NEUES FORUM FÜR ALLGEMEINE UND VERGLEICHENDE LITERATURWISS EN SCHAFT
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NEUES FORUM FÜR ALLGEMEINE UND VERGLEICHENDE LITERATURWISS EN SCHAFT
Herausgegeben von Horst-Jürgen Gerigk Maria Moog-Grünewald Band 16
APOKALYPSE Der Anfang im Ende Herausgegeben von MARIA MOOG-GRÜNEWALD VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN
Universitätsverlag WINTER
Heidelberg
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
UMSCHLAGBILD
Odilon Redon, Der Engel, der den Satan für
ISBN
1000
Jahre binden wird.
3-8253-1293-3
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2003 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprime en Allemagne· Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag-hd.de
INHALT
V ORBEMER.K.UNG ..........................................................................
VII
GÜNTER BADER: Aedificans Hierusalern Dominus - Über die Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse ...
1
JOHANNES HOFF: Annäherung an die ,Apokalypse' ausgehend von Derridas Lektüre der Offenbarung des ,Johannes' ........................
15
MARIA MOOG-GRÜNEWALD: Conversio - Zu einem ,apokalyptisch' figurierten Topos autobiographischen Schreibens ..............
37
HOLT MEYER: Mariographisch-apokalyptische Techniken im Bayern und Polen des 17. Jahrhunderts.............. ................. .. . ...
61
VERENA LOBSIEN: Multi per transibunt, oder: das versprochene Ende - Inszenierungen frühneuzeitlicher Apokalyptik in Shakespeares King Lear . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
103
ROBERT ANDRE: "Und weit, wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht" - Hölderlin liest Johannes in Patmos ............................
129
HEINZ J. DRÜGH: Entblößung, Unterbrechung, Verfremdung Die Struktur der Apokalypse in Adalbert Stifters Prosa ................
157
MICHAEL PADEN: Apokalyptiker, Utopisten und die Propheten des Pessimismus - Geschichtsphilosophie und Ästhetizismus um die Jahrhunderwende ......................................................................
181
DOERTE BISCHOFF: Krieger, Mütter, Cyborgs - Apokalypse und Geschlechterperformanz im Diskurs um den Ersten Weltkrieg....
203
TIM MEHIGAN: "Ordentliche Kunst" - Zum Motiv der Apokalypse in Goethes Wahlverwandtschaften und Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall.....................................................................
231
DETLEF KREMER: Ohne Ende - Virtuelle Apokalypse im zeitgenössischen Film: Godard, Greenaway, Kubrik, Lynch ........
245
BURKHARD MEYER-SICKENDIEK: Der Untergang des Fe~ischismus - Zum biblischen Subtext zweier moderner Endzeiterzählungen: Heart oJDarkness und Apocalypse Now ..........................................
259
ANDREA GEIER: Problematische Apokalypse - Modelle von Ideologiekritik und Sinnstiftung bei Ulla Berkewicz und Anne Duden .......................................................................................
279
BETTINE MENKE: Pol-Apokalypsen, die Enden der Welt - Im Gewirr der Spuren .....................................................................
311
VORBEMERKUNG
Dem Chor derjenigen, die durch Kolloquien, Ausstellungen, Features, Happenings und andere Festivitäten der mit chiliastischer Signifikanz aufgeladenen Jahrtausendwende ihren schnellebigen Tribut gezollt haben, eine weitere - verspätete - Stimme beizugesellen, ist nicht primäre Absicht des vorliegenden Bandes. Viehnehr ist es die Intention, ,Apokalypse' als eine basale Denk- und Argumentationsfigur herauszustellen, als Konfiguration, die die abendländische Kultur in herausragendem Maße prägt. Im ästhetischliterarischen Bereich erscheint seit der Spätantike, vermehrt seit der Frühen Neuzeit und afortiori in der Moderne ,Apokalypse' vielfach als Thema, Motiv und Topost, zugleich aber und vor allem auch als Struktur: die ,apokalyptische' Struktur ist gekennzeichnet von der Setzung des absolut Anderen, des radikal Neuen unter der Voraussetzung der Nichtung des Alten. In anthropologischer Hinsicht hat -lange vor Ernst Bloch - Pico della Mirandola 2 die adäquate Formel gefunden: Der Mensch ist, was er noch nie war und was er werden will. Descartes wird seinerseits von diesem Konzept einer radikalen Voraussetzungslosigkeit seine ,Methode' ableiten und in ihm das erkenntnistheoretische Cogito gründen. Und spätestens die Kunst des 19. und des 20. Jahrhunderts präsentiert das ästhetische Analogon. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts vermeinten, die auch nun deutlich die Politik, Ökonomie und Technik beherrschende Gesetzmäßigkeit des fortgesetzten gründungsfreien Neuanfangs durchbrechen zu können, und bemerkten doch nicht ihre Korrelation: ,Apokalypse' wurde zu einem geradezu ubiquitären Strukturelement moderner Kunst und Literatur3 ; ihr Signum ist die ,Wendung' (Katastrophe) in ein Noch-Nicht auf dem Grund eines Nicht-Mehr. Modell ist - wie absichtsvoll auch immer - die Apokalyptik, jene große und bis in früheste Zeiten reichende literarische Gattung der Apokalypsen, in denen Vorstellungen von den Ereignissen des Welt-Endes, näherhin des Weltgerichts und der neuen Erde und des neuen Himmels, in mythischVgl. dazu aus der Fülle: Apokalypse - Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon, Frankfurt a. M. 1986; Paul Konrad Kurz: Apokalyptische Zeit - Zur Literatur der mittleren 80er Jahre, Frankfurt a. M. 1987; Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988; Untergangsphantasien, hg. von Johannes Cremerius u.a., Würzburg 1989 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 8); Poesie der AjJOkalypse, hg. von Gerhard R. Kaiser, Würzburg 1991; Rainer Rotermundt:Jedes Ende ist ein Anfang - A'1.ffassungen vom Ende der Geschichte, Darmstadt 1994; Apocalypse, ed. by Fritz Gysin, Tübingen 1999. In De dignitate hominis. Siehe dazu insbesondere Angela Jurkat: Apokalypse - Endzeitstimmung in Kunst und Literatur des Expressionismus, Alfter 1993.
viii
Vorbemerkung
phantastischen Bildern zum Austrag kommen. Apokalypse meint im Wortverständnis - nicht oder nicht nur ,Weltuntergang'4, sondern Enthüllung. Als Enthüllung ist sie Offenbarung von ,Eigentlichem', ist sie endgültige Unterscheidung von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Gerechtigkeit und Unrecht. Zugleich wird diese Differenz sichtbar gemacht im Jüngsten Gericht, das das Versprechen einer ewigen Einrichtung einer neuen Ordnung enthält. Paradigma par excellence ist die Offenbarung des J ohannes. Auch den prophetischen Büchern des Alten Testaments liegt diese Denkfigur zugrunde. Allerdings ist hier in der theologischen Konkretion nicht nur eine utopische Imagination herausgefordert, vielmehr geht es darum, die Vorstellung des Neuen als eines ethisch wie ästhetisch Unüberbietbaren - eben nicht nur als dies irae, sondern zugleich als eines Jüngsten Tages' - erfahrbar zu machen. Von Interesse ist nun, daß die Kunst und Literatur insbesondere der Moderne - verstanden als longue dun~e - sich die primär eschatologischgeschichtsphilosophische Denkfigur zu eigen gemacht hat in einer erneuten ,Wendung': vom Ethischen ins Ästhetische. Der ,apokalyptische' Modus wird reflektiert als Textstruktur, die ihrerseits motiviert sein kann durch das Thema resp. den Topos der ,Apokalypse '5. Doch wesentlich ist, daß die ,apokalyptische' Konfiguration zum Ermöglichungsgrund einer Literatur und Kunst wird, die jegliche Referentialität zugunsten einer Autopoiesis aufzuheben intendiert, die - mit anderen Worten - das Eschaton ästhetisch immanentisiert und damit in seiner Negativität positiviert. Gemeint sind e.g. jene nur vordergründig ikonoklastischen Tendenzen avantgardistischer Kunst, die gekennzeichnet sind von einer Komplementarität der Destruktion und Konstruktion, aber auch - gemäßigter - jene poietischen Findungen, die sich einer radikalen Sprachskepsis verdanken und nicht selten das sprachliche Medium ins Pikturale oder Musikalische zu transgredieren suchen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes thematisieren ,Apokalypse' im Alten und Neuen Testament, sie weisen insbesondere ,Apokalypse' als Thema und Struktur in Texten der Spätantike, der Frühen Neuzeit und der Moderne aus, und sie zeigen, daß vornehmlich die Literatur der Moderne gekennzeichnet ist durch die ästhetische Reflexion der ,Apokalypse': es ist die ,apokalyptische' Konfiguration, die zu einem Merkmal moderner Kunst wird.
4
Bezeichnend daftir der Titel der Züricher Ausstellung sowie des gleichnamigen von Ernst Halter und Martin Müller besorgten Bandes Der Weltuntergang, Zürich 1999. Herausragendes Beispiel ist die Literatur der sog. ,Decadence'. Vgl. dazu Maria MoogGrünewald: Poetik der Decadence - Eine Poetik der Moderne, in: Fin de siede, hg. von Rainer Warning und Winfried Wehle, München 2002 (= Romanistisches Kolloquium), 165-194.
Vorbemerkung
ix
Es ist faszinierend zu sehen, daß das, was zu einem Merkmal der Moderne geworden ist, bereits dem herausragenden biblischen Text der JohannesApokalypse eignet. Durchaus nach einhelliger Meinung findet die Apokalypse des Johannes ihren Höhepunkt in der Herabkunft des neuenJerusalem. Keine der alten Überlieferungen vom himmlischen J erusalem ist ausführlicher als diese. Doch - so die ingeniöse Einsicht des Beitrags Aedificans Hierusalem
Dominus - Über die Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse von GÜNTER BADER: während im Text diese Herabkunft als ein Erbautwerden der Stadt durch Gott beschrieben wird, geschieht bei näherer Betrachtung vor allem dieses: Ein Text breitet sich aus und gewinnt durch die Beschreibung Struktur. Dies gibt Anlaß, die spezifische Textur der Apokalypse und deren Verhältnis zur göttlichen Architektur zu bedenken. Der Beitrag von JOHANNES HOFF, Annäherung an die ,Apokalypse' ausgehend von Derridas Lektüre der Offenbarung des Johannes', zeigt seinerseits am Beispiel des Textes Gesetzeskraft von Jacques Derrida, daß die apokalyptische Vorstellung einer bedingungslosen Gerechtigkeit von einer tiefen Ambivalenz geprägt ist: Sie befindet sich in Gefahr, politisch funktionalisiert zu werden; gäbe man allerdings diese Vorstellung ganz auf, dann würde man den "Wert des Menschen" (Derrida) verraten. In Auseinandersetzung mit Schriften von Kant und Benjamin, die von dieser Ambivalenz geprägt sind, zeigt Derrida darüber hinaus, daß sich das ,Apokalyptische' nicht als bloße Textgattung bestimmen läßt, vielmehr eine grundlegende ,Krisenhaftigkeit der Sprache' selbst bezeichnet. Ein für das autobiographische Schreiben konstitutiver Modus ,eschatologisch-apokalyptischer' Konfiguration ist die ,Conversio', das lateinische Äquivalent von gr. ,epistrophe' resp. ,metanoia'. MARIA MOOG-GRÜNEWALD weist in ihrem Beitrag Conversio - Zu einem ,apokalyptisch ( figurierten Modus autobiographischen Schreibens am Beispiel der autobiographischen Schriften von Sartre, Augustinus und Rousseau nach, daß die ,Conversio' die Figur par excellence ist, die auf der Ebene de.s Dargestellten wie des Darstellens die textuelle Konstitution einer Ich-Identität, primäre Raison d'etre der Autobiographie, erst ermöglicht, und dies in einer spezifischen Wendung vom Theologisch-Philosophische ins Ästhetische. Gegenstand des Beitrags von HOLT MEYER, Mariographisch-apokalyptische Techniken im Bayern und Polen des 17. Jahrhunderts, sind barocke Darstellungen der Apokalyptischen Frau aus Apk. 12, die immer auch mit Blick auf die Jungfrau Maria gedeutet wurde. Am Beispiel u.a. von Rubens' Gemälde Die apokalyptische Frau, der Münchner Mariensäule und dem Jungfrauengarten Wespazjan Kochowskis werden Techniken und Strategien der medialen Repräsentation der Bibelstelle untersucht. Dabei geht es besonders um die
x
Vorbemerkung
Spannung, die sich aus der ästhetischen Entpragmatisierung der ursprünglich aus rituellen Kontexten stammenden mariographisch-apokalyptischen Ikonographie ergibt. Im Unterschied zu zeitgenössischen Pragmatisierungen der Apokalypse verzichtet Shakespeares King Lear auf jede Vorstellung eines wie auch immer gearteten Neuanfangs. In ihrem Beitrag Multi pertransibungt, oder: das ver-
sprochene Ende - Inszenierungen Jrühneuzeitlicher Apokalyptik in Shakespeares "King Lear((, zeigt VERENA LOBSIEN, daß das Drama zwar bestimmte Strukturen des apokalyptischen Diskurses aufgreift, sich jedoch auf allen Ebenen seiner Konstitution weigert, Verborgenes zu offenbaren und es damit zur chiliastischen Pragmatisierung freizugeben. Dessen unbeschadet transformiert Shakespeare apokalyptische Themen in textuelle Verfahren. Er läßt zum einen Weltuntergangsszenarien zu subjektiven Wahnvorstellungen werden und demonstriert andererseits, daß die apokalyptischen Zeichen, die das Ende zu versprechen scheinen, unzuverlässig sind, weil die Evidenzen trügen, res und verba sich trennen. So werden die Zeichen disponibel, während das Jenseits, von dem sie sprechen, der Verfiigbarkeit entzogen wird. Hölderlin wiederum unterscheidet in dem Gedicht Patmos die unmittelbare von der immer nur vermittelten Offenbarung, die sich aus den Deutungen der Heiligen Schrift ergeben kann. Die Analyse ROBERT ANDREs, "Und
weit, wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht(( - Hölderlin liest Johannes in "Patmos((, kann evidenzieren, daß letztere Form der Offenbarung eine systematisch bedingte Ungewißheit und Gefahr mit sich fuhrt: Im Deuten überläßt sich das Subjekt den unvorhersehbaren Wegen der Lektüre; ob aber die Deutung am Ende ihr Ziel erreicht oder ob sie vielleicht nur zu einem jähen Abbruch fuhrt, bleibt ungewiß. Patmos reflektiert diese Problematik der deutenden Offenbarung und die Ambiguität ihres Endes. Stifters Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 steht nicht nur wegen einiger von dort übernommener Formulierungen in enger Beziehung zur Offenbarung des Johannes, sondern vor allem, weil die ambivalente Struktur dieses Textes auch Stifters Prosaskizze prägt. Die Ausfuhrungen von HEINZ J. DRÜGH unter dem Titel Entbliif3ung, Unterbrechung, Verfremdung - Die Struktur der Apokalypse in Adalbert Stifters Prosa legen dar, daß die apokalyptische Epiphanie des erwarteten Ereignisses nur als Effekt ästhetischer Verfahren, die das Eintreten des Ereignisses verschieben, zur Darstellung kommen kann. In der Reflexion auf diesen Sachverhalt wird Stifters Beschreibung selbstreferentiell und stellt ihre Verfahren und ihre Schriftlichkeit aus. Stifters neuerdings oft bemerkte Modernität wird als Resultat dieser ,apokalyptischen' Struktur kenntlich gemacht - eine Beobachtung die in einem Überblick über das Spätwerk profiliert wird. In der Zeit zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg gewinnen apokalyptische Vorstellungen in Philosophie und Literatur an
Vorbemerkung
xi
Bedeutung. Diese Entwicklungen beschreibt und erläutert der Beitrag von MICHAEL P AUEN, Apokalyptiker, Utopisten und die Propheten des Pessimismus Geschichtsphilosophie und Ästhetizismus um die]ahrhundertwende, im Vergleich mit geschichtsphilosophischen Entwürfen der Aufklärung und des Idealismus. Sind diese durch den Glauben an eine Rationalität der Geschichte geprägt, so betonen die Apokalyptiker deren radikale Sinnlosigkeit. Dies ermöglicht ihnen eine Berücksichtigung des individuellen Leids, das nicht mehr aus der Perspektive einer höheren Vernunft legitimiert wird, sondern nur durch einen radikalen Umbruch beendet werden könnte. Der Erste Weltkrieg ist auch der Fokus des Beitrags von DOERTE BISCHOFF, Krieger, Mütter, Cyborgs: Apokalypse und Geschlechtetpeiformanz im Diskurs um den Ersten Weltkrieg. Bereits die Zeitgenossen erkannten den Ersten Weltkrieg als radikalen Umbruch und Neuanfang, verkörperte er doch das Phantasma einer zivilisatorischen Neugeburt aus dem Geist der Technik. Mit dieser apokalyptischen Auffassung des Krieges geht eine Recodierung des Weiblichen einher: So wird die Mutter mit Tapferkeit und Stärke assoziiert und enthält ,männliche' Merkmale. Dadurch werden die Geschlechterrollen in ihrer Perfonnativität bewußt. Das Weibliche steht daher nicht mehr als naturhaftes Substrat männlicher Symbolisierung zur Verfügung - diese wird vielmehr entgrenzt und unkontrollierbar, wo sich ihr das wesenhaft Andere entzieht. Diese Entwicklungen werden anhand von Kar! Kraus' Die letzten Tage der Menscheit und Arnold Zweigs]unge Frau von 1914 reflektiert. Der Beitrag von TIM MEHIGAN, "Ordentliche Kunst((: Zum Motiv der
Apokalypse in Goethes "Wahlverwandtschaften (( und Thomas Bernhards "Ausläschung. Ein Zeifall((, kontrastiert Goethes Wahlverwandtschaften mit Bernhards Roman Die Ausläschung und fragt nach der beiden Romanen immanenten ,Logik des Endens'. Goethes Wahlverwandtschaften stellen ein Experiment dar, das zunächst von einem positiven Konstruktionswillen ausgeht, indem es den Nachweis der Identität von Kultur und Natur erbringen möchte. Doch am Ende erweist sich der Versuch, eine ganzheitliche Ordnung zu stiften, als tödlich - der Ordnungswille der Kunst siegt über das Leben und löscht es aus. Hieran anknüpfend setzt Thomas Bernhard dem Goetheschen Kunstbegriff einen destruktiven Gestus entgegen: Die Ausläschung beabsichtigt eine gänzliche Zerstörung aller Traditionen, die auf die Idealität der Kunst abzielen. Bernhard steht damit insofern in der Tradition der Apokalypse, als diese Zerstörung die Gewinnung eines neuen Kunstbegriffs intendiert, der die Endlichkeit der menschlichen Existenz radikal zur Anschauung bringen soll. Der Ort der Apokalypse in der Gegenwart ist die Kunst: Während religiöse Endzeiterwartungen heute kaum noch von Bedeutung sind, wird das Szenario von Untergang und Auferstehung ästhetisch inszeniert. Wie der Beitrag von DETLEF KREMER, Ohne Ende - Virtuelle Apokalypsen im zeitgenässi-
xii
Vorbemerkung
schen Film: Godard - Greenaway - Kubrick - Lynch, zeigt, geschieht dies besonders im zeitgenössischen Film. Die apokalyptische Defonnation alles Bestehenden findet in der Fonnsprache des Films ihr Widerlager. In den Filmen von Lynch, Godard, Kubrick oder Greenaway wird oft der, totale Untergang heraufbeschworen, der sich aber immer nur virtuell ereignen kann. Das Ende wird durch seine Darstellung aufgeschoben. Zu den dämonischen Gegenspielern Gottes gehören in der Apokalyptik die Dämonen und Götzen, deren totale Vernichtung versprochen wird. Insofern läßt sich die Apokalypse als gewaltsamer Akt der Zerstörung einer als fetischistisch beschreibbaren Religiosität durch den monotheistischen Glauben verstehen. Wie der Beitrag von BURKHARD MEYER-SICKENDIEK, Der
Untergang des Fetischismus - Zum biblischen Subtext zweier moderner Endzeiterzählungen: "Heart qf Darkness{( und "Apocalypse Now({ zu erhellen vennag, macht sich Joseph Conrads Novelle Heart qf Darkness dieses Schema in ambivalenter Weise zu eigen: Einerseits weist Conrad fetischistische Elemente in der venneintlich zivilisierten eigenen Kultur auf, andererseits wird der Untergang der kongolesischen Ureinwohner und ihrer Fonn des Kultes von den Protagonisten herbeigesehnt. Der diesem Dualismus von Fetischismus und Vernunft inhärente Rassismus wird in Francis Ford Coppolas filmischer Verarbeitung Apocalypse now durch eine radikale Ästhetisierung der Gewalt vermieden. Als ,Modelle von Ideologiekritik und Sinnstiftung' liest ANDREA GEIER die Erzählungen Michel} sag ich von Ulla Berkewicz und Übergang von Anne Duden. Die Erzählungen nehmen jeweils Elemente aus dem topischen Inventar der ,Apokalypse ' -Vorstellungen auf und aktualisieren sie. In Michel} sag ich wird das revolutionäre Geschehen nach dem apokalyptischen Schema von Untergang und Erneuerung gedeutet, zugleich aber das Schema selbst reflektiert und unterminiert. Dagegen fungiert in Übergang die Apokalypse als Erklärungsmuster fur einen katastrophischen Geschichtsverlauf, was eine problematische Sinnstiftung fiir den Holocaust impliziert. Überraschendes fordert der Beitrag von BETTINE MENKE, Pol-Apokalypsen} die Enden der Welt - Im Gewirr der Spuren zutage, insofern er plausibilisiert, daß selbst das Phantasma der Polarfahrten eine apokalyptische Struktur besitzt: Solange die Pole noch unentdeckt waren, konnten sie als der Ort gelten, an dem alle Zeichen und Spuren an ihr Ende gekommen sind. Mit diesem Ende der Welt verbindet sich die Vorstellung, an den unentdeckten Polen würde sich eine neue oder unbekannte Welt enthüllen. Doch zugleich bleiben die literarischen Gestaltungen dieses Phantasmas auf die intertextuellen Vor-Fahren verwiesen. So entfaltet sich eine paradoxe Struktur, in der das Ende als Anfang immer nur in der Weise des Aufschubs gedacht werden kann.
Vorbemerkung
xiii
Die vorliegenden Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die vom 16. -18. März 2000 im Rahmen eines Symposions des Tübinger Graduiertenkollegs
PragmatisierungjEntpragmatisierung - Literatur im Spannungsjeld autonomer und heteronomer Bestimmungen gehalten wurden. Hinsichtlich des Rahmenthemas des Kollegs scheint Apokalypse - ob nach einzelmenschlichem Maßstab oder als Weltgeschehen gedacht - auf den ersten Blick Tenninus einer unüberbietbaren Entpragmatisierung, Ende und Bruch jeglichen Handlungszwecks, Aussetzungjeglicher funktionaler Kontinuität. Auf den zweiten Blick wird eine Dialektik sichtbar, die diese Absolutheit subvertiert und der potentiellen Refunktionalisierung, gar simultan zu der ihr gegenläufigen Geste, zuarbeitet. Ist doch die apokalyptische Verneinung zweige sichtig in der Gleichzeitigkeit von (entpragmatisierender ) Destruktion und (potentiell repragmatisierender) Konstruktion. Diese dialektische Figur wurde im Rahmen des Kollegs bereits anderweitig offengelegt, so im Hinblick auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik, die Korrelation von Kontingenz und Ordo in der Narrativik, die spezifische Verwiesenheit von Bild und Text. 6 Bei der technischen Einrichtung und bei der sachverständigen Lektoriemng der Beiträge des Bandes haben Anke Kramer, M.A. und Dr. Steifen Schneider mit äußerstem Engagement und in souveräner Kompetenz mitgewirkt. Ihnen sei dafür sehr herzlich gedankt. Tübingen und Berlin, im Dezember 2002
6
DIE HERAUSGEBERlNNEN
Vgl. Etho-Poietik - Ethik und Asthetik im Dialog: Erwartungen, Forderungen, Abgrenzungen, hg. von Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald, Bonn 1998; Kontingenz tmd Ordo - Selbstbegründung des Erziihlens in der Neuzeit, hg. von Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2000; Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, hg. von Heinz]. Drügh und Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2001.
Günter Bader
n,n" C~rl1'i" n~':J iEDIFICANS HIERUSALEM DOMINUS
Über die Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse Während das irdische Jerusalem; dieser Zankapfel, nach Worten des Psalters, die von ferne in den Ohren klingen, eine Stadt ist, "in der man zusammenkommen soll" (Ps. 122,3), und der einer Etymologie zufolge gewünscht wird: "Es möge Friede sein in deinen Mauern/ und Glück in deinen Palästen!" (Ps. 122,7), habe ich bei meinen Ausfuhrungen zur himmlischen Stadt gleichen N amens, die wahrscheinlich für den Ort eines viel untrüglicheren, da ewigen Friedens gehalten werden dürfte, allen Anlaß zur Furcht, nichts als Streit zu stiften. Bei diesem Thema an sich schon in der Gefahr, mich anzulegen mit Apokalyptikern und Kennern der Apokalyptik, mit Theologen und solchen, die die Theologie ganz genau verstehen, bin ich jetzt vollends drauf und dran, es mit den Kennern der bonae litterae zu verderben. Um den Schaden im vielseitigen Verstreitungszwang so kalkulierbar wie möglich zu halten, werde ich, in der Hoffnung, zur Sache wenigstens eine Bemerkung zuwege zu bringen, mit zwei Vorbemerkungen beginnen, wobei die endliche Bemerkung den Umfang einer Vorbemerkung um nicht viel übersteigen wird. Schon lange wollte ich dem Himmlischen J erusalem gern ein paar Worte widmen. Wer wollte nicht? Das Verlangen der Frommen gilt - ich weiß nicht warum - der "hochgebauten Stadt"l. Aber das Wenige, was dazu ausgeführt werden kann, darf nicht ohne Vorbereitung sein. 1. Vorbemerkung: Was ist Apokalypse?
Zunächst soll- in Aufuahme ~on Trends der zeitgenössischen Apokalyptikforschung 2 - unterschieden werden zwischen Apokalyptik und Apokalypsen.
Evangelisches Gesangbuch, Stuttgart 1996, Nr. 150. Originalfassung bei Erich Trunz: Johann Matthiius Meyfart - Theologe und Schrtftsteller in der Zeit des Dretßigjiihrigen Krieges, München 1987, Taf 30. Außerdem: Waltraut-Ingeborg Sauer-Geppert: Jerusalem, du hochgebaute Stadt ... - Ein quellenkritischer Vergleich, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung (FS Fritz Tschirch), hg. von Karl-Heinz Schirmer und Bernhard Sowinski, Köln und Wien 1972,249-263; Johann Anselm Steiger: Rhetorica sacra Seil biblica - Johann Matthä'us Meyfart (1590-1642) lind die D~fizite der heutigen rhetori;chen Homiletik, in: Zeitschrißfiir Theologie lind Kirche 92 (1995), 517-558. Stefan Beyede: Die Wiederentdeckung der Apokalyptik in den Schrt.ften Altisraels und des Frii~;udentums, in: Verkiindigung und Forschung 43, Gütersloh 1998, 34-59, 37ff.; ders.: Von der Löwengmbe ins himmlische Jemsalem - EnJlcigungen zur Jiidischen Apokalyptik, in: Glaube lind Lernen 14, Göttingen
2
Günter Bader
Wenn dies geschehen ist, steht der Weg von den Apokalypsen zu der Apokalypse erst noch bevor. ,Apokalyptik' - ein Tenninus des 19. Jahrhunderts 3 - ist eine Sammelbezeichnung fur diverse apokalyptische Vorstellungen, Bilder und Gedanken, insbesondere aber fur die möglichst kohärente Zusammenstellung solcher Gedanken. Der Terminus wird speziell gebraucht im Blick auf gewisse Milieus des Frühjudentums und Frühchristentums rund um die Zeitwende, dann aber auch generell weit über diese Epoche hinaus. Apokalyptisches Material erscheint auf den ersten Blick verwirrend, kraus, bizarr, vor allem ohne sammelnde Einheit. Doch bei näherer Hinsicht zeigt sich mit einer gewissen Gleichförmigkeit ein ganz bestimmter Kreis von Themen. Dazu gehören: Determination des Geschichtsverlaufs und unmittelbare Erwartung des Endes aller Dinge, Universalismus der Weltsicht bei besonderer Aufmerksamkeit fiir das individuelle Schicksal, Weltpessimismus und J enseitshoffnung. 4 Sämtliche Einzelthemen berühren sich schließlich in dem einen, das alle umfaßt: im eschatologischen Dualismus der Zwei-Äonen-Lehre. Darin erkennt man "das wesentlichste inhaltliche Merkmal der Apokalyptik"s. Dieser und der kommende Äon: dieser bald vollends vergehend, dagegen der kommende ganz und gar jenseitig, ohne Übergang zur bisherigen Welt. Das 20. Jahrhundert, das sich zumindest aus der Perspektive der Theologie häufig als Jahrhundert der Wiederentdeckung der Apokalyptik verstand, hat hierzu divergierende Interpretationsmodelle entworfen. Einerseits das Plädoyer fiir konsequente Entmythologisierung der befremdenden apokalyptischen Vorstellungen, wozu gehören: Auferstehung der Toten, Wiederkehr Christi, Jüngstes Gericht, Weltbrand und Entrückung der Übrigbleibenden durch die Luft. Anstößig erschien dabei immer das Grobe und Vorstellungshafte. 6 1999,23-34. - Herrn Privatdozent Dr. Stefan Beyerle bin ich für freundlich gewährten Rat sehr zu Dank verbunden. Nach der Prägung durch earl Inmlanuel Nitzsch (Bericht an die Mitglieder des Rehkop.fSchet1 PredigerVereins über die Verhandlunget1 vom Jahre 1820, Wittenberg 1822, 29-35) hat Friedrich Lücke den Terminus "Apokalyptik" in die Wissenschaftssprache eingeführt (Commentar über die Schriften des EvangelistenJohannes lVI1 - Versuch einer vollständiget1 Einleittmg in die QtfenbarungJohannis und in die gesammte apokalyptische Litteratur, Bonn 11832, ix). Dazu Werner Zager: Begr(ff und Wertung der Apokal]lptik in der neutestamet1tlichen Forschung (EHS XXIII/358), Frankfurt a. M. 1989, 21-40. Philipp Vielhauer: Apokalypset1 lind VeruJandtes, in: Neutestamentliche Apokryphen II, hg. von Edgar Hennecke und Wilhelm Schneemelcher, Tübingen 31964, 407-427; auszugsweise wiederabgedruckt in: Apokal]lptik, hg. von Klaus Koch und Johann Michael Schmidt, (WdF 365) Darmstadt 1982, 403-439. Vielhauer gliedert die "Vorstellungswelt" der Apokalyptik in 1. Zwei-Äonen-Lehre, 2. Pessimismus und Jenseitshoffuung, 3. Universalismus und Individualismus, 4. Determinismus und Naherwartung, 5. Uneinheitlichkeit (ebd., 408-417 bzw. 403-411). Ebd., 413 bzw. 405. Rudolf Buhmann: Neues Testament und MJ'thologie - Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: ders., Qtfenbanmg und Heilsgeschehen (BEvTh 7), München 1941,27-69; wiederabgedruckt in: Kerygma lind Mythos, hg. von Hans-Werner Bartsch (ThF 1) I, Hamburg 11948, 51967, 15-53; Neuausgabe (BEvTh 96) München 1985. Ferner ders.: Jews
Aedificans Hierusalem·Dominus
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Andererseits die Bewillkommnung der Apokalyptik als hervorragendes Paradigma rur existentiale7 oder geschichtstheologische 8 Entwürfe, die in der These gipfeln, die Apokalyptik sei "die Mutter aller christlichen Theologie"9. Das Problem von Apokalyptik im Aggregatzustand bloßer Vorstellung ist ihre Flüchtigkeit. Vorstellungen kommen und gehen. Was gibt ihnen Halt? Worin materialisieren sie sich? Hierauf antwortet das zweite Stichwort. Apokalyptik materialisiert sich in Apokalypsen. ,Apokalypse' - ein Tenninus ·des ersten christlichen Jahrhunderts lO - wird meist als literarische Gattung verstanden. Hierzu bedarf es literarischer Kriterien. Apokalypsen sind identifizierbar durch gewisse Formen wie Pseudepigraphie, Himmelsreise, Visionsbericht, Geschichtsbericht (als vaticinium ex eventu). Oder der Auftritt von Heils- und Offenbarungsmittlern, von Messias und Engeln gilt als apokalyptisches Signal. Was sind Apokalypsen? Die Antwort, die zur Diskussion gestellt wird, durchläuft in definitorischer Absicht eine ganze Abstraktionshierarchie von oben bis unten und vollzieht den Spagat von Text überhaupt bis zum letzten Sub text so: Apokalypsen sind, was die ,Schreibweise' anlangt, Texte der narrativen Art, was den ,Texttyp' betrifft, so gehören sie zur Offenbarungsliteratur, und unter den mannigfaltigen ,Gattungen' von Offenbarungsliteratur - Prophetie, Weisheit, Mantik, Orakel - ist schließlich die Apokalypse eine, die dann ihrerseits ,Untergattungen' wie die erwähnten kleineren Formen umfaßt. 11 Aber man darf wohl Zweifel in die Aussagekraft eines solchen scholastischen Definitionsverfahrens nach genus und difforentia specifica setzen. Seine solenne Leere fuhrt immer in die Gefahr, letztlich nicht mehr gesagt zu haben als: Apokalypsen sind Literatur überhaupt, und dies klingt nicht sonderlich originell. Es wäre die Frage zu klären: Wie gelangt man von Schreiben überhaupt, diesem ungefähren Kennzeichen von Literatur, zum Schreiben von Apokalypsen? Die vorgeschlagene Definition läßt den Zusammenhang von
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Christus und die Mythologie, Hamburg 1964; wiederabgedruckt in: ders., Glaube und Verstehen N, Tübingen 11965, 31975,141-189. Ulrich H.J. Körtner: Weltangst und Weitende - Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988; ders.: Die Entdeckung der Endlichkeit - Zur theologischen Herau~fordertmg apokalyptischen Denkens an derjahrtausendwende, in: Glaube und Lernen 14 (1999),35-46. Qtfenbanmg als Geschichte, hg. von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 11961, 51982; ders.: Gnmdzüge der Christologie, Gütersloh 1964. Ernst Käsemann: Die Anfinge christlicher Theologie, in: Zeitschriftfiir Theologie und Kirche 57 (1960), 162-185; wiederabgedruckt in: ders., Exegetische Versuche und Besinmmgen II, Göttingen 11964, 31970,82-104, hier 100. Morton Smith: On the History 01 AIJOKAA YIJTil and AIJOKAA Y'PII, in: Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near Bast - Proceedings C!f the International Colloquium on Apocalypticism Uppsala, August 12-17,1979, ed. byDavidHellholm, Tübingen 1983, 9-20. David Hellholm: Art. Apokalypse I - Form und Gattung, RGG 4 I, Tübingen 1998, Sp. 585-588, 586.
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logischem Genus und literarischer Gattung ungeklärt. Sie nimmt außerdem keine Notiz davon, daß Apokalypse an ihrem allerersten Ort keine Gattung ist, sondern Solitär, also ein Individuum. Es gibt nur eine, und diese beginnt mit der Selbstbezeichnung12 : :A1tOKaA.U"'t~ 'IllO"oi) XptO"'toi), . Von ihr haben auf dem Weg bloßen Generalisierens alle übrigen ihren Namen: Hier wäre die Frage zu beantworten: Wie gelangt man von der Gattung zum Individuum? Offenbar läßt die Frage: Was sind Apokalypsen?, die auf die literarische Gattung zielt, die andere noch offen, die lautet: Was ist Apokalypse? Kant hat der bestimmenden Urteilskraft, mit der wir bisher dabei waren, immer detailliertere Phänomene unter immer detailliertere Allgemeinbegriffe zu subsumieren, die reflektierende Urteilskraft entgegengesetzt, die zum gegebenen Besonderen oder gar Individuellen das Allgemeine erst noch suchen muß. 13 Dies führt zu nicht weniger als zu einer vollständigen Umkehrung der bisherigen Abstraktionshierarchie und zur Neumischung ihrer Elemente. Dabei wird sich zeigen müssen, wie das bisher Unverbundene, Apokalyptik und Apokalypse, sich zu verbinden beginnt, und zwar so, daß literarische Form und Vorstellungsinhalt in ein Verhältnis gegenseitiger Bedingung treten. Was ist Literatur? Wenn es erlaubt ist, so schlicht und am Rand der Undeutlichkeit zu reden: Literatur überhaupt ist Schreiben und Lesen. Und was ist Apokalypse? Die Antwort, die gegeben werden muß, klingt ärgerlich und äffisch: Apokalypse ist Schreiben und Lesen. Zwei Gesichtspunkte hierzu: 1. Schreiben Apokalyptiker schreiben halt noch. Aber Schreiben ist hier nicht bloß allgemeines Genus, sondern es ist die charakteristische, individuell apokalyptische Tätigkeit. Apokalypsen werden geschrieben. 14 Sie sind durchweg nichts als Textgenituren. Dies impliziert eine Wechselbeziehung zwischen Text und Apokalypse von der Art: Nicht nur sagt Text überhaupt etwas über das Wesen von Apokalypse, sondern die Apokalypse sagt auch etwas über das Wesen eines Textes. Der Text der Apokalypse muß durch sein bloßes Dasein das schwarze Loch der -Diskontinuität zwischen den beiden Äonen ausfüllen. Einerseits mehr als der Horror der vergehenden Welt, ist er andererseits 12
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Apk. 1,1. Während Hellholm mutmaßt, 'A1tOK6:A.\)"'t~ "dürfte nicht nur als Teil eines Titels, sondern auch als Hinweis auf eine Gattung gedacht sein" ([s. Anm. 11] 586), urteilt David E. Aune (Revelation 1-5, World Bib/ical CommentarJ' 52A, Dallas 1997, 12) vorsichtiger: ,John is not describing his composition as belonging to a literary type called ,apocalypse', since he characterizes his work as a ,prophecy' (1:3) or a ,prophetic book' (22:7; 10, 18-19). On the basis ofits occurrence in Rev 1:1, and particularly because the term became the title for John's composition, ,Apocalypse' came to be applied to a literary report if visions similiar to those narrated in Revelation (cf. Canon Muratori 71-72, which refers to Apocalypsis ... Johannis et Petn ... )." Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B XXVf. Z.B. Apk. 1,3; cf. 22,19 (Rahmen); 14,13; 19,9; 21,5 (Schreibbefehl rur besondere Worte).
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weniger als die Herrlichkeit der kommenden. Der apokalyptische Text ist das einzige Stück Welt, das dank seiner unterschiedlichen - wenn nicht gar aufgehobenen 15 - Verfallsgeschwindigkeit dem allgemeinen Vergehen der Welt sei es um eine Nasenlänge, sei es um eine Handbreit voraus ist. Kurz: Apokalypse ist so sehr Text, daß man sagen darf Sie ist nichts als Text. In ihrer Textlichkeit hat sie ihre unübertreffliche, maximale Seinsart. Ihr geht dabei nichts verloren, vielmehr gewinnt sie alles, was überhaupt noch zu gewinnen ist, in eben dieser Weise. 2. Lesen Apokalyptiker lesen halt noch. Aber Lesen ist hier nicht einfach das allgemeine, abstrakte Genus, in dem apokalyptische Texte wie Texte überhaupt rezipiert werden. Sondern Lesen ist die charakteristische, ganz und gar individuelle Tätigkeit, die auf genau so etwas wie Apokalypse reagiert. Apokalypsen werden gelesen. 16 Man kann nicht viel mehr tun, als sie zu lesen. Oder genauer: Alles, was überhaupt noch zu tun ist, ist: sie lesen. Apokalyptisch nannten wir denjenigen Text, der sich von der vergehenden Welt zu seiner eigenen Gangart verabschiedet hat. Versiegelt oder unversiegelt liegt er nun da und kann gut warten, bis er gelesen wird. Wird er aber geöffuet, so entsteht in, mit und unter dem Lesen die kommende Welt, und ohne Zweifel entsteht sie "in Kürze"17. Unser Vorhaben ist aber nicht Apokalypse schlechthin, sondern das Himmlische J erusalem.
11. Vorbemerkung: Was heißt JEDIFICANS HIERUSALEM DOMINUS? Ob wir wohl unserem Kontext etwas Gutes damit tun, daß wir diesen alten, fremden Text aus dem Buch der Psalmen herbeizitieren? Er importiert zwei Namen, die hier bisher noch nicht im Gebrauch standen: einen toponymischen und einen theonymischen. Was die Toponymie anlangt: Jerusalem ist nicht bloß ein apokalyptisches Thema unter anderen. Sondern in der traumatischen Katastrophe dieser Stadt und im fortwährenden Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten dieser Katastrophe liegt wenigstens eines der Motive, ohne das Apokalyptik nicht zu denken wäre. 18 Das personifizierte Jerusalem, gefallen, wiedererstehend. In 15 16
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Mk. 13,31; Mt. 24,35; Lk. 21,33. Apk. 1,3. Vgl. Günter Bader: "Selig ist, der da liest ... " - Zu Melancholie, Acedie und Nichtlesenkönnel1, in: Zeitschrfftfiir Ästhetik und Allgemeine Kll/1stUlissel1schqft 44 (1999), 91-101. Apk.1,1;22,6. 587 v. ehr. fand der Fall Jerusalems und die Zerstörung des ersten Tempels statt. Bezogen auf die Eroberung Jerusalems 70 n. ehr. und die Zerstörung des zweiten Tempels: Pierre-Maurice
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äußerster Zuspitzung kann man behaupten, daß mit dem bekannten Spruch
surge illuminare / stant vp jherosalem inde erheylf dich inde wirt erluchtet 19 die Apokalyptik sich sprachlich zu formieren beginnt. Jerusalem, Zion, Tempel avancieren zum zukünftigen Weltmodell. Aber daß in apokalyptisch-poetischer Anschauung Frau Jerusalem20 sich erhebt, ist eines. Ein anderes ist es, zu machen, daß Jerusalem sich erhebt. Jerusalem wird sich kaum erheben können, ohne daß es gebaut wird. Das findet mit dem nehemianischen Mauerbau auch in Tat und Wahrheit statt. Man darf vermuten: Wenn erst einmal, wie Nehemia eindrücklich schildert, die Krone der Stadtmauer bis zur erwünschten Höhe emporgefuhrt sein wird21 , dann dürften sich die apokalyptisierenden Neigungen langsam legen. - Immerhin haben wir auf dem bisherigen Wege etwas erfahren: Jerusalem will nichts als gebaut werden. Man kann nicht mehr rur Jerusalem tun, als über seinen Ruinen auszurufen: aedificaberis! (Is. 44,28) Aber ebenso gilt: Man darf nicht weniger fur Jerusalem tun, als es Stein um Stein zu bauen. Wobei klar ist: Es sind immer Menschen, die J erusalem bauen, wer sonst! Als toponymisches Wort bereitet J erusalem keine Schwierigkeit. Es ist gut rur Ortsverzeichnisse geeignet. Schwierigkeiten dagegen bereitet die Theonymie Dominus . Wenn wir irgend an Bewahrung von Kontexten interessiert sind, so muß es unser Bestreben sein, den Namen Gottes auf Abstand zu halten, solange es nur geht. Hat sich einmal der Gottesname in einen Text eingeschlichen, so ist nicht mehr auszuschließen, daß eben dieser Text abstürzt, und zwar sogleich. Daß ein Gott baut: das zu verhindern sind Baugenossenschaften da. Von allen Bau-
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Bogaert: LA mine de Jerusalem et les apocalypses juives apres 70, in: Apocalypses et Theologie de l'Esperance, pub!. par Louis Monloubau (LeDiv 95), Paris 1977, 123-141; Hans G. Kippenberg: Ein Vergleich jüdischer, christlicher und gnostischer Apokalyptik, in: Apocalypticism [Anm. 10], 751-768. Is. 60,1 (Tritojesaja) in der Vulgata-Fassung und in der Übersetzung durch Meister Eckhart, Predigt 14, DW (Quint) I, Stuttgart 1958, 230,4; Paul Celan: LichtzUJang, Frankfurt a. M. 1970, 101. Zu Jes. 60 Odil Hannes Steck: Der Grundtext vonJesaja 60 und sein Atifbau, in: Zeitschriftfiir Theologie und Kirche 83 (1986), 261-296. Steck stellt fest, "daß es der TextJes. 49 in seiner Abfolge vor allem ist, an dem sich die Aussagenfolge von Jes. *60 orientiert; sogar die Gliederung in Abschnitte ist jeweils von einer direkten Bezugnahme auf Aussagen in der Abfolge vonJes. 49 gespeist" (296). Er erkennt zwischen Deutero- und Tritojesaja eine Verlagerung des Interesses von der Heimkehr der Exilierten auf eschatologische Themen (294). Überhaupt gilt rur die Beziehung Tritojesajas zur bisherigen Prophetie die These der "redaktionellen Fortschreibung": "Alle Tritojesaja-Texte sind von Anfang an Buchtexte, schriftlicher Ausdruck produktiver Aneignung bereits bestehender Prophetenbücher. Nicht aufgezeichnete Prophetenworte, sondern Redaktionstexte, entsprungen nicht prophetischer Verkündigung, sondern prophetisch-schriftgelehrtem Tradentenwirken, das sich fortschreibend insbesondere hier am Ende literarisch vorgegebener Prophetenschriften aufs neue äußert": ders., Studien zu Tritojesaja (Beihifte zur Zeitschriftfiir die alttestamentliche Wissenschqft 203), Berlin 1991, Vf. Odil Hannes Steck: Zion als Gelände und Gestalt, in: Zeitschriftfiir Theologie und Kirche 86 (1989), 261-281; wiederabgedruckt in: ders., Gottesknecht und Zion - Gesammelte Atifsiitze zu Deuterojesaja, Tübingen 1992, 126-145; Hans-Jürgen Hermisson: Die Frau Zion, in: Studies in the Book qfIsaiah (FS Willem A.M. Beuken), ed. by].T.A.G.M. van Ruiten (Bibliotheca ephemeridum theologicarum Lovaniensium 132), Leuven 1997, 19-39. Neh. 1-7,3.
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weisen wäre - Berichte über aXEtp01tot1l'ta. hin oder her - diese die unwahrscheinlichste. Bauen wäre nicht mehr Bauen, wenn sogar Götter bauten. Tritt daher ein deus architector oder deus artifex 22 an die Stelle von veritablen Architekten und Handwerkern, so ist jed~ Bauen entnervt. Nun zeigt sich aber im Alten Testament, und zwar soviel ich sehe ausschließlich in den Psalmen, eine Reihe von Sätzen, die wider besseres Wissen Gott als Erbauer J erusalems bezeichnen. Vor Beginn des nehemianischen Mauerbaus, als Gebet, optativisch, an Gott gerichtet: aedificentur muri Hierusalem (ps. 50,20).23 Nach der Vollendung des Baus, perfektisch: Ierusalem, quae aedificata est (ps. 121,3)24. Oder mit expliziter Nennung des Gottesnamens: quia aedificavit Dominus Sion (ps. 101,17). Sätze von derartig mythopoetischem Überhang lassen sich nicht rezipieren, ohne daß wir entweder entmythisierend verfahren und uns unseren Teil dabei denken oder daß wir uns damit zufrieden geben: Nisi Dominus aedificaverit domum/ in vanum laboraverunt qui aedificant eam (ps. 126,1).25 Immerhin, nach Durchfiihrung einer der beiden Operationen können wir nicht mehr daran zweifeln, daß allen bisherigen Sätzen im Kern die weltbeschreibende Absicht nicht abzustreiten ist. Dagegen zu dem Zeitpunkt, an dem der Psalmvers aedificans Hierusalem Dominus ("Bausachverständiger26 in Sachen Jerusalem ist der HErr") an seinen jetzigen Ort (ps. 146,2) gelangte, dürfte Jerusalem schon längst wiedererbaut gewesen sein. 27 Weder optativisch noch perfektisch, sondern zeitlos und ohne Bezugnahme auf Aktuelles - wir ertappen den Psalmsatz offenbar genau in dem Moment, da er beginnt, sich von der allerersten Satzpflicht, der Realitätsbezogenheit, zu dispensieren. Anstatt Welt zu beschreiben, wendet er sich Deus artiJex wird deshalb primär auf Gottes eigenen Bau, die Schöpfung, bezogen; vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Bern 91978, 527-529; Otto von Simson: Die gotische Kathedrale - Beiträge zur ihrer Entstehung und Bedeutung, Darmstadt 11968, 31979, 47.50.55(, 60.139; Taf 8; Heinrich Lausberg: Das Augustin-Zitat iiber ,Joseph als Zimmermann und Gott als Architekt" bei Gracian, in: Romanische Forschungen 87 (1974), 350-352; wiederabgedruckt in: ders., Opera minora, Stuttgart 1993, 739-741; Friedrich Ohly: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungiforschung, Stuttgart und Leipzig 1995, 556, Anm. 2; Joachim Ringleben: Gott als Schriftsteller - Zur Geschichte eines Topos, in: Johann Georg Hamann - Autor und Autorschqft, Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg a. d. Lahn 1992, hg. von Bernhard Gajek, Frankfurt a. M. 1996, 215-275,238, Anm. 21. 23 Klaus Seybold: Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996,211: "der Hinweis auf den wegen fehlender Stadtmauern provisorischen Tempelbetrieb in 20f (als terminus ad quem) ... [läßt] ausnahmsweise eine ungefähre Datierung zwischen Tritojesaja und Nehemia, also zwischen ca. 520 und 450 zu." 24 Passivum divinum! - Lateinischer Text nach Psalterium Monastieum, Solesmes 1981, 288. 25 Die Planung des Mauerbaus ist vom persischen König bewilligt (Neh. 1,6), aber zur Durchführung gibt Gott das Gelingen (Neh. 2,20; 6,16). Alle aktiven verba aedificandi bekommen dadurch eine passive, kausierte Konnotation: "aedificare" wird zu "concede, Domine, aedificari". 26 Siegfried Wagner: Art. n;~, ThWATI, Stuttgart 1973, 689-706, 695. 27 Franz Sedlmeier: Jerusalem - Jahwes Bau. Untersuchungen zu Komposition und Theologie von Ps 147 (Forschungen zur Bibel 79), Würzburg 1996.
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um, von der Welt ab, und übt sich, unter Verwendung eines hymnischen Partizips, in der Aufmerksamkeit auf das, was "der HErr" tut. Es ist daher nicht verwunderlich, daß eben derselbe Vers, der sich im 147. Psahn als überschüssig zeigt in Relation zum fertigerbauten J erusalem, sich sogleich als überschüssig erweisen wird gegenüber dem zerstörten und endgültig unbetretbar gewordenen J erusalem, und deshalb wird er kurz nach der Zerstörung der Stadt wortwörtlich in die 14. Beracha des ,Semone (Esre' aufgenommen, die mit der Eulogie endet: "Gesegnet du, JHWH [Adonaj], Erbauer Jerusalajims".28 Ein Text, der sich auf solche Weise von seiner Referenz gelöst hat und somit keine bessere Referenz mehr besitzt als die des bloßen Geschriebenseins und Gelesenwerdens, dreht sich nur noch um sich selbst. Genau in diesem Sinn dreht sich seither der Psahnvers täglich und mehrmals täglich in der synagogalen Liturgie; in der alten römischen und monastischen Liturgie dreht er sich immerhin noch in wöchentlichem Abstand 29 , während er im Protestantismus, der fur Modernität steht, nur noch diejenige Drehung vollfuhrt, die die Rotationspresse vorgibt. Jetzt kann präzisiert werden, was vorhin damit gemeint war, daß Texte gut warten können. Wartende Texte, das heißt Texte, die sich einstweilen, da in Suspension versetzt, nur noch um sich selbst drehen, sind im wesentlichen solche, die durch liturgisches Arrangement in Drehung gehalten werden, ebenso wie sie ihrerseits die Liturgie in Bewegung halten. Liturgie30 , so zeigt sich, ist präzis derjenige Aufwand, der unter vorherrschenden Verfallsgeschwindigkeiten erforderlich ist, um einen Text, dessen Dasein gerade noch darin besteht, daß er fortgeschrieben und fortgelesen wird, unter Darbringung von Leibern31 zu perpetuieren, zu installieren, zu inszenieren usw. Das Ganze nennt man, schon hörbar, Gottes-Dienst. Hieraus ergibt sich: 1. J erusalem Baut der HErr Jerusalem, dann ist Jerusalem nicht mehr Jerusalem, sondern, wohin man blickt, nichts als J erusalemmetaphern von ungezügelte ster Art. 28
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Sidur Sifat Emet, Basel 1995, 44: C?101i"l m1:J il1i1"1 i1n~ l1i::J. Das Achtzehngebet wurde ca. 90100 n.Chr. von Gamaliel 11. zusammengestellt (TRE 12, 43, 44ff.; 13,389,33). Zum Achtzehngebet: "Jerusalem wird darin als Angelpunkt des Landes Israel und als Zielort der Rückkehr Gottes und der Umkehr des Volkes und damit als der Ort, an dem alle ,Risse' in Israel geheilt werden, bestimmt. Da dieses Gebet zweimal täglich zu beten ist, hat es wie kein anderes Gebet die Israelmentalität des Judentums geprägt." (Clemens Thoma: Art. Israel lI-Frühes und rabbil1ischesJudentum, TRE 16, 1987,379-383; 382, 41ff.) - Dieselbe Eulogie erscheint zudem im täglichen Tischsegen: C"I?101i"l 1"1r.lni::J m::J il1i1"1 i1n~ l1i::J "Gesegnet du, JHWH, in seinem Erbarmen Erbauer Jerusalajims" (Sidur, 282). Psalterium Monasticum [Anm. 24] 348 (Dominica ad I Vesperas). Zum liturgischen Ort der jüdischen und christlichen Rede vom Himmlischen Jerusalem s. Klaus Thraede: Art.Jentsalem 11 (Sinnbild), RAC 17 (1996), 718-764, 725f
Röm. 12,1.
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Diejenige Stadt, die ausschließlich von Gott erbaut wird (civitas cuius conditor et artifox Deus; Hebr. 11,10), ist das Himmlische Jerusalem (Hierusalem caelestis; Hebr. 12,22). 2. Bauen Baut der HErr Jerusalem, dann ist Bauen nicht mehr Bauen, sondern, wohin man nur blickt, nichts als Baumetaphern, in ungezügeltem Spenden und Empfangen (Vrbs Hierusalem beata/ dicta pacis visio/ quae construitur in caelis/ vivis
ex lapidibus). 32 Das Himmlische Jerusalem ist aus Text erbaut.
III. Die Weise der Herabkunfl der himmlischen Stadt Zur Weise der Herabkunft der himmlischen Stadt in der Apokalypse ist zu fragen: Was sehen wir, wenn gezeigt wird "die heilige Stadt Jerusalem, herniederfahrend aus dem Himmel von Gott" (Apk. 21,2.10)? Die Antwort muß lauten: Durchaus kein Jerusalem! Vielmehr sehen wir, wie sich vor unseren Augen ein Text Zeile um Zeile ausbreitet, von links nach rechts und von oben nach unten. Nach allem, was aus den beiden Vorbemerkungen hierzu zu erfahren war, ist dies kein Zufall, sondern es hat System. Apokalypse, lautete die erste Vorbemerkung, wird wesentlich geschrieben und gelesen. Und die zweite lautete: Das Himmlische Jerusalem wird wesentlich erbaut aus Text. Um davon richtigen Gebrauch zu machen, müssen wir auf etwas verzichten, was uns als Nächstliegendes erscheint. Wir sind nicht Archi-Tekten, nur Texter. Architekten behändigen sich des Textes vom Neuen Jerusalem und lesen ihn, als ob er eine Baubeschreibung wäre. Diese mutiert in ihren Händen alsbald zur Skizze, die Skizze zum Plan, der Plan zur Ausführung. Gewiß wird man die Übersetzungsleistung, die ein Architekt dabei erbringt, nicht als Eins-zu-Eins-Übertragung schmähen. Aber sie ist jederzeit auf Analogie und Proportion ausgerichtet, wie es auch das Nächstliegende ist. Der gelehrte Architekt aus Haifa, der sich der Qumranfragmente über das Neue J erusalem in der Absicht einer umfassenden Rekonstruktion angenommen hat, verfährt genau so. 33 Aber unglücklicherweise hat er am Ende ein N eues Analecta Hymnica Medii Aevi, hg. von Guido Maria Dreves SJ und Clemens Blume SJ (Leipzig 1886ff.; repr. London und NewYork 1961) II, Leipzig 1888, 73(; LI, Leipzig 1908, 110ff.; The OxIo~d Book qfMedieval Latin Verse, ed. by Stephen Gaselee, Oxford 11928, 31946, Nr. 22; Liber hynmarius, Solesmes 1983, 247f Dazu Henry Ashworth OSB: "Urbs beata Ierusalem (( - Scriptural ami Patristic Sources (Ephemerides Liturgicae 70), Rom 1956, 238-241. 33 Michael Chyutin: The NeU' Jentsalem Serollirom Qumral1 - A Comprehel1sive Reconstntctiol1 (loumalIor the Study qf the Pseudepigrapha, Supplement Series 25), Sheffield 1997; ders.: Die Architektur des 32
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J erusalem rekonstruiert, das sehr zum Mißvergnügen des Lesers direkt an die Bauweise altägyptischer Sklavenstädte erinnert. Statt N eues zu bringen, ist ftir das Neue Jerusalem das Archaischste gerade gut genug. 34 Und unglückseligerweise bleibt die architektonische Rekonstruktion in ständiger Abhängigkeit von der philologischen, überwiegend paläographischen Rekonstruktion eines Textmaterials, das in dem Zustand, in dem es aus Höhle Q11 ans Licht gebracht wurde, durchaus keine Vision des Neuen Jerusalem darstellte, sondern "einen versteinerten Klumpen [... ], von dem nur ein abstehendes Stück abgetrennt werden konnte, das dabei in Fragmente zerbrach"35. Dagegen hegen Texter keine Neigung, sich von der Versteinerung zur Wiederversteinerung zu bewegen. Sie hätten alles gerne Text in Text. Sobald wir einmal in den Verzicht eingewilligt haben, es gehe nicht um Tektonisches, sondern um Textliches 36 , ist der Übergang gemacht, den Quintilian und die antike Rhetorik von der "structura lapidum", die jederzeit rur substantiell geachtet wird, zur "structura quaedam vocum" vollzogen haben, die auf ihre Weise vom Lapidaren zehrt. 37 Aber rur Liebhaber des Himmlischen Jerusalem genügt es nicht, mit der Rhetorik "Wörter wie Steine [zu] behandeln "38, sondern es gilt, sich endlich mit der Apokalyptik - und das heißt am Rande dieses Äon - zu der Umkehrung zu entschließen, Steine wie Wörter zu behandeln, gegen alle nächstliegende Evidenz. Hier kommt allerdings das steile Wort von der Apokalyptik als Mutter aller Theologie wieder ins Spiel, wenngleich in gründlich gewandeltem Sinn. Denn alles, was wir über Apokalyptik und J erusalem bisher in Erfahrung bringen konnten, läuft darauf hinaus, Steine und ihre Fügungen ihrer Vergänglichkeit wegen rur weniger Neuen Jentsalem - Urbanistische Deutung der ,NeU' Jerusalem Serail' aus Qumran, in: Neue Zürcher Zeitung 266 (15./16.11.1997), 52. Der Terminus "reconstruction" ist dabei bezogen sowohl auf die Arbeit am Text (36.75.144) wie auf die Arbeit an der Architektur (70), ja kann in einem unbedachten Moment beides umfassen (101). Nachlässigkeit? Oder naheliegender Übergang von "text" zu "urban texture" (126)? 34 Chyutin zu den Sklavenstädten ebd., 113(, Fig. 20(; zum Archaischen: "It is probable that the author of the Scroil wished to create an archaic mode of description of the city, and to return to an ancient tradition of city building." (Ebd., 127.) 35 Johann Maier: Die Tempelrolle 110m Toten Meer und das "Neue Jentsalem " - 11Q19 und 11Q20; lQ32, 2Q24, 4Q554-555, 5Q15 und 11Q18. Übersetzung und Erläutentng. Mit Cntndrissen der Tempelhcifanlage und Skizzen zur Stadtplanung (UTB 829), München und Basel 31997, 328. 36 Der Verzicht geht mit großer Bequemlichkeit einfach der Etymologie entlang. Dazu Maximilian Scherner: Art. Text, HWP 10, 1998, 1038-1044, 1038: "Der Begriff ,Text', der sich etymologisch auf die handwerkliches Herstellen bezeichnenden Wörter oder Wortstämme: griech. 'teK* (bauen, zimmern), lat. texere (weben, flechten) und altind. taksati (zimmert) zurückfuhren läßt, gründet in der Übertragung dieses Bedeutungsgehaltes auf das Verfertigen von Gebilden aus sprachlichem Material, d.h. von ,Gewebe' aus Rede oder aus Schrift." 37 Quintilian: Inst. or. I 10,23: "structura quaedam ... vocum"; VIII 5,27: "structura [sc. orationis]"; VIII 6,63: "ut in structuris lapidum"; IX 4,27: "sicut in structura saxorum". Ausfuhrlich hierzu Godo Lieberg: Der Begriff ,stmctura' in der lateinischen Literatur, in: Hermes 84 (1956), 455-477; Gunter Scholtz: "Struktur" in der mittelalterlichen Hermeneutik, in: ABC 13 (1969),73-75. 38 Lieberg [Anm. 37]. 469, c( 465.
