Atlan – Die Abenteuer der SOL Nr. 502 Die Mausefalle
Brüder der zweiten Wertigkeit von Peter Griese
Raumschi...
105 downloads
482 Views
976KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan – Die Abenteuer der SOL Nr. 502 Die Mausefalle
Brüder der zweiten Wertigkeit von Peter Griese
Raumschiff SOL im Zugstrahl
Es geschah im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Die neuen Herren der SOL sahen sich somit endlich in die Lage versetzt, ihre Wünsche zu realisieren. Sie trennten sich von der Menschheit, um ihre eigenen Wege zu gehen und ihre ureigenen Ziele zu verfolgen. Sie betrachteten den Weltraum als ihren eigentlichen Lebensbereich und das Schiff als ihre Heimat – und die meisten von ihnen scheuten davor zurück, das Schiff zu verlassen und einen Himmelskörper zu betreten. Seit der Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert. Zu den Solanern, mit denen es der Arkonide bei seinen Nachforschungen an Bord des Weltraumriesen zu tun bekommt, gehören auch die BRÜDER DER ZWEITEN WERTIGKEIT …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide im Chaos der SOL. Valara Brackfaust ‐ Anführerin der Terra‐Idealisten. Ludewigh Loorn ‐ Ein erklärter Mystos‐Gegner. Hadar Calliman ‐ Ein SOL‐Farmer. Edo ‐ Ein Monster.
1. Die beiden Solaner sahen das kleine Fahrzeug Sekunden zu spät. In halsbrecherischer Fahrt schoß der Gleiter aus einem Seitengang und schwenkte ruckartig um 90 Grad. Die Frau konnte gerade noch zur Seite springen. Das Heck des Fahrzeugs streifte sie nur. Der Mann wurde voll an der Hüfte getroffen und zur Seite geschleudert. Er prallte gegen die Seitenwand des Korridors und sank aufstöhnend zusammen. »Ihr Bestien!« brüllte die Frau. Der Gleiter hielt an. In ihm saßen drei Solaner, zwei Männer und eine Frau. Der jüngere der Männer sprang in einem eleganten Satz heraus. Mit wenigen Schritten war er bei der Frau. »Was hast du gesagt, Weib?« herrschte er die Frau an. Er wartete keine Antwort ab. Seine Faust traf die Solanerin und streckte sie zu Boden. »Ich werde dir zeigen«, knurrte der Uniformträger, »Aksel von Dhrau zu beleidigen.« »Mach sie fertig!« rief die Frau aus dem Gleiter. »Die Bande lungert ständig in der Nähe der Passagen herum. Schließlich haben die hier nichts verloren.« Aksel von Dhrau, der Chef der gefürchteten Vystiden, holte zu einem Fußtritt aus, aber da war der andere Mann schon aus dem Gleiter gesprungen.
Barvos Dom war einer der beiden Stellvertreter des Chefs der Brüder der zweiten Wertigkeit. Im Gegensatz zu von Dhrau und der jähzornigen und unberechenbaren Zlava war er ruhig und besonnen. »Ich glaube«, sagte er fast sanft zu seinem Chef, »es genügt.« Aksel von Dhrau hielt den Fußtritt zurück. Seine Augen funkelten Barvos Dom böse an. Seine Lippen zuckten nervös. »Du solltest dich besser heraushalten, Barvos.« Seine Stimme hatte einen gefährlichen Beiklang. »Auch wenn du mein Vater sein könntest, der Chef bin ich.« Er holte erneut zu einem Fußtritt aus, aber in diesem Moment begann der Boden unter seinen Füßen zu zittern. Ein leises Grollen lief durch die SOL. Irgendwo in der Nähe polterten Gegenstände zu Boden. Laute Rufe wurden hörbar. Die geschlagene Frau nutzte die Verwirrung. Rasch war sie auf den Beinen. Mit schnellen Schritten rannte sie davon. Der Mann, der von dem Gleiterheck getroffen worden war, folgte ihr. Aksel von Dhrau stand breitbeinig und angespannt da. Die beiden Solaner interessierten ihn nicht mehr. Er lauschte gespannt auf die Geräusche in dem Raumschiff. Für einen Moment flackerten die Lichter in dem Korridor. »Was ist das?« kreischte Zlava. Aksels Hand fuhr mit einer energischen Bewegung durch die Luft. Er wollte damit seinen beiden Stellvertretern zu verstehen geben, daß sie schweigen sollten. Das dumpfe Grollen hielt nicht lange an. Die Zustände normalisierten sich wieder. »Was macht der High Sideryt mit der SOL?« Barvos Dom war sichtlich beunruhigt. »Das ist sein Problem.« Von Dhrau ging mit eckigen Schritten zu dem Gleiter zurück. Dom folgte ihm grübelnd. Die drei höchsten Offiziere der Vystiden warteten noch eine Weile, aber alles blieb ruhig. »Das war zu kurz, um etwas zu erreichen«, stellte von Dhrau fest.
»Der Kampf geht weiter.« »Was ist eigentlich los, Aksel?« fragte Zlava. Die Schwester der zweiten Wertigkeit war noch jung. Gerade 24 Jahre lebte sie, und doch sah sie schon verlebt aus. Ihre langen und ungepflegten Haare paßten nicht zu ihrer schlanken und drahtigen Figur und schon gar nicht zu der engen Metallfolienuniform, die silbern glänzte. An ihrem Gürtel hingen zwei schwere Energiewaffen, mit denen sie gut umgehen konnte. Die Augen standen nie still. Ständig war Zlava auf der Suche nach Opfern oder Situationen, in denen sie sich bewähren konnte. Keiner konnte dabei ihre Handlungen vorherahnen, denn sie agierte und reagierte stets scheinbar unmotiviert. Sie ließ sich von keinem Menschen etwas sagen oder befehlen. Nur Aksel von Dhrau stellte da eine Ausnahme dar. Früher hatte sie mehrfach versucht, den jungen Vystidenchef mit ihren weiblichen Reizen zu locken, aber das war fehlgeschlagen. Von Dhrau kannte nur seine Aufgabe. Zlava war da ganz anders. Neben den Aufgaben als Schwester der zweiten Wertigkeit suchte sie auch gern Abenteuer mit Männern. Man munkelte, daß sie dabei wenig wählerisch war und oft ihre Opfer auch für jeden anderen Zweck ausnutzte, nach dem ihr gerade der Sinn stand. Sie hatte nichts gegen diesen schlechten Ruf. Sie förderte ihn teilweise ganz bewußt. Durch ihre undurchsichtigen Machenschaften war Zlava gefürchtet. »Was soll schon sein?« Der Vystidenchef verzog arrogant seine Mundwinkel. »Der High Sideryt und die Magniden haben ein Problem. Die SOL ist von einem Saugstrahl gefangen, und sie versuchen, von diesem freizukommen. Wie gesagt, es ist nicht unser Problem.« Er beschleunigte den Gleiter. Dieses kleine Gefährt war speziell für Einsätze innerhalb der SOL konstruiert worden. Es faßte gerade drei Personen. Aksel von Dhrau benutzte es für seine Streifzüge durch
das Raumschiff und insbesonders, wenn er auf Jagd oder Rekrutierungen ging. Obwohl er erst 28 Jahre alt war, stand er an der Spitze der gefürchtetsten Kaste der SOL. Er war der Chef und einer der insgesamt 26 Vystiden mit Offiziersrang. Auf der Schulter seiner silbernen Kombination prangte ein goldenes Symbol, aus dessen Umrissen unschwer die hanteiförmige SOL zu erkennen war. »Ist unser Wechsel in die SZ‐1 angekündigt worden?« fragte er Barvos Dom. Sein Vertreter bejahte. Sie näherten sich jetzt der Grenze zwischen dem Mittelteil und der Solzelle‐1. Für normale Solaner war hier ein Passieren unmöglich. Auf Geheiß der Schiffsführung, also letztlich des High Sideryt, war es allen Solanern untersagt, von einem Teil des Schiffes in einen anderen zu wechseln. Nur den Angehörigen der SOLAG standen diese Wege offen. Aksel von Dhrau war nicht nur ein hervorragender Kämpfer, sondern auch ein geschulter Techniker. Von Dhrau galt als erzreaktionär. Neben den offiziell von der SOLAG bestimmten Regeln und Gesetzen galt bei ihm nichts. Er sah in allem nur die Erfüllung seiner Aufgabe. Vielleicht war er zu früh in dieses Amt als Vystidenchef berufen worden, so daß er kaum noch menschliche Züge trug. Das Wort Gnade war ihm unbekannt. Er ging gegen jeden, der seine Pläne oder die der SOLAG störte, unerbittlich vor. Äußerlich war er eine auffallende Erscheinung. Eitelkeit und Arroganz prägten sein Verhalten. Teilweise überdeckte er damit seine mangelnde Lebenserfahrung. Dies galt insbesonders gegenüber Barvos Dom, der 52 Jahre alt war. Aksel von Dhrau färbte seine Haare grau. Dies gab ihm den Anschein von Weisheit und Erfahrung. Seine lockige Haarpracht überdeckte das kantige Gesicht bis kurz über die Augen. Seine Bewegungen wirkten teilweise eckig, aber das täuschte. Sein ganzer Körper war durchtrainiert.
Überhaupt waren fast alle Vystiden sehr auf eine schlanke und sportliche Figur bedacht. Sie besaßen eigene Trainingszentren, in denen sie sich ständig harten Fitneßübungen unterzogen. Der Gleiter näherte sich der Schleuse zur SZ‐1. Aksel von Dhrau verringerte die Geschwindigkeit nicht. Er schätzte die Entfernung ab und sagte sich, daß die Wachmannschaften und Roboter ihn mit seinem speziellen Gleiter früh genug erkennen konnten, um den Durchgang zu öffnen. Fast wäre das schiefgegangen. Das Tor wurde zwar geöffnet, aber der Gleiter rammte einen Stahlflügel und geriet kurz ins Taumeln. Die Servos heulten auf, als er das Fahrzeug mit einem Ruck zum Halten brachte. Mit einem eleganten Satz schwang er sich nach draußen. Zlava folgte ihm auf den Fuß. Nur Dom blieb hinter dem Steuerpult stehen. Er kannte die Auftritte seines Chefs zur Genüge, und er beteiligte sich nur selten daran. Die Wachmannschaft bestand aus einem Haematen, wie die normalen Angehörigen der Brüder der zweiten Wertigkeit genannt wurden, und zwei Ferraten. Dazu kamen zwei Roboter, die aber keinem der Solaner unterstanden. Nur die Vystidenoffiziere besaßen Kommandogewalt über Kampfroboter. Aksel von Dhrau kannte alle Vystiden mit Namen, obwohl deren Gesamtzahl immerhin 469 betrug. »Fratschko, du Idiot!« schrie er den Haematen an. Seine Faust fuhr an die Gurgel des Mannes. »Zu dumm, um die einfachsten Aufgaben zu erfüllen. Ich sollte dafür sorgen, daß du wieder zu den Rostjägern kommst.« Die beiden Ferraten verkrochen sich hinter den Robotern, denn auch sie fürchteten den Zorn des Chefs der Vystiden. Der Haemate Fratschko reagierte mit keinem Wort auf den Anpfiff seines Herrn. Er kannte von Dhraus rabiate Art und wußte, daß jeder Widerspruch und jede Ausrede die Sache nur noch schlimmer machen würden. Aksel von Dhrau schlug dem Haematen die Faust in den Magen.
Fratschko taumelte schmerzverkrümmt nach rückwärts. »Das war nur eine Warnung«, drohte von Dhrau. »Wenn so etwas noch einmal vorkommt, verarbeite ich dich zu Stahlspänen.« Fratschko nickte brav. »Steh nicht dumm herum!« Der Vystidenchef ging zu dem Gleiter zurück. »Zeige den dämlichen Ferraten, wer hier der Herr ist.« »Los!« fauchte nun auch Zlava. Sie trat Fratschko mit voller Wucht in das Gesäß. Dann folgte sie hämisch grinsend ihrem Chef. Als der Gleiter wieder anrückte, sagte Barvos Dom ruhig: »Du solltest dich abreagieren, Chef. Ich werde etwas Musik machen.« Ihn traf ein zorniger Blick aus dem hochroten Gesicht von Dhraus. Dom tat so, als ob er das nicht sähe. Mit einem Tastendruck schaltete er eine Tonspule ein. Eine seltsame Musik erklang. Sie bestand abwechselnd aus einem rhythmischen Teil und einer Passage, in der musikalisch alles drunter und drüber ging. »Du hast recht, Alter.« Von Dhrau knirschte mit den Zähnen. »Ich muß mich abreagieren. Aber nicht mit deiner blöden Dudelei.« Er trat mit der Stiefelspitze gegen den Recorder. Ein Kurzschlußfunken sprühte auf, dann war Ruhe. Der Vystidenchef beschleunigte wieder auf volle Fahrt. Mit riskanten Manövern kurvte das kleine Gefährt durch die Gänge und Korridore der SZ‐1. Immer wieder sprangen Solaner erschrocken zur Seite. »Besorgt mir ein Monster oder einen von den überflüssigen Extras.« Aksel von Dhrau zog seine schwere Energiewaffe und wirbelte sie spielerisch durch die Luft. »Wir wollen eine kleine Jagd veranstalten. Dabei können wir das Schiff gleichzeitig von dem Ungeziefer befreien.« Barvos Dom zog unmerklich die Stirn kraus. Natürlich konnte er seinem Chef schlecht widersprechen. Die Monsterjagden gehörten zu seinen Lieblingstätigkeiten. Dabei konnte er so richtig seinem Ärger und seinem Unwillen freien Lauf lassen. Dom verschwieg,
daß er diese unmenschlichen Jagden verachtete. In jungen Jahren hatte sich der heute ruhig und besonnene Mann gelegentlich auch an diesen Hetzjagden beteiligt. Inzwischen hatte sich seine Einstellung zu solchen Brutalitäten weitgehend gewandelt. Die Kämpfe waren stets so, daß die Vystiden gar nicht unterliegen konnten. Sie besaßen die besten Waffen und waren allesamt geschulte Kämpfer. Die Monster, denen das Jagdziel galt, waren dagegen in den meisten Fällen hilflose Geschöpfe. Viele Vystiden machten sich einen besonderen Spaß daraus, ihre Opfer lange zappeln zu lassen und sie in die Enge zu treiben, bevor sie ihnen den Gnadenschuß gaben. Barvos Dom verabscheute insgeheim solche Praktiken. Er wußte aber, daß er sofort von seinem Posten entfernt werden würde, wenn er diese Meinung offiziell laut werden lassen würde. Zlava klatschte begeistert in die Hände, als sie von Dhraus Vorschlag hörte. »Endlich ist etwas los. Das gefällt mir.« »Als ob in deinem Leben nicht schon genug los wäre.« Der Vystidenchef grinste seine Stellvertreterin hämisch an. »Nur keinen Neid, du … du …« »Hüte deine Zunge, Zlava. Ich könnte sie dir sonst abschneiden.« Untereinander wahrten die drei Vystiden an der Spitze ihrer Kaste Ruhe und Disziplin. Nur wenn sie allein waren, brachen die Aggressionen oberflächlich durch. Aksel von Dhrau liebte rauhe Töne. Wenn einer seiner Stellvertreter zu frech wurde, griff er sehr schnell ein. Zlava tat, als habe sie die Zurechtweisung nicht gehört. Sie stichelte allerdings auch nicht mehr weiter, sondern lenkte das Gespräch auf Aksels Anliegen. »Wo soll denn die Jagd stattfinden, du Obervystide?« Sie gab ihren Worten einen leutseligen Beiklang. »Statt zu fragen, solltest du einen vernünftigen Vorschlag machen.« »In der Nähe der Wohntrakts der Extras treiben sich immer ein
paar Parias herum. Wie wäre es damit?« Aksel von Dhrau verzog verächtlich den Mund. »Ich will keinen harmlosen Trottel, sondern eine richtige Bestie. Und die mußt du aus ihren Verstecken treiben.« Zlava wußte da nicht weiter. »Die finden wir am ehesten in den Randzonen der Hangars«, meinte Barvos Dom. »Erinnerst du dich an den Fleischberg in der SZ‐2 aus dem vorigen Jahr? Der hatte dir ganz schön zu schaffen gemacht.« »Das war vor zwei Jahren, Barvos«, antwortete der Vystidenchef verächtlich. »Dein Gedächtnis läßt nach.« Dom war sich sicher, daß dies nicht stimmte, aber er schwieg. Von Dhrau lenkte den Gleiter in Richtung der Außenzonen der SZ‐1. Mehrmals hielt er an und fragte Solaner, ob sie eins der Monster in der Nähe gesehen hatten. Mehr als ein Kopfschütteln und ängstliche Blicke erhielt er nicht zur Antwort. Schließlich kehrte er um und flog den Wohntrakt der Extras an. Seine beiden Begleiter schwiegen, denn die geschwollenen Stirnadern des Vystidenchefs zeigten an, daß dieser schlechter Laune war. »Man müßte die Jagd auf Monster für alle Solaner verbieten«, knurrte Aksel von Dhrau. »Das ist nur eine Sache für geschulte Vystiden.« Barvos Dom machte sich seine eigenen Gedanken zu dieser Bemerkung. Tatsächlich wurde die Jagd auf die Ausgestoßenen von der Schiffsführung geduldet. Offiziell wurde dies zwar nicht gesagt, aber es wurde auch nichts dagegen unternommen. Es gab kein Jagdverbot. Die heimliche Billigung der SOLAG hatte zum Ziel, den in das Schiff eingepferchten Menschen ein natürliches Ventil zur Abreaktion ihrer Aggressionen zu geben. Die Wahrheit war jedoch, daß sich normale Solaner fast gar nicht mit den Monstern befaßten. Jeder trachtete danach, selbst so gut wie möglich über die Runden zu kommen. Viele Solaner halfen sogar
den Mißgestalten aus Mitleid. Anders war es gar nicht zu erklären, daß sie sich in großer Zahl auf dem Schiff aufhielten. Die ganze Zahl der körperlich mutierten Solaner war nicht bekannt. Es gab auch nur Gerüchte um Schätzwerte, aber keine konkreten Angaben. Barvos Dom benutzte eine andere Methode, um sein seelisches Gleichgewicht zu stabilisieren. Er liebte Musik in jeder Form. Selbst bei den exotischsten Klängen fand er seine innere Ruhe. Als sich der Gleiter der Region näherte, in der die Extras lebten, lachte Aksel von Dhrau auf. Seine Hand zeigte nach vorn. Dort waren zwei unförmige Gestalten sichtbar. »Das sind keine Extras.« Er pfiff durch die Zähne. »Das sind Fehlentwicklungen.« Die beiden Parias waren durchaus menschenähnlich. Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß es sich um Zwillinge handelte, denn sie glichen sich bis in die kleinste Einzelheit. Ihr Körper war nur mit einem sackähnlichen Gewand bedeckt. Auf dem Rumpf saß ein Kopf, der so groß war wie der restliche Leib. Die völlig verkümmerten Beine waren unter dem einzigen Kleidungsstück kaum zu erkennen. Die beiden mißgestalten Solaner hockten auf kleinen Brettern, unter denen vier Rollen angebracht waren. Die langen Arme ruhten daneben auf dem Stahlboden des Korridors. Noch während der Gleiter heranbrauste, feuerte der Vystidenchef einen schwachen Energieschuß ab, um die beiden Monster aufzuschrecken. Er wollte, daß sie flohen, so daß sich eine richtige Jagd ergab. Am Ende würde er sowieso der Sieger sein. Der Schuß zischte wirkungslos über die Köpfe der beiden Mißgestalten. Die blickten sich unruhig um, ergriffen zu von Dhraus Ärger aber nicht die Flucht. »Das sind harmlose Idioten«, vermutete Barvos Dom. »Blödsinn«, knurrte von Dhrau. »Alle Monster sind bösartig.«
Mit einem gezielten Schuß trennte er die Rollen des einen Schlittens ab. Der Paria schrie wütend auf und fiel zur Seite. Ohne das kleine Gefährt war er fast bewegungsunfähig. »Ihr verfluchten Troiliten!« schrie er mit einer hohen Fistelstimme. Der andere ergriff die Flucht. Mit beiden Händen schob er seinen Schlitten an und verschwand in dem Gang, der zu den Wohnkabinen der Extras führte. Diese Außerirdischen, die bei gelegentlichen Besuchen auf fremden Planeten freiwillig oder unfreiwillig an Bord der SOL gekommen waren, stellten eine schwer einschätzbare und exotische Gruppe dar. Kaum eins dieser Wesen glich einem anderen. Es waren intelligente und animalische Fremde unter den Extras. »Hinterher!« brüllte Zlava. Sie zog ihre Waffe und feuerte einen Schuß ab, der dicht hinter dem fliehenden Paria den Boden aufglühen ließ. Aksel beschleunigte seinen Gleiter. Um den hilflosen Paria, der von seinem Brett gestürzt war, kümmerte er sich nicht. Der war kein lohnendes Jagdobjekt. Der Gleiter brauste haarscharf über die wimmernde Gestalt, die ängstlich ihren riesigen Schädel einzog. Der andere hatte mittlerweile schon fast zwanzig Meter Vorsprung. In dem Korridor der Extras wimmelte es vor Fremdlebewesen. Das Geschrei des fliehenden Monsters rief noch weitere aus den Kabinen. Der Vystidenchef sah sich gezwungen, seinen Gleiter zu verlangsamen. Anderenfalls wäre es zu einem Blutbad gekommen, das nicht in seinem Sinn war. Er schaltete den Lautsprecher ein. »Macht sofort den Weg frei, Extras«, brüllte er in das Mikrofon. »Oder es passiert ein Unglück.« Die Fremden drängten sich entgegen der Anweisung zu einem dichten Knäuel zusammen. Aksel sah die verrücktesten Gestalten, die einem kosmischen Zoo entsprungen zu sein schienen.
Er mußte den Gleiter schließlich anhalten und seine Jagd damit beenden. »Das ist Meuterei!« schrie er und fuchtelte mit seiner Waffe herum. »Ich werde dafür sorgen, daß ihr alle auf einem Eisplaneten ausgesetzt werdet.« »Das kann uns nicht erschrecken.« Ein Extra, der wie ein wandelnder Baumstumpf aussah, dröhnte mit tiefer Baßstimme. »Bei SENECA«, kreischte Zlava. »Was wollt ihr? Macht Platz oder wir werden euch in die Hölle schicken.« »Argan soll für uns sprechen«, tönte es vielstimmig aus der Menge. Aksel von Dhrau blickte fragend auf Barvos Dom. Der nickte kurz. »Du solltest die Extras anhören, bevor sie völlig durchdrehen, Chef«, sagte der Vertreter des Vystidenchefs. »Ihr sprecht mit dem Führer der Brüder der zweiten Wertigkeit.« Aksel von Dhrau sprach ruhig in das Mikrofon. »Schickt diesen Argan zu mir. Er soll euer Anliegen vortragen.« Argan U, der Puschyde vom Planeten Cur‐Cur U, drängte sich nach vorn. Er sah aus wie ein kleiner geschuppter Bär. Die hornigen Hautlappen seines Fells waren orangefarben. Er sprach gebrochen Interkosmo und blickte den Vystiden dabei aus großen, treuherzigen Augen an. »Du bist Aksel von Dhrau«, begann er holprig. »Wir fürchten dich, Bruder der zweiten Wertigkeit. Aber es gibt etwas, was wir noch mehr fürchten. Die meisten von uns sind nicht freiwillig hier. Sie ertragen ihr Schicksal, obwohl sie den festen Boden eines Planeten gewohnt sind. Aber auch die, die freiwillig in das große Schiff der Solaner gegangen sind, fürchten sich. Es stimmt nämlich nicht, daß man hier sicher und unbeschwert leben kann. Die große Gefahr bedroht uns alle, auch euch Vystiden. Sie kommt von draußen, und sie wird die SOL verschlingen. Wir werden alle untergehen. Deshalb wagen wir es, uns dir in den Weg zu stellen. Wir haben gespürt, wie das Schiff ächzt. Schon bald wird es zerbrechen, und wir alle
werden den Tod finden.« Der Vystidenchef beugte sich aus seinem Gleiter. Mit spielerischer Leichtigkeit hob er mit einer Hand den kleinen Argan in die Höhe. »Du Würmling. Wer hat dir diesen Unsinn erzählt?« Neugierig betrachtete er das Gerät, das der Puschyde an einem Riemen über der Schulter hängen hatte. Aksel tippte mit dem Finger auf einen großen Kolben, der aus dem Gerät ragte. »Bitte laß meine Zuckerwasser‐Destillieranlage in Ruhe«, bat Argan. Er zitterte am ganzen Leib. »Beantworte meine Frage.« »Da gibt es nichts zu beantworten. Alle erzählen es, auch Buhrlos und Ferraten. Außerdem haben wir die Erschütterungen selbst gespürt.« Der Vystide setzte den Puschyden wieder ab. Dann wandte er sich an alle Extras. »Es handelt sich um eine vorübergehende Störung. Der High Sideryt und die SOLAG kontrollieren die Lage. Sie werden alle Schwierigkeiten beseitigen. So ist es und nicht anders.« Er wartete einen Augenblick, aber er konnte die Mienen der Extras nicht deuten. »Jetzt macht den Weg frei!« Langsam wichen die Extras zur Seite. Die Vystiden konnten ihre Fahrt unbehindert fortsetzen. Das Monster war längst in irgendeinem Winkel verschwunden. »Das glaubst du doch selbst nicht, Chef«, sagte Barvos Dom. »Was?« Aksels Augen bildeten schmale Schlitze. »Daß der High Sideryt die Lage im Griff hat.« »Halt den Mund, Barvos. Kümmere dich lieber um ein lohnendes Jagdobjekt.« 2.
