Scan by Schlaflos
Von HARALD EVERS erschien in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Höhlenwelt-Saga 1. Die Brude...
32 downloads
786 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Scan by Schlaflos
Von HARALD EVERS erschien in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Höhlenwelt-Saga 1. Die Bruderschaft von Yoor • 06/9127 2. Leandras Schwur • 06/9128 3. Der dunkle Pakt • 06/9129 4. Das magische Siegel • 06/9196
HARALD EVERS
Das magische Siegel Vierter Roman der HÖHLENWELT-Saga Originalausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/9196 Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. Originalausgabe 7/2002 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2002 by Harald Evers Copyright © 2002 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München http://www.heyne.de Printed in Germany 2002 Umschlagbild: Hans-Werner Sahm/Galeria Andreas S.L., Spanien www. sahm-gallery. de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-21378-5 DANKSAGUNG Nun, da der vierte Band meiner Höhlenwelt-Saga erscheint, möchte ich mich bei allen bedanken, die mir bei der Verwirklichung dieses (nicht eben schmalen) Werkes geholfen haben: Hans-Joachim Alpers und Michael Meiler für ihre Tätigkeit als Vermittler und Agenten; Friedel Wahren und Angela Kuepper für das Lektorat und ihre Geduld mit meinem Temperament; Daniel Aigner für einige wirklich zündende Ideen; Dorothea Wagner, Achim Groeling, Sandra Kopp, Tanja Kasper, Alex Haas, Dirk Dürholz und Uli Wagnhuber für das Korrekturlesen und den Gedankenaustausch sowie Franz Hetzer für technische Beratungen Harald Evers, im Januar 2002 INHALT Teil I: Der Sturm 1 ♦ Waldleben ........................... 11 2 ♦ Stadt in Flammen ..................... 28 3 ♦ Rückkehr zum Roten Ochsen ............. 52 4 ♦ Kampf um den Palast .................. 81 5 ♦ Shaba ............................... 97 6 ♦ Dunkle Pläne .........................117 7 ♦ Hochzeitsvorbereitungen ...............124 8 ♦ Verspätungen ........................146 9 ♦ Hochzeit ............................159 10 ♦ Tödliche Falle ........................174 11 ♦ Der Sturm bricht los ...................201 12 ♦ Geheimgänge ........................219 13 ♦ Machtergreifung ......................238 Teil II: Der Weg der Shaba
14 ♦ Der Kryptus .........................267 15 ♦ Alte Feinde ..........................286 16 ♦ Allein ...............................305 17 ♦ Hoffnungsfunke.......................317 18 ♦ Übermacht ...........................330 19 ♦ Die dunkelste Stunde ..................348 20 ♦ Benni ...............................362 21 ♦ Das Dorf ............................376 22 ♦ Reise in die Vergangenheit ..............393 23 ♦ Das Mutterschiff ......................418 24 ♦ Die Minen ...........................448 25 ♦ Yanalee .............................452 26 ♦ Drakkenalltag ........................494 27 ♦ Hals über Kopf .......................520 28 ♦ Das stygische Portal ...................539 29 ♦ Ramakorum ........................553 30 ♦ Das Jaulen ........................573 31 ♦ Spuren ...........................595 32 ♦ Malangoor ........................611 33 ♦ Das magische Siegel ...................629 34 ♦ Opfergang ...........................649 Teil III: Das Salz der Erde 35 ♦ Ein neuer Plan........................677 36 ♦ Mosaiksteine .........................698 37 ♦ Bennis Vermächtnis ....................716 38 ♦ Drei Engel ...........................731 39 ♦ Tödliche Fracht .......................754 40 ♦ Der Gegenschlag ......................774 41 ♦ Der Trick mit dem Schwanz .............791
Teil 1 Der Sturm 1 ♦ Waldleben Rox, alter Knabe! Sieh nur, die Drachen fliegen hoch. Wir werden wieder einen schönen Tag bekommen!« Rox schnaubte und stampfte mit dem rechten Vorderhuf auf, doch es klang eher wie ein Protest. Marko von Phyrras, Provinzkommissar zu Ross und Protektor von Nieder-Kambrum, schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, alter Freund, ob du je schon mal den Felsenhimmel gesehen hast? Ich meine - dort oben!« Er deutete hinauf, wo sich in milchig blauer Höhe, sieben oder acht Meilen über dem Land, weitläufige Felsstrukturen abzeichneten. »Kommt dir das bekannt vor? Na?« Rox, Schlachtross und von nicht minder hoher Geburt, schüttelte ungeduldig seinen massigen Schädel und stieß erneut ein Schnauben aus. Marko seufzte. »Ich bezweifle, dass dies überhaupt so etwas wie eine Antwort war.« Er stieß Rox leicht mit den Hacken in die Seiten, woraufhin das Pferd federnd den lichten Waldweg entlangtrabte. Rechts und links strebten über den Baumwipfeln die Flanken zweier mächtiger Stützpfeiler in die Höhe; weiter südöstlich erstrahlte die blendende Helligkeit eines Sonnenfensters über dem Land. Marko drückte seinen Rücken durch und bog die Schultern nach hinten, um eine Verspannung zu lockern. »Weißt du, was dein Fehler ist, alter Knabe?«, fragte er gedehnt. »Du bist nur verrückt aufs Kämpfen und aufs Saufen. Und natürlich auf die Frauen!« Er hob einen belehrenden Finger in die Luft, den Rox je11 doch nicht sehen konnte. »Und da du mit Frauen deiner Art nicht allzu häufig zusammentriffst, bleiben dir bloß das Kämpfen und das Saufen. Das aber macht Männer dumm!« Rox schien zufrieden damit zu sein, dass er wieder laufen durfte; er würdigte seinen Herrn keiner Reaktion. »Und dass du dumm bist, mein Guter, sieht man wiederum daran, wie du mit Frauen umgehst. Weißt du noch, die hübsche Stute, neulich im Stall des Wirtshauses von Sekamidaan?« Er beugte sich vor und zischte dem Hengst ins Ohr: »Du hast sie gebissen, du Bestie!« Rox warf den Kopf hoch, gerade so als wollte er seinen Herrn ebenfalls beißen. Marko richtete sich rasch wieder auf und gab ihm einen kräftigen Klaps hinters Ohr. Rox quittierte dies lediglich mit einem weiteren verächtlichen Schnauben. Allzu oft hatte er dergleichen nun schon hinnehmen müssen, und wahrlich nicht grundlos. Marko seufzte noch einmal. »Ach, ich wünschte, ich hätte ein Menschenmädchen von ähnlicher Anmut getroffen! Weißt du, was ich getan hätte?«
Rox trabte ein Stück nach links, wo ein kräftiger Ast quer über den Weg ragte. Marko nahm den Hut ab, beugte sich geschmeidig unter dem Ast hindurch und schüttelte den Kopf. »Ich hätte ihr Blumen geschenkt. Hätte sie zu einem Spaziergang an einem stillen Seeufer eingeladen. Hätte sie mit netten Worten überschüttet. Jawohl, das hätte ich getan!« Er wischte sich einen Zweig aus dem lockigen Haar und setzte den Hut wieder auf. »Im Übrigen habe ich diesen Attentatsversuch auf der Liste deiner Schandtaten vermerkt, mein Bester.« Er klopfte Rox freundlich auf den muskulösen Hals. »Eines Tages, wenn du mit nichts Bösem rechnest, werde ich Rache an dir üben. Du wirst sehen.« 12 Plötzlich verlangsamte Rox seinen Schritt. Marko richtete sich im Sattel auf und blickte nach vorn. Auf dem Weg, drei Dutzend Schritt entfernt, sah er einen kleinen rundlichen Mann, der sich über ein am Boden liegendes Pony beugte. Ein einachsiger Karren stand mit in die Luft gereckter Deichsel in der Wegmitte. Marko ließ Rox langsamer werden. Misstrauisch näherte er sich dem Ort des Geschehens. Er war wachsam. Nicht selten griffen Räuber zu solchen Tricks, um Reisende zu Pferde aufzuhalten. Er öffnete unauffällig den Sicherungsriemen seines Schwertes, das am Sattel in einer Scheide steckte, und prüfte den Sitz seines Bogens, den er auf dem Rücken trug. Als geübter Schütze war er in der Lage, ihn zu ziehen, einen Pfeil aus dem Köcher auf der anderen Seite des Sattels zu reißen, ihn aufzulegen und auf die Reise zu schicken, ehe ein Räuber, der sich im Gebüsch verstecken mochte, auch nur fünf Schritt getan hatte. Wenn es allerdings mehrere Räuber waren, wurde es schwieriger. Dann musste er sich auf sein Schwert und auf Rox verlassen. Eine Begegnung mit seinem Schlachtross war jedoch niemandem zu wünschen. »He da!«, rief er. »Wollt Ihr den Weg nicht freigeben, kleiner Mann?« Der Rundliche sah erschrocken auf. »Ich ... oh, bei den Kräften ... mein Pony!«, rief er und hob die Arme in die Luft. Er wandte sich wieder seinem Tier zu, das mit bebenden Flanken am Boden lag. Es hatte Schaum vorm Maul. Plötzlich sah Marko eine Bewegung. Er tat genau das, worauf er sich vorbereitet hatte. Ein Griff hinter den Rücken, einmal umgreifen, schon hatte er seinen Bogen in der Hand. Währenddessen fuhr seine freie Hand zum Köcher und zog einen der drei ausgewählten Pfeile hervor, die er dort ständig be13 reithielt. Als er den Pfeil auf die Sehne legte und durchzog, warf der kleine Mann den Kopf herum und starrte ihn mit großen Augen an. Schon ging der Pfeil mit einem Sirren ab. Haarscharf flog er zwischen dem Mann und dem Pony hindurch und bohrte sich keine drei Schritt weit von ihm entfernt, in den Boden Der Mann keuchte und ließ sich auf den Hintern plumpsen. Marko leistete sich ein zufriedenes Lächeln warf das linke Bein über Rox' Kopf hinweg auf die andere Seite und kam kurz darauf mit einem lockeren Sprung auf dem Boden zu stehen. Befriedigt hängte er sich den Bogen wieder über den Rücken und vollführte mit den Fingern der rechten Hand eine grazile Lockerungsbewegung. Der kleine Mann ächzte noch immer, als Marko an ihm vorbeischlenderte, das Pony umrundete und den Pfeil aus dem Boden zog. An seinem spitzen Ende wand sich ein kurzes, schlangenähnliches Tier in seinen letzen Zügen und erschlaffte dann. Marko wandte sich dem Mann zu und setzte ein noch breiteres Lächeln auf. »Gestatten: Marko von Phyrras, Provinzkommissar zu Ross, Protektor des Landes Nieder-Kambrum Brunnenmeister und Oberster Landvermesser von Soligor sowie Beschützer der braven Leute und Schrecken aller Banditen und Räuber. Darüber hinaus noch Schriftgelehrter, Schwertkämpfer und meisterlicher Bogenschütze, wie Ihr eben zweifellos feststellen konntet. Ich erbitte Euer Wohlwollen und Eure lobende Erwähnung bei Hofe.« Er räusperte sich. »Sofern Ihr dazu in der Lage seid.« Der kleine Mann kämpfte sich auf die Füße Er trat zu Marko hin und betrachtete das tote Tier an der Pfeilspitze. »Eine Feuerschnecke! Galandrum Ursupandrar, wenn ich recht sehe. Die angriffslustige Art. 14 Schnell und- heimtückisch. Sie tötet große Tiere mit ihrem Giftbiss und nistet ihre riesige Brut darin ein. Meister ... äh ...?« »Marko. Einfach nur Marko. Ich bin nicht fürs Förmliche.« Der kleine Mann streckte strahlend die Hand aus und schüttelte die seines Gegenübers heftig. »Provinzkommissar Marko! Ihr habt mir das Leben gerettet. Wie soll ich Euch danken?« Marko hob die Schultern. »Ich wünschte, Euer Pony könnte mir noch danken. Aber seht nur - es ist tot!« Er deutete hinab. Der kleine Mann stieß einen Laut des Bedauerns aus. Er kniete sich hin und berührte das Tier am Brustkorb. Es lag völlig still da, die Augen waren gebrochen. »Wie furchtbar«, sagte er traurig. »Das arme Tier. Ich hatte es zwar noch nicht lange, aber es hat mich treu über mehr als hundert Meilen bis hierher gebracht. Es ist schon das zweite, wisst Ihr?« »Das zweite?« Der kleine Mann erhob sich. »Ja. Das erste starb an der Sieche. Ein verbrecherischer Händler aus meinem Heimatdorf, den ich zu kennen glaubte, hat es mir verkauft. Meinen letzten Folint habe ich danach für dieses ausgegeben ... aber jetzt ist es tot.« Marko verzog streng das Gesicht und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Und was wollt Ihr nun tun?«
Der Mann blickte sich unschlüssig um. »Nun, ich weiß nicht. Ich muss dringend nach Savalgor. Vielleicht könnt Ihr mich ... ah, übrigens: Mein Name ist Izeban, ebenfalls Schriftgelehrter. Außerdem noch Medikus, Erfinder, Mechanikus und äh ... Logiker. Letzteres ein von mir selbst erfundener Titel.« Er lachte leise auf. Sie standen nebeneinander und waren der vollkommene Gegensatz - Marko ein großer, gut gebauter und 15 mit weltmännischer Art auftretender Adeliger, wenn auch fast noch jugendlichen Alters, und Izeban ein kleiner, rundlicher und quirliger Mann, nicht mehr ganz jung, dem nur wenig blaues Blut durch die Adern floss. Doch die Klugheit sprühte ihm geradezu aus den Augen. Während Marko Kleider in Grün und Braun trug, die auf geheimnisvolle Weise selbst nach langer Reise noch immer gepflegt aussahen, hatte der kleine Gelehrte schlecht sitzende, derbe Sachen an, die zwar sauber, aber doch sichtlich zerschlissen waren. Markos dunkelblonde Locken wallten auf seine Schultern herab und er trug einen schönen Waidmannshut mit breiter Krempe und einer schillernden Babbu-Feder im braunledernen Hutband. Izeban hingegen hatte wirre, grau-weiße Haare und trug gar keine Kopfbedeckung. »Wo wollt Ihr denn hin, Herr Kommissar?«, fragte Izeban. Marko schnaufte. Ihm schwante Übles. »Ebenfalls nach Savalgor.« »Ach? Ist das nicht ein glücklicher Zufall? Da könnt Ihr mich doch bestimmt mitnehmen!« Marko verzog das Gesicht. »Ich fürchte, das wird nichts werden. Habt Ihr Euch mein Ross schon angesehen?« Er deutete auf Rox. »O ja! Ein prachtvolles Tier! Stark genug für fünf von uns!« »Stimmt!«, bestätigte Marko nickend. »Und auch böse genug! Es wirft zwar kein gutes Licht auf mich, aber dieser Hengst - er ist eine Bestie! Ein Ungeheuer! Eben ein Schlachtross, wie es sein muss. Kleine Gelehrte wie Euch verspeist er zum Frühstück - bei allem Respekt, Meister Izeban!« »Haha!«, machte der kleine Mann, trat zu Rox und tätschelte ihm freundlich die Nase. Er zog etwas aus seiner Tasche, hielt es Rox hin und der mächtige 16 Hengst zupfte ihm es sanft und geschickt aus der Handfläche - ohne ihm dabei den Arm abzubeißen. Marko traute seinen Augen nicht. Er trat vor seinen Hengst, die Fäuste entrüstet in die Hüften gestemmt und wohlweislich zwei Schritte Abstand haltend. »Du Verräter! Du hinterlistige Bestie! Mir machst du jeden einzelnen Tag meines Lebens zur Hölle, und diesem ... Meisterlein da, dem frisst du aus der Hand! Das ist ja die Höhe!« Rox stand nur friedlich mampfend da. Marko hätte schwören mögen, dass Rox ihn in diesem Augenblick hämisch, schadenfroh und gehässig angrinste. Der Provinzkommissar hoffte, dass ihnen bis Savalgor niemand mehr begegnete. Der Anblick, den sie boten, war unter aller Würde. Meister Izeban war klein gewachsen und hätte seine Beine weit spreizen müssen, um auf Rox' breitem Hinterteil Platz nehmen zu können. Das hätte ihm an seinen edelsten Körperteilen reichliche Schmerzen beschert. Also saß er vorne. Wie ein kleines Kind hatte er vor Marko Platz genommen, dabei wie eine Dame beide Beine nach rechts geschwungen, und starrte aus der enormen Höhe kindlich-staunenden Blickes auf die Welt hinab. Es stimmte schon: Die eine Elle, die man auf Rox' Rücken höher saß als auf gewöhnlichen Pferden, gewährte dem Reiter einen ganz anderen Blickwinkel. Schlimmer aber war Meister Izebans Karren, den Rox nun zog. Er erinnerte an ein Kinderspielzeug, das mit Seilen an sein mächtiges Hinterteil gebunden war. Es war leider notwendig gewesen, denn sie hatten keinen Weg gefunden, all die Kisten und Säcke Rox aufzuladen. Doch das stolze Schlachtross schien sich 17 ebenso wenig an seiner kuriosen Last zu stören wie an den Zärtlichkeiten, die ihm der Gelehrte angedeihen ließ. Er fütterte Rox mit kleinen Leckereien, streichelte seinen mächtigen Hals und flüsterte ihm freundliche Worte ins Ohr. Marko war überzeugt, dass der Hengst dies alles nur tat, um ihn zu ärgern. »Wie weit ist es wohl noch bis Savalgor?«, wollte Izeban wissen. »Zwei Tage noch ungefähr«, erwiderte Marko seufzend. »Allerdings ... bei diesem Tempo wohl eher sechs.« »Darf ich fragen, was Ihr in Savalgor für Geschäfte habt, Hoher Kommissar?« »Es genügt, wenn Ihr mich mit Marko anredet, Izeban. Ich habe einen wichtigen Besuch abzustatten.« »Einen wichtigen Besuch? Bei wem denn?« »Neugierde zählt für Euch wohl nicht gerade zu den Untugenden, was?« »Nein«, grinste der Meister. »Im Gegenteil. Ich halte sie für eine Tugend. Gelehrte wie meinesgleichen leben geradezu davon.« »Soso.« »Nun, wollt Ihr es mir nicht sagen?« Marko richtete sich würdevoll auf. »Die Zeiten sind schlecht und es gibt allerlei ungute Gerüchte. Zugleich heißt es, die Thronfolgerin suche nach einem Gatten. Nach einem Vater für ihr Kind und einem klugen Regenten, der an ihrer Seite über das Land herrscht!« »Und das wollt Ihr sein?« Marko maß Meister Izeban mit scharfen Blicken.
»Oh«, beeilte sich Izeban zu versichern, »nicht dass ich an Euren Fähigkeiten zweifelte, verehrter Marko. Aber ich meine gehört zu haben, dass es sich um den echten Vater ihres Kindes handeln muss. Das jedenfalls verlangt der Hierokratische Rat. Seid Ihr etwa ... der echte Vater?« 18 »Natürlich nicht. Ich pflege keine Damen zu beglücken, ohne davon zu wissen. Dennoch - was dem Land ganz offensichtlich fehlt, ist ein Mann von Stil und Gewicht. Ein Mann, der mit dem Schwert oder dem Bogen in der Hand ebenso schnell ist wie mit den Gedanken im Kopf. Einer, der Ausstrahlung und Autorität besitzt und gleichzeitig ein galanter Liebhaber und guter Vater sein kann. All diese Fähigkeiten vereine ich in mir.« »Zweifellos, zweifellos«, grinste Izeban. Marko ignorierte das. »Außerdem soll sie die schönste und anmutigste Frau von ganz Akrania sein, sagt man. Niemand anderem als mir gebührt eine solche Frau. In Zeiten, da Männer von höherem Blute nicht mehr viel gelten und Titel und Ehrenämter wie Ramsch gehandelt werden, wird es Zeit, dass ein Mann von Würde einer Frau wie ihr zu Glanz und Ansehen verhilft. Meint Ihr nicht auch, Meister Izeban?« Izeban blickte ihn schelmisch über die Schulter an. Der kleine Mann war nicht dumm, und ihm war anzusehen, dass er Markos überzogenes Getue durchschaute. Aber die Unterhaltung schien ihm Vergnügen zu bereiten. »Doch, ja, natürlich. Ich wünsche Euch viel Glück, Marko!« Marko brummte etwas. Er war nicht sicher, ob Izeban sich über ihn lustig machte. Was ihn selbst anging, so zweifelte er nicht daran, dass er die Thronfolgerin zu beeindrucken vermochte. Ob sie ihn erwählen würde, stand auf einem anderen Blatt. Aber er hatte sich vorgenommen, es zu versuchen. Seit er seinen Besitz an die Kämmerer verloren hatte und allein seine Titel und seine Herkunft aufweisen konnte, reiste er durch die Lande und versuchte sich als ehrenvoller Streiter für die Gerechtigkeit einen Namen zu machen - was ihm hier und da sogar schon gelungen war. Als er dann aber die Geschichte von der schönen, un19 glücklichen Thronerbin vernommen hatte, war er sofort nach Savalgor aufgebrochen. Marko hatte eine Schwäche für schöne Frauen; je schöner sie waren, desto größer seine Bereitschaft, alles für sie zu tun -wirklich alles. »Und Ihr, Izeban?«, fuhr er im Plauderton fort. »Was habt Ihr in Savalgor vor?« »Oh, ich will mich einer Gilde anschließen. Den Schiffsbauern oder den Baumeistern. Vielleicht sogar der Armee, als Waffenbauer. Ich hocke schon zu lange in meinem kleinen Dorf, und alles, was die Leute von mir wollen, ist die Reparatur eines Türschlosses oder einer Öllampe.« Er sprach die Worte voller Verachtung aus. »Dabei habe ich große Erfindungen gemacht! Eine Maschine zum Teigrühren zum Beispiel oder eine dreischüssige Armbrust!« »Eine ... dreischüssige Armbrust?« »Ja! Mit nur einer Sehne! Ein kleiner Handgriff und schon ist sie wieder schussbereit! Zudem arbeite ich gerade an einer fünfschüssigen.« »So? Die müsst Ihr mir aber mal zeigen!« »Jederzeit. Ich habe alles bei mir.« Plötzlich ertönte neben ihnen ein dumpfer Schlag. Rox zuckte zusammen und tänzelte, erstaunlich leichtfüßig für ein so großes Pferd, zur Seite. Direkt auf dem Weg neben ihnen rollte, wie aus dem Nichts erschienen, ein beachtliches Stück Holz daher. Es drehte sich noch einmal um die eigene Achse und kam dann zum Liegen. Marko hatte die Zügel angezogen. »Nanu - wo kommt das denn her?« Izeban rutschte sogleich vom Sattel herab, kam erstaunlich gewandt auf die Füße und flitzte zu dem Holzstück hin. »Ein Teil eines Astes, eine Elle lang und so dick wie ein Männerarm!«, rief er. Marko, der seinen Bogen bereits wieder gezückt 20 hatte, suchte misstrauisch die Umgebung ab, konnte aber nichts entdecken. »He! Was ist das?«, rief Izeban. »Hört Ihr nicht, Herr Kommissar?« Marko rutschte nun ebenfalls aus dem Sattel und lauschte angestrengt in den stillen Wald hinein. »Nein, was soll da sein?« »Geräusche! Dumpfe Schläge ... Da - aus dieser Richtung!« Er deutete nach Westen und starrte dann in die Luft hinauf, wo über dem Weg, zwischen freien Baumwipfeln hindurch, der graublaue Felsenhimmel in einigen Meilen Höhe zu sehen war. »Das Holz kann nur von dort oben heruntergekommen sein. Seine Kanten sind frisch geborsten. Es muss Dutzende von Schritt weit geflogen sein!« Marko starrte Izeban an. »Von da oben? Ich verstehe nicht ...« »Ein Kampf zwischen Drachen vielleicht«, rief Izeban. »Oder Magie!« Er sprang auf, zog einen winzigen Dolch aus seinem Stiefel und rannte in Richtung der Geräusche, die er gehört zu haben glaubte. Marko folgte ihm mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Der kleine Mann war voller Überraschungen. Er schien geistig sehr wach zu sein und bewies spontanen Mut, der beinahe schon an Übermut grenzte. Vielleicht war das die unstillbare Neugierde, von der er gesprochen hatte. »Wartet, Izeban!«, zischte Marko, doch der Meister war längst zwischen den Büschen verschwunden. Marko sputete sich und hatte ihn mit seinen längeren Beinen bald eingeholt. Er packte ihn am Arm. »Halt! So macht doch langsam! Wo wollt Ihr denn hin?«
»Dort entlang!«, rief Izeban aufgeregt, »Ich muss mir das ansehen. Schnell, kommt mit, Herr Kommissar!« Er riss sich los und lief weiter. Auch Marko vernahm jetzt die Geräusche: ein Wum21 mern und Zischen, das, durch den dichten Wald gedämpft, aus einiger Entfernung zwischen den Bäumen hindurchschallte. Neugierig folgte er Izeban. Plötzlich sah Marko helle Lichter aufblitzen, grünlich und orangerot. Sie durcheilten soeben eine kleine Senke. Nahe der Kuppe warf Izeban sich auf den weichen Waldboden und kroch die letzten Ellen. Marko tat es ihm gleich. Als er bei Izeban angelangt war, hatte er freie Aussicht in eine weitere Senke. Dort tat sich Unglaubliches vor ihren Blicken auf. Es waren ein Mensch und drei Tiere und sie lieferten sich dort unten in der Talsohle einen heftigen Kampf. Weitere drei Tiere lagen reglos am Boden. Aber schon im nächsten Augenblick fragte sich Marko, ob dies im strengen Sinn Tiere sein konnten. Sie sahen zwar entfernt danach aus, verhielten sich aber nicht im Mindesten so. Sie standen aufrecht und wirkten Magien auf den einzelnen Mann, der sich in eine weißliche Aura gehüllt hatte. Ihre Magien prallten von der Aura ab, aber der Mann, zweifellos ebenfalls ein Magier, hatte seine liebe Not, ihre Angriffe abzuwehren. Er bewegte sich rückwärts. Es handelte sich um sehr ungewöhnliche Magien. Die Tiere oder Wesen, oder wie auch immer man sie bezeichnen musste, hielten dicke, dunkelgraue und unregelmäßig geformte Stäbe in den Händen, mit denen sie aus Hüfthöhe auf den Magier zielten. Eine Flut von wummernden Lichtkugeln und orangeroten Blitzen ergoss sich aus ihnen auf die Schutzaura des Magiers. Die meisten zerplatzten dort oder wurden in blendenden Lichterscheinungen aufgesogen, manche aber prallten daran ab und schlugen in die umstehenden Bäume ein, die krachend zerbarsten. Holzstücke und brennende Scheite flogen durch die Luft. Meister Izeban zischte Marko etwas zu und deutete nach links. Nicht weit vom Schauplatz des Kampfes 22 entfernt, .auf einer kleinen Lichtung, stand ein seltsames Gebilde auf dem Waldboden. Es war so dunkelgrau wie die Magiestäbe der seltsamen Wesen, ruhte auf drei spinnenartigen Beinen und besaß etwa die Ausmaße einer kleinen Hütte, war jedoch eher lang gestreckt und recht flach. Was das nur sein mochte? »Auf welcher Seite stehen wir?«, flüsterte Marko. »Ich würde sagen, auf der des Magiers. Solche Kreaturen sind mir noch nie begegnet!« Marko nickte entschlossen. »Gut. Das sehe ich auch so. Leider habe ich nur einen Pfeil bei mir, die anderen habe ich vergessen. Wie lange braucht Ihr, um sie mir zu holen?« »Drei oder vier Augenblicke!«, sagte Izeban und war schon auf dem Rückweg. Er flitzte zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch und hatte kurz darauf Markos Blickfeld verlassen. Marko lächelte leicht. Der kleine Meister gefiel ihm. Selten noch hatte er einen Mann von solch geistiger Beweglichkeit und spontaner Entschlusskraft getroffen. Er wandte sich wieder um und beobachtete die Szene. Für den Magier dort unten wurde es langsam brenzlig. Marko überlegte, ob er den Kampf mit einem Treffer auf eine der Kreaturen für ein paar Sekunden so durcheinander bringen konnte, dass der Magier eine Atempause erhielt. Blieb nur zu hoffen, dass die fremden Wesen dann nicht auf ihn losgingen. Gegen diese seltsamen Magiestöcke würde er entweder ebenfalls eine Schutzaura benötigen oder rechtzeitig genug zwei weitere Pfeile. Er kniete sich hin, legte einen Pfeil auf und visierte sorgfältig eine der Kreaturen an, die wie eine aufrecht gehende Eidechse aussah. Sie schien eine Art Körperpanzer zu tragen, aber der Hals war frei. Der Hals war immer der beste Punkt, wenn man jemanden schnellstmöglich fällen wollte. Durch den Hals musste man 23 atmen. Er hoffte nur, dass diese Eidechsen das überhaupt taten. Augenblicke darauf sirrte der Pfeil los und Marko ließ sich sofort wieder fallen. Der Pfeil traf genau. Die Kreatur stieß einen hohen, zischenden Schrei aus und drehte sich wie ein Korkenzieher zu Boden. Befriedigt stellte Marko fest, dass das Feuer aus den Stäben der beiden anderen Kreaturen nachgelassen hatte. Erschrocken sahen sie nach ihrem gefallenen Gefährten. Diesen Moment nutzte der Magier. Als das Feuer kurz ganz erlosch, fiel auch seine Schutzaura in sich zusammen. Er vollführte ein rasche Geste mit der Hand und rief ein lautes, seltsames Wort aus. Wie eine schnellfüßige große Spinne krabbelte plötzlich ein hell leuchtendes Gebilde aus blauweiß strahlendem Feuer auf einen seiner Gegner zu. Die Kreaturen fuhren herum und wollten ihre Feuerstäbe sprechen lassen - doch die Schutzaura des Magiers flammte im selben Augenblick wieder auf. Sekunden darauf erreichte die weiß glühende Feuerspinne das rechte der beiden Wesen und hüllte es in ein beißendes, Funken schlagendes Gespinst. Das Wesen schrie auf wie eine gequälte Katze, wurde in einem Knistern und Zischen aus stygischer Energie geschüttelt und gebeutelt - und dann stob aus seinem seltsamen Körperpanzer plötzlich eine Dampfwolke. Augenblicke später klappte es in sich zusammen und starb mit einem gänzlich unmenschlichen Röcheln. Das letzte der Wesen feuerte seine Magien nur umso stärker auf seinen Gegner. Marko blickte zurück - wo blieb nur Meister Izeban? Als er sich wieder dem Kampf zuwandte, sah er, dass das fremde Wesen den Stab seines toten Gefährten aufgehoben hatte und nun die Aura des Magiers doppelt beschoss. Sie flimmerte - und Marko
wusste genug von Magie, um zu 24 ahnen, dass das ein schlechtes Zeichen war. Er musste handeln. Leise erhob er sich, zog seinen langen Dolch aus dem Gürtel und schlich sich leichtfüßig, die Deckung der Bäume nutzend, von hinten an das Wesen heran. Ein paar Schritte noch, dann hätte er sein Ziel erreicht. Die Aura des Magiers indes glühte schon, viel Zeit blieb nicht mehr. Marko handelte. Er vollführte eine Hechtrolle und landete genau in der richtigen Position zu einer Beinschere hinter der Kreatur. In diesem kurzen Augenblick sah er erst, wie groß sie war. Sie hatte einen langen Echsenschwanz, der mit scharfen Horngraten besetzt war. Marko würde sich daran verletzen. Aber dann war es schon geschehen. Seine Beinschere schnappte zu und holte, die grässliche Kreatur von den Füßen. Das Wummern der Magie brach sofort ab, als die Bestie zu Boden stürzte. Aber es ging nicht so einfach, wie er gehofft hatte. Mit Hilfe des Schwanzes sprang die Kreatur wieder auf die Beine. Sie fuhr herum und wandte sich mit einem bösen Zischen Marko zu. Sprungbereit kauerte das Wesen vor ihm, hatte zwar beide Stäbe verloren - aber Marko sah, dass das Ungeheuer regelrechte Klauen besaß und sein Körper förmlich überall mit scharfen Graten und Spitzen besetzt war. Geduckt stand er da, seinen Dolch in der Hand. Der Magier auf der anderen Seite war mit einem Stöhnen in sich zusammengesunken. Marko suchte nach einer Stelle, wo er den Dolch ansetzen konnte. Er fand keine. Mit einem Langbogen war das etwas anderes; Pfeile kamen mit Wucht und hätten die schuppige Haut der Bestie überall durchbohrt wahrscheinlich sogar ihren Panzer. Im Augenblick sah es übel für ihn aus. Das Biest zischelte wie eine Schlange, hob die krallenartigen Hände und schnellte vor. Marko warf sich 25 zur Seite, sein Gegner verfehlte ihn. Er hieb mit dem Dolch nach ihm, aber der Stahl glitt am Panzer und der harten, glatten Haut des Wesens ab. Ein ekliger Geruch wehte ihm entgegen, ein fauliger, süßlich herber Gestank. Er musste sofort wieder auf die Beine kommen, denn das Wesen war verteufelt schnell. Kaum stand er, war es schon wieder heran. Und in diesem Augenblick erkannte Marko, dass er zu spät war. Von der Seite kam der Echsenschwanz herangeschnellt und erwischte ihn mit scharfen Kanten schmerzhaft in Höhe der Fußgelenke. Ächzend schlug er auf dem Boden auf, verlor den Dolch. Sein linker Knöchel brannte wie Feuer. Als er aufblickte, stand das Monstrum über ihm, bereit, ihm den Rest zu geben. Dann aber, nur einen Sekundenbruchteil später, hörte er ein scharfes Zischen. Danach noch eins und noch eins. Ehe er verstand, was geschehen war, sank sein Gegner schon über ihm zusammen. Schnell wälzte er sich zur Seite, um möglichen Verletzungen durch die Knochengrate zu entgehen. Kaum war er weg, schlug die Kreatur neben ihm dumpf und leblos auf den Waldboden. Marko stieß ein Keuchen aus. Aus der Seite des Wesens ragten, knapp nebeneinander, drei Armbrustbolzen. Sie hatten glatt den Körperpanzer durchschlagen. Meister Izeban kam in die Senke gerannt. »Verzeiht, Hoher Kommissar!«, rief er. »Was für eine dumme Sache! Ich kam nicht an die Pfeile heran! Euer edles Ross hat so hohe Schultern - ich hatte nicht daran gedacht. Unverzeihlich, wirklich!« Marko schnaufte, sein Herz pochte noch immer wild. »Ist das da Eure dreischüssige Armbrust, Izeban?« Der kleine Gelehrte nickte und reichte sie ihm. Marko sah sich das Ding an, das ihm das Leben gerettet hatte. »Und das da? Ist das ebenfalls eine Feuerschnecke?« 26 »Tja«, sagte Izeban und kniete sich neben der Kreatur nieder. »Ich denke, die Gattung der Schnecken können wir getrost ausklammern. Das scheint mir eher ein ... eine ...« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, aber ich weiß nicht, was das ist. So etwas habe ich noch nie gesehen. Unverzeihlich!« Ein leichtes Zischen war zu hören und Marko beugte sich nieder. Er deutete auf die Stelle, wo die drei Armbrustbolzen aus dem Panier des Wesens ragten. »Da pfeift's!«, stellte er fest, nicht ganz schlüssig, was er daraus herleiten sollte. Izeban betrachtete die Stelle und nickte. Aber auch er hatte keine Antwort. Sie hörten ein Ächzen hinter sich. Der Magier hatte sich aufgerappelt, schwankte und schien kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Er hob die Hand und stützte sich seitlich an eine junge Birke. »Das, meine Herren«, keuchte er, »ist ein Drakken.« 27 2 ♦ Stadt in Flammen Die Stadt brannte wieder. Sie sahen es schon von weitem, von den Rücken der Drachen aus, und es war ein hässliches Bild. Der Tag war trübe und grau, die Wolken hingen tief und es nieselte. Schon zur Mittagszeit hatte sich der Himmel mit großen, grauen Wolken verzogen, nachdem sie am frühen Morgen bei schönem Wetter von dem großen Stützpfeiler an der Ishmar losgeflogen waren. Leandra und Victor saßen zusammen auf Nerolaans Rücken. Der große graue Felsdrache hatte erst vor kurzem die Wolkendecke durchstoßen, aber sie spürten schon, wie die Nässe auf ihre Haut durchdrang, und begannen zu frieren. Die anderen Drachen waren zu ihrem Schutz mit herunter gekommen, ständig auf der Suche nach Anzeichen von Flugschiffen der Drakken. Aber wenigstens das blieb ihnen für den Augenblick erspart. Dafür aber bot Savalgor ein Bild des Schreckens. Die stolze Hauptstadt von Akrania, eingebettet zwischen zwei gewaltigen Felsmonolithen im Osten und Westen, schien an diesem Abend neben dem Großen Savalgorer Stützpfeiler einen weiteren aufzuweisen, der zwischen
den Bauten aufragte. Erst wenn man näher kam, erkannte man, dass es nichts als eine gewaltige, schwarzgraue Rauchsäule war, die sich aus dem hell in Flammen stehenden Händlerviertel erhob. Im dämmrigen Licht konnte man weitere Brandherde ausmachen. 28 »Ob das -die Drakken sind?«, rief Victor durch den Wind und Regen. Er deutete Richtung Savalgor. Leandra antwortete nicht und fragte stattdessen ihren Drachenfreund. Nerolaan! Habt ihr immer noch keine Drakken entdeckt? Der Drache verneinte. Inzwischen wundert es mich ebenfalls. Es ist kein einziges ihrer Schiffe mehr zu entdecken. So als wären sie plötzlich wieder verschwunden. Leandra stöhnte leise. Das war wohl nur ein frommer Wunsch - nichts als die Ruhe vor dem Sturm. Sie wandte sich um und sah nach Victor, der unmittelbar hinter ihr saß. Er hielt das Gesicht in den Wind, kümmerte sich nicht um den Regen und starrte nach Südosten, wo die Stadt noch etwa sieben oder acht Meilen entfernt lag. »Bevor wir landen, müssen wir erst herausfinden, was da unten los ist«, rief sie ihm zu. »Was ist mit dem Roten Ochs?«, rief er zurück. Leandra dachte kurz nach, dann nickte sie. »Ja, eine gute Idee! Zuletzt war er noch in der Hand von Jackos Leuten. Wenn sie dort immer noch das Sagen haben, ist es wahrscheinlich der einzig sichere Ort für uns in Savalgor.« »Es wäre aber gut«, erwiderte er, »wenn einer von uns erst einen Erkundungsflug durchführen würde -bevor wir mit den Drachen in irgendeiner Gasse landen.« »Ja, das stimmt.« Nerolaan!, hörte er Leandras Stimme im Trivocum. Lass uns an einem sicheren Ort landen. Wir müssen erst herausfinden, was in der Stadt geschehen ist! Der Drache sandte ihr eine Bestätigung zu und kurz darauf vernahm sie im Trivocum seinen Befehl an die übrigen Sippenmitglieder, abzudrehen. Er stellte die Schwingen ein wenig in den Wind und ließ sich emportragen. Augenblicke später schon flogen sie wieder in 29 die grauen Wolken hinein, und für ein paar Minuten kämpfte Nerolaan sich durch die graue, nasse Waschküche der Wolkendecke höher. Doch dann waren sie hindurch, stießen in den freien, von goldenem Abendlicht durchfluteten Raum über den Wolken. Ein großes, lang gestrecktes Sonnenfenster zog sich über ihnen nach Nordosten. Leandra ließ sich zurücksinken und lehnte sich an Victor, der sie von hinten umarmte. Überall um sie herum stießen andere Drachen durch die Wolken hindurch. Es war ein fast berauschender Moment, der etwas von Unendlichkeit und Zeitlosigkeit in sich trug. Leandra spürte Erleichterung, aber auch eine gewisse Schwermut, denn dieser schöne Eindruck war nur allzu kurz bemessen. Victor drückte sie fest an sich. Die Luft war deutlich wärmer geworden und all das schlechte Wetter lag nun unter ihnen. Man konnte mächtige Stützpfeiler glasklar bis in weite Entfernungen erkennen, und überall dort, wo sich Sonnenfenster befanden, ruhten riesige, helle Lichtflecken auf der Wolkendecke. Die Welt hier oben, im hohen Reich der Drachen, bot immer wieder neue, erhebende Anblicke. Wie findest du den großen Stützpfeiler dort nordwestlich von uns?, vernahm sie eine Stimme, die irgendwo aus dem Nichts zu ihr drang. Verwundert wandte sie sich um. Quendras blickte zu ihr herüber. Nein, er hatte nicht gerufen, sondern seine Stimme war über das Trivocum zu ihr gelangt. Sie hörte so etwas wie ein verzerrtes Lachen und anschließend die Worte: Warum sollten wir untereinander nicht auch so reden wie die Drachen? Es ist überhaupt nicht schwierig! Versuch es selbst! Leandra zögerte. Sie verspürte eine gewisse Neugier, es tatsächlich einmal zu versuchen. Doch es gab ein Gesetz im Gildenkodex, das jedem Magier verbot, seine 30 magischen Sinne zu benutzen, um >in den Köpfen anderer herumzuforschensehen< konnte und weiterhin seinen alten Gewohnheiten folgte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, dem euphorischen Wachmann 113 einen Dämpfer zu versetzen, indem er ihn einen Blick unter die Plane auf Rox' Karren werfen ließ. Aber mit so einem Fremden würde der Mann gewiss nichts anzufangen wissen - es würde ihn nur verunsichern und ihm Angst einjagen. Kaum jemand dürfte eine Ahnung haben, was für Wesen es tatsächlich waren, die sie da bedrohten. Sie mussten mit dem toten Drakken zuerst zur Shaba. Diese Aussicht allerdings trübte Markos Laune nur umso mehr. »Fremde?«, fragte er barsch. »Keine Ahnung, wovon du da redest, Mann!« Die Freundlichkeit des Soldaten kühlte infolge Markos rüder Worte langsam ein wenig ab. »Na ja, ich hoffe, da ist nichts dran! Aber egal. Jetzt, da die Thronfolge endlich geregelt ist, und in der Stadt wieder Ruhe und Ordnung einkehren werden, kriegen wir diese Kleinigkeit wohl auch noch in den Griff, was?« »Wollen wir's hoffen!«, murmelte Marko missmutig. Der Wachmann legte den Kopf schief. »Was ist? Gefällt dir das etwa nicht? Dass wir jetzt wieder Frieden bekommen?« Marko schnaufte und studierte das Gesicht seines Gegenübers. Verständlich, dass ihm sein unwirsches Verhalten seltsam vorkam, aber er konnte ja nichts davon ahnen, dass er gekommen war, um der Shaba den Hof zu machen. Doch das hatte sich ja jetzt wohl ohnehin erledigt. »Schon gut, alles klar«, sagte Marko ungeduldig und winkte ab. »Dürfen wir jetzt endlich hinein?« Plötzlich war das Gesicht des Wachmanns nicht mehr so freundlich wie zuvor. Marko schien seinen Ärger beschworen zu haben. Er sah nach hinten zu Rox, dessen Zügel Izeban hielt. »Was habt ihr dabei?«, fragte er. Nun drängte sich Jerik an Marko vorbei. »Nichts Besonderes«, sagte er mit ruhiger, freundlicher Stimme. »Mein Freund hier ist wohl etwas ärgerlich, weil er 114 sich Hoffnungen auf die Shaba gemacht hat!« Jerik schickte ein Lachen hinterher, in der Hoffnung, durch diesen Witz, der eigentlich die Wahrheit war, die Laune des Wachmanns wieder zu verbessern. Der aber zeigte sich unbeeindruckt. Er hakte die Daumen in seinen Gürtel und spazierte um Marko herum. Jerik unterdrückte einen Fluch. Der Soldat blieb neben dem Karren stehen und blickte auf die Plane. Seine betont lässige Körperhaltung signalisierte schon, dass er sich auf seine Macht als Torwächter besonnen hatte und sich nun für Markos rüdes Verhalten zu revanchieren gedachte. »Nichts Besonderes?«, fragte er herausfordernd. Er deutete auf etwas, das hinten unter der Plane hervorschaute. Es war nur ein kleiner Teil der länglichen Drakkenwaffe, doch man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass es durchaus etwas Besonderes war. Jerik eilte zu ihm. »Das ist nur ...« Er kam zu spät. Der Soldat hatte sich bereits niedergebeugt und die Plane zurückgeschlagen. Die Waffe kam größtenteils zum Vorschein und dazu noch beide Beine des toten Drakken bis hin zu den Kniegelenken. Der Soldat machte einen Satz zurück. »Warte!«, rief Jerik und hob beide Arme. »Versteh das nicht falsch! Ich ...« »Was ist das?«, kreischte der Soldat und deutete entsetzt auf seinen Fund. Jerik blieb stehen. Augenblicke später waren auch Marko und Izeban herangeeilt. Mit einem Klirren fuhr das Schwert des Wachmanns aus der Scheide und er hielt es ihnen direkt entgegen. Jerik wandte sich ärgerlich zu Marko um. »Vorlauter Bengel!«, fuhr er ihn an. »Da hast du's! Hättest du nicht deinen Schnabel halten können?« »Ich frage nicht noch einmal!«, unterbrach sie der 115 Soldat scharf. »Was ist das? Ihr sagtet, ihr hättet nichts Besonderes dabei.« »Beruhige dich, Soldat«, sagte Jerik mit aller Ruhe. »Wir müssen zur Shaba, um ihr dieses Wesen zu zeigen. Du hast selbst von den Gerüchten über die Fremden gesprochen. Dies hier ist so einer. Wir haben ...«
Der Soldat starrte sie entgeistert an, blickte dann auf die Drakkenbeine und trat einen Schritt zurück, das Schwert immer noch erhoben. Er schrie so laut er konnte: »Torwache! Torwache ... Zu mir!« 116 6 ♦ Dunkle Pläne Es war keine Wut mehr, die Ötzli empfand, sondern nur noch Taubheit. Sein gesamtes Inneres fühlte sich an, als wäre es durchgewalkt und geprügelt worden und läge jetzt leblos am Boden. Irgendetwas in ihm weigerte sich zu begreifen, dass tatsächlich keiner seiner Pläne funktioniert hatte. Er hatte das Land vor dieser Pest einer Weiberherrschaft bewahren wollen, vor Alina und vor allem vor Leandra und ihrem Pack. Erst hatte ihn dieser Rasnor im Stich gelassen, dann war der seltsame Glatzkopf untergetaucht - und jetzt hatte Leandra auch noch den Pakt gefunden und nach Savalgor gebracht. Zuletzt war sogar das eigentlich Unmögliche noch geschehen: Diese beiden dummen Kinder hatten in eine Heirat eingewilligt, obwohl sie sich nicht einmal kannten. Unfassbar! Inzwischen wusste er nicht einmal mehr, wie viel Zeit noch von den zwei Wochen übrig war, die ihm die Drakken zugebilligt hatten, um ihnen den Pakt zu bringen. Er hatte es nach Kräften versucht, aber jämmerlich versagt. Inzwischen glaubte er nicht mehr an diese verrückte >GlückssträhneHoheit
kündigte sich an. Am späten Vormittag hatten sie bereits mehrere Meilen innerhalb der Stadt und ihrer zahllosen Hinterhöfe, Stege, Brücken und Treppen zurückgelegt. Matz hatte sie an die verschiedensten Orte gebracht, aber sie hatten feststellen müssen, dass jeder versteckte Fleck, der einigermaßen sicher zu sein schien, bereits von anderen Leuten besetzt war. Es gab noch etliche Männer und Frauen in der Stadt, die ebenfalls in Freiheit und auf der Flucht vor den Häschern der Drakken waren. Das machte Alina Mut. Vor ihrem geistigen Auge sah sie in ihnen Leute, die sie unter sich sammeln konnte, um eines Tages den Drakken begegnen zu können. Aber jetzt war es noch 321 zu früh. Als Erstes benötigte sie einen sicheren Zufluchtsort. Einen furchtbaren Augenblick erlebte sie, als Matz sie zu einem weiteren möglichen Versteck führte. Es sollte sich um einen alten Schmugglerkeller handeln, unter einer Korbflechterei im Händlerviertel. Dort, sagte Matz, hätten regelmäßige Zusammenkünfte einer Schmugglerbande von Guldor stattgefunden - mitten im Viertel von Jacaires Leuten. Aber sie wären nie dahinter gekommen. Das klang gut in Alinas Ohren. Doch kurz bevor sie die Korbflechterei erreichten, tönte Lärm durch die Gassen. Sie drückten sich in die Schatten. Dann sahen sie Drakken. Augenblicke darauf flohen Leute in alle Richtungen davon, während sich aus der Gasse vor ihnen brüllender Lärm erhob. Alina kannte diese Geräusche bereits - sie stammten aus den Waffen der Drakken. Es war ein Fauchen und Grollen, gefolgt vom Lärm einstürzender Wände und den Schreien fliehender Menschen. Matz drängte sie zurück und wagte sich dann selbst ein paar Schritte vor. Mit pochendem Herzen blieb sie an eine Mauer gepresst in einer schmalen Seitengasse stehen. Obwohl es nur Sekunden dauerte, bis er wieder da war, durchlebte sie Höllenängste. Sein sonst immer von einem Grinsen überzogenes Gesicht war blass und grau geworden. »Die schießen alles zusammen! Genau da, wo wir hinwollten!« Alina wich noch weiter zurück und zog ihn mit sich. »Wo sollen wir bloß hin, Matz? Alle Verstecke sind voller Leute - und sie haben Angst. Niemand hilft einem mehr. Und jetzt ...«, sie deutete in Richtung der Kampfgeräusche, »jetzt fangen die Drakken sogar schon an, solche Verstecke auszuräuchern! Du sagtest, dies hier wäre besonders gut!« Er nickte betroffen; es schien fast, als hätte der Schrecken dort draußen ein wenig von seiner einfältigen Art 322 weggewaschen. Sein Gesicht wirkte sorgenvoll. »Ja, ich weiß. Ich ...« »Kennst du denn gar keinen Ort, der wirklich sicher ist? Vielleicht unten in den Katakomben?« Er schüttelte den Kopf. »Nee, Shaba! Bloß nicht in die Katakomben! Seit die wieder offen sind, ham zu viele Leute davon erfahren.« Alina nickte. Ja, wahrscheinlich hatte er Recht. Besonders die Bruderschaft dürfte viele der Zugänge kennen. Wenn die Drakken erst einmal dort unten waren, würde eine wahre Treibjagd beginnen. Sie peilte an ihm vorbei in Richtung der breiteren Gasse, die ein Dutzend Schritt von ihnen entfernt lag. Noch immer drangen Geräusche zu ihnen, aber das Wummern der Drakkenwaffen war nur noch vereinzelt zu hören. Dazwischen erschallten ihre kalten, knarrenden Stimmen und Schreie aus den Kehlen ihrer Opfer. Es klang grauenvoll. Alina kam sich hilflos und verloren vor; es war geradezu ein Wunder, dass sie noch frei waren. Die Drakken zogen die Schlinge immer enger zu. »Wir müssen die Stadt verlassen!«, flüsterte sie, wich zurück und zog Matz mit sich. Sie wandte sich um und lief ein Stück des Weges zurück, den sie gekommen waren, tiefer in die Schatten der Hinterhöfe hinein. Kein Mensch war mehr hier zu sehen, alle hatten sich vor Furcht verkrochen. Sie fand den Weg über die verwinkelten Stege, über die Matz sie hierher gebracht hatte, und zog sich eilig wieder in diese Richtung zurück. Matz schnaufte und keuchte, als er ihr folgte. Er war recht flink für einen Mann seiner Körperfülle, aber um seine Ausdauer war es nicht gut bestellt. Selbst Alina, die nicht in sonderlich guter Verfassung war, hätte ihn hier leicht abhängen können. Als sie eine versteckte Nische entdeckte, einige Häu323 serblocks und Stockwerke vom Schauplatz des Drakkenüberfalls entfernt, hielt sie an und wartete auf ihn. Keuchend kam der kleine, dicke Kerl die Stufen herauf und blieb dann schwer schnaufend vor ihr stehen. Sie war bereits wieder zu Atem gekommen, ließ sich niedersinken und zog Matz mit zu sich herab. Ihr war eine Idee gekommen. »Die Drakken wissen sehr gut«, erklärte sie ihm leise, »dass sich Widerstandsnester dort bilden, wo viele Menschen zusammenleben. Deswegen gehen sie hier in Savalgor so brutal vor. Und sie werden sicher noch brutaler! Wir müssen von hier fort.« Matz blickte unsicher über die Schulter. »Savalgor verlassen?«, fragte er. »Ich ... ich war noch nie außerhalb der Stadt.« Sie starrte ihn verblüfft an, musterte ihn von oben bis unten. Er musste gute vierzig sein. »Noch nie? Noch nie außerhalb von Savalgor?« Er schüttelte den Kopf und blickte verloren drein. Sie verstand. Wahrscheinlich hatte Matz nicht einmal die zwei, drei Stadtviertel je verlassen, in denen er
aufgewachsen war. »Also gut!«, sagte sie. »Dann wirst du jetzt eine neue Welt kennen lernen. In der Stadt können wir nicht bleiben. Weißt du einen Weg, wie wir hinaus kommen? Die Stadttore werden streng bewacht sein.« Matz starrte sie aus großen Augen an. »Ich ... nein, Shaba. Ich meine ...« Alina starrte nachdenklich an ihm vorbei. »Aber ich!«, sagte sie plötzlich. »Leandra! Sie kam auch schon einmal unentdeckt herein, zusammen mit Hellami!« »Leandra ...?« »Ja, natürlich! Leandra. Weißt du nicht, wer das ist?« Er nickte unsicher. »Doch, doch. Hab sogar schon mal mit ihr geredet ...« Alina nickte. Ja, natürlich. Damals im Roten Ochsen, während sie alle dort gefangen gewesen waren. Dann 324 ging ihr auf, dass sie mit Matz eigentlich genau den Richtigen für ihr Vorhaben hatte. »Es muss einen Weg geben, über den man vom Roten Ochsen aus zu den Quellen von Quantar gelangen kann!«, sagte sie. »Ich selbst wurde damals dort entlang geschleppt - allerdings mit einem Sack über dem Kopf. Kennst du diesen Weg?« Matz' Brauen zogen sich nachdenklich zusammen, schließlich nickte er. »Hm ... im ersten Stock geht 'n Hinterausgang auf 'ne Brücke raus und ...« »Richtig! Dort hinaus sind die anderen damals geflohen! Und genau dort musste auch ein Weg weiterführen, bis zu den Quellen. Kennst du ihn?« Matz hob die Schultern. »Ich war lang nicht dort. Aber da geht's zu 'nem Tunneleingang im Fels. Es ist aber 'n Stück.« »Das finden wir!«, sagte sie zuversichtlich. »Wir brauchen ein Seil - ein langes Seil!« Sie sah sich um. »Wir werden die Stadt verlassen, uns ein Versteck und ein paar gute Männer suchen und dann meinen Sohn befreien. Meinen Sohn und Victor.« Matz sah sie erstaunt an. »Victor, meinen Ehemann!«, sagte sie. Er schluckte. »Du ... du bist verheiratet, Shaba?« Alina runzelte die Stirn. »Natürlich! Könnte ich sonst Shaba sein?« Matz hob nur die Schultern. Alina musterte Matz mit prüfenden Blicken. »Hast du nichts von der Hochzeitszeremonie mitbekommen? Die ganze Stadt war auf den Beinen!« Zögernd schüttelte er den Kopf. »Nichts davon, dass ich den Vater meines Sohnes finden und ihn ehelichen musste? Das war eine Verfügung des Hierokratischen Rates!« Er starrte sie nur an und ihr wurde klar, dass er keine Ahnung hatte, was der Hierokratische Rat über325 haupt war. Vielleicht hatte er das Wort einmal gehört, vielleicht auch etwas vom Cambrischen Orden oder davon, dass es außerhalb von Savalgor auch noch eine Welt gab. Mehr aber nicht. »Wie viel ist sieben mal sechs?« »Sieben ... mal ... äh, sechs?« Er starrte sie verwirrt an. »Ja, bei den Kräften! Weißt du das nicht?« Er schluckte, dachte dann kurz nach. »Äh, also ... Zweiundvierzig.« »Und siebzehn geteilt durch drei?« Auch hierfür brauchte er nicht lange. »Fünf. Und ein paar Zerquetschte.« Alina nickte verstehend. Sie hob eine Hand und pochte ihm mit dem Fingerknöchel gegen die Stirn. »Du bist nicht dumm! Aber du bist das wohl ungebildetste Geschöpf, das mir je begegnet ist. Seit deiner Geburt lebst du in Savalgor, hast aber keine Ahnung, was der Hierokratische Rat ist, was? Und du weißt auch nicht, dass man nicht einfach Leute umbringen darf, wenn einem danach ist.« Nun brauste Matz auf. »Guldor war 'n schlechter Mensch! Hat immer nur die Leute gequält ... und die Mädchen, wie dich. Er hätt' dir wehgetan, und das könnt ich doch nicht ...« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Schon gut, Matz. Natürlich hast du Recht. Ich bin ja froh, dass du mich verteidigt hast. Aber trotzdem ... mir wäre wohler, wenn du etwas mehr Fingerspitzengefühl besäßest. Musstest du Guldor gleich töten? Vielleicht hätte es genügt, ihn bewusstlos zu schlagen.« Sie sah, dass Matz ihr widersprechen wollte, und sie wusste auch, warum. Aber er hielt sich zurück. Sie war froh, denn das ersparte ihr eine Diskussion, die sie eigentlich gar nicht führen wollte. Im tiefsten Herzen beruhigte es sie, dass Guldor tot war. Nicht, weil sie seinen 326 Tod wünschte, sondern weil sie ihn nun sicher los waren. Im Augenblick hatten sie nur einen Feind, aber der war wahrlich ausreichend: die Drakken. Eine zusätzliche Verfolgung durch einen rachsüchtigen Guldor wäre das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Besonders jetzt, da sie zum Roten Ochsen zurückkehren mussten. »Komm, wir müssen fort von hier«, sagte sie leise und erhob sich. »Zum Roten Ochsen. Geh du voran -du kennst dich besser aus.«
Er nickte dankbar, weil er keine Schelte mehr bekam, erhob sich und eilte voraus. Sie folgte ihm. Nach einer Weile, als sie sich ein Stück vom Kampfgeschehen entfernt hatten, trafen sie wieder Menschen. Alina fühlte sich sogleich ein wenig sicherer; in der Menge konnte man sich leichter verstecken. Vor jeder Abzweigung nahmen sie die Wege und Stege genau in Augenschein, denn immer häufiger waren hier oben Drakken zu sehen. Sie versuchten ihnen nach Kräften aus dem Weg zu gehen. Zweimal jedoch mussten sie sich direkt an einer Zwei-Mann-Patrouille vorbeizwängen. Alina schlug das Herz bis zum Hals, aber sie hatten Glück. Bis auf die kalten, misstrauischen Blicke der Echsenwesen blieben sie unbehelligt. Zweieinhalb Stunden später, nach zahllosen Umwegen, hatten sie endlich die Gasse vor dem Roten Ochsen erreicht. Ihre Flucht durch Savalgor war ein Weg des Schreckens gewesen. Seit dem heutigen Morgen hatte die Zahl der Verschleppungen beängstigende Ausmaße angenommen. In fast jeder breiteren Straße sahen sie Gruppen von Männern und Frauen, die unter schwerer Bewachung in Richtung Süden geführt wurden - offenbar in Richtung des großen Marktplatzes. Von dort aus erhoben sich Drakkenschiffe in endloser Folge über die Dächer und flogen davon, während neue landeten. Es kam 327 Alina so vor, als wollten die Drakken die Bevölkerung der Stadt um wenigstens die Hälfte vermindern. Sie mochte die Gerüchte, die man sich zuflüsterte, schon gar nicht mehr hören. Auch weigerte sie sich zu glauben, dass die Drakken die Menschen auffraßen. Trotz des Terrors in der Stadt wirkten die Aktionen der Fremden planvoll. Sie waren keine blutrüstigen Barbaren - nicht im wörtlichen Sinn dieser Bezeichnung. Es blieb ein Rätsel, warum die Drakken einfache Menschen verschleppten, wo sie doch eigentlich die Geheimnisse der Magie erfahren wollten. »Denkst du, es ist jemand drin?«, flüsterte Alina und deutete auf den Roten Ochsen. Sie kauerten gegenüber auf einem Hochweg, wo ein gemauerter Steg mit Brüstung an einer der Hausfassaden entlang lief. Die Straßen waren seit der Mittagszeit fast völlig leer. Jeder musste fürchten, von einem vorbeikommenden Drakkentrupp einfach mitgenommen zu werden. »Es ist ruhig«, flüsterte Matz zurück. »Schätze, da ist keiner mehr. Denen wird die Lust aufs Vögeln vergangen sein.« Als Alina ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, räusperte er sich entschuldigend. Sie sah wieder hinüber und überlegte. Schwer vorstellbar, dass der Rote Ochs jetzt gänzlich leer stehen sollte. Ihre Blicke schweiften über die Stege und Treppen, dann über die gegenüberliegende Häuserfassade. Nun hatte sie verstanden. »Es ist eine Falle!«, flüsterte sie. »Eine ... Falle?« Alina überkam eine plötzliche, dringende Vorahnung. Sie ließ sich auf alle viere nieder, winkte Matz zu sich und kroch im Schutz der gemauerten Brüstung ein Dutzend Schritte nach rechts. Von hier aus konnten sie in die Dunkelheit einer schmalen Schlucht zwischen zwei Häusern gelangen. Sie kroch noch ein kleines Stück weiter, richtete sich dann auf und huschte in den 328 Schatten unter einem Balkenwerk, das einen Mauerpfeiler stützte. Matz folgte ihr - und erreichte sie keine Sekunde zu früh. Kaum waren sie verschwunden, erschien zwei Stockwerke über ihnen ein Drakken. Sie konnten ihn durch die Ritzen und Zwischenräume gut erkennen, und an seiner Körperhaltung war leicht zu sehen, dass er nicht auf Patrouillengang war. Er war auf der Jagd. Alina legte einen Finger auf den Mund und gab Matz ein Zeichen, keinen Laut von sich zu geben. Der Drakken huschte dort oben eine Weile herum, dann erschien ein zweiter, mit dem er sich offenbar kurz verständigte. Danach trennten sich die beiden wieder -kurz darauf war keiner von ihnen mehr zu sehen. »Verdammt, wie konnte ich nur so blöd sein!«, flüsterte sie. Matz sagte nichts, aber dass sie ihm eine Erklärung geben musste, lag in der Luft. »Der Rote Ochs!«, flüsterte sie. »Rasnor weiß, dass ich auf der Flucht bin. Er wird die Orte in der Stadt bewachen lassen, zu denen ich gehen könnte. Die Ausgänge der Katakomben, den Tunnel nach Torgard, das Ordenshaus vielleicht ... aber ganz sicher den Roten Ochsen!« Matz nickte. Er überlegte eine Weile. »Ich glaub, ich könnt 'nen Weg hintenrum finden. Hoch zum Steg, aber nicht durch den Ochsen. Würd' das gehn?« Nun zeigte er Phantasie. »Ja! Das wäre fabelhaft. Aber ... wir müssen trotzdem aufpassen. Ich weiß nicht, ob Rasnor von dem Weg weiß, auf dem Leandra damals in die Stadt gekommen ist.« Matz nickte. Eingehend studierte er die Umgebung und erhob sich dann. Er ging ein Stück, sah sich nochmals um und winkte ihr. Sie folgte ihm. 329 18 ♦ Übermacht Als sie ihr Versteck verließen, fing es an zu regnen - so als wollte sich der Himmel über der Welt dem Jammer und den Klagen eines gepeinigten Volkes anschließen. Der kühle Wind, der aufgekommen war, versprach schlechtes Wetter für die nächsten Tage. Matz führte sie in einem weiten Bogen um den Block des Roten Ochsen herum auf die andere Seite der Gasse.
Dies hier war sein Viertel, hier kannte er jeden Steg und jede Treppe. Anders hätten sie es vielleicht nicht geschafft. Denn in diesen Nachmittagsstunden zogen die Drakken ihren Würgegriff um die Stadt mit aller Macht zu. Unablässig wurden Gruppen von Männern und Frauen abgeführt; zweimal fand ganz in ihrer Nähe ein Zusammentrieb statt und die Kommandorufe der Drakken wie auch die Klagen der Gepeinigten waren weithin zu hören. Es waren Stunden des Schreckens, und Alina und Matz duckten sich so tief in die Schatten, wie sie nur konnten. Als sie am höchsten Punkt des Weges durch nasses Balkenwerk auf einen schmalen Brettersteg kletterten, konnte Alina fast die gesamte Stadt überblicken, bis hin zum Reichenviertel, das ganz auf der anderen Seite im grauen Dunst unterhalb des östlichen Monolithen lag. Aus diesem Blickwinkel war der Stadt nur wenig davon anzusehen, was sich derzeit innerhalb ihrer Mauern abspielte. Stimmt nicht ganz, korrigierte sie sich, als sie den Blick in die Höhe wandte. Dort oben, eine halbe Meile 330 über den Dächern der Stadt, unter den grauen Wolken, schwebten Drakkenschiffe. Es waren ein gutes Dutzend, eines davon riesig groß. Sie verharrten regungslos in der Luft und ihre mächtigen Metallleiber schimmerten nass herab. Vermutlich sollten sie den Machtanspruch der Drakken für jeden Bewohner der Stadt zu jeder Zeit sichtbar machen. Für einen seltsamen Augenblick überkam Alina plötzlich eine Ahnung, gerade so, als ob dort oben eine Idee für die Lösung ihrer Probleme läge. Aber sie konnte den Gedanken nicht fassen und musste sich im nächsten Moment auf ihren Halt auf dem rutschigen Steg konzentrieren. Als sie wieder sicher stand, fragte sie sich verwundert, was ihr da in den Sinn gekommen war, und musterte noch einmal die Drakkenschiffe am Himmel. Aber sie kam nicht mehr darauf. Matz führte sie weiter. Nach einigen bangen Minuten stiegen sie schließlich wieder in die Sicherheit der schmalen Schluchten zwischen den Häusern hinab. Angestrengt schnaufend nickte er nach links. »Das da ist der Rote Ochs. Die Rückseite. Siehste die Brücke da, Shaba?« Er deutete auf einen feucht glänzenden Steg, der wie eine Brücke mitten in der Rückwand des Gebäudes bei einer Tür ansetzte und von dort in westlicher Richtung zwischen zwei Häusern verschwand. Das linke von ihnen stand bereits auf sich aufwölbendem, felsigem Grund - dort begann der westliche Monolith. »Wir müssen uns von hier aus 'nen Weg da rüber suchen. Aber wir finden schon was. Wie's dahinter weitergeht, weiß ich nicht.« Alina musterte die Gassen und Hinterhöfe in der Umgebung. Normalerweise hätten hier Menschen sein müssen Frauen, die Wäsche hereintrugen, Männer, die arbeiteten, oder Kinder, die irgendwo spielten. Aber alles war wie ausgestorben. Sie liefen weiter 331 durch das Labyrinth der Stege und Treppchen. Langsam wurde sie müde vom vielen Klettern und wünschte sich, bald anzukommen. Matz entdeckte die Fortsetzung des Stegs und erkundete geschickt einen Weg, über den sie dorthin gelangen konnten. Als sie schnaufend die letzten Treppenstufen emporkletterten, waren sie schon ganz am Rand der Savalgorer Bebauung angekommen; vor ihnen ragte eine fast glatte, rötlich graue Felswand empor, teils lehnten sich die Häuser sogar daran an. Matz deutete auf einen Einschnitt direkt westlich von ihnen und winkte ihr. Noch einmal ging es über eine Leiter und eine Treppe hinauf, dann standen sie auf einem luftigen Brettersteg, der an der Felswand entlang führte, gut versteckt in einer schmalen Schlucht hinter der letzten Häuserreihe. Alina wischte sich schwer atmend eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Auch Leandra und Hellami waren damals bei eiskaltem, regnerischem Wetter nach Savalgor gekommen, über den Fels des westlichen Monolithen, und wenn Hellami nicht übertrieben hatte, wären sie ein paar Mal beinahe abgestürzt - 200 Ellen über die steile Wand des Felsens in die Tiefe. Alina blickte missmutig zum Himmel auf. Sie würde Recht behalten - es sah nach mehreren Tagen schlechten Wetters aus. »Ein Seil«, erinnerte sie Matz. »Wir brauchen unbedingt ein Seil.« Er nickte. »Ja, Shaba. Ich bring dich erst mal aus dem Wetter weg, ja?« Es freute sie, dass er sich so sehr um sie sorgte. Schon eilte er wieder voran, doch der Weg endete bald. Am Ende des Bretterstegs, etwas versteckt unter einem Überhang, befand sich eine schwere Holztür. Die Stelle, an der sich der Riegel hätte befinden müssen, war zersplittert und notdürftig repariert. Matz zö332 gerte nicht lange, griff in die Ritze zwischen Holz und Fels und zog zwei-, dreimal kräftig. Mit einem reißenden Geräusch gab das Holz nach. Die Tür klappte nach außen auf und vor ihnen erstreckte sich ein dunkler Gang, der schräg abwärts in die Tiefe des Felsens hineinführte. »Das musses sein!«, sagte Matz. Alina nickte. »Ja. Ganz sicher. Kannst du ein Seil besorgen? Und eine Fackel?« »Klar, mach ich!« Er schob sie hinein, nickte ihr zu und sagte: »Wart hier. Bin gleich wieder da!« Dann klappte die Tür zu und sie stand allein in der Dunkelheit. Wieder einmal allein. Sie öffnete noch einmal kurz die Tür, sah ihm hinterher, wie er über den regennassen Steg verschwand, und suchte dann in der hereinfallenden Helligkeit nach einem Platz, wo sie sich setzen konnte. Leider gab es nur
rötlich grauen, steinernen Boden. Es sah so aus, als wäre hier vor langer Zeit einmal ein schmaler, natürlicher Gang von Menschenhand erweitert worden. Seufzend setzte sie sich im Schneidersitz direkt neben der Tür nieder und ließ sie wieder zufallen. Eine Weile starrte sie die hellen Ritzen an, durch die ein wenig Licht hereinfiel, und überlegte, was sie in der Zwischenzeit tun könnte. Ihre Gedanken flogen zurück zu dem Moment, da sie zu den Drakkenschiffen aufgeblickt hatte. Was war das für ein Einfall gewesen, den sie da gehabt hatte? Etwas Ähnliches hatte sie schon in Träumen erlebt, als sich einzelne Gedanken wie Mosaiksteine zusammengefügt und plötzlich zur Lösung eines Problems geführt hatten, mit dem sie am Abend zuvor noch sorgenvoll zu Bett gegangen war. Angestrengt überlegte sie, kam aber nicht darauf. Nach einer Weile fragte sie sich, wo Matz blieb. Viel333 leicht war es gar nicht so leicht, irgendwo ein Seil aufzutreiben. Würden sie es überhaupt schaffen, an einem Seil die Felswand hinunterzuklettern? Sie vielleicht schon, aber Matz? Er war ziemlich dick. War die Felswand an dieser Stelle tatsächlich 200 Ellen hoch? Sie begann sich Sorgen zu machen. Eine weitere halbe Stunde später war Matz immer noch nicht zurückgekehrt. Alina wurde von furchtbarer Unruhe gequält. Dann fielen ihr wieder die beiden Drakken ein, die ganz offensichtlich auf der Jagd nach ihr gewesen waren. Angstvoll erhob sie sich und öffnete vorsichtig die Tür. Draußen regnete es weiterhin und es war dunkler geworden. Lag das am Wetter oder begann tatsächlich schon die Dämmerung? Ein Blick über die nassen Planken des Bretterstegs hinüber zur Häuserschlucht zeigte nichts kein Matz war in Sicht. Was sollte sie nun tun - hinuntergehen und ihn suchen? Wo sollte sie damit beginnen? Sie ließ die Tür wieder zufallen und wartete noch eine Weile. Wenn tatsächlich schon die Dämmerung anbrach und Matz tatsächlich ausblieb, sollte sie vielleicht wieder zurück zum Lagerhaus am Hafen schleichen. Dass er gänzlich verschwunden sein könnte, ängstigte sie im Moment mehr als alles andere. Plötzlich hörte sie Geräusche. Sie erhob sich erschrocken und trat einen Schritt von der Tür zurück. Es waren eindeutig die Geräusche laufender Füße, und zwar vieler Füße. Eine Art dumpfes Wumm!, noch ein gutes Stück entfernt, wie von schweren, massigen Stiefeln. Und alle zugleich. Das Bild eines marschierenden Drakkentrupps flog ihr durch den Kopf. Nur waren diese Schritte schneller - sie rannten! Eine Welle der Panik schäumte in ihr auf. Auf der Stelle drehte sie sich um und eilte, so schnell sie nur konnte und mit den Händen nach rechts und links tastend, in die Dunkelheit des Ganges hinab. Sie 334 gestattete sich nicht einmal einen Blick durch die Tür, denn sie wusste, was sie sehen würde. Vor Angst begann sie zu wimmern, hastete aber weiter den stockfinsteren Gang hinab. Als sie mit dem Fuß gegen irgendein Hindernis stieß, verlor sie das Gleichgewicht und schlug der Länge nach auf den felsigen Boden. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihr Kinn, sie schmeckte Blut im Mund, stemmte sich aber sofort wieder in die Höhe und rannte weiter. Das Wummern der Stiefel auf hölzernem Untergrund war immer noch zu hören. Alina schaffte noch zehn, zwölf Schritte, stürzte abermals, kämpfte sich wieder hoch und floh weiter. Ein starkes Licht flammte hinter ihr auf; sie wagte nicht, sich umzusehen. Immer weiter und weiter rannte sie den kalten, finsteren Gang hinab und sandte ein Stoßgebet zu den Kräften, dass sie wenigstens nicht wieder stürzen möge. Augenblicke später stieß sie mit Wucht gegen ein aufrechtes Hindernis, taumelte und gewann die Orientierung erst wieder, als sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen und rudernden Armen einen monströsen Abgrund hinabstarrte. Es dauerte Sekunden, bis sie sich gefangen hatte und schließlich begriff, was geschehen war: Sie war mit einer schweren Holztür zusammengeprallt, hatte sie dabei aufgestoßen und war ins Freie getaumelt. Sie befand sich in einer kleinen Einbuchtung hoch in der Felswand des westlichen Monolithen; der Blick führte geradenwegs nach Westen über bewaldetes Flachland. Viel war davon nicht zu sehen; die Wolken hingen tief und der Regen verwischte die Sicht bald zu einem einheitlichen Grau. Knapp unterhalb von ihr ragte ein kleines, wetterhartes Bäumchen aus einer Ritze im Fels; sie kannte es aus Hellamis Erzählung. Aber bis hinab in die Ebene waren es mehr als zweihundert Ellen, ganz sicher sogar! Sie beugte sich über 335 den Abgrund - nein, es war völlig unmöglich, dort hinabzusteigen. Der Fels war außerdem nass und sie hatte nur wenig Ahnung, wie man kletterte - besonders nicht nach unten. Nein, das wäre ihr Tod! Dann fuhr ihr Kopf herum - dort rechts war die zweite Tür, diejenige, hinter der ein weiterer Gang hinabführte: in die Quellen von Quantar. Sicherlich kein Fluchtweg aus der Stadt, aber sie schöpfte Hoffnung. Die andere Tür war wieder zugefallen und Alina konnte aus dem Gang noch keine Trittgeräusche vernehmen. Ihre Augen waren voller Tränen, ihr Kinn, ihre Knie und ihre Hände zerschlagen, ihr Herz voller Furcht. Sie wandte sich um, eilte zu der zweiten Tür, packte den hölzernen Griff - und erstarrte. Sie war verschlossen. So sehr sie auch zerrte, die Tür rührte sich nicht. Sie hatte ein großes, mit Metall ausgekleidetes Schlüsselloch. Alina besaß keinen Schlüssel und hatte höchstens noch ein paar Atemzüge Zeit, die Tür aufzubekommen. Voller Panik sprang sie von der Tür zurück, rannte auf dem kleinen flachen Felsstück verzweifelt hin und her und
suchte nach einem Fluchtweg. Aber es gab keinen. Außer dem Weg in die Tiefe. Sollte sie springen? Dem ganzen Drama ein jähes Ende setzen, indem sie sich selbst tötete und so wenigstens der Gefangennahme und dem möglichen Tod durch die Drakken entging? Wenn sie sofort sprang, würden die Verfolger es vielleicht nicht einmal mitbekommen, und dann galt sie am Ende noch für alle Zeiten als weiterhin am Leben und auf der Flucht. Eine Legende. Die Shaba, die nie gefangen wurde. Vielleicht würde das zukünftigen Generationen von Rebellen Mut für den Widerstand machen. Während mein Leichnam dort unten langsam verfault, dachte sie bitter. 336 Nein! Sie hatte sich damals in Unifar nicht selbst getötet und auch nicht während der qualvollen neun Monate in Chasts Gefangenschaft. Das war nicht ihr Weg. Sie mochte verweichlicht und ohne Kraft sein, ein verzogenes Kind aus dem Haus einer verbitterten Mutter, das nicht einmal seinen Vater gekannt hatte. Aber sie war nicht feige. Notfalls würde sie sich mit den blanken Fäusten gegen die Drakken wehren. Sie war die Shaba von Akrania, und sie hatte nicht einmal das Recht aufzugeben! Sie musste kämpfen! Gleich würde die Tür auffliegen. Als sie das Gepolter von Stiefeln hörte, schrie sie vor Entsetzen auf. Was sie danach tat, war nichts als irgendeine Handlung ohne Sinn und Ziel, und später konnte sie gar nicht glauben, dass sie das gerettet hatte. Es war eine ebenso verzweifelte und sinnlos erscheinende Tat wie das, was sie im Hafen getan hatte. Sie kroch wimmernd vor Angst über die Felskante, fasste nach dem dünnen Baumstamm, der ein kleines Stück unterhalb aus der Wand ragte, und ließ sich in die Tiefe rutschen. Augenblicke später, als die Tür aufflog und vier schwer bewaffnete Drakken herausstürmten, hing sie, sich mit beiden Händen an dem dürren Stamm haltend, eine Elle unterhalb der Drakken an der Felswand. Und wenn die Echsenwesen nicht vollkommen blind waren, mussten sie Alina sofort sehen. Aber die Drakken sahen sie nicht. Alina hing reglos an dem Stamm, starrte voller Entsetzen hinauf und wartete nur darauf, dass einer der vier seine Waffe hob und auf sie schoss. Die Drakken suchten die gesamte Felseinbuchtung ab, rüttelten an der verschlossenen Tür und zwei von ihnen blickten sogar in ihre Richtung. Aber sie sahen sie nicht. Alina glaubte, ihren Sinnen nicht trauen zu können. Die beiden Drakken starrten direkt zu ihr, wandten sich dann aber wieder ab und durchsuchten noch ein337 mal jeden Winkel des Felsabsatzes. Kurz berieten sie sich, nahmen Abstand zu der verschlossenen Tür, dann hob einer seine Waffe. Mit einem röhrenden Wumm! schoss ein orangeroter, sich aufblähender Feuerball aus ihrer Spitze und schlug krachend in die Holztür ein. Brennende Trümmer und Splitter stoben auf, einige davon trafen Alina, zum Glück nicht gefährlich. Sie konnte jede Einzelheit dessen, was die Drakken taten, erkennen; sie befand sich praktisch bei ihnen. Während die Echsenwesen warteten, bis sich die Feuersbrunst gelegt hatte, ging ihr durch den Kopf, dass es manche Tiere gab, die einen Feind oder ein Opfer nicht sehen konnten, solange es sich nicht bewegte. Konnte das auf die Drakken zutreffen? Einer der Drakken stieß einen heiseren Laut aus, dann stürmte er voran, durch die noch brennende Tür, in der ein riesiges Loch klaffte. Augenblicke später waren die vier fort. Alina hing mit pochendem Herzen an dem Bäumchen und verstand die Welt nicht mehr. Der Stamm war zum Glück nicht glitschig, aber sie hing schon eine ganze Weile daran und ihre Arme begannen zu schmerzen. Sie würde sich nicht ewig halten können. Mit den Füßen tastete sie nach Halt, fand zum Glück auch welchen. Wo war nur Matz? Hatten sie ihn am Ende erwischt? Sie spannte die Armmuskeln an. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung; das hübsche Gesicht, von dem manche behaupteten, es wäre das schönste in ganz Akrania - nun mit tränengeröteten Augen, von Schmutz verschmiert, mit zerschlagenem Kinn und blutbefleckt. So sehr sie sich auch anstrengte, sie schaffte es nicht hinauf. Sie strampelte mit den Beinen, suchte neuen Halt, aber sie schaffte nicht einmal die halbe Höhe und ließ sich schließlich wieder herabsinken. Nicht einmal einen Klimmzug!, fluchte sie in sich hi338 nein. Wieder schoss ihr Leandra durch den Kopf, ihre Freundin, die sie so sehr bewunderte, und sie schämte sich dafür, dass sie so verweichlicht war und sich hier nicht einmal an diesem Bäumchen hochziehen konnte. Sie probierte es noch einmal und anschließend wieder, aber vergebens. Wut brauste in ihr auf, aber dann mahnte sie sich, dass sie das auch nicht weiterbringen würde. Schließlich war sie vorher stundenlang Leitern und Treppen hochgestiegen, war müde und hing nun schon mehrere Minuten an diesem Bäumchen. Nein, es würde ihr nichts bringen, wenn sie jetzt vor Zorn zu kreischen und zu zetern begann. Blieb nur noch der Weg nach unten. Der kalte Nieselregen sprühte ihr auf Kopf, Hände und Schultern; sie blickte hinab und fragte sich, ob es nicht ohnehin einem Todesurteil gleichkam, diesen Abstieg ohne Seil zu wagen. Die Wand war nicht senkrecht, aber dennoch gehörig steil, und selbst ein Sturz aus nur dreißig Ellen Höhe würde vollauf genügen, um ihr das Genick zu brechen. Was sie aber hier vor sich hatte, waren eher dreihundert Ellen, vielleicht sogar mehr! Sie blickte wieder hinauf und lauschte. Von den Drakken war nichts zu hören, aber langsam wurden ihre Arme
lahm, auch wenn sie sich mit den Füßen abstützte. Noch ein weiteres Mal versuchte sie, sich hinaufzuziehen, mobilisierte alle Kraftreserven, aber sie schaffte es nicht. Dann kamen die Drakken zurück. Der Erste postierte sich neben der Tür, trieb die drei anderen an, die gleich nach ihm heraufkamen, und scheuchte sie in den anderen Gang hinein, der in Richtung des Roten Ochsen führte. Zuletzt sah er sich noch einmal um. Als er nach unten in ihre Richtung blickte, hätte Alina beinahe aufgeschrieen. Doch sie zwang 339 sich, völlig reglos zu bleiben, hämmerte sich ein, dass sie sich keine Winzigkeit bewegen durfte, und starrte dem grässlichen Wesen mitten ins Gesicht. Für einen entsetzlichen Augenblick wirkte es so, als hätte der Drakken irgendetwas gespürt. Er legte den Kopf schief, glotzte sie an. Bald würden sie die Kräfte verlassen. Die Arme taten ihr weh, und ihre Lungen schmerzten höllisch, denn sie hatte zu atmen aufgehört. Endlich richtete sich der Drakken wieder auf, starrte noch einmal kurz ins Land hinab und war dann so plötzlich wieder verschwunden, wie er aus der anderen Tür aufgetaucht war. Keuchend holte sie Luft und presste die Augenlider aufeinander. Ihre Arme und Hände schmerzten so sehr, dass sie glaubte, gleich loslassen zu müssen. Sie prüfte, ob ihre Füße sicheren Halt hatten, löste dann eine Hand von dem Bäumchen und tastete nach einer Ritze im Fels. Sie fand eine. Augenblicke später hielt sie sich nur mehr an der Felswand und war froh darum - die Schmerzen in ihren Gliedern ließen nach. Sehnsuchtsvoll blickte sie nach oben. Jetzt, wo die Drakken fort waren, hätte sie wieder eine Chance gehabt, zurück in die Stadt zu gelangen. Aber was sollte sie dort tun? Würde sie Matz je wieder finden? Oder war er längst ein Opfer der Drakken geworden? Savalgor bot ihr nur noch eine winzige Chance, die sich mit jedem Tag verschlechterte. Sie blickte nach unten. Der Fels war rau, sie sah etliche Griffe, Spalten und Tritte. Wenn sie es tatsächlich schaffte, bis ganz hinab zu gelangen, würden ihre Aussichten wieder steigen, wenigstens erst einmal mit dem Leben davon zu kommen. Leandra und Hellami hatten es auch geschafft. Vielleicht war ein Abstieg sogar leichter als ein Aufstieg. Ganz bestimmt würde er nicht so viel Kraft kosten. Sie brauchte noch einige Sekunden, dann entschied sie sich, es zu wagen. Zaghaft untersuchte sie den Fels. Er war glücklicher340 weise schräg genug, dass sie nicht nach hinten wegkippen würde. Rechts fand sie eine weitere Ritze, links einen griffigen Vorsprung. Sie ging ein Stück in die Knie und machte sich daran, mit den Füßen nach einem weiteren Halt zu tasten. Es gelang ihr. Ein winziges bisschen Hoffnung keimte in ihr auf. Stück für Stück kletterte sie tiefer, auch wenn der Regen langsam ihre Kleider durchdrang. Sie machte weiter; wie durch ein Wunder fand sie immer wieder neue Tritte und Griffe. Irgendwer hatte einmal gesagt, dass man beim Klettern immer zusehen sollte, drei feste Haltepunkte zu haben. Mit dem freien Arm oder Bein konnte man nach einem neuen Halt tasten. Sie wusste nicht mehr, wo sie das gehört hatte, aber es half ihr sehr. Als sie nach einer Weile nach unten blickte, erkannte sie, dass sie ein Stück geschafft hatte. Ein Blick nach oben bestätigte ihr das. Mit neuer Zuversicht setzte sie ihren Abstieg fort. Zweimal überwand sie schwierige Stellen, einmal rutschte ihr der linke Fuß ab, doch sie konnte sich halten. Ihre Haare und ihre Hände waren nass, aber sie hatte das Glück, dass der kalte Wind wieder abgeflaut war. Stück für Stück gelangte sie weiter abwärts, und wenn die Kletterei nicht so anstrengend gewesen wäre, hätte sie vielleicht geglaubt, dass sie es tatsächlich schaffen könnte. Aber ihre Muskeln, ihre Finger, Hände und Oberschenkel schmerzten immer heftiger. Dennoch - nach vielleicht einer dreiviertel Stunde glaubte sie, bereits die Hälfte geschafft zu haben. Dann kam ein neues Problem auf. Sie merkte, dass es dunkler geworden war. Der Abend brach herein, und alarmiert blickte Alina zum Himmel auf. Das Tageslicht würde vielleicht noch für eine halbe Stunde halten, aber bald würde die 341 Dämmerung so weit fortgeschritten sein, dass sie nicht mehr viel erkennen könnte. Alina ließ sich gegen den Fels sinken und schloss die Augen. Sie war unendlich müde, alles tat ihr weh, und wenn sie eines ihrer Beine zu lange belastete, fing es an zu zittern. Eine halbe Stunde noch! Das würde sie niemals schaffen. Der Regen hielt immer noch an und an manchen Stellen war der Fels bereits glitschig geworden. Doch jetzt hatte sie es so weit geschafft - und sollte dennoch scheitern? Unter Tränen machte sie weiter, einem inneren Befehl gehorchend. Sie kletterte weiter und weiter, heulte und fluchte dabei, schrie manches Mal den Fels vor sich an und hämmerte mit der Faust dagegen. Einmal rutschte sie wieder mit dem Fuß ab, konnte sich nur mit Mühe halten und hing dann bitter weinend, mit dem Gesicht an die Wand gepresst, an der nassen Felswand - etwa hundert Ellen über dem rettenden Boden. Ohne dass sie sich irgendwie bewegt hätte, glitt kurz darauf ihr Fuß ein zweites Mal ab. Sie keuchte, versuchte sich zu fangen, aber es war zu spät. Der Augenblick des tödlichen Absturzes war so gnadenlos kurz, dass sie nicht einmal mehr Zeit hatte, sich vom Leben zu verabschieden. Sie rutschte den nassen Fels hinab, rasend schnell, und bevor sie in der Tiefe aufschlug, hatte sie nicht einmal mehr einen Schrei ausstoßen können. * »Na, bist du dahinter gekommen?«, fragte Rasnor mit einem Augenzwinkern.
