Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 469 Dorkh
Im Zeichen der Apokalypse von Horst Hoffmann
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Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 469 Dorkh
Im Zeichen der Apokalypse von Horst Hoffmann
Die Fremden bringen das Verderben
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie tatsächlich alles überstehen, was Dorkh gegen sie aufzubieten hat, und sogar ihre Aufgabe erfüllen – allerdings anders, als Duuhl Larx es sich vorgestellt haben dürfte. Jedenfalls hat Dorkh nun Kurs auf den Sitz des Dunklen Oheims eingeschlagen – und damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Sechs seltsame Fremde beginnen ihre Tätigkeit – sie wirken IM ZEICHEN DER APOKALYPSE …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide trifft auf sechs Fremde. Razamon, Grizzard, Fiothra und Asparg ‐ Atlans Begleiter unterliegen einem unheimlichen Bann. YhmʹDheer ‐ Anführer der Gassuaren. Zyffhan ‐ Ein Dorkher.
1. Das Land um das SCHLOSS herum hatte sich beruhigt, und nur das allgegenwärtige, gleichmäßige Rauschen verkündete, daß Dorkh in voller Fahrt durch einen von unzähligen Dimensionskorridoren auf sein Ziel zuraste. Atlan versuchte gar nicht erst, sich eine konkrete Vorstellung davon zu machen – und doch war es der Inbegriff aller Schrecken, die dieser Teil des Universums bereithielt: Der Sitz des Dunklen Oheims, des mysteriösen Beherrschers der Schwarzen Galaxis. Eines Tages mußte es zur direkten Konfrontation mit ihm kommen, doch weder der Arkonide noch seine Begleiter hatten damit rechnen können, daß nun alles so schnell gehen sollte. Sie waren unvorbereitet, obwohl Atlan sich fragte, wie er sich auf die Begegnung mit einem Wesen oder einem Etwas vorbereiten sollte, von dem er bislang so gut wie nichts wußte. Aber an der Auskunft der »Seele« von Dorkh konnten kaum Zweifel bestehen. Atlan selbst hatte ihr das Schlüsselwort genannt – »Lebensblase« –, nachdem dieser Begriff ihm von dem geisterhaften Etwas tief unter dem Kristalldach im Zentrum des SCHLOSSES auf telepathischer Basis genannt worden war. Schweren Herzens hatte er es tun müssen, sollte Dorkh nicht hier und jetzt vom Dunklen Oheim vernichtet werden. Daran, daß der Dunkle Oheim über Raum und Zeit hinweg dazu in der Lage war, bestand für den Arkoniden kein Zweifel. Für den
Augenblick schien Dorkh in relativer Sicherheit zu sein, aber Atlan ahnte, daß er das Ende nur hinausgezögert hatte. Ihn fröstelte. Neben ihm saßen Razamon, Grizzard und die beiden dorkhischen Magier Asparg und Fiothra am Rand der Ebene, in der die fünf sternförmigen Raumschiffe der toten SCHLOSSHERREN und ihre kleineren Begleiter lagen. Hier stieg das Gelände leicht an, und der ganze Komplex mit den breiten Straßen und dem riesigen Kristalldach im Zentrum ließ sich überblicken. Nur vereinzelt waren Technos, andere Dorkher und Mörder‐Chreeans zu sehen, die auf alles Jagd machten, was ihnen zu nahe kam. Sie alle wirkten verloren und ohne Orientierung und mieden seltsamerweise die Ebene der Schiffe. Die Wesen, die sich noch vor kurzem im Bereich der Fünfeckschiffe gedrängt hatten, waren in die Hügelkette geflohen oder hatten versucht, durch den Tunnel im Energieschirm zu entkommen, der das ganze Gebiet des SCHLOSSES umspannte. Andere versteckten sich in Baracken und leerstehenden Lagerhallen hinter den Schiffen. Nur die Schreie der Mörder‐Chreeans durchbrachen das monotone Rauschen, das sich über diese unheimliche Stätte gelegt hatte. Die Ruhe, die Atlan hier, etwas zurückgezogen vom Ort der schrecklichen Geschehnisse der letzten Stunden zu finden gehofft hatte, um seine Gedanken zu ordnen, fand er nicht. Ja, er hatte den Dimensionsfahrstuhl wieder flottgemacht und somit den Auftrag des Neffen Duuhl Larx erfüllt, aber nur, um Dorkh auf eine Reise ins Verderben zu führen. Razamon hatte den Arkoniden lange beobachtet, mit finsterer Miene neben ihm gesessen und geschwiegen. Nun rückte er ein Stück an ihn heran und sagte: »Es ist noch lange nicht sicher, daß Dorkh tatsächlich bis zum Sitz des Dunklen Oheims gelangt, Atlan. Zu vieles ist geschehen, was Störungen und Verzögerungen verursachte, und vieles kann noch geschehen. Ein Flug bis zum Zentrum des Schreckens wäre zu …
einfach, nach allem, was wir bisher erlebten.« Atlan sah Razamon zweifelnd an. Gerade Razamon fieberte der entscheidenden Konfrontation wie kein anderer entgegen, auch wenn die Chancen, diese zu überleben, minimal erschienen. Zu vieles hatte der Berserker ertragen müssen, zu groß war sein Haß auf den Dunklen Oheim geworden. Atlan starrte wieder zu den Fünfeckschiffen hinüber, deren silberfarbene Hüllen nun im Dämmerlicht eigenartig schimmerten. Dorkh raste weiter, ohne Verzögerung … »Du denkst an die Schiffe?« erriet der Pthorer. Atlan nickte. »Wenn wir schon nichts tun können, um auf den Kurs des Dimensionsfahrstuhls Einfluß zu nehmen, sollten wir uns überlegen, wie wir nach dem Halt schnell genug von hier fliehen können. Sollte es zum Schlimmsten kommen, müssen wir Bewegungsfreiheit haben.« »Die Schiffe, in denen die Uleb hausten, können wir vergessen«, knurrte Razamon. »Sie sind alle unbrauchbar. Dadurch, daß die Uleb so ziemlich alles auseinanderrissen und umbauten, was ihren speziellen Bedürfnissen entgegenstand, zerstörten sie den Großteil der technischen Einrichtungen. Wir können die Schäden nicht beheben, Atlan. Eine ganze Techno‐Armee könnte es nicht mehr.« »Ich denke an die kleineren Schiffe.« »Eines von ihnen scheidet von vorneherein aus.« Razamon deutete auf ein Fünfeck, das dunkel und tot im Schnittpunkt zweier Straßen lag. »Die anderen standen für die rasenden Mörder‐Chreeans offen. Sie werden nicht viel von der Einrichtung ganz gelassen haben.« »Wir werden eben nachsehen müssen.« Razamon schwieg, doch seine Blicke sprachen Bände. Wieder hinab zu den Schiffen, in die Nähe des Schachtes, wo Kräfte wirkten, die den Gefährten nun unheimlicher waren denn je. Von irgendwoher drangen Schreie an die Ohren der fünf, die jedem von ihnen durch Mark und Bein gingen. Schreie der Chreeans
– und von Dorkhern, die keine Chance hatten, den Bestien zu entkommen. Atlan sah an Razamon vorbei und musterte Grizzard. Der Mann, der in Wirklichkeit ein vorzeitlicher Jäger aus dem Norden Amerikas war, saß schweigend da, den Blick weit in die Ferne gerichtet und verängstigt zusammengekauert. Inwieweit konnte er sich auf ihn verlassen? Während des Aufenthalts unter dem Kristalldach hatte es geschienen, als hätte er endgültig die quälenden Gedanken an die Magier von Oth verdrängen können, an die schreckliche Bedrohung, die sie für ihn darstellten. Atlan hatte sogar den Eindruck gehabt, daß er eifrig darum bemüht war, die Schuld, die er fühlte, zu tilgen, dabei aber in seinem Eifer dazu neigte, übers Ziel hinauszuschießen. Wie lange würde Grizzard der Belastung standhalten? Und die beiden Magier? Sie waren auf seiner Seite, doch immer noch stellten sie für den Arkoniden Bücher mit sieben Siegeln dar. Er hatte erlebt, wozu sie mittels ihrer magischen Fähigkeiten in der Lage waren. Aber waren das letztlich nur Kostproben gewesen, oder verfügten sie noch über andere, unbekannte Kräfte? Atlan gab sich einen Ruck. Herumsitzen und Grübeln brachte sie keinen Schritt weiter. Wenn sie im entscheidenden Augenblick gefeit sein und nicht wie Vieh zur Schlachtbank geführt werden wollten, mußten sie jetzt, wo es noch nicht zu spät dazu war, handeln und sich eine so günstige Ausgangsposition wie irgend möglich verschaffen. Aber es gab so viele unbekannte Faktoren. Der Gedanke daran drohte den Arkoniden zu lähmen. Was ihn bei den Schiffen wirklich erwartete, konnte er nicht einmal vage erahnen. Einer nach dem anderen standen die fünf ungleichen Gefährten auf und marschierten schweigend, sich immer wieder nach allen Seiten umsehend, wieder auf das Zentrum der Anlage zu. Überall
konnten die Echsen lauern und urplötzlich auf sie zuschießen – noch ehe die Magier etwas gegen sie unternehmen konnten. Eine nicht viel geringere Gefahr stellten die versprengten Dorkher dar, die in Atlan und seinen Begleitern die Schuldigen an ihrem Schicksal sehen mochten. Ein Schiff! dachte Atlan. Nur ein einziges, mit dem wir im entscheidenden Moment von Dorkh starten, den Wölbmantel durchdringen und in den freien Weltraum gelangen können! Die Hoffnung schwand, als die fünf vor der Rampe der PRA standen, jenes kleineren Schiffes, das zur großen GHORGUR gehörte, bis vor kurzem Sitz des Uleb Ghorgur‐Pra. Die Rampe war mit Leichen bedeckt. * Im Innern der PRA sah es nicht viel anders aus. Erst als Asparg versicherte, daß sich keine Chreeans mehr im Schiff aufhielten, wagten die Gefährten sich hinein, und bei jedem Toten, über den sie hinwegsteigen mußten, wuchs der Zorn auf den Dunklen Oheim. Razamons finstere Prophezeiungen bewahrheiteten sich. Die Zentrale, die sich nur geringfügig von der der DANTA unterschied, bot das gleiche Bild totaler Verwüstung wie die Räume, an denen die Gefährten auf dem Weg dorthin vorbeigekommen waren. Tote Dorkher lagen zwischen aus den Wänden gerissenen Geräten, Glassplittern von Bildschirmen und verbogenen Verstrebungen. Ein Mörder‐Chreean hing unnatürlich verkrümmt zwischen einigen Kabeln und war offensichtlich beim Versuch, sie zu zerreißen, von Stromstößen getötet worden. Dieses Schiff würde niemals mehr starten können. Mit hängendem Kopf ging Atlan von Bord, dicht gefolgt von Razamon und Grizzard, die sich wie die beiden Magier aus dem Land Shatna dicht beieinander hielten.
In der QUORM und der KYM erlebte der Arkonide die gleiche Enttäuschung. Alles, was sich aus seiner Verankerung herausreißen ließ, lag quer über den Boden der Zentrale verstreut. Sämtliche Bildschirme waren eingeschlagen und alle Kontrollen unbrauchbar gemacht. Die PYRT lag dunkel und tot an ihrem Platz. »Bliebe uns noch die TZAIR«, sagte Razamon finster und ohne jede Hoffnung. »Wir sollten uns die Zeit sparen, Atlan.« »Auf eine Enttäuschung mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an«, wehrte der Arkonide ab. Langsam, die Zähne aufeinandergepreßt, machte die Gruppe sich auf den Weg zum letzten der kleineren Fünfeckschiffe, von denen jedes etwa hundert Meter breit und im Kern fünfzig Meter hoch war – fast genau halb so groß wie die ihnen zugeordneten großen Fünfecke. Als die Gruppe etwa die halbe Strecke bis zur TZAIR zurückgelegt hatte, geschah das, womit Atlan insgeheim die ganze Zeit über gerechnet hatte, obwohl die Ebene wie ausgestorben wirkte. Die Mörder‐Chreeans tauchten wie aus dem Nichts heraus auf und kamen mit unglaublicher Geschwindigkeit heran. Bei aller Vorsicht waren sie nicht zu entdecken gewesen. Hier und da lagen tote Exemplare dieser auf Mord getrimmten Echsen herum, die sich gegenseitig zerfleischt hatten. Atlan führte seine Begleiter in weitem Bogen um sie herum. Aber die beiden Bestien, die nun angriffen, hatten sich regelrecht aus dem Boden gelöst. Chreeans konnten ihre Farbe der der Umgebung vollkommen angleichen, und diese beiden hatten nicht wie ihre Artgenossen blindwütig Jagd auf die flüchtigen Dorkher gemacht, sondern sich hier, zwischen den Schiffen auf die Lauer gelegt. Atlan war für einen Moment wie gelähmt, sah die Echsen auf sich zuschießen, ihre langen, nadelscharfen Zahnreihen und die funkelnden Augen, die mörderischen Pranken, die sich tief ins Erdreich gruben und Lehm und Gras nach allen Seiten schleuderten, und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß.
Razamon war mit einem Satz bei ihm und stieß ihn zur Seite. »Asparg, Fiothra!« schrie der Pthorer. »Versucht, sie unschädlich zu machen! Ich halte sie euch vom Leib!« Atlan kam zum Stehen, nachdem ihn Razamons Stoß einige Meter zurücktaumeln ließ. Alles ging plötzlich viel zu schnell. Genau dort, wo er eben noch gestanden hatte, raste eine der Echsen schrill schreiend an ihm vorbei, sah, daß die schon sicher geglaubte Beute nicht mehr da war, und stemmte die Vorderbeine in den Boden. Razamon wurde für einen Augenblick von dem geschuppten Leib verdeckt. Dann tauchte er wieder auf, landete mit einem gewaltigen Satz auf dem Rücken des fast pferdegroßen Reptils und schlang beide Arme um dessen Hals, bevor es sich aufbäumen und ihn abschütteln konnte. »Das andere, Atlan!« schrie der Pthorer. »Es darf die Magier nicht erreichen!« Der Arkonide begriff augenblicklich. Die zweite Bestie war zum Stehen gekommen. Der mächtige Kopf mit dem furchtbaren Rachen ruckte hin und her. Grizzard war zu Asparg und Fiothra gelaufen, die wie versteinert dastanden, die großen blauen Augen blicklos auf die Tiere gerichtet. Atlan schrie so laut er konnte, fand einen Stein und schleuderte ihn auf das Reptil. Razamons Chreean richtete sich auf die gewaltigen Hinterbeine auf, peitschte wild mit dem schweren Schwanz um sich und versuchte, den Kopf so weit zu drehen, daß es den lästigen Reiter zu fassen bekam. Doch der Pthorer preßte sich eng an seinen Hals, die Arme wie Schraubstöcke um ihn gelegt. Die zweite Echse funkelte Atlan einen Moment lang aus blitzenden Augen wütend an. Für Bruchteile von Sekunden standen sich Mensch und Bestie gegenüber, kaum dreißig Meter voneinander entfernt. Dann stieß das Reptil einen markerschütternden Schrei aus und griff an. Atlan bückte sich blitzschnell, hob einen zweiten, schweren Stein in die Höhe und schleuderte ihn in den aufgerissenen Rachen des
Untiers. Im letzten Augenblick sprang er zur Seite. Dort, wo er gestanden hatte, klatschte der schwere Körper nach einem Sprung über ein Dutzend Meter hinweg zu Boden, kam in die Höhe und fuhr herum. Atlan rannte, sah sich im Laufen um und warf sich zu Boden, als sich die Muskeln des Chreeans erneut zum Sprung spannten. Die Bestie glitt durch die Luft über ihn hinweg und kam wenige Meter vor ihm auf. Nur um Zentimeter verfehlten die tödlichen Pranken den Arkoniden. Atlan war sofort wieder auf den Beinen. Noch bevor die Echse herumwirbeln konnte, war er heran und sprang. Einen Augenblick zu spät. Atlans ausgestreckte Arme griffen ins Leere, als der Hals des Reptils blitzschnell zur Seite zuckte. Der geschuppte Körper drehte sich unter ihm. Atlan schrie gellend auf, als er den Schwanz des Chreeans in die Höhe peitschen sah, versuchte sich noch im Sprung zu drehen und entging dem fürchterlichen Schlag nur knapp. Der Schwanz streifte ihn lediglich, was aber genügte, um ihn ein weiteres Stück durch die Luft zu befördern, bevor er hart landete. Atlan hatte das Gefühl, alle Knochen im Leib müßten ihm gebrochen sein. Er sah schwarze Punkte vor den Augen, und seine Trommelfelle drohten zu platzen, als er nun das Fauchen der Bestie dicht neben seinem Kopf hörte. Instinktiv, ohne etwas zu sehen, rollte er sich in die andere Richtung. Irgend etwas streifte ihn erneut und verursachte höllische Schmerzen. Er rollte sich weiter fort, sah die Echse vor sich und sprang auf. Seine Beine gaben nicht nach, und er brach nicht unter Schmerzen zusammen. Der Zellaktivator jagte belebende Ströme durch seinen Körper. Atlan sah den Kopf des Chreeans heranschießen und handelte, ohne zu überlegen. Er wartete ab, bis der weit aufgerissene Rachen ihn fast erreicht hatte, ließ sich dann blitzschnell fallen und bekam den Hals des Tieres von unten zu fassen. Wieder sah er schwarze Punkte vor den Augen, und der Schmerz in der Seite drohte ihm die Sinne zu rauben, aber er
klammerte sich fest, umfaßte den ganzen Hals der Echse und krallte die Finger beider Hände ineinander. Das Chreean bäumte sich auf und schlug mit dem Schwanz nach ihm. Atlan wartete, bis der Oberkörper des Reptils wieder herabkam und seine Füße den Boden berührten. Dann stieß er sich mit aller Kraft ab, krümmte sich und schob auch die Beine über den Halsansatz der Echse. Das Reptil schrie auf. Der schwere Schwanz peitschte den Boden und riß große Stücke Gras und Moos heraus. Atlan hielt sich fest, als die Bestie begann, wilde Sprünge zu vollführen. Immer wütender wurde das Geschrei, als sie den Gegner weder mit dem Schwanz noch mit den relativ unbeweglichen Vorderarmen zu fassen bekam. Das Reptil rannte und sprang, drehte sich in der Luft und versuchte alles, um Atlan abzuschütteln. Dieser hatte nur den einen Gedanken, sich festzuhalten, bis es den Magiern möglich war, die Chreeans unschädlich zu machen. Warum war dies nicht längst geschehen? Wieso brauchten sie so lange? Wenn er Razamons Kräfte besessen hätte … Razamon! Atlan war es unmöglich, etwas von den anderen zu sehen. Aufgewirbeltes Erdreich, Gräser und Staub flogen ihm ins Gesicht. Er schloß die Augen. Und es ging immer weiter. Die Echse sprang, rannte ein Stück und ließ sich auf den Rücken fallen, um so den Gegner abschütteln oder zermalmen zu können. Atlans Hände drohten unter dem Gewicht des schweren Körpers zerquetscht zu werden. Der Arkonide ließ nicht los. Es wäre der sichere Tod gewesen. Er hatte kaum noch Gefühl in den Gliedern – außer dem brennenden Schmerz. Das Reptil blieb für kostbare Augenblicke still liegen, als müßte es zu Atem kommen. Kostbare Sekunden, in denen der Zellaktivator seine Arbeit tat. Atlan hörte das Schnauben der Echse dicht an seinem Kopf. Er spannte alle Muskeln, und als das Chreean wieder in die Höhe schoß, war er bereit. Er holte Schwung und schaffte es, sich auf den Rücken des Reptils
zu schwingen. Die Echse stieß einen markerschütternden Schrei aus, stampfte in ohnmächtigem Zorn in die weiche Erde und vollführte Sprünge wie ein wilder Mustang, der seinen Reiter abschütteln wollte. Atlan hielt sich fest, rutschte aber immer weiter den Rücken des Tieres hinunter. Die geschuppte Haut war glatt und bot keinen Halt mehr, als Atlan den Hals nicht mehr umfassen konnte. »Spring ab!« Irgend jemand schrie es. Razamon! »Spring ab, Atlan, schnell!« Die Echse ließ sich auf die Seite fallen. Blitzschnell erkannte der Arkonide ihre Absicht. Wenn sie sich jetzt auf den Rücken wälzte, war er verloren. Er sprang mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war. Schwer atmend kam er nur knapp neben den stampfenden Beinen des Monstrums auf. Aber nicht weit genug vom Schwanz der Echse, der jetzt in die Höhe zuckte, mit fürchterlicher Wucht auf den Boden klatschte und eine tiefe Furche schnitt, sich wieder hob und … Atlan warf sich instinktiv herum, auf den Bauch, und legte schützend die Hände in den Nacken. Er erwartete den Schlag, hatte keine Kraft mehr, sich noch einmal davonzuschnellen. Der Schlag blieb aus. Plötzlich war es still. Das Schnauben und Schreien des Mörder‐ Chreeans blieb aus. Jemand näherte sich laufend. Langsam hob der Arkonide den Kopf. Für Sekunden weigerte sich sein Verstand, das zu akzeptieren, was er sah. Razamon blieb neben dem in sich zusammengesunkenen Reptil stehen. Er atmete schwer und hatte blutige Striemen am Arm, die von der Schulter bis fast zum Handgelenk reichten. Der Pthorer holte tief Luft, kam auf Atlan zu und kniete sich neben den Arkoniden. »Das war im allerletzten Augenblick«, knurrte er. »Ich hätte dir nicht mehr helfen können. Du kannst dich bei den Magiern bedanken.«
Asparg und Fiothra tauchten auf, dann Grizzard, der allerdings in sicherem Abstand vor dem reglos am Boden liegenden Reptil stehenblieb und am ganzen Körper zitterte. »Kannst du aufstehen?« Atlan betastete seine Gliedmaßen. Erleichtert stellte er fest, daß nichts gebrochen war. Nur die Seite brannte noch höllisch, aber zum Glück hatte er auch dort keine offene Wunde. Der Schlag mit dem Schwanz des Chreeans mußte eine gehörige Prellung verursacht haben, aber Atlan fühlte, wie seine Kräfte zurückkehrten. Razamon half ihm auf die Beine. Atlan sah, daß das zweite Reptil mit unnatürlich verkrümmtem Hals in etwa hundert Meter Entfernung am Boden lag. Das aus seinem Maul geströmte Blut hatte den Boden rot gefärbt. »Es ist tot«, sagte Razamon, als er Atlans fragenden Blick bemerkte. »Mir blieb keine andere Wahl, als ihm …« Er machte eine Geste, die anzeigte, daß er dem Chreean das Genick gebrochen hatte. »Wir konnten es nicht früher erfassen«, sagte Fiothra entschuldigend und deutete dabei auf das neben Atlan liegende Tier. »Schon gut«, murmelte der Arkonide. »Früh genug.« Er wischte sich Schmutz und Gräser von der Kleidung und aus dem Gesicht, ging einige Schritte auf und ab, beugte seinen Körper und nickte schließlich mit grimmiger Befriedigung, obwohl er immer noch die Zähne zusammenbiß. Er sah zur TZAIR hinüber. »Es hat keinen Sinn, Atlan«, sagte Razamon. »Wir verlieren nur Zeit.« »Auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommtʹs jetzt nicht mehr an«, wehrte der Arkonide ab. »Außerdem gibt es in der augenblicklichen Situation kein besseres Versteck für uns als eines der Schiffe, bis wir weitersehen können.« Was er damit meinte, zeigten seine Blicke in alle Richtungen.
