Heidrun Abromeit · Michael Stoiber Demokratien im Vergleich
Heidrun Abromeit Michael Stoiber
Demokratien im Vergleic...
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Heidrun Abromeit · Michael Stoiber Demokratien im Vergleich
Heidrun Abromeit Michael Stoiber
Demokratien im Vergleich Einführung in die vergleichende Analyse politischer Systeme
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Februar 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: ITS Text und Satz Anne Fuchs, Pfofeld-Langlau Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 3-531-14544-4
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1. Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleichs . . .
17
1.1. Wissenschaft und Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Warum vergleichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Die vergleichende Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 18
1.2. Was ist ein politisches System? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Regierungssystem und politisches System . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Systemtheoretische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Ein akteurstheoretischer und pragmatischer Zugang . . . . .
20 20 21 22
1.3. Der politikwissenschaftliche Vergleich: Methoden und Varianten . 1.3.1. Ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Methoden des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Varianten des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24 24 26 34
1.4. Beispiele vergleichender Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Bestandsaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2. Typologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3. Erklärungsversuche und Hypothesentests . . . . . . . . . . . . . 1.4.4. Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44 44 46 53 60
1.5. Von der Vetospieler-Theorie zu Vergleichskriterien . . . . . . . . . . . 1.5.1. Die Vetospieler-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2. Unsere Modifikation und die Vergleichskriterien . . . . . . . 1.5.3. Zur Auswahl der Vergleichsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 63 70 75
2. Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
2.1. Vetospieler und Regimetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
2.2. Die Regierungssysteme im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 81
6
Inhalt
2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.2.5. 2.2.6. 2.2.7. 2.2.8. 2.2.9.
Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88 96 102 109 116 123 130 137
2.3. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
3. Dominanzstrukturen: Der Vergleich von Parteiensystemen . . . . . . . . .
152
3.1. Parteiensysteme und Parteiendominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
152
3.2. Die Parteiensysteme im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7. Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.9. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156 156 160 164 168 173 177 181 185 189
3.3. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192
4. Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198
4.1. Selektivität und Symmetrie: Strukturen der Interessenvermittlung
198
4.2. Interessenvermittlungssysteme im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7. Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.8. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.9. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204 204 209 213 217 221 225 230 234 238
4.3. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242
Inhalt
7
Schluss: Zum Ertrag der Vetospieler-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
254
Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
Institutionensynopse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Vorwort Moritz und Moritz gewidmet
Wie der Leser schnell feststellen wird, haben wir uns mit dem vorliegenden Einführungsbuch Besonderes vorgenommen und viel Arbeit aufgeladen. Ein Neun-Länder-Vergleich ist keine Sache, die man im Spaziergang erledigt. Alle Mitarbeiter im Darmstädter Arbeitsbereich „Analyse und Vergleich politischer Systeme“ haben uns in der einen oder anderen Weise die Arbeit erleichtert – zutragend, kritisierend und kommentierend, Fundstellen aufsuchend, am Index arbeitend usw. Wir danken ihnen allen, nämlich Tobias Auberger, Jörg Kemmerzell, Thomas Schmidt, Frank Wittmann und ganz besonders Christian Dietzel für die Perfektionierung der Grafiken. In der ursprünglichen Planung war das Buch im Übrigen noch umfassender angelegt. Es sollte noch einen dritten Teil enthalten, der mittels eines neuen, „kontextualisierten“ Maßes die Demokratiequalität der vorgestellten politischen Systeme misst. Nach längeren Debatten haben wir schließlich diesen Teil weggelassen. Zum einen hätten wir mit ihm den für derartige Bücher üblichen Umfang deutlich überschritten. Aber zum anderen wurde uns im Verlauf der Arbeit immer klarer, dass das Buch in seinem jetzigen Zustand eine ziemlich runde Sache ist und ein „noch Mehr“ vielleicht ein „Zuviel“ sein könnte. Außerdem heißt das, dass die gemeinsame Arbeit weitergeht. Darmstadt im August 2005
Heidrun Abromeit Michael Stoiber
Einleitung
Warum diese neue Einführung in die vergleichende Analyse politischer Systeme? Wer sich über den Vergleich politischer Systeme kundig machen will, findet auf Anhieb eine beträchtliche Auswahl an Einführungen vor. Erst in den letzten Jahren sind wieder einige Neuerscheinungen und Neuauflagen auf den Markt gekommen. Trotzdem glauben wir, mit unserer Einführung etwas Neues zu bieten und eine Lücke zu füllen. Warum? Insbesondere in der deutschsprachigen, weniger in der englischsprachigen Einführungsliteratur dominieren die Sammelbände. Sie sind meist nach fachlichen Teilgebieten (Parlamentarismusforschung, Parteienforschung, Umfrageforschung etc.) untergliedert, thematisieren auch spezielle Fragen wie etwa den Systemwechsel (s. als pars pro toto Berg-Schlosser/Müller-Rommel, Neuaufl. 2003a; Lauth 2002), oder diskutieren mehr oder weniger intensiv methodische Aspekte und „neue Richtungen“ (Pickel et al. 2003; Wiarda 2002; Lichbach/Zuckerman 1997). Dieses Vorgehen garantiert dem Leser, dass er von ausgewiesenen Experten in einem bestimmten Forschungsfeld kenntnisreich über den jeweiligen Forschungsstand informiert wird. Allerdings entstammen die Autoren häufig verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen und Schulen; eine Reflexion der unterschiedlichen Zugänge zum Vergleich liefern – wenn überhaupt – die Einleitung oder knappe Schlusskapitel seitens der Herausgeber. Dem Leser wird somit kein roter Faden an die Hand gegeben, der ihm die theoretische und empirische Relevanz der Ergebnisse des Gesamtpakets verdeutlichen könnte. Andere Sammelbände binden Länderstudien zusammen. Der eigentliche Vergleich findet gewissermaßen im Kopf des Lesers statt, der damit allerdings umso mehr Schwierigkeiten hat, als die Autoren ihrerseits unterschiedliche (und zumeist nicht explizit gemachte) Relevanzkriterien im Hinterkopf haben. Zum Beispiel findet, wo es um die Parteien geht, der eine die ideologische Ausrichtung, der andere den organisatorischen Aspekt, der dritte die Gesamt-Konstellation besonders wichtig. Der Wert solcher Einführungen (z.B. Ismayr Neuaufl. 2003; Colomer Neuaufl. 2002) liegt im knappen – wenngleich unterschiedlich akzentuierten – Überblick über die Grundzüge einer Reihe von politischen Systemen, dessen Lücken der Leser dann an Hand der jeweils mitgelieferten Literaturangaben schließen kann.
12
Einleitung
Seltener sind vor allem im deutschen Sprachraum Einführungen in Form von Monographien. Hier ist der schmale Band von Lehner und Widmaier (Neuaufl. 2002) zu nennen, der sich, nach einem kurzen Überblick über die wichtigsten Varianten der vergleichenden Politikwissenschaft, auf die beiden Vergleichsaspekte „Strukturen und Strukturprobleme“ sowie „Kapazitäten“ (sprich Leistungsfähigkeit) konzentriert und unter dem ersten Aspekt, also in einem thematisch selektiven Rahmen, die Länder Großbritannien, Italien, Deutschland, Japan, USA, Frankreich und die Schweiz vorstellt. Der Vorzug dieser Einführung liegt zum einen darin, dass die Untersuchung der genannten Länder den gleichen Kriterien folgt, und zum anderen darin, dass ihr Informationswert vergleichsweise hoch ist. Im englischsprachigen Raum sind sogenannte textbooks als Einführungen in das Feld der vergleichende Systemanalyse (comparative politics) häufiger. Stellvertretend für viele sei der etablierte Überblick von Hague und Harrop (Neuaufl. 2004) genannt, die die verschiedenen Konzepte darstellen, die es zur Analyse politischer Systeme und ihrer Teilaspekte (von politischer Kultur über Parteien bis zur Bürokratie) gibt, und die wichtigsten Ergebnisse der Forschung präsentieren. Dagegen spielt der eigentliche Ländervergleich in der Monographie von Landman (Neuaufl. 2003) eine untergeordnete Rolle. Seine Einführung konzentriert sich auf die verschiedenen Methoden des Vergleichs, deren Leistungsfähigkeit im Hinblick auf bestimmte Erkenntnisziele und Probleme der Forschungspraxis sie in kritischer Literatur-Übersicht vorführt. Ähnlich strukturiert ist die Einführung von Peters (1998) mit ihrem Schwerpunkt auf dem Zusammenhang von Theorie, Forschungsinteresse und Methoden des Vergleichs. Anders als Landman legt er vermehrt Wert auf Probleme der Messung und der (statistischen) Datenanalyse.1 Besonderen Seltenheitswert haben Einführungsbücher in die vergleichende Systemanalyse, die einem einheitlichen theoretischen Konzept folgen. Das erstaunt umso mehr, als zumindest der systemtheoretische Zugang auf eine lange Tradition zurückblicken kann (Almond/Powell 1966; Deutsch 1976). Seit Almonds und Powells früher Grundlegung der systemtheoretisch inspirierten comparative politics wurde ihr konzeptioneller Rahmen ausdifferenziert und deckt nun die Bereiche der politischen Kultur, der Interessenartikulation und -aggregation (Parteien) auf der input-Seite des Systems, der Entscheidungsmechanismen innerhalb des Regierungssystems (throughput) und der Politikergebnisse als output ab (inzwischen in der vierten Auflage: Almond et al. 2003a). Doch bleibt dieser Rahmen im Wesentlichen Programm: In der Anwendung ist er auf eher kursorische Illustrationen beschränkt oder dient, wiederum in Sammelbänden, als theoretisches Bindeglied von
1 Diese Richtung schlägt auch Jahn (2005a) für den deutschsprachigen Markt ein.
Einleitung
13
Einzelfallstudien, die die verschiedensten Länder analysieren (in der achten Auflage: Almond et al. 2003b). Über eine noch längere Tradition verfügt das staatszentrierte Verständnis von Politik, das Lane und Ersson (1994) der vergleichenden Analyse politischer Systeme zugrunde legen, führt es sich doch auf Max Weber zurück. Ziel ihres Einführungsbuches ist es, in einer cross-national study (s. dazu Kap. 1.3.2) verschiedene theoretische Konzepte zu überprüfen und Hypothesen zu testen. Ihr staatszentrierter Ansatz äußert sich in der Wahl der abhängigen Variablen, nämlich der Stabilität im Sinne von Regimedauer und der Staatsperformanz. Als unabhängige Variablen dienen verschiedene ökonomische, geographische oder soziale Basis-Merkmale der Staaten sowie die politischen Institutionen und Akteurskonstellationen (Lane/Ersson 1994: 118). Die Zusammenhänge zwischen den Variablen werden dann an Hand eines Datensatzes untersucht, in den die relevanten Daten von 130 Staaten eingespeist sind. Ihr Buch ist ein markantes Beispiel der Variante Theorie-Test (s.u., Kap. 1.4.3), gibt dem Leser aber nur spärliche Informationen über die Unterschiede zwischen den vielen, in den Test einbezogenen politischen Systeme an die Hand. Überhaupt lassen sich in der Rubrik „Einführungen aus einem theoretischen Guss“ im Wesentlichen zwei Abarten identifizieren: der Theorie-Test zum einen und die „Programm-Schrift“ zum anderen, die einen (neuen) theoretischen Zugriff erläutert und seine Brauchbarkeit mit dem einen oder anderen Beispiel illustriert. Weder in der einen noch in der anderen Variante steht der eigentliche Vergleich politischer Systeme im Vordergrund. Eher der zweiten Variante ist die Einführung von Stepan (2001) zuzurechnen, der ein konstruktivistischer Ansatz zugrunde liegt; mit ihm betritt er zugleich komparatistisches Neuland (s. aber auch Lichbach/Zuckerman 1997). Seine zentrale Fragestellung ist, wie und warum neue politische Kontexte und neue Machtkapazitäten für demokratische Oppositionen entstehen, politische Identitäten sich ändern und neue Werte sich entwickeln konnten (Stepan 2001: 9). Der empirische Fokus liegt auf den Transformations- und Demokratisierungsprozessen in Südamerika und Osteuropa. Hier liefert das Buch eine Art Querschnitt aus zwanzig Jahren eigener Forschung, bzw. eine Zusammenfassung seiner diversen einzelnen vergleichenden Studien. Was ist nun neu und anders an unserer Einführung? Auch wir erheben den Anspruch, eine „Einführung aus einem Guss“ zu bieten, aber das gleich in mehrerlei Hinsicht. Von der Mehrzahl der üblichen Sammelbände unterscheidet uns (1) der einheitliche theoretische Zugang. Wir haben den akteurstheoretischen gewählt, der u.E. unterschiedliche politische Systeme am ehesten vergleichbar macht. Denn alle politischen Systeme sind im Kern kollektive Entscheidungssysteme, in denen die
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Einleitung
unterschiedlichsten Akteure – Institutionen, Organisationen, Einzel-Akteure – miteinander interagieren. Ihr Verhalten folgt bestimmten Regelmäßigkeiten, die je nach Akteurskonstellation variieren und damit für das je einzelne System typisch sind; und ihr Einfluss bemisst sich, über alle Akteurs-Arten und institutionellen Unterschiede hinweg, nach der Vetomacht, die sie im jeweiligen Entscheidungssystem ausspielen können. Welche Akteure (und Akteurs-Typen) wie viel Vetomacht haben, lässt sich am präzisesten mit dem Vetospieler-Ansatz (Tsebelis 2002) erfassen; er bildet daher die Basis unseres Vergleichs. (2) „Aus einem Guss“ ist unsere Einführung auch deshalb, weil sie den Überblick über die Methoden und Varianten vergleichender Politikwissenschaft mit der konkreten Vorführung des Vergleichs von neun europäischen Ländern verbindet. Dieser Vergleich dient nicht bloßer Illustration eines theoretischen Konzepts, noch dem Theorie-Test, sondern will sowohl die Funktionsweise der betreffenden politischen Systeme charakterisieren als auch demonstrieren, wie das Vergleichen in der Praxis funktioniert. Dazu haben wir aus der (von uns modifizierten) VetospielerTheorie Vergleichskriterien entwickelt, die wir auf alle Länder unseres Samples anwenden. (3) Und schließlich haben wir uns bemüht, die einbezogenen politischen Systeme nicht nur ausschnitthaft vorzustellen, sondern unter den drei Aspekten staatliches Entscheidungssystem, Parteiensystem und Interessenvermittlungssystem, die zusammen genommen einem ganzheitlichen Bild recht nahe kommen. Ausgespart bleiben allerdings die beiden Aspekte der politischen Kultur (Einstellungen der Bevölkerung, tradierte Verhaltensweisen) und der Leistungs- und Reformfähigkeit (Performanz) der politischen Systeme. Trotzdem glauben wir, dass der Leser nach der Lektüre unseres Buches nicht nur über eine wichtige Teildisziplin der Politikwissenschaft, sondern auch über die untersuchten Länder einigermaßen gut informiert ist – auch wenn er vorher nicht schon zu den Fortgeschrittenen zählte. Er wird sich mit dem state of the art ebenso auskennen wie in der Lage sein, politische Systeme nach ihren System-Merkmalen zu unterscheiden.
Zum Aufbau des Buches Der Aufbau des Buches folgt dieser doppelten Zielsetzung. Der umfangreiche erste Teil dient in den Kapiteln 1.1 bis 1.4 der Einführung in die politikwissenschaftliche Teildisziplin Vergleich. Er führt vor Augen, wie wichtig das Vergleichen generell für Erkenntnis, Urteilsbildung und Wissenschaft ist, erläutert den zugrunde gelegten Begriff des politischen Systems (im Unterschied zum Regierungssystem), erklärt die Begrifflichkeit vergleichender Politikwissenschaft und stellt ihre wichtigsten Methoden vor. Zugleich liefert er einen Überblick über die verschiedenen inhaltlichen Varianten vergleichender Politikwissenschaft, der demonstrieren soll,
Einleitung
15
dass es kaum einen Teilaspekt von Politik und Politikwissenschaft gibt, zu dem nicht vergleichend gearbeitet wird. Um nicht in der Abstraktion zu verbleiben, stellen wir in einem eigenen Kapitel (1.4) eine Reihe berühmter und vielzitierter vergleichender Studien etwas ausführlicher und in ihren Ergebnissen dar, damit der Leser einen plastischeren Eindruck davon gewinnt, welchen Ertrag vergleichende Forschung zu erbringen vermag. Dabei haben wir uns allerdings nicht ganz verkneifen können, auch auf Studien hinzuweisen, die eher zeigen, wie man es nicht machen sollte. Am Schluss dieses ersten Teils (Kap. 1.5) führen wir in die Vetospieler-Theorie von Tsebelis ein, aus deren modifizierter und ausdifferenzierter Form wir die Vergleichskriterien ableiten, die dem anschließenden Neun-LänderVergleich zugrunde liegen. Im zweiten Teil wird dann der Vergleich „vorgeführt“. In ihn haben wir europäische Länder einbezogen, die nach bisherigem Kenntnisstand für bestimmte Typen von Regierungs-, Parteien- oder Interessenvermittlungssystemen stehen. Es handelt sich dabei um Großbritannien, die Schweiz (die beide in vielerlei Hinsicht ein Gegensatzpaar darstellen), Schweden, Frankreich, Italien, die Niederlande, Finnland, Deutschland und Österreich. Die Transformationsländer Osteuropas haben wir deshalb ausgespart, weil wir der Ansicht sind, dass sich dort noch keine hinreichend stabilen System-Strukturen etabliert haben. Kap. 2 gibt einen Überblick über die staatlichen Entscheidungssysteme, die wir nach dem zentralen Vergleichskriterium „Machtkonzentration oder Machtfragmentierung“ untersuchen. Der Vergleich der Parteiensysteme in Kap. 3 folgt dem Kriterium der „Parteien-Dominanz“, die sich bemisst nach dem Einfluss, den die Parteien auf die (übrigen) Vetospieler ausüben, und nach ihrer Mobilisierungsfähigkeit innerhalb der Gesellschaft. Beim Vergleich der Systeme der Interessenvermittlung in Kap. 4 geht es um „Inklusion oder Exklusion“ und damit um die Selektivität und um Asymmetrien bei der Interessenberücksichtigung, was wiederum über den Zugang der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure zu den Vetospielern erschlossen werden kann. Am Ende jedes dieser Kapitel versuchen wir in einer Auswertung, eine Art Rangordnung unter den Ländern vorzunehmen, eingeführte Typologien und Theoreme zu relativieren, offene Forschungsfragen zu identifizieren und Hypothesen zu formulieren. Die offenen Fragen und weiterführenden Thesen, die sich aus unserem Vergleich ergeben haben, sind im Schlusskapitel zusammenfassend aufgelistet. Sie verdeutlichen – so hoffen wir – den Mehrwert, den die Vetospieler-Analyse beim Vergleich politischer Systeme erbringt.
1. Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleichs
Theoretische 1.1. Wissenschaft Grundlegung: und Vergleich Varianten und Kriterien des Vergleich Wissenschaft 1.1.1. Warum und vergleichen? Vergleich Wissenschaft fängt mit dem Fragen an, insbesondere mit der Frage nach dem Warum: Warum ist etwas so, wie es ist? Auf diese Frage kommt man allerdings erst, wenn einem etwas auffällt, und das geschieht zumeist dann, wenn etwas anders ist als das Gewohnte, als das, was man kennt (und eben darum nicht hinterfragt). Es ist das Andere, das Interesse erweckt (oder auch Erschrecken hervorruft). Wieso kann überhaupt etwas – ein Gemeinwesen zum Beispiel – anders sein als wir es bisher kennen; welche Folgen hat das; ist das, was andere anders machen, bedrohlich oder doch eher praktisch; wieso ist es bei uns nicht so? So wie das Fragen vielfach erst aus der Begegnung mit dem Anderen und damit aus dem wie immer ansatzweisen Vergleich erwächst, so erlaubt der Vergleich auch erst die geschärfte Selbstwahrnehmung, nämlich die Erkenntnis dessen, was uns vom Anderen unterscheidet und was das Besondere an uns – unserem Gemeinwesen – ist. Die Begegnung mit dem Anderen zieht eine Sequenz von Fragen nach sich: – Was unterscheidet mich vom Anderen (oder den Apfel von der Birne), welches sind die Merkmale, die A, B und C ausmachen? – Die Frage drängt zur Ausweitung: Was unterscheidet mich nicht nur von einem Anderen, sondern prinzipiell auch von (allen) anderen Anderen, welches sind also die Merkmale, die variieren? – Woher rühren die Unterschiede, wie sind sie zu erklären? – Und was ist nun das „Bessere“? Damit sind drei (idealtypische) Schritte des wissenschaftlichen Vergleichs angesprochen: Am Anfang steht zumeist die Deskription (was alles fiel mir auf?); ihr folgt die systematisierende Analyse (was lässt sich generalisierend über die Bereiche und Dimensionen aussagen, in denen sich Unterschiede finden?) und schließlich der Versuch der kausalen Erklärung (was verursacht die beobachteten Unterschiede?). Die normative Fragestellung (was ist besser?) liegt hierzu quer und erfordert
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
den zusätzlichen Vergleich zwischen einem – wie immer bestimmten – Soll und verschiedenen Ist-Zuständen, zwischen einem (in aller Regel nicht unangefochten geltenden) Ideal und Realitäten, die ihm unterschiedlich weit hinterher hinken, aber auch (z.B. in naturwissenschaftlicher Perspektive) zwischen der Norm oder dem Standard und den Abweichungen davon.
1.1.2. Die vergleichende Methode Vielen Autoren gilt dementsprechend das Vergleichen nicht nur als „natural human activity“ (Landman 2003: 4), sondern als zentrale wissenschaftliche Erkenntnismethode und insbesondere als unabdingbare Basis der wissenschaftlichen Erforschung des Politischen: „The proper study of politics requires systematic comparison“ (Lichbach/Zuckerman 1997: 5). Ohne systematisches Vergleichen kann man demnach nicht einmal die Funktionsweise des eigenen politischen Systems verstehen, geschweige denn ein vertieftes Verständnis der Funktionsweise von Politik generell gewinnen. Wer die Variationen nicht kennt, dem bleibt der Zugang zu möglicherweise vorhandenen Regel- oder gar Gesetzmäßigkeiten verschlossen. Aus dem Vergleich können sich so Theorien entwickeln: Beobachtete Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der institutionellen Struktur von Gemeinwesen (polity), in der Relation der Institutionen zur gesellschaftlichen Basis, in der Art des Zustandekommens von gesamtgesellschaftlich gültigen Entscheidungen (politics) und in der Auswirkung all dessen auf das, was tatsächlich inhaltlich entschieden und reformiert wird (policies), liefern Bausteine zur theoretischen Erfassung kausaler Zusammenhänge und der Determinanten politisch-gesellschaftlicher Entwicklung. Zugleich ist der Vergleich der zuverlässigste Test theoretisch gewonnener Hypothesen und zeigt die Reichweite von Theoremen auf: Gelten sie generell oder nur für einen bestimmten Typ politischer Systeme, oder ist die Gültigkeit auf eine bestimmte historisch-politische Konstellation beschränkt? Diese letztere Art der Nutzung des Vergleichs – der Vergleich als (Test-)Methode – ist das Lieblingskind der modernen Komparatistik und deutet darauf hin, dass der Gegenstandsbereich vergleichender Politikwissenschaft tendenziell uferlos ist. Die zuvor aufgelisteten Fragen verweisen demgegenüber darauf, dass die vergleichende Methode ihrerseits zahlreiche Varianten kennt. Sie lässt qualitative, quantitative, historische Vorgehensweisen zu; sie orientiert sich an institutionellen, ökonomischen, behavioristischen, funktionalistisch-systemtheoretischen Ansätzen (vgl. dazu genauer Kap. 1.3.3). Obwohl die vergleichende Analyse politischer Systeme als älteste politikwissenschaftliche Teildisziplin gelten kann – wie weiter unten zu sehen sein wird, haben die alten Griechen damit angefangen –, fehlt ihr heute ein einheitliches Erkenntnisziel, ein einheitlicher theoretischer Ansatz, eine einheitliche
Wissenschaft und Vergleich
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Methode und der einheitliche, eng umgrenzte Gegenstandsbereich. Anfangs auf Regierungs- oder Verfassungssystematik angelegt, war ihre Methode eher simpel (nämlich die Lektüre und Auswertung von Verfassungstexten) und waren Erkenntnisziel wie theoretisch-normative Ausrichtung einigermaßen festgelegt (welches ist die beste – oder auch demokratischste – Regierungsweise?). Heute und unter dem geänderten Namen comparative politics dagegen hat sie sich in jeder Hinsicht vielfältig ausdifferenziert. Heute füllt sie die ganze Bandbreite vom Vergleich als Test von in den übrigen politikwissenschaftlichen Teildisziplinen generierten Hypothesen bis zu „weitgehend unkomparativ betriebenen Länderstudien“ (von Beyme 1988: 50). Aber in der Tat können auch Einzelländerstudien von komparativem Nutzen sein, wenn sie sich nämlich der Konzepte und Kriterien bedienen, die ansonsten vergleichenden Studien zugrundeliegen und z.B. untersuchen, warum etwa das untersuchte Land ein abweichender Fall ist (vgl. Landman 2003: 34 f.). In den folgenden Kapiteln wird die angesprochene Variationsbreite der vergleichenden Analyse politischer Systeme im Überblick vorgestellt. Doch vorweg sind noch zwei Fragen ansatzweise zu diskutieren, nämlich (1) wie verhält es sich mit Äpfeln und Birnen und (2) wann hinkt ein Vergleich? Äpfel, Birnen und hinkende Vergleiche (1) Die Volksweisheit lautet, dass man Äpfel und Birnen nicht vergleichen könne, und das besagt – z.B. – dass man der Birne nicht vorwerfen darf, nicht so rund wie der Apfel zu sein. Man dürfte demnach nur Äpfel untereinander vergleichen, um so den perfekten herauszufinden. Aber beim Vergleichen kommt es auf die Kriterien an, die man anlegt: Ist es die Form, ist es die Süße, ist es der Vitamingehalt oder die Haltbarkeit? Überdies geht es um die Grundgesamtheiten der zu vergleichenden Gegenstände, und da gehören beide zur Kategorie Kernobst und zur noch größeren Kategorie Früchte. Ob Äpfel und Birnen verglichen werden können, hängt ab vom Erkenntnisziel, aus dem sich im Allgemeinen die Vergleichskriterien ableiten lassen, und von der entsprechend zu wählenden Grundgesamtheit. Frage ich etwa nach der Demokratiequalität politischer Systeme, ist es witzlos, demokratische Verfassungsstaaten (Äpfel) mit Diktaturen (Birnen) zu vergleichen; frage ich hingegen nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, ist der Vergleich von Äpfeln und Birnen durchaus legitim. (2) Vergleiche hinken nicht immer (und schon gar nicht ist alles, was hinkt, ein Vergleich). Sie hinken allerdings, wenn a) die Vergleichskriterien beliebig gewählt und nicht aus dem Erkenntnisziel abgeleitet sind; b) wenn die Kriterien nur auf einige der Untersuchungseinheiten (Äpfel) passen und für andere (Birnen) schlicht irrelevant sind, c) wenn die Kriterien nicht in plausibler Weise operationalisiert
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
worden sind, d.h. wenn ich ungewollt Phänomene vergleiche oder gar messe, die allenfalls am Rande mit dem Vergleichskriterium zu tun haben. Sie hinken außerdem dann, d) wenn die Vergleichsgegenstände in Bezug auf Grundgesamtheit und Forschungsfrage nicht den gleichen Stellenwert haben, d.h. nicht funktionsäquivalent1 sind (wenn ich also nicht Äpfel und Birnen, sondern z.B. im Hinblick auf Ernährung und Gesundheit Äpfel und Pferdeäpfel vergleiche). Der hinkende Vergleich ist also nichts anderes als der fehlerhafte Vergleich. Die Botschaft aus der Antwort auf beide Fragen lautet: Der politikwissenschaftliche Vergleich steht und fällt mit der Angemessenheit der Vergleichskriterien für die Bearbeitung einer gegebenen Fragestellung. Habe ich nicht vorweg ausgiebig über die anzuwendenden Kriterien nachgedacht, brauche ich mit dem Vergleichen gar nicht erst anzufangen; und ohne solche Kriterien macht der Vergleich ohnehin keinen Sinn (was sollte ich da auch über Äpfel und Birnen sagen? Dass beide vom Baum fallen können ...?). Am Schluss des ersten Teils dieser Einführung (Kap. 1.5) werden wir uns darum ausführlich mit der Ableitung und Formulierung von Vergleichskriterien beschäftigen.
1.2. Was ist ein politisches System? Was istRegierungssystem 1.2.1. ein politisches System? und politisches System Die vergleichende Politikwissenschaft nahm ihren Anfang als vergleichende Regierungslehre, d.h. als Vergleich von Regierungssystemen (comparative government). Seit der umfassenden Kritik von Almond und Powell (1966) am „Parochialismus“, Formalismus und der normativen Ausrichtung solcher Regierungsformenlehre sprechen viele Autoren lieber vom Vergleich politischer Systeme (oder von comparative politics, was nicht ganz dasselbe ist). Worin aber besteht der Unterschied zwischen einem Regierungssystem und einem politischen System? Das Regierungssystem ist leicht zu definieren: Es lässt sich auf die polity-Dimension reduzieren und umfasst somit die – zumeist in der Verfassung aufgelisteten – Institutionen, die an der Gesetzgebung und der Umsetzung der Gesetze sozusagen federführend beteiligt sind, also die Staatsorgane, und darüber hinaus den Staatsaufbau (z.B. in Bund und Länder). Unterschiede zwischen Regierungssystemen finden sich in der Art des Staatsaufbaus, in Zahl, Art und Organisation der entsprechenden Institutionen, in ihren Verfahrensweisen und in ihren Beziehungen unter1 Der Begriff des funktionalen Äquivalents bedeutet, dass eigentlich unterschiedliche Dinge, Institutionen oder auch Akteure dennoch den selben Zweck erfüllen können.
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einander. Das Regierungssystem ist demnach verhältnismäßig leicht nach außen abgrenzbar, umso mehr, wenn es eine Verfassung gibt. Strittig kann immerhin sein, ob die Bereiche Verwaltung und Justiz, ob die Gemeinden und ob das hinzugezählt wird, was man als „politische Führung“ bezeichnet (vgl. Hesse/Ellwein 2004: 1). Demgegenüber ist das politische System als politikwissenschaftliches Konstrukt umfassender und tendenziell amorph; es „muss einerseits mehr umfassen als nur die staatlichen Institutionen, andererseits weniger als die gesamte Gesellschaft“ (Rudzio 2003: 9), es erstreckt sich vom Staat zu uns, den Bürgern. Für das System generell findet sich in Wörterbüchern die Definition einer „(Teil-)Menge untereinander in Beziehung stehender Elemente, die als Einheit begriffen und von den übrigen Elementen (System-Umwelt) abgegrenzt werden können“ (Schäfers 1992). Hinzuzufügen wäre, dass das System im Allgemeinen eine eigene Struktur hat, nach eigenen Regeln (oder Gesetzmäßigkeiten) funktioniert und eine bestimmte Funktion für seine Umwelt erfüllt. Demnach sind in punkto politisches System gleich mehrere Fragen zu stellen: Aus welchen Elementen besteht es, welches ist seine Grenze, nach welchen Regeln funktioniert es und welche Funktion erfüllt es für die Gesamtgesellschaft? Wie gleich zu sehen sein wird, gibt es allein auf die letzte Frage eine allgemeingültige Antwort.
1.2.2. Systemtheoretische Zugänge Der Begriff des politischen Systems kam zusammen mit dem Strukturfunktionalismus bzw. der Systemtheorie auf. Bei David Easton oder Gabriel Almond etwa ist damit die Gesamtheit der Institutionen und Prozesse bezeichnet, die die Funktion erfüllen, für die Gesamtgesellschaft „autoritativ“ Entscheidungen über die Verteilung begehrter Werte/Güter zu treffen („the authoritative allocation of values“, in der berühmten Formulierung von Easton 1965: 96). Während also die Funktion einigermaßen präzise angegeben ist, sind die Institutionen und Prozesse grundsätzlich variabel – gewissermaßen die black box, deren Erforschung sich dann der vergleichende Politikwissenschaftler widmet. Variabel oder im Ungefähren bleibt auch die Grenze zwischen dem politischen System und seinen „Umwelten“, den anderen gesellschaftlichen Subsystemen, die allerdings mit ihren Forderungen auf der inputSeite ins politische System hineinragen und auf der output-Seite von seinen Leistungen (den Entscheidungen) betroffen sind. Bei Karl W. Deutsch z.B. umfasst das politische System das Regierungssystem im engeren Sinne, das Parteiensystem und (begrenzt) gesellschaftliche Interessenorganisationen (Deutsch 1976: 183). Um seine Funktion erfüllen zu können, muss es mit seinen outputs und deren Wirkungen an die anderen gesellschaftlichen Subsysteme rückgekoppelt werden und sich als lernfähig erweisen. Doch in Deutschs eigener Darstellung einzelner politischer Sys-
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
teme bleibt (nicht nur) dieser Aspekt eher unberücksichtigt; in der empirischen Analyse fehlt es an der konkreten Übersetzung der Termini und Konzepte der Systemtheorie. Immerhin wird in einigen Erweiterungen der Theorie die strenge Trennung von politischem System und Umwelt als zu rigide angesehen und zugestanden, dass es immer wieder zu Überschneidungen der verschiedenen Subsysteme und somit explizit zu sogenannten „Interpenetrationszonen“ kommt (Münch 1984: 14). Die deutsche Systemtheorie unter Führung von Niklas Luhmann hat sich ausgiebig mit dem Phänomen der Grenze sowie mit dem das politische System kennzeichnenden (Kommunikations-)Medium und seinen „Codes“ beschäftigt, ohne hierbei zu abschließenden Ergebnissen zu gelangen (zur Entwicklung und den Varianten der Konzeptualisierung des politischen Systems bei Luhmann s. z.B. Lange 2003). Dafür bereicherte sie die Systemtheorie um zwei konzeptionelle Neuerungen: zum einen die generelle Vermutung, dass die gesellschaftlichen Subsysteme allein aus Kommunikation bestünden – was die Frage nach den Akteuren im System (bzw. nach seinen Elementen) scheinbar gegenstandslos macht, zum anderen die These, sie seien selbst-referentiell, also nur auf sich selbst bezogen, womit das Thema der gesamtgesellschaftlichen Steuerung durch Staat und Politik zu den Akten gelegt werden könnte. Des weiteren mühte man sich darum, das politische System immer weiter auszudifferenzieren – z.B. in Regierungssystem, „Publikumssystem“, publizistisches System –, was im Endeffekt dazu führt, dass „das Politische“ sich aus dem politischen System verflüchtigt (vgl. Marcinkowski 1993). Dabei bleiben all diese Versuche rein theoretischer Natur, empirisch und für den Vergleich sind sie nicht nutzbar zu machen.
1.2.3. Ein akteurstheoretischer und pragmatischer Zugang Auch in seinen neueren Verästelungen hilft der systemtheoretische Begriff des politischen Systems dem vergleichenden Politikwissenschaftler nicht viel weiter, versucht er doch gerade zu erfassen und zu vergleichen, was sich in der black box und z.B. zwischen den ausdifferenzierten „Sub-Subsystemen“ (vgl. Münch 1984: 306) abspielt. Von daher empfiehlt es sich, einen eher pragmatischen, quasi alltagssprachlichen Begriff des politischen Systems zu benutzen, der weniger nach der Grenze zwischen System und Umwelten und den Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Subsystemen fragt als vielmehr nach den Überschneidungen und der Grenzüberschreitung. Im Mittelpunkt hätten dabei Zweck und Funktion des politischen Systems zu stehen: die Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen. Die erkenntnisleitende Frage in Hinsicht auf die jeweilige Ausdehnung und Zusammensetzung des politischen Systems wäre dann die, wer alles
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an diesen Entscheidungsprozessen beteiligt ist und sie beeinflusst. In modernen Gesellschaften sind das in aller Regel kollektive, d.h. institutionalisierte und organisierte Akteure2, denen, in akteurstheoretischer Sicht, gemeinsam ist, dass sie im Prinzip rational handeln, also alle ihren Nutzen zu mehren und ihre Kosten zu mindern suchen. Die Unterstellung des Rationalverhaltens, die uns im Verlauf dieser Einführung noch weiter beschäftigen wird, erlaubt uns die analytische Verknüpfung unterschiedlicher Akteursgruppen, macht die Beziehungen zwischen verschiedenen Akteursarten durchsichtig und erleichtert damit den Vergleich. Die Interaktion dieser Akteure – also der politische Prozess selbst – findet in formalisierter oder auch informeller Art und Weise innerhalb der institutionellen Regeln und Arrangements des jeweiligen Regierungssystems statt. Institutionen sind einerseits intervenierende Variable, die das Verhalten der Akteure eingrenzt, andererseits aber auch Gegenstand der Interaktion, wenn es nämlich darum geht, (neue) institutionelle Arrangements zu installieren. Mit diesem Verständnis schließen wir direkt an die rationalistische Schule des Neo-Institutionalismus (vgl. Helms 2004: 27 f.) oder klassisch gesprochen an die Institutionenökonomik (vgl. Richter/Furubotn 1999) an.3 In akteurstheoretischer Sichtweise lässt das politische System sich dann definieren als das Gesamt der (kollektiven und korporativen) Akteure, die in und mit dem (formalen) institutionellen Entscheidungszentrum einer Gesellschaft interagieren. Hierzu zählen – das politisch-administrative System (Regierungsinstitutionen, staatliche Bürokratie, im Mehrebenensystem Länder und ggf. Gemeinden mit ihren entsprechenden Institutionen); – die obersten Gerichte, sofern sie über Normenkontrollkompetenz verfügen, d.h. Gesetze als verfassungswidrig verwerfen können; – das Parteiensystem; – die organisierten gesellschaftlichen Akteure wie die Verbände, ggf. Bürgerinitiativen u.ä. (Interessenvermittlungssystem). Hinzuzurechnen sind aber auch weniger leicht fassbare (und akteurstheoretisch konzeptualisierbare) Elemente wie die politische Kultur, sprich die Einstellungen und das Beteiligungsverhalten der Bürger, tradiertes Elitenverhalten und dgl.; und
2 Kollektiver Akteur bedeutet hier lediglich, dass es sich um einen zusammengesetzten Akteur handelt. In einer feineren Differenzierung werden von kollektiven Akteuren, bei denen die Aggregation individueller Präferenzen zu einem organisierten Gesamtwillen im Vordergrund steht, korporative Akteure unterschieden, bei denen es sich um formale hierarchisierte Organisationen handelt, die ihre zentralisierten Ressourcen zielgerichtet einsetzen (vgl. Scharpf 2000: 101; Stoiber 2003: 30). 3 Für viele ist dieser Ansatz inzwischen synonym mit dem populär gewordenen Konzept des akteurszentrierten Institutionalismus (Mayntz/Scharpf 1995).
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hinzuzurechnen sind prinzipiell ebenfalls die Organisationen und mächtigen Akteure aus dem Subsystem der Wirtschaft (global players u.ä.). Quasi am Rande des politischen Systems steht das Kommunikations- und Mediensystem. In seiner ureigensten Funktion ist es auf die Vermittlung politischer Inhalte beschränkt und daher per se nicht mit akteurstheoretischen Kategorien erfassbar. Doch können aus dem Mediensystem durchaus genuin politische Akteure hervorgehen. Dabei muss man nicht nur an Italien und Berlusconi denken. Auch bei der Frage nach der Existenz von gesellschaftlichen Dominanzstrukturen (dazu mehr in Kap. 3.1) können Mediensysteme eine wichtige Rolle spielen. Eine Reihe von Akteuren, die in systemtheoretischer Sicht den System-Umwelten angehören, sind demnach in das politische System einbezogen. Die Ausweitung scheint uns notwendig, um die Varianz zwischen politischen Systemen erklären zu können. Eins sollte allerdings deutlich geworden sein: Auch in akteurstheoretischer Sicht ist das politische System letztlich nicht trennscharf definiert, sondern variabel. Auf die oben aufgelisteten Fragen zu seiner Umschreibung (s. S. 21) gibt es nicht zuletzt deshalb keine letztgültige Antwort, weil politische Systeme eben in entscheidenden Merkmalen differieren: Die Grenzen sind im einen Fall enger, im anderen Fall weiter gezogen, die Elemente (Akteure) variieren, Struktur und Regeln unterscheiden sich z.T. erheblich, und nur die Funktion ist überall dieselbe. Die im zweiten Teil dieses Buches vorgeführten Ländervergleiche können selbstverständlich nicht alle hier genannten Elemente berücksichtigen, schon gar nicht in epischer Breite – das würde ein mehrbändiges Werk erfordern. Der Vergleich beschränkt sich aber bewusst nicht auf die institutionellen Akteure und auf die Parteien (denen beiden in der Vetospieler-Theorie die ausschlaggebende Rolle zugewiesen ist; s.u., Kap. 1.5.1), sondern bezieht mit den Interessenvermittlungssystemen gesellschaftliche Akteure ein.
1.3. Der politikwissenschaftliche Vergleich: Methoden und Varianten Der politikwissenschaftliche 1.3.1. Ein Rückblick Vergleich: Methoden und Varianten So umfassend das politische System hier verstanden wird, so vielfältig sind die Gegenstände von politikwissenschaftlichen Vergleichen. Betrachtet man die Geschichte der Disziplin, fällt auf, dass sie sich im Zeitablauf immer weiter ausdifferenzierte und der systematische Vergleich auf immer neue Gegenstandsbereiche angewandt wurde. Doch ist dieser Zeitablauf nicht eben lang; genau genommen umfasst er
Der politikwissenschaftliche Vergleich: Methoden und Varianten
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keine 100 Jahre, wie ja auch die Politikwissenschaft selbst ein Kind des 20. Jahrhunderts ist.4 Der Urahn Aristoteles, der in seiner „Politeia“ mit dem Vergleich der zu seiner Zeit vorfindbaren Herrschaftsformen (s.u., Kap. 1.4.2) den Anfang machte, blieb über die Zeitalter hinweg ein Solitär. Die politischen Philosophen der Neuzeit verglichen nicht systematisch, sondern verfolgten andere Zwecke – z.B. die Lösung des Problems guten bzw. vernünftigen Regierens –, streuten aber gleichwohl gern Verweise auf andere Völker und andere Sitten und Gebräuche in ihre Ausführungen ein, etwa um eine These zu illustrieren oder um in pädagogischer Absicht dem Leser abschreckende oder nachahmenswerte Beispiele vor Augen zu führen. So wimmelt Machiavellis „Il Principe“ (1532) von lehrreichen Kurzberichten über Fehler und Kniffe von Herrschern aus aller Herren Länder. Rousseau berichtet in „Du Contrat Social“ (1762) über Entscheidungs- und Regierungspraktiken im alten Rom oder in der Republik von Venedig, um seine Argumente zu verdeutlichen. Man mag sich fragen, wie erhellend dies für den damaligen Leser wirklich war, dem über Kontext und Stellenwert des jeweiligen Beispiels keine Informationen mitgeliefert wurden. Einen anderen Weg schlug de Tocqueville ein, der, statt über Demokratie zu räsonieren und die Theorie mit Beispielen zu garnieren, seinen französischen Lesern detailliert vorführt, wie eine reale Demokratie – nämlich „La démocratie en Amérique“ (1835) – funktioniert und dies anschließend auch noch mit einer gleichermaßen umfassenden Darstellung der französischen Erfahrungen („L’ancien régime et la révolution“, 1856) kontrastiert. Ähnlich ausführlich (um nicht zu sagen detailverliebt) analysierte Karl Marx den „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852), und zwar in der Absicht, die Unmöglichkeit wahrer Demokratie in einer kapitalistischen Gesellschaft zu demonstrieren. Beiden Autoren ist im Übrigen gemeinsam, dass es ihnen um mehr ging als um die Untersuchung eines Regierungssystems; ihre Vorstellungen von Demokratie und Herrschaft schlossen mehr ein als nur die staatlichen Entscheidungs-Institutionen, sondern umfassten soziale und ökonomische Strukturen sowie Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger und ihrer Eliten und kamen damit unserem hier vorgestellten Konzept des politischen Systems recht nahe. Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Politikwissenschaft sich als eigenständige Wissenschaftsdisziplin konstituierte, etablierte sich deren vergleichender Zweig als comparative government – z.B. mit James Bryce, der sich 1921 mit „Modern Democracies“ quasi an einer Neuauflage und Weiterführung der aristotelischen „Politeia“
4 Auch wenn die Wurzeln der Lehre der Politik selbst in Deutschland bis zu den mittelalterlichen Universitäten zurückreichen (vgl. Bleek 2001).
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
versuchte. Als politikwissenschaftliche Teildisziplin war die vergleichende Forschung in der Tat für Jahrzehnte auf den Vergleich von Regierungssystemen festgelegt. Ihr eigentlicher Aufschwung, nicht zuletzt in quantitativer Hinsicht, setzte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein und hatte zum einen mit dem Schock darüber zu tun, dass sich aus Demokratien faschistische Regime entwickeln konnten, zum anderen aber auch mit der Auflösung der Kolonialreiche, die die Chance bot, quasi unter Laborbedingungen zu beobachten, wie sich Regierungssysteme des einen oder anderen Typs herausbilden. Für die vergleichende Forschung ergaben sich daraus zwei leitende Fragestellungen: (1) Welches sind die Ursachen für Stabilität und Instabilität demokratischer Systeme und (2) welches sind die Bedingungen für (gesellschaftliche) Modernisierung und Demokratisierung. Mit beiden Fragen war zugleich der Keim gelegt zur Ausweitung des Forschungsgegenstands über das Regierungssystem im engeren Sinn hinaus, die sich spätestens seit den 1970er Jahren im Zuge der behavioristischen Wende (s. dazu u., S. 38) durchsetzte. Die Krise, in die in den letzten Jahrzehnten die Wohlfahrtsstaaten gerieten, und die sogenannte Transformation der Ostblockstaaten waren weitere Anstöße, vergleichende Politikwissenschaftler gut beschäftigt zu halten; zugleich erweiterten sie die erkenntnisleitenden Fragen um die nach der Leistungsfähigkeit politischer Systeme. Schließlich trug die Professionalisierung der Politikwissenschaft insgesamt ihren Teil zur zunehmenden inhaltlichen und methodischen Ausdifferenzierung der Teildisziplin bei. Methodische Perfektionierung und die Verfügbarkeit umfangreicher Datensätze (wie z.B. die OECD-Statistiken) erleichterten den Einsatz der vergleichenden Methode in nahezu beliebig vielen Forschungsfeldern, weshalb der Vergleich mittlerweile zur wohl beliebtesten Art des Theoriebzw. Hypothesen-Tests aufgestiegen ist.
1.3.2. Methoden des Vergleichs Bevor wir uns daran versuchen, ein Tableau der diversen Vergleichs-Varianten zu erstellen, wollen wir die wichtigsten Methoden vergleichender Forschung skizzieren, damit die Leser die dort vorgenommenen Charakterisierungen nachvollziehen können. Das Erkenntnisziel als Leitmotiv Ganz grundlegend hängt die Auswahl der Vorgehensweise (nicht nur beim Vergleich) vom Erkenntnisziel ab: Das Ziel bestimmt die Wahl der Vergleichskriterien und Variablen (vgl. Abbildung 1), und die wiederum bestimmen die Wahl der passenden Methode(n).
Der politikwissenschaftliche Vergleich: Methoden und Varianten
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Das Erkenntnisziel kann zunächst rein deskriptiver Natur sein, d.h. Ziel der Analyse ist die Bestandsaufnahme zu einem oder mehreren spezifischen Phänomen(en). Will ich z.B. nur wissen, ob auf der anderen Seite des Berges auch Menschen wohnen und in Gemeinwesen zusammenleben, brauche ich mir über beides vorweg nicht viele Gedanken zu machen. Das Kriterium ist dann schlicht das „Was ist genauso wie bei uns – was ist anders?“, und die Methode besteht im Sammeln aller Informationen, derer man habhaft werden kann. Der Zugriff wäre hier gewissermaßen ein anthropologischer, ggf. historischer, das Ergebnis die dichte Beschreibung und das einzige Problem das mögliche Missverstehen der einen oder anderen Beobachtung. Abbildung 1: Kriterien und Variablen5
Erkenntnisziel
Kriterien
Variablen
Definition
Unterscheidungsmerkmale, Merkmals-Dimensionen, ,Prüfsteine‘
Veränderliche Größen, die miteinander in Beziehung stehen: Eine Änderung in A (unabhängige Variable) beeinflusst B (abhängige Variable)
Funktion
• Strukturieren die Informationssammlung, • ordnen Wissen, • bewerten Ergebnisse
• Strukturieren das Forschungsdesign, • erklären Zusammenhänge
Indikatoren
Solche Ergebnisse werden häufig in eine Systematisierung mittels Klassifikationen oder Typologien überführt. Bei Klassifikationen werden die unterschiedlichen Fälle nach einem einzigen Kriterium oder Merkmal6 sortiert (um bei den Äpfeln und Birnen zu bleiben: z.B. der Form der Frucht); daraus werden Klassen gebildet (rund – oval – birnenförmig), denen die Fälle zugeordnet werden können. Manch5 In der englischsprachigen Literatur findet sich diese Unterscheidung in der Regel nicht, da sowohl für die allgemeineren Kriterien als auch die spezifischeren Variablen ein und derselbe Sprachgebrauch (variables) vorherrscht (vgl. Peters 1998; Landman 2003). 6 Das Kriterium ist der abstraktere Begriff; es kann mehrere (konkrete) Merkmale umfassen oder eine bestimmte Merkmalsdimension bezeichnen (vgl. Abbildung 1).
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
mal gibt es nur zwei sogenannte dichotome Klassen (z.B. Einparteiensystem vs. Mehrparteiensystem), eine Klassifikation kann aber auch mittels einer metrischen Messskala durchgeführt werden (wie z.B. die sogenannte effektive Parteienzahl, s.u. Kap. 3.1). Dagegen bildet man Typen aus der Kombination mehrerer Merkmale (z.B. Form und Geschmack des Obstes). Typologien nehmen oft die Gestalt von Vier-, Sechs- oder Neun-Felder-Tafeln (Matrix) an, bei denen zwei Merkmale mit wenigen Ausprägungen miteinander gekreuzt werden, was eine entsprechend differenzierte Typenbildung erlaubt. Je mehr Merkmale man zugrunde legt und je komplexer folglich das Konstrukt ist, desto schwieriger wird die Zuordnung der Fälle; häufig kommen bei der empirischen Anwendung von Typologien darum MischTypen heraus. Steigt die Anzahl der Merkmale an, lassen sich Typen auch nach Art der Bildung von clustern konstruieren. Mittels statistischer Verfahren wie der Cluster-Analyse versucht man, die Fälle auf Grund ihrer Ähnlichkeit in den verschiedenen Merkmalen sowie der feststellbaren Häufung bestimmter Merkmals-Kombinationen in empirisch gewonnene Typen einzuteilen. Wie bei der Klassifikation gibt es bei der Typenbildung den „Typ“ des Kontinuums, der dort allerdings voraussetzt, dass man eine konstante Beziehung zwischen mehreren Merkmalen unterstellen kann. Mittels des statistischen Verfahrens der Faktorenanalyse können dann aus vielen Merkmalen wenige Dimensionen gewonnen werden, auf die jeweils mehrere Merkmale zurückgeführt werden können.7 Ist das Ziel die Erklärung bestimmter Phänomene, wird über die Systematisierung hinaus ein analytisches Vorgehen notwendig. Schon wenn ich herausfinden will, warum die Gemeinwesen vor und hinter dem Berge sich in manchem unterscheiden, brauche ich ein theoretisches Konzept oder mindestens begründete Vermutungen über mögliche Zusammenhänge zwischen der Natur (Ebene hier – enge Täler dort), der historischen Erfahrung (kontinuierliche Entwicklung hier – Kriege und Revolutionen dort), der Mentalität – usw. usf. – auf der einen Seite (mögliche unabhängige Variablen) und der Ausprägung der Gemeinwesen auf der anderen (abhängige Variable). Aus dieser Konzeptualisierung leite ich die konkreten Vergleichskriterien ab und differenziere ggf. die Variablen aus. Zur analytischen Erfassung der Realität und zu ihrer Einordnung und Bewertung müssen die Kriterien und die Variablen zu einem Set von Indikatoren operationalisiert werden. Auf der Basis der Konzeptualisierung entscheide ich ebenfalls, ob ich eher qualitativ oder quantitativ, historisch oder sozialpsychologisch usw. vorgehe. Der skizzierte Forschungsprozess entspricht weitestgehend einem induktiven Vorgehen, auch wenn der Rückgriff auf bestehende Konzepte ein deduktives Element enthält (zu induktivem und deduktivem Vorgehen vgl. Abbildung 2). Will man tatsächlich generali7 Eine gelungene anwendungsorientierte Einführung in die grundlegenden statistischen Verfahren in der vergleichenden Analyse politischer Systeme ist Pennings et al. (1999).
Der politikwissenschaftliche Vergleich: Methoden und Varianten
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Abbildung 2: Induktives und deduktives Vorgehen Induktives Vorgehen
Deduktives Vorgehen
Beobachtung
Theorie
Konzeptualisierung Suche nach möglichen Erklärungsmustern, Variablenauswahl
Hypothesenbildung, gezielte Fall- und Variablenauswahl
Operationalisierung Identifikation klarer Vergleichsindikatoren Wahl der Methode
Analyse Ergebnisse
(Weiterführende) Hypothesen- und Theoriebildung
Bestätigung oder Falsifikation der Hypothesen/der Theorie
sierend erklären und damit zur weiteren Entwicklung der Theoriebildung beitragen, kann auf deduktive Elemente schwerlich verzichtet werden (vgl. Berg-Schlosser 2003: 123 f.). Häufig ist die Suche nach Erklärungen mit Theorie- und Hypothesentests oder (formalen) Modellierungen verbunden. Habe ich z.B. im Hinterkopf eine Theorie über die Universalität menschlicher Partizipationsbedürfnisse oder über bestimmte Konstanten im Hinblick auf Herrschaft und Kontrolle, die in zwar unterschiedlichen, aber funktional äquivalenten Erscheinungsformen auftreten, bedarf ich zum einen eines ziemlich diffizilen Kriterien-Gerüsts (schon allein um zu bestimmen, was warum als äquivalent gelten kann). Aus der Theorie sind dann Hypothesen abzuleiten und die zum Test notwendigen Variablen zu identifizieren. Im nächsten Schritt der Operationalisierung sucht man sich Indikatoren zur Bestimmung der
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
Variablenausprägung und bildet gegebenenfalls Indizes zur Erfassung der unterschiedlichen realen Gegebenheiten. Werden die angenommenen kausalen Wirkungsbeziehungen in mathematische Formeln überführt und die Hypothesen mittels statistischer Verfahren überprüft, bezeichnet man dies als formale Modellierung. Zum anderen wird es in einem solchen Fall in der Regel nicht ausreichen, nur zwei Länder zu untersuchen; vielmehr brauche ich eine große Fall- (sprich: Länder-) Zahl. Der gesamte Ablauf entspricht einem deduktiven Vorgehen (vgl. Abbildung 2). Sein Ziel ist es, zu verallgemeinerungsfähigen Aussagen über das Zusammenwirken bestimmter sozialer und politischer Sachverhalte zu gelangen sowie im Idealfall Prognosen für zukünftiges Geschehen zu entwickeln. Die normative Beurteilung der gefundenen Erkenntnisse läuft sozusagen quer zu den eben beschriebenen aufeinander aufbauenden Zielen. Häufig ist das normative Erkenntnisinteresse verbunden mit einem evaluierenden Vorgehen, d.h. es wird versucht, die Realität an einem (normativ) festgelegten Idealbild zu messen. Will ich eine Rangliste erstellen zur Demokratiequalität oder zur (wirtschaftlichen, sozialen) Leistungsfähigkeit politischer Systeme, muss ich mir vorher genau überlegen, was denn alles (a) Demokratiequalität ausmacht und wonach sich (b) Leistungsfähigkeit bemisst. Das heißt, dass auch die normative Orientierung die Definition von Kriterien und ihre Operationalisierung nicht überflüssig macht. Aus all dem lässt sich generalisierend folgern, dass die Festlegung angemessener Kriterien, die (Vorweg-)Identifizierung unabhängiger (d.h. verursachender) und abhängiger Variablen und die Auswahl passender Methoden von umso größerer Bedeutung sind, je theoretischer der Hintergrund und je ambitionierter dementsprechend das Erkenntnisinteresse ist. Die Auswahl der Untersuchungseinheiten (Fälle) und die Frage nach der geeigneten Untersuchungsmethode Von Erkenntnisziel und theoretischer Konzeptualisierung hängt ab, ob ich wenige oder viele Länder untersuche. Bei der Wahl der Fallzahl ist prinzipiell alles denkbar von 2 bis n; ja sogar die Untersuchung eines einzigen Falles kann (wie oben schon erwähnt) unter bestimmten Bedingungen Sinn ergeben. Einzelfallstudien können dazu dienen, bestehende Theorien unter neuem Blickwinkel oder mit neuen Methoden zu testen. Darauf aufbauend können Theorien weiterentwickelt und neue Hypothesen generiert werden, die dann in weiteren (vergleichenden) Studien zu überprüfen sind (vgl. Muno 2003: 24). Ebenfalls sind Einzelfallstudien von Interesse, wenn ich in einer vergleichenden Studie einen abweichenden Fall identifiziere, der nach ausführlicher Betrachtung und gesonderter Erklärung verlangt. Als Idealtyp der vergleichenden Analyse gilt „die systematische Untersuchung einer optimalen Fallzahl mit einer sorgfältig eingegrenzten Reihe von Variablen“
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(Aarebrot/Bakka 2003: 59), aber was optimal ist, bemisst sich nach dem Erkenntnisziel und nach der Zahl der Variablen. Das gleiche gilt für die Wahl qualitativer oder quantitativer Methoden (vgl. Pickel et al. 2003: 9). Die Frage wird gern zu einem Schulen-Streit zugespitzt. Doch wie King/Keohane/Verba (1994: 3) trefflich feststellen, unterscheiden sich beide zwar in der Art der Datenlage und der Durchführung (vgl. Tabelle 1), verfolgen jedoch das gleiche Ziel, nämlich zu deskriptiven oder kausalen Schlussfolgerungen in der Beantwortung der gewählten Fragestellung zu gelangen. Tabelle 1: Qualitatives und quantitatives Vorgehen Qualitatives Vorgehen
Quantitatives Vorgehen
Struktur der Informationen/Daten
Beobachtung, Interviews, Texte und Dokumente
Indikatoren auf Individualoder auf Aggregat-Ebene, von dichotom (0/1-codiert) über Indizes bis zu metrischen Werten
Methodische Mittel
Hermeneutik, dichte Beschreibung, Diskursanalyse
Statistische Verfahren
(1) Der paarweise Vergleich (vgl. Rokkan 1970) erlaubt am ehesten qualitative und „in depth“-Analysen und die Arbeit mit einem umfassenden Set von Variablen – oder, mit anderen Worten, hier lernt man am ehesten die betreffenden politischen Systeme in ihren wesentlichen Charakteristika kennen. Theoretisch nutzbar lässt er sich vor allem dann machen, wenn Extremtypen verglichen werden, die im Hinblick auf bestimmte Merkmale (z.B. Machtkonzentration – Machtfragmentierung) an den entgegengesetzten Enden eines gedachten Kontinuums angesiedelt sind. Das Erkenntnisinteresse liegt nicht im Überprüfen spezifischer Hypothesen, sondern im Vergleich der prinzipiellen Funktionsweise zweier politischer Systeme. (2) Der Vergleich weniger Fälle („focused comparison“, Landman 2003: 29) erlaubt immer noch konfigurative Analysen auf der Basis einer begrenzten Zahl von Variablen, deren Kombination bei hohem Informationsgrad Varianzen erklärt, und zwar je nach Anwendung der Differenz- oder der Konkordanzmethode auf unterschiedliche Weise.8 Im einen Fall – dem „most similar systems design“ (MSSD Ⳏ Differenzmethode) – suche ich mir mehrere Länder aus, die in vielen Systemvariablen (z.B. Industrialisierungsgrad, historische Entwicklung, Fragmentierung des 8 Die letztere Unterscheidung hat übrigens schon John St. Mill (1848) eingeführt, der sich selbst ansonsten nur wenig mit dem Vergleichen beschäftigt hat.
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
Parteiensystems etc.) einander ziemlich ähnlich sind9, sich aber in dem mich interessierenden Strukturmerkmal (der abhängigen Variable), z.B. ihrer Leistungsfähigkeit, unterscheiden. Ziel ist es, die eine Variable zu entdecken, die ebenfalls variiert und damit den Unterschied in der abhängigen Variable erklärt (vgl. Tabelle 2).10 Tabelle 2: Differenz- und Konkordanzmethode MSSD Differenzmethode
MDSD Konkordanzmethode
Land 1
Land 2
Land n
Land 1
Land 2
Land n
Unabhängige Variablen: Systemvariable 1 Systemvariable 2 Systemvariable 3
a d g
a d g
a d g
a d g
b e h
c f i
Erklärungsvariable(n)
x
x
w
x
x
x
y
y
z
y
y
y
Abhängige Variable
Eigene Darstellung nach Landman (2003: 30).
Im zweiten Fall – dem „most different systems design“ (MDSD Ⳏ Konkordanzmethode) – wähle ich Länder aus, die auf den ersten Blick in den Systemvariablen sehr unterschiedlich sind, und frage nach Gemeinsamkeiten. Es existiert in den gewählten Ländern ein Strukturmerkmal (z.B. die Leistungsfähigkeit), das allen gemeinsam ist (abhängige Variable). Ziel ist es, zur Erklärung dieser Gemeinsamkeit die eine unabhängige Erklärungsvariable zu finden, die ebenfalls bei allen Ländern gleich ausgeprägt ist. Das MDSD-Vorgehen empfiehlt sich vor allem dann, wenn ich eine These von relativ hohem Allgemeinheitsgrad testen will (wie: alle Regierungssysteme bedürfen zu ihrer Stabilisierung funktionsfähiger Mechanismen zur Vermittlung gesellschaftlicher Interessen ins staatliche Entscheidungszentrum). Die MSSD-Methode bietet sich für Evaluationen und zur Weiterentwicklung der Theoriebildung an (warum werden manche Wohlfahrtsstaaten besser mit Wirtschaftskrisen fertig als andere?). (3) Der Vergleich einer Vielzahl von Fällen (cross-national studies) erfordert im Allgemeinen die quantitative Analyse; das impliziert, dass man über die untersuchten politischen Systeme hier nicht viel erfährt – wohl aber, im Idealfall, über den kau9 Oder zu sein scheinen, denn zur Ermittlung der Ähnlichkeit muss ich auf schon bereit liegende Länderstudien zurückgreifen können. Auf die Probleme bei der Fallauswahl (selection bias) weist Jahn (2005b: 67 ff.) eindrücklich hin. 10 Hierbei handelt es sich um eine idealtypische Darstellung; in Untersuchungen wird man immer wieder auf mehr als eine Erklärungsvariable stoßen, die (häufig interagierend) die Unterschiede in der abhängigen Variable erklären.
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salen Zusammenhang zwischen einem Merkmal (oder wenigen) und einem bestimmten Ergebnis. Das Augenmerk richtet sich auf eine interessierende abhängige Variable (politische Stabilität; Demokratiequalität; Reformfähigkeit; Leistungsfähigkeit), für die quantitativ messbare Indikatoren zu finden sind. Die Schwierigkeit bei dieser Vergleichsmethode liegt in der richtigen Operationalisierung der Variablen: Welche Indikatoren messen wirklich und eindeutig die Stabilität (reicht hierfür die Häufigkeit von Regierungswechseln?), die Demokratiequalität (ist es das Ausmaß der Wahlbeteiligung?) oder die Reformfähigkeit (etwa die Zahl der verabschiedeten Gesetze?)? Da kann es schon einmal vorkommen, dass der vergleichende Forscher von leicht messbaren und leicht auffindbaren Indikatoren (nicht zu allem gibt es Statistiken!) und vor allem von schon vorhandenen Daten ausgeht (schließlich ist es bei einer Vielzahl von Fällen schwer bis unmöglich, die nötigen Daten alle selbst zu erheben) und sich erst nachträglich die Variable konstruiert, die damit operationalisiert sein soll. Die gleichen Probleme gilt es erneut zu meistern, wenn es an die Auswahl und Operationalisierung der unabhängigen Variablen geht. Hinzu kommt das Problem der Bedeutungs-Äquivalenz: Greift man auf statistische Daten aus den untersuchten Ländern zurück, muss man damit rechnen, dass die Erhebungsgrundlagen und -methoden differieren, dass unterschiedliche Tatbestände einbezogen sind, unterschiedlich bereinigt wird usw. (z.B. wurden und werden z.T. weiterhin Arbeitslosenquoten oder auch die sog. Staatsquote ganz unterschiedlich gemessen – und sind damit unvergleichbare „Äpfel und Birnen“). So steckt diese Vergleichsmethode voller konzeptioneller und forschungspragmatischer Fallen; gleichzeitig ist sie unentbehrlich, wenn man beim Test von Hypothesen zu verallgemeinerungsfähigen Ergebnissen kommen will. Unentbehrlich sind indessen auch die anderen Vergleichsmethoden, denn ohne den weit informativeren Vergleich weniger Fälle lässt sich der tatsächliche Stellenwert der statistisch gefundenen Daten kaum richtig einordnen. Und der Vergleich weniger Fälle kommt seinerseits (wie oben angedeutet) nicht ohne Einzel-Länderstudien aus – denn wie sonst ließe sich ermitteln, welche politischen Systeme most similar und welche most different sind? Generell und abschließend hierzu ist festzuhalten, dass zwischen Fallzahl und Zahl der Variablen eine Wechselwirkung besteht: Je mehr Variablen mich interessieren, desto weniger Länder kann ich sinnvollerweise vergleichen; und je mehr Länder ich in die Analyse einbeziehen will, desto mehr muss ich sinnvollerweise die Zahl der Variablen beschränken. Will ich diesen trade-off durchbrechen und auch bei Studien mit vielen Ländern eine hohe Zahl an Variablen verwenden, muss im Gegenzug deren Abstraktionsniveau erhöht werden. Das heißt, ich kann die einzelnen Konzepte und Variablen nicht in der gleichen Breite nutzen wie bei Studien mit wenigen Ländern. So muss ich z.B. die Informationen über die Fragmentierung der
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jeweiligen Parteiensysteme auf die effektive Zahl an Parteien (vgl. die Typologie Sartoris, Kap. 1.4.2) begrenzen und kann mich nicht um die Bedeutung der einzelnen Parteien im politischen Wettbeweb kümmern. Der Zusammenhang zwischen Fall-, Variablen- und Methodenwahl ist in Abbildung 3 dargestellt, wobei die zunehmende Schattierung innerhalb der Felder die zunehmende Häufigkeit von Studien verdeutlichen soll. Abbildung 3: Fälle, Variablen und Methoden
1.3.3. Varianten des Vergleichs Politikwissenschaftliche Vergleichsstudien variieren also nach Erkenntnisziel, Umfang (Fall- und Variablenzahl) und Methode. Sie variieren weiterhin – nach der disziplinären Ausrichtung (eher verfassungsrechtlich, historisch, empirisch-soziologisch, politökonomisch); – nach der Analyse-Ebene: Makro (die einzelnen Länder mit ihren Strukturen), Mikro (die Individuen und ihr Verhalten) und Meso (die gesellschaftlichen Gruppen als vermittelnde Strukturelemente) (vgl. Berg-Schlosser/Müller-Rommel 2003b: 26); – und vor allem variieren sie nach dem Vergleichsgegenstand, der politische Systeme als Ganze umfassen oder sich auf einzelne Teilaspekte beschränken kann.
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Der folgende Kurz-Überblick über die wichtigsten Vergleichs-Varianten versucht, alle diese Dimensionen zu berücksichtigen. Er erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. (1) Der Vergleich von Regierungssystemen Wie nun schon mehrfach erwähnt, ist das älteste und sozusagen klassische Feld der Komparatistik der Vergleich von Regierungssystemen, häufig im Sinne einer Verfassungssystematik. Diese Variante interessiert sich primär für die von der jeweiligen Verfassung vorgesehenen Institutionen und ihr dort vorgeschriebenes Zusammenspiel, d.h. sie ist verfassungsrechtlich orientiert, bei mehr oder weniger ausführlicher politikwissenschaftlicher Abrundung im Blick auf die Verfassungswirklichkeit. Im Zentrum steht also die polity des jeweiligen politischen Systems, die Vergleiche verbleiben auf der Makro-Ebene. Typischerweise sind entsprechende Studien (als ein berühmtes Beispiel siehe C.J. Friedrichs „Verfassungsstaat der Neuzeit“ von 1953) zum einen formal-deskriptiv, zum anderen normativ in der Orientierung an Konzepten legitimer Herrschaft und am Leitbild der repräsentativen Demokratie. Das Erkenntnisziel ist häufig die Klassifizierung von Regierungsformen, und zwar quasi in aufsteigender Linie, denn als Vorbild bzw. beste Regierungsform galt bis weit in die 1970er Jahre hinein die britische „Westminster-Demokratie“ (z.B. Loewenstein 1969). Indem man vornehmlich die westlichen Demokratien in den Blick nahm – die totalitären Diktaturen vor allem des Ostens dienten eher als düstere Hintergrund-Folie –, folgten diese Vergleiche im Allgemeinen dem most similar systems design, ohne damit allerdings den Anspruch auf die Erklärung von Differenzen zu verbinden. Was die Fallzahl betrifft, findet sich hier alles vom paarweisen Vergleich (z.B. Studien über den britischen und deutschen Parlamentarismus wie Birke/Kluxen 1985) über vergleichende Studien, die mehrere westliche Demokratien berücksichtigen (von Beyme 1970), bis hin zu cross-national studies (z.B. Bryce 1921). Gängige Vergleichskriterien sind Art und Ausmaß horizontaler wie vertikaler Machtteilung, ggf. ergänzt durch den Grad der Fragmentierung des Parteiensystems (vgl. Blondel 1969). Dabei war lange Zeit das Zweiparteiensystem als Norm gesetzt. Ein gern und häufig bearbeitetes Forschungsfeld des comparative government war und ist der Vergleich von präsidentiellem und parlamentarischem System (als ein Beispiel von vielen Steffani 1979), bzw. neuerdings die Analyse der Funktionsweise von Systemen mit vom Volk gewählten Präsidenten (Shugart/Carey 1992). Nach dem Ende der kommunistischen Regime in Osteuropa nahm diese Forschungsrichtung einen neuen Aufschwung, etablierte sich hier doch eine Reihe von präsidentiellen oder semi-präsidentiellen Systemen (vgl. Rüb 2001). Überhaupt erlebte mit der Erforschung der sogenannten Transitionsländer das comparative government
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
eine Art Renaissance. Da sich hier quasi vor Ort die Entstehung bestimmter Regierungsformen studieren lässt, nimmt nun auch die Erklärungskraft entsprechender Vergleiche zu. Zugleich lebt mit der Diskussion der Möglichkeit eines „Comparative Constitutional Engineering“ (Sartori 1994) die Suche nach den besten institutionellen Arrangements zur Sicherung demokratischer Stabilität wieder auf. Natürlich sind auch einzelne Institutionen – Regierungen, Parlamente, Verfassungsgerichte etc. – verglichen worden. Von besonderem Stellenwert ist hier die vergleichende Parlamentarismusforschung (z.B. Loewenberg/Patterson 1979; Blondel 1973), die den von Almond und Powell (1966) erhobenen Vorwurf des bloßen Formalismus von Regierungssystem-Vergleichen durch Einbezug des Verhaltens der Gesetzgeber und der Interaktionen zwischen Parlamenten und ihrer Umwelt zu kurieren versucht. Auch die Föderalismusforschung gehört zur Regierungslehre (Braun 2004: 130), da sie zentrale Strukturmerkmale des Staatsaufbaus und deren Auswirkungen auf andere Teilbereiche der Regierungssysteme untersuchen will (z.B. Burgess/Gagnon 1993). Angesichts der möglichen Entwicklung der EU zu einem Bundesstaat ist dieser Forschungszweig derzeit von besonderer Aktualität (z.B. McKay 2001). Die ausgereifteste Typologie von Regierungssystemen hat Lijphart (1984, 1999) mit seinen „Patterns of Democracy“ vorgelegt. Er konfrontiert den Idealtyp des Westminster-Modells mit der Alternative Konsensdemokratie. In seiner empirischen Analyse berücksichtigt er in der Tradition des comparative government vor allem die institutionellen Elemente, integriert aber auch Bereiche der comparative politics wie die Prozesse der Koalitionsbildung, den Parteienwettbewerb und die Interessenvermittlung. Da er sich dabei jedoch auf die grundlegenden Strukturen beschränkt, bleibt auch sein Regierungssystemvergleich auf der Makro-Ebene angesiedelt. Wir werden Lijpharts Typologie in Kap. 1.4.2 näher beleuchten und mit unserer Konzeptualisierung zur Durchführung des Vergleichs in diesem Buch konfrontieren (s.u., S. 73). (2) Historische Vergleiche Wie das comparative government verfügen historische Vergleiche über eine gewisse Tradition. Ihr Interesse richtet sich auf die Frage, wie und warum es zur Herausbildung gravierender Unterschiede in den Regierungs- bzw. politischen Systemen kam. Die Frage ist von einiger Relevanz, können die Ergebnisse solcher Studien doch die Basis abgeben für Prognosen über die (Weiter-)Entwicklung jüngerer Gesellschaften. Wo es um die Abbildung historischer Prozesse geht, kann das Forschungsdesign schwerlich eine Vielzahl von Fällen ins Auge fassen; hier dominiert der Vergleich weniger Länder. Deren Auswahl folgt zumindest dann dem most different systems design, wenn es um die Erforschung der Ursprünge von Demokratie
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und Diktatur geht – wie in der berühmten Studie von Barrington Moore (1974), die wir im nächsten Kapitel näher vorstellen wollen. Auch Skocpol (1979) verwendet das MDSD, wenn sie historisch vergleichend die internen strukturellen Ursachen und externen Bedingungen für die Revolutionen in Frankreich, Russland und China analysiert. Bei historischen Vergleichen, die sich eher der Entstehung und Entwicklung von Teilsystemen widmen – z.B. der Entstehung von Parteien und ihrer allmählichen Verfestigung zu Parteiensystemen – (Lipset/Rokkan 1967, ebenfalls in Kap. 1.4.3 näher diskutiert), kommt aber auch das most similar systems design ins Spiel – jedenfalls dann, wenn die Ursachen der Herausbildung unterschiedlicher Parteiensysteme in verwandten Regierungssystemen ergründet werden sollen. In den genannten Analysen dominiert in der Regel der Blick auf Strukturen (Makro-Ebene), doch wird zugleich meist die Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Gruppen (Meso-Ebene) thematisiert. Bei einer gewissen und in diesem Fall unvermeidlichen deskriptiven Ausrichtung (wie verlief die Entwicklung?) ist das Erkenntnisziel gleichwohl häufig die Erklärung: Hier geht es im wahren Wortsinn um Ursachenforschung. (3) Vergleichende Modernisierungs-Studien Modernisierungs-Studien verbinden – besser: verbanden, denn sie sind etwas aus der Mode gekommen – den historischen Aspekt der Entwicklung mit systemtheoretischer Ausrichtung. Häufig interdisziplinär angelegt, indem sie die Ökonomie einbezogen, konzentrierten sie sich auf die sogenannten Entwicklungsländer. Ausgangspunkt waren gern strukturfunktionalistische Modelle (z.B. Almond/Flanagan/ Mundt 1973; Apter 1965), die Strukturmerkmale der jeweiligen Vorgänger-Systeme, endogene und exogene Entwicklungsanstöße, gesellschaftliche Koalitionen und schließlich die Merkmale der resultierenden (neuen) politischen Systeme miteinander verknüpften. Die auf solchen und ähnlichen Modellen aufbauenden Vergleiche waren auf Grund ihrer strukturalistischen Ausrichtung auf die Makro-Ebene fokussiert und folgten bei unterschiedlicher Fallzahl typischerweise dem most similar systems design. Erkenntnisziel war zum einen die Erklärung: die Identifizierung von Entwicklungs-Pfaden und der Faktoren, die die Wahl des einen oder anderen Pfades begünstigten, zum anderen aber auch die Typisierung, nämlich die Identifizierung unterschiedlicher Muster von Entwicklungsprozessen. (4) Vergleichende Wohlfahrtsstaaten-Forschung (Performanz-Vergleiche) Wurde in den Modernisierungsstudien die Ökonomie als Vergleichsdimension eingeführt, wird sie in der Wohlfahrtsstaaten- und Performanz-Forschung zur zentralen abhängigen Variable. Disziplinär sind solche Studien in der Regel der politi-
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schen Ökonomie zuzuordnen; sie untersuchen in cross-national studies, welche Faktoren in prinzipiell ähnlichen Ländern, nämlich den westlichen, demokratischen Industriestaaten der OECD, unterschiedlichen wirtschaftlichen Erfolg nach sich ziehen. Damit folgen diese Studien implizit der MSSD-Logik. Zentrale Vergleichskriterien sind dabei Wachstum, Erwerbsquote, Staatsverschuldung, Sozialausgaben u.ä. Die typische Frage ist die des „do politics (oder häufig: parties) matter?“. So fragte z.B. Manfred G. Schmidt (1982) nach der Auswirkung der Regierungszusammensetzung auf die Indikatoren Steuerhöhe, Arbeitslosenquote, Inflationsrate und Umfang der Sozialleistungen und fand in einer Korrelationsanalyse, dass diese unabhängige Variable tatsächlich erhebliche Unterschiede in der Politikproduktion bewirkt. Erkenntnisziel ist die Erklärung und der Test bestimmter Hypothesen. Die Konzentration auf Makro-Phänomene erzeugt dabei manchmal (Schein-)Korrelationen, die keine wirklichen Erklärungen bieten. Gelegentlich wird auch eine Typenbildung vorgenommen, wie z.B. bei EspingAndersen (1990), der aus dem Vergleich einiger weniger Industriestaaten drei distinkte Typen des „Wohlfahrts-Kapitalismus“ destilliert. Der Um- oder Abbau des Wohlfahrtsstaates sowie Europäisierung und Globalisierung stellen diesen Forschungszsweig vor neue Herausforderungen (vgl. Schmid 2003). Im Übrigen entstammen entsprechende Studien nicht allein der Politikwissenschaft; viele wichtige Erkenntnisse kommen hier von wirtschaftswissenschaftlicher und soziologischer Seite (z.B. Flora 1986). (5) Vergleichende politische Kultur- und Partizipationsforschung Ein alternativer Weg wurde mit der sogenannten behavioristischen Wende in den 1960er Jahren eingeschlagen, indem man versuchte, Phänomene auf System- bzw. Makro-Ebene durch die Einstellungen und das Verhalten von Individuen auf der Mikro-Ebene zu erklären. So begann der Aufschwung eines neuen und besonders ergiebigen Forschungszweigs der Komparatistik: des Vergleichs politischer Kulturen (dessen Vorläufer allerdings schon bei de Tocqueville zu finden ist), die als Verbindungsglied zwischen Mikro- und Makro-Ebene gesehen werden. Gabriel Almond machte im Zusammenhang mit seiner vernichtenden Kritik des comparative government (Almond 1956) Nägel mit Köpfen und erarbeitete zusammen mit Sidney Verba den Klassiker „The Civic Culture“ (1963), der mitsamt Nachfolgestudien die behavioristische Richtung der Komparatistik wenn nicht begründete, so doch nachhaltig beeinflusste. Damit hielt zugleich die Umfrageforschung Einzug in das Untersuchungsrepertoire der vergleichenden Politikwissenschaft. Folgte die Untersuchung von Almond und Verba mit der Analyse so unterschiedlicher Länder wie Großbritannien, Italien, USA, Deutschland und Mexiko im Ansatz dem MDSD bei geringer Fallzahl, so orientiert sich die vergleichende Erforschung poli-
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tischer Einstellungen seither eher am MSSD. Die Fallzahl stieg z.B. beim „European Values Survey“ auf 10 Fälle an (vgl. de Moor 1995). Im Rahmen des „World Values Survey“ hat sich die Datenbasis auf knapp 100 Länder erhöht, d.h. hier finden sich mittlerweile auch cross-national studies (z.B. Norris 1999; Inglehart 2003). Häufig geht es um die Frage, wie demokratisch – genauer eigentlich: wie demokratietauglich – die Einstellungen der Bürger in formal demokratisch organisierten politischen Systemen wirklich sind. Erkenntnisziel ist damit zunächst die Bestandsaufnahme bzw. Deskription, auch wenn den entsprechenden Studien üblicherweise theoretisch abgeleitete Hypothesen – z.B. zum Einstellungswandel in modernen und „saturierten“ Gesellschaften (so Inglehart 1971 ff. und sein Konzept des Wertewandels; siehe ausführlicher in Kap. 1.4.3) oder zum Verhältnis von Bürger-Einstellungen und politischer Stabilität – vorangestellt sind. Im Vergleich der in alten und neuen Demokratien (Transitionsländer) dominierenden Werthaltungen findet neuerdings wieder das MDSD Anwendung (z.B. Simienska 2002). Die disziplinäre Ausrichtung ist naturgemäß empirisch-soziologisch bzw. sozialpsychologisch. Eng verbunden mit der Erforschung politischer Kulturen und Einstellungen ist die Analyse politischer Verhaltensweisen und des Beteiligungs- incl. Wahlverhaltens. Barnes und Kaase (1979) nutzen ebenfalls die Umfrageforschung, um zu einem Vergleich von konventionellen (Wahlen und Parteien) und unkonventionellen Partizipationsarten (Demonstrationen, Neue Soziale Bewegungen) in fünf demokratischen Ländern (MSSD) zu kommen. Im Bereich der vergleichenden Wahlforschung existieren zwar Studien, die die Höhe der Wahlbeteiligung zu erklären versuchen (z.B. Franklin 2002), echte Vergleiche und Theorie-Tests bislang konkurrierender Theorien des Wählerverhaltens sind jedoch noch die Ausnahme (z.B. Iversen 1994). (6) Vergleichende Parteien(system)forschung Von jeher gilt das besondere Interesse der Politikwissenschaft den Parteien als zentralen Akteuren auf der Meso-Ebene, die Individuen und das Regierungssystem verbinden. Der Vergleich von Parteien und Parteiensystemen ist darum seit langem ein außerordentlich breites Feld der Komparatistik. Zu diesem Thema finden sich nicht nur praktisch alle der oben aufgeführten methodischen Varianten; zugleich wurden alle auch nur halbwegs relevanten Aspekte – von der Entstehung (Lipset/ Rokkan 1967; s.o. und Kap. 1.4.3), der internen Organisation und der ideologischen Ausrichtung von Parteien über ihr Wettbewerbs- (und Wahlkampf-)Verhalten und die strukturellen Merkmale von Parteiensystemen (Sartori 1976) bis hin zu deren spezieller Verfestigung in Parteienstaaten (z.B. Katz 1986 f.) vergleichend erforscht. Auch alle denkbaren Erkenntnisziele sind vertreten: die Bestandsaufnahme, die Typenbildung (in diesem Forschungszweig besonders beliebt, vgl. den Über-
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blick bei Mair 2002a: 90 ff.) wie die Erklärung (warum bilden sich unterschiedliche Parteiensysteme heraus? Warum verhalten Parteien sich unterschiedlich ...?). Sartori wird im nächsten Kapitel (1.4.2) als Typologie-Beispiel vorgestellt, und auf Katz wird im zweiten Teil im Kapitel über die Parteiensysteme (3.1) einzugehen sein. Parteiensystemvergleiche sind häufig mit dem Vergleich von Wahlsystemen verknüpft (vgl. Nohlen 2000). Duverger (1959) ist ein prägnantes Beispiel, formulierte er doch „Gesetze“, denen zufolge einfache Mehrheitswahl Zweiparteiensysteme fördert, Verhältniswahl und absolute Mehrheitswahl dagegen Mehrparteiensysteme. Vergleichende Analysen, die auf möglichst viele Fälle zurückgreifen, haben unter Verwendung statistischer Methoden seither gezeigt, dass dieser mono-kausale Zusammenhang nur unter bestimmten Nebenbedingungen, wie z.B. einer homogenen Gesellschaft in Systemen mit Mehrheitswahl, zutrifft (Rae 1967; Lijphart 1994). Duverger selbst (1986) hat mit der Zurückstufung seiner „Gesetze“ zu „Arbeitshypothesen“ den Wirkungszusammenhang besser bestimmt: Wahlsysteme führen demnach nicht automatisch zu bestimmten Parteiensystemen, sondern üben lediglich Druck in eine bestimmte Richtung aus. Inzwischen wird analysiert, wie sich solcher Druck auf der Mikro-Ebene auf das Verhalten der Individuen auswirkt, z.B. in Form strategischen Wählens (vgl. Cox 1997). (7) Vergleichende Verbändeforschung Ebenfalls auf der Meso-Ebene ist die Erforschung von Verbänden und Verbändesystemen anzusiedeln. Man sollte erwarten, dass sich vergleichende Politikwissenschaftler dieser Materie ähnlich intensiv annehmen wie der Parteien, umso mehr als Parteien und Verbände häufig miteinander verbandelt sind. Das ist indessen nicht der Fall. Immerhin gibt es eine Reihe vergleichender Studien über die Gewerkschaften (z.B. Ebbinghaus/Visser 2000). In Anknüpfung an Robert Michels (1910) „ehernes Gesetz der Oligarchie“ stand dabei in früheren Jahrzehnten häufig die Frage nach der Möglichkeit innergewerkschaftlicher Demokratie im Mittelpunkt (z.B. Galenson 1962). Gelegentlich wurden die Systeme der industriellen Arbeitsbeziehungen in den Blick genommen (im paarweisen Vergleich, aber auch umfassender angelegt: z.B. Crouch 1993) – z.T. in Teilaspekten wie dem der Mitbestimmung und zumeist mit dem Leitbild der „Wirtschaftsdemokratie“ als normativer Messlatte. Erst spät, nämlich in den 1980er Jahren, erwachte das Interesse an der Untersuchung von Unternehmerverbänden, das sich jedoch nur in ganz wenigen Studien niederschlug (z.B. Grant 1987). All diese Studien haben zunächst die Bestandsaufnahme als Erkenntnisziel. Man kann resümieren, dass die vergleichende Erforschung von Verbänden „ein vernachlässigtes Feld“ geblieben ist (von Alemann/Weßels 1997). Obendrein fin-
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den sich statt echter Vergleiche hierzu eher Sammelbände, die verschiedene Einzel-Länderberichte zusammenbinden (z.B. Thomas 1993). Einen gewissen Aufschwung versprach der Vergleich von Verbändesystemen in den letzten Jahrzehnten mit dem Aufkommen der Korporatismus-Theorie zu nehmen (Schmitter/Lehmbruch 1979, näheres dazu in Kap. 4.1). Sie war zugleich Anlass für die Bildung mehr oder weniger differenzierter Typologien der Interessenvermittlung, ausgehend von der Dichotomie Pluralismus – Korporatismus (z.B. Atkinson/Coleman 1989). Auf der Korporatismus-Theorie aufbauende Arbeiten (z.B. Katzenstein 1984 f.) berücksichtigen indessen die Verbände zumeist nur als ein Merkmal unter anderen und richten ihr Augenmerk eher auf die Wirtschaftspolitik, an der die Verbände in unterschiedlichem Maße mitgewirkt haben (z.B. Armingeon 1983). Sie rücken strukturelle Merkmale in den Vordergrund und bieten einen Vergleich auf der Makro-Ebene, bei dem es primär um die Erklärung des Zustandekommens bestimmter Politiken geht. Cross-national studies versuchen rankings zum Grad korporatistischer (Wirtschafts- und Sozial-)Praxis zu erstellen (z.B. Paloheimo 1984) und gehen dabei zum Teil typologisierend, zum Teil evaluierend vor, da sie sich an einem Idealbild korporatistischer Interessenvermittlung orientieren. Andere Studien konzentrieren sich darauf, die Angemessenheit des Korporatismus-Konzepts zur Erfassung der sozioökonomischen Realität zu testen (Hicks 1988; Lane/Ersson 2000), was man durchaus als Theorie-Test verstehen kann. Aber auch hierbei spielen die Verbände (und -systeme) selbst eine untergeordnete Rolle. Schließlich wird die Frage nach der Struktur des Verbändesystems und dem Einfluss der Verbände in NetzwerkAnsätzen thematisiert. So vergleichen Pappi et al. (1995) für die USA und die BRD sowohl die Beziehungen der Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände untereinander als auch deren Einfluss auf Entscheidungen im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik. (8) Vergleichende policy-Forschung Der letztgenannte Aspekt der Verbändeforschung ist zugleich einem in den letzten Jahrzehnten höchst beliebten Betätigungsfeld für Komparatisten zuzurechnen: den policy-Vergleichen, also vergleichenden Analysen konkreter Entscheidungsprozesse in einem Politikfeld. In aller Regel handelt es sich um Fallstudien (wobei „Fall“ hier für den Entscheidungsfall steht) bzw. um die sequentielle Darstellung einer Entscheidungsabfolge in einem bestimmten Politikbereich, der alles sein kann, womit Gesetzgeber und Regierungen sich so beschäftigen – Einkommens- und Konjunkturpolitik, Industriepolitik, Sozialpolitik, Umweltpolitik, Stadtpolitik usw. usf. Damit wird versucht, die Politikergebnisse auf der Makro-Ebene durch eine detaillierte Betrachtung der Akteure und ihrer Interaktionen (Meso-Ebene) nachzuvoll-
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ziehen. Minutiös wurde nachgezeichnet, wie z.B. die Privatisierung im Bereich der Telekommunikation (Grande 1989) oder Entscheidungsprozesse über Schnelle Brüter (Keck 1984) verliefen; in industriepolitischen Vergleichen wurden bestimmte Länder als leuchtende Beispiele herausgestellt oder auch ihre Erfolge relativiert, so z.B. Neumann/Uterwedde (1986) für Frankreich. Häufig treffen wir hier auf paarweise Vergleiche; die Beschränkung auf wenige Länder scheint sogar unvermeidlich, da es bei solchen Untersuchungen entscheidend auf die Details ankommt. Ob die Studien dem MSSD oder dem MDSD folgen, variiert ebenso wie das Erkenntnisziel. Das kann sich in der Deskription erschöpfen, aber auch darin bestehen, unterschiedliche Politikstile zu identifizieren (z.B. Héritier et al. 1994) und damit die Ergebnisse in eine Typologie zu überführen. Ziel kann auch sein herauszufinden, welche Merkmale eines politischen Systems „policy-Lernen“ und Reformfähigkeit begünstigen, und so letztendlich zur Erklärung kollektiver Entscheidungen beizutragen (vgl. Schmidt 2003: 261). (9) Der empirische Demokratievergleich Schließlich ist als eigenständiger Forschungszweig der Komparatistik der empirische Demokratie-Vergleich zu nennen. Politikwissenschaftler hat schon immer interessiert, was denn nun wirklich Demokratien und Autokratien unterscheidet und ob nicht auch politische Systeme, die sich Demokratien nennen, mehr oder weniger demokratisch sind. Damit sind wir im Prinzip wieder bei einem Vergleich auf System-, also der Makro-Ebene angelangt. An dem Problem der Konstruktion eines solchen normativen, aber gleichwohl Empirie-tauglichen Evaluations-Instruments haben sich Generationen von Politikwissenschaftlern abgearbeitet (als Überblick Inkeles 1991; Lauth et al. 2000; Munck/Verkuilen 2002). Um die Variationen in der demokratischen Qualität empirisch zu erfassen, wurden Messinstrumente – Demokratie-Indizes – entwickelt, die jeweils eine Reihe von Indikatoren zusammenfassen, mittels derer Kernelemente einer idealtypischen Demokratie operationalisiert wurden. Häufig gehen sie auf Robert A. Dahls „Polyarchy Scale“ (1971) zurück; z.T. sind sie aber auch schlicht der Funktionsweise etablierter Demokratien wie den USA oder Großbritannien entlehnt. Das Erkenntnisziel ist damit die Evaluation – bzw. das ranking –, und zwar in normativer Absicht. Je formalisierter (und entsprechend leicht quantifizierbar) der Index, desto höher kann die Zahl der einbezogenen Fälle sein: Sie bewegen sich in der Regel im Weltmaßstab was faktisch dem MDSD gleichkommt. Sie haben auf den ersten Blick überraschende Ergebnisse erbracht: (1) Mehrheitlich korrelieren die Skalen hoch miteinander, d.h. sie kommen zu weitgehend ähnlichen Einstufungen, obwohl doch die Indices unterschiedlich modelliert sind (Schmidt 2000: 414); (2) sie diskriminieren zwar zwischen Autokratien, „defekten Demokratien“ und („echten“) Demokratien, aber
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nicht oder kaum zwischen den etablierten (sprich: westlichen) Demokratien. Die Suche nach Qualitätsunterschieden zwischen den etablierten Demokratien (MSSD) ist bisher noch die Ausnahme (vgl. Abromeit 2004, Stoiber/Abromeit 2005). Gerne wird mit Typologisierungen gearbeitet, indem nicht mehr nur zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien unterschieden wird, sondern beide Typen weiter untergliedert werden (vgl. Lauth 2004: 101 ff.). Seltener sind Erklärungsversuche des gemessenen Grades an Demokratiequalität (z.B. Vanhanen 1997, vgl. Kap. 1.4.4). Dieser Überblick, der das weite Feld der vergleichenden Politikwissenschaft sicher nicht vollständig abbildet und schon gar nicht alle wichtigen Studien und Autoren nennen konnte, sollte gleichwohl einen Einblick in ihren enormen inhaltlichen und methodischen Variantenreichtum gegeben haben. Tabelle 3 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Vergleichsvarianten (und bietet somit einen Vergleich über das Vergleichen). Tabelle 3: Varianten des Vergleichs (1)
(2)
X X
X
Erkenntnisziel Bestandsaufnahme Typologie Erklärung Hypothesentest Evaluation
(X)
Anzahl der Fälle Wenige Fälle Viele Fälle
X (X)
Untersuchungsmethode MSSD MDSD Statistische Methode Analyseebene Makro-Ebene Meso-Ebene Mikro-Ebene
X
X
X
X
X
X (X)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
(9)
X X
(X) X X
X (X) X X
X X X (X)
X X X X (X)
X X X (X)
X (X)
X (X)
X
X X
X X
X X
X
X
X X
X X X
X X (X)
X X (X)
X X
(X) (X) X
X
(X)
X X
X X
X X
X
X
X
X
X
Im Grunde gibt es alle Dimensionen – polity, politics und policies – und alle Teilaspekte der Politikwissenschaft auch in vergleichender Perspektive. Der Überblick wollte zudem verdeutlichen, dass vergleichende Untersuchungen umso spannender sind, je weniger sie bloß geordnete Materialsammlungen und je mehr sie theoretisch angeleitet sind und zur Theoriebildung beitragen. Kritisch ist anzumerken,
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
dass echte Vergleiche doch seltener sind, als man denkt. Häufig ist es vielmehr so, dass jemand (oder eine kleine Gruppe) eine Idee hat, eine bestimmte Fragestellung entwickelt und – z.B. im Rahmen der jährlichen Joint Sessions of Workshops des European Consortium for Political Research – ein Autorenteam um sich schart, das einen Sammelband veröffentlicht: eine Sammlung von Einzelfall-Studien, die sich nur im Idealfall an demselben Set von Vergleichskriterien orientieren. Der eigentliche Vergleich findet dann in den Köpfen der Leser statt, die häufig genug etwas ratlos sich selbst überlassen bleiben.
1.4. Beispiele vergleichender Forschung Zur Illustration Beispiele vergleichender des Überblicks Forschung über die gängigen Varianten der vergleichenden Politikwissenschaft wollen wir im Folgenden eine Reihe vergleichender Studien etwas näher vorstellen, wobei wir uns erlaubt haben, nicht allein die rundum überzeugenden Beispiele auszusuchen. Es geht nun nicht mehr nur um die Vorgehensweise, sondern vor allem auch darum, welche – mehr oder weniger weiterführenden – Ergebnisse vergleichende Forschung bisher erbracht hat. Nach den Forschungsfragen und Ergebnissen lassen die Studien sich gruppieren in die Rubriken Bestandsaufnahme, Typologie, Erklärung und Theorie-Test sowie Evaluation.