Leandra erwiderte nichts und blickte zur Seite. Cathryn war sofort in ihre Nähe geflohen, als Rasnor das Zimmer betreten hatte. Er schien es sich zur Angewohnheit machen zu wollen, sie mehrmals täglich aufzusuchen, so als hoffte er, 342 dadurch ihr Vertrauen zu gewinnen. Im Moment stand er an der antiken Kommode, die sich zwischen den beiden Fenstern ihres Zimmers befand, und wog den Stein in der Hand, den er ihr vor ein paar Tagen überlassen hatte. Er breitete die Arme aus. »Willst du es denn gar nicht wissen? Ich dachte, du wärest berühmt für deine Neugierde?« Leandra hatte bereits eine scharfe Bemerkung auf der Zunge, aber sie hielt sich zurück. Seit ihr Hilda zugeflüstert hatte, dass Alina noch in Freiheit war, glomm in ihr wieder ein schwacher Hoffnungsfunke. Sie starrte ihn finster an, hielt den Blick auf ihn gerichtet, und er verstand es, wie sie erwartet hatte, als Aufforderung zu sprechen. Er hob den Stein. »Das ist Wolodit, nicht wahr?« Sein Gesicht strahlte, denn er freute sich offenbar wie ein Kind, sie mit seinem Wissen segnen zu dürfen. »Das härteste Gestein, das wir kennen. Es ist zugleich das häufigste Gestein, und man sagt ihm magische Eigenschaften nach. Hab ich Recht?« Leandra seufzte ungeduldig. »Ja doch. Kannst du nicht zur Sache kommen?« »Warum so unfreundlich? Du wirst sehen, es ist sehr spannend!« Er setzte sich auf einen Posterstuhl in der Nähe des Kamins und schlug die Beine übereinander. »Das Palasttor ist ... nun, es war aus Wolodit, nicht wahr? Aus großen Blöcken. Und in Tharul schmiedet man den berühmten Stahl über Feuern, in denen glühende Woloditsteine liegen. Nur die Tharuler Schmiede kennen das Geheimnis, so große Hitze zu erzeugen, dass man Wolodit zum Glühen bringen kann. Nun, es ist wahr: Wolodit ist magisch!« Leandra forschte in seinem Gesicht. Eines musste sie Rasnor lassen - er verstand es, sie neugierig zu machen. »Es ist sogar äußerst magisch, sozusagen das Ma343 gischste, was es überhaupt gibt!« Er breitete die Arme weit aus. »Es ist die Quelle unserer ganzen Magie!« Leandra zog die Augenbrauen hoch. »Ja, wirklich! Es ist die Quelle. Und die Drakken wissen das!« Leandra schüttelte unverständig den Kopf. »Die ... Quelle? Ein Stein? Wie meinst du das?« »Kennst du Magnetstein?«, fragte Rasnor. »Dieses Erz, das für den Bau von Magneten und Kompassnadeln verwendet wird? Nun - das hat doch auch eine magische Eigenschaft, nicht wahr? Es richtet sich stets nach Norden! Und es zieht Metall an. Oder denke an Kalkmehl! Misch es mit Wasser und es wird wieder zu hartem Stein! Es gibt allerlei Magie, die in einfachen Dingen steckt. Die blanke Erde hat die Kraft, Pflanzen zu nähren.« Er faltete befriedigt die Hände im Schoß. »Nun, liebe Leandra, Wolodit hat ebenfalls eine solche Eigenschaft. Es macht das Trivocum ... wie soll ich sagen: weich.« Leandra setzte sich, zog Cathryn an sich heran. »Weich?«, fragte sie. Rasnor nickte eifrig. »Richtig. Das ist der Grund, warum es nur bei uns Magie gibt und anderswo nicht. Nur in unserer Welt gibt es Wolodit; die Drakken sagen, es wäre bei der Entstehung unserer Höhlen mit entstanden.« Bei der Entstehung unserer Höhlen, echote es in ihrem Geist. So weit hatte sie noch nie zurückgedacht. An eine Zeit, in der die Welt entstanden war. Wie lange mochte das her sein? Millionen von Jahren? Diese Zahl, die sie einst von Munuel gelernt hatte, gab ihr nach wie vor Rätsel auf, sie war etwas Ungreifbares, Jenseitiges. Nichts gab es in der Höhlenwelt, was man in Millionen zählte. Munuel hatte einmal behauptet, dass es zu der Zeit, da das Dunkle Zeitalter über die Welt hereingebrochen war, Millionen von Toten gege344 ben hätte.- Millionen von Jahren - wie lange mochte das sein? Die Geschichte der Menschheit in dieser Welt war nur etwa fünftausend Jahre alt, davor verloren sich alle Spuren. Sie selbst hatte die Theorie geschmiedet, dass die Menschen zuvor auf der Oberfläche der Welt gelebt hätten, und vor kurzem erst, in Hammagor, waren ihr höchst eigentümliche Dokumente in die Hände gefallen, uralte Blätter mit Bildern, die eine lebendige Welt zeigten, welche keinen Felsenhimmel besaß. Zu gern hätte sie Antworten auf all ihre Fragen gehört. Sie beschloss, ihren Stolz für den Moment außer Acht zu lassen und aus Rasnor herauszuholen, was sie nur konnte. Wolodit. Das war wohl das Wort der Stunde. Sie blickte in die Höhe zur Raumdecke, die aus natürlichem Stein bestand wie fast alle Decken im Palast. Er war in das natürliche Höhlensystem des Savalgorer Stützpfeilers hineingearbeitet worden. Sie deutete hinauf. »Du ... sprachst von ... Kalk! Das dort ist doch Kalk und kein Wolodit, oder?« Rasnor strahlte. »Richtig. Das Wolodit bildete sich innerhalb anderer Gesteine. Es erstarrte sozusagen in ihnen und durchzieht sie nun wie ein endloses Gespinst. Offenbar geschah das innerhalb von Augenblicken in der ganzen Welt. Es ist, als würde man heißes, flüssiges Blei in einen Bottich mit kaltem Wasser gießen.« »Und das hast du alles von den Drakken erfahren?« Er hob die Schultern. »Sie wissen bestens Bescheid. Sie wissen zehnmal mehr über unsere Welt als wir selbst.« »Und was ist nun mit diesem Wolodit? Wollen sie solche Steine mitnehmen, um ihre Kräfte selbst ausnutzen zu können?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die Wirkung ist viel zu schwach. Wolodit muss in gigantischen Mengen 345
vorhanden sein - einfach überall. Erst dann ist seine Wirkung auf das Trivocum groß genug, dass es - nun, wie ich schon sagte - weich wird. Wäre unsere ganze Welt nicht von Wolodit durchsetzt, gäbe es hier keine Magie. Außerdem hat es noch einen Fehler. Es wirkt nicht bei ihnen. Ich meine: die Drakken - sie können die Wirkung des Wolodits gar nicht nutzen.« »Sie können es nicht nutzen?«, fragte sie verblüfft. »Aber ... warum sind sie dann hier?« Rasnor setzte wieder sein überlegenes Lächeln auf. »Nun, das ist ihr großes Geheimnis, aber ich kenne es. Sie haben es mir nicht gesagt, aber es ist nicht allzu schwer, darauf zu kommen. Soll ich es dir verraten?« Leandra erriet es auch ohne ihn. »Die Fabrik!«, sagte sie. »Das ist es, nicht wahr? Du sprachst von einer Fabrik.« »Du hast Recht. Genau das ist der Grund.« Leandra begann auf der Unterlippe zu kauen. Was das bedeutete, konnte sie im Augenblick noch gar nicht überblicken. Sie brauchte Zeit, um darüber nachzudenken. Und ein Gespräch mit Victor oder dem Hochmeister, falls das irgendwie möglich war. »Wie kommt es, dass sie dir gegenüber derartig mitteilsam sind?«, fragte sie herausfordernd. Er zuckte mit den Achseln. »Weiß ich auch nicht. Ich habe immerhin diesen Rang - uCetu. Den hab ich ihrem uCuluu abgetrotzt. Seither kann ich alles erfahren, was mir innerhalb dieses Rangs zusteht - und uCetu ist ziemlich hoch. Gleich unter uCuluu.« Sie zog die Stirn kraus. »Das scheint dich trotzdem nicht sehr glücklich zu machen« Er seufzte. »Dieses ganze Volk ist mir ein Rätsel! Sie sind dumm! Die unteren Ränge, ich meine die gemeinen Soldaten, sind wie Insekten. Sie haben scharfe Sinne, sind schnell und gefährlich, aber sie sind gleichzeitig zu blöde, um eine Tasse Tee zu kochen. Es ist 346 zum Auswachsen! Diese Wesen sind mir vollkommen unverständlich, ich ...« , »Aber du hast dich mit ihnen verbündet!«, sagte Leandra. »Hast dein eigenes Volk verraten, um dich mit ihnen gegen uns zu verschwören.« Rasnor versteifte sich. »Geht das nun schon wieder los?«, knirschte er. Sie winkte ab. »Nein, keine Sorge. Ich werde dich in Ruhe lassen. Damit du dir bloß keine Gedanken machen musst.« Rasnor brummte unwillig, wandte sich auf dem Absatz um und stapfte davon. Leandra setzte sich seufzend nieder und zog Cathryn zu sich. 347 19 ♦ Die dunkelste Stunde Es war Wärme, die sie wieder zu sich kommen ließ; feuchte Wärme, die durch all die andere Feuchtigkeit zu ihr drang. Alina benötigte lange, um zu erwachen - so lange hatte es noch nie gedauert. Es war, als überlegte sich ihr Körper und ihr Geist mehrmals, es lieber doch nicht zu tun und auf ewig im Dämmerschlaf und in der Dunkelheit zu versinken. Aber da war diese seltsame, feuchte Wärme, schubweise, auf ihrem Gesicht und manchmal auf ihren Händen. Immer wieder. Endlich erwachte so etwas wie eine müde Neugierde in ihr. Eine mahnende Stimme im Kopf, die sagte, sie solle nachsehen, was da war. Sie spürte ihren Körper kaum, aber was sie davon spürte, fühlte sich an wie durchgewalkt, wie mit Hämmern und Knüppeln weich geklopft und danach irgendwo in den Dreck geworfen. Es war dunkel, nass und kalt um sie herum, so viel konnte sie immerhin feststellen. Sie öffnete die Augen. Nichts war zu sehen, sie spürte nur kalten Nieselregen auf ihrem Gesicht. Dann sah sie kurz so etwas wie einen Schatten und Augenblicke später fühlte sie abermals eine feuchte Wärme in ihrem Gesicht. Eigentlich hätte ihr dies Angst oder wenigstens einen Schrecken einjagen müssen; sie hätte aufspringen und sich verteidigen sollen. Aber im Moment war sie zu keiner Bewegung fähig; ihr Verstand erschien ihr wie zäher Brei, er wollte sich 348 ebenso wenig bewegen wie ihr Körper. Wieder spürte sie diese Berührung in ihrem Gesicht, dann auf ihren Händen. Sie stieß ein gequältes Seufzen aus - woraufhin so etwas wie ein leises Quietschen hörbar wurde. Was war da nur? Sie hatte Lust zu weinen - vor lauter Niedergeschlagenheit und Einsamkeit, aber es war auch eine gute Portion Dankbarkeit und Freude dabei, denn sie hatte überlebt. Ihr war durchaus bewusst, wie der letzte bewusste Moment gewesen war, bevor sie hier und jetzt - in Dunkelheit, Kälte und Nässe - ein neues Leben beginnen durfte, wie auch immer das aussehen mochte. Sie raffte ihre Kräfte zusammen und pumpte alles an Energie, was sie noch hatte, in ihren Kopf und ihr Wahrnehmungsvermögen. Sie musste irgendwo unterhalb der Felswand liegen, im feuchten Matsch, wie sie nun langsam spürte, aber es war ihr ein Rätsel, wie sie den Sturz hatte überleben können. Ihr letzter Blick hatte gute einhundert Ellen hinab in die Tiefe gereicht, das war leicht doppelt so hoch wie die höchsten Bäume, die sie gesehen hatte. Niemand überlebte einen solchen Sturz! Sie versuchte ihre Beine und Arme zu bewegen - es gelang, wenn auch nur um Winzigkeiten. Als dann diese Berührung wieder kam, sie das Quietschen hörte und ihr ein seltsamer Geruch in die Nase stieg,
erkannte sie es schlagartig: ein Hund! Irgendwie musste sie ein Hund hier gefunden haben, der ihr nun das Gesicht und die Hände leckte. Sie war nie eine besondere Hundefreundin gewesen, und schon gar nicht mochte sie es, das Gesicht geleckt zu bekommen; jetzt aber stiegen ihr vor Glück und Dankbarkeit Tränen in die Augen. Sie lag nicht völlig allein und verloren hier im Regen, sondern jemand kümmer349 te sich um sie. Auch wenn es nur ein Tier war. Sie spürte, dass der Hund groß sein musste, denn ihr Bauch war nicht so kalt wie der Rest ihres Körpers. Sie lag verkrümmt auf der Seite und der Hund lag offenbar neben ihr; er hatte sich gegen ihren Bauch gepresst, um sie zu wärmen. Sie hob mühevoll einen Arm, tastete in der Dunkelheit nach dem Fell des Tieres und flüsterte: »Hallo Hund!« Die Antwort bestand aus einem aufgeregt-freudigen Fiepen und einem neuerlichen Abschlecken ihres Gesichts. Der wedelnde Schwanz des Hundes schlug ihr so heftig gegen das Schienbein, dass es wehtat. * Alina verbrachte den ganzen Tag am nahen Waldrand. Unmittelbar unterhalb des Monolithen befand sich ein Streifen freien Graslandes, etwa fünfzig Schritt breit; es war bekannt, dass dort die Stadtwache wenigstens einmal am Tag Streife ging. Nun aber mochten es die Drakken sein, und so hatte sie sich noch in der Dunkelheit der Nacht bis zum Waldrand hinübergeschleppt. Dort war sie kraftlos in sich zusammengesunken und wieder eingeschlafen. Sie hatte das Glück, ein trockenes Fleckchen unter Büschen, Bäumen und Farnen erwischt zu haben, und der Hund, der eigentlich grässlich stank, hatte sich wieder wärmend an sie geschmiegt. Sie war ihm dankbar dafür. Die einfache Freundlichkeit, die er ihr entgegenbrachte, tat ihr wohl. Er hatte ein braun-weißes, struppiges Fell, wahrscheinlich irgendeine Hirtenhund-Rasse, und er gehörte offenbar jemandem, denn er trug ein ledernes Halsband. Irgendwann entdeckte sie, dass sich ein kleines Holzschildchen daran befand. Es stand der Name Benni darauf. 350 Sie schlief bis weit in den Tag hinein, und als sie gegen Mittag endlich aufwachte, blieb sie noch lange unbewegt liegen. Ein seltsamer innerer Friede hatte sie ergriffen, eine Art heilsamer Lähmung ihres Geistes und ihres Körpers. Der Hund war nach wie vor bei ihr, im Augenblick schlief er. Sein Fell war inzwischen wieder trocken. Auch der Regen hatte aufgehört. Vorsichtig und langsam hatte sie ihre Gelenke und Glieder überprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Ihre Kleider waren zwar zerrissen und sie hatte etliche Schürfwunden und Prellungen, aber offenbar keinen Knochenbruch. Wie war das möglich? Erst später am Tag kam sie dahinter. Als sie ihre Mattigkeit überwunden hatte und sich irgendwann aufrichten konnte, wagte sie es, ein paar Schritte umherzutappen. Sie trat an den Waldrand und betrachtete trübsinnig den Monolithen, der fünfzig Schritt entfernt von ihr in den Himmel ragte. Die Felswand war kolossal und sie musste das Bäumchen eine Weile suchen, ehe sie es fand. Es war unerhört weit oben und sie konnte gar nicht glauben, dass sie den ganzen Weg geklettert war. Nein, nicht den ganzen Weg, korrigierte sie sich. Das Bäumchen befand sich ein gutes Stück nördlich von ihr. Beim Hinunterklettern musste sie nach Süden gelangt sein. Dort, wo sie jetzt stand und wo sie am vergangenen Abend auch abgestürzt sein musste, befand sich auf dem rötlich grauen Fels die dunkel verfärbte Rinne eines Wasserablaufs. Alinas Blicke liefen die Wand hinauf. Jetzt war dort kein Wasser mehr zu sehen, aber es war zu erkennen, dass sich bei jedem Regenguss das Wasser, das den Felsen herabströmte, an bestimmten Stellen zu Rinnsalen sammelte. Weiter südlich befand sich eine weitere, dunkle und senkrechte Linie auf dem Fels, an ande351 ren Stellen ebenfalls. Dieses Rinnsal, über das sie den schrägen Fels herabgerutscht sein musste, hatte ganz unten, am Fuß der Felswand, im Laufe der Zeiten eine Schräge ausgewaschen; ein kurzes Stück, das in einer sanften Kurve in den Boden überging und in einem flachen, morastigen Tümpel endete. Es war die Sorte Tümpel, die im Sommer rasch austrocknete - aber in der letzten Woche war es regnerisch gewesen, und so stand dort jetzt eine ausgedehnte Wasserpfütze, um die herum der Boden schlammig und aufgeweicht war. Das hatte ihr offenbar das Leben gerettet. Alina seufzte. Hier waren alle nur denkbaren glücklichen Umstände aufeinander getroffen, sonst wäre sie unweigerlich umgekommen. Sie ließ sich zusammensinken und schlug die Hände vors Gesicht. Wenn jemand so unglaublich viel Glück hatte, dachte sie, dann musste es etwas zu bedeuten haben. Trotz all ihres Elends war sie von einem seltsamen, überwältigenden Glücksgefühl ergriffen. Als dann der Hund noch zu ihr kam und ein erlegtes Kaninchen vor ihr fallen ließ, hätte sie ihn am liebsten umarmt und geküsst. Im Laufe der folgenden Stunden kam sie wieder etwas zu Kräften. Sämtliche Gelenke und Muskeln taten ihr weh, aber sie genoss das Gefühl, ihren Körper zu spüren und mitzubekommen, wie die Schmerzen und Prellungen langsam wieder zurückgingen. Das Kaninchen rührte sie nicht an. Sie hatte Hunger, aber sie wusste nicht, wie man ein totes Tier häutete und ausnahm. Abgesehen davon fehlte ihr die Möglichkeit, ein Feuer zu entfachen, und rohes Fleisch mochte sie nicht essen. Im Laufe des voranschreitenden Nachmittags bewegte sie sich mehr und mehr. Irgendwann fühlte sie sich leidlich wieder imstande, etwas zu tun. Zum Glück besaß sie noch ihr kleines Messer, das Matz ihr
zurückgegeben hatte, und vor allem das Drakkenhals352 band. Aber ihre Kleider waren völlig verschlissen. Sie musste sich irgendwo neue beschaffen, wenn sie nicht auffallen wollte. Sie stank, denn sie hatte den Geruch des durchnässten Hundes angenommen. Für einen Blick in einen Spiegel hätte sie viel gegeben, andererseits aber fürchtete sie ihn auch. Und dann hatte sie es plötzlich eilig, von hier fortzukommen. Noch blieben ihr ein paar Stunden, den Tag zu nutzen. Brach sie jetzt nicht auf, hieße das, auch die folgende Nacht hier zu verbringen, und dazu hatte sie allein schon zu viel Hunger. »Ich werde mich dir anvertrauen!«, sagte sie zu Benni, als sie vor ihm kniete und ihn mit beiden Händen hinter den Ohren kraulte. »Benni - mein Freund!« Er war alles andere als ein Wachhund, denn er wedelte wie ein kleines Hündchen mit dem Schwanz und wollte ihr schon wieder das Gesicht lecken. Sie drängte ihn zurück, erhob sich ächzend und winkte ihn davon. Benni schien zuerst zu glauben, sie wollte mit ihm spielen, dann aber setzte sie sich schleppend in Bewegung und er verstand, dass sie von hier aufbrechen würden. Sie schlug keine besondere Richtung ein, lief einfach in den Wald hinein und überließ Benni die Führung. Eine gute halbe Stunde lang wusste sie nicht, ob ihre Vermutung zutraf und er sie instinktiv irgendwo hinführte, wo es eine menschliche Ansiedlung gab. Aber dann endete der Wald an einem großen Kornfeld, das sich nach Westen erstreckte. Dahinter, wo der Wald erneut begann, sah sie zwei Dächer zwischen den Bäumen herragen. Das musste Bennis Zuhause sein. Eine Viertelstunde später waren sie da. Alina konnte nur vermuten, wie die Situation außerhalb der Stadt sein mochte. Es war damit zu rechnen, dass die Drakken die großen Städte besetzt hatten, vielleicht auch die kleineren bis hin zu den Dörfern - aber dass sie auf 353 jedem Bauernhof waren, bezweifelte sie. Es gab ihrer hunderte im Savalgorer Tiefland - die Drakken hätten abertausende von Soldaten gebraucht, um allein dieses Gebiet bewachen und kontrollieren zu können. Alina hielt sich zwischen Sträuchern versteckt, während Benni schwanzwedelnd auf das Haus zulief. Die Glieder taten ihr immer noch weh, aber durch die Bewegung waren ihre Muskeln warm geworden. Es war ein nettes, kleines Holzhaus mit steilem, strohgedecktem Dach und einem angebauten Unterstand für Dinge, die zum Trocknen hingen - Wäsche, vielleicht auch Kräuter, Gärwurz oder Hoppen. Nach Norden hin stand eine Scheune und nach Osten ein Viehstall. Die Scheune war etwas größer als das Wohnhaus, der Viehstall länger, aber viel flacher. Auf dem Platz zwischen den Gebäuden standen zwei kleine Fuhrwerke und ein großer Hackklotz mit Axt und einem kleinen Haufen gespalteter Scheite. Mitten auf dem Hof erhob sich das steinerne Rund eines Brunnens. Auf einem Misthaufen saßen Krähen; ein paar Hühner liefen herum und eine magere Katze hockte auf einem Pfosten. Sonst war nichts zu sehen, was darauf hindeutete, dass jemand hier war. Benni war ihr vorausgelaufen, drehte ein paar Kreise auf dem Hof und kläffte einmal in ihre Richtung. Dann aber senkte er Kopf und Schwanz und trabte mit angelegten Ohren auf die Eingangstür des Wohnhauses zu. Sie stand halb offen. Alina spürte ein ungutes Gefühl. Etwas stimmte hier nicht. Benni verschwand im Haus, kehrte aber sogleich zurück, ließ sich dann ein paar Schritt vor der Haustür nieder und legte den Kopf auf die Vorderpfoten. Alinas Vorahnung vertiefte sich. Sie erhob sich vorsichtig und schlich ein Stück nach links, um besser in den Innenhof sehen zu können. Die Katze sprang von dem Pfosten herab, spazierte zu Benni und schmiegte 354 sich kurz an ihn. Benni stupste sie mit der Nase, aber als sie Alina bemerkte, huschte sie davon. Nun sah Alina, dass in der hinteren Ecke des Hofes zwei Pferde standen, aneinander Schutz suchend, wie es Pferde gern taten. Alina wunderte sich, dass es hier welche gab - für die Landwirtschaft waren sie eigentlich zu wertvoll und wurden im Nutzen von Mulloohs zumeist übertroffen. Die Tür zu ihrem Stall stand offen. Benni erhob sich und kam mit traurigem Gesichtsausdruck zu ihr getrottet. Da immer noch alles ruhig war, wagte Alina, ihre Deckung zu verlassen. »Was ist denn?«, flüsterte sie und kniete sich neben ihn. »Ist niemand da?« Benni winselte leise, wandte sich ab und lief ins Haus. Alina nahm sich ein Herz und folgte ihm. Das was sie befürchtet hatte, blieb ihr erspart. Aber es war auch so schlimm genug. Der Hof war verlassen, seit drei oder vier Tagen, schätzte sie. Da waren Reste eines überstürzten Aufbruchs, eine nicht beendete Mahlzeit stand auf dem Tisch, über die sich Fliegen und anderes Ungeziefer hergemacht hatten. Sie fand ein Kinderzimmer; den hölzernen Spielzeugen nach zu urteilen mochte das Kind fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Auch Hinweise auf ältere Leute gab es -hier hatte anscheinend eine fünf- oder sechsköpfige Familie gelebt. Niemand von ihnen war mehr da. Kurz darauf fand sie hinter dem Haus zwei frische Gräber. Anstelle von Grabsteinen waren nur zwei Steinhaufen mit kleinen Steinmännern an den Kopfenden aufgetürmt, Inschriften oder Ähnliches fand sie nicht. Benni schlich mit hängender Rute um die Gräber herum und winselte leise. Irgendeine Tragödie hatte sich hier abgespielt. Sie erforschte den gesamten Bauernhof, fand aber keine lebende Menschenseele. Außer den beiden Pferden und den Hühnern gab es hier auch 355
keine Tiere mehr, nur an einer Stelle, ein Stück weit hinter den Ställen, fand sie verbrannte Tierkadaver. Der Haufen war groß und stank schrecklich und sie hatte keine Lust, näher heran zu gehen. Es mochten ein oder zwei Mulloohs sein, die dort verbrannt worden waren, und vielleicht noch irgendwelche anderen Tiere. Eine Weile überlegte sie, ob sie nicht lieber wieder verschwinden sollte. Dieser Bauernhof, einst bestimmt das Heim einer munteren, glücklichen Familie, hatte etwas Niederdrückendes, sogar Unheimliches an sich. Andererseits gab es hier Dinge, die ihr nützen konnten. Zögernd entschloss sie sich, über Nacht hier zu bleiben. Sie würde irgendwo in der Scheune schlafen und sich, bevor sie weiterzog, waschen, neu einkleiden und etwas essen. Wohin sie gehen sollte, wusste sie noch nicht. Aber der Abend bot ihr vielleicht Zeit zum Nachdenken. Das schlechte Wetter verzog sich wieder, und nachdem es schon gegen Mittag zu regnen aufgehört hatte, riss nun zusehends die Wolkendecke auf und gab den Blick auf das große, westliche Sonnenfenster von Savalgor frei, das hier direkt über dem Hof lag. Es war ein wenig wärmer geworden. Alina ging ins Haus und suchte nach Kleidern. Im ersten Stock wurde sie fündig. Die Kleider der Bäuerin waren nichts für sie, aber hier hatte offenbar ein junger Mann gelebt, vielleicht der Sohn des Bauern, der in etwa Alinas Körpermaße besaß. Er war wohl etwas größer als sie gewesen und etwas kräftiger, aber die Sachen würden dennoch ganz gut passen. Zuerst zögerte sie und sah aus dem Fenster, ob nicht vielleicht gerade jetzt, da die Dunkelheit anbrach, die Familie von der Feldarbeit zurückkehrte. Aber da kam niemand. Was sie hier tat, war eigentlich nicht weniger als Diebstahl. Doch unter den derzeitigen Umständen hatte wohl niemand einen Nachteil dadurch. Sie nahm sich 356 vor, irgendwann einmal, sofern es ihr möglich war, hierher zurückzukehren und ihre Schuld zu begleichen. Sie suchte sich einen Satz derbe Kleidung heraus -für die Zukunft konnte sie jeden Gedanken an ein Ballkleid ohnehin getrost vergessen. Da war das, was sie fand, gerade recht. In der Küche räumte sie die Essensreste fort und spülte das schmutzige Geschirr in einer großen Schüssel, die sie draußen am Brunnen gefüllt hatte. Danach ging sie hinaus, sprach den Pferden gut zu, und als sie sich beruhigt hatten, stellte sie ihnen Wasser und Hafer hin. Schließlich suchte sie nach etwas Essbarem. In der Küche fand sie ein paar Eier, hartes Brot und etwas Schinken. Dort aß sie auch und warf dabei Benni etwas Speck vom Schinken zu, den sie nicht mochte. Dann kam der weniger angenehme Teil. Sie suchte sich zwei Tücher zum Abtrocknen, fand ein Stück Knochenseife und einen großen Bottich. Mitsamt den neuen Kleidern trat sie auf den Hof hinaus. Erleichtert stellte sie fest, dass ein leichter, warmer Wind aufgekommen war. Über ihr leuchtete das Orange der untergehenden Sonne durch das Sonnenfenster und irgendwie war eine versöhnliche Stimmung eingekehrt. Benni stand neben ihr und sah sie erwartungsvoll an. Sie trat zu dem Brunnen, füllte den Bottich mit mehreren Kübeln Wasser und schälte sich aus ihren Kleidern. Bibbernd ließ sich ins Wasser nieder. All ihre Schürfwunden und Prellungen begannen wieder zu schmerzen und sie verscheuchte den neugierigen Hund mit derben Worten. Die Knochenseife brannte wie Feuer in ihren Wunden, aber als sie fertig war und aus dem Wasser stieg, hatte sie zum ersten Mal an diesem Tag das Gefühl, wieder einigermaßen munter zu sein. Sie trocknete sich schnell ab, hüllte sich in die Tücher und setzte sich neben dem Hackklotz auf das kurze Gras. Seufzend lehnte sie sich an. 357 Endlich war alles getan. Es war, als würde sie ein neues Leben beginnen. Sie lebte noch, hatte es geschafft, Savalgor zu verlassen, und besaß sogar neue Kleider. In normalen Zeiten wäre das deprimierend wenig gewesen, im Moment jedoch kam es ihr wie ein ungeheurer Reichtum vor. Versonnen starrte sie zum Sonnenfenster hinauf. Das Orange schwand zusehends und erste Sterne funkelten durch das riesige Auge aus Glas. Benni trottete daher und legte sich neben sie. Sogar die magere Katze zeigte sich, blieb aber einen Schritt vor ihr sitzen. Sie rollte ihren Schwanz um ihre Beine und blickte Alina katzenhaft auf unbestimmbare Weise an. »Was soll ich jetzt tun, Benni?«, flüsterte sie. Der Hund sah zu ihr auf und winselte leise. Sie nickte. »Ja, ich weiß. Du hast das gleiche Problem. Aber vielleicht kommen deine Leute ja wieder.« Sie blickte erneut zum Sonnenfenster auf, setzte sich etwas bequemer hin und sagte: »Nun bin ich in Freiheit vielleicht die einzige Person weit und breit, aber ich habe den einzigen Bürger meines frisch gegründeten Reiches schon wieder verloren.« Die Katze kam herbei und schmiegte sich an ihre angewinkelten Beine. Alina lächelte schwach. Vielleicht hatte sie keinen Bürger mehr in ihrem Reich, aber wenigstens zwei Tiere. Ihr Blick schweifte über den Hof und sie fragte sich, ob sie nicht einfach hier bleiben sollte. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein, von Landwirtschaft verstand sie nichts, und die wenigen Eier und der Schinken würden ihr bald ausgehen. Sie musste irgendwo ein Dorf finden und neue Freunde gewinnen. Würde ihr das gelingen? Und würde ihr überhaupt jemand glauben, dass sie die Shaba war? Selbst wenn sie Glück hatte - würde jemand den Mut oder auch nur die Möglichkeit haben, sich ihr anzuschließen? Vielleicht trug inzwischen jeder so ein Halsband. 358 Sie dachte an Marie, den sie nun ganz sicher für einige Zeit nicht wieder sehen würde. Sie sehnte sich danach, ihn im Arm zu halten, ihn zu wiegen, und mit seinen kleinen Händchen zu spielen. Er war ein lieber Junge, wie
... sein Vater. Alina schloss die Augen. Plötzlich drohte sie der Kummer über ihren Verlust zu überschwemmen, aber dann nahm sie sich innerlich zusammen und sagte sich, dass ihr dieser Verlust ebenso gut als Antrieb dienen konnte, jetzt etwas Neues zu beginnen. Aber was? Sie kraulte Benni hinter den Ohren und streichelte mit der anderen Hand die Katze, während sie wieder zum Himmel aufblickte. Sie liebte den Anblick der Sterne. Für Momente strich ein dunkler Schatten vor den leuchtenden Funken vorbei und sie erkannte einen Drachen - er war reichlich spät dran, hatte nach einem abendlichen Ausflug offenbar seine Kolonie noch nicht wieder erreicht. Normalerweise flogen Drachen nachts nicht. Ja, sagte sie sich, Drache müsste man sein ... Ein heißer Schauer durchströmte sie und sie richtete sich auf. Ein Mosaikstückchen fiel an seinen Platz und dann wusste sie mit einem Mal, was ihr gestern Nachmittag in den Sinn gekommen war, als sie in Savalgor zu den Drakkenschiffen aufgeblickt hatte. Die Drachen! Leandra hatte so oft von den Drachen erzählt, ihren neuen Freunden! Sie war mit ihrer Hilfe nach Unifar und nach Hammagor gelangt. Auch Victor war viel geflogen, sie waren auf den Drachen gemeinsam nach Savalgor zurückgekehrt - und die Drachen hatten sogar Leandra und ihre Verstärkung auf das Palastdach gebracht! Alina blickte suchend in die Luft, aber der Drache dort oben war längst wieder verschwunden. Sie 359 setzte sich auf die Fersen und starrte in den Himmel. Auch Benni richtete sich auf. Er spürte, dass sie plötzlich aufgeregt war. Würden ihr die Drachen helfen? Sie wusste so gut wie nichts über diese Tiere, war erst ein einziges Mal einem Drachen ein wenig nahe gekommen. Es gab so viele Arten ... Felsdrachen, Salmdrachen, Kreuzdrachen ... sie wusste nicht, welche davon intelligent waren, so intelligent, dass man mit ihnen reden konnte. Und wie mochte man Kontakt mit ihnen aufnehmen? Es sollte eine alte, gemeinsame Sprache der Drachen und Menschen geben. Ja, und dann gab es noch Leandras Drachenfreund, wie hieß er gleich ...? Tirao. Jetzt fiel es ihr ein. Tirao würde sie vielleicht verstehen können, auch wenn sie die gemeinsame Sprache nicht beherrschte. Doch wo war Tirao? Es dauerte noch Augenblicke, dann rückte das letzte Mosaiksteinchen an seinen Platz. Alina sprang förmlich vor Begeisterung in die Höhe. Roya! Bei den Kräften: Roya musste ebenfalls noch in Freiheit sein! Und Tirao war bei ihr! Benni, von ihrer Aufregung angesteckt, sprang an ihr hoch. Er war ein großer Hund, reichte ihr aufgerichtet fast bis zum Gesicht. Sie umarmte ihn, wie er war, und sagte voller Begeisterung zu ihm: »Beim Felsenhimmel - jetzt weiß ich, was wir tun! Wir suchen Roya! Sie ist ...« Alina zögerte. Ein dunkler Schatten wollte sich plötzlich über ihre Idee legen. Sie wusste nur sehr vage, wo Roya sich aufhielt. Aber sie drängte ihre Bedenken verbissen beiseite. »Ich finde sie!«, sagte sie entschlossen zu Benni. »Sie muss irgendwo im Südramakorum sein! Bei der Mündung eines unterirdischen Flusses, der unter dem Hauptkamm hindurch fließt! Das hat Leandra erzählt. 360 Roya pflegt einen verletzten Feuerdrachen - und Tirao ist bei ihr geblieben!« Benni kläffte ihr mitten ins Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen und ließ ihn los. Es war der größte Hoffnungsschimmer, seit Victor doch noch zur Hochzeit erschienen war. Sie wusste, dass es eine Menge Ungewissheiten gab: Würde sie die Stelle finden können? War dieser Ort überhaupt erreichbar, wenn man nicht fliegen konnte? Und wie lange würde Roya dort bleiben? Wie lange benötigte ein verletzter Drache Hilfe, bis er wieder fliegen konnte? Etwa eine Woche war vergangen ... Es mochte sein, dass Roya längst wieder unterwegs war. Doch dann fiel ihr noch etwas ein - und das schien ihr Vorhaben auf jeden Fall zu einem lohnenden Ziel zu machen, selbst wenn sich die Suche nach Roya als über die Maßen schwierig erweisen sollte. Ulfa! Alina hatte den kleinen Baumdrachen bei ihrer Hochzeit selbst gesehen, hatte seine machtvolle Aura gespürt. In ihm steckte der Geist des Urdrachen, er war ein übernatürliches Wesen, ein Beschützer der Höhlenwelt! Wenn sie Roya finden konnte, dann fand sie auch Tirao. Mit Tiraos Hilfe gab es bestimmt eine Möglichkeit, an Ulfa heranzukommen. Und wenn der kleine Drache tatsächlich der Beschützer der Höhlenwelt war, dann musste er einen Rat wissen! Sie nickte Benni zu. »Das werde ich tun!«, sagte sie entschlossen. »Morgen, ganz früh, breche ich auf! Ich werde Roya und Tirao finden - und wenn es Jahre dauert!« 361 20 ♦ Benni n dieser Nacht konnte Alina vor lauter Unruhe kaum schlafen. Vorsichtshalber hatte sie einen Schlafplatz in der Scheune gewählt und sich einen Fluchtweg nach hinten heraus offen gehalten. Vielleicht kamen regelmäßig
Drakkenpatrouillen vorbei, um den Hof zu überprüfen. Der größte Teil ihrer Unruhe aber rührte von ihrem Vorhaben her, nach Roya zu suchen, und von all den Dingen, an die sie denken musste. Noch am Abend war ihr die Idee gekommen, sich eines der Pferde zu nehmen - das würde ihre Reisegeschwindigkeit wesentlich erhöhen. Wenn sie eines konnte, dann war es Reiten. Als gewissermaßen »höhere Tochter« war es Pflicht für sie gewesen, die Reitkunst zu erlernen. Darüber hinaus besaß Alina eine gute Bildung. Ihre Mutter hatte darauf Wert gelegt und sie konnte auf Jahre unter der Obhut von Gelehrten und Magistern zurückblicken, die ins Haus gekommen waren, um ihr etliches über die Wissenschaften, die Literatur, die Mathematik und auch die Geografie beizubringen. Sie hatte ein recht gutes Bild ihres Landes im Kopf. Die westliche Handelsstraße führte von Savalgor aus durch das südakranische Hügelland in Richtung Tulanbaar. Sie würde sehen, ob sie diesen Weg nehmen konnte, denn dort mochte es Drakken geben. Aber sie erinnerte sich an den Verlauf des Alten Weinwegs, der vor Jahrhunderten eine wichtige Verbindung nach Westen gewesen war. Er hatte an Bedeutung verloren, nachdem die Städte Mittelweg und Tharul aufgeblüht 362 waren und viele Händler und Reisende in ihre Richtung zogen. Es mochte sein, dass der Alte Weinweg heute verfallen und verwildert war, aber so lange er ihr als Weg dienen konnte, war es ihr gerade recht, dass sie abseits der großen Straßen das Land durchquerte. Er führte entlang der Morne in Richtung Villtal und von dort über zahlreiche Dörfer nach Soligor und ins Rebenland. Irgendwann würde sie der Abtei von Hegmafor ziemlich nahe kommen; wenn sie ins südliche Ramakorum vordringen wollte, musste sie dort vorsichtig sein. Hegmafor war wahrscheinlich ein Stützpunkt der Bruderschaft. Hatte sie die Vorberge des Ramakorums erreicht, würde es gewiss noch schwieriger werden, denn das Gelände dort war unwegsam. Sie besaß keine Kenntnisse darüber, wie weit die gangbaren Wege ins Ramakorum hineinreichten. Sicher würde sie dort erheblich langsamer vorankommen. Aber vielleicht gelang es ihr auch, unterwegs vorsichtig Informationen zu sammeln. Möglicherweise erfuhr sie etwas über den Verbleib von Roya - sofern sie sich nicht mehr an der Mündung des unterirdischen Flusslaufs aufhielt. Alina überschlug ihren Zeitbedarf im Kopf. Die braunweiße Stute schien gut in Form zu sein, und wenn sie ein flottes Tempo anschlug, würde sie es, sofern sie nicht in Schwierigkeiten geriet, in etwa fünf Tagen bis ins Rebenland schaffen können. Von dort dauerte es einen weiteren Tag bis zu den Vorbergen, wobei sie in die Nähe von Hegmafor geriet. Aber sie würde stets dreißig oder vierzig Meilen zwischen sich und der alten Abtei lassen können, das war hoffentlich genug. Doch wie lange sie anschließend brauchen würde, wusste sie nicht. Es kam darauf an, wie tief im Gebirge dieser unterirdische Fluss lag und ob er einigermaßen leicht zu finden war. Und dann stellte sich noch die Frage, wie weit sie die Wege in den Bergen zu Pferd nutzen konnte. 363 All diese Gedanken bescherten ihr eine unruhige Nacht. Plötzliche Skrupel überkamen sie, ob sie wirklich eines der Pferde nehmen konnte. Das war in noch höherem Maße Diebstahl, als sich mit Kleidern und Nahrung zu versorgen. Doch dann sagte sie sich, dass sie die Herrscherin von Akrania war und dass sie ihre Tat zum Nutzen des Landes beging. Letztlich war sie selbst die höchste Richterin. Bei dem Gedanken, sich selbst zu einem Jahr Kerker zu verurteilen, musste sie leise auflachen. Kaum drang am nächsten Morgen erste Helligkeit durch die Sonnenfenster in die Welt, war sie auf den Beinen. Sie suchte sich eine Schlafdecke, einen weiteren Satz Kleidung und ein wenig Verpflegung sowie ein paar andere nützliche Dinge zusammen. Anschließend sattelte sie die Stute. Das andere Pferd, eine weitere Stute, braun und etwas kleiner, verfolgte Almas Tun mit traurigen Blicken. Alma überlegte, ob sie vielleicht beide Pferde mitnehmen sollte. Zuerst entschied sie sich dagegen, um weniger Ballast bei sich zu haben, dann aber kam sie auf die Idee, das zweite Pferd unterwegs zu verkaufen. Sie benötigte Geld für Nahrung - und vielleicht eine Waffe. Endlich war sie so weit. Sie führte die beiden Pferde hinaus auf den Hof und kletterte entschlossen in den Sattel der Stute. Benni stand daneben und blickte betroffen zu ihr auf. Alina seufzte. Sie stieg wieder ab, kniete sich zu ihm hin und nahm seinen Kopf zwischen beide Hände. Er winselte leise. »Ich muss nun gehen«, sagte sie. »Danke für alles. Du hast mir sehr geholfen, Benni!« Sie küsste ihn auf die Stirn. Wieder winselte er. Manchmal, so dachte sie, wäre es besser, wenn Hunde nicht so empfindsam wären. Sie spürten es einfach, wenn jemand ging, und die Art und Weise, wie ein Hundegesicht Schmerz oder Trau364 rigkeit ausdrücken konnte, erleichterte einem den Aufbruch keinesfalls. »Ich muss mich beeilen! Schnell reiten, verstehst du? Da kommst du nicht mit! Außerdem gehörst du hierher, musst den Hof bewachen - bis deine Leute wiederkommen.« Sie sah schon, dass er nicht einfach hier bleiben würde. Also würde sie gleich zu Beginn ein scharfes Tempo anschlagen, damit er zurückfiel und schließlich wieder von selbst zurückkehrte. Es half nichts - sie hatte etwas Wichtiges vor und musste sich beeilen. Sie kletterte in den Sattel, überprüfte die Länge der Leine zu dem zweiten Pferd und schnalzte mit den Zügeln. Dann winkte sie Benni ein letztes Mal zu, steuerte ihr Pferd auf den Weg und wandte sich nach Westen, wo ein kleiner Fuhrweg in den Wald hinein führte. Sie wollte erst einmal fort aus der unmittelbaren Umgebung von Savalgor.
Erwartungsgemäß folgte ihr der Hund, aber als sie nach einem kurzen Ritt durch den Wald freies Grasland erreichte, lenkte sie ihre Stute in Richtung eines Tals zwischen zwei großen Stützpfeilern im Nordwesten und trieb sie zu gestrecktem Galopp an. Um die Mittagszeit war Benni immer noch bei ihr. Er hielt mühelos mit dem Galopp der Pferde mit, lief häufig sogar voraus, als wollte er das Umland erkunden, und einmal erlegte er sogar, ganz nebenbei, ein weiteres Kaninchen. Alina nahm es ihm ab und beschloss, einen ernsthaften Versuch zu machen, es auszunehmen und über einem Feuer zu braten. Zündstein und Glimmpulver hatte sie im Haus gefunden und mitgenommen. Als sie die Pferde einmal eine Strecke im Trott zu365 rücklegen ließ, rief sie zu Benni hinab: »Du willst also ernsthaft bei mir bleiben?« Er lief hechelnd und mit hängender Zunge neben ihr her und kläffte sie an. »Ist vielleicht gar keine schlechte Idee!«, rief sie ihm zu. »Aber du musst mich beschützen. Wirst du das tun?« Wieder kläffte er. Sie war verwundert über die Intelligenz des Tieres. Er dürfte wohl kaum ihre Worte verstanden haben, aber dass es eine Frage gewesen war, hatte er an der Satzmelodie erkannt. Plötzlich gefiel ihr die Idee, Benni bei sich zu haben. Er konnte tatsächlich für sie auf die Jagd gehen, und wenn er täglich ein Kaninchen fing, würde sie niemals hungern müssen. Ein weiteres für sich selbst und dazu noch ein paar Beeren und Nüsse, die sie für sich selbst sammeln konnte, und sie würden überleben können. Der Gedanke, dass er sie tatsächlich verteidigen würde, war ebenfalls nicht abwegig. Auch ein freundlicher Hund wie Benni war sicher klug genug, um unterscheiden zu können, wann er sein Schwanzwedeln lieber durch ein Zähnefletschen ersetzen sollte. Alina spürte an diesem Morgen neue Zuversicht. Dafür, dass sie vorgestern Abend einen Hundert-Ellen-Sturz überlebt hatte, ging es ihr recht gut. Außer den Gliederschmerzen spürte sie nur noch einige Prellungen und Schürfwunden, aber die waren auszuhalten. Sie hatte so unendlich viel Glück gehabt, auch als Benni sie gefunden hatte, dass sie abermals dachte, dies müsste etwas bedeuten. Irgendeine Macht des Schicksals schien ihr helfen zu wollen. Steckte vielleicht der geheimnisvolle Ulfa dahinter? Sie hatten nun schon mehrere Wälder durchquert und waren über Hügel mit braunem Steppengras und durch schattige Täler zwischen Stützpfeilern geritten. Alina erinnerte sich an einen Rat, den sie während 366 ihrer Schuljahre von einem ihrer Lehrer erhalten hatte: Besitzt man keinen Kompass, kann man die Himmelsrichtung feststellen, indem man den Lichteinfall durch die Sonnenfenster beobachtet und ihn ins Verhältnis zur Tageszeit setzt. Diese Methode war zwar etwas ungenau und änderte sich auch mit den Jahreszeiten, aber im Augenblick hatte sie keine andere Wahl und würde damit zurechtkommen. Dann entdeckten sie ihr erstes Dorf. * Es war ein seltsam bläuliches Schimmern im Sonnenlicht, das sie aufmerksam machte. Das Dorf lag auf einem felsigen Hügel im Vordergrund eines ausgesprochen schiefen Stützpfeilers, der trunken dem Felsenhimmel entgegenstrebte und den Betrachter fürchten ließ, er werde gleich umkippen. Alina wunderte sich, von ihm oder dem Dorf noch nie gehört zu haben. Meist waren solche kuriosen Pfeiler weithin bekannt. Das Schimmern jedoch, das wie eine eigene kleine Sonne ins Land fiel, war noch ungewöhnlicher. Sie kannte kein Ding, von dem ein so starkes Leuchten ausgehen konnte, höchstens von einer Wasserfläche, die das Sonnenlicht reflektierte, aber dies kam hier nicht infrage. Als sie schließlich mehrere Dächer erkennen konnte, wurde ihr klar: es musste von der metallenen Hülle eines Drakkenschiffs stammen. Eines Drakkenschiffs, das in dem Dorf gelandet war. Sobald sie sich dem Hügel näherte, sah sie ein großes Schiff, das in unmittelbarer Nähe der Häuser stand. Sie brachte das Pferd zum Halten. Ihr Herz pochte dumpf. Unruhig sah sie sich nach einer Deckung um. Hier gab es nur Steppengras, niedrige Büsche und ein paar Geröllbrocken. Benni hob 367 schnuppernd die Nase; selbst der Hund schien zu spüren, dass es hier etwas Ungewöhnliches gab. Alina überlegte, ob sie trotz der Gefahr das Dorf aufsuchen sollte. Womöglich war jetzt jedes Dorf im Land von den Drakken besetzt, und dieses Dorf zu meiden hieß, alle Dörfer meiden zu müssen. Vielleicht aber würde sie es betreten und unbehelligt wieder verlassen können; die Drakken konnten schwerlich das Land unter Kontrolle halten, wenn sie das gesamte Alltagsleben unterbanden. Die Leute mussten Güter für ihre Bedürfnisse erzeugen und mit ihnen Handel treiben können, sonst würde den Drakken die Aufgabe zufallen, das Volk zu ernähren. Das jedoch war eine Aufgabe, die sie unmöglich bewältigen konnten. Dennoch war es ihr zu gefährlich. Bennis verlassener Bauernhof mochte bedeuten, dass die Drakken alle kleinen Siedlungen außerhalb der Dörfer entvölkerten, möglicherweise verfuhren sie auch mit einsamen Wanderern so. Vielleicht gab es sogar ein Reiseverbot, wie schon unter der Duuma. Eine Fremde wie sie wurde womöglich auf der Stelle festgenommen, wenn sie ein Dorf betrat. Eine Meile westlich von ihr erstreckte sich ein bewaldetes Tal zwischen zwei Pfeilern. Sie entschied sich, dorthin auszuweichen und künftig alle Ansiedlungen zu meiden, in denen sie Drakken sehen konnte oder vermutete. Vielleicht fand sie anderweitig Möglichkeiten, die kleine Stute zu verkaufen und sich mit Nahrung zu
versorgen. Sie schnalzte mit der Zunge und lenkte ihre Pferde in Richtung des Waldes. Plötzlich bellte Benni - ihr Kopf fuhr herum. Über dem Drakkenschiff hatte sich etwas erhoben und für kurze Zeit wurde seine blendende Lichtreflexion von einer Art Hitzeflirren durchströmt. Dann sah sie ein größeres Objekt in der Luft, doch ehe sie es er368 kannte, war es schon zu spät. Etwas kam auf sie zu, rasend schnell; die verbleibende Zeit wäre ohnehin viel zu kurz gewesen, als dass sie sich irgendwo hätte in Sicherheit bringen können. Es war ein kleines Drakkenschiff und es überflog die Ebene beängstigend schnell. Bis zur Hügelkuppe des Dorfes waren es gute drei Meilen, aber es dauerte weniger als eine halbe Minute, dann war es schon bei ihr. Alina musste krampfhaft ihren Impuls unterdrücken, Hals über Kopf zu fliehen. Das wäre vermutlich ihr Tod gewesen; sie hatte mehrfach erlebt, wie Drakken mit Fliehenden verfuhren. Die Pferde wurden unruhig. Benni bellte und wurde immer nervöser, während Alinas Herz wummerte, als würde es all ihr Blut ins Leere pumpen. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und tastete angstvoll nach dem Drakkenhalsband, das sie am Morgen schon angelegt hatte. Noch immer trug sie ihre Haare zu einem langen Zopf geflochten; sie schlang ihn wieder um den Hals. Auf diese Weise würde er die Klammer, mit der das Halsband in ihrem Nacken zusammengeheftet war, gut verbergen. Um möglichst keine Probleme aufkommen zu lassen, ließ sie die kleine, ovale Plakette mit dem leuchtenden Symbol deutlich hervorschauen. Mit wild pochendem Herzen wartete sie die Landung des Schiffs ab. Es war ziemlich klein, nur etwa 12 Schritt lang und vier oder fünf breit. An der hinteren Hälfte besaß es kleine, stummelartige Flügel, die aus einer ringartigen hinteren Verdickung des Schiffskörpers herausragten. Wie alle anderen Drakkenschiffe war es grau, besaß aber ein paar silbrig glänzende Aufbauten und eine blau-metallisch schimmernde, kuppelartige Scheibe auf der Oberseite. Ein seltsames Jaulen erfüllte die Luft, als es heran war. Das Jaulen wurde noch lauter und höher, als das Schiff an der Unterseite ein spinnenartiges Lande369 gestell entfaltete. Daraufhin sank es ganz zu Boden. Alina hatte alle Mühe, die Pferde zu beruhigen. Benni bellte wie rasend, rannte hin und her, blieb aber ein gutes Stück entfernt. Sie bekam Angst, dass er eines der Echsenwesen anfallen könnte. Sie würden ihn mit ihren fürchterlichen Waffen auf der Stelle umbringen. »Benni! Sei still! Komm zu mir!« Sie ließ sich zwischen den Pferden zu Boden gleiten. »Benni!« Noch mehrmals musste sie rufen, dann beruhigte sich der Hund halbwegs und kam widerstrebend zu ihr. Das Drakkenschiff stand inzwischen fest auf dem Boden; das Jaulen verebbte und machte einem leisen, tiefen Brummen Platz. Voller Furcht kniete sie zwischen ihren drei Tieren, hielt Benni am Halsband fest und beobachtete, wie sich an dem Schiff eine Art Schiebetür seitlich öffnete. Eine kurze Leiter schob sich wie aus dem Nichts seitlich nach außen und klappte herunter. In der entstandenen Öffnung erschienen zwei Drakken. Benni drehte fast durch. Er riss und zerrte und bellte wie wahnsinnig; hätte Alina ihn nicht krampfhaft festgehalten, wäre er mit Sicherheit auf die Drakken losgestürmt - was sein Tod gewesen wäre. Sie hatte Mühe, ihn zu halten, schrie ihn an und drückte ihn mit aller Kraft am Halsband zu Boden. Er schnappte zähnefletschend nach ihrem Handgelenk, allerdings ohne es wirklich erwischen zu wollen. Endlich beruhigte er sich. Dann kamen die beiden Drakken näher. Einer war bewaffnet, der andere trug statt einer Waffe eine flache, durchsichtige Platte in seinen klauenartigen Händen. Benni knurrte in der Tiefe seiner Kehle, sein Hundegesicht zuckte und er fletschte die Zähne, während Alina ihn mühevoll zu Boden drückte. Als die beiden Drakken nur noch wenige Schritte entfernt waren, versuchte er sich loszureißen. Er hatte gehörige Kraft, die370 ser Hund. Alina schrie auf. Sie wurde von ihm zu Boden gerissen, ließ aber sein Halsband nicht los. Die Drakken sprangen zurück, dann war es nur noch ein Augenblick, bis der eine seine Waffe hob, auf der Oberseite irgendein Ding berührte und dann schoss. Alina kreischte auf. Ein brennend heißer Hauch fuhr über ihre Hand und ihren Unterarm, während Benni voll getroffen wurde. Er stieß ein kurzes Japsen aus, dann sackte er kraftlos in sich zusammen. Alina hatte voller Entsetzen die Hand zurückgezogen und sich seitlich fortgerollt. Während sie durch das Gras kugelte, hörte sie die Pferde wiehern und das Hufgepolter sagte ihr, dass die beiden nach links und rechts flüchteten. Als sie zum Stillstand kam, verbarg sie den Kopf unter den hochgerissenen Armen, darauf wartend, dass der nächste Feuerstoß sie selbst traf. Aber es kam nichts. Furchtsam hob sie den Blick, sah nach den Drakken, dann nach Benni. Er lag reglos da, wenige Schritte vor den beiden Echsenwesen. Schließlich wurde Alina klar, dass aus der Drakkenwaffe weder orangefarbenes Feuer noch diese nassgrau wabernden Bälle gedrungen waren - die beiden Sorten Geschosse, die sie bisher gesehen hatte. Nein, es war, ähnlich der Erscheinung beim Start eines Drakkenschiffs, so etwas wie ein Hitzeflirren gewesen.
Sie betrachtete ihre rechte Hand, die etwas davon abbekommen hatte. Da war nur ein seltsam taubes und zugleich prickelndes Gefühl, so als würden unter der Hautoberfläche kleine Funken brennen. »Steh auf!«, hörte sie den Befehl des Drakken, der die durchsichtige Platte trug. Seine Stimme klang erstaunlich menschlich, von dem kalten, knirschenden Unterton war bei ihm nicht viel zu bemerken. Verwirrt blickte sie auf und sah, dass dieser Drakken in einer 371 Art Schale steckte, durch deren metallisches Schwarz so etwas wie ein Gelbton hindurchschimmerte. Einen Drakken dieser Art hatte sie noch nie gesehen. Alina erhob sich und eilte zu Benni, um nach ihm zu sehen. Direkt vor ihm ließ sie sich auf die Knie sinken. »Das Tier ist nicht tot«, sagte der Drakken. »Gut, dass du ihn gehalten hast. Steh auf. Wie ist deine Nummer?« Alina atmete auf - Benni lebte noch! Sie betrachtete ihn voller Sorge, aber es war deutlich zu sehen, dass sich sein Brustkorb hob und senkte. In ihren Augenwinkeln sammelten sich ein paar Tränen und sie verspürte einen seltsamen Anflug von Dankbarkeit, dass die Drakken ihn nicht getötet hatten. Benni war ihr in der kurzen Zeit sehr ans Herz gewachsen. »Wie ist deine Nummer?«, wiederholte der Drakken, diesmal schärfer. Alina stand auf und starrte ihn an. »Meine ... Nummer?« Das Echsenwesen funkelte sie an. Der kleine Hauch Dankbarkeit verflog wieder, als sie das hässliche Gesicht der Kreatur sah. »Ja ... deine Nummer!«, erwiderte der Drakken ungeduldig. »Weißt du sie etwa nicht?« Sie blickte furchtsam zu ihm auf. »Ich ... nein, ich ...« Der Drakken knurrte ärgerlich, hob dann seine rechte Klauenhand, in der er seine durchsichtige Platte hielt. Er richtete sie auf Alinas Hals. Sie stöhnte entsetzt auf, als ein hellgrüner Lichtstrahl aus der Oberkante der Platte hervorschoss - direkt auf ihnen Hals zu. Aber ihr passierte nichts. »Halt still!«, schnauzte sie das Echsenwesen an. Dann sah sie, wie plötzlich Leben in die Platte in seinen Händen kam. Sie flimmerte und flackerte, farbige Lichter erschienen darauf, dann irgendwelche Zeichen. 372 »Guldor«, sagte er. »Händler aus Savalgor«. Er blickte auf, musterte sie kurz. »Du bist doch ... weiblich, nicht wahr?« Sie nickte zaghaft. »Gul ... Gulda«, schickte sie hinterher. Er knurrte wieder, begann dann mit seinem ungelenken Finger auf seiner Platte herumzustochern, worauf neues Leben hinein kam. Bunte Punkte flammten auf und verloschen wieder, einmal glaube sie auch ein Bild gesehen zu haben. »Du hast keine Erlaubnis, die Stadt zu verlassen!«, sagte er. »Doch! Ich bin ... Händlerin! Ich muss ...« »Womit handelst du?« Alinas Gedanken rasten. »Mit ... mit Pferden! Und mit Kräutern«. Erleichtert stellte sie fest, dass der Drakken es zu glauben schien. »Heilkräuter. Für Kranke.« »Pferde und Kräuter? Was ist das für eine seltsame Zusammenstellung?« Alina lächelte verlegen. »In der Stadt werden Heilkräuter gebraucht, die ... die ich auf dem Land kaufen kann. Und auf dem Land braucht man Pferde. Als Zugtiere für den Ackerbau. Die hole ich aus der Stadt und verkaufe sie hier. Sie sind in der Stadt billiger.« Das Echsengesicht wirkte noch eine Spur misstrauischer. »Wohin willst du jetzt?« »Ich ...?«, Alina schluckte. »Nach ... Tulanbaar«, sagte sie. »Ich meine, erst nach Usmar vielleicht und dann nach Tulanbaar.« Er senkte das Gesicht, stocherte wieder auf seiner Platte herum und sagte dann ärgerlich: »Was erzählst du mir da, Frau? Usmar und Tulanbaar - das sind zwei verschiedene Richtungen!« »Nun, es ist eine Art Rundreise. Das mache ich immer um diese Zeit. In ... in Usmar kaufe ich wieder neue Pferde ...« 373 »Schweig!«, sagte der Drakken. Alina verstummte. Er machte wieder etwas mit seiner Platte, hob dann sein kleines Gerät und erneut schoss ein grünlicher Strahl daraus hervor - in Richtung ihres Halses. Die Plakette an ihrem Halsband stieß ein leises Piepsen aus. »In einer Woche bist du wieder in Savalgor!«, sagte der Drakken. »Melde dich dort bei der Kommandantur. Wenn nicht ...«, er nickte ihr viel sagend zu, »... weißt du ja, was passiert.« Alina fühlte einen dicken Kloß in der Kehle. Sie tastete nach der Plakette, brachte dann ein knappes Nicken zustande. Er deutete auf ihre Kehle. »Und wenn du jemanden ohne ein Band triffst, weißt du, was du tun musst, nicht wahr?« Sie schluckte. »Ihn ... melden?«, fragte sie unsicher.
