MARTIN CRUZ SMITH
DAS LABYRINTH
Roman
Aus dem Englischen von Hans Heinrich Wellmann
Für EM
TEIL EINS MOSKAU 6.-1...
86 downloads
1213 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
MARTIN CRUZ SMITH
DAS LABYRINTH
Roman
Aus dem Englischen von Hans Heinrich Wellmann
Für EM
TEIL EINS MOSKAU 6.-12. August 1991
In Moskau sind die Sommernächte wie Rauch und Feuer. Sterne und Mond verblassen. Liebespaare stehen auf, ziehen sich an und wandern durch die Straßen. Wagen fahren mit abgeschalteten Scheinwerfern. »Da.« Jaak sah einen Audi, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Arkadi setzte die Kopfhörer auf und stellte den Empfänger ein. »Sein Sender ist abgeschaltet.« Jaak wendete den Wagen, wechselte auf die andere Seite des Boulevards und beschleunigte. Er hatte schiefstehende Augen, ein muskulöses Gesicht und hockte krummrückig über dem Lenkrad, als wollte er es verbiegen. Arkadi klopfte sich eine Zigarette aus der Packung. Die erste heute. Nun, es war ein Uhr morgens, kein Grund zu besonderem Stolz. »Näher ran«, sagte er und nahm die Kopfhörer wieder ab. »Wir müssen sicher sein, daß es Rudi ist.« Vor ihnen schimmerten die Lichter des um die Stadt führenden Autobahnrings. Der Audi schwenkte auf die Auffahrt und fädelte sich in den Verkehr ein. Jaak schob sich zwischen zwei Pritschenwagen mit Stahlplatten, die bei jeder Unebenheit der Straße laut polterten. Er überholte den ersten Wagen, den Audi und einen Tankzug. Arkadi konnte das Profil des Fahrers erkennen, aber es waren zwei Leute im Wagen, nicht nur einer. »Er hat jemanden dabei. Wir müssen ihn uns noch mal anschauen.« Jaak fuhr langsamer. Der Tankzug blieb hinter ihnen, aber eine Sekunde später überholte der Audi. Rudi Rosen, der Fahrer, ein rundlicher Mann mit weichen Händen, die fest das Lenkrad umschlossen, war Privatbankier verschiedener Mafia-Organisationen, ein Möchtegern-Rothschild, der die primitivsten Kapitalisten Moskaus bediente. Neben ihm saß eine Frau von jenem wilden Aussehen, das Russinnen annehmen, wenn sie Diät halten, irgendwo zwischen
Sinnlichkeit und Ausgehungertsein, mit modisch geschnittenen blonden Haaren, die über den Kragen ihrer schwarzen Lederjacke fielen. Im Vorbeifahren wandte sie sich um und musterte den Wagen der KripoMänner, einen zweitürigen Schiguli, wie ein Stück Schrott. Mitte dreißig, dachte Arkadi. Sie hatte dunkle Augen, einen breiten Mund und volle, leicht geöffnete Lippen, ganz so, als sei sie durstig. Der Audi setzte sich vor sie, gefolgt vom Dröhnen eines offenliegenden Motors, einer Suzuki 750, die sich hinter ihn schob. Der Motorradfahrer trug einen schwarzen Sturzhelm, eine schwarze Lederjacke und schwarze Schaftstiefel, an denen Reflektoren leuchteten. Jaak entspannte sich. Der Motorradfahrer war Kim, Rudis Leibwächter. Arkadi duckte sich und lauschte wieder in den Kopfhörer. »Immer noch tot.« »Er führt uns zum Markt. Da gibt es ein paar Leute - wenn die dich erkennen, bist du ein toter Mann.« Jaak lachte. »Natürlich wissen wir dann auch gleich, daß wir richtig sind.« »Gut beobachtet.« Verhüte Gott, daß sich hier irgendwer wie ein vernünftiger Mensch benimmt, dachte Arkadi. Im übrigen, wenn mich jemand erkennt, heißt das, daß ich noch am Leben bin. Fast der gesamte Verkehr drängte sich in dieselbe Ausfahrt. Eine Reihe von »Rockern« zwängte sich zwischen den Wagen durch, mit Hakenkreuzen und Zarenadlern auf dem Rücken, umhüllt von Abgasqualm aus nicht weiter schallgedämpften Auspuffen. Am Ende der Ausfahrt waren Bauzäune zur Seite geschoben worden. Der Wagen holperte über die Straße, als ob sie ein Kartoffelfeld überquerten. Arkadi sah die hoch vor dem schwach erleuchteten Nordhimmel aufragenden Silhouetten. Ein Moskwitsch fuhr vorbei, bis zu den Fenstern vollgestopft mit Teppichen. Auf dem Dach eines alten Renault stapelte sich die Einrichtung eines Wohnzimmers. Vor ihnen verdichteten sich die Bremslichter zu einem einzigen Rot. Die Rocker bildeten mit ihren Maschinen einen Kreis und kündigten ihren Halt mit aufbrüllenden Motoren an. Personen- und Lastwagen quetschten sich auf jedes freie Plätzchen. Jaak würgte den Schiguli ab, der Wagen besaß keine Leerlaufschaltung, und stieg dann mit dem Lächeln eines Krokodils aus, das ein paar Affen beim Spiel entdeckt hatte. Auch Arkadi stieg aus, er trug eine wattierte
Jacke und eine Tuchmütze. Er hatte schwarze Augen und sah leicht verwirrt aus, als hätte er sich lange in einem tiefen Loch aufgehalten und wäre nun zurückgekehrt, um zu sehen, was sich an der Erdoberfläche verändert hatte - was von der Wahrheit nicht weit entfernt war. Dies war das neue Moskau. Die Silhouetten waren Türme mit roten Lichtern an der Spitze, als Warnung für Flugzeuge. Zu ihren Füßen standen staubbedeckte Erdbewegungsmaschinen und Zementmischer, lagen Stapel brauchbarer und Haufen unbrauchbarer Ziegelsteine. Metallstreben versanken im Schlamm. Gestalten bewegten sich um die Wagen, weitere trafen ein offensichtlich eine Versammlung von Schlaflosen, auch wenn hier niemand schlafwandelte. Die Szene war erfüllt vom erregten, schwärmenden Summen eines Schwarzmarkts. Wie in einem Traum, dachte Arkadi. Kartons mit Marlboros, Winstons, Rothmans, sogar die sonst verschmähten kubanischen Zigaretten, wandhoch gestapelt. Videobänder amerikanischer Actionfilme und schwedischer Pornos, zum Wiederverkauf en gros. Polnische Glasware glitzerte in fabrikneuen Kisten. Zwei Männer in Trainingsanzügen boten nicht nur Scheibenwischer, sondern gleich ganze Windschutzscheiben an, verhökerten nagelneue, direkt vom Fließband kommende Autos. Und Lebensmittel! Nicht irgendwelche blauen, an Unterernährung gestorbenen Hühnchen, sondern im Lastwagen eines Schlachters hängende, marmorierte Rinderhälften. Zigeuner stellten neben brennenden Petroleumlampen Aktenkoffer mit Goldrubeln aus der Zarenzeit zur Schau, wie frisch aus der Münze und in Plastikstreifen versiegelt. Jaak wies auf einen mondweißen Mercedes. Lampen verbreiteten Basartmosphäre. Zwischen den Wagen könnten Kamele grasen, dachte Arkadi, oder chinesische Kaufleute Bahnen kostbarer Seide ausrollen. Ein Lager für sich bildete die Tschetschenen-Mafia, Männer mit teiiger, pockennarbiger Haut und schwarzem Haar, die sich in ihren Wagen räkelten wie träge Paschas. Selbst hier umgab die Tschetschenen ein Kordon aus Angst. Rudi Rosens Audi parkte ziemlich in der Mitte des Marktes neben einem Laster mit Radios und Videorecordern, vor dem sich eine disziplinierte Käuferschlange gebildet hatte. Kim stand, einen Fuß auf seinem Helm, etwa zehn Meter weit entfernt und schob sich die langen Haare aus dem
kleinen, fast zarten Gesicht. Seine Jacke war wie eine Rüstung gepolstert und halb geöffnet, so daß man darunter seine Malysch - »Kleiner Junge« -, die kompakte Ausführung einer Kalaschnikow, erkennen konnte. »Ich stelle mich an«, sagte Arkadi zu Jaak. »Warum macht Rudi das?« »Ich frage ihn.« »Er hat einen koreanischen Vampir als Leibwächter, der jede deiner Bewegungen überwacht.« »Schreib dir das Nummernschild auf und behalte Kim im Auge.« Arkadi stellte sich ans Ende der Schlange, während Jaak in der Nähe des Lasters umherzuschlendern begann. Aus der Feme machten die Videorecorder den Eindruck solider sowjetischer Ware. Kleinere Geräte waren im allgemeinen nur in anderen Ländern beliebt, Russen wollten nicht verbergen, sondern zeigen, was sie gekauft hatten. Aber waren sie neu? Jaak strich mit der Hand über die Kanten und suchte nach verräterischen Brandspuren von Zigaretten. Die goldhaarige Frau, die mit Rudi gekommen war, schien verschwunden. Arkadi fühlte sich beobachtet und wandte sich nach einem Gesicht um, dessen Nase so oft gebrochen worden war, daß sie einen Höcker ausgebildet hatte. »Wie ist der Kurs heute?« fragte der Mann. »Ich weiß es nicht«, gab Arkadi zu. »Sie schlagen dir die Eier auf, wenn du was anderes als Dollars hast. Oder Touristencoupons. Und sehe ich etwa aus wie einer dieser verdammten Touristen?« Der Mann vergrub die Hände in den Taschen und zog einige zerknüllte Banknoten hervor, hob die eine Faust: »Zlotys.« Und die andere: »Forints. Kannst du dir das vorstellen? Ich bin den beiden vom Savoy gefolgt. Ich dachte, sie wären Italiener, und dann stellte sich raus, daß der eine Ungar und der andere Pole war.« »Muß ziemlich dunkel gewesen sein«, sagte Arkadi. »Als ich dahinterkam, hab ich sie beinahe umgebracht. Ich hätte sie umbringen sollen, um ihnen zu ersparen, von diesen beschissenen Zlotys und Forints leben zu müssen.« Rudi kurbelte das Beifahrerfenster herunter und sagte zu Arkadi: »Der nächste!« Dem Mann mit den Zlotys rief er zu: »Noch etwas Geduld.« Arkadi stieg ein. Rudi, eine offene Geldkassette auf dem Schoß, trug
einen gutgeschnittenen Zweireiher. Er hatte schütter werdendes Haar, das schräg über die Schädelplatte gekämmt war, feuchte Augen mit langen Wimpern und einen blauen Fleck am Kinn. An der Hand mit dem Taschenrechner steckte ein Granatring. Der Rücksitz war ein voll eingerichtetes Büro mit Karteikästen, Laptop-Computer, der nötigen Batterie und Kartons mit Software, Handbüchern und Disketten. »Das ist eine absolut mobile Bank«, sagte Rudi. »Eine illegale Bank.« »Ich kann auf meinen Disketten sämtliche Spareinlagen der Russischen Republik abspeichern. Ich könnte Ihnen bei Gelegenheit mal einen kleinen Einblick gönnen.« »Danke, Rudi. Ein fahrendes Computerzentrum macht das Leben auch nicht befriedigender.« Rudi hob einen Gameboy hoch. »Urteilen Sie selbst.« Arkadi zog schnuppernd die Luft durch die Nase. Am Rückspiegel hing etwas, das wie ein grüner Docht aussah. »Ein Geruchsvertilger«, sagte Rudi. »Pinienduft.« »Wie Achselhöhle mit Minze. Wie können Sie hier drin nur atmen?« »Es riecht sauberer. Ich weiß, das ist eine Macke von mir - Sauberkeit, Bazillenträger. Was wollen Sie hier?« »Ihr Sender funktioniert offenbar nicht. Ich möchte ihn mir anschauen.« Rudi zwinkerte mit den Augen. »Sie wollen ihn hier reparieren?« »Hier wollen wir ihn schließlich auch benutzen. Also tun Sie einfach so, als führten wir eine ganz normale Transaktion durch.« »Sie haben gesagt, die Sache sei sicher.« »Aber nicht narrensicher. Jeder sieht uns zu.« »Dollar? Deutsche Mark? Francs?« fragte Rudi. Die Geldkassette war voll mit Währungen der unterschiedlichsten Länder. Es gab Francs, die wie handgemalte Porträts aussahen, Lire mit phantastischen Zahlen und Dantes Gesicht, deutsche Banknoten, die vor Selbstvertrauen zu strotzen schienen, und vor allem raschelnde, grasgrüne amerikanische Dollarscheine. Neben Rudis Füßen lag eine prall gefüllte Aktentasche mit, wie Arkadi vermutete, weiterem Geld und gleich neben der Kupplung klebte ein in braunes Packpapier gewickeltes Bündel. Rudi nahm die Hundert-Dollar-Scheine aus der Kassette auf seinem Schoß, und darunter kamen ein Sender und ein Minirekorder zum
Vorschein. »Tun Sie so, als ob ich Rubel kaufen wollte«, sagte Arkadi. »Rubel?« Rudis Finger erstarrten über dem Taschenrechner. »Warum sollte jemand Rubel kaufen?« Arkadi drehte den Lautstärkeregler des Senders vor und zurück, dann die Frequenzeinstellung. »Aber Sie kaufen doch auch Rubel und zahlen dafür mit Dollar und deutscher Mark.« »Lassen Sie mich das erklären: Ich tausche. Ich bediene die Käufer. Ich kontrolliere den Kurs. Ich bin die Bank. Ich verdiene dabei, und Sie sind der Verlierer. Niemand kauft Rubel, Arkadi.« Rudis kleine Augen traten leicht vor. »Die einzige echte sowjetische Währung ist der Wodka, das einzige Staatsmonopol, das wirklich funktioniert.« »Davon haben Sie ja auch mehr als genug.« Arkadi blickte auf den Boden vor den Rücksitzen, der bedeckt war mit silbernen Starka-, Russkaya- und kubanischen Wodkaflaschen. »Hier wird Tauschhandel getrieben wie in der Steinzeit. Ich nehme, was die Leute haben. Ich helfe ihnen. Erstaunlich, daß sie nicht auch mit Glasperlen und Dublonen kommen. Wie dem auch sei, der Kurs ist vierzig Rubel für einen Dollar.« Arkadi versuchte es mit dem »Ein«-Schalter des Senders. Die winzige Spule bewegte sich nicht. »Der offizielle Kurs liegt bei dreißig.« »Ja, und das Universum dreht sich um Lenins Arschloch. Das ist gar nicht abschätzig gemeint. Ist doch komisch. Ich sitze hier und treibe Handel mit Männern, die selbst ihrer eigenen Mutter die Kehle aufschlitzen würden, aber die Vorstellung von Profit ist ihnen suspekt.« Rudi wurde ernst. »Arkadi, wenn Sie Profit einmal nicht mit Verbrechen gleichsetzen, haben Sie das, was man ein Geschäft nennt. Was ich hier mache, ist normal und überall in der Welt völlig legal.« »Ist der auch normal?« Arkadi blickte in Kims Richtung. Trotz seiner aufmerksam beobachtenden Augen hatte der Leibwächter das flache Gesicht einer Maske. Rudi sagte: »Kim ist da, um Eindruck zu machen. Ich bin wie die Schweiz - neutral, eine Bank für jeden. Jeder braucht mich. Wir sind der einzige Teil der Volkswirtschaft, der funktioniert. Sehen Sie sich um. Mafia vom Langen Teich, Baumanskaja-Mafia, Jungs aus Moskau, die wissen, wie man was an den Mann bringt. Ljubertsi-Mafia, ein bißchen
härter, ein bißchen dümmer. Sie alle wollen sich nur verbessern.« »Wie Ihr Partner Borja?« Arkadi versuchte, die Spule mit einem Schlüssel anzuziehen. »Borja ist eine Erfolgsstory. Jedes andere Land wäre stolz auf ihn.« »Und die Tschetschenen?« »Zugegeben, mit den Tschetschenen ist es was anderes. Selbst wenn wir alle irgendwo verrotten würden, denen wäre das gleichgültig. Aber denken Sie daran: Die größte Mafia ist immer noch die Partei. Vergessen Sie das nicht.« Arkadi öffnete den Sender und klopfte die Batterien heraus. Durch das Fenster sah er, daß die Leute in der Schlange langsam unruhig wurden, aber Rudi schien keine Eile zu haben. Nach seiner anfänglichen Nervosität befand er sich jetzt in ausgeglichener, ja heiterer Stimmung. Die Schwierigkeit lag darin, daß der Sender aus Militärbeständen stammte und nicht sehr zuverlässig war. Arkadi drehte an den Verbindungsbuchsen. »Sie haben keine Angst?« »Ich bin in Ihrer Hand.« »Sie sind nur in meiner Hand, weil wir genügend Beweismaterial haben, um Sie in ein Lager zu stecken.« »Zufällig zusammengetragene Beweise für gewaltlose Unternehmungen. Nebenbei gesagt, andere Leute sprechen da von Geschäften und nicht von Verbrechen. Der wirkliche Unterschied zwischen einem Verbrecher und einem Geschäftsmann liegt darin, daß der Geschäftsmann Phantasie hat.« Rudi warf einen Blick auf den Rücksitz. »Ich hab hier genügend Technik für eine Raumstation. Das einzige in diesem Wagen, das nicht funktioniert, ist Ihr Sender.« »Ich weiß, ich weiß.« Arkadi drückte die Kontaktklammern hoch und schob die Batterien vorsichtig zurück an ihren Platz. »Da war eine Frau in Ihrem Wagen. Wer ist sie?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Sie hatte etwas für mich.« »Was?« »Einen Traum. Große Pläne.« »Die mit Habgier zu tun haben?« Rudi ließ ein bescheidenes Lächeln auf seinem Gesicht aufleuchten. »Das hoffe ich doch. Wer möchte schon einem armen Traum
nachlaufen? Jedenfalls ist sie eine Freundin.« »Sie scheinen keine Feinde zu haben.« »Abgesehen von den Tschetschenen, nein, ich glaube nicht.« »Bankiers können sich keine Feinde erlauben, was?« »Arkadi, wir zwei sind nun mal verschieden. Sie wollen Gerechtigkeit. Kein Wunder, daß Sie Feinde haben. Ich verfolge kleinere Ziele wie Profit und Vergnügen, genau wie fast alle vernünftigen Leute auf dieser Welt. Wer von uns hilft den anderen mehr?« Arkadi schlug auf den Sender. »Ich liebe es zuzuschauen, wenn Russen etwas reparieren.« »Sie studieren die Russen?« »Das muß ich, schließlich bin ich Jude.« Die Spulen begannen sich zu drehen. »Er funktioniert«, verkündete Arkadi. »Was soll ich sagen? Da bin ich wohl wieder mal baff.« Arkadi legte Sender und Recorder zurück unter die Banknoten. »Seien Sie vorsichtig«, sagte Arkadi. »Wenn es Schwierigkeiten gibt, melden Sie sich.« »Kim sorgt dafür, daß ich keine Schwierigkeiten bekomme.« Und als Arkadi die Wagentür öffnete, um auszusteigen, fügte Rudi noch hinzu: »Sie sind es, der vorsichtig sein sollte. An so einem Ort.« Die Menschen, die draußen anstanden, drängten sich vor, aber Kim schob sie mit schnellen Bewegungen zurück. Als Arkadi an ihm vorbeiging, starrte Kim ihn mit leerem Blick an. Jaak hatte sich ein Kurzwellenradio gekauft, das ihm wie ein Reiseutensil zukünftiger Raumzeitalter am Handgelenk hing. Jetzt wollte er seine Erwerbung im Schiguli verstauen. Auf dem Weg zum Auto fragte Arkadi: »Was bekommst du damit rein? Kurzwelle, Langwelle, Mittelwelle? Ein deutsches Fabrikat?« »Alle Wellen.« Jaak wand sich unter Arkadis Blick. »Japanisch.« »Gab’s auch Sender zu kaufen?« Sie kamen an einem Krankenwagen vorbei, aus dem Ampullen mit Morphinlösung und Einwegspritzen in sterilen amerikanischen Zellophanverpackungen angeboten wurden. Ein Motorradfahrer aus Leningrad verkaufte LSD, das er in seinem Beiwagen verstaut hielt. Die Leningrader Universität stand im Ruf, die besten Chemiker zu haben.
Jemand, den Arkadi vor zehn Jahren als Taschendieb kennengelernt hatte, nahm Aufträge für Computer entgegen, zumindest waren es russische. Reifen rollten aus einem Bus direkt zu den Kunden. Damenschuhe und -sandalen waren auf einem eleganten Schal ausgestellt. Schuhe und Reifen befanden sich auf dem Marsch, wenn nicht ins Tageslicht, so ins Zwielicht. Hinter ihnen in der Mitte des Marktes blitzte weißes Licht auf. Glas splitterte. Vielleicht das Blitzlicht einer Kamera oder eine zerbrochene Flasche, dachte Arkadi, trotzdem kehrten Jaak und er um und gingen in Richtung des Geschehens. Ein zweiter Blitz zerriß das Dunkel und erleuchtete schlagartig die entsetzten Gesichter der Umstehenden. Dann verblaßte das grelle Weiß zu einem alltäglichen Rot, dem Orangerot des Feuers, das die Leute an Winterabenden in Ölfässern entzündeten, um sich die Hände zu wärmen. Kleine Sterne tanzten in der Luft. In den scharfen Geruch nach verbranntem Plastik mischte sich der berauschende Duft brennenden Benzins. Einige Männer taumelten zurück, ihre Mäntel hatten Feuer gefangen. Während die Menge zurückwich und Arkadi sich weiter vorarbeitete, sah er Rudi Rosen auf einem glühenden Thron sitzen, kerzengerade, mit schwarzem Gesicht und brennendem Haar, die Hände am Steuer, erhaben in seiner eigenen Glut, gleichzeitig aber bewegungslos in den dichten, giftigen Rauchwolken, die aus den leeren Fenstern des Wagens schlugen. Arkadi näherte sich so weit, daß er durch die Windschutzscheibe in Rudis Augen sehen konnte. Rudi war tot. Inmitten der Flammen sein stummer, erloschener Blick. Rund um den brennenden Audi setzten sich die anderen Wagen in Bewegung, Teppiche hinter sich herschleifend, über Goldmünzen und Videorecorder hinwegrollend - eine dem Ausgang zuströmende Massenflucht. Auch der Krankenwagen rumpelte davon, pflügte über eine Gestalt, die im Licht seiner Scheinwerfer aufgetaucht war, hinter ihm die Wagenkolonne der Tschetschenen. Die Motorradfahrer teilten sich in mehrere Ströme und suchten nach Lücken in dem Zaun, der das Gelände umgab. Einige Leute aber blieben zurück und versuchten, die Sterne zu fangen, die auf sie niederregneten. Arkadi selbst pflückte eine brennende Deutsche Mark vom Himmel, einen Dollar, einen Franc - alle wie frisch
von einer feurigen Münze geprägt.
Im Licht des anbrechenden Morgens konnte Arkadi erkennen, daß auf dem Gelände vier zwanzig Stockwerke hohe Türme rund um einen Mittelhof aufragten - drei der Gebäude bereits mit Fassaden aus Betonfertigteilen versehen, das vierte noch in skelettartigem Zustand. Stahlträger und Baukräne muteten im Zwielicht zugleich gewaltig und zerbrechlich an. Zu ebener Erde, dachte Arkadi, würden wohl Restaurants, Kneipen und vielleicht ein Kino entstehen und in der Mitte des Geländes, wenn die Raupen und Zementmischer einmal verschwunden waren, Stellplätze für Personenwagen und Taxis. Im Moment aber standen dort noch ein Kastenwagen der Spurensicherung, der Schiguli und Rudi Rosens ausgeglühter und von Glassplittern übersäter Audi. Die Fenster des Wagens waren weggeplatzt, und die Hitze hatte auch die Reifen explodieren lassen, die anschließend verbrannt waren. Der Geruch nach verbranntem Gummi war immer noch allgegenwärtig. Ganz so, als lauschte er auf etwas, saß Rudi Rosen aufrecht hinter der zerborstenen Windschutzscheibe. »Die Glassplitter scheinen sich gleichmäßig verteilt zu haben«, sagte Arkadi. Polina folgte ihm und machte bei jedem zweiten Schritt ein Bild mit ihrer Vorkriegs-Leica. »In unmittelbarer Nähe des Wagens, eines viertürigen Audi, ist das Glas geschmolzen. Die Türen links geschlossen, ebenso die Motorhaube, die Scheinwerfer ausgebrannt. Die rechten Türen und der Kofferraum geschlossen, die Rücklichter ausgebrannt.« Es blieb nichts anderes übrig, als sich auf Hände und Knie niederzulassen. »Der Benzintank ist explodiert, der Auspufftopf vom Rohr gerissen.« Er stand auf. »Das Nummernschild ist schwarz, aber die Moskauer Nummer ist noch lesbar und weist den Wagen als Eigentum von Rudik Rosen aus. Nach der gleichmäßigen Verbreitung der Glassplitter zu urteilen, scheint das Feuer im Wagen selbst, nicht außerhalb, ausgebrochen zu sein.« »Wobei der Expertenbericht natürlich noch aussteht«, sagte Polina, um ihrem Ruf allgemeiner Respektlosigkeit gerecht zu werden. Jung und zierlich, trug die Pathologin sommers und winters denselben Mantel und das gleiche süffisante Lächeln zur Schau. Ihr Haar war hoch aufgetürmt und mit Nadeln gespickt. »Sie sollten den Wagen auf eine Bühne heben lassen.« Arkadis Kommentare wurden von Minin niedergeschrieben, einem Beamten mit den tiefliegenden Augen eines Fanatikers. Hinter Minin
streifte ein Milizkordon über das Gelände. Spürhunde zogen ihre Halter um die Neubauten, rannten von einem Pfeiler zum nächsten, um ihr Bein zu heben. »Lackierung abgeblättert«, fuhr Arkadi fort. »Chrom am Türgriff ebenfalls.« Wohl keine Fingerabdrücke mehr, dachte er. Dennoch wickelte er sich ein Taschentuch um die Hand, bevor er die Beifahrertür öffnete. »Danke«, sagte Polina. Schon bei der ersten Berührung schwang die Tür auf. »Das Wageninnere ist ausgebrannt«, fuhr Arkadi fort, »die Sitze bis auf Rahmen und Federn. Das Lenkrad scheint geschmolzen zu sein.« »Fleisch ist zäher als Plastik«, sagte Polina. »Die hinteren Gummifußmatten geschmolzen. Rundum Glassplitter. Auch die Rücksitze bis auf Federn niedergebrannt. Eine verkohlte Computerbatterie und Reste eines nicht eisenhaltigen Metalls. Goldspuren, wahrscheinlich von Leiterelementen.« Das war alles, was von Rudis Liebling übriggeblieben war. »Metallbehälter mit Computerdisketten.« Megabytes gespeicherter Informationen. »Mit Asche bedeckt.« Karteikästen. Widerwillig nahm Arkadi nun den vorderen Teil in Augenschein. »Hinweise auf eine Explosion am Kupplungspedal. Verkohltes Leder. Plastikrückstände im Armaturenbrettbereich.« »Natürlich. Die Hitze war gewaltig.« Polina beugte sich vor, um eine weitere Aufnahme mit ihrer Leica zu machen. »Mindestens tausend Grad.« »Auf dem Vordersitz«, sagte Arkadi, »eine Geldkassette. Ohne Inhalt, verkohlt. Auf dem Boden, unter dem Einsatz, kleine Metallkontakte, vier Batterien, vielleicht Überreste eines Senders und eines Tonbandgeräts. Soweit nach erstem Augenschein. Auf dem Sitz befindet sich außerdem ein rechteckiges Metallstück, vielleicht die Rückseite eines Taschenrechners. Zündschlüssel auf >Aus< gestellt. Zwei weitere Schlüssel am Ring.« Was ihn auf den Fahrer brachte. Arkadi widerstand der Versuchung, sich eine Zigarette anzuzünden. »Bei Verbrannten muß man mit weit geöffneter Blende arbeiten, um Einzelheiten festzuhalten«, sagte Polina.
Einzelheiten? »Der Körper ist zusammengeschrumpft«, sagte Arkadi. »Zu verkohlt, um ihn auf Anhieb als männlich oder weiblich, als Kind oder Erwachsenen zu identifizieren. Der Kopf ruht auf der linken Schulter. Kleider und Haare sind verbrannt, Teile der Schädeldecke sichtbar. Die Zähne scheinen für einen Abdruck nicht mehr geeignet zu sein. Keine erkennbaren Schuhe oder Socken.« Aber das alles beschrieb nicht wirklich den neuen, kleineren, schwärzeren Rudi Rosen, der da auf den luftigen Federn seines verglühten Wagens saß, brachte seine Verwandlung in Teer und Knochen kaum zum Ausdruck, die Nacktheit des Gürtelschlosses, das hing, wo sich einmal die Hüfte befunden hatte, den verwunderten Blick der leeren Augenhöhlen und das geschmolzene Gold der Zahnfüllungen, die Art, wie die rechte Hand nach dem Steuerrad zu greifen schien, als sei die Hölle zu durchqueren, und die Tatsache, daß eben dieses Steuerrad wie Karamel zerschmolzen war. Und es vermittelte auch keinen Eindruck von der geheimnisvollen Art, in der Starka- und kubanische Wodkaflaschen sich verflüssigt und harte Münzen und Zigaretten sich in Nichts aufgelöst hatten. »Jeder braucht mich.« Jetzt nicht mehr. Arkadi wandte sich ab und sah, daß auf Minins Gesicht nichts anderes zu lesen war als Befriedigung, als hätte dieser verkohlte Sünder in seinem Wagen noch nicht genug gelitten. Arkadi zog Minin beiseite und wies ihn auf einige Männer des Suchtrupps hin, die sich die Taschen vollstopften. Der Boden war übersät mit Gegenständen, die bei der panischen Flucht zurückgelassen worden waren. »Ich habe ihnen befohlen, alles, was sie finden, zu identifizieren und zu registrieren.« »Aber sie sollen es nicht behalten, oder?« Minin atmete tief ein. »Nein.« »Sehen Sie sich das an.« Polina sondierte eine Ecke des Rücksitzes mit ihrer Haarnadel. »Getrocknetes Blut.« Arkadi ging hinüber zum Schiguli. Jaak saß auf dem Rücksitz und verhörte ihren einzigen Zeugen, denselben unglücklichen Mann, den Arkadi getroffen hatte, als er darauf wartete, mit Rudi zu sprechen. Den Straßenräuber mit den vielen Zlotys. Jaak hatte ihn erwischt, als er über den Zaun klettern wollte. Nach seinen Papieren war Gari Oberljan Moskowiter, arbeitete als
Pfleger in einem Krankenhaus und hatte gemäß seinen Zuteilungsscheinen Anrecht auf ein neues Paar Schuhe. »Willst du seinen Ausweis sehen?« sagte Jaak. Er schob Garis Ärmel zurück. Auf der Innenseite des linken Unterarms war das Bild einer nackten Frau eintätowiert, die in einem Weinglas saß und ein Herz-As in der Hand hielt. »Er liebt Wein, Frauen und Karten«, sagte Jaak. Auf dem rechten Unterarm bildeten Herz, Pik, Kreuz und Karo ein Armband. »Vor allem Karten.« Auf dem linken kleinen Finger ein Ring aus umgekehrten Piks. »Wegen Rowdytum verurteilt.« Auf dem rechten Ringfinger ein von einem Messer durchbohrtes Herz. »Und bereit zu töten. Sagen wir also, daß Gari nicht unbedingt ein Unschuldslamm ist. Sagen wir, er ist ein Gesetzesbrecher, der bei einer Zusammenkunft von Spekulanten aufgegriffen wurde und besser mit uns zusammenarbeiten sollte.« »Leck mich am Arsch«, sagte Gari. Im Tageslicht sah seine gebrochene Nase wie angeklebt aus. »Hast du immer noch deine Zlotys und Forints?« fragte Arkadi. »Leck mich am Arsch.« Jaak las aus seinen Notizen vor. »Der Zeuge gibt an, daß er mit dem >Scheißkerl!Scheißwagen< des Verstorbenen verlassen und stand etwa fünf Minuten später in einer Entfernung von schätzungsweise zehn Metern, als der Wagen explodierte. Ein Mann, den der Zeuge als Kim kennt, hat eine zweite >Scheißbombe< in den Wagen geworfen und ist dann fortgelaufen.« »Kim?« fragte Arkadi. »So sagt er. Er sagt auch, daß er sich seine >Scheißhände< verbrannt hat, als er versuchte, dem Verstorbenen zu helfen.« Jaak langte in Garis Taschen und zog eine Handvoll halbverbrannte Dollar- und Markscheine hervor. Es würde ein warmer Tag werden. Der Morgentau verwandelte sich bereits in Schweißperlen. Arkadi sah mit zusammengekniffenen Augen zu einem von der Sonne erleuchteten Spruchband hoch, das schlaff an der Spitze des Westturms hing. »HOTEL DER NEUEN WELT!« Er stellte sich vor, wie sich das Spruchband im Wind blähte und der Turm
wie eine Fregatte davonsegelte. Er brauchte Schlaf. Er brauchte Kim. Polina kniete auf dem Boden neben der Beifahrertür. »Noch mehr Blut«, rief sie.