1.4.1. Bestandsaufnahmen Die Bestandsaufnahme ist der erste und meist zugleich der mühsamste Schritt vergleichender Forschung. Ohne die daraus resultierenden Materialsammlungen bis hin zu Datenbanken lassen sich weder Typen bilden noch Theorien testen. Eine als umfassende angelegte Bestandsaufnahme ist die (schon oben erwähnte) Untersuchung von Jean Blondel, „Comparing Legislatures“ (1973). Mit ihr intendiert der Autor im wahren Wortsinn eine Welt-Übersicht, hat er doch 108 Staaten in seinem Sample, d.h. er vergleicht praktisch alle seinerzeit existierenden Parlamente. Damit folgt er quasi notgedrungen dem MDSD, denn bei weitem nicht alle diese Länder waren damals demokratisch zu nennen.11 Mit seinem ambitionierten 11 Anders als Blondel hat David M. Olson mit seinem Buch „Democratic Legislative Institutions“ (1994) eine Bestandsaufnahme nur der demokratischen Parlamente abgeliefert, die in der Tat nichts anderes sein will als ein detaillierter Überblick über die Vielgestaltigkeit von Parlamenten; er will nur informieren und geht an keiner Stelle theoretisierend oder typisierend darüber hinaus. Leider hat er seinen Überblick nicht sehr systematisch angelegt (und gibt uns insofern ein Beispiel, wie man es nicht machen soll).
Beispiele vergleichender Forschung
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Vorhaben befindet Blondel sich in einem Dilemma, mit dem auch andere im Weltmaßstab forschende Komparatisten zu kämpfen haben, die bestimmte Institutionen des Regierungssystems untersuchen wollen: Sie vergleichen im Zweifelsfall tatsächlich „Äpfel und Birnen“. Man kann in dieser Lage rein formalistisch bzw. begriffsrealistisch vorgehen, indem man jeweils die Institutionen heranzieht, die den gleichen (oder vergleichbare) Namen tragen – Parlamente, Volksvertretungen, Legislativen –, und vergleicht dann „richtige“ Parlamente (das britische Unterhaus) mit Schein-Parlamenten (die sowjetische Volks-Duma), auf welche die für die einen entwickelten Kriterien nicht passen; es fehlt dann also an der Funktions- bzw. Bedeutungs-Äquivalenz der Untersuchungsobjekte (so Blondel selbst: 25)12. Alternativ könnte man sich auf die Funktionen, die die Institution erfüllen soll, konzentrieren; doch damit landet man gegebenenfalls beim Vergleich von Parlamenten mit völlig anders gearteten Gremien (wie z.B. dem Ministerrat der EU oder der „Paritätischen Kommission“ in Österreich). Die Crux bei dieser Art des Parlaments-Vergleichs ist die Definition, die zugleich weit genug sein soll, um eine hohe Fallzahl zuzulassen, und trennscharf genug, um noch aussagekräftig zu sein. Blondel basiert seine Definition auf die MinimalFunktionen der entsprechenden Körperschaften, zu denen demnach überraschenderweise nicht die der Gesetzgebung zählt. Vielmehr ist es die Funktion der Legislative „to provide a means of ensuring that there are channels of communication between the people and the executive, as a result of which it is possible for demands to be injected into the decision-making machinery ... and for the executive decisions to be checked if they raise difficulties, problems, and injustices ...“ (135). Damit kann er zwar begründeterweise die „Volksvertretungen“ in Autokratien in sein Sample einbeziehen, andererseits aber nicht-parlamentarische Entscheidungs-, Beratungs- und Kontrollgremien – wie z.B. korporatistische Arrangements (betr. demands) oder auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit (betr. Kontrolle) – nicht begründeterweise ausschließen. Diese funktionale Definition ist deskriptiv und induktiv gewonnen; daher findet sie sich auch erst am Ende seiner Untersuchung. Gleichwohl basiert auf ihr Blondels Messlatte zur Beurteilung realer Parlamente, nämlich „influence and participation in processes of change“ (16; s. auch 26 f.). Das Ergebnis der Messung im Weltmaßstab ist – angesichts der Minimal-Definition nun nicht mehr überraschend –, dass Parlamente fast überall „an important channel of communication and pressure“ sind: „The future of legislatures is ... far from bleak.“ (142) Zu den Ergebnissen zählen aber vor allem Aus- und Aufzählungen: So gab es in 52 von 108 12 Blondel zieht für sich selbst den Schluss, dass die Frage der Funktionsäquivalenz von Parlamenten und parlamentarischen Verfahren einstweilen nicht zu beantworten sei, da man über die Mehrzahl der entsprechenden Institutionen einfach noch zu wenig wisse (ebd.).
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
Ländern eine Zweite Kammer; in 20 bis 50 Staaten (hier waren die Indikatoren wohl nicht präzise genug – oder die Situation war „impossible to assess“) hatte die Exekutive Vetorechte gegenüber dem Parlament; in 15 bis 20 Staaten war die Macht des Parlaments durch Referenden begrenzt; usw. usf. Aus den Zahlen sowie Kurz- und Kürzest-Informationen zu wichtigen Aspekten der Parlamentsarbeit und des Parlamentarier-Daseins13 sind teilweise Verallgemeinerungen abgeleitet, die aus dem Material nur bedingt begründbar sind. So z.B. die, dass Zweite Kammern in ihrer Zusammensetzung im Allgemeinen nicht „undemokratisch“ und dort, wo sie es seien (weil ihre Mitglieder ernannt und nicht gewählt werden), nicht „stark“ seien (35 f.). Vor allem folgert Blondel, dass nur in sehr wenigen Staaten das Parlament wirklich souverän bzw. „supreme“ sei (37), also keinen Restriktionen unterliege; die Ausführungen über die Art und Bandbreite solcher Restriktionen allerdings muten eher impressionistisch an. Schließlich versucht Blondel sich noch an einer Typologie (136 ff.), indem er Parlamente nach Bedeutung und effektiver Rolle in die Typen „nascent or inchoate“, „truncated“, „inhibited“ und „true legislatures“ einsortiert. Die Typenbildung erscheint indessen so vorläufig wie formal und entbehrt des (vor allem theoretischen) Tiefgangs; um sie zu erarbeiten, hätte man der vorhergehenden Untersuchung wahrscheinlich nicht bedurft (und deswegen haben wir Blondel auch nicht unter der Überschrift Typologien aufgeführt).
1.4.2. Typologien Typologien und Klassifikationen waren lange Zeit das häufigste und markanteste Ergebnis vergleichender Forschung. Die älteste und wohl berühmteste politikwissenschaftliche Typologie ist die von Aristoteles. Er hat die Stadtstaaten seiner Zeit analysiert und aus ihrer Beobachtung (im 3. Buch der „Politeia“) Regime-Typen destilliert, wobei er zum einen nach der Zahl der an der Herrschaft Beteiligten klassifizierte. Auf dem Kontinuum von einem bis viele Herrscher ergaben sich daraus die drei Basis-Klassen Monarchie, Aristokratie und Politie. Die Zahl der Herrschenden war für ihn indessen ein eher zufälliges Kriterium; entscheidend und systematisch interessanter schienen ihm die von den Herrschern via Staat verfolgten Ziele: Ging es ihnen nur um den eigenen Nutzen oder um den Nutzen aller? Aus dieser Unterscheidung erwuchs das zweite, das normative Kriterium gute oder entartete (korrupte) Herrschaft; und bei diesem Merkmal gibt es kein Kontinuum, kein Mehr oder Weniger, sondern nur ein „Entweder-Oder“. Damit haben wir hier 13 Besonders hierbei stößt die „Welt-Übersicht“ an ihre Grenze, da für die Mehrzahl der Staaten zur personellen Seite der Materie bestenfalls spärliche Daten vorlagen.
Beispiele vergleichender Forschung
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eine Sechsfelder-Matrix mit sechs Regime-Typen: Monarchie, Aristokratie und Politie (die quasi als Idealtypen gelten dürfen) einerseits und den als despotisch charakterisierten „Abarten der richtigen Verfassung“ Tyrannis, Oligarchie und Demokratie (ja: Demokratie, denn die ist Herrschaft des Mobs und hat nur den Nutzen der Armen im Auge; s. 3. Buch Kap. 7 und 8) andererseits. Die wohl einflussreichste neuere Typologie von Regierungssystemen legte Arend Lijphart vor. In seinem Buch „Democracies“ (1984) untersucht er empirisch-analytisch 21 Länder auf mehrheits- und konsensdemokratische Muster; „Patterns of Democracy“ (1999) stellt eine Erweiterung sowohl in Hinsicht auf die gewählten Vergleichsvariablen als auch die Anzahl der Länder (nun 36) dar.14 Mit der Unterscheidung von Mehrheits- und Konsensdemokratie greift der Autor auf zwei gängige Idealtypen zurück. Die Mehrheitsdemokratie (gern auch das Westminster-Modell genannt) galt lange Zeit als die Demokratieform schlechthin; sie zeichnet sich durch die durchgängige Geltung der Mehrheitsregel und einfache Entscheidungsmechanismen aus. Demgegenüber ist in Konsenssystemen eine möglichst große Anzahl gesellschaftlicher Interessen an der Entscheidungsfindung beteiligt, an deren Ende in der Regel ein breit akzeptierter Kompromiss steht. Lijphart sieht die Grenzen der Mehrheitsdemokratie dort erreicht, wo es zu strukturellen Minderheiten kommt, die über lange Zeit hinweg nicht die Möglichkeit haben, die Mehrheitsmeinung zu stellen, eine Gefahr, die besonders in heterogenen Gesellschaften droht (1999: 32). Das Hauptkriterium zur Unterscheidung der beiden Typen ist folglich die Frage nach dem Grad der Machtkonzentration: Ist die Macht auf wenige oder auf viele Institutionen und Akteure verteilt. Dieses Kriterium differenziert Lijphart in zehn Einzelkriterien aus, die idealtypisch in dichotomer Ausprägung Mehrheits- und Konsensdemokratie definieren. Dabei berücksichtigt er sowohl die institutionelle Ausgestaltung des Regierungssystems (polity) als auch Elemente des Politikprozesses (politics). Die einzelnen Merkmale sind zwei trennbaren Dimensionen zuzuordnen: Bei der ersten geht es um den Machtwettbewerb innerhalb des politischen Zentrums („Exekutive-Parteien-Dimension“), die zweite ist die „Föderalismus-Unitarismus-Dimension“. Diese Trennung stellt das Ergebnis der Untersuchung von 1984 dar (1999: 2), findet sich aber schon zuvor in der Literatur. Zur Definition der Idealtypen wählt er auf der ersten Dimension folgende fünf dichotome Charakteristika aus (1999: 3), zuerst genannt jeweils die Ausprägung der Mehrheitsdemokratie: 14 Wir gehen hier allein auf Lijpharts Typologie ein, seine Analysen der Leistungsfähigkeit von Konsensdemokratien und ihrer Demokratiequalität (1999, Kap. 15 und 16) werden nicht berücksichtigt.
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
– Machtkonzentration in einer Einparteienregierung vs. Machtverteilung in Regierungskoalitionen – Dominanz der Exekutive gegenüber der Legislative vs. Machtbalance zwischen Exekutive und Legislative – Zweiparteiensystem vs. Mehrparteiensystem – Mehrheits- und disproportionales Wahlsystem vs. proportionale Repräsentation – Wettbewerbsorientiertes pluralistisches Interessenvermittlungssystem vs. koordiniertes korporatistisches Interessenvermittlungssystem Die fünf Charakteristika der zweiten Dimension trennen zwischen einer Machtkonzentration auf das politische Zentrum (Mehrheitsdemokratie) und einer Verteilung der Macht auf zusätzliche Akteure (1999: 3 f.): – unitarischer und zentralisierter vs. föderaler und dezentraler Staatsaufbau – legislative Machtkonzentration auf eine Kammer vs. Machtteilung zwischen zwei gleich starken, nicht identisch besetzten Kammern – flexible Verfassungen (einfache Mehrheit zur Änderung der Verfassung) vs. rigide Verfassungen mit erhöhten Mehrheitserfordernissen – Systeme mit Parlamentssouveränität vs. Systeme mit Verfassungsgerichtsbarkeit – von der Exekutive abhängige vs. unabhängige Zentralbanken Was Lijpharts Untersuchung über die Definition normativer Idealtypen und die Beschreibung von Systemen, die in der Realität den Idealtypen am ehesten entsprechen (Großbritannien und Neuseeland als Westminster-Modelle, Schweiz und Belgien als Konsens-Modelle, Kapitel 2 und 3) hinausführt, ist sein empirisch-analytisches Vorgehen. Er operationalisiert Indikatoren, die eine differenzierte Messung der einzelnen Variablen erlauben und bildet dafür Durchschnittswerte über die Jahre, um zu einer besseren Einordnung der einzelnen Länder zu gelangen. Bei den Parteiensystemen z.B. greift Lijphart auf das numerische Kriterium zurück und verwendet den etablierten Index der effektiven Parteienzahl (68). Für die Wahlysteme übernimmt er mit dem Disproportionalitätsindex, der die Übereinstimmung zwischen Stimmen- und Sitzanteilen der einzelnen Parteien misst, einen ähnlich etablierten Indikator (157 f.). Andere Operationalisierungen erscheinen dagegen als problematisch. So misst er die Dominanz der Exekutive mittels der durchschnittlichen Regierungsdauer: Je länger Regierungen sich im Amt halten, desto „mächtiger“ sind sie. Da dieses Kriterium allerdings allein auf parlamentarische Systeme anwendbar ist, nimmt er für präsidentielle Exekutiven eine subjektive Einschätzung vor (132 f.). Institutionelle Regelungen, die das Gegenüber von Regierung und Parlament strukturieren (vgl. Döring 1994), bleiben hingegen unberücksichtigt. Lijphart erhält schließlich eine Datenmatrix (36 Länder × 10 Variablen), die es ihm erlaubt, statistische Verfahren anzuwenden. Den Erwartungen entsprechend ergeben sich für die fünf Variablen innerhalb einer Dimension jeweils signifikante
Beispiele vergleichender Forschung
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und zum Teil hohe Korrelationen, während zwischen Variablen, die nicht der gleichen Dimensionen angehören, kein Zusammenhang zu finden ist (244). Besonders hoch ist der Zusammenhang jeweils zwischen der effektiven Anzahl der Parteien, dem Anteil an Einparteienregierungen und der exekutiven Dominanz. Das statistische Verfahren der Faktorenanalyse nutzt die Gemeinsamkeiten zwischen den Variablen, um sie auf möglichst wenige Faktoren zu reduzieren. So findet Lijphart tatsächlich die beiden als zugrunde liegend angenommenen Dimensionen als Faktoren, die sozusagen als „Durchschnitt“ von jeweils fünf Variablen gelten können (245 f.). Jedes Land erhält auf beiden Faktoren einen Wert, der auf einer „two-dimensional conceptual map“ abgetragen werden kann (248, vgl. Abbildung 4). Nach dieser Methode findet sich eine große Anzahl an Ländern im Bereich der unitarischen Demokratien mit zentralstaatlicher Machtteilung wieder (z.B. Finnland und Israel, in Abbildung 4 unten rechts). Unitarische Demokratien mit Machtkonzentration sind wie erwartet die Idealfälle Großbritannien und NeuseeAbbildung 4: The two-dimensional conceptional map of democracy
föderal
GER
Föderalismus – Unitarismus-Dimension
US 2,00 CAN
AUL SWI IND AUT
1,00
NET PNG
SPA JPN
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BEL
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NZ -2,00
unitarisch -2,00 Machtkonzentration
-1,00
0,00
1,00
Parteien - Exekutive Dimension
eigene Darstellung, Daten aus Lijphart (1999: 312ff.)
2,00 Machtteilung
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
land (unten links). Australien, Kanada und die USA bilden den Typ der föderalen Demokratie mit zentralstaatlicher Machtkonzentration, in dem jedoch die Macht des politischen Zentrums eingeschränkt ist (oben links). Die Schweiz entspricht nahezu dem Idealbild der föderalen Konsensdemokratie, in der die Einschränkung der Macht des Zentrums mit einer zentralstaatlichen Machtteilung einhergeht (oben rechts). Viele Länder sind indessen als Mischsysteme zu bezeichnen, wie z.B. auch Deutschland, das zwar als föderal klassifiziert wird, aber auf der „Exekutive-Parteien-Dimension“ eine Zwischenstellung einnimmt. Lijphart sucht auch nach Veränderungen über die Zeit, indem er eine Trennung in zwei Zeitabschnitte (vor und nach 1971) vornimmt. Es ergibt sich das erwartete Bild hoher Stabilität (Lijphart 1999: 255). Veränderungen auf der „FöderalismusUnitarismus-Dimension“ sind in der Regel auf entsprechende Staatsreformen (wie z.B. in Belgien) zurückzuführen, während für die Bewegungen auf der „ExekutiveParteien-Dimension“ der jeweils nationale politische Wettbewerb verantwortlich ist und darum kein übergreifendes Muster festzustellen ist. Kaum minder berühmt und von Parteienforschern viel benutzt ist Giovanni Sartoris Typologie von Parteiensystemen („Parties and Party Systems“, 1976). Sartori steht dabei in einer langen Tradition, denn Parteiensysteme werden klassifiziert und typisiert, seit es die moderne Politikwissenschaft gibt. Die einfachste und sozusagen klassische Variante basiert auf der „ostfriesischen Zählweise“ eins, zwei, viele, indem sie (im Prinzip im Modell des Kontinuums) Ein-, Zwei- und Vielparteiensysteme unterscheidet. Aber reale Parteiensysteme unterscheiden sich nicht nur nach der Zahl der Parteien, sondern auch nach deren Gleichartigkeit bzw. Gleichgewichtigkeit (eine große und viele kleine; zwei relevante und fünf irrelevante; eine Weltanschauungs- und mehrere Interessenparteien), nach ihrer Verteilung über das politische Feld, nach ihrer ideologischen Distanz und nach der Art ihres Verhaltens zueinander. Eben diese Merkmale hat Sartori berücksichtigt und eine entsprechend differenzierte Typologie vorgelegt. Theoretisch gründet sie sich weitgehend auf Anthony Downs’ „Ökonomische Theorie der Demokratie“ (1957) und dort insbesondere auf die Analogie zum räumlichen Wettbewerb (spatial analogy), die aus der Positionierung der Parteien sowie der Wählerverteilung entlang der politischen Skala (von links nach rechts) Regelmäßigkeiten des Wettbewerbsverhaltens der Parteien ableitet. Empirisch basiert sie auf dem Überblick über reale Parteiensysteme „im Weltmaßstab“, zu dem ihm die vorhandene Literatur über Parteien und Parteiensysteme verhilft. Wichtigstes Kriterium ist auch in Sartoris Typologie natürlich das numerische, also die Zahl der Parteien, woraus sich das übliche Klassifikationsschema Ein-, Zwei- und Vielparteiensysteme ergibt. Doch zählt Sartori nicht einfach sämtliche jeweils vorhandenen Parteien, sondern nur die relevanten, die indessen durch-
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aus klein und scheinbar unbedeutend daherkommen können. Relevanzkriterium ist nicht eine bestimmte Mindestgröße (bzw. ein Mindest-Wahlerfolg), sondern zum einen das „coalition-bargaining potential“ einer Partei (122), das auch bei Kleinstparteien gelegentlich beträchtlich ist, nämlich wenn das Parteiensystem insgesamt stark zersplittert und die ideologische Distanz etwa zwischen linkem und rechtem Lager sehr groß ist (ein Beispiel wären die Orthodoxen in Israel). Hat eine kleine Partei kein solches Koalitions-Verhandlungspotential, muss sie gleichwohl nicht irrelevant sein, solange sie – zum anderen – über ein gewisses „blackmail potential“ verfügt (123), d.h. einer größeren Partei auf ihrer Seite der politischen Skala glaubhaft Wählerverluste androhen kann. Eine Partei ist demnach relevant – und folglich mitzuzählen – „whenever its existence, or appearance, affects the tactics of party competition and particularly when it alters the direction of the competition ... of the governing-oriented parties“ in Richtung einer extremeren Position auf der politischen Skala (123). Das einfache Schema wird anschließend differenziert nach den Kriterien Symmetrie-Asymmetrie (sind die Chancen der Parteien in etwa gleichverteilt oder gibt es mehr oder weniger große Ungleichgewichte?), ideologische Distanz (zwischen den Parteien) und Segmentierung (der Wählerschaft). Damit kommt Sartori nun zu sieben Typen, von denen allerdings, wie gleich zu sehen sein wird, der erste und der letzte nicht wirklich einen Typ Parteiensystem bezeichnen (125 ff.): (1) Das Einparteiensystem („Monopol“) ist eigentlich keines, da schon der Begriff des Parteiensystems Pluralität impliziert (39). (2) Im Hegemonialsystem („relaxed monopoly“) sind andere Parteien zwar zugelassen, haben aber keine faire Chance, weil sie z.B. administrativ benachteiligt oder im Parteienwettbewerb behindert werden. (3) Im Dominanzsystem („unimodal concentration“) mag der Wettbewerb fair sein; hier bewirkt die unimodale Wählerverteilung, dass die Chancen von Oppositionsparteien, einen Regierungswechsel herbeizuführen, gleichwohl minimal sind. Grund für eine solche Wählerverteilung kann die Existenz einer dominanten politischen Kultur, eine hohe Status quo-Zufriedenheit der großen Wählermehrheit o.ä. sein. (4) Dagegen zeichnet sich das Zweiparteiensystem („even or bipolar concentration“) durch eine annähernde Gleichverteilung der Chancen aus. Entscheidend bei diesem Parteiensystem ist nicht die Zahl der Parteien insgesamt, sondern (a) die Existenz von zwei Großparteien, die zur Regierungsbildung nicht auf Koalitionen angewiesen sind, und (b) die stete Möglichkeit des Regierungswechsels: Es sind diese „mechanics of twopartism“ (188), die ein (faktisches) Mehrparteiensystem zum Zweiparteiensystem machen. In der Realität übrigens ist dieser Typ außerhalb Großbritanniens eine Rarität: „We are seemingly
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
approaching the paradox of having the most celebrated type of party system running out of cases“ (185). (5) Das System des gemäßigten Pluralismus („low fragmentation or depolarized segmentation“), dem Sartori die Zahl drei bis fünf Parteien zuschreibt, ist in seiner Funktionsweise den Mechanismen des Zweiparteiensystems angenähert: Die ideologische Distanz zwischen den Parteien ist gering, sie sind im Prinzip alle untereinander koalitionsfähig, und es besteht die Chance des Regierungswechsels (178 f.). (6) Dem System des polarisierten Pluralismus („high fragmentation with polarization“) ordnet Sartori die Zahl von sechs und mehr Parteien zu; doch wie beim Zweiparteiensystem ist hier das numerische Kriterium weniger wichtig als andere Kriterien. Entscheidendes Merkmal ist die Existenz von Antisystemparteien, woraus eine spezielle, trianguläre Konstellation folgt: In der Mitte der politischen Skala tummeln sich einige regierungs- und koalitionswillige Parteien, die sich einer bilateralen Opposition auf beiden Extremen des politischen Spektrums zu erwehren haben. Aus der Konstellation erwächst nicht nur die Gefahr der Unregierbarkeit, weil Negativkoalitionen jede Regierungsarbeit behindern, sondern überdies ein zentrifugaler Wettbewerb, der die Mitte-Parteien insgesamt zusehends schrumpfen lässt. Damit ist diesem System die Tendenz zur Instabilität sozusagen eingeschrieben. (7) Das atomisierte System ist wiederum nicht eigentlich ein Parteiensystem, sondern nur als Residualkategorie gedacht (125): ein System mit vielen KleinstOrganisationen, die sich (noch) nicht zu handlungsfähigen Parteien konsolidiert haben und die zu zählen deshalb nicht lohnt, weil ihr Verhalten politisch bedeutungslos bleibt. Einige der sieben Typen hat Sartori noch weiter ausdifferenziert. Auch hat er – nicht abschließend – über alternative Typen nachgedacht: Was wird z.B. aus dem Zweiparteiensystem, wenn ideologische Distanz und Segmentierung hoch sind? Doch vermutlich auch Unregierbarkeit und Instabilität! Das aus solchen Überlegungen resultierende „overall framework“ (288 f.) am Schluss seiner Studie deutet an, wie die Typologie zu einer vom Typ Matrix ausgebaut werden könnte. In ihrer vorliegenden Form enthält sie Elemente sowohl des Typs Kontinuum (Klassifizierung nach steigender Parteienzahl und ideologischer Distanz) als auch quer dazu liegende Kriterien wie die Art des Wettbewerbs oder die Möglichkeit von Regierungswechseln. Als vereinfachtes Modell (293) bietet Sartori eine zweidimensionale Typologie, auf der sich die verschiedenen kompetitiven Parteiensysteme entlang der Variablen Parteienzahl und Ideologische Distanz einordnen lassen (Abbildung 5). Verbunden mit diesen beiden Kriterien ist die Art des Wettbewerbs, der mehr oder weniger zentripetal (in Zweiparteiensystemen mit geringer ideologischer Distanz)
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Abbildung 5: Sartoris „simplified model“
Zwei-parteiensystem
hoch
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Fragmentierungsgrad
Ideologische Distanz
al et rip nt Ze
gering
gering
tb ew
hoch
b
segmentierter Pluralismus
al ug rif nt Ze
er
gemäßigter Pluralismus
polarisierter Pluralismus
eigene Darstellung nach Sartori (1976: 293).
oder zentrifugal (in Vielparteiensystemen mit hoher ideologischer Distanz) sein kann. Die Zuordnung realer Parteiensysteme zu seinen Typen, die Sartori selbst vornimmt, ist im Übrigen nicht immer einleuchtend und nicht unbestritten geblieben (z.B. hat er, wie im zweiten Teil dieser Einführung zu sehen sein wird, ausgerechnet das Parteiensystem seines Heimatlandes Italien falsch eingeschätzt). Gleichwohl ist die Typologie plausibel und brauchbares Handwerkszeug für den Parteienforscher.
1.4.3. Erklärungsversuche und Hypothesentests Typologien verhelfen zum systematischen Erfassen realer Phänomene und sind damit gewissermaßen eine höhere Form der Deskription; sie ordnen die Welt, aber erklären sie nicht. Gerade beim Vergleichen möchte man aber doch wissen, woher die beobachteten – und klassifizierten – Unterschiede kommen. Warum bilden sich in manchen Ländern Demokratien, in anderen Diktaturen aus; warum bringen Gesellschaften so unterschiedliche Parteiensysteme hervor? Beim Erklärungsversuch helfen Theorien weiter; doch nicht immer findet sich die „richtige“ Theorie, und
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häufig passen vorhandene Theorien nicht zur untersuchten Realität. Umgekehrt ergeben sich gerade aus Vergleichen Erklärungsmuster, die dann ihrerseits zu Bausteinen für mehr oder weniger weitreichende Theorien werden bzw. der Theorie-Fortbildung dienen (wie oben schon angemerkt, S. 29). Zugleich bieten Vergleiche sich zum Test neuer Theoreme an. Dann sucht der Forscher nach Fakten, die seine Thesen stützen oder gegebenenfalls widerlegen. Damit mag gezeigt werden, dass eine Theorie funktioniert; nicht immer ist damit aber zugleich eine schlüssige Erklärung der Realität verbunden. In seiner großen Studie „Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie“ (1974) geht Barrington Moore eben der Frage nach, warum sich in Gesellschaften so gegensätzliche Regime-Typen entwickeln konnten, und greift dabei weit in die Geschichte zurück. Ziel der Untersuchung ist nicht allein die Erklärung gegenläufiger Entwicklungen, sondern zugleich die Widerlegung der lange Zeit gängigen These, der (seelenlose ...) Industrialismus trage die Schuld an der Entstehung der totalitären Regime des 20. Jhd. – einer These, die ganz offenkundig nicht stimmen könne, da doch Russland und China Agrarländer waren, als dort die Kommunisten die Macht übernahmen (9). Zum Beweis analysiert er die Prozesse, die Agrargesellschaften von der vor-industriellen in die moderne, sprich industrielle Welt transformierten, und sucht sich dazu Länder aus, die jeweils für unterschiedliche „Hauptrouten der geschichtlichen Entwicklung“ stehen, nämlich für die Route der „bürgerlichen Revolution“, die der (graduellen) Evolution, die der „Revolution von oben“ und die der „Bauernrevolution“ (13 ff.). Dabei versucht er herauszupräparieren, welche Rolle die grundbesitzenden Oberklassen und die Bauern in diesen Prozessen jeweils spielten: „Die unterschiedlichen Reaktionsweisen der grundbesitzenden Oberklassen und der Bauern auf die Herausforderung der kommerziellen Landwirtschaft“ – so seine Gegen-These – „hatten entscheidenden Einfluss darauf, zu welchen politischen Resultaten die Entwicklung jeweils führte.“ (15) Die Vergleichsländer sind die folgenden: > England, dessen Entwicklung er unter die Schlagworte „Gradualismus und Gewalt“ fasst, wobei Gradualismus für die allmähliche „Verbürgerlichung des Adels“ und Gewalt für die rücksichtslose Vernichtung bäuerlicher Existenzen durch vor-industrielle Schafzüchter steht. > Frankreich, charakterisiert als Kombination von „Evolution und Revolution“. Im Gegensatz zu England führte hier die Transformation der Agrar- zur Industriegesellschaft zur Feudalisierung des Bürgertums, mit der Folge, dass als Träger des (politischen) Fortschritts nur die „plebs“ übrig blieb, was Radikalisierung und Revolution(en) nach sich zog. > Die USA, deren Bürgerkrieg als „letzte kapitalistische Revolution“, als „Krieg“ zwischen Plantage und Fabrik gewertet wird.
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> China als Beispiel für ein Ausbleiben der Kommerzialisierung der Landwirtschaft, d.h. für das völlige Fehlen einer bürgerlichen Phase.
> Japan als Beispiel einer „Revolution von oben“ und für das Fehlen einer Bauernrevolution.
> Indien, dessen Gesellschaftsstruktur Hindernisse sowohl für eine Demokratisie-
rung als auch für Rebellionen aufwies und das quasi mit steckengebliebener wirtschaftlicher und politischer Modernisierung den „Preis friedlicher Entwicklung“ bezahlt. Bei diesem Vergleich europäischer und asiatischer Länder ist Moore wohl bewusst, dass es problematisch ist, im europäischen Kontext entwickelte Begriffe auf asiatische Gesellschaften zu übertragen. Er beharrt aber darauf, dass es gleichwohl sinnvoll ist, bei allen fundamentalen Unterschieden die jeweiligen sozialen Grundlagen der Macht zu vergleichen (194 f.). Und so kommt er denn zu einem Ergebnis, das in der Tat sehr europäisch klingt, nämlich zu der Schlussfolgerung, dass wichtige Faktoren, die eine demokratische Entwicklung begünstigten, schon im Feudalismus (mit seinem entscheidenden Merkmal des Lehenverhältnisses) angelegt waren, als da sind die Vertragsidee, die Idee der Immunität bestimmter Gruppen/Personen gegenüber der Macht des Herrschers und die Idee des Widerstandsrechts gegen eine ungerechte Obrigkeit (477). In sozialer Hinsicht zählt er weiterhin zu diesen Faktoren die Balance zwischen Adel und Krone sowie die frühe Existenz einer unabhängigen Klasse von Stadtbewohnern (480 f.). Und schließlich „gehört zu den maßgeblichsten Determinanten, die den Lauf der späteren politischen Evolution bestimmten, ob eine Grundbesitzeraristokratie sich der kommerziellen Landwirtschaft zuwandte oder nicht“ (481). Wenn dem aber so ist, dann hätte Frankreich eigentlich nicht demokratisch werden dürfen ... Die von Moore in einer Art Endauswertung angebotenen Erklärungsfaktoren – bzw. die Faktoren, die die politische Entwicklung in die eine oder andere Richtung determinieren – sind schließlich: – das Verhältnis der grundbesitzenden Oberklasse zur Monarchie, – die Haltung dieser Oberklasse zur Produktion für den Markt (Kommerzialisierung) und – die Beziehungen der Oberklasse zum städtischen Bürgertum (486). Zusammengenommen heißt das: die entscheidende unabhängige Variable ist das Verhalten der grundbesitzenden Oberklasse – und nicht das der Bauern. Vom Erklärungswert her ist vor allem der dritte Faktor nicht ohne Ambivalenz, denn, wie Moore selbst einräumt, war ein enges Bündnis der Oberklassen in Stadt und Land gegen Arbeiter und Bauern für die Entwicklung zur Demokratie häufig durchaus ungünstig (487). Das zeigt, dass die Isolierung einiger weniger Erklärungsfaktoren in die Irre führen und der Wirklichkeit Gewalt antun kann. Man muss dann mit
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etlichen Zusatzbedingungen aufwarten, um dem Ziel der Erklärung doch noch nahezukommen. Darunter leiden die Stringenz der Argumentation und die „Schönheit des (theoretischen) Gedankens“; und je detaillierter die Zusatzbedingungen ausfallen, desto mehr gerät man in die Gefahr, in der Schublade der reinen (historischen) Deskription zu landen. Diese kritischen Anmerkungen sollen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich bei Moores erklärendem historischen Vergleich um eine ungewöhnlich informative und anregende Studie handelt, die viel zum Verständnis sozialgeschichtlicher Determinanten der politischen Geschichte beigetragen hat. Auch Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan greifen in ihrer umfänglichen Einleitung zu dem Sammelband „Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives“ (1967) auf historische Entwicklungen zurück, um die Unterschiede in den bestehenden Parteiensystemen zu erklären. Zugleich bedienen sie sich der bis dahin angesammelten Erkenntnisse von Parteienforschung und Parteientheorie und rekurrieren namentlich auf die These, dass Parteien primär gesehen werden müssen als „alliances in conflicts over policies and value commitments within the larger body politic“ (5): Sie öffnen Kanäle für die Artikulierung von manifesten und (vordem) latenten Konflikten. Parteien, so weiß die historische Parteienforschung seit langem, entstanden als Opposition: Sie „haben ihren Ursprung in abweichendem politischen Verhalten“ (von Beyme 1982: 25). Aus dieser eher schlichten Erkenntnis entwickeln Lipset und Rokkan ein Modell, das anschließend (von ihnen wie von den anderen Autoren) am Beispiel der tatsächlichen Partei-Entstehung – präziser: der Abfolge der Entstehung relevanter Parteien – in den westeuropäischen Ländern überprüft wird. Das Modell basiert also (1) auf der These, dass Parteien sich entlang der Konfliktlinien (cleavages) innerhalb einer Gesellschaft formieren. Solche Konfliktlinien bleiben indessen im Zeitablauf nicht konstant; neue kommen hinzu, alte schwächen sich ab, manche überlagern einander; überdies sind sie in unterschiedlicher Weise virulent. Das bringt die Autoren zu der weiteren These (2), dass man eine Konflikt-Hierarchie unterstellen muss, die von Gesellschaft zu Gesellschaft variiert und sich im Zeitablauf wandelt. Wie sich das auf die Ausbildung von Parteiensystemen auswirkt, ergibt sich (3) aus einer systemtheoretisch inspirierten Konzeptualisierung, die die gesellschaftlichen Konflikte verschiedenen Dimensionen zuordnet und ihr Auftreten mit bestimmten Schwellen oder Hürden gesellschaftlicher Modernisierung kombiniert. Entscheidend für die Bildung oppositioneller Bewegungen sind die beiden Dimensionen der eigentlichen Nationbildung und des industriellen „take-off“, die ihrerseits mit zwei verschiedenen Typen von Revolution einhergehen können (13). Die Hürden, die oppositionelle Gruppen zunächst überspringen müssen, sind die der Legitimation (wird die Opposition als legitim aner-
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kannt?) und der Inkorporierung (kann sie sich an den Wahlen beteiligen?). Sind diese Schwellen genommen, sind kompetitive Parteiensysteme möglich. Die Hürde der Repräsentation (ist sie im Parlament vertreten?) und die der Mehrheitsmacht (wie schwer ist es, die Mehrheit zu erlangen?) bestimmen über den Einfluss der neuen Bewegungen. Die Höhe der letzten beiden Hürden hängt von der Art des Wahlsystems sowie dem Grad an institutioneller Gewaltentrennung ab (27 ff.). Die Autoren destillieren aus ihrem Überblick über die vergleichende wie sozialgeschichtliche Parteienforschung vier dominante Konfliktlinien, die sie in allen westeuropäischen Gesellschaften aufgefunden haben (14): – den Konflikt zwischen Peripherie und Zentrum („subject vs. dominant culture“); – den Konflikt zwischen Kirche(n) und Staat (der sich ggf. abgewandelt in den Konfessionskonflikt fortsetzt); – Konflikte zwischen Stadt und Land („primary vs. secondary economy“); – und schließlich den Klassenkonflikt. Bei Betrachtung der westeuropäischen Entwicklung kommen sie zu der Überzeugung, dass der Klassenkonflikt der für die Entstehung von Parteien am wenigsten prägende gewesen sei, da er später virulent wurde als die anderen Konflikte (35). Wichtig für die Ausbildung der Parteiensysteme sei nämlich die Konfliktlage zum Zeitpunkt der Nationbildung (34 f.): Gab es zu jener Zeit nur einen dominanten Konflikt, habe sich ein Zweiparteiensystem entwickeln können; waren dagegen (nahezu) zeitgleich mehrere Konflikte virulent (z.B. durch zeitliches Aneinanderrücken von Nationbildung und Industrialisierung), seien Mehrparteiensysteme entstanden – nicht zuletzt deshalb, weil die Dominanz des religiösen Konflikts die Arbeiterbewegung gespalten habe (49). Aus ihren Befunden leiten Lipset und Rokkan eine Typologie von Koalitionen und „basic oppositions“ ab, die auf den Beziehungen der unterschiedlichen in den Konflikten repräsentierten Akteursgruppen basiert (36 ff.) Vor allem aber entwickeln sie die weitere These vom „Einfrieren“ der Parteiensysteme in Westeuropa: Da spätestens in den 1920er Jahren die Prozesse von Nationbildung und Industrialisierung abgeschlossen gewesen seien, habe sich an der Struktur der Parteiensysteme seither nichts mehr geändert (was nicht impliziert, dass es keine Partei-Neugründungen mehr gegeben hat!). Diese letztere These ist in der Parteienforschung umstritten geblieben – nicht zuletzt deshalb, weil sie die Relevanz institutioneller und rechtlicher Faktoren ignoriert. Wie die seitherige Geschichte gezeigt hat, musste in einer Reihe von Ländern nur das Wahlsystem geändert werden, um andere Strukturen zu produzieren. Das Erklärungsschema als solches hat sich gleichwohl als fruchtbar erwiesen, auch wenn die von den Autoren mitgelieferte historische Faktenbasis dünn und nicht immer überzeugend ist.
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Weniger aus der Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen als aus sozialpsychologischen Konstrukten leitet Ronald Inglehart seine These vom generellen Wertwandel in Wohlstandsgesellschaften ab („The Silent Revolution“ 1977 und Vorläufer- (1971) sowie zahlreiche Nachfolgestudien), die er in vergleichender Umfrageforschung unter Einschluss von Zeitreihenvergleichen in (ursprünglich) sechs solcher Gesellschaften – Niederlande, Großbritannien, Bundesrepublik, Frankreich, Belgien und Italien – testet. Dabei geht es ihm nicht darum, Unterschiede herauszufinden und zu erklären (also trotz ähnlicher Länder kein MSSD), sondern er möchte empirische Evidenz für die Richtigkeit seiner These finden, also überall ähnliche Befunde ermitteln. Die These besagt, dass in Industriegesellschaften, die ein gewisses Wohlstandsniveau erlangt haben, ein allmählicher Wandel von materialistischen (acquisitive) zu postmaterialistischen (post-acquisitive) Werten stattfindet. Die Vermutung beruht zum einen auf der „Mangel-Hypothese“, die ihrerseits auf der Bedürfnis-Pyramide des Sozialpsychologen Abraham Maslow (1954) aufbaut. Demnach schätzen die Menschen jeweils die (materiellen und ideellen) Güter am höchsten ein, die gerade am knappsten sind. Erst wenn die primären Bedürfnisse (Essen, Wohnen) hinreichend befriedigt sind, hier die Knappheit also überwunden ist, kommt es zu einer Art Umwertung und gewinnen Werte wie Selbstverwirklichung oder Partizipation an Bedeutung. Mit der Mangel-Hypothese ist – zum anderen – die „Sozialisations-Hypothese“ kombiniert, derzufolge die Wertorientierungen einer Person die Situation (und die Knappheiten) wiederspiegeln, die in ihrer Jugend – der Sozialisations-Phase – vorherrschte. Die individuelle Werthierarchie passt sich folglich nicht unmittelbar an Veränderungen der sozioökonomischen Lage an, sondern – wenn überhaupt – modifiziert und mit Zeitverzögerung. Erklärt die eine Hypothese die Anpassung von Wertvorstellungen an gesellschaftlichen Wandel, so die andere ihre Stabilität. Zusammen genommen erlauben sie die Zuspitzung der oben genannten These zu der, dass in den besagten europäischen Ländern die Vorkriegs-Generation (in Zeiten von Unsicherheit und Mangel sozialisiert) materialistischen Werten anhängt, während in den Nachkriegs-Generationen (in Sicherheit und relativem Wohlstand sozialisiert) postmaterialistische Werte vorherrschen. In Nachfolgestudien haben Inglehart (1990; 1997) und Anhänger seiner Thesen (z.B. Abramson/Inglehart 1995) das Modell auf immer mehr Länder und auch auf solche zu übertragen versucht, die erst neuerdings die Schwelle zum Wohlstand überschritten haben. Die empirischen Ergebnisse scheinen die Thesen zu bestätigen. Die Befunde sind indessen alles andere als eindeutig. Zwar fand sich zumeist tatsächlich bei den jüngeren Alterskohorten ein höheres Maß an postmaterialistischer Orientierung als bei den älteren; mehrheitlich hingegen hingen gleichwohl auch die jüngeren weiterhin materialistischen Werten an. Überdies entpuppte sich der
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Wertwandel als reines Mittelschicht-Phänomen: Er beschränkte sich nahezu ausschließlich auf die höheren Einkommens- und Bildungsschichten. Gerade in diesem Punkt fielen Theorie und Empirie weit auseinander; denn würden beide Hypothesen so wie behauptet zutreffen, hätte der Wertwandel dort am markantesten sein müssen, wo die Wohlstandsgewinne – sowohl absolut wie von Vorkriegs- zu Nachkriegs-Generation(en) – am größten waren: bei der Arbeiterschaft. Stattdessen fiel er aber besonders dort ins Gewicht, wo die geringsten Veränderungen der sozioökonomischen Lage stattgefunden hatten. Zum dritten hatte Inglehart das Phänomen des Wertwandels mit der Erwartung verknüpft, dass Postmaterialisten dazu tendieren, linke oder „alternative“ Parteien zu wählen, oder überhaupt unkonventionellen Formen politischer Beteiligung zuneigen (vgl. Barnes/Kaase 1979). Das erstere kann als klar widerlegt gelten: In keinem der untersuchten Länder konnten linke Parteien dauerhafte oder gar steigende Zuwächse verzeichnen; überall blieben die Grünen Parteien eine politische Randgruppe oder verschwanden nach kurzfristigen Erfolgen sogar wieder in der Versenkung. Das zweite hingegen ist schon grundsätzlich nur sehr bedingt einer Umorientierung zum Postmaterialismus zuzurechnen: Die zwischenzeitlich beobachtbare (und längst wieder abgeebbte) Zunahme von Protest-Verhalten kann genauso gut einem anderen sozialpsychologischen Phänomen geschuldet sein, nämlich der geringen Unlust-Toleranz von im Wohlstand sozialisierten jungen Leuten, die aufmucken und mit Aggression reagieren, wenn Bedürfnisse nicht sofort befriedigt werden. Wenn dem aber so ist, hätten wir statt mit einer Umorientierung hinsichtlich der Werte und Ziele lediglich mit einer Umorientierung im Hinblick auf die Mittel zu ihrer Realisierung zu tun. Die Wertwandel-These kann also nicht wirklich als bewiesen gelten; gleichwohl hat sie unter Einstellungsforschern weiterhin etliche Anhänger. Zugleich sind die These als solche sowie Ingleharts Untersuchungen auf ausgiebige Kritik gestoßen (z.B. Bürklin et al. 1996). Zu erwähnen ist hier vor allem die Kritik an der methodischen Durchführung, namentlich an der Zuordnung der in den Umfragen abgefragten „items“ zu Materialismus bzw. Postmaterialismus (vgl. Klein/Arzheimer 1999). Nicht jedem wird beispielsweise einleuchten, wieso „familiäre Geborgenheit und Sorge für die Lieben“ ein Indikator für eine materialistische Einstellung ist. Die Einzel-Kritik soll uns in dieser Kurz-Vorstellung nicht weiter beschäftigen, auch nicht die vieldiskutierte, aber bislang nicht abschließend geklärte Frage, ob es sich bei den Wertwandels-Erscheinungen, die tatsächlich zu beobachten waren oder sind, um ein Lebenszyklus-Phänomen handelt(e), das nur in der Jugendphase auftritt und mit zunehmendem Alter (und ggf. Erfolg im Beruf) wieder materialistischer Orientierung Platz macht; oder ob es dabei um eine Generationen-Frage geht. Dann würden postmaterialistische Orientierungen mit einer oder wenigen Nachkriegs-Generationen durch deren Lebensalter wandern und schließlich aus-
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sterben, da ja inzwischen immer weniger Jugendliche in sicherem Wohlstand sozialisiert werden. In unserem Kontext ist wichtiger, dass hier eine vergleichende Studie vorliegt, die „die Welt erklären will“, d.h. eine generell gültige These über die Entwicklung von Werteinstellungen vorlegt und testet. Letztendlich interessiert sie sich aber nur wenig für die beobachteten Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften und erklärt diese nicht.
1.4.4. Evaluation Eine normative Beurteilung ist in vielen vergleichenden Studien implizit angelegt, bei den verschiedenen Versuchen der Messung demokratischer Qualität steht sie eindeutig im Vordergrund. Über viele Jahre hinweg widmete sich der Finne Tatu Vanhanen der Demokratiemessung. Schon 1984 entwickelte er in seinem Buch „The Emergence of Democracy“ einen Demokratisierungsindex und wandte ihn auf 119 Länder an, wobei er zeitlich bis 1850 zurückging. Doch begnügt sich Vanhanen nicht mit der Demokratiemessung, sondern sucht nach Erklärungen für den Grad an Demokratisierung. In „Prospects of Democracy“ (1997) erweitert er die Anwendung auf 172 Staaten und verfeinert seine Analyse. Dabei greift er auf das Demokratieverständnis von Dahl (1971) und damit das Idealbild der Repräsentativdemokratie zurück. Aus Dahls Konzept bezieht er seine beiden Faktoren, nämlich Partizipation und Wettbewerb.15 Im Gegensatz zu allen anderen Demokratiemessungen benutzt Vanhanen objektive, quantitative Daten, so dass die Berechnungen des Index sich relativ einfach gestalten und vor allem gut nachvollziehbar sind. Andere Indices wie Freedom-House oder die „Polity-Scores“ (vgl. Schmidt 2000: 402 ff.) sind in ihrer Zuordnung der Werte angreifbarer, da sie sich auf die subjektive Einordnung der Wissenschaftler verlassen. Bei der Operationalisierung seines Demokratisierungsindex konzentriert sich Vanhanen allein auf nationale Wahlen, nämlich die jeweiligen Parlamentswahlen und in präsidentiellen bzw. semipräsidentiellen Systemen zusätzlich die Wahl des Präsidenten. Beide Wahlen werden mit einigen Ausnahmefällen gleich gewichtet (Vanhanen 1997: 34). Vanhanen (1984: 28 ff., 1997: 34 f.) ermittelt die Partizipation (P) als den Anteil (A) der Gesamtbevölkerung (B), der bei den Wahlen seine Stimme abgab (P=A/B⋅100). Den Wettbewerbsgrad (W) errechnet er, indem er den Stimmenanteil der stärksten Partei (S) von 100 abzieht (W=100–S). Der De15 Die polyarchische Demokratie nach Dahl gründet auf Partizipation und freiem Wettstreit („contestation“); der Fokus der Partizipation liegt auf der Beteiligung der Bürger an den Wahlen; der freie Wettbewerb zielt auf eine freie Organisation der Interessenartikulation, der politischen Willensbildung und der Entscheidungsfindung.
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mokratisierungsindex (D) bestimmt sich dann durch die Multiplikation der Partizipation (P) mit dem Wettbewerbsgrad (W) geteilt durch 100 (D=P⋅W/100). Die Multiplikationslogik führt dazu, dass im Gegensatz zu additiven Indices der Gesamtwert Null wird, sobald einer der beiden Faktoren Null beträgt. Das führt durchaus zu sinnvollen Ergebnissen, wenn man z.B. an die ehemaligen sozialistischen Staaten denkt: Hier ging eine hohe Wahlbeteiligung mit einem Einparteienstaat einher. Der Wettbewerbsgrad (W) war demnach wie der Gesamtindex (D) Null. Die Ergebnisse zum Stand der Demokratie in den 1990er Jahren zeigen ein gemischtes Bild: So führen 1993 die etablierten Demokratien Italien (D=48,3) und Belgien (47,1) die Rangliste an, während am unteren Ende nicht-demokratische Staaten wie China, Kuba etc. mit D=0 rangieren. Sehr niedrige Werte weisen autoritäre Systeme wie der Iran (9,3) oder Marokko (4,3) auf. Doch ergeben sich auch einige Merkwürdigkeiten: „Neue“ Demokratien wie Russland (27,0) und Kroatien (26,5) rangieren im mittleren Bereich noch vor solchen „Modell“-Demokratien wie der USA (20,7) und der Schweiz (23,7) (86 ff.). Als Ursache für die manchmal fragwürdige Reihenfolge kann die sehr sparsame Operationalisierung der beiden Faktoren gelten. So misst die Wahlbeteiligung zwar die Wahrnehmung eines bestimmten Typs von Beteiligungsrechten, aber die Qualität der Wahlen selbst oder andere Partizipationsarten bleiben unberücksichtigt. Ob die Wahlen nun fair abliefen oder keinerlei Einfluss auf den politischen Prozess haben (weil das Parlament über keine Machtbefugnisse verfügt), geht ebenso wenig in Vanhanens Index ein wie alternative Partizipationsmöglichkeiten (z.B. direktdemokratische Instrumente oder Mitbestimmungseinrichtungen). Vanhanen merkt selbst an, dass das Demokratieniveau in der Schweiz auf Grund der Referenda wohl höher sei, als dies sein Index angebe (107). Auch verzerrt eine eventuelle Wahlpflicht (wie z.B. in Italien und Belgien) die Höhe der Wahlbeteiligung, ja selbst das Wetter beeinflusst sie. Beim Wettbewerbsgrad bleibt unberücksichtigt, ob der Prozess der Interessenartikulation und politischen Willensbildung wirklich frei ist. Außerdem bevorzugt Vanhanens Index eindeutig Vielparteiensysteme ohne dominante Partei gegenüber Zweiparteiensystemen oder Mehrparteiensystemen mit einer dominanten Partei. Die Ursachen für die Konzentration oder Fragmentierung von Parteiensystemen liegen jedoch in der Gesellschaftsstruktur (vgl. Lipset/Rokkan 1967) und dem Wahlsystem (vgl. Duverger 1959); eine zunehmende Fragmentierung erscheint daher nicht als geeigneter Indikator für ein Mehr an Demokratie. So führt die durch die Sprachtrennung der Parteien bedingte besonders hohe Fragmentierung des belgischen Parteiensystems zusammen mit der Wahlpflicht dazu, dass Belgien als das zweit-demokratischste Land erscheint.
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Vanhanen geht davon aus, dass die innerstaatliche Verteilung wirtschaftlicher und intellektueller Machtressourcen den Demokratisierungsgrad erklären kann (42). Eine breitere Verteilung der ökonomischen Ressourcen erhöht ihm zufolge die Interessenpluralität und führt zusammen mit einer breiteren Verteilung der intellektuellen Fähigkeiten in einer Gesellschaft zu einem Anstieg der Nachfrage nach Demokratie. Um seine These zu überprüfen, konstruiert er einen komplexen „Index der Machtressourcen“ (IPR), der aus sechs Komponenten zusammengesetzt ist (55 ff.): Als Indikatoren der Verteilung der ökonomischen Ressourcen verwendet er (1) den Anteil an städtischer und (2) den Anteil an nicht-agrarischer Bevölkerung, (3) die Verteilung des Besitzes an landwirtschaftlicher Nutzfläche in Form des Anteils privater Kleinfarmen und (4) den Grad der Dezentralisierung der nicht-agrarischen wirtschaftlichen Ressourcen; als Indikatoren der Verteilung der intellektuellen Ressourcen dienen (5) der Anteil an Studierenden und (6) der Anteil der Personen, die in der Lage sind zu lesen. Die hohen Korrelationen zwischen IPR (der für die unabhängige Variable steht) und dem Demokratisierungsindex (DI, abhängige Variable) ergeben ein insgesamt überzeugendes Bild und vermögen den Demokratisierungsgrad in den 1990er Jahren recht gut zu erklären (72). Für einzelne Länder allerdings lassen sich beträchtliche Abweichungen zwischen den an Hand des IPR-Wertes prognostizierten und den tatsächlichen DI-Werten feststellen (84, Schaubild 3.5). Teilweise liegt das an den angesprochenen Schwächen des Demokratisierungsindexes; so wird auf Grund der hohen IPR-Werte für die USA, Kanada oder auch die Schweiz ein höherer Demokratisierungsgrad erwartet, als er sich an Hand der Faktoren Wahlbeteiligung und Wettbewerb ergibt. Auf der anderen Seite erreichen viele der neuen osteuropäischen Demokratien hohe DI-Werte, obwohl ihre Werte auf dem „Index der Machtressourcen“ sehr niedrig ausfallen. Die ökonomischen Entwicklungen, die zu einer besseren Verteilung der Ressourcen (und damit zu einem höheren IPR) führen, konnten im Jahr 1993 den demokratischen Entwicklungen (noch) nicht folgen (97). Doch bleibt bei Vanhanens Analyse die Ursache-Wirkungs-Beziehung letztendlich ungeklärt. Schließlich kann man genauso überzeugend argumentieren, dass erst die Demokratisierung in Osteuropa zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Machtressourcen geführt hat – und nicht umgekehrt.
1.5. Von der Vetospieler-Theorie zu Vergleichskriterien Bisherderhaben Von Vetospieler-Theorie wir uns recht abstrakt zu Vergleichskriterien mit dem Vergleich politischer Systeme beschäftigt und zuletzt vorgeführt, was und wie andere Politikwissenschaftler verglichen haben. Im zweiten Teil dieser Einführung werden wir die Sache konkretisieren und
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uns selbst ans Vergleichen begeben. Unser eigener Ansatz basiert auf Tsebelis (2002) Vetospieler-Theorie (1.5.1), die wir für unsere Zwecke modifiziert haben; aus ihr leiten wir die Vergleichskriterien ab (1.5.2). Im Anschluss daran werden wir begründen, warum wir welche (westeuropäischen) Länder in den Vergleich einbeziehen (1.5.3).
1.5.1. Die Vetospieler-Theorie Als ein relativ neues, teilweise als „bahnbrechend“ (Kaiser 2005: i.E.) bezeichnetes Konzept im Bereich der Vergleichenden Systemanalyse findet die VetospielerTheorie16 von Tsebelis (1995; 2002) zunehmend Aufmerksamkeit in der Politikwissenschaft. Der Begriff des Vetospielers oder Veto-Akteurs als solcher ist natürlich nicht neu. Die Vetomacht bestimmter Akteure – ob Institutionen oder Gruppen – steht letztlich im Fokus politikwissenschaftlichen Interesses, seit die Amerikaner die checks and balances erfanden. Erst neuerdings aber hat dieser Topos Eingang in den systematisch-wissenschaftlichen Vergleich gefunden. Den Anfang machte Immergut (1992), die sich in ihrer qualitativen Studie zur Reform der Gesundheitssysteme in drei Ländern auf die jeweiligen Vetospieler konzentrierte. Seither entstand eine Reihe vergleichender Fallstudien, die zur Erklärung von Politikergebnissen die Vetospieler-Logik verwenden (vgl. die Übersicht bei Ganghof 2003: 4–5). Im Folgenden wollen wir zunächst die Grundlagen von Tsebelis Theorie darstellen, bevor wir Probleme und Weiterentwicklungen diskutieren und unsere Modifikationen für den Vergleich politischer Systeme vorstellen. Nach Tsebelis (2002: 2) sind Vetospieler die individuellen oder kollektiven Akteure, deren Zustimmung für eine Veränderung des (legislativen) Status quo notwendig ist. Diese funktionale Definition ermöglicht es, für alle politischen Systeme die Vetospieler zu identifizieren, erlaubt also einen einheitlichen Zugang zur Analyse von Politikprozessen quer über alle institutionellen Arrangements hinweg. Das gestattet zugleich einen unbefangeneren oder auch objektiveren Blick auf klassische institutionalistische Dichotomien wie Parlamentarismus vs. Präsidentialismus oder Föderalismus vs. Unitarismus. Zentrales Erkenntnisinteresse ist die Frage nach den Chancen für politischen Wandel bzw., im Umkehrschluss, nach den Bedingungen von policy-Stabilität, sprich der Unbeweglichkeit von Politik (ebd.). Tsebelis’ Theorie basiert auf Annahmen, die aus einem rationalistischen Wissenschaftsverständnis abgeleitet sind. Er geht von zielgerichteten Akteuren aus, die über stabile Präferen16 Wir verwenden den Begriff Theorie, um zu verdeutlichen, dass Tsebelis durchaus eine „Theorie der mittleren Reichweite“ (Merton 1957) vorlegt, die auf die Analyse der Wirkungsweise politischer Institutionen zielt.
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zen verfügen. Das heißt, dass jeder Vetospieler bei einer bestimmten Politikentscheidung eine eindeutige, nicht veränderbare Idealvorstellung vom Ergebnis hat. Die Akteure interagieren miteinander unter der Prämisse, ihren jeweiligen Nutzen zu maximieren. Institutionen und institutionelle Arrangements wirken sich demnach nicht direkt auf Politikergebnisse aus, sondern strukturieren bei gegebenen Präferenzen der Akteure das Feld der Möglichkeiten. Die einzelnen Akteure führt Tsebelis in einem räumlichen Politikmodell zusammen, das auf sogenannten euklidischen (=räumlichen) Präferenzen (s. dazu Hinich/ Munger 1997) aufbaut. Das bedeutet, dass mit zunehmender Entfernung einer bestimmten Politik vom eigenen Idealpunkt der Nutzen eines Akteurs abnimmt. Folglich ist jeder Vetospieler bestrebt, ein Politikergebnis zu erreichen, das möglichst nahe an seinen Idealpunkt heranreicht. Eine Veränderung des Status quo ist dann möglich, wenn Lösungen existieren, die für alle Vetospieler eine Verbesserung gegenüber dem Status quo erbringen oder sich zumindest als gleich gut erweisen; sie müssen also näher an den Idealpunkten aller Vetospieler sein als der Status quo bzw. dürfen höchstens gleich weit entfernt sein. Die Menge solcher Lösungen wird in den räumlichen Modellen als winset bezeichnet (vgl. Abbildung 6) und kann als der politische „Konsensbereich“ gelten. Ist das winset leer, gibt es keine Möglichkeit zur Veränderung des Status quo: es herrscht policy-Stabilität. Ebenso wenig kann es zu Veränderungen kommen, wenn der Status quo innerhalb des sogenannten unanimity cores liegt. Dieser „Kern“ umfasst alle Politikvarianten, die unter der Entscheidungsregel der Einstimmigkeit nicht überstimmt werden können, da sich zumindest ein Vetospieler verschlechtern würde, d.h. der Politikvorschlag für diesen Akteur weiter entfernt von seinem Idealpunkt ist als der Status quo (vgl. Abbildung 6). Auf dieser Grundlage kommt Tsebelis zu mehreren Theoremen über policy-Stabilität bzw. die Chancen für policy-Wandel. (1) Durch das Hinzukommen eines zusätzlichen Vetospielers wird das winset kleiner oder bleibt gleich groß, d.h. die Stabilität erhöht sich oder bleibt gleich (Tsebelis 2002: 25). (2) Kommt in einem gegebenen System ein Vetospieler hinzu, der im unanimity core der bisherigen Vetospieler liegt, dessen Idealpunkt also im Konsensbereich angesiedelt ist, beeinflusst er die policy-Stabilität nicht und ist daher nicht als Vetospieler zu zählen (absorption rule) (ebd.: 28). (3) Je größer die Distanz zwischen den Vetospielern wird, umso kleiner wird das winset und die policy-Stabilität erhöht sich (ebd.: 30 f.). Doch welche Lösung innerhalb des winsets letztendlich als Politikentscheidung gewählt wird, bleibt zunächst offen. Erst das Konzept des Agenda-Setzers gibt Hinweise auf das mutmaßliche Ergebnis. Agenda-Setzer ist der Akteur, der bestimmt, worüber abgestimmt wird. Kann kein anderer Akteur einen Gegenvorschlag einbringen, handelt es sich um einen uneingeschränkten Agenda-Setzer (vgl. Romer/
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Abbildung 6: Winset und unanimity core
A SQ
B
C
Das winset wird bestimmt durch die Schnittmenge aller Kreise – der sogenannten Indifferenzkurven – mit den Idealpunkten der Vetospieler (A, B, C) als Mittelpunkt, die durch den Status quo (SQ) führen (die schraffierte Fläche). Beim unanimity core handelt es sich um die kleinste Fläche, die von den Verbindungslinien aller Idealpunkte der Vetospieler (A, B, C) eingeschlossen wird (die graue Fläche).
Rosenthal 1978). Kennt ein solcher Akteur die Idealpositionen aller Vetospieler, lässt sich folgendes Theorem formulieren: (4) Da der Agenda-Setzer weiß, welches das winset der möglichen Lösungen ist, wird er jene Lösung innerhalb des winsets vorschlagen, die seinem Idealpunkt am nächsten ist. Haben die Vetospieler keine Möglichkeit, diesen Vorschlag abzuändern, werden sie ihn akzeptieren, da sie sich alle gegenüber dem Status quo verbessern werden (Tsebelis 2002: 34). Die Macht des uneingeschränkten Agenda-Setzers ist dementsprechend hoch. Die bisherigen Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf individuelle Akteure. Davon zu unterscheiden sind kollektive Vetospieler, also solche, die sich aus mehreren Akteuren zusammensetzen (ebd.: 39). Als bestes Beispiel können Parlamente dienen, die bei ausgeprägter Fraktionsdisziplin aus so vielen Einzel-Akteuren bestehen, wie es Fraktionen gibt. Entscheidend für die weitere Analyse ist neben der Zusammensetzung des kollektiven Vetospielers dessen interne Entscheidungsregel, die von der einfachen Mehrheit über die qualifizierte Mehrheit bis zur Ein-
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stimmigkeit reichen kann. In letzterem Fall sind die einzelnen Akteure des kollektiven Vetospielers jeweils individuelle Vetospieler. In diesem Zusammenhang formuliert Tsebelis ein weiteres Theorem: (5) Sobald das Mehrheitserfordernis für Entscheidungen innerhalb des kollektiven Vetospielers angehoben wird, bleibt die policy-Stabilität gleich oder erhöht sich (ebd.: 54). Je nach Geltung von einfacher oder qualifizierter Mehrheitsregel ergeben sich weitere „Tendenzaussagen“17: Die policyStabilität erhöht sich, (a) wenn bei einfacher Mehrheitsregel die Kohäsion (Homogenität der individuellen Präferenzen) des kollektiven Vetospielers zunimmt und (b) wenn – eher kontra-intuitiv – die Zahl der individuellen Akteure des kollektiven Vetospielers zunimmt (ebd.: 48), sowie (c) wenn bei qualifizierter Mehrheit die Kohäsion sinkt, also die Präferenzen individuellen Akteure des kollektiven Vetospielers heterogener werden. Wer sind nun diese Vetospieler in den verschiedenen politischen Systemen? Tsebelis unterscheidet zunächst institutionelle und die sogenannten partisan Vetospieler (Tsebelis 2002: 2). Zu den in der Verfassung festgelegten institutionellen Vetospielern zählen in demokratischen Systemen das nationale Parlament sowie alle weiteren institutionellen Akteure, die im Gesetzgebungsprozess zustimmen müssen, wie etwa zweite Kammern in föderalen Systemen, der Präsident in präsidentiellen Systemen oder sogar das Volk. So gibt es z.B. in den USA zwei kollektive Vetospieler (Repräsentantenhaus und Senat) und einen individuellen Vetospieler (Präsident). Tsebelis (ebd.: 80 f.) weist zu Recht darauf hin, dass die institutionellen Regelungen nach Entscheidungsarten variieren können. So unterscheiden sich Verfassungsänderungen zumeist vom normalen Gesetzgebungsprozess, oder es gibt verschiedene Arten der Rechtsetzung, bei denen mehr oder weniger und unterschiedliche Vetospieler beteiligt sind. Wer die partisan Vetospieler sind, ergibt sich nicht aus der Verfassung, sondern aus dem politischen Prozess („political game“, ebd.: 79); sie agieren innerhalb der institutionellen Vetospieler. In parlamentarischen Systemen – charakterisiert durch die Funktionslogik des Gegenübers von Regierungsmehrheit und Opposition – können die jeweiligen Regierungsparteien als Vetospieler gelten. Selbst im Falle von Minderheitsregierungen bleibt (bleiben) die Regierungspartei(en) als AgendaSetzer und dank ihrer Positionierung im Zentrum des politischen Systems Vetospieler (ebd.: 97–99); zusätzlich hat aber auch das Parlament die Qualität eines kollektiven Vetospielers. Das Zusammenspiel von institutionellen und partisan Vetospielern verdeutlicht die Relevanz der absorption rule. Zweite Kammern sind im Prinzip dann als poten17 Es handelt sich hierbei nicht mehr um „harte“ Theoreme, da Tsebelis für kollektive Akteure lediglich mit einer Annäherung an das genaue winset arbeitet (vgl. Tsebelis 2002: 45–47).
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tielle kollektive Vetospieler zu betrachten, wenn sie ein echtes Vetorecht haben. Doch wenn die Mehrheitsverhältnisse in beiden Kammern eines Parlaments ähnlich sind und die Regierung in beiden Kammern über die Mehrheit verfügt, kann die zweite Kammer als Vetospieler gestrichen werden; es kommt keine zusätzliche Partei ins Spiel, deren Zustimmung benötigt wird.18 Im Falle einer oppositionellen Mehrheit in der Zweiten Kammer kann es je nach Zusammensetzung möglich sein, nur eine bestimmte Partei als zusätzlichen Vetospieler zu identifizieren. Ähnlich wie mit der Zweiten Kammer verhält es sich mit Präsidenten, wenn angenommen werden kann, dass deren Politikpositionen auf ihre Parteizugehörigkeit zurückgeführt werden können: In diesem Falle ist der (potentielle) institutionelle Vetospieler Präsident auf die Partei reduziert und je nach Mehrheitsverhältnissen im Parlament „absorbiert“. Gibt es Referenda, können auch die Bürger die Rolle eines Vetospielers einnehmen. Tsebelis konzeptualisiert die Bevölkerung als individuellen Vetospieler, dessen Position der des sogenannten Median-Wählers entspricht (ebd.: 118). Er ist der Wähler in der „Mitte“ des politischen Spektrums, ohne den auf beiden Seiten keine Mehrheit möglich ist (vgl. Hinich/Munger 1997: 33). Besonders relevant in Tsebelis’ Konzeptualisierung ist die Möglichkeit von Volksinitiativen im Gesetzgebungsprozess, da dann die Bevölkerung fallweise die Rolle des Agenda-Setzers übernimmt (ebd.: 134). Verfassungsgerichte sind laut Tsebelis in der Regel nicht zu den eigenständigen Vetospielern zu zählen, da sie durch politische Akteure besetzt werden und folglich das politische Spektrum der jeweils entscheidenden Akteure widerspiegeln. Der Richter des Verfassungsgerichts, der die Median-Position einnimmt, ist seiner Meinung nach innerhalb des unanimity cores des jeweiligen Systems angesiedelt, und damit wäre das Verfassungsgericht „absorbiert“ (Tsebelis 2002: 227). Zu Vetospielern können Verfassungsgerichte nur dann werden, wenn sie auf Grund ihrer (parteipolitisch basierten) Zusammensetzung außerhalb des „Kerns“ liegen; z.B. wenn die Richter auf Lebenszeit berufen wurden und die Mehrheitsverhältnisse sich seither geändert haben (USA, Frankreich). Ebenfalls müssen sie als Vetospieler berücksichtigt werden, wenn neue policies auf der Agenda stehen, die sich nicht in das bisherige politische Spektrum einordnen lassen. Bürokratien sieht Tsebelis generell nicht in der Rolle von Vetospielern, obwohl sie im politischen Prozess durchaus über erhebliche Macht verfügen mögen. Sie sind indessen bei der Formulierung und Umsetzung von Gesetzen stets an den unanimity core der eigentlichen Veto-
18 Es muss bei diesem Beispiel angenommen werden, dass die Präferenzen der Parteien in den einzelnen Kammern identisch sind und nicht z.B. auf Grund eines föderalen Kontextes divergieren.
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spieler gebunden; sie können zwar Spielräume innerhalb dieses Konsensbereichs nutzen, ihn aber nicht transzendieren (ebd.: 237).19 Anwendungen, Kritik und Weiterentwicklungen Wie schon erwähnt, erfreut die Vetospieler-Theorie sich wachsender Beliebtheit. In der Anwendung dominieren Versuche, die Performanz in bestimmten Politikbereichen mit der Zahl der Vetospieler zu erklären. Vor allem in der Wohlfahrtsstaatsoder Redistributionsforschung werden die Vetospieler gern als unabhängige Variable neben den ökonomischen verwendet (z.B. Huber et al. 1993; Schmidt 2002; Crepaz 2001). Die Generalisierbarkeit der gefundenen Schlüsse steht jedoch insofern in Frage, als in jeder Studie die Zählung der Vetospieler anders durchgeführt wird (vgl. Ganghof 2003: 7). Zu solchen Anwendungsproblemen gesellen sich konzeptionelle Fragen, die teilweise zu Veränderungen oder Weiterentwicklungen geführt haben. Markus Crepaz (Birchfeld/Crepaz 1998; Crepaz/Moser 2004) z.B. unterscheidet kollektive und kompetitive Vetospieler20, die jeweils unterschiedliche Wirkungen auf Politikergebnisse hätten. So förderten Koalitionsregierungen als kollektive Vetospieler, anders als von Tsebelis angenommen, auf Grund interner Tauschprozesse die Veränderung des Status quo, und nur kompetitive Vetospieler wie Zweite Kammern erhöhten wie von Tsebelis erwartet die policy-Stabilität. Mit der Tauschlogik führt er als gesonderten Erklärungsfaktor eine alternative Motivation der Akteure ein, die Koalitionspartner veranlasst, im politischen Prozess ihre Veto-Position nicht zu Blockaden zu nutzen. Die Annahmen, die Crepaz dem Verhalten der kollektiven Vetospieler zugrunde legt, basieren allerdings auf empirischen Indizien und bleiben theoretisch zweifelhaft. Auch Ganghof (2003) stellt die allein auf policy-Positionen beruhende räumliche Nutzenkalkulation der Vetospieler-Theorie in Frage. Er schlägt vor, das Motiv der Stimmenmaximierung in das Modell zu integrieren. Wenn nämlich (Regierungs-)Parteien erwarten, bei der nächsten Wahl dafür belohnt zu werden, dass überhaupt Politikveränderungen stattfinden, könnten sie bei policy-Entscheidungen auch solchen Lösungen zustimmen, die weiter von ihrem Idealpunkt entfernt lägen und der Idealposition z.B. einer von der Opposition kontrollierten Zweiten Kammer entgegenkämen. Ähnlich argumentiert Benz (2003: 19 Damit unterschätzt Tsebelis allerdings die Agenda-Setzer-Qualitäten mancher Ministerialbürokratien, die sie auf Grund ihres Informationsvorsprungs gegenüber der Politik auch nutzen. Der Prinzipal-Agenten-Ansatz ermöglicht es, die Auswirkungen der Informationsasymmetrien zwischen politischen Vetospielern (Prinzipale) und der Bürokratie (Agenten) zu analysieren (vgl. Cook/Wood 1989). 20 Crepaz spricht zwar von „Vetopunkten“, geht dabei aber auch von einem akteurszentrierten Verständnis aus, weshalb wir im Folgenden die Begrifflichkeit der Vetospieler beibehalten.
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212 f.), wenn er seinem „konstruktiven“ Vetospieler eine Motivation zur Einigung zuspricht, da Blockaden für die jeweils beteiligten Akteuren ungewollte politische Kosten verursachten. Die empirisch unleugbare Relevanz alternativer Faktoren, die den Überlegungen der Vetospieler zugrunde liegen, legt nahe, die enge Orientierung der Vetospieler-Theorie an der je einzelnen, konkreten Politikentscheidung und den policy-Präferenzen der Akteure aufzulockern. Eine offene Flanke der Vetospieler-Theorie ist auch die Abstraktion vom sequentiellen Ablauf politischer Prozesse. Z.B. muss es Konsequenzen für die Erklärungskraft ihrer Theoreme haben, wenn die Akteure selbst die institutionellen Regeln des Prozesses beeinflussen können. Stoiber und Thurner (2004) führen daher die Agenda-Kontrolle und die bedingte Involvierung eines Akteurs ein. Es ist wichtig, ob ein Vetospieler auf jeden Fall am Prozess beteiligt ist oder ob seine Involvierung von der Entscheidung eines anderen Akteurs abhängt. Ein gutes Beispiel hierfür sind Referenda, bei denen die Bevölkerung häufig nur bedingter Vetospieler ist, weil andere Akteure im politischen Prozess darüber entscheiden, ob es zu einem Referendum kommt oder nicht. Das schränkt die Macht eines solchen Vetospielers naturgemäß ein. Umgekehrt erhöht sich die Macht eines Akteurs, wenn er andere Vetospieler ins Spiel bringen kann, da er dadurch gegebenenfalls das bestehende winset so verkleinert, dass sich die noch möglichen Lösungen relativ nahe an seiner Idealposition befinden. Eine andere Chance der Agenda-Kontrolle kann darin bestehen, über unterschiedliche Rechtsetzungsarten entweder bestimmte Akteure auszuschließen oder die Mehrheitserfordernisse in Parlamenten zu bestimmen (Stoiber/Thurner 2004: 179). Dass politische Akteure sich solcher Weichenstellungen bewusst sind, zeigt das deutsche System, in dem Regierungen, die sich einer oppositionellen Mehrheit im Bundesrat gegenüber sehen, sehr gründlich darüber nachdenken, ob ein Gesetz zustimmungspflichtig ist oder doch als Einspruchsgesetz verpackt werden kann. Ein weiteres Problemfeld ist die Reduzierung auf Akteure mit formaler Abstimmungsmacht. Hier hat Kaiser (1998) das Alternativkonzept der Vetopunkte eingeführt, das es analytisch erlaubt, auch Akteure einzubeziehen, die mit Quasi-Blockademacht Einfluss auf das Politikergebnis ausüben. An Vetopunkten können Akteure situativ Vetomacht erhalten, ohne dass diese institutionell sanktioniert ist; er versteht sie als „eine institutionell angelegte Anreizstruktur für politische Akteure, Einflusschancen zu nutzen“ (Kaiser 1998: 538). Er identifiziert Vetopunkte der Konkordanz, der Delegation, der Expertise und legislative Vetopunkte. Zu den letzteren zählt er qualifizierte Mehrheitserfordernisse, Zweite Kammern oder Referenda, zu den Vetopunkten der Expertise Verfassungsgerichte und Zentralbanken. Bei den Vetopunkten der Konkordanz handelt es sich um institutionelle Arrangements (wie etwa ein Verhältniswahlsystem), die konsensuale Entscheidungen forcieren (indem
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z.B. Koalitionsregierungen nötig werden); man könnte sagen, das Ziel sei es, die Anzahl an Vetospielern zu erhöhen. Mit Vetopunkten der Delegation sind formale oder informelle Machtverlagerungen aus dem politischen Zentrum gemeint, z.B. durch die Übertragung bestimmter Kompetenzen an Organisationen und Gremien, die gesellschaftlichen Akteuren den Zugang zum politischen Entscheidungssystem eröffnen. Vor allem der letztere Aspekt führt deutlich über die VetospielerTheorie hinaus. Die konzeptionellen Überlegungen hinsichtlich der Handlungsmotive der Akteure sind eher für die an konkreten Politikergebnissen interessierte policy-Forschung relevant. Wir wollen hingegen im folgenden Abschnitt zeigen, wie die Frage nach bedingten Vetospielern und zusätzlicher Agenda-Kontrolle oder auch die nach der Existenz zusätzlicher Vetopunkte für den Vergleich politischer Systeme nutzbar gemacht werden kann.
1.5.2. Unsere Modifikation und die Vergleichskriterien Den konzeptionellen Wert des Vetospieler-Ansatzes wollen wir nutzen, indem wir daraus Kriterien ableiten, die es uns erleichtern, die Funktionsweise politischer Systeme zu vergleichen. Wie schon in unserer Eingrenzung des politischen Systems (s.o. Kap. 1.2.3) dargelegt, gehen wir wie Tsebelis von einem akteursorientierten, institutionenökonomischen Ansatz aus. Das Grundverständnis des politischen Prozesses als eine Interaktion von zielgerichteten (rationalen) Akteuren innerhalb eines bestimmten institutionellen Rahmens stimmt überein. Da uns jedoch der Vergleich politischer Systeme interessiert und Tsebelis’ Fokus auf konkreten Gesetzgebungsprozessen liegt, scheinen uns – auch im Lichte der diskutierten Probleme und Weiterentwicklungen – einige Modifikationen notwendig zu sein. Wenn wir in Kap. 2 die Regierungssysteme ausgewählter Länder vergleichen, geschieht dies zunächst unter dem expliziten Rückgriff auf die Frage nach den institutionellen Vetospielern. Verbunden ist deren Identifikation mit der Frage nach der Machtkonzentration, wie sie auch für Lijphart (1999) von zentraler Bedeutung ist. Gibt es neben dem Parlament weitere institutionelle Vetospieler, so finden sie sich zumeist auf Lijpharts zweiter Dimension (Unitarismus-Föderalismus) wieder: Zweite Kammern und Verfassungsgerichte. Je mehr institutionelle Vetospieler auszumachen sind, desto eher ist das betreffende Land demnach den Konsensdemokratien zuzuordnen. Wir möchten jedoch über die einfache Zählung der institutionellen Vetospieler hinausgehen und gehen dabei in vier Schritten vor: (1) Wichtig ist uns, zwischen verschiedenen Typen institutioneller Vetospieler zu unterscheiden. Wir schlagen vor, zwischen (mit)gestaltenden Vetospielern und sol-
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chen Akteuren zu differenzieren, die lediglich über ein nachträgliches Vetorecht verfügen. Wir schließen hier einerseits direkt bei Tsebelis an, indem wir die AgendaSetzer-Kompetenzen als zentrale Gestaltungsmöglichkeit definieren, berücksichtigen aber auch andere Formen der Agenda-Kontrolle (vgl. Stoiber/Thurner 2004, s.o.). Ebenso wollen wir nach Entscheidungsarten differenzieren: Ist ein Akteur bei allen Rechtsetzungsformen als Vetospieler zu berücksichtigen oder nur bei bestimmten Arten. Als Beispiel für eine solche Einschränkung kann der deutsche Bundesrat im Falle der Einspruchsgesetzgebung gelten. Auch der bedingte Vetospieler gemäß Stoiber/Thurner (2004) stellt einen eigenen Typ dar. Als Ergebnis kann so z.B. ein Vetospieler identifiziert werden, der in einigen Entscheidungsarten als gestaltender Akteur auftritt, in anderen jedoch lediglich mit blockierenden Vetorechten ausgestattet oder gar nur bedingt involviert ist. (2) Die Differenzierung des Konzepts legt eine Gradualisierung von Vetospielern nahe: Es gibt offenbar mächtigere und weniger einflussreiche Akteure mit Vetomacht. Als Kriterium können die Ressourcen dienen, über die die Akteure im Entscheidungsprozess verfügen. Mit der Agenda-Setzer-Funktion ist die Gradualisierung in Tsebelis’ Vetospieler-Theorie schon angelegt. Ist sie uneingeschränkt, kann der Agenda-Setzer den Punkt vorschlagen, der innerhalb des winsets seiner Idealposition am nächsten liegt. Dagegen sind Vetospieler, die sich einer take-it-or-leave-it Situation gegenübersehen, wie z.B. die Bevölkerung bei einem fakultativen Referendum, weniger einflussreich. Haben andere Vetospieler jederzeit die Möglichkeit, alternative Politikvorschläge zu formulieren, ist die Macht des Agenda-Setzers beschränkt. Wenn die Involvierung eines Akteurs als Vetospieler von der Entscheidung anderer Akteure abhängt, ist er offensichtlich weniger mächtig, umgekehrt steigen die Machtressourcen an, wenn ein Akteur zusätzliche Vetospieler ins Spiel bringen kann. Natürlich reduziert sich die Macht eines Akteurs in einem politischen System auch, wenn er nicht in allen Rechtsetzungsformen als Vetospieler fungiert. Aus den genannten Differenzierungen lässt sich eine Reihung der Vetospieler vornehmen, bzw. lassen sich über die politischen Systeme hinweg Akteure hinsichtlich ihrer (Einschränkung an) Einflussmöglichkeiten vergleichen. Mitgestaltende Vetospieler mit großen Machtressourcen werden im Folgenden als effektive Vetospieler bezeichnet. Zugleich bleiben allerdings die Präferenzen aller Vetospieler und die Position des Status quo zentrale Determinanten des Ausmaßes, in dem ein bestimmter Akteur letztendlich eine Politiklösung in die Nähe seiner Idealposition bewegen kann. (3) Zur genaueren Charakterisierung politischer Systeme werden wir das von Tsebelis so genannte „politische Spiel“ berücksichtigen. Allein die Verfassungslage (polity) von Regierungssystemen reicht für den Vergleich ihrer Funktionsweise
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nicht aus. Wir müssen uns in den politics-Bereich begeben und rücken die grundlegenden Mechanismen des jeweiligen Parteienwettbewerbs in den Fokus der Untersuchung. Das Ziel ist die Identifikation der tatsächlichen Vetospieler und ihrer Effektivität. Unter Verwendung der absorption rule ist zu prüfen, ob Parteien sich an Stelle der jeweiligen Institutionen als Vetospieler qualifizieren und so gegebenenfalls einzelne institutionelle Vetospieler nicht weiter berücksichtigt werden müssen. Dabei ist zu bedenken, dass das mit den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen variieren kann. Während es sich also bei den institutionellen Vetospielern zumindest formal um dauerhafte handelt, können die partisan Vetospieler auch als situative bezeichnet werden. Gleichwohl gibt es Regelmäßigkeiten des politischen Prozesses, die sich immer wieder durchsetzen. So kann z.B. in Großbritannien in der Regel davon ausgegangen werden, dass es Einparteienregierungen gibt; demnach kann hier der institutionelle Vetospieler dauerhaft durch die Regierungspartei ersetzt werden. In Frankreich dagegen haben wir situationsbedingt mehr oder weniger Vetospieler, je nachdem ob Staatspräsident und Regierungsmehrheit demselben politischen Lager entstammen oder nicht (s.u. Kap. 2.2.4.). (4) Zur Charakterisierung von politischen Systemen scheint es jedoch unzureichend zu sein, nur Regierungsinstitutionen und Parteien zu berücksichtigen: Häufig spielen auch gesellschaftliche Akteure (von Interessenverbänden bis zur Mafia) eine buchstäblich durchschlagende Rolle. Um sie in unser Vergleichskonzept einbauen zu können, bedienen wir uns des oben vorgestellten Vetopunkt-Ansatzes von Kaiser (1998). Vetopunkte der Delegation sind ein besonderes Charakteristikum einiger politischer Systeme. Entscheidungsmacht wird in bestimmten Politikbereichen nicht nur an supra- und substaatliche Organisationen oder Behörden ausgelagert, sondern auch an Gremien, in denen Interessengruppen beteiligt sind. Solche Gremien funktionieren häufig nach dem Konsensprinzip, was den beteiligten Akteuren eine (zumindest informelle) Veto-Position gibt. In den von solchen Arrangements betroffenen Politikbereichen sind die jeweiligen gesellschaftlichen Akteure auf Grund ihrer Quasi-Blockademacht ebenfalls als situative Vetospieler zu bezeichnen. Das gleiche gilt, wenn gesellschaftliche Akteure über Vetopunkte der Expertise direkt ins staatliche Entscheidungssystem einbezogen werden und so die Qualität eines Agenda-Setzers erhalten. Auf der Basis der Identifikation verschiedener Typen von Vetospielern (1, 3 und 4) und ihrer graduellen Machtressourcen (2) nehmen wir eine Einteilung der Systeme hinsichtlich ihrer Machtkonzentration bzw. -fragmentierung vor. So besteht dann ein eindeutiges Machtzentrum, wenn es (a) nur einen Vetospieler gibt oder (b) andere Vetospieler nur über eingeschränkte Ressourcen verfügen, weil sie z.B. nur bei wenigen Entscheidungsarten Vetomacht haben oder nicht von sich aus tätig wer-
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den können. Demgegenüber herrscht Machtfragmentierung vor, wenn viele Akteure mit Vetomacht ausgestattet sind und diese auch effektiv nutzen können. Doch kann eine Einordnung der einzelnen Systeme durchaus situativ variieren, wie eben am Beispiel Frankreich angedeutet. Auch Lijpharts (1999) Typologisierung von Mehrheits- und Konsensdemokratien folgt der Frage nach Machtkonzentration und Machtfragmentierung. Neben der institutionell angelegten Machtfragmentierung auf der Föderalismus-Unitarismus Dimension berücksichtigt er mit seiner ersten Dimension (Parteien – Exekutive) ebenfalls das political game des Parteienwettbewerbs. Ein entscheidender Unterschied zu unserer Konzeptualisierung der Vetospieler-Theorie besteht jedoch darin, dass Lijpharts Merkmale eines Konsenssystems mögliche Anreizstrukturen zur Herstellung eines Konsenses darstellen, während in unserem Fall eindeutige Aussagen über die jeweiligen dauerhaften bzw. situationsbedingten Veto-Akteure getroffen werden, die zur Herstellung eines Konsenses notwendig sind. Darüber hinaus zielt Lijpharts Berücksichtigung von effektiver Parteienzahl und Koalitionstypen mit der Durchschnittsbildung über die Jahre hinweg auf eine feste Einordnung der politischen Systeme, während unsere Konzeptualisierung es erlaubt, auch situationsbedingt abweichende Aussagen über Machtkonzentration oder Machtfragmentierung zu treffen und so die Funktionslogik eines Systems genauer zu bestimmen. Wir wollen den Parteienwettbewerb jedoch nicht allein auf seine Funktion als political game zur Identifikation von Vetospielern und damit verbunden einer Einordnung von ausgewählten Regierungssystemen reduzieren. Darüber hinaus interessieren uns die Machtrelationen innerhalb von Parteiensystemen und die Einflüsse, die von ihnen auf Politik und Gesellschaft ausgehen. Beim Vergleich der Parteiensysteme in Kap. 3 heißt unser Vergleichskriterium darum Existenz und Grad von Dominanzstrukturen. Die Begründung ergibt sich z.T. aus dem schon thematisierten Zusammenspiel von partisan Vetospielern mit den institutionellen Vetospielern: (a) Parteien dominieren einen – oder mehrere – oder alle institutionellen Vetospieler, woraus sich ein (alternatives) Maß für party government (vgl. Katz 1986, 1987) ergibt; (b) nur eine Partei – oder mehrere – oder viele Parteien sind in der Lage, das Handeln der institutionellen Akteure zu bestimmen, woraus ein Maß für die Asymmetrie von Parteiensystemen sowie eine Deutung der Sartorischen Parteiensystemtypen folgt. In Kap. 3.1. werden wir auf diese Punkte näher eingehen. Ähnliches gilt für die Interessenvermittlungssysteme. Uns interessieren nicht allein Vetopunkte der Delegation und der Expertise, sondern auch in besonderer Weise die Verbindungen zwischen Interessenverbänden und Vetospielern. In Kap. 4.1 fragen wir zum einen nach den Zugangsmöglichkeiten gesellschaftlicher Akteure zu den institutionellen Vetospielern, und zwar wieder in der Dopplung: (a) gibt es Zugangsmöglichkeiten zu einem – mehreren – allen institutionellen Ve-
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
tospielern; (b) finden alle – nur einige – oder gar nur einer der gesellschaftlichen Akteure solchen Zugang. Das Vergleichskriterium heißt dementsprechend Inklusivität oder Exklusivität und zielt auf das Ausmaß von Einfluss und die Selektivität der Interessenberücksichtigung. Hiermit schließen wir an die Diskussion um korporatistische oder pluralistische Interessenvermittlung an. Schließlich wollen wir (c) noch das Ausmaß der Verflechtung mit institutionellen und partisan Vetospielern untersuchen, woraus sich ein zusätzlicher Indikator für Dominanz ergibt. Tabelle 4 fasst unsere Konzeptualisierung zusammen. In ihr finden sich die Ausgangselemente bei Tsebelis, unsere Modifikationen und die daraus abgeleiteten Vergleichskriterien für unsere Vergleiche in den folgenden Kapiteln. Tabelle 4: Von der Vetospieler-Theorie zu Vergleichskriterien Tsebelis
Modifikation
Vergleichskriterium
Vergleich von Regierungssystemen Institutionelle VP
–
• Identifikation institutioneller VP in der Verfassung
Differenzierung nach Entscheidungsarten
–
• Identifikation der institutionellen VP nach den Entscheidungsarten
Agenda-SetzerFunktion
• Agenda-Kontrolle • Gradualisierung der Akteursmacht
• Mitgestaltender vs. nachträglicher VP • Bedingter VP
Partisan VP
• Situative VP
• Dauerhafte vs. situative VP
• Vetopunkte der Delegation / der Expertise
• Gesellschaftliche situative VP
• Fazit: Machtkonzentration vs. Machtfragmentierung Vergleich von Parteiensystemen Partisan VP
• Parteienstaatlichkeit
• Dominanzstrukturen: a) Grad der Kontrolle der VP durch Parteien und b) Asymmetrie der Kontrollmacht
Vergleich von Interessenvermittlungssystemen –
• Vetopunkte der Delegation / der Expertise • Einfluss gesellschaftlicher Akteure
• Zugang gesellschaftlicher Akteure zu institutionellen VP (Inklusivität vs. Exklusivität) • Dominanzstrukturen: Verflechtung mit Parteien und institutionellen VP
Von der Vetospieler-Theorie zu Vergleichskriterien
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1.5.3. Zur Auswahl der Vergleichsländer Bevor wir nun wirklich mit dem Vergleichen beginnen, wollen wir noch kurz erläutern, warum wir welche Länder in unser Sample einbezogen haben. Zunächst hielten wir es für sinnvoll, uns innerhalb der Gruppe der demokratischen Staaten auf europäische Länder zu beschränken und darunter auf Mitgliedstaaten der Europäischen Union – mit der einen Ausnahme Schweiz, auf die wir gleich zurückkommen. Dieses erste Auswahlkriterium ist zum einen ganz pragmatisch damit begründet, dass wir glauben unterstellen zu können, dass die betreffenden Länder dem Leser nicht gänzlich fremd sind, er also die Systemmerkmale, die wir jeweils vorführen, besser nachvollziehen, bewerten oder auch kritisieren kann, als wenn es um völlig fremde Kulturen geht. Zum zweiten verfügen die europäischen Länder über einen Grundbestand an kulturellen Gemeinsamkeiten, was uns der Notwendigkeit enthebt, darüber nachzudenken, ob unsere Vergleichskriterien denn wirklich passen und nicht manchen Ländern Gewalt antun (wie oben im Zusammenhang mit Barrington Moores Studie angemerkt). Damit folgen wir dem MSSD, um davon ausgehend Unterschiede in der konkreten Funktionsweise der betreffenden politischen Systeme aufzuspüren. Unter den EU-Mitgliedern haben wir die ostmitteleuropäischen Länder systematisch ausgeschlossen, und zwar deshalb, weil sie als Transitionsländer noch nicht über gefestigte politische Kulturen, stabile Parteiensystem-Strukturen etc. verfügen, bestimmte Regimetypen z.T. erst einmal „ausprobieren“, also die institutionelle Stabilität fehlt (z.B. Polen). Die Auswahl unter den verbleibenden europäischen Ländern folgt der Grundregel, ob oder ob nicht sie jeweils für einen markanten Typ in eingeführten Typologien stehen (von denen wir einige in Kap. 1.4. vorgestellt haben). Hierbei berücksichtigen wir nicht nur Regimetypen, sondern auch Typen von Parteiensystemen und solche von Interessenvermittlungssystemen (vgl. zum letzteren Abromeit 1993a). Das Auswahlkriterium wird ergänzt durch das des Typ- oder Systemwandels (findet z.B. gerade ein Wandel weg von Korporatismus und Konkordanz hin zu Pluralismus und Konkurrenz statt?), was ein politisches System naturgemäß besonders interessant macht und zu Überlegungen darüber anregt, warum wann welche Wandlungsprozesse eintreten (Fragen, die Politikwissenschaftler im Allgemeinen leider erst nachträglich beantworten können). Die nachfolgende stichwortartige Vorweg-Charakterisierung der ausgewählten Länder will die Auswahlprinzipien konkretisieren: > Großbritannien und die Schweiz sind in einem Atemzug zu nennen, weil sie gleich in mehreren Typologien die entgegengesetzten Extremtypen bilden. Während Großbritannien geradezu den Idealtyp der reinen Konkurrenz- bzw. Mehr-
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Theoretische Grundlegung: Varianten und Kriterien des Vergleich
heitsdemokratie darstellt, ist die Schweiz eine Konsens- bzw. Verhandlungsdemokratie in Reinkultur (vgl. Lijphart 1999: 248); haben wir im einen Fall ein reines parlamentarisches System, so im anderen das größte Ausmaß an direkter Demokratie, das oberhalb der kommunalen Ebene überhaupt machbar erscheint; entsprechend wird das eine System vom Prinzip der Parlamentssouveränität, das andere von dem der Volkssouveränität geprägt (vgl. Abromeit 1995); galt Großbritannien bis vor kurzem als Inkarnation eines unitarischen Staates, so die Schweiz als Inkarnation des Föderalismus. Auch auf dem von uns konzeptualisierten Kontinuum von Machtkonzentration zu Machtfragmentierung bilden beide politischen Systeme demnach die Endpunkte. Darüber hinaus führt Großbritannien modellhaft die Funktionsweise des Zweiparteiensystems vor, lässt sich als Parteienstaat qualifizieren und steht für pluralistische Interessenvermittlung; demgegenüber gibt es wenige Systeme mit so vielen relevanten Parteien wie die Eidgenossenschaft, und sie gilt überdies als Verbändestaat. Schweden kommt dem Idealtyp des reinen parlamentarischen Systems recht nahe; auch hier gilt die Doktrin der Parlamentssouveränität. Mit seinem Einkammer-Parlament verkörpert es den Idealtyp theoretisch sogar noch eher als Großbritannien. Weiteres Charakteristikum sind die häufigen Minderheitsregierungen, die das Land unter dem Gesichtspunkt der Vetospieler-Theorie besonders interessant werden lassen, sowie die Einbindung gesellschaftlicher Akteure in das staatliche Entscheidungssystem. Frankreich darf, als semi-präsidentielles System, in einem Vergleich wie dem unsrigen nicht fehlen. Zudem galt es lange als ein Musterbeispiel für den NichtParteienstaat und steht für ausgeprägte Dominanz der Bürokratie. Die Niederlande waren noch in den 1970er Jahren das politische System, von dem Lijphart seine Vorstellung vom Typ der Konsens- oder Konkordanzdemokratie bezog (Lijphart 1977). Mittlerweile gibt es Entwicklungstendenzen in Richtung Konkurrenz, doch finden sich weiterhin konsensuale Elemente wie Koalitionsregierungen mit mehreren Parteien und eine (neo)korporatistische Interessenvermittlung. Auch Finnland hat sich gewandelt: von einem semi-präsidentiellen zu einem parlamentarischen System mit einem Staatspräsidenten, der nurmehr über begrenzte Machtressourcen verfügt. Besonderes Kennzeichen sind die über lange Jahre üblichen übergroßen Koalitionsregierungen mit vier und mehr Parteien, deren parlamentarische Basis über 60% hinausging. Italien stand bis 1992 für den Typ des Parteienstaats bei Existenz vieler Parteien und (lt. Sartori) sogar für den Typ des polarisierten Pluralismus. Vom Regimetyp ist es ein parlamentarisches System, aber mit ausgeprägten Besonderheiten. Was das Land für uns besonders interessant macht, ist die Frage, ob die seit
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1992 eingetretenen Änderungen vor allem (aber nicht nur) im Parteiensystem tatsächlich zu einem Systemwechsel geführt haben oder noch führen werden. > Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in den meisten der im Zusammenhang mit Großbritannien und der Schweiz genannten Typologien und Kontinua in etwa in der Mitte. Als „unitarischer Bundesstaat“ (Hesse 1962) verkörpert es in einer dieser Dimensionen allerdings einen eigenen Typ: den des BeteiligungsFöderalismus, der das politische System insgesamt in die Nähe der Konsensdemokratie rücken kann. > Auch Österreich ist in diese föderalistische Schublade einzuordnen. Interessanter wird sein politisches System indessen dadurch, dass es bisher als Idealtyp des Korporatismus gelten konnte – ein Systemmerkmal, das sich im letzten Jahrzehnt jedoch abschwächt (womit wir hier einen weiteren Fall haben, bei dem wir einen möglichen Systemwandel diskutieren können). Die vorgenommene Reihung folgt – hier noch eher intuitiv – damit der Zahl der Vetospieler und dem Grad an Machtfragmentierung, die das jeweilige politische System kennzeichnen. In graphischer Darstellung ergibt sich daraus das folgende Bild: Abbildung 7: Die ausgewählten Vergleichsländer und ihre erwartete Machtfragmentierung Machtfragmentierung GB
SWE
F
ITA
FIN
NL
D
AUT
SUI
Die Pfeile geben die Richtung des beobachtbaren/vermuteten Wandels an.