Er sah sie schief an. »Ist dir denn in Savalgor gar nichts gesagt worden?« Sie schüttelte unsicher lächelnd den Kopf. »Nicht viel.« Er grunzte. »Ja, melden!«, sagte er und ließ seine Tafel sinken. »Beim nächsten Posten. Vergiss nicht, dass du dich in Savalgor melden musst. In einer Woche!« Damit wandten er und sein Begleiter sich um und ließen sie stehen. Kurze Zeit später waren die beiden in ihrem Schiff verschwunden. Wieder ertönte das seltsame Jaulen, diesmal so laut, dass sich Alina die Ohren zuhalten musste. Das Schiff erhob sich unter ohrenbetäubendem Lärm in die Luft, drehte die Nase in Richtung des Dorfes und schoss los. Gleich darauf war sie wieder allein. Alina ließ sich auf den Hintern fallen. Sie legte die Hand dem betäubten Benni auf die Flanke und stöhnte. Diese Begegnung hatte sie den Großteil ihrer Beherrschung gekostet. Nie hätte sie damit gerechnet, zu374 letzt noch in Freiheit weiterziehen zu dürfen. Was waren das nur für seltsame Wesen? War sie jetzt tatsächlich Gulda, eine Händlerin, die das Land durchstreifen durfte? Dann fiel ihr die Drohung durch den Drakken ein. Fast panikartig riss sie sich das Drakkenhalsband über den Kopf und schleuderte es von sich. Die Worte des Drakken - Wenn nicht,,. weißt du ja, was passiert - echoten ihr durch den Kopf. Was passierte dann? War dieses Ding tatsächlich in der Lage, seinen Träger zu töten? Was für eine widerliche Art, ein Volk mittels Angst und Terror zu beherrschen! Die Hinterhältigkeit dieser Bestien war unglaublich! 375 21 ♦ Das Dorf Als Alina die beiden Pferde wieder eingefangen hatte und zu Benni zurückkehrte, war er schon wieder halbwegs zu sich gekommen. Hechelnd lag er da, noch immer auf dem gleichen Fleck, wo ihn die Drakkenwaffe niedergestreckt hatte. Die Taubheit und das Kribbeln in Alinas Hand hatten ebenfalls nachgelassen. Sie kniete sich zu ihm nieder und streichelte seinen Kopf. »Das nächste Mal beherrschst du dich, ja?«, sagte sie leise. »Du hast Glück, dass du noch lebst.« Er leckte ihr winselnd die Hand. Benni würde sie wirklich verteidigen, auch wenn es ihn das Leben kostete. Sie hoffte, es würde niemals dazu kommen. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie das Drakkenhalsband noch brauchen würde. Sie sprang auf und suchte es in der Richtung, in der sie es von sich geschleudert hatte. Zum Glück fand sie es und steckte es in die Brusttasche ihrer Weste. Anlegen würde sie es nur, wenn es unbedingt nötig war, und ihr blieb wohl lediglich eine Woche, innerhalb derer sie es gebrauchen konnte. Sie musste unbedingt erfahren, was passierte, wenn sie der Anweisung des Drakken nicht gehorchte. Konnte es sein, dass er mit seinem grünen Lichtstrahl dem Halsband den Befehl erteilt hatte, sie ... zu erwürgen, wenn sie sich nicht rechtzeitig in Savalgor zurückmeldete? Die Vorstellung jagte ihr Schauer über den Rücken. Ihr Blick schweifte über die Ebene und sie überlegte, ob sie diesem Dorf doch noch einen Besuch abstatten sollte. Inzwischen hatte man sie ja bereits überprüft. 376 Sie stand auf. »Kannst du wieder laufen, Benni?«, fragte sie und versuchte ihm auf die Beine zu helfen. »Los, hoch mit dir!« Mühsam kämpfte er sich in die Höhe und stand schließlich auf wackeligen Beinen. Er knickte noch einmal kurz mit den Hinterläufen ein, aber dann ging es wieder. Mit hängender Rute und angelegten Ohren kam er zu ihr. Sie kniete sich noch einmal zu ihm nieder und flüsterte ihm aufmunternde Worte zu. Dann setzten sie sich in Bewegung und marschierten in Richtung des Dorfes. Bennis Zustand schien sich mit jeder Minute zu bessern, und als sie die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatten, fiel er hin und wieder sogar ein wenig in Trab. Alina mahnte ihn mehrfach, bei ihr zu bleiben. Das kleine Drakkenschiff war wieder zu dem großen Schiff nahe dem Dorf zurückgekehrt und mit Sicherheit würden sie dort wieder auf Drakken treffen. Sie zogen weiter, vergleichsweise langsam, und benötigten fast eine halbe Stunde für eine Strecke, welche die Drakken in weniger als einer Minute zurückgelegt hatten. Je näher sie dem Dorf kamen, desto bedrückter wirkte Benni. Er kniff die Rute ein, so als wäre ihm genau bewusst, was er falsch gemacht hatte. Kurz vor dem Dorf holte sie das Halsband hervor und streifte es sich über den Kopf. Hier begann ein schmaler Schotterweg, der sich den Hügel hinauf wand; das letzte Stück war sogar mit Kopfsteinen gepflastert. Sie machten sich an den Aufstieg. Niemand kam ihnen entgegen, niemand zog des gleichen Weges wie sie. Als sie auf dem Hügelrücken angelangten, wurden sie von einem hübsch gemachten Schild begrüßt: Das Dorf trug den Namen Ismalaar, hieß seine Besucher herzlich willkommen und pries sich als weithin bekannter Marktflecken. Doch im Blumenkasten unter der Holztafel hingen nur ein paar vertrocknete Minz377 rosen. Es erschien Alina wie ein ungutes Omen. Als sie den Rand des Dorfes erreichten, konnte sie den gesamten Hügelrücken überblicken. Vor ihnen erstreckte sich eine kleine, felsige Ebene mit einigen Baumgruppen, nach Norden hin von einer steilen, aber nicht allzu hohen Felsenklippe überragt. Sie ging bald in die jäh aufsteigende Felsflanke des schiefen Pfeilers über. In den Schutz der Klippe schmiegte sich eine Anzahl von knorrigen Steinhäusern, ihre
Bauart ließ die Nähe von Savalgor erahnen. Natürlich waren sie längst nicht so hoch und so verwegen gebaut, aber Alina sah mehrere Stege und kleine Brückchen, welche die Häuser im ersten Stockwerk miteinander verbanden. Manche besaßen noch ein zweites oder sogar ein drittes Stockwerk. Notwendig wäre das nicht gewesen, denn die kleine Felsebene auf dem Hügelrücken bot noch reichlich unbebauten Platz. Direkt unterhalb der Klippe gruppierten sich die größten und wuchtigsten Häuser; vor ihnen lag der Dorfplatz, der rundherum von anderen, aber kleineren und niedrigeren Häusern umstanden war. Insgesamt mochten es vielleicht zwanzig sein; dazu ein paar Ställe, Scheunen und Schober, durchsetzt von hohen Sturmweiden und gedrungenen Runkelbäumen. Es war geradezu ein Bild von einem hübschen Dorf ... ... wären da nicht die Drakken gewesen. Die Drakken und das, was sie angerichtet hatten. Am Dorfrand, wo die Straße von Büschen gesäumt war, blieb Alina betroffen stehen. Mitten auf dem Platz hatten sie ihre silbrigen Zeltbauten errichtet; dazwischen ragte ein silberner, etwa 40 Ellen hoher Mast auf, auf dessen Spitze sich ein seltsames, rautenförmiges Ding langsam drehte. Der Mast war mit silbern glänzenden Seilen abgespannt. Sie sah drei Patrouillen, die aus jeweils zwei bewaff378 neten Drakken bestanden. Dazu kamen noch ein halbes Dutzend weiterer Drakken, die sich hier und dort zwischen den Zeltbauten bewegten. An mehreren Stellen waren weiße und hellgraue Kästen jener typischen, sechseckigen Bauart gestapelt. Eine größere Anzahl von gelben, grauen und weißen Rohren oder Leitungen verband die verschiedenen Zeltbauten und Kästen miteinander. Sie waren in Schlangenlinien auf dem Boden verlegt, so als wären sie beweglich. Ein dicker Strang davon verlief nach Westen aus dem Dorf hinaus, wo in etwa einhundertfünfzig Schritt Entfernung das große Drakkenschiff in der Nachmittagssonne ruhte. Das kleine stand in seinem Schatten direkt daneben. Aber das war nicht alles. Der Anblick hätte, obgleich seltsam, sogar friedlich anmuten können. Was das Ganze jedoch empfindlich störte, waren die verbrannten Häuserruinen, von denen es eine ganze Anzahl gab. Mitten in der Gruppe der großen, wuchtigen Bauten unterhalb der Klippe war ein hohes Haus vollständig ausgebrannt und zum großen Teil eingestürzt. An der Ostseite des Platzes gab es eine regelrechte Feuerschneise, die durch die Häuserreihe verlief. Vier oder fünf Häuser waren dem Feuersturm zum Opfer gefallen, die blanke Erde und der Fels waren aufgerissen und eingeschmolzen. Die Stümpfe verkohlter Balken und abgebrannter Bäume ragten wie Totenfinger in die Höhe; Trümmer und Asche waren über die ganze östliche Hügelseite verstreut. Es sah gemein aus, was dort geschehen war - so als hätten die Drakken, um ihren Herrschaftsanspruch klar zu machen, erst einmal dem Dorf einen brutalen Hammerschlag versetzt, bevor sie gelandet waren und es besetzt hatten. Alina konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, warum sie sonst ein kleines, wehrloses Dorf wie dieses so hätten verwüsten müssen. Auch an anderen Stellen gab es Anzeichen für einen kurzen, 379 heftigen Krieg. Einem Krieg allerdings, der ohne Gegenwehr verlaufen war. Die dritte Besonderheit, die Alina ins Auge fiel, waren die Menschen. Es war sehr still im Dorf, fast schon geisterhaft still. Alina sah nur sehr wenige Leute, viel weniger, als in einem solchen Dorf eigentlich hätten sein müssen. Die meisten von ihnen waren mit Aufräumarbeiten beschäftigt, aber sie konnte sich nicht erinnern, Menschen jemals so schleppend und voller Elend arbeiten gesehen zu haben. Sie bewegten sich etwa in dem Tempo, zu dem Alina am Morgen nach ihrem Absturz fähig gewesen war - halb gelähmt, gequält und mit hängenden Köpfen. Am Nordende des Platzes standen zwei Gestelle, an denen jeweils eine Person mit ausgebreiteten Armen festgebunden war. Ob diese Leute lebten oder tot waren, konnte sie von hier aus nicht ausmachen. Vor den Gestellen kniete eine weitere Person, offenbar mit gebundenen Händen, jemand anderes lag reglos daneben. Kinder sah sie überhaupt nicht. Ein Marktstand, der aus nichts als einer klapprigen Karre mit einer Plane als Dach bestand, stand einsam am südlichen Teil des Platzes. An einem normalen Wochentag hätten hier mindestens vier oder fünf Wagen stehen und sich zwei Dutzend Kunden und Händler herumtreiben sollen. Zusammen mit der unnatürlichen Stille, in der das lauteste Geräusch noch das Rauschen des Windes in den Weiden war, hatte die Szene etwas Gespenstisches an sich. Alina dachte, dass sie vielleicht auffallen würde, wenn sie hier einfach stehen blieb. Sie schnalzte leise mit der Zunge und forderte ihre drei vierbeinigen Begleiter auf, ihr zu folgen. Kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, wurde sie von einer Drakkenstreife entdeckt. Ein Alarmruf ertönte. Ein kurzes, dröhnendes Geräusch stob durch die Luft. Alle Drakken, die Alina 380 im Blickfeld hatte, erstarrten und wandten sich ihr zu. Sie kamen mit erhobenen Waffen und unangenehm schnellen Bewegungen auf sie zugerannt. Benni wich mit einem Winseln zurück. Alina musste die beiden Pferde abermals mit Macht an den Zügeln festhalten. »Ich wurde schon kontrolliert!«, rief sie den Drakken laut entgegen, während sie mit erhobenen Händen zurückwich. Sie deutete nach Westen. »Von diesem kleinen Schiff da! Draußen auf dem Grasland! Ich wurde schon ...!« Die Drakken waren nun doch stehen geblieben, ein Dutzend Schritte vor ihr. Alinas Puls pochte wild; sie hatte schon gedacht, die Wesen wollten sie direkt angreifen. Der eine hielt nun ein dünnes Röhrchen, das einem
Metallring um seinen Hals entsprang, vor seinen Mund. Seine Lippen bewegten sich leicht. Für einige Momente geschah nichts, dann hörte sie die Stimme des Wesens. »Was willst du?« Diesmal war nichts von einem menschlichen Tonfall zu vernehmen. Es war die typische kalte und knirschende Stimme eines Drakken, und Alina fühlte das drängende Verlangen, sich auf der Stelle umzudrehen und davonzulaufen. Aber das hätte ihr sicher nur noch mehr Schwierigkeiten eingebracht. Sie bemühte sich, die beiden Pferde zu beruhigen, zog sie an den Zügeln zu sich heran und redete auf sie ein. Benni verhielt sich zum Glück still. »Was willst du?«, bellte sie der Drakken noch einmal an. Endlich hatte sie die Pferde einigermaßen beruhigt. »Handeln«, gab sie zögernd zurück und deutete auf den einsamen Marktstand. »Ich ... ich bin Händlerin. Ich habe eine Erlaubnis.« »Geh wieder!«, schnauzte das Wesen und winkte sie mit der Spitze seiner klobigen, grauen Waffe davon. »Abgesperrtes Gebiet!« Die Pferde scheuten leicht. 381 »Aber ich ... wie soll ich dann handeln?«, fragte sie hilflos. »Ich lebe davon!« Der Drakken murmelte wieder irgendetwas in sein Röhrchen. Alina sah, dass er ein graues Ding in seinem verkümmerten Ohr stecken hatte. Sie vermutete, dass diese beiden Geräte dazu dienten, dass er mit jemandem sprach, sich Befehle von seinem Vorgesetzten holte. Überraschend trat er einen knappen Schritt zur Seite und winkte ihr abermals mit der Waffe. Dieses Mal jedoch in Richtung des Marktplatzes. »Geh zum Markt!«, knirschte er. »Schnell. Dann geh wieder!« Alinas Herz pumpte noch immer heftig; sie glaubte, das Blut in ihren Schläfen rauschen zu hören. Mit mehr Angst als Entschlossenheit setzte sie sich in Bewegung, hielt mit Mühe die nervösen Pferde bei sich und hoffte inständig, dass Benni ruhig blieb. Mit eingekniffener Rute und gesenktem Kopf huschte er an den Drakken vorbei und sie folgte ihm rasch. Ihr Puls beruhigte sich wieder etwas. Einesteils war es bedauerlich, dass Benni seinen heldenhaften Mut gegenüber diesen Wesen eingebüßt hatte, aber andererseits wäre es sein Tod gewesen, hätte er eines von ihnen angefallen. Sie zischte ihm zu, er solle brav sein und bei ihr bleiben. So schnell sie konnte, brachte sie Raum zwischen sich und die Drakken. Der Weg führte zwischen zwei zerstörten Häusern hindurch direkt auf den Dorfplatz, an dessen Westseite die Drakkenzelte errichtet waren. Links davon war der kleine Marktstand aufgebaut. Offenbar gab es dort Gemüse zu kaufen, aber außer einer schüchtern dastehenden jungen Frau hielten sich in der Nähe keine Menschen auf. Sie wandte sich in die Richtung des Standes. Unterwegs kam sie dem Ort näher, an dem die beiden Menschen an den Gestellen angebunden waren. 382 Sie schienen noch zu leben; beide waren mit Stricken inmitten einer Art radförmigem Gerüst gefesselt, die Arme ragten in die Höhe. Der rechte der beiden Männer schien schon älter zu sein, er hing erschlafft in seinen Fesseln, während der andere offenbar noch halbwegs bei Kräften war. Sie konnte keine äußeren Verletzungen an den beiden Männern feststellen. Vor ihnen kniete, Alina den Rücken zugewandt, eine Frau, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Sie wiegte sich leise jammernd vor und zurück. Neben ihr lag ein regloser Mann auf dem Bauch. Es war eine unheimliche Szene; nichts gab es, woraus man hätte schließen können, was hier vorgefallen war. Verstohlen blickte sie sich um, während sie die Pferde zu dem Marktstand führte. Es waren drei Drakkenzelte, ein größeres und zwei kleinere, jedes davon jedoch geräumig genug, um den Platz eines normalen Hauses zu bieten. Über ihnen spannte sich ein seltsames Geflecht aus weißlich silbernen Metallstangen durch die Luft, die mit vielen kleinen Stangen und Streben miteinander verbunden waren. An einigen Stellen waren große, gelbe Klammern in die Erde getrieben; von ihnen führten Seile weg, an denen die silbrigen Zeltwände aufgespannt waren. Etwas weiter rechts, bei einer Gruppe von niedrigen Steinpappeln, türmten sich die sechseckigen Behälter und hinter ihnen erhob sich der seltsame Mast über den Marktplatz. Ein leises Brummen lag in der Luft, als sie in etwa fünfzehn Schritt Entfernung an den Zelten vorbeischritt. Sie bemühte sich, den Kopf gesenkt zu halten und nicht neugierig zu wirken. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie versuchte, einige Informationen zu sammeln, und dann, so schnell es ging, wieder zu verschwinden. Als sie sich dem Gemüsestand näherte, trat ein kräftiger Mann neben die Frau. Er war um die fünfzig, 383 hatte lichtes Haar, einen geschwungenen Schnurrbart und trug eine dunkelgrüne Schürze. Seine Ärmel waren hochgekrempelt und er bot den Anblick eines Mannes, wie er typischer für ein Dorf wie dieses nicht sein konnte. Nur gab es eine unschöne Sache an ihm: Er starrte sie mit großen Augen an. Alina verlangsamte unwillkürlich ihren Schritt. Sie konnte nicht anders, als ihn gleichermaßen anzustarren, so als wären sie alte Bekannte, die sich am anderen Ende der Welt unverhofft wieder trafen. Sie studierte sein Gesicht - aber sie kannte ihn nicht. Sein Blick fiel auf den Hund und die Pferde, sie sah seine Lippen unhörbare Worte formen. Und dann fuhr es ihr eiskalt den Rücken hinab. Konnte es sein, dass er die Tiere kannte, dass er sah, dass sie eine Diebin war? Sie war über eine halbe Tagesreise von dem Bauernhof entfernt. Betroffen blieb sie stehen. Seine Blicke schweiften unruhig nach rechts und links an ihr vorbei, dann sah er kurz zu der jungen Frau, die
dem Alter nach vielleicht seine Tochter sein mochte. Sie blickte kurz zu ihm auf und dann wieder in Alinas Richtung. Er kam mit raschen Schritten hinter dem Wagen hervor und stand gleich darauf vor Alina. »Was ... was macht Ihr denn hier?«, fragte er leise. Alina fühlte plötzlich einen riesigen Stein im Magen. Er hatte sie in der dritten Person angeredet - das bedeutete, er wusste, wer sie war! Wie konnte das sein? Sie hatte ihr Amt nie ausgeübt. Er erkannte die unausgesprochene Frage, die in ihrem Gesicht geschrieben stand, und blickte noch einmal nach rechts und links. »Ich ... ich war bei Eurer Hochzeit, Hoheit.« Sein unsicherer Blick verriet, dass er am liebsten einen Kniefall vor ihr vollführt hätte. »Ihr müsst Euch täuschen, guter Mann ...«, stammelte sie, merkte aber gleich, dass sie sich schon in die384 sem Augenblick verraten hatte. Niemals würde eine einfache Händlerin einen Zunftbruder mit derartiger Förmlichkeit ansprechen. Die Vollendung des Missgeschicks kam, als sie sah, dass Benni den Mann schwanzwedelnd begrüßte. Sie kannten sich. Er murmelte Bennis Namen, warf dem Hund ein kurzes Lächeln zu und streichelte ihm über den Kopf. Dann sah er Alina wieder an und warf ihr ein missglücktes Lächeln zu. »Wer könnte je ein Gesicht wie das Eure vergessen.« Seine Stimme besaß einen Beiklang von Verehrung. Sie fürchtete einmal mehr, dass er auf die Knie fallen würde. »Ich stand ganz nahe bei Euch, einmal nur, ganz kurz«, fuhr er mit einem entschuldigenden Lächeln fort. »Als Euer ... Bräutigam dann doch noch endlich kam, Hoheit. Wir hatten schon alle gefürchtet ...« Alina hatte die leise Ablehnung in seiner Stimme nicht überhört, als er das Wort Bräutigam aussprach. In diesem Moment fiel alle Vorsicht von ihr ab. Eine plötzliche, schmerzliche Sehnsucht nach Victor durchströmte sie. »Spar dir deine Missbilligung!«, zischte sie ihm zu. »Du weißt gar nicht, welchen Zwiespalt dieser Mann zu bewältigen hatte - und trotz allem noch zu seinem Versprechen stand! Er ist ein feiner Mensch, ich vertraue ihm und ...«, sie seufzte leise, »... und ich liebe ihn.« Es war das erste Mal, dass sie dies aussprach, und es erschreckte sie ein wenig. Ihr Herz klopfte leise vor plötzlicher Aufregung, während der Händler einen Schritt zurücktrat und ergeben den Kopf senkte. »Verzeiht mir, Hoheit, ich wollte nicht ...« Unruhig blickte sie sich um, trat dann den verlorenen Schritt wieder auf den Mann zu und sagte leise: »Schon gut! Sieh mich an! Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen!« Er hob wieder den Kopf und blickte sie unglücklich 385 an. Alina begann ein leichtes Missfallen an ihrer hohen Stellung zu empfinden. Der Mann hatte bei seiner Äußerung nichts Böses im Sinn gehabt, aber seine Haltung und seine Gesichtszüge schienen in diesem Moment ausdrücken zu wollen, dass er sich für den niedersten und gemeinsten Schurken hielt. Eine derartige Unterwürfigkeit der Leute gegenüber ihrer Person erschien ihr unangemessen und war ihr peinlich. Sie hatte nicht mit allem Recht, nur weil sie Shaba war. »Hilf mir!«, sagte sie flüsternd zu ihm. »Da du mich nun schon erkannt hast - hilf mir! Was ist hier geschehen?« Die Miene des Händlers, der offenbar gefürchtet hatte, sie würde ihn im nächsten Moment mit dem Schwert der Gerechtigkeit niederstrecken, hellte sich ein wenig auf. »Was hier geschehen ist?« Er hob hilflos die Schultern und sah zu den Drakkenzelten hinüber. »Sie kamen über uns - fünf Tage ist das jetzt her. Am Tag Eurer Hochzeit, Hoheit. Wir trafen spät abends hier wieder ein. Wir hatten ihre Schiffe über Savalgor gesehen, wie sie sich über der Stadt sammelten ...« Der Mann bemühte sich um eine geschliffene Rede, was Alina reichlich komisch vorkam. Aber sie wollte die Unterhaltung nicht unnötig komplizieren und ließ ihn. »Wirklich? Wie hast du es noch aus Savalgor heraus geschafft?« Er winkte ab. »Erinnert mich nicht daran. Als wir aus dem Palast kamen, meine Söhne und ich, sahen wir die Schiffe. Überall waren sie, von Nordwesten und Westen her kamen sie, über den Monolithen hinweg. Die Leute bekamen Angst und rannten nach allen Seiten davon. Ich wusste, dass wir versuchen mussten, so schnell es ging aus der Stadt zu kommen. Wir hatten im Palast diesen alten, blinden Magier gehört - was er über die Fremden sagte. Und Gerüchte hatten wir auch schon gehört. Als ich dann diese Schiffe über der Stadt 386 sah, wusste ich gleich, was los war - und dass sie nicht gekommen waren, um ihre Glückwünsche zu überbringen.« Alina seufzte. »Nett gesagt!« »Zum Glück bekamen wir unsere Pferde schnell wieder zurück und dann ritten wir, so schnell wir konnten. Bald darauf hörten wir Donner - aber da waren wir schon aus der Stadt. Sie müssen ... den Palast angegriffen haben!« Alina nickte. »Ja. Savalgor ist gefallen. Das akranische Reich existiert nicht mehr.« Der Händler nickte und senkte den Kopf. »Ja, das wissen wir. Wir haben es noch am Abend erfahren, als die Drakken hier einfielen. Das war kurz nachdem wir ankamen. Sie sagten es uns - voller Triumph.« Seine Züge spiegelten plötzlich eine Spur Hoffnung. »Aber -dass Ihr entkommen konntet? Das ist mir neu. Seid Ihr allein?« »Bis auf die Pferde und den Hund - leider ja. Du kennst ihn?« Er beugte sich herab und kraulte den Kopf des Hundes, der brav neben seinem rechten Bein saß und zu ihm aufblickte. »Den guten Benni? Wer kennt den nicht? Ein alter Streuner - aber ein lieber Kerl. Alle paar Wochen
ist er mal hier, lässt sich von den alten Weibern ein paar Tage durchfüttern und geht dann wieder auf die Reise. Allerdings ...«Er blickte auf und nickte in Richtung der Pferde. »Das ist doch Jaremis' Stute ... Kika, nicht wahr? Und Mirla. Habt Ihr sie ihm ... abgekauft?« »Kika?«, fragte sie. »Also, ich ...« Alina fühlte sich verunsichert, sagte sich dann aber, dass sie noch immer die Shaba von Akrania war. »Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe sie gestohlen. Alle beide.« »Gestohlen? Aber ...« »Benni ist mir aus freien Stücken gefolgt. Er hatte 387 mich am Abend zuvor gefunden und zu dem Hof geführt. Der aber war verlassen, keine Menschenseele war mehr dort. Ich habe in der Scheune übernachtet, doch bis zum Morgen kam niemand mehr ...« »Jaremis ist... fort? Und Gella auch? Was ist mit den Kindern? Und den beiden Alten?« Alina schluckte. »Ich ... ich habe zwei Gräber gesehen. Im Garten hinter dem Haus. Benni ... er war ziemlich bedrückt. Ich weiß leider nicht, wer dort begraben lag.« Seine Miene verfinsterte sich. »Diese Schweine!«, knurrte er. »Sie müssen dort gewesen sein. Aber ... ich hätte es mir denken können. Sie haben auch hier in der Gegend die einzeln stehenden Gehöfte überfallen.« Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. »Sie machen das wirklich überall?« Er nickte mit finsterer Miene. Alina wies unauffällig in Richtung der Feuerschneise, die den östlichen Teil des Dorfes verwüstet hatte. »Und das?«, fragte sie leise. »Warum haben sie das getan?« »Ihre Begrüßung«, sagte der Händler bitter. »Dort wohnten meine Eltern. Und unser Dorfmagier - sie sind alle tot. Ich nehme an, sie wollten ihn umbringen. Obwohl ich keine Ahnung habe, wie sie wissen konnten, wo sein Haus ist.« Alina spürte den Hass und die Verzweiflung des Mannes. »Wie heißt du, Händler?«, fragte sie leise. »Guslov«, erwiderte er. Dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter. »Das dort ist Okami, die Novizin des Magiers. Ihre Eltern und ihr Bruder sind auch umgekommen. Die Drakken wissen nichts davon, dass sie Magie beherrscht, obwohl ... na ja, es ist kaum der Rede wert, was sie kann. Ich hab sie bei mir aufgenommen, aber sie ist völlig verschreckt und weint fast den ganzen Tag.« Alina blickte an Guslov vorbei und betrachtete das 388 Mädchen. Ihr Gesicht trug einen niedergeschlagenen Ausdruck, aber sie war sehr hübsch. An ihrem Hals sah sie das unvermeidliche Drakkenhalsband, auch Guslov trug eins. Sie tastete betroffen nach ihrem eigenen. »Wo habt Ihr das her?«, fragte er leise. »Ich meine ... das kann Euch doch nicht von den Drakken angelegt worden sein ...?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Meines ist nicht echt - das heißt ...« Plötzlich war die Drakkenstreife wieder da. Sie kamen von hinten, Guslov räusperte sich warnend und sagte, etwas lauter: »Also, das ist ein bisschen viel, was du da verlangst ...« Ein heißer Schauer fuhr Alinas Rücken herab, aber sie verstand sofort. »Fünfzig Goldfolint für ein Pferd?«, rief sie. »Weißt du, wie viel ich ...« Die beiden Drakken bauten sich rechts und links neben ihnen auf. »Was ist mit dem Handeln?«, fauchte der linke. »Seid ihr fertig?« »Sie will fünfzig Folint für den Gaul!«, rief Guslov dem Drakken entrüstet entgegen. »Er hat mich in Savalgor sechzig gekostet!«, rief sie zurück, sich ebenfalls an den Drakken wendend, so als könnte er den Streit schlichten. »In Usmar kriege ich leicht achtzig für ihn und ...« »Wir sind hier nicht Usmar! Usmar ist mehr als hundertzwanzig Meilen entfernt!« Sie warfen sich gegenseitig noch allerlei an den Kopf, versuchten, den Drakken ihre Entrüstung zu zeigen, sie in den Streit mit einzubeziehen und hatten schließlich Erfolg. Mit der Warnung, sie sollten sich beeilen, verschwanden die beiden Echsenwesen wieder. »Glück gehabt«, flüsterte Guslov erleichtert, als sie 389 ein Stück entfernt waren und ihren Rundgang wieder aufnahmen. »Ich muss unbedingt ein paar Dinge erfahren!«, sagte Alina leise, während sie aus den Augenwinkeln zu erspähen versuchte, wo die Drakken waren. »Diese Halsbänder!«, flüsterte sie und deutete auf das ihre. »Was tun diese Dinger? Können sie einen wirklich umbringen, so wie manche Leute behaupten? Einen erwürgen oder vergiften?« Guslov schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Das weiß niemand. Aber sie können einen damit finden.« Er deutete auf sein eigenes Halsband. »Jeder Mensch hat sein ganz eigenes, so als trüge jeder seine eigene Nummer. Man kann sich nicht verstecken. Das haben sie uns gesagt. Und man kann es auch nicht ablegen. Das Material, aus dem es besteht, ist unzerstörbar. Nicht einmal Magie kann ihm etwas anhaben. Das jedenfalls haben sie behauptet. Und dass sie es ihm ansehen könnten, wenn jemand versuchte, es abzumachen. Wer versucht zu fliehen, sich zu verstecken oder sich seines Halsbands zu entledigen, sagten sie, würde sterben.« Er nickte kaum merklich in Richtung der vier Personen, die am anderen Ende des Platzes gegeißelt wurden.
Alina wagte nicht, sich umzuwenden. »Du meinst ... sie haben es versucht?«, flüsterte sie. Er schüttelte leise den Kopf. Seine Stimme war kaum mehr zu vernehmen. »Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas in der Art muss es gewesen sein. Das ist Khell, unser Ziegenhirt, der da liegt, und seine Frau, die neben ihm kniet. Ich glaube, er ist tot. Den anderen, der da halbtot hängt, kenne ich nicht. Muss jemand von außerhalb sein. Der vierte, der angebunden ist ... das ist Ellmar, mein Neffe. Wir dürfen nicht zu ihm.« Alina sah, wie sehr Guslov mit sich kämpfte. Er war nicht der Typ Mann, der sich leicht unterkriegen ließ, das war ihm anzusehen. Aber das Halsband und das 390 Schicksal seiner Mitbürger waren einfach eine zu harsche Drohung. Die Drakken zögerten offenbar keinen Augenblick, Ernst zu machen. »Hier sind so wenig Menschen«, sagte sie. »Und du sprachst von deinen Söhnen. Wo sind sie? Wo sind all die Leute?« Guslovs Miene verfinsterte sich abermals. Er warf einen kurzen Blick hinauf zum Sonnenfenster. »Wenn Ihr noch ein wenig wartet, Hoheit, könnt Ihr sie sehen. Sie werden bald landen.« Alina blickte unwillkürlich zum Himmel. »Landen?« Er nickte. »Ihr wisst noch nicht viel, was? Ja, sie werden täglich abtransportiert und kommen abends wieder. Dann fliegt eine andere Gruppe fort. Zur Mine.« Alinas Verblüffung wuchs. »Zur ... Mine?« »Ja. Sie liegt etwa fünfundzwanzig Meilen nordwestlich von hier. So gut wie alle Männer und Frauen, die kräftig genug sind, müssen dort hin. Da wird den ganzen Tag gearbeitet. Sie hacken Löcher in den Fels.« Alina glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Löcher? In den Fels?« Guslov sah sich nach der Drakkenwache um. »Sie kommen schon wieder«, flüsterte er. »Ich kann Euch leider nicht mehr sagen, Hoheit. Ich weiß nur, dass sie den Felsen durchlöchern. Ich selbst war noch nicht da, ich habe sozusagen ... ein Freilos. Weil ich hier für Nachschub an Getreide, Früchten und Gemüse sorgen muss. Ihr solltet jetzt gehen.« Er streckte leicht die Hand aus, so als wollte er sie festhalten und mit ihr den winzigen Funken Hoffnung, der mit ihr gekommen war. Aber sie sah zugleich auch den Zweifel in seinen Augen. Den Zweifel, dass eigentlich niemand mehr Grund hatte, auf eine Rettung zu hoffen. Die Drakken waren einfach zu mächtig, und sie zögerten keine Sekunde, von ihrer Macht Gebrauch zu machen. 391 Doch Guslov konnte nichts von Almas Idee wissen. Und sie wollte ihm eine Winzigkeit Hoffnung zurücklassen. Sie berührte kurz seine Hand. »Du hast mir wichtige Dinge erzählt, Guslov. Sei tapfer, du und deine Leute! Und erzähle niemandem von mir! Aber glaub mir - ich werde nicht zulassen, dass ... mein Volk so leidet.« Für Augenblicke kam sie sich seltsam vor, von ihrem Volk gesprochen zu haben, aber Guslovs Blicke sagten ihr, dass er bereit war, ihr alles Vertrauen der Welt zu schenken. »Ich bin dabei, etwas zu unternehmen. Es gibt eine neue Hoffnung. Glaubst du mir?« Erst stutzte er, dann aber nickte er, von Überraschung und plötzlicher Zuversicht erfüllt. »Ja, Shaba!« »Dann halte durch. Und vergiss nicht: Erzähle niemandem von mir!« Wieder nickte er. Alma winkte ihm kurz zu, wandte sich um - und stieß beinahe mit einem Drakken zusammen. »Fünfzig Folint sind ihm zu teuer, diesem Geizhals!«, maulte sie das Echsenwesen an. »Da geh ich lieber woanders hin!« Der Drakken trat beiseite und ließ sie passieren. Sie führte ihre beiden Pferde mit forschen Schritten in Richtung der Straße, die vom Dorf wegführte; Benni folgte ihr. Als sie die Dorfgrenze überschritt, schwoll von Westen her ein Jaulen in der Luft an, und eine Minute später sank drüben bei den Drakkenschiffen ein drittes herab. 392 22 ♦ Reise in die Vergangenheit Leandra blickte aufs Meer hinab, auf die im Licht der Sonnenfenster glitzernden Wellen. Nein, so schön wie auf einem Drachenrücken fühlte es sich nicht an, obwohl es viel bequemer war. Hier in diesem kleinen Drakkenschiff war es warm und es herrschte nicht der kleinste Luftzug. Heute waren ihre Kopfschmerzen wie weggeblasen. Cathryn war in Savalgor geblieben, Rasnor hatte darauf bestanden. Leandra hatte er die freie Entscheidung überlassen, ob sie mitkommen wollte - auf seine Reise in die Vergangenheit, wie er es bedeutungsvoll genannt hatte. Einen ganzen Tag lang hatte sie mit sich gerungen, seiner Wichtigtuerei nicht nachzugeben, dann aber hatte ihre Neugierde gesiegt und sie hatte zugesagt. Was genau er ihr zeigen wollte, hatte er nicht verraten wollen, aber sie würde staunen, hatte er angekündigt, so etwas hätte noch nie ein Mensch vor ihr zu Gesicht gekommen abgesehen natürlich von ihm. Sie würden fliegen, sehr weit, eine lange Reise nach Westen und dann noch in eine andere Richtung. Mehr hatte sie nicht erfahren. Eine schreckliche Situation. Mit so etwas konnte man ihr nächtelang den Schlaf rauben. Sie redete sich ein, dass es nur zu ihrem Besten war, zum Besten ihrer selbst und des Landes, denn eine Hoffnung musste genährt werden, benötigte den fruchtbaren Boden des Wissens und neuer Erkenntnisse. Auch wenn es nach außen hin so aussehen mochte, als machte sie gemein-
393 same Sache mit dem Verräter Rasnor. Sie hoffte, keiner ihrer Freunde würde ihr das zutrauen. Wieder sah sie hinaus aufs Meer, das friedlich in der Abendsonne dalag. Noch immer war ihre Welt eine schöne Welt, und sie war es wert, dass man für sie kämpfte. Rasnor saß diesmal bei ihr hinten; es waren nur zwei Drakken dabei, sie saßen vorn im Flugschiff, von wo aus es gesteuert wurde. Draußen flog in der Ferne eine kleine Sippe Sturmoder Felsdrachen vorbei. Leandra schenkte ihnen sehnsuchtsvolle Blicke. »Ich kann Drachen nicht leiden«, sagte Rasnor. »Sie sind mir unheimlich, diese riesigen Bestien.« Sie starrte ihn verständnislos an. Ihr war bewusst, dass er mehr als nur Bewunderung für sie empfand; dafür aber, dass er eigentlich auf der Jagd nach ihrer Zuneigung sein müsste, benahm er sich bemerkenswert dumm. Er hätte eigentlich wissen sollen, dass sie die Drachen liebte. Diese Wesen in ihrer Gegenwart als unheimliche Bestien zu bezeichnen, die er nicht leiden könne, war schon außergewöhnlich dämlich. Sie sagte ihm das auch. Rasnor aber gab sich unbeschwert, so als würde das, was er ihr zu zeigen hatte, ohnehin alles andere fortwischen. »Wohin fliegen wir denn nun?«, fragte sie missgestimmt. »Ist das Geheimnis so groß?« Endlich geruhte er, sie aufzuklären. »Zur Säuleninsel«, erklärte er und warf ihr einmal mehr sein lächerliches Grinsen zu. »Das ist der Hauptstützpunkt der Drakken. Weit draußen im Akeanos, westlich von Akrania.« Mit unbewegter Miene registrierte Leandra diese wertvollen Informationen und prägte sie sich ein. Wie konnte ein Mensch nur so unvorsichtig und dumm sein? Überheblichkeit, dachte sie. Er zweifelte keinen Au394 genblick mehr daran, dass er und seine Drakkenkumpane gesiegt hatten. Vielleicht stimmte das ja auch. Aber es wäre nicht das erste Mal im Lauf der Geschichte dieser Welt, dass sich das Unmögliche in das Mögliche verwandelte, nur weil jemand die Hoffnung nicht aufgab. »Und was tun wir dort?« Rasnor deutete in die Höhe. »Ich habe dir doch gesagt, wir würden von unserem Ziel aus gesehen noch eine weitere Richtung einschlagen.« Leandra starrte seine Fingerspitze an und ihr wurde heiß und kalt zugleich. Rasnor schob die Hand in die linke Innentasche seiner Weste und holte ein gefaltetes Blatt hervor. Leandra erkannte es augenblicklich. Er hielt es ihr hin. »Verzeih mir, dass ich spioniert habe. Das war bei den Sachen, die man dir abgenommen hat. Es war so interessant, dass ich nicht umhin kam, es mir anzusehen. Wirklich, äußerst interessant.« Leandra nahm es entgegen und wendete es. Auf der Vorderseite befand sich ein außergewöhnlich lebensecht aussehendes Bild einer Insel im Meer, in leuchtenden Farben und mit unglaublich vielen Einzelheiten. Über der Insel spannte sich kein Felsenhimmel, nur endloses, tiefes Blau. Nun wusste Leandra, wohin Rasnor mit ihr wollte. Ihr Herz begann dumpf zu pochen. »Das andere jedoch«, sagte er, »war noch viel interessanter.« Er holte aus der rechten Innentasche das kleine Büchlein, das Victor in Hammagor gefunden und ihr gegeben hatte. Leandra stieß ein Keuchen aus und riss es Rasnor aus der Hand - wie einen wichtigen, wertvollen Schatz, der nicht in seine Hände gehörte. Er ließ es geschehen, wehrte sich nicht und hob stattdessen nur abwehrend die Hände. »Das ... das ist etwas ganz Besonderes!«, stieß sie hervor. 395 »Ich weiß, ich weiß. Wo hast du es gefunden? In Hammagor?« Leandra hätte im Moment zwar keinen Grund gewusst, es ihm zu verschweigen, aber sie wollte nicht den gleichen Fehler begehen wie er: unbedacht zu viele Informationen preiszugeben. »Ich habe es von Victor.« »Von Victor? Und woher hat er es?« Sie hob die Achseln. »Weiß ich nicht. Frag ihn selbst.« Rasnor seufzte. »Ist ja auch egal. Das was drinnen steht, ist wichtig. Ich habe es übersetzt.« Sie machte große Augen. »DM?« »Vor nicht allzu langer Zeit war ich Leiter der Skripturen unter Chast. Schon vergessen?« Leandra nickte. »Ja, natürlich. Victor erzählte es mir. Es ist in Anglaan verfasst, nicht wahr? Der Alten Sprache. Hast du es ganz übersetzt?« »Zeile für Zeile, Wort für Wort. Nun ja, manche Wörter kannte ich nicht, aber ich denke, ich habe den Inhalt verstanden.« Nun packte die Aufregung Leandra vollends. Hochmeister Jockum hatte zwar auf ihrem Flug nach Hammagor einiges aus dem Büchlein übersetzen können, aber längst nicht alles. »Und? Was steht drin?« Rasnor lehnte sich auf seinem Sitz zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe fast vier Tage damit verbracht, es zu übersetzen. Es war wahrhaftig nicht leicht.« Sie stöhnte. »Ja doch, ich glaube es dir. Nun sag schon!« Wieder seufzte er. Wenigstens schien er inzwischen verstanden zu haben, dass sie sich von ihm nichts abpressen
ließ. Er lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Dieses bunte Blatt - mit der Insel«, sagte er. »Ja. Was ist damit?« 396 »Nun, so etwas muss es früher tatsächlich gegeben haben.«Er deutete wieder in die Höhe. »Oben auf der Welt. Da haben die Menschen früher gelebt.« Ein Schauer fuhr ihren Rücken herab. »Es ist also wirklich wahr?«, keuchte sie. »Wir stammen von der Oberfläche der Welt?« Er sah sie überrascht an. »Davon ... weißt du:"« Sie schüttelte den Kopf, vollständig von der Faszination dieses Gedankens ergriffen. In diesem Augenblick war es ihr egal, ob Rasnor ihr Freund oder ihr Feind war »Schon als junges Mädchen habe ich mit Munuel darüber diskutiert. Und später mit anderen Leuten. Viele Gelehrte haben sich damit beschäftigt, dass unsere Geschichte nur fünftausend Jahre zurückreicht. Davor ist ... nichts! Es gab verschiedentlich Vermutungen dass wir von ... dort oben stammen.« Rasnor deutete auf das Büchlein in ihrer Hand. »Nun dieses Buch da wurde von jemandem geschrieben, der oben war, verstehst du? Und der dann herunter kam!« »Ja! Das sagte der Primas auch.« »Es ist so etwas wie ein Tagebuch. Allerdings ist ihm ein Bericht vorangestellt. Ein Bericht über das, was in der Zeit davor geschah. In den ... Jahrhunderten davor. Soll ich es dir verraten?« Sie war schon drauf und dran, ihm zu sagen, dass er dafür alles von ihr haben könnte. Aber das hätte er womöglich sehr missverstanden. Ihr Herz pochte wild. »Ja natürlich!«, antwortete sie. »Erzähl es mir!« »Also schön«, sagte er. »Erinnerst du dich, als wir vor ein paar Tagen über die Entstehung der Welt sprachen? Oder genauer gesagt: über die Entstehung der Höhlenwelt« Sie nickte zögernd. Diesmal fasste sie in Worte, was sie zuvor nur gedacht hatte: »Das muss ... Millionen von Jahren her sein, nicht wahr?« 397 Er grinste leicht. »Millionen? Wo hast du diese Zahl her? Ich dachte, nur wir Bücherwürmer lesen hin und wieder von so etwas.« Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, nicht Millionen. Es ist, wenn ich das richtig verstanden habe, ziemlich genau fünftausendfünfhundert Jahre her. Vielleicht ein paar mehr oder weniger.« Sie legte die Stirn in Falten. »Was meinst du mit Entstehung? Dass die Höhlen vorher leer waren?« Er schüttelte den Kopf. »Nein - sie waren noch gar nicht da! Nur fester Boden. Sie sind zu dieser Zeit erst entstanden.« Das verwirrte sie. »Wirklich? Und wie?« »Durch einen Krieg.« »Einen Krieg?« Er nickte. »Ja. Die Menschen, die damals auf der Oberfläche der Welt lebten, müssen viel, viel fortschrittlicher gewesen sein als wir. Und viel zahlreicher. Sie lebten in einzelnen Ländern, über die ganze Oberwelt verteilt. Und natürlich gab es ständig Streit und Krieg.« Leandra ließ einen spöttischen Laut hören. »Wenigstens waren sie nicht auch noch besser als wir.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, im Gegenteil. Eines Tages brach ein furchtbarer Krieg aus.« Er deutete auf Leandras Büchlein. »Die Gründe dafür stehen auch da drin, aber davon konnte ich beinahe jedes zweite Wort nicht übersetzen. Es muss sich um Dinge gehandelt haben, die damals geläufig waren, für die es aber in unserer heutigen Sprache keine Wörter gibt. Wie ich schon sagte, sie müssen viel, viel fortschrittlicher als wir gewesen sein.« »Und was passierte in diesem Krieg?« »Sie hatten Waffen, die entsetzlich heiße Brandherde entfachten. Es waren Geschosse, die hunderte von Meilen durch die Luft fliegen konnten, dann irgendwo aufschlugen und ein Feuer auslösten.« Er zuckte mit den 398 Schultern. »Ich weiß nicht, was für eine Art Feuer das gewesen sein soll - es mutet fast an wie Magie. Es soll so unvorstellbar heiß gewesen sein, dass alles brannte. Nicht nur Holz, sondern auch Metall, Stein, selbst die blanke Erde und sogar Wasser! Einfach alles!« »Selbst Wasser?« »Es muss den Stoff, aus dem die Welt selbst gemacht ist, in Brand gesteckt haben. Sie wussten nicht, dass das passieren würde. Es war ein kurzer, schlimmer Krieg. Danach brannte die Welt. An Abertausenden von Stellen. Überall dort, wo diese Geschosse aufgekommen waren und die Brände entfacht hatten.« Leandra kniff die Lider zusammen und legte den Kopf schief. »Lass mich raten: Sie konnten die Brände nicht mehr löschen!« Er lächelte. »Ja, du hast Recht. Und schlimmer noch, sie breiteten sich aus. Sie wurden immer größer. Erst eine Viertelmeile im Durchmesser, nach drei Tagen schon eine ganze und bald darauf drei oder fünf.« »Aber ... dann muss die ganze Welt verbrannt sein!« »Nein, Leandra, nein. Sie erfanden etwas, um sie zu löschen. Es funktionierte und die Brände gingen tatsächlich aus.« Leandra seufzte erleichtert. Die Geschichte wühlte sie auf, obwohl sie sich gewiss nicht darum sorgen musste, dass diese Welt hatte sterben müssen - schließlich befand sie sich in diesem Moment auf ihr, nein: in ihr.
»Die Menschen«, fuhr Rasnor fort, »atmeten auf. Sie glaubten, das Ende ihrer Welt gerade noch abgewendet zu haben.« »Etwa nicht?« »Nein. Ungefähr eine Woche lang, so steht es in dem Büchlein, war alles gut. Die Feuer waren innerhalb von zwei, drei Tagen vollständig erloschen, überall auf der Welt. Aber die Brandherde selbst - man nannte sie da399 mals >Feuerseen< - hatten eine Eigenart, von der niemand etwas ahnte. Wie bei fast allen Seen hatte man angenommen, sie seien weitaus breiter als tief. Aber bei den Feuerseen war das Umgekehrte der Fall. Sie reichten meilenweit in die Tiefe und waren meist doppelt so tief, wie sie an ihrer Oberfläche breit waren.« Rasnor legte eine Pause ein, Leandra wartete gebannt. »Und dann?« »Nun, stell dir vor, was passiert, wenn so viel glutheiße Masse innerhalb nur eines Tages abkühlt! Auf der ganzen Welt!« Leandra dachte eine Weile nach, kam aber auf kein Ergebnis. »Nach einer Woche setzten Erdbeben ein«, erklärte Rasnor. »Gigantische Erdbeben - sie umspannten die ganze Welt. Vulkane brachen aus und die Erde brach auseinander. Und in der Tiefe entstanden zur gleichen Zeit Höhlen. Riesige Höhlen.« Er hob die Hände und blickte demonstrativ nach oben. Leandra starrte ihn verblüfft an, dann aber verstand sie und begann zu nicken. »Natürlich! Etwas, das heiß ist, braucht viel mehr Platz als etwas Kaltes.« Rasnor lächelte gönnerhaft. »Du bist klug! Woher weißt du das? Du bist doch nur in einem kleinen Dorf aufgewachsen!« Sie maß ihn mit einem strafenden Blick. »Ich hatte einen klugen Lehrer - Munuel. Denkst du, nur ihr in den Städten wisst etwas von der Welt?« Rasnor lächelte wieder und hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut.« Er beugte sich zur Seite und deutete in die Höhe. »Da oben, die Sonnenfenster. Ahnst du, woher die stammen?« Leandra starrte aus dem Fenster das Drakkenschiffs, das noch immer ruhig über das Meer glitt. »Die ... Feuerseen?«, fragte sie. »Richtig«, lächelte er. »Es macht Spaß, mit dir zu dis400 kutieren.« Er .blickte wieder hinauf. »Es ist zu Glas eingeschmolzenes Gestein. So unvorstellbar heiß waren diese Brände.« Leandra blickte noch immer hinauf. »Unglaublich. Dann entstand diese Welt, ohne dass die Menschen dort oben etwas davon ahnten! Wie kann das sein?« »Es überlebten nur wenige«, sagte Rasnor. Seine Stimme hatte einen trauervollen Ton angenommen, so als fühlte er mit den Menschen von damals mit. Menschen, die seit über fünftausend Jahren tot waren. »Die ganze damalige Kultur war untergegangen. Die Luft über der Welt war voller Staub und Gift. Es gab große Ozeane, aber die trockneten aus. Jedenfalls dachten das die Menschen. In Wahrheit versickerten sie in der Tiefe und füllten die Ozeane der Höhlenwelt. Aber das erfuhren sie nie. Nur ein paar von ihnen - etwa fünfhundert Jahre später, als sie den Weg in die Tiefe fanden. Es waren die letzten Menschen der Oberwelt. Dort oben konnte niemand mehr überleben.« »Dann ... wussten sie tatsächlich fünfhundert Jahre lang nichts von unserer Welt?« Rasnor schüttelte den Kopf. »Nein. Offenbar nicht.« Sie sah ihn eine Weile forschend an. »Du sagtest, das Wolodit wäre gleichzeitig mit der Höhlenwelt entstanden. Heißt das, die Menschen, die früher dort oben lebten, kannten ebenfalls keine Magie?« Rasnor blickte aus dem Fenster in die Höhe, so als könnte ihm der Felsenhimmel Aufschluss liefern. »Hmm darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Leandra sah ebenfalls wieder hinaus. Sie dachte über diese Zeit nach, über all die Schrecken, welche die Menschen damals erlebt haben mussten, und die Erlösung, die sie später in der Höhlenwelt fanden. »Und all die Pflanzen und Tiere ... und die Drachen?«, fragte sie. »Wie sind die hier herunter gekommen?« 401 Wieder zuckte Rasnor mit den Schultern. »Kann ich dir nicht sagen. Es gibt vieles, was wir noch nicht wissen oder vielleicht nie erfahren werden.« Leandra, die eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte, kam plötzlich etwas seltsam vor. Es war heller geworden. Sie deutete hinaus und sah Rasnor stirnrunzelnd an. »Wir sind abends losgeflogen ... da müsste es doch langsam Nacht geworden sein, oder? Aber ... es ist heller!« Er nickte teilnahmslos. »Wir haben die Nacht überholt«, sagte er. »Die ... Nacht überholt?«, fragte sie verwirrt. Rasnor reckte plötzlich den Hals und deutete dann mit dem Zeigefinger voraus. »Jetzt geht es los. Wir sind da!« * Leandra hatte im Laufe des letzten Jahres Dinge erblickt und erlebt, deren Existenz sie zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Was sie jedoch an diesem Tag zu sehen bekam, schlug alles. Die Säuleninsel, von der Rasnor behauptet hatte, sie selbst so benannt zu haben, war für sich genommen schon ein erstaunlicher Anblick: sieben mächtige Stützpfeiler, fast im Kreis angeordnet, und in der Mitte über ihnen ein
kleines Sonnenfenster. Seltsamerweise strahlte es bei ihrer Ankunft hell, so als wäre der Nachmittag noch nicht weit fortgeschritten. Leandras Verblüffung über den Wechsel der Tageszeit während des Flugs wuchs. Die Insel mochte einen Durchmesser von achtzehn oder zwanzig Meilen haben. In dem tiefen Taleinschnitt zwischen den sieben Pfeilern erblickte sie dann das erste wirkliche Wunder dieses Tages: eine Stadt der Drakken. Hier waren gewaltige silbrige Kuppelzelte aufge402 baut, ganz in der Art derer, die sie bereits in Savalgor gesehen hatte, jedoch viel größer. Dazwischen ragten filigrane Türme auf, die aus einem Geflecht von Metallstreben bestanden und durch ein Gespinst aus silbrigen Fäden miteinander verbunden waren. Dazwischen schwebten hellgraue Plattformen und Rampen; Stege, Brücken und Verstrebungen verbanden die unterschiedlichsten Konstruktionen miteinander. Ein wenig erinnerte es an die verwegenen Bauwerke von Savalgor, aber diese hier schienen aus viel zerbrechlicherem Material zu bestehen. Es besaß beinahe die Zartheit eines kunstvoll gewebten Spinnennetzes. Savalgor war da ganz anders: dick, wuchtig, zusammengezimmert. Die Drakkenstadt wirkte, trotz der verwirrenden Formen, sehr planvoll errichtet. Leandra fragte sich, wie ein Volk, das so brutal und kriegslüstern zu sein schien, eine solche Kunstfertigkeit aufzubringen vermochte. Ihr kleines Schiff setzte zur Landung an. Es ging auf einer der Plattformen nieder, die dünn wie Papier zu sein schienen und nur an ein paar silbernen Drähten zwischen zerbrechlichen Masten hingen. Aber als Leandra aus der Tür des Schiffs auf die Plattform sprang, war es, als käme sie auf festem Erdboden auf. Nichts wackelte, schwang und vibrierte. Ein unglaubliches Material. Rasnor führte sie über zwei Stunden lang durch all die Einrichtungen und Anlagen und ihr stand vor Staunen der Mund offen. Die Zahl der hier anwesenden Drakken war gewaltig - Leandra schätzte, dass sich hier über tausend von ihnen befanden, vielleicht sogar noch viel mehr - in Bereichen der Stadt, die sie gar nicht betraten. Jeder von ihnen trug einen Körperpanzer in einer bestimmten Farbe. Sie glänzten schwarz-metallisch, aber bei jedem schimmerte ein bestimmter Farbton hindurch: Grün, Rot, Gelb, Braun 403 und manchmal sogar eine Art Weiß. Nur die wenigsten der Drakken waren bewaffnet; hier in dieser Anlage schien es um ganz andere Aufgaben zu gehen. In einer riesigen Halle schwebte eine Wolke von weißen und gelben Funken in der Luft; dazwischen gab es leuchtende Linien in vielen Farben, das Ganze durchzogen von einem blass glimmenden Gitternetz. Rasnor erklärte ihr, dies wäre das Weltall, so wie es dort draußen zu sehen sei, außerhalb der Höhlenwelt. Der Anblick ähnelte, so erinnerte sich Leandra mit einem unangenehmen Gefühl im Magen, der milchigen Spirale, die sie inmitten von Sardins Turm in der Dunkelheit gesehen hatte. Rasnor zeigte ihr Hallen, in denen zahllose wabenförmige Kisten gestapelt waren, und solche, in denen riesige Maschinen standen, größer als Häuser, mit Greifarmen oder gewaltigen Rädern. All das, erklärte er ihr, diene den Zwecken dessen, was die Drakken mit ihrer Welt vorhatten. Leandra spürte ein Rumoren im Magen, denn all diese Dinge deuteten auf etwas Gewaltiges hin - besonders in Zusammenhang mit dem Wort Fabrik, das Rasnor mehrfach erwähnt hatte. Sie befürchtete, dass die Höhlenwelt binnen kurzem eine Wandlung durchmachen würde - eine Wandlung, die so arg sein würde, dass man sie danach überhaupt nicht mehr wieder erkannte. Aber Leandras Fluch war ihre zutiefst neugierige und wissensdurstige Seele, und so überwog das Erstaunen über die unfassbaren Errungenschaften dieser fremden Wesen. Sie wünschte sich, Frieden mit ihnen zu schließen, um von ihnen lernen zu können. Aber das war wohl ein naiver Gedanke. Die Drakken nahmen sich einfach, was sie haben wollten. Nachrichten ohne Zeitverlust übermitteln, ging es ihr durch den Kopf. Ja, das war es, was sie haben wollten aber warum mit Zwang und Gewalt? Sie ver404 stand es nicht. Sie verstand nicht die Art dieser Wesen, ihr Ziel zu verfolgen und dabei keinen Unterschied zwischen Moral und Unmoral zu kennen. War jemand im Weg, wurde er beseitigt. Vermutlich erst, nachdem sein Nutzen abgewogen worden war - dabei aber tauchte die Frage, ob es ihm wehtun würde, erst gar nicht auf. Trotz allem Erstaunen und aller Ehrfurcht während ihrer Entdeckungsreise durch die Drakkenstadt pochte ihr Herz dumpf. Als sie schließlich wieder aus den Hallen ins Freie traten, war der Abend angebrochen. Nur noch ein schwaches, orangefarbenes Glimmen drang durch das kleine Sonnenfenster in die Welt herab. Immerhin, dachte sie, folgte hier auf der Säuleninsel dem Nachmittag immer noch der Abend. Warum sie zuvor vom Abend in den Nachmittag geraten war, hatte sie nicht verstanden. Rasnor winkte ihr und marschierte über die seltsamen Rampen und Stege wieder hinauf zum Landeplatz. Sie bestiegen das kleine Drakkenschiff und Leandra begegnete dem zweiten gewaltigen Wunder dieses Tages. Als das kleine Schiff nun senkrecht nach oben stieg, immer höher und höher, konnte das eigentlich nur eines bedeuten. Voller Aufregung drückte Leandra das Gesicht an das Fenster. Die gewaltigen, abendlich dunkelgrauen Felswände der Stützpfeiler glitten an ihr vorbei und sie versuchte zu erkennen, was dort über ihr war. Rasnor gab ihr ein Zeichen und deutete zum gegenüberliegenden Fenster. Sie wechselte die Seite und starrte
ungläubig das Ding an, das sich dort ihren Blicken preisgab. Sie hatten nun beinahe den Felsenhimmel erreicht, eine Höhe, die selbst für die flugerfahrene Leandra etwas Besonderes darstellte. Über ihnen fiel das allerletzte Licht des Tages ein und tauchte die Welt der 405 Stützpfeiler in ein Spiel von Schatten und grauen Konturen. Die Pfeiler verzweigten sich hier oben in etliche Seitenarme, die sich in sanften Bögen mit dem steinernen Himmel vereinigten. In einem der mächtigen Hauptstämme jedoch befand sich eine Anlage von wahrhaft gewaltigen Ausmaßen. Dass dieses Ding aus Metall war, konnte Leandra gleich sehen, allerdings bestand es aus einem, das ihr herkömmlicher erschien als die seltsamen, dünnen Wände und Plattformen der Drakkenstadt. Es war dunkel, braunrot und schimmerte im schwachen Licht, als wäre es nass. Es stak in der oberen Krümmung des Pfeilers, als wäre es wie eine riesige, viereckige Röhre dort hineingetrieben worden. Ein dunkles Loch tat sich in seinem Inneren auf ... nein, in diesem Moment flammten darin starke Lichter auf und Leandra erkannte einen gewaltigen Hohlraum. Ihr kleines Schiff flog mitten hinein und nahm darin etwa so viel Platz ein wie eine Mücke im Inneren einer Flasche. Sie ahnte schon, wozu es diente. Hier passten auch andere Drakkenschiffe hinein - sogar solche, die zwanzigmal so groß waren wie ihre Mücke. Dies musste die Anlage sein, durch welche die Drakken alle ihre Schiffe in die Höhlenwelt schafften! Sie blickte nach links und rechts aus den Fenstern. Riesige Aufbauten zogen an ihnen vorbei, als sie tiefer in Hohlraum hinein glitten. Schräg unter ihnen schwebte eine enorme rotgraue Plattform mit zahllosen flachen Geräten, die wie Auslegerarme aussahen, wie sie bei der Beladung von Schiffen in einem Hafen verwendet wurden. Überall gab es Lichter, hell strahlende Lichter in verwirrender Vielfalt an Farben, Leuchtkraft und Größe. Manche blinkten, andere flackerten nervös, wieder andere schwollen langsam auf, in majestätischer Ruhe, und verloschen dann wieder. Dann wurde ein Dröhnen hörbar. Rasnor tippte auf 406 ihre Schulter und deutete nach vorn. Das kleine Schiff hatte sich inzwischen herumgedreht und blickte jetzt in die Richtung, aus der es gekommen war. Dort flammte in diesem Moment ein nebliges, wirbelndes Leuchten auf, offenbar von einer Anzahl von Röhren ausgehend, die ringsherum hervorstanden. Aus dem Nebel wurde etwas Festes, dann verebbte das Wirbeln, und zuletzt blieb etwas übrig, das wie eine riesige Metallwand aussah. Nur ein schwaches Leuchten unterschied sie von den anderen Metallwänden. Während all dieser Ereignisse herrschte großer Lärm -das Zischen von Luft, das hallende Dröhnen großer Metallteile, die aneinander stießen, und das dunkle Geräusch, das den Hintergrund erfüllte. Doch dann verstummte plötzlich alles. Nur sehr verhaltene Geräusche waren noch hörbar und es erschien Leandra, als wäre nun die Ruhe vor einem gewaltigen Ereignis eingekehrt. Auf der schrägen Tafel vor den beiden Drakken, die vorn im Schiff saßen, flammte ein großes, hellblaues Viereck auf, auf dem kurz darauf bunte Quadrate und andere Symbole sichtbar wurden. Der linke der beiden Drakken hob seine Klauenhand, und mit einem Klacken berührte sein mittlerer Finger zuerst ein dunkelgrünes, dann ein schwarzes und zuletzt ein violettes Quadrat auf dem leuchtenden Feld. Sie erschrak ein wenig, als unmittelbar danach ein lautes, quäkendes Geräusch durch die gewaltige Halle stob. Alle Lichter, die zuvor in hellem Gelb erstrahlt waren, wechselten nun zu einem dunklen Orange, das die Halle wie in ein abendliches Dämmerlicht tauchte. Und dann löste sich die metallene Decke über ihnen. auf. Leandra sah es zuerst nur aus den Augenwinkeln, dann aber stürzte sie förmlich an das Seitenfenster, um hinaufstarren zu können und möglichst nichts zu verpassen. Sie war über alle Maßen fasziniert, wünschte 407 sich, jemand ihrer Freunde wäre hier, um ihr Staunen mit ihr zu teilen. Sogar Cathryn hätte dies sehen sollen; ihre kleine Schwester war eine ebenso neugierige Seele wie sie selbst. Ein kurzer Seitenblick zu Rasnor sagte ihr, dass sich der verdammte Kerl wie ein Glücksbote vorkam, weil er sie an seinen Errungenschaften teilhaben ließ. Rasch wandte sie die Augen wieder von ihm ab. Die metallene Decke über ihnen verschwand auf ebensolche Weise, wie die andere zuvor entstanden war, und als Leandra die ersten hellen Punkte am Ende eines dunklen Schachts über sich aufflackern sah, wurde es zur Gewissheit: Sie verließen tatsächlich die Höhlenwelt! Es war eine dumme Regung, das wusste sie, aber die Erhabenheit des Gedankens beschlich sie, dass sie, abgesehen von dem Verräter Rasnor, seit fünftausend Jahren der erste Mensch war, der dies erleben durfte. Sie, die sich ihr ganzes junges Leben lang danach gesehnt hatte, Aufsehen erregende Entdeckungen zu machen und den großen, ungelösten Rätseln der Menschheit auf die Spur zu kommen - sie hatte tatsächlich die Ehre, diesen außergewöhnlichen Schritt zu tun! Sie drückte ihre Nase an das Glas, begierig, jeden Augenblick in sich aufzusaugen. Das kleine Schiff schwebte durch den Schacht höher und höher und die funkelnden Punkte über ihr, die Sterne, kamen immer näher.