Als Arkadi die Tür zu Rudi Rosens Wohnung aufschloß, drängte sich Minin mit einer riesigen Stetschkin-Maschinenpistole vor. Offensichtlich keine Standardausführung. Arkadi bewunderte die Waffe, aber es beunruhigte ihn, sie in Minins Händen zu wissen. »Damit können Sie einen ganzen Raum in zwei Teile zersägen«, sagte er zu Minin. »Wenn jemand hier wäre, hätte er die Tür geöffnet oder gleich mit einer Schrotflinte durchsiebt. Ihre Maschinenpistole nützt uns im Moment gar nichts. Sie erschreckt nur die Damen.« Er warf den beiden Straßenkehrerinnen, die er als amtliche Zeugen mitgenommen hatte, einen beruhigenden Blick zu. Sie beantworteten ihn mit einem scheuen Lächeln stählerner Zähne. Hinter ihnen zogen zwei Beamte der Spurensicherung ihre Gummihandschuhe an. Durchsuch die Wohnung eines Menschen, den du nicht kennst, und du bist ein Ermittler, dachte Arkadi. Durchsuch die Wohnung von jemandem, den du kennst, und du bist ein Voyeur. Seltsam. Er hatte Rudi Rosen seit einem Monat observiert, war aber nie in seiner Wohnung gewesen. Eine gepolsterte Eingangstür mit Spion. Wohn/Speisezimmer, Küche, Schlafzimmer mit Fernseher und Videorecorder. Ein weiteres, in ein Büro umgewandeltes Schlafzimmer. Badezimmer mit Whirlpool. Bücherregale mit gebundenen Klassikerausgaben (Gogol, Dostojewski), Biographien von Breschnew und Moshe Dayan, Briefmarkenalben und alten Ausgaben von Israel Trade, Soviel Trade, Business Week und Playboy. Die Leute von der Spurensicherung begannen mit ihrer Untersuchung, gefolgt von Minin, der darauf achtete, daß nichts verschwand. »Bitte nichts berühren«, sagte Arkadi zu den Straßenkehrerinnen, die andächtig in der Mitte des Raumes stehengeblieben waren, als hätten sie den Winterpalast betreten. Ein Küchenschrank enthielt amerikanischen Whiskey und japanischen Brandy, dänischen Kaffee in Packungen aus Alufolie, keinen Wodka. Im Kühlschrank geräucherter Fisch, Schinken, Pastete und Butter mit einem finnischen Markennamen, ein Plastikbecher mit saurer Sahne und im Tiefkühlfach eine Eistorte mit rosaroter und grüner Glasur in Form von Blumen und Blättern. Es war eine der Torten, die früher in gewöhnlichen
Milchgeschäften verkauft worden waren, mittlerweile aber zu den Raritäten zählten, die man nur noch in Spezialgeschäften bekam allerdings etwas weniger kostbar als, nun, sagen wir, ein Faberge-Ei. Orientteppiche auf dem Boden des Wohnzimmers. An der Wand Porträtfotos eines Geigers im Frack und einer Frau am Klavier. Ihre Gesichter hatten die gleiche runde Form und den gleichen ernsten Ausdruck wie das von Rudi. Das vordere Fenster gab den Blick frei auf die Donskaja-Straße und, über die Dächer der umliegenden Häuser im Norden, auf das Riesenrad, das sich langsam und ziellos im Gorki-Park drehte. Arkadi betrat ein Büro mit einem finnischen Ahornschreibtisch, Stairmaster, Telefon und Fax. An der Steckdose ein Spannungsregler: Rudi hatte also seinen Laptop-Computer auch in der Wohnung benutzt. Die Schubladen enthielten Büroklammern, Bleistifte, Briefpapier aus Rudis Hotelkiosk, Rechnungsbücher und Quittungen. Minin öffnete einen Kleiderschrank, schob amerikanische Trainings- und italienische Maßanzüge beiseite. »Durchsuchen Sie die Taschen«, sagte Arkadi. »Untersuchen Sie die Schuhe.« Selbst die Unterwäsche in der Kommode im Schlafzimmer trug ausländische Etiketten. Auf dem Fernsehapparat eine Kleiderbürste. Auf dem Nachttisch Videokassetten mit Reisefilmen, eine Schlafmaske aus Satin und ein Wecker. Eine Schlafmaske ist genau das, was Rudi jetzt braucht, dachte Arkadi. Sicher, aber nicht narrensicher - war es das, was er Rudi gesagt hatte? Warum glaubte ihm überhaupt noch jemand? Eine der Straßenkehrerinnen war ihm so leise gefolgt, als trüge sie Filzpantoffeln. Sie sagte: »Olga Semjonowna und ich haben eine gemeinsame Wohnung. Die anderen Zimmer werden von Armeniern und Turkmenen bewohnt. Sie sprechen nicht miteinander.« »Armenier und Turkmenen? Ihr könnt von Glück sagen, daß sie sich nicht gegenseitig umbringen«, meinte Arkadi. Er öffnete das Schlafzimmerfenster, um einen Blick auf die Garage im Hof zu werfen. Nichts hing draußen am Sims. »Die Wohngemeinschaft ist der Tod der Demokratie.« Er dachte darüber nach. »Und natürlich bedeutet die Demokratie den Tod der Wohngemeinschaft.« Minin trat ins Zimmer. »Ich bin ganz der Meinung des Chefinspektors.
Was wir brauchen, ist eine feste Hand.« Die Straßenkehrerin sagte: »Sie können sagen, was Sie wollen - früher herrschte hier Ordnung.« »Eine rauhe Ordnung, aber sie funktionierte«, sagte Minin, und beide wandten sich Arkadi so erwartungsvoll zu, daß er sich vorkam wie eine Heiligenbüste. »Zugegeben, an Ordnung herrschte kein Mangel«, sagte er. Auf dem Schreibtisch füllte Arkadi das Untersuchungsprotokoll aus: Datum, sein Name, in Anwesenheit von - hier trug er die Namen und Adressen der beiden Frauen ein -, laut Durchsuchungsbefehl Nummer soundso die Wohnung des Bürgers Rudik Abramowitsch Rosen, Apartment 4a in der Donskaja-Straße 25, betreten. Arkadis Blick fiel wieder auf das Faxgerät. Es hatte Tasten mit englischer Beschriftung - zum Beispiel »Redial«. Er nahm den Telefonhörer ab und drückte. Ein Summen, ein Läuten, eine Stimme. »Feldman.« »Ich rufe im Auftrag von Rudi Rosen an«, sagte Arkadi. »Warum meldet er sich nicht selbst?« »Das erkläre ich Ihnen, wenn wir miteinander sprechen.« »Haben Sie nicht angerufen, um mit mir zu sprechen?« »Wir sollten uns treffen.« »Ich habe keine Zeit.« »Es ist wichtig.« »Ich will Ihnen sagen, was wichtig ist. Die LeninBibliothek soll geschlossen werden. Sie bricht zusammen. Das Licht wird abgeschaltet, die Räume werden verschlossen. Sie wird ein Grabmonument wie die Pyramiden in Gizeh.« Arkadi war überrascht, daß sich jemand aus Rudis Bekanntenkreis Sorgen um den Zustand der LeninBibliothek machte. »Wir müssen trotzdem miteinander sprechen.« »Ich arbeite bis spät in die Nacht.« »Wann immer Sie wollen.« »Vor der Bibliothek, morgen um Mitternacht.« »Um Mitternacht?« »Wenn die Bibliothek nicht über mir zusammenfällt.« »Wie schrieb sich Ihr Name noch?«
»Feldmann. Professor Feldmann.« Er gab gleich auch noch seine Telefonnummer durch und hängte ein. Arkadi legte den Hörer auf die Gabel. »Toller Apparat.« Minin hatte ein für sein Alter bitteres Lachen. »Die Spurensicherung räumt sicher die gesamte Wohnung leer, und wir könnten ein Faxgerät gut brauchen.« »Nein. Wir lassen alles so, wie es war, besonders das Faxgerät.« »Auch die Lebensmittel und den Alkohol?« »Alles.« Die Augen der zweiten Straßenkehrerin wurden größer. Die Schuld ließ sie auf die Vanille-Eistropfen starren, die über den Orientteppich zum Kühlschrank und wieder zurück führten. Minin riß das Tiefkühlfach auf. »Sie muß das Eis gegessen haben, als wir ihr den Rücken kehrten. Und die Schokolade ist auch weg.« »Olga Semjonowna!« Ihre Kollegin war ebenfalls entrüstet. Die Beschuldigte zog die Hand aus der Tasche, das Gewicht der belastenden Schokoladentafel schien sie fast zu Boden zu drücken. Tränen flossen die Falten ihres Gesichts hinunter und fielen von ihrem zitternden Kinn, als hätte sie einen silbernen Kelch von einem Altar gestohlen. Schrecklich, dachte Arkadi. So weit ist es mit uns gekommen, daß eine alte Frau wegen einer Tafel Schokolade in Tränen ausbricht. Wie hätte sie der Versuchung widerstehen können? Schokolade war ein exotischer Mythos, ein Hauch der Geschichte, ähnlich wie die Azteken. »Was meinen Sie also?« fragte Arkadi Minin. »Sollen wir sie festnehmen? Oder nicht festnehmen, aber zusammenschlagen? Oder einfach laufenlassen? Es wäre ernster, wenn sie auch noch die Saure Sahne genommen hätte. Ich möchte wissen, wie Sie darüber denken.« Arkadi war wirklich neugierig zu erfahren, wie verbohrt sein Assistent war. »Ich denke«, sagte Minin, »wir könnten sie diesmal noch laufenlassen.« »Wenn Sie meinen.« Arkadi wandte sich an die Frauen: »Bürgerinnen, das bedeutet allerdings, daß ihr beide den Rechtsorganen jetzt noch etwas mehr helfen müßt.« Russische Garagen waren Mysterien, da Stahlplatten grundsätzlich nicht an Privatleute verkauft werden durften. Dennoch tauchten aus Stahlplatten errichtete Garagen auf geradezu magische Weise immer
wieder in Hinterhöfen und kleinen Nebenstraßen auf, und das gleich reihenweise. Rudi Rosens zweiter Schlüssel öffnete das Mysterium hinter dem Haus. Arkadi rührte die von der Decke hängende Glühbirne nicht an. Im Tageslicht erkannte er eine Werkzeugkiste, Kanister mit Motoröl, Scheibenwischer und Rückspiegel sowie verschiedene Planen, um den Wagen im Winter zusätzlich noch zuzudecken. Unter den Planen lagen Reifen - nichts Ungewöhnliches. Später konnten Minin und die Beamten der Spurensicherung die Glühbirne und den Boden untersuchen. Die Straßenkehrerinnen standen die ganze Zeit schüchtern in der offenen Tür und wagten nicht einmal, einen Radmutterschlüssel mitgehen zu lassen.
Warum war er weder müde noch hungrig? Arkadi glich einem Mann, der Fieber hatte, ohne eigentlich krank zu sein. Als er Jaak in der Eingangshalle des Intourist Hotels traf, schluckte der gerade Koffeintabletten, um wach zu bleiben. »Gari redet nichts als Scheiß«, sagte Jaak. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Kim Rudi umgebracht hat. Er war sein Leibwächter. Himmel, ich bin so müde, Kim könnte mich erschießen, ohne daß ich es mitbekäme. Er ist nicht hier.« Arkadi sah sich in der Halle um. Am anderen Ende führte eine Drehtür auf die Straße und zum Pepsi-Stand draußen, der zu einem der Kontaktplätze der Moskauer Prostituierten geworden war. Innen achteten mehrere Sicherheitsbeamte sorgfältig darauf, daß nur Huren hereingelassen wurden, die zahlten. Im grottenähnlichen Dunkel warteten Touristen auf einen Bus, sie warteten schon länger und saßen unbeweglich da wie verlorene Gepäckstücke. Die Informationsstände waren nicht nur leer, sondern schienen dem ewigen Mysterium von Stonehenge zu folgen: Warum nur waren sie errichtet worden? Der einzig belebte Abschnitt der Halle befand sich rechts, wo ein pseudospanischer Innenhof unter einem Oberlicht die Aufmerksamkeit auf die Tische einer Bar und den Edelstahlglanz von Spielautomaten lenkte. Rudis Hotelkiosk hatte die Größe eines mittleren Kleiderschranks. In einer Vitrine waren Postkarten mit Ansichten von Moskau, von Klöstern und pelzbesetzten Kronen toter Fürsten ausgestellt. An der Rückwand hingen Schnüre mit Bernsteinklumpen und bunte, bäuerliche Umhangtücher. Auf den Seitenregalen standen handbemalte Holzpuppen in wachsender Größe neben Plaketten für Visa, MasterCard und American Express. Jaak öffnete die Glastür. »Ein Preis für Kreditkarten«, sagte er. »Der halbe Preis für Barzahler. Wenn man bedenkt, daß Rudi die Puppen von irgendwelchen Idioten für Rubel eingekauft hat, muß er einen Profit von tausend Prozent gemacht haben.« »Niemand hat Rudi wegen der Puppen ermordet«, sagte Arkadi. Ein Taschentuch um die Hand gewickelt, öffnete er die Kassenlade und durchblätterte ein Rechnungsbuch. Nur Zahlen, keinerlei Notizen. Minin würde noch einmal mit der Spurensicherung herkommen müssen.
Jaak räusperte sich und sagte: »Ich hab eine Verabredung. Ich sehe dich in der Bar.« Arkadi schloß den Kiosk wieder ab und ging über den Innenhof zu den Spielautomaten. Unter Instruktionen in englisch, spanisch, deutsch, russisch und finnisch drehten sich Abbildungen von Karten, Pflaumen, Glocken und Zitronen. Die Spieler waren ausnahmslos Araber, die lustlos von einem Automaten zum anderen schlenderten, orangerote Dosen mit »SiSi«-Sodawasser absetzten und Spielmarken zu kleinen Stapeln aufhäuften. In der Mitte des Raumes schüttete ein Angestellter einen silbrigen Strom von Spielmarken in ein mechanisches Zählgerät, eine Metallbox mit einer Kurbel. Er schrak zusammen, als Arkadi ihn um Feuer bat. Arkadi betrachtete sich in der blanken Seitenfläche des Geräts - einen blassen Mann mit strähnigem Haar, der etwas Sonne und eine Rasur nötig hatte, der aber sicher nicht so schrecklich aussah, daß sein Anblick die Art und Weise hätte erklären können, in der der Angestellte mit seinem Feuerzeug hantierte. »Haben Sie sich verzählt?« fragte er. »Das geht automatisch«, sagte der Angestellte. Arkadi las die Zahlen auf der Anzeige des Geräts: 7950. Fünfzehn Leinensäckchen waren bereits voll und fest verschnürt, fünf noch leer. »Wieviel ist das?« fragte er. »Vier Spielmarken für einen Dollar.« »Viermal … nun, ich bin nicht gerade gut im Kopfrechnen, scheint aber genug zu sein, um halbe-halbe zu machen.« Der Angestellte sah sich nach Hilfe um, und Arkadi sagte: »Nur ein kleiner Scherz. Beruhigen Sie sich.« Jaak saß am anderen Ende der Bar, lutschte Zuckerwürfel und sprach mit Julja, einer eleganten, in Kaschmir und Seide gekleideten Blondine. Eine Packung Rothmans und ein Exemplar von Elle lagen offen neben ihrem Espresso. Jaak schob einen Würfel über den Tisch, als Arkadi zu ihnen trat. »Die Bar nimmt nur harte Währung, keine Rubel.« »Ich lade euch zum Essen ein«, sagte Julja. »Wir bleiben sauber«, erwiderte Jaak. Sie lachte mit der Stimme einer Frau, die viel rauchte. »Ich erinnere mich, daß ich das auch schon mal von mir gesagt habe.«
Jaak und Julja waren früher verheiratet gewesen. Sie hatten sich sozusagen dienstlich kennengelernt und dann ineinander verliebt keineswegs ein Einzelfall bei dem Beruf, den beide ausübten. Sie hatte sich inzwischen verbessert. Oder er. Schwer zu sagen. Am Büffet lagen Sandwiches und Gebäck unter einer Reklame für spanischen Brandy aus. War der Zucker wohl aus kubanischem Zuckerrohr oder russischen Rüben hergestellt worden, fragte sich Arkadi. Er könnte sich kundig machen. Neben ihnen unterhielten sich Australier und Amerikaner mit monotoner Stimme. An den Tischen rundum buhlten Deutsche mit süßem Champagner um die Gunst der Prostituierten. »Wie sind sie, die Touristen?« fragte Arkadi Julja. »Meinst du ihre besonderen Vorlieben?« »Als Typen.« Sie ließ sich von ihm ihre Zigarette anzünden und atmete nachdenklich den Rauch ein. Mit einer langsamen Bewegung legte sie ihre langen Beine übereinander. »Ich persönlich habe mich auf Schweden spezialisiert. Sie sind kalt, aber sauber, und sie kommen regelmäßig wieder. Andere Mädchen kümmern sich um die Afrikaner. Da gibt es dann und wann einen Mord, aber im allgemeinen sind Afrikaner lieb und dankbar.« »Und die Amerikaner?« »Die Amerikaner sind alle ein bißchen verschüchtert, die Araber behaart und die Deutschen laut.« »Und wie steht’s mit den Russen?« Arkadi dachte an das, was Rudi einmal gesagt hatte: leidenschaftlich, melancholisch. »Russen? Mir tun die russischen Männer leid. Sie sind faul, zu nichts zu gebrauchen und ständig betrunken.« »Aber im Bett?« fragte Jaak. »Davon hab ich ja gesprochen«, sagte Julja. Sie sah sich um. »Es ist so billig hier. Hast du gewußt, daß schon fünfzehn Jahre alte Mädchen auf die Straße gehen?« fragte sie Arkadi. »Nachts kommen sie an die Zimmer, klopfen an die Türen. Ich verstehe nicht, warum Jaak mich gebeten hat herzukommen.« »Julja arbeitet im Savoy«, erklärte Jaak. Das Savoy war ein finnisches Unternehmen, einen Häuserblock vom KGB entfernt, das teuerste Hotel
in Moskau. »Das Savoy behauptet, daß es dort keine Prostituierten gibt«, sagte Arkadi. »Genau. Es ist Klasse. Im übrigen schätze ich das Wort Prostituierte nicht.« »Putana« war das Wort, mit dem die für harte Währung arbeitenden Luxusprostituierten gewöhnlich bezeichnet wurden, allerdings hatte Arkadi das Gefühl, das Julja das Wort auch nicht mögen würde. »Julja ist Sekretärin und spricht gleich mehrere Sprachen«, sagte Jaak. »Eine sehr gute überdies.« Ein Mann im Trainingsanzug stellte seine Sporttasche auf einen Stuhl, setzte sich und verlangte einen Cognac. Ein paar Sprints, ein kleiner Cognac - ein probates russisches Mittel, um nach einer durchhurten Nacht wieder auf die Beine zu kommen. Der Mann hatte das struppige Haar eines Tschetschenen, trug es allerdings hinten lang und an den Seiten kurz, mit einer orangerot gefärbten, lockigen Strähne. Die Tasche sah schwer aus. Arkadi beobachtete den Angestellten. »Er macht keinen glücklichen Eindruck. Rudi war sonst immer hier, wenn er die Spielmarken gezählt hat. Wenn aber Kim nun Rudi getötet hat - wer wird unseren Mann hier jetzt beschützen?« Jaak las aus seinem Notizbuch vor. »Nach Angaben des Hotels >haben die zehn durch die TransKom Services von Recreativos Franco S.A. geleasten Automaten einen durchschnittlichen Umsatz von etwa tausend Dollar pro Tag erzielt.< Nicht schlecht. >Die Spielmarken werden täglich gezählt und täglich mit den in den Automaten angebrachten Zählern verglichen. Diese Zähler sind fest verschlossen, nur die Spanier können sie öffnen und neu einstellen.Rotes Banner< läßt verlauten, daß sie zu einer Massenversammlung auf dem Puschkin-Platz aufgerufen hat. Obwohl die notwendigen Spezialeinheiten alarmiert worden sind, glauben Beobachter, daß die Regierung wieder einmal tatenlos zusehen wird, bis das Chaos derartige Ausmaße annimmt, daß sie mit der Entschuldigung, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, politische Gegner auf dem rechten wie dem linken Flügel beseitigen kann.« Die Anzeigenadel stand zwischen 14 und 16 auf der Mittelwellenskala, und Arkadi begriff, daß er Radio Liberty eingestellt hatte. Die Amerikaner betrieben zwei Propagandasender, die Voice of America und Radio Liberty. VOA, mit Amerikanern besetzt, war die butterweiche Stimme der Vernunft, Liberty dagegen hatte mit seinen russischen Emigranten und Abweichlern beträchtlich mehr Biß. Im Süden Moskaus
war eine Reihe von Störsendern errichtet worden, nur um den Empfang von Radio Liberty zu blockieren. Obwohl die Störsignale mittlerweile nicht mehr rund um die Uhr ausgestrahlt wurden, war dies das erste Mal, daß Arkadi den Sender wieder empfangen konnte. Gelassen sprach die Ansagerin über Aufstände in Taschkent und Baku, berichtete über neue Giftgasfunde in Georgien, weitere durch Tschernobyl verursachte Fälle von Schilddrüsenkrebs, Kämpfe an der iranischen Grenze, Überfälle in Nagorny-Karabach, islamische Demonstrationen in Turkestan, Bergarbeiterstreiks im Donez-Kohlenbecken, Eisenbahnerstreiks in Sibirien, eine Dürre in der Ukraine. Was den Rest der Welt betraf, so schien das übrige Osteuropa sein Rettungsboot immer noch weiter von der sinkenden Sowjetunion wegzurudern. Der einzige Trost war wohl, daß auch Inder, Pakistani, Iren, Engländer, Zulus und Buren in ihrem Teil der Welt dazu beitrugen, das Leben auf dieser Erde unerträglich werden zu lassen. Die Ansagerin schloß mit der Ankündigung, daß die nächsten Nachrichten in zwanzig Minuten beginnen würden. Jeder vernünftige Mann hätte in Depressionen verfallen müssen, aber Arkadi sah auf die Uhr. Er stand auf, sammelte seine Zigaretten ein und trank den nächsten Wodka ohne Saft. Die Programmlücke zwischen den Nachrichtensendungen wurde ausgefüllt durch einen Bericht über das Verschwinden des Aralsees. Die Bewässerung usbekischer Baumwollfelder hatte die Zuflüsse des Sees austrocknen lassen, so daß Tausende von Fischerbooten und Millionen von Fischen im Schlamm steckenblieben. Wie viele Länder konnten schon von sich behaupten, einen riesigen See vom Angesicht der Erde getilgt zu haben? Arkadi ging zum Waschbecken, um neues Wasser für die Gänseblümchen zu holen. Zur halben Stunde gab es nur einen Nachrichtenüberblick von einer Minute. Arkadi lauschte dem Gezwitscher belorussischer Volkslieder, bis zur vollen Stunde die nächste zehnminütige Nachrichtensendung begann. Der Inhalt hatte sich nicht verändert, es war die Stimme, die ihn faszinierte. Er legte seine Uhr auf den Tisch. Ihm fiel auf, daß seine Vorhänge aus Spitze waren. Natürlich wußte er, daß er Vorhänge an den Fenstern hatte, aber ein Mann vergißt derlei Feinheiten schnell und wird sich ihrer erst wieder bewußt, wenn er sich einmal ruhig hinsetzt.
Maschinell hergestellt, natürlich, aber hübsch, mit einem Blumenmuster, das sich blaß gegen den Himmel draußen abzeichnete. »Hier ist Irina Asanowa mit den Nachrichten«, sagte sie. Sie hatte also nicht wieder geheiratet oder jedenfalls ihren Namen beibehalten. Und ihre Stimme war voller und schärfer geworden, nicht mehr die eines Mädchens. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie über ein schneebedecktes Feld gelaufen und hatte zugleich gehen und bleiben wollen. Er hatte ihre Stimme so häufig gehört seit jenem ersten Verhör, als er befürchten mußte, sie sei gefaßt worden, später in psychiatrischen Anstalten, wo seine Erinnerung an sie der Grund seiner Behandlung war. Als er in Sibirien arbeitete, hatte er sich manchmal gefragt, ob sie noch lebte, überhaupt je gelebt hatte oder nur eine Illusion war. Er glaubte, daß er sie nie wieder sehen oder hören würde. Und doch hatte er immer erwartet, ihr Gesicht an der nächsten Ecke auftauchen zu sehen oder ihre Stimme am anderen Ende eines Raumes zu hören. Wie ein Mann mit krankem Herzen hatte er jeden Augenblick darauf gewartet, daß es aufhörte zu schlagen. Ihre Stimme klang gut, sie tat ihm wohl. Gegen Mitternacht, als sich das Programm zu wiederholen begann, schaltete er das Radio ab. Er rauchte eine letzte Zigarette am Fenster. Der Kirchturm leuchtete wie eine goldene Flamme unter dem grauen Bogen der Nacht.
Das Museum hatte die niedrige Decke und die bedrückende Atmosphäre einer Katakombe. Unbeleuchtete Dioramen reihten sich entlang der Wände wie verlassene Kapellen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saales standen, anstelle eines Altars, offene Kisten mit verwitterten Platten und staubigen Fliesen. Arkadi dachte daran, wie er vor zwanzig Jahren hiergewesen war, an die umschatteten Augen und die Grabesstimme des ältlichen Museumsführers, eines Hauptmanns, dessen einzige Aufgabe darin bestand, den Besuchern die glorreiche Vergangenheit und heilige Mission der Miliz nahezubringen. Er versuchte, das Licht in einem der Schaukästen anzuknipsen. Nichts. Der nächste Schalter funktionierte und erleuchtete eine verkleinerte Moskauer Straße um 1930 mit den wie Leichenwagen aussehenden Autos jener Zeit. Modellierte Männergestalten schritten gewichtig über die Szene, Frauen schlurften mit Einkaufstaschen einher, Jungen versteckten sich hinter Laternen - alle offensichtlich ihren normalen Beschäftigungen nachgehend, bis auf eine an einer Ecke lauernde Figur, die den Mantelkragen bis zur Hutkrempe hochgeschlagen hatte. »Könnt ihr den Geheimagenten finden?« hatte der Hauptmann stolz gefragt. Der jüngere Arkadi war mit den anderen Jungen seiner Klasse hergekommen, einer Bande kichernder Heuchler. »Nein«, antworteten sie im Chor mit unbewegten Gesichtern, wobei sie sich gegenseitig heimlich zublinzelten. Zwei weitere vergebliche Versuche, Licht zu schaffen, dann die Szene eines Mannes, der sich in ein Haus einschleicht und nach einem in der Diele hängenden Mantel greift. Im angrenzenden Wohnzimmer eine Gipsfamilie, gemütlich vor dem Radio sitzend. Der Erläuterungstext teilte mit, daß dieser »Meisterdieb« bei seiner Festnahme tausend Mäntel besaß. Ein Reichtum, wie man ihn sich kaum vorstellen konnte! »Könnt ihr mir sagen«, hatte der Hauptmann gefragt, »wie dieser Verbrecher die Mäntel fortgeschafft hat, ohne Verdacht zu erregen? Denkt nach, bevor ihr antwortet.« Zehn leere Gesichter starrten ihn an. »Er zog sie an.« Der Hauptmann blickte jedem in die Augen, um sicherzustellen, daß alle begriffen hatten, mit welchem Scharfsinn und Raffinement der Kriminelle vorgegangen war. »Er trug sie.«
Andere Bilder setzten die Verbrechensgeschichte in der Sowjetunion fort. Nicht sehr subtil, dachte Arkadi. Siehe die Fotos von hingemetzelten Kindern, siehe die Axt, siehe das Haar auf der Axt. Eine Darstellung ausgegrabener Leichen, ein Mörder mit einem durch lebenslangen Wodkakonsum halb weggefressenem Gesicht, eine weitere sorgfältig bewahrte Axt. Zwei Szenen vor allem waren geeignet, im Betrachter schieres Entsetzen aufsteigen zu lassen. Die eine war die eines Bankräubers, der zu seiner Flucht Lenins Wagen benutzte - eine ungeheure Blasphemie! Die andere zeigte einen Terroristen mit einer selbstgemachten Rakete, die Stalin um ein Haar verfehlt hatte. Wo liegt das Verbrechen, dachte Arkadi: im Versuch, Stalin zu töten, oder darin, ihn verfehlt zu haben? »Verlieren Sie sich nicht in der Vergangenheit«, sagte Rodionow, als er eintrat. Der Oberstaatsanwalt begleitet seine Warnung mit einem Lächeln. »Wir sind die Menschen der Zukunft, Renko. Wir alle, von jetzt an.« Der Oberstaatsanwalt war Arkadis Vorgesetzter, das allgegenwärtige Auge der Moskauer Gerichte, die lenkende Hand der Moskauer Ermittler. Überdies war Rodionow ein gewähltes Mitglied des Volkskongresses, das breitbrüstige Totem sowjetischer Demokratisierung auf allen Ebenen. Er hatte die Gestalt eines Bauarbeiters, die silberne Mähne eines Schauspielers und die weichen Hände eines Apparatschiks. Vor einigen Jahren noch war er nur einer der zahllosen ungehobelten Bürokraten gewesen, jetzt besaß er jene besondere Anmut, wie sie durch Auftritte vor der Kamera erworben wird, und eine durch höfliche Debatten geschulte Stimme. Als mache er zwei liebe Freunde miteinander bekannt, stellte er Arkadi General Penjagin vor, einen größeren, älteren Mann mit tiefliegenden, phlegmatischen Augen, der ein schwarzes Kreppband am Ärmel seiner blauen Sommeruniform trug. Der Chef des Kriminalamts war vor wenigen Tagen gestorben und Penjagin war zum Leiter aufgestiegen, aber obgleich er zwei Sterne auf seiner Achselklappe trug, war er offensichtlich nur der neue Bär im Zirkus, der seine Anweisungen von Rodionow empfing. Der zweite Begleiter des Oberstaatsanwalts war aus völlig anderem Holz geschnitzt, ein unbeschwert wirkender Mann, der eher einem Amerikaner als einem Russen glich.
Rodionow wandte sich mit leichter Verachtung von den Schaukästen ab und sagte zu Arkadi: »Penjagin und ich haben den Auftrag, das Archiv des Ministeriums auf den neuesten Stand zu bringen. Der ganze Plunder wandert auf den Müllhaufen und wird durch Computer ersetzt. Wir haben uns Interpol angeschlossen, da die Kriminellen immer grenzüberschreitender arbeiten. Wir müssen mit Phantasie vorgehen, kooperativ, ohne ideologische Scheuklappen. Stellen Sie sich vor, daß unsere Computer hier mit New York, Bonn und Tokio zusammenschaltbar werden. Sowjetische Vertreter nehmen bereits aktiv an Ermittlungen im Ausland teil.« »Dann wird uns niemand mehr entkommen«, sagte Arkadi. »Sie stehen den Aussichten nicht positiv gegenüber?« fragte Penjagin. Arkadi wollte nicht ungefällig erscheinen. Immerhin hatte er einmal einen Oberstaatsanwalt niedergeschossen, eine Tatsache, die seine Lage etwas heikel machte. Aber war er von den Aussichten begeistert? Die Welt in einer einzigen Kiste? »Sie haben doch schon früher mit den Amerikanern zusammengearbeitet«, erinnerte ihn Rodionow. »Wofür Sie teuer bezahlt haben. Wir alle haben dafür zahlen müssen. Das ist so, wenn man einen Fehler macht. Das Amt mußte während der kritischen Jahre auf Ihre Dienste verzichten. Ihre Rückkehr zu uns ist Teil eines Gesundungsprozesses, auf den wir alle stolz sind. Da dies Penjagins erster Tag bei uns ist, wollte ich ihm einen unserer Ermittler für nicht gerade alltägliche Fälle vorstellen.« »Ich habe gehört, daß Sie gewisse Bedingungen an Ihre Rückkehr nach Moskau geknüpft haben«, sagte Penjagin, »und daß man Ihnen gleich zwei Wagen zugeteilt hat.« Arkadi nickte. »Mit zehn Litern Benzin. Das reicht für eine kurze Verfolgung.« »Ihre eigenen Inspektoren, Ihre eigene Pathologin«, erinnerte Rodionow ihn. »Ich dachte, es wäre eine gute Idee, jemand aus der Pathologie zu haben, der den Toten nicht unbedingt in die Tasche greift.« Arkadi sah auf seine Uhr. Er hatte angenommen, daß sie das Museum verlassen würden, um den üblichen Konferenzsaal mit grünbezogenem Tisch und in zweiter Reihe sitzenden, eifrig mitschreibenden Sekretärinnen aufzusuchen.