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substantiell zu halten als Fügungen aus schlichtem Wort. Dies findet konsequenterweise seinen Ausdruck darin, daß wir in Umkehrung von Quintilian primär von der "structura verborum" sprechen und dann erst zusehen, wie so etwas wie die "structura quaedam saxorum" ihre Festigkeit daraus bezieht. Anders als die Qumranfragmente zum Neuen Jerusalem verlangt der Text des Himmlischen Jerusalem Apk. 21f - der ausführlichste Text, der hierzu aus der Antike überliefert ist39 - weder vorausgehende Manipulationen noch nachfolgende. Man muß ihn nur lesen, um zu erkennen: Dieser Text steht auf völlig texternen Beinen. Wohl selten kann man bei einem biblischen Text im selben Maß zeigen, wie der Leser sich nahezu von Wort zu Wort, von Fügung zu Fügung auf der Zinne eines stattlichen Textgebäudes bewegt, das in zahlreichen Etagen aus Apokryphen vielfältigster Art, aus Hagiographen und besonders aus den Psalmen, aus Propheten und noch einmal Propheten aufgefiihrt ist, aber auch aus der Tora. 40 Bereits von außen erweist sich somit das Himmlische Jerusalem als Textbau von erstaunlicher Höhe, wenn man nicht gar der Intention des biblischen Kanons folgen will und einen Bau annimmt, der sich von Genesis 1 bis Apokalypse 22, das heißt von Schöpfung bis N euschöpfung41 erhebt. Aber noch mehr von innen beweist der Text Struktur. Er löst sich von den am Ideal der Einsinnigkeit orientierten Poetiken der Analogie und der Proportion und errichtet in freier Digitaliät und Figürlichkeit ein textimmanentes Gebäude von vielfaltigsten Dimensionen. Während ehemals der vierfache Schriftsinn starr ein vierfaches Jerusalem mit dem himmlischen als Spitze präsentiert hatte,42 entsteht nun eine Sinnarchitektur, die genau so oszillierend ist wie die minutiöse Figürlichkeit des Textes. Jetzt läßt sich der bisherige Satz, das Himmlische Jerusalem sei im wesentlichen aus Text erbaut, präzisieren. Das Himmlische J erusalem ist aus nichts als aus Metaphern erbaut. Ich versuche diese beiden Gesichtspunkte mit Elementen aus der Texttheorie Paul Ricreurs zu fassen.
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Peter Söllner: Jerusalem, die hochgebaute Stadt - Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und imfriihen Christentum (TANZ 25), Tübingen 1998, 188: "Die Schilderung der vom Himmel herabkommenden Stadt Jerusalem in Apk. 21E ist die mit Abstand ausfiihrlichste und detailgenaueste Rezeption der Vorstellung vom eschatologischen Jerusalem in der Antike. " Es wäre nicht nur Spielerei, den Text Apk. 21E versuchsweise einmal so zu schreiben, daß er sich Wort fiir Wort immer gerade soweit erhebt, wie die Textverweisungen auf vorausgesetzte Traditionen ihn tragen. Günter Bader: Alles neu - Eine poetisch-theologische Reflexion über Schöpfung und Neuschöpfung, in: Das Neue - Zu einer Den~figur der Modeme, hg. von Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2002, 2. Henri de Lubac SJ: Exegese mMiellale - Les quatre sens de l'ecriture I, Paris 1959,645-650; Manfred Kienpointner: Art. Anagoge, HWR I, Tübingen 1992,472-479.
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1. Vom Text überhaupt zum apokalyptischen Text Text überhaupt - ich meine denjenigen, der nichts Ursprünglicheres ersetzt, sondern selbst das Ursprüngliche ist43 - folgt dem Gesetz zunehmender Loslösung. Unnötig zu sagen: Der Text löst sich vom Autor. 44 Auch dem Leser tritt er als solcher gegenüber, der seiner nicht bedarf. 45 Beide Luslösungen folgen einer fundamentalen Umkehrung. Die Erwartung, der Text gehöre primär dem Autor oder habe sich um Bedürfnisse des Lesers zu kümmern, wird von Grund auf enttäuscht. Noch mehr: Zunehmende Loslösung auch von der Situation, die der Text beschreibt. Textgeschichte und Geschichte verzweigen sich. Hervorstechendste Eigentümlichkeit des Textes ist die Suspension der Referenz. 46 - Apokalypsen geben den sich an sich schon beschleunigenden Textverhältnissen in allen drei Punkten vollends die Sporen. 47 Mit der Versiegelung entzieht sich der apokalyptische Text Verfassern und Lesern, und diese Entzogenheit ist die Weise seiner andauernden Beziehung zu beiden. Und indem die Situation des apokalyptischen Textes sich entgrenzt zu dieser Welt überhaupt, entsteht ein Nonplusultra an Loslösung des Texts von der Welt, und genau dies ist die Weise seiner anhaltenden Beziehung zu ihr. Aber damit ist auch die Grenze erreicht: Ein apokalyptischer Text kann absoluter Text nie werden48 , und es wäre ein grobes Mißverständnis, Apokalypse und absolutes Buch zu verwechseln. 49 43
Paul Ricreur: Qu'est-ce qu'un texte?, in: Hem1eneutik und Dialektik (PS Hans-Georg Gadamer), hg. von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer und Reiner Wiehl, Tübingen 1970, II, 181-200; wiederabgedruckt in: ders., Du texte ('action - Essais d'hemleneutique II, Paris 1986,137-159,138: "La fixation par l'ecriture survient a la place meme de la parole, c'est-a-dire a la place Oll la parole aurait pu naitre. On peut alors se demander si le texte n'est pas veritablement texte lorsqu'il ne se borne pas a transcrire une parole anterieure, mais lorsqu'i! inscrit directement dans la lettre que veut dire le discours. " Paul Ricreur: LAJonction hemleneutique de la distanciation, in: Du texte l'action [Anm. 43], 101-117, 111 (1. Loslösung): "D'abord l'ecriture rend le texte autonome a l'egard de l'intention de l'auteur." Damit vollzieht sich die Korrektur an der romantischen Hermeneutik und ihren Nachfolgern. Ebd., 111[ (2. Loslösung): "Cet affranchissement a l'egard de l'auteur a son parallele du cote de celui qui rei] meint Änderung der Richtung und impliziert die Vorstellung der Rückkehr, sei es zum Ursprung, sei es zu sich selbst; ~ETavOla meint eine Änderung des Denkens, ein Neudenken und impliziert die Vorstellung der Mutation und der Wiedergeburt. Somit ist das lateinische Wort ,conversio' semantisch von der Polarität ,Rückbezug' und ,Bruch' geprägt. In den Schriften Augustins ist die Fülle des Verständnisses von ,conversio', die die hellenistische, näherhin stoische und neuplatonische Philosophie und die von diesen geprägte christliche Theologie in je differenter Akzentuierung herausgebildet hatte, entfaltet. Nur mehr in Kenntnis dieser Tradition wird ein Satz wie der folgende aus dem XIII. Buch der Conftssiones einsichtig54 : "Ja, auch wir, der Seele nach geistige Schöpfung, waren abgekehrt von Dir, unserm Licht, in solchem Dasein ,einst Finsternis'" ; und: ",Das Gut' rur ihn (sc. den Geist) ,aber ist Dir anzuhangen' allezeit, damit er das Licht, das er gewonnen durch Hinkehr, nicht durch Abkehr verliere [... ]" - ,,[ ... ] ne quod adeptus est conversione aversione lumen amittat [... ]." Die Kreatur - so wäre dieser Satz allgemein zu erläutern - "befindet sich zuerst in einem formlosen Zustand, der danach strebt, sie von der göttlichen Einheit zu entfernen; Form gewinnt sie, wenn sie sich wieder ihrer Quelle zuwendet, zu ihr sich zurückwendet; sie ist dann erleuchtet und vollendet"55. Diese allererst kosmologische Bedeutung geht über den Neuplatonismus auf Platon zurück (Timaios). Bei Platon bezeichnen Wörter der Wortfamilie OTgE<j>ELV die vollkommene Bewegung par excellence, die Kreisbewegung, die den Göttern, dem Himmel und der Welt gleichermaßen eigentümlich ist wie der Vernunft und dem Verstand, dem voug6vllaLEKa Kat EJCt to.~ KEa"'o.~ autov EJCto. ÖLaö~~ata, ( ... ) 5 Kat EtEKEV ut6v äPOEV, ö~ ~E"''''EL JCOL~atvELv JCavta to. EeVT] EV paßöq> OLÖT]P~. Kat ~pJCao8T] to tEKVOV aUtf\~ JCpo~ tOV 8EOV Kat JCPO~ tOV 8p6vov autov. ( ... ) 7 Kat EYEVEtO JC6"'E~0~ EV tep oupavep, 6 MLxa~", Kat OL äYYE"'OL autov tOV JCO"'E~f\OaL ~Eto. tOV ÖpaKOvtO~. Kat 6 öpaKwv EJCO"'E~T]OEV Kat OL äYYE"'OL autov.
In den folgenden Ausfiihrungen wird es um mediales Umsetzungen dieser berühmten Stelle zu Beginn des 12. Buchs der Apokalypse des Johannes gehen, insbesondere um diejenigen, die im Rahmen des konfessionalisierten Christentums entstanden sind und die ikonographische Tradition fortfuhren, in der "Frau, mit der Sonne bekleidet" (mulier amicta sole) die Jungfrau Maria zu sehen und zu repräsentieren. Dabei steht die Problematik der Pragmatisierung und Entpragmatisierung des Verweisens im Mittelpunkt. Diese Stelle wird in bestimmten religiös-konfessionellen (liturgischen, rituellen) Zusammenhängen gebraucht und zugleich von ihrer ursprünglichen Bestimmung losgelöst und auch noch fur ästhetische Konfigurationen tauglich gemacht. Konkreter Grund für die Betonung des Mediums und der Medialität, obwohl das Thema im weiteren nur am Rande behandelt wird, ist die Markierung eines Desideratums, das in diesem Versuch unerfüllt bleiben muß. Im größeren Zusammenhang, in dem diese Studie steht, meinem Buch Fons signat~ls über die barocke Marienrepräsentation, wird dieser Sachverhalt ausfiihrlieh thematisiert. Die Ausdifferenzierung der einzelnen Medien (die Schrift, die Malerei, die Skulptur, die Musik usw.) wäre fiir meine Thesen durchaus von Belang. Die Differenz zwischen Zeit- und Raummedien wäre beispielsweise ein Kriterium rur die Beurteilung der Stellung und Ausdrucksweise der Nachträglichkeit. Hier wäre Günter Hess' Arbeit, Ut pielura poesis' (in: Handbuch der Literatur in Bayern, hg. von Albrecht Weber, Regensburg 1987, 207-220) über Jacob Baldes Gedicht zum Rubens-Gemälde Die apokalyptische Frau zu berücksichtigen, denn hier wird - unter Hinweisen auf Lessing, deren Richtigkeit zu prüfen wäre - die Transposition der räumlichen Darstellung der Malerei in die Sukzessivität der Dichtung und damit wohl die wichtigste Mediengrenzüberschreitung angesprochen. Zur systematischen Bedeutung dieses Sachverhaltes und zum ,medialen Ausblick' vgl. die letzte Anmerkung in der vorliegenden Studie.
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ausgedrückt: Sie wird mariographisch 6 in Anschlag gebracht und büßt damit scheinbar ihre multivalente allegorisch-prophetische Bedeutung ein. Insofern wird das Ende an den Anfang gesetzt. Daher kann man auch sagen, daß die Problematik der Pragmatisierung und Entpragmatisierung des Verweisens im Mittelpunkt steht. Die von diesem Ende her gedachte Strategie der Marienrepräsentation wurde im Rahmen der Konfessionalisierung (v.a. auf der katholischen Seite, beispielsweise in Form von Mariensäulen) zum ,Prinzip' (principium) der Mariographie überhaupt, war aber schon längst erstrangiger Gegenstand der ästhetisch-künstlerischen Darstellung. Die Schriftstelle fungiert bis heute in dieser Eigenschaft. "Bezeichnend und deshalb auch erwähnenswert ist die Tatsache, daß eine der wichtigsten päpstlichen Verlautbarungen zur Marienverehrung nach dem 2. Vaticanum - und insbesondere nach der Verkündung der "Dogmatischen Konstitution" Lumen gentium (21.11.1964), an deren 8. Kapitel ("Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche") die Verlautbarung explizit anschließt -, nämlich die Enzyklika vom 13. Mai 1967,1 von ihrem Incipit den Titel Signum magnum 8 erhält, also von exakt jener Stelle in der Apokalypse in ihrer marianischen Lektüre ausgeht, um die es mir hier geht. Unter diesem "großen Zeichen" stehen u.a. drei päpstliche Feststellungen, die ich hier unterstreichen möchte: erstens, daß Maria "die Zeit und den Raum transzendiert", zweitens - im nächsten Satz - daß wir in der "marianischen Epoche" leb(t)en, und drittens, daß der Heilige Stuhl des 25. Jahrestags der Weihe der ganzen Kirche der "Jungfrau Maria und ihrem unbefleckten Herzen" gedenkt und diese bereits 1964 bestätigte Weihe abermals bestätigt. Mit dem dritten Punkt erreicht die Enzyklika ihren Höhe- und Schlußpunkt. 9 Bezeichnend sind diese drei Konstatierungen deshalb, weil sie die Paradoxalität der Repräsentation der Gottesmutter in Raum und Zeit zum Ausdruck bringen und zugleich diese Paradoxalität selbst zu einem Repräsentationsprinzip machten, das durch die Weihe das Wesen der Kirche und der Katholizität konstitutiv bedingt. Nebenbei belegt diese Schrift die
Ich habe diesen Begriff in die Diskussion eingeführt, um eine Alternative zum v.a. theologisch besetzten Terminus "Mariologie" bzw. "mariologiseh" zu erläutern. Die Mariographie ist das Aufzeichnen bzw. Einschreiben der Jungfrau Maria und die systematische Beschäftigung mit diesem Aufzeichnen und Einschreiben. Die Systematik besteht selbstverständlich auch in einer Berücksichtigung der theologischen Mariologie, geht aber darüber hinaus, um ,säkulare' Systematiken wie etwa die Ritualforschung, die Semiotik, die Psychoanalyse, die Dekonstruktion, die Diskursanalyse, die Anthropologie, die Kunstanalyse u.a. einzubeziehen. Dazwischen lagen die Enzykliken Mense maio (30.4.1965) zum Thema des Maifeiertages und Christi matri (15.9.1966) über Friedensgebete. Der Gehalt des weitaus umfangreicheren Signum mag/U/m ist prinzipiellerer Art. In englischer Sprache lesbar in: http://listserv.american.edu/catholic/church/papal/paul.vi/signum. ase. Der eigentliche Anlaß der Enzyklika ist der 50. Jahrestag der Vision von Fatima.
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Beharrlichkeit der marianischen Lektüre dieser Passage bis in allerneueste Zeit. lO Zu den vielen medialen Umsetzungen des 12. Buchs der Apokalypse zählen die Visualisierungen entweder der gesamten Szene oder der einzelnen Akteure (v.a. der Apokalyptischen Frau und/ oder des Erzengels Michaelll ) im katholischen Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie sind so zahlreich, daß man von Massenproduktion unter den Bedingungen der technischen Reproduzierbarkeit - genauer gesagt, der liturgisch-rituell-technischen Reproduzierbarkeit - sprechen kann. Diese liturgisch-rituelle Reproduzierbarkeit wird den Kern meiner Argumentation zu den medialen Umsetzungen bilden, denn - so viel kann ich im Vorgriff formulieren - sie ist die Grundvoraussetzung fur die wes e n tl ich e Na c h t r ä g li c hk e i t der Prä sen z 12 der Go t t e sm u t t er. Diese Eigenschaft kann wiederum als Movens der (konfessionell bedingten) Verweisstrategien betrachtet werden, welche die medialen Umsetzungen in Anschlag gebracht haben. Diese wes e n tl ich e N ac h trägli chkei t in und als Übung und Aus übung 13 de s 10
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Vgl. auch die Fortführung dieser Lektüre zwanzig Jahre später in der zentralen Enzyklika von Johannes Paul H. vom 25.3.1987 Redemptoris Mater: "Dank [... ] besonderen Bandes, das die Mutter Christi mit der Kirche verbindet, erklärt sich besser das Geheinmis jener ,Frau', die von den ersten Kapiteln des Buches Genesis bis zur Apokalypse die Offenbarung des Heilsplanes
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holte Aussage, es handele sich bei Derridas Lektüre des Lacanschen "Purloined letter" -Seminars um ein gewaltiges Mißverständnis von Seiten Derridas. Zizek fuhrt aus 20 : "In diesem Sinne sollte man Lacans These, daß ,der Brief immer einen Bestimmungsort erreicht', begreifen: Weil er erst durch das Geschicktwerden selbst erzeugt wird." Dies, gekoppelt mit der Nachträglichkeit nonverbaler liturgischer Handlungen, bildet ein Gegenprogramm zu Derridas jüdisch-messianisch strukturierter Apokalypse. Zizeks naturgemäß in psychoanalytischer Terminologie formulierte Grundthese drückt dies deutlich aus: " ... daß ein traumatisches Element ,wirklich existiert oder nicht, hat nur wenig Bedeutung', wichtig ist allein, daß es sichtbare Effekte zeitigt, daß es eine Serie struktureller Effekte produziert (Verschiebungen, Wiederholungen, etc.) und deshalb den Punkt darstellt, der konstruiert werden muß, wenn wir den gegebenen ,Stand der Dinge' erklären wollen. "21 Mit diesem
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hervor, in dem die Certeausche Korrektur dringend notwendig ist. Bedeutender ftir mein Anliegen ist freilich Hoffs Charakterisierung Lacans, und zwar im Sinne der "Selbstauflösung der Subjekthermeneutik" sowie der "Entdeckung der Institution" (ebd., 264): "Das Subjekt soll sich zwar gerade von der Vorstellung verabschieden, daß es der Eigentümer seiner Sprache ist. Doch es muß sich zumindest zu eigen machen, daß es das nicht ist. Man versteht vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Lacanschen Metapsychologie ftir die ihr entsprechende Therapie. jene lehrt, daß das Unbewußte eine Sprache ist; diese leitet den Patienten an, zu bejahen, dqß das so ist. Lacans Hermeneutik ist damit paradigmatisch fur alle jene ,negativen' Philosophien und Theologien, die glauben machen, man könne ein bloßes Dqß bejahen, ohne zu wissen, was man damit affirmiert. Man kann darauf gehen, daß sich hinter der Rede von einem bloßen Daß stets eine Metatheorie verbirgt, die genau weiß, was mit diesem Dqß bejaht wird. Das Beispiel Lacans zeigt außerdem, warum die Festlegung eines derartigen Was stets mit einer normativen Vorentscheidung einhergeht: Sie bestimmt das Telos einer pädagogisch-therapeutischen Praxis." (Ebd., 268; Hervorhebung von jH.) Dies ist wiederum die Basis der ",negativen' Anthropologie" Lacans: "Wie der Name Gottes, in dem sich das Geheimnis der Kirche ausspricht, macht das ,es spricht' das Mysterium namhaft, um das sich die Gemeinschaft der Psychoanalytiker versammelt. Die Macht des ,Es' mag als unkontrollierbar erscheinen und dem Willen zum Wissen entzogen sein. Doch sie muß hinreichend deutlich erkennbar sein, um die Existenz einer therapeutischen Institution zu autorisieren, die auf die Diskursivierung dieses Geheimnisses spekuliert." (Ebd.; Hervorhebung von jH.) Hoff glaubt in einer Passage in Derridas Postkarte (II, 308) eine Kritik an dieser Position zu erkennen, die es erlaubt, "die psychoanalytische ,Bewegung' in ihren politischökonomischen Kontext einzuordnen". (Ebd., 269.) Ob dem so ist, ist fur mein Anliegen meines Erachtens nicht mehr erheblich. Hoffs Anliegen ist es, eine ethisch und theologisch motivierte Machtkritik in Anschlag zu bringen. Meines ist es, Repräsentationsstrategien theoretisch adäquat zu erfassen. Daher ist Hoffs generelle Theorie bm:r: Theoretisierung des "Platzhalters" (so der Titel des entsprechenden Kapitels) im Sinne der Aquivalenz zwischen dem kirchenamtlichen Umgang mit dem Namen Gottes und dem therapeutisch bedingten Positionieren der Geheimnisse des Es unter Berufung auf ein institutionell verbrieftes Wissen - gerade im Gegensatz zu Derrida, dem Hoff aufgrund seines soeben skizzierten Anliegens mehr Durchblick und ethische Überlegenheit bescheinigt - von großem Wert. Es wird übrigens wohl niemand behaupten wollen, daß die katholische Theologie des 17. jahrhunderts ftir Machtkritik sonderlich v empfinvdlich gewesen wäre. Slavoj Zizek: Liebe dein Symptom wie dich selbst, Berlin 1991, 85. Vgl. auch Zizeks Ausftihrungen zu Derridas Grenzen mit Blick auf Hegel in: ders., Denn sie wissen nicht, was sie tun - Genießen als ein politischer Faktor, Wien 1994. Folgendes Argument kann man exemplarisch anfuhren: "Das Subjekt ist auf den reinen Punkt [... ] reduzierte Substanz [... ]. [DJies ist der Schritt, den die Derridasche ,Dekonstruktion' scheinbar nicht vollziehen kann. Das heißt, Derrida variiert unablässig das Motiv, demzufolge die Selbstidentität unmöglich sei, wie sie immer konstitutiv, aufgeschoben, gespalten sei, wie die Bedingtheit ihrer Möglichkeit die Bedingung ihrer Unmöglichkeit sei [... ]. Die von Derrida durch die harte Arbeit dekonstruktiver Lektüre ans Licht gebrachte Unmöglichkeit, welche die Identität subvertieren soll, bildet geradezu die Definition der Identität." (Ebd., 48-49.) Zizek 1991,129.
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Ansatz will ich den methodologischen Ausgangspunkt der Medialisierung und Theatralisierung des Apokalyptischen umreißen, wie er sich in den hier behandelten Umsetzungen gestaltet, nämlich als liturgisch-rituell-architektonisch ausgerichtet, also affirmativ pragmatisiert. Um damit theoretisch fertig zu werden, wird die Figur des wesentlich Nachträglichen in Anschlag gebracht, insbesondere in der Form, die man von den Positionen Lacans und Zizeks ableiten kann. Wird wie bei Derrida die Figur des endlosen Aufschubs als Repräsentationsinstrumentarium gewählt, so erhält man eine endlose Kette von Nachträgen, wovon keiner der erste Schritt (pas) sein kann. ,,11 n'y a qu'un pas", allerdings muß "pas" im Sinne von "nicht" aufgefaßt werden, und zwar als Nicht-Urprung, der eine endlose, weil nicht logisch zu-Ende-denkbare Differenzialität erzeugt. Entscheidet man sich daftir, ,pas' als tatsächlichen Schritt zu denken, so werden Anfang und Ende nicht weniger paradoxal, aber sie werden in eine Repräsentationstechnik eingebettet, deren Funktionieren - wider jedwede Logik und als rhetorischer Akt - einfach (und wieder buchstäblich) vorausgesetzt wird. Diese Setzung der Autorität, welche die Grundlage von Lacans therapeutischem Ansatz darstellt22 - ob bewußt oder unbewußt, kann ich nicht feststellen - scheint Berührungspunkte mit der katholischen aufzuweisen. Der Kern in beiden Fällen ist das Setzen eines konkreten, wenn auch paradoxalen Endes. Damit kann man von zwei apokalyptischen Modellen, die von der poststrukturalistischen theoretischen Konfiguration zur Verftigung gestellt werden, ausgehen; und es stellt sich die Frage, auf welcher theoretischen Basis man das Apokalyptische betrachtet. Als übergeordnete Konstante, innerhalb derer alle hier in Betracht gezogenen Varianten definiert werden, möchte ich das Ende (der Zeit) hinstellen. Ich schlage folgendes Schema vor:
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Vgl. die konkreten Unlstände der Entstehung dieser Methode in Elisabeth Roudinescos LacanBiographie (Jacques ucan - Bericht iiber ein Leben, Geschichte eines Denksystems, Frankfurt a. M. 1999). Einschlägig fiir mein Anliegen ist die Beschreibung der äußerst kontroversen "Kurzsitzung" , welche laut Roudinesco die "Allmacht des Analytikers" unterstreicht. Aufgrund der Konflikte, in die er wegen dieser Methode geraten war, suchte er im Herbst 1953 u.a. die Unterstützung der katholischen Kirche und bemühte sich sogar (vergeblich) um eine private Audienz bei Papst Pius XII., nahm nach dem Scheitern des Vorhabens aber trotzdem an einer öffentlichen Audienz in Castel Gandolfo teil (Roudinesco, 312). Roudinesco unterstreicht unmißverständlich die Tatsache, daß es hier nicht um eine echte innerliche Annäherung an die katholische Spiritualität ging, sondern um ein politisches Taktieren. Die von Lacan empfundene Analogie seiner Methode zum Katholizismus ist unabhängig davon ein wichtiger Befund.
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Das Ende der Zeit pas I (,nicht') (Derrida, Benjamin) ~
- differenziell - unmöglich -logisch - vom Ursprung her gedacht
~
pas II (Schritt) (Lacan, Zizek)
------ medial - technisch - rhetorisch - vom Ende her gedacht
Man kann innerhalb dieses Paradigmas zwei grundsätzliche Möglichkeiten entwerfen, die man verkürzt als das strukturelle Nicht-Eintreten-Können und das Eintreten-Können oder besser gesagt Eintreten-Müssen der Apokalypse formulieren könnte. Ich sage verkürzt, da die Apokalypse als Ende der Zeit per definitionem in der Zeit nicht eintreten kann - es sei denn, sie tritt buchstäblich im Modus pas II (also gewissermaßen mit mindestens einem Fuß in der Zeitlosigkeit) ein. Das Nicht-Eintreten-Können (also pas 1) kann man als skeptische oder auch jüdisch-messianische Version der Apokalypse bezeichnen, die mit Benjamin (v.a. in der Schrift zur Kritik der Gewalt 23 ) und Derrida assoziiert und mit den Begriffen differentiell, unmöglich und metasignifikativ zu versehen wäre. Die andere Möglichkeit (pas 11) kann man als die ,technische' bezeichnen. An sich handelt es sich hier, insofern man von der katholisch-liturgischen Art und Weise, mit dem Apokalyptischen zu arbeiten, spricht, um mehr als eine Möglichkeit. Denn dies ist die liturgisch-rituelle Technik selbst. Der liturgische Nachvollzug der heiligen Handlung ist der absolut zentrale Vorgang nicht nur rur die religiösen Werke, die ich hier anspreche, sondern auch rur das Apokalyptische, wie ich es insgesamt beschreibe. Bei einem solchen Nachvollzug, zumal im katholischen Zusammenhang, fragt man nicht nach dem Sinn, sondern nach der technischen Operationsweise der ausund vorgestellten apokalyptischen Repräsentationen, was sich auch auf den Text der Apokalypse des Johannes bezieht. Diese Gegebenheiten (und erst recht eine solche Betrachtungsweise der apokalyptischen Konfiguration) sind mit einem messianisch ausgerichteten skeptischen Aufschub der Apokalypse letztlich nicht vereinbar.
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Hier geht es mir um die Differenz zwischen der irdischen, verwaltenden und der göttlichen, waltenden Gewalt, wobei letztere apokalyptisch-messianisch in unendlicher zeitlicher Ferne gesetzt wird.
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Das Kanonische als Schlüsselvorstellung der Apokalyptik: Mariologische und mariographische }Wackelkontakte ( in und mit der Schriftexegese Dans la meme tradition spiritualiste quelques commentateurs introduisent une precision importante: la femnie d' Ap. 12 est bien l'eglise, mais elle est aussi la Vierge Marie qui en est la figure ou le type. 24
Ich komme nun zum eigentlichen Material der Studie zurück, und zwar im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Problem des Kanons. Bisher war von einem extrem nicht-kanonischen Werk die Rede. Dieser Anfang ist aber, wie bereits erläutert, aus der Sicht der rituellen Apokalyptik durchaus adäquat. Denn "Kanon" ist auf zunächst unscheinbare Weise eine Schlüsselvorstellung der Apokalyptik in der hier ausgefiihrten Auffassung, und zwar aus folgenden Gründen: Die Nicht-Zugehörigkeit der Wandmalereien in München/ Haidhausen zum Kunst-Kanon, d.h. zum Kanon der Kunstgeschichte, wird nicht nur - wie soeben ausgeftihrt - durch ihre Teilhabe an einer gerade auf der buchstäblichen Tri-via-lität der rituellen Wiederholung fußenden liturgischen Kanonizität 25 aufgefangen, sondern auch durch die Kanonizität der illustrierten Quellentexte. Der Kunst-Kanon wirft wiederum die Frage nach jener Grenze auf, welche von Belting stark historisierend als die Epochenschwelle zwischen dem Zeitalter des ,Kultes' und dem Zeitalter der ,Kunst' beschrieben wird, aber unter Ausklammerung dieser Historizität als systematische Differenz zwischen zwei Quellen der Kanonizität aufgefaßt werden kann. Die aufgeworfene Frage lautet wie folgt: Inwieweit und ab wann ist der Kunst-Kanon ein Säkularisat?26 Wird das Problem des Kanons als eines der Zentralität eines Werkes für ein bestimmtes Kulturgebiet gesehen, so kann man einen Vergleich zu jener buchstäblich-räumlichen, d.h. topographischen Plazierung der Repräsentation ziehen, welche die später zu besprechenden, jeweils im Mittelpunkt einer politischen und religiösen Anordnung stehenden kanonischen Darstellungen kennzeichnen. 24
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Pierre Prigent: Apocalypse 12: histoire de l'exegese, Tübingen 1959. Es handelt sich dabei um das Standardwerk zur Geschichte der Exegese von Apk. 12. Für eine ausführliche Erläuterung der Deutung der Apokalyptischen Frau als die Kirche und Maria zugleich vgl. Altfrid Kassing: Die Kirche und Maria, München 1959. Ein ausführliches Nachzeichnen der Entwicklung der Mariologie insgesamt findet sich bei W. Delius: Geschichte der Marienverehrung, München und Basel 1963. Vgl. dazu Hubert Cancik: Kanon, Ritus, Ritual- Religionsgeschichtliche Anmerkungen zu einem literaturwissenschqftlichen Diskurs, in: Kanon und Theorie, hg. von Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 1997,1-20. Dieselbe Frage kann an die Kunst-Theorie gestellt werden. Zur engen Verknüpfung von Kanon und Theorie vgl. Maria Moog-Grünewalds Einftihrung in Kanon und Theorie, ebd., vii-viii.
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Die Entscheidung, mit Trivialem zu beginnen und auf dieser Basis das Nicht-Triviale zu kommentieren, kann man auch als Bestandteil einer ,apokalypsenfOrmigen' Strategie betrachten, welche das Ende (das Letzte) - auch im Sinne des auf der Kunstskala ,Untenstehenden' - im konkreten Objektbereich an den Anfang setzt und in den obersten Rang holt. Das apokalyptische Prinzip des Endes im Anfang soll auch diese Bedeutung haben, denn sie steht im Einklang mit dem Primat der Wiederholung. Das bisher Gesagte kann auch ~uf die kanonischen apokalyptischen Quellen in der Heiligen Schrift und ihren Stellenwert angewandt werden. Das Kanonische ist nämlich auch in bezug auf die marianische Präsenz in der Heiligen Schrift aus der Perspektive hermeneutisch-philologischer Betrachtungsweisen problematisch, was allerdings eher den Status und die Adäquatheit hermeneutisch-philologischer Bibellektüre als die marianische Präsenz in der Heiligen Schrift und die daraus hervorgehenden mariographischen Strategien in Frage stellt. Einige Bibelwissenschaftler werden möglicherweise der Meinung sein, ich hätte bestimmte Schritte zwischen der Stelle in der Schrift und der spätbarocken Literarisierung ausgelassen. Einige Schritte zwischen den beiden Schriften will ich auch nachholen, allerdings nicht unbedingt diejenigen, die eine Bibelwissenschaft oder gar eine historische Ikonographik vermissen würde. Es ist aber nicht als grundsätzliche Kritik gemeint, sondern als Ergebnis eines ganz anderen Forschungsanliegens (nämlich eines von der Figur der Apokalypse ausgehenden) zu sehen, wenn ich den radikalen Ausschluß der marianischen Lektüre seitens der modernen Bibelphilologie ebenso gnadenlos ausklammere. Ich verweise hier auf eine exemplarische Stelle aus dem ausdrücklich ökumenisch ausgerichteten Kommentar Ulrich Müllers 27 : Wer ist nun die Frau? Bei der Beantwortung dieser Frage wird man sich zunächst darauf konzentrieren, den Sinn der Gestalt im jetzigen Zusammenhang zu bestimmen. [ ... ] In der Forschungsgeschichte tauchen verschiedene Interpretationen auf, wie die Frau des Visionsberichts zu verstehen ist. a) Die mariologische Deutung, die in der katholischen Exegese beherrschend war (z.B. Kosnetter), geht von der einfachen Feststellung aus, daß die Geburt des Kindes in 12,5 die irdische GeburtJesu meine und deshalb die Frau Maria sein müsse. Die Schwierigkeiten dieses Verständnisses beginnen bei dem Zweifel, ob denn die Frau der Vision wirklich eine Einzelperson darstellt, und enden mit dem Einwand, daß nach 12,17 die Frau noch andere Kinder hat, und zwar die Christusgläubigen überhaupt (Wilkenhauser, Gollinger, Lohse). Hilft man sich damit, die Frau zugleich auf Maria und die Kirche zu beziehen (z.B. Kassing), stellt sich die berechtigte Frage, ob man die Frau nicht besser gleich auf die Kirche deuten sollte, wenn manche Ein-
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Ulrich Müller: Die OIfenbarul1g desJohal1l1es, Gütersloh 1984, 229 (meine Hervorhebung).
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Holt Meyer zelheiten auf Maria nicht passen (z.B. die Bewahrung in der Wüste) und nur auf Umwegen eine Erklärung finden (Michl).
Ich unterstreiche die Worte "war", "einfach" und "enden". Hier wird eine Endgültigkeit suggeriert, welche philologisch nachvollziehbar .ist, aber bei einer Berücksichtigung der apokalyptischen Gesamtkonfiguration eventuell zu relativieren wäre 28 . Ein konkretes Detail mag dies illustrieren: die aufgrund der Einzelheiten, die "aufMaria nicht passen" formulierte "berechtigte Frage, ob man die Frau nicht besser gleich auf die Kirche deuten sollte", darf zwar gestellt werden. Die unübersehbare Bedeutung der sich - gerade mit Blick auf die konstitutive Bedeutung von Ritual und Liturgie - gegenseitig ergänzenden Deutungen auf Kirche und Maria würde durch ein solches Verfahren ausgeblendet. Damit wird die höchst bedeutsame Möglichkeit des Wörtlichnehmens der Frau als Frau kampflos preisgegeben. Die Frage ist also ebenso berechtigt, ob diese Verarmung der nicht nur historisch signifikanten Bedeutungsspanne der Stelle einfach in Kauf genommen werden soll. Dies ist nicht der Ort, die gesamte Tradition der Apokalyptische-FrauExegese aufzurollen. Hier gilt es, bestimmte Tendenzen der bisherigen Lesarten zu unterstreichen. Würde ich eine ausfiihrliche Lektüre der Lektüren durchfuhren - und ich behaupte mit aller Entschiedenheit, daß eine relecture sub specie apocalypsis ein Desiderat ist -, so würde ich beim Augustinus-Schüler Quodvultdeus (t453) einsetzen29 , über Cassiodorus und Albert den Großen zu Bonaventura fortschreiten. Bonaventuras exegetische Position ist aus zwei Gründen fiir mein Anliegen von Bedeutung, nämlich erstens aufgrund der Tatsache, daß Bonaventura als erster seinen ganzen Kommentar der Apokalypse auf die Endzeit hin richtet, und zweitens deshalb, weil Bonaventura in der Apokalyptischen Frau nach dem sensus mysticus die Kirche und nach dem sensus litteralis die Jungfrau Maria sieht30 . Das erste Moment ist nicht nur inhaltlich, sondern historisch wichtig, denn es wird in der von den Jesuiten formulierten mariologischen und mariographischen Antwort auf die lutherische zeitgeschichtlich-allegorische Deutung, die den Papst mit dem Antichrist gleichsetzt, wieder aufgegriffen. Den Schluß des Berichtes würde dann die mit den marianischen anderthalb Jahrhunderten zwischen 1815 und 1965 zusammenhängende mariologische Ausrichtung der Exegese bilden31 . 28
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Dieselbe Relativierung gilt für mythologische Deutungen wie z.B. die in Peter Busch: Der g~fallene Drache - M}'thenexegese am Beispiel von Apokalypse 12, Tübingen 1996, die alles Transrationale in den mythologischen Bereich verschiebt und damit implizit der Legitimität entzieht. Als Urheber der "ersten marianischen Exegese des zwölften Kapitels der geheimen Offenbarung" wird Quodvultdeus beispielsweise in Hilda Graefs autoritativer Darstellung der Marienverehrung (Maria - Eine Geschichte der Lehre Imd Verehnmg, Freiburg u.a. 1964, 123) identifiziert. Vgl. Prigent [Anm. 24], 33. Ohne der neueren Mariologie eine ausschließlich politische Motivation zugrunde legen zu wollen, muß man anmerken, daß die Marienverehrung in der Zeitspanne zwischen der postnapoleonischen Restauration (d.h. der im September 1815 gegründeten Heiligen Allianz, der die
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Eine Nuance dieser Deutung soll im Zusammenhang mit meinem Anliegen unterstrichen werden, und zwar exakt jene Nuance, die im Motto dieses Abschnitts angesprochen wird. Die marianische und mariographische Umsetzung von Apk. 12 ist von Anfang an ein Korrelat zur Deutung der Apokalyptischen Frau als der Kirche, und zwar dergestalt, daß die Gottesmutter als "Typus der Kirche" figuriert. Diese Nuance ist deshalb wichtig, weil die Gottesmutter damit als Allegorie (cl.h. als Konkretisierung und als sakraler Leib) der Kirche erscheint, was sie in eine besondere B~ziehung zum kirchlichen Ritual setzt. Denn jenes kirchliche Ritual, das den Text der Apokalypse des J ohannes marianisch, mariologisch und mariographisch einsetzt, hat eine fast identische verweistechnische Funktion. Die Gottesmutter als "Typus" tritt weniger als (mit AT -Figuren vergleichbare) bloße Präfiguration der Kirche denn als deren Quintessenz auf, als deren affirmative und nicht - wie die Figuren aus dem AT - als umgekehrt-metaphorisch zu ersetzende ,uneigentliche' Gestalt, die durch die ,eigentlichen' neutestamentarischen heiligen Figuren als "Antitypen" zu ersetzen sind. Es kristallisiert sich heraus - und dies ist der Hintersinn der ikonographischen Verknüpfung der Apokalyptischen Frau mit der Gottesmutter -, daß die Jungfrau Maria das ewige Eigentliche ist, das in den kirchlich-liturgischen Ritualen vergegenwärtigt wird; diese sind insofern ,uneigentlich', als sie sich in der Zeitlichkeit wiederholen, können aber fur sich genommen nicht ,uneigentlich' genannt werden. Somit ist die sich in der sakralen Kunst und im Kult wiederholende apokalyptische Attributik der Gottesmutter - d.h. das Ensemble der Gegenstände und Sachverhalte, mit denen die sakrale Institution der Gottesmutter zu Leibe rückt - ein pragmatisches Bindeglied zwischen der sakralen Handlung und dem angesteuerten sakralen Typus. Eine kritisch-philologische ,Widerlegung' tangiert nicht im geringsten eine derartige marianische Lektüre der Apokalyptischen Frau. Genausowenig die an sich bemerkenswerte Tatsache, daß mit der Apokalypse und dem Canticum canticorum ausgerechnet dasjenige Buch jeweils des NT und des AT zu den mit Abstand wichtigsten Quellen der Mariographie werden, die den problematischsten Status im jeweiligen Kanon haben. Insgesamt möchte ich hier die rhetorische Frage stellen, ob die heute übliche exegetische Vorgehensweise die Schrift der Apokalypse wirklich als eine apokalyptische Schrift behandelt, womit die noch rhetorischere Frage nach Wiedereinsetzung der jesuitenordens 1814 vorausging) und dem Abschluß des 2. Vatikanischen Konzils im Dezember 1965 tendenziell mit konservativen - d.h. ,anti-modernistischen' - weltanschaulichen (vgl. den 1910 vom Papst Pius X. verfaßten ,Antimodernisteneid') und kirchlichen (vgl. die auf dem ersten Vatikanischen Konzil 1869-1870 verkündete Unfehlbarkeitslehre und die ihr um 15 jahre vorangehende, mit ihr eng verknüpfte Lehre von der jungfräulichen Geburt Marias) Ansichten verknüpft war. Die Marienverehrung dieser Zeit ausschließlich auf weltliche und Kirchenpolitik zurückzuführen, wäre aber zu stark vereinfacht. Die ausführliche historische und theologische Argumentation, die erforderlich wäre, um dies zu belegen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
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der Vereinbarkeit von (hermeneutisch ausgerichteter Bibel-)Wissenschaft und Apokalyptik im Raum wäre. Damit komme ich auf die bereits im Vorgriff formulierte Bestimmung des Apokalyptischen im Sinne eines wesentlichen pragmatisch-rituellen Nachvollzugs zurück, denn er scheint in der Tat mit gewöhnlichen wissenschaftlichen Vorstellungen der Kausalität und der Quellenkritik unvereinbar zu sein. Der Widerspruch zu literaturwissenschaftlichen Konzepten fällt allerdings weniger dramatisch aus. Denn eine pragmatisch-kontextbezogene Lektüre eines Textes muß zwar nicht als solche legitimiert werden. Wenn aber eine große Menge von Texten und medialen Umsetzungen diesem Ursprungs text aufgeschichtet werden, so können sie weder vom Literatur-, noch vom Kunst-, noch vom Religionswissenschaftler und schon gar nicht vom Theologen ignoriert werden. Die Geschichte der christlichen Apokalyptik hat im Rahmen einer solchen Aufschichtung stattgefunden. Die Freilegung des ,nackten' Ursprungstextes ist daher keine fiir apokalyptische Zwecke adäquate Lektürestrategie. Adäquat ist einzig und allein die Arbeit mit dem Ursprungstext als Palimpsest. Der an Apokalyptik interessierte Literatur- und Religionsforscher darf und muß daher die Schrift der Apokalypse anders befragen, als die wissenschaftlich-akademische Bibelexegese dies tut. Ich darf mariographische Umsetzungen, Übersetzungen und Textstrategien nicht als ,unzutreffend' und ,überholt' ausklammern, wenn es mir um Kunstwerke, Schriften und Positionen geht, die von der Mariographie als selbstverständlichem Umgang mit Apk. 12,lff. ausgehen. Der Verlust oder zumindest die Abschwächung dieser Selbstverständlichkeit in späteren Epochen kann zur Kenntnis genommen, aber auf keinen Fall zum Maßstab der Analyse erhoben werden ..Denn die mariologische und mariographische Umsetzung der Worte der Apokalypse im 17. Jahrhundert - abgesehen von der systematisch-methodologischen Betrachtungsweise, um die es im weiteren gehen wird - muß man historisch ,von hinten', nicht ,von vorne' kommend betrachten. Die durch eine (im oberdeutschen Raum bis in die heutigen Stadtszenerien vorhandene) spätestens seit dem 15. Jahrhundert geradezu allgegenwärtige Apokalyptische FrauIkonographie bis ins absolut Unhinterfragbare bestärkte Assoziation mit der Gottesmutter, deren Effekte man etwa bei Albrecht Dürer in zahlreichen Zeichnungen, Druckgraphiken und Gemälden auffinden kann, stützt sich auf exegetische Autoritäten, die kein Mensch vor der Reformation und kein Nicht-Protestant (,Katholik'), aber auch kaum ein Anhänger der lutherischen Reform in den ersten beidenjahrhunderten danach in seinen wildesten Träumen in Frage gestellt hätten. 32 Die Jesuiten33 als große Meister und Kenner 32
VgL beispielsweise Reintraud Schimmelpfennigs Artikel: "Luther und Lutherische Marienverehrung", in: Marienlexikon 4, hg. von Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk, St. Ottilien 1992,
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der Topik34 konnten nicht umhin, sich dieses unstrittig patristisch verbürgten und rituell-liturgisch vielfach kanonisierten Materials zu bedienen.
Du ridicule au sublime? Nun wird der bereits im Exkurs zur Exegese angedeutete Sprung ins 17. Jahrhundert zurück vollzogen, d.h. in die Zeit, in der die bereits 1200 Jahre alte mariographische Lektüre von Apk. 12 und die sich seit 200 Jahren immer mehr potenzierende und verbreitende ikonographische (d.h. mariographi-
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190-191 bzw. 191-194. Hier wird u.a. folgendes festgestellt: "Die lutherischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts halten trotz sonstiger gegensätzlicher Lehrauffassungen unter Hinweis auf die Entscheidungen der alten Kirche fest an der Gottesmutterschaft Marias und an ihrer dauernden Jungfräulichkeit. Maria wird als »Theotokos« bezeichnet, als »sacra Dei genetrix« (F. Lambertus Aven., In Divi Lucae Evang. Commentarii, 43 a), »sancta virgo« und »Deipara« (Hollatz, Examen Theologicum [dies eine Quelle aus dem Jahre 1763! - H.M.], 669). Die Verurteilung des Nestorius wird allgemein gebilligt. Wie bei Luther wird aus dem Glauben an die Inkarnation des Gottessohnes der Glaube an die immerwährende Jungfrauschaft Marias abgeleitet." (Ebd., 191.) Zur hier anstehenden konkreten Frage führt Schimmelpfennig aus: "Nach dem ref. Grundsatz »sola scriptura« bleibt auch die Lehre von der Aufuahme Marias in den Himmel an der Peripherie. Die Argumentation lautet gewöhnlich: da in der Schrift nichts berichtet wird über die Art, wie der Herr Maria zu sich genommen hat, so ziemt es uns auch nicht, danach zu fragen. Doch gibt es auch hier einige positive Stimmen: Brenz und Herberger schließen wiederum aus der Schrift, daß, wie Enoch und Elia in den Himmel gefahren sind, das auch und weit mehr an der Gottesmutter geschehen konnte." (Ebd.) Eine entscheidende Wendung in der lutherischen Marienverehrung - also die Entwicklung zur heutigen Situation hin, die keineswegs auf die hier behandelte Zeit (d.h. das 17. Jahrhundert) zurückprojiziert werden darf-kommt erst in der Aufklärung, d.h. "nachdem Christus nicht mehr als der menschgewordene Gottessohn geglaubt wird, sondern man in ihm nur einen Lehrer oder Religionsstifter sieht" (ebd., 192). Zur allgemeinen Wichtigkeit der Jesuiten in der hier besprochenen historischen, religiösen und rhetorischen Konstellation vgl. den Abschnitt über "Die über Jahrhunderte hindurch zu verfolgenden frömmigkeitsgeschichtlichen engen Beziehungen der Societas Jesu zum Münchner Hof', in Gerhard P. Woeckel: Pietas Bavarica - Wallfahrt, Prozession und Ex-voto-Gabe im Hause Wittelsbach in Ettal, Wessobnmn, Altötting und der Landeshauptstadt Miinchen von der Gegenrt;formation bis zur Säkularisation und der "Renovatio Ecclesiae", Weissenhorn 1992, 45. Auch wenn Roland Barthes sicherlich in der Feststellung recht hat, es ginge Ignatius in den Exerzitien um die "Erfindung einer Sprache" bzw. darum, "die Ausübung einer Sprache vor[zu]bereiten" (Sade Fourrier Loyola, Frankfurt a. M. 1986, 59), und den Einsatz einer assoziativen "freien Topik" (ebd., 70) geltend macht, ist ebenso deutlich, daß Ignatius topische ,Bilder' benutzt und V.a. durch Wiederholung ("ein entscheidendes Element in der Pädagogik der Exerzitien" - ebd., 71) eine Topizität gewissermaßen produziert, die sich in den ersten Jahrzehnten der Existenz der "Societas Iesu" festigt. Eine einschlägige Quelle rur die Zentralität der Topik [ur die Jesuiten gerade im 17. und im frühen 18. Jahrhundert ist Andre Collinots und Francine Mazieres Auseinandersetzung mit Rhetorik-Lehrmaterialien und -programmen aus französischen Jesuitenkollegs (vgl. Andre Collinot und Francine Mazieres: L'exercice de la parole - Fragments d'rme rhetorique .jesuite, Paris 1987). Hier nimmt der Candidatus rhetoricae von Joseph Jouvency (1710) als Fazit der gesamten Entwicklung eine herausragende Stellung ein. Insbesondere in Verbindung mit der ampllficatio (ebd., 87-147), die in Jouvencys Candidatus nach inventio, dispositio und elocutio eine besondere Abteilung der Rhetorik ("une quatrieme partie distincte", ebd., 87) und damit den krönenden Abschluß der Schaffung der Rede bildete, kommt die natürlich schon in der inventio behandelte Topik zum Tragen. Die ampltficatio ist ihr "zweiter Ort", und zwar in der Funktion des "Ausmalens" des Sachverhaltes "in den lebendigsten Farben" ("La deuxieme pI ace du lieu commun dans le discours est dans l'amplification, quand, apres le recit et l'exposition du sujet, l'orateur s'emporte contre le crime, et le peint des plus vives couleurs"). Collinot und Maziere betonen zu Recht die Zentralität dieses Nexus zwischen "Heux communs" und amplißcatio in der jesuitischen Rhetorik und leiten ihn direkt von den "inspirateurs" (ebd., 88) der jesuitischen Rhetorik, Cicero und Quintilian, aber auch von der Arbeit mit Bildern in Ignatius' Exercitia ab. Ohne die volle Tragweite dieser Verbindung beschreiben zu können, möchte ich unterstreichen, daß die ikonographisch-topische Figur der Apokalyptischen Frau als Paradebeispieljesuitischer konfessioneller ampltficatio-Strategien gesehen werden kann.
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sche) Tradition noch einmal gewaltigen Auftrieb erhielt. Es wird um zwei etwas ältere und kunstgeschichtlich kanonische visualisierende Umsetzungen und eine schriftliche Entfaltung aller erdenklichen Marienattribute gehen, auch all derjenigen, die von der Apokalyptischen Frau ausgehen. Die Beziehungen zwischen diesen drei Umsetzungen stehen in meinen weiteren Überlegungen im Mittelpunkt. Es handelt sich hier insofern um einen Schritt vom Lächerlichen zum Erhabenen (man könnte unter Umkehrung des Napoleonischen Spruches sagen: "du ridicule au sublime"35), als die Trivialität beiseite gelassen wird und die ,Spitzenleistungen' des europäischen Barock ins Blickfeld geraten. Die Zusammenftihrung eines bayerisch ,gesponsorten ' Meisterwerkes der flämischen Malerei, einer ,rein' bayerischen Mariensäule und einer überbordenden polnischen Barockschrift soll u.a. suggerieren, daß es sich bei allen dreien um Exempla einer relativ einheitlichen gegenreformatorischen mitteleuropäischen Strategie handelt, der die Grundtendenz der hier thematisierten rituellen Praktiken gleichermaßen zugeschrieben wird.
Zwei kanonisch-bayrische Visualisierungen Bei der ersten visuellen Umsetzung handelt es sich um ein Gemälde von Peter Paul Rubens mit dem Titel Die Apokalyptische Frau (Abb. 3). Das Ölgemälde war fiir den Hochaltar des Mariendoms zu Freising bestimmt, der im Zuge der totalen Neugestaltung des Innenraums der Kirche zwischen 1621 und 1630 entstanden ist (vgl. das Gemälde im Kontext des gesamten Altars, Abb. 4).36 Vermittelt wurde der Auftrag an Rubens im Jahre 1623 durch den Münchner Jesuiten Jakob Keller37 . Das Anliegen der Auftraggeber war die Anfertigung eines Bildes, dessen Figur "sich auf alle Marienfeste anwenden
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Vgl. dazu Anm. 3. Vgl. dazu Leo Weber SDB: Die Erneuerung des Domes zu Freising 1621-1630 - mit Untersuchungen
der Goldenen-Schnitt-Konstntktionen Hans Krumppers und zum Hochaltarbild des Peter Paul Rubens, 37
München 1985. Zu Jacob Keller (1568-1631) berichtet das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon (http://www.bautz.de/bbkl/): "K. wurde 1588 Mitglied des Jesuitenordens. Nach seiner Priesterweihe lehrte er Philosophie und Theologie an verschiedenen Orten. 1606 wurde er Rektor in Regensburg und 1607 in München, wo er ein einflußreicher Berater des Kurfürsten Maximilian 1. wurde. Als Kontroverstheologe machte sich K. einen Namen."
Abb. 3: Peter Paul Rubens, Die Apokalyptische Frau (1623)
Abb. 4: Altar des Mariendoms zu Freising
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ließe "38. Die Auftraggeber waren also offensichtlich der Meinung, daß gerade eine mariologische bzw. mariographische Umsetzung von Apk. 12 für diesen Zweck am geeignetsten war. 39 Ich halte zwei Eigenschaften der gegebenen Konstellation fest. Erstens war das Gemälde als ein integraler Bestandteil eines für liturgisch-rituelle Praktiken bestimmten Ensembles gedacht, das den Mittelpunkt der Meßfeier bilden sollte. Man bedenke hier die Tatsache, daß die am zentralen Altar in der zentralen Kirche des Bistums Freising (als des höchstrangigen bayerischen Bistums) gehaltenen Messen, die gerade im katholischen Verständnis als Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu Christi aufgefaßt werden, ausgerechnet vor diesem Bild stattfinden sollten. Die im Mittelpunkt des Gotteshauses befindliche ,Opferstätte' , die das kirchlich-institutionelle ground zero 40 sakraler Praktiken in Bayern und damit im führenden Land der "katholischen Liga" bildet, stellt eine essentielle Verbindung zwischen der Vergegenwärtigung Christi im Rahmen der Eucharistie und marianischen Vergegenwärtigungsstrategien her, die gerade im gegenreformatorischen 17. Jahrhundert virulent waren. Zweitens: Das essentiell Marianische ist in diesem Zusammenhang apokalyptisch aufzufassen; hier ist das essentiell Apokalyptische ebenfalls marianischer Provenienz. Narrativ gesehen schildert das Gemälde gleichzeitig die Entrückung des Kindes aus Apk. 12,5 und den Kampf der Engel gegen den Drachen aus 12,7. Das Gemälde ist nachweislich beeinflußt durch Tintorettos gleichnamige Darstellung und Albrecht Dürers Holzschnitte mit dem Titel Apocalypsis cum jiguris. (Abb. 5) 38
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Ebd., 81-82. Vgl. dazu auch Konrad Renger: Peter Paul Ruhens: Altäre für Ba)'er~, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Studio-Ausstellung, München, Alte Pinakothek, 9. November 199013. Januar 1991, München 1990, 68f[ Renger äußert sich vorsichtiger, aber in dieselbe Richtung: "Es wäre denkbar, daß die Jesuiten, denen die Marienverehrung ein besonderes Anliegen war, und der erwähnte Münchner Rektor Keller hier Einfluß hatte. Möglicherweise wollte man in Freising mit dem Marienthema auch einen zeitbezogenen, speziell mit der bayerischen Politik verbundenen Gedanken ausdrücken." (Ebd., 71.) Die - in meinen Arbeiten lange vor dem 11.9.2001 gepflegte - Verwendung des Begriffs grat/nd zero hat prinzipielle Bedeutung, ist aber auch bewußt als vieldeutiges Wort zu lesen. Es handelt sich bei den beiden kanonischen bayerischen Visualisierungen der Apokalyptischen Frau um zwei ,absolute 'Zentren' des bayerischen politisch-religiösen Territoriums, nämlich um den Freisinger Dom und um den späteren Marienplatz. Diese Bestimmung trifft sich mit der Position der Gottesmutter in der Heilsgeschichte, denn sie ist der letztendliche Ausgangpunkt der irdischen Ereignisse, welche die Erlösung bewirken. Durch diese Tatsache hängt die Jungfrau Maria auch mit einer ,strukturellen' Positionierung als grmmd zero zusammen, welche das Verfahren der ,Vertikalisierung' bedingt und informiert. Denn mit diesem Punkt im ,Syntagma des Weltlaufs' wird nicht nur der Umschlag von den ,Minus zahlen , in die ,Pluszahlen' der Zeitrechnung eingeleitet (das zeitliche gral/nd zero), sondern auch und vor allem jener Punkt erreicht, an dem die zeitliche Sequenzialität in eine gewöhnlicherweise (z.B. in der Barockmalerei) auf der vertikalen Achse visualisierte Relativierung der Zeitlichkeit umkippt. Diese Kippbewegung bedingt auf konstitutive Weise das Apokalyptische, ja ist mit ihr in gewisser Weise gleichzusetzen. Jedenfalls scheint der nach unten stoßende und nach vorne schreitende Fuß, d.h. der ambivalente pas der
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Abb. 5: Albrecht Dürer, Apokalypsis cum}igul'is (1498)
Die Apokalyptische Frau hat - ähnlich wie Dürers Illustration zu Apk. 12,lff - Flüge141 , ist aber ikonographisch durch die Farbgebung der Kleidung und pragmatisch durch die Bestimmung fur den Freisinger Mariendom eindeutig mit der Gottesmutter zu identifizieren. Die ausgeprägte Dynamik der Repräsentation rührt, ähnlich wie in Tintorettos Gemälde (Abb. 6), von der Aufwärtsbewegung der Apokalyptischen Frau / Gottesmutter mit Kind samt Engel rechts und der Abwärtsbewegung des vom Hl. Michael samt Entourage nach unten gedrängten Antichrist samt Kohorten her. Die Engel rechts reichen Mutter und Kind die Attribute des Siegs, in deren Mittelpunkt der Lorbeerkranz zu sehen ist. Diese Dynamik hat allerdings einen Gegenpol in der ruhigen Freisinger Landschaft im unteren Bereich bzw. im Hintergrund des Bildes (Abb. 7); in dieser Landschaft wird der Domberg mit dem Doppelturm
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marianisch in Szene gesetzten apokalyptischen Frau das gro/md zero im ,strukturalen' Sinne zu visualisieren. Dürer wurde bei der Erteilung des Auftrags als Vorbild ausdrücklich genannt. Renger beschreibt das Verhältnis zum Bild so: "Mit dieser bewegten Formulierung hat Rubens einen Höhepunkt in der langen Tradition von Apokalypsedarstellungen erreicht und einen für lange Zeit gültigen Maßstab gesetzt. Um so erstaunlicher, daß ihm zu Beginn seiner Beschäftigung mit dem Thema mit Dürers Holzschnitt ein der späteren Ausführung gar nicht entsprechendes Vorbild vor Augen stand, wie wir aus dem Brief Kellers an Veit Adam erfuhren. Die Berufung aufDürer ist um so bemerkenswerter, als eine formale Abhängigkeit fehlt. Bei Dfuer steht in einem Blatt die apokalyptische Frau, ausgestattet mit Sternenkrone und Sonnenmandorla, auf der Mondsichel neben dem Drachen, den Michael auf dem folgenden Blatt in die Tiefe stößt. Für Rubens, der beide Themen in einem Bild zusammenfaßt, dürfte eher Tintorettos Dresdner Gemälde Vorbild gewesen sein, das er wahrscheinlich in Venedig gesehen hatte. Es war ihm jedenfalls gut bekannt, eine Zeichnung danach wurde - wenn nicht von ihm selbst angefertigt - zumindest von ihm retuschiert." (Ebd., 73-74.)