Paß auf, du Narr, ertönte Atlans Extrasinn. Deine Augen sehen etwas, aber dein Gehirn nimmt es nicht wahr. Du bist in GeJahr. Der Arkonide blickte sich ruckartig um. Neben ihm saß die Terra‐ Ideali‐stin Valara Brackfaust auf einer Blechkiste. Sie war seine Verbündete und schied damit als Gefahrenquelle aus. Argan U, der kleine bärenhafte Puschyde, war schon längst wieder aus dem Abstellraum verschwunden. Sonst war da nichts, wenn Atlan von einigen Kisten und teilweise verrotteten Gegenständen absah. Erst als er einen schwachen Luftzug in unmittelbarer Nähe spürte, wurde er hellwach. Auch war da ein leises, schlurfendes Geräusch. Er kniff die Augen zusammen und erkannte die riesige Gestalt unmittelbar vor sich. Sie war in allen Einzelheiten nach Form und Farbe genau dem Hintergrund angepaßt, so daß sie praktisch unsichtbar war. Durch eine besondere Schattierung der Oberfläche wurden sogar die unterschiedlichen Entfernungen zwischen Atlan und dem Monster einerseits und Atlan und den angenommenen Hintergrundfarben völlig ausgeglichen. »Vorsicht!« zischte der Arkonide der Frau zu. Dann stieß er sich mit beiden Händen von der Blechkiste ab. Mit den Füßen voran schoß er auf das unheimliche Wesen zu. Seine Stiefel trafen es dorthin, wo etwa der Magen sitzen mußte. Die beiden mächtigen Flossenarme klatschten über Atlan in der Luft zusammen. Der Aufprall schleuderte den Paria mehrere Meter zurück. Sein zwei Meter großer Körper stürzte zu Boden. Durch den schnellen Ablauf verlor er die Fähigkeit, sich wie ein Chamäleon seiner Umgebung anzupassen. Atlan war sofort wieder auf den Beinen. Er erwartete einen erneuten Angriff des Monsters. Valara Brackfaust stand einen halben Schritt hinter ihm. Auch sie war aufgesprungen. Der Ausgestoßene richtete sich langsam zu seiner vollen Größe auf. Atlan blickte voller Erstaunen auf die fremdartige Gestalt, die eine exotische Schönheit und faszinierende Einmaligkeit darstellte.
»Edo ist Edo«, sagte der Ausgestoßene mit kindlicher Stimme. Seine beiden Arme fuhren wirr durch die Luft. Sie glichen dicken Ruderblättern und endete in Hautlappen, die an Flossen erinnerten. Der ganze Körper war jetzt, wo Edo auf seine Chamäleonfähigkeit verzichtete, in seiner richtigen Form und Farbe sichtbar. Zweifellos war Edo menschlichen Ursprungs. Darüber konnten auch die silbern und schwarz glänzenden Schuppen nicht hinwegtäuschen. Kleine, elfenbeinfarbene Punkte auf den Schuppen überzogen den Körper wie ein magisches Licht. Die schwach leuchtenden Punkte wechselten ständig ihre Position. Sie wirkten wie ein irreales Glitzern. Da dieses Leuchten immer nur in eine bestimmte Richtung ging, entstand der Eindruck einer fehlenden räumlichen Tiefe. Die Leuchtpunkte schienen in und vor und hinter Edo aufzuglimmen. Nur das Gesicht war rein menschlich. Dafür fehlten aber auf dem Kopf jegliche Haare. Eine Schicht aus feinen Schuppen bedeckte die Schädeldecke. Die Gesichtszüge wirkten trotz der Massigkeit des Kopfes infantil. Ungeschickt schwankte das Monster auf seinen beiden kurzen Stummelfüßen. »Paß auf, Atlan«, sagte Valara erregt. »Es versucht sich wieder unsichtbar zu machen.« »Es macht sich nicht unsichtbar.« Der Arkonide schüttelte den Kopf. »Es paßt sich nur in einer geradezu fantastischen Weise seiner Umgebung und dem Hintergrund an. Geh zur Seite. Es kann uns wohl kaum aus jedem Blickwinkel ein falsches Bild vorspielen.« Valara kam der Aufforderung sofort nach. Edo öffnete seinen großen Mund. Eine Doppelreihe von überlangen spitzen Zähnen kam zum Vorschein. Gleichzeitig verschwammen seine Umrisse. Atlan blickte sich nach einer Waffe um. Hinter einer Blechkiste sah er ein kurzes prahtseil, an dessen Ende eine Metallplatte befestigt war. Er sprang zu der Stelle und faßte nach dem Seil. Es war etwa drei Meter lang. Er schwang die Platte in einem Kreisbogen über seinem Kopf.
Edos Umrisse waren jetzt kaum noch zu erkennen, aber Valara rief: »Ich sehe ihn deutlich, zumindest seine hintere Hälfte. Er kommt auf dich zu.« Der Arkonide schwang die Metallplatte etwas tiefer. Er hoffte so das Monster zu treffen. Sehen konnte er es kaum noch, auch wenn er seine Sinne auf das Äußerste anstrengte. Offensichtlich konzentrierte sich Edo ganz auf ihn. »Das Monster holt zum Sprung aus«, rief die Terra‐Idealistin. Atlan ging in die Knie. Damit zog er die kreisende Platte ebenfalls nach unten. Edo glitt wie ein Schemen auf ihn zu. Das Stahlseil traf ihn am Oberkörper. Atlan spürte den Aufprall mehr, als er ihn mit den Augen verfolgen konnte. Er ließ das Seil los, das sich nun in rasender Geschwindigkeit um den Oberkörper Edos wickelte. Durch den unvermuteten Gegenangriff verlor dieser wieder vorübergehend seine Chamäleonfähigkeit. Atlan sah, daß er den Paria gut getroffen hatte. Beide Arme waren durch das Drahtseil an den Körper gepreßt worden. Bevor sich Edo besinnen konnte, sprang der Arkonide auf ihn zu. Der Aufprall riß ihn erneut zu Boden. Atlans Hände suchten das freie Ende und die Metallplatte des Drahtseils. Mit einem schnellen Griff zog er das Ende um die Metallplatte und zog das Seil straff. Das Monster war gefesselt. Ohne die freien Arme konnte es sich nur auf dem Boden wälzen, aber nicht mehr auf seine kurzen Beine kommen. Atlan rollte den Körper gegen eine Seitenwand und stellte dann eine schwere Kiste davor. Jetzt war Edo auch noch eingeklemmt. Valara kam schnell heran. Ihre bewundernden Blicke galten Atlan, der es ohne wesentliche Hilfsmittel fertiggebracht hatte, das Monster unschädlich zu machen. »Das ist ein Ausgestoßener«, erklärte sie. »Seine Eltern waren wahrscheinlich gengeschädigte Ferraten.« »Mama, Papa«, jammerte Edo. »Nicht ausgestoßen.«
»Man kann ja mit ihm reden«, stellte Atlan erstaunt fest. »Die meisten Monster lernen die Sprache«, erklärte Valara. »Sie sind arme Geschöpfe, Fehlprodukte eines ständigen Lebens in der SOL. Die Schutzmaßnahmen gegen schädigende Strahlung sind nicht mehr in Ordnung. Sie gelten als Jagdobjekt und Freiwild.« »Das ist grausam.« Atlan war erschüttert. Er hatte zwar in der Zeit seines noch kurzen Aufenthalts auf dem Schiff von den Monstern gehört, aber die Einzelheiten ihres Daseins waren ihm unbekannt. »Dieses Wesen besitzt eine fantastische Fähigkeit, Valara. Es kann seine Körperoberfläche noch besser farblich verwandeln als ein Chamäleon.« »Was ist ein Chamäleon?« wollte die Terra‐Idealistin wissen. »Ein kleines Tier, das auf der Erde lebt. Es handelt sich um eine Eidechsenart, die auf Bäumen lebt. Diese Tiere besitzen die Fähigkeit, sich farblich ihrer Umgebung so anzupassen, daß sie kaum erkennbar sind. Es handelt sich um eine natürliche Tarnfähigkeit zum Schutz gegen Feinde.« »Ich kann mir gut vorstellen, daß es auf Terra so etwas gibt.« Valaras Augen begannen zu leuchten, wenn Atlan von dem Heimatplaneten der Menschen sprach, zu dem sie eine unerklärliche Sehnsucht erfüllte. »Auf der SOL gibt es so etwas nicht. Nur Chaos, Ärger und Gefahren.« »So ganz stimmt das nicht.« Atlan deutete auf Edo. »Sieh dir diesen Chamäleonmenschen an. Durch eine Mutation ist bei ihm diese Fähigkeit zum Vorschein gekommen.« Er trat zu dem Ausgestoßenen. »Du heißt Edo, hast du gesagt. Kannst du mich verstehen? Warum hast du uns angegriffen?« Edo starrte Atlan aus seinen übergroßen Augen an. »Hunger«, sagte er dann leise. »Du wolltest uns fressen?« »Edo frißt alles, außer Nicht‐Fressen‐Können.« Atlan schüttelte entsetzt den Kopf. »Sorgt denn jemand für diese
armen Kreaturen?« fragte er Valara. »Kaum. Natürlich gibt es ein paar freiwillige Helfer, aber die sind selten. Die meisten Solaner haben mit ihren eigenen Problemen zu tun. Den Ausgestoßenen bleibt also gar nichts anderes übrig, als sich selbst zu versorgen. Wen will es da wundern, wenn es zu den tollsten Dingen kommt.« Ein Geräusch an dem einzigen Eingang zu dem Abstellraum ließ sie herumfahren. Es war Argan U, der die versprochene Mahlzeit brachte. Neugierig trat der kleine Puschyde näher. Unter einem seiner Arme hielt er ein großes Paket. Der andere Arm lag über seinem Destilliergerät. »Oh«, staunte er einfältig, als sein Blick auf Edo fiel. »Ein Fischmensch. Wo kommt der her?« »Er war hier in diesem Raum, Argan«, sagte die Terra‐Idealistin. »Er wollte uns überfallen und fressen. Da hast du uns ein schönes Versteck ausgesucht.« Argan sank sichtlich in sich zusammen. Seine traurigen Augen blickten noch betrübter. »Das tut mir leid, Terranie«, flüsterte er betreten. »Ich wußte nicht, daß dieses Ungeheuer hier war.« Der Puschyde war es gewohnt, daß er mit seiner Hilfsbereitschaft oft Ärger erzeugte. Daß er sich jetzt Valaras Zorn zugezogen hatte, machte den kleinen Kerl besonders unglücklich. »Du kannst nichts dafür«, tröstete ihn die Frau. »Ich weiß, daß du es nur gut gemeint hast, aber merke dir. man kann nie vorsichtig genug sein.« Argan U nickte schnell. Dann reichte er das mitgebrachte Paket der Frau. »Das reicht bestimmt für drei Mahlzeiten«, behauptete er. Während Atlan noch nachdenklich den eingeklemmten und gefesselten Edo anstarrte, packte Valara das Paket aus. »Woher hat du das alles, Argan? Das ist ja mehr als eine
Luxusmahlzeit.« »Von den anderen Extras«, erklärte der Puschyde bereitwillig. »Dafür mußte ich zu den Vystiden sprechen.« »Den Vystiden?« Atlan hatte von den Brüdern der zweiten Wertigkeit noch wenig gehört. »Sie waren bei euch? Was wollten sie?« Argan war froh, daß er Atlan etwas berichten konnte. »Es war der Chef der Vystiden. Er heißt Aksel von Dhrau. Und dieses zottelige Weib war bei ihm. Sie wollten Polpolzwei jagen.« »Wer ist Polpolzwei?« Argan zeigte auf Edo. »So etwas Ähnliches wie der. Nur viel harmloser. Terranie hat ihn und Polpoleins kennengelernt. Die beiden hocken meistens am Eingang zu unserem Wohntrakt, wenn man vom Zentralschacht aus kommt. Sie sind harmlos und dumm, aber die Vystiden stört das nicht. Sie jagen alle Monster, auch wenn sie gar nichts anstellen.« Atlan nickte. Der Puschyde, der die Sprache der Solaner nur unvollkommen beherrschte, fuhr fort! »Bei uns Extras herrscht große Unruhe. Die Gerüchte von dem Ungeheuer, das die SOL verschlingen wird, halten sich hartnäckig. Das heftige Rütteln vorhin hat alle aufgeschreckt. Wir haben Angst. Die anderen Extras haben mich gebeten, dem Vystidenchef unsere Sorgen vorzutragen. Dafür bekam ich die Sonderrationen.« »Und was hat dieser Aksel von Dhrau geantwortet?« wollte Atlan wissen. »Er sagte, alles sei harmlos. Der High Sideryt wird schon für Ordnung sorgen.« »Wenn er sich da nur nicht irrt«, meinte Atlan leise. Valara hatte die mitgebrachten Speisen inzwischen ausgebreitet. Sie forderte Atlan auf zuzulangen. »Edo hat auch Hunger«, meldete sich der Paria mitleidig. Atlan hielt einen frischen Laib Brot in die Höhe. Edo konnte ihn deutlich sehen.
»Warum sollte ich dir etwas geben, wenn du uns überfällst und fressen willst?« In Edos Augen bildeten sich Tränen. »Edo will nicht bös sein. Edo hat Hunger.« Die Schuppenhaut des Chamäleonmenschen wechselte schnell hintereinander mehrmals die Farbe. Schließlich färbte sie sich aschgrau. Atlan wertete dieses Verhalten als Unsicherheit und Angst. Er wagte einen Versuch. »Ich könnte dich freilassen und dir zu essen geben, Edo«, lockte er. »Aber du müßtest uns garantieren, daß du unser Freund bist.« Die Augen des Ausgestoßenen öffneten sich weit. »Edo weiß nicht, was garantieren ist«, flüsterte er dann wehleidig. »Du sollst uns versprechen, daß du uns nicht mehr angreifst.« »Edo verspricht das. Ganz bestimmt.« Valara Brackfaust blickte Atlan unsicher an. Sie war offensichtlich mit dem Plan des Arkoniden nicht so ganz einverstanden, wagte aber nicht zu widersprechen. »Er weiß, daß ich stärker bin«, beruhigte Atlan die Frau. »Ich hätte ihn töten können. Also wird er gehorchen.« »Edo wird gehorchen«, murmelte der Chamäleonmensch. Atlan beugte sich über ihn. Das Brot klemmte er sich unter einen Arm. Rasch löste er das Drahtseil von Edos Körper. Dann schob er die Kiste zur Seite. »Steh auf, Edo. Du bist jetzt unser Freund. Wir werden dafür sorgen, daß du immer zu essen hast.« Argan U trat ängstlich ein paar Schritte zurück. Seine beiden Arme umklammerten sein Destilliergerät. Edo kam mühsam auf die Beine. Er stand dicht vor Atlan, den er noch deutlich an Körperlänge überragte. Das Brot klemmte immer noch unter dem Arm des Arkoniden, aber der Mutierte wagte es nicht, danach zu greifen. »Du bist stärker als Papa«, sagte Edo. Atlan sah ihn prüfend an.
Jede Faser seines Körpers war gespannt, um einem eventuellen Angriff begegnen zu können. »Edo hat Hunger.« »Du bist jetzt unser Freund.« Atlan streckte Edo das Brot hin. »Ich heiße Atlan, das ist Valara, und der Kleine heißt Argan.« Der Chamäleonmensch griff langsam nach dem Brotlaib. Er schien Atlan noch ebensowenig zu trauen wie dieser ihm. »Edo hat auch einmal einen Freund gehabt.« Bedächtig biß er in das Brot. Er kaute ganz langsam, wobei seine Augen immer wieder über die beiden Menschen und den Puschyden hinwegflogen. »Edos Freund ist aber schon lange tot.« Er hob einen Flossenarm und bildete mit den verkümmerten Fingern den Lauf einer Waffe nach. »Zisch. Peng.« »Du meinst, er wurde erschossen?« fragte Valara. Allmählich gewann sie Vertrauen zu dem Paria. »Ja«, sagte Edo. Wieder bildeten sich Tränen in seinen Augen. Er hockte sich auf die Kiste und aß langsam das Brot. Valara reichte ihm zu trinken. »Er steht auf der Stufe eines sechs‐ oder siebenjährigen Kindes«, vermutete Atlan. Er sprach leise zu Valara. »Vielleicht kann er uns behilflich sein.« Die Terra‐Idealistin wußte nicht, was sie erwidern sollte, aber Edo sagte mit dem Brustton der Überzeugung: »Edo ist ein Kind. Edo war immer brav, bis er sein Bett aufgegessen hat. Da wurden Mama und Papa bös. Edo ist weggelaufen.« Atlan konnte sich ein ungefähres Bild von dem Schicksal dieses Ausgestoßenen machen. Wenn er daran dachte, daß es noch mehr mutierte Solaner dieser Art auf dem Schiff gab, und daß sich offensichtlich niemand um sie kümmerte, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Es war erschreckend zu sehen, was aus den Träumen der Solaner geworden war. Wenn die Männer und Frauen, die vor über 200 Jahren die Unabhängigkeit der SOL verlangt hatten, das gewußt
hätten, wäre vieles anders gekommen. Da war der kluge, wenn auch eigenwillige Joscan Hellmut gewesen. Und Gavro Yaal oder der feinfühlige Mutant Bjo Breiskoll. Sie alle mußten schon lange tot sein, aber sie waren es gewesen, die letztlich die Weichen für die weitere Entwicklung der SOL gestellt hatten. Niemand hatte diesen Weg vorhersehen können, nicht einmal SENECA, die Bordbiopositronik. Atlan dachte auch an die Kosmokraten, die ihm einen bestimmten Auftrag gegeben hatten, in dem die SOL eine entscheidende Rolle spielen sollte. War es möglich, daß selbst diese mächtigen Wesen jenseits der Materiequelle nicht vorhergesehen hatten, was mit diesem Schiff und seiner Besatzung geschehen mußte? Es gab keine Antwort auf diese Fragen. Unklar war auch, was aus Douc Langur geworden war, der mit den Solanern auf dem Schiff geblieben war. Nach allem, was Atlan über dieses seltsame Wesen wußte, hätte Langur die 205 Jahre überleben können. Bis jetzt war er jedoch auf keinen Hinweis gestoßen, der in Verbindung mit dem Forscher der Kaiserin von Therm stand. Während Argan genüßlich an einem dünnen Schlauch nuckelte, der aus seinem Zuckerwassergerät ragte, aßen Atlan, Valara und Edo. Der Mutierte fragte schüchtern, ob er noch etwas bekommen könnte, als er das Brot vertilgt hatte. Da genügend da war, reichte ihm Valara einige Früchte. »Du kannst bei uns bleiben, Edo«, sagte Atlan, als sie ihr Mahl beendet hatten. »Du kannst aber auch gehen, wenn du willst. Wir werden dich zu nichts zwingen.« Er sah dem Chamäleonmenschen deutlich an, daß dieser verwirrt war. Wahrscheinlich war es noch nie geschehen, daß jemand ihn so entgegenkommend behandelt hatte. »Wenn Edo geht«, sagte der Ausgestoßene, »dann wird Atlan ihn nie mehr finden. Edo kennt alle Verstecke.« Der Arkonide hob die Augenbrauen. »Edo, auch wir müssen uns
verstecken. Wir werden auch gejagt. Wenn du bei uns bleibst, können wir uns gegenseitig helfen. Was hältst du davon?« »Gut«, antwortete Edo. »Atlan und Valara sind wie Papa und Mama. Edo bleibt bei euch. Edo kann auch gut kämpfen. Und wenn Edo will, sieht ihn keiner. Schaut her!« Im Bruchteil einer Sekunde paßte er sich seiner Umgebung an. »Laß das, Edo«, sagte Atlan streng. »Du weißt, daß ich dich auch jetzt noch sehe.« Tatsächlich konnte der Arkonide den Chamäleonmenschen erkennen, wenn er ein Auge schloß und seinen Kopf leicht zur Seite neigte. Zwar sah er nur einen vagen Umriß, aber der genügte. Edo tauchte wieder auf. Er lachte leise. »Edo ist euer Freund.« »Gut, Edo. Wir sind auch deine Freunde. Wir helfen uns gegenseitig.« Atlan reichte dem Mutierten die Hand. Erst blickte Edo ihn verwundert an, dann griff er dananch. »Ich muß wieder weg«, meldete sich Argan. »Bei uns herrscht Unruhe. Wenn ich zu lange weg bin, könnte das Verdacht erregen.« Sie verabschiedeten sich von dem Puschyden. Der Extra versprach, so bald wie möglich wiederzukommen und für Nahrung zu sorgen. Als sie allein waren, erklärte Atlan seinen Plan. »Valara, Edo. Ich will die Zustände auf diesem Schiff ändern. Die Jagden auf die Ausgestoßenen müssen beendet werden. Ihr könnt mir dabei helfen. Noch weiß ich nicht, welches der richtige Weg ist, aber ich werde es herausfinden. Meine Hoffnungen setzte ich auf SENECA. Die Positronik wird mich erkennen. Nur mit SENECAs Hilfe kann ich die Mißstände schnell ändern.« »SENECA befindet sich im Mittelteil der SOL«, sinnierte Valara. »Für dich und für mich ist ein Verlassen der SZ‐1 unmöglich. Die Wachen an den wenigen Passagen sind unüberwindlich. Alles ist automatisiert. Da gibt es kein Durchkommen.« »Edo war schon dort«, sagte der Chamäleonmensch. »Es war ganz
einfach. Es wurde zwar auf mich geschossen, aber niemand sah Edo wirklich.« »Das nützt uns wenig«, meinte Atlan. »Auch könntest du mit deiner natürlichen Tarnung keinen Begleiter gebrauchen. Das wäre zu gefährlich. Es ist gar nicht notwendig, in den Mittelteil zu gehen. Es gibt überall Schaltzentren und Sprechstellen, die mit SENECA unmittelbar verbunden sind. Es würde mir schon genügen, wenn ich unbehelligt an eine solche Stelle käme.« »Edo weiß nicht, was du meinst, Atlan«, sagte der Paria. Atlan erklärte mit einfachen Worten das Aussehen der Kontaktstellen. Auch versuchte er Edo und Valara zu erklären, wo sich solche Punkte in der SZ‐1 befanden oder befinden mußten. Er mußte ja immer damit rechnen, daß in den verflossenen zwei Jahrhunderten vieles geändert worden war. Valara Brackfaust kannte einige der Schaltzentren. Sie behauptet aber, daß sie alle sehr scharf bewacht wurden. »Dort triffst du nur Vystiden und Kampfroboter«, meinte sie. Von anderen Sprechstellen, an die sich Atlan genau erinnerte, behauptete sie, daß es sie nicht mehr gäbe. Im übrigen hätten sich die Terra‐Ideali‐sten nur wenig um das Problem SENECA gekümmert, da dieser seine Fehlfunktion oft genug bewiesen habe. »Es muß einen logischen Grund für SENECAs Verhalten geben«, vermutete Atlan. »Ich darf die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Positronik ihre Dienste nur verweigert, weil sie mit dem bestehenden System nicht einverstanden ist. Wenn sie mich als autorisierte Person und Träger eines Zellaktivators erkennt, kann sich das schnell ändern.« Edo stützte seine beiden Flossenhände auf die Kiste. »Edo hat einmal eine Stelle gesehen, die nicht bewacht wurde. Edo weiß aber nicht mehr, wo das war.« »Würdest du es wiederfinden?« fragte Atlan. »Edo wird es versuchen.« Er stand auf und wollte gehen. »Warte, Edo. Wo treffen wir dich wieder?«
»Hier oder woanders. Edo findet euch immer. Ihr seid doch Edos Freunde.« Der Chamäleonmensch winkte mit seiner lappigen Hand und eilte zu dem Ausgang. Atlan ließ ihn gehen, obwohl er sich über den Erfolg Edos kein Bild machen konnte. »Unter normalen Bedingungen wäre Edo ein wertvoller Helfer«, sagte Atlan bedauernd. »Aber hier in diesem Tollhaus ist er ein Gejagter.« »Ich habe Angst vor ihm«, bekannte Valara freimütig. »Er ist ein Kind, und so muß man ihn behandeln. Er ist sich seiner Kräfte und Fähigkeiten kaum bewußt. Er benutzt sie für nichts anderes als zum Überleben. Es ist ein Jammer.« »Glaubst du, daß er eine unbewachte Sprechstelle mit SENECA finden wird?« »Ich weiß es nicht, Valara. Ich muß in dieser konfusen Situation alles versuchen. SENECA ist ein Versuch. Edo auch. Wir wurden unterbrochen, als er uns zu überfallen versuchte. Ich hatte dich gefragt, was du über die geheimnisvolle Schläfer weißt, die du einmal erwähnt hast.« Die Terra‐Idealistin verzog ihr Gesicht. »Viel kann ich dir dazu nicht sagen. Eigentlich handelt es sich nur um eins von vielen Gerüchten, von denen ich im Lauf der Jahre gehört habe. Vielleicht sind die Schläfer etwas Ähnliches wie die Troiliten, über die es auch nur Gerüchte gibt. Ich weiß weder, ob es die Brüder der fünften Wertigkeit wirklich gibt, noch ob die Schläfer tatsächlich existieren.« »Egal. Die Troiliten gehören in das heutige Kastensystem der SOL. Sie interessieren mich im Augenblick wenig. Was weißt du über die Schläfer?« »Ich glaube nicht, daß dir diese Gerüchte helfen können. Es soll angeblich irgendwo auf der SOL ein paar Menschen geben, die ständig schlafen.« »Weiter«, forderte Atlan. »Wer ist es? Wie viele sind es? Wo schlafen sie?«
