348, 351, 475 Cellbrot, Hartmut 120 Chamberlain, Houston Stewart 97, 172, Charney, Hanna 8, 442 Charvillat, Agnès 40 Cicero, Marcus Tullius 390f. Clark, Maudemarie 80, 81, 114 Cocking, J. M. 544, Cohn, Dorrit 17f.
Cometti, Jean-Pierre 120, 123 Condillac, Étienne Bonnot de 35, 302 Coquet, Jean-Claude 462f. Corino, Karl 120, 541 Coste, Albert 363 Crabtree, Adam 313 Cuvier, Frédéric 31 Cuvier, Georges 31 Dante Alighieri 385, 387, Danziger, Kurt 3, 5, 10, 26, 27, 28, 31, 32, 35, 37, 39, 311, Darwin, Charles 32, 320 Darwin, Erasmus 31 Davidson, Donald 1, 16 Delacroix, Eugène382 Deleuze, Gilles 71, 74, 544 Derrida, Jacques 401, 430 Descartes, René 2, 350, 358, 368, 383, 386, 387, 463, 478, 521, 549 Dewey, John 5, 209-211, 294, 295 Dietrich, Stephan 539 Dilthey, Wilhelm 5, 57, 67, 87, 89, 293 Döblin, Alfred 536 Döring, Sabine A. 92, 93, 104, 138, 145, 149, Dowden, Stephen D. 12 Dresler-Brumme, Charlotte 107 Dugast, Jacques 8 Duncker, Karl 50, 53-57, 60 Dupré, John 304 Durkheim, Émile 77 Düsing, Wolfgang 232 Ebbinghaus, Hermann 5, 39, 87 Edet-Ghomari, Chantal 8 Eggs, Ekkehard 19, 20, 198, 283 Einstein, Albert 465 Einstein, Carl 6, 536-540, 542, 547, 549
Personenregister
Emerson, Ralph Waldo 125, 132, 156f., 166 Erhart, Claus 145 Erhart, Walter 11 Euklid 465 Faraday, Michael332, 413, 416, 421f., 428, 430, 540 Fick, Monika 11 Flake, Otto 536, 537, 538f. Fleck, Ludwik 4, 22 Fontaine, Arthur 335 Foschi, Marina 135, 137 Foucault, Michel 110 Fourment, Gustave 300, 301, 303, 328, 335 Franklin, Ursula 490, 491 Fraser, Theodore P. 399 Frege, Gottlob 29 Freud, Sigmund 16, 77, 81-84, 350 Frisé, Adolf 97, 119, 120, 169 Gaède, Édouard 364 Galle, Roland 11 Gallimard, Gaston 398 Gauchet, Marcel 312 Genette, Gérard 17, 381, 387, 401, 545 Gerhardt, Volker 80 Gide, André 301, 325, 326, 328, 336, 383, 433, 456 Gies, Annette 92 Goethe, Johann Wolfgang 171, 208, 358 Goldstein, Jan 40, 42 Goldthorpe, Rhiannon 547 Goltschnigg, Dietmar 146 Goncourt, Edmond de 384 Goncourt, Jules de 384 Gourmont, Remy de 384 Grätzel, Stephan 8, 364 Graumann, Carl Friedrich 25, 48 Grogin, R. C. 72, 75, 77
587
Guirao, Jean-Marc 299 Gülich, Elisabeth 19 Habermas, Jürgen 82, 83 Hacker, P.M.S. 2, 23 Hackett, C. A. 432, 436, 439, 449 Haeckel, Ernst 172 Harth, Helene 381, 387 Hartley, David 26, 28 Hartmann, Eduard von 77 Hatfield, Gary 2, 28 Hauck, Joachim 479, 486 Haupt, Heinz-Gerhard 9 Hausendorf, Heiko 19 Heidegger, Martin 491 Heißerer, Dirk 540 Helmes, Günter 539, 541 Helmich, Werner 297, 298 Henckmann, Wolfhart 143 Herrmann, Theo 51, 53 Herrmann-Neisse, Max 538 Heydebrand, Renate von 102, 104, 107, 116, 123, 131, 142, 146, 147, 176, 231, 232, 235, 249 Hickman, Hannah120, 156 Hiller, Kurt 538 Hobbes, Thomas 26 Hochstätter, Dietrich 111 Hoffmeister, Werner 176, 178, 274 Holmes, Alan 178 Honnef-Becker, Irmgard 178, 179, 248, 254 Howes, Geoffrey C. 157 Hughes, H. Stuart 12 Hume, David 26, 27, 28, 35, 57 Humphrey, George25, 28, 46, 47, 48, 49, 51, 54, 56 Husserl, Edmund 4, 30, 57, 61, 65-70, 84f., 88f., 295, 491 Huxley, Thomas 313 Huysmans, Joris-Karl 384