Abb. 6: Jacopo Tintoretto, Der heilige Michael kämpft mit dem Drachen (um 1592)
Abb. 7: Detail des Freisinger Doms
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des Mariendoms, also dem Standort des Bildes, in der unteren linken Ecke des Bildes unverkennbar abgebildet. Dadurch wird die pragmatische Verortung des Bildes doppelt markiert. Die Apokalyptische Frau/ Gottesmutter ist ikonographisch orthodox durch eine flammende Oreole als "amicta sole" markiert. Ihr Kopf ist mit Sternen umgeben: die sechs sichtbaren Sterne deuten die im Text der Apokalypse vorgeschriebenen zwölf an. Das Attribut des "luna sub pedibus" wird durch die (ebenfalls orthodoxe) Kontamination durch Gen. 3,15 ("ipsa conteret caput tuum ... "), also mit einer ,zwischengeschalteten' Schlange abgebildet, die hinter dem Kopf unter dem handähnlichen Fuß 42 der Apokalyptischen Frau / Gottesmutter zerdrückt wird und sich in Todesqualen windet. Dieses Element wiederholt sich unmittelbar darunter in einer Schlange, die sich in der Hand eines nach unten gedrängt werdenden teuflischen Wesens befindet. Der Fuß befindet sich, wie Leo Weber gezeigt hat (vgl. Abb. 8), exakt an der Stelle des vertikalen ,goldenen Schnittes' des Gesamtbildes und damit im Mittelpunkt der Aufinerksamkeit des Betrachters. Es besteht außerdem eine kompositionelle Parallele zum Fuß des sich an der Apokalyptischen Frau/Gottesmutter abstützenden Gesus)Kindes. Die ikonographisch gewöhnliche und in beiden Dürer-Abbildungen zu sehende Mondsichel wird als Bestandteil einer vollständigen Mondkugel variiert43 , die auf deren Unterseite in Sichelform leuchtet bzw. beleuchtet wird. Der sichelformige beleuchtete Unterteil der Mondkugel wird links durch die von einem Kopf des Antichrist gespieenen Flammen verfärbt. Im dunklen Mittelteil der Mondkugel ist außerdem direkt unter der zerdrückt werdenden Schlange ein glänzender Lichtreflex zu sehen, der in Richtung des Erzengels Michael deutet. Das ohnehin vieldeutige Motiv des Mondes (z.B. als Allegorie der lichtempfangenden Gottesmutter, als Stütz-Punkt der Apokalyptischen Frau, aber zugleich als Metapher rur die von der buchstäblich
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Der handähnlich greifende Fuß kehrt 200 Jahre später in Delacroixs berühmtes Darstellung der dem kämpfenden Volk voranschreitenden Freiheit (1830) wieder. Freilich ist es nicht die Schlange des Bösen, sondern die zu überwindende Barrikade, die vom Fuß ergriffen wird. Ich würde argumentieren, daß die Suggestivität dieses sehr ungewöhnlichen Revolutions-Gemäldes durch seine apokalyptische Anordnung zu erklären ist. Zu Delacroixs Bild vgl. Marina Warner: Monuments & Maidens - The Allegory C!fthe Female Form, London 1986, 270ff. Es ist bestimmt kein Zufall, daß das ebenfalls von Warner besprochene Skulptur-Ensemble Der Triumph der Republik von Jules-Aime Dalou (endgültige Ausfiihrung auf der Place de la Nation in Paris, 1899) ein weiteres Motiv aus dem apokalyptisch-ikonographischen Repertoire enthält: die Frau, die auf dem Globus steht. Hier wie dort wird der Anfang einer neuen Zeitrechnung durch einen "pas". Renger führt hier verschiedene Deutungen an: "Der Mond ist nicht, wie bisher allgemein üblich, als goldene Sichel dargestellt, sondern diese ist der dunkleren Mondkugel angepaßt. Hier reagiert Rubens auf eine ganz neue Entdeckung Galileis, der mit seinem Fernrohr auch die im Schatten liegende Kugel gesehen und danach eine Zeichnung angelegt hatte. Der mit dem Physiker engverbundene Maler Lodovico Cigoli hat diese Zeichnung 1610/12 für den Mond seiner Immaculata in Sta. Maria Maggiore verwendet. Rubens seinerseits könnte von Cigolis Bild oder von Galileis Beobachtung gehört haben. Die naturwissenschaftlich exakte Wiedergabe wird Rubens gereizt haben. Die Form des Mondes kam aber auch seiner Bilderzählung entgegen; die runde Kugel gibt Maria gleichsam einen Anstoß und verstärkt das Motiv des Entschwebens in die Wüste." (Ebd., 73.)
(Freising/München, Alte Pinakothek).
Die Übereinstimmung wichtiger Gliederungshöhen mit markanten Goldene SchnittPunkten ist überraschend; am meisten wohl, daß die Apokalyptische Frau und ihr Kind genau zwischen den beiden Leitlinien (obere und untere M-m-Grenze) plus nächstliegendem oberen RI-Wert eingeordnet sind; obendrein, daß die Frau und ihr Kind jeweils auf der unteren bzw. oberen M-m-Grenze stehen. Damit sind sie am günstigsten plaziel't und zur optischen Wirkung gebracht. 119a
Zug-Marke
Gegenzug-Marke RI-Wert
Abb. 8: "Goldene Schnitt-Testanalyse", in: Leo Weber, Emel/emng [Anm. 36]
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rur die Ewigkeit stehenden Gottesmutter niedergetretene Zeitlichkeit) erhält damit durch Position und Technik der Visualisierung ein besonderes Gewicht. Die zweite medial-visualisierte Umsetzung dieser Stelle, die ich besonders hervorheben will, ist die etwas mehr als ein Jahrzehnt später errichtete Münchner Mariensäule. 44 Deren Entstehung ging auf die Initiative des glühendsten Marienverehrers und 'NOh! energischsten und überzeugtesten Gegenreformators der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück: des Herzogs Maximilian I. von Bayern 45 , Haupt der Katholischen Liga im Dreißigjährigen Krieg. Auch hier waren Jesuiten maßgeblich am Unternehmen ·beteiligt. Ich betone dies deshalb, weil ich die Jesuiten als die frühneuzeitlichen Meister jener sinnreichen und wesentlich nachträglichen Ritualisierung vorfuhren will, die im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht. Anhand eines zeitgenössischen Holzschnitts (vgl. Abb. 9) kann man sich überzeugen, daß diese Mariensäule auch zum Mittelpunkt von Andachten und anderen religiösen Handlungen wurde, die z.T. von Maximilian I. persönlich angeordnet und geleitet wurden. 46 Wenn ich von der Mariensäule spreche, so spreche ich nicht nur von der vergoldeten Figur der Gottesmutter von Hubert Gerhard 47 , die das Ensemble krönt, sondern von dem gesamten Ensemble, das in gewisser Weise ganz Bayern einschließt. Denn dieses Marienensemble wurde im 17. Jahrhundert zum "Nullpunkt der Kilometerzählung der von der Bayerischen Landeshauptstadt
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Die Marienfigur auf der Münchner Mariensäule wurde im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts modelliert, vom Goldschmied Hans van der Pracht ziseliert und im gleichen Jahr auf dem Hauptaltar des Doms, (also der Frauenkirche) erstmals aufgestellt. Sie wurde also erst 30 Jahre nach ihrer Entstehung (1638) auf die Mariensäule aufgesetzt. 1573-1651; Herzog seit 1597; Kurfürst seit 1623. Ein Beispiel des strengen Regimes von Maximilian war beispielsweise das 1601 eingeführte obligatorische Führen des Rosenkranzes, sowie der Verfügung, jeder Untertan müsse beim Aveläuten, "sei er nun zu Pferd, Fuß oder Wagen, in Andacht niederknien" (Woeckel 1992, [vgl. Anm. 33), 49; vgl. allgemein zu Maximilian Um Glauben und Reich - Kwfiirst Maximilian 1., hg. von H. Glaser, München 1980). Die Mariensäule war nach ihrer Errichtung 1638 häufig Schauplatz von Andachten, an denen der Kurfürst und seine Fanulie teilnahmen. Jacob Balde, der drei lyrische Texte der Säule widmete, schrieb beispielsweise 1640 eine Marienode aus Anlaß der Teilnahme der Kurfürstin Maria Anna an einer solchen Andacht. Aus gleichem Anlaß widmete J. Bartolomäus Kilian der Kurfürstin einen zwischen 1655 und 1665 entstandenen Kupferstich (ebd., 80). Die Säule war aber nicht nur ein Mittelpunkt kurfürstlicher religiöser Repräsentation., sondern auch Gegenstand spontaner Volksfrömmigkeit. Prozessionen und Bittgänge, die damals in der Woche in den Straßen Münchens stattfanden, machten stets an der Mariensäule halt. Der Fürstbischof von Freising mußte sogar ein Jahr nach der Errichtung der Säule den Dekan des Frauenkirchenstiftes anweisen, "in Zukunft dafür Sorge zu tragen, daß von jetzt ab an den Samstagabenden nur mehr eine Litanei gesungen werden dürfe anstelle der vielen, die sonst bis spät in. die Nacht mn ein ,von vielen unterschiedlichen Parteien' angestimmt worden seien" (ebd.). "Die Veduten, auf denen die Mariensäule erscheint, lassen an Ort und Stelle ein über viele Jahrhunderte währendes und nie unterbrochenes religiöses Brauchtum erkennen." (Ebd.) Im Fall der Münchner Mariensäule wurde die Schlange gewissermaßen im Nachhinein ausgelagert und der Fuß direkt auf die Mondsichel gesetzt. Dies ist für spätere Mariensäulen, beispielsweise in Prag, modellbildend.
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ausgehenden Straßen" gemacht. 48 Damit steht die Maria auch in diesem konkret-geographischen Sinne aufground zero. Die Errichtung dieses Bauwerks 49 löste eine wahrhaftige Flut von ähnlich gestalteten Säulen im ganzen katholischen Mitteleuropa aus, zu dessen prominentesten Vertretern die Votivsäule in Wien und die Mariensäule auf dem Altstädter Ring in Prag zählen (Abb. 9)50. Der Bau der Mariensäulen verfolgte das Programm einer Sakralisierung des städtischen Raums, und zwar durch dessen buchstäbliche ,Zentrierung' auf mariographische Anordnung. Entsprechende mariographische Schriftordnungen fiihrten diese Programmatik nach den demjeweiligen Medium eigenen Gesetzen 51 fort.
Polnische Verschrifllichung Zu den Umsetzungen von Apk. 12 zählen auch die einschlägigen Passagen einer barocken Schrift, des Jungfrauengartens (Ogr6d paniefzski) des Wespazjan Kochowski (1633-1700), den man als den polnischsprachigen Angelus Silesius bezeichnen könnte 52 . Das Werk aus dem Jahr 1681 besteht aus 16 sog. Blumenbeeten (poln. "kwatery"), in denen jeweils exakt 100 lateinische Beinamen der Gottesmutter Maria, ausgestattet mit Quellenangaben und mit
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Woeckel: Pietas Bavarica [Anm. 33], 60. Der Autor einer kleinen Monographie zur Mariensäule (Michael Schattenhofer: Die Mariensiiule in MÜllchen, München und Zürich 1971) spricht - wie an dieser Stelle in Pietas Bavarica zitiert - von einem "zeitlosen, unverrückbaren Symbol" Münchens, und weiß vielleicht nicht, wie programmatisch diese Aussage ist. Die Münchner Mariensäule, die von der vergoldeten Patrona Bavariae gekrönt ist (die Vergoldung verweist auf das Sonnenkleid), verteilt die Stellen der Schrift anders und delegiert den Kampf gegen den Drachen, dem ,Verstärkung' in Form einer Schlange, eines Basilisken und eines Löwen beigegeben wird (sie repräsentieren jeweils Hunger, Pest, Krieg und Häresie), an vier Heldenputten, die jeweils ein Untier energisch angreifen. Die Prager und Wiener Mariensäulen des 17. Jahrhunderts weisen eine entsprechende Grundstruktur auf. Während das RubensGemälde den Mittelpunkt der Neuordnung eines Kirchenraums bildet, ist die Mariensäule in der Konzeption Maximilians I. als Ausgangspunkt der Neuordnung eines als sakral gesetzten städtischen Raums zu denken. Dasselbe gilt für die Plazierung der Mariensäule auf dem zentral gelegenen Altstädter Ring in Prag, wobei das Münchner Original als eine Kultstätte intendiert ist, welche die Bewohner der Stadt - und nicht nur die Besucher des sakralen Raums - in buchstäbliche Mit-Leidenschaft zieht. Trotzdem herrscht dieselbe grundsätzliche Anordnung und Bewegungsrichtung vor: Maria strebt mit Kind nach oben in Sicherheit und Triumph, sakrale (und wohl auch heilige) Kämpfer stoßen das (nunmehr konkretisierte und politisierte) Böse nach unten. Die agonale Apokalyptik wird auch hier - wenn auch weniger emphatisch - mit dem Setzen des Fußes auf die Mondsichel verknüpft. Letztere wurde 1918 durch einen anarchistischen Anschlag zerstört. Daß ich zwei bayerische Visualisierungen und eine polnische Schrift als Beispiele heranziehe, ist nicht ganz zufallig. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in Polen ist eine Zeit der Rückeroberung des Landes für den Katholizismus nach den Wirren und Verwüstungen der nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs einsetzenden Schwedenkriege. Die Selbstvergewisserung durch sprachliche Rhetorik sp!.elte dementsprechend eine größere Rolle. Die auffalligste Ahnlichkeit ist die Neigung zum scharfsinnigen Zweizeiler. Auch die Liebe zur mariographischen Paradoxalität könnte man als weitere Gemeinsamkeit hervorheben. Es ist außerdem der Umstand hervorzuheben, daß Angelus Silesius in seinem Cherubinischen Wal1dersmal1l1 ebenfalls auf ca. 1600 Kurzgedichte gekommen ist.
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meist zweizeiligen polnischen Versen in der Eigenschaft als ,Blüten' enthalten sind. Diese Art von überbordender Marienattributik hat ihre Wurzeln in der Blüte der lateinischen Marienpoesie ab dem 11. Jahrhundert, die wiederum auf den Beginn der Wirkung des wohl im 6. Jahrhundert in Byzanz entstandenen und Anfang des 9. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzten Hymnos akathistos 53 zurückzuftihren ist. Diese Hymne besteht u.a. aus in Strophen geordneten Anreihungen von jeweils mit "XatpE vu~
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vor allem die Art und Weise, wie hier das Ende fingiert wird - fur das sprechende Selbst wie für jene, denen es die eigene Kränkung zur Last legt. Daß das Unwetter für Lear weniger bestätigendes Analogon als Projektionsfläche einer Befindlichkeit ist, die aggressiv überbordet und zugleich im Begriff ist, sich mit der empfangenen Verletzung einzuschließen, zeigt auch seine Schelte der Elementarkräfte als Handlanger der perniziösen Töchter. Je stärker sich Lears Einbildung im Selbstmitleid auf das ihm zugefügte Heteronomieerlebnis fokussiert, desto mehr vertieft sich sein cholerischer Wahn - bis zur völligen Interiorisierung des Sturms, flir die dessen Toben nur ein zunehmend entbehrlich werdender Stimulus im aus den Fugen geratenen Haushalt der Passionen ist: [... ] this tempest in my mind Doth from my senses take all feeling else, Save what beats there, filial ingratitude. (3.4.12-14)
Solche Subjektivierung des Weltuntergangs zu wahnhaft überschießender Einbildungskraft führt zugleich Konsequenzen einer visionären Instrumentalisierung der apokalyptischen Rede als pathologisch vor Augen. Diese fungiert zunehmend als bloße Lieferantin von Bildmaterial flir eine melancholischcholerisch derangierte Imagination. So erscheint zuletzt der Zustand, in den sich Lear immer tiefer hineinmanövriert, indem er sich mit immer größerer Ausschließlichkeit, unterbrochen nur von transitorischen Schein-Konversionen 47 , auf die eigene Befindlichkeit konzentriert, selbst dem verzweifelnden
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burning, scalding, stench, consumption! Fie, fie, fiel Pah, pah! Give me an ounce of civet, good apothecary, to sweeten my imagination. There's money for thee." (120-126) Die in der neueren Forschung diskutierte, auffallend misogyne Unterströmung nicht nur der Learschen Wahnreden (wiewohl sie dort am deutlichsten zutage tritt) ließe sich aus der hier vorgeschlagenen Lektüreperspektive vielleicht noch einmal anders erklären als aus einer psychoanalytischen Sicht, die mit Lears Verdrängung des Weiblichen und seiner Weigerung argumentiert, seine Töchter als Teile seiner selbst anzuerkennen: Lears Abscheu vor weiblicher Körperlichkeit und Geschlechlichkeit erscheint als Teil eines Syndroms von Leibfeindlichkeit kombiniert mit Faszination durch Wiedervergeltungsvorstellungen, wie es sich vor allem in den gnostisch beeinflußten apokryphen Apokalypsen (Petrus- und Paulus-Apokalypsen, Sybillinen) findet. Die dort geschilderten Visionen befassen sich - wie die Lears - vorzugsweise und mit großer Ausfiihrlichkeit mit den körperlichen Qualen, die jene erleiden, die sich sexueller Vergehen schuldig gemacht haben. Grenzüberschreitung ist auch der Tenor der weiteren Momente in der Deskription des Learschen Choler durch den Knight: der Wettbewerb mit den Elementen ("Contending with the fretful elements"), der Wunsch nach einer Sintflut, die See und Land ununterscheidbar machte ("ür swell the curled waters 'bove the main "), oder die Absicht, mikrokosmisch den äußeren Tumult zu überbieten ("Strives in his little world of man to outscorn / The to and fro conflicting wind and rain; [... ]") (vgl. 3.1.4-15). Solche Momente scheinbarer Einsicht stellen sich beispielsweise auf der Heide ein: 3.4.25-36 ("Poor naked wretches [ ... ]"). Lears berühmte Selbstermahnung an dieser Stelle "Take physic, pomp, / Expose thyself to feel what wretches feei" , bleibt folgenlos, denn das einzige, wozu er imstande ist, als in Gestalt von Edgar / Poor Tom ein "wretch" auftritt, ist, sich in dessen Situation zu spiegeln: "Didst thou give all to thy two daughters?" (48) Foakes [Anm. 1] kommentiert entsprechend: "A poor naked wretch suddenly appears, and Lear projects onto him his own grievances." - Ähnlich kurz daraufin derselben Szene (99-106): Lears Ausfiihrungen zur menschlichen Unbehaustheit ("Unaccommodated man [ ... ]") werden dadurch ironisch konterkariert,
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Gloucester als unüberbietbare alienatio: ,,0 ruined piece of nature, this great world / Shall so wear out to naught." (4.6.130f) Wird der wahnsinnige Lear hier zum Weltuntergangsemblem erhoben, so wähnt er kurz darauf, bei der Wiederbegegnung mit Cordelia und in vorübergehender Sistierung seines Abstiegs in saturninische Verdüsterung,48 schon gestorben zu sein und, wieder auferweckt, "a soul in bliss" vor sich zu haben, die ihn doch von seinen Höllenqualen nicht retten kann49 - "You are a spirit, I know; where did you die?" Nicht nur scheitert hier die Anagnorisis, oder genauer: ihr Zeitpunkt verschwimmt im Aufdämmern und Vergehen eines lucid interval. Lears Eschatologie schließt genaugenommen ein glückhaftes Wiedererkennen aus, indem er sich und Cordelia in Bereichen auf ewig getrennter Jenseitigkeit imaginiert. Die Apokalyptik erweist sich auf diese Weise als Reservoir desperater Rhetorik und Medium des Wahns. Sie wird als Fundus von Metaphern präsentiert, die vor allem den Verblendeten und den Blinden zu Gebote stehen und die daher keinerlei Anspruch auf literale Geltung erheben können. 50 Das
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daß der, den er vor sich hat, keineswegs "the thing itself' ist, sondern Edgar als Poor Tom; und auch hier folgen keineswegs Akte der Barmherzigkeit, sondern nur Versuche, sich selbst zu einem "poor, bare, forked animal" zu machen, indem er sich die Kleider vom Leibe reißt. Lear erscheint nicht erst hier als Figur des gestürzten Chronos, des entmachteten, entmannten und in die Unterwelt verbannten Kinderverschlingers am Ende des von ihm beherrschten Weltalters: Man mag hierin ein weiteres mythologisch-allegorisches Angebot des Textes erblicken, dessen Annahme und Absolutsetzung zugleich von eben diesem Text untersagt wird; ein gleichsam ankerlos gewordenes, ,täuschendes' Zeichen (s.u.), das nicht zur Totalerklärung taugt. - Eine detaillierte, im einzelnen außerordentlich suggestive Suche nach "Spuren Saturns in King Lear" (allerdings mit dem zumindest implizit erhobenen Anspruch, aus dieser Perspektive das Drama umfassend erhellen zu können) findet sich im entsprechenden Kapitel bei Peter Sillem: SatuYl1s Spuren - Aspekte des Wechselspiels von Melancholie lind Volkskultur in der Frühen Neuzeit, unveröffentl. Diss. Frankfurt a. M. 2000. "You do me wrong to take me out o'the grave. / Thou art a soul in bliss, but I am bound / Upon a . wheel of fire that mine own tears / Do scald like molten lead." (4.7.45-48) Umgekehrt verlieren die Momente literalen Vollzugs apokalyptischer Motive wie etwa die Blendung Goucesters ihre eschatologische Pointe. (Abgesehen davon, daß die Bestrafung durch Blendung die zumindest nach mittelalterlichem Verständnis ,richtige' Vergeltung für einen Vergewaltiger war; daß Gloucesters ehebrecherischer "act of darkness" auch im Kontext des Stückes dadurch ,adäquat' vergolten wird, daß er ins Dunkel gestürzt wird, kommt die spiegelnde Strafe des Augenausstechens auch in der Petrus-Apokalypse (etwa 150 n. Chr.) vor; dort allerdings als Strafe für Lästerung des "gerechten Weges", vgl. Kap. 13 der griechischen Fassung der Apokalypse Petri in: Das Neue Testament fmd frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt a. M. 1999, 1167.) In King Lear ist die Blendung, wenn sie geschieht, nichts als ein Akt brutalster Grausamkeit; erst die Anspielungen Lears im vorletzten Akt (4.6.109ff. - s.o. - und 134) und Edgars verurteilende Worte zu Edmund über seinen und dessen Vater nach seinem Sieg im Zweikampf suggerieren einen Vergeltungszusammenhang: "The gods are just and of our pleasant vices / Make instruments to plague uso / The dark and vicious place where thee he got / Cost him his eyes." (5.3.168-171) Im einen Fall erscheint der Tun-Ergehens-Konnex als nachträgliche Identifizierung Edmunds mit einem von Anfang an und schlechterdings Bösen, die uns Edgar als fragwürdige Lichtgestalt darstellt, die sich zum Sprachrohr einer Gerechtigkeit ohne Gnade macht, im anderen Fall erscheint er als Produkt ,wahnsinniger' Hellsichtigkeit. In beiden Fällen ist der Effekt der einer Relativierung des Vergeltungsgedankens. - Auch der vereitelte Klippensturz Gloucesters ließe sich in diesem Sinne als Kontrafaktur zu einem gnostischen Motiv lesen (das wiederholte Herabstürzen ist ebenfalls eine der Höllenqualen, die die Petrus-Apokalypse - Kap. 10 und 11 der äthiopischen Fassung beschreibt).
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Erschrecken, das diese Tragödie auszulösen vermag, liegt nicht zuletzt darin, daß der in solcher Metaphorik implizit evozierte Ruin fiir den Verlauf des Dramas dennoch prognostische Kraft zu entfalten scheint. Was also hat es zu bedeuten, wenn diese Anatomie der apokalyptischen Imagination die eschatologische Macht der ins Spiel gebrachten Vorstellungen einerseits schwächt und damit mögliche Pragmatisierungen abwehrt, andererseits ihnen aber in solchem Suspens durch Textualisierung offenbar doch zutraut, Wirklichkeiten zu schaffen? Was können wir über die zeichenhafte Verfaßtheit dieser Wirklichkeiten sagen und wie schließen sich unter diesem Gesichtspunkt Beginn und kryptischer Schluß dieses Stückes zusammen? B. Das falsche Zeichen Das Drama beginnt mit einer Gerichtsszene. Lear schickt sich nicht nur an, nunmehr seinen "darker purpose" (1.1.35) in Zusammenhang mit der Teilung des Reiches und seinem Rücktritt vom Herrscheramt bekanntzugeben, er macht sich auch zum Richter über das Maß an Liebe, das ihm jede seiner Töchter entgegenbringt und an welchem dann das jeweilige Erbe sich bemessen wird. Die Frage "Which of you shall we say doth love us most" (1.1.51) leitet ein höfisches Spiel ein, einen rhetorischen Wettbewerb der Liebesbeteuerungen, auf den Goneril und Regan offenbar gefaßt sind und den sie mit Bravour meistern. Ausgerechnet die Lieblingstochter Cordelia weigert sich jedoch, hier mitzuspielen - eine Weigerung, die die Grenze zum Ungehorsam deutlich überschreitet und den Bannfluch Lears auf sich zieht. Cordelias Verhalten mutet nicht nur unhöfisch an, es verstößt auch gegen die Grundnormen patriarchalischer Familienräson. Vor allem aber fällt auf, wie sich der Fokus der Szene verschiebt: Was als Frage nach der Intensität eines Gefiihls einzusetzen schien, wird zur Konkurrenz um das rechte Wort. Goneril und Regan verstehen dies auch sofort und entledigen sich ihrer Aufgabe mit versierter Eloquenz, wobei Regan Gonerils Unsagbarkeitstopos ("Sir, I do love you more than word can wield the matter," [1.1.55]) durch ein virtuoses Arrangement von Negationen überbietet, mit denen sie beteuert, ihr Glück allein in der Vaterliebe zu finden. Anstatt sich nun ebenfalls an dieser risikolosen, schlimmstenfalls ein wenig kindischen Lotterie zu beteiligen, in der die Preise im Grunde bereits vergeben sind, bleibt Cordelia absichtlich sprachlos. Was sie beiseite spricht, scheint ein Wissen um die Unvereinbarkeit zwischen sprachlichem Zeichen und dem zu Bezeichnenden zu markieren, das derart fundamenta151 ist, daß sie nicht einmal im Spiel bereit ist, es zu 51
Nachgerade apokalyptisch: Ihre asides "What shall Cardelia speak?" und "Then poar Cordelia, / And yet not so, since I am sure my love's / More ponderous than my tongue" (1.1.62 und 76-78) scheinen mit den entsprechenden Echos des Dies irae aufgeladen: "Quid sum miser tunc dicturus? / Quem patronum rogaturus, / Cum vixjustus sit securus?"
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verleugnen. Da sie weder ihrem Vorsatz "Love, and be silent" (1.1.62) folgen kann, noch das Gefiihl und dessen innere Gewißheit zur Sprache bringen mag, bleibt ihr nur die ebenso schroffe wie unziemliche Ablehnung jeglicher Rede mit der bekannten fatalen Konsequenz: [LEAR]
[... ] But now our joy, [... ] what can you say to draw A third more opulent than you sisters? Speak. CORDELIANothing, my lord. (1.1.82-87)
Die Tragödie nimmt ihren Lauf, weil auch die suspendierte Beredsamkeit die Wahrheit, die es zu sagen gälte, nicht zum Ausdruck zu bringen vermag: "Unhappy that I am, I cannot heave / My he art into my mouth." (1.1.91f.) Das Verborgene findet hier keine Evidenz. Hamlet vergleichbar und mit ähnlicher Provokanz besteht Cordelia darauf, nicht zeigen zu können, wovon sie - und, wie sie wähnt, nur sie - zuinnerst weiß. 52 Aber welches Zeichen vermöchte das auch adäquat zu repräsentieren?53 Die Beunruhigung über das Auseinanderfal1en von Wort und Sache, res und verbum, die hier aufbricht, ist nicht nur eine erz-pyrrhonische. 54 Daß menschliche Zeichen außerstande sind, die Dinge wahrhaftig zu vergegenwärtigen, diese Einsicht in die nominalistische Gebrochenheit jeder Rede also hat auch eine apokalyptische Dimension. Denn wenn Zeichen und Bezeich-
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Vgl. Hanuets Worte "I have that within which passeth show." (1.2.85) Vgl. zur verweigerten Signifikation auch Rotman: SigntfYing Nothing [Anm. 37], 80f - Rotman betrachtet Cordelia als Verkörperung einer älteren "conception of natural love as love in action", die in unversöhnlichen Gegensatz zu Lears Kommodifizierungsmanövern gerate. Probleme ergeben sich für diese Lesart allerdings daraus, daß nicht ganz ersichtlich ist, weshalb äies "natural love" ist; weiterhin daraus, daß Cordelia als Vertreterin der ,alten Ordnung' zum spektakulären Verstoß gegen eben diese (in Gestalt der Gehorsamspflicht) genötigt ist; daß schließlich unerklärt bleibt, weshalb gerade die ältere Generation in Gestalt Lears hier als Vertreter des neuen Merkantilismus auftritt. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Rosalie L. Colie: Reason and Need: King Lear and the ,Crisis' qf the Aristocrac]', in: Some Facets qf King Lear - Essays in Prismatic Criticism, ed. by Rosalie L. Colie and F.T. Flahiff, London 1974. - Fragwürdig erscheint Rotmans Interpretation auch deshalb, weil auch Cordelia bei näherem Hinsehen zu genau den Ökonomismen neigt, die ihr Vater hier'ins Spiel bringt. Stephen Booth weist in seiner präzisen, die Verunsicherungsstrategien des Dramas in den Vordergrund rückenden Lektüre deutlich darauf hin: "Her ideas are only a variation on Lear's; she too thinks of affection as a quantitative, portionable medium of exchange for goods and services [00'] Moreoever, she sounds priggish." (Stephen Booth: King Lear, Macbeth, lndiflnition and Tragedy, [1983], zit. nach On the Greatness qfKing Lear, in: William Shakespeare's King Lear, ed. by Harold Bloom, New York 1987, 67.) Booth hält allerdings die auf diese Weise erzeugte Wertungsungewißheit nicht fur grundsätzlich verstörend. Vgl. die Zeichenkritik des Sextus Empiricus im Grundrtß der p]'rrhonischen Skepsis (eingel. und übs. v. Malte Hossenfelder, Frankfurt a. M. 1985), II, 97-133. - Ein Zusammenhang zwischen Skepsis und Nominalismus ließe sich in zahlreichen Dramen Shakespeares nachweisen, beispielsweise in Hamlet und Othello; vgl. auch Vf [V.O.L.]: Skeptische Phantasie, München 1999, sowie Vf: ,The word and not the thing': Shakespeare und die Macht der Zeichen - AlI's Weil that Ends Weil als skeptischnominalistisches Experiment, in: Zeitschrift fiir Ästhetik tll1d Allgemeine Kunstwissenschqft 45/1 (2000), 49-74. Alf's Weil that Ends Weil erkundet gleichsam die produktive Kehrseite der in Lear entfalteten ,nominalistischen' Semiotik.
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netes in keinerlei ,naturwüchsiger' Beziehung zueinander stehen, dann müssen Enthüllungen, die vor jener letzten Offenbarung erfolgen, zweifelhaft erscheinen. Das aber gilt dann auch fiir den Topos (veritasfilia temporis), auf den Cordelias parting shot gegen ihre Schwestern anspielt: "Time shall unfold what plighted cunning hides, / Who covert faults at last with shame derides." (1.1.282f).55 Die Zeit - auch die Spielzeit dieses Dramas - entfaltet nichts Verläßliches. Was hier in der folgenden, ,chronischen' Verschlimmerung auseinandergelegt wird, ist, seinen apokalyptischen Suggestionen zum Trotz, von Ungewißheit und Täuschung durchsetzt. Wie die Wahrheit zu sagen sei, bleibt bis zum Schluß unsicher. Zu zeigen, daß sie nur als unsichere und vorläufige und zuletzt vielleicht gar nicht zu sagen ist, ist die Wahrheit des Dramas. 56 Die Apokalypse besitzt nicht nur ihre eigene Semiotik, sie ist auch selbst ein Zeichengeschehen. Sie kündigt sich an in Vorzeichen 57 , und sie läuft auf eine Offenbarung des Verborgenen und eine Enthüllung des Eigentlichen zu. Das Ende ist, in diesem Sinne, stets ein ,versprochenes'; es ist Verheißung des Endes und deren zugesagte Einlösung. In King Lear dagegen treten Verkleidungen an die Stelle von Enthüllungen: Kent kann der treue Diener und aufrichtige Ratgeber, der er ist bzw. als welcher er sich Lear gegenüber bereits erwiesen hat, nur sein, indem er sich verkleidet. Erst Edgars Rollenspiel als Poor Tom und diverse Verstellungen ermöglichen es ihm, seinem Vater als guter und ergebener Sohn zur Seite zu stehen und ihn vor dem Selbstmord zu bewahren. Wenn umgekehrt Verborgenes aufgedeckt wird,58 so geschieht dies entweder zu spät - etwa im Falle der Wiederbegegnung Lears mit Cordelia bzw. seiner Einsicht in ihren "most small fault" (1.4.258)59 - oder mit töd-
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Weitere Beispiele für in diesem Sinne ,apokalyptisch werdende' Zeichen finden sich in dieser Szene etwa in Lears Selbstpräsentation als apokalyptischer Drache ("Come not between the dragon and his wrath!" [1.1.123]) oder als apokalyptischer Reiter ("The bow is bent and drawn; make from the shaft" [1.1.144], vgl. Qffb. 6,2). Zugleich zeigt sich aber in der eigenartigen Austauschbarkeit dieser typologischen Markierungen ebenso wie im Flottieren des apokalyptischen "nothing" zwischen unterschiedlichen Figuren (der Fool etwa nennt Lear "an 0 without a figure; [... ] thou art nothing" [1.4.133f], und Kent beschimpft Oswald als "Thou whoreson zed, thou unnecessary letter" [2.2.62]), wie die apokalyptischen Zeichen gleichsam von ihren Referenzen gelöst, flexibilisiert und beweglich geworden sind. Damit aber verlieren sie jede Eindeutigkeit und die Qualität von mit Gewißheit einzulösenden Verheißungen: Diese Topik ist ortlos geworden. Und des Narren (zu Lear): "I marvel what kin thou and thy daughters are. They'll have me whipped for speaking true, thou'lt have me whipped for lying, and sometimes I am whipped for holding my peace." (1.4.173-175) - Es erscheint bezeichnend, daß der Narr, der diese Aporie zunächst noch mit komischer Wirkung artikuliert, im Laufe des dritten Akts (ab 3.6.82) aus dem Stück verschwindet. Die - wie das "Zeichen des Feigenbaums", das Christus den Jüngern zur Kenntnisnahme empfiehlt (z.B. Mt. 24,32-33) - ihrerseits in erster Linie auf ihre eigene Zeichenhaftigkeit verweisen. Kent schiebt seine Identifikation Lear gegenüber mit der Begründung, die Zeit hierfiir sei noch nicht gekommen (4.7.9-11), solange auf, bis es fraglich erscheint, ob ein Wiedererkennen tatsächlich stattfindet (5.3.276-292); vgl. Albanys Bemerkung zu Lears Umnachtung: "He knows not what he says and vain is it / That we present us to him." (291f) An dieser Stelle beklagt Lear lediglich seine Torheit in der Vergabe des Reiches an Goneril und Regan, hält aber Cordelias verweigerte Schmeichelei immer noch für "ugly", seinen Liebesentzug
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licher Wirkung: Gloucesters Herz bricht, als sich Edgar ihm - ebenfalls zu spät60 - zu erkennen gibt. Gute Absichten bleiben so bis zuletzt unerkannt, böse undurchschaut, bis es zu spät ist. Die signifikante Außenseite der Dinge scheint die Mitteilung ihrer wahren Bedeutung eher zu hindern als zu ermöglichen. Die Separierung von Wort und Welt und die systematische Entwertung der Vorstellung ihres apokalyptischen Übereinkommens setzt umgekehrt eine beunruhigende Produktivität frei. Während die Guten nicht das richtige Wort finden (Cordelia), nicht den rechten Ton treffen (Kent), die Wahrheit der Klugen trotz komischer Verstellung kein Gehör findet (der Narr), verfugen, so scheint es, diejenigen, die wie Edmund nach der Macht gieren, über eine Eloquenz, die sich die Kluft zwischen Wort und Welt skrupellos zunutze macht, um Wirklichkeiten herzustellen, die ihren Zwecken entsprechen. Ja, man könnte vielleicht sogar sagen, daß die Verleumdung, mit der Edmund die Intrige gegen seinen Bruder ins Werk setzt, seiner Einsicht in die Arbitrarität der Zeichen entspringt: "Why brand they us I With base? With baseness, bastardy? Base, base?" (1.2.9f.) Legitimität - "Fine word, ,legitimate'!" (18) wie Illegitimität erscheinen ihm als willkürliche Zuschreibungen, denen keine Realität entspricht. Da diese Zeichen nirgends verankert sind, können sie indes gefiigig gemacht und zum Fingieren anderer, manipulativer Signifikanzen eingesetzt werden: "Let me, if not by birth, have lands by wit; I All's meet with me that I can fashion fit." (1.2.181-182)61 Ein nicht nur strukturell, sondern auch thematisch einschlägiges Beispiel fiir solches jashioning und die semiotischen Umkehreffekte, die es in diesem Drama auslöst, ist mit den astrologischen Endzeitprognosen gegeben, denen Gloucester anhängt: GLOUCESTER These late eclipses in the sun and moon portend no good to uso Though the wisdom of Nature can reason it thus and thus, yet nature finds itself scourged by the sequent effects. Love cools, friendship falls off, brothers divide: in cities, mutinies; in countries, discord; in palaces, treason; and the bond cracked 'twixt son and father. This villain of mine comes under the prediction - there's son against father. The King falls from bias of nature - there's father against child. We
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und seinen unversöhnlichen Zorn ("gall") für gerechtfertigt (vgl. 258-264). Von der Vergebungsbitte in 4.7.83f und 5.3.11 ist er noch weit entfernt. Vgl. Edgars "brief tale" in 5.3.180-197: "Never - 0 fault! revealed myselfunto him / Until some half-hour past [ ... ] But his flawed heart, / Alack, too weak the conflict to support, / Twixt two extremes of passion, joy and grief, / Burst smilingly." (191-197) Die Produkte der verleumderischen Aktivität Edmunds sind im übrigen nicht nur sprachlicher Art, auch sein eigener Körper taugt zum falschen Zeichen: Eine selbstzugefügte Verwundung dient zum Beweis seiner opferbereiten Loyalität Gloucester gegenüber und zugleich zur Anklage seines Bruders, den er am Vatermord gehindert zu haben vorgibt; vgl. 2.1.29-85. - Sein verleumderischer Bericht über den Hergang legt Edgar genau den ,realistischen' Glauben in die Macht der Nomina in den Mund, gegen den er sich selber empört hat: ,,[ ... ] He replied, / ,Thou unpossessing bastard, dost thou think, / If I would stand against thee, would the reposal / Of any trust, virtue or worth in thee / Make thy words faithed? [... ]" (66-70)
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have seen the best of our time. Machinations, hollowness, treachery and all ruinous disorders follow us disquiedy to our graves. [ ... ] And the noble and true-hearted Kent banished, his offence honesty! 'Tis strange, strange! (1.2.103-117)
Edmund hat fiir die apokalyptische Gutgläubigkeit seines Vaters nichts als Spott übrig. Sein verächtlicher Kommentar ist indes zynisch und zugleich eminent vernünftig. Er durchschaut Gloucesters Vertrauen auf die Tragfähigkeit analogistischer Korrespondenzen als deterministisches Ausweichen vor Eigenverantwortlichkeit: "An admirable evasion of whoremaster man, to lay his goatish disposition on the charge of a star." (1.2.126f)62 Und er benutzt den Endzeitdiskurs sogleich, um seinen Bruder damit zu düpieren. Er spielt ihm düstere Vorahnungen und Besorgnis darüber vor, das Schicksal könne sich gegen Edgar wenden und ihn die Gunst des Vaters verlieren lassen: ,,0, these eclipses portend these divisions." (1.2.136f) Ironischerweise bestätigt der weitere Verlauf die apokalyptische Prognostik in allen Einzelheiten. 63 Oder genauer: der Text erweist sie einerseits als unglaubwürdig, negiert ihre Geltung, indem er sie als bloßes Spielmaterial fiir den Lügner und Verräter vorfuhrt, und er affirmiert sie andererseits als Beschreibungsmodell fiir ein katastrophisches Geschehen. Er gibt damit sowohl der nominalistischen Hellsichtigkeit Edmunds als auch Gloucesters Blindheit recht und erweist sie zugleich beide als verkehrt. Der paradoxe Effekt entsteht indes nicht nur daraus, daß die dramatische Bekräftigung des Apokalyptischen dessen metaphysisches Dementi mitfuhrt. Er entsteht vielmehr gleichsam kumulativ: In diesem Stück scheint es nur noch falsche Zeichen, unzuverlässige Evidenzen zu geben, ohne daß wir zu sagen vermöchten, welches die richtigen wären und worin die Wahrheit unbezweifelbar ans Licht träte. Das gilt fiir die emblematisch anmutende Gestalt Kents im Stock - einerseits Inbegriff von Virtue Locked Out64 , andererseits und ebenso emphatisch aber auch einer, der die Fußfessel nach seiner unmotiviert gewaltsamen Attacke auf Oswald nicht gänzlich unverdient trägt -, es gilt auch ftir Edgars gespielte Besessenheit, die in mehrfacher Hinsicht
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Vgl. die gesamte astrologiekritische Passage (1.2.118-133). - Edmunds luziferische Bosheit ist nicht zuletzt durch seine Intelligenz, seinen parodistischen Witz und seine Fähigkeit, nicht nur die Verblendung anderer zu durchschauen, sondern auch sich selbst illusionslos wahrzunehmen, so überzeugend: "My father compounded with my mother under the dragon's tail and my nativity was under Ursa Major, so that it follows 1 am rough and lecherous. Fut! I should have been that 1 am had the maidenliest star in the firmament twinkled on my bastardizing." (128-133) Vgl. die vollständige Version der Vorhersagen aus dem Munde Edmunds: "I am thinking, brother, of aprediction I read this other day, what would follow these eclipses. [ ... ] I promise you, the effects "he writes of succeed unhappily, as of unnaturalness between the child and the parent, death, dearth, dissolutions of ancient amities, divisions in state, menaces and maledictions against King and nobles, needless diffidences, banishment of friends, dissipation of cohorts, nuptial breaches and 1 know not what." (1.2.140-149) Vgl. den Kommentar Foakes' zu 2.2.153-171.
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duplizitär erscheint: Als solche lenkt die Obsession durch Dämonen65 schon die Aufinerksamkeit auf das Phänomen einer Separation von Körper und Stimme, einer Nichtidentität von Sprecher und Sprache, von Wort und ,okkulter', verschlossener res; als prätendiertes eröffuet das dämonische Andersreden die Möglichkeit eines Redens ,in Zungen', dessen Worte auf figurativen Umwegen doch wieder Wahres und Treffendes sagen können. Die Scheidung zwischen wahren und falschen Signifikanzen ist jedoch ebenso wenig mehr eindeutig durchführbar wie die apokalyptisch klare Sortierung von ,Guten' und ,Bösen' - sie hätte im Bewußtseins eines Lesers bzw. einer Zuschauerin zu erfolgen, dem der Text kein Kriterium liefert. Die Suspension dualistischer Ordnungsschemata, ineins damit einer apokalyptisch pragmatisierbaren Gnosis zeigt sich vielleicht am eindrucksvollsten in jener Szene, in der Edgar I Poor Tom seinen geblendeten Vater auf die Klippen von Dover fuhrt. Gloucester will sich von dort zu Tode stürzen. Das Publikum ,sieht' auf der leeren Bühne des Shakespearetheaters eben das, was der unerkannte Sohn den blinden Vater imaginieren läßt: EDGAR
Come on, sir, here's the place. Stand still: how fearful And dizzy 'tis to cast one's eyes so low. The crows and choughs that wing the midway air Show scarce so gross as beetles. Half-way down Hangs one that gathers samphire, dreadful trade; Methinks he seems no bigger than his head. The fishermen that walk upon the beach Appear like mice, and yon tall anchoring barque, Diminished to her cock, her cock a buoy Almost too small for sight. The murmuring surge That on th'unnumbered idle pebble chafes, Cannot be heard so high. I'lllook no more, Lest my brain turn and the deficient sight ToppIe down headlong. (4.6.11-24)
Bis zu Gloucesters Sprung in die Tiefe, den er unverletzt übersteht, bleibt unbestimmt, ob wir uns - den Konventionen des zeitgenössischen Theaters folgend - beide tatsächlich am Rande des Abgrunds stehend vorzustellen haben oder ob Edgar die Einbildungskraft des Vaters entsprechend manipuliert, um ihn vom Selbstmord abzuhalten. Wir befinden uns effektiv in der Situation des Blinden, angewiesen auf potentiell täuschende sprachliche Zeichen. Mehr noch: Edgar inszeniert diese Täuschung zwar in der ausdrücklichen Absicht, Gloucester durch sie zu heilen,66 aber zugleich in dem Bewußt-
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Ausführlich hierzu F.W. Brownlow: Shakespeare, Harsnett, and the Devils C!f Denham, Newark, London and Toronto 1993, sowie Stephen Greenblatt: Shakespeare and the Exorcists, in: Shakespearean Negotiations, Oxford 1988, 1990,94-128. "Why I do trifle thus with his despair / Is done to cure it." (4.6.33f.)
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sein, daß auch der eingebildete Sturz ("conceit"67) den Verzweifelten töten könnte. Und schließlich läßt er auf diese Vorspiegelung nicht etwa eine Klärung, sondern ein weiteres Rollenspiel folgen, indem er den Vater in dem Glauben läßt, er sei tatsächlich von der Klippe gesprungen, habe den Sturz, zu welchem ihn ein Dämon verfuhrt habe, aber wunderbarerweise überlebt. Im Guten wie im Bösen sind die Zeichen hier radikal disponibel geworden. Selbst Tod und Auferstehung scheinen in ihre Macht - die Macht der von ihnen gefuhrten Imagination - gegeben zu sein. Was sie uns, den blinden Zuschauern dieses apokalyptischen Dramas nicht nur auf den Klippen von Dover vor Augen fuhren, ist die paradoxe Evidenz des Unsichtbaren in Bildern, die weder wahr noch falsch sind, aber nachhaltig verstören: "image of that horror", wie es nur die Literatur zu zeigen vennag. Das Ende ist und bleibt in King Lear ein versprochenes - und das heißt: ein aufgeschobenes. Die Schlußworte des Dramas, in der Folio von Edgar, in der Quarto-Version von Albany gesprochen, formieren sich zu einer letzten Antiklimax. Indem sie die unmögliche Identität von Sprechen, Fühlen und Sehen in einer Pseudo-Maxime zusammenziehen, verlegen sie eben das, was auch die überlebenden Figuren nicht werden einlösen können, in ein Jenseits des Textes, das eben dieser Text endgültig der Verfugung entzogen hat68 : The weight of this sad time we must obey, Speak what we feel, not what we ought to say. The oldest hath borne most; we that are young Shall never see so much, nor live so long. Exeunt with a dead march
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"And yet I know not how conceit may rob / The treasury of life when life itself / Yields to the theft. Had he been where he thought, / Ey this had thought been past. [ ... ]" (4.6.42-44) 5.3.322-325.
Robert Andre J)
UND WEIT, WOHIN ICH NIMMER / ZU KOMMEN GEDACHT"
Hölderlin liest Johannes in Patmos Das bist du ganz in deiner Schönheit apocalyptica. Friedrich Hölderlin Der Buchstabe ist der wahre Zauberstab. Friedrich Schlegel
1. Die Apokalypse ist nicht zu fassen. Ganz gleich ob man sie schlechterdings als das unheilvolle Ende der Welt oder zugleich auch als den Anfang der Enthüllung des verborgenen Gottes versteht. 1 Wenn sie aber käme, dann würde sie ohne Zweifel uns Erdenbürger erfassen. Sie ist der aus menschlicher Perspektive nicht vorherzubestimmende Zeitpunkt, in dem aller gemachten Erfahrungen zum Trotz das mit Schrecken erwartete Wunder geschieht, daß der Gott in die Welt tritt und der Lauf der irdischen Dinge eine substantielle Wende nimmt. Von der Apokalypse wird erwartet, nicht zuletzt weil sie per definitionem nicht zu bestimmen ist, daß sie allverwandelnd ist. All die unzähligen menschlichen Handlungen seit jeher, sämtliche historischen Prozesse sollen durch sie in ein grundlegend anderes Licht gestellt werden. Die bisher herrschenden Mächte sollen niedergeworfen und statt dessen ein nie dagewesenes Neues freigesetzt werden. Und zwar dahingehend - so der die apokalyptischen Visionen generierende Wunsch -, daß mit dem Erscheinen Gottes schließlich die selbstherrlichen weltlichen Mächte, die als Sieger meinen, Recht über andere sprechen zu können, nun ihrerseits ihren Richter finden und sich dadurch aufletzter und höchster Ebene göttliche Gerechtigkeit auf
Klaus Vondung hebt in seinen Studien zur Apokalypse hervor, daß selbst in den sogenannten kupierten Apokalypse-Vorstellungen in der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts die alten Hoffuungen auf einen Neuanfang virulent sind. Vgl. ders.: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, llf.
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Erden manifestiert. 2 Wenn in diesem Sinne der Gott naht, ist rur die Sterblichen Gefahr in Verzug. Denn das erwartete Jüngste Gericht - so wie es Johannes in seiner Offenbarung ausmalt - wird ein finales Urteil fällen, das alle begangenen Taten einbezieht. Selbst die lange schon Gestorbenen werden sich vor diesem kommenden Richterspruch zu verantworten haben3 : "Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken." Friedrich Hölderlins Hymne Patmos bezieht sich nicht nur im Titel auf die im Ägäischen Meer gelegene Insel Patmos, wo der "Knecht Johannes" "die OffenbarungJesu Christi, die ihm Gott gegeben hat" ,4 niederschrieb, sondern die ersten Sentenzen von Hölderlins großem Gedicht nennen auch wesentliche Momente, welche die Vorstellungen in der jüdisch-christlichen Tradition von der kommenden Apokalypse bestimmen. Das ist zum einen die Gefahr, die mit der Entbergung des verborgenen Gottes verbunden ist, weil sich nur im Untergange des Alten das Neue zeigen könne. 5 Zum anderen ist das die Ahnung, daß dieses Ereignis unmittelbar bevorstehe. In der Offenbarung des J ohannes äußert sich diese endzeitliche Dringlichkeit in der wieder-
Vgl. das Wort, das der Prophet Habakuk von Gott erhalten hat, na!=hdem er sich bei diesem darüber beklagte, daß die Gesetze im Neubabylonischen Reich "ohnmächtig" seien, und die "rechte Sache" nie gewinnen könne, weil Gott es zulasse, daß "der Gottlose" "den Gerechten" ungestraft übervorteile und also "Gewalt vor Recht" geht (vgl. Hab. 1,2-4). Gott erwiderte darauf (Hab. 2,3-5): "Die Weissagung wird ja noch erfüllt werden zu ihrer Zeit und wird endlich frei an den Tag kommen und nicht trügen. Wenn sie sich auch hinzieht, so harre ihrer; sie wird gewiß kommen und nicht ausbleiben." - Im folgenden wird aus der Bibel zitiert nach: Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers, revidierte Fassung von 1984, Stuttgart 1990.
Qtfb. 20,12. Vgl. ebd., 1,1. Siehe in diesem Zusammenhang auch Hölderlins poetologisches Fragment Das untergehende Vaterland, in: Friedrich Hölderlin: Siimtliche Werke und Britje [im folgenden: SWB] II, hg. von Michael Knaupp, München und Wien 1992,72-77. In diesem um 1799/1800 geschriebenen Text, der einen tiefgehenden Umbruch in Hölderlins geschichtsphilosophischen Denken markiert, heißt es (SWB II, 72): "Denn die Welt aller Welten, das Alles in Allen, welches immer is t und aus dessen Seyn alles angesehen werden muß, stellt sich nur in aller Zeit - oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar, und dieser Untergang und Anfang ist wie die Sprache, Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendigen aber be~ondern Ganzen, welches eben. wieder in seinen Wirkungen dazu wird, und zwar so daß in ihm, sowie in der Sprache, von einer Seite weniger oder nichts lebendig Bestehendes von der anderen Seite alles zu liegen schei~t." Dieser Satz verlangt - wie dieses Fragment überhaupt einen eingehenden Kommentar. Hier sei nur auf den im wahrsten Sinne apokalyptischen Gedanken hingewiesen, daß der verborgene Grund - "die Welt aller Welten" - sich gerade "im Untergange" offenbare und dieser Moment dann "wie die Sprache" zum "Zeichen" dieses verborgenen Grundes wird. Hölderlins Überlegungen implizieren auch, daß die Sprache und insbesondere die Dichtung selbst zu einem solchen offenbarenden "Zeichen" des "Ganzen" werden kann. Vgl. auch ]ohann Kreuzer: Erinnerung - ZlIm Zusammenhang von Hölderlins theoretischen Fragmenten ,Das untergehende Vaterland ... ' und, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... " Königstein i. Ts. 1985.
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holten Warnung6 : "denn die Zeit ist nahe." Hölderlin nimmt diese Geste auf und beginnt sein Gedicht wie folgt (v. 1-4f: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.
Der auftaktlose, trochäische Beginn des Gedichts legt nahe, daß der schwer zu fassende Gott im Kommen ist. Er ist schon "Nah" und wird wohl noch näher kommen. Diese Bewegung suggerieren die ersten beiden Verse durch den Abstand zwischen der unvermittelten Ankündigung am Anfang, "Nah ist", und dem dann schließlich nach einer Verzögerung genannten "Gott" am Ende der zweiten Zeile. In welchem Verhältnis aber steht der dann folgende zweite Satz dieses Gedichtanfangs zu den ersten beiden Versen? Der Einwand "aber" (v. 3) legt zumindest einen zu beachtenden Zusammenhang zwischen den ersten beiden Sätzen des Gedichts nahe. Denn dieses "aber" dürfte sich nicht nur satzintern auf die paradoxe genetische Einheit ("wächst") von Gefahr und Rettendem beziehen, so als würde es heißen, ,Wo Gefahr ist, wächst aber das Rettende auch', sondern die Entgegnung "aber" weist auch, eben weil sie gleich am Vers- und Satzanfang steht, auf den Anfang der Hymne zurück. Dann aber ist im dritten Vers nicht nur von einer allgemeinen, immer und überall möglichen gefährlichen Situation die Rede, sondern es ist genauer nachzufragen, worin denn diese "Gefahr" besteht?8 Liest man also die ersten vier Verse als zwei Aspekte eines Zusammenhangs, dann stellt sich die Alternative, ob die Gefahr auf den nahen und im Kommen begriffenen "Gott" zurückzufiihren ist oder ob sie daraus resultiert, daß der Gott "schwer zu fassen" ist, obgleich er "Nah ist"? Von Anfang an gibt der Text durch diese syntaktische Offenheit und durch die angedeutete, verheißungsvolle und zugleich gefährliche Begegnung mit dem nahen "Gott" eine unübersichtliche und mithin beunruhigende Dringlichkeit zu erkennen, die dem dann in der
Qffb. 1,3; vgl. auch 1,1; 22,6 u. 22,20. Patmos wird zitiert nach SWB I, 447-453. Vgl. auch Friedrich Hölderlin: Siimtliche Werke - Grqße Stuttgarter Ausgabe [im folgenden: StA] II, hg. Friedrich Beißner, Stuttgart 1943-1985, 165-172. Ich beziehe mich vor allem auf die sogenannte Widmungsreinschrift, die im Januar 1803 "Dem Landgrafen von Homburg" übergeben wurde. Zitate aus Patmos werden direkt im Text unter Angabe des Verses ausgewiesen. In der im Hamburger Folioheft niedergeschriebenen Fassung von Patmos heißt es denn auch noch: "Wo aber die Gefahr ist [ ... ]". Vgl. Hölderlin: Siimtliche Werke -Frankfurter Ausgabe [im folgenden: FRA] VII: Gesiinge I, hg. von Dietrich E. Sattler et al., Frankfurt a. M. 2000,238(, Hervorh. R.A.; siehe auch SWB III, 273. Eine solche bestimmte Gefahr fordert geradezu dazu auf, die möglichen Korrespondenzen zum ersten Satz der Hymne zu bedenken. Die sich daraus ergebende Spannung zwischen "Gott" und "Gefahr" wird freilich immer dann ausgeblendet, wenn die zum Sprichwort gewordenen Verse drei und vier bloß für sich zitiert werden.