Überall konnten weitere Bestien lauern, getarnt und erst dann zu sehen, wenn es schon zu spät war. »Na, kommt schon.« An der Spitze der kleinen Gruppe marschierte Atlan auf die TZAIR zu. Er blieb einige Male stehen, massierte sich die Seite und fragte sich, ob die beiden Magier auch Prellungen heilen konnten. Der Zellaktivator arbeitete jedoch. Bald würde er nichts mehr spüren. Sie erreichten die TZAIR, und auf den ersten Blick bot sich hier das gleiche Bild wie bei den anderen durchsuchten Schiffen. Auf der ins Innere führenden Rampe lagen die Leichen von Technos und ins Gebiet des SCHLOSSES eingedrungenen Dorkhern unterschiedlichsten Aussehens. Mit geballten Fäusten stieg Atlan als erster die Rampe hinauf – und stieß einen heiseren Laut aus, als er ihr oberes Ende erreicht hatte. Razamon war augenblicklich an seiner Seite. »Vielleicht doch keine Zeitverschwendung«, murmelte Atlan, und neue Hoffnung stieg in ihm auf. In der Schleuse hinter der Rampe und dem sich anschließenden Gang lagen keine Toten mehr! Auch die gewohnten Spuren von Verwüstungen fehlten. Vorsichtig drangen die fünf in die TZAIR ein. Die Gänge waren relativ sauber, und in diesem Schiff herrschte bessere Luft als in den anderen. Leises Summen war zu hören, und der Boden unter den Füßen vibrierte leicht. Türen standen offen, und auch die darunterliegenden Räume waren unangetastet. »Hier waren keine Mörder‐Chreeans«, sagte Atlan. »Und keine Dorkher. Aus irgendeinem Grund blieb die TZAIR verschont von ihrem Amoklauf.« Seltsamerweise war dieser Umstand nicht dazu angetan, den Arkoniden zu beruhigen oder gar in Euphorie zu versetzen. Im Gegenteil, er spürte ein neu aufkommendes Unbehagen.
Razamon wich nicht von seiner Seite. Auch im Gesicht des Pthorers arbeitete es. Atlan sah sich um. Die Magier waren direkt hinter ihnen, nur Grizzard schien mit sich zu kämpfen. Atlan und Razamon erreichten die Zentrale der TZAIR. Und als sie nun sahen, daß alle technischen Einrichtungen arbeiteten, daß die Bildschirme intakt waren und eine Reihe von Kontrolleuchten die Funktionsbereitschaft der Bordsysteme anzeigten, war er nicht einmal mehr überrascht. Sie hatten ihr Schiff gefunden.
2. Atlan hätte vermutlich Stunden gebraucht, um genau festzustellen, ob die TZAIR raumtüchtig war oder überhaupt von Dorkh starten konnte, und wie die einzelnen Systeme bedient wurden. Zwar glich die Technologie der Fünfeckschiffe im großen und ganzen der der Organschiffe, und dadurch, daß Atlan selbst einmal den Platz einer lebenden Galionsfigur eingenommen hatte, sah er keine unüberwindlichen Schwierigkeiten in dieser Hinsicht. Aber er nahm sich nicht die Zeit. Er stellte nur fest, daß die Energieversorgung sämtlicher Systeme einwandfrei funktionierte und auch die Klima‐ und Luftumwälzungsanlage in Ordnung war. Irgend etwas ließ ihm keine Ruhe. Er spürte es dumpf, und es war etwas, das sein Unbehagen an Bord dieses Schiffes von Minute zu Minute steigerte. Den anderen war deutlich genug anzusehen, daß es ihnen ähnlich ging. Etwas befand sich an Bord der TZAIR. Etwas, das nicht hierhergehörte. »Wir durchsuchen die TZAIR Raum für Raum«, ordnete er an. »Razamon, du nimmst Grizzard mit dir. Ich gehe mit Fiothra und Asparg.« Atlan betrachtete einen Bildschirm, der den Grundriß des Schiffes zeigte, und sprach sich kurz mit Razamon ab. Als jeder der beiden Gruppen der Bereich der TZAIR zugeteilt war, den sie zu durchsuchen hatten, schloß er von der Zentrale aus die Schleuse hinter der Rampe. »Auf ungebetene Besucher können wir verzichten«, murmelte er. »Asparg und Fiothra, könnt ihr etwas spüren?« »Es ist etwas im Schiff«, bestätigte der junge Magier, ohne weitere Angaben zu machen. Sie verließen die Zentrale. Razamon und Grizzard begaben sich in den oberen Teil des Schiffes, während Atlan und die Magier sich
unten umsahen. Sie gingen schweigend durch die Korridore und öffneten jede Tür. Nichts. Alle Räume waren leer. Plötzlich sagte Fiothra: »Wir kommen näher. Sie sind ganz in der Nähe.« »Sie?« Die Magierin hüllte sich in Schweigen. Weiß sie nicht mehr? fragte Atlan sich. Oder hat sie Gründe, zu schweigen? Zwei weitere leere Räume. Dann standen sie wieder vor einer verschlossenen Tür. Atlan wußte, daß sie am Ziel waren, ohne daß die Magier etwas zu sagen brauchten. Langsam streckte er die Hand nach dem Öffnungsmechanismus aus. Ganz deutlich spürte er nun die Nähe von etwas Fremdem, Bedrückendem. Es befand sich hinter dieser Tür. Atlan berührte den Mechanismus. Nichts geschah. Die Tür fuhr nicht in die Wand wie alle anderen. Sie war zusätzlich verriegelt. Waren »sie« in der TZAIR gefangengehalten worden? Von den Uleb? Atlans Finger huschten über die Tastatur neben der Tür, bis sie endlich zur Seite fuhr. Sechs Wesen starrten ihn an, sechs Geschöpfe, die auf den ersten Blick nichts Menschliches an sich hatten. Sie blickten ihn an – aus jeweils zehn winzigen schwarzen Knopfaugen. Atlan lief ein Schauer über den Rücken. * Sie ähnelten dicken, auf den Kopf gestellten Birnen. Atlan hatte alles mögliche erwartet, nur nicht diese mittelgroßen, gedrungenen Wesen, die alles andere als bedrohlich aussahen und noch dazu in
dem engen Raum regelrecht zusammengepfercht waren. Aber von ihnen, das spürte er ganz deutlich, ging der Druck in seinem Kopf und das unbestimmte Unbehagen aus, das er seit dem Betreten der TZAIR gefühlt hatte. Sie sahen erbärmlich aus. Ihre Kleidung existierte nur noch in Form winziger Fetzen, die graue Haut war mit Wunden und Geschwüren bedeckt. Am dicken Unterteil des Birnenkörpers saßen zwei kurze Beine, am dünneren Oberteil zwei ebenfalls kurze Arme mit polypenähnlichen Händen – konische Stümpfe mit mehreren Dutzend kleinen Tentakeln daran. Die Gesichter – soweit sich von solchen sprechen ließ – waren flach und ausdrucksarm. In der Mitte stach eine spitze Nase etwa eine Handspanne weit heraus, deren Spitze biegsam war und nun, als Atlan und die Fremden sich schweigend gegenüberstanden, nach allen Seiten schnüffelte, als sei sie das herausragende Sinnesorgan und nicht die kleinen schwarzen Knopfaugen, die zu beiden Seiten der Nasenwurzel saßen. Der Mund der Fremden schließlich war nicht mehr als ein dünner Spalt mit unzähligen Raspelzähnchen darin. Der Rest des Kopfes war von einem weit ausladenden, silbrigen Helm bedeckt, der mit den flachen, bandförmigen Haaren verwachsen zu sein schien. Atlan unterdrückte das Unbehagen und fragte sich, wie lange diese bedauernswerten Wesen schon in ihrer Zelle schmachteten. Er blickte sich darin um und fand weder Schüssel mit Wasser noch Nahrung. Vielleicht war es ihre Qual, die auf ihn und die Magier überströmte, denn auch Asparg und Fiothra hatten noch keinen Schritt in den Raum hinein gemacht. Atlan redete sich ein, daß es nur so sein konnte. Diese Fremden waren in die Gefangenschaft der Uleb geraten und mußten Schlimmes durchgemacht haben. Was er spürte, war der Schmerz dieser Wesen, die vermutlich über Fähigkeiten verfügten, ihre Gefühle in gewissem Umfang auf andere zu übertragen.
Doch ein Rest Zweifel blieb – trotz des instinktiven Mitleids, das Atlan beim Anblick dieser Gestalten befiel. Sie schnüffelten und starrten ihn an. Atlan konnte nichts aus ihren Gesichtern herauslesen, aber es war nur natürlich, daß sie in ihm und den beiden Magiern Helfershelfer derjenigen sahen, die sie hier festgesetzt hatten. Atlan mußte den Anfang machen und den Bann brechen. Dennoch fiel es ihm schwer. »Könnt ihr mich verstehen?« fragte er, obwohl ihm die Frage reichlich überflüssig vorkam. In der Schwarzen Galaxis, so schien es, verstand jeder jeden. Doch immerhin bestand die Möglichkeit, daß diese sechs Wesen nicht aus der Schwarzen Galaxis stammten. »Geht fort!« sagte einer der sechs. »Laßt uns sterben, oder habt ihr selbst vor dem Tod keinen Respekt?« Atlan mußte schlucken. Unwillkürlich machte er einen Schritt in die Zelle hinein. Razamon und Grizzard tauchten auf dem Korridor auf und wurden von den beiden Magiern zurückgehalten. »Die SCHLOSSHERREN sind tot«, erklärte er. »Ihr habt weder von ihnen noch von ihren Helfern noch irgend etwas zu fürchten.« Die sechs drehten sich so, daß jeder von ihnen jeden anderen ansehen konnte. Für einen Moment schien es so, als hielten sie eine stumme Zwiesprache untereinander. Dann erhob sich der, der der Tür am nächsten saß und kam auf Atlan zu. Er ging unsicher, und der Arkonide konnte sich ausmalen, daß er kaum noch Kraft in den kurzen Beinen hatte. »Dann sind wir … frei?« »Ja«, antwortete Atlan. Natürlich konnten die Gefangenen kaum viel von dem mitbekommen haben, was sich draußen ereignet hatte, und ihr Mißtrauen war nur allzu verständlich. Und sein eigenes? »Wer seid ihr dann?« fragte das Wesen. Es sprach dorkhisches Pthora, wenn auch mit einem Akzent, wie Atlan ihn noch nie gehört
hatte. »Gegner der toten SCHLOSSHERREN«, sagte der Arkonide. Die schwarzen Punktäugelchen funkelten ihn an. Die Nasenspitze des Wesens richtete sich auf diejenigen, die hinter Atlan standen. Auch die übrigen fünf Gefangenen erhoben sich. Als Atlan sah, wie sie sich quälten, verstärkte sein Mitleid mit ihnen noch. Sie mußten behandelt und vor allem mit Nahrung versorgt werden. Aber wer waren sie? Atlan schämte sich fast für sein immer noch vorhandenes Mißtrauen, als er eine entsprechende Frage stellte. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß Razamon auf dem Sprung stand, um sofort einzugreifen, falls die Birnenförmigen sich nicht als so harmlos erwiesen, wie sie im Moment wirkten. Der Sprecher der Fremden aber antwortete bereitwillig: »Wir sind Gassuaren«, sagte er mit seiner hellen, nasalen Stimme. »Schon vor langer Zeit gerieten wir in die Gewalt der SCHLOSSHERREN. Sie verdächtigten uns, als Spione nach Dorkh gekommen zu sein. Sie quälten und folterten uns und …«, die Stimme des Wesen wurde schwächer, »… seit vielen Tagen haben wir weder Verpflegung noch Wasser bekommen. Wir sind krank und schwach und …« Von einem Augenblick zum andern sackte der Gassuare in sich zusammen. Die anderen fünf machten keine Anstalten, für ihn weiterzureden. Sie sahen so aus, als würden auch sie jeden Augenblick umfallen. »Von ihnen erfährst du vorläufig nichts mehr«, sagte Razamon. Atlan nickte enttäuscht. »Wir schaffen sie in ein besseres Quartier und bringen ihnen Verpflegung. Sobald sie sich erholt haben, sehen wir weiter.« »Dann willst du an Bord der TZAIR bleiben?« fragte Grizzard entsetzt. Atlan nickte. »Vorläufig, ja. Wir werden das Schiff genauestens überprüfen. Deshalb kamen wir her, um ein raumtüchtiges Schiff zu finden. Es
sieht so aus, als hätten wir eines. Und vielleicht können wir von den Gassuaren noch etwas erfahren, das wichtig für uns ist.« Razamons Miene verriet, was er davon hielt. »Mach ein anderes Gesicht, Berserker«, sagte Atlan. »Hilf mir lieber.« Atlan war wieder genügend bei Kräften, um den offenbar bewußtlosen Sprecher der Fremden aufzuheben und durch den Korridor in einen der größeren, eingerichteten Räume zu tragen. Eine halbe Stunde später war alles Nötige herbeigeschafft, um die Fremden wieder zu Kräften kommen zu lassen. Atlan ließ die Tür zu ihrem Quartier offen. Dann begaben er, die beiden Magier und Grizzard sich wieder in die Zentrale der TZAIR. Razamon blieb als Wache zurück – für alle Fälle. Erst jetzt fiel Atlan auf, wie plötzlich der Zusammenbruch des Gassuaren gekommen war. Augenblicke vorher hatten er und seine Artgenossen noch den Eindruck gemacht, durch die überraschende Befreiung neue Energien gesammelt zu haben. War die Befreiung wirklich so überraschend für sie gewesen? Hatten sie ihm etwas vorgespielt? »Habt ihr etwas entdecken können?« fragte der Arkonide die Magier in der Zentrale. Asparg und Fiothra sahen sich kurz an. Dann sagte Asparg: »Als das Wesen sagte, daß sie schon lange Gefangene der SCHLOSSHERREN waren und von ihnen für Spione gehalten wurden, sprach es die Wahrheit.« Damit hatte Atlan sich vorerst zu begnügen. Er wandte sich wieder der Überprüfung der einzelnen Schiffssysteme zu, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Zu deutlich spürte er, daß irgendein unbekanntes Unheil in der Luft lag – etwas, daß nichts mit den Uleb und deren möglichen Hinterlassenschaft im Bereich des SCHLOSSES, nichts mit der Seele von Dorkh zu tun hatte. Er war entschlossen, die Gassuaren nach ihrer Genesung
gründlich zu durchleuchten. Die Gelegenheit dazu sollte er früher bekommen, als er dachte. * Allein die Tatsache, daß der Gassuare allein in der Zentrale erschien, also ohne Razamon, hätte Atlan alarmieren sollen. Doch der Arkonide war im ersten Moment viel zu überrascht, um die Auskunft des Fremden, Razamon habe ihn geschickt und wollte noch bei den anderen Wache halten, anzuzweifeln. Er hatte mit Stunden gerechnet, die die Gassuaren brauchen würden, um soweit erholt zu sein, daß sie Ausflüge im Schiff machen konnten. Seit seiner Rückkehr in die Zentrale waren jedoch kaum mehr als dreißig Minuten vergangen. Immerhin hatte er in dieser Zeit feststellen können, daß die TZAIR nicht ohne weiteres würde starten können. Irgendein Teil des Antriebs schien beschädigt zu sein, aber noch hatte er diese Stelle nicht lokalisieren können. Atlan vergaß die TZAIR, setzte sich in einen schwenkbaren, für humanoide Intelligenzen konstruierten Stuhl und sah den Gassuaren durchdringend an. Sofort verstärkte sich der Druck in seinem Kopf wieder. War der, der nun vor ihm stehenblieb, jener, mit dem er vorher gesprochen hatte? »Wer seid ihr?« fragte er übergangslos und konnte nicht verhindern, daß es eher wie eine Drohung klang. Er erschrak vor sich selbst. Der Gassuare begann erneut, bereitwillig Auskunft zu geben, ohne Gegenfragen zu stellen. »Die SCHLOSSHERREN hielten uns für Spione, wie ich schon sagte, und sperrten uns ein. Sie versuchten, etwas aus uns herauszuholen, das wir ihnen nicht geben konnten. Denn wir sind
keine Spione.« »Was dann?« Wieder antwortete der Fremde sofort – um eine Spur zu bereitwillig, wie es Atlan schien. »Wir sind Piraten, und wir glaubten, auf Dorkh reiche Beute machen zu können, als der Dimensionsfahrstuhl plötzlich in unserem Jagdrevier auftauchte. Da wir auf den Welten der Schwarzen Galaxis leben, bereitete es uns keine Schwierigkeiten, den Wölbmantel zu durchstoßen. Alles ließ sich äußerst erfolgversprechend an. Wir verloren weder unser Gedächtnis noch unsere Ausrüstung oder unser Schiff. Das Unglück kam kurz nach der Landung am Rand jenes Gebiets über uns, das man auf Dorkh den Wald von Fryg nennt. Schreckliche Ungeheuer überfielen uns. Sie zerstörten das Raumschiff und töteten einen Teil der Mannschaft. Nur wir sechs überlebten und konnten entkommen.« »Den Ungeheuern«, sagte Atlan. »Nicht aber den Häschern der SCHLOSSHERREN.« »Nicht ihnen liefen wir in die Arme, sondern den Wächtern der Stadt der Verlorenen. Diese brachten uns zum SCHLOSS, nachdem sie vergeblich versucht hatten, uns auszuhorchen.« »Das taten dann die Uleb«, vermutete Atlan, der vergeblich versuchte, eine Ungereimtheit in dem zu entdecken, was der Gassuare ihm erzählte. »Auch sie nicht. Sie versuchten es erst gar nicht. Sie ließen uns ohne Verhör einsperren. Deshalb wunderten wir uns später sehr darüber, daß andere erschienen, um uns zu foltern.« »Technos«, murmelte Atlan. Aber warum sollten diese auf eigene Faust handeln, wenn die Uleb kein Interesse an ihren Gefangenen gehabt hatten? Atlan musterte den Gassuaren erneut von oben bis unten. Wie gefährliche Raumpiraten sahen diese Wesen beileibe nicht aus. »Hast du einen Namen?« fragte er. »Ich bin YhmʹDheer«, antwortete das Wesen schnell. »Der
Anführer meiner Sippe.« Atlan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und warf den beiden Magiern einen Blick zu. Dabei entdeckte er, daß Grizzard sich nicht mehr bei ihnen befand. Er war nicht mehr in der Zentrale! Atlan stieß eine Verwünschung aus. Während seine Aufmerksamkeit und die der Magier ganz dem Gassuaren gegolten hatte, mußte er sich aus der Zentrale geschlichen haben. Aber wo steckte er dann jetzt? »YhmʹDheer«, sagte der Arkonide gepreßt, »geh zurück zu deinen Gefährten. Sie brauchen dich bestimmt.« »Du hast recht. Wir sind euch zu großem Dank verpflichtet.« YhmʹDheer watschelte auf seinen kurzen Beinen auf den Korridor hinaus. Als Atlan und die Magier allein waren, fragte er: »Sagt er die Wahrheit?« »Soweit wir es erfassen können, ja. Seine Geschichte kann in allen Teilen stimmen«, gab Fiothra Auskunft. »Jedenfalls konnten wir nichts anderes feststellen.« »Dennoch fühlen wir uns in seiner Nähe unwohl«, sagte Asparg. »Ich auch«, sagte Atlan finster. »Wir alle. Aber wir dürfen uns nicht allein auf solche vagen Gefühle verlassen. YhmʹDheer machte einen wirklich dankbaren Eindruck.« Er wußte, daß er sich selbst etwas einzureden versuchte. »Und Razamon?« fragte Fiothra. »Und Grizzard? Razamon wäre doch nicht beim Quartier der Gassuaren zurückgeblieben, wenn ihr Anführer sich selbständig macht, oder?« Nein, dachte Atlan. Unter normalen Umständen sicher nicht. Und Grizzard … »Sucht nach ihm«, bat er die Magier. »Ich gehe zu Razamon.« *
Als Atlan von einem »dankbaren Eindruck« gesprochen hatte, war dies, wie sich nun herausstellte, eine glatte Untertreibung gewesen. Razamon stand vor der Tür zum Quartier der Gassuaren und wirkte völlig normal. Er blickte nicht mehr so finster drein und brachte sogar ein Grinsen zustande, als er Atlan kommen sah und mit dem Daumen über die Schulter deutete. »Sieh sie dir an, Arkonide. Sie sind putzmunter.« Atlan blieb stehen und blickte dem Freund in die schwarzen Augen. »Und du spürst gar nichts mehr? Kein ungutes Gefühl in ihrer Nähe?« Der Pthorer zuckte grinsend die Schultern. »Warum? Alles, was die Kerle wollen, ist, uns ihre Dankbarkeit zu zeigen. Geh hinein, dann siehst du, was ich meine.« Zögernd trat Atlan an Razamon vorbei in den großen Raum, in dem es sich die Gassuaren mittlerweile durch die Umstellung einiger Möbel gemütlich gemacht hatten. Sie hatten gegessen und getrunken, sich gegenseitig ihre Wunden gereinigt und mit Verbandszeug, das sie irgendwo im Schiff gefunden haben mußten, denn Atlan hatte es ihnen nicht gegeben, notdürftig verbunden. Dann aber waren mehrere von ihnen im Schiff umherspaziert. Atlan warf Razamon einen Seitenblick zu. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. YhmʹDheer, inzwischen durch eine Art Schärpe als Anführer der Gassuaren gekennzeichnet, erspähte Atlan und kam sofort auf ihn zu. »Atlan!« rief er schrill aus, wobei der schmale Mund sich kaum bewegte. »Razamon sagte uns, daß du Atlan heißt. Wir sind euch so dankbar! Ohne euch wären wir in unserem Gefängnis jämmerlich zugrunde gegangen. Wir möchten unsere Dankbarkeit beweisen und euch zeigen, daß ihr nichts von uns zu fürchten habt.«
»Wie?« entfuhr es dem Arkoniden. »Razamon sagte es uns. Ihr glaubt, ihr könnt uns nicht vertrauen. Das tut uns leid, aber an eurer Stelle wären wir ebenso vorsichtig. Atlan, ihr habt uns das Leben gerettet. Wir sind Piraten, aber wir wissen, was wir Freunden wie euch schuldig sind. Sag uns, wie wir euch danken können?« Atlan drehte sich um und trat auf Razamon zu. »Was hast du ihnen sonst noch gesagt?« fragte er leise. Der Pthorer blickte ihn verständnislos an und zuckte die Schultern. »Nichts. Ich habe ihnen nichts gesagt.« »Aber …!« Atlan sah die Offenheit im Blick des Pthorers – und noch etwas anderes, was er nicht definieren konnte. Sein Eindruck, daß mit Razamon etwas geschehen war, verstärkte sich. Und die Gassuaren hatten damit zu tun. Aber wenn sie Razamon beeinflußt hatten, warum dann nicht auch ihn, Atlan? Oder war er es bereits und merkte nur nichts davon? Du bist nicht beeinflußt! signalisierte der Extrasinn. Hör auf, dich verrückt zu machen, und geh auf die Fremden ein, aber beobachte sie wachsam! »Atlan?« YhmʹDheer wartete im Kreis seiner Artgenossen. Atlan sah einen nach dem anderen an. Nein, sie wirkten alles andere als bedrohlich. Sie waren wie er Gegner der SCHLOSSHERREN gewesen und erst durch ihn und seine Freunde befreit worden. Welchen Grund sollten sie haben, etwas gegen sie im Schilde zu führen? Als er sie nun so dastehen sah, schämte der Arkonide sich fast seines Mißtrauens. Er wußte nicht mehr, was er denken sollte, und kam sich vor wie ein dummer Junge – nicht wie ein Zehntausendjähriger, der im Lauf seines langen Lebens viele Erfahrungen mit den verschiedensten Intelligenzen gesammelt