Schon im ersten Augenblick wurde ihr klar, dass die Menschen der Höhlenwelt durch die nächtlichen Sonnenfenster nie auch nur einen Bruchteil der ganzen Sternenpracht erblickt hatten. Was sich hier über ihr auftat, war so unendlich viel mehr, strahlte so viel heller und schien ihr dabei zugleich so nah zu sein, dass sie vor Ergriffenheit nur noch leise seufzte. Keine Worte hätten ihre Gefühle auszudrücken vermocht. 408 Auch, dass der Mond Flecken besaß, hatte sie nicht gewusst. Hellgelb und strahlend stand er schräg über dem kleinen Schiff, als es aus dem riesigen Schacht auftauchte, und überflutete die dunkle Welt mit warmem Licht. Seine Flecken waren von etwas dunklerem Gelb, und er war von einem strahlenden Lichtkreis umgeben, wie man ihn unten, in der Höhlenwelt, nur ganz selten zu Gesicht bekam. In dieser Nacht war er fast voll. Sie erreichten eine gewisse Höhe über der Oberfläche, und Leandras Herz pochte heftig, als sie zum ersten Mal ihren Blick über die weite, vom Mondlicht beschienene Landschaft der Oberwelt schweifen ließ. Es waren nur dunkle, rötlich graue Konturen zu erkennen, sanfte, weite Hügel, die sich endlos erstreckten. Was natürlich völlig fehlte, waren die sonst überall aufsteigenden Felsflanken der Pfeiler, ein Anblick, der Leandra in Fleisch und Blut übergegangen war. Zwischen den Stützpfeilern der Höhlenwelt gab es nur selten völlig ebene oder weitläufige Landschaftsformen; wie wild sie eigentlich waren, wurde ihr erst jetzt klar, als sie diese dunkle, sich weit in alle Richtungen erstreckende Ebene erblickte. Nichts als sanfte Wellen bis hin zum Horizont, hinter dem noch ein schwaches, orangefarbenes Glühen der vor kurzem untergegangenen Sonne zu erkennen war. Darüber verfloss das Orange zu einem Purpur von unglaublicher Dichte, das wiederum zu einem tiefen Dunkelblau wurde und sich schließlich im Schwarz der Nacht auflöste. Im Dunkelblau begann schon das Leuchten der Sterne, das sich im Schwarz des Weltalls zu einem tausendfachen Funkeln steigerte, nur unterbrochen von der hell strahlenden Scheibe des Mondes. Es war atemberaubend. Leandras Blicke schweiften wieder über das Land. 409 Obwohl sie wusste, dass dies hier kein blühendes Paradies, sondern leider nur eine öde und tote Welt war, faszinierte sie der Anblick. In' der Höhlenwelt reichte die Sicht selten weiter als zwanzig, dreißig Meilen, manchmal war es vielleicht ein wenig mehr, wenn die Stafetten der Stützpfeiler einmal günstig standen und einem nicht schon bald den Blick verstellten. Aber hier oben - hier gab es nichts als offenes Land. Am westlichen Horizont erkannte sie eine entfernte Bergkette, im Osten eine weitere, nach Süden und Norden hin war das Land flach. Schon in diesen ersten Minuten verliebte sie sich in den Anblick der Welt unter ihr. Es war wie ein Aufatmen, wenn man zu lange in einem zu engen Raum eingesperrt gewesen war. Leandra konnte nicht behaupten, dass sie sich in ihrer Heimat je unwohl gefühlt hätte, aber diese Grenzenlosigkeit hier an der Oberfläche nahm ihr beinahe den Atem. »Schön, was?«, sagte Rasnor neben ihr. Sie wandte leicht den Kopf. Sein schön hatte geschäftsmäßig geklungen, nicht begeistert. Sie fragte sich, ob dieser Kleingeist, der offenbar nur in der Lage war, im Rahmen seiner persönlichen Gelüste zu denken, die Aura dieser Welt auch nur im Entferntesten zu spüren vermochte. Sie antwortete ihm nicht und blickte wieder hinaus. Das kleine Schiff nahm Fahrt auf und legte sich schräg in eine Kurve, während es in die Richtung der eben hinter dem Horizont untergegangenen Sonne davon schwebte. Leandra blickte hinab auf die Oberfläche, während das Schiff in einem weiten Bogen an Höhe gewann. Unten kam der dunkle Schlund des Schachtes ins Blickfeld, durch den sie aufgetaucht waren. Er maß bestimmt eine Meile im Durchmesser und war ihrer Schätzung nach zwei oder drei Meilen tief gewesen. Rings um den Schacht verteilt, funkelten eine 410 Anzahl roter und weißer Lichter, offenbar um seine Lage nach außen hin zu markieren. Leandra erkannte mehrere Bauten in typischer Drakkenbauweise. Jetzt, da die Sonne bereits untergegangen war, waren sie nur noch schwach zu erkennen. Dann erblickte sie die dunkle Kontur eines gewaltigen Schuttberges, ein Stück nördlich des Schachtes. Es war wirklich ein Berg, bestimmt eine Meile hoch oder mehr. Das musste der Abraum sein, den die Drakken beim Ausheben des Schachtes angehäuft hatten. Sie fragte sich, leise den Kopf schüttelnd, wie sie das wohl geschafft hatten. Wahrscheinlich würde man es in ihrer Welt nicht einmal mit der allermächtigsten Magie schaffen, auch nur ein halb so gewaltiges Loch in die Erde zu bohren. Sie deutete ein Stück nach Osten. »Was ist das?«, fragte sie. Ihr Finger zeigte auf eine gigantisch große, aber sehr flache Kuppel, in der sich das Licht einzelner Sterne spiegelte. Rasnor blickte hinaus und lächelte dann. »Das Sonnenfenster«, sagte er. »Das kleine, das sich direkt über der Säuleninsel befindet. Du wirst staunen, wenn du erst andere siehst! Sie sind ... einfach gewaltig!« Mit einer ausholenden Geste umschrieb er die Dimensionen. »Es ... sieht aus wie eine Kuppel!«, sagte sie. »Sehr flach, aber es wölbt sich nach außen. Ist das bei allen so?« Er nickte nachdenklich. »Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Ja, sie sind alle so.« Leandra schwieg und starrte hinaus. Sie hatten inzwischen an Höhe gewonnen und nun konnte sie mehrere
Sonnenfenster in ihrer ganzen Größe überblicken. War die Höhlenwelt schon ein Ort voller spektakulärer Landschaften, so war dieser Anblick geradezu phantastisch. Je mehr Höhe sie gewannen, desto mehr Sonnen411 fenster kamen ins Blickfeld. An den Wölbungsrändern spiegelten sie das Licht des Mondes, während die Abbilder einzelner Sterne auf den kristallenen, von Kanten und Rissen durchzogenen Oberflächen funkelten. Die Sonnenfenster selbst schienen aus einem tiefen, unbestimmbaren Dunkelblau zu bestehen, manchmal bis ins Schwarze hinein reichend, dann aber auch wieder hell aufstrahlend, wenn verirrtes Licht aus ihren inneren Kristallstrukturen zurückgeworfen wurde. Sie besaßen tatsächlich alle eine leichte Wölbung nach außen, sehr flach nur - wie Linsengläser. Woher das allerdings stammte, vermochte sie nicht zu sagen. Leandra war früher schon einmal daran gescheitert, sich vorzustellen, was während des Dunklen Zeitalters mit der Welt geschehen war - aber die Kräfte, die hier gewirkt hatten, damals vor über fünftausend Jahren, als ihre Welt entstand - nein, das war vollkommen unbegreiflich. Es wurde ein wenig heller im Inneren des kleinen Schiffs. Leandra sah aus dem gegenüberliegenden Fenster. Das Licht flutete vom Horizont heran, hinter dem nun die Sonne offenbar aufgehen wollte. Endlich verstand sie. Sie flogen abermals der untergehenden Sonne hinterher und holten sie ein. Diese Drakkenschiffe waren wirklich unerhört schnell. Der Horizont wurde heller und heller, erstrahlte bald in tiefem Orange, und wechselte dann über ein warmes Gelb zu hellem Blau. Ein wundervolles Schauspiel - Leandra trat zur anderen Seite hinüber und hing bald wie eine Verdurstende am Fenster; sie sog den Anblick in sich hinein. Diese Welt hier oben war so vollkommen anders ... und obwohl sie tot und leer war, war sie unendlich schön. Wehmut überkam sie, als ihr klar wurde, dass sie wahrscheinlich niemals dort würde umherwandeln können. Nein, Rasnor hatte etwas von Staub und Gift gesagt, mit dem die Luft verseucht wäre. 412 Sie deutete hinab. »Man kann dort wirklich nicht atmen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nichts mehr zum Atmen da. Luft schon, aber sie enthält nichts mehr von dem, was wir zum Atmen brauchen.« Sie sah ihn unschlüssig an. »Wie meinst du das? Was atmen wir denn außer Luft?« Er macht eine umfassende Geste. »Luft besteht aus verschiedenen Gasen. Das Gas aber, das wir atmen ... ist nicht mehr da.« »Und wo ist es hin?« »Verschwunden. Weil kein Wasser mehr da ist und deswegen keine Pflanzen mehr wachsen können. Pflanzen erzeugen dieses Gas.« Er breitete die Arme aus. »Die gesamte Oberfläche dieser Welt ist völlig tot. Keine Meere, keine Flüsse, keine Bäume - und keine Luft zum Atmen. Es gibt nicht einmal mehr Wetter. Nur hin und wieder ein paar Staubstürme. Das ist alles.« Leandra seufzte leise und sah enttäuscht hinaus. »Ich hatte gedacht ... es wäre wieder ein wenig besser geworden, hier oben - nach dieser langen Zeit. Über fünftausend Jahre! Bei uns hat sich die Welt doch auch wieder erholt, oder nicht?« »Du meinst, nach dem Dunklen Zeitalter?« Er schüttelte den Kopf. »Das war etwas anderes. Hier oben versickerte der Lebenssaft in die Tiefe - das Wasser. Ohne Wasser kann nichts leben.« Mit einem Anflug von Respekt sah sie ihn an. Immerhin hatte er sich um Kenntnisse und Wissen bemüht. Was er inzwischen über die Vergangenheit und die Mechanismen der Welt in Erfahrung gebracht hatte, war beachtlich. Das Drakkenschiff stieg immer höher, während das Farbenspiel über dem Horizont stetig abnahm. Hinter ihnen, im Osten, wurde das Schwarz des Nachthimmels bestimmender, doch vor ihnen war Tag. 413 »Wo fliegen wir hin?«, wollte sie wissen. Wieder lächelte er geheimnisvoll. »Das wirst du schon sehen - bald. Genieße den Anblick. Wir werden die halbe Welt umrunden.« Wieder seufzte sie leise. Viel lieber hätte sie diese Entdeckungsreise mit Victor gemacht; es war ein einziges Unglück, dass sie dies als Gefangene erleben musste. Sie gab sich wieder dem Anblick der Welt hin, den immer zahlreicher werdenden, geheimnisvoll funkelnden Flecken der Sonnenfenster. Je weiter sie in den Bereich der Tageshelligkeit hinein gerieten, desto mehr solcher Flecken kamen hinzu, während die Farbe des Bodens sich zu hellem wüstenartigem Braun verwandelte. Sie überflogen Gebiete, die tiefer lagen und in denen sich keine Sonnenfenster befanden, es war nicht schwer zu erraten, dass in der Höhlenwelt darunter Felsbarrieren lagen, wo für Dutzende oder manchmal Hunderte von Meilen nichts als blanker Fels existierte und es keine Höhlen gab. Immer höher erhoben sie sich über die Welt, bis sich unter ihnen geradezu ein Meer von Sonnenfenstern erstreckte. Die eine Hälfte lag noch im Bereich der Nacht, aus der sie gekommen waren und die immer kleiner wurde, je weiter sie die Welt umrundeten. Dort funkelten sie tiefblau und geheimnisvoll - während sie auf der hellen Seite wie ein Überzug aus blendenden Glasscherben auf einer manchmal rötlich grauen und dann wieder hell ockerfarbenen Weltkugel aussahen. Der Anblick war faszinierend, während in Leandra gleichzeitig die bedrückende Frage aufkam, wie etwas so Schreckliches wie ein Krieg einen so wunderschönen Anblick hinterlassen konnte. Dann kam unter ihnen ein Bereich ins Blickfeld, der überhaupt keine Sonnenfenster besaß. Leandra wechselte
den Standort und peilte durch das Fenster schräg voraus - aber der Anblick blieb gleich. Es war nichts 414 als eine endlose, dunkle und zerklüftete Landschaft von tiefem Rotbraun, von zahllosen Gebirgen durchsetzt. Bis zum Horizont war kein einziges Sonnenfenster zu erblicken. Sie beobachtete das Land für eine ganze Weile und kam irgendwann zu dem Schluss, dass dieses Gebiet den Teil, in dem es Sonnenfenster gab, sogar überwog. »Es muss früher riesige. Meere gegeben haben«, sagte Rasnor und deutete hinab. »In diesen Gegenden gibt es natürlich keine Sonnenfenster, dort schlugen diese Geschosse nicht ein. Auch in hohen Gebirgen und in Wüsten nicht.« »Aber ... das ist riesig!«, sagte Leandra, die auch am westlichen Horizont kein Ende des öden Landes erblicken konnte. »Ja, stimmt. Der größte Teil der Welt muss in früheren Zeiten von Meeren bedeckt gewesen sein.« Er deutete hinab. »Das ist ... Maldoor.« Leandra starrte ihn forschend an. Ja, in der Tat, Maldoor galt als der dunkle Teil der Welt, wo es nur eine einzige, riesige Felsbarriere gab. Dass sie so gewaltig war, hatte sie nicht geahnt. Sie hatte auch nicht geahnt, dass die Welt so gewaltig war. Sie wandte wieder den Blick und sah hinaus. Sie gewannen nun zusehends an Höhe und das Rund der Welt zeichnete sich immer deutlicher ab. Es lag unter einem milchigen, bräunlichen Dunst, der sich wie eine Decke über ihre Krümmung breitete. Wolken sah sie überhaupt keine, aber das passte ja zu dem, was Rasnor gesagt hatte: Wasser und Wetter gab es hier keines mehr. Noch immer tauchten keine Sonnenfenster am Horizont auf. Leandra wurde klar, dass es die Sonnenfenster gewesen waren, die der Welt einen Anblick des Lebendigen verliehen hatten. Jetzt, da nichts mehr von ihnen zu sehen war und sich unter ihnen nur noch ein Land in vollkommen toter Eintö415 nigkeit erstreckte, überkam sie ein Gefühl der Trauer. Sie hatte Bilder der Welt gesehen, als sie noch mit grünem Meer und voller Leben unter dem blauem Himmel gelegen hatte. Das alles war vorbei, längst vergangen, und nie wieder würde auf der Oberfläche dieser Welt das Leben blühen. Mit einem Mal überkam Leandra das überwältigende Verlangen, in einer Welt zu leben, in der so viel Weite und Freiheit lag. Aber dieser Wunsch würde ihr wohl auf ewig verwehrt bleiben. Sie lachte spöttisch auf. Vielleicht, dachte sie bitter, nehmen mich die Drakken ja einmal mit zu ihrer Heimatwelt. Während sie weiter an Höhe gewannen, tauchten über dem Horizont immer mehr Sterne auf. Obwohl ihr kleines Schiff inzwischen vollständig im Bereich des Tageslichts flog, wurden die Sterne immer zahlreicher. Und dann geschah es: Plötzlich und innerhalb einer kurzen Minute wurden es so viele, dass Leandra der Atem stockte. Es war, als hätten sie einen Schleier durchbrochen, der ihre Sicht getrübt hatte und nun den wahren Blick auf den Himmel freigab. Er wurde kohlschwarz und aus seiner Tiefe heraus schälte sich innerhalb weniger Herzschläge eine Unmasse von strahlenden Punkten. Leandra keuchte. Ja, das waren Millionen! Der Anblick war überwältigend. Nach einer Weile trat sie zurück, von all den Eindrücken fast überfordert, und ließ sich mit einem Ächzen in einen der Sitze fallen. Rasnor lächelte. Er vollführte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung neben seiner Schläfe. »Man muss umdenken, verstehst du? Nichts ist mehr wie früher. Wir sind nur noch ein Volk von Hinterwäldlern, das nichts über den Kosmos weiß.« Er breitete die Arme aus. »Durch die Drakken erhalten wir eine großartige Chance siehst du das nicht? Wir können von dieser engen Welt fort, hinaus ins All.« 416 Regelmäßig gelang es ihm, seine verräterische Tat wieder ins Licht zu rücken, jedoch mit völlig verdrehten Vorzeichen. »Ach?«, sagte sie voller Hohn. »Du bist also der Retter unserer Welt? Du hast dich mit den Drakken nur verbündet, um uns neue Horizonte zu eröffnen? So habe ich das noch gar nicht gesehen.« Er brummte gleichgültig. »Ich habe nur das getan, was auf der Hand lag. Du wirst bald verstehen, dass es zu unser aller Vorteil ist.« »Glaube ich kaum«, erwiderte Leandra verdrossen und sah zu Seite. »Ein paar von uns«, sagte sie, »werden vielleicht so etwas wie dies hier zu sehen bekommen. Der Rest wird ein Volk von Sklaven sein, die dort unten in dunklen Löchern hausen und den Drakken zu Diensten sind. Oder etwa nicht?« Er studierte sie eine Weile. »Du klingst fast so, als wärest du nicht bereit, das hinzunehmen.« Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht!« Er grinste und schließlich lachte er. »Das bewundere ich wirklich an dir!«, stieß er hervor. »Du gibst nie auf! Willst deine Welt immer noch befreien, was?« Er kicherte voller Belustigung. »Na, dann bin ich mal gespannt, wie du das anstellen willst! Jetzt, wo alles, aber auch wirklich alles in der Gewalt der Drakken ist! Da bin ich aber gespannt!« Sie antwortete nicht, starrte ihn nur weiterhin mit trotzigen Blicken an. Rasnor erwiderte ihren Blick eine Weile, aber dann versiegte sein Lächeln. Er erschauerte leise. Sie will es tatsächlich immer noch, dachte er. Sie wird niemals aufgeben. 417 23 ♦ Das Mutterschiff Nach einer Stunde ruhigen Fluges waren sie weit draußen im All, und Leandra, die wieder aufgestanden und ans Fenster getreten war, konnte nun ein ganzes Viertel des Weltenrunds überblicken. Die Sonne stand auf der
anderen Seite ihres Schiffs, ihr greller Schein war abgedunkelt durch eine spezielle Flüssigkeit, die das Glas des Fensters durchströmte, wie Rasnor ihr erklärt hatte. Der Mond war jetzt hinter der Welt verschwunden, dafür aber tauchte im Westen etwas Neues auf. Es war zuerst nur ein Funkeln, gleißendes Sonnenlicht auf schwarz schimmerndem Grund. Dann schälten sich riesige Formen aus dem Nichts, gewaltige Rundungen und Lichter, immer mehr Lichter. Als Leandra klar wurde, was sie da vor sich hatte, trat sie vor Schreck einen Schritt zurück. »Das Mutterschiff«, flüsterte Rasnor ehrfurchtsvoll. »Ist es nicht gewaltig?« Ihr kleines Schiff schwenkte in einen Kurs ein, der das gewaltige Drakkenschiff unmittelbar seitlich von ihnen auftauchen ließ und es zur Gänze in ihr Blickfeld rücken ließ. Leandra stieß ein Keuchen aus. »Unfassbar!«, jubelte Rasnor und hob die Arme. Seine Stimme war trotzdem leise geblieben, so als fürchtete er, den Zorn des gewaltigen Schiffs heraufzubeschwören. »Jedes Mal wieder, wenn ich es sehe, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter!« Er wandte sich Leandra zu. »Siehst du nun, mit was für einer groß418 artigen Rasse wir es hier zu tun haben? Siehst du, was sie zu leisten imstande sind?« Leandra trat mit klopfendem Herzen wieder zum Fenster. Das Schiff war fast so schwarz wie das umgebende Weltall, wenngleich seine der Sonne zugewandte Seite einen untergründigen silber-metallischen Schein zurückwarf. Es musste zehn Meilen groß sein oder noch mehr und bestand aus einer gewaltigen, länglichen Röhre, an deren linker und rechter Seite, etwas nach unten versetzt, jeweils drei riesenhafte Kugeln hintereinander angebracht waren. Jede davon musste zwei oder zweieinhalb Meilen Durchmesser haben - fast so viel wie die Röhre selbst. Das alles wurde von einem titanischen Aufbau zusammengehalten, der obenauf wie ein riesiger Krake thronte und die gesamte Konstruktion mit seinen acht Fangarmen umschloss. Zahllose Lichter und Aufbauten mit spitzen Masten überdeckten das gigantische Schiff. Und dann erkannte Leandra mit atemlosem Erstaunen, dass sich die sechs Kugeln an den Seiten des Schiffs drehten. Sie hingen wie in Halterungen zwischen den acht riesigen Armen, die das Schiff umschlossen, und bewegten sich langsam um ihre Hochachse. Es war gut zu erkennen, da vorn immer wieder neue Lichter sichtbar wurden, während die hinteren verschwanden. Der Anblick war phantastisch. Das Schiff musste größer sein als ganz Savalgor samt seiner zwei Monolithen und dem Stützpfeiler in der Mitte - ja, sogar viel größer. Die gesamte Savalgorer Bevölkerung würde man wohl leicht zehnmal darin unterbringen können. Rasnor schien sich wie ein kleines Kind über ihre Verblüffung zu freuen. Er begann aufgeregt zu plappern, erzählte von diesem und jenem, aber Leandra hörte gar nicht hin. Sie konnte den Blick von diesem Monstrum nicht abwenden. Unendlich klein und ver419 loren kam sie sich vor - war der Kosmos doch offenbar voll von gewaltigen Errungenschaften und die Höhlenwelt nur ein winziger Fleck irgendwo weit draußen an seinem Rand. Das riesige Drakkenschiff wirkte nicht einmal sonderlich bedrohlich. Natürlich war es Ehrfurcht gebietend und ganz sicher einschüchternd, aber sie hätte von den Drakken eigentlich etwas erwartet, das mehr nach Krieg, Vernichtung und Tod aussah. Dieses Schiff jedoch wirkte eher wie etwas, das einem schlichten Zweck diente, wie der Erforschung des unbekannten Alls oder dem Transport großer Dinge. Wie ein Kriegsschiff sah es nicht aus. Als sie näher kamen, wurde ihr klar, dass sie sich abermals getäuscht hatte. Das Drakkenschiff war sogar noch größer, als sie gedacht hatte. Während sie sich näherten, schienen seine Ausmaße ins Unendliche anschwellen zu wollen. Erst als sie so dicht heran waren, dass sich die Einzelheiten vor Leandras Augen nicht in noch weitere Einzelheiten auflösten, glaubte sie, die wahre Größe dieses Schiffs ermessen zu können. Es war einfach gigantisch. »Was ... was tun wir hier eigentlich?«, fragte sie befangen. Er hob die Schultern. »Nichts Besonderes. Ich dachte nur, es interessiert dich. Ich wollte es dir zeigen.« Er kaute auf der Unterlippe, bevor er fortfuhr: »Ich hoffte eigentlich, du würdest nun endlich verstehen, dass du gegen die Drakken nichts mehr ausrichten kannst. Weil ihre Macht so groß ist, dass es nichts gibt, was dagegen ankäme.« Er lächelte spöttisch. »Aber ich glaube, das ist vergebens. Du würdest sie sogar bekämpfen wollen, wenn ihr Schiff so groß wäre wie der Mond und sie mit einem Dutzend davon gekommen wären, nicht wahr?« Leandra hätte beinahe auch gelächelt. Ja, er hatte 420 Recht. Sie würde sich niemals der Versklavung beugen, ganz egal, wie stark die Drakken waren. »Es ist eine Frage des Charakters, nicht der Aussicht auf Erfolg«, erwiderte sie kühl. Sie wollte noch weitersprechen, unterließ es dann aber. Ein ewiger Kleinkrieg mit seinem verbohrten, verräterischen Stolz brachte ihr nichts ein, und sie wollte die nächsten Stunden lieber einen freien Kopf für Beobachtungen haben. Es interessierte sie, was sich im Inneren des Drakkenschiffs befand. Inzwischen hatten sie sich einer der sechs riesigen Kugeln genähert. Als sie nur noch eine Viertelmeile davor schwebten, wirkte sie beinahe so gewaltig wie die Weltkugel. Unter ihnen zogen die Lichter dahin, dann erkannte sie etwas weiter unten mehrere dunkle, längliche Öffnungen. In einer davon, sie mochte eine Achtelmeile breit und bestimmt hundertfünfzig Ellen hoch sein, flammte in diesem Moment bläuliches Licht auf. Im Inneren befanden sich ähnliche Aufbauten und Gegenstände wie in der riesigen Anlage unter dem
Felsenhimmel der Säuleninsel. Dann war die Öffnung direkt vor ihnen und das kleine Schiff geriet in den Bereich des bläulichen Lichts, das aus ihr drang. Es war wie ein kräftiger Schlag, der durch den Körper ihres Schiffs fuhr, dann hing es in dem Lichtstrahl fest und wurde mitgenommen. Leandra verstand. Es war so etwas wie eine Transportmaschine, falls dieses Wort zutreffen sollte. Nur noch Sekunden vergingen, dann jaulte das kleine Schiff wieder auf seine typische Art auf und bewegte sich zügig in die erleuchtete Öffnung hinein. Ein heftiges Vibrieren erfasste den ganzen Schiffskörper, als er ins Mutterschiff einflog. Dabei drehte es sich um ein Viertel, sodass sein Dach zuletzt ins Innere des großen Schiffs zeigte. Schon sah Leandra durch die Fenster riesige, zangenartige Metallgebilde auf sie zukommen. Dann dauerte es nur noch Mo421 mente und das kleine Schiff rummste mit einem zweiten Schlag in eine Halterung. Gleich darauf erstarb das Jaulen und für einen verwirrenden Augenblick hatte sie das Gefühl, als würde sie schweben. Weißes Licht flackerte im Innern des kleinen Schiffs auf und dann war alles wieder normal. »Wir sind da!«, rief Rasnor gut gelaunt. »Komm, du wirst staunen!« * Es wurden Stunden voller Wunder für Leandra. Eines der ersten war die Tatsache, dass all die unzähligen Drakken, denen sie begegneten, ihnen überhaupt keine Beachtung schenkten. Zweifellos waren sie die einzigen Menschen hier auf diesem Schiff, und sie konnten überall herumlaufen, aber kein einziger Drakken blieb auch nur stehen oder sah ihnen hinterher. Leandra machte sich klar, dass ihnen das Gleiche auch auf der Säuleninsel widerfahren war, aber dort war es ihr nicht so wichtig vorgekommen. Sie war davon ausgegangen, dass man Rasnor kannte und ihm wie auch seiner Begleitung keine besondere Beachtung schenkte. Hier aber vertiefte sich Leandras Gefühl, dass die Drakken so etwas wie ein Insektenvolk waren. Sie wusste, dass manches Ameisenvolk die Fähigkeit besaß, auf der Stelle jedes einzelne Mitglied davon in Kenntnis zu setzen, dass eine Gefahr drohte. Wie auf ein gemeinsames Kommando verfielen dann all die Tausende von kleinen Krabbeltieren in eine Verteidigungshaltung. Es war nicht notwendig, dass sich diese Gefahr erst herumsprach. Leandra hatte das Gefühl, als wüsste jeder einzelne dieser Drakken, wer sie und Rasnor waren und warum sie sich hier aufhielten. Nicht einer zeigte sich erstaunt, neugierig oder beunruhigt. Sie schienen alle ihrer Arbeit nachzugehen, ja man hätte sogar sagen können, dass sie allesamt friedlich waren. 422 Der zweite ungewöhnliche Punkt war der, dass keiner von ihnen einen Körperpanzer trug, so wie die Drakken in der Höhlenwelt. Die Drakken hier besaßen ebenfalls eine Art Kleidung, aber sie war wesentlich dünner, ähnlich den Hemden und Westen der Menschen, nur aus einem schimmernden Material in verschiedenen dunklen Farbtönen. Diese Kleidung ließ Arme und Beine frei, und das erschien auch sinnvoll, denn es war sehr warm und drückend hier im Mutterschiff der Drakken und die Luft war ziemlich feucht. So feucht, dass Leandra den Dunst in der Luft sah, wenn sie in größere Räume oder Hallen kamen, wo sich die Feuchtigkeit sogar an den Wänden absetzte. Diese bestanden größtenteils aus einem schwarzbraunen Material, dessen Oberfläche weich zu sein schien. Es war an vielen Stellen von Rippen und Ritzen durchzogen, in denen sich das niedergeschlagene Wasser sammelte. Leandra glaubte, einen leicht süßlichen Schwefelgeschmack auf den Lippen wahrnehmen zu können, und hatte bald das unangenehme Gefühl, sich durch eine Art Bruthöhle zu bewegen. Nun fielen ihr auch mehrere deutlich unterschiedliche Drakkentypen auf. Es gab zum einen den Typus des Soldaten, den sie auf der Säuleninsel und in Savalgor gesehen hatte, zum anderen dürre, geschäftig umherlaufende Echsenwesen mit vier Armen; sie trugen in jeder Hand ein flaches, halb durchsichtiges Gerät, auf dem verschiedene leuchtende Zeichen zu erkennen waren. Leandra hatte den Eindruck, als obläge ihnen die Ordnung und Kontrolle. Dann gab es große, bullige Wesen, die nicht mehr viel mit Echsen gemein hatten - sie schienen für den Transport schwerer Lasten zuständig zu sein -, sowie kleinere Vierbeiner, ebenfalls nur noch entfernt echsenartig und sehr kräftig gebaut. Außerdem fielen ihr noch seltsame, niedere und wurmartige Wesen auf, die aber nur sehr vereinzelt 423 auftauchten. Sie watschelten demütig am Rande der Gänge entlang und hatten offenbar kaum etwas anderes im Sinn, als anderen Drakken aus dem Weg zu gehen und sich zu verdrücken. Rasnor erklärte ihr, dass es gar keine Drakken wären, sondern Muuni. Sie hätten eine bestimmte geistige Aura und wären ein sicheres Zeichen dafür, dass sich ein hoher Offizier in der Nähe befand. Leandra blickte sich um, wann immer sie einen solchen Muuni sah, konnte aber keinen hohen Drakken entdecken. Möglicherweise fehlte es ihr nur an Unterscheidungsvermögen für die verschiedenen Ränge. Rasnor zeigte ihr zahllose erstaunliche Dinge. Zuerst fuhren sie mit einer schwebenden Plattform umher, von denen es hier etliche gab. Das Schiff war so groß, dass man ohne Fahrzeug sonst nicht recht vorwärts kam. Viele andere Drakken benutzten ebenfalls diese Schwebeuntersätze, ließen sie dann einfach irgendwo stehen, und andere stiegen auf und fuhren damit weiter. Dann begaben sie sich in eine seltsame Röhre, in der ebenfalls jenes bläuliche Licht herrschte, in dem man offenbar schweben konnte. Es ging in rasender Geschwindigkeit in einen anderen Bereich des Schiffs. Man befand sich dabei in einer seltsam milchigen Blase, die aber ganz von selbst entstand und wieder verschwand. Man betrat nur eine Transporterbucht, wie Rasnor es nannte, berührte ein in der Luft schwebendes, leuchtendes
Gebilde, und wurde dann förmlich an einen anderen Ort »geschossen«. Nach mehreren Versuchen begriff Leandra, dass das leuchtende Gebilde ein Abbild des Schiffsinneren war oder wenigstens eines Teils davon. Man musste nur einen anderen Teil berühren, in den man wollte, und schon wurde man von der Blase eingehüllt und dorthin befördert. Anfangs hatte sie mit der Fülle der fremdartigen Eindrücke zu kämpfen. Sie kannte nichts als Wäl424 der, Berge, Stützpfeiler und Sonnenfenster. Hier gab es überhaupt nichts davon, nur völlig andersartige Dinge. Immerhin waren ihre Wahrnehmungen nicht mehr durch den Anblick dieser irrsinnigen Weite belastet, die dort draußen im All herrschte. Je länger sie sich in dem Schiff aufhielten, desto mehr gewöhnte sie sich an all das Fremde und desto ruhiger wurde sie. Dafür aber wünschte sie sich langsam, hier nackt herumlaufen zu können. Sie waren inzwischen vollkommen nass geschwitzt; die Wärme, die Luftfeuchtigkeit und der süßliche Geschmack auf den Lippen machten ihr zu schaffen. Rasnor hingegen schien das alles nicht zu stören. Er war ein blutleerer Typ, der niemals schwitzte, egal wie heiß es war. Als Nächstes fuhren sie zur Brücke, wie Rasnor es nannte. Leandra wusste, dass man den Ort, wo ein gewöhnlicher Schiffskapitän stand, ebenfalls so nannte. Vermutlich war es nur eine Übersetzung aus der Drakkensprache. Aber sie behielt Recht: es war tatsächlich der Ort, von dem aus das Drakkenschiff gesteuert wurde. Allerdings hätte sie sich niemals selbst einen Begriff davon machen können, wie das bei diesen Wesen aussah. Die Brücke war eine Halle von so gigantischen Ausmaßen, dass es wohl in der ganzen Höhlenwelt kernen Raum von vergleichbarer Größe gab. Sie vermutete, dass er eine Drittelmeile hoch war und ebenso lang und breit. Es herrschte gedämpftes Licht und ein vielstimmiges Summen und Brummen erfüllte die Luft. Der Raum hatte in etwa die Form des Inneren einer Kugel, mit seitlich ansteigenden Rängen, die zahllose Balkone und Vorsprünge aufwiesen. Nur nach vorn hin befand sich eine schräge Wand, und Leandra stockte der Atem, als sie sah, um was es sich dabei handelte: Es war ein gigantisches Fenster, aus einem Gespinst von Trägerteilen bestehend, zwischen denen riesige 425 Scheiben verankert waren. Und der Blick ging hinaus ins All - genau auf die Höhlenwelt. Wie eine gewaltige Kugel in den unterschiedlichsten Brauntönen hing sie im All, die größere, rechte Seite ins gleißende Tageslicht der Sonne getaucht. Nun sah Leandra auch wieder die funkelnden Sonnenfester; allerdings waren sie von hier aus tatsächlich nichts als Punkte - winzig klein. Der Anblick war überwältigend. Erst nachdem sie mühevoll ihren Blick davon losgerissen hatte, konnte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Halle richten. Beherrschend war ein riesiges, schimmerndes Objekt, das in der Hallenmitte schwebte, die von feinem Dunst erfüllt war. Es handelte sich abermals um eine Abbildung der Strukturen des Schiffs - ein buntes Gespinst aus Kugeln, Würfeln und anderen Figuren, die durch blinkende Linien, farbige Strahlen und pulsierende Adern miteinander verbunden waren. Überall neben den Figuren schwebten Symbole oder Buchstaben, die ständig Aussehen und Farben wechselten. Es gab bunte, zuckende Balken, gestaffelte Kreise, die sich gegenläufig veränderten, und blinkende Lichter, die im Nichts entstanden und wieder verschwanden. Das Bild war gigantisch groß und besaß zahllose Einzelheiten, die Leandra gänzlich unüberschaubar vorkamen. Es füllte beinahe den gesamten freien Raum innerhalb der Halle aus. Nach allen Seiten - mit Ausnahme der, die das gigantische Fenster aufwies - stiegen Balkone nach oben hin an und umringten das schwebende Abbild. Im Palast von Savalgor gab es einen großen Ballsaal mit Bühne, der ähnlich angelegt war, allerdings war er wesentlich kleiner. Auf dieser >Brücke< waren die Balkone von hunderten von Drakken besetzt, die vor blinkenden Lichtern und großen Apparaturen saßen. Das musste die Mannschaft sein, die das Mutterschiff steuerte. Offenbar war es so riesig und so kompliziert, 426 dass wirklich Aberhunderte von einzelnen Drakken notwendig waren, um es zu beherrschen. Auf jedem Balkon schien eine kleine Gruppe mit einer speziellen Aufgabe beschäftigt zu sein. Die Vermutung lag nahe, dass sie sich räumlich in der Nähe des entsprechenden Teils des großen, schwebenden Leuchtbildes befanden. Womöglich war dies der Grund für die ungewöhnliche Form dieser Halle. Nur so war es anscheinend möglich, all die Bereiche dieses enormen Schiffs auf eine Weise aufzugliedern, dass man sie überhaupt kontrollieren konnte. Leandra war zutiefst beeindruckt. Endlich merkte sie, dass Rasnor neben ihr ausgelassen plapperte. Er schien ebenfalls ergriffen von den Wundern der Drakkenwelt zu sein und sie konnte ihn sogar verstehen. Er deutete auf das riesige Leuchtbild. »Manchmal verschwindet es und ein riesiges Abbild des Weltalls mit Sternen taucht auf. Das solltest du mal erleben! Es ist unglaublich! Siehst du die kleinen, schwebenden Dinger da?« Leandra blickte in die Höhe und versuchte, das Gebilde mit Blicken zu durchdringen. Sie sah, was Rasnor meinte. »Das sind kleine Helfer, die durch die Projektion schweben und Bilder aus dem Inneren an die Mannschaften da oben schicken.« Er deutete auf die Balkone. »Für jedes Symbol dort drin gibt es draußen einen Drakken, der es beobachtet und sich darum kümmert. So behalten sie den Überblick über das Schiff. Ist das nicht unglaublich?« Leandra nickte. »Und von hier aus ... fliegen sie es auch? Wie die beiden Drakken, die unser kleines Schiff flogen?«
Er zuckte die Achseln. »Kann sein. Ich habe sie noch nie fliegen sehen. Ich meine ... dieses Schiff ist schon seit Jahren hier. Das sagte jedenfalls der uCuluu.« 427 Sie blickte ihn an. »Wo ist er, dieser uCuluu? Werden wir ihn treffen?« Rasnor schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich vermute, er ist nicht hier, sondern in der Höhlenwelt. In Savalgor, genauer gesagt. Möglich, dass du ihn dort einmal siehst.« Er grinste. »Schließlich bist du eine Berühmtheit. Gegen dich bin ich nur eine kleine Leuchte.« Sie verzog das Gesicht ob dieses zweifelhaften Kompliments. Er lachte fröhlich auf. »Dann kannst du ihm ja mal sagen, dass du immer noch vorhast, ihn und seine Armee zu vernichten!« Sie verließen die Brücke und reisten weiter durch das Mutterschiff. Rasnor zeigte ihr eine Station, in der gewaltige Energiebälle in der Luft waberten, und eine andere, in der eine gigantische Metallspindel mit Wasser besprengt wurde. Sie verwandelte es in wallende Dampfwolken, die durch riesige Rohre an der Decke abgesaugt wurden. Sie sah eine Halle, in der kleine Flugschiffe instand gesetzt wurden, und einmal kamen sie an einen wahren Abgrund aus gigantischen Röhren, die waagrecht dem Ende des Schiffs zustrebten. Er erklärte ihr, dass dies der Antrieb des Schiffs wäre. Diese Röhren würden hinter dem Schiff eine Art Kraftfeld entstehen lassen, welches im Weltall so etwas wie eine Welle erzeugte. Auf dieser Welle ritt das Schiff. Da sie in jeder Sekunde viele Millionen Mal neu erzeugt wurde, konnten sie damit phantastische Geschwindigkeiten erreichen. Sogar solche, die jenseits dieser höchsten Geschwindigkeit lägen, von der er ihr bereits berichtet hatte. Leandra sagte das alles nicht allzu viel. Dann erreichten sie eine Aussichtsplattform, und als Leandra sah, was darunter lag, wurde ihr beinahe übel. 428 Sie befanden sich, wie Rasnor ihr erklärte, in der riesigen Längsröhre, die den größten Teil des Mutterschiffs ausmachte. Sie war innen vollständig hohl und von blendender und gleichermaßen dunstiger Helligkeit erfüllt; ihr Durchmesser musste vier oder fünf Meilen betragen. Sie hatte beinahe Dimensionen wie das Innere der Höhlenwelt, und in der Tat war es auch so, dass in ihr eine Welt existierte, eine offenbar bewohnbare Welt mit Seen, Flüssen und Wäldern. Nur verhielt es sich hier so, dass alle Teile, und nicht nur der Boden, mit dieser Landschaft bedeckt waren. Auch die Decke und die Seiten - einfach jeder Flecken auf der Innenfläche der Röhre. Das verwirrte Leandras Sinne derartig, dass sie sich auf den Hintern fallen lassen musste und erst einmal die Augen schloss. Ihr schwindelte. »Die Röhre dreht sich auch, genau wie die großen Kugeln an der Außenseite«, flüsterte ihr Rasnor zu, der sich neben ihr niedergesetzt hatte. »Da in der Mitte, dieser helle Strahl, siehst du das?« Leandra öffnete vorsichtig die Augen. Nicht zu weit, um Herr ihrer Sinne zu bleiben. Sie sah einen dünnen, weiß gleißenden Strahl, der die Mitte der Röhre in ihrer Längsachse durchlief und in der Ferne verschwand. Sie schloss die Augen wieder und nickte. »Das ist ihre Sonne«, erklärte Rasnor, der offenbar nicht vorhatte, auf ihr Unwohlsein Rücksicht zu nehmen. »Ein Strahl unglaublich heißer Energie. Er ist tatsächlich so heiß wie die Sonne. Weißt du, wie dick er ist?« Leandra stöhnte. Rasnor schien sie mit seinem Wissen voll pumpen zu wollen. Doch sie konnte einfach nicht mehr. Sie stöhnte leise und schüttelte den Kopf. »Wie dick? Nein. Woher soll ich das wissen?« »Dünner als ein Haar von dir!« Er lachte auf. Als sie 429 mit einem Seitenblick nach ihm sah, saß er da, die Unterarme auf seine angewinkelten Knie gestützt, und starrte kopfschüttelnd in die Ferne. Mit einem Mal erschien es Leandra, als empfände Rasnor nicht nur Begeisterung. Er war in dieser Welt gleichermaßen auch verloren. Er wusste so viel über die Drakken, bewunderte sie offenbar - aber er hatte hier keine wirklichen Freunde und es würde hier auch keine wahren menschlichen Vergnügungen für ihn geben. Er war sehr intelligent, wie Leandra langsam klar wurde, aber er war vom Weg abgekommen. Er sehnte sich nach einem Wesen in dieser Welt, mit dem er die Dinge, die ihn begeisterten, teilen konnte. Nein, er wollte nicht nur einen Menschen, sondern er wollte sogar eine Frau. Eine verlorene Seele, dachte sie. So wie er veranlagt war, würde er womöglich die Einsamkeit, zu der er verdammt war, in etwas Schreckliches ummünzen. Vielleicht würde er zur schlimmsten Geißel der Höhlenwelt werden, die sie je zu dulden hatte, Sardin und Chast mit eingeschlossen. Er deutete in die Röhre hinab und seufzte bitter. »Dort leben sie, die Drakken«, sagte er. »Du würdest dich wundern, wie. Sie leben nicht in Städten, sondern in feuchten Felsspalten. Nackt und ohne Besitz. In Stämmen, wie primitive Rudel von Tieren.« Leandra nickte. Nun wusste sie, warum er gerade hier solche Schwermut empfand. Hier war der Ort, an dem der Unterschied zwischen ihm und seinen Freunden am deutlichsten zutage trat. Wollte er je eine Freundschaft zwischen sich und einem dieser Drakken aufbauen, müsste er die Bereitschaft aufbringen, nackt mit ihnen in feuchten Felsspalten zu hausen. Diese Vorstellung war grotesk. »Ich hasse diese Wesen«, sagte er leise, während er weiterhin geradeaus starrte. »Wenn ich könnte, würde 430 ich diesen Lichtstrahl aufdrehen und sie alle damit verbrennen!«
Leandra sah ihn nur von der Seite her an. Ihr Herz pochte dumpf. Irgendetwas sagte ihr, dass eine furchtbare Gefahr von diesem Rasnor ausging, und sie allein hatte die Macht, sie einzudämmen - nur sie, niemand sonst. Dazu aber würde sie seine Freundin werden müssen. Und das konnte sie nicht. Das war ihr völlig unmöglich. Nicht, nachdem er Cathryn entführt, ihr dieses Halsband umgelegt und Meister Fujima getötet hatte. Ganz abgesehen von all den anderen grausamen Verbrechen. Sich diesem Menschen als Freundin anzubiedern wäre der schlimmste Verrat an sich selbst, den sie sich nur vorstellen konnte. »Du hasst sie?«, fragte sie leise. »Du würdest sie verbrennen? Warum hast du dich dann überhaupt erst mit ihnen eingelassen?« Er sah sie an. »Weil ihr mich hasst!«, sagte er ruhig. »Besonders, weil du es tust.« »Ich?« Leandra war ehrlich verblüfft. »Aber ... als du dich mit ihnen verbündetest ... wie kommst du darauf, dass ich dich da hasste? Wir hatten uns erst einmal gesehen!« Er nickte. »Richtig.« Leandra richtete sich auf. Rasnor schien sie für sein Unheil verantwortlich machen zu wollen. »Ich habe es in deinen Augen gesehen«, sagte er. »Damals, auf der Treppe in Hammagor. Du hast mich angeschrieen, hast mich verhöhnt. Hast mich davongejagt wie einen Hund. Und ich habe dich ... so bewundert.« Leandra schnappte nach Luft. Das war zu viel. Sie stand auf, spürte Tränen der Wut und der Enttäuschung in ihren Augenwinkeln. Zeitlebens war sie ein Mensch gewesen, der anderen verzeihen konnte und wollte. Und nun maßte sich dieser Kerl an, den einen 431 Moment, in dem sie gerechte Wut auf ihn empfunden hatte, so zu verdrehen, dass sich das Schicksal der Welt damit verändert hätte. Er schien zu glauben, alles wäre anderes gekommen, wenn sie in jener Situation Mitgefühl aufgebracht und ihm eine Chance gegeben hätte. Rasnors Anspruch war absurd, aber dennoch packte er Leandras Herz wie mit einer eisigen Klaue. Es war einfach nicht gerecht, dass das Schicksal so mit ihr umsprang. »Ich will hier weg«, sagte sie und marschierte in Richtung des Ausgangs, durch den sie gekommen waren. * Leandra hatte gehofft, Rasnor würde sich entschuldigen, aber er tat es nicht. Er hätte spüren müssen, dass er sie an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen hatte. Aber er wäre niemals in der Lage, einen eigenen Fehler zu erkennen, geschweige denn, von ihm abzurücken. Rasnor hingegen überspielte die Spannung zwischen ihnen durch neue Geschäftigkeit. Bald ging er wieder völlig in seinen ehrfurchtsvollen Beschreibungen dessen auf, was die Drakken zu leisten vermochten. Es kam Leandra abgrundtief verlogen vor, wie er mit ihren und auch den eigenen Gefühlen umging, aber letztlich war es ihr doch recht. Es gab kaum etwas Schlimmeres für sie, als mit ihm, den sie in der Tiefe ihres Herzen verabscheute, über Gefühle reden zu müssen. Zum ersten Mal seit einiger Zeit vernahm sie dazu wieder diese geheimnisvolle innere Stimme. Sie war so deutlich wie die einer anderen, leibhaftigen Person in ihr, und sie sagte: Er will dein Mitleid. Aber das hat er nicht verdient. Vergiss ihn. Leandra blieb stehen, horchte in sich hinein, versuchte den Ursprung dieser Stimme aufzuspüren, aber 432 es gelang ihr nicht. Ein leiser, stechender Schmerz war in ihrer Schläfe zu spüren, verging dann aber wieder. »Was ist?«, wollte Rasnor wissen. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. »Nichts. Wohin gehen wir jetzt?« Sein überlegenes Lächeln war inzwischen zurückgekehrt. »Das größte Geheimnis wartet noch auf dich! Du wirst staunen!« Sie benutzten noch mehrere Male die Schwebefahrzeuge und die Transporterbuchten, und Leandra kam langsam dahinter, wie man sie bediente. Zuletzt bat sie Rasnor, es selbst einmal versuchen zu dürfen. Er hatte nichts dagegen und sagte ihr, in welche Richtung sie mussten. Sie berührte mit dem Zeigefinger das entsprechende Symbol auf dem schwebenden Gebilde. Es funktionierte. Eine Blase umschloss sie und katapultierte sie, ohne dass eine sonderliche Erschütterung zu spüren war, innerhalb von Sekunden an den gewünschten Ort. Noch zweimal wechselten sie die Röhre, um jeweils andere Richtungen innerhalb des Schiffs einzuschlagen, dann waren sie dort, wo Rasnor sie hinbringen wollte. Es war eine weitere Halle, riesig groß; dieses Schiff schien voll davon zu sein. Diese war nur etwa sechzig Ellen hoch, aber so weit, dass sich der Blick in der milchig grauen Ferne verlor, ohne das andere Ende erreicht zu haben. Es herrschte mattes Licht, und sie schien nichts außer einem glatten Boden und einer ebensolchen Decke aufzuweisen. »Hast du dir mal das Trivocum angesehen?«, fragte er. Sie tastete nach der magischen Grenzlinie, hatte es seit ihrer Ankunft aus Gewohnheit schon mehrfach getan. Doch wieder fand sie nichts außer einem grauen, erkalteten Anblick einer schemenhaften Welt. »Ja, das kenne ich schon. In den Kerkern des Palasts 433 ist es ähnlich. Kein Trivocum, keine Aurikel, keine Magie.« Sie nickte. »Außerhalb unserer Welt sind wir ohne Macht.« »Nicht ganz!«, erklärte er spitzfindig und hob einen belehrenden Zeigefinger. »Versuch mal, in diese Halle
hineinzublicken!« Leandra tat, wie ihr geheißen. In dem trüben, grauen Abbild vor ihrem Inneren Auge sah sie ein Flackern und gelegentliches Aufblitzen. »Was ist das?« »Sie haben Versuche gemacht - mit dem Trivocum. Ob sie irgendeinen Weg finden könnten, es für sich zu erschließen. Nun komm mal mit!« Er ging voraus, über eine Rampe hinweg in Richtung der freien grauen Fläche des Hallenbodens. Leandra folgte ihm unentschlossen. Hier, wo die rückwärtigen Wände noch sichtbar waren, gab es zumindest so etwas wie eine Orientierung. Weiter drin, wenn man weit genug gelaufen war, würde man vermutlich auf einem glatten Boden stehen, der nach allen Seiten wie die Decke mit der grauen Ferne verschmolz, und dabei das Gefühl haben, als stünde man im Nichts. Leandra wusste nicht recht, wie dieser Gedanke zu ihr kam. Sie erreichten das Ende der Rampe und Rasnor trat mit einer gewissen Ehrfurcht auf den grauen Boden. Er war völlig glatt und schien aus Metall zu bestehen. »Wie ist es nun mit dem Trivocum?«, fragte er. Leandra prüfte es abermals, diesmal aber war das Bild ihres Inneren Auges nicht derart verwaschen und grau. Sie starrte Rasnor unschlüssig an, aber er winkte ihr nur und ging weiter. Abermals folgte sie ihm. Nun ahnte sie schon, worum es ging, und überprüfte in regelmäßigen Abständen das Trivocum. »Es wird kräftiger«, bemerkte sie nach einer Weile. »Das Trivocum kehrt zurück.« Er nickte, während er weiterlief. »Der Boden und die Decke bestehen aus Wolodit-Blöcken. Darüber ist ir434 gendein Metall. Sie haben herausgefunden, dass die Fläche des Wolodits ausschlaggebend ist, nicht die Dicke. Und dass es einen umgibt.« Sie liefen immer weiter, wohl über eine Viertelstunde lang, und folgten dabei einer hellgrauen Linie, die auf dem Boden markiert war. Um sie herum herrschte nichts als graue, dunstige Unendlichkeit. Schließlich erreichten sie einen Ort, der dadurch gekennzeichnet war, dass sich die hellgraue Linie mit einer anderen kreuzte, die im rechten Winkel zu ihr aus dem Nirgendwo auftauchte und wieder verschwand. Rasnor blieb stehen. Leandra nickte. »Das hier muss die Mitte sein. Das Trivocum strahlt hell und rot.« »Genau. Und was siehst du?« Sie zuckte die Schultern. »Dich. Sonst nichts.« Er hob wieder seinen Zeigefinger. »Richtig. Das Trivocum ist wieder da, aber es reicht nicht weit. Genau genommen existiert es nur hier, zwischen Boden und Decke!« Er deutete nach oben und nach unten. »Aber das genügt. Hier werden sie es herstellen.« »Es herstellen? Was meinst du damit?« »Nun, ich glaube, es ist ... so etwas wie eine Verdichtung. Hier sind mächtige Maschinen, über uns und tief im Boden. Sie erzeugen irgendwas, das, soweit ich weiß, mit Magnetismus zu tun hat. Damit können sie Wolodit verdichten.« »Wolodit verdichten?« Er nickte. »Ja, genau. Man kann einen riesigen Brocken, so groß wie ein Haus, auf die Größe einer Erbse zusammenschrumpfen. Normalerweise wäre er dann immer noch so schwer wie das Haus, aber sie haben selbst dafür etwas gefunden. Eine Methode, ihn so leicht wie die Erbse zu machen.« Langsam dämmerte Leandra etwas. »Und dieses ... verdichtete Wolodit ...« 435 Wieder nickte er. »Richtig. Ein Stück Trivocum zum Mitnehmen. Man könnte ein kleines Amulett daraus machen und es sich um den Hals hängen. Wenn man eine ausreichend große Aura um sich hat, reicht es aus, um darin Magien zu wirken.« Endlich löste sich das ganze Rätsel auf. Die Drakken waren nicht nur der Geheimnisse der Magie wegen gekommen, sondern auch, weil sie das Wolodit brauchten. »Was ... ist eine ausreichend große Aura?«, fragte Leandra. »Ich meine, wie viel Wolodit benötigt man, um für einen Magier so ein Ding zu machen - so eine Erbse?« Er hob entschuldigend die Achseln. »Das ist das Problem. Man braucht ziemlich viel.« Leandra spürte, dass eine unangenehme Enthüllung bevorstand. »Wie viel?«, verlangte sie zu wissen. Rasnor antwortete nicht, er ließ nur den Blick durch die Halle schweifen. Leandra folgte seinen Blicken und ein kalter Schauer fuhr ihren Rücken hinunter. »So viel?«, keuchte sie. Er nickte. »Ich fürchte, ja. Die Kraft des Wolodits ist schwach. Sie kann sich dort entfalten, wo wirklich viel davon ist - in unserer Welt. Aber anderswo?« Er schüttelte den Kopf. »Die Halle hat über eine Meile im Quadrat. Und erst hier, in der Mitte, ist das Trivocum einigermaßen normal.« Leandra starrte ihn an, sie versuchte den Bedarf im Kopf zu überschlagen - den Bedarf und die Menge, die tatsächlich da war. »Die Höhlenwelt ist nicht überall mit Wolodit durchsetzt«, erwiderte sie. »Habe ich Recht?« »Das stimmt. Nur da, wo die Sonnenfenster sind. Es ist ungefähr ein Viertel der Welt. Der Rest ist nur festes Gestein ohne größere Mengen an Wolodit.« »Woher weißt du das nur alles?«, fragte sie. 436 »Wie ich schon sagte: Es ist mein Rang als uCetu. Niemand scheint sich darum zu kümmern, ob ich lieber das
eine oder andere nicht erfahren sollte. Ich darf alles wissen, was ein uCetu wissen darf.« Er lachte trocken auf. »Ihre Maschinen übersetzen es sogar für mich. In unsere Sprache, sodass ich es verstehen kann.« Leandra starrte ihn eine Weile nachdenklich an. »Also gut, bleiben wir bei diesem ... verdichteten Wolodit. Wenn man einen ganzen Berg davon abtragen muss, um daraus ein einziges Amulett zu machen ... wann wird unsere Welt dann ausgehöhlt sein wie ... wie ein Tharuler Käse?« Er schüttelte den Kopf und winkte ab. »Oh, darum machst du dir Sorgen? Nein, das ist nicht weiter schlimm. Du unterschätzt die Masse an Gestein, die vorhanden ist. Es würde genügen, um tausend Jahre lang Amulette zu machen. Nein, das Problem ist der Staub. Beim Abbau des Wolodits entsteht Staub. Ich habe die Berechnungen der Drakken studiert. Was dort steht, ist ... nun ja, der Staub wird die Luft verderben. Und das Wasser. Sie brauchen sehr viel Wasser für die Mengen an Gestein, die sie abbauen wollen. In zwanzig oder dreißig Jahren wird niemand mehr in der Höhlenwelt leben können.« Leandra stand völlig bewegungslos, wie zu Stein erstarrt. »Was sagst du da?« Er hob nur bedauernd die Schultern. »In zwanzig Jahren ...«, stammelte sie, »da ist Cathryn erst ...« »Nicht nur Cathryn. Du selbst bist dann noch nicht allzu alt. Und ich auch nicht.« Leandra stieß einen unartikulierten Laut aus, irgendetwas zwischen einem Heulen und einem Aufschrei. * 437 Schweigend liefen sie entlang der grauen Linie zurück zum Eingang der Halle. Leandra war völlig betäubt. Ihre rätselhafte innere Stimme meldete sich mehrmals, wollte ihr Mut einreden, aber sie ignorierte sie. Zwanzig Jahre, dann würde die Höhlenwelt sterben. Und die Drakken nahmen das in Kauf! Sie würden eine ganze Welt ihrer Habgier opfern und das Volk, das dort lebte, noch dazu. Vielleicht hatten sie Methoden, ihre Fabriken danach noch weiterhin zu betreiben, wenn alles schon so öd und zerstört war wie auf der Oberfläche. Vielleicht würden dann sogar noch immer Menschen leben, die als Arbeitssklaven in ihren Bergwerken schufteten. Aber die Welt würde tot sein, keine Pflanzen, keine Tiere ... Und keine Drachen! Leandra stieß einen gequälten Laut aus. Auch die Drachen würden sterben, diese wundervollen, intelligenten Geschöpfe! Sie spürte Tränen in den Augen. Es war unfassbar, was da geschehen sollte. Eine Rasse, die so beeindruckende Dinge wie dieses Schiff bauen konnte, war nichts als eine völlig skrupellose Maschinerie, wenn es um ihren Gewinn und ihre Vorteile ging! Verzweifelt suchte sie nach einer Hoffnung, nach irgendetwas, um diese furchtbare Vision einer toten Zukunft nicht zur Gewissheit werden zu lassen. Aber was? Durch ihre Tränen wagte sie einen Seitenblick zu Rasnor. Er stapfte neben ihr her und starrte dumpf brütend vor sich hin. »Was ... was wirst du dann tun?«, fragte sie. Als er aufblickte, sah sie es. Den wahren Grund, warum Rasnor sie hierher geholt hatte. Er setzte Hoffnung in sie. Sein Blick war bitter und zugleich voller Sehnsucht. Er hatte ihn sich anders vorgestellt, seinen Pakt mit den Drakken. Er hatte nicht geahnt, dass sie seine Welt 438 nach Plan vernichten würden. Vielleicht hatte er sich ausgemalt, als privilegierter Bürger in Saus und Braus leben zu können, mit Frauen, die ihm gefügig waren, und allen Annehmlichkeiten, die er sich nur wünschte unter dem Schutz der Drakken und mit weit reichenden Befugnissen. Aber nun hatte er feststellen müssen, dass er sich zwar frei bewegen durfte, ansonsten aber überhaupt nichts besaß. Am allerwenigsten Freunde - das, wonach er sich wohl am meisten sehnte. Mehr noch: er wollte sie, Leandra - als Freundin, als Geliebte oder was auch immer er sich vorstellen mochte. Er hatte auf ihre Frage nicht geantwortet und blickte nur wieder starr geradeaus. Sie überlegte, ob sie es irgendwie über sich bringen konnte, ihn ein wenig an sich heranzulassen, um sein Vertrauen zu gewinnen. Möglicherweise war es tatsächlich so, wie er gesagt hatte: Wenn es jemanden gab, der jetzt noch irgendetwas für sie erreichen konnte, dann war er es. Er besaß einen gewissen Einfluss, und wenn nicht auf die Drakken, dann doch sicher auf die Bruderschaft. Es mochte sein, dass es ab jetzt zu einer bitteren Notwendigkeit wurde, mit ihm zusammenzuarbeiten. Leandra war es zuwider, sich ihm anzubiedern, aber allem Anschein nach kam sie nicht mehr darum herum. Entweder das - oder es drohte der vollkommene Untergang ihrer Welt. Aber sie war sich auch darüber klar, dass er es merken würde, wenn sie ihm etwas vorspielte. Sie war eine schlechte Schauspielerin, besonders wenn es darum ging, Gefühle vorzutäuschen. »Was wirst du dann tun?«, wiederholte sie ihre Frage und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »In zwanzig Jahren ... - wenn unsere Welt tot ist?« Wieder blickte er auf. »Weiß ich nicht«, brummte er missgestimmt. 439 »Wissen sie, dass du es weißt? Dass du ihre Pläne kennst?« Er zuckte die Schultern. »Weiß ich ebenfalls nicht. Und ich glaube auch nicht, dass es sie kümmert. Ich bin
ersetzbar. Sie brauchen mich und ... euch nur für den Anfang.« »Euch? Wen meinst du mit euch?« Seine Seitenblicke sagten beinahe mehr als seine Worte. »Euch Menschen der Höhlenwelt.« Sie versuchte einen mutigen Vorstoß. »Du bist einer von uns. Du bist auch ein Mensch.« Der Blick, der nun von ihm kam, war prüfend. Sie würde ihm nichts vorspielen können. »Seltsam, dass du mir diese Ehre zugestehst. Einer von euch zu sein.« »Wenn es eine Ehre ist, dann nur deswegen, weil du sie dir zuvor selbst zerstört hast!«, entgegnete sie. »Gib sie dir zurück.« Er blieb stehen, sein Gesicht spiegelte tiefes Misstrauen. »Was soll das werden? Eine neue große Chance für mich? Von der großen Heldin Leandra? Wieder Mensch sein zu dürfen ...« Sie schüttelte den Kopf, ihre Tränen waren immer noch nicht ganz trocken. »Du bist so voller Spott. Und eigentlich richtet er sich gegen dich selbst! Denkst du wirklich, ich wäre an deinem Schicksal schuld, weil ich dich damals in Hammagor verflucht habe? Und ich wäre es, die dich wieder zu einem Menschen machen könnte?« Für Augenblicke sah sie ihn nur herausfordernd an. »Nein, Rasnor. Das kannst nur du selbst.« Er starrte zurück, sehr lange, versuchte aus ihren Zügen herauszulesen, ob sie ihn überhaupt ernst nahm. Sie hingegen erkannte, dass seine Not größer war, viel größer, als sie geahnt hatte. »Also gut«, krächzte er mit trockener Stimme. »Was verlangst du von mir?« Schon wieder behandelte er sie so, als besäße sie die 440 Macht, ihn von seinen Sünden reinzuwaschen. Sie verzichtete darauf, dies weiter mit ihm zu diskutieren. Offenbar war sie so etwas wie eine Göttin für ihn, ein Übermensch. So mächtig er im Vergleich zu ihr derzeit auch sein mochte - offenbar konnte sie von ihm verlangen, was sie wollte. Er würde alles tun, um ihr zu gefallen. Aber der nächste Schritt war ebenso klar: Er würde seinen Lohn haben wollen. Er wollte sie. Wieder ein Mensch zu werden bedeutete ihm vermutlich deswegen nichts, weil er gar nicht wusste, was das war. Er hatte es nie gelernt. Er war zeitlebens nur eine willfährige Maschine der Bruderschaft gewesen. Aber sie, sie war ein Ziel für ihn. Vermutlich ging es ihm gar nicht darum, sie zu besitzen. Er wollte einzig und allein ihre Anerkennung oder sogar ihre Liebe. Aber ihm war nicht klar, dass er die niemals bekommen konnte. Leandra dachte eine Weile nach. »Wir müssen die Drakken unter Druck setzen. Ihnen zeigen, dass wir es uns nicht gefallen lassen.« Rasnor lachte trocken auf. »Nicht gefallen lassen? Sie werden sich nehmen, was sie wollen! Jetzt zu Beginn, wenn sie ihre Bergwerke errichten, brauchen sie uns noch. Später wird alles mit riesigen Maschinen funktionieren.« Er holte zu einer weiten Geste aus. »Das ganze Schiff ist voll davon. Wenn die Bergwerke fertig sind und die Maschinen arbeiten, sind wir Menschen überflüssig. Wenigstens zum größten Teil.« »Und die Magie? Unser Wissen, das sie so dringend brauchen?« Er winkte ab. »Zwanzig Jahre - das ist für so etwas lange genug. Innerhalb dieser Zeit werden sie es uns entreißen. Sie haben uns in der Hand, können uns gegeneinander ausspielen. Denn sie besitzen eines nicht, was wir haben: Skrupel.« Leandra schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich kann 441 nicht begreifen, dass sie dir das alles gesagt haben. Das ist doch ...« »Dies haben sie mir auch nicht gesagt. Aber es ist keine Kunst, es sich zusammenzureimen. Man muss sich hier nur umsehen.« »Und du?«, fragte Leandra. »Welche Rolle spielst du in diesem Plan? Warum haben sie sich auf einen Pakt mit dir eingelassen?« »Ich?« Er hob die Achseln. »Ich habe Einfluss auf die Bruderschaft und kann ihnen die Rohe Magie zugänglich machen. Zudem brauchen sie einen Verbündeten in unserer Welt, der weiß, wo es in Sachen Magie etwas zu holen gibt und der sich mit den Besonderheiten der menschlichen Gesellschaft auskennt. Damit sie den Hebel an den richtigen Stellen ansetzen können, um Druck auszuüben und auch den Zugang zu dem Wissen anderer Magiedisziplinen erhalten.« Leandra hielt es für ein gutes Zeichen, dass sich Rasnor bei all dem offenbar unwohl fühlte. »Du bist ein Werkzeug für sie«, sagte sie leise. »Du hilfst ihnen sogar, deinen eigenen Leuten wehzutun.« Er nickte. »Stimmt.« »Und das gefällt dir?« Wieder blieb er stehen. »Ja!«, rief er und hob beschwörend die Hände. »Vor kurzem noch war das ein wirklich erhebender Gedanke für mich! Besonders euch wollte ich wehtun - dir, Victor, Quendras, eurem Hochmeister, dieser Roya und noch vielen anderen! Ich wollte sogar meinen Leuten von der Bruderschaft wehtun - einfach allen, die dazu beigetragen hatten, mich ein Leben lang zu quälen und zu unterdrücken! Und dann wollte ich auch noch denen wehtun, die mich für all das verachteten, was ich war. Ich hielt es für einen phantastischen Gedanken, allen Menschen wehzutun! So sehr es nur ging!« Rasnor hatte während seiner Rede regelrechte Be442 geisterung ausgestrahlt. Leandra musste sich mit aller Kraft zusammennehmen, um nicht die Beherrschung zu
verlieren. »Und jetzt ... nicht mehr!«, presste sie hervor. Innerhalb einer Sekunde fiel sein fanatisches Gehabe von ihm ab, als würde er einen zu schweren Mantel ablegen. Er sackte förmlich in sich zusammen und stieß ein gequältes Seufzen aus. »Nein. Jetzt nicht mehr.« Sie konnte nicht anders, als seine anmaßende und lächerliche Vorstellung mit einer zynischen Bemerkung zu quittieren. »Wohl kaum, weil du plötzlich die Menschen lieben gelernt hast, oder?« Er ging nicht darauf ein. »Weil die Drakken noch schlimmer sind!«, sagte er bitter. »Es sind die hässlichsten, widerwärtigsten und zugleich dümmsten Kreaturen, die man sich nur vorstellen kann. Ich hasse sie, diese Bestien! Und sie ... stinken!« Leandra hätte beinahe aufgelacht. »Das wird dir erst jetzt klar? Dass sie so sind?« Er maß sie mit finsteren Blicken, so als wollte er wiederum ihr die Schuld zuweisen. »Du hast es mir klar gemacht.« »Ich?« Er blickte zu Boden. »Ja, ich ...« Weiter kam er nicht. Und wieder wusste sie, was er meinte. Langsam war er ein offenes Buch für sie. Nur eines weigerte sich ihr Verstand zu akzeptieren: sein fehlendes Maß. Er schien überhaupt kein Verhältnis zwischen eigenen und fremden Fehlern und der eigenen und fremden Reaktion darauf zu kennen. Er würde eine lästige Mücke mit einem einstürzenden Stützpfeiler erschlagen und dabei ein ganzes Dorf auslöschen, nur um anschließend Reue zu empfinden und dann zu sagen, sie wären eigentlich selbst Schuld gewesen, diese Leute, ihr Dorf an dieser Stelle zu errichten. Sie hätte ihn am liebsten geohrfeigt. 443 In einer plötzlichen Aufwallung von Wut trat sie an ihn heran und packte ihn an seiner Kutte. »Du willst doch Freunde haben, nicht wahr? Das ist es, was man aus jedem deiner Worte und jeder deiner Bewegungen herauslesen kann! Wenn du Freunde haben willst, wirkliche Freunde, dann musst du sie dir verdienen. Durch Respekt. Tu es, indem du hilfst. Mir, dir und unserer Welt! Dann brauchst du diese verdammten Drakken nicht!« Er glotzte sie an, während sich sein Gesicht in Hilflosigkeit und Elend verzog. Für einen schrecklichen Moment dachte sie, er wollte ihr in die Arme fallen. Schnell trat sie einen Schritt zurück. Rasnor hielt an sich. »Was soll ich denn tun?«, rief er. »Was kann ich überhaupt noch tun gegen diesen ... Wahnsinn?« Leandra starrte ihn böse an. »Welchen Wahnsinn meinst du? Deinen? Der dich dazu trieb, deine eigenen Leute zu verraten? Oder meinst du den der Drakken?« Seine Augen blitzten auf, und sie erkannte, dass sie zu weit gegangen war. »Willst du mich weiterhin erniedrigen? Reicht es dir immer noch nicht?« Sie hielt die Luft an, erwiderte nichts. Sein Blick war herausfordernd und angriffslustig; sie wusste, dass sie gut daran tat, ihn nun in Ruhe zu lassen. Sie seufzte und ließ die Schultern sinken. »Tut mir Leid. Ich bin ziemlich aufgewühlt.« Er entspannte sich ein wenig. »Mach dir nichts vor«, sagte er barsch. »Es liegt nicht mehr in unserer Macht, die Drakken zu vernichten.« Sie nickte. Das war abermals ein Hinweis darauf, dass nur er noch etwas ausrichten konnte, dass er der einzige Lichtblick in diesem schwarzen Abgrund war, in den die ganze Welt nun blickte. Langsam wurde er ihr unheimlich. Sein Verhalten war ein Hin und Her zwischen der Suche nach Trost und Liebe, Ausbrüchen 444 von Hass gegenüber seinem Schicksal und seinen Peinigern, sowie immer wieder durchblitzendem Verlangen nach Macht und Eigennutz. Noch immer war sein Blick herausfordernd, und sie fühlte, dass höchste Vorsicht geboten war. Irgendetwas hatte er im Sinn und erwartete nun, dass sie die Tür dafür öffnete. Allerdings wusste sie nicht, was das sein mochte. »Hast ... hast du einen Vorschlag?«, fragte sie unsicher. »Nein«, sagte er. »Noch nichts Genaues. Aber ich bin einer Sache auf der Spur.« »Einer ... Sache?« Er nickte. »Ja. Zunächst einmal: Die Drakken zu vernichten oder sie zu verjagen, das ist vollkommen unmöglich. Sie sind viel zu stark. Aber ... nun, vielleicht können wir sie dazu zwingen, etwas dagegen zu unternehmen, dass unsere Welt vernichtet wird. Gegen den Staub, verstehst du?« »Du meinst, er ließe sich vermeiden?« Er hob die Arme. »Bei dem, was sie alles zuwege bringen, sollte ihnen so etwas doch wohl gelingen, oder?« Leandra blickte ihn missmutig an. »Aber die Macht über uns würden sie trotzdem behalten, nicht wahr? Uns weiterhin versklaven und über unser Schicksal bestimmen!« Er hob abwehrend eine Hand. »Über eines musst du dir im Klaren sein. Die Zeiten der Freiheit sind vorüber! Wir können nur noch danach trachten, unser Schicksal erträglicher zu machen. Es wird ein paar geben, die sich in einer bevorzugten Stellung befinden, so wie ich.« Er machte eine Pause. »Und du.« Nach dieser Äußerung starrte er sie mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung an. In Leandra hingegen brauste ein Gefühlssturm auf. Nach außen hin bemühte sie sich krampfhaft, ruhig zu bleiben. Du 445 Dreckskerl, dachte sie. Ich wusste, dass der Wind von da her wehen würde! »Und vielleicht noch andere«, fügte er hinzu, wie um sie ein wenig zu beruhigen. »Wenn wir uns klug verhalten,
werden wir es gemeinsam vielleicht schaffen, uns ... unsere Mitmenschen vor dem schlimmsten Los zu bewahren. Vielleicht gelingt es uns im Laufe der Zeit sogar, einen neuen Pakt mit den Drakken auszuhandeln.« »Was für einen Pakt?«, fragte sie scharf. Er zuckte unschuldig mit den Achseln. »Nun ja, vielleicht in der Art, dass wir das Ganze als Geschäft mit ihnen betreiben. Sie kriegen von uns das Wolodit und die Magie und wir von ihnen dafür ... unsere Freiheit zurück.« Freiheit!, echote es in Leandras Ohr. Wenn sie eines sicher wusste, dann war es, dass sie von diesen Kreaturen niemals wieder die Freiheit zurückerhalten würden. Und auch Rasnor würde das hintertreiben. Sie hatte sich in ihm nicht getäuscht: Er war nur ein kleiner Kriecher, der nach seinen Vorteilen suchte. Plötzlich hob er beschwörend die Hände. »Warum versuchst du nicht, das Beste aus dem zu machen, was uns noch bleibt? Das Beste für dich und deine ... ich meine, unsere Welt. Hilf mir dabei! Ich bin in der höchsten nur denkbaren Stellung. Aber allein schaffe ich das alles gar nicht. Ich meine, was da an Arbeit auf mich zukommt. Und die Gemächer der Shaba sind noch frei ...« Leandra wäre beinahe explodiert. Mühselig wahrte sie die Beherrschung. Nun war es endgültig klar. Er bewohnte die Shabibsgemächer und er wollte sie auf der anderen Seite des Korridors haben. Zweifellos, weil er hoffte, ihr Herz gewinnen zu können, wenn er ihr nur alle Bequemlichkeiten bot und sie ständig in der Nähe hatte. Wie konnte er nur so 446 unsagbar dumm sein zu glauben, dass so etwas funktionierte? Sie wandte sich wortlos um, marschierte weiter und mahnte sich, nicht alles zu verderben, indem sie ihn mit ihrer gewohnten Heftigkeit vor den Kopf stieß. Sie mied seinen Blick, hatte keine Ahnung, wie er ihre Reaktion auslegte. Wie ein Hündchen tappte er ihr hinterher. Vielleicht hatte er es tatsächlich in der Hand, ihre Welt vor dem Allerschlimmsten zu bewahren. Sie sah schon, dass sie ihm über das ihr erträgliche Maß hinaus entgegenkommen musste, um so vielleicht ein wenig herausholen zu können. Bis ich dich eines Tages auf dem falschen Fuß erwische, du Mistkerl!, sagte sie sich finster. Das wirst du, hörte sie die innere Stimme sagen. 447 24 ♦ Die Minen Anderthalb Tage lang war Alina Richtung Westen geritten. Jenseits der südakranischen Hügel jedoch bog sie nach Norden ab, passierte die Mornebrücke und zog dann weiter nach Nordwesten. Anfangs hatte sie die Nähe von Dörfern gemieden, jetzt suchte sie diese. Es war der Mittag des achten Tages ihrer Flucht und der fünfte Tag, nachdem sie Savalgor verlassen hatte. Vorgestern Abend war sie noch in Ismalaar gewesen, dem kleinen Dorf. Doch jetzt, wo ihre Flucht eigentlich erfolgreich verlief und sie noch immer in Freiheit war, wuchs ihre Nervosität. Sie kamen meistens nachts. Alina führte den Umstand, dass sie in den ersten beiden Nächten außerhalb von Savalgor nicht erwischt worden war, inzwischen auf pures Glück zurück. Oder die Drakken waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit gewesen und hatten ihre Überwachung noch nicht genügend ausgebaut. Inzwischen aber musste sie jede Minute damit rechnen, dass irgendwo eines der kleinen Flugschiffe auftauchte, mit Getöse vor ihr landete und sie erneut kontrolliert wurde. In der vorletzten Nacht war sie zweimal geweckt worden, in der letzten sogar dreimal. Und am gestrigen Tag hatte man sie ebenfalls dreimal kontrolliert. Was auch immer das Drakkenhalsband für Fähigkeiten haben mochte, eines war gewiss: Es verriet den Drakken zuverlässig, wo sie war. Bisher war sie außerhalb von Dörfern erst zweimal anderen Leuten begegnet; 448 sie gehörte offenbar zu einer äußerst seltenen Art. Niemand durfte mehr reisen. Manche Leute hatten die Hoffnung geäußert, dass sich dies nach einer Anfangszeit wieder ändern würde, denn es war einfach notwendig, dass die Menschen Handel treiben konnten. Doch zurzeit war das beinahe unmöglich. Wer sich außerhalb der Dörfer bewegte, wurde scharf kontrolliert. Die meisten Leute hatte zu große Angst davor und blieben vorsorglich zu Hause. Aus irgendeinem himmlischen Grund hielt Alinas Tarnung. Sie war seit ihrer ersten Kontrolle Gulda, die Kräuter- und Pferdehändlerin, ausgestattet mit der Erlaubnis, über Land reisen zu dürfen. Aus diesem Grund hatte sie auch Kika behalten, die kleine Stute, und sich bemüht, einen Vorrat an Kräutern anzusammeln. Das Erstaunlichste war: Ihr Handel damit kam sogar in Schwung. Sie kannte sich nur wenig mit Kräutern aus, aber das bisschen an Babbukraut, Silberwurz oder Lorwurzel, das sie sammelte, fand reißenden Absatz. Gestern Mittag war sie durch Waidenbruch gekommen, ein Dorf, in dem sie früher schon einmal gewesen war und das einen weithin bekannten Markt besessen hatte. Es war nur noch ein kümmerlicher Rest davon übrig: ein halb verwaister Platz mit ein paar verängstigten Verkäufern, dort, wo sich früher einmal Dutzende von fahrenden Händlern, Obst- und Gemüsebauern, Schmieden, Pferde- und Mulloohverkäufern, Fleischhauern und Käufern gedrängt hatten. Auch in Waidenbruch gab es nun einen Drakkenposten und auch dort wurden Menschen in Gruppen von Drakkenschiffen abgeholt und gebracht. Als sich Alina auf dem Marktplatz eines kleinen, verlassenen Standes bemächtigt und ihre paar Kräuter
feilgeboten hatte, waren innerhalb von Minuten ein halbes Dutzend Frauen gekommen und hatten ihr alles 449 aus den Händen gerissen, was sie besessen hatte. Die Frauen hatten nach Teekräutern, Äpfeln, Murgobeeren und Gemüse gefragt, aber als Alina bedauernd verneint hatte, waren sie so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. Natürlich wegen der bewaffneten Drakkenstreife, die sich demonstrativ auf dem Platz aufgebaut hatte. Nur zwei der jüngeren Frauen hatten sie eine Weile mit ungläubigen Blicken angestarrt. Alina war noch immer verwirrt. Konnte es sein, dass sogar von dort Leute wegen ihrer Hochzeit nach Savalgor gekommen waren und sie im Palast gesehen hatten? Das war kaum anzunehmen, denn Waidenbruch lag zwei Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt, und der Hochzeitstag war überstürzt angesetzt worden. Aber es mochte sein, dass einige Leute bereits in der Hauptstadt gewesen waren und es - wie Guslov -noch geschafft hatten, aus Savalgor herauszukommen. Am frühen Nachmittag hatte sie Waidenbruch wieder verlassen - und sich bald gewünscht, sie wäre geblieben. Am Abend, nach einem langen Ritt, bei dem sie ein scharfes Tempo angeschlagen hatte, war sie von einem Drakkenschiff aufgehalten worden. Sie hatte gerade in der Dämmerung an einem kleinen Fluss nach einem günstigen Lagerplatz gesucht, als sie das entnervende Jaulen des Schiffs vernommen hatte. Mit gewaltigem Getöse und grellen Lichtern war es ganz in ihrer Nähe gelandet. Zu Alinas Entsetzen war sogar ein Bruderschaftler bei den Drakken gewesen, der sie die ganze Zeit über misstrauisch beäugt hatte. Nach angstvollen Minuten war das Drakkenschiff wieder davongeflogen. Man hatte ihr die Warnung hinterlassen, dass sie in sechs Tagen wieder in Savalgor sein müsse. Das Gleiche hatte sie in der Nacht noch zweimal gehört, als weitere Patrouillenschiffe bei ihr gelandet waren, das letzte etwa eine Stunde nach Mitternacht. Danach war sie ein reines Nervenbündel gewesen, viel 450 unruhiger noch als ihre drei Tiere. Benni, die treue Seele, spürte ihr Unwohlsein, drängte sich, sobald sie sich niedergelegt hatte, winselnd an ihre Seite und versuchte, ihr das Gesicht zu lecken. Schließlich musste sie ihn mit barschen Worten verscheuchen. Für den Rest der Nacht blieb es zürn Glück ruhig. Alina lag lange Zeit wach und fragte sich voller Furcht, wie lange ihre Tarnung noch halten würde. Keiner der Drakken war bisher auf die Idee gekommen, sich ihr Halsband genauer anzusehen. Die Haarklammer, mit der sie es im Nacken zusammengefasst hatte, hielt zum Glück gut, das Band saß stramm an ihrem Hals. Wenn jedoch jemals bei einer Kontrolle der kleinste Verdacht aufkam, war es aus mit ihr. Die Alternative bestand darin, dass sie das Halsband wegwarf, dann aber durfte sie sich weder irgendwo in einem Dorf blicken lassen noch einer zufälligen Drakken-Patrouille in die Hände fallen. Zusätzlich bestand die Gefahr - und die war vermutlich sehr ernst -, dass man das Halsband dann finden, seine Besitzerin Gulda aber vermissen würde. Es war ganz egal, wo sie versuchte, es loszuwerden - es war von den Drakken jederzeit auffindbar. Und würde man es ohne sie finden, würde man sie jagen. Aber es gab noch eine weitere Gefahr. Bei jeder Kontrolle war ihr bisher gesagt worden, wann sie zurück in Savalgor zu sein hatte. Würde man sie nach dreieinhalb oder spätestens nach vier Tagen an einem Ort aufgreifen, der mehr als drei Tagesreisen von Savalgor entfernt lag, würde man wissen, dass sie überhaupt nicht vorgehabt hatte, innerhalb der gesetzten Frist in die Hauptstadt zurückzukehren. Dieser Gedanke bekümmerte sie auch am nächsten Morgen. Sie hatte bald nach Sonnenaufgang, noch im Morgennebel, ein paar Kräuter gesammelt, sie eine Stunde später auf dem Markt eines kleinen Dorfes ver451 kauft und dort neue Vorräte erstanden. Seit dem frühen Vormittag ritt sie wieder in zügigem Tempo westwärts, nunmehr immer auf der Straße, um nicht weiter aufzufallen. Als sie gegen Mittag die Mornebrücke überquerte, erreichte sie nach ein paar Meilen eine Wegabzweigung. Ein Pfosten mit zwei verwitterten Schildern wies nordwärts nach Tulanbaar, während der westliche Pfad nach Mittelweg führte. Letzteres war auf jeden Fall eine ihrer wichtigsten Stationen, aber sie war nicht sicher, welcher Weg der kürzere war. Sie hatte noch anderthalb, höchstens aber zwei Tage, bis sie bei einer Kontrolle auffallen würde. Bis dahin musste sie so weit vorgedrungen sein, wie sie nur konnte. Vielleicht schaffte sie es bis über die Rote Ishmar hinweg, jenseits von Mittelweg. Dort begann wildes, nur wenig besiedeltes Land. Sie hatte ohnehin vor, der Ishmar nach Norden bis ins Ramakorum zu folgen. Alina ging davon aus, dass der westliche Weg der kürzere sein würde. Sie rief Benni und lenkte ihre Stute Mirla nach Westen. * Es war früher Nachmittag, als sie die Minen erreichte. Mitten im flachen Grasland, etwas nördlich der Straße, erhob sich eine Gruppe von mächtigen Stützpfeilern. Der Felsenhimmel war hier, nahe der Ishmar, besonders hoch: fast zehn Meilen. Es war eines der lichtesten Gebiete in ganz Akrania, und zugleich auch eine Gegend, in der man manchmal bis zu fünfzig Meilen weit sehen konnte, ehe einem die Pfeiler und Felsbarrieren in der Ferne die Sicht wieder verstellten. Riesige Sonnenfenster boten dem Sonnenlicht reichlich Einlass in die Höhlenwelt. Die Stützpfeilergruppe war jedoch für diese Gegend eher untypisch. Alina zählte neun Stück, zwei von gi452 gantischen Ausmaßen, die in der Mitte standen, dazu noch sieben weitere, welche die beiden großen wie eine
Leibwache umgaben. Sicher hatte man dieser Gruppe vor langer Zeit schon einen entsprechenden Namen gegeben - Alina kannte ihn jedoch nicht. Heute aber hätte sie einen anderen Namen erhalten. Es waren nicht mehr die neun Pfeiler, die als Erstes ins Auge fielen, sondern eine gigantische Stadt aus Drakkenbauten, die zwischen ihnen aufragte - und dahinter eine ebenso gigantische rostbraune Staubwolke, die sich nach Norden hin über das Land erhob. Als Alina von einem Hügelrücken herab schließlich das ganze Gebiet überblicken konnte, hielt sie Mirla an und starrte ungläubig hinaus auf die Ebene. Es war in der Tat eine Stadt, die sie dort sah, und sie hatte nicht den Hauch einer Vorstellung, wie die Drakken so etwas Gewaltiges innerhalb weniger Tage hatten errichten können. Aus einer Art grau-braunem Bodennebel erhob sich ein riesenhaftes Gebilde mit zahllosen Gebäuden und Türmen in der typischen Zeltbauweise der Drakken. Nur waren sie um ein Vielfaches größer als alles, was Alina bisher gesehen hatte. Sie vermutete, dass die höchsten Drakkenbauten eine halbe Meile an Höhe erreichten. Sie lehnten sich gegen die Flanken der umgebenden Felspfeiler, banden sie in ein Gespinst ihrer Streben und Verzweigungen ein und bildeten mit ihnen zusammen ein ebenso beeindruckendes wie völlig fremdartiges Gebilde. Zwischen den nach Norden hin liegenden Pfeilern stand ein monströser, silbrig schimmernder Schlot, dessen oberes Ende gebogen war und ebenfalls nach Norden zeigte. Dichter rostbrauner Qualm drang aus ihm ins Freie und trieb über das Land davon. Alina war schockiert und fasziniert zugleich. Was diese Drakken zu schaffen in der Lage waren, musste einen einfach beeindrucken. Sie hatten breite Straßen 453 gebaut, und von einem Start- und Landeplatz erhoben sich in unablässiger Folge kleine und große Drakkenschiffe, während andere dort niedergingen. Es war ein Bild höchster Betriebsamkeit. Alina wusste sofort, dass dies einer der Orte sein musste, wohin man die Menschen aus den Dörfern flog. Dies mussten die Minen sein. Die Leute hatten dort den Fels auszuhöhlen, hatte sie sagen hören. Wozu das gut sein sollte, wusste sie nicht. Eines war jedoch gewiss: Es geschah in großem Maßstab. Hier wurden keine Löchlein gegraben, sondern mindestens unterirdische Hallen ausgehoben. Konnte es sein, dass die Drakken sich dort ihren eigenen Wohnraum schaffen wollen? Dass sie es gewohnt waren, unterirdisch zu leben? Was ihr jedoch zu denken gab, waren der Bodennebel und der Staub. Am schlimmsten schien diese gewaltige Wolke zu sein, die sich nach Norden hin aus der Gruppe der Stützpfeiler erhob. Vermutlich stammte sie von den Bergbauarbeiten, obwohl sich Alina kaum vorzustellen vermochte, dass dabei eine solche Wolke zustande kam. Sie hatte die Farbe lehmigen Wassers und reichte fast die halbe Strecke bis zum Felsenhimmel hinauf. Alina hoffte, dass im Hinterland kein Dorf und keine Stadt lagen, denn die Menschen dort würden kaum mehr atmen können. Noch eine ganze Weile stand sie still da und betrachtete in bedrückter Faszination das, was die Drakken errichtet hatten. Sah man von der riesigen Staubwolke ab, überwog der Eindruck des Spektakulären den des Bösen. Aber sie wusste, dass sie sich nicht täuschen lassen durfte. Auch wenn die Drakken hier ein sehr zielgenaues Geschäft mit vermutlich hohem Nutzwert betrieben, gründete es auf gnadenloser und brutaler Versklavung der Menschen der Höhlenwelt. Sie schnalzte mit der Zunge und setzte ihren kleinen 454 Zug wieder in Bewegung - unmittelbar hinab in die Ebene. Bald würde sie wieder kontrolliert werden, aber vielleicht kam irgendwann einmal der Tag, ab dem man sie als > ungefährlich < einstufen und durchwinken würde. Eine Viertelstunde später erreichte sie den Fuß des Hügels und war nur mehr zwei oder drei Meilen von der riesigen Drakkenanlage entfernt. Wie sie erwartet hatte, erschien bald ein einzelnes, kleines Drakkenschiff. Während das Schiff näher kam, überprüfte sie noch einmal die Klammer in ihrem Nacken und den Sitz des Halsbandes. Der Zopf leistete ihr weiterhin gute Dienste. Sie trug ihn tief im Nacken geflochten, sodass er die Haarklammer zuverlässig verdeckte. Minuten später war das kleine Schiff schon da. Mit dem typischen Jaulen kam es in der Luft zum Stillstand und sank dann lärmend herab. Alina ließ sich von Mirlas Rücken rutschen und rief Benni zu sich. Der Hund näherte sich ihr in angstvoller Körperhaltung. Es war kein schöner Anblick, aber Alina musste inzwischen wenigstens nicht mehr fürchten, dass Benni einen der Drakken anfallen würde. Wieder einmal war ein Bruderschaftler dabei. Zwischen zwei bewaffneten Drakken kam ein dicker Mann in dunkelgrauer Kutte auf sie zugewatschelt. Er trug einen schwarzen Bart, wildlockige, schwarze Haare, und diesmal war er es, der jene wohlbekannte, halb durchsichtige Tafel in den Händen hielt. Drei Schritt vor ihr hielt er an und musterte sie mit strengen Blicken. Sein Gesicht war gerötet, er schien zu der Sorte Mann zu gehören, die bei der kleinsten Bewegung zu schwitzen anfingen. Kein Wunder bei seinem Körperumfang. »Name, Beruf und Heimatstadt«, fragte er barsch. »Gulda, Kräuter- und Pferdehändlerin. Aus Savalgor.« 455 Er tippte mit dem Zeigefinger unentschlossen auf seiner durchsichtigen Platte herum und hatte dabei offenbar Probleme. Er brummte etwas, sah kurz nach links zu dem bewaffneten Drakken, aber der rührte sich nicht. Alina verstand schon. Diese Drakkensoldaten hatten ebenso viel Ahnung von der Bedienung des Geräts wie Benni. Sie
beobachtete den Mönch eine Weile und räusperte sich dann. Er blickte auf. Sie deutete vorsichtig auf ein großes, violettes Quadrat rechts oben auf der Platte. »Ich glaube, da drauf.« Verwirrt starrte er zwischen ihr und seinem Gerät hin und her. »Woher willst du das denn wissen?« Sie versuchte ein Lächeln. »Ich bin schon so oft überprüft worden ...« Er brummte etwas und stellte sich dann seitlich zu ihr. »Da drauf, meinst du?« Sie nickte und er versuchte es. Die Bilder und Symbole in der Platte verschwammen und entstanden neu. Seine Miene erhellte sich. Auf einer großen Abbildung sahen sie nun Felder, die erstaunlicherweise in ihrer Sprache beschriftet waren. »Da - Savalgor!«, sagte sie und deutete auf eine andere Stelle. Gemeinsam arbeiteten sie sich durch die verwirrenden Symbole, zumeist auf Alinas Erinnerungen gestützt. Der Dicke erwies sich als brummiger, aber nicht unangenehmer Mann -eine ganz neue Erfahrung für sie. Die Bruderschaft schien nicht ausschließlich aus gewalttätigen Irren zu bestehen. Schließlich flammte auf der Platte ein undeutliches Abbild Guldors auf. Alina erschrak zu Tode. »Gulda ...«, murmelte der Mann, »Kräuterhändlerin.« Er blickte mit einem hinterlistigen Grinsen zu ihr auf. »Du musst mir verraten, Mädchen, bei welchem Wunderdoktor du gewesen bist. Letzte Woche warst du noch hässlicher als ich. Aber jetzt ...« Er nickte anerkennend und lachte rasselnd. »Du hast dich gemacht!« »Das ... das ist mein Vater«, stammelte sie, um ihre Beherrschung bemüht. »Wie kommt denn sein Gesicht da rein?« »Weiß nicht. Heißt er etwa auch Gulda?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein ... äh, Guldor.« »Ah! Da haben wir's. Eine Verwechslung. Ist mir schon mal untergekommen. Die Drakken haben eine Menge Fehler in diesen Dingern.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber - ich wurde schon so oft überprüft! War da etwa immer Guldors ... ich meine, das Bild meines Vaters zu sehen? Das müssten sie doch gemerkt haben!« Er winkte ab. »Diese Viecher können kein A von einem O unterscheiden. Dumm wie Stroh. Wichtig ist nur, was da in deiner Plakette steht.« Alina tastete nach dem Oval an ihrem Hals. Er hatte es gar nicht mit dem kleinen Licht in seiner Tafel angestrahlt, wie es die Drakkenprüfer immer getan hatten. Vermutlich wusste er nicht, wie das ging. Sie blickte verstohlen zu den beiden Drakkensoldaten, die sie kalt und starr beobachteten. »Macht es sie ... gar nicht wütend, wenn du so was sagst?«, fragte sie den Mönch leise. Er blickte die Drakken kurz an, schüttelte dann den Kopf. »Nein. Die merken überhaupt nichts. Weiß auch nicht, was das für komische Kreaturen sind.« Sie musterte sein Gesicht. Für Momente erschien er ihr wie der gute Onkel aus der Nachbarschaft. »Das klingt, als wärest du nicht sehr begeistert von ihnen.« Er nahm sie am Ellbogen und führte sie ein Stück fort von den Drakken. »Ich wünschte«, zischte er ihr leise zu, »sie würden sich mit ihren Flugschiffen und dem ganzen Zeug so schnell es geht wieder verziehen, Mädchen! Das kannst du mir glauben.« »Aber ... warum bist du dann bei ihnen? Du dienst ihnen doch!« 456 457 Er seufzte. »Ach, was weißt du schon! Ich bin bei der Bruderschaft, seit ich denken kann. Als kleines Kind schon war ich bei ihnen. Denkst du, ich hab jetzt eine Wahl?« Er deutete auf ihren Hals. »Und glaubst du, ich hab Lust auf so ein Halsband?« Sie nickte verstehend. Er richtete sich auf. »Ich habe schlechte Nachrichten für dich, Mädchen«, sagte er. Er kalter Schauer fuhr ihren Rücken hinab. »So?«, fragte sie tonlos. »Ja, leider. Ich hab den Befehl, neue Leute für einen Ort namens Yanalee zusammenzutrommeln. Kennst du den?« »Yanalee?« Ihre schlimme Vorahnung verstärkte sich. Sie schüttelte den Kopf. »Liegt auf halbem Weg zwischen Tharul und Mittelweg. Dort haben sie vor ein paar Tagen noch so eine Abbauanlage eingerichtet. Aber ihnen fehlen die Leute. Die aus Tharul und Mittelweg sind größtenteils schon anderswo. Ich fürchte, ich muss dich da hinschicken.« Alinas Magen krampfte sich zusammen. »Waas?«, keuchte sie. »Aber ich ...« Er schüttelte bedauernd den Kopf und sah gewiss nicht so aus, als täte er ihr das gern an. »Das ist ein Befehl, verstehst du? Von den Drakken.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Nicht von denen da. Von den anderen, in Savalgor.« Alina starrte voll aufkommender Furcht und Verzweiflung auf die beiden Echsenwesen. »Aber ...« Er senkte die Stimme. »Ich würde ja gern. Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein.« Wieder deutete er mit dem Daumen über die Schulter, diesmal in Richtung der großen Drakkenstadt zwischen den Stützpfeilern. »Aber ich bin nur ein Helfer. Die da beobachten mich. Ich hab ein paar Freiheiten, nicht mehr. Ich muss tun, was sie befehlen.« 458 Alina stieß einen jammervollen Laut aus.