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Hymne entwickelten politisch-poetologischen Programm Bedeutsamkeit gibt. Diese Dringlichkeit hat sowohl erkenntnistheoretische als auch geschichtsphilosophische Implikationen, die zusammen das apokalyptische Moment von Hölderlins Gedicht ausmachen. Die Apokalypse ist geftirchtet und wird gleichwohl ersehnt. Denn sie verspricht, daß mit ihr das offenbar wird, was sich allenfalls sub specie aeternitatis zeigen könnte. Was den an die Erde gebundenen "Söhne[n] der Alpen" (v. 7) nicht einsichtig werden kann, könnte die göttliche Offenbarung ermöglichen. Der Wunsch, daß die Apokalypse geschehen möge, resultiert nicht nur daher, daß sowohl Juden als auch Christen unter tyrannischen Fremdherrschaften litten und aufgrund dieser Ohnmachtserfahrungen eine göttliche Gewalt herbeisehnten, die radikal und endgültig mit den Ungläubigen abrechnet, sondern dieser Wunsch ist auch Reflex des erkenntnistheoretischen Dilemmas, daß den Erdenbürgern die himmlische Sicht auf die Dinge verborgen ist und allenfalls Ausnahmesituationen den Blick auf das verborgene Ganze freigeben. Hölderlins Hymne Patmos erinnert hieran gleich zu Beginn und folgerichtig steht das epistemologische Unvermögen - "schwer zu fassen" buchstäblich vor "Gott" (v. 2). Diese Erkenntnisgrenze hat ftir die jüdische Tradition nicht nur eine theologische, sondern zugleich auch eine rechtliche und politische Dimension. Lassen sich doch erst mit dem kommenden Messias die religiösen und weltlichen Gesetze der Thora voll befolgen, weil erst durch ihn die Gebote im ganzen Umfang verständlich werden; und zwar dahingehend, daß sich mit dem Erscheinen des Messias die Gesetze der Heiligen Schrift erübrigen. 9 Weil vom Messias erwartet wird, daß er in diesem grundlegenden Sinne die irdischen Verhältnisse gänzlich neu gestaltet, sind auch die christlichen Urgemeinden, die in Jesusja bereits den Gesalbten sehen, von der Vorstellung bestimmt, daß der Gottessohn erst noch (wieder-)kommen muß, damit dieser sie endgültig von ihren irdischen Nöten erlöse, die trotz Jesu Auferstehung immer noch andauern. Daß die Christen insbesondere des 1. Jahrhunderts auf jüdisch-apokalyptische Visionen zurückgreifen, ist darin begründet, daß die erhoffte Seinsftille respektive das Reich Gottes wider Erwarten noch aussteht. Die Briefe von Paulus an die Thessalonicher dokumentieren, welches Gewicht für die noch jungen christlichen Gemeinden die Frage hat, wann endlich die mit der Auferstehung Jesu versprochene Parusie einsetze, welche schließlich alle Gläubigen beglücken soll. Das Vertrauen in die kommende Fülle (pleroma) wird nämlich nach und nach dadurch beschädigt, daß die ersten Christen schon gestorben sind, ohne jedoch selbst die Parusie erlebt zu haben. Paulus Vgl. Gersham Schalem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders., Judaica, Frankfurta. M. 1963,7-74, hierinsb. 43.
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versucht wegen der laut werdenden Klagen der Hinterbliebenen, tröstende Worte zu finden und sichert den Gläubigen zu lO : Denn wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen. / Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, daß wir, die wir leben und übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind. / Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. / Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit. / So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.
Für Paulus steht fest, daß er und die anderen Christen noch zu Lebzeiten erleben werden, wie der Herr "vom Himmel" "herabkommen" wird. Für ihn ist es allenfalls eine Frage der Zeit, wann das himmlische Losungszeichen erscheint, wann also endlich "die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen", um alle Gläubigen an die Seite des auferstandenen Herrn zu entrücken. Folglich bittet er die Beunruhigten um Geduld und schließt folgende Zeilen an, deren inadäquater Vergleich allerdings weniger Vertrauen in das Kommende ausstrahlt, denn die Erklärungsnot des Apostels unterstreicht l1 : "Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht." Das Ausbleiben der Wiederkunft des Gottes erweist sich als der Anfang von Paulus' Eschatologie und ist zugleich, weil diese Abwesenheit fortbesteht, der Anfang aller weiteren theologischen Debatten. Die eigentümliche Zeitlichkeit der christlichen Apokalypse ergibt sich denn auch aus dem erklärungsbedürftigen Mißstand, daß der Christ zwar schon dagewesen ist, er aber gleichwohl - als Tröster/ Paraklet12 - erst noch wiederkommen müsse, damit das, was rur ihn und seine engsten Jünger wahr geworden sei, sich endlich auch rur die Gläubigen realisieren könne. In diese von Hoffnungen und Enttäuschungen bestimmte Diskussion greift in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts auch Hölderlin mit seiner Hymne Patmos ein. Indem er konstatiert, "daß nirgend ein / Unsterbliches am Himmel zu sehn ist oder / Auf grüner Erde" (v. 149-151), wirft er die Frage auf (v. 151): "was ist diß?" Was hat diese Abwesenheit des Gottes zu bedeuten und wie könnte der "Sohne des Höchsten" (v. 77) erinnert und wieder sichtbar "gemacht werden? Ist also unter diesen Bedingungen eine Offenbarung des
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1. Thess. 4,14-18. Ebd., 5,1-2. Vgl.Joh. 14,16.
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Göttlichen überhaupt noch möglich? Hölderlin nähert sich diesem fundamentalen Problem dadurch, daß er zwei Weisen von göttlicher Offenbarung voneinander unterscheidet und diese Unterscheidung als Grundbedingung fur seine Dichtung, ja für die Moderne überhaupt, zu bedenken gibt. Denn von jener Offenbarung, die den Jüngern von Jesus unmittelbar zuteil wurde, als diese "Das Angesicht des Gottes genau" (v. 80) sehen konnten, unterscheidet Hölderlin in dem Gedicht Patmos grundlegend die immer nur vermittelte Offenbarung, die sich aus den guten Deutungen der Heiligen Schrift ergeben kann. Indem Hölderlin nachzuweisen versucht, daß nur letztere Weise der Offenbarung gegenwärtig möglich ist, stellt er sich zwar gegen im engeren Sinne apokalyptische Vorstellungen, wonach nur eine radikale Vernichtung der Welt das erhoffte "neue Jerusalem"13 freisetzen könne, gleichwohl ist auch die von Hölderlin favorisierte Offenbarung durch die Vermittlung der Schrift notwendigerweise gefährlich und nur insofern offenbarend, als sie im buchstäblichen Sinne und auf beunruhigende Weise auch die Möglichkeit des ,Endes' in sich birgt. Was also aus der Unterscheidung von unmittelbarer und vermittelter Offenbarung für Hölderlins "deutsche[n] Gesang" (v. 226) folgt und warum das Gedicht Patmos zugleich Einblick in die theologischen und geschichtsphilosophischen Aspekte des Lesens gibt, das soll nachfolgend erörtert werden. Zunächst aber sei in knappen Zügen angegeben, in welchem Umfeld Hölderlin das Gedicht Patmos schrieb. 1I.
Patmos steht im Kontext der "größere[n] Gedichte", an denen Hölderlin seit 1800 arbeitet, deren "Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn solJ- oder die Zeit"14 und welche die Bedingungen für eine "Wende der Zeit"15 reflektieren. Diese Wende möge als "vaterländische Umkehr" geschehen, mit der Hölderlin, wie es in den Anmerkungen zur Antigonä heißt, "die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen "16 verbindet. Diese grundlegende Umkehr der politischen und kulturellen Verhältnisse kann aber nur dann gelingen - und schon darum liegt Hölderlins Dichtung ein apokalyptisches Moment zugrunde -, wenn die himmlischen Kräfte (wieder) erscheinen. Der Gott muß in die Geschichte eintreten, er muß sichtbar werden, weil ohne ihn alles politische Handeln defizitär bleibt und kaum mehr als ein kaltes mechanisches Regel13
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Vgl. Qtfb. 3,12 und 21,2. Vgl. Hölderlin: Briefan Friedrich Wilmans, 8. Dezember 1803, StA VI, 435. Hölderlin: Blödigkeit, StA 11, 66. Zu diesem Nachtgesang vgl. auch Vf: Hölderlins At!f-Gabe und die Ode ,Blödigkeit', in: Das Denken der Sprache und die Petjomlal1Z des Literarischen, hg. von Stephan Jaeger und Stefan Willer, Würzburg 2000,55-73. Vgl. Hölderlin: Anmerkungen zur Antigol1ii, StA V, 271.
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werk hervorbringen kann. Schon in seinem Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/1799) macht Hölderlin auf die Notwendigkeit der Wiederkehr der Götter aufinerksam. Während aber im ersten Band des Romans noch die Annahme waltet, daß trotz aller Unvorhersehbarkeiten die ersehnte "Begeisterung" vom "Himmel" "gewiß" kommen wird, so daß "die neue Kirche" offenbar werden kann 17 , geht der Ausarbeitung der vaterländischen Gesänge ein differenzierteres und skeptischeres Geschichtsverständnis einher. Denn die anvisierte Erhebung "über das physisch und moralisch nothwendige" zu den "zartern und unendlichern Verhältnisse[n]" , die "aus dem Geiste betrachtet werden"18 müssen, ist alles andere denn gewiß. Um die ]ahrhundertwende 1800 hebt Hölderlin hervor, daß die Geschichte vielmehr ein offener Prozeß mit ungewissem Ausgang ist. 19 Gerade weil es keine sichere Kenntnis über das Zukünftige gibt, wird es fUr Hölderlin vordringlich, einen "höheren Zusammenhang"20 zu gewinnen, von dem her die politisch-geistige Situation dieses "arme[n] geist- u. ordnungslose[n] ]ahrhundert[s]"21 erfaßt und erneuert werden könnte. Es bedarf, wie er formuliert, einer "äußeren Sphäre", die sich der Dichter "in harmonische[r] Entgegensezung" frei zu wihlen habe. 22 Nur durch das frei gewählte Heraustreten aus der unreflektierten Identität mit der Welt könne der verhängnisvolle Zustand überwunden werden, der immer wieder dazu fUhrt, in "fruchtlosen Widersprüchen mit sich selber sich auf[zu] reiben. "23 Dies soll durchjene Sphäre ermöglicht werden, fUr die das "Vaterland" steht, das in diesem Sinne nicht mit dem "Nationellen" identisch ist. 24 Die Entäußerung auf das Vaterland entspricht vielmehr dem, was Hölderlin seit seiner Zeit im Tübinger Stift mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel das "Reich Gottes"25 nennt. Denn das Vaterländische ist die von den Himmlischen beseelte Sphäre. Und nur der in diesem Sinne auf das Vaterland bezogene Gesang hat die Möglichkeit - und dann auch die Aufgabe -, die "Revolution der Gesinnun17
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Vgl. Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, StA III; nach der Zählung der Originalausgabe, Bd. I, Tübingen 1797, 53. Vgl. Hölderlin: Über Religion, StA IV, 277f. Das unterstreicht schon der Schluß des zweiten Hyperion-Bandes und ist insbesondere das Ergebnis der Arbeit am Empedokles-Drama, die Hölderlin bereits 1797 in Frankfurt begann und Anfang 1800 in Bad Homburg abbricht. Vgl. Hölderlin: Über die VeifahnmgsUleise des poetischen Geistes (1800), StA IV, 255. Hölderlin: Brief an Christian Ludwig Neuffer, 16. Februar 1797, StA VI, 235. Vgl. Hölderlin: VeifahnmgsUleise, StA IV, 255f. Ebd. Vgl. Ulrich Gaier: Hölderlins vaterländische Sangart, in: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986/87), 12-59. Zur Unterscheidung zwischen "Vaterland" und "Nationellem" siehe insb. 24-30. Zum Begriff des Vaterlands bei Hölderlin vgl. auch AdolfBeck: Hölderlins Weg zu Deutschland - Fragmente und Thesen, Stuttgart 1982, und Gerhard Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung - Zum Verhältnis von Poesie lind Revolution bei Hölderlin, Stuttgart 1975, insb. 138-143. Hölderlin: Brief an Hegel, 10. Juli 1794, StA VI, 126f.
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gen und Vorstellungsarten"26 vorzubereiten. Daß diese Aufgabe insbesondere dem "deutsche[n] Gesang" (v. 226) zukommt, daran läßt Hölderlin unter dem Eindruck des Verlaufs der französischen Revolution und der Koalitionskriege zwischen Frankreich und dem alten Europa keinen Zweifel. Hölderlins späte Dichtung untersteht diesem pragmatischen Zweck. Für die Hymne Patmos in der Reinschriftfassung, so wie sie im Januar 1803 dem Landgrafen Friedrich V. Ludwig von Hessen-Homburg an läßlich dessen 55. Geburtstags übergeben wurde, gilt dies im besonderen Maße. Der Homburger Landgraf hatte zunächst gegenüber dem durch das große Epos Der Messias ausgewiesenen Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock den Wunsch geäußert, dieser möge fiir ihn ein großes Gedicht zur Verteidigung des Christentums schreiben. 27 Nachdem Klopstock dem nicht nachkommen wollte, dürfte Friedrich V. an Hölderlin mit seinem Anliegen herangetreten sein, mit dem er durch Isaac von Sinclair bekannt wurde. War dieser Auftrag auch der entscheidende Anstoß, die Hymne Patmos zu schreiben, so ist der in ihr ausgetragene Konflikt charakteristisch rur Hölderlins späte, große Gesänge überhaupt. Von der ersten bis zur letzten Zeile ist das Gedicht Patmos von der Spannung bestimmt, einerseits den Versuch zu unternehmen, einen durch Jesu Tod verbürgten heilsgeschichtlichen Plan nachzuweisen, der auch Hölderlins eigener Dichtung eine theo-politische Funktion gibt und auf diesem Wege zugleich die religiöse Haltung des Landgrafen von Hessen-Homburg würdigt, andererseits aber ist dieser Text von einer Skepsis durchzogen, die der sich nach spekulativ-idealistischem Muster fortsetzenden Heilsgeschichte mißtraut. 28 Diese geschichtsphilosophische Skepsis, die weiterhin poetologische Konsequenzen hat, resultiert auch aus den Erfahrungen, die Hölderlin seit seiner Arbeit am Hyperion machte. Denn in seinen langjährigen Auseinandersetzungen mit dem antiken Griechenland ist Hölderlin bewußt geworden, daß der einfache Rückgriff auf die vergangene "griechische Vortrefflichkeit" - von der Hölderlin einst hoffte, wie er sich gegenüber Casimir Ulrich Böhlendorff ausdrückte, das Gesetz der Geschichte
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Hölderlin: Brief an Johann Gottfried Ebel, 10. Januar 1797, StA VI, 229. Zu den biographischen und politischen Begleitumständen der Entstehung der Hymne vgl. Wolfgang Binder: Hölderlins Patmos-Hymne, in: ders., Hölderlin-At!fsätze, Frankfurt a. M. 1970,362402; Werner Kirchner: Hölderlin-At!fsätze zu seiner Homburger Zeit, Göttingen 1967, insb. 59, 6367; Karlheinz Stierle: Dichtung und At!ftrag - Hölderlins Patmos-Hymne, in: Hölderlin:Jahrbuch 22 (1980/81),47-68 und SWB III, 276f - Klopstock avancierte am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Autor, dessen Dichtung und insbesondere dessen Lesungen als religiös-kultische Ereignisse verehrt wurden. Vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit VI/1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, 440f[ Charles de Roche betont zu Recht, daß es sich bei dem Gedicht Patmos, "der eindrücklichen formalen Geschlossenheit zum Trotz, um einen Text handelt, der Unvereinbarstes [siel] zu vereinen versucht". Ders.: Patmos-Das scheidende Erscheinen des Gedichts, München 1999,49.
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und die gültigen "Kunstregeln " "abstrahiren "29 zu können - nicht hinreichend ist, die aktuellen politischen und poetologischen Fragen zu lösen. Diese Einsicht dokumentiert nicht nur der viel beachtete Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, sondern ebenso folgendes Fragment aus dem Homburger Folioheft, das Hölderlins errungenes Problembewußtsein mit dem im Hyperion-Roman noch zum Ideal erklärten, untergegangenen Athen in diesen Versen zusammenfaßt30 : meinest du, Es solle gehen, Wie damals? Nemlich sie wollten stiften Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber Das Vaterländische von ihnen Versäumet und erbärmlich gieng Das Griechenland, das schönste, zu Grunde. Wohl hat es andere Bewandtniß jezt.
zum Dämon
Durch die Eingangsfrage an den "Dämon" wird der mögliche eigene Bildungsgang "jezt" mit der bereits Geschichte gewordenen Entwicklung des alten Griechenlands konfrontiert. Wird sich dieser Untergang nun nördlich der Alpen wiederholen? Warum ging das schönste Griechenland "damals" erbärmlich zu Grunde? Und was kann aus diesem Vergleich fur ein Schluß gezogen werden? Die Antwort auf diese Fragen ist, daß die Griechen das "Vaterländische" "Versäumet" haben, als "sie" ihr "Reich der Kunst" "stiften" wollten. Doch die Kunst allein war fiir die Bildung des angestrebten Reiches nicht hinreichend und konnte darum diese Vernachlässigung nicht ausgleichen. Wie "damals", so ist zu schließen, kommt es auch ,jezt" auf das rechte Zusammenspiel von Vaterländischem und Kunst an. Daß es aber damit "andere / Bewandniß jezt" hat, heißt, daß eben dann, wenn heute der Versuch unternommen wird, das Vaterländische in seinen lebendigen Verhältnissen neu zu konstituieren, andersherum gilt, das Reich der Kunst - wozu vornehmlich die Dichtung gehört - nicht zu versäumen. Heute wie damals gilt es, die Dialektik zwischen Kunst und Vaterländischem zu beachten - ,jezt" jedoch unter anderem Vorzeichen. Die Hölderlin besonders am Herzen liegende "Rede vom Vaterland"31 sollte darum nur im Zusammenspiel mit der
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Vgl. Hölderlin: Brief an Böhlendorff, 4. Dezember 1801, StA VI, 426; siehe hierzu auch Peter Szondi: Übent,;ndung des Klassizismus - Der Bri~f an BöhlendodJ vom 4. Dezember 1801, in: ders., Hölderlin-Studiel1- Mit einem Traktat iiber philologische Erkenl1tnis, Frankfurt a. M. 1967, 85-104. SWB I, 430f Vgl. auch StA 11, 228 u. 861f Nach Dietrich E. Sattler hat Hölderlin das Homburger Folioheft "Ende Oktober oder Anfang November 1802" angelegt, also genau in der Zeit, als die ersten Vorstufen zu Patmos entstehen. Vgl. Sattler: 0 Insel des Lichts! Patmos und die Entstehung des Homburger Foliohefts, in: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986-1987),213-225, hier 213 u. 217. Vgl. StA 11, 337: "Mein ist / Die Rede vom Vaterland. Das neide / Mir keiner."
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Kunst, ja genauer, nur in der Kunst geftihrt werden. Denn das gleichermaßen politisch und theologisch konnotierte Vaterland, das Hölderlin im Sinn hat, darf nur verhüllt in der Schrift der Dichtung erscheinen. Das Vaterländische muß offenbar werden, damit es politisch werden kann, es muß aber auch verhüllt bleiben, damit es nicht in den herkömmlichen politischen Geschäften verloren geht. Darum ist ftir die verhüllte Offenbarung des Vaterländischen die Kunst unerläßlich. Entsprechend heißt es am Schluß der vorletzten Strophe des Gesanges Germanien, der ebenfalls nach 1800 geschrieben wurde, vom Wahrem32 : "Dreifach umschreibe du es, / Doch ungesprochen auch, wie es da ist, / Unschuldige, muß es bleiben." Wie sehr Hölderlin die differenten Möglichkeiten der politischen Re d e einerseits und der das Geheimnis bewahren könnenden S chr ift der Dichtung andererseits beschäftigen, unterstreichen folgende Sätze, die er im Februar 1798 seinem Bruder Karl schrieb 33 : "Ist es Dein Ernst, als Schriftsteller auf den deutschen Karakter zu wirken und diß ungeheure Brachfeld umzuakern und anzusäen, so wollt' ich Dir rathen, es lieber in oratorischen} als poetischen Versuchen zu thun. Du würdest schneller und sicherer zum Zweke gelangen." Diesem Rat liegt die Erfahrung zugrunde, daß die Rede im politischen Felde hoffen darf, schnell Wirkungen zu erzielen. Dagegen muß die Poesie auf einen langen Atem vertrauen, weil sie sich nicht unumwunden zeigen darf Hölderlin rät seinem Bruder aber vor allem deshalb, sich in "oratorischen [ ... ] Versuchen" um die Erftillung der gesetzten "Zweke" zu bemühen, weil er ihm die mit dem Dichterdasein verbundenen finanziellen und sozialen Ungewißheiten ersparen will. Hölderlin selbst folgt allerdings trotz dieser Ungemach nicht der Maxime, nach der er "schneller und sicherer zum Zweke gelangen" würde, weil er nicht unter den anderen Bedingungen ,jezt" das gleiche Versäumnis wiederholen will, das dem schönsten Griechenland unterlaufen ist. Hölderlin besinnt sich darum auf die Literatur und insbesondere auf den die Dichtung ermöglichenden Buchstaben (littera) , um auf diese Weise zu ermessen, warum "jezt" (v. 197) - nachdem Jesus schon lange von dieser Erde geschieden ist - vor allem durch den "veste[n] Buchstab" der Schrift (v. 226) und nicht durch den "lebendige[n] Laut" der Rede, der längst "Verhallt" ist (v. 159), das Göttliche offenbart werden könne. Hölderlin bedenkt die spezifischen Qualitäten der Dichtung, gerade weil diese nicht an den unmittelbaren,
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Hölderlin: Germanien, StA II, 152, v. 94-96, Hervorh. R.A. Hölderlin schrieb die Hymne vermutlich 1801, vgl. Beißners Kommentar, StA 11.2, 738 und den Kommentar in SWB III, 232. Daß das "Vaterland" nur schweigend genannt werden darf, ist auch dem Fragment Einst hab ich die Muse gr;fragt ... zu entnehmen. Dort heißt es (StA II, 220): "Vom Höchsten will ich schweigen. / Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber ist / Am meisten das Vaterland. Die aber kost' / Ein jeder zulezt." Hölderlin: Brief an den Bruder, 12. Februar 1798, StA VI, 263.
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aber ephemeren Moment gebunden ist, sondern auf vielschichtige Weise verschiedene Zeitebenen miteinander verschränken kann und damit das freilegt, was bereits einmal offenbar lag. Allerdings nur diejenige Dichtung, die ihre Grenzen und Möglichkeiten selbst poetologisch reflektiert, kann das Unmögliche ermöglichen, daß der notwendigerweise verborgene Gott wieder sichtbar in die Welt tritt, daß also in anderen Worten Apokalypse statthat. Die oft gedeutete Schlußsentenz der Hymne Patmos zielt vor diesem Hintergrund auf das gespannte Wechselverhältnis zwischen dem benötigten, aber verborgenen Vater(ländischen) Und der zugänglichen, aber immer mit dem Mangel des ,Noch-nicht' bzw. des ,Nicht-ganz' versehenden Buchstäblichkeit des Gesanges. Bevor auf den Verlauf der Hymne insgesamt näher eingegangen wird, sei hier vorweg der programmatische Schluß der Hymne vorgestellt (v. 222-226): [ ... ] der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepflegt werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
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Der liebende "Vater" waltet "über allen" (v. 222f). Doch weil er über allen ist, muß anderes ihn auf Erden vertreten. Er ist auf die Buchstaben angewiesen, denen Festigkeit und Bestand zugesprochen wird und die darur sorgen sollen, daß "bestehendes" (v. 225) bleibt. Des Vaters Liebe geht darum insbesondere an jene, die den "veste[n] Buchstab" pflegen. 34 Doch daß dieser "Buchstab" gepflegt und wie das Bestehende "gut / Gedeutet" werden muß, offenbart zugleich, daß das herrliche Walten des Vaters durch Deutungen bedingt ist. Entsprechend exponiert der letzte Vers der Hymne an seinem Anfang das Verb "Gedeutet" und stellt dieses damit zugleich in Spannung zum Prädikat des letzten Satzes: "folgt". Durch diese Versbildung wird das statisch-konservativ anmutende Begehren nach der Deutung des Bestehenden, das im zeitlichen Wandel unverändert stehen zu bleiben scheint, genauer als 34
Die Liebe des Vaters zum "veste[n] Buchs tab " kann auch als Reaktion auf die Maximen der pietistischen Tradition angesehen werden, welche die ,geistvolle Unmittelbarkeit' göttlicher Erfahrung proklamierte und die Buchstaben der Letternkultur entsprechend abwertete. Doch die mit ,Geist' und ,innerem Geftihl' inspirierten Prediger öffuen auch der Willkür Tür und Tor. Nicht nur Immanuel Kant polemisiert gegen den "philosophus per inspirationem" und beharrt in seiner Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) auf den "feste[n] Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann" (vgl. Kants gesammelte Schriflen VIII, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1912, 387-406, hier 389 u. 403), sondern auch Hölderlin tritt mit seinem Wort vom "veste[n] Buchs tab " dem pietistischen Leitwort des Paulus entgegen, wonach "der Buchstabe tötet, aber der Geist [... ] lebendig [macht]." (2. Kor. 3,6; vgl. auch Röm. 7,6.) Zur Epoche der Empfindsamkeit und zum kontrovers
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ein Prozeß lesbar, der die verschiedenen Dimensionen der Zeit miteinander verschränkt. Denn die Deutung des Bestehenden ist nur als ein Folgen möglich. Dieser Vorgang ist darum aber nicht die Wiederholung bereits applizierter exegetischer Prozeduren, sondern je von neuem muß der "veste Buchstab" in das Jetzt der jeweils akuten Situation gestellt werden. Die folgende Deutung erweist sich darin als das Unternehmen, eine Zeit-Spanne herzustellen, die - frei nach Walter Benjamin - im überlieferten "Buchstab" "bestehendes" (v. 225) im "Augenblick seiner Erkennbarkeit"35 blitzartig offenbar werden läßt. Dieser Vorgang, den der Gesang leistet, indem er sich deutend auf gegebene Buchstaben bezieht, ist aber nicht nur ein Rückbezug auf Tradiertes, sondern zugleich ein Antizipieren. Den alten Buchstaben folgen heißt, daß sie von neuem vorangehen und dadurch das Künftige eröffnen. Dieser Logik folgt Hölderlins "deutscher Gesang", der eben nicht nur darum als deu tscher bestimmt ist, "um der betont deutschen Gesinnung des Landgrafen "36 zu gefallen, sondern der Gesang ist vor allem darum "deutsch" zu nennen, weil er deu tet und selbst wiederum gedeutet werden muß. 37
111. Was es heißt, den Buchstaben deutend-folgend in der Schrift der Dichtung eine Zeitspanne zwischen einst und jetzt herzustellen, macht das Gedicht Patmos selbst eindrucksvoll vor. Um beschreiben zu können, wie Hölderlin die Überblendung weit auseinander liegender Zeiten gestaltet, sei zunächst die formale und inhaltliche Gliederung der aus funfzehn Strophen bestehenden Hymne näher vorgestellt, die nach Pindarischem Vorbild triadisch strukturiert ist. Die erste Strophe skizziert nach den ersten vier Versen, welche gleich zu Beginn die eschatologische Dimension des Gedichts hervorheben, den desperaten Status quo der Jetztzeit (v. 5-15): Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehen Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Aufleichtgebaueten Brüken. Drum, da gehäuft sind rings
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diskutierten Zusammenhang derselben mit dem Pietismus vgl. auch Kemper: Empfindsamkeit [Anm. 27], insb. 1-16. Walter Benjamin: Über det1 Begrf.ff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriftet1 I, hg. von RolfTiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974,691-704, hier 695. So Binder: Patmos-Hymne [Anm. 27], 397. Deutet1 ist von der Form ze diute abgeleitet, was heißt, vom Lateinischen in die Volkssprache übersetzen, etwas verdeutschen und auf deutsch sagen. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch II, Leipzig und München 1854-1984, 1038. Vgl. auch Andrzej Warminski: PatmosThe Sense o.flnterpretation, in: Modem Language Notes 91 (1976),478-500, hier 481f[
}} Und weit} wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht (( Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gieb unschuldig Wasser, o Fittige gieb uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren.
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Der resignierende Zustand, der sich besonders in den Zeilen kund gibt, die von den "Liebsten" berichten, die "ermattend auf / Getrenntesten Bergen" wohnen, soll überwunden werden. Entsprechend wird in einem zweifachen Bittruf - "So gieb", "gieb uns" - von einer noch nicht ausgewiesenen Erzählstimme darum gebeten, daß sowohl "unschuldig Wasser" als auch die "Im Finstern" wohnenden "Adler" mit ihren "Fittige[n]" helfen mögen, eine Verbindung zu den separaten "Gipfel der Zeit" herzustellen, die "rings" schier unerreichbar aufragen. Doch daß diese Gipfel "da gehäuft sind", gibt Anlaß, darauf zu hoffen, daß es möglich werde, "treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren". Während aber die "Söhne der Alpen" es sich ,leicht' machen und "über den Abgrund weg / Auf leichtgebaueten Brüken" gehen, ist bei der mit Hilfe der "Adler" anvisierten Bewegung zu den "Gipfel[n] der Zeit" eine gänzlich andere Art von Brückenschlag notwendig. Worum es bei dieser die physikalischen Raum- und Zeitdimensionen aufhebenden Bewegung geht und warum sich die nicht näher bestimmten Zeit-Gipfel nur dann miteinander verspannen lassen, wenn zugleich in finstere Abgründe eingekehrt wird, welche die furchtlosen Alpenbewohner mißachten und buchstäblich übergehen, das erläutert und vollzieht das Gedicht dann in seinem Fortgang. Mit den Adlern ist ein erster Hinweis auf den Evangelisten Johannes gegeben. Zugleich aber stehen die Adler fur die Bewegung des Geistes der Geschichte, die in der Antike im Südosten ihren Anfang genommen hat und nun nördlich der Alpen anzukommen hofft. In der Hymne Germanien heißt es in diesem Sinne vom "Adler" nach Korrektur der Reinschrifr3 8 : "auf beiden Seiten / Den Fittig spannend mit gespaltenem Rüken überschwingt er / Die Alpen zulezt und sieht die vielgearteten Länder." In der Hymne Patmos wird diese Bewegung aus der nördlichen Perspektive dargestellt. Denn in der zweiten Strophe wird unerwartet und plötzlich das sich nun zu erkennen gebende lyrische "Ich" des Gesanges in eine ihm fremde Welt "entfuhrt" (v. 16). Diesem abrupten Vorgang entspricht, daß das "Ich", das den Alpenländern zugehören dürfte, weniger "treuesten Sinns", denn von der südlichen "Sonne" (v. 29) "geblendet" (v. 31) in eine sowohl räumlich als auch zeitlich ferne Region versetzt wird. Es findet sich unversehens und ohne jede Vermittlung auf den
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Hölderlin: Germaniel1, SWB I, 406, v. 46-48.
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inselreichen Gewässern vor "Asia" wieder (v. 31 u. 46) und gelangt schließlich nach eigenem Wunsch auf die Insel Patmos (v. 51-68): Und da ich hörte Der nahegelegenen eine Sei Patmos, . Verlangte mich sehr, Dort einzukehren und dort Der dunkeln Grotte zu nahn. Denn nicht, wie Cypros, Die quellenreiche, oder Der anderen eine Wohnt herrlich Patmos, Gastfreundlich aber ist Im ärmeren HauBe Sie dennoch Und wenn vom Schiffbruch oder klagend Um die Heimath oder Den abgeschiedenen Freund Ihr nahet einer Der Fremden, hört sie es gern; [ ... ]
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Vom grellen Licht des Südens "geblendet" und darum allein auditiv orientiert - "da ich hörte" (v. 51) -, sucht das lyrische Ich, das aus seiner Heimat dämmerndes "Zwielicht" und "schattige[n] Wald" gewohnt ist (v. 20-22), nun in jener bestimmten "dunkeln Grotte" (v. 56) Zuflucht, in der einst auch der "gottgeliebte" "Seher" ]ohannes (v. 74f) in schwieriger Zeit "Gastfreundlich" (v. 61) Asyl fand. Nicht die "quellenreiche" Insel "Cypros" lockt (v. 57f), wohin Paulus zusammen mit Barnabas 46 n.Chr. seine erste Missionsreise machte, sondern in das "ärmere Hauß" (v. 62) Patmos mit seiner "dunkeln Grotte" möchte das lyrische "Ich" einkehren (vgl. v. 55), ~eil dieser ,finstere Abgrund' (vgl. v. 5-7) nicht nur ein Versteck in der Not, sondern auch ein Ort der Umkehr ist. 39 "Dort" (v. 55) verschränken sich dann auch die verschiedenen Zeit-Gipfel des Gedichts. Mit dem dann folgenden Verweis auf den "Seher" (v. 75) gibt sich das "ich" indirekt als Leser jener biblischen Texte zu erkennen, die rur Hölderlin und seine Zeitgenossen ein und derselbe Autor geschrieben hat: das sind die Offenbarung und das Evangelium des ]ohannes. 4o Denn ]ohannes ist nicht nur
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Zur semantischen Nähe von Einkehr, Umkehr und Wende bei Hölderlin vgl. auch Blödigkeit, StA II, 66, s.o. Anm. 15. Daß die von Hölderlin erhoffte Wende ihren Anfang im Abgnmd nimmt, sagt ausdrücklich der HymenentwurfMnemosyne (StA II, 193): "Nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh' an den Abgrund. Also wendet es sich / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre." Gegen die von der zu Hölderlins Zeit vertretenen Lehrmeinung, daß die Q{tenbarung und das Evangelium vom selben Autor stammen, wendet der Theologe Hans Conzelmann nicht nur
)) Und weit) wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht ((
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darum der "Seher", weil er die apokalyptische Vision vom Jüngsten Gericht im hohen Alter aufPatmos um das Jahr 96 n.Chr. niederschrieb, sondern er ist auch im konkreten Sinn "Seher", weil er leibhaftiger Zeuge der letzten Tage von Jesus wurde, mit dem er "unzertrennlich" "in seeliger Jugend" "Gegangen" war (v. 75-77). Aus der Perspektive dieser Zeugenschaft wird dann im Mittelteil der Hymne in geraffter, wenn auch die Chronologie der Ereignisse verkehrender Weise zunächst die Ostergeschichte von Jesus und daran anschließend das Schicksal seiner Jünger erzählt. 41 Dieses geschieht in den Strophen 6-9, nachdem zuvor in der fünften Strophe (v. 61-72) die Topographie und das Charakteristische der Insel Patmos näher dargelegt wurde. Zwischen der neunten und zehnten Strophe setzt das Gedicht eine tiefgreifende Zäsur, die durch einen Gedankenstrich (,,-") am Ende von Vers 135 deutlich markiert ist. Danach setzt im Gedicht eine Reflexion ein, die zwischen den Ereignissen in Jerusalem um das Jahr 33 n.Chr. und der Jetztzeit einen inneren Zusammenhang herstellt. Dieser besteht wesentlich darin, daß "die Ehre / Des Halbgotts und der Seinen / Verweht" (v. 145-147) ist, seitdem Jesus von der Erde schied. Mit dieser Feststellung gelangt das Gedicht auf eine neue Ebene, die zusätzlich dadurch betont wird, daß die zehnte Strophe abweichend von allen anderen nicht nach 15, sondern erst nach 16 Versen endet (v. 136-151): Wenn aber stirbt als denn An dem am meisten Die Schönheit hieng, daß an der Gestalt Ein Wunder war und die Himmlischen gedeutet Auf ihn, und wenn, ein Räthsel ewig füreinander Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten Im Gedächtniß, und nicht den Sand nur oder Die Weiden es hinwegnimmt und die Tempel Ergreifft, wenn die Ehre Des Halbgotts und der Seinen Verweht und selber sein Angesicht Der Höchste wendet
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historisch-praktische Gründe ein, sondern betont vor allem den systematischen Unterschied, daß die Qtfenbanmg von einer futuristischen Eschatologie bestimmt sei, während dasJohannes-Evangefit/m eine präsentische Eschatologie habe. Da Ostern die eigentliche Parusie sei, so Conzelmann, stelle das Ausbleiben der Wiederkunft des Gottes, das Paulus und die jungen Gemeinden in Erklärungsnot brachte, im Evangelium kein theologisches Problem dar. Vgl. Conzelmann, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart V, hg. von Kurt Galling, Tübingen 31957, 131. Dem wäre allerdings entgegenzuhalten, daß auch die Abschiedsreden von Jesus im Evangelium des Johannes (loh. 13,31-17,33) auf den erst noch zukünftigen Moment verweisen, in dem die zurückgebliebenenjünger durch den Paraklet gerettet werden sollen (vgl.Joh. 14,16ff.). Zur verkehrten Darlegung der Geschehen vgl. Karin Wilcke: Christi Himme!fahrt - Ihre Darstellung in der europiiischen Literatur von der Spiitantike bis zum ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1991,408: "Auf die Emmausepisode (StA, 179, 9-17) folgt die Ausgießung des Hl. Geistes (StA, 179, 1823), und erst danach, quasi retrospektiv, verweist [Hölderlin] auf die Himmelfahrt."
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Robert Andre Darob, daß nirgend ein Unsterbliches am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist diß?
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Ausgerechnet in der überhängigen Zeile, welche diese Strophe formal von den anderen abhebt, wird die knappe, aber alles entscheidende Frage gestellt - so als hätte sie eine Außensicht auf die eigene Strophe -: "was ist diß?" Mit dieser deiktischen Geste veranlaßt Hölderlin seine Leser, erneut auf die zehnte Strophe zurückzuschauen, die als ganze die Frage aufwirft, was die lange Abwesenheit der Unsterblichen zu bedeuten habe. 42 Diese Rückschau unterstreicht, daß die abschließenden sechs Strophen des Gedichts insgesamt die Gemütslage und den Komplex der politisch-theologischen und poetologischen Debatten der nachchristlichen hesperischen Epoche widerspiegeln. Ist doch die Jetztzeit fiir Hölderlin und seine Zeitgenossen wesentlich auf die Ostergeschichte bezogen. Die letzten beiden der fiinf Triaden der Hymne erweisen sich damit im wörtlichen Sinne als ein Nach-Denken post Christum. Wesentliches Moment dieser Gliederung - I. Kurzcharakteristik der Jetztzeit (Strophe 1), H. Versetzung und Hinfiihrung nach Patmos (Strophen 2-5), IH. Schilderung der letzten Tage von Jesus in Jerusalem (Strophe 6), IV. Darstellung der Not der Jünger nach Jesu Tod (Strophen 7-9) und schließlich V. Erörterung der quälenden Frage, wie dieser Tod heute zu deuten und zu bewerten sei (Strophen 10-15) - ist, daß das lyrische "Ich" im Mittelteil der Hymne zwischen der vierten und elften Strophe zugunsten einer anderen Erzählperspektive zurücktritt und erst in dem Moment wieder das Wort ergreift, als das Gedicht eine Antwort auf das zu geben versucht, was die zehnte Strophe zu bedenken gibt. In der elften Strophe ist das "Ich" also, wie in der ersten Strophe beschworen, wiedergekehrt (vgl. v. 15) und versucht nun, "treuesten Sinns" (v. 14) das zu verstehen und zu bewahren, was zuvor via die fremde Insel Patmos zu erfahren war, zu der es auf wundersame Weise "entfiihrt" wurde (v. 16). Diese formale Strukturierung des Gedichts hebt hervor, daß Patmos in mehrfacher Hinsicht ein vermittelnder Mittelpunkt ist: topographisch, weil die Insel zwischen Jerusalem (Strophe 6-9) und den Ländern der Alpen (Strophe 1) liegt, chronologisch, weil die Ereignisse der Ostergeschichte aus der Perspektive des Lieblingsjüngers und Zeugens Johannes erzählt werden und vor allem erkenntnistheoretisch und poetologisch, weil Hölderlins Darstellung impliziert, daß Johannes erst im fernen Exil erkennen konnte, was er in seiner "seelige[n]" Jugend aus unmittelbarer Nähe "sahe" (v. 79). Erst die Erfahrung des Fern- und Getrenntseins nötigte ihn zum Schreiben. Und nur auf diesem
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Vgl. auch Sabine Doering: Aber was ist d[ß? - Formen und Funktionen der Frage in Hölderlins dichterischem Werk, Göttingen 1992, 130 u. 138-143.
}} Und weit} wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht((
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Wege konnten auch sein Evangelium und seine apokalyptischen Visionen überliefert werden. Patmos ist darum zusammengenommen die Chiffre fur die Ferne, durch die überhaupt erst jene historischen Ereignisse dem Abendland nahe gebracht werden konnten, welche rur die christliche Welt so bestimmend sind. Wer also wissen möchte, was auf dem "Gipfel der Zeit" (v. 10) Jerusalem Anno Domini 33 geschah, der muß paradoxerweise Patmos aufsuchen. Dieses vermittelnde Moment mit seinen erkenntnistheoretischen und poetologischen Implikationen ist mitzulesen, wenn das sowohl temporal als auch lokal zu verstehende Adverb "Nah", mit dem das Gedicht einsetzt (v. 1), zweifach im unmittelbaren Zusammenhang mit der "nahegelegenen " Insel Patmos erwähnt wird, deren "dunkel[er] Grotte" sich das "ich" zu "nahn" versucht (vgl. v. 52-56). So wie die Insel Patmos zugleich nah und fern ist, so vermittelt auch das Gedicht mit dem Namen Patmos die Nähe des historisch Fernen zur Gegenwart.
IV Der Name der Insel Patmos steht ftir die an diesem Ort niedergeschriebenen Texte, das sind das Evangelium und die Offenbarung, durch die Johannes zum Zeugen und Visionär wurde. Patmos ist damit mehr als bloß der kontingent erscheinende historische Ort, an dem Johannes "die Offenbarung Jesu Christi"43 empfangen hat. Patmos ist vielmehr wesentlich der vermittelnde Mittelpunkt, durch den Jesu Tod nachhaltige Bedeutung erlangt. Diese erschließt sich aber nur, wenn diese Texte auch gelesen werden. Hierauf macht Hölderlins Gedicht aufinerksam, indem es sowohlJohannes Vermittlungsfunktion als auch die erforderliche - und problematische - Vermittlungsleistung des Lesens inszeniert. Patmos ist darum auch der Ort, an dem die Apokalypse, die Entdeckung des nahen Gottes, unter bestimmten Bedingungen von neuem stattfinden kann. Um diese Bedingungen erkunden zu können, setzt sich Hölderlins Gedicht als literarischer Text damit auseinander, welche theologischen Implikationen J esu Tod zu einem epochemachenden Ereignis haben werden lassen und welche poetologischen Konsequenzen sich hieraus fur seinen "deutsche[n] Gesang" (v. 226) zu Beginn des 19. Jahrhunderts ableiten. Um diese Thesen überprüfen zu können, sei auf den zentralen Mittelteil der Hymne näher eingegangen, der am Ende der funften Strophe eingeleitet wird (v. 73-90):
43
Q{fb. 1,1.
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Robert Andre [ ... ]. So pflegte Sie einst des gottgeliebten, Des Sehers, der in seeliger Jugend war Gegangen mit Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich, denn Es liebte der Gewittertragende die Einfalt Des Jüngers und es sahe der achtsame Mann Das Angesicht des Gottes genau, Da, beim Geheimnisse des Weinstoks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals, Und in der großen Seele, ruhigahnend den Tod Aussprach der Herr, und die lezte Liebe, denn nie genug Hatt' er von Güte zu sagen Der Worte, damals, und zu erheitern, da Ers sahe, das Zürnen der Welt. Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blikte Den Freudigsten die Freunde noch zulezt,
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Aufschlußreich bei diesem Enjambement über die Strophengrenze hinweg ist die Verschiebung des Subjekts der Aussage. Unversehens und übergangslos wechselt das Gedicht in die Perspektive des "Sehers" Johannes (v. 75). Am Ende der fünften Strophe ist noch von der die Exilierten pflegenden Insel Patmos - "Sie" (v. 74) - die Rede, die nicht nur Johannes aufnahm, sondern zu der auch das "ich" "entführt" wurde (v. 16). Dann rückt mit der sechsten Strophe - aber noch immer im selben Satz - der "Jünger" (v. 79) in den Mittelpunkt und schließlich präsentiert der Text den Moment, der J esus zu Christus werden ließ. Drei sehr kurze, aufeinanderfolgende Sätze markieren die Leerstelle, die der Tod von Jesus hinterläßt (vgl. v. 88f). Diese Verdichtung am Ende der sechsten Strophe wird besonders augenfällig durch den vorhergehenden Satz, der sich über fünfzehn Verse und eine Strophengrenze hinweg ausbreitet, um dann in dem knappen und apodiktischen Urteil, in dem Schlußwort schlechthin, zu münden (v. 88): "Denn alles ist gut" . Dieses Fazit hebt sich deutlich ab, weil es nicht wie der vorhergehende und nachfolgende Bericht in der Vergangenheitsform, sondern im Präsens gebildet ist. Es ist das Vermächtnis, das über die Erzählung der Ereignisse hinaus Gültigkeit beansprucht. Fraglos zitiert Hölderlin mit dem Ausspruch "alles ist gut" die Prämisse der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz. Dessen berühmtes "tout est bien" wurde nicht zuletzt durch die Kontroverse weithin bekannt, die Voltaire 1756 mit seinem Lehrgedicht Poeme sur le desastre de Lisbonne auslöste, das den Untertitel examen de cet axiome: tout est bien fuhrt und sich auf Leibniz' 1710 in Amsterdam erschienenes Buch Essais de theodicee
J)
Und weit) wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht ((
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bezieht. 44 Doch der Kontext des Gedichts läßt keinen Zweifel, daß Hölderlin mit dem Vers 88 insbesondere auf das Johannes-Evangelium anspielt, wonach Jesu Worte vor seinem Tod waren45 : "Es ist gut fur euch, daß ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster [Paraklet] nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. / Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht." Die Frage, ob Hölderlin an dieser Stelle Leibniz, Augustinus oder das Johannes-Evangelium zitiert, ist insofern bedeutsam, als von ihrer Beantwortung abhängt, worauf sich der Platzhalter "alles" (v. 88) bezieht. Denn das Wörtchen "alles" meint durchaus nicht schlechthin alles, sondern vielmehr die im Gedicht beschriebene und in Szene gesetzte Ent-Scheidung, daß Jesus weggehen muß, damit ein anderes kommen kann. Jesus weiß, daß er sich entfernen muß, damit der dann kommende Geist "der Welt die Augen auftun" kann. J esus offenbart durch sein freiwilliges Scheiden, daß er gerade darum der "Christ" (v. 166) ist, weil er über den gegenwärtigen Moment, der durch "das Zürnen der Welt" (v. 87) bestimmt ist, hinaus sieht. Doch können dieser Weitsicht auch seine an das irdische Dasein gebundenen Freunde und Jünger folgen, von denen Hölderlin ausdrücklich schreibt (v. 94-96): "sie liebten unter der Sonne / Das Leben und lassen wollten sie nicht / Vom Angesichte des Herrn"? So ist die entscheidende Frage nach Jesu Tod, ob dieses letzte Wort, daß alles gut sei, auch aufgenommen werden kann. Denn wenn es das letzte gültige Wort ist, dürfte ihm streng genommen kein weiteres folgen, außer eben der Paraklet selbst. Doch solange dieser ausbleibt und das letzte Wort nicht der Anfang eines gänzlich Neuen ist, muß wenigstens einer dieses letzte Wort als ein solches der Nachwelt überliefern. Die im Gedicht unmittelbar anschließende Synkope "Drauf starb er" (v. 88, Hervorh. R.A.) - eine Verkürzung, die den kürzesten Satz des Gedichts noch kürzer macht lenkt denn auch die Aufmerksamkeit darauf, daß das nun Folgende unangemessen ist, weil es nicht nur die unerschöpfliche Bedeutung dieses Ereignisses zu einem bloßen Sachverhalt verkürzt, sondern auch noch dem Schlußwort ins Wort fillt und dessen Bedeutung damit performativ zu negieren
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Daß Hölderlin an dieser Stelle insbesondere den Theodizeegedanken anfuhrt, betont der Kommentar von Jochen Schmidt, in: Hölderlin: SWB I, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, 982f. Johann Kreuzer erinnert an das Wort von Aurelius Augustinus: "Ergo quaecumque sunt, bona sunt [ ... ]" (Co'!tessiones VII,12, 18), vgl. ders.: "Alles ist gut. " Anmerkungen zu einem Satz in Hölderlins Patmos-Hymne, in: Wechsel der Orte - Studien zum Wandel des literarischen GeschichtsbeUJt~ßtsdns. Festschrift fur Anke Bennholdt-Thomsen, hg. von Irmela von der Lühe und Anita Runge, Göttingen 1997, 14-22, hier 16. Joh. 16,7f Hervorh. R.A.
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droht. 46 So unterbricht denn auch der nächste Satz, "Vieles wäre / Zu sagen davon" (v. 88f), den Bericht, und der Konjunktiv spricht de facto die Unmöglichkeit aus, an dieser Stelle weiter sprechen zu können. Mit dieser Feststellung berührt der Text sein zentrales Anliegen. Denn trotz der paradoxen theologischen Wahrheit, daß Jesu Tod notwendig und gewollt, ist, weil sich nur auf diesem Wege "die lezte Liebe" (v. 84) zukünftig wird realisieren können, und trotz der poetologischen Einsicht, daß sich Hölderlins vaterländische Dichtung genau diese paradoxe Logik zu eigen machen muß, um sich selbst den höchsten Auftrag verleihen zu können, sieht sich Hölderlins Dichtung vor allem mit dem Unvermögen konfrontiert, hier angesichts dieses Auftrages wieter Sprechen zu können. Als "deutscher Gesang", der weniger spricht denn den "vesten Buchstab" pflegt und deutet (vgl. v. 224-226), nimmt er aber gleichwohl diese Aufgabe auf sich. Was heißt das? Und wie ist das möglich? Hölderlin konzentriert sich in seiner Darstellung auf die Abschiedsreden des Evangeliums, die Johannes just an der Stelle einfügt, wo die synoptischen Evangelien die apokalyptische Vision Jesu wiedergeben. 47 Es ist nun bemerkenswert, daß Jesu Reden und der dann stumm mit einem letzten Blick vollzogene Abschied das Grundmuster für die dialektische Aufhebung darstellt, die Hegel um die Jahrhundertwende in Auseinandersetzung gerade auch mit dem Johannes-Evangelium in Frankfurt an Main und in Jena entwickelt. Trägt doch in der dialektischen Spekulation ebenfalls der Geist durch die Negation des Bestehenden den Sieg davon. Wenn es in Patmos also heißt (v. 88-90, Hervorh. R.A.): [... ] Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blikte . Den Freudigsten die Freunde noch zulezt,
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dann scheint Hölderlin - wie Hegel -, diesen tödlichen Augenblick als siegende Aufhebung des vergänglichen Leibes zu deuten. Jesus muß gehen, damit er als Christus auferstehen und als Geist wieder erscheinen kann. Ganz in diesem Sinne deutet zweifellos Hegel das Johannes-Evangelium. Während Hölderlin es bei der Andeutung - "Vieles wäre / Zu sagen davon" (v. 88f) 46
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Auf diesen performativen Widerspruch, daß von einem ,letzten ' Wort schlechterdings nicht berichtet werden kann, hebt das Gedicht eigens dadurch hervor, daß das letzte Wort dieser sechsten Strophe das Adverb "zulezt" (v. 90) ist, ohne daß jedoch mit diesem Wort der Satz formal abgeschlossen wird. Obwohl die neue Strophe mit einem neuen Aspekt anhebt, fuhrt Hölderlin den Satz über die Strophengrenze hinweg mit einem Komma weiter, um so zu unterstreichen, daß es an dieser theologisch-poetologisch ent-scheidenden Stelle keinen abschließenden Punkt geben kann. Vgl. Mt. 24; Mk. 13; Luk. 21 u. 17.
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beläßt, kommentiert Hegel die Bedeutung der Ostergeschichte In seinen frühen Schriften zum Geist des Christentums ausführlich48 : Wie Jesus ewiges Leben in sich hat, so sollen auch die Gläubigen an ihn Ooh. 6,40) zum unendlichen Leben gelangen. Am klarsten ist die lebendige Vereinigung Jesu in seinen letzten Reden bei Johannes dargestellt; sie in ihm und er in ihnen; sie zusammen Eins; er der Weinstock, sie die Ranken; in den Teilen dieselbe Natur, das gleiche Leben, das im Ganzen ist. Diese Vollendung seiner Freunde ist es, worum Jesus seinen Vater bittet und die er ihnen verheißt, wenn er von ihnen entfernt sein werde. Solange er unter ihnen lebte, blieben sie nur Gläubige; denn sie beruhten nicht auf sich selbst; Jesus war ihr Lehrer und Meister, ein individueller Mittelpunkt, von dem sie abhingen; sie hatten noch nicht eigenes, unabhängiges Leben; der Geist Jesu regierte sie; aber nach seiner Entfernung fiel auch diese Objektivität, diese Scheidewand zwischen ihnen und Gott; und der Geist Gottes konnte dann ihr ganzes Wesen beleben. Wenn Jesus Ooh. 7,38/39) sagt: ,Wer an mich glaubt, aus dessen Leibe werden Ströme des Lebens quellen', so macht Johannes die Anmerkung, daß dies erst von der noch künftigen durchgängigen Belebung durch den heiligen Geist gemeint gewesen sei, den sie noch nicht empfangen hatten, weil Jesus noch nicht verklärt war.
Erst das Ende von Jesus ist der Anfang des Geistes des Christentums. Jesus, so Hegel, entfernt sich von dieser Welt, damit die Gläubigen künftig ein "eigenes, unabhängiges Leben" erlangen können. Dieser Prozeß der "Vollendung seiner Freunde" ist nur möglich, wenn eine Vergeistigung einsetzt, die den Übergang von dem leiblich anwesenden "Lehrer und Meister" zur christlichen Religion vollzieht. Daß für Hegel in diesem Prozeß zugleich auch der Übergang von der Religion zur Philosophie angelegt ist, weil jene sich schließlich nur in dieser vollenden kann, macht er an anderer Stelle deutlich. Die Philosophie hat den Inhalt der Religion durch ihre philosophische Arbeit zu erfassen und im spekulativen Begriff zur konkreten Geistigkeit zu gestalten, um auf diese Weise die Bewegung des Geistes zu sich selbst fortführen zu können. Die Philosophie muß, wie Hegel 1802 schreibt, das historische Ereignis von Jesu Tod in einen "spekulativen Karfreitag" verwandeln 49 : Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht - das Gefühl: Gott selbst ist tot [ ... ] -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem [ ... ] eine philosophische Existenz
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Der Geist des Christentums (1799/1800), in: Werke I: Friihe Schrfften, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1971,317-418, hier 384( Vgl. auch Hegel: Der Geist des Christentums. Schriften 1796-1800, hg. und eingeleitet von Werner Hamacher, Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1978,484. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Riflexionsphilosophie der Subjektivitiit in der Vollsti:indigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Werke 2: Jenaeer Schriften 1801-1807, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, 287-433, hier 432( Vgl. auch Jochen Hörisch: Brot und Wein - Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 1992, 199.
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Robert Andre geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein [ ... ] die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß. "
Das unerträgliche "Gefuhl", daß der "Gott selbst [ ... ] tot" ist, so Hegel, ist in seiner "ganzen Wahrheit und Härte" auf den philosophischen Begriff zu bringen. Diese spekulative Arbeit hat zu erweisen, daß dieser "Abgrund des Nichts" lediglich ein "Moment der höchsten Idee" ist, daß also dieser Tod nicht das Ende des Gottes respektive das Ende schlechthin ist. Nur unter dieser Bedingung wird der Karfreitag "spekulativ". Die Auferstehung findet mithin im Denken statt, weil es den singulären Moment ins Allgemeine aufhebt. Hegel und Hölderlin kommen in ihrer Bewertung des Karfreitags darin überein, daß beide das Scheiden von Jesus als notwendig verstehen, weil nur unter dieser Voraussetzung es künftig zu einer Offenbarung des Göttlichen kommen könne. Und sowohl Hegel als auch Hölderlin leiten aus diesem theologischen Verständnis ihre jeweilige Aufgabe und Berufung als Denker respektive Dichter ab. Beide versuchen also, Jesus nach seinem Tod zu beerben und an seiner Stelle seine Mission fortzuführen. Während aber Hegel die "Wahrheit und Härte" des Karfreitags als Moment der Selbstbewegung des absoluten Geistes begreift, ermißt Hölderlin die "Wahrheit und Härte" dieses Ereignisses gerade dadurch, daß er über die Möglichkeiten und Grenzen einer künftigen Offenbarung der Himmlischen dichterisch nachdenkt. Wie Hölderlin dieses poetische Nach-Denken in seinem Gedicht Patmos durchfuhrt, wie er also einerseits, darin Hegel gleich, seine eigene Position als Dichter von ~er Ostergeschichte herleitet und wie er andererseits, anders als Hegel, auch auf die Möglichkeit der Unmöglichkeit einer Fortfiihrung des Geistes des Christentums hinweist, das sei abschließend erörtert.
v. Von der ersten bis zur letzten Strophe wird Hölderlins Gedicht durch die ganze Bandbreite der Licht- und Schattenmetaphorik strukturiert. So auch in der mittleren, achten Strophe, die den Moment des endgültigen Scheidens von J esus aufruft, nachdem dieser sich seinen Jüngern noch einmal als Aufgestandener zeigte (v. 106-120): Izt, da er scheidend Noch einmal ihnen erschien. Denn izt erlosch der Sonne Tag Der Königliche und zerbrach
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Den geradestralenden Den Zepter, gättlichleidend, von selbst, Denn wiederkommen sollt es Zu rechter Zeit. Nicht wär' es gut Gewesen, später, und schroffabbrechend, untreu, Der Menschen Werk, und Freude war es Von nun an, Zu wohnen in liebender Nacht und bewahren In einfeiltigen Augen unverwandt Abgründe der Weisheit. Und es grünen Tief an den Bergen auch lebendige Bilder.
