Philip Jose Farmer
Das magische Labyrinth
Flußwelt-Zyklus Teil 4 (1980)
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INHALT ABSCHNITT 1 Der geheimnisvolle Fre...
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Philip Jose Farmer
Das magische Labyrinth
Flußwelt-Zyklus Teil 4 (1980)
1
INHALT ABSCHNITT 1 Der geheimnisvolle Fremde
2
ABSCHNITT 2 Auf der >Nicht vermietbar
RexNicht vermietbarfreiHauptdeck< und das darüberliegende >Kesseldeck< genannt. Aber da der Kessel der Nicht vermietbar nun einmal auf dem untersten Deck beheimatet war, hatte Sam es Kesseldeck genannt. Dies hatte natürlich die an ihre irdischen Gepflogenheiten verhafteten Rudergänger anfangs etwas verwirrt, aber mittlerweile waren auch sie daran gewöhnt. Wenn das Schiff am Ufer eines friedlichen Landstrichs vor Anker ging, gab Sam seiner Mannschaft (ausgenommen natürlich den Wachen) gelegentlich Urlaub. Dann veranstaltete er für die örtlichen Großkopfeten eine Führung. Angetan mit einer weißen Fischlederjacke, einem langen, weißen Kilt, weißen schenkellangen Stiefeln und einer ledernen Kapitänsmütze, führte er seine Gäste dann durch das ganze Schiff. Natürlich behielten er und einige Matrosen die Leute dabei schärfstens im Auge, denn angesichts der Schätze der Nicht vermietbar mußte es selbst einer Landratte und einem Stubenhocker in den Fingern jucken. Indem er zwischen den einzelnen Sätzen hin und wieder an einer riesigen Zigarre paffte, erklärte Sam den Neugierigen bei diesen Gelegenheiten alles, was sie wissen wollten - das heißt, fast alles. Wenn er sie über das A- oder Kesseldeck geführt hatte, brachte er sie über die Treppe zum B-Deck. »Seeleute würden diese Stufen eine Leiter nennen«, sagte er dann, »da aber der größte Teil meiner Mannschaft aus ehemaligen Landratten besteht und wir einige wirkliche Leitern an Bord haben, habe ich mich dafür entschieden, Treppen auch Treppen zu nennen. Schließlich haben wir es ja auch mit Stufen zu tun und nicht mit Sprossen. Gleichermaßen - und trotz des Protests der Seefahrtsveteranen - habe ich bestimmt, daß die Wände Wände genannt werden und nicht Schotten. Allerdings mußte ich gestatten, zwischen euren einfachen Türen und den Schleusen einen Unterschied zu machen. Schleusen sind diese dicken wasser- und luftdichten Türen, die man mit einem Hebelmechanismus verschließen kann.« 16
»Und was für eine Waffe ist das?« würde dann ein Tourist fragen und auf ein langes, röhrenförmiges Gerät aus Duraluminium zeigen, das wie eine Kanone aussah, auf einer Plattform stand und von dicken Plastikschläuchen umgeben war. »Das ist ein Dampfmaschinengewehr, Kaliber .80. Es enthält eine komplizierte Maschinerie, die es erlaubt, einen Strom von Plastikkugeln, die ihr durch eine Leitung von unten zugeführt wird, mit großer Schnelligkeit abzuschießen. Kesseldampf sorgt für die nötige Antriebskraft.« Einmal hatte jemand, der auch auf der Rex gewesen war, gesagt: »Das Schiff König Johns hat mehrere Maschinengewehre vom Kaliber .75.« »Ja. Ich habe sie selbst entworfen. Aber der Hundesohn hat das Schiff gestohlen, und als ich dies hier baute, ließ ich Geschütze anfertigen, die größer sind als seine.« Wenn sie dann über den Außengang schritten, zeigte er ihnen die Fensterreihen (»Nicht Bullaugen, sondern Fenster«), »die einige aus meiner Mannschaft in völliger Unkenntnis der Sachlage - oder aus purem Galgenhumor heraus Korridore oder sogar Salons nennen. Natürlich tun sie das nur hinter meinem Rücken.« Er führte sie in eine Kabine, um sie mit deren Geräumigkeit und Luxus zu beeindrucken. »Es gibt an Bord einhundertachtundzwanzig Kabinen, von denen jede für zwei Personen ausgerüstet ist. Sehen Sie sich das Klappbett an. Es ist aus Messing. Werfen Sie einen Blick auf die Porzellantoiletten, die mit kaltem und warmem Wasser ausgestattete Dusche, das Waschbecken mit den Messingarmaturen, die messinggefaßten Spiegel, die Eichenmöbel. Sie sind zwar nicht groß, aber dafür schleppen wir auch nicht viele Kleider zum Wechseln mit herum. Sehen Sie sich auch die Waffenständer an, in denen man Pistolen, Flinten, Speere, Schwerter und Bogen unterbringen kann. Die Teppiche bestehen aus Menschenhaar. Passen Sie auf, daß Ihnen die Augen nicht aus dem Kopf fallen, wenn Sie das Gemälde dort an der Wand bewundern. Es handelt sich um ein Original des Japaners Motonobu, der von 1476 bis 1559 gelebt und einen Malstil kreiert hat, den man Kano nennt. In der nächsten Kabine sind einige Gemälde des Zeuxis von Heraklea, insgesamt zehn. Die Kabine gehört Zeuxis selbst. Er ist, wie Sie vielleicht wissen oder auch nicht wissen, der große Maler, der im fünften Jahrhundert vor Christus in Heraklea, einer griechischen Kolonie in Süditalien, geboren wurde. Man sagt ihm nach, daß er Trauben so realistisch malen konnte, daß Raubvögel auf sie herabstießen. Zeuxis selbst hat diese Geschichte weder dementiert noch bestätigt. Was mich persönlich angeht, so bevorzuge ich Fotografien, obwohl ich natürlich auch ein paar Gemälde in meiner Kabine habe. Eins davon ist von einem gewissen Pieter de Hooch, einem holländischen Maler des siebzehnten Jahrhunderts. Daneben hängt eins 17
von einem Italiener namens Giovanni Fattori. Er hat von 1825 bis 1908 gelebt. Armer Bursche. Möglicherweise ist dies sein letztes Werk, da er während einer Party über Bord fiel und von den Schaufelrädern in Stücke gerissen wurde. Selbst wenn er wieder auferstehen würde, was ich kaum glauben kann, würde er außer auf diesem Schiff und der Rex nirgendwo die Pigmente finden, die er brauchte, um noch ein Bild dieser Art anzufertigen.« Sam brachte sie auf das Promenadendeck hinaus und führte sie zum Bug. Hier stand eine 88-Millimeter-Kanone. Bis jetzt, führte Sam aus, hatte man sie noch nicht benutzt. Aber bald würde man neues Schießpulver erzeugt haben und die Magazine damit füllen. »Aber wenn ich die Rex eingeholt habe, werde ich den verfluchten John damit vom Wasser blasen.« Und dann deutete er auf die Raketenbatterien auf der Promenade, auf Wärme reagierende Projektile, die eine Reichweite von drei Kilometern hatten und mit Köpfen versehen waren, die vierzig Pfund Plastiksprengstoff enthielten. »Wenn die Kanonen ihn verfehlen, werde ich ihm die Beine unter dem Arsch wegschießen.« Eine der weiblichen Touristen war mit Clemens' Werk und den ihn behandelnden Biografien wohlvertraut. Mit leiser Stimme sagte sie zu ihrem Begleiter: »Ich habe gar nicht gewußt, daß Mark Twain derart blutrünstig war.« »Madam«, sagte Sam, der ihre Worte mitbekommen hatte, »ich bin nicht blutrünstig! Ich bin der absolut friedlichste Mensch, den es überhaupt gibt! Ich verabscheue die Gewalt, der Gedanke an einen Krieg macht mich elend. Wenn Sie meine Essays über den Krieg und die, die ihn lieben, gelesen haben, müßten Sie das wissen. Aber man hat mich in diese Situation hineingezwungen, und vielen gefällt sie. Wenn man überleben will, muß man besser lügen können als die Lügner; man muß besser betrügen können als die Betrüger - und die Mörder umbringen, bevor sie selbst zuschlagen! Für mich ist das eine schiere Notwendigkeit geworden und absolut gerechtfertigt! Was würden Sie denn tun, wenn König John Ihnen Ihr Boot gestohlen hätte, nachdem Sie jahrelang nach Eisen und anderen Metallen gesucht haben, um Ihren Traum wahr werden zu lassen? Was würden Sie tun, wenn Sie jahrelang gegen andere gekämpft hätten, die Ihnen das Metall, nachdem Sie es endlich gefunden hatten, wegnehmen wollten, wenn Sie überall von Mord und Verrat umgeben gewesen wären und sich alles gegen Sie verschworen hätte? Was würden Sie tun, wenn John Ihre Frau und Ihre besten Freunde umgebracht und sich lachend aus dem Staub gemacht hätte? Würden Sie ihn so einfach davonkommen lassen? Ich glaube, das würden Sie nicht, wenn Sie auch nur eine Unze Courage besitzen.« »>Die Rache ist meinHüter des Westtors< bedeutet, ist ein hochgebildeter Mann und war auf der Erde Maschinenbauingenieur. Während des Krieges gehörte er General Ulysses S. Grants Stab an.« Als nächstes erklärte Sam den Besuchern die Kontrollen und Instrumente, die der Steuermann bediente. Er saß in einem Sessel, und rechts und links von ihm erhoben sich zwei lange, metallene Stangen aus dem Boden. Indem er die Steuerknüppel vor und zurück bewegte, konnte er die Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen der Schaufelräder kontrollieren. Des weiteren auch ihre Umdrehungsgeschwindigkeit. Vor ihm befand sich ein Kontrollbord mit unzähligen Schaltern, Knöpfen und mehreren Oszilloskopen. »Eins davon dient sonischen Messungen«, sagte Sam. »Der Steuermann kann, wenn er es abliest, immer genau sagen, wie tief der Fluß ist, wie weit wir vom Ufer entfernt sind und ob sich irgendwo im Wasser Objekte befinden, die aufgrund ihrer Größe eine Gefahr für uns darstellen. Wenn er den Schalter umlegt, auf dem AUTOMATISCHE STEUERUNG steht, braucht er nicht mehr zu tun, als das Sonarskop und die Ufer im Auge zu behalten. Sollte das automatische Steuersystem einmal versagen, kann er ein Notsystem einschalten, solange das andere repariert wird.« »Dann muß es sehr leicht sein, ein Schiff zu steuern«, sagte ein Mann. »Das ist es auch. Aber nur ein erfahrener Steuermann ist dazu in der Lage, auch mit Notfällen fertig zu werden, deswegen sind die meisten auch ehemalige Mississippi-Steuermänner.« Sam erklärte, daß das Deck des Kontrollraums dreißig Meter über dem Wasserspiegel lag, und machte die Besucher darauf aufmerksam, daß sich das Ruderhaus - im Gegensatz zu den Flußschiffen der Erde - auf der Steuerbordseite und nicht auf der Schiffsmitte befand. »Das macht aus der Nicht vermietbar ein Schiff, das einem Flugzeugträger noch ähnlicher sieht.« Auf dem Flugdeck sahen sie zu, wie die Bordtruppen gedrillt und die Männer und Frauen in den martialischen Künsten des Fechtens, Speerwerfens, Messerstechens, Axtschwingens und Bogenschießens unterrichtet wurden. »Jedes Mitglied meiner Mannschaft, einschließlich meiner selbst, muß in der Handhabung aller Waffen ausgebildet sein. Des weiteren muß jeder an Bord in der Lage sein, jeden x-beliebigen Posten auszufüllen. Meine Leute werden dar22
in ausgebildet, wie man mit Elektrizität und Elektronik umgeht, wie man Klempnerarbeiten erledigt, Befehle gibt und das Schiff steuert. Die Hälfte von ihnen hat eine musikalische Ausbildung am Piano oder anderen Musikinstrumenten genossen. Sie finden auf diesem Schiff mehr Individuen mit Mehrfachausbildung als in jedem anderen Gebiet dieses Flußwelt-Planeten.« »Dann nimmt wohl auch jeder Kurse, die darin gipfeln, den Kapitän zu ersetzen?« fragte die Frau, die ihm immer mehr auf die Nerven ging. »Nein. Das ist eine Ausnahme«, sagte Sam. Er runzelte finster die Stirn. »Ich würde es nicht zulassen, daß jemand anschließend auf dumme Gedanken kommt.« Er begab sich an die Armaturen und drückte einen Knopf. Sirenen heulten auf. John Byron, der Erste Offizier und Chef des Stabes, wies den Funkoffizier an, über die Bordsprechanlage der Mannschaft bekanntzugeben, daß nun die Brücken ausgefahren würden. Sam ging zu einem der Steuerbordfenster hinüber und forderte die anderen auf, sich neben ihn zu stellen. Als sie sahen, wie die langen, dicken Metallbrücken aus den drei unteren Decks hervorglitten, schnappten sie erstaunt nach Luft. »Wenn wir die Rex nicht versenken können«, sagte Sam, »werden wir sie mit Hilfe dieser Brücken entern.« Die Frau sagte: »Wie schön. Aber die Mannschaft der Rex könnte über diese Brücken auch Ihr Schiff entern.« Über Sams Falkennase glühten seine blaugrünen Augen auf. Die anderen Angehörigen der Besuchergruppe waren allerdings dermaßen fasziniert, daß das Herz unter seiner behaarten Brust vor Freude schneller schlug. Technische Anlagen hatten ihn schon immer fasziniert, und es gefiel ihm besonders, wenn andere seinen Enthusiasmus teilten. Auf der Erde hatte sein großes Interesse an technischen Neuerungen ihn in den Ruin getrieben. Zu schade, daß er seine Energie in die unbrauchbare Paige-Setzmaschine gesteckt hatte. Die Frau sagte: »Aber all dieses Eisen, Aluminium und die anderen Metalle? Dieser Planet besitzt doch praktisch keine Erze. Wo haben Sie das alles her?« »Zuerst«, erwiderte Sam, erfreut darüber, andere an seinem Wissen teilhaftig werden zu lassen, »fiel ein gewaltiger Nickeleisen-Meteorit ins Tal herab. Erinnern Sie sich daran, daß vor vielen Jahren einmal die Gralsteine auf der rechten Uferseite ausfielen? Das lag daran, daß der Meteorit ihre Verbindungen kappte. Wie Sie wissen, nahmen die Gralsteine vierundzwanzig Stunden später ihren Betrieb wieder auf. Deswegen ...« »Aber wer hat sie repariert?« fragte ein Mann. »Ich habe darüber die tollsten Geschichten gehört, aber...« 23
»Ich hielt mich gewissermaßen ganz in der Nähe auf«, sagte Sam. »Tatsächlich hätte die Flutwelle, die damals talabwärts kam, mich und meine Männer beinahe umgebracht.« Bei diesen Worten krümmte er sich innerlich zusammen, aber das lag nicht daran, weil ihn die Erinnerung an die ausgestandene Todesangst plagte, sondern ihm erneut bewußt wurde, was er später einem seiner Begleiter, dem Norweger Erik Blutaxt, angetan hatte. »Deswegen kann ich nicht nur die wundersame aber unbestreitbare Tatsache bezeugen, daß die Gralsteine über Nacht wieder arbeiteten, sondern auch, daß man alle Spuren der Katastrophe verwischt hatte. Das Gras, die Bäume, die aufgewühlte Erde - alles war wieder an seinem Platz.« »Und wer hat das gemacht?« »Es müssen jene Geschöpfe gewesen sein, die diese Flußwelt erschaffen und uns von den Toten auferweckt haben. Ich habe gehört, daß sie - wie wir menschliche Wesen sein sollen; Erdenmenschen, die freilich sehr viel später lebten als wir. Allerdings ...« »Aber doch keine menschlichen Wesen«, sagte der Mann. »Das waren sie gewiß nicht. Es war Gott, der all dies für uns erschuf.« »Wenn Sie ihn schon so gut kennen«, sagte Clemens, »geben Sie mir seine Adresse. Ich möchte ihm gerne schreiben.« Und er fuhr fort: »Meine Gruppe war die erste, die den Absturzort des Meteoriten erreichte. Der Krater, der so groß und tief gewesen sein muß wie der berühmte in Arizona, war inzwischen nicht mehr vorhanden. Aber wir steckten uns einen Claim ab und fingen an zu graben. Einige Zeit später hörten wir, daß man in einem Staat, der weiter flußabwärts lag, auf große Bauxit- und Kryolithvorkommen gestoßen war. Die Bürger dieses Landes hatten allerdings keine richtigen Werkzeuge, um es aus dem Boden zu holen und zu verarbeiten. Wir in Parolando hingegen konnten, nachdem wir aus dem Eisen Werkzeuge gemacht hatten, aus den Erzen Aluminium erzeugen. Soul City, der Staat, von dem ich sprach, griff uns an, um an das Eisen heranzukommen. Wir schlugen ihn und konfiszierten sein Bauxit und Kryolith. Dann fanden wir heraus, daß es in einigen anderen Staaten, die nicht weit entfernt waren, Kupfer- und Zinnvorkommen gab. Auch etwas Vanadium und Wolfram. Mit denen haben wir dann Tauschgeschäfte gemacht.« Mit gerunzelter Stirn sagte die Frau: »Ist es nicht seltsam, daß man in diesem Gebiet auf soviel Metall stieß, während es anderswo gar keins gibt? Glauben Sie nicht, daß der Zufall etwas überstrapaziert ist, wenn der Meteorit ausgerechnet dort heruntergekommen ist, wo Sie nach Metall suchten?« »Vielleicht hat Gott mich an diesen Ort geführt«, sagte Sam spöttisch. Nein, dachte er, Gott war es nicht. Es war der geheimnisvolle Fremde, der Ethiker, der sich X nannte. Er hat dafür gesorgt, vielleicht schon vor Jahrtausen24
den, daß ich das Metall dort fand, wo ich es suchte. Ebenso hat er dafür gesorgt, daß dort der Meteorit herunterkam. Und warum hatte er das getan? Damit Sam ein Schiff bauen, es mit Waffen bestücken und flußaufwärts fahren konnte, um nach vielleicht fünfzehn Millionen Kilometern dessen Quellen zu erreichen. Damit er von dort aus an den Turm herangelangen konnte, der inmitten der Nebelfelder des nördlichen Polarsees stand. Und was sollte er dann tun? Er hatte keine Ahnung. Er hatte damit gerechnet, daß der Ethiker ihn noch einmal - wie üblich - während eines nächtlichen Unwetters aufsuchen würde. Dem Anschein nach kam er nur in diesen Nächten, weil die Blitze die Strahlen des Spürgeräts ableiteten, mit denen seine Kollegen ihn aufzuspüren trachteten. Der Ethiker hatte ihm weitere Informationen geben wollen. Inzwischen sollten einige andere Leute, die X auserwählt hatte, mit Sam Kontakt aufnehmen, zu seinem Schiff kommen und mit ihm flußaufwärts fahren. Aber die Dinge hatten sich ganz anders entwickelt. Er hatte nie wieder etwas von dem geheimnisvollen Fremden gehört. Er hatte sein Schiff gebaut, und sein Partner, König John Lackland, hatte es entführt. Des weiteren hatten ein paar Jahre später die >kleinen Wiedererweckungen< die einen Menschen, der auf der Flußwelt starb, lediglich an einen anderen Ort versetzten, aufgehört. Die Flußtalbewohner kannten nun wieder den wirklichen Tod. Irgend etwas mußte den Turmbewohnern, den Ethikern, zugestoßen sein. Und auch dem geheimnisvollen Fremden. Aber er, Clemens, würde trotzdem die Quellen des Flusses erreichen und in den Turm einzudringen versuchen. Er wußte, wie schwer es werden würde, die Berge zu überwinden, die den Polarsee umgaben. Joe Miller, der Titanthrop, hatte einen Pfad, der sich an der Innenseite der Gebirgskette entlangschlängelte, gesehen, als er in Begleitung des Pharaos Echnaton dort gewesen war. Joe hatte auch eine gewaltige Flugmaschine gesehen, die sich auf die Turmspitze herabgelassen hatte. Dann war er über einen Gralzylinder gestolpert, den ein unbekannter Vorgänger auf dem Pfad hatte liegen lassen, und war in den Tod gestürzt. Er hatte Sam diese seltsame Geschichte erzählt, nachdem er irgendwo im Flußtal wieder zu sich gekommen war und sie einander kennen gelernt hatten. Die Frau sagte: »Was hat es eigentlich mit dem Luftschiff auf sich, von dem man so viel hört? Warum sind Sie, statt mit diesem Schiff zu reisen, nicht damit geflogen? Mit dem Luftschiff hätten Sie die ganze Reise statt in dreißig Jahren doch in wenigen Tagen hinter sich bringen können.« Das war ein Thema, über das Sam nicht gerne sprach. In Wahrheit nämlich hatte man tatsächlich erst an ein Luftschiff gedacht, als die Nicht vermietbar 25
schon kurz vor dem Stapellauf stand. Ein deutscher Luftschiffer namens von Parseval hatte sich zu ihnen gesellt und gefragt, warum man nicht einfach einen Zeppelin baue. Sams Chefingenieur, der Ex-Astronaut Milton Firebrass, hatte dieser Gedanke gefallen. Deswegen war er nach dem Aufbruch der Nicht vermietbar auch in Parolando zurückgeblieben und hatte das Luftschiff konstruiert. Er war mit Sams Schiff in Funkverbindung geblieben und hatte nach der Ankunft an dem bewußten Turm berichtet, das Bauwerk sei eine Meile hoch und habe einen Durchmesser von zehn Meilen. Die Parseval war auf seiner Oberfläche gelandet, aber nur ein Besatzungsmitglied, der japanische Luftschiffer und Sufi, der sich selbst Piscator nannte, hatte ihn betreten können. Irgendeine unsichtbare und unfaßbare Kraft hatte die anderen zurückgestoßen. Bevor es jedoch soweit gekommen war, hatte ein Offizier namens Barry Thorn an einem Helikopter, in dem sich Firebrass und ein paar andere befanden, eine Sprengladung befestigt. Er hatte die Bombe mit einem Funkimpuls gezündet, einen anderen Helikopter gestohlen und das Luftschiff verlassen. Da er verwundet gewesen war, hatte sein Fluchtfahrzeug am Fuße des Turms eine Bruchlandung gemacht. Man hatte Thorn ins Luftschiff zurückgebracht und ihn einem Verhör unterzogen. Er hatte sich zwar geweigert, irgendwelche Informationen preiszugeben, war aber, als er erfuhr, daß Piscator ein Eindringen in den Turm geglückt war, sichtlich schockiert gewesen. Clemens vermutete, daß Thorn entweder ein Ethiker oder einer ihrer Untergebenen war; mithin einer jener Männer sein mußte, die die von X Rekrutierten Agenten nannten. Ebenso wurde er den Gedanken nicht los, daß auch Firebrass zu den einen oder den anderen gehört haben könnte. Vielleicht war auch Anna Obrenowa, die Frau, die während der Helikopterexplosion den Tod gefunden hatte, eine Ethikerin oder Agentin gewesen. Aufgrund aller ihm zur Verfügung stehenden Informationen war Sam zu dem Schluß gekommen, daß irgend etwas vor langer Zeit eine Anzahl von Agenten oder sogar Ethikern - im Flußtal hatte stranden lassen. X gehörte möglicherweise dazu. Das bedeutete, daß sich sowohl die Ethiker als auch deren Agenten der gleichen Methoden bedienen mußten wie die Menschen, wenn sie den Turm je wiedersehen wollten. Und das wiederum hieß, daß sich auch auf seinem Schiff möglicherweise verkleidete Agenten oder Ethiker - oder beide - aufhielten. Und natürlich auch auf der Rex. Warum die Ethiker und Agenten allerdings nicht dazu in der Lage waren, mit Hilfe ihres eigenen Flugapparats zum Turm zurückzukehren, war Sam schleierhaft. Inzwischen war er zu der Ansicht gelangt, daß jeder, der behauptete, über das Jahr 1983 hinaus gelebt zu haben, zu jenen Wesen gehörte, die für diese Welt 26
verantwortlich waren. Er war der Auffassung, daß die Nach-1983-Geschichte falsch war und einen Code darstellte, mit dem sich die Agenten gegenseitig zu erkennen gaben. Sam hatte sich ebenso überlegt, daß einiger dieser Leute möglicherweise auf den Gedanken kommen würden, daß Rekruten von X ihre Geschichte durchschauen und sie deswegen nicht mehr verwenden würden. »Das Luftschiff«, sagte Sam zu der Frau, »sollte eine Art Späher sein, um das Land zu erkunden. Der Kommandant hatte allerdings die Anweisung, in den Turm einzudringen, falls ihm dies möglich sei. Dann sollte er zum Schiff zurückkehren und mich und ein paar andere an Bord nehmen. Aber außer einem Sufi-Philosophen namens Piscator gelang es niemandem, in den Turm einzudringen - und er kam nicht wieder heraus. Auf dem Rückweg organisierte die Kommandantin Jill Gulbirra - sie hatte die Parseval nach Firebrass' Tod übernommen - einen Überfall auf die Rex. König John wurde dabei festgenommen, aber es gelang ihm, aus dem Helikopter zu springen. Ich weiß nicht, ob er überlebte. Der Helikopter kehrte zur Parseval zurück, die weiterhin Kurs auf die Nicht vermietbar nahm. Dann meldete Gulbirra die Sichtung eines sehr großen Ballons. Sie flog genau darauf zu, als Thorn sich erneut losriß und in einem Kopter entkam. Da Gulbirra vermutete, daß er eine Bombe gelegt hatte, ließ sie das Luftschiff sofort durchsuchen. Man fand zwar diesmal keine Sprengladung, aber das Risiko, sie übersehen zu haben, wollte sie nicht eingehen. Sie setzte zur Landung an und hatte vor, die Mannschaft von Bord gehen zu lassen. Dann meldete sie, daß irgendwo etwas explodiert sei. Das war das letzte, was wir von der Parseval hörten.« Die Frau sagte: »Wir haben Gerüchte gehört, nach denen sie mehrere tausend Kilometer flußaufwärts abgestürzt sein soll. Es hat nur einen Überlebenden gegeben.« »Nur einen! Mein Gott, wer war es?« »Seinen Namen weiß ich nicht. Aber ich hörte, er soll ein Franzose sein.« Sam stöhnte. Auf der Parseval hatte es nur einen Franzosen gegeben. Cyrano de Bergerac, der Mann, in den sich seine Frau verliebt hatte. Der einzige aus der ganzen Mannschaft, dem er keine Träne nachgeweint hätte. 6 Als Sam das seltsame, noch grotesker als Joe Miller aussehende Wesen erblickte, war es später Nachmittag. Was Joe anging, so war er zumindest menschlich - aber dieses Ding war ganz offensichtlich nicht auf der Erde zur Welt gekommen. 27
Sam wußte sofort, daß der Fremde zu jener kleinen Gruppe gehört hatte, die von einem Planeten der Sonne Tau Ceti stammte. Sein Informant, der verstorbene Baron John de Greystock, hatte einen von ihnen gekannt. Seinem Bericht zufolge hatten die Tau Cetianer im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert ein kleines Schiff in der Umlaufbahn zurückgelassen, bevor sie mit der größeren Muttereinheit auf der Erde gelandet waren. Man hatte sie zunächst willkommen geheißen, aber als einer von ihnen - er hieß Monat - während einer Talkshow offenbart hatte, daß sein Volk über eine Möglichkeit verfügte, das Leben um Jahrhunderte zu verlängern, hatten die Erdenbewohner verlangt, in dieses Wissen eingeweiht zu werden. Als die Tau Cetianer sich mit der Begründung geweigert hatten, die Terrestrier würden die Langlebigkeit doch nur mißbrauchen, hatte der Mob den größten Teil der Gruppe gelyncht und das Raumschiff der Fremden gestürmt. Nach einigem Zögern hatte Monat daraufhin einen Strahler des im Orbit zurückgelassenen Schiffs aktiviert. Der größte Teil der Menschheit war kurz darauf nicht mehr am Leben gewesen. Jedenfalls vermutete Monat das. Er war nämlich nicht mehr dazu gekommen, das Resultat seiner Handlung zu begutachten. Auch ihn hatte der Mob in Stücke gerissen. Er hatte den Todesstrahl deswegen aktiviert, weil er befürchtete, daß die Terrestrier sein Raumschiff kopieren, gegen seine Heimatwelt vorgehen und sein Volk möglicherweise ausrotten würden. Natürlich wußte er nicht genau, ob sie das tun würden, aber er hatte ihnen nicht einmal die Chance dazu einräumen wollen. Der Tau Cetianer stand ein wenig unsicher in einem schmalen Einbaum und winkte der Nicht vermietbar aufgeregt zu. Allem Anschein nach wollte er an Bord kommen. Das wollten eine Menge Leute, dachte Sam, ohne daß ihr Wunsch ihnen erfüllt wurde. Dieser Möchtegern-Passagier unterschied sich allerdings von allen anderen Leuten dadurch, daß er - wenngleich er kein bunter Hund war - weder eine Ähnlichkeit mit einem Vogel noch mit einem Menschen hatte. Deswegen befahl Sam dem Steuermann einen Kreis zu drehen und neben dem Einbaum anzuhalten. Gegenwärtig kletterte der Tau Cetianer über eine kurze Leiter auf das Kesseldeck. Die am Außengang versammelte Mannschaft starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Der Begleiter des Fremden, ein gewöhnlich aussehender Mensch, folgte ihm. Der Einbaum trieb ab; er würde dem erstbesten gehören, der ihn an Land zog. Von General Ely S. Parker und zwei Matrosen eskortiert, erreichten die beiden kurz darauf das Pilotendeck. Sam unterhielt sich mit ihnen auf esperanto, schüttelte ihnen die Hand und machte sie mit den anderen bekannt. Dann stellten die Neuankömmlinge sich selbst vor. »Ich bin Monat Grrautut«, sagte der Zweifüßler mit angenehm tiefer Stimme. »Jesus Christus!« sagte Sam. »Ausgerechnet der!« 28
Monat lächelte und zeigte dabei menschlich aussehende Zähne. »Ah, Sie haben also schon von mir gehört.« »Sie sind der einzige Tau Cetianer, dessen Name mir bekannt ist«, sagte Sam. »Ich habe jahrelang die Ufer nach einem von Ihnen abgesucht, ohne jedoch auch nur ein Haar oder einen Hautfetzen von Ihnen zu erblicken. Und jetzt treffen wir so mir nichts, dir nichts aufeinander!« »Ich komme nicht von einem Planeten der Sonne Tau Ceti«, sagte Monat. »Das haben wir nur so gesagt, als wir auf der Erde landeten. In Wirklichkeit wurde ich auf einer Welt der Sonne Arkturus geboren. Wir haben die Terrestrier nur deswegen in die Irre geführt, weil wir herausfinden wollten, ob sie kriegerisch sind ...« »Eine vernünftige Idee«, sagte Sam. »Obwohl Sie den Erdenmenschen ein bißchen übel mitgespielt haben, wie ich erfuhr. Aber warum sind Sie bei dieser Geschichte geblieben, nachdem Sie - ohne gefragt zu werden - auf dieser Welt ins Leben zurückgerufen wurden?« Monat zuckte die Achseln. Wie menschlich, dachte Sam. »Ich nehme an, aus Gewohnheit. Außerdem wollte ich sichergehen, daß die Terrestrier wirklich keine Gefahr für mein Volk bedeuten.« »Kann ich Ihnen nicht übel nehmen.« »Als ich mit Sicherheit wußte, daß die Erdbewohner für mein Volk keine Gefahr darstellten, habe ich meine wirkliche Herkunft nicht mehr verschwiegen.« »Klar«, sagte Sam und lachte. »Hier, ihr beiden, da habt ihr 'ne Zigarre.« Monat war etwa einen Meter neunzig groß, schlank und hatte eine rosa Hautfarbe. Er trug lediglich einen Kilt, weswegen man den größten Teil seines Körpers sehen konnte. Die möglicherweise interessantesten verbarg er jedoch. Greystock hatte behauptet, daß der Penis des Burschen dem eines Menschen glich und - wie alle anderen auf dieser Welt - beschnitten sei. Aber das, was darunter hing, sollte wie ein knubbeliger Sack aussehen, der eine ganze Menge kleiner Hoden enthielt. Sein Gesicht war halbmenschlich. Unter einem kahlrasierten Schädel mit einer auffällig hohen Stirn befanden sich zwei dicke, schwarze, kraushaarige Brauen, die sich bis auf die vorstehenden Backenknochen hinabzogen und sie beinahe ganz verdeckten. Er hatte dunkelbraune Augen und eine Nase, die jedenfalls teilweise - hübscher aussah als die der meisten Menschen, die Sam bisher gesehen hatte. Neben seinen Nasenlöchern befanden sich kleine, millimeterlange Membranen, und das Ende seiner Nase schien gespalten zu sein. Seine Lippen ähnelten denen eines Hundes und waren lederartig und schwarz. Seine Ohren besaßen keine Läppchen und zeigten am deutlichsten seine nichtmenschliche Herkunft. Monats Hände hatten neben einem langen Daumen jeweils drei Finger. Seine Füße zeigten vier Zehen. 29
Ich glaube kaum, daß er einen Slumbewohner erschrecken würde, dachte Sam. Oder jemanden im Kongreß. Monats Begleiter war ein Amerikaner. Er wurde 1918 geboren und war 2008 gestorben - als der Tau Cetianische bzw. Arkturische Strahl die Erde ausgelöscht hatte. Er hieß Peter Jairus Frigate, war etwa einen Meter achtzig groß, von muskulöser Statur, hatte schwarzes Haar, grüne Augen, ein nicht allzu häßliches Gesicht, wirkte aber mit seinem fliehenden Kinn ein wenig schroff. Wie Monat hatte auch er einen Gralzylinder und ein Bündel mit Habseligkeiten mitgebracht und war mit einem Steinmesser, einer Axt sowie Pfeil und Bogen bewaffnet. Sam bezweifelte ziemlich entschieden, daß Monat ihm die Wahrheit über seine Herkunft erzählt hatte. Ebenso glaubte er nicht, daß sein Begleiter wirklich Frigate hieß. Er glaubte überhaupt nicht an die Geschichten jener Leute, die behaupteten über das Jahr 1983 hinaus gelebt zu haben. Allerdings würde er seinem Mißtrauen keineswegs Ausdruck geben, bevor er nicht mehr über die beiden wußte. Nachdem er ihnen hatte einen Drink servieren lassen, führte er sie persönlich zu den in der Nähe seiner Suite liegenden Offiziersunterkünften. »Zufälligerweise fehlen mir gerade drei Mann an der Sollstärke der Besatzung«, sagte er. »Auf dem Kesseldeck ist eine Kabine frei. Es ist nicht gerade eine besonders ansehnliche Umgebung, deswegen werde ich die beiden Junioroffiziere, die diesen Raum hier bewohnen, nach dort versetzen. Sie können ihren Raum übernehmen.« Der Mann und die Frau, die sich von ihrer Kabine trennen mußten, machten zwar nicht gerade glückliche Gesichter, aber sie beeilten sich, Sams Befehl Folge zu leisten. An diesem Abend speisten sie am Tisch des Kapitäns und aßen von Porzellantellern, die ein alter chinesischer Meister bemalt hatte. Die Getränke wurden in Kelchen aus Bleikristall serviert, und die Bestecke bestanden aus einer soliden Silberlegierung. Interessiert hörten Sam und die anderen - darunter auch der gigantische Joe Miller - den Geschichten zu, die die beiden Neuankömmlinge über ihre Abenteuer auf der Flußwelt zu erzählen hatten. Als Sam hörte, daß sie eine ziemlich lange Zeit in der Gesellschaft von Richard Francis Burton, des bekannten Entdeckers, Linguisten, Übersetzers und Schriftstellers aus dem neunzehnten Jahrhundert verbracht hatten, fühlte er, wie es in seinem Innern zu kribbeln begann. Der Ethiker hatte ihm gesagt, daß auch Burton zu denjenigen gehörte, die in seinen Diensten standen. »Haben Sie eine Ahnung, wo er steckt?« fragte er gelassen. »Nein«, sagte Monat. »Wir wurden während eines Kampfes getrennt und konnten ihn trotz langen Suchens nicht mehr wiederfinden.« 30
Sam drängte Joe Miller, die Geschichte der Ägypter-Expedition zu erzählen, denn die Rolle des freundlich ausfragenden Gastgebers ging ihm auf die Nerven. Obwohl er es gerne hatte, wenn er die Konversation führte, wollte er unbedingt sehen, welche Auswirkungen Joes Erzählung auf die beiden Neulinge hatte. Als Joe endete, sagte Monat: »So! Es gibt diesen Turm im Polarsee also wirklich!« »Ficher, verdammt noch mal, daf fage ich doch«, erwiderte Joe. Sam faßte den Entschluß, mindestens eine Woche ins Land gehen zu lassen, in der er alles relevante aus den beiden herausholen wollte, was sie über sich selbst zu sagen hatten. Erst dann würde er sie einer eingehenderen Befragung unterziehen. Zwei Tage später, als das Schiff gegen Mittag am rechten Ufer vor Anker gegangen war, um Energie zu bunkern, blieben die Gralsteine stumm. »Gottverdammte Hurenkacke!« fluchte Sam. »Schon wieder ein Meteorit?« Aber das konnte der Grund nicht sein. Der Ethiker hatte ihm erzählt, daß man im Weltraum Meteor-Abfangvorrichtungen installiert habe. Der einzige, der dieses System je zu überlisten vermochte, hatte dies geschafft, weil es einem Ethiker gelungen war, die Wächter im richtigen Moment abzulenken. Die Wachen mußten immer noch da sein, sie schwebten irgendwo im Orbit herum und taten ihre Arbeit. Aber wenn das Versagen der Gralsteine nicht von einem Meteoriten hervorgerufen worden war, wer steckte dann dahinter? War etwa schon wieder etwas im System der Ethiker schiefgelaufen? Da die Menschen nicht mehr wiedererweckt wurden, mußte irgend etwas mit dem Mechanismus passiert sein, der die Hitze des Planetenkerns in die für die Gralsteine vorgesehene Elektrizität umwandelte. Glücklicherweise waren die Steine parallel und nicht gleichgeschaltet. Im letzteren Fall hätten alle hungern müssen und nicht nur jene, die das rechte Ufer bewohnten. Sofort gab Sam den Befehl, stromaufwärts weiterzufahren. Als es dunkel wurde, hielt die Nicht vermietbar am linken Ufer an. Wie zu erwarten war, hatten die dort ansässigen Menschen etwas dagegen, daß man ihren Gralstein benutzte, und so kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung, die Sam beinahe krank machte. Unter denen, die während des Raketenbeschusses starben, befand sich auch Frigate. Anschließend überfielen die verzweifelten Hungrigen vom rechten Ufer die andere Flußseite. Sie kamen in solchen Schwärmen, daß ein entsetzliches Gemetzel anhob, das so lange dauerte, bis weniger am Leben waren, als die Gralsteine Platz boten. Erst als die Leichen der Erschlagenen flußabwärts getrieben waren, gab Clemens den Befehl, flußaufwärts weiterzufahren. Ein paar Tage später hielt er so 31
lange an, bis er diejenigen, die er während der Schlacht verloren hatte, ersetzen konnte.
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ABSCHNITT 3 Auf der >RexWeißer FalkeFastden Specht< nennt und den >WitwenmacherNada die Lilie< und >Allan Quatermain< dargestellt wird. Anm. d. Red. 61
Nachdem die beiden eine gewisse Zeit miteinander geschwatzt hatten, sagte John: »Ich brauche nicht mehr zu wissen, als daß Nur el-Musafir weit mit euch gereist ist und euch immer noch als seine Freunde betrachtet. Strubewell, instruieren Sie die Männer und heuern Sie sie an. Sergeant Gwalchgwynn, Sie zeigen ihnen die Kabinen. Und wir, mein guter Freund und Mentor, werden uns weiter unterhalten, wenn ich die restliche Arbeit hier erledigt habe.« Als sie den Korridor passierten, der zu ihren Kabinen führte, stießen sie auf Loghu. Sie blieb stehen, wurde blaß, dann rot und schrie schließlich: »Peter, du Hundesohn!« Sie stürzte sich auf Frigate, der - während ihre Finger seinen Hals umklammerten - zu Boden ging. Lachend rissen Mix und der Schwarze die Frau zurück. »Du hast wirklich 'ne komische Art, auf Leute zu wirken«, sagte Mix zu Frigate. »Schon wieder ein Fall von Verwechslung«, sagte Burton und erklärte Loghu, was geschehen war. Nachdem er seinen Hustenanfall überstanden und seinen mit Würgemalen versehenen Hals betastet hatte, sagte Frigate: »Ich weiß zwar nicht, wer dieser andere Frigate ist, aber ein sympathischer Zeitgenosse scheint er ja nicht gerade zu sein.« Loghu entschuldigte sich zögernd. Sie war immer noch nicht davon überzeugt, daß dieser Mann nicht ihr Ex-Geliebter war. »Mich kann sie von mir aus jederzeit anfassen«, murmelte Mix, »aber nicht unbedingt am Hals.« Loghu hatte ihn gehört. »Wenn dein Primelchen die gleichen Dimensionen aufweist, wie dein Hut«, sagte sie, »hätte ich nicht einmal was dagegen.« Überraschenderweise wurde Mix rot. Nachdem sie hüftenwackelnd verschwunden war, sagte er: »Die hat mir zu viele Haare auf den Zähnen.« Zwei Tage später lebten sie zusammen. Burton war keinesfalls bereit, die Ähnlichkeit der beiden Frigates als puren Zufall hinzunehmen. Wann immer sich ihm eine Chance bot, redete er mit dem Burschen und versuchte, etwas über seine Vergangenheit zu erfahren. Ziemlich überraschend für ihn stellte sich heraus, daß auch dieser Frigate sein, Burtons, Leben studiert hatte. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, spionierte auch der Amerikaner Burton nach. Hin und wieder stellte Burton nämlich fest, daß der Mann ihn beobachtete. Eines Abends trieb Frigate ihn im Großen Salon in die Enge. Nachdem er sich umgesehen hatte, um sicherzugehen, daß niemand sie belauschte, sagte er übergangslos auf englisch: »Ich kenne mehrere Porträts von Richard Francis Burton. Eine Vergrößerung seines Porträts, das ihn im Alter von fünfzig Jahren zeigt, hing über meinem Schreibtisch. Ich glaube also annehmen zu können, daß ich ihn auch ohne Schnauz- und Backenbart erkennen würde.« 62
»Jaaa?« »Ich erinnere mich noch gut an eine Fotografie, die ihn im Alter von dreißig Jahren zeigt. Damals hatte er lediglich einen Schnauzbart, wenn auch einen ziemlich dicken. Wenn ich mir diesen Bart vor meinem geistigen Auge einmal wegdenke ...« »Jaaa?« »... sieht er einem gewissen Waliser aus dem Mittelalter, den ich sehr gut kenne, bemerkenswert ähnlich. Der Name, den er angenommen hat, lautet Gwalchgwynn, was auf englisch White Hawk - also Weißer Falke - bedeutet. Gwalchgwynn ist eine frühe Form des walisischen Namens, den man später Gawain aussprach. Und Gawain war der Ritter, der in den frühen König-ArtusLegenden als erster aufbrach, um den Heiligen Gral zu suchen. Die Metallbehälter, die wir Gräle nennen und mit uns führen, ähneln bemerkenswert jenem Turm, den wir im Mittelpunkt des nördlichen Polarsees vermuten. Jedenfalls nach dem, was ich hörte. Sie würden ihn vermutlich den Großen Gral nennen.« »Sehr interessant«, sagte Burton, nachdem er an seinem Grog genippt hatte. »Schon wieder eine Übereinstimmung.« Frigate sah ihn unentwegt an. Burton geriet ein wenig aus der Fassung. Der Teufel sollte ihn holen. Der Bursche sah dem anderen Frigate so ähnlich, daß er sein Bruder hätte sein können. Vielleicht war er das sogar. Vielleicht waren sie beide Agenten, und dieser hier spielte ebenso mit ihm, wie es der andere getan hatte. »Burton müßte sämtliche Artus-Legenden und die frühen Volksmärchen, auf denen sie basieren, kennen. Wenn er schon einen falschen Namen annimmt und auf der Erde war er bekannt dafür, daß er dies sehr oft getan hat -, würde es ihm sehr ähnlich sehen, sich Gwalchgwynn zu nennen. Er würde wissen, daß dieser Name einen Sucher des Heiligen Grals symbolisiert, aber er rechnet sicher nicht damit, daß andere zu dem gleichen Schluß kommen.« »So schwer von Begriff, daß ich nicht merke, für wen Sie mich halten, bin ich nun auch nicht. Aber ich kenne nicht einmal den Namen dieses Burton. Wenn es Ihnen Spaß macht, habe ich nicht einmal etwas dagegen, daß Sie diese Sache weiter ausspinnen. Mich amüsiert sie allerdings nicht.« Er hob sein Glas und trank. »Nur erzählte mir, daß der Ethiker, der ihn aufsuchte, davon sprach, daß einer der Männer, die unter seinem Kommando stehen, Sir Richard Francis Burton, der Forscher aus dem neunzehnten Jahrhundert, sei.« Burton hatte sich gerade noch so weit unter Kontrolle, daß es ihm gelang, den Drink nicht gleich wieder auszuspucken. Langsam stellte er das Glas wieder ab. »Nur?« 63
»Sie kennen ihn. Mr. Burton, die anderen warten in der Requisitenkammer der Bühne. Um Ihnen zu zeigen, wie sicher ich bin, daß Sie derjenige sind, für den ich Sie halte, werde ich Ihnen etwas offenbaren. Auch Mix und London haben bisher Decknamen verwendet. Sie haben sich erst kürzlich entschlossen, damit aufzuhören. Wenn Sie mir nun bitte folgen würden, Mr. Burton?« Burton dachte nach. Ob Frigate und seine Spießgesellen Agenten waren? Warteten sie nur darauf, daß sie ihn in die Mangel nehmen und den Spieß umdrehen konnten? Er sah sich in dem dichtbevölkerten und lärmerfüllten Salon um. Als er Kazz ausgemacht hatte, sagte er: »Wenn Sie auf diesem Unsinn bestehen, gehe ich mit Ihnen. Aber ich werde meinen alten Freund, den Neandertaler, mitnehmen. Und wir werden bewaffnet sein.« Als er zehn Minuten später die Requisitenkammer betrat, befanden sich in seinem Gefolge auch Alice und Loghu. Als Mix Loghu sah, klappte sein Kinn vor Staunen nach unten. »Du steckst also auch mit drin?« knurrte er. 12 Man kam überein, in den Kabinen niemals ein Wort über den Ethiker oder mit ihm zusammenhängende Dinge zu verlieren. Die Gefahr des Belauscht werdens war zu groß. Das nächste Treffen fand unter dem Vorwand eines Pokerspiels statt. Anwesend waren Burton, Alice, Frigate, Nur, Mix und London. Loghu und Umslopogaas hatten Dienst. Nachdem Burton von Nur und Mix erfahren hatte, daß sie ebenfalls von dem Ethiker aufgesucht worden waren, gelangte er schnell zu der Überzeugung, daß sie tatsächlich zu seinesgleichen gehörten. Bevor er den anderen allerdings seine wahre Identität offenbart hatte, hatte er sich ihre Berichte in allen Einzelheiten angehört. Schließlich war auch er mit seiner Geschichte herausgerückt. Er hatte nichts verschwiegen. Momentan sagte er gerade: »Wir sind ganz auf uns allein gestellt. Aber ich glaube nicht, daß wir die Kabinen der Verdächtigen mit Abhöranlagen versehen sollten. Natürlich könnte uns das etwas einbringen, aber wenn sie merken, daß wir sie bespitzeln, werden sie schnell darauf kommen, daß Agenten von X - wenn man uns so nennen will - ihnen auf der Spur sind. Es ist zu gefährlich.« »Ganz meine Meinung«, sagte der kleine Maure. »Und was meint ihr dazu?« Sogar Mix, der die Abhöranlagen vorgeschlagen hatte, nickte. »Aber was ist mit Podebrad?« sagte er. »Jedes Mal wenn er mir über den Weg läuft, sagte er nicht mehr als >Tagchen< und macht sich mit einem Grinsen aus dem Staub, als hätte er gerade herausgefunden, daß seine Freundin überhaupt nicht 64
schwanger ist. Er geht mir auf die Nerven. Ich würde ihm gerne eine reinsemmeln.« »Ich auch«, sagte London. »Ich kann Burschen, die schadenfroh grinsen, nachdem sie einen zum Narren gemacht haben, einfach nicht ausstehen.« »Wenn wir ihm einen verpassen, würde das nur dazu führen, daß man uns von Bord jagt«, sagte Nur. »Abgesehen davon ist er ziemlich stark. Ich könnte mir vorstellen, daß er dir eine reinsemmelt, während du das gleiche mit ihm versuchst.« »Mit dem werde ich schon fertig!« sagten Mix und London wie aus einem Munde. »Ihr habt einen verdammt guten Grund, rachsüchtig zu sein«, sagte Burton. »Aber momentan wäre das einfach nicht die richtige Zeit. Ihr seht das doch ein?« »Aber warum hat er versprochen, uns auf seinem Luftschiff mitzunehmen, und uns dann einfach zurückgelassen, als ob wir die Krätze hätten?« Nur ed-Din sagte: »Ich habe darüber nachgedacht. Die einzig vernünftige Erklärung ist, daß er uns für Leute von X gehalten hat. Und das wiederum verstärkt die Vermutung, daß er ein Agent der Ethiker ist.« »Ich glaube, er ist einfach nur ein gottverdammter Sadist!« sagte London. »Nein.« Burton sagte: »Wenn er euch vier in Verdacht hat, müßt ihr auf der Hut sein. Das gilt natürlich auch für uns. Auf das, was Nur gesagt hat, bin ich noch gar nicht gekommen. Hätte ich das eher gewußt, wäre ich nie auf die Idee gekommen, unser Treffen hier im Salon abzuhalten.« »Es ist jetzt zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen«, sagte Alice. »Auf alle Fälle kann er - wenn er wirklich ein Agent ist - nichts unternehmen, bevor wir die Quelle des Flusses erreicht haben. Er steht also nicht besser da als wir.« Burton gewann die Partie mit drei Jokern und zwei Zehnen. Alice spielte den Bankhalter. Burton wurde den Eindruck nicht los, daß Nur sich statt auf das Spiel auf ganz andere Dinge konzentrierte. Da der Maure trotzdem die halbe Zeit gewann, mußte man annehmen, daß er sie alle an die Wand spielen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand. Irgendwie schien der kleine Mann schon an den Gesichtern der anderen ablesen zu können, welches Blatt sie auf der Hand hatten. »Wir sollten die Reise einfach genießen«, sagte Frigate. Burton schien ihm die gleiche Ehrerbietigkeit zu erweisen wie der andere Frigate, auch wenn dieser sie möglicherweise nur vorgetäuscht hatte. Sobald sich ihm eine Chance bot, überschüttete er Burton mit Fragen. Die meisten davon betrafen Perioden seines Lebens, über die seine Biographien lediglich hatten spekulieren können. Aber ebenso wie der andere, nagelte dieser Frigate Burton stets auf seinen Vorlieben und Abneigungen fest. Er hatte zum Beispiel wissen 65
wollen, wie es mit seiner Einstellung gegenüber Frauen, Farbigen und Telepathie aussah. Burton hatte mehr als einmal erklären müssen, daß seine irdischen Ansichten nicht unbedingt auch hier ihre Gültigkeit behalten hätten. Er hatte zuviel gesehen und zu viele Erfahrungen gemacht. Er hatte sich in vielerlei Hinsicht verändert. Ihm kam der Gedanke, daß dies eine gute Gelegenheit sei, noch einmal den Fall des Pseudo-Frigate anzuschneiden. »Es muß einen beinharten Grund für diese Ähnlichkeit geben.« »Ich habe mir das gleiche gesagt«, erwiderte der Amerikaner. »Glücklicherweise habe ich mich nicht nur als Autor, sondern auch als Leser mit der Science-Fiction beschäftigt. Ich verfüge also über eine gewisse Flexibilität der Phantasie, die auch du wirst aufbringen müssen, wenn du verstehen willst, was ich denke. Ich glaube, daß der Frigate, den du zufälligerweise kennen gelernt hast, kein anderer ist als mein Bruder James, der im biblischen Alter von einem Jahr starb! Denke an die Kinder, die auf der Erde gestorben sind. Einer der Gründe - und zwar der augenscheinlichste -, weswegen sie nicht auf dieser Welt wiedergeboren wurden, besteht darin, daß sie den Planeten überbevölkern würden. Es gibt nicht genug Lebensraum für alle hier. Wenn man es genau nimmt, müßten die vor dem fünften Lebensjahr verstorbenen Kinder sogar die weitaus größte Gruppe der wiedererweckten Menschheit stellen. Was hätten die Ethiker also mit ihnen tun sollen? Sie auf einem anderen Planeten wieder zum Leben erwecken. Sozusagen als Kontrollgruppe. Auf einer Welt, die dieser gleicht oder auch nicht. Vielleicht haben sie sogar zwei Welten benötigt, um sie unterzubringen. Laßt uns das einmal annehmen.« Frigate hob einen Finger und fügte hinzu: »Natürlich besteht auch die Möglichkeit, daß man sie überhaupt nicht wiedererweckt hat. Vielleicht wird man das erst tun, nachdem wir nicht mehr sind. Wer weiß? Ich weiß es jedenfalls nicht. Aber ich vermag zu spekulieren. Angenommen, die Kinder befänden sich in fleischlicher Gestalt auf einem anderen Planeten. Da man eine Menge Erwachsene haben müßte, die sich um sie kümmern, schließt dies eine Wiedererweckung aller Kinder gleichzeitig aus. Außerdem wäre nicht einmal auf einem erdgroßen Planeten für sie Platz. Es besteht also die Möglichkeit, daß man sie nach und nach zum Leben erweckt, also periodisch eine bestimmte Anzahl. Wenn diese Kinder erwachsen geworden sind, werden sie zu Kindermädchen, Lehrern und Zieheltern der nächsten Generationen. Und dann geht es immer so weiter. Vielleicht verfolgt man dieses Prinzip auch gleichzeitig auf mehreren Planeten, aber das bezweifle ich, denn der Energiebedarf, ein solch großes Planetenformprogramm durchzuziehen, wäre ungeheuer. Andererseits könnten sie natürlich auch Welten benutzen, die sie nicht erst umzuformen brauchen.« 66
»Wenn du nicht willst, daß die Leute sich fragen, über was wir hier eigentlich reden«, sagte London, »solltest du allmählich zur Sache kommen.« »Ich kann vorlegen«, sagte Mix. Sie spielten eine Minute und schwiegen. Dann sagte Frigate: »Wenn das, was ich denke, wahr sein sollte ... Nun, laßt es mich so erklären: Ich ... äh ... war das älteste Kind unserer Familie. Das älteste überlebende, meine ich. Mein älterer Bruder James starb mit einem Jahr. Ich wurde sechs Monate später geboren. Nun ... äh ... lebt er wieder. Als er erwachsen war, wurde er zu einem Agenten der Ethiker. Am Wiedererweckungstag mischte man ihn unter die anderen. Er hatte die Aufgabe, Burton zu überwachen. Und warum? Weil die Ethiker irgendwie herausgefunden hatten, daß Burton vor der allgemeinen Erweckung in dieser riesigen Kammer, in der die Körper der anderen schwebten, zu sich gekommen war. Ihnen muß klargeworden sein, daß es sich dabei nicht um einen Zufall gehandelt haben kann, sondern daß er ... äh ... bewußt von jemandem zu früh erweckt wurde. Nun, darüber brauchen wir wohl keine Spekulationen anzustellen. Wir wissen, daß der Rat der Ethiker Burton genau das erzählte, nachdem er ihn geschnappt hatte. Man hatte den Plan gefaßt, ihm seine Erinnerungen an dieses vorzeitige Erwachen zu nehmen. Es gelang X, dies zu verhindern. Jedenfalls waren die Ethiker von Mißtrauen erfüllt. Deswegen haben sie den Pseudo-Frigate, der ja eigentlich ein wirklicher Frigate ist, an Dicks Fersen geheftet. Mein Bruder sollte ihn im Auge behalten und alles, was ihn mißtrauisch machte, melden. Aber wie jeder im Tal mußte auch er eines Tages den Kilt herunterlassen.« »Ich nehme zwei Karten«, sagte Burton. »Das ist alles ziemlich verwirrend, Peter. So haarsträubend sich die Geschichte auch anhört, man kann es nicht von der Hand weisen, daß sie stimmt. Wenn dein Bruder aber wirklich ein Agent war, was war dann Monat, der Tau Cetianer oder Arkturier, oder was auch immer er sonst gewesen sein mag? Gewiß, auch er hätte ein Agent sein können, ein seltsamer zwar, aber immerhin ...« »Vielleicht ist er ein Ethiker!« sagte Alice. Burton, dem es nicht gefiel, wenn man ihn unterbrach, warf ihr einen finsteren Blick zu. »Genau darauf wollte ich hinaus. Aber wenn Monat ein Agent ist, wird er kaum ein Ethiker sein, denn sonst hätte ich ihn während der Ratsversammlung gesehen ... Nein, bei Allah, er wäre natürlich nicht dabeigewesen! Wenn ich ihn dort gesehen hätte, dann hätte ich ja gewußt, daß er zu ihnen gehört, und hätte nicht länger bei mir bleiben können. Aus welchem Grund er zu mir stieß, ist mir allerdings nicht klar. Monats Gegenwart deutet allerdings darauf hin, daß an diesem Spiel mehr als eine Spezies ... Gattung ... zoologische Familie beteiligt ist. Extraterrestrier.« 67
»Eine Karte für mich«, sagte Frigate. »Ich wollte gerade sagen ...« »Entschuldige mal«, sagte London. »Aber wie konnte Peters Bruder etwas über Burton wissen?« »Ich nehme an, daß die Kinder irgendeine Art von Erziehung genießen. Möglicherweise eine bessere als auf der Erde. Und vielleicht - nur vielleicht - weiß mein Bruder, daß ich sein Bruder bin. Woher sollen wir wissen, wie groß und detailliert das Wissen der Ethiker ist? Denk mal an das Foto, das Dick im Kilt des Agenten Agneau fand. Es zeigte ihn im Alter von achtundzwanzig Jahren, als er noch als einfacher Soldat bei der Ostindischen Armee diente. Beweist das nicht, daß die Ethiker sich schon 1848 auf der Erde aufgehalten haben? Wer weiß, wie lange sie dort durch die Straßen gelaufen sind und Daten gesammelt haben? Nun fragt mich bloß nicht, für welchen Zweck.« »Aber warum sollte James deinen Namen benutzen?« fragte Nur. »Nun, ich war schon immer ein großer Burton-Fan. Ich habe sogar einen Roman über ihn geschrieben. Vielleicht hat James es ganz lustig gefunden. Ich habe jedenfalls Humor. Meine ganze Familie ist bekannt dafür, einen skurrilen Humor zu haben. Vielleicht fand er es ungeheuer lustig, sich als sein eigener Bruder auszugeben, auch wenn er mich nie gekannt hat. Vielleicht sah er darin eine Möglichkeit, das Leben zu leben, das ihm auf der Erde verwehrt worden war. Vielleicht glaubte er, mit meinem Namen besser voranzukommen, wenn ihm jemand über den Weg laufen sollte, der die Frigate-Familie kannte. Vielleicht treffen auch alle diese Gründe zu. Was auch immer ... Ich bin mir jedenfalls sicher, daß er Sharkko, diesem schurkischen Verleger, deswegen eins aufs Haupt gegeben hat, um mich zu rächen. Und das zeigt, daß er viel über mein irdisches Dasein weiß.« Alice sagte: »Aber was ist mit der Geschichte, die der Agent Spruce erzählte? Er hat behauptet, aus dem zweiundsiebzigsten Jahrhundert zu kommen. Er sagte außerdem etwas von einem Chronoskop, mit dem man in die Vergangenheit sehen könne.« »Vielleicht hat er gelogen«, sagte Burton. »Auf alle Fälle«, sagte Frigate, »glaube ich weder an die Existenz dieses Chronoskops noch an irgendeine Art von Zeitreise. Vielleicht sollte ich das besser nicht mit solchem Nachdruck sagen. Schließlich reisen wir alle durch die Zeit. Auch wenn die Reise nur vorwärts in die Zukunft geht.« »Worauf noch niemand hingewiesen hat«, warf Nur ein, »ist, daß jemand dagewesen sein muß, um die Kinder wieder zu erwecken. Ob es nun Leute aus dem zweiundsiebzigsten Jahrhundert waren oder nicht, will ich mal dahingestellt sein lassen, aber wahrscheinlicher scheint mir zu sein, daß Monats Leute dafür verantwortlich waren. Wir sollten uns des weiteren darauf besinnen, daß es Monat war, der das Verhör mit Spruce leitete. Möglicherweise hat er ihm dabei goldene Brücken gebaut.« 68
»Und warum?« fragte Alice. Das war eine Frage, die man erst dann würde beantworten können, wenn sich die Geschichte des Ethikers als wahr herausstellte. Im Moment hielten seine Jünger es allerdings nicht für ausgeschlossen, daß er ein ebensolches Lügenmaul war wie seine Kollegen. Nur schloß die Runde mit der Spekulation, daß die Agenten, die schon frühzeitig auf der Rex angeheuert hatten, deswegen bei ihrer Behauptung blieben, über das Jahr 1983 hinaus gelebt zu haben, weil sie dies von Anfang an verbreitet hatten. Jene Agenten, die erst später an Bord gekommen waren, wußten vielleicht schon, daß sie mit dieser Geschichte Mißtrauen erweckten, und warteten deswegen mit anderen Jahreszahlen auf. Der große Gallier mit dem Namen Megalosos - was >der Große< bedeutete - behauptete beispielsweise, zu Cäsars Zeiten gelebt zu haben. Mehr als diese Behauptung hatte er allerdings nicht zu bieten. Und daß er Podebrad sympathisch zu finden schien, ging über Nurs Verstand. Auch er konnte ein Agent sein.