»Es sind doch nur alberne Parolen, Atlan.« »Auch über die Gefahr von draußen gibt es nur Gerüchte. Und doch ist sie vorhanden. Ich weiß es ganz sicher.« »Ein alter Mann, der mit meinem verstorbenen Onkel befreundet war, hat erzählt, daß die Schläfer so etwas wie eine eiserne Reserve für besondere Krisenfälle wären. Wenn das Chaos droht, würde man sie wecken, um die SOL zu retten. Das ist alles, was ich weiß. Ich kenne keinen Namen der Schläfer, und ich weiß keinen Ort, wo sie sich befinden könnten.« »Auch keine Gerüchte?« Valara schüttelte energisch den Kopf. »Hast du die Namen Romeo und Julia schon einmal gehört?« bohrte Atlan weiter. Er hatte einen bestimmten Verdacht. »Ich kenne die Namen aus der Überlieferung. Romeo und Julia waren die beweglichen Außenstellen SENECAs. Zwei Roboter, die nach den Anweisungen der Positronik herumliefen. Sie sind schon lange vor meiner Geburt verschwunden. Auch da gibt es Gerüchte, aber sie haben bestimmt nichts mit den Schläfern zu tun. Mein Onkel, der die Organisation der Terra‐Idealisten gegründet hatte, behauptete, Romeo und Julia seien auf Eis gelegt worden. Was das bedeutet, weiß ich nicht.« »Es ist wirklich zum Verzweifeln«, murmelte Atlan. 3. »Es ist wirklich zum Verzweifeln«, murmelte fast zur gleichen Zeit ein anderer Mann an Bord der SOL. Seinen Name war Chart Deccon, und er trug die Titel High Sideryt oder Bruder ohne Wertigkeit. Beide Begriffe bedeuteten in dem leicht modifizierten Interkosmo, das an Bord der SOL gesprochen wurde, die höchsten Auszeichnungen. Unter dem Bruder ohne Wertigkeit kamen die
zehn Magniden, die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit. Das war die eigentliche Führungsspitze des Hantelraumschiffs der Solaner. Um die weiteren Kasten des Systems kümmerte sich der High Sideryt nur in Ausnahmefällen direkt. Meistens trafen solche Ausnahmen für die Brüder der zweiten Wertigkeit zu. Die Vystiden stellten innerhalb der SOLAG, der SOL‐Arbeitsgemeinschaft, so etwas wie eine Allround‐Polizeitruppe dar. Sie waren die Eingreiftruppe für alle Extremfälle, wie Aufstände, Überfälle, Unruhen oder sonstige Situationen, die ein gewaltsames Eingreifen erforderlich machten. Die SOLAG durchdrang das ganze Schiff bis auf wenige Gebiete, die als verloren, gefährlich oder verboten galten. Chart Deccon war 84 Jahre alt. Nur wenige Solaner kannten sein wahres Aussehen. Er war 1,94 Meter groß und kahlköpfig. Seine massige Gestalt wirkte mehr fett als stark. Sicher steckte in den dicken Muskelpaketen viel Kraft, aber es gab auch überflüssige Fleisch‐ und Fettpolster. Das aufgedunsene Gesicht mit den wulstigen Lippen und der breiten Nase unterstrich diesen Eindruck. Die hellgrauen Augen bildeten schmale Schlitze unter den hervortretenden Fettpolstern. Der High Sideryt ging unruhig in seiner Zentrale auf und ab. Er trug seine übliche Kleidung, die aus blauschimmernden Metallstücken bestand. Wie künstliche Schuppen sahen die Einzelelemente seiner Jacke und Hose aus. Nur die schweren Stiefel waren glatt. Die goldene Kette um seinem Hals stach von der dunklen Bekleidung deutlich ab. An ihrem Ende hing ein kleiner Behälter, in dem Deccon ein persönliches Geheimnis aufbewahrte. Seit über zwei Jahren, der Zeit, in der Deccon das Amt des High Sideryt innehatte, hatte er versucht, der SOL und ihren Insassen eine Bestimmung zu geben. Jetzt war alles ganz anders gekommen. Das riesige Hantelschiff saß in einer Falle, die irgendwann in den
nächsten Tagen oder Wochen zuschnappen würde. Ein wahrhaft gigantischer Zugstrahl zog das Schiff unaufhörlich in das Innere eines unbekannten Sonnensystems. Die Messungen des Traktorstrahls hatten bis jetzt verwirrende Ergebnisse geliefert. Die Energie, die da nach der SOL packte und sie heranzog, war unbekannt. Man kannte nur die Auswirkungen, und gegen die hatte man noch keine Mittel gefunden. Chart Deccon hatte drei Teilversuche durchgeführt, um dem Zugstrahl zu entkommen. Die Vergleichstest zwischen den Kräften der SOL und dem unbekannten Zugstrahl waren negativ ausgefallen. Allerdings gab es Unklarheiten in den Auswertungen, und darauf setzte der High Sideryt seine Hoffnungen. Er hatte SENECA seine Auswertungen vorgelegt, um von dort Hilfe zu bekommen. Auf seine Behauptung, die SOL sei unrettbar verloren, hatte die Biopositronik nur mit einem lapidaren Satz geantwortet. Das wüßte ich aber! Als Deccon sein Amt von seiner Vorgängerin übernommen hatte, war SENECA schon gestört gewesen. Die wahren Gründe waren ihm unbe kannt, und auch Tineidbha Daraw, die ihn eingewiesen hatte, hatte sie offensichtlich nicht gekannt. Es gab also nur einen Weg. Er und die Magniden mußten es allein versuchen. Die eigentliche Arbeit mußten die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit durchführen, die an diesem Tag in der Hauptkommandozentrale der SOL im Mittelteil ohne Ausnahme versammelt waren. So hatte es der High Sideryt befohlen. Aus seiner Zentrale, die in unmittelbarer Nähe der eigentlichen Kommandozentrale lag, konnte Deccon alle Manöver bis in die letzten Einzelheiten verfolgen. An Bord der SOL, wo man die alte terranische Zeitrechnung beibehalten hatte, war es der 17. März des Jahres 3791. Dieser Tag ging in die Geschichte des Schiffes und in seine Logbücher als der Tag ein, an dem erstmals zu einem Zeitpunkt alle Energiesysteme
gleichzeitig eingesetzt wurden. Chart Deccon war ein hochintelligenter Mann. Er wußte, welches Risiko er einging, als er den entscheidenden Befehl gab. Die Gefahr des drohenden Untergangs war groß. Er mußte das Äußerste wagen. Von einer Warnung an die Solaner hatte er abgesehen. Es gab genügend Unruhen an Bord, und ein Aufmerksammachen der Menschen hätte zu einem noch größeren Chaos führen können. Selbst die Brüder der zweiten Wertigkeit, die für Ruhe und Ordnung verantwortlich waren, ließ Deccon im unklaren. Um 15.25 Uhr gab er den Startbefehl an die Magniden. Das gewagte Manöver begann. Zuerst wurde das Schiff so gedreht, daß die SZ‐1 in Richtung des Zugstrahls zeigte. Naturgemäß war das auch die augenblickliche Flugrichtung. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Kommandos aus Buhrlos und Ferraten bereits ausgeschleust. Sie sollten aus dem freien Weltraum den Fluchtversuch beobachten, ausmessen und auswerten. Daß dabei unter Umständen Solaner ihr Leben verlieren könnten, berührte Deccon im Augenblick nicht. Der nächste Schritt war das Hochfahren der Kraftwerke. In jeder Solzelle gab es zwölf NUG‐Kraftwerke, von denen jedes aus acht Schwarzschildreaktoren zusammengesetzt war. Zusammen bildete sich so in der SZ‐1 und in der SZ‐2 eine Energie aus 96 Großreaktoren, von denen jeder über 100 Milliarden Megawatt verfügte. Hinzu kamen die 64 Schwarzschildreaktoren des Mittelteils, die in acht NUG‐Kraftwerken angeordnet waren. Die Gesamtleistung, die innerhalb weniger Minuten für alle Energieverbraucher zur Verfügung gestellt wurde, betrug somit 25,6 Billionen Megawatt. Insgesamt 40 Notkraftwerke auf der Basis der Fusionsmeiler wurden bis zur 100‐prozentigen Belastung hochgefahren und
standen als Reserve für kurzzeitige Ausfälle der NUG‐Kraft‐werke zur Verfügung. Dieses Energiepotential konnte für eine kurze Zeit von 45 Sekunden durch Überschreitung der normalen Belastungsgrenzen noch einmal verdoppelt werden, ohne daß die Maschinen dadurch Schaden erleiden würden. Der High Sideryt hatte diesen Fall in dem angelaufenen Plan vorgesehen. Ein Übergang in den Linearflug war bei dem geringen Eigentempo der SOL unmöglich. Hierzu war trotz aller moderner Technik eine Ausgangsgeschwindigkeit von mindestens 10.000 Kilometern pro Sekunde erforderlich. Gleichfalls schied eine Flucht mit dem Dimesextatrieb werk aus. Sein Einsatz hätte die drohende Katastrophe nur beschleunigt. Damit stand alle Energie für die Schutzschirme und die NUG‐ Proto‐nenstrahltriebwerke zur Verfügung. Die Auslastung beider Systeme würde erheblich über 100 Prozent liegen, aber auch diese Werte waren für kurze Zeit vertretbar. Nach dem Plan des High Sideryts wurden zuerst die Normal‐ und Hochenergie‐Überladungs‐Schutzschirm‐projektoren mit Energie versorgt. Dann folgte der Paratronschirm. Die SOL war damit von ihrer Umgebung in jeder Hinsicht nach besten Möglichkeiten abgeriegelt. Kleine Strukturlücken wurden außerhalb der oberen Hälfte der SZ‐1 in die Schutzschirme geschaltet. Hier sollten die gebündelten Energien aller Waffensysteme in Flugrichtung austreten, um das vorgesehene Manöver zu unterstützen. Hierzu wurde ein Teil der Restenergie, die immer noch über 80 Prozent der Gesamtenergie betrug, für die Desintegratorgeschütze und die Transformzwillingskanonen bereitgestellt. Die alltäglichen Energieverbraucher, zu denen auch die Antigrav‐ und Schwerkraftgeneratoren gehörten, verschluckten einen vernachlässigbar geringen Teil des Energieaufkommens. 19,45 Billionen Megawatt standen allein für die NUG‐
Protonenstrahl‐triebwerke zur Verfügung. Dazu kam die 100‐ prozentige Reserve von weiteren 25,6 Billionen Megawatt. Damit war eine 500‐prozentige Überlastung der Triebwerke möglich. Selbst dann blieb noch genügend Energie für die Impulsgeschütze, die Deccon im Notfall noch einsetzen wollte. Freilich würde er hier auch nur die Waffen benutzen können, die in Flugrichtung zeigten. Das Vorbereiten des entscheidenden Manövers mit dem Hochfahren der Kraftwerke und der gezielten Energieverteilung dauerte weniger als eine halbe Minute. Durch den sechseinhalb Kilometer langen Leib der SOL lief ein dumpfes Grollen. Es war kaum wahrnehmbar und unterschied sich nur wenig von den alltäglichen Geräuschen. Der High Sideryt wartete geduldig, bis von allen Teilsystemen die Grünwerte angezeigt wurden. Er saß in seiner Zentrale allein auf dem thronähnlichen Stuhl auf der höchsten Stufe des Podests, von dem aus er alle wichtigen Anzeigen kontrollieren konnte. In der SZ‐2 arbeitete ein Schwarzschildreaktor unregelmäßig. Zwei HÜ‐Schutzschirmprojektoren im Mittelteil brachten nur die halbe Leistung. Das waren die einzigen Ausfälle. Sie machten in der gesamten Energiebilanz weniger als ein Zehntel Prozent aus. Sie waren vernachlässigbar. »Vielleicht ist es doch nicht zum Verzweifeln«, murmelte der einsame Mann. Er drückte eine Sensortaste, worauf ein violettes Licht an dem Kontrollpult aufleuchtete. In der Kommandozentrale war er jetzt zu hören. »Energie frei auf alle Systeme«, befahl der High Sideryt. Die Hände der Magniden senkten sich gleichzeitig auf die Auslösesensoren. Innerhalb eines kaum meßbaren Zeitintervalls wurden die Energien freigegeben. Die Schutzschirme standen unter voller Energie. Die Waffen der SZ‐1 feuerten blindlings durch die Strukturlücken in Flugrichtung.
Die Masse der Energie jagte durch die variablen Schubdüsen der NUG‐Protonenstrahltriebwerke, um die SOL abzubremsen und entgegen ihrer augenblicklichen Flugrichtung zu beschleunigen. In dem riesigen Raumschiff brach ein energetischer Sturm aus, der ausgereicht hätte, um einen Riesenplaneten in Sekunden zu atomaren Staub zu verwandeln. Die Hände des High Sideryt klammerten sich an die Armlehnen seines Thrones. Für Sekunden schloß Chart Deccon die Augen. Das drückende Gefühl einer übermächtigen Verantwortung drohte ihn zu ersticken. * Für die vier Buhrlos war es mehr als eine willkommene Abwechslung, als man ihnen mitteilte, daß sie hinaus in den Raum sollten. Zwar hielten sich seit Stunden hartnäckige Gerüchte, die von einem riskanten Versuch der SOLAG sprachen, aber die Ferraten, die die Anweisung überbrachten, wollten davon nichts wissen. Die Gläsernen sahen zunächst nur ihr eigenes Bedürfnis, und das war der Aufenthalt in dem Raum, für den sie aufgrund ihrer besonderen biologischen Struktur geboren worden waren, den freien Weltraum. Daß sie sich dabei mit E‐kick aufladen würden und daß die Führer der SOLAG ihnen diese energetische Aura hinterher abzapfen würden, interessierte sie weniger. Candyr Hartz und Ollg Vluhst trafen sich zuerst an der Schleuse, die man ihnen befohlen hatte. Die jungen Buhriomänner lebten genauso auf der SZ‐1 wie Lamina Floter und Studia St. Felix. Die vier Ferraten, die sie begleiten sollten, waren schon draußen. Sie hatten eine kleine Kapsel mitgenommen und trugen außerdem Raumanzüge. Candyr Hartz wartete vor allem auf Lamina Floter, die nur wenige
Jahre älter war, als er selbst. Lamina und er gehörten zu den heimlichen Anhängern Valara Brackfausts, der Chefin der Terra‐ Idealisten. Die andere Buhriofrau, Studia St. Felix, kannte Candyr nur flüchtig. Im Gegensatz zu den beiden Männern und Lamina, die um die 20 Jahre alt waren, war Studia mindestens doppelt so alt. Die beiden Ferraten an der Schleuse wurden schon ungeduldig, aber dann trafen Studia St. Felix und Lamina Floter kurz hintereinander ein. »Der Führer des Kommandos heißt Irzlov«, erklärte einer der Rostjäger. »Haltet euch an ihn. Er kennt den Auftrag.« »Du auch, Ferrate?« fragte Ollg Vluhst respektlos. »Natürlich«, antwortete der, aber es war an seinem Gesichtszucken zu erkennen, daß er log. »Dann erklärʹ ihn mir sofort«, verlangte Ollg. Candyr Hartz, der körperlich schmächtig war und auch sonst gern scheue Zurückhaltung übte, blickte den Buhrlo strafend an. Vluhst war schon mehrfach durch seine vorlaute Art aufgefallen und hatte damit nicht nur sich, sondern vielen Buhrlos Ärger bereitet. »Hinaus mit euch«, schimpfte der Ferrate. Damit half er sich aus der Zwangslage. »Dummer Lügner.« Schimpfend trat Ollg Vluhst in die geöffnete Schleuse. Das Schott schloß sich hinter den vier Buhrlos. Sie bildeten mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand einen Kreis. In der Zeichensprache der Weltraumgeborenen bedeutete das Zuneigung. In dieser Situation verstanden Candyr, Ollg, Lamina und Studia darunter Glück und Erfolg. Die Luft wurde langsam abgesaugt, und die Buhriohaut paßte sich der neuen Umgebung an. Sie übernahm im übertragenen Sinn die Funk tion der Lunge. Die in die glasartige Haut eingelagerten Sauerstoffreserven übernahmen jetzt die Versorgung des Körpers. Sie stießen sich von der Hülle der SOL ab und trieben auf die
Kapsel zu, hinter deren Fenstern sie die Ferraten erblicken konnten. Studia St. Felix, die durch ihr Alter die meiste Erfahrung besaß, verschränkte während des kurzen Fluges ihre Arme über dem Kopf. Das bedeutete, daß sie etwas Außergewöhnliches vermutete. Dann hob sie ihren linken Zeigefinger und deutete auf die Kapsel mit den Ferraten. Die anderen Buhrlos nickten kurz. Studia erwartete eine Mitteilung von den Ferraten. Die Buhrlos klammerten sich an Haltegriffe, die an der Außenhülle der Kapsel angebracht waren. Sofort beschleunigte das kleine Gefährt. Es entfernte sich rasch von der SOL. Candyr Hartz zeichnete einen großen Kreis mit der Hand. Dann fuhr seine Fingerspitze aus dem Mittelpunkt des imaginären Kreises nach draußen. Jeder der anderen Buhrlos verstand diese Geste. Sie entfernten sich ungewöhnlich weit von der SOL weg. Das instinktive Gefühl für die Nähe ihrer Heimat wurde dadurch nicht gestört. Auch ohne Augenschein spürte jeder Buhrlo ständig, in welcher Richtung sich das Schiff befand. Die Kapsel entfernte sich mehr als einen Kilometer von der SOL seitlich weg. Da die Eigengeschwindigkeit der Buhrlos und der Kapsel mit der des Hantelschiffs identisch war, flogen sie jetzt parallel zu diesem. Ein heller Stern leuchtete direkt in der Flugrichtung. Das mußte Mausefalle‐Sonne sein, wie nach einem Gerücht der geheimnisvolle Stern heißen sollte. Die vielen Planeten des Systems waren aus diesem Blickwinkel nicht zu erkennen. Ein alter Buhrlo, dessen Beweglichkeit durch das Wachstum seines Hornpanzers ihm nur noch wenige Tage oder Wochen Leben in Ausssicht stellte, hatte Candyr erzählt, es gäbe dort 23 Planeten, von denen die Nummer 7 der Schlund zur Hölle sei. Die Kapsel hielt in einer Entfernung, die nach Schätzung der Buhrlos etwa 1300 Kilometer von der SOL betrug. Candyr winkte
Lamina zu. Er wollte ihr zu verstehen geben, daß ihre Vermutung wohl richtig gewesen war. Angeblich war ein Operieren außerhalb einer Entfernung von 1500 Kilometern durch den Zugstrahl nicht mehr möglich. Lamina hatte ihm dies berichtet und sich dabei auf die Aussage eines Ferraten berufen, der in den letzten Tagen mehrfach im freien Weltall gewesen war. An der Kapsel blinkte ein gelbes und ein rotes Licht auf. Das bestätigte Studia St. Felixʹ Vermutung. Die Ferraten wollten den Buhrlos etwas mitteilen. Für solche Zwecke war an dieser Kapsel eine Fläche vorbereitet, auf die die Buhrlos ein Ohr legen mußten. Eine weiche Kunststoffmasse, die auch bei Weltraumkälte noch elastisch blieb, erlaubte einen direkten Kontakt, so daß die Buhrlos die Sprache aus einer Lautsprechermembran unmittelbar hören konnten. »Buhrlos«, ertönte die Stimme eines Ferraten. »Die SOLAG wird in wenigen Minuten ein Experiment starten. Es ist von großer Bedeutung für uns. Ihr müßt alles genau beobachten, um hinterher eine Auswertung zu ermöglichen. Wir messen von Bord aus die Vorgänge mit unseren Geräten. Ein Betreten der Kapsel ist für die Dauer des Experiments für euch verboten.« Der Ferrate wiederholte alles noch einmal, aber die Buhrlos hatten bereits verstanden. In ihrer Zeichensprache, die sie zur Verständigung im luftleeren Raum benötigten, wechselten sie blitzschnell ihre Eindrücke aus. Zwei erhobene Finger der rechten Hand: Gefahr! Gefaltete Hände: Zurück in die SOL. Kopfschütteln von Studia St. Felix: Unmöglich. Kreis aus Daumen und Zeigefinger der rechten Hand durch Ollg Vluhst und eine drohende Faust gegen die Kapsel: Ich hasse euch, ihr verfluchten Ferraten. Und dann Lamina Floter. Ihr linker Zeigefinger schoß in die Höhe. Paßt auf! Ich muß etwas mitteilen. Alle Köpfe richteten sich auf die junge Buhriofrau. Die zeigte auf
die SOL. Das Hantelschiff erstrahlte grell im Schein seiner Schutzschirme. Für einen Moment glaubten die Buhrlos sich von ihrer Heimat abgeschnitten. Besonders Candyr, Ollg und Lamina, die so etwas noch nie erlebt hatten, fühlten einen schmerzhaften Stich in der Brust. Ängstlich klammerten sich die Buhrlos aneinander. Studia gab beruhigende Zeichen, aber keiner wollte auf sie achten. Der nächste Schock war das Aufflammen der Triebwerke. Für einen Moment sah es so aus, als wolle die SOL entfliehen. Sie entfernte sich ein gutes Stück seitlich zu den Buhrlos und der Kapsel. Ollg Vluhst gab ein Zeichen, das keiner deuten konnte. Studia antwortete mit Vorsicht, aber das nahm der junge Buhrlo nicht wahr. Er schaltete sein auf dem Rücken befindliches Kleintriebwerk ein und verließ die Gruppe. Da er zunächst hinter der Kapsel verschwand, konnten die anderen seine Flugrichtung nicht feststellen. Auch das Raumgefährt der Ferraten begann sich zu bewegen. Die Zeichen zwischen den Buhrlos wechselten jetzt so schnell, daß keiner mehr dem anderen folgen konnte. Dafür sahen sie Ollg Vluhst in Richtung der Mausefalle‐Sonne davontaumeln. Die Kapsel setzte zur Verfolgung an. In diesem Augenblick erklang das Dröhnen. Lamina gab dem seltsamen Geräusch später diesen Namen, den für die Buhrlos war es unerklärlich, daß sie im luftleeren Raum plötzlich etwas hören konnten. Das Geräusch mußte auf einem anderen Weg an ihre Ohren dringen. Es hörte sich an wie das Knirschen von Metall auf Metall. Unwillkürlich richteten sich die Blicke der Weltraumgeborenen auf die SOL. Das Hantelschiff bewegte sich ruckartig hin und her. Dabei schien es immer weiter zurückzufallen. Die Bewegungen gingen aber nicht
nur in eine Richtung. Das Schiff tanzte auf und ab und schien auch näher zu kommen oder sich von ihnen zu entfernen. Keiner der Buhrlos achtete mehr auf die Zeichen des anderen. Ollg war irgendwo verschwunden, und die Kapsel war auf seiner Spur. Die SOL zappelte wie ein gigantischer Fisch an einer unsichtbaren Angel. Candyr Hartz prägte in seinem Bewußtsein dieses Bild, und der höllische Fischer war jener Stern, der dort leuchtete, oder vielleicht einer seiner Planeten. Welche teuflische Gefahr mochte dort lauern? Er kam erst wieder zu Sinnen, als ihn Lamina heftig anstieß. Sie signalisierte die Grenze und dann 1500 Kilometer. Der davontreibende Körper Ollg Vluhsts war viel weiter von der SOL weg. Auch die Kapsel mit den Ferraten, die nur noch schwach erkennbar war, mußte die Grenze überschritten haben. Zwei erhobene Zeigefinger der rechten Hand signalisierten Gefahr … Studia St. Felix faltete ihre Hände: Zurück zur SOL. Candyr Hartz und Lamina Floter deuteten auf die flammenden Schutzschirme, aber sie folgten der Aufforderung der erfahrenen Buhriofrau. Mit Hilfe ihrer Kleintriebwerke setzten sie sich langsam in Bewegung. Studia flog voran, und Candyr und Lamina folgten ihr dichtauf. Von Ollg und der Raumkapsel fehlte jede Spur. Mit den kleinen Triebwerken kamen die drei nur langsam voran. Das Dröhnen erklang fortgesetzt wie ein unwirklicher Orkan. Irgendeine unbekannte Energiekomponente mußte es hervorrufen. Die drei Buhrlos wurden von immer größer werdender Panik befallen. Studia St. Felix hatte Mühe, Candyr und Lamina vor den näherkommenden Schutzschirmen zu warnen. Die SOL führte noch immer unregelmäßige Bewegungen aus. Dadurch konnte es passieren, daß das Schiff in unmittelbare Nähe der Buhrlos kam. Ein Berühren der Schutzschirme hätte für alle den