hatte. »Wir könnten euch dabei helfen, die TZAIR instand zu setzen. Wir könnten aufräumen und uns überall nützlich machen. Dieses Schiff unterscheidet sich nicht sehr von unserem eigenen, mit dem wir nach Dorkh kamen.« »Wer hat euch gesagt, daß wir die TZAIR flottmachen wollen? Auch Razamon?« »Das brauchte uns niemand zu sagen. Ich sah es doch in der Zentrale.« Atlan atmete tief ein. »Also schön«, sagte er dann. »Dann wirst du auch wissen, daß wir Schwierigkeiten haben. Wenn ihr glaubt, uns wirklich helfen zu können …« »Wir können es versuchen«, sagte YhmʹDheer. »Einverstanden. Dann kommt mit mir.« »Es genügt, wenn zwei von uns mit dir gehen«, erklärte YhmʹDheer. »Die anderen können sich im Maschinenraum umsehen.« Schweren Herzens gab Atlan sein Einverständnis. »Du gehst mit den anderen«, sagte er zu Razamon, als YhmʹDheer und ein zweiter Gassuare sich zu ihm gesellt hatten. Wenig später waren sie in der Zentrale. Atlan erklärte den Birnenförmigen, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, und YhmʹDheer machte sich sogleich daran, die entsprechenden Systeme zu untersuchen. Die Art und Weise, wie er das tat, bewies, daß er tatsächlich eine bessere Kenntnis von der Funktionsweise des Raumschiffs besaß als der Arkonide. Atlan sah ihm eine Weile zu, bis die beiden Magier erschienen – mit Grizzard. Sie blieben auf dem Korridor. Asparg konnte seine Überraschung kaum verbergen, als er die Gassuaren bei der Arbeit sah. Er machte Atlan ein Zeichen, daß er zu ihnen kommen sollte. YhmʹDheer und sein Artgenosse schienen davon nichts zu
bemerken. Sie waren vollkommen in ihre Arbeit vertieft. Atlan verließ die Zentrale und folgte den Magiern, die Grizzard nur mit Mühe halten konnten, ein Stück weiter in den Korridor hinein, bis sie glaubten, daß die Gassuaren sie nicht mehr hören konnten. »Er ist vollkommen verunsichert«, flüsterte Fiothra. »Wir mußten ihn überwältigen. Er war im Begriff, sich aus einer Luke im oberen Teil des Schiffes zu stürzen. Er muß furchtbare Angst haben.« Atlan sah Grizzard in die Augen. Der Blick des ehemaligen Jägers klärte sich nur langsam. Er schien wie aus einer tiefen Trance zu erwachen. »Laßt ihn jetzt los«, bat Atlan die Magier. Sie traten zur Seite. »Was ist los, Grizzard?« fragte der Arkonide, obwohl er glaubte, die Antwort zu kennen. »Ich … ich kann nicht länger im Schiff sein«, stammelte Grizzard fast unhörbar. »Ich muß hier heraus, oder ich verliere den Verstand! Mein Kopf … ich halte diese Schmerzen nicht länger aus. Ich habe …« Grizzard fand keine Worte. Hilflos bewegte er seine Arme. Dann schrie er: »Diese furchtbare Unruhe in mir! Spürst du es denn nicht auch, Atlan?« Der Arkonide sah an ihm vorbei und begegnete den Blicken der Magier. Sie versuchten, einen gefaßten Eindruck zu machen. Atlan legte Grizzard die Hände auf die Schultern. »Geh hinaus auf die Rampe, Grizzard. Im Augenblick kannst du uns hier sowieso nicht helfen. Bleib an der Rampe und halte dort Wache.« Ohne ein Wort zu sagen, drehte Grizzard sich um und verließ das Schiff, nachdem Atlan die Schleuse geöffnet hatte. Draußen drohte ihm keine unmittelbare Gefahr. Außer den beiden Mörder‐Chreeans waren im Gebiet zwischen den Schiffen keine Dorkher oder Technos zu sehen gewesen. Sie und die Bestien schienen das Gebiet nach wie
vor zu meiden. »Und ihr?« fragte Atlan. Asparg warf Fiothra einen Blick zu. »Uns brauchst du jetzt auch nicht im Schiff«, sagte er. »Laß auch uns nach draußen gehen. Wir werden bei Grizzard wachen.« »Dann spürt ihr es auch?« »Ja«, bestätigte Fiothra. »Nicht so stark wie Grizzard, aber es ist da. Eine Unruhe, die immer stärker wird.« »Und als ihr oben bei der Luke wart?« »War es nicht so stark. Es ist nur im Schiff, Atlan. Es kommt von den Fremden.« Asparg zuckte die Schultern, dann fügte er bestimmt hinzu: »Wir bleiben nicht im Schiff!« »Dann geht, aber entfernt euch nicht von der Rampe.« »Danke, Atlan«, flüsterte Fiothra. Atlan wartete, bis auch sie verschwunden waren. Plötzlich war das eigene Mißtrauen, war die eigene Unruhe wieder voll da und stärker als je zuvor. Aber das Mißtrauen richtete sich nicht gegen etwas Greifbares, und die Unruhe war nicht die gleiche, die Grizzard, Asparg und Fiothra empfanden. Atlan lauschte in sich hinein und spürte nichts. Das Verhalten der Magier und Grizzards verwirrte ihn und ließ ihn ahnen, daß ein unbekanntes Unheil sich zusammenbraute. Und Razamons seltsames Benehmen? Es war, als wäre das Schiff verhext. Es war gegen jede Logik, die Gassuaren allein dafür verantwortlich zu machen. Sie hatten keinen Grund, sich gegen ihre Befreier zu wenden. Razamon beeinflußt, die Magier verängstigt, Grizzard am Rand des Zusammenbruchs … Und er, Atlan, war als einziger mentalstabilisiert. Nur darum hatte er sich selbst weitgehend unter Kontrolle – noch. Atlan stieß eine Verwünschung aus und machte sich auf den Weg zurück in die Zentrale. Er kam sich wie ein Blinder vor – ein Blinder unter Sehenden, die Zerrbilder wahrnahmen. Unter anderen
Umständen hätte er keinen Augenblick gezögert, mit Razamon ebenfalls die TZAIR zu verlassen, aber sie brauchten dieses Schiff! Es konnte für alles nur die eine Erklärung geben, die er sich schon zurechtgelegt hatte. Irgend etwas an den Gassuaren mußte für die Verunsicherung verantwortlich sein, etwas, dessen sie sich selbst vielleicht gar nicht bewußt waren. Wenn sie aber so dankbar waren, wie sie vorgaben, würden sie entsprechende Fragen beantworten können. Als der Arkonide die Zentrale betrat, war er fest entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten, zumal ihn der Gedanke an Razamon beunruhigte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Pthorer allein zu lassen. Doch YhmʹDheer kam seinen Fragen zuvor. Der Gassuare watschelte unbeholfen auf ihn zu, als er ihn kommen sah, und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Wir haben entdeckt, was fehlt!« rief er aus. »Es ist ein ganz bestimmtes Teil, das in die Kommandozentrale gehört und ohne das kein Schiff dieser Art starten kann. Du hättest lange suchen können, Atlan!« Alle Gesten und die Erregung des Wesens schienen zu zeigen, wie glücklich es darüber war, wirklich helfen und damit seinen Dank abstatten zu können. Sofort war das Schuldgefühl wieder da. Atlan konnte jetzt einfach nicht die Fragen stellen, die er sich zurechtgelegt hatte. Seine Entschlossenheit war wie weggeblasen. Atlan fühlte sich wie gelähmt. Gleichzeitig erwachte seine Neugier. Was zählte, war eine brauchbare TZAIR, dachte er. Und nur das! Alles andere war Spuk und würde vorübergehen. »Ich habe die Form des fehlenden Teiles genau erkannt«, fuhr YhmʹDheer eifrig fort. »Wir sollten versuchen, es in den anderen Sternschiffen zu finden oder zumindest einen Ersatz zu beschaffen. Erlaubst du uns, das für euch zu tun, Atlan?« Es gab keinen vernünftigen Grund, den Wunsch der Gassuaren
zurückzuweisen. Sie wollten nur helfen. Atlan ließ sich von YhmʹDheer die Stelle zeigen, an der das Teil fehlte. Tatsächlich fand er in dem Schaltpult, das die beiden Wesen geöffnet hatten, eine Lücke. »Es ist möglich, daß die SCHLOSSHERREN diese Teile bewußt ausgebaut haben, damit kein Schiff ohne ihre Einwilligung starten konnte«, vermutete YhmʹDheer. »Deshalb sollten wir alle anderen Schiffe durchsuchen.« Atlan nickte. »Dann geht«, hörte er sich sagen. »Wir warten hier auf euch.« »Wir werden uns beeilen«, versicherte YhmʹDheer. Er drehte sich zu seinem Artgenossen um und bewegte dabei die Nasenspitze. Dann verschwanden die Gassuaren. Atlan blieb allein zurück, und kaum waren die Wesen außer Sichtweite, da wechselte seine Stimmung erneut. Warum hatte er sie gehen lassen? Konnte er es verantworten? Atlan ließ sich in einen Schwenksessel fallen und starrte finster vor sich hin. Er hörte Schritte. Razamon betrat die Zentrale, und aus seinen Blicken sprachen heftige Vorwürfe. »Hast du den Verstand verloren?« fuhr er Atlan an. »Wieso gehst du das Risiko ein, diese Kerle ohne Bewachung aus dem Schiff gehen zu lassen?« Atlan starrte den Pthorer fassungslos an. Das sagte ausgerechnet er, der eben noch so sehr von den Gassuaren eingenommen gewesen war, daß er ihnen Spaziergänge in der TZAIR gestattete! »Ich nehme an«, sagte Atlan finster, »daß dir diese Bedenken kamen, nachdem YhmʹDheer und sein Begleiter die anderen vier abgeholt hatten?« Nun war es an Razamon, bestürzt dreinzuschauen. Er brauchte nichts zu sagen. Seine Miene sprach für sich.
Erst nach dem Verschwinden der Gassuaren aus seiner unmittelbaren Nähe war er wieder fähig gewesen, klar zu denken – so wie er, Atlan. Der Arkonide stand auf und erklärte knapp, was sich zugetragen hatte. Razamon hockte sich vor dem geöffneten Schaltpult auf den Boden und betrachtete die Elemente darin. »Du warst ein Narr!« sagte er dann. »Wir waren alle Narren. Vielleicht fehlte das Teil wirklich. Ebensogut aber können die beiden Gassuaren es selbst ausgebaut haben!« Sie haben es getan! dachte Atlan bitter. Und warum? Was wollten sie in den anderen Schiffen? »Worauf wartest du?« fragte Razamon. »Vielleicht können wir sie noch einholen!«
3. Auf dem Weg zur Rampe schossen dem Arkoniden alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Er konnte nun völlig klar denken, so klar wie seit dem Betreten der TZAIR nicht mehr. Mit den Gassuaren war der Druck in seinem Kopf verschwunden. Wer waren sie, und was wollten sie hier? Hatten die Uleb sie wirklich hier festgesetzt und zum langsamen Sterben verurteilt, oder handelte es sich bei ihnen um eine Absicherung, die die SCHLOSSHERREN für den Fall eines Angriffs getroffen hatten? Standen sie doch in irgendeinem Zusammenhang mit der Seele von Dorkh – mit der gesamten Anlage? Waren sie Wächter des SCHLOSSES, die über den Tod ihrer HERREN hinaus dafür zu sorgen hatten, daß sich kein Fremder an den Schiffen zu schaffen machte? Oder Werkzeuge des Dunklen Oheims, die jetzt, nach dem Tod der Uleb, auf den Plan traten? Viele Fragen, die Atlan sich zum Teil schon vorher gestellt hatte, und auf die er wieder keine befriedigende Antworten fand. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er nun noch verwirrter war und trotz der Bestätigung der Magier den Aussagen der Gassuaren über ihre Herkunft keinen Glauben mehr schenkte. Razamon rannte neben ihm her, die Hände zu Fäusten geballt. Sie erreichten die Rampe. Grizzard zuckte heftig zusammen, und die beiden Magier starrten sie völlig verständnislos an. »Ihr habt sie gehen lassen«, sagte Fiothra heftig. »Warum?« »Verdammt, sind sie denn unsere Gefangenen und wir ihre Wächter?« platzte es aus Atlan heraus. Augenblicklich verwünschte er sich selbst dafür. Die Unsicherheit, das Bewußtsein, daß er sich im Kreise drehte und von den Gassuaren auf noch nicht durchschaubare Weise an der Nase herumgeführt wurde, ließ Aggressionen in ihm aufsteigen. Aber die Magier waren ganz bestimmt nicht das richtige Ventil dafür.
»Tut mir leid, Fiothra«, sagte der Arkonide. »Wir sind alle durcheinander. Ich glaubte, nicht von ihnen beeinflußt worden zu sein. Das stimmt nicht. Ich … merkte es nur nicht wie ihr.« Razamon hatte nicht zugehört. Er war an den Magiern vorbeigetreten und deutete nun mit ausgestrecktem Arm auf die Ebene zwischen den Schiffen. »Dort gehen sie. Wir könnten sie einholen, wenn wir wollten.« Atlan sah die sechs Gestalten. Vier von ihnen gingen zu zweit, die beiden übrigen einzeln auf jeweils eines der kleineren Sternschiffe zu. »Du hast recht«, stimmte er dem Pthorer zu. »Es ist besser, wenn wir sie in die Schiffe gehen lassen und ihnen dann nachschleichen.« Er zog Razamon am Arm in die Schleuse und hoffte, daß die Wesen sie noch nicht entdeckt hatten. »Auf die Weise können wir vielleicht endlich erfahren, was sie vorhaben. Wir müssen sie überraschen.« Er sah Asparg und Fiothra an, die sich die Hand gegeben hatten und unsicher den Gassuaren hinterherblickten. »Wir müssen damit rechnen, daß wir in ihrer Nähe wieder beeinflußt werden, obwohl das, was sie auf uns ausüben, schwächer sein sollte, wenn sie nicht alle zusammen sind wie in der TZAIR. Asparg und Fiothra, könnt ihr jeweils einen von ihnen übernehmen?« »Wir versuchen es«, versprachen die Magier. Grizzard sah Atlan erschreckt an. »Ich rühre mich nicht von hier fort!« »Niemand zwingt dich dazu. Es ist ohnehin besser, wenn einer von uns hier als Wache zurückbleibt.« Grizzard atmete erleichtert auf. Gleichzeitig jedoch verriet sein Blick so etwas wie Schuldbewußtsein. Atlan hielt sich noch in der Schleuse verborgen, bis die nur langsam vorankommenden Gassuaren entweder ihre Schiffe erreicht hatten oder aus dem Blickfeld verschwunden waren. Trotz der großen Entfernung hatte er YhmʹDheer an der Schärpe aus leuchtend rotem Stoff erkennen können. Der Anführer der
Gassuaren war nun an Bord der im Dämmerlicht liegenden PYRT. »Gehen wir«, sagte der Arkonide. Er trat auf die Rampe hinaus. »Ich folge YhmʹDheer zur PYRT.« »Dem Obergauner? Ich hätte ihn mir gerne selbst vorgeknöpft«, kam es von Razamon. Atlan sah ihn scharf an. »Es kommt nicht darauf an, sich jemanden vorzuknöpfen, Razamon! Nicht, solange wir nicht genau wissen, daß die Gassuaren tatsächlich etwas gegen uns im Schilde führen. Vielleicht haben sie andere Gründe, wenn sie versuchen, uns kaltzustellen und hinter unserem Rücken zu arbeiten. Nochmals: Wir sind alle ziemlich durcheinander, aber wir dürfen uns nicht von Gefühlen leiten oder zu etwas hinreißen lassen, das wir später bereuen könnten.« »Ach so? Und welche Gründe sollten sie haben?« »Vielleicht ist das, was sie tun oder tun müssen, gefährlich für uns«, versuchte der Arkonide zum wiederholten Mal, sich selbst eine Rechtfertigung für die Handlungsweise der Fremden zurechtzulegen. »Wenn sie etwas tun müssen«, gab Razamon kühl zurück, »dann kann es nur einen geben, in dessen Auftrag dies geschieht.« Der Pthorer war nicht nur wütend auf die Gassuaren, die ihn beeinflußt und wie einen dummen Jungen hatten aussehen lassen, als er bei ihnen »Wache« hielt. Da war wieder diese Unruhe und Gereiztheit in ihm, die Atlan schon eine Zeitlang beobachtet hatte. Razamon machte ihm größere Sorgen, als er es nach außen hin zeigte. »Kommt jetzt!« sagte er. * Atlan machte sich nicht nur um Razamon große Sorgen. Als er Grizzard allein bei der TZAIR zurückließ, hatte er ein denkbar
schlechtes Gewissen. Zwar zeigte sich weit und breit noch immer kein Dorkher und kein Chreean, aber Grizzard litt. Jedesmal, wenn er den Anschein erweckte, sein inneres Gleichgewicht annähernd wiedergefunden zu haben, folgte darauf ein Rückfall. Langsam ging der ehemalige Jäger in dieser Welt, die nicht die seine war und die er nicht verstand, zugrunde. Atlan mußte die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß er mit Selbstmordgedanken spielte. Es war falsch, ihn allein zurückzulassen, aber noch falscher wäre es gewesen, ihn gewaltsam mitzuschleppen. Atlan mußte die Gedanken an ihn mit Gewalt verdrängen. Er konzentrierte sich voll auf die PYRT. Noch wenige hundert Meter trennten ihn von der Rampe, und von YhmʹDheer war nichts mehr zu sehen. Auch Atlans geheime Befürchtung, der Gassuare könnte von innen die Schleuse verschließen, hatte sich nicht erfüllt. Langsam, jeden unnötigen Laut vermeidend, ging der Arkonide weiter. Plötzlich fühlte er sich hilflos hier zwischen den Sternschiffen, wo weit und breit kein Leben war. Nur aus der Ferne waren dann und wann noch immer die Schreie der jagenden Mörder‐Chreeans zu hören. Was war es, das sie und die Dorkher und Technos von hier fernhielt? Eine andere, unbekannte Beeinflussung, die nur sie, die Dorkher spürten? Aber auch Asparg und Fiothra waren Dorkher. Atlan erreichte die Rampe der PYRT. Schräg hinter dem Schiff sah er die DANTA, und ein Schauer überlief ihn, als er an das dachte, was sich an Bord des großen Schiffes ereignet hatte. Für einen Augenblick war die Erinnerung an den furchtbaren, mehr als 50.000 Jahre zurückliegenden Krieg zwischen Lemurern und Wesen wie den SCHLOSSHERREN wieder aufgeflammt. Atlan blieb stehen und sah zu den anderen Schiffen hinüber. Razamon war bereits vor der KYM, und die beiden Magier hatten ihre Ziele ebenfalls fast erreicht. Als schwache Punkte waren sie vor den silbernen Fünfecken gerade noch zu erkennen.
Die PYRT lag still vor ihm. Nichts rührte sich. Nichts deutete darauf hin, daß YhmʹDheer ihn schon entdeckt hatte. Als Atlan den Fuß auf die Rampe setzte, geschah es. Es kam über ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er taumelte, schrie auf und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Irgend etwas explodierte in seinem Bewußtsein und lähmte jedes bewußte Denken. Atlan verlor das Gleichgewicht und stürzte. Neben der Rampe blieb er liegen, die Hände fest an die Schläfen gepreßt. Er versuchte, das zurückzudrängen, was von ihm Besitz ergriff. Es war eine rein instinktive Reaktion. Atlan glaubte die »Stimme« seines Extrasinns zu hören, aber sie ging in einem wahren Chaos von wild durcheinanderwirbelnden Eindrücken und Bildern unter. Dann war auch der letzte Widerstand gebrochen. Atlan lag neben der Rampe auf dem Rücken. Langsam entkrampfte sich sein Körper. Die Hände sanken herab. Sein Bewußtsein versank in den sich langsam klärenden Bildern seiner Erinnerung. Er glitt hinüber in eine andere Welt aus längst vergessen geglaubten Bildern und Eindrücken, die sich nun wie ein Film in ihm abspulten. Sie wechselten schnell. Atlan war wieder auf Arkon und kämpfte gegen die Mörder seines Vaters. Er sah Fartuloon an seiner Seite. Dann Terra. Die Tiefseekuppel. Die Begegnung mit Perry Rhodan. Andromeda. Die Meister der Insel. Mirona Thetin, die er geliebt und getötet hatte. Unendlich viele weitere Stationen seines Lebens wechselten in schnellem Rhythmus. Atlan geriet von der fernen Vergangenheit in die Zukunft – in die Gegenwart. Pthor … Dann erschien ein neues Gesicht vor ihm, ein Gesicht mit drei Augen. Ein Eripäer – ein dreiäugiger Eripäer. Es ließ ihn nicht mehr los. Atlan versank vollkommen in diese drei Augen.
Sein Bewußtsein trieb davon. Oben auf der Rampe, die er nicht mehr wahrzunehmen in der Lage war, erschien YhmʹDheer, betrachtete ihn einige Sekunden lang und kehrte zufrieden in die PYRT zurück. * Grizzard hatte Augenblicke, in denen er alles das, was um ihn herum geschah, wie in einem Traum erlebte. Es ging ihn nichts an. Er war gar nicht wirklich hier. Er war in seinen Steppen und Wäldern, in der Nähe seiner Sippe. Doch diese kostbaren Minuten, in denen sein Unterbewußtsein Schutzwälle aufbaute, um den unvermeidlichen Wahnsinn letztlich nur hinauszuzögern, hielten niemals lange an. Immer wieder geschahen Dinge, die den ehemaligen Jäger jäh und brutal in die Realität zurückrissen. Auch wenn er immer häufiger den Bezug zu dieser verlor, war sie immerfort da. Er spürte es selbst in seinen »Träumen«. Sie waren grausam und quälend. Grizzard sah Atlan, Razamon und die Magier wie durch dichte Nebel, als sie sich von ihm entfernten, kleiner wurden und sich schließlich zwischen den Sternschiffen verloren. Erst als er sie nicht mehr wahrnahm, wurde ihm klar, daß er allein war. Allein! Nichts rührte sich. Er stand einsam und verlassen auf der Rampe. Kein lebendes Wesen war um ihn herum. Die Erkenntnis ließ Panik in ihm aufkommen. Bisher hatte er immer andere um sich herum gehabt – oder zumindest ein Ziel vor Augen, etwas, an das er sich klammern konnte, einen Halt in diesem grausamen Strom, der ihn immer weiter und tiefer in Leere und Finsternis hineinzog. Grizzard zögerte. Sein Herz klopfte wild und jagte ihm hämmernd das Blut in die Schläfen. Die schreckliche Unruhe, die ihn im Schiff
befallen hatte, war gewichen, aber er wußte, daß sie wiederkehren würde. Er sah sich wie gehetzt um. Nichts war da, nichts, das er sehen konnte. Aber er spürte, wie sich von allen Seiten her etwas auf ihn zuschob, das ihn früher oder später ersticken mußte. Plötzlich war die Luft voller seltsamer Laute. Aus dem monotonen Rauschen wurden Stimmen, und nun schälten sich grauenvolle Grimassen aus dem Halbdunkel, das sich wie ein dunkler Vorhang über das Land gelegt hatte. Grizzard schrie gellend auf. Er rannte die Rampe hinunter und schlug um sich wie ein Schattenboxer. Er lief ein Stück vom Schiff weg, blieb stehen, atmete heftig und schrie wieder. Er rief Atlans Namen, aber es kam keine Antwort. Grizzard drehte sich um die eigene Achse, sah die Sternschiffe um sich herum kreisen und wurde von Schwindel gepackt. Er verlor den Halt und stürzte zu Boden. Irgend etwas bohrte sich schmerzhaft in seinen Unterarm und brachte ihn wieder einigermaßen zur Besinnung. Die Gesichter in der Dämmerung waren verschwunden. Grizzard blieb schwer atmend auf dem Rücken liegen. Wieso sah er die Sonne nicht? Es gab nur diesen grauen Nebel. Warum keine Nacht? Wo waren die hellen Lichter am Himmel, die ihm auf so vielen Jagdzügen den Weg zurück zum Lager der Sippe gewiesen hatten? Es gab sie nicht mehr! durchfuhr es ihn. Es gab keine Sonne mehr, keine Welt und kein Leben. War dies das Totenreich? Aber er lebte noch. Er atmete und spürte die Schmerzen im Arm. Und wie schweigende Riesen standen die Fünfecke um ihn herum. Atlan! Grizzard richtete sich auf und begann auf das Schiff zuzulaufen, zu dem Atlan gegangen war. Atlan mußte ihm helfen, ihm sagen, daß alles nicht stimmte, daß er nicht allein zwischen Geistern und Schatten war. Er stolperte, fiel hin und riß sich die Kleidung auf. Seine Hände bluteten. Immer wieder kam er auf die Beine und rannte weiter, bis er die Rampe der PYRT vor sich aus dem Boden ragen sah.