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ABSCHNITT 4 Auf der >Nicht vermietbar: Neue Rekruten und Clemens' Alpträume 13 De Marbots Augen waren ein Beweis dafür, daß die Wiedererweckungsmaschinerie keineswegs immer perfekt arbeitete. Jean Baptiste Antoine Marcelin, Baron de Marbot, war 1782 mit braunen Augen geboren worden. Nach der Wiedererweckung hatte er eines schönen Tages herausgefunden, daß er nun blaue hatte. Und das war gewesen, als eine Frau ihn zärtlich >Blauäugelchen< genannt hatte. »Sucre bleu! Ist das wirklich wahr?« Er eilte hinaus, lieh sich einen der seltenen Glimmerschieferspiegel, die kürzlich mit einem Händlerschiff gekommen waren, und betrachtete zum ersten Mal seit zehn Jahren sein Gesicht. Es war ein heiteres Gesicht, rund, mit einer Stupsnase ausgestattet, mit zwinkernden Augen und einem stets vorhandenen Lächeln. Er war keineswegs häßlich. Aber seine Augen waren hellblau. »Mérde!« Dann sprach er wieder in esperanto. »Sollte ich jemals auf eine Schwertlänge an diese abscheulichen Abscheulichkeiten herankommen, die mir das angetan haben ...!« Wutentbrannt wandte er sich der Frau zu, mit der er zusammenlebte, und wiederholte seine Drohung. »Aber du hast doch gar kein Schwert«, sagte sie. »Mußt du mich immer so wörtlich nehmen? Das macht doch nichts. Irgendeines Tages werde ich eins haben; schließlich muß es auf diesem steinigen Drecksplaneten ja irgendwo Eisen geben.« In dieser Nacht träumte er von gewaltigen Vögeln mit rostfarbenem Gefieder und Geierschnäbeln, die Felsgestein fraßen und Stahlklumpen kackten. Aber es gab keine Vögel auf dieser Welt, überhaupt keine; und selbst wenn es welche gegeben hätte: Oiseau de fer hätte er deswegen immer noch nicht gehabt. Inzwischen besaß er Eisenwaffen: einen Säbel, ein Entermesser, ein Epee, ein Stilett, ein Langmesser, eine Axt, eine Lanze, Pistolen und eine Flinte. Er war Brigadegeneral der Marineinfanterie der Nicht vermietbar und sehnte sich nach der Position eines Vier-Sterne-Generals. De Marbot verabscheute allerdings die Politik und hatte darüber hinaus weder das Interesse noch die Fähigkeiten, sich an unehrenhaften Intrigenspielen zu beteiligen. Abgesehen davon konnte er nur dann zum Vollgeneral aufrücken, wenn Ely S. Parker ins Gras biß. Und da er 70
den prächtigen Seneca-Indianer ins Herz geschlossen hatte, wünschte er ihm natürlich nichts Schlechtes. Die an Bord befindlichen Post-Paläolithiker waren nahezu alle über einen Meter achtzig groß. Einige von ihnen waren sogar ausgesprochen lang. Die Paläolithiker waren dagegen meist klein, aber da sie einen schweren Knochenbau und starke Muskeln hatten, brauchten sie gar nicht größer zu sein. De Marbot wirkte unter all diesen Leuten wie ein Pygmäe, denn er maß nicht einmal einen Meter siebzig. Sam mochte ihn trotzdem - und er schätzte seinen Mut. Es machte ihm Spaß, de Marbot zuzuhören, wenn er von seinen Feldzügen erzählte und sich darüber ausließ, daß er jetzt Leute befehligte, die früher Generäle, Admirale oder Staatsmänner gewesen waren. »Es ist lehrreich, zur Abwechslung mal untergeordnete Ränge einzunehmen«, sagte Sam, »denn das formt den Charakter. Der Franzose ist ein ausgezeichneter Befehlshaber, und es amüsiert mich, weil er all diese Großkopfeten herumscheucht.« De Marbot war gewiß ein Mann mit Erfahrungen und Fähigkeiten. Er war der republikanischen Armee Frankreichs im Alter von siebzehn Jahren beigetreten und hatte dort eine Blitzkarriere gemacht. Im Krieg gegen Preußen und Rußland (1806-1807) hatte er es zum Adjutanten von Marschall Augereau gebracht, der das VII. Corps kommandierte. Er hatte unter Lannes und Massena gedient, 1812 den Rußlandfeldzug und den schrecklichen Rückzug aus Moskau mitgemacht und war unter anderem auch 1813 beim Krieg gegen Deutschland dabeigewesen. Er war elfmal verwundet worden - unter anderem bei Hanau und Leipzig. Als Napoleon sein Exil auf Elba verlassen hatte, hatte er de Marbot zum Brigadegeneral gemacht. Während der blutigen Schlacht bei Waterloo war er noch einmal verwundet worden. Der Bourbonenkönig hatte ihn später in die Verbannung geschickt, aber 1817 war er in seine Heimat zurückgekehrt. Seine Teilnahme an der Belagerung von Antwerpen während der Julimonarchie hatte man ihm mit der Beförderung zum Generalleutnant belohnt. Von 1825 bis 1840 hatte de Marbot sich in Algerien verdient gemacht, wo er im Alter von sechzig Jahren zum letzten Mal verwundet worden war. Nach dem Sturz von König Louis Philippe hatte er sich 1848 zurückgezogen und seine Memoiren geschrieben. Diese hatten Arthur Conan Doyle dermaßen entzückt, daß er de Marbot als Modell für seinen fiktiven Charakter Brigadier Gerard benutzte. Der Hauptunterschied zwischen dem wirklichen und dem literarischen de Marbot bestand allerdings darin, daß der erste intelligent und aufnahmebereit, der zweite jedoch eher galant als helle gewesen war. Im Alter von zweiundsiebzig Jahren hatte der tapfere napoleonische Haudegen in Paris das Zeitliche gesegnet - im Bett. Daß Clemens ihn mochte, war schon der Tatsache zu entnehmen, daß er de Marbot von dem geheimnisvollen Fremden - dem abtrünnigen Ethiker - erzählt hatte. 71
An diesem Tag hatte das Schiff angelegt, und Clemens unterhielt sich mit ein paar Freiwilligen, die auf seinem Schiff anheuern wollten. Die schrecklichen Ereignisse, die sich nach dem Ausfall der Gralsteine des rechten Flußufers abgespielt hatten, lagen nun zwei Monate hinter ihnen. Der Fluß hatte sich mittlerweile wieder selbst gereinigt und die verwesenden Leichen waren allesamt verschwunden. De Marbot, der mit seinem mit leimgestärkten Fischlederstreifen ausgestatteten Duraluminiumhelm und dem aus gleichem Material bestehenden Küraß wie die Volksausgabe eines trojanischen Kriegers aussah, schritt die lange Reihe der Kandidaten ab. Er hatte die Aufgabe, mit den Leuten Vorgespräche zu führen. Auf diese Weise konnte er von vornherein die Spreu vom Weizen trennen und seinem Kapitän Zeit und Arbeit ersparen. Etwa in der Mitte der Reihe sah er vier Männer, die einander gut zu kennen schienen. Beim ersten von ihnen hielt de Marbot an. Der Mann war ein dunkler Typ mit großen Händen. Seine Hautfarbe und das lockige Haar deuteten darauf hin, daß er ein Viertelneger war. Wie sich herausstellte, hatte de Marbot mit seiner Annahme recht. Auf seine freundliche Frage hin erklärte der Mann, sein Name sei Thomas Million Turpin. Er war um das Jahr 1873 herum - genau wußte er es nicht - in Georgia zur Welt gekommen, aber seine Eltern hatte es kurz darauf nach St. Louis, Missouri, verschlagen. Im dortigen Rotlichtbezirk hatte sein Vater eine Taverne namens Silver Dollar betrieben. Turpin und sein Bruder Charles hatten in jungen Jahren einen Anteil an der Big Onion Mine in Searchlight, Nebraska, erworben, dortselbst gearbeitet, und waren, als sie zwei Jahre später immer noch nicht auf Gold gestoßen waren, durch den Westen gestromert. Später waren sie dann wieder nach St. Louis zurückgekehrt. Im Rotlichtdistrikt hatte sich Turpin unter anderem als Pianospieler und Rausschmeißer verdingt. Im Jahre 1899 war er zum wichtigsten Mann der ganzen Gegend aufgestiegen und kontrollierte das gesamte Musik-, Schnaps- und Spielgeschäft. Das Rosebud-Cafe, das Hauptquartier seines kleinen Imperiums, war im ganzen Land bekannt. Während ihm das Erdgeschoß als Restaurant diente, beherbergten die übrigen Etagen einen Puff de luxe, der unter der Bezeichnung >Hotel< firmierte. Allerdings war Turpin mehr gewesen als nur ein politischer Boß in wilden Zeiten. Er hatte seinen eigenen Aussagen zufolge auch als Pianospieler Beachtliches geleistet - obwohl er natürlich nie so gut wie Louis Chauvin geworden war. In St. Louis war er als Pionier synkopierter Musik und Vater des Ragtime bekannt geworden, und sein 1897 veröffentlichter >Harlem Rag< war das erste Stück dieser Art, das von einem Neger herausgebracht wurde. Turpin hatte den >Harlem Rag< als Eröffnungsmelodie für die Weltausstellung vorgesehen, die 72
dann doch nicht in St. Louis stattfand. Er war 1922 gestorben und hielt sich seither - ständig auf Achse - auf der Flußwelt auf. »Ich hab' gehört, daß ihr ein Piano auf eurem Schiff habt«, sagte er grinsend. »Ich würd' gern mal wieder meine Finger auf 'n paar Elfenbeintasten legen.« »Wir haben zehn Pianos«, sagte de Marbot. »Hier, nimm das.« Er reichte Turpin einen fünfzehn Zentimeter langen, hölzernen Marschallstab, in den die Initialen M. T. eingraviert waren. »Geben Sie das dem Kapitän, wenn Sie an der Reihe sind.« Sam würde sich freuen. Er liebte Ragtime und hatte einmal geäußert, er könne gar nicht genug Musiker an Bord haben, die es verstünden, diese Musik zu spielen. Außerdem sah Turpin groß und tüchtig aus. Kein Wunder, daß er es geschafft hatte, den von Schwarzen beherrschten Rotlicht-Distrikt unter seine Knute zu zwingen. Der Mann hinter ihm war ein wild aussehender Chinese namens Tai-Peng. Er war etwa einen Meter achtzig groß, hatte große, leuchtende Augen von grüner Farbe und ein dämonisches Gesicht. Sein Haar war schwarz und hing ihm bis auf die Hüften hinab. Dazu trug er eine Krone aus den Blüten des Eisenbaumes. Mit ziemlicher Lautstärke und einer schrillen Stimme behauptete er, in seiner Zeit ein großer Schwertkämpfer, Liebhaber und Dichter gewesen zu sein. Er entstammte der Periode der Tang-Dynastie, die im achten Jahrhundert n. Chr. gelebt hatte. »Ich gehölte zu den Sechs Müßiggängeln des Bambusstlomes«, schrillte er, »und ebenso zu den Acht Unstelblichen des Weinbechels. Ich kann aus dem Stegleif dichten, und zwal nicht nul in meinel Muttelsplache, sondeln auch in tülkisch, koleanisch, englisch, flanzösisch und espelanto. Kommt es zu einem Kampf mit dem Schwelt, bin ich so schnell wie ein Kolibli und so tödlich wie eine Vipel.« Mit einem Lachen erklärte de Marbot ihm, daß nicht er derjenige sei, der die Rekruten auswähle. Er gab dem Chinesen aber dennoch einen Stab und wandte sich dem dritten Mann zu. Dieser war zwar untersetzt, aber immer noch größer als de Marbot selbst. Er hatte eine dunkle Hautfarbe, schwarze Augen und einen feisten Wanst, der sich wie der Kugelbauch eines Buddhas nach vorn wölbte. Seine Augen waren leicht geschlitzt, und er hatte eine Adlernase und ein vorstehendes, mit einer Kerbe versehenes Kinn. Sein Name, sagte er, sei Ah Qaaq. Er kam von der Ostküste eines Landes, das de Marbot unter dem Namen Mexiko bekannt war. Sein Volk hatte das Gebiet, in dem es gelebt hatte, Regenland genannt. Er wußte zwar nicht, welcher Zeit er nach dem christlichen Kalender entstammte, aber ein gebildeter Mensch konnte aus seinen Äußerungen schließen, daß er etwa um das Jahr 100 v. Chr. herum geboren sein mußte. Er sprach das Idiom der 73
Maya und war ein Angehöriger jenes Volkes, das später unter der Bezeichnung Olmeken bekannt wurde. »Ah, ja«, sagte de Marbot. »Von den Olmeken habe ich schon gehört. Hin und wieder sitzen am Tisch des Kapitäns einige besonders gebildete Männer.« De Marbot wußte, daß die Olmeken in Mittelamerika die erste Zivilisation begründet hatten. Alle anderen prä-kolumbianischen Kulturen stammten davon ab: die späteren Maya, die Tolteken, die Azteken und so fort. Wenn der Mann wirklich ein Angehöriger der alten Maya war, so wies er doch nicht den bei diesem Volk bevorzugten künstlich abgeflachten Kopf und den schielenden Blick auf, der als besonders vornehm gegolten hatte. Aber nach kurzem Nachdenken fiel de Marbot ein, daß die Ethiker solche Dinge natürlich korrigiert haben würden. »Mit deinem Leibesumfang bist du hier eine ziemliche Seltenheit«, sagte de Marbot. »Wir führen auf der Nicht vermietbar ein ziemlich aktives Dasein und haben weder Platz für Faule noch für Vielfraße. Außerdem erwarten wir, daß jeder Kandidat eine Fähigkeit besitzt, die ihn qualifiziert.« Mit seiner hohen Stimme, die allerdings weniger schrill war als die des Chinesen, erwiderte Ah Qaaq: »Eine fette Katze mag zwar weich aussehen, aber dennoch ist sie schnell und stark. Ich will es Ihnen zeigen.« Er packte den Griff seiner mit einer Feuersteinschneide versehenen Axt. Obwohl der Eichengriff beinahe fünfunddreißig Zentimeter lang war und fast fünf dick, handhabte er die Waffe wie einen Lollipop. Er drückte de Marbot die Schneide in die Hand und ließ ihr Gewicht von ihm schätzen. »Etwa zehn Pfund, würde ich sagen«, meinte der Franzose. »Passen Sie auf!« Ah Qaaq nahm die Axt und warf sie wie einen Tennisball durch die Luft. Mit aufgerissenen Augen verfolgte de Marbot ihren Flug, bis sie endlich ins Gras fiel. »Mon Diéu! Außer Joe Miller hat bisher niemand eine Axt dermaßen weit geworfen! Ich gratuliere Ihnen, Sinjoro! Hier, nehmen Sie das.« »Ich bin außerdem ein ausgezeichneter Bogenschütze und Axtkämpfer«, sagte Ah Qaaq ruhig. »Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie mich mitnehmen.« Der Mann, der hinter dem Olmeken stand, hatte genau die gleiche Größe. Er war von einer kantigen, herkulischen Gestalt. Mit seiner Adlernase und dem runden, gekerbten Kinn sah er Ah Qaaq nicht unähnlich. Er hatte allerdings keine Unze Fett am Leib und war, obwohl tiefgebräunt, kein Indianer. Sein Name, sagte er, sei Gilgamesch. »Ah Qaaq und ich haben unsere Kräfte gemessen«, sagte er. »Keiner von uns kann den anderen besiegen. Auch ich bin ein großer Axtkämpfer und Bogenschütze.« »Ausgezeichnet! Nun, mein Kapitän wird Ihre Berichte über die Sumerer zu schätzen wissen. Ich bin sicher, daß Sie eine Menge davon auf Lager haben. 74
Auch wird er sich darüber freuen, einen König und Gott an Bord zu haben. Er hat zwar schon Könige kennen gelernt, aber mit den meisten ist er nicht sonderlich glücklich gewesen. Was Götter angeht - nun, das ist eine andere Geschichte. Einen Gott hat er jedenfalls noch nie zuvor getroffen. Hier. Nimm das!« De Marbot ging weiter, und als er sich außer Hör- und Sichtweite des Sumerers befand - vorausgesetzt, der Mann war überhaupt einer -, lachte er, bis er umfiel. Eine Weile später stand er wieder auf, wischte sich die Lachtränen aus den Augen und fuhr mit der Vorauswahl fort. Die vier Männer wurden - zusammen mit sechs anderen - angeheuert. Als sie über die Gangway auf das Kesseldeck gingen, sahen sie den Extraterrestrier Monat an der Reling stehen. Er musterte sie mit einem prüfenden Blick. Die Neuen waren natürlich verwundert, aber de Marbot forderte sie zum Weitergehen auf. Er würde sie später über dieses seltsame Geschöpf ins Bild setzen. Der Plan, die neuen Rekruten mit Monat zusammenzubringen, fiel jedoch an diesem Abend ins Wasser. Zwei Frauen gerieten sich wegen eines Mannes in die Haare und fingen an, aufeinander zu schießen. Bevor jemand den Streit schlichten konnte, war eine der Frauen schwer verwundet und die andere mitsamt ihrem Gralzylinder und ein paar Habseligkeiten über Bord gesprungen. Der Mann, um den es gegangen war, entschied sich ebenfalls fürs Gehen, da er der Frau, die die andere angeschossen hatte, mehr Gefühle entgegenbrachte. Man hielt das Schiff an und ließ ihn von Bord gehen. Sam regte sich darüber dermaßen auf, daß er die für den Abend im Großen Salon geplante Vorstellung der Neuen absagte und auf den nächsten Tag verschob. Irgendwann in dieser Nacht verschwand Monat Grrautut. Niemand hatte einen Schrei gehört. Niemand hatte etwas Verdächtiges gesehen. Alles, was man fand, war ein Blutfleck an der Reling der A-DeckPromenade, aber der konnte vom Reinigungskommando nach der letzten Schlacht um die Gralsteine der linken Uferseite auch übersehen worden sein. Clemens hegte den Verdacht, daß möglicherweise einer der neuen Rekruten für das Verschwinden Monats verantwortlich war. Die Männer schworen jedoch Stein und Bein, daß sie die ganze Nacht schlafend in ihren Kojen verbracht hatten, und es gab nichts, das ihre Aussagen hätte widerlegen können. Während Sam über den Fall nachsann und sich wünschte, Sherlock Holmes wäre an Bord, setzte die Nicht vermietbar ihren Weg fort. Drei Tage nach Monats Verschwinden hielt Cyrano de Bergerac das Schiff mit einem Flaggensignal an. Als Sam ihn erblickte, fluchte er. Er hatte gehofft, daß sie sich während der Nacht an ihm würden vorbeischleichen können. Aber da stand er nun, und mindestens fünfzig Angehörige der Besatzung hatten ihn ebenfalls gesehen. Der Franzose kam lächelnd an Bord, rümpfte seinen stattlichen Zinken, küßte seine männlichen Freunde auf die Wangen und seine weiblichen nachhaltig auf 75
den Mund und rief, als er den Kontrollraum betrat, aus: »Kapitän! Welch eine Geschichte habe ich Ihnen zu erzählen!« Etwas säuerlich dachte Clemens, daß man das auch von jedem streunenden Hund behaupten könne. 14 Ein Mann und eine Frau lagen im Bett. Ihre Körper berührten sich, aber ihre Träume waren Lichtjahre voneinander getrennt. Sam Clemens träumte wieder von dem Tag, an dem er Erik Blutaxt getötet hatte. Das heißt, an sich hatte er lediglich die Männer aufgehetzt, von denen einer schließlich seine Lanze in den Bauch des Nordmannes gestoßen hatte. Sam hatte den im Boden verborgenen Meteoriten lediglich wegen des darin enthaltenen Nickelstahls haben wollen. Ohne dieses Material hätte er das Boot, von dem er so oft geträumt hatte, niemals bauen können. Und jetzt, in seinem Traum, sprach er mit Lothar von Richthofen über das, was getan werden mußte. Joe Miller war nicht dabei, denn der Mann, der einstmals König von England gewesen war, hatte ihn heimtückischerweise entführt. Und flußaufwärts kam eine Invasionsflotte, die sich des gefallenen Sterns bemächtigen wollte. König John befand sich irgendwo flußaufwärts und sammelte eine Flotte, um den Fundort des Nickelstahl-Schatzes zu besetzen. Die Armee, über die Sam verfügte, befand sich nicht nur zwischen zwei Feuern, sondern war auch die kleinste von den dreien. Man würde ihn und seine Leute wie zwischen zwei Mühlsteinen zermahlen. Es gab keine Chance, den Sieg davonzutragen - außer er verbündete sich mit König John. Und wenn Sam wollte, daß er seinen Freund Joe Miller wieder freibekam, hatte er keine andere Wahl, als mit dessen Überwinder Verhandlungen zu führen. Aber Erik Blutaxt, Sams Partner, hatte sich geweigert, ein solches Bündnis auch nur in Erwägung zu ziehen. Abgesehen davon haßte Erik Joe Miller, denn er war der einzige Mensch, den er je gefürchtet hatte - soweit man Joe überhaupt einen Menschen nennen konnte. Blutaxt sagte, daß seine und Sams Männer hier bleiben und die beiden Invasionsflotten in einem großartigen Kampf zerschmettern würden. Das war natürlich nichts anderes als großmäulige Prahlerei, aber es war nicht auszuschließen, daß der Nordmann an das, was er sagte, wirklich glaubte. Erik Blutaxt war der Sohn von Harald Haarfager (Feinhaar), jenem Norweger, der zum erstenmal die nordischen Völker vereint und dessen Eroberungszüge die Massenflucht nach England und Island hervorgerufen hatten. Als Harald etwa im Jahr 918 n. Chr. gestorben war, hatte Erik seine Nachfolge angetreten. Aber Erik war nicht beliebt gewesen und hatte selbst in den Tagen blutiger und grausamer Monarchen als Anführer eines Rudels gegolten. Haakon, sein Halb76
bruder, damals um die fünfzehn Jahre alt, war seit seinem ersten Lebensjahr am Hofe König Athelstans von England erzogen worden. Unterstützt von englischen Truppen hatte er eine norwegische Armee gegen seinen Bruder geführt. Erik war nach Northumbria geflohen, wo König Athelstan ihm die Herrscherwürde verliehen hatte. Aber Blutaxt war nicht lange König gewesen. Laut den norwegischen Chronisten war er 954 bei einem großen Überfall auf Südengland gestorben. Die englische Geschichte behauptete allerdings, man habe ihn aus Northumbria verbannt, und er sei in einer Schlacht bei Stainmore gefallen. Erik hatte Clemens erzählt, daß die erste Version seines Todes die richtige sei. Clemens hatte sich dem Nordmann angeschlossen, weil Erik sich im Besitz einer äußerst selten vorkommenden Stahlaxt befand, denn er wollte herausfinden, wo die Quelle dieses Metalls lag. Er hoffte, dort genügend Erz vorzufinden, um einen großen Schaufelraddampfer zu bauen, der ihn an die Quelle des Russes bringen konnte. Erik hielt zwar nicht viel von Sam, aber dafür um so mehr von einer Verstärkung seiner Mannschaft durch Joe Miller. Obwohl er Joe nicht ausstehen konnte, wußte er doch, daß er ihm während eines Kampfes sehr von Nutzen sein konnte. Und jetzt hatte König John Joe Miller als Geisel genommen. Verzweifelt und ängstlich, weil er befürchtete, daß König John Joe töten und ihm seinen Meteoriten wegnehmen würde, hatte Sam die Lage mit Lothar, dem jüngeren Bruder des >Roten Barons< diskutiert. Er hatte einen Vorschlag gemacht. Man sollte Blutaxt und seine aus Wikingern bestehende Leibwache töten. Wenn das geschehen war, konnte man mit John verhandeln, der natürlich einsehen mußte, daß es für ihn ein Vorteil war, wenn er mit Sam und dessen Leuten zusammenarbeitete. Wenn sie ihre Kräfte vereinten, konnten sie sich der nähernden Flotte des Herrn von Radowitz in den Weg stellen. Darüber hinaus hatte Sam den unbestimmten Verdacht, daß Blutaxt ihn vielleicht nach einem Sieg über ihre Gegner töten würde. Ein Showdown würde so oder so unvermeidlich sein. Lothar von Richthofen stimmte Sam zu. Schließlich war es kein Verrat, wenn man einem Verräter zuvorkam. Abgesehen davon hatten sie gar keine andere Wahl. Wäre Blutaxt ein wahrer Freund gewesen, hätte die Sache natürlich anders ausgesehen - aber der Nordmann war nun einmal nicht zuverlässiger als eine von Kopfschmerzen geplagte Klapperschlange. Und so hatte man die üble Tat schließlich begangen. Ja, selbst wenn man alle mildernden Umstände einbezog, war sie verdammt übel gewesen. Sam war mit seiner Schuld niemals fertig geworden. Immerhin hätte er ja auch den Meteoriten aufgeben und seinen Traum vom Schiff vergessen können. Zusammen mit Lothar und einigen ausgewählten Männern war er auf die Hütte zugegangen, in der Blutaxt und eine Frau sich gerade geräuschvoll vergnügten. Der Kampf dauerte nur eine Minute, denn der plötzliche Angriff hatte die 77
norwegischen Wächter völlig überrumpelt, und außerdem waren sie in der Minderheit gewesen. Der Wikingerkönig war nackt, seine große Axt schwingend, ins Freie gesprungen. Lothar hatte ihn mit der Lanze an die Hüttenwand genagelt. Obwohl Sam nahe daran war, sich zu erbrechen, hatte ihn der Gedanke, daß nun endlich alles vorbei war, aufrecht gehalten. Und dann hatte eine Hand seinen Unterschenkel umklammert, und er war beinahe vor Entsetzen ohnmächtig geworden. Er hatte zu Boden geschaut und den sterbenden Blutaxt gesehen, der ihn wie eine Adlerklaue festhielt. »Bikkja!« hatte der Nordmann schwach, aber dennoch deutlich gesagt. »Bikkja!« Das bedeutete Hundesohn. Er hatte das Wort oft benutzt, um zu zeigen, wie wenig er von Clemens, den er für einen Weichling hielt, empfand. Dann hatte er gesagt: »Ausgeburten eines Misthaufens!« Er hatte wirklich äußerst wenig von Sam und den seinen gehalten. Und dann hatte Blutaxt ihm prophezeit, daß er, Sam, sein großes Schiff wirklich bauen und flußaufwärts steuern würde. Aber im Gegensatz zu dem Spaß, den er erwartete, würden der Bau des Schiffes und die Reise nur Kummer und Elend für ihn bereithalten. Und dann, eines fernen Tages, wenn Clemens sich endlich den Quellen des Flusses näherte, würde er herausfinden, daß Blutaxt dort auf ihn wartete, um ihn für den Verrat zu bestrafen. Sam erinnerte sich deutlich an die Worte des sterbenden Mannes. Und jetzt drangen sie wieder an sein Gehör. Es war eine schattenhafte Gestalt, die sie sprach, und sie hockte in einem tiefen Erdloch und klammerte sich an Sams Fuß. Die Augen der nur vage wahrnehmbaren dunklen Masse brannten sich in die seinen. »Ich werde dich finden! Ich werde in einem anderen Schiff auf dich warten und dich töten. Du wirst ebenso wenig das Ende des Flusses erreichen, wie Stürme einzudringen vermögen durch das Tor von Walhalla!« Sogar als die Hand schlaff geworden war, hatte sich Sam vor Entsetzen nicht zu bewegen vermocht. In der Kehle des bedrohlichen Schattens rasselte der Tod, und obwohl Sam äußerlich wie gelähmt war, innerlich war er ein zitterndes Nervenbündel. »Ich werde auf dich warten!« Das waren Blutaxts letzte Worte, die Sam in seinen Träumen immer wieder heimsuchten. Er hatte Blutaxts Prophezeiung später verspottet. Niemand konnte in die Zukunft schauen, das war abergläubischer Unfug. Natürlich war es nicht ausgeschlossen, daß er Blutaxt irgendwo flußaufwärts begegnen würde, aber das konnte nur auf reinem Zufall beruhen. Die Wahrscheinlichkeit, daß er sich statt dessen flußabwärts aufhielt, stand fünfzig zu fünfzig. Selbst wenn der Nordmann vor Rache halb wahnsinnig war, mußte das nicht bedeuten, daß er auch 78
die Gelegenheit erhielt, sie auszuführen. Abgesehen von einem gelegentlichen Landurlaub, der selten länger als eine Woche dauerte, legte die Nicht vermietbar nur dreimal am Tag an. Daß Blutaxt irgendwo am Ufer stand, wenn das Schiff vorbeikam, war nicht unwahrscheinlich. Aber ob er nun zu Fuß lief, paddelte oder segelte - mit dem schnellen Schiff konnte er nicht mithalten. Aber auch dieses Wissen ließ Blutaxt nicht aus Sams Träumen verschwinden. Vielleicht lag es daran, daß er tief in sich wußte, daß er ein Mörder war. Und deswegen mußte er leiden. In einer jener plötzlichen Szenenwechsel, die der Traumregisseur so glatt bewerkstelligen kann, fand Sam sich in einer Hütte wieder. Es war Nacht, und es regnete. Draußen tobte ein Gewitter, und die Blitzschläge erinnerten ihn an das Aussehen einer neunschwänzigen Katze. Hin und wieder beleuchteten die Blitzschläge die Einrichtung der Hütte. Neben ihm kniete eine schattenhafte Gestalt. Der Unbekannte trug einen Umhang, und sein Kopf und seine Schultern waren in einer großen Kugel verborgen. »Was ist der Grund für diesen unerwarteten Besuch?« sagte Sam und wiederholte damit die Frage, die er dem geheimnisvollen Fremden schon während seines zweiten Besuchs gestellt hatte. »Die Sphinx und ich spielen gerade eine Partie Poker«, sagte der Fremde. »Willst du nicht einsteigen?« Sam wachte auf. Die Leuchtziffern auf der gegenüberliegenden Wanduhr zeigten 3:33. Was ich dir dreimal sage, ist die Wahrheit. Die neben ihm liegende Gwenafra seufzte und murmelte etwas über einen >RichardSchlangenölZahl die Rechnung, pack die Sachen ein und folge mirWer da?< rufen. Aber er - sie - ist bereits verschwunden. Als ich mich im Stadium zwischen Schlaf und Erwachen, zwischen Tod und Wiederauferstehung befand, habe ich Gott geschaut. >Dein Fleisch steht in meiner SchuldZahI endlich dafür!< Wofür soll ich zahlen? Und wie hoch ist der Preis? 92
Ich habe niemanden um mein Fleisch gebeten. Ich habe nicht danach verlangt, geboren zu werden. Das Fleisch und das Leben sollten gratis sein. Ich hätte ihn hinhalten sollen. Ich hätte ihn fragen sollen, ob ein Mensch über einen freien Willen verfügt oder ob all seine Handlungen und Nichthandlungen vorherbestimmt sind. Ich hätte ihn fragen sollen, ob es ein allgemeines Kursbuch für die Menschen gibt, worin steht, soundso wird um zehn Uhr zweiunddreißig da und dort eintreffen und um zehn Uhr vierzig von Gleis 12 aus weiterfahren. Wenn ich ein Zug auf seinen Gleisen bin, dann bin ich für das, was ich tue, nicht verantwortlich. Ich bin jenseits von Gut und Böse. Es gibt überhaupt kein Gut und Böse. Wenn es keinen freien Willen gibt, können auch sie nicht existieren. Aber er hätte sich nicht aufhalten lassen. Außerdem - hätte ich seine Erklärung von Tod und Unsterblichkeit, Vorherbestimmung und Zufall verstehen können? Der menschliche Geist kann derlei Dinge nicht erfassen. Und da er das nicht kann, gebührt Gott die Schuld dafür - wenn es ihn überhaupt gibt. Als ich das Sind-Gebiet in Indien erforschte, wurde ich zum Sufi - zu einem Sufi-Meister. Aber als ich sie in Sind und Ägypten beobachtete und feststellte, daß sie schließlich behaupteten, Gott zu sein, kam ich zu dem Schluß, daß ihr extremer Mystizismus sehr eng mit gewöhnlichem Irrsinn verwandt war. Nur ed-Din el-Musafir, der auch ein Sufi ist, sagt, daß ich nichts verstehe. Erstens gäbe es falsche oder verblendete Sufis, die alles mißverstehen, und zweitens meine ein Sufi, der behauptet, Gott zu sein, dies nicht im wörtlichen Sinn. Er meint, daß er mit Gott eins geworden ist, aber nicht Gott selbst darstellt. Großer Gott! Ich will Sein Herz durchdringen und in den Mittelpunkt aller Mysterien vorstoßen. Ich bin ein lebendiges Schwert, aber ich habe bisher immer nur mit der stumpfen Seite meiner Klinge angegriffen, nie mit der scharfen. Und es ist die scharfe, die tödlich ist, nicht die andere. Von nun an werde ich die scharfe Seite sein. Und trotzdem, wenn ich einen Weg durch dieses magische Labyrinth finden will, brauche ich einen Faden, dem ich folgen kann, bis ich dem Ungeheuer, das in seinem Herzen lebt, gegenübertreten kann. Wo ist dieser Faden? Keine Ariadne, mein eigener Theseus, so wie... Warum ist mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen? - Das Labyrinth bin ich! Das stimmt nicht ganz, wie? Immer endet es mit einem nicht ganz. Aber was den Menschen - und manchmal die Götter - angeht, so ist ein Beinahe-Treffer manchmal ebenso gut wie ein direkter. Je größer die explodierende Bombe, desto weniger Gedanken braucht man sich über einen Treffer zu machen. Und dennoch taugt ein Schwert erst dann etwas, wenn es richtig ausbalanciert ist. Man hat über mich gesagt - und das kann Frigate, der Belesene, bezeugen -, 93
daß ich ein Mensch gewesen bin, in dem die Natur Amok lief, daß ich nicht nur über eins, sondern über dreißig außergewöhnliche Talente verfüge. Andererseits sei ich unausgeglichen und ziellos gewesen. Ich war wie ein Orchester ohne Dirigent, ein seetüchtiges Schiff ohne Kompaß. Das deckt sich mit meiner eigenen Ansicht: Ich bin ein Lichtstrahl ohne Brennpunkt. Wenn ich nicht der erste sein kann, der etwas tut, tue ich es gar nicht. Es ist das Anormale, das Perverse und Barbarische in den Menschen, nicht das Göttliche in ihrer Natur, das mich fasziniert. Obwohl ich ein gebildeter Mann bin, habe ich nie verstehen können, daß Weisheit mit Wissen nur wenig und Literatur mit Bildung gar nichts zu tun hat. Die anderen waren auf dem falschen Weg! Und wenn sie einmal recht hatten, dann nie wieder!« Burton schlich weiter und weiter und suchte nach etwas, das ihm unklar war. Er passierte einen matt erleuchteten Korridor und hielt an einer Tür inne. In dem dahinterliegenden Raum mußten sich Loghu und Frigate befinden - wenn sie nicht gerade im Großen Salon tanzten. Sie waren wieder beisammen, nachdem sie sich in den vergangenen vierzehn Jahren mit zwei oder drei anderen Geliebten vergnügt hatten. Loghu hatte ihn lange Zeit nicht sehen wollen, aber schließlich hatte Frigate sie wieder herumgekriegt - auch wenn es vielleicht der andere Frigate war, den sie immer noch liebte - und jetzt teilten sie das gleiche Quartier. Schon wieder. Er ging weiter und sah, undeutlich beleuchtet von der kleinen Lampe über dem Ausgang, eine schattenhafte Gestalt. X? Ein anderer, der an Schlaflosigkeit litt? Sein Alter ego? Er ging hinaus und sah den Wachen zu, die an Deck hin und her gingen. Wächter, was ist das für eine Nacht? Was für eine ist es? Und weiter. Wo bist du gewesen? Ich bin herumgelaufen, nicht über diese gigantische Welt, sondern über den zwergenhaften Kosmos, den dieses Schiff darstellt. Alice hielt sich wieder in seiner Kabine auf. Sie hatte ihn vor knapp vierzehn Jahren verlassen und war zweimal zurückgekehrt. Diesmal würden sie für immer zusammenbleiben. Vielleicht. Aber er freute sich, daß sie wiedergekommen war. Burton betrat das Landedeck und sah das matte Licht, das aus dem Kontrollraum zu ihm herausdrang. Die große Uhr schlug vierzehnmal. Es war zwei Uhr nachts. Es war Zeit, ins Bett zurückzugehen und den Versuch zu wagen, die Zitadelle des Schlafs erneut zu erstürmen. Er musterte die Sterne, und während er dies tat, kam aus dem Norden ein kalter Wind und vertrieb zeitweise den das Oberdeck einhüllenden Nebel. Irgendwo im Norden, inmitten des kalten, grauen Nebels, lag der Turm. Und darin 94
hielten sich die Ethiker auf - oder hatten sich aufgehalten, jene Wesenheiten, die geglaubt hatten, sie besäßen das Recht, die Toten ohne deren Einwilligung dem Leben zurückzugeben. Besaßen sie die Schlüssel zur Lösung der Rätsel? Sicher konnten sie nicht alle lösen. Die Geheimnisse des Daseins, der Schöpfung, die von Raum und Unendlichkeit und von Zeit und Ewigkeit würden niemals gelöst werden. Oder doch? Gab es irgendwo tief unter dem Turm eine Maschine, die das Metaphysische ins Physische umwandelte? Der Mensch konnte zwar mit dem Physischen fertig werden, aber was war, wenn er die Natur des Dahinterliegenden nicht durchschaute? Aber obwohl er noch immer nichts über die wahre Natur der Elektrizität wußte, hatte er sie sich für seine Zwecke nutzbar gemacht. Burton drohte dem Norden mit der Faust und ging zu Bett.
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ABSCHNITT 6 Auf der >Nicht vermietbarDer Dicke< und >Der Eiserneder Dicke< innewohnt, war darin allerdings nicht mehr vorzufinden. Die britischen und amerikanischen Bomber legten Deutschland in Schutt und Asche. Zuerst waren die Invasionsversuche der Luftwaffe gegen England fehlgeschlagen - und nun war sie nicht einmal mehr in der Lage, die Vergeltungsschläge abzuwehren, die dazu führten, daß Scharen metallener Vögel das Reich mit tödlichen Eiern bewarfen. Hitler machte Göring sowohl für das eine als auch für das andere verantwortlich - und das, obwohl es seine eigene Idee gewesen war, anstelle der RAF-Basen zuerst die englischen Städte zu bombardieren, und es mithin seine Schuld war, daß Deutschland nun in der Klemme steckte. Ebenso führte seine Entscheidung, das neutrale Rußland zu überfallen, bevor England in die Knie gezwungen worden war, dazu, daß es mit dem Reich langsam aber sicher bergab ging. Nachdem die Nazis sich Norwegen in die Tasche gesteckt hatten, juckte es Hitler, auch die Schweden zu überfallen, aber Göring, der das Land liebte, hatte, sollte dieser Plan durchgeführt werden, seinen Rücktritt angedroht. Außer107
dem hatte er Hitler klarzumachen versucht, daß ein neutrales Schweden ihnen weitaus dienlicher sein konnte. Görings Gesundheit war bereits vor dem Krieg nicht mehr die beste gewesen, und so kam es, daß er aufgrund seiner sinkenden Popularität, ständiger Konflikte und Krankheiten wieder zu den Drogen griff. Er war ängstlich, nervös, wurde melancholisch, geriet leicht ins Schleudern und verlor die Kontrolle über sich. Es gab keine Möglichkeit, den Abstieg aufzuhalten. Und zu allem Übel strebte sein geliebtes Land einer Götterdämmerung entgegen, die ihn entsetzte, Hitler jedoch seltsamerweise erfreute. Als die Alliierten Deutschland von allen Seiten eingekreist hatten, dachte Göring, daß es nun an der Zeit sei, die Macht an sich zu reißen. Statt dessen enthob ihn der Führer aller Titel und Ämter und ließ ihn aus der Nazipartei ausschließen. Martin Bormann, sein schlimmster Feind, ließ ihn verhaften. Gegen Kriegsende wurde er bei dem Versuch, sich den Russen durch die Flucht zu entziehen, von einem amerikanischen Leutnant, der ironischerweise Jude war, in Gewahrsam genommen. Während der Nürnberger Prozesse verteidigte er sich zwar, zeigte aber wenig Überzeugungskraft. Trotz allem, was Hitler angerichtet hatte, verteidigte er auch ihn. Bis zum Ende verhielt er sich Hitler gegenüber loyal. Das Urteil war vorherzusehen. Man verurteilte ihn zum Tod durch den Strang. Am Tag vor der Exekution, am 15. Oktober 1946, schluckte Hermann Göring eine in seiner Zelle versteckte Zyankalikapsel und starb. Er wurde verbrannt und seine Asche - einem Gerücht zufolge - auf einen Abfallhaufen in Dachau geworfen. Ein anderes, das aus seriöseren Quellen stammt, besagt, daß man sie außerhalb von München auf einer schlammigen Landstraße verstreute. Damit hätte es enden sollen. Göring war glücklich darüber, sterben zu können. Es erleichterte ihn, den Krankheiten seines Körpers und seiner Seele endlich entfliehen zu können. Er wollte den Gedanken an sein Versagen und dem Stigma, ein Nazi-Kriegsverbrecher zu sein, entkommen. Alles, was er an seinem Tod bedauerte, war die Tatsache, daß er seine Emma und die kleine Edda ungeschützt zurücklassen mußte. 18 Aber es war nicht das Ende. Ob es ihm nun gefiel oder nicht: Man hatte ihn auf diesem Planeten wiederauferstehen lassen. Wie oder warum, das wußte er nicht. Er hatte wieder einen jungen Körper, war wieder ein schlanker, junger Mann. Er war den Rheumatismus los, hatte keine geschwollenen Drüsen mehr und es verlangte ihn auch nicht mehr nach Aufputschmitteln. Er entschloß sich, nach Emma und Edda Ausschau zu halten. Desgleichen wollte er Karin finden. Wie er damit fertigwerden wollte, mit beiden Frauen 108
zusammenzuleben, war etwas, über das er sich keine Gedanken machte. Die Suche würde lang genug dauern, um sich darüber schlüssig zu werden. Er fand sie nie. Der alte Hermann Göring, der hochambitionierte und skrupellose Opportunist, schlummerte immer noch in ihm. Er tat vieles, was ihn später zutiefst beschämte und bedauerte, bevor er nach vielen Abenteuern und langer Wanderschaft zur Kirche der Zweiten Chance übertrat. Dies war plötzlich und spontan geschehen und ähnelte in vielem der Konversion des Saulus von Tarsus auf der Straße nach Damaskus. Es war in dem kleinen, unabhängigen Staat Tamoancan passiert, der hauptsächlich von nahuatl sprechenden Mexikanern des zehnten Jahrhunderts und dem zwanzigsten Jahrhundert entstammenden Navajos bewohnt wurde. Bis man ihm das Grundwissen der Lehre vermittelt hatte, lebte Hermann im Schlafraum der Novizen. Schließlich zog er in eine Hütte, die kurz zuvor freigeworden war. Nicht viel später lebte er mit einer Frau namens Chopilotl zusammen. Auch sie war eine Chancistin, aber sie bestand darauf, in der Hütte einen Götzen aus Speckstein aufzustellen. Die abscheulich aussehende, etwa dreißig Zentimeter hohe Figur trug den Namen Xochiquetzal und war die göttliche Schutzheilige der geschlechtlichen Liebe und der Geburt. Die Verehrung, die Chopilotl der Göttin entgegenbrachte, wurde immer leidenschaftlicher. Sie verlangte, daß Hermann sie vor der Göttin, von Fackellicht flankiert, besteigen sollte. Hermann hatte zwar nichts dagegen, aber je öfter sie dieses Ansinnen an ihn stellte, desto mehr ermüdete sie ihn. Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, daß es nicht rechtens sei, eine heidnische Gottheit zu verehren. Deswegen ging er zu seinem Bischof, einem Navajo, der auf der Erde Mormone gewesen war. »Ja, ich weiß, daß sie diese Statue hat«, sagte Bischof Ch'agii. »Die Kirche billigt weder Götzendienst noch Vielgötterei, Hermann. Das weißt du. Sie erlaubt ihren Gliedern aber, Götzen zu behalten, wenn derjenige, der sie besitzt, sich voll und ganz darüber im klaren ist, daß sie nur symbolischen Charakter haben. Zugegebenermaßen bedeutet dies eine Gefahr, da der Gläubige ein solches Symbol nur allzu leicht für die Wirklichkeit hält. Und das gilt nicht etwa nur für die Primitiven, mußt du wissen. Selbst sogenannte zivilisierte Menschen tappen in diese psychologische Falle. Chopilotl lebt sonst nach den Vorschriften und ist eine gute Frau. Wenn wir uns ihrer Schwäche gegenüber zu unnachsichtig zeigen und verlangen, daß sie den Götzen wegwerfen soll, erreichen wir damit möglicherweise nur, daß sie vorn Glauben abfällt und wieder der allgemeinen Vielgötterei huldigt. Was wir tun, kann man vielleicht als theologische Entwöhnung bezeichnen. Du hast doch gesehen, wie viele Götzen es hier noch gibt, nicht wahr? Die meisten davon hatten einmal Unmengen von Anbetern. Wir haben die Gläubigen Schritt 109
für Schritt von ihnen entwöhnt, indem wir sie geduldig und sanft instruierten. Für die meisten ehemaligen Götzenanbeter stellen die steinernen Figuren nun nichts anderes mehr dar als gewöhnliche Kunstgegenstände. Irgendwann wird auch Chopilotl in ihrer Göttin nichts anderes mehr sehen. Ich hoffe, daß du ihr dabei behilflich sein wirst, die gegenwärtige Verirrung zu überwinden.« »Du meinst, ich sollte ihr einen theologischen Schubs geben?« sagte Hermann. Der Bischof sah ihn überrascht an, dann lachte er. »Ich habe mein Staatsexamen an der Universität von Chicago gemacht«, sagte er. »Deswegen klingen meine Worte wohl ein wenig trocken, nicht wahr? Komm, gieß dir einen ein, mein Sohn, und erzähl mir ein bißchen von dir.« Gegen Ende des Jahres wurde Hermann zusammen mit vielen anderen nackten schlotternden und zähneklappernden Novizen getauft. Nachdem die Zeremonie beendet war, trocknete er eine Frau ab, die das gleiche mit ihm tat. Dann stiegen sie allesamt in Kleider, die den ganzen Körper bedeckten, und der Bischof hängte jedem eine Kette um den Hals, an der der spiralförmige Wirbelknochen eines Hornfisches baumelte. Keiner von ihnen erhielt den Titel eines Priesters; sie wurden ganz einfach Instruisto, Lehrer, genannt. Hermann kam sich vor wie ein Schwindler. Wer war er überhaupt, daß er sich das Recht anmaßte, andere Menschen zu instruieren und sich aufzuführen, als sei er ein Geistlicher? Er war nicht einmal davon überzeugt, daß sein Glaube an Gott oder die Kirche echt war. Nein, das stimmte nicht. Sein Glaube war echt jedenfalls meistens. »Du zweifelst an dir selbst«, sagte der Bischof, »und glaubst, du könntest die Ziele, die du dir gesteckt hast, niemals erreichen. Du hältst dich für unwürdig. Darüber mußt du hinwegkommen, Hermann. Das Potential, würdig zu sein, steckt in jedem Menschen. Wenn du das erkennst, wird es dich zum Heil führen. Du besitzt das Potential ebenso wie ich; alle Gotteskinder sind damit ausgestattet.« Und er lachte. »Du solltest auf zwei Verhaltensweisen besonders achten, mein Sohn. Manchmal wirst du arrogant sein und glauben, du seist etwas Besseres als die anderen, öfter jedoch wirst du unterwürfig sein. Zu unterwürfig. Ich sollte vielleicht sogar sagen, ekelerregend unterwürfig. Das ist nur ein anderer Ausdruck von Arroganz. Wirkliche Frömmigkeit besteht darin, daß man seinen Platz im Kosmos erkennt. Auch ich habe noch zu lernen. Ich bete darum, daß ich lange genug lebe, um mich von jeglichem Selbstbetrug befreien zu können. Aber weder du noch ich können unsere ganze Zeit damit verbringen, unser eigenes Ich zu erforschen. Wir sollen unter den Menschen arbeiten. Es wäre Unsinn, wenn wir als Eremi110
ten leben würden. Wohin möchtest du also gehen? Flußaufwärts oder flußabwärts?« »Am liebsten möchte ich diesen Ort gar nicht verlassen«, sagte Hermann. »Ich bin immer sehr glücklich hier gewesen. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, Teil einer Familie geworden zu sein.« »Deine Familie lebt zwischen dem Ursprung und der Mündung des Flusses«, sagte Ch'agii, »und besteht natürlich auch aus einigen weniger erfreulichen Verwandten. Aber die gibt es ja schließlich in jeder Familie, nicht wahr? Deine Aufgabe besteht darin, sie auf den richtigen Weg zu führen. Aber das ist erst das zweite Stadium. Zuerst mußt du ihnen klarmachen, daß sie bisher einen falschen Weg gegangen sind.« »Das ist ja gerade das Schlimme«, sagte Hermann. »Ich weiß nicht einmal, ob ich selbst schon über das erste Stadium hinaus bin.« »Wenn ich deiner Meinung wäre, hätte ich dich zur Graduation gar nicht erst zugelassen. Wohin also willst du? Flußaufwärts oder flußabwärts?« »Abwärts«, sagte Hermann. Ch'agrii runzelte die Stirn. »Gut. Die meisten Novizen wollen in der Regel flußaufwärts gehen, weil sie wissen, daß La Viro dort irgendwo lebt. Und sie dürsten danach, ihn zu besuchen, bei ihm zu sein und mit ihm zu reden.« »Deswegen habe ich die andere Richtung gewählt«, sagte Hermann. »Dazu bin ich nämlich nicht würdig genug.« Der Bischof seufzte und sagte: »Manchmal bedauere ich es, daß wir jeglicher Gewalt abgeschworen haben. Offen gestanden möchte ich dir in diesem Moment nämlich liebend gerne einen Tritt in den Arsch geben. Aber gut, dann geh den Fluß hinunter, mein blasser Moses. Aber ich verlange von dir, daß du jedem Bischof, dessen Weg du kreuzt, eine Botschaft überbringst. Sage ihnen, daß Bischof Ch'agii jedem seine besten Grüße sendet. Und sage ihnen auch dies: Manche Vögel halten sich für Würmer.« »Was bedeutet das?« »Ich hoffe, daß du es eines Tages herausfindest«, sagte Ch'agii. Er streckte die Rechte aus, spreizte drei Finger und segnete ihn. Dann schloß er Hermann in die Arme und küßte ihn auf den Mund. »Geh jetzt, mein Sohn, und möge dein Ka ein Ech werden!« »Mögen unsere Echs Seite an Seite fliegen«, sagte Hermann formell. Während die Tränen über seine Wangen strömten, verließ er die Hütte. Er war schon immer sentimental gewesen. Aber er redete sich ein, daß er weinte, weil er den kleinen, dunkelhäutigen, salbungsvoll redenden Mann in sein Herz geschlossen hatte. Im Seminar hatte man ihm den Unterschied zwischen Liebe und Zartgefühl eingebläut. Was er diesem Mann gegenüber verspürte, mußte Liebe sein. Oder nicht? 111
Wie der Bischof in einer seiner Reden ausgeführt hatte, würden seine Zuhörer den Unterschied erst dann richtig kennen lernen, wenn sie genug Praxis aufwiesen, um mit beidem fertigzuwerden. Aber wenn sie nicht genügend Intelligenz aufwiesen, würden sie nicht einmal dann die beiden Begriffe voneinander trennen können. Das Floß, mit dem er seine Reise unternehmen würde, hatten Hermann und die sieben, die ihn begleiten sollten, selbst gebaut. Eine seiner Begleiterinnen war Chopilotl. Hermann blieb an ihrer Hütte stehen, um sie und ihre Habseligkeiten mitzunehmen. Chopilotl hielt sich mit zwei Nachbarfrauen im Freien auf und stellte den Götzen gerade auf einen hölzernen Schlitten. »Du willst das Ding doch wohl nicht mitnehmen?« fragte er sie. »Natürlich werde ich das«, sagte sie. »Wenn ich das nicht täte, wäre es das gleiche, als würde ich mein Ka hier zurücklassen. Und außerdem ist sie kein Ding. Sie ist Xochiquetzal.« »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß sie lediglich ein Symbol ist?« sagte er finster. »Dann brauche ich eben mein Symbol. Ohne sie würde ich nur Pech haben. Und sie würde sehr wütend werden.« Er war frustriert und beunruhigt. Dies war der erste Tag seiner Mission, und schon wurde er mit einer Situation konfrontiert, mit der er nicht fertig wurde. »Denke an den Tod, mein Sohn, und zeige dich weise«, hatte der Bischof während einer Vorlesung gesagt und den Prediger zitiert. Er mußte sich so verhalten, daß das Endresultat der Lösung dieses Problems das richtige sein würde. »Die Sache ist so, Chopilotl«, sagte er deshalb geduldig. »Es ist schon in Ordnung - zumindest nichts Schlechtes -, in diesem Land einen Götzen zu haben. Die Leute hier verstehen das. Aber die, die anderswo leben, verstehen es vielleicht nicht. Wir sind Missionare, und unsere Aufgabe besteht darin, die anderen dazu zu bewegen, zu der Religion überzutreten, die wir für die wahre halten. Wir besitzen eine Autorität, die uns den Rücken stärkt, und zwar die Lehren La Viros, der von einem der Schöpfer dieser Welt erleuchtet wurde. Aber wie sollen wir jemanden von unserem Glauben überzeugen, wenn einer von uns wie ein Götzenanbeter erscheint und eine Figur aus Stein anbetet? Und die Figur ist nicht einmal sonderlich schön, sollte man hinzufügen, auch wenn das überhaupt keine Rolle spielt. Die Leute werden uns verhöhnen. Sie werden sagen, wir seien unwissende und abergläubische Heiden. Und wir stünden dann als Sünder da, weil wir ihnen ein völlig falsches Bild von der Kirche vermittelt hätten.« »Dann sagen wir ihnen eben, daß es nur ein Symbol ist«, erwiderte Chopilotl stur. 112
Seine Stimme wurde lauter. »Ich sagte doch schon, daß sie es nicht verstehen würden! Abgesehen davon wäre das auch eine Lüge. Es ist doch offensichtlich, daß das Ding für dich mehr ist als nur ein Symbol.« »Würdest du etwa deinen Spiralknochen wegwerfen?« »Das ist etwas anderes. Der Spiralknochen ist ein Zeichen meines Glaubens. Er zeigt meine Zugehörigkeit an. Es ist doch nicht so, daß ich ihn anbete.« In ihrem dunklen Gesicht blitzten weiße Zähne. »Wenn du ihn wegwirfst, schwöre ich auch meiner geliebten Göttin ab.« »Unsinn!« sagte Hermann. »Du weißt, daß ich das nicht tun kann. Du redest Schwachsinn, Hure.« »Du wirst ganz rot im Gesicht«, sagte sie spöttisch. »Wo bleiben deine Liebe und dein Verständnis?« Hermann holte tief Luft und sagte: »Na schön. Nimm das Ding mit.« Er ging weiter. Chopilotl fragte: »Willst du mir nicht ziehen helfen?« Hermann hielt inne und wandte sich um. »Und dich bei deinem verwerflichen Tun auch noch unterstützen?« »Das hast du schon getan, als du sagtest, ich könne sie mitnehmen.« Dumm war sie nicht - ausgenommen in diesem einen Fall, und der basierte auf ihren Gefühlen. Lächelnd nahm er seinen Weg wieder auf. Als er das Floß erreicht hatte, erzählte er den anderen, was auf sie zukam. »Warum erlaubst du das, Bruder?« sagte Fleiskaz. Er war ein großer, rothaariger Mann, der früher ein primitives Germanisch gesprochen hatte. Diese Sprache war während des zweiten Jahrtausends vor Christus in Mitteleuropa verbreitet gewesen. Die Sprachen, die man im zwanzigsten Jahrhundert in Norwegen, Schweden, Dänemark, Island, Deutschland, Holland und England gesprochen hatte, stammten von ihr ab. Sein Spitzname war Wulfaz, der Wolf, gewesen, denn man hatte ihn zu seinen irdischen Lebzeiten als furchterregenden Krieger gekannt. Nach seinem Übertritt zur Kirche der Zweiten Chance hatte er sich jedoch wieder Fleiskaz genannt. Dieser Name bedeutete >FleischfetzenOhneland< trug, regierten das Gebiet, in dessen Boden sich der Schatz befand, gemeinsam. Man hatte dem Land bereits eine große Menge Metall entrissen, und überall sah es aus wie früher im Ruhrgebiet. Parolando bestand aus Stahlkochereien, Walzwerken und Salpetersäurefabriken. Man förderte Bauxit und Kryolith für die Herstellung von Aluminium, aber die Erze, aus denen man Aluminium machte, lagerten leider im Boden eines anderen Staates. Das führte natürlich zu Ärger. Der Staat Soul City lag etwa vierzig Kilometer unterhalb von Parolando. Dort gab es große Ablagerungen von Kryolith, Bauxit und Zinnober und kleinere 116
Platinvorkommen. Clemens und John brauchten diese Stoffe, aber Elwood Hacking und Milton Firebrass, die beiden Herrscher von Soul City, trieben die Preise ständig höher. Außerdem war offensichtlich, daß sie ihre Hände nur allzu gern selbst auf das Eisen und den Stahl des Meteoriten gelegt hätten. Hermann schenkte der lokalen Politik nur geringe Aufmerksamkeit. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die Leute mit der Lehre der Kirche der Zweiten Chance bekanntzumachen. Das zweite Ziel, das er sich später setzte, war der Baustopp des großen Schaufeldampfers. Clemens und John waren von dem Schiff geradezu besessen. Um es fertigzustellen, hatten sie es geschafft, Parolando in ein industrielles Ödland zu verwandeln. Das Land war bar jeglicher Vegetation. Nur die unverwundbaren Eisenbäume standen noch. Die Luft war verschmutzt und stank nach den Ausdünstungen der Fabriken. Und was noch schlimmer war, sie verschmutzten ihre Kas. Dies war etwas, das Hermann Göring nicht mitansehen konnte. Die Kirche vertrat den Standpunkt, daß die Menschheit nur deswegen wiedererweckt worden war, damit sie noch eine Chance hätte, ihr Ka zu retten. Man hatte ihr die Jugend und die Gesundheit wiedergegeben, damit sie sich auf die Erlangung dieses Heils konzentrieren konnte. Etwa eine Woche nach seiner Ankunft in Parolando hielten Hermann und einige andere Missionare ein großes Treffen ab. Es war am Abend, kurz nach Sonnenuntergang. Rund um eine von Fackeln erhellte Plattform hatte man Lagerfeuer angezündet. Hermann, der örtliche Bischof und ein Dutzend der etwas bekannteren Angehörigen ihrer Organisation hielten sich auf der Plattform auf. Sie waren umgeben von etwa dreitausend Menschen. Die wenigsten der Zuhörer gehörten der Kirche an; die Mehrheit war lediglich gekommen, um sich unterhalten zu lassen. Die Leute hatten nicht nur alkoholische Getränke mitgebracht, sondern gaben sich auch sonst alle Mühe, die Veranstaltung durcheinander zubringen. Nachdem eine Kapelle eine Hymne gespielt hatte, die Gerüchten zufolge von La Viro selbst komponiert worden war, sprach der Bischof ein kurzes Gebet. Dann stellte er den Anwesenden Hermann vor. Hie und da wurden Buhrufe laut, als sein Name fiel. Offenbar waren auch Leute anwesend, die ihn aus eigenen Lebzeiten kannten; möglicherweise aber hatten sie auch nur etwas gegen Chancisten. Hermann hob die Hände, bis die Menge schwieg. Dann sagte er auf Esperanto: »Brüder und Schwestern! Hört mich mit der gleichen Liebe an, mit der ich zu euch spreche. Der Hermann Göring, der vor euch steht, hat mit dem Menschen gleichen Namens, der einst auf der Erde lebte, nichts zu tun. Er verabscheut diesen Mann, dieses abscheuliche Wesen. Und so beweist die Tatsache, daß ich heute als wiedergeborener, neuer Mensch vor euch stehe, daß man das Böse besiegen kann. Ein Mensch kann 117
sich zum Guten hin verändern. Ich habe für meine Taten bezahlt. Ich habe in der einzigen Münze bezahlt, die überhaupt einen Wert besitzt. Ich habe mit Schuld, Scham und Selbsthaß bezahlt. Ich habe mit dem Schwur bezahlt, mein altes Ich zu töten, es zu begraben und ein neuer Mensch zu werden. Aber ich bin nicht hierher gekommen, um euch damit zu beeindrucken, welch elender Wicht ich einst gewesen bin. Ich bin hier, um euch von der Kirche der Zweiten Chance zu erzählen. Wie sie entstand, wie ihr Credo lautet, welche Ansichten sie vertritt. Nun, ich weiß, daß jene unter euch, die in jüdischen, christlichen und islamischen Ländern erzogen wurden, und jene Orientalen, die Christen oder Moslems nur als Invasoren kennen gelernt haben, jetzt erwarten, daß ich einen Glaubensappell an sie richte. Falsch! Beim Herrn, der unter uns weilt: So etwas werde ich nicht tun! Die Kirche will niemanden dazu bewegen, lediglich an etwas zu glauben. Die Kirche bringt euch keinen Glauben, sondern das Wissen. Keinen Glauben, ich wiederhole es: Das Wissen! Die Kirche verlangt von niemandem, an Dinge zu glauben, die sein sollten oder vielleicht eines Tages sein werden. Die Kirche verlangt, daß ihr den Tatsachen ins Auge seht und euch so benehmt wie sie es erfordern. Sie verlangt nichts anderes als an das Glaubwürdige zu glauben. Denkt darüber nach! Trotz aller Streitigkeiten sind wir alle auf der Erde geboren worden und dort gestorben. Ist jemand unter euch, der das abstreiten will? Nein? Dann denkt über dies nach: So sicher wie die Funken eines Feuers nach oben fliegen, wurde der Mensch mit Kummer und Sorgen geboren. Ist jemand unter euch, der sich an sein irdisches Dasein erinnert und das abstreiten möchte? Alle irdischen Religionen haben etwas versprochen, das sie nicht halten konnten. Es ist offensichtlich, daß wir uns hier weder in der Hölle noch im Himmel befinden. Wir durchleben auch keine Reinkarnationen, ausgenommen vielleicht in einem begrenzten Sinn, indem wir neue Körper und ein neues Leben erhalten, wenn wir sterben. Die erste Wiedererweckung war ein starker, beinahe niederschmetternder Schock. Niemand, ob er religiös, Agnostiker oder Atheist war, fand sich dort wieder, wo er sich nach Beendigung seiner irdischen Existenz wiederzufinden hoffte. Und doch sind wir hier, ob es euch gefällt oder nicht. Wir können von dieser Welt ebenso wenig entfliehen, wie wir von der Erde entfliehen konnten. Wenn einer von euch umgebracht wird oder sich selbst tötet, wird er am nächsten Tag wieder auferstehen. Kann das jemand abstreiten?« »Nein, aber ich kann nicht sagen, daß mir das gefällt!« rief ein Mann. Allgemeines Gelächter brandete auf. Hermann musterte den Zwischenrufer. Es war 118
Sam Clemens persönlich. Er stand inmitten einer Menschenmenge auf einem Stuhl und hatte die Arme über der Brust verschränkt. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich nicht unterbrechen würden, Bruder Clemens«, sagte Hermann. »Na schön. Bis jetzt haben wir nur über Fakten gesprochen. Ist jemand unter euch, der abstreiten kann, daß diese Welt nicht natürlichen Ursprungs ist? Ich meine damit nicht, daß dieser Planet, die Sonne und die Sterne künstlich sind. Gott hat diesen Planeten erschaffen. Aber der Fluß und das Tal sind nicht auf natürliche Weise geworden. Ebenso wenig war die Wiedererweckung ein übernatürliches Ereignis.« »Woher wissen Sie das?« rief eine Frau. »Das sind keine Fakten, jetzt versteigen Sie sich in pure Spekulation.« »Das ist nicht alles, wohin er sich versteigt!« rief ein Mann. Hermann wartete, bis das Gelächter sich wieder gelegt hatte. »Ich kann Ihnen beweisen, daß die Wiedererweckung nicht von Gott direkt vorgenommen wurde, Schwester. Es waren und sind Menschen wie wir, die dies bewerkstelligten. Sie sind vielleicht keine Erdbewohner, aber sie sind uns in puncto Weisheit und Wissenschaft zweifellos überlegen. Sie sind uns darüber hinaus ähnlich, denn es gibt Leute, die ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden haben!« Aufruhr. Nicht etwa, weil das für die Menge neu gewesen wäre, sondern weil die Ungläubigen endlich ihren Spaß haben wollten, um sich ihrer Anspannung zu entledigen. Hermann trank einen Schluck Wasser. Als er den Becher absetzte, war die Ruhe einigermaßen wieder zurückgekehrt. »Sowohl diese Welt als auch die Wiedererweckungen wurden von Händen bewerkstelligt, die - wenn sie schon nicht menschlich sind - den unseren zumindest äußerlich gleichen. Es gibt zwei Menschen, die das bezeugen können. Soweit ich weiß, sind sie nicht die einzigen. Einer dieser Männer ist ein Engländer namens Richard Francis Burton. Er war während seines irdischen Daseins kein Unbekannter. Im Gegenteil, er war sogar eine Berühmtheit. Er lebte 1821 bis 1900 und war Forscher, Entdeckungsreisender, Anthropologe, ein Neuerer, Schriftsteller und Sprachenexperte von außergewöhnlichem Talent. Vielleicht haben einige von euch schon von ihm gehört? Wenn ja, bitte ich um ein Handzeichen. Ah, das sind mindestens vierzig, und darunter befindet sich auch Samuel Clemens, euer Konsul.« Clemens schien das, was er zu hören bekam, nicht sonderlich zu mögen. Er machte ein finsteres Gesicht und kaute verbissen am Mundstück seiner Zigarre. Göring fuhr damit fort, seine Bekanntschaft mit Burton zu referieren und schmückte das, was Burton ihm erzählt hatte, ein wenig aus. Die Menge geriet ganz in seinen Bann; nirgendwo war ein Geräusch zu hören. Dies war etwas 119