Mit diesem Sample von neun Ländern befinden wir uns im Übrigen zwischen dem Vorgehen der cross-national study und dem Vergleich mit geringer Fallzahl („focused comparison“). Das heißt, wir haben mit einer Fallzahl zu tun, bei der der Vergleich schon ein Mindestmaß an Formalisierung erfordert (weshalb wir uns so viel Mühe mit der Entwicklung von Vergleichskriterien gegeben haben), andererseits aber noch hinreichende Information, nämlich die einigermaßen plastische Charakterisierung der verschiedenen politischen Systeme erlaubt.
2. Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
Konzentration 2.1. Regierungssystemen Vetospieler oderund Fragmentierung Regimetypender Staatsmacht: Vergleich von Unser Hauptkriterium Vetospieler und Regimetypen beim Vergleich von Regierungssystemen ist die Frage nach Machtkonzentration oder Machtfragmentierung, was sich, wie oben erläutert, beides nach der Zahl und Art der Vetospieler bemisst. Von den gängigen Regierungssystem-Typologien weichen wir damit auf den ersten Blick weniger ab als man vielleicht vermuten könnte, denn die Regimetypen unterscheiden sich in der Tat nach der Art und Zahl der institutionellen Vetospieler, die den politischen Prozess bestimmen. Nehmen wir die übliche Dichotomie parlamentarische vs. präsidentielle Systeme als Ausgangspunkt, dann verfügt, in äußerster Abstraktion, das parlamentarische System über die geringste Zahl, nämlich einen (das Parlament), das präsidentielle System dagegen über zwei (Präsident und Parlament). Die Realität des political game allerdings ist in der Regel komplizierter und die Zahl der Akteure mit Vetomacht höher. So ist im parlamentarischen System der entscheidende Agenda-Setzer und damit Vetospieler typischerweise die Regierung und nicht das Parlament, das in der Regel mit seiner Mehrheit die Regierung unterstützt und damit unter die absorption rule fällt, also als Vetospieler ausfällt. Das ändert sich allerdings, wenn die Regierung über keine stabile Mehrheit im Parlament verfügt, was mehrere Gründe haben kann: Der Regierungschef kann sich zu weit von seiner Partei entfernen und die Regierungsfraktion nicht oder nur noch in Teilen auf seiner Seite haben; bei Regierungskoalitionen spielen nicht alle Fraktionen bei den Kompromissen der Regierung mit; oder es kann von vornherein nur ein Minderheitskabinett geben, das auf zusätzliche Stimmen aus dem Parlament angewiesen ist. In diesen Fällen werden die Regierungsfraktionen bzw. das gesamte Parlament zu Vetospielern. Gehen wir nun noch davon aus, dass das Parlament aus zwei Kammern besteht, von denen beide im Gesetzgebungsprozess eine Rolle spielen, haben wir es schon mit mindestens drei Vetospielern zu tun, von denen die Parlamentsfraktionen jedoch situative sind. Allerdings sind nicht alle von gleichem Gewicht, wenn nämlich die zweite Kammer nicht die gleichen Rechte hat wie die erste, was in der Tat für parlamentarische Systeme typisch ist. Im Falle identisch besetzter Kammern fällt die Zweite
Vetospieler und Regimetypen
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Kammer überdies der absorption rule zum Opfer, es sei denn, die Präferenzen der Abgeordneten sind nicht primär parteipolitisch determiniert. Auch im präsidentiellen System besteht das Parlament häufig aus zwei Kammern. Statt zwei haben wir hier demnach drei institutionelle Vetospieler, die zumeist auch als solche erhalten bleiben. Der Systemtyp geht nämlich häufig mit eher schwachem Parteiensystem einher, womit die Anwendung der absorption rule entfällt. Selbst bei übereinstimmenden Mehrheitsverhältnissen z.B. in beiden Kammern des amerikanischen Kongresses kann man auf Grund der schwach ausgeprägten Parteidisziplin keine identische Zusammensetzung der beiden Kammern unterstellen, bzw. bei gleicher Parteizugehörigkeit von Präsident und Mehrheitsparteien keine identischen Positionen der Akteure. Nun existiert in einigen Ländern noch der Mischtyp des semi-präsidentiellen Systems. Hier lässt sich im Grunde übertragen, was eben für das parlamentarische System gesagt wurde: Es kann zwei Kammern geben, die Regierungen können auf Koalitionen basieren oder sogar Minderheitsregierungen sein. Andererseits können Präsident und Regierungschef derselben Partei entstammen (absorption); zudem kann der Präsident mit dem einen oder anderen der institutionellen und situativen Akteure paktieren und auf diese Weise (via absorption) die Zahl der Vetospieler situativ wieder reduzieren. Wie man daraus sieht, ist dieses System ein komplizierter Fall: Die aktuelle Zahl der Vetospieler wird variieren und ist damit ungewiss. Einen besonderen Fall stellt der Bundesstaat dar. Als Mindestzahl an Vetospielern können wir hier drei annehmen: Regierung mitsamt Parlamentsmehrheit, Ländervertretung (zweite Kammer) und die Länder selbst, die in Gesetzgebung, Implementation und in Finanzfragen über Einspruchs- und Mitgestaltungsrechte verfügen. Für Bundesstaaten typisch ist die Existenz eines besonderen Gerichts, das die allfälligen Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern schlichtet; dieser Oberste Gerichtshof kommt als vierter Vetospieler fallweise ins Spiel. Und natürlich gibt es auch in Bundesstaaten auf Grund ihrer gesellschaftlichen Heterogenität häufig Koalitionsregierungen. Die Gesamtzahl an Vetospielern ist in Bundesstaaten demnach im Allgemeinen recht hoch, weshalb sie zu Recht gern als Verhandlungsdemokratien charakterisiert werden. Zahl und Gewicht der – institutionellen wie situativen – Vetospieler variieren überdies. Auch hier ist die aktuelle Zahl der Vetospieler grundsätzlich ungewiss. Wie schon oben erläutert, reicht es zur Charakterisierung von Regierungssystemen aber nicht, die Vetospieler zusammenzuzählen: Sie sind von unterschiedlicher Bedeutung, spielen nicht immer alle und gleichzeitig diese Rolle, interagieren mal mehr, mal weniger; und hierzu gibt es keine festen Regeln, die für bestimmte Institutionen-Konstellationen – noch gar über die Regimetypen hinweg – Gültigkeit besäßen. Zum Beispiel qualifizieren sich zweite Kammern nicht immer als Veto-
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
spieler, noch ist ein Staatspräsident, der Prüfungs- oder auch Einspruchsrechte gegenüber der Regierung besitzt, stets als Vetospieler anzusehen. Man muss beim Vergleich folglich nicht nur gewichten, sondern zugleich nach system-typischen Prozessverläufen und Interaktionsmustern suchen. Und genau darum reicht es nicht aus, sich beim Vergleich von Regierungssystemen auf die Lektüre von Verfassungstexten zu beschränken. Was uns zudem wichtig erscheint, ist die Unterscheidung zwischen Normalfall und Ausnahmefall. Carl Schmitt (1934: 11) formulierte: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Damit meinte er zwar etwas anderes als wir mit dem Ausnahmefall, und er hatte auch eher den Diktator (d.h. den Akteur „mit diktatorischen Vollmachten“, der an Normen nicht gebunden ist) im Sinn als die (zumeist kollektiven) Akteure, die wir im Auge haben. Gleichwohl weist der Satz auf etwas Richtiges hin: Neben den politischen Alltagsroutinen, von einem oder mehreren mächtigen Akteuren dominiert, kennen manche Verfassungsordnungen einen weiteren Akteur, der nur manchmal – sozusagen bei besonderen Gelegenheiten – ins Spiel kommt, dann aber in der Lage ist, die Ergebnisse des bisherigen politischen Entscheidungsprozesses auf den Kopf zu stellen und Entscheidungen zu fällen, die letztgültig sind und die die anderen Akteure folglich akzeptieren müssen. Diesen Akteur kann man den „Letztentscheider“ nennen; und insofern das Letztentscheidungsrecht nur ein anderes Wort für Souveränität ist (vgl. Abromeit 1995), hätte er als der „Souverän“ zu gelten. Nicht immer, aber häufig wird er mit der pouvoir constituant zusammenfallen, die qua definitionem nicht an das – gesetzte – Recht gebunden ist. Als Souverän steht er im Zentrum mancher nationaler Verfassungsdoktrinen und ist er von den betreffenden Verfassungen mit besonderer Dignität versehen. Will man hinter die geheime Logik von Entscheidungssystemen kommen, sollte man den Letztentscheider (wenn es denn einen solchen gibt) nicht außer Acht lassen, denn die das Alltagsgeschäft bestimmenden Akteure werden im Allgemeinen bestrebt sein, seine Entscheidungen zu antizipieren – präziser: zu verhindern versuchen, dass er mit seiner Vetomacht ins Spiel eingreift. Da er solchermaßen die Interaktionen der übrigen Akteure beeinflusst, ist er ein Vetospieler der besonderen Art: nicht (im Normalfall) mächtig, aber im Zweifelsfall ausschlaggebend und vor allem nicht überstimmbar.1 Neben dem Grad der Machtkonzentration ist darum die Frage nach dem Letztentscheidungsrecht ein wichtiges Vergleichskriterium. Nicht in allen politischen Systemen lässt sich allerdings ein entsprechender Souverän eindeutig identifizieren. Keinesfalls sollte man aber den Letztentscheider und das Machtzentrum verwech1 Damit entzieht er sich zugleich unserer oben getroffenen Unterscheidung in „effektive“ und „eingeschränkte“ Vetospieler: Er ist zwar eingeschränkt, aber gleichwohl in besonderem Maße auch effektiv.
Die Regierungssysteme im Überblick
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seln; sie sind in systematischer Betrachtung nicht identisch und fallen realiter nur selten zusammen. Unser Überblick über die neun ausgewählten Regierungssysteme wird sich im Wesentlichen an die folgende Gliederung halten: (1) Zunächst und quasi einführend wird eine Art Gesamtbild erstellt, der Typ des Regierungssystems sowie seine Genese kurz charakterisiert und (falls vorhanden) die Verfassungsdoktrin erläutert, auf der er beruht. (2) In der Darstellung des gesamtstaatlichen Entscheidungssystems, namentlich der Prozesse von Regierungsbildung und Normsetzung, werden die Vetospieler vorgestellt und ihr Einfluss differenziert. (3) Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Zusammenspiel von institutionellen und situativen Vetospielern, wobei die letzteren durchaus nicht nur partisan Vetospieler sein müssen. (4) Auch spezifische Besonderheiten werden in den Blick genommen, die prima facie vielleicht nicht unter das Vetospieler-Konzept subsumierbar scheinen, die Interaktion der Vetospieler aber beeinflussen und ihre Machtrelationen modifizieren. Entsprechende Modifikationen ergeben sich insbesondere aus neuen Entwicklungen – nicht zuletzt in Zusammenhang mit der EU – und Wandlungstendenzen. (5) Die Auswertung erfolgt dann unter den eben genannten Gesichtspunkten Machtkonzentration und gegebenenfalls Letztentscheidungsrecht und wird jeweils mit einer Grafik abgerundet. Den Leser sollte nicht irritieren, dass bei der Erläuterung der Funktionsweise der einzelnen Regierungssysteme notgedrungen immer wieder auf die jeweiligen Parteiensysteme Bezug genommen werden muss. Sie werden im anschließenden zweiten Kapitel genauer vorgestellt.
2.2. Die Regierungssysteme im Überblick Die Regierungssysteme 2.2.1. Großbritannien im Überblick (1) „Westminster model“ nennt man den Urtyp des parlamentarischen Systems, und zwar deshalb, weil dieser Typ sich erstmals in Großbritannien herausbildete und anschließend von vielen Staaten, die den Weg zur repräsentativen Demokratie beschritten, zum (vielfach missverstandenen) Modell genommen wurde. Kernelemente des Modells sind die – formale – Suprematie des Parlaments, präziser: des Unterhauses, und daraus folgend der Mangel an Gewaltenteilung. Das deutet von vornherein auf ein Höchstmaß an staatlicher Machtkonzentration hin. Die Suprematie des Parlaments blickt auf eine jahrhundertealte Tradition zurück, die nicht mit entsprechend langer demokratischer Praxis gleichgesetzt werden sollte, war doch das Parlament, das schon im Mittelalter seine Rechte gegenüber
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
dem Monarchen abzugrenzen und zu sichern begann, eine Adels- und keine (gewählte) Volksvertretung. Um das Machtgerangel zwischen dem Monarchen – dem Souverän – und dem Adel auf den Begriff zu bringen, wurde 1534 die Formel des „King in Parliament“ geprägt, die gewissermaßen eine Machtbalance oder Souveränitätsteilung zum Ausdruck bringen wollte: Nicht der König für sich war demnach der Souverän, sondern nur der König, der gemeinsam mit dem Parlament agierte. Nachdem in der Bill of Rights und im Act of Settlement (1689 bzw. 1701), die die Ergebnisse der Glorious Revolution von 1688 nachvollzogen, die „supremacy of Parliament in law“ festgeschrieben worden war, ging die Souveränität endgültig auf das Parlament über. Seither wird das britische Regierungssystem von der Verfassungsdoktrin der „parliamentary sovereignty“ bestimmt. Das Prinzip ist nicht aus irgendeiner Demokratietheorie abgeleitet, sondern hat umgekehrt die später aufkommenden Demokratietheorien nachhaltig beeinflusst und noch nachhaltiger das parlamentarische System Großbritanniens geprägt. Seinen prägnantesten Ausdruck fand es in A. V. Diceys „Introduction to the Study of the Law of the Constitution“ (1885): „The principle of Parliamentary sovereignty means neither more nor less than this, namely, that Parliament ... has ... the right to make or unmake any law whatever; and, further, that no person or body is recognised by the law of England as having the right to override or set aside the legislation of Parliament“ (1959: 39 f.). Hier haben wir es also mit einer Verfassungsdoktrin zu tun, die nicht nur einen Letztentscheider identifiziert, sondern ihn zugleich zum alleinigen Machtzentrum erklärt. Statt um einen Verfassungssatz handelt es sich „nur“ um die Interpretation der Logik des Regierungssystems, über die in Staatsrecht und politischer Klasse indessen (noch) weitgehend Konsens herrscht (zu Aufweichungstendenzen s. z.B. Mount 1992; Foley 1999). (2) Der Begriff Parlamentssouveränität zielt auf mehr und anderes als auf die ansonsten für parlamentarische Regierungssysteme typische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der gewählten Volksvertretung, die ihrer Logik nach ein Derivat der Volkssouveränität ist: Sie zielt auf die plena potestas des Parlaments. Die wiederum lässt keine anderen Mächte neben oder gar über dem Parlament zu. Die Gesetzgebungsmacht des Parlaments ist prinzipiell unbeschränkbar und unteilbar. Die Parlamentsmehrheit ist nicht gebunden an eine Verfassung (die es nicht gibt2), nicht an gesetztes Recht (das sie jederzeit ändern kann; kein Parlament kann und darf demzufolge Entscheidungen treffen, die ein nachfolgendes binden), nicht an besondere Verfahrensvorschriften, die dem Schutz von Minderheiten dienen könn2 – und nach der Logik der Parlamentssouveränität auch nicht geben darf: Die bloße Existenz einer geschriebenen Verfassung ist nicht nur „inkompatibel“ mit der „absolute legislative sovereignty“ des Parlaments, sondern implitziert obendrein „the predominance of the judiciary“ (Dicey 1959: 145; 175).
Die Regierungssysteme im Überblick
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ten (so kennt das britische Verfassungssystem auch kein Erfordernis qualifizierter Mehrheiten bei bestimmten Entscheidungen); etc. Sie bindet sich nur selbst – indem sie „weise Selbstbeschränkung“ übt und die rule of law akzeptiert, die primär dem Schutz der Individualrechte dient (woran sie allerdings gelegentlich von den Gerichten erinnert werden muss), und sich an tradierte Konventionen hält. Entsprechend stromlinienförmig ist das staatliche Entscheidungssystem. Im Prinzip kennt es nur einen einzigen mit Entscheidungsmacht ausgestatteten Akteur: die Mehrheit des Unterhauses. Diese Mehrheit stellt indessen nicht nur die Regierung, sondern hat zugleich ihre plena potestas an sie abgegeben, denn die Regierung bereitet die Entscheidungen vor, ist weitgehend alleinige Agenda-Setzerin. Innerhalb der Regierung wiederum dominiert der Premierminister, auf den gewissermaßen die königliche (Personal-)Prärogative übergegangen ist. Er legt zum einen – zunächst im Wahlmanifest, später im Regierungsprogramm (das die Königin alljährlich im vollen Ornat vor den beiden Kammern des Parlaments zu Gehör bringt) – fest, was alles zu entscheiden und zu reformieren ist. Zum anderen hat er im Hinblick auf seine Minister das Recht „to hire and fire“ und ernennt die party whips, die dafür Sorge tragen, dass die Regierungsfraktion nicht aus dem Ruder läuft, sowie die parliamentary secretaries: ein personalpolitisches Instrument, mittels dessen einflussreiche und potentiell gefährliche Parlamentarier an die Regierungsleine genommen werden. Der Einfluss des Premierministers reicht also weit in die Regierungsfraktion hinein. Indirekt erstreckt er sich sogar auf die Judikative. Insgesamt ist der Premier in einem Maße bestimmend und verfügt über ein so hohes Maß an AgendaKontrolle, dass die Briten selbst ihr eigenes Regierungssystem seit längerem als „prime ministerial government“ (zuerst Mackintosh 1962) bezeichnen und sogar schon von „elective dictatorship“ (so ein Ausspruch von Lord Hailsham, 1976) die Rede war. Und so ist denn die Souveränität des Parlaments nur „the constitutional cloak“ für die Autonomie des Premiers (Judge 1993: 193). Im staatlichen Entscheidungssystem gibt es demnach nur einen einzigen wirklichen Vetospieler, und im politischen Alltagsgeschäft ist das der Premierminister. Das Unterhaus kann als zweiter, situativer Vetospieler nur dann ins Spiel kommen, wenn die Regierungsmehrheit zerstritten ist, wenn die Machtmittel des Prime Ministers gegenüber seiner eigenen parliamentary party versagen und er ihr Vertrauen verliert. Das bleibt indessen der Ausnahmefall. Obwohl das Parlament aus zwei Kammern besteht, qualifiziert sich die zweite Kammer – das Oberhaus (nach wie vor die Adelsvertretung) – nicht als Vetospieler. Im 20. Jhd. wurde ihr Einfluss schrittweise auf ein Minimum reduziert; seit dem Parliament Act von 1949 hat das Oberhaus nur noch ein auf ein Jahr befristetes suspensives Veto, das nicht sehr häufig eingesetzt wird3. Dank sogenannter Peers-Schübe bzw. der Ernennung von 3 Zur Zeit der Thatcher-Regierungen nahm die Zahl der Einsprüche allerdings zu (vgl. Shell 1992).
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Life-Peers, die der Prime Minister jeweils vorschlägt, nahm überdies seit langem der Regierungschef Einfluss auf die Zusammensetzung des Oberhauses; mit der von Tony Blair 1999 in Gang gesetzten Oberhaus-Reform sah es eine Zeitlang sogar so aus, als sollte es seine personelle Eigenständigkeit vollends einbüßen, doch ist hierüber das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die ebenfalls von der Blair-Regierung umgesetzte devolution, d.h. die Einrichtung separater Volksvertretungen in Schottland, Wales und Nordirland, hat keine neuen Vetospieler hervorgebracht – was auch nicht anders zu erwarten war, da das Wirken der betreffenden Gremien auf die jeweilige Region beschränkt bleibt und es an einem Überbau in Form einer Länderkammer mit Mitsprache- bzw. Einspruchsrechten in London fehlt. Ohnehin erwächst aus der bloßen Gewährleistung interner (begrenzter) Entscheidungsrechte noch lange keine wirkliche Autonomie, wie sich am Beispiel des local government zeigen lässt (vgl. Stoker 1999), das lange Zeit als einzige Machtschranke für die Londoner Zentrale galt und seine Basis sowohl in eigenständiger demokratischer Legitimation (den Wahlen zu den local councils) als auch in eigenen Finanzquellen hatte. Von vornherein galt, was die Gemeindeautonomie betraf, eine ultra vires-Doktrin, derzufolge die local authorities nur über die Rechte und Kompetenzen verfügen konnten, die das Londoner Parlament ihnen explizit zugestanden hatte. Als einziger zusätzlicher Vetospieler könnten die sogenannten Whitehall Mandarins in Frage kommen: die Ministerialbürokraten, deren Einfluss auf die Regierungspolitik so groß wie diskret ist, also im Verborgenen blüht. Zweifellos haben die permanent secretaries (Staatssekretären vergleichbar), die den Ministern die Aufgabe der Politikformulierung gern aus der Hand nehmen, unliebsame Vorhaben häufig abzuwehren wissen und natürlich die Gesetze vorbereiten, gewisse Agendasetzer-Qualitäten. Worüber sie indessen nicht verfügen, sind durchsetzbare Einspruchsrechte. Bestenfalls lassen sie sich als potentielle situative Vetospieler charakterisieren; ihr Einfluss sinkt mit der Entschlossenheit des Prime Ministers, seine politischen Pläne umzusetzen. Seit Thatcher hat durch eine Reihe interner Reformen, die die Aufwertung von direkt beim Prime Minister angesiedelten Beratungsgremien (deren Namen wechseln) implizierten, die Macht der Riege der permanent secretaries zu beschränken versucht (vgl. u.a. Marsh/Smith/Richards 2000). Insgesamt ist der Gesetzgebungsprozess in Großbritannien also recht einfach gestrickt: Er wird eindeutig von der Exekutive (und insbesondere vom Premier) dominiert, die die Entscheidungen vorbereitet und die Unterhausmehrheit diszipliEbenso selten wird es von der Unterhausmehrheit umstandslos zurückgewiesen, wie 2004 in der Frage der Fuchsjagd geschehen. Geht das Unterhaus auf Einsprüche ein, kann es wie im Fall des Anti-Terror-Gesetzes im März 2005 zu einer Art „Ping-Pong-Spiel“ kommen, das das Oberhaus einflussreicher erscheinen lässt, als es tatsächlich ist.
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niert. Die Opposition kann wenig mehr als Fragen stellen; das Oberhaus sieht sich weitgehend auf die Rolle eines Korrektors beschränkt, der Detailverbesserungen vorschlägt. Weitere Akteure sind nicht im Spiel. Noch einfacher geht es beim Prozess der Regierungbildung zu: Der Führer der Partei, die die Wahl gewonnen hat, wird quasi automatisch Premierminister und sucht sich sein Kabinett selbst aus, ohne dass andere Akteure (wie Präsidenten oder Koalitionspartner) dazu befragt werden müssten. (3) Außerhalb Großbritanniens wurde das dortige parlamentarische System lange Zeit als eines verstanden, in dem tatsächlich das Parlament der ausschlaggebende Machtfaktor ist. Für das 19. Jhd. war diese Wahrnehmung durchaus zutreffend: Das Unterhaus stürzte immer mal wieder Premierminister und agierte durchaus als machtvoller Gegenspieler der Regierung – ganz im Gegensatz zu der Situation, die wir aus den letzten 60 Jahren kennen. Bei gleichen institutionellen Rahmenbedingungen und gleicher Verfassungsdoktrin liegt der Unterschied im Zustand des Parteiensystems und damit im Zusammenspiel von institutionellen und situativen Vetospielern. Zwar hatte Großbritannien auch im 19. Jhd. ein Zweiparteiensystem, doch die beiden großen Parteien (damals die Konservativen und die Liberalen) waren von interner Kohäsion weit entfernt; sie zerfielen vielmehr in einem Maße in Flügel und Gruppierungen, dass man von einem System im Übergang zum Vielparteiensystem sprechen könnte. Als Folge durfte sich kein Premier der Unterstützung durch eine Unterhausmehrheit sicher sein. Seither hat sich das Parteiensystem zwar nicht in seiner Struktur geändert, wohl aber in puncto Parteien-Kohärenz. Die Machtrelationen zwischen Parlament und Prime Minister haben sich also nicht auf Grund institutioneller Veränderungen umgekehrt, sondern allein auf Grund des veränderten Verhaltens der situativen Vetospieler. Anders ausgedrückt: während Mitte des 19. Jhd. Parteigruppierungen als Opponenten auftraten, dem jeweiligen Prime Minister das Leben schwer machten und fallweise die Rolle von Vetospielern übernahmen, begeben sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg freiwillig dieser Möglichkeit. Die parliamentary parties, namentlich die der jeweiligen Regierungspartei, verzichten darauf, Vetospieler zu sein und lassen sich von der Regierung dominieren;4 und die Oppositionspartei hat, wie erwähnt, unter Normalbedingungen ohnehin keine Chance, der Regierung als Vetospieler gegenüberzutreten. Eine Besonderheit ergibt sich daraus, dass der Parteiführer der Mehrheitspartei „automatisch“ Premierminister wird. Es kann nämlich vorkommen, dass eine Par4 Eine Einschränkung ist allerdings angebracht: Vor allem in Situationen, in denen die Regierung im Unterhaus über eine große Mehrheit verfügt, gibt es immer mal wieder Rebellionen von Hinterbänkler-Gruppen, die allerdings selten so weit gehen, Regierungsvorhaben ernstlich zu gefährden. Immerhin haben in der Thatcher-Zeit die backbenchers mehrfach Einsprüchen des Oberhauses zum Erfolg verholfen.
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tei ihren Führer abwählt und in der Folge das Land ohne Premier dasteht – bzw., bei Neuwahl des Parteiführers, einen neuen Premier erhält, ohne dass die Wähler dabei ein Wörtchen mitreden könnten. In der Konservativen Partei war bis Ende der 1990er Jahre die Unterhausfraktion (das „1922 Committee“) für die Wahl des Parteiführers zuständig, und die versuchte in den 1990er Jahren gleich zweimal (und im Fall Margaret Thatchers erfolgreich), sich ihres Chefs zu entledigen. So kommt die Regierungspartei denn doch als wichtiger Vetospieler ins Spiel, auch wenn dies beileibe nicht der Normalfall ist. (4) Aus dem eigentümlich organisierten englischen Justizwesen (da das schottische Rechtssystem sich vom englischen unterscheidet, verbietet es sich in diesem Fall, von „britisch“ zu sprechen) erwächst dem Entscheidungssystem kein zusätzlicher Vetospieler, obwohl die Gerichte seit altersher das Recht des judicial review für sich in Anspruch nehmen. Zwar kommt es gelegentlich vor, dass einzelne Gerichte oder die im Oberhaus angesiedelten obersten Richter („Law Lords“) vom Unterhaus beschlossene Gesetze für unrechtmäßig erklären, doch haben wir es hier nicht mit einem kompakten kollektiven Akteur zu tun, schon gar nicht mit einem, der die Gesetzgebung systematisch einer Prüfung unterzöge und mit dem immer zu rechnen wäre. Das kann sich allerdings in naher Zukunft ändern. Die Regierung Blair hat im Zusammenhang einer umfänglichen Verfassungsreform eine Justizreform in Gang gesetzt, an deren Ende die Abschaffung des Lord Chancellor (dem für die Ernennung der oberen Richter zuständigen Kabinettsmitglied), die Herauslösung der Law Lords aus dem Oberhaus und die Einrichtung eines echten Obersten Gerichts stehen könnten. Bisher stößt der Plan jedoch auf größten Widerstand, nicht zuletzt von Seiten der Justiz. Zu der von Blair bei Amtsantritt angekündigten constitutional reform (vgl. Foley 1999) zählen des weiteren die devolution, der Human Rights Act und eine Reform des Wahlsystems. Um mit dem letzteren anzufangen: Hierzu liegen nicht einmal Pläne vor; es sieht nicht so aus, als wäre das Versprechen ernst gemeint gewesen5. Der Human Rights Act, der die Europäische Menschenrechtskonvention in britisches Recht integriert, hat wenig mehr bewirkt als eine formale Änderung bzw. Verfahrens-Vereinfachung: Kläger brauchen sich nicht nach Straßburg zu begeben, sondern können sich an britische Richter wenden. Praktisch ist die Relevanz eher gering; weder ist die Zahl solcher Menschenrechts-Verfahren sprunghaft angestiegen (was anfangs befürchtet worden war) noch ist die Erfolgsquote sonderlich hoch. Über die devolution haben wir oben bereits gesprochen. Sie ist nichts Halbes und nichts Ganzes und weckt einigen Missmut: Einigen Schotten geht sie nicht 5 Lediglich für die Wahlen zum Europäischen Parlament – in Großbritannien allgemein als „Nebenwahlen“ eingestuft – wurde das Verhältniswahlsystem eingeführt.
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weit genug, während sich viele Engländer verwundert fragen, wie es angehen kann, dass Schotten und Waliser doppelt vertreten sind, nämlich in London und in Edinburgh bzw. Cardiff.6 Erste Versuche, Großbritannien weiter zu „devolutionieren“, scheiterten (z.B. in einer Abstimmung in Englands Nordosten) am fehlenden Interesse der Bevölkerung. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich aus dem britischen Einheitsstaat künftig eine Föderation entwickelt. Bleibt die Europäische Integration zu erwähnen, die der Doktrin der Parlamentssouveränität einen schweren Schlag versetzt hat. „Brüssel“ und insbesondere der Europäische Gerichtshof werden in London als höchst unliebsame Vetospieler empfunden, scheuen sie sich doch nicht „to un-make British laws“. (5) Von einer wie auch immer gearteten Machtfragmentierung kann im politischen System Großbritanniens nicht die Rede sein. Im demokratischen Lager gibt es wohl kaum ein System, das einen vergleichbar hohen Grad der Machtkonzentration aufweist. Einziger Vetospieler ist im Normalfall der Premierminister; solange er die Unterhausmehrheit in Gestalt der Regierungsfraktion hinter sich weiß, muss er innerhalb des staatlichen Entscheidungssystems („Westminster“) keinen Widerspruch fürchten, keine Kompromisse schließen und keine Rücksichten nehmen (außerhalb Westminsters kann das ggf. anders aussehen; s. dazu u., Kap. 4.2.1) – er kann sich nur selbst ein Bein stellen. Verfügt er über die nötige Entschlossenheit, die z.B. Margaret Thatcher auszeichnete, kann er in der Tat als „Wahldiktator“ agieren. Hier liegt also ein eindeutiges Machtzentrum vor. Die Macht ist indessen von der des Unterhauses abgeleitet: des Letztentscheiders. Denn im Ausnahmefall, wenn die Unterhausmehrheit sich gegen den Premier stellt, steht der Kaiser ohne Kleider da. Das zu verhindern, dienen Partei- und Fraktionsdisziplin, deren Forcierung Sache der party whips ist; anders ausgedrückt: ohne kohärente Parteien funktioniert dieses System nicht. Weil der Premier auf die Loyalität beider, der Partei wie der whips (die zu Rivalen mutieren können!), angewiesen ist, um seine Machtposition zu halten, avancieren beide Akteure zu Vetospielern im Wartestand. Auch dies hat das Beispiel Thatcher eindrücklich demonstriert.
6 Hieraus ergab sich die sog. „Westlothian question“: Wieso können die Schotten (in London) über die Engländer entscheiden, nicht aber die Engländer (in Edinburgh) über die Schotten ...?
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Abbildung 8: Das Entscheidungssystem Großbritanniens Regionen Whitehall
PREMIERMINISTER
UNTERHAUS
Oberhaus
Gesetzgebung
Minderheitsparteien
MEHRHEITSPARTEI
Regionalparlamente
Wähler wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
2.2.2. Schweiz (1) In historischer Perspektive und der ihrem politischen System innewohnenden Idee nach lässt sich die Schweiz als „Genossenschaft von Talgenossenschaften“ charakterisieren: als „Zusammenschluss der Zusammenschlüsse“ freier Bürger (bzw. Bauern), die gewohnt waren, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, und sich das auch nicht nehmen lassen wollten. Der erste Bund (1291) entstand darum in Opposition zu den umgebenden, adelsdominierten Feudalsystemen und Monarchien und entwickelte sich relativ kontinuierlich – und friedlich, nämlich durch Beitritt weiterer Gemeinschaften7 – zum Bundesstaat, der 1848 mit Verfassung und allem Drum und Dran aus der Taufe gehoben wurde. Aus dem Kernprinzip leiten sich zwei Strukturmerkmale ab: das bündische und das demokratische, das in 7 Die friedliche Ausdehnung wurde im 19. Jhd. – in der Phase der eigentlichen Staatsgründung – nur kurz durch den Sonderbundskrieg unterbrochen, der ganze sieben Tage währte.
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der Verfassungsdoktrin der Volkssouveränität kulminiert; beide Merkmale zusammengenommen sind zu präzisieren als die Souveränität des Volks in den Kantonen.8 Aus Entstehung und Verfassungsdoktrin ergab sich ein Regierungssystem, das vom stromlinienförmigen Parlamentarismus so weit entfernt ist wie nur irgend denkbar: ein föderalistisches, nicht-parlamentarisches, ja nicht einmal wirklich repräsentatives und zugleich höchst kompliziertes Gebilde, in dem eine Vielzahl von Akteuren miteinander agiert und verhandelt und gemeinsam entscheidet. (2) Aber auch die Schweiz verfügt auf Bundesebene natürlich über die üblichen parlamentarischen Institutionen: ein in zwei Kammern geteiltes Parlament (Bundesversammlung) und die von ihm gewählte Regierung (Bundesrat), zusammen genommen die „Eidgenössischen Räte“. Beide Kammern – der vom „Schweizervolk“ gewählte Nationalrat und der vom „Volk in den Kantonen“ gewählte Ständerat – sind sowohl bei der Wahl des Bundesrats wie in der Gesetzgebung vollständig gleichberechtigt. Gemeinsam bilden sie das formale Entscheidungszentrum und üben „unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen die oberste Gewalt im Bund aus“ (Art. 148 BV). Die Kammern sind stets unterschiedlich zusammengesetzt, obwohl für die Wahl beider die Kantone die Wahlkreise bilden. Im Nationalrat sind die Kantone nämlich nach Bevölkerungszahl gewichtet vertreten, im Ständerat hingegen alle mit je zwei Räten. Daraus ergibt sich im letzteren Fall ein faktisches Mehrheitswahlsystem, mit der Folge, dass sich im Ständerat nur die größeren Parteien wiederfinden, während das im Bund rechtlich geltende Verhältniswahlsystem dafür sorgt, dass sich im Nationalrat etliche kleine und Kleinstparteien tummeln können. Mit der Bundesversammlung haben wir also zwei institutionelle Vetospieler: Für jeden Gesetzesbeschluss ist die Zustimmung beider Kammern erforderlich. Fraglich ist, ob sich auch der Bundesrat als Vetospieler qualifiziert. Die sieben Bundesräte (seit ihrem Bestehen als Bundesstaat kommt die Schweiz auf Bundesebene mit lediglich sieben Ministerien, den Departementen, aus) werden nach jeder Nationalratswahl, d.h. alle vier Jahre von der Bundesversammlung einzeln gewählt – und sind während ihrer Amtsdauer nicht abwählbar: Ein Misstrauensvotum gibt es nicht, wie auch keine Vertrauensfrage seitens des Bundesrates. Das mag auf den ersten Blick auf eine starke Stellung der Regierung schließen lassen. Dagegen spricht indessen die je individuelle Legitimation der Bundesräte, die zusammen mit ihrer Nicht-Abwählbarkeit durch das Parlament und Nicht-Abberufbarkeit durch einen Regierungschef (den es in diesem System nicht gibt) den Anreiz vermindert, 8 Lt. Art. 1 der Schweizerischen Bundesverfassung bilden „das Schweizervolk und die Kantone“ die Eidgenossenschaft; Art. 3 erklärt die Kantone für souverän.
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so etwas wie Kabinetts-Disziplin auszubilden, und eher verhindert, dass der Bundesrat der Bundesversammlung als kompakter Machtfaktor gegenübertritt. Zugleich gilt innerhalb der Regierung das Kollegialprinzip, demzufolge nach Schweizer Lesart Entscheidungen im Konsens getroffen und gemeinsam nach außen vertreten werden. Faktisch ist der nötige Konsens häufig nur schwer zu erzielen, da in der Regierung unterschiedliche Kantonal- und Parteiinteressen aufeinandertreffen: Zum einen darf kein Kanton mit mehr als einem Rat vertreten sein, zum anderen gilt seit 1959 die sog. Zauberformel, die dafür sorgt, dass alle vier großen Parteien SPS (Sozialdemokratie), FDP (Freisinn), CVP (Christlichdemokraten) und SVP (Volkspartei) stets an der Regierung beteiligt sind. Überhaupt ist der Bundesrat ein nach diversen Proporzgesichtspunkten kunstvoll zusammengestelltes Gebilde, denn auch die Sprachen, die Konfessionen, die wichtigen gesellschaftlichen Gruppen sowie – in jüngerer Zeit – die Frauenquote sind zu berücksichtigen. Man kann sich vorstellen, dass die Regierungsbildung in der Schweiz ein mühsames Geschäft ist: Schon die Kandidatensuche ist schwierig („... und nun brauchen wir noch eine protestantische Frau aus der Suisse Romande, die Gewerkschaftsmitglied ist, aber der FDP angehört“). Sie wird es umso mehr, wenn die von den einzelnen Regierungsfraktionen präsentierten Personen keine Gegenliebe in der Bundesversammlung finden, was alles andere als die Ausnahme ist. Es dürfte außerdem klar sein, dass es anschließend genauso mühsam ist, in einem solchen Kollegium Einigkeit herzustellen. Den schließlich gefundenen Kompromissen wird es entsprechend häufig an Überzeugungskraft fehlen; sie werden vor der Bundesversammlung von dem einen oder anderen Bundesrat eher lau vertreten werden, was die Position der Regierung insgesamt dem Parlament gegenüber nicht eben stärkt. Wie bereits erwähnt, gibt es in dieser Regierung keinen wirklichen „Chef“, dem Macht- und Sanktionsmittel an die Hand gegeben wären, um die Gruppe zusammenzuhalten. Statt eines Premierministers kennt die Verfassung nur den Bundespräsidenten: ein Amt, das unter den Bundesräten turnusmäßig rotiert und ebenso wenig mit Machtmitteln und besonderen Kompetenzen ausgestattet ist, sondern lediglich der Außenvertretung dient. Gleichwohl verfügt der Bundesrat in eingeschränktem Maße über Agendasetzer-Qualitäten und steht darum nach Ansicht schweizerischer Politikwissenschaftler „eindeutig (im) Zentrum des politischen Geschehens“ (Klöti 2002: 168). Er bestimmt weitgehend das Gesetzgebungs-Programm, wählt die Experten aus, die (gemeinsam mit dem zuständigen Departement) die Gesetzesvorlagen erarbeiten, wertet die im sog. Vernehmlassungs-Verfahren9 eingegangenen Stellungnahmen nach eigenen Kriterien aus usw. Doch damit 9 Die in den Expertenkommissionen erarbeiteten Vorlagen werden Kantonen, Parteien und Verbänden zugestellt und sie zur Stellungnahme aufgefordert.
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sind die Einschränkungen der Agenda-Kontrolle bereits bezeichnet, denn die Ministerien sind an der Gesetzesvorbereitung gewissermaßen nur federführend beteiligt, während die eigentliche Arbeit in Expertenkommissionen anderen, nämlich gesellschaftlichen Akteuren obliegt. Und die Vernehmlassung bietet namentlich den Kantonen und „interessierten Kreisen“ (Art. 147 BV) die Möglichkeit, unliebsame Gesetzesvorhaben im Vorbereitungsstadium (indirekt) zu modifizieren oder gar abzuwehren. Der Bundesrat ist gut beraten, auf dort eingehende Einsprüche einzugehen, wenn ihm am Erfolg des Projekts gelegen ist; tut er es nicht, muss er damit rechnen, dass seine Vorhaben später vom Volk zu Fall gebracht werden. So kann sich der Bundesrat schon im vor-parlamentarischen Stadium der Umsetzung seiner Agenda nicht sicher sein. Wie gleich zu sehen sein wird, ist seine Situation in der anschließenden parlamentarischen Phase nicht besser, da er dort keine zuverlässige Mehrheit hat. Die Agenda-Kontrolle seitens der Regierung ist also durchaus mangelhaft, und das hat ganz wesentlich mit den Volksrechten zu tun, ohne deren Existenz es wohl kaum zur Ausbildung von Institutionen wie den Expertenkommissionen und der Vernehmlassung gekommen wäre; sie sind nichts anderes als ein Versuch, das „souveräne Volk“ (in Gestalt der interessierten Kreise) in den Gesetzgebungsprozess hineinzuholen und damit seine potentielle Blockademacht zu neutralisieren (vgl. hierzu Neidhart 1970). Dem Volk steht auf Bundesebene das Recht der Initiative (ursprünglich nur der Verfassungs-Initiative, seit 2003 auch der Gesetzes-Initiative) sowie das der nachträglichen Sanktionierung zu (obligatorisches Referendum bei Verfassungsänderungen und internationalen Verträgen; fakultatives Referendum bei allen Bundesgesetzen). Mit dem Initiativrecht ist die Rolle der Regierung als Agenda-Setzer weiter eingeschränkt; mit dem Blockaderecht via fakultativem Referendum – dem praktisch wichtigsten der Volksrechte – avanciert das Volk zum allgegenwärtigen, mächtigen Vetospieler und Letztentscheider. Allgegenwärtig heißt in diesem Fall nicht, dass das Volk stets und ständig die Gesetzgebung zu blockieren versuchte, sondern vielmehr, dass der Bundesrat ständig mit ihm rechnen muss10. Das Volk braucht im Übrigen nicht darauf zu warten, dass es von anderen Akteuren zur Abstimmung aufgefordert wird, sondern wird selbst-organisiert tätig; d.h. es ist nicht als bedingter, sondern als effektiver Vetospieler einzustufen. (3) Betrachtet man nur die institutionellen Vetospieler, erscheint das schweizerische Entscheidungssystem als wenig kompliziert: Es gibt eigentlich nur drei – den Nationalrat, den Ständerat und das Volk. Trotz seiner zentralen Position (s.o.) ist 10 Über das Institut der „dringlichen Bundesbeschlüsse“ (Art. 165 BV) können Bundesrat und Bundesversammlung im Übrigen den Vetospieler Volk umgehen – aber nur befristet: Nach Ablauf eines Jahres ist der betreffende Beschluss dem Volk zur Abstimmung vorzulegen.
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der Bundesrat nur bedingt hinzuzuzählen. Er beeinflusst zwar die Agenda, aber nicht allein; statt über Entscheidungs- und Sanktionsmacht zu verfügen, ist er darauf verwiesen, Weichen zu stellen, Reibungen zu glätten und Widerstände zu minimieren. Dass seine Macht – aber letztlich auch die des Parlaments – sich sehr in Grenzen hält, liegt zum einen an den Volksrechten, zum anderen an den situativen Vetospielern, die indessen diese ihre Rolle nicht nur manchmal, sondern recht dauerhaft spielen; und natürlich verdanken sie es wiederum der Existenz der Volksrechte, dass sie in die Vetospieler-Rolle hineinwachsen konnten. Zu nennen sind hier die Parteien und die Verbände. Die besondere Natur des schweizerischen Vielparteiensystems führt dazu, dass die jeweilige Regierung im Parlament zwar eine zahlenmäßig große, aber nur wenig verlässliche Mehrheit hat. Wenn die Bundesräte zu einer Einigung gefunden haben, heißt das noch lange nicht, dass die Regierungsfraktionen sich in gleicher Weise einig werden – umso weniger, als weder der (nicht vorhandene) Regierungschef noch auch einzelne Bundesräte mit zureichenden Sanktionsmitteln der jeweiligen Fraktion gegenüber ausgestattet sind.11 In beiden Kammern ist der Einfluss der Kantone recht groß, d.h. jede der Regierungsfraktionen zerfällt in verschiedene Kantons-Gruppierungen, die nur schwer unter einen Hut zu bringen sind. Und selbst wenn das gelungen sein sollte, die Regierungsfraktionen also mehrheitlich einen Gesetzesbeschluss gefasst haben, kann es durchaus vorkommen, dass eine der kantonalen Gruppen aus einer der Regierungsparteien ein Referendum dagegen in Gang zu setzen versucht. Nicht nur jede der vier Parteien der „Zauberformel“, sondern auch einzelne Teile davon avancieren damit zu situativen Vetospielern, was die politische Konstellation dauerhaft ziemlich unübersichtlich und die Durchsetzung der Regierungspolitik zu einem Vabanque-Spiel macht. Wichtiger noch als die Parteien sind in der schweizerischen Politik die Verbände, zumal der schweizerische Staat viele Entscheidungsbereiche an Verbände-Kartelle ausgelagert hat, die sich (bzw. ihre Branche) im Auftrag des Bundes selbst regulieren. Auch wo dies nicht der Fall ist, sind, wie oben geschildert, die Verbände prinzipiell in den gesamtstaatlichen Entscheidungsprozess einbezogen. Cum grano salis gilt für sie dasselbe wie für die Regierungsparteien: Was die Führung eines Verbandes „in Bern“ mit ihrem Plazet versehen hat, muss in dessen Untergliederungen oder in anderen Organisationen im selben Politikfeld noch lange nicht auf Gegenliebe stoßen und kann folglich Anlass für die Initiierung eines Referendums sein. Auch auf dieser Seite qualifizieren sich somit scheinbar kleine und unbedeutende Akteure als potentielle politikfeldspezifische Vetospieler. Mit anderen Worten: wei11 Schweizerische Beobachter loben diese „gewollte Distanz zwischen einzelnen Bundesräten und ihren Parteien“ (Martin Graf in: NZZ, 18.05.2005), die die Freiheit der Abgeordneten garantiert und den Fraktionen erlaubt, je nach Sachfrage wechselnde Koalitionen einzugehen.
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tet man den Blick über den engen Rahmen der institutionellen Vetospieler hinaus, kommt man auf eine Gesamtzahl von – zugegebenermaßen mehr oder weniger einflussreichen – Vetospielern, die fast gegen unendlich geht. Allerdings sind diese Akteure in gewisser Weise bedingte Vetospieler: Ihre Blockademacht hängt zwar im jeweils aktuellen Fall nicht daran, dass ein anderer Vetospieler sie ins Spiel bringt; aber sie beruht doch darauf, dass ein anderer Vetospieler – das Volk – die Blockade sanktioniert. Vielleicht könnte man hier von „invers bedingten“ Vetospielern sprechen. (4) Die hohe Zahl an Vetospielern ergibt sich nicht allein aus der Möglichkeit praktisch aller gesellschaftlicher Gruppen – prinzipiell sogar nicht-organisierter Gruppen –, Referenda auf den Weg zu bringen; sie beruht überdies auf einer weiteren Besonderheit: dem sog. Milizsystem (vgl. z.B. Germann 1981), das seinerseits gern auf die „Kleinheit“ des schweizerischen Gemeinwesens zurückgeführt wird (z.B. Neidhart 1992: 18 ff.). Nun ist diese Kleinheit, was den Staat betrifft, allerdings nicht (nur) naturgegeben, sondern Folge absichtsvoller Weichenstellungen des Schweizervolks, das offenkundig der „große“, hochorganisierte und effiziente Staat stets mit Misstrauen erfüllt hat. So hat es getan, was es konnte, um die Ausbildung einer professionellen, vom Rest der Gesellschaft abgehobenen Bürokratenkaste zu behindern. Regierung und Ministerialverwaltung sind darum klein geblieben (ebenso wie, nebenbei bemerkt, die Staatsquote!); das Parlament ist nach wie vor ein „Milizparlament“, d.h. die Abgeordneten gehen ihrer politischen Arbeit nebenberuflich nach12 und tagen dementsprechend nur wenige Male im Jahr für wenige Wochen. Den Ausgleich für die solchermaßen knapp gehaltenen personellen Ressourcen bieten die außerparlamentarischen Kommissionen (s. schon o.) – auch als „Milizverwaltung des Bundes“ bezeichnet (Germann 1981) –, mittels derer Parlament und Verwaltung sich des Sachverstands und der Arbeitskraft gesellschaftlicher Experten bedienen. Die Auslagerung ganzer Entscheidungsbereiche in die Gesellschaft ist dem Milizsystem ebenso zuzurechnen wie die schweizerische Miliz-Armee. Die Kehrseite solcher Kleinhaltung des Staates ist die Ausbildung einer KernElite: Führende Leute vor allem aus dem Bereich der Wirtschaft sind aufs engste mit Politik- und Verwaltungseliten verflochten, häufen (Miliz-)Ämter und reden in allen Bereichen mit. Im Jahr 1999 hat sich das Schweizervolk eine neue Bundesverfassung gegeben. Die Totalrevision der BV von 1871 (in jenem Jahr hatte es schon einmal eine Totalrevision gegeben) ist allerdings (anders als 1871) nicht mit einer durchgreifenden Verfassungsreform gleichzusetzen; inhaltliche Änderungen gab es nur in wenigen 12 Der Versuch, im Zusammenhang einer Parlamentsreform wenigstens die Aufwandsentschädigungen für die Räte hochzusetzen, scheiterte 1992 am Nein der Bürger (vgl. Lüthi 2002: 151).
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Details. Im Grunde ging es um die redaktionelle Überarbeitung eines zunehmend unübersichtlich gewordenen Textes. Da nämlich bis dato das Volk auf Bundesebene kein Recht der Gesetzes-Initiative, sondern nur das der Verfassungs-Initiative hatte, aber gleichwohl gelegentlich mitgestalten wollte, erhielten die von ihm gewünschten und durchgesetzten Vorhaben notgedrungen Verfassungsrang. Entsprechend unordentlich sah die BV schließlich aus; sie wimmelte von Detailbestimmungen (bis hin zur Regelung der Markierung von Wanderwegen; Art. 37 quater, alte BV). Tendenzen zur Änderung der tradierten Systemmerkmale sind wenige zu erkennen. Immerhin hat der anhaltende Wahlerfolg der SVP, bei der vorletzten Nationalrats-Wahl noch folgenlos geblieben, inzwischen zwar nicht zur Aufhebung der Zauberformel, aber doch zu ihrer Modifikation geführt (die SVP stellt nun zwei Bundesräte, die CVP büßte einen ein). In der schweizerischen Öffentlichkeit galt diese Anpassungsleistung schon fast als revolutionär. Weitere Anpassungsleistungen werden vor allem im Hinblick auf Europa nötig – irgendwann. Schon seit den 1980er Jahren gibt es Stimmen, die eine Ummodelung der Verfassung in Richtung „Europafähigkeit“ oder „Europatauglichkeit“ fordern (s. z.B. Germann 1990). Doch sieht es nach wie vor so aus, als ob das Schweizervolk mehrheitlich eben diese Ummodelung nicht will – was wenig verwundert, würde sie doch implizieren, dass seine Souveränität schweren Schaden nimmt.13 (5) Wie das britische Entscheidungssystem keine Machtfragmentierung kennt, so das schweizerische keine Machtkonzentration. Die staatliche Macht ist hochgradig fragmentiert, und zwar sowohl horizontal wie vertikal. Horizontal können namentlich Nationalrat und Ständerat sich gegenseitig blockieren; beiden wiederum erwächst im Volk ein im Zweifelsfall machtvoller Gegenspieler. Aber auch die Kantone selbst können nur schwer überstimmt werden: Ein Ignorieren der Einsprüche einzelner Kantone seitens der Bundesorgane ist mit hohem Risiko – dem Referendums-Risiko – behaftet. Die souveränen Kantone verfügen überdies über ein so hohes Maß an interner Autonomie (es schließt sogar die Erhebung eigener Einkommensteuern ein), dass es dem Bund unmöglich ist, gesamtheitliche Politiken gegen ihren Willen umzusetzen.14 Über Vetopunkte der Konkordanz und der Delegation (s.o., Kap. 1.5.2) kommen des weiteren die gesellschaftlichen Kräfte in Gestalt von Parteigruppierungen und Verbänden ins Spiel; und damit ist das formale Entschei13 Immerhin scheiden sich an dieser Frage die Geister und vertieft sich darüber der „Röstigraben“, der Deutschschweiz und Suisse Romande trennt. 14 Bei der Gesetzesumsetzung werden selbst einzelne Kantone zu Vetospielern. Z.B. weigerte sich der Kanton Appenzell-Innerrhoden standhaft zwei Jahrzehnte lang gegen die vom Bund 1971 verordnete Einführung des Frauen-Stimmrechts. Erst das Bundesgericht brachte die störrischen Appenzeller Männer schließlich „auf den rechten Weg“ (1990).
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dungszentrum quasi von allen Seiten von weiteren Vetospielern umstellt. In Gestalt des fakultativen Referendums können sie alle buchstäblich „Veto einlegen“ und folglich konsensuale Politik erzwingen. Ein Machtzentrum ist in diesem System nicht auszumachen. Dafür ist es leicht, den Letztentscheider zu identifizieren: es ist das Volk. Das „Volk in den Kantonen“15 ist zugleich pouvoir constituant und steht damit außerhalb des gesetzten Rechts. Konsequenterweise gibt es in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit; sie wäre ein Bruch mit der Doktrin der Volkssouveränität. Kurz: über dem Schweizervolk steht nichts, gibt es keine korrigierende Instanz, und das ist für komplexe, fragmentierte Entscheidungssysteme, deren innere Logik ja zumeist dem Misstrauen gegenüber der Macht der Mehrheit entspringt16, durchaus ungewöhnlich. Und Abbildung 9: Das Entscheidungssystem der Schweiz Kantone BUNDESRAT
NATIONALRAT
STÄNDERAT
Gesetzgebung Vernehmlassung
Expertenkommission
KANTONALREGIERUNG Referenda
Parteien
Kantonalparlament
Referenda
VERBÄNDE
DAS VOLK
wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
15 Das heisst: in Verfassungsfragen entscheidet das Volk nicht mit einfacher Mehrheit („Volksmehr“), sondern mit der doppelten Mehrheit des „Ständemehr“ (= die Mehrheit des Volks in der Mehrheit der Kantone). 16 Hierzu braucht man nur einmal in die Federalist Papers hineinzusehen.
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man kann nicht einmal sagen, dass dieser Letztentscheider nur im Ausnahmefall tätig würde: Er tut es alle paar Monate.
2.2.3. Schweden (1) Die schwedische Nation und Monarchie kann auf eine lange, stabile Geschichte zurückblicken. Die Kontinuität des „Wasa-Staats“ machte eine Entwicklung möglich, die zu einer Demokratisierung ohne Revolutionen führte. Schweden kann in in vieler Hinsicht als ein „Modellland“ dienen, aber insbesondere ist es das Land, das mit der Schaffung (und inzwischen Reform) des Wohlfahrtsstaates gleichgesetzt wird. Verbunden ist der Aufstieg des Wohlfahrtsstaates mit der Stärke der schwedischen Sozialdemokratie, die seit 1945 mit wenigen Ausnahmen (1976–1982, 1991–1994) den Regierungschef stellte. Ebenfalls idealtypisch steht Schweden für die Praxis von Minderheitsregierungen; in keinem anderen Land sind Mehrheitskoalitionen so sehr die Ausnahme (vgl. Strøm 1990; Bergman 1997). Darüber hinaus gilt Schweden als Konsensdemokratie, deren Ziel es ist, die Politikentscheidungen bei einer großen Mehrheit zu „verankern“ (Lewin 1998: 204). Bis heute gibt es in Schweden keinen einheitlichen Verfassungstext. Die erst 1975 verabschiedete „Regierungsform“ bildet zusammen mit den weiteren Grundgesetzen (Thronfolgegesetz, Pressegesetz, Gesetz über die Freiheit der Meinungsäußerung) den Verfassungsrahmen. Die Regierungsform (RF) wurde seither mit über 20 Verfassungsgesetzen umfangreich geändert und ergänzt. Gleich in Kap. 1, § 1 RF ist festgelegt, dass die Volksherrschaft mittels einer parlamentarischen Demokratie ausgeübt wird. Damit ist die Parlamentssouveränität zur Verfassungsdoktrin erhoben. In Abgrenzung zu anderen parlamentarischen Monarchien (vgl. Kap. 2.2.6 Niederlande) war es eine bewusste Entscheidung der Verfassungsreform der 1970er Jahre, den Monarchen auch konstitutionell komplett aus dem politischen Prozess herauszuhalten und ihn auf seine Funktion als Staatsoberhaupt zu reduzieren.17 Die starke Betonung des parlamentarischen Moments gegenüber dem monarchischen ist Ausdruck der sozialdemokratischen Dominanz; so schreibt die SAP bis heute die Einführung der Republik in ihrem Parteiprogramm fest, auch wenn dies keine aktive Forderung im politischen Prozess ist (Jahn 2003: 95). (2) Seit der Abschaffung der Zweiten Kammer im Jahr 1970 ist das schwedische Entscheidungssystem das institutionell „schlankeste“ unserer ausgewählten Länder: Die gesamten Entscheidungsprozesse spielen sich zwischen Regierung und dem unikameralen Parlament, dem Reichstag, ab. Doch erweisen sich diese Prozesse als 17 In der Regierungsform wird der Monarch nur als Staatsoberhaupt betitelt und ist seit 1975 nicht mehr Teil der Regierung (Kap. 6, § 1, RF).
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nicht so einfach und klar strukturiert wie im idealtypischen „Westminster-Modell“ Großbritanniens. Denn die sehr häufigen Minderheitsregierungen bringen es mit sich, dass das Parlament effektiver Vetospieler bleibt. Das bikamerale System der Zeit vor 1970 hatte im Übrigen die Dominanz der SAP und ihrer Minderheitsregierungen in besonderer Weise unterstützt. Da die SAP in der zweiten Kammer stets über die absolute Mehrheit verfügt hatte (vgl. Bergman 1997: 252)18, war jeder anderen Partei bzw. Parteienkonstellation das Regieren unmöglich gemacht. Erst seither hat sich für den bürgerlichen Block überhaupt die Chance ergeben, in Form einer Mehrheitskoalition Regierungsverantwortung zu übernehmen. Mit der Einführung der Regierungsform 1975 übernahm der Reichstagspräsident die Funktion des Informateurs, also jenes Akteurs, der im Vorfeld der Wahl des Ministerpräsidenten mögliche Regierungskonstellationen abklären soll (De Winter 1995: 120), indem er alle im Reichstag vertretenen Fraktionen konsultiert (Kap. 6, § 2, RF). Er schlägt anschließend einen Formateur vor (den potentiellen Ministerpräsidenten), der die Unterstützung seiner Regierung sicherzustellen hat. Zuvor war anstelle des Reichstagspräsidenten – ähnlich wie bis heute in den Niederlanden – der Monarch in den Regierungsbildungsprozess eingebunden. Dass aus diesem Prozess in der Regel Minderheitsregierungen hervorgehen, liegt sowohl an institutionellen Regelungen als auch an Besonderheiten des schwedischen Parteiensystems (s.u.). Der Ministerpräsident (in der Regierungsform Staatsminister genannt) ist dann vom Reichstag gewählt, wenn der Kandidat nicht von einer absoluten Mehrheit der Stimmen abgelehnt wird (Kap. 6, § 2, RF). Somit führen Enthaltungen dazu, dass ein Kandidat, der nur auf die aktive Unterstützung einer Minderheit bauen kann, selbst dann ins Amt gelangt, wenn er weniger Ja- als Nein-Stimmen erhält.19 Die Stabilität von Minderheitsregierungen wird im Allgemeinen eher als niedrig angesehen (vgl. Lijphart 1999: 137). In Schweden führen institutionelle Besonderheiten jedoch zu vergleichsweise lang andauernden Regierungsperioden: Der Rhythmus der Reichstagswahlen (seit 1994 wieder alle vier Jahre) bleibt unangetastet, selbst wenn es in der Zwischenzeit zu einer Parlamentsauflöung und außerplanmäßigen Neuwahlen kommen sollte (Kap. 3, § 3, RF). Regierungsstürze, die zu vorzeitigen Neuwahlen führen würden, unterbleiben daher, denn die Parteien 18 Das war das Ergebnis eines doppelten Verzerrungseffekt. Die zweite Kammer wurde von den 19 Kommunalversammlungen gewählt, in denen auf Grund des kommunalen Wahlsystems die SAP leicht überrepräsentiert war. Durch die kleinere Anzahl der zu vergebenden Sitze pro Region (im Schnitt knapp 8) im Vergleich zu den Wahlen zum Unterhaus kam es dann zu einer zweiten Verzerrung zu Gunsten der größten Partei (vgl. Immergut 2002: 238). 19 Dies war z.B. 1979 der Fall, als das bürgerliche Lager zwar über die Mehrheit an Stimmen verfügte, jedoch nicht alle Abgeordneten teilnahmen, so dass Ministerpräsident Fälldin vier Ja-Stimmen weniger erhielt als Nein-Stimmen von Seiten des linken Lagers.
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schrecken davor zurück, innerhalb kurzer Zeit zwei Parlamentswahlen durchzuführen. Zudem wird für die Abwahl der Regierung oder auch eines einzelnen Ministers die absolute Stimmenmehrheit benötigt (Kap. 6, § 5, RF). Die dank Minderheitsregierungen starke Stellung des Parlaments als kollektiver Vetospieler wird im Gesetzgebungsprozess durch eine Besonderheit des Ausschusswesens weiter gestärkt. Mit der Möglichkeit, unabhängige außerparlamentarische Untersuchungskommissionen zu spezifischen Vorhaben einzusetzen, verfügt es über eine zusätzliche Machtressource, die es auch Nichtregierungspartnern erlaubt, Politikentscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.20 Im sogenannten RemissVerfahren fordern die Kommissionen alle betroffenen Verwaltungen und Interessengruppen zu einer Stellungnahme auf; in der Kommissionsarbeit selbst wird dann versucht, einen möglichst breiten Konsens herzustellen. In aller Regel verabschieden die Kommissionen konsensuale Stellungnahmen; abweichende Meinungen können den Beschluss ergänzen, ohne dass jedoch der Konsens als solcher in Frage gestellt wird. Kommt die Kommission am Ende des Remiss-Verfahrens zu einem ablehnenden Votum, wird seitens der Regierung nachgebessert oder das Vorhaben ganz aufgegeben. Das geschieht im Schnitt bei ca. 15% der Gesetzesvorhaben (Jahn 2003: 104), was die Bedeutung dieses Verfahrens verdeutlicht. Das System ähnelt dem Vernehmlassungsverfahren der Schweiz, unterscheidet sich aber durch die stets gegebene Kontrolle seitens der Politik: Die parlamentarischen Fachausschüsse setzen das Remiss-Verfahren in Gang, während die Vernehmlassung in der Schweiz obligatorisch ist. Somit handelt es sich bei den jeweils integrierten Verbänden um einen bedingten und situativen Vetospieler. In den 1960er und 1970er Jahren, der „Hoch-Zeit“ des schwedischen Wohlfahrtsstaates, spielten die Kommissionen auch eine Rolle als Agenda-Setzer, indem unspezifizierte Aufträge sie in die Lage versetzten, eigenständige Politikvorschläge zu formulieren. Vor allem aber ermöglicht das Verfahren den Oppositionsparteien, ihre Vorstellungen erfolgreich in den parlamentarischen Prozess miteinzubringen. Die Agenda-Setzer-Funktion der Regierung ist daher eingeschränkt, und die Machtbalance verschiebt sich zugunsten des Parlaments. Für Verfassungsänderungen gilt das in Konsensdemokratien häufige Verfahren, dass ein Vorschlag von zwei aufeinander folgenden Reichstagen verabschiedet werden muss. Die zweite Abstimmung entfällt, wenn schon in der ersten eine FünfSechstel-Mehrheit erreicht wird (Kap. 8, § 15, RF). Da eine Regierung nie sicher sein kann, auch in der nächsten Legislaturperiode eine Mehrheit für ihr Vorhaben gewinnen zu können, ist klar, dass sie solche übergroßen Mehrheiten anstrebt. Das Verfahren verhindert zugleich, dass eine einzelne Partei (vielleicht mit Ausnahme 20 Formal erfolgt das in folgender Reihenfolge: Der Ausschuss schlägt vor, eine Untersuchungskommission einzusetzen, der Reichstag verabschiedet das Begehren und die Regierung setzt die Kommission – unter Umständen nur eine Person – dann ein (vgl. Jahn 2003: 104).
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der SAP) sich auf eine Veto-Position zurückziehen kann. Seit 1980 gibt es die Möglichkeit, Verfassungsänderungen durch ein Referendum bestätigen zu lassen. Es kann von einem Drittel der Parlamentsabgeordneten initiiert werden und ist nur bei negativem Ausgang bindend; bei positiver Abstimmung könnte der Reichstag sich dennoch gegen die Änderung entscheiden (Kap. 8, § 15). Bei Verfassungsänderungen ist also auch das Volk Vetospieler, wenn auch nur bedingt und eingeschränkt. Fakultative, konsultative Referenden (Kap. 8, § 4) stellen ein Mittel dar, um kontroverse politische Entscheidungen zumindest auf Zeit zu klären. Erst fünf mal wurden Volksbefragungen abgehalten, zuletzt 1994 über den EU-Beitritt. In dieser vergleichsweise schwächsten Form eines Referendums (Petersson 1989: 27) sind Regierung und Parlament nicht an den Ausgang der Volksabstimmung gebunden, weshalb die Bevölkerung hier bestenfalls als situativer und quasi doppelt bedingter Vetospieler gelten kann. Immerhin scheint die Politik sich für bestimmte Zeit an die Abstimmungsergebnisse gebunden zu fühlen; nach dem negativen Referendum zur Umstellung von Links- auf Rechtsverkehr z.B. dauerte es immerhin zehn Jahre, bis die Regierung den ungeliebten Wechsel dennoch durchführte. Erst im Falle einer Ablehnung des EU-Beitritts hätte sich zeigen können, wie ernst die Entscheidungsträger ein konsultatives Referendum wirklich nehmen. Schweden kennt kein eigenständiges Verfassungsgericht. Jedoch nimmt die Gerichtsbarkeit (inzwischen) durchaus Einfluss auf den politischen Prozess. Die Verfassungsergänzung von 1980 (Kap. 11, § 14, RF) ermöglicht es allen Gerichten – und insbesondere der Verwaltungsgerichtsbarkeit –, die Durchführung von Vorschriften auf Grund mangelnder Konformität mit den Grundrechten oder den Grundgesetzen zu unterbinden. Handelt es sich dabei um Gesetze, muss der „Fehler offenbar“ sein. Damit folgt Schweden der skandinavischen Tradition, die die konkrete Normenkontrolle zwar allgemein anerkennt, jedoch nicht einem speziellen Gericht unterstellt (vgl. Petersson 1989: 110). Die dezentrale Praxis führt dazu, dass nicht ein Akteur als zusätzlicher Vetospieler auftritt (wie z.B. in Deutschland das Bundesverfassungsgericht), vielmehr wird die Judikative insgesamt zum situativen Vetospieler. In der Realität gab es jedoch bislang kaum Fälle, in denen ein Reichstagsgesetz durch das oberste Verwaltungsgericht zurückgewiesen worden wäre; die politische Bedeutung der Verwaltungsgerichte bleibt auf Fälle unterhalb der Reichstagsgesetzgebung beschränkt (Larsson 2002: 40). (3) Immer wieder wird Schweden als ein System beschrieben, in dem „Konsensus, Verhandlung, Integration Schlüsselbegriffe sind“ (Jahn 2003: 93). In der institutionellen Ausgestaltung des Entscheidungssystems lassen sich einige Regelungen finden, die diese Prinzipien befördern. Der besondere Wahlmodus bei der Investitur des Ministerpräsidenten ermöglicht eine Klärung der zukünftigen parlamentarischen Situation: Auf welche Parteien kann die Minderheitsregierung bei der not-
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wendigen Kompromisssuche im Gesetzgebungsprozess zuerst zugehen? So ist es durchaus üblich, dass sich bei der Wahl des Ministerpräsidenten Nichtregierungsparteien der Stimmabgabe enthalten, um für die Verhandlungen über konkrete Politiken Unterstützungs- und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Dass die Minderheitsregierungen so gut funktionieren, lässt sich aber vor allem damit begründen, dass die SAP auf der den politischen Wettbewerb dominierenden LinksRechts-Dimension jahrelang die Medianpartei war (vgl. Bergman 1997: 244, Tab. 1A). Sie konnte ihre Politik wahlweise und häufig nach Politikfeldern getrennt mit der kommunistischen Vänstrepartei, der agrarischen Zentrumspartei oder der liberalen Partei koordinieren. Diese potentielle Offenheit in der Wahl der Partner zog zusammen mit den Mechanismen des Remiss-Verfahrens einen konsensuellen Politikstil nach sich. Jedoch vermögen die institutionellen Faktoren und die Mechanismen des Parteienwettbewerbs die konsensuelle Praxis des Entscheidungssystems nicht allein zu erklären. Im Gegensatz zu den „versäulten“ Niederlanden ist sie auch nicht durch eine heterogene Gesellschaftsstruktur bedingt. Vielmehr versammelten sich hinter dem Konzept des „Volksheims“ der 1930er Jahre, das die Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Masse zum Ziel hatte, nahezu alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte des Landes unter der Führung der Sozialdemokratie. Deren Hegemonie führte zur Inkorporierung der gut organisierten Interessen und zur Herausbildung einer eigenen „Netzwerkkultur“ (vgl. Heclo/Madsen 1987), die geeint war durch das gemeinsame Anliegen, den Wohlfahrtsstaat auszubauen. Ein weiteres Merkmal der politischen Kultur ist ihre Offenheit gegenüber neuen Bewegungen, die sich schnell in dieses System integrieren können, womit sich das System durch hohe Adaptionsfähigkeit auszeichnet. (4) Eine im westeuropäischen Vergleich nahezu einmalige Einrichtung sind die vielen zentralstaatlichen exekutiven Agenturen und Behörden, die nicht den entsprechenden Fachministerien, sondern direkt der Regierung als Kollektivorgan unterstellt sind und sich durch große Eigenständigkeit auszeichnen. Sie besteht nicht nur darin, innerhalb der vorgegebenen Direktiven und Leitlinien ihre Aufgaben autonom auszuführen; darüber hinaus können wichtige Agenturen wie z.B. das Zentralamt für Arbeit (AMS) bei der Regierung ihrerseits Vorschläge zu Gesetzesänderungen einbringen (vgl. Yates 2000: 156 f.). Sie verfügen somit zumindest partiell über Agenda-Setzer-Funktionen, die in anderen Ländern innerhalb der ministeriellen Administration gebündelt sind. Die Vorstände der Behörden waren zudem lange Jahre mit ehrenamtlichen Mitgliedern aus den Verbänden besetzt (Götz 2001: 396), denen sich damit besondere Zugangsmöglichkeiten boten, wenn auch mit beschränkterer politischer Wirkung als beim parlamentarischen Remiss-Verfahren. Ebenfalls als Besonderheit darf die starke regionale und lokale Verwaltung gelten,
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die das Bild des unitarischen Staates durchbricht und zumindest partiell ein Gegengewicht zu Regierung, Parlament und nationaler Verwaltung bildet. Diese Art der Dezentralisierung kann als ein typisches skandinavisches Muster bezeichnet werden (vgl. Lijphart 1999: 190). Es stellt sich die Frage, inwieweit der Prozess der 1980er und 1990er Jahre, den Wohlfahrtsstaat zurückzuschrauben, mit einer verminderten Integration der Verbände in den politischen Entscheidungsprozess einherging. Von Seiten der Politik wurden die Spielräume sowohl für die Untersuchungskommissionen als auch für die Verwaltungen mittels klarerer Zielvorgaben zunehmend eingegrenzt. Der Einfluss der Interessengruppen auf den parlamentarischen Prozess nahm damit in der Tat ab, und ihre Quasi-Blockademöglichkeiten als situative Vetospieler wurden auf immer weniger und dafür spezifischere Vorhaben reduziert. Auch in ihrer Funktion als potentielle Agenda-Setzer sehen sie sich eingeschränkt, da nun kaum noch die Möglichkeit besteht, eigene Initiativen mit einzubringen. Ein weiteres schwedisches – und wiederum typisch skandinavisches – Spezifikum ist zu erwähnen. Anders als in den meisten Ländern unterliegt die Vorbereitung nationaler Positionen für EU-Verhandlungen nicht allein der Exekutive. Der EUAusschuss des Reichstags hat den ausgearbeiteten Regierungspositionen zuzustimmen, ist also Vetospieler. Die Praxis der Minderheitsregierungen hat zur Folge, dass der Ausschuss seine Rechte auch ausgiebig nutzt (vgl. Stoiber 2003: 174). So führt die EU-Politik hier nicht zu einer (weiteren) Machtverlagerung in Richtung Exekutive. (5) Nach genauerer Analyse finden sich in Schweden doch mehr Vetospieler als das „schlanke“ unitarische und unikamerale parlamentarische System vermuten lassen würde. Die Machtkonzentration ist weit weniger ausgeprägt als in Großbritannien, was in erster Linie mit der starken Stellung des Parlaments in Verbindung mit der Praxis der Minderheitsregierungen zu tun hat. Daher sind nicht nur die Regierungsparteien Vetospieler: Das Parlament als ganzes wird nicht „absorbiert“, sondern bleibt als kollektiver Vetospieler erhalten. Auch wenn der Einfluss der gesellschaftlichen Akteure im Remiss-Verfahren und in den Verwaltungen nachgelassen hat, sind sie dennoch als eingeschränkte situative Vetospieler einzustufen. Machtzentrum ist trotz eines Bedeutungszuwachses der Regierung in den letzten Jahren das Parlament mit den dort vertretenen Parteien. Das Parlament fungiert im Regelfall auch als Letztentscheider, auch wenn die Möglichkeit der negativ bindenden Referenden bei Verfassungänderungen sowie allgemein die konsultativen Referenden der Bevölkerung eine prominentere Stellung im politischen System Schwedens eingebracht haben.
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Abbildung 10: Das Entscheidungssystem Schwedens
BEHÖRDEN UND ÄMTER
Untersuchungskommissionen
REICHSTAG Gesetzgebung
Referenda
VERBÄNDE
REGIERUNG
PARTEIEN
DAS VOLK
wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
2.2.4. Frankreich (1) Wenige Nationen haben so oft und gern rebelliert wie die französische. Als Folge waren in Frankreich – überspitzt formuliert – Systemwechsel an der Tagesordnung. Die Revolutionen des späten 18. und des 19. Jhd. resultierten in unterschiedlichen parlamentarischen Regimen, die immer wieder von Autokratien (Napoleon; „Bürgerkönig“ Louis Philippe; Napoleon III.) abgelöst wurden, weil die Oberschichten einschließlich des Großbürgertums21 vor dem unbändigen Volk Schutz suchten. Der letzte Systemwechsel war der von der IV. zur V. Republik (1958). Hier war es die übersteigerte Selbstherrlichkeit eines Parlaments, dem gegenüber keine Regierung lange zu bestehen vermochte, die (in Verbindung mit dem Algerienkrieg und dem Terror der OAS) den General de Gaulle als Retter in der Not erscheinen ließ. Der General schneiderte sich eine neue Verfassung auf den Leib und schuf ein semi-präsidentielles System (das von ihm selbst wohl eher als 21 S. dazu die äußerst plastische Schilderung in Karl Marx’ „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852).
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Präsidialsystem intendiert war; aber er konnte nicht alles voraussehen) – seinerzeit ein einmaliger, neuer Regimetyp, der inzwischen einer Reihe anderer Länder als Modell gedient hat. Wo Verfassungen und Regime häufig wechseln, bedarf es zwecks Identitätsstiftung einer „Meta-Verfassungsdoktrin“, also einer Doktrin, die die Essenz der verschiedenen Verfassungen zum Ausdruck bringt. In Frankreich ist dies die Doktrin von der „Einheit der Republik“, die zum einen im Parlament und zum anderen – seit 1958 – in der Figur des Präsidenten verkörpert ist und sich auf mystische Weise mit der Größe und der gloire Frankreichs verknüpft. Die Doktrin legt auf den ersten Blick ein hohes Maß an Machtkonzentration nahe; ihre Umsetzung seit 1958 verweist dagegen auf einen grundlegenden Dualismus und die Entstehungsgeschichte der jetzigen Republik wiederum auf den „rationalisierten Parlamentarismus“ (Kimmel 1983), auf die Bändigung und Disziplinierung des Parlaments. So ist diese Republik eine „république au contraire“. (2) Im staatlichen Entscheidungssystem dominiert auf den ersten Blick der Staatspräsident, dem die Verfassung eine herausgehobene Stellung zuweist, indem sie ihn zum „Hüter der Verfassung“ und zum Wahrer „staatlicher Kontinuität“ deklariert (Art. 5). Seit 1962 direkt vom Volk gewählt, verfügt er über eigenständige Legitimation. Seine Vollmachten scheinen umfassend: Er ernennt und entlässt den Premierminister (und kann dies theoretisch auch gegen den Willen der Parlamentsmehrheit tun) und führt den Vorsitz in der Regierung (Ministerrat). Er kann die Nationalversammlung auflösen und gegen (fast) jedes vom Parlament beschlossene Gesetz22 einen Volksentscheid herbeiführen (wozu es allerdings eines entsprechenden Vorschlags seitens der Regierung oder des Parlaments bedarf). Er ernennt ein Drittel der Mitglieder des Verfassungsrats einschließlich dessen Vorsitzendem; er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und wird im Notstandsfall praktisch all-zuständig. Demgegenüber sind die Rechte des Parlaments deutlich limitiert: Seine Zuständigkeiten sind nämlich enumeriert, d.h. es hat keine Beschluss-Kompetenzen über die in Art. 34 aufgelisteten Gesetzgebungs-Materien hinaus; in den übrigen Materien entscheidet die Regierung per Dekret. Auch das Initiativrecht ist eingeschränkt, denn vom Parlament eingebrachte Vorlagen und Änderungsanträge dürfen nicht finanzwirksam sein, also nicht staatliche Ausgaben erhöhen oder Einnahmen vermindern. Nicht einmal über seine Tagesordnung darf das Parlament autonom bestimmen, da Regierungsvorlagen immer Vorrang haben. Das Parlament ist in zwei Kammern geteilt, die vom Volk direkt gewählte Nationalversammlung und 22 Der Referendums-Artikel der Verfassung (Art. 11) hatte ursprünglich die Themen, über die das Volk abstimmen darf, relativ eng begrenzt, wurde aber 1995 erheblich ausgeweitet.
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den indirekt (von Wahlmännergremien in den Départements) gewählten Senat. Auch das Zusammenspiel der beiden – nur bei flüchtiger Betrachtung gleichberechtigten – Kammern wird maßgeblich von der Regierung beeinflusst, denn sie entscheidet, ob ein Vermittlungsverfahren zwischen beiden eingeleitet wird, und sie kann, nach mehrmaligem Hin und Her einer Vorlage zwischen beiden Kammern (sog. navette, Art. 45), von der Nationalversammlung die endgültige Beschlussfassung verlangen. Darüber hinaus kann sie zum ihr genehmen Zeitpunkt die gerade befasste Kammer zwingen, über die (urprüngliche oder von ihr selbst abgeänderte) Regierungsvorlage abschließend abzustimmen (sog. guillotine, Art. 44). Immerhin darf – zum Ausgleich – die Nationalversammlung dem Premier das Misstrauen aussprechen und damit den Rücktritt der Regierung herbeiführen – ggf. gegen den Willen des Staatspräsidenten. Auf Grund der diversen Rechte, mit denen die Regierung die Parlamentsmacht beschneidet, ist der Premier prinzipiell in einer so starken Position, dass man von einer Doppelspitze der Exekutive sprechen kann. In de Gaulles ursprünglichem Konzept war der Premier allerdings wohl kaum als dem Präsidenten ebenbürtig gedacht gewesen, sondern eher als dessen Kreatur. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass in der Nationalversammlung jemals eine andere Partei als seine eigene, die „Präsidenten-Partei“, die Mehrheit haben könnte (s. dazu u.). In der Verfassungspraxis ist aber eben dies inzwischen mehrfach vorgekommen, und de Gaulles Nachfolger haben schnell begriffen, dass es wenig Sinn hat, einen Premier „ihres Vertrauens“ gegen den Willen der Parlamentsmehrheit einzusetzen: Er wäre nicht regierungsfähig. So ernennt er denn den Premier, den das Parlament mit seiner Mehrheit wählen würde; und in solchen Zeiten der cohabitation besteht eine Art Patt zwischen beiden Spitzen. Sie müssen sich nolens volens zusammenraufen und haben sich dabei im Lauf der Zeit in eine Art Arbeitsteilung hineingerettet, derzufolge der Präsident primär die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt und der Premier für die anderen, eher innenpolitischen, Politikbereiche zuständig ist (vgl. Kimmel 1987).23 Demnach können wir zunächst drei Vetospieler identifizieren: den Präsidenten, den Premierminister und die Nationalversammlung (die den Premier stürzen kann). Der Senat ist dagegen eher als bedingter Vetospieler anzusehen, da er der Nationalversammlung im Gesetzgebungsprozess nur ebenbürtig ist, wenn und solange die Regierung es zulässt. Ein bedingter Vetospieler ist auch das Volk, das Gesetze zu Fall bringen kann, wenn der Präsident dies zulässt. Als weiterer Vetospieler kommt der Verfassungsrat in Frage, der außer Wahlprüfungs- und Schlichtungs23 Inzwischen gilt selbst die Außenpolitik nicht mehr als domaine reservée des Präsidenten, sondern als umkämpfte domaine partagé, was sich besonders in der Euopapolitik bemerkbar macht (vgl. Leuffen 2005).
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Funktionen (im Streit um Zuständigkeiten in der Gesetzgebung) die Aufgabe eines Verfassungsgerichts erfüllt. Der Einfluss des Staatspräsidenten auf den conseil constitutionnel ist unübersehbar: Nicht nur ernennt (wie erwähnt) der amtierende Präsident ein Drittel seiner Mitglieder sowie seinen Vorsitzenden24, sondern obendrein haben alle ehemaligen Präsidenten dort lebenslang ihren Sitz (sozusagen als zusätzliche Mitglieder). So war es kein Wunder, dass der Rat in der Anfangszeit eher als verlängerter Arm der Präsidenten denn als unabhängiges Gericht galt. Seit den 1970er Jahren hat der Rat allerdings selbst sein – zunächst nur formales – Prüfungsrecht zur materialen Normenkontrolle uminterpretiert; die Verfassungsreform von 1974 hat mit der Ausweitung des Kreises derer, die den Rat anrufen können25, seine Unabhängigkeit gestärkt (vgl. Kempf 2003: 320). In den letzten Jahrzehnten wird der Rat nun vermehrt als Kontrollinstrument der jeweiligen Opposition gegen die Regierung genutzt – aber auch als zusätzliches Sanktionsmittel des Staatspräsidenten gegen missliebige Gesetzesvorhaben einer cohabitations-Regierung, wie z.B. im Fall des Autonomiegesetzes für Korsika Anfang 2002, das der Rat auf Antrag des Präsidenten zu Fall brachte26. Vom Verfassungsrat für nicht verfassungskonform erklärte Gesetze sind gescheitert; damit qualifiziert der Rat sich durchaus als Vetospieler – wenn auch als bedingter, da er nur auf Antrag tätig werden kann. Wie im Fall Großbritanniens könnte man auf der Suche nach Vetospielern weiterhin an die Ministerialbürokratie denken; den cabinets ministeriels, die ihren jeweiligen Minister „regieren“, ist möglicherweise noch größerer Einfluss auf die Regierungspolitik zuzusprechen als den britischen permanent secretaries. Überdies verläuft der „Königsweg“ in die hohe Politik in Frankreich weniger über die Parteien als über eben diese cabinets – einer der Gründe, weswegen Frankreich gern als „république des fonctionnaires“ charakterisiert wird (vgl. z.B. Birnbaum 1977: 67 ff.; Bock 1999). Doch gilt hier dasselbe, was schon oben vermerkt wurde: Die Kabinettschefs verfügen zwar über Agendasetzer-Qualitäten, nicht aber über durchsetzbare Einspruchsrechte (auch wenn sie ihre Einsprüche gelegentlich durchaus in die Öffentlichkeit zu tragen wissen). Schon gar nicht gibt es irgendwie geartete Einspruchsrechte seitens der Regionen und der départements, die trotz mancher Handlungsspielräume und gewisser Wahlmöglichkeiten der Bürger noch immer rein administrative Untereinheiten sind.
24 Die übrigen zwei Drittel werden vom Präsidenten der Nationalversammlung respektive des Senats ernannt – also nicht gewählt. 25 Neben dem Staatspräsidenten, dem Premier und den Präsidenten beider Kammern sind seither auch jeweils 60 Abgeordnete der Nationalversammlung oder Senatoren hierzu berechtigt. 26 – und dies war auch nicht die erste Schlappe, die der sozialistische Premier Jospin vor dem Verfassungsrat erlitt.
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
(3) In Großbritannien haben die Art des Parteiensystems und die Rolle der Parteien im politischen Prozess die enorme Machtkonzentration bewirkt, die dort zu beobachten ist. In Frankreich hat die Rolle der Parteien die Machtkonzentration an der Spitze des Staatswesens, die de Gaulle intendiert hatte, umgekehrt gerade verhindert. Erringt eine Oppositionspartei die Mehrheit in der Nationalversammlung, ist die Macht eben nicht konzentriert, sondern geteilt. Erst die andere Partei macht nicht nur den Premier, sondern die Nationalversammlung selbst zu wichtigen Gegenspielern des Präsidenten und damit zu Vetospielern. Das Interessante am französischen Fall ist aber, dass die mit der Verfassung der V. Republik durchgesetzten institutionellen Veränderungen ihrerseits das französische Parteiensystem und das Verhalten der Parteien umstrukturierten (wovon im Kap. 3.2.4 ausführlicher die Rede sein wird), indem sie einen eigentümlich gegenläufigen Prozess von Konzentration und De-Konzentration in Gang setzten. Denn jeder ambitionierte Politiker will Präsident werden und braucht dazu die Untersützung einer potentiellen Mehrheitspartei – aber da jeder das will, steht jeder Partei-Zusammenschluss zugleich ständig vor der Gefahr der Spaltung. Weniger die Parteien selbst als vielmehr die rivalisierenden Führer27 von Partei-Gruppierungen – besser: die Bündnis-Partner eines Präsidenten oder Präsidentschafts-Kandidaten – sind demnach potentielle Vetospieler. Ihr entscheidendes Druckmittel ist die Verweigerung der Gefolgschaft bei der nächsten Wahl; gegenüber dem amtierenden Präsidenten läuft das auf die Drohung mit dem Zwang zur cohabitation hinaus, die im Zweifelsfall wohl ernst genommen wird. Andere situative Vetospieler kommen im Allgemeinen nicht ins Spiel – wenn man einmal vom immer noch gern aufmüpfigen Volk absieht. (4) Denn zu den Besonderheiten der französischen politischen Kultur gehört die Tradition der action directe (vgl. u.a. Mény 1996: 107 f.). Eine gewisse Organisations-Feindlichkeit scheint ebenso zu den Konstanten des Beteiligungsverhaltens der Franzosen zu zählen (s.u., Kap. 4.2.4) wie ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Repräsentanten (vgl. z.B. Goguel/Grosser 1980: 34 f.); angesichts der großen Distanz zwischen Peripherie und Zentrum – der Weite des Landes und der exklusiven Konzentration (fast) allen politischen Lebens in Paris – kann das letztere nicht verwundern. Beide Konstanten zusammen genommen resultieren in wiederkehrenden, (weitgehend) unorganisierten, eruptiven Protestaktionen gegen die Pariser Regierung, die auf Sternmärsche auf Paris, Großdemonstrationen und Generalstreiks28 häufig genug mit Nachgeben und Konzessionen 27 – die überdies (wie oben schon angemerkt) gern Seiteneinsteiger aus der Ministerialverwaltung sind und eine Parteigruppierung um sich scharen. 28 Ein besonders bemerkenswertes Phänomen angesichts eines gewerkschaftlichen Organisationsgrades, der bei weniger als 10% liegt.
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reagiert. So verfügt das Volk zwar nicht (wie das schweizerische) über Einspruchsrechte, aber doch über ein aus spontaner Aktionsbereitschaft erwachsendes Drohpotential. Die Drohung mit massiver öffentlicher Unruhe trifft indessen innerhalb des Entscheidungssystems nicht auf institutionalisierte oder auch informelle Vetopunkte (der Konkordanz), die auf eine systematische Berücksichtigung bestimmter Arten von Forderungen und Protesten schließen ließen. Entsprechende Vetopunkte ergeben sich in der „république des fonctionnaires“ dagegen aus der absoluten Dominanz der „Grandes Ecoles“, der Handvoll EliteSchulen, deren Absolventen faktisch alle führenden Positionen in der Verwaltung (den Grands Corps de l’Etat), aber auch in der Wirtschaft besetzen. Unter ihnen wiederum dominiert die Ecole Nationale d’Administration (ENA) in solchem Maße, dass sich in der Öffentlichkeit eingebürgert hat, die französische Republik als „ENArchie“ zu titulieren29. Zusammenhalt und esprit de corps unter den Absolventen sind so sprichwörtlich wie der homogenisierende Einfluss der Grandes Ecoles auf sämtliche französische Eliten; Bourdieu (2004) spricht geradezu vom „Staatsadel“, der indessen weit mehr als den Staat im engeren Sinn umgreift. Zwar hat in den vergangenen Jahrzehnten die Patronage seitens der Präsidenten und Regierungen zugenommen; doch auch „Reinigungswellen“ im Bereich der Verwaltung nach Regierungswechseln haben die Vorherrschaft der ENArchen nicht brechen können. Der Radius der Patronage bleibt eng: „un ,spoils system‘ en circuit fermé“ (Quermonne 1991: 237). Natürlich sind in diesem „Staatsadel“ nicht nur die Denkweisen vereinheitlicht. Ein Nebeneffekt ist z.B. die pantouflage (Birnbaum 1977: 139 ff.), der häufige Wechsel von Führungspersonen zwischen öffentlichem (auch Unternehmens-)Bereich und privater Wirtschaft. Zugleich ist es naheliegend, dass sich enge klientelistische Beziehungen zwischen öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft entwickeln (s.u., Kap. 4.2.4). „Wirtschaftsführer“ sind auf diese Weise in das staatliche Entscheidungssystem indirekt einbezogen30. Markante Wandlungstendenzen sind in diesem wie in anderen Bereichen nicht auszumachen. Das Parlament hat seit den 1970er Jahren an Einfluss gewonnen, ebenso der Conseil Constitutionel, doch nicht in einem Maße, das auf einen Struktur- oder gar Systemwandel hindeuten könnte. Dezentralisierungs-Bestrebungen treten trotz der Dezentralisierungs-Gesetze der 1980er Jahre (die die VerwaltungsKompetenzen der Départements und Regionen sowie die Wahlmöglichkeiten der Bürger erweiterten) auf der Stelle und stoßen sich immer wieder an der Doktrin der unteilbaren Republik. Was die Änderungen im Parteiensystem betrifft, streiten sich die Beobachter, ob hier wirklich von Systemwandel gesprochen werden kann 29 Herrschaft der énarques (ENArchen) = der Absolventen der ENA. So waren 7 der letzten 10 Premiers ENA-Absolventen. 30 In besonderem Maße galt dies lange Zeit für die Stahlindustrie (vgl. Wright 1989: 279 f.).
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(s.u., Kap. 3.2.4). Auch von der europäischen Integration scheinen keine gravierenden Änderungs-Impulse auszugehen. Man darf sich fragen, ob das vielleicht daran liegt, dass es den Franzosen gelungen ist, ihr System der Ministerialverwaltung (und mit ihm ihre Verwaltungs-Fachleute!) auf die EU zu übertragen. (5) Insgesamt gibt es im staatlichen Entscheidungssystem Frankreichs also drei effektive Vetospieler: den Staatspräsidenten, den Premierminister und die Nationalversammlung. In diesem Macht-Dreieck verfügen die Parteien zwar über einige Druckmittel, die die Gewichte mal hierhin, mal dorthin verschieben, qualifizieren sich aber nicht selbst als Vetospieler. Bevölkerung, Verfassungsrat und Senat sind dagegen in ihrer Bedeutung als Vetospieler stark eingeschränkt. Das verweist auf den ersten Blick auf einen moderaten Grad der Machtkonzentration, zumal institutionell verankerte Vetopunkte weitgehend fehlen31. Der zweite Blick enthüllt Ambivalenz, denn wenn parlamentarische und „Präsidentenmehrheit“ identisch sind, ist die Machtkonzentration hoch, während im Fall der cohabitation zwar nicht von Machtfragmentierung, aber doch von Machtteilung gesprochen werden muss. Die drei Vetospieler sind zudem in einer Weise aufeinander angewiesen, die es schwer macht, ein echtes Machtzentrum zu identifizieren. Im Zeichen des rationalisierten Parlamentarismus liegt das Schwergewicht offenkundig bei der Exekutive, doch die ist eben Janus-köpfig. Der Staatspräsident ist zwar lt. Verfassung in deutlich herausgehobener Position, aber in der Alltagspolitik kann er allein, d.h. ohne den Premier, wenig ausrichten – was allerdings dann, wenn der Premier derselben Partei angehört, wenig ins Gewicht fällt. Ist das der Fall, liegt das Machtzentrum beim Präsidenten – solange er seine Mehrheit unter Kontrolle hat. Doch nur „im Ausnahmefall“ wird der Präsident zum allein entscheidenden Akteur, und das meint hier in der Tat den Ausnahmezustand (im Schmittschen Sinn; s.o. 2.1). Das alles ändert nichts an der öffentlichen Wahrnehmung, dass der Präsident „dieu“ ist32. Auch ein Letztentscheider ist im französischen Entscheidungssystem nicht wirklich aufzufinden, denn außer im Notstands-Fall ist das Letztentscheidungsrecht „compartementalisiert“: In einigen Fällen liegt es beim Staatspräsidenten (Außenund Sicherheitspolitik), in anderen beim Premier, in wieder anderen – via Misstrauensvotum – bei der Nationalversammlung, und manchmal liegt es auch beim Verfassungsrat. Nur eins ist sicher: Das Machtzentrum befindet sich in Paris. Von der Peripherie oder von den gesellschaftlichen Kräften gehen keine Konsenszwänge aus – bis das Volk wieder einmal rebelliert. Und dann ist offen, ob die Regierung konsensual mit der Situation umgeht oder sie zum Notstand erklärt wird und der Präsident „übernimmt“. 31 Der Wirtschafts- und Sozialrat – eine Art beratender Versammlug – ist hierzu wohl nicht zu zählen. 32 So wurde François Mitterrand während seiner Amtszeit tituliert.