Dann sah er Atlan am Boden liegen. Mit einem Aufschrei stürzte er vor, fiel neben dem Arkoniden auf die Knie und begann an seinen Schultern zu rütteln. »Atlan!« schrie der ehemalige Jäger. »Wach doch auf! Komm zu dir!« Aber Atlan rührte sich nicht. Grizzard legte ihm seine zitternde Hand auf die Brust und fühlte wie sie sich regelmäßig hob und senkte. Atlan war nicht tot, aber er schlief auch nicht. Grizzard sprang auf. Wo waren die anderen? Sie mußten in der gleichen Verfassung sein wie Atlan. Er war allein, wirklich allein! Die Panik überwältigte Grizzard. Hier, an diesem unheimlichen Ort, konnte und wollte er nicht bleiben. Er mußte fort, irgendwohin, wo es eine Sonne und Leben gab. Nur fort aus diesem Geisterreich! Wieder rannte er, aber er hatte kein Ziel. Nur fort von den silbernen Riesen! Grizzard nahm kaum noch etwas von seiner Umgebung wahr. Immer wieder stolperte er über Steine, kam unter Schmerzen auf die Beine und lief weiter. Er erreichte den Rand der Senke, in der die Schiffe lagen, sah sich gehetzt um und rannte weiter. Er bekam kaum noch Luft, aber er durfte jetzt nicht stehenbleiben. Noch sah er die Riesen, und noch konnte das, was zwischen ihnen war, ihn einholen. Die Hügelkette. Schwach erinnerte Grizzard sich daran, daß er mit Atlan und Razamon durch ein Tor in dieses Gebiet gekommen war, das unter einer gewaltigen leuchtenden Wand hindurchführte. Danach erst hatten seine Qualen begonnen. Auch draußen, jenseits des Tores, hatte er gelitten, aber das war nichts im Vergleich zu dem gewesen, was er hier durchmachen mußte. In seiner geistigen Verwirrung warf Grizzard Erinnerungsfragmente willkürlich durcheinander. Er mußte dieses Tor finden und hindurch, in die Freiheit. Plötzlich war ein stechender Schmerz in seiner Brust. Grizzard blieb so abrupt stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Wand
geprallt. Er riß den Mund auf und schnappte nach Luft. Die Brust drohte ihm zu zerspringen. Grizzard sank unter röchelnden Lauten zusammen und krümmte sich am Boden. Schwach sah er die Senke unter sich liegen, und nun waren keine matt silbrig schimmernden Fünfecke mehr in ihr, sondern lauter funkelnde Glaspaläste. Die Senke der verlorenen Seelen! Er war dort. Sie wollten ihn wieder einsperren! Grizzard bäumte sich auf, rollte sich auf den Bauch und versuchte, auf allen vieren davonzukriechen. Seine Ellbogen knickten ein. Er hatte keine Kraft mehr. Er war am Ende. Aber wenige Meter vor ihm lagen Felsen und dahinter Hügel, hinter denen er sicher war. Er mußte es schaffen. Ein Geräusch. Grizzard wollte herumfahren, aber er brachte es nur noch fertig, sich auf die Seite zu drehen. Sie waren da! Sie kamen, um ihn zu holen und in den Glaspalast zu bringen, wie schon einmal vor langer Zeit. Der Techno blieb einen Schritt vor ihm stehen und beugte sich über ihn. Grizzard lag auf dem Rücken und atmete schwer. Der Anblick des Technos lähmte ihn für Sekunden. Der Mann sagte etwas zu ihm, aber es drang nicht bis zu seinem Bewußtsein durch. Grizzard wußte nur eines: Lebend sollten sie ihn nicht bekommen. Nicht noch einmal! Seine tastende Hand berührte etwas Hartes. Die Finger umschlossen den Stein. Jetzt war das Gesicht des Technos dicht über ihm. Grizzard atmete nicht. Er sah den Techno nur an und legte all seine Kraft in den rechten Arm. Als der Techno eine Hand nach ihm ausstreckte, schlug er zu. Ein erstickter Schrei war das letzte, das er hörte, bevor die Ohnmacht ihn erlöste. Schutzlos lag er da. Irgendwo, nicht weit entfernt, brüllten und kämpften Mörder‐Chreeans, die sich wie die Dorkher und Technos in die Hügel zurückgezogen hatten oder nach dem Tor in die
Freiheit suchten. So vergingen Stunden. Grizzard war auch noch besinnungslos, als sich ihm wieder Schritte näherten. Er spürte nichts davon, daß er gepackt und davongetragen wurde. * Irgend etwas in Atlan versuchte, gegen das anzukämpfen, was seinen Geist umfangen hielt. Aber das andere war stärker. Alles, was Atlan von dem in ihm wogenden Kampf unterschwellig spürte, waren »Störungen« in seiner Traumwelt. Die Bilder wurden vorübergehend schwächer, doch nie so schwach, daß es ihm gelang, aus dem »Traum« auszubrechen. Er befand sich auf Pthor. Noch immer wanderte der Dreiäugige neben ihm her. Er war ein schweigsamer Begleiter, aber ein Blick in seine Augen genügte, um Atlan zu führen. Irgend etwas an der Landschaft war irreal. Atlan ging nicht wirklich. Er bewegte die Beine, aber seine Füße schwebten Zentimeter über dem Boden. Sein Weg führte über alle Stationen, die er mit Razamon zusammen nach dem Betreten des Dimensionsfahrstuhls aufgesucht hatte, wenn auch nicht unbedingt in der gleichen Reihenfolge wie damals. Atlan wanderte die Straße der Mächtigen entlang, befand sich in Orxeya und kurz darauf vor den Toren der Feste Grool. Nirgendwo konnte er lange verweilen. Etwas trieb ihn immer weiter. Aber mit jeder Station verstärkte sich die innere Unrast in ihm. Der Dreiäugige blickte ihn tadelnd an. »Du wirst nicht an dein Ziel kommen, wenn du dich sträubst, Atlan«, sagte er, und es waren die ersten Worte seit … Seit wann? Es spielte keine Rolle. Er war dagewesen und nicht von Atlans
Seite gewichen. Ziel … Ja, er hatte ein Ziel, irgendwo auf Pthor. Manchmal sah er es vage vor sich, aber jedesmal, wenn er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, verschwand es. Dann verschwamm die Umgebung, und Atlan fand sich an einer anderen, von seiner Odyssee her bekannten Stelle wieder. Der Eripäer war bei ihm. »Du solltest nicht hier sein«, sagte Atlan. »Wir sollten beide nicht hier sein«, lautete die Antwort. »Dies ist weder deine noch meine Welt, aber das Schicksal hat es so bestimmt, daß wir hier zusammenfanden.« »Warum?« »Du hast etwas übersehen, Atlan. Etwas, das wichtig für dich und deine Aufgabe ist.« Etwas übersehen … Genau das war es, was Atlan fühlte. Aber er spürte, daß sein Begleiter mit seinen Worten etwas anderes meinte als er. Rastlos begab sich der Arkonide zur nächsten Station. Wolterhaven tauchte vor ihm auf. Er sah die seltsam verschachtelte Stadt der Roboter vor sich in die Höhe aufragen, wollte darauf zugehen und zögerte doch. »Was will ich hier?« fragte er laut. Der Eripäer schwieg, aber der milde Vorwurf stand deutlich in seinen Blicken: Du sträubst dich, Atlan! »Wogegen?« Wieder keine Antwort. Sollte er es selbst herausfinden? Die Unrast wurde größer. Nein, in Wolterhaven lag nicht das, was er suchte. Er mußte weiter. Er schritt kräftig aus, ging ein Stück und sah das Emmorko‐Schloß im Zentrum der Dunklen Region vor sich. Der Eindruck war nur kurz. Nach Sekunden schon wechselte die Szene, und er befand sich
vor der großen Pyramide der FESTUNG. Der Dreiäugige war neben ihm und schüttelte stumm den Kopf. »Du mußt vergessen, Atlan«, sagte er nach einer Weile. »All deine Gedanken gehen in die falsche Richtung. Du glaubst, Pthor und seine Bewohner im Stich gelassen und nicht genug für sie getan zu haben. Das ist falsch, und du weißt es.« Er hatte recht. Atlan spürte nun die Schuldgefühle und den Drang, irgend etwas zu tun, um das zu verhindern, von dem er wußte, daß es über Pthor kommen würde. War es das, was ihn daran hinderte, das zu sehen, was der Dreiäugige ihm zeigen wollte? War es das, was sein Sträuben ausmachte? »Du bist auf dem richtigen Weg, Atlan«, bestätigte der Eripäer. »Löse dich vom Ballast der Erinnerung und vergiß das, was nicht zu ändern ist. Du kannst nicht in den Lauf der Dinge eingreifen.« »Was soll ich dann tun?« »Folge mir.« Der Dreiäugige ging an ihm vorbei und drehte sich nicht um. Zögernd folgte Atlan ihm. Er versuchte, alle eigenen Gedanken zu unterdrücken und sich nur auf seinen Führer zu konzentrieren. Die Umgebung verschwamm. Wieder tauchte an ihrer Stelle die Feste Grool auf. »Aber hier waren wir schon«, stellte Atlan fest. »Du mußt dich noch mehr von deiner Erinnerung lösen. Du siehst lauter Fixpunkte, Stationen deines einmal gegangenen Weges.« »Dann gib mir einen Anhaltspunkt. Ein Zeichen!« Der Dreiäugige drehte sich zu ihm um. Wieder sah Atlan in dieses gleichermaßen fremdartig und vertraut wirkende Gesicht. Und es veränderte sich. Für einen kurzen Augenblick nur sah Atlan das Gesicht einer jungen Frau an seiner Stelle, einer Frau mit violett schimmernden Augen und langem, kupferfarbenem Haar. Er streckte die Hände danach aus, um es zu berühren. »Du bist Leenia!« rief er aus.
Im nächsten Moment hatte er wieder den Dreiäugigen vor sich. Plötzlich glaubte er zu verstehen. Er dachte intensiv an Leenia, jenes Wesen aus der Gemeinschaft der Körperlosen, das so lange in einer Art Tiefschlaf in einem sicheren Versteck gelegen hatte, um dort auf den Ruf der Höheren Welten zu warten und im Sinn der Körperlosen aktiv zu werden. Leenia, die inzwischen den Bruch mit eben diesen Körperlosen vollzogen und sich für eine Existenz als körperliches Wesen entschieden hatte. Als die Umgebung diesmal erneut wechselte, fand er sich in einer kleinen Schlucht wieder, zu deren beiden Seiten sanfte, dicht bewaldete Hügel anstiegen. Zum erstenmal verriet das Gesicht des Dreiäugigen Zufriedenheit. Atlan blickte ihn fragend an. »Ich bin nicht Leenia«, sagte der Eripäer. »Dann bist du einer … von ihnen? Ein Körperloser?« Der Dreiäugige antwortete nicht. Er stand da und beobachtete Atlan. Der Arkonide verstand. Er hatte den gewünschten Hinweis erhalten, und mehr konnte ihm sein Führer nicht verraten. Aber Atlan glaubte nun zu wissen, warum er hier war. Dort oben, am Abhang des Hügels zur Rechten, befand sich die Höhle, in der Leenia auf den Ruf der Höheren Welten gewartet hatte. Atlan begann nach dem Weg zu suchen, der zu ihr hinaufführte, und fand ihn nach kurzer Zeit. Diesmal genügte ein Gedankenbild nicht mehr, um ihn ans Ziel zu bringen. Er mußte klettern, und obwohl er nach wie vor knapp über dem Boden schwebte, bereitete es ihm die gleiche Mühe, als wäre er tatsächlich auf die Kraft seiner Hände und Füße angewiesen. Der Eripäer wich nicht von seiner Seite. Er schwebte neben ihm, durch Bäume und Büsche hindurch. Endlich sah Atlan den Eingang der Höhle vor sich. Eine seltsame Erregung befiel ihn, je näher er ihr kam. Als er sich umdrehte, war der Dreiäugige verschwunden. Atlan
rief nach ihm, aber er bekam keine Antwort mehr. Er verstand. Bis hierhin hatte er ihn geführt. Vielleicht durfte er ihn nicht weiter leiten. Atlan war nun auf sich allein gestellt. Er drang in die Höhle ein. Wie er erwartet hatte, fand er Leenia nicht mehr vor. Alles, was von ihrem Hiersein noch Zeugnis gab, war die Matte aus Stroh in einer Ecke der Höhle. Atlans Erregung wuchs, obwohl er keinen klaren Grund dafür fand. Irgend etwas wartete hier auf ihn. Aber was? Er begann, die Höhle systematisch zu durchsuchen. Als er nichts Außergewöhnliches fand und schon nahe daran war, zu resignieren, spürte er plötzlich etwas in sich, das ihn hielt. Er schloß die Augen und ließ sich lenken. Der fremde Einfluß steuerte seine Schritte, bis er schließlich erlosch. Er schlug die Augen auf. Er befand sich nach wie vor in der Höhle, an einer Stelle, an der er vorher schon einmal gestanden hatte. Jetzt aber waren seine Blicke auf eine ganz bestimmte Stelle in der Wand gerichtet, und nun sah der Arkonide, daß der Fels auf einer Fläche von der Größe einer Hand kaum wahrnehmbar leuchtete. Er ging darauf zu. Jeder Schritt schien etwas Endgültiges zu haben. Ganz langsam, fast andächtig, streckte er die Hand nach der leuchtenden Stelle aus … Er berührte sie nicht mehr. Ganz plötzlich war ein stechender Schmerz in seinem Kopf. Er riß die Hände an die Schläfen und preßte die Zähne aufeinander. Dann wurde es dunkel um ihn herum. Atlan hatte das Gefühl, in eine unendliche Tiefe zu fallen und sich dabei unaufhörlich um die eigene Achse zu drehen. Immer weiter, immer tiefer in einen dunklen Tunnel hinein. Das Licht war zuerst nur ein winziger heller Punkt, gewann allmählich an Intensität und verbreiterte sich zu einem Kreis. Atlan stürzte darauf zu. Dann ging alles ganz schnell. Explosionsartig dehnte sich das Licht nach allen Seiten hin aus und umfing ihn.
Atlan hörte sich schreien. Er hatte die Augen weit aufgerissen, obwohl sie schmerzten. Allmählich wich das grelle Licht einer trüben Dämmerung um ihn herum. Atlan sah die Rampe. Schlagartig setzte die Erinnerung ein. Er war die ganze Zeit über hier gewesen, hier auf Dorkh, in der Ebene der Sternschiffe, neben der Rampe, die zur PYRT hinaufführte.
4. Ohne lange zu überlegen, stürmte Atlan die Rampe hinauf. Wenn der Gassuare noch im Schiff war, hatte er nur eine Chance gegen ihn, wenn er ihn blitzschnell überraschte. Daß YhmʹDheer an seinem »Traum« und dem offensichtlich in ihm wirksam gewordenen Zwang, sich an alles mögliche zu erinnern, schuld war, stand für ihn außer Zweifel. Atlan lief durch die offene Schleuse in den sich anschließenden Korridor. Seine Schritte hallten dumpf von den metallenen Wänden wider. Er konnte das Risiko nicht eingehen, sich langsam und leise anzuschleichen, während YhmʹDheer ihn vielleicht beobachtete. Vermutlich mußte der Gassuare die Kräfte erst aufbauen, die ihm erlaubten, andere Wesen mental zu beeinflussen. Atlan mußte ihm zuvorkommen. Er stürmte geradewegs in die Zentrale der PYRT. Der Eindruck, den das Schiff von draußen gemacht hatte, bestätigte sich. Zwar funktionierte noch eine Notbeleuchtung, aber ansonsten war das Schiff tot und leer. Die Zentrale war verlassen. Die Schaltpulte und die dunklen Bildschirme befanden sich alle an den Wänden. In der Mitte war nichts, hinter dem sich jemand oder etwas verstecken konnte. YhmʹDheer war nicht hier – nicht mehr, denn von seiner kurzzeitigen Anwesenheit zeugten aufgebrochene Schaltbänke und fehlende Teile. Auf dem Boden verstreute kleine Elemente deuteten darauf hin, daß der Anführer der Gassuaren es sehr eilig gehabt hatte. Vielleicht hatte er Atlan erst wieder »erwachen« lassen, als er mit seiner Arbeit in der PYRT fertig gewesen war – worin auch immer sie bestanden hatte. Atlan überlegte kurz, ob es sich lohnte, das ganze Schiff nach ihm zu durchsuchen. Er sah keinen Sinn darin. Sollte YhmʹDheer sich gegen alle Wahrscheinlichkeit noch in der
PYRT befinden, würde er sich zu verstecken wissen. Wenn er aber mit dem, das er gesucht und mit ziemlicher Sicherheit gefunden hatte, nun draußen war, zusammen mit seinen Artgenossen, war nicht nur Atlan in höchster Gefahr. Der Arkonide rannte durch die Korridore und hastete die Rampe wieder hinab. Unten angekommen, blieb er kurz stehen und sah sich nach allen Seiten um. Nichts war zu sehen. Die TZAIR war zu weit entfernt, um von hier aus erkennen zu können, ob Grizzard noch auf der Rampe stand. Von bösen Ahnungen geplagt, machte Atlan sich auf die Suche nach den Gefährten. Die KYM, zu der Razamon einem der Gassuaren gefolgt war, lag auf dem von den Schiffen gebildeten Fünfeck zwischen der PYRT und der TZAIR. Auf dem Weg dorthin dachte Atlan darüber nach, was überhaupt mit ihm geschehen war. Ganz plötzlich war er von dem Drang überwältigt worden, sich an alle möglichen Stationen seines Lebens zu erinnern. YhmʹDheer mußte direkt auf sein Gedächtnis eingewirkte haben. Aber weshalb hatte er dann von einem Eripäer geträumt, der ihn durch Pthor führte? Er war niemals so lange mit einem der Dreiäugigen zusammen gewesen, daß dies einen so nachhaltigen Eindruck auf ihn hinterlassen haben könnte, wie es in seinem »Traum« offensichtlich zum Ausdruck gekommen war. Nur Razamon hatte, zusammen mit Balduur, mit ihnen gelebt und um ihre Anerkennung gekämpft. Razamon hatte ihm oft davon erzählt, und es war ihm anzumerken gewesen, wie tief er von diesen Wesen beeindruckt gewesen war. Aber was hatte er, Atlan, mit ihnen zu tun? Was hatten sie mit Leenia zu tun, mit den Körperlosen, die in einem unbegreiflichen Überraum existierten und von diesem Universum der Körperlichen abgeschnitten waren, solange die Schwarze Galaxis vom Dunklen Oheim beherrscht wurde? Atlan verscheuchte die Gedanken daran. Sie beunruhigten ihn. Wie im Traum hatte er das Gefühl, an der Schwelle zu einem
Geheimnis zu stehen, ohne es erfassen zu können. Später konnte er sich darüber den Kopf zerbrechen. Jetzt ging es um anderes. Er blieb abrupt stehen, als er nahe genug an die KYM herangekommen war, um Razamon erkennen zu können, der jetzt aus der Schleuse trat. Atlan erstarrte. So wie jetzt hatte er den Atlanter schon gesehen. Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf. Er rannte weiter. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn das zutraf, was er sich jetzt zurechtlegte, dann bedeutete das, daß sie alle von den Gassuaren beeinflußt worden waren, und daß keiner – auch nicht die Magier – sein Ziel erreicht hatte. Atlans Befürchtungen bestätigten sich, als er die KYM erreichte. Razamon hatte die Rampe verlassen und sah ihm mit hängenden Schultern entgegen. Der Pthorer breitete die Arme zu einer Geste des völligen Unverständnisses auf. Dann zeigte er auf die Schleuse. »Ich weiß nicht, wie es über mich kam«, sagte er tonlos. »Ich habe es nicht gewollt, aber ich muß es getan haben …« Atlan wußte längst, was er meinte. Ein Teil der Rampe war zerstört. Alles, was sich an ihr abbrechen ließ, lag verbogen neben ihr auf dem Boden, der so aufgewühlt war, als hätte ein Mörder‐ Chreean hier getobt. Wortlos schritt der Arkonide an Razamon vorbei, betrat die KYM und ließ das Bild der Zerstörung, das er im Korridor und in der Zentrale vorfand, lange auf sich wirken. Er hatte ähnliches gesehen, als er mit dem Berserker seine Odyssee begann. In der Zentrale der KYM sah es noch viel schlimmer aus als vorher. Was die tobenden Chreeans und die Dorkher ganz gelassen hatten war nun das Opfer von Razamons Berserkerwut geworden. Er hatte wieder einen seiner ehemals so gefürchteten Anfälle bekommen. Doch diesmal war das, was aus ihm eine fürchterliche Kampfmaschine machte, nicht aus ihm selbst, sondern von außen
gekommen. Atlan hörte, wie der Pthorer über den Korridor kam. Er wartete, bis er neben ihm stand und voller Bestürzung auf das starrte, was er angerichtet hatte. »Du hast den Gassuaren nicht gesehen?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Razamon schüttelte den Kopf, ohne Atlan anzublicken. »Ich weiß noch, daß ich die Rampe hinaufstürmen wollte. Dann war plötzlich … nichts mehr. Als ich zu mir kam, sah ich … das.« Er machte eine weitausladende Geste. Atlan sagte: »Dann kann es keine Zweifel mehr geben. Der Gassuare zwang dich, blind zu zerstören. Natürlich erst, nachdem er in Sicherheit vor dir war. Vielleicht hast du eine Zeitlang einfach nur auf der Rampe gelegen.« In kurzen Sätzen berichtete der Arkonide, was ihm widerfahren war. »So wurde etwas in dir ausgelöst, was längst der Vergangenheit angehört. Und ich erinnerte mich, mußte mich erinnern – ebenfalls an Vergangenes und …« »Und was?« Atlan winkte ab. Plötzlich hatte er es sehr eilig, aus der KYM und zu den anderen Schiffen zu gelangen. »Das ist jetzt nicht wichtig. Wir müssen zu den Magiern.« * Atlans schlimmste Befürchtungen wurden von dem übertroffen, das er sah, als Razamon und er die PRA erreichten. Asparg stand völlig verstört vor dem Sternschiff und blickte fassungslos auf das, was er mit seinen magischen Künsten angerichtet hatte. Um ihn herum war der Boden metertief zerfurcht und zerwühlt. Bäume und Sträucher waren mit ihren Wurzeln ausgerissen und regelrecht zerlegt worden. Bevor Asparg dazu kam, etwas zu sagen, wußte Atlan, daß auch
er sich an nichts erinnern konnte. Razamon warf einen finsteren Blick zurück zur KYM. »Fiothra ist bei der QUORM!« rief Atlan. Er ging auf Asparg zu, schüttelte ihn, bis sich der Blick der blauen Augen klärte, und zog ihn mit sich. Zu dritt liefen sie zum links von der TZAIR gelegenen Schiff. Schon von weitem war der dunkle Rauch zu sehen, der die QUORM umgab. »Das war sie!« schrie Asparg. »Das war Fiothra!« Die Magierin stand auf schwarzgebranntem, noch schwelendem Gras. Sie selbst war unversehrt, aber die durch ihre magischen Fähigkeiten entzündeten Feuer hatten sogar einen Teil der Rampe hinter ihr weggefressen. Dies war der letzte Beweis. »Sie haben uns kaltgestellt«, sagte Atlan wütend. »Wir hätten gewarnt sein müssen und liefen ihnen doch in die Falle!« »Dann waren die Gassuaren für all das«, Asparg deutete auf die teilweise zerstörte Rampe, dann hinüber zur PRA, »verantwortlich?« Er hatte den Arm um Fiothra gelegt und sie fest an sich gezogen. Nur langsam kam die Magierin zu sich. »Das waren sie. Irgendwie zwangen sie jeden von uns dazu, etwas zu tun, gegen das wir uns bis ins Unterbewußtsein hinab wehrten. Razamon lebt immer noch in der Angst davor, eines Tages wieder von seinen Anfällen heimgesucht zu werden. Ihr habt gelernt, das, was in euch steckt, zu beherrschen. Wahrscheinlich gibt es für euch nichts Schlimmeres, als diese Kontrolle plötzlich wieder zu verlieren.« »So ist es«, bestätigte Asparg. »Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können. Wir hätten uns und euch töten können!« »Daran zweifle ich nicht. Was mich betrifft, ich habe keine Angst davor, mich an meine Vergangenheit zu erinnern, aber nicht in dieser Situation, wo es einzig und allein darum ging,
herauszufinden, was die Gassuaren treiben.« »Aber warum das alles?« fragte Asparg. Atlan zuckte grimmig die Schultern. »Wir stecken nicht in ihnen. Tatsache ist, daß sie es schafften, uns kaltzustellen, und zwar genau für die Zeit, die sie wohl brauchten, um das zu tun, weshalb sie wirklich hier sind.« »Und was ist das?« wollte Razamon wissen. »Wir werden es herausfinden«, versprach Atlan. »Wenn wir sie gefunden haben.« Er hielt inne. »Mein Gott – Grizzard!« Razamon fuhr herum. Mit einem Blick verständigte er sich mit Atlan. Sie liefen los. Asparg und Fiothra folgten langsamer. Die Magierin war stärker mitgenommen als die Männer. Asparg mußte sie stützen. Atlan hatte erwartet, Grizzard in einem grauenvollen Zustand vor der Rampe der TZAIR zu finden. Wenn in ihnen allen die Vergangenheit auf so fatale Weise lebendig geworden war, was mußte dann erst Grizzard, der ohnehin schon genug von Weltschmerz geplagte einsame Jäger aus dem Norden Amerikas, mitgemacht haben? Doch weit und breit war nichts von ihm zu sehen. »Wenn er sich nur nicht umgebracht hat«, murmelte Razamon. Atlan sah ihn unsicher an. »Ich hoffe es nicht. Er muß davongelaufen sein, bevor die Gassuaren ihn auf die gleiche Art angreifen konnten wie uns. Sonst läge er hier. Er wäre bestimmt nicht weit gekommen.« »Aber die Gassuaren hatten die TZAIR verlassen, Atlan! Es war keiner in diesem Schiff, der es nötig gehabt hätte, ihn auf die gleiche Weise wie uns kaltzustellen.« »Es war keiner von ihnen im Schiff«, wiederholte Atlan die Worte des Pthorers. »Du glaubst, daß sie …?« »Die großen Schiffe sind wertlos für sie, und was sie in den anderen zu tun hatten, haben sie getan. Es gibt nur zwei Orte, an
denen sie sich jetzt befinden können. Entweder in der TZAIR oder …«, Atlan drehte sich um und zeigte auf das gewaltige Kristalldach im Zentrum des SCHLOSSES, »… dort!« Asparg und Fiothra waren heran. »Wir sollen noch einmal ins Schiff?« fragte der Magier, der Atlans letzte Worte gehört hatte. »Ich werde allein gehen«, entschied der Arkonide. »Ihr bleibt hier stehen und wartet. Sollte mir das gleiche geschehen wie vorhin, so wißt ihr, daß die Burschen in der TZAIR sind. Asparg, könnt ihr sie eurerseits beeinflussen?« Die Blicke, die die Magier sich zuwarfen, sagten genug. »Es wäre besser, wenn ich mit dir ginge«, sagte Razamon. »Nein«, wehrte Atlan ab. »Einmal habe ich sie unterschätzt. Ein zweitesmal nicht mehr.« Der Pthorer gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen. Atlan drehte sich wortlos um und betrat die Rampe. »Du gehst nicht!« hörte er Razamon rufen, als er noch keine drei Meter gegangen war. Bevor er reagieren konnte, war der Atlanter heran und stieß ihn zur Seite. Atlan verlor das Gleichgewicht und fiel über den Rand der Rampe. Er fing den Sturz geistesgegenwärtig ab und sah, wie Razamon zur offenen Schleuse hinaufstürmte. »Komm zurück!« schrie er. »Du bist nicht …« Razamon war in der Schleuse verschwunden. Atlan sprang auf und schickte sich an, ihm zu folgen. Es war nicht mehr nötig. Razamon erschien wieder auf der Rampe. Rückwärts taumelte er aus der TZAIR heraus, beide Hände fest gegen die Schläfen gepreßt und röchelnde Laute von sich gebend. Atlan sah, daß er die Kontrolle über sich verloren hatte. Und er spürte die panikerregenden Impulse, die ihn vor sich her die Rampe hinuntertrieben. Razamon versuchte dagegen anzukämpfen, aber sie waren stärker als er.