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Mit der Lichtmetaphorik wird der "Zepter" (v. 111) des als ,König der Juden' Gekreuzigten verknüpft, dessen Königreich, wie J esus klarstellt, "nicht von dieser Welt" ist. 50 Dieser Zepter ist gleich "der Sonne Tag" "geradestralend" und damit ebenso blendend wie das grelle Licht in "Asia" (vgl. v. 31), welches das lyrische "Ich" veranlaßte, in der "dunkeln Grotte" auf Patmos "einzukehren" (v. 55f). Damit die Macht, welche der Zepter symbolisiert und verheißt, zukünftig "wiederkommen" (v. 112) kann, zerbricht Jesus diese Insignie "göttlichleidend, von selbst" (v. 111). Denn das Licht, das alles illuminiert, ist selbst solange unsichtbar, wie es gerade strahlt. Bricht es sich aber an anderem, insbesondere an "Menschen Werk" (v. 115), dann kann es auch von "einfältigen Augen unverwandt" (v. 118) wahrgenommen werden. Gleiches gilt rur Jesus, von dem Johannes schreibt51 : "Ich bin das Licht der Welt". Auch Jesus muß sich selbst brechen, damit es zu einer Vermittlung kommen kann zwischen der königlichen Sonne und den Augen, die "wohnen in liebender Nacht" (v. 117). Wie sich nun durch diesen Bruch der "geradestralende" Zepter buchstäblich selbst transformiert und wie dieser, als Gebrochener, es ermöglicht, zwischen den Himmlischen und den Sterblichen zu vermitteln, das demonstriert der weitere Verlauf der Hymne. Die Etymologie des Wortes ,Zepter' geht auf das griechische Wort rur Stab, skeptron, zurück. 52 Diese Verwandtschaft zwischen Stab und Zepter nimmt das Gedicht auf, um schon auf der lexikalischen Ebene eine Verbindung herzustellen, durch die der Zepter/Stab von J esus über den "vesten Buchstab" (v. 225) der heiligen Schrift bis zum "Stab / Des Gesanges" (v. 182[) - und damit bis zum Dichter des deutschen Gesangs - gereicht wird. Dieser "Stab / Des
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Vgl.Joh. 19,19 und 18,36f. Joh. 8,12; vgl. auchJoh. 9,5. Das deutsche Wort Zepter ist dem lateinischen "sceptrum" entlehnt, das aus griechisch "skeptron" (wörtlich: Stütze, Stab) hervorging, vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1883), bearbeitet von Walther Mitzka, Berlin 18 1960, 882. - Das Papier, auf dem Hölderlin im Oktober 1802, aus Regensburg kommend, seinen Vorentwurf zu Patmos schreibt, hat im übrigen das Wasserzeichen "doppeladler mit krone, krummschwert und szepter", vgl. FHA VIII, 644f.
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Gesanges" winkt schließlich in der 13. Strophe, welche die abschließende Triade der Hymne einleitet, das "Loosungszeichen" zur Umkehr. Mit diesem "Loosungszeichen" wird gesagt, in welcher Form nach Christi, wenn überhaupt, Offenbarung möglich werden könnte und was der Gesang des Dichters dazu beitragen kann (v. 179- 196): Wenn nemlich höher gehet himmlischer Triumphgang, wird genennet, der Sonne gleich Von Starken der frohlokende Sohn des Höchsten, Ein Loosungszeichen, und hier ist der Stab Des Gesanges, niederwinkend, Denn nichts ist gemein. Die Todten weket Er auf, die noch gefangen nicht Vom Rohen sind. Es warten aber Der scheuen Augen viele Zu schauen das Licht. Nicht wollen Am scharfen Strale sie blühn, Wiewohl den Muth der goldene Zaum hält. Wenn aber, als Von schwellenden Augenbraunen Der Welt vergessen Stillleuchtende Kraft aus heiliger Schrift fallt, mögen Der Gnade sich freuend, sie Am stillen Blike sich üben.
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Dem "scharfen Stral" (v. 189) mag sich außer den "Starken" (v. 181) keiner aussetzen. 53 Doch auch die lichtscheuen Augen sollen sich an der "Gnade" (v. 195) erfreuen können. Ihnen gibt der "Stab / Des Gesanges" das "Loosungszeichen", das gleich der apokalyptischen Posaune, die Paulus den Thessalonichern versprach, die Auferstehung der "Toten, die in Christus gestorben sind "54, ankündigt. In Anspielung auf das Jüngste Gericht heißt es' vom Stab des Gesanges (v. 184f): "Die Todten weket / Er auf". Den an die Erde Gebundenen soll Mut gemacht werden, sich auf die "Stillleuchtende Kraft aus heiliger Schrift" (v. 194) zu besinnen. Denn diese gemilderte und damit vermittelte Leuchtkraft können die "scheuen Augen" (v. 187) wahrnehmen, sofern sie geschützt "Von schwellenden Augenbraunen" (v. 192), die wie Scheuklappen helfen, das blendende Licht abzuhalten und die "Welt" zu vergessen, ihre Aufmerksamkeit ganz den heiligen Buchstaben schenken.
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Daß der Dichter einer dieser "Starken" ist, spricht Hölderlin in dem Entwurf Wie wenn am Feiertage ... (1800) deutlicher noch aus. Dort faßt er die Vermittlungsfunktion der starken Dichter in folgenden Versen (SVVB I, 263, v. 54-60): "Und daher trinken himmlisches Feuer jezt / Die Erdensöhne ohne Gefahr. / Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, / Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, / Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk' ins Lied / Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen." 1. Thess. 4,16, vgl. auch oben Anm. 10.
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Die derart anvisierte Offenbarung geschieht folglich nicht durch eine katastrophale Weltvernichtung, sondern vollzieht sich diesseits der Welt "Am stillen Blike" (v. 196) im Moment der Lektüre. Doch diese Form der Apokalypse ist gleichwohl fur die Lesenden voller Risiken. Selbst die äußerlich unaufgeregte Lektüre der "heilige[n] Schrift" (v . 194) impliziert unvermutete und unwägbare Gefahren. Denn offenbarend ist das Lesen erstens nur unter der Voraussetzung, daß sich das Subjekt der Lektüre auf gänzlich Unvorhersehbares einläßt und also bereit ist, kein ,Subjekt' mehr zu sein. Es gilt also gleich dem lyrischen "Ich", sich dem "Schiffer" anzuvertrauen, der "In ungewisser Meeresebene" "die Inseln" kennt (vgl. v. 48-50). Ob es zweitens aber fur diesen Einsatz am ,Ende' ein Resultat oder eine neue Gewißheit gibt, das bleibt zudem ungesichert. Ja es ist sogar fraglich, und hierin besteht die eigentliche Gefahr, ob das angestrebte Telos ,Apokalypse' schließlich das Ziel oder schlicht das jähe Ende der lesend begonnenen Reise ist. Was es heißt, sich lesend auf Unbekanntes einzulassen, spricht gleich der Beginn der zweiten Strophe aus (v. 16-20): [... ] da entführte Mich schneller, denn ich vermuthet Und weit, wohin ich nimmer Zu kommen gedacht, ein Genius mich Vom eigenen Hauß'. [... ]
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Die Lektüre gleicht einer Entfuhrung zu einem unbekannten Terrain "nimmer kannt' ich die Länder" (v. 24) -, von dem man nicht als der Selbe zurückkommt. So ergeht es auch dem "ich", das durch einen "Genius" nach Patmos "entfuhrt" wurde und am Schluß der Hymne insofern verändert auf das "eigene Hauß" blickt, als es nun als "deutscher Gesang" dem "vesten Buchstab" deutend "folgt" (vgl. v. 225f.). Während sich der "Zepter" von Jesus in den "Stab / Des Gesanges" transformiert, geht das lesende "ich" im "deutsche[n] Gesang" verwandelt auf. Am Telos angekommen ist es aber darum noch nicht. Das gilt auch fur Hölderlin, der die dem Homburger Landgrafen übergebene Widmungsreinschrift später mehrmals noch überarbeitet und dabei unter anderem zweimal den Komparativ "schneller" (v. 17), der den Vorgang der unerwarteten Entfuhrung nach Patmos als einen außergewöhnlichen bestimmt, ersetzt: zunächst durch das Wort "unermeßlicher" und schließlich durch die Steigerung "künstlicher"55. Hölderlin intensiviert in den Überarbeitungen nicht nur den Komparativ, sondern gibt vor allem ausdrücklich zu verstehen, daß es die Kunst respektive die Dichtung ist, welche die Lesenden entfuhrt, um dergestalt eine Überblendung der getrennten" Gipfel der 55
SWB I, 454 u. 460. Vgl. auch Rainer Nägele: Fragmentation undjester BuchStAbe - Zu Hölderlins ,Patmos'-Überarbeitungen, in: Modern Language Notes 97 (1983),556-568, insb. 561.
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Zeit" (v. 10) zu ermöglichen, wodurch wiederum eine Analyse und Überwindung der in Resignation verfallenden Jetztzeit (vgl. v. 5-15) möglich werden soll. Doch auf beunruhigende Weise bleibt ungewiß, wohin einen die "Stillleuchtende Kraft aus heiliger Schrift" (v. 194) fuhrt. Denn im Unterschied zur unmittelbaren Gotteserfahrung, von der J ohannes berichtet, liegt in der durch die Schrift vermittelten Enthüllung des Göttlichen eine systematisch bedingte Ungewißheit. Diese nicht auszuschließende Fragwürdigkeit macht ausgerechnet die elften Strophe bewußt, die eine Antwort auf die resignierende Frage "was ist diß?" (v. 151) zu geben scheint und mit zwei Bildern aus dem Matthäus-Evangelium Hoffnung macht, daß tatsächlich trotz der offensichtlichen Not nach Jesu Tod ,alles gut' sei und daß der verborgene Gott mit seinen Werken doch in den Verlauf der Geschichte eingreife. Denn ausgerechnet diese Verse erinnern daran, daß die leibliche Abwesenheit des "Lehrer[s] und Meister[ s] "56 auch rur die Lektüre fundamentale Konsequenzen hat (v. 149161)57: [... ], daß nirgend ein Unsterbliches am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist diß? Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Waizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. Ihm fallt die Schaale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn, Und nicht Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern. Nicht alles will der Höchste zumaI.
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Nach Matthäus prophezeite Johannes der Täufer Jesus und das kommende Himmelreich im apokalyptischen Ton. Der Täufer warnte die Sünder, rechtzeitig Buße zu tun, weil jener, der nach ihm komme, eine radikale Entscheidung herbeiruhren werde 58 : "Er hat seine Worfschaufel in der Hand; er wird seine Tenne fegen und seinen Weizen in die Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer." Der derart Angekündigte unterscheidet dann tatsächlich jene, die zwar hören, doch nicht verstehen, von den Gläubigen, die seine gesäten Worte annehmen. Wie das geschieht, erläu-
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Hegel: Der Geist des Christentums [Anm. 48], 384. Hölderlin bezieht sich auf Mt. 3,11f u. 13,3-23. Zum Bild des Sämanns vgl. auch Mk. 4,3-20, Lk. 8,5-15 und bereitsJer. 4,3. Mt. 3,12.
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tert Jesus in seiner Deutung des von ihm gegebenen Gleichnisses vom Sämann59 : "Wenn jemand das Wort von dem Reich hört und nicht versteht, so kommt der Böse und reißt hinweg, was in sein Herz gesät ist." Mit dieser Erläuterung gibt Jesus nicht nur zu erkennen, daß er sinnbildlich spricht, sondern droht auch jenen, die das Gesagte nicht als Gleichnis verstehen, sondern, statt zu hören, möglicherweise der dem Bild eigen Logik folgen und sich dann fragen, ob denn nach dem Sämann nicht immer der Sensenmann kommt, der die Halme des Korns mäht und allegorisch an das Ende der Zeit gemahnt? Und tatsächlich könnte ausgerechnet Hölderlins Richtung und Ziel versprechender Vers, "Ans Ende kommet das Korn" (v. 156), dem Bild eine solche konterkarierende Wende geben, wonach das "Ende" nicht der Anfang des Reiches Gottes, sondern buchstäblich das Ende ist. Das "Ende" wäre dann nicht der den chaotischen Geschichtsverlauf aufhebende höhere Sinn, sondern im Gegenteil schlicht das Ende aller Möglichkeiten, der Tod ohne Danach. Hölderlins Verse provozieren zumindest auch diese Deutung und machen damit auf die nicht zu vermeidende Unangemessenheit der auf Gleichnisse angewiesenen Rede aufmerksam. Diese Inkonzinnität ist insbesondere dann virulent, wenn die das Gleichnis auflösen könnende Autorität nicht mehr anwesend ist,60 wenn also der Gott nicht sichtbar und präsent ist (vgl. v. 149151). So ist denn auch die Situation nach dem Tod von Jesus die, daß seine Jünger in schmerzlicher Trauer und in großer Zerstreuung auf der Erde zurückbleiben. Auch das Pfingstereignis - "Drum sandt' er Ihnen / Den Geist" (v. 100f) - kann diese Verwirrung nicht beheben. Diese bewirkt, daß "da und dort / Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott" (v. 121f). In dieser furchtbaren Situation, in der nicht einmal mehr auszumachen ist, ob das Lebende Gott zerstreut oder umgekehrt Gott das Lebende, und in der der Grund, auf dem Neues wachsen könnte, erodiert ist - "Weiden es hinwegnimmt" -, weil nicht nur Jesus gestorben ist, sondern auch die "Tempel" ergriffen und zerstört sind (vgl. v. 144f), steht dem "Wurf des Säemanns" nichts Gesammeltes, sondern allein die zerstreuende Kontingenz gegenüber. Hölderlins Wortwahl suggeriert zwar, daß der "Säemann" den "Waizen" "faßt", daß der Wurf "dem Klaren zu" geht und daß sich hierbei "die Schaale" vom "Korn" scheidet. Doch schon die im Anschluß geäußerte Beschwichtigung, "Und nicht Übel ists, wenn einiges / Verloren gehet" (v. 157f), rechtfertigt weniger, daß der Weg zum "Klaren" ein unvermeidlicher Prozeß der Auslese sei, sondern gibt vielmehr zu verstehen, in welchem Maße "der Wurf des Säemanns" nur blind sein kann.
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Mt. 13,19. Vgl. auch Mt. 13,3-9. Vgl.Mt.13,19ff.
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Diese ausweglose Situation bestätigt aber andersherum nochmals eindringlich, daß dergleichen wie eine umfassende Apokalypse erforderlich wäre, um von einer fundamental gewandelten Perspektive her verstehen zu können, warum Hölderlin mit Jesus gerade auch auf das "Verloren" gegangene "Korn" setzt. Heißt es doch bei Johannes 61 : "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht."
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Heinz J. Drügh ENTBLÖSSUNG, UNTERBRECHUNG, VERFREMDUNG
Die Struktur der Apokalypse in Adalbert Stifters Prosa
Prolog Zugegeben: In Berlin, dem Ort' der Handlung von Gabriele Goettles aus Anlaß der - horribile dictu - Millenniums-Sonnenfinsternis 1999 verfaßter Glosse Sonnenfinsternis bei OBI\ hat die sichtbare Verfinsterung unseres Zentralgestirns lediglich 88% betragen. Doch muß man deshalb gleich die Sonnenfinsternis auf dem Areal einer Baumarkt-Filiale betrachten, wo die Figuren mit nur wenigen Ausnahmen das Naturschauspiel fiir nicht weiter beachtenswert halten und ihrem business as usual nachgehen? Und ist es nicht des Desinteresses ein bißchen viel, wenn bei Goettle weit mehr über die bei OBI feilgebotene Warenpalette, über Gegenstände zweifelhaften Nutzwerts wie ein "Hamsterlabyrinth[ ... ] aus Holz", einen "Katzenfernhaltezerstäuber" und sogar einen "Damenspaten" zu lesen steht als über die Sonnenfinsternis? Der wenig emphatische Ton des Textes läßt sich indessen nicht nur als satirische Absage an die grassierende Sonnenfinsternis-Hysterie interpretieren, er könnte auch den vorläufigen Endpunkt einer literaturhistorischen Entwicklung markieren, in der die Sonnenfinsternis, stellvertretend fur das apokalyptische Sujet, nach und nach vermeintlich an Bedeutung verloren hat. Zunächst, so wäre dieser Gedanke zu konkretisieren, büßt die Apokalypse ihre Stellung als theologische Leitfigur ein, um nurmehr als farbenreiches Bildarsenal zu fungieren. Und diese Ästhetisierung, fiir die sich in der Literatur und den Künsten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine Fülle von Beispielen findet, sieht sich ihrerseits im Zeitalter postmoderner Lakonie nurmehr als ein Gegenstand der Warenwelt unter vielen anderen, meist interessanteren. Der in dieser Skizze insinuierten Epochenabfolge werde ich im folgenden widersprechen. In der Auseinandersetzung mit Adalbert Stifter - einem Autor, dessen Werk die vermeintliche Schnittstelle zwischen theologischer und ästhetischer Interpretation der Apokalypse, zwischen "klassisch-mimetischer" und "modem-aleatorischer"2 Schreibweise besetzt - versuche ich Indizien dafur zu sammeln, daß das Apokalyptische sei t seinen Anfangen von einer höchst ambivalenten Struktur bestimmt wird. Das systematische Gabriele Goettle: Sonne'!finsternis bei OBI, in: die tageszeitung vom 30.8.1999. Hans-Joachim Piechotta: Aleatorische Ordnung - Untersuchungen zu extremen literarischen Positionen in den Erzählungen und dem Roman JJ Witiko" von Adalbert Stifter, Gießen 1981, VIIff
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Heinz J. Drügh
Ziel einer solchen Lektüre ist es, mit dem Apokalyptischen exemplarisch eine gewisse Modernität im vermeintlich Vormodernen zu betonen oder umgekehrt den Rapport hervorzukehren, in dem die Moderne, was die Orientierung an grundlegenden Denkfiguren anbelangt, mit einer gar nicht so traditionellen Tradition steht. Daß dies keine ahistorische Nonchalance impliziert, hat der Altphilologe D.P. Fowler betont3 : It is most important not to accept the characterization of ,reading against the grain' as necessarily unhistorical; to accept the conscious formulation of its own values by a culture (or some members of it) as authoritative looks more like a denial of history. One must both resist the simplification of ancient attitudes and accept that the critic may at times stress elements that members of a culture neglected precisely in the name ofhistory.
Den erforderlichen Balanceakt zwischen Bodenhaftung und Innovation, zwischen dem "Fundament in der Sache" undjener Art von "neuen Lektüren des Alten "\ die Erkenntnisgewinn versprechen, versuche ich durch ein Vorgehen in drei Analyseschritten zu gewährleisten. Zunächst arbeite ich im Hinblick auf den Grundtext der Apokalypse, die biblische Offenbarung des Johannes, eine ambivalente Struktur heraus: die Ankündigung und sukzessive Verschiebung des Endes (1.). In den Horizont dieses Befundes stelle ich anschließend ein dose reading von Stifters Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 und perspektiviere die Ergebnisse sowohl literarhistorisch als auch systematisch (H.). Dies fuhrt zu den Termini Entblößung, Unterbrechung und Entfremdung, mit denen ein Strukturmerkmal von Stifters Prosa insgesamt benannt wird - exemplarisch vorgefuhrt im Kap. IH anhand der Texte: Die Mappe meines Urgroßvaters, Mein Leben und Aus dem bayrischen Walde (IH.). I. Die Struktur der Apokalypse Selig ist, der da liest und die da hören. (Olfb. 1,3) -Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: Wenn jemand etwas hinzuftigt, so wird Gott ihm die Plagen zuftigen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben steht. (Olfb. 22,18f).
Folgt man diesen Formulierungen aus der Offenbarung des Johannes, die im ersten und im letzten der zweiundzwanzig Abschnitte mit Nachdruck die Aufmerksamkeit der Leser fur den integralen Wortlaut der geschilderten
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D.P. Fowler: Narrate and Describe: The Problem 01 Ekphrasis, in: Journal o.f Roman Studies 81 (1991), 25-35, hier: 28. Vgl. Nikolaus Wegmann: ,Wer von der Sachen nichts versteht, macht Theorie': Ein Topos der philologischen ,Curiositas', in: Literaturwissenschaft und Wissenschqftiforschung, hg. von Jörg Schönert, Stuttgart 2000,509-528, hier: 526.
Die Struktur der Apokalypse in Stifters Prosa
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Vision einfordern, was liegt dann näher, als diesen Text beim Wort zu nehmen, und das heißt: die Logik seiner Verfahrensweise zu beachten. Diese besitzt ihre Pointe darin, daß in der Johannesapokalypse, die den Kanon der biblischen Schriften abschließt, durchweg vom Ende die Rede ist, und zwar nicht nur im neutralen Sinn als eines kontingenten temporalen Abschlusses, sondern in emphatischer Teleologie. Genauer: Dieser Text prätendiert, begleitet von den Trommelwirbeln opulent ausgemalter Katastrophen, ,hier und jetzt' den heilsgeschichtlichen Endpunkt zu offenbaren, er vermag diesen jedoch bei genauerem Hinsehen immer nur zu ver-sprechen, in die Zukunft zu projizieren. Denn aufgrund seiner Schriftlichkeit zeigt dieser Text, ob er will oder nicht, immer eine Kluft zwischen demjenigen an, was er ist, und demjenigen, was er bedeutet oder bedeuten wird. Strenggenommen kann das Ende also textuell nicht offenbart werden, zumindest dann nicht, wenn Offenbarung im starken Sinne als jenes Geschehen verstanden wird, das - gemäß der jüdisch-christlichen Apokalyptik - nach der Vernichtung dessen, was bis dahin gewesen ist, die Karten des So-Seins ein für allemal auf den Tisch legt. Die strukturelle Problematik der apokalyptischen Gattung liegt also - in aller Kürze gesagt - darin begründet, daß sie auf der einen Seite als Offenbarung so redet, als träte das Beschriebene gerade ein, und aus diesem Grunde so nachdrücklich auf der Dignität und Unveränderlichkeit ihrer Worte bestehen muß. Auf der anderen Seite kann sie dieses Ende aber immer nur ankündigen, es niemals selbst verkörpern. Der Versuch, emphatisch von einem Ende der Dinge zu sprechen, trifft demnach auf ähnliche Schwierigkeiten, wie sie auch die Rede vom Anfang aller Dinge kennzeichnen - Eckhard Lobsien hat dies in seiner Analyse der biblischen Genesis vorgefiihrt. 5 Das erste Buch Mose, so Lobsien, zerredet den präsentierten Anfang allen Seins schon mit seinen ersten Worten. Wie jeder Text setzt nämlich auch die Genesis einen in die Zukunft gerichteten Sprachfluß in Gang, versucht dabei aber, den Verlust des Anfangspunktes in Figurationen der Wiederholung zu kaschieren bzw. zu kompensieren. Im Zuge dieser repetitiven Vertextung wird der Anfang aber nicht nur als entscheidendes Datum präsent gehalten, sondern vervielfacht und somit depotenziert. Analog läßt sich im Hinblick auf das apokalyptische Ende behaupten, daß dieses zwar der Rede bedarf, einer Rede, die es als wesentlichen Zielpunkt der Heilsgeschichte annonciert. Genau besehen nimmt eine solche textuelle Offenbarung das Ende aber seinem wirklichen Eintreten vorweg und multipliziert es dadurch. Der christlichen Orthodoxie zufolge hieße das: Zu jedem Zeitpunkt erweist sich die Schöpfung als ein perfektes System, nämlich insofern, als jedes Ereignis auf das Ganze verweist, mit dem Anfang und dem 5
Vgl. Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung - Phänomenologie poetischer Sprache, München 1995,85-108.
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Ende der Dinge in Kontakt steht: "Ich bin das A und 0, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige" (Offb. 1,8) - so lautet die entsprechende Formel in der Offenbarung. Das Sein Gottes und der Schöpfung ist also nicht bloß aktuell: In ihre jeweilige Präsenz ist vielmehr der gesamte Heilsverlauf in Form einer Vergangenheits- und einer Zukunftsekstase eingezeichnet. Dies verleiht allen Gegenständen einen eschatologischen oder anagogischen Hof und macht, konsequent weitergedacht, jeden christlichen - nach Derrida sogar jeden am Diskurs der Wahrheit orientierten, also jeden philosophischen - Text strukturell zu einem apokalyptischen Schriftstück6 : "Die Wahrheit selbst ist das Ende, die Bestimmung, daß die Wahrheit sich enthüllt, ist die Vollendung des Endes. Die Wahrheit ist das Ende und die Instanz des jüngsten Gerichts. Die Struktur der Wahrheit wäre [... ] also apokalyptisch." Bei dem Wort Instanz ist daher nicht nur an eine Gerichtsinstanz, an ein hier und jetzt gesprochenes Urteil zu denken, sondern ist genauso ein Hineindrängen des zukünftigen Endes oder, noch paradoxer formuliert, ein Beharren des Noch-Nicht im Jetzt mitzuhören. Als Verheißenes ist das Ende in jeder Rede schon da, was aber umgekehrt bedeutet: In der Sprache ist das Ende nie anders zu haben als entstellt. Daß eine solche Vervielfachung des Endes - immerhin des entscheidenden Moments im Heilsverlauf - nichts anderes impliziert als die Unmöglichkeit, von ihm zu reden, reflektiert die Offenbarung des Johannes denn auch als literarisch ambitionierter und poetologisch aufmerksamer Text. Er leistet dies nicht nur durch die sprichwörtliche Dunkelheit oder Poetizität seines Tons, durch sein Partizipieren an ,heidnischen', orientalisch-babylonischen7 oder hellenistischen8 BildweIten, sondern auch mikro strukturell durch einen auffällig zur Wiederholung neigenden Duktus. So findet die Gott z~geschrie bene, gleich zu Beginn des Textes zu lesende Äußerung "Ich bin das A und das 0" (Offb. 1,8) ihren Wiedergänger im abschließenden zweiundzwanzigsten Abschnitt (Offb. 22,13). Einen ähnlichen Rahmen formieren die eingangs erwähnte Anweisung zur adäquaten Lektüre und ihre ermahnende Wiederaufnahme am Schluß des Textes. Ein repetitiver Redegestus findet sich indessen auch in parallelistischer Form, am deutlichsten in Gestalt der auffälligen Siebenerreihen: den sieben heidenchristlichen Gemeinden, auf welche die "Visionsreihen der jeweils sieben Siegel, Posaunen und Zornschalen" folgen. Diese, so haben Exegeten betont, "beschreiben [... ] nicht aufeinanderfolgende geschichtliche Ereignisse [... ], sondern in parallelen, jeweils 6
Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ders., Apokalypse, hg. von Peter Engelmann, übers. von Michael Wetzel, Graz 1985, 64. Hermann Gunkel: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit - Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen. 1 und Ap.Joh. 12, Göttingen 21921. Franz Ball: Aus der QtJenbanmgJohannis - Hellenistische Studien zum Weltbild der Apokalypse, Leipzig 1914.
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neu einsetzenden ,Rekapitulationen' dieselben Stationen des eschatologischen Dramas"9. Ein wenig zu vorsichtig bezeichnet Dieter Gutzen diese Struktur als ein "Verhältnis von Vorläufigkeit und Endgültigkeit"IO, denn zugespitzt läßt sich sagen, daß die Wiederholungsmaschinerie nichts anderes impliziert als eine Aporie: die Tatsache, daß Sprache nicht endgültig zu sein vermag und daher ein dargestelltes Ende immer wieder neu und anders zum Ausdruck gebracht werden muß. Wem dieses Argument insofern überspannt erscheint, als die Siebenerreihen durchaus auch als Klimax interpretiert werden können, als spannungsvolle Hinleitung auf den tatsächlichen Endpunkt des Textes bzw. der Heilsgeschichte, der oder die sei auf die größte strukturelle Merkwürdigkeit der Offenbarung verwiesen: den Umstand, daß deren wirkliches Ende - the very end - seinerseits verdoppelt ist. Denn nach dem dies irae, der Vernichtung Babyions, des Tiers und des falschen Propheten, wird bekanntlich das millennaristische Intermezzo eingeschaltet, jenes tausendjährige Reich, fiir das einzig und allein die Märtyrer von den Toten erweckt werden. Danach muß der während dieses Zeitraums gefesselte Satan noch einmal fiir "eine kleine Zeit" (Olfb. 20,3) losgelassen werden, ein merkwürdig retardierendes Moment, das - sieht man von der kirchengeschichtlich oder -politisch zu begründenden Auszeichnung der Märtyrer ab - keinen anderen Grund hat, als daß damit erneut Anlaß fiir eine Szenerie der Überwindung und fur einen Neuanlauf auf das emphatische Ende geliefert wird. Es läßt sich - so bleibt aus dieser skizzenhaften Strukturanalyse zu schließen - schlecht zu einem Ende kommen mit dem Ende. Dennoch bietet dieses einen höchst effektvollen Erzählanlaß: Ihm eignet ein hohes Verfiihrungspotential, da in seinem Dunstkreis die Überzeugungskraft lehrhafter Botschaften zu wachsen scheint. Die Beschreibung des Endes bedeutet daher in mancher Hinsicht keinen finalen Paukenschlag, sondern einen Aufbruch, einen Anfang, der aber nicht notwendig pragmatisierend im Sinne eines moralischen Lehrstücks verfahren muß, sondern der sich auch als denkbar geeigneter Ausgangspunkt fiir ästhetische Innovationen eignet. Nicht umsonst ist die Apokalypse - mehr als 1600 Jahre nach der endgültigen Aufnahme der johanneischen Vision in den Kanon der Bibel- auch als künstlerisches Sujet ein echter Evergreen.
II. Stifters Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 Adalbert Stifters Beschreibung der Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842, ein nur wenige Seiten umfassendes Feuilleton, das im selben Jahr in der Zeitschrift für
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Otto Böcher: DieJohannesapokalypse, Darmstadt 41998, 3f. Dieter Gutzen: IJ Und ich sah den Himmel atifgetan [. ..}" (Qffb. 19,11) - Zur Poesie der Olfenbanmg des Johannes, in: Poesie der Apokalypse, hg. von Gerhard R. Kaiser, Würzburg 1991, 33-61, hier: 54, herv. von H.D.
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Kunst, Literatur, Theater und Mode erschienen ist, gehört neben der sogenannten ,Eisgeschichte' in der Mappe meines Urgrcij3vaters und dem ,Schneeinferno' im autobiographischen Bericht Aus dem bayrischen Walde in die Reihe jener Texte, in deren Zentrum ein katastrophales Naturereignis steht. Dessen Schilderung zieht nicht nur alle Register apokalyptischen Schreibens, sondern birgt auch eine grundlegende ästhetische Reflexion. In mehrfacher Hinsicht rekurriert die Beschreibung der Sonnenfinsternis auf die Offenbarung desJohannes. Zunächst spielt ihr Sujet, die Eklipse, auf jene Szenerie an, die der biblische Text bei der Öffuung des sechsten Siegels erwähnt: "Und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack und der ganze Mond wurde wie Blut." (Offb. 6,12) Eine weitere Reminiszenz des Textes gilt dem apokalyptischen Tier, indem er die allmähliche Verfinsterung als "bleigraues Licht" schildert, das "wie ein böses Tier heran[schleicht]". (SI 506)11 Auch die Vernichtung Babyions, jenes übel beleumundeten Handelszentrums, Hort der konsumtiven "Üppigkeit" (Offb. 18,3) und des "Überflusses" (Offb. 18,19), wird alludiert, wenn Stifter "das Gerassel der Wägen", das städtische "Laufen und Treiben" erwähnt, dem die Kontemplation der "betrachtende[n] Menschen" (SI 505) entgegenstehtY Zwar "wimmelt[ ... ] das Fahren und Reiten wie sonst [über die Brücke], [... ] indessen oben der Balsam des Lebens, das Licht, heimlich wegsiech[t]" (SI 506); nur kurze Zeit später ist das geschäftige Leben aber ebenfalls wie erstorben: "Alles Rasseln hatte aufgehört, über der Brücke war keine Bewegung mehr; denn jeder 11
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Ich zitiere Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 im laufenden Text nach der Winkler-Ausgabe: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters - Schilderungen - Bri~fe, München 1986,501-512, mit der Sigle Sf Deutlicher hat Stifter seine Kritik am großstädtischen, sich scheinbar selbst erschaffenden und reproduzierenden Moloch, an der "Wechselmarter: Erwerben und Verzehren", in einer anderen jener Stadtbeschreibungen Aus dem alten Wien, dem Textpanorama Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes (in: Adalbert Stifter: Die Mappe meines UrgrC!ßvaters - Schilderungen Brj~ [Anm. 11], 281-301, hier 290, zitiert im laufenden Text mit der Sigle Steph.) zu Papier gebracht: ,Jene schweren Wagen, die du siehest, bringen vielnamige Waren in die Stadt, [... bringen] unabläßlich und unermüdlich jenes Materiale, woraus sich dieses riesige Häusergewimmel nach und nach erbaut hat." (Steph. 288.) "Da fähren die Wagen, und bringen in tausend kleinem Gefäßen das Weltmeer ,Milch', das heute verzehrt werden soll - Stand an Stand drängt sich auf dem Markte mit Lebensmitteln belastet. Eine Million Tiere ist heute Nachts gestorben, daß alle diese unten zu essen haben; ein Wald von Pflanzen wurde abgemähet und hereingebracht - da gehen die Mägde mit ihren reinlichen Einkaufskörbchen und tauchen hinein in das wogende Gesurre." (Steph. 295) Und geradezu marxistisch avant fa fettre analysiert Stifters Text die Ursache fur die moderne Rastlosigkeit: es ist "das Geld", der große Entwerter der realen Dingwelt, "ein hohler unbedeutender Vertreter der wahren Güter" (Steph. 290), der sich schnell zum "Nervengeist der Volksverbindungen" (ebd.) emporgeschwungen hat. Und schon steigert sich das Raisonnement des Textes zu einem Staccato von Topoi der kritischen Gesellschaftsanalyse mit Stichwörtern wie Akkumulation, Mehrwert oder Konsum: "Sein [= des Geldes] leichter Verkehr [... ] reizt zur Anhäufung, sein Allwert lockt zum Erwerb, dieser, der saure, zum Genuß als Lohn; und dieser als Afterglück reizt zur Steigerung, weil keiner dem lechzenden Herzen hält, was er versprach, und so geht es fort; wieder Erwerb, wieder Genuß, immer steigend, immerzugrößerer Gewinn, größrer Genuß [... ]." (Ebd.)
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Wagen und Reiter stand, und jedes Auge schaute zum Himmel." (SI 508) Und getreu der apokalyptischen Abfolge aus. Zerstörung - d.h. in diesem Falle: Stillstellung - und Offenbarung begreift der Erzähler diesen "Moment" als einen solchen, "da Gott redete, und die Menschen horchten" (SI 508), mehr noch: In den Augen des Erzählers ist es "nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen". (SI 503) Freilich deutet der Irrealis an, daß auch dieser Text, genausowenig wie die johanneische Offenbarung, in unangefochtener Evidenz mit einem erfüllten Ende zu schließen vermag, und sb zieht der Erzähler ein interpretatives Register, demzufolge sich aus der Erfahrung des Schrecklichen eine Zukunftsperspektive gewinnen läßt. Es handelt sich dabei um die Kategorie des Erhabenen aus Kants Kritik der Urteilskraft, nach der die Erfahrung des Schrecklichen als wirksames Stimulans der praktischen Vernunft zu begreifen ist. Die "Furchtbarkeit" und "Erhabenheit" (SI 503) der Eklipse bedeutet denn auch in den Augen des Erzählers nichts anderes als "moralische Gewalt" (SI 504). So betont er, daß die beschriebene Szenerie ihr Vorbild nicht etwa in jenem Text findet, der ihm zunächst in den Sinn gekommen ist: Lord Byrons Endzeitgedicht Darkness, sondern - wie soll es anders sein - in den Worten der Bibel: "Byron war viel zu klein - es kamen, wie mit einmal, jene Worte des heiligen Buches in meinen Sinn, die Worte bei dem Tode Christi: ,Die Sonne verfinsterte sich, die Erde bebte, die Toten standen aus den Gräbern auf, und der Vorhang des Tempels zerriß von oben bis unten. ce, (SI 509) Die Struktur des christlichen Opfers verklammert ebenso wie die Apokalypse ein Ende mit einem Anfang: Christi Tod mündet in dessen Auferstehung und Himmelfahrt und verweist weiter auf das Ende der Heilsgeschichte, auf die Wiederkehr des Heilands: "Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr", so formuliert es die Apostelgeschichte, "siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von. Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen." (Apg. 1,1 Of. ) Um nachvollziehen zu können, daß die christliche Teleologie nicht ohne Konterkarierung bleibt, bedarf es keines allzu großen hermeneutischen Scharfsinns. Denn deutlich vernehmbar spricht der Text auch eine dezidiert ästhetisierende Sprache. Die erhabene Szenerie wird nicht nur gegen Kant als "wunderbare Magie des Schönen" (SI 506) bezeichnet, Stifters Beschreibung stellt auch einen im Wortsinn ästhetischen, an den Sinnen und genauer am Optischen orientierten Text dar. 13 So betont
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VgL Walter Erharts Einschätzung, derzufolge die poetische Realisation des Erhabenheitstopos keineswegs radikal von seiner vermeintlichen Gegenkategorie, dem Schönen, getrennt ist. (Walter Erhart: Verbotene Bilder? Das Erhabene, das Schöne und die modeme Literatur, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschqft 41 [1997], 79-106.)
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der Erzähler eingangs, daß er die Verfinsterung fasziniert "mit eigenen Augen" (Sj 503) angeblickt habe, und verwendet im folgenden nicht wenig Raum für eine überaus farb- und bildprächtige Ausschmückung der Eklipse, und zwar ausgerechnet ,jene[r] zwei Minuten" (Sj 508) der größten Verfinsterung, in denen "Scheibe [... ] deckend [... ] auf Scheibe steht" (Sj 507): Die Horizontwolken, die wir früher gefurchtet, halfen das Phänomen erst recht bauen, sie standen nun wie Riesen auf, von ihrem Scheitel rann ein ftirchterliches Rot, und in tiefem kalten schweren Bau l4 wölbten sie sich unter und drückten den Horizont - Nebelbänke, die schon lange am äußersten Erdsaume gequollen, und bloß mißfarbig gewesen waren, machten sich nun gelten, und schauderten in einem zarten furchtbaren Glanze, der sie überlief - Farben, die nie ein Auge gesehen, schweiften durch den Himmel; - der Mond stand mitten in der Sonne, aber nicht mehr als schwarze Scheibe, sondern gleichsam halb transparent wie mit einem leichten Stahlschimmer überlaufen, rings um ihn kein Sonnenrand, sondern ein wundervoller, schöner Kreis von Schimmer, bläulich, rötlich, in Strahlen aus einander brechend, nicht anders, als gösse die oben stehende Sonne ihre Lichtflut auf die Mondeskugel nieder, daß es rings aus einander spritzte - das Holdeste, was ich je an Lichtwirkung sah! - Draußen weit über das Marchfeld hin lag schief eine lange, spitze Lichtpyramide gräßlich gelb, in Schwefelfarbe flammend, und unnatürlich blau gesäumt; es war die jenseits des Schattens beleuchtete Atmosphäre, aber nie schien ein Licht so wenig irdisch und so furchtbar, und von ihm floß das aus, mittelst dessen wir sahen. Hatte uns früher Eintönigkeit verödet, so waren wir jetzt erdrückt von Kraft und Glanz und Massen. (Sj 508)
Der Erzähler lädt das Naturschauspiel also assoziativ mit den unterschiedlichsten Bildwelten auf. So liest er - ähnlich wie Goyas apokalyptisches Gemälde Der Koloss (1808-1812) (Abb. 1) - in die Wolkenbildung die Gestalt eines Riesen hinein oder evoziert mit der Schwefelfarbe das Bild der Hölle und metaphorisiert dieses wiederum durchaus zeittypisch als Industriemaschinerie, genauer: als Stahlgießerei. Was dabei die ästhetische Programmatik anbelangt, so ergreift diese Passage deutlich die Partei nicht-mimetischer, autonomer Kunst, wenn sie von "unnatürlich[en] [... ] Farben" spricht, "die nie ein Auge gesehen" (Sj 508) hat. Und es mag ein wenig erstaunen, im Text eines Schriftstellers, der zu Recht als Virtuose der Ereignislosigkeit gilt, den schönen Schrecken mit den Worten beschrieben zu finden: "Hatte uns früher Eintönigkeit verödet, so waren wir jetzt erdrückt von Kraft und Glanz und Massen." (Sj 508) Keine Frage: Stifters Sonnenfinsternis-Beschreibung ist ästhetisch kühner, als dies seine konservativen, eher am veIDleinten weltan-
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Die Ausgabe Adalbert Stifter: Gesammelte Werke XIV, hg. von Konrad Steffen, Basel 1972, 109, fuhrt an dieser Stelle die Variante "Blau".
Abb. 1: Francisco Goya, Der Koloß (1808-1812)
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schaulichen Gehalt der Texte als an deren Struktur orientierten Interpreten lange Zeit haben wahrnehmen wollen l5 • Denn Stifters Text markiert durch eine Schriftmetapher, daß die Pracht der Phantasmagorie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ihm selbst zu danken ist, daß er sie gleichsam "mit der Schneide eines Federmessers in das Dunkel geritzt" (Sj 507) hat: Entsprechend selbstbewußt verhandelt die Beschreibung denn auch die Frage nach der Autorschaft des Spektakels, sieht sich der Erzähler doch gleich von mehreren Instanzen zu Wort gerufen. Die deutliche Botschaft, die Gott während der Eklipse spricht, scheint exklusiv rür den Erzähler verständlich zu sein, der nach dem Spektakel "von der Warte herab[steigt], wie vor tausend und tausend Jahren etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte". (Sj S03f) Und finden die Menschenrnassen keinen Ausdruck fiir die Finsternis als Tränen, Ohnmachten oder "unartikulierte Laute" (Sj 509), so ist dies dem Erzähler Auftrag genug, mit seinem Text der commemoratio Sprache zu verleihen: "Wir schüttelten uns die Hände, wir sagten, daß wir uns zeitlebens daran erinnern wollen." (Sj 510) Nicht nur von Gott und den Menschen, sondern auch von der Natur als einer dritten Instanz erhält der Erzähler seine Schreiborder, auch wenn diese Lizenz insofern weniger hochgemut tönt, als sie sich womöglich einem zeitlebens exzessiv betriebenen Studium im Buch der Natur verdankt: Gebe Gott, daß der Eindruck recht lange nachhalte. [... ] Ich weiß, daß ich nie, weder von Musik noch Dichtkunst, noch von irgend einem Phänomen oder einer Kunst so ergriffen und erschüttert worden war - freilich bin ich seit Kindheitstagen viel, ich möchte fast sagen, ausschließlich mit der Natur umgegangen, und habe mein Herz an ihre Sprache gewöhnt, und liebe diese Sprache, vielleicht einseitiger, als es gut ist. (Sj 511)
Die Tatsache, daß jene Botschaft, der die Finsternis-Beschreibung ein Gefäß gibt, mehrere Absender aufweist, spiegelt die Vermitteltheit des Sprachtransports ganz analog zum Verfahren der Johannes-Apokalypse: "Dies ist die OffenbarungJesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll; und er hat sie durch seinen Engel gesandt und seinem Knecht J ohannes kundgetan." (Offb. 1,1) In dieser Schachtelung von Erzählinstanzen ist aber nicht nur eine Verewigung des Schreibers als des letzten Gliedes im göttlichen Informationsfluß zu sehen1\ sondern die verwir-
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So etwa - stellvertretend - Friedrich Wilhelm Korff, wenn dieser Stifters biedermeierlich-christlichen "Wille[n] zur Bewahrung" als entscheidendes Gegenmittel zum ästhetischen "Wagnis", dem ",tentamen' des dichterichen Unglaubens" in Form der ",cupiditas experiendae potestatis suae'" begreift. (Friedrich Wilhelm Korff: Diastole und Systole - Zum Thema Jean Paul und Stffter, Bern 1969, 34.) So Gutzen: JJ Und ich sah den Himmel ... "[Anm. 10], 39.
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rende Redevielfalt läßt sich auch als Depotenzierung der auktorialen Kontrolle über den Text interpretieren17 : Man weiß in der Apokalypse nicht mehr genau, wer seine Stimme oder seinen Ton dem anderen leiht, man weiß nicht mehr genau, wer sich an wen richtet. Aber durch eine katastrophische Umwälzung, die hier notwendiger denn je ist, kann man auch genau denken: Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht oder wer schreibt, wird der Text apokalyptisch. Und wenn die Sendungen immerzu auf andere Sendungen verweisen, wobei die Bestimmung immer zukünftig bleibt, ist diese gänzlich engelhafte Struktur, d.h. diejenige der johanneischen Apokalypse, nicht auch die eines jeden Schauplatzes' der Schrift im allgemeinen?
Die Katastrophe der Autorschaft, die zum einen in der Ortlosigkeit des Absenders und zum anderen in der Unmöglichkeit besteht, dem Ende im Text Präsenz zu verleihen, wird bei Stifter freilich nicht in offensiven Worten gefeiert, sondern in letzter Instanz als Defizit der erzählerischen Materialbewältigung zur Disposition gestellt. In Form eines Räsonnements zur ut pictura poesis- Forderung räumt die Sonnenfinsternis-Beschreibung nämlich ein, daß der Reichhaltigkeit des Visuellen sprachlich nicht beizukommen ist. Intermediale Zuflucht sei vielmehr bei einer anderen Nachbarkunst zu suchen, der Musik: "Ihr aber, die es im höchsten Maße nachempfunden, habet Nachsicht mit diesen armen Worten, die es nachzumalen versuchten, und so weit zurückblieben. Wäre ich Beethoven, so würde ich es in Musik sagen; ich glaube, da könnte ich es besser." (Sj 511) Nach diesem Fazit erstaunt es wenig, daß Stifters Text, der sich schon mit seinen Eröffnungsworten als Etüde in Nachträglichkeit, als künstlerischGhristliche Wiederverzauberung der naturwissenschaftlich durchrationalisierten Welt inszeniert hat 1S , an seinem Ende die Perspektive noch einmal justiert und nun einen ästhetisch-programmatischen Neuanfang in Aussicht stellt, dessen apokalyptische Logik mit den Schlagwörtern Entbli.jßung, Unterbrechung und Veifremdung zu bezeichnen ist: 17
IS
Derrida: Apokalypse [Anm. 6], 71f. Vgl. den Textbeginn: "Es gibt Dinge, die man fiinfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes. So ist es mir mit der totalen Sonnenfinsternis ergangen, welche wir in Wien am 8. Juli 1842 in den frühesten Morgenstunden bei dem günstigsten Himmel erlebten. Da ich die Sache recht schön auf dem Papiere durch eine Zeichnung und Rechnung darstellen kann, und da ich wußte, um so und so viel Uhr trete der Mond unter der Sonne weg, und die Erde schneide ein Stück seines kegelfOrmigen Schattens ab, welches dann wegen des Fortschreitens des Mondes in seiner Bahn, und wegen der Achsendrehung der Erde einen schwarzen Streifen über ihre Kugel ziehe, was man dann an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten in der Art sieht, daß eine schwarze Scheibe in die Sonne zu rücken scheint, von ihr immer mehr und mehr wegnimmt, bis nur eine schmale Sichel übrig bleibt, ·und endlich auch die verschwindet - auf Erden wird es da immer finsterer und finsterer, bis wieder am anderen Ende die Sonnensichel erscheint und wächst, und das Licht auf Erden nach und nach wieder zum vollen Tage anschwillt - dies alles wußte ich voraus, und zwar so gut, daß ich eine totale Sonnenfinsternis im Voraus so treu beschreiben zu können vermeinte, als hätte ich sie bereits gesehen." (Sj 503)
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Zum Schlusse erlaube man mir noch zwei kurze Fragen, die mir dieses merkwürdige Naturereignis aufdrängte. Erstens. Warum, da doch alle Naturgesetze Wunder und Geschöpfe Gottes sind, merken wir sein Dasein in ihnen weniger, als wenn einmal eine plötzliche Änderung, gleichsam eine Störung derselben geschieht, wo wir ihn dann plötzlich und mit Erschrecken dastehen sehen? Sind diese Gesetze sein glänzendes Kleid, das ihn deckt, und muß er es lüften, daß wir ihn selber schauen? Zweitens. Könnte man nicht auch durch Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtem und Farben eben so gut eine Musik rur das Auge wie Töne rur das Ohr ersinnen? Bisher waren Licht und Farbe nicht selbständig verwendet, sondern nur an Zeichnung haftend; denn Feuerwerke, Transparente, Beleuchtungen sind doch nur noch zu rohe Anfange jener Lichtmusik, als daß man sie erwähnen könnte. Sollte nicht durch ein Ganzes von Lichtakkorden und Melodien eben so ein Gewaltiges, Erschütterndes angeregt werden können, wie durch Töne? Wenigstens könnte ich keine Symphonie, Oratorium oder dergleichen nennen, das eine so hehre Musik war, als jene, die während der zwei Minuten mit Licht und Farbe an dem Himmel war, und hat sie auch nicht den Eindruck ganz allein gemacht, so war sie doch ein Teil davon. (Sj 511[)
Die erste Frage verhandelt zwar thematisch das Problem der Vermittelbarkeit von naturwissenschaftlicher Akkuratesse mit religiösem Staunen, kreist aber grundsätzlich um die Frage einer Ästhetik epiphanischen bzw. apokalyptischen Schreibens. Deren Verfahren werden als plötzliche Störung oder Unterbrechung des Gewöhnlichen gekennzeichnet. Statt daß also Epiphanie als demütig-passiver Empfang in Aussicht gestellt wird, erklärt Stifters erste Frage die Offenbarung zum Effekt einer aktiven Darstellung, als nicht eben sanfte Aussetzung des Geltenden. Die Gewaltsamkeit dieses Unternehmens klingt im folgenden in der einigermaßen seltsamen Metapher an, durch welche die Kontaktaufuahme mit der Gottheit als deren Entblößung dargestellt wird. Stifters Text weist mit dieser merkwürdigen Phantasie auf nichts anderes als auf die hebräische Referenz des griechischen Wortes apokalypsis - auf das Verb gala', dessen semantisches Spektrum nicht nur Bedeutungen wie ,etwas klar machen', bzw. ,klar werden', jemandem die Augen oder Ohren öffnen', sondern auch ,ein Körperteil entblößen'19 umfaßt. Mit Jacques Derrida ist daher im Auge zu behalten, daß "Apokekalymmenoi logoi [... ] anstößige Reden (des propos indecents) [sind]. Es geht also um das Geheimnis und die pudenda"20. Ich kehre dies hervor, weil die zweite Frage von Stifters Finale wegen ihres vermeintlich offenen Plädoyers fur die bildende Kunst der Moderne durchweg die der Coda seines Textes gewidmete Aufinerksamkeit absorbiert hat. Fast zu verfuhrerisch ist nämlich der Schluß, daß die Anstößigkeit des vermeintlichen Biedermeier-Autors Stifter darin besteht, eine autonome Ästhetik zu propagieren, welche die bildende Kunst von der Pflicht zum Mimeti-
19 Derrida: Apokalypse [Anm. 6],9. 20 Ebd., 12.
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schen lossagt und ihre formalen Grundbausteine "Licht und Farbe" unabhängig von aller Gegenständlichkeit zur Geltung bringt. Stifter scheint sich damit jener Partei der Landschaftsmalerei anzuschließen, die in Caspar David Friedrich und seinem höchst umstrittenen, bis auf eine winzige menschliche Figur und einige Krähen fast ungegenständlichen Gemälde Der Mönch am Meer (1809/1810) (Abb. 2) einen berühmten ersten Vertreter gehabt hat - ein Bild, dessen "Einförmigkeit und Uferlosigkeit" dem Blick kaum noch einen Halt gibt und das Heinrich von K1eist nicht umsonst zu der Bemerkung motiviert hat21 : "Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da." In bezug auf die Geschichte der Malerei ist K1eists Assoziation hellsichtig, erweist sich das Apokalyptische doch als ein bevorzugtes Sujet ungegenständlicher Darstellungsweise - das berühmteste Beispiel ist wohl William Turners Gemälde Shade and Darkness - The Evening of the Deluge (um 1843) (Abb. 3). K1eists Bemerkung schließt aber auch die Literatur ein, und zwar insofern, als sie formuliert, daß das Bild nicht etwa dahängt, sondern wie ein schwer entzifferbarer Text daliegt. Damit weist K1eists Ekphrasis die Richtung fur eine wahre Konjunktur von Dichtungen des 19. Jahrhunderts von der Spätromantik bis zum Symbolismus - Autoren wie Jean Paul, Edgar Allen Poe, Victor Hugo oder Charles Baudelaire, um nur die bekanntesten zu nennen -, welche die in ihnen aufkeimenden modernen Verfahren apokalyptisch einkleiden. 22 Muß man also Stifters Sonnenfinsternis-Beschreibung mit ihrem poetologischen Ende als frühes Zeugnis ästhetizistischer Entpragmatisierung der Apokalypse werten, als programmatischen Text, in dem bereits Fanfaren wie aus wie aus Friedrich Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft anklingen?23 Und deutet Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschcift, in: Sämtliche Werke und Briife III, hg. von Klaus Müller-SaIget, Frankfurt a. M. 1990,543. 22 Näheres dazu bei Claudia Becker: Der Traum der Apokalypse - die Apokalypse ein Traum? Eschatologie und/oder Ästhetik im Ausgang von Jean Pauls ,Rede des toten Christus', in: Poesie der Apokalypse [Anm.8] 129-144; Aage A. Hansen-Löve: Apokalyptik und Adventismus im russischen Adventismus derJahrhundertwende, in: Russische Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hg. von R.G. Grübel, Amsterdam 1993, 231-325; Werner von Koppenfels: Le Coucher du Solei! Romantique Die Imagination des Weitendes aus dem Geist der visionären Romantik, in: Poetica 17 (1985), 255-298; Robert Minder:Jean Paul in Frankreich, in: Dichter in der Gesellschaft - Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur, Frankfurt a. M. 1972, 101-125. 23 Vgl.: "Das grösste neuere Ereignis, - dass "Gott todt ist", dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen. [... und die] nächsten Folgen dieses Ereignisses [... ] sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe. " Friedrich Nietzsehe: Die fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe III, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 21988, 573( Vgl. dazu: Hendrik Birus: Apokalypse der Apokalypsen - Nietzsches Versuch einer Destruktion aller Eschatologie, in: Das Ende - Figuren einer Denkform (Poetik und Hermeneutik XVI), hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München 1996, 32-58, hier: 45. 21
Abb. 3: William Turner: Slwde al1d Darkne5s
The Evening ifthe Deluge (um 1843)
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sich in Stifters stilisiertem Erlebnis einer "Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtem und Farben" (Sj 511, herv. v. H.D.), wenn man dieses nicht nur als musikalisch-bildkünstlerischen Grenzgang liest, sondern seine poetologische Valenz hervorstreicht, nicht sogar Roman Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion an, nämlich insofern, als auch dort die Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse der Sprache, die Interaktion eines statischen Archivs mit der sukzessiven Schriftbewegung, zur Debatte steht? Setzt Stifter also offensiv ein autonomes und selbstbezogenes Formenspiel an die Stelle der referentiellen Orientierung der Schrift? So sympathisch mir der durch diese Fragen implizierte Gedanke ist, werde ich ihm dennoch in den folgenden Bemerkungen widersprechen. Das bis heute ,Anstößige' an Stifters apokalyptischer Prosa besteht nämlich nicht darin, daß sie programmatisch den Weg moderner Vertextungsstrategien einschlägt2 4, sondern daß sich ihre spezifische Modernität weniger der Überschreitung als dem Rekurs auf die Denkfigur des Apokalyptischen verdankt. Deren Entpragmatisierung läßt sich folglich nicht als Zeugnis einer literaturgeschichtlichen Teleologie begreifen, derzufolge Texte immer weniger welthaltig und - entsprechend - die Versuche zur Etablierung von Sinn immer prekärer werden, sondern als Resultat eines in der Struktur des Apokalyptischen genuin verankerten Wechselspiels zwischen dem Wunsch nach der Orientierung an ewigen, letzten Dingen auf der einen und deren Auflösung in Schrift auf der anderen Seite. Um diesen Gedanken wenigstens ansatzweise zu profilieren, will ich im folgenden die am Ende des Eklipsentextes in die Debatte geworfenen Figuren des Apokalyptischen - die Entblößung, die Unterbrechung und die Verfremdung - noch einmal, in einem Streifzug durch Stifters Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters 25 , die Autobiographie Nachgelassene Blättey26 sowie den auto . . . biographischen Reisebericht Aus dem bayrischen Walde (1867) unter die Lupe nehmen und zeigen, daß das Apokalyptische fiir Stifter kein wohlfeil ästhetisierbares Spielmaterial darstellt. In seiner ambivalenten Struktur als ebenso gefiirchtet-begehrtes wie versagtes Ende des Bedeutens vermag es eine bislang übersehene Erklärung fiir die spezifische Art der Verklammerung zentraler
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25
26
Vgl. auch Eva Geulens Einschätzung, daß "manches gegen eine rückwirkend modernisierende Deutung" Stifters spreche. (Eva Geulen: Worthörig wider Willen, München 1992, 17.) Ich beziehe mich mit einer Ausnahme auf die zweite Auflage der Studienfassung von 1848 und zitiere nach der von Karl Pörnbacher herausgegebenen Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1988, im laufenden Text mit der Sigle M. Helmut Pfotenhauer hat sich zu Recht dagegen verwahrt, diesen Text ob seiner nur sechs Druckseiten als "autobiographisches Fragment" zu werten. (Helmut Pfotenhauer: ,Einfach ... wie ein Halm' - Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie, in: DVjs 64 [1990], 137.)
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Sujets in seinem Werk wie Familie, Herkunft, Erinnerung, Schrift, Natur und Liebe anzubieten.
III. Wo nichts los ist? - Entblößung, Unterbrechung, Verfremdung Aus dem Katalog der Sujets sticht in der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters die Liebe hervor: etwa im Rahmen einer Episode, die, obwohl nur wenige Seiten umfassend, aufgrund ihrer extremen Schattierung zum Eindrücklichsten in Stifters Erzählung gehört. Die Beziehung zwischen Casimir Uhldom, dem sanftmütigen Obristen, und seiner bezeichnenderweise nicht mit Namen genannten Ehefrau präsentiert nämlich unter dem Deckgeschehen der (verweigerten) Liebe die apokalyptischen Parameter der Versagung, also des immer wieder nur verheißenen Endes, des Opfers sowie einer als Entblößung inszenierten Offenbarung. Im Rückblick räumt Uhldom ein, daß seine Frau ihn zum Zeitpunkt der Heirat "nicht geliebt" (M 47f.) und im folgenden - "demütig wie eine Braut und aufmerksam wie eine Magd" (M 48) - eher "neben"27 als mit ihm gelebt hat. Bei den Spaziergängen, welche die bei den in ihrer Freizeit unternehmen, überwiegt ein distanziertes und ritualisiertes Verhalten zwischen den Ehepartnern, beispielsweise in Form des bei Stifter so beliebten Repetitoriums von Vokabeln aus dem Buch der Natur, das Ordnung und Orientierung verheißt: "oft saß sie neben mir und fragte, wie dieser und jener Stein heiße und warum diese und jene Blume nur immer im Schatten wachse" (M 49). Seltsam genug, vermeint der Erzähler, daß diese zeremoniöse Interaktion auf seiten der Ehefrau mehr und mehr "Freude" und sogar "Lust" erzeuge, die, deutlich erotisch getönt, an die Stelle der vormaligen bloßen "Gefälligkeit" (M 49) gegen den Ehemann tritt. Was von dieser Einschätzung zu halten ist, erweist sich freilich kurze Zeit danach, als die Ehefrau während einer gemeinsamen Wanderung beim Überqueren einer Riese - einer Transportrinne fur geschlagenes Holz - ein Schwindelgefiihl überkommt, das sie in den Tod stürzen läßt. Und um den Mann nicht zu erschrecken und ebenfalls zu gefährden, erträgt sie dies, ohne auch nur einen einzigen Hilfe- oder Verzweiflungsschrei von sich zu geben. Am nächsten Tag entdeckt der Ehemann, begleitet von einigen Waldarbeitern, die Leiche seiner Frau: Erst, als die Sonne schon fast hoch in das Tal hineinschien, entdeckten wir sie. Es lag ein Häufchen weißer Kleider neben einem Wachholderstrauche, und darunter die zerschmetterten Glieder. - Es war nicht möglich: von dieser Höhe kann kein Mensch herunterfallen, und nur einen Hauch des Lebens behalten. [... ] - Wir gingen näher,
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Dieser Begrifffillt in der sog. Letzten Mappe aus dem Jahr 1864, zit. nach: Adalbert Stifter: Werke und Brif!.fe - Historisch-Kritische Gesamtausgabe VI,l, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1998, 177.