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Abbildung 11: Das Entscheidungssystem Frankreichs
PRÄSIDENT
PRÄSIDENT
VERFASSUNGSRAT PREMIERMINISTER
PREMIERMINISTER
BÜROKRATIE
ohne Cohabitation
Départements NATIONALVERSAMMLUNG
SENAT
Gesetzgebung
Referendum
action directe
PARTEIEN
Wahlmänner
DAS VOLK
wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
2.2.5. Italien (1) Ähnlich wie Deutschland ist Italien eine „verspätete Nation“, doch war, im Gegensatz zu Deutschland, die Gründung des Nationalstaats 1861 Resultat einer Art Volkserhebung (risorgimento) – gegen die quasi-Kolonialmächte Österreich und Frankreich und für die Einigung in einem eigenen Staat. Dieser erste Staat war noch konstitutionelle Monarchie; erst seit 1946 ist Italien eine parlamentarische Republik, und die galt seither geradezu als Muster der Instabilität. Der „ungezügelte“ Parlamentarismus sorgte, ähnlich wie im Frankreich der IV. Republik, für zahllose Regierungswechsel; von 1945 bis 1992 wurden rund 50 Kabinette verschlissen, die z.T. nur wenige Monate, manchmal nur Tage im Amt waren, wobei allerdings das Regierungspersonal bemerkenswert konstant blieb. Studien über Italien sprachen typischerweise von der „Dauerkrise einer schwierigen Demokratie“ (Wieser/ Spotts 1983) oder fragten irritiert „Is there a government in Italy?“ (Cassese 1980),
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konstatierten indessen gleichzeitig Stabilität in der Instabilität, denn das politische System verstand durchaus zu überleben – unter dem Motto „Surviving without governing“ (di Palma 1977) oder „Demokratie als Lebenskunst“ (La Palombara 1985). Der Grund für die Dauerkrise war weniger in den Institutionen zu suchen als vielmehr in der Parteien-Dominanz (partitocrazia) bzw. in den endlosen Rangeleien zwischen und innerhalb der in ihnen agierenden Parteien; die Institutionen standen stets „im Schatten der Parteien“ (Wieser/Spotts 1983: 98). Die dramatische Korruptions-Krise Anfang der 1990er Jahre (tangentopoli) hatte konsequenterweise keine Änderung des Institutionen, sondern primär des Parteiensystems zur Folge. Doch auch das Parteiensystem hat sich in Struktur und Funktionslogik weniger gravierend geändert als zunächst zu erwarten war. Von daher sind Zweifel angebracht, ob für das derzeitige politische System Italiens der gern benutzte Begriff der „zweiten Republik“ wirklich angemessen ist. Eine dominante Verfassungsdoktrin ist in diesem System kaum auszumachen – von der Zentralität des Parlaments einmal abgesehen. Eher galt – bis 1992 – eine praktisch-politische Doktrin, nämlich die, die Kommunisten aus der Regierung herauszuhalten; sie war jahrzehntelang Handlungsmaxime der entscheidenden politischen Akteure und vermag viel von den damaligen italienischen „Irrungen und Wirrungen“ zu erklären. Derzeit kann von beherrschender Doktrin schon gar nicht die Rede sein. Vielmehr hat es den Anschein, als liege ein Systemwandel in der Luft – doch in welche Richtung er geht, ist offen. (2) Im ungezügelten Parlamentarismus und der italienischen Verfassung (von 1948) zufolge ist das Parlament zentral. Es ist in zwei Kammern – die Deputiertenkammer und den Senat – geteilt, die beide vom Volk gewählt sind, sich in ihrer parteipolitischen Zusammensetzung nur wenig unterscheiden33 und vollständig gleichberechtigt sind (bicameralismo perfetto), nämlich nicht nur in puncto Gesetzgebung, sondern auch im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Regierung, die stets des Vertrauens beider Kammern bedarf34. Vermittlungsverfahren zwischen beiden sind nicht vorgesehen. Beide Kammern sind also gleichermaßen als Vetospieler einzustufen, auch wenn die Deputiertenkammer als die wichtigere erscheint, weil sich hier die führenden Parteipolitiker versammeln. Wegen gleicher oder ähnlicher Mehrheiten müsste der Senat eigentlich unter die absorption rule fallen, doch wegen instabiler Mehrheiten kommt es in der Praxis durchaus zu Blockaden. Wo zwei Kammern einander quasi ungebremst blockieren können, könnte es am Gesetzes33 Der Senat kennt noch den Anachronismus der Senatoren auf Lebenszeit, die der Präsident der Republik beruft. Auch jeder ehemalige Präsident wird „von Rechts wegen“ Senator auf Lebenszeit (Art. 59). 34 So wurde einer der Amtsvorgänger Berlusconis, d’Alema, 2000 vom Senat gestürzt.
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Output hapern. Die Lösung des Problems sind die sog. leggine, die „kleinen Gesetze“, die von den (Fach-)Ausschüssen des Parlaments allein und abschließend verabschiedet werden (Art. 72; s. dazu ausführlich Fontana 1993). Mit diesem dezentralisierten Gesetzgebungs-Verfahren zerfällt – zum einen – das Parlament gewissermaßen in diverse einzelne Vetospieler, was der Einheitlichkeit der Regierungspolitik nicht eben förderlich ist. Zum anderen öffnet es ein geradezu ideales Einfallstor für Partikularinteressen, um sich ungefiltert in der Gesetzgebung zur Geltung zu bringen, und bietet damit Vetopunkte für Verbände und sogar Einzel-Interessenten (sprich: Wirtschaftsunternehmen). Das schmälert naturgemäß den Einfluss der Regierung auf die Gesetzgebung. Zum Ausgleich hat sie die Möglichkeit, in Form der decreti legge ihrerseits Gesetze zu erlassen, also „in dringlichen Fällen“ das Parlament zu umgehen. Anders als in anderen parlamentarischen Systemen hat die Regierung aber keinen eigentlichen „Chef“: Der Ministerpräsident ist primus inter pares, kann seine Minister nicht entlassen noch sonstwie disziplinieren, ist in keiner Weise in herausgehobener Position („a limited leader“; Koff/Koff 2000: 135). Damit spielt er nicht wirklich die Rolle des Agenda-Setzers (außer wenn er Berlusconi heißt ...?), was traditionell den Ressort-Partikularismus befördert hat; auch von dieser Seite ist folglich die Umsetzung einer „Regierungspolitik aus einem Guss“ erschwert. Obwohl der Ministerpräsident die Vertrauensfrage stellen kann (und dies auch häufig tut), gelingt es ihm ebenso wenig, das Parlament – besser: die Fraktionen der Koalitionsparteien – zu disziplinieren35: Die Waffe ist nicht scharf. Ohnehin werden Regierungen in Italien typischerweise nicht in offener (parlamentarischer) Feldschlacht, also durch Misstrauensvotum oder abgelehnte Vertrauensfrage gestürzt, sondern durch Parteien- (bzw. Parteigruppierungs-)Gerangel hinter den Kulissen (mehr dazu s.u.). So mag die Regierung denn vielleicht als Vetospieler gelten, aber als einer, dessen Vetomacht sich in engen Grenzen hält. In begrenzter Weise kommt auch der Präsident der Republik in Frage. Zum einen spielt er eine wichtige Rolle im Prozess der Regierungsbildung. Er schlägt nämlich jeweils einen Ministerpräsidenten-Kandidaten vor und führt dazu vorweg Gespräche mit den Präsidenten beider Kammern und mit den Parteivorsitzenden; ihm obliegt zwar nicht die endgültige Entscheidung – die liegt beim Parlament –, aber er „wählt aus“. Zum zweiten hat er ein aufschiebendes Vetorecht gegenüber Gesetzesbeschlüssen (das er gerade in Berlusconis Amtszeit häufiger benutzt; Art. 74); zum dritten kann er das Parlament auflösen. Wie in Frankreich kommt ihm das Recht der Ernennung eines Drittels der 15 Richter des Verfassungsgerichtshofs hinzu, ebenso besondere Befugnisse im Notstandsfall. Zwar verfügt er nicht über 35 Berlusconi versucht das Problem durch Versprechungen nach allen Seiten zu lösen, was viele Widersprüchlichkeiten italienischer Politik-Produktion erklärt.
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die extensiven Rechte, die im französischen Fall von einer Doppelspitze der Exekutive sprechen lassen, aber er ist ein in der italienischen Politik nicht zu unterschätzender Akteur.36 Auch das Volk redet seit den 1970er Jahren mit (vgl. hierzu Capretti 2001).37 Ihm spricht die Verfassung das Recht der Gesetzes-Initiative, das aufschiebende Referendum und das „normale“ Referendum (referendum abrogativo) sowie den territorialen Volksentscheid zu. Entscheidend ist das referendum abrogativo (Art. 75), das – dem schweizerischen fakultativen Referendum vergleichbar – Gesetze zu Fall bringen kann; es darf von jeweils einem Fünftel der Abgeordneten einer der beiden Kammern, von fünf Regionalräten, aber auch vom Volk selbst in Gang gesetzt werden. Allerdings sind die Quoren recht hoch angesetzt: An der Abstimmung müssen mindestens 50% der Wahlberechtigten teilnehmen, und an dieser Hürde sind gerade im letzten Jahrzehnt etliche Referenda gescheitert. Zudem kann das Referendum nicht gegen alle Parlamentsentscheide angewandt werden (z.B. nicht gegen Steuer- und Haushaltsgesetze); und generell unterliegt der Einsatz der direktdemokratischen Instrumente einer vorherigen Zulässigkeitsprüfung durch den Verfassungsgerichtshof. Das Volk ist demnach letztlich doch nur ein bedingter Vetospieler. Und so bleibt als letzter – bedingter – Vetospieler der Verfassungsgerichtshof zu erwähnen, der auf Antrag (den nur ein Richter stellen kann) über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden vermag, mit diesem Recht bisher (mangels Anträgen?) aber eher sparsam umgegangen ist. Immerhin hat er Berlusconi bereits zu ärgern vermocht. Sogar die Justiz insgesamt erwies sich Anfang der 1990er Jahre als einflussreicher Akteur, indem sie die tangentopoli-Prozesse ins Rollen brachte und damit den Wechsel zur sog. „zweiten Republik“ einleitete. Es ist kein Zufall, dass sich Berlusconis Reformeifer hauptsächlich auf die Justiz erstreckt, um diesen Gegenspieler auszuschalten. Insgesamt kommen wir im staatlichen Entscheidungssystem Italiens so auf eine erkleckliche Anzahl von – teilweise bedingten – Vetospielern, deren Zustimmung erforderlich ist, die ein Veto einlegen oder die allein entscheiden können. Wirklich mächtig bzw. auf die Dauer ausschlaggebend sind sie aber alle nicht. (3) Ausschlaggebend sind vielmehr – vor 1992 ebenso wie danach – situative Vetospieler, nämlich die Parteien; die Institutionen des Regierungssystems leben nur (wie oben erwähnt) in ihrem Schatten. Das italienische Vielparteiensystem (s.u., Kap. 3.2.5) ebenso wie die internen Spaltungen der Parteien (vor 1992 insbesonde36 Das zeigte sich erneut im April 2005, als der Präsident ein Rücktrittsgesuch Berlusconis nicht annahm, mit dem dieser Neuwahlen erzwingen wollte. 37 Das erste Referendum fand 1974 statt.
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re der Democrazia Cristiana) haben sich nicht nur für die Relationen zwischen den Institutionen als prägend erwiesen; ihre Konflikte haben die Regierungen de-stabilisiert und die von der Verfassung gebotene centralitá des Parlaments entwertet – es wurde instrumentalisiert, wenn nicht gelähmt. Von den im Gefolge von tangentopoli umgesetzten Wahlrechts-Reformen hatte man sich eine Tendenz zur Konzentration auf wenige Großparteien und folglich größere Regierungs-Stabilität versprochen; die Konzentrationsbewegung ging bisher allerdings nicht weiter als bis zur Bildung von Parteien-Bündnissen, die nur wenig stabiler sind als die vorherigen Regierungskoalitionen.38 Der Spaltpilz mag eingedämmt sein, aber nicht ausgemerzt; und so bleibt die tendenzielle Instabilität des politischen Systems vorerst erhalten. An der Dominanz der Parteien (s.u.) konnten die Reformen ohnehin nichts ändern. Potentiell zählen außer den Parteien auch die Verbände und (Wirtschafts-)Interessenten zu den situativen Vetospielern, denen die dezentralisierte Gesetzgebung (über die Ausschüsse) sowie der ausgeprägte Ressort-Partikularismus MitspracheMöglichkeiten bieten. Hinzu kommen die Einflusschancen über eine schwache, desorganisierte, von umfassender Patronage bestimmte und vor allem korruptionsanfällige Bürokratie. Doch sind solche Einflussstrukturen eher fragil und nirgends abgesichert; es handelt sich wohl eher um klassische access-points denn um echte Vetopunkte, auch wenn die Politik an bestimmten Interessen nur schwer vorbei kommt. (4) Gleichwohl spricht das letztere für ein unter dem Mantel des parlamentarischen Konkurrenzsystems faktisch existierendes Konkordanzsystem. Unter dem Begriff des trasformismo (La Palombara 1985: 25; Wiese/Spotts 1983: 103 f.) war es in der Tat vor 1992 gängige Praxis, bei Patronage (bei der Besetzung öffentlicher Ämter sowie von lukrativen Posten in den Staatsunternehmen oder auch bei der Einflussverteilung in den staatlichen Medien) und klientelistischer Begünstigung nicht nur die Regierungsparteien und die ihnen affiliierten Interessenten, sondern auch die Opposition und die mit ihr verbundenen Interessen zu bedenken. Es lässt sich noch nicht eindeutig ausmachen, ob sich an dieser Praxis seither Wesentliches geändert hat. Wenig geändert hat sich aber wohl an den (inzwischen gerichts-notorischen) Verbindungen der italienischen Politik zur Mafia, die sowohl die Geldnöte der Parteien wie die oben angesprochene Schwäche der Bürokratie auszunutzen versteht; hier scheint es weiterhin geheime Konsenszwänge zu geben (bzw. die berüchtigten „Angebote, die man nicht ablehnen kann“). 38 Deshalb ist fraglich, ob die vom Wahlsystem erzwungenen Wahlkoalitionen als eigenständige Akteure neben den Parteien in unsere Vetospieler-Analyse einbezogen werden müssen, so wie Pallaver (2005) das implizit vorschlägt. Wir sind der Meinung, dass es vor allem angesichts ihrer Instibilität (s.u. Kap. 3.2.5) zu früh ist, ein abschließendes Urteil darüber zu fällen.
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Nach dem Systemwechsel von 1992 stehen dem politischen System weitere ins Haus. Einer davon ist der in Richtung Föderalisierung. Lt. Verfassung ist Italien zwar (wie Frankreich) „una e indivisibile“ (Art. 5), zugleich aber regionalisiert; demnach haben die 20 Regionen eine Reihe von Verwaltungs-Kompetenzen, sind aber nicht souverän. Fünf der Regionen (z.B. Südtirol und Sizilien) haben ein Sonderstatut und verfügen über ein gewisses Maß an Autonomie. In den gesamtstaatlichen Entscheidungsprozess sind die Regionen nicht einbezogen39, sondern werden in Rom bestenfalls „angehört“ (vgl. Grasse 2000: 203 ff.). Schon im Vorfeld der Staatsgründung 1861 und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es Forderungen nach echter Föderalisierung gegeben; seit Ende der 1980er Jahre stehen sie wieder auf der Tagesordnung, nicht zuletzt, weil die Lega Nord unverhohlen mit der Sezession und der Gründung des Staates „Padania“ droht. Um die Jahrtausendwende brachte die damalige Mitte-Links-Regierung ein Gesetz auf den Weg, das den Regionen auch legislative Macht und finanzielle Autonomie (sprich: eigene Steuereinnahmen) zubilligt. 2001 wurde das Gesetz von beiden Kammern mit knapper Mehrheit beschlossen und vom Volk per Referendum abgesegnet. Unter der (neuen) Regierung Berlusconi lag die Reform zunächst auf Eis. Inzwischen ist sie Teil eines Gesamtpakets „Verfassungsreform“, deren anderer Teil eine Herabstufung des Parlaments (einschließlich der Aufhebung des bicameralismo perfetto) zum Inhalt hat und an deren Ende zwischenzeitlich die Etablierung eines semi-präsidentiellen Systems stehen sollte; stattdessen geht es derzeit, umgekehrt, um die Schwächung des Präsidenten und die massive Stärkung des Ministerpräsidenten. Obwohl Deputiertenkammer und Senat das Reformgesetz im Oktober 2004 bzw. März 2005 beschlossen haben – was im Senat nicht ohne tumultartige Szenen und Handgreiflichkeiten abging –, ist die Reform noch lange nicht unter Dach und Fach, denn über Verfassungsänderungen müssen beide Kammern in jeweils zwei Durchgängen beschließen (Art. 138). Und nicht nur die Oppositionsparteien sind dagegen, sondern offenbar auch eine Mehrheit der Bürger, die die Verfassungsreform in einem Referendum mutmaßlich abzusegnen hätten. Unterdessen findet ein schleichender Systemwandel in Richtung Abbau des Rechtsstaats statt, den Berlusconi in der Art eines persönlichen Feldzugs betreibt. Begleitet wird er von einem ebenfalls vom Medienunternehmer Berlusconi vorangetriebenen Prozess der endgültigen Monopolisierung des Mediensystems. So könnte sich das formal parlamentarische System Italiens am Ende in ein von der Substanz eher autokratisches System umwandeln. Bei so vielen Unsicherheiten im Inneren ist es kein Wunder, dass viele Italiener die EU als Hort der Stabilität ansehen und dementsprechend lange Zeit als geradezu begeisterte Europäer galten. Der 39 – wenn man einmal davon absieht, dass die Senatoren in den Regionen gewählt werden. Das macht den Senat aber noch nicht zu einer Länderkammer.
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von der europäischen Integration erhoffte Änderungs-Impuls in Richtung durchgreifender Stabilisierung der italienischen Demokratie ist allerdings bisher ausgeblieben. (5) Abschließend lässt sich nur wenig Gültiges über das italienische Entscheidungssystem sagen: Es kann sich alles ändern. Derzeit ist, bei einer relativ hohen Zahl institutioneller Vetospieler, der Grad der Machtkonzentration eher gering. Zudem stehen die institutionellen Vetospieler nach wie vor im Schatten der Parteien. Während das Parlament im Zeichen der centralitá das formale Machtzentrum darstellt – eine Position, die es demnächst vielleicht einbüßt –, bilden die Parteien das faktische Machtzentrum (partitocrazia); allerdings ist dies ein Machtzentrum, das seinerseits hoch fragmentiert ist – ein Machtzentrum ohne Zentrum, gewissermaßen. Auch auf der Suche nach dem Letztentscheider stößt man auf Fragmentierung. Theoretisch ist das Volk als Letztentscheider gedacht, doch kommt es in der Praxis nur selten zum Zuge und ist obendrein nicht souverän, da seine Wünsche der Prüfung durch einen anderen Akteur, den Verfassungsgerichtshof, unterliegen. Das Abbildung 12: Das Entscheidungssystem Italiens Regionen
Präsident
VERFASSUNGSGERICHTSHOF
MINISTERPRÄSIDENT REGIERUNG
DEPUTIERTENKAMMER AUSSCHÜSSE
SENAT Gesetzgebung AUSSCHÜSSE
Referendum
PARTEIEN
Regionalräte
Interessenten
DAS VOLK
wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
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macht in der Summe zwei quasi-Letztentscheider, die beide von nur begrenzter Bedeutung sind und jedenfalls bisher keine struktur- und (per Antizipation) verhaltensprägende Wirkung entfalten konnten. Angesichts dieser vielfältigen Fragmentierung und der relativ hohen Zahl sowohl institutioneller wie situativer Vetospieler sollte man eigentlich ein Konsenssystem erwarten. Viele der Probleme und Merkwürdigkeiten des italienischen Entscheidungssystems resultieren aber vielleicht gerade daraus, dass seine Akteure den faktisch gegebenen Konsensdruck zu ignorieren und ihm auszuweichen versuchen.
2.2.6. Niederlande (1) In den Niederlanden entwickelte sich die Demokratie wie in etlichen anderen europäischen Ländern mit dem Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie. So prägt die liberale Verfassung von 1848, die erstmals die Machtbefugnisse der Krone beschränkte und die Regierung dem Parlament gegenüber verantwortlich machte, maßgeblich den politischen Prozess bis in die heutigen Tage. Die neue Verfassung von 1983 stellt lediglich eine sprachliche und systematisierende Überarbeitung dar, ging jedoch mit keinen substanziellen inhaltlichen Veränderungen einher, sondern legalisierte, was zuvor schon zur Konvention der parlamentarischen Monarchie gehört hatte. Neben den Regelungen zum Verhältnis von Volk, Parlament und Regierung findet sich nach wie vor der Monarch an prominenter Stelle: Der Abschnitt zur Regierung (Art. 24 ff.) beginnt ausführlich mit den Bestimmungen zur Monarchie; auch besteht die Regierung weiterhin formal aus Monarch und Ministern (Art. 41). Die hohe Bedeutung der Monarchie lässt sich aber vor allem in der Realität feststellen: Der König oder die Königin (seit 1898 herrscht in den Niederlanden eine Monarchin!) ist nicht allein repräsentatives Staatsoberhaupt, sondern bis heute Akteur mit realen Einflussmöglichkeiten im politischen Prozess. Konstitutives Merkmal des niederländischen Systems ist nicht eine vorherrschende Verfassungsdokrin, sondern seine Ausprägung als Konkordanzdemokratie („consociational democracy“, Lijphart 1977). Denn die niederländische Gesellschaft zeichnete sich durch ausgeprägte Heterogenität aus; sie manifestierte sich in einer Segmentierung, der sogenannten „Versäulung“, der zufolge religiös oder ideologisch voneinander getrennte Gruppen (Katholiken, Protestanten, Liberale, Sozialisten) nebeneinander existieren, ohne dass es zu reger Interaktion zwischen den Säulen kommt. Indem die Eliten der einzelnen Säulen auf Staatsebene – dem gemeinsamen „Dach“ – eine „Politik des Entgegenkommens“ praktizierten und die gesellschaftlichen Säulen a) im privaten Leben weiter strikt voneinander getrennt blieben und b) hierarchisch gesteuert werden konnten, war es möglich, eine friedliche, sta-
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bile und effektive Demokratie zu etablieren. Spätestens seit den 1960er Jahren kam es zu einer (zumindest partiellen) Entsäulung der Gesellschaft. Dennoch konnte der „Konsens im Polder“ (Wielenga 2004) als staatstragendes Prinzip bisher aufrechterhalten werden. Die Traditionen der „Anerkennung pluralistischer Strukturen, [...] Berücksichtigung von Minderheiten in Entscheidungsprozessen, die ihnen gegenüber praktizierte Toleranz, [...] haben einen tiefen nationalen Konsens begründet“ (Lepszy 2003: 364). Inwieweit der Konsens von den Entwicklungen der letzten drei Jahre gefährdet wurde oder gar zerbrochen ist, wird noch zu diskutieren sein. (2) Wie in allen parlamentarischen Demokratien finden sich mit der Regierung als Agenda-Setzer und dem bikameralen Parlament (Staten-Generaal) die üblichen institutionellen Vetospieler. Anders als ihre Namen es vermuten lassen, übernimmt die Tweede Kamer die Funktion des nationalen Abgeordnetenhauses und die Erste Kamer die eines Senats. Der niederländische Bikameralismus ist auf den ersten Blick symmetrisch ausgestaltet, da beide Kammern einer Gesetzesvorlage zustimmen müssen. Doch verfügt allein die Zweite Kammer über die Möglichkeit, Abänderungsvorschläge einzubringen. Hat die Zweite Kammer einen Vorschlag verabschiedet, kann die Erste ihm lediglich zustimmen oder ihn ablehnen (Art. 85). Es existiert auch kein institutionalisiertes Vermittlungsverfahren, so dass die Erste Kammer als weniger mächtiger Akteur mit lediglich nachträglichem Vetorecht typisiert werden kann. Die Interaktion der beiden Kammern wird folglich durch das institutionelle Übergewicht der Zweiten Kammer bestimmt. Zudem fällt die Erste Kammer im Prinzip unter die absorption rule. Zwar werden die Vertreter der Ersten Kammer im Gegensatz zur Zweiten Kammer nicht direkt vom Volk, sondern von den Provinziallandtagen gewählt. Die Zusammensetzung der beiden Kammern ist damit nicht identisch, doch die Stärkeverhältnisse der Parteien ähneln sich stark. Die Regierungsparteien hatten stets auch in der Ersten Kammer eine Mehrheit, weshalb die Kammern als weitgehend kongruent bezeichnet werden können (Lijphart 1999: 212). Dennoch ergeben sich im politischen Prozess Möglichkeiten für die Erste Kammer, ihren Einfluss geltend zu machen. Das Selbstverständnis als „Senat“ führt dazu, dass die Erste Kammer sich bei besonders wichtigen und umstrittenen Gesetzesvorlagen eigenständig als situativer Vetospieler zu Wort meldet und eine Ablehnung androht; daher werden auch Verteter der Ersten Kammer in die informellen Konsensgespräche involviert. Bei genauerer Betrachtung der institutionellen Regelungen finden sich weitere Eigenheiten, die das niederländische System von anderen abheben. Das beginnt schon damit, dass am Gesetzgebungsprozess auch der sogenannte Staatsrat beteiligt ist. Der Staatsrat ist eine für die BeNeLux-Staaten typische Institution, die im Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie entstand. Er
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besteht aus bis zu 28 von der Königin auf Vorschlag der Regierung auf Lebenszeit ernannten Mitgliedern. Als allgemeines Beratungsorgan der Krone ist er zu jedem Gesetzesvorschlag der Regierung zu hören, bevor der in die Staten-Generaal eingebracht wird (Art. 73). Dabei geht es nicht nur um eine Rechtsprüfung im Sinne der Vereinbarkeit der Vorlage mit der Verfassung, vielmehr werden auch sachliche Empfehlungen abgegeben. Diese Stellungnahmen haben zwar keine Bindungskraft, sind jedoch durchaus einflussreich und können in sensitiven Bereichen zu einem Abbruch des Vorhabens führen (vgl. Lepszy 2003: 359). Auf Grund seiner auctoritas ist der Staatsrat als situativer Vetospieler zu begreifen, der bei wichtigen Vorhaben über ein informelles Vetorecht verfügt. Eine weitere institutionelle Besonderheit am Ende des Gesetzgebungsverfahrens stärkt die Regierung gegenüber dem Parlament: Die übliche Gegenzeichnungspflicht des zuständigen Ministers gilt selbst für Gesetze, die aus der Mitte des Parlaments stammen. Damit ist die Regierung mit einem abschließenden Vetorecht ausgestattet.40 Doch wird diese Machtressource eher als Drohpotenzial in den Prozess eingebracht als tatsächlich zur Blockade genutzt. Auch der Prozess der Regierungsbildung unterscheidet sich von dem, was in anderen Ländern üblich ist, denn in keiner anderen parlamentarischen Monarchie nimmt das Staatsoberhaupt eine solch wichtige Position dabei ein. Gemäß Art. 43 der Verfassung wird die Regierung vom Monarchen ernannt, über nähere Einzelheiten schweigt sich die Verfassung jedoch aus. Auffällig ist vor allem das Fehlen einer Investiturabstimmung im Parlament oder eines funktionalen Äquivalents wie z.B. einer Abstimmung über das Regierungsprogramm. In der Praxis wird die Regierungsbildung durch das fragmentierte Parteiensystem erschwert, das eine Koalition von zwei – häufig sogar mehr – Parteien zur Mehrheitsbildung erfordert. Doch existiert ein Standardverfahren, wonach die Königin nach den Wahlen die Fraktionsführer einlädt, um sich ein Bild von der politischen Lage zu machen. Anschließend bestimmt sie einen sogenannten Informateur, der alle möglichen Koalitionen sondieren soll. Erst nach dessen Bericht beauftragt die Königin einen Formateur – in der Regel der zukünftige Ministerpräsident –, der dann die tatsächlichen Koalitionsverhandlungen führt (Timmermans/Andeweg 1997: 451; vgl. auch Schweden). Bei der Benennung des Formateurs ist die Königin im Prinzip an die zuvor zwischen den Parteien ausgehandelten Koalitionsoptionen gebunden. Sie kann aber in ihrer Auswahl des Formateurs deutlich machen, dass sie z.B. eine Regierung wünscht, die über einen möglichst breiten parlamentarischen Rückhalt verfügt (vgl. Andeweg/Irwin 2005: 112). So kann es unter anderem dem Einfluss der Königin zugeschrieben werden, dass es bis Ende der 1970er Jahre regelmäßig zu 40 Diese Machtressource leitet sich aus Art. 87 ab, dem zufolge ein Gesetz erst in Kraft tritt, wenn es vom König bestätigt wurde.
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„übergroßen“ Koalitionen kam. Erst seit 1982 werden vorwiegend minimal winning coalitions eingesetzt, bei denen keine Partei mehr an Bord ist als zum Erreichen der Mehrheit notwendig; das wurde durch die Fusion der drei christlichen Parteien zum CDA erleichtert (Andeweg/Irwin 2005: 119). Dieser Trend spricht für eine Aufweichung des hohen Konkordanzdrucks zu Gunsten mehrheitsdemokratischer Mechanismen. Seit 1963 ist es im Übrigen nicht mehr üblich, während einer Legislaturperiode die Regierungskonstellation zu verändern. Bricht eine Regierungskoalition auseinander, führt dies in der Regel zu Neuwahlen (Andeweg/Irwin 1993: 109). Mit dem Verzicht auf rein parlamentarisch induzierte Regierungsumbildungen während der Legislaturperiode stieg die Bedeutung der Regierungsbildung unmittelbar nach den Wahlen und damit auch die der königlichen Mitwirkung. Der Prozess mag insgesamt sehr lange dauern (das Maximum lag bei 208 Tagen im Jahr 1977), hat aber den Vorteil, dass die ausführlichen Koalitionsvereinbarungen und Kompromissformeln zu relativ stabilen Regierungen führen. Im Vergleich zu Italien und Finnland, wo die durchschnittliche Kabinettsdauer nach 1945 gerade einmal ein gutes Jahr betrug, halten die niederländischen Kabinette immerhin fast drei Jahre (vgl. Lijphart 1999: 132). (3) Doch kann die Regierungsstabilität nicht als eine Dominanz der Exekutiven über die Legislative interpretiert werden. Denn über viele Jahre hinweg war ein spezielles Kennzeichen des politischen Spiels, dass die Fraktionen eine besonders prominente Position einnahmen. Das Bild, wonach Parlament und Regierung einander als potentielle Widersacher gegenüber stehen, wurde in den Niederlanden lange aufrechthalten. Entsprechend häufig waren auch Konflikte zwischen Regierung und Regierungsfraktionen (Andeweg/Irwin 2005: 140). Die herausgehobene Stellung der Fraktionen zeigt sich schon im Prozess der Regierungsbildung, sind doch die Fraktionsvorsitzenden die Adressaten der Informationsgespräche mit der Königin, und setzt sich bei der Auswahl des Regierungspersonals fort. In der Verfassung ist die Unvereinbarkeit von Parlamentsmandat und Ministeramt (Art. 57, Abs. 2) festgeschrieben. Auf Grund dieses Inkompatibilitätsgebots war es bis in die 1970er Jahre für die Parteiführer klar, dass sie nicht Mitglied der Regierung werden konnten; stattdessen versuchten sie, aus dem Parlament heraus zumeist als Fraktionsvorsitzende Partei, Fraktion und Regierung unter einen Hut zu bringen. Seither wird es allerdings zunehmend üblich, dass sich hochrangige Parteipolitiker und langjährige Parlamentsmitglieder für Ministerämter zur Verfügung stellen. Jahrelang spielte der niederländische Ministerpräsident im Übrigen eine weniger ausschlaggebende Rolle als in anderen Ländern. King (1994: 153) zählt ihn neben dem norwegischen und dem italienischen Regierungschef zu den am wenigsten einflussreichen unter den westeuropäischen Premiers. Auch hier ist inzwischen eine
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Veränderung festzustellen: spätestens mit dem christdemokratischen Regierungschef Lubbers (1982–1994) gewann die Person des Ministerpräsidenten an Statur. Doch selbst Persönlichkeiten wie Lubbers oder Kok (1994–2002) fehlen institutionelle Machtressourcen wie die Richtlinienkompetenz und das Recht der Ministerauswahl, um als Regierungschef eine hervorgehobene Position im politischen System einnehmen zu können. Insgesamt bleibt die Verzahnung von Partei, Fraktion und Regierung damit weiterhin hinter dem Standard anderer europäischer parlamentarischer Systeme zurück. Das Fehlen eines eindeutigen Machtzentrums im politischen Prozess kann als typisches Zeichen für die Konsensorientierung der entscheidenden Akteure gelten. In der versäulten Gesellschaft waren die Parteien die tragenden Pfeiler; ohne die schon erwähnte Zusammenarbeit ihrer Eliten wäre die stabile demokratische Entwicklung wohl nicht möglich gewesen. So wurden die Parteien auch im Spiel innerhalb der Institutionen immer wichtiger, was sich z.B. am Bedeutungszuwachs der Koalitionsvereinbarungen seit den 1960er Jahren ausdrückt (vgl. Timmermans/Andeweg 1997: 463 ff.). Allerdings beschränkten sich die Parteien bei ihrer Konsenssuche auf die etablierten Institutionen, es kam zu keiner Auswanderung von Entscheidungen in informelle Partei- oder Koalitionsrunden, auch dann nicht, wenn innerhalb der Regierung die Einrichtung von Kabinettsausschüssen nicht den gewünschten Koordinationseffekt brachte (Andeweg 1985: 147). Bei allem Streben nach Konsens und Kompromiss bleibt aber eine Gemeinsamkeit mit anderen parlamentarischen Systemen bestehen: Die Oppositionsparteien haben nur eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten im alltäglichen Politikprozess. Weder im Plenum noch in den Ausschüssen verfügt die Opposition über „harte“ Machtressourcen, die ihr relevanten Einfluss auf die Gesetzgebung garantieren könnten (vgl. Döring 1994: 341). Lediglich bei Verfassungsänderungen kommt das Konkordanzsystem voll zum Tragen. Nachdem ein solcher Vorschlag per Mehrheit angenommen wurde, werden für die Zweite Kammer Neuwahlen ausgeschrieben und muss die Verfassungsänderung anschließend mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern verabschiedet werden (Art. 137). Doch zeichnet sich das niederländische Konkordanzsystem nicht allein durch die Konsenssuche zwischen den politischen Akteuren aus. Eine teilweise fest institutionalisierte Einbeziehung der relevanten Verbände erweitert die Menge der Akteure, die mitentscheiden. Im sozio-ökonomischen Sektor wurden neo-korporatistische Arrangements wie die „Stiftung der Arbeit“ eingerichtet, in der bis in die 1980er Jahre hinein tripartistisch die nationale Lohnpolitik zentral ausgehandelt wurde. 1982 vereinbarten die Sozialpartner im „Akkord von Wassenaar“ einvernehmlich die Reform des Sozialstaates und eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, was zum folgenden wirtschaftlichen Aufschwung entscheidend beitrug. Politisch noch be-
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deutsamer ist der Sozial-Ökonomische Rat (SER), der zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern, zu einem Drittel mit Arbeitgebern und zu einem Drittel mit von der Regierung bestellten Experten zusammengesetzt ist (vgl. Kleinfeld 1990: 222 ff.). Der SER ist das zentrale Beratungsorgan der Regierung in sozio-ökonomischen Fragen. Er kann auch von sich aus tätig werden und besonders bei einstimmig getroffenen Empfehlungen als Agenda-Setzer von Regierung und Parlament kaum ignoriert werden. Nicht zu Unrecht wird der SER häufig als „Vorparlament“ (Lepszy 2003: 372) bezeichnet. Steht er einem Regierungsvorhaben einmütig ablehnend gegenüber, ist das mit dessen Ende gleichzusetzen; bei sozio-ökonomischen Materien ist der SER daher als zusätzlicher Vetospieler zu betrachten. (4) Das Jahr 2002 muss als Zäsur im bis dahin weitgehend stabilen Parteien- und Regierungssystem gewertet werden. Der Erfolg der Liste Pim Fortuyn (LPF) bei den Wahlen zur Zweiten Kammer mit 17% der Stimmen zog nicht nur eine Veränderung der Parteienlandschaft nach sich, sondern auch zu einer Koalition unter Einschluss der LFP. Pim Fortuyn war ein charismatischer Populist, dem es gelang, die latente Unzufriedenheit im Land zu kanalisieren. Er polemisierte erfolgreich gegen die „herrschende politische Klasse“ und wies – durchaus zynisch – auf die Mängel im Gesundheitssystem, Bildungswesen und bei der inneren Sicherheit hin. Vor allem aber konnte er sich mit seiner Forderung nach einem Stop der Zuwanderung und der Problematisierung der Integration von Ausländern erfolgreich im rechtspopulistischen Spektrum platzieren. Seine Ermordung neun Tage vor der Wahl zur Zweiten Kammer war ein Schock für ein Land, das über 300 Jahre keinen politischen Mord mehr gesehen hatte. Der Erfolg der LFP verdeutlicht nicht nur die geschwundene Bindung der Wähler an ihre bisherigen Parteien, sondern weist auf tieferliegende gesellschaftliche Probleme hin. Denn die Gründe für die Wahlentscheidung für die LFP waren neben Fortuyns Persönlichkeit tatsächlich die Themen, die er besetzte: Zuwanderungsstop und Anpassung der Immigranten (Holsteyn/Irwin 2003: 62). Auch wenn die Regierungsbeteiligung der LFP nach der Ermordung Fortuyns kläglich scheiterte und sie bei den Neuwahlen im Januar 2003 auf 5,7% einbrach, blieben die aufgerissenen Konflikte bestehen. Die Integration der Immigranten und die Positionierung gegenüber dem Islam bleiben bestimmende Elemente der gesellschaftlichen und politischen Diskussion (Lucardie/ Voerman 2004: 1090). Spätestens mit der Ermordung des provokanten islam- und einwanderungskritischen Filmemachers Theo Van Gogh41 wurde klar, dass das auf Toleranz aufbauende Gesellschaftssystem und damit die Grundfesten des Konsenses tief erschüttert sind. Inwieweit diese gesellschaftlichen Veränderungen auch in
41 Er war gerade auf dem Weg, eine Dokumentation über die Ermordung Fortuyns abzuschließen.
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den Politikprozess Einzug halten und das niederländische System weiter von seinen konsensualen Mechanismen abdrängen, bleibt jedoch abzuwarten. Eine weitere Veränderung des Systems war von der Koalition unter Wim Kok geplant: Eine Verfassungsänderung sollte bindende Referenda ermöglichen, mittels derer die Bevölkerung am Ende des Gesetzgebungsprozess mit einem nachträglichen Vetorecht ausgestattet worden wäre.42 Doch scheiterte dieses Vorhaben im Mai 1999 an der Ablehnung durch Mitglieder der liberalen Regierungspartei VVD in der Ersten Kammer. Nur mit Mühe und der Einführung eines beratenden Referendums43 auf Gesetzesbasis konnte daraufhin die linksliberale D‘66 in der Regierungskoalition gehalten werden. (5) Nach wie vor zeichnen die Niederlande sich durch eine gewisse Machtfragmentierung aus. Die Regierung wird weiterhin von zumindest zwei oder drei Parteien gebildet, auch wenn inzwischen minimal winning coalitions die Regel sind. Auf der anderen Seite gewann die Regierung zunehmend an Gewicht, und die Regierungsfraktionen sind als eigenständige Vetospieler wohl endgültig abgetreten. Doch bestehen mit dem Staatsrat und dem SER einflussreiche Beratungsgremien, die als situative bzw. eingeschränkte Vetospieler auch künftig den Politikprozess mitbestimmen. Auch die Erste Kammer nimmt als nachträglicher Vetospieler weiterhin Einfluss auf die Politikentscheidungen. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die Anzahl an unterschiedlichen Vetospielern in den letzten Jahren zurückging. Dieser Prozess, der die Niederlande näher an die Konkurrenzsysteme heranbringt (vgl. auch Lijphart 1999: 255: Abbildung 14.2), resultierte bislang noch nicht in der Herausbildung eines eindeutigen Machtzentrums. Zwar scheint sich die Macht auf die Regierungsparteien zu konzentrieren, sie dominieren jedoch die institutionellen Vetospieler nicht in dem Maße, wie es in anderen Parteien-Demokratien (Italien, Deutschland; s.u. Kap. 3) üblich ist. Der Letztentscheider bleibt eindeutig das Parlament, zumal Reformversuche zur stärkeren Involvierung der Bevölkerung mit direktdemokratischen Instrumenten (vorerst) gescheitert sind.
42 Zur Initiierung eines solchen Referendums hätten 600.000 Unterschriften gesammelt werden müssen. Für einen Erfolg des Referendums (Ablehnung des Gesetzes) hätte die Mehrheit an NeinStimmen zugleich das Quorum von mindestens 30% der Stimmberechtigen erreichen müssen (http://www.referendumplatform.nl/product_info.php?products_id=76&cPath=26). 43 Am 1. Juni 2005 wurde der Bevölkerung der EU-Verfassungsvertrag zur Abstimmung vorgelegt; bei einer hohen Wahlbeteiligung von 64% stimmten 61,6% gegen den Verfassungsvertrag. Die großen Parlamentsfraktionen fühlten sich auf Grund des eindeutigen Ausgangs alle an den Ausgang des Referendums gebunden und ließen im Parlament die Ratifikation scheitern. Die Durchführung des konsultativen Referendum scheint jedoch eher ein auf den EU-Kontext eingeschränktes Instrumentarium zu sein; weitere Referenden sind nicht geplant.
Die Regierungssysteme im Überblick
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Abbildung 13: Das Entscheidungssystem der Niederlande Provinzen REGIERUNG
STAATSRAT
SOZIOÖKONOMISCHER RAT
ZWEITE KAMMER
VERBÄNDE
ERSTE KAMMER
Gesetzgebung
Provinzial Landtage
PARTEIEN
Wähler wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
2.2.7. Finnland (1) Die finnische Republik war jahrzehntelang von zwei Besonderheiten geprägt: der Lage als Nachbarstaat zur Sowjetunion, zu der gute (oder zumindest arbeitsfähige) Beziehungen unterhalten werden mussten, und der semi-präsidentiellen Ausgestaltung des Regierungssystems. Im Juli 1919, anderthalb Jahre nach der Unabhängigkeit, gaben die Finnen sich ihre Verfassung in Form von mehreren Grundgesetzen, von denen die „Regierungsform“ und die „Reichstagsordnung“ die entscheidenden waren (Auffermann 2003: 189, Nousiainen 2000). In der Regierungsform wurde ein Kompromiss zwischen monarchischen und republikanischen Forderungen gefunden, der einen starken Staatspräsidenten als Gegengewicht zum Parlament und der davon abhängigen Regierung vorsah. Wie so häufig war es nicht allein die in der Verfassung angelegte Machtverteilung zwischen den einzelnen Institutionen, sondern die Verfassungspraxis, die Finnland neben Frankreich zum Pa-
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radebeispiel eines semi-präsidentiellen Systems werden ließ (vgl. Duverger 1980). So prägte nach dem zweiten Weltkrieg Staatspräsident Kekkonen von 1958–1981 nachhaltig den politischen Prozess und beschränkte sich dabei nicht auf die eigentlich dem Amt zugeschriebenen Kompetenzen. Der besondere Status der außenpolitischen Orientierung zwischen westlicher Welt und der Sowjetunion („Finnlandisierung“ als eigenständiger Typus, Auffermann 1992) spiegelte sich unter anderem in den äußerst heterogenen Regierungskoalitionen, teilweise unter Beteiligung der Kommunisten, wider. Beide Merkmale sind inzwischen (nahezu) verschwunden. Die Sowjetunion existiert nicht mehr, und mit dem Beitritt zur Europäischen Union verlor Finnland endgültig seinen besonderen außenpolitischen Status. Seit den Verfassungsänderungen der 1980er und 1990er Jahre, die in der neuen Verfassung von 1999 gipfelten44, kann das System nun als parlamentarische Demokratie bezeichnet werden (König/Bräuninger 1999, Nousiainen 2001, Raunio 2004), auch wenn der direkt gewählte Präsident mit nun eingeschränkten Machtbefugnissen nach wie vor ein Mitspieler im politischen Prozess ist. Man kann die Verfassungsreform auch so deuten, dass seit 1999 eine einheitliche Verfassungsdoktrin gelten soll: die von der Zentralität und Suprematie des Parlaments. (2) Das Entscheidungssystem Finnlands befindet sich daher noch in einer Übergangsphase. Eindeutig ist aber, dass mit der neuen Verfassung eine Verlagerung der Macht vom Staatspräsidenten auf das unikamerale Parlament (Eduskunta) und die Regierung stattfand. Vor der Reform nahm der Staatspräsident insbesondere bei der Regierungsbildung eine herausragende Stellung ein, hatte er doch das alleinige Recht, die Regierung zu bestellen. Dieses Initiativmonopol wurde von Seiten der finnischen Staatspräsidenten auch ausgiebig genutzt. Die Regierungsbildung unter Obhut des Präsidenten orientierte sich dabei einerseits an den Wahlergebnissen und stand andererseits unter dem Primat der Herstellung eines Gleichgewichts der politischen Kräfte, das auf Grund der sowjetischen Nachbarschaft als conditio sine qua non galt (Nousiainen 1997: 334). Bis zu einer Verfassungsänderung 1991 war die Regierungsbildung die wichtigste innenpolitische präsidentielle Machtressource. Nach 1991 war der Präsident immerhin verpflichtet, die Meinungen der Parlamentsparteien einzuholen und musste die neue Regierung ihr Programm einem Vertrauensvotum stellen. Mit Art. 61 der neuen Verfassung von 1999 ist die Wahl des Ministerpräsidenten durch das Parlament eingeführt. Der Ministerpräsident und die vom Präsidenten auf seinen Vorschlag ernannten Minister bilden nun den Staatsrat. Damit hat sich der Regierungsbildungsprozess dem in anderen parlamen-
44 Verabschiedet wurde die Verfassung im Juni 1999, in Kraft trat sie zum 1. März 2000.
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tarischen Systemen üblichen Vorgehen angeglichen: Das Staatsoberhaupt übernimmt nur noch die Rolle des informateurs, nicht mehr die des aktiven formateurs. Gemäß Art. 3 der Verfassung ist der Präsident aber weiterhin Teil der exekutiven Gewalt und nimmt an den Sitzungen des Staatsrates teil (Art. 58); der traditionelle Dualismus wird also formal fortgeführt. Nach wie vor steht der Präsident an der Spitze des Staatsrats, doch ist er im Normalfall an dessen Entscheidungen gebunden.45 In den meisten Politikbereichen hat er seinen Status als exekutiver AgendaSetzer eingebüßt, und dies obwohl seine demokratische Legitimation durch die 1994 eingeführte direkte Wahl46 erhöht wurde. Selbst in der Außenpolitik, die nach der alten Verfassungspraxis alleinige Domäne des Präsidenten war, ist er gemäß Art. 93 nun an die Kooperation mit dem Staatsrat gebunden. In der Verfassungspraxis hat es sich seit den 1990er Jahren eingebürgert, die Außenpolitik im entsprechenden Ausschuss des Staatsrates unter Vorsitz des Präsidenten festzulegen (Nousiainen 2000). Neuer starker Mann der Exekutive ist der Premierminister, der auf Grund der Wahl durch das Parlament nicht mehr vom Präsidenten abhängig ist. Auch nicht-konstitutionelle Faktoren wie der EU-Beitritt47 und eine zunehmende Personalisierung der Politik haben ihn mittlerweile ins Zentrum der Macht gerückt (Paloheimo 2003: 219). Doch änderten sich nicht nur die Beziehungen zwischen Präsident und Staatsrat, sondern auch die zwischen Parlament und Exekutive insgesamt. Da die Regierung nun an das Parlament und speziell an die Regierungsfraktionen gebunden ist, konnten die Regierungsparteien einen erheblichen Bedeutungszuwachs verbuchen. Im Gesetzgebungsprozess wurde dagegen mit der Abschaffung der für zahlreiche Vorhaben notwendigen qualifizierten Mehrheiten die Regierung gegenüber dem Parlament in ihrer Agenda-Setzer-Funktion gestärkt. So war bis 1992 im Eduskunta eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig, um Steuergesetze zu verabschieden, und musste auf Verlangen von einem Drittel der Parlamentarier die Entscheidung über jedes einfache Gesetz bis zum übernächsten Parlamentsjahr verschoben werden (Mattila 1997: 332). Trotz der üblichen Mehrparteien-Regierungskoalitionen hatten die Regierungsfraktionen die wichtige Zwei-Drittel-Mehrheit nur selten auf sich vereinen können (vgl. Nousiainen 1997: 328f, Tabelle 1). Das steigerte naturgemäß die Bedeutung der Oppositionsparteien und machte die Suche nach breiten 45 Ausnahmen sind Ernennung und Abberufung der Regierung, das Ausrufen vorzeitiger Parlamentswahlen, Begnadigungen und bestimmte Belange der Provinz Åland (Art. 58). 46 Bis 1988 wurde er durch ein in Volkswahl bestimmtes Elektorengremium gewählt, doch galt diese Regel nicht ausnahmslos. 1973 z.B. verlängerte das Parlament per Sondergesetz die Amtszeit von Kekkonen um vier Jahre. 1988 kam ein Mischsystem aus direkter Wahl und Elektorenstimmen zur Anwendung. 47 Seit 2000 ist die Koordination der EU-Politik im Amt des Premiers angesiedelt (Paloheimo 2003: 233).
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
Kompromissen zum Alltagsgeschäft. War sich die Opposition einig, konnte sie als Vetospieler auftreten (Mattila 1997: 332). Eine besondere Rolle in diesem Prozess spielte der „Große Ausschuss“. In ihm sitzen gemäß Fraktionsstärke 45 Mitglieder, die jeden Gesetzesentwurf nach der Behandlung im zuständigen Fachausschuss nochmals diskutieren. Noch heute werden hier wichtige Kompromisse geschmiedet, da in diesem Gremium alle bedeutenden Fraktionspolitiker versammelt sind. 1995 übernahm der Ausschuss auch die Funktion als Europa-Ausschuss und gewann dadurch zusätzlichen Einfluss. In der Zeit vor den Verfassungsänderungen hatte das Parlament seine Funktion als kollektiver Vetospieler ausgiebig wahrgenommen. Die Kontrolle der legislativen Agenda wurde der Regierung erst nach 1992 erleichtert. In der Praxis ergaben sich allerdings hinsichtlich des Kompromissdrucks insofern keine gravierenden Änderungen, als die „Regenbogenkoalitionen“ unter Ministerpräsident Lipponen von 1995 bis 2003 fünf Parteien umschlossen, die ca. 70% der Parlamentssitze einnahmen. Die Kompromisssuche ist nun jedoch aus dem Parlament in die Regierung verlegt (vgl. Jungar 2002). Für Verfassungsänderungen bleibt der parlamentarische Konsenszwang weiterhin hoch. Eine zunächst mit einfachem Mehrheitsbeschluss verabschiedete Änderung muss nach Neuwahlen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit bestätigt werden, alternativ reicht einmalig eine Fünf-Sechstel-Mehrheit48 aus (Art. 73). Die Rolle des Präsidenten im Gesetzgebungsprozess wurde durch die neue Verfassung auf zwei Mitwirkungsrechte beschränkt: Erstens bringt er die Regierungsvorlagen, die der Staatsrat beschlossen hat, formal in das Parlament ein (Art. 58, Art. 70). Wie oben gesehen heißt das jedoch nicht, dass er über die Agenda-Setzer Funktion verfügt, da er ja an die Beschlüsse des Staatsrats gebunden ist und ein Einspruch seinerseits vom Staatsrat überstimmt werden kann. Zweitens hat der Präsident die Möglichkeit, ein im Parlament verabschiedetes Gesetz nicht zu bestätigen. Hier handelt sich aber lediglich um ein suspensives Veto, da nach einer Frist von drei Monaten das Parlament das Gesetz in unverändertem Wortlaut endgültig verabschieden kann (Art. 77). Eher die Bedeutung einer Fußnote haben Referenda in Finnland, die rein fakultativ und konsultativ und auch nicht einmal in der Verfassung vorgesehen sind. Bislang gab es lediglich zwei Volksabstimmungen, eine davon die über den EUBeitritt. Im Vorfeld dieser richtungweisenden Entscheidung hatte die Politik sich „politisch und moralisch“ (Auffermann 2003: 206) an das Ergebnis gebunden erklärt. Doch wurde die freiwillige Bindung nicht auf den Prüfstand gestellt, weil 56% der teilnehmenden Stimmbürger für den von der politischen Elite gewünsch48 Mit der Fünf-Sechstel-Mehrheit wird ein Dringlichkeitsbeschluss verabschiedet, für die Verfassungsänderung wird dann eine Zwei-Drittel-Mehrheit verlangt.
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ten Beitritt stimmten. Da es sich bei der Abstimmung über den EU-Beitritt um eine Ausnahme handelte, kann die Bevölkerung nicht als bedingter Vetospieler gezählt werden; das finnische System bleibt in seiner Logik strikt repräsentativ. (3) Der politische Entscheidungsprozess war jahrelang geprägt von der Inklusion vieler situativer Vetospieler und gemäß dem skandinavischen Modell (vgl. Kap. 2.2.3, Schweden) konsensorientiert ausgestaltet. Im Vergleich mit Schweden oder Dänemark ergab sich durch die genannten Eigenheiten im Gesetzgebungsprozess und die außenpolitische Sonderstellung sogar ein noch stärkerer Konsensdruck („konsensueller Pathos“, Nousianen 2000). Das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten erklärt auch die Neigung zu übergroßen Koalitionen (vgl. Laver/Schofield 1990: 71); d.h. es waren in der Regel mehr Parteien an der Regierung beteiligt, als zum Erreichen der absoluten Mehrheit notwendig gewesen wären. Bis heute sind die Regierungskoalitionen nicht nur groß, sondern auch äußerst heterogen. Lange Zeit, nämlich bis 1987, bildeten die große Bauernpartei (KESK) und die Sozialdemokraten (SDP) den Kern; ansonsten waren alle Kombinationen mit der Ausnahme einer gleichzeitigen Beteiligung von Kommunisten und Konservativen möglich. Die Repositionierung der Kommunisten als Linke Allianz 1990 erlaubte aber sogar dieses Bündnis. In derart heterogenen Regierungen gestaltete sich die Konfliktregelung äußerst schwierig. Einerseits galt das Prinzip der kollektiven Verantwortung der Regierung bei geringer Autonomie seitens der Ressortminister; damit sah sich der Staatsrat unter permanenten Einigungszwang gestellt. Andererseits fühlten sich die Parteien vorrangig an ihre Klientel gebunden und zeigten sich bis in die 1980er Jahre hinein wenig kompromissbereit, was zu häufigen Regierungsaustritten führte (Nousiainen 1997: 335). Um diesem Problem zu begegnen, war schon in den 1930er Jahren als zentrale informelle Institution die sogenannte „Abendschule“ eingerichtet worden, in der am Tag vor den Staatsratssitzungen beim Premier versucht wurde, möglichst viele Differenzen zu bereinigen. Ein anderer Ausweg waren formale Mehrheitsentscheidungen, die bis in die 1970er Jahre durchaus üblich waren (Nousiainen 1997: 349). Daher ist für diese Zeit die gesamte Regierung als kollektiver Vetospieler zu betrachten und kann nur begrenzt in die einzelnen Regierungsparteien aufgebrochen werden. Deren Machtposition litt zudem darunter, dass die Fraktionsdisziplin bis in die 1980er Jahre hinein nur wenig ausgeprägt war. Seither wird jedoch erwartet, dass die Regierungsfraktionen im Parlament Abstimmungsdisziplin zeigen und die Entscheidungen des Staatsrats einstimmig unterstützen. Mittlerweile sind auch die jeweiligen Parteiführer zugleich Regierungsmitglieder, was eine einheitliche Positionierung von Regierungsmitgliedern und -fraktion erleichtert (Paloheimo 2003: 236). Insgesamt sind die Partei(spitz)en im politischen Prozess immer wichtiger geworden, und die Absprachen zwischen Parteiführern haben die Kompromisssuche
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weiter aus dem Staatsrat in informelle Gremien verlagert. Mit der Schwächung des Staatspräsidenten bei der Regierungsbildung und dem Wegfall der qualifizierten Mehrheiten ist die Bedeutung der Regierungsparteien in Finnland so angewachsen, dass sie inzwischen als wahres Machtzentrum gelten können. Die Einbindung von Interessengruppen lässt die Anzahl situativer Vetospieler weiter ansteigen. Verbände und Gewerkschaften sind an der Ausschussarbeit beteiligt, ohne allerdings wie im schwedischen Remiss-Verfahren über formale Rechte zu verfügen. Zumindest für die Zeit von 1966–1990 müssen gleichwohl bei grundlegenden Entscheidungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik die Sozialpartner als informelle Vetospieler betrachtet werden (vgl. Lappalainen/Siisiäinen 2001: 116 ff.; Kauppinen 1994). Besonders deutlich zeigte sich ihre Vetomacht in den 1970er und 1980er Jahren im Bereich der Einkommenspolitik. So hatte 1968 erstmalig die Regierung mit Gewerkschaften, Agrar- und Arbeitgeberverbänden einen Vertrag ausgehandelt, der die Anbindung der Lohnpolitik und Landwirtschaftssubventionen an eine koordinierte staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik vorsah (Kauppinen 1994: 67 ff.). In der Folge wurde der Zugang zu den Ministerien verbessert und teilweise – wie z.B. bei der interministeriellen Koordination zur Vorbereitung der EU-Politik (Stoiber 2003: 173) – institutionalisiert. Als Instrument der korporatistischen Einbeziehung wurde schon in den 1920er Jahren der Wirtschaftliche Planungsrat (heute Wirtschaftsrat) gegründet, in dem alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen diskutiert werden (Kauppinen 1994: 56).49 Doch in den 1990er Jahren hat sich die Rolle der Verbände verändert: Die korporatistischen Strukturen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik brechen auf und die enge Verzahnung zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern, Bauern und politischer Elite weicht wie in anderen Ländern auch der Konkurrenzorientierung (Lappalainen/Siisiäinen 2001: 121). Allein wenn die genannten Verbände sich auf eine gemeinsame Position einigen, können sie noch als situative Vetospieler gewertet werden. (4) Die genannten institutionellen Veränderungen wurden mit der Verfassung von 1999 kodifiziert. Doch bleibt vorerst offen, ob die neuen Rahmenbedingungen und der Wegfall der besonderen außenpolitischen Situation zu langfristigen Veränderungen von Politikstil und Konsensorientierung führen, ob also „Finnland auf dem Weg zum Mehrheitssystem“ (König/Bräuninger 1999) ist. Bislang nämlich dominieren nach wie vor übergroße Koalitionen. Von 1995 bis 2003 wurde die schon erwähnte Regenbogenkoalition gebildet, an der unter Ausschluss der Bauernpartei alle relevanten großen Parteien, ja sogar die Linke Allianz und die Konserva49 Er wurde jedoch erst seit 1946 tripartistisch besetzt. Inzwischen sitzt der Premier dem Wirtschaftsrat vor, was dessen Machtposition ebenfalls stärkt, vgl. http://www.vnk.fi/vn/liston/vnk.lsp?r=2089&k=en&old=1063.
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tiven, beteiligt waren. Treibende Kraft waren die Sozialdemokraten, die sich von dieser Konstellation eine bessere Akzeptanz der notwendigen Reformen des Wohlfahrtsstaates versprachen (Jungar 2002: 64). Da die institutionellen Notwendigkeiten für übergroße Koalitionen nicht mehr gegeben sind, muss als Erklärungsfaktor die Konsensorientierung als Teil der politischen Kultur hinzugezogen werden (Jungar 2002: 78). Dabei widerspricht die Stabilität der Regenbogenkoalition den – auch in Finnland vor 1995 – üblichen kurzen Amtszeiten übergroßer Koalitionen. Die Regierung Lipponen blieb die komplette Legislaturperiode von 1995 bis 1999 unverändert im Amt, nach der Wiederwahl verließen die Grünen erst 2002 die Koalition. Die Lebensdauer dieser heterogenen Koalition lässt sich vielleicht auch mit der starken Persönlichkeit von Lipponen erklären. Auf jeden Fall ist – ähnlich der Entwicklung in den Niederlanden – ein deutlicher Bedeutungszuwachs des Premiers festzustellen. Er füllt das personelle Machtvakuum, das mit der Zurückstufung des Präsidenten entstand (vgl. Paloheimo 2003: 237 f.). Das Jahr 2003 markiert die Rückkehr zum „alten“ Koalitionskern von Bauernpartei und Sozialdemokraten (und der Schwedischen Volkspartei als „ewiger“ Regierungspartei) und damit den Schritt zu knapperen Regierungsmehrheiten. Es bleibt abzuwarten, ob sich damit schon ein neuer Trend durchsetzt und Finnland den Weg zur Mehrheitsdemokratie weitergeht. (5) Als Fazit ist festzuhalten, dass sich durch die neue Verfassung, die neue außenpolitische Situation und die Veränderung des Parteienwettbewerbs die Anzahl der Vetospieler in Finnland reduziert hat. Doch ist dies nach Politikbereichen zu differenzieren, denn in der Außenpolitik bleibt der Präsident als Vetospieler erhalten. Wenn auch nicht mehr so prominent, sind in der Wirtschafts- und Sozialpolitik die gesellschaftlichen Akteure weiterhin als situative Vetospieler zu werten. Und dank der tradierten Praxis der übergroßen Koalitionen gibt es nach wie vor mehrere partisan Vetospieler. Bis auf weiteres ist Finnland ein Land mit mittlerer Machtfragmentierung, das sich aber zu einer höheren Machtkonzentration bei der Regierungsmehrheit hin bewegt. Das Machtzentrum bilden mehr denn je die (Regierungs-)Parteien. Als Letztendscheider ist seit der neuen Verfassung eindeutig das Parlament zu identifizieren, da es das suspensive Veto des Präsidenten mit einfacher Mehrheit überstimmen kann. Auch der Ausnahmefall der Selbstbindung der politischen Elite an den Ausgang des Referendums über den EU-Beitritt ändert daran nichts: Das Parlament kann sich jederzeit über solche Beschlüsse hinwegsetzen.
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
Abbildung 14: Das Entscheidungssystem Finnlands
STAATSRAT
Wirtschaftsrat
PRÄSIDENT
PARLAMENT Gesetzgebung
PARTEIEN
VERBÄNDE
Wähler wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
2.2.8. Deutschland (1) Die Deutschen hatten einige Mühe, Nation und Staat unter einen Hut zu bringen. Das erste Kaiserreich umfasste etliche Nationen, und dort, wo die Deutschen siedelten, bestanden viele (kleine und Kleinst-)Staaten. Als Bismarck (der sich übrigens ähnlich wie später de Gaulle eine Verfassung „maßschneidern“ ließ) nach zwei von Preußen siegreich beendeten Kriegen das zweite Kaiserreich schuf, war darum die Form des Bundesstaats vorgezeichnet – wenn auch eines „völlig originellen“, den Zeitgenossen weder dem Typ des „echten“ Bundesstaats noch dem des Einheitsstaats so recht zuzuordnen wussten (vgl. Deuerlein 1972: 131 ff.). Das „Originelle“ behielten die Deutschen bei, als sie 1948 den Bundesstaat als parlamentarisches System neu aus der Taufe hoben. Prompt galt er der Fachwelt als „unitarischer Bundesstaat“ (Hesse 1962) oder gar als „verkappter Einheitsstaat“ (Abromeit 1992). Doch auch das parlamentarische System funktioniert hier anders, als man es diesem Regimetyp unterstellt, nämlich – so jüngere Kennzeichnungen – als „Grand Coalition State“ (Schmidt 1996) und als „blockierte Demokratie“ (Stark 1998).
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Dazu passt eine Verfassungsdoktrin, die keinen Souverän kennt. Schon mit dem Begriff der Souveränität als solchem hat das deutsche Staatsrecht so seine Schwierigkeiten. Die Bundesrepublik ist Verfassungsstaat, punktum; und wenn denn irgend etwas als souverän anerkannt werden könnte, dann nur die Verfassung selbst (vgl. Abromeit 1995). Diese Doktrin (oder doch besser Nicht-Doktrin ...?) verweist auf mehrerlei: auf das Fehlen eines klaren Machtzentrums zum einen; auf ein hohes Maß an Verrechtlichung der Politik zum zweiten; und zum dritten darauf, dass als Letztentscheider nur der „Hüter der Verfassung“ in Frage kommt. (2) Das staatliche Entscheidungssystem der Bundesrepublik kennt zunächst drei Vetospieler: den Bundeskanzler, den Bundestag und den Bundesrat. Wie in jeder parlamentarischen Demokratie bildet der Bundestag sein formales Zentrum, indem er den Regierungschef wählt – und per Misstrauensvotum stürzen kann –, der dann, stabile Regierungsmehrheit vorausgesetzt, als Agenda-Kontrolleur dem formalen Entscheidungszentrum den Rang abläuft. Doch ganz so einfach liegen die Dinge in der Bundesrepublik nicht. Zum einen reduziert sich die Machtposition des Bundestages dadurch, dass er dem Kanzler das Misstrauen nur „konstruktiv“ aussprechen kann, also quasi uno actu einen neuen Kanzler wählen muss50. Zum zweiten wurde die BRD mit einer Ausnahme (1960–61) von Koalitionsregierungen regiert. Das mindert die Möglichkeiten des Kanzlers, seine Mehrheit im Parlament zu disziplinieren (bestenfalls kann es dies mit seiner eigenen Fraktion tun), und entwertet sowohl seine Personalhoheit gegenüber den Ministern (Auswahl- und Entlassungsrecht) wie auch seine Richtlinienkompetenz (Art. 65 GG): In beiden Fällen ist er durch Koalition und Koalitionsvertrag gebunden. Und zum dritten ist der Bundesrat in der Lage, den Bundestag und mit ihm die Regierung auszubremsen. Der Bundesrat ist nun eine höchst eigenwillige Konstruktion und damit echter Erbe des „völlig originellen“ Bundesrats im Deutschen Kaiserreich. Er ist als Ländervertretung gedacht (und ursprünglich geplant übrigens als das Gremium, in dem der versammelte Verwaltungs-Sachverstand der Länder die Gesetzesvorhaben der amateurhaften Parteipolitiker des Bundes korrigiert); doch werden die Länder nicht durch gewählte „Räte“ repräsentiert, sondern durch ihre Regierungen. Zudem sind die Länder nicht gleich vertreten, sondern gewichtet (mit drei bis sechs Stimmen, je nach Bevölkerungsstärke). Eine Mehrheit im Bundesrat ist darum nicht gleichbedeutend mit einer Ländermehrheit; vielmehr kann deren Minderheit die Mehrheit überstimmen. Und schließlich ist der Bundesrat dem Bundestag in der Gesetzgebung nicht stets gleichberechtigt: Das ist er nur im Fall der Zustim50 In der Geschichte der BRD ist dies nur zweimal versucht worden, und nur einmal war das konstruktive Mißtrauensvotum erfolgreich (1983).
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
mungsgesetze, die immerhin rd. 60% der Gesetzesvorhaben ausmachen. Zum Ausgleich verfügt er über einige administrative Kompetenzen, die dem Bundestag abgehen. Bestehen in einer hinreichenden Anzahl von Ländern andere Regierungsmehrheiten als im Bund, wird der Bundesrat im Fall der Zustimmungsgesetze zum Instrument der (Bundestags-)Opposition. Will die Bundesregierung vom Bundesrat (bzw. von der Opposition) abgelehnte Projekte wenigstens teilweise durchbringen, ist sie zu Konsens-Verhandlungen gezwungen. Formal finden diese im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat statt51. Bei besonders wichtigen Reformvorhaben bürgert es sich aber inzwischen ein, dass dessen Verhandlungsergebnisse durch informelle Vorweg-Einigungen zwischen den Chefs von Regierung und Opposition vorgegeben werden. Obwohl gelegentlich als Über-Gesetzgeber oder „Überparlament“ (Sturm 2001: 67) tituliert, ist der Vermittlungsausschuss darum kaum als eigenständiger Vetospieler zu werten; wie die italienischen Regierungsinstitutionen arbeitet er im Schatten der Parteien, nämlich der erzwungenen, heimlichen großen Koalition (s. dazu Lehmbruch 1998). Neben Parlament und Regierung gibt es natürlich auch in der Bundesrepublik einen Präsidenten, der indessen nicht als Vetospieler in Fage kommt, da ihm lediglich staatsnotarielle Funktionen zustehen (Rudzio 2003: 349). In der Gesetzgebung und bei Ernennungen hat er nur ein formales Prüfungsrecht. In einem einzigen Fall gehen seine Kompetenzen darüber hinaus, nämlich dann, wenn der Bundestag nicht mit absoluter Mehrheit einen neuen Kanzler wählt (Art. 63, Abs. 4 GG). Dann und nur dann kann er „in eigenem Ermessen“ entscheiden, ob der Bundestag aufzulösen ist (was der Zustimmung des Bundestagspräsidenten bedarf) oder es eine Minderheitsregierung geben soll. Dieser Ausnahmefall ist bisher noch nie eingetreten, die „Reservefunktion“ des Bundespräsidenten also noch nie aktualisiert worden.52 Über den beschriebenen Institutionen des parlamentarischen Bundesstaats schwebt das Bundesverfassungsgericht, das auf Antrag (schon eines Teils) eines jeden von ihnen die Verfassungskonformität von Gesetzesbeschlüssen prüfen sowie (Kompentenz-)Streitigkeiten zwischen ihnen schlichten kann. Mit seinen Urteilen zur Verfassungsmäßigkeit ihrer Handlungen interpretiert das Gericht quasi ex cathedra das Grundgesetz und verändert und entwickelt es bei der Gelegenheit weiter; da seine Urteile anschließend als Bestandteil der Verfassung gelten, ist es die 51 – in dem die Länder nicht mehr gewichtet, sondern gleich vertreten sind. 52 Hinzu kommt die Funktion der „Einschätzung der Lage“ bei abgelehnter Vertrauensfrage (Art. 68 GG), die wiederum in der (dieses Mal vom Kanzler gewünschten) Auflösung des Bundestags resultieren kann. Diese Situation ist zweimal eingetreten und rückte 1983 und 2005 den Präsidenten ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. In dem Fall agiert der Präsident zwar quasi im Auftrag des Bundeskanzlers, könnte aber rein theoretisch auch gegen ihn entscheiden. Damit wäre er – ausnahmsweise – als situativer und bedingter Vetospieler zu werten.
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heimliche pouvoir constituant und als solche ein wichtiger Vetospieler. Das Volk dagegen hat auf Bundesebene keinerlei Recht außer dem Wahlrecht zum Bundestag. Weder Bürger noch die einzelnen Bundesländer qualifizieren sich als Vetospieler. Die Länder haben nur residuale eigene Kompetenzen53 und nicht einmal Handlungsspielräume bei der Umsetzung von Bundesrecht; wollen sie solche für sich in Anspruch nehmen, droht ihnen die Bundesaufsicht und notfalls die Klage vor dem BVerfG. (3) Wie aus Obigem schon ersichtlich, wird die Funktionsweise des staatlichen Entscheidungssystems stark durch situative Vetospieler geprägt – namentlich durch die Parteien. Ohne den Zwang zur Koalitionsbildung wäre der Kanzler der entscheidene institutionelle Vetospieler und käme der Bundestag nur im Ausnahmefall zum Zug; ohne die Parteien-Dominanz im Bundesrat wäre die Opposition nicht selbst im Normalfall ein ernstzunehmender Vetospieler – aber auch der Bundesrat nicht der blockierende Vetospieler, als der er in den letzten Jahrzehnten gescholten wird. In der Anfangszeit der BRD war alles dies noch anders: Da dominierte Kanzler Adenauer auch über die kleineren Koalitionsparteien und hatte dessen Partei CDU/CSU die Mehrheit im Bundesrat, d.h. Regierungsparteien und Länderkammer fielen jeweils unter die absorption rule. Auch in den 1980er Jahren unter Kanzler Kohl gab es keine ernstliche Blockadesituation54; und daraus darf man folgern, dass das Blatt sich nach der nächsten Bundestagswahl – oder einer Reihe weiterer Landtagswahlen – durchaus erneut wenden kann. Der „Grand Coalition State“ (s.o.) ist nicht der naturgegebene Zustand des deutschen Regierungssystems. Ein dauerhaftes Problem stellt allerdings das offenkundig gewachsene Selbstbewusstsein der Landes-Parteiführungen dar. Dass die „Landesfürsten“ – die Regierungschefs der Bundesländer – Ambitionen entwickeln, selbst Kanzler-Kandidat ihrer Bundespartei und anschließend Kanzler zu werden, scheint inzwischen der Normalfall deutscher Politik; sie tendieren dazu, dem Kanzler jeder Couleur das Leben schwer zu machen. Neben den Bundes-Parteiführungen sind demnach die Landes-Parteiführer in die Rolle potentieller Vetospieler hineingewachsen. Potentielle – situative bzw. politikfeldbezogene – Vetospieler sind auch die Verbände und sogar einzelne Großunternehmen55. Den Verbänden räumt die Ge53 Das ist nicht zuletzt Folge des Rechtsinstituts der „konkurrierenden Gesetzgebung“ (Art. 72 und Art. 74 GG), derzufolge Gesetzgebungs-Materien, die der Bund an sich gezogen hat, für die Länder verloren sind. 54 Die einzige – 1986 – konnte Kohl mit dem „Kauf“ der Regierung Niedersachsens bereinigen (vgl. Renzsch 1991). 55 So führte die rot-grüne Regierung Schröder Ende der 1990er Jahre „Konsensgespräche“ mit den großen Energie-Konzernen, bevor sie eine stark abgespeckte Version des Ausstiegs aus der Kernenergie beschloss.
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
meinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) ganz offiziell eine Mitsprache-Möglichkeit bei der Gesetzesvorbereitung ein; in Konsens-Runden, als deren erste die „Konzertierte Aktion“ der späten 1960er und frühen 1970er Jahre gelten kann (s.u. Kap. 4.2.8), gewinnen sie sogar Entscheidungsrechte: Die Politik moderiert, der Gesetzgeber vollzieht die von den Interessen-Kontrahenten ausgehandelten Kompromisse nach. War die damalige KA noch per Gesetz institutionalisiert (StabWG von 1967) und ihr Entscheidungsverfahren formalisiert und damit transparent, tragen entsprechende Konsens-Gespräche heute informellen Charakter und vollziehen sich außerhalb der Sphäre der Öffentlichkeit. Der Einfluss der Interessenten auf politische Entscheidungen wird dadurch nicht geringer, eher im Gegenteil. Mit der Auslagerung der Entwicklung von Reformkonzepten an vom Kanzler einberufene Expertenkommissionen (Hartz-Kommission; Rürup-Kommission) gewinnen gelegentlich sogar einzelne Sachverständige und Wissenschaftler so etwas wie politikfeldspezifische (Mit-)Entscheidungsmacht. Allerdings liegt es stets an den politischen Akteuren, ob sie derartigen Einfluss zulassen und die betreffenden Entscheidungsvorschläge übernehmen wollen; d.h. diese gesellschaftlichen Vetospieler sind bedingte Vetospieler und spielen nur fallweise diese Rolle; es erwächst ihnen kein Anspruch auf Mitentscheidung. Gleichwohl kommt bei der Betrachtung der politischen Alltagspraxis eine erhebliche Anzahl potentieller Vetospieler zusammen – präziser: von Akteuren, die die institutionalisierten Vetospieler ihrerseits als Veto-Gruppen wahrnehmen. Die jeweilige Regierung verhandelt nach allen Seiten – auch wenn sie objektiv vielleicht gar nicht dazu gezwungen ist. (4) Die eben beschriebene Informalisierung der Politik scheint ein neueres Merkmal des deutschen politischen Systems zu sein, auch wenn man nicht vergessen sollte, dass schon Adenauer entsprechende Praktiken pflegte56. Ein konstanter Trend deutscher Politik ist dagegen der zu ihrer Verrechtlichung, der sich aus der extensiven Urteils-Tätigkeit des BVerfG ergibt. Dieser Trend, der vielfach kritisiert wird, da er den Handlungsspielraum der Politik kontinuierlich verengt (s. als ein Beispiel für viele Landfried 1984), ist indessen weniger dem BVerfG selbst in die Schuhe zu schieben, als vielmehr der Entscheidungs-Unwilligkeit der politischen Akteure geschuldet, die z.B. ein Parteiengesetz erst erlassen mochten, nachdem das Gericht ihnen dessen unverzichtbare Bestandteile in eine Urteilsbegründung (1966) hineingeschrieben hatte. Dem Gericht wäre eher vorzuwerfen, dass es nicht häufiger die Befassung mit der jeweils strittigen Frage ablehnt, statt aus dem GG Dinge herauszulesen, die nun wirklich nicht darin stehen. Der inhaltliche Einfluss 56 Die von den Gewerkschaften geforderte Montan-Mitbestimmung z.B. handelten auf sein Geheiß – und unter seinem Druck – die Spitzen von DGB und BDA auf einer Klausurtagung miteinander aus.
Die Regierungssysteme im Überblick
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des BVerfG auf die Gesetzgebung hat ein Ausmaß angenommen, das den Beobachter grübeln lässt, ob nicht am Ende die institutionellen Vetospieler auf Grund der inhaltlichen Restriktionen, die ihren Entscheidungen gezogen sind, partiell zu einer Art bedingter Vetospieler mutieren. Nicht in dieser, aber in anderer Hinsicht könnten dem Entscheidungssystem Änderungen ins Haus stehen. Schon vor der Vereinigung, ja schon in den 1970er Jahren sannen Expertenkreise über Föderalismus-Reformen nach. 2004 sollte eine solche, durchgreifende Reform endlich auf den Weg gebracht werden, und zwar nunmehr von den Politikern selbst; doch vorerst ist die Reform gescheitert. Das Scheitern war vorhersagbar, da die beteiligten Akteure gleichzeitig an den beiden Enden desselben Stranges zogen: in Richtung Länder-Autonomie die einen, in Richtung Abbau bundespolitischer Blockaden die anderen. Das Dilemma ließe sich wohl nur lösen, wenn die Konkurrenz der beiden Großparteien – die beide sowohl landeswie bundespolitische Ambitionen haben – aus dem Spiel bliebe. Da es angesichts der gegebenen Parteien-Dominanz (s.u., Kap. 3.2.8) unrealistisch ist, das zu erhoffen, liegt die große Föderalismus-Reform weiter auf dem Eis, auf dem sie sich seit Anfang der 1970er Jahre befindet. So bleibt es voraussehbar bis auf weiteres beim „unitarischen“ Bundesstaat ohne föderalistische Substanz (vgl. Abromeit 1992), der mit Blockadesituationen zurechtkommen muss. (5) Die Zahl der institutionellen Vetospieler ist in der BRD gar nicht sonderlich hoch: Es sind nur vier. Trotzdem gilt die Republik als „semi-sovereign state“ (Katzenstein 1987) und als Musterfall eines „divided government“ (Schmidt 1996: 76), weil ihre Regierung (und deren Mehrheit) von besonders machtvollen Gegenspielern umstellt scheint. Dafür gibt es nur einen einzigen Grund, nämlich den, dass die Opposition allerbeste Möglichkeiten hat, die potentiellen Gegenspieler – den Bundesrat wie das Bundesverfassungsgericht – für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Kurz: es sind die situativen Vetospieler, die das parlamentarische System zur verkappten Konsensdemokratie machen. Dabei lässt sich ein eigentümliches Paradox beobachten: Einerseits reagieren die primär entscheidenden Akteure (der regierenden Mehrheit) übermäßig auf vermuteten Konsensdruck, der von politikfeldspezifischen, gesellschaftlichen Vetospielern ausgeht; andererseits reagieren sie – und namentlich die jeweilige Opposition, die ja die nächsten Wahlen gewinnen will – zu wenig auf reale Konsenszwänge und produzieren so den Eindruck eines blockierten Systems. So changiert das Entscheidungssystem zwischen Konkordanz und Konkurrenz – und, wie es scheint, dominiert ein jedes davon jeweils zur Unzeit. Der Grad der Machtkonzentration schwankt daher je nach den Mehrheitsverhältnissen. Wenn denn ein Machtzentrum auszumachen ist (was zu Zeiten Adenauers zweifellos einfacher war als heutzutage), so ist es das Konglomerat aus Bun-
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
des-Parteiführungen und „Landesfürsten“; d.h. das Machtzentrum ist in sich fragmentiert. Eindeutiger zu identifizieren ist der Letztentscheider: das Bundesverfassungsgericht, das zugleich als pouvoir constituant gelten muss – neben dem Gesetzgeber, der natürlich die Verfassung jederzeit ändern kann. Aber das Gericht war im Fall der Änderung des Asylrechts, Art. 16 GG, schon kurz davor, eine Verfassungsänderung als verfassungswidrig zu verwerfen. Der Letztentscheider entscheidet zwar im Prinzip im Ausnahmefall (und nur auf Anrufung), aber häufig; und seine Existenz hat sich in einer Weise als struktur- und verhaltensprägend erwiesen, die der systemischen Wirkung der schweizerischen Volksrechte durchaus vergleichbar ist, weil alle institutionellen Vetospieler seine Entscheidungen antizipieren. Abbildung 15: Das Entscheidungssystem Deutschlands Länder KANZLER
Bundespräsident
BVERFG
BUNDESREGIERUNG
BUNDESTAG
Gesetzgebung
BUNDESRAT
Landesregierung
Landtag
VERBÄNDE
PARTEIEN
Wähler wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
Die Regierungssysteme im Überblick
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2.2.9. Österreich (1) Mit Deutschland verbindet Österreich eine lange gemeinsame Geschichte – Jahrhunderte im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und die „1000 Jahre“ des Dritten Reichs. Als Folge rätselten nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer eigenen kleinen Alpenrepublik viele Österreicher, was denn eigentlich ihre nationale Identität ausmache. Vor dem Beitritt zur EU träumten manche Politiker (aus der FPÖ) noch öffentlich von einem erneuten Anschluss an den großen Nachbarn; nach dem eigenen Beitritt und dem einer Reihe ostmitteleuropäischer Länder fühlt mancher sich dagegen an die anderen alten Verbundenheiten aus dem „k.u.k.“ Nationalitätenstaat erinnert. Auch die heutigen politischen Systeme verblüffen durch große Gemeinsamkeiten: Beide sind parlamentarische Bundesstaaten, ohne dabei besonders föderalistisch zu sein; beiden sagt man eine Tendenz zum Proporz und zu – heimlichen oder offenen – großen Koalitionen nach; beide verfügen über bis in die Namensgebung hinein ähnliche Parteiensysteme; in beiden spielen die organisierten gesellschaftlichen Kräfte eine erhebliche Rolle. Hinter den formalen Gemeinsamkeiten verbergen sich allerdings gravierende Unterschiede. Sie mögen zum einen damit zusammenhängen, dass Österreich (wie die Schweiz) ein kleines Land ist, das im Windschatten der Weltpolitik segeln konnte (vgl. Katzenstein 1985). Zum anderen und wohl ausschlaggebender resultieren die österreichischen Besonderheiten aus den tiefen ideologischen Gräben, die im 20. Jhd. die Gesellschaft in distinkte Subkulturen (die „Lager“) spalteten und zu deren Neutralisierung spezielle KonsensMechanismen ersonnen werden mussten. Zu ihnen gehören nicht nur Große Koalitionen, sondern vor allem die Sozialpartnerschaft, mittels derer die Gesellschaft weit deutlicher und offener in die Politik hineinragt als andernorts. Österreich gilt geradezu als Urtyp eines korporatistischen Systems (s.u., Kap. 4.2.9); und während in Deutschland der Parlamentarismus „föderalistisch gebremst“ ist, ist er in Österreich „korporatistisch modifiziert“. (2) Liest man allerdings das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG, das übrigens, wenn auch mit vielfältigen Novellierungen, von 1920 an die Zeiten überdauert hat), könnte man auf die Idee verfallen, das österreichische Regierungssystem sei semi-präsidentiell. Dem vom Volk direkt gewählten Bundespräsidenten stehen nämlich erhebliche Rekrutierungsrechte zu: Er ernennt den Bundeskanzler und (auf dessen Vorschlag) die Mitglieder der Bundesregierung und kann sie auch wieder entlassen, und er ernennt die Bundesbeamten, Offiziere und Richter; darüber hinaus hat er das Recht der Parlamentsauflösung und (formal) den Oberbefehl über das Bundesheer. In der Praxis allerdings sind dies überwiegend „tote Rechte“ (Müller 1997a: 142 ff.), die der Präsident entweder gar nicht nutzt (so das Auflö-
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
sungsrecht) oder nur im Benehmen mit dem Kanzler; lediglich bei der Auswahl des Kanzlers ist es gelegentlich vorgekommen, dass ein Präsident seine Rechte hinter den Kulissen diskret zur Geltung brachte. Als „Autorität in Reserve“ (ebd.) ist er bestenfalls potentieller Vetospieler. Wie in Deutschland gilt dagegen der Kanzler als der starke Mann, obwohl ihm gemäß Verfassung weniger Sonderrechte zustehen als seinem deutschen Kollegen. Innerhalb der Regierung ist er lt. B-VG nur primus inter pares, aber er entscheidet über deren personelle Zusammensetzung: Minister werden auf seinen Vorschlag ernannt und entlassen. Doch natürlich stößt diese Personalkompetenz an enge Grenzen, da Österreich zumeist von Koalitionsregierungen geführt wird; in der Praxis nehmen sowohl Parteigremien wie auch wichtige Verbände Einfluss auf die Auswahl der Minister. Nur in Zeiten von Einparteien-Regierungen (1966–1983) und namentlich in der Regierungszeit des Kanzlers Bruno Kreisky konnte man darum auch die Alpenrepublik als Kanzlerdemokratie charakterisieren (vgl. Müller 1997c: 127). Gewisse Machtressourcen wachsen dem Kanzler im Prinzip von anderer Seite zu, denn er hat den Vorsitz in der „Paritätischen Kommission“ (PK; s. dazu weiter u.) inne, mit der die Sozialpartnerschaft als eine Art Nebenregierung institutionalisiert wurde. Insgesamt verfügt der Kanzler – der zwar keine formelle Richtlinienkompetenz hat, aber im politischen Alltagsgeschäft eine solche für sich in Anspruch nimmt – über ein erhebliches Maß an Agenda-Kontrolle und darf durchaus als Vetospieler klassifiziert werden (wenngleich – im Vergleich etwa zu Großbritannien – als ein solcher „zweiter Klasse“). Die Volksvertretung, der Nationalrat, ist zwar am Zustandekommen der Regierung nicht direkt beteiligt, indirekt aber natürlich schon, da die stärkste Partei den Kanzler-Kandidaten nominiert (und der Präsident sich bei der Ernennung an diesen Vorschlag hält, wenn auch manchmal, wie im Fall der ersten Regierung Schüssel, mit erkennbaren Bauchschmerzen). Er kann der Regierung aber das Misstrauen aussprechen. In der Praxis wurden die nicht eben seltenen Misstrauensanträge, die nicht immer nur von der Opposition kommen, allerdings stets abgelehnt. In der Gesetzgebung ist er das faktisch allein entscheidende Organ, also Vetospieler, indessen mit der Maßgabe, dass seine Entscheidungsfreiheit gelegentlich inhaltlich eingeschränkt ist, nämlich in allen den Fällen, in denen er Beschlüsse der PK (s.u.) lediglich nachzuvollziehen hat.57 Die Ländervertretung Bundesrat ist dagegen nicht als Vetospieler zu qualifizieren, denn sie hat in der Bundesgesetzgebung nur ein aufschiebendes Vetorecht. Im Unterschied zum deutschen Bundesrat ist diese zweite Kammer keine Regie57 Rein rechtlich betrachtet, wäre der Nationalrat hierzu nicht verpflichtet. Doch solange die Sozialpartnerschaft funktioniert(e), fühlten die Nationalräte sich dank der innigen Verflechtung von Parteien und Sozialpartnern an Beschlüsse der PK tatsächlich gebunden.
Die Regierungssysteme im Überblick
139
rungs-Versammlung; eine Länder-Volksvertretung wie der schweizerische Ständerat ist sie aber auch nicht. Vielmehr werden die Bundesräte von den Landtagen entsandt, und zwar jeweils in der Bevölkerungsstärke des Bundeslandes entsprechender Zahl58; d.h. auch in Österreich sind die Länder in der Bundespolitik nicht gleichberechtigt, sondern gewichtet vertreten. Da der Rat nicht wirklich etwas zu sagen hat, erscheint dies kaum jemandem als Problem. In den auch in der Alpenrepublik seit geraumer Zeit geführten Diskussionen zur Bundesstaatsreform war schon von seiner Abschaffung die Rede. Stattdessen wurde er zwischenzeitlich ein bisschen gestärkt, indem Nationalrats-Beschlüsse, die die Kompetenzen des Bundes erweitern, nun an seine Zustimmung gebunden sind. Da allerdings die im B-VG aufgezählten Bundeskompetenzen außerordentlich umfassend und kaum noch erweiterbar sind, ist der Bundesrat damit nicht ernstlich aufgewertet. Das deutet darauf hin, dass auch die Länder selbst als eigenständige Vetospieler ausscheiden. Ihre Kompetenzen sind minimal, die interne Autonomie gering59, Mitspracherechte abseits des Bundesrats existieren nicht. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die Bundesländer gehalten waren, sich am Modell der Konkordanzdemokratie zu orientieren; noch heute sind die meisten von Allparteien-Regierungen geführt, in denen das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Anders als die Länder sind die Bürger in eingeschränktem Maß als – bedingte – Vetospieler anzusehen. Per Volksbegehren kann das Volk Gesetzesvorhaben initiieren – die allerdings nicht bindend sind –, und es gibt das Instrument der vom Nationalrat veranlaßten Volksbefragung, die indessen von den Parteien zu manipulativen Zwecken genutzt werden kann. Immerhin haben die österreichischen Bürger mittels dieser direktdemokratischen Instrumente den Bau von Kernkraftwerken verhindern können. Ein bedingter Vetospieler ist schließlich auch der Verfassungsgerichtshof, dem – auf Antrag – die Aufgabe der Normenkontrolle obliegt. Er hat sich lange Zeit großer Zurückhaltung befleißigt und ging vor allem mit „Wertentscheidungen“ recht sparsam um; demnach spielt er bei weitem nicht die ausschlaggebende Rolle in der Politik, die dem deutschen Bundesverfassungsgericht zuzuschreiben ist. Ein wichtiger Akteur im Entscheidungssystem war dagegen über Jahrzehnte (heute weniger) die nun schon mehrfach erwähnte Paritätische Kommission (vgl. Gerlich et al. 1985; s. dazu auch die Graphik und ausführlicher u., Kap. 4.2.9), in der die wichtigsten, in Kammern zusammengefassten Verbände60 maßgeblich die 58 Der „demographische Faktor“ kommt in Österreich weit stärker zum Tragen als in der BRD, denn das bevölkerungsstärkste Land darf 12 Vertreter entsenden. 59 Um ein Beispiel zu geben: Professoren-Stellen an den Landes-Universitäten wurden bis vor wenigen Jahren „von Wien aus“ besetzt, wobei zumeist „Wiener“ Proporz-Gesichtspunkte eine wichtige Rolle spielten. Neuerdings ist diese Kompetenz nicht den Ländern zugewachsen, sondern den (nunmehr autonomen) Universitäten selbst. 60 Es sind dies die Bundesarbeiterkammer, die Wirtschaftskammer Österreich (bis vor kurzem Bun-
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
Arbeitsmarkt-, Einkommens-, Wirtschafts- und Sozialpolitik bestimmten: gewissermaßen ein eigener, politikfeldspezifischer Entscheidungsstrang neben dem verfassungsmäßig-parlamentarischen, der den letzteren inhaltlich zu binden vermochte. Die Verkoppelung der korporatistischen mit der parlamentarischen Entscheidungsarena erfolgte zum einen über die personellen Verflechtungen von Parteien und Verbänden (s.u.), zum anderen über das Konsensprinzip. Verständlicherweise galt es bei Politikern als unklug, einem mit einigen Mühen gefundenen Konsens zwischen den Sozialpartnern anschließend zu widersprechen und damit zu riskieren, dass es in einer konkreten Frage gar keine oder keine befriedend wirkende Entscheidung gibt, oder auch nur den Sozialpartnern zuzumuten, mit ihren Verhandlungen erneut bei Null anfangen zu müssen. Erst in jüngerer Zeit (unter der Regierung Schüssel) geht die staatliche Politik zunehmend dazu über, Beschlüsse der PK zu ignorieren oder sie in (z.B.) sozialpolitische Entscheidungen gar nicht erst einzubinden. So ist fraglich, ob die PK – und mit ihr die beteiligten Verbände – auch künftig noch als Vetospieler zu gelten haben. (3) Diese Skizze des staatlichen Entscheidungssystems sollte deutlich gemacht haben, dass die entscheidenden Vetospieler die situativen sind bzw. waren: die Parteien und die Verbände. Über weite Phasen der Geschichte der „zweiten Republik“ (nach 1945) waren die beiden Großparteien SPÖ und ÖVP (s. dazu u., Kap. 3.2.9) in großen Koalitionen zusammengebunden61, regierten im Proporz (bis hinein in die Besetzung von Positionen in öffentlichen Unternehmen) und schränkten die potentielle Macht des Kanzlers damit maßgeblich ein. Als politische Speerspitzen der Subkulturen mussten sie an der Spitze des Staates zusammengebunden werden, um die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände (wie 1934) zu bannen. Das erklärt zugleich den großen Einfluss, den die Parteiorganisationen bis heute auf Regierungspolitk und Regierungszusammensetzung nehmen; so bedarf z.B. die Ministerauswahl per Gewohnheitsrecht der Zustimmung der Spitzengremien der jeweils betroffenen Partei (Müller 1997c: 126). Die Verbände befanden sich Jahrzehnte lang in einer ähnlich starken Position. Anders als in anderen politischen Systemen kommt ihnen nicht nur über Vetodeswirtschaftskammer), die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern und der Österreichische Gewerkschaftsbund. Die PK beruht im Übrigen auf keinem Gesetz, schon gar nicht hat sie eine Basis in der Verfassung. Sie ist zwar institutionalisiert, das aber nur informell. 61 Dass die ÖVP nach den Nationalratswahlen von 1999 ablehnte, erneut eine große Koalition mit der SPÖ einzugehen, war für sie eine Überlebensfrage, denn die ständige Umarmung durch die SPÖ drohte sie zur Randpartei zu machen. Nachdem die ÖVP 1999 in der Wählergunst auf den dritten Platz zurückgefallen war, wäre eine neuerliche große Koalition auch kaum noch eine „große“ gewesen. In der „kleinen“ Koalition mit der FPÖ regenerierte die ÖVP sich aufs erstaunlichste: In den (vorgezogenen) NR-Wahlen von 2002 wurde sie erstmals seit 1966 wieder stärkste Fraktion, während Haiders FPÖ von knapp 27% 1999 auf gut 10% der Wählerstimmen absackte.