»Achtung!« rief Atlan, als der Berserker sich dem Rand der Rampe näherte, die dort, wo er sich nun krümmte, fast zehn Meter hoch war. Razamon hörte ihn nicht. Noch zwei, drei Schritte, und dann … Ohne lange zu überlegen, stürmte der Arkonide los, die Rampe hinauf und den Panikimpulsen entgegen. * Er bekam Razamon im letzten Augenblick zu fassen. Die aus dem Schiff strömenden Impulse waren wie eine Wand aus dehnbarem Material, gegen die er anzurennen hatte. Allein die Angst, Razamon könnte hilflos in die Tiefe stürzen, verhinderte, daß sie Atlan mit ihrer vollen Intensität erreichten – und sie wiesen ihm den Weg in die TZAIR. Atlan zerrte den Freund vom Rand der Rampe weg und führte ihn zu den Magiern, die ihn in Empfang nahmen. »Er wird zu sich kommen«, sagte er hastig. »Verhindert, daß er mir folgt.« »Aber du hast keine Chance! Wir spüren doch, was aus …« »Ich schaffe es!« rief Atlan, schon wieder auf dem Weg ins Schiff. »Jetzt weiß ich, wie!« Atlan vertraute nicht noch einmal allein auf seine Stabilisierung gegen fremde Beeinflussung. Es hatte sich bei der PYRT gezeigt, daß sie von den Gassuaren durchbrochen werden konnte. Er hatte sich nur auf Razamon konzentriert und war bis zu ihm hin gelangt, ohne selbst den Panikimpulsen zu erliegen. Er mußte sich also auf etwas konzentrieren, ganz fest. Wenn die Gassuaren merkten, daß sie ihm so nicht beikommen konnten, mußten sie ihre Taktik ändern. Atlan glaubte nicht, daß sie ihm in einem Kampf überlegen waren. Atlan dachte an das Ziel der Reise von Dorkh, an den Dunklen Oheim und die tödliche Gefahr, die er mit Sicherheit für sie
darstellte, wenn es nicht gelang, die TZAIR flottzumachen. Wieder kostete es ihn seine ganze Kraft, die unsichtbare Mauer der Panikimpulse vor sich her zu schieben. Sobald er seine Konzentration auch nur einen Augenblick vernachlässigte, waren sie da, stachen in sein Bewußtsein wie glühende Nadeln. Es kostete Atlan die doppelte Willenskraft, sie dann wieder zurückzudrängen. Er erreichte die Schleuse. Ein Schwall von panikerregenden Impulsen schlug ihm in bisher nicht gekannter Intensität entgegen. Er spürte förmlich, wie wütend die Gassuaren nun ihre Fähigkeiten gegen ihn einsetzten. Atlan biß die Zähne zusammen, marschierte weiter, einen Schritt fest vor den anderen setzend, und erwartete den Generalangriff. Der Dunkle Oheim! Das Ende der Reise! Dunkel! Schwarz! Tod! Atlan zeichnete in seiner Vorstellung eine verzerrte Karikatur dessen, den er nicht kannte. Er rief sich all die Greuel ins Gedächtnis zurück, die er gesehen hatte. Nur nicht an die Gassuaren denken! Weiter! Nun kamen die Impulse von allen Seiten. Aus der Mauer, die die Gassuaren vor sich aufbauten, wurde ein Gefängnis. Atlan verlor den Richtungssinn. Er tastete sich langsam an einer Wand entlang vorwärts. Die Impulse trafen ihn und prallten an ihm ab. Als sie von einem Moment zum anderen abebbten, hatte Atlan für einige schlimme Sekunden das Gefühl, im Nichts zu schweben. Er hatte kein Gefühl in den Gliedern und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Korridorwand. Er atmete schwer. Sie hatten es aufgegeben! Vielleicht! warnte der Extrasinn. Oder sie warten darauf, daß du deinen Widerstand aufgibst, um dann um so heftiger zuzuschlagen! Atlan wartete, bis er sich wieder sicher auf den Beinen fühlte. Dann ging er weiter, langsam, jeden Augenblick mit einem neuen mentalen Angriff rechnend. Aber nichts geschah. Es war totenstill im Schiff. Sie erwarteten ihn, irgendwo. Vielleicht hatten sie sich verteilt.
Immer noch konnte der Arkonide sich nicht recht vorstellen, daß diese so plump und auf ihren kleinen Beinen unbeholfen wirkenden Wesen ihm im offenen Kampf gefährlich werden konnten. Selbst wenn sie alle sechs zugleich angriffen, war er schneller als sie. Du hast sie schon einmal unterschätzt! warnte der Extrasinn. Atlan nickte flüchtig. Er blieb stehen, als er einen gewundenen Gang erreichte, der den Hauptkorridor kreuzte und ringförmig um die Zentrale herumführte. Jetzt hörte er dumpfe Schläge aus der noch gut zwanzig Meter entfernten Zentrale. Die Gassuaren arbeiteten an etwas, was nicht heißen mußte, daß sie auch wirklich alle dort waren. Vielleicht wollten sie ihn in eine Falle locken. Sicher war es so. Atlan schob sich mit dem Rücken an der Korridorwand auf die Stelle zu, an der der gewundene Gang mündete. Vorsichtig schob er den Kopf um die Ecke. Der Ringkorridor war zu beiden Seiten leer, so weit er ihn einsehen konnte. Beobachteten YhmʹDheer und seine Artgenossen ihn über Bildschirme? Er mußte das Risiko eingehen. Sie rechneten damit, daß er aus der Richtung kam, in der die Rampe lag. Doch die Zentrale hatte mehrere Zugänge. Atlan betrat den ringförmigen Gang. Ohne Zwischenfall erreichte er den nächsten der sternförmig zur Zentrale führenden Korridore. Auch hier war es still. Atlan wollte keine Zeit mehr verlieren. Vielleicht bauten die Gassuaren eine Waffe zusammen – oder etwas anderes, das in direktem Zusammenhang mit ihrem Hiersein stand. In beiden Fällen war es ratsam, ihnen zuvorzukommen, bevor sie ihr Werk vollenden konnten. Gerade wollte er den Korridor betreten, als er hinter sich etwas hörte. Er fuhr herum, sah aber nur noch einen Schatten. Eine Sinnestäuschung? Es gab genügend Nischen, die sich als Verstecke eigneten. Atlan war an ihnen vorbeigekommen, und sie waren leer gewesen.
Waren die Gassuaren ihm nachgeschlichen? Atlan blieb unsicher stehen. Sollte er noch einmal zurückgehen und sich davon überzeugen, daß er den Rücken frei hatte? Vielleicht warteten sie nur darauf? Sie waren in jeder Hinsicht im Vorteil. Was er auch tat, sie konnten es beobachten und sich darauf einstellen. Atlan schüttelte den Kopf. Er betrat den Korridor und ging langsam weiter in Richtung Zentrale. Das dumpfe Hämmern hatte aufgehört. Wieder umfing ihn die nervtötende Stille. Weiter. Nach wie vor war der Arkonide darauf vorbereitet, einen Angriff mit Panikimpulsen sofort abzublocken, was ihn einen Teil seiner Aufmerksamkeit kostete. Immer wieder sah er sich um, aber da war nichts hinter ihm. Die Gassuaren waren viel zu langsam, um blitzschnell von einer Nische in die andere zu huschen und ihm so unauffällig zu folgen – glaubte er. Als er seinen Irrtum erkannte, war es zu spät. Er erreichte die Zentrale der TZAIR und sah YhmʹDheer und einen zweiten Gassuaren an einem unförmigen, ein Meter hohen und ebenso breiten Gerät hantieren. YhmʹDheer blickte auf, sah ihn im Eingang stehen und stieß einen schrillen Laut aus, ohne den breiten Mund zu bewegen. Der Überfall erfolgte so schnell, daß Atlan keine Gelegenheit zur Gegenwehr bekam. YhmʹDheer schoß auf ihn zu und schwang eine Art Schraubenschlüssel in seiner Tentakelhand. Hinter Atlan ertönten die gleichen schrillen Schreie. Der Arkonide versuchte, YhmʹDheer auszuweichen, drehte sich blitzschnell um und sah gerade noch, wie zwei der scheinbar so unbeweglichen Gassuaren mit unglaublicher Schnelligkeit auf ihn zukamen. Auch sie schwangen lange metallene Gegenstände. YhmʹDheers Waffe traf ihn hart am Hinterkopf. Atlan sah grelle Punkte vor den Augen und ging in die Knie. Stechender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper. Bevor er sich zur Seite werfen
konnte, waren die beiden anderen Gassuaren über ihm. Ihre Tentakelhände berührten seinen Hals und eine bestimmte Stelle im Nacken. Atlan spürte nur einen leichten Druck. Im nächsten Augenblick lag er gelähmt am Boden, unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen. Aber er konnte sehen und hören, und YhmʹDheer wollte, daß er sah, was er und seine Artgenossen in der Zentrale taten. Sie zerrten ihn zu einer Wand und legten ihn so, daß sein Blick genau auf das seltsame Gerät gerichtet war. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, wandten sich die angeblichen Piraten wieder ihrer Arbeit zu, als gäbe es nichts, das sie stören könnte. Nun waren plötzlich wieder alle sechs in der Zentrale. Und Atlan konnte nichts tun, um sie aufzuhalten. Was immer es war, das sie da vor seinen Augen zusammenbauten – es bedeutete nichts Gutes. In ohnmächtigem Zorn schaute er zu, wütend über die Gassuaren, die ihn und die Gefährten von Anfang an für dumm verkauft hatten, und über sich selbst, weil er ihnen so leicht auf den Leim gegangen war. Es erschien ihm immer wahrscheinlicher, daß er hier Beauftragte des Dunklen Oheims selbst vor sich hatte, die nur den Tod der Uleb abgewartet hatten, um im Sinne des Beherrschers der Schwarzen Galaxis aktiv zu werden. Durfte er darauf hoffen, daß es Razamon oder den Magiern gelang, das Unheil, daß er heraufdämmern sah, noch zu verhindern? Wohl kaum.
5. Grizzard kam zu sich. Es war dunkel um ihn herum. Er lag auf hartem Untergrund und atmete regelmäßig. Allmählich klärten sich seine Sinne. Grizzard erinnerte sich bruchstückhaft daran, allein bei der TZAIR zurückgeblieben und dann in Panik davongelaufen zu sein. Alles andere war wie der schwache Nachhall eines tiefen Traumes. Er fühlte eine wohltuende Ruhe in sich, keine Panik mehr, keine Angst. Es war nicht völlig dunkel. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das spärliche Licht, das durch einen Spalt zu ihm drang. Er richtete sich zu einer sitzenden Position auf. Dann erst sah er sich um. Er befand sich in einem Stollen, dessen Eingang, ein schmaler, gut zwei Meter hoher Spalt, gerade breit genug war, um einen ausgewachsenen Mann hindurchzulassen. Der Stollen selbst mochte vier, fünf Meter breit und zehn Meter lang sein. Er endete abrupt vor einer Felswand. Und Grizzard war nicht allein darin. Selbst das erschreckte ihn nicht. Der Fremde sah, daß er bei Bewußtsein war, und kam herbei. Er hockte sich neben ihn hin und sah ihn schweigend an. Vermutlich hatte er Stunden darauf gewartet, daß er zu sich kam. Grizzard betrachtete den Dorkher neugierig. Das schwache Licht reichte aus, um zu sehen, daß der Fremde nur Lumpen am Leibe trug, Fetzen, die lose an seinem Körper hingen. Wahrscheinlich war er während der Kämpfe draußen mit anderen Dorkhern oder gar Mörder‐Chreeans aneinandergeraten. Dafür sprachen auch die verkrusteten Narben in seinem Gesicht und auf den Armen. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Er ist irr! war Grizzards erster Eindruck.
Seltsamerweise empfand er nur Neugierde. Nicht einen Moment hatte er das Gefühl, in Gefahr zu sein. Der Fremde war humanoid und etwa so groß wie Grizzard selbst. Auf den ersten Blick konnte er ihn keinem ihm bekannten Volk zuordnen. Das Gesicht war fast menschlich. Nur die viel zu weit auseinanderstehenden Augen verwischten diesen Eindruck leicht. Die Nase war etwas zu spitz, der Mund schmal und lippenlos. Der Eindruck, daß der Dorkher nicht alle Sinne beisammen hatte, verstärkte sich noch, als Grizzard ihm wieder in die Augen sah. Dann aber sprach er ganz normal: »Du hast lange geschlafen. Fast glaubte ich, ich hätte dich umsonst hierhergebracht.« Irgend etwas an der sonoren Stimme nahm Grizzard sofort gefangen. Es war ihm, als würde er diesen Mann schon lange kennen. Er strahlte etwas aus, das ihm Ruhe gab. »Hierhergebracht?« fragte er. »Dann … wo hast du mich gefunden?« »Du lagst draußen, am Rand der Hügelkette«, antwortete der Dorkher. »Viel zu nahe an der Senke mit den Sternschiffen. Hast du es nicht gespürt?« »Was soll ich gespürt haben?« fragte Grizzard verwirrt. »Daß niemand dorthin gehen darf. Noch nicht.« Der Dorkher glaubte, daß er einer von den Flüchtlingen war, die bei den Hügeln, in den Baracken und Hallen um die Senke herum oder in der Nähe des Schutzschirm über dem SCHLOSS‐Gebiet Zuflucht gesucht hatten, erkannte Grizzard. Er wußte nicht, daß er von den Schiffen kam. Grizzard ließ ihn in diesem Glauben. Nur die seltsamen Worte des Fremden gaben ihm Rätsel auf. Doch bevor er eine entsprechende Frage stellen konnte, kam der Dorkher ihm zuvor. »Warum hast du den Techno getötet?« Grizzard hatte das Gefühl, einen Stich ins Herz erhalten zu haben. Urplötzlich sah er sich wieder am Rand der Senke, die Glaspaläste
… und den Techno, der ihn holen wollte. Er sprang auf. »Ich … ich habe niemanden getötet!« rief er aus. »Das war alles nur ein Traum. Wir sind nicht auf Pthor!« »Pthor?« fragte der Fremde. »Was ist das?« »Eine … eine andere Welt. Eine grausame Welt. Ich …« Der Dorkher stand auf und legte Grizzard eine Hand auf die Schulter. »Sei ruhig, Freund. Du hast wohl nur geträumt. Vergiß, was draußen ist. Ich habe dich geholt, weil ich Hilfe brauche.« Sofort durchflutete den ehemaligen Jäger wieder diese seltsame, wohltuende Ruhe, eine Wärme, wie er sie seit seinem Erwachen im Glaspalast nicht gekannt hatte. »Wer bist du?« fragte er. »Dort, wo ich herkomme, nannte man mich Zyffhan. Doch auch das ist ein Name aus einem … Traum. Nenne mich Zyffhan, Grizzard, wenn du einen Namen für mich brauchst.« »Woher kennst du meinen?« fragte Grizzard überrascht. »Du hast im Schlaf gesprochen.« Zyffhan machte eine Handbewegung, um anzuzeigen, daß er nicht länger darüber sprechen wollte. »Wir sind in den Hügeln des SCHLOSSES. Wirst du mir helfen?« »Wenn ich kann«, sagte Grizzard, nur einen Augenblick überrascht von der Selbstverständlichkeit, mit der er das sagte. »Wobei?« Zyffhans Augen leuchteten auf. Er blickte zum Ende des Stollens. Grizzard tat es ihm gleich, aber es gab nichts Außergewöhnliches – zumindest nichts, das er sehen konnte. Noch einmal sah Zyffhan ihn ernst an. Grizzard schämte sich nun fast dafür, diesen Mann für irr gehalten zu haben. »Die Flamme deines Lebens ist schwach«, sagte der Dorkher gedehnt. »Sie wird bald erlöschen.« Ja, dachte Grizzard. Er hat recht. Mein Leben wird bald zu Ende gehen. Zum erstenmal gab er sich dies selbst gegenüber zu. Bisher hatte
der Gedanke daran ihn in helle Panik versetzt, und doch hatte er es die ganze Zeit über gespürt. Dort, wo er herkam, wußten die Menschen, wann die Stunde des Todes gekommen war, und gingen in die Berge, um sich darauf vorzubereiten, einsam und allein … »Es gibt eine Kraft, die sie dir wiederbringen kann«, fuhr Zyffhan fort. Wieder blickte er zum Ende des Stollens. »Sie ist dort, im Fels. Allein kann ich sie nicht bergen.« Seltsamerweise weckten diese Worte nur wieder starke Neugier in Grizzard, aber keine Hoffnung für ihn selbst. Upanak wußte, daß seine Zeit bald abgelaufen sein würde – so oder so. Nichts konnte das zurückbringen, was er während seiner langen und qualvollen Odyssee in fremden Welten und einem fremden Körper verloren hatte: seine Seele, die er erst jetzt, vielleicht durch die Nähe Zyffhans, wieder spürte. Oder durch die Nähe dieser geheimnisvollen Kraft, von der der Dorkher sprach? Upanak wußte, wie es um ihn bestellt war. Grizzard aber ließ sich zu gerne täuschen. Für einige Augenblicke war er wieder Grizzard, der Mann, dem die fremde Umgebung und die Dinge, die um ihn herum vorgingen, ohne daß er sie verstand, ihren Stempel aufgedrückt hatten. Und Grizzard wurde erregt. »Dann zeige sie mir!« forderte er Zyffhan auf. »Ich kann nichts sehen.« Zyffhan ging bis zum Stollenende und winkte Grizzard herbei. Als er neben ihm stand, so, daß das Licht aus dem Spalt auf den Fels fallen konnte, deutete Zyffhan auf eine bestimmte Stelle. Grizzard kniff die Augen zusammen – und sah, daß der Fels auf einer runden Fläche von der Größe einer Hand leicht schimmerte. »Siehst du?« sagte Zyffhan zufrieden. »Dort ist es. Im Fels. Wir müssen es zusammen herausschlagen.« »Aber was ist es?« Zyffhan trat ein Stück zurück.