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Heinz J. Drügh und denkt Euch - auf den Kleidern saß das Hündlein, und war lebend und fast unversehrt. Das Weib hatte es vielleicht während des Falles emporgehalten, und so gerettet. Aber es mußte über die Nacht wahnsinnig geworden sein; denn es schaute mit angstvollen Augen umher, und biß gegen mich, da ich zu den Kleidern wollte. Weil ich schnell mein Weib haben mußte, gab ich zu, obwohl ich mir das Tierchen hatte aufsparen wollte, daß es einer der Knechte mit der Büchse, die sie zuweilen tragen, erschieße. Er hielt schräge hin, damit er die Leiche nicht treffe - und das Hündchen fiel herab, kaum daß es ein Füßlein rührte. - Ich beugte mich nun nieder, und riß das weiße Mieder auf, das sie anhatte; aber die Schulter war schon kalt, und die Brust war so kalt, wie Eis." (M 53)
Die Passage verdeutlicht, in wie starkem Maß das Opfer der Ehefrau - analog zum christlichen Kreuzestod - im Sinne eines Widerlagers nach einem glücklichen Ende verlangt. Dieses Telos wird in fur Stifter ungewöhnlich deutlicher Weise erotisch aus buchstabiert, und zwar als Casimirs bis dato versagte sexuelle Wünsche. Dabei bricht sich ein Begehren Bahn, das sich nicht mehr auf die lange Bank schieben lassen will, sondern nach Befriedigung hier und jetzt verlangt. Die Gewaltsamkeit des Wunsches kommt in der sich merkwürdig zwanghaft abspielenden Tötung des Hundes zum Ausdruck, mit dem nicht nur Casimirs Nebenbuhler beseitigt wird - der "stete [... ] Begleiter" der Frau, mit dem sie weit angeregter und zwangloser "plauderte" (M 49) als mit dem Ehemann. Die Exekution des Tierchens gehorcht auch einer gattungstheoretischen Logik. Denn mit der Errettung des Hundes, die einem Wunder gleichkommt, ist das' Genre der Legende aufgerufen, das zum einen semantisch als "das zu Lesende" auf einen medialen Prozeß weist statt auf unmittel-· bare Erfullung und das zum anderen infolge der darin kultivierten Heiligenverehrung (cultus duliae) von einem fur den in Heftigkeit geratenen Casimir inakzeptablen Aufschub des Göttlichen geprägt ist; nämlich insofern, als "der Mensch", wie Hellmuth Rosenfeld formuliert, "im Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit nicht wagt, unmittelbar" - und das heißt: apokalyptisch - "vor Gott zu treten" und sich aus diesem Grund als eines Umwegs "der Fürbitte der Heiligen"28 zu versichern sucht. Mit dem Hund beseitigt der Text das lebendige Indiz fur die fortgeschriebene Verweigerung der Erfüllung von Angesicht zu Angesicht, von Körper zu Körper, und ferner jenes Lebewesen, das als Geleittier der Verstorbenen gilt. Der Versuch, die Frau symbolisch am Leben zu halten,. schlägt jedoch fehl. Casimir stürzt sich auf eine Tote, deren Leichnam seinen Begierden Hohn spricht, und so muß er sich nach diesem fur Stiftersche Figuren durchaus seltenen Ausbruch von Leidenschaft wieder mit einer ideologischen Stillstellung seiner in skandalöser Weise zutage getretenen Wünsche begnügen. Der autosuggestive Charakter dieser Operation ist dabei deutlich markiert: "Seht", fuhrt Casimir aus, "ich habe mir damals einge bildet, Gott brauche einen Engel im Himmel und einen guten Menschen auf 28 Hellmut Rosenfeld: Legende, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 11, Berlin 1965, 13.
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Erden: deshalb mußte sie sterben". (M 55, herv. v. H.D.) Das bezeichnete Projekt, ein guter Mensch zu werden, zielt mithin auf eine Duldung des Schicksals, fordert den Verzicht auf die unmittelbare Erfiillung der Wünsche, ein Vorgang, den Stifters Erzählung an anderer Stelle mit der üblichen geschlechtsspezifischen Staffage als entscheidendes Moment im Drama des Erwachsenwerdens kennzeichnet: "Ach, ich bin ja sonst nicht so zornig - es ist meine Art nicht so. Ein Rückfall in meine Kindheit mußte es sein, wo mich, wie der Vater sagte, meine früh verstorbene Mutter verweichlichte, daß ich oft, wenn mir ein Hindernis entgegenkam, mich zu Boden warf und tobte." (M 165f.) Solch heftigen Emotionen und Ausbrüchen ist nach Casimir am wirkungsvollsten mit einem Schreib- und Leseexerzitium zu begegnen, durch das die Begierde abgebaut und deren Erfiillung vertagt wird: Das "Mittel [... ] [zum] Heil [... ] besteht [nämlich Uhldom zufolge] darin, daß einer sein gegenwärtiges Leben, das ist, alle Gedanken und Begebnisse, wie sie eben kommen, aufschreibt, dann aber einen Umschlag darum siegelt und das Gelöbnis macht, die Schrift erst in drei bis vier Jahren aufzubrechen und zu lesen". (M 44) An die Stelle der katastrophalen, offenbarenden Entblößung rückt dadurch eine Form der Unterbrechung, die nicht auf ein emphatisches Ende gerichtet ist, sondern in der allein der Wechsel, das AndersWerden Bestand hat. So muß der Obrist bei der ersten Lektüre der fiinfJahre alten Notizen feststellen: "alles war anders geworden, als ich einst gedacht hatte". (M 45) Die vorangegangene "Feßlung der Blätter" (M 21), das durchaus zwanghafte Zusammenschnüren des Geschriebenen zu dem Zweck, "die Schrift zu sperren" (M 26), als Zeugnis zu bewahren und vor übereilter Auslegung zu schützen, ruft dabei deutlich die Erinnerung an die Schlußworte der Johannes-Offenbarung wach, mit denen diese die Dignität und Unveränderlichkeit ihres Wortlauts einklagt und die Leser - mit Hölderlins Patmos gesprochen - darauf verpflichtet, den "veste[n] Buchstab" "gut" zu deuten. 29 Die Schrift stellt sich mithin als immer wieder anders zu lesendes Medium zwischen das auf Unmittelbarkeit drängende Begehren und dessen Erfiillung. Unterbrechung und Indirektion prägen die Logik jenes nicht nur in der Mappe meines Urgroßvaters, sondern auch in der berühmten Vorrede zu den Bunten Steinen propagierten Projekts schriftstellerischer Sanftmut, das sich statt starken Emotionen wie "Haß" oder begehrender Liebe - texttheoretisch gesprochen: an der Stelle von action, wie sie Erving Goffinan definiert30 - vor29 30
Vgl. den Beitrag von Robert Andre in diesem Band. Goffman definiert action als "Handlungen, die folgenreich [... ], ungewiß" sind und sich als "Ausnahme~' (M 13) vom Gewohnten "nicht in alltäglichen routinemäßigen" Verrichtungen finden lassen. Erving Goffinan: Wo was los ist - wo es action gibt, in: Interaktionsrituale - Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a. M. 1973, 203 bzw. 213. Vgl. dazu Heinrich Bosse: Geschichten, in: Literaturwissenschqft - Einführung in ein Sprachspiel, hg. von Heinrich Bosse und Ursula Renner, Freiburg 1999, 299-320.
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wiegend Gegenständen zuwendet, die Glieder "einer langen unbekannten Kette" sind, einer Überlieferung, die prima fade den Anschein der reinen "Bedeutungslosigkeit" (M 13) hat. Die Angst vor dem Entschwinden der Bedeutung durch die Revolte des eigenen Materials, der Sprache, ist also nicht die einzige Ursache jener zeremoniösen, unterkühlten und zur Starte neigenden Sprech- und Handlungsweise von Stifters Figuren und Texten 31 , sondern ambivalenter, im Sinne apokalyptischer Logik gedacht, genauso die Scheu vor dem Gewaltsamen der Offenbarung. Eine literarische Technik, die von dieser Programmatik wie keine andere ausgezeichnet wird, ist die literarische Deskription. Symptomatisch genug, wird einer solchen sogar auf den nur sechs Druckseiten von Stifters Autobiographie ein Platz eingeräumt, und zwar in Form der Beschreibung eines Tisches, die im Hinblick auf die zu schildernde Vita merkwürdig funktionslos scheint32 : Der Tisch war genau viereckig, weiß und groß, und hatte in der Mitte das rötliche Osterlämmlein mit einem Fähnchen, was meine außerordentlichste Bewunderung erregte. An der Dickseite des Tisches waren die Fugen der Bohlen, aus denen er gefugt war, damit sie nicht klaffend werden konnten, mit Doppelkeilen gehalten, deren Spitzen gegeneinander gingen. Jeder Doppelkeil war aus einem Stück Holz, und das Holz war rötlich wie das Osterlamm. Mir gefielen diese roten Gestalten in der lichten Decke des Tisches gar sehr. Als dazumal sehr oft das Wort ,Konskription' ausgesprochen wurde, dachte ich, diese roten Gestalten seien die Konskription.
Mit dieser Passage setzt Stifter der literarischen Beschreibung (gegen den poetologischen Trend nach Lessing) eine Art geheimes Denkmal. Nicht nur, daß dieser Text selbst deskriptiv verfährt, er setzt mit der Willkürlichkeit kindlicher Assoziation den Begriff ,Konskription' an die Stelle des Osterlämmleins - des zentralen Symbols christlicher Passion. Per Kontigliitätsprinzip wird dadurch jene Logik der auf ein Ziel projizierten Katastrophe, die auch in der heute geläufigen Bedeutung von Konskription als Einberufung zum Kriegsdienst manifest ist, durch den Wortsinn ersetzt, der in Zedlers Universal-Lexicon noch ausschließlich angegeben wird: durch ,Beschreibung' oder - charmanter - durch ,viel Schreibens machen'33. Diese Wendung bezeichnet treffiich die betuliche Sorgfalt, die sich nicht nur im Bild des fest 31
32 33
Dies ist die These des wegweisenden AufSatzes von Koschorke und Ammer, über den es nicht übertrieben ist zu sagen, daß mit ihm in der Erforschung des späten Stifter ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde (Albrecht Koschorke und Andreas Ammer: Der Text ohne Bedeutung oder die Erstammg der Angst - Zu Stifters letzter Erzählung "Der fromme Spruch ", in: DVjs 61 [1987], 676719). Adalbert Stifter: Nachgelassene Bliitter, in: Die Mappe meines Urgroßvaters - Schildentngen - Bri~fe [Anm. 11], 604f. Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Kiinste, welche bißhero durch menschlichen Verstand [. . .] erfunden [. .. ] worden 1-64, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle und Leipzig 173254. Letztgenannte Bedeutung ist die Substantivierung der Erläuterung zum Lemma "conscribiren".
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verfugten Tisches, sondern in den zur Wiederholung und Tautologie neigenden Textverfahren manifestiert, so, wenn die Autobiographie verrät: "jeder Doppelkeil war aus einem Stück Holz, und das Holz war rötlich" oder wenn sie über die "Fugen der Bohlen, aus denen er [= der Tisch, H.D.] verfugt war" (Hervorh. von H.D.), spricht. Dieses literarische Handwerk, in dem sich die Faktur, das Materielle des Textes, über das gewohnte Maß zur Geltung bringt, ist denn auch in dem Sinne als Ausgangspunkt der Verfremdung in Stifters Prosa zu verstehen, wie Roman Jakobson diese definiert hat, nämlich als Erhöhung der "Spürbarkeit der Zeichen "34. Wie das Ende der Sonnenfinsternis-Beschreibung landet auch die Analyse Stifterscher Prosa ~ei deren poetischer Funktion, d.h. bei der Vorstellung von Literatur als eines autonomen und selbstreferentiellen Systems. Das verfremdende Spiel der Sprache mit sich selbst stellt sich jedoch nicht als programmatisch moderner Aufbruch, sondern als Effekt der literarischen Reflexion über eine uralte Denkfigur, die Apokalypse, heraus. Diese wird von Stifters Texten beispielhaft in ihrer strukturellen Ambivalenz als zugleich begehrtes und gefurchtet-aufgeschobenes Ende vorgefuhrt. Die Verselbständigung der Signifikanten in Stifters Prosa verdankt sich also nicht der Tatsache, daß er der Faszination durch das Formlose einfach erläge; dies haben theoretisch ambitionierte Stifter-Lektüren in den letzten Jahren zwar ein um das andere Mal im Hinblick auf die Schneekatastrophe in Stifters Aus dem bayrischen Walde behauptet, wenn sie diese metaphorisch als "Gewirr" von "Signifikanten" 35 gedeutet haben. Das Stiftersche Buchstabengewimmel ist jedoch präziser als Effekt eines an der Ordnung unscheinbarer Dinge und deren akribischer, nicht selten zwanghafter Verfugung orientierten Schreibens zu verstehen. Dies läßt sich abschließend durch eine Passage dokumentieren, die der literarischen Topographie - also des Gegenteils von Unordnung - gewidmet ist36 : Links, wenn man über das Haus hinblickt, zieht sich die ungemeine Mächtigkeit des Rückens des Sesselwaldes fort, der gegen seinen Rand hinauf einige entblößte GeröllsteIlen hat, die aber in der Nähe ein Gewirr häusergroßer Granitblöcke sind. Rechts ist die noch höhere Seewand mit noch mehr solchen GeröllsteIlen. An ihrer entgegengesetzten Seite liegt der Blöckensteiner See. Die Breite des sogenannten wilden Waldes beträgt in jener Gegend zwei bis drei Meilen. Überall, wo man in den reizenden Gefilden herum geht, und es sind der Wanderwege unzählige, einer lieblicher als der andere, zieht die Würde des Waldes den Blick an sich, und die Gegend, deren Anmut man vielleicht auch anderwärts anträfe, erhält durch diese Würde erst ichre Erhabenheit. An den Wänden des Waldes rinnen allwärts Quellen herab und strömen in den tiefen, mitunter sehr scharfen Schluchten, die zwischen den weichen 34
35
36
Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: Poetik - Ausgewählte Atifsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein, Frankfurt a. M. 1979,93. Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter - Dekonstnlktive Lektiiren, Bozen 1996,88. Adalbert Stifter: Aus dem bayrischen Walde, in: Die Mappe meines UrgrC?ßvaters - Schilderungen - Briife [Anm. 11], 572f.
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Kissen und Matten sind, dahin, so daß man an stillen Abenden durch die offenen Fenster das Rauschen in die Zimmer hört. Das Wasser ist glashell, daß man den Sand und die Steinchen des Grundes herauf schimmern sieht, und daß dort, wo es sich etwa still in einem Grunde des Waldes zwischen Steinen sammelt, und ruht, die Grenzfläche zwischen Wasser und Luft, wenn man in den Schlund hinein sieht, nicht zu erkennen ist.
Akribisch wie ein gehorsames Schulkind vor dem Überqueren der Straße blickt diese Passage gleich zu Beginn nach "rechts" und nach "links" als den Parametern räumlicher Orientierung. Was dort identifiziert wird, die Berge, Seen und Wiesen, scheint fernab von allen menschlichen Händeln gleichsam ewige Beständigkeit zu garantieren. Blickt man jedoch auf das Textverfahren, dann wird schnell deutlich, daß die immerwährende Ordnung der Natur in der Stifterschen Präsentation auf merkwürdige Weise mit ihrem Gegenteil, der völligen Unordnung, im Bunde steht. Diese findet im Schneetreiben ihren Ausdruck, das gebannt anzustarren der Erzähler nicht aufhören kann. Nur prima facie bedeutet dabei die Charakterisierung, derzufolge sich im Schneeinferno "immer dasselbe, das Außerordentliche"37 ereigne, ein Oxymoron. Denn das Flirren läßt keine Unterscheidungsmöglichkeit zu und entzieht jedem Ordnungsraster die Möglichkeit des Zugriffs. Etwas, das immer dasselbe ist, läßt sich nicht benennen, nicht kategorisieren und auch nicht durch Zeichengebrauch bannen. Dennoch müht sich Stifters Erzählen wieder und wieder um die Etablierung eines sprachlichen ordo. Dieser aber produziert infolge seiner Wiederholungsmanie statt eines wohlunterschiedenen Kosmos immer dasselbe oder zumindest in einem Maß Redundanzen, das dem Lesefluß nicht eben zuträglich ist. Repetition ist sowohl das Resultat der katastrophal hereingebrochenen Unordnung als auch jener Bestrebung, die dem Chaos entgegenwirken soll. So nimmt es nicht Wunder, daß schon die Eingangssequenz des Zitats neben einer gewissen stilistischen Umständlichkeit in Form des eingeschobenen Konditionalsatzes sowie der Verkettung von Relativsätzen eine Zwanghaftigkeit der Ordnung offenbart, die im gesamten Abschnitt vor allem in den Lexemwiederholungen wie den eingangs doppelt aufgefuhrten "Geröllstellen " Gestalt gewinnt. Dieses Verfahren wird mikrostrukturell auf der Ebene der Buchstaben wiederholt, und zwar dadurch, daß den "Geröllstellen" sogleich ein "Gewirr" von "Granitblöcke[nJ" zur Seite tritt. Insgesamt weist der zitierte Abschnitt nicht weniger als sechs Repetitionen von Lexemen auf - "Wald", "Würde", "Wasser", "Stein", "still", "Grund" -, deren Lautlichkeit sich wiederum in einer Reihe von Assonanzen und Alliterationen spiegelt, wie in der Rede von einem "wilden Walde[ ... J", von "Wanderwege[nJ", "scharfen Schluchten" oder einer "Anmut", die man "auch anderwärts anträfe". Selbst die Wahrnehmung eines eigentlich 37 Ebd., 583.
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unspektakulären Begriffs wie "Gegend" wird gleichsam von der Wiederholungsmanie infiziert, und es scheint, als habe er nicht zuletzt aufgrund seiner repetitiven Lautlichkeit Platz im Wortensemble von Stifters Text gefunden. Die Textur von Stifters ordnungsbeflissener Landschaftsbeschreibung produziert ironischerweise eine solche Menge lautlicher Selbstbezüglichkeiten, daß der Blick auf den Referenten zunehmend verstellt wird. Statt Perspektive: Durchblick, wird "Rauschen" produziert, in dem die klare Distinktion von Einheiten genauso schwerfällt wie auf der Ebene des Sujets die Bestimmung einer "Grenzfläche zwischen Wasser und Luft". Unter der Hand macht sich in Stifters Versuch, die bedrohliche Unmittelbarkeit des Apokalyptischen zu bannen, also exakt dasjenige breit, vor dem sich seine Prosa stets gefurchtet hat: eine Nähe zum Gegenstand, die keine Möglichkeit zu seiner semiotischen Beherrschung mehr zuläßt. Nennt man diesen Effekt mit Christian Begemann eine "Apokalypse des Zeichens"38, so ist Stifters Prosa ein Musterbeispiel fur Apokalyptisches, das seine Ursache im Versuch hat, die Apokalypse zu bannen.
38
Christian Begemann: Die Welt der Zeichen - Stifter-Lektüren, Stuttgart 1995, 56.
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Michael Pauen ApOKALYPTIKER, UTOPISTEN UND DIE PROPHETEN DES PESSIMISMUS
Geschichtsphilosophie und Ästhetizismus um die Jahrhundertwende Was uns hier in seiner stümperhaften und dann rachsüchtigen Hand hat: hemmend, verfolgend, verblendend, die Spiime, das Fressen und Gefressenwerden, der Giftskorpion, der Würgeengel, der Zufalls-, Unfall-, Todesdämon, die Heimatlosigkeit alles Sinnvollen, das dicke, banale, kaum zu durchschlagende Trennungsgebirge vor aller Vorsehung, der Zauberer des ,frommen' Panlogismus - das alles kann nicht dasselbe Prinzip sein, das einst Gericht halten will. [... ] Aber das Ziel dieses Kampfes ist allerdings, daß der Wegnahme der physischen Welt dereinst mit reingewordenen Seelen, mit dem endlich gefundenen Ueberhaupt der Seelen, mit dem unzerrissenen parakletischen Genius des Innersten, des Ingesindes, mit dem Wort aus dem Wesen, mit dem Stichwort jenes heiligen Geistes begegnet werde, der an sich schon die Natur, diesen Schutthaufen des Irrtums, so völlig verschwinden lassen möchte, daß man rur die Bösen wie fur Satan nicht einmal einen Leichenstein, geschweige denn eine Hölle brauchte. [... ] Jedoch damit das seelische Leben auch über die Vernichtung der Welt hinausschwinge, dazu muß es im tiefsten Sinn ,fertig' geworden sein und seine Taue mit Glück um die Pfosten der jenseitigen Landungsstelle geworfen haben, soll nicht [... ] das Ziel verfehlt werden, auf das es bei der Organisierung des Erdenlebens vor allem ankommt: unser Haupt, das ewige Leben, [... ] die Restitutio in integrum aus dem Labyrinth der Welt. 1
Könnte man das Böse durch den Donner bloßer Worte in die Flucht schlagen, dann wäre Ernst Bloch mit dieser Philippika aus dem Schlußkapitel von Geist der Utopie wohl der endgültige Triumph über Unheil und Leid gelungen, und wir kämen heute bereits in den Genuß des ewigen Lebens. So aber bleibt es bei einem bloßen Programm, einem Programm allerdings, das an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig läßt: Die bestehende Welt ist von Grund auf schlecht, und so muß sie vollständig zerstört werden, bevor etwas Neues wirklich werden kann. Bloch spart auch hier nicht mit prophetischem Pathos: An die Stelle des schlechten Bestehenden wird ein paradiesisches Reich der Erlösung treten. Blochs erstes Hauptwerk stellt einen geradezu paradigmatischen Fall jener apokalyptischen Denkfigur dar, die zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende in der Philosophie und in den Künsten erneut an Bedeutung gewinnt. A1t01des< utopischen Denkens ist Bloch allerdings keineswegs der einzige Vertreter eines solchen offenen Utopiekonzepts. Vgl. hierzu Richard Saage: Innenansichten Utopias - Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens, Berlin 1999.
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te daher zum Abschluß nach den Gründen dieser Entwicklung und damit auch nach den Gründen fur die Verbreitung des apokalyptischen Denkens selbst fragen. Außerdem werde ich zumindest kurz die Aktualität dieses Denkens thematisieren. Wie eingangs erwähnt, wende ich mich damit gegen die in der Forschung immer noch weit verbreitete Vorstellung, die Verdrängung des aufklärerischen Optimismus durch Pessimismus und ,Apokalyptik' ließen sich aus einer krisenhaften Zuspitzung der realen historischen Situation erklären. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich, daß die Zeit von der Reichsgründung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, die eine besondere Rolle fur diese Entwicklung spielt, im historischen Längsschnitt nicht als Krisenepoche aufgefaßt werden kann: Gerade im Vergleich mit der historischen Situation der Aufklärer und Idealisten, die unter anderem den Siebenjährigen Krieg, die Amerikanische und die Französische Revolution und schließlich noch die Revolutionskriege miterleben mußten, erscheint die Gründerzeit als eine Periode ökonomischer und sozialer Stabilität, in der gleichzeitig viele der von den Aufklärern nur postulierten rechtlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschritte zur Realität wurden. Auch von einer intellektuellen oder normativen Verunsicherung kann nicht die Rede sein. Aufschlußreich sind hierfur insbesondere die 1899 und 1900 anläßlich der Jahrhundertwende erschienenen Artikel, bemühen sie sich doch, eine Art von Fazit aus der Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts zu ziehen. Von besonderem Interesse ist dabei ein Aufsatz aus der Vossischen Zeitung, der einen ausdrücklichen Vergleich zwischen dem 19. Jahrhundert und der Zeit der Aufklärung herstellt40 : Die Güter der Aufklärung, der Menschenliebe und Duldung kamen [in der Zeit der Aufklärung] einem Kreise von satten Menschen zugute. In welchem dumpfen Drucke, in welchem Mangel für Magen, Herz und Geist die ungeheuere Menge ihr Dasein zubrachte, sah man nicht. [ ... ] Hier schafft das neunzehnte Jahrhundert, das wir heute begraben, einen Wandel. [ ... ] Unter den vielen Namen, die man dem neunzehnten Jahrhundert beilegen könnte, scheint uns einstweilen der am zweckmäßigsten, daß man von dem sozialen Jahrhundert spricht.
Tatsächlich ergibt sich der Unterschied zwischen dem Optimismus von Kant und seinen Nachfolgern und dem apokalyptischen Pessimismus von Bloch, Hartmann oder Klages weniger aus der direkten Erfahrung der Wirklichkeit als vielmehr aus ihrer vermittelten Deutung. Doch warum sollte es angesichts positiver Erfahrungen und eines weitverbreiteten Optimismus zu einem solch tiefgreifenden Wandel der Deutung kommen? Nennen lassen sich hier vor allem zwei Momente. Wie schon erwähnt, waren der Glaube an die weise Vorsehung und den übergreifenden
40
Vossische Zeitung No. 612 vom 31.12.1899, zit. n. Michael Salewski: ,Netljahr 1900' - Die Säkularwende in zeitgenössischer Sicht, in: Archivßir Kulturgeschichte 53 (1971), 335-381, hier: 366.
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Sinn des historischen Prozesses konstitutiv ftir den aufklärerischen Optimismus. Einer Infragestellung durch historische Fakten hatten die Theoretiker mit einer bemerkenswerten Weitsicht vorgebeugt: In den Theorien von Leibniz, Wolff, Kant und Hegelließen sich grundsätzlich alle Zwischenfälle und Katastrophen als Zeugnis einer höheren Weisheit deuten. Die Perspektive des Ganzen erlaubte stets die Rechtfertigung eines konkreten Übels durch den Rückgriff auf einen übergeordneten Zweck. Auch Erdbeben, so hatte bereits Wolffbemerkt, haben ihren guten Sinn: Wenn Gott sie nicht zu Strafzwecken benötigt, dann sind sie eben "das vornehmste Mittel, welches die Natur braucht, den Zustand der Erden zu verändern"41. Hinter dieser zum Teil recht phantasievollen Interpretation der göttlichen Absichten stand nicht zuletzt die - z.B. von Wolff ganz ausdrücklich artikulierte - Überzeugung, die Qualität einer Theorie werde an ihrer Fähigkeit sichtbar, den vernünftigen Sinn des Weltprozesses zu explizieren. 42 Eine grundsätzliche Kritik an der göttlichen Schöpfung käme unter diesen Voraussetzungen dem Eingeständnis gleich, als Theorie versagt zu haben. Schon aus diesem Grund war der aufklärerische Optimismus durch den Verweis auf konkrete historische Ereignisse gar nicht in Frage zu stellen. Um so mehr war dieser Ansatz jedoch durch Zweifel an den Grundlagen dieser Deutung bedroht, vor allem also durch Zweifel an der Weisheit des Schöpfergottes oder doch zumindest an dem Schluß von der Weisheit Gottes auf die Qualitäten seiner Schöpfung - Zweifel, die mit zunehmender Aufklärung und Säkularisierung immer massiver wurden. Neben dem Säkularisationsprozeß dürften zweitens aber auch tiefgreifende soziale Veränderungen eine Rolle gespielt haben, die in der Soziologie in der Regel als Übergang von einer stratifizierten zu einer vergleichsweise offenen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft beschrieben werden. 43 Dieser Prozeß erschwert die Erfahrung der Gattung bzw. der Gesellschaft als eines ,Ganzen'. Schwieriger wird es damit auch, die Perspektive einzunehmen, aus der Kant und seine Nachfolger argumentiert hatten. In den traditionellen Gesellschaften wurde dieses Ganze durch die geistlichen und weltlichen Herrscher repräsentiert, und jedem einzelnen kam dabei eine relativ genau bestimmte Rolle innerhalb einer vergleichsweise übersichtlichen gesellschaftlichen Hierarchie zu. Der Modernisierungsprozeß, wie er sich im Deutschland der Gründerzeit mit besonderer Intensität vollzieht44 , sorgt zum einen daftir, daß die 41
42
43 44
Christian Wolff: Vemü'?fftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (1726), Hildesheim u.a. 1980, 458. "Dieses ist der rechte Probier-Stein, daran man mercken kan, ob die allgemeinen Lehren von der Welt etwas nutzen, oder nicht, wenn man untersuchte, wie nach ihnen sich die Vollkommenheiten Gottes zeigen." Ebd. b3 (Vorrede). Niklas Luhmann: Soziale Si/sterne - Gnmdr{ß einerallgerneinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, 518f "Im Rückblick wird, nach dem Scheitern des Liberalismus, die Bedeutung dieser [70er] Jahre leicht unterschätzt. [ ... ] In Wirklichkeit aber ist das [ ... ] der Durchbruch der bürgerlichen Gesell-
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gesellschaftlichen Abhängigkeiten komplexer werden: Für den einzelnen wird es damit schwerer, seine Rolle innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen zu bestimmen. Gleichzeitig mehren sich auch die Zweifel, ob die geistlichen und weltlichen Herrscher wirklich die Repräsentanten der Gesellschaft insgesamt oder nicht doch viel eher die Vertreter ihrer eigenen partikularen Interessen sind. All dies sorgte dafür, daß das Ganze der Gesellschaft oder der Gattung, dem zuliebe der einzelne seine Interessen zurückstellen sollte, immer schwerer greifbar wurde. Noch wichtiger dürfte jedoch eine weitere Konsequenz dieses Prozesses gewesen sein: Der Verlust fester gesellschaftlicher Strukturen sorgte nämlich auch dafiir, daß der einzelne in zunehmendem Maße Entscheidungen etwa bezüglich seines Bildungsweges oder seiner Berufswahl treffen mußte, die ihm zuvor durch seine gesellschaftliche Rolle abgenommen wurde. Es leuchtet ein, daß solche Entscheidungen sinnvoll nur aus der Perspektive des Individuums zu treffen waren - insofern zwangen die skizzierten Veränderungen also jeden einzelnen mehr oder minder stark dazu, sich seiner eigenen Interessen bewußt zu werden. Die genannten Tendenzen bestärken sich zum Teil gegenseitig: Die Schwächung des Glaubens an den guten Gott schaffte gleichzeitig den Raum, der es dem einzelnen erlaubte, jenes Leiden zu artikulieren, das in der ,besten aller möglichen Welten' angesichts der alles erfassenden göttlichen Weisheit und Güte marginalisiert werden mußte. Umgekehrt dürfte die zunehmende Bedeutung der individuellen Perspektive auch dazu gefiihrt haben, daß die Zweifel, ob ein weiser und guter Gott das auf der Welt sichtbare Elend zulassen könne, immer schwerer zurückgedrängt werden konnten. Genannt sind damit jedoch allenfalls die Gründe fiir die Abwendung vom aufklärerischen Optimismus, nicht jedoch die hinreichenden Ursachen fiir die Entstehung von ,Apokalyptik' und Pessimismus. Auf die Bedeutung ästhetischer Momente und Inszenierungsformen hatte ich bereits verschiedentlich hingewiesen, doch selbstverständlich wird man auch hierin allenfalls ein zusätzliches Moment, nicht aber ein wirklich entscheidendes Motiv sehen können. Wichtiger scheint mir hier ein anderer Punkt zu sein. Vor allem die Vertreter des metaphysischen Pessimismus halten nämlich zumindest an ein e r Prämisse der traditionellen Metaphysik fest: Sie fuhren den Weltprozeß auf das Walten eines zentralen Prinzips zurück. Bei Schopenhauer ist dies der ,Wille', bei Hartmann das ,Unbewußte' . Trotz aller Gegensätze haben diese Prinzipien zumindest eine wichtige Gemeinsamkeit mit dem überlieferten Gottesbegriff: Sie teilen mit ihm die Allmacht und die Rolle des Schöpfers; grundschaft: des großen Marktes, des freien Wettbewerbs, des Kapitalismus, der Mobilität, des Leistungsprinzips, gegen alle ständischen und bürokratischen Beschränkungen, und der Durchbruch der Klassengesellschaft auch. Das war ein entschiedener Schritt in die Modernität." Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte II: 1866-1918 - Machtstaat vor der Demokratie, München 21993, 363.
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sätzlich unterscheiden sie sich von ihm in ihrer Ignoranz und Bösartigkeit, hier ähneln sie eher dem diabolischen Gegenspieler des christlichen Gottes. Es handelt sich also nicht um einen vollständigen Neuansatz, sondern lediglich um eine Verkehrung der Pole innerhalb eines überkommenen Interpretationsrahmens: Gott und Satan tauschen ihre Rollen, und so wird aus der ,besten' gleich die ,schlechteste' aller möglichen Welten: Angesichts der Dominanz jener negativen Prinzipien ist es völlig ausgeschlossen, daß sich aus dieser Welt eine Dynamik entwickelt, die zur Überwindung des diagnostizierten Elends fuhren könnte. Im Unterschied zu rein pessimistischen Theorien, die es bei dieser trostlosen Diagnose bewenden lassen, weigern sich die ,Apokalyptiker', die Hoffnung aufzugeben. Zwar können auch sie in der ,schlechtesten aller möglichen Welten' keine Ansatzpunkte finden, aus denen sich eine Entwicklung zum Positiven ergeben könnte - denkbar ist also allenfalls ein plötzlicher Umbruch. Angesichts der erbärmlichen Gegenwart muß dieser Umbruch zudem radikal sein, so daß etwas ,ganz Anderes' an die Stelle der ,schlechtesten aller möglichen Welten' treten kann. Insofern ergeben sich die Vorstellungen der Apokalyptiker also mit einer gewissen Konsequenz aus den Prämissen ihrer Theorie oder besser: Es ist die einzige Alternative zur Resignation, die unter den Pessimisten nicht eben wenige Verfechter hatte. Zusammenfassend bleibt hier festzuhalten, daß sich Pessimismus wie ,Apokalyptik' von dem Zwang lösen, das individuelle Leid um eines höheren Sinnes willen hinzunehmen und die Katastrophen ganzer Völker als Marginalien in einem wohlgeordneten und sich immer weiter verbessernden Ganzen zu bagatellisieren. Der hier vollzogene Perspektivwechsel schafft vielmehr den Raum fur die Artikulation subjektiver Erwartungen und Bedürfnisse - auch wenn diese zuweilen utopischen Charakter haben mögen. Unübersehbar sind jedoch die Probleme dieser Position. ,Apokalypse', so hatte ich bereits zu Beginn bemerkt, heißt ursprünglich ,Offenbarung'. Tatsächlich kann das Wissen, über das die apokalyptischen Texte Auskunft geben, nur in einem begrenzten Maße zum Gegenstand rationaler Begründung oder Kritik werden, gerade deshalb haben die Propheten Konjunktur. Ausgeschlossen ist jeder Komprorniß. Zwischen dem Verfechter eines utopischen ,ganz Anderen' und dem Apologeten des schlechten Bestehenden herrschen klare Verhältnisse: Hier stehen sich Gut und Böse, Wahrheit und Verblendung genauso antithetisch gegenüber wie die gegenwärtige Finsternis dem zukünftigen Licht; eine Vermittlung ist daher nicht möglich. Daraus ergibt sich gleichzeitig eine massive Dämonisierung des Bösen, die insbesondere bei Klages fatale Folgen hat. Zu den Handlangern des satanischen ,Geistes' zählt er nämlich nicht nur den Kapitalismus, die Wissenschaften und das Christentum, sondern nicht zuletzt auch die Juden. Es ist somit kein Zufall, wenn die
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Dämonisierung des Bösen bei Klages in einen massiven Antisemitismus umschlägt. Die gnostische Gegenüberstellung von Licht und Finsternis hat überdies eine Selbstimmunisierung der apokalyptischen Theorien zur Folge. Wer gegen sie die gegenwärtige Finsternis verteidigt, der zeigt damit nur, daß er selbst auf der Seite des Bösen steht. Schon in der Offenbarung des Johannes waren potentielle Kritiker als Hunde und Mörder bezeichnet worden. Wer die Wahrheit in Zweifel zieht, der gibt sich selbst als Opfer der Verblendung zu erkennen und ist daher als Diskussionspartner diskreditiert. Zweifel an der Realität jenes anderen Zustandes können das apokalyptische Denken daher nicht ernsthaft in Frage stellen; sie fallen vielmehr zurück auf den Zweifelnden selbst. Nicht zuletzt aufgrund dieses epistemologischen Radikalismus ist das apokalyptische Denken vor allem in der Gegenwart immer wieder - und wie ich meine zu Recht - von Autoren wie Habermas oder Derrida kritisiert worden: In Wirklichkeit, so Derrida, sei das Wahrheitsversprechen, das die Apokalyptiker machen, illusorisch. Erwähnenswert scheint mir schließlich noch ein dritter kritischer Punkt. Paradoxerweise fUhrt nämlich der Subjektivismus Autoren wie Bloch oder Klages dazu, nicht nur die abstrakten gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch die sogenannten ,Massen' dem schlechten Bestehenden zuzuschlagen; schon Schopenhauer hatte sie als ,Fabrikwaare der Natur' bezeichnet. Der ignoranten Mehrheit stehen dann die auserwählten einzelnen gegenüber, die im Besitze jener ,Offenbarungen' sind. Bloch etwa spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einem ,Führer', der als ,Autorität', ,,[ ... ] als befehlende, [ ... ] noch überwiegend diktaturhaft kanonische Evidenz"45 auftritt. Auf die Gefahren derartiger Auffassungen muß nicht eigens hingewiesen werden; dennoch wird man das apokalyptische Denken und die mit ihm verwandten Richtungen nicht als bloße Sumpfblüten der Geistesgeschichte abtun können. Der entscheidende Grund hierfUr besteht in dem Perspektivwechsel, dessen Motive und Implikationen ich oben darzustellen versucht habe. Er dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, daß das Leiden und das Elend des einzelnen Subjektes nicht mehr zugunsten des angeblich guten und sinnvollen Ganzen marginalisiert werden müssen, daß wir heute also nicht mehr die Wohlfahrt des Ganzen gegenüber den berechtigten Interessen des Individuums verabsolutieren. Positiv scheint an der hier vorgestellten Tradition zum zweiten die Unbeugsamkeit gegenüber vermeintlichen Sachzwängen und die Respektlosigkeit gegenüber solchen Konventionen, die deshalb gelten, weil es sie schon immer gegeben hat. Die Hoffnungen und Erwartungen, die diese Autoren geschürt haben, mögen also häufig genug verfehlt gewesen sein, der Weg aus den künstlichen Paradiesen führte bei einigen nicht in das Neu e , 45
Bloch: Geist der Utopie (1923) [Anm. 1], 270.
Apokalyptike~
Utopisten und die Propheten des Pessimismus
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sondern in das Dritte Reich. Der Respekt gegenüber dem einzelnen Subjekt, die Skepsis gegenüber der vermeintlichen Vernunft des Ganzen, aber auch das Insistieren auf der Suche nach einer Alternative scheinen mir jedoch Momente an dieser Tradition zu sein, die bewahrenswert sind.
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Doerte Bischoff KRIEGER, MÜTTER, CYBORGS
Apokalypse und Geschlechterperformanz im Diskurs um den Ersten Weltkrieg Von kaum einer Figur wird die Literatur, die den Ersten Weltkrieg ästhetisch reflektiert und präformiert, so stark geprägt wie von der Apokalypse. In zahllosen Gedichten und Essays, die um 1914 entstehen, wird der Krieg als Kraft verherrlicht, die einen umfassenden kulturellen Umsturz herbeifuhrt, indem er die Technisierung der modernen Welt und die Verdinglichung des Menschen auf die Spitze treibt und in der Zerstörung aller traditionellen Ordnungen und Orientierungen den Beginn von etwas radikal Neuem ankündigt. Bereits lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges prägen Kriegsmetaphern den kulturellen Diskurs. Die Manifeste des Futurismus, die die Heraufkunft des Neuen nurmehr als kriegerisches Vernichtungswerk inszenieren 1, lassen sich als besonders zugespitzte Version einer weit verbreiteten Tendenz lesen, kriegerische Aktivität nicht mehr bloß als ultima ratio, als Mittel zum Zweck zur Erreichung bestimmter politischer Ziele, sondern vielmehr als Inbegriff einer permanent mobilisierten Gesellschaft zu begreifen. 1. Die Selbstgeburt der Kriegers aus dem Geiste der Materialschlachten
Die Beschwörung, Kommentierung und Mythisierung des Krieges als katastrophisches Ereignis, das Untergang und Neuschöpfung ineinander verschränkt, prägt eine diskursive Formation aus, die politische Rhetorik, historisches Geschehen wie literarische Dokumente gleichermaßen organisiert. Eine solche diskursanalytische Perspektive wird auch den Selbstentwürfen vieler Zeitgenossen gerecht, die ihre Kriegstexte und -gedichte nicht als realitätsenthobene Imaginationen oder Reflexionen, sondern als unmittelbar wirklichkeitsgestaltende Schreib-Akte auffaßten. 2 Im Vorwort zu der berühmten Sammlung expressionistischer Gedichte, der er den Titel Menschheitsdämmerung gab, schreibt Kurt Pinthus, die Kunst sei nicht Verursacher des Vgl. Filippo Tommaso Marinetti: Mal1ifest des Futurismus: "Wir wollen den Krieg verherrlichendiese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus [... ] die Vernichtungstat der Anarchisten [... ]." Zit. nach Mal1ifeste Imd Proklamatiol1en der europdischen Aval1tgarde (1909-1938), hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart und Weimar 1995, 5. Vgl. hierzu auch Doerte Bischoff: "Dieses at.!f die Spitze getriebene Manl1estum" - Kriegsrhetorik tll1d Autorschqft um 1914, in: Kathrin Hoffillann-Curtius und Silke Wenk: Mythen von Autorschqft und Weiblichkeit im 20. JahrhUl1dert, Marburg 1997, 60-72.
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Krieges gewesen, noch habe sie auf ihn reagiert. Vielmehr sei sie Symptom und Manifestation desselben radikalen Umsturzes gewesen, der alle gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungsmuster explodieren und an der Stelle instrumenteller Bezüge "das Verknüpftsein des einzelnen mit dem Unendlichen"3 habe neu erstehen lassen. Diese Verknüpfung, die offenbar nicht mehr durch symbolische Bezugssysteme und historische Entwicklung garantiert ist, wird im jeweiligen Schreib-Akt, der als radikale Abtrennung und Zerstörung aller vorgängigen Bindungen stilisiert wird, gestiftet. Die wiederkehrende Ineinssetzung von Kunst und Krieg, die sich schon bei Marinetti4 , in abgeschwächter Form aber etwa auch in Thomas Manns 1914 publizierten Gedanken im Kriege findet S, prägt eine Rhetorik der Performanz, die dichterisches Wort und revolutionäre Tat zusammenfallen läßt. Beide erscheinen als Modi eines Kampfes, in dem sich eine nur sich selbst verpflichtete Schöpferkraft bewährt, die, gerade weil sie mit allem Überkommenen bricht, elementare Mächte entbindet. Der Krieg selbst wird sogar als schöpferisch apostrophiert, wenn er, wie in einem Artikel der Schaubühne, als "Zu-Ende-Bildner"6 moderner Kunst gekennzeichnet wird. Wo immer Kriegserlebnis und Inspiration enggefiihrt werden, ist es gerade die totalisierende Macht des modernen Krieges, die eine vermeintlich schöpferische Potentialität freisetzt, indem sie alles seiner Dynamik unterwirft. Franz Marc beschreibt den Krieg als "Fegefeuer" und "Gerichtstag", an dem alle alten Fragen neu gestellt, alle Meinungen und Glaubenssätze neu gewogen würden, damit aus ihm zuletzt "die echten, inhaltsschweren, wahren "7 geläutert und gestählt hervorgingen. Zum ersten und einzigen Male sei, so Marc, dem menschlichen Geist in diesem Krieg "das Absolute" geglückt: "sich ein Reich zu schaffen, das ,auch nicht von dieser Welt' ist und doch alles, wa~ Welt ist, fiihlend und ordnend durchdringt". Dies sei eine Zeit, die die Quelle des noch "unerschöpften" Borns, den Christus fiir die Menschheit bedeute, auf neue Weise erfahren und freisetzen könne: "Jede Zeit hat ihren eigenen Christus"8. Mehr oder weniger explizit modellieren sich die so Sprechenden Menschheitsdiimmerung - Ein Dokument des Expressionismus, mit Biographien und Bibliographien neu hg. von Kurt Pinthus, Reinbek b. Hamburg 1993, 28f Vgl. Marinetti: Manifest des Futurismus, 5: "Schönheit gibt es nur im Kampf [00'] Die Dichtung muß aufgefaßt werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor dem Menschen zu beugen." Thomas Mann: Gedanken im Kriege, in: ders., Von deutscher Republik - Politische Schriften und Reden in Deutschland - Gesammelte Werke in Einzelbiinden, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1984, 7-25, hier: 10. Friedrich Markus Huebner: Krieg Imd Expressionismus, in: Die Schaubühne 10 (1914), Nr. 48 (3.12.),441-443. Franz Marc: Im Fegf!feuerdes Krieges, in: Der Sturm 1 (1916/17), H. 1 (April 1916), 2. Hier zitiert nach: Expressionismus - Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, hg. von Thomas Anz und Michael Stark, Stuttgart 1982, 305. Ebd., 304.
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und Schreibenden selbst als Reinkarnation des Messias. Sie feiern eine Souveränität, die ein endzeitliches Versprechen einlöst und selbst zur Schöpfung in einem paradoxen Verhältnis steht: kann diese aus ihrer herausgehobenen Perspektive von ihrem Ende her überblickt werden, so wird sie aus ihr heraus zugleich neu geschaffen. Dabei zielt die Emphase ihrer Proklamationen und Prophetien auf die Überwindung des Prinzips der Stellvertretung oder Repräsentation. Denn die apokalyptische Rede, die Wirklichkeit nicht mehr nur darstellen oder reflektieren, sondern regelrecht erschaffen will, lotet die Grenze ihrer eigenen Sprachlichkeit aus. Damit ruft sie sprachmagische Vorstellungen auf, die sich im christlichen Kontext mit der Idee einer adamitischen Sprache verbinden, die die Welt benennt und damit vor der Differenz von Zeichen und Dingen, vor dem Einschnitt, der das von Gott Geschaffene menschlicher Erkenntnis entzieht, angesiedelt ist. Die apokalyptische Sprache jedoch beschwört aus dem Vorgefundenen heraus, alle menschlichen Symbolisierungen überbietend, deren Ende. Man kann sie insofern als phantasmatisch bezeichnen, als sie die Position einer quasi-göttlichen Souveränität behauptet, die aus der totalen Zerstörung geboren wird und über sie triumphiert. Charakteristisch fur dieses Selbstgeburtsphantasma ist die Leugnung gerade auch der Differenz der Geschlechter. Die Kriegs-Kunst leitet sich nicht mehr von der Unverftigbarkeit eines Anderen, Rätselhaften, Weiblichen her, sondern unmittelbar aus dem Technik-Mythos der Materialschlacht, in der sich männliche Maschinenkörper selbst erzeugen. 9 Weiblichkeit, Natur und Körper erscheinen nicht mehr als Matrix und Material kulturellen Gestaltens, als das Andere, auf das männliche Produktivität zielt, von dessen Unerreichbarkeit sie aber gerade angetrieben wird. Motor ftir die apokalyptische Selbstschöpfung im Krieg ist vielmehr die Auslöschung des Weiblichen als Differenz, die dem Kriegsgeschehen einen anderen, ihm entzogenen Ort gegenüberstellt. Die traditionsreiche Unterscheidung von Front und Hinterland, die bereits im 19. Jahrhundert aufgeweicht wird 1o , verliert nun endgültig ihre Geltung. Die Rhetorik der totalen Mobilisierung weist ihre Funktion, den Krieg in bestimmten Grenzen zu halten, ihn zu ,hegen', wie Carl Schmitt
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Vgl. etwa Barbara Vinken zu Marinetti: "Die Poetik Marinettis zeichnet sich durch einen eigenartigen Kurzschluß zwischen Technik und Mythos aus. Die Technik ermöglicht, was der Mythos ersehnte. Sie machte die kühnsten Träume buchstäblich wahr: der Mann, nicht mehr muttergeboren, sondern mit Hilfe der Technik durch den Mann geboren, wird unsterblich." Barbara Vinken: Make War not Love, in: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik -Avantgard~forschung, hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Amsterdam 2000,183-204, hier: 187. Vgl. hierzu Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie, Freiburg i. Br. 1987, 236: "Der totale Krieg [in Kleists Hermannsschlacht, D.B.] setzt nämlich erstens den Unterschied zwischen Frauen und Kriegern außer Kraft, er hebt zweitens das klassische Kriegsrecht des 18. Jahrhunderts auf, und er stellt drittens die Verfassungsfrage. "
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formuliert ll , vielmehr ausdrücklich zurück. Dies aber bedeutete einen "Bruch mit allen Regeln der Stellvertretung" 12, denn wo kriegerische Handlungen nicht mehr an das Militär und damit traditionell an jüngere Männer delegiert werden, die fur die Heimat kämpfen, welche wiederum mit den notorisch schutzlosen und zu verteidigenden ,Frauen und Kindern' konnotiert wird, verlieren sie den Bezug auf jenes ,Andere', das als Fluchtpunkt und Legitimationsgrund der Kämpfe fungiert hatte. 13 Der Versuch, den Legitimationsgrund einzig in sich selbst, in der sich stets selbst zerstörenden und fortzeugenden Kriegsdynamik zu suchen, fuhrt auf eine Konstellation, in der sich der Kriegsdiskurs mit einem Diskurs über die Geschlechter verschränkt, der spätestens seit der Jahrhundertwende basale Ordnungsmuster der bürgerlichen Gesellschaft aus den Angeln gehoben hatte. 14 Zu dieser Verschränkung tragen die Forderungen der Emanzipationsbewegung, die die Ontologisierung der Trennung von Öffentlichem und Privatem, politischer und häuslicher Sphäre durch die Geschlechteropposition in Frage stellen, erheblich bei. Gerade indem sie sich auf universalistische Kategorien im Sinne einer Vollendung aufklärerischer Ideale berufen, machen sie diese fur männliche Selbstbehauptungen unbrauchbar, da sie Weiblichkeit aus der Fixierung auf das Andere kultureller Produktivität herauslösen und anstelle der Differenz Mann/ Frau Widersprüche und Differenzen im (männlichen) Subjekt zutage treten lassen. 15 Die Reaktion auf diese Verunsicherung männlicher Identität artikuliert sich besonders zugespitzt bei Otto Weininger, der Weiblichkeit zu einem ,Nichts' erklärt, während er jegliche Differenz im Männlich-Absoluten aufgehoben und kontrolliert wähnt. 16 Zwar wiederholt
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Vgl. etwa Carl Schmitt: Theorie des Partisanen - Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963,17. Cora Stephan: Das Handwerk des Krieges, Berlin 1998, 211. Die klassische mythologische Folie fur diesen Zusammenhang von Geschlechterdifferenz und Krieg, der Frauen einerseits vom Kampfgeschehen ausschließt, sie aber zugleich als Auslöser und idealen Fluchtpunkt desselben modelliert, ist der trojanische Krieg, den die gegnerischen männlichen Heere um eine Frau, Helena, fuhren. Vgl. hierzu auch Stephan: Das Handwerk des Krieges [Anm. 12], 33: ,,[ ... ] man könnte sogar behaupten, daß erst der Krieg den Männerbund zusammenschweißt und daß erst im Krieg den Frauen ihre Rolle zugewiesen wird: sein Grund und sein Ziel zugleich zu sein. Grund: weil es sie zu schützen galt. Ziel: weil sie die Beute waren. " Vgl. Albrecht Koschorke: Die Mä'nner und die Moderne, in: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung, hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Amsterdam 2000, 141-162, hier: 141: "Die Moderne-Diskussion um 1900 wird großenteils in Geschlechterkategorien geführt. " Vgl. BischofE "Dieses auf die Spitze getriebene Mannestum (( [Anm. 2], 71. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, München 1980, 383: "Die Frauen haben keine Existenz und keine Essenz, sie sind nicht, sie sind nichts." "Der Mann will die ganze Wahrheit, das heißt, er will nur sein." Sowie ebd., 242(: "Ein weiblicher Genius ist demnach eine contradictio in adjecto; denn Genialität war ja nur gesteigerte, voll entfaltete, höhere, allgemein bewußte Männlichkeit. Der geniale Mensch hat, wie alles, auch das Weib völlig in sich; aber das Weib selbst ist nur ein Teil im Weltall, und der Teil kann nicht das Ganze [... ] in sich schließen.
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auch Weininger die topische Polarisierung von männlicher Form und weiblicher Materie l7 , doch wird letzterer schließlich jede Eigengesetzlichkeit abgesprochen, wenn die Frau, gerade weil sie "nur Materie" sei, als Nichts apostrophiert wird. IB Der Mann hingegen "hat auch das Weib, er hat auch die Materie in sich"19, was ihn befahigt, sich selbst und seinen Körper - sowie den der Frau, der nurmehr Teil desselben ist - aus eigenem Willen zu schaffen. 20 Betrachtet man die Engftihrung von Kriegs- und Geschlechterdiskurs, deren charakteristische Wendungen sich, wie die Weininger-Lektüre andeutet, schon vor dem eigentlichen Ausbruch des Kriegs abzeichnen, aus diskursanalytischer Perspektive, so zeigt sich, daß sie keineswegs nur von männlichen Künstlern uhd Intellektuellen betrieben wird, die eine fragwürdig gewordene Männlichkeit gewaltsam zu restituieren versuchen. Zwar ist offensichtlich, daß gerade die künstlerischen Avantgarden weitgehend männlich dominiert sind und daß hier eine radikalisierte Ausgrenzung des Weiblichen betrieben wird, die nachhaltige Effekte hat. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß es sich dabei auch um Reaktionen handelt, daß es gerade die auch von Frauen betriebene Auflösung der Geschlechtergrenzen ist, gegen die angeschrieben wird.
11. )Ausweitung der Kampjzone (: Die Mobilisierung der Mütter Das Skandalon, das die bislang skizzierte, männlich dominierte Kriegsrhetorik antreibt, ist die offensichtliche Mißachtung und Überschreitung des von Nietzsche formulierten und von den Zeitgenossen vielfach aufgegriffenen 21 Diktums mulier taceat de muliere. Denn natürlich ist die Frau das prominente Thema der Frauenbewegungen, die 1914 ganz überwiegend in die allgemeine Kriegsbegeisterung einstimmen. Mit dem Argument, das große Ziel eines umfassenden Neubeginns könne nur erreicht werden, wenn auch der weibliche Teil der Bevölkerung in die Kämpfe einbezogen werde, machen sie sich den Ruf nach allgemeiner Mobilisierung zu eigen. Dahinter steht der Wunsch, den Geschlechterkampf gleichsam durch einen universaleren Kampf
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Die Genielosigkeit des Weibes folgt unabwendbar daraus, daß das Weib keine Monade und somit kein Spiegel des Universums ist." Ebd., 394: "Der Mann ist Form, das Weib Materie." Ebd., 393. Ebd., 395. Ebd., 396. Weiningers Ausführungen sind in diesem Punkt naturgemäß widersprüchlich, da er die Geschlechterdifferenz aufruft und ins Extrem treibt, sie andererseits aber zugleich zum Verschwinden bringt. Und zwar sowohl von Frauen wie von Männern. Vgl. etwa Weininger: Geschlecht und Charakter, 106; Margarete Susman: Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt, in: dies., "Das Nah- und Fernsein des Fremden « - Essays und Bri~fe, hg. von Ingeborg Nordmann, Frankfurt a. M. 1992, 143-167, hier: 143.
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zu transzendieren, der einen Kollektivkörper hervorbringt, welcher weiblichmütterlicher Reproduktivität ebensoviel verdankt wie männlicher Symbolschöpfung. Die alte Formel von den zu schützenden, aus dem unmittelbaren Kriegsgeschehen fernzuhaltenden ,Frauen und Kindern', die auf ein' Jenseits der Kriegslogik verweist, auf das sie gleichwohl bezogen bleibt, wird in dem Augenblick ausgehöhlt, wo sie von Frauen (und Männern) mit der gängigen Kriegsrhetorik verwoben wird. Ganz im Sinne des vom Kaiser im August 1914 proklamierten Burgfriedens fordert etwa Lily Braun in ihrer Schrift Die Frauen und der Krieg, "Parteien, Richtungen, Vereine und Vereinchen" auch innerhalb der Frauenbewegung zu überwinden, denn nun gelte es, sich auf die ,natürlichen Quellen des Weibtums' zu besinnen, die der Krieg freigelegt habe. 22 Verknüpft diese Argumentation bereits emanzipatorische Rhetorik mit alten Weiblichkeitsmythen, so wird deren kämpferischer Einsatz noch deutlicher in einem Appell Gertrud Bäumers, der die besondere weibliche Sensibilität fiir die schicksalhafte Entfesselung von Lebenskräften durch den Krieg betont. Diese habe "der Mutterschoß [des] Volkstums tief und geheimnisvoll in sich bewahrt".23 Wo Waffengewalt "das letzte Wort in der Welt" spreche 24 , seien, so Bäumer, auch die Frauen selbstverständlich aufgerufen, ihren Anteil an der totalen Mobilmachung zu übernehmen. 25 Dieser Anteil, so legt diese Argumentation nahe, vollendet sogar erst die Totalität dieses Umsturzes von apokalyptischem Ausmaß, insofern nur die Frauen das Wesentliche, Tiefste und Verborgenste, das in allen früheren Kriegen dem Kriegsgeschehen entzogen geblieben war, zum Einsatz bringen könnten. Der Krieg, so Bäumer in einem späteren Essay, habe nicht nur dem Tod der Männer, sondern auch der weiblichen Fürsorge und Opferbereitschaft ~ine neue Dimension gegeben, in der ,heißeste, persönlichste Gefiihle mit ihrem erhabenen Anlaß' verschmölzen und zum ,innersten Anlaß einer Offenbarung' würden. 26 Thea von Harbou beschwört im Vorwort ihres bereits 1913 publizierten und in den folgenden Jahren vielfach neuaufgelegten Novellenbandes Der Krieg und die Frauen "das Riesenhafte, das Gigantische des Kriegsgedan-
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Zitiert nach Annette Kliewer: Geiste~frucht und Leibe~rrucht - Mütterlichkeit rmd weibliches Schreiben im Kontext der ersten bürgerlichen Frauenbewegung, Pfaffenweiler 1993,89-96, hier: 91( Gertrud Bäumer: Die Frauen und der Krieg, in: Das Buch vom Kriege, hg. von Hans F. Helmolt, Berlin 1915,383-391, hier: 387. Ebd., 390. Ebd., 386. Gertrud Bäumer: Die deutsche Frau in der sozialen Krieg~fiirsorge, Gotha 1916, hier zitiert nach Annette Kliewer: "Das deutsche Reich wird nach Müttern fraget1!" - Die "Miitterliche" Beteiligung von Schrfftstellerinnen am Ersten Weltkrieg, in: Krieg und Literatur 6 (1994), H. 11/12, 45-52, hier: 50. Zum häufig auftauchenden Begriff der Offenbarung vgl. auch die Beschreibung des Kriegsausbruchs durch die weibliche Protagonistin in Thea von Harbous Novelle Drei Tage Frist, in: dies., Der Krieg und die Frauen, Stuttgart und Berlin 1915,35.