»Es geht darum«, sagte Rodionow, »daß Renko darauf bestanden hat, unabhängig ermitteln zu können. Mit einem direkten Draht zu mir. Ich sehe ihn gewissermaßen als Kundschafter, der tätig wird, bevor die regulären Truppen eingreifen. Und je unabhängiger er operiert, desto wichtiger wird die Verbindung zwischen ihm und uns.« Er wandte sich wieder an Arkadi, und sein Ton wurde ernster. »Deswegen müssen wir den Fall Rosen besprechen.« »Ich habe noch keine Zeit gehabt, die Akte durchzusehen«, sagte Penjagin. Als Arkadi zögerte, sagte Rodionow: »Sie können völlig frei vor Albow reden. Dies ist ein offenes, demokratisches Gespräch.« »Rudik Abramowitsch Rosen.« Arkadi zitierte aus dem Gedächtnis. »1952 in Moskau geboren, die Eltern sind inzwischen verstorben. Die Abschlußprüfung in Mathematik an der Moskauer Universität mit Auszeichnung bestanden. Ein Onkel bei der jüdischen Mafia, die die Rennbahn kontrolliert. Während der Schulferien half der junge Rudi, die Quoten zu bestimmen. Militärdienst in Deutschland. Angeklagt, für die Amerikaner in Berlin Geld getauscht zu haben. Nicht überführt. Kehrte nach Moskau zurück. Kurier der Kommission für Kulturelle Belange der Arbeitenden Bevölkerung, wo er Haute-Couture-Kleider schwarz aus dem Wagen verkaufte. Transportleiter der Moskauer Treuhandgesellschaft der Mehl- und Schrotindustrie, wo er ganze Containerladungen verschob. Hatte bis gestern einen Souvenirladen in einem Hotel, von dem aus er eine Bar und Spielautomaten betrieb, die ihm harte Währung für seine Geldwechselei verschafften. Rudi profitierte sowohl von den Spielautomaten als auch von den Wechselgeschäften.« »Er hat Geld an die verschiedenen Mafia-Organisationen verliehen, stimmt’s?« »Sie haben zu viele Rubel«, sagte Arkadi. »Rudi hat ihnen gezeigt, wie sie ihr Geld investieren und in Dollar umtauschen können. Er war ihre Bank.« »Was ich nicht verstehe«, sagte Penjagin, »ist, was Sie und Ihre Leute jetzt machen, wo Rosen tot ist. Was war es, ein Molotow-Cocktail? Warum überlassen wir Rosens Mörder nicht einer Routine-Ermittlung?« Penjagins Vorgänger im Amt war einer der seltenen Vertreter seiner Art
gewesen, die aus den Rängen der Kripo aufgestiegen waren. Er hätte den Sachverhalt gleich verstanden. Das einzige, was Arkadi von Penjagin wußte, war, daß er Politoffizier war und praktisch keine Einsatzerfahrung besaß. Er versuchte, ihn sanft zu belehren. »Seit Rudi eingewilligt hatte, meinen Sender und mein Aufnahmegerät in seiner Geldkassette unterzubringen, war ich für ihn verantwortlich. So ist es nun mal. Ich hab ihm gesagt, daß ich ihn schützen könnte, daß er einer meiner Leute sei. Statt dessen hab ich zugelassen, daß er getötet wurde.« »Warum hat er eingewilligt, den Sender bei sich zu tragen?« Albow sprach zum erstenmal. Sein Russisch war perfekt. »Rudi hatte eine Phobie. Er war Jude, hatte Übergewicht, und während seiner Armeezeit hatten sich einige Unteroffiziere zusammengetan, ihn in einen mit Abfall gefüllten Sarg gesteckt und eine Nacht darin liegen lassen. Seitdem hatte er Angst, in Kontakt mit Schmutz oder Bazillen zu kommen. Ich hatte genug gegen ihn in der Hand, um ihn für mehrere Jahre in ein Arbeitslager zu bringen, und er glaubte, das nicht überleben zu können. Ich habe ihm damit gedroht, und deshalb hat er meinen Sender übernommen.« »Was ist dann geschehen?« fragte Albow. »Das Milizgerät funktionierte nicht, wie immer. Ich bin also in Rudis Wagen gestiegen und hab an dem Sender herumgebastelt, bis er wieder arbeitete. Fünf Minuten später war alles verbrannt.« »Hat Sie da jemand zusammen mit Rudi gesehen?« fragte Rodionow. »Jeder hat mich zusammen mit Rudi gesehen. Ich habe allerdings angenommen, daß man mich nicht erkennen würde.« »Wußte Kim von Ihnen und Rosen?« fragte Albow. Arkadi revidierte seine Ansicht. Auch wenn Albow die Lässigkeit und natürliche Selbstsicherheit eines Amerikaners hatte, war er doch Russe. Etwa fünfunddreißig Jahre alt, mit dunkelbraunem Haar, seelenvollen schwarzen Augen, schwarzem Anzug, roter Krawatte und der Nachsicht eines Reisenden, der sein Lager mit Barbaren teilt. »Nein«, sagte Arkadi. »Wenigstens nehme ich es nicht an.« »Was ist mit Kim?« fragte Rodionow. »Michail Senowitsch Kim. Koreaner, zweiundzwanzig Jahre alt. Reformierte Schule, Minderheitenkolonie. Militärdienst bei den Pionieren. Ljubertsi-Mafia, Autodiebstahl und Körperverletzung. Fährt
eine Suzuki, aber wir vermuten, daß er notfalls jedes Motorrad nimmt, das irgendwo auf der Straße steht. Und natürlich trägt er einen Helm. Wer kann also wissen, wer er ist? Wir können schließlich nicht jeden Motorradfahrer in Moskau anhalten. Ein Zeuge hat Kim als Täter identifiziert, und wir suchen ihn, doch wir suchen auch nach anderen Zeugen.« »Aber das sind alles Kriminelle«, sagte Penjagin. »Die besten Zeugen wären wahrscheinlich die Mörder selbst.« »Das ist nun mal gewöhnlich so«, sagte Arkadi. Rodionow zuckte mit den Achseln. »Die ganze Geschichte ist typisch für einen Anschlag der Tschetschenen.« »Eigentlich«, sagte Arkadi, »neigen Tschetschenen eher dazu, ihre Angelegenheiten mit dem Messer auszutragen. Ich glaube übrigens nicht, daß es nur darum ging, Rudi zu töten. Die Bomben haben seinen Wagen zerstört, der eine durchcomputerisierte mobile Bank war, vollgestopft mit Disketten und allen möglichen Unterlagen. Deshalb, glaube ich, haben sie auch zwei Bomben benutzt - um ganz sicherzugehen. Sie haben gute Arbeit geleistet. Jetzt ist alles weg, zusammen mit Rudi.« »Seine Feinde können froh sein«, sagte Rodionow. »Es gab auf den Disketten wahrscheinlich mehr belastendes Material gegen seine Freunde als gegen seine Feinde«, sagte Arkadi. Albow sagte: »Man könnte meinen, Sie hätten Rosen in Ihr Herz geschlossen.« »Er ist bei lebendigem Leibe verbrannt. Sagen wir, daß ich Mitleid mit ihm habe.« »Würden Sie sich als einen Ermittler bezeichnen, der ein ungewöhnlich weiches Herz hat?« »Jeder arbeitet auf seine Weise.« »Wie geht’s Ihrem Vater?« Arkadi dachte einen Augenblick nach - nicht, weil er um eine Antwort verlegen gewesen wäre, sondern um sich auf den plötzlichen Wechsel des Themas einzustellen. »Nicht gut. Warum fragen Sie?« »Er ist ein bedeutender Mann«, sagte Albow, »ein Held. Berühmter als Sie, wenn ich so sagen darf. Es interessiert mich einfach.« »Er ist alt.«
»Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?« »Wenn ich ihn sehe, werde ich ihm sagen, daß Sie nach ihm gefragt haben.« Albows Gesprächsführung hatte etwas von der langsamen, aber dennoch zielgerichteten Bewegung einer Pythonschlange an sich. Arkadi versuchte, sich seinem Rhythmus anzupassen. »Wenn er alt und krank ist, sollten Sie ihn häufiger sehen, meinen Sie nicht?« fragte Albow. »Sie suchen sich Ihre Mitarbeiter selbst aus?« »Ja«, antwortete Arkadi. »Kuusnets ist ein eigenartiger Name. Für einen Inspektor, meine ich.« »Jaak Kuusnets ist mein bester Mann.« »Es gibt nicht viele Esten, die bei der Kripo in Moskau sind. Er muß Ihnen ausgesprochen dankbar und ergeben sein. Esten, Koreaner, Juden, es gibt kaum einen Russen in Ihrem Fall. Viele Leute sind freilich der Meinung, das sei überhaupt das Problem mit diesem Land.« Albow hatte den sinnenden Blick eines Buddhas. Jetzt richtete er ihn auf den Oberstaatsanwalt und den General. »Meine Herren, Ihr Ermittler scheint sowohl die richtigen Leute als auch eine feste Vorstellung von dem zu haben, was er unternehmen will. Die Zeit erfordert, daß Sie seine Initiative unterstützen und nicht behindern. Ich hoffe, daß wir mit Renko nicht wieder den gleichen Fehler machen, den wir schon einmal gemacht haben.« Rodionow kannte den Unterschied zwischen einem grünen und einem roten Licht. »Mein Büro steht natürlich voll hinter Renko.« »Ich kann nur wiederholen, daß die Miliz ihren Ermittler uneingeschränkt unterstützt«, sagte Penjagin. »Sie gehören zum Stab des Oberstaatsanwalts?« fragte Arkadi Albow. »Nein.« »Das hätte mich auch gewundert.« Arkadi dachte an den Anzug und das selbstsichere Auftreten des Mannes. »Staatssicherheit oder Innenministerium?« »Ich bin Journalist.« »Sie haben einen Journalisten zu diesem Treffen eingeladen?« fragte Arkadi Rodionow. »Mein direkter Draht zu Ihnen schließt einen Journalisten ein?«
»Einen internationalen Journalisten«, sagte Rodionow. »Ich lege Wert auf differenzierte Meinungen.« »Vergessen Sie nicht, daß der Oberstaatsanwalt auch Mitglied des Volkskongresses ist«, sagte Albow. »Wir müssen jetzt an die Wahlen denken.« »Das ist nun wirklich eine differenzierte Meinung«, sagte Arkadi. »Die Hauptsache ist, daß ich immer zu seinen Bewunderern gehört habe. Wir stehen an einem Wendepunkt unserer Geschichte. Dies ist das Paris, das Petrograd der Revolution. Wenn intelligente Männer nicht zusammenarbeiten können, welche Hoffnung gibt es dann für unsere Zukunft?« Arkadi staunte selbst noch, als sie längst wieder gegangen waren. Vielleicht tauchte Rodionow ja das nächste Mal mit dem Redaktionsstab der Iswestija oder einem Cartoonisten des Krokodil auf. Und was würde aus den Kisten und Dioramen des Miliz-Museums werden? Würden sie hier wirklich ein Computerzentrum einrichten? Und was geschah dann mit all den blutigen Äxten, Messern und abgetragenen Mänteln der sowjetischen Kriminalgeschichte? Würden sie im Magazin eingelagert werden? Natürlich, die Bürokratie bewahrt alles auf. Warum? Weil wir es vielleicht wieder einmal brauchen, weißt du. Falls es keine Zukunft gibt, ist da immer noch die Vergangenheit.
Jaak saß am Steuer und raste über die Kreuzungen wie ein Klaviervirtuose über die Tasten. »Trau weder Rodionow noch seinen Freunden«, sagte er zu Arkadi, während er einen anderen Wagen zur Seite drängte. »Du magst wohl niemanden aus dem Büro des Oberstaatsanwalts, was?« »Generalstaatsanwälte sind Scheißpolitiker. Sind sie immer schon gewesen. Ist nicht beleidigend gemeint.« Jaak warf ihm einen kurzen Blick zu. »Sie sind in der Partei, selbst wenn sie aus ihr ausgetreten und Volksdeputierte geworden sind. In ihrem Herzen bleiben sie Parteimitglieder. Du bist nicht aus der Partei ausgetreten, du bist ausgeschlossen worden, deswegen traue ich dir. Die meisten Leute des Oberstaatsanwalts verlassen ihr Büro niemals, sie kleben an ihrem Schreibtisch. Du gehst raus. Natürlich würdest du ohne mich nicht weit kommen.« »Danke.« Eine Hand am Steuer, gab Jaak Arkadi eine Liste mit Nummern und Namen. »Die Nummernschilder vom Schwarzmarkt. Der Laster, der Rudi am nächsten stand, ist auf das Lenin-Pfad-Kollektiv zugelassen. Er sollte Zuckerrüben transportieren, glaube ich, und keine Videorecorder. Dann vier Tschetschenen-Wagen. Der Mercedes ist auf den Namen Apollonia Gubenko eingetragen.« »Apollonia Gubenko.« Arkadi ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Klingt rund und voll.« »Borjas Frau«, sagte Jaak. »Natürlich hat Borja selbst einen Mercedes.« Sie überholten einen Lada, dessen Windschutzscheibe mit Pappe zugeklebt war. Windschutzscheiben waren schwer erhältlich. Der Fahrer steuerte den Wagen, indem er den Kopf aus dem Seitenfenster streckte. »Jaak, was macht ein Este in Moskau?« frage Arkadi. »Warum verteidigst du nicht dein geliebtes Tallinn vor der Roten Armee?« »Hör mit diesem Scheiß auf«, sagte Jaak. »Ich war in der Roten Armee. Ich bin seit fünfzehn Jahren nicht mehr in Tallinn gewesen. Ich weiß nur, daß die Esten besser leben und sich mehr beklagen als jeder andere in der Sowjetunion. Ich werde meinen Namen ändern.« »Nenn dich Apollo. Aber deinen Akzent wirst du trotzdem nicht los, diese hübschen baltischen Schnalzlaute.« »Zum Teufel mit meinem Akzent. Ich hasse dieses Thema.«
Jaak versuchte, sich zu beruhigen. »Aber was ich dir noch berichten wollte - wir haben einen Anruf von dem Trainer des Komsomol Roter Stern bekommen, der behauptet, daß Rudi den Klub so tatkräftig unterstützt hat und die Boxer ihm einen ihrer Pokale geschenkt haben. Der Trainer meint, er müsse sich unter Rudis persönlichen Effekten befinden. Ein Schwachkopf, aber beharrlich.« Als sie sich dem Kalinin-Prospekt näherten, versuchte ein Bus, vor Jaak einzuscheren. Es war ein italienischer Reisebus mit hohen Fenstern, barocken Chromverzierungen und zwei Reihen stumpfer Gesichter - eine mediterrane Trireme, dachte Arkadi. Der Schiguli beschleunigte und stieß dabei eine schwarze Rauchwolke aus. Kurz vor dem Bus bremste Jaak dann leicht ab, um ihm den Schwung zu nehmen, und gab gleich anschließend wieder Gas, wobei er triumphierend lachte. »Der Homo sovieticus gewinnt mal wieder!« An der Tankstelle stellten sich Arkadi und Jaak an zwei verschiedenen Schlangen an, um Piroggen und Mineralwasser zu kaufen. Wie eine Laborantin mit weißem Kittel und kleinem Hut bekleidet, wedelte die Verkäuferin Fliegen von ihrer Ware. Arkadi erinnerte sich an den Rat eines Freundes, der Pilzsammler war - die Finger von denen zu lassen, die von toten Fliegen umgeben waren. Er nahm sich vor, darauf zu achten, wenn er den Ladentisch erreicht hatte. Eine weit längere Schlange, ausschließlich aus Männern bestehend, stand vor einem Wodkaladen an der Ecke. Betrunkene lehnten aneinander wie zerbrochene Pfähle in einem Zaun. Ihre Mäntel waren zerlumpt und grau, die Gesichter rot und blau gefleckt, und sie umklammerten ihre leeren Flaschen in der traurigen Gewißheit, daß nur im Austausch gegen ihre leere eine neue Flasche über den Ladentisch wandern würde. Sie mußte außerdem die richtige Größe haben: nicht zu klein, nicht zu groß. Dann mußten sie an der Tür postierte Milizionäre passieren, die die Bezugsscheine darauf prüften, ob nicht Ortsfremde Wodka zu kaufen versuchten, der nur für Moskau bestimmt war. Während Arkadi zuschaute, verließ ein zufriedener Kunde den Laden, seine Flasche wie ein rohes Ei an der Brust bergend, und die Schlange rückte weiter vor. Arkadis Schlange wurde dadurch aufgehalten, daß zwei Arten Piroggen zur Wahl standen: Fleisch- und Krautpiroggen. Da die Füllung nicht mehr war als ein Verdacht - ein zarter soupqon von Hackfleisch oder
gedämpftem Kohl, eine schmale Linie im Teig, zunächst in siedendes Öl getaucht und dann zum Abkühlen beiseite gestellt, um sich zu verfestigen -, war es eine Wahl, die nicht nur Hunger, sondern darüber hinaus einen feinen Gaumen erforderte. Auch die Wodka-Schlange war stehengeblieben, aufgehalten durch einen Kunden, der auf dem Weg in den Laden ohnmächtig geworden war und sein Leergut fallen gelassen hatte. Die Flasche klirrte, als sie in den Rinnstein rollte. Arkadi fragte sich, was Irina wohl machte. Den ganzen Morgen hatte er sich nicht eingestehen wollen, daß er an sie dachte. Jetzt, bei dem Klirren der Flasche, verwirrt durch das Ungewöhnliche des Geräusches, stellte er sich vor, wie sie zu Mittag aß, nicht irgendwo auf der Straße, sondern in einer westlichen, chromglänzenden Cafeteria mit hellerleuchteten Spiegeln und Teewagen, die mit weißen Porzellantassen leise durch die Gänge zwischen den Tischen rollten. »Fleisch oder Kraut?« Er brauchte einen Augenblick, ehe er in die Wirklichkeit zurückfand. »Fleisch? Kraut?« wiederholte die Verkäuferin und hielt zwei völlig gleich aussehende Piroggen hoch. Ihr Gesicht war rund und grob, die Augen umgeben von kleinen Fältchen. »Nun machen Sie schon, die anderen wissen doch auch, was sie wollen.« »Fleisch«, sagte Arkadi. »Und Kraut.« Sie grunzte, eher Unentschlossenheit als Appetit spürend. Vielleicht war das sein Problem, dachte Arkadi, Mangel an Appetit. Sie gab im das Wechselgeld heraus und reichte ihm die beiden Piroggen in vor Fett triefenden Papierservietten. Er blickte auf den Ladentisch. Keine toten Fliegen, aber die herumsummenden hatten etwas zutiefst Deprimierendes. »Wollen Sie sie nun oder nicht?« fragte die Verkäuferin. Arkadi sah immer noch Irina vor sich, fühlte den warmen Druck ihrer Haut und roch nicht das ranzige Fett, sondern die Sauberkeit raschelnder Laken. Waren es progressive Stadien des Wahns, oder war es Irina, die da tatsächlich aus Vergessenheit und Unbewußtem in die bewußten Bereiche seines Geistes vordrang? Als die Verkäuferin sich über den Ladentisch beugte, fand eine Verwandlung statt. In der Mitte ihres Gesichts erschien das, was
übriggeblieben war von der Schüchternheit des einstmals jungen Mädchens, von den traurigen, zwischen den Wangenknochen verlorenen Augen, und sie zuckte, wie um Verzeihung bittend, mit den runden Schultern. »Mampfen Sie sie weg, und denken Sie nicht weiter darüber nach. Ich kann Ihnen nichts Besseres bieten.« »Ich weiß.« Als Jaak mit dem Mineralwasser kam, drängte Arkadi ihm beide Piroggen auf. »Nein, danke.« Jaak wich zurück. »Früher hab ich die Dinger mal ganz gern gemocht, bevor ich für dich zu arbeiten begann. Du hast sie mir verdorben.« Hinter der langen Schaufensterfront eines Geschäftes in der Butyrski-Straße, das Damenunterwäsche und Spitzen im Angebot hatte, stand ein Gebäude mit vergitterten Fenstern und einer Auffahrt, die an einem Wachthäuschen vorbei zu einer Eingangstreppe führte. Drinnen gab ein Beamter Arkadi und Jaak je ein numeriertes Aluminiumschildchen, und sie folgten einem Wärter über eine gummigenoppte Treppe hinunter in einen stuckverkleideten Flur, der von Glühbirnen in Drahtkörben erleuchtet wurde. Ein einziger Mann war je aus dem Butyrski-Gefängnis entkommen, und das war Dserschinski, der Gründer des KGB. Er hatte seine Wärter bestochen, damals bedeutete der Rubel noch etwas. »Name?« fragte der Wärter. Eine Stimme hinter der Zellentür sagte: »Oberljan.« »Anklage?« »Spekulation, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Weigerung, mit den entsprechenden Organen zusammenzuarbeiten - ach, verdammt noch mal, ich weiß es nicht.« Die Tür öffnete sich. Gari stand mit entblößtem Oberkörper in der Zelle, das Hemd wie einen Turban um den Kopf gewickelt. Mit seiner gebrochenen Nase und der tätowierten Brust sah er eher aus wie ein seit vielen Jahren auf einer verlassenen Insel ausgesetzter Pirat, nicht wie ein Mann, der eine Nacht im Gefängnis verbracht hatte. »Spekulation, Widerstand und Verweigerung. Ein großartiger Zeuge«, sagte Jaak.
Das Vernehmungszimmer war von klösterlicher Einfachheit: hölzerne Stühle, ein Metalltisch, ein Bild von Lenin. Arkadi füllte das Vernehmungsprotokoll aus - Datum, Ort, seinen eigenen Namen: »Ermittler besonders wichtiger Fälle im Auftrage des Oberstaatsanwalts der UdSSR verhörte Oberljan, Gari Semjonowitsch, geboren am 3.11.1960 in Moskau, Paßnummer RS AOB 425807, armenischer Nationalität …« »Versteht sich«, sagte Jaak. Arkadi fuhr fort: »Ausbildung und Spezialgebiete?« »Medizinische Industrie.« »Gehirnchirurg«, sagte Jaak. Unverheiratet, Krankenpfleger, kein Parteimitglied, vorbestraft wegen Körperverletzung und Drogenhandel. »Auszeichnungen?« fragte Arkadi. Jaak und Gari lachten. »Das ist die nächste Frage im Protokoll«, sagte Arkadi. »Wahrscheinlich in Erwartung einer besseren Zukunft.« Nachdem er die genaue Zeit eingetragen hatte, begann das Verhör, ausgehend von den Angaben, die Jaak bereits am Ort des Verbrechens gemacht hatte. Gari hatte sich von Rudis Wagen entfernt, als er sah, wie der in die Luft flog. Dann hatte Kim die zweite Bombe geworfen. »Du hast dich von Rudis Wagen entfernt?« fragte Arkadi. »Wie konntest du dann alles sehen?« »Ich bin stehengeblieben, um nachzudenken.« »Du bist stehengeblieben, um nachzudenken?« fragte Jaak. »Worüber?« Als Gari schwieg, fragte Arkadi: »Hat Rudi dir deine Forints und Zlotys gewechselt?« »Nein.« Garis Gesicht verdunkelte sich. »Da bist du sicher ganz schön wütend gewesen.« »Ich hätte ihm beinahe seinen fetten Hals umgedreht.« »Wenn Kim nicht gewesen wäre?« »Ja. Aber dann hat Kim es für mich erledigt.« Gari strahlte. Arkadi machte ein »X« auf ein Blatt Papier und reichte Gari den Kugelschreiber. »Das hier ist Rudis Wagen. Zeichne ein, wo du gestanden hast, und dann, wen du sonst noch gesehen hast.« Konzentriert zeichnete Gari ein Strichmännchen mit zittrigen Gliedern.
Einen Kasten mit Rädern: »Laster mit elektronischen Geräten.« Zwischen sich selbst und Rudi eine eingeschwärzte Figur: »Kim.« Einen Kasten mit einem Kreuz: »Krankenwagen.« Noch einen Kasten: »Vielleicht ein Lieferwagen.« Linien mit Pfeilen: »Zigeuner.« Kleinere Vierecke mit Rädern: »Tschetschenen-Wagen.« »Ich erinnere mich an einen Mercedes«, sagte Jaak. »Die waren bereits fort.« »Die?« fragte Arkadi. »Wer waren die?« »Ein Fahrer, und der zweite war eine Frau.« »Kannst du sie zeichnen?« Gari zeichnete eine Gestalt mit großem Busen, hohen Hacken und gelocktem Haar. »Vielleicht blond. Ich weiß, daß sie ziemlich was in der Bluse hatte.« »Ein wirklich aufmerksamer Beobachter«, sagte Jaak. »Du hast sie also auch außerhalb des Wagens gesehen?« sagte Arkadi. »Ja, als sie von Rudi kam.« Arkadi drehte das Blatt in verschiedene Richtungen. »Gute Zeichnung.« Gari nickte. Es stimmte. Mit seinem blau tätowierten Körper und seinem eingeschlagenen Gesicht sah Gari aus wie das Strichmännchen auf dem Papier, durch das Bild etwas menschlicher geworden.