Die Regierungssysteme im Überblick
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punkte Einfluss zu; über die PK verfügen sie vielmehr über direkte Entscheidungsrechte – oder anders ausgedrückt: die PK „institutionalisierte“ die Kammern und den ÖGB zu quasi-institutionellen Vetospielern. (4) Nicht umsonst allerdings bedient unsere Darstellung sich hier häufig der Vergangenheitsform, denn das politische System Österreichs befindet sich in einem Wandlungsprozess – weg von der Konkordanz und hin zur Konkurrenz, weg vom Korporatismus und hin zur Pluralisierung der Interessenvermittlung. Die tiefe Spaltung der österreichischen Gesellschaft in das sozialdemokratische und das christlich-konservative Lager, die (ähnlich wie bei der Versäulung in den Niederlanden) alle wichtigen gesellschaftlichen Organisationen und das individuelle Organisationsverhalten prägte, hat spätestens seit den 1980er Jahren kontinuierlich an Bedeutung verloren. Die Bürger ordnen sich selbst immer weniger einem der Lager zu, organisieren sich immer weniger in „parteipolitisch konsonanten Netzwerken“ (s. dazu die Zahlen bei Ulram 1997: 515), was nicht zuletzt die Folge hat, dass den großen Parteien die Mitglieder weglaufen. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Konfliktorientierung der Bürger nimmt ab, die die Partei-Eliten um des lieben Friedens willen zu konsensualer Politik zwang; auf Seiten der Eliten macht nun – umgekehrt – die Konsensorientierung dem Konkurrenzverhalten Platz. Die Entwicklung trifft in gleicher Weise die großen Verbände, die traditionell jeweils einer der beiden Großparteien zuzuordnen sind; namentlich die Gewerkschaften müssen Mitgliederverluste hinnehmen. Gravierender ist aber die abnehmende Beteiligung der Bürger an den Wahlen zu den Kammern (präziser: den Kammertagen), die in der PK zusammengebunden sind. Damit verliert die PK an Legitimation und an politischer Bedeutung. Der „rasante Wandel“ (Pelinka 1997: 505) wird innerhalb Österreichs durchaus als Systemwechsel empfunden; in der österreichischen Öffentlichkeit spricht man z.T. schon von der „dritten Republik“ (s. z.B. Nick/Pelinka 1996). Der Weg geht offenbar in die normale parlamentarische Konkurrenzdemokratie. Die Zahl der Vetospieler wird sich verringern, die Konsenszwänge lassen nach. Hinzu kommt, dass angesichts des wenig ausgeprägten Eigenlebens der Bundesländer zunehmend auch einer Bundesstaatsreform das Wort geredet wird, an deren Ende an Stelle einer Stärkung der Länder ihre weitere Schwächung stehen kann. Markante ÄnderungsImpulse seitens der europäischen Integration sind dagegen nicht auszumachen; sie beschleunigt allenfalls das, was die Österreicher den „Weg in die europäische Normalität“ nennen. (5) Auch im Fall Österreichs ist es damit nicht leicht, zu einer abschließenden Wertung zu kommen. Der die zweite Republik bislang charakterisierende hohe Grad der Machtfragmentierung und die daraus resultierenden Konkordanzzwänge
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
scheinen sich allmählich auf das für parlamentarische Systeme mit Koalitionsregierungen typische Normalmaß zu reduzieren. Noch lebt die Sozialpartnerschaft zwar; doch ihr Einfluss und die Zahl der Fälle, in denen ihre Akteure (in der PK) die Vetospieler-Rolle spielen können, sinken. Schon jetzt wird man sagen können, dass in Sachen Konsenszwang die BRD die Alpenrepublik überrundet hat. Damit tritt zugleich die formale Ähnlichkeit der deutschen und österreichischen Entscheidungssyseme deutlicher hervor. Das Machtzentrum bilden nun – ebenfalls eindeutiger als zuvor – der Kanzler mitsamt den Spitzengremien der Bundesparteien; die Landes-Parteiführungen spielen dagegen eine geringe Rolle (sieht man einmal vom Kärntner Landeshauptmann Haider ab, der sich selbst gern als Gegenregierung stilisiert). Das österreichische Entscheidungssystem kennt zwar dominante Akteure, aber keinen eigentlichen Souverän. Als Letztentscheider kommt theoretisch der Verfassungsgerichtshof in Frage, der sich in dieser Rolle aber nur wenig hervortut. Seine Existenz und seine Spruchpraxis haben bisher weder struktur- noch verhaltensprägende Wirkung entfaltet. Schon gar nicht darf das Volk als Letztentscheider gelten, denn es darf zwar Abbildung 16: Das Entscheidungssystem Österreichs Bundespräsident
VERFASSUNGSGERICHT
Länder
KANZLER REGIERUNG
PARITÄTISCHE KOMMISSION ÖGB
BWK
BAK
LWK
NATIONALRAT
Gesetzgebung
BUNDESRAT
Landesregierung
Landtag
PARTEIEN
VERBÄNDE
Das Volk wählt kontrolliert entscheidet mit spricht mit
KURSIVE MAJUSKEL
= eingeschränkter Vetospieler
MAJUSKEL
= effektiver Vetospieler
doppelt umrandet
= Machtzentrum
Auswertung
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seine Meinung kundtun, aber nicht selbst entscheiden. Die letzte Entscheidung verbleibt denn doch – wie im parlamentarischen System üblich – beim Parlament.
2.3. Auswertung Auswertung Unser Überblick über die neun untersuchten Regierungssysteme hat eine weit größere Varianz zutage gefördert, als der naive Beobachter angesichts ihrer ähnlichen institutionellen Struktur hätte erwarten können. Das Zusammenspiel von Regierung und Parlament kann sich recht unterschiedlich gestalten, die Rolle des Staatsoberhaupts sogar bei gleichen formalen Kompetenzen unterschiedlich ausfallen, das Volk sich auf höchst unterschiedliche Weise bemerkbar machen – usw. usf. Dass wir ein so differenziertes Bild zeichnen konnten, ermöglichte uns die VetospielerAnalyse, auf deren Basis sich jedem der diversen Akteure im staatlichen Entscheidungssystem ein bestimmtes Ausmaß an – Veto- oder gestaltender – Entscheidungsmacht zuschreiben lässt. Im Folgenden wollen wir die Ergebnisse unseres Vergleichs in aller Kürze zusammenstellen, und zwar aufgefächert nach (1) institutionellen Vetospielern, (2) eingeschränkten und bedingten Vetospielern, (3) situativen Vetospielern, sowie (4) gestaltenden bzw. effektiven Vetospielern. Die Auswertung ist in Tabelle 5 zusammengefasst. Sie wird uns erlauben, die Länder hinsichtlich ihrer Machtkonzentration oder Machtfragmentierung in eine Rangordnung zu bringen (5). (1) Schon bei den institutionellen Vetospielern finden wir eine größere Varianz vor, als typbedingt auf Grund der zahlenmäßigen Dominanz parlamentarischer Systeme zu erwarten war. In allen Ländern qualifizierten sich die jeweilige Abgeordnetenkammer sowie die Regierung auf Grund ihrer Agenda-Setzer-Funktion. Doch ist allein das britische System auf diese beiden Vetospieler beschränkt. In den meisten parlamentarischen Systemen unseres Samples (Ausname Schweden und Finnland) besteht das Parlament aus zwei Kammern, die einander ein Bein stellen können und insofern im wahren Wortsinn Vetospieler sind. Im italienischen bicameralismo perfetto sowie in der Schweiz sind beide Kammern völlig gleichgestellt, in Frankreich nur dann, wenn die Regierung es zulässt; in Deutschland qualifiziert der Bundesrat sich trotz fehlender Gleichberechtigung häufig als machtvoller Gegenspieler der Regierung. In Österreich ist die Veto-Position des Bundesrats auf Verfassungsänderungen reduziert. Wir setzen ihn in Tabelle 5 daher in Klammern, was wir im Folgenden mit all jenen Akteuren tun, die zwar qua Verfassung als institutionelle Vetospieler gelten müssen, jedoch in nur wenigen Entscheidungssituationen diese Funktion erfüllen. In Großbritannien spielt das Oberhaus mit seinem
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
supensiven Vetorecht heutzutage eine so geringe Rolle, dass man es nicht einmal als eingeschränkten Vetospieler bezeichnen kann. Im semi-präsidentiellen System Frankreichs kommt als Vetospieler der Staatspräsident hinzu. In Finnland ist dessen Position sowohl nach der neuen Verfassung als auch in der Praxis stark geschwächt, seine Rechte sind allein auf die Außenpolitik reduziert, weshalb er nur in Klammern aufgeführt wird. Daneben gibt es mit dem österreichischen Bundes- und dem italienischen Staatspräsidenten Akteure, deren Kompetenzen trotz ihrer politischen Bedeutung nicht für eine Einstufung als institutioneller Vetospieler ausreichen. Im Unterschied zum finnischen Präsidenten treten die beiden realiter nicht als Akteure in Erscheinung, die bestimmte Entscheidungen tatsächlich verhindern können. Sie stehen eher als Ratgeber oder auch Warner in der Kulisse. Immerhin hat der italienische Präsident ein Vetorecht in der Gesetzgebung, das aber das Parlament in neuerlicher Abstimmung aushebeln Tabelle 5: Verschiedene Typen von Vetospielern (VP) Land
Institutionelle VP
Eingeschränkte VP* Situative VP
Agenda-Setzer/ gestaltende VP
GB
Reg, Unterhaus
–
Reg.partei
Prime Minister
SWE
Reg, Reichstag, (Volk)
Volk (b,n,e)
Reg.partei(en), IG, Parlamentsfraktionen
Reg, (Behörden, IG, Parlamentsfraktionen
F
Präsident, Reg, Nationalvers., Senat, VerfRat, (Volk)
Nationalvers., Senat, (Reg.parteien, action Volk (b,n), VerfRat(b) directe)
Präsident, Premier, (Ministerialbürokratie)
ITA
Reg, Dep.kammer, Senat, VerfG, Volk
Volk (n), VerfG (b,n)
Reg.parteien
Reg, (Ausschüsse)
NL
Reg, Zweite Kammer, SER (e), Erste Erste Kammer Kammer (n)
Reg.parteien, IG
Reg, (Staatsrat, SER)
FIN
Reg, Eduskunta, (Präsident)
Präs (e)
Reg.parteien, (IG)
Reg, (IG)
D
Reg, Bundestag, Bundesrat, BVerfG
Bundesrat (e), BVerfG (n)
Reg.parteien, BRats- Kanzler, Reg, mehrheit, (IG) (Bundesrat, IG)
AUT
Reg, Nationalrat, VerfG (Bundesrat, Volk)
Bundesrat (e), Volk (b,n), VerfG (b,n), PK (e)
Reg.parteien, Sozialpartner
Reg, (PK)
SUI
Natioalrat, Ständerat, Reg Reg, Volk
Kantone, IG
Reg, Nationalrat, Ständerat, IG, Volk
* bedingte (b), nachträgliche (n), auf bestimmte Entscheidungsarten (e) beschränkte VP
Auswertung
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kann. Dem österreichischen Präsidenten dagegen schreibt die Verfassung eine Reihe von Kompetenzen zu, die er traditionell nicht ausübt („tote Rechte“). Schließlich sind die Verfassungsgerichte in Deutschland, Italien und Österreich sowie der Verfassungsrat in Frankreich von solcher Bedeutung, dass wir sie anders als Tsebelis (s.o. Kap. 1.5.1), zu den institutionellen Vetospielern zählen. Dagegen qualifiziert sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Schweden auf Grund der äußerst zurückhaltenden Praxis im Bereich des judicial review (noch) nicht als Vetospieler. Zu guter Letzt kommt in einigen Ländern der Souverän – das Volk – selbst hinzu. Doch nur in der Schweiz und in Italien kann es uneingeschränkt als institutioneller Vetospieler zählen, da ansonsten bindende direkte Entscheidungen entweder auf Verfassungänderungen beschränkt (Schweden, Österreich) oder an die Involvierung durch andere Akteure gebunden sind (Frankreich). Nach unserer Zählung hat Frankreich mit sechs institutionellen Vetospielern die meisten, gefolgt von Italien und Österreich mit je fünf und Großbritannien mit zwei die wenigsten. Für eine Beurteilung des Grades der Machtkonzentration kann das aber lediglich als Startpunkt dienen. Hierzu müssen wir nämlich überprüfen, ob alle institutionellen Vetospieler auch in der Realität als effektive zu werten sind, oder ob sie nur über eingeschränkte Kompetenzen verfügen, von situativen Vetospielern überlagert oder gar absorbiert werden. (2) Vetospieler können in ihrer Macht und Relevanz beschränkt sein. Entweder ist ihre Beteiligung am Entscheidungsprozess bedingt, ihre Vetomacht auf eine abschließende Abstimmung oder auf bestimmte Entscheidungsarten reduziert. Als bedingte Vetospieler sind die Akteure davon abhängig, dass sie von einem anderen Akteur ins Spiel gebracht werden. Der Bevölkerung wird in Schweden und Österreich durch einen Parlamentsbeschluss die Möglichkeit zum Referendum gegeben, in Frankreich verfügt der Präsident über diese Kompetenz. Aber auch Verfassungsgerichte müssen in der Regel entweder über den juristischen Instanzenweg oder von politischen Akteuren ins Spiel gebracht werden (ITA, AUT, F). Das deutsche Bundesverfassungsgericht stellt in der Praxis eine Ausnahme dar. Über die Verfahrensart der individuellen Verfassungsbeschwerde kann es – fast – in eigenem Ermessen politische Themen aufgreifen, indem es nämlich nur die Beschwerden zulässt, die ihm relevant erscheinen. Die genannten bedingten Vetospielern können überdies erst am Ende eines Entscheidungsprozesses der Entscheidung entweder zustimmen oder sie scheitern lassen. Ihnen fehlt die Möglichkeit, aktiv das Politikergebnis zu beeinflussen. Dieser Einschränkung unterliegt auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, ebenso wie die niederländische Erste Kammer. Eine weitere Restriktion wurde schon angesprochen: Einige Akteure sind nicht in allen, sondern nur in einigen Normsetzungsarten Vetospieler. Auf Seiten der institutionellen Akteure betrifft das den finnischen Staatspräsidenten und den österrei-
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
chischen Bundesrat (s.o.) und sogar den deutschen Bundesrat, dessen Vetomacht sich nur auf Zustimmungsgesetze erstreckt (die allerdings die Mehrheit der Gesetzgebungsakte ausmachen). Zu den eingeschränkten Vetospielern sind auch korporatistische Institutionen wie der niederländische SER und die Paritätische Kommission in Österreich zu zählen, die in ihrem Einfluss auf den sozio-ökonomische Bereich beschränkt sind. Einer jeweils ganz eigenen Art der Einschränkung sehen sich die beiden französischen Parlamentskammern und die Schweizer Regierung, der Bundesrat, gegenüber. Der „rationalisierte Parlamentarismus“ Frankreichs zeichnet sich dadurch aus, dass beide Kammern nicht über die für Parlamente übliche Agenda-Kontrolle verfügen. Ähnliches trifft auf den Bundesrat zu, der zwar in der ersten Phase des Agenda-Setting eine zentrale Rolle spielt, sich aber danach im politischen Prozess häufig an den Rand gedrängt findet. (3) Über die Inklusion weiterer Vetospieler bestimmt das politische Spiel. Es eröffnet Akteuren aus der Gesellschaft die Möglichkeit, als situative Vetospieler Politikergebnisse maßgeblich zu beeinflussen. Sie werden deshalb als situativ bezeichnet, weil die instititutionellen Vetospieler die ihnen eingeräumte Veto-Position wieder zurücknehmen können. Aber sie sind auch deshalb situative Vetospieler, weil sie – je nach Situation – die Interaktion der institutionellen Vetospieler wesentlich mitbestimmen. In westlichen Demokratien wird das politische Spiel in der Regel von den politischen Parteien dominiert. Im Falle von Mehrheitsregierungen sind es in parlamentarischen Systemen die Regierungsparteien (in Großbritannien natürlich nur die Regierungspartei), die als situative Vetospieler über ihre Fraktionen das Parlament kontrollieren. Die Besonderheit der Minderheitsregierungen führt in Schweden dazu, dass – je nach konkreter Situation – entweder bestimmte oder sogar alle Parlamentsfraktionen als Vetospieler hinzukommen. In Finnland und den Niederlanden befanden sich die Parlamentsfraktionen über lange Jahre ebenfalls in der Position situativer Vetospieler. Mit der Abschaffung der qualifizierten Mehrheitserfordernisse in Finnland und dem Wechsel des Politikstils in den Niederlanden ist diese Machtstellung jedoch geschwunden. In Deutschland sieht sich im Falle eines parteipolitisch oppositionell zusammengesetzten Bundesrats die große Oppositionspartei in der Rolle eines machtvollen Vetospielers. Die Schweiz fällt insofern aus dem Rahmen, als das Entscheidungssystem nicht nach den üblichen Mechanismen des Parlamentarismus funktioniert. Obwohl die Parteien hier generell eine eher untergeordnete Rolle spielen, können nicht nur Parlamentsfraktionen, sondern sogar einzelne Teile von Regierungsparteien und Fraktionen in zufälligen und ad-hoc Koalitionen Regierungsvorlagen blockieren. Da sich hieraus im Allgemeinen keine oppositionellen Allianzen und damit kalku-
Auswertung
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lierbare Veto-Positionen ergeben, fällt es gleichwohl schwer, Parteien bzw. Fraktionen den situativen Vetospielern zuzuordnen. Und in Frankreich sind es eher mächtige Politiker und Rivalen als „die“ Regierungsparteien, die die Funktion als Vetospieler übernehmen. Die Parteien bzw. Fraktionen als solche bleiben in ihrer Bedeutung hinter dem Präsidenten und im Falle der cohabitation auch hinter dem Premier zurück. Auch Interessengruppen vermögen als situative Vetospieler Politikergebnisse zu beeinflussen. Innerhalb der korporatistischen Arrangements in den Niederlanden (SER) und in Österreich (PK) sind sie als solche fest etabliert. Selbst wenn von korporatistischer Inklusion in den beiden skandinavischen Ländern nur noch mit Abstrichen gesprochen werden kann, bleiben doch die Interessengruppen in Schweden über das parlamentarische Remiss-Verfahren und in Finnland über die interministeriellen Koordinationsgremien situativ in den Entscheidungsprozess einbezogen. In Finnland ist das Ausmaß ihres Einflusses jedoch eingeschränkt, was wir in Tabelle 5 durch eine Einklammerung deutlich machen. Auch die Vetomacht der deutschen Verbände ist insofern schwächer zu gewichten, als sie auf relativ wenige Politikfelder (z.B. die Gesundheits- und die Agrarpolitik) beschränkt ist. Fraglich ist, ob mittels der action directe die französischen Bürger sich fallweise die Position als Vetospieler erobern. Immerhin vermag die französische Regierung dem Druck machtvoller Demonstartionen häufig nicht zu widerstehen. In der Schweiz sind die Kantone zu den situativen Vetospielern zu zählen, da sie im Entscheidungsprozess drohen können, mittels der Initiierung eines Referendums die Entscheidung zu gefährden; überdies können sie in der Umsetzung von Gesetzen ihre abweichende Meinung zur Geltung bringen. (4) Wenden wir uns nun der Kategorie der gestaltenden oder effektiven Vetospieler zu, also jenen Akteuren, die während des Entscheidungsprozesses als Agenda-Setzer den stärksten Einfluss auf die Entscheidung nehmen.62 In nahezu allen Ländern nimmt die Regierung – und mit ihr die Regierungspartei(en) – die Funktion des wichtigsten Agenda-Setzers wahr. Doch finden wir hier wiederum eine erhebliche Varianz zwischen den Ländern. In Großbritannien ist es im Normalfall der Prime Minister allein, der diese Rolle spielt. In Deutschland ist der Bundeskanzler auf Grund seiner großen Machtressourcen als eigenständiger Akteur neben der Regierung zu benennen. In Frankreich dagegen wird die Exekutive vom Präsidenten oder von Präsident und Premier kontrolliert, je nachdem ob cohabitation vorherrscht oder nicht. Hinzu kommen in der „républiques des fonctionnaires“ weniger die Regierungsparteien als die Ministerialbürokratie, die traditionell „ihre“ Mi62 Selbstverständlich variiert der konkrete Einfluss mit jeder Entscheidungssituation, vor allem abhängig von den Präferenzen der anderen Vetospieler und der Position des Status quo.
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
nister regiert. Als eigenständige Akteure sind die schwedischen Behörden mit der französischen Ministerialbürokratie vergleichbar. Ähnliches gilt für den niederländischen Staatsrat als exekutives Beratungsgremium. Neben den Akteuren der Exekutive existieren in nahezu allen Ländern weitere gestaltende Vetospieler, die jedoch mit Ausnahme der Schweiz alle in ihrer Bedeutung nachgeordnet sind.63 Auf Grund der Möglichkeit, die leggine zu verabschieden, kann es den italienischen Parlamentsausschüssen gelingen, eigenständige Politikvorstellungen zu verwirklichen. Dabei sind sie jedoch immer abhängig vom stillschweigenden Einverständnis der Regierungsmehrheit. Auch den Parlamentsfraktionen in Schweden und dem Bundesrat in Deutschland gelingt es als situativen Vetospielern innerhalb der Ausschussarbeit bzw. im Vermittlungsausschuss, aktiv in den Politikformulierungsprozess einzugreifen. Wenn sie auch nicht immer in institutionalisierter Form am Prozess beteiligt sind, gilt das ebenfalls – in begrenztem Maße – für die gesellschaftlichen situativen Vetospieler (SWE, NL, FIN, D, AUT). Denn da sie selten über ein institutionalisiertes Vetorecht verfügen, bleibt es den parlamentarischen Akteuren überlassen, den unter ihrer Beteiligung entstandenen Kompromiss zu verabschieden. Wieder einmal ganz aus dem Bild fällt die Schweiz, wo im Grunde alle Vetospieler auch gestalterisch Einfluss nehmen können. Das gilt nicht nur für die institutionellen Akteure Regierung, Nationalrat und Ständerat im parlamentarischen Entscheidungsprozess, sondern auch für die Interessengruppen in den Expertenkommissionen und im Vernehmlassungsverfahren. Selbst das Volk kann hier über die Volksinitiative gestaltend wirken. (5) Würden wir lediglich die institutionellen Vetospieler berücksichtigen, kämen wir zu einem überraschenden Ergebnis hinsichtlich der Machtfragmentierung der einzelnen Systeme. Die Spitze würde von Frankreich, Italien und Österreich gebildet, erst danach – sozusagen im Mittelfeld – käme die Schweiz, und am Ende dann wie erwartet Großbritannien. Erst ein Blick auf die Machtverteilung zwischen effektiven und eingeschränkten Vetospielern erlaubt uns ein realistischeres Bild. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Letztentscheidungsrecht (s.o. Kap. 2.1) dann, wenn es häufig ausgeübt bzw. von den übrigen Akteuren antizipiert wird, die Gewichte verschieben kann, indem es ansonsten eingeschränkte Vetospieler in die Mitte des Spektrums rückt. In Tabelle 6 erkennen wir, dass in den meisten Systemen die Regierungsparteien (Ausnahme Großbritannien, Frankreich und Schweiz) als effektive Vetospieler das Machtzentrum des Systems sind. Daher nehmen die Ausgestaltung des jeweiligen Parteiensystems und die Mechanismen des Parteienwettbewerbs entscheidenden 63 Um die nachgeordnete Bedeutung eines Akteurs zu kennzeichnen, ist er in Tabelle 5 in Klammern gesetzt.
Auswertung
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Tabelle 6: Rangordnung der Vetospieler und Letztentscheider
Land GB
Rangordnung der Vetospieler nach ihrer Macht
Letzteingeschränkte VP entscheider
Effektive VP Prime Minister
SWE* RP
RP
Parl.fraktionen
Präsident Premier
RP Volk VRat
Bürokratie
ITA
RP
NL
RP
SER
FIN
RP
Präsident
D***
AUT
SUI
Ausschüsse
Kanzler RP
Volk
Bürokratie Premier RP Volk VRat
Präsident
F**
IG Behörden
Unterhaus
Volk
BVerfG Opposition
RP
—
Staatsrat
Parlament
IG
Bundesrat
Parlament IG
BVerfG
IG Bundesrat VerfG
Nationalrat Regierung Volk Ständerat IG
—
VerfG
BVerfG Sozialpartner
Reichstag
Volk
Kantone
— Volk
*** Die Rangordnung spiegelt den Regelfall der Minderheitsregierungen wider *** obere Zeile: in Zeiten ohne cohabitation, untere Zeile: während der cohabitation *** obere Zeile: in Zeiten einheitlicher Mehrheiten, untere Zeile: oppositioneller Bundesrat RP = Regierungspartei(en), IG = Interessengruppen
Einfluss auf den wirklichen Grad der Machtfragmentierung. Wenn nämlich die Regierungsparteien die mächtigsten Akteure sind, bestimmt die Größe einer Regierungskoalition maßgeblich den Grad der Machtfragmentierung mit. Das Land mit der eindeutig höchsten Machtkonzentration bleibt auch nach Berücksichtigung des Parteienwettbewerbs Großbritannien (vgl. Abbildung 17). Der Prime Minister hat als einzigen potentiellen Gegenspieler die eigene Parlamentspartei zu fürchten. Hat er diese unter Kontrolle, ist seine Macht uneingeschränkt. Ihm steht der französische Staatspräsident kaum nach – wenn es keine cohabitation gibt. In diesem Fall ist es ihm normalerweise möglich, alle anderen Vetospieler zu kontrollieren. Er wählt sich einen Premier aus, der die Regierungsparteien und so-
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Konzentration oder Fragmentierung der Staatsmacht: Vergleich von Regierungssystemen
Abbildung 17: Machtkonzentration und -fragmentierung in neun Ländern
Machtkonzentration GB
F1
Machtfragmentierung D1 NL AUT
F2
ITA FIN SWE
D2
SUI
F1 = Frankreich ohne cohabitation, F2 = Frankreich mit cohabitation D1 = Deutschland ohne oppositionellen Bundesrat, D2 = Deutschland mit oppositionellem Bundesrat
mit die Parlamentskammern auf Kurs hält. Über die Beteiligung der Bevölkerung als Vetospieler entscheidet er, auf die Zusammensetzung des Verfassungsrates hat er starken Einfluss, so dass er allein die Macht der Bürokratie und den Druck der action directe zu fürchten hat. Diesen beiden auf eine Person konzentrierten Systeme würden solche parlamentarischen Systeme folgen, in denen eine minimale Gewinnkoalition mit nur zwei Parteien das alleinige Entscheidungszentrum bildet. Aus unserem Sample entspricht jedoch kein Land diesem Typ, da es in allen sechs weiteren parlamentarischen Systemen eingeschränkte Vetospieler gibt und Regierungskoalitionen häufig aus mehr als zwei Parteien bestehen. Wenn die Regierung in Deutschland über eine Mehrheit im Bundesrat verfügt, kommt sie dem Typus am nächsten. Eingeschränkt wird sie nur vom Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts, eventuell auftretenden spezifischen Länderinteressen im Bundesrat und der starken Stellung von Interessengruppen in wenigen Politikfeldern. Eine Entwicklung zu mehr Machtkonzentration zeigt sich in Österreich seit der Ablösung der Großen Koalition und mit dem Bedeutungsverlust der Paritätischen Kommission. Da Bundesrat, Verfassungsgericht und Volk die Machtfülle der Regierung nur wenig einschränken, nähert sich Österreich dem deutschen System ohne oppositionellen Bundesrat an. Auch die Niederlande bewegte sich in den letzten Jahren in Richtung Machtkonzentration. Die Koalitionen wurden kleiner und die Kooperation der Eliten beschränkt sich auf wenige Parteien, dazu verlor auch der SER an Einfluss. Frankreich in Zeiten der cohabitation stellt einen Sonderfall dar. Dann nämlich sind Präsident und Premier (mit seiner ihn unterstützenden Mehrheit im Parlament) gezwungen, zu einem gemeinsamen modus vivendi in der Politikgestaltung zu finden. Diese Art des Kompromisszwangs ist zwar hoch zu gewichten, resultiert aber eher in Machtteilung als in Machtfragmentierung, da die Zahl der effektiven Vetospieler gering bleibt und eine (weitgehende) Arbeitsteilung zwischen Präsident (Außenpolitik) und Premier (Innenpolitik) besteht.
Auswertung
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Den politischen Systemen Italiens, Finnlands und Schwedens ist ein höherer Grad an Machtfragmentierung beizumessen. Wenngleich die Bedeutung der restlichen Vetospieler in Italien (Ausschüsse, Volk, Verfassungsgericht) eingeschränkt ist, führt die Zersplitterung der Parteienlandschaft und der Regierungen zu einer tendenziell höheren Machtfragmentierung als in Deutschland (ohne oppositionellen Bundesrat), Österreich, den Niederlanden und Frankreich. In Italien ist der tatsächliche Grad allerdings variabel; er variiert mit der Geschlossenheit des Regierungsblocks. Trotz der Verfassungsänderungen erreicht Finnland einen ähnlichen Grad der Fragmentierung. Auch wenn der Präsident inzwischen nur noch als eingeschränkter Vetospieler zählen kann und die Bedeutung der Interessengruppen als situative Vetospieler zurückging, halten die übergroßen Regenbogenkoalitionen den Konsensdruck und die Machtfragmentierung hoch. Solange Minderheitsregierungen die Regel sind, bleibt auch in Schweden die Machtfragmentierung vergleichbar hoch. Denn neben der Regierung kommen die Parlamentsfraktionen als effektive Vetospieler hinzu, weiterhin ergänzt von den Interessengruppen im Remiss-Verfahren, den staatlichen Behörden als Agenda-Setzern und dem Volk als allerdings sehr beschränktem bedingtem Vetospieler bei Verfassungsänderungen. Wie in Frankreich resultiert im Fall Deutschland der Grad der Machtfragmentierung aus der Verbindung besonderer institutioneller Rahmenbedingungen mit den Mechanismen des Parteienwettbewerbs. Verfügt die Opposition in Deutschland über eine Mehrheit im Bundesrat, kontrolliert sie einen „eigenen“ institutionellen Vetospieler. In der Zustimmungsgesetzgebung müssen sich Regierung und Opposition einigen, soll es zu Veränderungen des Status quo kommen. Da sich zum quasiinstitutionalisierten Kompromisszwang aber noch weitere und dabei effektivere Vetospieler als in Frankreich gesellen, ist der Grad der Machfragmentierung höher zu bewerten. Zugleich ist er höher als in den politischen Systemen, in denen innerhalb großer Regierungskoalitionen ein Konsens gefunden werden muss, denn dort haben sich die Parteien freiwillig darauf geeinigt, gemeinsam die Politik zu gestalten. Darüber hinaus bestehen dort exit-Optionen in Form alternativer Koalitionen oder Neuwahlen, die zur Überwindung von Blockade-Situationen führen können. Am höchsten ist die Machtfragmentierung in der Schweiz: Dort gibt es die meisten effektiven Vetospieler und sind folglich die Konsenszwänge am größten. Dazu trägt entscheidend bei, dass die Parteien, die in anderen Systemen das einigende Band zwischen den Veto-Spielern bilden, nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Nur gemeinsam können die gleichberechtigten institutionellen Vetospieler und die institutionell eingebundenen Interessengruppen als situative Vetospieler eine Veränderung des Status quo erreichen. Im Unterschied zu den anderen Ländern sticht nicht ein einzelner Akteur (die Regierung) als wichtigster gestaltender Vetospieler hervor.
3. Dominanzstrukturen: Der Vergleich von Parteiensystemen
Dominanzstrukturen: 3.1 ParteiensystemeDer undVergleich Parteiendominanz von Parteiensystemen Wie im vorigen und Parteiensysteme Kapitel Parteiendominanz gesehen, prägen die politischen Parteien das Zusammenspiel und die Machtrelationen der institutionellen Vetospieler, und zwar auf unterschiedliche Weise. Im einen Fall sorgen sie für eine Machtkonzentration an unvermuteter Stelle, im anderen Fall schaffen sie Blockadesituationen, mit denen man bei bloßer Betrachtung des Institutionen-Ensembles nicht rechnen würde, im dritten Fall erzeugen sie Machtdispersion und Instabilität. Verantwortlich für diese unterschiedlichen Effekte sind zumeist die Struktur des Parteiensystems sowie die Handlungsimperative, die sich für die einzelnen Parteien daraus ergeben. Manchmal sind es auch Besonderheiten der internen Organisation der Parteien, die die Unterschiede ausmachen. Hinzu kommen tradierte Verhaltensweisen der (partei-) politischen Eliten. Sowohl solche Traditionen wie die Struktur der Parteiensysteme haben im Allgemeinen mit der gesellschaftlichen Konfliktlage zu tun; nicht zuletzt deshalb erweist die Struktur sich gelegentlich als resistent gegen institutionell – z.B. durch Wahlrechtsreformen – induzierten Wandel. Im Vergleich der Parteiensysteme der Länder unseres Samples werden wir darum auf die jeweilige Struktur, ihre Genese aus gesellschaftlichen Konflikten sowie auf gewisse Besonderheiten einzugehen haben. Dabei greifen wir auf die in Kap. 1.4 vorgestellte Typologie von Sartori und auf den historischen, auf Konfliktlinien abhebenden Erklärungsansatz von Lipset und Rokkan zurück. Als zusätzlichen Indikator für die Fragmentierung eines Parteiensystems nutzen wir das im Anschluss an Sartori entwickelte Maß der effektiven Parteienzahl (ENP), das für Vergleichszwecke insofern besonders handlich ist, als es das gewichtete Ausmaß der Fragmentierung in einer einzigen Zahl veranschaulicht. Diese Zahl wird nach Laasko/Taagepera (1979) berechnet, indem man 1 durch die Summe der quadrierten Anteile aller Parteien teilt.1 Sie kann sowohl für das Wahlergebnis (Anzahl elektoraler Partei-
1 ENP =
1 n
∑p i=1
, pi ist der Stimmen- bzw. Mandatsanteil der Partei i (i = 1, ..., n), 2 i
n
∑p i=1
i
= 1.
Parteiensysteme und Parteiendominanz
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en, ENEP) als auch für die Zusammensetzung des Parlaments (Anzahl parlamentarischer Parteien, ENPP) bestimmt werden. Unterschiede in den beiden Messzahlen ergeben sich durch den verzerrenden Effekt von Wahlsystemen bei der Umwandlung von Stimmenanteilen in Mandate. Gegenüber einer reinen Zählung der im Parlament vertreten Parteien hat die effektive Parteienzahl den Vorteil, dass sie die Größenrelationen der Parteien berücksichtigt. Sobald eine oder mehrere Parteien über einen großen Anteil an Mandaten verfügen, sinkt die ENPP gegenüber der ENEP. Bestes Beispiel ist das bundesdeutsche Parteiensystem der 1970er Jahre, das eine ENPP von etwa 2,3 hatte und daher folgerichtig als „zweieinhalb“ Parteien-System charakterisiert wurde.2 Das Hauptkriterium bei unserem vom Vetospieler-Konzept angeleiteten Vergleich von Parteiensystemen ist allerdings das der Dominanz der Parteien im politischen System (s.o., Kap. 1.5.2). Um ihr Ausmaß bestimmen zu können, stützen wir uns analytisch auf das von Richard S. Katz (1986, 1987) und anderen (z.B. in Castles/ Wildenmann 1986) entwickelte Konstrukt des party government, das wir im Folgenden zunächst vorstellen müssen. Die Begriffe des party government, der Parteiendemokratie bzw. des Parteienstaates sind allerdings älteren Datums und stark normativ besetzt. Während dem Parteienstaat im deutschsprachigen Raum traditionell eher pejorative Konnotationen anhaften, sind die Parteiendemokratie („demokratischer Parteienstaat“, Leibholz 19673) und das responsible party government (z.B. Rose 1974) Leitbilder oder Idealtypen, die auf die Legitimierung der modernen repräsentativen Demokratie abheben. Demnach machen erst die Parteien ein parlamentarisches System zum demokratischen, indem sie als Mittler zwischen Volk und „Herrschern“ das Regierungspersonal und deren Politikprogramme zur Wahl stellen, die Verantwortung für die daraus folgenden politischen Entscheidungen übernehmen und „bei Nichtgefallen Rückgabe“, nämlich die Abwahl ermöglichen (vgl. Katz 1987: 4 f.). Das Konzept von Katz basiert zwar auf diesem normativen Modell, versteht sich selbst aber als deskriptiv und klassifikatorisch und dient der empirischen Messung des Grades des Parteieneinflusses auf die Politik. Zu dem Zweck wird zunächst die Realität nach drei Kategorien von partyness sortiert: – partyness of organisations: Haben wir es bei den Organisationen, die sich Parteien nennen, wirklich mit Politiker-Gruppen zu tun, die als Mannschaft agieren („be2 Bei fünf im Parlament vertretenen Parteien ergibt sich dann eine ENPP von 5,0, wenn die Parteien je 20% der Mandate erhalten. Hat jedoch eine Partei 50% der Mandate errungen und die anderen Parteien je 12,5%, sinkt der Wert auf 3,2. 3 Das Leibholz’sche Konzept der Parteiendemokratie geht insofern über die üblichen party government Konzepte hinaus, als er stark auf innerparteiliche Prozesse abhebt und die Parteimitglieder quasi zum demos der modernen Demokratie erklärt.
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Dominanzstrukturen: Der Vergleich von Parteiensystemen
have as a team“, 1986: 40), eine einheitliche politische Linie verfolgen, per Wahl Regierungsämter anstreben und bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen (1986: 41)? – partyness of society: Wie groß ist der Einfluss solcher Parteien auf Nicht-Regierungs-Institutionen wie Gewerkschaften, Medien etc. (1987: 8)? – partyness of government: In welchem Ausmaß erfüllen die Parteien die ihnen im Modell bzw. Idealtyp der Parteiendemokratie zugedachten Funktionen – oder, anders ausgedrückt, wie nahe kommt ein reales politisches System diesem Idealtyp?4 – Der Vollständigkeit halber ist noch die party governmentness zu erwähnen, die etwas über die Effektivität des party government aussagen soll und z.B. die Frage beantwortet, inwieweit die Zentralregierung denn überhaupt die tatsächliche Politik bestimmt und die gesellschaftliche Entwicklung steuert (Katz 1986: 46 ff.). Das eigentliche Maß der Parteienstaatlichkeit ist die partyness of government, die ihrerseits auf drei Dimensionen gemessen wird (1986: 43): – der Dimension der Ämterbesetzung: im Idealfall werden alle wichtigen politischen Entscheidungen von Amtsinhabern getroffen, die in von den Parteien ausgefochtenen Wahlen in ihr Amt gekommen sind (oder von solchen Leuten ernannt wurden); – der Dimension der Politikinhalte: über die Regierungsprogramme wird innerhalb der Parteien (oder in Koalitionsverhandlungen zwischen ihnen) entschieden; – der Dimension der Personalselektion: die Kandidatenauswahl für die politischen Entscheidungsträger findet innerhalb der Parteien statt, und sie sind auch nur via Parteien dem Volk gegenüber verantwortlich. Das Maß zerfällt demnach in drei Messlatten, auf denen reale politische Systeme jeweils unterschiedliche Positionen einnehmen können (1986: 45), die dann zu einem Gesamtwert zu addieren wären. Katz geht davon aus, dass realiter bei ganz unterschiedlich strukturierten Parteiensystemen ähnliche party government Werte möglich sind (ebd.); unser folgender Vergleich von Parteiensystemen wird dies auch bestätigen. Zugleich stellt er eine Reihe von Hypothesen auf – z.B. die, dass party government in parlamentarischen Systemen, in Einheitsstaaten, bei geringer Größe des öffentlichen Sektors, bei ge4 Den Idealtyp nennt Katz (1987: 12 f.) „Typ A“; er ist definiert dadurch, dass der Wahlgewinner alle relevanten Regierungsstellen besetzt. „Typ B“ ist das party government bei Koalitionsregierungen, wo die Ämterbesetzung erst nach der Wahl ausgehandelt wird; im „Typ C“ bringen Wahlen überhaupt keine substantiellen Änderungen in der Regierung hervor, weil z.B. stets ein und dieselbe Partei gewinnt. Mit den Typen B und C geht Katz etwas unentschlossen um; sie mögen zwar party government sein, sind aber eben nicht „ideal“.
Parteiensysteme und Parteiendominanz
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ringem Einfluss von Interessenverbänden, Medien oder auch einer anonymen Bürokratie sowie bei geringer gesellschaftlicher Heterogenität wahrscheinlicher ist als bei den jeweiligen Gegenstücken (1986: 55 ff.). Zudem vermutet er, dass hohe partyness of government der party governmentness durchaus abträglich sein kann (1986: 62 ff.), weil nämlich die Bedachtnahme auf das Parteiprogramm und auf die Wahrung der Einheit der Partei die gesamtstaatliche Entscheidungsfindung behindern und praktisch den Verzicht aufs Regieren implizieren kann. Hinzu komme eine aus (Partei-)Wahl-Rücksichten geborene Krisen-Mentalität, „a tendency never to deal with a problem before it becomes a crisis“, weil der Wähler Krisen-Lösung eher belohne als Krisen-Vermeidung (1986: 68). Während uns der letztere Gesichtspunkt der hohen Wahrscheinlichkeit von „ineffective government“ im Folgenden nicht weiter beschäftigen wird, bieten die Messlatte der partyness of government sowie die von Katz nicht detailliert ausgeführte partyness of society wichtige Ansatzpunkte für die Konkretisierung unseres Vergleichskriteriums Dominanzstrukturen. In Modifikation des Katz’schen Konzepts, das auf Amtsinhaber und Politikinhalte abhebt, werden wir die Existenz von Parteien-Dominanz dann vermuten, wenn Parteien von bestimmendem Einfluss auf das Verhalten der wichtigsten oder gar aller institutionellen Vetospieler sind. Ein zusätzlicher Indikator für Dominanz ergibt sich aus einer hohen partyness of society. Die liegt nicht erst dann vor, wenn die Parteien Einfluss auf andere situative Vetospieler wie die Verbände oder auch auf weitere gesellschaftliche Akteure (wie z.B. die Medien) nehmen können, die zwar nicht als Vetospieler einzustufen sind, aber doch Einstellungen und Verhalten der Bürger wesentlich mitprägen. Sie ist ansatzweise schon dann gegeben, wenn Politiker eng mit ihrer Klientel verbunden sind und sie dank hoher Mitgliederzahlen oder enger Parteibindungen auch direkt erreichen können. Anders als Katz im Hinblick auf party government sehen wir etwa den Korporatismus (s.u., Kap. 4.1) nicht notwendigerweise als Gegenstück zur Parteien-Dominanz, weil ja Parteien von entscheidendem Einfluss auf die entsprechenden gesellschaftlichen Organisationen sein können.5 Schließlich gewinnen wir aus dem modifizierten Ansatz noch ein Maß für die Asymmetrie – und damit die Selektivität – politischer Systeme, indem wir fragen, ob die Parteien generell oder nur wenige Großparteien oder gar nur eine einzige Partei das Verhalten der institutio5 Die Relevanz der Verbindungen zwischen Parteien und Interessenorganisationen blieb in der empirischen Forschung bislang weitgehend unberücksichtigt. Sundberg (2003: 89) beklagt, dass einerseits die angelsächsische Tradition der Parteienforschung diese Verbindungen vernachlässigt habe (im idealen pluralistischen System gibt es solche ja auch nicht); andererseits habe die Korporatismus-Forschung ihren Fokus auf die Beziehungen zwischen Staat und Verbänden gelegt. Dabei haben schon Duverger (1959), Epstein (1967) und Rokkan (1994) nachdrücklich auf die Verbindung von Parteien und Interessenorganisationen als wichtige Ressource für den Erfolg von Parteien hingewiesen („Stimmen zählen, Ressourcen entscheiden“, Rokkan 1994: 52).
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Dominanzstrukturen: Der Vergleich von Parteiensystemen
nellen, der anderen situativen Vetospieler und das der Bürger zu präformieren vermögen. Die Darstellung der Parteiensysteme in den anschließenden Kapiteln wird sich an die folgende Reihung halten: (1) Den Anfang macht die Skizzierung der Struktur des Parteiensystems (Fragmentierung und Polarisierung) und ihrer Genese aus der gesellschaftlichen Konfliktlage, ggf. auch der strukturprägenden Einflüsse des Wahlsystems.6 (2) Besonderheiten der Parteiorganisation, ihrer Verflechtung mit anderen Organisationen sowie des Wettbewerbsverhaltens der Parteieliten geben wichtige Hinweise auf das Vorliegen von Dominanz oder Nicht-Dominanz. Auch beobachtbare Wandlungstendenzen im Hinblick auf alle Faktoren, einschließlich der Struktur des Parteiensystems, müssen benannt werden. (3) Abschließend und auswertend wird im Rückgriff auf die Analyse der jeweiligen Regierungssysteme das Ausmaß der Parteienstaatlichkeit7 und das der Parteien-Dominanz bestimmt. Wie sich dabei zeigen wird, ist beides nicht identisch: Ein hohes Maß an party government geht nicht notwendigerweise mit einem hohen Maß an Parteien-Dominanz einher.
3.2. Die Parteiensysteme im Überblick Die Parteiensysteme 3.2.1. Großbritannien im Überblick (1) Großbritannien gilt als Musterfall eines Zweiparteiensystems, obwohl es nach dem numerischen Kriterium gar keines mehr ist. Der Parteien-Dualismus ist so alt wie das parlamentarische System selbst. Er entwickelte sich schon Anfang des 18. Jhd. aus dem Dualismus der ins (Gefolgsleute des Premierministers) und outs (Gegner des Premiers). Dieser Dualismus hatte nur wenig mit gesellschaftlichen Konfliktlagen zu tun, sondern eher mit persönlichen Ambitionen; schließlich waren beide Gruppierungen, Whigs wie Tories, Adels-Cliquen. Das politische Leben spielte sich zunächst ausschließlich zwischen den beiden parliamentary parties ab. Ab Ende des 18. Jhd. begannen Clubs als außer-parlamentarische UnterstützungsZirkel zu agieren, und erst mit der schrittweisen Ausweitung des Wahlrechts im 19. Jhd. bildeten sich Parteiorganisationen „draußen im Lande“. Doch genau in jener 6 In diesem Abschnitt wird auch auf die elektorale Entwicklung der Parteien und die Regierungskonstellationen eingegangen. In Anbetracht der Knappheit des Platzes weisen wir jedoch keine Tabellen mit Wahlergebnissen, Sitzverteilungen und Regierungszusammensetzungen aus. Diese können den jeweiligen Länderbeiträgen in Ismayr (2003) oder Müller/Strøm (1997) entnommen werden. Die aktuellsten Zahlen findet man unter http://www.parties-and-elections.de. 7 Wir verwenden zur Analyse die drei Dimensionen der partyness of government von Katz (s.o.): (a) Ämterbesetzung, (b) Politikinhalte und (c) Personalselektion.
Die Parteiensysteme im Überblick
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Zeit stand der Parteien-Dualismus auf der Kippe und drohte der Einbruch gesellschaftlicher bzw. ökonomischer Konflikte (wie der um den Freihandel, die IrlandFrage, der Klassenkonflikt) ins beschauliche parlamentarische Leben die Konservativen und die Liberalen zu spalten. Vor allem die Liberalen waren von Spaltungstendenzen befallen. Ihren Status als zweite (Groß-)Partei verloren sie Anfang des 20. Jhd., nachdem sie vergeblich versucht hatten, den Wählern glaubhaft zu machen, dass sie auch die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten bereit seien: Die Arbeiter nahmen ihnen dies nicht ab und wählten statt ihrer die neue Labour Party. Dass der Parteien-Dualismus als solcher die Irrungen und Wirrungen des 19. und frühen 20. Jhd. überdauerte, hat einerseits sicher mit dem Mehrheitswahlrecht zu tun, das als first-past-the-post-System alle Verlierer im Wahlkreis gnadenlos bestraft, nämlich ihre Stimmen unter den Tisch fallen lässt.8 In der Summe ergibt das eine grob verzerrte Übersetzung der Parteien-Anteile an den Wählerstimmen in ihre Anteile an Unterhaus-Sitzen (Disproportionalität). Als Folge haben verhältnismäßig häufig Regierungen, die über eine stabile Mehrheit im Unterhaus verfügen, keine Wählermehrheit hinter sich.9 Der zweite Grund für die hohe strukturelle Stabilität liegt darin, dass die Konservative Partei es schaffte, in jedem neu aufkommenden Konflikt glaubwürdig den Pol des Status quo zu besetzen. Einen dritten Grund schließlich könnte man in einem entscheidenden Merkmal des Regierungssystems sehen, der Machtfülle des Premiers nämlich. Das hierin verkörperte Prinzip des winner takes all band auseinanderstrebende Politiker immer wieder zusammen, um an dieser Macht zu partizipieren. Im 20. Jhd. gilt gleichwohl unter Experten allein die kurze Phase von 1945 bis 1970 als „era of classic two-party majoritarianism“ (Webb 2000: 4 ff.). In dieser Zeit lag nicht nur die ENPP bei maximal 2,1; auch die Stimmenanteile anderer Parteien waren so gering, dass die ENEP nie über 2,5 hinausging. Seit Mitte der 1970er Jahre ist die ENEP auf nunmehr über 3,0 gestiegen; Zahl und Fraktionsstärke der im Unterhaus vertretenen Parteien haben ebenfalls zugenommen (bis zu einer ENPP von 2,5 im Jahr 2005)10. So gerieten 1974 gar die mechanics of two8 Um ein Beispiel zu geben: Bei den Unterhauswahlen 1992 entfielen im Wahlkreis Pendle rd. 23.000 Stimmen auf Labour, rd. 20.000 auf die Konservativen und rd. 8.000 auf die Liberalen. Der Labour-Kandidat zog ins Unterhaus ein; 28.000 Wähler (die Mehrheit also) blieben unrepräsentiert. 9 Die Unterhauswahlen 2005 gewann Labour mit nur 35,2% der Wählerstimmen. Die Konservativen erhielten 32,2%, die Liberal-Demokraten 22%. Trotzdem hat Labour rd. 60 MPs mehr als die anderen Parteien zusammen. 10 Neben den Liberals saßen (und sitzen) dort die Scottish National Party, Plaid Cymru, ab 1981 die Labour-Abspaltung Social Democrats, die sich 1988 mit den Liberalen zu den Liberal Democrats vereinigte (Webb/Fisher 1999: 27).
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Dominanzstrukturen: Der Vergleich von Parteiensystemen
partism (Sartori) ins Wanken: Die Labour-Regierungen Wilson und Callaghan waren zeitweise Minderheitsregierungen und z.T. vom „Lib-Lab-Pakt“ gestützt, der als Vorstufe einer Koalition gewertet werden muss. Beobachter sahen ein „breaking (of) the mould“ (Bradley 1981) herannahen. Auch wenn die Gefahr vorerst gebannt scheint, ist doch die Einschätzung nunmehr die, dass wir es in Großbritannien seit den 1970er Jahren mit einem „latent moderate pluralism“ zu tun haben (Webb 2000: 8 ff.). Dafür spricht nicht zuletzt, dass die fast ein Jahrhundert währende Dominanz des Klassenkonflikts einer Differenzierung gesellschaftlicher Konfliktlagen gewichen ist, womit das „,two-class, two-party‘ model of politics“ seine Plausibilität verliert (Webb 2000: 9). Doch das Wahlsystem trägt nach wie vor dazu bei, dass die Struktur des britischen Parteiensystems – der These von Lipset und Rokkan entsprechend – trotz steigender Wähler-Volatilität tatsächlich als eingefroren gelten darf. (2) Wie erwähnt spielten die Parteiorganisationen in Großbritannien über Jahrhunderte eine untergeordnete Rolle. Inzwischen haben die Parteien sich zwar zu Massenparteien11 gemausert, doch blieb die innerparteiliche Demokratie unterentwickelt und dominieren parteiintern weiterhin die parliamentary parties. Für Labour gilt dies in abgeschwächter Form, hatte deren parliamentary party sich doch stets des Einflusses der affiliierten TUC-Gewerkschaften zu erwehren, die mit den block votes der von ihnen in die Partei eingebrachten zahlreichen Gewerkschaftsmitglieder jahrzehntelang die Parteipolitik mehr oder weniger erfolgreich auf Gewerkschaftslinie brachten. Die individuellen Mitglieder (abschätzig früher gern „the loony left“ genannt) waren im Konflikt zwischen beiden Machtzentren von eher marginaler Bedeutung. Bei den Konservativen waren die parliamentary party und die „National Union of Conservative and Unionist Associations“ (als Vereinigung der Wahlkreis-Organisationen) bis zur Parteireform von 1998 schon rein formal getrennt. Die National Union hatte keinen Einfluss auf die Politik der parliamentary party, und der Parteivorsitzende „emerged“ (!) bzw. wurde allein vom „1922 Committee“ der parliamentary party gewählt (s. schon o., Kap. 2.2.1). Auch nach den Reformen gilt: „the party remains a hybrid of sorts“ (Webb 2000: 198); an den internen Machtrelationen hat sich wenig geändert. Auf Wandlungstendenzen wurde oben schon hingewiesen; sie bleiben latent, so lange das Wahlsystem sich nicht ändert. Seitens der Labour Party stand eine solche Änderung schon mehrfach auf der Agenda – so auch im Wahlprogramm, auf dessen Basis Blair seinen ersten Wahlsieg feierte –, weil die Partei längere Zeit befürchtete, auf eine Kooperation mit den Liberal-Demokraten angewiesen zu sein, und glaubte, dafür entsprechende Anreize bieten zu müssen. Bisher wurde nichts davon 11 – wenn auch zu keinen „authentischen“; vgl. Webb (2000: 192, 200).
Die Parteiensysteme im Überblick
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umgesetzt, und man ist sich auch nicht sicher, ob ein Systemwechsel in dieser Frage beim Wahlvolk gut ankäme.12 Ob von der langfristig abnehmenden Unterstützung der beiden Großparteien13 Änderungsimpulse ausgehen, steht einstweilen dahin. (3) In seiner Funktionsweise entspricht das politische System Großbritanniens eindeutig dem Modell des party government. (a) Zu Recht gilt es als „,perfected‘ party government in terms of recruitment“ (Döring 1987: 120; vgl. auch Webb 2000: 259 ff.): Niemand kommt in ein politisches Amt, ohne dass zuvor seine Partei die Wahl gewonnen hat. Der Wahlsieger besetzt alle entscheidungsrelevanten Positionen in Legislative, Exekutive und sogar Judikative, ohne Proporzgesichtspunkte, Reservatrechte o.ä. beachten zu müssen (winner takes all). Allerdings besteht kein spoils system im Hinblick auf die Ministerialbürokratie; da sie zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet ist, scheidet Patronage hier weitgehend aus. (b) Zugleich werden die politischen Richtungsentscheidungen vorweg innerhalb der Parteien getroffen. Sie sind in den Wahlmanifesten niedergelegt; und die manifesto pledges werden traditionell zu einem hohen Prozentsatz umgesetzt (bis zu 80%!, vgl. Rose 1984: 65), was umso erstaunlicher ist, als die Whitehall Mandarins (s.o., Kap. 2.2.1) oder auch der Druck der Verhältnisse immer wieder die in der britischen Öffentlichkeit berüchtigten U-turns erzwingen. (c) Die Auswahl des politischen Personals erfolgt allein innerhalb der Parteien, wenn auch, was die Parlamentarier betrifft, primär durch deren Wahlkreis-Organisationen (bei Vetorechten der Parteispitze). Wie oben gesehen, geht das Selektions-Monopol so weit, dass eine regierende Partei nur während der Legislaturperiode ihren Führer auswechseln muss, um der Nation einen neuen Premier zu bescheren. Aber perfected party government ist nicht identisch mit Parteien-Dominanz. Der Einfluss der Regierungspartei auf den entscheidenden Vetospieler, den Prime Minister, ist nämlich begrenzt. Ist er einmal im Amt, verfügt er über hinreichende Mittel, seine parliamentary party zu disziplinieren. Und vor der Wahl ist er, nicht zuletzt auf Grund der organisatorischen Schwäche der britischen Massenparteien, die treibende Kraft bei der Zusammenstellung des Wahlmanifests. Im Falle Labours immerhin gelang es den Gewerkschaften in der Partei verschiedentlich, dem Premier ihre Forderungen aufzuzwingen14, also seiner Agenda-Kontrolle deutlich 12 Angeblich hat John Major die Wahl 1992 nicht zuletzt deshalb gewonnen, weil bei einem Wahlsieg von Labour die Einführung der Verhältniswahl gedroht hätte. 13 Der Rückgang begann Mitte der 1970er Jahre dramatisch und hat sich inzwischen abgeschwächt. 2005 erhielten die beiden „Großen“ erstmals nach 1945 zusammen keine 70% der Wählerstimmen. Auch im Parlament konnten die anderen Parteien erstmals fast 15% der Mandate erringen. 14 Ein schönes Beispiel hierfür ist die erratische Geschichte der Gewerkschaftsgesetzgebung: Ende der 1960er Jahre erzwangen die Gewerkschaften, dass die Labour-Regierung (erste Regierung Wilson)
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sichtbare Grenzen zu setzen. Das Unterhaus ist, wie oben beschrieben, Vetospieler im Ausnahmefall. Auf diesen Vetospieler ist der Einfluss der Parteien in der Tat insofern unbegrenzt, als sie es sind, die den Ausnahmefall herbeiführen. Wichtiger Bestandteil unseres Konzepts der Parteien-Dominanz ist die partyness of society, und hier sind im Fall Großbritannien erhebliche Abstriche zu machen, was wiederum der Organisationsschwäche der Parteien und ihrer mangelnden Verankerung in gesellschaftlichen Subkulturen geschuldet ist. Die enge Verbindung von Labour und TUC-Gewerkschaften ist kein Gegenbeispiel, da in den besseren Zeiten dieser Ehe die Einflussrichtung eher von den Gewerkschaften in die Partei reichte als umgekehrt. Der Einfluss der Parteien auf die Medienlandschaft hat sich in den letzten 50 Jahren verringert bis zur Nicht-Existenz. Im Zeitalter der „Medien-Mogule“ und Massen-Boulevardblätter verläuft auch hier die Einflussrichtung eher anders herum. Und schließlich hat seit den 1970er Jahren die Intensität der Parteibindung der Wähler und vor allem die Unterstützung für die beiden potentiellen Regierungsparteien stetig abgenommen (vgl. Webb 2002: 20). So ergibt sich ein differenziertes Bild: Zwar ist Großbritannien ein Parteienstaat; doch von Parteien-Dominanz kann gleichwohl nur mit erheblichen Einschränkungen die Rede sein, nicht zuletzt weil die Eigenständigkeit der Parteien als Organisationen in Frage steht.
3.2.2. Schweiz (1) Es mag überraschen, dass das schweizerische Vielparteiensystem seinen Anfang als Dominanzsystem nahm. Bis zum Ende des 19. Jhd. dominierte der Freisinn – das liberale, nationale Bürgertum – in so massiver Weise, dass es überflüssig schien, sich eigens als Partei zu organisieren, umso mehr, als die erste Gegenkraft, der politische Katholizismus, nach dem verlorenen Sonderbundskrieg zunächst am Boden lag. Erst 1894 konstituierte der Freisinn (FDP) sich als Bundespartei und reagierte damit auf die Gründung gegnerischer Organisationen, die ihm die Macht streitig machen wollten.15 Er reagierte aber noch auf andere Weise auf die ihm erwachsende Konkurrenz, nämlich mit der Einführung der Verhältniswahl und des Proporzes (1891), sprich mit der Strategie, die Konkurrenz dadurch zu neutralisieren, dass man sie „ins Boot“ holte. Die Organisation der Gegenkräfte erfolgte entlang diverser Konfliktlinien, deren wichtigste in rascher Abfolge politisch virulent wurden; d.h. sie überlagerten einanihr entsprechendes Weißbuch „In Place of Strife“ zurückzog; und 1974 erzwangen sie, dass die Labour-Regierung (zweite Regierung Wilson) das von der Konservativen Vorgängerin erlassene Gewerkschaftsgesetz umgehend abschaffte. 15 Als erste Bundespartei gründete sich im Übrigen die Arbeiterpartei SPS (1888); der politische Katholizismus zog erst 1912 mit der CVP nach. Zu Geschichte und Entwicklung vgl. Gruner 1977.
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der und erzeugten so die multipolare Struktur, die das Parteiensystem bis heute prägt. Neben dem konfessionellen und dem Klassenkonflikt sind dies der zwischen Liberalismus (FDP) und Konservatismus (SVP)16 und der zwischen den Ethnien, also zwischen Deutsch-Schweiz und Welsch-Schweiz bzw. Suisse Romande, der z.B. dafür sorgte, dass es neben der SPS noch weitere (allerdings unbedeutende) Arbeiterparteien gab. Im Laufe von 100 Jahren nahm die Zahl der im Nationalrat vertretenen Parteien zunächst stetig zu; Anfang des 20. Jhd. noch sechs, stieg ihre Zahl bis in die 1990er Jahre auf 16 an (vgl. Ladner 2002: 215), 2003 waren es noch 13. Da die „Großen Vier“ (FDP, SVP, SPS, CVP) aber mit einer Ausnahme im Jahr 1991 zumindest 80% der Mandate erringen konnten, blieb die ENPP relativ stabil zwischen 5,0 und 5,7.17 Allein nach dem numerischem Kriterium hätten wir es mit polarisiertem Pluralismus zu tun, doch fehlen die laut Sartori dafür typischen Antisystemparteien. Weder die ehemals kommunistische Partei der Arbeit (PdA) auf der linken noch die Schweizer Demokraten (SD; vormals Nationale Aktion) auf der rechten Seite des politischen Spektrums sind als solche einzustufen, weil sie die schweizerische Demokratie nicht abschaffen wollen. Schon gar nicht kann man die SVP als Antisystempartei klassifizieren, nur weil ihr derzeitiger Parteiführer Blocher sich populistisch geriert. Nun könnte man annehmen, dass die meisten Kleinparteien im Sartorischen Sinn nicht relevant seien. Doch dem ist nicht so: Z.T. sind sie in Kantonalregierungen vertreten, verfügen dort also über Koalitionsverhandlungs-Potential; darüber hinaus sind sie durchaus in der Lage, Referenden auf den Weg zu bringen (u.a. auch über eine Kantonalregierung) und haben damit Erpresser-Potential. Dieses hoch-segmentierte Vielparteiensystem hat sich in bemerkenswerter Weise stabil erwiesen, zum einen in seiner Struktur (die folglich als eingefroren gelten darf), zum anderen im Hinblick auf die Stimmenanteile der Parteien, die sich über Jahrzehnte hinweg nur wenig änderten. Erst seit Mitte der 1990er Jahre verschieben sich innerhalb des bürgerlichen Lagers (FDP, CVP, SVP) die Gewichte zu Gunsten der SVP. Dennoch bleibt die Schweiz nach wie vor die westliche Demokratie mit der durchschnittlich geringsten Wählervolatilität (vgl. Mair 2002b: 131). Zu der hohen Stabilität hat sicher die Zauberformel (s.o., Kap. 2.2.2) beigetragen, die die vier Dauer-Regierungsparteien in besonderer Weise als Gesamtpaket sichtbar macht. Ein weiterer Stabilitätsfaktor ist aber in der Kunst des Freisinns zu sehen, auf den meisten Konfliktlinien jeweils den Pol des Status quo einzunehmen. 16 Dieser Konflikt lässt sich zugleich als der zwischen Groß- und Kleinbürgertum bzw. zwischen städtisch-bürgerlichem und bäuerlichem Milieu lesen. 17 Im Jahr 1991 stieg sie einmalig auf 6,5 an. Die ENPP ist für die Schweiz auf Grund der internen Fragmentierung der im Parlament vertretenen Parteien (s.u.) jedoch von begrenzter Aussagekraft.
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Die schweizerischen Parteien entstanden im Übrigen nicht als Parlaments-Gruppierungen, sondern aus Bürgervereinen außerhalb des Parlaments. Man darf davon ausgehen, dass diese Entstehungsvariante generell Multipolarität begünstigt. Es ist plausibel, aber umstritten, die Parteigründungen mit der Existenz der Volksrechte in Verbindung zu bringen (so Gruner 1977: 25 ff.). Zumindest zwei Gründungen lassen sich in der Tat auf die Basis-Mobilisierung im Zusammenhang von Abstimmungskämpfen zurückführen, nämlich die der Nationalen Aktion, die aus „Überfremdungs-Initiativen“ schweizerischer Bürgergruppen hervorging, sowie die der Autopartei (jetzt Freiheitspartei der Schweiz, FPS). Als gesichert darf zudem gelten, dass die Referendums-Demokratie viel zum Überleben kleiner Parteien beiträgt. Eine Merkwürdigkeit der schweizerischen Parteienlandschaft sei am Rande erwähnt: Mit dem Landesring der Unabhängigen (LdU) hatte sich die Supermarktkette Migros eine eigene Partei geschaffen, die immerhin von 1936 bis 1999 überdauerte. (2) Wie schon oben (Kap. 2.2.2) erwähnt, gehört es zu den Besonderheiten des schweizerischen Parteiensystems, dass die kantonalen Organisationen dominieren: Jede Bundespartei ist eine Föderation von Kantonalparteien, die durchaus eigensinnig sind, sich als unabhängig definieren und sich nur schwer auf eine von der Bundesparteiführung ausgegebene Linie verpflichten lassen (vgl. Ladner 2002: 215). Die Parteienlandschaft ist also noch weit fragmentierter, als es bei bloßer Zählung der Bundesparteien ohnehin schon den Anschein hat. Diese Kantonalparteien – vor allem die der Regierungsparteien – sind jede für sich im Sartorischen Sinne potentiell relevant, da zum einen ihre Zustimmung zur Wahl der Bundesräte erforderlich ist und sie zum anderen bei Volksabstimmungen denen der Bundespartei widersprechende Parolen ausgeben, also den Erfolg der Regierung im Referendum gefährden und überdies selbst Referenda initiieren können. Die interne Fragmentierung ist übrigens bei der SPS um einiges geringer als bei den bürgerlichen Parteien.18 Zudem ist die ideologische Distanz zwischen der SP auf der einen und den verschiedenen bürgerlichen Parteien auf der anderen Seite so groß, dass man von verkappter Bipolarität sprechen kann (s. die Zahlen bei Ladner 2002: 219). Nach den jüngsten Wahlerfolgen der SVP, die 2003 sogar die SP überflügeln konnte, und den damit einhergehenden Verlusten von FDP und CVP wird die Bipolarität deutlicher.19 Schon spricht man in der Schweiz von einer „Erosion 18 Das Ausmaß der internen Fragmentierung der großen Parteien wird in einem von der NZZ durchgeführten Parlamentarier-Rating entlang der Links-Rechts Skala (gemessen am Abstimmungsverhalten) deutlich: Bei den Nationalräten der FDP reicht die Bandbreite von –0.4 bis +7.8, bei denen der CVP von –6.9 bis +5.5, bei denen der SVP von +1.7 bis +10.0. Bei der SPS ist die Bandbreite erheblich geringer: von –9.8 bis –8.5 (vgl. NZZ vom 13.10.2003). 19 Der Trend zur Polarisierung und zur Erosion der Mitte macht sich im Übrigen in der Suisse Romande um einiges deutlicher bemerkbar als in der restlichen Schweiz (vgl. NZZ vom 26.4.2005).
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der Mitte“ (Weibel 2003) und vom drohenden Systemwechsel, weg von der Konkordanz und hin zum angeblichen europäischen Normalfall der Konkurrenz. Die Erfolge der SVP haben indessen viel mit der Person Blochers, mit dem Problem der Kosovo-Albaner sowie mit der Angst vor einem EU-Beitritt zu tun; es lässt sich vermuten, dass sie vorübergehender Natur sind. (3) Es ist wohl offensichtlich, dass wir in der Schweiz kein System des party government vor uns haben. (a) Natürlich kommt man auch hier nicht ins Parlament oder in die Regierung, ohne dass Parteien die Wahlen organisierten. Aber im Bund werden die wichtigen Positionen nach Proporzgesichtspunkten besetzt, d.h. die Ämterbesetzung folgt Regeln, die von Wahlgewinn oder Wahlniederlage weitgehend abgekoppelt sind. (b) Die innerhalb der Bundesparteien getroffenen politisch-programmatischen Festlegungen erweisen sich im staatlichen Entscheidungsprozess häufig als irrelevant. Dank Expertenkommissionen, Vernehmlassung und Referenden ist auch er vom Parteienwettbewerb entkoppelt. (c) Bei der Kandidatenselektion haben die Bundesparteien nicht das letzte Wort – man denke nur an den oben (Kap. 2.2.2) beschriebenen komplizierten Prozess der Findung geeigneter Bundesräte –, noch sind sie darin frei, weil schon intern viele Rücksichten (nicht zuletzt auf Geldgeber20) zu nehmen sind. Die Parteien sind zwar durchaus von Einfluss auf die drei institutionellen Vetospieler Bundesrat, Nationalrat und Ständerat, doch besagt das noch nichts über Dominanz. Denn zum einen ist ihr Chor vielstimmig, ihr Einfluss so vielfältig, dass er richtungslos ist; zum anderen ist die Vetospieler-Trias nur formales Entscheidungs- und kein Machtzentrum. Inhaltlich werden die politischen Entscheidungen in erheblichem Maß von den Verbänden (mit-)bestimmt, und die Letztentscheidung liegt allemal beim Vetospieler Volk. In Abstimmungskämpfen wiederum konkurrieren die Parteien mit finanzkräftigen Verbänden und mobilisierungsfähigen Bürgerbewegungen und werden von ihnen häufig überflügelt, umso mehr als keine Bundespartei sicher sein kann, dass ihre Kantonalparteien ihrer Abstimmungsparole tatsächlich folgen. Das verweist darauf, dass auch von einer partyness of society in der Schweiz nicht die Rede sein kann.21 Es gab und gibt keine Ansätze zur Versäulung der Gesellschaft oder zur verhaltensprägenden Lagerbildung. Zwar stehen wie in den meisten Ländern die Gewerkschaften der Sozialdemokratie nahe und gibt es regionale Vorlieben wie die der Genfer für die SP und der Innerschweizer für die SVP. Aber wie 20 Vor diesem Problem stehen im Prinzip die Parteien fast aller Länder. In der Schweiz stellt es sich verschärft, weil es hier keinerlei staatliche Parteienfinanzierung gibt und die Parteien auch nicht sonderlich mitgliederstark sind. 21 Vgl. hierzu auch die neuesten Daten zu Parteibindung, Mitgliedschaft und lokaler organisatorischer Basis der Parteien bei Ladner (2005).
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schwach derartige Parteibindungen sind, zeigt sich z.B. darin, dass die CVP als Partei der Katholiken mittlerweile (Nationalratswahl 2003) nur mehr rd. 13% der Wähler für sich zu mobilisieren vermag. Nicht zuletzt ist die geringe Beteiligung der Bürger an den Wahlen zum National- und zum Ständerat (seit Jahrzehnten um bzw. unter 50%) ein Indikator für den Stellenwert, den die Schweizer Bürger den Parteien und den von ihnen bestimmten Eidgenössischen Räten beimessen. So liefert unser kurzer Überblick in diesem Fall ein recht eindeutiges Bild: Die Schweiz ist kein Parteienstaat, und die Parteien sind nicht dominant. In ihrer stark segmentierten Gesellschaft und in ihrem hoch-fragmentierten politischen System sind die Parteien ein Einflussfaktor unter vielen – und ein eher schwächerer zudem.
3.2.3. Schweden (1) Wäre dieses Buch in den 1980er Jahren geschrieben worden, hätten wir dieses Kapitel wohl so begonnen: Kaum ein anderes Parteiensystem einer westlichen Demokratie weist seit über 60 Jahren eine solche Stabilität auf wie das schwedische. Denn von 1921 bis 1985 waren kontinuierlich die gleichen fünf Parteien im Reichstag repräsentiert. Schweden gilt daher als „prototype of the five-party ,Scandinavian party system‘ model“ (Arter 1999a: 55). Wegen der frühen Parlamentarisierung Schwedens22 entwickelten sich nahezu alle Parteien aus dem Parlament heraus; lediglich die SAP, die 1889 gegründet wurde, hat einen außerparlamentarischen Ursprung (Hagevi/Jahn 1999: 147). In zweierlei Hinsicht kann Schwedens Parteiensystem als Idealfall zur Illustration der Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan (1967) dienen. Erstens sind die fünf Parteien aus den gesellschaftlichen Konfliktlinien im ausgehenden 19. Jhd. hervorgegangen, zweitens war das Parteiensystem tatsächlich über einen langen Zeitraum hinweg eingefroren. Die Bauern (Landpartei) waren zu Beginn der Parlamentarisierung die vorherrschende Kraft, gegen die sich im liberalen und bürgerlichen Lager eine Opposition bildete (Stadt-Land Konflikt). Am Ende des 19. Jhd. war der dominante Konflikt der zwischen Verfechtern des Freihandels und Protektionisten (Rokkan 1994: 49). Der Konsolidierungsprozess innerhalb dieser Lager dauerte bis in die Anfänge des 20. Jhd. und resultierte auf der Seite der Protektionisten in einer konservativen Partei, zunächst als Rechtspartei, seit 1969 als Moderate Sammlungspartei (M). Im liberalen Lager formierte sich eine Partei, die sich 1923 im Streit um die Prohibitionsfrage kurzfristig aufspaltete, aber 1934 zur Liberalen Volkspartei (FP) wieder zusammenschloss. 22 Schon 1866 wurde der Zweikammern-Reichstag mit allgemeinen Wahlen zur Zweiten Kammer (Unterhaus) eingeführt (Hagevi/Jahn 1999: 147).
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Interessanterweise – da gegen das übliche skandinavische Muster – wurden zu Beginn des 20. Jhd. die Landwirtschaftsinteressen zunächst von den konservativ-bürgerlichen Bewegungen absorbiert; erst 1921 organisierten sie sich wieder im Bauernverbund, der sich 1957 in Zentrumspartei (CP) umbenannte. Mit der industriellen Revolution kam es zur typischen Gründung einer Arbeiterpartei (SAP), von der sich 1917 die kommunistische Partei (seit 1990 Linkspartei, VP) abspaltete. Von 1921 bis 1985 waren es nun diese fünf Parteien (VP – SAP – CP – FP – M), die in unterschiedlicher Stärke die Abgeordneten der Zweiten Kammer stellten. Eines blieb jedoch immer gleich: Die SAP war die bei weitem stärkste Kraft und dominierte mit einem Stimmenanteil zwischen 40% und 50% das Parteiensystem. Gefördert wurde die Stabilität nicht nur durch die frühe Parlamentarisierung eines dauerhaften Nationalstaats, sondern auch durch eine weitgehend stabile Entwicklung der Gesellschaft. Daneben verhinderte die nationale Vier-Prozent-Hürde bei den Reichstagswahlen23 den Einzug von Kleinstparteien in den Reichstag. Auf Grund der religiösen Homogenität spielte die Konfliktlinie Kirche-Staat nur bei der Herausbildung der Liberalen eine gewisse Rolle. In den 1960er Jahren entstand aus einer religiösen Opposition innerhalb des bürgerlichen Lagers heraus die Christdemokratische Partei (KDS), der es vor 1991 nicht gelang, die Vier-Prozent-Hürde zu überwinden. Seither hat sie sich jedoch im bürgerlichen Lager etabliert und in ihrer elektoralen Bedeutung die CP übertroffen. Wie in fast allen westlichen Demokratien entstand auch in Schweden in den 1980er Jahren eine grüne Partei (MP). 1988 zog sie als erste Partei neben den fünf traditionellen in den Reichstag ein und siedelt sich seither mit Stimmenanteilen unter 5% zwischen SAP und CP an. Während die Bildung rechtspopulistischer Protestparteien in anderen skandinavischen Ländern das Parteiensystem zum Teil dauerhaft erschütterte, blieb der Einzug der Neuen Demokratie (NyD) 1991 eine einmalige Episode. All diese Entwicklungen änderten wenig an der dominanten Position der SAP. Zwar verlor die SAP seit 1985 etwa 5% ihrer Wählerschaft, doch bleibt sie mit ca. 40% nach wie vor die mit Abstand stärkste Partei. So lange die Grünen nicht zu einer Koalition mit dem bürgerlichen Lager bereit sind, erscheint das Modell sozialdemokratischer Minderheitsregierungen weiter als zukunftsträchtig. Trotz der jüngeren Entwicklungen kann Schweden als Paradebeispiel eines stabilen moderaten Pluralismus (Sartoris Typ 5) gelten. Dafür spricht auch die effektive Parteienzahl der im Parlament vertreten Parteien, die sich nach 1945 zwischen 3 und 4 bewegte und erst 1991 über 4,0 stieg (vgl. Sundberg 2002: 186). Auf den ersten Blick könnte man Schweden auf Grund der „ewigen“ Regierungspartei SAP 23 Sollte eine Partei aber in einem Wahlkreis über 12% erreichen, so ist sie mit den in diesem Wahlkreis gewonnenen Mandaten vertreten. Doch da es in Schweden keine regionalistischen Parteien gibt, verhilft diese Regelung nur in Ausnahmefällen Kleinstparteien zum Erfolg.
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gar als Dominanzsystem (Sartoris Typ 3) ansehen. Doch hebelt die Logik von Minderheitsregierungen das Sartorische Kriterium „Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Regierungswechsels“ aus, da die anderen Parteien auch ohne Regierungsbeteiligung die Politik entscheidend mitprägen können. (2) Schweden ist traditionell ein Land mit einem hohen Organisationsgrad. So verwundert es nicht, dass Parteien und gesellschaftliche Organisationen über die Zeiten hinweg zum Teil eng miteinander verflochten sind. Die Hegemonie der Sozialdemokratie beruhte lange Jahre nicht nur auf ihrer parlamentarischen Stärke, sondern auch auf ihrer Verbundenheit mit Massenorganisationen wie der Arbeitergewerkschaft (LO) und den Bildungs- und Konsumvereinen. Am deutlichsten zeigte sie sich in der üblichen Kollektivmitgliedschaft in SAP und LO. Darüber hinaus gab es finanziell enge Verknüpfungen; so machte vor Einführung der staatlichen Parteienfinanzierung die finanzielle Unterstützung der SAP durch die LO 27% ihrer Einnahmen aus (Sundberg 2003: 108). Und schließlich nehmen nach wie vor ca. 40% aller SAP-Fraktionsmitglieder eine Funktion innerhalb der LO wahr (Sundberg 2003: 114). Dennoch ist eine gewisse Lockerung der Beziehungen zwischen SAP und LO zu konstatieren, nicht zuletzt wegen des Politikwechsels der SAP-Regierung unter dem Premier Carlsson nach 1994 (Fenner 1998: 390). Verständlicherweise sind die Beziehungen zwischen Parteien und Interessenorganisationen dann besonders innig, wenn die betreffende Partei häufig den Premierminister stellt. Daher spielen bei den anderen Parteien die direkten Verbindungen zu gesellschaftlichen Organisationen eine geringere Rolle als bei der SAP. Auf Grund von deren Regierungsdominanz brachten sich die Arbeitgeberverbände lieber in korporatistischen Arrangements direkt in die Politik ein als sich wie in anderen Staaten auf ideologische Affinitäten zu den liberalen und konservativen Parteien zu verlassen (vgl. Einhorn/Logue 1989: 103). Nach der Umbennenung der Agrarpartei in Zentrumspartei und der damit einhergehenden programmatischen Umorientierung haben sich auch die Beziehungen zwischen CP und den organisierten Interessen in der Landwirtschaft gelockert. So ging der Anteil an CP-Parlamentariern, die innerhalb der Farmer-Organisationen eine Funktion innehaben, von 30% im Jahr 1970 auf inzwischen unter 10% zurück (Sundberg (2003: 113) – nicht zuletzt eine Reaktion darauf, dass die CP seit 1994 nicht mehr in Regierungskoalitionen vertreten war. Wie in vielen anderen Ländern auch, verlieren in Schweden die Parteien die direkte Basis in der Gesellschaft. Bei allen Parteien gehen die Mitgliederzahlen in jüngster Zeit deutlich zurück; der Anteil der Mitglieder an der Wählerschaft sank von ca. 20% in den 1980er Jahren auf 5,5% im Jahr 1998 (Sundberg 2002: 196). Zwar kann die SAP nach wie vor als eine Massenpartei bezeichnet werden, wenngleich 1990 die Kollektivmitgliedschaft von SAP und LO abgeschafft wurde. Doch
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hat sich auch bei den Gewerkschaftsmitgliedern der Anteil der SAP-Wähler von 81% 1968 auf nur noch 66% im Jahr 1994 verringert (Fenner 1998: 389). Berücksichtigt man alle Entwicklungen, so ist ein Rückgang der partyness of society festzustellen, der es den Parteien erschwert, direkten Einfluss auf ihre Klientel zu nehmen. Das Ende des staatsdominierten Fernsehens in den 1990er Jahren und die zunehmende Unabhängigkeit der großen Zeitungen verstärken diesen Trend.24 (3) Die drei Aspekte des party government sind unterschiedlich stark ausgeprägt. (c) Die Rekrutierung des parlamentarischen Personals geschieht allein durch die Parteien. Gewählt werden in den einzelnen Wahlkreisen die von den Parteigremien zusammengestellten Parteilisten; erst seit 1998 ist es möglich, von der Liste eine Person auszuwählen. Auch auf lokaler Ebene dominiert in Schweden die parteipolitische Rekrutierung des Personals (Sundberg 2002: 205). (a) Die Regierungsbildung ist Sache der Parlamentsparteien, wobei als Ministerpräsident in der Regel der Parteivorsitzende der stärksten Regierungspartei – also zumeist der SAP – gewählt wird. Der Regierungschef rekrutiert sein Kabinett dann aus Parteigefolgsleuten, selten gibt es parteilose Minister. Die Staatssekretäre werden ebenfalls aus den Reihen der Partei(en) ausgewählt, wie auch die höchsten Beamten in der Ministerialbürokratie (Sundberg 2002: 205). (b) Die Politikformulierung ist nach wie vor von den Parteien dominiert. Vor allem in Zeiten von SAP-Alleinregierungen finden sich die Wahlprogramme in den Regierungserklärungen wieder und bestimmen so in hohem Maße die Agenda der Regierungspolitik. Gibt es Koalitionsregierungen, werden inzwischen ausführliche und detaillierte Vereinbarungen zwischen den Parteispitzen als Regierungsprogramm ausgearbeitet (Bergman 1997: 268). Im Falle der sehr häufigen Minderheitsregierungen allerdings verringert sich der direkte Einfluss von Parteiprogrammen, weil im Parlament ständig Kompromisse gefunden werden müssen. Dann bestimmen auch kurzfristigere Überlegungen, die innerhalb der Fraktionen getroffen werden, das Politikergebnis. In Schweden kann durchaus noch von Parteien-Dominanz gesprochen werden. Parlament und Regierung sind eindeutig von den Parteien dominiert und neben ihnen existieren keine weiteren institutionellen Vetospieler. Allein die Involvierung der Interessengruppen im Remiss-Verfahren scheint die Parteien-Dominanz einzuschränken. Doch auf Grund der nach wie vor gegebenen – wenn auch abgeschwächten – partyness of society werden hier selten Positionen eingebracht, die nicht auch seitens der Parteien diskutiert werden. Zusätzlich gestärkt werden die Parteien durch die 1972 eingeführte staatliche Parteienfinanzierung, deren Verteilung nach den Ergebnissen der Reichstagswahlen erfolgt (Petersson 1994: 147). 24 Die älteste pro-sozialistische Zeitung Arbetet erklärte sich z.B. im Herbst 2000 als unabhängig (Sundberg 2002: 208).
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Die in Ausnahmefällen angewandten konsultativen Referenden beschränken die Macht der Parteien kaum, da es die Parteien sind, die über die Initiierung entscheiden. Eine schwedische Besonderheit ist schließlich, dass sich trotz der Existenz eines Mehrparteiensystems die Parteien-Dominanz im Kern auf die Dominanz einer einzigen Partei, der SAP, reduziert.
3.2.4. Frankreich (1) So viele Republiken Frankreich hatte, so viele Parteiensysteme hatte es auch. Mit jedem Regimewechsel bildeten sich neue Parteien und neue Konstellationen heraus. Kontinuität bestand in den Richtungen, in die sie sich gruppierten – links, Zentrum, rechts –, wobei jede Richtung sich typischerweise in mehrere Parteien ausdifferenzierte.25 Das Gemeinsame der Parteiensysteme war damit zum einen ihre Struktur des tripolaren Pluralismus. Die zweite Gemeinsamkeit lag im Charakter der Parteien als Parlamentsparteien26, denen die gesellschaftliche Basis in Form stabiler Parteiorganisationen ebenso fehlte27 wie die interne Disziplin. Die dritte Gemeinsamkeit war – und ist – die ausgeprägte Personalisierung (vgl. Zadra 1997): Parteien waren stets primär Unterstützer-Gruppen für ambitionierte Politiker. Das ist der Grund, weshalb sich die Suche nach den strukturprägenden gesellschaftlichen Konfliktlinien im Falle Frankreichs genau genommen erübrigt. Zu nennen wären immerhin der Konflikt um die Ideen der französischen Revolution, der um das Verhältnis von Staat und Kirche und der Klassenkonflikt, aber ihr Erklärungswert ist vergleichsweise gering. Auch in der V. Republik traten neue Parteien auf den Plan; aus der III. und IV. Republik überdauerten nur die kommunistische Partei PCF, die sozialistische SFIO (später PS) und die später im Bündnis der Giscardisten untergegangene Radikale Partei (PR). Die neue Republik war gegründet worden, um die Schwächen der vorherigen „République des Députés“ und des undisziplinierten „régime d’assemblée“ (Reif 1987: 31 ff.) zu überwinden. Die Fokussierung des politischen Lebens auf die Figur des Staatspräsidenten ließ eine Konzentrationsbewegung unter 25 Lt. Jacques Fauvet hat Frankreich zwei fundamentale politische Temperamente, das der Linken und der Rechten, drei Haupttendenzen (wenn man das Zentrum einbeziehe), sechs geistige Familien, zehn Parteien, die von verschiedenen Strömungen bestimmt seien, vierzehn parlamentarische Gruppierungen ohne viel Disziplin und 40 Millionen politische Meinungen (vgl. Ehrmann 1976: 143). 26 Zadra (1997: 684) unterscheidet feinsinnig: „Blieben sie außerparlamentarisch, schrieben sie den Umsturz auf ihre Fahnen. Waren sie parlamentarisch, dienten sie Politikern vornehmlich als Wahlplattform.“ 27 Sozialisten und Kommunisten gelten hier als Ausnahme. Aber auch im Fall der Sozialisten (SFIO, 1905 gegründet, als organisatorischer Kern) gelang es erst Mitterrand 1969, die diversen existierenden Gruppen und Grüppchen unter dem Dach des Parti Socialiste (PS) zu vereinen.
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den Parteien erwarten, die in der Tat bis zu einem gewissen Grade eintrat. Im linken Lager änderte sich zunächst wenig, aber im zentristischen und im rechten Lager machte sich bald die Sogwirkung des Präsidentenamts bemerkbar. Die Gaullisten (RPR) wiesen schon im Namen – der zwar wechselte, aber stets das Wort rassemblement enthielt – darauf hin, dass sie sich als Sammlungsbewegung verstanden. In den 1970er Jahren zog das zentristische Lager unter Führung des Präsidentschafts-Kandidaten (und späteren Präsidenten) Giscard d’Estaing in ähnlicher Weise mit der Union pour la Démocratie Française (UDF) nach. Die bis dahin erfolgten diversen „Sammlungen“ resultierten in einer Vierer-Gruppe relevanter Parteien (PCF und PS links – UDF und RPR rechts), die in Öffentlichkeit und Literatur gern als „quadrille bipolaire“ betitelt wurde (vgl. Reif 1987: 57; Cole 1990: 7).28 Die schöne neue Ordnung wurde durch das Aufkommen des Front National (FN), weniger durch die Grünen gestört, die gleich zwei Organisationen gründeten, weil sie sich nicht einigen konnten. Der Einfluss dieser beiden neuen Richtungen auf die Zusammensetzung der Nationalversammlung blieb aber auf Grund des Wahlsystems minimal.29 So sind die Schwankungen der ENPP30 weniger dem Hinzukommen neuer Parteien als der vergleichsweise hohen Volatilität (vgl. Mair 2002b: 131) zwischen den etablierten Parteien und der Verstärker-Wirkung des Mehrheitswahlsystems geschuldet. Inzwischen ist auf der Linken der PCF am Rande der Bedeutungslosigkeit.31 Auf der Rechten trieb Chirac die Konzentration mit der Gründung der UMP weiter voran (2002), die derzeit Union pour un Mouvement Populaire heißt, ursprünglich aber Union pour la Majorité Présidentielle hieß, was den Zweck der Übung wohl genauer beschreibt: Es geht darum, den Erfolg bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu sichern. Und eben damit ist der neuen Sammlung der Spaltpilz von vornherein implantiert.32 Beobachter sind skeptisch; und da ohnehin genü28 Forciert wurde der Trend zum Bipolarismus aber auch durch das System der absoluten Mehrtheitswahl. Im ersten Wahlgang treten zunächst alle Parteien gegeneinander im Wettbewerb um Stimmen an. Da die relative Mehrheit nicht zum Gewinn des Mandats reicht, wird zumeist ein zweiter Wahlgang (Stichwahl) nötig, in dem Kandidaten antreten können, die die Unterstützung von mindestens 12,5% der Stimmberechtigten erhalten haben. Das erzwingt Wahlbündnisse und verstärkt die Tendenz zur Lagerbildung. In Wahlabsprachen – innerhalb der beiden Lager inzwischen teilweise vor dem ersten Wahlgang – wird festgelegt, welcher Kandidat (zumeist der aussichtreichste im jeweiligen Lager) für die Stichwahl aufgestellt wird (vgl. Kempf 2003: 321). 29 1986 galt für die V. Republik einmalig ein Verhältniswahlsystem, von Mitterand in völliger Verkennung der Auswirkungen eingeführt. Die Folge dieses Systemwechsels war, dass der FN mit 9,9% der Stimmen und knapp 6% an Mandaten in die Nationalversammlung einziehen konnte. 30 Die ENPP schwankte in der V. Republik zwischen 3,0 und 4,5 und ging mit dem überragenden Wahlsieg der UMP 2002 sogar auf 2,2 zurück. 31 Bei den Parlamentswahlen 2002 blieb er erstmals unter 5% der Wählerstimmen. 32 Zum einen hat die UDF der Umarmung ohnehin in weiten Teilen widerstanden; zum anderen braucht nur ein weiterer Politiker (neben Sarkozy) – z.B. der jetzige Premier de Villepin – auf der
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gend kleinere Gruppierungen übrig geblieben sind, ist es wohl zutreffend, das französische Parteiensystem als „bipolar multipartism“ zu charakterisieren (Knapp 2002: 109), also als ein System des gemäßigten Pluralismus. Sein moderater Charakter wird allerdings durch die Existenz einer in der Öffentlichkeit ziemlich erfolgreichen Antisystempartei am rechten Rand (FN) gefährdet, die in einzelnen Wahlkreisen inzwischen in der UMP sogar einen Bündnispartner findet. Betrachtet man dagegen allein die elektorale Arena des ersten Wahlgangs, finden wir in den 1990er sogar ein hoch-fragmentiertes Parteiensystem vor: Die ENEP erreichte 1993 und 1997 jeweils den Wert von 6,4. (2) Beschäftigt man sich mit dem französischen Parteiensystem, stößt einem unweigerlich die Frage auf, ob Frankreich ein solches wirklich besitzt: Gibt es hier überhaupt Parteien? Es ist kein Zufall, dass viele sich union oder rassemblement nennen, das Wort Partei also vermeiden; denn in der Tat steht die partyness of organisations in Frage. Vor allem im bürgerlichen Lager sind sie kaum mehr als Wahlvereine für die présidentiables: Führerfiguren33 mit Präsidentschafts-Ambitionen, die „die Organisations- und Personalkapazitäten ihrer Partei ausschließlich für eigene Zwecke nutzen“ (Zadra 1997: 695. Zu den présidentiables s. z.B. auch Bell 2000). Für diesen Karriere-Zweck modeln sie Parteien um (Mitterrand), fusionieren sie mit anderen (Giscard d’Estaing) und nehmen ggf. ihre Spaltung bzw. die Spaltung ihres Wahlbündnisses in Kauf (Barre). Der organisatorische Zusammenhalt steht so ständig auf der Kippe, politische Programmatik ist nebensächlich, die Aggregations- und Vermittler-Funktion der Parteien in Frage gestellt (vgl. Knapp 2002: 140 f.; Cole 1990)34; kurz: den Parteien fehlt die Bodenhaftung in der Gesellschaft. Entsprechend gering sind Mitgliederzahlen, Parteibindung, teilweise auch die Wahlbeteiligung (vgl. Knapp 2002). Zu der eigentümlichen Gleichzeitigkeit von Konzentrations- und Spaltungstendenzen in und zwischen fluiden Organisationen trägt nicht nur die Direktwahl des Staatspräsidenten bei. Sie erzwingt Wahlbündnisse, da im Hinblick auf dieses zentrale politische Amt Machtteilung nun einmal nicht möglich ist, sondern das Prinzip des winner takes all gilt; zugleich aber ruft sie die présidentiables auf den Plan. Bildfläche zu erscheinen, der seinerseits der „starke Mann“ werden will, um die UMP wieder auf französisches Normalmaß zurückzustutzen. Auch auf der anderen Seite wirkt der Spaltpilz: Im PS baut sich derzeit (2005) gerade Fabius als zweiter Präsidentschaftskandidat neben dem Parteivorsitzenden auf und umwirbt zu diesem Zweck die Kommunisten. 33 – die im Übrigen nicht selten den oben (Kap. 2.2.4) erwähnten cabinets ministeriels entstammen, also keine eigentlichen Partei-Gewächse sind. 34 Eine optimistischere Sichtweise hinsichtlich der Organisationskapazitäten und der Rolle der Parteien vertritt Pütz (2004). Sie relativiert den „Mythos der schwachen Parteien“ (41 ff.) allerdings hauptsächlich dadurch, dass sie die französischen Parteien der V. Republik weniger international als mit denen der IV. Republik vergleicht (250 ff.).
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Die zweite Ursache ist das System der absoluten Mehrheitswahl (s.o. FN 28), das zwar für den jeweils zweiten Wahlgang zum Gewinn des Wahlkreises Bündnisse erzwingt, jedoch kein Motiv zur Bildung stabiler Fusionen mitliefert. Im Gegenteil haben die Parteien ein Interesse daran, selbständig zu bleiben und im ersten Wahlgang eigene Erfolge einzufahren, da das ihre Position innerhalb des Bündnisses stärkt. Die erwähnte neuerliche Sammlung in der UMP und die mit Pomp und Medienwirkung inszenierte Inthronisierung von Nicolas Sarkozy als présidentiable (2003 bzw. 2004) markiert keinen Wendepunkt in Richtung stabile Bipolarität. Sie ist nichts als eine weitere Figur im kunstvoll-komplizierten Tanz der Parteien, dem die Übersichtlichkeit der quadrille bipolaire vergangener Tage indessen abhanden gekommen ist. (3) Wo schon die partyness of organisations in Frage steht, ist partyness of government eigentlich nicht zu erwarten. Gleichwohl stufte Reif 1987 (60 ff.) Frankreich als „Type A party government“ ein, das bei Katz (1987: 12) dadurch definiert ist, dass das Wahlergebnis unmittelbar die Regierungszusammensetzung bestimmt (s.o., S. 154, FN 4). (a) In der Tat sieht es auf den ersten Blick so aus, als läge in Frankreich „party government in terms of recruitment“ vor, doch streng genommen gilt dies nur für den Präsidenten und die Abgeordneten der Nationalversammlung. Der Regierungschef dagegen wird vom Präsidenten ernannt, d.h. hier wirken sich Wahlergebnisse nur mittelbar auf die Besetzung des Amtes aus. Und was den Staatspräsidenten betrifft, ist die Katz-Bedingung eigentlich auf den Kopf gestellt, denn nicht die Partei besetzt die Spitzenposition, sondern deren Inhaber (bzw. Aspirant) schafft sich seine Partei. Am ausgeprägtesten ist die partyness of government auf dieser Dimension im Übrigen in Zeiten der cohabitation: Dann tritt tendenziell Parteipolitik an die Stelle der „Präsidentenpolitik“. (b) Die Parteipolitik geht indessen im Allgemeinen nicht so weit, dass man von (partei-)programmgeprägter Regierungspolitik sprechen könnte. Schon gar nicht darf man davon ausgehen, dass die Parteiorganisationen inhaltlichen Einfluss auf Regierungsentscheidungen nähmen. Manifesto politics wie in Großbritannien sind in Frankreich nicht nur unüblich35; es gilt geradezu als unfair, Politiker auf irgendwelche früheren Programme festlegen zu wollen (vgl. Hartmann 1985a: 23). (c) Im Hinblick auf die Kandidatenselektion ist der Befund wiederum ambivalent. Die wichtigsten Kandidaten – die présidentiables – kreieren sich gewissermaßen selbst; die Kandidaten für die Nationalversammlung werden zwar zunächst in den Parteien gekürt, aber schließlich einvernehmlich in den jeweiligen Wahlbündnissen bestimmt. 35 Eine Ausnahme stellt wohl die erste Amtszeit Mitterrands dar, in der auf den noch am ehesten programm-orientierten PCF Rücksicht zu nehmen war.