sofortigen Tod bedeutet. So plötzlich wie das Dröhnen begonnen hatte, erstarb es wieder. Dafür machten die Buhrlos eine andere Beobachtung. Die Triebwerke der SOL feuerten nun mit annähernd doppelter Gewalt. Das Schiff machte aus der Sicht der Buhrlos einen Satz nach rückwärts, wobei die Schutzschirme sich grell verfärbten. Der Abstand zu den Buhrlos vergrößerte sich bedenklich. Lamina fürchtete, daß sie dadurch außerhalb der ominösen Grenze getrieben werden konnten. Aber das Spiel währte nicht lange. Mit einem zweiten gewaltigen Satz schnellte die SOL wieder in Flugrichtung. Wie flammende Wände standen die Schutzschirme vor den Buhrlos. Eilig versuchten sie der drohenden Gefahr zu entfliehen. Ihre kleinen Flugaggregate schafften tatsächlich eine kurze Strecke. Der Leerraum ringsum füllte sich mit fluoreszierenden Schlieren aus Energie. In gewagten Manövern kurvten die drei Weltraumangepaßten durch die seltsamen Gebilde, deren Berührung sie instinktiv mieden. Weiter weg von ihnen und der SOL entstanden gewaltige Implosionen. Candyr Hartz erblickte für einen Moment während seines taumelnden Fluges die Raumkapsel der Ferraten. Das kleine Gefährt wurde von einem solchen Implosionsherd verschluckt. Als die Leuchterscheinung verschwunden war, trieben an der Stelle Trümmer und Bruchstücke. Das energetische Inferno schien Stunden zu dauern, und doch waren es nur ein paar Dutzend Sekunden. Die Buhrlos waren am Ende ihre Kräfte, als plötzlich wieder Ruhe einkehrte. Die Triebwerke der SOL erstarben, und unmittelbar darauf erloschen die mehrfachen Schutzschirme. Lamina Floter hob zwei Finger der linken Hand. Alles in Ordnung. Dann spreizte sie ihre rechte Hand und gab damit zu verstehen, daß sie müde und erschöpft war. Studia deutete den beiden jungen Buhrlos an, daß sie warten
sollten. Lamina und Candyr reichten sich eine Hand. Durch den körperlichen Kontakt beruhigten sie gegenseitig ihre aufgepeitschten Nerven. Studia trieb mit Hilfe ihres Aggregats langsam in Richtung der Trümmerwolke. Schon nach wenigen Minuten kam sie mit einer Gestalt in einem Raumanzug zurück. An der Aufschrift auf der Brust erkannten die Buhrlos, daß es sich um die Führer des Ferratenkommandos handelte. Irzlov war bewußtlos, aber er lebte noch. Sein Raumanzug wies Brandspuren auf, war aber unbeschädigt. Studia signalisierte, daß die Kapsel und die anderen Ferraten umgekommen waren. Von dem Buhrlo Ollg Vluhst, der weit abgetrieben worden war, fehlte jede Spur. Zurück zur SOL! Sie faltete ihre Hände. Candyr und Lamina nickten. Gemeinsam nahmen sie den Ferraten in Schlepp und flogen auf die SZ‐1 zu. In der Schleuse wurden sie von erregten Ferraten empfangen. Auch zwei Ahlnaten standen dabei. Sie hielten sich jedoch im Hintergrund. Die Buhrlos berichteten erschöpft, was sie beobachtet hatten. Der Ferrate Irzlov kam schnell wieder zu Bewußtsein. Was er zu den Informationen beisteuern konnte, war spärlich. Für die Gläsernen war es schmerzlich, denn der Rostjäger behauptete, Ollg Vluhst sei während des energetischen Sturmes aus der 1500‐Kilometer‐Zone getaumelt und von einem gewaltigen Sog in Richtung Mausefalle‐ Sonne gerissen worden. »Geht jetzt euren E‐kick abliefern«, befahl der Sprecher der Rostjäger. »Du bist verrückt«, antwortete ihm Studia St. Felix barsch. »In der kurzen Zeit und bei diesem energetischen Chaos gab es keine verwertbare Aufladung unserer Körper.« Der Ferrate schwieg, und auch die beiden Ahlnaten erhoben
keinen Einwand, als sich Studia, Candyr und Lamina wortlos auf den Weg zu ihren Unterkünften machten. Die Gedanken der Buhrlos waren beim dem verschwundenen Ollg. 4. In den 45 Sekunden, in denen der High Sideryt die SOL mit doppelter Höchstbelastung aus dem gewaltigen Zugstrahl zu reißen versuchte, saß Chart Deccon wie eine Statue in seinem thronähnlichen Sessel. Nur seine Augen bewegten sich und kontrollierten die Plasmabänder mit den Anzeigen über dem Hauptschaltpult. Das Schiff erbebte bis in die letzten Winkel. Automatisch schaltete sich der individuelle Paratronschirm von Deccons Zentrale ein. Die sieben robotischen Leibwächter kamen hinter der Tarnwand hervor und postierten sich in Erwartung eines Feindes. Aber da war nichts, was sie bekämpfen konnten, denn die wirkliche Gefahr lag außerhalb des Schiffes. Nach 36 Sekunden gingen die Anzeigen von sieben Reaktoren auf Rotwerte. Nach 40 Sekunden schalteten sich vier NUG‐Kraftwerke selbständig ab. Nach 44 Sekunden leuchteten insgesamt 14 rote Signallichter auf. Das Ächzen des Schiffes stieg in dieser winzigen Zeitspanne unerträglich an. Die Andruckneutralisatoren konnten die ruckartigen Bewegungen der SOL nicht in jeder Phase absorbieren. In der Zentrale des High Sideryt flogen zwei Bildschirme aus den Halterungen und segelten quer durch den Raum. Als einer in gefährliche Nähe Deccons kam, zerstrahlte ihn einer der Wachroboter. Die schweren Teppiche an den Wänden gerieten in Wallungen. Die Beleuchtung flackerte gespenstisch auf. Dazwischen glitt ein
Teppich, der sich gelöst hatte, durch den Raum und bedeckte den kleinen Holztisch in der Mitte. Chart Deccon konnte sich ausmalen, welche Panik jetzt unter den Solanern herrschte. Er wußte aber, daß er diesen Versuch bis zur äußersten Grenze wagen mußte. Nach 45 Sekunden lag immer noch keine Erfolgsmeldung vor. Die breite Hand des High Sideryt fiel auf eine Sensortaste in der Armlehne seines Sessel. Damit wurde schlagartig alle Energie abgeblockt. Das Rütteln und Stoßen des Schiffes hielt noch Sekunden an, dann herrschte Ruhe. Die grünen Lichter in den Plasmabändern erloschen, die roten blieben brennen und zeigten an, wo es bei den Reaktoren zu nachhaltigen Schäden gekommen war. Die SOL war zwar insgesamt nicht gefährdet, aber die Reparaturen würden Zeit benötigen. Die Aufträge dafür waren eine Sache der Magniden. Die Durchführung lag bei den Ahlnaten als Wissende und bei den Ferraten als Handelnde. Chart Deccon interessierte im Augenblick nur ein Ergebnis. Welchen Erfolg hatte ihr Fluchtversuch gehabt? Er schaltete seine Verbindung zur Hauptzentrale. Schon an den Gesichtern der Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit konnte er das Resultat ablesen. Es bestätigte seine Vermutungen, die er nach der Kontrolle seiner Anzeigen gewonnen hatte. Die SOL hing unverrückbar in dem gigantischen Zugstrahl, der sie in das Mausefalle‐System zog. Das Schiff war arg gebeutelt worden, aber erreicht hatte man nichts. Die magische Grenze von 1500 Metern, jenseits der eine Rückkehr zur SOL unmöglich war, bestand nach wie vor. Ausgeschleuste Robotsonden bestätigten dies in aller Deutlichkeit. Außer einer ungeheuren Energieverschwendung und dem Hervorrufen von zahlreichen Schäden hatte der High Sideryt mit dem gewagten Manöver nichts erreicht.
Deccon schritt langsam die Stufen des Podests hinunter. »Verschwindet«, zischte er den Wachrobotern zu. In einer wütenden Bewegung wischte er den Teppich von dem kleinen Holztisch. Die Anzeigen auf dem Hauptpult signalisierten den Eingang von zahlreichen Meldungen und Berichten. Der High Sideryt stand vor viel Arbeit. Er würde sich in den nächsten Stunden darum kümmern. * Edo kannte ein Vielzahl von geheimen Gängen und Räumen innerhalb der SZ‐1. Auch wußte er genau, wo er nur selten den Solanern begegnete. War dies einmal der Fall, so nutzte er seine Chamäleonfähigkeit, um sich der unmittelbaren Beobachtung zu entziehen. Der Wechsel der Körperfarben und der Schattierungen vollzog sich rein instinktiv. Der Ausgestoßene konnte den Farbwechsel allerdings durch seinen Willen aufheben. Besonders während der abgedunkelten Nachtperioden war Edo kaum erkennbar. Jetzt war Tag, und fast alle Gänge waren hell erleuchtet. Der Chamäleonmensch wählte daher solche Gänge, in denen er niemand zu treffen hoffte. Die Stelle, die er für Atlan suchen sollte, hatte er vor vielen Tagen letztmals gesehen. Seine Erinnerung war verschwommen, aber er hatte den festen Willen, seinen neuen Freunden zu helfen. Er glitt durch einen Antigravschacht in die oberen Regionen der SOL. In diesem Schacht war er nur gelegentlich Lasten begegnet, aber nie Menschen. Oft hatte er hier reiche Beute an angenehmer Nahrung machen können. Darum brauchte er sich jetzt nicht zu kümmern, denn Atlan und Valara hatten ihm gesagt, sie würden für ihn sorgen. Der Schacht endete in einer Lagerhalle, die Edo auch kannte. Er
durchquerte den Raum so schnell, wie ihn seine Stummelfüße trugen. Da er keine Menschen in der Nähe vermutete, blieb seine Körperfarbe im Originalzustand. Trotz seiner kurzen Beine bewegte sich Edo elegant. Seine langen Flossenarme ruderten gleichmäßig und hielten seinen Körper stabil in der senkrechten Lage. Auf der anderen Seite der Halle gab es drei Tore Hinter einem davon, so glaubte sich der Mutierte zu erinnern, war die gesuchte Sprechstelle. Er wählte willkürlich eine Tür, aber dahinter befand sich ein breiter Korridor in hellem Licht. Für einen Moment war Edo verwirrt. Sein kindlicher Verstand benötigte Zeit, um die richtigen Folgerungen zu ziehen. Zwei unerwartete Ereignisse kamen hinzu. Der Boden begann unter seinen Füßen zu vibrieren, und ein dunkles Grollen lag in der Luft. Unwillkürlich stützte sich Edo an einer Seitenwand ab. Fast hätte er das Fahrzeug, das in den breiten Korridor einbog, zu spät bemerkt. Drei Menschen in silbern glänzenden Anzügen standen darin. Sofort preßte sich Edo an die Wand. Sein Körper verschmolz farblich mit dem stumpfen grauen Anstrich. Ein Leuchtsymbol, das als Wegweiser fungierte, und das sich in seinem Rücken befand, bildete er naturgetreu nach. Das dumpfe Grollen zu seinen Füßen weckte Angst in ihm. Das Metall in seiner Umgebung begann zu ächzen und knirschen. Die Erregung beeinträchtigte seine Chamäleonfähigkeit. Es würde nur Sekunden dauern, bis ihn einer der Menschen in dem offenen Gleiter entdecken würde. Die wahren Zusammenhänge, den Fluchtversuch, den der High Sideryt startete, konnte Edo nicht einmal erahnen. Auch erkannte er nicht, daß es drei gefährliche Vystiden waren, die sich in dem Fahrzeug näherten.
»Ich habe etwas auf dem Schirm«, hörte er eine männliche Stimme, »aber ich sehe dort nichts.« »Wo?« fragten gleichzeitig ein Mann und eine Frau. Edo sah, wie der ältere der beiden Männer mit der ausgestreckten Hand in seine Richtung deutete. Er wußte nicht genau, ob er schon entdeckt worden war. Noch zögerte er zu fliehen. Das Dröhnen in seinen Füßen nahm zu. Edo schrieb es den Menschen in dem Fahrzeug zu, aber das war natürlich ganz falsch. Langsam bewegte er sich auf die Tür zu, aus der er gekommen war. Auch die Wand, an der er sich entlangtastete, erbebte jetzt. Der Gleiter hielt wenige Schritte vor ihm an. Die drei Solaner in den glänzenden Uniformen sprangen heraus. »Da ist ein Monster!« kreischte die Frau. Ihre Hand fuhr zum Gürtel und zog eine schwere Waffe heraus. »Es ist halb unsichtbar.« Die drei Menschen wurden jetzt auch von einer Unruhe ergriffen. Edo bemerkte, daß auch sie unter dem Dröhnen und Stampfen der Wände litten. Das beruhigte ihn etwas. Rasch sprang er auf die gegenüberliegende Seite, wobei er seine Tarnung verbesserte. Plötzlich wurden seine Füße schwer. Er sank ein Stück zusammen, ohne sich dabei vollkommen der Umgebung anpassen zu können. »Da ist es jetzt«, schrie die Frau. Sie feuerte einen Schuß ab, der dicht über Edo in die Wand schlug. Schnell raffte sich der Chamäleonmensch wieder auf. Er fühlte sich mit einemmal ganz leicht. Auch die Menschen und der Gleiter waren davon betroffen. Der Gleiter prallte gegen die Decke, und die Solaner begannen zu taumeln. Die irren Geräusche wurden immer lauter. »Laß jetzt diesen Unsinn«, schrie einer der Männer. »Das Monster schnappen wir uns später.« Dessen ungeachtet feuerte die Frau weiter auf Edo. Bei den wechselnden Schwerkraftverhältnissen konnte sie aber keinen gezielten Schuß anbringen.
Edo witterte seine Chance. Er stürzte auf den am nächsten stehenden Mann zu und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Der Mann war völlig überrascht. Seine Flossenarme umklammerten den Mann und hoben ihn mit spielerischer Leichtigkeit in die Höhe. Edo benutzte ihn als Wurfgeschoß und schleuderte ihn nach der Frau. Die beiden stürzten zu Boden. Während sich der ältere Mann darum bemühte, den Gleiter wieder unter Kontrolle zu bekommen, eilte Edo zu der Tür. Halb torkelnd konnte er sie öffnen, denn der Boden schwankte unter seinen Füßen. Im Innern der Halle suchte er zuerst nach einer dunklen Ecke, in der er seine Tarnung voll ausnutzen konnte. Auch hier war das Dröhnen der Schiffswände überdeutlich zu hören. Edo verbarg sich in einem geöffneten Wandschrank, in den kein direktes Licht fiel. Er klemmte sich zwischen die Seitenwände, um einen festen Halt zu haben. Endlich ließ das Tosen um ihn herum nach. Der Chamäleonmensch wartete, ohne sich von der Stelle zu rühren. Nach einer Weile wurde das Tor geöffnet. Die Frau und der jüngere Mann kamen mit gezogenen Waffen in die Halle und blickten sich suchend um: »Verdammt! Es ist entkommen«, knirschte die Frau. Sie wischte sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht. Während sie das sagte, blickte sie genau in Edos Richtung, aber dessen Tarnung war jetzt so perfekt, das man ihn nicht erkennen konnte. »Egal, Zlava«, meinte der Mann. »Das Monster wird uns nicht entkommen. Jetzt müssen wir uns um Ruhe und Ordnung in der SOL kümmern. Das Manöver des High Sideryt hat bestimmt Panik hervorgerufen.« Die beiden Vystiden verschwanden. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Edo wartete noch eine Weile, dann wagte er sich aus dem Schrank.
Er durchquerte den Raum und öffnete ein anderes Tor. Der kleine Raum dahinter war völlig leer. Auf der einen Seite war die Wand jedoch durchsichtig, und dahinter lag die verlassene Sprechstelle, nach der sein Freund Atlan suchte. Er versuchte durch den direkten Eingang in diesen Raum zu gelangen, aber diese Tür ließ sich nicht öffnen. Der Chamäleonmensch sagte sich, daß sein Freund das wohl schaffen würde. Er betrachtete seine Aufgabe als erledigt. * Noch war es Tag, als sich Edo auf den Rückweg zum Versteck Atlans und Valaras machte. Der Chamäleonmensch merkte sehr schnell, daß dies mit Schwierigkeiten verbunden war. In dem Raumschiff wimmelte es nur so vor Menschen. Mit seinem unterentwickelten Verstand erfaßte er, daß die schweren Erschütterungen, die ihm zu schaffen gemacht hatten, in Wirklichkeit alle Menschen und das ganze Schiff getroffen hatten. Er mußte sich mehrfach verbergen, denn überall standen und rannten erregte und diskutierende Solaner herum. Von dem, was sie sagten, verstand er fast nichts. Es fiel ihm aber auf, daß besonders viele Menschen in dunkelblauen Uniformen unterwegs waren. Das erinnerte Edo an seine Eltern, die auch stets diese Kleidung der Ferraten getragen hatten. Er wollte durch einen abgelegenen Antigravschacht in die tieferen Decks gelangen, aber dieser Weg war ihm versperrt. Vor dem Schachteingang standen mehrere Menschen, und auch zwei Blaugekleidete waren darunter. Eine große Metallplatte hing halb vor der Öffnung, und an der Decke war ein großes Loch. Edo pirschte sich langsam näher. Seine Neugier war geweckt, und er achtete kaum auf seine Tarnung. Es war auch viel zu hell in dem
Gang, als daß er sich vollkommen hätte verbergen können. Die beiden Ferraten versuchten gerade, die herabgestürzte Metallplatte anzuheben und von dem Eingang zu entfernen. Die drei anderen Solaner versuchten ihnen dabei zu helfen. Edo glaubte, daß er dadurch unbemerkt vorbeischlüpfen konnte. Die Öffnung vor dem halb versperrten Eingang war für seinen Körper groß genug. Die Solaner drehten ihm den Rücken zu, so daß er sich unbemerkt heranschleichen konnte. Erst im letzten Moment bemerkte man ihn. »Ein Extra«, rief einer der Solaner. »Nein, ein Monster«, brüllte ein zweiter. Edo wollte sich vorbeizwängen. Durch die Unruhe, die entstanden war, ließen die Menschen die Stahlplatte los. Sie zwängte den Chamäleonmenschen in den Rahmen des Schachteingangs. Edos kräftige Flossenarme drückten gegen die Platte. Es wäre keine Schwierigkeit für ihn gewesen, sie zur Seite zu schieben. Eins seiner Beine hing schon über dem Antigravschacht. Da fiel sein Blick auf die beiden Ferraten. Es waren ein alter Mann und eine kaum jüngere Frau. Schlagartig wurde die Erinnerung in Edo wach. »Mama, Papa«, stammelte er. Die Ferratin stieß einen entsetzten Schrei aus. Ihr Mann packte sie am Oberarm und starrte Edo entgeistert an. »Du bist unser Junge?« flüsterte er. »Ich dachte, du bist längst tot. Wie entsetzlich.« »Nicht entsetzlich.« Edo zeigte sein breites Gebiß. »Edo ist stark. Edo hat Freunde.« Die Solaner wichen erschrocken zurück. Die riesige Gestalt erzeugte in ihnen Furcht. »Edo muß gehen.« Der Mutierte schob die Stahlplatte von sich und schickte sich an, in den Antigravschacht zu springen. »Tu es nicht, Edo«, sagte die Ferratin gequält. »Der Schacht ist außer Betrieb.«
Edo verstand nicht, was sie meinte. »Laß ihn«, murmelte sein Vater leise. »Es ist das beste. So ein Ungeheuer darf nicht leben.« Edo hörte noch, wie einer der Solaner »Bist du wahnsinnig?« rief. Dann riß ihn die Schwerkraft nach unten. Er merkte sofort, daß etwas nicht stimmte, denn die Seitenwände glitten ungewohnt schnell an ihm vorbei. Als die Angst kam, stieß er einen langen Schrei aus. Er versuchte, irgendwo Halt zu finden, aber sein Sturz war viel zu rasant. Das Getümmel oben an dem Eingang nahm er nicht wahr. Dafür setzte aber plötzlich der Sog des Antigravschachts wieder ein. Edo atmete erleichtert auf. An dem nächsten Ausgang verließ er die Röhre. Auch hier herrschte das gleiche Durcheinander. In jedem Ferraten, den er sah, glaubte er seine Eltern zu erkennen. Er stieß einen lauten Schrei aus und bahnte sich gewaltsam einen Weg durch die Menschen. Werkzeuge und Gegenstände prasselten auf seinen Rücken. Fast wäre er über ein auf dem Boden liegendes Gerät gestolpert. Der Zufall oder ein hilfbereiter Solaner kam ihm zu Hilfe. Mit einem Schlag erlosch die Beleuchtung in dem Gang. Edo öffnete die nächste Tür und fand sich in einer Wohnkabine wieder. Sie war leer. Schwer atmend lehnte er sich an die Wand und lauschte auf die Geräusche draußen in dem Gang. Allmählich wurde es dort ruhiger, aber er wagte sich nicht hinaus. In dem Raum gab es einen breiten Luftschacht, dessen Verkleidung zu Boden gefallen war. Er zwängte sich in die Öffnung und kletterte vorsichtig abwärts. Schon in dem Deck darunter gab es einen zweiten Einlaß in den Schacht. Edo stemmte seine Arme gegen die Gitterverkleidung. Sie gab sofort nach. Mit einem Satz sprang er in den Raum. Auf dem Boden saß ein Kind und spielte mit kleinen
Plastikklötzchen. Das kleine Mädchen blickte Edo aus großen Augen an. Ihre Hand streckte sich Edo entgegen, und der Mutierte erblickte einen vielfarbigen Würfel. »Edo«, sagte der Chamäleonmensch und deutete auf seine Brust. Dann nahm er den Würfel und drehte ihn in seiner lappigen Hand. Er paßte genau in eine Stelle des Musters, das das Mädchen aufgebaut hatte. Die Kleine lachte. Sie tippte sich auf die Brust. »Ich heiße Tananaika.« Sie holte weitere Spielsachen aus einem Schrank und breitete sie auf dem Boden aus. Für sie war es ganz selbstverständlich, das Edo sich an den Spielen beteiligte. Der vergaß für Stunden Atlan und Valara. Die beiden ungleichen Wesen hockten auf dem Boden und bauten aus kleinen Steinen Raumschiffe, Häfen und Planeten. Sie verstanden sich so gut, als seien sie schon ein Leben lang zusammen gewesen. Erst als ein Klingelton die beiden hochschreckte, stand Tananaika auf. »Ich muß jetzt schlafen gehen, Edo«, sagte sie. »Wenn Mama und Papa kommen und ich schlafe noch nicht, werde ich geschimpft.« »Mama und Papa«, sagte Edo dumpf und nickte. Sein Schicksal und sein Versprechen kam ihm wieder in die Erinnerung. »Natürlich. Edo wird jetzt gehen.« Tananaika reichte ihm ohne Scheu ihre kleine Hand. »Kommst du mich wieder besuchen? Du mußt es mir versprechen. Ich bin so oft allein und darf nicht hinaus.« Edo stand auf und nahm die Hand des Mädchens. In seinen Augen bildeten sich kaum sichtbare Tränen. »Edo kommt wieder. Edo verspricht es.« »Ganz bestimmt?« »Edo garantiert dafür.« Er erinnerte sich an die Bedeutung des Wortes, das ihm Atlan erklärt hatte.