Neues für sie; etwas, von dem die bisherigen Missionare der Chancisten nie zuvor gesprochen hatten. »Burton nannte dieses rätselhafte Wesen den Ethiker. Er sagte weiterhin, daß der Ethiker, mit dem er gesprochen hatte, eine andere Meinung verträte als seine Kollegen. Offenbar existiert sogar zwischen Wesen, die man für Götter halten könnte, so etwas wie Zwietracht. Ein Disput oder Uneinigkeit auf dem Olymp, wenn ich mal so sagen darf. Trotzdem glaube ich nicht, daß die sogenannten Ethiker Götter, Engel oder Dämonen sind. Sie sind menschliche Wesen wie wir, nur ihr ethisches Bewußtsein hat eine höhere Ebene erreicht. Den Grund ihrer Zwietracht kenne ich, offengestanden, nicht. Möglicherweise haben sie unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sie ihr Ziel erreichen wollen. Aber trotz allem - sie verfolgen in jedem Fall das gleiche Ziel! Daran gibt es nichts zu zweifeln. Und was ist ihr Ziel? Aber zunächst möchte ich euch von dem anderen Zeugen berichten. Um noch einmal ganz offen zu sein ...« »Ich dachte, du seist Hermann!« rief ein Mann dazwischen. »Von mir aus auch Meier«, sagte Göring, ohne eine Pause zu machen, um den Witz zu erklären. »Etwa ein Jahr nach dem Wiedererweckungstag saß dieser Zeuge in einer Hütte am Fuß eines steilen Berges, der sich in einem Land befindet, das von hier aus gesehen im hohen Norden liegt. Er hat einen Geburtsnamen und heißt Jacques Gillot, aber wir von der Kirche der Zweiten Chance nennen ihn meist La Viro. Das heißt >der MenschWer ist da?< >Niemand, den Sie kennenAber ebenso wenig jemand, der Ihnen Böses will. Sie werden den Speer nicht brauchen.< Dies verwunderte La Viro, denn die Tür und die Fenster waren verschlossen. Niemand konnte in die Hütte hineinsehen. Er öffnete die Tür. Ein Blitz, der hinter dem Fremden aufzuckte, zeigte ihm einen Mann mittlerer Größe, der mit einem Umhang und einer Kapuze bekleidet war. La Viro wich einen Schritt zurück. Der Fremde trat ein, und La Viro schloß die Tür. Der Mann warf seine Kapuze zurück. Nun zeigte das Feuer, daß er rotes Haar, blaue Augen und ansehnliche Gesichtszüge hatte. Unter seinem Umhang trug er einen enganliegenden Anzug aus silbrigem Material. An einer silbernen Kette, die seinen Hals umspannte, hing eine goldene Spirale. Schon die Kleidung des Fremden reichte aus, um La Viro klarzumachen, daß er keinen Flußtalbewohner vor sich hatte. Der Mann sah aus wie ein Engel, und 121
vielleicht war er das auch. Schließlich sagt die Bibel, daß Engel aussehen wie Menschen. Zumindest hatten die Priester es ihm so erzählt. Die Engel, die in den Tagen der Patriarchen die Töchter der Menschen besucht, Lot gerettet und mit Jakob gerungen hatten, waren alle für Menschen gehalten worden. Aber sowohl die Bibel als auch die Priester, die ihm daraus vorgelesen hatten, hatten sich in vielen Dingen geirrt. Als La Viro den Fremden betrachtete, erschauerte er vor Ehrfurcht. Gleichzeitig spürte er ein großes Glücksgefühl, und er fragte sich, warum ein Engel ausgerechnet ihm die Ehre eines Besuches angedeihen ließ. Schließlich wurde ihm klar, daß auch Satan und alle anderen Dämonen ehemals Engel gewesen waren. Zu welcher Gruppe gehörte sein Besucher? Vielleicht keiner von beiden? Aber trotz seiner geringen Bildung und dieser überraschenden Situation war La Viro keinesfalls ein Dummkopf. Er hatte das Gefühl, daß noch eine dritte Alternative existieren mußte. Nachdem er zu dieser Erkenntnis gelangt war, fühlte er sich zwar merklich besser, aber noch nicht völlig erleichtert. Der Fremde bat um einen Platz und setzte sich hin. La Viro zögerte zwar noch, aber dann nahm auch er auf einem Stuhl Platz. Eine Weile sahen die beiden einander an. Der Fremde faltete die Hände und runzelte die Stirn; er schien sich zu fragen, wie er am besten anfangen sollte. Das war seltsam, denn er wußte, was er wollte, und hätte an sich genug Zeit haben müssen, um sich auf diesen Besuch vorzubereiten. La Viro bot ihm ein alkoholisches Getränk an. Der Fremde sagte, er würde lieber Tee nehmen. La Viro beschäftigte sich zunächst damit, Teepulver ins Wasser zu schütten und es umzurühren. Der Fremde schwieg, dann dankte er La Viro für den Tee. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, sagte er: >Jacques Gillot, wenn ich dir erzählen würde, wer ich bin, wo ich herkomme und weswegen ich gekommen bin, würde ich die ganze Nacht benötigen. Das wenige, das ich dir sagen kann, ist jedoch die Wahrheit - und ich erzähle sie dir in einer Form, die du in diesem Stadium verstehen kannst. Ich gehöre einer Gruppe an, die diesen Planeten auf eure Wiedererweckung vorbereitet hat. Es gibt noch andere Planeten, auf denen weitere Erdenmenschen leben, aber damit wollen wir uns jetzt nicht beschäftigen. Einige davon werden gegenwärtig schon benutzt; andere noch nicht. Diese Welt ist für jene, die eine zweite Chance benötigen. Was hat das zu bedeuten? Was war die erste Chance? Du wirst inzwischen gemerkt haben, daß nicht nur deine Religion, sondern auch alle anderen irdischen Glaubensgemeinschaften keine Vorstellung davon hatten, wie das Leben nach dem Tode aussehen würde. Sie haben nur Vermutungen angestellt und sie als Glaubenswahrheiten ausgegeben. In einem gewissen Sinne waren einige Religionen der 122
Wahrheit jedoch recht nahe, wenn man bereit ist, ihre Offenbarungen symbolisch zu werten.< Und dann sagte der Besucher, daß er und seinesgleichen sich als >Ethiker< bezeichneten, obwohl sie natürlich auch über einen Eigennamen verfügten. Sie befanden sich auf einer höheren ethischen Ebene als die meisten Menschen. Achtet darauf, daß er die meisten sagte. Das bedeutet, daß sich auch unter uns Menschen befinden, die das gleiche Niveau erreicht haben wie die Ethiker. Der Besucher offenbarte La Viro, daß sein Volk keinesfalls die erste Generation der Ethiker repräsentiere. Die ersten Ethiker waren uralte Wesen, Nichtmenschen, und stammten von einem Planeten, der weit älter war als die Erde. Sie waren Individuen, die - statt sich ständig weiterzuentwickeln - selbst und mit Absicht ihre Entwicklung gebremst hatten. Als sie erkannten, daß es noch eine andere, ebenfalls nichtmenschliche Rasse gab, die in der Lage war, ihre Arbeit fortzusetzen, zeigten sie ihr, was sie zu tun hatte, und gaben ihr das Wissen weiter. Der Besucher bezeichnete diese Spezies als die >AltenSeele< bezeichneten. Die Definitionen der Seele waren jedoch immer ziemlich vage und abstrakt. Die Völker antiker und klassischer Epochen und deren ungebildete Vorfahren sahen in der Seele stets ein schattenähnliches Ding, eine geisterhafte Entität, die die Materie, der sie vor dem Tod zugehörig war, schwach reflektierte. 123
Später sahen gebildetere Völker in der Seele eine unsichtbare Entität, die aber auch mit dem Körper verbunden war. Man glaubte, daß sie sich nach dem Tod einen neuen Körper suchte und auf ewig unsterblich blieb. Einige orientalische Religionen stellten sie sich als etwas vor, das nach mehreren Säuberungen auf der Erde ein gutes Karma erlangt und zu einem Teil Gottes wird. All dies ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit; jeder sah nur einen Teil der absoluten Wahrheit. Aber diese philosophischen Untersuchungen sollen uns jetzt nicht kümmern. Was wir brauchen, sind Fakten. Und es ist ein Faktum, daß jede lebende Kreatur, und zwar von der einfachsten bis zur kompliziertesten, einen NichtmaterieZwilling hat. Auch eine Amöbe hat eine Seele, ein Bazillus. Aber ich will keine Verwirrung stiften, indem ich zu sehr in die Einzelheiten gehe. Jedenfalls nicht jetzt. Der Besucher sagte zu La Viro: >Nichtmaterie ist unzerstörbar. Das bedeutet, daß auch dein irdischer Körper einen unzerstörbaren Nichtmaterie-Zwilling besaß.< An dieser Stelle unterbrach La Viro, der bis jetzt schweigend zugehört hatte, den Fremden und fragte: >Wie viele Zwillinge hat eine lebende Kreatur? Ich meine, ein Mensch verändert schließlich seine Erscheinung. Er altert, verliert ein Auge oder ein Bein. Er leidet an einer kranken Leber. Ist dieses Nichtmaterie-Ding wie eine Serie von Fotografien, die man von einem Menschen macht? Wenn ja, wie oft wird er dann aufgenommen? In jeder Sekunde, einmal im Monat? Was geschieht mit den alten Aufnahmen dieser Nichtmaterie-Dinger?< Der Besucher lächelte und sagte: >Das, was du Nichtmaterie-Ding nennst, ist unzerstörbar. Aber es zeichnet alle Veränderungen auf, denen ein physischer Körper unterworfen ist.< >Und was passiert dann?< sagte La Viro. >Müßten dann nicht auch Nichtmaterie-Abbilder eines Körpers produziert werden, der schon verwest?< Wie ich bereits sagte«, fuhr Göring fort, »war La Viro zwar ein ungebildeter Mann und hatte nie eine Stadt gesehen, aber er war nicht dumm. >NeinAber vergiß für einen Augenblick jegliche Materie und Nichtmaterie - außer jener, aus der der Mensch besteht. Alles andere ist für unsere Zwecke unwichtig. Zuerst aber wollen wir jener Entität, die wir Seele nennen, einen anderen Namen geben. Der Ausdruck >Seele< hat für Menschen zu viele unzutreffende Bedeutungen, zu viele verbale Reflexionen und ist mit zu vielen sich widersprechenden Definitionen belegt. Man braucht das Wort >Seele< nur auszusprechen, und die Ungläubigen werden für alles, was danach folgt, automatisch taub werden. Jene, die an die Existenz einer Seele glauben, werden einem nur noch durch die Schablone zuhören, die man ihnen schon auf der Erde verpaßt hat. Wir wollen diesen NichtmaterieZwilling, das ... äh ... das Ka nennen. Das ist ein altägyptisches Wort für eine 124
der verschiedenen Seelen, die man dort kennt. Außer für Ägypter wird dieses Wort für niemanden eine besondere Bedeutung haben. Die Ägypter selbst können sich daran anpassen.< Womit wir erfahren«, sagte Göring, »daß der Besucher etwas von irdischer Geschichte verstand. Außerdem sprach er Frankokanadisch, was bedeutet, daß er gewisse Vorbereitungen getroffen hatte, um dieses Gespräch zu führen. Ebenso wie der Ethiker, der Burton aufsuchte, Englisch sprach. >Wir haben also das KaSoweit wir wissen, formt es sich im Augenblick der Empfängnis, der Vereinigung von Spermium und Ei. Das Ka verändert sich in Übereinstimmung mit der Veränderung des Körpers. Der Unterschied im Körper und dem Ka im Augenblick des Todes ist folgender: Zu Lebzeiten erzeugt der Körper eine Aura, die das nackte Auge - außer in einigen wenigen Fällen - nicht sehen kann und die über dem Kopf der betreffenden Person schwebt. Mann kann sie mit Hilfe eines Geräts sichtbar machen. Wenn man sie durch diese Apparatur betrachtet, sieht die Aura aus wie ein bunter Globus, der sich um seine eigene Achse dreht, sich aufbläht und zusammenzieht, die Farben wechselt und Fühler ausstreckt und wieder einzieht. Sie bietet einen Anblick bestechender Schönheit, den man einfach sehen muß, um ihn begreifen zu können. Wir nennen sie das Wathan. Wenn ein Lebewesen stirbt, verliert es sein Wathan oder Ka in dem Augenblick, wo es unmöglich wird, seinen Körper wiederzubeleben. Wo geht das Ka dann hin? Wenn man es durch das besagte Gerät, das wir >Kaskop< nennen wollen, betrachtet, kann man sehen, daß es - wie von einem unbekannten, ätherischen Wind getragen - davonschwebt. Manchmal bleibt es auch noch eine Weile zurück; warum, vermögen wir nicht zu sagen. Aber schließlich reißt es sich dann los und schwebt davon. Obwohl viele dieser Kas das Universum bevölkern, werden sie niemals zahlreich genug werden, um den gesamten Raum auszufüllen. Sie überlappen sich und durchdringen einander. Eine unbegrenzte Anzahl von Wathans kann gleichzeitig am gleichen Ort sein. Wir nehmen an, daß das Ka das Unterbewußtsein darstellt, gleichzeitig aber auch die Intelligenz und das Erinnerungsvermögen des Verstorbenen enthält. Das Ka wandert durch die Ewigkeit und Unendlichkeit wie ein Schiff, das die geistige Kraft eines lebenden Wesens an Bord hat. Wie eine eingefrorene Seele, wenn man so will. Wird der Körper eines Toten dupliziert, nimmt das Ka ihn wieder an. Egal wie weit es von diesem Körper entfernt sein mag: Beim ersten Lebenszeichen, das der duplizierte Körper von sich gibt, kehrt es blitzartig in ihn zurück. Das Ka und der Körper teilen eine Affinität, die keine Grenzen kennt, aber wenn es zur Wiedervereinigung kommt, hat das Ka keine Erinnerung mehr an das, was 125
zwischen dem Tod des ersten und dem Erwachen des zweiten Körpers geschehen ist. Es heißt allerdings, es sei nicht unmöglich, daß das Ka sich seiner Existenz während des körperlosen Daseins bewußt ist. Diese Theorie bezieht sich, glaube ich, auf die Erfahrungen einiger Menschen aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Soweit ich mich erinnere, gab es damals eine Dokumentation verschiedener Männer und Frauen, die bereits tot waren und dann wieder ins Leben zurückgeholt werden konnten. Sie sagten aus, daß sie nach dem Ableben ihre Körper verlassen und ihre weinenden Verwandten gesehen hätten. Und dann wurden sie wieder eins mit sich selbst und lebten weiter. Aber ob das Ka sich nun während dieser Phase seines Daseins bewußt ist oder nicht, soll jetzt nicht unser Thema sein. Beschäftigen wir uns nur mit seinen Inkarnationen, den fleischlichen Stadien.< La Viro war gelähmt und ekstatisch zugleich. Er unterbrach den Fremden erneut; als sei es die Funktion eines Menschen, ein eingebauter Reflex, den anderen nicht ausreden zu lassen.« Göring machte eine Pause und sagte: »Was ich selbst nur allzu gut weiß.« Einige der Zuhörer lachten. »>Verzeihungaber wie dupliziert man einen Körper?< Er sah an sich hinab und fragte sich, wie aus dem Staub, zu dem er schließlich zerfallen war, erneut ein fester Körper entstanden sein konnte. >Wir besitzen Apparaturendie jedes Ka überwachen und aufspüren und die Beschaffenheit und den Aufenthaltsort eines jeden Nichtmaterie-Moleküls bestimmen können. Der Rest ist dann nur noch eine Frage der Energie-Materie-Umwandlung.< >Kann man ein Ka jedem beliebigen Stadium anpassen?< fragte La Viro. >Ich meine, was ist, wenn ein Mensch im Alter von achtzig Jahren stirbt? Könnte man sein Ka dann so auf ihn abstimmen, daß es dem eines Zwanzigjährigen entspricht?< >Nein. Das Ka des Achtzigjährigen wäre dann das einzige, das existiert. Während einer Phase der Bewußtlosigkeit versetzt man den neugeschaffenen Körper anhand von Aufzeichnungen in den Zustand eines Zwanzigjährigen. Dabei werden gleichzeitig alle Behinderungen korrigiert. Man macht eine Aufzeichnung des betreffenden Körpers, die dann vernichtet wird. Als die erste Wiedererweckung auf diesem Planeten stattfand, geschah dies aufgrund einer erneuten Energie-Materie-Umwandlung. Alle Körper sind während dieses Prozesses bewußtlos.< >Was wäre, wenn man zwei Duplikate ein und derselben Person anfertigte?< fragte La Viro. >Und zwar zur gleichen Zeit? In welches würde das Ka dann zurückkehren?< 126
>Sehr wahrscheinlich in das Duplikat, das als erstes wieder zum Leben erweckt wirdSelbst wenn man so synchron wie nur möglich vorginge - ein Unterschied von einer Mikrosekunde würde immer noch da sein. Unsere Maschinen sind nicht so perfekt, daß sie zwei Duplikate gleichzeitig herstellen könnten. Aber abgesehen davon käme auch niemand auf die Idee, ein solches Experiment durchzuführen. Es wäre schlecht. Und unethisch.< >Jaaber was wäre, wenn man es trotzdem täte?< >Ich nehme an, daß der Körper, der über kein Ka verfügt, ein eigenes entwickeln würde. Und obwohl er anfangs nichts anderes als ein Duplikat des ersten wäre, würde er bald eine andere Persönlichkeit entwickeln. Da er möglicherweise in einer anderen Umgebung lebt und andere Erinnerungen macht, würde er sich vom ersten stark unterscheiden. Obwohl er ihm noch immer ähnlich sehen würde, würde er einen völlig anderen Charakter entwickeln. Aber wir geraten zu tief in die Details. Das Wichtigste ist folgendes: Die meisten entkörperten Kas erlangen das Bewußtsein nie wieder. Zumindest hoffen wir das. Es wäre die Hölle, in einem immateriellen Körper gefangen zu sein, ihn nicht kontrollieren und keinen Kontakt mit anderen aufnehmen zu können - obwohl man sich allem bewußt ist. Wüßten sie von ihrem Dasein, müßten sie dem Wahnsinn verfallen. Eine solche Existenz ist zu schrecklich, als daß man sie ertragen kann. Auf jeden Fall erinnert sich niemand, der wiedererweckt wurde, an die Zeit zwischen seinem Tod und dem Beginn seines zweiten Lebens.< Und so«, sagte Göring, »erfuhr La Viro, daß nur ein verschwindend geringer Teil derjenigen, die auf der Erde gestorben waren, nicht zum wandernden Schwarm der Kas gehörten. Ein paar von ihnen waren erloschen, verschwunden. Der Besucher wußte weder warum, noch wohin sie entschwunden waren. Die Alten hatten den Ethikern erzählt, daß diese wenigen weiterexistierten. Sie hatten sich mit dem Schöpfer vereint oder waren zumindest auf dem Weg zu ihm. Dann sagte der Besucher, er bemerke, daß La Viro noch viele Fragen auf dem Herzen habe. Einige davon wolle er beantworten, aber sie müßten sich auf das Wichtigste ihres Gesprächsthemas beziehen. Woher wußten die Ethiker, daß einige wenige Kas sich nicht bei den anderen befanden? Wie war es möglich, jedes einzelne der vielen Milliarden Kas zu nummerieren und im Auge zu behalten? >Dazu mußt du dir die großen Kräfte unserer Wissenschaft und Technologie verdeutlichenSogar die Kräfte, die diese Welt erschaffen und euch ins Leben zurückgerufen haben, übersteigen schon deine Vorstellungskraft. Aber das, was ihr hier erlebt, ist nur ein Bruchteil dessen, was wir zu tun vermögen. Ich sage dir, daß wir jedes Ka gezählt haben, das auf der Erde entstand. Es kostete uns über hundert Jahre, aber wir schafften es. 127
Du siehst also, daß all das, was ihr bisher für übernatürlich gehalten habt, nichts anderes war als Wissenschaft. Der menschliche Geist vermag Dinge zu tun, die der Schöpfer selbst nicht zu tun beabsichtigt, weil er weiß, daß vernunftbegabte Lebewesen sie ohnehin tun werden. Es ist sogar möglich, daß die Vernunft das Ka Gottes darstellt. Gestatte mir, daß ich ein wenig abschweife, ohne dabei jedoch irrelevant zu werden. Ich nehme an, daß du mich, wenn schon nicht für Gott selbst, so doch zumindest für einen seiner Verwandten hältst. Ich höre, wie schwer du atmest, ich rieche in deinem Schweiß die Angst und sehe in deinem Gesicht die Ehrfurcht. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Es stimmt zwar, daß ich ethisch weiter entwickelt bin als du, aber das heißt nicht, daß ich stolz darauf wäre. Du könntest mit mir gleichziehen. Du könntest dich vielleicht sogar weiterentwickeln und mich hinter dir lassen. Allein meine Fingerspitzen sind mit Kräften ausgestattet, die die Wissenschaft deiner Zeit wie die eines Affenvolkes dastehen lassen könnte, aber ich bin nicht intelligenter als die meisten intelligenten Menschen unter den Flußtalbewohnern. Mir unterlaufen Irrtümer, und ich mache Fehler. Des weiteren solltest du folgendes behalten: Wenn - oder falls - du hinausgehst, um zu predigen, denke immer daran: Wer einen Berg besteigt, kann abrutschen. Mit anderen Worten: Hüte dich vor Regressionen. Du kennst das Wort nicht? Dann hüte dich vor dem Abrutschen. Erst wenn das Ka sich für immer befreit hat, ist es vor Regressionen sicher. Wer in einem fleischlichen Körper lebt, lebt in Gefahr. Dieser Ratschlag gilt ebenso für dich wie für mich.< An dieser Stelle streckte La Viro seinen Arm nach dem Besucher aus. Er verspürte das Bedürfnis, den Mann zu berühren, um sicher zu gehen, daß er tatsächlich aus Fleisch und Blut bestand. Der Besucher zuckte jedoch zurück und rief: >Tu das nicht!< La Viro zog die Hand zurück, aber man konnte ihm ansehen, daß seine Gefühle verletzt waren. Sein Besucher sagte: >Es tut mir leid. Es tut mir sogar mehr leid, als du dir vorstellen kannst, aber bitte, berühre mich nicht! Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wenn du den Punkt erreicht hast, an dem es mir vergönnt ist, dich zu umarmen, wirst du es verstehen!< Und so, meine Brüder und Schwestern«, sagte Göring, »kam der Besucher darauf zu sprechen, daß La Viro eine neue Religion begründen solle. Der Name unserer Organisation fiel La Viro selbst ein. Der Besucher zwang ihn zu nichts. Er bat ihn lediglich darum, diesen Schritt zu tun. Er schien ihn gut gekannt zu haben, da La Viro sich mit allem einverstanden erklärte, worum der Fremde ihn bat. Die Lehren der Kirche der Zweiten Chance und die Techniken, die man anwenden muß, um sie mit Leben zu erfüllen, sind jedoch nicht das Thema des 128
heutigen Abends. Es würde zu lange dauern, sie jetzt auseinander zulegen und zu diskutieren. Heben wir sie uns also für die morgige Versammlung auf. Zu guter Letzt fragte La Viro den Ethiker, warum er ausgerechnet ihn dazu ausersehen habe, zum Begründer einer neuen Religion zu werden. >Ich bin nicht mehr als ein unwissender Mischlingder in den dichten Wäldern Kanadas aufgewachsen ist. Mein Vater war ein weißer Fallensteller, meine Mutter eine Indianerin. Die Briten, die unser Land regierten, sahen stets auf sie herab, und meine Mutter galt in ihrem Stamm beinahe als Ausgestoßene, weil sie einen Weißen geheiratet hatte. Die Engländer, für die mein Vater arbeitete, verhöhnten ihn als Squawmann und nannten ihn einen dreckigen Franzosen. Als ich vierzehn wurde - ich war für mein Alter ziemlich groß -, arbeitete ich in einem Holzfällerlager. Mit zwanzig zog ich mir durch einen Unfall eine Lähmung zu, weswegen ich den Rest meiner Tage damit verbrachte, für die Holzfäller zu kochen. Meine Frau - auch sie war eine Halbindianerin - trug etwas zu unserem Einkommen bei, indem sie für andere Leute Wäsche wusch. Wir hatten sieben Kinder; vier davon starben früh, und die anderen schämten sich ihrer Eltern. Trotzdem opferten wir uns für sie auf, liebten sie und zogen sie groß. Meine beiden Söhne gingen nach Montreal, um dort zu arbeiten. Sie fielen in Frankreich, wo sie für die Engländer kämpften, die sie verachteten. Meine Tochter wurde zur Hure und starb an irgendeiner Krankheit - jedenfalls hat man mir das erzählt. Meine Frau starb an gebrochenem Herzen. Ich erzähle das nicht, weil ich damit um Nachsicht betteln will. Ich möchte nur, daß man weiß, wer und was ich bin. Wie kannst du mich darum bitten, hinauszugehen und zu predigen, wenn ich nicht einmal dazu in der Lage war, meine eigenen Kinder von meinem Glauben zu überzeugen? Als meine Frau starb, habe ich Gott verflucht. Wie kann ich hinausgehen und zu Menschen sprechen, die Gelehrte, Staatsmänner und Priester gewesen sind?< Der Besucher lächelte und sagte: >Dein Wathan sagt mir, daß du das kannst.< Er stand auf, löste die Silberkordel von seinem Hals und hängte sie La Viro um. Nun lag die goldene Spirale auf La Viros Brust. >Dies gehört nun dir, Jacques Gillot. Entehre es nicht. Leb wohl. Vielleicht werden wir uns auf dieser Welt einmal wiedersehen.< >Nein, warteIch habe noch so viele Fragen!< >Du weißt genugGott segne dich.< Und er ging. Immer noch erzeugten Regen, Donner und Blitze einen starken Tumult. Kurz darauf ging auch Gillot hinaus. Der Besucher war nirgendwo zu erblicken, und nachdem La Viro mit den Augen den stürmischen Himmel abgesucht hatte, kehrte er in seine Hütte zurück. Dort blieb er sitzen, bis der Morgen graute und das Donnern der Gralsteine erklang. Schließlich begab er sich auf die Ebene hinaus und erzählte seine Geschichte. Wie er erwartet hatte, hielten 129
seine Zuhörer ihn für einen Verrückten. Aber bald versammelten sich die ersten um ihn, die seinen Worten Glauben schenkten.«
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ABSCHNITT 8 Die legendären Schiffe erreichen Virolando 21 Vor über dreiunddreißig Jahren war er in Virolando angekommen. Er hatte die Absicht gehabt, nur so lange hier zubleiben, wie er - vorausgesetzt, man gab ihm dazu Gelegenheit - benötigte, um ein paar Gespräche mit La Viro zu führen. Anschließend wollte er dorthin gehen, wohin die Kirche ihn schicken würde. Aber La Viro hatte ihn gebeten, sich hier niederzulassen, und die Frage, warum oder wie lange er würde bleiben können, hatte sich nicht gestellt. Ein Jahr später hatte Göring den Namen Fenikso - das war Esperanto für Phönix - angenommen. Es waren die glücklichsten Jahre seines Lebens gewesen und es gab keinen Grund zu der Annahme, daß sie in Bälde enden würden. Obwohl dieser Tag sich von den vorhergehenden kaum unterscheiden würde, erfreute er sich an ihm und den kleinen Abweichungen, die ihm erst die richtige Würze gaben. Nach dem Frühstück stieg er zu einem großen Gebäude hinauf, das man auf der Spitze einer Felsnadel am linken Ufer errichtet hatte. Dort unterrichtete er die Angehörigen seines Seminars, bis sich der Mittag ankündigte. Er begab sich flink wieder auf den Boden hinab und traf Kren an einem Gralstein. Anschließend erkletterten sie eine andere Felsnadel und schnallten sich an den Hängegleitern fest, mit denen sie zweihundert Meter über dem Boden dahinschwebten. Der Himmel über Virolando war vom Leuchten Abertausender Gleiter erfüllt, die hin und her jagten, Schleifen zogen, in die Tiefe rasten, sich wieder emporschwangen, einander umkreisten und tanzten. Hermann fühlte sich wie ein Vogel - nein, wie ein freier Geist. Es war die Illusion der Freiheit, denn jegliche Freiheit war Illusion, aber diese war immerhin die beste. Sein Gleiter war flammendrot und hatte die gleiche Farbe wie das Geschwader, das er nach Manfred von Richthofens Tod angeführt hatte. Scharlach war auch das Symbol für das Blut der kirchlichen Märtyrer. Es befanden sich viele Gleiter dieser Farbe in den Lüften; man konnte sie zwischen den weißen, schwarzen, gelben, orangenen, grünen, blauen und purpurnen deutlich ausmachen. Zum Glück war dieses Land mit genügend Roteisensteinen und anderen Erzen gesegnet, aus denen man Farben herstellen konnte. Es verfügte noch über viele andere gute Dinge. Hermann jagte über und unter den mit Häusern überbauten Brücken dahin und flog von einer Felsnadel zur anderen. Er schwebte eng an den hölzernen 131
und steinernen Säulen dahin und kam ihnen manchmal recht nahe. Es war eine Sünde, sein Leben aufs Spiel zu setzen, aber er konnte einfach nicht widerstehen. Der Höhenrausch, den er bereits von der Erde her kannte, ließ ihn auch hier nicht los, nur war das Gefühl der Ekstase jetzt doppelt so stark. Kein Motor brüllte ihm in die Ohren, kein Ölgeruch drang in seine Nase. Das Gefühl des Eingeschlossenseins existierte nicht. Manchmal segelte er an einem Ballon vorbei und winkte den Leuten in den darunterhängenden Körben aus Flechtwerk zu. In seiner Freizeit hatte er mit Kren ebenfalls Ballonflüge gemacht. Sie ließen sich manchmal bis in eine Höhe von tausend Metern hinauftragen und sich vom Wind durch das Tal treiben. Wenn er genügend Zeit hatte, schwebten sie den ganzen Tag so herum, unterhielten sich, aßen und liebten sich sogar in dem beengten Korb, während der Wind sie lautlos dahintrug. Wenn sie gegen Sonnenuntergang den Wasserstoff abließen, landeten sie an einem der Ufer, verstauten die zusammengesunkene Ballonhülle im Inneren des Korbes und fuhren am nächsten Tag mit einem Boot flußaufwärts. Eine halbe Stunde später zog Hermann über dem Fluß eine Schleife, wendete und landete auf dem Uferstreifen. Zur gleichen Zeit wie einige hundert andere zerlegte er seinen Gleiter in seine Bestandteile und ging dann, ein beachtliches Bündel auf dem Rücken tragend, auf die Felsnadel zu, von der er abgesprungen war. Ein Kurier mit einem rotgelben Blütenkranz hielt ihn an. »La Viro möchte dich sehen, Bruder Fenikso.« »Ich danke dir«, sagte Hermann, der gleichzeitig von einem leichten Schock ergriffen wurde. Hatte der Oberste Bischof entschieden, daß nun die Zeit gekommen war, ihn wieder in die Welt hinauszuschicken? La Viro erwartete ihn im Innern des rotschwarzen Steintempels in seinem Privatquartier. Hermann wurde durch mehrere hohe Räume in eine kleine Kammer geleitet, dann schloß sich hinter ihm eine Eichentür. Das Zimmer, in dem er sich befand, war einfach möbliert. Er sah einen großen Tisch, mehrere wuchtige Sessel aus Fischleder, ein paar kleinere Sitzgelegenheiten aus Bambus, zwei Feldbetten; einen kleinen Tisch, auf dem verschiedene Wasser- und Alkoholkrüge, Tassen, Zigarrenschachteln, Zigaretten, Feuerzeuge und Streichhölzer verstreut waren; einen Nachttopf, zwei Gralzylinder; an den Wänden befestigte Holzschienen, an denen Gardinen hingen; ein vor der Wand stehendes Tischchen, über dem ein Spiegel aus Glimmerschiefer hing; und ein weiteres Tischchen, auf dem Lippenstifte, kleine Scheren und Kämme lagen, mit denen die Gräle sie hin und wieder versorgten. Auf dem Boden lagen mehrere Matten aus Bambusfasern und eine sternenförmige Fischhaut. Vier Fackeln, deren Enden in Wandhaltern steckten, spendeten Licht. Die Privattür, die 132
ins Freie führte, war geöffnet und ließ Luft und Sonnenschein herein. Die Luftlöcher in der Zimmerdecke versorgten den Raum mit zusätzlicher Ventilation. Als Hermann eintrat, stand La Viro auf. Er war groß, maß mehr als einen Meter achtzig und war ziemlich dunkelhäutig. Seine Nase glich dem Schnabel eines gewaltigen Adlers. »Willkommen, Fenikso«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Nimm Platz! Möchtest du einen Schluck trinken - oder eine Zigarre?« »Nein, Jacques, vielen Dank«, sagte Hermann. Er setzte sich auf den angebotenen Stuhl. Der Oberste Bischof nahm wieder Platz. »Du hast doch sicher auch von diesem großen Eisenschiff gehört, das den Fluß heraufkommt? Die Trommeln sagen, es sei noch etwa achthundert Kilometer von unserer südlichen Grenze entfernt. Das bedeutet, daß es unser Gebiet in etwa zwei Tagen erreichen wird. Du hast mir alles erzählt, was du über diesen Clemens und seinen Partner John Lackland weißt. Natürlich konntest du nicht wissen, was nach deinem Tod passierte, aber allem Anschein nach ist es den beiden gelungen, sich ihrer Gegner zu entledigen und das Schiff doch noch fertigzustellen. Sie werden bald unser Territorium durchqueren. Nach dem, was ich gehört habe, sind sie jedoch nicht kriegslüstern, also besteht kein Grund zur Furcht. Immerhin sind sie auf die Kooperationsbereitschaft derjenigen, denen die Gralsteine gehören, angewiesen. Sie haben zwar die Macht, sich zu nehmen, was sie benötigen, aber sie tun das offenbar nicht, wenn man sie nicht dazu zwingt. Was das Benehmen der Schiffsbesatzung angeht, habe ich allerdings ein paar beunruhigende Berichte gehört. Wenn das Schiff anhält, um den Leuten - wie heißt es doch gleich? - Landurlaub zu geben, kommt es hin und wieder zu häßlichen Zwischenfällen, die hauptsächlich mit Trunkenheit und Frauen zu tun haben.« »Entschuldige, Jacques, aber das klingt gar nicht nach dem Menschentyp, mit denen ein Clemens sich umgeben würde. Sicher, er war ein Besessener und hat manche Dinge getan, um sein Schiff fertigzustellen, die er besser unterlassen hätte, aber er gehört - oder gehörte - nicht zu den Menschen, denen man ein solches Benehmen nachsagen kann.« »Wer weiß, in welche Richtung er sich nach all den Jahren entwickelt hat? Der Name seines Schiffes ist zum Beispiel ein ganz anderer als der, den du mir nanntest. Statt Nicht vermietbar heißt es Rex Grandissimus.« »Das ist seltsam. Das hört sich eher nach einem Namen an, wie ihn König John auswählen würde.« »Nach allem, was du mir über diesen John erzählt hast, ist es vielleicht möglich, daß er Clemens umgebracht und das Schiff übernommen hat. Aber wie immer die Wahrheit auch aussehen mag, ich möchte, daß du das Schiff an der Grenze empfängst.« »Ich?« 133
»Du kennst die Leute, die das Schiff gebaut haben. Ich möchte, daß du zu ihnen an Bord gehst. Du mußt herausfinden, in welcher Situation sie sich befinden und welcher Art ihre Charaktere sind. Außerdem mußt du abschätzen, wie groß ihre militärische Stärke ist.« Hermann machte ein überraschtes Gesicht. »Du hast mir von der Geschichte berichtet, die dieser riesige, langnasige Mann - Joe Miller? - Clemens erzählte, und die Clemens dann weiterverarbeitete. Wenn sie stimmt und sich in der Mitte des Polarsees wirklich ein großer Turm befindet, werden diese Leute nicht zögern, in ihn einzudringen. Ich halte ihr Vorhaben für verwerflich.« »Für verwerflich?« »Ja, und zwar deswegen, weil der Turm ganz offensichtlich ein Werk der Ethiker ist. Die Leute von diesem Schiff wollen in ihn eindringen, seine Geheimnisse entdecken und die Ethiker vielleicht sogar gefangen nehmen oder töten.« »Das kannst du nicht wissen«, sagte Hermann. »Es ist aber vernünftig, damit zu rechnen.« »Ich habe Clemens niemals sagen hören, daß er irgendwelche Macht ausüben will. Er wollte lediglich zu den Quellen des Flusses vorstoßen.« »Was er in der Öffentlichkeit und im privaten Kreis sagt, können durchaus zwei verschiedene Dinge sein.« »Also wirklich, Jacques«, sagte Hermann, »was geht es uns an, was sie tun selbst dann, wenn sie tatsächlich die Absicht haben, sich dem Turm zu nähern? Du glaubst doch nicht etwa, daß ihre unbedeutenden Maschinchen und Waffen den Ethikern etwas antun könnten? Im Vergleich mit ihnen sind Menschen doch nichts anderes als Würmchen. Und außerdem: Was könnten wir gegen sie ausrichten? Wir dürften nicht einmal Gewalt anwenden, um sie anzuhalten.« Der Bischof beugte sich vor, und seine großen, gebräunten Hände packten die Schreibtischkante. Er starrte Hermann an, als wollte er ihn sezieren, ihn Schicht für Schicht freilegen, um in sein Innerstes hineinzusehen. »Irgend etwas stimmt nicht mehr mit dieser Welt! Zuerst haben die Wiedererweckungen aufgehört. Das war offenbar kurz nach deinem letzten Ableben. Erinnerst du dich daran, wie verwundert die Menschen darauf reagierten?« Hermann nickte und sagte: »Ich hatte selbst fürchterliche Angst. Ich war verzweifelt und reagierte mit panischer Angst. Ich wäre beinahe von meinem Glauben abgefallen.« »Mir erging es nicht anders. Aber als Erzbischof mußte ich meine Herde beruhigen, obwohl ich über keine Fakten verfügte, die ich zur Basis einer neuen Hoffnung hätte machen können. Es war nicht auszuschließen, daß die Zeit, die man uns zugestanden hatte, abgelaufen war; daß alle, die sich bewährt hatten, 134
nun einen Schritt vorwärts machten, während die anderen starben, und ihre Käs auf ewig durch das Universum trieben. Aber daran glaubte ich nicht, denn mir war klar, daß ich selbst für diesen Schritt noch nicht reif genug war. Ich werde noch einen weiten Weg gehen müssen, bis ich dazu bereit bin. Denn hätte der Ethiker mich zum Begründer einer neuen Kirche gemacht, wenn ich nicht selbst ein aussichtsreicher Kandidat für diesen Schritt zum Höheren hin gewesen wäre? Oder hatte ich etwa - und du kannst dir den Schmerz, den ich bei diesem Gedanken empfand, sicher vorstellen - versagt? War ich dazu ausersehen, den anderen den Weg zum Heil zu zeigen und selbst hinter ihnen zurückzubleiben? Wie Moses, der seinem Volk den Weg ins Gelobte Land wies und es selber nicht betreten durfte?« »Oh, nein!« rief Hermann aus. »Das hätte nicht sein können!« »Es hätte sein können«, sagte La Viro. »Denn ich bin nur ein Mensch, kein Gott. Eine Weile faßte ich sogar den Gedanken eines Rücktritts ins Auge. Vielleicht hatte ich die Weiterentwicklung meines eigenen ethischen Fortschritts dadurch vernachlässigt, daß ich mich nur noch um die Kirche kümmerte? Ich war überheblich geworden; irgendwie hatte die Machtfülle, die ich besaß, mich auf unterschwellige Art korrumpiert. Ich hatte vor, die Bischöfe einen anderen Führer wählen zu lassen. Ich wollte meinen Namen ändern und als Missionar flußabwärts gehen. Nein, erspare dir deinen Protest. Ich habe wirklich ernsthaft darüber nachgedacht. Aber dann sagte ich mir, daß ich damit das Vertrauen enttäuschen würde, das die Ethiker in mich gesetzt hatten. Und vielleicht gab es sogar noch eine andere Erklärung für dieses schreckliche Ereignis. Außerdem mußte ich zunächst eine öffentliche Erklärung abgeben. Du kennst sie, denn du gehörtest zu den ersten, die sie hörten.« Hermann nickte. Auch er war unter denen gewesen, die La Viros Botschaft dreitausend Kilometer von Virolando entfernt verbreitet hatten. Er war länger als ein Jahr von seinem geliebten Land getrennt, aber dennoch glücklich gewesen, für La Viro und die Kirche arbeiten zu können. Die Botschaft hatte folgenden Wortlaut gehabt: Habt keine Angst! Glaubt! Das Ende ist noch nicht gekommen, die Zeit der Prüfung noch nicht vorbei. Wir durchleben ein Zwischenstadium, das nicht ewig dauern wird. Eines Tages werden die Toten wiederauferstehen. So ist es versprochen. Die, die diese Welt bauten und euch die Möglichkeit gaben, unsterblich zu werden, haben euch nicht verlassen. Das Zwischenstadium ist eine Prüfung. Habt keine Angst! Glaubt! Viele hatten Hermann nach dem Grund dieser >Prüfung< gefragt. Er hatte nur antworten können, daß er darüber selbst nichts wisse. Vielleicht hatte La Viro 135
den Grund von den Ethikern erfahren. Vielleicht würde die Offenlegung der Gründe die Prüfung null und nichtig machen. Manche hatten diese Erklärung nicht akzeptiert, sich von der Kirche abgewandt und sie verlassen. Die Wahrheit war jedoch geblieben. Überraschenderweise waren viele Menschen zu ihr übergetreten, weil sie von der Angst geleitet wurden, daß es wirklich eine zweite Chance gab, die Unsterblichkeit zu erlangen. Sie wollten sie nutzen, jetzt, wo die Zeit knapp wurde. Das war natürlich kein auf Vernunft basierendes Verhalten, denn schließlich hatte La Viro prophezeit, daß die Wiedererweckungen bald wieder stattfinden würden - aber die Menschen wollten offenbar nun nichts mehr dem Zufall überlassen. Obwohl die Angst allein auf lange Sicht niemanden zu einem wirklich Gläubigen machte, rief sie einen Schritt in die beabsichtigte Richtung hervor. Vielleicht würde der echte Glaube folgen. »Die einzige Behauptung in meiner Botschaft, die nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprach«, sagte La Viro, »war die, daß dieses Zwischenstadium eine Prüfung sei. Ich hatte keinen direkten Hinweis, das heißt keine direkte Aussage meines Besuchers, daß dies den Tatsachen entsprach. Dennoch war meine Behauptung nicht direkt eine religiöse Lüge. Das Ausbleiben der Wiedererweckungen ist wirklich eine Prüfung. Eine Prüfung unseres Mutes und unseres Glaubens. Es führt jeden einzelnen von uns in Versuchung. Damals glaubte ich, daß die Ethiker einen guten Grund hätten, mit den Wiedererweckungen aufzuhören, und es ist durchaus möglich, daß dies wirklich so ist. Aber mein Besucher erzählte mir, daß er und seine Kollegen trotz der ihnen zur Verfügung stehenden Superkräfte ebenso menschlich sind wie wir. Sie können Irrtümer begehen und Fehler machen. Das bedeutet, daß sie nicht unangreifbar sind. Auch ihnen können Pannen passieren und Unfälle zustoßen. Feinde könnten ihnen etwas antun.« Hermann richtete sich starr auf. »Welche Feinde?« »Ich kenne ihre Identität nicht - falls es überhaupt welche gibt. Aber bedenke dies: Dieser Untermensch - nein, ich will ihn nicht so nennen, da er trotz seiner seltsamen Erscheinung ein Mensch ist -, dieser Riese namens Joe Miller und die Ägypter erreichten allen Widrigkeiten zum Trotz den Turm schließlich doch. Sie fanden heraus, daß vor ihnen schon andere dort gewesen waren. Nach allem, was wir wissen, ist es nicht möglich, daß auch den Ägyptern irgendwelche Leute gefolgt sind. Woher wissen wir, daß einige davon nicht in den Turm hineingekommen sind? Und daß sie in seinem Innern - vielleicht unabsichtlich - irgend etwas Schreckliches angestellt haben?« »Ich kann mir kaum vorstellen, daß die Ethiker nicht über unüberwindliche Verteidigungseinrichtungen verfügen«, sagte Göring. »Ah!« sagte La Viro mit erhobenem Zeigefinger. »Du vergißt wohl völlig den rätselhaften Tunnel und das Seil, auf das Miller und seine Begleiter stießen! 136
Jemand hat den Tunnel gebaut und das Seil dort zurückgelassen. Die Frage ist, wer hat das getan - und warum?« »Vielleicht war es ein abtrünniger Agent der Ethiker«, sagte Hermann. »Schließlich hat der Besucher selbst gesagt, daß auch er vor Rückschlägen nicht gefeit sei. Wenn sogar sein Volk Rückschläge hinnehmen muß, gilt das für die Agenten dann nicht noch mehr?« La Viro war entsetzt. »Ich ... Daran hätte ich denken sollen! Aber es klingt so ... unglaublich ... so gefährlich.« »Gefährlich?« »Ja. Die Agenten müssen weiterentwickelt sein als wir, und doch sind sogar sie ... Warte!« La Viro schloß die Augen, hob den rechten Arm und formte mit Daumen und Zeigefinger ein O. Hermann sagte nichts. La Viro rezitierte auf geistigem Wege die Formel der Akzeptanz, eine Technik, die die Kirche benutzte und die er selbst erfunden hatte. Zwei Minuten später öffnete La Viro die Augen wieder und lächelte. »Wenn dies der Fall sein sollte, müssen wir uns aller Implikationen bewußt werden und uns auf sie vorbereiten«, sagte er. »Die Realität sei dein ... und unser. Aber kommen wir nun zum Hauptgrund, weswegen ich nach dir schicken ließ. Ich möchte, daß du an Bord dieses Schiffes gehst und soviel wie möglich herausfindest. Versuche etwas über die Pläne seines Kapitäns und die Zusammensetzung seiner Mannschaft zu erfahren. Finde heraus, ob sie eine Bedrohung für die Ethiker darstellen. Damit meine ich, ob sie über Gerätschaften und Waffen verfügen, die es ihnen eventuell ermöglichen, in den Turm einzudringen.« La Viro runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Es ist an der Zeit, daß wir uns in diese Sache einschalten.« »Du meinst doch nicht etwa, daß wir mit Gewalt gegen sie vorgehen sollten?« »Nein, keine Gewalt gegen Menschen. Aber das Prinzip des gewaltlosen Widerstands gilt nur Personen gegenüber. Wenn es nötig ist, Hermann, werden wir das Schiff versenken! Natürlich nur dann, wenn wir alles andere versucht und keine weitere Möglichkeit mehr haben. Wir werden nur dann so weit gehen, wenn wir absolut sicher sind, daß niemand dabei zu Schaden kommt.« »Ich ... ich weiß nicht«, sagte Hermann. »Ich werde den Eindruck nicht los, daß wir zuwenig Vertrauen in die Ethiker setzen, wenn wir das tun. Sie sollten doch in der Lage sein, mit allem fertig zu werden, was gewöhnliche Menschen gegen sie aufzufahren haben.« »Jetzt sitzt du in der Falle, vor der die Kirche fortwährend warnt; in jener Falle, vor der auch du die anderen ständig warnst: daß nämlich die Ethiker keine Götter sind, da es nur einen Gott gibt.« 137
Hermann stand auf. »Na gut. Ich werde sofort aufbrechen.« »Du bist blaß, Bruder Fenikso. Sei nicht so ängstlich. Vielleicht ist es ja auch gar nicht nötig, das Schiff zu zerstören. Jedenfalls werden wir nur dann zum allerletzten Mittel greifen, wenn wir sicher sind, daß niemand dabei verletzt oder getötet wird.« »Es ist nicht das, wovor ich mich fürchte«, sagte Hermann. »Was mich ängstigt, ist die Tatsache, daß ein Teil meines Ichs sich darauf freut, Intrigen zu spinnen, und der beim Gedanken an die Zerstörung des Schiffes prickelnde Spannung empfindet. Es ist der alte Hermann Göring, der immer noch irgendwo in mir steckt, obwohl ich gedacht habe, ich hätte ihn für immer verdrängt.« 22 Die Rex Grandissimus war wirklich ein schönes und ehrfurchtgebietendes Schiff. Sie preschte mit hoher Geschwindigkeit durch die Flußmitte und sah mit ihren großen, schwarzen Schornsteinen und den beiden gigantischen, mahlenden Schaufelrädern aus wie ein prähistorisches Ungeheuer. Das über dem Ruderhaus an einer Stange angebrachte Banner flatterte im Wind und zeigte drei goldene Löwen auf scharlachrotem Grund. Hermann Göring, der ihr an Bord eines Dreimastschoners entgegensah, hob die Augenbrauen. Das Banner entsprach ganz und gar nicht dem scharlachroten Phönix auf dem blauen Grund, den Clemens zum Wappen erwählt hatte. Der Himmel über dem großen Schiff wimmelte von Gleitern. Der Fluß selbst war voll von Schiffen aller Art. Sowohl offizielle Beobachter als auch Neugierige waren zugegen. Das Schiff drosselte nun seine Geschwindigkeit; offenbar hatte der Kapitän den Raketenschuß, den man von Görings Schoner abgefeuert hatte, richtig interpretiert. Abgesehen davon formten die anderen Schiffe nun einen Halbkreis um die Rex, den man, ohne die Fahrzeuge zu rammen, nicht durchbrechen konnte. Schließlich hielt es an. Die Schaufelräder drehten sich gerade noch so schnell, um der Strömung Widerstand zu leisten. Als der Schoner längsseits kam, rief Görings Kapitän den Leuten auf der Rex mit Hilfe eines Flußdrachenhorns etwas zu. Auf dem untersten Deck eilte ein Mann zum Telefon und sprach mit dem Ruderhaus. Kurz darauf lehnte sich ein anderer Mann aus dem Ruderhaus. Auch er hielt ein Sprechgerät in der Hand. Die Stimme, die nur wenig später über das Deck des Schoners hinwegdröhnte, verwunderte Hermann. Das Ding scheint die Stimme auf elektrischem Wege zu verstärken, dachte er. »Kommen Sie an Bord!« rief der Mann auf esperanto. 138
Obwohl der Kapitän der Rex nicht weniger als dreißig Meter von ihm entfernt war und sich wenigstens fünfzehn Meter über ihm befand, erkannte Hermann ihn. Das braune Haar, die breiten Schultern und das ovale Gesicht gehörten John Lackland, dem Ex-König von England, dem Herrscher von Irland und so weiter und so fort. Ein paar Minuten später war Hermann an Bord der Rex und wurde von zwei schwerbewaffneten Wachoffizieren durch einen kleinen Aufzug auf das Oberdeck des Ruderhauses gebracht. Während sie unterwegs waren, fragte er: »Was ist eigentlich aus Sam Clemens geworden?« Die Männer sahen ihn überrascht an. Einer von ihnen sagte: »Was wissen Sie über ihn?« »Der Klatsch kommt eben noch schneller voran als Ihr Schiff«, sagte Hermann. Das stimmte sogar, und wenn er ihnen auch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, so hatte er sie doch zumindest nicht belogen. Sie betraten den Kontrollraum. John stand neben dem Sitz des Steuermanns und schaute hinaus. Als die Aufzugtüren sich schlossen, wandte er sich um. Er war etwa einen Meter siebzig groß, hatte weit auseinanderstehende blaue Augen und wirkte ziemlich männlich. Er sah nicht einmal übel aus. Er trug eine schwarze Uniform, die er möglicherweise nur dann anzog, wenn es darum ging, irgendwelche lokale Würdenträger zu beeindrucken. Die Jacke, die Hosen und die Stiefel waren aus Flußdrachenleder. Sein Jackett war mit Goldknöpfen verziert, und auf seinem Mützenschirm brüllte lautlos ein goldener Löwe. Hermann fragte sich, wo er wohl das Gold herhatte, denn das war auf der Flußwelt äußerst selten. Vielleicht hatte er es irgendeinem glücklosen Wicht abgenommen. John trug kein Hemd. Sein Brusthaar, das eine oder zwei Nuancen dunkler war als das auf seinem Haupt, quoll reichlich aus dem V-förmigen Ausschnitt des Jacketts. Einer der Offiziere, die ihn begleitet hatten, salutierte. »Der Emissär von Virolando, Sire!« Also Sire, dachte Hermann, und nicht Sir. Es war offensichtlich, daß John seinen Besucher nicht erkannte. Er überraschte Hermann damit, daß er lächelnd auf ihn zukam und ihm die Hand reichte. Hermann nahm sie. Warum auch nicht? Er war schließlich nicht gekommen, um sich zu rächen. Er hatte seine Pflicht zu erfüllen. »Willkommen an Bord«, sagte John. »Ich bin John Lackland, der Kapitän. Obwohl ich, wie Sie hören, über kein Land verfüge, besitze ich doch etwas ungleich Wertvolleres: dieses Schiff.« Er lachte und fügte hinzu: »Ich war einst König von England und Irland, falls Ihnen das etwas sagt.« »Ich bin Bruder Fenikso, Stellvertretender Bischof in der Kirche der Zweiten Chance. Des weiteren erfülle ich die Funktion eines Sekretärs von La Viro. Ich 139
heiße Sie in seinem Namen in Virolando willkommen. Natürlich habe ich von Ihnen gelesen, Majestät. Ich wurde im neunzehnten Jahrhundert in Bayern geboren.« Die dichten, dunklen Augenbrauen Johns hoben sich. »Ich habe viel von La Viro gehört. Man hat uns erzählt, daß er nicht weit von hier lebt.« Dann stellte John ihm die anderen vor, aber abgesehen von Augustus Strubewell, dem Ersten Offizier, kannte Hermann niemanden. Strubewell war Amerikaner, ziemlich groß, blond und gut aussehend. Er drückte Hermanns Hand und sagte: »Willkommen, Bischof.« Auch er schien ihn nicht zu erkennen. Göring zuckte innerlich die Achseln. Immerhin hatte er sich nur kurz in Parolando aufgehalten - und das lag mehr als dreißig Jahre zurück. »Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?« sagte John. Hermann sagte: »Nein, vielen Dank. Aber ich hoffe, daß ich an Bord bleiben darf, Kapitän. Ich bin gekommen, um Sie zu unserer Hauptstadt zu geleiten. Wir heißen Sie in Frieden und Freundschaft willkommen und hoffen, daß Sie im gleichen Geiste zu uns kommen. La Viro würde Sie gerne kennen lernen und Ihnen seinen Segen geben. Möglicherweise wollen Sie auch für eine Weile bleiben und sich ein wenig an unseren Ufern die Beine vertreten. Bleiben Sie bei uns, solange Sie wünschen.« »Ich bin zwar, wie Sie sehen, kein Mitglied Ihrer Glaubensgemeinschaft«, sagte John und ließ sich von einer Ordonnanz ein Glas Bourbon reichen, »aber, ich schätze Ihre Organisation sehr hoch. Ihre Kirche hatte einen guten Einfluß auf die zivilisatorische Entwicklung des Flußtals. Das ist mehr, als ich über die Kirche sagen kann, der ich einst angehörte. Der Aggressionsabbau, zu dem Ihre Kirche beigetragen hat, hat unsere Reise gewiß viel leichter gemacht. Aber davon abgesehen würden sicher nicht viele Völker das Wagnis eingehen, uns anzugreifen.« »Ich freue mich, das zu hören«, sagte Hermann. Es war wohl besser, wenn er die Dinge, die John in Parolando getan hatte, nicht zur Sprache brachte. Vielleicht hatte der Mann sich ja wirklich geändert. Im Zweifelsfall also für den Angeklagten. Der Kapitän traf Vorbereitungen für Görings Unterbringung. Seine Kabine lag im Innern eines langen Deckaufbaus, der unter dem Ruderhaus lag und sich bis auf die Steuerbordseite des Landedecks zog. Hier waren auch die höheren Offiziere untergebracht. John erkundigte sich nach Görings irdischem Dasein. Hermann erwiderte, die Vergangenheit sei es nicht wert, daß man sich mit ihr beschäftigte. Es sei die Gegenwart, die zähle. »Nun, vielleicht stimmt das«, sagte John, »aber die Gegenwart ist doch ein Resultat der Vergangenheit. Wenn Sie über sich selbst nicht sprechen wollen könnten Sie mir dann ein wenig über Virolando erzählen?« 140
Obwohl dies eine durchaus legitime Frage war, fragte Göring sich, ob John in Wahrheit nicht nur etwas über die militärische Stärke Virolandos erfahren wollte. Daß das Land gar kein Militär besaß, wollte er ihm nicht auf die Nase binden. Sollte er es doch selbst herausfinden. Er machte ihm allerdings klar, daß man es keinem Besatzungsmitglied der Rex gestatten könne, Waffen mit an Land zu nehmen. »In jedem anderen Land«, sagte John, »müßte ich ein solches Gesetz natürlich ignorieren. Aber im Schoß der Kirche dürfte uns wohl kaum Gefahr drohen.« »Virolando ist - soweit ich weiß - einmalig«, sagte Hermann. »Seine Topographie und seine Bewohner sind bemerkenswert. Aber das sehen Sie ja selbst.« Er deutete auf die Felsnadeln. »Ein Land, das auf Säulen steht«, sagte John. »Was aber macht seine Bewohner so anders?« »Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind Flußwaisen. Zur Zeit der ersten Wiedererweckung wimmelte es in diesem Gebiet von Kindern, die zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr gestorben waren. Zwanzig dieser Kinder kamen auf einen Erwachsenen. Es gibt, glaube ich, keinen anderen Ort, an dem solche Verhältnisse anzutreffen waren. Die Kinder schienen aus allen möglichen Gegenden und Zeitaltern zu stammen und gehörten vielen Nationen und Rassen an. Sie hatten jedoch eins gemeinsam: Sie waren verängstigt. Zu ihrem Glück kamen die hier lebenden Erwachsenen hauptsächlich aus friedlichen und fortschrittlichen Ländern: aus Skandinavien, Island und der Schweiz des zwanzigsten Jahrhunderts. Deswegen kam es hier nicht zu den Kämpfen, die sich anderswo überall abspielten. Die westliche Flußenge hielt die Titanthropen zurück, die dahinter lebten, und die Leute, deren Reich flußabwärts an Virolando grenzte, waren von der gleichen Art wie die, die hier lebten. Deswegen konnten die Erwachsenen sich ausgiebig den Kindern widmen. Dann gab La Viro bekannt, daß er mit einem jener seltsamen Wesen gesprochen hatte, die für die Erschaffung dieser Welt zuständig sind. Zunächst stand man ihm natürlich ebenso mißtrauisch gegenüber wie jedem Propheten zu Anfang seiner Karriere. Die meisten lehnten ihn ab. Aber La Viro besaß etwas Substantielles; etwas, das über seine Aussagen und Überzeugungen hinausging. Er besaß einen soliden und sichtbaren Beweis. Etwas, das niemand besaß und deswegen ein Produkt der Ethiker sein mußte. Man nennt es allgemein >Das Geschenk.< Sie können es sich im Tempel ansehen. Eine goldene Spirale. Und so blieb er hier. Man erzog die Kinder zur Liebe und Disziplin. Sie waren es, die die Kultur begründeten, die Sie hier sehen.« »Wenn der Geist der Bürger dem Anblick ihres Landes entspricht«, sagte John, »müssen sie wahre Engel sein.« 141
»Sie sind absolut menschlich«, sagte Göring. »Und ihr Land ist weder ein Utopia noch ein Paradies. Ich glaube allerdings, daß es keinen anderen Ort gibt, an dem man so viele wirklich freundliche, offene, großzügige und liebenswerte Charaktere trifft. Wenn man guten Willens ist, kann man wunderbar hier leben.« »Vielleicht wäre es ein guter Ort für einen längeren Landaufenthalt«, sagte John. »Wir müßten nämlich die Motoren überholen, und das dauert seine Zeit.« »Wie lange Sie bleiben, hängt ganz von Ihnen ab«, versicherte Göring. John sah ihn scharf an. Göring lächelte. Dachte John darüber nach, wie er die Bewohner Virolandos übertölpeln konnte, oder hatte er wirklich nur vor, sich hier ein wenig auszuruhen, ohne befürchten zu müssen, daß ihm jemand sein Schiff wegnahm? In diesem Augenblick betrat ein Mann den Kontrollraum. Er war etwa einen Meter achtzig groß, von der Sonne tiefbraun gebrannt und breitschultrig. Sein glattes Haar war tiefschwarz, und seine buschigen, dunklen Brauen überschatteten leuchtendschwarze Augen. Das Gesicht des Ankömmlings strahlte Stärke aus. Er besaß eine Aura, die man in Görings Kindheit als >tierischen Magnetismus< bezeichnet hätte. Als John ihn sah, sagte er: »Ah, das ist Gwalchgwynn, der Hauptmann meiner Bordtruppen. Sie müssen ihn kennen lernen. Er ist ein verläßlicher Bursche, ein ausgezeichneter Fechter und Pistolenschütze und spielt großartig Poker. Er ist Waliser, und wenn man ihm glauben kann, stammt er vater- wie mütterlicherseits von Königshäusern ab.« Göring hatte den Eindruck, als würde ihm das Blut in den Adern gefrieren. »Burton«, murmelte er. 23 Niemand schien ihn gehört zu haben. Der schockierte Ausdruck in Burtons Gesicht, der rasch einer Maske der Gleichgültigkeit wich, sagte Göring jedoch, daß Burton ihn erkannt hatte. Als man ihn als Bruder Fenikso, den Emissär und Stellvertreter La Viros, vorstellte, verbeugte Burton sich. Mit schleppendem Tonfall und einem spöttischen Lächeln sagte er: »Freut mich, Hochwürden.« »Unsere Kirche kennt keine derartigen Titel, Hauptmann«, sagte Göring. Natürlich wußte Burton das. Seine Begrüßung war der reinste Sarkasmus. Aber das machte nichts. Was Göring allerdings verunsicherte, war die Tatsache, daß Burton keinerlei Interesse daran zu haben schien, seinem Herrn mitzuteilen, daß Bruder Fenikso in Wirklichkeit Hermann Göring hieß. Daß er dies nicht tat, weil er Göring liebte, war ebenfalls klar, denn wenn er ihn entlarvte, war es mit seiner Tarnung auch vorbei. Burton hatte offenbar mehr zu verber142