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kens - das Schicksalsgewaltige, das Völker und Reiche zermalmt und erschafft".:17 Die so mobilisierte Heimatfront wird wiederholt auch als "Heer hinter dem Heer" bezeichnef~8, das Recht der Frauen, an dem universalen sinnstiftenden Kampfgeschehen beteiligt zu sein 29 , damit ostentativ eingefordert. Mutterschaft wird dabei als Inbegriff weiblicher Schöpfungsleistung regelrecht zum Kampfbegriff Gerade die Art und Weise, in der Mütterlichkeit als zentraler Aspekt weiblicher Kriegsbeteiligung stilisiert wird, demonstriert, wie traditionelle Weiblichkeitsbilder instrumentalisiert und transformiert werden. Indem das Gebären und Hergeben der Söhne rur den Krieg als weibliches Blutopfer dargestellt wird, das sogar schwerer wiege als das der Männer, deren Tod im Krieg immerhin als Tod auf dem Feld der Ehre gewürdigt werde, verschiebt sich die traditionelle Argumentation, in der der Soldaten tod als stellvertretendes Opfer rur die weiblich figurierte Heimat oder Volksgemeinschaft erscheint. Auch diese, weibliche, Rhetorik ruhrt konsequent auf eine Krise der Stellvertretung oder Repräsentation, die die Legitimation und Begrenzung des Krieges mittels einer Geschlechterontologie allmählich auflöst. Zielt diese Rhetorik einerseits auf eine absolute Gleichberechtigung beider Geschlechter im Kampf für die neue Einheit, so tendiert sie doch andererseits zu einer Aufurertung des Weiblichen, welches als umfassenderes Prinzip modelliert wird, das alle Trennungen und Differenzen in sich berge. In einer Anverwandlung weiblicher Allegorien wie der einer kämpferischen Germania und in Identifikation mit starken Frauen der Geschichte wird eine neue heroische Weiblichkeit entworfen, die zur Stelle ist, wo die "Zerstückelung" des Landes droht, weil Männer in ihrer Aufgabe, die Heimat zu beschützen, versagen. 30 Dies gipfelt gelegentlich in der Vorstellung von einem weiblichen Messias, mit dem das neue Zeitalter anbreche 31 :
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Von Harbou: Der Krieg und die Frauen [Anm. 26], 9. E~se Torge: Kaiser, Volk und Totentanz, Berlin 1916, 40; hier zitiert nach Hans-Otto Binder: Zum Opfern bereit: Kriegsliteratur von Frauen, in: Kriegseifahrungen - Studien zur Sozial- und MentalitCitsgeschichte des Ersten Weltkriegs, hg. von Gerhard Hirschfeld u.a., Essen 1997, 107-126, hier: 125. Vgl. auch Marie Elisabeth Lüders: Das unbekannte Heer - Frauen kCimp{Cnfiir Deutschland 19141918, Berlin 1936. Vgl. Emmy von Bomsdorf-Leibing: Deutscher Heldengeist im Weltkrieg, Leipzig 1916, 8: "Uns Frauen gönnt ihr euer Feldgrau nicht." Zitiert nach Binder: Zum Op{Crn bereit [Anm. 28], 121. Vgl. Karin Bruns: Das moderne Kriegsweib - Mythos und nationales Stereotyp heroischer Weiblichkeit 1890-1914, in: Frauen, Literatur, Politik, hg. von Annegret Pelz u.a., Hamburg 1988, 132-144, hier: 134f. Arthur Brehmer: Der Weg der Frau, 4. Es handelt sich um einen Beitrag in dem 1913 in Berlin erschienenen Album Die Frau imJahrhundert der Energie 1813-1913. Hier zitiert nach: Bruns: Das moderne Kriegsweib [Anm. 30], 136.
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Doerte Bischoff Aus diesem Ringen, aus welchem die eine große Frau hervorgehen muß, die alle Kraft der weiblichen HeIdin des Geistes und Herzens in sich vereint und als solche die Welt unterjocht und eine neue Zeit aufbaut: Das Zeitalter der Frau. Aus diesem Ringen heben sich jetzt schon Frauen hervor, die im Vollbringen und Können dem Manne fast gleich sind und die uns Vorläuferin der Einen sind, die kommen wird und kommen muß.
Scheint diese weibliche Apokalypse geradezu die Umkehr der von Weininger betriebenen Verabsolutierung des Männlichen zu sein, so ist sie ihr doch im Versuch, Differenzen in einer auch körperlich gedachten Einheit aufzulösen, zugleich sehr verwandt und kann als Kehrseite desselben Diskursmusters gelesen werden. Dessen typisches Merkmal ist es, mit der phantasmatischen Verherrlichung eines vollendeten, sich selbst gebärenden Mensch-MaschineKörpers zugleich die Attribute natürlicher Körperlichkeit - Verletzbarkeit, geschlechtliche Differenz und Sterblichkeit - zu verwerfen.3~ Dabei drängten sich Bilder von Verwundeten und Kriegs-Krüppeln gerade in Kriegszeiten auf, machte es der Tod von Familienvätern, Söhnen und Brüdern immer schwieriger, den Krieg symbolisch zu rechtfertigen3\ was vielen Kriegsschriften als Subtext eingeschrieben ist. Zugleich wird aber deutlich, daß dieses bedrohliche Moment nicht mehr durch den Verweis auf einen weiblich figurierten Gesamtkörper auf Distanz gehalten werden kann, fiir den die Männer sterben. In der Verknüpfung von Weiblichkeit und Krieg erscheint die Mutter gerade nicht mehr als das in sich ruhende Andere, vielmehr avanciert sie zum Inbegriff umfassender Mobilisierung. Mütterlichkeit wird ausdrücklich nicht mehr wie in Vorkriegszeiten mit Weichheit und Gefühl, sondern mit Tapferkeit, Selbstdisziplinierung und Stärke assoziiert. Wo noch das Weiche ins Spiel kommt, findet es sich mit metallisch-technischer Metaphorik verknüpfe 4 : ,,[D]er Krieg hämmert an unsern Seelen, daß sie fest werden, wie Stahl und doch auch weich wie das flüssige Metall in der Feuersglut. " Nicht der natürliche Körper, sondern Technik, Steuerbarkeit und Kontrolle sind die Referenzkategorien des "modernen Kriegsweibs".35 Wenn vom Körper die Rede ist, so im Sinne einer Gemeinschaftsvision, die an das Kriegsgeschehen geknüpft ist. So wird behauptet, die "Schule des Krieges" habe es vermocht, die Frauen zu einem "große[n] Körper des diszi32
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Eine Beiträgerin des Bismarck-Frauen-Kalenders mit dem Pseudonym Lucie Fer beschreibt die im Krieg gestählte ,Frau der Zukunft' als "ein Wesen, halb Weib, halb Maschine". Zitiert nach Bruns: Das moderne Kriegsweib [Anm. 30], 136. Da hier der größere diskursive Zusammenhang von Kriegsdiskurs und Körperlichkeit in der Moderne analysiert wird, kann auf die Veränderungen, die sich in den Stellungnahmen einzelner im Laufe des Krieges abzeichnen, indem sie Enttäuschungen artikulieren und die ursprüngliche Begeisterung relativieren, nicht näher eingegangen werden. Margarete Henschke: Der Krieg und die FralIen [Rede vor dem Berliner Handwerkerverein], Berlin 0.], 15. Vgl. Bruns: Das moderne Kriegsweib [Anm. 30], 138.
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plinierten Wohlfahrts-Frauenheers" zusammenzuschweißen, das bereit sei, in die "Frauen-Schlacht" zu ziehen. 36 Daß Weiblichkeit und Krieg nicht mehr kategorisch getrennt sind, sondern sich die Sphären vermischen, indem sie sich wechselseitig metaphorisieren, zeigt etwa auch der Vergleich eines UBootes mit einem "gesegneten Weib" im Kriegsroman einer Autorin. 37 Indem Frauen sich selbst das Etikett "Heldenmutter"38 verleihen, usurpieren sie einen Begriff von Heldentum; der von Männern angesichts der Materialschlachten und des Massensterbens in endlosen Grabenkämpfen immer weniger beansprucht werden kann. Die Wendung greift alte Muttermythen zitierend auf und transformiert sie zugunsten weiblicher Aktivität: die Mutter des Helden ist selbst heldenhaft, weil sie den Sohn oder Mann dem Krieg gegeben hat. So heißt es bei Lily Braun39 : "Hinter jedem dieser Heldenknaben, die von uns gingen, steht eine Mutter, die ihn gehen ließ." Die Entscheidung junger Kriegsfreiwilliger, sich an die Front zu melden, erscheint damit nicht als männlicher Initiationsakt, durch den sich der Sohn von der mütterlichen Sphäre lossagt, um in die männerbündische Gemeinschaft der Soldaten einzutreten. Vielmehr wird er hier von den das Wort ergreifendenMüttern als deren Opfer stilisiert, wodurch sie sich den Trennungsakt, der sie auf die kriegsferne heimatliche Sphäre beschränkt und die Söhne der männlichen Kriegsszenerie zuordnet, gleichsam aneignen. Eine ähnliche Figur findet man auch in der Kriegslyrik von Männern, etwa in Rilkes 1914 entstehenden "Fünf Gesängen" , wo es heißeo: Einmal schon, da ihr gebart, empfandet ihr Trennung, Mütter, empfindet auch wieder das Glück, daß ihr die Gebenden seid. Gebt wie Unendliche, gebt. Seid diesen treibenden Tagen eine reiche Natur. Segnet die Söhne hinaus.
Die zweite Geburt erscheint als eine, die der von Männern dominierten Sphäre des Symbolischen nicht äußerlich, sondern ihr als sinnstiftender Akt unmittelbar eingeschrieben ist. Ausdrücklich wird die Geschlechterbeziehung zudem in die Kriegsrhetorik eingeflochten, wenn individuelle Ereignisse wie Verlobung und Empfangnis im Sinne eines kollektiven Geschehens symbolisiert werden. "Bräute gehen erwählter", so heißt es in demselben Gedichtzyklus bei Rilke, "als hätte nicht Einer I sich zu ihnen entschlossen, sondern
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Henschke: Der Krieg und die Frauen [Anm. 34], 10,8, 13. Vgl. Binder: Zum Opfern bereit [Anm. 28], 115. Vgl. etwa die Kriegserzählung Wir daheim von Helene Christaller, zit. nach Kliewer: "Das deutsche Reich wird nach Mütternfragen!" [Anm. 26], 48. Lily Braun: Die Frauen und der Krieg, Leipzig 1915, 10. Hier zitiert nach Kliewer: "Das deutsche Reich wird nach Mütternfragen!" [Anm. 26], 46. Rainer Maria Rilke: Fünf Gesänge (August 1914), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit F. Ruth Sieber-Rilke, Frankfurt a. M. 1956,86-93, hier: 88.
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das ganze I Volk sie zu fuhlen bestimmt"41. Offenbar wird hier nun auch die traditionelle weibliche Initiation, der Übertritt des jungfräulichen Mädchens in Ehe und Mutterschaft, als ein kriegsrelevantes Symbolgeschehen zelebriert. Tatsächlich rührt diese Rhetorik, die in der Engfuhrung von Krieg und Geschlechterdifferenz eine neue, totalisierende Dimension kultureller Selbstschöpfung behauptet, an den fundamentalen Bedingungen einer symbolischen Ökonomie, die auf der Unterscheidung von kultureller Wertschöpfung und natürlicher Reproduktion basierte. In der Erwählung durch den Mann hatte sich nämlich zuvor die zentrale Bedeutung der Frau ausgedrückt: als von Männern begehrtes und unter Männern getauschtes privilegiertes Objekt. 43 Während die Frau von der Teilhabe an gesellschaftlichen Tauschprozessen und symbolischen Ökonomien ausgeschlossen war, gab doch gerade die Vorstellung, daß sie einen ihnen allen zugrundeliegenden höchsten Wert verkörpere, dem Symbolischen Kohärenz und Struktur. Die unverheiratete Frau ist reiner Tauschwert, insofern auf ihren Körper jener höchste Wert projiziert wird, der als solcher nicht in Besitz genommen werden kann, da er den "Ort, das Zeichen der Beziehungen unter Männern"43 darstellt. In ihrem Marx und Levi-Strauss kommentierenden Essay Frauenmarkt schreibt Luce Irigaray über die Jungfrau, sie erscheine als ,,[b]loße Hülle zur Verschleierung des Einsatzes, um den es in der gesellschaftlichen Zirkulation"44 gehe. Demgegenüber ist die Mutter "Reproduktionsinstrument, das mit dem Namen des Vaters gezeichnet in sein Haus eingeschlossen [... ] ist, fur den Tausch verbotenes Privateigentum"45. Das Inzesttabu, das die Mutter von der Begehrensökonomie ausschließt, "repräsentiert dieses Verbot des Eintritts der Produzentin Natur in den Tausch unter Männern". Machte die Mutter Anspruch, in die Warenzirkulation einzutreten, würde, so Irigaray, "die Zerstörung der gt;sellschaftlichen Ordnung drohen "46. Solange die Arbeit der Mutter der symbolischen Produktion der Männer als deren notwendiges materielles Substrat, das selbst ohne Bedeutung ist, entgegengesetzt wird, kann die Fiktion eines allesumfassenden, idealen Zeichens, das Gott oder eben Frau heißen kann, aufrechterhalten werden. Doch die " Phallu swährung" 47 , um mit Irigaray zu sprechen, verliert in dem Moment ihren Wert, in dem der Akt, der eine vermeintlich unhintergehbare Grenze 41 42
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Ebd., 86. Vgl. die These von Levi-Strauss, jede Gesellschaft basiere auf dem Frauentausch als ihrem basalen Differenzierungsprinzip in Claude Levi-Strauss: Strrtkturale Anthropologie I, Frankfurt a. M., 5. Aufl. 1991,62. Luce Irigaray: Frauenmarkt, in: dies., Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979, 177-198, hier: 192. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 182.
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zwischen Symbolischem und Realem errichteeS, im Symbolischen wiederaufgenommen wird. Wenn die männliche Symbolisierungsarbeit immer Arbeit an der Materie ist, die als an sich unbedeutende voraus-gesetzt wird 49 , muß eine Infragestellung dieser Grenzziehung weitreichende Konsequenzen haben. Denn einzufordern, daß das Gebären, weil es ,Material' rür den Kriegsschauplatz zur Verfügung stelle, selbst Teil des Kampfgeschehens sei, kommt dem Anspruch gleich, die Hervorbringung des höchsten Wertes, der im Krieg traditionell umkämpft wird, an diesen selbst zu knüpfen. Ursprüngliche körperliche Einheit· und kriegerisches Zerstörungswerk werden damit zu zwei Seiten derselben Dynamik, die Schöpfen und Zerstören als aneinander gekoppelte Aspekte kultureller Performanz ausstellt. Die Totalisierung des Krieges nimmt also in dieser Perspektive auf Geschlechterdifferenz und Körperlichkeit insofern phantasmatische Züge an, als sie den Phallus als transzendentalen Signifikanten selbst mit aufs Spiel setzt. Als solche schlägt sie sich in zwei Figuren nieder, die als zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten sind: zum einen in Allmachtsvisionen, die mit der Einbeziehung des mütterlichen Körpers das Kriegsgeschehen zum alles entscheidenden und offenbarenden Ende der Geschichte überhöhen. Die emanzipatorischen Forderungen gipfeln hier in der beschriebenen Vorstellung einer Menschheitsapokalypse , in der alle Hierarchien und Differenzen und damit auch die der Geschlechter ausgelöscht wären. Zum anderen jedoch treibt diese rhetorisch inszenierte ,Ausweitung der Kampfzone' auch Bilder von versehrten, der kriegerischen Gewalt rückhaltlos ausgesetzten Körpern hervor, an denen jede Totalitätsvision zunichte wird. Aus der Perspektive aktueller Gender-Forschung könnte man behaupten, daß sich im Kriegs-Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Vorformen der von Donna Haraway beschriebenen Cyborgs herauskristallisieren. Cyborgs sind Haraway zufolge diskursive Figuren der Überbietung, die die Dichotomien von Körper und Geist, Mensch und Tier, Organismus und Maschine, öffentlich und privat, Natur und Kultur sowie Mann und Frau in Frauge stellen. 50 Sie sind die konsequente Fortsetzung, das apokalyptische telos einer westlichen Phantasie endloser individueller Ermächtigung und Besitz-
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Die Begriffe werden hier im Sinne Lacans verwendet, wobei dessen Trias Symbolisches, Imaginäres, Reales die Opposition von Kultur und Natur insofern unterläuft, als die Analogisierung von Weiblichkeit und Natur als Stabilisierung jener imaginären Grenze des Symbolischen gelesen wird, die weibliche Artikulationsweisen ausgrenzt, damit zugleich aber ein Reales konstituiert, das die geschaffenen Ordnungsmuster stört. Vgl. Irigaray: Frauenmarkt [Anm. 43], 183: "Die Waren, die Frauen, sind Wertspiegel des Mannes / für den Mann. Zu diesem Zweck überlassen sie ihm ihren Körper als stoffliche Träger der Spiegelung, der Spekulation. Sie überlassen ihm ihren natürlichen und gesellschaftlichen Wert als Ort der Einprägung, Markierung und Einbildung seiner Tätigkeit." Donna Haraway: A Cyborg Man !festo , in: dies., Simians, Cyborgs and Women - The Reinvention qf Nature, NewYork 1991,149-181, hier: 163.
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ergreifung hin zu einem "ultimate self untied at last from all dependency"51. Vollendet sich im Cyborg ein männlicher Wahn, die weibliche Natur technisch zu verdoppeln und sie in einer apokalyptischen Kriegsorgie endgültig zu vernichten 53 , so kehrt er zugleich das Phantasmatische dieser gewaltsamen Selbstermächtigung hervor. Die Aneignung des Cyborg durch den Feminismus verdankt sich der Erkenntnis, daß diesem Phantasma nicht durch ideologiekritische Entlarvung, sondern nur durch seine pointierte Inszenierung begegnet werden kann. Anstatt Weiblichkeit dem Zugriff von Mythen und Technologien zu entwinden, muß sie als hybride Figur ausgestellt werden, in der sich Körper und Maschine, Natur und Technik verschränken, ohne doch eine bruchlose Einheit zu bilden. Diese kritische Wendung, die den Bruch mit dem militaristischen und patriarchalen Erbe der Cyborgs markiert, wird in den hier betrachteten Kriegstexten weder von männlichen noch von weiblichen Autorinnen ausdrücklich reflektiert. Wie gezeigt, sind sie vor allem von einem phantasmatischen Zug endzeitlicher Ermächtigung gezeichnet, die die Differenz der Geschlechter und alle analogen Dichotomien überwindet. Allerdings läßt sich die Kehrseite, das Zutagetreten von Zerstückelungsszenarien und hybriden Körpern, die nicht mehr durch weiblich konnotierte Ursprungsvisionen auf Distanz gehalten werden können, in diesen Texten durchaus entziffern. Vor diesem Hintergrund sollen im folgenden zwei komplexere literarische Texte untersucht werden, die jeweils den Ersten Weltkrieg als apokalyptisches Geschehen gestalten. Sowohl in Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit wie auch in Arnold Zweigsjunge Frau von 1914 spielt die Auflösung traditioneller Geschlechterkonzepte rur die Bestimmung dieses Geschehens eine zentrale Rolle, wobei die sich auch hier folgerichtig aufdrängende Repräs~ntations problematik in unterschiedlicher Weise reflektiert wird und im jeweiligen Schreib- bzw. Darstellungsverfahren einen Niederschlag findet.
III. Karl Kraus und der apokalyptische Ton In dem monumentalen Kriegsdrama von Kad Kraus, das anders als der Text Zweigs, der erst 1931 publiziert wurde, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstand, ruhrt die Frage nach der Geschlechterdifferenz ins Zentrum der apokalyptischen Szenerie. In Die letzten Tagen der Menschheit 53 wird zwar der Krieg noch als die "natürliche Beschäftigung des Mannes" (L T
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Ebd., 150f Ebd., 154. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit - Tragödie in}iil!fAkten mit Vorspiel und Epilog, Frankfurt a. M. 1986. Zitate aus dieser Ausgabe werden im folgenden im Text mit der Sigle LT nachgewiesen.
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267) gefeiert, werden Frauen aufgefordert, sich liebend und sorgend um die Soldaten zu kümmern. Doch offenbart der Krieg eine durch und durch marode Geschlechterordnung, in der die weibliche Sphäre keinen anderen Raum gegenüber der sich ausweitenden Sphäre des Krieges mehr behauptet, sondern bis zur Unkenntlichkeit mit dieser verschmilzt. Die österreichische Heimatfront ist mobilisiert, wie Durchhalteparolen von Hausfrauenvereinigungen zeigen, deren Mitglieder von der Überzeugung beseelt sind, daß ihr Einsatz gefragt ist, "wo Not arm] Mann ist". (LT 282) ,Not am Mann' aber ist allerorten, denn nicht selten muß eirie tatkräftige und ehrgeizige Ehefrau, die das Gesetz des Krieges durchschaut hat, ihren Gatten mahnen, ein Mann zu sein und "in diesen Tagen" nicht als "Schwächling" zu erscheinen. (L T 317, 343) Das weibliche Engagement rur die Kriegsftirsorge bleibt dem Krieg der Männer nicht mehr als sein Supplement untergeordnet, sondern verselbständigt sich und verbreitet so eine kriegerische Atmosphäre im häuslichen Alltag, die die Ehemänner überfordert, weil sie gegenüber der gewohnten Ordnung einen unerklärlichen Überschuß darstellt. 54 Die typische Kriegsenthusiastin - und um Typen und Klischees handelt es sich ausschließlich bei den Figuren dieses Dramas - hat keine Kinder und richtet statt dessen all ihre Energie auf den Krieg. 55 Andere weibliche Figuren haben Söhne, die sie stolz dem Vaterlapd opfern, womit sie auf die angestammte mütterliche Rolle, den Krieg zu beklagen und dem Sterben die ,Gabe des Lebens' entgegenzusetzen, bereitwillig verzichten. (LT 299,400,683) Die Ambivalenz dieses mütterlichen Kriegsdienstes tritt zutage, wo der mütterliche und insbesondere der schwangere Körper selbst als Chiffre eines totalisierten Krieges in den Blick kommt. Der Anblick einer Schwangeren läßt den Nörgler, jene Figur, die das Geschehen kritisch kommentiert und die gelegentlich mit dem ebenfalls durch das Drama geisternden "Fackelkraus" (LT 341) identifiziert wird, in einen elegischen Ton verfallen. ,,0 rührend Anbot in der Zeit des großen Sterbens!" (LT 285), hebt er an, um dann jedoch jede Verherrlichung dieses ,gesegneten Leibes' zurückzuweisen. Denn die "letzten Spuren von Natur" (LT 285), die er in diesem archetypischen Bild aufbewahrt sieht, lassen sich unter den Bedingungen des modernen Krieges nicht mehr im Sinne eines die Gemeinschaft insgesamt fundierenden Sinns lesen. Scheint der schwangere Körper ein heiliges Geheimnis zu bergen, das einmal Leben oder "Harmonie der Schöpfung" (LT 286) genannt wurde, so wird er nun unweigerlich als Produktionsmittel eines Heereslieferanten
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Vgl. LT 311: ,,[ ... ] du bringst mich um mit deiner Kriegsrursorg - Hilfskomitees und Zweigstellen und was weiß ich, Konzerte und Nähstuben und Teestuben und Sitzungen, wo man herumsteht, und jeden Tag Spitäler - Gott, is das noch ein Leben - (at/j sie losgehend) was - was willst du noch von mir [... ]." Vgl. LT 313. "Dein Ehrgeiz bringt mich ins Grab! - hättst du Kinder, wärest du abgelenkt!"
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instrumentalisiert. Schroff weist der Nörgler die werdende Mutter, die sich stolz in der Öffentlichkeit zeigt, an, sich zu verbergen, da ihr Auftauchen nicht anders denn als ein ,Zu-Markte-Tragen' künftigen Kriegsmaterials wahrgenommen werden könne. Ganz gleich, ob die Schwangere selbst glaubt, ein göttliches Geheimnis zu bewahren - sie wird zur ,Kriegs-Freiwilligen', die einen Jahrgang vermehrt. Ihr Körper läßt sich nicht mehr als rätselhafter, die Zweiheit in der Einheit fassender Schwellenraum auf Distanz halten, sondern wird zum Ausdruck einer restlosen Verfügbarkeit 'des Menschen, der den universellen Verwertungs zusammenhängen nichts mehr entgegenzusetzen hat. Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Appell an die Mutter, sich vor den Blicken zu schützen, ohne Sinn, denn längst haben sich die kriegführenden Menschen "über die Schwelle jagen lassen, wo das Geheimnis beginnt, dessen Verrat kein irdischer Staat erlangen könnte". (LT 672) Wo einem irdischen Staat der Zugriff verwehrt war, bricht der exzessive moderne Krieg ein: Körper werden hier nicht mehr nur als Träger kultureller Symbolisierungen zugerichtet, verwundet, gezeichnet oder auch getötet. Sie kommen überhaupt nur als solche, nämlich als verwundete und zerstückelte, in Betracht, sind also nicht mehr als der Formung oder Symbolisierung vorgängige Substanz, deren Ursprung kulturell uneinholbar ist, zu denken. Der Krieg, der, wie es mehrmals heißt, "das Kind im Mutterleib tötet" (LT 677, 762), bewegt sich nicht mehr in den Grenzen eines denkbaren Symbolhorizontes, vielmehr setzt und zerstört er sein Fundament unablässig selbst. Inbegriff für die zerstörerische Macht, die sich am Geheimnis vergreift und alles zum Instrument und zum Zeichen werden läßt, ist bei Kraus die Presse. In ihr sieht er alle Übel einer wesenlosen Zeit verkörpert, in der die Technik sich als Selbstzweck auf den Thron gehoben hat. Anstatt über WirIqichkeit zu berichten, hat die Presse begonnen, sie durch Lügen und Vers teilungen zu schaffen. Ihre Sprache ist die der Phrase, die sich von jedem Inhalt abgelöst hat und nurmehr ständig vervielfältigt wird. Jeden Unterschied zwischen Alltagsjargon, Zeitungsartikel und Literatur einebnend, gebiert dieses Wort "fortzeugend Böses" (LT 210), da nichts mehr gegen seine totalisierende Selbstbehauptung geltend gemacht werden kann. Das gedruckte Wort, so analysiert der Nörgler, hat das Menschentum bzw. das Herz, wie es an anderer Stelle heißt, ausgehöhlt. (LT 209, 677) Was bleibt, ist der allmächtige maschinelle Schreibakt, der sich in verheerenden und endlosen Gewaltakten manifestiert: Hysterie im Schutze der Technik überwältigt die Natur, Papier befehligt die Waffe. Invalide waren wir durch die Rotationsmaschinen, ehe es Opfer durch Kanonen gab. Waren nicht alle Reiche der Phantasie evakuiert, als jenes Manifest der bewohnten Erde den Krieg erklärte? Am Ende war das Wort. Jenem, welches den Geist getötet, blieb nichts übrig, als die Tat zu gebären. (LT 676f.)
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Dieses letzte Wort, das zuletzt dem Chefredakteur der Wiener Neuen Freien Presse in den Mund gelegt wird ("ich bin des Worts Redaktor, / das an dem Ende steht", LT 752), ist wie das göttliche Wort, von dem der Beginn des Johannesevangeliums spricht, rein performativ. Es referiert nicht auf ein Außersprachliches, sondern vollzieht die Tat im Akt des Sprechens. Anders jedoch als im biblischen Prätext ist dieses Wort sozusagen nicht "bei Gott" und damit der Welt entzogen, sondern die Apotheose irdischer Mittel, die die Welt vollkommen ersetzt zu haben scheinen. 56 Indem zuletzt DIE STIMME GOTTES jene Worte spricht, mit denen der deutsche Kaiser sich selbst jede Autorität und Verantwortung abgesprochen hatte ("Ich habe es nicht gewollt." [LT 770]), erscheint der Machbarkeitswahn und die kaiserliche Selbstvergottung im Sprechakt realisiert, der den omnipotenten Sprecher im selben Moment erscheinen wie untergehen läßt. 57 Als Inbegriff lügenhafter Verstellung wird die Presse in den Letzten Tagen als Hure BabyIon allegorisiert, der die Völker und Könige der Erde - Wilhelrn 11. erscheint als "apokalyptische[r] Reiter" (LT 677) - verfallen seien: Und von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr. Und er sprach zu ihr, der apokalyptische Reiter, den ich einstens, lange eh ers tat, durch das deutsche Reich rasen sah. [... ] Und ich sah ihn als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. [... ] Und wir fielen durch ihn und durch die Hure von Babyion, die in allen Zungen der Welt uns überredete, wir wären einander feind und es solle Krieg sein. (LT 677)
BabyIon steht hier also, wie in der biblischen Offenbarung des Johannes, die passagenweise wörtlich zitiert wird, nicht nur rur Hurerei und Verfall, sondern auch rur die in der Genesis beschriebene Verwirrung der Sprachen, mit der die Völker den Turmbau zu Babel büßen. Die Verselbständigung des Sprachzeichens, die Vervielfaltigung und Autonomisierung der Signifikanten gegenüber dem Signifikat58 - im biblischen Prätext eine Strafe Gottes, die die Menschen auf immer von der reinen Sprache entfernt - erscheint als Quelle eines Unheils katastrophischen Ausmaßes. Damit wird einerseits die phantasmatische Leugnung der Differenz von Zeichen und Wahrheit, wie sie, dem Text zufolge, die Kriegsrhetorik prägt, angeklagt, zugleich wird aber auch Anspruch auf eben jene ehemals entzogene reine Sprache erhoben, die sich jeder Instrumentalisierung und Übersetzung entzieht. Um diesen ambiva-
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Vgl. hierzu auch Reiner Niehoff: Die Herrschaft des Textes - Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Biichners Drama "Dantons Tod" unter Beriicksichtigung der "Letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus; Tübingen 1991, 224. Niehoff spricht von einer "Semiokratie", die "die Verwandlung des Realen in die Zeichen des Realen" betreibe. Zur Vertauschung von Kaiser und Gott vgl. auch LT 534: "Majestät sind nicht mehr das Instrument Gottes - [... ] - sondern Gott ist das Instrument Eurer Majestät!" Vgl. hierzu auch Niehoff: Die Herrschaft des Textes [Anm. 56], 231.
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lenten Gestus des Textes, der die Apokalypse nicht nur prophezeit und bezeugt, sondern selbst in gewisser Weise apokalyptisch ist 59 , genauer beschreiben zu können, soll zunächst die von ihm betriebene charakteristische Verschränkung von Sprache und Geschlecht genauer betrachtet werden. Beide werden als Prinzip einer Unterscheidung im Moment ihres Uhtergangs in den Blick genommen. Die katastrophische Entdifferenzierung koinzidiert dabei mit einem Akt der Neuschöpfung, der den Grenzfall sprachlicher oder geschlechtlicher Ordnung markiert, ohne doch in ihnen darstellbar zu sein. Als die "eigenartigste Erscheinung dieser Apokalypse" (LT 504) wird im Text die Figur der Alice Schalek vorgestellt, einer Kriegsberichterstatterin, deren Feuilletons den Zeitgenossen aus der Wiener Neuen Freien Presse bekannt waren. "Die Schalek", wie sie durchgehend genannt wird, gibt sich nicht mit der Mobilisierung der Heimatfront zufrieden - sie zieht selbst an die Front, um dem einfachen Soldaten seine Empfindungen im Krieg abzulauschen. "Man kann nicht immer im Hinterland hocken" (LT 587), erklärt sie wiederholt und ist erst zufrieden, als sie im Kugelhagel "ganz mit der Mannschaft fühlen" kann. (LT 447) Empfindungen, dem traditionellen Geschlechterklischee zufolge Frauensache, werden von der Schalek nurmehr als unpersönlich, mediatisiert und damit der Phrase ausgeliefert aufgefaßt. Nicht der eigene Körper ist ihr Quelle der Gefühle, erst der Gemeinschaftskörper des männerbündischen Kollektivs vermag sie zu einer Gefiihlsäußerung hinzureißen: die Metapher hat die ursprüngliche Bedeutung vollständig ersetzt. Eine weibliche Natur gibt es hier nicht mehr; appellieren andere Frauen an ihre Weiblichkeit, muß erst ein Mann der Schalek übersetzen. (L T 288) Einmal weist sie einen noch unerfahrenen Soldaten, der ihre Vorliebe für das "Putzen" von Schützengräben als weiblichen Sinn für Reinlichkeit, mißversteht, erbost zurecht: "Putzen heißt Massakrieren." (LT 585) Der Kamerad ist daraufhin so konsterniert, daß er ausführlichere Betrachtungen über Weiblichkeit im Krieg zitiert: "An solchen Ausartungen der weiblichen Natur können wir nicht schweigend vorübergehen, weil sie manches erklären, was zu den Erlebnissen im Kriege gehört. Diese abstoßende Unweiblichkeit, diese auf der Gasse zur Schau getragene Gemütlosigkeit sind Merkmale ernster Verwilderung." (L T 586) Er fährt fort, daß die Frau, wenn sie aus der Eigenart des Geschlechtes heraustrete, ihre Zartheit abstreife und sich zum Mannweib verunstalte, das zu einer "seltsamen Grausamkeit" neige. (LT 587) Diese ,seltsame Grausam-
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Vgl. die in mancher Hinsicht für das hier Diskutierte anregende Abhandlung Jacques Derridas: Von einem neuerdings erhobenel1 apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ders., Apokalypse, hg. von Peter Engelmann, Graz und Wien 1985. Umkreist wird die Erkenntnis, daß ,Jede Sprache über die Apokalypse auch apokalyptisch ist und sich von ihrem Objekt nicht ausschließen kann." Ebd., 78.
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keit' flößt gestandenen Männern Respekt, aber auch Furcht ein60 , denn in ihrer restlosen Anverwandlung an die Sphäre des Krieges, die sie zum Medium seiner Gewaltakte werden läßt, ist die Schalek nurmehr das Gespenst einer Frau, die sich über die Geschlechterdifferenz erhebt und in ihrer eigenen Substanzlosigkeit auch den Männern das weibliche Andere als Projektionsfläche ihrer Identität entzieht. Ihr Gebaren muß obszön wirken, da es gleichsam das Geheimnis des Weiblichen lüftet, das bis dahin mit dem Index des verborgenen, männlichem Zugriff nie vollständig zugänglichen Anderen versehen gewesen war. Die Offeribarungjedoch konfrontiert den Schauenden mit einem Abgrund, in den er hineinzustürzen droht. Die Verfuhrungskraft dieser apokalyptischen Hure, die innerste Gefühle und sogar das Sterben durch die Phrase ersetzt, kann nur durch das verborgene Potential derselben Sprache gebrochen werden, welches Kraus' Weltkriegs drama an ihr konsequentes Ende treibt. Denn wenn der Nörgler sich als unfreiwilliger und einziger Zeuge der finalen Selbstzerstörung der Menschheit inszeniert, so hat er doch keine Visionen, als die sich vor seinen Augen abspielenden Realitäten, in denen sich seine Prophezeiungen erfüllen (L T 644).61 Als Zeuge ohne Körperkraft (LT 671) und ohne eigene Worte (LT 300) bleibt auch ihm nur das Wiederholen der Phrasen, die er jedoch den Sprechern als den mächtigen Mediatoren einer heillosen Welt entwindet, indem er sie ,auf zwei Beine stellt' (LT 9) und auf seiner ,Weltuntergangsbühne' auftreten läßt: ,,[ ... ] den Gedanken ihrer Dummheit, den Gefuhlen ihrer Bosheit, dem furchtbaren Rhythmus ihrer Nichtigkeit gab ich die Körper und lasse sie sich bewegen." (LT 681) Die Verkörperung der Phrasen im Welt theater entlarvt also zum einen die Al1machts- und Selbstschöpfungsphantasien der Kriegstreiber, indem sie sie als solche in Szene setzt und sie gleichsam in ihrer letzten Konsequenz vorfuhrt. Den Figuren wird, so heißt es, "das Fleisch abgezogen" (LT 680f); anstatt Phrasen zu rezitieren, werden sie selbst zum Abziehbild, zur jeder Individualität entbehrenden Phrase. Die Körperwerdung der Phrasen ist dabei zugleich gewissermaßen selbst ein Schöpfungsakt, die Bühne wird zur Welt, auf der der äußerste Grenzfall zitathaften Sprechens als einer geprobt wird, an dem die Extreme einer vollständig entleerten Sprache und einer reinen, schöpferischen Sprache ineinander umschlagen. Im Akt des Zitierens nämlich, auf dem die Phrase beruht, den sie aber verleugnet, insofern sie mit Macht- und Sinnansprüchen verknüpft ist, taucht eine Körperlichkeit auf, die sich den phantasmatischen Selbstsetzungen entzieht. Dies ist, so deutet es der Text an, die Materialität des Signifikanten, der allein in der Wiederholung präsent wird, die ihn jeder 60
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Vgl. LT 155. Zwei männliche Kriegsberichterstatter verstecken sich, als die Schalek herankommt. Einer sagt zum anderen: ,,[S]chämen Sie sich vor der Schalek." Vgl. auch LT222: "Ich habe keine Überzeugungen."
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Referenzfunktion entkleidet. Die Rhythmisierung und Intonierung der Phrasen sprengt die klassische dramatische Form und produziert, indem sie durch "hundert Szenen und Höllen" (LT 9) fuhrt, eine Handlung, die "unmöglich, zerklüftet und heldenlos" (LT 9) ist, sie setzt aber dennoch einen gemeinsamen "Grundton" (L T 681) frei. Indem sie das nicht enden wollende "Kriegsgetöse" (LT 609) als Mißklang hörbar macht, bricht sie die Geschlossenheit der Zeichenketten auf und schreibt ihnen den Schmerzton der verwundeten, zugrundegerichteten Körper, die sie zu ersetzen und auszulöschen trachten, ein. Walter Benjamin hat die Zitatpraxis von Kraus mit einer ursprünglichen "Engelsprache" in Verbindung gebracht, einer Sprache also, die - von geschlechtslosen Wesen gesprochen -, offenbart, indem sie Kontexte und Sinnzusammenhänge zerbricht62 : "Im rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück, an seinen Ursprung." Ursprung und Zerstörung sind in dieser radikalen Auffassung des Zitats nicht zu trennen. Die Metaphorik des (Zurück-)Rufens, die Benjamin hier verwendet, personifiziert das Wort und betont so einen Überschuß, den es gegenüber der von Menschen instrumentalisierten Sprache der Vermittlung und Verständigung birgt. Bei Kraus ist es der Ton, der diesen Mehrwert birgt, in dem schöpferisches und zerstörerisches Potential der Sprache sich verschlingen. 63 Das "Wesen" dieses Tons wird einerseits mit dem Kult um das Zeichen, der Totalisierung des Supplements durch die "schwarze Magie" der Presse in Verbindung gebracht. Andererseits manifestiert sich in ihm aber der göttliche Körper, der nicht gesehen, sondern nur - gleichsam durch seine Schändung hi.ndurch gehört werden kann. Die Ambivalenz des Tons, der aus Kriegsgetöse und Höllenlärm den Sphärenklang himmlischer Offenbarung entbindet, sucht offenbar gerade jene Figur des Nörglers heim, die privilegierte Zeugenschaft und Souveränität dem Geschehen gegenüber fur sich beansprucht. Einerseits zwar stilisiert der Nörgler den eigenen Umgang mit dem Sprachmaterial, den Einsatz der eigenen Stimme, als Opfer, das Erlösung erhoffen kann, andererseits jedoch nimmt er sich selbst von der Verantwortung fur den Weltunter-
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Walter Benjamin: Karl Kraus, in: ders., Gesammelte Schriften lI/l, hg. von RolfTiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991,443-367, hier: 363. Vgl. LT 421: "Verschlungen ist der Mißton dieses Mordens vom ewigen Gleichmaß sphärischer Musik." Das Verschlingen kann hier sowohl im Sinne einer körperlich-kannibalischen Einverleibung verstanden werden, die auch Benjamin als Charakteristikum der Krausschen Satire hervorhebt (Benjamin: Karl Kral/s, 355), als auch im Sinne eines Ineinanderverwobenseins der Gegensätze. Vgl. hierzu auch Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton ;n der Philosophie [Anm. 59], 79.
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gang nicht aus, da er ja nichts getan habe, als Phrasen zu reproduzieren und sie auf die Spitze zu treiben. Ich habe das Wesen gerettet und mein Ohr hat den Schall der Taten, mein Auge die Gebärde der Reden entdeckt und meine Stimme hat, wo sie nur wiederholte, so zitiert, daß der Grundton festgehalten blieb ftir alle Zeiten. [... ] Dies ist mein Manifest. Ich habe alles reiflich erwogen. Ich habe die Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfallt, auf mich genommen, damit sie der Geist höre, der sich der Opfer erbarmt [.. .]. Er empfange den Grundton dieser Zeit, das Echo meines blutigen Wahnsinns, durch den ich mitschuldig bin an diesen Geräuschen. Er lasse es als Erlösung gelten. (LT 681) Manifestcharakter hat der Text wohl weniger wegen der in ihm vertretenen Meinungen 64 oder der in ihm formulierten programmatischen Thesen. Der Begriff hebt hier eher den Sprech- oder Schreibakt hervor, der sich auf der Schwelle zwischen Selbstaffirmation und Selbstverlust einem Anderen anheimstellt. 65 Das emphatisch auftretende Ich kann den schwankenden Boden, auf dem es Wesenheiten behauptet und Erlösung heischt, kaum verleugnen. Dies wird auch deutlich, verfolgt man die Entdifferenzierung von Mann und Frau, die am Schluß des Dramas noch einmal eine Radikalisierung erfährt. Dort nämlich treten überhaupt keine geschlechtlich unterschiedenen Menschen, sondern nur noch MÄNNLICHE UND WEffiLICHE GASMASKEN auf, monströse Larven, die "Gesicht und Geschlecht" (LT 732) verloren haben. Der fatalen Entdifferenzierung im Weltkriegsdiskurs, die Natur und Kultur, Körper und Zeichen, männliche und weibliche Sphäre ununterscheidbar werden läßt, wird im Krausschen Drama bis zu ihrem Extrempunkt nachgespürt; sie wird keineswegs rückgängig gemacht oder lediglich moralisierend beklagt. Und doch scheint die Allegorisierung der Presse als Hure BabyIon, scheint die Schalek als Personifikation entstellter Ursprünglichkeit nicht zufällig weiblich figuriert. Sie sind es, deren Untergang der Text mit allen Registern betreibt, die Zitation des biblischen Prätextes scheint hier nicht denselben destruktiven und entlarvenden Gestus zu haben wie im Falle der vielen montierten Zitate aus zeitgenössischen Diskursen. Gerade in der Imitation des biblisch-apokalyptischen Tons manifestiert sich offenbar die Phantasie, ein nicht mehr domestizierbares Weibliches - das fur die moderne Bemächtigung des Menschen/ Mannes durch die Technik(en) einsteht - ein fUr alle Mal bändigen zu können, seinen Untergang zu betreiben. 66 64
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Vgl. hierzu auch Benjamin: Kar! Kraus [Anm. 62], 343: "Wie aber Persönliches und Sachliches nicht nur im Gegner, sondern vor allem in ihm selber zusammenfällt, beweist am besten, daß er nie eine Meinung vertritt. Denn Meinung ist die falsche Subjektivität, die sich von der Person abheben, dem Waren umlauf einverleiben läßt." V gl. L T 681: "U nd hörten die Zei ten nicht mehr, so hörte doch ein Wesen über ihnen!" Zum totalitären Impuls der biblischen Apokalypse vgl. Gilles Deleuze: Nietzsehe und Pa/Iltis Lawrence IIl1dJohannes IIon Patmos, in: ders., Kleine Schrttten, Berlin 1980, 97-128: ,,[ ... ] die Apokalypse brauchte eine Vernichtung der Welt, um ihre letzte Herrschaft und ihre himmlische
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Kraus faßt das Wesen der Zeit im Bild einer Frau, die ,unweiblich' ist, insofern sie kein dem Symbolhandeln entzogenes Geheimnis mehr birgt, sondern vollkommen von diesem durchdrungen wird, seine Quintessenz verkörpert. Gleichzeitig jedoch macht sich durch diese entleerte Zeichenhülle hindurch ein Anderes geltend, welches das vom Symbolischen ausgeschlossene Geschlecht der Mutter aufruft. Die Darstellung oder Offenbarung des einen geschieht nicht durch die Überwindung des anderen, sondern beruht auf deren exzessiver Mimesis. Wenn die Sprache bei Kraus ein Weib ist, wie Benjamin ,zwischen den Zeilen' liest67 , so läßt sich dieses doch offenbar nicht eindeutig bestimmen oder positionieren. Der Versuch, sich mit ihr vollständig zu verbinden, sich mit ihrem Körper zu vereinigen, um einer wahren Präsenz des Sagens jenseits alles Ausgesagten innezuwerden, sieht sich der Notwendigkeit gegenüber, Sprache in ihrer Symbolfunktion, als wiederholendes Prinzip zu benutzen und sich damit der ihr eingeschriebenen ursprünglichen Differenz auszuliefern. Das Begehren nach Einzigartigkeit wird mit dem unhintergehbaren Prinzip der Wiederholung konfrontiert, die angestrebte Einheit von Sprache und Körper im idealen, selbst-genügsamen bräutlichen Zeichen, das auch das wiedergefundene Zeichen der Mutter ist, mit der Vielzahl der aufgezählten und zitierten Frauentypen und Weiblichkeitsbilder, von denen keine dem Ich dauerhaft Halt oder Spiegel sein kann. Das Weibliche / die Sprache oszilliert hier also zwischen den Extremen, die dem Ich vollkommene Präsenz versprechen und es andererseits in den Abgrund einer radikalen Leere stürzen, die sich hinter den Maskeraden und Verstellungen der Frauen auftut, die alles, auch männliche Rollenmuster, lediglich imitieren. Gerade indem er unablässig versucht, beide Weiblichkeitsfigurationen, himmlische Braut und babylonische Hure, voneiI+ander zu trennen, die eine zu verwerfen, um der anderen offenbar zu werden, erweist sich der schon in seiner Form monströse Text selbst einer Bewegung aus-
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Festung zu errichten, und nur das Heidentum lieferte ihr eine Welt, einen Kosmos. [... ] Und jener heidnischen Welt, die trotz allem lebendig geblieben war und fortfuhr, mit Macht auf unserem Grunde fortzuleben, schmeichelt die Apokalypse, sie beschwört sie, läßt sie wiederaufsteigen, aber um ihr den Prozeß zu machen, um sie in Wirklichkeit zu ermorden [.. .]." Die heidnische Welt aber bewahrt, wie Deleuze ausführt, die Erinnerung an die Figur der ,großen Mutter', der nun endgültig der Garaus gemacht werden soll: "Die Verwandlung der Frau - die Apokalypse erweist der großen kosmischen Mutter, die zu ihren Füßen von Sonne und Mond eingerahmt wird, noch eine flüchtige Huldigung. [... ] sie wird in die Wüste geschickt, aus der sie nicht mehr entkommt. Sie kehrt nur in der verkehrten Form der Hure von Babylon wieder: noch sitzt sie glänzend aufihrem roten Drachen, der Vernichtung anheimgegeben." (Ebd., 116f) "Die Modernität der Apokalypse liegt nicht in den angekündigten Katastrophen, sondern in der programmierten Selbstverherrlichung, der ruhmvollen Errichtung einer letzten juridischen und moralischen Herrschaft. [... ] Unfreiwillig überredet uns die Apokalypse, daß das Schrecklichste nicht der Antichrist sei, sondern jene neue Stadt, die dem Himmel entstiegen ist, die heilige Stadt, ,bereit, wie eine Braut, die für ihren Gatten geschmückt ist'. Jeder halbwegs vernünftige Leser der Apokalypse fühlt sich schon im Schwefelsee." (Ebd., 114.) Benjamin: Karl Kraus [Anm. 62], 353.
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gesetzt, die keinen Ursprung und kein Ziel hat, sondern vielmehr beide in sich birgt, ohne sie fixieren zu können. Anfang und Ende bestehen aus Zitaten, das kommentierende Subjekt, der Nörgler, kann sich selbst nur durch Wiederholen fremder Rede behaupten. So begegnet die "Hysterie", die er selbst in der verselbständigten Maschinerie der Presse erkannt hatte (LT 676), als herausragendes Merkmal seiner eigenen Rede und darüber hinaus als Merkmal der von Kraus verfaßten Letzten Tage insgesamt. Die Verkörperung von Präsenz und Wahrheit läßt sich von dem Schauspiel eines zitierenden Agierens nicht ablösen, in dem ,alles' auf dem Spiel steht. 68 Schreibt sich der Text durch Bibelzitate selbst in die Tradition der Apokalypse ein, so wird er selbst doch vor allem darin apokalyptisch, daß er die Unterscheidung von Hure und Braut, die den theologischen Prätext organisiert, nicht souverän zu kontrollieren vermag. Der einzige Zeuge, dessen Rede die Grenze des symbolischen Universums markiert, kann seine Setzungen nicht mehr aus dem Weiblichen als dem Unverftigbaren schlechthin ableiten. Vielmehr wird Weiblichkeit selbst als performative Setzung eines entgrenzten Diskurses lesbar, in dem das Ideal selbstpräsenter Körperzeichen und der verworfene Körper (der Hure) als absolut unvereinbare Erscheinungsweisen des Weiblichen auftreten, die sich zugleich zum Verwechseln ähnlich sind. Weiblichkeit erscheint vielmehr in zwei zum Verwechseln ähnliche und doch unvereinbare Erscheinungsweisen gespalten. Von dieser Heterogenität wird der Kraussche Text unablässig heimgesucht. Gerade in der Verknüpfung von Geschlecht und Apokalypse wird die Struktur eines Schreibens erkennbar, das den zeittypischen Versuch zur Schau stellt, die Grenze zwischen den Zeichen und den Körpern zu überschreiten und in der Emphase einer Rhetorik der Selbstschöpfung zum Verschwinden zu bringen. Das apokalyptische Schauspiel, das die Geschlechterdifferenz zuletzt mit dem Auftritt der Gasmasken auslöscht, wiederholt den Gründungsakt des Symbolischen, in dem die Einheit von Zeichen und Dingen / Körpern als uneinholbares Fundament gesetzt, zugleich aber eine andere / dieselbe Körperlichkeit, die diese Einheit bedroht und spaltet, indem sie ihre Gewalt erinnert, verworfen wird. 69 Indem beide Körper mit Weiblichkeit verknüpft werden, die sich letztlich nicht eindeutig fassen, als himmlische Braut oder Wahrheit der Sprache vereindeutigen läßt, fUhren sie den paradoxalen Gestus apokalyptischen Sprechens vor. Dieser nämlich bleibt in seinem Versuch, sich in der völligen Verschmelzung mit dem Anderen als einzigartiger und schöpferischer zu verkörpern, der Materialität zitierter Rede
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Zur Hysterie als entgrenzte, die Ordnung und das Gesetz insgesamt betreffende Simulation vgl. Christina von Braun: Nicht ich - Logik, Lüge, Libido, Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1990,29,73. Zu diesem Zusammenhang vgl. Judith Butler: Bodies That Matter - On The Disctlrsive Limits cf "Sex", London andNewYork 1993, 68-72.
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ausgeliefert, deren Verwerfung niemals vollständig gelingen kann und daher immer aufs Neue vorgeführt wird. Der Diskurs über die Geschlechter erscheint hier also im Modus des Apokalypse, wie auch die apokalyptische Kriegsrhetorik in den zeitgenössischen Geschlechterdiskurs verschränkt ist. Radikale Sprachschöpfung erscheint als eine, die Sprache als Körper gebiert, die mithin eine neue Welt ohne alle Differenz erstehen läßt. Aber diese Körper sind zugleich Spaltungen und Verwerfungen ausgesetzt, die die Fixierung eines weiblich-mütterlich konnotierten Ursprungs unmöglich werden lassen, womit sie traditionsreiche Gründungsmythen männlicher Selbstbehauptung zur Disposition stellen.
IV. Arnold Zweig und der groteske Körper der Europa Zweigs Roman Junge Frau von 191470 stellt denjenigen Teil seines Romanzyklus' über den "Großen Krieg der Weißen Männer" dar, der vor allem die ,Heimatfront' und das sich verändernde Verhältnis der Geschlechter in den Blick nimmt. Dem männlichen Protagonisten erscheint der Krieg auch hier zunächst als großes Ereignis, das die erstarrte Gesellschaft zu neuem Leben erwecken und die Vereinzelung der Menschen aufzuheben verspricht. Der Schriftsteller und Bohemien Werner Bertin gibt dem Druck, den das Leben als Soldat auf ihn, den unkörperlichen und orientierungslosen Intellektuellen ausübt, widerstandslos nach. Er genießt die "Lust, Teil eines riesigen Gesamtkörpers zu sein" und mit dem Männerbund "zu einer Einheit" zu verschmelzen. UF 41) Gleichzeitig spürt er die neue Kraft, die das Soldatenleben ihm durch die Kräftigung seines eigenen Körpers verleiht: "Ferne und Fremde müssen einen Mann aus ihm machen, oder er wird nie einer." UF 109r l Im selben Maße, wie er sich durch den vom Krieg gestählten Männerkörper an seinen Platz gestellt und gegen Einflüsse gepanzert fühlt, die seinem Ich bedrohlich werden können, zerstört er jedoch die Liebesbeziehung, die seine Existenz vor Kriegsausbruch wesentlich prägte. Hatte die partnerschaftliche Gemeinschaft zwischen ihm und seiner Freundin Lenore zuvor jenseits der bürgerlichen Ordnung eine neue Form nur individuell beglaubigter Bindung erprobt, so wird diese nun ebenso wie die bürgerlichen Rituale der Werbung und der Ehe vom Krieg radikal hinweggefegt. n
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Arnold Zweig:Junge Frau von 1914, Berlin 1995. Der Roman entstand zwischen 1928 und 1931, dem Jahr seiner Erstveröffentlichung. Im folgenden wird auf diese Ausgabe im Text mit der Sigle JF verwiesen. Vgl. auch ebd., 11: "Immer mehr Spannkraft und Erwartung bebte in seinen Muskeln." Vgl.JF 339: "Die Sitten des bürgerlichen Lebens bröckelten ein, wenn man so rücksichtslos mit ihnen umging, die von Vätern und Vorvätern her alle Beziehungen zwischen den Menschen sinnvoll regelten. [... ] alles brach ein: Ehe, Sitte, Ordnung, Eigentum. Der Krieg befruchtete das Geschäft; [... ] unterwühlte er etwa gleichzeitig seine Grundfesten, die bürgerliche Welt?"