Der Markt am Südhafen wurde durch den ProletariatProspekt und eine Schleife der Moskwa begrenzt. Bestellungen für Neuwagen wurden in einer weißen Marmorhalle angenommen. Niemand ging hinein - es gab keine Neuwagen. Davor hatten Männer Pappe auf dem Boden ausgebreitet, um Siebzehnundvier zu spielen. An den Bauzäunen hingen Zettel mit Angeboten: »Habe Reifen in gutem Zustand für 1985er Schigulis«, und Anfragen: »Suche Keilriemen für 64er Peugeot«. Jaak notierte sich für alle Fälle die Nummer für die Reifen. Am Ende des Zauns stand eine Reihe gebrauchter Schigulis und Saporoschets, deutsche Trabants mit Zweitaktmotoren und italienische Fiats, die so rostig waren wie Schwerter aus dem klassischen Altertum. Käufer gingen vorbei, begutachteten Reifen, Kilometerstand und Polster und ließen sich mit einer Taschenlampe auf die Knie nieder, um zu sehen, ob der Motor Öl verlor. Jeder war ein Fachmann. Selbst Arkadi wußte, daß ein im fernen Ischewsk gebauter Moskwitsch einem in Moskau gebauten Moskwitsch überlegen und nur an den Insignien auf dem Kühlergrill als solcher zu erkennen war. Rund um die Wagen standen Tschetschenen in Trainingsanzügen, dunkle, untersetzte Männer mit niedriger Stirn und aufmerksamen Blicken. Jeder betrog hier. Die Wagenverkäufer gingen zu den hölzernen Verschlagen der Gutachter, um zu erfahren, welchen Preis sie - je nach Modell, Baujahr und Zustand verlangen konnten. Auf diesen Preis dann mußten sie Steuern entrichten, allerdings hatte er keine Ähnlichkeit mit dem, was tatsächlich vom Käufer gezahlt wurde. Jeder Käufer, Verkäufer und Gutachter - wußte, daß der wirkliche Preis dreimal höher lag. Die Tschetschenen betrogen auf die verschlagenste Weise. Wenn ein Tschetschene erst einmal die Wagenpapiere in der Hand hatte, zahlte er nur den offiziellen Preis, und der Verkäufer hatte nicht die mindeste Chance, den Rest seines Geldes einzutreiben. Ebensogut hätte er einem wilden Wolf einen Knochen entreißen können. Natürlich verkauften die Tschetschenen den Wagen dann sofort zum vollen Preis weiter. Der Stamm machte ein Vermögen im Südhafen. Nicht bei jedem Verkauf das hätte zur Folge gehabt, daß keine neuen Wagen mehr auf den Markt gekommen wären -, aber bei jedem zweiten oder dritten. Die Tschetschenen beherrschten den Markt wie ein ererbtes Stück Land. Jaak und Arkadi blieben etwa in der Mitte der Autoreihe stehen, und
Jaak wies mit einem Kopfnicken auf einen allein stehenden Wagen fast am Ende. Es war eine alte, schwarze Tschaika-Limousine, die wohl einmal einem Mitglied der Regierung gehört hatte, mit einer geschwungenen Stoßstange aus spiegelblank poliertem Chrom. Die Seitenfenster der Rücksitze waren mit Vorhängen verhängt. »Scheißaraber«, sagte Jaak. »Das sind genausowenig Araber, wie du einer bist«, sagte Arkadi. »Ich dachte, du hättest keine Vorurteile. Mahmud ist ein alter Mann.« »Ich hoffe, er ist noch kräftig genug, um dir seine Schädelsammlung zu zeigen.« Arkadi ging allein weiter. Der letzte zum Verkauf angebotene Wagen war ein Lada, der aussah, als wäre er zum Abwracken auf den Markt geschleppt worden. Zwei junge Tschetschenen mit Tennistaschen hielten Arkadi auf und fragten ihn, wer er sei und wohin er wolle. Als er Mahmuds Namen nannte, brachten sie ihn zu dem schrottreifen Lada, drängten ihn auf den Rücksitz, tasteten Arme, Beine und seinen Körper nach einer Schußwaffe oder einem Draht ab und befahlen ihm zu warten. Einer von ihnen ging hinüber zum Tschaika, der andere setzte sich auf den Beifahrersitz, öffnete seine Tasche und drehte sich um. Ein Gewehrlauf erschien zwischen den beiden Vordersitzen, die Mündung auf Arkadis Schoß gerichtet. Es handelte sich um einen nagelneuen »Bär«-Karabiner mit abgesägtem Lauf. Die beiden Sonnenblenden des Wagens waren mit Perlen gesäumt, das Armaturenbrett mit Fotos von Weintrauben und Moscheen sowie mit Abziehbildern von AC/DC und Pink Floyd geschmückt. Jetzt setzte sich ein älterer Tschetschene hinters Steuer, ohne Arkadi weiter zu beachten, und öffnete einen Koran, aus dem er mit monotoner Stimme laut vorlas. Am kleinen Finger beider Hände trug er einen schweren goldenen Ring. Ein zweiter Tschetschene setzte sich mit einem in Papier gewickelten Schaschlikspieß neben Arkadi und reichte allen, auch Arkadi, ein Stück Fleisch - nicht gerade freundlich, sondern eher so, als sei er ungebetener Gast. Das einzige, was denen noch fehlt, dachte Arkadi, sind Schnauzbarte und Patronengürtel. Der Lada stand mit dem Heck zum Markt, und im Rückspiegel konnte Arkadi Jaak sehen, wie er verschiedene Wagen prüfte. Tschetschenen haben nichts mit Arabern zu tun. Tschetschenen sind
Tataren, ein westlicher Ableger der Goldenen Horde, die einst die Bergfeste des Kaukasus besiedelte. Arkadi betrachtete die Postkarten auf dem Armaturenbrett. Die Stadt mit den Moscheen war ihre Hauptstadt Grosni, wie in »Iwan Grosni«, Iwan dem Schrecklichen. Hatte es die Seele der Tschetschenen womöglich geschädigt, mit so einem Namen aufzuwachsen? Endlich kehrte der erste Tschetschene in Begleitung eines Jungen zurück, der nicht viel größer als ein Jockey war. Er hatte ein herzförmiges Gesicht mit geröteter Haut und Augen, die vor Ehrgeiz brannten. Er langte in Arkadis Tasche, zog seinen Ausweis hervor, las ihn und schob ihn wieder zurück. Zu dem Mann mit dem Gewehr sagte er: »Er hat einen Oberstaatsanwalt getötet.« Als Arkadi aus dem Wagen stieg, wurde er mit gewissem Respekt behandelt. Arkadi folgte dem Jungen zu dem Tschaika, dessen Rücktür für ihn geöffnet wurde. Eine Hand packte ihn am Kragen und zog ihn hinein. Die alten, für hohe Funktionäre gebauten Tschaikas waren mit verschwenderischem Pomp ausgestattet: gepolsterte Deckenverkleidungen, riesige Aschenbecher, üppige Sessel mit Kordpaspelierungen und selbstverständlich eine Klimaanlage. Reichlich Raum für den Jungen und den Fahrer auf den Vordersitzen und Mahmud und Arkadi hinten. Zweifellos schußsichere Scheiben, dachte Arkadi. Er hatte Bilder von den mumifizierten Gestalten gesehen, die man aus der Asche von Pompeji gegrben hat. Sie sahen genau aus wie Mahmud, gebeugt und hager, ohne Wimpern und Augenbrauen, die Haut wie graues Pergament. Selbst seine Stimme klang verdorrt. Er drehte sich steif um, wie in einem Scharnier, und hielt seinen Besucher auf Armlänge von sich entfernt, um ihn aus kleinen, teerschwarzen Augen zu mustern. »Entschuldigen Sie«, sagte Mahmud. »Ich hatte diese Operation: das Wunder der sowjetischen Wissenschaft. Sie fixieren einem die Augen, daß man keine Brille mehr zu tragen braucht. So was wird sonst nirgendwo auf der Welt gemacht. Was sie einem allerdings nicht sagen, ist, daß man danach alles nur noch aus einer Entfernung sieht. Der Rest der Welt verschwimmt.« »Was haben Sie gemacht?« fragte Arkadi. »Ich hätte den Arzt umbringen können. Ich meine, ich hätte ihn wirklich
umbringen können. Aber dann habe ich darüber nachgedacht. Warum hatte ich mich operieren lassen? Aus Eitelkeit. Dabei bin ich neunzig Jahre alt. Ich habe es mir eine Lehre sein lassen. Gott sei Dank bin ich nicht impotent.« Er hielt Arkadi immer noch fest. »So kann ich Sie erkennen. Sie sehen nicht gut aus.« »Ich brauche Ihren Rat.« »Ich glaube, Sie brauchen mehr als nur einen Rat. Ich habe Sie von meinen Leuten aufhalten lassen, um vorher ein paar Erkundigungen über Sie einzuziehen. Ich bin gern gut informiert. Das Leben ist voller Überraschungen. Ich bin in der Roten Armee, der Weißen Armee und der deutschen Wehrmacht gewesen. Nichts läßt sich voraussehen. Wie ich höre, waren Sie Chefinspektor, danach Sträfling und sind jetzt wieder Ermittler. In Ihrem Leben scheint es wirrer als in meinem zuzugehen.« »Durchaus möglich.« »Ein ungewöhnlicher Name. Sind Sie mit Renko, dem Verrückten aus dem Krieg, verwandt?« »Ja.« »Sie haben unterschiedliche Augen. In dem einen sehe ich einen Träumer und im anderen einen Narren. Wissen Sie, ich bin jetzt so alt, daß ich alles wie zum zweitenmal erlebe, und ich liebe das Leben. Sonst wird man verrückt. Das Rauchen habe ich vor zwei Jahren aufgegeben, wegen der Lungen. Man muß eine positive Einstellung haben, um das zu tun. Rauchen Sie?« »Ja.« »Die Russen sind eine pessimistische Rasse. Tschetschenen sind anders.« »So sagt man.« Mahmud lächelte. Seine Zähne wirkten übergroß wie die eines Hundes. »Russen rauchen, Tschetschenen brennen.« »Rudi Rosen ist verbrannt.« Für sein Alter änderte Mahmud seinen Gesichtsausdruck überraschend schnell. »Er und sein Geld. Ich habe es gehört.« »Sie sind dabeigewesen«, sagte Arkadi. Der Fahrer drehte sich um. Obgleich er ziemlich groß war, war er kaum so alt wie der Junge neben ihm, mit Pickeln an den Mundwinkeln, lang über den Kragen fallenden, an den Seiten kurzgeschnittenen Haaren und
einzelnen orangeroten Strähnen. Der Sportler aus der Bar des Intourist. Mahmud sagte: »Das ist mein Enkel Ali. Der andere ist sein Bruder Beno.« »Nette Familie.« »Ali liebt mich sehr, deshalb hört er nicht gern derartige Verdächtigungen.« »Das ist keine Verdächtigung«, sagte Arkadi. »Ich war auch da. Aber vielleicht sind wir ja beide unschuldig.« »Ich war zu Hause und habe geschlafen. Auf Anordnung meines Arztes.« »Was, meinen Sie, ist mit Rudi passiert?« »Bei all den Medikamenten, die man mir gibt, und den Sauerstoffschläuchen sehe ich aus wie ein Kosmonaut und schlafe wie ein Baby.« »Was ist mit Rudi passiert?« »Meine Meinung? Rudi war Jude, und Juden glauben, sie könnten ihr Mahl mit dem Teufel teilen, ohne daß ihnen die Nase abgebissen wird. Vielleicht kannte Rudi zu viele Teufel.« An sechs Tagen der Woche hatten Rudi und Mahmud zusammen Mokka getrunken, während sie um Wechselkurse feilschten. Arkadi überlegte, wie der dicke Rudi mit dem knochendürren Mahmud an einem Tisch gesessen hatte, und fragte sich, wer da wohl wen verspeist hatte. »Sie waren der einzige, vor dem er Angst hatte.« Mahmud wies das Kompliment zurück. »Wir hatten keine Probleme mit Rudi. Andere Leute in Moskau sind der Ansicht, die Tschetschenen sollten zurück nach Grosni, nach Kasan und Baku.« »Rudi sagte, Sie hätten ihn auf der Abschußliste gehabt.« »Eine glatte Lüge.« Mahmud wies die Vorstellung von sich wie ein Mann, der gewohnt ist, daß man ihm glaubt. »Es ist schwer, mit den Toten zu streiten«, bemerkte Arkadi so taktvoll wie möglich. »Haben Sie Kim?« »Rudis Leibwächter? Nein. Er ist wahrscheinlich hinter Ihnen her.« Mahmud beugte sich vor und sagte: »Beno, könnten wir etwas Kaffee haben?« Beno reichte eine Thermosflasche, kleine Tassen und Untertassen, Löffel
und eine Packung Würfelzucker nach hinten. Der Kaffee floß aus der Thermosflasche wie schwarzer Schlamm. Mahmuds Hände waren groß, seine Fingernägel rund. Mochte sein übriger Körper mit zunehmendem Alter zusammengeschrumpft sein - seine Hände waren es nicht. »Köstlich«, sagte Arkadi. Wohlige Wärme stieg in ihm auf. »Früher einmal hatten die verschiedenen Organisationen der Mafia wirkliche Führer. Antibiotik war ein Theaterpromoter, und wenn ihm eine Show gefiel, hat er das ganze Theater für sich allein gemietet. Er kam aus der gleichen Familie wie Breschnew. Eine Type, ein Halsabschneider, aber man konnte sich auf ihn verlassen. Erinnern Sie sich an Otarik?« »Ich erinnere mich, daß er Mitglied des Schriftstellerverbands wurde, obgleich sein Aufnahmeantrag zweiundzwanzig grammatikalische Fehler aufwies«, sagte Arkadi. »Schreiben war nicht seine Hauptbeschäftigung. Wie dem auch sei, heute sind die alten Führer durch Geschäftsmänner wie diesen Borja Gubenko abgelöst worden. Früher war ein Bandenkrieg noch ein Bandenkrieg. Heute muß ich aufpassen, daß man mir nicht von zwei Seiten in den Rücken fällt - es können Killer, kann aber auch die Miliz sein.« »Was ist mit Rudi passiert? War er in einen Bandenkrieg verwickelt?« »Sie meinen einen Krieg zwischen Moskauer Geschäftsmännern und den blutdürstigen Tschetschenen? Wir sind immer die wilden Hunde und die Russen die Opfer. Ich meine nicht Sie persönlich, aber als Nation seht ihr nur zurück in die Vergangenheit. Soll ich Ihnen ein kleines Beispiel aus meinem Leben geben?« »Bitte.« »Wußten Sie, daß es einmal eine tschetschenische Republik gab? Unsere eigene. Wenn ich Sie langweile, unterbrechen Sie mich. Die schlimmste Unart alter Leute ist, junge Leute zu langweilen.« Noch während er das sagte, packte Mahmud Arkadi wieder am Kragen und brachte ihn auf die richtige Distanz. »Fahren Sie fort.« »Einige Tschetschenen haben mit den Deutschen kollaboriert, daher wurde im Februar 1944 in allen Dörfern zu Massenversammlungen aufgerufen. Soldaten waren da und Militärkapellen. Die Leute dachten, es gäbe eine Feier, und so kamen sie alle. Sie wissen, wie diese
Dorfplätze sind - ein Lautsprecher an jeder Ecke, aus dem Musik plärrt und Dinge verkündet werden. Nun, es wurde verkündet, daß alle eine Stunde Zeit hätten, mit ihren Familien und Besitztümern das Dorf zu verlassen. Ein Grund dafür wurde nicht angegeben. Eine Stunde. Stellen Sie sich das vor! Zuerst verlegte man sich aufs Bitten, was zwecklos war. Die Panik, als man verzweifelt die kleinen Kinder und die Großeltern suchte, sie zwang, sich warm anzuziehen, und sie aus den Häusern trieb, um ihr Leben zu retten. Die Unsicherheit, was man mitnehmen sollte und was nicht. Ein Bett, eine Kommode, die Ziege? Die Soldaten luden alles auf Lastwagen. Studebaker. Die Leute dachten, daß die Amerikaner dahintersteckten und daß Stalin sie schon retten würde!« Die schwarze Iris in Mahmuds Augen schloß sich wie das Objektiv einer Kamera. »Nach vierundzwanzig Stunden gab es keinen Tschetschenen mehr in der Tschetschenen-Republik. Eine halbe Million Menschen. Einfach nicht mehr da. Mit den Lastern wurden sie zu Eisenbahnzügen geschafft, in ungeheizte Güterwaggons verladen, die mitten im Winter wochenlang mit ihnen über die Schienen rollten. Tausende starben. Meine erste Frau, meine drei ältesten Jungen. Wer weiß, auf welchen Nebengleisen die Wachen ihre Leichen hinauswarfen? Als die Überlebenden schließlich die Waggons verlassen durften, waren sie in Kasachstan, in Mittelasien. Die Tschetschenen-Republik wurde liquidiert. Unsere Städte erhielten russische Namen. Wir wurden von der Landkarte gelöscht, aus Geschichtsbüchern und Enzyklopädien. Wir verschwanden einfach. Erst nach zwanzig, dreißig Jahren kehrten wir nach Grosni und sogar nach Moskau zurück. Wie lebende Geister kamen wir in die Heimat zurück und fanden euch Russen in unseren Häusern vor, russische Kinder, die auf unseren Höfen spielten. Und heute seht ihr uns an und bezeichnet uns als Tiere. Sagen Sie mir, wer ist hier das Tier? Ihr weist mit dem Finger auf uns und nennt uns Diebe. Aber wer ist hier der Dieb? Wenn jemand stirbt, findet ihr bald schon einen Tschetschenen und nennt ihn Mörder. Glauben Sie mir, auch ich würde gern Rudis wirklichen Mörder kennenlernen. Sollte ich heute Mitleid mit euch haben? Ihr verdient alles, was mit euch geschieht. Ihr verdient uns.« Mahmuds Blick wurde noch eindringlicher, dann trübten sich seine Augen, die wie erlöschende Kohlen noch einmal aufgeglüht waren.
Seine Finger lockerten sich und gaben Arkadis Kragen frei. Erschöpfung breitete sich in dem Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ich bitte um Entschuldigung, ich habe Ihre Jacke zerknittert.« »Sie war schon zerknittert.« »Trotzdem. Ich habe mich hinreißen lassen.« Mahmud glättete das Revers. Er sagte: »Mir wäre nichts lieber, als wenn Kim gefunden würde. Weintrauben?« Beno reichte eine bis zum Rand mit grünen Trauben gefüllte Holzschale nach hinten. Inzwischen konnte Arkadi keine Familienähnlichkeit mehr zwischen ihm, Ali und Mahmud erkennen, sie glichen sich eher wie Angehörige derselben Art - wie Falken einander durch den Schnabel gleichen. Arkadi nahm eine Handvoll Trauben. Mahmud öffnete ein kurzes Taschenmesser mit gebogener Klinge und schnitt sich sorgfältig ein Bündel ab. Während er aß, drehte er die Scheibe herunter, um die Kerne auf den Boden zu spucken. »Divertikulitis. Ich darf sie nicht schlucken. Schrecklich, so alt zu werden.«
Polina untersuchte Rudis Schlafzimmer gerade auf Fingerabdrücke, als Arkadi vom Gebrauchtwagenmarkt kam. Er hatte sie noch nie ohne ihren Regenmantel gesehen. Wegen der Wärme trug sie Shorts, hatte ihre Bluse unter der Brust verknotet und das Haar mit einem Tuch zusammengebunden. Mit ihren Gummihandschuhen und dem kleinen Kamelhaarpinsel sah sie aus wie ein Mädchen, das Hausfrau spielte. »Wir haben doch bereits nach Fingerabdrücken gesucht.« Arkadi ließ seine Jacke aufs Bett fallen. »Abgesehen von Rudis Abdrücken hat die Spurensicherung allerdings nichts gefunden.« »Dann haben Sie ja nichts zu verlieren«, sagte Polina fröhlich. »Unser Maulwurf ist in der Garage und sucht nach verborgenen Falltüren.« Arkadi öffnete das Fenster zum Hof und sah Minin mit Hut und Mantel in der offenen Garagentür stehen. »Sie sollten ihn nicht so nennen.« »Er haßt Sie.« »Warum?« Polina verdrehte die Augen, dann stieg sie auf einen Stuhl, um Spiegel und Kommode einzustäuben. »Wo ist Jaak?« »Uns ist ein weiterer Wagen versprochen worden. Werm er ihn hat, wird er zum Lenin-Pfad-Kollektiv fahren.« »Nun, die Kartoffeln werden gerade eingebracht. Sie können Jaak dort gebrauchen.« An mehreren Stellen - auf der Haarbürste und dem Kopfteil des Bettes, an der Innenseite der Tür des Medizinschränkchens und unter dem aufgeklappten Toilettensitz - waren die schattenhaften Ovale eingestäubter Fingerabdrücke zu sehen. Andere Abdrücke hatte Polina bereits auf die Objektträger übertragen, die jetzt auf dem Nachttisch lagen. Arkadi streifte sich Gummihandschuhe über. »Das ist nicht Ihre Aufgabe«, sagte er. »Ihre auch nicht. Ermittler lassen ihre Männer die wirkliche Arbeit tun. Ich bin für diese Tätigkeit ausgebildet worden und besser darin als die meisten anderen. Wissen Sie, warum die Ärzte heute keine Babys mehr zur Welt bringen wollen?« »Warum nicht?« Er bereute sofort, gefragt zu haben. »Die Ärzte wollen es nicht mehr, weil sie Angst vor Aids haben und absolut kein Vertrauen zu sowjetischen Gummihandschuhen. Sie tragen
gleich drei oder vier übereinander. Stellen Sie sich vor, wie man ein Baby zur Welt bringen soll, wenn man vier Paar Handschuhe trägt. Sie machen auch keine Abtreibung, aus demselben Grund. Sowjetische Ärzte würden ihre Patientinnen am liebsten im Abstand von drei Metern behandeln und zuschauen, wie sie platzen. Natürlich gäbe es nicht so viele Babys, wenn nicht auch unsere Kondome wie Gummihandschuhe säßen.« »Das stimmt.« Arkadi setzte sich aufs Bett und sah sich um. Obgleich er Rudi seit Wochen verfolgt hatte, wußte er immer noch zuwenig von dem Mann. »Er hat keine Frauen hergebracht«, sagte Polina. »Es gibt keine Kekse, keinen Wein, nicht mal Kondome. Frauen hinterlassen alles mögliche Haarnadeln, Wattebäuschchen mit Make-up, Gesichtspuder auf dem Kissen. Alles ist viel zu ordentlich.« Wie lange wollte sie noch auf dem Stuhl stehenbleiben? Ihre Beine waren weißer und muskulöser, als er erwartet hätte. Vielleicht hatte sie früher einmal Tänzerin werden wollen. Schwarze Locken kräuselten sich am Nacken unter ihrem Kopftuch. »Sie nehmen sich so ein Zimmer nach dem anderen vor?« fragte Arkadi. »Ja.« »Sollten Sie nicht schon lange zu Hause sein und mit Ihren Freunden Volleyball spielen oder so was?« »Es ist ein bißchen spät für Volleyball.« »Haben Sie sich auch die Videobänder vorgenommen?« »Ja.« Sie schirmte mit der Hand ein Licht im Spiegel ab. »Ich habe Ihnen mehr Zeit in der Pathologie verschafft«, sagte Arkadi. Auch eine Art, eine Frau zu beschwichtigen, dachte er - ihr mehr Zeit im Leichenschauhaus zu verschaffen. »Warum wollen Sie Rudis Wohnung noch einmal untersuchen?« »Es gab viel zuviel Blut. Ich habe inzwischen die Laborergebnisse über das Blut im Wagen. Seine Blutgruppe, das wissen wir jetzt zumindest.« »Gut.« Wenn sie glücklich war, war er es auch. Er schaltete den Fernseher und den Recorder ein, fütterte ihn mit einer von Rudis Kassetten, drückte auf Play und gleich anschließend den schnellen Vorlauf. Begleitet vom wirren Kauderwelsch des schnell durchlaufenden Bandes, huschten Bilder über die Mattscheibe: die goldene Stadt
Jerusalem, die Klagemauer, ein Strand am Mittelmeer, eine Synagoge, ein Orangenhain, Hotelhochhäuser, Kasinos und EL AL. Er ließ das Band langsamer laufen, um den Text zu verstehen, der überwiegend aus Kehllauten zu bestehen schien. »Sprechen Sie Hebräisch?« fragte er Polina. »Warum sollte ich ausgerechnet Hebräisch sprechen?« Die zweite Kassette zeigte in rascher Bildfolge Kairo, Pyramiden und Kamele, einen Strand am Mittelmeer, Segelboote auf dem Nil, einen Muezzin auf einem Minarett, einen Dattelhain, Hotelhochhäuser und Egyptair. »Arabisch?« fragte Arkadi. »Nein.« Der dritte Film begann mit einem Biergarten und zeigte dann Kupferstiche des mittelalterlichen München, Luftaufnahmen der wiederaufgebauten Stadt, Touristen auf dem Marienplatz, den Hofbräukeller, Blaskapellen in Lederhosen, das Olympiastadion, das Oktoberfest, ein Rokoko-Theater und einen großen vergoldeten Engel auf einer Säule, die Autobahn, noch einen Biergarten, die Alpen, den Kondensstreifen eines Flugzeuges - vermutlich eine Maschine der Lufthansa. Er ließ das Band bis zu den Alpen zurücklaufen, um dem Bericht zu lauschen, der ebenso schwerfällig wie überschwenglich klang. »Sprechen Sie Deutsch?« fragte Polina. Der eingestäubte Spiegel sah aus wie eine Sammlung von Schmetterlingsflügeln, alle markiert von einem ovalen Kringel. »Ein bißchen.« Arkadi hatte seine Militärzeit in Berlin verbracht, sich mit Amerikanern unterhalten und auch ein wenig Deutsch aufgeschnappt - mit jener aufsässigen Einstellung, die Russen der Sprache Bismarcks entgegenbringen und die sich nicht nur damit erklären läßt, daß die Deutschen von jeher die Feinde Rußlands gewesen sind. Auch die Zaren hatten jahrhundertelang Deutsche als Zuchtmeister ins Land kommen lassen, ganz zu schweigen von den Nazis, die alle Slawen als Untermenschen betrachteten. So hatte sich ein gewisser nationaler Unwille angesammelt. »Auf Wiedersehen«, sagte der Fernseher. »Auf Wiedersehen.« Arkadi stellte das Gerät ab. »Gehen Sie nach Hause, Polina. Besuchen Sie Ihren Freund, gehen Sie ins Kino.« »Ich bin fast fertig.«
Polina hatte bisher mehr über Rudis Wohnung in Erfahrung gebracht oder erspürt - als Arkadi. Er begriff, daß ihm weniger einzelne Hinweise entgangen waren als vielmehr das Wesentliche. Rudis Angst vor körperlichen Kontakten hatte eine Wohnung entstehen lassen, die abgeschlossen und steril war. Keine Aschenbecher, keine Kippen. Arkadi verlangte es nach einer Zigarette, aber er wagte nicht, das hygienische Gleichgewicht der Wohnung zu stören. Rudis einzige fleischliche Schwäche schien das Essen gewesen zu sein. Arkadi öffnete den Kühlschrank. Schinken, Fisch und holländischer Käse standen immer noch dort, wo sie hingehörten, und waren selbst für einen Mann verlockend, der gerade Mahmuds Trauben verspeist hatte. Die Vorräte stammten wahrscheinlich von Stockmann, dem finnischen Kaufhaus, das Smörgasbord, ganze Büroeinrichtungen und japanische Autos gegen harte Währung an die in Moskau ansässigen Ausländer lieferte - Gott behüte, daß sie wie Russen leben mußten! Mit seiner wächsernen Rinde schimmerte der Käse wie ein appetitlicher Champignon. Polina kam aus der Schlafzimmertür, einen Arm bereits in ihrem Regenmantel. »Untersuchen Sie die Beweismittel, oder wollen Sie sich an ihnen gütlich tun?« »Ich bewundere sie. Das hier ist Käse von Kühen, die sich von Gras ernährt haben, das auf Tausenden von Kilometern entfernten Deichen wächst, und er ist nicht einmal so rar wie russischer Käse. Wachs ist eine gute Unterlage für Fingerabdrücke, nicht wahr?« »Feuchtigkeit bietet allerdings keine ideale Atmosphäre.« »Da drin ist es zu feucht für Sie?« »Ich habe nicht gesagt, daß es nicht möglich wäre, ich wollte nur nicht, daß Sie sich zu große Hoffnungen machen.« »Sehe ich aus wie ein Mann, der sich große Hoffnungen macht?« »Ich weiß nicht. Sie sind heute irgendwie anders.« Es war nicht gerade typisch für Polina, sich einer Sache nicht vollkommen sicher zu sein. »Sie …« Arkadi legte einen Finger auf die Lippen. Er hatte ein kaum wahrnehmbares Geräusch gehört, wie das eines Kühlschrankventilators. Aber vor dem standen sie. »Ein WC«, sagte Polina. »Jemand geht hier jede Stunde aufs Klo.«
Arkadi ging zur Toilette und legte die Hand an die Abflußröhre. Gewöhnlich klirrten Abflußröhren wie Ketten. Das Geräusch aber war schwächer, mechanischer als fließendes Wasser, kam aus Rosens Wohnung selbst, nicht von draußen. Es hörte auf. »Jede Stunde?« fragte Arkadi. »Auf die Minute. Ich habe schon nachgesehen, aber nichts gefunden.« Arkadi ging in Rudis Büro. Der Schreibtisch war unberührt, Telefon und Fax waren stumm. Er klopfte gegen das Faxgerät, und ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Er klopfte stärker, und das Lämpchen blinkte regelmäßig wie ein Leuchtfeuer. Der Lautstärkeregler war bis zum Anschlag heruntergedreht. Arkadi schob den Schreibtisch vor und fand Faxpapier, das sich zwischen Schreibtisch und Wand geschoben hatte. »Erste Regel jeder Ermittlung: Heb alles hoch, was du findest«, sagte er. »Ich habe hier noch keine Abdrücke genommen.« Das Papier war noch warm. Oben stand das Übermittlungsdatum und die Uhrzeit, eine Minute früher. Die Nachricht, in englischer Sprache, lautete: »Where is Red Square?« Jeder, der einen Stadtplan besaß, hätte beantworten können, wo der Rote Platz lag. Arkadi las die vorangegangene Nachricht. Sie war genau einundsechzig Minuten älter: »Wo ist der Rote Platz?« Man brauchte nicht einmal einen Stadtplan. Auf der ganzen Welt würde man eine Antwort auf die Frage bekommen - am Oberen Nil, in den Anden und sogar im Gorki-Park. Arkadi fand insgesamt fünf Nachrichten, jede auf die Stunde genau übermittelt, mit der gleichen, beharrlichen Frage: »Wo ist der Rote Platz?« Die erste Nachricht wies darüber hinaus noch den Zusatz auf: »Wenn Sie wissen, wo der Rote Platz ist, kann ich Ihnen Kontakte mit internationaler Gesellschaft für zehn Prozent Finderlohn verschaffen.« Ein Finderlohn für den Roten Platz, das war leicht zu verdienendes Geld. Das Gerät hatte jeweils auch eine lange Telefonnummer ausgedruckt. Arkadi rief die internationale Auskunft an. Es handelte sich um eine Nummer in München. »Haben Sie so ein Gerät?« fragte er Polina. »Ich kenne einen Jungen, der eines hat.« Immerhin. Arkadi schrieb auf Rudis Briefpapier: »Brauche nähere
Informationen.« Polina legte den Bogen ein, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer, die sich mit einem Klingeln meldete. Eine Taste mit dem Befehl »Transmit« leuchtete auf, und als sie sie drückte, wurde das Blatt eingezogen. Polina sagte: »Wenn diese Leute versuchen, Rudi zu erreichen, wissen sie nicht, daß er tot ist.« »Genau.« »Also werden sie auch nur wertlose Informationen haben, und Sie finden sich womöglich in einer peinlichen Situation wieder. Ich kann nicht warten.«
Sie warteten eine Stunde, ohne eine Antwort zu erhalten. Schließlich ging Arkadi nach unten in die Garage, wo Minin den Boden mit einer Schaufel abklopfte. Die von der Decke hängende Birne war durch eine stärkere ersetzt worden. Die Reifen waren beiseite geräumt und der Größe nach aufgestapelt, Treibriemen und Ölkanister numeriert und mit Schildchen versehen worden. Minins einziges Zugeständnis an die herrschenden Temperaturen bestand darin, daß er Mantel und Jacke abgelegt hatte. Den Hut hatte er aufbehalten. Der Mann im Mond, dachte Arkadi. Als er seinen Vorgesetzten sah, nahm Minin mürrisch Haltung an. Das Problem mit Minin ist, dachte Arkadi, daß er das typische zu kurz gekommene Kind ist. Nicht, daß er zu klein geraten wäre, aber Minin war das ungeliebte Wesen, das sich von allen verachtet fühlte. Arkadi hätte ihn aus der Mannschaft entfernen können - in seiner Position brauchte er nicht jeden zu nehmen, der ihm zugeteilt wurde -, aber er wollte Minins Haltung dadurch nicht auch noch rechtfertigen. Außerdem haßte er es, häßliche Menschen schmollen zu sehen. »Chefinspektor Renko, solange die Tschetschenen noch frei herumlaufen, glaube ich, daß ich auf der Straße nötiger gebraucht werde als in dieser Garage.« »Wir wissen nicht, ob die Tschetschenen mit der Sache zu tun haben, und ich brauche hier einen guten Mann. Mancher andere würde die Reifen schnell unter seinem Mantel verschwinden lassen.« Humor schien Minin nur zu veranlassen, noch größeren Abstand zu nehmen. »Möchten Sie, daß ich nach oben gehe und Polina im Auge behalte?« fragte er. »Nein.« Arkadi versuchte es mit menschlichem Interesse. »Es gibt da etwas, was mir neu ist an Ihnen, Minin. Was könnte das sein?« »Ich weiß es nicht.« »Das da.« An Minins schweißgetränktem Hemd steckte ein Abzeichen, eine rote Fahne aus Emaille. Arkadi hätte es nie bemerkt, wenn Minin nicht seine Jacke ausgezogen hätte. »Ein Parteiabzeichen?« »Das Abzeichen einer patriotischen Organisation«, sagte Minin. »Sehr elegant.« »Wir treten ein für die Verteidigung Rußlands, für die Aufhebung aller
sogenannten Gesetze, die den Wohlstand des Volkes schmälern und es einer kleinen Gruppe von Aasgeiern und Geldwechslern ausliefern, für eine Säuberung der Gesellschaft und ein Ende der Anarchie und des Chaos. Haben Sie etwas dagegen?« Es war weniger eine Frage als eine Herausforderung. »Oh, nein. Es steht Ihnen.«
Als er zu Borja Gubenko fuhr, hatte Arkadi das Gefühl, daß sich der Sommerabend wie ein Tuch über die Stadt gelegt hatte. Leere Straßen und Taxis vor den Hotels, deren Fahrer sich weigerten, jemand anderes mitzunehmen als Touristen. Ein einzelnes Geschäft wurde von Käufern belagert, die Läden auf der anderen Straßenseite waren völlig leer. Moskau schien eine ausgeschlachtete Stadt zu sein, ohne Lebensmittel, Benzin und andere Grundversorgungsgüter. Auch Arkadi fühlte sich leer, als fehlte ihm eine Rippe, ein Teil der Lunge oder seines Herzens. Es war auf eigenartige Weise beruhigend, daß jemand aus Deutschland einen sowjetischen Spekulanten nach dem Roten Platz fragte. Es war wie eine Bestätigung, daß es sie alle überhaupt noch gab.