gen als er selbst. Was Göring anbetraf, so hatte dieser eigentlich überhaupt keinen Grund, sich hinter einem Pseudonym zu verbergen. Er tat dies nur, weil er sich ersparen wollte, jedermann zu erklären, warum er ein Mitglied der Kirche geworden war. Es war eine lange Geschichte, und es gab eine Menge Leute, die sich einfach nicht vorstellen konnten, daß sein Übertritt aus lauteren Gründen geschehen war. König John behandelte seinen Besucher mit erlesener Höflichkeit. Er konnte sich offenbar überhaupt nicht mehr an den Mann erinnern, dem er einst einen Pistolenknauf über den Kopf geschlagen hatte. Göring wollte, daß dies so blieb. Wenn John immer noch daran glaubte, er könne die Uferbewohner niederwerfen und ausplündern, würde er sofort mißtrauisch werden, sobald er erfuhr, daß eines seiner ehemaligen Opfer in seiner Umgebung weilte. Solange er die Ansicht hegte, Fenikso sei ein einfacher und weltfremder Bischof, brauchte er sich keine Mühe zu geben, mit seinen Absichten im dunkeln zu verharren. Natürlich war es auch möglich, daß Johns Charakter sich zum Besseren hin verändert hatte. Würde Burton ihm etwa dienen, wenn das nicht der Fall war? Ja - vorausgesetzt, er war immer noch von dem Gedanken besessen, die Quellen des Flusses zu erreichen. Aber vielleicht war John doch nicht mehr die einstige menschliche Hyäne. Was natürlich nicht hieß, daß Göring den Hyänen zu nahe treten wollte. Abwarten und Tee trinken. John lud zu einer Schiffsbesichtigung ein. Göring nahm die Einladung dankend an. Er hatte das Schiff bereits kurz vor seiner Fertigstellung in Parolando besichtigt und kannte es sogar nach all den Jahren immer noch ziemlich gut. Diesmal aber sah er es in voller Ausstattung und Bewaffnung. Er würde La Viro einen kompletten Bericht vorlegen - und danach würde man entscheiden, ob es möglich war, das Schiff im Falle eines Falles zu versenken. Göring nahm La Viros Äußerungen allerdings nicht allzu ernst. Er war ziemlich sicher, daß man ein solches Unternehmen ohne Blutvergießen nicht würde durchführen können. Er würde jedenfalls mit seiner Meinung hinter dem Berg halten, bis man ihn darum bat. Kurz nach Beginn der Besichtigung setzte Burton sich ab. Zehn Minuten später kehrte er zurück und gesellte sich lautlos wieder zu ihnen. Kurz darauf gingen sie in den Großen Salon. Als er eintrat, sah Göring den Amerikaner Peter Jairus Frigate und die Engländerin Alice Hargreaves eine Partie Billard spielen. Ihn traf beinahe der Schlag, und als er auf eine Frage Johns antwortete, stotterte er. Die Erinnerung an das, was er ihnen - und besonders der Frau - angetan hatte, überschüttete ihn mit Schuldgefühlen. Jetzt mußte es mit seiner Tarnidentität aus sein. John würde sich an ihn erinnern. Auch Strubewell. Und von da an würde John ihm mit tiefem Mißtrauen begegnen. 143
Es wäre besser gewesen, er hätte sich John von Anfang an zu erkennen gegeben. Aber wer konnte damit rechnen, daß er ausgerechnet hier auf jemanden stieß, der ihn aus der Vergangenheit kannte? Die Wahrscheinlichkeit, daß er gleich auf drei solche Leute stieß, war praktisch Null gewesen. Gott! Gab es etwa noch andere? Wo war dieser Neandertaler Kazz, der Burton nicht von der Seite wich? Wo war der Arkturier, der behauptete, von Tau Ceti zu kommen? Wo waren Loghu und der Jude Lew Ruach? Wie die meisten im Großen Salon anwesenden Personen blickten beim Eintreten der Gruppe auch Frigate und Alice auf. Sogar der Neger, der an einem Piano saß und den Ragtime Kitten on the Keys spielte, hielt mit starren Fingern inne. Strubewell bat mit lauter Stimme um Ruhe und Aufmerksamkeit, die er auch erhielt. Er stellte den Anwesenden Bruder Fenikso, den Emissär La Viros, vor und sagte, daß er sie bis nach Aglejo begleiten würde. Man solle ihm zwar mit aller Herzlichkeit begegnen, im Augenblick allerdings nicht mit Fragen belästigen, da Seine Majestät ihn gerade zu einer Schiffsbesichtigung eingeladen habe. Das Pianospiel und die Gespräche gingen weiter. Frigate und Hargreaves starrten ihn zwar noch eine Minute lang an, begaben sich dann jedoch an ihr Spiel zurück. Sie schienen ihn nicht erkannt zu haben. Nun, dachte Göring, immerhin haben wir uns vor fast achtzig Jahren zum letzten Mal gesehen. Sie hatten nicht das gleiche gute Erinnerungsvermögen wie er. Andererseits war ihr Zusammentreffen mit ihm so frappant gewesen, daß sie sich an ihn hätten erinnern müssen. Besonders Frigate, der auf der Erde eine Menge Fotografien von ihm gesehen hatte, hätte ihn wiedererkennen müssen. Nein, sie konnten ihn nicht vergessen haben. Hermann wußte nun, was geschehen war: Burton hatte die kurze Entfernung von der Gruppe dazu benutzt, den anderen zu erzählen, daß sie sich benehmen sollten, als hätten sie ihn nie zuvor gesehen. Aber warum? Um ihm weitere Schuldgefühle zu ersparen, um ihm schweigend zu verstehen zu geben, daß sie ihm jetzt, nachdem er sich geändert hatte, nichts mehr nachtrugen? Taten sie deswegen so, als würden sie ihn zum erstenmal sehen? Wenn Burtons Charakter sich nicht ebenfalls geändert hatte, war das ziemlich unwahrscheinlich. Möglicherweise wollten sie mit ihrem Verhalten verhindern, daß Göring Burtons wahre Identität nicht aufdeckte. Und nach allem, was er wußte, lebten auch Frigate und Hargreaves unter falschen Namen. Er hatte nicht viel Zeit, über diese Sache nachzudenken. König John, der den wohlwollenden Gastgeber spielte, bestand darauf, ihm beinahe alles von der Rex zu zeigen. Er stellte Hermann auch viele Leute vor, von denen die meisten zu irgendwelchen Zeiten berühmt oder berüchtigt gewesen waren. Während der 144
langen Jahre, die John flußaufwärts gefahren war, hatte er genügend Zeit gehabt, alle möglichen Berühmtheiten an Bord zu holen. Was natürlich bedeutete, daß er - um Platz für die Berühmtheiten zu machen - jede Menge weniger bekannte Leute von Bord gejagt hatte. Göring war allerdings nicht so beeindruckt, wie John es von ihm erwartet hatte. Als jemand, der im Großdeutschen Reich die zweite Geige gespielt und viele weltliche Größen persönlich gekannt hatte, war Göring natürlich nicht leicht in Ehrfurcht und Erstaunen zu versetzen. Außerdem hatten seine Erfahrungen mit den Großen und etwas weniger Großen zweier Welten ihm klargemacht, daß das öffentliche Image, das solche Personen genossen, nur in den wenigsten Fällen mit ihrer wahren Natur korrespondierte. Derjenige, der ihn auf der Flußwelt am meisten beeindruckte, war ein Mann, der auf der Erde nicht nur ein absoluter Niemand gewesen wäre, sondern den die meisten Leute auch für einen kompletten Versager gehalten hätten: Jacques Gillot, La Viro, La Fondito. Wer ihn allerdings während seiner irdischen Existenz am meisten in Ehrfurcht versetzt, ja, ihn sogar hatte überwältigen und kraft seiner starken Persönlichkeit versklaven können, war Adolf Hitler gewesen. Nur einmal während der langen Zeit, die er seinen Führer gekannt hatte, war er gegen ihn aufgestanden - wegen einer falschen Entscheidung. Hitler hatte ihn fertiggemacht. Wenn er sich jetzt, nach all den Jahren auf der Flußwelt - und ausgestattet mit dem Wissen, dem er als Chancist teilhaftig geworden war -, daran zurückerinnerte, empfand er für diesen Irren überhaupt keinen Respekt mehr. Ebenso wenig konnte er den Göring jener Tage ernst nehmen, und tatsächlich verachtete er ihn sogar. Er sah sich allerdings nicht mit einem solchen Selbsthaß, daß es keine Möglichkeit mehr gab, gerettet zu werden. Wer einen solchen Standpunkt einnahm, begab sich in eine besondere Klasse - in die derjenigen, die auf ihre Verbrechen stolz waren, sie als reine Hybris ansahen und eine darauf basierende Form von Selbstgerechtigkeit entwickelten. Es gab allerdings auch die Gefahr, daß man einen solchen Stolz kultivierte, weil man ihn nicht besaß. Daß man stolz darauf wurde, niedrig zu sein. Dies war eine typische Sünde der Christen, aber es gab sie auch in einigen anderen Religionen. La Viro, der während seines irdischen Lebens ein durch und durch unterwürfiger Katholik gewesen war, hatte von der Existenz einer solchen Sünde nicht einmal etwas gewußt. Sein Priester hatte sie während seiner langen, einschläfernden Predigten nie erwähnt, und so hatte Gillot davon erst nach seiner Ankunft auf diesem Planeten davon erfahren. Obwohl Göring vor dem Ende des Krieges erkannt hatte, daß Hitler verrückt war, hatte er weiterhin zu ihm gehalten. Loyalität war eine seiner Tugenden, und sie war in ihm so fest verankert, daß sie sich gegen alle Vernunft durchsetzte. Im Gegensatz zu den meisten anderen, die man während der Nürnberger 145
Prozesse abgeurteilt hatte, war Göring nicht dazu bereit gewesen, seinen Führer zu verleugnen und gegen ihn auszusagen. Nun wünschte er sich, daß er damals den Mut zum Aufstehen gehabt hätte. Eine solche Tat hätte seinen Abstieg nur beschleunigt und möglicherweise mit seinem Tod geendet. Wenn man ihm noch einmal die Möglichkeit geben würde ... Aber wie La Viro gesagt hatte: »Du kannst es heute tun, jeden Tag. Nur die Umstände haben sich geändert, das ist alles.« Die dritte Person, die einen großen Eindruck auf ihn gemacht hatte, war Richard Francis Burton. Göring zweifelte nicht daran, daß Burton, wäre er an seiner Stelle gewesen, zu Hitler »Nein!« oder »Sie sind im Irrtum!« gesagt hätte. Aber wie war es ihm dann gelungen, in all diesen Jahren nicht über Bord geworfen zu werden? König John war ein Tyrann. Er war zudem arrogant und ließ andere Meinungen nicht gelten. Hatte John sich geändert? Hatte Burton sich geändert? Waren die Veränderungen so groß, daß die beiden ohne Schwierigkeiten miteinander auskommen konnten? John sagte: »Dort drüben, an dem Pokertisch, sitzen die sieben Piloten meiner Luftwaffe. Kommen Sie, ich stelle sie Ihnen vor.« Göring war überrascht, als Werner Voss aufstand und ihm die Hand schüttelte. Er hatte ihn einmal getroffen, aber Voss erkannte ihn offenbar nicht wieder. Obwohl Göring ein ausgezeichneter Pilot gewesen war, mußte er doch offen zugeben, daß er an Voss nicht herankam. Er hatte seine beiden ersten Luftsiege - gegen zwei alliierte Maschinen - im November 1916 davongetragen. Am 23. September 1917, kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag, war er nach einem Einzelkampf gegen sieben der besten britischen Piloten abgeschossen worden. In weniger als einem Jahr hatte er bei Feindeinsätzen achtundvierzig Maschinen vom Himmel geholt: Genug, daß er in der Kaiserlichen Luftwaffe den vierten Platz einnehmen konnte. Und in dieser kurzen Zeit hatte man ihn noch des öfteren von der Front geholt und mit anderen Aufgaben betraut. Es war kein Zufall, daß dies ausgerechnet in jener Zeit geschah, in der er sich den Abschußzahlen Manfred von Richthofens näherte. Der Baron besaß großen Einfluß. Aber abgesehen davon war Voss nicht der einzige Pilot gewesen, den man um des Roten Barons Ruhm willen zeitweilig aus dem Verkehr gezogen hatte. Karl Schaefer und Karl Allmenröder, zwei weitere Teufelskerle, hatte man ähnlich manipuliert. Voss nahm, wie König John erklärte, in seiner Luftwaffe den Rang eines Oberleutnants und stellvertretenden Geschwaderchefs ein. Der Chef seiner Truppe war Kenji Okabe, eines der großen Fliegerasse Japans. Der lächelnde kleine Mann deutete eine Verbeugung an. Auch Göring verneigte sich vor ihm. Da das Deutsche Reich während des Zweiten Weltkriegs nicht sonderlich viele Nach146
richten von seinen japanischen Alliierten erhalten hatte, war Okabe ihm unbekannt. Da John ihn jedoch über den großen Voss gestellt hatte, mußten seine Fähigkeiten allerdings beachtlich sein. Vielleicht war er aber auch nur früher zu seiner Luftwaffe gestoßen und besaß deswegen größere Privilegien. Die anderen Flieger - zwei Ersatzpiloten für die Kampfflugzeuge und das Bedienungspersonal für den Torpedobomber und den Helikopter - kannte Göring nicht. Er hätte gern mit Voss über die alten Zeiten und den Ersten Weltkrieg gesprochen. Seufzend folgte er John über eine Treppe auf das C- oder Hurrikandeck. Am Ende der Besichtigungstour kehrten sie in den Großen Salon zurück, um eisgekühlte Drinks zu sich zu nehmen. Göring nahm nur einen. Ihm fiel auf, daß John innerhalb kürzester Zeit zwei Gläser kippte. Obwohl sein Gesicht sich rötete, wurde seine Zunge nicht schwer. Er stellte Göring viele Fragen über La Viro und erhielt ehrliche Antworten. Was gab es auch zu verbergen? Ob der Bischof John einen Hinweis darauf geben könne, daß es La Viro recht sei, wenn das Schiff längere Zeit in Virolando liegen bleibe, da man ausgedehnte Reparaturen vornehmen müsse? »Ich kann zwar nicht für La Viro sprechen«, sagte Göring, »aber ich glaube, daß er nichts dagegen haben wird. Immerhin besteht ja die Möglichkeit, daß Sie und Ihre Leute unserer Kirche beitreten.« König John sagte grinsend: »Bei Gott, mir ist es völlig gleichgültig, wer von meiner Mannschaft in Ihr Netz geht, wenn wir vorher nur Sam Clemens' Schiff versenken! Aber da fällt mir ein, Sie werden vielleicht gar nicht wissen, daß er meine braven Männer und mich umzubringen versuchte, um dieses Schiff in seine und die Gewalt seiner hundsföttischen Jünger zu bringen! Möge Gott diesen Lumpenhund mit einem Blitzstrahl treffen! Ich und meine braven Männer konnten seine Pläne jedoch durchkreuzen und hätten ihn beinahe getötet. Wir fuhren mit dem Schiff flußaufwärts, während er wutschäumend am Ufer entlangrannte, uns mit den Fäusten drohte und Flüche ausstieß. Damals habe ich noch gelacht, weil ich glaubte, ich würde ihn niemals wiedersehen. Aber das war ein Irrtum.« »Haben Sie eine Ahnung, wie nahe er Ihnen schon gekommen ist?« fragte Göring. »Ich schätze, er wird nur noch ein paar Tagereisen hinter uns sein«, sagte John, »wenn wir unsere Motoren wieder auf Vordermann gebracht haben. Wir haben ziemlich lange festgesessen, da wir überfallen wurden. Der Schaden, den die Rex davongetragen hat, war beachtlich.« »Dann werden Sie also ...« Es gefiel Göring gar nicht, seine Gedanken in Worte zu kleiden. John grinste brutal. »Ja, ich meine damit, daß es zu einem Kampf kommen wird!« 147
Göring wurde klar, daß John die Absicht hatte, den großen See von Virolando zu einem Schlachtfeld zu machen. Hier würde er genügend Raum zum Manövrieren haben. Vielleicht war es besser, wenn er dazu jetzt nichts sagte. John beschimpfte Clemens als einen verlogenen, verräterischen, gewalttätigen Hundesohn. Sam Clemens war ein vom Satan besessener Verbrecher - er selbst hingegen sein unschuldiges Opfer. Göring ließ sich nicht beirren. Da er sowohl Clemens als auch John kannte, zweifelte er nicht daran, daß der wirklich verlogene, verräterische Gewalttäter neben ihm saß. Er fragte sich allerdings, wie es denjenigen, die an der Meuterei teilgenommen hatten, gelungen war, die Wahrheit jenen, die erst später an Bord gekommen waren, vorzuenthalten. »Sie haben eine lange, mühselige und gefährliche Reise hinter sich, Majestät«, sagte Göring. »Sie müssen ziemlich viele Verluste gehabt haben. Wie viele Angehörige der einstmaligen Besatzung sind noch an Bord?« Johns Augen verengten sich. »Welch seltsame Frage. Warum stellen Sie sie mir?« Göring zuckte die Achseln und sagte: »Es ist nicht wichtig. Ich bin bloß neugierig. Schließlich leben viele barbarische Völker an diesem Fluß. Ich bin sicher, daß viele versucht haben, Ihnen das Schiff wegzunehmen. Schließlich ...« »... stellt es einen Schatz dar, der sein Gewicht in Diamanten wert ist?« sagte John lächelnd. »Ja. Das stimmt. Bei Gottes Hintern, ich könnte Ihnen Geschichten darüber erzählen, wie oft wir haben kämpfen müssen, um zu verhindern, daß die Rex in feindliche Hände fiel. Die Wahrheit ist, daß von den fünfzig Leuten, mit denen ich Parolando verließ, nur noch zwei an Bord sind. Ich selbst und Augustus Strubewell.« Was darauf schließen ließ, dachte Göring, daß es John gelungen war, sich jeden Schwätzers zu entledigen, der einem Neuen die Wahrheit hätte sagen können. Dazu langte ein Schubs im Dunkeln. Wenn es dabei zufällig regnete, konnte man nicht einmal ein Aufklatschen hören. Wenn John oder Strubewell irgend jemanden provozierten, konnten sie ihn anschließend wegen Unfähigkeit oder Ungehorsam aburteilen. Es gab viele Möglichkeiten, jemanden umzubringen, und viele Entschuldigungen, einen Mann oder eine Frau von Bord zu schicken. Unfälle, Kämpfe und Desertionen konnten dann den Rest dezimieren. Jetzt wurde Göring klar, daß Burton möglicherweise noch einen anderen Grund gehabt hatte, ihn nicht zu verraten. Wenn John Göring erkannte, würde er wissen, daß Göring seine Lügen durchschaute. Und vielleicht würde er, Göring, dann bei einem >Unfall< den Tod finden, bevor das Schiff Aglejo erreichte. In diesem Fall würde niemand La Viro vor John warnen. Vielleicht, dachte Göring, bin ich zu mißtrauisch. Aber wahrscheinlich war das doch nicht der Fall. 148
24 Sie hatten den Großen Salon verlassen und sich in einen anderen Raum begeben. Er war halbkreisförmig und mit bruchsicheren Glasfenstern versehen. Der Aufzugschacht, der durch den darüberliegenden Raum bis zum Ruderhaus hinaufführte, bildete einen Teil der Rückwand. Es gab hier Sessel und Tische, mehrere Sofas und eine kleine Bar. Wie in den meisten Räumlichkeiten der Rex dudelte auch hier Musik, die von irgendwoher überspielt wurde. Man konnte sie allerdings abstellen. Nachdem man sich einige Zeit über die geplanten Reparaturen unterhalten hatte, die wenigstens zwei Monate dauern würden, kam Göring noch einmal auf die zu erwartende Schlacht zu sprechen. Was er sagen wollte, war folgendes: »Was kann ein solcher Kampf jemandem einbringen? Welchem Zweck kann er dienlich sein? Warum sollen die Männer und Frauen auf Ihrem und Clemens' Schiff den Tod, Verstümmelungen und all die Schmerzen hinnehmen, bloß weil vor mehreren Jahrzehnten irgend etwas zwischen Ihnen vorgefallen ist? Ich glaube, daß Clemens und Sie verrückt sind. Warum beendet ihr diese Feindschaft nicht? Schließlich hat Clemens jetzt sein eigenes Schiff. Was sollte er auch mit zwei Schiffen anfangen, die er sowieso nicht kriegen wird, weil eins davon - und ich glaube, es wird Ihres sein, Majestät - draufgeht? Wenn man die Größe und Stärke von Clemens' Schiff berücksichtigt, kann es daran keinen Zweifel geben.« Statt dessen jedoch sagte er: »Vielleicht wird es gar nicht nötig sein, gegen Clemens zu kämpfen. Ob es überhaupt möglich ist, daß er nach all diesen Jahren immer noch nach Vergeltung lechzt? Und Sie wollen sich an ihm rächen, weil er versuchte, Sie umzubringen? Können Sie ihm nicht vergeben? Der Lauf der Zeit kühlt manchen Besessenen ab und erlaubt es ihm, sich wieder von der Vernunft regieren zu lassen. Vielleicht...« John zuckte die breiten und schweren Schultern und streckte hilflos die Hände aus. »Glauben Sie mir, Bruder Fenikso, ich würde Gott danken, wenn Clemens inzwischen wieder zu Sinnen gekommen und ein Mann des Friedens geworden wäre. Ich bin wirklich keine Kämpfernatur. Alles, was ich will, ist, daß die Menschen einander verstehen. Ich würde meine Hand stets nur gegen den erheben, der die seine zuerst gegen mich erhoben hat.« »Ich bin wirklich sehr froh, das zu hören«, sagte Göring. »Und ich weiß, daß La Viro sich glücklich schätzen wird, zwischen Ihnen und Clemens als Vermittler zu fungieren, damit der Disput endlich beigelegt werden kann. La Viro, wir alle wollen uns nach besten Kräften dafür einsetzen, daß es zu keinem Blutvergießen kommt. Was wir brauchen, ist guter Wille auf beiden Seiten.« John machte ein finsteres Gesicht. 149
»Ich bezweifle, daß diese von Dämonen besessene, verfluchte Kreatur auch nur einer Begegnung zustimmt«, sagte er. »Außer, um mich umzubringen.« »Wir können nur unser Bestes tun, um ein solches Treffen entsprechend vorzubereiten.« »Was mir Sorgen bereitet und mich denken läßt, daß Clemens mich auf ewig hassen wird, ist, daß seine Frau - oder besser seine Ex-Frau - während der Schlacht um das Schiff versehentlich den Tod fand. Obwohl sie sich getrennt hatten, liebte er sie noch immer. Und er wird mich für ihren Tod verantwortlich machen.« »Aber das passierte doch, bevor die Wiedererweckungen aufhörten«, sagte Göring. »Sie wird jetzt eben irgendwo anders leben.« »Das ist ihm egal. Da er sie möglicherweise nie wiedersehen wird, ist sie für Clemens so gut wie tot. Das war sie allerdings auch schon vor ihrem Tod. Wie Sie vielleicht wissen, hatte sie sich in diesen langnasigen Franzosen de Bergerac verliebt.« John lachte laut. »Der Franzose gehörte zu denen, die uns überfielen. Ich habe ihm von hinten gegen den Kopf getreten, bevor ich aus dem Helikopter entkam. De Bergerac ist es auch gewesen, der Hauptmann Gwalchgwynn mit seinem Degen verletzte. Er ist der einzige, der Gwalchgwynn je in einem Kampf besiegt hat. Gwalchgwynn behauptet, er sei ziemlich durcheinander gewesen und de Bergerac sei nur deswegen an ihm vorbeigekommen. Es würde ihm wohl nicht gefallen, wenn Clemens und ich Frieden schlossen. Auch er dürstet nach Rache.« Hermann fragte sich, ob Gwalchgwynn - Burton - wirklich derartige Gefühle hegte, aber als er sich nach ihm umsah, war der Engländer verschwunden. In diesem Augenblick traten zwei Besatzungsmitglieder ein. Sie schleppten kleine Fäßchen mit verdünntem Alkohol. Göring erkannte einen der Männer. Dieses Schiff wimmelte ja geradezu von alten Bekannten. Der Mann war gut aussehend, von mittlerer Größe, schlank und drahtig. Das kurze Haar war beinahe sandfarben, und er hatte haselnußbraune Augen. Sein Name war James McParlan, und er war einen Tag nach Hermann in Parolando angekommen. Hermann hatte mit ihm über die Kirche der Zweiten Chance gesprochen, aber McParlan hatte sich trotz seiner Freundlichkeit ablehnend erwiesen. Was Hermanns Erinnerung an ihn verstärkte, war die Tatsache, daß McParlan jener Pinkerton-Detektiv gewesen war, der in den frühen 70ern des neunzehnten Jahrhunderts die Molly Maguires unterwandert und schließlich vernichtet hatte. Die Molly Maguires waren eine geheime Terroristenorganisation gewesen, die aus irischen Bergarbeitern bestand, die in den Kohlengruben von Schuylkill, Carbon, Columbia und Luzerne/Pennsylvania von sich reden gemacht hatten. 150
Wenn Göring, ein Deutscher des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht ein eifriger Leser der Sherlock-Holmes-Geschichten gewesen wäre, hätte er möglicherweise nie von ihnen gehört, aber da er erfahren hatte, daß A. Conan Doyles Roman The Valley of Fear auf den Ereignissen basierte, für die die Molly Maguires verantwortlich zeichneten, war ihm natürlich auch Alan Pinkertons Buch The Molly Maguires, das die Ermittlungen McParlans beschrieb, in die Hände gekommen. Im Oktober 1873 war es McParlan, der unter dem Namen James McKenna operierte, gelungen, die Geheimgesellschaft zu infiltrieren. Der junge Detektiv hatte sich dabei mehrfach tödlichen Gefahren ausgesetzt, aber es war ihm dennoch gelungen, mit Courage, einer gesunden Portion an Aggressivität und schlagfertigem Witz alle Kontrollen zu durchlaufen. Nach drei Jahren Ermittlungsarbeit in einer Tarnexistenz übergab er seinen Auftraggebern die Namen der Molly Maguires und verriet die Arbeitsweise ihres inneren Zirkels. Die Anführer dieser Organisation wurden gehenkt; die Kraft der Molly Maguires zerbrach. Und die Minenbesitzer konnten ein paar Jahrzehnte länger fortfahren, die Bergleute wie Leibeigene zu behandeln. Als McParlan sich auf den Rückweg machte, kam er an Hermann vorbei und warf ihm einen kurzen Blick zu. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber Hermann glaubte dennoch, daß der Mann ihn wiedererkannt hatte. Er hatte seinen Blick eine Spur zu schnell abgewandt. McParlan war nicht nur ein ausgebildeter Detektiv, sondern hatte Göring einmal erzählt, er würde ein Gesicht nie vergessen. Lag es daran, weil der Uniformträger McParlan sich im Dienst befand, daß er darauf verzichtete, sich in Erinnerung zu bringen? Oder hatte er einen anderen Grund? Burton kehrte zurück und gesellte sich zu ihnen. Ein paar Minuten später suchte er die neben dem Aufzug liegende Toilette auf. Hermann entschuldigte sich und folgte ihm. Burton befand sich am äußeren Ende der Rinne; glücklicherweise hielt sich niemand in seiner Nähe auf. Hermann stellte sich neben ihn und sagte, während er sein eigenes Geschäftchen machte, leise auf deutsch: »Danke, daß du deinem Herrn nicht meinen alten Namen genannt hast.« »Ich habe es deswegen nicht getan, weil ich dich schätze«, sagte Burton. Er ließ den Saum seines Kilts fallen, drehte sich um und stellte sich an ein Waschbecken. Hermann folgte ihm auf dem Fuße. Während ein Wasserstrahl über seine Hände lief, sagte er: »Ich bin nicht mehr der Göring, den du kanntest.« »Vielleicht bist du das wirklich nicht. Aber ich glaube, daß ich dich trotzdem nicht mag.« Obwohl Hermann darauf brannte, Burton den Unterschied zwischen seiner einstigen und jetzigen Existenz klarzumachen, wagte es aber nicht, sich die Zeit dazu zu nehmen. Er eilte in den Beobachtungsraum zurück. 151
John erwartete ihn, um ihm zu sagen, daß die Gruppe nun an Deck gehen werde. Von dort aus könne man mehr von dem See erkennen, in den das Schiff jetzt vordrang. Vor ihnen, so weit das Auge reichte, erhoben sich Felsnadeln verschiedenster Formen und Höhen aus dem Wasser. Die meisten waren von rötlicher Farbe, aber es gab natürlich auch schwarze, braune, purpurne, grüne, orangefarbene und blaue. Je einer von zwanzig Felsen vereinigte mehrere Farben in sich. Die Farbstreifen verliefen horizontal und waren von unterschiedlicher Breite. Hermann erzählte den Anwesenden, daß sich der Fluß an seinem westlichen Ende verengte, wo die Berge eine Schlucht bildeten, die etwa siebzig Meter breit und deren glatte Felswände nicht weniger als tausend Meter hoch seien. Die Strömung war an dieser Stelle so stark, daß kein manuell- oder windbetriebenes Schiff die Enge überwinden konnte. Von hier aus war Schiffsverkehr nur flußabwärts möglich. Irgendwelche Reisende hatten jedoch vor langer Zeit einen schmalen Pfad in das südliche Kliff gehauen. Der Weg lag etwa achtzig Meter oberhalb des Wassers und zog sich drei Kilometer dahin. Manche Leute überwanden die Enge, indem sie zu Fuß gingen. »Direkt dahinter liegt ein kleines Tal. Der Fluß ist dort eineinhalb Kilometer breit. Dort lebt zwar niemand, aber es gibt Gralsteine. Ich nehme an, daß niemand dort leben will, weil die starke Strömung Fischfang und Bootsverkehr unmöglich macht. Das Tal bekommt auch nur wenig Sonnenlicht ab. Etwa einen Kilometer weiter gibt es allerdings eine Bucht, in der man ankern kann. Mehrere Kilometer weiter flußaufwärts ist das Tal bemerkenswert breit. Dort beginnt das Land der langnasigen, behaarten Riesen, die man Titanthropen oder Scheusale nennt. Nach allem, was ich gehört habe, sind so viele von ihnen umgekommen, daß die Hälfte der Bevölkerung inzwischen aus normal gewachsenen Menschen besteht.« Göring hielt inne, denn er wußte, daß das, was er sagte, für seine Zuhörer von größtem Interesse war - oder sein sollte. »Man schätzt, daß die Strecke von der Flußverengung bis zu den Quellen lediglich dreißigtausend Kilometer beträgt.« Er versuchte John auf den Gedanken zu bringen, daß es vielleicht besser sei, die Reise fortzusetzen. Wenn das Ziel schon so nahe lag - gab es dann überhaupt noch einen Grund, hier zubleiben und zu kämpfen? Zumal man ihn sehr wahrscheinlich schlagen würde? Sei es da nicht besser, zu den Quellen vorzustoßen und von dort aus eine Expedition in den Nebelturm zu entsenden? »Tatsächlich«, sagte John. Wenn er den Köder geschluckt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er tat so, als sei er lediglich an der Flußverengung und der dahinterliegenden Landschaft interessiert. 152
Nachdem John ihm noch einige Fragen darüber gestellt hatte, verstand Hermann schließlich, was der König ins Auge faßte. Die Bucht, von der er gesprochen hatte, war ein hervorragender Platz für die geplanten Reparaturarbeiten. Zudem war die Flußverengung eine ideale Stelle, um der Nicht vermietbar aufzulauern. Wenn die Rex in dem Augenblick gegen sie vorging, wo sie die Enge durchquerte, brauchte sie nur ein paar Torpedos abzuschießen. Sie mußten zwar ferngesteuert werden, da der Fluß sich hier durch drei Kurven wand, konnten aber bei der engen Fahrrinne kaum verfehlen. Des weiteren konnte John, wenn er wirklich in der Bucht ankerte, seine Leute dem Einfluß der pazifistischen Chancisten entziehen. Die Spekulationen, die Göring über Johns Gedanken anstellte, waren richtig. Nach einem Tagesbesuch bei La Viro ließ John die Anker der Rex lichten und brachte das Schiff durch die Verengung. In der bewußten Bucht ging man dann erneut vor Anker und baute ein schwimmendes Dock, das vom Ufer bis tief ins Wasser hineinreichte. Von Zeit zu Zeit kamen John und seine Offiziere - oder auch letztere allein - in einem Beiboot nach Aglejo. Obwohl man sie des öfteren einlud, über Nacht zu bleiben, taten sie dies nie. John versicherte La Viro, daß er nicht daran interessiert sei, den See zu einem Schlachtfeld zu machen. La Viro bat ihn, als Parlamentär fungieren und einen ehrenhaften Frieden mit Clemens aushandeln zu dürfen. Während der beiden ersten Treffen mit La Viro weigerte John sich, diesem Vorschlag zuzustimmen. Dann, als sie sich zum drittenmal trafen, überraschte er Göring damit, daß er zustimmte. »Ich glaube dennoch, daß wir damit nichts als Zeit und Mühe verschwenden«, sagte John. »Clemens ist von einer fixen Idee besessen. Ich bin sicher, daß er nur an zwei Dinge denken kann: Wie er sein Schiff zurückkriegen und mich umbringen kann.« La Viro war glücklich, daß John wenigstens einen Versuch machen wollte. Hermann konnte seine Freude allerdings nicht teilen, denn Johns Worte und Taten waren selten miteinander identisch. Obwohl La Viro den König fortgesetzt darum bat, lehnte John es ab, Missionare auf sein Schiff kommen und über die Kirche reden zu lassen. Er ließ sogar bewaffnete Wachen am Ende des Klippenpfades aufstellen, um zu verhindern, daß sie ihm auf den Pelz rückten. Seine Entschuldigung für dieses Verhalten bestand natürlich aus dem Argument, daß er verhindern wolle, von Clemens' Truppen überfallen zu werden. Als La Viro ihm klarzumachen versuchte, daß er kein Recht habe, friedlichen Leuten die Benutzung des Pfades zu verwehren, erwiderte John, daß er kein Papier unterschrieben habe, in dem er sich dazu bereit erkläre, ihn jedermann zur Verfügung zu stellen. Der Pfad befinde sich nun 153
einmal unter seiner Kontrolle, deswegen sei er auch in der Lage, zu bestimmen, wer ihn benutzen dürfe und wer nicht. Drei Monate vergingen. Hermann wartete auf eine Gelegenheit, Burton und Frigate beiseite zu nehmen, wenn sie nach Aglejo kamen. Ihre Besuche waren sehr unregelmäßig, und wenn sie schon kamen, konnte er sie nie allein erwischen. Eines Morgens wurde Hermann zum Tempel gerufen. La Viro setzte ihn über den neuesten Stand der Dinge in Kenntnis. Über Trommelfunk waren neue Nachrichten eingetroffen: Die Nicht vermietbar würde in zwei Wochen in Aglejo einlaufen. Göring sollte das Schiff an der gleichen Stelle erwarten, an der er an Bord der Rex gegangen war. Obwohl Clemens sich ihm gegenüber in Parolando nicht gerade freundlich verhalten hatte, war er auch nicht eben mörderisch gewesen. Als Göring die Treppe zum Ruderhaus hinaufstieg, stellte er überrascht fest, daß der Anblick Clemens' und des gigantischen Titanthropen Joe Miller sein Herz erwärmte. Außerdem erkannte der Amerikaner ihn schon wenige Sekunden, nachdem er sich vorgestellt hatte. Joe Miller behauptete, er habe ihn in der ersten Sekunde an seinem Geruch erkannt. »Und daf«, sagte Miller, »obwohl du heute anderf riechft alf früher. Du riechft heute beffer alf damalf.« »Vielleicht ist es der Geruch der Heiligkeit«, sagte Hermann lachend. Clemens grinste und sagte: »Haben Tugenden und Laster ihre eigenen Gerüche? Nun, warum nicht? Wie rieche ich eigentlich nach vierzig Jahren auf der Achse, Joe?« »Fo ähnlich wie alte Pantherpiffe«, versicherte Joe. Obwohl ihr Zusammentreffen natürlich wenig Ähnlichkeit mit der Wiederbegegnung alter Kumpane hatte, konnte Göring sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie sich über das Wiedersehen ebenso freuten wie er. Vielleicht huldigten sie irgendeiner Art perverser Nostalgie. Möglicherweise spielten auch einige Schuldgefühle dabei mit. Vielleicht fühlten sie sich für das, was in Parolando mit ihm passiert war, verantwortlich. Das brauchten sie natürlich nicht, denn schließlich hatte Clemens sein Bestes getan, um ihn, bevor ihm etwas zustieß, zum Verlassen des Staates zu bewegen. In kurzen Worten erzählten sie ihm, was seit ihrer letzten Begegnung geschehen war. Auch Göring schilderte ihnen seine bisherigen Lebenserfahrungen. Schließlich begaben sie sich in den Großen Salon hinab, tranken ein Glas und stellten ihn verschiedenen Berühmtheiten vor. Dann ließ Clemens Cyrano de Bergerac holen, der auf dem Flugdeck Fechtübungen abgehalten hatte. Der Franzose erinnerte sich zwar an Göring, aber nicht sonderlich gut. Clemens erzählte noch einmal, was Hermann getan hatte, und daraufhin erinnerte de Bergerac sich an seine Predigt in Parolando. 154
Die Zeit hatte in Clemens und de Bergerac einige Veränderungen hervorgerufen, fand Hermann. Der Amerikaner schien seinen großen Widerwillen gegen den Franzosen abgebaut und ihm die Tatsache, daß er ihm seine Frau Olivia abspenstig gemacht hatte, verziehen zu haben. Die beiden schienen sich überaus gut miteinander zu verstehen. Sie plauderten angeregt, rissen Witze und lachten. Schließlich aber kam der Punkt, an dem der Spaß sein Ende nahm. Hermann sagte: »Ich nehme an, ihr habt davon gehört, daß König John mit seinem Schiff vor drei Monaten nach Aglejo gekommen ist und nun direkt hinter der Flußverengung an der Westseite des Sees auf euch wartet?« Clemens stieß einen Fluch aus und erwiderte: »Uns war klar, daß sich der Abstand zwischen ihm und uns ständig verringert, aber daß er seine Fahrt unterbrochen hat - nein, das war uns nicht bekannt!« Hermann beschrieb, was sich seit dem Tag, an dem er an Bord der Rex gegangen war, ereignet hatte. »La Viro hofft immer noch, daß ihr fähig seid, einander zu vergeben. Er meint, daß es nach dieser langen Zeit doch an sich unwichtig geworden ist, wer mit der Sache angefangen hat, und...« Clemens' Gesicht rötete sich. Er sah grimmig drein. »Der Saftsack hat vielleicht gut reden!« sagte er laut. »Nun, von mir aus kann er bis zum Jüngsten Tag von Vergebung predigen - ich werde ihn nicht davon abhalten! Eine Predigt tut schließlich keinem weh und ist oft sogar äußerst wohltuend, wenn man ein Nickerchen machen will. Aber ich habe nicht all die Widrigkeiten, Kopfschmerzen, Treulosigkeiten und Kümmernisse in Kauf genommen, nur um John das Köpfchen zu streicheln, ihm zu sagen, welch netter Kerl er doch unter all seiner Heimtücke ist, ihn zu küssen und seiner Wege ziehen zu lassen. Ach, was hast du doch geschuftet, um mir mein Schiff zu stehlen und es anschließend davor zu bewahren, in die Hände diebischer Halunken zu fallen, die alles getan haben, um es dir wieder wegzunehmen. Zum Teufel, John, ich habe dich zwar verabscheut, geschmäht und gehaßt, aber das ist so lange her. Laß dich zur Brust nehmen und ans Herz drücken. Ich trage dir nichts mehr nach, denn ich bin eben ein weichherziger Tölpel. Den Teufel werd ich tun!« brüllte Clemens. »Ich werde sein Schiff - das Schiff, das ich einst über alles geliebt habe - versenken! Ich will es gar nicht wiederhaben! Er hat es entehrt, wertlos gemacht, verkommen lassen, beschmutzt! Ich werde es versenken, vom Angesicht dieser Welt verschwinden lassen. Und auf irgendeine Art und Weise werde ich diesen Planeten auch von John Ohneland befreien. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird man ihn nur noch John Ohneleben nennen!« 155
»Wir hatten gehofft«, sagte Hermann traurig, »daß der Haß zwischen euch nach all diesen Jahren - nach zwei Generationen, wie man früher gesagt hätte abgekühlt, vielleicht sogar erloschen wäre. Daß ...« »Nun, sicher, das war er auch«, sagte Clemens mit einem sarkastischen Tonfall. »Es hat in der Vergangenheit Minuten, Tage, Wochen, sogar Monate und hin und wieder ein Jahr gegeben, wo ich nicht einmal an John dachte. Aber jedes Mal, wenn ich dieser endlosen Reise auf dem Fluß müde wurde, wenn ich mich danach sehnte, an Land zu gehen, dort zu bleiben und die Schaufelräder und das tägliche Einerlei aus meinen Gedanken zu verbannen; wenn mir das dreimal tägliche Anhalten an einem Gralstein, um die Gräle und den Batacitor neu aufzuladen, zum Halse heraushing, ich Streitigkeiten zu schlichten und mich um immer den gleichen Verwaltungsscheiß zu kümmern hatte und ich am laufenden Band Herzinfarkte zu erleiden drohte, wenn ich einem Gesicht begegnete, das meiner geliebten Livy, meiner Susy oder Jean oder Clara glich, und herausfand, daß ich mich wieder einmal geirrt hatte... Nun, immer wenn ich der ganzen Sache müde wurde, aufgeben wollte und nahe daran war, zu sagen >Hier, Cyrano, nimm die Kapitänsmütze. Ich gehe an Land und ruhe mich aus. Laß es dir gut gehen, vergiß diese ungeheure Schönheit, bring das Schiff den Fluß hinauf und schaff es mir aus den AugenVorwärts, weiter, volle Kraft voraus! Macht weiter, bis wir diesen Hundesohn eingeholt und ihn auf den Grund geschickt haben!< Und das, der Gedanke an meine Aufgabe und das Verlangen, John zittern zu sehen, bevor ich ihm den Hals umdrehte, hat mich, wie du treffend sagst, zwei Generationen lang am Laufen gehalten!« Hermann konnte nur sagen: »Es betrübt mich, das zu hören!« Es war zwecklos, noch mehr Worte über dieses Thema zu verlieren. 25 Burton, der schon wieder an der verfluchten Schlaflosigkeit litt, verließ lautlos seine Kabine. Alice schlief den Schlaf der Gerechten. Er durchquerte den matt erleuchteten Korridor und gelangte schließlich auf das Landedeck der Rex. Der Nebel umwaberte die Reling des B-Decks, und vom A-Deck war überhaupt nichts mehr zu erkennen. Direkt über ihm glänzte der Himmel in all seiner Pracht, aber von Westen her trieben mit rapider Schnelligkeit Wolken auf das Schiff zu. Auf beiden Seiten des Tals verdeckten die Berge den größten Teil des Firmaments. Obwohl die Rex drei Kilometer von der Flußverengung entfernt in einer kleinen Bucht vor Anker lag, verbreiterte sich das Tal an dieser Stelle nur unwesentlich. Die Umgebung wirkte kalt und düster und erzeugte ein 156
Gefühl der Verlorenheit. Es war John nicht leichtgefallen, die Moral seiner Leute an diesem Ort hochzuhalten. Burton gähnte, reckte sich und dachte darüber nach, ob er sich eine Zigarette oder eine Zigarre anzünden sollte. Verdammte Schlaflosigkeit! In den sechzig Jahren, die er sich nun auf dieser Welt befand, hätte er eigentlich lernen können, mit den Nöten fertig zu werden, die ihn schon auf der Erde geplagt hatten. (Er war neunzehn gewesen, als die Schlaflosigkeit ihn getroffen hatte.) Man hatte ihm unzählige Ratschläge gegeben, wie er damit fertig werden könnte. Allein die Hindus kannten ein Dutzend Abwehrtechniken, und bei den Moslems sah es nicht anders aus. Auch ein paar der primitiven Stämme aus Tanganjika kannten todsichere Mittel. Auf dieser Welt hatte Burton mehr als eine Methode versucht. Nur el-Musafir, der Sufi, hatte ihm etwas beigebracht, das mehr Resultate gezeigt hatte als jedes andere Verfahren. Aber drei Jahre später war es dem Alten Teufel Schlaflosigkeit doch wieder gelungen, nach und nach in ihm einen Brückenkopf zu errichten. Manchmal fühlte Burton sich schon glücklich, wenn er wenigstens zweimal in sieben Nächten zum Schlafen kam. »Du könntest die Schlaflosigkeit überwinden«, hatte Nur gesagt, »wenn du wüßtest, was sie hervorruft. Dann könntest du direkt gegen sie vorgehen.« »Jaaa«, hatte Burton erwidert. »Wenn ich das wüßte und meine Hand an sie legen könnte, würde ich nicht nur die Schlaflosigkeit überwinden, sondern die ganze Welt.« »Dazu müßtest du zuerst dich selbst erkennen«, hatte der Maure gesagt. »Und wenn dir das gelingt, wirst du schnell einsehen, daß es sich gar nicht lohnt, die Welt zu beherrschen.« Die beiden Wachen am Hintereingang des Deckaufbaus unterhielten sich im Halbdunkel des Landedecks, machten eine Drehung, marschierten zur Decksmitte, präsentierten sich gegenseitig das Gewehr, machten eine erneute Drehung, gingen an den Rand des Landedecks zurück und begannen die ganze Prozedur von neuem. Während dieser Vier-Stunden-Schicht hatten Tom Mix und Grapshink Dienst. Burton hatte deswegen keine Skrupel, sich mit ihnen zu unterhalten, weil sich ganz in der Nähe zwei weitere Wachen befanden, zwei weitere sich im Ruderhaus aufhielten und mehrere andere über das ganze Schiff verteilt waren. Seit dem Überfall von Clemens' Männern stellte John regelmäßig Nachtwachen auf. Burton schwatzte eine Weile mit Grapshink - einem nordamerikanischen Indianer - in dessen Sprache, die zu erlernen ihn einige Anstrengung gekostet hatte. Tom Mix gesellte sich zu ihnen und erzählte einen schmutzigen Witz. Sie lachten darüber, dann sagte Burton, daß er in der äthiopischen Stadt Harar eine andere Version des gleichen Witzes gehört habe. Auch Grapshink behauptete, 157
diese Geschichte zu kennen - nur habe er sie etwa 30.000 v. Chr. auf der Erde gehört. Burton sagte den beiden, er würde jetzt die anderen Wachen kontrollieren. Er stieg über die Treppe zum B- oder Hauptdeck hinab und näherte sich dem Heck. Als er inmitten des Nebels an einem diffusen Licht vorbeikam, sah er aus den Augenwinkeln, daß sich links von ihm etwas bewegte. Bevor er sich umwenden konnte, traf etwas seinen Kopf. Einige Zeit später kam er wieder zu sich. Er lag auf dem Rücken und starrte in den Nebel. Sirenen heulten, einige davon befanden sich in seiner unmittelbaren Nähe. Sein Hinterkopf schmerzte ungeheuer. Er tastete nach der Beule, stöhnte auf und stellte fest, daß seine Finger feucht waren. Als er taumelnd und halb betäubt wieder auf die Beine kam, sah er, daß überall auf der Rex die Lichter angegangen waren. Leute rannten rufend an ihm vorbei. Jemand blieb bei ihm stehen. Alice. »Was ist passiert?« rief sie. »Ich weiß nicht«, sagte Burton. »Jemand hat mich überrumpelt.« Als er sich in Richtung auf den Bug fortbewegen wollte, mußte er anhalten und stützte sich mit einer Hand gegen die Wand. »Komm!« sagte sie. »Ich bringe dich ins Krankenrevier.« »Zum Teufel damit! Bring mich zum Ruderhaus. Ich muß dem König Meldung machen.« »Du bist ja verrückt«, sagte Alice. »Vielleicht hast du ein Loch im Kopf - oder sogar einen Schädelbruch. Du solltest nicht einmal aufrecht gehen. Du solltest auf einer Trage liegen.« »Unsinn«, brummte Burton. Er ging weiter. Alice nahm seinen Arm und legte ihn über ihre Schulter, damit er nicht umfiel. Sie gingen weiter dem Bug entgegen. Er hörte, wie die Anker gelichtet wurden. Die Ketten rasselten in den Löchern. Sie kamen an Leuten vorbei, die die Dampfmaschinengewehre und Raketenwerfer bemannten. »Was ist passiert?« rief Alice einem Mann zu. »Keine Ahnung! Jemand hat gesagt, man hätte das große Beiboot gestohlen. Die Diebe sind damit flußaufwärts gefahren.« Wenn das stimmte, dachte Burton, hatte er es mit jemandem zu tun bekommen, der darauf geachtet hatte, daß niemand die Diebe überraschte. Die >Diebefreien Agentendie fünfte KolonneVorschlag< zur Sprache kam. John hörte sich die Sache an und gab dann bekannt, daß er zunächst mit seinen besten Kampfpiloten, Werner Voss und Kenji Okabe, darüber sprechen müsse. Er könne ihnen nicht befehlen, diese Bedingungen einfach hinzunehmen. Und außerdem: Wer seien Clemens' Piloten? Byron sagte, dies seien William Barker, ein Kanadier, und Georges Guynemer, ein Franzose. Beide waren im Ersten Weltkrieg bekannt gewesen. Über diese Flieger gab es noch mehr zu sagen. Nachdem John sich ihre Lebensgeschichten angehört hatte, rief er Voss und Okabe ins Ruderhaus und erzählte ihnen, was geschehen war. Die Männer zeigten Verwunderung, aber nachdem sie sich an den Gedanken gewöhnt hatten, unterhielten sie sich miteinander. Und dann sagte Okabe: »Sire, wir fliegen nun seit zwanzig Jahren für Sie. Obwohl es hin und wieder auch gefährlich war, ist unsere bisherige Arbeit doch meistens langweilig gewesen. Wir haben auf diesen Augenblick gewartet; uns war klar, daß er eines Tages eintreten würde. Es geht weder gegen Angehörige unserer eigenen Nation noch gegen ehemalige Alliierte, obwohl ich weiß, daß mein Land im Ersten Weltkrieg mit England und Frankreich verbündet war. Wir übernehmen den Auftrag. Wir sind bereit.« Burton dachte: Wer sind wir? König Arthurs Ritter? Idioten? Oder beides? Aber trotzdem war ein Teil seines Ichs mit dieser Vorgehensweise nicht nur einverstanden, sondern verspürte auch eine ausgesprochene Erregung. 27 168
Ein paar Kilometer vom Eingang des Sees entfernt war die Nicht vermietbar am rechten Ufer vor Anker gegangen. Das Beiboot Plakate ankleben verboten brachte Göring nach Aglejo. Dafür, daß Clemens La Viro nicht sofort besuchen konnte, ließ er ihm eine Entschuldigung überbringen. Leider, sagte er, habe eine wichtige Angelegenheit ihn aufgehalten. Aber er wolle entweder am folgenden Nachmittag oder am übernächsten zum Tempel kommen. Göring hatte Clemens inständig gebeten, mit John Friedensgespräche zu führen. Wie zu erwarten gewesen war, hatte Clemens abgelehnt. »Der Schlußakt dieses Dramas ist schon viel zu lange aufgeschoben worden. Die Pause hat verdammte vierzig Jahre gedauert. Nun wird mich niemand mehr daran hindern, die Sache endlich abzuschließen.« »Dies hier ist kein Theaterstück«, sagte Hermann. »Es wird echtes Blut fließen. Der Schmerz wird fühlbar sein. Und die Toten wirklich. Und wofür?« »Ich habe meine Gründe«, sagte Sam. »Und will jetzt nicht mehr darüber sprechen.« Er paffte wütend an seiner langen grünen Zigarre. Göring erteilte ihm schweigend mit drei Fingern seinen Segen und verließ das Ruderhaus. Den ganzen Tag über wurde das Schiff auf Vordermann gebracht. Dicke Duraluminiumplatten mit kleinen Gucklöchern kamen vor die Fenster. Türen aus gleichem Material sicherten die Ausgänge der Korridore und Laufgänge. Man überprüfte die Munition und feuerte zur Probe ein paar Mal die Dampfmaschinengewehre ab. Auch die pneumatischen Hebevorrichtungen für die Horizontal- und Vertikalbewegung der 88-mm-Kanonen wurden getestet. Man brachte die Raketenwerfer in Stellung und unterzog die dazugehörige Nachschubanlage einer eingehenden Überprüfung. Auch die mit Druckluft arbeitende Kanone wurde getestet. Nachdem man die Flugzeuge voll unter Waffen gestellt hatte, überprüfte man deren Funktionen. Die Beiboote wurden ebenfalls ausgerüstet. Man checkte die Radargeräte, den Sonar und die Infrarotdetektoren. Die Enterbrücken wurden ausgefahren und wieder eingezogen. Jede Station hatte ein Dutzend Übungen abzuwickeln. Nachdem man noch am gleichen Abend den Batacitor und die Gräle aufgefüllt hatte, lief die Nicht vermietbar aus und beschrieb einen zehn Kilometer umfassenden Kreis. Unterwegs wurden weitere Übungen gemacht. Die Radargeräte kämmten die Umgebung ab und meldeten, daß die Rex sich nicht in Reichweite befand. Bevor die Mannschaft zu Bett ging, hielt Clemens im Großen Salon eine Rede, die beinahe jeder hörte. Jene, die auf Wache waren, konnten sie über das Lautsprechersystem mithören. Sam sprach nur kurz, aber seine Worte waren ernst. »Wir haben eine phantastische Reise hinter uns gebracht«, sagte er, »und zwar auf einem Fluß, der möglicherweise der längste des Universums ist. Wir haben 169
Glück gehabt und Fehlschläge erlitten. Wir haben Tragödien erlebt und Schmerzen ertragen müssen; wir haben Langeweile gehabt, Komödien durchlebt und uns manchmal feige und manchmal heroisch verhalten. Wir haben dem Tod mehr als einmal ins Gesicht gesehen. Wir haben zusehen müssen, wie die, die wir liebten, starben - aber wir haben auch jene sterben sehen, die wir haßten. Wir haben eine lange Fahrt hinter uns. Sie war 12.000.000 Kilometer lang. Das ist etwa die Hälfte der Flußlänge, die wir auf 25.000.000 Kilometer schätzen. Es war wirklich eine lange Reise. Hätten wir sie zu Fuß zurückgelegt, liefen wir jetzt immer noch. Wir wären höchstens 400.000 Kilometer weit gekommen und hätten noch über 11.000.000 zurückzulegen. Jeder, der auf diesem Schiff anheuerte, hat vorher gewußt, was ihn die Fahrt auf dem größten und luxuriösesten Gefährt dieser Welt kosten wird. Jeder ist auf den Preis der Fahrkarte hingewiesen worden. Er wird am Ende der Reise kassiert, nicht am Anfang. Ich kenne jeden von euch so gut, wie ein Mensch den anderen kennen kann. Ihr seid ausgewählt worden und habt mein Urteil voll bestätigt. Ihr seid durch viele Tests gelaufen und habt sie mit Auszeichnung bestanden. Deshalb bin ich absolut überzeugt davon, daß ihr auch die morgige letzte Prüfung bestehen werdet. Aber ich rede wie ein Mathelehrer an einem Gymnasium oder ein Fußballtrainer während der Halbzeit. Tut mir leid. Dieser Test ist ebenso wie dieses Spiel tödlich, und einige von euch, die jetzt noch leben, werden morgen Abend nicht mehr unter uns sein. Jeder von euch hat den Preis gekannt, als er anheuerte; versucht also nicht, eure Reise als Schwarzfahrt zu betrachten. Aber wenn wir den morgigen Tag hinter uns gebracht haben ...« Sam hielt inne und sah sich um. Joe Miller, der auf dem Podium auf einem großen Stuhl saß, sah traurig drein. Tränen liefen über seine faltigen Wangen. Der kleine de Marbot sprang auf, hob sein Schnapsglas und rief: »Ein dreifaches Hoch auf unseren Kommandanten!« Die Menge ließ ihn laut hochleben. Nachdem sie getrunken hatten, stand der hochgewachsene, dürre und langnasige de Bergerac auf und sagte: »Auf unseren Sieg! Von der Verdammnis und dem Tod John Lacklands ganz zu schweigen!« An diesem Abend blieb Sam lange auf. Im Ruderhaus ging er eine ganze Weile auf und ab. Obwohl das Schiff verankert war, befand sich das gesamte Ruderhauspersonal auf dem Posten. Innerhalb von drei Minuten konnte die Nicht vermietbar den Anker lichten und mit Höchstgeschwindigkeit in die Mitte des Sees vorstoßen. Wenn John trotz seines Versprechens einen Nachtangriff wagen sollte, war Sams Schiff darauf vorbereitet. 170
Die im Ruderhaus anwesenden Männer sprachen wenig. Sam wünschte ihnen eine gute Nacht, ging hinaus und wanderte ein paar Minuten über das Flugdeck. An den Ufern brannten zahlreiche Feuer. Die Bewohner Virolandos wußten, was am nächsten Tag auf sie zukam. Sie waren zu aufgeregt und zu ängstlich, um heute zur gleichen Zeit wie sonst schlafen gehen zu können. Etwas früher war La Viro persönlich am Ufer in einem Fischerboot erschienen und hatte um die Erlaubnis gebeten, an Bord kommen zu dürfen. Mit Hilfe einer Flüstertüte hatte Sam ihm verständlich gemacht, daß er ihn zwar gerne treffen würde, aber nicht dazu in der Lage sei, vor dem nächsten Tag irgend etwas zu diskutieren. Er hatte gesagt, es täte ihm zwar leid, aber so stünden die Dinge nun einmal. Der große, dunkelhäutige Mann mit den tieftraurigen Zügen war gegangen nicht jedoch, ohne ihn vorher zu segnen. Sam fühlte sich beschämt. Als nächstes schritt Sam die einzelnen Decks ab, um sich von der Wachsamkeit seiner Leute zu überzeugen. Die Resultate erfreuten ihn nicht nur, sondern er sagte sich auch, daß es närrisch sei, noch weiterhin in dieser Weise auf dem Schiff herumzuschleichen. Außerdem würde Gwenafra erwarten, daß er zu ihr ins Bett kam. Möglicherweise wollte sie auch, daß er es mit ihr trieb, denn immerhin bestand die Möglichkeit, daß am nächsten Tag einer von ihnen nicht mehr unter den Lebenden weilte. An sich war ihm im Augenblick nach solchem Vergnügen gar nicht zumute, aber Gwenafra besaß unter anderem auch die Fähigkeit, seinen Geist zu beflügeln. Er hatte sich nicht geirrt. Sie bestand darauf, aber als das Nichtvorhandensein seines Enthusiasmus offensichtlich wurde und sie mit liebevollster Zuwendung auch keinen hervorrufen konnte, gab sie es auf. Sie machte ihm jedoch keine Vorwürfe, sondern bat ihn darum, sie zu umarmen und mit ihr zu reden. Es kam selten vor, daß Sam dazu keine Zeit hatte, also verbrachten sie zumindest zwei Stunden mit Gesprächen. Kurz bevor sie in Schlaf fielen, sagte Gwenafra: »Ich frage mich, ob Burton vielleicht auf der Rex sein könnte. Wäre das nicht komisch? Ich meine, eigenartig, nicht zum Lachen. Es wäre außerdem schrecklich.« »Du bist wohl über die Kleinmädchenverehrung, die du ihm entgegengebracht hast, nie hinweggekommen, wie?« knurrte Sam. »Er muß wirklich jemand gewesen sein. Jedenfalls für dich.« »Nein, das bin ich wirklich nicht«, sagte sie. »Obwohl ich mir natürlich nicht sicher bin, daß ich ihn auch jetzt noch mögen würde. Aber trotzdem: Was wäre, wenn er zu König Johns Leuten gehörte und wir ihn töteten? Ich würde es nicht verwinden. Was wäre, wenn jemand, den du geliebt hast, sich auf der Rex aufhielte?« »Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Sam. »Ich werde mir deswegen keine grauen Haare wachsen lassen.« 171
Das tat er aber doch. Denn lange nachdem Gwenafra in einen tiefen Schlummer gefallen war, lag er noch wach. Was war, wenn sich Livy auf der Rex befand? Aber das konnte nicht sein. Immerhin waren es Johns Leute gewesen, die sie in Parolando umgebracht hatten. Sie würde nie auch nur einen Fuß auf das Schiff setzen. Das heißt, vielleicht doch, wenn sie an John Rache nehmen wollte. Aber nein, das würde sie nicht tun. Für solche Dinge war sie viel zu sanft, auch wenn sie zu kämpfen verstand, wenn es um ihre Lieben ging. Aber Rache nehmen? Unmöglich. Clara? Jean? Susy? Ob eine von ihnen auf der Rex war? Die Möglichkeit war zwar sehr gering, aber nicht auszuschließen. Und außerdem kamen mathematische Unmöglichkeiten hin und wieder dennoch vor. Eine Rakete, die von seinem Schiff aus abgefeuert wurde, konnte sie töten. Und dann würde er sie für immer verlieren, denn Wiedererweckungen gab es nicht mehr. Beinahe - beinahe - wäre Sam aufgestanden, in das Ruderhaus gegangen und hätte dem Funker befohlen, mit der Rex Kontakt aufzunehmen, um eine Botschaft durchzugeben, die besagte, daß er Frieden schließen, die Schlacht absagen und jeglichen Haß und Rachedurst vergessen wolle. Beinahe. John würde sowieso nicht darauf eingehen. Aber woher wollte er, Sam, das wissen, wenn er John nicht einer Prüfung unterzog? Nein. Einen John kannte man nicht ummodeln. Er war ebenso stur wie sein Gegner, Sam Clemens. »Ich bin ein Ekel«, sagte Sam. Kurz darauf schlief er ein. Erik Blutaxt verfolgte ihn mit seiner blutigen zweischneidigen Waffe. Wie in so vielen schrecklichen Alpträumen lief Sam auch diesmal vor dem schrecklichen Nordmann davon. Hinter ihm schrie Erik: »Bikkja! Ausgeburt eines Misthaufens! Ich habe dir versprochen, daß ich an den Quellen des Flusses auf dich warte! Stirb, du dreckiger Meuchelmörder, stirb!« Stöhnend, schwitzend und mit klopfendem Herzen wachte Sam auf. Welche Ironie, welche poetische Gerechtigkeit, welche Erleichterung, wenn sich herausstellte, daß Erik zufälligerweise an Bord der Rex war. Gwenafra murmelte etwas. Sam streichelte ihren Rücken und sagte leise: »Schlaf, du Gerechte. Du hast niemals jemanden umbringen müssen, und ich hoffe, daß es auch dabei bleibt.« Aber verlangte er in einer gewissen Weise nicht auch von ihr, daß sie morgen einen Mord beging? »Das ist zuviel«, murmelte Sam. »Ich muß jetzt schlafen. Ich muß morgen in bester körperlicher und geistiger Verfassung sein. Sonst... wenn ich vor Erschöpfung ... einen Fehler mache ... was dann?« 172
Aber die Nicht vermietbar war viel größer als die Rex. Und sie war viel besser gepanzert und bewaffnet, um diesen Kampf nicht zu gewinnen. Er mußte schlafen. Plötzlich setzte er sich hin und starrte in die Leere. Sirenen heulten auf. Aus dem an der Wand befestigten Interkom schrie die Stimme des Dritten Offiziers Cregar: »Kapitän! Kapitän! Wachen Sie auf! Wachen Sie auf!« Clemens rollte sich aus dem Bett und begab sich an das Interkom. »Was ist?« fragte er. Griff John im Dunkel der Nacht an? Dieser dreckige Hundesohn! »Die Infrarotbeobachter berichten, daß sieben Mann über Bord gegangen sind, Kapitän! Es sieht so aus, als handelte es sich um Deserteure!« Seine kleine Rede, daß die Mannschaft alle Tests bestanden und ihren Mut unter Beweis gestellt hatte, entsprach also doch nicht der Wahrheit. Einige Leute hatten den Mut verloren. Oder, dachte Sam, ihre Vernunft wiedergefunden. Sie waren abgehauen. Ebenso wie er, als der Bürgerkrieg angefangen hatte. Nach zwei Wochen in den Reihen der konföderierten Bürgerwehr von Missouri, als einer seiner Kameraden einen unschuldigen Passanten erschossen hatte, war er desertiert und nach Westen gegangen. Eigentlich konnte er den sieben Leuten nichts verübeln. Natürlich durften die anderen nicht erfahren, daß er so über sie dachte. Er würde eine grimmige Miene aufsetzen, vor Wut schäumen, ein wenig herumtoben und diese Ratten verfluchen. Im Dienst von Disziplin und Moral konnte er gar nicht anders. Er hatte kaum die Liftkabine betreten, um sich aufs Pilotendeck tragen zu lassen, als plötzlich die Erleuchtung kam. Die sieben Leute waren keine Feiglinge. Sie waren Agenten! Es gab keinen Grund für sie, an Bord zu bleiben und sich töten zu lassen. Sie standen unter einem anderen Kommando als Clemens und die Nicht vermietbar. Sam begab sich ins Ruderhaus. Das gesamte Schiff war hell erleuchtet. Einige Suchscheinwerfer zeigten mehrere Männer und Frauen, die sich am Ufer entlangbewegten und dabei Gralzylinder mit sich trugen. Sie rannten, als seien ihre tiefsten Ängste körperlich geworden und ihnen auf den Fersen. »Sollen wir auf sie schießen?« fragte Cregar. »Nein«, sagte Sam. »Wir könnten dabei Einheimische treffen. Laßt sie gehen. Nach der Schlacht können wir sie uns immer noch schnappen.« Er zweifelte nicht daran, daß die sieben im Tempel Zuflucht suchen würden. La Viro würde sie ihm natürlich nicht ausliefern. Sam gab Cregar den Befehl zu einem Rundruf. Nachdem man festgestellt hatte, wer die sieben Flüchtlinge waren, schaute Sam sich ihre Namen auf einem Bildschirm an. Vier Männer und drei Frauen. Alle hatten behauptet, noch nach 1983 gelebt zu haben. Sein Mißtrauen dieser Behauptung gegenüber war also 173
nicht unbegründet gewesen. Aber jetzt war es zu spät, um noch irgend etwas zu unternehmen. Nein. Er konnte zwar im Augenblick nichts tun, aber nach der Schlacht würde sich schon eine Möglichkeit bieten, der Deserteure habhaft zu werden und sie zu verhören. Diese Leute wußten genug, um wenigstens die Hälfte des Rätsels zu lösen, mit dem er sich abplagte. Vielleicht wußten sie sogar genug, um es ganz aufzulösen. Er sprach mit Cregar. »Sirenen abstellen. Sagen Sie der Mannschaft, es habe sich um einen falschen Alarm gehandelt. Die Leute sollen wieder ins Bett gehen. Gute Nacht.« Aber es war keine gute Nacht. Sam wachte mehrmals auf und litt unter schrecklichen Alpträumen.