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Insgesamt ergibt sich so ein mittlerer bis niedriger Wert auf den drei Dimensionen des party government. Damit kann Frankreich als Beleg für die Katz’sche Hypothese gelten, dass in präsidentiellen Systemen Parteienstaatlichkeit sich eher schwächer ausprägt als in parlamentarischen (s.o., Kap. 3.1). Die Frage nach der Dominanz der Parteien ist damit noch nicht beantwortet. Zweifellos sind sie von großem Einfluss auf den Vetospieler Nationalversammlung, dessen Macht in der V. Republik aber stark beschnitten wurde. Auf den Vetospieler Premierminister variiert ihr Einfluss von stark (bei cohabitation) bis minimal. Für ihren Einfluss auf den Staatspräsidenten gilt das im letzten Abschnitt Gesagte: Er schafft sich eher seine Partei, als dass er auf sie Rücksicht nimmt (vgl. u.a. Cole 1990: 13 f.). Da also die Parteien von den oben (Kap. 2.2.4) identifizierten effektiven institutionellen Vetospielern nur einen, und zwar den schwächsten, kontrollieren können, ist der Grad der Parteien-Dominanz als niedrig einzustufen. Das gilt umso mehr, als ganz offenkundig von einer partyness of society in Frankreich nicht die Rede sein kann. Alle möglichen Indikatoren weisen in die gleiche Richtung: Organisationswilligkeit, Parteibindung sowie überhaupt die Wertschätzung von Parteien sind gering bis minimal; die Parteien haben wenig Einfluss auf die (ohnehin schwachen und fragmentierten) Gewerkschaften oder andere Verbände; Ansätze zu einer Versäulung sind nirgends zu erkennen; die Medien-Landschaft ist nicht parteien-bestimmt. Das Kriterium Dominanzstrukturen soll auch ein Maß für Asymmetrie einschließen: Ist eine Partei von größerem und stetigerem Einfluss auf die institutionellen Vetospieler als die anderen? Am Anfang der V. Republik sah es so aus, als würden die Gaullisten in diesem Sinne dominieren. Doch das änderte sich, als es Mitterrand gelang, den größeren Teil der Linken im PS zu versammeln. Unter seiner Amtszeit indessen kam es erstmals zur cohabitation, womit der Verdacht, das semi-präsidentielle System sei grundsätzlich Dominanz-anfällig, zunächst widerlegt war. Nach dem Abtritt Mitterrands wurde vermutet, dass der PS in Fraktionen von présidentiables zerfallen und es erneut zur Dominanz des bürgerlichen Lagers kommen würde. Auch dies hat die reale Entwicklung bisher widerlegt. Das Gesamtbild ist differenziert: Das französische politische System enthält Elemente von Parteienstaatlichkeit, ist aber nur mit erheblichen Abstrichen als party government zu qualifizieren. Parteien-Dominanz liegt nicht vor, da es sowohl an der partyness of organisations als auch an der partyness of society mangelt. In der französischen Gesellschaft sind andere Kräfte und Akteure dominant – die ENArchen zum Beispiel (s.o., Kap. 2.2.4).
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3.2.5. Italien (1) Das italienische Vielparteiensystem der Zeit vor 1992 ist oft analysiert worden (s. als ein Beispiel für viele Farneti 1985). Mit dem Parteiensystem, das sich seither entwickelt, tun sich die Beobachter weit schwerer. Uneinig sind sie sich vor allem darüber, wie weit die alten ideologischen Fragmentierungen nachwirken und wie stabil der Trend zur Bipolarität ist (vgl. Pallaver 2005). Obwohl die ersten Parteien sich in den 1890er Jahren konstituierten – und zwar entlang den Konfliktlinien Arbeit-Kapital, Stadt-Land, Staat-Kirche, Konservatismus-Liberalismus, was unweigerlich Multipolarität nach sich zog –, entstand das Parteiensystem trotz teilweiser Namensgleichheit einzelner Parteien nach 1945 praktisch komplett neu. Wie in Frankreich konzentrierten die Organisationen sich an den Polen Linke – Zentrum – Rechte, wobei jeder dieser Pole seinerseits in „linkere“, „zentristische“ und „rechtere“ Gruppierungen zerfiel. Nach einer Anfangsphase der Volatilität bildete sich ab Anfang der 1950er Jahre eine einigermaßen stabile, tendenziell bipolare Struktur heraus, denn links und in der Mitte entwickelten sich die kommunistische (PCI) und die christdemokratische Partei (DC) zu Hegemonialparteien, während am rechten Rand die Neofaschisten (MSI) ein Schattendasein führten. Sartori hielt das italienische Parteiensystem der „ersten Republik“ für einen der typischsten Fälle eines polarisierten Pluralismus (1976: 155 ff.), doch war das insofern eine Fehleinschätzung, als das entscheidende Merkmal der triangulären Konstellation von Antisystemparteien links und rechts und erodierender Mitte fehlte.36 Wie gesagt, war der MSI weder quantitativ noch politisch sonderlich relevant. Und der PCI war alles andere als eine Antisystempartei, sondern drängte zumal unter Enrico Berlinguer (und wie die meisten westeuropäischen Arbeiterparteien) in die Mitte und an die Regierung. Doch die Mitte-Parteien unter Führung der DC hatten sich verschworen, die Kommunisten von der Regierung fernzuhalten37; d.h. sie behandelten sie wie eine Antisystempartei. Das hatte zur Folge, dass das Parteiensystem über Jahrzehnte hinweg einem Dominanzsystem gleichkam: Die Regierungen wechselten, aber stärkste und führende Kraft war stets die DC, die auch fast immer den Ministerpräsidenten stellte. Dieses verkappte Zwei-Lager- und heimliche Do36 Vgl. hierzu auch Farneti (1985: 181 ff.), der das Modell des polarisierten Pluralismus für Italien allenfalls bis 1961 gelten lassen will. Zumindest dem numerischen Kriterium nach handelt es sich um ein „plurales System“, auch wenn der Fragmentierungsgrad trotz der Existenz vieler Parteien durch die „Hegemone“ DC und PCI limitiert war. Die ENEP schwankte von 1953 bis 1987 zwischen 3,1 (1976) und 4,0 (1987). 37 In den 1970er Jahren kam es immerhin im „historischen Kompromiss“ zu einem vorübergehenden Pakt zwischen DC und PCI, der einer verkappten Großen Koalition ähnelte; er schadete beiden in der Wählergunst.
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minanzsystem war bemerkenswert stabil. Erst in den 1980er Jahren sah es nach neuer Tripolarität aus, als nämlich mit der Lega Nord im rechten Lager eine neue starke Kraft erwuchs. Die gravierendste und systemrelevanteste Folge der tangentopoli-Krise war das Verschwinden der DC38; es führte zwangsläufig zur Neugruppierung der Parteien und zur Neustrukturierung ihrer Konstellation. Die zweite entscheidende Neuerung war die Änderung des Wahlsystems (1993), das nun die bisherige Verhältniswahl mit der Mehrheitswahl kombiniert.39 Die Mischung zog nicht die erhoffte Konzentrationsbewegung nach sich, zwang aber die nach wie vor vielen Parteien zu Wahlbündnissen, deren Gestalt und Zusammensetzung sich in dem kurzen Jahrzehnt seither mehrfach wandelten, also nicht sehr stabil sind. Zu den Merkwürdigkeiten zählt vor allem eine Art Mehrebenen-Bündnisstruktur. So verband sich das linke Bündnis I Progressisti mit dem Mitte-Links-Bündnis Patto per l’Italia 1996 zum Wahlbündnis l’Ulivo40, das rechte Bündnis Polo della Libertà mit dem Bündnis UDC (einige Nachfolge-Organisationen der DC) und der Lega Nord zur Casa della Libertà. Auf beiden Seiten legen die einzelnen Partner größten Wert darauf, ihre Identität und Eigenständigkeit zu behalten, und treten gelegentlich aus und wieder ein (wie die RC auf der linken und die Lega auf der rechten Seite). Splitter-Reste der DC wechselten sogar schon die Seiten. Das Ganze ergibt ein unwillig aufrechterhaltenes, instabiles Zwei-Lager-System; ist eines der Bündnisse an der Regierung, wird der jeweilige Zusammenhalt mit teuren Kompromissen mühsam erkauft. Trotz nunmehr deutlicher Bipolarität ist die Parteienlandschaft unübersichtlicher als zuvor, was damit zusammenhängen mag, dass die Bipolarität „inkompatibel mit der italienischen politischen Kultur“ ist (Trautmann 2001: 121). Die Bewegungen innerhalb des Parteiensystems gingen mit erhöhter Wählervolatilität einher. Die zuvor vergleichsweise durchschnittlichen Werte schnellten in einer Weise nach oben, dass Italien in den 1990er Jahren nun die westliche Demokratie mit der höchsten Volatilität geworden ist (vgl. Mair 2002b: 131). Zudem führten die Unübersichtlichkeit, Kurzlebigkeit und Instabilität unter den Parteien zunächst zu einer enormen Fragmentierung des Abgeordnetenhauses. Die ENPP stieg 1994 auf 38 Sie zerfiel in mehrere Klein-Organisationen. Der PCI verschwand nur nominell: Er wandelte sich zu den Linksdemokraten PDS (jetzt Democratici di Sinistra, DS), was nicht ohne Spaltung abging (Rifondazione Communista, RC). 39 Drei Viertel der Abgeordneten beider Kammern werden nun in Einer-Wahlkreisen mit einfacher Mehrheit gewählt, der Rest über Listenwahl. 40 2001 setzte sich der „Olivenbaum“ im Kern aus der Linken (DS und RC) und dem neuen Bündnis des Zentrums „Margherita“ zusammen, das sich hinter dem ehemaligen Kommissionspräsidenten Prodi sammelt. Es wurde mit 14,5% der Listenstimmen innerhalb des l’Ulivo die zweitstärkste Kraft.
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7,2, ging aber auf Grund von Konzentrationsprozessen innerhalb der Lager 1996 auf 6,4 und 2001 auf Grund des hohen Wahlsiegs der Forza Italia (FI) auf 5,1 zurück.41 (2) Zur politischen Kultur scheint eine unheilbare Tendenz zur Zersplitterung zu gehören, denn schon immer waren die größeren Parteien eher Bündnisse als kohärente Politiker-Teams mit einheitlichem Programm. Sie zerfielen in Flügel (correnti) 42, die ihrerseits intern die Aufspaltung in Linke, Zentrum und Rechte wiederholten, die das Parteiensystem insgesamt prägte. Obwohl z.T. gut organisiert, entsprachen sie damit nur begrenzt dem Katz’schen Kriterium der partyness of organisations. In den 1990er Jahren – und aus anderen Gründen – gilt das in besonderem Maße für Berlusconis FI. Anfangs eine Einmann-Partei, die auf Parteimitgliedschaften bewusst verzichtete und sich mit der Unterstützung durch externe „FIClubs“ begnügte, begann sie erst nach der Wahlniederlage 1996 den organisatorischen Ausbau auf Lokal-, Provinz- und Regionalebene voranzutreiben. Doch im Kern ist sie nach wie vor ein kopflastiger Wahlverein (Grasmück 2005: 381 ff.). Über die organisatorische Stärke der größeren Parteien der „ersten Republik“ lässt sich nicht zuletzt deshalb wenig Eindeutiges sagen, weil die lokalen und regionalen Organisationen traditionell eng mit den jeweiligen Verwaltungen verflochten waren – auch dies eine Spezialität des italienischen Parteiensystems (vgl. z.B. Bardi 2002: 59). Angesichts des Verschwindens einiger der alten Parteien und des massiven Vertrauensverlusts der Parteien insgesamt, der sich nicht zuletzt im drastischen Rückgang der Mitgliederzahlen in den 1990er Jahren niederschlug, sind die genannten symbiotischen Verhältnisse aber in Auflösung begriffen. (3) So lange sie bestanden, waren sie Indiz für ein besonders hohes Maß an Parteienstaatlichkeit. Bis 1992 galt das italienische politische System geradezu als Inbegriff von party government, und zwar auf allen drei Dimensionen. (a) Amtsinhaber wurden dies nur auf dem Weg über die Parteien, und zwar mittels eines ausgefeilten, proporzmäßigen Patronagesystems (lottizzazione43) bis hinunter zur lokalen Ebene. Insofern als unterschiedliche Wahlresultate sich kaum in Koalitionswechseln und Stellenbesetzung niederschlugen, entsprach dieses System allerdings nicht dem Idealtyp, sondern dem Katz’schen „Typ C“ des party government (s.o., S. 154, FN 4). (b) Dank der Dominanz der Parteizentralen über die Parlamentsfraktionen bestimmten die Parteien die Inhalte der Politik – sofern denn überhaupt etwas ent41 Eine Bilanz nach drei Wahlgängen über das neue bipolare System incl. aller jeweils beteiligten Bündnispartner bietet Pallaver (2005). 42 Berüchtigt waren insbesondere die correnti der DC; auf ihre innerparteilichen Machtkämpfe gingen die meisten Regierungswechsel der „ersten Republik“ zurück. 43 Vgl. dazu das schon oben, Kap. 2.2.5, zum trasformismo Gesagte.
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schieden wurde, denn sowohl die inner- und zwischenparteilichen Rivalitäten als auch die Häufigkeit abweichenden Abstimmungsverhaltens (der „Heckenschützen“; vgl. Trautmann 2001: 107 ff.) minderten die Effektivität des staatlichen Entscheidungssystems bis hin zur Selbstblockade (s. schon o., Kap. 2.2.5). (c) Schließlich verfügten die Parteien nicht nur über das Rekrutierungs-, sondern gleichfalls über das Selektions-Monopol: Kandidaten für sämtliche Ämter wurden in den Parteien bestimmt und stammten aus ihnen. So galt das politische System den Italienern zu Recht als partitocrazia, den wissenschaftlichen Beobachtern wegen seiner Ineffektivität indessen als „party government by default“ (Pasquino 1987: 212). Das System der partitocrazia wurde beibehalten und hat sich nur in Einzelaspekten etwas abgeschwächt. Zum Beispiel stiegen nun verschiedentlich Technokraten als Seiteneinsteiger in höchste Ämter auf (z.B. Lamberto Dini). Sie blieben jedoch insofern den überkommenen Prinzipien treu, als sie eigene „Technokraten-Parteien“ gründeten (Lista Dini oder die Unione Democratica UD). Auch Berlusconi zählt genau genommen zu solchen Seiteneinsteigern, die eine Sympathisanten-Organisation um sich herum schufen. Gleichzeitig ist er ein Beispiel für einen selbsternannten Kandidaten, der es bis an die Spitze des Entscheidungssystems schaffte. Während der inhaltliche Einfluss der Parteien auf die Politik offenbar eher zugenommen hat (vgl. Bardi 2002: 65), sind die vor 1992 dem staatlichen Entscheidungssystem inhärenten Proporzelemente deutlich zurückgegangen, was in Katz’scher Sichtweise einer Stärkung des party government gleichkommt. Das fast perfekte party government ging und geht einher mit ausgeprägter Parteien-Dominanz, denn nach wie vor sind die Parteien von ausschlaggebendem Einfluss auf das Handeln aller institutioneller Vetospieler mit Ausnahme des Präsidenten und des Verfassungsgerichtshofs, die sich beide bemühen, über dem Parteienstreit zu stehen. Bis 1992 waren diese Dominanzstrukturen allerdings asymmetrisch, denn trotz lottizzazione und trasformismo waren es primär die DC und ihre correnti, die ihren Einfluss geltend machen konnten. Mit dem Alternieren der Regierungsbündnisse seither dürfte es derzeit symmetrischer zugehen. Die Dominanz über die institutionellen Vetospieler war im italienischen Fall von einem hohen Maß an partyness of society begleitet. Die wichtigeren Parteien erwuchsen aus Subkulturen, die Ansätze zur Versäulung aufwiesen; z.B. brachten sie auch eigene Gewerkschaften hervor (s. dazu u., Kap. 4.2.5), die mit den entsprechenden Parteien eng verbandelt waren und für die die letzteren als politische gate-keepers agierten. Zur umfassenden Durchdringung der italienischen Gesellschaft seitens der Parteien gehörte insbesondere die entlang Parteilinien strukturierte Medienlandschaft. Parteien hatten – und haben z.T. noch – ihre eigenen Zeitungen, doch reichte ihr Einfluss z.T. auch in die Redaktionen der „unabhängigen“ Presse hinein. Die DC hatte lange Zeit quasi die Oberhoheit über die Rundfunk- und Fernsehgesellschaft
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RAI44, bis in den 1980er Jahren eine Art konsoziationales System Platz griff (vgl. Marletti/Roncarola 2000), in dem die DC RAI I, der PSI RAI II und der PCI RAI III kontrollierten. Die zur gleichen Zeit entstehenden Privatsender sammelte Medien-Unternehmer Berlusconi unter seine Fittiche.45 Nach 1992 schien die RAI sich vom Parteieneinfluss zunächst emanzipieren zu können; inzwischen ist ihre Unabhängigkeit den Dauer-Angriffen des privaten Konkurrenten und derzeitigen Regierungschefs Berlusconi ausgesetzt. Während Zusammenhalt wie politische Relevanz der Subkulturen wie in den meisten westlichen Industriegesellschaften ebenso abnehmen wie Parteibindung und Organisationswilligkeit – was angesichts des Absterbens alter Mitglieder- und des Aufkommens neuer Einmann- bzw. FührerParteien in Italien besonders wenig verwundern kann –, ist das letzte Wort über den Parteien-Einfluss auf die Medien noch lange nicht gesprochen. Zumindest unter diesem Teilaspekt dürfte man bis auf weiteres vom Fortbestehen der ParteienDominanz auszugehen haben, und angesichts der neuerlich drohenden MonopolSituation von hochgradig asymmetrischer Dominanz obendrein. Das Gesamtbild zeigt so zwar in Einzelaspekten veränderte, aber nach wie vor ausgeprägte Dominanzstrukturen: Die Parteien dominieren die institutionellen Vetospieler sowie – wenngleich in asymmetrischer Weise – die Meinungsbildung innerhalb der Gesellschaft. Parteien-Dominanz wie Parteienstaatlichkeit mögen sich allerdings allmählich abschwächen, wenn die partyness of organisations weiter abund die Fluidität der Parteien und ihrer Wahlbündnisse zunehmen und die Identifikationsmöglichkeiten der Bürger sich damit dauerhaft verringern.
3.2.6. Niederlande (1) Die gesellschaftliche Versäulung und die Struktur des Parteiensystems waren in den Niederlanden über lange Jahre bis auf das engste miteinander verbunden. Die ersten prägenden Konflikte sind bis ins 16. Jhd. zurückzuverfolgen, als sich die laizistischen Kräfte des Bürgertums formierten und der konfessionelle Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten aufbrach. Doch erst im 19 Jhd. vertieften und organisierten sich die Säulen, gefördert durch die frühe Parlamentarisierung nach 1848. Mit der industriellen Revolution kam dann der für die Versäulung letzte prägende Konflikt hinzu. 44 Dieses Quasi-Monopol beendete der Verfassungsgerichtshof mit einem Urteil von 1976. 45 Das Entstehen von kommerziellen Sendern machte erst das erwähnte Urteil des Verfassungsgerichtshofs möglich, das Entstehen des neuen Medien-Monopols dagegen die Unterstützung, die der damalige Ministerpräsident Bettino Craxi (PSI) seinem Freund Berlusconi lieh (vgl. Bardi 2002: 60).
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1879 wurde innerhalb der protestantischen Säule als erste politische Partei vom Theologen und Sozialreformer Abraham Kuyper die calvinistische ARP gegründet, die als Partei der kleine luyden sich strikt gegen den Liberalismus wandte (Andeweg/Irwin 1993: 50). Im Konflikt über die Ausweitung des Wahlrechts spaltete sich Ende des 19. Jhd. die konservativer orientierte CHU ab.46 Dagegen bestand innerhalb der katholischen Säule immer nur eine Partei (seit 1945 KVP), die sich indessen erst zu Beginn des 20. Jhd. konstituierte. Da die Parlamentarisierung dem Prozess der Parteibildungen vorgelagert war, kam es immer wieder zu Spannungen zwischen parlamentarischen (zuerst losen) Gruppen, die die Interessen ihrer Säule vertraten, und den außerparlamentarischen Parteiorganisationen. Allein bei der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PvdA) funktionierte seit ihrer Gründung 1894 die Zusammenarbeit (Weggeman 1999: 199 f.). Im Gegensatz zu anderen Ländern spielte die kommunistische Partei (CPN) mit Ausnahme einer kurzen Phase nach 1945 nur eine marginale Rolle. Im bürgerlichen Lager gab es eine breite liberal-konservative Bewegung, die sich aber erst 1918 in einer Partei zusammenfand (heute VVD). Die fünf Säulenparteien (PvdA, CHU, ARP, KVP, VVD) dominierten zwischen 1918 und 1963 das Parteiensystem und erreichten zusammen 85– 90% der Stimmen (vgl. Wielenga 2004: 16), wobei auch die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien stabil blieben. Diese Form des segmentierten Pluralismus führte trotz des fragmentierten Parteiensystems (die ENPP schwankte zwischen 4,5 und 5 bei sieben oder acht im Parlament vertretenen Parteien) nicht zu einem zentrifugalen Parteienwettbewerb, da die Eliten stets miteinander kooperierten. Die stärkste Kraft war zumeist die KVP, deren Stimmanteil um 30% schwankte. Sie stand im Zentrum des Parteiensystems und war bis 1994 an allen Regierungen beteiligt, stellte jedoch nicht immer den Premierminister. Die zunehmende Entsäulung der Gesellschaft in den 1960er Jahren führte zu stärkeren Verschiebungen der bestehenden Kräfteverhältnisse und eröffnete die Möglichkeit für die Entstehung neuer relevanter Parteien.47 Die zuvor stärkste Kraft KVP brach bis 1972 von über 30% auf 17,7% ein, während die bürgerliche VVD immer stärker wurde. Dass immer wieder neue Parteien in das Parlament einziehen können, liegt am 1918 eingeführten reinen Verhältniswahlrecht mit nur
46 Daneben wurde im Lager der orthodoxen Protestanten die SGP gegründet, die bis heute zwei oder drei Sitze hält. Nach 1945 folgten zwei weitere orthodoxe Parteien, die zusammen seit 1970 zwei bis vier Sitze erreichten (vgl. Lepszy 2003: 366). 47 Die Entsäulung machte sich direkt im Wahlverhalten bemerkbar. Die Partei-Loyalität ging besonders bei KVP und ARP zurück. Stimmten 1956 noch 95% der jeweiligen Säule für ihre Partei, waren dies 1968 nur noch etwa 75%. Im Gegensatz dazu blieb bei den Arbeitern die Loyalität stabil zwischen 65 und 70%, die Säule selbst wurde jedoch schmaler: 1956 waren es noch 33%, 1968 nur noch 25% der Wahlbevölkerung (Deschouwer 2002: 157).
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einem nationalen Wahlkreis mit 150 Mandaten.48 1967 konnten die fünf etablierten Parteien zusammen erstmals keine 80% der Stimmen mehr auf sich vereinen, und elf Parteien zogen in die Tweede Kamer ein. Der Höhepunkt der Fragmentierung war 1971 und ‘72 erreicht, als die effektive Parteienzahl auf 7,0 anstieg. Als Reaktion auf die Verluste der christlichen Parteien schlossen sich Mitte der 1970er Jahre KVP, ARP und CHU zum Christen-Demokratisch Appel (CDA) zusammen. Dauerhaft konnten sich von den vielen kleinen Parteien nur die links-liberalen D’66 etablieren, die als Prototyp einer „unversäulten“, über kulturelle cleavages hinauszielenden Partei gelten kann (Deschouwer 2002: 154). 1989 kam es zum Zusammenschluss mehrerer linker Gruppierungen, der als GroenLinks (GL) zusätzlich typische grüne Themen besetzt und auf ein Wählerpotenzial von 4 bis 7% kommt. So konzentrierte und stabilisierte sich das System bis Ende der 1980er Jahre, und die effektive Parteienzahl ging wieder auf 4,0 zurück. Erst in jüngster Zeit ist, nicht zuletzt mit dem erdrutschartigen Erfolg der List Pim Fortuyn (LPF, siehe Kap. 2.2.6) in der Wahl 2002, eine erneute Zunahme der Fragmentierung (ENPP = 5,8) des Parteiensystems zu verzeichnen, wenngleich die Wähler 2003 die LFP auf das normale Maß einer Kleinpartei (6%) zurückstuften. So scheint sich seit 1998 mit der sozialistischen Partei (SP) eine weitere Partei auch im linken Bereich zu etablieren. Offenbar ist die Volatilität des Systems inzwischen besonders hoch49, so dass jederzeit mit weiteren Veränderungen im Parteiensystem zu rechnen ist. (2) Im versäulten System der Niederlande sind die Parteien traditionell stark mit den gesellschaftlichen Organisationen der jeweiligen Säule verzahnt. Das verweist auf eine hohe partyness of society. Die KVP konnte sich stets auf die Mobilisierung durch die niederländische katholische Kirche verlassen. In den 1950er Jahren ermahnten z.B. die katholischen Bischöfe in ihren Hirtenbriefen explizit ihre „Säulenschäfchen“, ihrer Säule und damit der KVP treu zu bleiben (vgl. Wielenga 2004: 48). Aber auch die Zusammenarbeit mit der katholischen Gewerkschaft (NKV) ermöglichte der KVP-Elite einen guten Zugriff auf ihre Klientel. Die PvdA konnte dagegen ihre engen Beziehungen zur nicht-konfessionellen, links-orientierten Gewerkschaft NVV nutzen. Auf der anderen Seite bestanden zwischen VVD und dem Verband niederländischer Unternehmer (VNO) enge Kontakte. Die Säulenstruktur spiegelt sich nicht zuletzt in der Medienlandschaft. Das gilt insbesondere für den Niederländischen Rundfunk: Er wurde von fünf Gesellschaften gegründet, die jeweils eng mit den fünf Säulenparteien verwoben sind (Lepszy 2003: 377). 48 So muss eine Partei auf Grund des d’Hondtschen Verrechnungsverfahrens lediglich 0,67% der Stimmen erreichen, um einen Sitz zu erringen. 49 In den 1990er Jahren liegt die Wählervolatilität der Niederlande im Schnitt in Westeuropa nach Italien auf Platz 2 (Mair 2002b: 131).
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Mit der zunehmenden Entsäulung erhöhte sich nicht nur die Wähler-Volatilität, sondern gingen auch die Parteimitgliedschaften z.T. drastisch zurück. In den 1960er Jahren betraf das insbesondere die drei großen konfessionellen Parteien (KVP, ARP und CHU) und die PvdA. Insgesamt sank der Anteil der Parteimitglieder an den Wählern von einem vergleichsweise hohen Anteil 1960 (9,4%) über 4,3% (1970 und 1980) auf marginale 2,5% im Jahr 1999 (Deschouwer 2002: 162). Auch der organisatorische Zusammenhalt innerhalb der Säulen brach auf. Sowohl die vormals versäulten Gewerkschaften als auch Unternehmerverbände bildeten gemeinsame Dachorganisationen (vgl. Lepszy 2003: 373 ff.), was den Zugriff der Parteieliten auf ihre Klientel weiter erschwerte. Und schließlich ent-ideologisierten die Fernsehgesellschaften sich mehrheitlich, um jeweils jenseits ihrer Säulen zusätzliche Zuschauer zu gewinnen. Insgesamt muss diese Entwicklung als merklicher Rückgang der zuvor stark ausgeprägten partyness of society interpretiert werden. (3) Auch wenn es sich bei den Niederlanden sicherlich um einen Parteienstaat handelt, ist das Ausmaß des party government vergleichsweise eingeschränkt. (c) Einerseits kontrollieren die Parteien das politische Personal, denn trotz möglicher Präferenzstimmen entscheiden die Parteien mittels der zentral erstellten Parteilisten, wer ein Abgeordnetenmandat erhält (Lepszy 2003: 360). (a) Doch bei der Rekrutierung der Inhaber von Regierungsämtern wird der unmittelbare Einfluss der Parteiorganisationen zum Teil gebrochen. Auf Grund der Inkompatibilität von Parlamentsmandat und Regierungsamt konnte sich die in parlamentarischen Systemen übliche Übereinstimmung von Parteispitzen und Regierungsmitgliedern nur beschränkt ausbilden. So obliegt es z.B. im Falle der VVD allein der Fraktionsspitze, bei den Koalitionsverhandlungen über das eigene Regierungspersonal entscheiden (Timmermans/Andeweg 1997: 456). Zwischen Regierungsmitgliedern und Regierungsfraktion derselben Partei kommt es immer wieder zu Konflikten, was eine Kontrolle seitens der außerparlamentarischen Parteispitze weiter erschwert. Somit existieren im Falle einer Regierungsbeteiligung drei Gruppierungen unter einem Parteidach, die in unterschiedlich starker Weise personell und inhaltlich verwoben sind: außerparlamentarische Partei, Parlamentsfraktion und Regierungsmitglieder. (b) Die Politikinhalte dagegen werden eindeutig von den Parteien vorgegeben. In ausführlichen Regierungsprogrammen legen die Partei- und Fraktionsspitzen der Koalitionsregierung umfassend die Ziele der Regierungspolitik fest (Timmermans/ Andeweg 1997: 463). Die für Konsenssysteme kennzeichnende Elitenkooperation zwischen den Parteien führt dazu, dass die Parteien die Kontrolle über die Politikinhalte inne haben. Die beherrschende Stellung der Parteien in der Politikformulierung wird in den letzten Jahren allein durch die zunehmende Bedeutung der Person des Premiers (Lubbers, Kok, inzwischen auch Balkenende) eingeschränkt. Da-
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neben lässt sich allerdings eine Tendenz zu engerer Verzahnung von Partei, Fraktion und Regierungsmitgliedern beobachten (siehe Kap. 2.2.6). Insgesamt ist das Ausmaß von party government denn doch als relativ hoch einzustufen. Die Parteien-Dominanz wird indessen von weiteren situativen Veto-Akteuren wie dem WSA oder dem Staatsrat – und nicht zuletzt durch die Krone selbst – zumindest teilweise eingeschränkt. Auch die zurückgehende partyness of society und die ausgeprägte Wähler-Volatilität schwächen die traditionellen Parteien und schränken deren Dominanz ein. Da die niederländischen Bürger nicht über bindende Referenden verfügen, versuchen sie immer wieder an der Wahlurne, die Dominanz des etablierten Parteiensystems zu durchbrechen.
3.2.7. Finnland (1) Finnland teilt mit Schweden das skandinavische Muster des Fünf-ParteienSystems mit einer kommunistischen und einer sozialdemokratischen Partei auf der Linken sowie einem bürgerlichen Block aus Bauernpartei, liberaler und konservativer Partei. Jedoch gab es von Beginn an landesspezifische Entwicklungen und seit den 1960er Jahren auch stärkere Abweichungen. Anders als bei Schweden handelt es sich überdies nicht um einen „alten“ Nationalstaat. So fand die Parlamentarisierung 1906 noch unter russischer Ägide statt, was das entstehende Parteiensystem unvermeidlich beeinflusste. Der ursprünglich prägende kulturelle Konflikt zwischen Finnen und Schweden trat schon Ende des 19. Jhd. in den Hintergrund, auch wenn er bis heute in Form der Schwedischen Volkspartei (RKP) als sechster traditioneller Partei sichtbar ist.50 Abgelöst wurde dieser Konflikt zunächst von der Auseinandersetzung zwischen den sog. Jung- und Alt-Finnen über den Umgang mit der russischen Obrigkeit. Während die konservativen Alt-Finnen auf eine Kooperation setzten, befürworteten die liberalen JungFinnen eine Widerstandshaltung (Petersson 1989: 46). Aus den Alt-Finnen ging schließlich die konservative Nationale Sammlungspartei (KOK) und aus den Jung-Finnen die Nationale Fortschrittspartei, seit 1965 Liberale Volkspartei (LKP) hervor. Mit der Parlamentarisierung und Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts 1906 hielt der Klassenkonflikt als dominantes cleavage Einzug, denn die sozialdemokratische Partei (SDP) schwang sich mit Hilfe der ländlichen Lohnarbeiter zur stärksten oppositionellen Kraft auf, was im Unabhängigkeitskampf zum Bürgerkrieg führte (Rokkan 1994: 38). 1918 kam es dann zur üblichen Spal50 Die schwedisch-sprechende Minderheit im Westen Finnlands machte nach 1945 zunächst ca. 8% und heute noch immer ca. 6% der Gesamtbevölkerung aus, was sich im Stimmenanteil der RKP widerspiegelt. Dieser fiel von über 7% auf mittlerweile etwa 5%.
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tung des linken Lagers. Die Moskau-treue kommunistische Partei wurde jedoch verboten und erst 1944 wieder zugelassen (Soikkanen 1987: 30). Die SKDL (seit 1990 Linksbund, VAS) erreichte nach 1945 zunächst ein Kräftegleichgewicht mit der SDP; erst in den 1970er Jahren konnte sich die SDP wieder als stärkste linke Kraft etablieren. Der Stadt-Land Konflikt führte gemäß skandinavischem Modell zur Herausbildung einer expliziten Bauernpartei (Bund der Agrarier), die sich in den 1950er Jahren auf Grund des Rückgangs des primären Sektors neue Zielgruppen der städtischen Mittelschicht erschließen wollte und sich daher in Zentrumspartei (KESK) umbenannte.51 In der Tat konnte die KESK ihre zentrale Stellung als starke Kraft in der Mitte des Parteiensystems halten. Obwohl ihr Stimmenanteil nach 1945 nicht über 25% hinausging, war sie bis 1987 an allen regulären Regierungen beteiligt.52 Die Veränderungen seit den 1960er Jahren sind gravierender als die in Schweden und lassen den Schluss zu, dass das Einfrieren des Parteiensystems hier weniger ausgeprägt war. Institutionell erleichtert wurden die neueren Entwicklungen durch die fehlende nationale Sperrklausel. Sobald in einem Wahlkreis53 ein Mandat errungen wird, ist die Partei im Eduskunta vertreten. So konnten die Christdemokraten (SKL) schon in den 1970er Jahren ins Parlament einziehen, obwohl sie nicht stärker waren als ihre schwedische Schwesterpartei. Das Phänomen populistische Protestpartei war stärker und langlebiger als in Schweden. Die Landvolkpartei (SMP) feierte bis 1991 beachtliche Wahlerfolge, ist seitdem (inzwischen unter dem Label „Basisfinnen“) jedoch wieder marginalisiert. Auch in Finnland etablierte sich seit den 1980er Jahren eine Grüne Partei (VIHR); im Links-Rechts-Spektrum ist sie zwischen SDP und KESK einzuordnen. Dagegen verschwanden die Liberalen (LKP) seit den 1980er Jahren nahezu in der Bedeutungslosigkeit. So hat sich das typische skandinavische Muster nun doch verändert, wenn auch der Kern mit den drei dominanten Kräften Sozialdemokratie – Agrarpartei – Konservative nach wie vor besteht (vgl. Sundberg 2003). Die spezifische außenpolitische Situation resultierte trotz der im Prinzip ausgeprägten Polarisierung des Systems auf der Links-Rechts-Achse in weitgehender Entideologisierung und einer pragmatischen politischen Praxis z.B. in Koalitionsfragen (siehe Kap. 2.2.7); daher kann Finnland nicht dem polarisierten Pluralismus gemäß Sartori (Typ 6) zugerechnet werden. Zwar ist das Parteiensystem stark fragmentiert (die effektive Parteienzahl liegt seit den 1960er Jahren über 5,0) und es existiert keine dominante Kraft; trotzdem kommt es kaum zu zentrifugalem Partei51 Arter (1999b) sieht in dieser Strategie der KESK einen bewussten Weg hin zu einer „catch-all party“ nach Kirchheimer. 52 Einen gelungenen Überblick über die Entwicklung des finnischen Parteiensystems in Form eines Pfeildiagramms bietet Soikkanen (1987: 29). 53 Es gibt 14 Wahlkreise (plus Åland), in denen die Anzahl der Mandate zwischen 6 und 33 variiert.
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enwettbewerb, da relevante Anti-System-Parteien fehlen. Vielmehr streben sowohl Kommunisten als auch Konservative nach Regierungsbeteilung. Bestes Beispiel ist die Regierungszeit von Premier Lipponen (1995–2003), unter dem konservative KOK und links-sozialistische VAS sogar miteinander koalierten. (2) Auch in Finnland war in bester skandinavischer Tradition die Anzahl an Parteimitgliedern hoch. Die Parteien waren so direkt mit ihrer gesellschaftlichen Klientel verbunden. Anders als in Schweden fiel aber der Rückgang der Mitgliedschaft geringer aus. Seit den 1960er Jahren sank der Anteil der Mitglieder an den Wählern zwar kontinuierlich, aber weniger stark von 19% auf immer noch 10% im Jahr 1998 (Sundberg 2002: 196). Vor allem schwand in den letzten Jahren der elektorale Rückhalt der SDP in der Arbeiterschaft. Anders als die Arbeiter gegenüber der SDP bleiben die im Agrarbereich Beschäftigten der KESK nach wie vor treu (Sundberg 2003: 120). Insgesamt ist die Wählervolatilität vergleichsweise moderat und ein Zeichen für die relative Stabilität des jetzigen Parteiensystems (vgl. Jahn et al. 2005). Die Verbundenheit der Parteien mit den organisierten Interessen ist traditionell eng. Es gab gar Tendenzen zu einer Versäulung, was sich in parallelen Arbeiterund bürgerlichen Vereinen (z.B. Sportvereine u.ä.) äußerte (vgl. Auffermann 2003: 211 f.). Die starken Gewerkschaften und die für Skandinavien typischen Konsumgenossenschaften fühlen sich ideologisch den linken Parteien verbunden. Doch bestand in Finnland nie eine solche organisatorische Nähe zwischen SDP und Gewerkschaftsbund wie in Schweden. Weder gab es kollektive Mitgliedschaften in beiden Organisationen noch eine bemerkenswerte finanzielle Unterstützung der SDP durch den SAK; selbst der Anteil an SDP-Parlamentariern, die eine Funktion innerhalb der Gewerkschaften wahrnehmen, ist mit ca. 10% erstaunlich gering (vgl. Sundberg 2003: 114 ff.). Der Bauernverband MTK ist personell nach wie vor mit der KESK verwoben, auch wenn nur wenige Parlamentarier Funktionen im MTK ausüben.54 Daneben kann die KESK auf die agrarisch ausgerichteten Konsumgenossenschaften zurückgreifen, um ihre ländliche Klientel zu erreichen. Ähnliches gilt für das bürgerliche Lager, in dem der Industrie- und Arbeitgeberverband besondere Beziehungen zur konservativen Partei unterhält. Zwar verlor nicht zuletzt dank der Regierungsbeteiligung der SKDL die Trennung der Gesellschaft in Arbeiter- und bürgerliches Lager seit den 1960er Jahren an Bedeutung, was auch in Finnland korporatistische Arrangements erlaubte (s.u., Kap. 4.2.7).55 Dennoch 54 1993 wurde der Vorsitzende des Bauernverbandes für die KESK immerhin Außenminister und konnte so dem Widerstand der Bauernlobby gegen die europäische Integration gegensteuern (Auffermann 1997: 213). 55 Die Regierungskoalition des linken Lagers mit der KESK wurde von Präsident Kekkonen bewusst forciert, um die gesellschaftliche Spaltung Finnlands zu überwinden (Rantala 1987: 52).
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bleiben Parteien und die ihnen zuzurechnenden Organisationen weiterhin relativ eng miteinander verknüpft (Auffermann 2003: 212). Anders als in Schweden behalten die Organisationen „ihre“ Parteien als Ansprechpartner, da durch die breiten Koalitionen ihre Interessen nach wie vor Zugang zur Regierung finden. Auch in der Medienlandschaft spielt die Parteipresse weiterhin eine beachtliche Rolle (Auffermann 1997: 215). Man kann sogar sagen, dass in den 1960er Jahren die finnische Gesellschaft vermehrt „parteipolitisiert“ wurde: „parties began to make extensive inroads towards controlling society“ (Rantala 1987: 35). Inzwischen mag zwar wieder ein gewisser Rückgang der partyness of society zu konstatieren sein, doch ist dieser Trend schwächer ausgeprägt als in den meisten anderen Ländern. (3) Lange Jahre galt Finnland nicht unbedingt als ein Vorzeigeland des party government. Allein die Bedeutung des Präsidenten, der sich als über den Parteien stehend betrachtete, reduzierte die Bedeutung der Parteien. (c) Doch die Rekrutierung des politischen Personals obliegt auch in Finnland schwerpunktmäßig den Parteien, wenngleich die Stimmabgabe für eine Person im Wahlkreis bei den Parlamentswahlen eine höhere Gewichtung der einzelnen Persönlichkeiten bewirkt. So kommt es immer wieder vor, dass Personen aus Sport und Unterhaltung als Quereinsteiger politische Karriere machen können (Sundberg 2002: 205). (a) Bei der Besetzung der Regierungsämter dominieren spätestens seit der Verlagerung der Verantwortung für die Regierungsbildung vom Präsidenten zum Parlament eindeutig die Parteipolitiker.56 Als 1966 erstmals KESK, SDP und SKDL koalierten, veränderten die linken Parteien bewusst die bourgeois geprägte Administration, indem sie parteiloyale Beamten ernannten. Diese Praxis wurde seither von allen Regierungen jeglicher Coleur beibehalten, so dass der Besitz eines Parteibuches als durchaus förderlich für den Aufstieg innerhalb der Verwaltung gelten kann (Sundberg 2002: 206). Zudem wurde in den 1960er Jahren in wichtigen nationalen Einrichtungen (Bank von Finnland, Amt für Renten und Finnisches Fernsehen) die proportionale Repräsentation der Parteien in den Verwaltungsräten eingeführt (Rantala 1984: 36). (b) Auch der Einfluss der Parteien auf die Politikinhalte ist inzwischen gestiegen, da die Koalitionsvereinbarungen sich von unbestimmten programmatischen Erklärungen zu expliziten politischen Übereinkommen über die Regierungspolitik wandelten (Nousiainen 1997: 356). Daher ist als Trend eine Zunahme im Ausmaß des party government festzustellen, während die gesellschaftliche Dominanz der Parteien (partyness of society) nur in geringem Ausmaß zurückging. Insbesondere der Machtverlust des Präsidenten, aber 56 Bis zur Mitte der 1970er Jahre waren Regierungen mit mehreren unabhängigen Ministern, zumeist unter Kontrolle des Staatspräsidenten Kekkonen, ein beliebtes Modell.
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auch ein verringerter Einfluss der gesellschaftlichen Akteure als situative Vetospieler (siehe Kap. 2.2.7) haben dazu geführt, dass dem quasi-Machtmonopol der Parteien inzwischen wenig entgegensteht. Sollten in den nächsten Jahren zusätzlich minimale Gewinnkoalitionen üblicher werden, wird auf der inhaltlichen Dimension das Ausmaß an party government vermutlich weiter zunehmen. Nur die sich abschwächende partyness of society wird daher im „neuen“ parlamentarischen System Finnlands die Parteien-Dominanz beeinträchtigen.
3.2.8. Deutschland (1) Als in Deutschland ab den 1860er Jahren Parteien entstanden57, konnte sich nur ein multipolares System ausbilden, da die Gesellschaft entlang mehrerer Konfliktlinien gespalten war: Klassenkonflikt, Konfessionskonflikt und der Konflikt zwischen liberalem Bürgertum und konservativem Landadel wurden etwa zeitgleich politisch virulent und verliefen jeweils quer zu einander. Hinzu kam der Konflikt um die Reichsgründung, der sich in eine Etatismus-Konfliktlinie verlängerte und sich als besonders wirksamer Spaltpilz im bürgerlichen, im konservativen und im sozialistischen Lager erwies. Dass die Geschichte der Parteien im Kaiserreich sich als Geschichte fortwährender Spaltungen liest, hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Keine der zum Zeitpunkt der Reichsgründung auftretenden Parteien schaffte es, auf mehreren Konfliktlinien und gar über längere Zeit hinweg den Pol des Status quo zu besetzen58, und in der konstitutionellen Monarchie hatte keine Partei Regierungsverantwortung zu tragen und gab es keinen Zwang, für stabile Mehrheiten zu sorgen. Das multipolare Vielparteiensystem war zugleich im Sartorischen Sinn polarisiert, denn am rechten Rand bestand mit der preußischen Reaktion der Reichsgegner eine Art Antisystempartei, und am linken Rand wurden die „vaterlandslosen Gesellen“ der SPD (die zeitweise in die Illegalität gedrängt war) dazu erklärt. Die im Kaiserreich ausgebildete Struktur setzte sich in die Weimarer Republik fort und wies nun auch genau die Merkmale auf, die Sartori dem Typ des polarisierten Pluralismus zuschreibt, nämlich den zentrifugalen Wettbewerb, der die Flügelparteien links und rechts immer stärker und radikaler werden ließ59, die großen ideologi-
57 – als erste übrigens schon 1852 und als Parlamentspartei die Katholische Fraktion im Preußischen Landtag, die später zur Zentrumspartei wurde. 58 Die protestantische, bürgerliche und „reichsfromme“ Nationalliberale Partei versuchte sich immerhin daran. 59 Präziser: jedenfalls am rechten Rand wurden nicht hinreichend radikale Parteien in die Mitte abgedrängt und durch radikalere ersetzt.
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schen Distanzen und die (spätestens ab Ende der 1920er Jahre galoppierende) Erosion der Mitte. Stimmte die These Lipset/Rokkans vom strukturellen Einfrieren der Parteiensysteme in den 1920er Jahren, hätte eben diese Struktur nach 1945 erneut aufleben müssen. Das war indessen nicht der Fall. Die Gründe für die Abweichung von der Theorie waren zum einen administrativer Natur, denn in den 1950er Jahren wurden die potentiellen Antisystemparteien – KPD links, SRP rechts – verboten (1956 bzw. 1952). Der zweite Grund lag in der Sogwirkung, die von der einzigen wirklichen Neugründung CDU/CSU ausging, die mit Unterstützung der beiden großen Kirchen die traditionelle Konfessionsspaltung überwand und als erste und langjährige Kanzler-Partei erfolgreich den Pol des Status quo zu besetzen verstand, eines Status quo zudem, der im Zeitalter des Wirtschaftswunders auf breite Zustimmung stieß. Mit Ausnahme der erstaunlich widerständigen FDP gelang es der Union, relativ rasch alle kleineren bürgerlichen Parteien in sich aufzusaugen. Zeitweise sah es so aus, als würde das westdeutsche Parteiensystem sich zum Dominanzsystem entwickeln; der Fachwelt dagegen galt es als ein „Zweieinhalb-Parteien-System“ (Blondel 1968).60 Dessen Funktionsweise war indes von der üblichen ZweiparteienMechanik weit entfernt, denn die „Nibelungentreue“ der FDP verhinderte Regierungswechsel. Nur in der kurzen Zeitspanne 1969–1982 sah es so aus, als hätte sich nunmehr eine wirklich der Zweiparteien-Mechanik angenäherte Struktur ausgebildet, als nämlich die FDP mit dem zweimaligen Wechsel der Koalition ein Alternieren der Regierung ermöglichte. Das Aufkommen der Grünen (1980) irritierte manche Beobachter, die sich schon wieder auf dem „Rückweg nach Weimar“ wähnten (z.B. Wildenmann 1989). Doch weit davon entfernt, sich zur Antisystempartei zu mausern, festigte die Grüne Partei die dem Parteiensystem seit langem innewohnende Bipolarität ebenso wie dessen zentripetale Tendenz – also das seit den 1950er Jahren bestehende System des moderaten Pluralismus. Die ENPP stieg zwar nach dem Einzug der Grünen 1983 und der PDS 1990 in den Bundestag auf fast 3,0 an, auf Grund der Vormachtstellung der beiden großen Volksparteien bleibt die Fragmentierung des Systems jedoch vergleichsweise gering.61 (2) Die Organisationsstrukturen der deutschen Parteien sind mittlerweile recht einheitlich. Die CDU galt bis in die 1970er Jahre hinein noch als „Kanzler-Wahlver60 Sowohl die ENEP als auch die ENPP unterstützen diese Lesart, denn zwischen 1961 und 1983 lagen beide bei maximal 2,6. Auf dem Höhepunkt des Konzentrationsprozesses 1976 konnten die „Zweieinhalb“ Parteien zusammen 99,1% der Wählerstimmen auf sich vereinen. 61 Die vorgezogene Wahl im September 2005 änderte daran nur wenig (ENPP jetzt bei 3,4), auch wenn es erstmals seit langem für beide großen Parteien nicht reichte, jeweils mit nur einem kleinen Partner eine Mehrheitsregierung zu bilden.
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ein“ und entwickelte sich erst in der Zeit der Opposition zur Mitglieder- und Massenpartei; die Grünen starteten ganz basisdemokratisch und mit Rotationsprinzip in der Parteiführung, näherten sich aber mit wachsenden Chancen der Regierungsbeteiligung dem hochgradig professionalisierten Normalformat an. Cum grano salis sind jedenfalls die potentiellen Regierungsparteien sämtlich Mitglieder- und Volksparteien (zum Typus Volkspartei s. Mintzel 1984), die sich mehr oder weniger in der Mitte des politischen Spektrums ansiedeln und prinzipiell von allen gesellschaftlichen Gruppen wählbar sein wollen. Dazu sind sie alle föderal organisiert62, ohne dass allerdings die Landesparteien über die Autonomie der schweizerischen Kantonalparteien verfügten. Immerhin haben die Landesparteiführungen („Landesfürsten“; s. schon o., Kap. 2.2.8) einigen Einfluss auf die politische Linie und die Personalentscheidungen der Bundespartei, und zwar umso mehr, je erfolgreicher sie bei der jeweils letzten Landtagswahl waren. Bei der hohen Stabilität des Parteiensystems insgesamt und der ausgeprägten Professionalisierung der Parteipolitik mag überraschen, dass das Parteiensystem sich angeblich seit Jahrzehnten in der Krise befindet. Seit Ende der 1960er Jahre wurde seine Legitimationskrise diagnostiziert (vgl. Dittberner/Ebbighausen 1973); seit den 1980er Jahren ist von wachsender Parteiverdrossenheit die Rede. Das eine wie das andere Schlagwort hebt darauf ab, dass der Parteienwettbewerb sich zunehmend im l’art pour l’art erschöpft und die Parteien die Bodenhaftung verloren haben. In der Tat sind seit den 1980er Jahren Mitgliederzahlen der Parteien und Parteibindung der Wähler recht drastisch zurückgegangen. Machten die Parteimitglieder 1980 noch knapp 5% der Wähler aus (ein vergleichsweise schon eher niedriger Anteil), sank dieser bis 1998 auf 3%; hatten 1976 noch 81% der Befragten eine Parteibindung, waren es 1998 nur noch 64% (Scarrow 2002: 82 f.). Seit der Vereinigung scheint diese Entwicklung gravierende Konsequenzen zu zeitigen, die – wie manche Beobachter befürchten – in einen Strukturwandel des Parteiensystems münden könnten. Denn die westdeutschen Parteien wurden den neuen Ländern übergestülpt; deren Bevölkerung fühlt sich von ihnen zunehmend unvertreten (zur „Vertretungslücke“ s. z.B. Abromeit 1993b), was angesichts des Wohlstandsgefälles von West nach Ost nicht verwundern kann. Ihre Reaktion ist die Wahl scheinbar oder wirklich system-oppositioneller Parteien, nämlich der PDS auf der einen und der NPD oder der DVU auf der anderen Seite. Setzt der im letzten Jahrzehnt beobachtbare Trend sich fort, könnte dem Parteiensystem in Zukunft tatsächlich der Wandel vom gemäßigten zum polarisierten Pluralismus ins Haus stehen – ebenso
62 Die CDU ist sogar auf zweidimensionale Weise föderal: eine Föderation nicht nur von Landesparteien, sondern zudem von Interessenten-Blöcken (Vereinigungen in der CDU), die im innerparteilichen Proporzsystem eine z.T. bedeutsame Rolle spielen.
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vermehrte Parteiverdrossenheit, da die West-Parteien die neuen Konkurrenten an den Rändern konsequent auszugrenzen versuchen. (3) Auch in der BRD finden wir „perfected party government in terms of recruitment“, und zwar auf allen staatlichen Ebenen63: Sowohl die Besetzung politischer Ämter (a) wie die Kandidatenselektion (c) sind von den Parteien monopolisiert. Ihr Einfluss reicht dabei weit in die Leitungsebene der Ministerialbürokratie hinein.64 Seiteneinsteiger, die es selten genug gibt, haben ein schweres Leben, weil ihnen die innerparteiliche Hausmacht fehlt. Bei der Ämterbesetzung machen sich natürlich Koalitions-Rücksichten geltend. Weitergehende Proporz-Aspekte – z.B. eine gewisse Beteiligung auch der Opposition wie in Italien – gibt es nicht, d.h. im Grundsatz gilt die Regel des winner takes all. (b) Im Hinblick auf die Inhalte politischer Entscheidungen ist die Situation weit weniger eindeutig. Zum einen sind Parteiund Wahlprogramme im Allgemeinen zu unkonkret, um die Regierungspolitik inhaltlich festzulegen. Zum zweiten wird das Regierungsprogramm zwischen den Koalitionspartnern ausgehandelt, was gern zu einer schwammigen Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners oder auch zur Ausklammerung selbst dringlicher Reformvorhaben führt. Zum dritten hat stets der Bundesrat ein Wörtchen mitzureden. Hat dort die jeweilige Opposition die Mehrheit, kommt es entweder zur verkappten Großen Koalition (s. dazu Lehmbruch 1998 und o., Kap. 2.2.8) oder es gibt gar keine Entscheidung. Zum vierten schließlich begeben Regierungsparteien sich häufig freiwillig ihres Entscheidungsmonopols, indem sie betroffene Interessenten zu Konsens-Gesprächen einladen oder die Entscheidungsfindung gleich gänzlich an sie auslagern. Was den deutschen Parteienstaat so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass das beschriebene Defizit auf der Dimension der Politikinhalte eben dem hohen Ausmaß an partyness of government auf den anderen Dimensionen bzw. der Dominanz der Parteien im politischen System geschuldet ist. Denn sie dominieren in der Tat jeden institutionellen Vetospieler (wenn auch im Fall Bundesverfassungsgericht in stark abgemilderter Form). Und indem sie sowohl Bundestag und Bundesregierung als auch den Bundesrat kontrollieren, zwingen sie sich in eine Konkordanz, die keiner von ihnen erlaubt, „ihre“ Politik umzusetzen. Regierungswechsel schlagen sich darum zumeist in nur minimalen Politikwechseln nieder. Die Dominanzstrukturen sind allerdings asymmetrisch (vgl. u.a. Wildenmann 1987: 93); die Chancen der Parteien, die institutionellen Vetospieler zu kontrollieren, sind ungleich verteilt. Nur dreimal in der Geschichte der BRD gelang es der SPD, zur 63 Auf der kommunalen Ebene kommen gelegentlich lokale Honratioren zum Zuge; sie haben typischerweise „Freie Wählergemeinschaften“ mit parteiähnlichem Status um sich geschart. 64 Das macht das politische System sehr teuer, weil nach jedem Regierungswechsel – in Bund oder Land – etliche Ruhestandsgehälter anfallen.
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stärksten Fraktion im Bundestag zu werden (1972, 1998, und ganz knapp 2002); in weniger als 40% der Zeit stellte sie den Kanzler; nur in den 1990er Jahren hatte sie eine Mehrheit im Bundesrat. Unter anderem hat das damit zu tun, dass sich das katholische Milieu lange Zeit als stabiler erwies als das gewerkschaftliche (vgl. Bürklin/Klein 1998: 89 ff.) und überhaupt die Industriearbeiterschaft drastisch schrumpft. Aber die Parteibindung nimmt (wie schon erwähnt) generell ab, die Parteiverdrossenheit zu. Damit steht die partyness of society im Prinzip in Frage. Trends zur Abkehr von den bestehenden Parteien werden allerdings immer wieder konterkariert durch die häufigen Wahlen und Wahlkämpfe, die trotz Verdrossenheit den Bürgern immer wieder erfolgreich suggerieren, dass die Parteien die einzigen Instrumente sind, die eigenen Präferenzen politisch zur Geltung zu bringen. Dazu trägt ein Mediensystem bei, das – wiewohl selbst nur wenig direkt von einzelnen Parteien beeinflusst – die öffentliche Debatte unentwegt nach Parteilinien strukturiert. Neugründungen und Abspaltungen haben in diesem Kontext kaum eine Chance. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die Medien zur Parteiverdrossenheit kräftig beitragen und ihnen in der Rolle der Agenda-Setzer allmählich den Rang ablaufen. Zusammengefasst weist das politische System der BRD also hohe Werte auf zwei der drei Dimensionen der Parteienstaatlichkeit auf sowie – noch – ausgeprägte Dominanzstrukturen, deren Verankerung in der Gesellschaft indessen abbröckelt.65 Der Prozess beschleunigt sich seit der Vereinigung, da es den westdeutschen Parteien nicht gelingt, die Ostdeutschen ins westdeutsch dominierte politische System zu integrieren.
3.2.9. Österreich (1) Das Bemerkenswerteste am österreichischen Parteiensystem ist seine enorme Stabilität. Die wichtigen Parteien, die mit nur geringfügigen Namensänderungen bis heute überdauert haben, entstanden Ende des 19. Jhd. in der zum Verfassungsstaat gewandelten Monarchie, und zwar nicht als Parlamentsparteien, sondern als Organisationen der um das Wahlrecht kämpfenden Arbeiter, Kleinbürger und Bauern, die sich von Anbeginn in das sozialistische und das katholische Lager teilten. Als erste gründeten sich Arbeiterparteien, die sich 1888 zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) vereinigten, als zweite wenig später die Christlichsoziale Partei (CSP; Vorläufer ab 1887), die sich anfangs zwar auch (partiell) als antikapitalistisch verstand, bei konservativer Grundlinie aber rasch zur christlich65 Susan Scarrow (2002) hat das auf den schönen Nenner gebracht „Party Decline in the Parties State“.
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monarchischen Status quo-Partei entwickelte. In Abgrenzung zu den beiden großen Lagern bildete sich ein kleineres drittes Lager heraus, in dem sich die (wenigen) Protestanten, Antiklerikale, städtische Kleinbürger und Akademiker sammelten und das sich über längere Zeit nicht in ähnlicher Weise ideologisch und organisatorisch verfestigte, bis sich im Lauf der ersten Republik das „Deutschnationale“ als gemeinsamer Nenner herauskristallisierte. Damit hatte Österreich schon früh ein „Zweieinhalb“- oder ein „hinkendes“ Dreiparteiensystem (Pelinka 1978: 412). An der im Grunde bipolaren Struktur änderte auch das Aufkommen der KPÖ wenig, die in den 1920er Jahren erfolglos blieb und in ihren besten Zeiten (1945– 1956) kaum über 5% der Wählerstimmen hinauskam. Kleine und neue Parteien konnten gegen die beiden Großen wenig ausrichten; auch nicht die 1949 erstmals als FPÖ antretende „freiheitliche“ Partei des Kleinbürgertums. Bis weit in die 1970er Jahre hinein nahm die Konzentration der Wählerstimmen auf SPÖ (bzw. SDAP) und ÖVP (bzw. CSP) sogar noch zu, nämlich von 77.8% 1920 auf 93.4% 1975 (ebd.); die ENPP ging von 2,5 im Jahr 1949 auf 2,1 im Jahr 1970 zurück. In den rund 20 Jahren von 1965 bis 1985 kann man darum eigentlich von einem österreichischen Zweiparteiensystem sprechen, das in der Regierungszeit Kreiskys sogar die Tendenz hatte, zum Dominanzsystem zu mutieren (vgl. Müller 1997b: 226), denn die ÖVP verlor kontinuierlich an Unterstützung und die FPÖ sah sich „ghettoisiert“ (Luther 1997: 287) und in die Bedeutungslosigkeit gedrängt. In den 1990er Jahren änderte die Situation sich grundlegend. Schon vorher war auch in Österreich eine Grüne Partei entstanden. Ab Ende der 1980er Jahre wandelte die FPÖ sich unter ihrem neuen Parteiobmann Jörg Haider zur populistischen Protestpartei, die das wachsende Unbehagen der Bevölkerung über den „schwarz-roten Filz“ zunehmend erfolgreich kanalisierte, während die ÖVP in der Dauer-Umarmung durch die SPÖ zu ersticken begann. Ihrerseits im Protest gegen Haiders rechtsnationale Töne spaltete sich von der FPÖ das Liberale Forum ab, das allerdings keine großen Erfolge einfahren kann und seit 1999 nicht mehr in den Nationalrat einziehen konnte66. Am Ende dieser Umstrukturierungsphase haben wir ein System des gemäßigten Pluralismus vor uns, dessen bipolare Struktur in Frage steht, weil möglicherweise ÖVP und FPÖ67 um den Rang der zweiten Kraft neben der SPÖ wetteifern (s. dazu schon o., 2.2.9, FN 60, S. 140). Durch den Einzug der neuen Parteien in den Nationalrat und das Erstarken der FPÖ war zwischenzeitlich (1999) die ENPP bis auf 3,4 angestiegen. Doch verweisen die Wahlen 2002 sowie die seitherige Ent66 Es gibt eine landesweite Vier-Prozent-Hürde, die jedoch – anders als in Deutschland – geringen Einfluss auf die Konzentration des Parteiensystems in den 1960er und 1970er Jahren nahm, was die Entwicklung seit 1983 bestätigt. 67 – oder auch deren neue Abspaltung BZÖ (Bündnis für die Zukunft Österreichs; s.u. FN 68).
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wicklung der FPÖ68 darauf, dass in Sachen ENPP und Bipolarität zur Zeit vieles im Fluss ist. (2) Zu den Besonderheiten des österreichischen Parteiensystems zählen nicht nur die hohe Kontinuität und vergleichsweise große Stabilität, sondern auch die feste Verankerung der beiden gut organisierten Großparteien in den Lagern und damit in der Bevölkerung. In kaum einem anderen Land finden sich so hohe Mitgliederzahlen; noch 1990 waren über eine Million Österreicher in SPÖ und ÖVP organisiert – bei einer Bevölkerungszahl von weniger als acht Millionen (Luther 1999: 124). Gleichwohl sind die selben Erosionstendenzen festzustellen wie in anderen westlichen Demokratien: Die Mitgliederzahlen gehen ebenso zurück wie der Anteil derer, die sich zu einer Parteibindung bekennen. Hatten 1954 noch 73% der Wähler eine Parteibindung, so belief sich ihr Anteil im Jahr 1994 nur noch auf 44% (Luther 1999: 131). Auffällig ist die enge Verkoppelung der Parteien- mit der Verbändestruktur, die sich nicht nur in der personellen Verflechtung der jeweiligen Führungsebenen bemerkbar macht, sondern stärker noch darin zum Ausdruck kommt, dass die Wahlen zu den Kammer-Tagen, die gemeinsam die Vollversammlung der Paritätischen Kommission bilden (s. Kap. 2.2.9 und 4.2.9), entlang Parteilinien erfolgen. Seit den 1970er Jahren allerdings ist die Versäulung auch der österreichischen Gesellschaft im allmählichen Rückgang begriffen. Im gleichen Takt nehmen Lager-Mentalität in der Bevölkerung ab und Wechselwahlverhalten zu. Zwar ist die Wählervolatilität in den 1990er Jahren im Vergleich immer noch recht niedrig – auf ähnlichem Niveau wie in Deutschland (vgl. Mair 2002b: 131). Doch ist das Parteiensystem offenbar auf dem besten Weg, sich auch in dieser Hinsicht dem Normalmaß des moderaten Pluralismus anzunähern, das durch die Existenz von Volksparteien, Konkurrenzverhalten ihrer Eliten und Wähler-Fluktuation gekennzeichnet ist. (3) „In terms of recruitment“ ist die partyness of government in Österreich in einer Hinsicht mehr als perfekt: (a) Die Parteien besetzen alle wichtigen Stellen – aber nicht nur in Parlament und Regierung, sondern weit in die Verwaltung und in den (vormals umfangreichen) öffentlichen Sektor der Wirtschaft hinein; über die eben erwähnten Kammertags-Wahlen erstreckt ihr Einfluss sich darüber hinaus auf die Leitungsebene der Sozialpartnerschafts-Verbände. In anderer Hinsicht indessen entsprach das österreichische party government über weite Strecken nicht dem Katz’schen Idealtyp, sondern „nur“ seinem „Typ C“, demzufolge Wahlresultate keine nennenswerten Änderungen bewirken, denn zur Zeit des „schwarz-roten Fil68 Im April 2005 hatte Jörg Haider mit einem Kreis Getreuer die FPÖ verlassen und quasi handstreichartig die BZÖ gegründet, der sich die Minister und der Großteil der Fraktion alsbald anschlossen. Im liberalen Lager gibt es damit zur Zeit drei Parteien.
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zes“ wurden Ämter nach Proporz besetzt. (c) Auch in Sachen Kandidatenselektion darf man wohl von einem Monopol der Parteien ausgehen, das wiederum durch das Proporz-Prinzip modifiziert war. (b) In puncto Politikinhalte und Umsetzung von Parteiprogrammen ist der Befund etwas weniger eindeutig, war hier doch lange Zeit der Einfluss der PK in Rechnung zu stellen; in einzelnen Politikbereichen lief die sozialpartnerschaftliche Arena der des Parteienwettbewerbs den Rang ab. Man kann nicht unbedingt schlussfolgern, dass mit dem Bedeutungsverlust der PK nun die relevanten Entscheidungen durch Parteigremien vorgeprägt würden, denn im selben Maße haben auch Parteiprogramme an Bedeutung verloren (vgl. Horner 1997: 245 ff.). Nach wie vor stark ausgeprägt ist dagegen die Dominanz der Parteien: Wie in Deutschland kontrollieren sie jeden der institutionellen Vetospieler, allerdings in eher symmetrischer Weise (wofür schon der Proporz Sorge trug). Lediglich in der PK scheint der Parteien-Einfluss modifiziert, aber, wie nun schon mehrfach erwähnt, ist er auch in deren Vollversammlung präsent. Angesichts des engen Konnexes von Großparteien und Spitzenverbänden mag man sich zu Recht fragen, ob Dominanz und Einfluss nicht eher von Verbänden zu Parteien verlaufen als umgekehrt. Doch ist nicht zu übersehen, dass die Parteien die wichtigste Schiene der Legitimation des Verbandseinflusses auf die Politik darstellen (s. dazu Gerlich 1987: 88 ff.); in der Ausübung dieser Funktion sind sie zentrale Weichensteller und gate-keepers, auf die die Verbände angewiesen sind. Das verweist zugleich auf die hohe partyness of society, die trotz der Abschwächung von Lager-Mentalität und Parteibindungen Österreich nach wie vor kennzeichnet. Einst umfasste sie auch die Medien-Landschaft, doch ist hier der Parteieneinfluss deutlich zurückgegangen (vgl. ebd.: 87 f.). „The two major Austrian parties thus exercised influence not only in all areas of public life, but also penetrated deeply in ,civil society‘“ (Luther 1999: 137). So lässt sich das österreichische politische System demnach als eines einstufen, in dem ein hohes Maß an Parteienstaatlichkeit mit gleichermaßen stark ausgeprägten Dominanzstrukturen einhergeht. Es bleibt abzuwarten, inwieweit vor allem das letztere den Systemwechsel zur Konkurrenzdemokratie (s.o., Kap. 2.2.9) zu überdauern vermag.
3.3. Auswertung Auswertung Fassen wir die Befunde der Länder-Kapitel zusammen, so erstaunt zunächst, dass es in den untersuchten Ländern offenbar nur Mehrparteiensysteme gibt, die im Grunde alle dem Typ des gemäßigten Pluralismus zuzurechnen sind. Selbst Großbritan-
Auswertung
193
niens Parteiensystem gilt als eines des latenten moderaten Pluralismus. Unterschiede bestehen zum einen im Grad der Fragmentierung – die ENPP schwankt von 2,0 (GB in in den 50er Jahren) bis 7,2 (Italien 1994) –, zum anderen im Ausmaß, in dem die Parteiensysteme sich „bipolarisieren“ und trotz Mehrparteienstruktur eine Art Zweiparteien-Mechanik, also die Tendenz zum Alternieren von Regierungen sich durchsetzt. Unterschiedlich ist überdies der Grad der Strukturstabilität der Parteiensysteme: Nicht alle können in gleichem Maße im Sinne von Lipset und Rokkan als eingefroren gelten. Das Überdauern des Spaltpilzes, speziell in Frankreich und Italien, über institutionell induzierte Strukturwandlungen hinweg bestätigt die Lipset/Rokkan-These allerdings indirekt. Der besseren Übersicht halber seien die wichtigsten Strukturmerkmale der neun Parteiensysteme in Tabelle 7 noch einmal in Kurzform zusammengestellt: Tabelle 7: Strukturmerkmale der Parteiensysteme Land
Systemtyp
Stabilität nach 1945
ENPP (ENEP)*
Party government
ParteienDominanz
GB
institutionell induzierter Zweiparteien-Mechanismus (latenter mod. Pluralismus)
institutionell eingefroren
stabil, leicht ansteigend 2,0 – 2,4 (2,1 – 3,5)
ja
schwach
SUI
nicht-polarisiertes Vielparteiensystem
eingefroren
stabil, 5,0 – 5,7
nein
nein
SWE
moderater Pluralismus
weitgehend eingefroren
stabil, leicht ansteigend 3,0 – 4,3
ja
ja
F
institutionell induzierter Bipolarismus
begrenzt eingefroren
schwankend 2,2 – 4,5 (4,5 – 6,4)
nein
nein
ITA
Vielparteiensystem Trend zum Bipolarismus
starke Veränderungen
stark schwankend 3,2 – 7,2
ja
ja, stark
NL
Vielparteiensystem segmentierter Pluralismus
mittlere Veränderungen
schwankend 3,8 – 7,0
ja
leicht eingeschränkt
FIN
Vielparteiensystem moderater Pluralismus
leichte Veränderungen
stabil, 4,9 – 5,6
inzwischen ja
ja
D
moderater Pluralismus
leichte Veränderungen
stabil, leicht ansteigend 2,2 – 2,9
ja
ja abnehmend
AUT
moderater Pluralismus
begrenzt eingefroren
ansteigend 2,2 – 3,4
ja
ja, stark
* Die ENEP wird nur für die beiden Länder mit Mehrheitswahlsystem (GB, F) ausgewiesen, in allen anderen Ländern liegt die ENEP nur unwesentlich über der ENPP.
194
Dominanzstrukturen: Der Vergleich von Parteiensystemen
So ähnlich die Parteiensysteme in ihrer formalen Struktur bzw. der Zugehörigkeit zu den Sartorischen Typen sind, so sehr unterschieden sie sich über lange Zeiträume hinweg in ihren internen Konstellationen (multipolar – tripolar – bipolar) sowie im Wettbewerbsverhalten der Parteien. Das deutet darauf hin, dass es sinnvoll sein könnte, den ganz offensichtlich dominierenden Typ des gemäßigten Pluralismus im von Sartori ja selbst angedachten Sinne weiter auszudifferenzieren, also hier Unter-Typen zu bilden. Zugleich zeigt unsere Übersicht allerdings eine offenbar allen Systemen gemeinsame Tendenz: Sie befinden sich in den letzten beiden Jahrzehnten sämtlich auf dem Weg zu vermehrter Konkurrenz. Vor allem zuvor dominante Parteien verlieren zunehmend ihre herausragende Position, weshalb in vielen Ländern in den letzten Jahr(zehnt)en die effektive Parteienzahl angestiegen ist. Die Frage ist, wie lange der Trend zur Konvergenz anhält. Die unterschiedlichen Strukturen von Gesellschaft wie Regierungssystem werden mutmaßlich dafür sorgen, dass er sich nicht in gleicher Weise und Nachhaltigkeit durchsetzen kann. Der vergleichende Überblick stützt im Übrigen unsere Vermutung (s. Kap. 2.3), dass in repräsentativen Demokratien die Parteien üblicherweise die dominanten Akteure sind, und zwar unabhängig vom (Unter-)Typ des Parteiensystems, dem sie angehören (so auch schon Katz 1986: 45). Die Systemmerkmale bestimmen nicht das Ausmaß der Parteien-Dominanz, wohl aber die Funktionsweise des Entscheidungssystems und sind auf dieser Dimension ihrerseits typ-prägend. Ausnahmen vom Regelfall sind Frankreich und die Schweiz. Frankreich scheint auf den ersten Blick die Katz’sche Hypothese zu bestätigen, dass die für präsidentielle Regierungssysteme typische Macht-Fragmentierung die Ausbildung von party government verhindere, doch sind sowohl der Einfluss des Regierungssystems überhaupt wie auch die Einflussrichtung gerade in diesem Fall fraglich. Denn zum einen rief die Präsidialisierung ab Ende der 1950er Jahre quasi gleichzeitig Konzentrations- und Spaltungstendenzen im Parteiensystem hervor; phasenweise stabilisierten sich die Parteien selbst wie ihr Einfluss im Entscheidungssystem in der quadrille bipolaire in einer Weise, die manche Beobachter (vgl. Reif 1987) – ganz im Gegensatz zur Katz’schen Annahme – glauben ließ, Frankreich befinde sich auf dem besten Weg zum party government. Und zum anderen hat die mangelnde Ausprägung von ParteienDominanz in diesem Land weit längerfristige und tieferliegende Ursachen. Sie ist eher der vielzitierten Organisationsfeindlichkeit der Franzosen geschuldet: der Dominanz des Politikers über die Organisation. Das Beispiel Schweiz dagegen verweist darauf, dass lang geübte Praxis direkter Demokratie der Ausbildung von party government im Wege steht. Parteienstaatlichkeit und Parteien-Dominanz sind in der Tat Typ-Merkmale (rein) repräsentativer Regierungssysteme. Im Anschluss daran könnten wir die Hypothese formulieren, dass mit dem Ausmaß des wirksamen Einsatzes direktdemokratischer Instrumente
Auswertung
195
die Parteien an bestimmendem Einfluss verlieren – wenn dem nicht die begründete Vermutung entgegenstünde, dass Parteien-Dominanz (weniger: party government!) ihrerseits eben die Effektivität direktdemokratischer Beteiligung zu mindern vermag (vgl. Abromeit 2002; 2004; Stoiber/Abromeit 2005). Nachdem wir schon die erste der Katz’schen Hypothesen über die Faktoren, die das Auftreten von party government begünstigen bzw. behindern, relativieren mussten – auch das frühere finnische Präsidialsystem hat die Ausbildung von Merkmalen der Parteienstaatlichkeit nur abgeschwächt –, wollen wir nun seine übrigen Hypothesen (vgl. Kap. 3.1) überprüfen: – Föderalismus: Dass Parteienstaatlichkeit sich eher in Einheitsstaaten denn in Föderationen durchsetzt, findet sich definitiv nicht bestätigt. Die Bundesstaaten Deutschland und Österreich können geradezu als Musterbeispiele von party government gelten, Frankreich, die „unteilbare Republik“ par excellence, dagegen ist das Musterexemplar von Nicht-Parteienstaatlichkeit. – Größe des öffentlichen Sektors: Österreich, Italien, Schweden und die Schweiz sind Gegenbeispiele für die These, dass ein umfangreicher öffentlicher Sektor die Ausbildung von Parteienstaatlichkeit behindere. In Österreich und Italien hat der traditionell große Umfang staatlicher Unternehmenstätigkeit gerade das Gegenteil bewirkt (nicht zuletzt dank der damit gegebenen zusätzlichen PatronageMöglichkeiten!); in der Schweiz hat die staatliche Enthaltsamkeit den Parteieneinfluss nicht befördert. – Verbandseinfluss: Großer Einfluss der Interessenverbände aufs staatliche Entscheidungssystem bzw. korporatistische Strukturen haben in Österreich, Schweden, Finnland und den Niederlanden der Parteienstaatlichkeit nicht im Wege gestanden, eher im Gegenteil. Als bestätigendes Beispiel könnte die Schweiz gelten, doch ist auch hier die unterstellte Kausalität fraglich, denn nicht der Verbandseinfluss verursachte die Parteienschwäche, sondern die direkte Demokratie verursachte beides. – Medieneinfluss: Großer Einfluss der Medien auf die Politik (die neuerdings vieldiskutierte „Mediendemokratie“) mag längerfristig in der Tat das party government schwächen – sofern die Medien ihrerseits unabhängig sind. Großbritannien (großer Einfluss der Presse, stabiles party government) und Italien (Parteien-dominierte Medien) mögen hier bis auf weiteres als Gegenbeispiele herhalten. – Mächtige und „anonyme“ Bürokratie: Hier ist der Befund ambivalent. Der französische Fall bestätigt die These, dass die Macht der Bürokratie den Parteieneinfluss mindert – die britischen Whitehall Mandarins dagegen tun es nicht. – Gesellschaftliche Heterogenität: Die These, dass bei großer Heterogenität die Ausbildung von Parteienstaatlichkeit unwahrscheinlich ist, erscheint durchaus plausibel – das Schweizer Beispiel bestätigt sie. Wo sie allerdings zur Versäulung
196
Dominanzstrukturen: Der Vergleich von Parteiensystemen
bzw. Lagerbildung geführt hat, ist das genaue Gegenteil der Fall und werden gerade die Parteien, als politische Speerspitzen der Säulen, zu dominanten Akteuren, wie in den Niederlanden und eingeschränkt in Finnland. Unsere vergleichende Beobachtung zeigt demnach, dass zumindest die weitergehenden theoretischen Überlegungen, die Katz mit seinem ja zunächst einmal analytisch-deskriptiv gemeinten Konzept verbunden hat, revidiert werden müssen. Aber auch auf der analytisch-deskriptiven Ebene glauben wir, mit unserem vom Vetospieler-Ansatz inspirierten Konzept der Parteien-Dominanz ein präziseres Maß für dieselbe Sache gefunden zu haben. Es gibt differenziertere Auskunft über das Ausmaß des Einflusses, den die Parteien auf das Verhalten der institutionellen Vetospieler nehmen können. Ohne das hier an unseren Beispielen durchgespielt zu haben, vermag das Maß wohl auch genauere Informationen über Symmetrie und Asymmetrie dieses Einflusses zu liefern69. Des Weiteren ist die partyness of society sytematisch einbezogen und von hohem Stellenwert. Und schließlich sehen wir es als Vorzug, dass unser Konzept sich nicht an einem Idealtyp (dem des responsible party government) orientiert und folglich neutraler ist. Unsere Überlegungen hierzu befinden sich zugegebenermaßen im Stadium der Vorläufigkeit, erlauben aber gleichwohl die Formulierung einer ersten Hypothese: Es spricht viel für die Vermutung, dass Parteien-Dominanz bei mittlerer gesellschaftlicher Heterogenität ihre höchsten Werte erreicht – genauer gesagt dann, wenn Heterogenität in Form von Lagerbildung o.ä. gemäßigt und gebändigt wird. Sehr hohe gesellschaftliche Segmentierung erfordert zwecks Befriedung Mechanismen – Vetorechte, Autonomiebereiche, extreme Föderalisierung –, die den Parteieneinfluss in Schach halten; bei weitgehender Homogenität dagegen wird er längerfristig durch Wähler-Volatilität geschwächt. Party government und Parteien-Dominanz, das dürfte aus dem Obigen deutlich geworden sein, sind nicht identisch, hängen aber eng miteinander zusammen. Die Beziehung lässt sich kurz so fassen: Wo keine Parteienstaatlichkeit besteht, gibt es auch keine Parteien-Dominanz; wo dagegen party government vorliegt, kann die Parteien-Dominanz gleichwohl mehr oder weniger ausgeprägt sein. Es könnte sogar sein, dass die feste Etablierung von party government im Katz’schen Sinne mit abnehmender Parteibindung und daher abnehmender Dominanz der Parteien in der Gesellschaft einhergeht. Aber um es noch einmal zu wiederholen: Unabhängig davon, ob nun die Parteien dominant sind oder nicht, sind die Struktur des Parteiensystems und das Wettbewerbsverhalten der Parteien die beiden Faktoren, die die Funktionsweise eines 69 Zu diesem Zweck müssen wir das Maß erst noch entsprechend ausbauen und formalisieren – eins unserer zukünftigen Projekte.
Auswertung
197
Regierungssystems am nachhaltigsten prägen (ggf. auf negative Weise). Sie müssen als die bedeutsamste Variable zur Erklärung der Varianz politischer Systeme angesehen werden. Die Struktur von Parteiensystemen scheint zugleich erstaunlich widerständig (was Lipset und Rokkan seinerzeit zu Recht vermuteten), auch gegenüber institutionellen Änderungen – oder gilt das nur für die eher fragmentierten Parteiensysteme? Der Spaltpilz in den französischen und italienischen Parteiensystemen jedenfalls hat sich gegenüber institutionellen Reformen als erstaunlich resistent erwiesen. Man darf sich indessen gespannt fragen, was eine Änderung des Wahlsystems in Großbritannien bewirken würde. Dass eine solche Änderung, die in den letzten 15 Jahren schon zweimal auf der politischen Tagesordnung stand, britischen Umfrageergebnissen zufolge von der Wählerschaft nicht goutiert werden würde, verweist auf die Wirksamkeit der – in unserem Vergleich weitgehend vernachlässigten – intervenierenden Variablen politische Kultur. Es spricht einiges dafür, dass sie in hohem Maß die Resistenz von Parteiensystem-Strukturen zu erklären vermag. Denn politische Kulturen ändern sich nur langsam und sind ihrerseits weitgehend resistent gegen „institutional engineering“.
4. Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
Inklusion 4.1 Selektivität oder Exklusion: und Symmetrie: Vergleich von Strukturen Systemen der der Interessenvermittlung Interessenvermittlung Mit dem Vergleich Selektivität und Symmetrie: von Systemen Strukturen der Interessenvermittlung der Interessenvermittlung haben wir uns keine leichte Aufgabe vorgenommen. Nach Auskunft von Verbändeforschern sind „nationale ,Verbändelandschaften‘ nur schwer systematisch miteinander zu vergleichen“, nicht zuletzt weil „die Beziehungen der Verbände untereinander sowie mit dem Staat ... überwiegend nicht durch institutionelle Regelungen auf die Erfüllung bestimmter Funktionen festgelegt“ sind (Kropp 2003: 233). Das mag einer der Gründe sein, weshalb wir bei der Vorstellung der diversen Varianten vergleichender Politikwissenschaft (s.o., Kap. 1.3.3) zum Thema Verbände/Verbändesysteme so wenig fündig geworden sind. In fast jedem Land gibt es eine Unzahl von Verbänden, die ganz unterschiedlich organisiert sind, höchst unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen und auf unterschiedliche, von Politikfeld zu Politikfeld variierende Weisen ins politische System integriert sind. Die jeweilige Landschaft erscheint so diffus wie amorph; wie kann man da von „systemischer Qualität“ sprechen (ebd.)? Andererseits ist die einschlägige Literatur voll von Verweisen auf korporatistische Systeme und Strukturen (s.u.). Also lässt sich vielleicht doch Ordnung in das unübersichtliche Feld bringen? Allerdings ist gerade der (Neo-)Korporatismus primär ein theoretisches Konzept. Verbändeforscher haben gelegentlich Mühe, es in der Realität wiederzuentdecken; und häufig ist umstritten, ob das, was sie dort finden, wirklich echter (tripartistischer) oder vielleicht eher Mesokorporatismus oder doch etwas ganz anderes (z.B. private Regierung; s.u.) ist. Auch ist fraglich, ob dem Korporatismus ein alternatives System gegenübersteht; denn was als Pluralismus bezeichnet wird, scheint empirisch zumeist nichts anderes als „un-systemischer“ Wildwuchs. Trotz der offensichtlichen konzeptionellen Schwierigkeiten, die das Thema in sich birgt, kann man in einem als umfassend angelegten Vergleich schwerlich darauf verzichten, den Bereich der Interessenvermittlung einzubeziehen. Denn demokratische politische Systeme rechtfertigen sich nicht zuletzt über den Anspruch, mittels Beteiligung sicherstellen zu können, dass staatliches Handeln stets auf die
Selektivität und Symmetrie: Strukturen der Interessenvermittlung
199
Interessen der Bevölkerung rückbezogen bleibt: „Die Legitimität demokratischer Systeme basiert ... auf funktionierender Interessenvermittlung“ (Abromeit 1993a: 7). Zwar fehlen die letztgültigen Kriterien dafür, was das Funktionieren ausmacht – man denke nur an den Jahrhunderte alten Streit um das Verhältnis von Gemeinwohl und (egoistischen) Partikularinteressen. Doch dürfte es einleuchten, dass die Legitimationsleistung von Prozessen der Interessenvermittlung als umso höher einzustufen ist, je mehr Individuen und Gruppen ihre Interessen in den gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen berücksichtigt finden, d.h. je inklusiver die besagten Prozesse ablaufen und je weniger selektiv deren Ergebnisse ausfallen. Mit dem Kriterium der Inklusivität hat man sich im Übrigen geschickt aus dem normativ-philosophischen Bereich, in dem es um die Berechtigung, Gemeinwohlverträglichkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit oder gar um das wahr und falsch von Interessen geht,1 in den Bereich empirischer Messbarkeit gerettet (s.u.). Nun haben mit der Interessenvermittlung nicht nur die Verbände zu tun. Es gibt verschiedene Akteure, die in dieser Hinsicht tätig werden: neben den Verbänden die Parteien (die z.T. ja explizit als Interessenparteien entstanden sind), ad hocGruppen bzw. die Bürger selbst, Einzel-Akteure, insbesondere Unternehmen, von deren wirtschaftlichem Wohlergehen der Wohlstand der Gesamtgesellschaft abzuhängen scheint.2 Und es gibt verschiedene Vorgehensweisen, die Interessen zur Geltung zu bringen: eher indirekte (Wahl; Mitgliedschaft in einer Organisation) und eher direkte (von Streik und Demonstration bis zu Bestechung und Erpressung). Und schließlich gibt es verschiedene Arten und Weisen der Verknüpfung zwischen den Akteuren, den Vorgehensweisen sowie der Akteure mit dem staatlichen Entscheidungssystem (vgl. Abbildung 18). Es sind eben diese Verknüpfungen, die sich von Land zu Land vielleicht unterscheiden und es erlauben, distinkte Strukuren und Systeme der Interessenvermittlung auszumachen und im Hinblick auf ihre Selektivität zu vergleichen.
1 Zum Begriff des Interesses vgl. z.B. Hirschman 1980; Neuendorff 1973. 2 S. dazu den berühmten Spruch „What’s good for General Motors is good for the United States“.
200
Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
Abbildung 18: Interessenvermittlungssysteme
indirekt Methode(n)
Akteure
vermutete Selektivität Kombinationen: IV-Systeme
direkt
Wahl
Organisation
Abstimmung (Referenda)
Aktion (Streik, Demo, Bestechung etc.)
Parteien
Verbände
(Parteien) Verbände Ad-hoc-Gruppen
Individuen Ad-hoc-Gruppen (Verbände)
hoch
(hoch bis) mittel
gering
mittel
pluralistische Repräsentanz Korporatismus
Konkordanz private Regierungen
Anomie
Pluralismus und Korporatismus Die übliche – theoretische – Unterscheidung zwischen Systemen der Interessenvermittlung ist die zwischen Pluralismus und Korporatismus. Beide sind schnell erklärt. Das Konzept des Pluralismus3 ist letztlich nichts anderes als eine Übertragung des Marktmodells auf die „organisierte Gesellschaft“, d.h. auf eine Gesellschaft, in der die Wirtschaftssubjekte sich nicht (mehr) ohne weiteres darauf verlassen können, dass sich ihre Interessen über den Markt realisieren lassen. Also organisieren sie sich zum Schutz gegen Marktgegner und gegen Konkurrenten; und Schutz suchen sie vorzugsweise beim Staat. Vor allem ihm gegenüber konkurrieren sie um Einfluss, zugleich konkurrieren sie um Mitglieder und um das Wohlwollen der öffentlichen Meinung. Pluralistische Systeme sind im Allgemeinen nicht reguliert. Der Staat greift nicht ordnend und disziplinierend ein, sondern lässt sich eher von ihren erfolgreicheren Akteuren „ausbeuten“.4 Weder dies noch mögliche Asymmetrien bei der Interessendurchsetzung erscheinen Pluralismus-Theoretikern längerfristig als ein Problem, und zwar dank des segensreichen Wirkens des Wett3 Auf die umfängliche Literatur zum Thema Pluralismus kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. zusammenfassend Oberreuter (1980); Jordan (1990). 4 Konservative, vor allem Staatsrechtler, hatten darum stets ihre Probleme mit einem System, in dem der Staat „zur Beute“ wird. Als zwei Beispiele für viele: Eschenburg (1955); Weber (1970).
Selektivität und Symmetrie: Strukturen der Interessenvermittlung
201
bewerbs. Der bewirkt, dass die Erfolge eines Verbandes über kurz oder lang Gegenkräfte auf den Plan rufen (vgl. Galbraith 1956) und sich so ein Gleichgewicht herstellt, das als Gemeinwohl definiert werden kann: In einer berühmten Formulierung von Ernst Fraenkel (1964: 45; 21) ist das Gemeinwohl nämlich nichts anderes als die „Resultante im Parallelogramm der (gesellschaftlichen) Kräfte“. In pluralistischen Konzepten sind Parteien und Verbände nicht nur unterschiedliche Organisationstypen, sondern agieren auch getrennt voneinander. Für einen Verband wäre es geradezu unklug, sich zu eng an eine Partei zu binden: Sie könnte in die Opposition geraten, und mit ihrem politischen Einflussverlust wären dann zugleich die Durchsetzungschancen des Verbandes vorübergehend dahin. Der „Idealtyp pluralistischer Interessenrepräsentanz“ (vgl. Abromeit 1993a: 58 ff.) ist ein auf allseitiger Konkurrenz basierendes Ensemble aus Zweiparteiensystem und hoher Verbändezahl, in dem die Parteien um die Regierungsmacht und die Verbände um Einfluss auf beide Parteien (und insbesondere auf die jeweilige Regierungspartei) konkurrieren. Man sollte erwarten, dass die Selektivität eines solchen Systems in the long run niedrig ist, da alle Interessen die gleiche Chance haben, irgendwann zum Zuge zu kommen. In der Realität indessen sind nicht alle Interessen in gleicher Weise organisationsfähig und verfügen nicht alle in gleichem Maße über Ressourcen, Konfliktfähigkeit und Drohkapazität.5 Das heißt aber zunächst nichts anderes, als dass Prozesse der Interessenvermittlung und -durchsetzung grundsätzlich und immer asymmetrisch verlaufen, sofern nicht von oben regulierend und ausgleichend eingegriffen wird. Spätestens in den 1960er Jahren begann sich in vielen europäischen Ländern der Staat in die industriellen Beziehungen, sprich in die Beziehungen der Großverbände von Kapital und Arbeit einzumischen. Ab den 1970er Jahren wurden die entsprechenden Regulierungspraktiken von Verbändeforschern zum theoretischen Konstrukt des „Neo- (oder auch liberalen) Korporatismus“ stilisiert (s. insbesondere Schmitter/Lehmbruch 1979). Er gilt als das genaue Gegenbild des Pluralismus, obwohl doch realiter korporatistische Strukturen primär für die Sozialpartner reserviert, auf jeden Fall auf bestimmte Politikfelder beschränkt sind und zumeist mit pluralistischer Nachbarschaft koexistieren. Zum „korporatistischen Idealtyp“ (vgl. Abromeit 1993a: 146 ff.) zählen zum einen spezifische Merkmale der beteiligten Verbände: Sie haben ein Bereichsmonopol, sind hoch konzentriert sowie hierarchisch organisiert und verfügen über hinreichende Sanktionsmöglichkeiten gegenüber ihrer Mitgliedschaft. Das alles ist nötig, weil die Verbände im korporatistischen System quasi eine doppelte Vermittler-Funktion zu erfüllen haben: Sie wol5 Über Konfliktfähigkeit und Drohkapazität verfügt ein Verband, wenn er die Verweigerung einer systemrelevanten Leistung glaubhaft androhen kann (vgl. Offe 1971).
202
Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
len die Mitgliederinteressen ins politische Entscheidungssystem vermitteln und sollen zugleich von der Politik definierte gesamtgesellschaftliche Zielvorgaben gegenüber der Mitgliedschaft vertreten und diese zu zielgerechtem Verhalten bewegen. Das andere entscheidende Merkmal des Korporatismus ist der Tripartismus: Verband und Gegenverband handeln gemeinsam mit der Regierung die optimale Interessenrealisierung unter Bedachtnahme auf das Wohl aller aus. Die Regierung hat dabei die Funktion, den Bereichs-Egoismus der Verbände im Zaum zu halten, damit es nicht zur Ausbeutung der Gesamtheit kommt, und sie sollte SchiedsrichterFunktionen erfüllen, damit nicht die eine Seite die andere Seite ausbeutet. So dient – idealiter – der Korporatismus sowohl als Instrument der Interessenvermittlung wie auch als Steuerungsinstrument staatlicher Politik. Zugleich dient er der Staatsentlastung: Der Staat traut sich nicht mehr zu, allein und ggf. gegen den Willen starker Verbände seine (vor allem wirtschaftspolitischen) Ziele umzusetzen. Zur jeweiligen Struktur des Parteiensystems verhält der Idealtyp sich prinzipiell indifferent, denn parteipolitisch-parlamentarische und korporatistische Arena sind voneinander getrennt. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, kann die Verkoppelung beider Arenen indessen durchaus hilfreich sein, vor allem unter legitimatorischen Gesichtspunkten (s. schon o., Kap. 2.2.9 und 3.2.9, Österreich). Die Inklusivität eines solchen Systems ist tendenziell gering, da einige wenige Großverbände und insbesondere die Sozialpartner privilegiert werden. Dazu ist zweierlei in Rechnung zu stellen: Im funktionierenden Korporatismus setzen auch die privilegierten Interessen sich nicht umstandslos um, sondern werden durch politische Vorgaben modifiziert; und in Gesellschaften, in deren Zielkatalogen Wohlstand, Wachstum und hohe Erwerbsquote obenan stehen, besteht die Gefahr, dass die Arbeitgeberseite dank höherer Drohkapazität sich besser zur Geltung bringen kann, da ihre Interessen scheinbar mit denen der Gesamtheit zusammen fallen.6 Diese grundlegende Asymmetrie mag erklären, warum in etlichen Ländern korporatistische Phasen nur von kurzer Dauer waren. Sie schwächten die Gewerkschaften, die sich darum aus den entsprechenden Arrangements verabschiedeten oder aber auf Grund von Mitgliederverlusten als ernstzunehmende Verhandlungspartner ausschieden (so z.B. in Deutschland, s. Kap. 4.2.8).7 In theoretischer Betrachtung mag der Korporatismus als Instrument erscheinen, eine annähernde Symmetrie zwischen Kapital und Arbeit herzustellen. In der Praxis sah dies zumeist anders aus und wurden entsprechende Verhandlungssysteme eingeführt, um starke und durchsetzungsfähige Ge-
6 Schließlich hängt die Erreichbarkeit der genannten Ziele vom Investitionsverhalten der Unternehmen ab, das dementsprechend positiv beeinflusst werden muss. 7 Eine Ausnahme stellt eindeutig Schweden dar, wo es eine Asymmetrie zugunsten der Gewerkschaften gab, s. Kap. 4.2.3.
Selektivität und Symmetrie: Strukturen der Interessenvermittlung
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werkschaften zu disziplinieren und im Zaum zu halten (so z.B. – vorübergehend – in Großbritannien, s. Kap. 4.2.1). Neben diesen beiden in der Verbände-Literatur prominent vertretenen Systemen der Interessenvermittlung sind zwei weitere zu nennen, die eher sparsame Berücksichtigung finden. Das eine ist das der privaten Regierungen, d.h. der Selbstregulierung ganzer Wirtschaftsbereiche ohne Einschaltung des Staates bzw. die Auslagerung staatlicher Steuerungsaufgaben an die „zuständigen“ Verbände. Die erwartbare Selektivität ist hier ungewiss; sie hängt ab von Zahl, Art, Repräsentativität und den Kräfteverhältnissen der Verbände in den betreffenden Politikfeldern. Das zweite ist das der Konkordanz, ein System-Begriff, der zumeist für staatliche Entscheidungssysteme reserviert ist, aber zumindest theoretisch auch im Bereich der Interessenvermittlung relevant werden kann. Konkordanz heißt Entscheidung mit maximaler Mehrheit (vgl. Abromeit 1993a: 177), was im Umkehrschluss bedeutet: jede relevante Gruppe hat ein Vetorecht. In Konkordanzsystemen ist darum geringe Selektivität zu erwarten, weil im Prinzip jeder mitreden (und mitentscheiden) kann. Schließlich wäre noch das quasi-System der Anomie zu erwähnen, das wesentlich auf – wie immer gearteter – direkter Aktion beruht und für das sich eben deshalb keine Regeln aufstellen lassen.8 Unser Vergleichskriterium In unserem vom Vetospieler-Ansatz angeleiteten Vergleich geht es nun weniger darum, die untersuchten Länder einem bestimmten Typ von Interessenvermittlungssystemen zuzuordnen, als vielmehr um die Ermittlung ihrer jeweiligen Selektivität. Selektivität lässt sich zwar am zuverlässigsten über den output messen. Wir konzentrieren uns hier aber auf die input-Seite der Politik und fragen nach der Inklusivität der Entscheidungs- und Interessenvermittlungssysteme. Dafür stehen mehrere Indikatoren bereit: (a) Wie ist es mit der Drohkapazität der Interessengruppen bestellt? Je höher sie ist, desto eher qualifizieren sie sich als Veto-Gruppen (vgl. Abromeit 1993a: 221 ff.), die von den staatlichen Entscheidungsträgern nicht ignoriert werden können. Je mehr solcher Gruppen es gibt, desto inklusiver ist das Gesamtsystem. (b) Wie verhält es sich mit dem Zugang zu den institutionellen Vetospielern und mit den Vetopunkten, die das Entscheidungssystem bereit hält? Haben alle Verbände Zugang oder nur einige – oder gar nur einer? (c) In welcher 8 Als weiteren Typ könnte man den Klientelismus nennen, der durch enge bilaterale Beziehungen zwischen Interessenten und staatlicher Verwaltung charakterisiert ist. Wir haben ihn hier nicht eigens aufgeführt, weil letztlich jedes Interessenvermittlungssystem klientelistische Elemente enthält. In einem rein klientelistischen System wäre die Selektivität naturgemäß umso geringer, je mehr gesellschaftliche Gruppen über solche Beziehungen verfügen.