Borja Gubenko nahm einen Golfball aus dem Eimer, legte ihn auf das Tee, warnte Arkadi vor dem Abschlag, zog den Schläger nach hinten durch, so daß er seinen Körper zu umkreisen schien, reckte sich und trieb den Ball dann auf ein fiktives Grün. »Wollen Sie’s auch mal versuchen?« fragte er. »Nein, danke. Ich schau lieber zu«, sagte Arkadi. Zehn bis zwölf Japaner standen einen Rang höher ebenfalls auf Kunstrasen, zogen ihre Schläger durch und schlugen Bälle ab, die als immer kleiner werdende weiße Punkte lang durch die Fabrikhalle flogen. Das unregelmäßige Abschlagen der Bälle hörte sich an wie Gewehrfeuer, ein durchaus passendes Geräusch, da die Fabrik früher Patronen produziert hatte. Während der Zeit des Weißen Terrors, des Patriotischen Krieges und des Warschauer Pakts hatten hier Arbeiter Millionen und aber Millionen von Messing- und Stahlkernpatronen hergestellt. Um die Fabrik in einen Golfplatz zu verwandeln, waren die Maschinen verschrottet worden, und der Boden hatte einen Anstrich in sattem Grün erhalten. Zwei massive Metallpressen, die man nicht entfernen konnte, wurden durch Baumattrappen abgeschirmt - ein Einfall, der besonders von den Japanern geschätzt wurde, die selbst hier in der Halle Golfmützen trugen. Neben Borja waren die einzigen russischen Spieler, die Arkadi sehen konnte, eine Mutter und eine Tochter in kurzen Röcken. Beide wurden offensichtlich von einem Golfprofi unterwiesen. Am anderen Ende der Halle schlugen die Bälle gegen eine grüne Plane, auf der, je nach Höhe, die Entfernungen verzeichnet waren: zweihundert, zweihundertundfünfzig, dreihundert Meter. »Ich gebe zu, ich zahle ein bißchen drauf«, sagte Borja. »Aber ein zufriedener Kunde ist das Geheimnis allen geschäftlichen Erfolgs.« Er ging vor Arkadi in Pose. »Was meinen Sie? Der erste russische Amateur-Champion?« »Wenigstens.« Über Borjas mächtigen Oberkörper spannte sich ein modischer, pastellfarbener Pullover. Sein widerspenstiges Haar lag in glattgekämmten blonden Wellen um ein kantiges, aufmerksames Gesicht mit kristallblauen Augen. »Sehen Sie es mal so.« Borja nahm einen weiteren Ball aus dem Eimer. »Ich habe zehn Jahre damit zugebracht, für die Armee Fußball zu
spielen. Sie wissen ja, wie das geht: eine Menge Geld, eine Wohnung und einen Wagen, solange man fit ist. Dann wird man verletzt, beginnt auszurutschen, und plötzlich steht man auf der Straße. Von ganz oben geht’s über Nacht nach ganz unten. Zum Bier wird man noch eingeladen, aber damit hat sich’s auch schon. Der Lohn für zehn Jahre Einsatz und kaputte Knochen. Alte Boxer, Ringer, Hockeyspieler - überall die gleiche Geschichte. Kein Wunder, daß sie zur Mafia gehen. Oder schlimmer noch, anfangen, American Football zu spielen. Ich hab Glück gehabt.« Mehr als Glück, dachte Arkadi. Borja war zu einem neuen, erfolgsverwöhnten Menschen geworden. Im neuen Moskau war keiner so populär und wohlhabend wie Borja Gubenko. Hinter der Driving-Range klingelten die Spielautomaten neben einer mit Marlboro-Postern, Marlboro-Aschenbechern und Marlboro-Lampen ausgeschmückten Bar. Borja stellte sich erneut zum Abschlag auf. Falls das überhaupt möglich war, wirkte er jetzt noch kerniger als zu seiner Zeit als Aktiver. Aber auch schlank wie ein gut erhaltener Löwe. Er holte aus, erstarrte und sah einem Treibschlag nach, der den Ball weit durch die Halle trug. »Erzählen Sie mir etwas über den Klub hier«, sagte Arkadi. »Harte Währung, nur Mitglieder. Je exklusiver Sie so was aufziehen, um so mehr Anklang findet es bei Ausländern. Ich werde Ihnen noch ein Geheimnis verraten.« »Noch ein Geheimnis?« »Die Lage. Die Schweden haben Millionen in eineAchtzehn-Loch-Anlage vor der Stadt gesteckt. Sie wirdKonferenzräume, ein Kommunikationszentrum undSuper-Sicherheitseinrichtungenhaben, damit Geschäftsleute und Touristen nach Moskau kommen können, ohne wirklich dort zu sein. Das scheint mir idiotisch. Wenn ich irgendwo Geld investiere, will ich auch wissen, wo. Die Schweden sind jedenfalls zu weit von der Stadt weg. Im Vergleich dazu liegen wir zentral, praktisch gegenüber vom Kreml. Und sehen Sie, was wir dazu brauchten - nur etwas Farbe, Kunstrasen, Schläger und Bälle. Wir stehen in Reiseführern und Zeitschriften. Aber das alles war Rudis Idee.« Er musterte Arkadi von oben bis unten. »Welchen Sport haben Sie früher getrieben?«
»Fußball, in der Schule.« »In welcher Position?« »Vor allem als Torwart.« Arkadi hatte nicht die Absicht, Borja gegenüber auf seine sportlichen Leistungen zu verweisen. »Wie ich. Die beste Position. Du studierst das Spielgeschehen, siehst den Angriff kommen und lernst, dich drauf einzustellen. Entscheidend sind dann nur noch ein, zwei Paßbälle. Und wenn du dich einsetzt, dann ganz, oder? Wer versucht, sich zu schonen, wird gewöhnlich verletzt. Für mich lag im Fußballspielen die Möglichkeit, die Welt kennenzulernen. Ich wußte nicht, was gutes Essen ist, bis ich nach Italien kam. Ich mache immer noch bei einigen internationalen Spielen den Schiedsrichter, nur um mal wieder gut zu essen.« »Die Welt kennenzulernen« war eine schwache Umschreibung für Borjas Ehrgeiz, dacht Arkadi. Gubenko war in den tristen »Chruschtschow-Mietskasernen« des Langen Teichs aufgewachsen. Im Russischen reimte sich »Chruschtschow« auf »Slum«, so daß die Bezeichnung der Wohnsilos oft für Spott sorgte. Borja war mit Kohlsuppe und Hoffnungen großgeworden, die genauso trübe waren, und jetzt redete er von italienischen Restaurants. Arkadi fragte: »Was ist Ihrer Meinung nach mit Rudi passiert?« »Ich glaube, daß das, was mit Rudi passiert ist, eine nationale Katastrophe ist. Er war der einzige im Land, der wirklich was von Ökonomie verstand.« »Wer hat ihn getötet?« Ohne zu zögern, sagte Borja: »Die Tschetschenen. Mahmud ist ein Bandit, der keine Ahnung von westlichem Stil oder von Geschäften hat. Tatsache ist, daß er auch alle anderen daran hindert voranzukommen. Je mehr Angst, desto besser - ganz egal, ob der Markt dadurch zum Erliegen kommt. Je unsicherer die anderen werden, desto stärker die Tschetschenen.« Auf dem Rang über ihnen schlugen die Japaner eine Ballserie gemeinsam ab, gefolgt von aufgeregten »Banzai«-Rufen. Borja lächelte und wies mit seinem Schläger nach oben. »Die fliegen von Tokio zu einem Golf-Wochenende nach Hawaii. Ich muß sie abends hier rauswerfen.« »Wenn die Tschetschenen Rudi getötet haben«, sagte Arkadi, »mußten
sie an Kim vorbei. Trotz seines Rufes - Muskelprotz, ausgebildet im Kampfsport - scheint er also nicht viel Schutz geboten zu haben. Hat Ihr bester Freund Rudi, als er auf Leibwächtersuche ging, nicht auch Ihren Rat eingeholt?« »Rudi hat meist einen Haufen Geld mit sich herumgetragen und war auf seine Sicherheit bedacht.« »Und Kim?« »Die Fabriken in Ljubertsi machen dicht. Das Problem mit dem freien Markt ist, daß wir Mist produzieren, wie Rudi immer gesagt hat. Als ich Rudi Kim empfohlen habe, hab ich gedacht, daß ich damit beiden einen Gefallen täte.« »Wenn Sie Kim vor uns finden, was werden Sie tun?« Borja deutete mit dem Golfschläger auf Arkadi und senkte die Stimme. »Ich werde Sie verständigen. Bestimmt. Rudi war mein bester Freund, und ich glaube, daß Kim den Tschetschenen geholfen hat. Aber glauben Sie, ich würde alles aufs Spiel setzen, alles, was ich erreicht habe, nur um mich auf primitive Art und Weise zu rächen? Das ist die alte Gesinnung. Wir müssen mit dem Rest der Welt gleichziehen, oder wir geraten ins Hintertreffen. Dann sitzen wir alle in leeren Häusern und verhungern. Wir müssen uns ändern. Haben Sie eine Karte?« fragte er plötzlich. »Die Mitgliedskarte der Partei?« »Wir sammeln Visitenkarten, mit denen wir einmal im Monat eine Ziehung veranstalten, und der Gewinner bekommt eine Flasche Chivas Regal.« Borja unterdrückte nur mühsam ein Lächeln. Arkadi kam sich wie ein Idiot vor. Nicht wie ein gewöhnlicher Idiot, sondern wie ein altmodischer Hinterwäldler. Borja stellte seinen Schläger ab und führte Arkadi stolz zum Büffet. In Sesseln, die ebenfalls in den Marlboro-Farben gepolstert waren, saßen weitere Japaner mit Baseballmützen und Amerikaner mit Golfschuhen. Arkadi vermutete, daß Borja absichtlich ein Dekor gewählt hatte, wie man es in den Warteräumen von Flughäfen findet - der natürlichen Umgebung internationaler Geschäftsreisender. Sie hätten in Frankfurt, Singapur oder auch SaudiArabien sitzen können - überall -, und genau aus diesem Grund fühlten sich die Leute hier wohl. Im Fernseher über der Bar liefen die Nachrichten von CNN. Das gut sortierte Büffet bot
reiche Auswahl an geräuchertem Stör und Forelle, rotem und schwarzem Kaviar, deutschen Pralinen und georgischem Gebäck vor einer Batterie von Flaschen mit süßem Sekt, Pepsi, Pfefferwodka, Limonenwodka und armenischem Fünf-Sterne-Cognac. Arkadi fühlte sich wie benommen von den Gerüchen, die aus der Küche drangen. »Wir veranstalten auch Karaoke-Abende, Turniere und Betriebsfeiern«, sagte Borja. »Keine Nutten, keine Strichjungen. Alles ganz sauber.« Wie Borja? Der Mann war nicht nur vom Fußball zur Mafia gewechselt, sondern hatte auch den zweiten, entscheidenden Schritt zum Unternehmer gewagt. Der westliche, gut sitzende Pullover, der offene Blick seiner Augen, das Gebärdenspiel der sauberen Hände - das alles verriet den erfolgreichen Geschäftsmann. Borja gab einer uniformierten Kellnerin einen diskreten Wink, und sie eilte sofort vom Büffet herüber und stellte einen Teller mit silbern glänzenden Matjes vor Arkadi auf den Tisch. Die Fische schienen vor seinen Augen zu schwimmen. »Erinnern Sie sich noch an sauberen, unvergifteten Fisch?« fragte Borja. »Nicht mehr genau, danke.« Arkadi angelte verzweifelt die letzte Zigarette aus seiner Packung. »Woher haben Sie den?« »Wie jeder andere tausche ich das, was ich habe, gegen das, was ich nicht habe.« »Auf dem schwarzen Markt?« Borja schüttelte den Kopf. »Direkt. Rudi hat immer gesagt, es gäbe kein Bauern- oder Fischerkollektiv, das nicht bereit wäre, Geschäfte zu tätigen, wenn man ihnen mehr als Rubel bietet.« »Und hat Rudi Ihnen auch gesagt, was Sie bieten sollen?« Borja fixierte Arkadis Augen. »Ich habe Rudi als Fußballfan kennengelernt. Zum Schluß war er so etwas wie ein älterer Bruder. Er wollte mich nur glücklich sehen und hat mir Ratschläge gegeben. Das ist doch kein Verbrechen, oder?« »Das kommt auf die Ratschläge an,« Arkadi wollte eine Reaktion provozieren. Borjas Augen blieben klar wie Wasser, unbewegt. »Rudi hat immer gesagt, daß es sinnlos sei, das Gesetz zu brechen. Es müsse neu geschrieben werden. Er besaß Weitblick .« »Kennen Sie Apollonia Gubenko?« fragte Arkadi. »Meine Frau.
Natürlich kenne ich sie gut.« »Wo war sie in der Nacht, als Rudi starb?« »Was spielt das für eine Rolle?« »Ein auf ihren Namen zugelassener Mercedes stand auf dem Markt, etwa dreißig Meter von der Stelle entfernt, an der Rudi starb.« Borja brauchte etwas Zeit, ehe er antwortete. Er warf einen Blick auf den Fernseher, wo ein amerikanischer Panzer durch eine Wüste rollte. »Sie war bei mir. Wir waren hier.« »Um zwei Uhr morgens?« »Ich schließe oft erst nach Mitternacht. Ich erinnere mich, daß wir in meinem Auto nach Hause gefahren sind, weil Pollys Wagen in der Werkstatt war.« »Sie haben zwei Wagen?« »Polly und ich haben zwei Mercedes, zwei BMW, zwei Wolga und einen Lada. Im Westen legen die Leute ihr Geld in Aktien und festverzinslichen Wertpapieren an. Wir haben Autos. Das Problem besteht offensichtlich nur darin, daß ein hübscher Wagen, sobald er in der Werkstatt steht, von irgendwelchen Leuten zu einer Spritztour entliehen wird. Ich kann jedoch herausfinden, wer es war.« »Sie sind sicher, daß sie bei Ihnen war? Es wurde nämlich eine Frau in dem Wagen gesehen.« »Ich behandle Frauen mit Respekt. Polly ist selbständig und mir keine Rechenschaft über jede Sekunde ihrer Zeit schuldig. Aber in der Nacht war sie bei mir.« »Hat jemand Sie beide hier gesehen?« »Nein. Das Geheimnis eines gutgehenden Ladens liegt darin, daß man immer in der Nähe der Kasse bleibt, als letzter geht und selbst abschließt.« »Es gibt viele Geheimnisse im Geschäftsleben«, sagte Arkadi. Borja beugte sich vor und breitete die Arme aus. Obwohl Arkadi wußte, daß Borja ein großer Mann war, war er erstaunt über die Ausmaße seiner Hände. Er erinnerte sich, wie der Fußballspieler Borja aus dem Tor stürmte, um Strafstöße abzuwehren. Gubenko ließ die Hände auf den Tisch sinken. Seine Stimme war sanft. »Renko?« »Ja?« »Ich werde Kim nicht umbringen. Das ist Ihre Aufgabe. Und wenn Sie
der Gesellschaft einen Gefallen erweisen wollen, töten Sie Mahmud gleich mit.« Arkadi blickte auf seine Uhr. Es war acht. Er hatte bereits die ersten Nachrichten versäumt, und seine Gedanken begannen abzuschweifen. »Ich muß gehen.« Borja begleitete Arkadi durch die Bar. Die Kellnerin mußte einen weiteren diskreten Wink erhalten haben, denn sie eilte mit zwei Packungen Zigaretten herbei, die Borja in Arkadis Jacke steckte. Mutter und Tochter suchten ihren Weg zwischen den Tischen hindurch. Sie hatten die gleichen feinen Züge und grauen Augen. Als die Frau sprach, lispelte sie leicht. Arkadi war erleichtert, eine Unvollkommenheit an ihr festzustellen. »Borja, der Lehrer erwartet dich.« »Der Trainer, Polly. Der Trainer.«
»Armenische Nationalisten haben gestern wieder sowjetische Truppen angegriffen. Zehn Tote und zahlreiche Verletzte sind zu beklagen«, sagte Irina. »Ziel des armenischen Angriffs war ein sowjetisches Militärdepot. Es wurde geplündert, wobei Handfeuerwaffen, Sturmgewehre, Minen, ein Panzer, ein Mannschaftswagen, Mörser und Panzerabwehrraketen in die Hände der Nationalisten gelangten. Der Oberste Sowjet der Moldawischen Republik erklärte gestern, drei Tage nach dem Obersten Sowjet Georgiens, seine Unabhängigkeit.« Arkadi stellte braunes Brot, Butter und eine Teekanne auf den Tisch und setzte sich mit seinen Zigaretten vors Radio. Eigentlich hätte er in Rudis Wohnung zurückkehren sollen, doch jetzt saß er hier, rechtzeitig zu den von Irina verlesenen Nachrichten, ein Mann ohne Willen. Es waren apokalyptische Nachrichten, aber das spielte keine Rolle. »Die Unruhen in Kirgisien zwischen Kirgisen und Usbeken setzten sich auch am dritten Tag unvermindert fort. Bewaffnete Mannschaftswagen patrouillierten durch die Straßen von Osch, nachdem Usbeken die in der Stadt gelegenen Touristenhotels besetzt und die örtlichen Büros des KGB mit Maschinengewehrfeuer eingedeckt hatten. Die Zahl der Toten hat sich auf zweihundert erhöht. Abermals ist die Forderung erhoben worden, den Usgenkanal zu entwässern, um nach weiteren Leichen zu suchen.« Das Brot war frisch, der Käse würzig. Ein Luftzug drang durch das geöffnete Fenster, und die Vorhänge bewegten sich. »Ein Sprecher der Roten Armee hat heute zugegeben, daß afghanische Aufständische über die sowjetische Grenze vorgedrungen sind. Seit die sowjetischen Truppen sich aus Afghanistan zurückgezogen haben, ist die Grenze für Drogenhändler und religiöse Extremisten durchlässig geworden, die die zentralasiatischen Republiken dazu zu bringen versuchen, einen Heiligen Krieg gegen Moskau zu beginnen.« Die Sonne hing über dem Horizont, den Zwiebeltürmen und Schornsteinköpfen. Irinas Stimme war eine Spur rauher geworden, und ihr sibirischer Akzent klang gewählter und raffinierter. Arkadi dachte an ihre weit ausholenden Gesten und an die Farbe ihrer Augen, wie Bernstein. Er ertappte sich dabei, daß er sich vorgelehnt hatte, als wollte er seinen Teil zum Gespräch beitragen. »Bergleute in Donezk haben gestern die Abdankung der Regierung und
das Verbot der Partei gefordert und den Beginn eines neuen Streiks angekündigt. Arbeitsniederlegungen bestimmen auch das Bild in allen sechsundzwanzig Bergwerken in Rostow am Don. Die Bergleute in Swerdlowsk, Tscheljabinsk und Wladiwostok haben zur Unterstützung der Streikenden zu Massenkundgebungen aufgerufen.« Die Nachrichten waren nicht wichtig, er nahm sie kaum zur Kenntnis. Es waren ihre Stimme und ihr Atem, die über Tausende von Kilometern zu ihm drangen. »Gestern abend haben sich in Moskau Angehörige der Demokratischen Front am Gorki-Park zu einer Demonstration zusammengefunden, um das Verbot der Kommunistischen Partei zu verlangen. Zur gleichen Zeit versammelten sich Mitglieder des rechtsorientierten Roten Banners, um die Partei zu verteidigen. Beide Gruppen verlangten das Recht, auf den Roten Platz zu marschieren.« Sie ist meine Scheherazade, dachte Arkadi. Abend für Abend kann sie von Unterdrückung, Aufruhr, Streiks und Naturkatastrophen berichten, und ich werde ihr zuhören, als erzählte sie Geschichten über exotische Länder, Zaubertränke, blitzende Krummdolche und perlenäugige Drachen mit goldenen Schuppen. Solange sie nur zu mir spricht.
Gegen Mitternacht wartete Arkadi vor der LeninBibliothek und bewunderte die Statuen russischer Schriftsteller und Gelehrter, die über dem Dachsims aufragten. Er dachte an das, was er über den baufälligen Zustand der Bibliothek gehört hatte. Tatsächlich sahen die Statuen aus, als wären sie bereit, im nächsten Augenblick schon vom Dach zu springen. Als ein Schatten auftauchte und die Tür verschloß, überquerte Arkadi die Straße und stellte sich vor. »Ein Inspektor? Überrascht mich nicht.« Feldman, eine Pelzkappe auf dem Kopf, trug eine Aktentasche und sah mit seinem schneeweißen Ziegenbart wie Trotzki aus. Er begann, mit schnellen Schritten auf den Fluß zuzugehen, und Arkadi schloß sich ihm an. »Ich habe meinen eigenen Schlüssel. Ich habe nichts gestohlen. Wollen Sie mich durchsuchen?« Arkadi ignorierte die Aufforderung. »Woher kennen Sie Rudi?« »Es ist die einzige Zeit, in der ich arbeiten kann. Ich danke Gott, daß ich an Schlaflosigkeit leide. Sie auch?« »Nein.« »Sie sehen so aus. Sie sollten einen Arzt aufsuchen. Oder macht es Ihnen auch nichts aus?« »Rudi?« beharrte Arkadi. »Rosen? Ich kenne ihn nicht. Wir haben uns nur einmal getroffen, vor einer Woche. Er wollte mit mir über Kunst sprechen.« »Wieso über Kunst?« »Ich bin Professor für Kunstgeschichte. Ich habe Ihnen doch schon am Telefon gesagt, daß ich Professor bin. Sie sind ein verdammt aufdringlicher Polizist, das kann ich jetzt schon sagen.« »Was hat Rudi von Ihnen wissen wollen?« »Er wollte alles über sowjetische Kunst wissen. Die sowjetische Avantgarde-Kunst stand für die kreativste, die revolutionärste Epoche unserer Geschichte, aber der Sowjetbürger ist ein Ignorant. Und selbst ich konnte Rosen nicht in einer halben Stunde zum Kunstkenner ausbilden.« »Hat er Sie über bestimmte Gemälde befragt?« »Nein. Aber ich sehe, was Sie meinen, und es amüsiert mich. Jahrelang hat die Partei sozialistischen Realismus gefordert, und die Leute haben sich Traktoren an die Wand gehängt und die avantgardistischen
Meisterwerke hinterm Schrank versteckt. Jetzt holen sie sie wieder hervor, und plötzlich ist Moskau voll von Kunstliebhabern. Mögen Sie den Sozialistischen Realismus?« »Sozialistischer Realismus ist eines meiner schwächsten Gebiete.« »Sprechen Sie von Kunst?« »Nein.« Feldman betrachtete Arkadi jetzt mit einem aufmerksameren, interessierteren Blick. Sie befanden sich im Park hinter der Bibliothek, wo eine Treppe zwischen den Bäumen an der Südwestecke des Kreml hinunter zum Fluß führte. Das Licht der Scheinwerfer ließ die unteren Zweige wie vergoldetes Gitterwerk aufleuchten. »Ich habe Rosen gesagt, daß der Anfang der Revolution, was die Leute so häufig vergessen, von wirklichem Idealismus bestimmt war. Die Hungersnot und der Bürgerkrieg waren nebensächlich. Moskau war damals der aufregendste Ort der Welt. Als Majakowski sagte: >Laßt uns die Plätze zu unserer Palette, die Straßen zu unserem Pinsel machenein reichlich aufgetragenes, üppiges GrünWas ist die schlimmste Art zu sterben?< Jetzt, nach Rudi, weiß ich die Antwort. Glauben Sie an die Hölle?«
»Darüber muß ich erst einmal nachdenken.« »Sie sind wie der Teufel. Klammheimlich genießen Sie Ihre Arbeit, genießen es, die Verdammten am Kragen zu packen und fortzuschleppen. Deswegen arbeitet Jaak auch so gern für Sie.« »Und warum arbeiten Sie für mich?« Polina dachte einen Augenblick nach. »Sie lassen mich die Dinge tun, wie sie getan werden müssen. Sie gestatten mir, mich in meine Arbeit einzubringen.« Arkadi wußte, daß genau da ihr Problem lag. Die Leichenhalle war ein Ort, an dem es nur Schwarz und Weiß gab, tot oder lebendig. Polina war zu analytischer Distanz ausgebildet worden, zu einem blinden Determinismus, der in einem Toten nichts anderes sah als einen kalten und leblosen Körper. Allerdings begannen Pathologen, die in die Ermittlungen außerhalb der Leichenhalle mit einbezogen wurden, die Körper wieder als lebende Wesen zu sehen, der Kadaver auf dem Seziertisch wurde zu einem Menschen, der einmal auf dieser Erde geatmet und gelitten hatte. Arkadi hatte Polina ihrer professionellen Distanz beraubt. In gewisser Weise hatte er sie korrumpiert. »Weil Sie intelligent sind.« Arkadi beließ es dabei. »Ich habe über das nachgedacht, was Sie mir gestern nacht gesagt haben. Kim hatte eine Schußwaffe. Warum also zwei verschiedene Arten von Bomben, um Rudi zu töten? Es war eine so komplizierte Methode, ihn umzubringen.« »Es ging nicht nur darum, ihn umzubringen. Es ging darum, ihn zu verbrennen. All die Aufzeichnungen und Disketten, alles, was darauf hinwies, daß er in Verbindung mit jemandem stand. Ich bin mir dessen jetzt ganz sicher.« »Ich bin also eine Hilfe für Sie.« »Eine Heldin der Arbeit.« Er trank ihr zu. Polina leerte ihr Glas und senkte den Blick. »Ich habe gehört, daß Sie einmal fortgegangen sind«, sagte sie. »Da war eine Frau, wie ich hörte.« »Wo hören Sie solche Sachen?« »Sie weichen aus.« »Ich weiß nicht, was die Leute über mich reden. Ich habe das Land für kurze Zeit verlassen und bin dann zurückgekommen.«
»Und die Frau?« »Ist nicht zurückgekommen.« »Wer hatte recht?« fragte Polina. Das, dachte Arkadi, ist eine Frage, die nur sehr junge Menschen stellen können.
»Der sowjetische Verteidigungsminister«, sagte Irina, »hat zugegeben, daß sowjetische Truppen Zivilisten in Baku angegriffen haben, um den Sturz der kommunistischen aserbaidschanischen Regierung zu verhindern. Die Armee hat nichts unternommen, als aserbaidschanische Aktivisten in der Hauptstadt gegen Armenier vorgingen, griff aber ein, als die Menge drohte, die Parteizentrale niederzubrennen. Panzer- und Infanterie-Einheiten durchbrachen die von militanten Antikommunisten errichteten Blockaden und besetzten die Stadt, feuerten, ohne provoziert worden zu sein, Dumdum-Geschosse ab und nahmen auch Mietshäuser unter Beschuß. Bei dem Angriff sollen Hunderte, wenn nicht Tausende Zivilisten getötet worden sein. Obwohl der KGB verbreiten ließ, daß die Aserbaidschaner mit schweren Maschinengewehren bewaffnet gewesen seien, wurden bei den Toten nur Jagdwaffen, Messer und Pistolen gefunden.« Arkadi hatte sich endlich von Polina verabschiedet und war rechtzeitig zu Irinas erster Nachrichtensendung nach Hause gekommen. Cognac mit einer Frau, dann ein Rendezvous mit der Stimme einer anderen. Was für ein kompliziertes Leben, dachte er. »Die militärische Operation wurde offiziell mit gewalttätigen Ausschreitungen des Mobs gegen Armenier begründet, angestachelt durch militante Aktivisten, die aufgrund von Dokumenten, die sie bei sich trugen, als Führer der Aserbaidschanischen Volksfront identifiziert wurden. Da die Volksfront aber keine derartigen Dokumente ausstellt, ist anzunehmen, daß wieder einmal der KGB hinter den Provokationen steckt.« Während Arkadi zuhörte, zog er ein trockenes Hemd und ein anderes Jackett an. Wer hatte recht? Sie. Er. Es gab kein Recht oder Unrecht, kein Schwarz oder Weiß. Arkadi sehnte sich nach Gewißheit, selbst im Unrecht zu sein, wäre eine Erleichterung. Er war so oft in seine Erinnerungen zurückgekehrt, daß die Abdrücke seiner Füße jeden Steinpfad dorthin abgetragen hätten, und doch wußte er immer noch nicht, was er damals hätte anders machen können. Zu Polina hatte er gesagt: »Ich werde es wohl nie wissen.« »In verstärktem Maße«, sagte Irina, »macht Moskau nationale Spannungen für die Anwesenheit sowjetischer Truppen in verschiedenen
Republiken verantwortlich, so in den baltischen Staaten, in Georgien, Armenien und Aserbaidschan, in Usbekistan und der Ukraine. Panzer und Raketenabschußrampen, die im Rahmen der Waffenkontrollvereinbarungen mit der Nato verschrottet werden sollten, sind statt dessen in die nach Unabhängigkeit strebenden Republiken verbracht worden. Im Gegenzug wurden Atomsprengköpfe aus diesen Republiken in die Russische Republik zurückgeschafft.« Er hörte kaum ihre Worte. Jedes Gerücht war schlimmer als ihre Nachrichten, die Wirklichkeit war schlimmer. Wie ein Imker, der den Honig von der Wabe trennt, war er imstande, nur ihre Stimme zu hören und nicht ihre Worte. Sie klang dunkler heute, diese Stimme. Hatte es in München geregnet? War die Autobahn dort verstopft? Lebte sie mit jemandem zusammen? Sie hätte sagen können, was sie wollte, er hätte ihr zugehört. Manchmal hatte er das Gefühl, aus dem Fenster fliegen und am Himmel über Moskau kreisen zu können. Er wollte sich von ihrer Stimme leiten lassen wie von einem Leuchtfeuer, das ihm den Weg wies - weit, weit fort.
Arkadi verließ seine Wohnung - nicht auf Schwingen, sondern mit Scheibenwischern, die er an seinem Wagen befestigte, ehe er sich in den mittlerweile abendlichen Verkehr einfädelte. Die hereinbrechende Nacht verband sich mit dem Regen, um die Straßen schwer befahrbar zu machen und verwischte Lichtreflexe auf der Windschutzscheibe entstehen zu lassen. An der Uferstraße mußte er anhalten, um einen Konvoi von Militärfahrzeugen und Mannschaftswagen vorbeizulassen, der lang und langsam wie ein Güterzug war. Während er wartete, suchte er in seinem Jackett nach Zigaretten, fand einen Umschlag und stöhnte leise auf, als er den Brief erkannte, den Below ihm auf dem Roten Platz gegeben hatte. Die feinen Buchstaben begannen schmissig und endeten in ausgezogenen Linien, als hätte die Hand plötzlich nicht mehr die Kraft gehabt, die Feder zu führen. Polina hatte gefragt, was die schlimmste Art zu sterben sei. Als er den Brief in der Hand hielt und seine Leichtigkeit spürte, die Schatten des an der Windschutzscheibe herabrinnenden Wassers über seinem Namen, wußte Arkadi die Antwort: Wenn man dabei erkannte, daß niemand betroffen war. Daß man eigentlich bereits tot war. Er hatte dieses Gefühl nicht, würde es nie haben. Allein Irinas Stimme ließ ihn so lebendig werden, daß sein Herz bei jedem Schlag bebte. Was hatte sein Vater geschrieben? Am klügsten wäre es, dachte er, den Brief auf die Straße zu werfen. Der Regen würde ihn in einen Gully spülen und der Fluß ihn dann weiter ins Meer tragen, wo das Papier sich entfaltete, während die Tinte auseinanderlief und verblaßte wie Gift. Statt dessen schob er ihn zurück in seine Tasche.