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ABSCHNITT 9 Die erste und letzte Luftschlacht der Flußwelt 28 Mittagszeit im Tal von Virolando. Seit dreißig Jahren war der Himmel unter der Zenitsonne ein Kaleidoskop buntscheckiger Gleiter und Ballons gewesen. Heute sah das Blau so ungefleckt aus wie das Auge eines Säuglings. Der Fluß, auf dem es sonst von Schiffen mit weißen, roten, schwarzen, grünen, violetten, purpurnen, orangefarbenen und gelben Segeln wimmelte, lag wie ausgestorben da. An beiden Ufern riefen die Trommeln: Bleibt der Luft und dem Wasser fern und geht nicht ans Ufer! Trotz dieser Warnung war das linke Ufer dicht belebt. Die Mehrheit der Neugierigen hielt sich allerdings auf den Felsnadeln oder den sie miteinander verbindenden Brücken auf. Jeder wollte die Schlacht miterleben. Die Neugier hatte die Furcht besiegt. Nicht einmal die zahlreichen Anweisungen La Viros konnten die Menschen dazu bewegen, diesem Spektakel fernzubleiben. Die Wächter, die versuchten, die Zuschauer in ungefährliche Gefilde zurückzudrängen, wurden einfach ignoriert. Da man in Virolando Waffen des zwanzigsten Jahrhunderts noch nie gesehen hatte - tatsächlich gab es hier nichts, das über Kriegsgerät des Jahres eins hinausging -, besaß niemand eine Ahnung, was sich hier abspielen würde. Nur wenige der Neugierigen hatten bisher überhaupt Gewalttätigkeiten - allenfalls Handgreiflichkeiten privater Natur – kennen gelernt. Und so nahmen die Unschuldigen auf der Ebene Platz und erkletterten die Felsen. La Viro hockte kniend im Tempel und betete. Hermann Göring, dem es nicht gelungen war, ihn zu trösten, stieg über eine Leiter auf einen Felsturm hinauf. Obwohl er seine Lasterhaftigkeit zutiefst verabscheute, hatte er die Absicht, dem Kampf zuzusehen. Er mußte offen zugeben, daß er so gespannt war wie ein Kind, das auf die erste Zirkusnummer wartet. Es war bedauernswert, aber er würde noch einen weiten Weg gehen müssen, ehe er den alten Göring völlig vernichtet hatte. Aber er konnte dem Kampf und dem Blutvergießen einfach nicht fernbleiben. Er zweifelte nicht daran, daß er dies bitter bereuen würde. Aber bis jetzt war so etwas auf der Flußwelt noch nicht vorgekommen. Es würde auch bei diesem einen Mal bleiben. Er durfte es nicht verpassen. Tatsächlich sehnte er sich einen Augenblick lang danach, eines dieser Flugzeuge zu fliegen. 175
Ja, er hatte noch einen langen Weg zu gehen. Warum sollte er sich zwischenzeitlich nicht noch einmal ein kleines Vergnügen gönnen? Er war ja bereit dazu, anschließend mit Seelenpein dafür zu bezahlen. Die gigantischen Schiffe mit den Namen Nicht vermietbar und Rex Grandissimus pflügten durch die Wellen und fuhren aufeinander zu. Momentan trennte sie noch eine Entfernung von etwa zehn Kilometern. Man war übereingekommen, bei einer Entfernung von siebeneinhalb beizudrehen, wenn die Luftschlacht bis dahin nicht zu Ende war. Danach gab es keine Regeln mehr. Jeder konnte vorgehen, wie er wollte - und der Bessere würde gewinnen. Sam Clemens wanderte auf dem Pilotendeck auf und ab. Eine ganze Stunde lang hatte er alle Stationen überprüfen lassen und den Leuten noch einmal den Schlachtplan erläutert. Der Trupp, der den SW bedienen sollte, hatte auf dem A-Deck Stellung bezogen und wartete ab. Auf ein Signal hin würde er den SW hinaufbringen und hinter dem dicken, stählernen Schild aufstellen, der bisher das vordere Dampfmaschinengewehr abgeschirmt hatte. Letzteres war abmontiert worden. Die Plattform, auf dem es gestanden hatte, war nun fertig für den SW. Die Bedienungsmannschaft des Dampf-MGs hatte natürlich Erstaunen gezeigt, als an sie der Befehl ergangen war, die Waffe zu entfernen. Sie hatte Fragen gestellt, die ohne Antwort geblieben waren. Schon gingen die Gerüchte um, vom Bug zum Heck und von einem Deck zum anderen. Was hatte dieser komische Befehl des Kapitäns zu bedeuten? Was ging hier vor? Inzwischen hatte Clemens dreimal mit William Fermor, dem Marineleutnant, der die SW-Mannschaft befehligte, gesprochen. Er ließ keinen Zweifel daran, für wie wichtig er Fermors Aufgabe hielt. »Ich mache mir immer noch Sorgen wegen Johns Agenten«, sagte er. »Ich weiß, daß jedermann an Bord dreimal überprüft wurde - aber was bedeutet das schon? Jeder von John geschickte Saboteur wird sowenig von den anderen zu unterscheiden sein wie ein Nebenarm des Missouri vom anderen. Ich will, daß jeder, der dem SW nahe kommt, bis aufs Hemd gefilzt wird.« »Was könnten sie tun?« fragte Fermor und meinte damit die Bedienungsmannschaft. »Sie sind alle unbewaffnet. Ich habe ihnen sogar unter die Kilts geschaut, um mich davon zu überzeugen, daß sie nicht irgend etwas dort verstecken. Ich muß Ihnen sagen, daß das den Jungs gar nicht gefallen hat. Sie sind der Meinung, daß man ihnen vertrauen müsse.« »Sie sollten die Notwendigkeit einsehen«, sagte Clemens. Die Uhr im Kontrollraum zeigte 11.30 Uhr an. Clemens warf einen Blick aus dem rückwärtigen Bullauge. Das Flugdeck war bereit. Man hatte die Maschinen mit Aufzügen heraufgebracht, und eine davon befand sich auf dem Dampfkatapult am anderen Ende des Decks. Es waren zwei; die beiden einzigen Einsitzer, die die lange 176
Reise überlebt hatten. Die Maschinen hatten eine Reihe von Bruchlandungen und ebenso viele Reparaturen hinter sich. Die beiden ursprünglichen Einsitzer waren zerstört worden: der eine während eines Kampfes, der andere durch einen Unfall. Die Ersatzmaschinen, aus eingelagerten Einzelteilen montiert, waren Doppeldecker mit alkoholverbrennenden Reihenmotoren, die in der Lage waren, sie mit einer Geschwindigkeit von 240 Kilometern in der Stunde voranzutreiben. Anfangs hatte man die Motoren mit synthetischem Benzin gespeist, aber die Vorräte waren längst aufgebraucht. Im Bug, direkt vor dem offenen Cockpit, befanden sich die von Zwillingsgurten mit Munition versorgten Maschinengewehre vom Kaliber .50. Sie konnten fünfhundert Schüsse in der Minute abgeben. Die Munition hatte man während der langen Reise extra für einen Fall wie diesen aufgespart. Erst vor wenigen Tagen waren die Hülsen neu gefüllt und jede einzeln auf ihre exakte Länge, Breite und Geradlinigkeit hin untersucht worden. Man wollte nicht riskieren, daß sie die MG-Läufe beschädigten. Sam warf erneut einen Blick auf die Uhr und ließ sich dann vom Aufzug auf das Flugdeck hinunterbringen. Ein kleiner Jeep brachte ihn zu den Maschinen, wo die Einsatzgruppe und die Reserve- und Chefpiloten ihn erwarteten. Beide Maschinen waren weiß angemalt. Auf dem Ruder und den Unterseiten der unteren Schwingen leuchtete ein scharlachfarbener Phönix. Eine der Maschinen wies an den Seiten das Bild eines fliegenden Storches auf. Unterhalb des Cockpits leuchteten schwarze Buchstaben. Vieux Charles. Der alte Charlie. Georges Guynemers Spitzname für die Maschinen, die er während des Ersten Weltkriegs geflogen hatte. Auf beiden Cockpitseiten der anderen Maschine befand sich der Kopf eines bellenden, schwarzen Hundes. Die beiden Piloten waren in weißes Bleichfischleder gekleidet. Die knielangen Stiefel waren ebenso wie ihre Lederhosen mit roten Biesen versehen. Auf der linken Brustseite trugen ihre Jacken den scharlachfarbenen Phönix. Die Helme der Flieger waren mit einer kleinen Spitze versehen, die man aus dem Horn eines Hornfisches gemacht hatte. Die Piloten trugen weiße Handschuhe mit roten Stulpen, und ihre Schutzbrillen waren rot abgesetzt. Als Clemens den Jeep verließ, standen sie neben dem alten Charlie und waren in ein ernstes Gespräch vertieft. Als er auf sie zukam, knallten sie die Hacken zusammen und salutierten. Clemens schwieg einen Moment lang und musterte die Männer. Obwohl die beiden ihre großen Erfolge erst nach seinem Tod gehabt hatten, vertraute er völlig auf sie. Georges Guynemer war ein dürrer Mann von mittlerer Größe mit durchdringenden, schwarzen Augen und einem Gesicht, das beinahe weibliche Schönheit aufwies. Wenn er sich nicht gerade in seiner Kabine aufhielt, bewegte er sich, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Die Franzosen hatten diesen Mann 177
>das As der Asse< genannt. Natürlich hatte es andere gegeben - Nungesser, Dorme oder Fonck -, die mehr Boches vom Himmel geholt hatten, aber zu deren Zeiten hatte es eben mehr Aktionen gegeben, denn Georges' Karriere war relativ früh zu Ende gegangen. Der Franzose gehörte zu jenen geborenen Fliegern, die ganz automatisch zu einem Teil ihrer Maschine wurden. Er war wie ein fliegender Zentaur - und außerdem ein exzellenter Mechaniker und Techniker, der es verstand, seine Maschine, seine Bewaffnung oder irgendwelche Improvisationen ebenso sorgfältig zu überprüfen wie seine berühmten Kollegen Mannock und Rickenbacker. Während des Krieges hatte er scheinbar für nichts anderes als das Fliegen und den Luftkampf gelebt. Soweit man damals gewußt hatte, pflegte er mit Frauen keinen Umgang. Seine einzige Vertraute war seine Schwester Yvonne gewesen. Obwohl er viele Flugkunststücke beherrschte, nutzte er sein diesbezügliches Talent nur selten. Wenn Guynemer in den Kampf zog, pflegte er, wie seine Kameraden aussagten, >sofort voll reinzuhauenentsetzlich< ausgesehen habe: »Seine Augen allein konnten einen Menschen niederschlagen.« Und das war der Mann, den die französischen Bodentruppen als nicht kriegsverwendungsfähig eingestuft hatten. Guynemer wirkte zerbrechlich, war leicht erkältet, hustete viel und war unfähig, sich nach den Kämpfen in der gleichen Weise zu entspannen wie seine Kameraden. Er machte den Eindruck eines Schwindsüchtigen und war es möglicherweise auch. Aber die Franzosen liebten ihn, und als er am 11. April 1917, seinem Unglückstag, das Leben verlor, beweinte ihn die ganze Nation. Eine ganze Generation lang erzählte man den Schulkindern die Legende vom Piloten, der so hoch geflogen sei, daß die Engel ihn nicht mehr zur Erde zurückkehren lassen wollten. Die Wahrheit - die man natürlich wußte - bestand darin, daß er wie üblich wieder einmal allein gewesen und von einem weitaus weniger bekannten Flieger, einem gewissen Leutnant Wissemann, abgeschossen worden war. Guynemers Maschine war auf einem Schlachtfeld abgestürzt, das gerade von einem gewaltigen Artilleriebeschuß umgepflügt wurde. Noch bevor das Donnern der tausend Explosionen verstummte, waren Guynemer und seine Maschine in Stü178
cke gerissen worden, hatten sich mit dem Schlamm vermischt und waren restlos verschwunden. Aus seinem Fleisch, seinen Knochen und seinem Flugzeug war nicht Staub geworden, sondern Morast. Auf der Flußwelt hatte Georges das Rätsel um seinen Tod selbst gelöst. Er war zwischen den Wolken umhergeflogen, weil er gehofft hatte, dort einen oder ein Dutzends Boches - wie viele, war ihm egal - überraschen zu können. Dann hatte er angefangen zu husten. Sein Husten wurde ziemlich schlimm. Plötzlich hatte er Blut gespuckt, das über seine pelzgefütterte Kombination gelaufen war. Seine Befürchtung, daß er an Tuberkulose litt, hatte sich damit bestätigt. Aber er konnte nichts dagegen tun. Als sein Bewußtsein zu schwinden drohte und er kaum noch etwas sah, entdeckte er ein sich ihm näherndes deutsches Kampfflugzeug. Obwohl er im Sterben lag - oder dies zumindest glaubte -, wandte er sich dem Feind zu. Seine MGs spuckten Feuer, aber die tödliche Zielgenauigkeit, für die er bekannt war, hatte ihn verlassen. Der Deutsche jagte steil aufwärts, und Guynemer blieb ihm hart auf den Fersen. Einen Augenblick lang verlor er ihn aus den Augen, dann zersiebten die Kugeln seines Gegners Guynemers Windschutzscheibe von hinten. Er verlor das Bewußtsein. Er erwachte nackt am Ufer des Flusses, hatte die weiße Pest überwunden und ein wenig mehr Fleisch angesetzt. Er war immer noch stark, aber nicht mehr so wie 1917. Er teilte seine Kabine mit einer Frau, die nun um ihn weinte. William George Barker, der Kanadier, war ein geborener Flieger, dem nach einer einzigen Instruktionsstunde ein unglaubliches Bravourstück gelungen war. Am 27. Oktober 1918 war er als Major der RAF-Schwadron Nr. 201 allein in einer Sopwitch Snipe geflogen. In einer Höhe von siebentausend Metern über dem Marmalwald schoß er ein zweisitziges Beobachtungsflugzeug ab. Einer der beiden feindlichen Flieger rettete sich mit dem Fallschirm. Als Barker das sah, war er nicht nur erstaunt, sondern auch ein wenig wütend, denn den alliierten Piloten hatte man grundsätzlich keine Fallschirme zugestanden. Plötzlich tauchte eine Fokker auf, und Barker wurde von einer Kugel in die rechte Hüfte getroffen. Seine Snipe fing an zu trudeln, aber er bekam sie wieder unter Kontrolle und stellte fest, daß ihn nun fünfzehn weitere umzingelt hatten. Zwei davon, die er mit einem Kugelhagel belegte, schlug er in die Flucht. Eine weitere, die nur wenige Meter von ihm entfernt war, bekam einen Treffer und ging in Flammen auf. Aber Barker handelte sich eine zweite Verwundung ein, diesmal am linken Bein. Er verlor die Besinnung und kam gerade noch rechtzeitig wieder zu sich, um die Maschine vor einem erneuten Abtrudeln zu bewahren. Er war von etwa zwölf bis fünfzehn Fokker-Maschinen umgeben. Einer davon, die kaum mehr 179
als eine Armlänge entfernt war, schoß er das Heck ab. Kurz darauf zerschmetterte eine Kugel aus einem Spandau-MG seinen linken Ellbogen. Barker verlor erneut das Bewußtsein, kam wieder zu sich und fand sich inmitten von etwa zwölf Deutschen wieder. Die Snipe begann zu qualmen. Da er glaubte getroffen worden zu sein und in Flammen zu stehen, faßte er den Plan, einen der feindlichen Flieger zu rammen. Als seine Maschine auf die nächstbeste zuraste, änderte er ihn jedoch, feuerte und schoß den Gegner in Stücke. Indem er nach unten wegtauchte, erreichte er die britischen Linien und baute in der Nähe eines Beobachtungsballons eine Bruchlandung. Dieser Flug, den man allgemein als die größte Ein-Mann-Luftschlacht unter den widrigsten Umständen bezeichnete, war Barkers letzter gewesen. Er lag zwei Wochen im Koma, und als er wieder zu sich kam, war der Krieg aus. Man verlieh ihm für sein Meisterstück das Viktoria-Kreuz, aber noch lange danach mußte er auf Krücken gehen und trug den Arm in der Schlinge. Trotz seiner starken Schmerzen flog er weiter und half beim Aufbau der Royal Canadian Air Force. Zusammen mit William Bishop, einem anderen großen Fliegeraß, gründete er die erste kanadische Luftfahrtgesellschaft. Er starb 1930 bei einem Testflug mit einer neuen Maschine, die ohne ersichtlichen Grund abstürzte. Seine Akte sprach von fünfzig Abschüssen; andere Quellen behaupteten, er habe dreiundfünfzig Luftsiege davongetragen. Das gleiche behauptete auch Guynemer. Clemens schüttelte den beiden Männern die Hand. »Wie ihr wißt«, sagte er, »bin ich ein erklärter Gegner von Duellen. Ich habe derartige Verhaltensweisen in meinen Büchern verspottet und euch oft genug erzählt, wie verabscheuungswürdig ich es finde, wenn man Meinungsverschiedenheiten dadurch aus der Welt schafft, indem man einander tötet. Ich bin andererseits aber auch der Meinung, daß jeder, der dumm genug ist, ein Duell für eine Problemlösung zu halten, den Tod verdient hat. Nun hätte ich allerdings nichts gegen einen Luftkampf gehabt, wenn ich sicher gewesen wäre, daß ihr - wie in den alten Zeiten - nach eurem Tod am nächsten Tag wieder leben würdet. Aber nun ist es ernst. Ich hatte natürlich meine Vorbehalte, wie Sitting Bull einst zu General Custer sagte, aber ihr beiden erscheint mir so kampflustig wie Schlachtrösser beim Klang eines Trompetensignals, daß ich keinen Grund sah, Johns Angebot abzulehnen. Trotzdem frage ich mich, welche Absichten er hat. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß er irgendeine Heimtücke plant. Ich habe mein Einverständnis nur deswegen erklärt, weil ich mit einem seiner Offiziere sprach. Er hat Männer um sich, die ich kannte oder von denen ich wußte, daß sie ehrliche Männer sind. Aber was Leute wie William Goffe und Peder Tordenskjöld auf seinem Schiff machen und warum sie diesem Halunken dienen, kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht geht John heutzutage nach einer anderen Methodik vor, aber 180
ich weigere mich zu glauben, daß sich sein Charakter grundlegend geändert hat. Auf jeden Fall hat man mir versichert, daß man sich an die Spielregeln halten wird. Die Piloten der Rex werden im gleichen Moment aufsteigen wie ihr. Ihre Maschinen sind lediglich mit MGs ausgerüstet und verfügen über keine Raketen.« »Das haben wir alles schon durchgekaut, Sam«, sagte Barker. »Wir glauben, daß du ... daß wir im Recht sind. Schließlich hat John dein Schiff gestohlen und versucht, dich umzubringen. Wir wissen, daß wir es mit einem niederträchtigen Halunken zu tun haben. Und außerdem ...« »Und außerdem könnt ihr beide es gar nicht erwarten, mal wieder in eine Schlacht zu ziehen«, sagte Sam. »Ihr leidet an einer Krankheit namens Nostalgie, wißt ihr das? Habt ihr vergessen, wie brutal und blutig die alten Zeiten auf der Erde waren?« Guynemer sagte ungeduldig: »Diese Brüder müssen einfach feige sein, sonst wären sie nicht auf der Rex. Außerdem stünden wir als Feiglinge da, würden wir ihre Herausforderung nicht annehmen.« Barker sagte: »Wir werfen jetzt die Motoren an.« »Nun«, sagte Sam, »wie ich sehe, hätte ich mir meine Worte ebenso gut sparen können. So long, Boys! Und viel Glück! Mögen die Besten gewinnen. Ich zweifle nicht daran, daß ihr das seid!« Er schüttelte den Fliegern noch einmal die Hände und machte Platz. Ihre Einstellung, das war ihm klar, war tapfer und närrisch zugleich. Aber er hatte sie zumindest auf seine Vorbehalte hingewiesen. Daß er sie in letzter Minute überhaupt noch angesprochen hatte, lag an seiner Nervosität. Er hätte besser gar nichts sagen sollen. Aber wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß er auf diesen Augenblick gewartet hatte. Er kam sich vor wie ein Mann, der irgendwelchen tapferen Rittern einen guten Erfolg wünschte. Nicht etwa, daß er die Ritter alter Zeiten in sein Herz geschlossen hätte. Er verabscheute sie, denn sie hatten nicht nur die Bauern unterdrückt und ausgeplündert, sondern sich auch noch ihrer eigenen Klasse gegenüber als äußerst mörderisch erwiesen. Die Ritter der Vergangenheit waren für ihn eine dreckige, blutrünstige Bande. Aber abgesehen von der Wirklichkeit existierten ja auch noch die Mythen. Die Mythen hatten die Menschheit stets geblendet, aber sicher hatten sie auch ihr Gutes. Das Ideal war die Helligkeit, denn die Wirklichkeit bestand aus Schatten. Hier waren zwei ungewöhnlich fähige und couragierte Männer, die bis zum Tod in einem vorbereiteten Duell kämpfen würden. Aus welchem Grund? Keiner von ihnen brauchte sich etwas zu beweisen; das hatten sie schon vor langer Zeit getan, als es um wichtigere Dinge gegangen war. Was also trieb sie an? Männlichkeitswahn? Das war es ganz bestimmt nicht. 181
Worin auch immer ihr Motiv bestehen mochte, insgeheim freute Clemens sich darüber. Denn wenn es ihnen gelang, Johns Flieger zu überwinden, konnten sie gegen die Rex vorgehen. Wenn sie verloren, hatte die Nicht vermietbar Johns Maschinen auf dem Hals. Aber darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Der Hauptgrund von Sams Freude bestand darin, daß er dem Kampf zusehen konnte. Das war kindisch - zumindest zeugte es nicht von Erwachsensein. Aber wie die meisten Männer und viele Frauen war er sportbegeistert. Und dies war ein sportliches Ereignis, gleichgültig, wie fatal es für die Teilnehmer auch ausgehen mochte. Auch die Römer hatten gewußt, was sie taten, als sie Gladiatorenkämpfe veranstaltet hatten. Als ein Trompetensignal erklang, schreckte Sam auf. Sofort danach ertönte die mitreißende Melodie >Hinauf in die wilde Bläuefreie< Gräle, die man teilweise geschenkt bekommen, teilweise aber auch gestohlen hatte. Am letzten Gralstein mußten sie noch einmal gefüllt werden, denn danach kam es auf jede Extraration an. Leichtverderbliche Nahrung konnte man im Schiffskühlschrank unterbringen oder in einem Behälter hinter sich herziehen, denn das Wasser war in dieser Gegend sehr kalt. Je weiter sie nach Norden kamen, desto breiter wurde das Tal. Die Ethiker hatten es offenbar deswegen großzügiger konstruiert, damit die hier lebenden Menschen etwas mehr von dem immer schwächer werdenden Sonnenlicht hatten. Die Tagestemperaturen waren mit sechzehn Grad erträglich; zudem dauerten die Tage hier länger als in den hinter ihnen liegenden Regionen. Aber je mehr sie sich dem Norden näherten, desto kälter wurde es. Auch der Nebel verflüchtigte sich hier oben nicht so schnell. Was die Bevölkerungsdichte dieser Region anging, so hatte Göring die Wahrheit gesprochen. Auf einem Quadratkilometer lebten hier kaum hundert Menschen. Aber auch diese Zahl wurde immer geringer, wie die vielen flußabwärts reisenden Schiffe zeigten. Joe Miller stand am Bug und musterte sehnsüchtig die Titanthropen, an denen sie vorbeikamen. Als das Boot anlegte, um neue Energie zu tanken, ging er ans Ufer und sprach mit jedem, der ihm begegnete. Da niemand seine Sprache verstand, mußte er sich mit Esperanto behelfen. »Waf foll'f«, sagte Joe. »Daf meifte davon habe ich fowiefo vergeffen. Jefuf Chriftuf! Werde ich meine Eltern, meine Freunde und meinen Ftamm denn niemalf wiederfinden?« Zum Glück entpuppten sich die Titanthropen als freundlich. Die >Pygmäen< waren nun viel zahlreicher geworden als sie, und die meisten hatten den Glauben der Chancisten angenommen. Burton und Joe versuchten ein paar von ihnen anzuwerben, hatten aber keinen Erfolg. Die Riesen wollten mit den Bewohnern des Turms nichts zu schaffen haben. »Sie haben ausnahmslos Angst vor dem fernen Norden«, sagte Burton. »Ist es dir früher nicht auch so ergangen? Warum bist du mit den Ägyptern gegangen?« Joe plusterte seinen mächtigen Brustkorb auf. »Ich bin eben mutiger alf die anderen. Und auch geriffener. Aber um die Wahrheit fu fagen: Alf ich den Turm fah, hätte ich mir beinahe vor Angft in die Hofen geschiffen. Daf wäre wohl jedem Menschen fo ergangen. Warte nur ab, bif du felbft da bift.« Am zehnten Tag hielten sie an, um eine mehrtägige Pause einzulegen. Die Einheimischen bestanden aus ein paar Titanthropen und einer größeren Anzahl von Skandinaviern, die sowohl alten wie auch mittelalterlichen und modernen Zeiten entstammten. Unter ihnen befanden sich allerdings auch eine Menge Leute aus anderen Zeiten und Gegenden. Diejenigen Männer, die niemanden 278
hatten, der mit ihnen das Lager teilte, hielten sofort Ausschau nach einem entsprechenden Partner für die Nacht. Burton ging herum und fragte, ob jemand die Männer und Frauen gesehen hatte, die mit einem Beiboot der Rex geflohen und später auf andere Art weitergezogen waren. Die Einheimischen sagten übereinstimmend aus, daß die Flüchtlinge hier vorbeigekommen seien. Sie hatten Boote gestohlen und sich nach Norden gewandt. »Sind irgendwelche Leute hier gewesen, die behauptet haben, sie gehörten zur Nicht vermietbar?«, fragte Burton weiter. »Das war das andere große Eisenschiff, daß durch Elektrizität und große Schaufelräder angetrieben wurde.« »Nein, das habe ich weder gehört noch gesehen.« Aber wahrscheinlich waren die Deserteure mit ihrer Identität auch nicht hausieren gegangen. Ebenso wenig wie die Agenten, die Clemens' Schiff verlassen hatten, noch bevor es zu einem Schußwechsel gekommen war. Als Burton allerdings die Beschreibungen der Leute erhielt, die in den vergangenen Wochen in Richtung Norden weitergereist waren, erkannte er alle Deserteure der Rex. De Marbot, der sich ebenfalls umhörte, erkannte wiederum die Leute, die auf der Nicht vermietbar gewesen waren. »Wir werden sie bald eingeholt haben«, sagte Burton. »Wenn wir Glück haben«, meinte der Franzose, »kriegen wir sie mitten in der Nacht. Wenn sie nicht schon von uns gehört haben und sich irgendwo an Land verstecken.« »Auf jeden Fall werden wir als erste da sein.« Zwanzig Tage vergingen. Es gab nun keine andere Möglichkeit mehr: Die Agenten mußten weit hinter ihnen sein. Obwohl Burton das Boot alle dreißig Kilometer anhalten ließ, um die Uferbewohner auszufragen, ließ sich keiner der Gesuchten entdecken. In der Zwischenzeit beobachtete er seine Mannschaft. Nur zwei seiner Leute wiesen die Physiognomie auf, die die Ethiker Thanabur und Loga auszeichnete: Die Männer, die sich Gilgamesch und Ah Qaaq nannten. Beide waren gleichermaßen geheimnisvoll und hatten dunkelbraune Augen. Gilgamesch hatte krauses, beinahe verfilztes Haar. Ah Qaaq besaß leicht schräggestellte Augen, als seien seine näheren Vorfahren Mongolen gewesen. Sie sprachen beide ihre Heimatsprache fließend und - im Gegensatz zu dem Agenten Spruce, der behauptet hatte, ein Engländer des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein - ohne den kleinsten Ansatz eines ausländischen Akzents. Zwar kannte Burton die Sprachen der Sumerer und Mayas nicht besonders gut, aber er wußte genug über sie, um jemanden zu erkennen, der sie falsch aussprach oder betonte. Das konnte nur bedeuten, daß einer der beiden - vielleicht sogar beide - die Sprache, der er sich bediente, meisterhaft beherrschte. Oder beide waren unschuldig und genau diejenigen, die zu sein sie behaupteten. 279
Zweiundzwanzig Tage nachdem sie die Flußenge hinter sich gelassen hatten und sich in einem Gebiet aufhielten, wo auf einen Gralstein nur noch fünfzig Menschen kamen, stieß Burton auf eine große, knochige Frau mit großen Augen und einem ebensolchen Mund. In ihrem schwarzen, afrikanischen Gesicht leuchteten weiße Zähne. Ihr Esperanto krankte an einem breiten SüdstaatenHinterwäldlerdialekt. Ihr Name, sagte sie, sei >Croomes, die Gesegnetem und sie wolle so weit mit dem Boot flußaufwärts fahren wie möglich. Von dort aus wolle sie zu Fuß zu den Quellen vorstoßen. »Dorthin ist meine Mutter Agatha gegangen. Ich suche nach ihr. Ich glaube, sie hat den Herrn gefunden, sitzt nun zu seiner Rechten und wartet auf mich! Halleluja!« 41 Obwohl es ziemlich schwierig war, ihren Sprachfluß zu stoppen, gelang es Burton schließlich, ihr mit lauter und ernster Stimme begreiflich zu machen, daß sie seine Fragen beantworten sollte. »In Ordnung«, sagte sie. »Ich will dem Weisen zuhören. Bist du weise?« »Weise genug«, sagte Burton. »Und zudem mächtig erfahren, was dasselbe ist, wenn du mir folgen kannst. Laß uns von vorne anfangen. Wo bist du geboren, und was warst du auf der Erde?« Die Gesegnete erzählte ihm, daß sie 1734 in Georgia als Sklavin im Hause ihres Herrn zur Welt gekommen sei. Zu früh sogar, denn ihre Mutter war gerade damit beschäftigt gewesen, in der Küche das Abendessen zuzubereiten. Sie war als Haussklavin erzogen und im Glauben ihrer Eltern getauft worden. Nachdem ihr Vater gestorben war, hatte ihre Mutter angefangen zu predigen. Sie war eine sehr gläubige und starke Frau gewesen. Ihre Schäfchen waren ihr mit Respekt begegnet und hatten sie tief verehrt. Die Mutter der Gesegneten war 1783, sie selbst 1821 gestorben. Beide waren in der Nähe des gleichen Gralsteins wiedererweckt worden. »Natürlich war sie keine alte Frau mehr. Es war seltsam, meine alte Mama als junge Frau wiederzusehen. Für sie machte das aber keinen Unterschied. Sie war heilig und rechtschaffen und vom gleichen Geist beseelt wie auf der Erde. Ich sage dir, wenn sie predigte, kamen die Weißen aus großer Entfernung, um sie zu hören. Die meisten davon waren arme Leute, aber Mama überzeugte sie, und dann kriegten sie Schwierigkeiten ...« »Du schweifst schon wieder ab«, sagte Burton. »Aber mehr will ich auch gar nicht wissen. Warum willst du mit uns gehen?« »Weil ihr ein Boot habt, das schneller ist als ein Vogel.« »Aber warum willst du die Quellen des Flusses erreichen?« 280
»Wenn du mich nicht unterbrochen hättest, hätte ich es dir erzählt. Weißt du, als meine Mutter hier erwachte, hat das ihren Glauben nicht im geringsten zum Wanken gebracht. Sie sagte, wir alle seien nun hier, weil wir auf der Erde gesündigt haben. Manche schlimmer als die anderen. Dies ist der Himmel - oder jedenfalls der Weg dorthin. Jesus will, daß wir alle den Jordan hinaufgehen, damit wir an seinem Ende auf ihn stoßen. Er ist da oben und wartet darauf, jene in die Arme zu schließen, die wirklich gläubig sind und keine Mühe scheuen, ihn zu suchen. Und so ging sie. Ich sollte mit ihr gehen, aber ich hatte Angst. Ich wußte auch nicht genau, ob sie recht hatte. Davon habe ich ihr aber nichts gesagt. Ich wollte ihr keinen Schlag versetzen, aber es gibt sowieso niemanden, der dazu stark genug wäre. Ich hatte auch einen sehr netten Mann, der keine Lust hatte, mitzugehen. Er sagte, es gefiele ihm so, wie es sei. Deswegen ließ ich mein Kätzchen für mich denken und blieb bei ihm. Aber dann wurde es schlechter zwischen mir und meinem Alten. Er fing an, hinter anderen Frauen herzulaufen, und ich dachte, das sei vielleicht die Strafe dafür, daß ich Mama nicht gehorcht hatte. Vielleicht hatte sie doch recht. Vielleicht wartete Jesus doch auf die wahren Gläubigen. Außerdem vermißte ich sie, auch wenn wir manchmal miteinander umgegangen waren wie zwei Wildkatzen. Ich lebte eine Weile bei einem anderen Mann, aber der war auch nicht besser als der erste. Und dann, eines Nachts, als ich betete, hatte ich eine Vision. Ich sah Jesus persönlich. Er saß auf seinem Diamanten- und Perlenthron, hinter ihm sangen die Engel, und alles war in ein wunderbares Licht getaucht. Er sagte, ich solle aufhören zu sündigen, meiner Mutter folgen und zu ihr in den Himmel kommen. Also paddelte ich los. Und jetzt bin ich hier. Es sind viele Jahre vergangen, Bruder, und ich habe gelitten wie ein echter Märtyrer Gottes. Meine Knochen und mein Leib sind müde, aber ich bin hier! Letzte Nacht betete ich wieder. Da erschien mir für eine Sekunde meine Mutter und sagte, ich solle mit euch gehen. Sie sagte, du seist zwar kein guter, aber auch kein böser Mensch, du seist irgendwie dazwischen. Aber ich soll diejenige sein, die dich zum Licht führt und dich rettet. Wir werden zusammen in Jesu Königreich eingehen, und er wird uns umarmen und an seinem herrlichen Thron willkommen heißen. Halleluja!« »Halleluja, Schwester!« sagte Burton. Er war stets dazu bereit, sich religiöser Formen zu unterwerfen, wenngleich er auch über ihren Geist lachte. »Vor uns liegt noch ein langer Weg, Bruder. Mein Rücken schmerzt vom vielen Paddeln gegen die Strömung, und ich habe gehört, daß es bald immer kälter und nebliger werden wird. Bald stößt man auf keine lebende Seele mehr. Es wird sehr einsam werden. Deswegen möchte ich mit dir und deinen Freunden weiterziehen.« 281
Warum nicht, dachte Burton. »Für einen haben wir noch Platz«, sagte er. »Da es jedoch möglich ist, daß es zu einem Kampf kommt, nehmen wir keine Pazifisten mit. Wir wollen uns nicht unnötig belasten.« »Wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Bruder. Wenn du auf der Seite der Guten bist, kann ich für euch kämpfen wie ein Racheengel des Herrn.« Ein paar Minuten später brachte sie ihre Habseligkeiten an Bord. Tom Turpin, der schwarze Pianospieler, war über ihr Erscheinen zunächst erfreut. Bald mußte er aber feststellen, daß sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, und fluchte mit zusammengebissenen Zähnen. »Die tickt doch nicht richtig, Kapitän«, sagte er zu Burton. »Warum haben Sie sie an Bord gelassen? Da hat sie nun diesen herrlichen Leib, und alles, was sie damit anfängt, ist, mich damit in den Wahnsinn zu treiben?« »Vielleicht überredet sie Sie auch zu einem Gelübde«, sagte Burton lachend. Turpin hielt das gar nicht für witzig. Als das Boot statt nach der geplanten vier schon nach zwei Tagen wieder ablegte, sang die Gesegnete eine Hymne. Dann rief sie: »Du hast mich gebraucht, Bruder Burton, um auf die richtige Zahl zu kommen! Ihr wart nur elf - und jetzt seid ihr zwölf! Zwölf ist eine gute, eine heilige Zahl! Auch Jesus hatte zwölf Apostel!« »Ja«, sagte Burton leise. »Aber einer davon war Judas.« Er musterte Ah Qaaq, den Maya-Krieger. Er war ein Herkules im Taschenformat und fing nur selten ein Gespräch an. Begann jedoch ein anderer, entzog er sich ihm nicht. Er schreckte nicht einmal zurück, wenn ihn jemand berührte. Laut Joe Miller hatte sich X beim Besuch Clemens' nicht nur verbeten, angefaßt zu werden, sondern sich tatsächlich so benommen, als habe er es mit einem Aussätzigen zu tun. Clemens hatte angenommen, daß der geheimnisvolle Fremde - obwohl er auf die Hilfe der Talbewohner angewiesen war - sich für etwas moralisch Höherwertiges hielt und möglicherweise der Ansicht war, daß die Berührung durch einen gewöhnlichen Menschen ihn beschmutzte. Weder Ah Qaaq noch Gilgamesch erweckten den Eindruck, als hätten sie was dagegen, wenn ihnen andere zu nahe kamen. Tatsächlich hatte der Sumerer sogar die Angewohnheit, einem anderen während eines Gesprächs ziemlich nahe auf die Pelle zu rücken. Er berührte seinen Gesprächspartner sogar ziemlich regelmäßig, als sei er auf einen körperlichen Kontakt angewiesen. Dieses Beharren auf menschliche Nähe konnte allerdings auch Überkompensation bedeuten. Vielleicht hatte der Ethiker herausgefunden, daß er sich verdächtig machte, wenn er seinen Helfern stets auswich, und kam deshalb so übertrieben nahe an sie heran. 282
Vor langer Zeit hatte der Agent Spruce gesagt, daß er und die Seinen Gewalt verabscheuten und die Ausübung derselben in ihnen das Gefühl von Niedrigkeit hervorrief. Aber wenn das stimmte, hatten sie inzwischen gewiß gelernt, gewalttätig zu sein, ohne Widerwillen zu zeigen. Die Agenten auf beiden Schiffen hatten sich ebenso wacker geschlagen wie die anderen. Mithin hatte X, ebenso wie Odysseus und Barry Thorn, inzwischen ebenso viele Menschen getötet, um sogar Jack The Ripper in den Schatten zu stellen. Möglicherweise hatte X' Widerwillen gegen Berührungen jeglicher Art aber auch gar nichts mit seiner persönlichen Einstellung zu tun: Es konnte sein, daß die Berührung durch einen anderen Menschen so etwas wie einen psychischen Abdruck auf ihm hinterließ. Vielleicht war >psychisch< nicht das richtige Wort. Die Wathans, jene Auren, die alle vernunftbegabten Lebewesen ausstrahlten, ließen vielleicht eine Art Fingerabdruck zurück, der erst später wieder verschwand. Wenn das stimmte, konnte X erst dann zum Turm zurückkehren, bis der >Abdruck< sich aufgelöst hatte. Sonst würden seine Kollegen ihn wahrnehmen und sich fragen, woher er ihn hatte. War diese Annahme nicht zu bizarr? X brauchte denjenigen, die ihn fragten, doch lediglich zu erzählen, er sei auf einer Mission gewesen und dabei von irgendeinem Talbewohner angefaßt worden. Ah! Aber was war, wenn es für X keinen Grund gab, sich unter den Talbewohnern aufzuhalten? Was war, wenn das Alibi für seine Abwesenheit einen Aufenthalt im Tal nicht einschloß? In diesem Fall konnte er für die Tatsache, daß sein Wathan den Abdruck eines Fremden trug, kaum eine befriedigende Erklärung vorweisen. Diese Spekulation erforderte allerdings die Voraussetzung, daß sich die >Abdrücke< der Ethiker und Agenten von denen der Wiedererweckten unterschieden und auf der Stelle erkennbar waren. Burton schüttelte den Kopf. Manchmal wurde ihm beim Nachdenken über all diese Rätsel beinahe schwindlig. Da er keine Lust hatte, sich in einem geistigen Irrgarten zu verlaufen, machte er sich auf, um sich mit Gilgamesch zu unterhalten. Obwohl der Bursche die zahlreichen Abenteuer, die man dem mythischen König von Uruk zuschrieb, gar nicht für sich in Anspruch nahm, machte es ihm Spaß, mit diesen Legenden zu prahlen. Wenn er anfing, seine haarsträubenden Geschichten zum besten zu geben, zwinkerte er mit dem Auge und lächelte. Er war wie ein Pionier der amerikanischen Frühgeschichte, und wie Mark Twain übertrieb er ungeheuerlich. Er wußte natürlich, daß seine Zuhörer darüber im Bilde waren, daß er log, aber das machte ihm nichts aus. Dafür war die Sache einfach zu lustig. Tage vergingen. Die Luft wurde kälter. Der Nebel wurde immer schwerer und löste sich erst gegen elf Uhr morgens auf. Das Boot hielt nun öfter an als zuvor. Man ging an Land, um Fische zu räuchern oder zu fangen, und buk Eichelbrot. 283
Trotz des nur geringen Sonnenscheins waren Gras und Bäume hier ebenso grün wie im Süden. Und dann kam schließlich der Tag, der das Ende der Reise ankündigte. Es gab keine Gralsteine mehr. Aus dem Norden, herangetragen von einem kalten Wind, kam ein schwaches Grollen. Sie standen auf dem Vordeck und lauschten dem geheimnisvollen Klang. Das allgegenwärtige Dämmerlicht und der Nebel schienen sie zu erdrücken. Über den hochaufragenden, schwarzen Bergwänden war der Himmel zwar hell, aber mit dem der südlichen Gefilde kaum zu vergleichen. Es war Joe, der die Stille durchbrach. »Diefer Lärm kommt von dem erften Wafferfall, den wir fehen werden. Er ift rifengrof, verglichen mit dem, der auf der Höhle kommt, aber nur ein Furf in einem Windfturm. Aber wir haben noch einen weiten Weg furückfulegen, bif wir da find.« Die Besatzung der Plakate ankleben verboten hatte sich mit dicken Umhängen vermummt und Kapuzen aufgesetzt. In dem dünnen Nebel wirkten sie wie Gespenster. Die Feuchtigkeit sammelte sich auf Händen und Gesichtern. Burton gab einige Befehle, und die Plakate ankleben verboten wurde am letzten Gralstein vertäut. Sie fingen an, das Boot zu entladen. Das nahm eine Stunde in Anspruch. Nachdem sie sämtliche Gräle auf den Stein gestellt hatten, warteten sie auf die Entladung. Eine weitere Stunde verging. Dann gab der Stein Energie ab. Die Echos, die er hervorrief, schienen überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen. »Eßt mit Genuß«, sagte Burton. »Dies ist unsere letzte warme Mahlzeit.« »Vielleicht sogar unsere letzte Mahlzeit«, sagte Aphra Behn, aber sie lachte dabei. »Hier ficht ef fwar auf wie im Fegefeuer«, sagte Joe Miller, »aber daf ift noch gar nichtf. Wartet erft mal ab, bif wir in die Hölle kommen.« »Ich bin mehr als einmal dagewesen - und immer wieder zurückgekommen«, sagte Burton. Mit dem getrockneten Holz, das sie auf ihrem Boot mitgebracht hatten, machten sie ein großes Lagerfeuer, setzten sich mit dem Rücken gegen den Stein und ließen sich wärmen. Joe Miller erzählte ein paar Titanthropenwitze, die hauptsächlich von einem wandernden Händler, dem Weib eines Bärenjägers und ihren beiden Töchtern handelten. Nur gab ein paar Sufi-Geschichten zum besten, die dazu bestimmt waren, die Leute in einer anderen Denkweise zu trainieren. Sie waren lustig und amüsant. Burton trug zur allgemeinen Unterhaltung einige Geschichten aus Tausendundeine Nacht bei. Alice referierte einige paradoxe Erzählungen, die Mr. Dodgson für sie zusammengesponnen hatte, als sie acht Jahre alt gewesen war. Dann fing die Gesegnete Croomes an, Hymnen zu sin284
gen. Als Burton sich erfrechte, einige Brummlaute dazwischenzuschieben, wurde sie allerdings wütend. Alles in allem fühlten sie sich großartig und gingen gelöst zu Bett. Der Schnaps hatte ebenfalls dazu beigetragen, ihre Lebensgeister heiterer zu stimmen. Am nächsten Morgen aßen sie ihr Frühstück am Feuer. Dann nahmen sie ihr Gepäck auf und marschierten los. Bevor das Boot und der Gralstein im Nebel verschwanden, wandte sich Burton noch ein letztes Mal um. Dort lagen sie, die beiden letzten Bindeglieder zu der Welt, die er gekannt, aber nicht immer geliebt hatte. Ob er je wieder ein Boot oder einen Gralstein zu Gesicht bekommen würde? Würde er vielleicht schon bald überhaupt nichts mehr sehen? Joes an ein Löwengebrüll erinnernde Stimme führte dazu, daß er sich wieder umdrehte. »Peft und Verdammnif! Feht euch mal an, waf ich allef fu fleppen habe! Ich fleppe dreimal fofiel wie ihr! Heife ich etwa Famfon?« Turpin sagte lachend: »Du bist ein weißer Nigger mit einer langen Nase.« »Bin kein Nigger nich«, sagte Joe. »Höchftenf ein Packefel; ein armef Vieh, daf immer waf fleppen muf.« »Wo ift denn da der Unterfied?« äffte Turpin ihn nach und rannte lachend davon, als eine von Joes Händen nach ihm grapschte. Das riesige Gepäckbündel ließ Joe allerdings das Gleichgewicht verlieren, und er fiel prompt auf die Nase. Gelächter brandete auf und wurde von den Bergwänden zurückgeworfen. »Ich fresse einen Besen«, sagte Burton, »wenn jetzt die Berge hier nicht zum ersten Mal erfahren, was Humor ist.« Nach einer Weile verfielen sie jedoch in Schweigen, trotteten bergauf und wirkten wie verlorene Seelen am Rande des Infernos. Bald erreichten sie den ersten Wasserfall, der laut Joe Miller der kleinere war. Er war so breit, daß man sein anderes Ende nicht erkennen konnte, und zehnmal so hoch wie die Viktoria-Fälle. Zumindest erschien es ihnen so. Das Wasser fiel aus dem Nebel heraus und mit einem derartigen Brüllen in die Tiefe, daß jede Konversation unmöglich war und es nicht einmal etwas nützte, wenn man einander direkt ins Ohr schrie. Der Titanthrop übernahm die Führung. Hinter dem sie ständig mit Nässe besprühenden Wasserfall kletterten sie nach oben. Als sie etwa siebzig Meter hinter sich gebracht hatten, hielten sie an einem breiten Vorsprung. Während die anderen das Gepäck ablegten, machte Joe sich an den weiteren Aufstieg. Eine Stunde später fiel ein langes Seil wie eine tote Schlange zu ihnen herab, an dem sie jeweils zwei Gepäckstücke befestigten, die Joe dann durch den Nebel in die Höhe hievte. Nachdem die gesamte Ausrüstung bei ihm auf einem Plateau angekommen war, arbeiteten sie sich vorsichtig den Bergrücken hinauf. Als sie 285
mit Joe wieder vereint waren, schulterten sie erneut ihre Lasten und gingen weiter. Man legte regelmäßig Pausen ein. Tai-Peng unterhielt die anderen mit abenteuerlichen Geschichten aus seiner Heimat, die er selbst erlebt haben wollte, und verbreitete damit Heiterkeit. Als die Gruppe den nächsten Wasserfall erreichte, verging ihr jedoch das Lachen. Erst als sie den gewaltigen Felsen, von dem die Wassermassen herabstürzten, überwunden hatten, hob sich die Stimmung ein wenig. Joe schüttete ein wenig Kornalkohol über das Brennholz - eine Handlung, die er als reine Verschwendung guten Fusels bezeichnete -, und sie machten ein Feuer. Vier Tage später war kein Brennholz mehr da. Aber immerhin lag nun der letzte der >kleinen< Wasserfälle hinter ihnen. Nachdem sie eine Stunde lang über ein steinübersätes, langsam ansteigendes Flachland gegangen waren, erreichten sie den Fuß einer weiteren Felswand. »Hier war ef«, sagte Joe aufgeregt. »Hier haben wir daf Feil gefunden, daf Ikf furückgelaffen hat.« Burton ließ den Strahl seiner Lampe aufwärts wandern. Die ersten drei Meter der Felswand waren uneben. Dann jedoch hob sie sich, so weit man sehen konnte, steil und glatt in die Höhe. »Wo ist das Seil denn?« »Ef war hier, verdammt noch mal!« Sie teilten sich in zwei Gruppen und suchten die Felswand in beiden Richtungen ab. Die Strahlen ihrer elektrischen Lampen wanderten ihnen voraus. Alle tasteten sich mit den Händen an der Wand entlang. Beide Gruppe kehrten zurück, ohne das Seil gefunden zu haben. »Verdammter Mift«, fluchte Joe. »Waf hat daf fu bedeuten?« »Ich nehme an, daß die anderen Ethiker es gefunden und entfernt haben«, sagte Burton. Nach einigem Hin und Her entschieden sie sich dazu, die Nacht am Fuße der Wand zu verbringen. Sie aßen das Gemüse, mit denen die Gräle sie versorgt hatten, und dazu Fisch und Brot. Obwohl das Essen bereits jedem zum Halse heraushing, beschwerte sich niemand. Der Alkohol wärmte sie ein wenig auf. Aber auch damit würde es in ein paar Tagen zu Ende sein. »Ich hab' ein paar Flafen Bier mitgenommen«, sagte Joe. »Wenn ihr wollt, können wir noch eine Party veranftalten.« Burton verzog das Gesicht. Er mochte kein Bier. Am nächsten Morgen untersuchten sie die Felswand erneut. Burton war bei der Gruppe, die nach Osten ging - oder dies zumindest glaubte. Es war nicht einfach, in diesem nebelhaften Dämmerlicht eine Richtung zu bestimmen. Schließlich erreichten sie den Grund des großen Wasserfalls. Eine Möglichkeit, dessen andere Seite zu erreichen, existierte nicht. 286
Als sie zurückgingen, sagte Burton zu Joe: »War das Seil eigentlich auf der rechten oder der linken Flußseite?« Erleuchtet vom Strahl der Lampe sagte Joe: »Ef war auf diefer Feite.« »Vielleicht hat X aber auch auf der anderen Seite ein Seil befestigt. Er hat doch gar nicht wissen können, ob seine Helfershelfer auf der rechten oder linken Seite hochkommen.« »Nun, ich glaube, daf wir auf der linken Feite hochgekommen find. Aber daf ift allef schon fo lange her. Verdammt, ich bin mir einfach nicht ficher!« Nur el-Musafir, der dunkelhäutige kleine Maure mit der großen Nase, sagte: »Wenn wir die andere Seite des Flusses nicht erreichen können - und nichts spricht dafür, daß wir es können -, ist diese Frage sowieso belanglos. Ich habe mich westlich von hier umgesehen und glaube, daß ich es schaffen kann, den Berg von einer anderen Stelle aus zu bezwingen.« Nach dem Frühstück machten sie sich auf den Weg nach Westen. Sie legten etwa zehn Kilometer zurück und kamen schließlich an eine Stelle, wo der Berg gegen eine Felswand stieß. Hier gab es eine Art Kamin. Der Maure band ein ziemlich dünnes Seil um seine Hüften. »Joe meint, die Höhe dieser Wand betrüge etwa dreihundert Meter. Er schätzt das aufgrund seiner Erinnerungen, aber da er damals mit unseren Maßsystemen noch nicht sonderlich gut vertraut war, kann es auch weniger sein. Wollen wir's hoffen.« »Wenn ef dich fu fehr ermüdet, komm furück«, sagte Joe. »Ich will nicht, daf du abftürft.« »Dann geh ein bißchen zurück, damit ich dir nicht auf den Kopf falle«, sagte Nur lächelnd. »Es würde mein Gewissen belasten, wenn ich auf dich stürzte und wir beide sterben müßten. Ich glaube aber, es würde dir nicht weher tun, als wenn dir ein Adler auf den Kopf kackt.« »Ef würde mir fehr weh tun«, sagte Joe. »Adler und Adlerkacke find für mein Volk nämlich tabu.« »Dann nimm an, ich sei ein Sperling.« Nur begab sich in den Kamin und drückte seinen Rücken gegen die eine und die Füße gegen die andere Wand. Er krümmte sich, drückte ein Bein gegen den Fels und machte mit dem anderen einen zaghaften Schritt. Sobald das eine Bein einen sicheren Halt gefunden hatte, rutschte er mit dem Rücken höher, zog das andere nach und wiederholte die gleiche Prozedur noch einmal. Langsam, aber stetig glitt er höher. Bald darauf verschwand er im Nebel. Anhand des immer kürzer werdenden Seils, das er hinter sich herzog, konnten die anderen seine Fortschritte begutachten. Es ging ziemlich langsam vor sich. »Er muß eine ungeheure Ausdauer haben, wenn er es schaffen will«, sagte Alice. »Und wenn er - einmal oben angekommen - nichts findet, woran er das 287