Vorsichtig öffnete er die Tür. Er winkte Tananaika noch einmal zu, dann war er verschwunden. Die Lichter in dem Gang waren schon abgedunkelt. Es war jetzt die Nachtperiode. Der Chamäleonmensch paßte sich der Umgebung an. Mit ruhigen Schritten ging er zum nächsten Antigravschacht. Dort orientierte er sich. Der Weg zu Atlan und Valara war nicht weit. Im Schutz des Dämmerlichts würde er schnell hingelangen. An diesem Tag hatte er ein ganz neues Gefühl kennengelernt. Er hatte Freunde. »Atlan, Valara, Argan«, murmelte er vergnügt. »Und Tananaika.« Bei der nächsten Gelegenheit würde er das Mädchen wieder besuchen. Es besaß so schöne Spielsachen. 5. Für Atlan und Valara Brackfaust verrannen die Stunden dieses Tages zäh. Sie wagten sich nach dem Debakel der SOL nicht aus ihrem Versteck, denn die Hektik und die Erregung, die in dem Schiff vorherrschte, blieb ihnen nicht verborgen. Endlich kam Argan U zurück. Er brachte neue Verpflegung und wichtige Informationen mit. So konnte sich der Arkonide ein Bild von dem gescheiterten Fluchtversuch der SOL machen. »Ist Edo nicht wieder aufgetaucht?« fragte der Puschyde. Atlan schüttelte den Kopf. »Wir müssen damit rechnen, daß er durch das Durcheinander aufgehalten worden ist. Ich warte noch bis Mitternacht. Die allgemeine Erregung müßte dann wohl abgeklungen sein. Wenn Edo nicht kommt, suche ich auf eigene Faust eine Sprechstelle.« Er wurde von seinen Zweifeln erlöst, denn kurz nach Beginn der Nachtperiode traf Edo ein. Der Chamäleonmensch wirkte
geistesabwesend. Atlan hatte Mühe, von ihm zu erfahren, ob er eine geeignete Kontaktstelle zu SENECA gefunden hatte. Edo bestätige dies zwar, aber er war nicht in der Lage, den Ort zu beschreiben. »Edo kann dich aber hinführen«, behauptete er. Atlan war damit einverstanden. »Ich brauche Werkzeuge«, meinte er. »Die Stelle ist sicher abgeschlossen.« Argan erklärte sich sofort bereit, bei der Beschaffung behilflich zu sein. Er machte sich auf den Weg. Nach einer knappen Stunde tauchte er mit einem kleinen Paket von Allroundwerkzeugen wieder auf. Atlan prüfte sie. »Das genügt mir. Wir brechen auf.« Sie schickten Argan vor, um die nähere Umgebung ihres Verstecks zu prüfen. Dann folgten sie vorsichtig. Valara Brackfaust hängte sich ihren kleinen Extra Piex an die Schulter. Der Instinktwarner bot eine zusätzliche Sicherheit vor Gefahren aller Art. »Alles in Ordnung«, berichtete der Puschyde. »Viel Glück.« Edo führte Atlan und Valara durch die Gänge und Schächte der SZ‐1. Er machte sich dabei völlig unsichtbar. Atlan drückte ihm eine kleine Zange in die Hand, damit er bei der schwachen Beleuchtung den Paria nicht verlieren konnte. Sie begegneten einmal zwei Solanern, aber die schenkten ihnen keine Beachtung. Edo hielt die Zange dabei so hinter seinen Körper, daß man sie nicht sehen konnte. Atlan überlegte nur kurz, was die Solaner wohl getan hätten, wenn sie die schwebende und auf und ab tanzende Zange plötzlich gesehen hätten. »Hinter dieser Tür ist eine Halle«, sagte Edo schließlich. »Es gibt drei Türen auf der anderen Seite. Hinter einer ist die Stelle, die du suchst.« Valara wollte den Eingang öffnen, aber in diesem Moment ließ sich Piex fallen. Sie fing ihn auf und blickte Atlan an. »Gefahr«, sagte sie. »Auf Piexʹ Instinkt kann ich mich verlassen.«
»Soll Edo vorangehen?« fragte der Chamäleonmensch. »Edo wird nicht gesehen.« »In Ordnung, Edo.« Der Arkonide betätigte den Öffnungsmechanismus, und Edo verschwand in der Halle. Schon nach wenigen Minuten kam er zurück. »Niemand da«, behauptete er. »Merkwürdig.« Valara hängte Piex an die Wand neben dem Eingang, aber der kleine Igel ließ sich sofort wieder fallen. Irgendwo mußte etwas nicht stimmen. Atlan zögerte. Er hatte auf der SOL‐Farm persönlich die besten Erfahrungen mit Valaras kleinem Freund gemacht. Der igelähnliche Extra irrte sich nicht. Aber es gab keinen Hinweis auf die vermeintliche Gefahr. »Egal«, entschied der Arkonide. »Ich will nicht länger warten.« »Edo hilft dir schon«, brummte der Chamäleonmensch gutmütig. Im Innern der Halle waren verschiedene Geräte abgestellt. Atlan suchte sorgfältig alles ab, aber es zeigte sich nichts, was ein Grund für Piexʹ Reaktion sein konnte. »Diese Tür ist es«, sagte Edo. »Sie ist verschlossen.« Das Codeschloß war ohne Strom. Eine gewaltsame Öffnung war auch mit den Werkzeugen nicht möglich. Atlan suchte die Nebenräume ab. Dabei stellte er fest, daß die Sprechstelle an der Wand installiert war, die zu der großen Halle wies. »Ich werde von hier aus die Verkleidung lösen«, erklärte er Valara. »Paß du bitte auf, daß niemand kommt.« »Edo paßt auch auf.« Der Ausgestoßene genoß es sichtlich, daß er seinem Freund helfen konnte. Die Terra‐Idealistin war nach wie vor beunruhigt, denn Piex signalisierte Gefahr. Er blieb an keiner Stelle in seiner geliebten senkrechten Lage hängen. »Vielleicht gibt es ein Sensorsystem«, vermutete Valara, »das auf unser Eindringen reagiert.« Atlan hatte unterdessen die ersten Wandverkleidungen
abmontiert. Ein Gewirr aus Drähten und Schaltungen wurde sichtbar. Mit Hilfe seiner wenigen Werkzeuge und der in die Sprechstelle eingebauten Prüfeinrichtungen konnte er schnell feststellen, daß dieser Anschluß an SENECA voll betriebsfähig war. Noch waren Vorbereitungen zu treffen. Ein kleines eingebautes Schaltpult mit einer Tastatur kam zum Vorschein. Unmittelbar sprechen konnte Atlan von dieser Seite aus nicht, da die Mikrofoneinrichtungen im Innern des Raumes waren. Geduldig arbeitete er weiter. Nur gelegentlich blickte er sich um. Valara stand in einigen Metern Entfernung und hielt Piex in der Hand. Edos Aufenthalt konnte Atlan im Augenblick nicht feststellen. Der Chamäleonmensch stand irgendwo im Halbdunkeln und war nicht zu erkennen. »Piex ist sehr unruhig«, rief die Terra‐Idealistin. »Bitte beeile dich.« Atlan nickte nur und arbeitete konzentriert weiter. Er mußte eine zusätzliche Schaltung vornehmen, da ihm der direkte Zugang zu den Bedienungsinstrumenten verwehrt war. Schließlich war es aber soweit. Eine kleine Kontrollampe zeigte an, daß die Verbindung zu SENECA hergestellt war. Gerade als Atlan die ersten Zeichen in die Tastatur eingeben wollte, entstand ein Geräusch. Valara stieß einen leisen Warnruf aus. Ein Tor der Halle glitt zur Seite. Atlan ließ sofort alles Werkzeug fallen. In dem Türrahmen standen drei Männer. An den Uniformen war zu erkennen, daß es sich um einen Vystiden und zwei Ferraten handelte. Die drei SOLAG‐Männer kamen mit zügigen Schritten auf Atlan und Valara zu. Der Vystide hielt eine Waffe in der Hand. »Was macht ihr hier?« fragte er barsch. »Wer seid ihr?« Atlan antwortete nicht. Er deutete nur auf die geöffnete Verkleidung an der Wand, um die drei Männer abzulenken.
Gleichzeitig stellte er dabei fest, daß von Edo keine Spur zu sehen war. »Abgeschaltete Sprechstellen werden fernüberwacht«, bemerkte einer der beiden Rostjäger. Er deutete auf einen kaum sichtbaren Punkt über dem verschlossenen Eingang. Atlan erkannte eine Minikamera, die bislang seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Das war also die Erklärung für Piexʹ Verhalten. Er hatte keine Zeit, den Instinkt des kleinen Extras zu bewundern, denn in diesem Moment griff Edo an. Der Chamäleonmensch tauchte buchstäblich aus dem Nichts auf. Er packte mit seinen langen Armen gleichzeitig nach dem Vystiden und nach einem Ferraten. Alle drei stürzten zu Boden. Der andere Ferrate wollte die Flucht ergreifen, aber Valara war noch schneller. Sie riß ihr Bein in die Höhe und ließ den Mann darüberfallen. Atlan war schnell zur Stelle und setzte den Ferraten mit einem Kinnhaken matt. Ein dumpfer Knall ließ ihn herumfahren. Edo stand breitbeinig da und schlug die Köpfe seiner beiden Gegner gegeneinander. Auch sie sanken bewußtlos zu Boden. Der Arkonide nahm die Waffe des Vystiden an sich. »Ich muß mich wirklich beeilen«, sagte er. »Wer weiß, wer hier noch auftaucht.« Er feuerte einen Schuß auf die versteckte Kamera ab. »Wie hat Edo das gemacht?« Der Mutierte grinste breit und zeigte sein kräftiges Gebiß. »Gut, Edo. Paß auf, daß sie nicht wieder zu sich kommen.« Atlan wandte sich wieder der Eingabetastatur zu. Seine Finger flogen schnell über die Sensoren. Atlan ruft SENECA. Über dem Tastenfeld erschien auf einem Minidisplay das Symbol der Bioppsitronik. Dann leuchtete eine Schrift auf.
DIE BENUTZUNG DIESES ANSCHLUSSES IST UNTERSAGT. Egal, tippte Atlan ein. SENECA, du mußt mich erkennen. Ich bin Atlan, der Arkonide. Ich gehöre zu den besonders Bevollmächtigten. Ich bin in großer Sorge wegen der Zustände in der SOL. Du mußt mit helfen, wieder normale Verhältnisse herzustellen. Er ließ seine frühere Codenummer folgen, die niemand außer SENECA, ihm und Perry Rhodan kannte. Die Antwort war enttäuschend. SORGEN SIND EIN BESTANDTEIL DES NORMALEN TÄGLICHEN LEBENS. »Es ist zum Verrücktwerden«, murmelte Atlan. Es geht um die SOL und um die Solaner, SENECA! NATÜRLICH, kam die Antwort. ES GEHT IMMER UM DIE SOL UND DIE SOLANER. Der Arkonide versuchte es mit einer anderen Methode. Hast du Schwierigkeiten? Bist du gestört? DAS WÜSSTE ICH ABER. Dieser Satz war zwar für SENECA typisch, aber er half Atlan auch nicht weiter. Wo finde ich die Schläfer? Wer sind sie? ÜBER ALLEM STEHT DIE ERFÜLLUNG DES AUFTRAGS. Atlan konnte eine gewisse Nervosität nicht verbergen. Für ihn stand fest, daß SENECA entweder nicht antworten wollte, oder daß das Gerücht sich bewahrheitete, das von einer teilweisen Störung der Biopositronik sprach. Erkennst du mich wenigstens? lautete seine nächste Frage. NATÜRLICH. DU BIST ATLAN, DER BENUTZER EINES VERBOTENEN ANSCHLUSSES. SORGE DAFÜR, DASS DIE ROBOTER IN HANGAR SZ‐2‐414 AKTIVIERT WERDEN. ICH BRAUCHE SIE, UM DICH FESTZUNEHMEN. SENECA. Ich bin Atlan. Du mußt meine Fragen richtig und vollständig beantworten. Er blickte sich kurz um, aber die drei SOLAG‐Männer rührten sich nicht. Edo und Valara standen bei ihnen.
DAS WÜSSTE ICH ABER, kam wieder die Antwort. Wo sind Romeo und Julia? Wer sind die Schläfer? Warum unternimmst du nichts gegen den Zugstrahl, der die SOL in das Verderben zieht? Antworte! »Ich höre Schritte«, rief die Terra‐Idealistin. Und SENECA antwortete: DAS GESPRÄCH IST HIERMIT BEENDET. Die Schrift erlosch. Eine weitere Eingabe war nicht möglich. Atlan grübelte noch darüber nach, ob SENECA den Anschluß desaktiviert hatte, oder ob es die Leute von der SOLAG gewesen waren. Schließlich hatte er die Kamerasonde zerstört, und das konnte nicht lange unbemerkt geblieben sein. Wieder glitt das Tor auf, durch das die drei SOLAG‐Männer gekommen waren. Atlan erblickte einen Roboter. Den Typ kannte er nicht. Offensichtlich handelte es sich um eine Konstruktion, die erst nach seiner Zeit auf der SOL entwickelt und gebaut worden war. Deshalb schoß er ohne Zögern auf den Kopf der Maschine. Der Roboter wich auf den Gang zurück, aber der Eingang blieb offen. »Weg von hier«, rief Atlan Valara und Edo zu. Er deutete auf den anderen Eingang, durch den sie gekommen waren. Die Terra‐Idealistin wartete nicht. Sie rannte sofort los. Edo stand halb verschwommen da und blickte sich verwirrt um. »Los, Edo!« brüllte Atlan. Er versetzte dem Chamäleonmenschen einen leichten Stoß. Erst als ein Waffenarm sichtbar wurde und ein breiter Feuerstrahl durch den Raum fegte, setzte sich Edo in Bewegung. Der Schuß des Roboters lag viel zu hoch, als das er eine Gefährdung dargestellte hätte. Vielleicht wollte die Maschine aber auch nur einen Warnschuß abgeben. Edo folgte Atlan dichtauf. Der Korridor war leer. Valara hatte schon einige Meter Vorsprung. Sie rannte auf den Antigravschacht zu, durch den sie auf dieses Deck gekommen waren. Der Gang lag im Halbdunkel der Nachtzeit. Ringsum war es
ruhig. Dadurch wurden die Schritte und Rufe hinter ihnen um so deutlicher hörbar. Atlan drehte sich um. Am hinteren Ende des Korridors näherten sich mehrere Ferraten im Eiltempo. Er feuerte einen langen Schuß gegen die Decke ab. Das verdampfte Metall bildete eine dichte Rauchwolke, so daß den Verfolgern vorerst die Sicht versperrt wurde, Hintereinander sprangen sie in den Schacht und glitten nach unten. »Auf dem nächsten Deck rechts ,raus«, sagte Atlan. Valara nickte und faßte Edo an den Arm. Der Mutierte schien die Worte nicht verstanden zu haben. »Edo flieht nicht«, sagte er. »Edo kämpft. Edo ist stark.« »Wir sind auch stark«, beruhigte in Atlan. »Aber manchmal muß man auch fliehen.« Die Geräusche der verfolgenden Ferraten wurden in dem Schacht hörbar, als sie diesen verließen. Der Flur, der vor ihnen lag, war bis auf ein Notlicht völlig abgedunkelt. »Wo sind wir?« fragte die Terra‐Idealistin. Atlan hatte etwas die Orientierung verloren und schwieg. Edo antwortete jedoch sofort: »Bei den Abfällen.« Sie hasteten weiter, aber schon nach wenigen Metern knallte vor ihnen eine Stahlplatte senkrecht zu Boden. Der Weg war versperrt. »Verdammt«, knurrte der Arkonide. Im gleichen Moment wurde der Rückweg auf die gleiche Weise geschlossen. »Edo hat es doch gesagt«, meinte der Mutierte. »Wir sind bei den Abfällen.« »Was bedeutet das, Edo?« fragte Atlan. Der Chamäleonmensch machte ein nachdenkliches Gesicht. Er blickte an dem gut zwanzig Meter langen Stück Korridor entlang. Nirgendwo gab es eine Öffnung oder den Hinweis darauf. »Edo war nur einmal hier«, sagte er. »Das war mit Papa. Der
arbeitete hier. Hier werden die Abfälle gesammelt. Wartet nur ab. Es geht automatisch.« Atlan hatte Zweifel an der Richtigkeit von Edos Worten. Aus seiner Zeit kannte er eine Vorrichtung wie diese nicht. Ein leises Summen wurde hörbar. Erst glaubte Atlan, daß sich die künstliche Schwerkraft zu verändern schien. Dann aber merkte er, daß sich der ganze Abschnitt um seine Längsachse zu drehen begann. Sie rutschten zur Seite und standen kurz darauf auf der ursprünglichen Seitenwand. Edo schien das zu belustigen. Die Drehung setzte sich fort, bis die Decke mit dem einzigen Notlicht unter ihren Füßen war. »Jetzt geht es auf«, sagte Edo. »Haltet euch fest. Wenn keine Abfälle da sind, fallen wir sehr tief.« Atlan verstand immer noch nicht, was wirklich geschah. Erst als sich vor seinen Füßen ein Spalt bildete, ahnte er etwas. Die Öffnung wurde schnell größer. Zwei Platten der eigentlichen Decke glitten auseinander. Mit einem Sprung setzte Atlan über die Öffnung hinweg zu der Seite, auf der Valara und Edo standen. »Es ist egal, auf welcher Seite wir stehen«, behauptete Edo. »Wir fallen sowieso in das Loch.« Ein durchdringender Geruch kam aus der Tiefe nach oben. Es roch nach Moder und Fäulnis. Die beiden Platten glitten immer weiter auseinander. Die Öffnung unter ihnen lag in völligem Dunkel. »Verdammt, Valara«, sagte Atlan. »Was ist das?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete die Frau, »aber hier stinkt es penetrant nach Abfällen.« »Früher hat man Abfälle in Konvertern gesammelt und verwertet«, meinte Atlan. »Man wird uns doch nicht in das All ausstoßen?« Die kleine Notbeleuchtung verschwand unterhalb der senkrechten Platte. Jetzt war überhaupt nichts mehr zu sehen. Nur
das leise Geräusch der sich bewegenden Wände war noch hörbar. »Edo, wie tief geht es da hinab?« war Atlans letzte Frage. Der Chamäleonmensch antwortete nicht mehr. Atlan spürte die Wand in seinem Rücken, die ihn unablässig näher auf die Öffnung zuschob. Dann hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Neben sich hörte er Valaras Aufschrei, der schnell in der Tiefe verschwand. Der Sturz schien endlos, aber der Aufprall war weich. Atlan versank bis zu den Knien in einer teigigen Masse. Neben sich hörte er Geräusche. Er rief nach seinen Begleitern. »Ich lebe«, antwortete Valara. »Aber ich glaube, ich habe mir den Arm verstaucht. Hier stinkt es ja furchtbar.« »Edo ist auch da«, meldete sich der Ausgestoßene. Über ihnen begann sich die Decke wieder zu schließen. Dem Geräusch nach schätzte Atlan, daß sie mindestens zehn Meter tief gefallen waren. Er suchte nach seiner Waffe, aber die mußte er bei dem Sturz verloren haben. Seine Idee, mit dem Feuerstrahl die Umgebung zu erhelllen, mußte er wieder fallen lassen. Als sich die Decke völlig geschlossen hatte, glimmte jedoch ein kleines Licht auf. Atlan erkannte seine Begleiter, die wie er bis zu den Knien in Dreck und Abfällen wateten. Er wartete ab, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Der Raum war würfelförmig und maß an jeder Seite etwa 40 Meter. Ein Ausgang oder eine Öffnung war nicht zu sehen. Alle Wände waren gleichmäßig glatt und stumpf. Nur auf einer Seite war ein waagrechter, mannshoher Spalt zu erkennen, in den riesige Zacken wie ein übergroßes Gebiß von oben und unten ragten. »Eine Müllverwertungsanlage«, vermutete Atlan. »Sagt Edo doch. Hier hat Papa die großen Zähne repariert.« Der Chamäleonmensch zeigte auf das große Mahlwerk.