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Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
Weise sind die gesellschaftlichen Gruppen mit den wichtigsten situativen Vetospielern, den Parteien, verbunden – und sind es alle, oder wenige, oder nur eine? Der folgende Kurz-Überblick wird zunächst (1) die wichtigsten Strukturmerkmale und Besonderheiten der Verbändelandschaften der Länder unseres Samples skizzieren. (2) Im Rückgriff auf die Analyse der Regierungs- und Parteiensysteme werden die Verknüpfungen der gesellschaftlichen Gruppen mit institutionellen und situativen Vetospielern herausgearbeitet. (3) Auswertend sind dann Inklusivität und erwartbare Selektivität des jeweiligen Interessenvermittlungssystems zu bestimmen.
4.2. Interessenvermittlungssysteme im Überblick Interessenvermittlungssysteme 4.2.1. Großbritannien im Überblick (1) Bei einem Land, das den Idealtyp von Konkurrenzdemokratie und Zweiparteien-Mechanik so rein verkörpert wie Großbritannien, sollte man eigentlich damit rechnen, auch den Idealtyp der pluralistischen Repräsentanz vorzufinden. Das ist indessen nur sehr begrenzt der Fall. Dem Typ entsprechend ist immerhin die Zahl der Verbände über hundert Jahre lang bemerkenswert hoch gewesen. Noch um 1980 herum lag die Zahl der Einzelgewerkschaften bei rd. 400, die der Unternehmerverbände bei 1.500 und die der Arbeitgeberverbände bei 190 (vgl. Hartmann 1985b: 115 f.). Weniger fragmentiert waren und sind die Bauernverbände. Zwar gibt es auch hier mehrere Organisationen, doch die kleineren können der National Farmers’ Union (NFU), die derzeit angeblich 70% der Bauern vertritt,9 nicht das Wasser reichen. Ein anderer Verband mit einem fast-Bereichsmonopol ist der Ärzteverband British Medical Association (BMA), obwohl in ihm nur noch gut 60% aller Ärzte organisiert sind (vgl. Plöhn 2001: 179 f.). Die im Ganzen enorm fragmentierte Verbändelandschaft wird durch Dachverbände mühsam zusammengehalten. Schon 1868 gründete sich der Trades Union Congress (TUC), dem aber nie sämtliche Einzelgewerkschaften angehörten; in den 1990er Jahren waren es nurmehr um die 70 – bei einer Gesamtzahl von immerhin noch gut 230 Einzelgewerkschaften (Plöhn 2001: 173). Die Unternehmerseite hatte noch größere Schwierigkeiten, alle Kräfte unter einem Dach zu versammeln. Erst im Ersten Weltkrieg bildeten sich erste Zusammenschlüsse, und zwar gleich drei an der Zahl (FBI, NABM und BEC), die überdies nur unter tatkräftiger Mithilfe des Staates zustande kamen. Wiederum auf Initiative und mit der Unterstützung der 9 Angaben über die Mitgliederzahlen britischer Parteien und Verbände sind chronisch unzuverlässig und beruhen häufig nur auf Schätzungen.
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damaligen Regierung vereinten die drei sich 1965 zur Confederation of British Industry CBI (vgl. zur Entwicklung Grant/Marsh 1977). Auch ihr ist es nicht gelungen, alle Einzelverbände, insbesondere die der kleinen und mittleren Unternehmen, mit ins Boot zu holen.10 Sie ist im Übrigen insofern ein Unikum, als ihr nicht – wie bei Dachverbänden ansonsten üblich – nur (Fach-)Verbände angehören, sondern Einzelunternehmen unmittelbare Mitglieder sein können; die Organisation gilt darum als „somewhat chaotic“ (ebd.: 55). Für diese Einschätzung sprechen ebenso die großen Interessen-Divergenzen innerhalb der Mitgliedschaft, die es der Verbandsführung schwer machen, als politisch ernstzunehmendes Sprachrohr der Gesamt-Unternehmerschaft aufzutreten. Vielen Unternehmern galt vor allem in den 1970er Jahren die CBI als nicht recht glaubwürdige Vertreterin ihrer Interessen: „CBI has become an arm of government, it’s a tool of the civil service“ (zit. ebd.: 90). Zu den Besonderheiten der britischen Verbändelandschaft zählten auf Gewerkschaftsseite zum einen das Organisationsprinzip der Berufsgewerkschaft, das Ursache der hochgradigen Fragmentierung des Arbeitnehmerlagers ist und die Folge hatte, dass jedes größere Unternehmen sich stets einer Mehr- bis Vielzahl von Kontrahenten gegenüber sah.11 Zum anderen fehlte es bis in die 1980er Jahre hinein an innergewerkschaftlicher Demokratie, auch Urabstimmungen vor Streiks waren in Großbritannien unbekannt.12 Beiden Besonderheiten verdankte sich die hohe Streikhäufigkeit, die die britischen industriellen Beziehungen bis in die 1980er Jahre hinein kennzeichnete: Eine kleine Berufsgewerkschaft begann einen Streik, die Führer „befreundeter“ Gewerkschaften kamen ihr, ohne die Mitglieder zu fragen, mit Sympathiestreiks (secondary picketing) zu Hilfe, und schon lag auf der halben Insel das Wirtschaftsleben brach, und Arbeitgeber und Regierung konnten kaum anders, als den Gewerkschaften Konzessionen zu machen. So entstand vor allem in der Zeitspanne von Ende der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre der Eindruck, dass die Gewerkschaften die Macht in Großbritannien inne hätten. Der konservative Premier Ted Heath führte seinen Wahlkampf 1974 mit eben dieser Frage – ob denn nun die Regierung oder die Gewerkschaften Großbritannien regieren sollten – und verlor prompt.
10 So besteht neben der CBI als kleinerer Dachverband die Small Business Association. Außerhalb blieben auch das kleine, aber feine Institute of Directors, das die Manager größerer Unternehmen vertritt, und vor allem die „City“, die Bankenwelt, die die CBI lange, aber vergebens umwarb. 11 Zum Teil schlossen die sich ihrerseits zu unternehmensspezifischen Föderationen zusammen – wie z.B. der Iron and Steel Trades Confederation bei der British Steel Corporation (vgl. Abromeit 1986). 12 So konnte „King Arthur“ Scargill, der Führer der Yorkshire Miners, mittels eines einjährigen Bergarbeiterstreiks 1984 einen persönlichen Machtkampf gegen Margret Thatcher führen.
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Die diversen Gewerkschaftsgesetze der Thatcher-Regierung (1980er Jahre) haben die Situation grundlegend geändert. Es heißt häufig, sie hätten die Gewerkschaften entmachtet (z.B. mit dem Verbot des secondary picketing und der Einführung obligatorischer Urabstimmungen), aber eigentlich haben sie primär nur etwas mehr Ordnung ins System gebracht. Dass seither die Zahl der Einzelgewerkschaften weiter abgenommen hat13 und ihre Mitgliederzahlen kontinuierlich zurückgegangen sind14, hat wohl weniger mit „feindlicher“ Gesetzgebung als vielmehr mit länderübergreifenden Faktoren wie der Auflösung sozialer Milieus und der Internationalisierung der Wirtschaft zu tun. (2) Dass die Gewerkschaften zeitweise als so mächtig, ja als echter Vetospieler erscheinen konnten,15 hat mehr mit organisatorischen Eigenheiten, mit dem Fehlen bzw. Scheitern (s.u.) einer staatlichen Regulierung der Arbeitsbeziehungen und mit direkter Aktion zu tun als mit Vetopunkten oder mit engen Verbindungen zu institutionellen Vetospielern. Immerhin waren sie mit einem der situativen Vetospieler, nämlich der Labour Party, traditionell eng liiert. Die Partei konstituierte sich 1900 schließlich als „politischer Ausschuss“ der Arbeiter- und Genossenschaftsbewegung und war gemäß Clause 4.2. ihres Statuts von 1918 zur Kooperation mit den Gewerkschaften verpflichtet.16 Ein „Joint Council“, später das „Liaison Committee“ sowie die Zusammensetzung des National Executive Committee der Partei (vgl. Abromeit 1993a: 68 f.) sorgten dafür, dass die Satzungsbestimmung nicht bloßes Papier blieb. Diese enge Verbindung stellt durchaus eine Abweichung vom Typ der pluralistischen Repräsentanz dar, die auf der anderen Seite indessen kein Gegenstück findet: Obwohl Konservative und Unternehmerlager einander nahestehen, vor allem ideologisch, und die Konservativen finanziell in hohem Maße auf Unternehmer-Spenden angewiesen sind, ist die CBI-Führung bisher darauf bedacht gewesen, Distanz zur Partei zu wahren – insbesondere dann, wenn die an der Regierung ist. Im relativ einfach gestrickten staatlichen Entscheidungssystem verfügen die britischen Verbände über access points in der Ministerialverwaltung und dort über einigen Einfluss, wie sich z.B. an Hand der Behandlung der BSE-Krise illustrieren ließe. Es gibt allerdings keinerlei Mechanismen, die ihnen Interessendurchsetzung garantierten. Aus den normalen klientelistischen Beziehungen eines Ministeriums 13 Die Abnahme der Zahl beruht zum einen auf Fusionen, zum anderen aber auch darauf, dass es manche der vormals organisierten Berufe (z.B. Heizer) schlicht nicht mehr gibt. 14 Der Organisationsgrad sank von über 54% Ende der 1970er Jahre auf knapp über 30% Ende der 1990er Jahre; vgl. Kastendiek 1998: 667; Ebbinghaus/Visser 2000: 745. 15 Immerhin brachten sie, wie oben angedeutet, 1974 das erste Gewerkschaftsgesetz zu Fall. 16 Die berühmte Clause 4 legte die Partei zudem programmatisch auf die Verstaatlichung von Industrien fest. Im Zuge der Blair’schen Parteireform wurde sie abgeschafft.
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zum einschlägigen Verband kann man nicht auf die Existenz von Vetopunkten schließen.17 Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht die „City“ dar, deren traditionell gute Beziehungen zur Bank of England dafür sorgen, dass ihre Stimme in Währungsfragen, in Sachen Börsenreform etc. nicht überhört wird. Vergleichbare Vetopunkte hätten die Versuche nationaler Planung und die korporatistischen Experimente im Jahrzehnt von 1964 bis 1976 installieren können. Ab 1964 saßen im National Economic Development Council (NEDC) die Sozialpartner einträchtig mit der Regierung zusammen18, um die seinerzeit chronischen Pfund- und Wirtschaftskrisen in den Griff zu bekommen. Mangels Erfolg gab Heath Anfang der 1970er Jahre das Planungs-Experiment auf; Mitte der 1970er Jahre versuchten die Labour Premiers Wilson und Callaghan eine partielle Wiederbelebung mit der pay pause und dem social contract, die wiederum erfolglos verliefen. Die Gründe für das Scheitern sind zum einen in der mangelnden internen Verpflichtungsfähigkeit des TUC und der Führungen seiner großen Gewerkschaften zu suchen, zum anderen aber wohl auch in der Einsicht der Gewerkschafter, dass entsprechende Regulierungsversuche in aller Regel einseitig verlaufen, nämlich nur die Arbeitnehmerseite disziplinieren. Gegebenenfalls wären in diesem Kontext die quangos (quasi non-governmental agencies; vgl. Abromeit 1998: 371 f.) zu erwähnen, an die der Staat die Regulierung einzelner Wirtschaftsbereiche ausgelagert hat. Die bekannteren von ihnen überwachen die vormals staatlichen, in den 1980er Jahren privatisierten public utilities (Telecom, British Gas etc.). Sie sind im Prinzip konsoziationale Organisationen, die die Interessen verschiedener Gruppen und der Gesamtheit auszubalancieren versuchen; Verbandsinteressen sind hier sicher präsent, aber kaum dominant. (3) So bleibt es in Großbritannien beim relativ ungeordneten pluralistischen Wildwuchs, der dem System der pluralistischen Repräsentanz insofern immer näher kommt, als New Labour die Bindungen an den TUC deutlich zurückgefahren hat. Die access points, die das Regierungssystem bereit hält (neben der Ministerialbürokratie noch die Select Committees des Unterhauses), scheinen fair und nicht bestimmte Verbände in besonderer Weise zu begünstigen. Als Ausnahme von der Regel darf am ehesten das staatliche Gesundheitswesen (NHS) gelten: NHS und BMA sind als Monopol-Adressat und Monopolverband in hohem Maße aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen, was der BMA überproportionale Ein17 Auch dies ließe sich illustrieren: z.B. mit den fast gleichzeitigen Krisen um die Benzinpreis-Erhöhungen und um die Maul- und Klauenseuche Ende 2000, denn hier konnte die NFU sich trotz versuchter – und unterwegs steckengebliebener – Sternfahrten nach London nicht gegenüber der Regierung durchsetzen. 18 Die Initiative hierzu ging von den Unternehmerverbänden aus, die sich davon eine Eindämmung der Gewerkschaftsmacht erhofften.
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flussmöglichkeiten verschafft. Sie hat in ihrem Politikfeld den Status einer VetoGruppe, kann sie doch den NHS erfolgreich unter Druck setzen. Ungleich verteilt sind indessen Konfliktfähigkeit und Drohkapazität. In den 1960er und 1970er Jahren galten die Gewerkschaften als Veto-Gruppe schlechthin; dank der Besonderheiten ihrer Organisation und dank Kampfmitteln wie dem secondary picketing schienen selbst kleine Gruppen Wirtschaft und Regierung jederzeit erpressen zu können. Seit ihrer Schwächung bleiben als Veto-Gruppe weniger die Unternehmerverbände als vielmehr einzelne Großunternehmen übrig, deren allgegenwärtiges Druckmittel – wie überall in der kapitalistischen Welt – das der Investitionszurückhaltung oder gar der Einstellung der inländischen Produktion ist. Nicht nur über die Einflussschiene Parteien setzt diese grundlegende Asymmetrie sich in die Regierungspolitik fort, allerdings in etwas anderer Weise, als der schlichte Gegensatz Arbeiterpartei hier – Unternehmerpartei dort erwarten lassen sollte. Denn die Chancen von Unternehmern, bei einer Labour-Regierung Gehör zu finden, sind ungleich größer als die der Gewerkschaften, einer Tory-Regierung ihre Interessen nahezubringen. Das entscheidende Merkmal britischer Interessenvermittlung ist, dass sie von der Zweiparteien-Mechanik beherrscht wird, die die Interessenteneinflüsse generell überlagert und die Erfolgswahrscheinlichkeit erprobter Einfluss-Strategien modifiziert. Die jeweilige Regierungsmehrheit wirkt „als constraint-Faktor gegenüber Versuchen einer Kolonialisierung der Ministerien“ (Plöhn 2001: 186), und die relativ häufigen Regierungswechsel verhindern, dass selbst stabilere klientelistische Beziehungen sich ungebremst in politischen Entscheidungen niederschlagen. Die Wahlkampf-Strategen der Parteien wissen natürlich, wie es regional und sektoral um ihre Erfolgschancen bestellt ist. Wo immer „kein Blumentopf zu gewinnen“ ist, bleiben die betreffenden Interessen im Wahlprogramm – und später in der Regierungspolitik – systematisch ausgeblendet. In der langen Regierungszeit Thatchers traf das den sich „de-industrialisierenden“ englischen Norden mit seinen sterbenden Industrien sowie Schottland besonders hart. So erzeugt der Parteienwettbewerb eine spezifische Art der Exklusion. Erschwerend kommt hinzu, dass jeder Premierminister sich an die wichtigeren manifesto pledges gebunden fühlt und in der Öffentlichkeit nicht gern als jemand dasteht, der sich von Interessenten zu U-turns verleiten lässt. So sind in der Summe kurzfristig die Inklusivität des britischen Interessenvermittlungssystems eher niedrig und seine Selektivität hoch. Längerfristig – d.h. über mehrere Regierungswechsel hinweg – egalisieren beide sich zu mittleren Werten, doch nicht zur Symmetrie.
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4.2.2. Schweiz (1) In Sachen Interessenvermittlung bilden Großbritannien und die Schweiz nicht das Gegensatz-Paar, das sie unter den meisten anderen Gesichtspunkten darstellen. Auch die schweizerische Verbändelandschaft ist nämlich hochgradig fragmentiert und so unübersichtlich, dass Beobachter feststellten: „Die für die Schweiz typische Vielfalt an Strukturformen und Rekrutierungsprinzipien von Verbänden lässt eine systematische Beschreibung des Verbandswesens kaum zu“ (Höpflinger 1984: 167). Die Grenzen zu anderen Organisationstypen – Kartellen z.B. – verschwimmen; dies sowie häufige Mehrfach-Mitgliedschaften machen das System mindestens so chaotisch wie das britische. Die schweizerischen Bürger scheinen im Übrigen besonders organisationswütig zu sein: Nur knapp 30% sind in keinem Verband oder Verein, knapp die Hälfte aber in zwei oder mehreren Verbandstypen organisiert (vgl. Armingeon 2001: 408; 410). So förderte denn die letzte Zählung des Wirtschafts-Departements (1979; s. ebd.: 408) die für ein so kleines Land erstaunliche Zahl von 1.116 wirtschafts- und berufspolitischen Verbänden zutage. Die wenigsten davon sind Gewerkschaften, nämlich „nur“ rund 170, die zum größeren Teil allerdings von geringer wirtschaftlicher Bedeutung sind. Die wichtigeren Gewerkschaften sind im Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB zusammengeschlossen; neben ihm bestehen zwei weitere Dachverbände, die christlichnationale CNG und die Angestelltengewerkschaft SKV. Gespalten sind die Gewerkschaften auch im Hinblick auf ihr Organisationsprinzip: Es gibt sowohl Industrieals auch Berufs- als auch Betriebsgewerkschaften. Die meisten Einzelorganisationen tummeln sich im Bereich der Wirtschaft, deren Dachverbände sich in die der Industrie (SHIV oder „Vorort“19), der Arbeitgeber (ZSAO) und der Gewerbetreibenden (SGV) aufsplitten, aber zumeist gut zusammenarbeiten. Am unübersichtlichsten ist die Szenerie in der Landwirtschaft, obwohl es hier nur zwei Dachverbände (den Schweizerischen Bauernverband und den Kleinbauern-Verband VSKMB) gibt. Deren Mitgliedsverbände nämlich arbeiten gewissermaßen multifunktional: als Branchenverbände und als Kartelle; überdies sind sie ihrerseits gern zusätzlich Mitglieder in SGV und/oder SHIV. Der Organisationsgrad ist übrigens im Gewerkschaftsbereich am niedrigsten20; in der Wirtschaft und zumal in der Landwirtschaft erreicht er häufig 100%.
19 Den Namen wählten die Industriellen mit Bedacht: In der alten Eidgenossenschaft bezeichnete der Begriff „Vorort“ den jeweils führenden Kanton. 20 Waren bis in die 1970er Jahre hinein noch über 30% der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, ging der Organisationsgrad ähnlich wie in anderen Ländern (NL, D) in den 1990er Jahren auf unter 25% zurück (Ebbinghaus/Visser 2000: 694).
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Die Verbändelandschaft kommt, so fragmentiert wie sie ist, auf den ersten Blick pluralistisch daher. Trotzdem wurde das schweizerische Interessenvermittlungssystem von Katzenstein (1984: 30) als „demokratisch korporatistisch“ eingestuft, was insofern überraschen muss, als es tripartistische Formen der Regulierung der Arbeitsbeziehungen in der Schweiz nie gegeben hat. Drei Merkmale mögen seine Einschätzung nachvollziehbar machen: (1) 1937 schlossen SGB und ZSAO ein Friedensabkommen, das seither Streiks in der Schweiz zur absoluten Ausnahmeerscheinung macht: Man verhandelt friedlich, wenngleich ohne Einschaltung staatlicher Instanzen. (2) Seit der Wirtschaftskrise im letzten Viertel des 19. Jhd.21 verlässt der schweizerische Staat sich darauf, dass im Interventions-„Notfall“ die Wirtschaftsverbände ihm zuarbeiten, Informationen liefern und bei der Umsetzung staatlicher Programme kooperieren. (3) Im kleinen schweizerischen Staat wird gern delegiert und ausgelagert (s. schon o. zum Milizsystem: Kap. 2.2.2): Was die staatliche Verwaltung nicht erledigen kann – oder will –, überträgt sie gesellschaftlichen Organisationen. Hieraus erwuchs das hervorstechendste Merkmal des schweizerischen Interessenvermittlungssystems: das der privaten Regierungen22, d.h. der konsensualen Ausgestaltung der Angelegenheiten eines Wirtschaftszweigs durch die dort agierenden Verbände, bei der der Staat als quasi-Auftraggeber dezent im Hintergrund verbleibt. Ein so markantes wie illustratives Beispiel hierfür ist die Organisation der Käserei-Wirtschaft (vgl. Farago 1987). Laut „Milchbeschluss“ (§ 53 des Landwirtschaftsgesetzes) ist dem Zentralverband der schweizerischen Milchwirtschaft (ZVSM) die Verantwortung für die Milchversorgung und Milchverarbeitung übertragen. Dieser Verantwortung kommt er in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Milchkäuferverband (SMKV), d.h. den Käseproduzenten nach. Beide Verbände – deren Mitglieder teilweise deckungsgleich sind – schließen Verträge miteinander und mit der Käseunion, einem Mittelding zwischen Verband und Kartell, die dann (zu den ausgehandelten und vom Bundesrat abgesegneten Preisen) ihre Mitgliedsfirmen (Migros, Coop und andere) und die Exporteure beliefert. Der Charme des Ganzen beruht auf den großen Schnittmengen zwischen den jeweiligen Mitgliedschaften, denn auch Käseproduzenten und Käsehandel sind im ZVSM organisiert; sprich: die verschiedenen Organisationen verhandeln und schließen Verträge jeweils mit sich selbst, was – bei z.T. 100%-igem Organisationsgrad – ein „lückenloses Regulierungssystem“ garantiert (ebd.: 139). In anderen Ländern wäre bei derart engmaschiger, kartellartiger Verknüpfung längst der Wettbewerbskommissar tätig geworden. Gleichermaßen weit von pluralistischem Wettbewerb der Verbände und von tripartistisch-korporatistischer Regulierung entfernt, sollte diese 21 Genau in dieser Phase (1878) entstand der SHIV – quasi als Partner der Regierung. 22 „Switzerland relies on private coordination“ (Katzenstein 1984: 92). Vgl. hierzu auch Linder 1999: 116 ff.
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Art der Interessendurchsetzung als eigener Typ gelten dürfen. Von bloßer Interessenvermittlung kann dabei schon nicht mehr die Rede sein, werden die Interessen doch, nach entsprechender Abstimmung untereinander, direkt umgesetzt. Der schweizerische Typ ist damit gleichwohl erst halb beschrieben. Die eine Seite der kartellartig verfestigten, unmittelbaren Durchsetzung etablierter Wirtschaftsinteressen findet nämlich ihre Ergänzung in der anderen, durch hohe Flexibilität gekennzeichneten Seite der Vermittlung neuer (und nicht allein ökonomischer) Interessen ins Entscheidungssystem. Nirgends haben ad hoc-Gruppen eine größere Chance, sich politisch zur Geltung zu bringen, als in der Referendumsdemokratie. (2) Um dies zu erreichen, bedürfen (wie oben gesehen: Kap. 2.2.2) weder Verbände noch ad hoc-Organisationen des Einflusses auf die situativen Vetospieler Parteien: Sie sind selber solche Vetospieler. Wenn es entsprechende Verknüpfungen gibt, ist das im Prozess der Interessenvermittlung und -durchsetzung eher unerheblich. Da verwundert es wenig, wenn das Verhältnis zwischen Parteien und Verbänden in der Schweiz vergleichsweise distanziert, die Verbindungen zwischen ihnen locker sind (vgl. Armingeon 2001: 418 ff.). Das gilt auch für das Verhältnis von SGB und SP, jedenfalls was die Ebene der Mitglieder betrifft; auf der Eliten-Ebene ist die Koalition enger. Am engsten sind wohl die Beziehungen zwischen der SVP und den Verbänden der Bauern und des Gewerbes, schließlich ist die SVP aus ihnen hervorgegangen. Weniger erheblich als in anderen Ländern ist ebenfalls, welche Verbindungen die Verbände zu den institutionellen Vetospielern haben. Ein Verbandsfunktionär muss nicht mit einem Bundesrat frühstücken, um ein geneigtes Ohr für seine Anliegen zu finden. Wichtiger sind die Vetopunkte, die das Entscheidungssystem mit Expertenkommissionen und Vernehmlassung für sie bereit hält; sie wurden oben (Kap. 2.2.2) beschrieben und müssen hier nicht noch einmal erläutert werden. Sie werden vervollständigt zum einen durch die eben geschilderte verbandliche Selbstregulierung, die die betreffenden Organisationen zu machtvollen Partnern des (auftraggebenden) Bundesrats macht, zum anderen durch die Möglichkeiten der Modifikation und Um-Interpretation von Bundesgesetzen, die ihnen deren dezentrale Umsetzung in den Kantonen verleiht: Bundesgesetze sind Rahmengesetze, deren konkrete und detaillierte Ausfüllung vor Ort zumeist erneut Verhandlungssache ist (vgl. Farago/Kriesi 1986: 198 ff.; Kissling-Näf/Knoepfel 1992: 58 f.). Wenn darum der gute Kontakt zu bestimmten institutionellen Vetospielern für die Verbände von Bedeutung ist, so ist es wohl am ehesten der zu den Kantonalregierungen. Entscheidendes Einfluss- und Druckmittel gesellschaftlicher Organisationen ist aber allemal die Referendumsdrohung. Die Mobilisierung des Vetospielers Volk, die die Verbände erst zu den wichtigen situativen Vetospielern machte, die sie in der Schweiz sind, bietet allerdings keine Erfolgsgarantie, denn Abstimmungsvorla-
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gen und die für und gegen sie vorgebrachten Argumente können gelegentlich unvorhergesehene Koalitionen von Interessenten und Betroffenen auf den Plan rufen.23 So vermag der Vetospieler Volk denn auch dafür zu sorgen, dass die Verbände nicht übermütig werden. (3) Das Letztere deutet darauf hin, dass Tendenzen zur Exklusion – sprich: zur Begünstigung einiger weniger und Vernachlässigung vieler anderer Interessen – immer wieder durchbrochen werden können. Das Vorhandensein solcher Tendenzen ist unleugbar: In den Expertenkommissionen findet sich ein deutliches Übergewicht der Wirtschaftsverbände24 (Linder 1999: 114 ff.); die „parastaatliche“ Regulierung (ebd.: 116 ff.) privilegiert die Organisationen von Produzenten, ggf. Händlern. Gewerkschaften und Konsumentenverbände sind nicht nur weniger zahlreich, sondern auch weniger präsent und auf die Vernehmlassung, die das Feld der zu Wort kommenden Interessenten deutlich verbreitert, sowie auf Referenden verwiesen. Auch die – wie immer losen – Kontakte zu den Regierungsparteien verlaufen asymmetrisch, denn während Wirtschafts-, Gewerbe- und Bauernverbände bei allen drei bürgerlichen Parteien ein offenes Ohr finden, können die Gewerkschaften nur bei der SP mit Sympathie rechnen. Fragt man in anderen Ländern nach der Konfliktfähigkeit und Drohkapazität von Verbänden, um über die Selektivität des Interessenvermittlungssystems Auskunft zu erhalten, so muss man in der Schweiz nach ihrer Mobilisierungsfähigkeit fragen. Streiks und vergleichbare Kampfsituationen sind nicht üblich. Statt auf die systemrelevante Leistungsverweigerung (s.o.) kommt es darauf an, glaubhaft die Blockade von Gesetzen androhen zu können, also „referendumsfähig“ zu sein. Die Referendumsfähigkeit wiederum hängt davon ab, wie viele Stimmbürger man einigermaßen zuverlässig auf seine Seite bringen kann. Sowohl ressourcen- wie mitgliederstarke Verbände sind hier auf den ersten Blick begünstigt. Das Ausmaß der Propaganda scheint ein wichtiger Erfolgsfaktor zu sein – was den ressourcenstarken Wirtschaftsverbänden Vorteile verschaffen müsste –, doch nur dann, wenn das öffentliche Trommelfeuer einseitig ist (vgl. die Zusammenfassung verschiedener empirischer Studien bei Linder 1999: 275 ff.); zudem finden sich immer wieder Beispiele, die das Gegenteil bezeugen.25 Vieles deutet darauf hin, dass das Abstimmungsverhalten umso weniger lenkbar ist, je konkreter und näher am Alltagsleben 23 Um ein Beispiel zu nennen: In einer Arbeitszeit-Frage etwa können implizit Fragen des Kirchgangs mit aktualisiert werden. 24 In den 1970er Jahren verteilten sich die Sitze in den Expertenkommissionen im Verhältnis 5,5 zu 1 auf Vertreter von Wirtschaftsverbänden und Unternehmen auf der einen und Gewerkschafter auf der anderen Seite. Vgl. Germann 1981: 110 f. 25 So die Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum, den die Schweizer Bürger gegen eine massive Kampagne von Regierung und Wirtschaftsverbänden ablehnten.
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die Abstimmungsfragen sind. Letztlich ist der Abstimmungserfolg unkalkulierbar (vgl. auch Trechsel 2002: 570 ff.) – mit zwei Maßgaben, die indessen weniger auf ein Ungleichgewicht zwischen den Verbänden verweisen als vielmehr auf allgemeinere Merkmale der politischen Kultur: Zum einen „singt der Chor der direkten Demokratie mit einem Ober- und Mittelschicht-Akzent“ (Linder 1992: 129), d.h. die Gebildeteren und Einkommenstärkeren beteiligen sich mehr als die einkommenschwächeren Schichten. Und zum anderen sind die Schweizer Bürger tendenziell konservativ, was Status quo-Interessen eine starke Position verleiht. Insgesamt garantiert (!) das schweizerische System, das dem der Konkordanz (s.o.) recht nahe kommt, vielen Interessen Gehör und Einfluss, seine Inklusivität ist vergleichsweise hoch. Politikfeldspezifisch (bei parastaatlicher Regulierung) ist sie z.T. deutlich niedriger. Asymmetrien ergeben sich aus der größeren Zahl und Präsenz von Wirtschafts- und Bauernverbänden gegenüber der anderer Organisationen, die sich via Referendum letzendlich gleichwohl behaupten können. Die Referendumsdemokratie korrigiert Asymmetrien und erhöht die Inklusivität, ist aber ihrerseits nicht neutral, sondern stabilisiert den Status quo (vgl. Abromeit 1993a: 194 ff.).
4.2.3. Schweden (1) In Schweden spielen die organisierten Interessen eine so große Rolle, dass es gern als Organisationssverige (Verbandsschweden) bezeichnet wird (Götz 2001: 381). Das deutet zum einen darauf hin, dass Organisationsgrad und Organsiationsdichte in Schweden sehr hoch sind. Jeder Schwede ist in durchschnittlich zwei Vereinen oder Verbänden Mitglied. Erstaunlicherweise können die Gewerkschaften auf die meisten Mitglieder verweisen – noch vor den Sportvereinen und den Konsumgenossenschaften (Milner 1989: 76). Zum anderen verweist der Begriff auf die enge Verschmelzung von Gesellschaft, Verbänden und Staat in einem nahezu modellhaften korporatistischen System. Diese Verschmelzung war in Schweden jedoch nicht allein auf den sozio-ökonomischen Sektor beschränkt, auf den sich die korporatistische Literatur konzentriert. Eine besondere Bedeutung spielten und spielen bis heute Volksbewegungen, von den Freikirchen und der Abstinenzlerbewerbung Ende des 19. Jhd. über die Bildungsvereine, die Mitte des 20. Jhd. entstanden, bis hin zu Friedens- und Umweltbewegungen Ende des 20. Jhd. (vgl. Petersson 1994: 151 ff.). Milner (1989: 73) spricht daher von einem „konzertierten“ System, in dem die Entstehung und Umsetzung von Werten unter Berücksichtigung vielfältiger gesellschaftlicher Organisationen erfolgt. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist in Schweden enorm hoch; nach 1945 stieg er von schon vergleichsweise hohen 60% auf über 85% seit Mitte der
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1990er Jahre an (Kjellberg 2000: 644). Besonders erstaunlich ist, dass nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Angestellten in so hohem Maße gewerkschaftliche Bindungen eingehen. Traditionell am stärksten ist die LO, der Dachverband der sozialistischen Arbeitergewerkschaften mit knapp 2 Mio Mitgliedern. Er wurde schon 1898 gegründet und war von Beginn an eng mit der SAP verbunden. Dank ihrer Zentralisierung war die LO früh ein wichtiger Akteur auf der politischen Bühne (Petersson 1989: 113). Die Ausweitung des Dienstleistungssektors zog in den 1930er und 1940er Jahren die Gründung zweier Angestelltengewerkschaftsbünde nach sich. In der TCO organisierten sich zunächst die Angestellten des öffentlichen Sektors, sie fusionierte aber bald mit dem Gewerkschaftsbund der Angestellten aus der Privatwirtschaft. Kurz danach wurde die SACO für die Akademiker und höheren Staatsangestellten gegründet. Während die Expansionphase der TCO in den 1980er Jahren endete, ist der Zulauf zur SACO ungebrochen. Zusammen sind unter den beiden Dächern inzwischen ca. 1,4 Mio Angestellte organisiert (Kjellberg 2000: 650). In den 1970er Jahren wechselte innerhalb der LO das Organisationsprinzip der Einzelgewerkschaften. Ursprünglich nach dem Berufsverbandsprinzip organisiert, passten sie sich dem europaweit üblichen Branchensystem an. Allein die SACO-Gewerkschaften halten bis heute am Berufs- und Examensprinzip fest. Auf die effektive Organisation der Gegenseite reagierten die Arbeitgeber 1902 mit der Gründung ihres Dachverbands SAF, der heute ca. 40 Branchenverbände vereinigt (Götz 2001: 389). Er trat als Koordinator bei den Tarifverhandlungen auf und war der mächtigste Interessenverband der Wirtschaft. Allein auf die politische Interessenvertretung konzentrierte sich der schwedische Industrieverband SI, quasi die Schwesterorganisation des SAF, womit die Organisationsstrukur im Wirtschaftsbereich stark der deutschen ähnelte (siehe Kap. 4.2.8). 2001 fusionierten beide Verbände zum Verband Schwedischer Unternehmen (SN). Nicht zu vernachlässigen sind die Konsumgenossenschaften, deren Dachorganisation KF über 2 Mio Mitglieder repräsentiert. Obwohl dieser Verband den Spagat zwischen Unternehmensvertretung des Einzelhandels und Volksbewegung bewältigen muss (Götz 2001: 390), ist er politisch präsent. Als letzter, aber wichtiger unter den ökonomisch orientierten Verbänden ist der Landwirtschaftsverband LRF zu nennen, unter dessen Dach sowohl Bauern als auch Verarbeiter und Großhändler vereinigt sind. Mit ihrer stark zentralisierten Organisation sind die Agrarinteressen nach wie vor relevant im politischen Prozess vertreten (Micheletti 1990). In den Anfangsjahren der schwedischen Demokratie waren die Bauern sogar die zentrale Kraft des Systems. Mit dem postulierten Ende der sozialdemokratischen Hegemonie und dem Prozess der „Entkorporisierung“ (s.u.) ging eine Welle der Gründung neuer Organisationen im sogenannten zivilgesellschaftlichen Bereich einher. In ihrer Ausrichtung
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alle der Postmoderne zuzurechnen, gelang es Frauen-, Umwelt- und Friedensbewegungen sowie neuen religiösen Strömungen, ihre Forderung nach neuen Werten nachdrücklich in der Öffentlichkeit zu vertreten (Micheletti 1995: 128 f.). Am besten organisiert und bis heute politisch relevant sind die etwa 15 größeren Umweltbewegungen, die über personelle Verflechtungen inzwischen auch Zugang in die Ministerialbürokratie erhalten haben (Micheletti 1995: 131). (2) Politischer Einfluss ist für schwedische Interessenorganisationen entweder indirekt (a) über Verbindungen mit den Parteien als situativen Vetospielern, (b) den Zugang zum institutionellen Vetospieler Regierung oder (c) mittels direkter Einbindung in die politischen Entscheidungs- und Implementationsprozesse an Vetopunkten möglich, so dass die Verbände selbst zu situativen Vetospielern werden können. (a) Die engste und wichtigste Verknüpfung zwischen Interessenorganisation und politischem Akteur besteht in Schweden zwischen LO und SAP, am deutlichsten sichtbar an der bis 1990 üblichen Kollektivmitgliedschaft in beiden Organisationen. Auch programmatisch arbeiteten beide sehr eng zusammen; bis zum Politikwechsel der SAP Mitte der 1990er Jahre waren ihre Positionen in Bezug auf wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitische Fragen praktisch deckungsgleich. Dank der nahezu ununterbrochenen Regierungsbeteiligung der SAP hatte die LO folglich direkten Zugang zum zentralen Agenda-Setzer. Noch 1991 wurde das Wahlmanifest der SAP gemeinsam von Parteivorstand und LO-Sekretariat verabschiedet (Petersson 1994: 163). Wenn auch die organisatorischen Bindungen inzwischen gelockert sind, bleiben SAP-Politiker in Regierung und Parlament bevorzugter Addressat der LO (Svensson/Öberg 2002: 309). Die Konsumgenossenschaften und Volksbewegungen stehen der SAP ebenfalls recht nahe – nicht zuletzt auf Grund der ideologischen Verbundenheit über das Konzept des „Volksheims“. Zwischen anderen Interessengruppen und Parteien sind die Beziehungen dagegen weniger eng, denn im Allgemeinen gilt das Muster der (zumindest rhetorischen) Neutralität der Verbände (Götz 2001: 395). So lautet denn auch das Selbstbekenntnis der beiden anderen Gewerkschaftsbünde TCO und insbesondere der SACO, die sich bewusst von der LO abgrenzen. Das hinderte TCO-Mitglieder allerding nicht, in SAP-Regierungen vertreten zu sein (Fenner 1998: 320). Zwar gibt es traditionell enge Verbindungen zwischen der aus der Bauernpartei hervorgegangen CP und dem LRF, auf Grund der politischen Lage suchte der LRF aber auch immer Kontakt zur SAP. (b) Als Alternative zum Weg über die Parteien wird von den Interessenorganisationen der Gang über die Bürokratie gewählt, um ihren Einfluss geltend zu machen. Naturgemäß ist das besonders attraktiv für die Organisationen, die der SAP weniger nahe stehen, wie die Unternehmensverbände oder der Bauernverband (Svensson/Öberg 2002: 307; Götz 2001: 397). Denn der Zugang über die anderen
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parlamentarischen Parteien blieb riskant, schließlich war im Vorfeld einer Entscheidung nie klar, welche Parteien im Parlament den letztlichen Kompromiss tragen würden. (c) Zentralisierte Lohnverhandlungen gab es in Schweden schon seit 1938 mit dem Abkommen von Saltsjöbaden, das den Weg für die direkte Involvierung der gesellschaftlichen Interessen ins staatliche Entscheidungssystem nach 1945 ebnete. Unterschiedlichste korporatistische Arrangements sorgten dafür, dass Gewerkschaften (insbesondere die LO) und Arbeitgeber (SAF) als situative Vetospieler verstanden werden konnten. Als prominentes Beispiel für diesen „administrative corporatism“ (Svensson/Öberg 2002: 301) kann das Zentralamt für Arbeit AMS gelten, jene Regierungsbehörde, die für die Koordinierung der Arbeitsmarktpolitik zuständig ist. In seinem Verwaltungsrat stellen die Vertreter von SAF und Gewerkschaften die Mehrheit und bestimmen so die Politik (Murhem 2003: 20). Aber auch in anderen Politikbereichen (Gesundheits- und Erziehungspolitik) gelang es den betroffenen Verbänden (Ärzte bzw. Lehrer), in der Formulierungs- und Implementationsphase entscheidend Einfluss zu nehmen (vgl. Blom-Hansen 2000: 176). Einen inklusiveren Weg der direkten Beteiligung bieten Vetopunkte im Gesetzgebungsverfahren, das in allen Politikfeldern Interessenorganistionen mittels Experten innerhalb von Kommissionen bzw. über Stellunganahmen im Remiss-Verfahren die Möglichkeit eröffnet, auf die Politikformulierung Einfluss zu nehmen („political corporatism“, Svensson/Öberg 2002: 300). Das Jahr 1991 markiert jedoch einen Wendepunkt für das schwedische System der Interessenvermittlung. Einerseits kam es nach Jahrzehnten wieder zu einer bürgerlichen Koalition, womit die SAP ihren direkten policy-Einfluss verlor. Andererseits kündigte der SAF die Mitarbeit in sämtlichen korporatistischen Gremien – auch im AMS – auf; insgesamt verlor der „administrative Korportismus“ an Bedeutung (Svensson/Öberg 2002: 310). Auch die SAP-Regierung unter Carlsson kehrte nach 1994 nicht mehr zu alten Mustern zurück; mit der gleichzeitigen Abkehr von einer keynesianischen Wirtschaftspolitik wurde der Einfluss der LO zurückgedrängt. Überdies wurden im Gesetzgebungsverfahren der Spielraum der Kommissionen und bei den Behörden der Spielraum der Verwaltungsräte eingeschränkt (s. schon o., Kap. 2.2.3). Als Fazit galt Mitte der 1990er Jahre: „The major interest organisations no longer enjoy the same degree of access to the political decisionmaking process“ (Petersson 1994: 163). Mit der positiven Wirkung der Reformbemühungen verbesserte sich immerhin das Verhältnis zwischen SAF und Gewerkschaften wieder, so dass nach Jahren rein dezentraler Abkommen mit dem Industrieabkommen von 1997 erstmals wieder eine nationale Übereinkunft – wenn auch nur für die „white collars“ – abgeschlossen werden konnte. Auch finden sich Anzeichen dafür, dass die Verbandsrepräsen-
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tation in den Räten der Behörden weiterhin wirksam ist oder gar wieder zunimmt (Götz 2001: 396). (3) Die Reform des Sozialstaates und das postulierte Ende des Wohlfahrtsstaates oder zumindest dessen Hinterfragung hat in den 1990er Jahren zu einer Veränderung des Verbandseinflusses geführt. Konnten 1990 die Verbände noch als „fünfte Staatsmacht“ (Henningsen 1990) bezeichnet werden, ist die symbiotische Zusammenarbeit zwischen gesellschaftlichen und politischen Akteuren inzwischen doch gelockert. Insbesondere für die ökonomischen Interessenorganisationen hat sich die Bedeutung der Einflusskanäle verschoben. Die institutionalisierte, korporatistische, aktive Mitentscheidung als situative Vetospieler ist weniger üblich („Entkorporatisierung“), infomelle Einflussstrategien nach pluralistischem Muster treten in den Vordergrund (Götz 2001: 398). Das heißt jedoch nicht, dass die Interessen nicht weiterhin entscheidenden Einfluss auf die Politik nehmen könnten (vgl. Svensson/ Öberg 2002; Blom-Hansen 2000). Vor 1990 war die LO auf Grund ihrer engen Beziehungen zur SAP sicherlich die einflussreichste Interessenorganisation. Zumindest im Bereich der Arbeitsbeziehungen konnte man von Asymmetrie sprechen, die nun wohl nicht mehr besteht. Insgesamt ist eine hohe Inklusivität gesellschaftlicher Interessen zu konstatieren. Die direkte Einbeziehung der Verbände in den politischen Entscheidungsprozess in den Regierungsbehörden und im Gesetzgebungsverfahren hat es nicht nur den wirtschaftlichen Interessenorganisationen ermöglicht, maßgeblich auf Politikentscheidungen und -implementation Einfluss zu nehmen. Im Anschluss an Milner (1989) und Blom-Hansen (2000) ist festzuhalten, dass die Konzentration der Forschung auf den ökonomischen Sektor nicht mit einer faktischen Asymmetrie zu Gunsten der wirtschaftlichen Verbände – und hier insbesondere der LO – gleichzusetzen ist.
4.2.4. Frankreich (1) Die nun schon mehrfach erwähnte Organisations-Unwilligkeit der Franzosen muss sich auch in ihrem Interessenvermittlungssystem bemerkbar machen. Individualismus, die noch aus der Revolutionszeit stammende Ablehnung intermediärer (weil partikularer) Organisationen (vgl. Mény 1999: 348 f.) und „die allgemeine Aversion der Franzosen gegen das Vereinsleben“ bewirkten in der Tat, dass in Frankreich „die Struktur und die organisatorische Ausstattung der meisten Gruppierungen ... weit weniger ausgeprägt (sind) als in vielen anderen Ländern“ (Ehrmann 1976: 123). Gleichwohl werden Interessen vermittelt und durchgesetzt, allerdings in einem „nahezu undurchschaubaren Geflecht institutioneller und infor-
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meller Interessenvertretung ..., das sich mit dem Begriff ,Verbändesystem‘ nur schwer fassen lässt“ (Jansen 2001: 125). Nachdem dies erst einmal festgestellt ist, wundert man sich, dass es in Frankreich denn doch eine Vielzahl von Verbänden gibt. Allein auf Gewerkschaftsseite bestehen fünf Dachverbände – kommunistische (CGT), sozialistische (CFDT), anarcho-syndikalistische (CGT-FO), katholische (CFTC) und einen solchen der Führungskräfte (CFE-CGC) –, die zusammen genommen inzwischen weniger als 10% der Arbeitnehmer zu ihren Mitgliedern zählen (Ebbinghaus/Visser 2000: 271), aber für sich reklamieren, 60% von ihnen zu „vertreten“ (Jansen 2001: 131). Die in ihnen vereinten Einzelgewerkschaften sind nach dem Berufs-, dem Industrieverbands- oder gar nach dem Territorialprinzip organisiert. Die Unternehmerverbände waren kaum weniger zersplittert und fanden sich überhaupt erst 1936, angesichts der unmittelbaren Bedrohung durch die „Volksfront“, zum Patronat (Centre National du Patronat Français, CNPF) zusammen.26 Nach 1945 führte es zunächst ein Schattendasein und erlangte erst ab Mitte der 1960er Jahre – unter mehr oder weniger sanftem Druck des Staates (vgl. Kowalsky 1989) – eine gewisse Bedeutung. 1998 reformierte es sich und nennt sich nun Mouvement des Entreprises de France (MEDEF). Bis heute ist es ihm aber nicht gelungen, auch die kleinund mittelständischen Unternehmen unter seinem Dach zu versammeln, die sich auf mehrere rivalisierende Organisationen verteilen, deren größte die CGPME ist. Auf Drängen des Staates sind dagegen die Anfang der 1980er Jahre verstaatlichten Industriekonzerne und Banken weiterhin Mitglieder – nicht zuletzt, um dem finanziellen Bankrott des CNPF vorzubeugen (vgl. Mény 1999: 352). Auch die Bauernverbände sind im Prinzip fragmentiert. Die wichtigste Organisation ist hier seit den 1950er Jahren die FNSEA, die Föderation der Bauern-Syndikate in den Départements. Keinem der französischen Verbände lässt sich nachsagen, dass er ein Bereichsmonopol hätte.27 Dazu sind die Fragmentierung zu hoch und die Organisationsgrade (über die jeweils nur Schätzungen vorliegen) zu niedrig. Zum Ausgleich gibt es das Konstrukt der Repräsentativität der Verbände, die jeweils die zuständigen Ministerien feststellen, und zwar zumeist auf der Basis der Ergebnisse von Kammer-, Sozial-, Betriebsausschuss- u.ä. Wahlen. Wirkliche Repräsentativität wird zwar durch interne Selbstblockaden immer wieder in Frage gestellt. So gilt gerade die FNSEA als „Schlachtfeld feudaler Kriegsherren“ und ist das Patronat in „Clans“ gespalten 26 Vorläufer in Gestalt einer losen Vereinigung entstanden nach dem Ersten Weltkrieg, aber nur auf Drängen des Industrieministeriums (vgl. Kowalsky 1989: 2). 27 Einige Verbände haben in ihrem Bereich immerhin eine hegemoniale Position; hierzu zählen die FNSEA, der Lehrerverband FEN, der Ordre des Médecins und das Patronat (bzw. MEDEF), vgl. Wright 1989: 286.
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(vgl. Wright 1989: 287 f.). Doch mit dem staatlichen Stempel versehen, haben die betreffenden Verbände dann die Chance, bei der Ausformulierung bzw. Konkretisierung regulierender Gesetze gehört zu werden (vgl. Jansen 2001: 131; 136). Das Ganze sieht nach „staatlich autorisiertem Pluralismus“ aus – ein immerhin ungewöhnlicher Typ eines Interessenvermittlungssystems.28 Die staatliche Regulierung ist nur die eine Seite einer Medaille, deren andere die action directe ist. Die Gewerkschaften mögen wenige Mitglieder haben, vermögen aber ihre Klientel zu großen Streiks zu mobilisieren. Bauernverbände mögen Mitglieder verlieren und zerstritten sein, aber ihre Klientel findet sich zu Sternfahrten nach Paris zusammen, um die Regierung unter Druck zu setzen. Die Bewegungsrichtung ist dabei nicht immer eindeutig: Mobilisieren die Verbände erfolgreich ihre Basis, oder werden sie ihrerseits durch spontane Protestaktionen mobilisiert? Für das letztere spricht, dass auch Schüler-, Studenten- und andere ad hoc-Gruppen die Pariser Straßen verstopfen und damit Erfolge verbuchen können (vgl. hierzu Mény 1999: 357 f.). So schillert der französische Typ der Interessenvermittlung zwischen einer „kanalisierten“ (Jansen 2001: 143) Abart von Pluralismus und Anomie. (2) In diesem Modell sind Verknüpfungen zwischen Interessengruppen und Parteien von geringer Relevanz, auch wenn CFDT und PS oder MEDEF und UMP einander nahestehen mögen. Zugang zu institutionellen Vetospielern – namentlich zu Nationalversammlung und Regierung – haben die als repräsentativ anerkannten Verbände, die überdies das Privileg haben, im Wirtschafts- und Sozialrat und anderen Beratungsgremien sitzen zu dürfen. Mit denen sind allerdings keine Vetopunkte institutionalisiert, da die Regierung darüber entscheidet, ob sie die betreffenden Gremien überhaupt einschaltet und welcher Stimme sie Gewicht beimisst (vgl. Jansen 2001: 146 f.). Eine Sonderrolle nimmt hier vielleicht das Politikfeld Agrar ein (s. hierzu auch schon Ehrmann 1976: 127, 133). Bei der Formulierung der lois d’orientation, die die agrarpolitischen Leitlinien mittelfristig festlegen, haben die derzeit drei als repräsentativ akzeptierten Bauernverbände mutmaßlich einigen Einfluss. Doch ist solcher Einfluss – und die z.T. damit verbundene staatliche Subventionierung der Organisation – möglicherweise teuer erkauft, denn die Ministerien, die per Dekret über die Repräsentativität eines Verbandes befinden, nehmen zugleich das Recht für sich in Anspruch, in den Verband hineinzuregieren. Die Verbandsaktivitäten sind damit gewissermaßen „unter eine staatliche Vormundschaft“ gestellt (Jansen 2001: 147). 28 Die Kombination eines autonomen und zentralisierten Staates mit eher schwach organisierten Interessenverbänden entspricht bei Atkinson/Coleman (1989: 54) dem Typ des „staatsdominierten Netzwerks“.
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Was für die Organisationen gilt, gilt nicht notwendigerweise für deren Mitglieder – jedenfalls nicht, sofern sie Unternehmensleiter sind. Ihnen eröffnen die mit den führenden Ministerialen gemeinsame Sozialisation in den Grandes Ecoles und die pantouflage (s.o., Kap. 2.2.4) Einflusschancen der besonderen Art. In diesem Kontext sollten die staatlichen Unternehmen nicht unerwähnt bleiben, von denen es trotz einer Reihe von Reprivatisierungen noch etliche gibt. Man darf davon ausgehen, dass ihre Manager über besonders gute Drähte zur Regierung verfügen. Gerade das Politikfeld Industriepolitik macht deutlich, dass die entscheidenden Einflüsse nicht von den (Branchen-)Verbänden ausgehen, sondern von großen Konzernen. Spätestens in den 1980er Jahren wurden sie „zum direkten, privilegierten Partner der Regierung“ (Neumann/Uterwedde 1986: 105). Bei der Suche nach Vetopunkten und Einflussschienen zu den institutionellen Vetospielern stoßen wir letztlich wieder auf „the untidy reality“ (Wright 1989: 274): Das „open conflict-model“, in dem es statt um Vetopunkte um Machtkämpfe geht, konkurriert mit engen klientelistischen Beziehungen sowie mit dem „kanalisierten“ Pluralismus, der auf Konsultation basiert.29 Nur das korporatistische Modell der tripartistischen Kooperation ist die absolute Ausnahme (ebd.: 261 ff.). Die Beziehungen zwischen Staat und Verbänden wechseln zwischen staatlicher Domestizierung der Gruppe, Dauer-Kooperation, Ablehnung aller Kontakte und Kolonisierung der Verwaltung (ebd.: 290 ff.) und variieren von Politikfeld zu Politikfeld, von Zeitphase zu Zeitphase, von Regierung zu Regierung: Sie sind „infinitely complex, intrinsically untidy and constantly changing“ (ebd.: 293). (3) Wo es so wenige Regelmäßigkeiten gibt, scheint die Frage nach Inklusion oder Exklusion kaum zu beantworten. Nur so viel steht fest: Die Führungen der Großunternehmen, ob nun staatlich oder privat, sind eine deutlich privilegierte Gruppe. Ansonsten variiert die Inklusivität, und es ist (fast) stets die jeweilige Regierung, die ihren Grad bestimmt. Die Ausnahme stellen die direkten Aktionen dar, die in unregelmäßigen Abständen und mal mehr, mal weniger erfolgreich Interessenberücksichtigung zu erzwingen versuchen. Sie bewirken punktuelle Durchbrechungen des autoritären Klientelismus, insofern Regierungen Entgegenkommen zeigen, um Revolten zu verhindern (vgl. Wright 1989: 258). Was nun die Durchschlagskraft spontaner Proteste und der sie tragenden ad hoc-Gruppen sowie damit verbundene Asymmetrien betrifft, sind Regelmäßigkeiten ebensowenig erkennbar, zumal sie nicht von der Konflikt- und Mobilisierungsfähigkeit organisierter Gruppen abhängt – und schon gar nicht von deren Drohkapazität im oben definierten Sinn, denn womit können z.B. Schüler und Studenten drohen?30 Offenbar geht es eher 29 Wright (1989: 258) nennt dieses Modell den „autoritären Klientelismus“. 30 Während wir dieses schreiben, haben Schüler-Proteste bewirkt, dass die Regierung ihre Reform des
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darum, wann jeweils ein bestimmtes „Maß voll“ ist, und das ist schwer vorhersehbar. Aus all dem ist zu schließen, dass im Normalfall die Inklusivität des französischen Interessenvermittlungssystems eher gering und die Selektivität der Interessenberücksichtigung hoch ist, im Ausnahmefall aber die Inklusivität sich verbreitert. Wichtig ist, dass die Interessenberücksichtigung vom Parteienwettbewerb weitgehend abgekoppelt ist und auch mit der Struktur der Verbändelandschaft eher weniger zu tun hat. Am ehesten wird sie von der Logik des Verwaltungshandelns bestimmt. Idealisten könnten nun vermuten, dass dies sowohl eine Symmetrie der Einflusschancen bewirkt als auch die höchstmögliche Beachtung der Interessen der Allgemeinheit ermöglicht. Dagegen spricht die Geschlossenheit und weitgehende soziale Abschottung der die Ministerialbürokratie bevölkernden „ENArchen“ (s.o.: Kap. 2.2.4), die die Wahrnehmung der im Lande drängenden Probleme zum Zufallsergebnis werden lassen. Immerhin sind die Verwaltungs- und die Wirtschaftseliten, wie erwähnt, innig miteinander verbunden, doch diese Kern-Elite zeichnet sich durch einen gewissen Autismus aus (vgl. Abromeit 1993a: 212), der, statt durch Volksabstimmungen wie im Schweizer Fall, gewissermaßen nur mit Gewalt aufzubrechen ist. Das Gesamtbild ist damit eines der von oben gesteuerten, durch die Verwaltung gefilterten, limitierten Inklusivität und verweist, von unten betrachtet, auf hochgradige Asymmetrie.
4.2.5. Italien (1) Die italienische Verbändelandschaft ist auf den ersten Blick ähnlich unübersichtlich wie die französische, wenn auch aus anderen Gründen. Fragmentierungen resultieren hier nicht aus latenter Organisationsfeindlichkeit, sondern, eher im Gegenteil, aus subkultureller Über-Organisation. Vor allem Gewerkschaften gründeten sich innerhalb der Subkulturen, also entweder als sozialistische oder als katholische, was zugleich eine enge Bindung an die die jeweilige Subkultur dominierenden Parteien implizierte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wollte man die Spaltung überwinden und versuchte es mit einer partei-übergreifenden Einheitsgewerkschaft, der CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro), die von einem DreierGremium aus PCI, PSI und DC geführt werden sollte. Die Einigkeit währte nicht lange. Nach nur wenigen Jahren gründeten die Christdemokraten erneut eine kabaccalaureat zurückzog. Den Massenprotesten gegen die Aufhebung der 35-Stunden-Woche (Anfang Februar 2005) war dagegen zunächst kein Erfolg beschieden, doch zeigt ihre Wiederholung möglicherweise Wirkung.
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tholische Gewerkschaft (CISL), kurz darauf die Sozialisten und Republikaner die laizistische UIL und schließlich der MSI die neofaschistische CISNAL (jetzt UGIL/ UGL), die vergleichsweise unbedeutend blieb. Die Spaltung in drei große Gewerkschaftsbünde verhinderte in den 1950er und 1960er Jahren, dass sie sich zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor entwickeln konnten. Im gemeinsamen Kampf um die scala mobile (ein System automatischer Lohnanpassung) ab Ende der 1960er Jahre zeigte sich, dass man mit einer Konzentration der Kräfte mehr erreichen kann. Das zog einen neuerlichen Versuch nach sich, die Spaltung zu überwinden. Aber auch die 1972 gebildete lose Konföderation blieb kurzlebig; sie zerbrach schon Ende der 1970er Jahre31 an der parteipolitischen Frage, „wie hältst du es mit dem PCI?“ (Abromeit 1993a: 95; Braun 1992). Als eine Art Protestbewegung frustrierter Mitglieder bildeten sich ab Ende der 1980er Jahre „autonome“ Gewerkschaften (cobas), die aber z.T. intern die Konflikte zwischen den großen Bünden nachvollziehen (vgl. Koff/Koff 1999: 89). Der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt unterlag im Übrigen erheblichen Schwankungen: Von über 40% in den 1950er Jahren sank er auf unter 30% in den 1960ern, erreichte Ende der 1970er einen Gipfel von 50% und liegt inzwischen wieder weit unter 40% (vgl. Ebbinghaus/Visser 2000: 419). Das Unternehmerlager war traditionell nicht nach Subkulturen, sondern nach Unternehmenstyp und -größe gespalten, wobei allerdings die großindustrielle Confindustria stets deutlich dominierte. Die kleinen und mittleren Unternehmen waren in der Confapi organisiert (die weiterbesteht, obwohl ihre Klientel sich inzwischen möglicherweise mehrheitlich in der Confindustria versammelt), der früher extensive staatliche Wirtschaftssektor in der zeitweise einflussreichen Intersind. Die Staatsholding ENI hatte mit der ASAP gar eine eigene Interessenvertretung. Mehrere Verbände gibt es auch im Landwirtschaftsbereich, wiederum (z.T.) nach Parteilinien gespalten; sie spielen in der italienischen Politik eine vergleichsweise unbedeutende Rolle. Koff und Koff (1999: 81 f.) unterscheiden im italienischen Interessenvermittlungssystem von den assoziativen die anomischen und die nicht-assoziativen Akteure. „Anomic groups“ und ihre gewalttätigen Aktivitäten waren aber wohl eher ein Merkmal vergangener Jahrzehnte. U.E. lassen sie sich nach allen Relevanz-Kriterien nicht mit dem vergleichen, was wir unter dem Stichwort action directe für Frankreich beschrieben haben. Anders verhält es sich mit den „non-associational groups“, die u.a. auf ethnischen, Familien- und Clan-Verbindungen beruhen und vor allem in Süditalien verbreitet sind – wie die Mafia, die Camorra und die N’drangheta32 – 31 Formell wurde das Bündnis erst 1984 aufgelöst. 32 Außer ihnen behandeln Koff und Koff in diesem Zusammenhang die Geheimloge P2, in der sich Konservative aus allen gesellschaftlichen Bereichen treffen (ebd.: 95 f.).
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und mit teilweise erheblicher Drohkapazität die Durchsetzung ihrer Interessen befördern. Nach unseren oben (Kap. 4.1) dargelegten Kategorien ist aber gerade ihre Art der Interessendurchsetzung unter „Anomie“ zu subsumieren. Auf Grund der subkulturellen und stark parteipolitisch geprägten Versäulung lässt das italienische System der Interessenvermittlung sich definitiv nicht als eines pluralistischer Repräsentanz klassifizieren. Aber auch korporatistische Strukturen fehlten lange Zeit, zumal die Arbeitsbeziehungen jeglicher staatlicher Regulierung entbehrten. Die tripartistischen Verhandlungen um die scala mobile, in denen die damalige Regierung Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zur Einigung zwang, waren ein erster Versuch in diese Richtung. Seinerzeit eine Eintagsfliege, haben „trilaterale konzertierte Aktionen“ sich in den 1990er Jahren33 in der Einkommenspolitik halbwegs etablieren können (vgl. Trautmann 2003: 531; Trentini/Zanetti 2001: 235 f.). Gleichwohl sind die korporatistischen Elemente schwächer ausgeprägt, als bei subkultureller Versäulung zu erwarten wäre (vgl. dazu das Beispiel der Niederlande). Modifiziert werden sie ohnehin durch die angesprochenen Einsprengsel von Elementen der Anomie. Hervorstechendstes Merkmal des Interessenvermittlungssystems der „ersten Republik“ war aber die Dominanz der Parteien über die Verbände. In der „zweiten Republik“ scheint sich in dieser Hinsicht noch kein konstantes Muster ausgebildet zu haben. (2) Haupt-Einflussschiene für Interessenten ebenso wie Hauptgrund für die Schwäche der Verbände war eben die enge Verknüpfung mit den situativen Vetospielern Parteien. So hatte – und hat – die primär mit dem PCI (und heute mit der RC) verbandelte CGIL stets politische Durchsetzungsprobleme, weil „ihre“ Partei(en) kaum je der regierenden Mehrheit angehörten. Die Confindustria fand sich mit einer ungewohnten Situation politischer Einflusslosigkeit konfrontiert, als eine Mitte-Links-Regierung (Craxi) an der Macht war, und noch mehr, als die DC von der politischen Bühne verschwand. Da in der italienischen partitocrazia jeglicher Einfluss aufs staatliche Entscheidungssystem sich notgedrungen über diese situativen Vetospieler vermittelt, müssen wir uns mit Verknüpfungen der Verbände mit den institutionellen Vetospielern nicht gesondert beschäftigen. Immerhin hält das Entscheidungssystem mit der dezentralisierten Gesetzgebung durch die Parlamentsausschüsse Vetopunkte der besonderen Art bereit (s.o., Kap. 2.2.5). Bei der Erarbeitung der leggine muss nicht immer das ganze Parteienbündnis der Regierungsmehrheit überzeugt werden und haben folglich nicht nur Verbände, sondern auch Einzel-Interessenten ein ideales Feld für ihre Lobby-Tätigkeit. Weitere access points, ebenfalls der besonderen Art, stehen auf allen staatlichen Ebenen dank der Korrup33 Genauer: seit dem „Protokoll“ zwischen Gewerkschaftsbünden, Arbeitgebern und Regierung vom Juli 1993.
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tionsanfälligkeit der Verwaltungen zur Verfügung. Sie werden z.B. durch die Mafia ausführlich genutzt, die sich unbeschadet aller gerichtlichen Versuche, eine saubere Verwaltung zu erstreiten (mani pulite), in den 1990er Jahren nicht nur behaupten, sondern ihre Machtbasis sogar ausbauen konnte (vgl. Orlandini 2001: 64 ff.; Koff/ Koff 1999: 97 ff.). (3) Die Dominanz der Parteien über die Verbände sagt über die Selektivität der Interessenberücksichtigung noch nichts aus, zumal dann nicht, wenn Regierungen aus Koalitionen mehrerer Parteien bestehen. Misslich war allerdings in der „ersten Republik“ für die Arbeitnehmer, dass (a) ihre größte Gewerkschaft, die CGIL, eng mit dem PCI liiert war, den die Mitte-Parteien so sorgsam von der Regierung fernhielten; (b) dass die zweitgrößte Gewerkschaft, die CISL, für die (fast) dauer-regierende DC offenkundig zu den weniger zu beachtenden gesellschaftlichen „B-Gruppen“ zählte und der PSI als Partner der UIL erst in den 1980er Jahren an politischer Bedeutung gewann; und (c) dass die Beziehungen der DC zur Confindustria so eng waren, dass einzelne seiner (Arbeitgeber-)Fachverbände geradezu als „Nebenorganisationen der Democrazia Cristiana“ galten (Trentini/Zanetti 2001: 235). In der „zweiten Republik“ scheinen sich bisher weniger stabile Bündnisse zwischen Parteien und Verbänden etabliert zu haben, woraus Koff und Koff (1999: 108) schließen, dass die Inklusivität des Systems sich verbreitert habe. Das mag insofern in Frage stehen, als aus dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems ausgerechnet die Gewerkschaften, die sich in den 1970er und 1980er Jahren immerhin einigen Einfluss erkämpft hatten, geschwächt hervorgingen. Zum Ausgleich sind sie nun immerhin fallweise in korporatistische Regulierung einbezogen.34 Asymmetrisch sind auch die Chancen verteilt, die wenigen, schwach ausgeprägten Vetopunkte zu nutzen: Die dezentralisierte Gesetzgebung begünstigt Wirtschaftsinteressen, die Schwäche der Bürokratie sowohl ressourcenstarke Unternehmen als auch die Mafia. Beide verfügen zugleich über hinreichende Drohkapazität. Die Konflikt- und Mobilisierungsfähigkeit der meisten organisierten Gruppen und damit deren Durchsetzungsfähigkeit wurden dagegen in der Vergangenheit immer wieder von interner Zerstrittenheit beeinträchtigt. Anders als in Frankreich glichen ihre Mitglieder das in eher geringem Umfang durch direkte Aktionen aus. Erst Berlusconis Politik scheint hier in den letzten Jahren einen gewissen Wandel zu bewirken. Der Protest gegen sie mobilisiert Bürger zu spontanen Demonstrationen und vereint die Gewerkschafter zu eindrucksvollen Generalstreiks – quasi eine negative Mobilisierung, der überdies der Erfolg bisher versagt blieb. Nach Ansicht von Beobachtern (z.B. Koff/Koff 1999: 108 f.; Trentini/Zanetti 2001: 238) ist es den Verbänden in den 1990er Jahren gelungen, sich vom Partei34 Was unter den Regierungen Berlusconis allerdings schon wieder in Frage steht.
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ensystem und seinen ideologischen Konflikten zu emanzipieren und zu primär policy-orientiertem Verhalten zu finden. Dementsprechend würde das italienische Interessenvermittlungssystem sich dem europäischen Normalmaß einer Mischung aus pluralistischer Repräsentanz und korporatistischen Elementen annähern, das mittlere Werte in puncto Inklusivität und Selektivität verheißt. Ob die weitere Entwicklung dies bestätigt, bleibt abzuwarten. Die offenen Flanken der Korruptionsanfälligkeit und des Mafia-Einflusses zumindest bestehen weiterhin und sind Ursache andauernder Asymmetrie.
4.2.6. Niederlande (1) Die niederländische Verbändelandschaft erscheint auf Grund der gesellschaftlichen Versäulung über lange Jahre als gut geordnet. Die Organisation gesellschaftlicher Interessen in allen Bereichen fand zuvörderst innerhalb der eigenen Säule statt. So entstand ein im Vergleich zu anderen Ländern geschlosseneres Entwicklungsbild, dessen Fragmentierung eindeutig der gesellschaftlichen Segmentierung geschuldet ist. Diese Struktur ist mit einer traditionell starken politischen Einflussnahme der gesellschaftlichen Akteure verbunden: entweder indirekt über die Parteien ihrer jeweiligen Säule oder direkt in korporatistischen Arrangements. Mit der zunehmenden Entsäulung wurde die Verbändelandschaft pluraler, Protest- und neue soziale Bewegungen etablierten sich in ihrer Opposition gegen die versäulte Gesellschaft. Auf nationaler Ebene allerdings blieben von den neuen Gruppierungen allein die Organisationen der Umweltbewegung bis heute relevant (Kleinfeld 2001: 305 f.). Bei allen Veränderungstendenzen kann das niederländische Verbändesystem aber nach wie vor „am besten als Konkordanz- oder Verhandlungsdemokratie mit korporatistischen Politikmustern im Rahmen einer starken Zivilgesellschaft umschrieben werden“ (Kleinfeld 2001: 288). Die Versäulung machte sich direkt in der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften bemerkbar. Sie prägten das Vereins- und Verbandswesen entscheidend mit und waren besonders eng mit den jeweiligen konfessionellen Parteien verbunden. Von der Entsäulung sind sie daher besonders betroffen, stellen die Konfessionslosen doch inzwischen die größte gesellschaftliche Gruppe (Kleinfeld 2001: 303). Das führte zu einem Bedeutungsverlust der vielen kleinen, zumeist kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Zwar bewirkte die Entwicklung eines Staats-dominierten Systems der Wohlfahrtspflege einen gewissen Konzentrationsprozess, doch politisch blieben die Verbände bedeutungslos. Vor allem die Organisationsentwicklung der Gewerkschaften folgte der Logik der Versäulung (Kriesi 1993: 131). Neben dem 1905 gegründeten sozialistischen NVV entstand schon 1909 innerhalb der protestantischen Säule der CNV und mit
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etwas Verspätung 1924 der katholische Gewerkschaftsbund (ab 1964 NKV). Jede dieser Dachgewerkschaften war ein Zusammenschluss einer unterschiedlichen Anzahl von Einzelgewerkschaften, die nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind (Kleinfeld 1990: 168 ff.). Der Organisationsgrad schwankte bis Ende der 1960er Jahre um vergleichsweise durchschnittliche 40% (Ebbinghaus/Visser 2000: 491); alle großen Dachverbände können daher als Massenorganisationen gelten. Programmatisch waren sie auf Grund ihrer Einbindung in das konsensuale System der Elitenkooperation in dieser Zeit sozialpartnerschaftlich orientiert. 1976 kam es als Reaktion auf die beginnende Entsäulung zur spektakulären Föderation und 1982 zur offiziellen Fusion von NVV und NKV zur FNV, um die Kräfte im Arbeitnehmerlager zu bündeln. Einige katholische Einzelgewerkschaften schlossen sich jedoch lieber dem CNV an, was diesem nun einen überkonfessionellen Charakter verleiht. Parallel dazu etablierte sich als erster relevanter „nicht-versäulter“ Dachverband der MHP für die Gruppe der leitenden Angestellten und höheren Beamten. Auf Grund seiner Distanz zu den beiden anderen Dachorganisationen konnte er seine Mitgliederbasis immer weiter vergrößern (Ebbinghaus/Visser 2000: 495). Darüber hinaus sind zwei Entwicklungstendenzen bemerkenswert. Im Gegensatz zu anderen Ländern kam es nach einem Rückgang der Mitgliederzahlen bis in die 1980er Jahre zu einem Stop des Abwärtstrends: In den 1990er Jahren stieg die Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer von 1,2 auf 1,4 Mio an und der Organsiationsgrad blieb bei knapp 25% stabil (Ebbinghaus/Visser 2000: 491).35 Verbunden ist diese Entwicklung mit einer teilweisen Abkehr von der sozialpartnerschaftlichen Orientierung. Der FNV nutzte den Zusammenschluss in den 1980er Jahren zudem zur Abkehr von parteipolitischen Positionen und Bindungen, was ihn in Opposition zu CDA-geführten Regierungen brachte. Die ersten Arbeitgeberorganisationen entwickelten sich Ende des 19. Jhd. zum Zweck der Abwehr sozialpolitischer Forderungen an den Staat (Kleinfeld 2001: 297). Auch hier bewirkte die Versäulung zunächst die Bildung jeweils eigener Dachverbände. In den 1970er Jahren fusionierten die zwei konfessionell organisierten Dachverbände zum NCW. Organisatorisch dominierte innerhalb des NCW die katholische Diözesanstruktur über den Branchenaspekt, mit der Folge, dass innerhalb des NCW regionale Aspekte eine erhebliche Rolle spielten (Kleinfeld 1990: 208). Dagegen setzte sich der liberale, konfessionell ungebundene VNO aus Branchenverbänden und einzelnen Unternehmen zusammen. 1995 kam es schließlich zur Fusion, die vor allem von den führenden Großunternehmen des Landes forciert wurde. Daneben bestehen die politisch weniger bedeutenden Dachorganisa-
35 Insgesamt bestehen nach wie vor ca. 200 Einzelgewerkschaften, über 90% der Mitglieder sind in einer der drei großen Dachorganisationen vertreten (Ebbinghaus/Visser 2000: 486).
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tionen der Klein- und Mittelbetriebe in Einzelhandel und Handwerk (MKB) sowie die LTO für den primären Sektor. Der Landwirtschaftsbereich entzog sich schon nach 1945 dem Prinzip der Versäulung. Stattdessen etablierte sich eine öffentlich-rechtliche Vertretung in Form einer Landwirtschaftskammer, in der alle Bauern und Gärtner Pflichtmitglieder wurden. In der Landwirtschaftskrise der 1980er Jahre formierte sich sowohl seitens der LTO als auch der Gewerkschaften Opposition gegen die bestehenden Strukturen, was zur Selbstauflösung der Kammer im Jahr 2000 führte. Seither dominiert zwar die LTO den Sektor, doch hat sich die agrarische Verbandslandschaft zunehmend pluralisiert. Hier steht nun die Konkurrenz der Partikularinteressen im Vordergrund (Kleinfeld 2001: 302). Der Prozess der Entsäulung führte schon in den 1960er Jahren zu alternativen und oppositionenellen Bewegungen, zunächst noch ohne organisierte Formen zu erreichen. Erst in den 1980er Jahren entwickelten sich stabile Organisationen der Umwelt-, der Friedens- und der Anti-Atomkraftbewegung. Insbesondere die größeren von ihnen (Greenpeace, Naturschutzbund, WWF etc.) können in der Gesellschaft eine hohe Anzahl an Mitgliedern mobilisieren (1990 über 1,5 Mio Mitglieder, Kriesi 1993: 174). (2) Der versäulte Charakter der Interessenvermittlung geht – zumindest im sozioökonomischen Sektor – mit einer engen Verbindung zwischen den Interessenorganisationen und den Parteien einher. So konnte und kann es gesellschaftlichen Akteuren via Parteien gelingen, Zugang zu den institutionellen Vetospielern Parlament und Regierung zu erhalten. Besonders ausgeprägt war das im Gewerkschaftslager beim sozialistischen NVV, der nicht nur ideologisch eng an die PvdA angelehnt war. Viele Parteifunktionäre machten zuerst Karriere innerhalb des NVV.36 Mit der Fusion zum FNV ging die Übereinstimmung in den Positionen verständlicherweise zurück. Schwieriger war schon immer das Verhältnis zwischen katholischer Gewerkschaft (NKV) und katholischer Volkspartei (KVP), da dort Unternehmensinteressen stark verteten waren; der NKV musste sich darum quasi zwangsweise sozialpartnerschaftlich orientieren. Die programmatische Abkopplung des fusionierten Gewerkschaftsbundes FNV sowohl von Christdemokraten (CDA)37 und PvdA verstärkte sich in der Regierungszeit der christlich-liberalen Koalition unter Lubbers in den 1980er Jahren. Dagegen konnte sich der CNV als „natürlicher“ Kooperationspartner des CDA etablieren und prägte dort den gesell-
36 Prominentestes Beispiel ist Ministerpräsident Wim Kok (1994–2002), der zuvor FNV-Vorsitzender war. 37 1975 fusionierten die drei großen christlichen Parteien KVP, ARP und CHU zum CDA (s.o. Kap. 3.2.6).
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schaftlich progressiven Flügel mit, der als Befürworter einer CDA/PvdA-Koalition auftritt (Kleinfeld 1990: 191). Auf der anderen Seite bestehen traditionell gute Verbindungen zwischen VNO und liberaler VVD. Jedoch machte sich der VNO nie einseitig von der VVD abhängig, sondern pflegt seit geraumer Zeit auch den Kontakt zum CDA. Funktionsträger der VNO kamen immer wieder in einflussreiche Regierungspositionen38 bzw. wurden Parteipolitiker später Verbandsfunktionäre (Kleinfeld 1990: 208). Dagegen unterhielt der christliche Arbeitgeberverband NCW stets beste Beziehungen zum CDA. Sowohl CDA als auch VVD können demnach als natürliche Ansprechpartner der seit 1995 fusionierten Dachorganisation der Unternehmen gelten. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass mit der Entsäulung der „Einflusskanal Partei“ auf allen Seiten an Bedeutung verlor.39 Doch wie schon in Kap. 2.2.6 beschrieben, gehen die Einflussmöglichkeiten der niederländischen Verbände ohnehin über die indirekten Parteikanäle hinaus. Das politische System bot insbesondere den sozio-ökonomischen Verbänden Vetopunkte an, so dass diese als eigenständige situative Vetospieler zu verstehen waren. Korporatistische Arrangements ermöglichten eine direkte Beteiligung am Politikprozess. Vor allem über den sozio-ökonomischen Rat SER konnten die Verbände bis in die 1990er Jahre hinein die Wirtschafts- und Sozialpolitik im klassisch tripartistischen Sinne mitbestimmen. Der Bedeutungsverlust des SER ist allerdings unbestritten, vor allem als Organ der Interessenvertretung. 1993 waren zwei Drittel der Mitglieder Experten und nicht Verbandsvertreter (Andeweg/Irwin 2005: 153). Auch in der Landwirtschaft wurde, wie erwähnt, die direkte Mitwirkung über die Landwirtschaftskammer abgeschafft. Hier verfügt allein der LTO noch über etablierte Beziehungen ins Landwirtschaftsministerium. Da die Landwirtschaftsinteressen nicht mit einer bestimmten Partei verbunden sind, bleibt der politische Einfluss jedoch limitiert. Insgesamt ist fraglich, ob die momentane Struktur der Beziehungen zwischen Verbänden und Politik eine Klassifizierung der Verbände als situative Vetospieler weiterhin rechtfertigt. (3) In den Zeiten des funktionierenden Konsenssystems umfasste das System der Elitenkooperation auf politischer Ebene jahrzehntelang die wichtigsten Interessenorganisationen – zumindest die des ökonomischen Sektors. Die Beteiligung der So38 Besonders als Staatssekretäre oder gar Minister in den ökonomischen Ressorts, im Falle von Victor Marijenen (KVP) sogar als Premierminister (1963–1965). 39 Das änderte sich auch nicht durch das Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen, die von Beginn an der politischen Linken nahe standen. So war z.B. die Anti-Atomwaffen-Bewegung eng mit der Kommunistischen Partei verwoben (Kriesi 1993: 176). Die PvdA distanzierte sich ab Ende der 1980er Jahren jedoch von diesen Bewegungen. Deren Ansprechpartner ist inzwischen Groen Links, die sich als parlamentarische Kraft etabliert hat und durchaus als deren Sprachrohr gelten kann.
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zialpartner galt als conditio sine qua non einer funktionierenden Wirtschafts- und Sozialpolitik. Innerhalb der korporatistischen Arrangements existierte eine gewisse Symmetrie der beteiligten Partner. Wegen der Dominanz des sozio-ökonomischen Sektors und der Kirchen und mangelnder Zugangsmöglichkeiten für Interessen außerhalb der Säulen ist die Inklusivität der gesellschaftlicher Interessen jedoch nur im mittleren Bereich zu verorten. Die fortschreitende Entkoppelung in den Beziehungen zwischen Parteien und Interessenorganisationen als Reaktion auf die Entsäulung und der Bedeutungsverlust korporatistischer Arrangements verweisen zudem auf eine Abkehr vom idealisierten Bild des Konsenssystems. Das Ideal der Symmetrie der Interessen innerhalb des Systems muss aber auch prinzipiell hinterfragt werden. Denn die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist gerade in der Hoch-Zeit der Versäulung nicht zu unterschätzen. Die christlichen Parteien bzw. später der CDA stellten eindeutig das Zentrum des politischen Systems dar. Die sozialpartnerschaftliche Orientierung der niederländischen Politik bis in die 1970er Jahre hinein war eine christdemokratische Grundsatzentscheidung (vgl. Hemerijck/Visser 2000: 230), die von Seiten der PvdA und der Gewerkschaften dankbar aufgegriffen wurden. Die neue konsensuale Politik der 1980er und 1990er Jahre, die im berühmten „Akkord von Wassenaar“ gipfelte, ist dagegen eine aus der Not geborene Übereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die dem Zweck dient, die enormen wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen. Die größeren „Kröten“ hatte dabei eindeutig die Arbeitnehmerseite zu schlucken, denn Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, gemäßigte Lohnsteigerungen und Abbau des Sozialstaates führten im Gegenzug zwar zur Schaffung von Arbeitsplätzen, doch waren die sehr häufig auf Teilzeitarbeitsplätze beschränkt. Verbunden wurde die neue Konsenspolitik mit einer Pluralisierung der Steuerungsformen, womit klassisch korporatistische Beziehungen an Bedeutung verloren (Kleinfeld 2001: 293). Über die Inklusivität der neuen Konsenspolitik mag man streiten; mit Sicherheit ist sie asymmetrischer angelegt als in den versäulten Jahren. Auch hielt der resultierende „soziale Friede“ (Lepszy 2003: 372) nur so lange, wie das wirtschaftliche Wachstum andauerte. Im neuen Jahrtausend befindet sich das auch für Deutschland oft als Vorbild charakterisierte niederländische System in einer Krise; der soziale Friede scheint zu Ende und die Elitenkooperation in der Politik ohne Antworten.
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4.2.7. Finnland (1) Nach der Unabhängigkeit 1919 und mit dem nun verbrieften Vereinigungsrecht kam es in Finnland zu einer zügigen Registrierung nahezu aller relevanten sozialen Vereinigungen, die sich seit Ende des 19. Jhd. herausgebildet hatten (Lappalainen/Siisiäinen 2001: 103). Ähnlich wie in Schweden entstand ein sehr breites Netz an Organisationen, die den politischen, den wirtschaftlichen, den sozialen und den privaten Bereich abdecken. Besonderes Kennzeichen war über Jahrzehnte hinweg die strikte Trennung des Vereins- und Verbandswesens zwischen Arbeiterlager und Bürgertum (s. schon o., Kap. 3.2.7). Der Organisationsgrad blieb insgesamt aber hinter dem der skandinavischen Nachbarn leicht zurück. 1907 gründeten die sozialdemokratisch orientierten Einzelgewerkschaften, die sowohl nach Branchen als auch nach Berufsverbänden organisiert sind, einen Dachverband (SAJ, seit 1930 SAK). In den 1960er Jahren spalteten sich die kommunistisch orientierten Gewerkschaften ab, kehrten aber 1968 nach dem Sieg der Linken bei der Parlamentswahl wieder zur SAK zurück. Seither stieg die Mitgliederzahl stark an und bewegt sich seit 1980 über 1 Mio. Daneben bildeten sich schon früh sektoral organisierte „white collar“-Gewerkschaften, deren Dachverband TVK jedoch erst nach 1945 mit dem Anwachsen des Dienstleistungssektors an Bedeutung gewann. 1992 ereignete sich der merk- und denkwürdige Fall, dass eine Dachorganisation bankrott gehen kann; in der Folge schlossen sich die meisten Einzelgewerkschaften des TVK dem eigentlich auf leitende Positionen ausgerichteten kleineren Dachverband STTK an (Ebbinghaus/Visser 2000: 207). Seit diesem unfreiwilligen Konzentrationsprozess im Bereich der Angestellten gehören dem STTK über 600.000 Mitglieder an. Wie auch in Schweden existiert zudem noch ein nach Berufszweigen organisierter Dachverband der Akademiker (AKAVA) mit inzwischen 400.000 Mitgliedern. Dank der gewachsenen politischen Bedeutung der Gewerkschaften nach 1968 nahm der Organsiationsgrad aller Gewerkschaften stetig zu. Waren 1967 noch ca. 40% der Beschäftigen Gewerkschaftsmitglieder, so stieg der Anteil bis Ende der 1990er Jahre auf fast 80% (Ebbinghaus/Visser 2000: 231). Auch die Arbeitgeber organisierten sich früh und gründeten in Reaktion auf die Gewerkschaftsbildung 1907 ihren ersten Dachverband. 1918 wurde er als STK neu gegründet, organisatorisch gestärkt und bekam in Arbeitsfragen Richtlinienkompetenz gegenüber seinen Mitgliedern (Nieminen 2000: 8). 1992 fusionierte er mit dem Industrieverband zum Dachverband der Industrie und Arbeitgeber TT. Der TT ist sowohl zentraler Akteur bei den Lohnverhandlungen, als auch größter Interessenvertreter in wirtschafts-, industrie- und handelspolitischen Fragen. Mit seinen etwa 7.000 Mitgliedsunternehmen ist er die wichtigste Vereinigung der Unterneh-
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mer, gefolgt vom Dachverband der Dienstleistungsunternehmen PT (Bobacka 1999, Finnish Ministry of Labour 2003).40 In guter skandinavischer Tradition spielen Konsumgenossenschaften eine wichtige Rolle im Feld der organisierten Interessen. 1916 spalteten sich deren Dachgenossenschaft in einen bäuerlichen und einen proletarischen Flügel auf, daneben existierte schon immer ein schwedisch-sprachiger Genossenschaftsverband (Lukkarinen 1999). Aktuell sind in ca. 1300 Genossenschaften etwa 2 Mio. Finnen, also etwa 40% der Bevölkerung organisiert, was ihre Bedeutung als Wirtschaftsfaktor verdeutlicht. Auf politischer Ebene sind die finnischen Genossenschaftsverbände jedoch weniger aktiv als ihre Schwesterorganisation KF in Schweden. Ebenfalls traditionell skandinavisch ist die Stärke landwirtschaftlicher Interessen, die seit 1917 der Bauernverband MTK gegenüber Staat und Politik vertritt. Als Ergänzung im Bereich der Lohnverhandlungen wurde 1949 der Verband der Arbeitgeber in der Landwirtschaft MTL gegründet (Finnish Ministry of Labour 2003). Mit dem Bedeutungsrückgang des primären Sektors büßte der MTK jedoch seine hervorgehobene Stellung innerhalb des Systems der Interessenorganisationen ein. Dagegen ist Finnland nicht unbedingt als ein Land bekannt, in dem neue soziale Bewegungen eine politisch und vor allem öffentlich herausragende Rolle spielen. Das mag daran liegen, dass es dem politisch-administrativen System gut gelang, entsprechende Gruppierungen in die Politik des nationalen Konsenses einzubinden. Folglich blieben sie nicht lange in der Opposition gegen das bestehende System, sondern wurden quasi umarmt und integriert. Unter der großen Regenbogenkoalition von 1995 bis 2003 unter Beteiligung nahezu aller politischen Kräfte befand sich diese Politik auf ihrem Höhepunkt. (2) Wie in vielen anderen Staaten unseres Samples gelingt es gesellschaftlichen Akteuren auf verschiedene Arten, politischen Einfluss zu gewinnen. Einerseits nutzen viele Interessengruppen den Zugang zu Vetospielern – sowohl den Parteien als situativen als auch direkt zu den institutionellen –, andererseits besteht die Möglichkeit, selbst zu situativen Vetospielern zu werden. Im finnischen Fall ist „zu betonen, dass der Großteil der Interessenverbände weiterhin stark an Parteien gebunden ist“ (Auffermann 2003: 212). Sichtbar werden die Bindungen bei den Parlamentariern, die eine hohe Dichte von Organisationsmitgliedschaften aufweisen. Prominentes Beispiel solch personeller Verflechtungen ist die sozialdemokratische Staatspräsidentin Tarja Halonen, die ihre Karriere im SAK startete. Die engsten Verbindungen unterhält der SAK mit der SDP und der VAS (ehemals SKDL). Vor der Einführung korporatistischer Arrangements (s.u.) hingen die Einflusschancen des SAK stets von der parlamentarischen Stärke und 40 2005 ist eine Vereinigung der beiden Organisationen geplant.
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der Kooperationsfähigkeit von SDP und SKDL ab. Sie wurden dadurch gemindert, dass es in dieser Zeit immer wieder zu Auseinandersetzungen innerhalb des linken Blocks kam. Auf der anderen Seite stehen die Unternehmer- und Arbeitergeberverbände der KOK nahe. Als Beispiel sei die Energiepolitik genannt, in der der TT mit Hilfe der KOK einen Wechsel in der Atompolitik herbeiführen wollte und schließlich auch erreichte (Auffermann 2003: 213). Die starken Landwirtschaftsinteressen, zumeist vertreten durch den MTK, haben ihren Zugang zur KESK, auch wenn sich diese nach 1960 von ihren vorwiegend argrarischen Bindungen löste. Die enge ideologische Affinität zwischen KESK und MTK besteht weiterhin (Lappalainen/Siisiäinen 2001: 104); und da die KESK über viele Jahre im Zentrum der finnischen Koalitionsregierungen stand, konnte der Bauernverband seine Interessen direkt beim zentralen Agenda-Setzer Regierung einbringen. Das führt uns zu einem alternativen Zugang der Interessengruppen: dem über die Ministerialbürokratie. Dieser potentielle Vetopunkt beruht nicht allein auf den traditionell engen Kontakten zwischen Fachministerien und Verbänden, sondern erstreckt sich auf die Inklusion der gesellschaftlichen Akteure in interministerielle Koordinationsgremien. Adressat des Einflusses ist auch hier die Regierung als der zentrale Agenda-Setzer des Systems, hier jedoch nicht über die Parteien, sondern über die Bürokratie. Die zweite, direkte Möglichkeit des Einflusses als eigener situativer Vetospieler ergab sich vor allem durch Veränderungen in den 1960er Jahren, als nach langer Zeit des konfliktären Umgangs miteinander kooperativere Formen der politischen Entscheidungsfindung Einzug hielten (Bobacka 1999). Zuvor gab es so etwas wie mesokorporatistische Strukturen lediglich im Bereich der Agrarpolitik, wo schon in den 1950er Jahren der Bauernverband MTK mit dem Landwirtschaftsministerium über Subventions- und Einkommensstrukturen verhandelte (Lappalainen/Siisiäinen 2001: 118). Entscheidend für den Wandel war der Wahlsieg der Linken 1966, der das agrarische Zentrum (KESK) und später die Liberalen zu Koalitionen mit der SDP unter Einbeziehung der Kommunisten nötigte. Das erleichterte die Kooperation auch zwischen den gesellschaftlichen Lagern, die 1968 mit dem Kompromiss von Liinamaa in der Einkommenspolitik begann (Kauppinen 1994: 68). Dieses erste, große korporatistische Arrangement brachte alle Gewerkschaften, Bauernverband, Arbeitgeberverbände und Regierung an einen Tisch und führte zu einem Stabilitätspakt, der Lohnerhöhungen und Landwirtschaftssubventionen an die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik anband. Das Abkommen wurde bis 1990 immer wieder nachverhandelt; Opposition dagegen kam allein aus dem Lager der kommunistischen Einzelgewerkschaften. Die korporatistische Einbeziehung der Verbände in den politischen Entscheidungsprozess erfolgt bis heute über den Vetopunkt Wirtschaftsrat. In den Jahren bis 1990 konnte dieser seinerseits als situativer
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Vetospieler betrachtet werden (siehe Kap. 2.2.7). Mit seiner Eingliederung in das Amt des Premiers hat er allerdings viel von seiner exponierten Stellung verloren. Seit den 1990er Jahren haben sich die gesellschaftlich-staatlichen Beziehungen erneut pluralisiert. Gesellschaftliche Interessen und deren Inklusion werden von der Politik zwar nach wie vor als wichtig erachtet, makrokorporatistische Arrangements sind jedoch nicht mehr das bevorzugte Instrument. (3) Nach wie vor ist die Inklusivität des politischen Prozesses in Finnland vergleichsweise hoch, auch wenn sich die Bedeutung der einzelnen Wege verändert hat. Dominierte vor 1960 der Gang über die situativen Vetospieler Parteien, kam es nach 1966 zu einem Aufschwung korporatistischer Arrangements, was dazu führte, dass in der Wirtschafts- und Arbeitspolitik die gesellschaftlichen Akteure gemeinsam zu situativen Vetospielern wurden. Für die daran beteiligten Akteure ist dabei prinzipiell von einer Symmetrie auszugehen, auch wenn es zu Zeiten ohne Regierungsbeteiligung der KOK sicherlich einen Vorsprung der Arbeitnehmerseite gab. Es entwickelte sich aber keine sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Dominanz à la Schweden. Trotz recht hoher Inklusivität auch in anderen Politkfeldern ist im Zeitraum 1966–1990 eine gewisse Asymmetrie insofern erkennbar, als die wirtschaftlichen Interessenorganisationen dominieren, insbesondere bei den Mitgliedschaften in formalen und informellen Kommittees auf politischer Ebene (Petersson 1989: 117). Mit der wirtschaftlichen Krise der 1990er Jahre und der neuen Mitte-Rechts-Regierungskoalition von 1991 endete das makrokorporatistische Experiment. 1993 wurden erstens viele Teilaspekte der kollektiven Vertragsverhandlungen zwischen Staat, Arbeitgebern und Arbeitnehmern dezentralisiert, um eine Flexibilisierung zu erreichen (Ministry of Labour 2003: 17). Und in dieser Zeit schwand zweitens vor allem der gewerkschaftliche Einfluss auf staatliche Politikentscheidungen. Eine neue Qualität von Inklusivität und Symmetrie wurde dagegen unter der Regenbogenkoalition angestrebt: Einbindung aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte zur Wahrung des gesellschaftlichen Friedens bei Schaffung ökonomischer Prosperität. Das alles soll jedoch nicht durch eine Rückkehr zu makrokorporatistischen Strukturen erfolgen, sondern durch die partielle und lokale Einbindung der gesellschaftlichen Akteure.