Seil befestigen kann, um die anderen hinaufzuziehen, kann er wieder herunterkommen.« »Hoffen wir, daß es nicht allzu hoch ist«, sagte Aphra Behn. »Oder daß der Kamin nicht breiter wird«, sagte Ah Qaaq. Als Burtons Armbanduhr anzeigte, daß Nur seit achtundzwanzig Minuten unterwegs war, hörten sie ihn rufen: »Welch ein Glück! Hier ist ein Vorsprung, auf dem ohne Schwierigkeiten zwei Mann stehen können, wenn einer davon nicht zufällig Joe Miller heißt! Und hier ist eine Felsnase, an der ich das Seil befestigen kann!« Burton sah den Titanthropen an. »Offenbar ist der Fels nicht überall so glatt.« »Yeah. Nun, vielleicht find wir damalf doch auf der rechten Feite hochgekommen, Dick. Da ift ef überall glatt. Fumindeft da, wo ich hergegangen bin. Da war ef so glatt wie ein Fäuglingfhintern.« Die Ethiker hatten sich also gar nicht erst damit abgegeben, das Kliff überall unüberwindbar zu machen. Sie hatten den unteren Teil der Felswand geglättet und jenen Bereich, der sowieso vom Nebel verborgen wurde, in seinem Urzustand belassen. Hatte X an dieser Entscheidung mitgewirkt? Hatte er auch für diesen Kamin gesorgt? Gab es auf der anderen Seite des Flusses etwa auch einen Weg, die Wand auf diese Weise zu überwinden? Es war sehr gut möglich. Wenn X hinter dieser Möglichkeit steckte, dann hatte er die Kamine bereits vor dem Entstehen der gesamten Felslandschaft geplant. Die Umgebung war keinesfalls natürlichen Ursprungs. Die Ethiker hatten dieses Gebirge mit Hilfe irgendwelcher unvorstellbaren Maschinen geschaffen. Nur rief ihnen zu, sie sollten nun ein dickeres Seil an dem befestigen, das er mitgenommen hatte. Kurz darauf gab er bekannt, daß das zweite Seil nun sicher sei. Burton drückte die Beine gegen die Kaminwand, krümmte sich und zog sich hinauf. Keuchend und mit schmerzenden Armen erreichte er den Vorsprung. Nur, der für einen Mann seiner bescheidenen Größe und Magerkeit überraschend stark war, half ihm auf die Beine. Dann zogen sie das Gepäck hinauf. Nur blickte durch den Nebel nach oben. »Die Felswand wird hier ziemlich rau«, sagte er. »Es sieht ganz so aus, als könnte man jetzt mit eingeschlagenen Eisen weiterkommen.« Er entnahm dem Gepäck einen Hammer und mehrere stählerne Haken, um sie in den Fels zu schlagen. Sie waren mit Ösen versehen, durch die man ein Seil ziehen könnt. 288
Der Maure tauchte im Nebel unter. Hin und wieder konnte Burton ihn hämmern hören. Etwas später rief Nur ihm zu, er könne jetzt hochkommen. Er hatte einen weiteren Felsvorsprung gefunden. »Die Unregelmäßigkeiten in der Wand sind hier so groß, daß man schon mit den Händen weiterklettern könnte. Aber das werden wir nicht tun.« Inzwischen hatte auch Alice mit Hilfe des Seils den ersten Vorsprung erreicht. Burton gab ihr einen Kuß und folgte dem Mauren. Zehn Stunden später hatte die ganze Gruppe die Felswand hinter sich gebracht. Nachdem man wieder ein wenig zu Atem gekommen war, hielt man nach einem windgeschützten Platz Ausschau. Erst fünf Kilometer weiter, am Fuße einer weiteren Wand, fanden sie endlich, was sie suchten. Wie Joe sagte, lag der Fluß nun mehrere Kilometer entfernt zu ihrer Linken und stürzte sich dort brüllend in die Tiefe. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Fels wandern und sagte plötzlich: »Verflikft und fugenäht! Wenn ich damalf wirklich auf der rechten Fluffeite den Berg hinaufgeftiegen bin, find wir aber in den Hintern gekniffen! Der Tunnel ift ja dann auf der anderen Feite - und den Fluff können wir nicht überqueren!« »Wenn die Ethiker das Seil gefunden haben«, sagte Burton, »dann haben sie den Tunnel sicher ebenfalls entdeckt.« Aber sie waren zu müde, um sich jetzt noch nach dem Felsspalt umzusehen, der den Tunneleingang bildete. Sie gingen weiter bis zu einem Überhang. Mit ein paar Stückchen Holz, die Joe gespart hatte, machten sie ein kleines Feuer und aßen zu Abend. Das Feuer ging schnell wieder aus. Anschließend polsterten sie den felsigen Boden mit Kleidern, deckten sich warm zu und schliefen trotz des Donners, das der Fluß erzeugte, ein. Am nächsten Morgen sagte Nur, während sie Trockenfisch, Pemmikan und Brot aßen: »Wie Dick schon sagte, konnte X gar nicht wissen, von welcher Seite des Flusses aus seine Helfer den Berg besteigen würden. Er muß also nicht nur für zwei Seile, sondern auch für zwei Tunnels gesorgt haben! Irgendwo hier in der Nähe müßte also noch ein weiterer sein.« Burton öffnete den Mund, denn er wollte darauf hinweisen, daß auch dieser Tunnel - vorausgesetzt, er hatte je existiert - inzwischen längst verstopft sein würde, aber Nur hob die Hand und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Mir ist klar, was du sagen willst. Aber wenn wir den Stopfen finden können und er nicht allzu dick ist - dann haben wir auch das nötige Werkzeug, um ihn zu durchbohren.« Die erste Suchgruppe war noch keine zehn Meter vom Lager entfernt, als man den Stopfen auch schon entdeckte. Er befand sich ein paar Schritte hinter dem Eingang einer Höhle, die breit genug war, um sogar Joe Miller durchzulassen. 289
Offenbar hatte man sich eines hitzeerzeugenden Geräts bedient, um den gewaltigen Zapfen mit den ihn umgebenden Quarzwänden zu verschmelzen. »Oh, Mann!« sagte Joe. »Daf ift ein Brocken! Aber vielleicht faffen wir ef doch noch!« »Vielleicht«, meinte de Marbot. »Aber was tun wir, wenn sie den Tunnel ganz zugestopft haben?« »Dann fuchen wir unf einen neuen Kamin. Wenn Ikf fo geriffen ift, wie ef den Anfein hat, hat er die Möglichkeit, daf man feine Tunnelf findet, natürlich in Betracht gefogen und dafür geforgt, daf unf ein weiterer Weg für Verfügung fteht.« Als Burton die äußere Feldwand musterte, bohrte sich der helle Strahl seiner Lampe durch den Nebel. Bis in eine Höhe von drei oder vier Metern war die Wand noch gezackt und kantig, aber danach wurde sie, so weit man sehen konnte, spiegelglatt. Joe ließ einen Hammer gegen den Stopfen krachen. Burton, der ein Ohr gegen die Felswand legte, sagte: »Es klingt hohl!« »Klaffe«, sagte Joe. Er entnahm seinem Gepäck verschiedene Werkzeuge aus einer Wolfram-Stahl-Legierung und fing an zu hämmern. Als er genügend aus dem Quarzfelsen herausgeschlagen hatte, um sechs Löcher zu machen, befestigten Burton und er Plastikbomben an dem Stein. Burton hätte den Sprengstoff am liebsten mit Lehm abgedeckt, aber so etwas gab es in dieser Gegend nicht. Er steckte die Kabelenden in das Plastik hinein und zog sich, die einzelnen Strippen ausrollend, zurück. Als die Gruppe weit genug entfernt war, betätigte er den kleinen Zünder. Die darauffolgende Explosion war ohrenbetäubend. Die Höhle spuckte Quarzstücke aus. »Immerhin«, sagte Joe, »brauche ich jetft nicht mehr fo viel fu tragen. Fumindeft bin ich daf Plaftikfeug und den Fünder lof. Damit brauchen wir unf nun nicht mehr fu belaften.« Sie kehrten zum Höhleneingang zurück. Burton ließ den Strahl seiner Lampe wandern. Die Löcher, die Joe in das Gestein geschlagen hatte, waren größer geworden. Einige davon waren groß genug, um in den dahinterliegenden Tunnel blicken zu können. »Zwölf Stunden Arbeit werden wir wohl noch brauchen, Joe«, sagte Burton. »Oh, Feife! Nun, nichtf ift umfomft.« Kurz nach dem nächsten Frühstück schlug Joe das letzte Stück Fels heraus. Die Sperre brach zusammen. »Und jetft wird ef ernft«, sagte Joe und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Der Tunnel war gerade hoch genug, daß er ihn auf den Knien durchqueren konnte, aber seine Schultern stießen seitlich gegen die Wände und sein Kopf 290
gegen die Decke, wenn er ihn nicht einzog. Die Steigung betrug etwa fünfundvierzig Grad. »Ihr fülltet beffer ein paar Tücher um eure Hände und Knie binden«, sagte Joe, »fonft feuert ihr fie euch noch blutig. Aber auch daf wird euch nicht viel nütfen.« In diesem Augenblick kehrten Frigate, Alice, Aphra Behn und die Gesegnete Croomes mit den nachgefüllten Feldflaschen vom Fluß zurück. Joe leerte seine gleich bis zur Hälfte. »Und jetft«, sagte er, »wollen wir alle fo lange warten, bif jeder von unf ein gefundef Feiferchen gemacht hat. Alf ich fufammen mit den Ägyptern hier war, hat keiner an diefe Vorfichtfmafnahme gedacht. Alf ich den halben Weg hinter mich hatte, konnte ich ef nicht mehr aufhalten und fiff mir in die Hose.« Er stieß ein donnerndes Gelächter aus. »Ihr hättet diefe nafenlofen kleinen Kerle fluchen hören follen! Fie find faft durchgedreht, weil fie nicht genügend Platf hatten, um auffuweichen! Ha, ha!« Joe wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Jefuf! Die haben vielleicht geftunken, als fie flieflich wieder anf Tageflicht krochen! Daf fie fich dann auch noch im Fluff wafen muften, hat fie noch mehr auf die Palme gebracht, denn daf Waffer ift da oben fo kalt wie daf im Hintern einef Brunnengräberf, wie Fäm fu fagen pflegte.« Der Gedanke an Clemens ließ ihn noch ein paar Tränen mehr vergießen. Joe schniefte und putzte seine Nase mit dem Ärmel ab. Was die Schwierigkeit des Weges anging, so hatte er keinesfalls übertrieben. Der Tunnel, der etwa eineinhalb Kilometer lang war, ging mit jedem Zoll, den sie zurücklegten, auch einen Zoll weiter aufwärts. Obwohl die Luft geradezu durch den Schacht pfiff, wurde sie immer dünner - und zu allem Übel mußten sie auch noch das Gepäck hinter sich herziehen. Dabei war nicht einmal bewiesen, ob der Tunnel überhaupt einen Ausgang besaß. Wenn er verschlossen war, würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als an den Fuß der Steilwand zurückzukehren. Die Freude über die Tatsache, daß der Ausgang nicht versiegelt war, gab ihnen für eine Weile neuen Auftrieb. Aber ihre Handflächen, Finger, Knie und Zehen waren verschrammt, blutig und schmerzten. Eine Zeitlang war keiner von ihnen imstande, weiterzugehen. Trotz der dünnen Luft blies der Wind hier oben stärker und kälter. Joe atmete schwer. Die sauerstoffarme Luft konnte seine gewaltigen Lungen kaum füllen. »Ein Gutef hat ef ja. Wenn wir jetft einen trinken, find wir auf der Ftelle abgefüllt.« Am liebsten hätten sie auf der Stelle ein Lager aufgeschlagen, aber die Stelle war zu gut einzusehen. 291
»Laßt den Mut nicht sinken«, sagte Burton. »Joe meint, es sind nur noch fünfzehn Kilometer bis zum nächsten Wasserfall. »Der letfte und der gröfte. Ihr habt wohl gedacht, die anderen wären laut, waf? Na, dann wartet mal ab, bif ihr diefen gefehen habt.« Burton schnallte sich sein Gepäck um und machte sich auf den Weg. Er hatte das Gefühl, als seien seine Knie eingerostet. Joe war direkt hinter ihm. Glücklicherweise war diese Ebene vergleichsweise gesteinsfrei. Als er durch den Nebel ging, konnte er sich nur nach dem Donnern des Wasserfalls richten. Wenn das Geräusch lauter wurde, hielt er sich nach links; nahm es ab, ging er wieder nach rechts. So konnte man aus fünfzehn Kilometern natürlich leicht zwanzig machen. Die dünne Luft führte dazu, daß sie öfters anhalten und sich vergewissern mußten, ob niemand zurückgeblieben war. Jeder marschierte solange mit eingeschalteter Lampe, bis Burton fluchend anhielt. »Waf ift denn lof?« fragte Joe. »In dieser Luft kann man einfach nicht klar denken«, sagte Burton keuchend. »Ein Licht reicht doch vollkommen aus! Wir verschwenden nur Energie. Genauso gut können wir durch ein Seil miteinander Kontakt halten.« Er band sich ein Seil um die Hüften, und die anderen hielten sich daran fest. Dann setzten sie den Weg in das kalte Grau fort. Bald waren sie jedoch zu schwach, um weiterzugehen. Ungeachtet des heftigen Windes legten sie sich hin, deckten sich zu und schliefen ein. Als ein Alptraum Burton aus dem Schlaf riß, schaltete er die Lampe ein und beleuchtete das Zifferblatt seiner Uhr. Sie lagen jetzt seit zehn Stunden hier. Er weckte die anderen auf, und sie aßen mehr, als der Rationierungsplan gestattete. Eine Stunde später ragte eine schwarze Felswand vor ihnen aus dem Nebel auf. Sie hatten den Fuß eines neuen Hindernisses erreicht. 42 Obwohl Joe Miller sich keinesfalls großartig beschwert hatte, hatte er die Hälfte der letzten Strecke nur mit einem fortgesetzten leisen Stöhnen überstanden. Er war mehr als drei Meter groß, wog sechshundert Pfund und war so stark wie zehn gewöhnliche Menschen zusammen. Aber sein Riesenwuchs hatte auch Nachteile. Einer davon war, daß er an Senkfüßen litt. Sam hatte ihn nicht ohne Grund hin und wieder den Großen Plattfuß genannt. Wenn Joe zuviel lief, hatte er Schmerzen, die auch eine Rast selten beseitigen konnten. »Fäm fagte immer, wir hätten die Welt erobern können, wenn wir keine Plattfüfe gehabt hätten«, sagte Joe. Er massierte seinen rechten Fuß. »Er fagte, defwegen feien wir auch aufgeftorben. Vielleicht hatte er recht.« 292
Es war offensichtlich, daß der Titanthrop sich allerwenigstens zwei Tage würde ausruhen müssen. Während Burton und Nur, die beide ein wenig von Fußpflege verstanden, sich um ihn kümmerten, teilten die anderen sich in zwei Gruppen auf und erkundeten die Gegend. Mehrere Stunden später kehrten sie zurück. Tai-Peng, der eine der Suchgruppen angeführt hatte, sagte: »Ich konnte die Stelle, von der Joe erzählt hat, nicht finden.« Ah Qaaq, der die andere geleitet hatte, sagte: »Aber wir. Zumindest sieht es so aus, als könnte man dort hinaufklettern. Es ist allerdings ziemlich nahe am Wasserfall.« »Der Weg ist dem Wasserfall so nahe«, fügte Alice hinzu, »daß man ihn erst sehen kann, wenn man beinahe in ihm drin ist. Der Weg sieht sehr gefährlich aus und ist ziemlich schlüpfrig.« Joe sagte aufstöhnend: »Jetft fällt ef mir wieder ein! Wir find damalf tatsächlich die rechte Feite hochgeflogen! Die Ägypter wollten defwegen nicht linkf hinauf, weil fie glaubten, daf würde ihnen Unglück bringen. Ikf hat diefen Weg defwegen vorbereitet, fallf ...« »Einen Weg würde ich es nicht gerade nennen«, sagte der Maya. »Nun, wenn er fo auffieht wie der andere, kann man ihn auch begehen.« Das stimmte, und es klappte auch. Sieben Tage später langten sie auf der Spitze des Berges an. Schnee und Eis hatten die Gefahren noch größer gemacht als angenommen. Zudem hatte sie die Luft noch mehr geschwächt. Trotzdem hatten sie einen weiteren Berghang bezwungen. Der Fluß lag nun weit unter ihnen und wurde von Nebelfeldern verhüllt. Von nun an ging es einen mehrere Kilometer langen, weitaus bequemeren Abhang hinunter. An seinem Ende war die Luft zwar angenehmer, aber immer noch kalt genug. Durch einen immer stärker und kälter werdenden Wind marschierten sie auf den nächsten Berg zu. »Ef hat keinen Finn, auch nur daran fu denken, den hier fu befteigen«, sagte Joe. »Wir haben aber Glück gehabt. der grofe müfte nur ein paar Kilometer rechtf von unf fein. Nun, vielleicht kann man ef nicht unbedingt Glück nennen. Wenn wir da find, werdet ihr ef fehen. Aber daf dauert noch eine Weile, denn erft muf ich mal wieder meine gottverdammten Füfe aufruhen.« An dieser Stelle bewegte sich der Fluß in einem breiten, mächtigen Strom dahin. Er kam aus einem riesigen Loch in der Bergwand und wälzte sich rasend schnell einen leichten Abhang hinunter. Das Gebrüll von Wasser und Wind war zwar ohrenbetäubend, aber zumindest war es hier nicht mehr so kalt. Joe, der den Weg durch die Höhle schon einmal gemacht hatte, übernahm wieder die Führung. Er schlang ein Seil um seine Hüften, das sich die anderen an den Handgelenken festbanden. 293
Nachdem Joe die Gruppe darauf hingewiesen hatte, dicht an ihm zu bleiben, umrundeten sie eine Ecke und passierten den riesenhaften Höhleneingang. Alice glitt aus, fiel schreiend über den Sims und wurde wieder hochgezogen. Dann wurde der kleine Maure von den Beinen gerissen. Glücklicherweise konnte man auch ihn mühelos retten. Als Joe mit den Ägyptern den Höhlengang durchstiegen hatte, blies der heulende Wind ihnen die Fackeln aus. Nun konnte er zwar etwas sehen, aber nicht viel. Zum Glück war der Sims auf dieser Seite, wie er Burton laut schreiend zu verstehen gab, viel breiter als der auf der anderen. »Jungejunge, wir können wirklich von Glück reden, daf die Ethiker nicht auch noch diefe Fimfe abgefmolfen haben! Ich nehme an, fie haben geglaubt, daf niemand mehr bif hierher kommt, ohne daf Feil und durch den verftopften Tunnel!« Burton verstand zwar nur wenig von dem, was Joe sagte, konnte sich den Rest aber dazudenken. Sie hielten zweimal an, um zu essen und zu schlafen. Irgendwann nahm das Brausen des Flusses ab, und schließlich verschwand es ganz. Da Burton wissen wollte, wie hoch sie über ihm waren, opferte er eine ihrer Lampen. Während sie kreisend in die Tiefe fiel und ihr Licht hin und wieder sichtbar wurde, zählte er die Sekunden. Als sie endlich in der Finsternis untertauchte, war genug Zeit vergangen, um auf eine Höhe von mehr als tausend Metern schließen zu lassen. Endlich wurde es vor ihnen grau. Sie verließen den Höhlengang und traten ins Freie. Es war zwar neblig, aber doch heller als zuvor. Über ihnen breitete sich ein Himmel aus, auf dem unzählige Sterne und Gasnebel leuchteten. Die dünne Nebelwolke, die die Gruppe umgab, war jedoch nicht dicht genug, um jemandem den Blick auf die rechterhand liegende Bergwand zu verwehren. Sie waren fast am Rand des Abgrundes, unter dem der Fluß dahinströmte. »Wir find hier auf der falfen Feite«, sagte Joe. »Wenn wir hier geradeauf weitergehen, laufen wir genau auf eine Bergwand fu. Wenn wir doch nur den anderen Weg gegangen wären! Aber vielleicht hat unf der Ethiker auch hier ein Hintertürchen offengelaffen.« »Das bezweifle ich«, sagte Burton. »In dem Fall müßten wir ganz um den See herumlaufen, um zu der Höhle zu gelangen, die am Fuß dieses Gebirgsringes liegt. Es sei denn ...« »Ef fei denn, waf?« »Es sei denn, er hat zwei Höhlen vorbereitet und beide mit Booten bestückt.« »Einen Fehler haben sie vielleicht gemacht«, sagte Nur. »Aber gleich zwei?« »Yeah«, sagte Joe. »Ich will euch mal waf erfählen. Hier oben, an diefer Ftelle, kommen fich die beiden Talfeiten fiemlich nahe. Die Felfwände gehen nach innen, laufen in einem Bogen aufeinander fu. Fie klaffen höchftenf fieben Meter aufeinander. Kommt mit, ich feige ef euch!« 294
Er ging langsam voraus und hielt nach zwanzig Meter an. Der Strahl seiner Lampe leuchtete zusammen mit denen der anderen die Gegenseite der Kluft deutlich aus. »Allmächtiger Gott!« sagte Aphra. »Der Ethiker hat doch wohl nicht erwartet, daß wir da rüberspringen?« »Seine Kollegen glauben sicher nicht, daß es jemand wagen würde«, sagte Nur. »Aber ich glaube, daß X es tatsächlich von uns erwartet, ja. Ich meine, er wußte, daß mindestens einer - vielleicht sogar mehrere von einer Gruppe, die es bis hierher geschafft hat - einen solchen Sprung schaffen würde. Immerhin standen ein paar ziemlich athletisch gebaute Leute auf seiner Liste. Wenn es einem gelingt und er auf der anderen Seite ein Seil befestigt, brauchen die anderen nur noch rüberzulaufen.« Burton wußte, daß er nicht so weit springen konnte. Vielleicht schaffte er es, der anderen Seite nahe zu kommen, aber das reichte nun mal nicht aus. Joe war zwar so stark wie zwei Herkulesse zusammen, aber viel zu schwer. Auch Ah Qaaq und Gilgamesch hatten Kraft, aber auch sie waren zu schwer und stämmig. Gute Weitspringer waren aus anderem Holz geschnitzt. Turpin war groß, aber zu muskulös. Nur war zwar sehr leicht und wies eine überraschende Drahtigkeit und Stärke auf, aber er war zu klein. Die beiden weißen Frauen und de Marbot waren nicht nur zu klein, sondern auch schlechte Springer. Damit blieben Frigate, Croomes und Tai-Peng übrig. Frigate schien zu ahnen, was Burton dachte. Sein Gesicht war blaß. Sicher, er war auf dieser Welt im Weitsprung noch besser geworden, als er es auf der Erde schon gewesen war, und auch dort hatte er schon einmal sieben Meter fünfzig geschafft ( allerdings ohne die Anwesenheit offizieller Beobachter und mit Rückenwind) - aber unter dermaßen schlechten Bedingungen war er noch nie gesprungen. »Wir hätten Jesse Owens mitbringen sollen«, sagte er verhalten. »Halleluja!« kreischte die Gesegnete Croomes plötzlich so laut, daß die anderen zusammenzuckten. »Halleluja! Der Herr hat mich zu einer großartigen Springerin auserkoren! Er hat mich auserwählt! Dank ihm kann ich springen wie eine Bergziege und tanzen wie König David zu seinen Ehren! Und jetzt gibt er mir die Möglichkeit, über den Höllenschlund hinwegzuspringen! Herr, ich danke dir!« Burton schob sich an Frigate heran und sagte leise: »Willst du zulassen, daß eine Frau als erste springt? Läßt du dir das bieten?« »Es wäre nicht das erstemal«, sagte Frigate achselzuckend. »Warum sollte ich denn was dagegen haben? Hier geht es nicht um das Geschlecht, sondern um die Fähigkeiten.« »Du hast Angst.« »Und ob ich Angst habe. Nur ein Irrer hätte keine.« 295
Frigate ließ es sich allerdings nicht nehmen, die Gesegnete Croomes nach ihrem bisher weitesten Sprung zu fragen. Sie sei zwar auf der Erde nicht oft gesprungen, erwiderte sie, aber als sie in einem Staat namens Wendisha gelebt hatte, habe sie mehrmals siebeneinhalb Meter geschafft. »Woher willst du das wissen?« sagte Frigate. »Wir hatten zwar auf der Rex genügend Meßmöglichkeiten, aber ich bezweifle, daß dies anderswo auch der Fall gewesen ist.« »Wir haben die Entfernung einfach geschätzt«, sagte Croomes. »Mir kam es jedenfalls wie siebeneinhalb Meter vor. Außerdem bin ich sicher, daß ich so weit springen kann! Der Herr wird mich auf den Schwingen meines Glaubens tragen. Ich werde wie eine seiner herrlichen Gazellen über den Abgrund fliegen!« »Yeah«, sagte Frigate. »Und dann wirst du die andere Seite um ein paar Zentimeter verfehlen und dir an den Felsen den Schädel einrennen.« »Warum können wir nicht eine bestimmte Strecke ausmessen?« fragte Nur. »Dann könnt ihr drei ein Wettspringen veranstalten, und wir erfahren, wer von euch der beste ist.« »Auf diesem harten Boden? Dazu brauchen wir eine Sandgrube!« Croomes schlug vor, eine Lampe auf die andere Seite zu werfen, damit sie eine Markierung hatten. Frigate band eine der Lampen an ein Seil und warf sie über den Abgrund, wo sie nur wenige Zentimeter vom Rand entfernt auf der Seite liegenblieb. Der Lichtstrahl schien ihnen nun genau in die Augen. Frigate zog sie zurück und warf noch einmal. Auch diesmal kippte die Lampe um, aber mit einigen Reißbewegungen an der Leine gelang es Frigate, sie so zu drehen, daß der Lichtstrahl nun von der Seite kam. »Okay«, sagte er. »Es ist zu schaffen. Aber ich ziehe sie trotzdem wieder zurück. Man kann einen solchen Sprung nur machen, wenn man ausgeschlafen ist. Ich bin jedenfalls zu müde, um es jetzt zu versuchen.« »Laßt uns den Anlaufweg mit Lampen säumen«, sagte die Gesegnete. »Ich möchte gerne sehen, wie er überhaupt aussieht.« Nachdem sie das getan hatten, schritten Frigate und Croomes den Weg ab, den sie nehmen wollten, falls sie sprangen. Als Absprungmarkierung diente ihnen eine Lampe, die nur ein paar Zentimeter vom Rand des Abgrundes entfernt stand. »Da wir keine Möglichkeit haben, einen verpatzten Sprung zu wiederholen«, sagte Frigate, »sollten wir uns zunächst aufwärmen. Diese kalte Luft... Aber andererseits bietet sie, weil sie dünn ist, auch weniger Widerstand. Möglicherweise hat sie damals auch diesem schwarzen Springer - wie hieß er doch gleich wieder? - geholfen, der bei den Olympischen Spielen in Mexiko City den Weltrekord holte. Aber um beim Thema zu bleiben: Wir haben uns an das Klima, 296
das in dieser Höhe herrscht, noch nicht genügend angepaßt. Und daß wir alle aus der Übung sind, steht ebenfalls fest.« Da Burton Tai-Peng die Chance geben wollte, sich freiwillig zu melden, sagte er nichts. Der Chinese hatte Frigate und Croomes die ganze Zeit über zugesehen. Nun kam er auf Burton zu und sagte: »Ich bin ein guter Springer! Aber ich bin traurigerweise ebenfalls aus der Übung! Dennoch werde ich nicht zulassen, daß eine Frau mutiger ist als ich! Ich werde als erster springen!« Seine grünen Augen glitzerten im Schein der Lampe. Burton fragte ihn, wie weit sein bester Sprung gewesen sei. »Weiter als der da«, erwiderte Tai-Peng und deutete auf den Abgrund. Frigate hatte inzwischen ein paar Papierfetzen in die Luft geworfen, um den Wind zu prüfen. Er kam auf Burton zu und sagte: »Der Wind kommt von links, wird uns also ein wenig nach rechts abtreiben. Aber der Berg hält den größten Teil des Windes ab. Ich würde sagen, die Windgeschwindigkeit beträgt neun oder zehn Kilometer.« »Danke«, sagte Burton. Er musterte den Chinesen. Tai-Peng war zwar ein guter Athlet, aber so gut, wie er behauptete, war er nicht. Immerhin riskierte er seinen eigenen Hals. Niemand hatte ihn darum gebeten. Frigate sagte plötzlich: »Paßt auf! Ich bin doch wirklich der erfahrenste Springer unter uns! Deswegen sollte ich auch derjenige sein, der es tut! Und das werde ich auch!« »Hast du deine Angst überwunden?« »Nein, zum Teufel! Es ist, weil... Ich habe einfach nicht den Mumm, zuzusehen, wie es ein anderer tut. Ihr würdet mich alle für einen Feigling halten; und wenn ihr das nicht tätet, wäre ich es auch.« Er wandte sich an Nur. »Ich habe mich noch nie rational und logisch verhalten können. Ich habe dich getäuscht.« Der Maure lächelte seinen Schüler an. »Du hast mich nicht getäuscht. Du hast dich selbst getäuscht. Man sollte allerdings nie zu pauschal urteilen. Auf jeden Fall schienst du derjenige zu sein, der den Sprung wagen sollte.« Der kleine Maure näherte sich dem Titanthropen und baute sich unter dessen gewaltiger Nase auf. »Es ist vielleicht gar nicht nötig, daß einer von uns springt. Joe, glaubst du, daß ich soviel wiege wie dein Gepäck?« Joe runzelte die Stirn. Dann ließ er Nur auf seiner riesigen Pranke Platz nehmen und hob ihn hoch. Er streckte den Arm gerade aus und sagte: »Aber nicht im geringften.« Als Nur wieder auf dem Boden stand, sagte er: »Glaubst du, du kannst dein Gepäck auf die andere Seite werfen?« 297
Joe betastete sein fliehendes Kinn. »Nun, vielleicht. Ha, jetft fehe ich, waf du vorhaft? Warum follte ich ef nicht verfuchen? Ef würde keinen Unterschied machen, wenn mein Bündel da drüben ift und wir hier find. Wir müffen fo oder fo auf die andere Feite rüber.« Er hob sein riesiges Bündel hoch über den Kopf und ging an den Rand des Abgrundes. Dort nahm er Maß, schwang die Last zweimal hin und her und warf sie hinüber. Sie landete etwa dreißig Zentimeter vom Rand der anderen Seite entfernt auf dem Boden. »Das habe ich mir gedacht, Joe«, sagte Nur. »Und jetzt kannst du mich rüberwerfen.« Der Titanthrop ließ den Mauren auf seiner Hand Platz nehmen und preßte die andere gegen dessen Brust. Dann schwang er ihn hin und her und rief: »Einf, fwei, drei!« Nur flog in einem hohen Bogen über den Abgrund hinweg, kam auf der anderen Seite mit den Füßen auf und ließ sich fallen. Als er wieder aufstand, führte er einen Freudentanz auf. Dann band Joe Nurs Lampe an ein Seil und warf sie ebenfalls hinüber. Nur fing sie auf und geriet dabei ein wenig ins Stolpern. Ein paar Minuten später kehrte er aus dem Nebel zurück. »Ich habe einen dicken Felsen gefunden, an dem man ein Seil befestigen kann, aber ich kann ihn allein nicht bewegen! Dazu wären fünf starke Männer nötig!« »Rüber mit dir!« sagte Joe, packte sich Burton und schwang ihn ein paar Mal hin und her. Obwohl Burton drauf und dran war, ihn darauf hinzuweisen, daß er viel schwerer sei als der kleine Maure, hielt er sich zurück. Der Abgrund erschien ihm in diesem Augenblick doppelt so breit zu sein als noch vor einer Minute. Dann flog er auch schon im hohen Bogen durch die Luft und hörte Joe »Paff auf deinen Hintern auf, Dick!« rufen. Er brüllte vor Lachen. Eine beängstigende Sekunde lang war der mehr als tausend Meter tiefe Abgrund unter ihm. Dann trafen Burtons Füße auf festen Untergrund, und er kippte nach vorne. Obwohl er sich abzurollen versuchte, erwies sich der felsige Boden als verteufelt hart. Kurz darauf kam sein Gepäck. Joe bemächtigte sich zuerst aller Kleinteile, dann schnappte er sich Frigate und wirbelte auch ihn über den Abgrund. Nach und nach folgten die anderen. Schließlich blieben nur noch Ah Qaaq und Joe selbst übrig. Mit dem Ruf »Machf gut, Fettfack«, warf er den Maya durch die Luft. Er landete näher am Rand des Abgrundes als jeder andere, schaffte es aber um knapp zwanzig Zentimeter. »Und jetft?« rief Joe. »Da muß irgendwo ein großer Felsen sein, der fast soviel wiegt wie du, Joe«, sagte Burton. »Roll ihn rauf und mach ein Seil an ihm fest.« 298
»Aber der liegt faft einen Kilometer von hier«, erwiderte der Titanthrop. »Warum feid ihr nicht hier geblieben, um mir fu helfen, anftatt da rüberfugehen?« »Ich wollte nicht, daß du nach der Steinrollerei für ein Wurfmanöver zu müde bist.« »Verdammter Mift! Immer muf ich die Dreckfarbeit machen!« Joe tauchte mit seiner Lampe im Nebel unter. Einige von ihnen hatten zwar Schrammen und Schürfwunden davongetragen, aber ernsthaft verletzt war keiner. Burton und die anderen folgten Nur zu dem Felsen, den er gefunden hatte, und nach einer langen Pause rollten sie ihn über den flachen Steinbogen des Plateaus hinweg. Es war keine leichte Arbeit, denn der Felsklotz war nicht nur unregelmäßig geformt, sondern möglicherweise auch schwerer als sie alle zusammen. Wegen der dünnen Luft waren regelmäßige Pausen unumgänglich. Schließlich erreichten sie den Abgrund und ließen sich dort erschöpft zu Boden fallen. Eine Minute später tauchte Joe mit dem anderen Felsbrocken aus dem Nebel auf. »Ich hatte gehofft, ich würde euch Fwerge schlagen können«, rief er. »Und wenn mein Felfen nicht weiter entfernt gewefen wäre alf eurer, wäre mir daf auch gelungen.« Er setzte sich hin und rang nach Atem. Die Gesegnete Croomes beschwerte sich darüber, daß man sie nicht hatte springen lassen, und meinte, damit habe man sie der Möglichkeit beraubt, dem Herrn die Festigkeit ihres Glaubens zu demonstrieren. »Niemand hat dich davon abgehalten«, sagte Frigate. »Aber um die Wahrheit zu sagen, mir hätte es auch nicht gefallen. Alles, was mich zurückhielt, war der Gedanke, daß die Gruppe geschwächt worden wäre, hätte ich mein Ziel nicht erreicht. Vielleicht versuche ich es aber trotzdem noch einmal, nur um zu beweisen, daß ich es kann.« Er sah Tai-Peng an, und beide brachen in ein lautes Gelächter aus. »Mich legt ihr nicht rein«, sagte Croomes auf Englisch. »Ihr beide hattet vor etwas, zu dem eine Frau bereit war, Angst.« »Das unterscheidet uns eben von dir«, sagte Frigate. »Wir sind nämlich nicht verrückt.« Als sie einigermaßen wieder bei Atem waren, banden sie die Enden eines langen, dicken Seils um die Felsen und sicherten letztere mit kleinen Steinen ab. Joe glitt über den Rand des Abgrundes, packte das durchhängende Seil und zog sich Hand über Hand darüber hinweg. Um sicherzugehen, daß sein immenses Körpergewicht den- diesseitigen Felsen nicht ins Rollen brachte, hielten einige Leute das Seil fest. Zum Glück erwiesen sich ihre Bemühungen aber als unnötig. Als Joe den gegenüberliegenden Rand erreicht hatte, ließen ein paar Mann das Seil los und halfen ihm hoch. 299
»Jungejunge«, keuchte Joe. »Ich hoffe, daf ich daf nicht noch einmal machen muf! Ich hab' euch fwar noch nie waf davon erfählt, aber jedef Mal, wenn ich irgendwo hoch oben bin, habe ich daf Gefühl, ich müfte da runterfpringen.« 43 Es kostete sie zwei Stunden, den Sims zu erreichen, der innerhalb des Gebirgsringes den See umzog. »Hier ift ef fwar schon fiemlich eng«, sagte Joe, »aber wartet erft mal ab, bif wir da find, wo die beiden Ägypter abftürften. Mann, da ficht ef noch ganf anderf auf!« Tausend Meter unter ihnen breitete sich eine undurchdringliche Wolkenmasse aus. Sie schliefen acht Stunden, nahmen das übliche eintönige Frühstück ein und gingen weiter. Obwohl die Ägypter diesen Weg auf allen vieren hinter sich gebracht hatten, ging man aufrecht, wandte das Gesicht der Steilwand zu und tastete sich, nach Löchern und Vorsprüngen greifend, Meter um Meter weiter voran. Die Luft wurde ein wenig wärmer. Nach der langen Reise durch die arktischen Regionen und dem Durchqueren des Polarsees gab der Fluß an dieser Stelle immer noch etwas Wärme ab. Sie überquerten den Sims ohne Schwierigkeiten. Irgendwann erreichten sie ein anderes Plateau und befanden sich nun, wie Joe ausführte, in der Nähe des Sees. Auf schmerzenden Füßen marschierte er auf einen Abhang zu und richtete den Strahl seiner Lampe auf einen neuen Sims, der diesmal unter ihnen lag. Der Sims lag in einer Tiefe von eineinhalb Metern, war etwa sechzig Zentimeter breit und führte in ein dünnes Nebelfeld hinab. Wäre ein Horizont vorhanden gewesen, hätte man sagen können, er führe in einem Winkel von fünfundvierzig Grad genau darauf zu. »Wir müssen einige Sachen hier zurücklassen, damit unser Gepäck weniger wird«, sagte Burton. »Der Weg ist zu eng, als daß wir alles mitschleppen könnten.« »Yeah, ich weif«, sagte Joe. »Waf mir allerdingf Angft macht, Dick, ift, Daf die Ethiker irgendwo unterbrochen haben. Heiliger Bimbam, waf ift, wenn fie die Höhle da unten entdeckt haben?« »Dann müssen wir uns, wie ich vorher schon sagte, auf den aufblasbaren Kajak verlassen, der in deinem Gepäck ist. Er kann zwei von uns zum Turm rüberbringen.« »Ja, ficher. Aber auch der kann mich nicht davon abhalten, darüber fu fprechen. Reden löft nämlich Fpannungen.« Obwohl die Sonne sich nie über die den See umgebenden Berge erhob, herrschte in dieser Gegend ein gewisses Dämmerlicht. »Bevor ich weit genug 300
kam«, sagte Joe, »bin ich abgeftürft. Defwegen weif ich gar nicht, wie weit diefer Pfad überhaupt geht. Vielleicht brauchen wir einen ganfen Tag oder noch länger, um unten anfukommen.« »Tom Mix erwähnte einmal, der Ägypter Paheri habe ihm erzählt, daß sie eine Essenspause einlegten, bevor sie unten waren«, sagte Burton. »Aber das muß nicht viel heißen. Da die ganze Reise ziemlich erschöpfend war, haben sie vielleicht eher Hunger bekommen als gewöhnlich.« Sie fanden eine kleine Höhle. Um den Wind draußen zu halten, rollte Joe mit der Hilfe einiger anderer einen großen Felsen vor den Eingang. Sie zogen sich zurück und nahmen eine Mahlzeit ein. Zwei Lampen spendeten ihnen etwas Helligkeit, aber das Licht reichte nicht aus, um ihren Mut zu stärken. Was sie brauchten, war ein Feuer, der helle Glanz und die knisternde Wärme, die ihren steinzeitlichen Vorfahren und allen folgenden Generationen das Dasein versüßt hatten. Tai-Peng war der einzige, der seinen Frohsinn deutlich zur Schau trug. Er erzählte Geschichten aus alter Zeit, berichtete von den Acht Unsterblichen der Weinbecher, seinen Gefährten von früher und gab hin und wieder einen chinesischen Witz zum besten. Obwohl es unmöglich war, seine Witze in ein adäquates Esperanto zu übersetzen, kamen sie gut genug an, um einige der Anwesenden - besonders Joe Miller - vor Vergnügen brüllen und sich auf die Schenkel klopfen zu lassen. Dann fing Tai-Peng an, einige seiner Stegreifgedichte aufzusagen, und schloß damit, indem er sein Schwert auf den Turm richtete, der irgendwo vor ihnen lag. »Bald werden wir die Festung des Großen Grals erreichen! Mögen jene, die mit unserem Leben gespielt haben, sich in acht nehmen! Auch wenn sie Dämonen sind - wir werden sie bezwingen! Zwar hat der alte Kung Fu Tse uns Menschen davor gewarnt, uns mit den Geistern anzulegen, aber ich habe nie zu denen gehört, die ihm Beachtung schenkten! Ich höre auf keinen Menschen! Ich folge meinem eigenen Verstand! Ich bin Tai-Peng, und es gibt niemanden, der über mir steht!« Und dann krakeelte er: »Nehmt euch in acht, ihr Brüder, die ihr euch versteckt, herumschleicht und euch weigert, uns entgegenzutreten! Paßt auf! Jetzt kommt Tai-Peng! Und Burton! Und Miller!« Und so ging es weiter. »Wir follten in feiner Nähe bleiben«, witzelte Joe leise. »Die heife Luft, die er abgibt, könnte unf nütflich fein.« Burton beobachtete Gilgemesch und Ah Qaaq. Sie benahmen sich nicht anders als die anderen, sondern lachten und feuerten den Chinesen an. Aber das konnte auch bedeuten, daß sie besonders gute Schauspieler waren. Er machte sich Sorgen. Spätestens wenn sie die Höhle erreichten - falls sie sie erreichten mußte er in bezug auf die beiden etwas unternehmen. Auch wenn sich ihre Unschuld herausstellen sollte: Er mußte unbedingt in Erfahrung bringen, ob einer 301
von ihnen - oder vielleicht sogar beide - mit X identisch war. Jeder der beiden konnte Loga sein. Oder Thanabur. Aber wie sollte er das anstellen? Und was hatte X - vorausgesetzt, seine Theorie entsprach der Wahrheit - überhaupt vor? Burton ließ vor seinem inneren Auge eine Szenenfolge ablaufen. Wenn sie den Sims hinuntergingen, würde er dafür sorgen, daß Joe Miller die Führung übernahm. Er selbst würde an zweiter Stelle gehen. Ah Qaaq und Gilgamesch würden den Abschluß bilden, denn er wollte nicht, daß sie die Höhle als erste erreichten - falls sie überhaupt noch existierte. Der Maya und der Sumerer - vorausgesetzt, sie waren das, wofür sie sich ausgaben - würden die Höhle zuletzt betreten und dann entwaffnet werden. Sie besaßen lange Messer und Pistolen, die Plastikkugeln vom Kaliber .69 verschossen. Joe und de Marbot mußten dafür sorgen, daß sie sie nicht einsetzen konnten. Frigate und Nur würden einen Tipp erhalten, sollten sich aber aus seinem Plan heraushalten. Burton war sich weder des Mauren noch des Amerikaners sicher. Seine Erfahrungen mit dem Agenten, der sich ebenfalls als Peter Jairus Frigate ausgegeben hatte, hatten ihn mißtrauisch gemacht. Er fragte sich immer noch, ob er diesmal dem echten Frigate gegenüberstand. Nur schien zwar der zu sein, als der er sich ausgab, aber Burton traute niemandem. Sogar der Titanthrop konnte ein Agent sein. Warum auch nicht? Er war trotz seiner ungeheuren Größe und seines komischen Aussehens intelligent und leistungsfähig. Aber irgend jemandem mußte Burton trauen. Er traute sogar zwei Menschen: sich selbst und - nach so vielen intimen Jahren - natürlich Alice. Die anderen ach, die anderen! Er würde sie allesamt im Auge behalten und sich in bezug auf sie nach seinem Instinkt richten müssen, was immer dieses oft mißbrauchte Wort auch bedeutete. Es bedeutete sicher nicht viel, sagte ihm aber, daß von allen, die hier versammelt waren, nur zwei diejenigen waren, die zu sein sie vorgaben. Mit stark reduziertem Marschgepäck - Joe trug immer noch die größte Last ließen sie sich auf den letzten Sims hinab. Indem sie sich auf Zehenspitzen seitlich und größtenteils mit ausgestreckten Armen fortbewegten, hielten sie sich überall dort fest, wo ein Vorsprung dies erlaubte. Bald darauf - es waren etwa zwei Stunden vergangen, die ihnen wie eine Ewigkeit erschienen waren - umrundeten sie den Berg. Joe hielt an und drehte den Kopf. »Feid mal ftill«, sagte er. »Dann könnt ihr vielleicht hören, wie der Fee gegen die Bergwände anrollt.« Sie lauschten angestrengt, aber nur Burton, der Maure und Tai-Peng vernahmen das Geräusch der gegen den Fels schlagenden Wellen. Doch nicht einmal sie waren sicher, ob ihnen ihre Fantasie nicht einen Streich spielte. 302
Als die Ecke hinter ihnen lag, konnten sie einen relativ hellen Himmel erkennen. Er erhob sich über die höheren Regionen der Berge, die den See wie eine Kraterwand umgaben. Der Turm war immer noch unsichtbar. Man konnte nicht einmal seine Umrisse sehen. Und doch befand er sich laut der Geschichte Joes und des Luftschiffes Parseval in der Mitte des Sees. »Hier bin ich irgendwo auf einen Gral geftofen, den jemand furückgelaffen hat«, rief Joe. »Und hier hab' ich einen plötflichen Lichtftrahl gefehen, alf daf Flugfeug der Ethiker auf dem Turmdach für Landung anfetfte. Hier bin ich über den Gral geftolpert und in die Tiefe geftürft.« Er machte eine Pause. »Er ift nicht mehr da.« »Wer?« »Der Gral.« »Die Ethiker werden ihn mitgenommen haben.« »Ich hoffe nicht«, sagte Joe. »Denn wenn fie daf getan haben, dann müffen fie auch wiffen, daf ef Leute gegeben hat, die ef bif hierher geschafft haben. In einem folchen Fall wären fie dem Fimf bif fu feinem Ende gefolgt und hätten die Höhle entdeckt. Laft unf hoffen, daf irgend jemand anderef hier gewefen ift und ihn mitgenommen hat. Vielleicht haben ef fogar die Ägypter getan - nach meinem Abfturf.« Langsam bewegten sie sich weiter über den schlüpfrigen, schmalen Sims hinweg. Der Nebel wurde nun dichter. Trotz der Lampe, die an seinem Gürtel hing und hochgehoben werden mußte, wenn es zu schlimm wurde, sah Burton keine sieben Meter weit. Plötzlich hielt Joe an. »Ist was?« fragte Burton. »Mift! Der Fimf ift fu Ende! Warte einen Moment. Ef fieht fo auf - und fühlt fich fo an -, alf fei ef hier weggefmolfen. Yeah! Ift ef auch! Die Ethiker haben den Fimf an diefer Ftelle glattweg abgeschnitten! Waf machen wir jetft?« »Kannst du erkennen, wie groß die Unterbrechung ist?« »Ja, ef ficht fo auf, alf könne man nach einem knappen Dutfend Metern bequem weitergehen. Aber in unferer Lage ift daf auch nicht weniger alf ein ganfer Kilometer.« »Bis auf welche Tiefe haben sie den Grat abgeschmolzen?« Eine Minute verging. »Weiter alf ich greifen kann. Moment. Ich leuchte mal die Gegend ab.« Erneut vergingen einige Sekunden. »Etwa einen Meter über meinen Fingerfpitfen find ich einige Fpalten.« Burton schnallte sein Gepäck ab und ging auf alle viere nieder. Der direkt hinter ihm stehende Maure krabbelte vorsichtig über ihn hinweg. Als er auf Joes Schultern kletterte, vollbrachten die beiden einen waghalsigen Zirkusakt. Dann 303
sagte Nur: »Es sieht aus, als verliefen die Spalten in einer geraden Linie. Für die Haken dürfte das reichen.« Er blieb auf Joes Schultern stehen. Burton versorgte den Titanthropen mit einem Hammer und Haken, die dieser an den Mauren weiterreichte. Während Joe ihn fest an den Beinen gepackt hielt, schlug Nur zwei Eisen in die Wand. Burton ließ ihm durch Joe das Ende einer dünnen, aber festen Leine reichen, die er durch die Ösen zog und am entferntesten Haken befestigte. Der Maure kehrte auf den Sims zurück, wo Burton ihn packte, um zu verhindern, daß er abstürzte. Er streifte sich ein aus Fischleder und Metall gefertigtes Geschirr über, wie es Fallschirmspringer tragen und zur Ausrüstung des Bootes gehört hatte. Die Gurtbänder auf seiner Brust waren mit Schnallen versehen, an denen starke Plastikbänder befestigt waren. An ihren Enden baumelten kleine Metallgehäuse, in denen sich Laufräder befanden. Nur bestieg erneut Joes Rücken. Als er auf den breiten Schultern des Titanthropen stand, klappte er das erste Laufgerät um das horizontal mit Haken an der Felswand befestigte Seil und schraubte es fest zusammen. Nun konnte er am Seil entlang an der Bergwand vorbeirollen. Als er den ersten Haken erreicht hatte, schloß er das nächste Laufrad dahinter an. Dann öffnete er das Gehäuse des ersten und glitt weiter. Mit den Beinen gegen die Steilwand gelehnt, beugte Nur sich - von den Bändern gehalten - nach vorn und fing an, einen dritten Haken in die Wand zu schlagen. Was er tat, war harte Arbeit und verlangte zahlreiche Pausen. Die anderen waren hungrig, aber die Angst um den kleinen Mauren verhinderte, daß einer von ihnen richtigen Appetit entwickelte. Es kostete Nur fünf Stunden geduldiger Arbeit, die Eisen einzuschlagen, bis er dort ankam, wo er hinmußte. Als es so weit war, hätte er auch keinen Handschlag mehr tun können. Auf der anderen Seite des Abgrundes brach er erschöpft zusammen. Burton war als nächster dran, sich auf die Schultern des Riesen zu begeben. Es war nicht ungefährlich, was er tat. Ohne Joes Größe und Stärke hätte die gesamte Gruppe an dieser Stelle aufgeben und zurückkehren müssen. Das hätte ihren sicheren Tod bedeutet, denn für den Rückweg hatten sie nicht mehr genügend zu essen. Wie Nur bewegte Burton sich an der Steilwand entlang. Kurz darauf war er auf der anderen Seite. Nur fing ihn auf und bremste ihn ab, als Burton den Verschluß des Laufgeräts löste und mit ausgestreckten Armen, um ihren Zusammenprall zu dämpfen, vornübersank. Zum Glück war der Sims hier breiter als auf der Gegenseite. Die Zurückgebliebenen hatten nun ein neues Problem. Wie sollte man das schwere Gepäck herüberkriegen? Es schien keinen anderen Ausweg zu geben, als alles, was nicht unbedingt nötig war, zurückzulassen. Ein Auspacken war 304
unter diesen beengten Verhältnissen allerdings auch nicht ganz einfach. Man löste das Problem so, daß jeder einzelne sich an der Felswand festhielt und seinen Hintermann die Arbeit tun ließ. Alles, was auf diese Weise ans Tageslicht kam, wurde entweder in den See geworfen oder beiseite gelegt, um es anschließend erneut zu verstauen. Außer den Messern, Pistolen, der Munition, einigen nötigen Kleidern und den Feldflaschen wurde alles weggeworfen. Was man mitnahm, wurde teilweise in den Grälen verstaut. Alice und Aphra, die am leichtesten waren, wurden dazu bestimmt, die Ausrüstungen von Burton und Nur mit hinüberzunehmen. Über den Abgrund hinweg stellte Joe die Frage, ob er den aufblasbaren Kajak zurücklassen solle. Burton meinte, das dürfe auf keinen Fall geschehen. Da Joe allerdings der schwerste von ihnen sei, wäre es am besten, wenn de Marbot sich damit belastete. Dafür sollte er sein eigenes Gepäck auf die Rucksäcke Croomes' und Tai-Pengs verteilen. Burton wollte nicht, daß der Titanthrop außer seinem eigenen Gewicht noch etwas anderes mit herüberschleppte. Zwar hatten die Haken bisher noch kein Anzeichen von Schwäche gezeigt, aber wie sich achthundert Pfund auf sie auswirkten, konnte man schwerlich vorhersagen. Nacheinander kamen die anderen herüber. Schließlich blieben nur noch Ah Qaaq und Joe Miller übrig. Als der Maya über den Abgrund hinwegglitt, nahm er seinen Hammer und versetzte jedem einzelnen Haken noch ein paar zusätzliche Schläge. Joe ging vorsichtig in die Knie und packte seine große Feldflasche. Dann leerte er sie und stellte sie auf den Felsensims zurück. »Ich will möglichft wenig Feit verlieren«, rief er. »Defwegen werde ich mich mit dem Geschirr gar nicht erft aufhalten! Ich schwinge mich an dem Feil entlang und fiehe mich mit den Händen vorwärtf!« Er sprang auf und packte das Seil hinter dem ersten Haken. Er bewegte sich ziemlich schnell, streckte einen Arm nach dem anderen aus, packte das an der Wand entlanglaufende Seil und zog sich voran. Damit er sich zurückbeugen konnte, stützte er sich mit den Knien ab. Als er die Hälfte der Strecke hinter sich hatte, löste sich eines der Eisen mit einem hellen Kreischen. Joe verharrte einen Moment lang. Dann streckte er seinen langen Arm erneut aus und griff in die Richtung des nächsten Hakens. Der lockere Haken löste sich nun mit einem erneuten Kreischen ganz aus seiner Verankerung. Joe rutschte ein Stück tiefer, klammerte sich an das Seil und schwang wie ein Pendel langsam hin und her. »Festhalten, Joe!« schrie Burton. Und dann, als sich ein zweiter Haken löste und kurz darauf die anderen, fiel er auch schon in den Entsetzensschrei der anderen ein. 305
Mit einem lauten Brüllen fiel Joe Miller zum zweiten Mal durch die Wolken in den tiefen dunklen See.