»Du warst doch schon einmal hier, Edo, oder?« »Ja, Edo war hier. Aber da war Edo noch bei Mama und Papa.« »Wie ist dein Papa denn wieder hier herausgekommen?« Edo machte ein nachdenkliches Gesicht, während sich Valara ihren schmerzenden Arm hielt. »Edo weiß es nicht mehr.« »Denk nach. Wir sitzen sonst für immer hier fest. Das willst du doch nicht.« »Natürlich nicht, Freund Atlan. Aber du bist viel schlauer als Edo. Du mußt es bestimmt wissen.« »Ich war noch nie hier, mein Freund«, sagte Atlan sanft. »Wenn es dir nicht einfällt, gibt es keinen Ausweg.« »Edo weiß es nicht«, sagte der unglücklich. Er begann leise zu weinen. »Ich suche alles ab«, entschied der Arkonide. »Bleibt hier stehen und verhaltet euch ruhig. Wenn die Ferraten merken, daß wir in diesem Müllschlucker gelandet sind, werden sie bald auftauchen.« Er stapfte durch den Dreck auf die nächste Wand zu und begann den Raum systematisch abzusuchen. Mit einem gräßlichen Knirschton setzte sich das Mahlwerk in Bewegung. Eine Vorrichtung, die unter dem Müll im Boden sein mußte, schob in rhythmischen Bewegungen die Abfälle auf das riesige Stahlgebiß zu. Der Müll türmte sich in ihrem Rücken auf und drängte sie unaufhörlich auf den mahlenden Spalt zu. Valara stürzte vornüber in den Dreck. Atlan sprang hinzu und konnte sie gerade noch hochziehen, bevor sie von dem Müll überrollt wurde. Sie kletterten an dem sich auftürmenden Abfall hoch, um die dem Mahlwerk gegenüberliegende Wand zu erreichen. Edo jammerte laut und rief nach seiner Mama. Sie schafften es, mit vereinter Hilfe den Müllberg zu erklimmen. Wie sinnlos dieser Versuch war, merkten sie erst, als sie die Wand
endlich erreichten. Denn diese bewegte sich unablässig auf die Zähne des Mahlwerks zu. 6. Chart Deccon saß einsam vor einem Berg von Informationen. Sein Hauptaugenmerk galt den Untersuchungsergebnissen des Fluchtversuchs. Er hoffte, einen Hinweis zu finden, der doch noch einen Ausweg aus der hoffnungslosen Situation aufzeigte. Von den beiden Trupps, die während des Manövers außerhalb der SOL gewesen waren, hatten nur drei Ferraten und fünf Buhrlos überlebt. Der Verlust der Menschen kümmerte den High Sideryt nur wenig. Was ihn beschäftigte, war vielmehr die traurige Erkenntnis, daß die Meßergebnisse der ausgeschleusten Trupps verlorengegangen waren. Über die energetische Struktur des gewaltigen Zugstrahls lagen damit immer noch keine Analysen vor. Es stand lediglich fest, daß die geballte Kraft der SOL nichts gegen ihn ausrichten konnte. Der Weg ins Ungewisse ging für die SOL weiter. Was am Ende stehen würde, wußte niemand. Wütend schob Deccon einen Stoß Lesefolien zur Seite. Das Problem Zugstrahl mußte er vorerst außer acht lassen. Er beschloß abzuwarten, wie sich die Sache entwickeln würde. Er blätterte die zahlreichen anderen Meldungen durch, die eingegangen waren. Es brodelte an Bord des Generationenschiffs. Die Unruhe steigerte sich in einzelnen Bereichenʹ zu panikartigen Ausbrüchen. Die Vystiden und ihre Helfer hatten alle Hände voll zu tun. Eine Meldung eines Ahlnaten erregte sein Interesse. Auf einer SOL‐Farm hatte man ein Rauschgiftnest ausgenommen. Der High Sideryt erinnerte sich daran, daß ihm vor Wochen schon einmal eine
Information zugespielt worden war, in der von schwerem Drogenmißbrauch die Rede war. Mit den Vorkommnissen auf dieser SOL‐Farm schien dieses Problem zumindest beseitigt. Dann las er interessiert weiter, als der Name Valara Brackfaust auftauchte. Die Chefin der Terra‐Idealistin war ihm ein Dorn im Auge, denn nach seiner Meinung gehörte sie auch zu den Verbreitern von Unruhe und falschen Ideen. Dann kam die Beschreibung eines geheimnisvollen Fremden. Sofort mußte er an den Mann denken, der von den Buhrlos an Bord gebracht worden sein sollte. Noch stand er all diesen Berichten sehr skeptisch gegenüber. Die Beschreibung deckte sich jedoch genau mit der bereits vorhandenen. Einen Hinweis darauf, wie sich dieser Fremde mit der Anführerin der Terra‐Idealisten verbunden hatte, gab es nicht. Die Schilderung der Vorfälle auf der SOL‐Farm zeigte jedoch ganz klar, daß es sich hier um einen raffiniert handelnden Mann drehte. Die Art und Weise, wie er an dem Auffliegen des Rauschgiftrings mitgewirkt hatte, bewies, daß der Fremde über einen scharfen Verstand verfügte. Verblüffend war die Methode seiner Flucht, bei der er Valara Brackfaust, die schon in den Händen der Ferraten gewesen war, mitnehmen konnte. In dem Bericht stand einName. Atlan. Es war das erstmal, daß der High Sideryt diesen Namen zu hören glaubte. Wenigstens war bislang über den geheimnisvollen Mann noch kein Name gefallen. Atlan. Deccon schritt langsam über die schweren Teppiche seiner Zentrale. Eine dunkle Erinnerung drängte sich in sein Gedächtnis. Mit Hilfe einer kleinen Positronik, die er nur für persönliche Probleme benutzte, ließ er nach den Beschreibungen des Fremden ein Phantombild anfertigen und auf einen Bildschirm übertragen.
Er starrte lange auf das Bild und versuchte Klarheit über die verschwommene Erinnerung zu gewinnen. Atlan! Dieser Name existierte irgendwo in der fernen Geschichte der Solaner. Es gab Legenden und Märchen an Bord, in denen er auftauchte. Seine Vorgängerin hatte einmal erwähnt, daß er gut daran täte, wenn er gegen die bösen Gestalten der Vergangenheit mit aller Macht ankämpfen würde. Er knüpfte eine gedankliche Verbindung zu einer anderen Figur der frühen Geschichte der SOL. Perry Rhodan. Da gab es eine Verbindung zwischen diesen beiden Männenr. Die Geschichte war über 200 Jahre alt. Diese Männer lebten nur noch in verfälschten Erzählungen. Aber eins wußte Deccon genau. Der Name Rhodan stand für alles Böse und Schlechte, das jemals den Solanern angetan worden war. Folglich konnte es mit diesem Atlan nicht viel anders sein. Er dachte dabei keine Sekunde daran, daß der Fremde wirklich der Atlan der Vergangenheit sein könnte. Unmöglichkeiten schieden bei seinen Überlegungen von vornherein aus. Im Raum des High Sideryt gab es eine kleine Bibliothek mit Info‐ Kassetten. Dort mußte er etwas über den Begriff Atlan finden. In dem Logbuch der SOL stand der Name nicht. Dieses war erst zu einem Zeitpunkt angelegt worden, als das Schiff in der alleinigen Hand der Solaner war. Über die Zeit davor, die schlecht und damit unwichtig war, gab es nicht viele Aufzeichnungen. Er gab das Stichwort Atlan in die Infothek ein und ließ von der Jetztzeit an rückwärts alle Stichworte absuchen. Die ersten Informationen gab es aus der Zeit des frühen High Sideryt. Sie besagten kaum viel mehr, als Deccon schon wußte oder ahnte. Dieser Atlan war in der Vorgeschichte der SOL auf dem Schiff gewesen. Er hatte damals zu den engsten Freunden Rhodans gehört.
»Dieser Atlan muß aus unserer Geschichte ausradiert werden«, hörte er die Stimme eines High Sideryt. »Er verkörpert wie alle anderen Menschen jener Vorzeit den geistigen Gegenpol zu der einzig wahren Lebensidee, nämlich unabhängig von Planeten mit der SOL für alle Ewigkeit im freien Raum zu existieren. Ich empfehle dringend allen meinen Nachfolgern, diesen Kampf zu unterstützen. Wir können nicht in Frieden leben, wenn der Irrglaube von Männern wie Rhodan oder Atlan weiter in unseren Köpfen spukt.« Auf mehreren anderen Info‐Kassetten der Frühzeit fanden sich ähnliche Aussagen und Hinweise. Ausgerechnet in der Aufzeichnung eines weiblichen High Sideryt, der nur knapp ein Jahr im Amt gewesen war, fand Deccon den entscheidenden Hinweis. »Wir verfälschen bewußt unsere Geschichte«, hieß es dort, »indem wir die Männer der Vergangenheit anders darstellen, als sie es wirklich waren. Selbst die Schöpfer unseres geliebten Schiffes werden seit Jahren in die Verdammnis gezogen. Dies geschieht ganz offensichtlich aus dem einfachen Grund, alles, was anders ist als unsere Lebensart, in einem schlechten Licht zu überliefern. Ich habe daher ein paar Aufzeichnungen zusammengetragen, die die wahre Vorgeschichte der SOL betreffen. Ich stimme meinen Vorgängern zu, wenn sie gefordert haben, daß dieses Wissensgut nicht für die Solaner im allgemeinen bestimmt ist. Da ich aber der Ansicht bin, daß es nicht verlorengehen sollte, und da entsprechende Sperren es für SENECA unmöglich machen, darüber Auskünfte zu geben, habe ich eine Kassette mit Aufzeichnungen darüber angelegt. Diese Kassette befindet sich nicht in dieser Infothek. Sie ist in der Zentrale des High Sideryt. Den genauen Platz gibt XXXXXXXX auf das Stichwort XXXXXXXan.« An zwei Stellen war der Text nachträglich unkenntlich gemacht worden. Für Deccon stand fest, daß die erste Stelle nur SENECA lauten konnte. Was mit dem Stichwort gemeint war, blieb allerdings
ein Rätsel. Er ging zu der Verbindungsstelle zu SENECA und rief die Biopositronik. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis eine Antwort kam. Die Kontakte mit SENECA gestalteten sich immer schwieriger. Deccon trug sein Anliegen vor. Er gab dazu den Namen des High Sideryt an, der die bewußten Aufzeichnungen angelegt hatte. »Das Stichwort ist gelöscht«, schloß er. »Daher brauche ich deine Hilfe.« »Ich weiß, wovon du sprichst. Mein Programm sieht jedoch nicht vor, das Stichwort preiszugeben.« SENECA antwortete mit seiner wohlklingenden Kunststimme. »Es liegen besondere Umstände vor«, behauptete Deccon. »Da das Codewort verlorengegangen ist, würde diese Information für alle Zeiten verschwunden bleiben. Es gibt nur einen Weg. Du nennst mir die Stelle, wo die Aufzeichnung verborgen ist.« »Das ist unmöglich. Ich könnte dir allenfalls das Stichwort nennen, wenn es einen besonderen Grund gäbe.« Deccon begann die Positronik zu hassen, weil sie stur handelte. Außerdem erschien ihm ihr Verhalten unlogisch. »Du weißt, in welcher Gefahr wir schweben. Deshalb brauche ich die Informationen. Ohne sie kann ich die Gefahr nicht abwenden.« Das war eine glatte Lüge, aber Deccon glaubte, daß SENECA dies nicht merken könnte. »Ich muß nachdenken«, sagte SENECA. »Das ist doch kompletter Unsinn.« Deccons Geduld war am Ende. »Du kannst in Sekundenbruchteilen Millionen verschiedene Überlegungen anstellen, und da willst du mir weismachen, du müßtest nachdenken.« »Es ist ohne Bedeutung«, sagte SENECA kühl, »ob du das versteht oder nicht. Du mußt warten.« Chart Deccon verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging auf und ab. Erst nach fünf Minuten meldete sich SENECA wieder.
»Das Stichwort lautet ALGSTO‐GERMAHT.« »Endlich«, sagte der High Sideryt. »Nachdem diese Klippe überwunden ist, kannst du mir jetzt sagen, wo die Kassette verborgen ist.« »Das kann ich nicht.« »Und warum nicht, zum Teufel?« »Du hast mir das Stichwort nicht genannt.« Deccon stöhnte auf. »Das ist doch barer Unsinn.« »Das Stichwort ist falsch. Kann ich abschalten?« »Nein!« Deccon brüllte die Worte heraus. »Das Wort lautete Algomerstat.« SENECA kicherte! »Du bist nah dran.« Der High Sideryt überlegte kurz. Er sah ein, daß er mit Ungeduld nichts gegen die oft wirr argumentierende Maschine ausrichten konnte. »ALG‐STO‐GER‐MAHT«, sagte er langsam. »Warum nicht gleich? Du hältst mich nur von wichtigen Rechenarbeiten ab. Die Kassette befindet sich im linken Unterarm des Wachroboters Nummer 5. Zufrieden?« »Die Verbindung ist beendet«, fauchte Deccon. »Bitte schön«, kam SENECAs übertrieben höfliche Antwort. Der High Sideryt atmete auf, als das Licht auf der Konsole erlosch. Er beschloß, SENECA nicht so schnell wieder anzurufen. Oder war das etwa die Absicht der Biopositronik gewesen? Es gab keine klare Antwort. Er befahl den Wachroboter zu sich. Normalerweise standen die sieben Kampfmaschinen hinter einer Tarnwand. »Öffne deinen linken Unterarm«, befahl er, »und gib mit die Kassette, die dort aufbewahrt ist.« Deccon fürchtete nach der zähen Diskussion mit SENECA, daß jetzt wieder etwas nicht stimmen könnte, aber der Roboter führte die Anweisung kommentarlos aus und reichte ihm eine kleine Spule.
Rasch setzte er sie in das Lesegerät der Infothek ein und drückte auf den Starter. Nach einem Hinweis auf die besondere Bedeutung des Inhalts folgte ein kurzer Bericht über die Erde, ihre Situation im Mahlstrom, den Ausbruch der Aphilie und dem Start der SOL mit Perry Rhodan. Der Terraner wurde ausführlich geschildert, wobei seine Verdienste den Tatsachen entsprechend dargebracht wurden. Dann kam wieder eine Einblendung, die darauf hinwies, daß die Gedanken Rhodans die der Terraner waren und nicht die der Solaner. Die folgenden Ereignisse wurden nur gestreift. Deccon überflog sie, bis Atlan auftauchte. Für die SOL besaß der Arkonide nur eine geringe Bedeutung, da er erst viele Jahre nach dem Start von der Erde auf das Schiff gekommen war. Seine besondere Beziehung zu Perry Rhodan wurde ausführlich geschildert. Chart Deccon achtete kaum auf die erklärenden Worte. Er starrte fasziniert auf das Bild Atlans, das der Bildschirm des Lesegeräts immer wieder einblendete. Auf dem Schirm seiner Kleinpositronik stand noch das Phantombild des Fremden, das nach den Beschreibungen angefertigt worden war. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Bis auf ein paar belanglose Details glichen sich die beiden Männer aufs Haar. Der High Sideryt hielt die Info‐Spule an. Er stand auf und ging nachdenklich auf und ab. Daß der Fremde, der an Bord gekommen war, der echte Atlan sein könnte, lehnte er als absurd ab. Es gab also nur eine Lösung, und die Verbindung mit Valara Brackfaust untermauerte diese Vermutung. Zweifellos besaß die Terra‐Idealistin zahlreiche Informationen aus der Zeit vor der Selbständigkeit der SOL und über die Erde selbst. Für ihn als Solaner war Terra nichts weiter als ein symbolhafter Begriff. Die Vorfahren des Volkes der Solaner stammten von der
Erde. Das war alles, und das war nicht wichtig. Schließlich hatten die Solaner als erste den entscheidenden Schritt ins All gemacht. Valara Brackfaust mußte jemand aufgetrieben haben, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem früheren Atlan besaß. Das war die Lösung. Es war abzusehen, daß sie diesen als eine Art Galionsfigur für ihre Bewegung einsetzen wollte. Aus diesen Überlegungen, die nach Deccons Überzeugung zwingend waren, war dieser Mann, der sich Atlan nannte, automatisch sein Feind. Rätselhaft blieb nur noch, woher dieser Mann die Selbstsicherheit im Auftreten und die Raffinesse bei seinen Handlungen besaß. Für einen Moment liebäugelte Deccon mit der Idee, der falsche Atlan könnte irgendwo aus den Kreisen der Vystiden oder Ahlnaten stammen. Die Magniden schieden aus. Diese zehn Männer und Frauen kannte er durch und durch. Und von den niedrigeren Kasten war nicht zu erwarten, daß sie einen solchen Mann hervorbrächten. Was dieser Mann bislang vollbracht hatte, weckte Deccons Interesse. Das Geheimnis, das ihn umgab, mußte gelüftet werden. Jetzt, wo er über gute Bilder des echten und des falschen Atlan besaß, sollte es keine Schwierigkeit mehr sein, den Mann zu fassen. Er wählte über den Interkomanschluß das Hauptquartier der Vystiden an. Es dauerte nur Sekunden, bis Aksel von Dhrau auf dem Bildschirm erschien. Der eitle Vystidenchef sah nur das Symbol des Hig Sideryt auf dem Bildschirm, und schon fiel seine Maske ab. Unterwürfig fragte er nach dem Begehren des Bruders ohne Wertigkeit an. »Es treibt sich ein Mann auf der SOL herum, der unbedingt gefaßt werden muß. Wahrscheinlich hält er sich in der SZ‐1 auf, es sei denn, ihm wäre inzwischen ein Wechsel in einen anderen Teil des Schiffes gelungen. Der Mann ist gefährlich. Er geht raffiniert vor, so daß ihr äußerste Vorsicht wahren müßt. Sein wahrer Name ist unbekannt, aber er nennt sich Atlan. Wahrscheinlich befindet sich Valara Brackfaust, die Chefin der Terra‐Idea‐listen, in seiner
Begleitung. Auch sie ist festzunehmen. Ich will diesen Mann unter allen Umständen lebend. Wer ihn tötet, tötet sich automatisch selbst. Hast du das verstanden?« »Ich habe alles verstanden, Bruder ohne Wertigkeit«, antwortete von Dhrau gehorsam. »Gut, ich spiele dir jetzt Bilder des Mannes zu, die ihr vervielfältigt und an alle Vystiden und Haematen weitergeben werdet. Wenn ihr den Mann gefangen habt, so ist er mir persönlich vorzuführen.« Grußlos unterbrach der High Sideryt die Verbindung. Bei Aksel von Dhrau war er sich sicher, daß er den Unbekannten fangen würde. Er schaltete noch einmal die Spule ein und betrachtete die Bilder. Diesmal ließ er die Aufzeichnung zu Ende laufen. Als dort von einem Gerät mit dem Namen Zellaktivator die Rede war, hörte er skeptisch zu. Angeblich sollte diese Maschine ihrem Träger relative Unsterblichkeit verleihen. Der echte Atlan sollte nach der Überlieferung ein solches Gerät besessen haben. Deccon schüttelte den Kopf über diesen Unsinn. Wenn es solche Geräte wirklich gegeben hätte, dann hätte nur ein High Sideryt sie besitzen können. Also handelte es sich bei dieser Information um eine Vermischung von Wahrheit, Legende und Wunschtraum. Er schenkte diesem Punkt keine weitere Aufmerksamkeit. Sein Blick fiel auf den Stapel von Meldungen aus den letzten beiden Tagen, die er noch nicht gelesen hatte. Er schaltete die Hyperfunkempfänger ein, denn das gleichmäßige statische Rauschen wirkte beruhigend auf seine aufgewühlten Nerven. Er begann in den Folien zu blättern. Es war auch eine Meldung darunter, daß eine Mißgeburt namens Edo in der SZ‐1 ihr Unwesen trieb. Sie besagte, daß sich dieses Monster angeblich unsichtbar machen konnte. Chart Deccon legte die Folie auf den Haufen von Informationen, denen er keine Bedeutung zu schenken brauchte.
Edo klammerte sich ängstlich an Atlan, als die mannshohen Zähne des Mahlwerks immer näher rückten. Der Abstand zwischen der Wand und der mahlenden Öffnung betrug nur noch einen Meter. »Das Ding muß doch einmal stehenbleiben«, keuchte Valara. Aber die Wand rückte immer näher und näher. Der Gestank war unerträglich und raubte ihnen fast die Sinne. Das kleine Notlicht erhellte die Szene nur spärlich. Atlan versuchte, in dem Müll einen großen und schweren Gegenstand zu finden, um diesen quer zur Bewegungsrichtung der Wand so einzuklemmen, daß diese aufgehalten wurde. Aber auch dieser Versuch scheiterte. »Da!« rief Valara plötzlich. Ihre Hand zeigte auf das Mahlwerk. An einer Stelle, nur wenige Meter rechts von ihnen, fehlte einer der großen Zähne. Bei dem Zuklappen entstand hier eine Öffnung, die noch fast mannshoch war. Atlan schob Edo auf das Loch zu. Der Mutierte ließ alles willig mit sich geschehen. Die Terra‐Idealistin folgte dicht hinter ihm. »Geh du zuerst, Valara«, sagte Atlan. »Ich schiebe dir Edo durch. Und mach schnell.« Sie hatten kaum noch Platz zwischen der Wand und den mahlenden Stahlzähnen. Valara zwängte sich an den beiden vorbei und schlüpfte in die Öffnung. Sofort drängte Atlan Edo hinterher. Dann war die Wand auch schon vor den Zähnen angelangt. Atlan wurde förmlich in die Lücke gedrängt. Hinter dem Mahlwerk glitt er auf einer breiten Rutsche abwärts. Vor ihm schlitterten Valara und Edo in einBecken, in dem der zerkleinerte Müll mit Wasser vermengt wurde. Er sank bis zur Brust in den Morast. Neben ihm stand Edo. Die viel kleinere Valara hatte Mühe, wenigstens ihren Kopf über die Oberfläche zu halten. Über ihnen verstummte das Mahlwerk. Auch in diesem Raum brannte nur ein kleines Notlicht weit oben
an der Decke. Da die Augen aber an die Dunkelheit gewöhnt waren, konnte Atlan die Umgebung gut erkennen. Seitlich in einer Höhe von etwa fünf Metern über der Oberfläche war ein viereckiger Raum erkennbar. Das mußte eine Tür sein. Er machte Valara darauf aufmerksam. »Jetzt bleibt nur noch das Pro blem des Hinaufkommens.« »Ausgang«, sagte Edo und deutete in die gleiche Richtung. »Edo war hier auch schon einmal mit Papa. Aber da war der Dreck nicht hier drin.« Sie wateten langsam zu der Stelle, wo hoch über ihnen der rettende Ausgang zu sehen war. Aus der Nähe erkannte Atlan ein kleines Trittbrett vor dem Türrahmen. »Selbst wenn wir uns übereinander stellen«, meinte er, »kommen wir nicht hinauf. Man müßte den Wasserspiegel ansteigen lassen können.« »Wie meinst du das, Freund Atlan?« fragte der Paria. »Du kannst uns da auch nicht helfen, Edo. Ich dachte nur, daß wir an den Ausgang gelangen könnten, wenn das Wasser höher stände.« »Wenn das Wasser höher wäre?« Edo schüttelte den Kopf. »Für mich ist es hoch genug«, meinte Valara. »Ich kann nämlich nicht schwimmen.« »Nicht schwimmen?« echote Edo. »Edo kann alles. Edo kann schwimmen. Und Edo kann das Wasser höher machen. Edo ist ein halber Fisch. Paßt auf.« Er schnellte plötzlich in die Höhe und tauchte dann in die dreckige Brühe unter. »Was macht er?« staunte Valara. »Ich weiß es nicht.« Atlan stellte sich an die Wand und winkelte ein Bein ab. Dann packte er die Frau und stellte sie auf seinen Oberschenkel. Valara ragte so wenigstens bis zur Brust aus dem Dreckwasser. Sie stützte sich an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu
verlieren. »Für Solaner besteht kein sehr großes Schwimmbedürfnis«, meinte sie entschuldigend. Atlan lachte leise. »Ich dachte immer, du bist eine waschechte Terranerin.« »Ich will eine werden, Atlan.« »Du wirst es schaffen.« Edo tauchte nach über einer Minute wieder auf. Er schüttelte den Schmutz von seinem Körper. »Edo hat den Wassereinlaß gefunden und aufgedreht«, schnaufte er. »So wie Papa es mir einmal gezeigt hat.« Tatsächlich begann die Oberfläche schnell zu steigen. »Edo, du bist einsame Spitze«, lobte Atlan. »Mit deiner Hilfe werden wir es schaffen.« Der Chamäleonmensch streckte beide Arme hoch. »Gib Edo Valara. Edo kann für zwei schwimmen.« »Du bist ein lieber Kerl.« Valara ließ sich nach unten gleiten. Edo hielt sie mit einem seiner starken Flossenarme aus der sumpfigen Brühe. Das Wasser stieg jetzt immer schneller. Als nur noch knapp zwei Meter bis zu dem kleinen Sims fehlten, forderte Edo Atlan auf, auf seine Schulter zu steigen. Vorsichtig kletterte der Arkonide an dem Mutierten hoch. Der hielt ohne Mühe das Gleichgewicht, auch mit Valara unter einem Arm. Atlans Hände packten nach dem Vorsprung. Mit einem Klimmzug hievte er sich in die Höhe. Das Sims war sehr schmal, aber er konnte darauf stehen. Seine Hände suchten ein Öffnungsmechanismus. Er fand eine einfache Türklinke, wie sie sie früher nicht auf der SOL gegeben hatte. Zu seiner Erleichterung ließ sich die Tür ohne Schwierigkeiten öffnen. Er blickte in eine Maschinenhalle, die hell erleuchtet war.