588
Personenregister
Hyams, Barbara 142 Hytier, Jean 381 Ignatius von Loyola 409 Ince, Walter 348, 381, 436, 507 Jahr, Silke 19 Jallat, Jeannine 304, 310, 337, 383, 388, 389, 390, 399, 400402, 404, 407, 409, 411, 416f., 419, 423, 429f. James, William 57, 69, 320, 324 Jamme, Christoph 4 Jander, Simon 176, 261, 265 Janet, Pierre 41, 79, 313f., 320 Janke, Wilhelm 47 Jarrety, Michel 381, 388, 389, 480, 486 Jauß, Hans Robert 546 Jean Paul 77 Jerusalem, Wilhelm 4, 68-70 Johach, Helmut 89 Johannes vom Kreuz 347 Jones, Owen 411, 428 Joseph, Lawrence 370 Joung, Phillan 7, 8 Joyce, James 6, 9 Kaizik, Jürgen 102, 104, 106 Kant, Immanuel 31, 57, 462 Kargon, Robert 413, 414 Kauffmann, Kai 12, 428 Keller, Luzius 545 Kemp, Martin402, 413, 414 Kemper, Hans-Georg 12, 538 Kerschensteiner, Georg 5, 208, 209, 229 Kiesel, Helmuth 12f. Kimura, Masahiko 413 Kindt, Tom 11f. Kiss, Endre 543 Klages, Ludwig 127 Kleinpeter, Hans 63 Klettke, Cornelia 7 Kocka, Jürgen 9
Koffka, Kurt 40, 53 Köhler, Hartmut 297 Köhler, Thomas 82, 83 Köhler, Wolfgang 40, 53f., 86, 89, 98f., 319, 513, 514 Köhn, Eckhardt 329, 339, 366 Kolnai, Aurel 295 Krämer, Thomas 537, 540 Krauß, Christel 467 Kretschmer, Ernst 146f., 160, 212, 319, 510f. Kuhlen, R. 2, 3 Kühn, Dieter 7, 222, 442 Kühne, Jörg 138, 231 Külpe, Oswald 39, 46, 49, 51 Kungfutse 132 Kusch, Martin 4, 5, 47, 48, 68, 69 Lacan, Jacques 16, 401, 430 Lacorre, Bernard 302, 326, 327 Laermann, Klaus 102 Lafont, Aimé 372 Lamarck, Jean-Baptiste de 31 Lampe, Hans Erich 79 Lang, Ewald 20 Laurin, Arne 147, 510 Lawler, James 405, 540 Laycock, Thomas 313 Le Roy, Édouard 77 Lecuyer, Maurice A. 443 Lessing, Gotthold Ephraim 171 Levaillant, Jean 432, 436f., 439, 440, 449 Lévy-Bruhl, Lucien 4, 22f., 69, 75-77, 146, 319 Lewin, Kurt 227f., 252f. Liederer, Christian 539 Locke, John 26, 29, 31, 35, 350 Lönker, Fred 93, 137, 220, 510 Lottes, Günther 15 Louis, Pierre 382 Löwenstein, Hubertus Prinz zu 7
Personenregister