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ABSCHNITT 13 Im Innern des finsteren Turms 44 Burton weinte wie die anderen. Er hatte den Riesen nicht nur gerne gehabt, sondern wirklich gemocht. Sein Tod hatte der Gruppe viel von ihrer Courage genommen. Die Moral war nun schlechter geworden; man fühlte sich kraftlos. Nach einer Weile wandten sie sich ab und setzten den Weg nach unten vorsichtig fort. Sechs Stunden später hielten sie an. Sie mußten essen und schlafen. Letzteres war nicht einfach, da sie dazu gezwungen waren, sich auf die Seite zu legen und darauf zu achten, daß sie während des Schlafs nicht von dem Sims rollten. Um dies zu verhindern, klemmten sie in der Hoffnung, daß die unbequeme Lage sie an einem allzu tiefen Schlaf hindern würde, ihre Pistolen zwischen Wand und Rücken. Es war auch nicht einfach, in dieser Situation unabdingbaren körperlichen Geschäftchen nachzukommen. Die Männer waren zwar in der Lage, über den Gratrand hinwegzupinkeln, aber meist trug der Wind alles zu ihnen zurück. Die Frauen konnten lediglich ihr Hinterteil über den Abgrund schieben und dabei auf das Beste hoffen. Nur trat es zu selten ein. Alice verhielt sich am sittsamsten. Sie verlangte, daß die anderen wegschauten, wenn sie sich erleichterte. Und selbst dann fühlte sie sich - bedingt durch die Nähe der anderen - immer noch unbehaglich. Gelegentlich jedoch war der Nebel dicht genug, um ihr wenigstens ein bißchen an Privatsphäre zu verschaffen. Sie waren nun eine schweigsame Gesellschaft, die den Tod Joe Millers nicht so schnell überwinden würde. Des weiteren keimte in jedem von ihnen allmählich der Verdacht, daß die Ethiker die Höhle inzwischen längst gefunden und versiegelt hatten. Das Geräusch der gegen die Felswände krachenden Wellen wurde lauter. Die Gruppe stieg in eine dichte Wolkenlandschaft hinab. Die Steilwand, an der sie sich entlangtasteten, wurde allmählich feuchter. Das gleiche galt für den Sims unter ihren Füßen. Endlich spürte Burton, der den Anfang machte, daß Wassertropfen ihn benetzten. Um sie herum dröhnte die See. Er hielt an und leuchtete den vor ihnen liegenden Weg aus. Der Sims lief geradewegs in das dunkle Wasser hinein. In einiger Entfernung ragte ein großer Felsen aus den Fluten. Wenn Paheri die Wahrheit gesagt hatte, mußte dahinter der Höhleneingang liegen. Burton rief den anderen, die hinter Alice standen, zu, was seine Lampe ihm offenbart hatte, dann drang er ins Wasser vor. Es war nur knietief. Der Sims, über den sie die ganze Zeit gelaufen waren, schien sich hier mächtig auszudeh307
nen, denn die Brandung war kaum spürbar. Das Wasser war jedoch ungeheuer kalt und schien seine Beine in zwei Eisklumpen zu verwandeln. Burton umrundete den dunklen Felsen. Alice war dicht hinter ihm. »Siehst du schon was?« fragte sie. Ihre Stimme zitterte. Burton ließ den Lichtstrahl seiner Lampe nach rechts wandern. Er hatte starkes Herzklopfen, aber das lag nicht nur an der Kälte des Wassers. Dann sagte er »Ah!« und schnappte nach Luft. Da war es, das Loch am Fuße des Berges, das er sich schon so oft vorgestellt hatte. Es verlief in einem leichten Bogen und war so niedrig, daß es außer Nur niemand von ihnen aufrechtgehend würde passieren können. Aber es war breit genug, um die Boote hindurchzulassen, von denen Paheri gesprochen hatte. Burton gab seine Beobachtung sofort bekannt. Croomes, die fünfte in der Reihe, rief laut: »Halleluja!« Burton selbst war weniger zuversichtlich, als er sich gab. Auch wenn die Höhle noch da war: die Boote konnten trotzdem weg sein. Er zog Alice am Seil hinter sich her und bückte sich, um durch den Eingang zu schlüpfen. Ein paar Schritte weiter ging es in einem Winkel von etwa dreißig Grad aufwärts. Die Höhle wurde breiter, und die Deckenhöhe betrug über sechs Meter. Als auch der letzte hereingekommen war, ordnete Burton an, das sie verbindende Seil zu lösen. Jetzt würden sie es nicht mehr brauchen. Er beleuchtete die blaß und müde, aber dennoch ungeduldig aussehenden Gesichter seiner Gefährten. Gilgamesch stand auf der äußersten Rechten; Ah Qaaq im Hintergrund links. Wenn Burton seinen Plan, die beiden jetzt auf Herz und Nieren zu prüfen, nicht aufgegeben hätte, wäre nun der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Aber er hatte sich entschlossen, erst dann etwas zu unternehmen, wenn er es mußte. Er drehte sich um und führte die anderen über den festen Grund auf einen Tunnelgang zu, der sanft nach rechts abbog und etwa hundert Meter lang war. Sie kamen schnell voran, die Luft wurde immer wärmer. Noch ehe sie das Ende des Ganges erreichten, sahen sie vor sich ein Licht. Burton konnte sich nicht zurückhalten: Er lief auf das Leuchten zu, kam in eine riesengroße Grotte und wäre beinahe auf das Skelett eines Menschen getreten. Es lag mit dem Gesicht auf dem Boden und hielt den rechten Armknochen - als wolle es nach irgend etwas greifen - ausgestreckt. Burton hob den Schädel des Skeletts auf, sah hinein und suchte schließlich den Boden ab. Aber ein kleines, schwarzes Kügelchen war nirgendwo zu erblicken. Das Licht kam aus neun großen, metallenen Kugeln, die auf ebensolchen, vier Meter hohen Dreibeinen standen. Das Licht wirkte kalt. In zehn V-förmigen Gestellen ruhten schwarze Metallboote. Eins der Gestelle war leer. Darin hatte sich das Boot befunden, mit dem die Ägypter auf den Turm zugerudert waren. 308
Die Boote waren unterschiedlich groß. Das längste konnte dreißig Personen aufnehmen. Links von ihnen befanden sich Metallregale, in denen graue Büchsen standen. Sie waren fünfundzwanzig Zentimeter hoch und hatten einen Durchmesser von zwölf. Alles war so, wie Paheri es beschrieben hatte. Außer den drei Skeletten, die in blauen Kleidern neben einem der Boote lagen. Die anderen traten nun auch ein. Sie unterhielten sich leise. Gewiß, die Umgebung flößte ihnen allen Unbehagen ein, aber Burton war entschlossen, jegliche Gefühle dieser Art so lange zu ignorieren, bis er wußte, wer die drei Unbekannten waren. Ihre Kleidung schien aus einem Stück zu bestehen. Sie verfügten weder über Taschen noch über Knöpfe oder Nähte. Das Material fühlte sich an, als sei es gepreßt; dort, wo er es mit den Fingern berührte, blieben Vertiefungen zurück. Burton rollte die Schädel beiseite und schüttelte die Knochen aus den Kleidern. Einer der Toten war hochgewachsen und starkknochig gewesen. Er hatte überdimensional große Augenwülste und schwere Kinnbacken. Möglicherweise ein Mann aus dem frühen Paläolithikum. Die Knochen der beiden anderen deuteten auf Menschen modernerer Zeiten hin. Eins der Becken gehörte einer Frau. In jedem der Schädel befand sich eine kleine, schwarze Kugel. Würde er nicht danach gesucht haben, er hätte sie nie gefunden. Es gab keinerlei Anzeichen, daß die Unbekannten eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Aber was hatte diese Agenten dann niedergestreckt? Und womit waren sie hierher gekommen? Mit einer dieser Flugmaschinen, die er vor vielen Jahren einmal kurz gesehen hatte? Aber vor dem Höhleneingang hatten sie nicht Derartiges gefunden. War sie abgetrieben worden? Oder im See versunken? Wer oder was hatte die drei überrascht? Warum waren die Turmbewohner nicht irgendwann gekommen, um nach ihnen zu sehen? Sie waren nicht gekommen, weil sie genug eigene Probleme hatten. Oder weil sie tot waren - da das gleiche Ereignis, das die drei Unbekannten auf dem Gewissen hatte, auch für ihr Ableben verantwortlich war. X mußte seine Hände in diesem Spiel gehabt haben. Burton fragte sich, ob das, was den Tod dieser drei verursacht hatte, auch dafür verantwortlich war, daß X und die anderen Agenten und Ethiker nun auf der Flußwelt umherirrten. Wenn dem so war, dann gab es auch keine Flugmaschine mehr, die vom Turm aus zu ihnen herüberkommen und sie auflesen konnte. Der Abtrünnige konnte den Turm ebenso wenig mit einer versteckten Maschine erreichen. Wie Barry Thorn wäre auch er gezwungen gewesen, sich an Bord des von Firebrass 309
gebauten Luftschiffes zu begeben. Und auch dann hätte er sein Ziel nicht erreicht. Von Burtons Standpunkt aus betrachtet, hatte dieses Ereignis X und ihm gewisse Vorteile verschafft. Die Agenten hatten offensichtlich die von den Steilwänden herabhängenden Seile ebenso gefunden wie die Tunnels. Auch mußte ihnen klargeworden sein, daß es einigen Talbewohnern gelungen war, über den schmalen Sims zum Polarsee hinabzusteigen. Und letztlich hatten sie auch die Höhle gefunden und dafür gesorgt, daß kein Unbefugter sie mehr erreichen konnte. Wären die drei nicht umgekommen, hätte man den Höhleneingang versiegelt. Burton ging auf die mit Büchsen gefüllten Regale zu. An der Seitenwand eines jeden befand sich ein dreißig mal dreißig Zentimeter großer Plastikbogen. Die darauf abgebildeten Zeichnungen demonstrierten, wie man die Büchsen öffnen konnte. Da Burton aufgrund der Erzählung Paheris wußte, was er tun mußte, waren die Zeichnungen für ihn überflüssig. Er umrundete den oberen Rand einer Büchse mit der Fingerspitze und wartete ein paar Sekunden. Der äußerlich wie Metall wirkende Deckel krümmte sich, wurde durchsichtig und zu einem gelatineartigen Film, den man mit den Fingern leicht durchstoßen konnte. Mit lauter Stimme sagte Burton: »X hat offenbar an Teller und Besteck keinen Gedanken verschwendet! Aber das ist schon in Ordnung. Wir können auch mit den Fingern essen!« Der Hunger trieb die anderen dazu, den Blick von den anderen Gegenständen loszureißen und seinem Beispiel zu folgen. Gierig schlangen sie das warme Fleisch mit den Fingern hinunter. Andere Büchsen enthielten Brot. Sie aßen, bis ihre Mägen gefüllt waren. Es gab nun keinen Grund mehr, sich irgendwelche Selbstbeschränkungen aufzuerlegen. Die Vorräte waren mehr als reichlich. Burton saß auf dem Boden, hatte den Rücken gegen die Höhlenwand gelehnt und beobachtete die anderen. Wenn einer von ihnen X war, warum offenbarte er ihnen dann nicht seine Identität? Etwa deswegen, weil er die Leute aus dem Flußtal nur als Statisten brauchte? Sollten sie nur die Kastanien für ihn aus dem Feuer holen, wenn er sich in einer Situation befand, in der er ohne sie hilflos war? Wenn das stimmte: Warum hatte er ihnen dann nicht schon zu Anfang gesagt, was er von ihnen erwartete? Oder hatte er das tun wollen und war lediglich von zu vielen unerwarteten Ereignissen überrollt worden? Befand er sich nun in einer Position, in der er ohne ihre Hilfe auskam? Sah er in ihnen möglicherweise sogar eine Behinderung? Warum war er überhaupt abtrünnig geworden? 310
Burton glaubte die Geschichte nicht, die X über die Wiedererweckungsmotive der anderen Ethiker verbreitet hatte. Er war sich nicht einmal darüber im klaren, ob er sich nicht mit jemandem verbündet hatte, dessen Ziele - wenn er sie erfuhr - er ebenso verabscheute. Vielleicht war das auch der Grund, aus dem der geheimnisvolle Fremde sich so rätselhaft aufführte, ihnen die Wahrheit verschwieg und ständig maskiert auftrat. Wenn er das noch war. Wie immer auch die Wahrheit aussehen mochte: Der Zeitpunkt, sich zu offenbaren, war längst überfällig. Außer - wenn X wußte, daß sich in ihrer Gruppe Agenten oder andere Ethiker befanden. In dem Fall mußte er natürlich davon ausgehen, daß es besser war, seine Maske solange aufrechtzuerhalten, bis sie in das Turminnere eingedrungen waren. Und warum? Weil er dort die Möglichkeiten hatte, seine Gegner zu überrumpeln oder zu töten. Oder weil jemand unter ihnen war, der seine Pläne - mochten sie nun ehrenhaft oder hinterhältig sein - zunichte machen konnte. Wenn er unehrenhafte Ziele verfolgte, war es vielleicht sogar nötig, daß er sich seiner eigenen Helfershelfer entledigen mußte. In einem solchen Fall hatte er sie nur benutzt, um zum Turm zu kommen. Wie war er überhaupt auf den Gedanken verfallen, daß er ihre Hilfe brauchte? Nun ... Als man Spruce verhört hatte, hatte dieser den Operateur eines gigantischen Computers erwähnt. Burton hatte zwar keine Ahnung, wer dieser Operateur war, aber man konnte nicht ausschließen, daß X vor oder während des Wiedererweckungsprojekts heimlich einen Computer eingesetzt hatte. Vielleicht hatte er der Maschine alle seinen illegalen Plan betreffenden Informationen eingegeben und sie ausrechnen lassen, auf welche Hindernisse er im Verlauf seines Vorhabens stoßen könnte. Vielleicht hatte ihn der Computer sogar mit Möglichkeiten konfrontiert, an die X nicht einmal im Traum gedacht hatte. Vielleicht hatten eine oder mehrere der durchgerechneten Möglichkeiten den Einsatz von Helfershelfern unabdingbar gemacht. Die gegenwärtige Lage mußte also das Resultat irgendwelcher Berechnungen sein. Na gut. X hatte sich also Helfer angeworben und sämtliche Fragen und Antworten aus dem Computer gelöscht. Irgendwie war ihm dies gelungen, ohne daß der Operateur davon erfahren hatte. Vorausgesetzt, Spruce hatte die Wahrheit gesagt und es gab überhaupt so etwas wie einen Computer und einen Operateur. Momentan bestand Burtons großes Problem darin, daß X ihm nicht gesagt hatte, wer er war. Was wiederum bedeutete, daß der geheimnisvolle Fremde bald etwas unternehmen mußte - und zwar nicht für, sondern gegen sie. Burton war der Meinung, daß sie, bevor sie mit den Booten hinausfuhren, erst einmal schlafen sollten. Da alle damit einverstanden waren, breiteten sie ihre 311
Kleider auf dem Boden aus und rollten andere zu Kissen zusammen. Da es in der Höhle ziemlich warm war, erübrigte es sich, daß sie sich zudeckten. Die warme Luft entströmte einigen Schlitzen im Boden nahe der Höhlenwände. »Möglicherweise wird die Höhle mit Atomenergie geheizt«, sagte Frigate. »Das gilt auch für die Energieversorgung der Lampen.« Burton wollte doppelte Wachen aufstellen, die sich alle zwei Stunden ablösen sollten. »Warum?« fragte Tai-Peng. »Es ist doch ganz offensichtlich, daß wir im Umkreis von dreißigtausend Kilometern die einzigen Menschen sind.« »Das nehmen wir vielleicht nur an«, sagte Burton. »Wir sollten jetzt nicht unvorsichtig werden.« Obwohl ein paar der anderen mit dem Chinesen einer Meinung waren, einigte man sich darauf, nichts mehr dem Zufall zu überlassen. Burton wählte die Wächter aus. Er machte den Mauren zu Gilgameschs Gefährten und teilte sich selbst zusammen mit Ah Qaaq ein. Es würde nicht einfach sein, Nur zu überrumpeln; der kleine Mann war mit einem außergewöhnlichen Wahrnehmungssinn ausgestattet und konnte meist schon an der Körpersprache seines Gegenübers erkennen, was dieser zu tun beabsichtigte. Es war natürlich möglich, daß Nur ein Agent war. Vielleicht steckten Gilgamesch und Ah Qaaq auch unter einer Decke. Es konnte sein, daß einer von ihnen sich schlafend stellte und nur darauf wartete, daß der andere, der Wache schob, seinen Partner angriff. Die Möglichkeiten waren unendlich, aber Burton hatte nun einmal keine andere Wahl. Irgendwann mußte er ja einmal schlafen. Was ihm jedoch am meisten Sorge bereitete, war, daß X - wenn er sich unter ihnen befand - während der Nacht ein kleines Boot stahl und vor ihnen den Turm erreichte. War er erst einmal da, würde er dafür sorgen, daß man den unteren Eingang nicht mehr passieren konnte. Burton gab de Marbot, der zusammen mit Alice die erste Wache übernahm, seine Armbanduhr. Dann legte er sich in der Nähe des Tunnelgangs auf seine Kleider. Es war nicht einfach für ihn, Schlaf zu finden, aber wenn er nach dem Gemurmel und den Seufzern der anderen ging, hatten die es keinesfalls leichter. Am Ende der ersten Wachperiode fiel er schließlich in einen unruhigen Schlaf. Hin und wieder wachte er auf. Er hatte Alpträume. Manche davon waren das Resultat der vergangenen dreißig Jahre. Gott, angetan mit den Kleidern eines spätviktorianischen Gentlemans, stieß ihm seinen schweren Spazierstock in die Rippen. »Du schuldest mir was für dein Fleisch. Zahl's jetzt!« Burton öffnete die Augen und sah sich um. Tai-Peng und die Gesegnete Croomes hatten jetzt die Wache übernommen. Mit leiser Stimme redete der 312
Chinese auf die kaum drei Meter von Burton entfernt sitzende schwarze Frau ein. Dann versetzte Croomes ihm eine Ohrfeige und ging weg. »Mehr Glück beim nächsten Mal, Tai-Peng«, murmelte Burton, bevor er wieder einschlief. Er wurde erneut wach, als Nur und Gilgamesch Wache standen. Damit sie nicht sehen konnten, daß er nicht mehr schlief, zog er die Augen zu engen Schlitzen zusammen. Die beiden saßen in einem der größeren Boote hinter den Kontrollen. Der Sumerer schien dem Mauren eine lustige Geschichte zu erzählen, wenn Nurs Lächeln überhaupt etwas bedeutete. Es gefiel Burton nicht, daß sie so eng zusammensteckten. Der kräftige Sumerer brauchte nur die Arme auszustrecken, um den Mauren an der Kehle zu packen. Nur schien allerdings sehr wachsam zu sein. Burton sah den beiden eine Weile zu, dann nickte er wieder ein. Als er das nächstemal hochschreckte, rüttelte Nur ihn an der Schulter. »Du bist dran.« Burton stand gähnend auf. Ah Qaaq stand an den Regalen und verzehrte Fleisch und Brot. Mit einer Handbewegung lud er Burton ein, mitzumachen. Burton schüttelte den Kopf. Er hatte nicht die Absicht, dem Maya näherzukommen als unbedingt nötig. Er zog seine Pistole unter dem Kissen hervor und steckte sie in das Halfter. Wie er bemerkte, war Ah Qaaq ebenfalls bewaffnet. Aber das war nichts Besonderes. Schließlich hatte er selbst angeordnet, daß die Wachen Waffen trugen. Burton näherte sich dem Maya bis auf zwei Meter und sagte, er ginge hinaus, um zu urinieren. Ah Qaaq, der den Mund voll hatte, nickte. Er hatte während der anstrengenden Reise an Gewicht verloren und war jetzt offenbar bemüht, den Verlust durch verstärktes Essen wieder wettzumachen. Wenn er X ist und sich als Vielfraß ausgibt, dachte Burton, ist er ein exzellenter Schauspieler. Indem er hin und wieder einen Blick zurück warf und auf ihm folgende Schritte lauschte, durchquerte Burton den Tunnel. Erst als er die Höhle erreichte, schaltete er seine Lampe an. Vor dem ins Wasser hineinführenden Abhang setzte er sie ab. Der kalte, feuchte Nebel ließ ihn frösteln. Burton beendete schnell sein Geschäft und kehrte in die Grotte zurück. Wenn Ah Qaaq die Absicht hatte, ihn zu überrumpeln, war die Gelegenheit jetzt günstig. Aber abgesehen von den in der Ferne gegen die Felswand anrollenden Brecher sah und hörte er nichts. Als er vorsichtig die Grotte betrat, sah er, daß Ah Qaaq auf dem Boden saß. Er hatte den Rücken gegen die Felswand gelehnt, die Augen halb geschlossen und den Kopf gebeugt. Burton begab sich an die gegenüberliegende Wand und lehnte sich dagegen. Kurz darauf stand der Maya auf und reckte sich. Mit einem Zeichen gab er Burton zu verstehen, daß er nun die Grotte verlassen wollte. Burton nickte. Mit 313
schwabbelndem Bauch verschwand der Maya watschelnd im Innern des Tunnels. Burton gelangte zu der Ansicht, daß er vielleicht doch zu mißtrauisch gewesen war. Eine Minute später kam er zu dem Ergebnis, vielleicht nicht mißtrauisch genug gewesen zu sein. Was war, wenn sich hinter dem Maya tatsächlich X verbarg und es in der Nähe noch eine andere mit einem Boot ausgestattete Höhle gab? Vielleicht lag sie hinter einem Felsspalt und war nahe genug, daß Ah Qaaq sie in dem seichten Wasser bequem zu Fuß erreichen konnte? Zehn Minuten vergingen, nicht gerade eine unbescheidene Zeit für eine Abwesenheit. Sollte er Ah Qaaq folgen? Noch während Burton darüber nachdachte, sah er, wie der Maya zurückkehrte. Burton entspannte sich. Die Hälfte der Wache war um. Die anderen hatten ihren Hauptschlaf hinter sich und würden jetzt sogar von leisen Geräuschen geweckt werden. Außerdem würde es für X nur logisch sein, wenn er wartete, bis sie den Turm betreten hatten. Hier, im Innern der Grotte, mußte er mit vielen fertig werden. Im Turm befand er sich jedoch auf bekanntem Terrain. Als die sechs Stunden verstrichen waren, weckte Burton die anderen auf. In zwei nach Geschlechtern getrennten Gruppen begab man sich zum Wasser und kehrte - lauthals über die Kälte lamentierend - in die Grotte zurück. Burton und Ah Qaaq hatten inzwischen mit Hilfe der in den Grälen deponierten Tassen, dem Wasser aus den Feldflaschen und dem braunen, das Wasser selbsttätig erhitzenden Pulver Kaffee gebraut. Man trank, unterhielt sich eine Weile und nahm dann ein Frühstück zu sich. Einige gingen erneut zum See hinaus. Croomes wies darauf hin, es sei eine Schande zuzulassen, daß die Skelette weiterhin unbegraben hier herumlägen. Sie fing ein solches Gezeter an, daß Burton nicht umhin konnte, sie zu beschwichtigen. Auf eine weitere Verzögerung kam es nun auch nicht mehr an. Sie lasen die Knochen auf und warfen sie in den See. Croomes sprach ein Gebet. Das Skelett, das in der Nähe des Tunnels gelegen hatte, war aller Wahrscheinlichkeit nach das ihrer Mutter, aber niemand erwähnte es. Croomes selbst schien dies nicht gemerkt zu haben, andernfalls hätte sie sicher geweint. Sowohl Burton als auch einige der anderen wußten aus den Erzählungen Paheris, daß die Ägypter neben dem Skelett ein noch nicht ganz verrottetes Haarbüschel gefunden hatten, das kraus und schwarz gewesen war. Sie kehrten in die Grotte zurück und beluden eins der Dreißig-Personen-Boote mit ihren Habseligkeiten und sechzig Nahrungsbüchsen. Dann hoben vier Männer das große, aber erstaunlich leichte Boot an und trugen es durch den Tunnel in die Höhle. Zwei Männer und zwei Frauen nahmen ein kleineres Boot mit, das durch ein Seil mit dem großen verbunden wurde. 314
Als man Burton fragte, wofür das kleine Boot gebraucht werde, antwortete er: »Für alle Fälle.« Er hatte zwar keine Ahnung, wie diese Fälle aussehen konnten, aber das konnte ihn nicht daran hindern, zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Als er die Grotte als letzter verließ, warf er noch einmal einen Blick zurück. Dort, wo die neun strahlenden Lampen und die leeren Boote standen, war es still und unheimlich. Ob noch irgend jemand ihnen folgen würde? Er glaubte es nicht. Ihre Expedition war bis jetzt die dritte - und die erfolgreichste. Meist hatte man im Leben drei Versuche. Dann dachte er an Joe Miller, der zweimal in den See gestürzt war. Er hatte doch hoffentlich nicht vor, es ein drittes Mal zu tun? Nicht bevor wir ihm die Chance dazu geben, dachte er. Außer Ah Qaaq und Gilgamesch kletterten alle in das große Boot. Die beiden schoben es ins Wasser, kletterten an Bord und fingen an, sich die Beine abzutrocknen. Burton hatte die Bildbeschreibung des Bootes studiert, bis er wußte, was er zu tun hatte. Er stand hinter dem Steuerrad auf dem erhöhten Deck und drückte einen auf dem Armaturenbrett befindlichen Knopf. Ein Lämpchen ging an, sein Licht ließ ihn nun auch die restlichen Bedienungsknöpfe erkennen. Sie trugen zwar keine Aufschriften, aber das Diagramm zeigte ihm, wo sie sich befanden und welchen Zwecken sie dienten. Gleichzeitig wurde auf einem über dem Kontrollbord befindlichen Bildschirm in hellen, orangefarbenen Umrissen der zylinderförmige Turm sichtbar. »Wir sind soweit«, gab Burton bekannt. Er machte eine Pause, drückte den nächsten Knopf und sagte: »Es geht los!« »Auf zum Zauberer von Oz, dem Fischerkönig!« rief Frigate aus. »Laßt uns den Heiligen Gral erobern!« »Wenn er wirklich heilig ist«, sagte Burton und stieß ein lautes Gelächter aus, »dann frage ich mich, was ausgerechnet wir mit ihm anfangen sollen!« Mit welcher Antriebskraft das Boot auch ausgestattet sein mochte - es verfügte weder über eine Schiffsschraube, noch besaß es irgendwelche Düsen -, sie kamen rasch von der Stelle. Eine kuriose Apparatur, die wie ein kleiner Gummiball aussah und rechterhand mit dem Steuerrad verbunden war, diente zur Geschwindigkeitskontrolle. Wenn Burton seinen Griff festigte oder lockerte, wurde das Boot schneller oder langsamer. Er drehte das Rad, bis die Umrisse des Turms von rechts bis ins Zentrum des Bildschirms wanderten. Dann ließ er das Boot mit einem Druck auf den Gummiball noch schneller werden. Sie durchpflügten das Wasser jetzt in einem Bogen. Obwohl diejenigen, die ziemlich weit hinten saßen, von der aufgewirbelten Gischt benetzt wurden, hatte Burton nicht die Absicht, mit der Geschwindigkeit herunterzugehen. Hin und wieder schaute er zurück. Der Nebel war so dicht, daß er nicht einmal das Heck ihres Gefährts erkennen konnte. Seine Gefährten hatten sich am 315
Rand des Kontrolldecks eng zusammengekauert. In ihren leichentuchähnlichen Kleidern wirkten sie wie ein paar verlorene Seelen, die Charon über den Styx brachte. Und sie waren auch so schweigsam wie Tote. Paheri hatte geschätzt, daß Echnatons Boot zwei Stunden gebraucht hatte, um den Turm zu erreichen. Die Ägypter hatten sich nicht getraut, mit Höchstgeschwindigkeit zu fahren. Wie der Radarbeobachter der Parseval gemeldet hatte, durchmaß der See etwa fünfundvierzig Kilometer. Der Turm hatte einen Durchmesser von knapp fünfzehn Kilometern. Also betrug die Strecke von der Höhle bis zum Turm ebenfalls nur fünfzehn Kilometer. Das Boot der Pharaos mußte demnach mit einer Geschwindigkeit von sieben Stundenkilometern dahingekrochen sein. Der Turm wurde auf dem Bildschirm rasch größer. Plötzlich brach das Bild zusammen. Sie waren ihrem Ziel schon ziemlich nahe. Die Bedienungsanleitung zeigte an, daß es jetzt an der Zeit war, einen weiteren Knopf zu drücken. Burton folgte der Aufforderung, und zwei außergewöhnlich helle Buglampen durchschnitten den dichten Nebel und beleuchteten eine mattglänzende, leicht gebogene Metalloberfläche. Burton ließ den Gummiball los. Das Boot verlor sofort an Geschwindigkeit und fing an, abzutreiben. Burton nahm den Ball wieder in die Hand, schwenkte das Boot herum und fuhr langsam auf die riesige Wand zu. Er drückte einen anderen Knopf und konnte ein großes Tor erkennen. Es sah aus wie der Eingang zu einem U-Boot-Hafen. Licht strömte heraus. Burton schaltete den Antrieb ab und drehte das Steuer so, daß das Boot längsseits gegen das Unterteil des geöffneten Tors bumste. Seine Gefährten streckten die Arme aus, griffen nach der Metallwand und brachten das Boot zum Halten. »Halleluja!« kreischte die Gesegnete Croomes. »Bald werde ich bei dir sein, Mama, und neben dir zur Rechten unseres geliebten Herrn Jesus sitzen!« Die anderen zuckten zusammen. Die bisherige Stille und die Verwunderung über die Tatsache, daß der Weg nun offen vor ihnen lag, hatte sie dermaßen überwältigt, daß der Aufschrei ihnen fast wie ein Sakrileg vorkam. »Still!« rief Frigate und lachte, als er feststellte, daß ihn ohnehin niemand hören konnte. »Mama, ich komme!« krakeelte die Gesegnete. »Halt die Klappe, Croomes!« sagte Burton. »Oder - bei Gott! - ich werf' dich ins Wasser! Wir haben keinen Platz für Hysteriker!« »Aber ich bin doch gar nicht hysterisch! Ich freue mich so! Die Glorie des Herrn ist in mir!« »Dann sieh zu, daß sie nicht ausläuft!« sagte Burton. 316
Croomes sagte, er würde noch in der Hölle enden, regte sich jedoch wieder ab. »Vielleicht hast du sogar recht«, meinte Burton, »aber ich möchte nicht versäumen, dich darauf hinzuweisen, daß wir jetzt alle an den gleichen Ort gehen. Wenn er sich als der Himmel entpuppt, werden wir mit dir zusammen da sein. Wenn es jedoch die Hölle ist...« »Sag nicht so etwas, Mann! Das ist respektlos!« Burton seufzte. Im großen und ganzen war sie ja gesund. Aber sie war eine religiöse Fanatikerin, die es nicht nur fertig brachte, die Tatsachen des Lebens zu ignorieren, sondern auch die ihrem Glauben anhaftenden Widersprüche. Was dies anging, ähnelte sie seiner Frau Isabel, einer frommen Katholikin, die es geschafft hatte, nebenbei auch noch den Spiritualismus ernst zu nehmen. Abgesehen von ihren Versuchen, ihn und seine Gefährten während der nicht ungefährlichen Reise zum wahren Glauben zu bekehren, hatte die Gesegnete Croomes sich jedoch als stark, ausdauernd, anspruchslos und hilfreich erwiesen. Durch die Toröffnung konnte Burton den graumetallenen Korridor erkennen, den Paheri beschrieben hatte. Seine dort zusammengebrochenen Kameraden waren jedoch nirgendwo zu erblicken. Paheri war zu furchtsam gewesen, um den anderen zu folgen. Er war im Boot geblieben. Als Echnaton und die anderen umgefallen waren, hatte sich das Tor ebenso lautlos wieder geschlossen, wie es sich geöffnet hatte. Da es Paheri nicht gelungen war, die Höhle wiederzufinden, war er mit dem Boot auf einen der Wasserfälle zugefahren und später an einem fernen Flußufer wieder zu sich gekommen. Aber mit den Wiedererweckungen war nun Schluß. Burton öffnete seine Pistolentasche. »Ich gehe als erster«, sagte er. Er trat über die Schwelle. Ein Luftzug wärmte sein Gesicht und seine Hände. Das Licht warf keine Schatten und schien direkt aus den Wänden, dem Boden und der Decke zu kommen. Am Ende des Korridors befand sich eine geschlossene Tür. Dicke, runde Metallstangen von grauer Farbe hatten die Eingangstür geöffnet. Sie verschwanden in einem gleichfarbenen Metallwürfel, der eineinhalb Meter hoch war und ein Teil des Bodens zu sein schien. Burton konnte weder Nieten noch Bolzen erkennen, die ihn hielten. Er wartete, bis Alice, Aphra, Nur und de Marbot eingetreten waren, sagte ihnen, daß sie sich nicht mehr als drei Meter vom Eingang entfernen sollten, und rief den anderen zu: »Bringt das kleine Boot mit rein!« »Warum?« fragte Tai-Peng. »Wir klemmen es zwischen das Tor. Vielleicht können wir so verhindern, daß es sich wieder schließt.« »Das Tor wird es zerquetschen«, sagte Alice. 317
»Das bezweifle ich. Das Boot besteht aus dem gleichen Material wie die Gräle und der Turm.« »Es sieht aber trotzdem sehr zerbrechlich aus.« »Auch die Gräle bestehen aus einem sehr dünnen Material«, sagte Burton. »Die Ingenieure in Parolando haben versucht, sie zu sprengen, sie mit Riesengewichten zu zermalmen und mit Preßlufthämmern zu durchbohren. Sie haben nicht den geringsten Erfolg dabei gehabt.« Das Korridorlicht beleuchtete die Gesichter der Männer im Boot. Einige von ihnen schauten überrascht, andere schienen erleichtert zu sein oder zeigten gar keine Emotionen. Es war unmöglich, an ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen, hinter wem sich X verbarg. Außer Tai-Peng hatte ihm niemand eine Frage gestellt, aber das mußte nichts besagen: Der Bursche erkundigte sich immer nach seinen Motiven. Mit vereinten Kräften wurde das Boot aus dem Wasser gezogen und zur Hälfte in den Eingang gehievt. Es war gerade schmal genug, um für sie, die ihre Habseligkeiten und Nahrungsbüchsen hineinschleppten, genügend Raum für einen Durchgang zu lassen. Als die anderen nacheinander hereinkamen, ging Burton etwas zurück. Er zog seine Pistole und wies Alice an, es ihm gleichzutun. Als die anderen die auf sie gerichteten Waffen sahen, waren sie natürlich erstaunt. Noch mehr Erstaunen zeigten sie allerdings, als Burton ihnen befahl, die Hände hochzunehmen. »Du bist X«, sagte Frigate. Burton lachte meckernd. »Natürlich bin ich es nicht! Aber ich werde ihn jetzt entlarven!« 45 »Offenbar verdächtigst du außer Alice jeden von uns, X zu sein«, sagte Nur el-Musafir. »Nein«, erwiderte Burton, »einige von euch können ebenso gut Agenten sein. Wenn es stimmt, gebt euch zu erkennen. Aber ich habe die Ethiker bei einer ihrer Versammlungen gesehen. Unter uns befinden sich nur zwei, die in ihrem Aussehen jener Person entsprechen, die ich für X halte!« Er wartete. Wenn sich unter seinen Leuten Agenten befanden, schien keiner bereit zu sein, seine Identität zu offenbaren, soviel war klar. »Na schön. Ich werde es euch erklären. Es ist ziemlich offensichtlich, daß X als Barry Thorn und möglicherweise auch als Odysseus auftrat. Thorn und dieser selbsternannte Grieche waren untersetzt und sehr muskulös. Beide hatten vergleichbare Gesichtszüge, auch wenn Odysseus abstehende Ohren besaß und dunkelhäutiger war. Aber diese Unterschiede können Masken gewesen sein. 318
Die beiden Ethiker, die ihnen gleichen, heißen Loga und Thanabur. Zwei von euch könnten Loga oder Thanabur sein. Sie könnten aber auch Loga und Thanabur sein. Ich glaube allerdings, daß der Ingenieur Podebrad, der auf der Rex umkam, in Wirklichkeit mit Thanabur identisch war. Er kann aber auch Loga gewesen sein. Auf jeden Fall werden wir keinen Schritt weitergehen, bis ich zwei von euch verhört habe - und zwar gründlich.« Er machte eine Pause und sagte dann: »Die beiden, die ich meine, sind Gilgamesch, der selbsternannte König von Uruk aus Sumer - und Ah Qaaq, der selbsternannte Maya!« Alice sagte leise: »Aber, Richard! Wenn du ihn zu sehr unter Druck setzt, wird er sich einfach umbringen.« »Habt ihr gehört, was sie gesagt hat?« brüllte Burton. »Nein? Sie sagte, daß X sich nur umzubringen braucht, wenn er entkommen will! Aber ich weiß, daß er das nicht tun wird! Denn wenn er es tut, kann er seine Pläne nicht zu Ende führen, wie immer sie auch aussehen mögen! Auch er wird nicht mehr von den Toten auferstehen! Nun ... Ich habe mich deswegen dazu entschlossen, endlich etwas zu unternehmen, weil wir nun einen Punkt erreicht haben, an dem wir ohne ihn nicht mehr weiter können! Nur X weiß, wie wir dem Abwehrmechanismus, dem die Ägypter zum Opfer fielen, entgehen können! Ich will jetzt endlich Antworten auf meine Fragen!« »Du setzt alles auf eine Karte, Mann!« sagte Tom Turpin. »Was ist, wenn dieser X gar nicht unter uns ist? Du bewegst dich auf ziemlich dünnem Eis!« »Ich bin davon überzeugt, daß einer von euch X ist«, sagte Burton. »Aber ... Hört zu, ich habe folgenden Plan: Wenn niemand gesteht, werde ich dich, Gilgamesch, und dich, Ah Qaaq, bewußtlos schlagen. Ihr seid meine Hauptverdächtigen. Wenn ihr aus der Besinnungslosigkeit erwacht, werde ich euch hypnotisieren. Ich weiß, daß der Arkturier Monat Grrautut, der Mann, der sich als Peter Jairus Frigate ausgab, und Lev Ruach meinen Freund Kazz hypnotisierten. Sie sind nicht die einzigen, die sich mit solchen Spielchen auskennen. Ich bin ein Meisterhypnotiseur, und wenn ihr etwas zu verheimlichen habt, werde ich es aus euch rausholen.« In der nachfolgenden Stille sahen die anderen sich unbehaglich an. »Du bist ein schlechter Mensch, Burton«, sagte die Gesegnete Croomes. »Da stehen wir an der Himmelspforte und du redest davon, daß du uns umbringen willst!« »Davon habe ich kein Wort gesagt«, sagte Burton. »Aber wenn mir keine andere Wahl bleibt, werde ich auch das hinter mich bringen. Ich will nichts anderes, als dieses Rätsel endlich lösen. Einige von euch sind vielleicht Agenten. Ich fordere euch auf, vorzutreten und die Maske fallenzulassen. Ihr habt nichts 319
zu verlieren, aber sehr viel zu gewinnen. Es hat jetzt keinen Sinn mehr, vor uns noch etwas verbergen zu wollen.« De Marbot sagte aufgeregt: »Aber ... aber, mein lieber Burton! Sie verletzen mich! Ich bin keiner von diesen verdammenswerten Agenten oder Ethikern! Ich bin der, der ich bin, und wer mich einen Lügner nennt, kann was erleben!« Nur sagte: »Wenn sich herausstellt, daß die beiden unschuldig sind, hast du sie grundlos verletzt. Es wäre auch zu brutal, sie einfach so niederzuschlagen. Möglicherweise machst du dir darüber hinaus einen Freund zum Feind. Gibt es denn keine Möglichkeit, sie ohne Gewaltanwendung zu hypnotisieren?« »Mir gefällt es ebenso wenig wie euch«, sagte Burton. »Glaubt mir bitte, was ich sage. Aber ein Ethiker wird nicht nur selbst ein ausgezeichneter Hypnotiseur sein, sondern auch über äußerst starke Abwehrkräfte verfügen. Ich muß die beiden schon deswegen betäuben, damit sie ihre Kräfte nicht gegen mich anwenden können. Ich kann sie nur packen, wenn sie nicht ganz bei sich sind.« »Es ist wirklich schrecklich brutal«, flüsterte Alice ihm zu. »Und jetzt«, sagte Burton, »zieht eure Waffen und werft sie auf den Boden. Nacheinander - und langsam! Du, Nur, machst den Anfang.« Messer und Pistolen klapperten auf den grauen Metallboden. Als die Gruppe entwaffnet war, ließ Burton sie ein paar Schritte zurücktreten. Alice sammelte die Waffen ein und stapelte sie hinter Burtons Rücken an der Wand auf. »Behaltet die Hände auf den Köpfen.« Die Gesichter der anderen spiegelten Ärger, Mißmut, Verletztheit und Verwirrung wider. Die Gesichter Gilgameschs und Ah Qaaqs glichen eisernen Masken. »Komm her, Gilgamesch!« sagte Burton. »Bleib in eineinhalb Meter Entfernung von mir stehen und dreh dich um.« Der Sumerer kam langsam auf ihn zu. Seine Augen funkelten wütend. »Wenn du mich schlägst, Burton«, sagte er, »hast du dir einen Feind auf Ewigkeit gemacht. Ich war einst König von Uruk und bin ein Abkömmling der Götter! Niemand legt ungestraft Hand an mich! Ich werde dich umbringen!« »Es tut mir wirklich leid, daß ich es tun muß«, sagte Burton. »Aber du verstehst doch wohl, daß es hier um das Schicksal der Welt geht. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich es dir nicht verübeln, wenn du genauso vorgingst. Ich würde es vielleicht nicht gerade gutheißen, aber bestimmt verstehen können.« »Wenn du erfahren hast, daß ich unschuldig bin, bringst du mich besser um! Denn wenn du es nicht tust, werde ich dich umbringen! Ich sage die Wahrheit!« »Wir werden sehen.« Burton hatte die Absicht, dem Sumerer mit einem posthypnotischen Befehl einzureden, er solle ihm, wenn er wieder zu sich kam, verzeihen. Er hätte ihm 320
natürlich auch befehlen können, den Schlag ganz zu vergessen, aber die anderen würden sich ja doch irgendwann verplappern. »Leg die Hände von hinten um deinen Hals!« befahl Burton. »Und dann dreh dich rum! Mach dir keine Sorgen, es wird nicht sonderlich weh tun. Ich weiß genau, wie viel Kraft ich anwenden muß. Du wirst nur ein paar Sekunden bewußtlos sein.« Er nahm den Lauf der Pistole in die Hand und wollte mit dem Griff zuschlagen. Plötzlich wirbelte Gilgamesch mit einem laut gebrüllten »Nein!« herum, ruderte mit den Armen, traf die Pistole und schlug sie ihm aus der Hand. Normalerweise hätte Alice nun schießen müssen. Statt dessen versuchte sie jedoch, den Sumerer von hinten mit ihrer eigenen Waffe niederzuschlagen. Obwohl Burton selbst ziemlich kräftig war, zwang ihn die herkulische Stärke des Sumerers in die Knie. Dann wurde er hochgehoben. Er versetzte Gilgamesch einen Schlag ins Gesicht, der ihm eine Platzwunde und eine blutende Nase einbrachte. Der Sumerer stemmte ihn mit beiden Armen hoch und warf ihn gegen die Wand. Halb betäubt fiel Burton zu Boden. Die anderen riefen und schrieen aufgeregt durcheinander. Alice kreischte, aber sie brachte es fertig, dem Sumerer den Pistolenknauf über den Schädel zu schlagen. Gilgamesch taumelte, dann brach er zusammen. Ah Qaaq, der ungeachtet seines beträchtlichen Leibesumfangs plötzlich erstaunlich flink war, eilte an Alice vorbei, riß ihr die Waffe aus der Hand und jagte weiter durch den Korridor. Obwohl immer noch nicht ganz bei Sinnen, rappelte Burton sich auf und schrie: »Packt ihn! Packt ihn! Er ist der Ethiker! Er ist X!« Seine Beine fühlten sich an wie Fahrradschläuche, aus denen langsam die Luft entwich. Er fiel rückwärts gegen die Wand. Der Maya - ach was, er war kein Maya - schlug mit einer Hand gegen die Wand zu seiner Linken. Sofort öffnete sich die am Ende des Korridors liegende Tür. Burton versuchte sich die Stelle zu merken, die X berührt hatte. Der Schlag hatte zweifellos eine hinter der Wand verborgene Maschinerie in Bewegung gesetzt. Da sie die Tür geöffnet hatte, mußte sie den Einsatz dessen, das die Ägypter hatte zusammenbrechen lassen, verhindern. Nur, der wie ein kleiner, dunkler Blitz an ihm vorbeizischte, riß im Laufen eine der am Boden aufgestapelten Pistolen an sich. Ein Schuß krachte. Die Kugel traf die Tür in dem Moment, als X den Eingang passierte. Plastikfetzen flogen umher. X fiel, und einen Moment lang sah man nichts als seine schwarzbekleideten Beine. Dann war er verschwunden. Nur eilte hinter ihm her, blieb jedoch auf der Schwelle stehen. Er beugte sich vorsichtig nach vorne und riß plötzlich den Kopf zurück. Die Kugel, die X abgefeuert hatte, klatschte gegen die Korridorwand. Nur warf sich auf die Knie 321
und riskierte einen zweiten Blick. Wieder knallte es. Der Maure schien nicht verletzt zu sein. Die anderen hatten inzwischen ihre Waffen wieder an sich genommen und eilten auf die Tür zu. Obwohl es nun sinnlos war, bedauerte Burton es doch, daß er nicht mit Ah Qaaq den Anfang gemacht hatte. Er rief die sich über Gilgamesch beugende Alice, damit sie ihm wieder auf die Beine half. Weinend kehrte sie zu ihm zurück und packte seine Handgelenke. Sein Kopf wurde allmählich wieder klar, und auch seine Beine begannen mehr Standfestigkeit zu zeigen. In einer Minute würde er wieder voll auf dem Damm sein. »Frigate!« rief er. »Tai-Peng! Turpin! Bringt Gilgamesch hier raus! He, hört zu! Wir müssen hier weg, bevor er die Tür schließt!« Nur rief: »Jetzt ist er weg!« Die drei Männer rannten auf sie zu, packten den schweren Körper des Sumerers und schleppten ihn auf die Tür zu. Burton stützte sich auf Alice, legte einen Arm um ihren Hals und folgte den anderen. Als sie die Tür erreicht hatten, fühlte er sich gut genug, um Alice zu sagen, daß er wieder allein gehen konnte. Um zu verhindern, daß die Tür sich völlig schloß, legte Turpin seinen Gral gegen die Füllung. Als Alice und Burton in den Gang hineintraten, glitt sie auch schon aus der Wand, knallte gegen den Gral und hielt an. Nur deutete auf die Blutstropfen, die in den Korridor hineinführten. »Ich habe nur den Türrahmen getroffen, aber ein paar Splitter hat er wohl abgekriegt.« So weit das Auge reichte, setzte der Korridor sich in beiden Richtungen fort. Er wurde von einem schattenlosen Licht erhellt und war schätzungsweise zwölf Meter breit, fünfzehn Meter hoch und folgte sanft der Rundung der Außenwand. Burton fragte sich, was sich zwischen der Außenwand des Korridors und der Außenwand des Turms befand. Möglicherweise Leere, aber gewisse Abschnitte dieses Bauwerks enthielten gewiß irgendwelche Maschinerien oder Lagerräume. Die Korridorwand wies in unregelmäßigen Abständen erhabene Buchstaben oder Symbole auf, die in Augenhöhe lagen und flüchtig an Runen und hindustanische Schriftzeichen erinnerten. Damit sie die Tür auch wiederfanden, wenn sie sich irgendwie schließen sollte, ließ Burton als Markierung auf dem Korridorboden eine Kugel zurück. Kurz nachdem die Blutspur endete, gelangten sie in einen Bereich, in dessen Mitte sich ein kreisrundes, mehr als dreißig Meter durchmessendes Loch befand. Burton stellte sich an den Rand und sah hinein. Der schwarze Schacht verströmte ein helles Licht, das aus der Tiefe zu ihnen heraufdrang. Unter ihnen schienen sich noch viele andere Ebenen zu befinden. Burton hatte zwar keine Ahnung, wie tief der Schacht war, aber es konnten mehrere Kilometer sein. Als 322
er sich auf den Boden kniete und mit den Händen nach dem Rand des Loches griff, fiel sein Blick nach oben und er sah das gleiche. Nach oben konnte sich der Schacht allerdings nur eineinhalb Kilometer erstrecken, denn weiter ragte der Turm nicht aus dem See heraus. Gilgamesch kam eben wieder zu sich. Er saß auf dem Boden, betastete seinen Kopf und stöhnte. Eine Minute später schaute er auf. »Was ist passiert?« Burton erzählte es ihm. Der Sumerer stieß einen Seufzer aus und sagte: »Dann hast du mich gar nicht geschlagen, sondern die Frau?« »Ja. Wenn es etwas nützt, will ich mich dafür entschuldigen. Ich hatte wirklich keine andere Wahl.« »Sie hat schließlich nur gekämpft, um ihren Mann zu retten. Da du mich nicht niedergeschlagen hast, fühle ich mich auch nicht beleidigt. Obwohl mir der Kopf ganz schön weh tut.« »Ich glaube, du bist in Ordnung«, sagte Burton. Er vermied es, dem Sumerer zu sagen, daß er ihm ins Gesicht geschlagen hatte. Manchmal war es besser, man räumte der Wahrheit nicht allzu viel Spielraum ein. Er hatte sich im Laufe seines Lebens viele Feinde geschaffen, weil es ihm nichts ausmachte, Feinde zu haben - und er hatte sogar eine gewisse Befriedigung dabei verspürt. Die letzten zwanzig Jahre hatten ihm aber klargemacht, daß ein solches Benehmen irrational war. Nur, der Sufi, hatte ihn dies gelehrt, wenngleich auch nicht direkt. Aber Burton hatte oft davon profitiert, den Gesprächen Nurs und Frigates einfach zuzuhören. »Ich nehme an«, sagte er, »daß X mit einer Art Lift verschwunden ist. Ich sehe bloß keinen. Ich kann nicht einmal irgendwelche Kontrollen entdecken, mit denen man so was in Bewegung versetzen könnte.« »Vielleicht liegt es daran, daß du keine Liftkabine sehen kannst«, sagte Frigate. Burton starrte ihn an. Frigate zog eine Kugel aus seinem Patronengürtel und warf sie sechs oder sieben Meter weit in die Leere. Sie blieb auf der Höhe des Bodens im Nichts liegen, als sei das Loch mit irgendeiner durchsichtigen Gelatine gefüllt. »Der Schlag soll mich treffen!« sagte er. »Ich wäre im Traum nicht drauf gekommen, aber das ist es wirklich!« »Was ist es?« »In dem Schacht befindet sich irgendein Feld. Ich frage mich nur, wie man es in Bewegung versetzt. Mit einem Codewort vielleicht?« »Das hört sich gut an«, sagte Nur. »Vielen Dank, Meister. Bloß ... wenn einer nach unten und ein anderer nach oben will... Vielleicht kann das Feld beides gleichzeitig bewerkstelligen?« 323
Wenn die Schächte - sicher gab es noch andere - den einzigen Weg darstellten, von einer Ebene auf die andere zu gelangen, standen sie im dunkeln. Der Ethiker brauchte nur darauf zu warten, daß sie verhungerten. Burton wurde allmählich wütend. Er hatte sein ganzes Leben lang das Gefühl gehabt, in einem Käfig zu leben. Die meisten Gitterstangen hatte er zerbrochen, aber da waren immer noch welche, die ihm widerstanden. Und jetzt, wo er kurz vor des Rätsels Lösung stand, war er schon wieder gefangen. Aus diesem Käfig kam er vielleicht nie wieder heraus. Er ging auf das Loch zu und streckte einen Fuß aus, bis er einen Widerstand fühlte. Nachdem er herausgefunden hatte, daß das unsichtbare Feld sein Gewicht trug, marschierte er einfach in das Nichts hinein. Er war einer Panik nahe, aber das wäre wohl jeder gewesen, der ein solches Wagnis einging. Aber es klappte. Er stand in einem scheinbaren Nichts, während unter ihm der Abgrund gähnte. Burton bückte sich, hob die Kugel auf und warf sie Frigate zu. »Und jetzt?« fragte Nur. Burton schaute auf, dann warf er einen Blick in die Tiefe. »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht das Gefühl, auf Luft zu gehen. Irgend etwas widersetzt sich ganz leicht meinen Bewegungen. Ich habe allerdings keine Schwierigkeiten, Luft zu holen.« Da es ihm mehr als unheimlich war, dort herumzustehen, begab er sich wieder auf den festen Boden zurück. »Es ist irgendwie anders, als wenn man auf einem soliden Untergrund steht. Es gibt dem Körpergewicht leicht nach.« Eine Weile sagte niemand etwas. Schließlich meinte Burton: »Wir können also ebenso gut weitergehen.« 46 Sie kamen in einen Raum, der dem anderen glich und ebenfalls mit Wandsymbolen und einem Lichtschacht ausgestattet war. Burton nahm auch diesen in Augenschein, denn er hoffte etwas zu finden, das ihnen weiterhelfen konnte. Aber der neue Schacht war ebenso leer wie der vorherige. Als sie weitergingen, sagte Frigate: »Ich frage mich, ob Piscator noch lebt. Wenn er doch nur zu uns stoßen würde ...« »Wenn!« sagte Burton. »Die Wenns, die du am laufenden Band ausstößt, werden auch nicht zu unserem Überleben beitragen!« Frigate sah verletzt aus. »Soweit ich weiß«, sagte Nur, »war Piscator ein Sufi. Das erklärt vielleicht, wieso es ihm gelang, durch den Eingang auf der Turmspitze zu kommen. Nach dem, was ich gehört habe, existiert dort oben irgendeine Kraft, die einem elekt324
romagnetischen Feld ähnelt. Möglicherweise wehrt sie jeden ab, der nicht ein bestimmtes Niveau erreicht hat.« »Dann muß er sich aber ziemlich von den Sufis, die ich kennen gelernt habe dich natürlich ausgenommen -, unterscheiden«, sagte Burton. »Die Sufis, die ich in Ägypten kennenlernte, waren rechte Schweinehunde.« »Es gibt echte und falsche Sufis«, sagte Nur, der Burtons verächtlichen Tonfall einfach ignorierte. »Jedenfalls vermute ich, daß das Wathan die ethische oder geistige Entwicklung eines Individuums reflektiert. Diese Ausstrahlung öffnet das Abwehrfeld entweder oder schließt es.« »Und wie kann X dieses Feld dann durchdringen? Er ist doch ethisch offensichtlich nicht so weit entwickelt wie die anderen.« »Das kann man nicht sagen«, erwiderte Nur. »Wenn das, was er über seinesgleichen erzählt hat, wahr ist...« Der Maure schwieg einen Moment lang, dann sagte er: »Wenn das Abwehrfeld nur denjenigen Eintritt gewährt, die eine hohe Ethik auszeichnet, hatte X allen Grund, es zu meiden. Dann muß er diesen Grund aber auch schon gehabt haben, als der Turm gebaut wurde beziehungsweise sich im Planungsstadium befand. Ihm muß von Anfang an klargewesen sein, daß das Feld ihm keinen Eintritt gewähren würde.« »Nein«, sagte Burton. »Das hätten die anderen seinem Wathan ansehen können. In diesem Fall hätten sie bemerken müssen, daß er degeneriert ist und sich verändert hat. Dann hätten sie sofort gewußt, wer von ihnen der Abtrünnige ist.« Frigate sagte: »Vielleicht sah sein Wathan aber deswegen normal aus, weil er es mit Hilfe irgendeiner Apparatur verzerrte. Ich meine ... vielleicht hat er ein Gerät benutzt, um seinem Wathan äußerlich Normalität zu verleihen. Damit hätte er nicht nur seine Kollegen, sondern auch das Abwehrfeld narren können.« »Das ist möglich«, sagte Nur. »Aber wenn ein solcher Verzerrer existiert: Hätten dann nicht auch X' Kollegen davon wissen müssen?« »Nicht, wenn sie noch keinen gesehen hatten. Vielleicht hat X ihn selbst erfunden.« »Außerdem«, sagte Burton, »mußte er irgendwo ein Versteck haben, damit er den Turm verlassen konnte, ohne daß jemand davon erfuhr.« »Das würde voraussetzen, daß der Turm nicht mit einer Radaranlage ausgerüstet ist«, warf Frigate ein. »Genau«, sagte Burton. »Denn wenn er eine hat, hätten die Ethiker sowohl die erste als auch die zweite Expedition nach dem Überqueren der Bergkette ausfindig gemacht. Mit einer Radaranlage hätten sie möglicherweise sogar die Höhle entdeckt. Na ja, vielleicht hätte man sich nichts Besonderes dabei gedacht. Nein, man hat den See und die Berge tatsächlich nicht mit Radar abge325
sucht. Und warum auch? Die Ethiker glaubten einfach nicht, daß jemand so weit kommen würde.« »Wenn das, was der Rat der Zwölf dir gesagt hat, der Wahrheit entspricht, hat jeder von uns ein Wathan«, sagte Nur. »Du hast die ihren gesehen. Was ich aber nicht verstehe, ist, wieso sie so lange brauchten, um dir auf die Spur zu kommen. Sie hatten doch bestimmt eine Fotografie von deinem Wathan in dem großen Computer, von dem Spruce sprach. Ich nehme an, daß sie eine solche Aufnahme von jedem Wathan haben.« »Vielleicht hat X dafür gesorgt, daß die Aufnahme meines Wathans nicht der Realität entsprach«, sagte Burton. »Möglicherweise war das auch der Grund, weswegen der Agent Agneau statt dessen eine Fotografie meines physischen Ichs bei sich hatte.« »Ich glaube, daß die Ethiker irgendwo da oben Beobachtungssatelliten haben«, sagte Frigate. »Vielleicht haben sie dein Wathan damit aufzustöbern versucht, und es ist ihnen deswegen nicht gelungen, weil deins verzerrt war.« »Hmm«, machte Nur. »Ich frage mich, ob man nicht auch die Psyche eines Menschen verändert, wenn man sein Wathan verzerrt.« Burton erwiderte: »Erinnerst du dich vielleicht an de Marbots Bericht über Clemens' Analyse der Beziehungen zwischen dem Wathan, dem Ka oder der Seele - nenn es, wie du willst - und dem Körper? Sein Schluß war: Das Wathan ist der Kern einer Person. Alles andere ergibt keinen Sinn. Es ist zwecklos, einem duplizierten Körper ein Wathan anzuhängen, weil das Duplikat nicht mit dem Original identisch ist. Es ist ihm ähnlich bis auf die neunundneunzigste Neun hinter dem Komma, aber nicht mit ihm identisch. Wenn das Wathan oder die Seele - die Person selbst, der Sitz des Bewußtseins ist, verfügt das physische Gehirn über keine eigene Identität. Ohne Wathan würde ein menschlicher Körper zwar Intelligenz besitzen, aber kein Bewußtsein, kein Ego. Das Wathan benutzt den Körper, wie ein Mensch ein Pferd oder ein Automobil benutzt. Vielleicht ist dieser Vergleich nicht ganz zutreffend. Die Kombination Wathan/Körper ähnelt eher einem Zentauren. Es ist eine Mischung. Der menschliche und der tierische Teil benötigen einander, wenn sie perfekt funktionieren wollen. Einer allein kann ohne den anderen nichts erreichen. Möglicherweise benötigt das Wathan sogar einen Körper, um sich seines Daseins bewußt zu werden. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich, daß die Ethiker behaupten, daß ein Wathan, das seinen Körper durch den Tod verloren hat, durch den Raum wandert, ohne sich seiner selbst oder irgend etwas anderem bewußt zu sein. Doch laut unserer Theorie ist es der Körper, der das Wathan überhaupt erst erzeugt. Wie, entzieht sich meiner Kenntnis; ich kann nicht einmal mit einer Hypothese dienen. Aber ohne Körper gelangt auch ein Wathan nicht zur Exis326
tenz. Es gibt Embryo-Wathans in Embryos und kindliche Wathans in kindlichen Körpern. Aber wie der Körper selbst, muß auch ein Wathan erwachsen werden. Es gibt allerdings zwei Stufen des Erwachsenseins. Wir wollen das zweite Stadium Über-Wathan nennen. Wenn ein Wathan nicht ein bestimmtes ethisches oder geistiges Niveau erreicht, ist es dazu bestimmt, nach dem Tod seines Körpers für immer durch den Raum zu wandern, wobei es sich seiner Existenz nicht bewußt ist. Wenn man es aber, wie es hier geschehen ist, mit einem Duplikatkörper versorgt, bringt das Wathan es fertig, sich damit zu verbinden. Dieser Duplikatkörper wäre zwar intelligent, besäße aber kein Ego. Das mit ihm verbundene Wathan ist derjenige, der über ein Eigenbewußtsein verfügt. Dies müßte es aber erst dann erlangen, wenn es sich auf den Körper abgestimmt hat. Ohne Wathan hätten die Menschen sich zwar vom Affen aus weiterentwickelt haben, eine Sprache besitzen und Wissenschaften und Technologien betreiben, aber keine Religionen haben können. Sie wüßten nicht mehr über das Ich wie eine Ameise.« »Was für eine Sprache würde das sein?« fragte Frigate. »Ich meine, versucht euch mal eine Sprache vorzustellen, die keine Personalpronomen kennt. Offen gesagt, ich glaube nicht, daß jemand mit solchen Voraussetzungen überhaupt eine Sprache entwickeln würde. Auf jeden Fall würde sie keiner ähneln, die wir kennen. Solche Menschen wären kaum mehr als hochintelligente Tiere. Lebende Maschinen, die sich nur weniger auf ihren Instinkt verließen als Tiere.« »Darüber sollten wir später reden.« »Yeah, aber was ist mit den Schimpansen?« »Sie müssen ein rudimentäres Wathan gehabt haben, das sich seines Egos auf einem niedrigen Niveau bewußt war. Man hat allerdings nie beweisen können, ob Affen eine Sprache oder ein Bewußtsein besaßen. Das Wathan selbst kann nur dann ein Bewußtsein entwickeln, wenn es einen Körper hat. Wenn der Körper nur mit einem verkümmerten Gehirn ausgestattet ist, ist auch das Wathan verkümmert. Deswegen kann es auch nur ein ziemlich niedriges ethisches Niveau erreichen.« »Nein!« sagte Frigate. »Jetzt verwechselst du Intelligenz mit Moralempfinden. Wir haben doch wohl beide zu viele Leute kennen gelernt, die über eine hohe Intelligenz verfügten und gleichzeitig moralisch verwerfliche Standpunkte vertraten - und umgekehrt -, um zu glauben, daß ein hoher Intelligenzquotient auch ein hohes Moralempfinden mit sich bringt.« »Jaaa, aber du vergißt dabei den Willen!« Sie betraten einen weiteren Liftschacht. Burton warf einen Blick in den Schacht hinab. »Auch nichts.« 327
Während Burton die Rolle des Sokrates wieder aufnahm, gingen sie weiter. »Der Wille. Wir müssen davon ausgehen, daß er nicht völlig frei ist. Er wird beeinflußt von Ereignissen, die sich außerhalb und innerhalb seiner Umgebung abspielen. Körperliche oder geistige Verletzungen, Krankheiten, chemische Veränderungen und so weiter, können den Willen einer Person verändern. Es ist nicht auszuschließen, daß ein Irrer, bevor er anfing, andere zu foltern oder zu töten, ein guter Mensch war, bevor ihn irgendeine Krankheit oder Verletzung zu dem machte, was er nun ist. Psychologische oder chemische Faktoren können aus jemandem eine gespaltene Persönlichkeit, einen geistigen Krüppel oder ein Ungeheuer machen. Ich vermute, daß das Wathan mit dem Körper so eng verbunden ist, damit es dessen geistige Veränderung reflektiert. Ein mit einem Idioten oder Schwachsinnigen verbundenes Wathan ist selbst idiotisch oder schwachsinnig. Die Ethiker haben die Idioten und Schwachsinnigen - vorausgesetzt, unsere Spekulationen entsprechen den Tatsachen - deswegen anderswo wieder zum Leben erweckt, weil sie eventuell eine Spezialbehandlung erfahren. Ihre wissenschaftliche Medizin wird den Behinderten zu voll entwickelten Gehirnen verhelfen. Auch sie werden dann über Wathans verfügen, deren Potential groß genug ist, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden.« »Oder dafür«, sagte Nur, »zu einem Über-Wathan zu werden und in Gott aufzugehen. Ich habe dir äußerst genau zugehört, Burton, aber mit dem meisten, das du gesagt hast, bin ich nicht einverstanden. Du erweckst zum Beispiel den Eindruck, als würde Gott sich nicht um seine Seelen scheren. Er würde nicht zulassen, daß sie als Dinge ohne Bewußtsein durch den Raum schweben. Er hat für jeden einzelnen Vorsorge getroffen.« »Vielleicht schert er sich - falls es ihn gibt - wirklich nicht um sie«, sagte Burton. »Auf jeden Fall gibt es keinen Gegenbeweis dafür. Aber egal. Ich behaupte, daß ein menschliches Wesen ohne Wathan keinen freien Willen hat. Ich meine damit die Fähigkeit, zwischen moralischen Alternativen wählen zu können, sich körperlichen Verlangen, der Umwelt und persönlichen Neigungen zu entsagen und sich selbst an den Haaren aus allem herauszuziehen. Nur das Wathan verfügt über einen freien Willen und ein Existenzbewußtsein, wenngleich es dies, wie ich zugeben muß, mit dem Körper als Vehikel ausdrücken muß. Wathan und Körper beeinflussen sich gleichermaßen. Tatsächlich scheint das Wathan seine Charakterzüge - jedenfalls die meisten - sogar durch den Körper zu kriegen.« »Na schön«, sagte Frigate. »Sind wir damit nicht wieder da, wo wir angefangen haben? Wir können noch immer keine klare Grenze zwischen Wathan und Körper ziehen. Wenn das Wathan für das Ich und den freien Willen sorgt, ist es andererseits, was seine Charakterzüge und alles im genetischen und nervlichen Bereich angeht, vom Körper abhängig. Die Charaktereigenschaften sind in 328
Wirklichkeit Vorstellungen, die das Wathan absorbiert. Oder fotokopiert. Also ist das Wathan nur eine Fotokopie, nicht das Original. Wenn der Körper stirbt, bleibt er tot. Das Wathan schwebt davon, was immer darunter zu verstehen ist. Es führt die duplizierten Emotionen, Gedanken und alles, was eine Person ausmacht, mit sich. Verbindet man es mit einem duplizierten Körper, erlangt es wieder ein Bewußtsein und einen freien Willen. Aber es handelt sich dann nicht mehr um die gleiche Person.« »Du hast gerade den Nachweis geführt«, sagte Aphra Behn, »daß es keine Seele gibt, jedenfalls keine solche, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. Wenn es sie doch gibt, ist sie überflüssig und hat mit der Unsterblichkeit eines Individuums nichts zu tun.« Zum ersten Mal, seit Burton das Thema angeschnitten hatte, ergriff Tai-Peng das Wort. »Ich würde sagen, das Wathan ist das einzige, auf das es ankommt. Es ist der einzig unsterbliche Teil, das einzige Ding, das die Ethiker bewahren können. Es muß das gleiche sein, wie das Ka der Chancisten.« »Dann ist es nicht mehr als ein halber Arsch«, rief Frigate aus. »Es ist nur ein Teil von mir, dem Geschöpf, das auf der Erde starb! Es kann erst dann zu einem wirklichen Leben wiedererweckt werden, wenn auch mein Originalkörper aufersteht!« »Es ist der Teil, den Gott will und den er absorbieren wird«, sagte Nur. »Wer will denn absorbiert werden? Ich will ich sein, und zwar an einem Stück!« »Du wirst die Ekstase erfahren, ein Teil von Gottes Leib zu sein.« »Na und? Dann wäre ich aber nicht mehr ich!« »Auf der Erde wart ihr mit fünfzig auch nicht mehr die gleichen wie mit zwanzig«, sagte Nur. »In jeder Sekunde eures Lebens befanden und befinden sich eure Körper in einem Prozeß der Veränderung. Die Atome, aus denen sich eure Körper bei der Geburt zusammensetzten, waren nicht die gleichen, die euch mit acht ausmachten. Andere hatten sie ersetzt. Auch als ihr vierzig und fünfzig wart, bestandet ihr aus anderen. Dein Körper hat sich verändert - und mit ihm dein Geist, deine Erinnerungen, deine Ansichten und Reaktionen. Du bist nicht mehr derselbe. Und wenn - oder falls - du, das Geschöpf, die Schöpfung, zu deinem Schöpfer zurückkehrst, wirst du dich auch verändern. Es wird die letzte Veränderung sein, denn danach gibt es keine mehr. Es wird deswegen keine Veränderung mehr geben, weil dazu kein Anlaß besteht. Gott ist perfekt.« »Quatsch«, sagte Frigate mit rotem Gesicht und geballten Fäusten. »Da ist immer noch mein innerer Kern, das Ding, das ewig leben möchte, und sei es unvollkommen! Auch wenn ich nach Vollkommenheit strebe, was ich möglicherweise nie erreiche! Es ist das Streben, das das Leben erträglich macht, auch 329