»Spürst du es denn nicht? Immer noch nicht?« Grizzard schob den Kopf näher an die leuchtende Stelle heran. Und jetzt fühlte er, wie etwas auf ihn einwirkte, das ihn mit tiefer Ruhe und Zufriedenheit erfüllte. Es war das gleiche Gefühl, das ihn die ganze Zeit über schon umfangen hielt, nur viel stärker. Dann war wirklich nicht Zyffhan dafür verantwortlich, daß er den inneren Frieden gefunden hatte, nach dem er so lange vergeblich suchte? Oder war Zyffhan schon so lange in der Nähe des Felsens gewesen, daß ein Teil dieser mysteriösen Kraft auf ihn übergeströmt war? Zyffhan lachte schallend, und Grizzard zuckte zusammen. So sehr er sich dagegen zu wehren versuchte – wieder hatte er den Eindruck, daß der Dorkher wahnsinnig war. Unter anderen Umständen hätte ihn dies verunsichert und das Weite suchen lassen. Nun wußte er nur eines: Das Etwas im Fels mußte er haben! * Vielleicht verstand Grizzard auch nur Dinge nicht, die Zyffhan bereits längst zugänglich waren. Jedenfalls glaubte er dem Dorkher, als dieser ihm nun sagte, nur zwei Männer gemeinsam könnten die »Kraft« aus dem Fels heraushauen, ohne daß diese dabei beschädigt oder zerstört würde. Wie das vor sich gehen sollte, sah er gleich darauf. Zyffhan holte von dort, wo er einige Habseligkeiten aufeinandergeworfen hatte, eine Spitzhacke und drückte sie Grizzard in die Hand. Grizzard fragte nicht lange danach, wie Zyffhan, der wahrscheinlich doch mit anderen Dorkhern ins SCHLOSS gekommen war, um seinen Tribut an die HERREN
abzuliefern, an das Werkzeug gekommen war. »Du fängst an«, erklärte Zyffhan. »Du schlägst, während ich lausche. Sei vorsichtig und achte auf mein Gesicht. Es ist der Spiegel der Kraft.« »Der Spiegel …?« Zyffhan nickte ernsthaft. »Sobald du Gefahr läufst, sie zu beschädigen, wirst du es auf meinem Gesicht sehen.« Grizzard sah den Dorkher fragend an, bekam aber keine Antwort mehr. Er zuckte die Schultern, betrachtete das Gerät in seinen Händen und begann zu arbeiten. Zyffhan hatte das linke Ohr so fest gegen den Fels gepreßt, daß es ihm Schmerzen bereiten mußte, wenn Grizzard mit der Hacke kleine Stücke herausschlug. Nach jedem Schlag sah Grizzard zu ihm hinüber. Zyffhan wirkte völlig abwesend, als wäre er nicht mehr er selbst. Grizzard schlug weiter Stück um Stück aus dem Felsgestein heraus. Je länger er arbeitete, desto mehr hatte er das Gefühl, von etwas geleitet zu werden, das ihm genau sagte, wo er anzusetzen hatte. Früher einmal, so überlegte er, mußten andere versucht haben, das Etwas im Fels freizulegen. Sie hatten den Stollen bis kurz vor dem Ziel in den Berg getrieben. Was hatte sie daran gehindert, ihre Arbeit zu vollenden? Grizzard begann zu schwitzen. Allmählich verbreiterte sich das Loch, das er in die Wand schlug. An der tiefsten Stelle leuchtete der Fels nun viel heller als zuvor. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er auf das stieß, was das Leuchten verursachte. Er spürte es mit jedem Schlag. Zyffhan hob plötzlich die Hand. Grizzard sah zu ihm hinüber und erschrak. Zyffhans Gesicht war verzerrt. Nur allmählich entkrampften sich seine Züge wieder. »Langsamer jetzt«, sagte er, als spräche er zu sich selbst. »Und
vorsichtig.« Grizzards Erregung steigerte sich weiter. Er kratzte das Loch mit der Spitze der Hacke aus und schlug nicht mehr direkt auf die leuchtende Stelle. Er hielt ein, sah zu Zyffhan hinüber und richtete die Intensität seiner Schläge nach dem Gesichtsausdruck des Dorkhers. Der Spiegel der Kraft … Grizzard begriff jetzt, was er damit gemeint hatte. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er ein Stück Felsgestein von der Größe, eines Männerkopfes wie ein Relief aus der Wand gehauen hatte. Es leuchtete nach allen Seiten hin. »So ist es … gut«, sagte Zyffhan kaum hörbar. »Schlag es ganz heraus, aber vorsichtig. Du darfst die … Kraft nicht mehr treffen.« Fast ehrfürchtig berührte Grizzard die steinerne Halbkugel mit der freien Hand. Wieder fühlte er Ströme von Wärme und Ruhe durch seinen ganzen Körper gehen. Und täuschte er sich, oder war da eine schwache, wispernde Stimme in seinem Kopf? In einem plötzlichen Anflug von Panik sprang er schreiend zurück und ließ die Hacke fallen. Zyffhan zuckte zusammen und drehte ihm das Gesicht zu. »Was tust du?« fragte er heftig. »Du darfst jetzt nicht aufhören!« Grizzard schüttelte den Kopf. Der tief in ihm verwurzelte Aberglaube brach durch. »Es ist nicht rechtens, was wir tun«, flüsterte er. »Wir … dürfen die Götter, die schlafen, nicht wecken.« »Unsinn!« fuhr Zyffhan ihn an. »Hier sind keine Götter! Hier sind nur wir … und die Kraft!« »Nein«, wehrte Grizzard ab. »Nein …« Zyffhans Gesicht wurde zur Grimasse, als er sich von der Felswand löste und auf Grizzard zukam. Mit einem schnellen Griff hob er die Hacke auf und ging daran, den leuchtenden Stein selbst aus dem Fels zu hauen. Grizzard wich bis zum Eingang des Stollens zurück. Unsicher sah
er sich um. Für Augenblicke verspürte er den Drang, nach draußen zu laufen. Aber es ging nicht. Irgend etwas hielt ihn hier fest. Er fühlte die Wärme und Ruhe noch immer in sich. Draußen würde er sie verlieren. Was immer da im Fels steckte, es war nicht feindlich. Nicht es hinderte ihn daran, weiterzuarbeiten, sondern seine eigene Furcht. »Komm!« rief Zyffhan, ohne sich umzudrehen. »Leg den Kopf an den Fels und lausche!« Zögernd ging Grizzard wieder zu ihm. Er stellte sich dorthin, wo vorhin noch der Dorkher gestanden hatte, und brachte das linke Ohr ganz langsam an das Gestein. Zyffhan hatte mittlerweile die Felskugel fast zu drei Vierteln freigelegt. Grizzard hörte die wispernden Stimmen wieder, aber diesmal lief er nicht fort. Sie hielten ihn. »Sag mir, wenn du Schmerzen spürst«, sagte Zyffhan. Das war nur einmal der Fall. Grizzard meldete sich sofort. Es waren keine Schmerzen, wie er sie kannte, sondern eher eine Veränderung in den Stimmen. Sie empfanden Schmerz. Sofort hörte der Dorkher auf zu schlagen, kratzte vorsichtig loses Gestein aus der Wand und versuchte, die sich nun ganz deutlich abzeichnende Felskugel regelrecht aus der Wand herauszuschälen. Plötzlich hatte er sie in der Hand. Die Hacke fiel zu Boden. Grizzard löste sich von der Wand und mußte um seine Beherrschung kämpfen, als er nun sah, wie Zyffhan mit völlig abwesend wirkendem Blick vom Stollenende zurücktrat und die schwere Felskugel vorsichtig in beiden Händen trug. »Hole eine Decke«, flüsterte er. »Dort drüben bei meinen Sachen.« Grizzard gehorchte. Er fand zwar keine Decke, aber einige mehr oder wenige verlumpte Tücher, die er vor Zyffhans Füßen ausbreitete. Zyffhan legte die Kugel vorsichtig darauf und setzte sich. Grizzard folgte seinem Beispiel, obwohl er für den Dorkher plötzlich überhaupt nicht mehr zu existieren schien. Zyffhan hatte die Beine
im Schneidersitz übereinandergelegt und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Die gespreizten Finger lagen an seinen Schläfen. Blicklos starrte er auf die Felskugel, deren violettes Leuchten jetzt stärker war als das von draußen einfallende Licht. Grizzard zwang sich, hinzusehen. Das unnatürliche Licht schmerzte ein wenig an den Augen, aber es war zu ertragen. Es war, als ob Grizzard an einem wärmenden Feuer säße. Wieder glaubte er, die wispernden Stimmen zu hören. Sie waren plötzlich überall. Zyffhan rührte sich nicht. Völlig in sich selbst versunken, den Blick der beiden weit auseinanderstehenden Augen auf die Kugel gerichtet, saß er da und schien auf etwas zu warten. So sehr er die Wärme, die ihn durchströmte, auch genoß – Grizzard fühlte sich mit einemmal fehl am Platz. Was hier geschah, ging ihn nichts an. Die wispernden Stimmen sagten ihm nichts. Er verstand sie nicht. Sie flüsterten eine Botschaft, doch nicht für ihn. Und nicht für Zyffhan. Was immer sich der Dorkher auch erwartet hatte, offensichtlich erfüllte es sich nicht. Zyffhan sprang auf, stieß einen unartikulierten Schrei aus und schnitt wilde Grimassen. »Sie haben gelogen!« brüllte er. »Die ganze Zeit über haben sie mich belogen! Sie wollten nur, daß ich sie befreie, aber sie öffnen sich mir nicht!« Grizzard lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er Zyffhans Blick begegnete. Der Dorkher war nicht mehr bei Verstand. »Die Kraft dient nur sich selbst!« schrie er wieder, und ehe Grizzard es verhindern konnte, holte er mit dem Fuß aus und trat mit voller Wucht gegen die Felskugel. Im nächsten Augenblick glaubte Grizzard, die Welt müßte in einer Explosion aus Licht und Blitzen vergehen. Schrille Laute waren in der Luft. Grizzard schlug geblendet die Hände vor die Augen. Zyffhans Schreie hallten in seinen Trommelfellen. Grizzard war auf den Beinen und wollte ins Freie laufen, aber er
kam keine zwei Meter weit. Die Stimmen waren in seinem Bewußtsein. Er verstand sie nicht, aber er wußte, daß er zur Kugel zurückkehren mußte. Sie lenkte seine Bewegungen. Es gab keine Gegenwehr. Grizzards tastende Hände berührten die Tücher auf dem Boden. Die Felskugel war nicht mehr an ihrem Platz. Öffne die Augen! Grizzard tat es. Die Helligkeit im Stollen war wieder auf ein Maß reduziert, das es ihm möglich machte, seine Umgebung wahrzunehmen. Dort, wo die leuchtende Kugel aus Fels gelegen hatte, befand sich nur noch abgebröckeltes Gestein. Zu Grizzards Linker aber, am Rand des Stollens, lag ein in intensivem Violett schimmernder Kristall. Grizzard konnte nicht länger als eine Sekunde hinsehen, ohne gleich wieder geblendet zu werden. Wie in Trance nahm er die Tücher, ging auf die Kristallkugel zu, die die Größe einer Kinderfaust hatte, und hob sie auf. Vorsichtig wickelte er sie in die Lumpen, bis sie ihr Leuchten vollkommen erstickten. Er nahm sie an sich. Zyffhan taumelte mit weit von sich gestreckten Händen durch den Stollen. Voller Entsetzen erkannte Grizzard, daß er blind war. Und auch die Wärme war aus dem Stollen gewichen. Grizzard bekam eine Gänsehaut. Jetzt gab es nichts mehr, das ihn an diesem Ort hielt. Er wollte nur noch hinaus, ins Freie. Zyffhan versperrte ihm den Weg. Den umwickelten Kristall fest an seine Brust gepreßt, drückte sich Grizzard an die Stollenwand, um nicht in die Reichweite von Zyffhans Armen zu geraten. Jetzt hatte er Angst vor dem Dorkher, der jammernde Schmerzenslaute von sich gab. Endlich war Zyffhan beim nach draußen führenden Spalt. Seine Hände ertasteten sich den Weg ins Freie. Erst als er durch den Spalt war, folgte ihm Grizzard.
Er nahm den Kristall mit, ohne sich dessen bewußt zu sein. Als er aus dem Stollen heraus war, sah er Zyffhan einige Meter entfernt im Gras liegen. Der Dorkher weinte wie ein Kind. Als Grizzard noch mit sich rang, ob er irgendwie versuchen sollte, ihm zu helfen oder ihn schutzlos hier zurücklassen sollte, ging ein Ruck durch Zyffhans Körper. Der Dorkher richtete sich auf und ging mit schlafwandlerischer Sicherheit auf die Kuppe des Hügels zu, hinter der, wie Grizzard vermuten mußte, die Senke mit den Schiffen lag. »Warte!« rief er. »Bleib doch stehen. Du siehst nichts und wirst dir den Hals brechen!« Ohne stehenzubleiben, antwortete Zyffhan: »Nein. Es ist Zeit für uns zu gehen. Er weist uns den Weg.« Das war das letzte, daß Grizzard von Zyffhan hören sollte. Völlig verwirrt und plötzlich wieder von unerträglicher Angst befallen, sah er zu, wie Zyffhan die Hügelkuppe erreichte und dahinter verschwand. Er fiel nicht hin, kletterte sicher über Steine und Ranken hinweg. Grizzard zitterte am ganzen Körper. Er schwitzte. Irgend etwas flüsterte in ihm, aber es waren nicht die Stimmen aus dem Kristall. Es war völlig anders, furchterregend, und doch … Langsam setzte Grizzard sich in Bewegung, blieb stehen, lauschte und ging weiter. Sein Gesicht wirkte verklärt. Nur ab und zu zuckte es darin. Auf der Hügelkuppe angelangt, sah der ehemalige Jäger, daß Zyffhan schon fast zweihundert Meter von ihm entfernt war. Er ging sicher, wie an einer unsichtbaren Leine. Mit der Wärme war auch Upanak aus Grizzard gewichen. Er war nun wieder der einsame, leidende Mensch in einer fremden Welt, mit all seinen Ängsten und Qualen. Zumindest vorerst aber merkte Grizzard nichts davon. Wieder stand er im Bann von etwas Fremdem, und es zog ihn unaufhaltsam auf die Ebene der Sternschiffe zu. Alle Gefühle waren wie
abgeschnitten. Dort unten lag sein Ziel, genau zwischen den Schiffen. Er mußte zur Kristallkuppel. Nur flüchtig nahm er wahr, daß nun überall Dorkher aus ihren Verstecken kamen und wie er und Zyffhan die Hügel hinabgingen, ganz langsam, einige mit geschlossenen Augen. Ihnen folgten Mörder‐Chreeans und Technos. Die Bestien liefen friedlich neben den Dienern der toten SCHLOSSHERREN her. Die Stimmen aus dem Kristall waren wieder in seinem Bewußtsein, aber schwach und zaghaft. Sie beschworen ihn, stehenzubleiben und umzukehren. Doch das andere war stärker. Es zog …
6. Vor Atlans Augen nahm das seltsame Gerät Formen an. Atlan war immer noch von den Berührungen der Gassuaren gelähmt, als sie die letzten Handgriffe taten. Dann und wann hatte der Arkonide das Gefühl, daß YhmʹDheer ihn schadenfroh und triumphierend anblickte. Das Gerät war annähernd würfelförmig und besaß mehrere Ausbuchtungen, leuchtende Anzeigenfenster und Antennen oder Projektoren. Was die aus ihm herausragenden Metallstäbe genau waren, wußte er nicht. Er war sicher, daß die Gassuaren die einzelnen Teile, aus denen sie ihre Maschine zusammengefügt hatten, aus den anderen Schiffen ausgebaut hatten. Atlan zermarterte sich das Gehirn darüber, zu welchem Zweck sie ihr Gerät bauten. Eine Waffe? Er konnte nicht ganz daran glauben. Die Gassuaren hatten zur Genüge bewiesen, daß sie keine Waffen brauchten, um sich zu verteidigen. Was war es dann? YhmʹDheer trat von der Maschine zurück und schien sein Werk kritisch zu begutachten. Dann ging er wieder heran und berührte einige Stellen, die nicht besonders markiert waren, in schneller Folge mit den Tentakelhänden. Die Maschine begann leise zu summen. Einige der Anzeigefenster leuchteten schwach auf. Atlan erschauerte. YhmʹDheer machte seinen Artgenossen Zeichen, mit denen Atlan nichts anfangen konnte. Zwei Gassuaren packten das Gerät und hoben es an. Ihre Augen waren auf ihren Anführer gerichtet. YhmʹDheer trat dicht an Atlan heran, blickte aus den schwarzen Knopfaugen auf ihn herab, bewegte wie schnuppernd die Nasenspitze und sagte:
»Versucht nicht noch einmal, uns zu folgen. Ihr könnt uns nicht daran hindern, unseren Auftrag auszuführen. Verlaßt dieses Gebiet und zwingt uns nicht, euch für immer unschädlich zu machen.« Atlan wollte eine Frage stellen, aber seine Zunge ließ sich um keinen Millimeter bewegen. YhmʹDheer begab sich zu den anderen Gassuaren und gab ihnen Befehle. Die beiden, die das Gerät zwischen sich hatten, trugen es auf Atlan zu. Der Arkonide ahnte dumpf, was nun kommen würde, und er konnte es nicht verhindern. Ohne daß erkennbar wurde, daß die Gassuaren eine Einstellung an der Maschine vornahmen, bewegte sich einer der antennenförmigen Stäbe und zeigte schließlich genau auf Atlans Kopf. Atlan sah ein grünliches Flimmern, das den Stab umspielte. Irgend etwas schoß auf ihn zu. * Atlan erwachte so abrupt aus seiner Bewußtlosigkeit, als hätte er nur geschlafen. Die Erinnerung setzte sofort ein. Er sprang auf und stellte erleichtert fest, daß er sich wieder normal bewegen konnte. Diese Erleichterung verflog schnell. Die Zentrale der TZAIR war leer. Weder von den Gassuaren noch von ihrem rätselhaften Gerät war etwas zu sehen. Nachdem er durch die Maschine betäubt worden war, mußte Atlan nun davon ausgehen, daß es sich bei ihr doch um eine Waffe handelte. Zumindest erfüllte das Gerät auch diese Funktion. Was aber wollten die Gassuaren hier, wo außer Atlan und seinen Gefährten niemand herumlief, mit einer Waffe? Es war etwas anderes … Im Schiff herrschte wieder völlige Stille, wenn man vom Summen
verschiedener Aggregate absah. Die Gassuaren waren fort. Atlan beeilte sich, ebenfalls aus der TZAIR zu gelangen. Der Gedanke an Razamon und die Magier ließ ihn schneller laufen. Dazu kam die Sorge um Grizzard. Atlan ahnte bereits, was er zu sehen bekommen würde. Dennoch war es ein Schock für ihn. Razamon, Asparg und Fiothra lagen bewußtlos neben der Rampe. Es sah so aus, als wären sie ein Stück vor den Gassuaren geflohen, bevor diese ihre Lähmstrahlen gegen sie einsetzen und sich den Weg freimachen konnten. Atlan lief die Rampe hinunter, hockte sich neben Razamon hin und rüttelte an dessen Schultern. Der Pthorer ächzte schwach. Sollte er ihn und die Magier hier liegen lassen und allein nach einer Spur der Gassuaren suchen? Wo konnte ihr Ziel liegen? Wieder in den Schiffen? Kaum. Dann also unter dem Kristalldach? Der Gedanke erschien einleuchtend. Doch allein wollte Atlan sich nicht dorthin begeben. Ohne eine Absicherung durch andere war dies viel zu gefährlich. Atlan kniff die Augen zusammen und suchte nach Grizzard. Doch der Unglückliche blieb verschwunden. Atlan machte sich nun noch stärkere Selbstvorwürfe als vorhin, als er Grizzard allein bei der TZAIR zurückließ. Er hätte wissen müssen, daß Grizzard eine Dummheit machen würde. Wenn Indianer spürten, daß ihr Ende nahte, zogen sie sich irgendwohin zurück, um sich in der Einsamkeit darauf vorzubereiten. Waren diese uralten Instinkte nun in Grizzard durchgebrochen? War es denn wirklich schon soweit mit ihm? Atlan versuchte, bei der Hügelkette etwas zu erkennen, als Razamon sich zu rühren begann. Der Berserker schlug die Augen auf. Er wirkte einige Sekunden lang völlig verwirrt, bis sein Blick sich klärte und er Atlan ansah. Der Pthorer sprang auf.