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4.2.8. Deutschland (1) Die deutsche Verbändelandschaft zeichnete sich in der Entstehungsphase durch beträchtliche Fragmentierung aus (vgl. Ullmann 1988). Neben den sozialistischen gab es christliche Gewerkschaften und die „wirtschaftsfriedlichen“ Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine. Die Organisationen der Wirtschaft spaltete der Interessengegensatz zwischen Schwerindustrie (Centralverband Deutscher Industrieller) und exportorientierter Leichtindustrie (Bund der Industriellen); die Verbände des gewerblichen Mittelstands waren hochgradig zersplittert. Nur in der Landwirtschaft entwickelte sich schon früh eine dominante Massenorganisation (Bund der Landwirte). In der Weimarer Republik kam es immerhin im Unternehmerlager zur Zentralisierung der Interessenvertretung im RDI. Andere Verbände radikalisierten sich, was nicht eben eine Konzentration der Kräfte nahelegte. Sie wurde erst im Dritten Reich staatlicherseits betrieben. In der BRD dominieren in den meisten Verbandssektoren nun Einheitsorganisationen; nur wenige kleinere Gruppierungen haben hier der Konzentrationsbewegung widerstanden. Die Gewerkschaften sind in der Einheitsgewerkschaft DGB zusammengefasst, das Gros der Selbständigenverbände im Bundesverband der freien Berufe, sämtliche Handwerkerverbände im Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), Unternehmer- und Arbeitgeberverbände in BDI bzw. BDA, die ihrerseits eng miteinander sowie mit dem DIHKT, der Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern, verflochten sind; und der Bauernverband ist ohnehin so wie vordem fast konkurrenzlos. Die Konzentration an der Spitze geht auf den unteren Ebenen allerdings mit einer enormen Vielzahl und Vielfalt von Einzelverbänden einher. Die offizielle Lobbyliste der beim Bundestag registrierten Interessengruppen wies für das Jahr 2003 eine Gesamtzahl von 1.788 aus (gegenüber rd. 700 Mitte der 1970er Jahre und rd. 1.200 in den 1980er Jahren; vgl. Sebaldt/Straßner 2004: 94), bei der natürlich außer dem BDI oder der IG Metall auch die Ameisenschutzwarte Nordrhein-Westfalen mitgezählt ist (ebd.: 95). Der Zuwachs fand gerade bei Organisationen wie der letzteren statt: Hoch spezialisierte Umwelt-, Sozial- und Kulturverbände sprießen wie Pilze aus dem Boden, während die Zahl der Gewerkschaften abnimmt. Bemerkenswert vor allem im Bereich der Wirtschaft ist die Organisationsdichte. Zwar ist die Zahl der im BDI vereinten Branchenverbände mit 34 nicht sonderlich groß; doch die Branchenverbände sind ihrerseits Vereinigungen von z.T. mehr als 30 rechtlich selbständigen Fachverbänden (vgl. Abromeit 2000: 613). Man kann davon ausgehen, dass so gut wie jedes industrielle Spezialinteresse seine eigene Organisation hat, die Wirtschaft also bestens durchorganisiert ist. Ähnliches gilt für die Ärzte, die in Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), Fachverbänden, Ärzte-
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kammern, Marburger Bund und Hartmannbund in einer Weise erfasst sind, dass kaum ein Entkommen ist. Der eindrucksvollen Organisationsdichte entspricht nicht immer auch ein hoher Organisationsgrad. Auf Arbeitnehmerseite ist er inzwischen auf rd. 27% gesunken41; auf Arbeitgeberseite (d.h. bei den nunmehr auf eine Zahl von rd. 50 angestiegenen Fachverbänden der BDA) ist er ebenfalls rückläufig und dürfte – zählt man die Mitgliedsfirmen und nicht die von ihnen Beschäftigten – kaum noch über 40% liegen. Mit rd. 90% ist er bei den Bauernverbänden unverändert hoch, im Handwerk und bei einigen Ärzteverbänden liegt er dank Zwangsmitgliedschaften bei 100%. Die großen – und wenigen – Dachverbände an der Spitze der beschriebenen komplexen Struktur können durchaus als Bereichs-Monopolisten gelten, umso mehr, als sie im Allgemeinen mit den im jeweiligen Bereich existierenden Zwangsveränden, den Kammern, eng kooperieren. Damit gibt die Verbändelandschaft eine brauchbare Basis für korporatistische Arrangements ab. Gleichwohl ist die korporatistische Regulierung von Einkommens-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik eine Ausnahmeerscheinung geblieben. Ein entsprechendes Experiment mit der „Konzertierten Aktion“ (1967–1976), das die Spitzenverbände der Wirtschaft, den DGB, seine wichtigsten Industriegewerkschaften und die Angestelltengewerkschaft DAG mit der Regierung an einen Tisch brachte42, um vornehmlich über eine den gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen angepasste Lohnpolitik zu verhandeln, scheiterte nach kurzer Zeit (faktisch schon 1973), und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen war der Teilnehmerkreis zu groß und zu divers, um tragfähige Kompromisse zu ermöglichen; zum zweiten wachten die Sozialpartner eifersüchtig darüber, dass die Tarifautonomie unangetastet blieb; zum dritten konnten die Arbeitnehmer nur während der Rezessionsphase 1967/68 einsehen, dass sie Lohnzurückhaltung üben sollten. Als bald darauf die Gewinne der Unternehmen explodierten, zwangen sie mit „wilden Streiks“ (1969; 1973) die Gewerkschaften zum Rückzug. In der Boom-Phase war schnell deutlich geworden, dass die Konzertierung nur in einer Richtung, nämlich zur Lohndämpfung, nicht aber auch in Richtung einer Regulierung der Preisentwicklung funktionierte – ein asymmetrisches Steuerungsinstrument also (vgl. Abromeit 1993a: 166 ff.). Spätere Versuche, den korporatistisch-tripartistischen Faden wieder aufzunehmen – etwa im „Bündnis für Arbeit“ Ende der 1990er Jahre – verliefen erfolglos
41 Der „Einbruch“ ist in Deutschland nicht so gravierend wie in anderen Ländern, lag der Organisationsgrad doch bei maximal knapp 40% in den 1950er Jahren (Ebbinghaus/Visser 2000: 324). 42 Im Laufe der Zeit wurde der Teilnehmerkreis noch um den Beamtenbund, den Bauernverband, die Spitzenverbände des Handels, des Handwerks, der Sparkassen, der Banken und der Verbraucherverbände erweitert (vgl. Zink 1975).
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und im Sande.43 Dagegen waren bereichsspezifische Konzertierte Aktionen, namentlich die im Gesundheitswesen, sowohl dauerhafter als auch erfolgreicher, jedenfalls im Sinn der beteiligten Interessenten, die seit Jahrzehnten zu verhindern vermögen, dass es zur von der Regierung angestrebten Kostendämpfung kommt (vgl. für die Anfänge Wiesenthal 1981). Die entsprechenden Verhandlungsrunden vereinen die diversen Ärzteverbände, Krankenkassen, Pharma- und Apothekerverbände und Regierungsvertreter. Hier haben wir also mit Multi- statt mit Tripartismus zu tun. Die Patienten sind im Allgemeinen allerdings nicht vertreten, weswegen Einigungen typischerweise zu ihren Lasten gehen. In diversen Vergleichsstudien zum Thema Korporatismus (s. die Zusammenstellung bei von Alemann 1983: 127 f.) rangiert die Bundesrepublik wohl zutreffend im mittleren Bereich. Ihr Interessenvermittlungssystem ist eine Mixtur aus politikfeldspezifischen korporatistischen Elementen und Elementen pluralistischer Repräsentanz (vgl. auch Reutter 2001), wobei den letzteren zum einen, wie gleich zu sehen sein wird, ausgeprägt asymmetrische Züge anhaften. Zum anderen steht auf Grund der „vermachteten“ Verbändelandschaft der pluralistisch-kompetitive Charakter bereichsweise doch sehr in Frage. (2) Die großen Verbände sind auf unterschiedliche Weise mit den Parteien verbunden. Die CDU hat den Verbände-Einfluss über ihre „Vereinigungen“ institutionalisiert, unter denen der Wirtschaftsrat der CDU und die Union der Vertriebenen und Flüchtlinge wohl eine größere politische Rolle spielen als die sog. Sozialausschüsse oder die Mittelstandsvereinigung. Bemerkenswerterweise gibt es keine eigene Bauern-Union, dafür pflegt der Bauernverband beste Beziehungen zur CSU.44 Eine weitere Einflussschiene sind die staatsbürgerlichen Vereinigungen, über die Wirtschaft und Mittelstand maßgeblich zur Finanzierung von Union und FDP beitragen. Obwohl formell Einheitsgewerkschaft, steht der DGB traditionell der SPD nahe, doch ist der Gewerkschaftseinfluss auf die Politik der SPD so zurückgegangen, dass Gewerkschafter in der SPD eigene Arbeitsgemeinschaften gebildet haben, um sich dem Trend entgegenzustemmen. Verknüpfungen mit den institutionellen Vetospielern ergeben sich wesentlich über die Einflussschiene Parteien: Sie sorgen via Kandidatenaufstellung dafür, dass einige Ausschüsse des Bundestages – namentlich der Agrar- und der Wirtschaftsausschuss – stets als Verbandsinseln gelten konnten. Sie sorgen ebenfalls dafür, dass der Bundesrat im Sinne bestimmter Interessen instrumentalisiert werden kann. Wichtiger als Sitze im Parlament sind den Verbänden allerdings die guten Bezie43 Für den Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik kommt Brechtel (1998: 113) zu dem Schluss, dass sich dieses Politikfeld inzwischen in Richtung staatsdominierter Koordination entwickelt hat. 44 Wohl deshalb kamen die meisten Bundeslandwirtschaftsminister aus Bayern.
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hungen zur Ministerialverwaltung. Über die GGO II (Gemeinsame Geschäftsordnung) der Bundesministerien (s.o., Kap. 2.2.8) ist ihnen ganz offiziell eine Mitsprache-Möglichkeit bei der Gesetzesvorbereitung eingeräumt, doch geht der Verbandseinfluss teilweise weit darüber hinaus. Auch einzelne Ministerien darf man dank intensiver personeller Verflechtung als Verbandsinseln ansehen (s. Benzner 1989).45 Reichen diese access points nicht aus, um die eigenen Interessen zur Geltung zu bringen, bleibt immer noch die Möglichkeit, „zum Kanzler zu gehen“46 – eine Praxis, die zwar formell eigentlich nicht vorgesehen war, sich aber schon zu Zeiten Adenauers eingebürgert hat. Modernere Kanzler pflegen die Sitte, zur Entscheidungsfindung Konsensgespräche zu führen und Expertenrunden zu installieren (s.o., Kap. 2.2.8), die Verbändevertreter, aber auch Einzel-Interessenten in den Rang von quasi-Vetospielern erheben. (3) Dieses insgesamt stark klientelistisch geprägte System der Interessenvermittlung arbeitet auf asymmetrische Weise, denn nicht alle Interessen haben in ihm die gleiche Chance, zum Zuge zu kommen. Wirtschafts-, Bauern- und Ärzteinteressen sind deutlich begünstigt, Arbeitnehmer-, Verbraucher- und Sozial-Interessen benachteiligt. So hatten z.B. die Verbraucherverbände enorme Schwierigkeiten, im Landwirtschaftsministerium einen Fuß in die Tür zu bekommen47, und zu Kanzlergesprächen werden sie grundsätzlich nicht geladen. Vertreter der Wirtschaft gelten zumeist un-hinterfragt als Experten, auf deren Rat die Politik hört, Gewerkschaften dagegen haftet der Makel partikularer Organisationen an, deren Forderungen dem Gemeinwohl abträglich sind – insbesondere dann, wenn ihnen mit Streiks Nachdruck verliehen werden soll. Unternehmer – auch einzelne, nicht nur ihre Verbände – finden ein offenes Ohr bei allen Parteien, Gewerkschaften haben es inzwischen sogar bei der SPD schwer. Das hat nicht zuletzt mit unterschiedlicher Drohkapazität zu tun. Unternehmen drohen höchst effektiv mit Investititonszurückhaltung und heutzutage mehr noch mit der Produktionsverlagerung ins Ausland. Die Drohgebärden der Gewerkschaften verpuffen weitgehend wirkungslos, da ihre Mitgliedschaft schrumpft und Streiks in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kein wirkliches Druckmittel sind. Das nicht erklärte Rätsel in diesem Zusammenhang bleiben der Bauernverband sowie die Vertriebenenverbände, deren Einfluss trotz fehlender Drohkapazität beträchtlich ist. 45 In besonderem Maße gilt das für das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Renate Künast war die erste Chefin dieses Ministeriums, die nicht dem Bauernverband entstammte. 46 So eine berühmt-berüchtigte Bemerkung des damaligen BDI-Vorsitzenden Fritz Berg aus den 1950er Jahren („Ich brauche nur zum Kanzler zu gehen, um das Papier vom Tisch zu wischen ...“). 47 Das hat sich im unter Renate Künast umgestalteten „Bundesverbraucherministerium“ zumindest partiell verändert.
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Während die grundlegende Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit den meisten der hier betrachteten Interessenvermittlungssystemen gemeinsam ist, ergeben sich spezifische Selektivitäten in Deutschland zum einen aus dem asymmetrischen Parteiensystem, in dem die Gewinnchancen ungleich verteilt sind (s.o., Kap. 3.2.8), zum zweiten aus der Bremswirkung des mit einer einzigen historischen Ausnahme (1990er Jahre) bürgerlich dominierten Bundesrats, und zum dritten schließlich aus der besonderen Funktion der Kammern, die sektorale Selbstregulierung aufs Beste mit quasi autoritativer Interessenvertretung im staatlichen Entscheidungssystem verbinden. Solche Kammern gibt es für Industrie und Handel, für Landwirtschaft, für Ärzte etc. – nicht aber für Arbeit. Das Gesamtbild zeigt eine in rein formaler Betrachtung relativ hohe Inklusivität, die dank der Anfälligkeit der situativen Vetospieler für bestimmte InteressentenEinflüsse gleichwohl nicht in entsprechend niedriger, sondern in eher hoher Selektivität resultiert. Die Elemente pluralistischer Repräsentanz begünstigen aus den oben genannten Gründen einseitig bestimmte (Produzenten-)Gruppen; die korporatistischen Elemente grenzen ebenso einseitig bestimmte Interessen von vornherein aus.
4.2.9. Österreich (1) Das wichtigste Element des österreichischen Interessenvermittlungssystems – die Sozialpartnerschaft – ist oben (Kap. 2.2.9) schon skizziert worden, weshalb dieser Abschnitt kurz ausfallen kann. Als Musterbeispiel des Korporatismus basiert es auf einer hochkonzentrierten Verbändelandschaft, in der Bereichs-Monopolisten den Ton angeben. Dabei ging die Entwicklung, was die „freien“ Verbände betrifft, wie in den meisten anderen Ländern nicht ohne Fragmentierungen ab. So folgte der bemerkenswert frühen Gründung des Vereins österreichischer Industrieller (VÖI, 1862) ein gutes Jahrzehnt später die Gründung eines Konkurrenzverbandes. Die um die Jahrhundertwende entstehenden Arbeitgeberverbände waren (bis 1918) in solche der Großindustrie und der kleinen und mittleren Unternehmen gespalten (vgl. Traxler/Zeiner 1997: 374 f.), die Gewerkschaften in sozialistische, katholische und andere, z.B. „gelbe“ (wirtschaftsfriedliche) Verbände. Schon zum Ausgang des 19. Jhd. bildeten sich „Integrationsmilieus“ (Karlhofer 2001: 337), d.h. Vereine und Verbände banden sich eng an das sich gerade formierende Parteiensystem. Diese frühe Verknüpfung innerhalb von Lagern zog einerseits Spaltungen nach sich (wie z.B. die eben erwähnte Gründung eigener katholischer und deutschnationaler Gewerkschaften), setzte der Fragmentierung aber zugleich auch Grenzen und bewirkte überdies hohe Stabilität.
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Doch vor allem wurde das sich ausdifferenzierende Verbändesystem durch die Kammern zusammengehalten. Nun gab und gibt es in den meisten westeuropäischen Ländern Kammern – ursprünglich Handelskammern48 –, aber in kaum einem anderen Land errangen sie solche regulierende und fördernde Bedeutung und wurde das Kammerwesen in der Weise ausgebaut und vertikal untergliedert wie in Österreich. Mit ihrer „umfassenden Mitglieder- und Aufgabendomäne sowie durch ihre hohe Zentralisierung“ gelten sie als „international einzigartig“ (Traxler/Zeiner 1997: 375). Nach dem Muster der Handelskammern wurden in den 1920er Jahren auch Landwirtschaftskammern und Arbeiterkammern ins Leben gerufen. Dank ihrer zentralen Rolle in der Interessenvertretung kam es im Laufe der Zeit zur engen Kooperation und Verflechtung mit den freien Verbänden; im Landwirtschaftsbereich machten sie die Gründung freier Verbände anscheinend sogar überflüssig.49 Nach 1945 kam es zum entscheidenden Konzentrationsprozess, indem auf Gewerkschaftsseite mit dem ÖGB eine stark zentralisierte50 Einheitsgewerkschaft entstand und auf Unternehmer- bzw. Arbeitgeberseite der VÖI zur Gesamtvertretung wurde – eine Rolle, die ihm die Wirtschaftskammern in Tariffragen später streitig machten (s.u.). Sein Gegenstück fand er in den letzten Jahrzehnten sowohl unterhalb der Spitzen-Ebene als auch in den übrigen Gesellschaftsbereichen, wo zahlreiche neue Organisationen entstanden, also erneut ein Prozess der Ausdifferenzierung einsetzte. Begleitet wurde der Prozess, vor allem in jüngster Zeit, von einem Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades. Waren 1950 noch über 60% der Arbeitnehmer Mitglied des ÖGB, ging der Anteil auf unter 40% Ende der 1990er Jahre zurück (Ebbinghaus/Visser 2000: 105). Damit steht der ÖGB aber immer noch besser da als die meisten seiner westeuropäischen Pendants. Zum Konzentrationsprozess gehört ganz zentral natürlich die Zusammenfassung der Wirtschafts-, Arbeiter- und Landwirtschaftskammern in der Sozialpartnerschaft und deren Formalisierung in der Paritätischen Kommission (seit 1957). Um echte Parität herzustellen, wurde der ÖGB einbezogen und so das Quartett komplett gemacht; der VÖI ist über engste Beziehungen zur Wirtschaftskammer Österreich stets präsent. Ihre enorme Bedeutung im Interessenvermittlungssystem erwuchs der PK aus ihrer Zuständigkeit für Lohn- und Preisfragen. Konkret darf man sich das folgendermaßen vorstellen (vgl. Marin 1982): Lohnabschlüsse werden nicht von Einzelgewerkschaft und VÖI-Fachverband ausgehandelt, wie andernorts üblich. 48 Sie sind zugleich Erbe der französischen Revolution – gedacht als Instrument, den Wildwuchs partikularistischer Kräfte einzudämmen – wie der napoleonischen Zeit. 49 Statt freier Verbände gibt es hier nur die entsprechenden Partei-Untergliederungen, unter denen der Österreichische Bauernbund der ÖVP das erdrückende Übergewicht hat. 50 Die inzwischen nurmehr 14 Industriegewerkschaften, die im ÖGB vereint sind, haben nur geringe Handlungsautonomie und sind nicht einmal rechtlich selbständig.
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Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
Vielmehr muss zuvor der Lohnunterausschuss der PK die Tarifverhandlungen freigegeben haben, und auch dann ist – auf Arbeitgeberseite – nicht der VÖI-Fachverband zuständig, sondern die entsprechende Untergliederung der Wirtschaftskammer. Ähnliches gilt im Prinzip für die Preispolitik, doch erwies sich der Preisunterausschuss der PK, nicht zuletzt auf Grund außenwirtschaftlicher Verflechtungen, spätestens seit den 1980er Jahren als wenig effektiv (vgl. Tálos 1997: 445). Darüber hinaus ist die PK, wie oben (Kap. 2.2.9) bereits angesprochen, ein wichtiger Akteur in der wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzgebung. Da in der Vollversammlung der PK der Bundeskanzler den Vorsitz führt und den Beratungen der PK die einschlägigen Minister (wenn auch ohne Stimmrecht) beiwohnen, haben wir hier mit echter tripartistischer Regulierung zumindest der Einkommenspolitik zu tun, und zwar nicht etwa – wie in Deutschland oder Großbritannien – mit einem kurzlebigen Experiment, sondern mit einer über Jahrzehnte währenden korporatistischen „Erfolgsgeschichte“ (Katzenstein 1984: 19). (2) Eine der Ursachen für den Erfolg und für die Stabilität des korporatistischen Arrangements ist die enge Verknüpfung zwischen den Großverbänden, den Kammern – als Monopolisten der Interessenvertretung – und den Parteien. Der besondere Charme dieser Verknüpfung liegt darin, dass die Monopolisten wie das Arrangement insgesamt ihre demokratische Legitimation über die Parteien beziehen: Die Kammerwahlen sind nach Parteilinien organisiert. Gerade dabei zeigt sich allerdings, dass das Bündnis von Wirtschaft und Landwirtschaft mit der ÖVP sowohl ausgeprägter als auch stabiler ist als das der Arbeitnehmer mit der SPÖ. Zwar dominiert in der Arbeiterkammer die sozialdemokratische Fraktion FSG, inzwischen aber nurmehr mit einer Mehrheit von knapp über 50% der Mandate51, während die ÖVP-Fraktionen in der Wirtschaftskammer (ÖWB) ca. 70% und in den Landwirtschaftskammern (ÖBB) etwa 77% der Mandate innehaben (vgl. Dachs et al. 1997: 395; 381; 414). Seit den 1990er Jahren nimmt die Effektivität der ErsatzLegitimation über die Parteien allerdings auf allen Seiten ab, was sich nicht zuletzt in abnehmender Beteiligung an den Kammerwahlen zeigt.52 Das ändert bisher nichts daran, dass die Parteien das wichtigste Sprachrohr der Verbände im politischen Entscheidungssystem sind; nach wie vor ist von einer Interdependenz beider Akteurstypen auszugehen. Mit der in jüngster Zeit beobachtbaren Annäherung des Parteiensystems an konkurrenzdemokratische Verhältnisse wird sich die enge Verschränkung von Parteien 51 Die ÖVP-Fraktion ÖAAB kommt hier immerhin noch auf rd. 26%. 52 Bei den AK-Wahlen sank die Beteiligung 1994 auf dramatisch niedrige 30%, bei den Wirtschaftskammer-Wahlen auf 52%. 1995/96 wurden daraufhin die Mitglieder befragt, ob das Kammer-System überhaupt aufrechterhalten werden solle. Für seine Beibehaltung votierten denn doch noch hinreichende Mehrheiten (vgl. Dachs et al. 1997: 384; 401).
Interessenvermittlungssysteme im Überblick
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und Verbänden möglicherweise lockern (vgl. Tálos 1997: 448 f.) und werden vielleicht Elemente pluralistischer Repräsentanz an Bedeutung gewinnen. Natürlich gab es neben dem korporatistischen Kern der Interessenvermittlung solche Elemente schon immer; auch die Verbände der Sozialpartner befleißigten sich in der einen oder anderen politischen Frage der konventionellen Lobby-Strategie. Zudem ist das Ausmaß der erwartbaren Pluralisierung umstritten. Einige österreichische Beobachter (so bes. Kittel 2000) sehen nach wie vor große Kontinuität in „the basic acceptance of bipartite, centralised bargaining processes, partly under the supervision of the state“ in den wichtigsten Politikfeldern (ebd.: 125). Und schließlich dürfte die nötige Umorientierung von Verbänden und Kammern in Richtung Konkurrenzmodell einige Zeit in Anspruch nehmen. Ihr Einfluss auf die institutionellen Vetospieler ist bisher so ausschließlich über die Parteien vermittelt, dass es schwerfällt, sich die Alternativen konkret auszumalen. So erübrigt es sich einstweilen noch, über von der Parteischiene unabhängige Verknüpfungen von Verbänden mit institutionellen Vetospielern nachzudenken. Das gilt zumindest so lange, wie die Verbände ihrerseits via PK als Vetospieler eigenen Rechts gelten dürfen. (3) Eben wurde schon angedeutet, dass dem österreichischen System der Interessenvermittlung gewisse Asymmetrien innewohnen. Immerhin lässt sich argumentieren, dass die stabilere Liaison zwischen Wirtschaft, Landwirtschaft und ÖVP ihren Ausgleich fand in der langjährigen Dominanz der SPÖ, die den Arbeitnehmerinteressen die Chance eröffnete, an Einfluss per saldo in etwa gleichzuziehen. Indessen produziert das korporatistische System der Sozialpartnerschaft seinerseits eine spezifische Selektivität, denn alle Interessen, die sich nicht unter die der Produzenten/Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Bauern subsumieren lassen, bleiben in ihm systematisch ausgeklammert. Verbraucher- und Umweltverbände z.B. sind auf normales Lobbying verwiesen und müssen in ihrer Not schon einmal auf die wenigen (und schwach ausgeprägten) direktdemokratischen Elemente des Entscheidungssystems zurückgreifen, um überhaupt gehört zu werden.53 Ihre Chancen auf Interessenberücksichtigung mögen steigen, je mehr die Parteien sich von den sozialpartnerschaftlichen Groß- und Monopolverbänden emanzipieren. Aber nicht nur andere Interessen hatten es bislang schwer, sich zur Geltung zu bringen. Der monopolistische und zentralisierte Charakter der Großverbände erlaubte es deren Führungsetagen, weitgehend abgehoben von aktuellen Mitgliederinteressen agieren zu können. Die Selektivität war also eine doppelte: Zum einen waren nicht-sozialpartnerschaftliche Organisationen benachteiligt, zum anderen gab es für die Mitglieder der sozialpartnerschaftlichen Verbände keine Garantie, dass es wirklich ihre 53 Z.T. waren sie damit durchaus erfolgreich; z.B. gelang es nicht-sozialpartnerschaftlichen Organisationen, per Volksbegehren den Bau von Kernkraftwerken zu verhindern.
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Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
Interessen waren, die in den an der Spitze gefundenen Kompromissen zum Tragen kamen. Eben dieses Kompromisssystem machte Interessenberücksichtigung weitgehend zum Zufallsprodukt (vgl. Abromeit 1993a: 162 f.). Vor allem, wenn man die jüngsten Wandlungstendenzen (vgl. o., Kap. 2.2.9) in Rechnung stellt, ergibt sich ein mehr als zwiespältiges Gesamtbild. Bei funktionierender Sozialpartnerschaft war die Inklusivität des Interessenvermittlungssystems eher niedrig, seine Selektivität dementsprechend hoch, doch war ansatzweise für Symmetrie bei der Berücksichtigung der Interessen von Kapital und Arbeit gesorgt. Der jetzt zu vermutende Wandel in Richtung Konkurrenzsystem mag die Inklusivität tendenziell erhöhen, doch verringert sich damit nicht automatisch der Grad der Selektivität, denn der Weg zur pluralistischen Repräsentanz zieht, wie am Beispiel anderer Länder zu sehen, unvermeidlich neue Asymmetrien nach sich; oder anders ausgedrückt: Das zuvor zumindest angestrebte Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte droht verloren zu gehen.
4.3. Auswertung Auswertung Der Überblick über die untersuchten Länder zeigt zunächst, dass die strukturellen Unterschiede zwischen ihren Systemen der Interessenvermittlung um einiges größer sind als die zwischen ihren Parteiensystemen. Zugleich schält sich ein anderes Paar von Extremtypen heraus: Konnten im Hinblick auf ihre Entscheidungs- und Parteiensysteme Großbritannien und die Schweiz als perfektes Gegensatzpaar gelten, so sind es in diesem Bereich eher Frankreich und Österreich. Nirgends ist die Verbände-Landschaft so zersplittert (bis hin zur internen Fragmentierung der Einzelverbände) und sind die Verbände politisch so irrelevant wie in Frankreich; und nirgends finden wir einen so hohen Konzentrations- und Monopolisierungsgrad und haben die Bereichs-Monopolisten eine so zentrale politische Rolle gespielt wie in Österreich. Auch hier seien, der besseren Übersicht halber, die wichtigsten Merkmale der neun Interessenvermittlungssysteme zusammengestellt (vgl. Tabelle 8). Auffälligstes Ergebnis unseres vergleichenden Überblicks ist, dass über alle Strukturunterschiede und selbst über die Unterschiede der Inklusivitäts-Grade hinweg die Asymmetrie bei der Berücksichtigung der Interessen von Kapital und Arbeit verhältnismäßig ähnlich ist. Das kann insofern nicht weiter verwundern, als es sich bei allen untersuchten Gesellschaften um auf Privateigentum basierende Marktwirtschaften handelt. Aus dem Recht zur autonomen Investitionsentscheidung erwächst den Unternehmen nun einmal eine überlegene Drohkapazität, mit der keine andere gesellschaftliche Gruppe (Ausnahme allenfalls: die Ärzte) mithalten
Auswertung
243
Tabelle 8: Interessenvermittlungssysteme im Vergleich
Land
Struktur der Verbändelandschaft
Verknüpfung mit Parteien
Institutionalisierte Vetopunkte
Typ des IVSystems
Inklusivität
Asymmetrie
GB
fragmentiert, zeitw. GewerkschaftsDominanz
unterschiedlich (asymmetrisch)
—
pluralistische Repräsentanz
kurzfristig gering
eher hoch
SUI
fragmentiert, Dominanz der Wirtschafts- und Bauernverbände
gering
viele
private Regierung/ Konkordanz
hoch
eher hoch
SWE
konzentriert, lange Zeit Dominanz der Gewerkschaften
unterschiedlich (hoch bei Gewerkschaften)
Gesetzgebung (RemissVerfahren)
Korporatismus (bis 1991)
eher hoch
eher gering
F
stark fragmentiert
gering
—
etatistisch kanalisierter Pluralismus/ Klientelismus
gering
hoch
ITA
subkulturell, fragmentiert, Parteiendominiert
hoch
Gesetzgebung (leggine) (schwach)
anomische Elemente/ Klientelismus
gering
eher hoch
NL
nach Säulen fragmentiert, Konzentrationstendenz
hoch (Tendenz zur Lockerung)
via SER
Korporatismus (in Auflösung)
mittel
eher gering, zunehmend
FIN
konzentriert, BereichsMonopole
hoch
via interministerieller Koordination, Wirtschaftsrat (schwach)
Korporatismus (bis 1991)
mittel
eher gering
D
konzentriert, BereichsMonopole
mittel
—
politikfeld-spezifischer Meso-Korporatismus/ Klientelismus
gering
hoch
AUT
stark konzentriert, Monopole via Kammern
hoch
via PK
Korporatismus
gering
gering, zunehmend
kann. Auch ein ausgedehnter staatlicher Wirtschaftssektor (Großbritannien bis ca. 1980; Italien, Frankreich, Österreich bis vor kurzem) hat daran wenig ändern können, zumal dann nicht, wenn die staatlichen Unternehmen sich in Konkurrenz mit privaten befanden. Die Unternehmens-Wirtschaft muss überall als quasi geborene Veto-Gruppe gelten, der auch machtvolle Gegenorganisationen nur mühsam und vorübergehend und nur in besonderen – nationalen wie internationalen – Konstellationen etwas von ihren Privilegien abzutrotzen vermochten. In Schweden verdankte die zeitweise Asymmetrie zugunsten der Gewerkschaften sich der jahrzehntelangen Dominanz der SAP. Die Symmetrie in Österreich war der Verkoppelung
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Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
der Sozialpartnerschaft mit großen Koalitionen geschuldet, in Großbritannien Besonderheiten der Gewerkschaftsorganisation und der Streiktaktik, die aber auch prompt in der British disease, sprich Wachstumsschwäche, Pfundkrisen u. dgl. resultierten. Inzwischen leben wir im neuen Zeitalter einer Globalisierung, die unter einseitig kapitalistischen Vorzeichen steht, und einer eindeutig neoliberal geprägten Europäisierung. Beides hat – wiederum auffällig in unserer Übersicht – zur Folge, dass spätestens in den 1990er Jahren korporatistische Strukturen, die ja nicht zuletzt der Herstellung sozialer Symmetrie dienen sollen, abgebaut oder zunehmend entwertet wurden. In diesen Zeiten mag als Ironie der Geschichte erscheinen, dass sich ausgerechnet das Interessenvermittlungssystem der Schweiz, obschon von Haus aus asymmetrisch, seine tendenziell hohe Inklusivität bewahrt hat. Und das wiederum verweist darauf, dass unterschiedliche Wege der Institutionalisierung des Einflusses von Interessenverbänden sich in der Tat – und resistent – unterschiedlich auf die Inklusivität der Interessenberücksichtigung auswirken. Wenn der Befund unseres Vergleichs in einem Punkt eindeutig ist, dann in dem, dass der Einflussweg über die Verwaltung und damit über die Prozesse der Entscheidungsvorbereitung und der Implementation tendenziell hohe Selektivität impliziert (s. die Beispiele Großbritannien, Frankreich, Deutschland). Dass die administrative Art der Einflusssicherung, die in aller Regel in klientelistische Beziehungen mündet, selten fair, inklusiv und symmetrisch verläuft, liegt zum einen in der Affinität von staatlichen und privaten Bürokratien begründet, zum anderen darin, dass sie weniger organisationsfähigen Gruppierungen keine Chancen einräumt. Überdies mangelt es dem Klientelismus unweigerlich an Transparenz; er findet quasi in Hinterzimmern statt und entzieht sich damit öffentlicher Kommentierung und Kontrolle. Das gilt natürlich umso mehr, wenn Korruption und mafiöse Strukturen sich breit machen; und von der Korruption ist der Klientelismus nie weit entfernt. Finnland ist die Ausnahme von der Regel, da hier der Zugang nicht über einzelne Ministerien, sondern über die interministerielle Koordination erfolgt. Das reduziert die asymmetrische Wirkung potentiell klientelistischer Strukturen. Dagegen führt die Einschaltung von Verbänden in den eigentlichen Gesetzgebungsprozess, insbesondere ihre Ausstattung mit Einspruchsrechten, zunächst einmal zu vergleichsweiser Transparenz: Die Einflusswege sind sichtbar, die Ergebnisse zurechenbar (s. die Beispiele Schweden und Schweiz; als Ausnahme muss hier allerdings die italienische Praxis der leggine gelten). Zum anderen eröffnen sie gegebenenfalls auch wenig machtvollen Verbänden, Bewegungen, NGOs und ad hocGruppen die Möglichkeit der Einflussnahme, was die Interessenberücksichtigung inklusiver macht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sich dem Einspruch über die Referendums-Möglichkeit Nachdruck verleihen lässt.
Auswertung
245
Dass korporatistische Strukturen, die sich der einfachen Dichotomie administrative Einflusswege hier – legislative Einflusswege dort entziehen, hochgradig exklusiv sind, scheint eine Binsenweisheit, privilegieren sie doch idealtypischerweise die Sozialpartner und versetzen die übrigen Interessengruppen in einen Status „zweiter Klasse“. Breite Interessenberücksichtigung fällt gewissermaßen dem Versuch der Herstellung einer Symmetrie von Kapital und Arbeit zum Opfer. Indessen ergibt unser Vergleich einen differenzierteren Befund. Er zeigt zum einen, dass der Versuch selten längerfristig von Erfolg gekrönt war; am ehesten ist es noch den Schweden gelungen, über längere Zeit weitgehende Symmetrie – bzw. gar ein Übergewicht der Arbeitnehmerseite – zu erzielen. Zum zweiten fallen die Einbußen an Inklusivität durchaus unterschiedlich aus. Am deutlichsten zeigen sie sich in Österreich; in den Niederlanden liegen sie im mittleren Bereich, während in den skandinavischen Ländern, voran Schweden, auch in ihren korporatistischen Phasen die Interessenberücksichtigung insgesamt vergleichsweise wenig Schaden nahm. Es spricht viel dafür, zur Erklärung dieser Unterschiede die Breite der Konsenszwänge heranzuziehen, die das jeweilige Entscheidungssystem kennzeichnen. Während in Österreich der Konsensdruck sich nur auf „Schwarz-Rot“ erstreckte, sind namentlich in Finnland (übergroße Koalitionen) und Schweden (Minderheitsregierungen) bis heute deutlich mehr Akteure ins Konsenssystem einbezogen.54 In Schweden kommt hinzu, dass der Korporatismus stets vom Remiss-Verfahren flankiert war. Damit sind gleich zwei erklärende Variablen identifiziert, die die Varianz der Inklusivität korporatistischer Systeme bestimmen, nämlich die Art der konsensdemokratischen Tradition und die Art der institutionellen Einbettung. Abschließend ist noch die Frage der Dominanz der Verbände im gesamten Akteurs- und Entscheidungssystem zu klären. Das ist nicht ganz leicht, weil zumal bei Versäulung sowie enger Verknüpfung von Parteien und Verbänden offen bleibt, wer hier wen dominiert. Hilfsweise könnte man versuchen, in diesen Fällen die im vorigen Kapitel 3.3 ermittelten unterschiedlichen Grade an Parteienstaatlichkeit und Parteien-Dominanz heranzuziehen. Ansonsten ist der wichtigste Indikator im Hinblick auf Verbände-Dominanz ihr Einfluss auf die institutionellen Vetospieler (vgl. o., Kap. 4.1). Zwecks Differenzierung ist der nach Eindeutigkeit und Durchschlagskraft zu gewichten, womit unserer folgenden Einschätzung unvermeidlich ein subjektives Element anhaftet. Am eindeutigsten ist die Frage nach der Verbände-Dominanz für die Länder Frankreich, Großbritannien und – in differenzierterer Form – Italien zu beantworten: In keinem dieser Länder lässt sich ein maßgeblicher Einfluss von Verbänden – 54 Wie schon mehrfach betont, handelt es sich dagegen beim Nachlassen der Konsenszwänge in den Niederlanden um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.
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Inklusion oder Exklusion: Vergleich von Systemen der Interessenvermittlung
oder auch eines Verbandes – auf institutionelle Vetospieler feststellen, und in keinem sind Vetopunkte so institutionalisiert, dass sie den Verbände-Einfluss dauerhaft zu garantieren und abzusichern vermöchten. In Großbritannien wird, wie gesehen, jeglicher Verbände-Einfluss durch den Parteienwettbewerb überlagert und mediatisiert; auch in den Zeiten der engen Verknüpfung der Gewerkschaften mit der Labour Party konnte er sich nur jeweils vorübergehend zur Geltung bringen. In Italien ist die Situation insofern ähnlich, als die Verbände zwecks Interessendurchsetzung stets gezwungen waren, den Umweg über die Parteien zu nehmen. Hier kommt erschwerend hinzu, dass die Parteien ihre Konflikte in die Verbände hineintrugen, was diese naturgemäß schwächte, wenn nicht gar lähmte. Immerhin stellt hier die dezentralisierte Gesetzgebung den Ausweg kleiner Allianzen zwischen Interessenten und einzelnen Abgeordneten unter Umgehung der Parteiführungen bereit. Beide Länder-Beispiele könnten zu der Annahme verführen, dass Parteienstaatlichkeit die entscheidende Variable ist, die die Ausbildung von Verbände-Dominanz verhindert. Der Schluss wäre indessen vorschnell, denn in Frankreich fehlt es auch am party government. Hier laufen die Einflusswege, und zwar sehr diskret, über die staatliche Verwaltung und über Seilschaften, die aus der gemeinsamen Vergangenheit in den Grandes Ecoles herrühren, die aber ihrerseits eher Unternehmen denn deren Verbände begünstigen. Gegen die Annahme, dass Parteien-Dominanz und Verbände-Dominanz einander ausschließen, spricht auch die Situation in den Ländern Niederlande, Finnland und Schweden, die wir hier in eine Mittelgruppe einordnen möchten. In allen drei Ländern sind – bei einem relativ hohen Maß an Parteienstaatlichkeit – die wichtigen Parteien mit jeweils einem Verband eng verknüpft und sind (oder waren) zugleich ihrerseits in ein Konsenssystem eingebunden. Sie haben auf jeweils unterschiedliche Weise dafür gesorgt, dass den maßgeblichen Verbänden Einfluss auf institutionelle Vetospieler garantiert (auf das Parlament in Schweden, auf die Regierung in den Niederlanden und in Finnland) und ihnen institutionalisierte Vetopunkte eingeräumt wurden; Parteien und Verbände gerieten damit in eine Art Interdependenz-Verhältnis. Schwerer zu beurteilen ist der Fall Deutschland, da hier kaum von institutionalisierten Vetopunkten gesprochen werden kann, wohl aber von erheblichem Einfluss einiger Verbände auf den Vetospieler Regierung auszugehen ist und überdies ihr Einfluss auf die situativen Vetospieler Parteien unterschiedlich ausfällt. Hier dominieren zwar die Parteien, aber sie lassen sich fallweise gern Entscheidungen von den Verbänden abnehmen; die CDU hat den Verbandseinfluss sogar in ihrer internen Struktur verankert. In einer letzten Gruppe finden wir Österreich und die Schweiz. In Österreich sind, wie gesehen, Kammern und Verbände enorm stark und von lange Zeit überragendem Einfluss auf die Vetospieler Regierung und (schwächer ausgeprägt) Na-
Auswertung
247
tionalrat. Über die Paritätische Kommission ist dieser Einfluss (noch) in einem solchen Maße institutionalisiert, dass sie als Vetospieler aus eigenem Recht gelten müssen. Zugleich waren aber die Parteien stets das entscheidende Bindeglied zwischen korporatistischer Arena und staatlichem Entscheidungssystem, und sie strukturieren ihrerseits das Innenleben zumindest der Kammern und des ÖGB. Hier ist darum die Frage „wer dominiert wen?“ am schwersten zu entscheiden. Eine Antwort wird vermutlich erst die Zukunft bringen, denn von welcher Relevanz werden die großen Verbände sein, wenn das politische System sich endgültig zu einem konkurrenzdemokratischen gewandelt haben wird? In der Schweiz dagegen liegen die Macht-Relationen klar auf der Hand: Hier verfügen die Verbände über gesicherten Einfluss auf sämtliche institutionellen Vetospieler sowie über diverse Vetopunkte. Sie sind definitiv Vetospieler aus eigenem Recht, während von Parteien-Dominanz keine Rede sein kann. Hieraus ließe sich nun wiederum schließen, dass Verbände-Dominanz doch nur bei Abwesenheit starker Parteien gedeihen kann – wenn nicht das österreichische Beispiel dagegen spräche und wenn nicht die schweizerische Verbändestaatlichkeit unbestritten einem dritten Faktor geschuldet wäre, nämlich der lang geübten Praxis direkter Demokratie. Im Grunde landen wir damit erneut, wie schon in der Auswertung des Vergleichs der Parteiensysteme, bei der scheinbar resistenen Variablen politische Kultur, denn letztlich scheinen es doch Traditionen der Apathie oder des Beteiligungswillens der Bürger zu sein, die darüber entscheiden, welche Rolle die „WahlMonopolisten“ Parteien spielen und welche Götter es neben und über ihnen gibt.
Schluss: Zum Ertrag der Vetospieler-Analyse
Das analytische Potential Der im umfangreichen zweiten Teil unserer Einführung vorgelegte Vergleich von neun europäischen Ländern sollte demonstrieren, wie mittels geeigneter Vergleichskriterien und mittels eines geeigneten Instrumentariums ganz unterschiedliche politische Systeme vergleichbar werden – oder, um das anfangs benutzte Bild ein letztes Mal zu strapazieren: wie man „aus Äpfeln und Birnen Obst“ macht. Unser Instrumentarium war die modifizierte und ausdifferenzierte Vetospieler-Analyse (vgl. Kap. 1.5.2), die deshalb einen vereinheitlichenden Zugriff bietet, weil sie sich auf die in kollektiven Entscheidungssystemen wirkenden Akteure konzentriert. Alle Entscheidungssysteme sind Systeme der Interaktion, in denen mehr oder weniger Akteure, verschiedene Typen von Akteuren, Akteure mit größerer und geringerer Entscheidungsmacht zusammen gebunden sind. Die modifizierte Vetospieler-Analyse ist auf alle Akteurstypen anwendbar, und sie vermag das „Mehr oder Weniger“ an Vetospielern, das „Mächtiger oder Weniger mächtig“ (bzw. die Dominanz bestimmter Akteure), das den Unterschied zwischen den politischen Systemen ausmacht, einigermaßen präzise zu erfassen. Wie wir dabei gelernt haben, erfasst unser analytisches Instrument solche Unterschiede tatsächlich besser als die Typ-Beschreibungen gängiger RegierungssystemTypologien. So haben wir gesehen, dass die Machtkonzentration in Einheitsstaaten nicht notwendigerweise größer ist als in Föderationen und die Macht im (semi-) präsidentiellen System nicht notwendigerweise stärker fragmentiert als im parlamentarischen. Nicht der Typ als solcher determiniert den Grad der Machtkonzentration; die (institutionellen) Typ-Merkmale eröffnen und begrenzen lediglich Möglichkeiten, die von den unterschiedlichen Akteuren so oder anders genutzt werden können. Um den aktuellen (und wandelbaren!) Grad der Machtkonzentration zu identifizieren, erwies sich insbesondere unsere Differenzierung in effektive und eingeschränkte Vetospieler als hilfreich (und sogar hilfreicher als die in institutionelle und situative Vetospieler): Eine Partei kann als effektiver Vetospieler, wenn sie mehrere institutionelle Vetospieler dominiert, das vom Typ her erwartbare Ausmaß an Machtfragmentierung geradezu in sein Gegenteil verkehren (s. das Beispiel Deutschland ohne oppositionellen Bundesrat). Umgekehrt kann ein effektiver Vetospieler mangels interner Kohäsion in mehrere Akteure aufgespalten sein und auf
Schluss: Zum Ertrag der Vetospieler-Analyse
249
diese Weise ein institutionell „schlankes“ Entscheidungssystem, das hohe Machtkonzentration erwarten lassen sollte, in ein komplexes und fragmentiertes verwandeln (s. den Reichstag im Fall Schweden). So kommt es denn, dass unsere abschließende Einordnung der neun politischen Systeme auf dem Kontinuum Machtkonzentration – Machtfragmentierung (s. Abbildung 17, S. 150) anders und um einiges differenzierter ausfiel, als wir auf Grund ihrer Typ-Merkmale vorweg angenommen hatten (s. Abbildung 7, S. 77). Das Ergebnis zeigt zudem, dass der mittels Vetospieler-Analyse durchgeführte Vergleich selbst komplexer und diffiziler ist, als man anfangs vielleicht vermuten mochte. Die schlichte Zählung von Vetospielern – gar nur von institutionellen Vetospielern – reicht für die vergleichende Einschätzung der Funktionsweise politischer Systeme nicht aus. Ein akkurates Bild erhält man erst, wenn man die Entscheidungsmacht der einzelnen Vetospieler nach Durchsetzungsfähigkeit, Häufigkeit des Gebrauchs usw. gewichtet. Überdies hat sich im Verlauf der Untersuchung herausgestellt, dass wir unser Konzept in einem Punkt modifizieren müssen: Die vorweg aufgemachte Gleichung „Gestaltungsmacht = effektiver Vetospieler“ und „nachträgliches Veto = eingeschränkter Vetospieler“ (s.o., S. 70 f.) geht nur begrenzt auf. Ist der mit nachträglichem Vetorecht ausgestattete Akteur zugleich Letztentscheider, müssen die Agenda-Setzer seine Positionen antizipierend in ihre Programme integrieren; er bestimmt die Größe des winsets mit. Handelt es sich beim Letztentscheider um das Parlament, sind die Präferenzen der politischen Akteure in der Regel relativ klar zu bestimmen und können die Regierungsparteien ohne das Risiko des Scheiterns solche Politikvorschläge innerhalb des winsets formulieren, die ihrer Position nahe kommen. Sind dagegen nicht-politische Akteure wie das Volk in der Schweiz oder das Verfassungsgericht in Deutschland Letztentscheider, kommt für die AgendaSetzer Unsicherheit ins Spiel: Sie wissen nur in etwa, wo die Position des Akteurs liegen könnte. Daher werden sie einen Politikvorschlag innerhalb des winsets formulieren, der näher an den vermuteten Idealpunkt des Letztentscheiders heranreicht. Das wird insbesondere dann der Fall sein, wenn der Letztentscheider sein Recht häufig in Anspruch nimmt. Er ist dann als effektiver Vetospieler zu qualifizieren; man könnte in diesem Fall von einer Art verkappter Agenda-Kontrolle sprechen. Der Erkenntnisgewinn aus dem vergleichenden Überblick über die Regierungssysteme ist der, dass über den Grad von Machtkonzentration bzw. -fragmentierung weniger die institutionellen checks and balances entscheiden als vielmehr die Struktur des Parteiensystems und die Art des Parteienwettbewerbs. Das gilt nicht nur im positiven Sinn, indem die Parteien über die institutionellen Vetospieler dominieren oder sie intern fragmentieren, sondern auch im negativen: Wo die Parteien sämtlich eine untergeordnete Rolle spielen, bleibt die Stelle des Machtzentrums leer
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Schluss: Zum Ertrag der Vetospieler-Analyse
(s. das Beispiel Schweiz1). Nun ist die Erkenntnis, dass die Parteien die wichtigsten Akteure des political game und das entscheidende Agens von Vereinheitlichung bzw. Segmentierung sind, so neu nicht – einerseits. Man weiß schon lange, dass Repräsentativsysteme im Kern Parteiendemokratien sind. Andererseits konnten wir aber deutlicher machen als zuvor geschehen, dass nicht die institutionellen Systemund Typ-Merkmale die Struktur des Parteiensystems und die Art des Parteienwettbewerbs bestimmen, sondern umgekehrt beides die Funktionsweise des Entscheidungssystems steuert und seinerseits typ-prägend ist (s. Kap. 3.3). So kann man z.B. sagen, dass politische Systeme, in denen Minderheitsregierungen üblich sind, einen eigenen Typ darstellen, in dem das scheinbar majoritäre parlamentarische Systeme konsensdemokratische Züge trägt (s. das Beispiel Schweden). Ohne Kenntnis der Interaktionsweise der gesellschaftlichen Akteure (situative Vetospieler) untereinander und mit den institutionellen Vetospielern gewinnt man von den Regierungssystemen kein realistisches Bild. Wiederum erweist sich dabei der generalisierte Vetospieler-Ansatz als hilfreich: Er erlaubt nicht nur den einheitlichen (im Sinne von typ- oder system-übergreifendem) Zugriff, sonden auch den ganzheitlichen, indem er alle Akteure – eben auch die gesellschaftlichen – umgreift. Nicht nur sind die Parteien selbst als (häufig effektive) Vetospieler identifiziert, sondern obendrein lässt sich ihr Rang im Entscheidungssystem trefflich gewichten – je nach dem, wie sich ihr Einfluss auf die institutionellen Vetospieler gestaltet. Die Einflussrelationen zwischen beiden Vetospieler-Typen lassen sich so einigermaßen differenziert abbilden; man erhält infolgedessen ein präziseres Maß von party government, als Katz es sich vorgestellt hat, dessen Konzept wir hier zu dem der Parteien-Dominanz erweitert haben. Sie ist dann gegeben, wenn Parteien alle institutionellen Vetospieler dominieren, und sie ist dann asymmetrisch, wenn dies nur für eine Partei gilt (s. das Beipiel Italien vor 1992). Dieser Ansatz ist zugegebenermaßen noch ausbaufähig; auch haben wir in unserem Überblick über die neun Parteiensysteme sein analytisches Potential sicher nicht voll ausgeschöpft. Zum ausbaufähigen Teil des Konzepts der Parteien-Dominanz zählt nicht zuletzt die Frage, wie weit der Parteieneinfluss in die Gesellschaft hinein reicht (partyness of society). Von Interesse ist hier insbesondere ihre Dominanz über gesellschaftliche Akteursgruppen wie Medien und Verbände. Das Gegenbild zur Parteien-Dominanz ist die Verbände-Dominanz, die sich ebenso wie erstere bestimmen lässt über den Einfluss auf die anderen – institutionellen und situativen – Vetospieler. Abgerundet wird das analytische Instrument in diesem Fall durch die Frage nach der Verfügbarkeit von besonderen Vetopunkten im legislativen oder auch administrativen Prozess. Die Aufschlüsselung über den Zugang zu Vetospielern und die Nutz1 Für Frankreich gilt – wie so oft – die Regel nicht: An die Stelle der Parteien treten hier die Politiker.
Schluss: Zum Ertrag der Vetospieler-Analyse
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barkeit von Vetopunkten gibt aber nicht nur Hinweise auf die Dominanz von Verbänden. Sie liefert zugleich ein Maß für die Symmetrie oder Asymmetrie der Interessenberücksichtigung und für die Inklusivität des Prozesses der Interessenvermittlung, die dann gegeben ist, wenn die besagten Zugänge vielen Gruppen offen stehen. Damit lässt sich einigermaßen präzise identifizieren, wer die Veto-Gruppen in einer Gesellschaft sind. Auch dieser Ansatz ist natürlich entwicklungsfähig und verspricht einiges analytisches Potential.
Forschungsfragen und Hypothesen Im Zuge unserer vergleichenden Untersuchung haben sich einige offene Fragen ergeben und ließen sich einige Hypothesen generieren, die wir abschließend ebenso wie weiterführende Möglichkeiten zur Anwendung unserer Modifikation des Vetospieler-Konzepts auflisten wollen. Wie gesehen, determinieren die Interaktionen innerhalb des Parteiensystems in hohem Maß den Grad der Machtfragmentierung in einem politischen System. Was aber bringt Parteien dazu, ein höheres Ausmaß an Machtteilung zu akzeptieren, als institutionell vorgegeben ist? Die Frage ist, ob das Vetospieler-Konzept das Aufkommen und Überdauern von Minderheitsregierungen und übergroßen Koalitionen erklären kann: von Arrangements also, die mehr Vetospieler im „politischen Spiel“ lassen, als notwendig erscheint. Unsere Vermutung geht dahin, dass den Parteien dort, wo es diverse institutionelle und situative Vetospieler gibt, eine zusätzliche Machtteilung deshalb leichter fällt, weil a) die Regierung ohnehin unter Restriktionen steht und b) die Integration von scheinbar überzähligen Akteuren die externen Restriktionen vermindert bzw. die Durchsetzungskraft gegenüber den übrigen Vetospielern erhöht. Verlieren dagegen die anderen institutionellen und situativen Vetospieler an Macht oder reduziert sich ihre Zahl, sollte sich demnach – zumindest mittelfristig – ein Trend zu „normalen“ minimalen Gewinnkoalitionen einstellen (s. die Niederlande, seit 2003 auch Finnland). Am Ende unseres Überblicks über die Parteiensysteme steht das Desiderat, das Konzept der Parteien-Dominanz zu einem Messinstrument zu operationalisieren. Wie gehen davon aus, dass sich daraus ein genaueres und differenzierteres Maß ergibt als aus dem Katz’schen Konzept des party government. Zur Parteien-Dominanz haben wir zwei Hypothesen formuliert, die zu überprüfen wären (s. Kap. 3.3): zum einen die, dass Parteien-Dominanz am besten bei mittlerer gesellschaftlicher Heterogenität gedeiht und bei Homogenität sich ebenso schwächer ausprägt wie bei großer Heterogenität; zum anderen die, dass mit fester Etablierung von party government im Katz’schen Sinn auf die Dauer die Parteibindung abnimmt und folglich Parteien-Dominanz (in der Gesellschaft) sich abschwächt.
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Schluss: Zum Ertrag der Vetospieler-Analyse
Genauer zu ergründen wäre das Verhältnis von Parteien- und Verbände-Dominanz. Hierzu gibt es bisher nur Vermutungen wie z.B. die, dass das eine das andere ausschließt. Dagegen spricht unser Befund, dass korporatistische Arrangements umso überlebensfähiger sind, je enger die Organisationen der Sozialpartner mit starken Parteien verknüpft sind (s. das Beispiel Österreich). Der Überblick über die Systeme der Interessenvermittlung verweist darauf, dass es möglicherweise eine enge Korrelation zwischen der Art der Institutionalisierung (Vetopunkte) von Verbandseinfluss und der Selektivität der Interessenberücksichtigung gibt, der genauer nachzugehen wäre. Es scheint viel dafür zu sprechen, dass der Einflussweg über die Verwaltung höhere Selektivität produziert als der über die Gesetzgebung (s. Kap. 4.3). Interessant ist auch die Frage, wie die Art der Einbettung tendenziell korporatistischer Strukturen ins umgebende Entscheidungssystem sich auf Exkluivität oder Inklusivität auswirkt. Wie sich nach unseren Befunden vermuten lässt, sind die Einbußen an Inklusivität umso geringer, je breiter das Konsenssystem außerhalb dieser Strukturen angelegt ist. Über die genannten Fragen und Hypothesen hinaus sehen wir weitere Möglichkeiten, unsere Modifikation des Vetospieler-Konzepts nutzbar zu machen. Eine davon ist ihr Einsatz schon bei der Fallauswahl in vergleichenden Untersuchungen mit geringer Fallzahl. Es dürfte sich als sinnvoll erweisen, sich bei der Auswahl der Länder an deren Vetospieler-Struktur zu orientieren statt an eingeführten Typologien. Schon jetzt wird die Vetospieler-Analyse zur Bestimmung der unabhängigen Variablen genutzt, wenn es um die Erklärung bzw. vergleichende Analyse konkreter kollektiver Entscheidungsprozesse geht, wenn also Politik-Produktion und Performanz die abhängigen Variablen sind (s.o., Kap. 1.5.1). Hier bietet unser modifiziertes Vetospieler-Konzept die Chance zur Verfeinerung der Analyse. Mit der bloßen Zählung der Vetospieler nämlich sind die jeweiligen Entscheidungsstrukturen – und mit ihnen die unabhängige Variable – nicht hinreichend definiert. Denn nicht nur die Anzahl an Vetospielern – die bislang obendrein sehr unterschiedlich operationalisiert wurden –, sondern auch deren spezifische Art und Relevanz (ob institutionell oder situativ, effektiv oder eingeschränkt) wirken sich auf Politikergebnisse aus. Gerade zu deren Erklärung dürfte sich auch als hilfreich erweisen, die Interessenten in die Gruppe der (potentiellen) situativen Vetospieler einzureihen und im jeweiligen politischen System die Vetopunkte auszumachen. Am Anfang unserer Untersuchung interessierten wir uns nicht zuletzt dafür, was Wandlungsprozesse in politischen Systemen induziert; und hierzu können wir recht wenig aussagen. Wir konstatieren lediglich einen (fast) allgegenwärtigen Trend zur Bipolarisierung und zu einem Mehr an konkurrenzdemokratischen Merkmalen; erklären können wir ihn mit unserem analytischen Ansatz aber nicht, auch wenn es
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einige Vermutungen über Zusammenhänge (s.o.) gibt. Für umfassende Erklärungen müssten wir auf von diesem nicht erfassbare gesellschaftliche und ökonomische Faktoren (Auflösung gesellschaftlicher Milieus; Globalisierung) zurückgreifen. Auf der anderen Seite der Medaille steht die überraschende Resistenz eingefahrener Strukturen und Verhaltensweisen (vor allem von und in Parteiensystemen) gegen institutionell induzierten Wandel. Auch zu deren Erklärung bedarf es des Rückgriffs auf eine Variable, die mit unserem Ansatz nicht zu erfassen ist, nämlich die politische Kultur. Was begrenzt geleistet werden kann, ist die Formulierung von Hypothesen über die Effekte von Veränderungen in der politischen Kultur (z.B. die Abnahme von Parteibindungen), die sich je nach Vetospieler-Struktur unterschiedlich auf die Funktionsweise politischer Systeme auswirken werden. Wenn man so will, kann man hierin eine Schwäche des Vetospieler-Ansatzes entdecken: Er taugt nur begrenzt zur Erklärung von – auch institutionellem – Wandel und schon gar nicht zur Welterklärung. In aller Bescheidenheit wollen wir hier festhalten, dass er „nur“ zur Erklärung von Verhaltensweisen innerhalb etablierter Strukturen und zur Erklärung von deren Adaptionsfähigkeit2 dient. Vor allem aber nützt er beim systematischen Vergleich und bei der analytischen Durchdringung der unterschiedlichsten kollektiven Entscheidungssysteme – und das ist schon viel.
2 – ein Erklärungspotential, das in dieser Einführung nicht genutzt werden konnte.
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Verzeichnis der Abkürzungen
Allgemein ENP ENEP ENPP IG VP RP
effective number of parties effective number of electoral parties effective number of parliamentary parties Interessengruppe Vetospieler Regierungspartei(en)
Großbritannien (GB) Allgemein NHS NEDC MP
National Health Service National Economic Development Council Member of Parliament
Parteien Lab
Labour Party
Sozialdemokraten
British Employers’ Confederation British Medical Association Confederation of British Industry Federation of British Industries National Association of British Manufacturers National Farmers’ Union Trades Union Congress
Unternehmerverband Ärzteverband Unternehmerverband Unternehmerverband Unternehmerverband Agrarverband Gewerkschaft
Verbände BEC BMA CBI FBI NABM NFU TUC
Schweiz (SUI) Allgemein BV NZZ
Bundesverfassung Neue Zürcher Zeitung
Parteien FDP SVP SPS CVP
Freisinnig-demokratische Partei Schweizerische Volkspartei Sozialdemokratische Partei der Schweiz Christlich-demokratische Volkspartei
Liberale Konservative Sozialdemokraten Christdemokraten
270 PdA SD FPS LdU
Verzeichnis der Abkürzungen Partei der Arbeit Schweizer Demokraten Freiheitspartei der Schweiz Landesring der Unabhängigen
Sozialisten Rechte Rechtspopulistisch Liberale
Christlichnationaler Gewerkschaftsbund der Schweiz Schweizerischer Gewerkschaftsbund Schweizerischer Gewerbeverband Schweizerischer Handels- und Industrie-Verein Schweizerischer Kaufmännischer Verband Schweizerischer Milchkäuferverband Verband Schweizer Käserei- und Milchwirtschaftlicher Betriebsleiter Zentralverband Schweizerischer ArbeitgeberOrganisationen Zentralverband Schweizerischer Milchproduzenten
Gewerkschaft Gewerkschaft Unternehmerverband Unternehmerverband Gewerkschaft Agrarverband Agrarverband
Verbände CNG SGB SGV SHIV SKV SMKV VSKMB ZSAO ZVSM
Unternehmerverband Agrarverband
Schweden (SWE) Allgemein RF AMS
Regeringsformen Arbetsmarknadsstyrelsen
Parteien SAP M FP CP
Socialdemokratiska Arbetarepartiet Moderata Samlingspartiet Folkpartiet Liberalerna Centerpartiet
VP KDS MP NyD
Vänsterpartiet Kristdemokratiska Samhällspartiet Miljöpartiet de Grönä Ny Demokrati
Sozialdemokraten Konservative Liberale Zentrumspartei (Agrarier) Linkssozialisten Christdemokraten Grüne Protestpartei
Verbände KF
Kooperativa Förbunder
LO LRF SACO SAF SI SN TCO
Landsorganisationen Landbrukarnas Riksförbund Sveriges Akademikers Centralorganisation Svenska Arbetsgivarföreningen Sveriges Industriförbund Svenskt Näringsliv Tjänstemännens Centralorganisation
Konsumgenossenschaft Gewerkschaft Bauernvernband Gewerkschaft Unternehmerverband Unternehmerverband Unternehmerverband Gewerkschaft
Verzeichnis der Abkürzungen
271
Frankreich (F) Allgemein OAS ENA
Organisation de l’Armée Secrète Ecole Nationale d’Administration
Parteien PS SFIO PCF PR RPR
Parti Socialiste Section Française de l’Internationale Ouvrière Parti Communiste Français Parti Radical Rassemblement pour la République
UDF FN UMP
Union pour la Démocratie Française Front National Union pour un Mouvement Populaire
Sozialisten Sozialisten Kommunisten Liberale Konservative (Gaullisten) Zentrumspartei Rechtsextremisten Konservative
Verbände FNSEA CNPF MEDEF CGPME FEN CGT CFDT CGT-FO CFTC CFE-CGC
Fédération Nationale des Syndicats d’Exploitants Agricoles Centre National du Patronat Français Mouvement des Entreprises de France Confédération Générale des Petites et Moyennes Entreprises et du Patronat Réel Fédération de l’Education Nationale Confédération Générale du Travail Confédération Français Démocratique du Travail Confédération Générale du Travail – Force Ouvrière Confédération Français de Travailleurs Chrétiens Confédération Français de l’Encadrement – Confédération Générale des Cadres
Bauernverband Unternehmerverband Unternehmerverband Unternehmerverband Lehrerverband Gewerkschaft Gewerkschaft Gewerkschaft Gewerkschaft Gewerkschaft
Italien (ITA) Allgemein P2 RAI
Propaganda 2 Radio Audizioni Italiane
Parteien DC PCI MSI DS PDS FI
Democrazia Cristiana Partito Comunista Italiana Movimento Sociale Italiano Democratici di Sinistra Partito Democratico della Sinistra Forza Italia
Christdemokraten Kommunisten (Neo-)Faschisten Sozialdemokraten Sozialdemokraten Konservative
272 RC UDC PSI AN UD
Verzeichnis der Abkürzungen Rifondazione Comunista Unione dei Democratici Cristiani e di Centro Partito Socialista Italiana Alleanza Nazionale Unione Democratica
Kommunisten Christdemokraten Sozialisten (Neo-)Faschisten Zentrumspartei
Associazione Sindacale delle Aziende Petrolchimiche Confederazione Generale Italiana del Lavoro Confederazione Italiana dei Sindacati dei Lavoratori Confederazione Italiana Sindacati Nazionali Lavoratori Confederazione Generale dell’Industria Italiana
Unternehmerverband Gewerkschaft Gewerkschaft Gewerkschaft Unternehmerverband
Ente Nazionale Idrocarburi Unione Generale del Lavoro Unione Italiana del Lavoro
Unternehmen Gewerkschaft Gewerkschaft
Verbände ASAP CGIL CISL CISNAL Confindustria ENI UGIL/UGL UIL
Die Niederlande (NL) Allgemein SER
Sociaal Economische Raad
Parteien CDA LPF VVD
Christen Democratisch Appel List Pim Fortuyn Volkspartij voor Vrijheid en Democratie
D’66 ARP CHU SGP
Democraten ‘66 Anti-Revolutionaire Partij Christelijk-Historische Unie Staatkundig-Gereformeerde Partei
KVP PvdA CPN SP
Katholike Volkspartij Partij van de Arbeid Communistische Partij van Nederland Socialistische Partij
Christdemokraten Rechtspopulisten Liberale (konservativ) Sozial-Liberale Protestanten Protestanten Orthodoxe Protestanten Katholiken Sozialdemokraten Kommunisten Sozialisten
Christelijk National Vakverbond Federatie Nederlandse Vakbeweging Land- en Tuinbouworganisatie Nederland Koninklijke Vereniging Midden- en Kleinbedrijf Nederlands Christelijk Werkgeversbond Nederlands Katholiek Vakverbond Nederlandse Verbond van Vakverenigingen
Gewerkschaft Gewerkschaft Bauernverband Unternehmerverband Unternehmerverband Gewerkschaft Gewerkschaft
Verbände CNV FNV LTO MKB NCW NKV NVV
Verzeichnis der Abkürzungen VNO
Verbond van Nederlandse Ondernemingen
273 Unternehmerverband
Finnland (FIN) Parteien SDP KESK
Suomen Sosialidemokraattinen Puolue Suomen Keskusta
KOK RKP
Kansallinen Kokoomus Ruotsalainen Kansanpuolue
LKP VAS SKDL SKL SMP VIHR
Liberaalinen Kansanpuolue Vasemmistoliitto Suomen Kansan Demokraattinen Liitto Suomen Kristillin Liitto Suomen Maaseudun Puolue Vihreä Liitto
Sozialdemokraten Zentrumspartei (Agrarier) Konservative Schwedische Volkspartei Liberale Linkssozialisten Kommunisten Christdemokraten Agrarier Grüne
Akateemisten Toimihenkilöiden Keskusjärjestö Maataloustuottajain Keskusliitto Maaseudun Työnantajaliitto Palvelutyönantajat Suomen Ammattijärjestö Suomen Ammattijärjestöjen Keskusliitto Suomen Työnantajain Keskusliitto Suomen Teknisten Toimihenkilöiden Keskusliitto Teollisuuden ja Työnantajain Keskusliitto Toimihenkilö- ja Virkamiesjärjestöjen Keskusliitto
Gewerkschaft Bauernverband Bauernverband Unternehmerverband Gewerkschaft Gewerkschaft Unternehmerverband Gewerkschaft Unternehmerverband Gewerkschaft
Verbände AKAVA MTK MTL PT SAJ SAK STK STTK TT TVK
Deutschland (D) Allgemein BVerfG KA StabWG GG GGO
Bundesverfassungsgericht Konzertierte Aktion Gesetz zur Forderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Grundgesetz Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien
Parteien CDU CSU KPD SRP
Christlich Demokratische Union Christlich-soziale Union Kommunistische Partei Deutschlands Sozialistische Reichspartei
Christdemokraten Christdemokraten Kommunisten Postfaschisten
274 FDP PDS NPD DVU
Verzeichnis der Abkürzungen Freie Demokratische Partei Partei des Demokratischen Sozialismus Nationaldemokratische Partei Deutschlands Deutsche Volksunion
Liberale Linkssozialisten Rechtsextremisten Rechtsextremisten
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie Deutsche Angestellten-Gewerkschaft Deutscher Gewerkschaftsbund Deutscher Industrie- und Handelskammertag Reichsverband der Deutschen Industrie Zentralverband des Deutschen Handwerks
Unternehmerverband Unternehmerverband Gewerkschaft Gewerkschaft Kammer Unternehmerverband Unternehmerverband
Verbände BDA BDI DAG DGB DIHKT RDI ZDH
Österreich (AUT) Allgemein B-VG PK NR
Bundes-Verfassungsgesetz Paritätische Kommission Nationalrat
Parteien BZÖ CSP FPÖ
Bündnis für die Zukunft Österreichs Christsoziale Partei Freiheitliche Partei Österreichs
KPÖ ÖVP SDAP SPÖ
Kommunistische Partei Österreichs Österreichische Volkspartei Sozialdemokratische Arbeiterpartei Sozialdemokratische Partei Österreichs
Liberal-populistisch Christdemokraten Liberalnationalistisch Kommunisten Christdemokraten Sozialdemokraten Sozialdemokraten
Bundesarbeiterkammer Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter Landwirtschaftskammern Österreichischer Arbeiter- und Angestelltenbund Österreichischer Bauernbund Österreichischer Gewerkschaftsbund Österreichischer Wirtschaftsbund Verein der Österreichischen Industrie
Kammer Kammer Kammerfraktion Kammer Kammerfraktion Kammerfraktion Gewerkschaft Kammerfraktion Unternehmerverband
Verbände BAK BWK FSG LWK ÖAAB ÖBB ÖGB ÖWB VÖI
Institutionensynopse
Land
Erste Kammer
Zweite Kammer
GB
Unterhaus House of Commons
Oberhaus House of Lords
SUI
Nationalrat
Ständerat
SWE
Reichstag Riksdagen
–
F
Nationalversammlung Assemblée Nationale
Senat Sénat français
ITA
Deputiertenkammer Camera dei Deputati
Senat Senato della Repubblica
NL
Zweite Kammer Tweede Kamer der Staten-Generaal
Erste Kammer Eerste Kamer der Staten-Generaal
FIN
Parlament Eduskunta
–
D
Bundestag
Bundesrat
AUT
Nationalrat
Bundesrat
Land
Regierungschef
Regierung
GB
Prime Minister
Government / cabinet
SUI
Bundespräsident (Vorsitzender des Bundesrats)
Bundesrat
SWE
Ministerpräsident Statsministern
Regierung Regeringen / Statsråd
F
Premierminister Premier ministre
Regierung Gouvernement
ITA
Ministerpräsident Presidente del Consiglio dei Ministri
Regierung Governo
NL
Ministerpräsident Minister-President
Regierung Regering / Ministerraad
FIN
Ministerpräsident Pääministeri
Staatsrat Valtioneuvoston
D
Bundeskanzler
Bundesregierung / Kabinett
AUT
Bundeskanzler
Bundesregierung
276 Land
Institutionensynopse Staatsoberhaupt
Verfassung
GB
Queen
–
SUI
Bundespräsident (Vorsitzender des Bundesrats)
Bundesverfassung
König Konung
Grundgesetz zur Regierungsform Regeringsformen
F
Staatspräsident Président de la République
Verfassung Constitution
ITA
Staatspräsident Presidente della Repubblica
Verfassung Costituzione
NL
Königin Koningin
Verfassung Grondwet
FIN
Staatspräsident Tasavallan Presidentti
Grundgesetz Suomen perustuslaki
SWE
D
Bundespräsident
Grundgesetz
AUT
Bundespräsident
Bundes-Verfassungsgesetz
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle
1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8:
Qualitatives und quantitatives Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . Differenz- und Konkordanzmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Vetospieler-Theorie zu Vergleichskriterien . . . . . . . . Verschiedene Typen von Vetospielern (VP) . . . . . . . . . . . . . Rangordnung der Vetospieler und Letztentscheider . . . . . . . . Strukturmerkmale der Parteiensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . Interessenvermittlungssysteme im Vergleich . . . . . . . . . . . . .
Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung
1: 2: 3: 4: 5: 6: 7:
Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung
8: 9: 10: 11: 12: 13: 14: 15: 16: 17:
Abbildung 18:
Kriterien und Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Induktives und deduktives Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . Fälle, Variablen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The two-dimensional conceptional map of democracy . . Sartoris ,simplified model‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winset und unanimity core . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ausgewählten Vergleichsländer und ihre erwartete Machtfragmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem Großbritanniens . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem Schwedens . . . . . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem Italiens . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem der Niederlande . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem Finnlands . . . . . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem Deutschlands . . . . . . . . . . . . . Das Entscheidungssystem Österreichs . . . . . . . . . . . . . . Machtkonzentration und -fragmentierung in neun Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interessenvermittlungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 32 43 74 144 149 193 243 27 29 34 49 53 65 77 88 95 102 109 115 123 130 136 142 150 200
Sachregister
Allgemein
Absorption rule 64, 66, 72, 78f., 110, 117,
133 Access points 113, 206f., 223, 237 Agenda-Kontrolle 69ff., 74, 83, 91, 131, 138, 146, 159, 249 Agenda-Setzer – Definition 64 – eingeschränkter 71, 90, 98 – uneingeschränkter 64f., 71, 83 Akteurszentrierter Institutionalismus 23 Anomie 200, 203, 219, 223 Asymmetrie (als Vergleichskriterium) 15, 51, 73f., 155, 172, 196, 200, 202, 242f., 251 Ausnahmefall 80, 83, 87, 96, 108, 132f., 136, 160, 221
Bedeutungs-Äquivalenz 33, 45 Bikameralismus 66ff., 97, 110, 114, 117, 143 Bipolarität 51, 162, 169, 171, 173ff., 186, 190f., 193, 252 Bundesstaat 36, 77, 79, 88f., 130, 132, 135, 137, 139, 141, 195 Checks and balances 63, 249
Cleavages / Konfliktlinien 56f., 152, 160f., 164, 168, 173, 179, 181, 185 Cohabitation 104ff., 147, 149f., 171f. Cross-national studies 13, 32, 35, 38f., 41, 56, 77 Comparative government 20, 25, 35f., 38 Comparative politics 12, 19f., 36
Deduktives Vorgehen 28ff. Demokratie – direkte 76, 112, 122, 139, 194f., 213, 247 – -Indices 42, 60 – Konsens- 36, 47, 50, 70, 73, 77, 96, 98, 135, 245, 250 – Konkordanz- 76, 113, 116, 120, 139, 203, 225 – Mehrheits- 47f., 119, 129 – -messung 60f. – Referendums- 162, 211, 213 – repräsentative 35, 60, 81, 127, 153, 194, 250 – Westminster- 35f., 47f., 81, 97 Dichotomie 28, 31, 41, 47, 63, 78, 245 Differenzmethode (MSSD) 31ff., 35, 37ff., 42f., 58, 75 Drohkapazität 201ff., 208, 212, 220, 223f., 237, 242 Dominanzstrukturen 24, 73f., 155, 172, 176f., 188f., 192 Effektive Parteienzahl (ENP) 28, 152f.,
179, 182, 194 – Anzahl elektoraler Parteien (ENEP) 153, 157, 170, 173, 186, 193 – Anzahl parlamentarischer Parteien (ENPP) 153, 157, 161, 169, 174, 178f., 186, 190f., 193 Einheitsstaat 87, 130, 154, 195, 248 Einstimmigkeit 64, 139 Einzelfallstudie 13, 30, 34 Empirisch-analytisches Vorgehen 47f. Entscheidungszentrum 23, 32, 89, 131, 150
Sachregister Erkenntnisziel 12, 18f., 26f., 30f., 34–43 Europäische Integration 87, 108, 115, 141, 183 Exklusion 11, 208, 212, 220 Exklusivität 74
Fallzahl 30, 33, 35, 37ff., 45, 77, 252
Focused comparison 31, 77 Föderalismus 36, 47–50, 63, 66f., 73, 76f., 89, 114, 135, 137, 187, 195f. Formale Modellierung 30 Formateur 97, 118, 125 Fraktionsdisziplin 65, 79, 87, 127, 131, 159 Funktions-Äquivalenz 20, 29, 45, 118
Gate keeper 176, 192 Gewaltentrennung / -teilung 57, 81 Gewerkschaften 40f., 106, 128, 134, 140f., 154, 158ff., 163, 168, 172, 176, 179f., 183, 202–239, 243–246 Hypothesen 13, 15, 18f., 29–33, 39, 58f., 154, 172, 194ff., 251ff. – -test 26, 29, 33, 38, 43, 53
Idealpunkt/-position 64f., 68f., 71, 249
Idealtyp 30, 36, 47f., 75ff., 96f., 153f., 175, 191, 196, 201f., 204 Ideologische Distanz 50ff., 162, 186 Indikatoren 27–33, 38, 42, 46, 48, 59, 61f., 74, 148, 155, 164, 172, 203, 245 Induktives Vorgehen 28f., 45 Informateur 97, 118, 125 Initiativrecht 67, 91, 94, 103, 112, 148 Inklusivität 74, 199, 202ff., 208, 213, 217, 220f., 224f., 229, 233, 238, 242–245, 251f. Interessen – -berücksichtigung 15, 74, 220f., 224, 241f., 244f., 251f. – -durchsetzung 200, 206, 211, 223, 246
279 Interessenten 111, 113, 115, 134, 187f., 203, 208, 212, 223, 236ff., 246, 252
Judikative 83, 99, 159
Judicial review 86, 145
Kammern (Wirtschafts- u.ä.) 139ff., 191,
218, 227f., 234f., 238–241, 243, 246f. Klassifikation 27f., 34, 46, 50, 153 Klientelismus 107, 113, 203, 206, 208, 220, 237, 243f. Koalition – Mehrheits- 96f. – minimal winning 119, 122, 150, 185, 251 – -svereinbarung 119f., 184 – übergroße 76, 98, 119, 127ff., 151, 245, 251 Kollegialprinzip 90 Kollektivmitgliedschaft 166, 183, 215 Konkordanz 69, 75, 90, 107, 135, 141, 163, 188, 200, 203, 213, 243 Konkordanzmethode (MDSD) 31f., 34, 36f., 38f., 42ff. Konsumgenossenschaften 183, 206, 213ff., 231 Konzeptualisierung 22, 28ff., 36, 56, 67, 73f. Korporatismus 41, 75, 77, 141, 155, 194, 200ff., 236, 238, 243, 245 Letztentscheider 76, 80, 82, 87, 91, 95, 101, 108, 115, 122, 131, 136, 142, 149, 249
Macht
– -fragmentierung 15, 31, 73–78, 87, 94, 108, 122, 129, 141, 143, 148–151, 248–251 – -konzentration 15, 31, 47–50, 70–81, 87, 94, 101, 103–108, 143, 149f., 152, 248f. – -ressourcen 62, 71f., 76, 120, 138, 147 – -teilung 35, 48ff., 108, 150, 170, 251
280 – -verteilung 48, 123, 148 – -zentrum 82, 87, 95, 101, 108, 115, 120, 122, 128f., 131, 135f., 142, 148, 163, 249 Makro-Ebene 34–38, 41ff. Matrix 28, 47f., 52 Median 67, 100 Medien 24, 113f., 154f., 160, 171f., 176–179, 184, 189, 192, 195, 250 Mehrheitswahl(-recht) – absolute 40, 169, 171 – relative 40, 157, 174 Methoden – qualitativ 18, 28, 31, 63 – quantitativ 18, 28, 31ff., 56 Meso-Ebene 34, 37, 40f., 43 Mikro-Ebene 34, 38, 40, 43 Minderheitsregierung 66, 76, 79, 96–101, 132, 146, 149, 151, 158, 165ff., 245, 250f. Ministerialbürokratie 68, 84, 105, 144, 148, 159, 167, 188, 207, 215, 221, 232 Misstrauensvotum 89, 104, 108, 111, 131, 138
Organisationsdichte 234f.
Organisationsgrad 106, 166, 206, 209f., 213, 218, 222, 226, 230, 235, 239 Operationalisierung 29f., 33, 48, 60f. Oppositionspartei(en) 51, 85, 98, 106, 114, 120, 125 146
Parlamentarisches System 48, 76, 78f., 82, 85, 101, 114, 130, 135, 142, 153, 156, 250 Parlamentssouveränität 48, 76, 82, 87, 96, Partei(en) – Antisystem- 52, 161, 170, 173, 185f. – -Bündnis 113, 174, 223 – -Demokratie 122, 153f., 250 – -Dominanz 15, 73f., 110, 133, 135, 155f., 159f., 167f., 172, 176f., 181, 185, 193–196, 245ff., 250f. – -forschung 11, 56f., 155
Sachregister – Hegemonial- 173 – Massen- 158f., 166, 187 – -staat 39, 74, 76, 153f., 156, 160, 164, 172, 175, 177, 180, 188f., 192, 194ff., 245f. – -wettbewerb 36, 51, 73, 163, 178, 187, 208, 221, 246 Party government 73, 153–156, 159, 163, 167, 171f., 175f., 180f., 184f., 188, 191, 193–196, 246, 250f. Partyness – of organisations 153, 170ff., 175, 177 – of society 154f., 160, 163, 167, 172, 176, 179ff., 184f., 189, 192, 196, 250 – of government 154ff., 171, 188, 191 Patronage 107, 113, 159, 175, 195 Pluralismus (gesellschaftlicher) 41, 48, 74f., 194, 200f., 219f., 243 Pluralismus (Parteiensystem) – moderater / gemäßigter 52f., 165, 170, 186, 190–194 – polarisierter 52f., 72, 161, 173, 182, 185, 187 – segmentierter 53, 178, 193 – tripolarer 168, 174, 194 pluralistische Repräsentanz 204, 206f., 223, 225, 236, 238, 241ff. Performanz 13f., 37, 68, 248 Politische Kultur 12, 14, 23, 38f., 51, 75, 100, 106, 129, 174f., 197, 213, 247, 253 Politisches Spiel / political game 66, 71, 73f., 119, 146, 250f. Politics 18, 38, 43, 47, 72 Policy 18, 41ff., 67, 70, 225 – -Entscheidungen 68 – -Positionen 68f., – -Stabilität 63f., 66, 68 – -Wandel 64 Polity 18, 20, 35, 43, 47, 60, 71 Pouvoir constituant 80, 95, 133, 136 Präferenzen 12, 64, 66f., 69, 71, 79, 147, 189, 249
Sachregister Präsidentielles System 35, 48, 60, 63, 66, 78f., 172, 194, 244, Private Regierungen 198, 200, 203, 210, 243 Proporz 90, 137, 139f., 159f., 163, 175, 184, 187f., 192
Qualifizierte Mehrheit 65f, 69, 83, 125,
127f., 146 Qualitatives Vorgehen / Analyse 18, 28, 31, 63 Quantitatives Vorgehen / Analyse 18, 28, 31, 33, 60
Räumliches Politikmodell 50, 64, 68
Referendum (allgemein) 42, 61, 67, 69, 91ff., 95, 103, 115, 129, 145, 147, 200, 244 – bindendes 101, 122, 181 – fakultatives 71, 91, 95, 99, 112, 114, 126, 161ff., 212 – konsultatives 99, 101, 122, 126, 168, – obligatorisches 91 Regierungs – -bildung 51, 81, 90, 97, 111, 118f., 124, 128, 167, 184 – -formen 20, 35f. – -koalitionen 48, 74, 113, 124f., 127, 150f., 166 – -partei(en) 66, 72, 85f., 92, 101, 113, 117, 122, 125, 127ff., 133, 146–149, 159–162, 165, 167, 187f., 201, 212, 249 Regime(-Typen) 26, 35, 46f., 54, 75f., 78f., 103, 130, 168 Repräsentativität 203, 218f. Revolution 28, 37, 54ff., 58, 82, 96, 102, 168, 217, 239 – industrielle 165, 177 Richtlinienkompetenz 120, 131, 138, 230
Segmentierung 51f., 116, 164, 196, 225, 250
281 Semi-präsidentielles System 35, 76, 79, 102, 114, 123f., 137, 144, 172, 244 Selektivität 15, 74, 155, 199–204, 208, 212, 221, 224f., 238, 241f., 244, 252 Souverän(-ität) 80, 82f., 87, 89, 91, 94ff., 114f., 131, 142, 145 Sozialpartnerschaft 137f., 142, 191f., 226–229, 238–242, 244 Streik 106, 199f., 205, 210, 212, 219, 224, 235, 237, 244 Symmetrie 51, 196, 202, 208, 221, 229, 233, 242–245, 251 System – atomisiertes 52 – autokratisches 114 – Dominanz- 51, 160, 166, 173, 186, 190 – Hegemonial- 51 – Politisches 13f., 20–24, 34, 75ff., 154, 244, 250 – Regierungs- 14, 20–26, 35f., 47, 70–74, 78–81, 143, 156, 194, 197, 244, 249f. – -theorie 12, 21–24, 37, 56 – Wahl- 40, 48, 57, 61, 69, 86, 113, 153, 156, 158, 169, 174, 193, 197 – -wechsel 11, 77, 102, 114, 141, 159, 163, 169, 192 Systematisierung 13, 27f.
Theorie-Test 13f, 39, 41, 44
Tripartismus 120, 128, 194, 202, 210, 220, 223, 228, 235f., 240 Typologie 27f., 34, 36, 40–44, 46f., 50–53, 57, 75, 77f., 148, 244, 252
Unanimity core 64f., 67 Unternehmen – allgemein 199, 202, 205, 212, 218, 222, 224, 226, 235, 237f., 242, 246 – Groß- 133, 205, 208, 220, 226 – Staats- 113, 140, 195, 243 – Wirtschafts- 111, 243
282
Variable
– abhängige 27f., 32f., 62 – unabhängige 13, 27., 32, 38, 55, 62, 68, 252 Variablenzahl 33f. Verbände – Arbeitgeber- 128, 166, 183, 204, 223, 228, 232, 234, 238 – Ärzte- 204, 216, 234, 236 – Bauern- 183, 204, 209, 212f., 215, 218f., 231f., 234–237, 243 – -Dominanz 245ff., 250, 252 – -landschaft 198, 204, 243 – Monopol- 207, 241 – -staat 76, 213, 247 – Unternehmer- 40, 180, 204, 207f., 218 – Wirtschafts- 41, 210, 212 Verfassung(s) – -änderung 66, 91, 98f., 114, 120, 122, 124, 126, 136, 143, 151 – -doktrin 80ff., 85, 89, 96, 103, 110, 116, 124, 131 – -gericht 36, 67, 69f., 99, 105, 111f., 115, 132, 135f., 139, 142, 145, 150f., 176f., 188, 249 – -gerichtsbarkeit 48, 95 – -reform 86, 93, 96, 105, 114, 124 – -staat 19, 35, 131, 189 Vergleichskriterium 15, 20, 73f., 78, 80, 153, 155, 172, 203 Vermittlungsverfahren 104, 110, 117 Vergleich – Demokratie- 42 – einer Vielzahl von Fällen 32f., 36 – historischer 34, 36f., 56 – paarweiser 31, 34f., 40, 42 – systematischer 18, 24f., 30, 53, 63, 194, 253 – weniger Fälle 31, 33, 43 Versäulung 100, 116, 120, 141, 163, 172, 176f., 179f., 183, 191, 195, 223, 225–229, 243
Sachregister Verhältniswahl(-recht) 36, 69, 86, 89, 159f., 169, 174, 178 Veto(-Recht) – aufschiebendes / suspensives 83, 111, 126, 129, 138 – -Gruppe 134, 203, 208, 243, 251 – informelles 72, 107, 118, 128 – -macht 14, 63, 69, 71ff., 78, 80, 111, 128, 145ff. Vetopunkte – der Delegation 69f., 72ff., 94 – der Expertise 69, 72ff. – der Konkordanz 69, 94, 107 – legislative 69 Vetospieler – bedingter 69ff., 74, 93, 98f., 104f., 112, 127, 132, 134f., 139, 143ff., 151 – effektiver 71, 80, 91, 97, 108, 143, 147ff., 151, 244, 249, 251 – gesellschaftlicher 134f. – individueller 63, 65ff., – institutioneller 66f., 70, 72ff., 78f., 143–146, 148, 151f., 155, 196, 203, 245–250 – invers bedingter 93 – kollektiver 65–68, 98, 101, 126f., – kompetitiver 68 – konstruktiver 69 – (mit)gestaltender 70f., 74, 143f., 147f., 151 – nachträglicher 71 – partisan 66, 72ff., 81, 129 – politikfeldspezifischer 92, 134f., 140 – potentieller 106, 133f., 138 – situativer 72ff., 78f., 81, 143–148, 151, 155f., 204, 246, 248, 250ff. Vetospieler-Theorie 14f., 24, 63, 68–71, 73, 76 Vertrauensfrage 89, 111, 132 Volkssouveränität 76, 82, 89, 95 Volatilität 158, 161, 169, 173f., 179ff., 183, 191, 196
Sachregister
283
Wahlbeteiligung 33, 39, 61f., 122, 170 Wahlforschung 39 Westminstermodell 36, 47f., 81, 97 Winset 64ff., 69, 71, 249
Vernehmlassungsverfahren 90f., 95, 98, 148, 163, 211f. Vorort 209 Zauberformel 90, 92, 94, 161
Zweite Kammer
Schweden
Zweiparteien – -Mechanik 186, 193, 204, 208 – -system 35, 40, 48, 51ff., 57, 61, 76, 85, 156, 190, 201
Großbritannien Backbenchers 85 Devolution 84, 86f. Elective dictatorship 83 First-past-the-post 157 Law Lords 86 Life Peers 84 Manifesto pledges 159, 208 Parliamentary party 83, 85, 156, 158f. Parliamentary secretaries 83f., 105 Party whips 83, 87 Quangos 207 Rule of law 83 Sympathiestreiks (secondary picketing) 205f., 208 Ultra-vires-Doktrin 84 Whitehall Mandarins 84, 95, 159
Schweiz Ad hoc-Organisationen 146, 200 Expertenkommissionen 90f., 95, 148, 163, 211f. Kantonalparteien 162f., 187 Käseunion 210 Kollegialprinzip 90 Milizsystem 93, 210 Private Regierungen 210, 243 Referendumsdemokratie 211, 213 Ständemehr 95 Verfassungs-Initiative 91, 94
Administrative corporatism 216 Agenturen 100 Entkorporisierung 214, 217 Fünf-Parteien-System 164 Konsumgenossenschaften 166, 213ff. Konzertiertes System 213 Minderheitsregierungen 76, 96–101, 146, 149, 151, 165ff., 245, 250 Organisationssverige 213 Regierungsform 96f. Remiss-Verfahren 98, 100f., 147, 151, 167, 216, 243, 245 Saltsjöbaden 216 Volksheim 100, 215 Wohlfahrtsstaat 96, 98, 100f., 217
Frankreich Action directe 106, 109, 144, 147, 150, 219, 222 Cabinets ministériels 105, 170 Cohabitation 104ff., 108f., 147, 149f., 171f. ENArchie 107, 172, 221 Grande Ecoles 107, 220, 246 Guillotine 104 Navette 104 Pantouflage 107, 220 Patronat 218 Personalisierung 168 Présidentiables 170ff. Quadrille bipolaire 169, 171, 194 Rationalisierter Parlamentarismus 103, 108, 146 République des fonctionnaires 105, 107, 147 Staatsadel 107 Wahlbündnisse 169ff.
284
Italien Bicameralismo perfetto 110, 114, 143 Centralità 113, 115 Cobas 222 Correnti 175f. Leggine 111, 148, 223, 243f. Lottizzazione 175f. Mafia 72, 113, 222, 224f. Partitocrazia 110, 115, 176, 223 Referendum abrogativo 112 Risorgimento 109 Scala mobile 222f. Tangentopoli 110, 112f., 174 Trasformismo 113, 175f. Wahlbündnisse 174, 177
Niederlande Akkord von Wassenaar 120, 229 Consociational democracy 116 Elitenkooperation 150, 180, 226, 228f. Entsäulung 117, 178, 180, 225–229 Säulenparteien 178f. Sozio-ökonomischer Rat (SER) 121f., 144, 146f., 149, 228, 243 Staatsrat 117f., 122, 144, 148f., 181 Stiftung der Arbeit 120 Versäulung 116, 177, 195, 225ff., 229
Finnland Abendschule 127 Finnlandisierung 124 Fünf-Parteien-System 181
Sachregister Großer Ausschuss 126 Kompromiss von Liinamaa 232 Konsumgenossenschaften 183, 231 Regenbogenkoalition 126, 128f., 151, 231, 233 Übergroße Koalitionen 76, 127ff., 151, 245 Wirtschaftsrat 128, 130, 232, 243
Deutschland (unitarischer) Bundesstaat 77, 130, 132, 135, 195 Bündnis für Arbeit 235 Expertenkommissionen 134 Konsensgespräche 133, 237 Konstruktives Misstrauensvotum 131 Konzertierte Aktion 134, 235f. Landesfürsten 133, 136, 187 Verfassungsstaat 131 Vermittlungsausschuss 132, 148 Verrechtlichung 131, 134 Zustimmungsgesetze 132, 146, 151
Österreich Große Koalition 137, 140, 150, 244 Kammern 140f., 239ff., 243, 246f. Kanzlerdemokratie 138 Lager 137, 141, 190ff., Paritätische Kommission 45, 138–142, 144, 146f., 150, 191f., 239ff., 243, 247 Sozialpartnerschaft 137f., 142, 191f., 238f., 241f., 244
Personenverzeichnis
Adenauer, Konrad 133ff., 237
d’Alema, Massimo 110 Almond, Gabriel A. 12f., 20f., 36ff. Aristoteles 25, 46
Barre, Raymond 170
Balkenende, Jan Peter 180 Berg, Fritz 237 Berlinguer, Enrico 173 Berlusconi, Silvio 24, 110ff, 114, 175ff., 224 Blair, Tony 84, 86, 158, 206 Blocher, Christoph 161, 163 Blondel, Jean 35f., 44ff., 186 Bryce, James 25, 35
Callaghan, James 158, 207 Carlsson, Ingvar 166, 216 Chirac, Jacques 169 Craxi, Bettino 177, 223
Dahl, Robert A. 42, 60
Deutsch, Karl W. 12, 21 Dicey, Albert V. 82 Dini, Lamberto 176 Downs, Anthony 50 Duverger, Maurice 40, 61, 124, 155
Easton, David 21
Ersson, Svante 13, 41 Esping-Andersen, Gøsta 38
Fälldin, Thorbjörn 97
Fortuyn, Pim 121, 279
de Gaulle, Charles 102, 104, 106, 130 Giscard d’Estaing, Valery 169f.
van Gogh, Theo 121
Haider, Jörg 140, 142, 190f. Heath, Edward 205, 207
Inglehart, Ronald 39, 58f. Jospin, Lionel 105 Katz, Richard S. 39f., 73, 153ff., 171f., 175f., 191, 194ff., 250f. Kekkonen, Urho 124f., 183f. Kohl, Helmut 133 Kok, Wim 120, 122, 180, 227 Kreisky, Bruno 138, 190 Künast, Renate 237 Kuyper, Abraham 178
Lane, Jan-Erik 13, 41 Lijphart, Arend 36, 40, 47–50, 70, 73, 76, 116, 122 Lipponen, Paavo 126, 129, 183 Lipset, Seymour Martin 37, 39, 56f., 152, 158, 164, 186, 193, 197 Lubbers, Ruud 120, 180, 227 Luhmann, Niklas 22 Machiavelli, Niccolò 25
Marx, Karl 25, 102 Maslow, Abraham 58 Michels, Robert 40 Mitterrand, Francois 169 Moore, Barrington jr. 37, 54ff., 75
Powell jr., G. Bingham 12, 20, 36
286
Rokkan, Stein 31, 37, 39, 56f., 152, 155, 158, 164, 181, 186, 193, 197 Rousseau, Jean-Jacques 25
Sarkozy, Nicolas 169, 171
Sartori, Giovanni 34, 36, 39f., 50–53, 73, 76, 152, 158, 161f., 165f., 173, 182, 185, 194, Scargill, Arthur 205 Schmidt, Manfred G. 38, 42 Schmitt, Carl 80, 108 Schröder, Gerhard 133 Schüssel, Wolfgang 138, 140 Skocpol, Theda 37 Stepan, Alfred 13
Personenverzeichnis
Thatcher, Margaret 83ff., 87, 205f.
Tocqueville, Alexis de 25, 38 Tsebelis, George 14f., 63–68, 70f., 74, 145
Vanhanen, Tatu 43, 60ff.
Verba, Sidney 31, 38 Villepin, Dominique de 169
Wilson, Harold 158ff., 170