»Keine Ausnahmen, lautet der Befehl. Im Moment geht das vor, was sie anordnen. Egal, ob du einen wichtigen Beruf hast oder nicht.« »Wie lange werde ich bis da hin brauchen, nach ... Yanalee?« Er schüttelte den Kopf. »Gar nicht lang. Ich nehme dich gleich mit.« Sie stöhnte. »Jetzt gleich?« »Ja, Mädchen. So Leid es mir tut.« Sie wies auf Mirla. »Und meine Pferde? Und der Hund? Was soll aus ihnen werden?« Der Mönch starrte auf Mirla, dann schüttelte er den Kopf. »Für Tiere hab ich zwar keine Befehle, aber Pferde ... die kriegen wir gar nicht rein in das Flugschiff.« Er senkte den Blick und starrte Benni an. »Und mein Hund?« Er runzelte die Stirn. »Ich würde mir nicht viele Hoffnungen machen, Mädchen. In so eine Anlage wirst du deinen Hund nicht mitnehmen können. Da drin ist die Hölle los, weißt du? Da wird mit Maschinen gearbeitet und du hast einen Schutzanzug an ...« Alina fühlte sich unsäglich elend. Sie beugte sich nieder und umarmte Benni. Tränen flössen über ihr Gesicht. »Nimm den Hund meinetwegen mit«, sagte er gütig. »Aber wie gesagt: Ich würde mir keine großen Hoffnungen machen, dass du ihn mit hinein nehmen darfst.« Die Freundlichkeit des Mannes war versöhnlich. Ab jetzt war sie eine Gefangene, wie alle anderen Menschen auch, ob Benni bei ihr war oder nicht. Sie würde in einer der Minen arbeiten müssen, und ihre einzige Hoffnung bestand darin, in irgendeinem unbemerkten Augenblick, der vielleicht nie kam, zu fliehen. Er beugte sich nieder und zog sie am Arm hoch. 459 »Nun komm schon. Wir müssen weiter. Es hilft nichts. Nimm deinen Hund mit. Aber die Pferde müssen hier blieben.« Er trat an Mirla heran und begann, ihren Sattel zu lockern. Mit tränenfeuchtem Gesicht machte sich Alina daran, das Gleiche für Kika zu tun. Sie war dem Dicken dankbar dafür, dass er wenigstens daran dachte, die beiden Pferde nicht mit den Sätteln auf dem Rücken ihrem Schicksal zu überlassen. Während sie Kika absattelte, sprach sie der kleinen Stute beruhigend zu. Die beiden waren ihr nicht weniger ans Herz gewachsen als Benni. Sie waren nun seit einigen Tagen zusammen und hatten Alina treu gedient. Als die Sättel auf dem Boden lagen und damit auch Alinas ganze Habe, scheuchte der Dicke sie mit einem Klaps auf das Hinterteil davon. Er winkte Alina und marschierte in Richtung des Drakkenschiffs voran. Elend folgte sie ihm. Benni schien mit dem Schlimmsten zu rechnen, denn sein Kopf wie auch seine Rute waren tief gesenkt. Sie redete ihm aufmunternd zu. Als sie das Drakkenschiff erreichten, schlüpften die beiden Echsenwesen durch einen seitlichen Einstieg ins Innere des Gefährts, und der Mönch, der noch mit Alina draußen stand, forderte sie auf, sich auszuziehen. »Ich soll mich ausziehen?«, keuchte sie ungläubig. Er nickte. »Ja, du kriegst was anderes. Los, mach schon. Ich schau dir nicht zu.« Er trat zu dem Einstieg und schnauzte einen der Drakken an, ihm einen Anzug zu geben. Als er das Verlangte erhalten hatte und sich wieder zu ihr umdrehte, stand sie immer noch da wie zuvor. Er hatte ein weißes Bündel in der Hand. »Soll ich mich ganz ausziehen?«, fragte sie befangen. »Ist besser. Dieses Zeug hier taugt mehr, als man meinen möchte. Ist auch Unterwäsche dabei.« Er lä460 chelte leicht und wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Ich wünschte fast, ich könnte meinen derben Zwirn dagegen eintauschen. Allerdings ... na ja, die Farbe, weißt du?« Alina verstand. Das Weiß schien die Farbe derjenigen zu sein, die Sklavenarbeiten zu verrichten hatten -oder wie auch immer man das nennen musste. Sie seufzte. Für den Augenblick half ihr nichts aus ihrer Zwangslage. Sie mahnte sich, ruhig und geduldig zu bleiben und die Augen offen zu halten, damit ihr ein späterer möglicher Ausweg nicht entging. 461 25 ♦ Yanalee An Bord des kleinen Drakkenschiffs befanden sich noch zwei andere Gefangene. Der eine war ein dürrer langer Kerl namens Jorell; er erklärte mürrisch, dass er Jäger und Fallensteller gewesen wäre, wobei er das Wort gewesen spöttisch betonte. Der andere war ein kräftiger Mann von etwa 50 Jahren mit kurz geschorenem Bart; Alina hatte den Verdacht, dass er ein Magier sein könnte. Er hieß Cleas. Er brummte nur abweisend, als sie vorsichtig fragte, was denn sein Beruf gewesen wäre. Die beiden waren ausnehmend schlecht gelaunt. Sie selbst trug nun auch Weiß, es war ein Anzug, der aus einem Stück bestand: Hose und Oberteil in einem. So etwas hatte sie noch nie angehabt, aber sie empfand es nicht als unangenehm. Das Material war ihr unbekannt; allein seine winzige Webstruktur ließ den Schluss zu, dass es eine Art Stoff war. Es fühlte sich geschmeidig an und war angenehm auf der Haut zu tragen. Das wirklich Erstaunliche daran war, dass sich Körperweite und große ganz von selbst anpassten. Und es saß dennoch nicht hauteng, sondern schaffte sich dort, wo sich Körper oder Gelenke beugten, von selbst Spielraum. Auch die weiße Unterwäsche fühlte sich angenehm an. Der Dicke hatte ihr erklärt, man könne den Anzug ein paar Tage lang tragen, danach würde er einfach weggeworfen und man bekäme neue Sachen. Alina empfand es als seltsam, dass man sie mit guter Kleidung versorgte; den Begriff Sklaverei hatte sie immer mit Schinderei, Hunger und Lumpenkleidern gleichgesetzt.
462 Der dicke Mönch hatte mit einem unbeteiligten Blick zwischen Jorell und Cleas Platz genommen, die abweisend aus den Fenstern blickten. Die beiden Drakkensoldaten saßen etwas abseits rechts und links, zwei andere waren vorn im Flugschiff und steuerten es. Der gesamte Flug ging ohne ein weiteres Wort vonstatten. Nur Benni, der zwischen Alinas Beinen lag, winselte von Zeit zu Zeit leise. Alina war noch nie zuvor geflogen und hatte ohnehin nicht viel Aufmerksamkeit für ihre Begleiter übrig. Sie reckte den Hals und starrte mit pochendem Herzen hinaus zu den vorbeiziehenden Flanken der Stützpfeiler. Als das Drakkenschiff seine Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, huschte es beängstigend schnell an den Pfeilern vorüber; Alina war sicher, dass kein Drache der Höhlenwelt so pfeilschnell fliegen konnte. Es würde wahrscheinlich nicht allzu lange dauern, bis sie Yanalee erreichten. Während des Fluges rückte sie immer weiter zum Fenster, und da sich niemand darüber beschwerte, wechselte sie schließlich den Sitz. Sie kam dabei einem der Drakken ziemlich nahe, bemühte sich aber, seinen üblen Geruch zu ignorieren. Nun konnte sie wenigstens besser sehen. Unter ihr zog gerade ein breiter Fluss vorüber, sie vermutete, dass dies die Blaue Ishmar war. Gleich darauf änderte das Drakkenschiff die Richtung und folgte dem Flusslauf nach Norden. Alina betrachtete mit Staunen die Welt aus einer Höhe von zweieinhalb oder drei Meilen. Und dabei bekam sie Lust, das Fliegen auf einem Drachenrücken selbst einmal auszuprobieren. Noch waren ihr die Drachen völlig fremd; bisher war sie noch nie einem der mächtigen Wesen wirklich nahe gekommen. Aber Leandra hatte schon so manchen Flug auf einem Drachenrücken hinter sich, und sie hatte Alina vorgeschwärmt, wie wundervoll und erhebend es sei. 463 Alina dachte an ihre Freundin und verlor sich in Gedanken darüber, was sie tun könnte, wenn sie, wie Leandra, ein Mindestmaß an Macht besäße. Magie, ihre Drachenfreunde, die Kunst des Schwertkampfes ... Alinas Wachtraum vermischte sich mit der wundervollen Ansicht der Landschaft. Benni saß nun zwischen ihren Beinen und hatte den Kopf auf ihr rechtes Knie gelegt. Sie streichelte ihn. Er war ein braver und liebeswerter Hund, und sie hoffte, dass es ihr irgendwie gelingen würde, ihn zu behalten. Nach einer Weile legte sich das Drakkenschiff in eine leichte Linkskurve und flog dann einige Dutzend Meilen über hügeliges Grasland und zwischen mächtigen Pfeilern hindurch, die seltsam gleichmäßig über das Land verteilt waren. Dann sah sie rechts Yanalee auftauchen. Es konnte nur Yanalee sein, denn dort entstand gerade eine weitere Stadt der Drakken. Das Schiff ging tiefer, drehte sich während des Fluges und Alina erblickte unter sich einen großen, staubigen Platz, auf dem weitere Drakkenschiffe standen. Sie setzten zur Landung an. Inzwischen hasste sie das Geräusch geradezu, mit dem diese Flugschiffe beschleunigten oder landeten -dieses schreckliche, laute Jaulen, das wie ein Messer durch die Welt schnitt. Es war ein achtloser, kalter und gemeiner Lärm, der alles übertönte. Sie war froh, als das Schiff endlich stand und das Geräusch verebbte. Die seitliche Tür glitt auf und draußen warteten bereits zwei Drakken: der eine ein bewaffneter Soldat, der zweite ein Verwalter, wie Alina diese Sorte mit ihren durchsichtigen Tafeln inzwischen benannt hatte. Umständlich stieg der dicke Mönch aus, gab dem Verwalter seine eigene Tafel und baute sich seitlich neben der Tür auf, um die Übergabe seiner Gefangenen zu beaufsichtigen. Alina und die beiden Männer stiegen aus. 464 »Das Tier!«, sagte der Verwalter scharf und deutete auf Benni. »Das Tier kann hier nicht herein!« Er wandte sich zu dem Drakkensoldaten um und vollführte eine knappe Handbewegung. Sofort trat die Kreatur ein Stück vor und hob seine klobige Waffe - in Richtung Benni. Alina schrie auf und ließ sich sofort neben Benni auf die Knie fallen, um schützend den Arm über ihn zu legen. »Nein!«, rief sie, »das könnt ihr nicht tun!« Dann geschah etwas Seltsames. Benni, in der schützenden Umarmung Alinas geborgen, fand offenbar seinen Mut wieder und fletschte die Zähne in Richtung des Drakkensoldaten. Er stieß ein einzelnes, warnendes Bellen aus, einen kurzen, fast schmetternden Laut - und der Drakkensoldat, nur mehr zwei Schritte von Alina und ihrem Hund entfernt, zuckte zusammen und blieb stehen. Einen solchen Laut hatte er offenbar noch nie vernommen. In seinem plötzlichen Schreck schien er wie gelähmt. Dann aber, nachdem für einige Sekunden angespanntes Schweigen geherrscht hatte, öffnete sich plötzlich das Maul des Drakken. Er riss den Rachen weit auf, als wollte er einen Laut des Entsetzens formen, während gleichzeitig seine kleinen, echsenhaft geschlitzten Augen hervortraten. Ein heißer Schauer fuhr Alinas Rücken herab. Augenblicke später sank die Waffe des Drakken nach unten, glitt aus seinen Klauenhänden und schlug polternd auf den Boden. Alle Anwesenden traten erschrocken zurück. Irgendetwas stimmte mit dem Drakkensoldaten nicht. Er stieß ein kehliges Röcheln aus, schlug sich dann plötzlich mit aller Heftigkeit seine beiden vierfingrigen Klauen vor die Brust und bewegte sich wie einer, der keine Luft mehr bekam, zuerst langsam, ungläubig, dann immer hektischer und zuletzt in Panik und Raserei verfallend. Sein Röcheln wurde zu 465 einem echsenhaften Kreischen, er begann zu toben, während alle Umstehenden angstvoll noch weiter zurückwichen. Endlich schaffte er es, sich seinen grün schimmernden Panzer vom Leib zu reißen; eine Wolke aus Dampf stob auf. Dann dauerte es nur noch Sekunden. Er stieß einen lang gezogenen Laut aus, sackte in sich
zusammen und stürzte leblos zu Boden. Alina kauerte bei Benni, starrte, ebenso wie alle anderen, ungläubig auf den toten Drakken. Schaum stand vor seinem Maul. »Das Tier!«, kreischte der Verwalter und wich vor Benni zurück. »Tötet das Tier! Es hat ihn umgebracht!« Während die vier verbliebenen Drakken, die zur Mannschaft des kleines Schiffs gehörten, vorstürmten und mit gezückten Waffen auf Alina und Benni losgingen, stieß Benni weitere warnende Belllaute aus, mindestens so scharf wie der erste. »Hört auf!«, schrie Alina, »Hört auf!« Sie hob abwehrend eine Hand, während sie mit dem anderen Arm Benni immer noch festhielt. »Ein Hund kann niemanden umbringen, nur weil er bellt!« Die vier Drakken hatten sie mit erhobenen Waffen umringt. Alina fragte sich voller Angst, ob sie nun gleich selbst mit getötet werden würde. Aber da trat der dicke Mönch neben sie und hob ebenfalls die Hände. »Sie hat Recht, bei den Kräften!«, rief er laut. »Lasst sie! Das ist doch Unsinn!« Wie zur Bestätigung begann Benni zu kläffen, vor lauter Aufregung über die Situation und weil er sich im Schutz von zwei Menschen sicher glaubte. Die Drakken erschauerten, aber keiner von ihnen zeigte eine ähnliche Reaktion wie der erste. Sie blieben unversehrt. »Gib mir den Hund«, raunte der Mönch Alina zu. Sie blickte hoffnungsvoll zu ihm auf. »Ich kann ihn. zwar nicht behalten«, flüsterte er ihr zu, »aber ich kann ihn eine Meile von hier fortbringen und dann dort draußen irgendwo freilassen. Dann bleibt er wenigstens am Leben.« »Das ... würdest du tun?« »Ja doch! Nun mach schon.« Sie blickte sich Hilfe suchend um. »Aber ...« Der Mönch verstand. Mit heftigen Bewegungen entledigte er sich seines roten Leibriemens und reichte ihn Alina. Während sie die dicke, rote Kordel um Bennis Halsband knüpfte und ihm dabei zuredete, er möge gehorchen und ruhig bleiben, sagte der Mönch mit einem verlegenen Lachen in die Runde: »Ich werde den Hund nehmen. Ich mochte Hunde schon immer! Kein Grund zur Aufregung, ja?« Die Drakken blieben nur reglos und mit weiterhin erhobenen Waffen stehen. Offenbar hatte der Mönch trotz seines etwas unbeholfenen Auftretens einen gewissen Rang. Alina erhob sich und reichte ihm die Kordel. »Wie heißt du?«, fragte sie leise. Er sah sie verwundert an, während er die Kordel nahm - so als hätte sich noch nie jemand für seinen Namen interessiert. In seiner lose herabhängenden Robe sah er irgendwie lächerlich aus - wie ein Fass. »Ullrik«, stammelte er. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und deutete auf ihre Nasenspitze. »Merke dir mein Gesicht. Wir werden uns bestimmt einmal wieder sehen, glaub mir. Und dann werde ich an dich denken!« Er forschte in ihren Zügen, was das bedeuten mochte, und irgendein Teil seines Geistes (oder seiner Seele?) schien es zu verstehen. Nach kurzem Zögern lächelte er unsicher zurück. »Das ... das ist nicht schwer zu merken«, meinte er. Dann schnitt auch schon das Kommando des Ver466 467 walters durch die Luft. Einer der Drakken winkte sie mit erhobener Waffe in Richtung der riesigen, sich im Bau befindlichen Drakkenstadt. Keiner kümmerte sich um die Leiche. Sie bewachten sie nur, warteten offenbar auf Verstärkung. Alina warf einen letzten, traurigen Blick zurück zu Benni, der ihr so sehr ans Herz gewachsen war. Er blieb widerspruchslos bei Ullrik, dem Mönch, und sah ihr ebenso traurig hinterher. Immerhin würde er am Leben bleiben. Alina hoffte, dass sie je eine Gelegenheit finden würde, den Mönch wieder zu sehen, denn sie war ihm sehr dankbar. Ob sie sich dann jedoch in einer Position befand, an ihn denken zu können, war eher unwahrscheinlich. * Yanalee war eine weitläufige Anlage am Fuß einer Hügelkette. Eigentlich war es nur ein kleines Dorf gewesen, aber dieses war von den riesigen Drakkenbauwerken förmlich aufgesogen worden. Yanalee sah indes völlig anders aus als die Anlage, bei der man sie aufgegriffen hatte - es war viel flacher gebaut, erstreckte sich aber über einen größeren Bereich. Die zeltartigen, metallisch glänzenden Gebäude, die weitläufigen Trägerkonstruktionen und die Masten mit den zwischen ihnen gespannten Seilen gab es jedoch auch hier. Am nördlichen Ende, zu den aufsteigenden Hügeln hin, erstreckte sich eine weite, sehr flache Halle mit einem gewölbten und gerippten Dach; dahinter erhob sich ein unförmiger Bau mit gewaltigen Rohren. Aus dem größten von ihnen quoll eine dichte, rotbraune Wolke, die sich majestätisch langsam in die Lüfte erhob und nach Norden davonzog. Sie war längst nicht von dem Ausmaß der anderen Staubwolke, die sie bereits gesehen hatte, aber Alina zweifelte nicht daran, dass sie bald ebenso gewaltig sein würde. 468 Diese Anlage konnte nicht älter als ein paar Tage sein - aber sie war schon jetzt gewaltig. Auch hier gab es bereits einen Start- und Landeplatz für Drakkenschiffe, mehrere breite Straßen, auf denen sich riesige Fahrzeuge
bewegten, und natürlich eine Vielzahl von Menschen und Drakken, die überall unterwegs waren -fast nur in Gruppen und immer in zügigem Tempo. Ihre kleine Gruppe bewegte sich über das staubige Landefeld nach Westen auf ein flaches Zeltgebäude zu. Mehrmals noch warf Alina Blicke zurück, aber der Mönch und Benni waren schon hinter den Drakkenschiffen verschwunden, die zahlreich auf dem Flugplatz standen und in steter Folge lärmend landeten oder abhoben. Von rechts trafen sie auf eine andere Gruppe von Gefangenen, die sich ihnen anschlössen, dann erreichten sie den Rand des Flugfelds und dort stand eine weitere Gruppe, die bereits wartete. Insgesamt waren sie vierzehn oder fünfzehn Personen, ein Teil davon Frauen -und alle in Weiß. Kinder oder Halbwüchsige waren nicht unter ihnen. Mehrere bewaffnete Drakkensoldaten bewachten sie mit starren Blicken. Alina vermutete, dass die anderen Leute hier auf die gleiche Weise rekrutiert worden waren wie sie selbst. Und ihnen blühte auch das gleiche Schicksal: Sie würden hier arbeiten müssen. Löcher in die Erde bohren. Wozu das gut sein sollte, vermochte sie sich immer noch nicht vorzustellen, aber sie war neugierig, hinter das Geheimnis dieser Drakkenanlagen zu kommen. Ein seltsames Geräusch schwoll an und erschrocken fuhr sie herum, als mit lautem Gezische und Gebrumm ganz in ihrer Nähe ein riesiges Fahrzeug zum Stillstand kam. Es war ein weißes Riesending auf einem Dutzend gewaltiger grauer Räder; lang gestreckt, flach, und vorn mit einer Art Kabine, in der zwei Drakken saßen. Nach hinten hin gab es einen ebenen Teil, der 469 mit kastenartigen Sitzen bestückt war. Kaum stand das Ding, entfaltete sich aus seiner Seite geräuschvoll eine Art Treppenaufgang, dessen unterste Stufe sich dumpf in den staubigen Boden grub. Es war nicht schwer zu erraten, dass sie alle dort hinauf sollten, und dann war auch schon einer der Verwalter da, der ihnen genau dies befahl. Alle Gefangenen gehorchten, niemand sagte etwas. Die Drakken hatten bisher ganze Arbeit geleistet und mit ihrem gnadenlosen Vorgehen allen Menschen unmissverständlich klar gemacht, dass sie keinerlei Widerstand dulden würden. Alma schloss sich den anderen Leuten an. Bald darauf ruckte das Fahrzeug an und polterte auf die staubige Piste, die in einer weiten Schleife auf die Drakkenstadt zuführte. In Alinas Magen machte sich ein bleiernes Gefühl breit. War sie erst einmal dort drin, in dieser Stadt, gab es wahrscheinlich kein Herauskommen mehr. Die Täuschung mit ihrem unechten Halsband funktionierte immer noch, aber was nützte ihr das schon, wenn sie nie wieder das Tageslicht erblicken würde und irgendwo in der Tiefe dort unten Stollen und Löcher graben musste? Sie mahnte sich, nicht gleich in Niedergeschlagenheit zu versinken. Erst einmal galt es festzustellen, wohin man sie brachte und ob es nicht vielleicht doch noch Auswege gab. Nach einer schaukelnden Fahrt von einer halben Meile erreichten sie die hohen, silbrigen Gebäude. Alina erkannte erst hier, wie groß die Bauwerke wirklich waren. Überall zogen sich metallene Gerüste dahin, manche bogenförmig, andere steil oder schräg in die Höhe aufragend, wieder andere als Stützen oder tragende Zwischenteile eingesetzt. Gleich einem Spinnennetz spannten sich zwischen ihnen silbrige Seile, an denen die Zeltwände der Gebäude befestigt waren. Diese aber hatten nur die Form mit Zeltwänden gemein; sie bestanden aus weißlich silbernem Material und wirkten so steif und unbeweglich, dass man sich fragte, wozu überhaupt all die Stützen und Seile da waren. Ein scharfes Kommando erschallte und Alina fuhr überrascht herum. Es war eine menschliche Stimme gewesen, wie beim Militär, und sie erblickte einen großen Mann in einem grauen Anzug, der die Ankömmlinge barsch von dem Fahrzeug herabwinkte. Alina ahnte, was das zu bedeuten hatte. Während sie den anderen folgte und sich in eine Reihe eingliederte, zu der sie der Mann mit derbem Gebrüll hintrieb, wuchs in ihr die Gewissheit über die Richtigkeit ihrer Annahme. Ein zu unterdrückendes Volk ließ man am besten durch sich selbst beherrschen. Man spielte es einfach gegen sich selbst aus, indem man eine Reihe von Privilegien einführte, die all jene genießen konnten, die sich als willfährige Helfer erboten. Dieser Kerl hier war so einer, und Alina setzte ihn gleich ganz oben auf ihre Liste derer, die dereinst, wenn die Drakken besiegt waren, eine saftige Abrechnung zu erwarten hatten. Beinahe hätte sie über sich selbst gelacht. Dereinst, wenn die Drakken besiegt waren!, echote es in ihrem Kopf. Es war ein dummer Spruch, der angesichts ihrer momentanen Lage wenig Sinn machte. Trotzdem empfand sie eine Winzigkeit Stolz. Langsam schien die Leandra in ihr zu erwachen, die sich nicht so einfach geschlagen geben wollte. »So, Leute!«, rief der große Mann, sich plötzlich um einen kameradschaftlichen Ton bemühend. Er hatte sich vor ihnen aufgebaut, die Hände in die Seite gestemmt, seine Körperhaltung irgendwo auf halben Weg zwischen militärischer Steifheit und lockerem Gehabe. Er wirkte wie einer, der diese Aufgabe schon 470 471 seit Jahren bestritt. Erstaunlich, wie rasch sich manche Menschen auf eine ganz neue Situation einstellen konnten. »Willkommen in Yanalee!«, rief der Mann überflüssigerweise, denn keiner der Gefangenen wirkte so, als läge er Wert auf einen zynischen Gruß. »Hier wird eine neue Abbauanlage errichtet, wie ihr seht. Die Drakken haben in der letzten Woche viele solcher Anlagen gebaut und es fehlt an Leuten. Deswegen seid ihr hier.«
»Wie schön, dass wir helfen können!«, rief einer. »Ich kann auch nichts dafür«, erwiderte der große Mann. Alina hatte schon halb erwartet, dass er einen Drakken herbeiwinken und den Schreihals abführen lassen würde. »Fügt euch ein«, rief er, »und ihr werdet sehen, dass es hier gar nicht so schlimm ist. Ihr bekommt gutes Essen, ausreichend Schlaf und anständige Kleider. Die Drakken haben nicht vor, uns zu vernichten. Sie brauchen unsere Arbeitskraft und behandeln uns dafür anständig.« Nun wagte auch Alina einen Zwischenruf. »Ich wusste nicht«, rief sie spöttisch, »dass anständige Behandlung die Sklaverei rechtfertigt!« Der Mann warf ihr nur einen finsteren Blick zu, erwiderte aber nichts. Dann rief er, an alle gewandt: »Los, folgt mir jetzt. Ich zeige euch hier alles - auch eure Arbeitsplätze.« Er wandte sich um und stapfte durch den Staub davon. Als er auf eine breite, verschiebbare Tür aus Metall zustapfte, die sich an der Stirnseite des vor ihnen liegenden Gebäudes befand, setzte sich die Gruppe in Bewegung. Alina kämpfte mit sich selbst; sie wollte für all dies, was sie in den folgenden Stunden zu sehen bekam, nichts als Hass und Verachtung empfinden, aber sie schaffte es nicht ganz. Nicht, dass ihr gefallen hätte, 472 was sie sah, aber sie empfand es als faszinierend, geheimnisvoll und interessant, was die Drakken hier aufbauten. Es begann damit, dass sie nach einigen anfänglichen Korridoren durch eine riesige Halle geführt wurden, in der hunderte von Menschen an langen Tischen saßen oder durch die Gänge zwischen den Reihen liefen. Sie aßen, tranken oder holten sich, wie es aussah, Nachschub. Alle waren in Weiß gekleidet, manche von ihnen trugen Grau, ein paar wenige Ocker. Es wirkte beinahe wie ein ausgelassenes Festgelage. Nur an den Ein- und Ausgängen standen schwer bewaffnete Drakkenposten; einige patrouillierten zwischen den Tischen. »Hier könnt ihr essen und eure Pausen verbringen«, sagte der Mann. »Übrigens, ich heiße Renash. Ich bin ab jetzt euer Vorarbeiter. Wir werden immer gemeinsam hierher gehen. Vier Stunden Arbeit, eine Stunde Pause, dann drei Stunden Arbeit, und wieder eine Stunde Pause und zuletzt noch mal drei Stunden Arbeit. Dann geht's ab nach Hause.« »Ab nach Hause?«, fragte Cleas überrascht. Renash nickte. »Ja. Mit einem Flugschiff - in die Dörfer. Hier schläft niemand. Wer von euch als freier Händler unterwegs war, wird irgendeinem Dorf zugeteilt. Dort habt ihr dann zwölf Stunden frei, bis ihr wieder abgeholt werdet.« »Frei?«, riefen gleich mehrere im Chor. »Na ja«, räumte Renash ein. »Ihr wisst schon - so frei, wie man halt in einem Dorf ist. Die Drakken haben ja überall ihre Posten. Ihr könnt schlafen und euch um eure Familien und Häuser kümmern. Dann kommt ihr mit der nächsten Schicht wieder hierher. Verpflegt werdet ihr hier, nur die Kinder und die Alten, die nicht hierher kommen, kriegen Nahrung in den Dörfern. Alle zehn Arbeitstage gibt es für jeden zwei freie Tage.« 473 Alina stieß einen Laut der Verblüffung aus. Was hier auf der Tagesordnung stand, war kein blutiges Zu-Tode-Schinden, sondern offenbar ein höchst präzise ausgeführter Plan - darauf ausgelegt, aus jedem Einzelnen einen möglichst hohen Nutzen herauszuholen. Vermutlich gab es sogar eine Krankenstation. Sie blickte sich um: Hier in dieser Halle war niemand zerlumpt oder sah zerschunden aus. Renash winkte sie weiter. Sie durchquerten die Halle; Alina sah mehrere Ausgabestellen für Essen, wo sich die Menschen auf großen Tellern Nahrung holten. Sie konnte jedoch nichts von diesem Essen identifizieren, als sie Leuten, die an ihr vorbeigingen, auf die Teller blickte. Es handelte sich fast nur um breiartige Kost; Verschiedenes darunter hätte auch eine Art Gemüse sein können. Fleischstücke, Kohl oder Obst suchte sie vergebens. Ungeachtet dessen schienen die Leute das Essen nicht zu verschmähen. Ihre Verwunderung wuchs. Sie verließen die Halle, durchquerten lange Korridore und weitere Hallen, wo sie weiß gekleidete Menschen, Drakken und riesige Geräte und Maschinen sah. Es herrschte überall eine fast schon friedlich zu nennende Betriebsamkeit, und das war mehr als verwirrend. Sie hatte ernstlich erwartet, in jedem zweiten Korridor Leichen, misshandelte Leute und brüllende Wärter zu sehen, während Gestank, Verwesung und tiefe Not herrschten. »Bei den Kräften, was ist hier nur los?«, flüsterte sie Cleas zu, der neben ihr herging. Er warf ihr nur einen unschlüssigen Seitenblick zu und zuckte die Schultern. Sie erreichten eine weitere Halle, nicht sehr groß, mit zwei Ausgängen. Mehrere bewaffnete Drakken waren anwesend. Renash hob die Hand und blieb stehen. »Haben wir Magier unter uns? Magier müssen 474 da drüben lang!« Er deutete auf die Tür, die nach links führte. Niemand meldete sich. Renashs Blick durchsuchte die Gruppe und blieb auf Cleas hängen. Er trat vor ihn. »Und du? Bist du kein Magier?« Cleas schüttelte nur wortlos den Kopf. »Sicher? Du siehst mir ganz wie einer aus! Deine Haartracht und dein kurz geschorener Bart ...!« Cleas schüttelte wieder den Kopf. »Nein!«, sagte er. Renash seufzte. »Na, meinetwegen. Was geht's mich an. Los, alle nach hier drüben!« Er ging wieder voran.
Durch eine große Schwingtür betraten sie einen lang gestreckten Raum. Links und rechts an den Wänden waren lange Reihen von großen Kästen montiert, die obere Hälfte durchsichtig, die untere aus weißem Material bestehend. Überall liefen Schläuche, Rohre und metallene Streben entlang. Ein Brummen und Piepsgeräusche erfüllten die Luft, Lichter blinkten, und aus verschiedenen Öffnungen drangen zischende Dampfwolken, die sich aber rasch wieder auflösten. Weiter vorn waren ein paar Leute unterwegs, zwei davon in riesigen, aufgeblasenen silbernen Anzügen. »Von hier aus geht's hinunter in die Abbaustollen«, erklärte Renash. »Das da in den Kabinen sind Schutzanzüge. Da unten wird Gestein geschnitten und dazu braucht ihr diese Anzüge. Wolodit, um genau zu sein.« »Wolodit? Wozu brauchen sie denn das?« Renash hob die Schultern. »Keine Ahnung. Sie machen irgendwas damit, aber was, weiß ich nicht.« Die Leute sahen sich unschlüssig an. »Wolodit ist ohne besonderen Wert«, hörte Alina den Mann flüstern. »Es ist nur verteufelt hart. Bin mal gespannt, womit sie es schneiden wollen.« »Sucht euch jetzt alle eine Kabine, in der so ein Schutzanzug drin ist!«, sagte Renash laut in die Runde. »Zieht euren Anzug und auch die Unterwäsche aus, 475 hängt die Sachen seitlich an die Haken und merkt euch die Zahl an der Kabine. Stellt euch dann gerade davor auf das graue Viereck auf dem Boden - und legt die Hand auf die grüne Fläche. Ist sie rot, sucht ihr euch eine andere Kabine. Keine Sorge, es passiert euch nichts. Los jetzt!« Zögernd folgte Alina der Anweisung. Sie fand bald eine Kabine mit einer grünen Fläche auf der Vorderseite, und baute sich davor auf. Das Ding war größer als sie, hatte eine Form wie ein großes, aufrecht stehendes Ei, und seine obere Hälfte war durchsichtig, während der hintere Teil mit der Wand verschmolz. Im Inneren befand sich einer dieser unförmigen, riesigen Anzüge; sie sah Schläuche und Stäbe oder was auch immer das sein mochte. Der Anblick war höchst fremdartig, aber Alina empfand es gleichzeitig als aufregend, was hier passierte. Sie sah kurz nach den anderen, öffnete dann den seltsam klebrigen Verschluss auf der Vorderseite ihres weißen Anzugs und legte ihn ab. Nachdem sie ihn an einen der besagten Haken gehängt hatte, schlüpfte sie aus der Unterwäsche. In ihrer Nische war sie einigermaßen unbeobachtet. Sie streckte die rechte Hand aus und legte sie auf die grüne Fläche knapp unterhalb des durchsichtigen oberen Teils der Kabine. Licht flammte im Inneren auf und mehrere bunte Lichter begannen zu funkeln. Nach kurzer Zeit ertönte ein leises Zischen; Alina erschrak, als sich das Ei vor ihr der Länge nach aufspaltete. Es öffnete sich wie eine zweiflügelige Tür und allerlei fremdartige Geräte und Dinge im Inneren wurden sichtbar. Mit pochendem Herzen blieb sie stehen, während das Ei langsam auf sie zufuhr. Dann öffnete sich auch der Anzug; es war, als zerschmölze seine Rückseite, die vor ihr lag, und für Augenblicke erschien ihr der Anblick so Furcht einflößend, dass sie dagegen ankämpfen musste wegzu476 laufen. Doch da hatte sie das Ding schon umschlossen und eine kribbelnde Wärme umfloss ihren Körper. Sie stöhnte leise auf - es war ein ausgesprochen wohliges Gefühl, das in ihr aufkam. Ihr ganzer Körper mit Ausnahme des Gesichts war plötzlich von einem watteartigen Schaum umschlossen, ihre Hände schienen in Handschuhen zu stecken. Vor ihrem Gesicht bildete sich eine Art Scheibe, doch sie konnte den Kopf drehen und sich überallhin umblicken. Das ganze unförmige Ding erwies sich als überraschend beweglich und der weiche Schaum auf ihrer Haut fühlte sich nach wie vor erstaunlich angenehm an. Alinas Verwunderung über all diese neuartigen Dinge wuchs sich langsam zu Verwirrung aus. Vor einer halben Stunde noch hatte sie damit gerechnet, jetzt bereits eine Peitsche geschmeckt zu haben. War stattdessen dies die fluchenswerte Methode der Drakken, die Menschen zu versklaven: indem man ihnen wohlige, angenehme Dinge zur Verfügung stellte? Alina spürte nun eine Art elektrisches Kribbeln auf der Haut und vernahm ein leises Summen. Dann merkte sie, dass sie mitsamt ihrem Anzug innerhalb der eiförmigen Kabine umgedreht worden war. Vor ihr öffnete sich der Spalt wieder und sie wurde sanft nach vorn gestoßen. Neugierig sah sie sich nach den anderen um. »Die Anzüge schützen euch vor gefährlichem Staub und vor den Strahlen dort unten in den Stollen«, hörte sie Renashs Stimme in ihrem Anzug. Überrascht drehte sie sich um die eigene Achse. »Vor Strahlen!«, fragte sie - ins Nichts hinein. »Ja«, kam prompt Renashs Stimme zurück. »Ich weiß leider nicht genau, was das bedeutet. Ich weiß nur, dass diese Strahlen schädlich sind und die Anzüge uns davor schützen.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Es war wohl das 477 erste Mal in dieser Welt, dass Sklaven vor etwas geschützt wurden. Langsam verstand sie nicht mehr, wo sie hingeraten war. »Ihr bekommt Werkzeuge«, fuhr Renash fort, »die Brenner genannt werden. Vom ist eine heiße Flamme. Sie ist gefährlich und erzeugt, soweit ich mitbekommen habe, diese Strahlen. Am besten, ich zeige es euch. Kommt mit!« Endlich hatte Alina die Orientierung wiedergewonnen und bewegte sich nun rasch in Richtung der Gruppe von Leuten in ihren Blasenanzügen, die sich am unteren Ende der Halle sammelten. Jede Bewegung ging völlig mühelos vonstatten. Sie vernahm überraschte Laute der anderen, und seltsamerweise war es so, als befänden sich
die Stimmen in ihrem Anzug. »Die Anzüge verstärken eure Bewegungen«, erklärte Renash. »Die Werkzeuge sind sehr schwer und das Wolodit ist es auch.« Unter ungläubigem Gemurmel verließen sie die lang gestreckte Halle und erreichten einen flachen, sechseckigen Raum. Kaum waren sie alle drin, schob sich eine Tür zu und Augenblicke darauf hatte Alina das drängende Gefühl, als bewegte sich der gesamte Raum abwärts. Renash bestätigte es. »Ein Aufzug«, erklärte er. »Er bringt uns ziemlich weit nach unten - etwa eine Viertelmeile. Dort ist eine Ader.« Alina verstand nicht ganz, wie man einen Raum eine Viertelmeile in die Tiefe versetzen konnte. »Eine Woloditader?«, fragte sie. »Wolodit gibt es doch überall. Da braucht man keine Löcher graben!« »Nein, es ist eine Kalksteinader«, korrigierte Renash. »Massives Wolodit ist zu hart, um es vernünftig abbauen zu können - selbst für die Drakken. Sie suchen nach besonderen Adern im Wolodit, in denen Kalkstein von Woloditschleiern durchsetzt ist. Dort werden mit großen Vortriebsmaschinen Stollen gebohrt. Das in Schleiern vorkommende Wolodit kriegen ihre Maschi478 nen klein. Wir müssen es dann in mundgerechte Häppchen zerteilen und verladen.« Ein Ruck fuhr durch den Raum, dann schob sich die komplette hintere Wand zur Seite und gab den Blick auf einen gewaltigen Stollen frei - so groß, dass bequem ein Sonnendrache hätte hindurchsegeln können. Alina stieß einen überraschtes Laut aus. Sie trat aus dem Aufzug hinaus und richtete den Blick in die Höhe. Es war ein fast kreisrunder Tunnel, der vor ihr in die Ferne führte. An mehreren Stellen waren riesige, grelle Lichter angebracht, aber man konnte sie nicht klar erkennen, denn die gesamte Halle war von rötlichem Staub erfüllt. Nun verstand sie - diese Anzüge stellten offenbar auch Atemluft bereit, denn hier unten konnte man ungeschützt gewiss kaum Luft holen. Plötzlich tauchte mit Getöse aus dem milchig-rotbraunen Staub vor ihr ein riesiges Fahrzeug auf. Erschrocken stob die Gruppe auseinander - mit dem Ergebnis, dass manche einen ziemlich hohen Luftsprung machten. Aber das Fahrzeug polterte weit genug an ihnen vorbei. Es war dem nicht unähnlich, mit dem sie vom Flugplatz aus zur Stadt gebracht worden waren, nur besaß es auf der Oberseite eine riesige Wanne aus Metall, in der sich Gesteinsbrocken türmten - wahrscheinlich das Wolodit. »Um das Gestein aus den Adern zu brechen, muss viel Kraft aufgewendet werden«, erklärte Renash mit lauter Stimme. »So viel, dass dabei der Kalkstein völlig zertrümmert und zu Staub zermahlen wird. Und nun kommt mit!« Sie erreichten ein weiteres Fahrzeug, das vor ihnen aus dem Staub auftauchte. Es bestand jedoch aus nicht mehr als einer großen, flachen Metallplatte, etwa eine Handbreit dick, die auf unerklärliche Weise drei Handbreit über dem staubigen Boden schwebte. Sie war gelb und schwarz gestreift und auf ihrer Oberseite befan479 den sich Geländer zum Festhalten. Kaum waren sie alle aufgestiegen, setzte sich die Platte in Bewegung und glitt in beachtlichem Tempo über den Grund hinweg. Alina bekam Angst, dass sie mit einem der riesenhaften Lastfahrzeuge zusammenstoßen könnten, das plötzlich aus dem dichten Staub auftauchen mochte - aber dann beruhigte sie sich wieder. So etwas würde nicht zu dem präzisen Ablauf passen, den die Drakken hier in Gang gebracht hatten. Sie bogen an einer Verzweigung in einen Seitentunnel ein, der einen fast ebenso großen Durchmesser besaß wie der Haupttunnel. Dann schwoll vor ihnen Lärm an. »Ihr müsst nun die Außenlautstärke herunterdrehen!«, rief Renash und deutete auf seinen rechten Unterarm, wo sich in Höhe des Handgelenks ein klobiges blaues Rad befand. »Wir nähern uns der Vortriebsmaschine und da ist es verdammt laut!« Mit erhobenem Arm zeigte er, wie man die Lautstärke vermindern konnte. Alina tat es ihm nach und stellte fest, dass der aufschwellende Lärm von draußen tatsächlich leiser wurde. Draußen musste es brüllend laut sein. Renashs Stimme wurde wieder klarer und er sprach leiser. Irgendwie musste sie über einen anderen Weg in ihren Anzug gelangen. Schließlich hielt die schwebende Plattform an und Renash sprang herunter. Alina und die anderen folgten ihm. Bald darauf schälten sich aus dem Staub die Umrisse anderer Menschen in Anzügen. Alina blieb erstaunt stehen, als sie sah, was sie taten. Sie trugen riesige, längliche Geräte, die an der Spitze einen kurzen Bogen aus orangefarbenem Licht ausspieen. Mit diesen Geräten rückten sie großen Gesteinsbrocken zu Leibe, die sich vor ihnen auftürmten. Das war offenbar die Hinterlassenschaft dieser Vortriebsmaschine, was auch immer das sein mochte. Alina nahm an, dass es ein riesiges Ungetüm sein muss480 te, das sich dort vorwärts grub, irgendwo im dichten Staubnebel vor ihnen. So groß wie ein Haus - der Durchmesser des Tunnels deutete darauf hin. Die Männer und Frauen zerschnitten mit ihren Brenngeräten mehr als mannsgroße Woloditbrocken in kleinere Stücke. Andere Arbeiter besaßen Geräte, mit denen sie diese Brocken packten und abtransportierten. Wohin, konnte Alina in dem Staubnebel nicht erkennen, aber wahrscheinlich stand irgendwo eines dieser großen Lastfahrzeuge. Sie riss sich von dem Anblick los und wandte sich um. Renash war mit zwei großen unförmigen Geräten erschienen und nun wurde es richtig spannend. * Stunden später war Alina bereit, ihr anfangs so mildes Urteil über die Behandlung der Menschen durch die Drakken zu korrigieren. Sie befand sich in ihrer zweiten Arbeitsphase, der dreistündigen, und trotz all der
Vorteile ihres erstaunlichen Anzuges war sie reichlich erschöpft. Zum Glück musste sie jetzt, in der zweiten Schicht, nur einen Brenner betätigen. Das war weniger anstrengend, als die großen Brocken mit den Greifern abzutransportieren. Die Drakken hatten andere Worte für diese Geräte, aber die Menschen blieben instinktiv bei dem, was sie noch halbwegs begreifen konnten. Technisch gesehen waren beide Geräte weit jenseits dessen, was ein Mensch der Höhlenwelt zu verstehen in der Lage war. Ein Greifer war ein etwa drei Ellen langes Ding, das man unter der Armbeuge trug; es war an einem Gurt über die Schulter befestigt. Der Anzug verstärkte die Kraft ausreichend, um so ein Gerät problemlos tragen und bewegen zu können. Wenn man es aber einsetzte, wurde es viel schwieriger. Es war nämlich gedacht, um einzelne Woloditbrocken zu tragen. 481 Wolodit war unerhört schwer; jeder der Brocken wog zwischen fünfhundert und tausend Pfund, manche sogar noch mehr. Sie waren unterschiedlich groß, und der Arbeiter, der einen Greifer verwendete, regelte dessen Tragkraft mithilfe eines Drehgriffs am Gerät. Die Kunst bestand darin, sie so zu regeln, dass das Gewicht des Woloditbrockens genau ausgeglichen wurde. Dann klebte er förmlich an der Spitze des Greifers, und man konnte den Brocken auf eine Rampe bugsieren, die ihn auf eines der großen Fahrzeuge hievte. Doch diese Kunst war nicht leicht zu beherrschen. Es endete meist darin, dass der Arbeiter die leichte Ungenauigkeit seiner Einstellung mit der eigenen Muskelkraft ausglich. Und nach vier Stunden dieser Arbeit war Alina so gut wie erledigt. Doch jetzt, in der zweiten Arbeitsphase, musste sie nur brennen. Dazu benötigte sie zwar auch ein wenig Muskelkraft, aber es war längst nicht so anstrengend. Doch so ein Brenner war ein gefährliches Gerät. Renash hatte sie gewarnt, langsam zu Werke zu gehen und den glühenden Lichtbogen an der Spitze nie zu nahe an den Körper kommen zu lassen. Man sollte auch keine zu dünnen Stellen im Gestein schneiden, da das Wolodit sonst zerbersten konnte. Das konnte zu Verletzungen, schlimmstenfalls sogar zum Tod des Arbeiters führen. Alina ging so vorsichtig zu Werke, wie sie nur konnte. Es war niemand da, der sie antrieb - wieder einmal etwas, das sie erstaunte. So konnte sie sich Zeit lassen, die Bedienung der Geräte zu lernen, ohne sich dabei zu verletzen oder gar umzubringen. Ein Brenner war ein wirklich erstaunliches Stück Technik; es war allgemein bekannt, dass man Wolodit so gut wie gar nicht bearbeiten konnte, weil es so unglaublich hart, schwer und feuerfest war. Die Brenner jedoch vermochten Wolodit tatsächlich zu zerteilen. 482 Die Schicht ging diesmal erfreulich schnell vorüber. Die letzte Viertelstunde hatten sie Zeit, wieder hinauf in die Drakkenstadt zu fahren und die Schutzanzüge abzulegen. Sie kleideten sich um und gingen gemeinsam in eine der großen Essenshallen, wo immer noch reger Betrieb herrschte. Es war und blieb für Alina sehr befremdlich, wie wenig bedrohlich oder drangvoll die allgemeine Stimmung unter den Menschen war. Niemand schien hier mit Lust oder Freude seiner Zwangsarbeit nachzugehen, aber es schien auch niemanden zu geben, der deswegen in dumpfe Depression verfallen wäre. Die Menschen redeten und aßen, saßen beisammen, tranken etwas und gingen von einem Tisch zum anderen. Irgendwie erschien das Alina nicht richtig. Sie spürte, dass gerade darin die Tücke des Systems der Drakken lag. Während ihrer ersten Pause hatte sie nichts gegessen, nur viel getrunken. Nun aber meldete sich der Hunger, und sie schloss sich Cleas an, der sich in einer Reihe von Menschen anstellte, die sich mit Tellern in der Hand vor der Essensausgabe aufgereiht hatten. »Bist du wirklich kein Magier?«, fragte sie ihn leise. Seine Laune hatte sich immer noch nicht sonderlich gebessert und er starrte sie eine Weile mit finsteren Blicken an. Dann erwiderte er, ebenso leise: »Nein. Nicht mehr.« Alina warf ihm fragende Blicke zu. »Ich habe noch nie von einem Magier gehört«, sagte sie, »der einfach seinen Beruf niedergelegt hätte.« Cleas schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Aber heutzutage ist alles möglich.« Er rückte ein Stück nach und Alina folgte ihm. Alina verstand. »Die andere Tür, was?«, fragte sie. »Weißt du, was dahinter ist? Warum die Magier dorthin müssen?« Er brummte leise. »Ich habe nur Gerüchte gehört.« 483 »Und welche?« Wieder sah er sie an, überlegte eine Weile. »Es heißt, sie bringen die Magier fort«, sagte er schließlich. »Fort von der Höhlenwelt.« Alina fühlte einen kalten Schauer. »Wirklich?«, flüsterte sie. »Bist du sicher?« »Worin kann man sich schon sicher sein? Die Leute sagen, dass keiner der Magier, die von den Drakken mitgenommen wurden, wieder aufgetaucht wäre. Und dass die Drakken die Geheimnisse der Magie aus uns herauspressen wollen.« Alina nickte leicht. »Ja, das habe ich auch gehört. Es ist sicher wahr. Aber dass sie von der Höhlenwelt fortgeschafft werden sollen ... das ist mir neu.« »Drüben, am Westende der Stadt, soll ein Lager bestehen, wo die Magier hinkommen. Von dort sollen ständig Drakkenschiffe losfliegen und sie nach Westen bringen.« »Nach Westen?«
Cleas nickte. Wieder rückte er nach und Alina folgte ihm. Wenn die Magier tatsächlich fortgeschafft wurden, war es sinnvoll, sie einzeln und in ständiger Folge auszufliegen. Zu viele Magier auf einem Fleck hätten eine Gefahr darstellen können. Aber eine Verschleppung oder ein »Herauspressen« der Geheimnisse der Magie aus ihnen hätte nicht zu der sonstigen Vorgehensweise der Drakken gepasst. Sie schienen das, was sie haben wollten, auf »sanfte« Weise zu erreichen. Dann jedoch geschah etwas, das Alina von diesem Gedanken abrücken ließ. Es begann damit, dass sie jemand von hinten berührte. Sie hielt es für ein Versehen des Nachfolgenden in der Reihe und trat, ohne sich umzudrehen, einen halben Schritt vor. Kurz darauf aber presste sich ein ganzer Körper gegen sie, während sich ein Arm von hinten um ihren Bauch schlang. Es war eine Berührung 484 von solcher Nähe und Vertrautheit, dass ihr im ersten Augenblick durch den Kopf schoss, Victor müsse hinter ihr stehen. Aber das konnte nicht sein. Sie drehte sich um. Es war ein großer Mann, stark und wild aussehend, auf gewisse Weise sogar ein hübscher Kerl. Sein Gesicht war stoppelbärtig, seine Züge kantig und er besaß die Ausstrahlung eines ungestümen Liebhabers. Doch seine Augen hatten etwas Besitzergreifendes und Brutales. Sie nahm sein Handgelenk und zog es von ihrem Bauch weg. »Schönen Dank«, sagte sie leise und mit einem Lächeln, »aber ich hab keinen Bedarf. Ich bin verheiratet, weißt du?« Er grinste zurück, und sie sah, dass es das Grinsen eines Raubtiers war. »Bin ich auch«, raunte er, »aber Bedarf hab ich trotzdem.« Er hatte eine ungepflegte Aussprache und eine raue Stimme und der erste, teilweise fesselnde Eindruck von ihm verflog. Alina hatte sich nun von ihm befreit und trat ein Stück zur Seite. »Es gehören zwei dazu, nicht?«, fragte sie, diesmal weniger freundlich. »Und ich will nicht, also lass mich in Ruhe!« Er hob abwehrend beide Hände und grinste sie an. »Schon gut, kleine Schönheit. Du weißt nicht, was du versäumst!« Sie erwiderte nichts und stellte sich wieder in die Reihe. Cleas musterte den Mann mit finsteren Blicken. Er hätte ihr kaum helfen können. In reiner Muskelkraft war er dem Kerl weit unterlegen, und eine Magie konnte er hier keinesfalls wirken, sofern er wirklich ein Magier war. Er hätte sich verraten. Die Reihe hatte sich weiter voranbewegt und sie hob ihren Teller - nun war sie bald dran. »Ich hab dich gesehen, weißt du?«, hörte sie abermals das Raunen des Mannes knapp hinter ihrem rech485 ten Ohr. »Unten, bei den Schutzanzügen. Nackt. Du hast einen unglaublichen Körper!« Alina schnaufte unwillig. Würde sie dieser Kerl nun nicht mehr in Ruhe lassen? Sie drehte sich um und baute sich unmittelbar vor ihm auf - die Fäuste in die Seiten gestemmt. »Tut mir Leid, dass ich dir gefalle«, sagte sie scharf und diesmal laut genug, dass jeder in der Umgebung es mitbekommen konnte. »Du aber gefällst mir nicht! Genügt das jetzt?« Wieder machte er eine besänftigende Geste, lächelte, erwiderte aber nichts. Alina drehte sich erneut um. Als der Kerl sie das nächste Mal anfasste, spürte sie das harte Ding in seiner Hose. Von hinten umfasste er ihre linke Brust. Sie schrie auf, riss sich von ihm los und hieb mit ihrem Teller nach ihm, der aus einem weichen, leichten Material bestand. »Lass mich in Ruhe, du Blödian!«, schrie sie ihn an. Und dann geschah es. In der unmittelbaren Umgebung erhob sich Unruhe und Augenblicke später waren ein Verwalter und ein Drakkensoldat da. »Was ist hier los?«, zischte der Verwalter. »Er hat mich angefasst!«, rief Alina wütend und deutete auf den Mann, der blass geworden war. Er stand nun allein; um ihn herum hatte sich die Schlange der Wartenden aufgelöst. Er starrte nervös die Drakken an. Der Verwalter trat zwei Schritte auf ihn zu, hob seine durchsichtige Platte und richtete sie in Halshöhe auf den Mann. Ein paar leise Pieptöne erklangen, dann starrte der Drakken seine Platte wieder an. Einige neue Felder waren erschienen und das Abbild eines Kopfes, das vermutlich den Kerl darstellte. »Serakis, Feldarbeiter aus Okanaar«, stellte der Drakken fest. »Das ist deine dritte Verwarnung.« »Meine dritte ...?«, stammelte der Mann und hob abwehrend die Arme. »Nein, ich, äh ...« 486 Der Verwalter blickte kurz den neben ihm stehenden Drakkensoldaten an, sein schmallippiger Mund formte irgendein Wort. Der Soldat hob ohne das geringste Zögern die Waffe und schoss. Ein grauer, wabernder Nebelball von der Größe einer Melone löste sich wummernd aus der Spitze der Waffe, zischte auf Serakis los und traf ihn mitten in den Bauch. Er wurde von der Wucht des seltsamen Geschosses erfasst und zurückgeschleudert, krachte gegen die Hallenwand und sackte dort leblos und mit gebrochenem Blick zusammen. Er hatte nicht einmal einen Schrei ausgestoßen. Alina schrie auf und stolperte mehrere Schritte zurück. Zugleich fuhr ein Aufstöhnen durch die gesamte Halle. Es war eine Hinrichtung gewesen, wie sie gnadenloser nicht hätte sein können. Ohne die Möglichkeit zur Verteidigung oder dazu, die eigene Sicht des Vorfalls zu äußern. Außer einem leicht scharfen Geruch in der Luft wies nichts mehr darauf hin; eine saubere Tötung, kein Blut, keine Leichenteile, nichts anderes sonst, was zerstört worden wäre. Mit am schlimmsten war die Geschwindigkeit, mit der anschließend zwei andere Drakken mit einem gelben, sechseckigen Behälter auftauchten, die Leiche hineinverfrachteten und dann wieder abzogen. Kaum eine Minute später war außer dem Geruch von dem Vorfall nichts mehr wahrzunehmen.