»Wo sind sie?« schrie er. »Wo sind sie hin mit ihrem … Ding?« Erst jetzt sah er die beiden noch bewußtlosen Magier am Boden liegen. Er packte Atlan an den Armen und sah ihn beschwörend an. »Sie kamen aus dem Schiff und richteten dieses … diesen Kasten auf uns, ehe wir begriffen, was geschah. Sie kamen die Rampe herunter, schnell, unglaublich schnell!« »Ich weiß«, knurrte der Arkonide. »Wir wollten ihnen den Weg verstellen, als wir plötzlich wieder die Panikimpulse spürten. Asparg und Fiothra rannten zuerst fort. Ich konnte mich noch einen Augenblick kontrollieren, bis …« »Bis sie euch lähmten«, vollendete Atlan. »Mir ist das gleiche passiert.« Razamon ballte die Fäuste. »Ich kann mich von da an an nichts mehr erinnern. Was haben sie vor, Atlan?« Atlan konnte keine Antwort geben. Doch allein die Fragen des Pthorers, der noch vor kurzem so sicher zu sein glaubte, was die Absichten der Fremden anbetraf, spiegelte ihrer aller Unsicherheit wider. Voller Unbehagen sah Atlan wieder hinüber zur Kristallkuppel. Fiothra begann sich zu bewegen, dann auch Asparg. Die beiden jungen Magier schlugen die Augen auf, schüttelten ihre Benommenheit ab und kamen auf die Beine. Unsicher gingen sie auf Atlan und Razamon zu. Plötzlich, noch wenige Meter entfernt, blieben sie stehen. Sie schienen auf etwas zu lauschen. Dann begann Fiothra verhalten zu kichern. Atlan und Razamon sahen sich betroffen an. Auch Asparg verzog die Mundwinkel. Es schien, als wehrte er sich gegen etwas. Doch dann begann auch er zu kichern und kurz darauf lauthals zu lachen. Atlan murmelte eine Verwünschung. Razamon war weniger zurückhaltend. Laut rief er: »Seid ihr beide noch zu retten? Um uns herum ist der Teufel los,
und ihr findet das noch sehr lustig. Asparg! Fiothra! Verdammt, habt ihr den Verstand verlo …?« Razamon brachte den Satz nicht zu Ende. Er zuckte heftig zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Atlan erschrak, als er in die Augen des Pthorers sah. Sie drohten aus den Höhlen zu quellen. Razamons Mund war nur noch ein schmaler Strich. Aus dem rechten Mundwinkel rann Blut. Dann brach der Berserker in schallendes Gelächter aus. Atlan holte aus und schlug ihm ein paarmal mit der flachen Hand ins Gesicht. Razamon schrie wild auf und stürzte sich auf ihn. Blitzschnell wich der Arkonide aus. Razamon wurde vom eigenen Schwung mitgerissen, taumelte ins Leere und prallte hart gegen die Rampe. Das brachte ihn endgültig zur Besinnung. Atlan achtete nicht auf die immer noch von einer unnatürlichen, geradezu erschreckenden Fröhlichkeit befallenen Magier, die sich nun umfaßten und vor der TZAIR zu tanzen begannen. Er half dem Pthorer auf die Beine und rüttelte ihn. Razamon riß sich los. »Sie beeinflussen uns wieder«, sagte er keuchend. »Ich …« Wieder biß er die Zähne aufeinander, schloß die Augen und verkrampfte sich am ganzen Körper. Schon glaubte Atlan, daß der Freund jetzt endgültig den Verstand verlor, als Razamon sich entspannte und ihn unsicher ansah. »Spürst du nichts?« fragte er mit heiserer Stimme. Atlan schüttelte den Kopf. Er lauschte in sich hinein, aber da war nichts außer der wachsenden Unruhe. »Sie … zwingen uns zum Lachen. Es ist gut, Atlan. Ich glaube, ich kann dem Drang widerstehen. Es kam nur zu plötzlich. Ich …« Wieder schloß der Atlanter die Augen. Es war ihm nur zu gut anzusehen, wie sehr er um seine Beherrschung kämpfte. Atlan fluchte und war mit wenigen Schritten bei Asparg und Fiothra. Die Magier sangen und lachten, sprangen auf und ab und drehten
sich schwindelerregend schnell. »Schluß jetzt! Hört auf!« Atlan bekam Asparg zu fassen und »behandelte« ihn auf die gleiche Weise wie zuvor Razamon. Fiothra packte ihn, lachte und rief: »Sei kein Spielverderber, Atlan. Komm, tanz mit mir! Laß uns fröhlich sein, bevor wir …« Ganz plötzlich bäumte sie sich auf und verstummte. Mit blicklosen Augen sank sie in sich zusammen und blieb schluchzend am Boden liegen. Asparg sah Atlan schockiert an. Er wollte Fiothra helfen, aber der Arkonide hielt ihn zurück. »Was geschieht mit euch, Asparg?« fragte er heftig. Er rüttelte den Magier wieder an den Schultern. »Was läßt euch wie Idioten hier in der Gegend herumtanzen und lachen? Es gibt nichts zu lachen!« »Nein«, sagte der Magier betroffen. »Bestimmt nicht. Es ist jetzt schwächer. Es … kommt in Wellen.« »Was?« Asparg drehte sich so, daß er die Kuppel mit dem Kristalldach im Zentrum des durch die Sternschiffe gebildeten Fünfecks sehen konnte. »Es wird wieder stärker. Ich fühle mich … großartig.« Wieder umzuckte es Aspargs Mundwinkel. Schnell fragte Atlan: »Was denn? Du wirst dazu gezwungen, fröhlich zu sein und dich zu benehmen wie ein Idiot. Es ist ein Zwang, Asparg! Nicht real! Du mußt dagegen ankämpfen!« »Ich weiß nicht, wie lange ich es noch kann. Es kommt von der Kuppel! Es ist schön und … wir müssen hin zu ihr. Zur Kuppel …« Atlans Blick folgte Aspargs ausgestrecktem Arm. Er sah die Kuppel und erschrak. Das Kristalldach wirkte auf den ersten Blick unverändert. Nur bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, daß das Leuchten in den Wänden der Kuppel etwas stärker geworden war.
* Atlan spürte, wie seine innere Unruhe unaufhaltsam einem Höhepunkt entgegenstrebte, und er hatte Angst davor, dann nicht mehr zu wissen, was er tat. Er mußte etwas tun! Aber es gab nichts Greifbares, nur die Aussage des Magiers und die Veränderung des Kuppeldachs. Was immer Fiothra, Asparg und sogar Razamon nun so zu schaffen machte, kam von dort. Von der Kuppel, unter der Atlan die Gassuaren vermutete. Aber bislang war auch er von diesen Fremden beeinflußt worden. Warum jetzt nicht? Waren es nicht die Gassuaren, die für den Zustand der Gefährten verantwortlich waren? Aber was dann? Und was war mit den Gassuaren geschehen? Sie mußten es sein, versuchte er sich einzureden. Andererseits aber hatten sie ihm für den Fall, daß er ihnen nochmals folgte, mit dem Tod gedroht. Und nun sagte Asparg, daß irgendeine fremde Kraft sie zur Kuppel hinzog. Im Augenblick schienen sich die beiden Magier unter Kontrolle zu haben. Fiothra war aufgestanden und bei Asparg. Sie kämpften gegen das Fremde. Razamon stand bei der Rampe wie ein steinernes Monument. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, aber sein Blick war klar. Obwohl die Magier eher als er dazu in der Lage sein sollten, das zu erfassen und auszuschalten, was von der Kuppel kam, schien er dem Einfluß besser trotzen zu können. Asparg und Fiothra waren übersensibel. Das war die Kehrseite der Medaille. Früher oder später würden sie zusammenbrechen. Atlan überlegte fieberhaft. Einen Augenblick dachte er daran, sie in der TZAIR einzusperren, doch er verwarf den Gedanken schnell wieder. Niemand konnte vorhersagen, wie es sich auf sie auswirken konnte, wenn sie daran gehindert wurden, dem Drang zu folgen, zur Kuppel zu gehen.
»Asparg!« Atlan machte einen letzten Versuch, etwas Genaueres über den von der Kuppel kommenden Einfluß zu erfahren. Wenn er ihn nur selbst spüren könnte! »Asparg, was ist es? Es versetzt euch in Euphorie?« »Ja«, antwortete der Magier kaum hörbar, ohne die Augen zu öffnen. Fiothra kicherte leise. »Und es zieht euch an? Euch beide?« Asparg bewegte die Lippen, aber er brachte keinen verständlichen Laut hervor. Wie Fiothra kicherte er leise, um sogleich die Fäuste zu ballen und wieder gegen den Drang zu kämpfen. Razamon antwortete für ihn. »Es zieht alle Wesen an, die sich in der Nähe befinden. Vielleicht reicht es bis zu den Hügeln. Dann werden bald Hunderte von Dorkhern hier auftauchen.« »Aber wozu, Razamon? Wozu?« »Ich … weiß es nicht.« »Aber du spürst etwas!« »Ich darf es nicht spüren. Aber vorhin war es so, als …« Razamon stöhnte. Schweißperlen rannen seine Wangen herab. »Es ist, als ob du nur noch daran denken müßtest, welche Freuden in der Kuppel auf dich warten. Es verspricht eine Erfüllung!« »Wer ist es?« hakte Atlan schnell nach. Auch ihm stand der Schweiß auf der Stirn. »Die Gassuaren?« »Ich weiß es nicht. Nein, ich glaube, diesmal ist es … anders.« Das Gefühl, vollkommen hilflos etwas unsagbar Fremdem gegenüberzustehen, während irgendwo eine unsichtbare, unhörbare Uhr ablief, wurde übermächtig. Atlan ballte die Fäuste so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten und die Fingernägel sich schmerzhaft ins Fleisch bohrten. »Eine Erfüllung«, murmelte auch Asparg. »Das Ende aller Qualen. Reine Freude, reines Glück …« Aspargs Worte trafen Atlan hart.
Hatte er etwas Ähnliches nicht schon einmal erlebt? Hatte er nicht Wesen gesehen, die künstlich in Euphorie versetzt wurden, um dann ein schreckliches Schicksal zu erleiden? Er wehrte sich mit aller Gewalt gegen die Vorstellung, hier könnte sich etwas Ähnliches anbahnen wie auf dem Planeten Ghyx. Seine Phantasie mußte ihm Streiche spielen. Die Gassuaren waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit ihrem seltsamen Gerät in der Kuppel verschwunden. Nur sie konnten die Ursache für das sein, was jetzt geschah. Es besagte gar nichts, daß er jetzt unbeeinflußt blieb. Wie dem auch sein mochte – er mußte hin und sich selbst davon überzeugen. Allein konnte er das Risiko nicht auf sich nehmen, aber mit Razamon … »Glaubst du, dich auf Dauer gegen die Impulse wehren zu können?« fragte er den Pthorer. Razamon nickte finster. Atlan wußte, worauf er sich einließ, aber ihm blieb keine Wahl. Er ging wieder zu den Magiern. »Asparg und Fiothra, könnt ihr mich verstehen?« »Ja, Atlan«, sagte Fiothra schwach. »Im Augenblick ist es nicht so stark, aber …« »Du brauchst nicht weiterzureden. Ich möchte, daß ihr beide schnell von hier verschwindet. Ihr müßt euch in Sicherheit bringen. Möglich, daß die Impulse bis zu den Hügeln oder sogar darüber hinweg bis zum Schutzschirm über dem SCHLOSS reichen, aber dort dürften sie schwächer sein. Geht in die Richtung, in der das Tor liegt, das aus dem SCHLOSS herausführt. Wartet dort, wenn ihr könnt. Ansonsten versucht, hinauszugelangen und wartet hinter dem Schirm auf uns. Falls ihr Grizzard unterwegs findet, nehmt ihn mit.« Asparg sah ihn unsicher an. »Wir wollen dich nicht im Stich lassen. Laß uns …« Wieder ging ein Aufbäumen durch seinen Körper. Fiothra schrie
schrill auf, begann hysterisch zu lachen, verlor für einen Moment die Kontrolle über ihren Körper und bewegte sich wieder tänzelnd. Asparg packte sie, bevor sie auf die Kuppel zulaufen konnte. »Geht schnell!« rief Atlan. »Solange es nicht zu spät ist!« »Wir warten einen … Tag auf euch!« rief Asparg, der Fiothra schon auf dem Arm hatte und zögernd einige Schritte auf die Hügelkette zu machte. »Dann suchen wir nach euch!« »Ihr wartet, bis wir kommen!« befahl Atlan. »Verschwindet endlich!« Asparg gehorchte. Nach einer Weile konnte er Fiothra absetzen, und Hand in Hand liefen sie davon. Atlan atmete auf. Dann starrte er mit grimmiger Miene zur Kristallkuppel hinüber, deren Leuchten sich wieder um eine Nuance verstärkt hatte. Prüfend musterte er Razamon. Der Pthorer litt. Atlan fröstelte, als er sich vorzustellen versuchte, welcher Kampf nun in Razamon tobte. »Bist du ganz sicher, daß du es schaffst?« fragte er skeptisch. Razamon sah ihn wütend an. »Ich gehe mit dir zur Kuppel, und dich schwöre dir, es wird mich nicht unterkriegen!« Doch wie um die eigenen Worte zu widerlegen, bäumte sich der Atlanter wieder unter Qualen auf. Atlan wollte ihn stützen, als er taumelte. Doch Razamon sprang zurück, atmete tief durch und schüttelte heftig den Kopf. »Kümmere dich nicht um mich!« wehrte er ab. Dann streckte er den Arm aus und zeigte auf etwas in Atlans Rücken. »Schau lieber dorthin!« Langsam drehte der Arkonide sich um. »Siehst du sie? Sie kommen alle, um dem Ruf aus der Kuppel zu folgen!« Atlan sah sie. Es waren noch kleine dunkle Punkte zwischen und auf den Hügeln, die die Senke der Fünfeckschiffe umschlossen.
Doch einige waren schon so weit heran, daß er sie erkennen konnte. Technos, Dorkher und Chreeans kamen friedlich nebeneinander auf die Senke zu. Kein Chreean griff mehr Dorkher oder Artgenossen an. Das was sie beherrschte, war mächtiger als ihr Zerstörungstrieb. Und sie kamen von allen Seiten, verließen zu Dutzenden die Baracken und Lagerhallen, die ihnen als Verstecke gedient hatten. Ein unaufhaltsamer Strom wälzte sich auf die Schiffe und die Kuppel zu.
7. Atlan mußte gegen das aufkommende Entsetzen ankämpfen und war nahe an einer Panik. Er kam sich vor wie in einer Arena, in die nun die Bestien geführt wurden. Mit aller Willenskraft zwang er sich zum klaren Denken und änderte seine Absicht. »Wir warten«, sagte er zu Razamon. »Erst, wenn sie heran sind, schließen wir uns an. Es ist besser, wenn wir mit ihnen, also unauffälliger, zur Kuppel gehen.« »Du willst sie vorschicken, um …?« »Unsinn! Aber wir können nur dann etwas über das erfahren, was mit ihnen vorgeht, wenn wir sie aus nächster Nähe beobachten – hier und direkt vor der Kuppel. Wir können sie nicht aufhalten, Razamon, wenn du das meinst. Sie würden uns niedertrampeln.« Der Atlanter blickte ihn trotzig an, schwieg aber. Die unzähligen Wesen unterschiedlichster Art kamen nur langsam näher. Anscheinend hatte das, was sie zu sich holte, viel Zeit. Die Dorkher bewegten sich tänzelnd, packten sich bei den Händen und liefen im Kreis herum. Ihr Lachen und Singen drang an Atlans Ohren. Etwas ruhiger verhielten sich die Technos, die immer dann auf die Tanzenden warteten, wenn sie ihnen ein Stück voraus waren. Selbst die Mörder‐Chreeans schienen von einer unheimlichen Euphorie besessen zu sein. Sie vollführten wilde, ziellose Sprünge und wälzten sich im Gras und in Sträuchern. Wie ein Netz zog sich der Ring der Beeinflußten um die Sternschiffe und die Kuppel zusammen. Atlan schwitzte. Es kostete ihn mehr Nervenkraft, jetzt untätig zu warten, als direkt auf das Kristalldach zuzulaufen. Zum wiederholten Male fragte er sich, was die Gassuaren mit dem unheimlichen Geschehen zu tun hatten. Sie allein, davon war er nun mehr denn je überzeugt, konnten nicht dafür verantwortlich sein.
Immer wieder mußte er an das denken, was die Seelenwächter zu ihm und Razamon sagten: Sie sollten gehen und schnellstens die notwendigen Vorbereitungen treffen. Vorbereitungen wozu? Um Dorkh für die Begegnung mit dem Dunklen Oheim zu präparieren? Hatte nun ein anderer diese ihnen gestellte Aufgabe übernommen, nachdem sie sie – schon aus Unwissenheit – nicht erfüllen konnten? Und wieder fragte sich Atlan, ob die Gassuaren vielleicht nur darauf gewartet hatten, daß jemand kam, der die Uleb ausschaltete und der »Seele« von Dorkh jenen Befehl übermittelte, durch den sie gezwungen wurde, wieder jeder Anordnung des Dunklen Oheims zu gehorchen. Wenn er nur einen Anhaltspunkt gehabt hätte! Aber gerade durch das Auftauchen der Gassuaren war alles noch viel komplizierter und undurchschaubarer geworden. Nur eines spürte der Arkonide mit untrüglicher Sicherheit: Etwas Furchtbares bahnte sich an. Das Warten wurde mehr und mehr zur Qual. Razamon wurde von Minute zu Minute unruhiger. Seine Vorahnungen und der Zorn auf die Mächte, die intelligente Wesen zu ihren Marionetten machten, schien ihm zusätzliche Kraft zu geben, um sich des von der Kuppel kommenden Einflusses zu erwehren. Das Lachen und Grölen der Dorkher hallte schmerzhaft in den Ohren des Arkoniden. Es war, als näherte sich von allen Seiten her eine Armee von Schwachsinnigen. Die ersten Euphorisierten hatten nun die größeren Sternschiffe erreicht und drangen unaufhaltsam weiter in Richtung Kristallkuppel vor. Niemand kümmerte sich um die Schiffe. Der Ring zog sich enger zusammen, um so schneller, je näher die Dorkher und Technos ihrem Ziel kamen. Atlan und Razamon warteten hinter der Rampe der TZAIR. Irgendein Gefühl sagte beiden Männern, daß es besser war, wenn sie nicht gesehen wurden, bevor die ersten Dorkher an ihnen vorbei waren. Nun sah Atlan eine Gruppe von etwa zehn Turganern, die sich die Umhänge vom Leib gerissen hatten und ausgelassen im
Kreis liefen wie spielende Kinder. Sie, die bislang immer so würdevoll aufgetreten waren! Zwischen ihnen tauchte ein Mörder‐Chreean auf. Zwei Turganer liefen lachend auf das Tier zu. Atlan stockte der Atem. Schon sah er den Schwanz der Echse in die Höhe peitschen und die beiden Dorkher zerschmettern. Aber nichts dergleichen geschah. Ein Turganer schwang sich mit unglaublicher Behendigkeit auf den Rücken des Chreeans und »ritt« das Reptil unter dem johlenden Beifall seiner Artgenossen. Er sprang ab, um einem anderen Platz machen. Das Tier ließ sich alles gefallen und schien selbst Spaß an dem verrückten Spiel zu haben. Die Turganer bildeten einen Kreis um es und den jeweiligen Reiter herum und klatschten begeistert in die Hände. Dabei bewegten sie sich immer weiter auf die Kristallkuppel zu. Zwischen ihnen tauchten Technos auf, die gar nicht auf das zu achten schienen, was um sie herum vorging. Ihre Blicke waren starr auf die Kuppel gerichtet, die nun im ewigen Dämmerlicht unnatürlich hell schimmerte, als hätte jemand starke Lichter unter ihr entzündet. Wie ein riesiger Edelstein lag das funkelnde Kristalldach im Halbdunkel, ein Gelände mit einem Durchmesser von sechshundert Metern überspannend. Nur die Eingänge waren noch dunkel. Die Technos warteten, bis die Dorkher und Chreeans zu ihnen aufgeschlossen hatten, gingen ein Stück weiter und warteten wieder. Es war ein Bild, das sich ständig wiederholte. Endlich erreichten die unterschiedlichen Wesen die kleineren Schiffe. Atlan legte die Hand auf Razamons Arm und wartete, bis die ersten Technos an ihnen vorbei waren. Sie verließen ihre Deckung, als die Lachenden und Tanzenden aufschlossen. Sie mischten sich unter sie, doch nach wenigen Schritten kamen sie sich wie Fremdkörper vor. »Wir müssen mitspielen«, flüsterte Atlan dem Pthorer zu. »Lachen und …«
»Uns wie sie aufführen?« fragte Razamon, und seine Blicke verrieten, was er von dieser Idee Atlans hielt. »Verdammt, diese Verrückten laufen vielleicht geradewegs ihrem Henker in die Arme, und wir sollen auch noch lachen?« Atlan zuckte zusammen. Wieder lösten Razamons Worte Erinnerungen an Ghyx, den Koordinator der Ewigkeit und den Stern der Läuterung in ihm aus. Aber dies war kein Planet, sondern ein Dimensionsfahrstuhl, der ganz spezielle Aufgaben zu erfüllen hatte – ebenso wie all seine Bewohner. »Ja, wir müssen lachen, obwohl ich heulen könnte!« knurrte Atlan. Fünf Dorkher kamen auf sie zu, umringten und umtanzten sie und packten sie bei den Händen. Razamon ließ sich von ihnen mitziehen – und lachte. * Langsam gelangten sie immer näher an die Kristallkuppel heran. Immer wieder lauschte Atlan in sich hinein, aber selbst jetzt, in unmittelbarer Nähe der Quelle, nahm er nichts von den Zwangsimpulsen wahr. Wenn ihm die Dorkher dazu Gelegenheiten gaben, beobachtete er Razamon aus den Augenwinkeln heraus. Noch immer hatte der Atlanter sich unter Kontrolle. Wenn es ihn betreffend etwas zu befürchten gab, dann daß er sich von einem Augenblick zum andern wieder in den blind um sich schlagenden Berserker verwandelte. Atlan mußte immer häufiger die »Initiative« im Spiel der Dorkher an sich reißen, um nicht von Razamon getrennt zu werden. Je näher sie der Kuppel kamen, desto wilder gebärdeten sie sich. Aber allein die Tatsache, daß Razamon dem Einfluß noch standhielt, schien zu beweisen, daß dies nicht auf die Impulse zurückzuführen war. Dann aber, wenn sie hier gleich stark wirkten wie bei der TZAIR,
konnten sie mit der gleichen Intensität bis zum Energieschirm reichen, der das Gebiet um das SCHLOSS vom übrigen Dorkh abtrennte. Atlan wagte kaum daran zu denken, was dies für die beiden Magier bedeuten konnte – und für Grizzard, falls er noch lebte. Noch etwa zweihundert Meter bis zur Kuppel, und immer mehr Dorkher und Technos strömten heran. Erst jetzt, wo kein Schiff die Sicht mehr behinderte, erfaßte Atlan in vollem Umfang, was hier geschah. Sie alle, die sich in den Hügeln, beim Energieschirm oder in den außerhalb des eigentlichen SCHLOSSES liegenden Baracken und Hallen versteckt hatten, waren dem Ruf aus der Kuppel gefolgt. Und in diesem Augenblick blieben sie stehen. Sie verstummten urplötzlich. Atlan lachte noch, als um ihn herum nur Schweigen war. Wieder konnte er keine Veränderung in sich feststellen. Es war, als ob nichts geschehen wäre, und doch mußten nun die Zwangsimpulse verstummt sein. Razamon kam schnell an seine Seite. Kein Dorkher, kein Techno und kein Chreean bewegte sich mehr. Stumm standen sie da und starrten blicklos auf die Kuppel. Nein, durchfuhr es Atlan. Auf die dunklen Eingänge. Vorsichtig, um nicht aufzufallen, drehte er den Kopf, und erst jetzt fiel ihm auf, daß die hierher gekommenen Wesen in Gruppen beieinander standen – jeweils eine Kolonne vor einem der dunklen Zugänge zum Innern der Kuppel. »Sie warten darauf, daß sie hinein gerufen werden«, flüsterte Razamon. Atlan nickte. Die Impulse waren verstummt, aber kein einziges Wesen schickte sich an, umzukehren. Sie waren alle völlig ruhig. Sie warteten auf die Fortsetzung, auf den nächsten Akt des Dramas. Konnte er denn wirklich nichts tun? Etwas Schreckliches würde geschehen. Atlan spürte es so deutlich, als setzten sich ihm scharfe Messer auf die Brust. Wenn er jetzt mit Razamon vorstürmte, in die
Kuppel hinein … Ihr würdet sie gar nicht erst erreichen! ernüchterte ihn der Extrasinn. Alles in Atlan sträubte sich gegen dieses Wissen. Seine Hände waren feucht, und sein Herz schlug bis zum Hals. Razamon stand neben ihm wie zur Salzsäule erstarrt. Nur hin und wieder zuckte es verräterisch in seinem finsteren Gesicht. Warten, nur warten … Dann, nach etwa einer halben Stunde, kam Bewegung in die Herbeigerufenen. Atlan wechselte einen schnellen Blick mit Razamon. Jeder Muskel seines Körpers war gespannt. Er war in diesem Augenblick entschlossen, jeden Dorkher zurückzuhalten, der sich in seiner unmittelbaren Nähe auf die Kuppel zu in Bewegung setzen wollte. Sie durften nicht hinein! Aber es kam ganz anders. Atlan mußte einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken, als er jetzt sah, daß es nur die Chreeans waren, die unruhig zu stampfen begannen, mit den Schwänzen peitschten und dabei mehrere Dorkher und Technos fällten, die sich wie Puppen wieder aufrichteten, soweit sie noch dazu in der Lage waren. Niemand kümmerte sich um die Verletzten, die keinen Laut des Schmerzes von sich gaben. Die ersten Chreeans zogen sich mit unsicher wirkenden Bewegungen zurück. Dann ging ein Ruck durch alle Echsen. Sie drehten sich und liefen von der Kuppel fort. Fassungslos sah Atlan, wie sie, immer schneller werdend, die Schiffe erreichten und schließlich in Richtung Energieschirm davonpreschten. Atlan starrte ihnen immer noch nach, als sie die Hügel erreicht hatten und dahinter verschwunden waren. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Und nur die Chreeans waren verschwunden. Dorkher und Technos standen wie vorher vor den völlig dunklen Eingängen und warteten.