Menschen sah er nicht, aber er konnte nicht den ganzen Raum überblicken. Neben dem Ausgang hing eine Leiter. Atlan packte sie und hängte sie an dem Sims ein. »Los!« rief er nach unten. »Auf die Leiter und nichts wie ʹraus aus dem Sumpf.« Er half Valara auf den letzten Tritten. Dann folgte Edo. Als die Tür hinter ihnen zufiel, starrten sie sich entsetzt an. Ihre Kleidung war voller Abfallreste und völlig verschmutzt. Plötzlich stieß die Terra‐Idealistin einen spitzen Schrei aus. »Piex!« Sie begann in ihrer Kombination zu wühlen. »Der arme Kerl war die ganze Zeit unter Wasser. Ich hatte ihn glatt vergessen. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.« Sie streichelte liebevoll das kleine Igelwesen, dessen Stacheln ganz glatt am Körper lagen. Doch dann richteten sich die dunkelgrünen Spitzen auf. Ein winziger Kopf wurde sichtbar. Er drehte sich in Valaras Richtung. Ein feiner Wasserstrahl spritzte auf und traf die Frau mitten in das Gesicht. »Ich nehme die Strafe an, Piex«, sagte sie fröhlich. »Auf das bißchen Dreck kommt es jetzt auch nicht mehr an. Aber jetzt sei wieder lieb.« Sie nahm den kleinen Extra und drückte ihn an die Wand. Piex blieb dort unbeweglich hängen. »In diesem Raum befindet sich niemand«, stellte sie kategorisch fest. »Auch die Luft ist hier sauber.« Atlan atmete tief durch. »So sehr wie heute bin ich noch nie mit beiden Ohren im Dreck gesteckt. Hoffentlich gibt es hier irgendwo eine Dusche oder eine Hygienekammer.« Sie ließen eine feuchte Dreckspur hinter sich, als sie sich auf die Suche machten. In einem Nebenraum fanden sie eine
Waschgelegenheit. »Du übernimmst die Wache«, sagte Atlan zu Valara. »Du hast schließlich den besten Wachhund.« Es gab Duschen und Heißluftanlagen. Eine halbe Stunde später standen sie wieder sauber in der Maschinenhalle. Piex hing immer noch an der Wand und rührte sich nicht. »Ich bin müde«, bekannte Valara. »Seit ich mit dir unterwegs bin, schlafe ich zu wenig.« »Edo ist auch müde. Edo hat auch Hunger.« »Weiß jemand, wo wir sind?« fragte Atlan. »Ich kenne diese Anlage zur Müllverarbeitung nicht. Früher gab es so etwas nicht auf der SOL.« »Edo weiß, wo wir sind. Soll Edo euch in unser Versteck führen?« »Wenn du das kannst. Etwas Ruhe kann uns nicht schaden.« Der Mutierte steuerte die Mitte des Raumes an. Dort öffnete er eine große Klappe. Warme Luft strömte ihnen entgegen. »Gute Abkürzung«, meinte er. »Hat Edo schon benutzt. Ganz saubere Rutschbahn.« Der Reihe nach kletterten sie in die Öffnung. Die warme Luft trieb die letzte Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung. In einer leichten Schräge glitten sie abwärts. Der Luftkanal zog sich durch mehrere Decks. Atlan war schon skeptisch, weil er nicht wußte, auf was er sich da eingelassen hatte, aber Edo rief immer wieder: »Keine Angst. Das ist ein guter Weg.« Sie purzelten in eine weitere Maschinenhalle, in der riesige Warmluftturbinen standen. Edo deutete auf die gegenüberliegende Seite. »Da ist der Ausgang. Menschen gibt es hier nicht, nur dumme Roboter.« Atlan erblickte zwei Maschinen, aber die nahmen keine Notiz von ihnen. Der Ausgang führte in einen Korridor. An der Beschilderung erkannte der Arkonide, wo sie waren. Ihr altes Versteck lag nur
noch ein Deck tiefer. Dort trafen sie eine Notiz von Argan U an. Der Puschyde hatte ein dickes Nahrungsmittelpaket gebracht, über das sich die drei heißhungrig hermachten. »Edo«, sagte Atlan. »Du scheinst hier jeden Winkel zu kennen. Ohne dich wären wir heute verloren gewesen. Du bist wirklich ein guter Freund.« »Edo will auch immer ein guter Freund sein.« »Hast du schon etwas von den Schläfern gehört? Ich glaube, es gibt irgendwo in dem Schiff eine Stelle, wo ein paar Menschen in dauernden Schlaf liegen.« Der Chamäleonmensch überlegte eine Weile. »Edo kennt so etwas nicht. Aber Edo ist jetzt ein Schläfer.« Er schluckte den letzten Bissen hinunter und legte sich hinter einer alten Blechkiste auf den Boden. Unmittelbar danach waren seine gleichmäßigen Atemzüge zu hören. Valara Brackfaust gähnte vernehmlich. »Leg dich auch hin.« Atlan streckte seine Hand aus. »Aber laß mir Piex. Ich bleibe wach.« Er lehnte sich an die Wand. Piex hing ruhig über seiner linken Schulter. Als auch Valara eingeschlafen war, dachte Atlan über seine Lage nach. Er war jetzt zwölf Tage an Bord der SOL. Er hatte nicht nur völlig unerwartete und veränderte Verhältnisse angetroffen, sondern vor allem so chaotische, daß sich der Auftrag der Kosmokraten gar nicht durchführen ließ. Irgendwie paßte das alles nicht in das Bild, das er sich gemacht hatte. Dann war da die Gefahr des Zugstrahls aus dem unbekannten Mausefalle‐System. Und ein SENECA, der ihn offensichtlich nicht akzeptierte. Nicht einmal die Gründe für das seltsame Verhalten der Biopositronik hatte er erkennen können. Er nickte über diesen trübseligen Gedanken ein, denn er wußte, daß Piex ihn warnen würde, wenn Gefahr im Verzug wäre.
Ein seltsamer Traum ließ ihn unruhig schlafen. Er selbst war die ganze SOL, und in seinem Innern tummelten sich die verrücktesten Gestalten. Er sah nur noch eine Lösung für die verfahrene Situation. Das vor ihm liegende Sonnensystem sollte die Rettung bringen. Er hatte es Kompost‐System genannt, denn die dunkle Sonne und alle ihre vielen hundert Planeten bestanden aus einer Ansammlung von in Wasser aufgeschwemmtem Müll und Gerümpel. Er suchte sich einen besonders reizvollen Planeten aus, auf dem er landen wollte. Die Nummer sieben bot sich an, denn hier waren der Schlamm und der Schlick am dicksten. Das Ungeziefer in seinem Bauch würde hier vergehen. Der Aufprall war weich, aber etwas Hartes drückte in den Mittelteil. Er bildete mit der SZ‐1 eine Hand, um die getroffene Stelle zu schützen. Ein Schmerz ließ ihn zurückzucken. Er wurde wach. Seine rechte Hand lag auf Piex, der über seine Schulter von der Wand gepurzelt und in seinem Schoß gelandet war. Mehrere Stacheln steckten in der Handfläche. * Auch der High Sideryt bekam in dieser Nacht keine Ruhe. Er hatte sich gerade in die von seiner Zentrale abgeteilten Kabinen zurückgezogen, um ein paar Stunden zu ruhen, als ihn ein Alarmsignal aufschreckte. Nach einer kurzen Erfrischung in der Hygienekammer eilte er in seinen zentralen Hauptraum. Automatisch flammte die volle Beleuchtung auf, aber auch sie konnte die düstere Atmosphäre kaum verdrängen. Der Anruf kam aus der Kommandozentrale des Mittelteils. Die Signallampen wiesen darauf hin, daß es sich um eine dringende Nachricht handelte, die einer der Magniden abzusetzen versuchte.
Deccon schaltete die Verbindung durch. Auf dem Bildschirm erschien der Kopf des schwarzhäutigen Palo Bow, der zu den erfahrenen Brüdern der ersten Wertigkeit zählte. Er kam ohne Umschweife auf das eigentliche Problem zu sprechen. Dazu blendete er Bilder der Raumbeobachtung ein. »Wir rasen auf eine neue Gefahrenquelle zu, Bruder ohne Wertigkeit. Die Ortung und die optischen Beobachtungssektionen haben diesen gewaltigen Brocken, einen Asteroiden oder etwas Ähnliches festgestellt.« Ein unregelmäßig geformter Weltraumkörper erschien auf dem Bildschirm. Das noch schwache Licht der Mausefalle‐Sonne spielte an seinen Rändern und erzeugte bizarre Schatten. »Der Asteroid wird ebenfalls von dem Zugstrahl in das unbekannte Sonnensystem gezogen«, erklärte Palo Bow weiter. »Nach allem, was wir bislang ausmessen und feststellen konnten, handelt es sich um einen toten Gesteinsbrocken. Seine Masse ist allerdings gewaltig, und sie liegt genau in unserer Flugrichtung. Trotz der unregelmäßig wechselnden Geschwindigkeit der SOL in bezug auf Mausefalle‐Sonne, nähern wir uns diesem Brocken ständig an. Seine Geschwindigkeit liegt durchschnittlich 63 Prozent unter unserer Eigengeschwindigkeit. Daraus ergibt sich, daß wir in etwa vier bis fünf Stunden an diesem Asteroiden zerschellen werden.« Der High Sideryt runzelte die Stirn. »Wo kommt der Brocken denn her?« fragte er. »Unbekannt. Er war jedenfalls viel früher hier als die SOL.« »Ausweichmanöver?« »Die Reparaturarbeiten an den Kraftwerken und am Antrieb sind weitgehend abgeschlossen. Die SOL wäre manövrierfähig. Das Problem liegt woanders. Unsere Aktionen sind durch die 3000‐ Kilometer‐Grenze eingeschränkt. Aus dem Zugstrahl kommen wir nicht heraus, und der Asteroid ist so groß, daß wir ihn unter diesen Vorgaben nicht einfach umfliegen können.«
Deccon fällte einen schnellen Entschluß. »Vier oder fünf Stunden sind eine lange Zeit. Da kann sich mit unserer Geschwindigkeit und der des Asteroiden noch viel ändern. Ich will, daß sofort einige Buhrlos und Ferraten aussteigen, um aus dem Leerraum genaue Beobachtungen und Messungen anzustellen. Über alle Veränderungen bin ich laufend zu informieren. Ihr stellt Berechnungen für alle denkbaren Ausweichmanöver an. Wenn die SOL sich mehr als 5000 Kilometer an den Asteroiden annähern sollte, wird Alarm ausgelöst. Dann sind sofort alle Transform‐ und Desintegratorgeschütze zu besetzen. Die Ferraten und Buhrlos müssen schnellstens an Bord.« »Du willst notfalls einen gewaltsamen Durchbruch. versuchen, Bruder ohne Wertigkeit?« fragte der Magnide. »Natürlich.« Chart Deccon unterbrach die Verbindung. Er wußte genau, daß ein neuerliches und vielleicht riskantes Manöver nicht nur die SOL gefährden würde. Die gerade wieder eingekehrte Ruhe wäre schnell wieder verflogen. Der High Sideryt war unzufrieden. Seit er das Amt innehatte, war es sein Bestreben gewesen, die SOL einer neuen und sinnvollen Aufgabe zuzuführen, die den Solanern ein Lebensziel bedeutet hätte. Die inneren Reibereien und Unruhen, sowie die gegensätzlichen Strömungen hätten dadurch unterdrückt werden können. Doch die Situation erlaubte solche Maßnahmen einfach nicht. Die unbekannte Gefahr von draußen diktierte das Geschehen. An ihr mußten sich alle Überlegungen und Schritte orientieren. Chart Deccon empfand die Verantwortung und die Einsamkeit als erdrückend. Er nahm eine Erfrischung zu sich, um für die nächsten Stunden gewappnet zu sein. Auf den dringend notwendigen Schlaf mußte er wieder einmal verzichten. Er prüfte die routinemäßig eingegangenen Meldungen durch. Der geheimnisvolle Fremde, der sich Atlan nannte, war immer noch nicht gefangen worden. Gleiches galt für Valara Brackfaust.
8. Mit einem Satz war der Arkonide auf den Beinen. Auch Valara Brackfaust erwachte von der Unruhe. Nur Edo schlief ungestört weiter. »Piex ist heruntergefallen«, sagte Atlan. Er lauschte nach draußen, aber alles blieb ruhig. Valara versuchte, den kleinen Kerl wieder an die Wand zu hängen, aber Piex rutschte sofort wieder abwärts. »Still!« Atlan deutete auf die Tür, wo ein Geräusch zu hören war. Der Stahlflügel glitt zur Seite. Blitzschnell nahmen Atlan und Valara hinter einer Kiste Deckung. »Seid ihr hier?« hörte sie eine bekannte Stimme. Es war Argan U, der Puschyde. Atlan richtete sich auf, so daß der Extra ihn sehen konnte. Der kam schnell näher. »Ich glaube«, berichtete er hastig, »ihr solltet von hier verschwinden. Es sind mehrere Trupps von Vystiden und Ferraten unterwegs. Sie scheinen etwas zu suchen. Vor ein paar Minuten haben sie die beiden oberen Decks abgesucht. Ich schätze, sie werden hier auch bald auftauchen.« »Das glaube ich auch.« Atlan deutete auf Piex. »Also nichts wie weg von hier. Vielleicht sollten wir uns besser trennen. Wenn eine große Suchaktion gestartet wird, kommt jeder für sich allein besser durch.« »Ich bleibe bei dir«, sagte Valara entschieden. »Natürlich kenne ich auch zahlreiche gute Verstecke. Ich kann dir also nur behilflich sein.« »Wecke Edo.« Atlan ging nicht auf Valaras Wunsch ein. »Wir müssen in tiefer gelegene Decks. Auf der Sohle der SZ‐1 gibt es riesige Lagerräume für technische Geräte. Ich kenne mich dort aus.«
Edo kam schlaftrunken auf die Beine. Als Atlan ihm erklärte, daß sie erneut fliehen müßten, sträubte sich der Chamäleonmensch energisch. »Edo ist müde«, brummte er unwillig. »Edo will schlafen, nicht fliehen.« »Es muß sein, Edo. Kennt du die Lagerräume unten im Schiff? Dort wollen wir hin. Du kannst gern einen eigenen Weg wählen, denn allein kommen wir vielleicht besser durch.« Edo blieb bockbeinig. Entweder sah er nicht ein, was Atlan ihm erklärte, oder er war tatsächlich zu müde. »Die Zeit drängt«, erinnerte Valara. »Nun kommt endlich.« Argan U stand schon an der Tür und spähte nach draußen. »Schritte!« rief er. Edo schritt langsam auf den Ausgang zu. Dabei verfärbten sich seine Schuppen automatisch, so daß er kaum noch sichtbar war. »Edo geht in die warme Halle, wo wir vorhin waren«, sagte er. »Das ist nicht so weit wie nach unten.« »Das ist falsch«, warnte Atlan eindringlich. »Du läufst direkt in die Streifen.« »Keiner kann Edo sehen.« Mit diesen Worten hastete er den Korridor entlang und war schon bald aus dem Blickfeld Atlans verschwunden. »Er schafft es«, sagte der Arkonide zu Valara. »Wir müssen aber nach unten.« »Ich halte die Suchtrupps auf«, bot sich Argan an. »Lebt wohl, und bis später, Atlan und Terranie.« Die lärmenden Geräusche wurden immer lauter. Sie nahmen einen Gang, der parallel zur Außenfläche verlief, um einen seitlichen Abstand zu gewinnen. Am nächsten Antigravschacht stießen sie auf eine Gruppe Solaner, die die normale Bordkleidung trugen, wie sie Atlan und Valara auch am Leib hatten. »Ganz normal verhalten«, flüsterte Atlan.
Sie gingen auf die Solaner zu. »Was ist denn mitten in der Nacht los?« fragte Valara wie beiläufig. Sie erntete mißtrauische Blicke, aber eine alte Frau antwortete dennoch. »Die Brüder und Schwestern der zweiten Wertigkeit streifen umher«, sagte sie. »Wahrscheinlich sind sie wieder einmal auf Monsterjagd. Sie durchstöbern alle Räume.« »Ich meine, sie suchen etwas anderes«, brummte ein grauhaariger Mann. »So ein Theater mitten in der Nacht ist nicht üblich.« Der Schacht war nach oben gepolt. Da die Anzeige aber auf blau stand, was FREI bedeutete, schaltete Valara ihn um. Gemeinsam mit Atlan glitt sie nach unten. »Es ist nicht richtig«, meinte sie, »den armen Edo allein zu lassen.« »Wir müssen zunächst an uns denken. Sobald sich die Unruhe legt, suchen wir die Warmlufthalle auf. Vielleicht finden wir ihn schnell wieder.« Sie durchquerten vier Decks, als plötzlich der gleichmäßige Sog in dem Schacht aufhörte. Kurz darauf bewegten sie sich wieder aufwärts. »Sie haben den Schacht umgepolt«, stellte Atlan fest. »Beim nächsten Quergang steigen wir aus.« Weit oben waren jetzt heftige Stimmen zu hören. Der Arkonide spürte plötzlich ein lähmendes Prickeln in seinem linken Arm. Neben ihm stöhnte Valara kurz auf und schloß die Augen. Ein Lähmstrahler! Also galt die Verfolgung doch ihnen. Er preßte sich an die Seitenwand und zog mit dem noch beweglichen Arm Valara zu sich heran. Aus ihrer Kombination ertönte das leise Piepsen von Piex. Endlich kam eine seitliche Abzweigung. Auf diesem Deck waren technische Einrichtungen untergebracht. Vor Atlan deutete eine Leuchtplakette an, daß hier Wasser aufbereitet wurde. Er warf sich die reglose Terra‐Ideali‐stin über die Schulter und rannte in den abgedunkelten Gang. Aus dem verlassenen Schacht
hörte er die Stimmen der Verfolger. Die lähmende Wirkung in seinem Arm ließ unter den Impulsen des Zellaktivators schnell nach. Valara mußte jedoch voll von dem Strahl getroffen worden sein, denn sie rührte sich nicht. Er erreichte einen der zentralen Lastenantigravlifts, die parallel zur Polachse durch die ganze SZ‐1 liefen. Nur eine List konnte ihm jetzt helfen, die Verfolger abzuschütteln, denn Valara behinderte ihn sehr. Er wechselte daher die Fluchtrichtung und glitt in dem beidseitig gepolten Lastenschacht wieder nach oben. Dadurch kam er in die Nähe der gut gesicherten Hauptzentrale der SZ‐1. Hier würde man ihn bestimmt nicht vermuten. Er war jetzt in Höhe des Ringwulstes, also nur noch wenige Zwischendecks unter der Hauptzentrale. Hier verließ er den Schacht und bewegte sich in Richtung der äußeren Regionen, wo die Dimesextatriebwerke angeordnet waren. »Was suchst du hier?« hörte er eine Stimme aus einem im Halbdunkel liegenden Seitengang. Atlan drehte sich langsam um. Vor ihm stand ein Ferrate. Der Mann war nicht bewaffnet, aber er hielt ein kleines Funkgerät in der Hand. »Ich suche dich, Bruder der sechsten Wertigkeit«, sagte Atlan ruhig. Er setzte Valara behutsam ab. Kaum hatte er freien Handlungsspielraum, da zuckte seine Faust nach oben und traf den Rostjäger am Kinn. Ächzend sank der Mann zu Boden. Atlan hob das Funkgerät auf und steckte es ein. Eine Waffe hatte der Rostjäger nicht bei sich. Es schien sich also um einen normalen Wartungsarbeiter zu handeln, der in keinem speziellen Auftrag für die Brüder anderer Wertigkeiten unterwegs war. Hinter einer Abdeckung legte er den Bewußtlosen ab. Als er zu Valara zurückkehrte, begann sich die Frau wieder zu regen. Laufen konnte sie noch nicht, aber ihre Augen waren wieder geöffnet.