Alina stand da und zitterte. Die Sache mit den drei Verwarnungen hatte sie nicht gewusst, und hätte sie es, wäre dieser Mann jetzt vielleicht noch am Leben. Dann hätte sie nicht geschrieen und damit die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Ein unauffälliger Stoß mit dem Knie an die richtige Stelle hätte vielleicht eine ebenso große Wirkung erzielt - und Serakis würde noch leben. Ihr wurde schlecht. Der Verwalter trat auf sie zu und hob seine Platte. 487 Sie sah rote Lichter funkeln und hörte ein Piepsen. »Gulda, Händlerin aus Savalgor«, sagte er kalt. »Erste Verwarnung.« Damit ließ er sie stehen, winkte dem Drakkensoldaten und verließ den Ort des Geschehens. * Der Rest des Arbeitstages verging wie im Traum - einem bösen Traum. Alina hatte das Gefühl, dass alle sie anstarrten. Später, nach der dritten Arbeitsphase, kam Renash im Umkleideraum zu ihr und sagte, dass es ihm Leid täte. Er habe nicht geahnt, dass sie nichts von der Verwarnungsregel wusste. Irgendwie habe man offenbar vergessen, ihr das zu sagen - es sei auch nicht unbedingt seine Aufgabe gewesen. Dann erklärte er ihr, es sei ein ungeschriebenes Gesetz unter den Menschen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, um solche Verwarnungen zu vermeiden. Selbst wenn man als Frau von jemandem angefasst wurde. Vergessen! Alina hatte Lust, Renash zu ohrfeigen. Aber sie unterdrückte den Impuls und hob unauffällig den Blick, ob nicht irgendwo ein Drakken stand, der ihre Absicht erahnen und ihr vielleicht eine zweite Verwarnung hätte verpassen können. »Es gibt natürlich Dinge, die keinesfalls zu dulden sind«, erläuterte Renash ernst. »Es gab eine Vergewaltigung, die wurde natürlich sofort gemeldet. Der schuldige Mann wurde auf der Stelle getötet.« »Wie schön!«, spottete Alina mit Tränen in den Augen. »Wie schön, dass ihr so verantwortungsbewusst seid, euch eure eigene Gerechtigkeit zusammenzubasteln - nach den Maßgaben der Drakken!« Sie wusste, dass ihre Worte wenig Sinn machten, denn diese Menschen versuchten nur irgendwie, mit der neuen Situa488 tion fertig zu werden. Es gab keinen Gesetz gebenden Rat aus alten, weisen Männern, die den Sinn oder Unsinn von Regeln durchdiskutierten. Es waren Gesetze, die in den Stollen zwischen den Woloditbrocken und im Gedränge der Essenshalle entstanden und alles andere als durchdacht waren. Alina spürte immer mehr, wie perfide der Druck der Drakken eigentlich war und wie gnadenlos sie die Möglichkeiten ihrer Macht ausspielten. Sklaverei nach modernsten Erkenntnissen, dachte sie bitter. Sie ließ Renash stehen und begab sich zu Cleas, der in den letzten Stunden so etwas wie ein väterliches Mitgefühl für sie entwickelt hatte. »Ich bin müde«, sagte sie seufzend zu ihm und berührte ihn am Oberarm. »Unendlich müde. Bevor sie mich eingefangen haben, war ich schon einen halben Tag unterwegs. Dann der Weg hierher ... und jetzt arbeiten wir seit zwölf Stunden.« »Ja, müde bin ich auch. Wird Zeit, dass wir ein bisschen schlafen können.« »Kann ich mit zu dir kommen?«, fragte sie. »In dein Dorf?« Er nickte. »Wenn das geht? Du bist aus Savalgor, nicht?« »Ja. Weit weg von zu Hause. Ich habe hier niemanden. Allerdings ... ich würde gern noch nach meinem Hund sehen. Vielleicht ist er noch draußen, beim Landefeld.« Cleas umfasste ihre Schulter und zog sie mit sich. »Dann beeilen wir uns. Sie werden sicher nicht warten, um dich suchen zu lassen.« Er räusperte sich. »Wenn sie es überhaupt gestatten, dass du nach ihm siehst.« Sie ließ sich von ihm mitziehen. »Vielleicht hat ihn der Mönch noch bei sich?«, flüsterte Cleas, als sie inmitten ihrer Gruppe durch die Hallen und Korridore dem Ausgang des Gebäudekom489 plexes entgegenstrebten. »Der Mönch von der Bruderschaft.« Alina schüttelte den Kopf. »Er sagte, er dürfe ihn auch nicht mit hinein nehmen. Außerdem kann ich nur hoffen, dass Benni den Drakken so fern wie möglich bleibt.« Ihr fiel der Vorfall mit dem toten Drakken wieder ein und sie blickte zu ihm auf. »Hast du die leiseste Vorstellung«, fragte sie flüsternd, »was da passiert ist? Warum der Drakkensoldat tot umfiel, nachdem Benni ihn angebellt hatte?« Cleas starrte nachdenklich ins Leere. »Vielleicht das Geräusch? So ein Bellen ist ein ziemlich scharfer Laut.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe und lächelte grimmig. »Vielleicht ist dem Drakken davon das Gehirn zersprungen?« Alina blickte trübsinnig geradeaus, schüttelte dann den Kopf. »Glaube ich nicht. Er hat schon öfter Drakken angebellt - nachts zum Beispiel, wenn sie mich kontrollierten. Als er zum ersten Mal einen Drakken sah, ist er beinahe durchgedreht. Sie haben ihn betäubt. Aber kein Drakken hat je irgendeine Reaktion gezeigt, als er bellte.« Cleas nickte verstehend. »Vielleicht ist der Drakken krank gewesen«, schlug er vor. »Schließlich ist das eine völlig fremde Welt für sie.« Vor ihnen glitt eine breite Tür auf. Renash trat hinaus und wies sie an, auf dem Gang auf ihn zu warten. Er marschierte davon und kam einige Minuten später mit einer der durchsichtigen Tafeln wieder. Er studierte sie
kurz, las dann Namen vor und nannte dazu jeweils eine Nummer. Anschließend erklärte er, dass dies die Nummer ihrer Transportschiffe sei, mit denen sie in die umliegenden Dörfer gebracht würden. Alina hatte Pech: Cleas war einem anderen Dorf zugewiesen als sie, und Renash sagte, er habe keine Möglichkeit, dies zu ändern. 490 Sie verließen das Gebäude und wurden abermals auf eines der großen Fahrzeuge verladen, das sie zum Landefeld fuhr. Die Morgendämmerung brach gerade an, und ein leichter, warmer Regen fiel auf das Land nieder. Als sie auf die Flugschiffe warteten, versuchte Alina, das Dämmerlicht über der Grassteppe mit Blicken zu durchdringen. Aber sie konnte Benni nicht entdecken. Sich von der Gruppe zu entfernen wagte sie nicht, das hätte ihr vielleicht eine zweite Verwarnung eingebracht. Sie seufzte müde und wandte sich wieder Cleas zu. »Wir sollten versuchen, in Erfahrung zu bringen«, sagte sie leise, »was diesen Drakken umgebracht hat. Was das für eine Krankheit gewesen sein könnte.« Der Landeplatz lag noch halb im Dunkeln und Cleas' Gesicht wurde nur von dem Licht beleuchtet, das von der anderen Seite des Platzes herüber schien. Aber das Erstaunen darauf war deutlich zu sehen. »Wozu willst du das wissen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Es kann nicht schaden, findest du nicht? Vielleicht kommt einmal der Tag, an dem wir ...« Ein schwaches Lächeln überzog sein Gesicht. »Du? Eine Rebellin?« Obwohl sie müde war, konnte sie nicht anders, als zurückzulächeln. »Warum nicht? Traust du mir das nicht zu?« Er nickte bedächtig. Dann tastete er nach ihrem rechten Handgelenk. »Ich bin auch nur ein Mann«, sagte er. »Und ich gebe zu: ich habe da unten, ebenso wie dieser Serakis, einen Blick über die Schulter nach dir geworfen. Was mir aber am meisten auffiel, war das!« Er hielt ihr inneres Handgelenk leicht in die Höhe. Schwaches, orangefarbenes Morgenlicht fiel auf die kleine Tätowierung des Dreieckssymbols mit dem Drachen, der es durchflog. 491 »Du weißt, was das ist?«, fragte sie verwundert. »Das alte Symbol des Hierokratischen Rates. Es besitzt eine schwache Aura, die von jedem Magier erspürt werden kann.« Sie legte den Kopf schief und sah ihn prüfend an. »Von jedem ... Magier?« »Ja, richtig. Von jedem Magier. Du musst eine besondere Person sein. Und in diesen Zeiten solltest du es besser bedecken. Bevor es dir gefährlich wird.« Alina entzog ihm ihre Hand. »Na fein. Dann kennen wir jetzt jeweils ein Geheimnis des anderen. Wirst du meines verraten?« »Ebenso wenig wie du meines«, erwiderte er. »Das will ich doch hoffen.« Mit Gemurmel näherte sich eine Gruppe anderer Arbeiter, kurz darauf noch eine und sie beobachteten schweigend deren Ankunft. Dann ertönte aus der Ferne das inzwischen wohlbekannte jaulende Geräusch, wurde bald darauf vielstimmig und wenig später landeten unter gewaltigem Lärm und aufwallendem Staub vier Drakkenschiffe. Sie trugen große Nummern auf den Seiten, und ein Kommando erschallte, das den Menschen befahl, sofort an Bord ihres jeweiligen Schiffs zu gehen. »Gib auf dich Acht«, sagte Cleas wohlwollend und drückte ihre Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen wieder.« Dann wandte er sich um und marschierte auf das Flugschiff zu, das ihn fortbringen sollte. Alina sah ihm kurze Zeit hinterher und suchte nach dem Schiff mit ihrer Nummer. Als sie müde die kurze Leiter hinaufstieg und in das Schiff klettern wollte, streckte ihr ein junger Mann die Hand entgegen. Er sah gut aus, stellte sich als Timo vor, aber bevor Alina seine Hand nahm, sah sie ihm fest in die Augen. Nein, da war nichts Brutales und Wildes wie bei diesem Serakis. Sie dachte, dass sie ihn, wenn nötig, wie492 der würde loswerden können, ohne sich eine Verwarnung einzuhandeln. Für den Augenblick aber brauchte sie jemanden. Sie hatte keine Lust, in diesem Dorf, wo immer es auch lag, den Tag im Freien unter einem Baum schlafend zu verbringen. Sie flogen zu seinem Dorf und er nahm sie mit ins Haus seiner Mutter, einer alten, hinfälligen Frau, um die er sich rührend kümmerte. Er war eine so freundliche Seele, dass sie gern die Nacht, oder besser: den Tag, in seinem Bett verbrachte - mit ihm. Vorher machte sie ihm natürlich klar, dass sie verheiratet war, ihren Mann liebte und nichts, aber auch gar nichts zwischen ihm, Timo, und ihr passieren würde. Aber seine Wärme und seine Umarmung kamen ihr nicht ungelegen. Sie spürte zwar ebenfalls sein hartes Ding, als sie bei ihm lag, und er umfasste ebenso frech ihre linke Brust - ansonsten aber blieb er brav. Er schien glücklich zu sein, dass er wenigstens das von ihr bekam. Seufzend schlief sie ein und sagte sich, dass es außer Victor offenbar doch noch ein paar anständige Männer auf der Welt gab. Nicht nur solche wie diesen Serakis. Oder Guldor, Rasnor, Ötzli, Chast, Sardin und wie sie alle hießen. 493 26 ♦ Drakkenalltag Zwei Wochen waren vergangen, seit die Drakken über sie gekommen waren, und so etwas wie Alltag begann
einzukehren - ein Alltag unter der Herrschaft der Unterdrücker. Doch die Geschwindigkeit, mit der die Drakken der Höhlenwelt ihren Stempel aufgedrückt hatten, war beängstigend -und ebenso die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen. Leandra war überzeugt, dass sie Monate oder gar Jahre benötigen würden, dieses Joch wieder abzuschütteln, selbst wenn die Drakken von heute auf morgen spurlos verschwänden. Es war tatsächlich so, wie Rasnor gesagt hatte: Sie machten aus der gesamten Höhlenwelt eine Fabrik. Und was Leandra nie für möglich gehalten hätte: Sie hatten sogar die Rolle übernommen, die Menschen der Höhlenwelt zu versorgen. Seit fast einer Viertelstunde standen sie zu viert in Rasnors Arbeitszimmer, Leandra, Victor, Quendras und der Primas. Rasnor selbst war noch nicht aufgetaucht. Leandra hatte die Zeit genutzt, ihren Freunden flüsternd und mit knappen Worten von ihrer Reise mit Rasnor zu erzählen - der Reise, die sie bis hinaus ins All geführt hatte. Ihre Freunde hatten ihr betroffen zugehört. »Ein Mutterschiff haben sie dort?«, fragte Victor. »Ja«, flüsterte Leandra. »Es ist gigantisch. Inzwischen müsste auch der Transport des Wolodits dorthin begonnen haben - in großem Umfang. Sie brauchen riesige Mengen, um nur ein einzelnes Wolodit-Amulett herzustellen.« 494 »Das stimmt«,, nickte der Hochmeister. »Davon habe ich bereits gehört. Es ist erschreckend: Niemand arbeitet mehr für sich selbst, für seinen Lebensunterhalt. Alle tragen diese weißen Kleider, essen Drakkennahrung und arbeiten für sie. Es müssen inzwischen Zehntausende sein, die sie in ihren Bergwerken Wolodit abbauen lassen. Vielleicht Hunderttausende. Sie werden in Arbeitsschichten eingeteilt und täglich zwischen ihren Heimatdörfern und den Bergwerken von Drakkenschiffen hin und her transportiert.« »Ihr habt offenbar eine gute Quelle für Neuigkeiten, Hochmeister«, sagte Quendras leise. Der alte Herr nickte und sagte leise: »Ja, glücklicherweise. Munuel hat es irgendwie geschafft, einen Kontakt zu diesem jungen Kerl aufrechtzuerhalten, der Victor den Pfeil ins Bein geschossen hat. Zu ihm und seinem Freund, diesem kleinen Erfinder.« »Die sind noch frei?« Jockum sah sich um und fuhr leise fort. »Ja. Sie verstecken sich in den Katakomben unterhalb des Palasts, obwohl die Drakken längst dort unten sind. Aber sie finden sie nicht. Ich vermute, Munuel hilft ihnen auf magischem Wege. Sie besorgen Informationen aus der Stadt und spielen sie ihm zu. Wir können nur hoffen, dass sie nicht erwischt werden. Nicht nur, dass uns dann eine wichtige Informationsquelle wegfallen würde. Nein, die Drakken würden sie sicher töten. Sie töten jeden, den sie in der Stadt ohne Halsband antreffen ...« Die hohe Tür des Raumes öffnete sich und Rasnor trat herein. Hochmeister Jockum verstummte sofort und das nötigte Rasnor ein Grinsen ab. »Ich weiß von den beiden, die Munuel mit Neuigkeiten versorgen«, erklärte er. Hochmeister Jockum wurde blass. Rasnor schloss sorgfältig die Tür und wandte sich 495 ihnen wieder zu. »Ich weiß auch von allem, was hier in der letzten Viertelstunde besprochen wurde. Deswegen ließ ich euch so lange allein.« Leandra, Victor, Quendras und der Hochmeister tauschten betroffene Blicke. Rasnor winkte ab, umrundete den großen Schreibtisch, der die nordöstliche Ecke des Raumes beherrschte und setzte sich. »Aber das, was ich hören wollte, war leider nicht dabei. Alles andere kümmert mich nicht weiter. Ich hoffe nur, ihr werdet euch bald darüber klar, dass es nichts mehr zu retten gibt!« Er hob beide Hände und machte eine kindhafte Geste, als wollte er einen Zauber wirken. »Die Höhlenwelt befreien. Die Drakken vertreiben. Den bösen Rasnor töten!« »Jetzt wirst du gleich wieder mit deinen Vorschlägen anfangen«, sagte Leandra herausfordernd, »wie wir gemeinsam die Höhlenwelt regieren könnten. Du und wir - zusammen mit den Drakken! Nicht wahr?« Rasnor winkte abermals ab. »Ich habe es in den letzten Tagen mehrfach versucht, Leandra. Aber hat es etwas gebracht?« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Nein. Hat es nicht. Ihr glaubt immer noch an eure Gerechtigkeit, eure Freiheit. Mag ja sein, dass ihr nur das verlangt, was euch zusteht ... aber glaubt ihr, die kümmert das?« Damit deutete er mit ausgestrecktem Arm nach links und meinte damit unmissverständlich die Drakken. »Ach, ist ja auch egal. Vielleicht lernt ihr es eines Tages doch noch, vielleicht auch nicht.« Die vier schwiegen und tauschten nur Blicke. Schließlich fragte Leandra: »Was war es nun, was du von uns zu hören hofftest?« »Ganz einfach. Mir fehlen noch zwei von euch. Eure Shaba und die hübsche, kleine Roya.« Er erhob sich wieder. »Alina ist irgendwo da draußen, ich rechne jeden Augenblick mit der Meldung, dass sie aufgegriffen 496 wurde. Nun, vielleicht ist sie auch schon tot. Wer mir allerdings Kummer bereitet, ist diese Roya.« Wieder tauschten die vier Blicke, und nun wurde klar, warum Rasnor ausgerechnet sie hatte zu sich kommen lassen. Sie waren zusammen mit Roya von Hammagor aus aufgebrochen, aber ohne sie in Savalgor eingetroffen. »Wo habt ihr sie gelassen?«, verlangte Rasnor zu wissen. »Ich habe sie suchen lassen, aber die Drakken können sie nicht finden. Wo also steckt die kleine Göre?« Victor konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verbeißen. »Du fürchtest sie also - die kleine Göre? Wie kannst du sie fürchten, wenn wir ohnehin nichts mehr auszurichten vermögen?« »Wir haben sie zurückgelassen«, fiel ihm Leandra ins Wort. »Sie war verletzt und bat darum.«
Rasnor trat vor Leandra. »Du lügst!«, sagte er. »Gerade du ... du würdest niemals einen Freund oder eine Freundin im Stich lassen!« Leandra schüttelte den Kopf. »Wir haben sie nicht im Stich gelassen. Sie ist in einem kleinen Dorf irgendwo ... in den Vorbergen des Salmlands. Dort, wo der Landbruch verläuft.« Rasnor verdrehte die Augen. »In einer Sache bist du die schlimmste Versagerin, die man sich nur vorstellen kann: in der Verstellung!« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Da könntest du wirklich etwas von mir lernen!« Er äffte sie nach: »Zurückgelassen - in einem kleinen Dorf am Landbruch! Dass ich nicht lache!« Leandra brummte ärgerlich und wandte den Kopf ab. Jedem hier im Raum war klar, dass Rasnor nur allzu Recht hatte. »Was wirst du unternehmen, wenn wir dir sagen, wo sie ist?«, fragte Hochmeister Jockum. Rasnor hob unschuldig die Schultern. »Nichts Be497 sonderes. Ich versuche, sie zu finden und hierher zu bringen.« »Das soll alles sein?«, forschte Victor misstrauisch. Rasnor stöhnte und warf die Arme in die Luft. »Ja doch! Wenn ich vorhätte, jemanden zu foltern oder ihm wehzutun, hättet ihr das doch schon gemerkt, oder? Ich will sie nur hier haben. Auf dass ich anschließend ruhiger schlafen kann.« »Ruhiger schlafen? Ich dachte, du fürchtest niemanden mehr. Und die Drakken hätten uns fest im Griff!« »Das stimmt auch. Aber sie verlangen es von mir. Sie wollen, dass ich alle von euch erwische. Und nur dann kann ich auch für eure Sicherheit sorgen.« Quendras schüttelte den Kopf. »In Wahrheit fürchtest du sie«, warf er Rasnor mit finsteren Blicken vor. »Du weißt, wie klug sie ist. Und du willst dich an ihr rächen!« »Aber nein!«, rief Rasnor und fuhr leiser fort: »Ich habe nicht das Geringste gegen sie. Im Gegenteil ... ich finde sie sogar ... nett.« »Nett?«, krächzte Leandra ungläubig. »Ja, bei den Dämonen!«, bellte er zurück. »Ich habe nichts gegen sie. Auch wenn sie mich vermutlich hasst und in die tiefste aller Höllen wünscht!« »Wo du auch hingehörst!«, knirschte Victor leise. Rasnor stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich sehe schon«, maulte er lautstark, »mit euch ist nichts anzufangen! Seit diese Sache ihren Lauf nahm, habe ich euch angeboten, einen gemeinsamen Weg mit mir zu gehen. Um den Menschen das Schicksal zu erleichtern. Aber von euch kommt nur dummer, trotziger Widerstand! Also gut dann unternehme ich eben nichts mehr ihretwegen! Ihr wisst, dass die Drakken jeden erschießen, den sie ohne Halsband antreffen. Hier im Palast wäre sie sicher, aber das wollt ihr ja nicht. Ich habe 498 genug von euch - verschwindet!« Mit heftiger Bewegung wies er auf die Tür. Während sich Victor, Leandra und Quendras umwandten, um den Raum zu verlassen, zögerte Hochmeister Jockum. »Wartet«, sagte er leise. Die drei blieben stehen und sahen ihn an. »Er ... er könnte Recht haben«, sagte er. »Roya ist irgendwo dort draußen und ahnt womöglich gar nichts von dem, was hier in Savalgor passiert ist. Sie könnte tatsächlich von irgendeiner Drakkenpatrouille einfach getötet werden.« Leandra, Victor und Quendras blickten sich gegenseitig an. Ihnen war anzusehen, dass sie Rasnor nicht trauten. Doch der schien keine Lust mehr zu haben, mit ihnen über Roya zu diskutieren. »Raus mit euch!«, rief er ärgerlich. »Ihr hattet eure Gelegenheit - jetzt verschwindet!« Sie blieben unentschlossen stehen, aber als sich Rasnor demonstrativ mit den Fäusten in den Seiten vor ihnen aufbaute, fügten sie sich. Der Reihe nach verließen sie den Raum. Als die Tür hinter ihnen zuklappte, wartete Rasnor noch einen Moment, wandte sich dann um und ging in den nach links angrenzenden Raum. Dort stand ein Drakken - unbewegt und bewaffnet, wie eine Marionette, die nur auf einen Befehl wartete. Rasnor wusste, dass dieses Wesen problemlos tagelang so dastehen konnte - ohne sich zu bewegen, ohne zu essen oder zu trinken und wahrscheinlich auch, ohne zu denken. Seine Abscheu vor diesen Kreaturen wuchs jeden Tag um ein kleines Stück. »Du«, sagte er und deutete auf ihn. »Hol mir Leandra zurück. Aber unauffällig, sodass es die anderen nicht merken, verstanden?« Der Drakken zischte eine kurze Bestätigung und setzte sich in Bewegung. Rasnor ging zurück in den anderen Raum, nahm 499 hinter seinem Schreibtisch Platz, lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Bald darauf klopfte es. »Komm herein, Leandra«, rief er. Die Tür öffnete sich und sie kam wieder herein - seine Leandra. Oft schon hatte er sie in seinen Träumen so genannt und inzwischen konnte er nicht mehr davon lassen. Ja, sie gehörte ihm und eines Tages würde sie es verstanden haben. Bis vor wenigen Tagen noch hatte er vorgehabt, es ihr notfalls mit Gewalt einzutrichtern, mit Maßnahmen, die seine Macht demonstrierten; aber dann hatte er etwas
gelernt. Er würde sie niemals umstimmen können. Sie steckte voller Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften, aber sie war dennoch nicht zu brechen - nicht von ihm. Sie war einfach zu stark. Zweifellos hätte es ihm oder den Drakken gelingen können, sie zu zerbrechen. Sie so sehr zu quälen oder zu foltern, dass sie ihren Widerstand fallen lassen musste. Aber dann wäre sie auch nicht mehr sie selbst gewesen, sondern nur noch ein zerstörtes Wrack. Und was sollte er mit so einer Leandra anfangen? Ja, das hatte er gelernt. Ihre Faszination lag in dem, was sie war, und das durfte man nicht zerstören. Man konnte jeden Menschen zerstören, wenn man nur brutal genug war, aber das führte nur selten zu einem verwertbaren Ziel. Inzwischen bereute er zutiefst, dass er ihren Freund Meister Fujima getötet hatte. Es hatte sie nicht gefügig gemacht, sondern nur die Kluft zwischen ihm und ihr vertieft. Nein, das war ausnehmend dumm von ihm gewesen, und er hoffte, dass er diese Sache nachträglich wieder irgendwie reparieren konnte. »Setz dich, Leandra«, sagte er freundlich. Dem Drakken, der hinter ihr eintreten wollte, befahl er barsch, draußen zu bleiben und die Tür zu schließen. 500 Sie setzte sich ohne Widerspruch. »Wie hat dir unser Ausflug neulich gefallen?«, wollte er wissen. Leandra zuckte mit den Achseln. »Gefallen ist wohl nicht das richtige Wort, oder? Aber ... nun ja, es war interessant, was die Drakken so alles haben. Und was sie können.« Sie seufzte. Er fand, dass sie im Augenblick außergewöhnlich milde gestimmt war. »Ich möchte dafür sorgen, dass Roya in Sicherheit gebracht wird, Leandra«, sagte er und hob in beruhigender Geste beide Hände. »Keine Hintergedanken, ich verspreche es!« Natürlich spiegelte ihr Gesicht Misstrauen. »Wieso?«, fragte sie. »Wieso bist du plötzlich so fürsorglich? Erst dein Verrat - und mit einem Mal kümmert dich das Schicksal deiner Feinde!« Er starrte sie an und entschied sich dann, nicht darauf einzugehen. Sie hätte es nicht verstanden. »Das ist meine Sache«, erklärte er knapp und abweisend. »Dennoch. Ich will, dass sie in Sicherheit ist. Ich habe auch eine Beschreibung der Shaba ausgegeben und den Befehl erteilt, dass ihr nichts geschehen darf, falls man sie findet.« »Und jetzt willst du von mir wissen, wo sie ist!«, stellte sie fest. Er erhob sich. »Es ist ganz einfach. Entweder du verrätst es mir nicht, weil du noch immer diesen wirren Gedanken hegst, irgendwie die Freiheit für die Welt erkämpfen zu können. Das aber wäre nicht klug. Was soll Roya allein schon ausrichten? Euch alle befreien? Selbst wenn sie das schaffte, ja, selbst wenn sie mich, den bösen, bösen Erzfeind töten würde und noch ein paar Drakken dazu, glaubst du, sie könnte etwas daran ändern, was die Drakken dort draußen gerade aufbauen?« Er schüttelte den Kopf. Leandra senkte den Blick zu Boden. 501 »Oder«, fuhr Rasnor fort, »du sagst mir, wo sie ist, und ich kann sie in Sicherheit bringen lassen und dir beweisen, dass ich auf deiner Seite stehe!« Sie blickte auf. »Du - auf meiner Seite? Das ist ja ganz etwas Neues!« Wieder ging er nicht darauf ein. »Also, was ist? Sagst du es mir?« Sie studierte lange Zeit sein Gesicht, dann blickte sie wieder zu Boden. »Vermutlich hast du Recht und es ist besser, wenn sie hierher zu uns kommt. Aber ich kann es nicht allein entscheiden. Ich muss vorher mit den anderen reden.« Rasnor schnaufte ungeduldig. »Also gut«, sagte er. »Dann tu es, aber mach schnell. Es ist nicht mehr viel Zeit.« Wieder sah sie zu ihm auf. »Nicht mehr viel Zeit? Wie meinst du das?« Er kaute auf seiner Lippe. »Ich habe gewisse Einflussmöglichkeiten, aber ich kann nicht alles bewirken, verstehst du? Die Drakken sortieren die Magier unter den Menschen aus und bringen sie fort. Es könnte sein, dass das auch Roya passiert, wenn wir sie nicht schnell genug finden und sofort hierher bringen lassen.« Leandra richtete sich auf. »Sie bringen die Magier fort? Aber ... wohin denn?« Er hob die Schultern. »Genau weiß ich das nicht. Seit einigen Tagen leisten wir ihnen Unterstützung. Wir sollen helfen, die Aura von Magiern zu erspüren, und sie den Drakken ausliefern. Novizen, Adepten, Heiler ... du weißt schon. Alle Leute eben, die gewisse Fähigkeiten in Sachen Magie haben. Ich habe dir doch von dieser Fabrik erzählt. Erinnerst du dich?« »Ja, sicher. Ich habe schon verstanden, dass ...« Er schüttelte den Kopf. »Nein, da gibt es noch etwas. Ich glaube, das ist dir noch nicht klar geworden.« Leandra zog die Stirn kraus. »Und was?« 502 »Nun, die Drakken haben schon vor über zweitausend Jahren damit begonnen, mit dem Wolodit zu experimentieren. Es ist offenbar so, dass nur wir Menschen die Eigenschaften des Wolodits nutzen können -ob hier oder außerhalb unserer Welt. Die Drakken können es nicht. Egal, wie viel Wolodit sie haben.« Leandra nickte langsam. »Ja - davon hast du schon mal gesprochen.« Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. »Soll das heißen ...?« Rasnor nickte. »Deswegen sorge ich mich um Roya. Sollte sie irgendwo aufgegriffen werden und einer meiner Leute sagt den Drakken, dass sie ein magisches Potenzial besitzt, kann selbst ich sie nicht mehr zurückholen.«
Sie forschte in seinem Gesicht, nach einer Weile nickte sie verstehend. »Natürlich! Sie bringen sie weg von hier, hinaus ins All. Zu ihren Kriegsschiffen. Dort brauchen sie die Magier - um ihre Nachrichten zu übermitteln! So, wie du es mir erklärt hast.« Rasnor nickte. »Ja. So wird es wohl sein.« Leandra ließ sich wieder zurücksinken und starrte mit leerem Blick in die Luft. »Du hast Recht. Wir werden wirklich eine Fabrik. Für Wolodit, Magiewissen und schließlich auch für Magier.« Sie sah Rasnor wieder an. »Wie viele Sternenschiffe haben die Drakken?« Er lachte leise auf. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber glaub mir - du hast keine Ahnung, welches Ausmaß das alles haben wird. Die Drakken werden uns aufsaugen. Sie wissen längst, dass eigentlich jeder Mensch Magier sein kann, dass dafür keine besondere Begabung notwendig ist, außer einem Mindestmaß an Intelligenz. Glaub nicht, dass sie nur tausend Magier benötigen würden - für den Fall, dass sie tausend Sternenschiffe hätten. Nein, das Reich der Drakken ist riesig, sie besitzen viele Welten und Außenposten im All. Und ein Magier pro Schiff? Das genügt niemals. Er 503 muss ja schließlich mal schlafen und krank könnte er auch werden. Fünf bis zehn pro Sternenschiff - das wäre schon eine angemessenere Zahl, meinst du nicht? Und dann noch einmal ein paar Dutzend für jeden Außenposten und ein paar hundert für jede Welt, die sie bewohnen. Was im Augenblick passiert, ist nur, dass sie die bereits ausgebildeten Magier zusammensuchen, um die Entwicklung der erforderlichen Magien voranzutreiben. Aber zuletzt wird es so sein, dass wir alle, jeder Einzelne von uns, draußen im All sein wird, fort von der Höhlenwelt, um im Dienst der Drakken Magier zu sein - natürlich ausschließlich in Sachen Nachrichtenübermittlung. Gebrauchs- oder Kampfmagien wird es nicht mehr geben. Wir erleben nur den Anfang.« Er holte Luft. »So gesehen ist es fast schon egal, wenn hier in zwanzig Jahren niemand mehr atmen kann. Wir werden hier gar nicht mehr leben!« Rasnor fand, dass Leandra sehr erschöpft aussah. Ständig stand dieser Ausdruck des Unglaubens in ihrem Gesicht. Sie war schön, aber seit er sie wieder gesehen hatte - an dem Tag, da die Drakken über die Höhlenwelt hergefallen waren -, konnte man nicht mehr so recht von ihrer Schönheit sprechen. Sie schien zu verwelken, so wie diese Welt verwelkte. Er kam der Frage zuvor, die im Raum stand. »Ich habe das alles nicht gewusst. Damals, als ich zu ihnen ging, wollte ich nur Rache. Ich hatte keine Ahnung, welchen gigantischen Plan sie schmiedeten. Erst im Lauf der letzten Tage habe ich sein ganzes Ausmaß begriffen, verstehst du? Niemand hat es mir gesagt. Ich habe mir nur zusammengereimt, was ich gesehen habe!« Er blickte Hilfe suchend zu ihr. »Das alles hätten sie übrigens auch ohne mich ausgeführt, auf genau die gleiche Art und Weise!« Sie lachte niedergeschlagen. »Glaubst du vielleicht, das entschuldigt dich jetzt?« 504 »Ich wünschte, ich könnte es wieder gut machen«, sagte er. Leandra seufzte lang und tief. »Reue also? Deswegen willst du Roya davor bewahren, verschleppt zu werden?« »Sag mir, wo sie ist«, bat er flehentlich. »Dann kann ich wenigstens das noch in Ordnung bringen. Ansonsten haben wir ohnehin ausgespielt. Viel können wir an unserem Schicksal jetzt nicht mehr ändern.« Leandra sah ihn lange an. Das Misstrauen bohrte in ihr; vermutlich hatte er wieder irgendeinen hässlichen Hintergedanken, wie immer. Seine bestürzte Miene deutete förmlich darauf hin. Aber was Roya anging, traf vermutlich das zu, was er sagte. Wenn er sie nicht in Sicherheit brachte, konnte sie von den Drakken sonst wohin verschleppt werden. Sie seufzte und sagte ihm schließlich, wo sie Roya zurückgelassen hatten. * Letzte Nacht hatte Alina mit Timo geschlafen - und heute plagten sie furchtbare Gewissensbisse. Sie hätte ihn von Anfang an nicht so nahe an sich heranlassen dürfen, aber sie wusste nun, warum sie es getan hatte. Timo besaß Ähnlichkeit mit Victor. Er war höflich, respektvoll und klug; ein gut aussehender, witziger Bursche von kräftiger Statur und mit guten Manieren. Und er hatte sich schrecklich in sie verliebt. Nach der ersten Nacht schon hätte sie es wissen sollen. Auch in der zweiten, der dritten und sogar der vierten Nacht war es ihr gelungen, ihn auf Abstand zu halten, jedoch immer mühsamer. In der letzten Nacht aber war er beinahe durchgedreht. Sie lag in seinem Bett und wusste nicht, warum sie überhaupt noch dort war, sie hätte längst fliehen müssen. Aber da war diese rätselhafte, kaum erklärliche, aber dennoch 505 vorhandene Ähnlichkeit mit Victor, nach dem sie sich so sehr sehnte. Und Timo schwitzte und zitterte förmlich vor Verlangen nach ihr. Irgendwann hatte sie ihm nachgegeben. Nun stand sie mit ihrem Brenner im Lärm und Staub des Stollens, arbeitete dumpf vor sich hin und fragte sich, ob es irgendwie verzeihbar war, was sie getan hatte. Sie hatte Victor, ihren Ehemann, betrogen, doch die Umstände des Betrugs waren geradezu grotesk gewesen. Victors Herz gehörte ohnehin einer anderen, die ganze Hochzeit war nur ein Schauspiel gewesen. Und sie, die ihn nichtsdestotrotz liebte, hatte mit einem anderen geschlafen, dabei aber jede Sekunde nur ihn im Sinn gehabt. Sie hatte sogar seinen Namen geflüstert, sie wusste es; sie wusste auch, dass Timo es mitbekommen hatte. Offenbar hatte ihm das noch mehr Ehrgeiz verliehen, und er hatte sie in diesem Liebesakt fast zur Raserei getrieben. Und dennoch - sie hatte keine Sekunde an ihn
gedacht. Nur an Victor. »Wenn du nicht aufpasst«, hörte sie eine heisere Stimme in ihrem Helm, »wirst du dir noch den Fuß abschneiden!« Sie blickte müde auf. »Hast du mich gehört?« Sie ließ den Einstellgriff des Brenners los und starrte in Renashs erleuchtete Helmscheibe, als sähe sie ihn heute zum ersten Mal. »Was ist mit dir, Mädchen?«, rief er durch den Lärm des Stollens. »Du bist völlig geistesabwesend! Damit bringst du dich selbst und andere in Gefahr!« »Ich ... ich muss weg von dort«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Weg von Uralbaan.« »Von Uralbaan?« Sie nickte. »Ja. Das Dorf, in dem ich bin. Ich ...« Sie unterbrach sich. Mindestens ebenso schlimm wie ihr moralisches Problem war die Tatsache, dass Timo sie inzwischen besser bewachte als die Drakken und 506 die Bruderschaft zusammen. Sie war während der ganzen fünf Tage in Uralbaan noch nicht eine Sekunde dazu gekommen, sich nach einer Fluchtmöglichkeit umzusehen, dabei wurde die Zeit immer knapper. Roya mochte schon längst die Flussmündung verlassen haben. Jeden Tag, den Alina vertrödelte, würde Royas Spur schwieriger zu verfolgen sein - wenn sie denn überhaupt noch zu finden war. Alina musste dringend etwas unternehmen, und sie brauchte Zeit und Spielraum, sich etwas auszudenken. Renash schüttelte den Kopf. »Du kannst da nicht weg. Du wurdest dem Dorf zugeteilt und damit Schluss. Die Drakken machen da keine Ausnahmen.« »Ich ...« Sie suchte nach einem Argument, das schlagkräftig genug war - und eigentlich besaß sie ja auch eines: ihr Problem mit einem verliebten jungen Mann. Aber das würde Renash wohl kaum verstehen und mit Sicherheit auch keiner der Drakken. Sie überlegte, ob sie die Geschichte irgendwie dramatischer darstellen konnte. Sie ließ ihren Brenner sinken und schaltete ihn ab. »Ich hab ein Problem«, rief sie durch den Lärm in der Umgebung. »Ein junger Kerl. Er ist verliebt in mich.« Renash starrte sie ungläubig an. Damit, dass er an diesem Ort so etwas hören würde, hatte er sicher nicht gerechnet. »Und ...?«, fragte er verwirrt. Sie verzog elend das Gesicht. »Ich ... ich hab Angst, verstehst du?« »Angst?« »Ja. Weißt du nicht mehr, was passiert ist? Mit diesem Serakis? Ich ... weißt du ... ich hab nicht viel mit Männern im Sinn. Nicht mit ... Männern.« Renash starrte sie nur mit großen Augen an. »Um es genauer zu sagen: Ich ... kann es nicht ertragen, wenn mir einer zu nahe kommt.« 507 Den Beweis hatte sie bereits geliefert - und Renash schien zu verstehen. Er nickte langsam. Sie spielte die Niedergeschlagene. »Dieser Kerl ... er ist grob und gemein. Aber ich will trotzdem nicht, dass ihm was passiert. Nicht so wie Serakis, verstehst du?« Sie studierte seine Züge, er schien ihr zu glauben. Vielleicht deswegen, weil die Sache so ungewöhnlich war. »Doch er kommt mir immer näher, er will einfach nicht hören.« Sie schüttelte hilflos den Kopf und sah ihn flehentlich an. Er starrte sie ungläubig an. »Drehst du dann ... durch?« Sie stöhnte. »Ich muss da weg! Ich weiß nicht, was ich heute Abend mache, wenn er wieder kommt ...« »Er kommt zu dir?« Sie musterte Renash und beschloss, ihre Lügengeschichte noch dramatischer auszumalen. »Ja. Gestern kam er mit einem Freund. Es war furchtbar. Ich wohne bei seiner Mutter, da kann er machen, was er will! Ich ... wenn das so weiter geht, muss ich mich wehren. Aber was soll ich tun - in seinem Haus? Schreien? Wenn die Drakken auf uns aufmerksam werden ... ich hab doch schon eine Verwarnung! Noch eine und ich stehe mit einem Bein im Grab!« Renash schnaufte angespannt, dann nickte er. »Also gut ... ich werde was versuchen. Warte bis heute nach der dritten Schicht. Aber ich kann nichts versprechen.« Sie verspürte Gewissensbisse, denn eigentlich war sie die Schuldige an dieser Affäre. Nun aber ließ sie den armen, verliebten Timo dafür büßen. Er würde furchtbar enttäuscht sein, falls Renash tatsächlich etwas erreichte und sie heute Abend nicht mit ihm nach Uralbaan flog. Würde sie weiterhin mit ihm beisammen sein, würde alles jedoch nur noch schlimmer werden. Und sie würde sich der Möglichkeit berauben, sich nach einer Fluchtmöglichkeit umzusehen. 508 Und letztlich gab es noch etwas. Timo würde wieder mit ihr schlafen wollen und sie verspürte eine fatale Lust dazu. Nicht wirklich auf ihn, sondern auf Victor. Aber Victor war weit weg, und wahrscheinlich würde sie niemals wieder so nah an ihn herankommen wie damals, in dem Verlies im Tempel von Yoor. Schwermut überkam sie, sie spürte eine Träne in ihren Augenwinkeln. Es war eine dumme, verzweifelte Liebe, die sie für Victor empfand, und sie verfluchte sich, dass ihre Gefühle sie nun in Timos Arme getrieben hatten. Sie war nicht Herr ihrer selbst. Mit aufkommender Wut schaltete sie den Brenner wieder ein und ließ ihren Ärger über sich selbst und ihre verfahrene Lage an den Woloditbrocken aus.
So verging ihre zweite Schicht, die dritte Schicht kam und sie sah unruhig Renashs Rückkehr entgegen. In der zweiten Pause hatte sie mit Cleas zusammengesessen, der glaubte, er hätte ihren Hund gesehen - gestern Morgen, nachdem ihr Flugschiff schon abgeflogen war, er aber noch auf das seine wartete. Draußen, jenseits des Flugplatzes, in der Steppe. Alina horchte auf. Dass Benni noch da sein könnte, ihr treuer Gefährte, flößte ihr wieder etwas Zuversicht ein. Sie nahm sich vor, heute nach Schichtende, wenn draußen der Morgen anbrach, so schnell es ging zum Flugfeld zu fahren und nach ihm zu suchen. Gegen Ende der dritten Schicht kam Renash wieder. Die Gruppe war im Stollen versammelt; sie warteten bereits auf die Transportplattform, die sie zurück zum Aufzug bringen sollte. »Pech gehabt«, sagte er dumpf. Alina seufzte elend. »Muss ich wieder nach Uralbaan?«, fragte sie. Er winkte ab. »Das nicht. Aber wir werden dich verlieren.« Er sah sie unsicher an. »Ob du's glaubst oder nicht, ich mochte dich ... irgendwie. Aber morgen ist 509 deine letzte Schicht hier. Du gehst zurück nach Savalgor.« Alinas Knie wurden weich. »Nach Savalgor?« Er schien nicht zu verstehen, dass sie die Nachricht entsetzte. Er winkte ab. »Freu dich nicht zu früh. Es geht um die Duuma. Du kennst diese Schwarzkutten ja!« Er vollführte eine weitschweifende Geste. »Die Duuma? Was ist mit ihnen?« Renash holte Luft, sah sie ernst an. »Es ist meine Schuld, ich Idiot. Aber woher sollte ich das wissen?« »Was denn? Nun sag schon!« Er blickte sie schuldbewusst an. »Ich hab mit einem gesprochen, den ich kannte. Einem von der Duuma. Dachte, er würde mir vielleicht helfen, und erzählte ihm die Sache. Er fragte mich, wie du aussiehst.« »Wie ... ich aussehe?« Renash blickte wieder auf. »Ja, ob du hübsch bist und so.« Er schluckte. »Ehrlich gesagt, ich hab ihm von dir vorgeschwärmt. Hatte die dumme Idee, das könnte was bringen.« »Aber ...« »Er hat dich sofort abgeteilt. Morgen Abend, wenn wir wieder auf Schicht gehen, kommst du nach Savalgor. Du musst zwar nicht mehr in den Minen arbeiten, aber ... Verdammt, ich ...« Alina stöhnte leise. »Du meinst ...?« Nun sah er ihr fest in die Augen. Immerhin hatte er den Mut dazu, aber seine Nachricht war schrecklich. »Diese Duuma-Leute ... sie suchen sich keine Frauen so wie wir. Sie halten sich welche, verstehst du? Ich fürchte, du kommst in irgendeines ihrer so genannten Ordenshäuser.« Für Momente starrte sie ihn ungläubig an, dann kochte plötzliche Wut in ihr hoch. Sie stieß einen Fluch aus. »Es tut mir so Leid, Gulda, ich ...« 510 Sie hob die Hand und gebot ihm Einhalt. »Schon gut. Du kannst nichts dafür.« Er sah aus, als ginge es ihm noch schlechter als ihr. »Ausgerechnet du ....' Bei den Kräften, ich ...« Sie hätte ihm am liebsten erzählt, dass sie bereits einmal bei ihnen gewesen war, diesen miesen Kerlen, die sich nach Belieben Duuma oder Bruderschaft nannten, und dass es zu ihren historischen Gewohnheiten zählte, junge Frauen zu entführen und sie dann zu schwängern, damit sie die verfluchte Brut der Bruderschaft austrugen. Kleine unschuldige Kinder, die sie, kaum dass sie laufen konnten, zu einer neuen Generation kleiner böser Bruderschaftler trimmten. Sie hätte ihm am liebsten erzählt, dass sie, Leandra und ihre Freunde die wohl erbittertsten Feinde dieser Duuma waren. Aber das konnte sie nicht und hielt sich zurück - mit Mühe. »Immerhin kannst du heute anderswo schlafen«, sagte er unsicher, so als könnte diese kleine gute Nachricht doch etwas verbessern. Er deutete auf Cleas. »Du kannst mit in sein Dorf. Das wolltest du doch, oder?« Sein Gesicht verfinsterte sich wieder. »Aber was nutzt das schon? Morgen musst du ohnehin ...« Er seufzte niedergeschlagen. Alina hielt ihm zugute, dass ihm ihr Schicksal nicht egal war. Sie setzte eine bitterböse Miene auf. »Ich kenne diese Mistkerle von der Duuma. Die werden keinen Spaß an mir haben, das verspreche ich dir!« Renashs Laune besserte sich durch ihre Worte nicht. Er wusste, dass jedes Aufbegehren Alina nur noch tiefer in Schwierigkeiten bringen würde. * Als sie später, allen schlechten Nachrichten zum Trotz, draußen am Flugfeld Benni entdeckte, atmete sie wie511 der ein wenig auf. Ihr treuer Freund war tatsächlich noch da. Der Hund würde ihr jetzt auch nicht mehr helfen können, aber sie war froh, ihn lebend wieder zu sehen. Er war weit entfernt - aber er musste es sein. »Cleas!«, rief sie und deutete nach Süden auf eine flache Hügelkuppe, eine gute Meile vom Flugfeld entfernt. »Da! Ist das nicht Benni?« Cleas hatte gute Augen. »Ja ...«, meinte er, »... gut möglich!« Sie waren mit einem früheren Transportfahrzeug zum Landefeld gefahren und suchten schon seit einer Viertelstunde nach Benni. Inzwischen hatten sie das Feld bereits einmal umrundet und nach allen Richtungen Ausschau gehalten - und es hatte sich gelohnt. Drüben auf der kleinen Hügelkuppe schien tatsächlich Benni zu
stehen und zu ihnen auf das Landefeld zu blicken. Alina sah sich nach den Drakken um. Sie waren in regelmäßigen Abständen postiert und bewachten das Flugfeld. Dann erblickte sie einen Bruderschaftler und rannte sofort los, direkt auf ihn zu. Er war nicht weit entfernt. »Mein Hund!«, rief sie ihm entgegen und deutete während des Laufens nach links in Richtung des Hügels. »Da ist mein Hund! Ich hab ihn vor fünf Tagen verloren! Ich möchte ihn mit in mein Dorf nehmen!« Sie kam keuchend vor ihm zum Stehen und sah ihn flehentlich an. »Bittel« Der Mann war ein langer Kerl mit dunklem Gesicht und schwarzen Haaren, und er schien nicht halb so freundlich zu sein wie Ullrik, der dicke Mönch vom Tage ihrer Ankunft in Yanalee. Er starrte in Richtung des Hügels. »Ein Hund?« »Ja, Hoher Meister«, sagte sie unterwürfig und bemühte sich um die Rolle eines jungen, bittenden, schutzbedürftigen Mädchens. »Er hat schon einmal mitfliegen dürfen, als ich hierher gebracht wurde. Aber 512 dann musste er draußen bleiben. Ich ... ich dachte, er wäre tot oder weggelaufen. Aber jetzt ... ich möchte ihn nur wieder mit nach Hause nehmen. Bitte, bitte« Sie faltete sogar die Hände, als sie vor dem Bruderschaftler stand. Er schien sich in der Rolle eines überlegenen, großmütigen Gönners zu gefallen. »Nun gut, Mädchen. Wird er kommen, wenn du ihn rufst? Ich kann dich von hier nicht fortlassen, verstehst du?« Statt ihm zu antworten, lief Alina ein Stück weg von ihm und begann wie wild mit den Armen zu winken. Sie hüpfte auf und ab und schrie Bennis Namen den Hügel hinauf. Es dauerte nur Momente, dann reagierte der Hund. In gestrecktem Galopp kam er den Hügel herabgerast. Die Drakken in der Umgebung reagierten sofort, aber der Mönch rief ihnen mit lauter Stimme zu, dass alles in Ordnung sei. Sie ließen ihre Waffen wieder sinken. Dann war Benni da. Er sprang schon ein halbes Dutzend Schritte vor ihr ab, riss sie glatt um und gemeinsam kugelten sie über das braune Gras. Benni wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass er ihr schmerzhaft gegen die Schienbeine schlug. Sie quietschte lachend auf und versuchte ihn zu umarmen. Er winselte und kläffte wie ein aufgeregter Welpe. Alina jauchzte vor Glück. Der Bruderschaftler baute sich vor Alina auf. »Bei welcher Gruppe bist du, Mädchen?«, fragte er mit erhobenem Kinn. Alina stemmte sich in die Höhe. »Gruppe Blau Vierzehn«, sagte sie, ein erlöstes Lächeln im Gesicht. »Warum?« »Komm nach deiner nächsten Schicht zu mir. Es soll nicht dein Schaden sein, verstehst du?« Sie zwinkerte ihm lächelnd zu. »Tut mir Leid, Hoher Meister - zu spät. Ich werde morgen Abend in Euer 513 Hurenhaus nach Savalgor abtransportiert. Für Eure Brüder, versteht Ihr?« Er starrte sie verdattert an. Sie winkte ihm lässig zu, rief Benni zu sich und ließ ihn dann stehen. Als sie zurück zu Cleas kam, waren bereits die ersten Transportschiffe gelandet. Timo blickte erwartungsvoll in ihre Richtung. Doch Renash hielt sie auf; er hatte eine durchsichtige Tafel in der Hand und sah sie schuldbewusst an. »Du wirst heute Abend, wenn die Schicht wieder beginnt, direkt von hier in ein anderes Flugschiff verladen«, eröffnete er ihr. »Es sind noch ein paar andere Mädchen dabei.« Sie hätte beinahe >Ich weiß!< gesagt. »Es tut mir wirklich Leid«, fügte er noch hinzu. Sie nickte ihm zu. »Schon gut. Ich werde mich bestimmt irgendwie durchschlagen.« Ihr anfangs hartes Urteil über ihn als Verräter an den eigenen Leuten hatte sich inzwischen gemildert. Er war im Grunde ein anständiger Kerl; er versuchte auch nur, sich irgendwie zu behaupten. »Kannst du irgendwie dafür sorgen, dass ich den Hund mit ins Schiff nehmen kann?« Renash deutete auf Benni. »Für den Moment schon. Aber ich glaube kaum, dass sie dir erlauben, ihn mit nach Savalgor zu nehmen.« »Wenn ich ihn wenigstens bei Cleas lassen kann, in seinem Dorf - das wäre schon ein Glück. Ich weiß nicht, was hier draußen aus ihm werden soll.« Renash nickte. »Ja, das kriegen wir schon hin.« Während sich die Leute in Bewegung setzten, um durch die geöffneten Seitentüren in ihr Schiff einzusteigen, trat Renash zu einem der eskortierenden Drakken und erklärte ihm die Änderung. Timo verfolgte die Szene hilflos aus einiger Entfernung. Alina erhielt den Befehl, ihren Platz einzunehmen, und beobachtete befangen den Drakken, der Benni mit finsteren Blicken anstarrte. Der Hund hüpfte mit angelegten Ohren und 514 eingekniffenem Schwanz in die Kabine des Drakkenschiffs. Kurz darauf saßen etwa fünfundzwanzig Menschen, sechs Drakken und ein Hund in dem Flugschiff. Die Tür glitt zu, das Schiff heulte in seiner typischen Weise auf und erhob sich in die Luft. Für Momente ging alles im Lärm des Abhebens unter. Als sie dann an Höhe gewonnen hatten und der Lärm nachließ, schwenkte es auf Kurs und gewann an Geschwindigkeit. Alina seufzte. »Wo liegt dein Dorf?«, fragte sie niedergeschlagen. Eine trübe Stimmung machte sich wieder in ihr breit. Sie kraulte Bennis Kopf, während der Hund sich bemühte, ihre Hand - zu lecken. Er schien in den fünf Tagen nicht gelitten zu haben, sah gesund und nicht unterernährt aus. »An der Ishmar«, erwiderte Cleas. »An der Roten, auf der anderen Seite. Es heißt Saligaan.« Sie blickte auf. »An der Roten Ishmar?«
Er sah sie forschend an. »Ja. Warum?« Alina schloss kurz die Augen. Sein Dorf lag an der Roten Ishmar, auf der anderen Seite! Jetzt, da sie in drängende Not geraten war, widerfuhr ihr plötzlich ein Glücksfall, mit dem sie überhaupt nicht mehr gerechnet hatte. Es bedeutete, dass sie dieses Schiff ein gutes Stück in die Richtung bringen würde, in die sie sich ohnehin bewegen musste, wenn sie tatsächlich noch fliehen wollte, um Roya zu finden! Von dem Gedanken, eine sofortige, völlig unvorbereitete Flucht zu wagen, schwindelte ihr. Sie musste es versuchen, aber sie würde keine Zeit haben, sich zu orientieren, geschweige denn, sich einen Plan zurechtzulegen. Nein, sie würde sofort aufbrechen müssen, unmittelbar nach Ankunft in Cleas' Dorf - Hals über Kopf, um wenigstens den zwölfstündigen Zeitvorteil ausnutzen zu können, bis man am Abend merken würde, dass sie nicht mehr da war. Aber abgesehen 515 von zahllosen anderen Problemen gab es eine wirkliche Schwierigkeit. Auch Cleas' Dorf würde von Drakken bewacht sein, und nach allem, was sie bisher gesehen hatte, waren Bewachungen dieser Art undurchdringlich. Es gab keinen Weg hinaus - alle Dörfer waren in Wahrheit Gefängnisse. Bitter kam sie zu dem Schluss, dass ihre Flucht gleich von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. »Gulda?« Sie reagierte nicht gleich, wandte Cleas den Kopf erst nach einigen Augenblicken zu. »Du hast großen Kummer«, sagte er. »Ich seh's dir an.« Sie seufzte gequält und blickte zum rechten Fenster hinaus. »Ja. Die Sache mit Savalgor ...« Er schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Das ist erst morgen. Ich meine, einen anderen Kummer. Etwas, das dich jetzt, im Moment, so durchschüttelt, dass du am liebsten aus dem Schiff springen würdest. Was ist?« Sie sagte nichts, sah wieder in Richtung des Fensters und zuckte nur mit den Schultern. »Du heißt gar nicht Gulda, oder?« Seine Stimme war sehr leise geworden, er flüsterte beinahe. Das Gemurmel der anderen und die Geräusche im Schiff waren laut genug, ihn zu übertönen. Sie wurde blass. »Was ... was meinst du?« »In meiner Novizenzeit lernte ich bei einem Gildenmeister in Savalgor. Er war die rechte Hand des damaligen Primas und zugleich Fachmann für magische Verschlüsselungen - im Dienste des Cambrischen Ordens. Er hat mir viele Dinge beigebracht. Unter anderem auch, die Strukturen bestimmter Magien zu lesen.« Sie studierte seine Züge. Irgendetwas wusste er. »Dieses Symbol da«, sagte Cleas leise und tippte un516 auffällig auf ihr Handgelenk, »nun, ich habe die Struktur entschlüsselt. Du bist ein Mitglied der Shabibsfamilie.« Nun wurde sie unruhig. »Ich?«, flüsterte sie. »Ein Mitglied der Shabibsfamilie? Wie kommst du denn darauf? Nein, du musst dich täuschen, ich ...« Er lächelte sie freundlich an. »Nach allem, was bekannt ist, gibt es derzeit nur noch ein einziges, lebendes Mitglied dieser Familie«, raunte er ihr zu. »Und es hat sich auch herumgesprochen, dass dieses Mitglied auf der Flucht ist.« Ihre Brust fühlte sich plötzlich wie eingeschnürt an. »Und Renash«, fuhr er fort, »hat nicht übertrieben -du bist wirklich sehr hübsch. Wenn ich mir dich frisch gewaschen vorstelle, ohne diesen Zopf, in einem feinen, weißen Kleid und mit einem Diadem im Haar ... nun ja, ich denke, du könntest diesem Ruf gerecht werden, nicht wahr?« Sie schluckte hart. »Welchem ... Ruf?« »Die schönste Frau von Akrania zu sein. Dein ...«, er räusperte sich, »... Euer Name ist Alina, nicht wahr?« Alina ächzte leise. Angstvolle Gedanken stoben ihr durch den Kopf. Cleas wirkte nicht wie einer, der sie verraten wollte, im Gegenteil. Aber man konnte jeden verhören und foltern, da half es gar nichts, wenn man sich bemühte, nichts zu verraten. Die Drakken hatten mit Sicherheit Mittel und Wege, alles aus jedem herauszuquetschen. »Nur keine Angst«, sagte Cleas leise. »Meine Lippen sind versiegelt, egal, was auch passieren mag!« Mit klopfendem Herzen musterte sie seine Züge, fragte sich, was als Nächstes geschehen mochte. Sie wandte sich von ihm ab und starrte voller Sorge aus dem Fenster. Für eine Weile schwiegen sie. Es gab nichts zu sagen, allein das Schweigen schien angemessen - jetzt, da er 517 wusste, wer sie war. Als er nach einer Weile etwas flüsterte, war er ein bisschen steifer. »Wie kommt es, dass Ihr hier seid, Hoheit?« Sie stöhnte leise. »Wenn du mir einen Dienst erweisen willst, Cleas, einen echten Dienst, dann rede mit mir so wie zuvor. Einen Hofstaat kann ich jetzt nicht gebrauchen - eher jemanden, der mir die Hand hält. Denn ich fühle mich ... beschissen.« Er lachte leise auf. »Beschissen! Also, das ...« Er unterbrach sich und nickte dann. Sein Gesicht war wieder ernst geworden. »Ja, ich verstehe.« Einem Impuls gehorchend, nahm er tatsächlich ihre Hand, mit festem Griff, sah sie dabei aber nicht an. Alina ließ es geschehen, sie empfand es als beruhigend. Mit der anderen Hand streichelte sie Bennis Kopf. Das Drakkenschiff flog ruhig Richtung Westen, der Tag war noch jung. Die Leute unterhielten sich leise, keiner
schien auf sie zu achten. Sie schätzte, dass dieser Flug, wenn sie bis zur Roten Ishmar mussten, etwa eine Dreiviertelstunde dauern würde - vielleicht ein wenig mehr. Nach einer Weile sagte Cleas: »Dass Ihr ... dass du nach Savalgor in ein Hurenhaus verschleppt wirst, kommt nicht infrage. Auf keinen Fall!« »Aber ... was soll ich dagegen tun?«, fragte sie forschend. »Oder du?« »Weiß ich noch nicht«, antwortete er leise, tief nachdenklich und mit verengten Augenschlitzen vor sich ins Leere starrend. »Aber wir haben fast zwölf Stunden Zeit. Irgendetwas muss uns einfallen. Etwas, womit wir dein Halsband loswerden können.« Alina staunte nicht schlecht, als sie das hörte. Es klang, als hielte er es für möglich. Sie sah zu ihm auf. Ein kleiner Hoffnungsfunke keimte in ihr auf, als sie sich sagte, dass sie trotz aller möglichen Gefahren im Augenblick nichts nötiger brauchte als einen Freund. 518 Jemanden, der ihr half, ihre Flucht in die Tat umzusetzen, so unmöglich sie auch sein mochte. Sie wandte kurz den Kopf, als draußen vor dem Fenster ein mächtiger Stützpfeiler vorbeizog, und das erinnerte sie wieder daran, dass dieser Flug nicht ewig dauern würde. Sie durften keine Zeit verlieren, genau genommen nicht einmal Minuten. Sie musste alles auf eine Karte setzen, und zwar gleich. »Cleas, ich ... muss fliehen«, flüsterte sie. »Sofort. Unmittelbar nach meiner Ankunft in deinem Dorf. Es geht nicht nur darum, dass ich davonkomme. Ich muss jemanden finden.« »Gleich?« Er blickte sie stirnrunzelnd an. »Erst müssen wir dein Halsband loswerden! Sonst werden sie dich wieder eingefangen haben, ehe du auch nur dreißig Meilen hinter dich gebracht hast!« Sie schüttelte den Kopf und beugte sie ganz nahe an sein Ohr. »Verzieh jetzt keine Miene, aber mein Halsband ist falsch. Ich kann es ablegen.« Er stieß einen leisen, überraschten Laut aus, aber niemand bekam es mit. Das Gemurmel rings um sie überdeckte ihr Flüstern. »Die Frage ist«, fuhr sie leise fort, »kannst du mich aus deinem Dorf schmuggeln, ohne dass die Drakken es mitbekommen?« 519 27 ♦ Hals über Kopf Sie hatten Alinas Halsband an ein Stück Treibholz gebunden und nun trieb es die Rote Ishmar hinab in Richtung Tronburg. Cleas hatte es mit aller Kraft hinaus in Richtung der Flussmitte geworfen. Er meinte, dass es, wenn sie ein bisschen Glück hatten, übermorgen vielleicht tatsächlich die alte Küstenstadt erreichen würde, unten an der Straße von Veldoor. Alina hingegen befürchtete, dass es die Drakken heute Abend schon, spätestens aber morgen früh aus der Ishmar fischen würden. Wenn ihre nächste Arbeitsschicht begann, würde man ihr Fehlen bemerken. Bis dahin musste sie unbedingt einen möglichst großen Teil ihres Weges flussaufwärts zurückgelegt haben. Leider musste Alina genau in die Gegenrichtung des treibenden Halsbandes fliehen, und dort würden die Drakken sicher als Erstes nach ihr suchen. »Glaubst du nicht, sie hielten mich für schlauer?«, schnaufte sie, darum bemüht, mit Cleas Schritt zu halten. Sie marschierten in forschem Tempo am hohen Ufer der Roten Ishmar entlang nach Norden, direkt am Waldrand entlang. »Ich meine, wenn ich nicht wirklich nach Norden musste, würde ich wahrscheinlich meinem eigenen Halsband hinterherlaufen! Dort würden sie mich doch nie vermuten.« Cleas zuckte die Achseln. »Wer weiß schon, was die Drakken vermuten? Und für wie intelligent sie uns halten? Du kannst nur eins tun - vorsichtig sein. So vorsichtig, wie du nur irgend kannst.« 520 Alina schwieg und schonte ihren Atem. Obwohl sie in den letzten beiden Wochen wahrscheinlich mehr Bewegungs- und Muskelarbeit geleistet hatte als in den letzten zwei Jahren zusammengenommen, war sie noch nicht so kräftig, dass sie mit dem großen, schlanken Mann mühelos Schritt halten konnte, auch wenn er um die Fünfzig war. Von Benni ganz zu schweigen -der lief weit voraus. Seit zwei Stunden waren sie unterwegs. Cleas hatte nach ihrer Landung in Saligaan darauf geachtet, sie sofort von den anderen wegzubringen, sodass sich überhaupt nicht erst der Eindruck vertiefen konnte, sie würden den Tag miteinander verbringen. Heute Abend nämlich, so hatten sie vereinbart, würde er melden, dass er sie vermisste - um sich selbst zu schützen. Er hatte sie in einer nahen Scheune versteckt, war in sein Haus geeilt, um dort alles zusammenzupacken, was er für sie erübrigen konnte, und hatte sie dann wieder abgeholt. Das Glück und der Zufall wollten es, dass er tatsächlich einen Weg wusste, unbemerkt aus dem Dorf zu gelangen. Er war in Saligaan aufgewachsen und kannte dort jeden Stein und jeden Strauch. Das Dorf lag am Fuß eines Pfeilers, wie so viele Orte in der Höhlenwelt, und er kannte dort eine Geröllhalde mit riesigen Felsbrocken, die bis fast ans Dorf heranreichten. Sie hatten sich hinter den Häusern versteckt, bis die Drakkenpatrouille vorüber war, und sich dann auf einem Weg zwischen den Felsbrocken hindurch davongeschlichen, über den er schon als Kind ausgebüchst war, wenn er sich vor der Hausarbeit hatte drücken wollen. Eine halbe Stunde später waren sie am Ufer der Ishmar angekommen und marschierten seitdem nordwärts. Inzwischen mussten sie wohl schon an die sieben Meilen hinter sich gebracht haben.
Alina wusste, dass Cleas ein großes Risiko einging. Er trug ein Drakkenhalsband, und würde er heute 521 Abend fehlen, würde man nicht nur ihn suchen - und zweifellos auch sehr schnell finden -, sondern auch sie. Deswegen musste er rechtzeitig zurück sein. Am liebsten wäre er ab jetzt bei ihr geblieben, hatte er gesagt, aber das war schlichtweg unmöglich. Cleas wollte sie bis zum Nachmittag an einen bestimmten Ort bringen. Danach hatte er vor, sich mithülfe irgendeines schwimmfähigen Objektes, wie vielleicht einem Stück Treibholz oder einem großen Ast, die Ishmar flussabwärts treiben zu lassen, notfalls unter Zuhilfenahme von Magie, um schnell genug zu sein. Er musste es bis heute Abend zurück geschafft haben. Cleas ließ sich ein paar Schritt zurückfallen, legte ihr den Arm über die Schulter und zog sie mit sich. »Wie wäre es«, fragte er, »wenn ich die Vermutung äußern würde, du hättest dich umgebracht?« Sie blickte zu ihm auf. »Umgebracht?« »Ja. Ein Sprung in den Fluss. Immerhin hast du heute erfahren, dass du in Savalgor in einem Hurenhaus landen wirst. Dafür gibt es sogar einen guten Zeugen: Renash. Ich könnte sagen, du wärest schon auf dem Rückflug vollkommen niedergeschlagen und verzweifelt gewesen. Angenommen, du hättest wirklich den Tod in der Ishmar gesucht, würde das auch erklären, dass dein Halsband an einem Stück Holz im Fluss treibt.« Er zuckte die Schultern. »Wenigstens halbwegs.« Alina lachte auf. »Das ist eine fabelhafte Idee, Cleas! Denkst du, sie werden dir glauben?« Cleas sah sie kurz an, sein Blick blieb ernst. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe nur, ich bin noch früh genug zurück, um diese Geschichte glaubhaft verkaufen zu können. Es ist noch weit, weißt du?« Trotz der Gefahren fühlte sich Alina zuversichtlich. Sie hatte einen Freund gewonnen und es war ihnen ge522 lungen, ungesehen das Dorf zu verlassen. Cleas' Arm, der locker über ihrer Schulter lag und sie sanft mitzog, flößte ihr Mut ein. Sie dachte an Leandra und ihren Meister Munuel - so musste sie sich auch gefühlt haben, wenn der alte Herr sie unter ihre Fittiche genommen und ihr den Mut und die Kraft gegeben hatte, die schwierigsten Hindernisse zu überwinden. Sie marschierten hoch über dem Fluss dahin. Gleich rechts von ihnen fiel ein steiles Felsufer über dreißig Ellen fast senkrecht in die Tiefe. Dort unten gab es nur einen schmalen Uferstreifen aus Geröll, Treibholz und hin und wieder etwas Flusssand. Die Rote Ishmar war der »wildere« der beiden Flussarme; die Blaue Ishmar, die weiter im Osten floss, war nur ein lauer, seichter Wasserlauf, den man an vielen Stellen zu Fuß durchqueren konnte. Bei der Roten Ishmar hingegen ging das nicht. Obwohl man sie nicht gerade als reißend bezeichnen konnte, war sie nicht ungefährlich. Sie war durchgängig tiefer, floss schneller und dort, wo sie herkam, war das Gelände zerklüfteter, sodass es Stromschnellen und kleine Wasserfälle gab. Eine leise Sorge stieg in Alina auf. Sie hoffte, dass Cleas nichts passieren würde, wenn er schwimmend heute Nachmittag nach Saligaan zurückkehren wollte. Das Wetter war schön und der Weg entlang der Roten Ishmar war vergleichsweise gut begehbar. Der Fluss selbst hatte dafür gesorgt, dass es nicht allzu sehr hinauf und wieder hinab ging. Hier begannen schon die ersten Vorberge des Ramakorums. An dieser Stelle waren es zwar kaum mehr als felsige Hügel, aber es würde noch ärger werden; schließlich hatte sie vor, in das wildeste und höchste Gebirge des Kontinents vorzudringen. Alina hatte keine Ahnung, wie lange sie von hier aus noch bis zu ihrem Ziel brauchen würde -es waren sicher etliche Tage. Aber nur dann, wenn sie einen guten, gangbaren Weg fand. 523 Cleas schien ihre Gedanken zu erraten. »Und du bist sicher, dass du deine Freundin dort finden kannst?« Alina hatte ihm Royas Namen nicht verraten, und auch nicht, wo genau sie nach ihr suchen würde. Es mochte sein, dass Cleas verhört werden würde, und wenn ihm schon das Schlimmste widerfuhr, musste es nicht auch noch damit enden, dass es sie selbst oder Roya traf. Er hatte das stillschweigend verstanden und nicht weiter nachgefragt. »Sie hat dort eine Aufgabe zu bewältigen«, erklärte Alina unbestimmt. »Aber ich denke, dass sie damit inzwischen fertig ist. Danach wird sie versucht haben, nach Savalgor zu gelangen.« »Sie fliegt wirklich auf einem Drachen? Unvorstellbar!« Er schüttelte den Kopf. »Aber dann wirst du sie dort, wo du sie zu finden hoffst, ja wohl nicht mehr antreffen!« Alina zog die Stirn kraus. »Meine Hoffnung ist, dass sie irgendwann mitbekommen hat, was passiert ist -ich meine, dass die Drakken gelandet sind. Und dass sie deswegen entweder gleich dort geblieben ist, wo sie war, oder später wieder dorthin zurückgekehrt ist.« »Warum sollte sie das tun?« »Weil sie irgendetwas tun muss, das einen Sinn ergibt. Und der läge darin, dass sie dort auffindbar ist. Ich weiß, wo sie zurückblieb, andere wissen es auch. Vielleicht denkt sie sich: Wenn irgendeiner meiner Freunde entkommen ist, muss ich ihm die Chance geben, mich hier zu finden.« Sie blickte zu ihm auf. »Verstehst du?« Cleas nickte. »Ja. Dein Gedanke ist klug. Allerdings kann inzwischen viel passiert sein. Es gibt noch viele andere Möglichkeiten. Vielleicht ist sie längst von den Drakken eingefangen worden. Oder sie verhält sich nicht so, wie du hoffst, und hat sich irgendwo versteckt, an einem ganz anderen Ort. Oder ... nun ja, sie könnte sogar tot sein.«
Alina nickte schwer. »Ja, ich weiß.« »Was willst du dann tun?«, fragte er. »Wenn du sie einfach nicht findest?« Sie schnaufte bedrückt, starrte auf den Weg vor sich und schüttelte dann kaum merklich den Kopf. »Ich ich weiß es nicht. Vielleicht ist es das Beste, ich versuche irgendwie, dort draußen zu überleben, und versteckt zu bleiben. Ein Freund meinte, dass ich unbedingt in Freiheit bleiben muss. Solange ich frei bin, hätte auch das Volk noch eine Hoffnung.« Sie sah zu ihm auf, suchte in seinem Gesicht nach Bestätigung. Er nickte schwach. »Der Gedanke ist sicher nicht falsch.« Dann blieb er stehen und nahm sie bei beiden Schultern. »Hör mich an ... Alina. Wenn du sie nicht findest, kehre zurück zu mir nach Saligaan! Ich werde täglich am Fluss nach dir Ausschau halten. Wenn du nichts erreichst, dann werden wir gemeinsam versuchen, von Saligaan aus etwas zu unternehmen. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, diese verfluchten Halsbänder irgendwie loszuwerden ... ach, was weiß ich! Aber ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass du irgendwo allein da draußen in der Wildnis bist und ich dir nicht helfen kann. Dass du vielleicht hungerst ... oder von wilden Tieren angegriffen wirst.« »Ich habe doch Benni«, meinte sie zuversichtlich. »Er ist ein guter Jäger. Und verteidigen kann er mich auch.« Sie lächelte. »Sogar gegen Drakken. Er kläfft sie einmal an und schon fallen sie tot um.« Cleas lächelte schwach zurück, aber sein Gesicht war von Sorge gezeichnet. »Ich wünschte, es wäre was dran an dieser Sache mit deinem Hund und den Drakken. Aber dann hätten schon mehr von ihnen umfallen müssen, meinst du nicht?« Sie nickte. »Vermutlich schon. Aber dennoch: Hab keine Angst um mich. Ich bin ganz allein bis Mittelweg gekommen, und du ahnst nicht, was mir bereits alles 524 525 passiert ist. Vielleicht sehe ich schwach aus, aber so schwach bin ich nicht ...« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Alina ... im Gegenteil. Du bist eine außergewöhnlich starke junge Frau. Ich bin stolz, dich zur Shaba zu haben!« Was er sagte, berührte sie. »Wirklich?«, fragte sie. Er versteifte sich ein wenig. »Ja. Aber ... keine rührseligen Szenen jetzt. Komm, wir müssen weiter! Wir haben noch ein Stück Weg vor uns!« Demonstrativ marschierte er wieder voran, verschärfte das Tempo sogar noch, aber Alina folgte ihm wie auf Flügeln. Sie war müde, hatte eine ganze Arbeitsschicht hinter sich, doch die Anerkennung, die er ihr gezollt hatte, richtete sie auf. Benni kam von einem Erkundigungsausflug zurück, beschnüffelte sie beide kurz und preschte wieder davon. Für eine ganze Stunde marschierten sie, ohne ein Wort zu reden, am Steilufer entlang. Immer mehr Stützpfeiler zogen an ihnen vorbei und Alina bekam langsam das beruhigende Gefühl, dass sie tatsächlich ein ganzes Stück Entfernung zwischen sich und Saligaan brachten. Um die Mittagszeit machten sie Rast. Zum Glück hatte Cleas einiges an nahrhafter Kost eingepackt, denn Alina fühlte sich inzwischen doch wieder müde. Er belegte ihr Brot mit einem dicken Streifen Speck und Hartkäse. Das war eigentlich nicht ihre Art von Kost, aber sie schlang es förmlich herunter. Sie trank sogar den roten, gewässerten Wein, den er ihr anbot, und da sie sonst so gut wie nie Alkohol zu sich nahm, geriet sie daraufhin in eine regelrechte Hochstimmung. Benni war auch bei ihnen, er lag auf dem Boden und kaute auf einem harten Speckstreifen herum, während sie beide sich im Schneidersitz gegenüber saßen. Plötzlich hörte Alina etwas. 526 Sie richtete sich .auf und spitzte die Ohren. Das Geräusch war ganz in der Nähe und sie kannte es nur allzu gut. Das tiefe Summen, das an ihre Ohren drang, würde zu einem Jaulen anschwellen, wenn irgendwelche Maschinen hochgefahren wurden. Sie saßen in viel zu freiem Gelände, auf einer schräg zum Fluss hin abfallenden Wiese, die mit Gesteinsbrocken übersät war. Alina fluchte leise, dass sie so unvorsichtig gewesen waren, ihre Rast nicht am Waldrand oder besser noch im Wald abzuhalten. Dann sah sie es: Direkt in ihrer Blickrichtung, über Cleas' Schulter hinweg, kam ein Drakken-Wachschiff langsam den Fluss herauf. Es war so urplötzlich aufgetaucht, dass sie keine Chance mehr hatten, in den nahen Wald davonzurennen. Die Drakken würden sie sehen und dann war es aus mit ihnen. Sie waren nur noch eine Drittelmeile von ihnen entfernt. Von dem Schreck wurde ihr beinahe schwindelig. Aber im nächsten Augenblick kam ihr siedend heiß eine Erinnerung. Während ihre Hand nach Benni schoss, ihn am Nackenfell packte und ihn zu Boden drückte, zischte sie Cleas mit aller Schärfe zu: »Beweg dich nicht!« Cleas, der erschrocken über die Schulter in Richtung des Drakkenschiffs geblickt hatte, sah wieder zu ihr und begriff. Zwar wusste er nicht, warum er sich nicht bewegen sollte, aber er gehorchte. Alina hielt die Luft an. Das Drakkenschiff schwebte langsam heran. Es hielt sich etwa dreißig Ellen über dem Wasser, genau über der Flussmitte. Hatten sie etwa Alinas Halsband schon gefunden? Wenn ja, suchten sie jetzt mit Sicherheit die zugehörige Person. Das Summen wurde lauter, in gleichem Maße schienen die Geräusche der Welt rings um sie zu ersterben. Einen Augenblick lang hatte Alina sogar das Gefühl, dass das Plätschern des Wassers leiser
geworden war. 527 Ihre Lunge begann zu schmerzen; sie hatte instinktiv die Luft angehalten und nun öffnete sie langsam, sehr langsam den Mund und ließ sie entweichen. Cleas saß ihr gegenüber und starrte sie schreckensbleich an. Das Drakkenschiff war nun fast bei ihnen, und seine Aufgabe lag ganz ohne Zweifel darin, die Umgegend zu kontrollieren. Es war ein kleines Schiff von der Sorte, wie Alina sie schon kannte. »Die Piloten sind meistens nur einfache Drakkensoldaten«, hauchte sie Cleas zwischen bewegungslosen Lippen hindurch zu. »Sie sehen einen nicht, wenn man sich nicht bewegt.« Benni jaulte leise unter Alinas hartem Griff. Sie lockerte ihn ein wenig und flüsterte Benni aus dem Mundwinkel zu, er solle ganz ruhig bleiben, ganz ruhig. Der Hund entspannte sich, winselte dabei leise. Alina betete zu den Kräften, dass er nicht auf die Idee käme, plötzlich aufzuspringen. Das Wachschiff flog metallisch brummend an ihnen vorbei und zog weiter den Fluss hinauf. Die ganze Zeit über war Alina sicher, dass sich jeden Augenblick das Geräusch verändern würde; dass es aufjaulte und in ihre Richtung geschossen käme. Aber wunderbarerweise tat es das nicht. Als es um die nächste Flussbiegung verschwunden war, stieß Cleas einen ganzen Schwall Luft aus. »Bei allen Dämonen!«, keuchte er und stemmte sich in die Höhe. »Was war denn das? Die Drakken können einen nicht sehen, wenn man sich nicht bewegt?« Alina stand ebenfalls auf. Ihr Herz pochte noch' immer heftig, und sie starrte den Fluss hinauf, wo das Schiff eben verschwunden war. »Ja, es ist wirklich so. Es ist schon das dritte Mal, dass ich ihnen auf diese Weise entkomme.« »Aber ... das würde bedeuten, dass diese Wesen ... dümmer als die meisten Tiere sind! Nur Hasen und 528 Rehe haben einen so einfachen Verstand, dass sie die Welt nicht begreifen können. Sie reagieren nur! Das ist ja unfassbar! Werden wir von einem Volk von Blödianen unterjocht?« Alina schüttelte den Kopf. Sie starrte noch immer ungläubig auf den Fluss. »Es scheint nur auf die einfachsten Ränge zuzutreffen. Höheren Drakken passiert so etwas bestimmt nicht. Aber ich ...« Und dann fiel ihr ein, was falsch gewesen war. Was sie vergessen hatte. »Schnell!«, rief sie und bückte sich, um ihre Sachen zusammenzuraffen. »Wir müssen hier fort! Beeil dich!« Sekunden später hastete sie schon den Hang hinauf, sprang über kleine Felsbrocken hinweg und versuchte, so schnell sie konnte den Waldrand zu erreichen. Sie hörte das Keuchen von Cleas, der direkt hinter ihr war. Benni hielt es wohl für ein Spiel, er lief bellend voraus. Aber das war egal, Hauptsache, er verschwand von der Wiese. Als sie zwischen die ersten Bäume stürzten, hörten sie bereits das Jaulen. Sie suchten hinter den Büschen Deckung, und als sie sich kurz darauf umdrehten, schoss das kleine Schiff auch schon heran. Auf der Höhe ihrer Wiese verlangsamte es seine rasante Fahrt, dann schwebte es mit röhrenden Maschinen über der Flussmitte. »Verdammt!«, zischte Alina. »Sie haben doch einen dabei ... Einen Verwalter!« »Einen Verwalter?«, flüsterte Cleas. Er kauerte neben ihr, hielt Benni fest. Alina deutete auf das Schiff. »Es ist weiß!«, flüsterte sie. »Das sind nur die Schiffe, die auf Menschenfang gehen. Von so einem wurden wir mitgenommen, weißt du nicht mehr? Sie haben einen Verwalter dabei, einen dieser Drakken mit so einer durchsichtigen Tafel. Die sind nicht so dumm wie die einfachen Soldaten!« 529 Cleas nickte. »Du hast Recht. Die Patrouillenschiffe sind grau.« Er beobachtete das Schiff eine Weile. »Denkst du, die haben uns gesehen?« Alina nickte. »Sonst wären sie wohl nicht zurückgekehrt. Wir sollten ...« Sie kam nicht mehr dazu, zu Ende zu sprechen. Vom Fluss schallte plötzlich eine blechern klingende Drakkenstimme herauf. »Cleas aus Saligaan! Du hast unerlaubt dein Dorf verlassen! Komm sofort heraus, andernfalls wirst du getötet!« Cleas hob erschrocken die Hand zu seinem Hals, während Alina ein entsetztes Röcheln ausstieß. »Dein Halsband! Verdammt, sie haben dein Halsband entdeckt!« Sie wussten beide, dass sie verspielt hatten. Wenn sie sich nicht augenblicklich ergaben, würden die Drakken vermutlich den ganzen Wald in Brand stecken. Alina hatte oft genug miterlebt, wie gnadenlos sie vorgingen. »Letzte Warnung!«, schallte die Drakkenstimme vom Fluss herauf. Cleas' Blick verhärtete sich. Er sah sie an, sein Blick war von äußerster Schärfe. »Du bleibst hier!«, befahl er. »Du und der Hund! Geht weiter den Fluss hinauf. Kümmert euch nicht um mich, und seht zu, dass ihr euer Ziel erreicht!« Einen Augenblick später erhob er sich und trat aus seiner Deckung. Alina wollte aufspringen und sich an ihm festklammern, ihn anschreien, er solle hier bleiben. Aber dann verstand sie plötzlich. Es musste nicht sein, dass sie beide erwischt wurden, wenn er sich jetzt schnell ergab. Sein Schicksal würde sich um keinen Deut verbessern, wenn sie jetzt mit ihm ging - im Gegenteil: Im Augenblick war er nur einer, der unerlaubt sein Dorf verlassen hatte. Vielleicht würde er lediglich eine Strafe oder eine Verwarnung erhalten. Ginge sie mit ihm, wäre er ein Fluchthelfer, ein Rebell und Auf530 ständischer. Das würde ihn mit Sicherheit das Leben kosten - und sie ebenfalls.
Alles tobte in ihr, als er aus seiner Deckung hervortrat, den Wald verließ und über den Grashang in Richtung des Flusses marschierte. Sie kam sich vor wie eine Verräterin, die ihren besten Freund in den Tod schickte, um ihre eigene Haut zu retten. Das Drakkenschiff schwebte heran und schickte sich an, am Flussufer zu landen. Benni winselte und Alina zog ihn zu sich, während sie mit pochendem Herzen beobachtete, was sich dort unten abspielte. Cleas verlangsamte seinen Schritt, ließ dem Drakkenschiff den notwendigen Platz, um niedergehen zu können. Schon während das Schiff herabsank, schob sich die Seitentür auf und ein Drakkensoldat platzierte sich mit erhobener Waffe in der Luke. Cleas blieb stehen. Alina rechnete jeden Moment damit, dass der Drakken zu schießen begann. Aber er tat es nicht. Nach kurzer Zeit setzte das Schiff auf und der Drakkensoldat sprang heraus, direkt gefolgt von einem weiteren, den Alina als einen Verwalter erkannte. Sie marschierten auf Cleas zu. Als sie ihn erreicht hatten, holte der bewaffnete Drakken mit seiner Waffe aus und versetzte Cleas einen heftigen Schlag in die Magengrube. Mit einem Schmerzenslaut sackte Cleas zusammen. Dann kam eine weitere Person aus dem Schiff geklettert, aber es war kein Drakken, sondern ein Mensch. Er trug die typische schwarze Kutte eines Duuma-Mannes, noch besser aber erkannte sie ihn an seinem dunkelroten Leibriemen. Er trat zu Cleas, zerrte ihn auf die Füße und schrie ihn an. Alina konnte nicht verstehen, was er sagte, dazu befanden sich die vier zu weit von ihr entfernt. Aber dann geschah etwas Seltsames. Es war, als stünde ein Gewitter kurz bevor, als hätte sich die Luft elektrisch aufgeladen. Und schon, als sie 531 begriff, schrie der Duuma-Mann dort unten, während er zurücktrat: »Ein Magier! Er ist ein Magier!« Augenblicke später brach auf der Wiese die Hölle los. Entladungen stygischer Kräfte tobten mit ungeahnter Plötzlichkeit durch das stille Flusstal; sie waren so brachial, dass Alina zurücktaumelte und das Gefühl hatte, ihre eigenen, verkohlten Haare riechen zu können. Benni sprang davon und lief jaulend tiefer in den Wald hinein. Als Alina sich wieder gefasst hatte und hinab zum Fluss blickte, stand das Drakkenschiff in hellen Flammen. Der Soldat und der Verwalter lagen reglos und verkrümmt am Boden, während zwischen Cleas und dem DuumaMann ein schrecklicher Kampf entbrannt war. Sie schrie auf, wollte aus dem Wald stürzen, um ihm zu Hilfe zu kommen, aber im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie bei dieser Art Kampf höchstens Opfer werden konnte. Sie trat zu den Bäumen nahe am Waldrand, blieb dahinter in Deckung und starrte angstvoll gebannt auf die beiden Kämpfenden. Sie hatte bereits einige magische Kämpfe mitbekommen, darunter jenen, den Leandra für sie gefochten hatte, bevor Victor ihr und Marie das Leben gerettet hatte. Und natürlich den denkwürdigen Augenblick, in dem Leandra, Meister Fujima und ihre Freunde Chast besiegt hatten - Minuten nachdem sie Marie zur Welt gebracht hatte. Das alles waren Kämpfe von außerordentlicher Heftigkeit gewesen, besonders der gegen Chast - aber bei dem, was sich jetzt dort unten auf der Wiese abspielte, hatte sie das Gefühl, dass die Welt kurz davor stand, zu Staub zerpulvert zu werden. Donnerschläge, Druckwellen und Hitzeschübe strichen wie sengende Wüstenwinde über sie hinweg, gewaltige Blitze und beißende Funken stoben in alle Richtungen davon und brüllender Lärm echote eins ums 532 andere Mal zwischen den Flanken der Felspfeiler hin und her. Cleas musste ein Magier von allerhöchsten Graden sein. Aber dennoch - der Duuma-Mann schien ihm gewachsen. Die beiden standen sich auf zwanzig Schritt gegenüber, beschrieben mit den Armen weite Gesten in der Luft und riefen seltsame kurze Worte, bei denen augenblicklich erschreckende magische Erscheinungen in der Luft entstanden. Gleißende und krachende Blitze zuckten auf, wabernde Feuerwalzen, aus denen glühende Funken stoben, rollten aus dem Nichts heran, und unirdische Entladungen brüllten auf, während sich die beiden Kämpfenden langsam nach rechts bewegten, auf die Kuppe der Uferböschung zu. Offenbar versuchte jeder, einen höheren Standort als sein Gegner zu gewinnen. Noch zerplatzten die stygischen Erscheinungen an magischen Schutzwällen, die sie aufgebaut hatten. Es war ein Schlagabtausch, der immer dann die Richtung wechselte, wenn einer der Angreifer seine momentanen Kräfte verbraucht hatte und in die Verteidigung gehen musste. Meist geschah das nach zwei oder drei heftigen Attacken. Alina hatte keine Vorstellung, wer von den beiden der Stärkere war und diesen Kampf gewinnen konnte. Aber dann sah sie noch etwas anderes. Das Drakkenschiff hatte Feuer gefangen, aber wie es schien nur äußerlich. Das Metall am Heck stand in seltsamen blau-grünen Flammen, ein flirrender, halb durchsichtiger Rauch wallte darüber auf. Doch plötzlich begannen seine Maschinen hochzulaufen. Das Heulen und Jaulen drängte sich langsam durch den Lärm des magischen Kampfes. Alina sah durch das Fenster des Piloten, dass vorn im Schiff noch ein einzelner Drakken saß. Wenn es ihm gelänge, mit dem Schiff zu fliehen, war alles verloren, auch wenn Cleas den Kampf gewann. 533 Ein krachender Schlag einer magischen Entladung stob über die Wiese. Die beiden Kämpfenden hatten sich schon ein paar Dutzend Schritte von dem Drakkenschiff entfernt, das jetzt zu starten versuchte. Es war offenbar beschädigt - das typische Jaulen wollte nicht so recht anschwellen, wie es sonst von diesen Schiffen zu hören war. Dann erhob sich das Heck des Schiffs um ein, zwei Ellen, sank aber wieder nach unten. Mit wummerndem
Puls stand Alina hinter den Bäumen und fieberte einem vorzeitigen Ende des Kampfes entgegen - mit Cleas als Sieger, sodass er das fliehende Schiff noch aufzuhalten vermochte. Aber sie sah schon, dass sie darauf nicht bauen konnte. Beide Magier wirkten erschöpft, sie taumelten und waren ganz auf sich selbst konzentriert. Nun war er wieder da, dieser Moment, in dem sie allein das Blatt wenden konnte. Aber was sollte sie tun? Verzweifelt suchten ihre Blicke in der Umgebung nach einem Anhaltspunkt, der ihr eine Idee gab. Und dann sah sie etwas. Es war die Waffe des getöteten Drakkensoldaten, die dort unten neben ihm auf der Wiese lag. Sie hatte keine Ahnung, wie so ein Ding funktionierte, aber vielleicht gelang es ihr, es zum Feuerspucken zu bringen, wenn sie nur alles ausprobierte. Immerhin glaubte sie zu wissen, wie herum man es halten musste. Sie sprang los. Im nächsten Augenblick zischte ein gleißender Blitz über sie hinweg, sie schrie auf, ließ sich fallen und kam nach einer Rolle gleich wieder auf die Füße. Sie rannte weiter. Die Wiese war nicht groß; nach Sekunden war sie schon bei den getöteten Drakken. Vor ihr heulte das Schiff plötzlich in den höchsten Tönen auf. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, dass es in diesem Moment vollständig den Boden verließ -torkelnd und schwankend zwar, mit vereinzelt aufzün534 gelnden Flammen und in einer flirrenden Rauchwolke; aber dennoch - es startete. Wieder schrie sie auf, diesmal vor Angst, sie könnte zu spät kommen. Sie stürzte zu der Drakkenwaffe, hob sie auf und richtete sie auf das fliehende Schiff. Dann versuchte sie, das Ding zum Feuern zu kriegen. Es war kantig, erstaunlich leicht und mehr als zwei Ellen lang; mit Griffen, farbigen Flächen, flackernden Lichtern und einer Reihe von Knöpfen. Sie begann, wahllos darauf einzuhämmern. Sie drückte sie einzeln, zu zweien und schließlich alle gemeinsam. Das Drakkenschiff hatte sich ein gutes Stück in die Luft erhoben, es taumelte auf die Flussmitte zu. Alina dachte schon, sie würde es nicht mehr schaffen. Dann löste sich ein einzelner Schuss aus der Waffe. Es war nur ein kleines, längliches Ding, das pfeifend aus der Spitze der Waffe stob, eine dichte, gelbliche Rauchspur hinterlassend. Alina hatte schlecht gezielt, sehr schlecht sogar, und das Geschoss schien um Dutzende von Ellen an dem fliehenden Schiff vorbeigehen zu wollen. Dann aber beschrieb es, wie von Geisterhand gelenkt, eine enge Kurve und schlug eine Sekunde später mit Wucht in das Drakkenschiff ein. Es dauerte noch eine weitere Sekunde, dann zerbarst das Schiff mit einem wahnsinnigen Dröhnen. Eine Druckwelle erfasste Alina, hob sie von den Füßen und wirbelte sie über die Wiese, bis sie schließlich halb besinnungslos liegen blieb. Als sie wieder zu sich kam, war alles vorbei. Über dem Fluss und der Wiese herrschte Stille. Sie lag auf dem Bauch, die Augen noch geschlossen, ihr Kopf schwirrte. Benni war nicht da! Ihr Herz begann schneller zu pochen. Der Hund würde in einer solchen Situation so535 fort zu ihr kommen, und dass er nicht hier war, konnte nur bedeuten, dass der Duuma-Mann Cleas besiegt und Benni vertrieben oder getötet hatte! Vorsichtig öffnete sie die Augen, um sich zu orientieren. Sie sah nichts als Gras und ein paar Steine, die ihr den Blick versperrten. Wenn der Duuma-Mann noch lebte, konnte sie sich vielleicht tot stellen. Er würde kommen und sie herumdrehen, und in diesem einen Moment hätte sie vielleicht noch eine winzige Chance. Sie würde ihn töten müssen. Es wäre das erste Mal in ihrem Leben, dass sie in eine solche Situation käme - eigentlich verwunderlich bei all dem, was ihr schon widerfahren war. Sie wusste nicht, ob sie dazu in der Lage war, und vor allem wusste sie nicht, wie sie es anstellen sollte. Sie hatte keine Waffe und sie bezweifelte sehr, dass sie genügend Körperkraft besaß, den Duuma-Mann auch nur bewusstlos zu schlagen. Immerhin, dachte sie grimmig, habe ich das Drakkenschiff vernichtet! Vorsichtig tastete sie nach einem Stein, aber dort, wo ihre Hand lag, fand sie keinen. Dann hörte sie Schritte, ein leises Stöhnen. Es näherte sich jedoch von der anderen Seite. Wenn sie sehen wollte, wer da kam, musste sie den Kopf drehen. Aber das hätte sie verraten. Angestrengt lauschte sie, ob sie an den Geräuschen erkennen konnte, wer es war. Nicht weit vor ihren Augen lag ein Stein, faustgroß und handlich. Wenn sie den ... »Alina?« Es war nicht viel mehr als ein Keuchen gewesen, aber es stammte eindeutig von Cleas. Mit einem Aufstöhnen wälzte sie sich herum, stemmte sich in die Höhe und fiel dem Magier um den Hals. Ihre Augen waren voller Tränen der Erleichterung. Cleas ächzte, ging in die Knie, und Alina mit ihm. 536 Dann erschallte ein aufgeregtes Kläffen vom Waldrand und Momente später war auch Benni bei ihr, heftig mit dem Schwanz wedelnd. Aber er winselte; sein Kopf war gesenkt, die Ohren angelegt. Er schien zu wissen, dass er als Einziger die Flucht ergriffen hatte. Alina wandte sich um, suchte mit Blicken nach Cleas Gegner - und fand ihn. Sie stöhnte entsetzt auf. »Schau nicht hin«, ächzte Cleas, noch immer auf den Knien und sich den Kopf haltend. »Hätte er gewonnen, würde ich jetzt so daliegen.«
Sie holte tief Luft. »Schon gut. Ich bin langsam einiges gewöhnt.« Sie setzte ein schiefes Lächeln auf. »Früher dachte ich, dass eine Shaba nur in Milch und Honig baden und nachmittags Tee aus zerbrechlichen Tässchen trinken würde.« Cleas lächelte schwach. »Normale Shabas tun das auch.« Er verzog das Gesicht. »Was ist mit dir?«, fragte sie besorgt. »Die Nachwirkungen«, stöhnte Cleas vor Schmerz. »Ich habe seit Jahren keine solchen Magien mehr gewirkt.« Er ließ sich ganz zu Boden sinken und atmete ein paar Mal tief durch. »Wenn man bei solchen Iterationen nicht konzentriert arbeitet, bekommt man selbst so einiges ab. Ich habe Glück, dass ich noch lebe.« »Er war wohl sehr stark, dieser Duuma-Mann«, sagte sie mitfühlend. Cleas schüttelte den Kopf. »Nein, Alina. Ich fürchte, wir waren beide nicht sehr gut. Ich bin alles andere als ein Kampfmagier. Aber zum Glück hat es gereicht.« Sie wollte noch sagen, dass es für zwei weniger gute Magier ganz schön gekracht hätte, aber ihre Unruhe wuchs wieder. Sie mussten fort von hier. In der Flussmitte hob sich das rauchende Heck des Drakkenschiffs aus dem Wasser, und das würde man aus der Luft fabelhaft sehen können. Außerdem lagen drei Tote auf der Wiese. 537 »Lass uns von hier verschwinden«, sagte sie. »Möglichst schnell.« Sie half ihm auf die Beine und zog ihn mit sich zum Waldrand. Sie schienen beide keine schlimmeren körperlichen Verletzungen erlitten zu haben, und das war ein großes Glück, sonst wäre ihr Weg hier tatsächlich zu Ende gewesen. Dafür aber gab es ein anderes Problem, das Alina zunehmend Kummer machte. Sie hatten Zeit verloren, eine unübersehbare Spur gelegt und der Weg war angeblich noch immer weit. Wie wollte es Cleas bis zum Abend zurück nach Saligaan schaffen? Zwischen den Bäumen angekommen, packten sie ihre Sachen zusammen und machten sich wieder auf den Weg. »Wo genau bringst du mich eigentlich hin?«, fragte sie. 538 28 ♦ Das stygische Portal Am späten Nachmittag erreichten sie einen kleinen Wasserfall, der, eingeengt zwischen Felswänden, etwa dreißig Ellen zu ihnen herab in die Tiefe stürzte. Die Rote Ishmar war in dieser Gegend längst nicht mehr so breit, und der Grund dafür war klar: Hier gab es keinen Platz für einen breiten Fluss. Das Gelände hatte sich im Laufe ihrer Wanderung von sanft-welligem Hügelland zu einer schroffen Felslandschaft entwickelt. Obwohl der Weg bisher recht gangbar gewesen war, hatte Alina den Eindruck, dass hinter diesem Wasserfall das Ende der Welt liegen musste. Dort würde es bestenfalls noch einen Trampelpfad geben; vielleicht ein paar Wildwechsel von Waldböcken oder Bergziegen, die sich in der Bergwelt verloren. Mehr aber nicht. Die Ishmar schäumte über Felsschwellen herab, war kaum mehr hundert Schritt breit, dafür aber mit Sicherheit sehr tief. Links und rechts türmten sich Felswände auf, überragt von mächtigen Pfeilern, die sich in dieser Gegend zahlreich gen Himmel reckten. Sie waren meist schmal und manchmal filigran; die Sonnenfenster weit droben klein, aber zahlreich. All dies war ein typisches Merkmal des höheren Berglands. Cleas wandte sich zu ihr um und sah sie mit einem Blick an, der so etwas wie Befriedigung ausdrückte. Er deutete auf den Wasserfall. »Dahinter ist der Weg zu Ende!«, sagte er. 539 Alina stutzte. »Zu Ende? Aber ... warum führst du mich dann hierher?« Er zögerte kurz. »Ein Wagnis. Du musst ein Wagnis eingehen.« Sie holte tief Luft. Seit dem Drakkenüberfall war der Nachmittag fast zu ruhig verlaufen; sie hatten Glück gehabt und waren von Verfolgern verschont geblieben. Da wurde es langsam wieder Zeit für ein echtes Problem. »Ein Wagnis?«, fragte sie sorgenvoll. »Es ist nicht wirklich gefährlich, aber ... nun, es erfordert ein bisschen Mut. Komm mit.« Ihr wurde unbehaglich zumute. Cleas hatte sie den ganzen Tag lang zielstrebig in diese Richtung geführt, und sie ahnte, dass es hier etwas besonderes geben müsste - ein Geheimnis. Dass er darüber jedoch nicht hatte sprechen wollen, flößte ihr dunkle Vorahnungen ein. Er stieg am felsigen Flussufer über einen kaum erkennbaren Pfad voran. Vor ihnen schien es so etwas wie einen Kletterpfad an der Kante des Wasserfalls hinauf zu geben. Das Wasser rauschte mit Macht herab und in ihrer Umgebung wurde es feucht. »Früher«, rief er ihr über die Schulter zu, »war die Magie in mancherlei Disziplinen höher entwickelt als heute.« »Früher?«, rief sie zurück. »Wann - früher?« Er blieb kurz stehen. »Vor zweitausend Jahren.« Cleas ging weiter, dafür aber blieb Alina stehen. Vor zweitausend Jahren! Offenbar kam sie von dieser Zeit nicht los. Jedes zweite Ding, das ihr widerfuhr, hatte mit dieser Ära zu tun, es war beinahe wie ein Fluch. Ein Fluch deswegen, weil es auch die Zeit war, in der das Unheil mit den Drakken begonnen hatte. Sie beeilte sich, ihm zu folgen. »Das klingt«, rief sie ihm hinterher, »als hättest du irgendeine zweitausend 540 Jahre alte Magie für mich, mit der du mich an mein Ziel katapultieren willst!« Er blieb wieder stehen und strahlte sie an. »Da hast du vollkommen Recht!«, sagte er. Das Spiel wiederholte sich. Er lief weiter, während sie betroffen stehen blieb.