Minin öffnete ihm die Tür zu Rudis Wohnung. Der Inspektor war aufgebracht, da er Gerüchte gehört hatte, daß Spekulationen legalisiert werden sollten. »Das untergräbt die Basis unserer Ermittlungen«, sagte er. »Wenn wir uns keinen Geldwechsler mehr greifen können, wen sollen wir dann noch festnehmen?« »Es gibt immer noch genug Mörder, Vergewaltiger und Straßenräuber Sie werden schon zu tun haben«, versicherte Arkadi ihm und gab ihm Hut und Mantel. Minin aus der Wohnung zu schaffen, war nicht weniger leicht, als einen Maulwurf auszugraben. »Sehen Sie zu, daß Sie etwas Schlaf bekommen. Ich übernehme hier.« »Die Mafia wird Banken eröffnen.« »Sehr wahrscheinlich. Damit beginnen sie gewöhnlich, soweit ich weiß.« »Ich habe alles durchsucht«, sagte Minin und näherte sich widerstrebend der Schwelle. »Nichts in Büchern, Schränken oder unter dem Bett versteckt. Ich hab eine Liste auf den Schreibtisch gelegt.« »Verdächtig sauber, was?« »Nun …« »Das finde ich auch«, sagte Arkadi, wobei er die Tür zu schließen begann. »Und machen Sie sich keine Sorgen wegen ausbleibender Verbrechen. In Zukunft werden wir einfach nur eine bessere Klasse von Kriminellen haben - Bankiers, Makler, Geschäftsleute. Sie müssen gut ausgeschlafen sein, um damit fertigzuwerden.« Als er allein war, trat Arkadi als erstes an den Schreibtisch, um festzustellen, ob das Faxgerät benutzt worden war. Nichts, und die Papierrolle trug noch dieselbe Bleistiftmarkierung auf der Rückseite, die er angebracht hatte, nachdem er die Anfragen wegen des Roten Platzes abgerissen hatte. Er griff nach Minins Liste. Minin hatte Rudis Matratze aufgeschnitten, die Schränke und Schubladen inspiziert, Schalter abgeschraubt, Fußleisten abgeklopft, die ganze Wohnung auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, ohne etwas zu finden. Arkadi sah sich die Auflistung nicht weiter an. Das Wichtige, dachte er, mußte augenfälliger sein. Früher oder später paßte sich eine Wohnung seinem Besitzer an wie ein Handschuh. Er mochte fort sein, aber seine Spuren blieben erhalten. Als Abdrücke in einem Sessel, in einer Brotkrume, einem vergessenen Brief, im Geruch nach Hoffnung oder
Verzweiflung. Arkadi mußte nach ihnen suchen, da er in technischer Hinsicht wenig Unterstützung für seine Ermittlungen erwarten durfte. Die Miliz hatte teure deutsche und schwedische Geräte angekauft, Spektrographen und Apparate zur Bestimmung von Blutgruppen, aber die standen unnütz herum, da ihnen wichtige Teile fehlten. Es war nicht möglich, Computervergleiche von Bluttypen oder auch nur Nummernschildern anzustellen, ganz zu schweigen von »genetischen Fingerabdrücken«. Was die sowjetischen Labors besaßen, waren schwarz angelaufene Reagenzgläser, archaische Bunsenbrenner und Glasröhren, wie sie der Westen seit fünfzig Jahren nicht mehr kannte. Polina war es trotz, nicht wegen ihrer Ausrüstung gelungen, in Rudis Leichnam Antworten auf ihre Fragen zu finden. Da die Kette harter Beweise in der Regel dünn war, waren sowjetische Ermittler auf weichere Indizien angewiesen, auf soziale Hinweise und ihre Logik. Arkadi wußte von Kollegen, die der Meinung waren, daß sie bei hinreichender Kenntnisnahme des Tatorts Geschlecht, Alter, Beruf und sogar die Hobbys eines Mörders erschließen konnten. Der einzige Platz in der Sowjetunion, an dem sich psychologische Analysen frei entfalten durften, war die Kriminalistik. Natürlich verließ sich die sowjetische Kripo von jeher auch auf Geständnisse. Ein Geständnis löste alles. Aber Geständnisse waren nur von Amateuren und Unschuldigen zu erlangen. Mahmud oder Kim würden nie auf die Idee kommen, ein Geständnis abzulegen. Ebensogut könnten sie plötzlich anfangen, Latein zu reden. Was hatte diese Wohnung bisher preisgegeben? Eines: »Where is Red Square?« War Rosen religiös? Es gab keine Menora, keine Thora, Gebetsschals oder Sabbatkerzen. Die Porträts seiner Eltern boten nur ein Minimum an Familiengeschichte, gewöhnlich waren russische Wohnungen Galerien sepiabrauner Fotos zahlloser Vorfahren in ovalen Rahmen. Wo waren Rudis Bilder von sich und seinen Freunden? Er legte Wert auf Hygiene. Die Wände waren glatt und sauber - nicht ein Nagelloch in den leeren Flächen. Als ob er sich selbst ausgelöscht hätte. Arkadi sah sich das Bücherbord an. Business Week und Israel Trade verwiesen auf Rudis internationale Interessen. Verriet das Briefmarkenalbum etwas über die Einsamkeit des Jünglings? Es enthielt eine Sammlung übergroßer Marken mit tropischen Fischen,
herausgegeben von winzigen Ländern und Inseln in aller Welt. In einer Papiertasche steckten einzelne Marken ohne erkennbaren Sammlerwert: zaristische »ZweiKopeken«, französische »Libertes«, amerikanische »Franklins«. Kein Roter Platz. Er legte die Bücher aufeinander und ging ins Schlafzimmer, wo er den Stapel auf dem Nachttisch postierte. Die Schlafmaske hatte etwas Rührendes an sich und schien sagen zu wollen, daß reichliches Essen in Verbindung mit Verdauungsbeschwerden zu unruhigen Nächten führte. Es stand kein Stuhl im Schlafzimmer. Arkadi zog seine Schuhe aus, setzte sich aufs Bett und erschrak über das Ächzen der Federn, die Rudis Gewicht zu erwarten schienen. Er türmte die Kissen hinter sich auf, wie Rudi es getan hätte, und durchblätterte die Zeitschriften und Bücher. Jede russische Familie besaß ein paar Klassiker, und sei es auch nur, um ihre Bildung unter Beweis zu stellen. Rudi machte da keine Ausnahme. Arkadi entdeckte, daß er die witzige Passage in Puschkins unvergänglichem Roman Die Hauptmannstochter unterstrichen hatte, in der ein Husarenoffizier einem jungen Mann den Vorschlag macht, ihm Billard beizubringen. »Es ist für uns Soldaten einfach unabdingbar« sagte er. Man kann nicht immer nur Juden verprügeln, wissen Sie. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als ins Wirtshaus zu gehen und Billard zu spielen. Und um das zu tun, muß man es beherrschen.« »Oder die Juden mit dem Billardstock verprügeln«, war unter die Zeile gekritzelt. Arkadi erkannte Rudis Handschrift wieder - es war dieselbe wie im Rechnungsbuch, das er im Hotelkiosk gefunden hatte. Mitten in Gogols Toten Seelen hatte Rudi unterstrichen: »Eine Zeitlang machte es Tschitschikow den Schmugglern unmöglich, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vor allem die polnischen Juden brachte er fast zur Verzweiflung, so unbeugsam, ja fast unnatürlich war die Rechtschaffenheit, die Unbestechlichkeit, mit der er es ablehnte, zu einem kleinen Kapitalisten zu werden .« Am Rand hatte Rudi hinzugefügt: »Nichts ändert sich.« Es mußte einfach mehr geben, dachte Arkadi. Dank jüdischer Emigranten hatte die Moskauer Mafia gute Beziehungen zu israelischen Kriminellen. Er stellte den Fernseher an und spielte das Videoband aus Jerusalem ab, von einem Ort zum anderen springend, von der
Klagemauer zum Kasino. Er dachte an das, was Polina gesagt hatte: »Zuviel Blut«. Wenn Benzin sich mit Blut andicken ließ, ließ es sich auch mit einem Dutzend anderer Stoffe andicken, die einfacher zu beschaffen waren. Er hatte kürzlich erst Blut in einer anderen, seltsamen Form gesehen, konnte sich aber nicht erinnern, wo. Er sah sich das ägyptische Videoband noch einmal an. Es war wohltuend, die braunen Farbtöne der Wüste zu betrachten, während der Regen gegen das Fenster schlug, und er rückte näher heran, wie ein Mann, der sich an einem Kamin wärmte. Er suchte in seinem Jackett nach Zigaretten, und bevor er sich daran erinnerte, daß er sie der Kellnerin gegeben hatte, zog er wieder den Brief aus der Tasche. Er konnte die Briefe zählen, die er von seinem Vater bekommen hatte. Einen im Monat, als Arkadi im Lager der Jungen Pioniere war. Einen im Monat, als der General sich in China aufhielt, zu einer Zeit, da die Beziehungen zu Mao noch brüderlich und tief gewesen waren. Alle kurz und bündig wie Militärberichte, mit den abschließenden Ermahnungen an Arkadi, hart zu arbeiten, pflichtbewußt und strebsam zu sein. Alles in allem zwölf Briefe. Und dann noch einen weiteren, als er statt auf die Militärakademie auf die Universität ging. Er war beeindruckt, da sein Vater die Bibel zitierte, vor allem die Stelle, wo Gott von Abraham verlangte, ihm seinen einzigen Sohn zu opfern. Hier würde Stalin Gott noch übertreffen, sagte der General, da er die Hinrichtung nicht nur zugelassen hätte, sondern dafür von Abraham auch noch gepriesen worden wäre. Übrigens gebe es Söhne, wie kranke Schafe, die nur dazu taugten, geopfert zu werden. Zuviel Blut? Für seinen Vater hatte es nie genug gegeben.
Der Vater verleugnete seinen Sohn, der Sohn verleugnete seinen Vater. Der eine verweigerte die Zukunft, der andere die Vergangenheit, und keiner von ihnen wagte, wie Arkadi endlich erkannte, den Augenblick zu erwähnen, der sie beide für immer miteinander verbunden hatte. Der Junge und der Mann hatten vom Ufer aus auf zwei Füße im träge dahinfließenden, warmen Fluß gestarrt, der den Wiesenrand vor der Datscha entlanggeflossen war. Die Füße waren nackt und stiegen weder auf, noch sanken sie tiefer, sondern verharrten unter der Oberfläche wie unter Wasser treibende Seelilien. Weiter unten konnte Arkadi das weiße Kleid der Mutter erkennen, das sich in der Strömung bauschte und leise bewegte, als wollte es dem Kind sein Lebewohl zuwinken. Dhaus kreuzten auf dem Wasser des Nils. Arkadi merkte, daß er aufgehört hatte, die Bilder auf dem Fernseher bewußt wahrzunehmen. Er schob den Brief vorsichtig wie ein Rasiermesser zurück in seine Jacke, dann nahm er das ägyptische Videoband aus dem Recorder und legte die Kassette aus München ein. Er schenkte dem Geschehen auf dem Bildschirm jetzt wieder mehr Aufmerksamkeit, denn er verstand ein wenig Deutsch und brauchte etwas, das ihn von dem Brief ablenkte. Natürlich betrachtete er die Bilder mit russischen Augen. »Willkommen in München .«, begann das Band. Auf dem Bildschirm erschien ein Kupferstich, auf dem mittelalterliche Mönche dargestellt waren, die Sonnenblumen begossen, ein Wildschwein am Spieß brieten und Bier in sich hineinschütteten. Kein schlechtes Leben, offensichtlich. Die nächste Sequenz zeigte das moderne, wiederaufgebaute München. Der Sprecher brachte es fertig, diesen phönixhaften Wiederaufstieg zu kommentieren, ohne die beiden Weltkriege zu erwähnen. Er wies nur darauf hin, daß »traurige und tragische« Ereignisse die Stadt in Schutt und Asche gelegt hätten. München war von den Amerikanern befreit worden, und Arkadi hatte das Gefühl, einen amerikanischen Propagandafilm zu betrachten, als er die Bilder sah. Vom Glockenspiel und der Gestalt des Narren mit seiner Schellenkappe, die sich auf dem Marienplatz drehten, bis zu den Mauern des Alten Hofs - jede historische Stätte war bis zur Sterilität verniedlicht. Sonst waren praktisch nur Biergärten oder Bierkeller zu sehen, als sei Bier das Salböl der Unschuld, abgesehen von Hitlers Putsch im Bürgerbräukeller natürlich.
Doch München war zweifellos attraktiv. Die Menschen sahen so wohlhabend aus und waren so gut gekleidet, daß sie von einem anderen Stern zu kommen schienen. Die Autos waren makellos sauber, und ihre Hupen klangen wie Jagdhörner. Schwäne und Enten tummelten sich auf den Seen und dem Fluß. Wann hatte er zum letztenmal einen Schwan in Moskau gesehen? »München ist eine Stadt, die geprägt ist von der Architektur königlicher Bauherren«, sagte der Sprecher. »Der Max-Joseph-Platz und das Nationaltheater wurden von König Max Joseph gebaut, die Ludwigstraße von seinem Sohn, Ludwig I., die >Goldene Meile< der Maximilianstraße von Ludwigs Sohn, König Max II., und die Prinzregentenstraße von seinem Bruder, dem Prinzregenten Luitpold.« Ah, aber werden wir den Bierkeller sehen, in dem Hitler und seine Braunhemden ihren ersten, fehlgeschlagenen Marsch zur Macht begannen? Werden wir den Platz sehen, an dem Göring die für Hitler bestimmte Kugel abbekam und damit das Herz seines Führers für immer gewann? Werden wir nach Dachau fahren? Nun, Münchens Geschichte ist so voll von Menschen und Ereignissen, daß sich nun einmal nicht alles auf ein Videoband bringen läßt. Arkadi gab zu, daß seine Einstellung unfair, verbittert und von Neid getrübt war. »Beim letzten Oktoberfest tranken die Teilnehmer über fünf Millionen Liter Bier und verzehrten siebenhunderttausend Hähnchen, siebzigtausend Eisbeine und siebzig gebratene Ochsen …« Sie sollten nach Moskau zur Diät kommen. Die fast pornographische Zurschaustellung von Lebensmitteln blendete Arkadis Augen. Nach einer Opernaufführung im Nationaltheater - »von einer auf Bier erhobenen Steuer errichtet« - Erfrischung in einem romantischen Bierkeller. Nach einer Spritztour über die Autobahn Erholung in einem Biergarten. Nach einer Alpenwanderung auf der Zugspitze ein wohlverdientes Bier in einem rustikalen Gasthaus. Arkadi hielt das Band an und ließ es zur Alpenwanderung zurücklaufen. Ein Blick auf das Gebirge, der hinüberschweift zu der von Schnee bedeckten Zugspitze. Bergwanderer in Lederhosen. Ein Edelweiß in Nahaufnahme. Silhouetten von Bergsteigern hoch oben auf einem Kamm. Treibende Wolken. Der Biergarten des Gasthauses. Geißblattwinden an einer gelb verputzten
Mauer. Die enervierende Unbeweglichkeit von Bayern nach dem Mittagessen - bis auf eine Frau mit Sonnenbrille, die einen kurzärmeligen Pullover trug. Schnitt zu den Kondensstreifen eines Lufthansa-Jets. Arkadi fuhr noch einmal zu der Szene im Biergarten zurück. Die Qualität des Bandes schien die gleiche zu sein, aber die Stimme des Sprechers und die Musik fehlten plötzlich. Statt dessen war das Rücken von Stühlen und in der Feme Straßenlärm zu hören. Die Sonnenbrille war ein Fehler, in einem wirklich professionell gemachten Film hätte die Trägerin sie abgenommen. Er ließ noch einmal die gesamte Sequenz zwischen Alpenwanderung und Lufthansa-Jet durchlaufen. Die Wolken waren dieselben. Die Szene im Biergarten war eingefügt worden. Die Frau hob ihr Glas. Das blonde Haar umgab die breite Stirn und die noch breiteren Wangenknochen wie eine Mähne. Kurzes Kinn, mittelgroß, Mitte dreißig. Dunkle Sonnenbrille, goldenes Halsband, schwarzer, kurzärmeliger Pullover, wahrscheinlich aus Kaschmir Kontraste, die eher aufreizend als im herkömmlichen Sinn hübsch wirkten. Rote Fingernägel, rote Lippen, halb geöffnet in der gleichen herausfordernden Art wie vor Tagen, als Arkadi sie durch das Wagenfenster gesehen hatte, einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln hochgezogen. Ihr Mund sagte: »Ich liebe dich.« Die Worte waren ihr leicht von den Lippen abzulesen, denn sie sprach sie auf russisch.
»Ich weiß nicht«, sagte Jaak. »Du hast sie besser gesehen als ich. Ich saß am Steuer.« Arkadi zog die Vorhänge zu, so daß sein Büro nur von dem flimmernden Licht des Biergartens erleuchtet wurde. Auf dem Bildschirm wurde ein Glas hochgehoben und durch die Pause-Taste auf dem Recorder festgehalten. »Die Frau in Rosens Wagen hat uns angesehen.« »Sie hat dich angesehen«, sagte Jaak. »Ich hatte die Straße im Auge. Wenn du glaubst, daß es dieselbe Frau ist, hab ich nichts dagegen.« »Wir brauchen Standfotos von ihr. Was ist los?« »Wir brauchen Kim oder die Tschetschenen, sie haben Rudi getötet. Rudi hat dir zu verstehen gegeben, daß sie es auf ihn abgesehen hätten. Wenn sie eine Deutsche ist und wir Ausländer in die Sache mit reinziehen, müssen wir den Kreis erweitern und mit dem KGB zusammenarbeiten. Und dann weißt du ja, wie das läuft: Wir strampeln uns ab, und die scheißen auf uns. Hast du die schon informiert?« »Noch nicht. Wenn wir mehr in der Hand haben.« Arkadi stellte den Monitor ab. »Was zum Beispiel?« »Einen Namen. Vielleicht eine Adresse in Deutschland.« »Du willst sie aus dem Fall raushalten?« Arkadi gab Jaak das Band. »Wir wollen sie nur nicht belästigen, bevor wir etwas Definitives haben. Vielleicht ist die Frau ja noch hier.« »Du hast Nerven wie Drahtseile«, sagte Jaak. »Eigentlich müßtest du scheppern beim Gehen.« »Wie ein Sack Schrott«, sagte Arkadi. »Die Scheißkerle würden ohnehin nur die ganze Anerkennung einheimsen.« Jaak nahm widerwillig das Videoband in Empfang, dann hellte sich sein Gesicht auf, und er schüttelte zwei Wagenschlüssel. »Ich hab mir Juljas Auto geliehen. Den Volvo. Wenn ich deinen Auftrag ausgeführt habe, fahre ich zum Lenin-Pfad-Kollektiv. Du erinnerst dich an den Lastwagen, wo ich das Radio gekauft habe? Möglich, daß sie was gesehen haben.« »Ich bringe dir das Radio wieder mit«, versprach Arkadi. »Bring es zum Kasan-Bahnhof. Ich treffe Juljas Mutter um vier in der Traumbar«. »Julja wird nicht da sein?« »Keine zehn Pferde würden sie zum Kasan-Bahnhof bringen. Aber ihre
Mutter kommt mit dem Zug. Deswegen hat sie mir den Wagen geliehen. Meinetwegen kannst du das Radio behalten.« »Nein.« Als er allein war, öffnete Arkadi seinen Schrank und verschloß das Originalband im Safe. Er war früh ins Büro gekommen, um ein Duplikat anzufertigen. Wer litt hier eigentlich an Verfolgungswahn? Er öffnete das Fenster. Der Regen hatte aufgehört und verwischte Schmutzflecken an den Hoffenstern zurückgelassen. Am Himmel zeichneten sich feuchte Schornsteinköpfe wie weit aufragende Schaufeln ab. Ideales Wetter für ein Begräbnis.
»Ein Jointventure«, sagte der Mann im Außenhandelsministerium, »erfordert eine Partnerschaft zwischen einer sowjetischen Institution einer Kooperative oder einer Fabrik - und einer ausländischen Firma. Die Unterstützung von Seiten einer sowjetischen politischen Organisation kann dabei nur von Nutzen sein.« »Das heißt seitens der Partei?« »Um offen zu sein, ja. Aber das ist nicht nötig.« »Das ist Kapitalismus?« »Nein, kein reiner Kapitalismus. Ein Zwischenstadium.« »Kann so ein Jointventure auch Rubel transferieren?« »Nein.« »Dollar?« »Nein.« »Wirklich ein ausgesprochenes Zwischenstadium.« »Es kann Öl ausführen. Oder Wodka.« »Haben wir soviel Wodka?« »Zum Verkauf im Ausland.« »Müssen eigentlich alle Jointventures von Ihnen genehmigt werden?« fragte Arkadi. »Das sollten sie, geschieht aber nicht immer. In Georgien oder Armenien neigt man dazu, eigene Abkommen zu treffen. Deswegen exportieren Georgien und Armenien auch nichts mehr nach Moskau.« Er lachte in sich hinein. »Zum Teufel mit denen.« Das Büro befand sich im zehnten Stockwerk und bot einen Blick auf Sturmwolken, die von Osten nach Westen zogen. Kein Fabrikrauch, da wichtige Teile aus Swerdlowsk, Riga und Minsk nicht eingetroffen waren. »Was hat die TransKom als Handelsbereich eintragen lassen?« »Import von Sport- und Freizeitgeräten. Gesponsert vom Leningrad-Komsomol. Boxhandschuhe und so was, vermute ich.« »Auch Spielautomaten?« »Offensichtlich.« »Im Austausch gegen was?« »Personal.« »Leute?«
»Nehme ich an.« »Was für Leute? Boxer, Kernphysiker?« »Reiseleiter.« »Für Reisen - wohin?« »Deutschland.« »Deutschland braucht sowjetische Reiseleiter?« »Offensichtlich.« Arkadi fragte sich, was der Mann sonst noch zu glauben bereit war. Daß Klein-Lenin als Baby Münzen unter sein Kopfkissen gelegt hatte, um Zähne dafür zu bekommen? »Hat die TransKom Angestellte?« »Zwei.« Der Mann las in den vor ihm liegenden Akten. »Viele Stellenbeschreibungen, aber nur zwei Angestellte. Rudik Abramowitsch Rosen, sowjetischer Bürger, und Boris Benz, wohnhaft in München, Deutschland. Die Adresse der TransKom ist die von Rosen. Es gibt womöglich noch einige Geldgeber, aber die sind nicht aufgeführt. Entschuldigen Sie.« Er bedeckte die Akten mit der Prawda. »Das Ministerium hat nicht etwa die Namen der Reiseleiter?« Der Mann faltete die Zeitung fein säuberlich zusammen. »Nein. Wissen Sie, hier kommen Leute her, um ein Jointventure zur Einfuhr von Penicillin eintragen zu lassen, und das nächste, was man von ihnen hört, ist, daß sie mit Basketball-Schuhen handeln oder Hotels bauen. Sobald die Bedingungen für einen freien Markt einmal geschaffen sind, kennt der unternehmerische Einfallsreichtum keine Grenzen mehr.« »Was werden Sie machen, wenn der Kapitalismus dereinst in voller Blüte steht?« »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.« »Sie haben Phantasie?« »Oh, ja.« Aus einer Schublade holte der Mann eine Rolle mit Schnur, biß ein etwa armlanges Stück davon ab und steckte es mit der Prawda in seine Jacke. »Ich bringe Sie hinaus. Ich wollte sowieso gerade zum Essen.« Bürokraten überlebten dank der Butter, des Brotes und der Wurst, die sie aus ihren Kantinen mit nach Hause nahmen. Die Jacke des Mannes war abgetragen, und die ausgebeulten Taschen glänzten speckig.
Der Wagankowskoje-Friedhof war liebevoll, aber nicht unbedingt sorgfältig gepflegt. Nasse Blätter lagen ungefegt um Linden, Birken und Eichen, Löwenzahn säumte die Gehwege, und niedriges Gestrüpp bedeckte die weichen Überreste natürlichen Verfalls. Viele der Grabsteine trugen Büsten getreuer Parteianhänger, aus Granit und schwarzem Marmor gehauen: Komponisten, Wissenschaftler, Schriftsteller des Sozialistischen Realismus, mit breiten Stirnen und herrischem Blick. Bescheidenere Seelen wurden von Fotos verewigt, die wie Kameen in den Stein eingelassen waren. Da die Gräber von eisernen Zäunen umgeben waren, schienen die Gesichter auf den Grabsteinen aus schwarzen Vogelkäfigen zu spähen. Doch nicht alle. Das erste Grab hinter dem Eingang war das des Sängers und Schauspielers Wisotzky und so mit Gänseblümchen und Rosen, noch vom Regen glänzend, überhäuft, daß das Summen der sich in ihnen tummelnden Hummeln noch in ziemlicher Entfernung zu hören war. Arkadi fand die Trauerprozession seines Vaters auf dem Mittelweg des Friedhofs. Kadetten, die einen Stern aus roten Rosen und ein Kissen mit Orden trugen, gingen einem Leichenträger voran, der den Handwagen mit dem Sarg schob, dann folgten ein Dutzend schlurfender Generäle in dunkelgrünen Ausgehuniformen und weißen Handschuhen, zwei Musiker mit Trompete und zwei mit einer Tuba, die einen Trauermarsch aus einer Sonate von Chopin spielten. Below, in Zivil, gehörte der Nachhut an. Seine Augen leuchteten auf, als er Arkadi sah. »Ich wußte, daß du kommen würdest.« Ernst ergriff er mit beiden Händen Arkadis Hand. »Natürlich hättest du nicht wegbleiben können, es wäre ein Skandal gewesen. Hast du die Prawda heute morgen gesehen?« »Als Einwickelpapier.« »Ich wußte, daß du das hier gern lesen würdest.« Er gab Arkadi einen Nachruf, den er offenbar sauber mit einem Lineal aus der Zeitung herausgetrennt hatte. Arkadi blieb stehen, um zu lesen. »General Kiril Iljitsch Renko, ein prominenter sowjetischer ArmeeKommandeur.« Es war ein langer Artikel, er überflog ihn und las einzelne Passagen. »… nach Absolvierung der Frunse-Militärakademie beteiligte sich K. I. Renko aktiv am Großen Patriotischen Krieg und begann damit eine
Karriere, die zu den ruhmreichsten seiner Zeit zählte. Als Kommandeur einer Panzerbrigade wurde er durch den ersten Ansturm der faschistischen Invasion von seinen Truppen abgeschnitten, schloß sich jedoch Partisanenkräften an und organisierte Überfälle hinter den feindlichen Linien . kämpfte erfolgreich in den Schlachten zur Verteidigung Moskaus, in der Schlacht von Stalingrad, in der Steppenkampagne und bei Operationen rund um Berlin . Nach dem Krieg war er verantwortlich für die Stabilisierung der Lage in der Ukraine und übernahm dann ein Kommando im Militärbezirk des nördlichen, mittleren und südlichen Ural.« Mit anderen Worten, dachte Arkadi, der General, der da jetzt leblos in seinem Sarg lag, war verantwortlich für die Massenexekutionen ukrainischer Nationalisten, die so blutig verliefen, daß er in den Ural abkommandiert werden mußte. »Zweimal mit dem Titel Held der Sowjetunion, viermal mit dem LeninOrden, einmal mit dem Orden der Oktoberrevolution, dreimal mit dem Orden des Roten Banners, zweimal mit dem Suworow-Orden (Erster Klasse), zweimal mit dem Kurosow-Orden (Erster Klasse) ausgezeichnet …« Below hatte sich eine Rosette mit verblaßten Bändern an sein Jackett geheftet. Sein weißes, kurzgeschnittenes Haar stand in spärlichen Stoppeln vom Kopf ab, schlechtrasierte Kehllappen hingen, ihm über den Kragen. »Danke«. Arkadi steckte den Nachruf in seine Tasche. »Hast du den Brief gelesen?« »Noch nicht.« »Dein Vater hat gesagt, er würde alles erklären.« Dazu bedarf es mehr als eines Briefes, dachte Arkadi. Dazu bedürfte es eines dicken, in schwarzes Leder gebundenen Wälzers. Die Generäle marschierten in tatterigem Gleichschritt voran. Arkadi hatte nicht das Bedürfnis, zu ihnen aufzuschließen. »Boris Sergejewitsch, erinnerst du dich an einen Tschetschenen namens Mahmud Chasbulatow?« »Chasbulatow?« Es fiel Below schwer, dem Wechsel des Gesprächsthemas zu folgen. »Mahmud behauptet, in drei Armeen gedient zu haben - in der Weißen, der Roten und der deutschen. Nach meinen Unterlagen ist er neunzig.