Er warf sich Valara über die Schulter und eilte weiter. Sein Ziel waren die Dimesextatriebwerke, in dem es schrie unauffindbare Verstecke geben mußte. Allerdings war diese Region nicht ganz ungefährlich, aber dieses Risiko nahm er in Kauf. Die Schotte waren ausnahmslos durch Sicherheitseinrichtungen geschützt, aber die Kombinationen waren unverändert. Atlan hatte keine Schwierigkeiten einzudringen. Zwischen mehrere Meter hohen Maschinenblöcken legte er Valara ab. Dann begann er ihre Muskulatur zu massieren. »Es geht schon wieder«, sagte die Frau nach einer Weile matt. »Ich danke dir. Wie geht es Edo?« »Er kam nicht mit uns mit«, erklärte Atlan der noch benommenen Valara. »Die Warmluftanlage, in die er wollte, liegt drei Decks unter uns. Wenn du wieder fit bist, schlagen wir uns zu ihm durch.« Die Terra‐Idealistin zog Piex heraus und betrachtete ihn. Der kleine Extra hatte an dem Lähm strahl keinen Schaden genommen. Sein Metabolismus mußte ganz andersartig sein. »Guter Piex.« Valara lächelte schon wieder. »In welche verrückte Welt habe ich dich mitgenommen.« Sie hängte ihn an die Verkleidung des Maschinenblocks. Dort verharrte der Extra, bis Valara aufstand. »Die Lähmung ist weg, Atlan. Auf zu Edo.« Da der Arkonide damit rechnen mußte, daß der niedergeschlagene Ferrate inzwischen Alarm geschlagen hatte, war ihm der Aufbruch sehr recht. Sie blieben in der haushohen Triebwerkshalle und durchquerten sie bis an den äußeren Rand der eigentlichen Kugelschale der Solzelle. Dahinter lagen die Hangars für die 60‐Meter‐Korvetten. Diese Region gehörte bereits zu dem Ringwulst. Ein leises Summen drang an ihre Ohren. »Die Protonenstrahltriebwerke«, erklärte Atlan. »Sie stehen unter Energie, aber sie laufen noch nicht. Womöglich will die SOLAG ein neues Fluchtmanöver starten.«
Die Antigravlifts in diesem Bereich waren abgeschaltet, aber über die Nottreppen kletterten sie unbehelligt nach unten. Dort mußten sie sich wieder in Richtung der Polachse orientieren. Noch herrschte die abgedunkelte Nachtphase, aber schon bald würde das Taglicht wieder die Räume und Gänge erhellen. »Hier sind Wohntrakts in der Nähe«, warnte Atlan. »Also Vorsicht.« »Da sind Luftschächte,« Valara zeigte nach oben. »Man kann durch sie klettern. Wenn wir wüßten, welcher zu der Maschinenhalle führt, die Edo aufsuchen wollte …« Sie beendete den Satz nicht, sondern folgte Atlan, der sich bereits an den Sprossen hochhangelte. »Es müßte die Etage über uns sein«, hörte sie die Stimme des Arkoniden aus dem Dunkel. Nach mehreren Metern entfernte Atlan vorsichtig eine Abdeckplatte. Unmittelbar vor ihm lag eine Maschinenhalle in hellem Licht. Irgendwo in der Nähe waren laute Geräusche zu hören. Atlan nahm Stimmen und Fußgetrappel wahr. Die Öffnung endete vor einem Verteilersystem, das im Augenblick nicht in Betrieb war. Vorsichtig kletterte er aus dem Kanal. Dann winkte er Valara, ihm zu folgen. Zwischen den Rohren suchte er Deckung. Er blickte sich um. Alle Ecken und Winkel der Halle konnte er nicht einsehen, aber es war sicher, daß dies die Halle war, in der Edo, Valara und er gelandet waren, als sie aus der Müllverwertungsanlage entkommen konnten. Er deutete Valara an, sich in Deckung zu halten und zu schweigen. Die Geräusche wurden lauter. An einer Seite flog eine Tür auf. Ein Kampfroboter tauchte kurz auf und blickte in die Halle, Atlan und Valara zogen ihre Köpfe ein. Die Frau tippte Atlan von hinten auf die Schulter. Der drehte sich um und sah Piex in der Hand Valaras. »Gefahr«, flüsterte sie leise. »Wenn wir bloß wüßten, was dort
vorgeht.« »Warte.« Atlan faßte in seine Kombination und holte das Funkgerät hervor, daß er dem Ferraten abgenommen hatte. Er schaltete es ein und prüfte mehrere Kanäle durch. Er hörte eine kräftige Männerstimme, die Aufträge verteilte. Ganz eindeutig handeltes sich um Vystiden, die auf einer Verfolgungsjagd waren. »Ich habe das Monster auf dem Schirm«, erklang eine schrille weibliche Stimme. »Es ist tatsächlich unsichtbar.« »Edo, verdammt«, murmelte Valara. Dann erklang wieder die harte Männerstimme. »Konzentriert die Suche auf die beiden. Das Monster ist jetzt nicht wichtig.« »Das ist Aksel von Dhrau, der Chef der Vystiden«, sagte Valara. »Ich erkenne seine Stimme. Der Mann ist sehr gefährlich.« »Hier Dom; Ich habe zwei neue Trupps einsatzbereit. Kann ich die Beschreibung noch einmal haben?« erklang es aus dem Funkgerät. Atlan und Valara starrten sich stumm an, denn das, was jetzt folgte, war ihre eigene Personenbeschreibung mit Namen und allen Einzelheiten. »Ich überspiele jetzt die Bilder von diesem Atlan und der Brackfaust«, schloß von Dhrau. »Atlan ist lebend zu fangen.« »Sie suchen uns«, stellte Valara überflüssigerweise fest. »Stimmt, Mädchen«, antwortete Atlan bitter. »Du weißt, was das bedeutet?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns trennen. Dann sind wir weniger auffällig und kommen auch leichter durch.« Er sah Valara die Enttäuschung an. In diesem Augenblick flog eine andere Tür auf. Ein schattenhaftes Wesen huschte herein. Atlan erkannte sofort, daß es sich um Edo handelte. In der hellen Beleuchtung konnte sich der Chamäleonmensch nur unvollkommen tarnen. »Freund Atlan«, rief er laut. »Bist du hier? Du mußt Edo helfen.«
Der Arkonide wollte sich schon aufrichten, aber jetzt stürmten drei Vystiden in die Halle. Alle voran rannte eine junge Frau in einer silbern glänzenden Uniform. »Das ist das Vystidenweib Zlava«, sagte Valara schnell. Ihr folgten zwei Haematen in stählernen blauschwarzen Kampfkombinationen. Einer trug ein kleines Gerät vor der Brust. »Es ist dort irgendwo zwischen den Maschinen«, rief der Haemate. »Ich habe sein Echo auf der Anzeige.« »Das sieht böse aus für Edo«, murmelte Atlan. »Und für uns auch. Valara, ich bitte dich inständig, sofort zu verschwinden.« Er deutete auf die zahlreichen Luftschächte in der Nähe. »Wir sehen uns später bestimmt wieder.« Unten in der Halle begann Zlava wild in der Gegend herumzufeuern. Der eine Haemate gab ihr laufend Anweisungen, wo Edo steckte. Zeitweise wurde der Ausgestoßene auch schattenhaft sichtbar. Er bewegte sich schnell zwischen den Maschinenblocks hin und her. Die Schwester der zweiten Wertigkeit spielte ihr ganzes Können aus. Sie dirigierte den zweiten Haematen so, daß dieser Edo genau vor ihre Waffe treiben mußte. Sie selbst verbarg sich hinter einem Sockel und wartete. Atlan sah das Ende Edos kommen. Der lief direkt in die Falle, die die Vystiden aufgebaut hatten. Er schätzte die Entfernung nach unten ab. Zlava stand etwa zehn Meter unter ihm. Die waagrechte Distanz betrug knapp fünf Meter. Noch wartete er, denn Zlava konnte bereits jetzt den rückwärts schleichenden Edo leicht treffen. Die Frau wartete aber. Es schien ihr ein besonderes Bedürfnis zu sein, den armen Mutierten bis zum letzten Moment zappeln zu lassen. »Hier bin ich, Monster«, kreischte sie plötzlich laut auf. Edo fuhr herum. Im gleichen Moment sprang Atlan. Er wußte, daß es Wahnsinn war, sich ohne Waffe in diese Auseinandersetzung zu stürzen, aber
er konnte nicht anders. Ihm kam es nur darauf an, diese unmenschliche Jagd zu beenden und Edos Leben zu retten. Die Wucht seines Körpers riß Zlava zu Boden. Die drahtige Vystidin hatte keine Chance. »Freund Atlan«, jubelte Edo laut. Zlava stürzte so schwer, daß sie reglos liegen blieb. Atlan entwand ihr die schwere Energiewaffe und richtete sich auf. Aber da waren die beiden Haematen schon heran. Durch ein Seitentor eilten drei schwere Kampfroboter herein, denen Aksel von Dhrau folgte. »Gib auf, Betrüger«, rief der Chef der Vystiden. Atlan ließ seine Waffe sinken. »Loslassen«, befahl Aksel von Dhrau kalt. Edo stand wie versteinert da. Vor Schreck versagte seine Chamäleonfähigkeit vollkommen. Atlan ließ die Waffe zu Boden fallen. Langsam hob er beide Arme. Er konnte nur hoffen, daß wenigstens Valara hatte fliehen können. Ein Schuß aus einer primitiven Handfeuerwaffe peitschte durch den Raum. Edos Flossenarme zuckten hoch und bedeckten seine geschuppte Brust. Blut drang durch seine lappigen Handenden. Wie ein gefällter Baum stürzte er zu Boden. »Da!« rief einer der Haematen. Seine Hand deutete nach oben, wo auf einem Turbinenblock zwei alte Ferraten standen. In der Hand des Mannes lag eine Pistole, aus deren Mündung ein feiner Rauchstreifen zog. Atlan war mit wenigen Schritten bei Edo. Der Mutierte lebte noch, aber sein nahes Ende war abzusehen. Der Arkonide beugte sich ungeachtet der drohenden Waffen über Edo. »Freund Atlan«, flüsterte Edo. »Die Tage mit dir waren die schönsten in meinem Leben.« Atlan nickte nur stumm. Die Haematen hatte inzwischen die beiden Ferraten von dem
Turbinenblock geholt. Edo richtete sich halb auf, als er die beiden Alten sah. »Mama, Papa.« Ein Lächeln flog über sein Gesicht. »Edo muß sterben. Schön, daß ihr noch einmal gekommen seid.« Es war ein schwacher Trost für Atlan, daß der Ausgestoßene seine Todesschützen nicht erkannt hatte. »Wir mußten es tun«, flüsterte der alte Ferratte. »Es war unerträglich für uns, so ein Kind zu haben.« Dann führten die Vystiden die Eltern Edos ab. Atlan stand der Schweiß auf der Stirn. Die persönliche Gefahr, in der er schwebte, war ihm gleichgültig. Er war überwältigt von der Unmenschlichkeit und der Unwürdigkeit der Verhältnisse auf der SOL. Er brachte kein Wort heraus. »Freund Atlan«, flüsterte Edo. Der Arkonide nahm die Hand des Mutierten und drückte sie sanft. »Ich habe noch eine Bitte an dich.« Es fiel Atlan auf, daß Edo zum erstenmal von seiner Person als Ich sprach. »Es gibt ein kleines Mädchen. Es heißt Tananaika. Ich habe ihm versprochen, ich meine, ich habe ihm garantiert, daß ich es noch einmal zum Spielen besuchen werde. Du mußt zu ihm gehen und sagen, daß Edo nicht mehr kommen kann. Vergiß den Namen nicht. Tananaika.« Edo schloß seine Augen für immer. Langsam stand Atlan auf. Aksel von Dhrau trat mit einem überheblichen Grinsen auf ihn zu. »Damit ist die Gefühlsduselei beendet.« Der Vystidenchef leckte sich die Lippen. »Abführen.« Atlan stand reglos da. Am liebsten hätte er Aksel von Dhrau die Faust ins Gesicht geschlagen. 9. Die Annäherung der SOL an den riesigen Asteroiden vernahm einen
dramatischen Verlauf. Für mehrere Stunden änderte sich die von dem Zugstrahl erzeugte Geschwindigkeit der SOL nicht. Die Unregelmäßigkeiten der letzten Tage setzten aus. Dafür kam der Asteroid in schubartigen Stößen näher. Inzwischen war seine Größe genau vermessen worden. Die breiteste Seite, die fast genau quer zur Bewegungsrichtung der SOL lag, betrug 3872 Kilometer. Für den High Sideryt war damit klar, daß der Zusammenstoß unvermeidlich war, denn der gewaltige Brocken war an der schmalsten Stelle immer noch 3104 Kilometer dick. Ein Umfliegen innerhalb der Raumkugel von 3000 Kilometern Durchmesser war damit unmöglich. An diese Raumkugel war das Operationsgebiet der SOL durch die Eigenart des unbekannten Zugstrahls aber gebunden. Die ausgeschleusten Trupps aus Ferraten und Buhrlos berichteten nichts Außergewöhnliches. Bis zu dem Asteroiden konnten sie nicht gelangen, da sie dann rettungslos verloren gewesen wären. Eine Rückkehr aus einer Entfernung größer als 1500 Kilometern war unmöglich. Deccon betrachtete den unregelmäßigen geformten Materiebrocken. Seine Masse entsprach der eines kleinen Planeten. Wahrscheinlicher erschien es ihm aber, daß es sich hier um ein vagabundierendes Fragment eines ehemaligen Großplaneten handelte. Er kam sich mit der SOL wie eine Maus vor. Der Asteroid war die Katze, die mit der Maus spielte und sie dabei zappeln ließ, bis der entscheidende Biß kam. »Neue Annäherung in einem Sprung«, kam eine Meldung aus der Ortungszentrale der SZ‐1. »Entfernung noch 8400 Kilometer. Mit dem nächsten Stoß könnte die kritische Marke von 5000 Kilometern unterschritten werden. Dann wird sich die Schwerkraft des Asteroiden zusätzlich bemerkbar machen und die SOL noch mehr beschleunigen.«
Der kluge Rechner Deccon witterte eine Chance. Wenn die Gravitation des gewaltigen Materiebrockens nach dem Schiff fassen würde, könnte man in einem gewagten Manöver versuchen, so stark zu beschleunigen, daß eine Flucht aus dem Zugstrahl möglich wäre. Es wäre nur aus eigener Kraft im richtigen Moment eine Kurs korrektur herbeizuführen. Er trug seine Gedanken den in der Hauptzentrale anwesende Magniden vor. Er stieß (wie üblich!) teils auf Begeisterung, teils auf völligen Widerspruch. Immerhin erreichte er damit, daß die Magniden die Steuerpositronik entsprechend vorbereiteten und mit den vermeintlichen Daten fütterten. Nach der ursprünglichen Hochrechnung lagen noch mindesens 90 Minuten bis zum Erreichen des kritischen Punkts, als die Entwicklung beschleunigt einsetzte. Die Ortnungszentralen meldeten eine ruckartige Annäherung auf 4248 Kilometer an den Asteroiden. Diesmal war es aber unerwartet die SOL gewesen, die den Satz nach vorn gemacht hatte. Deccon stand blaß vor seinem Kontrollpult, als die Warnmeldung einlief. »Fluchtprogramm starten«, bellte er in den Mikrofonring. In der Hauptzentrale flitzten die Hände über die Tastaturen. »Das Schiff reagiert zu träg«, meldete einer der Magniden. »Kollisionszeitpunkt in vierzehn Minuten. Wir beschleunigen, aber nur auf den Brocken zu.« Damit mußte Chart Deccon zum letzten Mittel greifen. Vorsorglich hatte er die NUG‐Kraftwerke seit Stunden in voller Leistungsbereitschaft. An den Transformzwillingskanonen und an den Desintegratorgeschützen saßen die Mannschaften bereit. »Schutzschirme ein«, befahl der Bruder ohne Wertigkeit. Für eine allgemeine Warnung an die Solaner blieb ihm keine Zeit. »Und Feuer frei auf den Asteroiden. Wir schießen uns den Weg frei.« Die SOL wurde wie eine gigantische Spindel in eine Drehbewegung versetzt, so daß in gleichmäßiger Reihenfolge alle
Geschütze in eine günstige Position kamen. Die Kraftwerke wurden bis an die Grenzen der Belastbarkeit hochgefahren. Nach dem Manöver vom Vortag, dessen Folgen noch nicht vollständig behoben waren, würde dies wieder neue Ausfälle nach sich ziehen. Aber es gab keinen anderen Weg. Die Geschütze dröhnten auf. Ihr Donnern klang bis in den letzten Winkel des riesigen Schiffes, das sich doch gegenüber dem mächtigen Asteroiden wie ein Staubkorn ausmachte. Die Ausfallmeldungen der Kraftwerke ließen nicht auf sich warten. Aber das störte den High Sideryt nicht. Auf seinem Bildschirm sah er, wie sich der Asteroid unter der geballten Feuerkraft der SOL in eine leuchtende Kugel zu verwandeln begann. Flammenbögen sprühten in das Weltall und rissen Materiebrocken mit sich. Dann war unmittelbar vor der SOL nur noch ein atomar glühender Haufen aus Masseteilchen und Energie. Das Schiff raste förmlich darauf zu. »Feuer einstellen.« Chart Deccon stand halb nach vorn gebeugt vor seinem Kontrollpult. »Alle verfügbare Energie auf die Schutzschirme.« Die SOL tauchte in die glühende Hölle und wurde hin und her gerissen. Der Abwehrkampf gegen die entfesselten Energien währte genau 6,2 Minuten. Dann lag das Flammenmeer hinter dem Schiff. Chart Deccon atmete auf. Daß ein riesiger Asteroid Atlan aus der Klemme half, erfuhr dieser erst viel später. Als zwei Haemeten auf ihn zutraten, um den Befehl des Vystidenchefs auszuführen, begann der Boden unter ihren Füßen zu schwanken. Gleichzeitig drangen dröhnende Schläge durch die Schiffswände. Verwirrung und Unsicherheit ergriff die Solaner. Die Waffenarme der Kampfroboter zuckten durch den Raum. Sie suchten einen Feind.
Atlan witterte eine winzige Chance. Ganz in seiner Nähe sah er drei breite Luftschächte, die nach unten in die tieferen Regionen der SZ‐1 führten. Trotz der entstehenden Panik schien ihm ein Fluchtversuch aber noch zu riskant. Er wußte, wie gut und genau die Roboter auch unter schwierigen Verhältnissen reagieren konnten. Sein Vorteil war, daß er aus dem mitgehörten Funkspruch wußte, daß man ihn lebend fangen sollte. Langsam bewegte er sich auf eine Schachtöffnung zu, wobei er den Taumelnden spielte. »Bleib stehen, wo du bist«, schrie Aksel von Dhrau. Im gleichen Moment erlosch die gesamte Beleuchtung. Alles schrie durcheinander. Diesen günstigen Moment nutzte Atlan, um in den Schacht zu springen. Ein Feuerstrahl zischte weit über ihn hinweg. Dazwischen dröhnte die laute Stimme des Vystidenchefs, dem der sichere Fang zu entfliehen drohte. Der Arkonide ließ sich einfach nach unten fallen. Erst als seine Geschwindigkeit zu groß wurde, stemmte er sich mit Füßen und Rücken gegen die Seitenwände, um den Fall abzubremsen. Plötzlich schlug er schwer auf einer Bodenplatte auf. Er tastete die Umgebung ab. Der Schacht setzte sich waagrecht fort. Ohne zu zögern, kroch er hier weiter. Zu seiner Überraschung endete der Luftschacht dicht über dem Boden eines künstlichen Erholungsgebiets. Eine Atomsonne beleuchtete eine Fläche von kreisrunder Form, auf der Büsche, Bäume und Seen angeordnet waren. Es gab mehrere kleine Gebiete dieser Art in der SZ‐1 und ein großes in der oberen Kugelhälfte. Atlan verbarg sich zuerst hinter einem Gebüsch. Menschen erblickte er nicht. Aber das Dröhnen und Schlingern des Raumschiffs hielt weiter an. Er schrieb es einem neuerlichen Fluchtversuch zu. Als er die Umgebung genügend beobachtet hatte und sich relativ sicher fühlte, eilte er weiter. Er wollte möglichst schnell eine große Entfernung zwischen die Vystiden und sich bringen.
An dem Eingangstor zu dem Erholungsgebiet erblickte er einen Ferraten. Der Mann war mit Anstreicharbeiten beschäftigt gewesen, als das neuerliche Unheil über das Schiff hereingebrochen war. Atlan pirschte sich langsam von hinten an den Mann heran. Der stand entgeistert da und starrte auf die Kunstsonne an der Decke, als ob diese jeden Augenblick herabfallen würde. Die durchdringenden Geräusche kamen Atlan zustatten. Seine Schritte in dem feinen Kies waren nicht zu hören. Er schlang einen Arm von hinten um den Mann und drückte kurz und kräftig zu. Bewußtlos sank der Ferrate zu Boden. Atlan stellte es so an, daß der Mann ihn nicht sehen konnte. Er warf den Bewußtlosen über seine Schulter und eilte mit ihm zwischen das Buschwerk. Dort zog er ihm die dunkelblaue Uniform vom Körper. Sie saß etwas knapp, aber das würde nicht auffallen. Seine auffälligen langen Haare verbarg er zunächst unter dem einfachen Schutzhelm, den der Rostjäger getragen hatte. Dann blickte er sich um. In der Nähe stand eine kleine Blechhütte. Dorthin schleppte er den Ferraten. Die Tür war offen. Im Innern fand Atlan diverse Werkzeuge, wie sie für die Wartungsarbeiten in dem Erholungsgebiet benötigt wurden. Er packte einige, ihm nützlich erscheinende Dinge in eine Tasche. Dann sperrte er den bewußtlosen Ferraten in die Hütte und verriegelte diese von außen sorgfältig. Abgesehen davon, daß ihn der Mann nicht gesehen hatte, besaß er nun auch noch einen Vorsprung für den Fall, daß der Rostjäger Alarm schlagen würde. Selbst dann war es fraglich, ob man diesen Vorfall so schnell mit seiner Flucht in Verbindung bringen würde. Das Rütteln der SOL hatte inzwischen nachgelassen. Die Verwirrung an Bord würde sicher noch andauern. Daher beschloß Atlan, sofort weitere Maßnahmen zur Unkenntlichmachung seiner Person zu ergreifen.
Eine geeignete Kleidung besaß er, aber die Farbe seiner Gesichtshaut und die langen Haare waren noch zu auffällige Merkmale. Er verließ auf normalem Weg das Erholungsgebiet. In den Gängen und Korridoren herrschte das erwartete Durcheinander. Mit der überheblichen Miene eines Ferraten bahnte er sich seinen Weg durch die Solaner, die ihm bereitwillig Platz machten. Das gelbe Atomsymbol auf seinen Schultern leuchtete deutlich. Während seines Weges hörte er beiläufig davon, daß die SOL um ein Haar mit einem Asteroiden zusammengestoßen wäre. Es schien aber noch einmal alles gutgegangen zu sein. Er erinnerte sich an den hilfreichen Argan U und wählte den Weg, der zum Wohntrakt der Extras führte. Niemand hielt ihn auf, obwohl einmal zwei Vystiden an ihm vorbeirasten. Er drehte nur sein Gesicht so zur Seite, daß ein direkter Blick verhindert wurde. In der Etage der Extras herrschte eine noch größere Aufregung. Erstmals sah Atlan einige der seltsamen Fremdlebewesen, die im Lauf der letzten 200 Jahre an Bord der SOL gekommen waren. Die Extras machten ihm noch ängstlicher Platz als die normalen Solaner. Auch als er nach dem Puschyden fragte, erhielt er bereitwillig Auskunft. Argan erkannte ihn im ersten Moment nicht. Erst als Atlan den Schutzhelm abnahm und sein weißes Haar sichtbar wurde, flog ein Lächeln über das Gesicht des schuppigen Bären. »Hübsch«, sagte er holprig. »Du machst dich gut als Bruder der sechsten Wertigkeit. Nur deine Haare passen nicht so recht.« »Deswegen bin ich zu dir gekommen. Vielleicht kannst du mir helfen.« »Aber gern.« Argan streckte beide Arme zur Seite, als sei es eine Selbstverständlichkeit, daß er zu ihm käme. »Terranie war auch schon hier. Sie wollte sich auch verkleiden.« »Sie konnte also auch entkommen? Das ist gut.« Der Puschyde nickte. »Sie will sich erst einmal um ihr Heiligtum
kümmern. Ich meine den Brocken, ein Stück echter terranischer Erde. Dann will sie versuchen, Edo zu finden, um ihn für die Terra‐ Idealisten zu gewinnen.« »Edo lebt nicht mehr. Du solltest es Valara sagen, wenn sie wieder auftaucht.« Argans Us große Augen blickten noch trauriger. Er fummelte nervös an seinem Destilliergerät herum. »Das ist nicht hübsch«, murmelte er. »Er war ein netter Bursche.« »Trauer hilft uns nicht, Argan. Hast du eine Schere und etwas Farbe, damit ich mein Gesicht tönen kann?« Der Puschyde nickte. »Welche Farbe wünscht du?« »Dunkelbraun. Damit falle ich am wenigsten auf.« Argan verschwand. Schon nach wenigen Minuten war er zurück. »Haltbare Schminke.« Er hielt Atlan eine kleine Dose entgegen. »Ich habe sie den beiden Plystpips von nebenan geklaut. Die essen so etwas. Komische Typen.« Dann holte er eine Schere aus seinem Wandspind. Atlan schnitt die längsten Haare so weit ab, daß er den Rest unauffällig um seinen Kopf legen konnte. Die Schminke eignete sich sowohl für die Haare, als auch für die Gesichtshaut. Argan U schaute ihm schweigend zu, während er sein Äußeres immer mehr veränderte. »Hübsch«, meinte er, als der Arkonide fertig war. »Wahrscheinlich wird einige Zeit verstreichen, bis wir uns wiedersehen«, sagte Atlan. »Mein Ziel ist das Mittelteil der SOL. Ich muß versuchen, zu SENECA vorzudringen. Vielleicht finde ich dort auch die geheimnisvollen Schläfer.« »Ich wünsche dir viel Glück.« »Ich dir auch.« Atlan legte dem Pyschyden freundlich eine Hand auf die Schulter. »Danke für alles, Argan. Grüße Valara von mir.« Er verließ die Unterkunft und trat hinaus auf den Gang. In seiner Hand trug er das kleine Werkzeugpaket, das er aus dem Erholungsgebiet mitgenommen hatte.
Sein Weg führte ihn in das Innere der SZ‐1. Irgendwo mußte es eine Kontaktstelle zu SENECA geben, an der er einen neuen Versuch starten wollte. Den kleinen Gleiter, der in voller Fahrt auf ihn zubrauste, hätte er fast übersehen. Er kam in einer scharfen Kurve aus einem Seitengang. Mit einem Satz sprang er zur Seite. Zwei Männer und eine Frau standen in dem offenen Fahrzeug. Atlan erkannte zwei der Vystiden sofort. Es waren Aksel von Dhrau und die wild aussehende Zlava. Atlan öffnete in aller Ruhe seine Werkzeugtasche und begann, die Verkleidung eines Interkomanschlusses zu entfernen. Der Gleiter hielt wenige Meter hinter ihm aufjaulend an. Zlava sprang heraus. An ihrem Hinterkopf trug sie einen dicken Verband. »Heh, Bruder der sechsten Wertigkeit«, rief sie schrill. »Hast du diese Figur gesehen?« Der Arkonide drehte sich langsam um und blinzelte mit den Augen. Zlava hielt ihm ein dreidimensionales Bild vor das Gesicht. »Den da?« Er deutete mit einem Schraubenzieher auf das Bild. Es war sein eigenes Konterfei. »Nein. Wer ist das?« »Du siehst gut aus, Bruder.« Zlava steckte das Bild weg und lächelte den vermeintlichen Ferraten verführerisch an. »Wo wohnst du? Du gefällst mir.« Atlan trat unbeholfen von einem Bein auf das andere. Dabei stammelte er ein paar leise Worte, die die Vystidin nicht verstehen konnte. Aksel von Dhrau befreite ihn aus der Zwangslage. Der Vystidenchef schwang sich aus dem Gleiter und kam mit eckigen Schritten näher. Er packte Zlava am Oberarm. »Wir haben jetzt wirklich etwas Besseres zu tun, als mit dummen Ferraten anzubändeln. Komm jetzt.« Zlava warf ihm einen zornigen Blick zu, aber sie wagte keinen Widerspruch.
Während die beiden Vystiden zu ihrem Gleiter zurückgingen, sagte sie abfällig: »Du hast recht, Aksel. Das dort war wirklich der dümmste Typ, den mir seit langem begegnet ist.« Atlan hörte die Worte. Während sich der Gleiter entfernte, schraubte er in aller Ruhe die Abdeckung des Interkomanschlusses wieder fest. Dann setzte er seinen Weg fort. Seine Augen blickten ernst, aber um seine Lippen spielte ein feines Lächeln. ENDE Die Krisen an Bord der SOL, die im Zugstrahl feststeckt, scheinen sich zuzuspitzen, und die Jagd nach Atlan scheint von der Schiffsführung intensiviert zu werden. Der Arkonide muß daher Maske machen und untertauchen. Im Zuge dieses Vorgehens kommt er zu den Pyrriden – sie sind die SCHERGEN DER SOL … SCHERGEN DER SOL – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan‐Band. Der Roman wurde von Peter Terrid geschrieben.