Löwith, Karl 363 Lowry, Richard 27, 83 Lüer, Gerd 25, 28, 47, 59 Lussy, Florence de 326 Lütkehaus, Ludger 77f. Lyas, Colin 16 Lyotard, Jean-François 401 Mach, Ernst 8, 24, 39, 46, 61-68, 70, 89, 97, 98, 99, 105, 110, 265, 304, 324-327, 329, 336, 362, 379-381, 524, Maeterlinck, Maurice 166 Maier, Uwe M. 92, 120, 123, 130, 135 Maillard, Christine 11, 12, 543 Mallarmé, Stéphane 540 Mandler, George 24, 26, 36, 58 Mandler, Jean Matter 24, 26, 36, 58 Mann, Thomas 293, 542 Mannheim, Karl 4, 22 Marbe, Karl 47 Martens, Gunther 183, 543 Martinez, Matias 18 Maudsley, Henry 79, 320 Mauthner, Fritz 3 Maxwell, James Clerk 413f., 421, 428, 540 Mehigan, Tim 63 Meja, Volker 69 Menges, Martin 93, 102, 104, 232, 237, 251 Merleau-Ponty, Maurice 491, 522 Messer, August 47 Métraux, Alexandre 42, 51 Mill, James 27 Mill, John Stuart 28, 30 Millgram, Elijah 294f. Mischel, Theodore 39 Mittelstraß, Jürgen 23 Mockel, Albert 372
589
Monti, Claudia 63 Morgan, Conwy Lloyd 97, 98, 99 Mucchielli, Laurent 32, 33, 40, 74 Müller, Gerd 142 Müller, Götz 211f. Müller, Robert 6, 536, 538f., 541, 542, 547, 549 Müller-Seidel, Walter 12 Mulligan, Kevin 92, 142, 195 Münsterberg, Hugo 126 Musil, Robert 6-11, 13-18, 20f., 22, 23, 31, 61, 63, 90, 91-296, 319, 337, 504-536, 539, 541544, 546, 548f. Myers, Frederic W. H. 313 Nadal, Octave 297, 335 Napoleon Bonaparte 384 Newell, Allen 35, 50 Newton, Isaac 44, 383 Neymeyr, Barbara 107, 165, 167, 231, 294 Nicolas, Serge 40 Nicole, Pierre 29 Nietzsche, Friedrich 4f., 7, 22, 77-81, 84, 88f., 107, 109, 110, 113f., 125, 161, 165, 166, 362, 379, 542, 548 Nitsche, Wolfgang 37 Novalis 125 Nübel, Birgit 98, 104 Nusser, Peter 163 Nye, Robert A. 42 Oehm, Heidemarie 537 Oeing-Hanhoff, L. 2, 3 Oesterreich, Konstantin Traugott 130, 142 Oster, Daniel 8 Ottmann, Henning 78, 80 Pabst, Walter 432, 436, 439, 443f. Paderewski, Ignacy Jan 120
590
Personenregister
Pascal, Blaise 393, 455, 514 Petersen, Jürgen H. 14 Petitot, Jean 462 Pfohlmann, Oliver 149 Pfungst, Oskar 97 Pickering, Robert 326, 327, 398, 480, 481, 488, 496 Pieper, Hans-Joachim 63, 98, 165 Pietra, Régine 297, 299, 301, 314, 320, 327, 328, 408, 462, 470, 472, 509 Pilkington, A. E. 317, 348, 358, 507 Plas, Régine 40 Platon 1 Poe, Edgar Allan 319, 382, 405f., 407, 409, 428f., 527, 540 Poincaré, Henri 72, 408, 428 Porter, Theodore 413, 414 Pott, Hans-Georg 273 Pozzi, Catherine 339, 370 Proust, Marcel 6, 9, 544-547, 549 Rabinbach, Anson 87 Raimond, Michel 14 Rasch, Wolfdietrich 289 Rathenau, Walther 127, 165, 229 Raymond, Marcel 339 Reinhardt, Stephan 92, 111, 237, 253 Rey, Alain 432 Ribot, Théodule 33, 36, 40-46, 59, 79, 85, 302, 309, 315, 319, 320, 321-325, 329 Richard, Jean-Pierre 401 Richards, Graham 42 Richards, Robert J. 31, 35, 98 Richter, Karl 22 Riedel, Wolfgang 11, 87, 93, 99, 150, 151, 154 Rimbaud, Arthur486 Rinderknecht, Siegfried 176