1920, während des Bürgerkrieges, muß er neunzehn Jahre alt gewesen sein.« »Das ist möglich. Es gab viele Kinder auf beiden Seiten, bei den Weißen und den Roten. Schreckliche Zeiten damals.« »Nehmen wir mal an, daß Mahmud zu Hitlers Zeiten in der Roten Armee war.« »Jeder hat damals gedient, in der einen oder anderen Weise.« »Ich habe mich gefragt: War mein Vater im Februar 1944 nicht im tschetschenischen Militärbezirk?« »Nein, nein. Wir sind damals nach Warschau vorgestoßen. Die Tschetschenen-Operation war absolut zweitrangig.« »Zu bedeutungslos, um die Zeit eines Helden der Sowjetunion in Anspruch zu nehmen?« »Zu bedeutungslos, um auch nur eine Sekunde seiner Zeit in Anspruch zu nehmen«, sagte Below. Ist es nicht erstaunlich, dachte Arkadi, wie konsequent sich manche Leute aus dem aktiven Dienst zurückziehen? Below hatte erst vor kurzem das Büro des Oberstaatsanwalts verlassen. Jetzt hatte Arkadi ihn nach dem Boß der Tschetschenen-Mafia gefragt, und der alte Unteroffizier konnte sich nicht mal mehr an dessen Namen erinnern, ganz so, als habe sein Geist schon vor vierzig Jahren den Abschied genommen. Sie gingen schweigend weiter. Arkadi fühlte sich beobachtet. In Marmor und Bronze standen die Toten über ihren Gräbern. Ein Tänzer führte eine Pirouette aus, erstarrt in weißem Stein. Ein Entdecker betrachtete sinnend den Kompaß in seiner Hand. Vor einem Relief aus Wolken nahm ein Pilot seine Schutzbrille ab. Allen gemein war der ernste, von der Schwere der Verantwortung gezeichnete Blick, unbestimmt und bestimmt zugleich. »Der Sarg war natürlich geschlossen«, murmelte Below. Arkadis Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, denn in entgegengesetzter Richtung bewegte sich auf einem Parallelweg eine andere, längere Prozession mit einem leeren Leichenwagen, einer größeren Batterie Hörner und Tuben und einigen bekannten Gesichtern unter den Trauernden. General Penjagin und Rodionow, der Oberstaatsanwalt, beide mit einem schwarzen Band am Ärmel, stützten von links und
rechts eine tief verschleierte Frau. Arkadi erinnerte sich, daß Penjagins Vorgänger im Kriminalamt erst vor wenigen Tagen gestorben war, die Frau an seiner Seite war vermutlich die Witwe des Verstorbenen. Ein Zug von Angehörigen der Miliz, Parteifunktionären und Verwandten folgte ihnen, Langeweile und Trauer auf den unbewegten Gesichtern. Keiner von ihnen bemerkte Arkadi. Seine eigene Prozession war inzwischen in eine von zottigen Kiefern gesäumte Allee eingebogen und blieb vor einem frisch ausgehobenen Grab stehen. Arkadi blickte sich um und schloß Bekanntschaft mit den neuen Nachbarn seines Vaters. Hier stand die Statue eines Sängers, der in Granit gemeißelter Musik lauschte. Dort schulterte ein Sportler mit bronzenen Muskeln einen eisernen Speer. Hinter den Bäumen rauchten Totengräber, auf ihre Schaufeln gestützt, eine Zigarette. Neben dem offenen Grab lag, fast bündig mit dem Erdboden, eine schmale weiße Marmortafel. Raum war knapp auf dem Wagankowskoje-Friedhof, und manchmal wurden Eheleute übereinandergelegt, diesmal jedoch, Gott sei Dank, nicht. Die Generäle nahmen neben dem Grab Aufstellung, und Arkadi erkannte die vier wieder, die er auf dem Roten Platz gesehen hatte. Schuksin, Iwanow, Kusnetsow und Gul sahen im Tageslicht noch kleiner aus, als wären die Männer, die er als Kind so gefürchtet und gehaßt hatte, auf magische Weise zu Käfern geschrumpft, mit Rückenpanzern aus grüner Serge und goldenem Brokat, die eingesunkenen Brustkörbe nur noch gestützt durch Medaillen, Rangabzeichen und Orden, ein blendendes Glitzern von Schnüren, Messingsternen und emailliertem Blech. Sie alle weinten bittere Wodkatränen. »Kameraden!« Iwanow entfaltete ein Stück Papier und begann vorzulesen. »Heute verabschieden wir uns von einem großen Russen, einem Freund des Friedens, der dennoch mit eisernem Willen .« Arkadi war immer wieder überrascht über das Vertrauen, das Menschen Lügen entgegenbrachten. Als hätten allein die Worte ausreichend Beziehung zur Wahrheit. Diese Veteranen waren nichts anderes als kleine Schlächter, die einem großen Schlächter ein rührseliges Lebewohl zuriefen, und ohne die Arthritis in ihren Gelenken würden sie noch heute das Messer zücken wie in den glorreichen Tagen ihrer Jugend. Als Schuksin Iwanow ablöste, hatte Arkadi den Wunsch, selbst eine
Zigarette zu rauchen und eine Schaufel in die Hand zu nehmen. »>Nicht einen Schritt zurück!< hatte Stalin befohlen. Ja, Stalin. Sein Name ist mir immer noch heilig .« »Stalins Lieblingsgeneral« war sein Vater genannt worden. Als sie eingeschlossen waren und keine Lebensmittel und keine Munition mehr hatten, wagten andere Generäle, sich mit ihren Männern zu ergeben. General Renko ergab sich niemals, er hätte sich nicht einmal ergeben, hätten nur noch Tote seinem Befehl gehorcht. Er war nie in die Hände der Deutschen gefallen. Er durchbrach die feindlichen Linien, um sich den Verteidigungskräften rund um Moskau anzuschließen, und ein berühmtes Foto zeigte ihn mit Stalin höchstpersönlich, über eine Karte gebeugt, um Truppenverlegungen von einem Standort zum anderen zu planen, wie zwei Teufel, die die Hölle verteidigten. Der füllige Kusnetsow trat an das Grab. »Heute, wo jeder versucht, unsere glorreiche Armee zu verleumden .« Ihre Stimmen hatten den hohlen Tremor zerborstener Celli. Arkadi hätte Mitleid gehabt, hätte er sich nicht erinnert, wie sie als Schatten seines Vaters in die Datscha zu stürmen pflegten, um sich zum Abendessen zu versammeln und später betrunken Lieder anzustimmen, die stets mit einem brüllenden »Hurrrrrahhhhh!«, dem Siegesruf der Armee, endeten. Arkadi war sich nicht sicher, weshalb er gekommen war. Vielleicht Belows wegen, der die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn nie aufgegeben hatte. Vielleicht wegen seiner Mutter. Sie würde Seite an Seite mit ihrem eigenen Mörder liegen. Er trat vor, um Schmutz von der weißen Marmortafel zu entfernen. »Sowjetische Macht, errichtet auf dem heiligen Altar von zwanzig Millionen Toten .«, dröhnte Kusnetsow. Nein, nicht in Käfer verwandelt, dachte Arkadi. Das wäre zu freundlich, zu kafkaesk. Eher wie ergraute, dreibeinige Hunde, senil, aber tollwütig vor der offenen Grube jaulend. Gul schwankte unter seinem grünen, mit Medaillen überfrachteten Uniformrock, der ihm schlotternd an den Knochen hing. Er nahm seine Mütze ab und entblößte aschefarbenes Haar. »Ich rufe mir die letzte Begegnung mit K.I. Renko vor wenigen Tagen in die Erinnerung.« Gul legte seine Hand auf den dunklen Holzsarg mit den Messinggriffen, dürr wie ein Skelett. »Wir gedachten unserer Waffenbrüder, deren Opfertod
wie eine ewige Flamme in unseren Herzen brennt. Wir sprachen über die heutige Zeit mit ihren Zweifeln und Selbstkasteiungen, die so anders ist als unsere eherne Entschlossenheit damals. Ich gebe Ihnen jetzt die Worte wieder, die der General mir bei dieser Begegnung sagte. >Denjenigen, die die Partei mit Schmutz bewerfen. Denjenigen, die die historischen Sünden der Juden vergessen. Denjenigen, die unsere revolutionäre Geschichte verfälschen, unser Volk erniedrigen und verunglimpfen. Ihnen allen rufe ich zu: Mein Banner war und wird immer rot sein!Lenin-Zimmer< - dem politischen Schulungsraum - schnarchten an langen Tischen Milizionäre, die Köpfe mit Handtüchern bedeckt. Jaaks Schlüssel öffnete einen mit Linoleum ausgelegten, gelbgetünchten Raum. Das Zimmer, das mehreren, zu unterschiedlichen Zeiten arbeitenden Männern als Arbeits- und Aufenthaltsraum diente, war nur spärlich möbliert: zwei einander gegenüberstehende Schreibtische, vier Stühle, vier gewaltige, noch aus der Vorkriegszeit stammende Safes. Ein Autoposter, ein Fußballposter und ein Foto von einer Weltausstellung klebten an der Wand. Eine offene Tür in der Ecke führte in ein Pissoir, dessen Geruch den Raum durchwebte. Auf den Schreibtischen standen drei Telefone: eine Außenleitung, eine Gegensprechanlage und eine Direktverbindung mit der Petrowka-Straße. Die Schubladen enthielten verblichene Fotos von gesuchten Personen, Wagenbeschreibungen und zehn Jahre alte Kalender. Das Linoleum zwischen den Tischbeinen war von Zigaretten verbrannt. Arkadi setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte immer geglaubt, daß Jaak eines Tages zurück nach Estland fahren würde, um
als glühender Nationalist wiedergeboren zu werden und heroisch die junge Republik zu verteidigen. Er hatte geglaubt, daß Jaak die Fähigkeit hatte, ein anderes Leben zu führen. Nicht mehr das, das er hier geführt hatte. Doch die Unterschiede zwischen ihm und Jaak waren wohl nicht so groß, ob tot oder lebendig. Der erste Anruf, den er tätigte, galt seinem eigenen Büro. Der Hörer wurde bereits beim zweiten Läuten abgenommen. »Minin am Apparat.« Arkadi legte auf. Ein Außenstehender hätte sich fragen können, warum Minin nicht zum Lenin-Pfad-Kollektiv gefahren war. Arkadi wußte aus Erfahrung, daß es zwei Arten von Ermittlungen gab: eine, die Informationen sammelte, und eine andere - mit längerer Tradition -, die sie vertuschte. Die zweite war tatsächlich die schwierigere, denn sie erforderte jemanden, der den Schauplatz des Verbrechens untersuchte, und darüber hinaus jemanden, der die Informationen im Büro zusammenhielt. Als Arkadis Vorgesetzter mußte Rodionow der Mann vor Ort sein, und Minin, der hart arbeitende Minin, der beförderte Minin, war derjenige, der damit betraut war, all die Beweisstücke und Dossiers zusammenzutragen, die auf eine Verbindung zwischen dem ermordeten General Penjagin und Rudi Rosen hinwiesen. Arkadi zog die kurze Liste von Telefonnummern hervor, die er Penjagins Parteibuch entnommen hatte. Die erste war die Rodionows, die beiden anderen waren Moskauer Nummern, die ihm neu waren. Er sah auf die Uhr - zwei Uhr morgens, eine Stunde, zu der alle guten Bürger zu Hause sein sollten. Er nahm den Hörer ab und wählte über die Außenleitung eine der unbekannten Nummern. »Ja?« meldete sich die Stimme eines Mannes, der tief geschlafen zu haben schien. »Ich rufe wegen Penjagin an«, sagte Arkadi. »Was ist mit ihm?« »Er ist tot.« »Das ist eine schlechte Nachricht.« Die Stimme blieb beherrscht, leise, ruhiger als zuvor. »Hat man jemanden erwischt?« »Nein.« Eine Pause. Dann berichtigte die Stimme sich. »Ich meine, wie ist er gestorben?« »Er wurde erschossen. Auf dem Bauernhof.« »Mit wem spreche ich?« Die gepflegte Aussprache der Stimme war
ungewöhnlich - eine russische Birke, mit fremder Farbe übermalt. »Es gab eine Komplikation«, sagte Arkadi. »Was für eine Komplikation?« »Ein Inspektor.« »Mit wem spreche ich?« »Wollen Sie nicht wissen, wie er gestorben ist?« Wieder eine Pause. Arkadi konnte fast hören, wie der Mann am anderen Ende der Leitung hellwach wurde. »Ich weiß, wer Sie sind.« Die Leitung wurde unterbrochen, aber nicht, bevor nicht auch Arkadi Max Albows Stimme erkannt hatte. Selbst wenn sie sich nur für eine Stunde gesehen hatten - kürzlich, in Penjagins Gesellschaft. Er wählte die andere Nummer und kam sich vor wie ein Angler, der einen Köder in dunkles Wasser wirft und überlegt, welcher Fisch wohl anbeißt. »Hallo!« Diesmal war es eine Frau, die den Lärm eines Fernsehers im Hintergrund überschrie. Sie lispelte. »Wer ist am Apparat?« »Ich rufe wegen Penjagin an.« »Warten Sie einen Augenblick.« Während er wartete, lauschte Arkadi der Stimme eines Amerikaners, der eine langweilige Geschichte, unterbrochen von Explosionen und dem Knallen kleiner Schußwaffen, zu erzählen schien. »Wer ist am Apparat?« Ein Mann war in der Leitung. »Albow«, sagte Arkadi. Zwar sprach er nicht so gepflegt wie der Journalist, aber er modulierte seine Stimme ein wenig, und am anderen Ende war die Schießerei. »Penjagin ist tot.« Es gab eine Pause, keine Stille. Mit einer Musiküberblendung begann der Amerikaner, eine andere Geschichte zu erzählen. Das Abfeuern kleinerer Schußwaffen war aber auch weiterhin zu hören, mit einem Widerhall, der auf einen großen Raum schließen ließ. »Warum rufen Sie an?« Arkadi sagte: »Es gab Probleme.« »Das ist das Schlimmste, was Sie machen können - hier anzurufen. Ich bin überrascht. Ein umsichtiger Mann wie Sie!« Die Stimme war kräftig, sie strahlte Humor und das Selbstvertrauen eines erfolgreichen Führers aus. »Verlieren Sie nicht die Nerven.« »Ich mache mir Sorgen.«
Arkadi hörte das Klicken eines gut geschlagenen Balls, Applaus und begeisterte »Banzai«-Rufe. Inzwischen sah er eine Bar in Marlboro-Farben und zufriedene Golfspieler vor sich. Er hörte das Klingeln einer Kasse und, leiser, das entfernte Klimpern von Spielautomaten. Und er sah Borja Gubenko vor sich, die Hand am Telefon und langsam nervös werdend. »Was getan ist, ist getan«, sagte Borja. »Was ist mit dem Inspektor?« »Sie müßten doch am allerbesten wissen, daß man so was nicht am Telefon bespricht.« »Was jetzt?« fragte Arkadi. Es war mitten in der Nacht. Die amerikanische Fernsehstimme hatte etwas Beruhigendes an sich. Arkadi glaubte fast, den Lagerfeuerschein des Bildschirms zu spüren, nahm teil an der internationalen Gleichheit der Nachrichten, die Geschäftsleute überall auf der Welt begleiteten. »Was machen wir jetzt?« Einst wollten die Amerikaner Rußland retten. Dann wollten es die Deutschen. Wer immer Rußland heute retten wollte, mußte seine Golfspieler zu Borja schicken, dachte Arkadi. Er hatte gesagt, daß die Japaner immer die letzten seien, die gingen. »Was machen wir?« fragte er noch einmal. Er hörte das Abschlagen eines weiteren Balls. Schlug er gegen eine der Baumattrappen, die in der Fabrik standen? Oder flog er in hohem und langem Bogen gegen die grasgrüne Plane am anderen Ende des Raumes? »Wer ist da?« fragte Borja, dann legte er auf. Und ließ Arkadi zurück mit … nichts. Erstens hatte er das Gespräch nicht auf Band aufgenommen. Zweitens, und wenn er es hätte? Er hatte kein Geständnis bekommen, nichts, das sich nicht durch Müdigkeit, Lärm, Mißverständnisse und eine schlechte Verbindung erklären ließe. Was besagte es schon, daß Penjagin ihre Telefonnummern hatte? Albow war ihm als Freund der Miliz vorgestellt worden, und die Miliz beschützte auch Borja Gubenkos Driving-Range. Was besagte es schon, wenn Albow und Gubenko sich kannten? Sie gehörten der Moskauer Gesellschaft an, sie waren keine Einsiedler. Arkadi hatte überhaupt keine Beweise. Er wußte nur, daß der Fall Rosen Jaak in ein Kollektiv geführt hatte, wo er getötet und im selben Wagen wie Penjagin aufgefunden
worden war. Und Arkadi hatte den Fall Rosen vermasselt. Er hatte keinen Kim, und das, was er tatsächlich an Hinweisen hatte, wurde in diesem Augenblick von Minin geprüft. Andererseits war Jaak kein schlechter Mann gewesen. Arkadi durchsuchte alle Schubladen und zog dann Jaaks überdimensionalen Schlüssel hervor. Jeder Inspektor hatte seinen eigenen Safe, ein verschlossenes Magazin seiner Arbeit. Er probierte den Schlüssel nacheinander an allen vier Safes aus, bis das letzte Schloß nachgab und sich die eiserne Tür öffnete, um drei Borde mit Jaaks Unterlagen freizugeben. Auf dem unteren Bord waren mit einem roten Band zusammengebundene Akten abgelegt, der Grundstock des professionellen Gedächtnisses Jaaks. Auf dem oberen Bord lagen persönliche Gegenstände: Fotos von einem Jungen und einem Mann, die zusammen angelten, von demselben Jungen und einem Mann, der ein Modellflugzeug in der Hand hielt, von dem Jungen, der inzwischen in eine Armeeuniform hineingewachsen war und den Arkadi als einen Jaak wiedererkannte, der neben einer glücklichen, aber verlegenen Frau posierte, die ihre Schürze glattstrich. Sie standen auf den Stufen einer Datscha. Jaaks Augen blinzelten in helles Sonnenlicht, die seiner Mutter lagen im Schatten. Ein Bild von Soldaten in ihrem Zelt, singend, Jaak mit Gitarre. Eine Scheidungsurkunde, acht Jahre alt, zerrissen und wieder zusammengeklebt. Ein Schnappschuß von Jaak mit Julja in einer früheren Phase ihres Lebens, als sie noch dunkles Haar hatte verwackelt, weil sie eine Achterbahn hinunterstürzten, ebenfalls zerrissen und wieder zusammengeklebt. Auf dem mittleren Bord lagen ein graues juristisches Handbuch, vollgestopft mit den schlampigen Nachträgen sich täglich ändernder Gesetze, Protokollformulare für Ermittlungen, Durchsuchungen und Vernehmungen, das rote Adreßbuch der in der Moskauer Region arbeitenden Kripoleute sowie einzelne Makarow-Patronen aus Messing. Da war eine Aufnahme des überwachten Rudi, ein Verbrecherfoto des jungen Kim, da waren Polinas Aufnahmen des Schwarzmarkts und des ausgebrannten Wracks von Rudis Wagen. Außerdem ein Umschlag, wie er zum Postverkehr zwischen den einzelnen Abteilungen verwendet wurde. Arkadi öffnete ihn und fand das deutsche Videoband, das er Jaak gegeben hatte, sowie zwei Standfotos. Jaak hatte also die Bilder
entwickeln lassen. Es waren Einzelaufnahmen der Frau im Biergarten. Auf die Rückseite eines der beiden Fotos hatte Jaak geschrieben: »Durch verläßliche Quelle identifiziert als >RitaWas ist das Verückteste, was ich heute tun kann?< Ich glaube, heute kann es interessant werden.« Stas steuerte in eine der Parkbuchten vor dem Tennisplatz. Er ergriff seine Aktentasche, stieg aus, schloß den Wagen ab und führte Arkadi über die Straße zu einem stählernen Tor, das von Kameras und Spiegeln
bewacht wurde. Dahinter erstreckte sich ein Komplex weißgetünchter Gebäude mit weiteren Kameras an den Wänden. Wie jeder, der in der Sowjetunion aufgewachsen war, verband Arkadi mit Radio Liberty zwei einander widersprechende Vorstellungen. Zeit seines Lebens hatte die Presse den Sender als Agitationszelle des amerikanischen Geheimdienstes und seiner Handlanger beschrieben. Doch zugleich wußte jeder, daß Radio Liberty die verläßlichste Informationsquelle war, ging es um verschwundene russische Dichter oder nukleare Störfälle. Obwohl Arkadi selbst schon des Verrats bezichtigt worden war, hatte er ein ungutes Gefühl, als er Stas jetzt begleitete. Er hatte fast erwartet, amerikanische Marineinfanteristen anzutreffen, aber die Wärter in der Eingangshalle des Senders waren Deutsche. Stas zeigte seinen Dienstausweis vor und gab einem der Männer seine Aktentasche, der sie zwischen die Bleiwände eines Röntgengeräts schob. Ein anderer Mann winkte Arkadi an einen Tisch, der von dickem Panzerglas geschützt wurde. Der Tisch war größer, die Sessel waren weicher, ansonsten unterschied sich die Atmosphäre der Eingangshalle nicht von den staatlichen Gebäuden in der Sowjetunion: Internationales Design bot durchreisenden Pazifisten und bombenlegenden Terroristen ein vertrautes Ambiente. »Ihr Paß?« fragte der Mann. »Ich habe ihn nicht bei mir«, sagte Arkadi. »Sein Hotel hat ihn noch«, half Stas. »Die fabelhafte deutsche Tüchtigkeit, von der wir immer hören. Herr Renko ist ein äußerst wichtiger Besucher. Das Studio wartet bereits auf ihn.« Widerwillig akzeptierte der Wächter einen sowjetischen Führerschein und schob Arkadi einen Besucher-Ausweis hin. Stas entfernte die Beschichtung und heftete ihn an Arkadis Brust. Eine Glastür summte, und sie betraten einen Flur mit beigefarbenen Wänden. Arkadi blieb stehen, bevor sie weitergingen. »Warum tun Sie das?« »Ich habe Ihnen gestern schon gesagt, daß ich es nicht mag, wenn der Blitz den Falschen trifft. Nun, Sie sehen mir ganz so aus, als hätte er Sie bereits voll erwischt.« »Bekommen Sie keine Schwierigkeiten, wenn Sie mich hierherbringen?« Stas zuckte mit den Schultern. »Sie sind hier nur ein weiterer Russe. Der
Sender ist voll von Russen.« »Und wenn ich einem Amerikaner begegne?« fragte Arkadi. »Ignorieren Sie ihn. Genau das, was wir alle tun.« Der Boden des Korridors war mit einem dicken amerikanischen Teppich ausgelegt. Halb im Stechschritt, halb humpelnd, führte Stas Arkadi an Glasvitrinen vorbei, die die geschichtlichen Ereignisse illustrierten, über die Radio Liberty in die Sowjetunion berichtet hatte: die Berliner Luftbrücke, die Kubakrise, Solschenizyn, die Besetzung Afghanistans, das koreanische Linienflugzeug, Tschernobyl, der Zusammenbruch der baltischen Staaten. Alle Fotos waren mit englischen Bildbeschreibungen versehen. Arkadi hatte das Gefühl, durch die Geschichte zu gleiten. Wenn die Flure ordentlich und von amerikanischer Sauberkeit waren, so wirkte Stas’ Büro anarchisch wie eine russische Reparaturwerkstatt: Schreibtisch und Drehstuhl, ein Aktenschrank aus Holz, ein Tonschneidetisch und ein Sessel. Das war die Bodenschicht. Auf dem Schreibtisch standen eine mechanische Schreibmaschine, ein Textverarbeitungsgerät, ein Telefonapparat, Wassergläser und Aschenbecher. Auf der Fensterbank zwei elektrische Ventilatoren, zwei Stereolautsprecher und ein zweiter Computerbildschirm. Auf dem Aktenschrank ein tragbares Radio und ein offensichtlich unbenutztes ComputerKeyboard. Auf dem Tonbandgerät lagen Magnetbandspulen und lose Magnetbänder. Und überall - auf dem Schreibtisch, auf der Fensterbank, dem Aktenschrank und dem Sessel - stapelten sich Zeitungen. An der Spiralschnur eines Wandtelefons baumelte ein Hörer. Arkadi erkannte auf den ersten Blick, daß außer der Schreibmaschine und dem Telefon nichts funktionierte. Er stützte sich auf den Schreibtisch, um die Bilder an der Wand zu betrachten. »Ein großer Hund.« Dasselbe dunkle und zottige Tier, das er am Armaturenbrett des Mercedes gesehen hatte. Laika, wie sie ausgestreckt auf Stas’ Schoß lag. »Was für eine Rasse?« »Rottweiler und Schäferhund. Die übliche deutsche Mischung. Machen Sie es sich bequem.« Stas befreite den Sessel von den Zeitungen und folgte Arkadis Blick durch den Raum. »Man hat uns all diesen elektronischen Kram samt einem Haufen unnützer Software gegeben. Ich hab einfach die Stecker rausgezogen, laß
aber den ganzen Krempel hier stehen, weil es den Boß glücklich macht.« »Wo arbeitet Irina?« Stas schloß die Tür. »Weiter den Flur runter. Die russische Abteilung von Radio Liberty ist die größte. Es gibt auch Ressorts für die Ukrainer, Belorussen, Balten, Armenier und Türken. Wir senden in verschiedenen Sprachen für die verschiedenen Republiken. Und dann ist da noch RFE.« »RFE?« Stas setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch. »Radio Freies Europa. Für Hörer in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien. Liberty und RFE beschäftigen Hunderte von Leuten in München. Die Stimme von Liberty für unsere russischen Hörer ist Irina.« Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Eine Frau mit kurzgeschnittenen weißen Haaren, weißen Augenbrauen und einer schwarzen Samtschleife watschelte herein, in der Hand einen Stoß von engbeschriebenen Blättern. Ihr Körper war fett, und sie musterte Arkadi mit dem trägen Blick einer alternden Kokette. »Zigarette?« Ihre Stimme war noch tiefer als die Arkadis. Aus einer mit Zigarettenstangen vollgestopften Schublade zog Stas eine frische Packung. »Für Sie immer, Ludmilla.« Stas gab ihr Feuer, und Ludmilla beugte sich vor und schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren sie auf Arkadi gerichtet. »Ein Besucher aus Moskau?« fragte sie. Stas sagte: »Nein, der Erzbischof von Canterbury.« »Der CS weiß gern, wer den Sender betritt und verläßt.« »Dann sollte man ihm den Gefallen tun«, sagte Stas. Ludmilla warf Arkadi einen letzten forschenden Blick zu und ging hinaus, mit ihrem Rauch Schwaden von Argwohn hinter sich zurücklassend. Stas belohnte sich und Arkadi mit einer Zigarette. »Das war unser Sicherheitssystem. Wir verfügen über Kameras und schußsicheres Glas, aber das alles ist nichts im Vergleich zu Ludmilla. Der CS ist der Chef der Sicherheit.« Er sah auf seine Uhr. »Bei zwei Schritten in der Sekunde und dreißig Zentimetern pro Schritt wird Ludmilla sein Büro in genau zwei Minuten erreichen.« »Sie haben Sicherheitsprobleme?« fragte Arkadi. »Der KGB hat vor einigen Jahren die tschechische Abteilung hochgehen
lassen. Einige unserer Mitarbeiter sind durch Gift und Stromschläge zur Strecke gebracht worden. Sie könnten sagen, wir haben Angst.« »Aber sie weiß nicht, wer ich bin.« »Zweifellos hat sie sich am Empfang bereits nach Ihnen erkundigt. Ludmilla weiß, wer Sie sind. Sie weiß alles und versteht nichts.« »Ich bringe Sie in eine schwierige Lage und störe Sie auch noch bei der Arbeit«, sagte Arkadi. Stas sortierte die Blätter. »Das hier? Das sind die täglichen Berichte der Nachrichtendienste, Zeitungsauszüge und Berichte unserer Mitarbeiter. Und ich werde auch noch mit unseren Korrespondenten in Moskau und Leningrad reden. Aus dieser Flut von Informationen destilliere ich etwa eine Minute Wahrheit.« »Die Nachrichtensendung ist zehn Minuten lang.« »Den Rest erfinde ich«, sagte Stas, um dann schnell hinzuzufügen: »Nur ein Scherz. Sagen wir, ich polstere ihn aus. Sagen wir, ich möchte Irina nicht in die Lage bringen, den Russen mitteilen zu müssen, daß ihr Land ein verwesender Leichnam ist, ein Lazarus, der nicht mehr zum Leben erweckt werden kann, und daß sie sich lieber hinlegen sollten, um nie wieder aufzustehen.« »Jetzt scherzen Sie nicht«, sagte Arkadi. »Nein.« Stas lehnte sich zurück und stieß einen langen, rauchgeschwängerten Seufzer aus. Er ist wirklich dürr wie ein Schornsteinrohr, dachte Arkadi. »Jedenfalls habe ich den ganzen Tag Zeit, das Material zurechtzustutzen, und wer weiß, was für interessante Katastrophen noch bis zur Sendezeit eintreffen?« »Die Sowjetunion ist ein fruchtbarer Boden?« »Ich muß bescheiden sein. Ich ernte nur, ich säe nicht.« Stas schwieg einen Augenblick. »Aber da wir gerade von der Wahrheit reden: Ich kann gut verstehen, daß ein sowjetischer Inspektor, möge er auch noch so abgebrüht sein, sich in Irina verliebt, Familie und Karriere aufs Spiel setzt, sogar für sie tötet. Danach sind Sie dann, wie ich gehört habe, von der Partei offiziell getadelt worden, aber Ihre einzige Strafe hat schlicht darin bestanden, für kurze Zeit nach Wladiwostok geschickt zu werden, wo Sie eine Zeitlang einen bequemen Bürojob bei der Fischerei innehatten. Und schon wurden Sie nach Moskau zurückbeordert, um den reaktionärsten Kräften zu helfen, freie Unternehmer zur Räson zu
bringen. Das Büro des Oberstaatsanwalts konnte Sie kaum kontrollieren, da Sie, wie zu vernehmen war, ausgezeichnete Beziehungen zur Partei hatten. Dann aber, als wir Sie gestern im Biergarten getroffen haben, waren Sie absolut nicht der sture Apparatschik, den ich erwartet hatte. Dafür ist mir etwas anderes aufgefallen.« Er rollte mit seinem Stuhl näher heran, bewegte sich behender auf Rädern. »Geben Sie mir Ihre Hand.« Arkadi kam der Aufforderung nach, und Stas öffnete die Hand, um die Narben zu betrachten, die quer über die Innenfläche liefen. »Da haben Sie sich nicht an Papier geschnitten«, sagte er. »Schleppnetztrossen. Die Ausrüstung der Fischer ist alt, die Trossen fasern aus.« »Wenn die Sowjetunion sich nicht gewaltig geändert hat, ist das Einholen von Netzen nicht gerade das, was man einem Liebling der Partei angedeihen läßt.« »Ich habe das Vertrauen der Partei schon seit langem verloren.« Stas studierte die Narben wie ein Handleser. Er besaß, wie Arkadi bemerkte, jene erhöhte Konzentrationsfähigkeit, wie man sie erlangt, wenn man Jahre als Krüppel leben oder im Krankenbett verbringen mußte. »Sind Sie hinter Irina her?« fragte er. »Meine Aufgabe in München hat wirklich nichts mit ihr zu tun.« »Und Sie können mir nicht sagen, worin diese Aufgabe besteht?« »Nein.« Das Telefon läutete. Obgleich der Lärm förmlich Staub aufzuwirbeln schien, betrachtete Stas den Apparat mit Gleichmut, ganz so, als klingelte er an einem fernen Strand. Er blickte auf die Uhr. »Das wird der Chef der Sicherheit sein. Ludmilla hat ihm gerade gesagt, daß ein übel beleumdeter Ermittler aus Moskau in den Sender eingedrungen ist.« Er sah Arkadi fragend an. »Sind Sie eigentlich nicht hungrig?« Die Kantine lag ein Stockwerk tiefer. Stas führte Arkadi an einen Tisch, wo eine schwarzweiß gekleidete deutsche Kellnerin ihre Bestellung Schnitzel und Bier - entgegennahm. Junge Amerikaner mit offenen Gesichtern gingen nach draußen in den Garten. Die Tische drinnen waren von älteren, vorwiegend männlichen Emigranten besetzt, die zwischen dichten Schwaden von Zigarettenrauch müßig dasaßen. »Wird der Sicherheitschef nicht hier nach Ihnen suchen?« fragte Arkadi.
»In unserer Kantine? Nein. Ich esse gewöhnlich am Chinesischen Turm.« Stas zündete sich eine Zigarette an, atmete den Rauch ein und hustete gewohnheitsgemäß, während er seinen hellen Blick durch den Raum schweifen ließ. »Ich bekomme immer Heimweh, wenn ich all die Vertreter des Sowjetreichs hier sehe. Die Rumänen haben ihren eigenen Tisch, dort drüben sitzen die Tschechen, da die Ukrainer.« Er nickte einigen Männern in weißen, kurzärmeligen Hemden zu. »Und die Turkmenen. Die Turkmenen hassen uns natürlich, und das Problem ist, daß sie es heute auch laut sagen.« »Die Dinge haben sich also geändert?« »In dreierlei Hinsicht: Erstens, die Sowjetunion fällt auseinander, und seit die Nationalisten sich dort gegenseitig an die Kehle gingen, passiert hier genau das gleiche. Zweitens, die Kantine schenkt keinen Wodka mehr aus. Jetzt kriegt man nur noch Wein oder Bier, nichts Hochprozentiges mehr. Drittens, statt von der CIA werden wir jetzt vom Kongreß kontrolliert.« »Sie sind also kein Instrument der CIA mehr?« »Das war die gute, alte Zeit. Die CIA wußte wenigstens, was sie tat.« Das Bier kam zuerst. Arkadi trank andächtig einige Schlucke, da es so anders war als das saure, trübe Bier in der Sowjetunion. Stas leerte sein Glas mit einem Zug und stellte es vor sich auf den Tisch. »Ach ja, das Emigrantenleben. Allein unter den Russen gibt es vier Gruppen: New York, London, Paris und München. Nach London und Paris zieht es die Intellektuellen. In New York kann man ein ganzes Leben verbringen, ohne je ein Wort Englisch zu sprechen. Aber die Gruppe in München ist wirklich hinter der Zeit zurück: Hier finden Sie die meisten Monarchisten. Und dann gibt’s noch die Dritte Welle.« »Was ist die Dritte Welle?« Stas sagte: »Die letzte Welle der Flüchtlinge. Mit denen die alten Emigranten absolut nichts zu tun haben wollen.« Arkadi sprach aus, was er vermutete. »Sie meinen die Juden?« »Richtig.« »Hier ist es wie zu Hause.« Nicht ganz wie zu Hause. Obgleich die Kantine von slawischen Lauten erfüllt war, war das Essen deutsch und erweckte die Vorstellung, sich sofort in Blut, Knochen und Energie zu verwandeln. Während er aß, sah
sich Arkadi aufmerksamer um. Die Polen trugen, wie er bemerkte, Anzüge ohne Krawatte und den Ausdruck von Aristokraten, die vorübergehend knapp bei Kasse waren. Die Rumänen bevorzugten einen runden Tisch, um besser konspirieren zu können. Die Amerikaner saßen getrennt von allen anderen und schrieben Postkarten wie pflichtbewußte Touristen. »Sie hatten tatsächlich Oberstaatsanwalt Rodionow als Gast hier?« »Als Repräsentant des Neuen Denkens, des politischen Maßes und verbesserten Klimas für ausländische Investitionen«, sagte Stas. »Haben Sie Rodionow etwa persönlich eingeladen?« »Ich persönlich würde ihn nicht mal mit Handschuhen anfassen.« »Wer dann?« »Der Direktor des Senders ist ein großer Anhänger des Neuen Denkens. Er glaubt an Henry Kissinger, Pepsi Cola und Pizza vom Fließband. Keine Sorge, wenn Sie mir nicht ganz folgen können. Sie haben eben noch nie für Radio Liberty gearbeitet.« Die Kellnerin brachte Stas ein weiteres Bier. Mit ihren blauen Augen und dem kurzem Rock sah sie aus wie ein überarbeitetes kleines Mädchen. Arkadi fragte sich, was sie von ihren Gästen denken mochte, diesen sonnengebräunten Amerikanern und streitsüchtigen Slawen. Ein großer Georgier mit den Locken und der Habichtnase eines Schauspielers war an ihren Tisch getreten. Sein Name war Rikki. Er nickte Arkadi mit leerem Gesichtsausdruck zu, als er ihm vorgestellt wurde, und begann dann unverzüglich, laut zu lamentieren. »Meine Mutter kommt zu Besuch. Sie hat mir nie verziehen, daß ich mich abgesetzt habe. Gorbatschow ist ein reizender Mann, sagte sie, nie würde er Demonstranten mit Tränengas auseinandertreiben lassen. Sie hat ein Reuebekenntnis für mich aufgesetzt, das ich unterschreiben soll, um mit ihr zurückzufahren. Sie ist so gaga, daß sie mich sofort ins Gefängnis bringen würde. Sie läßt sich die Lunge untersuchen, während sie hier ist, dabei sollte man ihr Gehirn durchleuchten. Und wißt ihr, wer außerdem kommt? Meine Tochter. Sie ist achtzehn. Heute treffen sie ein. Meine Mutter und meine Tochter. Ich liebe meine Tochter, das heißt, ich glaube, daß ich sie liebe, da ich sie noch nie gesehen habe. Gestern abend haben wir miteinander telefoniert.« Rikki steckte eine Zigarette an der anderen an. »Ich habe natürlich Fotos von
ihr, aber ich habe sie gebeten, sich zu beschreiben, damit ich sie am Flughafen erkenne. Kinder verändern sich schließlich dauernd. Wie es scheint, hole ich jemanden ab, der wie Madonna aussieht. Als ich anfing, mich zu beschreiben, sagte sie: »Beschreib lieber dein Auto.Freiheitsreflex< und behauptete, dieser >Freiheitsreflex< sei nicht nur bei Hunden, sondern auch bei menschlichen Populationen zu finden, wenn auch in unterschiedlichem Maße. In westlichen Gesellschaften sei er sehr ausgeprägt, in der russischen Gesellschaft jedoch, sagte er, herrsche eher ein >Gehorsamreflex< vor. Das war kein moralisches Urteil, nur eine wissenschaftliche Feststellung. Und Sie können sich vorstellen, wie der >Gehorsamreflex< seit der Oktoberrevolution im Laufe von siebzig Jahren Kommunismus gepflegt worden ist. Ich sage nur, daß unsere Erwartungen in Hinblick auf eine echte Demokratie realistisch sein sollten.« »Was verstehen Sie unter realistisch?« fragte Irina. »Niedrig.« Er sagte das mit der Befriedigung eines Mannes, der das Ableben eines verkommenen Subjekts beschreibt. Der Toningenieur meldete sich aus dem Regieraum. »Irina, wir haben Probleme mit der Qualität, wenn der Professor zu nah am Mikrofon sitzt. Ich spiele das Band noch einmal ab. Macht eine Pause.« Arkadi erwartete, das Gespräch noch einmal zu hören, aber der Toningenieur lauschte in seine Kopfhörer, während die Geräusche aus dem Aufnahmestudio weiterhin in den Regieraum drangen. Irina öffnete ihre Handtasche und nahm eine Zigarette heraus. Der Professor sprang fast über den Tisch, um sie anzuzünden. Als sie sich vorbeugte, fiel ihr Haar zur Seite und ließ einen Ohrring aufleuchten. Ihr
blauer Pullover, sicher aus Kaschmir, war fast zu elegant, um ihn bei der Arbeit in einem Radiosender zu tragen, dachte Arkadi. »Das ist ein bißchen stark, finden Sie nicht? Russen mit Hunden zu vergleichen?« fragte Irina. Der Professor verschränkte die Arme, immer noch erfüllt von stolzer Zufriedenheit. »Nein, überlegen Sie doch nur. All diejenigen, die nicht gehorchen wollten, sind entweder getötet worden oder haben vor langer Zeit das Land verlassen.« Arkadi sah die Verachtung in ihren Augen, die sich wie eine Flamme auszudehnen schien. Vielleicht hatte er sich auch geirrt, denn ihre Stimme war unverändert freundlich. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie. »Es ist ein anderer Typ, der heute Moskau den Rücken kehrt.« »Genau! Die Leute, die jetzt kommen, das sind die zurückgelassenen Familien. Nachzügler, keine Führer. Das ist kein Werturteil, nur eine Charakteranalyse.« Irina sagte: »Nicht nur Familien.« »Nein, nein. Frühere Kollegen, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe, tauchen plötzlich überall auf.« »Freunde.« »Freunde?« Eine Kategorie, die er nicht bedacht hatte. Rauch hatte sich im Licht gesammelt und wob einen Heiligenschein um Irina. Es war der Kontrast, der Arkadi so faszinierte: eine Maske mit Augen und einem vollen Mund, dunkles, streng gescheiteltes Haar, das sanft auf die Schultern fiel. Sie glühte wie Eis. »Es kann sehr schmerzlich sein«, sagte Irina. »Es sind ja durchaus anständige Leute, und es ist so wichtig für sie, einen zu sehen.« Der Professor beugte sich vor, bestrebt, seine Anteilnahme zu zeigen. »Man ist der einzige, den sie kennen.« »Man will sie ja nicht verletzen, aber ihre Erwartungen sind reine Phantasien.« »Sie leben in einem Zustand der Unwirklichkeit.« »Denken jeden Tag an einen, aber Tatsache ist, daß zuviel Zeit vergangen ist. Man selbst hat seit Jahren nicht mehr an sie gedacht«, sagte Irina. »Sie leben ein anderes Leben, in einer anderen Welt.« »Wollen da anfangen, wo man selbst aufgehört hat.«
»Sie würden einen erdrücken.« »Sie meinen es gut.« »Sie würden Besitz von einem ergreifen.« »Und wer weiß noch, wo man einmal aufgehört hat?« fragte Irina. »Was immer damals war, ist tot.« »Man muß freundlich, aber streng sein.« »Es ist, als ob man einem Geist begegnet.« »Bedrohlich?« »Eher mitleiderregend als bedrohlich«, sagte Irina. »Man fragt sich nur, warum kommen diese Menschen nach all den Jahren?« »Bei Ihnen, wenn sie Sie im Radio hören, kann ich mir ihre Phantasien gut vorstellen.« »Man will schließlich nicht grausam sein.« »Was Sie ganz bestimmt nicht sind«, versicherte ihr der Professor. »Es scheint nur so … Es scheint, daß sie tatsächlich glücklicher wären, wenn sie mit ihren Träumen in Moskau blieben.« »Irina?« sagte der Toningenieur. »Laß uns die letzten beiden Minuten noch einmal aufnehmen, und achte bitte darauf, daß der Professor nicht zu nahe ans Mikrofon kommt.« Der Professor kniff die Augen zusammen und versuchte, in den Regieraum zu sehen. »Verstanden«, sagte er. Irina drückte ihre Zigarette aus. Trank Wasser, die langen Finger fest um das silbrig schimmernde Glas geschlossen. Rote Lippen, weiße Zähne. Die Zigarette hell wie ein zerbrochener Knochen. Das Interview begann wieder mit Pawlow. Mit schamrotem Gesicht versank Arkadi so tief im Schatten, wie es nur möglich war. Wenn Schatten Wasser wäre - wie gern wäre er darin ertrunken.