Magie war vor ihren Augen bisher hauptsächlich als Blitz und Donner in Erscheinung getreten; als eine Methode, sich auf sehr gründliche Weise gegenseitig zu vernichten. Mit Schaudern dachte sie an den verkohlten Leichnam des Duuma-Magiers, der sein Leben durch Cleas' Macht ausgehaucht hatte. Es war ihr wenig geheuer, nun ihr Leben einer Magie anvertrauen zu müssen - was auch immer Cleas im Sinn hatte. Besonders nicht einer zweitausend Jahre alten Magie. In ihrer Vorstellung war die damalige Zeit brutal und blutrünstig gewesen, und als ihr Höhepunkt war das Dunkle Zeitalter angebrochen. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Es ging über nassen, glitschigen Fels aufwärts, und als sie endlich oben ankam, war sie halb durchnässt. Ächzend stemmte sie sich über den letzten Felsbrocken hinweg. Sie ging noch ein paar Schritte ... ... und dann war es, als hätte sie plötzlich einen Schritt in ein Zauberreich getan. Wie durch Magie verebbte das dunkle Dröhnen des Wasserfalls hinter ihr. Vor ihren Blicken eröffnete sich ein riesiger Felsenkessel mit einem weiten, grünen See in einer Welt fast vollkommener Stille. Das Rauschen des Wasserfalls schallte nur noch wie eine ferne Erinnerung an eine längst vergangene Zeit herauf. Cleas stand neben ihr und deutete wortlos voraus. Inmitten des stillen Sees erhob sich eine kleine Insel. Alina hielt unwillkürlich den Atem an. Die Insel bestand nur aus einem flachen, ockerbraunen Felsen, aber sie hatte drei ganz außergewöhnliche 541 Merkmale, die Alina hier niemals erwartet hätte. Zum einen stand ein flaches Gebäude auf der Insel, wie ein kleiner, runder Turm, der sich gar nicht recht erheben will und sich in den Schutz des Felsenkessels hineinduckt. Die zweite Besonderheit war eine schmale Brücke, die sich vom Ufer zu der Insel spannte. Sie besaß zwei Bögen; der erste reckte sich weit über den See, ehe er sich auf einem winzigen Felsblock im Wasser abstützte; von dort aus lief ein zweiter, etwas kürzerer Bogen bis zur Insel. Ihre unschuldige, hell ockerbraune Farbe verlieh der Brücke den Ausdruck eines bedeutungsvollen, ja fast sakralen Bauwerks, und dazu kam noch, das sie so schmal und zerbrechlich gebaut war, dass es wie ein Wunder wirkte, dass sie nicht schon vor langer Zeit eingebrochen war. Dies war nämlich das dritte besondere Merkmal dieses Ortes: Er wirkte alt. So uralt und still, dass allein das Wort Jahrtausende einigermaßen angemessen erschien. Alina war wie verzaubert. Einen Ort wie diesen hatte sie noch nie erblickt. Er wirkte wie aus einem Märchen. Sie bemerkte Cleas' Seitenblicke, die einen gewissen Stolz auf seine Entdeckung widerspiegelten. »Ich habe noch nie jemanden mit hierher genommen«, sagte er leise. »Noch nie?« Auch Alina hatte unwillkürlich leise gesprochen. Es lag wohl an diesem besonderen Ort. »Ja. Er ist uralt, sogar mehr als zweitausend Jahre. Komm mit.« Er ging voraus, unmittelbar am Seeufer entlang, das aus einer einzigen, riesigen gewölbten Felsplatte zu bestehen schien, die nach rechts in hellgrünes, fast unbewegtes Wasser abfiel. Hier gab es kein Steinchen, keinen Sand und auch keine Pflanzen, nur den blanken, ockerbraunen Fels, der zuweilen von etwas dunkleren Schleiern durchzogen war. Links und rechts der Seeufer strebten fast völlig glatte Felswände in die Höhe. Sie 542 wirkten, als wären sie irgendwann, vor Urzeiten, alle im selben Moment vom Felsenhimmel herabgestürzt und hätten sich ineinander verkeilt, um diesen Ort zu erschaffen. Alina musste den Kopf ganz in den Nacken legen, um weit droben die senkrechten Wände der Felspfeiler zu erkennen, die sich zum Felsenhimmel erhoben. In der Mitte, direkt über dem See, lag ein Sonnenfenster, allerdings hatte Alina selten ein so kleines gesehen. Es maß wohl nur eine halbe Meile Durchmesser. »Manche Orte haben von sich aus so viel Magie«, sagte Cleas, »dass es sich aufdrängt, so etwas wie dieses ... Portal hier zu errichten.« Er deutete zu der kleinen Insel. Die Brücke, die hinüber führte, lag nur noch einen Steinwurf entfernt von ihnen. Alina blickte hinaus auf den See. »Ein Portal?« Cleas blickte prüfend zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Alina sah ihm an, dass er Sorge empfand - für diesen Ort, der ihm gewiss so etwas wie ein persönliches Heiligtum war. Der Gedanke, dass die Ruhe dieses Sees von den Drakken gestört - oder schlimmer noch: zerstört - werden könnte, beunruhigte auch sie. »Gehen wir hinüber«, sagte Cleas. »Unterwegs erkläre ich es dir.« Benni hatte schon die Umgebung erforscht und überall herumgeschnüffelt, er war sogar schon ein kurzes Stück auf die Brücke gelaufen. Nun kam er schwanzwedelnd zurück und stieß ein kurzes, erwartungsvolles Kläffen aus. Das Geräusch erhob sich in die Weite des Felsenkessels und wurde in vielfachem Echo zurückgeworfen. Cleas nickte wie zur Bestätigung. »Es gibt mehrere solcher Orte. Alle sind diesem hier ähnlich. Stille Seen in tiefen Talkesseln oder zwischen hohen, aufsteigenden Felswänden. Überall muss man leise sein, denn das Echo ist gewaltig.« 543 »Du meinst, das hat einen bestimmten Zweck?« »Ich glaube, ja. Auch diese schmalen Brücken deuten darauf hin. Die gibt es ebenfalls vielerorts, obwohl die meisten davon schon eingestürzt sind.« Er deutete zur Brücke, die nur noch ein Dutzend Schritte entfernt lag. Sie gingen bis zu ihrem Anfang. Alina hatte sich bei der Einschätzung ihrer Ausmaße getäuscht. Sie sah aus wie aus Lehm gemauert und besaß
links und rechts eine etwa hüfthohe, durchgehende Mauerbrüstung. Der Platz dazwischen war aber so schmal, dass nicht einmal zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Selbst ein dicker Mensch dürfte nicht allzu großzügig mit dem Hintern wackeln, sonst würde er beim Laufen rechts und links anschlagen. »Diese Brücken wirken ziemlich zerbrechlich«, sagte Cleas und deutete auf eine Ansammlung von Steinen, die neben dem Brückenzugang lagen. Alina erkannte die Überreste eines kleinen Gebäudes, das wohl kaum mehr als eine winzige Hütte gewesen sein mochte. »Das war einmal ein Wachhäuschen, denke ich.« Er betrat die Brücke. »Komm! Sie ist viel fester, als du glaubst. Sonst hätte sie wohl nicht diese lange Zeit überdauert.« Alina folgte ihm zögernd. Die Brücke stieg leicht an, sie überspannte auf ihrem ersten Abschnitt bis zu der Stütze etwa siebzig oder achtzig Schritt. An ihrem Scheitelpunkt erreichte sie eine Höhe von vielleicht sieben oder acht Ellen über dem Wasser, und dort war sie auch am dünnsten. Wiewohl der Gang über die Brücke mit einem leicht mulmigen Gefühl verbunden war, überwog doch die Faszination. Es war beinahe wie eine Gunst für Könige, einen Weg wie diesen gehen zu dürfen - an einem so wundersamen Ort. Langsam dämmerte Alina, was Cleas ihr sagen wollte. »Hier durfte gewiss nicht jeder hinüber«, erklärte er. Seine Stimme war nach wie vor sehr leise, aber Laut544 stärke war in dieser Stille nicht vonnöten. »... und vor allem auch nicht viele Personen zugleich.« Sie erreichten den Punkt, an dem sich die beiden Brückenbögen trafen und sich auf den kleinen Felsen stützten, der aus dem Wasser ragte. Der zweite Bogen war nicht mehr ganz so lang und etwas weniger hoch als der erste. Als sie diesen auch noch hinter sich gebracht hatten, standen sie auf einem ockerbraunen, flachen Felsen, kaum mehr als fünfzig Schritt im Durchmesser. »Es ist genau der Mittelpunkt«, sagte Alina ehrfurchtsvoll und drehte sich um die eigene Achse, während sie hinauf zu den majestätischen Felswänden blickte. »Ja, das stimmt. Ich habe schon sechs solche Orte gefunden. Nur an einem weiteren steht die Brücke noch, alle anderen sind zerstört.« »Du meinst ... du hast diese Orte bereist?« Sie deutete auf das flache, runde Gebäude vor ihnen. »Mithilfe ihrer Magie?« Cleas nickte. »Ja. Leider ist es ... nun, nicht ganz unkompliziert. Man kommt nämlich nicht genau dort an, wo man eigentlich ankommen sollte. Jedenfalls glaube ich das.« Alina runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?« Cleas kratzte sich verlegen am Kinn. »Also - ich bin nicht sicher. Es muss sich um ein uraltes System von Verkehrswegen handeln. Diese Gegend muss vor langer Zeit besiedelt gewesen sein, trotz all der Berge, Schluchten und abgelegenen Täler. Warum - nun, das weiß ich nicht. Aber wenn es so war, liegt es doch auf der Hand, dass man für eine so unwegsame Gegend irgendetwas braucht, um sich schnell bewegen zu können, nicht wahr?« Alina nickte. »Deine Freunde waren es ja, die bewiesen haben, 545 dass hier vor langer Zeit Menschen lebten. Sie entdeckten die Stadt Unifar wieder, ganz am Nordrand des Mogellsees. Ich wette, dass das ganze Ostufer des Sees besiedelt war - vor dem Dunklen Zeitalter. Und hier«, damit hob er die Handflächen und wies in die Runde, »hier war auch irgendwas. Vielleicht Bergwerke, Eisen oder Kupferminen.« Er sah Alina an. »Oder Gold und Edelsteine. Ja, vielleicht genau das.« »Gold- und Edelsteine? Warum?« »Nun, wegen diesem hier!« Wieder wies er in die Runde. »Hier konnten einige wenige Leute verkehren, aber keine Armeen, keine Räuberbanden, keine Scharen von irgendwelchen Leuten. Die Wege wurden von Wachen kontrolliert, und selbst wenn Schurken versucht hätten, sich hier einzuschleichen, hätten sie kaum eine Möglichkeit gehabt, zu mehreren an einen bestimmten Ort zu gelangen. Nicht mithilfe dieser ... Portale. Ich vermute, wir befinden uns hier in der Schatzkammer des Altakranischen Reiches. Einer Gegend, in der man Gold und Edelsteine schürfte und sie gut geschützt abtransportieren konnte.« Ein leiser Schauer glitt Alinas Rücken hinab. Was Cleas sagte, machte Sinn. Allein der Lärm, den eine Bande von Räubern hier verursacht hätte, wäre weithin zu hören gewesen. Niemals hätte man dreißig oder vierzig Mann rasch über eine solche Brücke und durch dieses Portal, wie immer das auch aussehen mochte, an einen anderen Ort bringen können. »Ich habe auch alte Mineneingänge gefunden, Schürfgruben, Bergwerksstollen«, erklärte Cleas. »Überall in diesem Gebiet hier. Es erstreckt sich bis hinauf zum Mogellsee und ein gutes Stück nach Westen ins Ramakorum hinein.« Er lächelte. »Irgendein guter Geist hat dich zu mir geführt. Es gibt wohl niemanden in unserer Welt, der dich hier, in dieser Gegend, schneller an dein Ziel bringen könnte als ich.« 546 Sie lächelte zweifelnd. »Ich wünschte nur, ich wüsste selbst, wo das ist.« »Du wirst ungefähr vierzig Ellen über dem Wasser herauskommen, ein kleines Stück nordwestlich der Insel«, erinnerte er sie. »Lehne dich nach vorn, sodass du nicht mit dem Rücken aufschlägst. Können wir?« Alina schluckte. Sie hielt Benni vor ihrer Brust, hatte den schweren Hund mit Mühe hochgehoben. Er war unruhig und verhielt sich nicht eben so, dass sie sich irgendwohin würde lehnen können.
»Warte«, sagte sie, »warte noch kurz.« Ächzend setzte sie Benni wieder ab. Winselnd lief er einmal im Kreis durch das kleine Gebäude, in dem sie standen. Cleas richtete sich auf, stieß ein angespanntes Seufzen aus. Die Zeit wurde immer knapper für ihn, er musste dringend zurück. »Es tut mir Leid«, jammerte Alina. »Vierzig Ellen - das ist verdammt hoch, weißt du? Und vermutlich wird genau das passieren: dass ich mit dem Rücken aufschlage. Schau doch mal - wie ich hier stehe!« Sie demonstrierte Cleas durch ihre Körperhaltung, was sie meinte. »Benni wird auch noch auf mich drauffallen.« Cleas schnaufte. »Ja doch, Alina!«, sagte er geduldig. »Aber du musst das Ganze nur genau ein Mal aushalten, nicht öfter! Selbst wenn du mit dem Rücken aufkommst, wirst du dabei nicht sterben!« Sie kam sich blöde vor, dass sie sich so anstellte. Aber es war nun mal keine leichte Sache, mit einem Hund auf den Armen auf gut Glauben über etwa hundertfünfzig Meilen hinweg auf magischem Wege an einen anderen Ort versetzt zu werden und dann aus 40 Ellen Höhe ins Wasser zu stürzen. Was Stürze aus großer Höhe anging, war sie unangenehm vorbelastet. »Bist du wirklich sicher, dass ich über dem Wasser 547 herauskomme?«, fragte sie jammervoll. »Was ist, wenn ich noch immer über der Insel bin?« Wieder seufzte Cleas. »Ich hab es schon ungefähr zwanzigmal gemacht und bin immer über dem Wasser herausgekommen. Diese Inseln sind alle gleich, und nachdem sich ... nun, wie du sagst, die ganze Welt bewegt hat ... nach Südosten offenbar ...« Victor hatte ihr das erzählt. Dass er und seine Skripturen damals auf der Suche nach dem Ort, an dem der Pakt versteckt war, aufgrund eines Landkartenvergleichs darauf gekommen waren, dass sich während des Dunklen Zeitalters das gesamte Südramakorum mitsamt dem Mogell-Becken verlagert haben musste. Offenbar um etwa 40 Ellen abwärts und etwa 100 Ellen südöstlich, wie Cleas inzwischen herausgefunden hatte. Der Landbruch war zu dieser Zeit entstanden, und das Mogellbecken war nach Süden hin so abgesackt, dass der See im Laufe der folgenden Jahrhunderte die vierfache Größe erlangt hatte. Wenn dies alles tatsächlich so zutraf, erklärte es manches. Unter anderem auch, dass die meisten dieser kleinen Brücken eingestürzt waren und dass jetzt der Ankunftsort dieses Systems der Stygischen Portale nicht mehr innerhalb der kleinen Gebäude auf den Inseln lag, sondern irgendwo vierzig Ellen hoch in der Luft, etwas nordwestlich der Inseln. »Kannst du Benni nicht nach mir schicken?«, fragte Alina verzweifelt. »Für ihn macht das doch keinen Unterschied! Er hat sowieso keine Ahnung, was ihm passiert - also muss es doch egal sein, ob er allein in den See fällt oder mit mir.« Cleas stöhnte. »Das hatten wir doch schon, Alina. Ich brauche eine gute Minute, um die Magie aufzubauen. Für diese Zeit bleibt er mir doch niemals ruhig dort sitzen!« Alina sah sich Hilfe suchend um. Das kleine Gebäude war kreisrund, maß einen Durchmesser von 548 etwa zehn Schritt und war aus hellen Kalksteinblöcken erbaut. In seinem Inneren, genau in der Mitte, stand ein etwa vier Handbreit hoher Sockel und um ihn herum waren sechs kreisrunde, flache Vertiefungen im felsigen Boden angeordnet. Es waren die Verzweigungen des Stygischen Portals, und sie repräsentierten die sechs unterschiedlichen Orte, die man von hier aus erreichen konnte. Auf dem Sockel, so vermutete Cleas, musste einmal ein magisches Artefakt platziert gewesen sein, das die stygischen Energien sammelte, die für die Reise notwendig waren. Heute war es längst nicht mehr da, aber es war Cleas, dem Fachmann in Sachen Lesen magischer Strukturen, gelungen, die magische Verwebung aus eigener Kraft zu rekonstruieren. Mithilfe einer selbst gewirkten Magie vermochte er die Reise anzutreten oder, wie in diesem Fall, Alina an einen anderen Ort zu befördern. »Ich weiß, wie wir's machen!«, rief sie plötzlich aus. »Benni geht zuerst!« Cleas starrte sie verwundert an. »Benni, komm her, mein Guter!«, rief sie. Der Hund kam schwanzwedelnd zu ihr, und sie führte ihn an seinem Halsband zu derjenigen der sechs Vertiefungen, die sie direkt zum Südostzipfel des Mogellsees bringen sollte zu einem weiteren Stygischen Portal auf einer Insel in einem Felsenkessel, genau wie hier. Es gelang ihr, Benni dazu zu bringen, dass er ruhig sitzen blieb. »Los, Cleas!«, zischte sie dem Magier zu. »Tu es -jetzt gleich!« Sie redete wieder beruhigend auf Benni ein. Der Hund saß brav auf seinem Fleck, beobachtete Alina und ließ sich tatsächlich von ihr umgarnen, an seinem Platz sitzen zu bleiben. Gleich darauf spürte sie, wie sich im Raum etwas aufbaute, ein Gefühl elektrischer Spannung hing in der Luft. Cleas hatte begonnen, seine Magie zu wirken. Sie war, wie er 549 gesagt hatte, kompliziert, und deswegen benötigte er auch eine Minute vollkommener Ruhe. Aus den Augenwinkeln sah Alina, wie über dem Sockel in der Raummitte ein Wirbel winziger farbiger Funken entstand. Es war wie ein Strudel, der langsam und ruhig nach oben davon floss. Aus dem ganzen Raum sog er farbige, kleine Funken zu sich heran - Funken, die überall in der Luft entstanden waren. Sie waren klein wie Sandkörner und von einer winzigen, strahlenden Aura umgeben. Sie vereinigten sich in der Luft zu kleinen, bunten Schleiern, bevor sie den Wirbel über dem Sockel erreichten. Dann umkreisten sie den Wirbel ein-, zweimal, ehe sie von ihm aufgesogen wurden. Alina hatte noch nie eine so wunderschöne Erscheinung beim Wirken einer Magie gesehen. Wie gebannt starrte
sie darauf. Sie vergaß völlig, weiter auf Benni einzureden. Aber das erwies sich als unnötig, denn Benni war selbst fasziniert vom Anblick des Funkenwirbels. Als er dann seine Reise antrat, erschrak Alina ein wenig. Der Hund löste sich zu farbigen Funken auf, wobei er es selbst überhaupt nicht zu bemerken schien. Es begann an seiner Schnauze, die dem Wirbel am nächsten war. Sie zerfiel zu winzigen, farbig glühenden Teilchen, die sofort von dem Wirbel aufgesogen wurden. Als er in diesem Moment kurz den Kopf wandte, um Alina anzusehen, war plötzlich der Teil seiner Nase wieder da, der sich eigentlich bereits aufgelöst hatte, während dafür sein linkes Ohr und seine linke Schädelhälfte verschwanden. Dann blickte er wieder zu dem Sockel zurück und mit einemmal war sein ganzer Kopf fort. Der Fortgang der Magie wirkte aufgrund seiner feinen Erscheinung nicht bedrohlich, aber sie empfand es als nicht eben leicht verdaulich, plötzlich nur noch einen halben Hund dort sitzen zu sehen. Dann ging es plötzlich schnell. Innerhalb weniger Sekunden löste 550 sich der Rest von Benni in bunte Funken auf. Zuletzt erstrahlte so etwas wie ein matter Blitz und der Wirbel zischte nach oben in den Schatten unter dem Runddach davon. Damit war es vorbei. Alina ließ sich aus ihrer knienden Haltung auf den Hintern zurückfallen und stieß ein Uff! aus. »Los jetzt!«, zischte Cleas. »Benni dürfte bereits im See schwimmen. Du solltest ihn nicht allzu lange allein lassen!« Sie erhob sich und rückte den kleinen Rucksack zurecht, den Cleas ihr überlassen hatte. Er würde ebenfalls nass werden. »Cleas, ich ...« Sie trat zu ihm und umarmte ihn. »Danke für alles«, sagte sie schlicht. »Schon gut«, sagte er knapp und schob sie wieder davon. »Ich bin kein Freund von Rührseligkeiten, das weißt du ja. Los, mach, dass du fortkommst.« »Ich werde nicht zurückkehren können, wenn ich meine Freundin nicht finde. Nicht mithilfe dieses Portals.« Er nickte. »Ich weiß. Aber versuche es trotzdem - zu Fuß, auch wenn es Wochen dauert. Irgendwo musst du ja hin, wenn du keinen Erfolg hast. Ich werde nach dir Ausschau halten, das verspreche ich!« »Danke, Cleas. Ich hoffe, du kommst überhaupt bis ...« Sie unterbrach sich. Sie wussten beide, dass seine Aussichten inzwischen mehr als schlecht standen. Er hatte höchstens noch dreieinhalb Stunden Zeit, nach Saligaan zurückzukehren. Aber wenn er es tatsächlich noch schaffen sollte, war er vermutlich sehr spät dran und tropfnass. Er würde irgendwie ins Dorf zurückgelangen müssen, darauf hoffend, dass niemand seine Abwesenheit bemerkt hatte. Danach stand ihm bevor, seine Lügengeschichte glaubhaft zu machen. Und schließlich gab es noch diese Sache mit dem Drakkenschiff. Die Chancen standen gut, dass das 551 Wrack und die Toten auf der Wiese inzwischen entdeckt worden waren. Traf dies zu, würde er nicht einmal mehr die Flussstelle passieren können, an der das Wrack lag. Andere Drakken würden dort sein und nach Trümmern und Hinweisen suchen. »Du musst jetzt gehen!«, sagte er dringlich. »Kümmere dich nicht um mich! Wenn ich in dieser Sache scheitern sollte, habe ich wenigstens noch etwas Wichtiges in meinem Leben tun können.« Er lächelte sie bitter an. »Was hätte ich sonst noch für eine Zukunft gehabt?« Alina spürte Tränen in den Augen. Er packte sie an den Handgelenken und schob sie mit sanfter Gewalt zu der runden Vertiefung. »Tu mir nur einen Gefallen, ja? Bleib am Leben! Und wenn du kannst - unternimm etwas gegen die Drakken!« Sie nickte voller Elend. »Ich werde dich wieder sehen, ich verspreche es. Irgendwann komme ich zurück nach Saligaan!« Er nickte. »Wird schon klappen. Sei still jetzt und beweg dich nicht!« Alina gehorchte. Nach kurzer Zeit spürte sie wieder das elektrische Kribbeln in der Luft. Um sie herum entstanden die Funken, und dann kam wohl der Augenblick, da sie sich auflöste - das aber konnte sie nicht selbst wahrnehmen. Dafür geschah etwas anderes, Wunderbares. Je länger der Prozess fortschritt, desto deutlicher schälte sich vor ihrem geistigen Auge ein Bild des Ortes aus dem Nichts, an dem sie gleich ankommen würde. Gern hätte sie Cleas das noch zugerufen, aber sie fühlte, dass es nicht mehr ging, dass sie keine Stimme mehr hatte. Cleas stand mit geschlossenen Augen im Raum, während er immer blasser wurde. Dann fuhr ein Ruck durch sie, und plötzlich hatte sie das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. 552 29 ♦ Ramakorum Benni hatte die Insel beinahe schon erreicht, als sie im Wasser aufschlug. Sie hatte ihn aus der Luft bereits ausgemacht, in dem kurzen Augenblick, in dem sie in der Höhe schwebte, während sie sich an diesem Ort manifestierte. Dann ging es abwärts. Der Magen rutschte ihr in den Hals und sie ruderte verzweifelt mit den Armen. Irgendwie schaffte sie es, tatsächlich nach vorn zu kippen, aber bevor sie sich darüber freuen konnte, schlug sie schon mit einem mächtigen Platsch auf dem Wasser auf. Sie hatte vergessen, Luft zu holen, war aber geistesgegenwärtig genug, es jetzt nicht nachholen zu wollen. Sie war seitlich aufgeschlagen und zum Glück nicht allzu tief ins Wasser eingetaucht. Endlich fand sie die Orientierung wieder und kämpfte sich in Richtung der hellen Wasseroberfläche. Japsend brach sie nach oben durch - dann hatte sie es überstanden.
Es war nicht das erste Mal, dass sie eine solche Reise machte. Chast hatte sie und sich selbst mehrfach mithilfe eines magischen Tricks durch eine namenlose Sphäre an einen anderen Ort versetzt. Allerdings war Chasts Methode nicht annähernd mit einer so schönen Erscheinung verbunden gewesen wie Cleas' Magie. Chast und sie waren durch eine Sphäre des absoluten Chaos gerutscht; durch einen Ort, an dem ein gesunder Mensch den Verstand verlöre, hielte er sich dort auch nur eine Minute zu lange auf. Zum Glück aber waren diese Momente so kurz gewesen, dass sie kaum etwas hatte erfassen können - außer einem beklemmenden 553 Gefühl des Grauens und der vollkommenen Verlorenheit. Dann wurden sie wieder zurück in die Welt geholt. Alina ruderte mit den Armen, bis sie die Insel ins Blickfeld bekam. »Bennü«, schrie sie. »Benni! Komm her! Hier entlang - nicht zu der Insel!« Sie lag viel näher als das Ufer, und deswegen war der Hund instinktiv dorthin geschwommen. Dass es jedoch zwischen dem Ufer und der Insel keine Brücke mehr gab, hatte sie ebenfalls schon aus der Luft wahrgenommen. Sie wandte sich dem Ufer zu und begann zu schwimmen. Es war nicht leicht, in Kleidern und mit einem Rucksack auf dem Rücken vorwärts zu kommen, und das Wasser war ziemlich kalt. Während sie sich um gleichmäßige Schwimmzüge bemühte, nahm sie die Umgebung in Augenschein. Es handelte sich ebenfalls um einen Talkessel mit einem See, allerdings war er wesentlich weitläufiger als der, aus dem sie kam. Die Berge waren hier höher und teilweise bewaldet, die Stützpfeiler mächtiger und weiter verteilt. Der Fels hatte an diesem Ort eine ganz andere Farbe; hier herrschten graue und weiße Töne vor, weit im Westen sah sie schneebedeckte Gipfel zwischen mächtigen Pfeilern hervorschauen. Das Ufer, auf das sie zusteuerte, bestand großenteils aus Sand; auch dort gab es Bäume, und sie glaubte, so etwas wie die Mündung eines kleinen Seitenflusses erkennen zu können, der von Süden her in den Talkessel stieß. Der Hauptarm des Flusses schien von Westen zu kommen. Endlich kam sie dem Ufer näher und spürte schließlich Grund unter den Füßen. Ächzend kämpfte sie sich aus dem Wasser und ließ sich erschöpft auf dem Ufersand zu Boden sinken. Nach einer Weile kam auch Benni. Er schüttelte sich einmal kräftig und war bereit für den nächsten Abschnitt ihrer Reise. 554 Nach einer. Verschnaufpause stand Alina auf und sah sich um. Der Nachmittag war schon fortgeschritten, und da sie müde war, beschloss sie, sich gleich um ein Lager für die Nacht zu kümmern. Ihre Kleider waren nass, sie fror, hatte Hunger' und musste sich endlich einmal ausruhen. Cleas hatte ihr eine Dose Glimmpulver eingepackt und sie fand noch ein Hemd, das halbwegs trocken war. An der Uferböschung sammelte sie Reisig und hatte bald im Schutz einiger kleiner Felsen am Ufer ein Feuer entfacht. Gierig nach Wärme, nährte sie es so sehr, dass sie zeitweilig vor lauter Hitze die Felsnische verlassen musste. Immerhin bekam sie auf diese Weise ihre nassen Kleider rasch wieder trocken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Benni schon seit einer Weile verschwunden war. Als er kurz vor Einbruch der Dämmerung wiederkam, schleppte er ein getötetes Waldbock-Kitz an. Zuerst empfand sie Bedauern für das arme Tier, aber dann überwog ihr Hunger. Sie lobte den Hund und machte sich mutig daran, das Kitz mit dem Messer aus Cleas' Rucksack zu häuten und es auszunehmen. Es dauerte eine ganze Weile; ihr Werk war blutig und ihr zukünftiger Braten sah zuletzt nur wenig fachmännisch aus. Anschließend baute sie sich einen Drehspieß aus Ästen, was sie mindestens ebensoviel Zeit kostete. Aber dann kam endlich der Lohn: Das gebratene Fleisch begann über dem Feuer zu duften. Ihr war nahe dem Feuer so heiß, dass sie ein Vergnügen daran fand, sich wieder auszuziehen, im Schneidersitz nahe dem Feuer den Spieß zu drehen, und als der Braten fertig war, in geradezu barbarischer Weise das Fleisch aus dem ganzen Stück zu beißen und sich mit dem aromatisch duftenden Fett zu besudeln. Es schmeckte köstlich, und das Kitz gab genug Fleisch her, um es großzügig mit Benni zu teilen. Zu555 letzt war sie so fettig und voller Bratenschmiere, Asche und Ruß, dass sie kurz entschlossen im Mondlicht zum Ufer rannte und ins eiskalte Wasser sprang. Sie wusch sich eilig und schrubbte sich mit Sand ab, rannte dann zurück und opferte eines ihrer beiden Hemden, um sich abzutrocknen. Als sie sich abrubbelte, fühlte sie sich, trotz all der Gefahren, lebendig wie selten zuvor in ihrem Leben. Endlich war alles getan. Bei dem Gedanken, dass sie nun Schlaf finden würde, wurde ihr beinahe schwindelig vor Müdigkeit. Seit Beginn ihrer letzten Arbeitsschicht in Yanalee war sich nicht mehr zum Schlafen gekommen. Sie warf noch ein paar dicke Äste ins Feuer, rollte sie sich dann, nackt wie sie war, wohlig zusammen, und befahl Benni, Wache zu halten. Es dauerte weniger als eine Minute, dann war sie fest eingeschlafen. Nach einer Stunde, als das Feuer heruntergebrannt war und ihr kalt wurde, wachte sie noch einmal kurz auf, und zog sich ihre trockenen Sachen wieder an. Benni lag bei ihr und hatte sich an sie geschmiegt. Gar kein so schlechtes Leben, dachte sie. Aber dann fiel ihr Cleas ein, und sie sandte ein Gebet zu den Kräften, dass er es zurück bis nach Saligaan geschafft hatte. * In dieser Nacht schlief sie ausnehmend gut, nicht zuletzt, weil sie Benni bei sich wusste. Über seinen Mut gegenüber den Drakken konnte man streiten, aber das verübelte Alina ihm nicht. Was seine Wachsamkeit und seine Fähigkeiten als Jäger anging, hatte sie vollstes Vertrauen. Ihre Entscheidung, den Hund durch das
Stygische Portal mit sich zu nehmen, war richtig gewesen. Sie wachte erst auf, als der Tag schon in voller Hel556 ligkeit erstrahlt war. Benni hatte bereits wieder ein Tier erlegt. Was es für eines war, konnte Alina nicht genau sagen; es besaß die Größe eines Kaninchens, hatte aber keine langen Ohren, dafür aber lange Hinterläufe und einen noch längeren Schwanz. Sie wusste nicht recht, was das war, und da sie gerade keinen Hunger verspürte, beschloss sie, auf das Frühstück zu verzichten. So packte sie ihre Habe ein und brach bald auf. Irgendwie hatte sie das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, und plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, sich zu beeilen. Sie wollte Klarheit erlangen, ob ihre Idee, Roya hier finden zu können, nicht nur ein dummer Wunschtraum gewesen war. Abermals war ein schöner Tag angebrochen und sie war zuversichtlich, heute ein gutes Stück Weg zurücklegen zu können. Das Flusstal führte eindeutig nach Nordwesten, und der Fluss selbst war so breit, dass es ihr möglich erschien, es könnte derjenige sein, der unterirdisch unter dem Hauptkamm des Ramakorums hindurchströmte. Leider hatte sie keine Ahnung, ob es in anderen, benachbarten Tälern ebensolche Flüsse geben mochte. Und sie wusste auch nicht, wie viele Tage sie noch würde laufen müssen, um bis an den Tunneleingang des Flusses gelangen zu können. Einen - oder zwei? Vielleicht noch mehr, bis hin zu einer Woche? Immerhin war der Weg am sandigen Flussufer entlang gut begehbar. Sie rechnete sich aus, dass sie pro Tag, wenn sie zügig und unbehindert weitermarschieren konnte, dreißig bis vierzig Meilen schaffen konnte. Der Vormittag verging und die Mittagszeit kündigte sich durch heftiges Magenknurren an. Für einen solchen Marsch, sagte sie sich, würde sie nahrhaftes Essen brauchen, und sie sollte bei Bennis erlegtem Wild nicht so wählerisch sein. Doch sie hatte das Tier zurückgelassen. Sie machte eine Pause und verzehrte einen Teil 557 dessen, was ihr Cleas eingepackt hatte. Während sie am Flussufer saß, dachte sie wieder an den Magier, ihren Freund. Er hatte sich für sie geopfert. Sie wusste nicht, inwieweit sie sich Hoffnungen machen sollte, dass er noch rechtzeitig nach Saligaan gelangt wäre. Sie war nun hier in Freiheit, aber Cleas? Es mochte gar sein, dass er inzwischen tot war. Der Gedanke war entsetzlich. Dumpfe Trauer machte sich in Alina breit. Sie erhob sich, packte ihre Sachen und machte sich entschlossen wieder auf den Weg. Was auch immer ihm widerfahren war, eine Sache hatte Cleas ganz bestimmt verdient: dass sie das Letzte gab, um Roya zu finden. Den ganzen Nachmittag marschierte sie weiter nach Nordwesten, immer am Wasserlauf entlang. Doch dann wurde der Fluss schmaler und sie wurde unsicher, ob sie wirklich auf dem richtigen Weg war. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie eine Gegend erreicht, in der sich nach Süden hin eine Passage bot: In dem hohen, felsigen Gipfelkamm, der das Flusstal seit Beginn ihrer Wanderung nach Südwesten hin begrenzte, tat sich ein Sattel auf. Es würde sie etwa zwei Stunden kosten, dort hinaufzusteigen, dann aber konnte sie einen Blick in das angrenzende Tal oder vielleicht noch weiter nach Süden werfen. Sie beschloss, es zu wagen, und machte sich an den Aufstieg. Als die Abenddämmerung einbrach, hatte sie es geschafft. Müde erreichte sie den höchsten Punkt des Sattels, und als sie ins angrenzende Tal hinabblickte, stieß sie einen überraschtes Aufstöhnen aus. Dort unten floss ein weiterer Strom von Nordwesten heran; er verlief unmittelbar parallel zu dem Tal, das sie bisher durchwandert hatte, und er war wesentlich breiter. Aber schlimmer noch: Jenseits des Stromes erhob sich nur eine niedere Hügelkette, und dahinter sah Alina im 558 Abendlicht, zwischen mehreren Pfeilern hindurch, einen weiteren Fluss glitzern. Sie seufzte laut. Nun kannte sie bereits drei Wasserarme, die von Nordwesten heranströmten, und wer konnte sagen, wie viele es in anderen Tälern noch geben mochte? Enttäuscht ließ sie sich zu Boden sinken. Sie hatte es sich viel zu leicht vorgestellt. Diese Bergwelt war riesig, erstreckte sich über hunderte von Meilen, und es war geradezu naiv von ihr gewesen zu glauben, sie könnte auf Anhieb den richtigen Weg finden. Benni setzte sich neben sie und sie legte seufzend den Arm um seinen Hals. »Ich bin ein dummes Huhn«, vertraute sie ihm niedergeschlagen an. »Wie sollen wir nur in diesem Gewirr von Flüssen den richtigen finden?« Sie saß noch eine Weile da, während das Licht des Tages immer weiter schwand, und gab sich in ihrem Kummer der Schönheit der Landschaft und des Sonnenuntergangs hin. Inzwischen war die Dämmerung schon so weit vorangeschritten, dass es keinen Sinn mehr machte, den Abstieg in das große Flusstal zu wagen. Der Aufstieg von ihrer Seite her war schwieriger und langwieriger gewesen, als sie gedacht hatte, und außerdem wusste sie im Augenblick nicht einmal, was sie überhaupt als Nächstes tun sollte. »Wir bleiben hier oben, Benni«, sagte sie und erhob sich. »Vielleicht fällt mir heute Nacht irgendetwas ein.« Sie fand einen geschützten Platz zwischen Felsen und Bergkiefern und richtete sich dort einen Lagerplatz ein. An diesem Abend hatte Benni nichts erbeutet, und so fiel das Abendessen bescheiden aus: Zwieback, Hartkäse und ein Speckstreifen, den Alina Benni überließ. Ein Feuer zu entfachen sparte sie sich; sie war so müde, dass sie sich, als das letzte Licht des Tages geschwunden war, sogleich zum Schlafen niederlegte. Wie so oft, lag Benni wärmend bei ihr. Diese Tatsache verlieh ihr zwar auf die Dauer keine höfische Duftnote, 559 aber sie sagte sich, dass sie sich am besten daran gewöhnen sollte. Sie würde keine Shaba der Paläste und der
Bälle in Festkleidern sein, sondern eher eine des Untergrunds. Eine, die in Höhlen und Wäldern schlief, bei Nacht auf die Jagd ging und ihr Leben in derber Kleidung und unter derben Männern und Frauen verbrachte. Der Traum von feinen Kleidern, erlesenen Speisen und angenehmen Nächten in Daunenbetten war mit Sicherheit für lange Zeit ausgeträumt. Bevor sie einschlief, waren ihre Gedanken bei Victor und Marie, und sie hoffte und wünschte sich, dass es den beiden gut ging. * Als sie am nächsten Morgen von Bennis Gebell und einem jaulenden Geräusch geweckt wurde, war sie zuerst nicht weiter alarmiert. Noch halb schlaftrunken stemmte sie sich in die Höhe und seufzte über das Ärgernis einer weiteren Kontrolle, wie sie bereits schon so viele erlebt hatte. Erst als sie stand und gewohnheitsmäßig nach ihrem Hals tastete, durchfuhr sie ein lähmender Schrecken. Eine Drakkenpatrouille! Sie war auf der Flucht - und hatte kein Halsband mehr! Instinktiv ging sie in Deckung, kauerte sich nieder, aber es war längst zu spät. Das Drakkenschiff war von steil oben herabgekommen und man hatte sie längst gesehen. Vor ihr lag die sanfte Wiese der Sattelkuppe; ein Ort, an dem ein so kleines Schiff wunderbar landen konnte. Und an diesem Ort hatte es auch das bestmögliche Schussfeld. Ihre Fluchtmöglichkeiten waren gleich Null. Panik drohte sie zu übermannen. »Bleib stehen!«, dröhnte eine blecherne Stimme über den Sattel hinweg. »Bei Flucht schießen wir!« Trotz des Schocks funktionierte Alinas Denkapparat noch so weit, dass ihr klar wurde, dass der Sprecher 560 dieser Worte weder ein Bruderschaftler noch ein Verwalter gewesen war. Das Schiff war grau, wie sie in diesem Moment sah; es war ein reines Patrouillenschiff, vielleicht nur mit zwei Drakkensoldaten bemannt. Sie überlegte verzweifelt, ob sie die Drakken zu täuschen vermochte, wenn sie sich nicht bewegte. Aber rätselhafterweise war sie von ihnen gesehen worden, während sie noch bewegungslos auf ihrem Lager gelegen und geschlafen hatte. Wie war sie überhaupt entdeckt worden? Ihr Lager war gut versteckt, und eigentlich wären hier, in dieser menschenleeren Gegend, überhaupt keine Patrouillen zu erwarten gewesen. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatten Cleas gefangen genommen und es geschafft, ihn zum Reden zu bringen! Sie erhob sich wieder, blieb mit pochendem Herzen auf ihrem Platz stehen und sah mit Verzweiflung im Herzen ihrem Schicksal entgegen. Es gab nichts mehr, was sie noch tun konnte. Das Drakkenschiff landete. Das Jaulen schwoll ein wenig ab, aber die Maschinen des Schiffs erstarben nicht. Alles deutete darauf hin, dass die Drakken vorhatten, sehr bald wieder zu starten. Nun kam es nur noch darauf an, was sie mit ihr zu tun gedachten. Würde man sie auf der Stelle töten oder würde sie nur gefangen genommen werden? Schwer atmend wartete sie, was geschehen würde. Benhi war winselnd zu ihr gekommen und drückte sich um ihre Beine herum, während in ihr die Hoffnung wuchs, dass man sie nur gefangen nahm. Wenn sie Cleas zum Reden gebracht hatten, wussten sie sicher auch, dass sie die Shaba war, und das würden sie für ihre Zwecke nutzen wollen. Nur Benni, der arme Benni, würde wahrscheinlich sterben müssen. Sie biss die Zähne zusammen. Das würde sie nicht zulassen! 561 Die Seitentür des Schiffs glitt zurück und drei Drakkensoldaten sprangen heraus. Sie waren seltsamerweise nicht bewaffnet, jedenfalls nicht mit ihren langen, Feuer spuckenden Stäben. Das deutete abermals darauf hin, dass sie inzwischen wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Ja, sie würde gefangen genommen und nach Savalgor gebracht werden; alle Anstrengungen ihrer Flucht waren vergeblich gewesen. Und das winzige bisschen Hoffnung, das sie im Herzen trug und das zugleich auch die Hoffnung eines ganzen Volkes gewesen war, würde vergehen. Sie beugte sich zu Benni nieder, umarmte ihn und ließ ihren bitteren Tränen ungezügelt freien Lauf. Kurz darauf waren die drei Drakken bei ihr. »Du bist Royal«, knirschte der in der Mitte, eine hässliche Echsenbestie in einem schwarzgrünen Körperpanzer. Alinas Herzschlag setzte aus. Sie wurde für Roya gehalten? Fieberhafte Gedanken schössen durch ihr Hirn. Sollte sie sich dann besser für Roya ausgeben ...? Der Drakken, der offenbar sicher war, sie wäre Roya, nahm ihr die Entscheidung ab. »Du kommst mit!«, krächzte er mit seiner kalten Echsenstimme. »Ich lasse meinen Hund nicht los!«, schluchzte sie. »Ihr dürft ihn nicht töten!« »Du kommst mit!«, wiederholte der Drakken, so als hätte er ihre Worte gar nicht gehört. Sie klammerte sich nur umso fester an Benni. »Nicht ohne meinen Hund!«, rief sie. Die drei Drakken wirkten unschlüssig. Zwei von ihnen tauschten leise, zischende Worte, dann näherte sich der dritte einen Schritt. Sein Panzer war metallisch schwarz, ebenso wie der des dritten Drakken. Benni fletschte die Zähne und begann zu knurren. Einer der beiden anderen Drakken warf dem, der sich genähert hatte, einen scharfen Befehl zu, worauf562 hin er sich umwandte und zum Flugschiff zurückrannte. Alina hatte diese Wesen schon früher beim Rennen beobachten können; es war ein unangenehmer Anblick. Kein Mensch würde je einem Drakken davonlaufen können und vielleicht nicht einmal ein Hund wie Benni. Kurz darauf kehrte das Echsenwesen zurück, diesmal bewaffnet. Alina stieß einen Schrei aus. »Nein!«, rief sie. »Lasst meinen Hund in Ruhe!«
Der mit der Waffe blieb ein Stück abseits stehen und hob sie. Alina wandte sich todesmutig um, sodass Benni hinter ihr war; der Drakken hätte zuerst sie erschießen müssen. Aber das durfte er offenbar nicht -weil er sie für Roya hielt. Benni grollte in der Tiefe seiner Kehle und ihr rollten Tränen der Wut und der Verzweiflung über die Wangen. »Du musst jetzt mitkommen!«, befahl der Drakken in dem schwarzgrünen Panzer. »Nein!«, schrie Alina. »Ich lasse nicht zu, dass ihr meinem Hund etwas tut!« »Du nimmst das Tier mit«, erwiderte der dritte plötzlich mit kalter, herzloser Stimme. »Lass es los. Wenn es ruhig ist, kann es mit dir kommen!« Alina starrte das Echsenwesen voller Abscheu und durch einen Vorhang von Tränen an. Es war ihr ein Rätsel, wie sie diesem maschinenhaften Wesen ein solches Zugeständnis abgetrotzt hatte, und sie traute dem Frieden nicht. Vielleicht wollte der Drakken sie nur von Benni trennen, damit ihn der andere ungehindert erschießen konnte. Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich lasse ihn nicht los! Auf keinen Fall! Wenn er bei mir bleiben darf, komme ich mit. Wenn nicht - müsst ihr mich zusammen mit ihm töten!« Wieder berieten sich die beiden Drakken. Dann sagte der Schwarzgrüne: »Gut. Du gehst voraus. Setz dich 563 mit dem Tier hinten hin. Und halte es ganz fest.« Er wies mit dem ausgestreckten Arm ins Innere des kleinen Schiffs, dessen Tür nach wie vor geöffnet war. Dort war Platz für höchstens vier Personen. Alina wusste nicht, ob Benni nicht ohnehin durchdrehen würde, wenn er mit drei Drakken auf so engem Raum eingesperrt war. Aber sie musste es riskieren. Die drei Kreaturen hätten sie und Benni mit Leichtigkeit auseinanderreißen und den Hund töten können. Solange sie noch nicht auf diese Idee gekommen waren, konnte sie ihm vielleicht das Leben retten. Langsam erhob sie sich, nahm Benni am Hundehalsband fest in den Griff und redete ihm beruhigend zu. Er war schon zweimal geflogen und würde sicher mit ihr in das Schiff steigen. Sie betete, dass er ruhig blieb. In gebückter Haltung, Benni dabei mit sich ziehend, ging sie voran und redete auf ihn ein. Widerwillig folgte er, verdrehte dabei die Augen, um nach den Drakken sehen zu können, und bleckte immer wieder die Zähne, ein tiefes, böses Knurren in der Kehle. Alina achtete darauf, dem bewaffneten Drakken keinen ungehinderten Schusswinkel auf Benni zu bieten. Dann waren sie bei dem Flugschiff. Alina zerrte Benni über die zwei Sprossen der kurzen Einstiegsleiter hinauf und folgte ihm rasch. Sie setzte sich ganz hinten rechts in die Ecke und nahm ihn zwischen die Knie. Benni war sehr böse und sehr nervös, aber er gehorchte. Sie hoffte nur, dass es ihr gelang, ihn unterwegs ruhig zu halten. Vorn im Flugschiff saß ein weiterer Drakken, offenbar der Pilot. Die drei Drakken stiegen zu, zum Glück respektvollen Abstand haltend. Benni bleckte wieder die Zähne und knurrte die Echsenwesen an, aber es gelang Alina, ihn zu halten. Einer der beiden schwarz gepanzerten Drakken kletterte nach vorne und nahm den 564 Platz neben dem Piloten ein. Dann glitt die seitliche Tür zu. Die Maschinen im Innern des Schiffs heulten wieder auf und gleich darauf hob das kleine Schiff ab, schwenkte in Richtung des breiten Flusstales und nahm Fahrt auf. Alinas Erleichterung darüber, dass sie Benni hatte retten können - wenigstens vorläufig -, machte der Verzweiflung Platz, dass man sie nun doch erwischt hatte. Tränen liefen ihr über ihre Wangen. Alles war vergebens gewesen, und nun war wohl alle Hoffnung, auch wenn sie nur winzig gewesen war, dahin - ob man sie nun für Roya hielt oder nicht. Die echte Roya war offenbar noch frei, aber sie würde wohl kaum ganz allein etwas ausrichten können. Sobald die Drakken herausbekommen hatten, dass ihnen die Shaba in die Fänge geraten war, würden sie Roya wieder jagen -so lange, bis sie ihnen in die Falle lief. Alina wandte das Gesicht von den Drakken ab. Benni spürte ihren Schmerz, hob den Kopf und winselte mitfühlend. Nach einer Weile wandte sie den Kopf. »Woher wusstet ihr, wo ich bin?«, verlangte sie zu wissen. »Wer hat euch gesagt ... wo Roya ist?« Der Schwarzgrüne blitzte sie kurz an, antwortete aber nicht. »Los, sag es mir!«, maulte sie den Drakken an. »Ich will wissen, welches miese Stück mich verraten hat!« Alina hatte die Stimme erhoben und ihn ziemlich angefahren, und das schien das Echsenwesen nun doch zu stören. Eine beachtlich gefühlsbetonte Reaktion für einen Drakken! Er versteifte sich, lehnte sich ein Stück vor und blaffte sie an: »Sei still! Halte den Mund!« Das war Benni eine Winzigkeit zu viel. Schlagartig erwachte sein Beschützerinstinkt und er bleckte die Zähne. Wieder war das tiefe Knurren aus seiner Kehle zu hören, und abermals reagierte der 565 schwarzgrüne Drakken, bekanntermaßen ein Kriegerwesen, seltsam gefühlsmäßig. Es schien ihn zu ärgern, dass ihm ein einfaches Tier der Höhlenwelt drohte, und er reckte sich vor und knurrte zurück. Es war kein wirkliches Knurren, sondern eine Mischung aus Fauchen und Zischen bei geöffnetem Maul, aber die Botschaft war unmissverständlich. Benni quittierte sie mit einem noch lautern Knurren und dann, wie schon Tage zuvor, mit einem einzelnen, schmetternden Bellen.
Der Drakken zuckte erschrocken, allein von der Lautstärke zurückgetrieben, dann aber erwachte das Raubtier in ihm erneut. Er hob die krallenartigen Hände und öffnete seinen Rachen abermals, um Benni anzufauchen. Aber er kam nicht mehr weit. Anstelle des Fauchens entrang sich ein ersticktes Röcheln seiner Kehle. Sein gepanzerter Brustkorb begann plötzlich zu pumpen. Er versuchte sich in die Höhe zu stemmen, sackte aber wieder zurück und stieß einen hilflos-erstickten Laut aus. Er begann mit den Armen herumzufuchteln, und da wusste Alina schon, was passieren würde. Sie zog Benni mit aller Kraft zu sich und versuchte, sich vor dem Drakken wegzudrücken. Das Echsenwesen begann wild um sich zu schlagen und an seiner Rüstung zu zerren. Im Inneren des Drakkenschiffs war es eng - Alina lief Gefahr, ernstlich von den scharfen Knochengraten des Drakken verletzt zu werden. Als der Arm des Wesens knapp vor ihrem Gesicht vorbeifuhr, schrie sie auf und ließ Benni vor Schreck los. Das war der Anfang vom Ende. Benni verstand die heftigen Bewegungen des Drakken als Angriff und stürzte sich sofort auf ihn. Während die beiden zu einem tobenden Bündel verschmolzen, versuchte Alina verzweifelt, sich aus der Gefah566 renzone zu retten. In der Ecke hinter dem Sitz war ein wenig Platz. Da sie Benni ohnehin nicht mehr halten konnte, ließ sie sich voller Angst dort hineinrutschen. Im nächsten Moment wurde der Hund von einer heftigen Armbewegung des Drakken zur Seite geschleudert und landete auf dem zweiten Echsenwesen, das auf der anderen Seite saß und sich gerade erheben wollte. Benni verbiss sich auf der Stelle in ihn. Dann brach in dem kleinen Drakkenschiff die Hölle los. Während sich der andere Drakken zu wehren begann, seine Waffe aber in der Enge des Raums nicht einsetzen konnte, verfiel der erste in völlige Raserei. Er tobte durch den winzigen Raum, kreischte, zischte und versuchte sich seinen Panzer vom Leib zu reißen. Dann kam schon einer der beiden Piloten nach hinten, wurde aber nur in ein Chaos von fliegenden Armen und Beinen gerissen. Benni war außer Rand und Band, er kläffte, grollte und biss nur so um sich, während Alina vor Angst wimmerte und sich noch tiefer in ihre Nische zu verkriechen suchte. Plötzlich verfiel auch noch der zweite Drakken in Atemnot. Binnen Sekunden herrschte im Inneren des kleinen Schiffs die Raserei eines Tollhauses. Eine zischende Dampfwolke stob auf, als der erste Drakken es schaffte, seinen Panzer zu zerfetzen; kurz darauf sackte er schon gurgelnd in sich zusammen. Während der zweite Drakken immer mehr in das gleiche Verhalten abglitt, Benni noch immer kläffend und beißend umhertobte und der dritte Drakken kreischend den Hund zu fassen versuchte, begann das Schiff seitlich abzudriften. Alina bekam kaum noch etwas mit. Im Innern des Schiffs wallte Dampf wie in den Quellen von Quantar. Der vierte Drakken, der es zu steuern versuchte, kreischte irgendwelche panischen Laute nach hinten; ein zufälliger Blick zeigte Alina, dass nun auch der 567 dritte Drakken von der seltsamen Krankheit gepackt worden war, die von Bennis Bellen zu stammen schien. Er begann zu röcheln und zu keuchen - da stob schon wieder eine Dampfwolke auf. Das Schiff trudelte noch mehr. Alina wurde von irgendetwas getroffen und verlor für Sekunden den Überblick. Als sie wieder zu sich kam, sah sie, dass sich Benni bereits bis ganz nach vorn durchgearbeitet hatte und sich in den rechten Arm des Piloten verbissen hatte. Hinten bei Aliria herrschte schon beinahe wieder Ruhe; zwei Drakken waren bereits tot, der letzte kämpfte gerade gegen den Wahnsinn, der scheinbar auch ihn befallen hatte. Sie konnte vor Dampf kaum etwas erkennen, aber sie sah, dass eine neue Gefahr nahte, eine, die nicht minder tödlich war. Wenn Benni den Drakken nicht losließ, würden sie abstürzen. »Benni!«, schrie sie und kämpfte sich in die Höhe. Der Hund wurde von dem tobenden Piloten, der seinen Arm wie wild bewegte, auf und ab geschleudert, aber er ließ ihn nicht los. Alina stemmte sich mit Macht in die Höhe und kam endlich frei. Das Schiff taumelte durch die Luft, die Fenster waren beschlagen. Sie fand keine Zeit, eines davon frei zu wischen, um nachzusehen, wie weit sie noch über dem Boden waren. In panischer Eile kämpfte sie sich nach vorn. »Benni!«, schrie sie wieder. »Lass los! Lass ihn los!« Wunderbarerweise gehorchte der Hund. Ob es wegen der Schärfe von Alinas Befehl war oder wegen der Schmerzen, die er litt, konnte Alina nicht sagen, aber er ließ los. Vom letzten Schwung des Drakkenarms wurde er auf der gegenüberliegenden Seite des Pilotensitzes gegen die Scheibe geschleudert und rutschte jaulend daran herunter. Der Drakken keuchte und fauchte, hantierte an den Bedienungsteilen seines Schiffs, aber dann begann er plötzlich zu zucken. Sein Brustkorb verfiel in heftige, unrhythmische Bewegun568 gen, er löste die Hände von seinen Hebeln und fuchtelte wild umher. Da sah Alina durch einen kleinen, halbwegs freien Flecken in der vorderen Scheibe etwas auf das Schiff zurasen. Sie fand gerade noch Zeit, irgendetwas zu packen, um sich festzuhalten. Dann tat es einen mörderischen Schlag und alles um sie herum versackte in Dunkelheit. Alina erwachte von dem Gestank. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie besinnungslos gewesen war. Dass die Drakken einen scheußlichen Geruch nach Urin und Verwesung verströmten, war inzwischen weithin bekannt - ja, man hatte sich fast schon ein wenig
daran gewöhnt. Aber das hier war mehr. Der Gestank des Todes war hinzugekommen, eines Todes durch Gift und Fäulnis, vermischt mit weiteren Gerüchen, die dem zerstörten Schiff entstammen mochten, in dem sie noch immer lag. Mit einem Stöhnen schlug sie die Augen auf. Irgendwo knisterte ein kleiner Brand; sie sah schwarzen Qualm, der aber durch ein großes Loch direkt über ihr abzog. Ihr Blick war irgendwie getrübt. Als sie versuchte, die rechte Hand zu heben, um sich über die Augen zu wischen, fuhr ein scharfer Schmerz durch ihren Arm. Sie keuchte, registrierte, dass sie halb im Wasser lag. Etwas stimmte mit ihrem rechten Arm nicht. Als sie den Kopf hob, um danach zu sehen, wurde ihr schlecht. Der Unterarm war gebrochen, die rechte Hand stand in groteskem Winkel ab. Ihre Jacke war aufgerissen, die rechte Brust entblößt und ein breiter, blutiger Streifen zog sich von den Rippen abwärts bis zur Hüfte. Mitten darin befand sich eine Fleischwunde, aus der etwas herausragte. Alina ließ den Kopf wieder sinken und begann hilflos zu weinen. 569 Sie hatte überlebt - um den Preis, dass sie jetzt hier jämmerlich sterben musste? Das war nicht gerecht! Ihr war klar, dass die vier Drakken tot sein mussten; es war Benni gewesen, der sie umgebracht hatte. Sie hätte beinahe aufgelacht: Das Bellen eines Hundes vermochte ein schreckliches Kriegerwesen wie einen Drakken zu töten! Unfassbar! Sie hob den Kopf. »Benni?«, keuchte sie. Als Antwort kam ein klägliches Winseln, doch für sie war es, als würde nach einer finsteren Nacht die Sonne aufgehen. Sie wusste nicht, ob sie hier würde sterben müssen, und vielleicht war auch Benni nicht mehr zu retten - sie konnte ihn nicht sehen. Aber es war unendlich tröstlich, hier an diesem schrecklichen Ort nicht ganz allein zu sein. Leandra, dachte sie. Was würde Leandra nun tun? Vermutlich würde sie trotz aller Schmerzen versuchen aufzustehen, nach dem Hund sehen und irgendwie aus diesem zerstörten Schiff herauskommen. Alina beschloss, das Gleiche zu versuchen. Mit einer Kraftanstrengung und nur einem Arm stemmte sie ihren Oberkörper hoch - und starrte in das aufgedunsene, seltsam bleiche Gesicht eines toten Drakken. Es war ein Glück, dass sie ihn nicht scharf sehen konnte, denn der Anblick wäre wohl sonst noch widerlicher gewesen. Offenbar konnte sie auf kurze Entfernung etwas besser sehen als auf weite. Der Drakken hatte Schaum vor dem Maul und blutige Nasenlöcher; seine Augen waren so weit hervorgequollen, dass sie aus den Höhlen zu treten drohten. Sein Brustpanzer war aufgerissen, eine Anzahl von Röhren und Schläuchen quoll daraus hervor. »Benni?«, rief sie. Wieder kam das Winseln. »Glückwunsch, mein treuer Freund«, keuchte sie. »Deine Stimme ist mächtiger als die eines Gottes!« 570 Benni antwortete ihr nicht, sondern blieb seltsam still. Bei dem Gedanken, dass er sterben könnte, bevor sie ihn erreichen würde, schössen ihr Tränen in die Augen. »Benni?«, rief sie angstvoll. »Benni - sag was! Ich ...« Ein leises Kläffen ertönte, kläglich und kraftlos, aber irgendwie meinte sie, dass es nicht nach einem Hund klang, der nur noch Sekunden zu leben hatte. Sie versuchte, sich gänzlich aufzurichten, hätte sich aber mit der rechten Hand dafür an einem zerstörten Sitz hochziehen müssen - das ging jedoch nicht. Sie versuchte es anders, mit dem Ergebnis, dass sie abrutschte, nach hinten fiel und mit der gebrochenen Hand irgendwo anstieß. Sie schrie auf und der Schmerz trieb ihr das Wasser in die Augen. Schwer atmend blieb sie liegen, versuchte, sich wieder zu fangen. Als der Schmerz nachgelassen hatte, versuchte sie es erneut. Sie benötigte über eine halbe Stunde, bis sie sich zu Benni vorgekämpft hatte, und eine weitere Stunde, bis sie sich und den verletzten Hund aus dem Schiff gerettet hatte. Sie waren auf einer Sandbank mitten im Fluss abgestürzt; das völlig zerstörte Schiff lag halb im flachen Wasser. Im Laufe ihrer Anstrengungen trübte sich ihr Blick immer mehr, aber das drängte sie beiseite. Schlimmer war, dass ihr ständig übel wurde, und die Schmerzen in ihrem Arm drohten ihr mehrfach die Besinnung zu rauben. Jedes Mal, wenn es irgendwie wieder ging, kämpfte sie sich ein Stück weiter. Noch nie im Leben, außer bei Maries Geburt, hatte sie solche Schmerzen gelitten. Sie weinte fast ständig, denn es gab nur ein oder zwei Positionen, in denen ihr gebrochener Unterarm nicht höllisch schmerzte - aber bei Bennis Bergung war nicht daran zu denken, den Arm schonen zu können. Der Schmerz trieb sie fast bis in die Ohnmacht. 571 Irgendwann lag sie dann draußen auf dem Flusssand und heulte sich verzweifelt die Seele aus dem Leib. Jenseits der Sandbank gab es links wie rechts für gute hundert Schritt nichts als Wasser. Es sah überall flach aus, aber sie würde Benni niemals bis zum Ufer schleppen können. So weit sie das beurteilen konnte, hatte er beide Hinterläufe gebrochen und dazu noch eine oder zwei Rippen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Und ebenso war es ein Wunder, dass dies auch für sie selbst zutraf. Aber wofür? Hier gab es keine Rettung für sie. Selbst wenn sie sich und den Hund ans Ufer hätte retten können, würden sie verhungern oder an Blutvergiftung sterben, denn ihre Wunden bedurften der Behandlung eines erfahrenen Heilers, um sich nicht binnen kurzer Zeit zu entzünden. Alina hatte keine Tränen mehr. Sie hatte in den letzten beiden Wochen allerlei mitgemacht, aber dies hier war einfach zuviel.