Robertson, Ritchie 146 Robinson-Valéry, Judith (Robinson, Judith) 297, 298, 299, 302, 317, 323, 326, 334, 348, 364, 374, 462, 463, 468, 488, 507 Romer, Stephen 480, 490, 491 Rorty, Richard 29 Ross, Dorothy 12 Roth, Marie-Louise 165, 166 Rouart, Eugène 335 Rousseau, Jean-Jacques 279, 485 Rychner, Max 7 Ryle, Gilbert 24 Rzehak, Wolfgang 107 Sartre, Jean-Paul 7, 547 Schärf, Christian 14, 165 Scheerer, Eckart 37, 40 Scheffel, Michael 182f. Scheler, Max 142, 143, 295 Scheunemann, Dietrich 537 Schildknecht, Christiane 358 Schmeling, Manfred 8 Schmidt, Jochen 146 Schmidt-Radefeldt, Jürgen 297, 299, 326, 363, 475 Schnädelbach, Herbert 549 Schneider, Wolfgang 47 Schneiders, Werner 1, 2 Schnitzler, Arthur 91 Schöne, Albrecht 289 Schönert, Jörg 22 Schopenhauer, Arthur 12, 77, 87 Schramm, Ulf 176f., 256 Schwermer, Josef 227, 228 Selz, Otto 50-53, 56-58, 85 Settekorn, Wolfgang 19 Shakespeare, William 44 Simon, Herbert A. 35, 50 Skinner, Quentin 15 Smith, Barry 56, 58 Smith, David Woodruff 547
Personenregister
Sokel, Walter H. 536, 537, 542 Sökeland, Werner 19, 20 Sokrates 338 Soulez, Philippe 77 Spada, Hans 59 Spencer, Herbert 26, 32-35, 42, 44, 46, 74, 87, 88, 362, 379f., 524 Spengler, Oswald 122, 124, 127, 147 Spiegelberg, Herbert 57 Spillner, Bernd 443 Spinoza, Baruch 463 Sprengel, Peter 87 Stadler, Friedrich 61 Starobinski, Jean 300, 312, 431f., 440, 443, 449, 450, 455 Stehr, Nico 69 Steinfath, Holmer 19, 295, 501 Stimpson, Brian 387, 388, 420 Strich, Walter 131 Stumpf, Carl 40, 53, 56, 97 Swoboda, Wolfram W. 327 Taine, Hippolyte 41 Taylor, Charles 30, 31, 349-351 Ter Hark, Michel 50, 51 Thomas von Aquin 2, 352f., 356 Thomé, Horst 11, 12, 17, 91, 172f., 230, 293 Thomson, William (Lord Kelvin) 328, 413f., 416, 428, 430, 434 Thorndike, Edward 99 Titzmann, Michael 11, 22, 91, 543 Tracy, Antoine Louis Claude Destutt de 302 Tsunekawa, Kunio 432 Tugendhat, Ernst 29 Valéry, Paul 6-11, 13-18, 20f., 22, 23, 31, 61, 90, 159, 297536, 539f., 546-549
591
Vatan, Florence 93, 123, 150, 151, 154, 232, 289, 513f., Vietta, Silvio 12, 538 Vinci, Leonardo da 332, 340, 342, 349, 352-358, 383, 387, 399-431, 459, 502f., 527f., 540 Vines, Lois Davis406, Virtanen, Reino 297, 320, 368, 442 Vogel, Christiane 384 Vogel, Christina 398, 400f., 404, 423 Vollhardt, Friedrich 230, 543 Voltaire 387 Warning, Rainer 545 Watt, Henry J. 47-49, 51 Weber, Max 103 Wehle, Gerhard 209 Wertheimer, Max 25f., 40, 50, 53-57, 58, 59f. Westerhoff, Armin 123, 510 Wiggins, David 295 Willemsen, Roger 7, 145, 163, 541, 542 Williams, Bernard 81, 109, 295, Wilson, Catherine 358 Wise, Norton M. 413f., 414 Wittgenstein, Ludwig 16, 549 Wolf, Ursula 29 Wolters, Gereon 62, 327 Wright, Georg Henrik von 63, 98 Wundt, Wilhelm 24, 36-39, 40, 46, 59, 85 Yeschua, Silvio 381, 385, 387 Young, Robert M. 26, 27, 28 Zima, Peter V.543 Zittel, Claus 80