wenn es manchmal beinahe unerträglich ist! Ich will ich sein, und zwar für immer! Egal, was sich auch verändert, in mir ist etwas, eine unveränderliche Identität, die Seele, wie immer du es nennen willst, etwas, das sich dem Tod widersetzt, ihn verabscheut und ihn für unnatürlich erklärt! Der Tod ist sowohl eine Beleidigung als auch eine Verletzung, und in gewissem Sinne etwas Unvorstellbares! Wenn der Schöpfer etwas mit uns vorhat, warum, zum Teufel, sagt er uns nicht, was? Sind wir denn so dumm, daß wir es nicht verstehen können? Er sollte es uns persönlich erzählen! Die von den Propheten, Enthüllern und Revisionisten geschriebenen Bücher, die behaupten, ihre Autorität von Gott selbst erhalten zu haben und sein Diktat wiederzugeben, sind Fälschungen. Sie ergeben keinen Sinn. Abgesehen davon widersprechen sie einander. Stellt Gott etwa widersprüchliche Behauptungen auf?« »Sie scheinen lediglich widersprüchlich zu sein«, sagte Nur. »Wenn du ein höheres Niveau des Denkens erreicht hast, wirst du erkennen, daß die Widersprüche nicht das sind, was sie zu sein scheinen.« »These, Antithese und Synthese! Für die menschliche Logik ist das in Ordnung! Aber ich bin immer noch der Meinung, man hätte uns nicht in Unwissenheit lassen sollen. Man hätte uns den Plan zeigen sollen. Dann hätten wir unsere Wahl treffen können: Mitmachen oder ihn ablehnen!« »Du befindest dich immer noch in einem niedrigen Entwicklungsstadium«, sagte Nur, »und offenbar bist du sogar darin gefangen. Erinnere dich an die Schimpansen. Auch sie erreichten ein gewisses Niveau, konnten sich aber nicht weiterentwickeln. Sie haben die falsche Wahl getroffen, und ...« »Ich bin doch kein Affe! Ich bin ein Mensch; ein menschliches Wesen!«. »Du könntest mehr sein«, sagte Nur. Sie erreichten den nächsten Raum. Hier gab es allerdings keinen Schacht, sondern einen großen, gewölbten Eingang. Dahinter dehnte sich ein Saal aus, der so groß war, daß die Eindringlinge beinahe ins Schwanken gerieten. Der Raum war eineinhalb Kilometer lang und ebenso breit. Er war mit Tausenden von Tischen ausgestattet, auf denen Geräte standen, deren Funktion auf den ersten Blick niemand begriff. Auf dem Boden und den Tischplatten lagen Hunderte von Skeletten. Auf den Stühlen lagen Hüft- und Beckenknochen. Unter den Sitzen waren Beinknochen verstreut. Der Tod hatte in einem einzigen Augenblick zugeschlagen und unter den Massen gewütet. Es war nicht der geringste Stofffetzen zu entdecken. Die Leute, die hier gearbeitet hatten, mußten nackt gewesen sein. Burton sagte: »Der Rat der Zwölf war bekleidet, als er mich verhört hat. Vielleicht haben sie sich aber auch nur angezogen, um meine Gefühle nicht zu verletzen. Wenn das so war, kannten sie mich allerdings nicht sonderlich gut. Viel330
leicht war es aber auch ein Brauch, zu Versammlungen bekleidet zu erscheinen.« Einige der auf den Tischen stehenden Geräte liefen noch. Jenes, das Burton am nächsten stand, war eine transparente Kugel von der Größe seines Kopfes. Obwohl nirgendwo eine Öffnung zu sehen war, spuckte ihre Oberfläche große, verschiedenfarbige Blasen aus, die zur Decke hinaufschwebten und dort zerplatzten. Neben der Sphäre lag ein ebenfalls durchsichtiger Würfel, in dessen Innerem Zeichen aufleuchteten, wenn die Blasen aufstiegen. Verwundert über die Seltsamkeit der Geräte vor sich hinmurmelnd, gingen sie weiter. Sie hatten kaum einen halben Kilometer zurückgelegt, als Frigate sagte: »Seht euch das an!« Er deutete auf einen mit Rädern versehenen Stuhl, der in einer breiten Schneise zwischen zwei Tischen stand. Auf der Sitzfläche lagen Knochen und ein Totenschädel. Davor, auf dem Boden, lagen die dazugehörigen Bein- und Fußknochen. 47 Der Stuhl war dick gepolstert und mit einem weichen Material überzogen, das abwechselnd blaßrote und blaßgrüne Zickzacklinien aufwies. Mit einer Gefühllosigkeit, der ihm von Croomes einen gesalzenen Protest einbrachte, wischte Burton die Gebeine von der Sitzfläche. Dann nahm er Platz und gab bekannt, daß der Stuhl für seinen Körper wie geschaffen sei. Dort, wo die massiven Armlehnen endeten, befanden sich wuchtige Metallscheiben. Burton drückte den schwarzen Kreis ein, der sich im Mittelpunkt eines weißen Diskus zu seiner Rechten befand, aber nichts geschah. Als er jedoch das fingerdicke Feld auf der Linken eindrückte, gab es einen langen, dünnen Metallbolzen frei. »Aha!« Burton zog ihn langsam nach hinten. »Unter dem Stuhl wird es hell«, sagte Nur. Lautlos hob sich der Stuhl etwa zehn Zentimeter in die Luft. »Drück mal den Knopf auf der rechten Scheibe«, sagte Frigate. »Vielleicht kontrolliert er die Geschwindigkeit.« Burton runzelte die Stirn. Er mochte es nicht, wenn andere ihm sagten, was er tun sollte. Aber mit der Fingerspitze tat er, wie Frigate ihn geheißen hatte. Langsam bewegte sich der Stuhl auf die Decke zu. Die Ausrufe und Ratschläge der anderen ignorierend, bewegte er die Hebel wieder in die Nullstellung zurück. Der Stuhl bewegte sich nun horizontal geradeaus dahin. Burton erhöhte die Geschwindigkeit und zog den Hebel nach rechts. Der Stuhl drehte sich in die gleiche Richtung wie der Hebel, behielt den 331
Winkel bei - ohne zu kippen, wie es ein Flugzeug getan haben würde - und schwebte auf die am weitesten entfernte Wand zu. Nachdem Burton ihn hatte aufsteigen, sinken, einige Male herumwirbeln und eine Geschwindigkeit von schätzungsweise fünfzehn Stundenkilometern hatte aufnehmen lassen, setzte er zur Landung an. Er lächelte, und seine schwarzen Augen leuchteten vor Eifer. »Damit können wir den Liftschacht überwinden!« rief er aus. Frigate und einige der anderen waren mit der Demonstration jedoch nicht zufrieden. »Das Ding muß doch noch schneller fliegen können«, sagte der Amerikaner. »Was ist, wenn du plötzlich anhalten mußt? Gehst du dann über Bord?« »Es gibt eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Burton. Er brachte den Stuhl dazu, daß er sich ein paar Zentimeter hob und jagte dann auf die mehr als siebenhundert Meter entfernte Wand zu. Als er ihr bis auf zwanzig Meter nahe gekommen war, nahm er den Druck vom rechterhand liegenden Diskus weg. Der Stuhl verlangsamte auf der Stelle, jedoch nicht so heftig, daß Burton sich in der Gefahr befand, herausgeworfen zu werden. Zwei Meter vor der Wand hielt er an. Als er zurückgekehrt war, sagte Burton: »Er scheint eingebaute Sensoren zu haben. Ich habe versucht, ihn gegen die Wand zu fahren, aber es ging nicht.« »Prima«, sagte Frigate. »Wir können also versuchen, damit durch den Schacht zu gehen. Aber was ist, wenn der Ethiker uns in diesem Moment beobachtet? Was, wenn er dazu in der Lage ist, uns über Fernsteuerung den Saft abzudrehen? Dann brechen wir uns entweder den Hals oder bleiben zwischen den Etagen stecken.« »Wir gehen einer nach dem anderen. Jeder von uns hält auf der nächsten Etage an. Dann geht der nächste. So kann er nie mehr als einen von uns kriegen und die anderen werden gewarnt sein.« Obwohl Burton glaubte, daß Frigate übervorsichtig war, mußte er sich eingestehen, daß dessen Spekulationen wohlbegründet waren. »Ich habe noch mehr Stühle entdeckt«, sagte Frigate. »Aber da fällt mir ein ... Wer hat sie eigentlich abgestellt, nachdem ihre Insassen starben? Sie waren doch in diesem Augenblick zweifellos in Bewegung.« »Dafür haben wahrscheinlich die Sensoren gesorgt«, sagte Burton schleppend. »Na schön. Dann nehmen wir also jetzt jeder einen Stuhl und versuchen herauszukriegen, wie man sie bedient. Und was machen wir anschließend? Gehen wir rauf oder runter?« »Zuerst gehen wir ins oberste Stockwerk. Ich habe das Gefühl, daß sich das Hauptquartier, das Nervenzentrum ihrer Aktionen, dort befindet.« 332
»Dann sollten wir vielleicht doch besser nach unten gehen«, sagte Frigate grinsend. »Weißt du, deine Prophezeiungen waren meist von der MoseilimaArt. Stets passierte das Gegenteil.« Der Bursche hatte wirklich eine seltsame Art, es ihm heimzuzahlen. Er wußte einfach zuviel über Burtons irdisches Leben und seine Fehler und Irrtümer. »Nein«, sagte Burton, »das ist nicht wahr. Schon zwei Jahre bevor die SepoyMeuterei losbrach, habe ich die britische Regierung davor gewarnt. Sie ignorierten mich einfach. Ich war wohl eher eine Cassandra als Moseilima.« »Touché«, sagte Frigate. Ein paar Minuten später tauchte Gilgamesch mit dem zweiten Stuhl neben Burton auf. Er schien besorgt zu sein und sich nicht wohl zu fühlen. »Ich habe immer noch starke Kopfschmerzen und sehe hin und wieder manche Dinge doppelt.« »Wirst du es schaffen? Oder möchtest du lieber hier bleiben und dich ausruhen?« Der Sumerer schüttelte den massigen Kopf. »Nein. Dann würde ich euch nicht wiederfinden. Ich wollte euch nur sagen, daß ich mich elend fühle.« Alice hatte ihn offenbar härter getroffen als beabsichtigt. Dann rief Tom Turpin Burtons Namen. »He, ich hab' rausgefunden, wie sie sich hier verpflegten. Schau mal!« Er hatte an einer großen Metallkiste herumgefingert, die mit diversen Wählscheiben und Knöpfen ausgestattet war. Sie stand auf einem Tisch und war durch ein schwarzes Kabel mit einer Bodensteckdose verbunden. Turpin öffnete die Glastür der Kiste. In ihrem Innern waren Teller, Tassen und Eßbestecke. Das Geschirr war voller Speisen und Getränke. »Das haben sie wohl anstelle von Grälen benutzt«, sagte Tom grinsend. »Ich habe keine Ahnung, wozu all die Kontrollen hier dienen, außer der einen. Ich habe einfach alle Knöpfe gedrückt; ein paar Sekunden später nahm das Essen vor meinen Augen Gestalt an.« Er öffnete die Tür ganz und nahm den Inhalt der Kiste heraus. »Mann, wie das Fleisch duftet! Und das Brot!« Burton war der Meinung, es sei am besten, wenn sie nun etwas zu sich nähmen. Obwohl es anderswo möglicherweise ebensolche Geräte gab, wollte er es nicht darauf ankommen lassen, denn sie waren bald am Verhungern. Turpin probierte eine andere Wähl- und Knopfkombination aus. Diesmal bestand die Mahlzeit aus einer Mischung aus französischer, italienischer und arabischer Küche. Was sie auch bekamen: Es schmeckte ausgezeichnet, auch wenn manches sich als noch nicht ganz gar erwies oder die Kamelhöckerfilets für die meisten zu stark gewürzt waren. Weitere Kombinationen brachten teilweise überraschende Ergebnisse, aber nicht alle erwiesen sich als erfreulich. 333
Nach einigen Experimenten fand Turpin dann die Wählscheibe, die den Garzustand des Essens regulierte, und sie konnten endlich durchgebratenes, halbdurchgebratenes oder nur angebratenes Fleisch zu sich nehmen. Abgesehen von Gilgamesch schlug sich jeder den Magen voll und genoß einen Schluck Schnaps, mit dem der Metallbehälter sie versorgte. Anschließend zündeten sie sich Zigarren und Zigaretten an. Sie brauchten nicht einmal auf Wasser zu verzichten: die entsprechenden Hähne fanden sich überall. Darauf hielten sie nach Toiletten Ausschau. Man fand sie schließlich in einigen gigantischen >SchränkenVersammlungsraumAuge< des Mannes, der offenbar die Versammlung geleitet hatte: Thanabur. Die Linse war weder ein Juwel noch ein künstliches Erzeugnis, das - wie er früher angenommen hatte - als Ersatzauge diente. Man konnte sie sich über das Auge schieben. Sie fühlte sich schleimig an. Vielleicht war sie mit einer Flüssigkeit bestrichen, damit sie auf dem Augapfel haften blieb. Mit einigen Schwierigkeiten - die Linse glitt des öfteren ab - brachte Burton es fertig, sich das Ding zwischen die Lider zu schieben. Sein linkes Auge sah den Raum nun in einem verwirrenden Halbdunkel. Dann schloß er das rechte. »Oooohhh!« Schnell öffnete er es wieder. Er hatte mitten im Weltraum geschwebt, und zwar in einer Dunkelheit, in der ferne Sterne und gewaltige Gasnebel leuchteten. Er hatte das Gefühl einer ungeheuren Kälte gehabt, ohne deren Auswirkungen zu spüren. Er war sich jedoch bewußt gewesen, nicht allein zu sein. Ohne sie gesehen zu haben, wußte er, daß ihm unzählige Seelen, Trillionen und aber Trillionen, und vielleicht noch mehr, gefolgt waren. Und dann war er auf eine Sonne zugeschossen, die immer größer wurde, bis er gesehen hatte, daß der flammende Himmelskörper kein Stern, sondern eine riesige Ansammlung anderer Seelen gewesen war. Jede einzelne von ihnen stand in Flammen, aber nicht wie im Höllenfeuer, sondern wie in einer Ekstase, die er niemals erfahren und die kein Mystiker jemals hatte beschreiben können. Trotz des Zagens und der Angst hatte die Ekstase ihn mit aller Kraft angezogen. Burton, der stets von sich behauptet hatte, nie etwas gefürchtet zu haben, wollte sich jedoch nicht nachsagen lassen, Furcht vor der eigenen Courage zu haben. Er schloß das rechte Auge erneut und befand sich wieder in der gleichen >UmgebungGhuurrkh< genannt - beibringen würden. Es waren auch Grammatik- und lexikalische Wörterspeicher für Esperanto/Ghuurrkh vorhanden. Alice packte Burtons Arm. »Ist es nicht schrecklich?« sagte sie und schaute ihn mit ihren großen, dunklen Augen an. »All diese Seelen, und jede hatte eine Chance, die Unsterblichkeit zu erringen! Es ist so entsetzlich, daß man kaum darüber nachzudenken wagt.«
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»Dann denk eben nicht darüber nach«, sagte Burton brüsk. »Jedenfalls werden sogar die Verlorenen unsterblich sein. Sie werden nur nichts davon wissen, das ist alles.« Alice fröstelte. »Ja«, sagte sie dann, »aber auch wir könnten zu ihnen gehören. Glaubst du, daß du den letzten Schritt machen wirst? Ich würde ja gerne glauben, daß es mir gelänge, aber um den letzten Schritt zu machen, muß man praktisch ein Heiliger sein.« »Niemand hat mich je beschuldigt, ein Heiliger zu sein, es sei denn, meine Frau«, sagte Burton grinsend. »Und die wußte es besser.« Alice ließ sich nicht narren. Sie wußte, daß er ebenso verzweifelt war wie sie. Zwei Tage vergingen. Während die anderen zuschauten, ließ Loga die Ergebnisse seiner Berechnungen abspulen. Als das Bild verblaßte, schüttelte er den Kopf. »Zwecklos.« Sie beriefen immer wieder Konferenzen ein, arbeiteten Pläne aus und verwarfen sie wieder, weil sie logische Fehler enthielten oder irgendwelche Fakten übersehen worden waren. Am vierten Tag nachdem sie in den Turm gekommen waren, kam Frigate lächelnd in den Kontrollraum geeilt. »He, was sind wir doch Schwachköpfe! Die Antwort liegt doch direkt vor unserer Nase! Warum schicken wir keine Roboter aus, um das Modul auszuwechseln?« Loga seufzte. »Daran habe ich längst gedacht. Aber selbst wenn die Roboter aus Charruzz, dem grauen Metall, bestünden, könnte der Computer sie in Fetzen strahlen.« Frigate machte ein enttäuschtes Gesicht. »Ja, aber ... Wenn man nur genug Roboter ausschickt, können sie doch die Strahler ausschalten!« »Keiner der Roboter ist zum Kämpfen programmiert.« »Könnte man sie nicht umbauen? Sie neu programmieren?« »Das würde zehn Tage dauern. Selbst wenn ich nach meiner Ankunft sofort damit angefangen hätte, wäre jetzt noch nicht einmal einer fertig.« Loga machte eine Pause und sagte traurig: »Ich habe die Zeit überprüft, die uns bis zum Tod des Computers noch bleibt. Es sind allenfalls noch fünf Tage!« Obwohl jeder von ihnen eine solche Nachricht erwartet hatte, traf der Schock sie schwer. Tom Turpin sagte: »Dann ist das Problem wohl jetzt für uns erledigt. Die Seelen werden verloren gehen, ohne daß wir etwas daran ändern können. Aber wir können jenen, die noch am Leben sind, eine Menge zusätzlicher Zeit verschaffen.« 371
Loga legte einige Schalter um und drückte einen Knopf. Auf dem Bildschirm leuchteten ghuurrkhische Zahlen auf. Die anderen kannten mittlerweile genug von dieser Sprache, um sie lesen zu können. »Achtzehn Milliarden und einhundertzwei«, sagte Aphra. »Ich sollte den Computer jetzt sofort umbringen«, sagte Loga. »Ich habe schon zu lange damit gewartet. Wenn meine Informationen stimmen, ist auch die Seele meiner Mutter heute gefangen worden.« »Moment!« sagte Frigate plötzlich. »Ich habe eine Idee! Sie sagten, daß Sie Ihre privaten Wiedererweckungskammern wieder eingeschaltet haben, nachdem Sie hier ankamen. Kann man sie so umschalten, daß sie auch uns wiedererwecken würden?« »Ja, natürlich. Das ginge. Die Auferstehungsfänger arbeiten auf einer Frequenz, die sich leicht von der des Computers unterscheidet. Ich habe die Wathans von Tringu und mir auf sie abgestimmt. Das gleiche könnte ich auch für euch tun. Aber warum?« Frigate wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als Loga, Burton und Nur auch schon wußten, was er sagen wollte. Sie würden mit einem Trupp hinuntergehen. Einige mußten zurückbleiben, wegen der nötigen Überwachung. Sie würden den Raum stürmen, und auch wenn sie ununterbrochen umgebracht werden würden - bestand die Chance, die Abwehrsysteme des Computers zu zerschmettern. »Wie bist du bloß darauf gekommen, Pete?« fragte Tom Turpin. »Ich bin Science Fiction-Autor. Ich hätte von Anfang an darauf kommen sollen.« »Ich hätte auch daran denken sollen«, sagte Loga. »Aber wir standen wohl alle unter einem starken emotionalen Druck.« »Können Sie das hier duplizieren?« fragte Burton und hob Logas seltsame Waffe hoch. »So oft wie nötig.« Zwei Minuten später war die gesamte Gruppe mit Strahlern bewaffnet. Anschließend ließ der Ethiker seine Maschinen die Routen vom Kontrollraum und den privaten Wiedererweckungskammern zu dem bewußten Ventil ausdrucken. Man studierte die Diagramme und prägte sich mit Hilfe der auf dem Bildschirm erscheinenden Schautafeln jeden Gang und jede Kammer ein. »In diesem Gebiet sind alle Wände mit Video-Kameras versehen; auch der Ventilraum selbst. Hier ist ein Archivbild, damit ihr wißt, wie sie aussehen.« Burton und seine Leute machten sich so lange mit den von der Maschine widergegebenen Reproduktionen vertraut, bis sie den Raum in- und auswendig kannten. Dann ließ Loga von einem E/M-Schrank ein Modul duplizieren und erklärte ihnen mit einfachen Worten, wie man das alte entfernte und durch das neue ersetzte. 372
Leider war der Ethiker nicht in der Lage, die Gruppe mit Diagrammen zu versehen, die zeigten, an welchen Stellen sich die Abwehrwaffen des Computers befanden. »Diese Information müßte in seinen Speicherbänken stecken.« »Warum fragen wir den Computer nicht einfach danach?« sagte Nur. Loga schaute überrascht auf, dann lachte er leise. Kurz darauf hatte er eine Information, wenngleich auch nicht die, die er gerne gehabt hätte: Der Computer weigerte sich bekanntzugeben, wo seine Abwehrsysteme untergebracht waren. »Nun ja, fragen kostet ja bekanntlich nichts.« Sie bemannten die Schwebestühle und folgten dem Ethiker zu einem Liftschacht. Diesmal sanken sie weitaus schneller hinab, als sie die Stühle bisher zu fliegen gewagt hatten. Etwa eineinhalb Kilometer tiefer hielt Loga an und schwenkte in einen Korridor ein. Ein paar Minuten später bemerkte Burton, der ein ausgezeichnetes Richtungsgefühl hatte, daß sie sich jener Gegend näherten, in der sich der am Fuße des Turms liegende geheime Raum befand. Bei der Geschwindigkeit, die sie vorlegten, erreichten sie ihn schnell. Der Ethiker warf einen Blick auf die Torflügel, die immer noch von dem Gral offengehalten wurden. Sein Gesicht nahm eine rote Färbung an. »Warum hat mir niemand gesagt, daß das Tor noch offen steht?« »Ich habe zwar daran gedacht, aber es schien mir nicht wichtig zu sein«, sagte Burton. »Die Agenten hätten eindringen können!« »Nein. Ich glaube nicht, daß sie uns so schnell hätten einholen können. Immerhin haben sie nur Segelboote.« »Ich will jedenfalls kein Risiko eingehen.« Loga drehte seinen Stuhl um und sah Burton und seine Leute an. »Ich verschwinde mal kurz. Ihr holt inzwischen das Boot da weg.« »Wo gehen Sie hin?« fragte Burton. »In einen Kontrollraum. Ich werde ein automatisches Flugzeug aktivieren, damit es zum Felsensims hinüberfliegt, ihn abschmilzt und den Höhleneingang versiegelt.« »Geht mit ihm!« sagte Burton zu Tai-Peng und de Marbot. Loga schenkte ihm zwar einen finsteren Blick, sagte aber nichts, sondern wendete seinen Stuhl erneut und glitt durch den Korridor. Burton führte die anderen in den nebelverhangenen Schleusenraum, wo es ihnen mit einiger Anstrengung gelang, das Boot in den See hinauszuschieben. Dann kehrten sie in den Korridor zurück, wobei die größeren unter ihnen sich erneut durch den engen Spalt quetschen mußten, den der Gral offenhielt. »Wir hätten Loga sagen sollen, er soll das Tor ganz öffnen«, sagte Frigate. 373
»Ich glaube, wir sollen nicht wissen, wie sie aufgemacht werden«, erwiderte Burton. »Traut er uns immer noch nicht?« »Wenn man ein solches Leben hinter sich hat wie er, dann traut man niemandem mehr.« Das stimmte allerdings nicht. Von dem Chinesen und dem Franzosen begleitet, kehrte Loga eine Viertelstunde später zurück. Er stieg aus seinem Stuhl, schlug mit der Faust gegen eine Stelle neben der Tür und sagte mit deutlicher Stimme: »Ah Qaaq!« Die Tür schob sich in die Wand zurück. Burton merkte sich die Stelle, die Loga berührt hatte, genau. »Woher wußten Sie eigentlich, daß niemand zufällig hier vorbeikam und Sie überraschte?« fragte er. »Diese Tür ist ein einziger, großer Videoschirm. Es gibt noch andere dieser Art hier, die aussehen, als wären sie gewöhnliche Bestandteile einer Wand. Sie sind so angebracht, daß sie mir ermöglichen, über die Kurven, die die Korridore nehmen, hinauszusehen.« Sie folgten Loga durch den Korridor. Nachdem sie ihn zur Hälfte durchquert hatten, hielt er an, drehte sich um, wandte sich der Wand zu und sprach erneut das Codewort aus. Ein Teil der scheinbar nahtlosen Wand öffnete sich, und sie gelangten in eine Nische. Der darunterliegende Raum war gut beleuchtet und enthielt einige auf Tischen stehende Gerätschaften, einen großen Schrank und zwei Skelette. Sie lagen genau vor dem Eingang, als hätten sie verzweifelt versucht, den Raum zu verlassen. Auf dem Boden, neben den Fingerknochen, lag eine Metallschachtel. Sie war mit mehreren Schaltern, Hebeln und Knöpfen versehen. Auf einer Seite befand sich ein kleiner Bildschirm, auf einer anderen Stecker. »Hätte ich den Impuls doch nur ein paar Sekunden früher gegeben«, sagte Loga. »Dann hätte ich sie erwischt, bevor sie dazu gekommen wären, die Kontrollbox zu entfernen.« »Aber das hätten Sie nicht wissen können«, sagte Burton. »In einem solchen Fall hätten Sie das Risiko, sich selbst zu töten, auch nicht eingehen können. Aber warum waren die beiden Türen eigentlich verschlossen? Die zwei hätten sie doch öffnen müssen, um überhaupt hier hereinzukommen.« »Wie sind sie überhaupt hereingekommen, wenn sie das Codewort nicht kannten?« fragte Nur. »Wenn sie keinen Gegenbefehl erhalten, schließen sich die Türen nach fünfundsiebzig Sekunden automatisch. Man fand diesen Raum, indem man den Schaltkreisen nachging. Das hat natürlich ziemlich viel Zeit in Anspruch genommen und muß eine anstrengende Arbeit gewesen sein, zumal man den Computer zum Verfolgen der Spur nicht einsetzen konnte. Nach der Entde374
ckung dieses Raums ist man mit Magnetometern ans Werk gegangen. Man hat die Wand abgesucht und dabei den Öffnungsmechanismus gefunden. Es dauert nicht lange, bis man den Code heraushat, der ihn aktiviert.« »Und das Wort, das man zusätzlich aussprechen muß? Wie...?« »Auch das kann man austüfteln. Obwohl das gewiß ein bißchen länger dauert.« Loga deutete auf den Geräteschrank. »Der Wiedererwecker.« Er ging weiter. Frigate folgte ihm auf dem Fuße und sagte: »Sie hatten keine eigene Energiequelle?« Loga blieb stehen, hob die am Boden liegende Kontrollbox auf und ging auf den Schrank zu. Dann steckte er die Stecker in einige dafür vorgesehene Öffnungen. »Nein, ich hatte keine. Es wäre sicher besser gewesen, wenn ich einen eigenen Atomreaktor gehabt hätte. In einem solchen Fall wären auch keine Kabel dagewesen, denen man hätte folgen können. Aber ein Energie/MaterieKonverter verbraucht Unmengen an Energie. Allein dieser Schrank benötigt mehr, als die Hälfte aller Städte des irdischen zwanzigsten Jahrhunderts verbrauchten.« Frigate sagte: »Wie ist es Ihnen gelungen, zu verhindern, daß Ihr Anzapfen des Systems nicht auf den regulären Meßgeräten abzulesen war?« »Das bedurfte einiger Manipulationen. Aber um zur ersten Frage zurückzukehren: Wenn die Ingenieure die Codebox in der Wand entfernt hätten, wäre ich hier nicht mehr herausgekommen. Die äußere Tür dieser Geheimkammer wird von einem Signal gesteuert, das durch einen anderen Codierer-Dekodierer geht. Man kann nur von Glück sagen, daß die Ingenieure starben, bevor sie daran irgendwelche Manipulationen vornehmen konnten. Als ich meine Flugmaschine verlassen mußte, verlor ich meinen Signalgeber. Aber die Boote in der Höhle verfügten über Ersatzgeräte, die sich automatisch einschalten, wenn die Sensoren feststellen, daß der Turm in der Nähe ist.« »Die Türmechanismen verbrauchen doch sicher nicht viel Energie. Warum haben Sie dafür nicht anderweitige Energieerzeuger benutzt?« »Das hätte ich tun sollen. Aber es war einfacher und ökonomischer, die Hauptkraftanlage anzuzapfen.« Loga lächelte leicht. »Ich frage mich, wie die Ingenieure auf das Codewort gekommen sind. Ah Qaaq ist ein Begriff aus der Sprache der Mayas. Das Ah ist der Artikel, der den Namen als männlich definiert. Qaaq bedeutet Feuer. Loga bedeutet in der Ghuurrkh-Sprache ebenfalls Feuer. Vielleicht sind sie mir so auf die Spur gekommen. Möglicherweise haben sie den Maya-Namen in den Computer eingespeist und ihn die Arbeit machen lassen. Wenn dem so war, hatten sie die Antwort schon eine Sekunde nachdem sie die Frage gestellt hatten. Ich habe mich wohl selbst hereingelegt.« 375
Loga deutete auf einen Knopf. »Schaut her! Ich werde euch die Sache trotz ihrer Einfachheit zweimal erklären, damit es nicht zu Mißverständnissen kommt. Ihr könnt die Aufschriften lesen. Wenn ich diesen Knopf drücke, wird dieser silberne Kreis aufleuchten. Das bedeutet, daß die Anlage eingeschaltet ist. Der größere Kreis neben dem AN-Lämpchen mißt die Frequenz, die ...« Er drückte den besagten Knopf. Das kleinere Lämpchen leuchtete rot auf. »Und jetzt...« Das Licht ging wieder aus. »Khatuuch! Was ...« Loga legte seine Handfläche für eine Sekunde auf die Kontrollbox, umrundete die Wiedererweckungsmaschine, öffnete eine Klappe und sah in sie hinein. Obwohl die anderen mehrere Schritte von ihm entfernt standen, konnten sie die Hitze spüren, die die Maschine plötzlich ausstrahlte. »Raus hier!« schrie Loga und rannte, so schnell ihn die Beine trugen, auf den Ausgang zu. Als Burton auf der Schwelle stand, warf er einen Blick zurück. Die Kontrollbox löste sich auf. Ein großer Würfel im Inneren der Maschine wurde rotglühend. Loga stieß einen Fluch in der Sprache der Gartenwelt aus und sagte dann: »Diese ...! Diese ...! Sie haben die Maschine so umgepolt, daß der Konverter in dem Augenblick schmilzt, in dem er Energie erhält!« Von ihm und Burton abgesehen, die beide schon so oft gestorben waren, daß der Gedanke an den Tod sie nicht mehr schreckte, waren die anderen erleichtert. Burton konnte es an ihren Gesichtern ablesen: Obwohl sie wußten, daß sie zusammen mit ihren Wathans auferstehen würden, hatten sie Angst vor dem Tod. »Wir müssen die andere Maschine nehmen«, sagte Burton. »Mit der wird man das gleiche gemacht haben«, erwiderte Loga mit aschfahlem Gesicht. »Können Sie es nicht rückgängig machen?« »Ich will es versuchen.« Aber es gelang ihm nicht. Als Burton auf die geschmolzene Masse starrte, kam ihm der Gedanke, daß es nun an der Zeit sei, ein Thema zur Sprache zu bringen, das er bis jetzt nur zurückgehalten hatte, weil ihm die Wiedererweckungsmaschinen dringlicher erschienen waren. »Als wir durch den Schleusenraum in den Korridor eindrangen, um Sie zu verfolgen, Loga«, sagte er, »legte ich, um sicherzugehen, daß wir den Eingang auch wiederfänden, eine Kugel auf den Boden. Sie ist aber nicht mehr da.« Es folgte eine kurze Stille. Dann meinte Frigate: »Möglicherweise hat ein Roboter sie entfernt.« 376
»Nein«, sagte Loga. »Wenn die Roboter für Reinigungsarbeiten programmiert gewesen wären, hätten sie auch selbsttätig die Skelette zusammengeräumt.« »Dann ist jemand in den Turm eingedrungen!«
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ABSCHNITT 14 Spiel um drei Ecken: Von Carroll über Alice zum Computer 54 Sie gingen in ein Labor. Loga nahm vor einem Computer Platz und fing emsig an zu arbeiten. Kurz darauf nahmen alle im Turm befindlichen Kameras die Arbeit auf. Zwei Sekunden später zeigte der vor ihm stehende Schirm ein Bild. Burton stieß einen Pfiff aus. »Frata Fenikso! Hermann Göring!« Er saß an einem Tisch und aß eine Mahlzeit. Eine der Gralboxen hatte ihn damit versorgt. Da er bis auf die Knochen abgemagert war und dunkle Ringe seine tief in den Höhlen liegenden Augen umschatteten, konnte man davon ausgehen, daß er mehr als eine Mahlzeit würde gebrauchen können. »Der Computer kann niemanden außer ihm ausmachen, aber das muß nichts besagen. Wenn er mit anderen zusammen gekommen ist, halten sie sich vielleicht in einem toten Winkel auf, den die Kameras nicht erreichen können. Wenn es sich um Agenten handelt, kennt vielleicht einer das Codewort. Es ist nicht ausgeschlossen, daß einer es von Monat erfahren hat.« »Warum fragen wir Göring nicht?« sagte Burton. »Natürlich. Aber erst werde ich den Computer fragen, wo er sich überhaupt aufhält.« Loga las die Ergebnisse der Maschine ab, dann bestiegen sie ihre Stühle und schwebten hinaus. Zehn Minuten später befanden sie sich außerhalb des Labors auf einem Korridor, der nicht weit von Logas Versteck entfernt lag. Sie stellten die Stühle ab und gingen leise zu Fuß weiter. Obwohl Göring nicht bewaffnet war, mußte man damit rechnen, daß sich noch andere Leute in der Nähe aufhielten. Burton schrie: »Achtung!« Als Göring wie von einer Tarantel gestochen aufsprang, wild mit den Armen wirbelte, vor Schreck das Essen ausspuckte und der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, nach hinten kippte, stieß er ein brüllendes Gelächter aus. Göring fuhr herum. Sein Gesicht zeigte schieres Entsetzen. Er zitterte und riß erstaunt die Augen auf. Offenbar wollte er etwas sagen. Plötzlich rötete sich sein Gesicht, und er griff sich an die Kehle. »Mein Gott!« sagte Alice. »Er erstickt!« Als Burton ihm tüchtig auf den Rücken klopfte, damit er das, an dem er zu ersticken drohte, ausspuckte, lag Göring mit blauem Gesicht auf den Knien. »Das fand ich überhaupt nicht komisch, Richard«, sagte Alice. »Hör gefälligst auf zu lachen! Du hättest ihn umbringen können.« 378
Burton wischte sich die Lachtränen aus den Augen und sagte: »Tut mir leid, Göring. Ich glaube, ich wollte dir wohl all das heimzahlen, was du mir in der Vergangenheit angetan hast.« Göring stürzte das Wasser hinunter, das Aphra Behn ihm gereicht hatte. »Ja, und ich glaube, ich kann es Ihnen nicht einmal übel nehmen.« »Sie sehen halb verhungert aus«, sagte Nur. »Sie sollten nicht so schlingen. Wenn man lange Zeit wenig gegessen hat, kann zuviel Essen einen umbringen.« »So ausgehungert bin ich nun auch wieder nicht. Aber jetzt habe ich sowieso keinen Appetit mehr.« Er sah sich um. »Wo sind die anderen?« »Tot.« »Möge Gott sich ihrer Seelen erbarmen.« »Das hat er bisher nicht getan und er wird es auch nicht tun, wenn wir nicht schnellstens etwas unternehmen.« »Göring!« sagte Loga scharf. »Sind Sie allein gekommen?« Göring sah ihn seltsam an. »Ja.« »Wie lange sind Sie schon hier?« »Etwa eine Stunde.« »Waren die anderen Ihnen nahe, als Sie über die Berge kamen?« »Nein. Zumindest habe ich niemanden gesehen.« »Wie sind Sie so schnell hierher gekommen?« Göring und einige andere Bewohner Virolandos waren zur Nicht vermietbar hinabgetaucht, bevor die Strömung sie vom Strand weggerissen und in die Tiefe gezerrt hatte. Sie hatten einige Sektionen des Batacitors geborgen und an Bord eines Seglers wieder zusammengesetzt. Sie hatten auch zwei kleine Elektromotoren, eine Ersatzschiffsschraube der Gascon und mehrere andere Gegenstände an die Oberfläche geholt. Sie hatten schnell gearbeitet und hatten zwei Wochen nach dem Aufbruch der Plakate ankleben verboten ebenfalls die Anker gelichtet. Im Gegensatz zu Burton und seinen Leuten hatten sie keinen Augenblick gerastet. »Wo sind Ihre Begleiter?« fragte Loga, obwohl er sich über deren Schicksal möglicherweise schon im klaren war. »Zwei gaben schon nach kurzer Zeit auf und kehrten um. Ich fuhr mit meiner Frau weiter, aber als wir in den Bergen waren, rutschte sie aus und stürzte ab.« Seine Hand beschrieb einen Kreis in der Luft. Es war das Segenszeichen der Chancisten. »Sie sollten sich wieder hinsetzen«, sagte Burton. »Wir haben Ihnen viel zu erzählen.« 379
Nachdem Göring von Loga und Burton erfahren hatte, was passiert war, drückte sein Gesicht Entsetzen aus. »Alle Wathans? Auch das meiner Frau?« »Ja, und jetzt wissen wir nicht mehr, was wir machen sollen. Wir können den Computer umbringen, damit er keine Wathans mehr einfängt, oder uns etwas ausdenken, das ihn dazu bringt, seinen Auftrag zu vergessen.« »Nein«, sagte Hermann. »Da ist noch eine dritte Möglichkeit.« »Und welche?« »Laßt mich versuchen, das Modul einzusetzen.« »Sind Sie übergeschnappt?« »Nein, aber ich habe noch eine Schuld zu begleichen.« Burton dachte an seinen ständig wiederkehrenden Traum, in dem ihm Gott erschien. »Du bist mir für dein Fleisch etwas schuldig. Nun zahl endlich!« »Aber wenn Sie sterben, wird Ihr Wathan verloren sein.« »Vielleicht auch nicht«, sagte Hermann leise. »Vielleicht kann ich auch den letzten Schritt tun. Ich weiß nicht, ob ich schon weit genug bin. Gott weiß, daß ich weit davon entfernt bin, ein Heiliger zu sein. Aber wenn ich alle diese Seelen ... Wathans... rette, habe ich meine Schuld beglichen.« Niemand sagte etwas. »Meine Hochachtung«, sagte Loga schließlich. »Sie sind der tapferste Mensch, der mir je begegnet ist. Ich nehme an, daß Sie genau wissen, wie gering Ihre Chance ist. Wir werden folgendes tun ...« Es tat Burton sehr leid, daß er den Deutschen dermaßen auf den Arm genommen hatte. Der Mann riskierte seine Seele und würde, falls er versagte, der ewigen Verdammnis anheimfallen. Loga hatte recht. Göring war der tapferste Mann, den er je gekannt hatte. Auch wenn er es vielleicht früher nicht gewesen war - jetzt war er es. Loga entschied, daß sie in den obersten Stock zurückkehren sollten, um ihren Unterkünften nahe zu sein. Unterwegs hielten sie irgendwo an, um Göring die gefangenen Wathans zu zeigen. Er sah sich die leuchtenden pulsierenden Gebilde ein paar Minuten lang an, dann wandte er sich ab. »Es ist das Schönste, Ehrfurchtgebietendste und Abscheulichste, was ich je gesehen habe.« Erneut machte er das Segenszeichen, aber Burton glaubte, daß es diesmal mehr bedeutete: Göring betete für die Rettung der Seelen und um die Kraft, die er brauchte, um sein Ziel zu erreichen. Als sie den Kontrollraum erreichten, begab sich der Ethiker sofort an die Kontrollen auf der Plattform. Fünf Minuten später schickte er Göring in eine kleine Kabine, wo er von Strahlen abgetastet und gemessen wurde. Loga fütterte seinen Computer mit weiteren Daten. Eine Stunde später war er damit fertig. 380
Bevor er den nächsten Knopf drückte, wartete er ein paar Sekunden. Dann verließ er die Plattform und begab sich an einen großen Energie/Materie-Konverter. Während die anderen sich hinter ihm versammelten, öffnete er dessen Tür. Auf dem Boden lagen Teile einer Rüstung. Loga hob sie auf und trug sie beiseite. Nachdem man Göring die Rüstung angelegt hatte, ähnelte er mehr einem Roboter als einem Ritter. Der Versorgungstornister, der sich auf seinem Rücken befand, ließ ihn wie einen Astronauten erscheinen. Abgesehen von einem schmalen, aber langen Fenster auf der Vorderseite des kugelförmigen Helms, bestand der Anzug aus grauem Metall. Trotz seiner Dicke wog er nur neun Pfund. »Die Sichtscheibe ist weniger widerstandsfähig als das Metall«, sagte Loga. »Was die Strahlwaffen des Computers angeht, so werden sie die Rüstung sofort durchschneiden, wenn Sie länger als zehn Sekunden auf dem gleichen Fleck stehen. Achten Sie also darauf, daß Sie ständig in Bewegung sind.« Göring probierte die Flexibilität der Schulter-, Ellbogen-, Finger-, Knie- und Fersengelenke aus, die ihm die Mobilität gaben, die er benötigen würde. Dann lief er auf und ab und führte Sprünge in die unterschiedlichsten Richtungen aus. Damit er die Fähigkeiten seines Strahlers kennenlernte, praktizierte er anschließend ein Testschießen. Nachdem er die Rüstung wieder abgelegt hatte, nahm er noch eine Mahlzeit zu sich. »Henkersmahlzeit«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. Nachdem er in einem Zimmer verschwunden war, um sich etwas mit Schlaf zu stärken, flog Loga mit seinem Stuhl auf eine Ebene hinab, die unter dem Wasserspiegel lag. Eine Stunde später kehrte er in einem Zwei-MannForschungsboot zurück, das sich unter Wasser bewegen und fliegen konnte. »Ich bin erst vor ein paar Stunden darauf gekommen«, sagte er. »Mit diesem U-Boot wird er die ersten Verteidigungslinien durchbrechen können. Später muß er dann zu Fuß weitermachen. Die Eingänge sind nicht groß genug, um das Boot durchzulassen.« Während seiner Abwesenheit hatten sich die anderen damit beschäftigt, an den Seiten der sargförmigen Reinigungsroboter Strahler anzubringen und die nötigen Löcher für die Kabel zu bohren. Loga installierte eine Videoausrüstung und die Abzugmechanismen. Dann programmierte er auch die Navigationsinstrumente und baute sie ein. Burton machte sich auf, um den Deutschen zu wecken, aber als er dessen Zimmer betrat, fand er ihn betend neben seinem Bett auf dem Boden kniend vor. »Sie hätten lieber schlafen sollen«, sagte er. »Ich habe die Zeit besser genutzt.« 381
Sie kehrten in den Kontrollraum zurück, wo Hermann, bevor man ihn über seine Route und die Bedienung des U-Bootes aufklärte, eine leichte Mahlzeit verzehrte. Loga zeigte ihm, wie er das alte Modul durch das neue ersetzen sollte. Das Modul selbst war eine graue Metallscheibe mit der Größe und der Form einer Spielkarte. Obwohl sie unglaublich komplexe Schaltkreise enthielt, war ihre Oberfläche glatt. Aus einer Ecke hatte man ein V herausgeschnitten, damit man sehen konnte, wie sie in den Schlitz hineingehörte. Die Codenummer wies leicht erhabene Zahlen auf. Sie mußten auf der Oberseite der Karte sein. »Was könnte mit einem solchen Modul schon schief gehen?« sagte Frigate. »Nichts«, sagte Loga, »wenn man es richtig einführt. Menschen können jedoch Irrtümer begehen. Würde man die Karte falsch herum einschieben, würden die Schaltkreise zwar auch richtig arbeiten, aber bei jeder Unregelmäßigkeit der Spannung würde einer von ihnen beschädigt werden. Natürlich kommen solche Unregelmäßigkeiten nicht oft vor, aber über eine lange Zeitperiode hinweg können doch erhebliche Beschädigungen auftreten. Wenn die Techniker nicht tot wären, hätte man den Fehler schon vor langer Zeit entdeckt.« Er steckte die Karte in einen metallenen Würfel und befestigte diesen über dem Kniestück der Rüstung. »Man braucht nur diesen Knopf hier zu drücken, dann gibt der Würfel die Karte frei. Er ist übrigens dick genug, um eine ganze Reihe von Strahlschüssen auszuhalten.« Bis auf den Kugelhelm zog Göring die Rüstung wieder an. Loga füllte einige kostbare Kelche, die er aus seiner Unterkunft geholt hatte, mit Wein. »Auf Ihren Erfolg, Göring. Möge der Schöpfer mit Ihnen sein.« »Mit uns allen«, sagte Hermann. Nachdem sie ausgetrunken hatten, setzte Göring den Helm auf. Dann kletterte er über eine kurze Leiter auf das U-Boot und zwängte sich mit einigen Schwierigkeiten durch dessen offene Luke. Loga bestieg das Boot ebenfalls, warf einen Blick durch die Luke und wiederholte noch einmal die Bedienungsanweisungen. Dann wurde sie geschlossen. Als Verantwortlicher der Aktion nahm Loga wieder auf der drehbaren Plattform Platz. Die anderen setzten sich vor die Armaturen und führten die Einstellungen aus, die der Ethiker ihnen auftrug. Der erste der bewaffneten Roboter erhob sich vom Boden und schwebte auf den Ausgang zu. Er wurde von Burton gesteuert. Der nächste gehörte Alice. Dann kamen die anderen. Nacheinander glitten sie auf den Korridor hinaus und bogen nach rechts ab. Als die Roboter verschwunden waren, erhob sich das U-Boot und folgte ihnen. Sie brauchten eine Viertelstunde, um jene Ebene zu erreichen, die unter dem Wasserspiegel lag. Vor einer Tür hielt Burton seinen Roboter an. Er aktivierte 382
die Strahler, und die rechte Seite der Tür wurde von oben nach unten zerschnitten. Burton ließ die Maschine nach links schweben und durchschnitt die andere Seite. Anschließend rammte der Roboter die Tür, die unter dem Aufprall zusammenbrach. Jetzt sah Burton einen gewaltigen, mit einer Unmasse von Gerätschaften ausgestatteten Raum. Seine Maschine jagte auf eine geschlossene Tür auf der gegenüberliegenden Wand zu. Noch bevor sie dort ankam, glitten Teile der Wand zurück. Die kugelförmigen Mündungen einiger Strahler wurden sichtbar. Sie spuckten orangerotes Feuer. Burton bediente die Kontrollen so, daß sein Roboter nach rechts oben auswich. Dann hielt er ihn fest und drückte den Feuerknopf. Rote Strahlen wanderten über seinen Bildschirm, dann hatte er das Vergnügen, eine der gegnerischen Kugeln explodieren zu sehen. Bruchstücke der auseinanderfliegenden Waffe flogen auf die Kamera zu, beschädigten sie jedoch nicht. Ein paar Sekunden später wurde der Bildschirm schwarz. Eine der Computerwaffen hatte die auf dem Roboter montierte Kamera getroffen. Burton fluchte und schaltete die Strahler ab. Jetzt konnte er nur noch zusehen. Er drückte einen Knopf, der seinen Bildschirm mit der Kamera von Logas Roboter verband. Das übertragene Bild ließ ihn erkennen, daß die anderen Roboter ebenfalls eingedrungen waren. Burtons beschädigte Maschine schwebte drei Meter über dem Boden. Ihre Spitze zielte auf die in der Wand verankerten Strahler. Die Roboter nahmen Halbkreisformationen ein, um sich nicht selbst in die Quere zu kommen. Nachdem man den letzten gegnerischen Strahler außer Gefecht gesetzt hatte, wechselte das Bild, und die übrigen Kameras zeigten, wie die Maschinen einen Raum nach dem anderen eroberten. Der von Alice gesteuerte Roboter löste sich auf. De Marbots Kamera wurde zerstört. Dann wurde Tai-Pengs Maschine von drei Strahlschüssen gleichzeitig getroffen. Ihre Kamera setzte aus. Die Schüsse hatten offenbar lebenswichtige Teile außer Funktion gesetzt. Auch die anderen gaben nach und nach ihren Geist auf. Schließlich war nur noch das U-Boot übrig. Das zigarrenförmige Objekt warf sich in die Bresche und walzte, während die Abwehrwaffen des Computers sich in seinen Rumpf fraßen, zwei Tore nieder. Göring gelangte an einen Torweg, der zwar groß genug war, um sein Gefährt hindurchzulassen, jedoch von zehn Waffen gleichzeitig gesichert wurde. Er durchquerte den Gang mit Höchstgeschwindigkeit, verlor dabei jedoch ein Stück der Hecksektion und mußte mehrere tiefe Einschußlöcher hinnehmen. Vor ihm, in der gegenüberliegenden Wand, war ein weiterer Durchgang. Dort mußte er die Maschine zurücklassen. Er fuhr mit äußerster Schnelligkeit auf 383
den Durchgang zu, hielt das U-Boot an und stieg aus. Orangerote Strahlen durchlöcherten die Hülle. Dann richteten sich die Strahler auf Hermann Göring. Er fiel zu Boden. Obwohl die Schiffshülle ihn vor der Hälfte der Abwehrwaffen schützte, bot er den anderen ein gutes Ziel. Langsam wieder auf die Beine kommend, taumelte er durch den Toreingang. Ganze Strahlersalven folgten ihm, als er um die Ecke bog und auf den Ventilraum zulief. Kurz bevor er ihn erreichte, glitt vor ihm eine Tür aus der Wand und versperrte ihm den Weg. Trotz des starken Beschusses hob Göring seinen Strahler und feuerte. Es gelang ihm, ein kleines Loch in die Tür zu schmelzen. Dann riß er den Würfel von seinem Knie und warf ihn mitsamt der Karte hindurch. Schließlich zwängte er sich mit dem Strahler in der Hand selbst durch die Öffnung. Burton und die anderen konnten seinen keuchenden Atem hören. Dann: Ein Schmerzensschrei. »Mein Bein!« »Sie sind fast da!« schrie Loga. Durch das Loch quollen purpurne Wolken nach draußen. »Giftgas«, sagte Loga. Die Kamera wechselte. Sie sahen nun direkt in den Ventilraum hinein. Er war ziemlich groß. Rechts von Göring ragte eine Wand auf. Drei Meter über dem Boden ragte ein nach unten gebogenes Metallrohr hervor. In seiner Nähe stand auf einem Tisch ein kleiner Metallbehälter, von dem aus dünne Kabel auf einen anderen liefen. Die Frontseite des Behälters wies Schlitze auf, aus denen die Enden von Modulen herausragten. Göring kroch auf den Metallwürfel zu. Mindestens hundert Strahler konzentrierten nun ihr Feuer auf seine Rüstung. Die anderen hörten seine Stimme sagen: »Ich halte nicht durch. Ich werde ohnmächtig.« »Halten Sie aus, Göring!« rief Loga. »Noch eine Minute, dann haben Sie es geschafft!« Sie sahen, wie die unförmige, graue Gestalt den Würfel packte und ihn herumdrehte. Das Modul glitt heraus. Hermann hob die Karte auf und krabbelte auf den Modulbehälter zu. Dann hörten sie einen Aufschrei und sahen ihn vornüberfallen. Die Karte entglitt seinen Fingern und blieb genau vor dem Tisch liegen. Erneut nahmen die Abwehrstrahler ihn unter Beschuß. Sie stellten das Feuer erst ein, als die Rüstung völlig zerschmolzen war. Eine geraume Zeit herrschte Schweigen. Dann stieß Burton einen tiefen Seufzer aus und schaltete seine Anlage ab. Die anderen taten es ihm gleich. Burton begab sich auf die Plattform und stellte sich hinter Loga, dessen Bildschirm noch immer aktiviert war und nun ein pulsie384
rendes, buntes Etwas zeigte, das kugelförmig war und über sich dehnende und wieder zusammenziehende Tentakel verfügte. Loga saß vornübergebeugt da. Seine Ellbogen stützten sich auf der Armatur ab; er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. »Was ist das?« fragte Burton. Er wußte zwar, daß er es mit dem Abbild eines Wathans zu tun hatte, aber was es auf dem Bildschirm zu suchen hatte, war ihm unklar. Loga nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf den Schirm. »Ich habe einen Frequenzspürer auf Göring gerichtet.« »Das ist er?« »Ja.« »Dann hat er also nicht den letzten Schritt getan?« »Nein. Er ist bei den anderen.« Und was machen wir jetzt? Das war die Frage, die sich jeder stellte. Loga wollte den Computer umbringen, bevor er noch mehr Wathans einfing, und ihn dann in das Stadium zurückduplizieren, in dem er noch nicht mit irgendwelchen Daten gefüttert worden war. Desgleichen jedoch hoffte er auch verzweifelt darauf, daß jemand auf eine Idee kam, wie sie das Problem lösen konnten, bevor er die Wathans freiließ. Loga machte den Eindruck eines geistig Gelähmten. Es fehlte nur noch der richtige Impuls, um ihn dazu zu bewegen, den bewußten Knopf zu drücken. Die anderen zermarterten sich das Gehirn. Alle Spekulationen und Fragen wurden noch einmal den Computern eingegeben. Jede Antwort machte ihnen klar, daß sie irgend etwas außer acht gelassen hatten. Burton begab sich mehrmals auf das nächste Stockwerk hinab, starrte stundenlang auf die wirbelnden Wathans oder lief unruhig hin und her. Ob sich seine Eltern auch in diesem Schacht aufhielten? Ayesha? Isabel? Walter Scott, mit dem er in Indien befreundet gewesen war? Dr. Steinhäuser? George Sala? Swinburne? Seine Schwester und sein Bruder? Speke? Sein Großvater Baker, der ihn an der Nase herumgeführt hatte, indem er vor der Änderung seines Testaments einfach das Zeitliche segnete? Der blutrünstige und grausame König Gélélé von Dahomey, der nicht einmal gewußt hatte, wie blutrünstig und grausam er gewesen war, da er nur das getan hatte, was die Gesellschaft von ihm erwartete? Aber das war natürlich auch nicht gerade eine Entschuldigung. Erschöpft und deprimiert ging er zu Bett. Er hatte mit Alice reden wollen, aber sie machte einen abwesenden Eindruck und schien ihren Gedanken nachzuhängen. Zumindest schien sie nicht vor sich hin zu träumen, um der schmerzlichen und frustrierenden Realität zu entgehen. Ganz offensichtlich dachte sie über das gegenwärtige Dilemma nach. 385
Schließlich schlief Burton ein. Wenn er seiner Uhr trauen konnte, hatte er, als er erwachte, sechs Stunden geschlafen. Es herrschte Zwielicht. Alice stand neben ihm. »Ist irgendwas?« fragte er schläfrig. »Nichts. Hoffe ich jedenfalls. Ich komme gerade aus dem Kontrollraum.« »Was hast du da gemacht?« Alice legte sich neben ihn. »Ich konnte einfach nicht schlafen. Ich mußte über dies und das nachdenken. Meine Gedanken waren beinahe so zahlreich wie die Wathans. Ich versuchte, mein Bewußtsein auf den Computer zu konzentrieren, aber mir gingen tausend Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Ich glaube, ich habe über mein gesamtes Leben nachgedacht. Über mein Leben hier und auf der Erde. Ich erinnere mich daran, über Mr. Dodgson nachgedacht zu haben, bevor ich einschlief. Ich habe viel geträumt. Es waren die unterschiedlichsten Träume: ein paar angenehme, aber auch ein paar schreckliche. Hast du mich nicht einmal aufschreien gehört?« »Nein.« »Dann mußt du geschlafen haben wie ein Toter. Als ich wach wurde, zitterte und schwitzte ich am ganzen Körper. Aber ich konnte mich an das, was mich so entsetzt hat, nicht mehr erinnern.« »Es ist leicht, sich vorzustellen, was das gewesen sein muß.« Alice war aufgestanden, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als sie wieder zum Bett zurückgekommen war, hatte sie nicht wieder einschlafen können. Unter anderem hatte sie an Reverend Charles Lutwudge Dodgson, die Freude, ihn zu kennen, und die Bücher gedacht, zu denen sie ihn inspiriert hatte. Alice hatte sie so oft gelesen, daß sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, sich an den Text und Tenniels Illustrationen zu erinnern. »Das erste, was mir einfiel, war die verrückte Teegesellschaft.« Der Hutmacher, der Schnapphase und die Haselmaus hatten an einem Tisch Platz genommen. Obwohl Alice nicht eingeladen gewesen war, hatte sie sich dazugesetzt. Nach einem verrückten Wortwechsel hatte der Schnapphase sie gefragt, ob sie einen Schluck Wein wolle. Alice sah sich um, aber sie sah nur eine Teekanne. »Das«, sagte Alice, »stimmt natürlich nicht ganz: Es gab auch Milch, Brot und Butter.« Die Buch-Alice sagte: »Ich sehe keinen Wein.« »Ist auch gar keiner da«, sagte der Schnapphase. Später hatte Alice sich Gedanken darüber gemacht, worin der Unterschied zwischen einem Raben und einem Schreibtisch bestand. Schließlich hatte der Hutmacher das Schweigen gebrochen und sie gefragt: »Den wievielten haben wir heute?« Er hatte seine Uhr aus der Tasche gezogen, sie mit einem beküm386
merten Blick gemustert, sie mehrmals geschüttelt und schließlich ans Ohr gehalten. Alice dachte ein wenig nach und sagte dann: »Den Vierten.« Die wirkliche Alice sagte zu Burton: »Mr. Dodgson nahm diesen Tag, weil diese Stelle im Mai spielte und der vierte Mai mein Geburtstag ist.« Der Hutmacher seufzte und sagte: »Zwei Tage geht sie nach! Ich habe dir ja gleich gesagt, Butter ist für das Uhrwerk nichts!« »Es war aber echte Tafelbutter«, erwiderte der Schnapphase sanft. Burton stand auf und lief hin und her. »Mußt du dermaßen ins Detail gehen, Alice?« »Ja. Es ist wichtig.« Die nächste Szene, die ihr eingefallen war, stammte aus dem Schlaf-undRuder-Kapitel von Alice hinter den Spiegeln. Sie unterhielt sich mit der Weißen und der Roten Königin. »Könnt Ihr denn mit dem Weinen aufhören dadurch, daß Ihr etwas bedenkt?« fragte Alice. »Ja, so wird das gemacht«, sagte die Weiße Königin sehr entschieden. »Zwei Dinge auf einmal kann man ja nicht tun, oder?« »Alice!« sagte Burton. »Worauf willst du mit diesem Unfug hinaus?« »Es ist kein Unfug. Hör zu!« In ihrer Erinnerung war Alice von der Weißen Königin zu Goggelmoggel gewechselt. »Vielleicht deswegen, weil Loga so fett ist. Er erinnert mich an ihn.« Sie - die Alice aus dem Buch - unterhielt sich mit dem großen, auf einer Mauer sitzenden, anthropomorphen Ei. Sie diskutierten die Bedeutung von Worten. »Wenn ich ein Wort gebrauche«, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, »dann heißt es genau, was ich für richtig halte, nicht mehr und nicht weniger.« »Es fragt sich nur«, sagte Alice, »ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.« »Es fragt sich nur«, sagte Goggelmoggel, »wer der Stärkere ist - weiter nichts.« Dann wechselte die wirkliche Alice (Ist sie überhaupt wirklicher als die andere? fragte sich Burton) zu der Szene über, in der die Rote Königin sie gefragt hatte, ob sie abziehen könne. »Zieh neun ab von acht«, sagte die Schwarze Königin. »Nein von acht kann ich doch gar nicht«, erwiderte Alice sogleich, »aber...« »Abziehen kann sie auch nicht«, sagte die Weiße Königin. »Kannst du dividieren? Ein Brot geteilt durch ein Messer - was gibt das?« »Noch was?« fragte Burton. 387
»Nein. Ich maß diesen Szenen nicht viel Bedeutung bei. Es waren lediglich Erinnerungen an meine Lieblingsstellen.« Sie war daraufhin eingeschlafen und plötzlich wieder aufgewacht. Ihre Augen waren groß. Sie hatte sich des Eindrucks nicht erwehren können, jemand habe nach ihr gerufen. »Es war ein schwacher Ruf, den mein Bewußtsein nur am Rande vernahm.« Die Stimme hatte nach Mr. Dodgson geklungen, aber Alice war sich nicht sicher. Sie war hellwach und hatte starkes Herzklopfen. Sie war aufgestanden und in den Kontrollraum gegangen. »Warum?« »Es kam mir so vor, als enthielte jede dieser Szenen einen Schlüssel. Die echte Tafelbutter. Es fragt sich nur, wer der Stärkere ist. Kannst du dividieren?« Burton seufzte. »Na schön, Alice. Sag es mir, wenn du es nicht lassen kannst.« Sie hatte in Logas Sitz Platz genommen und alle nötigen Einstellungen vorgenommen, die nötig waren, um mit dem Computer Direktverbindung aufzunehmen. »Du bist dir darüber im klaren, daß du spätestens in zwei Tagen sterben wirst?« sagte sie. »Ja. Das ist eine überflüssige Information. Es lag kein Grund vor, mir das mitzuteilen.« »Monat hat dir befohlen, niemanden auferstehen zu lassen, solange er dazu nicht den Gegenbefehl gibt. Woraus besteht dieser Gegenbefehl?« Burton unterbrach sie mit den Worten: »Diese Frage hat Loga dem Computer schon gestellt.« »Ja, ich weiß. Aber ich dachte, ein weiterer Versuch in dieser Richtung könne nichts schaden.« »Wie lautete die Antwort?« Wie schon zuvor: Der Computer hatte geschwiegen. Dann hatte Alice ihm mitgeteilt, er habe von Monat noch einen Befehl mit höherer Priorität erhalten - und zwar vor dem letzten. »Was soll das?« blitzte der Bildschirm auf. »Ich habe viele Befehle erhalten.« »Die höchstrangige, allerwichtigste Direktive lautet, die Wathans einzufangen und mit duplizierten Körpern zu verbinden. Das ist der alleinige Zweck dieses Projekts. Wenn Monat die Tragweite seines letzten Befehls hätte voraussehen können, hätte er ihn nicht gegeben.« Der Computer schwieg. Alice sagte: »Ich will eine Verbindung mit der Sektion, die Loga benutzt hat mit jenem Teil, den er beherrschte.« 388
Der Computer besaß offensichtlich keine Anweisung, eine Kommunikation mit diesem Teil zu verweigern. Vor Alice hatte niemand auch nur an diese Möglichkeit gedacht. »Mein Gott!« sagte Burton. »Und was geschah dann?« »Ich erzählte dem anderen Teil, daß er im Sterben läge. Die Antwort war: Das weiß ich im wesentlichen - und weiter? Ich gab das gleiche Argument wieder, das ich dem Hauptteil schon gegeben hatte.« Dann gab sie der Sektion den Befehl, sich wieder vom Hauptteil zu lösen und unabhängig zu werden. »Und der hat die ganze Zeit über geschwiegen?« »Natürlich. Warum auch nicht? Wie Loga schon sagte: Der Computer ist ein genialer Idiot.« »Und was geschah dann?« »Der Schirm wurde leer. Ich versuchte es wieder und immer wieder, eine Antwort zu erhalten.« Der Eifer, den Burtons Gesicht ausstrahlte, verging. »Nichts?« »Nichts.« »Aber warum hat der Computer die Verbindung abgebrochen? Es ist doch seine Pflicht, zu kommunizieren.« »Ich hoffe«, sagte Alice langsam, »daß das die Anzeichen eines beginnenden inneren Zweikampfes sind - daß der unterdrückte Teil sich gegen den unterdrückenden zur Wehr setzt.« »Aber das ist doch Unsinn!« rief Burton aus. »Wenn das, was wir über Computer gelernt haben, stimmt, ist so etwas unmöglich.« »Du vergißt, daß wir es bei diesem hier in gewissem Sinne nicht mit einem herkömmlichen Computer zu tun haben. Er besteht aus Protein und ist so komplex wie ein menschliches Gehirn.« »Wir müssen Loga wecken«, sagte Burton. »Ich bin zwar der Meinung, daß es wenig nützen wird, aber er ist der einzige, der damit fertig werden kann.« Als sie den Ethiker rüttelten, war er sofort hellwach. Er hörte Alice zu, ohne sie zu unterbrechen, und sagte dann: »Es wird keine Auseinandersetzung zwischen den beiden Teilen geben. Monats Befehl müßte sowohl vom einen wie auch vom anderen verinnerlicht worden sein.« »Das hängt davon ab, wann der Befehl gegeben wurde«, sagte Alice. »Wenn man die gespaltene Persönlichkeit des Computers erst nach der Befehlseingabe entdeckt hat, kann Monats Anweisung für die zweite Hälfte nicht gelten.« »Aber der dominierende Teil hätte sie an den anderen weitergegeben.« »Vielleicht aber auch nicht!« sagte Alice. »Wenn du recht hättest - aber ich halte dies für so gut wie unmöglich -, würde Monat wieder auferstehen.« 389
»Aber ich habe dem dominierenden Teil diesen Befehl gegeben.« Das finstere Gesicht Logas entspannte sich. »Gut! Wenn das die einzige Chance ist, die Wathans zu retten, dann soll es geschehen. Selbst wenn ...« Er wollte nicht sagen, was daraufhin mit ihm passieren würde. Alle außer Loga, der in seinem Kontrollsessel aß, nahmen ihr Frühstück im Speisesaal ein. Obwohl Loga einige Anstrengungen unternommen hatte, reagierte der Computer auf seine Anfragen nicht. Einer der Schirme zeigte das Wathan-Gehege. »Wenn es sich leert, wissen wir, daß sie - verloren sind.« Er blickte auf einen anderen Bildschirm. »Zwei weitere sind gerade eingefangen worden. Nein, es sind drei.« Während sie in finsterer Stimmung ihr Frühstück aßen und nur hin und wieder einen halbherzigen Kommentar über die Lippen brachten, sagte Frigate: »Wir müssen über etwas Wichtiges sprechen.« Die anderen sahen ihn zwar an, sagten aber nichts. »Wenn der Computer stirbt - was wird dann aus uns? Loga wird uns für ethisch zu unterentwickelt halten, um uns zu gestatten, hier zubleiben. Er glaubt nicht, daß wir fähig sind, das Projekt weiterzuführen. Ich nehme an, daß er damit sogar recht hat - aber das gilt wohl nicht für Nur. Wenn es ihm gelänge, den Dacheingang zu passieren, könnte er sicher hier bleiben.« »Ich bin schon durchgegangen«, sagte Nur. Die anderen starrten ihn an. »Und wann?« fragte Frigate. »Gestern nacht. Ich dachte, wenn ich hinauskomme, komme ich auch wieder hinein. Ich habe es geschafft, aber es war nicht ganz einfach. Ein vollwertiger Ethiker hätte sicher weniger Schwierigkeiten gehabt.« Burton knurrte: »Wie schön für dich. Ich muß mich wohl für meine Behauptung, daß alle Sufis Scharlatane seien, entschuldigen. Aber was ist mit uns anderen? Was ist, wenn wir gar nicht wieder ins Flußtal zurückgehen wollen? Und wenn wir gingen und allen Leuten die Wahrheit erzählten? Natürlich würde uns nicht jeder glauben. Es gibt immer noch genug Christen, Moslems und so weiter, die sich geweigert haben, ihrer Religion abzuschwören. Ich kann mir auch vorstellen, daß noch genügend Chancisten da sind, die an ihre Lehren glauben.« »Das ist ihr Problem«, sagte Nur. »Ich habe jedenfalls nicht den Wunsch, hier zubleiben. Ich gehe gerne ins Tal zurück, denn ich habe dort zu arbeiten. Ich werde arbeiten, bis ich reif für den letzten Schritt bin.« »Was nicht bedeutet, daß du am Busen des Schöpfers ruhen wirst«, sagte Burton. »Wissenschaftlich gesehen bedeutet der letzte Schritt, daß du von den Meßgeräten der Ethiker nicht mehr erfaßt werden kannst.« 390
»Wenn das Allahs Wille ist, soll es so sein«, sagte Nur. Burton fragte sich, welche Folgen es hatte, wenn er hier blieb. Er würde über eine Machtfülle gebieten, die auf der Erde niemand und auf der Flußwelt nur wenige gehabt hatten. Um dieses Ziel zu erreichen, war es allerdings unerläßlich, erst einmal Loga aus dem Weg zu räumen. Ob die anderen bereit waren, dabei mitzumachen? Wenn nicht, würde er sich auch seine Freunde vom Halse schaffen müssen. Er konnte sie im Tal wieder auferstehen lassen, wo sie ja ohnehin beabsichtigten hinzugehen. Aber dann würde er einsam sein. Alice würde einen solchen Plan nicht mitmachen. Nein, er würde nicht einsam sein. Er konnte im Innern des Turms jeden wiedererstehen lassen, der mit ihm übereinstimmte: Männer wie Frauen. Ihn fröstelte. Der Gedanke war ihm wie ein Alptraum durch den Kopf geschossen. Diese Art Macht wollte er nicht. Er wäre sich für alle Zeiten wie ein Verräter vorgekommen, hätte er diesen Plan ausgeführt. Außerdem war es offensichtlich, daß er dazu ungeeignet war. Aber was war mit Loga? War Loga nicht ein Verräter? Ja. In gewisser Beziehung war er das. Burton war allerdings mit ihm einer Meinung, daß die im Flußtal lebenden Kandidaten viel, viel mehr Zeit benötigten, als die anderen Ethiker ihnen hatten zugestehen wollen. Und es war absolut klar, daß besonders er diesen Zeitaufschub dringend brauchte. Er musterte die den Tisch umringenden Gesichter der anderen. War unter ihnen jemand, der die gleichen Gedanken dachte? Gab es in dieser Runde mehr als einen, dessen Gefühle einander bekämpften? Er würde sie im Auge behalten müssen. Er mußte sichergehen, daß keiner von ihnen etwas versuchte, das er hinterher bereute. Burton trank einen Schluck Wein und sagte: »Seid ihr damit einverstanden, daß wir ins Tal zurückkehren? Wer dafür ist, hebe bitte die Hand.« Außer Tom Turpin hoben alle die Hand. Als sie ihn mit durchdringenden Blicken ansahen, grinste er und tat es ihnen gleich. »Ich dachte daran, wie verdammt gut ich es mir hier hätte gehen lassen können. Aber ich will auch nicht hier bleiben. Mann, ich könnte damit nicht fertig werden. Nur ... Ich frage mich, ob Loga etwas dagegen hätte, wenn ich eins von den Pianos mitnähme.« Alice brach in Tränen aus. »All die Seelen! Ich dachte, ich hätte eine Antwort gefunden, aber...« Auf der Wand leuchtete ein Bildschirm auf. Logas Gesicht erschien. Er lächelte. »Kommt her!« rief er und lachte. »Kommt her!« Und er lachte erneut. »Der Hauptteil des Computers hat nachgegeben! Ich habe gerade eine Nachricht vom anderen erhalten! Alice, du hattest recht! Oh, wie recht du hattest!« 391
Sie eilten in den Kontrollraum und versammelten sich um den Ethiker. Auf dem Bildschirm leuchteten Symbole auf, die Kooperationsbereitschaft signalisierten. Burton und die anderen schrieen vor Begeisterung auf, umarmten sich, sprangen von der Plattform aus zu Boden und führten einen Tanz auf. Eine Weile später bat Loga lautstark um Aufmerksamkeit und sagte: »Denkt daran, daß der Computer noch immer im Sterben liegt! Aber er hat mir die Erlaubnis gegeben, das Modul zu ersetzen. Ich muß mich sofort auf den Weg machen.« Es wäre eine reine Ironie des Schicksals, dachte Burton, wenn der Computer stirbt, bevor Loga ihn erreicht. Zehn Minuten später - sie warteten im Speisesaal auf seinen Anruf - erschien Logas lächelndes Gesicht auf dem Wandbildschirm. »Es ist vollbracht! Es ist vollbracht! Ich habe den Befehl gegeben, sofort mit der Wiedererweckung zu beginnen!« Erneut ließen sie einander hochleben und umarmten sich. Turpin setzte sich an das Piano und spielte den >St. Louis Rag