Das Telefon in der Zelle läutete genau um fünf. »Federow am Apparat«, sagte Arkadi. »Hier ist Schiller von der Bayern-Franken Bank. Wir haben heute morgen miteinander gesprochen. Sie hatten einige Fragen wegen einer Firma namens TransKom Services.« »Danke, daß Sie zurückrufen.« »Es gibt keine TransKom in München. Keine der hiesigen Banken kennt sie. Ich habe auch mit mehreren staatlichen Stellen gesprochen, eine TransKom ist nirgends bekannt.« »Sie waren sehr gründlich«, sagte Arkadi. »Ich denke, ich habe Ihnen da die Arbeit abgenommen.« »Was ist mit Boris Benz?« »Herr Federow, wir leben hier in einem freien Land. Es ist schwierig, über eine Privatperson Erkundigungen einzuziehen.« »Ist er bei der Bayern-Franken angestellt?« »Nein.« »Hat er bei Ihnen ein Konto?« »Nein. Aber selbst, wenn er es hätte, würden wir es vertraulich behandeln.« »Ist er womöglich vorbestraft?« fragte Arkadi. »Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß.« »Jemand, der mit einer falschen Bankverbindung operiert, hat das wahrscheinlich auch früher schon getan. Er könnte ein Berufsverbrecher sein.« »Natürlich gibt es auch in Deutschland Berufsverbrecher, allerdings habe ich keine Ahnung, ob dieser Herr Benz einer ist. Sie haben mir schließlich selbst gesagt, Sie hätten ihn womöglich mißverstanden.« »Aber jetzt ist der Name der Bayern-Franken Bank in den Konsulatsakten«, sagte Arkadi. »Entfernen Sie ihn.« »Das ist nicht so einfach. Bei Verträgen in so großer Höhe werden Nachforschungen angestellt.« »Das ist wohl Ihr Problem.« »Soweit das aus meinen Unterlagen hervorgeht, hat Benz Dokumente der Bayern-Franken vorgelegt, die auf eine finanzielle Beteiligung der Bank hinweisen. Er hat die Papiere zwar wieder an sich genommen, aber
Moskau wird wissen wollen, warum sich die Bank jetzt zurückzieht.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung sprach so bestimmt wie möglich. »Es gibt keine finanzielle Beteiligung.« »Moskau wird sich fragen, warum die Bayern-Franken Bank nicht mehr an Benz interessiert ist. Wenn die Bank zu Unrecht von einem Kriminellen in die Sache hineingezogen wird, warum ist sie nicht bereit, das ihre zu tun, um ihn zu finden?« fragte Arkadi. »Wir haben das unsere getan.« Schiller klang überzeugend. Wenn es nicht diesen Brief von ihm an Benz gegeben hätte . »Dann hätten Sie also nichts dagegen, wenn wir einen Mann zu Ihnen schickten, der sich noch einmal persönlich mit Ihnen abstimmt?« »Schicken Sie ihn. Bitte. Damit die Angelegenheit endlich erledigt ist.« »Der Mann heißt Renko.«
Die dritte Etage des sowjetischen Konsulats war voll von Frauen in so farbenfroh bestickten Blusen und leuchtend gestreiften Röcken, daß sie wie Ostereier aussahen, die in buntem Durcheinander auf den Flur gerollt waren. Da jede von ihnen einen Rosenstrauß in der Hand hielt, war es nur unter Einsatz von Ellenbogen und vielzähligen Entschuldigungen möglich, sich an ihnen vorbeizudrängen. Federows Schreibtisch stand zwischen Wassereimern. Er blickte von einem Stapel Visa auf und ließ ein Knurren hören, das zu verstehen gab, daß er sein Pensum an Diplomatie für heute erfüllt hatte. »Was zum Teufel wollen Sie denn hier?« »Hübsch«, sagte Arkadi. Das Büro war winzig und fensterlos, das Mobiliar modern und ziemlich klein. Wahrscheinlich mußte sein Besitzer jedesmal, wenn er zur Arbeit ging, das unheimliche Gefühl bekämpfen, gewachsen zu sein. Und im Feuchten zu sitzen. Ein nasser Fleck auf dem Teppich zeigte an, wo ein Eimer umgestoßen worden war. Arkadi bemerkte die feuchten Hosen und Ärmel Federows, rosige Blütenblätter und eine Krawatte, die völlig verrutscht war. »Wie in einem Blumenladen.« »Wenn wir mit Ihnen sprechen wollen, werden wir zu Ihnen kommen. Sie haben hier nichts zu suchen.« Außer den Pässen lagen Briefbogen des Konsulats neben einer neuen Schreibgarnitur und einem funkelnagelneuen Telefonapparat auf der Schreibtischplatte. »Ich möchte meinen Paß haben«, sagte Arkadi. »Renko, Sie vergeuden Ihre Zeit. Erstens hat Platonow Ihren Paß und nicht ich. Zweitens wird der Vizekonsul ihn einbehalten, bis Sie zurück ins Flugzeug nach Moskau steigen, was, wenn alles gutgeht, morgen der Fall sein wird.« »Vielleicht kann ich mich nützlich machen. Mir scheint, daß Sie alle Hände voll zu tun haben.« Arkadi wies mit dem Kopf in Richtung Flur. »Die Volkstanzgruppe aus Minsk? Wir haben um zehn gebeten, und man hat uns dreißig geschickt. Sie werden zusammengepackt wie Blinis schlafen müssen. Ich versuche zu helfen, aber wenn sie darauf bestehen, das Dreifache an Visa zu brauchen, dann werden sie das hier schon ertragen müssen.« »Dafür ist das Konsulat schließlich da«, sagte Arkadi. »Vielleicht kann
ich helfen.« Federow atmete tief ein. »Nein, und Sie wären wirklich der Letzte, den ich mir als Assistenten aussuchen würde.« »Vielleicht könnten wir uns morgen treffen, zusammen zu Mittag essen oder einen Kaffee trinken?« »Ich bin den ganzen Tag beschäftigt: am Morgen eine Delegation ukrainischer Katholiken, dann ein Mittagessen mit der Volkstanzgruppe, nachmittags ein Treffen mit den Katholiken in der Frauenkirche und abends eine BertoltBrecht-Aufführung. Voller Tag. Außerdem werden Sie dann schon wieder auf dem Nachhauseweg sein. Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich bin wirklich in Eile, und wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen - kommen Sie nicht wieder her.« »Könnte ich wenigstens einmal das Telefon benutzen?« »Nein.« Arkadi streckte die Hand aus. »Die Leitung nach Moskau ist dauernd besetzt. Vielleicht komme ich von hier aus durch.« »Nein.« Arkadi nahm den Hörer ab. »Ich mach’s ganz kurz.« »Nein.« Als Federow den Hörer packte, ließ Arkadi ihn plötzlich los. Der Attache rutschte aus und stolperte über einen Wassereimer. Arkadi versuchte, ihn über den Schreibtisch hinweg aufzufangen, und fegte dabei sämtlich Pässe von der Tischplatte. Die roten Büchlein landeten auf dem Teppich, in Pfützen und Eimern. »Sie Idiot!« Federow stelzte um die Eimer herum, um die Pässe zu retten, bevor sie völlig durchweichten. Arkadi benutzte die Briefbogen, um das Wasser aus dem Teppich zu saugen. »Das ist zwecklos«, sagte Federow. »Ich versuche nur zu helfen.« Federow tupfte die Pässe an seinem Hemd ab. »Helfen Sie mir nicht. Verschwinden Sie.« Doch dann schoß ihm fast hörbar ein Gedanke durch den Kopf wie eine quietschende Bremse. »Warten Sie!« Die Augen auf Arkadi geheftet, stapelte er die Pässe vor sich auf. Schwer atmend, zählte er sie sorgfältig durch, nicht einmal, sondern zweimal, und vergewisserte sich, daß das, was sie enthielten, zwar feucht, aber vollständig war. »Okay. Sie können gehen.« »Es tut mir sehr leid«, sagte Arkadi.
»Verschwinden Sie.« »Soll ich den Leuten im zweiten Stock Bescheid sagen wegen des Wassers?« »Nein. Sprechen Sie mit niemandem.« Arkadi betrachtete die umgekippten Eimer und die Überschwemmung auf dem Teppich. »Ein Jammer. So ein neues Büro.« »Ja. Auf Wiedersehen, Renko.« Die Tür öffnete sich, und eine Frau mit einem perlenbesetzten Filzhut lugte ins Zimmer. »Lieber Gennadi Iwanowitsch, was machen Sie denn da? Wann essen wir endlich?« »Sofort«, sagte Federow. »Wir haben seit Minsk nichts mehr gegessen«, sagte sie. Sie stellte sich standhaft neben der Tür auf, und andere Volkstänzerinnen folgten ihr. Eine nach der anderen schoben sie sich in den Raum, während Arkadi ihn in entgegengesetzter Richtung verließ, sich zwischen Röcken, Bändern und spitzen Dornen hindurchzwängend.
In einem polnischen Secondhandshop südlich des Bahnhofs fand Arkadi eine mechanische Schreibmaschine mit runden Tasten, einem schäbigen Plastiküberzug und kyrillischen Buchstaben. Er drehte sie um. Auf dem Boden war eine Militärnummer eingestanzt. »Rote Armee«, sagte der Ladenbesitzer. »Sie verlassen Ostdeutschland, und was die Kerle nicht für sich selbst abzweigen, verkaufen sie. Sie würden ihre Panzer verkaufen, wenn sie könnten.« »Kann ich sie mal ausprobieren?« »Nur zu.« Der Ladenbesitzer hatte sich bereits einem besser gekleideten, verheißungsvolleren Kunden zugewandt. Aus seiner Jacke zog Arkadi ein Bündel zusammengefalteter Briefbögen und spannte ein Blatt in die Maschine ein. Die Bögen mit dem Briefkopf des Sowjetischen Konsulats samt Hammer und Sichel in goldenen Ähren stammten von Federows Schreibtisch. Arkadi hatte daran gedacht, den Brief auf deutsch zu schreiben, aber seine Kenntnisse der lateinischen Schrift waren nur ungenügend. Außerdem legte er Wert auf einen flüssigen Stil, so daß nur Russisch in Frage kam. Er schrieb: »Lieber Herr Schiller, mit diesem Schreiben erlauben wir uns, Ihnen Chefinspektor A. K. Renko vorzustellen, einen Mitarbeiter des Moskauer Oberstaatsanwalts. Renko ist beauftragt, Fragen in bezug auf ein geplantes Jointventure zwischen bestimmten sowjetischen Körperschaften und der deutschen Firma TransKom Services, insbesondere die Angaben ihres Bevollmächtigten, Herrn Boris Benz, zu klären. Da die Aktivitäten von TransKom und Benz geeignet sind, sowohl die sowjetische Regierung als auch die Bayern-Franken Bank in einem zweifelhaften Licht erscheinen zu lassen, liegt es, wie wir glauben, in unserem gemeinsamen Interesse, die Angelegenheit so schnell und diskret wie möglich einer Lösung zuzuführen. Mit den besten Wünschen und vorzüglicher Hochachtung, Ihr ergebener G. I. Federow.« Der Schluß erschien Arkadi besonders federowisch. Er zog den Bogen aus der Maschine und unterzeichnete ihn schwungvoll. »Sie funktioniert also?« rief der Ladenbesitzer. »Erstaunlich, nicht?« sagte Arkadi. »Ich kann Ihnen einen guten Preis machen. Einen ausgezeichneten
Preis.« Arkadi schüttelte den Kopf. Die traurige Wahrheit war, daß er es sich nicht leisten konnte, überhaupt etwas zu kaufen. »Haben Sie viele Abnehmer für russische Schreibmaschinen?« Der Besitzer mußte lachen.
Das Licht bei Benz war immer noch aus. Um neun Uhr abends endlich gab Arkadi auf. Mit etwas Planung führte ein gutes Stück seines Rückwegs durch Parks: Englischer Garten, Finanzgarten, Hofgarten und ein Stück weiter dann der alte Botanische Garten. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um in die Dunkelheit zu lauschen. Ein junger Mann kam vorbei, die Nase in einem Buch, auf das Licht der nächsten Laterne zueilend. Dann ein Jogger in langsamem, bedächtigem Lauf. Er hörte keine Fußschritte, die abrupt stehenblieben. Es war, als wäre er bei Verlassen Moskaus über den Rand der Welt getreten. Er war verschwunden. Er stürzte ins Bodenlose. Wer sollte ihm folgen? Er verließ den alten Botanischen Garten, einen Block vom Bahnhof entfernt, und ging hinüber, um sich zu vergewissern, daß das Videoband noch im Schließfach war, als er sah, wie Fußgänger vor einem scharf wendenden Wagen auseinanderstoben. Die allgemeine Empörung äußerte sich so vehement, daß Arkadi den Wagen selbst nicht beachtete. Er blieb auf der Verkehrsinsel in der Mitte der Straße stehen. Keine gute Überlebensplanung, dachte er, sich auf einer breiten Straße, umbrandet von Verkehr, aufzuhalten. Hinter ihm quietschten Bremsen, und er drehte sich um und stand vor dem vertrauten, ramponierten Mercedes. Am Steuer saß Stas. »Ich dachte, Sie wollten Irina sehen.« Arkadi sagte: »Ich habe sie gesehen.« »Sie waren weg, bevor sie mit ihrem Interview fertig war. Von einem Augenblick zum anderen waren Sie verschwunden.« »Ich hatte genug gehört«, sagte Arkadi. Stas ignorierte das Halteverbotsschild und gab den Fahrern der Wagenschlange, die sich hinter ihm bildete, zu verstehen, daß er nicht gewillt war, seinen Platz zu räumen. »Ich habe Sie gesucht, weil ich dachte, daß Sie vielleicht Probleme hätten.« »Zu dieser Stunde?« fragte Arkadi. »Ich hatte noch zu arbeiten und konnte nicht früher kommen. Hätten Sie Lust, mit auf eine Party zu gehen?« »Jetzt?« »Wann sonst?« »Es ist fast zehn Uhr. Was soll ich auf einer Party?« Die Fahrer hinter ihnen schimpften, hupten und blendeten ihre
Scheinwerfer auf, ohne Stas im mindesten zu beeindrucken. »Irina ist auch da«, sagte er. »Sie haben noch nicht mit ihr gesprochen.« »Aber ich habe verstanden, was sie mir sagen wollte. Sie hat es ja bereits mehr als einmal zum Ausdruck gebracht.« »Sie glauben also, daß sie Sie nicht sehen will?« »So ungefähr.« »Für einen Mann aus Moskau sind Sie ziemlich empfindlich. Hören Sie, nicht mehr lange, und wir werden hier von wütenden Porsche-Fahrern in der Luft zerrissen. Steigen Sie ein. Wir schauen nur mal kurz rein.« »Um noch einmal gedemütigt zu werden?« »Haben Sie was Besseres vor?«
Die Party fand in einer Wohnung im vierten Stockwerk statt, die voll war von »Retro-Nazis«, wie Stas sie nannte. An den Wänden hingen schwarzweißrote Fahnen, auf Regalen waren Stahlhelme und Eiserne Kreuze ausgestellt, Gasmasken mit und ohne Behälter, Munition in verschiedenen Größen, Fotos von Hitler, der Abdruck seines Gebisses sowie ein Bild seiner Nichte in einem Abendkleid und mit dem ironischen Lächeln einer Frau, die weiß, daß alles böse enden wird. Menschen drängten sich auf Stufen, Sesseln und Sofas - eine Mischung verschiedener Nationalitäten, die genügend Zigaretten rauchende Russen aufwies, um einem die Augen tränen zu lassen. Aus dem Nebel tauchte Ludmilla wie eine mit langen Wimpern bewehrte Qualle auf, zwinkerte Arkadi zu und verschwand wieder. Stas warnte ihn: »Wenn Sie Ludmilla sehen, ist der Chef der Sicherheit nicht weit entfernt.« Am Getränketisch schenkte Rikki einem Mädchen in einem Mohairpullover ein Glas Cola ein. »Kaum daß ich sie vom Flughafen abgeholt hatte, mußte meine Tochter auch schon auf Einkaufstour. Gott sei Dank machen die Geschäfte spätestens um halb sieben zu.« Der Lippenstift des Mädchens war rot wie ein Alarmzeichen, das blonde Haar mit seinen dunklen Wurzeln zu einem Knoten zusammengebunden. »In Amerika sind die Einkaufspassagen die ganze Nacht über geöffnet«, sagte sie auf englisch. »Ihr Englisch ist gut«, sagte Arkadi. »In Georgien spricht kein Mensch mehr russisch.« »Es sind immer noch Kommunisten, sie spielen nur die alte Melodie auf einer neuen Flöte«, sagte Rikki. »War es bewegend, Ihren Vater nach all den Jahren wiederzusehen?« fragte Arkadi. »Ich habe seinen Wagen fast nicht erkannt.« Sie umarmte Rikki. »Gibt es hier eigentlich keine amerikanischen Militärbasen? Haben die nicht ihre eigenen Einkaufspassagen?« Ihre Augen leuchteten auf, als sich ihr ein junger, athletisch gebauter Amerikaner näherte. Er trug ein Hemd mit angeknöpften Kragenenden, eine Fliege und rote Hosenträger und betrachtete Arkadi und Stas mit forschendem Blick. Ludmilla hielt sich hinter seinem Rücken. »Das muß der Überraschungsgast sein, den wir heute in unserem Sender
hatten«, sagte der Amerikaner. Er schüttelte Arkadi mit festem, demokratischem Druck die Hand. »Ich bin Michael Healey, verantwortlich für die Sicherheit. Wissen Sie, Ihr Chef, Oberstaatsanwalt Rodionow, hat uns ebenfalls schon besucht. Wir haben den roten Teppich für ihn ausgelegt.« »Michael ist auch für das Auslegen von Teppichen verantwortlich«, sagte Stas. »Dabei fällt mir ein, Stas: Gibt es nicht eine Sicherheitsanweisung, daß offizielle sowjetische Gäste rechtzeitig angemeldet werden müssen?« Stas lachte. »Die Sicherheitsbestimmungen im Sender werden so gründlich mißachtet, daß es auf einen Spion mehr oder weniger nicht ankommt. Ist der heutige Abend nicht ein gutes Beispiel dafür?« »Ich liebe Ihren Sinn für Humor, Stas«, sagte Healey. »Wenn Sie den Sender noch einmal besuchen wollen, Renko, vergessen Sie nicht, mich vorher anzurufen.« Er entfernte sich auf der Suche nach einem Weißwein. Stas und Arkadi nahmen sich einen Scotch. »Es geht das Gerücht«, sagte Stas, »daß der ehemalige Leiter der russischen Abteilung heute kommt. Mein früherer Freund, von dem ich Ihnen erzählt habe. Selbst die Amerikaner liebten ihn.« »Derjenige, der wieder nach Moskau zurückgekehrt ist?« »Genau der.« »Wo ist Irina?« »Sie werden sehen.« »Tä-rä!« Der Gastgeber der Party trat aus der Küche, eine Schokoladentorte mit einer von brennenden Kerzen umgebenen Zuckergußnachbildung der Berliner Mauer in beiden Händen. »Vergeßt es nie! Das Ende der Mauer!« »Tommy, du hast dich heute selbst übertroffen«, sagte Stas. »Ich bin ein sentimentaler Narr.« Tommy war einer jener dicken Männer, die dauernd ihr Hemd in die Hose stopfen müssen. »Hab ich dir schon meine Sammlung von Mauerstücken gezeigt?« Sie wurden von einer Unruhe an der Treppe unterbrochen, einer Welle der Erregung, die sich in der Wohnung ausbreitete. Neue Gäste waren eingetroffen. Der erste, der in der Tür erschien, war der Professor, den Irina im Sender interviewt hatte. Er befreite sich von einem Schal, der
aussah, als sei er aus einem Büßerhemd geschnitten worden, und hielt die Tür für Irina auf, die wie auf Wolken zu schweben schien. Arkadi sah, daß sie in einem Restaurant gut gegessen und gut getrunken haben mußte. Champagner und sicher etwas besseres als Borschtsch. Sie war wahrscheinlich direkt vom Sender zum Essen gefahren, was den Umstand erklärte, daß sie so elegant zur Arbeit erschienen war. Wenn ihre Augen Arkadi bemerkten, so verrieten sie weder Interesse noch Überraschung. Hinter ihr betrat Max Albow den Raum, lose dasselbe Jackett über die Schulter gehängt, das er getragen hatte, als Arkadi ihm in der Petrowka-Straße vorgestellt worden war. Alle drei lachten über einen Witz. »Etwas, das Max gerade gesagt hat«, erklärte Irina. Jeder beugte sich vor und wollte hören, um was es ging. Max zuckte bescheiden abwehrend mit den Schultern. »Ich hab nur gesagt: >Ich komme mir vor wie der verlorene Sohn.Meyer< in München gelebt hat?« »Nein.« »Wußten Sie, daß ein Jude den Zaren erschossen hat?« »Nein.« »All die schlimmen Dinge, die Säuberung und die Hungersnot, wurden von Juden in der Umgebung Stalins ausgeheckt, um das russische Volk zu vernichten. Er war eine Schachfigur der Juden, ihr Sündenbock. Und er starb, als er begann, gegen die jüdischen Ärzte vorzugehen.« Stas fragte Ludmilla: »Wußten Sie, daß der Kreml genauso viele Badezimmer hat wie der Tempel in Jerusalem? Denken Sie darüber nach.« Ludmilla zog sich zurück. Stas schenkte Arkadi ein Glas ein. »Ob sie das wohl Michael meldet?« Er musterte den Raum mit dem süffisanten Blick des Schwindsüchtigen, ohne jemanden auszulassen. »Eine gemischte Gesellschaft.« Gesprächsgruppen hatten sich gebildet, die miteinander diskutierten. Arkadi suchte mit einem anderen Misanthropen, einem in intellektuelles Schwarz gekleideten Deutschen, Zuflucht auf der Treppe. Ein Mädchen saß schluchzend ein paar Stufen höher. Bei jeder anständigen russischen
Party gibt es Diskussionen und ein Mädchen, das auf den Stufen sitzt und schluchzt, dachte Arkadi. »Ich warte darauf, mit Irina zu sprechen«, sagte der Deutsche. Er war Mitte zwanzig, hatte heimlichtuerische Augen und sprach nur unsicher englisch. »Ich auch«, sagte Arkadi. Schweigen breitete sich aus, das Arkadi nicht störte, bis der Junge herausplatzte: »Malewitsch war in München.« »Und Lenin«, sagte Arkadi. »Oder war es Meyer?« »Der Maler.« »Ach, der Maler. Der Malewitsch.« Der Maler der russischen Revolution. Arkadi kam sich etwas dumm vor. »Es gibt eine traditionelle Verbindung zwischen der russischen und der deutschen Kunst.« »Ja.« Niemand kann das bestreiten, dachte Arkadi. Der Junge betrachtete seine Fingernägel, die bis zum Fleisch abgekaut waren. »Das rote Quadrat symbolisierte die Revolution, das schwarze Quadrat das Ende der Kunst.« »Genau.« Arkadi leerte die Hälfte seines Glases mit einem Schluck. Der Junge kicherte, als ob er sich an etwas erinnerte, das er seinem Gesprächspartner unbedingt mitteilen mußte. »Im Juni 1918 sagte Malewitsch: >Im Weltraum wird das Fußballspiel mit den Bällen der ineinander verstrickten Jahrhunderte in den Zündfunken blubbernder Lichtwellen verbrennen.Großen Vaterländischen KriegBroncoWir haben Sie nie ins Lager gesteckt, also nichts für ungut. Wir erwarten nur von Ihnen, daß Sie uns bei der westlichen Presse
nicht in ein schlechtes Licht setzen. Wir halten Sie für einen großartigen Künstler, und Sie wissen wahrscheinlich, wie schwer es im Westen für Sie werden wird. Wir geben Ihnen ein Darlehen. In Dollar. Wir reden mit niemandem darüber, und Sie brauchen keine Quittung zu unterschreiben. Nach ein paar Jahren zahlen Sie uns, wenn Sie können, den Betrag mit Zinsen oder ohne Zinsen zurück. Alles bleibt unter uns.< Fünf Jahre später schickte er ihnen einen Scheck und verlangt öffentlich eine Empfangsbestätigung. Und er brauchte lange, ehe er begriff, daß er damit kompromittiert und in seiner beruflichen Existenz vernichtet war. Wie viele solcher Darlehen gibt es sonst noch? Und dann die, die schlicht verrückt werden. Da ist dieser Autor, der nach Paris ging. Ein berühmter Schriftsteller, der den Gulag überlebt hatte und unter dem Pseudonym Teitelbaum schrieb. Es kam heraus, daß er für den KGB Spitzeldienste geleistet hatte. Er setzte eine Verteidigungsschrift auf und behauptete, nein, nein, nicht er sei der Spitzel gewesen, sondern Teitelbaum! Und gelegentlich«, sagte Stas, »sind wir liquidiert worden. Ein Paket mit einem Sprengsatz, die vergiftete Spitze eines Regenschirms oder auch einfach nur zuviel Wodka. Dennoch - einst waren wir Helden.« Laika streckte sich wie eine Sphinx auf dem Fußboden aus. Arkadi fühlte ihre Kraft. Auch wenn sich die Ohren des Tieres bei Geräuschen von draußen auf die Tür ausrichteten, blieb der Blick doch unverwandt auf ihn gerichtet. »Das brauchen Sie mir alles nicht zu erklären«, sagte er. »Ich tue es, weil Sie anders sind. Sie sind kein Dissident. Sie haben Irina gerettet, aber das will jeder, das ist nicht notwendigerweise eine politische Tat.« »Es waren mehr persönliche Gründe«, gab Arkadi zu. »Sie sind geblieben. Die Menschen, die Irina kannten, wußten von Ihnen. Sie waren das Gespenst. Sie hat ein-, zweimal versucht. Sie zu erreichen.« »Nicht, daß ich wüßte.« »Was ich sagen will ist, daß wir Opfer gebracht haben, um für die richtige Sache zu kämpfen. Wer konnte ahnen, daß die Geschichte diesen Lauf nehmen würde? Daß die Rote Armee als eine Horde von Bettlern in Polen enden würde? Daß die Mauer fallen würde? Die Rote Armee als die große Gefahr? Jetzt ist man über 240 Millionen Russen beunruhigt,
die bis zum Ärmelkanal vordringen könnten. Radio Liberty ist nicht mehr das Bollwerk, das es einmal war. Wir werden nicht mehr bekämpft, sondern haben sogar Korrespondenten in Moskau. Tag für Tag interviewen wir die Leute direkt im Kreml.« »Ihr habt gewonnen«, sagte Arkadi. Stas leerte den Rest der Flasche. Sein schmales Gesicht war blaß, die Augen zwei ausgebrannte Streichhölzer. »Gewonnen? Wie kommt es dann, daß ich heute mehr denn je das Gefühl habe, ein Emigrant zu sein? Soll ich immer noch sagen, ich hätte mein Heimatland verlassen, weil ich dazu gezwungen wurde oder weil ich dachte, ich könnte ihm von außen mehr als von innen helfen? Heute klatschen die Demokraten in aller Welt Moskau Beifall. Und es war sicher nicht mein Verdienst, daß die Sowjetunion auf die Knie gefallen ist und ihren langen Hals ausstreckt. Es war die Geschichte. Die Schwerkraft. Die Schlacht fand nicht in München statt, sondern in Moskau. Die Geschichte hat uns ausgesetzt und ist ihren eigenen Weg gegangen. Wir sind keine Helden mehr, wir sind Narren. Die Amerikaner schauen uns an - nicht Michael und Gilmartin, die sind daran interessiert, ihre Jobs zu behalten und den Sender weiterzubetreiben -, aber die Leute drüben in Amerika, die lesen die Schlagzeilen über das, was in Moskau geschieht, und schauen uns an und sagen: >Sie hätten bleiben sollen.< Es spielt keine Rolle mehr, ob wir gezwungen waren, unser Land zu verlassen, oder ob wir unser Leben riskiert haben und die Welt retten wollten. Jetzt sagen die Amerikaner: >Sie hätten bleiben sollen.< Und jemanden wie Sie, den sehen sie an und sagen: >Seht, er ist geblieben.Nehmen Sie eine schöne Frau, leuchten Sie sie richtig aus, und der Erfolg des Films ist so gut wie gesichert.Wir drehten außerhalb von Baku, in der Nähe eines Chemiewerks. Filmliebhaber wissen nicht, daß ich ausgebildeter Chemiker bin. Dadurch wußte ich, daß wir durch eine Verbindung von rotem Natrium und Kupfersulfat eine spontane Explosion auslösen könnten. Da alles auf den richtigen Zeitpunkt der Explosion ankam, probierten wir vierzig oder fünfzig verschiedene Mischungen, bevor wir die Aufnahmen machten, und zwar mit einer ferngesteuerten Kamera hinter einem Plexiglasschirm. Es war eine Nachtszene, und die Wirkung des in Flammen aufgehenden israelischen Panzers war spektakulär. Hollywood hätte es nicht besser machen können.Russenbankert