* Der Abzug der Chreeans war erst der Anfang. Kaum eine Viertelstunde war vergangen – fünfzehn Minuten, in denen Atlan all seine Kraft aufbieten mußte, um nicht irgend etwas zu tun, um diesen unseligen Bann zu durchbrechen, der über den Wartenden lag –, als wieder Bewegung entstand. »Still«, flüsterte der Arkonide. Es hörte sich an, als wollte er sich selbst vor einer Unbesonnenheit bewahren und nicht Razamon. »Ganz ruhig …« Aber er war nicht ruhig. Er sah, daß einige Technos sich schweigend, ohne eine Miene zu verziehen, umdrehten und davonmarschierten. Ihnen folgten andere. In Gruppen lösten sich die Technos von den Dorkhern und entfernten sich wie zuvor die Chreeans von der Kristallkuppel. »Es sieht so aus«, preßte Razamon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »als ob eine … Auswahl getroffen würde.« Genau das war es, was auch Atlan nun dachte, und der Gedanke erfüllte ihn mit bis zu diesem Augenblick nicht gekanntem Schrecken. Hatte er geglaubt, daß das Grauen, das er fühlte, keine Steigerung mehr erfahren konnte, so sah er sich nun getäuscht. Er zitterte leicht. Sein Kopf ruckte hin und her. Er kümmerte sich kaum noch um die Dorkher und sah überall Technos kehrtmachen und roboterhaft davonmarschieren. Ihre Augen waren leer. Eine Auswahl! So mußte es sein! In diesem Augenblick wurden die Opfer für irgend etwas sortiert, von dem er sich nicht einmal einen vagen Begriff machen konnte. Nur eines war nun absolut sicher: Die Gassuaren waren nicht dafür verantwortlich – zumindest nicht direkt. Etwas, das mächtiger war als sie, hatte die Initiative ergriffen. Der Dunkle Oheim?
Opfer! Es war mehr als nur ein Gefühl, das ihm sagte, das jene, die zum Schluß übrigbleiben würden, einem grauenvolleren Schicksal entgegengingen, als er es sich in seinen kühnsten Phantasien ausmalen konnte. Und wenn sie noch viel länger warteten, gehörten er und Razamon zu ihnen. Wenn die unbekannte Macht wieder zuschlug, war kein Widerstand mehr möglich. Vielleicht konnte er ihr trotzen – Razamon ganz bestimmt nicht noch einmal. Atlan packte den Pthorer am Arm. »Komm«, flüsterte er eindringlich. »Wir ziehen uns mit den Technos zurück.« Er deutete auf eine kleine Gruppe, die unmittelbar in ihrer Nähe stand. »Wenn sie gehen, verschwinden wir mit ihnen!« »Du willst die anderen im Stich lassen?« entfuhr es Razamon. »Verdammt, nein! Aber wenn wir mit den Technos gehen, erfahren wir von ihnen aber vielleicht etwas, das uns in die Lage versetzt, etwas für sie zu tun! Wir brauchen Bewegungsfreiheit und …« Atlan ballte die Fäuste. Schließlich brach es aus ihm heraus: »Und ich will nicht in einem Massaker enden!« Razamon starrte ihn für Sekunden schweigend und trotzig an. Dann endlich nickte er. »Du hast recht, Arkonide, aber von den Technos erfährst du nichts. Sieh sie dir an. Sie wissen ebensoviel wie ich.« Atlan ließ seinen Arm nicht los. Etwa die Hälfte der zur Kuppel gekommenen Technos befand sich auf dem Weg zurück dorthin, wo der Ruf sie erreicht hatte. Diejenigen, die bei ihnen standen, zuckten kaum merklich zusammen und drehten sich wie von unsichtbaren Händen bewegt um. Doch Atlan machte keine Anstalten, ihnen zu folgen. »Worauf wartest du?« fragte Razamon flüsternd. »Wir müssen gehen!« Schweigend schüttelte Atlan den Kopf. Er streckte den rechten
Arm aus und deutete auf eine Gruppe von Dorkhern, die in etwa fünfzig Meter Entfernung darauf wartete, in die Kuppel gerufen zu werden. Bisher hatten mittlerweile verschwundene Technos die Sicht auf den Mann versperrt, der reglos zwischen ihnen stand und zum dunklen Eingang der Kristallkuppel hinüberstarrte. »Aber das ist … Grizzard!« entfuhr es Razamon. * Atlans Absicht, sich mit den Technos abzusetzen, war verflogen. Dort drüben, mitten unter den wartenden Dorkhern stand Grizzard, und er wurde von dem, was die Zwangsimpulse ausgesandt hatte, mit Sicherheit nicht als Techno eingestuft und »entlassen«. Er sollte mit den Dorkhern in die Kuppel gehen, sobald die Auswahl beendet war. »Wir müssen ihn mitnehmen«, flüsterte Atlan entschlossen. »Ohne ihn gehen wir nicht!« Er brauchte es Razamon nicht zweimal zu sagen. Der Atlanter schüttelte Atlans Hand ab und nickte ihm grimmig zu. Für den Augenblick waren Dorkher, Technos, die Gassuaren und was immer sich sonst noch in der Kuppel aufhalten mochte, vergessen. Nun zählte nur, mit Grizzard in Sicherheit zu gelangen. Sicherheit! dachte Atlan voller Bitterkeit, als er sich vor Razamon durch die wartenden Dorkher schob und Techno‐Kolonnen auswich, die sich in Bewegung setzten. Es gibt keine Sicherheit mehr! Nirgendwo in der Nähe des SCHLOSSES. Vielleicht spielten sich in diesen Minuten überall auf Dorkh Szenen wie hier ab. Solange noch nicht alle Technos gegangen waren, schlug der oder das Unbekannte nicht zu. Solange hatten sie Zeit, Grizzard fortzubringen.
Sie erreichten ihn, ohne daß jemand sie aufzuhalten versuchte. Die Dorkher nahmen überhaupt keine Notiz von ihnen. »Es kommt wieder«, warnte Razamon. »Noch ist es schwach, aber es baut sich auf!« Atlan stellte keine Fragen mehr. Er trat von der Seite her an Grizzard heran und wunderte sich nur kurz darüber, daß der ehemalige Jäger etwas, das er mit Tüchern umwickelt hatte, fest an seine Brust gepreßt hielt. »Grizzard«, flüsterte er eindringlich. »Grizzard, hörst du mich?« Er schalt sich einen Narren, als Grizzard nicht einmal mit den Wimpern zuckte. Er konnte ihn nicht hören. Er lebte in einer anderen Welt. »Es hat keinen Sinn!« knurrte Razamon. »Sieh zu, daß du von hier fortkommst. Ich übernehme ihn!« Atlan trat einen Schritt zurück und ließ den Berserker an sich vorbei. Razamon ging in die Knie, unterfaßte Grizzard und lud ihn sich über die Schulter. »Schnell weg!« rief er laut. »Es … hat uns erfaßt! Es konzentriert sich auf uns. Es wird stärker!« Atlan wollte Razamon mit Grizzard an sich vorbeilassen. Der Schock traf ihn, als er sich halb umgedreht hatte. Die Dorkher, die bisher nur die Kuppel angestarrt hatten, standen nicht mehr an der gleichen Stelle wie vorhin. Völlig lautlos hatten sie sie umringt und verstellten ihnen nun den Weg. Immer noch waren ihre Augen leer, und Atlan hatte für einen Moment das Gefühl, von Dutzenden lebender Toter angestarrt zu werden. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. »Lauf!« schrie Razamon. »Weg von hier, bevor sie …« Er kam nicht weiter. Drei Dorkher traten gleichzeitig auf ihn zu und streckten die Arme nach Grizzard aus. Immer mehr kamen heran und schirmten ihn und Atlan ab. Bis ins Innerste wehrte der Arkonide sich dagegen, gegen diese Verlorenen Gewalt anzuwenden. Aber als sich nun auch Hände
nach ihm ausstreckten, wußte er, daß er keine andere Wahl mehr hatte. Razamon brüllte wie ein Rasender. Er wirbelte herum, hielt Grizzard mit dem linken Arm umklammert und schlug mit der Rechten die anrückenden Dorkher zurück. Atlan schüttelte endlich seine Skrupel ab und kam ihm zu Hilfe. Rücken an Rücken kämpften er und der Pthorer sich einen Weg frei. Atlan schlug einen Dorkher nach dem anderen zu Boden, während Razamon Hiebe nach allen Seiten austeilte. Für jeden gefallenen Dorkher rückten zwei weitere nach. Atlan mußte nicht nur gegen sie kämpfen, sondern gleichzeitig gegen seine aufsteigende Panik. Die Übermacht war zu groß, obwohl die Gegner sich immer noch wie Marionetten bewegten und blind gegen Atlans und Razamons Fäuste rannten. Die Bewußtlosen blieben unbeachtet liegen. Kein einziger Dorkher, ganz gleich, welchem Stamm er angehörte, bildete für sich eine Gefahr für Atlan, aber alle zusammen waren sie eine undurchdringliche Mauer. »Es wird stärker!« schrie Razamon wieder. »Hier, nimm du ihn!« Er warf Grizzard durch die Luft. Atlan fing ihn auf, ging kurz in die Knie, und sah, wie der Atlanter unter den Dorkhern wütete. Langsam schlug er eine Bresche in die Mauer aus lebenden Leibern. Atlan stieß sofort nach, sorgsam darauf achtend, daß er außerhalb der Reichweite von Razamons kreisenden Armen blieb. Die Dorkher kamen von den Seiten. Diejenigen, die Atlan und Razamon in vorderster Linie gegenüberstanden, wurden von hinten geschoben. Für Augenblicke hatte der Arkonide das Gefühl, mitten in einem Ozean zu stehen, der sich geteilt hatte und nun über denen, die unvorsichtig genug gewesen waren, sich in ihn hineinzuwagen, zusammenschwappen wollte. Razamon wurde von hinten gepackt. Zwei Dorkher hingen wie Kletten auf seinem Rücken. Der Pthorer drehte sich und schlug wie rasend um sich. Männer mit blicklosen Augen kamen herangekrochen und umfaßten seine Beine. Auch Atlan spürte ihre
kalten Hände. Er verlor das Gleichgewicht, ruderte mit dem freien Arm und packte Grizzard, der von seiner Schulter abzurutschen drohte, fester. Immer mehr Hände griffen nach ihm. Razamon schrie sich die Lungen aus dem Leib, und seine Stimme war das einzige, was weit und breit zu hören war. Die unheimliche Armee der Macht, die in der Kuppel saß, schob sich heran. Atlan konnte sich kaum noch bewegen. Razamon versuchte in einem verzweifelten Gewaltakt, die an ihm hängenden Leiber abzuschütteln. Seine Fäuste fuhren ins Leere. Da regte sich Grizzard in Atlans Griff. Der Arkonide erschrak und schrie auf. Aber es waren nur Grizzards Hände, die sich bewegten. Die Augen des ehemaligen Jägers waren geschlossen. Grizzards Finger schoben die Tücher zurück, die das verhüllten, was er wie einen unendlich kostbaren Schatz noch immer an sich preßte. Atlan sah den Widerschein eines unnatürlichen Lichtes auf den völlig ausdruckslosen Gesichtern der Dorkher. Er sah, wie sich ihre Augen nun in höchstem Entsetzen weiteten, wie violettes Feuer sich nur für Sekundenbruchteile in ihnen spiegelte, wie sie die Hände vor ihre Gesichter rissen und in Panik davonrannten. Atlan konnte nicht fassen, was geschah. Schreie zerrissen die Stille. Die Dorkher, die von ihren fliehenden Artgenossen umgerissen wurden, blieben am Boden liegen und versuchten, sich vor den Füßen der Fliehenden zu schützen. Für Augenblicke war der Bann, der sie beherrschte, von ihnen abgefallen. Atlan wartete nicht darauf, daß sich dies wieder änderte. Auch wenn er nichts begriff, sah er doch, daß der Weg für ihn und Razamon frei war. Er rannte am Pthorer vorbei, riß ihn mit der freien Hand mit und hielt Grizzard umklammert, als ob dieser die Leine wäre, die ihm ein unbekannter Retter zugeworfen hatte, um ihn aus dem alles verschlingenden Strudel zu ziehen.
8. Atlans Befürchtung, die Macht in der Kuppel würde die Dorkher zur Verfolgung zwingen, erfüllte sich zum Glück nicht. Die Bewohner des Dimensionsfahrstuhls, die sich jetzt noch vor dem Kristalldach befanden, nahmen ihre ursprünglichen Positionen wieder ein und warteten. Als Razamon und er knapp zweihundert Meter zwischen sich und die Dorkher gebracht hatten, blieb der Arkonide stehen. Razamon lief noch ein Stück in Richtung auf die Sternschiffe, hielt und winkte heftig. »Komm weiter! Wir sind nicht sicher!« »Das sind wir nirgendwo!« wehrte Atlan ab. »Ich will sehen, was geschieht!« »Du bist stur!« Razamon kehrte um, und ehe Atlan begriff, was er vorhatte, packte er ihn und hob ihn in die Höhe. Atlan wehrte sich, bis Grizzard, der nun ziemlich unsanft hin und her gerüttelt wurde, zu strampeln begann. »Laß mich los, du Narr!« »Ich denke nicht daran!« antwortete der Atlanter heftig. »Was du sehen willst, siehst du auch von der TZAIR aus! Du spürst noch immer nichts? Ich schon!« »Dann laß mich ʹrunter! Ich gehe ja mit!« Razamon setzte ihn ab, hielt ihn aber am Arm fest. Sie liefen weiter. Grizzard beruhigte sich wieder und klammerte sich an Atlan fest. Atlan stellte keine Fragen nach dem, was Razamon spürte, bis sie die TZAIR erreicht hatten. Erst in der Zentrale des Sternschiffs, als ein Bildschirm die Kuppel und die um sie herum stehenden Dorkher zeigte, sah er den Pthorer fordernd an. Grizzard stand auf unsicheren Beinen bei ihnen und hielt sich mit einer Hand an einer
Verstrebung fest. In der anderen hielt er seinen nun wieder umwickelten Schatz. »Sie werden hineingehen«, sagte Razamon. »Alle. Sie werden in diesen Augenblicken dafür vorbereitet.« »Wofür?« fragte Atlan erregt. »Worauf, Razamon?« Der Pthorer zuckte die Schultern, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Er tippte einige Tasten an, bis der Monitor einen Teil der Kuppel mit dem davor wartenden Wesen in starker Vergrößerung zeigte. »Ich weiß es nicht. Sie wissen es alle nicht. Aber sie werden dem Befehl folgen, und er wird bald kommen.« Leiser fügte er hinzu: »Sie wissen, daß sie nicht zurückkehren werden.« Grizzard stöhnte auf. Atlan sah, wie er sich unter Qualen wand, und führte ihn zu einem Sessel. Dafür, daß er aus seiner Starre erwacht war, konnte es nur eine Erklärung geben – die gleiche wie für die Panik unter den Dorkhern. Grizzard preßte den umwickelten Gegenstand wieder fest an seine Brust. »Gib es mir«, sagte Atlan, nachdem er wieder einen Blick auf den Bildschirm geworfen hatte. Grizzard starrte entsetzt auf seine ausgestreckte Hand. Dann wanderte sein Blick an Atlan nach oben, bis er dem Arkoniden in die Augen sah. »Gib es mir, Grizzard«, wiederholte Atlan. Grizzard bewegte die Lippen, wollte etwas sagen, aber er brachte keinen Ton hervor. »Das grelle Licht kam aus einer Kugel«, sagte Razamon, ohne sich umzudrehen. »Ich konnte es genau sehen. Es war, als ob …« Der Atlanter lachte trocken. »Aber das ist Unsinn.« »Was?« fragte Atlan, die Hand noch immer ausgestreckt. »Es war, als ob die Kugel die Impulse aus der Kuppel neutralisierte. Jedenfalls war es plötzlich still, wenn du verstehst, was ich meine. Die Dorkher müssen es viel später gespürt haben als ich.«
Atlan versuchte, in Grizzards Miene zu lesen. In seinen Augen sah er die blanke Angst. Angst davor, die Kugel zu verlieren? »Behalte sie«, sagte der Arkonide so ruhig wie möglich. »Niemand nimmt sie dir weg.« Ganz kurz leuchtete es in Grizzards Augen auf. Atlan zog die Hand zurück. Grizzard jetzt die Kugel abzunehmen, hätte womöglich seinen endgültigen Zusammenbruch bedeutet. Nur sie schützte ihn, wenn auch auf völlig unbegreifliche Weise, vor den Impulsen, die die Wände des Schiffes mühelos durchdrangen. »Jetzt tut sich etwas!« rief Razamon. »Es fängt an, Atlan!« Der Arkonide wagte nicht zu atmen, als er sich umdrehte und auf den Bildschirm sah. Ein kurzer Blick auf Razamon zeigte ihm, daß dieser wieder gegen das zu kämpfen hatte, was aus der Kuppel kam und nun nach den Dorkhern griff. * Hatte Atlan sich bis zu diesem Augenblick insgeheim noch die verzweifelte Hoffnung bewahrt, daß seine schlimmsten Vermutungen sich als unzutreffend erweisen würde, so erlosch diese Hoffnung jetzt, als er sah, wie die bisher stockdunklen Durchgänge zum Innern der Kristallkuppel leicht zu glühen begannen, als waberte hinter ihnen ein atomares Feuer. Atlan wußte es besser. Im Zentrum der Anlage befand sich inmitten von völlig ebenem Gelände ein in Stufen aufgeführtes Bauwerk mit kreisrunder Grundfläche. Es besaß keine Spitze, sondern eine Plattform mit einem tempelähnlichen Gebilde darauf, in dem sich die Mündung des Schachtes befand, der tief hinunter zur »Seele« von Dorkh führte. Atlan verscheuchte die Erinnerung an die Erlebnisse in der Kuppel. Auch den Gedanken, die Seelenwächter könnten für das,
was nun geschah, verantwortlich sein, wischte er beiseite. Die Dorkher würden in Kolonnen in die Kuppel marschieren und sich hoffnungslos im Labyrinth der tiefen Furchen verirren – falls sie überhaupt so weit kamen. Wie er erwartet hatte, erlosch das Glühen in den Durchgängen und wich einer natürlichen Helligkeit. Noch bewegten die Dorkher sich nicht. Atlan überlegte fieberhaft, ob er denn gar nichts für sie tun konnte. Warum waren sie übriggeblieben und nicht die Technos und Chreeans? Bot ihm die TZAIR keine Möglichkeit, jetzt, im letzten Moment, noch einzugreifen? Razamon mußte, bei allen Bemühungen, den fremden Einfluß von sich abzuwehren, die gleichen Gedanken gehabt haben. »Es wäre vielleicht das beste, die Kristallkugel zu zerstören«, sagte der Pthorer mit erschreckender Ruhe. »Ich bezweifle, daß uns das möglich wäre«, murmelte Atlan, dessen Nerven bis zum äußersten angespannt waren. »Die Sternschiffe müssen über Waffensysteme verfügen. Wir hätten die TZAIR gründlicher untersuchen sollen, als wir noch Zeit dazu hatten.« Atlan erschrak bei der Vorstellung, die sich ihm aufdrängte. »Sollten wir das Kristalldach und die Pyramide niederbrennen können, bedeutete das, daß womöglich die Seele des Dimensionsfahrstuhls beschädigt würde und wir wieder dort wären, wo wir angefangen haben.« Razamon nickte fast unmerklich, den Blick fest auf den Bildschirm vor ihm geheftet. »Es wäre das kleinere Übel.« Er sagte dies mit einer solchen Bestimmtheit, die keinen Zweifel mehr daran ließ, daß er wußte, was geschehen würde, nachdem die ersten Dorkher die Durchgänge passiert hatten. Razamon, der hartgesottene Berserker, der weder Tod noch Teufel fürchtete, zitterte am ganzen Leib!
»Sie gehen«, murmelte er. Atlan sah, wie sich das Licht in den Durchgängen erneut veränderte, geringfügig nur, aber nun waren Teile des stufenförmigen Bauwerks im Zentrum der Anlage zu sehen. In Gruppen setzten sich die Dorkher in Bewegung. Wieder mußte Atlan an Marionetten denken, als er sah, wie hölzern sie wirkten, als sie nun, ohne noch einmal zu halten, auf die Durchgänge zumarschierten. Als die erste Gruppe im hellen Licht des Eingangs verschwand, vor dem sie gewartet hatte, wußte er plötzlich, was geschehen würde. Seine schweißnassen Hände ballten sich wieder zu Fäusten. In ohnmächtigem Zorn stand er vor dem Bildschirm und wußte, daß er nichts, aber auch gar nichts mehr tun konnte, um die Katastrophe zu verhindern. Und er hätte es getan, wäre er dazu in der Lage gewesen. Er hätte alle Kanonen der TZAIR auf die Kristallkuppel abgefeuert, selbst auf die Gefahr hin, die Dorkher zu töten. Es wäre ein schnelles gnädigeres Ende für sie gewesen. Atemlos, verzweifelt und bebend vor Zorn beobachtete er, wie das Verhängnis seinen Lauf nahm. * Grizzard hörte den Ruf. Er war einer der Tausende, die sich jetzt in Bewegung setzten und ihm folgten, um die Erfüllung ihres bisher so sinnlosen Lebens zu finden. Im Geiste war er bei ihnen, näherte sich der Kristallkugel und trat in den hellerleuchteten Durchgang. Ein Teil seines Bewußtseins sehnte die versprochene Erfüllung herbei. Der andere sträubte sich mit aller Kraft dagegen. Je stärker die Impulse aus der Kuppel wurden, desto stärker wurden auch die wispernden Stimmen aus der Kugel, obwohl Grizzard sie nach wie vor verhüllt hielt.
Er verstand die Stimmen immer noch nicht. Sie riefen ihm nicht zu: »Kehre um! Geh nicht mit den anderen!« Ebensowenig hatten sie ihn direkt veranlaßt, die Tücher um die Kugel herum zur Seite zu schieben, als Atlan, Razamon und er von allen Seiten her bedrängt wurden. Daran hatte er so gut wie keine Erinnerung. Irgend etwas aus der Kugel beeinflußte ihn tief in seinem Unterbewußtsein. Nur so wurde ein Gleichgewicht in ihm geschaffen, das ihn vor dem Wahnsinn bewahrte. Er spürte die Wärme in sich, die ihm die Ruhe gab, die er brauchte, um nicht zu zerbrechen – und das im wahrsten Sinn des Wortes. Niemand durfte ihm diese Wärme nehmen. Auch Atlan nicht. Grizzard wußte, daß er es wieder versuchen würde, wenn alles vorüber war. Niemand durfte sie von ihm nehmen. Sie war das letzte, das er hatte. Grizzard bäumte sich auf. In diesem Augenblick starben die ersten Opfer. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 470 von König von Atlantis mit: Schrecken ohne Ende von Horst Hoffmann