Benni lag neben ihr und starrte sie aus seinen treuen Hundeaugen an. Sie fühlte sich schuldig, dass sie ihm nicht helfen konnte. Irgendwann nickte sie erschöpft ein. 572 30 ♦ Das Jaulen Als sie ein weiteres Mal von einem Jaulen erwachte, glaubte sie, vor aufkochender Wut den Verstand verlieren zu müssen. Nein! Verdammt, das darf nicht sein!, schrie sie in sich hinein. Es war dieses verdammte Geräusch, das sie den letzten Nerv kostete. Sie kannte keinen schlimmeren, verächtlicheren Lärm in dieser Welt, und dass es immer wieder dieses dreimal verfluchte Jaulen war, mit dem sich eine neue Begegnung mit dem Verhängnis ankündigte, konnte einem die Lust am Dasein nehmen. Als sie die Augen öffnete, war ihr Blick vollends verschleiert. Na wunderbar, dachte sie, das auch noch! »Lasst mich sterben!«, schrie sie und sie meinte es so. Lieber wollte sie tot sein, als von diesen verfluchten Drakken gesund gepflegt zu werden, nur um dann ein Leben in Demütigung und Gefangenschaft verbringen zu müssen. Sie hörte Gemurmel und erkannte, dass auch ein Bruderschaftler dabei sein musste; es war mindestens eine menschliche Stimme gewesen, vielleicht auch zwei. Neue Wut kochte in ihr auf. Dass diese widerlichen Verräter nun in den Schiffen umherflogen und das eigene Volk knechteten, war beinahe noch das Schlimmste von allem. Als sie spürte, dass jemand bei ihr war und sie an der Schulter berührte, begann sie vor Wut zu heulen und um sich zu schlagen. Sie traf, aber es war mit der Hand des gebrochenen Armes, und der Schmerz, der 573 sie daraufhin wie ein Blitz durchzuckte, schickte sie gnädig ins Reich der Träume. * Abermals war es ein Geruch, von dem sie erwachte -dieses Mal aber war er ungleich angenehmer. Irgendein Tee, riet sie. Oder es sind Blumen in der Nähe. Blumen? Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick war immer noch unscharf, vielleicht wieder ein wenig deutlicher als zuvor. Sie war bequem in Decken gehüllt und ruhte mit erhöhtem Kopf in einer Art Sandkuhle, die offenbar jemand für sie gegraben hatte. Über ihr lag der Schatten eines Baumes. Es musste früher Nachmittag sein. Jemand kniete vor ihr. »Einen netten Hund hast du da«, sagte der Jemand. »Oh, Verzeihung. Habt ... Ihr da!« Alina stöhnte leise. Wer auch immer da zu ihr gesprochen hatte - es war kein Drakken gewesen. Und er hatte auch irgendwie nicht nach einem Bruderschaftler geklungen. Sie glaubte sogar, diese Stimme zu kennen. Die Züge des Mannes konnte sie jedoch nicht deutlich erkennen. »Cl ... Cleas?«, fragte sie unsicher. »Nein!«, sagte der Mann mit einem lang gezogenen >N< und einem ganz kurzen >einBoot< geeinigt. Nun besaßen sie selbst so ein Boot und Meister Izeban hatte rechts auf dem Pilotensitz Platz genommen und steuerte es. Alina saß auf dem zweiten Sitz, Marko 583 hatte sich hinten platziert und redete Benni gut zu, der mit schwer bandagiertem Brustkorb und Hinterleib auf einer Trage lag. Hin und wieder winselte er leise. Bald würden Alina und Marko den Platz tauschen, aber sie war neugierig und wollte Izeban zusehen. Der Pilotensitz war mit verwirrend vielen Dingen ausgestattet. Einige davon hatte Alina bereits gesehen, andere jedoch nicht. Beispielsweise befanden sich unten im Fußraum unter einer schrägen Tafel mit Lichtern und Knöpfen Pedale wie in einer Tretmühle. Rechts und links des Piloten waren flache Kästen angebracht, aus denen jeweils ein kurzer, seltsam geformter Hebel herausragte, den man aus dem Handgelenk heraus bewegen konnte. Er besaß mehrere Schalter und Knöpfe für die Finger, allerdings waren sie schwer erreichbar, da ein Drakken eine viel größere Hand besaß als ein Mensch. Insgesamt sah der untersetzte Izeban etwas verloren in dem Sitz aus - wie ein Kind auf dem Stuhl seines Vaters. Auf einer Seite befand sich ein seltsamer Einschnitt in dem Sitz, offenbar der >Einstieg< für den Echsenschwanz. Auf der großen Tafel vor Izeban befanden sich verschiedene Flächen, die mit bunten Symbolen und Leuchtbildern bedeckt waren. Das galt aber nur, wenn das Boot eingeschaltet war, wie Izeban sich ausdrückte. Es gab nämlich auch einen Zustand, in dem all die Lichter und Leuchtbilder tot und schwarz waren. Dann konnte das Ding auch nicht fliegen. Alina verstand nicht annähernd, was er meinte. Er erklärte ihr dennoch vielerlei Dinge, zum Beispiel, dass es in dem Boot Maschinen gab, die es vorwärts und rückwärts und auf und ab bewegen konnten; er versuchte es mithilfe der Hebel und Pedale vorzuführen. Dabei aber wurde der Flug gehörig unruhig, denn das Boot reagierte auf jede noch so kleine Bewegung seiner Hände und Füße. 584 Wie man es beschleunigte, hatte er immer noch nicht herausgefunden. Izeban erklärte, dass sie wegen ihres
langsamen Tempos dazu übergegangen waren, sehr niedrig zu fliegen und so zu tun, als suchten sie die Gegend ab. Dabei waren sie bisher noch keinem anderen Schiff aufgefallen, obwohl sie eigentlich einen sehr unruhigen und langsamen Flugstil hatten. »Wie lange habt ihr denn bis hierher gebraucht?«, wollte Alina wissen. »Von Savalgor?«, fragte Izeban. Er lächelte verlegen. »Nun, es waren etwa sechs Tage, nicht wahr, Marko?« Alina hätte beinahe laut aufgelacht. »Sechs Tage?«, rief sie. »Da ist man ja zu Pferd schneller!« Izeban hob einen schulmeisterlichen Zeigefinger und sagte, milde lächelnd: »Nicht im Hügelland, verehrte Shaba. Und schon gar nicht im Gebirge!« Alina seufzte. »Das stimmt natürlich.« Sie blickte seitlich aus dem Fenster und versuchte sich vorzustellen, wie schnell im Vergleich dazu ein gesunder Benni dort unten am Ufer wäre. Sie kam zu dem Schluss, dass der Hund nicht einmal allzu schnell würde rennen müssen, um Schritt halten zu können. »Und ihr kommt nicht dahinter, wie man dieses Ding schneller macht?« »Wir haben alles ausprobiert!«, sagte Marko von hinten und auch Izenban schüttelte bedauernd den Kopf. Alina streckte die Hand nach der großen, schrägen Tafel mit den Lichtern und Schaltern aus. »Und das hier? Das sind doch ...« »Nicht berühren!«, rief Izeban laut und hob die rechte Hand. Alina zuckte erschrocken zurück. Izeban schnaufte. »Verzeiht, Shaba. Ich habe erst nach Tagen und nur mit Mühe herausbekommen, wie man das Boot so weit einschaltet, dass man schweben kann. Eigentlich ... schweben wir nur. Und schaukeln es dabei irgendwie vorwärts.« 585 Wieder lachte sie auf. »Wir ... schaukeln?« »Ja, Shaba«, gab Izeban zu. »Mehr zu erwarten, wäre vermessen. Ich bin schon froh, dass wir es überhaupt einigermaßen hinbekommen haben. Wenn Ihr irgendetwas berührt, könnte es sein, dass Ihr etwas einschaltet, das wir noch nicht verstehen. Und dann wird es gefährlich! Uns ist das schon ein paar Mal passiert.« Marko meldete sich wieder von hinten. »Kann man wohl sagen. Ich habe einmal einen halben Wald abrasiert, und ein anderes Mal hatten wir Glück, dass wir langsam flogen. Wir sind gegen eine Felswand geknallt. Und dann die Landung in dem Bachbett, wisst Ihr noch, Izeban?« Die beiden lachten, aber Alina glaubte aus ihren Gesichtern heraushören zu können, dass ihnen der Schreck noch immer in den Gliedern saß. »Wo sollen wir uns nun hinwenden?«, wollte Marko wissen. »Direkt nach Nordwesten?« »Wir müssen den Tunnelausgang des unterirdischen Flusses suchen«, meinte Alina. »Ihn zu finden dürfte nicht leicht sein. Ich habe den Eindruck, hier gibt es eine Menge Flusstäler.« »O ja«, bestätigte Izeban. »Die ganze Gegend ist von Flussarmen durchzogen, es sind Aberdutzende, kleine und große. Manche durchfließen enge Schluchten, andere breite Täler. Wir haben uns langsam von Süden nach Norden vorgearbeitet.« »So viele? Was für ein Glück, dass ihr mich da gefunden habt.« »Über der Absturzstelle des Drakkenbootes, in dem Ihr wart«, antwortete Izeban mit seiner sanften Stimme, »stand eine schwarze Rauchsäule von gut einer Meile Höhe. Sagt lieber: Ein Glück, dass Euch andere Drakkenboote nicht vor uns gefunden haben.« Marko deutete nach Nordwesten. »Wenn der ge586 suchte Fluss unter dem Hauptkamm durchfließt, sollten wir dorthin, wo die Berge höher werden.« Alina blickte wieder aus dem Fenster. Sie glitten in vielleicht fünfzig Ellen Höhe über der Flussmitte nach Nordwesten. Vor ihnen erhoben sich mächtige Bergriesen, aber man konnte nur schwer sagen, ob es dahinter nicht noch viel höhere gäbe - dafür flogen sie zu tief. Doch Marko hatte Recht, sie mussten wahrscheinlich noch ein ganzes Stück weiter in diese Richtung. »Können wir denn nicht höher gehen und versuchen, die Gegend von oben zu überblicken?«, schlug sie vor. Izeban blickte in die Höhe. »Lieber nicht. Dort oben würden wir auffallen, so langsam, wie wir fliegen. Andere Drakkenboote sind bedeutend schneller als wir.« Sie schwebten weiter den Fluss hinauf und beobachteten die Umgegend. Nach einer Weile tauschte Alina den Platz mit Marko und kümmerte sich um Benni. Wenn es irgend möglich war, würde sie versuchen, den Hund durchzubringen, denn sie verdankte ihm viel. Aber Benni sah schlecht aus. Er fraß kaum, lag fast bewegungsunfähig auf seiner Trage, und Alina wusste nicht einmal, ob er nicht noch einen Bruch hatte, von dem sie gar nichts wussten. Keiner von ihnen war ein Fachmann der Heilkunst, schon gar nicht, was Tiere anging. Marko hatte im Schiff eine der durchsichtigen Tafeln gefunden und entdeckt, dass man mit dem Fingernagel darauf malen konnte. Das Bild ließ sich mithilfe von farbigen Flächen vergrößern oder verkleinern und man konnte es auch hin und her schieben. Seit sie das Flussdelta erreicht hatten, malte er sorgfältig eine Karte der Gegend, die sie bereits abgesucht hatten. Zweimal schon, sagte er, wäre das Bild wieder weg gewesen und er hätte es neu malen müssen. Inzwischen hatte er es schon so gut im Kopf, dass er eigentlich 587 auch auf die Tafel hätte verzichten können. Aber sie faszinierte ihn. »Wenn ich wüsste«, sagte er grinsend, »wie ich ein zweites Bild damit malen könnte, würde ich versuchen, Euch
zu porträtieren, Shaba.« »So? Müsste ich mich dazu ausziehen?«, fragte sie herausfordernd. Marko war ein schlagfertiger Bursche. Er hob abwehrend die Hände und sagte. »Oh, ich fürchte, so viel Schönheit könnte ich nicht verkraften. Und dieses seltsame Drakkending hier schon gar nicht. Es würde vor Ehrfurcht zerbröckeln.« Sie grinste. Er war in der Tat ein netter und galanter junger Mann. Die Vorstellung, dass er nach Savalgor gekommen war, um sie vom Fleck weg zu heiraten, amüsierte sie und erschien ihr zugleich verlockend. Sie seufzte innerlich. Vielleicht wäre es ohnehin das Beste, was sie tun könnte: die Hoffnung auf Victor aufgeben und sich einem anderen zuwenden. Timo war ein netter Bursche gewesen und auch Marko mochte sie. Warum musste sie sich ausgerechnet in den Geliebten ihrer wichtigsten Gefährtin verlieben? Ihr Leben erschien ihr im Augenblick auch so schon schwer genug. Sie erreichten das nordwestliche Ende des Flusstals und schwebten über einen weiten See, der eine Vielzahl von Zu- und Abflüssen besaß. »Dort entlang!«, behauptete Marko und deutete auf eine schmale Schlucht, die im Südwesten zwischen zwei Felswänden auf den See traf. »Seid Ihr sicher?«, fragte Izeban. »Das sieht mir ziemlich schmal aus. Von dort kann der Hauptarm eigentlich nicht kommen.« »Wir sollten alles abfliegen«, beharrte er, »sonst verzetteln wird uns.« Er fuhr damit fort, mit dem Fingernagel die Landkarte auf seiner Drakkentafel einzuritzen. 588 Izeban brummte etwas und steuerte das Drakkenboot vorsichtig nach Südwesten. Sie flogen in die Schlucht hinein und trafen wieder einmal auf den Beginn, oder besser: den Ausgang eines kleinen unterirdischen Tunnels. Dieses Mal konnten sie sogar hindurchfliegen. Aber sie sahen schon gleich das andere Ende - dies konnte demnach nicht die gesuchte Stelle sein. Hinter dem Tunnel öffnete sich ein weites Tal mit einem breiteren Flusslauf, aber auch hier wurden sie nicht fündig. Alina bekam langsam eine Vorstellung davon, dass ihre Hoffnung, Roya ganz allein und zu Fuß in dieser Gegend zu finden, völlig aussichtslos gewesen wäre. Auch wenn ein gebrochener Arm und ein lebensgefährlich verletzter Benni der Preis dafür waren: es war ein unsagbares Glück, dass Marko und Izeban sie gefunden hatten. Bis zum Abend hatten sie vier weitere, lange Flusstäler erkundet, aber immer noch keinen Erfolg gehabt. Einmal war in der Ferne ein graues Drakkenboot aufgetaucht, doch es war bald wieder ihren Blicken entschwunden. Als sie am Abend im Schutz einer steilen Schlucht landeten, äußerte Marko die Hoffnung, dass sie morgen vielleicht auf den Hauptarm stoßen könnten. Die Flüsse waren wasserreicher geworden, je weiter sie nach Nordwesten vorstießen. In dieser Nacht ging es Benni sehr schlecht. Er winselte die ganze Zeit über kläglich, wollte nicht fressen und nicht einmal ein wenig Wasser schlecken. Alina wachte bei ihm, und als sie einmal einschlief und kurze Zeit später wieder aufwachte, lag er bewegungslos da und gab keinen Laut mehr von sich. Im schwachen Schein des Feuers tastete sie nach seiner Brust, aber da war nichts mehr, kein Atmen, kein Herzschlag. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie beugte sich über ihn und flüsterte ihm zu, er solle wieder aufwachen, bat ihn inständig darum, aber sie 589 wusste, dass er ihr diesen Wunsch nicht mehr erfüllen konnte. Sie ließ sich neben ihm niedersinken, schmiegte sich an ihn, wie er es in den kalten Nächten bei ihr getan hatte, umarmte ihn und weinte für den Rest der Nacht. * Marko fand sie am nächsten Morgen mit tränengerötetem Gesicht. Sie war immer wieder kurz eingeschlafen und hatte jedes Mal zu weinen begonnen, wenn sie aufgewacht war. Bennis Leichnam war inzwischen schon erkaltet und es zeichnete sich ab, dass er steif werden würde. Marko empfand viel Mitgefühl, und Alina stellte überrascht fest, dass er Tränen in den Augenwinkeln hatte. Für diese zutiefst menschliche Regung liebte sie ihn; sie schlang die Arme um seinen Hals, weinte noch für Augenblicke in seine Schulter und küsste ihn dann dankbar auf die Wange. Sie fanden eine schöne Stelle unter einem blühenden Hollerbusch und begruben Benni dort. Kurz darauf kam Izeban mit einem Strauß Wiesenblumen zurück und legte sie auf das Grab. Bis sie fertig waren, hatte Alina den beiden die meisten wichtigen Dinge aus ihrer Zeit mit Benni erzählt, und nun gab es für sie keine Zweifel mehr, dass Alina diesem Hund mehr als nur ihr Leben zu verdanken hatte. »Wenn er bellte, fielen die Drakken um?«, fragte Izeban verwundert. »Nur zweimal«, antwortete sie. »Das erste Mal, als sie mich in der Gegend von Tulanbaar kontrollierten, und das zweite Mal in dem Schiff, mit dem wir abstürzten. Aber da waren es gleich vier, die starben.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist mir wirklich ein Rätsel. Zu anderen Gelegenheiten bellte er sie auch an, aber da passierte nichts. Und als der erste Drakken 590 starb, war ein anderer in der Nähe, dem nichts passierte.« Izeban runzelte die Stirn. »Vielleicht hängt es mit der Entfernung zusammen«, meinte er. »Dass sein Bellen nur
auf kurze Entfernung wirkt ... vielleicht durch den Ton oder die Lautstärke. Vielleicht hat es etwas in den Gehirnen der Drakken verletzt oder zerstört. Oder so ähnlich.« Izeban war anzusehen, dass das Räderwerk in seinem Gehirn angesprungen war. Diese seltsame Sache interessierte ihn. Marko seufzte und deutete auf das Grab, vor dem er kniete. »Leider werden wir das nicht mehr herausfinden. Es hätte uns möglicherweise etwas genutzt.« Alina nickte stumm. Im Widerstand gegen die Drakken konnten sie jede nur denkbare Waffe gebrauchen, selbst das Gebell eines Hundes und auch wenn es nur auf zwei Schritt Entfernung Wirkung zeigte. »Lasst uns versuchen, Roya zu finden«, sagte sie und erhob sich. »Es gibt inzwischen etliche, die zu rächen sind. Ich will diese verfluchten Drakken aus meiner Welt haben!« Erschrocken über ihre eigenen Worte blickte sie unsicher zu Marko und Izeban. Sie hatten es beide bemerkt, aber keiner schien ihr zu verübeln, dass sie >meine Welt< gesagt hatte. Im Gegenteil. Marko war schließlich einer der Ersten gewesen, der sie in ihrem Amt voll und ganz anerkannt und von ihr verlangt hatte, sie solle fliehen. Alina nickte erleichtert und forderte ihre beiden Männer zu einem raschen Aufbruch auf. Sie packten ihre Habseligkeiten, bestiegen das Drakkenboot und hoben ab. An diesem Tag bewegten sie sich sehr vorsichtig und tief im Schutz von Schluchten, Tälern und Bergen. Der Tod von Benni stand wie eine Mahnung über ihnen, dass sie selbst jederzeit scheitern und sterben konnten. Alina war sich gewiss, dass sie ihrem Ziel nahe waren, und sie hatte nicht die geringste Lust, jetzt noch einmal 591 in Gefahr zu geraten. Sie hoffte nur, dass ihr Ziel - den Tunnel des unterirdischen Flusses zu finden - sie auch irgendwie weiterbringen würde. Sie befanden sich nun tief im Südramakorum, etwa in Höhe der Südspitze des Mogellsees, aber ein ganzes Stück westlich davon, wie Marko überzeugt behauptete. Die Berge waren in dieser Gegend bereits sehr hoch, die Gipfel schneebedeckt, die Flusstäler steil und endlos tief. Noch immer gab es viele Flussarme, aber das Wasser rauschte nun mit Kraft durch verwinkelte Schluchten, schmale Bergeinschnitte und über tosende Wasserfälle in die Tiefe. Der Vormittag verstrich, während sie mehrere parallel verlaufende Flusstäler erforschten, und sie staunten immer wieder, wie weit sie sich in die stille und zerklüftete Bergwelt hineinzogen. Es war beinahe ein Labyrinth; sie mussten sich sehr aufmerksam ihren Weg merken und stritten häufig darüber, ob sie diese oder jene Stelle bereits überflogen hatten oder nicht. Markos Drakkentafel bot leider längst keine Hilfe mehr. Drakkenschiffe hatten sie den ganzen Tag über noch nicht gesehen; wenigstens das war erleichternd. Sollte sich der Tunnelausgang tatsächlich in dieser Gegend befinden, bestand die Hoffnung, dass Roya hier vor den Drakken sicher gewesen war. Dann endlich, am Nachmittag, fanden sie es. Marko schätzte, dass sie insgesamt an die zweieinhalb Meilen höher flogen als noch vor zwei Tagen. Sie waren über mehrere Stufen einzelner Wasserfälle weit hinauf in die Einsamkeit einer völlig abgelegenen Bergwelt gelangt - in eine Hochebene, die Alina zu Fuß niemals gefunden, geschweige denn erreicht hätte, auch wenn sie ein ganzes Jahr lang umhergestreift wäre. Die zahllosen kleinen Wasserarme, die sich in Form tosender Wildbäche den Weg in tiefere Regionen gebahnt hatten, entstammten tatsäch592 lieh einem einzelnen breiten Fluss, der sich ruhig und majestätisch seinen Weg durch ein hoch gelegenes, breites Tal bahnte. Für Meilen folgten sie seinem Lauf. Als sie einen Bergrücken umrundeten und weiter nach Westen flogen, öffnete sich vor ihnen plötzlich ein gewaltiger Tunnel. Es war ein phantastischer Anblick. Die Öffnung war fast kreisrund, eine Dreiviertelmeile im Durchmesser und von einem schneebedeckten Gipfel majestätisch überthront. Hinter dem ersten Abschnitt des Tunnels gab es einen tiefen Einschnitt in den Felsmassen des Berges; das Licht der Nachmittagssonne, das durch ein riesiges Sonnenfenster weiter westlich fiel, fand seinen Weg durch den Einschnitt und beleuchtete den Fluss auf zauberhafte Weise das letzte Stück seines Wegs, bis er vollends ins Freie trat. Weiter hinten schloss sich ein finsterer Schlund an, nicht weniger breit als der Tunnel, aber viel niedriger, und dort gab es kein Licht mehr. Die Dunkelheit kündete von einem langen Weg tief unter dem Hauptkamm des Ramakorums hindurch. »Bei den Kräften!«, flüsterte Alina ehrfurchtsvoll und deutete voraus. »Stellt euch nur vor: Dort sind sie hindurch gefahren. Fünf Leute, nur mit einem Floß, und dann haben sie auch noch einen jungen, verletzten Feuerdrachen gerettet und mit sich genommen. Unglaublich!« Die Felsflanken oberhalb des ersten, lichtdurchfluteten Tunnels stiegen steil an, waren aber bis zu einer gewissen Höhe bewaldet. Am Nordufer, noch innerhalb des Tunnels, lag eine Stelle, die einigermaßen flach erschien, sodass man dort entweder ein Floß festmachen oder ein Flugschiff landen konnte. Marko deutete darauf. »Wenn ich mit einem Floß aus diesem Tunnel käme, würde ich dort an Land gehen. Was meint ihr?« Alina nickte. »Es ist gut geschützt, auch gegen Wind 593 und Wetter ... ja, das würde ich wohl tun. Wollen wir dort landen?« Meister Izeban nickte und hantierte vorsichtig mit seinen Hebeln und Pedalen. Wenn er landen sollte, musste er es möglichst früh wissen, denn nichts, was unter seinem Einfluss lag, vermochte eine wirkliche Bremswirkung
zu erzeugen. Er ließ das Boot sinken, steuerte es mit den Hebeln in den Tunnel hinein und versuchte es dann so zu verlangsamen, dass es schließlich genau über der sandigen, flachen Stelle am Flussufer schwebte. Er hatte inzwischen einige Übung darin. Vom Schiff aus betrachteten sie den Fleck, aber nichts deutete darauf hin, dass hier in den letzten Wochen jemand gewesen war. »Sollen wir nicht lieber noch ein Stück weiter in den Tunnel hineinfliegen?«, schlug Marko vor. »Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Roya noch hier ist. Wir brauchen eine Spur von ihr.« Alina und Izeban stimmten zu. Izeban steuerte das Boot wieder in die Mitte des Tunnels und ließ es steigen. Langsam nahm es Fahrt auf und glitt tiefer in die gigantische Öffnung hinein. Nun konnten sie das Innere überblicken und entdeckten, dass es jenseits des Einschnitts, durch den das Licht hereinfiel, eine weitere Verzweigung gab. Das meiste Wasser strömte durch den niedrigen, breiten Schlund, den sie zuvor gesehen hatten, aber südlich davon ging der Einschnitt selbst in eine hohe und schmale Schlucht über, an deren Grund ebenfalls ein Wasserstrom hervortrat. Sie wählten diesen Weg. Bald darauf schwebten sie zwischen hohen Felswänden und nur von ganz oben drang durch einen schmalen Spalt Licht zu ihnen herab. Plötzlich verbreiterte sich die Schlucht und endlich fanden sie, wonach sie gesucht hatten. 594 31 ♦ Spuren Es war eine breite Sandbank, die inmitten der tiefen Schlucht die rechte Uferseite ausmachte, und dort lagen eindeutig die Reste eines Floßes, eine Menge Schalen von Golaanüssen und andere Hinterlassenschaften eines Lagers. Der Sand war von Füßen wie auch von Drachenklauen aufgewühlt. Sie entdeckten eine Feuerstelle, einen Rest unverbrauchtes Feuerholz und eine kleine Kuhle, die von einem behelfsmäßigen Dach aus Drachenfarnblättern überdeckt war. Nach einer gründlichen Untersuchung aller Fundsachen erklärte Izeban: »Hier hat jemand gehaust - für etwa eine Woche, würde ich sagen.« Marko untersuchte einen Fußabdruck im Sand: »Dieser Jemand war Roya. Das hier ist ganz sicher kein Männerfuß. Wohin mag sie gegangen sein?« »Nach meiner Theorie«, meldete sich Alina zu Wort, »müsste Roya hierher zurückkehren, wenn sie merkt, was passiert ist. Ich meine den Überfall der Drakken. Für den Fall, dass einer ihrer Freunde in Freiheit bleibt, müsste sie hier erreichbar sein, sodass man sie finden kann.« »Sie könnte auch irgendwo ein Zeichen hinterlassen haben, wo sie hingegangen ist«, schlug Marko vor. Izeban nickte. »Ja, richtig. Aber hier ist nichts zu finden. Habt ihr etwas entdeckt?« Die anderen beiden schüttelten die Köpfe. Sie suchten die kleine Sandbank noch einmal ganz genau ab, kamen aber zu keinem Ergebnis. 595 »Eine Spur zu hinterlassen birgt gleichzeitig die Gefahr, den Drakken den Weg zu ihr zu weisen«, meinte Alina. »Diesen dummen Gesellen? Ich glaube nicht mal, dass sie ein Schild lesen könnten, wenn Roya hier eins aufgestellt hätte«, meinte Marko. Izeban schüttelte den Kopf. »Als Roya hier war, konnte sie noch nicht gewusst haben, dass die Drakken so einfältig sind. Und wir sollten lieber davon ausgehen, dass das nicht auf alle Drakken zutrifft. Die höheren Ränge dürften nicht so dumm sein.« »Vielleicht ist Roya ja hier und beobachtet diesen Ort«, schlug Alina vor und sah in die Runde. »Oder sie kommt von Zeit zu Zeit her, hält sich im Verborgenen und sieht nach, ob jemand hier war oder sogar auf sie wartet.« Sie deutete in Richtung der Hochebene, wo der Fluss ins Freie mündete. »Dort draußen, irgendwo zwischen den Berggipfeln, könnte sie sich gut verstecken. Fliegen kann sie ja, denn Tirao ist bei ihr.« Marko und Izeban sahen sich an, dann nickten beide. »Ja, Ihr habt vollkommen Recht, Shaba. So würde ich es auch machen. Wir sollten uns zeigen. Nicht unbedingt überdeutlich, aber doch so, dass sie uns sehen kann, falls sie zurückkommen sollte.« Der Platz, den sie wählten, war das Nordufer des Flusses innerhalb des gewaltigen, steinernen Bogens. Dort wollten sie ein großes Feuer entfachen. Er lag gut geschützt innerhalb des Tunnels und das Feuer würde nur für den sichtbar sein, der hier herauf in die Hochebene kam und von Osten her den Tunneleingang in Augenschein nahm. Roya würde sicher genau das tun. Dass hingegen die Drakken den Weg bis hierher fanden, stand weniger zu befürchten. Das letzte Drakkenschiff hatten sie tags zuvor gesehen, über fünfzig Meilen entfernt und weit unten im tieferen Land. 596 Dennoch versteckte Izeban das Flugboot über eine Meile entfernt in einer kleinen Schlucht am Beginn des großen, flachen Tunnels, durch den der Hauptarm des Flusses aus seinem dunklen, unterirdischen Weg wieder ans Licht trat. Für sie selbst gab es genug kleine Höhlen, in denen sie sich notfalls verbergen konnten. Zu Fuß machten sie sich auf den Weg zurück und erreichten kurz vor Anbruch der Abenddämmerung die sandige Stelle am Nordufer. Die Strahlen der Sonne fielen nun fast waagrecht von der anderen Seite durch den Einschnitt in den Tunnel und der Zauber dieses Ortes entfaltete sich zu seiner ganzen Größe. Auf der Sandbank fanden sie eine Menge strohtrockenes Schwemmholz. Sie schichteten es zu einem riesigen Stoß auf und hatten schon kurz darauf ein großes Feuer entfacht. Izeban und Marko schleppten weiteres Holz heran, Alina mit ihrem gebrochenen Unterarm konnte nicht helfen.
»Was machen wir, wenn uns die Drakken hier entdecken?«, fragte sie befangen, als das Feuer groß und heiß brannte. Sie mussten sich fast zwanzig Schritte entfernt halten, denn es verstrahlte eine enorme Hitze. Eine dünne Rauchwolke stieg in die Höhe, die irgendwo ins Licht der schrägen Sonnenstrahlen durchbrach und dort einen bläulichen Farbton annahm. Izeban deutete am Ufer entlang, dorthin, woher sie gekommen waren. »Ein Stück weiter dort hinten habe ich einen Höhleneingang gesehen. Den sollten wir erforschen. Sicher finden wir für den Notfall eine Möglichkeit, uns zu verstecken.« Als die Dunkelheit die Welt erfüllte, nahmen sie brennende Scheite und machten sich auf den Weg. Die Höhle erwies sich als eine märchenhafte Tropfsteinwelt, in deren Innerem es warm war und die von zahlreichen unterirdischen Bächen durchflössen wurde. Nach einem entspannenden Bad übernahm Alina 597 draußen vor dem Höhleneingang die erste Wache. Izeban würde sie im Laufe der Nacht abwechseln und Marko würde die letzte Schicht übernehmen. * Die Nacht verging ruhig; bis auf ein paar Felsläufer und vereinzelte Bergziegen gab es hier keine Tiere. Als Alina an Benni dachte, der sicher auf die Jagd gegangen wäre, überkam sie dumpfe Trauer. Bis Izeban sie ablöste, kam sie nicht mehr davon los - und auch nicht von der zermürbenden Frage, ob Cleas wohl davongekommen war. Später, als sie sich zurückgezogen hatte, konnte sie nicht einschlafen. Ihre Gedanken reichten bis zu Matz zurück und von ihm war es nicht mehr weit bis zu Marie - und Victor. Was würde sein, wenn sie Roya tatsächlich fanden und es ihnen gelang, mit ihr und ein paar Drachen eine kleine Gruppe des Widerstands ins Leben zu rufen? Im Augenblick gefiel ihr das abenteuerliche Leben auf eine gewisse Weise, trotz der Gefahren, die bis hin zum Verlust eines geliebten Freundes führen konnten. Ein Leben im Palast, als wohlbehütete Shaba, der man alles hinterher trug, vermochte sie sich gar nicht mehr richtig vorzustellen. Leandra mit ihrem rebellischen Dasein, immer für das eigene Recht und das anderer kämpfend, hatte es ihr angetan. Aber würde ihr dieses Leben auch gefallen, wenn sie für Jahre - oder vielleicht sogar für immer - ihren Sohn Marie und Victor nicht mehr sehen konnte? Wenn Leandra für alle Zeiten die Gefangene Rasnors bleiben musste, weil er Cathryn in seiner Gewalt hatte? Da waren auch noch viele andere, nach deren Gesellschaft sie sich sehnte: Hellami, Jacko, Yo, Munuel und vor allem Hochmeister Jockum, dessen väterliche Art sie sehr vermisste. Irgendwann, tief in der Nacht schlief sie ein und er598 wachte erst, als Marko sie weckte und ihr sagte, draußen sei heller Tag. Den Vormittag verbrachte sie damit, den Himmel über der Hochebene zu beobachten; später sammelte sie, so gut es mit ihrem verletzten Arm ging, Kleinholz für das Feuer, das sie in Gang halten wollten. Danach machte sie einen Spaziergang am Nordufer des Flusses entlang, aber sie kam nur etwa eine Meile weit, ehe der Boden allzu steinig wurde und sie zwischen den knorrigen und verwachsenen Bergkiefern keinen Weg mehr fand. Auch der Nachmittag brachte keine Veränderung. Marko erkletterte eine Stelle, von der aus er über den nördlichen Kamm hinab in die Flussebene blicken konnte. Der Platz war fürs Beobachten wie geschaffen, aber er war schwer zu erreichen. Im Lauf des Tages sahen sie ein paar Drachen unter dem Felsenhimmel entlang ziehen, aber keiner von ihnen blieb in der Gegend. So verging die Zeit, und als die Nacht anbrach, war den ganzen Tag lang überhaupt nichts passiert. Für die Nacht einigten sie sich darauf, das Feuer klein zu halten. In der Dunkelheit würde man es trotzdem von weitem sehen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass Roya in den nächsten Stunden kam, war gering, denn Drachen flogen nachts nur im äußersten Notfall. Auch die Nacht verging ereignislos, ebenso der nächste Tag und die nächste Nacht. Als auch der dritte und der vierte Tag verstrichen, ohne dass irgendetwas geschah, sank ihr Mut. Vielleicht hatten sie sich völlig verrechnet, als sie angenommen hatten, dass Roya hierher zurückkehren würde. Vielleicht hatte sie selbst damit begonnen, eine Widerstandsgruppe aufzubauen - fern von hier, vielleicht in ihrer Heimatstadt Minoor oder in den Katakomben unter Savalgor. Niemand konnte es sagen. Während Marko ungeduldig wurde und wieder vom Aufbruch sprach, versuchte Alina, ihn zu beruhi599 gen. »Im Augenblick haben wir alle Zeit der Welt«, meinte sie. »Es hat so viel gekostet, bis hier zu gelangen, dass ich nicht eher fort möchte, als bis ich weiß, dass sie wirklich nicht mehr kommt!« Marko stöhnte leise. »Shaba! Schon seit vier Tagen warten wir hier, ohne dass etwas passiert. Wäre sie in der Nähe, müsste sie doch wenigstens alle drei Tage einmal hierher kommen, meint Ihr nicht?« »Ja, du hast Recht. Aber vielleicht ist es ausgerechnet dieses eine Mal so, dass sie nicht kommen konnte, sich verspätet hat oder ... nun, vielleicht sind ihr einfach zu viele Drakken dort unten in den Flusstälern.« Marko seufzte, aber er fügte sich. Zum Glück. Denn am nächsten Tag schien sich tatsächlich etwas ändern zu wollen. Zwei graue Felsdrachen erschienen über der Hochebene und zogen den ganzen Vormittag lang ihre Kreise. »Habt Ihr Tirao schon einmal gesehen?«, wollte Marko von Alina wissen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch nie. Aber selbst wenn: Ich bezweifle, dass ich einen Felsdrachen vom anderen unterscheiden könnte. Jedenfalls auf diese Entfernung.« Sie deutete in die Höhe. »Der eine ist kleiner. Denkst du, es ist eine sie?«
Marko blickte zum Felsenhimmel auf und zuckte die Achseln. Inzwischen war deutlich, dass die beiden Drachen hier irgendetwas suchten. Sie kreisten schon seit Stunden über der Flussmündung, allerdings weit in der Höhe, eine gute Meile, wie Alina schätzte. »Ich frage mich, ob man es von hier unten aus sehen könnte, wenn jemand auf dem Rücken säße.« Izeban, der hinzugetreten war, nickte überzeugt. »Ich habe scharfe Augen. Ich glaube nicht, dass da jemand auf einem der Drachen sitzt.« Sie warteten eine weitere Stunde, legten noch einmal kräftig Holz nach, und als das Feuer hell brannte, warf 600 Marko mehrmals einen großen Armvoll frisches Geäst hinein, das er umliegenden Büschen entrissen hatte. Jedes Mal stieg eine beißende Qualmwolke auf. Er hoffte, dass die Drachen das mitbekamen. Vielleicht taten sie es, aber sie reagierten nicht. Zeitweise war nur einer von ihnen zu sehen; gegen Abend wagten sie sich in den großen Felsbogen und flogen eine weite Runde ins Innere des Tunnels hinein. Sie blieben ihnen aber trotzdem fern. Schließlich ging der Tag zu Ende, ohne dass sie eine Möglichkeit gefunden hätten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Auch die Nacht über hielten die drei Menschen das Feuer in Gang, aber die Drachen schliefen jetzt irgendwo oder hatten sich versteckt. Am nächsten Morgen jedoch waren sie wieder da. Izeban verlor die Geduld und sagte, er wolle das Drakkenboot holen und hinauffliegen. Marko hielt das für keine gute Idee, denn wenn es für die Drachen einen Erzfeind gab, dann waren es sicher die Drakken. Alina jedoch wandte ein, dass Drachen sehr intelligent waren und dass sie den Zusammenhang richtig knüpfen würden zumal Izeban nicht schnell fliegen konnte. Er versprach, ganz langsam in ihre Richtung aufzusteigen und sich sehr zurückhaltend zu geben. Dann marschierte er los, während Alina und Marko abwarteten. Überraschenderweise brachte diese Idee den Durchbruch. Doch Izeban hatte einige Schrecksekunden auszuhalten, denn kaum war er in das Refugium der Drachen eingedrungen, griffen sie ihn an. Zum Glück nicht ernsthaft, denn das hätte er nicht überlebt. Sie schössen plötzlich in engen Bahnen um das Drakkenschiff herum, so schnell, dass Alina eine Vorstellung davon bekam, wie ein Luftkampf zwischen einem Drakkenschiff und einem Drachen aussah. Als der kleinere der beiden plötzlich eine weiß glühende Wolke 601 ausstieß, die Izebans Flugboot nur knapp verfehlte, stieß Alina einen ängstlichen Laut aus und griff nach Markos Arm. Er legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich glaube, Ihr müsst Euch nicht sorgen«, sagte er und deutete in die Höhe. »Da, seht! Es war nur ein Warnschuss! Wenn sie ihn wirklich angreifen wollten, würde er längst nicht mehr dort oben fliegen.« Bang beobachtete Alina die Drachen und Izebans Flugboot. Er ließ sich wieder tiefer sinken und zog das Boot in einer weiten Schleife über das Flusstal wieder in Richtung des Tunneleingangs. Eine Viertelstunde später schwebte er über der Ufersandbank und ließ das Boot niedergehen. »Es ist Tirao!«, rief er begeistert, als er aus der Seitentür sprang und zu ihnen gerannt kam. Marko trat ihm entgegen. »Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte er streng. Izeban hob die Hände. »Ich ... ich kann es nicht genau sagen. Irgendwie überkam mich das Gefühl, dass er es ist. Und der andere Drache ist ein Weibchen. Sie hat einen leicht rötlichen Schimmer. Der große allerdings - huii! Das ist vielleicht ein Riese! Der frisst kleine Drakkenschiffe wie unseres zum Frühstück!« Marko blickte wieder hinauf. »Was machen wir jetzt? Keiner von uns ist Magier. Wir können nicht mit ihm reden wie Leandra.« Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Alina leise: »Ich glaube, ich wüsste etwas.« »So? Und was?« Sie drehte sich zu ihnen um und sah sie warnend an. »Es ist etwas, das Leandra schon einmal tat. Ich glaube, der Drache würde es verstehen, wenn er Tirao ist. Aber ich mache es nur, wenn ihr beide von hier verschwindet!« Marko und Izeban sahen sich verblüfft an. 602 Alina milderte ihre Stimme und ihren Gesichtsausdruck, denn die beiden konnten nicht wissen, was sie meinte. »Leandra besänftigte einmal den Urdrachen Ulfa mit einer besonderen Geste der Demut. Das war in Bor Akramoria. Kennt ihr Bor Akramoria?« Izeban schüttelte den Kopf, aber Marko sagte: »Das ist doch diese uralte Festung am Mogellfall, nicht wahr? Die von Leandra und Munuel wiederentdeckt wurde?« Alina lächelte. »Ja, du hast Recht. Sie waren damals auf der Suche nach der Canimbra; Leandra, Munuel, Victor und noch ein paar andere. Die Drachen hatten sie in die uralte, vergessene Festung gebracht. Dort erschien ihnen Ulfa, der Urdrache.« Izeban nickte. »Der Baumdrache, von dem Ihr spracht, nicht wahr?« »Richtig. Bor Akramoria war damals so etwas wie verbotener Grund für Menschen. Ulfa bewachte als rächender Geist diesen Ort, damit die Menschen niemals mehr in den Besitz der Canimbra gelangen konnten. Als Leandra und ihre Freunde in Bor Akramoria eintrafen, brach ein furchtbares Unwetter los und Ulfa erschien dort als ein monströser, schwarzer Schatten. Er drohte, sie zu vernichten. Leandra rettete sie alle.«
»Und ... wie machte sie das?«, fragte Marko vorsichtig. Alina holte Luft. »Nun, sie trat direkt vor Ulfa und ... wie soll ich sagen: sie bat ihn um Verzeihung stellvertretend für die Menschen. Nackt, in einem eiskalten Gewittersturm. Sie wäre beinahe erfroren.« Marko stieß einen leisen Pfiff aus. »Nackt?« Izeban grunzte ärgerlich und stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. »Hee!«, rief Marko entrüstet. Izeban achtete nicht auf ihn und drängte sich ein Stück vor. »Ich verstehe, meine Shaba!«, sagte er ehrer603 bietig und verneigte sich leicht. Plötzlich trug er einen sehr verbindlichen und zugleich ernsten Gesichtsausdruck. »Wir werden uns in die Höhle zurückziehen. Und ich, ahm, werde dafür sorgen, dass ... unser verehrter Hochkommissar hier ... kein Guckloch findet, um Euch zu beobachten.« Marko setzte nur ein verlegenes Lächeln auf und ließ sich von Izeban mit fortziehen. »Wartet!«, rief sie ihnen hinterher. »Was soll das heißen?« Doch die beiden antworteten ihr nicht. Izeban zog Marko fort und ließ die Frage offen, ob in seinen Worten vielleicht ein versteckter Hinweis gelegen hatte. Hatte Marko sie beobachtet? Vielleicht beim Baden - oder beim Umziehen? Mit Sicherheit hatte er eine Gelegenheit gehabt, als sie bewusstlos gewesen war und die beiden ihre Wunden und ihren Bruch versorgt hatten. Sie seufzte unwillig und wandte sich um, schritt den Uferstreifen hinab Richtung Osten und versuchte, so viel Raum wie möglich zwischen sich und die beiden Männer zu bringen. Sie wollte auch fort von dem Drakkenboot, dabei aber noch auf dem Sandstreifen bleiben, wo die Drachen sie aus der Luft gut sehen konnten. Als sie sich entkleidete, kam sie sich albern vor, denn ihrer Tat mangelte es in jeder Hinsicht an der Dramatik, die damals in Bor Akramoria geherrscht haben musste - und somit auch an der Demut, die Leandra dem Urdrachen bewiesen hatte. Dies hier war nur ein einfaches Zeichen. Aber es tat seine Wirkung. Die Drachen schwebten sehr bald herab und kreisten über ihr, während sie schutzlos im Sand kniete. Als sie aufblickte, glitt der mächtige Leib des großen Felsdrachen in kaum dreißig Schritt Höhe über sie hinweg und sie spürte einen Schauer ihren Rücken herabgleiten. Tirao war damals in Bor Akramoria dabei gewe604 sen, das wusste sie, und die Ehrfurcht vor dem mächtigen Tier machte ihre vermeintlich lächerliche Geste doch zu etwas Besonderem. Als sie sich erhob, schwebte der Drache heran. Ihr Herz pochte wild und sie war fasziniert, mit welcher Leichtigkeit er landete. Dreißig Schritt vor ihr sanken seine mächtigen Klauen in den Sand; er legte sogleich die Schwingen an und starrte sie aus seinen katzenhaft geschlitzten Augen an. Es war keine wirkliche Furcht, die Alina empfand, aber es fühlte sich genauso an. Der Drache war so mächtig und sah so stark aus, dass sie mit sich kämpfte, nicht einfach davonzulaufen. Er verströmte einen Geruch nach heißem Metall und seine ledrige Haut schimmerte im Sonnenlicht, das von hinten durch den Einschnitt in den Tunnel fiel. Gewaltige Muskelstränge zogen sich von der Brust zu den Schwingenansätzen; der Hals wirkte wie eine Stahlfeder und auch die Beine des Drachen sahen unglaublich stark aus. Alina wusste, dass diese Tiere trotz ihres nicht geringen Gewichts aus dem Stand zehn oder zwölf Schritt in die Höhe springen konnten. Sie bückte sich, hob ihr Leinenhemd auf, das sie zuletzt hatte fallen lassen, und hielt es sich vor die Brust. Sie versuchte ein Lächeln und sagte: »Hallo, Tirao.« Sie wusste nicht, ob er es wirklich war, aber eigentlich konnte nur er es sein. Kein anderer Drache hätte so unmittelbar auf ihre Geste reagiert. Der Drache antwortete mit einem leisen, tiefen Grollen, das tief aus seiner Brust zu ihr drang. Sie hatte noch nie ein solches Geräusch gehört; es versetzte beinahe alles in der Umgebung in leise Schwingungen, sogar den Sand unter ihren Füßen. Und dann plötzlich stob eine wilde Bilderflut durch ihren Kopf; Bilder, die sie nie gesehen hatte, aber dennoch kannte. Sie trat betroffen einen Schritt zurück. 605 Zuerst sah sie Bor Akramoria, einen großen Wasserfall, einen verwegenen, kleinen Felszinken auf seiner oberen Kante und dann eine Festung, die darauf thronte. Sie sah Bilder von Drachen, einem gewaltigen See, und plötzlich war das Gesicht von Leandra da und gleich drauf das von Victor. Unwillkürlich hob sie die Hand, aber da war er schon wieder fort. Sie sah Jacko und dann Munuel - jedenfalls glaubte sie ihn zu erkennen, denn heute sah er anders aus. Zwei weitere Männer waren auch noch da, die sie nicht kannte. Die Bilderflut verebbte und sie blinzelte den Drachen ungläubig an. Ihr Puls wummerte noch immer, nun aber empfand sie die Gewissheit, dass sie wirklich ihr Ziel erreicht hatte. Roya konnte nicht mehr weit sein. »Ich ... ich bin Alina«, sagte sie zaghaft. Sie wusste nicht, ob er sie verstehen konnte oder ob er überhaupt ihren Namen je gehört hatte. Wieder folgte dieses tiefe Grollen. Sie hielt es für eine Bestätigung. Über ihnen strich der andere Drache vorbei, und dann sah Alina auch Marko und Izeban, die sich vorsichtig von links näherten. Sie konnte sich mit ihrem Hemd kaum bedecken, aber die beiden hatten ohnehin keinen Blick für
sie. Mit großen, runden Augen und offenen Mündern starrten sie den riesigen Felsdrachen an. Für Momente sah Alina ein Bild zweier fliegender Drachen in ihrem Kopf, dann breitete Tirao die Schwingen aus und warf sich mit einem gewaltigen Satz schräg nach rechts in die Luft. Der Sturm, den er dabei entfachte, war so gewaltig, dass Alina von den Füßen gehoben wurde. Zum Glück fiel sie nicht auf ihren verletzten Arm, sondern landete nur im Sand. Als sie die Orientierung zurückgewann und sich aufrappeln wollte, stand Marko mit einem verlegenen Grinsen über ihr und reichte ihr das Hemd. 606 So sehr er sich auch bemühte, er konnte seine Blicke nicht allein auf ihr "Gesicht heften. Aber das kümmerte sie im Moment nicht weiter. »Schnell!«, rief sie. »Er will, dass wir ihnen folgen!« Nun erwies sich die gemächliche Fluggeschwindigkeit ihres Drakkenbootes als echtes Ärgernis und stellte ihre Geduld auf eine harte Probe. Meister Izeban fluchte unablässig und schwor bei allen Dämonen, dass er nicht eher aufgeben würde, bis er mit dem Drakkenschiff von hier bis Savalgor in einer Stunde fliegen konnte. Unter diesen Bedingungen, so schimpfte er wütend, würde er wohl eher ein Jahr benötigen. Doch die Drachen waren geduldig mit ihnen. Sie waren intelligent, so intelligent wie Menschen, sagte sich Alina immer wieder. Oder sogar noch mehr. Sie würden verstehen, dass dies ein Schiff der Drakken und nicht der Menschen war und es ohnehin an ein Wunder grenzte, dass Izeban es zum Fliegen gebracht hatte. So bemühten sie sich, hinter den Drachen herzuschaukeln, und Alina hatte das Gefühl, dass sie noch langsamer waren als sonst, denn Izebans war so aufgeregt, dass er Mühe hatte, das Schiff ruhig zu halten. Irgendwann wurde es Marko zu viel und er verscheuchte Izeban aus dem Pilotensitz, woraufhin der Flug ruhiger und auch ein wenig schneller wurde, wie Alina fand. Izeban war beleidigt nach hinten abgezogen, aber er war wohl mehr wütend auf sich selbst als auf Marko. Sie bewegten sich nach Nordosten; Marko war der Ansicht, dass sie dies unmittelbar zum Mogellsee führen musste. Sie waren bis aufs Äußerste gespannt, wohin die Drachen sie führen würden; ihre Vermutun607 gen reichten von Bor Akramoria über Unifar bis hin zu einsamen Inseln im Mogellsee oder einem weiten, aus Sicherheitsgründen nordwärts führenden Umweg, der sie letztlich doch wieder bis nach Savalgor bringen würde. Das aber, so warf Izeban ärgerlich ein, würde mit dieser Schaukel wohl bis zum nächsten Dunklen Zeitalter dauern. Es bestand jedoch die Gefahr, dass sie einem anderen Drakkenschiff begegneten. Sie flogen nun ein gutes Stück höher, und es mangelte ihnen an einer Möglichkeit, den Drachen zu erklären, dass es für sie günstiger wäre, tiefer zu fliegen. Die beiden waren ständig eine halbe Meile vor ihnen. Ein derart langsam in großer Höhe fliegendes Drakkenboot im Schlepptau zweier Drachen, die ebenfalls weit unter ihrer normalen Geschwindigkeit flogen - das mochte auch dem dümmsten Drakken seltsam vorkommen. Doch sie hatten das notwenige Quäntchen Glück: niemand begegnete ihnen. Sie waren um die Mittagszeit aufgebrochen, aber der Flug dauerte den ganzen Nachmittag bis fast zum Einbruch der Abenddämmerung. Zweimal machten sie Rast, denn das langsame Fliegen schien für die Drachen anstrengend zu sein. Dann erreichten sie tatsächlich den Mogellsee, der, anders als die gebirgige Gegend, nur wenige Stützpfeiler aufwies, die dafür aber von gigantischen Ausmaßen waren. Sie flogen entlang einer mächtigen Steilküste nach Norden, bis ein Stützpfeiler in Sicht kam, der sich direkt mit der Küstenklippe vereinigte und senkrecht hinab ins Wasser fiel. Die Drachen änderten den Kurs und umrundeten den Pfeiler nach Westen hin, weg vom See. Sie glitten über die Gipfel eines Kammgrates hinweg, der sich im Vordergrund des Pfeilers erhob, und stießen dann hinab in eine Schlucht an der dem See abgewandten Seite. Durch einen mächtigen Felsbogen 608 ging es wieder aufwärts, bis sich vor ihnen ein tiefer Einschnitt im Pfeiler öffnete, in den sie direkt hineinflogen. Abermals ging es ein Stück aufwärts, wobei sie ziemlich nahe an den Pfeiler herankamen. Marko hatte Mühe, dem verschlungenen Kurs der Drachen zu folgen. Plötzlich tat sich vor ihnen, an einem sehr versteckten Teil der westlichen Pfeilerflanke, ein kleines Hochplateau auf. Als sie genauer hinsahen, standen ihnen vor Überraschung die Münder offen. Es war ein Dorf, ein winziges Dorf von acht Häusern. Aus der Höhe über dem Dorf stürzte ein kleiner Wasserfall herab, sammelte sich in einem winzigen See inmitten der Gruppe der Häuser, die über das Plateau verteilt waren, und rauschte als weiterer Wasserfall in die Tiefe. Der Anblick war atemberaubend, und Alina empfand maßloses Erstaunen, dass an einem solch versteckten Platz ein Dorf existierte. Mit Sicherheit war es nur aus der Luft zu erreichen, und das warf mehr Fragen auf, als es beantwortete. Dann landeten die Drachen - auf einem freien Platz gleich neben dem kleinen See. Die drei Ankömmlinge sahen, wie aus den Häusern Leute angelaufen kamen; sicher war die Verwirrung groß, denn angesichts ihres Flugschiffs mussten sie denken, dass die Drakken sie entdeckt hätten. »Die Drachen werden ihnen sagen, dass wir Freunde sind«, meinte Marko zuversichtlich und deutete hinab. Alina presste ihre Nase an die Seitenscheibe und versuchte jede Einzelheit zu erfassen. Die Häuser bestanden fast ausschließlich aus Holz und sahen allesamt unfertig aus, so als befänden sie sich gerade erst im Bau. An der Flanke des Pfeilers, ein kleines Stück über dem Plateau, schwang sich ein abenteuerlicher, halb fertiger Holzbau
hinauf in die Lüfte. Er war mittels Balken und Stützen direkt an der fast senkrechten 609 Felswand verankert. Das Gebäude bestand aus zwei Teilen, mit einem flachen und weitläufigen Bau rechts und einem etwas größeren und höheren links. Beide Dächer waren erst halb fertig und überall standen und la gen Bretter und Balken herum. Rundherum zog sich ein großzügiger Balkon mit einem durchgehenden Geländer. Alina sah, wie eine Person aus dem größeren der Gebäude trat; sie hielt ein kleines Brett oder eine Stange in der Hand, und trat neugierig ans Geländer. Sie hätte beinahe einen Luftsprung gemacht. »Das ist sie!«, rief sie. »Das ist Royal« 610 32 ♦ Malangoor Meister Izeban hatte das kleine Drakkenboot mit aller Vorsicht an den Südrand des Dorfes manövriert und war dort auf einem freien Flecken gelandet. Marko stand mit klopfendem Herzen hinter der Tür und wartete, dass Izeban sie öffnete. Der Abend war angebrochen und einige Leute hatten sich dort draußen in respektvoller Entfernung versammelt. Offenbar war es den beiden Drachen früh genug gelungen, die Anwohner zu beruhigen, dass keine Gefahr bestand. Das Brummen des Drakkenbootes versiegte und die Tür glitt auf. Zaghaft stiegen sie aus und blieben draußen auf der Wiese nebeneinander stehen. Eine atemlose Minute verstrich, während sich die beiden Parteien unsicher musterten. Einige Leute unterhielten sich leise, niemand der Dorfbewohner machte jedoch Anstalten, sie zu begrüßen. Doch dann endlich geschah etwas. Die junge Frau, die Alina erkannt zu haben glaubte, war über einen schmalen Weg von dem großen Haus an der Felswand herabgelaufen und hatte den Landplatz des Drakkenbootes erreicht. Sie blieb in einiger Entfernung stehen, starrte die Ankömmlinge mit großen Augen an und stieß dann einen Laut des Unglaubens aus. Marko sah zu Alina. An ihrem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass die andere wirklich Roya sein musste. Mit einemmal setzten sich beide Frauen in Bewegung und rannten aufeinander zu. Marko hob war611 nend die Hände; es schien fast, als hätten die beiden vor, sich gegenseitig umzurennen. Alina blieb plötzlich stehen, stieß einen jammervollen Laut aus und hob ihren verletzten Arm in die Höhe. Roya konnte gerade noch bremsen. Dann lagen sich die beiden in den Armen und quietschten geradezu vor Freude. Marko schnitt eine Grimasse und sah kopfschüttelnd zu Izeban. Der grinste und zuckte mit den Schultern. »Wo, bei allen Dämonen, kommst du denn her?«, rief Roya. Alina grinste breit. »Direkt aus Savalgor. Zugegeben - mit einigen Umwegen. Unterwegs habe ich alte Freunde getroffen. Das hier sind Marko und Meister Izeban.« Marko trat auf die beiden zu, knapp gefolgt von Izeban. Roya blickte mit vor Lebendigkeit sprühenden Augen zu ihm auf. Sie war ein zierliches Mädchen von wunderschöner Gestalt, hatte schulterlanges schwarzes Haar und ein lustiges, strahlendes Gesicht von leicht östlichem Zuschnitt. Ihre Bewegungen wirkten grazil und zugleich kraftvoll; sie strahlte ein faszinierend natürliches Selbstbewusstsein aus. Er brachte ein Lächeln zustande und streckte ihr die Hand entgegen. Roya lächelte zurück, ignorierte seine Hand und umarmte ihn stattdessen. Kurz, sanft und herzlich. Gleich darauf tat sie das Gleiche mit Izeban. »Willkommen in Malangoor«, sagte sie. »Gib auf dich Acht!«, sagte Alina leise, aber laut genug, dass Marko es hören konnte. »Er ist wegen dir gekommen! Man hat ihm erzählt, du wärest schön und klug. Er wird dich vom Fleck weg heiraten wollen!« Alina grinste ihn an. Während Marko die Röte ins Gesicht stieg, wandte sich Roya mit einem Schwung zu ihm um, dass ihre dichten schwarzen Haare aufflogen. »Wirklich?«, frag612 te sie breit lächelnd. Sie boxte ihm leicht in den Bauch. »Und? Taugst du auch was?« Die Anspielung Alinas schien sie nicht im Geringsten verlegen zu machen. Marko hingegen, den man nur selten in Verlegenheit ertappt hatte, wirkte ziemlich verdattert. »Ich kann gut ... schießen«, sagte er und warf Alina einen Blick zu. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass er von Roya hingerissen war. Alina lachte leise auf. Noch einmal umarmte sie Roya und küsste sie auf die Wange. »Was bin ich froh, dass wir dich gefunden haben!« Inzwischen waren sie von einem Dutzend Leuten umringt. Neugierige Fragen kamen auf, wer sie seien und woher sie kämen. Sie beantworteten die Fragen und erfuhren zugleich etwas über das Dorf. Es war ungefähr zwei Wochen alt und gerade im Entstehen begriffen. Hier lebten ausschließlich Flüchtlinge - Leute, die Roya und die Drachen im Land aufgegriffen und hierher gebracht hatten. Der männliche Drache war in der Tat Tirao, der weibliche hieß Majana. Marko stellte anerkennend fest, dass Malangoor das entlegenste und best versteckte Dorf in ganz Akrania sein musste. Etliche Leute standen inzwischen um das Drakkenboot herum und betrachteten es mit erstaunten wie auch leicht misstrauischen Blicken. Izeban trat zu ihnen und erklärte ihnen das Geheimnis. Trotz der allgemeinen Befangenheit schien es den Leuten zu gefallen, dass den verhassten Feinden offenbar ein Stück ihres Besitzes entrissen worden war. Es war letztlich eine echte Kriegsbeute; ein hoch entwickeltes Stück Technik, das die Hinterwäldler trotz ihrer Unterlegenheit den Unterdrückern entrissen hatten. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte und zahlreiche Hände geschüttelt waren, brachte sie Roya hinauf
zu dem großen Holzbau an der Steilwand. 613 Stolz stellte sie ihn als ihr neues Domizil mit dem Namen Windhaus vor. Die Bürger von Malangoor halfen ihr bei seiner Errichtung, so wie sich hier alle gegenseitig halfen. Eine wichtige Rolle übernahmen dabei die Drachen. Sie holten das Bauholz aus den Wäldern weit unten aus den Tälern herauf. Immer noch gab es zahllose offene Fragen, aber für den Augenblick wurden die drei Ankömmlinge erst einmal versorgt und konnten sich ein wenig ausruhen. Für den späteren Abend hatte Roya eine spontane Willkommensfeier angesetzt. Nach Einbruch der Nacht saßen sie gemeinsam mit allen Bewohnern des Dorfes auf dem großen, von Fackeln erleuchteten Balkon des Windhauses. Mehrere Tische waren gedeckt - sie boten alles, was im Dorf in so kurzer Zeit aufzutreiben gewesen war. Neben Roya lebten hier fünfundzwanzig weitere Personen. Vor etwa zwanzig Tagen, so erklärte Roya, als sie an dem Fluss im Gebirge den verletzten Drachen gepflegt hatte, waren Nerolaan und seine Sippe zu ihr zurückgekehrt. Sie brachten schlechte Nachrichten vom Überfall der Drakken und erzählten Roya, Tirao und Majana alles, was sie erfahren hatten. Roya unternahm daraufhin zusammen mit acht Drachen einen einzigen, kurzen Versuch, zurück nach Savalgor zu gelangen, aber bei Tharul schon sahen sie sich zur Umkehr gezwungen. Überall waren Drakkenschiffe unterwegs. Sie fanden keine Möglichkeit mehr, tiefer ins Land vorzudringen. Auf dem Heimweg entdeckten sie dann die erste Gruppe von Flüchtlingen - es waren elf Menschen, die in Tharul den einfallenden Drakken entwischt waren und fast ohne jede Habe nach Nordwesten flohen. Roya beschloss spontan, die Leute aufzunehmen. Als die acht riesigen Felsdrachen um sie herum landeten, 614 wären sie beinahe in alle Richtungen davongerannt, erzählte Roya. Danach aber tauchte die Frage auf, wohin mit ihnen allen? Sie mussten einen Ort finden, an dem sie in Sicherheit wären. Nerolaan war es, der sie schließlich hierher geführt hatte. Er war hier aufgewachsen, seine Sippe hatte diesen abgelegenen Ort jedoch schon vor langer Zeit verlassen. Jetzt aber erwies sich die Abgeschiedenheit als genau das, was sie brauchten. Nerolaan und seine vierzehn verbliebenen Familienmitglieder bezogen wieder diesen Pfeiler, in dem es weit oben, in vier Meilen Höhe, ein großes Höhlensystem gab. Dort entstand gerade eine neue Drachenkolonie -so wie hier unten das Dorf der Menschen errichtet wurde. Seither suchten sie regelmäßig die Gegend um Tharul und Hegmafor ab, um Flüchtlinge aufzulesen. Die letzten drei Leute waren erst seit vorgestern hier. »Dann habt ihr eine Kolonie von vierzehn Drachen?«, fragte Alina überrascht. Roya nickte. »Fünfzehn waren es, mit Tirao. Aber inzwischen sind es schon mehr. Die Bevölkerung wächst, genau wie unser Dorf.« Alina strahlte Marko und Izeban an. »Seht ihr - es hat bereits begonnen! Wir gründen eine Widerstandsgruppe gegen die Drakken!« Roya lächelte, aber es war nur ein pflichtschuldiges Lächeln. »Na ja ... das ist noch ein weiter Weg«, meinte sie. Alina merkte sofort, dass sie zu weit vorgeprescht war. Sie hob entschuldigend die Hände. Doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach Roya schon weiter. »Versteh mich nicht falsch! Die Leute hier sind nicht feige. Nein, sie sind geradezu versessen darauf zu kämpfen! Aber ehrlich gesagt, ich mache mir Sorgen. Nur die wenigsten von ihnen verstehen etwas davon. Es sind einfache Leute: Handwerker und Bauern.« 615 Alina nickte. »Als wir vor zwei Wochen die ersten Hütten hier errichteten«, fuhr Roya fort, »hatten wir wirklich vor, eine ... wie soll ich sagen ... eine Rebellenarmee ins Leben zu rufen. Aber inzwischen versuche ich, die Leute zu beruhigen. Ich möchte Ruhe einkehren lassen und erst einmal zusehen, dass im Dorf alles funktioniert.« Sie sah sich um und sprach leiser weiter. »Die meisten hier ahnen noch gar nicht, wie weit die Drakken schon vorgedrungen sind. Sie haben davon gehört, dass sie ihre Bergwerke errichten und in die Dörfer eingefallen sind. Aber gesehen hat diese Dinge außer mir selbst hier noch niemand.« Sie blickte in die dunkle Nacht hinaus, die Stirn in Sorgenfalten. »Mir wird ganz übel vor Angst, wenn ich mir so eine Drakkenstadt ansehe. Wenn wir jetzt damit anfangen, Überfälle gegen die Drakken vom Zaun zu brechen, sind wir schneller tot und vergessen, als man das Wort Widerstand überhaupt aussprechen kann. Wir haben überhaupt keine Macht.« Alina legte eine Hand auf Royas Arm. »Du hast Recht, Roya. Entschuldige. Wir sind nicht gekommen, um deine Leute in den Krieg zu holen. Wir haben selbst erlebt, wie brutal die Drakken sind.« Sie blickte, nach Unterstützung suchend, zu Izeban und Marko. »Es ist sicher besser«, half ihr Marko, »wenn wir uns erst einmal ruhig verhalten und sehen, welche Möglichkeiten wir haben. Überstürztes Handeln bringt uns nichts ein.« Das versöhnte Roya sichtlich und sie warf Marko dankbare Blicke zu. Die Malangoorer Bürger umsorgten sie aufs Herzlichste. Das schnell zusammengestellte Abendmahl war nichts Ausgefallenes, aber es schmeckte, entsprechend dem glücklichen Anlass, über die Maßen gut. Die drei Ankömmlinge hatten seit Tagen keine anstän616 dige Mahlzeit mehr gehabt. Als später mit dem Grad der Sattheit der Mägen auch wieder die Ruhe einkehrte,
setzten sich Roya und Alina an einen Platz etwas abseits und ließen Marko und Izeban bei den Feiernden zurück. Sie nahmen auf quietschenden Korbstühlen Platz, direkt am hölzernen Geländer des Balkons, und redeten leise miteinander. Marko, der eine Weile mit Izeban über das diskutierte, was sie nun tun könnten, hörte immer wieder ihr helles Lachen herüberdringen. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Nach einer Weile wurde er so neugierig, dass er sich bei Izeban entschuldigte und sich erhob. Er beschaffte sich eine Kerze und ging hinüber zu ihnen. »Darf ich mich dazusetzen?«, fragte er höflich. »Oder ist es ...?« »Schon gut«, sagte Alina und wies auf eine Holzkiste, die in der Nähe stand. Marko rückte sie heran und setzte sich. »Wir haben uns ein Jahr lang nicht gesehen«, weihte Alina ihn ein, »da gibt es viel zu erzählen.« »Und eigentlich kennen wir uns gar nicht richtig«, fügte Roya hinzu. »Wir haben uns nur einen Abend lang gesehen. Und da waren wir ziemlich abgelenkt.« Auf welche Weise Roya und Alina sich kennen gelernt hatten, wusste Marko nicht. Roya erzählte ihm von ihrer Entführung und dem Zimmer in Guldors Hurenhaus, in dem sie mit Leandra und den anderen gefangen waren, und wie Chast am nächsten Morgen gekommen war und Alina gekauft hatte. Während die beiden immer weitere erstaunliche Einzelheiten erzählten, von denen Marko nur die wenigsten kannte, gesellte sich auch Meister Izeban zu ihnen. Marko rückte auf seiner Kiste zur Seite und machte ihm Platz. »Es gab einiges«, schloss Alina, »was Roya nicht wusste. Nichts von meiner Hochzeit, vor Victors Vater617 schaft ... und leider, dass ihre Anstrengungen, den Pakt zu finden, vergeblich waren.« Sie hob entschuldigend die Achseln und sah Roya an. »Ihr habt euch für nichts und wieder nichts in all die Gefahren gestürzt. Der Kryptus war lediglich ein dummes Possenspiel Sardins.« Marko nickte. Davon hatte ihm Alina unterwegs bereits erzählt. »Was tun wir jetzt?«, fragte Izeban. »Was ist mit Eurem Plan, Shaba?« Roya sah Alina an. »Deinem ... Plan?« Alina schnaufte, als hätte sie bereits befürchtet, dass dies noch zur Sprache käme. Sie wandte sich an Roya. »Ja. Ich respektiere natürlich deine Sorge um die Leute hier, Roya. Aber ehrlich gesagt habe ich etwas vor. Ich suche Ulfa, ich brauche seinen Rat. Denkst du, Tirao könnte uns helfen, ihn zu finden?« Roya wirkte plötzlich seltsam unsicher. »Nun, er ... er wird in Bor Akramoria sein. Das ist seine Heimat.« Roya sah sie eine Weile forschend an. »Wozu brauchst du seinen Rat?« Alina hob die Schultern. »Nun - irgendwie muss es doch weitergehen! Ich kann nicht einfach stillhalten und zusehen, wie die Drakken unser Volk versklaven und die Höhlenwelt mit ihren Bergwerken durchsetzen. Hast du diese riesigen Staubwolken gesehen?« Roya nickte. »Im Augenblick habe ich noch nichts Besonderes im Sinn. Aber ich möchte hören, was Ulfa dazu meint.« Sie spürte Royas Unruhe und musterte sie unsicher. »Ob er uns dazu rät, uns zu wehren, oder nicht.« Roya zuckte mit den Achseln und setzte ein zweifelndes Gesicht auf. »Ich habe ein paar Mal mit ihm gesprochen. Er legte immer Wert darauf zu erklären, dass er weder allwissend noch allmächtig sei. Wir seien es, sagte er, die Dinge veränderten, und dass er eigentlich 618 gar keine Macht habe. Er wisse nur einiges und könne manchmal Dinge voraussehen.« »Aber ... das wäre doch schon etwas, oder? Genau das will ich ja: dass er uns einen Rat gibt. Du klingst fast, als hättest du keine große Lust, ihn zu sehen!« Roya holte tief Luft und seufzte. Sie sah unglücklich aus, etwas belastete sie. Für eine Weile herrschte Schweigen. »Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen«, eröffnete sie ihnen schließlich. Alina, Marko und Izeban tauschten erstaunte Blicke. »Es geht um Quendras«, erklärte sie zögernd. »Bei Rasnors Überfall, damals in Hammagor, hat er mir das Leben gerettet. Mir und Victor. Dabei aber hat er selbst etwas abbekommen - eine mörderische Magie von Rasnor. Quendras drohte zu sterben, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen. Ich habe Victor dazu gedrängt, Hilfe zu holen. Das endete damit, dass Faiona starb.« Roya blickte zu Boden, ihre Augenwinkel waren plötzlich feucht. Alina sagte leise zu Marko und Izeban: »Faiona war ein Drache, Tiraos Lebensgefährtin. Sie starb, als sie Victor vor den Drakken rettete.« Sie wandte sich wieder Roya zu und nahm ihre Hand. »Du hast nichts Unrechtes getan, Roya! Du hast nur versucht, einen Freund zu retten. Woher solltest du wissen, dass Victor und Faiona auf Drakkenschiffe stoßen würden?« Roya blickte auf, sie weinte regelrecht. »Das war schon schrecklich genug«, sagte sie. »Aber das ist nicht mal das, was ich meine. Ich habe etwas noch viel Schlimmeres getan!« Alina fühlte einen Stein im Magen. Sie überlegte, ob sie Marko und Izeban wegschicken sollte. Aber dann hätte sie sich vielleicht auch gleich selbst wegschicken müssen. So überließ sie es Roya, wem sie sich anvertrauen wollte. 619
»Victor blieb aus«, fuhr Roya fort. »Er kam einfach nicht rechtzeitig wieder. Quendras hingegen ... er wurde immer schwächer. Ich hatte Angst, dass er es nicht mehr schaffen würde. Und ich hatte inzwischen sogar Angst, dass Victor gar nicht mehr kommen könnte. Er war so lange fort, dass ich fürchtete, ihm wäre etwas zugestoßen. Ich war allein in Hammagor.« Alina war verunsichert. Sie wusste nicht, was Roya ihnen sagen wollte. »War denn Tirao nicht mehr bei dir?« Roya schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen fort. »Nein. Ulfa hatte ihn nach Savalgor geschickt. Ich war wirklich ganz allein. Und ich hatte Angst. Das bisschen Magie, das ich beherrsche - es hätte mich nicht vor dem Verhungern retten können. Und dieses verfluchte Hammagor, es war so unheimlich. Hunderte von Meilen von jeglicher menschlichen Ansiedlung entfernt. Ich hatte einfach schreckliche Angst.« Alina verstand nicht. »Was ... hat das denn mit Ulfa zu tun?« Royas Brust hob und senkte sich schmerzvoll; sie nickte. »Ich habe ihn gerufen. Habe durchs Trivocum nach ihm geschrieen. Und er kam.« »Aber ... was soll daran schlimm sein? Quendras lebt und Ulfa wird schon gewusst haben ...« Roya schüttelte den Kopf. Ihr unsicherer Seitenblick traf Marko und Izeban. »So ist es nicht gewesen, Alina. Ulfa hat Quendras nicht geholfen.« Sie zog die Brauen hoch. »Nicht?« »Nein. Ich redete lange mit ihm. Versuchte ihn zu überzeugen. Aber er blieb hart. Er sagte, dass er bereits zwei Mal zu weit gegangen sei. Ich wusste nicht, was er meinte. Er sagte, er würde gegen die Regeln verstoßen. Jedes Mal, wenn er es täte, würde er etwas aus dem Gleichgewicht bringen. Und deshalb könnte 620 er dieses Mal nicht mehr eingreifen. Wenn es Quendras' Schicksal sei zu sterben, dann müsse er eben sterben.« Alina schluckte hart. Sie wusste nur wenig über den Urdrachen, aber sie hatte nicht erwartet, dass er so wenig Erbarmen kannte. Royas Anliegen war mehr als ehrenvoll und anständig gewesen. Zumal Quendras derjenige gewesen war, der Victor und Roya überhaupt erst gerettet hatte. Ohne ihn wäre die ganze Suche nach dem Pakt von vornherein ein gewaltiger Misserfolg geworden ... Alina unterbrach ihren Gedankengang. Genau das war später dann tatsächlich auch eingetreten. So gesehen war Victors und Royas Jagd nach dem Pakt völlig umsonst gewesen, Quendras' Hilfe gegen Rasnor vergebens und Faionas Tod sinnlos. Lag darin etwa die seltsame Logik dieses Falls? Eine Logik, die Ulfa zu diesem Zeitpunkt schon erkannt - oder wenigstens erahnt - hatte und derentwegen er sich geweigert hatte, Quendras zu helfen? Alina stöhnte innerlich. »Was geschah dann?«, fragte sie. »Verließ dich Ulfa einfach wieder?« »Ich verjagte ihn«, sagte Roya. Sie blickte unsicher auf. »Ich schrie ihn an, er solle sich davonscheren.« Nun verstand Alina. Roya hatte kein Vertrauen mehr zu Ulfa, und sie mochte ihm auch kaum unter die Augen treten. Nach einer Weile fragte sie vorsichtig: »Ich könnte auch allein zu ihm gehen ...« Roya blickte sie forschend an, so als käme gerade ein Missverständnis zwischen ihnen auf. »Moment!«, unterbrach Marko. »Quendras wurde letztlich doch geheilt, oder? Wie geschah das, wenn Ulfa nicht helfen wollte?« Roya, die kurz zu Marko gesehen hatte, senkte wieder den Blick. 621 Alina stutzte. »Also ... hat er Quendras doch geholfen?« Roya schüttelte den Kopf. »Nein, hat er nicht. Aber ... bevor er mich verließ, warnte er mich. Er sagte, ich solle nicht eigenmächtig versuchen, diese Regeln zu brechen. Und ... gerade das brachte mich auf die Idee.« »Auf welche Idee?« Sie holte tief Luft und sah auf. »Sardin. Ich habe Sardin um Hilfe gebeten. Ich bin in seinen Turm gegangen und habe ihn gefragt.« Schweigen breitete sich unter den vieren aus. Wiewohl Royas verzweifelte Tat eigentlich immer noch unter dem Vorzeichen eines gerechten Ansinnens stand, verschob allein die Nennung von Sardins Namen alles ins Reich des Bösen. Alina wurde sehr rasch klar, dass Roya doch einen Fehler begangen hatte - wahrscheinlich sogar einen sehr großen. Neue Tränen liefen Royas Wangen herab. »Versteht ihr jetzt? Ich habe Quendras das Leben gerettet, aber ich habe gegen Ulfas Warnung gehandelt. Irgendetwas Schreckliches ist geschehen. Ich spüre es. Quendras lebt und der Pakt ist bis nach Savalgor gekommen, aber trotzdem - irgendetwas Furchtbares ist geschehen. Ich bin einen Schritt zu weit gegangen. Ich kann Ulfa nicht mehr unter die Augen treten.« Alina schwieg noch eine Weile, aber in ihr verdichtete sich ein Entschluss. »Nein, Roya!«, sagte sie schließlich mit Bestimmtheit. »Auf gar keinen Fall wird diese Sache besser, indem du dich verkriechst! Du hast noch einen viel wichtigeren, persönlichen Grund als ich, Ulfa wieder zu sehen!« Sie hielt noch immer Royas Hand, ließ sie nun aber los und stand auf. »Dieses Bor Akramoria liegt doch nicht allzu weit von hier entfernt, oder?« Sie nickte entschlossen. »Morgen werden wir dorthin aufbrechen. Wir beide - du und ich!« 622 Alina lag noch lange wach. Als sie die bitter weinende Roya verlassen hatte, war Marko aufgestanden und hatte sie tröstend in die Arme genommen. Alina war nicht wütend auf Roya gewesen, im Gegenteil. Sie konnte sie nur
allzu gut verstehen. Aber es durfte nicht sein, dass ein Mensen, der ein so reines und gutes Herz besaß wie Roya, seine Seele damit verdarb, dass er aus Angst oder Scham vor der Wahrheit floh - besonders vor einer so wichtigen. So etwas endete immer böse. Erst nahm man eine kleine Lüge als gegeben hin, dann geschah das Gleiche mit der nächst größeren Lüge, und so ging es immer weiter, bis man irgendwann seine Seele verkauft hatte. An den Verrat, den Eigennutz und die Bequemlichkeit der Lüge. Alina hatte neun Monate in einer solchen Gruppe von Menschen zugebracht - der Bruderschaft von Yoor. Chast hatte sich immer über die Unzuverlässigkeit und den Eigennutz seiner Leute beklagt. Doch er selbst war der Größte unter ihnen gewesen: der Anführer einer Gruppe von Leuten, die aus Gewohnheit logen, vertuschten, täuschten und verleumdeten. Sie taten das sogar mit Fleiß untereinander. Alina hatte diese Art zu leben hassen gelernt. Dass sich Marko stehenden Fußes in Roya verliebt hatte, war leicht aus einer Meile Entfernung zu erkennen. Aber Alina selbst ging es fast ebenso. Roya besaß eine Ausstrahlung, die ihr fast den Atem nahm. Sie war so lebendig, neugierig und voller Liebe für alles Schöne, dass Alina sie für jede ihrer Bewegungen, für jedes Wort und jeden Blick hätte küssen mögen. Deshalb war sie so grob zu Roya gewesen, deshalb hatte sie so unmissverständlich verlangt, dass sie zu Ulfa mitkommen müsse. Denn es kam überhaupt nicht infrage, dass Roya ihr Gewissen und ihre lautere Seele aufs Spiel setzte, um diesen Fehler, den sie begangen hatte, herunterzuspielen und in Vergessenheit geraten 623 zu lassen. Sie war sehr jung und überschaute vielleicht nicht die Tragweite ihres Handelns. Aber sie hatte einen ernsten Fehler begangen und den musste sie wieder aus der Welt schaffen. Ulfa musste einen wichtigen Grund für seine Entscheidung gehabt haben, Quendras nicht zu helfen. Alina ahnte, ebenso wie Roya, das etwas Furchtbares passiert war. Sie hatte von Leandra erfahren, dass Sar-din in Hammagor nicht mehr auffindbar gewesen war. Und das, obwohl er Victor zuvor regelrecht erpresst hatte, ihm Leandra nach Hammagor zu bringen. Da stimmte etwas nicht, und sie mussten dahinter kommen, was es war. Wenn diese Sache nicht geklärt und aus der Welt geschafft wurde, hatten sie vielleicht nie wieder eine Möglichkeit, Ulfa um Hilfe zu bitten. Alina war aufgewühlt, aber irgendwann holte sie dann doch die Müdigkeit ein und sie schlief ruhig und fest für den Rest der Nacht. Am nächsten Morgen, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, brachen sie auf. Alina hatte noch vor dem Frühstück eine kurze Sitzung mit Roya absolviert, die sich mit einer leichten Heilmagie ihres Unterarmbruchs annahm. Roya war an diesem Morgen sehr verunsichert, lehnte sich aber gegen Alinas Forderung, mit ihr zusammen Ulfa aufzusuchen, nicht auf. Marko hatte durchblicken lassen, dass er sie sehr gern begleitet hätte. Doch Roya lehnte ab; und hätte sie es nicht getan, hätte Alina dafür gesorgt, dass sie allein flogen. Ihre Mission war überaus wichtig und zugleich auch heikel. Roya würde dem Urdrachen in aller Demut gegenübertreten müssen. Da war die Begleitung eines verliebten Gockels wie Marko völlig unangebracht. 624 Sie flogen beide auf dem Rücken von Tirao, begleitet von seiner jungen Drachenfreundin Majana. Für Alina war es der erste Flug auf einem Drachenrücken und sie war sehr nervös. Der Start war aufregend, aber weniger spektakulär als gewöhnlich, denn Tirao ließ sich einfach von der Klippe, auf der Malangoor lag, in die Tiefe gleiten. Alinas Magen stieg in die Höhe, dann hatten Tiraos Schwingen schon den Wind gefangen und er legte sich steil in eine Kurve, um nach Norden hin davon zu schießen. Es ging zwischen Felswänden und Stützpfeilern hindurch, über Bergkämme hinweg und unter gigantischen Felsbogen hindurch. In den ersten Minuten hatte Alina mit der unerhörten Energie des Drachenfluges zu kämpfen - aber nur so lange, bis ihr Körper die Gewissheit gewonnen hatte, dass sie auf Tiraos Rücken vollkommen sicher war. Roya, die Drachenflüge gewohnt war und sie ganz offensichtlich genoss, ging es inzwischen wieder sichtlich besser. »Er hat Leandra schon mal aufgefangen!«, rief sie ihrer Freundin von hinten zu. Alina wandte den Kopf. »Aufgefangen?« »Ja. In einem Kampf. Ein Drakkenüberfall in der Nacht. Tirao musste einem Drakkenschuss ausweichen, tauchte ab, und Leandra - huiii, sie flog allein weiter.« »Waaas?«, rief Alina entgeistert. Roya lachte lauthals. »Ja, ist wirklich wahr. Ich war dabei! Sie hatte nicht mal was an, war splitternackt. Tirao flog ihr hinterher und lud sie wieder auf. Du kannst dich also ruhig mal fallen lassen, wenn dir danach ist!« Roya packte Alina von hinten, als wollte sie sie von Tiraos Rücken werfen. Alina stieß ein Quietschen aus und krallte sich an dem Hornzacken vor ihr fest. Sie lachten beide und Roya rief: »Ist es nicht phantastisch?« »Ja«, gestand Alina. »Wirklich! Ganz anders als in so 625 einem Drakkenboot.« Sie hob mutig die Arme in die Luft und stieß ein Jauchzen aus. »Wie weit ist es bis Bor Akramoria?« »Ich weiß es nicht genau, ich war noch nie dort. Aber es liegt am Nordwestzipfel des Mogellsees. Ich denke, wir fliegen sieben oder acht Stunden. Wir werden einige Pausen einlegen müssen.« »Acht Stunden? Dann kommen wir ja heute gar nicht mehr zurück!«
»Nein. Aber es wird dir sicher gefallen. Die Ishmar-fälle müssen gewaltig sein. Und die Festung selbst ... Victor hat mir viel davon erzählt.« Alina musste sich erst noch daran gewöhnen, dass alle anderen Victor offenbar besser kannten als sie selbst. Besonders Roya hatte eine lange und gefahrvolle Zeit mit ihm verbracht. Sie wusste, dass die beiden seitdem eine tiefe Freundschaft verband. Alina sog den Wind und den Anblick der Bergwelt in sich auf. Es half ein wenig - das brennende Gefühl der Sehnsucht nach Marie und Victor wurde von den Eindrücken des Fluges überdeckt. Tiraos Freundin Majana flog ein Stück voraus. An ihrer schlanken Gestalt und ihrer verspielten und grazilen Art, sich zu bewegen, war zu erkennen, dass sie noch sehr jung war -ein Mädchen sozusagen. Sie erreichten bald eine nach Norden verlaufende Steilküste, die eine gute Meile senkrecht in den Mogellsee abfiel. Der See glitzerte im Morgenlicht der Sonnenfenster. Die Eindrücke waren in der Tat völlig anders, wenn man auf dem Rücken eines Drachen saß, den Wind spürte und nach allen Seiten freien Raum um sich hatte. Und da war natürlich das Gefühl dieses gewaltigen, unendlich starken Lebewesens unter sich, das sich mit nichts vergleichen ließ, was Alina bisher erlebt hatte. Sie flogen entlang der Küstenlinie des Mogellsees nach Norden. Manchmal schoss Tirao so knapp über 626 der Wasseroberfläche dahin, sodass Alina glaubte, nur eine Hand ausstrecken zu müssen, um einen Fisch fangen zu können. Dann flog er wieder ein Stück landeinwärts, um einen Stützpfeiler zu umrunden oder durch einen der spektakulären Felsbogen hindurchzuschießen, die sie immer wieder entdeckten. Der Wind zerrte an ihr und hätte sie sicher irgendwann ausgekühlt, aber sie hatte sich in Malangoor einen dicken Lederwams geliehen und ertrug den ungewohnten, stetigen Wind recht gut. Nach drei Stunden des Flugs machten sie eine einstündige Pause auf einer winzigen Felseninsel. Während Tirao und Majana sich auf Nahrungssuche begaben, gönnten sich Alina und Roya ein Bad im kühlen Wasser des Mogellsees und sonnten sich anschließend ein wenig auf dem warmen Fels. Sie berichteten sich gegenseitig von den vielen Dingen, die ihnen im vergangenen Jahr widerfahren waren. Gegen Mittag kehrten die Drachen zurück und dann ging es weiter. Für zwei Stunden flog Alina allein auf Majanas Rücken, dann wurde das junge Drachenmädchen müde und Alina stieg wieder auf Tiraos Rücken um. Im Laufe des Flugs erwies sich Roya als echte Anwärterin auf den Titel >beste Freundin