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Dies findet im Text seinen Ausdruck vor allem in einer kurzen Szene, in der Bertin die Freundin, die ihn bei seiner Einheit besucht, ,Befehle zischend' vergewaltigt. In diesem Moment beginnt Lenores Leidensgeschichte, denn als sich herausstellt, daß sie schwanger ist, wird sie von Bertin mit der Abtreibung und ihren Folgen fast völlig alleingelassen. Sein Beitrag erschöpft sich in dem Versuch, ihr Leiden vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens zu relativieren, es in einem größeren Sinn aufgehen zu lassen: "Was du durchgemacht hast, ist schrecklich; aber die Erde, von weit schrecklicheren Wehen geschüttelt, gebiert ein neues Weltgefuhl, neue, groß aufwärts fuhrende Schöpfermächte; wir können uns nicht bei uns aufhalten." (jF 140) Und doch spürt Bertin, daß der Schmerz der Freundin die Grundlage seiner Sinngebungen in Frage stellt. Den widerstreitenden Anforderungen, die die verschiedenen Schauplätze, auf denen er gefragt ist, an ihn stellen, ist er offenkundig nicht gewachsen. Unfähig, "Übereinstimmung zwischen den beiden Tatsachen, die ihn auseinanderreißen " (jF 100) herzustellen, wendet er sich den Identifikationsangeboten des Männerbundes zu und von der Welt der Frau, in die er gleichsam den Krieg hineingetragen hat, ab. Der Krieg, so zeigt sich auch hier, ist exzessiv geworden: Er läßt sich nicht mehr auf einem begrenzten Kriegsschauplatz überblicken, sondern greift in seiner Gewalttätigkeit auf die heimatliche Sphäre über, die ihm ursprünglich als zu schützende und zu verteidigende Sinn und Zweck verliehen hatte. Dabei usurpiert und verdrängt die Metapher der sich neu gebärenden Schöpfung zum einen die Gebärfähigkeit der Frau, zum anderen aber wird das Zerstörerische dieser Geschlechterapokalypse beschrieben. Im Roman wird das Zitat aus der Apokalypse des Johannes einer Frau, der Hebamme, in den Mund gelegt. Kurz vor der Abtreibung malt diese Lenore aus, daß das christliche Europa seinem Ende nah sei: Und wenn sie Bescheid wissen wolln [... ], denn nehmen Sie man die Apokalypse vor. Das steht es und beim Propheten Daniel. [... ] Und ich sahe ein Weib auf dem Drachen sitzen, und desselbigen Weibs Gewand war rosinfarben, und hatte drei Köpfe und drei Kronen, und desselbigen Weibes Anblick war furchtbar, und hatten mit ihr gehuret die Könige der Erde." (JF 111) Kurz nach dem Eingriff phantasiert sich Lenore daraufhin selbst als liegende "Göttin Europa" , "deren Glieder gegeneinander wüteten und sich zerfleischten, den Keim der Zukunft ausreißend in ihrem Innern. (JF 126)
Die Allegorie greift eine bereits zuvor geschilderte Szene auf, in der Lenore den Krieg als Gewaltexzeß erkennt, in dem die einzelnen "Vaterländer über das große Mutterland Europa" herfallen, es knechten, entmachten, "in Nacht drück[]ep., nachdem sie mit ihm gehurt und ihre Kraft aus ihm hundertfach gezogen" haben. (jF 122) Auch in diesem Bild wird die Exzessivität der Gewalthandlungen deutlich, da sich diese offenbar nicht mehr einfach gestaltend, zurichtend, vielleicht auch verletzend auf die Materie beziehen,
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sondern diese offenkundig ganz und gar zu erschöpfen scheinen. Der Austritt aus der bürgerlichen Geschlechterordnung, den ihre voreheliche sexuelle Beziehung mit Bertin fur Lenore bedeutet, ist fursie nicht der erste Schritt zu ihrer Befreiung als Frau, sondern liefert sie rohen Kräften aus, die das Weibliche nicht mehr als Differentes behandeln und in ihre Sinnordnung integrieren, sondern auf seine Vernichtung abzielen. Dafur steht das wiederholt angefuhrte Bild von dem ins Innere des weiblichen Körpers eindringenden Krieg: "Sie hatte sich der Gewalt ausgeliefert, eingebrochen in sie wüteten nun die Folgen der Gewalt - vom Stiergott geraubt, unterjocht von der Männlichkeit, die zeugte und das Gezeugte zertrampelte, mit den Hörner die Erde aufwühlte." UF 126) Die Allegorie der geschändeten Europa, die etwa barocke Vorstellungen der im Dreißigjährigen Krieg mißbrauchten ,Frau Welt' aufruft, erscheint hier als konventionelles Darstellungsmittel eines Romans, dessen mehr oder weniger deutlich entschlüsselbare Botschaft sich aufdrängt: das christlichbürgerlich-kapitalistische Abendland kämpft seinen Endkampf; echte Emanzipation kann es nur auf kollektiver, internationaler Ebene geben. Doch auch wenn der Text die Unterordnung des Erzählten unter eine suggerierte Deutung selbst massiv betreibt, was die Lektüre zu einem sehr zweifelhaften Vergn ügen mache 3 , so bleibt doch die Engfuhrung von Weiblichkeit, Allegorie und Krieg einer näheren Betrachtung wert. Kreuzungspunkt der widerstreitenden Erzählstränge und Bildlichkeiten, die das narrative Gefuge immer wieder auseinanderbrechen lassen, ist die Figur Lenores, aus deren Perspektive über weite Strecken erzählt wird. Zum einen ist sie das passive Opfer der Vergewaltigung wie auch bloßes Material fur die erzählerische Konstitution einer apokalyptischen Weltkriegsallegorie. Zum anderen jedoch is~ sie eine ,neue Frau', die ihre Selbständigkeit erprobt und zuletzt auch insofern beweist, als sie es ist, die Bertin auf Heimaturlaub holt, um ihm einen Heiratsantrag zu machen und die alles Erforderliche fur die Hochzeit in die Wege leitet. 74 Die Schluß sequenz schildert eine kitschig-konventionelle "Hochzeit in Rosen", gestiftet von der "kindlich reine[n] Seele einer jungen Frau", die nichts als "opfernde Liebe" verkörpere. UF 364f) Dieser überhöhten weiblichen Gestalt, die auch noch den männlichen Part übernimmt und verkörpert, steht jedoch - im Roman unvermittele s - jene andere Figur gegenüber, deren benutzter Körper zum Schauplatz aller Gewaltexzesse
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Es überrascht nicht, daß der Roman von seiten der Literaturwissenschaft kaum Beachtung gefunden hat. Vgl.JF 337: "Sie hatte ihn herausgeholt - sie ihn; sich mit ihm verlobt, jetzt heiratete sie ihn. Sie ihn - und niemand ahnte irgend etwas." Zur Kritik am Schluß des Romans und einer vermeintlich "laue[n] Botschaft Zweigs" vgl. Sigrid Thielking: "Er warb nicht mehr um mich, er kommandierte ... " - Zu Amold Zweigs Roman Junge Frau von 1914, in: Krieg und Literatur 3 (1991), H. 5/6,298-309, hier: 306.
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geworden ist, denen sich die abendländische Kultur im Weltkrieg hingibt. Damit ist es dieselbe Figur, die am Ende des Romans alle Brüche in einer idealen Weiblichkeit zu transzendieren scheint und die zuvor von exzessiver Gewalt zerstört worden war. Indem sie mit dem Bildreservoir der biblischen Apokalypse in Verbindung gebracht wird, erscheint sie darüber hinaus als Hure BabyIon, die die Exzesse nicht nur erleidet, sondern verkörpert. Die impliziten und passagenweise wörtlichen Anspielungen auf die Apokalypse des Johannes kehren zugleich die Differenz hervor. Denn im biblischen Prätext werden zwei radikal verschiedene Weiblichkeitsbilder gegenübergestellt, "die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden "76 und die "heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabgekommen, bereitet wie eine geschmückte Braut fur ihren Mann". 77 Das große Gericht bedeutet den endgültigen Fall der Hure und die Ankunft der himmlischen Braut auf Erden, wobei ihre vollständige Trennung als ein Endkampf figuriert wird, der ein fiir alle Mal menschengemachten Schein, Verstellung und Verfiihrung überwindet. 78 Wiederkehrende Bilder restloser Vernichtung sind vor allem die des alles verzehrenden Brandes, aber auch der körperlichen Einverleibung, die keine Spuren zurückläßt. 79 Letztere erinnert an die christliche Symbolisierungspraxis des Abendmahls, die immer wieder aufgerufen wird, wenn der Text an die Erlöserfunktion des geschlachteten Lamms erinnert. 80 Das Anbrechen des göttlichen Reiches auf Erden jedoch bedeutet das Ende des Stellvertreter-Prinzips, welches das christliche Opfer in einer noch unerlösten Welt dargestellt hatte. Im jüngsten Gericht wird das Blutvergießen exzessiv, das Meer und die Wasserquellen werden zu Blut, das die Verdammten trinken müssen. 81 Andererseits vermählt sich das Lamm mit der himmlischen Braut und erscheint als göttliche Präsenz auf Erden, die sich in transparenten, makellosen Zeichen bekundet. Das geopferte Lamm verweist mithin nicht mehr auf eine abwesende Göttlichkeit, vielmehr wird seine Wiederkehr nun zur Chiffre fur eine Materialisierung des Göttlichen, die die Aufhebung der Differenz von Himmel und Erde impliziert. 81 Die chiliastische 76 77
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17,4. (Zitiert wird nach der Luther-Bibel.) 21,2. Vgl. die ausfiihrlichen Schilderungen der Kleider und des Schmuckes, durch die die Hure Babyion charakterisiert wird, QtJb. 18,11-16. Vgl. QtJb. 17,16: "Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, und das Tier, die werden die Hure hassen und werden sie ausplündern und entblößen und werden ihr Fleisch essen und werden sie mit Feuer verbrennen." Später ist von dem "Mahl Gottes" die Rede, zu dem die Vögel geladen werden, um "das Fleisch der Könige und der Hauptleute und das Fleisch der Starken und der Pferde und derer, die darauf sitzen, und das Fleisch aller Freien und Sklaven, der Kleinen und Großen'~ zu essen. QtJb. 19, 17f. Vgl. z.B. QtJb. 1,5; 5,12; 7,14. QtJb. 8,8; 14,20; 16,6; Vgl. die Beschreibung des himmlischen Jerusalem als reiner Wert: "Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen Perle, und der Marktplatz der Stadt war aus
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Vision der Offenbarung verspricht mithin die Geburt göttlicher Präsenz aus der restlosen Vernichtung einer menschlichen Welt, in der Zeichen und Dinge nicht zusammenfallen und die stets vom Abfall vom Wahren, Göttlichen, von der Verselbständigung des Scheins und der Supplementarität bedroht ist. Zweigs Weltkriegsroman dementiert diese apokalyptische Sinnfigur, indem er seine weibliche Protagonistin mit den beiden konträren Frauengestalten der Offenbarung gleichermaßen verknüpft. Lenores Körper ist zuletzt der bräutliche, der alle Differenzen transzendiert und der als Sinnbild ,schöpferischer Liebe' (jF 365) über sich selbst und das Katastrophenszenario des Weltkrieges hinausweist. Gleichzeitig bleibt er von der Gewalt gezeichnet, die auf die Vernichtung alles Weiblich-Differenten und die Verabsolutierung eines von Männern erkämpften Gemeinschaftskörpers abzielte. Der Schein einer friedlichen Gemeinschaft, in der sich die Geschlechter harmonisch zu einer Einheit ergänzen ("die Hauptsache ist, daß jeder von uns wieder die Hälfte des anderen wird" UF 284]), wird zuletzt zwar von Lenore beschworen, zugleich kann die Schlußszene die zwischen den Geschlechtern aufgebrochene Gewalt nicht ungeschehen machen oder heilen. Anders als bei Kraus und doch strukturell ähnlich entzieht sich der weibliche Körper offenbar der allegorisierenden Sinnstiftung, indem er mit Schöpfung und Zerstörung zugleich verknüpft wird. Die Verkörperung des Göttlichen, die phantasmatische Realisierung einer präsentischen Unmittelbarkeit, die in der Bibel mit dem himmlischen Jerusalem verknüpft wird, bleibt hier an die Zerstörung des idealen, göttlichen Körpers geknüpft. Bereits in früheren Episoden wird die Körperlichkeit des monotheistischen Gottes in Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen ausdrücklich ins Spiel gebracht. Nachdem er die vielen Götter früherer Völker gefres.sen habe, so heißt es dort, streite er nun "an allen Fronten gegen sich selbst, wüte[] mit hundert Armen gegen sein eigenes Gebein aus Seele, Gebet, Geist und Glauben" (jF 124). Im Gegensatz zur Version der Bibel bedeutet die Körperwerdung Gottes hier also nicht das glanzvolle Erscheinen des Messias, denn dieser Körper ist kein Zeichen, dessen Opferspuren auf einen Akt der Stellvertretung - des Opfers des einen fur alle - hindeuten. Der fleischgewordene, gierig begehrende Gotteskörper richtet seine Gewalt vielmehr gegen die eigene Totalität. Im Roman bringt die Totalität des Krieges, der auf die restlose Unterwerfung und Aneignung der Differenz, des Weiblichen und der Natur, abzielt, den Gegensatz von väterlichem Gott und mütterlicher Erde zum Verschwinden. So wird der Krieg als Selbstzerstörungswerk, das den göttlichen Körper zum Vorschein bringt als einen, der sich selbst zerstört, auch auf weibliche Körperlichkeit bezogen: "Als rundgeschwollener trächreinem Gold wie durchscheinendes Glas. Und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm." Qffb. 21,21f
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tiger Bauch rollte er durchs Weltall [... ] ununterbrochen empfing sie, diese Mutter Erde, spie ein [sic!] Strom von Geschöpfen aus ihrem Schoß und verschlang sie wieder, schluckte sie in den großen Schlund der Grüfte ein, der sie auch war." UF 182) Diese monströse Bildlichkeit erinnert an Erscheinungsweisen des grotesken Körpers in Renaissance und Volkskultur, wie sie Bachtin beschrieben hat. Demzufolge zeichnet sich der groteske Leib dadurch aus, daß er "kosmisch und universal"B3 ist, "die ganze Welt zu ftillen vermag" und daß er jede Individualität abgelegt hat. Als "befruchtend-befruchteter, gebärend-geborener, verschlingend-verschlungener"B4 läßt sich dieser Leib keinem Geschlecht eindeutig zuordnen. In ihm verschränken sich die Gegensätze, werden Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Tod zu Aspekten derselben unaufhörlichen Bewegung, die in ihrer nicht-transzendierbaren Immanenz jeden Körper zur hybriden Figur werden läßt, die ihren Untergang in sich trägt. Wie die Volkskultur sich gegenüber der offiziellen Kultur, der es auf die Errichtung von Grenzen, auf die Bestätigung individueller und staatlicher Autonomie sowie auf die Affirmation des einen, unkörperlichen Gottes ankam, subversiv verhielt, unterlaufen die grotesken Körperbilder in Zweigs Kriegsroman die Phantasmen der oben beschriebenen Kriegsrhetorik. Wird der Krieg durchaus als totalitäres Unternehmen mit dem Ziel beschrieben, das Weibliche, Andere zu usurpieren oder zu verwerfen, so bildet der weibliche Körper als ambivalenter, keiner eindeutigen Zuschreibung zu unterwerfender zugleich den zentralen Fluchtpunkt des Textes. Als Verkörperung der angestrebten Totalität (der Welt, der Erde) differiert er von sich selbst, er ist das absolute Zeichen, als das die himmlische Braut der Bibel gefeiert wird, und ist doch zugleich einer Gewalt unterworfen, die ihn in seiner Gesamtheit betrifft und die nicht - im Sinne einer Opferstellvertretung - distanziert bzw. in ein Symbolgefiige überfuhrt werden kann. Wenn auch der Roman gelegentlich Weiblichkeit mit Vorstellungen ursprünglicher Unschuld verknüpft und im Verweis auf matriarchale Strukturen ein Jenseits der als durch und durch verrohten Zivilisation aufscheinen läßt85 , so dominiert doch insgesamt der Eindruck einer Ambivalenz von Natur
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Michail M. Bachtin: Literatur ul1d Karneval - Zur Romalltheorie ul1d Lachkultur, Frankfurt a. M. 1990,18. Ebd.,19. Vgl.JF 184. Lenore stellt hier, wenn auch letztlich ohne Konsequenz, patriarchale Setzungen in Frage, indem sie die Rede von der "Vorherrschaft des Mannes" als Täuschung entlarvt: "Grub man aber unter dieser Oberfläche, wie wandelte sich da der Anblick! Ein Sonnengott, Moloch, regierte die Erde, aber erst seit der Entthronung der Frauen, Töchter der Mondgöttin. In den uralten Grabkammern weiser Völker las man noch Spuren ihrer Herrschaft ab, aus den Mythen klagte es um die abgesetzte Mutter. Die Bünde der jungen Männer hatten die Welt unters Zeichen des Schwertes gestellt und die Frauen unteIjocht, zu Trägerinnen schwangerer Bäuche und hängender Euter erniedrigt - sie, die den Ackerbau erfunden hatten, Städte gegründet, Gewebe
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und Krieg, Ursprung und Gewalt, den die beschriebenen Bilder evozieren. Indem das zentrale Körper-Zeichen Reinheit und Zerstörung symbolisiert, dementiert es die Apokalypse als christlich-patriarchale Sinnfigur, die sich über die endgültige Verwerfung der im Bild der Hure aufbewahrten Differenz konstituiert. Der Roman gibt so die zerstörerische Gewalt zu lesen, die jene Kriegsrhetorik verbirgt, welche die Kämpfe als endzeitlichen Schöpfungsvorgang überhöht. Man könnte sogar sagen, daß sich diese Gewalt auch in der Textstruktur selbst, in ihren Brüchen und Widersprüchen kenntlich macht. Der Versuch Zweigs, das Weltkriegsgeschehen mit Hilfe einer weiblichen Figur zu deuten, es darüber hinaus sogar aus weiblicher Perspektive zu deuten, kann sicherlich in vielerlei Hinsicht als gescheitert betrachtet werden. Allerdings ist gerade das Auseinanderfallen der Perspektiven und das inkohärente Nebeneinander von Weiblichkeitsallegorien, die in der christlichen Apokalypse-Erzählung radikale Gegensätze bilden, aufschlußreich. Denn anstatt eine endgültige Unterscheidung zwischen beiden herbeizuführen, betreibt offensichtlich die Rede von der Totalisierung des Krieges die Auflösung ihrer Differenz. Das aber bedeutet, daß die Realisierung oder Verkörperung idealer (quasi-göttlicher) Selbstbilder nicht mehr durch allegorische Weiblichkeit (himmlische Braut, heiliges Jerusalem) garantiert werden kann. Indem mit ihnen immer zugleich ihre jeweilige Kehrseite zutagetritt, werden alle Sinnbilder, Identitäten und Weltdeutungen von einer Differenz heimgesucht, die sie auf die gewaltsame Szene ihrer Setzungen zurückverweist.
erschaffen, Flechtwerk aus Weidenruten gelehrt, Töpfe geformt, Speisen bereitet und die Kinder erzogen."
Tim Mehigan "ORDENTLICHE KUNST"
Zum Motiv der Apokalypse in Goethes Wahlverwandtschaften und Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall Das Leben kein Argument. - Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können mit der Ausnahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.
Friedrich Nietzsehe
1. Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist es, mit Blick auf die ungebrochene Aktualität und Wichtigkeit der Apokalypse als Thema und Motiv in der Literatur1 zwei Texte miteinander zu kontrastieren: Goethes Wahlverwandtschaften aus dem Jahr 1809 und Thomas Bernhards 1986 veröffentlichten Roman Auslöschung. Ein Zerfall. Interessant an beiden Texten ist der Gebrauch der Vision einer Endzeit wie auch der Logik des Endens - Goethe vom Standpunkt des beginnenden Lebens und der Schöpfungsproblematik her, Bernhard vom Problem des Todes ausgehend. Diese beiden Autoren beziehen zum Thema ,Endlichkeit' scheinbar entgegengesetzte Positionen: Goethe folgt der Identitätsphilosophie Schellings, die die Unendlichkeit der idealen Schöpfung darstellen möchte 2 ; Bernhards "Auslöschungsprojekt" beabsichtigt dagegen nichts weniger als die gänzliche Vernichtung jeden Willens zum Unendlichen. Der Idee der mit der Unendlichkeit zusammenfallenden idealen Schöpfung in Goethes Roman, dem ein positiver Konstruktionswille zugrundeliegt, steht bei Bernhard die negative Idee des Willens zur Vernichtung gegenüber, der die Bausteine des Absoluten nicht konstruieren, In ihrem 1986 erschienenen Sammelband zum Thema ,Apokalypse' reden Grimm, Faulstich und Kuon beispielsweise von einem Paradigma, das in den siebziger und achtziger Jahren aufgegriffen und refunktionalisiert wurde. Vgl. Apokalypse - Weltuntergangsvisionen des 20. Jahrhunderts, hg. von Gunter E. Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon, Frankfurt a. M. 1986. Vgl. Tim Mehigan: Zur Frage der Selbstorganisation des Organischen in Goethes literarischem Experiment "Die Wahlverwandtschaften", in: Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert. Festschrift fiir Christian Grawe, hg. von Tim Mehigan und Gerhard Sauder, St. Ingbert 2001, 18-24.
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sondern Stück rur Stück (wieder) auseinandernehmen möchte. Darüber hinaus sind beide Werke ausdrücklich aufeinander bezogen. Der Lehrer Franz]oseph Murau kündigt nämlich zu Anfang der Ausläschung gegenüber seinem Schüler Gambetti seine Intention an, sich "das nächste Mal mit ihm über die Wahlverwandtschaften [... ] auseinanderzusetzen" (A 8? Die Signifikanz dieses von Murau angesprochenen Bezugs liegt vor allem in der zentralen Bedeutung des Motivs der Apokalypse 4 in beiden Werken.
I1. Am Anfang des 19.]ahrhunderts in einer für Goethe persönlich schwierigen Zeits entstanden, sind die Wahlverwandtschaften keinesfalls nur als Eheroman 6 Zitate in Klammern mit der Sigle A und nachfolgender Seitenangabe beziehen sich auf folgende Ausgabe: Thomas Bernhard: Ausläschung. Ein Zerfall, Frankfurt a. M. 1988. In der Qffenbanmg desJohannes, einem Buch des Neuen Testaments, werden das Aufsteigen der gläubigen Christen in den Himmel, das Reich des Antichristen, der die Welt bis zur Wiederkehr Jesu beherrscht, die Schlacht von Armageddon und die Gründung des neuen Hinmlelreichs und der neuen Erde beschrieben. Apokalyptische Vorstellungen und Motive in der Literatur stützen sich in der Hauptsache auf den in diesem Buch geschilderten Kampf zwischen Gut und Böse, der dem Sieg Christi über Satan und dem damit ermöglichten Millennium des Friedens vorausgeht. Hans Jürgen Geerdts hat die Wichtigkeit des Todes Schillers für Goethe hervorgehoben (Goethes
Roman "Die Wahlverwandtschaften (( - Eine Analyse seiner künstlerischen Struktur, seiner historischen Bezogenheiten und seines Ideengehaltes, Berlin 1966, 13-18). Darüber hinaus muß die Situation in Deutschland im beginnenden 19. Jahrhundert, insbesondere die Niederlage von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 gegen Napoleon, Goethe sehr zu schaffen gemacht haben: "Diese Niederlage des preußischen Heeres war nicht irgendeine. Nicht nur für Preußen, auch für die mittel- und norddeutschen Territorien, deren Vormacht Preußen war, schien das Ende der politischen Handlungsfähigkeit gekommen. Eine lange Friedensepoche, eine Phase ruhiger Bildungsmöglichkeit und Kultivierungsarbeit war abgerissen: ,Alles von Jugend und Kindheit auf ward genöthigt, sich anders zu bilden; da es denn auch in einer tumulthuarischen Zeit an Verbildung nicht fehlte', schrieb Goethe noch Jahre danach." (Werner Schwan: Goethes "Wahlverwandtschaften" - Das nicht erreichte Soziale, München 1983,252.) Die Forschung zu den Wahlverwandtschqften ist sich einig, daß die Eheproblematik den zentralen Aspekt des Romans darstellt. Allerdings sind hierzu weit auseinanderliegende Deutungsschwerpunkte gesetzt worden. Die Parteinahme für die Ehe als Institution besonders in der frühen Rezeption des Romans (vgl. Oskar Walzel [1906]: Goethes "Wahlverwandtschaften" im Rahmen ihrer Zeit, in: Goethes Roman "Die Wahlverwandtschaften", hg. von Ewald Rösch, Darmstadt 1975, 35-64; bes. 46) spricht der Naturnotwendigkeit, die in dem chemischen Experiment diskutiert wird, jede für die Menschen gültige Wirkungskraft ab. Sieht man wiederum in der Natur eine für die Menschen wirksame Kraft, so scheint die Alleinherrschaft des Sozialen für ein Verständnis der Handlungen der Menschen zurückzutreten. Daher haben manche Kommentatoren, die diesen Standpunkt vertreten haben, dem Dichter eine zwischen die Macht der Natur und die Notwendigkeit des sozialen Lebens gespannte tragische WeItsicht bescheinigt (vgl. Andre Franyois-Poncet: Der sittliche Gehalt der" Wahlverwandtschqften ". Das Schicksalhafte [1909], in: Goethes Roman " Die Wahlverwandtschaften", 65-89). In derjüngsten Forschung hat man das Problematische der Ehe als Institution in den Vordergrund gerückt. "Heute", so Werner Schwan, "wo vieles von den überlieferten Deutungsmustern mit Skepsis betrachtet wird, gibt man sich gegenüber der Eheproblematik zumeist betont unlustig, so, als gelange auf diesem Weg allenfalls das Unmoderne des Romans in den Blick. Man sieht in ihr gern eine Vordergrundschicht, hinter der sich Gravierenderes verberge, z.B. das psychoanalytisch erforschbare Ungenügen der
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zu verstehen. Vor dem Hintergrund der um die Jahrhundertwende gefuhrten großen Naturdebatte geschrieben, handelt der Roman von den Bedingungen idealer Liebe. Eduard, ein "reiche[r] Baron im besten Mannesalter" (WV 7f, dem die Frage der Liebe um so wichtiger geworden ist, weil seine Ehe schon so lange währt, faßt eine heftige Neigung zu Ottilie, der elternlosen Nichte seiner Frau. Ottilie wird auf das Landgut geholt, nachdem Eduard und Charlotte - Eduards Frau - Ottilies mangelnde Fortschritte in der Schule mitgeteilt werden. Es trifft sich, daß sich Eduard schon einige Zeit mit dem Gedanken trägt, seinen guten Freund, den Hauptmann, ebenfalls zu sich auf das Landgut zu holen. Charlotte, die sich mehr Ruhe und Zeit fur sich selbst wünscht, kostet es einige Selbstüberwindung, Eduards Plan fur den Hauptmann gutzuheißen. Nach nicht überlangem Besinnen willigt sie jedoch in den Plan ein und findet schnell den Hauptmann so interessant wie Eduard die kleine Ottilie. So kann es schon im vierten Kapitel zu der chemischen Gleichnisrede kommen, in der die um die Jahrhundertwende so umstrittene Frage des Verhältnisses zwischen Kultur und Natur thematisiert wird und die dem Roman seinen Titel gibt. Dieser Gleichnisrede zufolge verhalten sich die Menschen in der Liebe wie die chemischen Elemente der Natur. Daß sich manche Menschen stark zueinander hingezogen fühlen, unabhängig davon, ob sie bereits in festen Beziehungen stehen, hat eine natürliche Basis - es ist die Chemie der Natur, die Chemie der inneren Natur der Menschen. Dieses Verhalten verläuft nicht nur analog den Naturgesetzen, es kann gleichzeitig als Zeichen rur einen höheren Plan verstanden werden, der über den Menschen steht und ihnen als solcher nicht zugänglich ist. Bereits Immanuel Kant hatte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in seiner Kritik der reinen Vernunft davon überzeugt, daß es dem Verstande der Menschen nicht gegeben ist, dem transzendentalen Aspekt dieser überweltlichen Berechnung auf den Grund zu sehen. 8 Was schon immer ein Problem rur die Menschen war - das Verständnis ihrer eigenen Motivation in der Liebe - soll hier Aufklärung erfahren, und zwar Beziehung zwischen Eduard und Ottilie." Vgl. Schwan: Goethes Wahlverwandtschq{ten (( [Anm. 5], 71. Zitate in Klammern mit der Sigle WV und nachfolgender Seitenangabe beziehen sich auf folgende Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlvem,andtschq{ten. Ein Roman, München 1997. Diese Ausgabe entspricht in Text und Anhang vollständig der von Erich Trunz betreuten }J
Hamburger Ausgabe. Kants "den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt[e]" Fragestellung ist folgende: der Ehrgeiz, nach der Beschaffenheit der Gegenstände zu fragen, müsse fehlschlagen, weil es uns nicht "gegeben" sei, die wahre Gestalt der Gegenstände zu erkennen; statt also nach den Gegenständen selbst· zu fragen, müssen wir nun nach unserer Etfohrung der Gegenstände fragen, und zwar deshalb, "weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert". Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956, Vorrede zur zweiten A"fflage, 19-20.
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dank einer zunächst einfach erscheinenden Idee: Freiwillig eingegangene Verbindungen entstehen so ,natürlich', wie sich bestehende Verbindungen unter dem Druck neuer Umstände auflösen. Mit dem Augenmerk auf diese fur Naturelemente und fur Menschen geltende zwingende Logik kommentiert Eduard, sich seiner eigenen Lage durchaus bewußt: "die' Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken" (WV 38). Die Antwort auf die Frage, warum es unter den Menschen zu Scheidungen und neuen Verbindungen kommt, auch bei ungünstigen Bedingungen, wo entgegengesetzte Elemente aufeinandertreffen, wäre somit in jedem Fall auf der Ebene der übersinnlichen Natur zu suchen, denn, wie Charlotte hinzufugt, gerade "entgegengesetze Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung möglich" (WV 38). Die innere Beschaffenheit der Natur, die Gründe fur das mal regelbedingte, mal sich unregelmäßig ausnehmende Verhalten der natürlichen und menschlichen Elemente ist Goethes Thema. Natur und Kultur, Kunst und Leben - schon zu Goethes Zeit getrennte Gebiete - sollen aneinander angenähert, ja miteinander gleichgesetzt werden, und zwar über das Mittel der Wissenschaft der Natur. Es geht in den Wahlverwandtschaften daher um nichts weniger als die Geburt der Idee der Wissenschaft aus dem Geist der materiellen Natur, und Goethe macht ganz in diesem Sinne von der Chemie seiner Zeit Gebrauch, um die Möglichkeit dieser Zusammenfuhrung von Natur und Kultur einer gebührenden Analyse zu unterziehen. 9 Goethes literarisches Experiment der Wahlverwandtschaften, dem die programmatische Intention zugrundeliegt, Kunst und Leben zusammenzufuhren, entzündet sich nun an einem Akt der Schöpfung, der, obwohl im Realen verankert, so doch in der Phantasie entsteht. So ist im ROl1).an bald von einer Schwängerung die Rede, die als magische Verbindung aller menschlichen Elemente der Vierer-Konstellation konzipiert ist (d.h. Eduard, seine Frau Charlotte, der Hauptmann und Ottilie). Der externen, bloß körperlichen Paarung von Eduard und Charlotte, die die Schwängerung im technischen Sinne ermöglicht, liegt eine innigere Paarung zugrunde: Eduard, so heißt es dort, umarmt Charlotte, obwohl sein geistiges Auge nur Ottilie sieht, und Charlotte nähert sich in Gedanken dem Hauptmann, obwohl es Eduard ist, den sie eigentlich festhält. In der Sprache dieser Gleichnisrede, die sich als ,~oppelter Ehebruch' verstehen läßt, verbinden sich Eduard - das ,A' des chenVschen Experiments - und Charlottes ,B' daher nur äußerlich. Der Akt der Schöpfung, der zu der Geburt des Kindes Otto im zweiten Teil fuhrt und den die Wahlverwandtschaften als Experiment zur Geltung bringen sollen, verdankt sich nicht der Logik der alphabetischen Ordnung, sondern der geheimnisvollen Rechnung der Natur. Demzufolge verbinden sich 9
Gerade dieser materielle Aspekt war es auch, der Goethes Zeitgenossen an dem Roman störte.
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Eduards ,A' und o ttilie , "das Dämchen D", Charlottes ,B' und das ,Co des Hauptmanns (d.h. AB + CD wird zu AD + BC) - ein Vorgang, über den nur die aufkeimenden Wissenschaften der Menschen Aufschluß zu geben in der Lage sind. Zugegeben: Es gibt an dieser Vorstellung idealer Vereinigung etwas, was dem modernen Verständnis nicht recht einleuchten will. Befremdlich an Goethes Projekt scheint aus unserer Perspektive der Ehrgeiz zu sein, den Menschen die Vorzüge der Chemie vor Augen zu fuhren, gerade so, als sollten diese die Unebenheiten menschlicher Liebe ausgleichen. In der Tat interessiert Goethe hier weniger die Logik der Naturwissenschaften (auch wenn man den weniger entwickelten Zustand der damaligen Chemie im Auge behält) als die Wissenschaft der Natur - d.h. das, was die Natur weiß, aber nicht offenbart, wenn zwei Menschen in der Liebe zusammenkommen. Für Goethe hat diese Frage eine zusätzliche Dimension, die im Roman bald klar wird. Könnte man den Vorgängen der Natur eine übersinnliche Logik abgewinnen, die Freiheit und Notwendigkeit miteinander verbindet, gewänne man mit einem Male Einblicke in den Wandel der Geschichte als Phänomen und den Sinn der großen Ereignisse und Umwälzungen, von denen Goethes Zeit so voll war. Dies kann einem Gespräch zwischen Charlotte und dem Gehülfen im achten Kapitel des zweiten Teils entnommen werden, wo von den "Neigungen der Zeit" (WV 182) und der "Zeit der Umwendung" (WV 183) die Rede ist. Auf die Frage, in was fur eine Welt das Kind Charlottes hineingeboren werden soll, antwortet der Gehülfe mit einem Bild, das den Sinn der Veränderung erklärlich machen möchte, gleichzeitig aber das ganze ,Erziehungsprojekt' der Wahlverwandtschaften bloßlegt. "Ein junger Zweig", so der Gehülfe, "verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufugen ist" (WV 184) - eine Anspielung auf die Philosophie Friedrich Schellings, der die Lehre von der Selbstorganisation des Organischen verbreitete und mit Goethe einen regen Briefwechsel darüber fuhrte. lO Am Anfang des Romans beschäftigt sich Goethes Held damit, "frische Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen" (WV 7). In diesem Bild 10
Daß eine enge Beziehung zwischen Goethe und Schelling in den Jahren vor dem Erscheinen der Wahlverwandtschaften bestand, ist verbrieft. Goethe stand dem jungen Schellingin den Jahren 1798 bis 1802 nahe, nachdem er ihm 1798 eine Philosophieprofessur an der Universität Jena verschafft hatte. Ein lebhafter Briefverkehr zwischen beiden stellte sich infolge der Berufung Schellings nach Jena ein, vor allem, was Fragen der Kunst und der Naturwissenschaften anbelangt. Goethe kannte Schellings 1800 veröffentlichtes Hauptwerk, das System des transzendentalen Idealismus, wie auch die frühen Schriften Schellings, die diesem Werk vorausgingen (Ideen zu einer Philosophie der Natur,1797; Von der Weltseele, 1798; Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799). Im Wintersemester 1802/03 hielt Schelling eine Vorlesungsreihe an der Universität Jena - unweit von Goethes Wohnort Weimar -, in der er den Versuch machte, Naturphilosophie und Kunst miteinander zu verbinden.
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werden Fragen aufgeworfen, die ins Zentrum der Wahlverwandtschaften fuhren und der chemischen Gleichnisrede ihr logisches Fundament geben. Zur Debatte steht, ob N eues auf Altes folgen kann, ob Fremdes mit Eigenem sich vereinen kann, ob sich Elemente miteinander verbinden können, auch wenn sie nicht verwandt, sondern nur ,wahlverwandt' sind. Diese Fragen betreffen nicht nur die äußere Natur. Goethe treibt sie mit bitterem Ernst so auf die Spitze, als würde das Kunstverständnis des Dichters nur als ein naiver Effekt der Natur erscheinen. Dieser Kunstwille bleibt jedoch erkünstelt, in seine tiefsten Tiefen hinein. Der Roman, der sich aus zwei Teilen mit jeweils achtzehn Kapiteln zusammensetzt, ist mit penibler Genauigkeit aufgebaut. Wichtige Ereignisse verteilen sich auf parallel verlaufende Kapitel, was ihre Wichtigkeit noch weiter hervorheben soll (z.B. die Zeugung des Kindes im achten Kapitel des ersten Teils, die Geburt im achten Kapitel des zweiten). Eine erstaunliche Koinzidenz in der Namensgebung wird herausgearbeitet, derzufolge vier Charaktere direkt oder indirekt den Stamm-Namen Otto tragen (Eduard hieß Otto in seiner Jugend, der Vorname des Hauptmanns ist Otto, Charl-otte und Ott-ilie sind weibliche Ottos) und an der Zeugung eines funften Otto (denn so heißt das Kind) beteiligt sind. Heinz Schlaffer hat daraufhingewiesen, daß der Name Otto ein Palindrom ist. ll Dem Palindrom kam ursprünglich magische Kraft zu. Sie verleiht der Verbindung der zwei weiblichen und der zwei männlichen Ottos somit zusätzlich den Anschein von Notwendigkeit. Das Zusammenkommen der beiden Paare nimmt sich daher wie ein objektives Gesetz der Natur aus. Nach Schlaffer bezeichnen die Buchstaben "die toten, bedeutungslosen Elemente der Natur und binden sie zugleich an Form und Geist der bedeutungstragenden Sprache" 12. Natur und Kultur, Geist und B~chstabe, Objekt und Subjekt fallen damit restlos zusammen, als hauchte ihnen der liebe Gott selbst Leben ein. Der Traum von der absoluten Identität des Subjektiven und Objektiven, den Schelling in seinen Schriften bis 1806 13 verfocht und den Goethe in seinem Naturexperiment realisiert, als ob Schelling dies ihm wörtlich vorschriebe, schlägt jedoch bald ins Negative um, und zwar aus Gründen, die ins Zentrum von Goethes literarischem Programm fuhren. Die absolute Koinzidenz von Objekt und Subjekt, die sich in der Namensgebung äußert, 11
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Vgl. Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes "WahlverUlandtschaftenl', in: Goethes "WahlverUlandtschqften ". Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, hg. von Norbert W. Bolz, Hildesheim 1981, 214. Ebd. Slavoj Zizek nennt die Ausrichtung von Schellings frühen Schriften sein Projekt der Identitätsphilosophie. Nach Zizeks Auffassung wird dieses Projekt jedoch bald aufgegeben, da Schelling sich nach 1807 zunehmend mit Fragen auseinandersetzt, die mit der Freiheit, dem Bösen und der Dualität des Absoluten zu tun haben. Vgl. Slavoj Zizek: The Abyss oJ Freedom/Ages qfthe World, Ann Arbor 1997.
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erweist sich als die dem ganzen Romanprojekt innewohnende antirealistische Tendenz 14 , die das Experiment dem Scheitern anheimgibt. An die Stelle der erhofften Positivierung durch die Koinzidenz von Name und Identität, die auch der Lehre Schellings zugrundeliegt, tritt keine überweltliche Transzendenz, keine durch den Namen verbürgte Substantialität, keine sich dem Subjekt spontan einschreibende objektive Essenz. Statt der Spontaneität des plötzlich erwachenden Lebens gibt es nur Leere und Entfremdung und schließlich auch Tod. Die Namensgebung zeugt in Goethes Roman letztlich nur von dem Unvermögen der Schrift, ihren Gegenstand zu benennen. Diese Kluft zwischen Natur und Kunst kann dem Verlauf der Ereignisse im Roman abgelesen werden. Erzählt wird hier von drei Todesfällen und dem Entschluß der beiden verbleibenden ,Ottos', sich nicht miteinander zu verbinden. Die Wende im Roman bringt der Tod des Kindes. In Ottilies Obhut gegeben, ertrinkt es, als sie eine hastige Kahnfahrt mit ihm über den See nach Hause unternimmt. Daran ist die Kunst schuld, handelt es sich doch um einen künstlichen See, in dem das Kind ertrinkt. Die Veränderung der Parkanlagen, die von den Figuren geplant und durchgeführt wurde, sollte für eine bessere Aussicht und angenehme Tage während der wärmeren Monate sorgen. Zu diesem Zweck entstand ein See auf den Anlagen. Die Augen der Menschen sollten sich an der im menschlichen Sinne veränderten Natur weiden. Die Ereignisse im Roman aber legen die Schlußfolgerung nahe, daß gerade das Gegenteil der Fall ist: Die Kunst in den Wahlverwandtschaften ist der Wille der Figuren zur Veränderung, die zerstörerisch auf die Natur einwirkt und in immer gravierenderer Weise Unheil stiftet. Als größter Stifter von Verwirrung erweist sich Eduard, der geborene Otto, der sich als Junge einen neuen Namen wünschte. Eduards plötzliches Erscheinen auf dem Landgut nach einer längeren Abwesenheit, dann sein Drängen, macht Ottilie an dem verhängnisvollen Nachmittag "verwirrt und bewegt" (WV221). Diese Bewegtheit hat bald Konsequenzen. Ottilies aufgeregtes Gemüt bringt das kleine Boot, mit dem sie über den See fahren will, zum Schwanken. Während sie ein Buch in der linken Hand und das Ruder in der rechten zu bewegen versucht, entgleitet ihr beides: das Ruder nach der einen Seite, das Buch mit Kind nach der anderen und damit ins Wasser. Über dieses Buch, das Ottilie zur Ablenkung mitgenommen hatte, heißt es bemerkenswerterweise: "Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen." (WV 218) Dem Tod des Kindes haftet also diese Ironie an: gerade die Bücher, die "an sich ziehen und nicht wieder loslassen", tragen den Keim des Endes in sich.
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Auch fiir Geerdts, Goethes Roman die JJ Wahlverwandtschciften (( [Anm. 5], 21, ist Goethes Roman letztlich als "antiromantische Dichtung" zu lesen.
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Mit dem Tod des Kindes in dem künstlich erbauten See hat es aber nicht sein Bewenden. Eduard drängt weiter und will mit Ottilie zusammen sein. Den Sinn der Wahlverwandtschaften möchte er noch bestätigt sehen. Ottilie dagegen entfernt sich jetzt von ihm. Sie will fiir den Tod des Kindes büßen und sieht in dessen Verlust mehr als einen Schicksalsschlag. Eduard kann sie aber nicht entbehren und will sich endgültig von Charlotte trennen. Diese willigt auch in die Scheidung. Ottilie hat sich aber mittlerweile entschlossen, zum Internat zurückzukehren und Eduard ganz zu entsagen. Sie quält jetzt auch das Unmoralische an einer Beziehung, deren Folgen immer noch nicht abzusehen sind. Als Eduard ihre Rückkehr verhindert, versperrt er ihr gleichzeitig die einzige Möglichkeit weiterzuleben. In die Isolation einer Liebe gedrängt, die sich nie erfüllen kann, enthält sich Ottilie jeder Nahrung und stirbt schließlich abgemagert bis auf die Knochen - ein abermaliger, schmerzlicher Verlust, den Eduard nicht verkraften kinn. Der Schluß des Romans berichtet von Eduards Tod und dessen Beisetzung neben Ottilie und nennt den freundlichen Augenblick, "wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen" (WV255). Mehr noch als die geheime Erfüllung der natürlichen Ordnung der Dinge, die durch das Gelingen des chemischen Experiments hätte anschaulich gemacht werden sollen, inszeniert der Roman letztlich das Mißlingen jedes Versuchs, der Natur eine rür die Menschen ersichtliche Ordnung abzugewinnen. Der Wille nach Ordnung entpuppt sich von diesem Aspekt her als Wunsch nach Totalität, der das Chaos der Natur weder wahrhaben will noch ertragen kann. Dies ist das erstaunliche Ergebnis des Experiments der Wahlverwandtschaften - auf der formalen Ebene der Zeichen wie auf der Handlungsebene. Daß der Name in den Wahlverwandtschaften gerade das ist, was niemals benannt werden kann, belegt das chemische Experiment ja selbst. Weder die alphabetische Ordnung der Buchstaben, noch die Ordnung der Chemie in der Natur erlaubt Rückschlüsse auf ein der Objektwelt unterliegendes inneres Sinnganzes, oder - mit Schelling zu reden - auf eine weltimmanente "zweite Natur"15. Das Zeichensystem der Sprache hat so wenig wie die Symbolsprache der Chemie ein Objekt, das es realisieren kann. Statt fester zu binden, macht das Mißlingen der Verbindung der zwei Bereiche der chemischen und sprachlichen Ordnung anschaulich, wie wenig Ordnung die Wissenschaft und Sprache der Menschen stiften. So macht sich bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts und damit an der Schwelle der Moderne das Unbehagen und die Skepsis darüber bemerkbar, was die synthetischen Ordnungsstrukturen und Systeme der Menschen zu leisten vermögen.
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Zu diesem Aspekt der Schellingschen Lehre vgl. Hans Jörg Sandkühler F. WJ. Schelling - ein Werk im Werden. Zur Eil'!:fiihrung, in: F. WJ. Schelling, hg. von H.]. Sandkühler, Stuttgart 1998, 17-18.
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Der Gedanke, den die Wahlverwandtschaften in den Mittelpunkt des Erzählens rücken, ist deshalb nichts weniger als der den menschlichen Ordnungsstrukturen innewohnende Wille zur Vernichtung aller natürlichen Ordnung. Das Ideal der großen Freiheit, das Natur und Menschen vereinen soll, der Versuch, alles Natürliche dem selbstherrlichen Subjekt zu unterwerfen, stellt die Menschen vor die Wahrheit ihres nach Selbstauflösung strebenden Vernunftwillens. So läßt Goethes Roman den "freundliche[n] Augenblick" der Wiedervereinigung der Geliebten vor der Unmöglichkeit der Erfullung dieses Augenblicks zum Tode erstarren. Charlotte, die wahre Vertreterin des Vernunftprojekts im Roman, weiß allerdings fur Abhilfe zu sorgen. Sie verhindert am Schluß einen weiteren Gebrauch des Kirchengewölbes, wo Eduard neben Ottilie begraben liegt. Sämtliche "ansehnliche[n]" Stiftungen, die sie "rur Kirche und Schule, rur den Geistlichen und den Schullehrer" einrichtet, verbieten nämlich, daß jemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde (WV 255). Diese Schenkungen stellen sich jedoch als alles andere denn als uneigennützig heraus. Sie dienen zum Schluß dazu, das zu gewährleisten, was zu Lebzeiten niemals möglich war: die Erfiillung des Willens der Menschen, sich in der Verfolgung ihres übermächtigen Kunstsinnes und Vernunftwillens von der friedlichen Natur umgeben und damit in ihren Zielen legitimiert zu sehen. In dieser Schenkung findet sich also keine Legitimation irdischer Bedürfuisse, wohl aber der Gestus der Beherrschung der Zukunft, der zwar über den Tod erhaben sein möchte, aber doch letztlich diesem alles nivellierenden Tode an heim fallen muß.
III. Daß alle Konvergenzen, selbst die scheinbar natürlichsten, in den Tod ruhren, ist auch das Thema von Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Ein Zerfall. Am Anfang auf Die Wahlverwandtschaften Bezug nehmend, hört der Roman ebenfalls mit einer Schenkung auf, und zwar an die Israelitische Kultusgemeinde in Wien. Murau vermacht dieser Wolfsegg als "völlig bedingungsloses Geschenk" (A 650), das die Beziehung des Protagonisten zu seinem Geburtsort ganz auflösen soll. Der Roman beabsichtigt nichts weniger als eine gänzliche Zerstörung aller Traditionen, die auf Einheit zielen und von dem verlogenen Postulat der Identität von Mensch und Welt getragen sind. In zwei Teile mit den Überschriften "Das Telegramm" und "Das Testament" aufgeteilt, handelt der Roman von der Beziehung des Protagonisten Franz-Josef Murau zu seiner Familie und zu seiner oberösterreichischen Heimat. Zwei Ereignisse geben den Anlaß zu Familien treffen , die Murau aus seinem "Exil" in Rom in die Heimat zurückfuhren: zum einen die Hochzeit
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einer seiner Schwestern mit einem badischen "Weinflaschenstöpselfabrikanten ", zum anderen die Beerdigung der Eltern und des älteren Bruders, die nur wenige Tage nach der Hochzeit bei einem Autounfall tödlich verunglücken. Während des kurzen Zwischenaufenthalts in Rom nach der Hochzeit erhält Murau die Todesnachricht per Telegramm, das dem ersten Teil des Romans seinen Titel gibt. Der zweite Teil des Romans erzählt von dem Testament, das Murau infolge des Todes der Eltern und des Bruders zum alleinigen Erben des ganzen Familienvermögens macht. In beiden Romanteilen reflektiert Murau über sein Verhältnis zu dem Familiengut Wolfsegg, auf dem er aufgewachsen war, und zu seiner Familie, die - bis auf die verheiratete Schwester - nun beinahe gänzlich vernichtet worden ist. Diese Vernichtung von Familienmitgliedern und das ihm mit dem Tod seiner Eltern unvermittelt zufallende Erbe rufen in Murau komplexe Gefuhle wach. Diese Geftihle lassen sich unter die im Romantitel angedeutete ,Auslöschungsproblematik' subsumieren, werden aber auch in den langen Monologreden des Protagonisten in wechselnder Form zur Sprache gebracht. Das Erzählen inszeniert somit ein kompliziertes Schema des Endes und des Endens, das auf die Bedeutung apokalyptischer Vorstellungen rur den Roman hindeutet. Es handelt sich hier keineswegs nur um die literarische Verwendung eines religiösen Motivs. Bernhards Roman ist nämlich so sehr von der Logik des Endens beherrscht, daß sowohl seine Form wie auch sein Inhalt im Zeichen einer programmatischen ,Auslöschungsarbeit' stehen. So sind nicht nur die erzählten Ereignisse, die in der das Wolfsegger Erbe auflösenden Schenkung an die israelitische Gemeinde gipfeln, apokalyptisch zu deuten. Auch der Wille zum Erzählen erweist sich hier als dem Grundgestus des Apokalyptischen verpflichtet. Im Mittelpunkt dessen, was der Roman zerstören möchte, steht der überkommene Naturbegriff, der die nach dem Jenseits gerichteten weltlichen Projekte der Menschen legitimiert hat. Als erstes setzt sich Murau daher rur die Vernichtung dieses Naturgedankens ein: "Es ist gar nichts mehr natürlich, hatte ich zu Gambetti gesagt, nichts, überhaupt nichts mehr. Wir gehen aber immer noch davon aus, hatte ich zu Gambetti gesagt, daß alles natürlich ist, das ist ein Irrtum. Alles ist künstlich, alles ist Kunst. Es gibt keine Natur mehr." (A 125f) Die Vernichtung des Naturgedankens, die Murau in diesem Passus befürwortet, soll mit jedem Versuch der Menschen aufräumen, Kunst mit Natur zu verbinden. Gibt es keine Natur mehr, so kann es auch keine Anschauung der Idealität der Natur geben. Bernhard zielt damit ins Zentrum aller Einheitsphilosophien wie auch in den Kern des idealistischen Projekts der Spätaufklärung, das eine Teleologie der Natur zu entwickeln versuchte. Zu diesem Punkt noch einmal der Protagonist Murau: "Wir gehen immer noch von der Naturbetrachtung aus, wo wir doch schon lange nur
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mehr noch von der Kunstbetrachtung ausgehen sollten. Dadurch, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist alles so chaotisch. So falsch. So unglücklich. So tödlich konfus." (A 126) Mit anderen Worten: Das Leben stellt die Menschen vor die Wahrheit der Todesproblematik. 16 Je ernsthafter die Menschen durch ihre Systeme und ihr Denken beabsichtigen, dem Tode zu entgehen, desto unerbittlicher und unumgänglicher wird diese Problematik. Einheitsphilosophien stellen den Versuch dar, das Leben zu verherrlichen. Dadurch werden sie aber der Realität des Lebens nicht gerecht urid geben die Menschen um so auswegloser der Wahrheit der eigenen Verlogenheit preis. Eine ähnliche Lebensabgewandtheit stellt Murau bei der Photographie fest. Die Menschen "flüchten hinein in die Fotografie, schrumpfen mutwillig auf die Fotografie zusammen, die sie in totaler Verfalschung als glücklich und schön oder mindestens als weniger häßlich und weniger unglücklich zeigt, als sie sind. Sie fordern von der Fotografie ihr Wunsch- und Idealbild, und es ist ihnen jedes Mittel, und sei es die grauenhafteste Verzerrung, recht, dieses Wunschbild und dieses Idealbild auf einem Foto herzustellen. Sie merken gar nicht, wie schrecklich und wie fürchterlich injedem Falle sie sich kompromittieren." (A 127) Das Anschreiben gegen den Tod zur Errettung der Menschen vor der eigenen Heuchelei erstreckt sich bis in die Sprache der Auslöschung hinein. Das in der Forschung häufig bemerkte Anzitieren 17 bei Bernhard ist ein Stilmittel, das zugleich darauf ausgerichtet ist, an die Falschheit stiftenden Konventionen der Sprache zu erinnern und somit vor der Verlogenheit des Erzählens zu retten. Diese Verlogenheit besteht darin, schonungslos durchgestaltete Künstlichkeit als authentisch gelebtes Leben zu stilisieren. Der Roman stellt sich nämlich als der Bericht eines unbekannten Erzählers dar, der das aufschreibt, was ihm über das Leben und die Aussagen des inzwischen verstorbenen Murau überliefert worden ist. Nichts von dem, was dieser Erzähler über Murau sagt, kann also Wahrheit für sich beanspruchen. Der Sinn des Textes - wenn er einen Sinn hat - befindet sich auf jeden Fall im endlosen Spiel des Narrativen mit sich selbst. So läßt sich das Schreiben nicht als Erfüllung von einem dem Text inhärenten ursprünglichen Sinn verstehen, 'sondern als Zeichenspiel, das letztlich nur über dessen eigene Zeichenhaftigkeit im Medium der Schrift erzählt. Bernhards Text setzt sich daher nicht die Sinnerfüllung, sondern die Destruktion von Sinn zum Ziel. Sinn
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Daß diese Tüdesproblematik nicht nur auf Auslöschung beschränkt ist, sündern einen wesentlichen Aspekt des Bernhardschen Erzählens darstellt, hat zum Beispiel Charles W. Martin am Beispiel des Nihilismus herausgearbeitet. Vgl. Charles W. Martin: The Nihilism C?{ Thomas Bernhard - The Portrayal C?{Existential and Sodal Problems in His Prose Works, Amsterdam 1995. Vgl. Gemüt Weiß: Auslöscht/ng der Philosophie - Philosophiekritik bei Thomas Bernhard, Würzburg 1993,13.
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ergibt sich - wenn überhaupt - immer nur ex negativo. 18 Sinn ist kein Konstruiertes, sondern ein Zerfall, ein entropisches Wegfallen von einem Sinnzentrum. Der Sinn eines Textes ist das, was die ,Auslöscher' nicht auszulöschen vermögen, wenn sie Texte lesen. Unter diesen ,Auslöschern' ist bemerkenswerterweise der Autbr selbst der allergrößte. Diese Erkenntnis ergibt sich aus der Logik des Erzählens, die eine zerstörerische ist. Indem Murau von dem "Herkunftskomplex" W olfsegg (A 201) erzählt, um sich selbst zu verstehen, gesteht er gleichzeitig den Willen zur Vernichtung ein, von dem das Erzählen selbst getragen ist: ,,[ ... ] Auslöschung werde ich diesen Bericht nennen, hatte ich zu Gambetti gesagt, denn ich lösche in diesem Bericht tatsächlich alles aus, alles, das ich in diesem Bericht aufschreibe, wird ausgelöscht, meine ganze Familie wird ausgelöscht, ihre Zeit wird darin ausgelöscht, W olfsegg wird ausgelöscht in meinem Bericht auf meine Weise." (A 201) Der These, dem Schreibakt bei Bernhard hafte grundsätzlich Positives an 19 , kann daher nicht ohne weiteres zugestimmt werden. Bernhards Ziel ist es tatsächlich, die Scheinhaftigkeit der Sinnvermittlung zu entlarven und dabei das Sinngeftige des Romans als Sinn-Ganzes zu destabilisieren. Allerdings bleibt dabei die essentielle Natur der Sprache unangefochten. Das Auslöschungsprojekt des Erzählens kann die Sprache nämlich nicht beseitigen, sondern nur noch entschiedener in den Mittelpunkt stellen. Die Zeichen der Sprache sind eben unlöschbar. So benennt der Romantitel gerade das, was der Roman als Programm unmöglich beenden kann. So ist das Einzige, was die Auslöschung nicht auslöschen kann, paradoxerweise sie selbst (Die Auslöschung). Silke Schlichtmann hat es so formuliert 20 : "Der Text erscheint so als Streichung des Titels durch das, was er betitelt: 9.ie Auslöschung der Auslöschung in Auslöschung durch die Auslöschung." Schreiben hat daher keine geheime Beziehung zum Absoluten, der Autor labt sich nicht an der Urquelle des Lebens. Im Gegenteil, die Schriftsteller sind die Zerstörer, schreiben ist gleichzusetzen mit: aus der Erinnerung tilgen, auslöschen. Mag diese Feststellung einerseits irritieren, wenn nicht schockieren, erwächst sie andererseits aus der Einsicht in die Systementwürfe der Autoren und Denker, die sich tendenziell über das Leben erheben und 18
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Weiß kann man sicherlich beipflichten, wenn er das Auslöschungsprojekt des Romans im Sinne einer nicht mehr ans Ziel gelangenden textualen Sinnsuche versteht: "Eine Kette von Supplementen [ ... ] kann nachgewiesen werden, die vom ausgelöschten Eigentlichen ausgehend immer weiter davon wegfUhrt. Der Versuch einer Wiederaneignung der Präsenz wird dabei unendlich fortgesetzt, ohne je ans Ziel zu kommen." Ebd., 142. Diese These hat zum Beispiel Harald Hartung vertreten in: Wolfsegg oder die hohe Schule der Übertreibung - Thomas Bernhards großes Prosa buch "Ausläschung", in: Der Tagesspiegel vom 2. November 1986. Silke Schlichtmann: Das Erzählprinzip "Ausläschung" - Zum Umgang mit Geschichte in Thomas Bernhards Roman "Ausläschung. Ein Zeljäl/", Frankfurt a. M. u.a. 1995,35.
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damit die Erfahrung von Leben verschleiert und somit unerträglich gemacht haben. 21 Die Umkehrung, rur die Bernhard plädiert, soll das Erzählen mit seinen eigenen Verdunkelungsmechanismen vertraut machen, um jede Systemlogik zu beenden. Dies geht aus einer wichtigen Passage hervor, wo Murau seine Absichten erklärt: Wenn ich ihm sage, wie die Welt in meinem Sinne zu verändern wäre, indem wir sie ganz und gar radikal zuerst zerstören, beinahe bis auf nichts vernichten, um sie dann auf die mir erträglich erscheinende Weise wieder herzustellen mit einem Wort, als eine vollkommen neue, wenngleich ich nicht sagen kann, wie das vor sich zu gehen hat, ich weiß nur, sie muß zuerst völlig vernichtet werden, um wieder hergestellt zu werden, denn ohne ihre totale Vernichtung kann sie nicht erneuert sein [ ... ] (A 209).
Zum Programm des Bernhardschen Erzählens, das die Erneuerung sucht, aber die Vernichtung zeigen muß, gehört es deswegen, den Tod in seiner ganzen Unanschaulichkeit zu zeigen. Diese Absicht ruhrt Murau in die Orangerie des Familienguts, wo die Leichen der toten Familienmitglieder aufgebahrt sind. Dabei ist es besonders die Leiche der toten Mutter, die Murau anzieht. Anders als der Vater und der Bruder, die in einem offenen Sarg liegen, befindet sich die Leiche der Mutter in einem fest zugeschraubten Sarg. Ihre bis zur Unerkenntlichkeit verstümmelte Leiche ist in einem Zustand, "der eine offene Aufbahrung unmöglich" macht (A 395). Das Verdeckte ans Tageslicht zu bringen, ist nun aber gerade Muraus Wunsch. Murau will die Leiche seiner Mutter sehen, auch dann noch, wenn - wie die Zeitungen berichten - der Kopf auf unanständige Weise vom Rumpf getrennt wurde. Daß der Text diese Verstümmelung wie auch "die Verstümmelte sichtbar [ ... ] machen" möchte (A 453), gehört zum Auslöschungsprogramm, aber auch zum Programm der Erneuerung, die die Welt wieder herstellen soll. Denn, wie Murau sagt, "ohne ihre totale Vernichtung kann sie nicht erneuert werden".
IV. Anders als Goethes Wahlvetwandtschciften, die von der Möglichkeit einer idealen Schöpfung im Bereich der Kunst ausgehen, steht bei Bernhards Roman daher ein narrativer Gestus Pate, der die Idealität der Kunst beenden möchte. So wird im Roman ein doppeltes Annullieren angestrebt: zum einen ein Annullieren der Kunst als imaginäres (künstliches) Objekt des Lebens, zum anderen als Wille zum Erzählen von Leben, der sich vom Leben ent-
21
Insofern ist in diesem Kontext Slavoj Zizeks These - ",transzendentale Subjektivität' ist reinster philosophischer Antihumanismus" - unbedingt zuzustimmen. Vgl. S. Z.: Das Unbehagm im Subjekt, Wien 1998, 15.
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fernt. Dieses Projekt, das auf den Kunstsinn des deutschen Idealismus abzielt, läßt die Verschmelzung von Kunst und Natur, die in den Wahlvenvandtschaften problematisiert wird, als falsch und erkünstelt erscheinen. Daher gilt es, einen neuen Kunstbegriff zu finden: "Erst wenn wir einen ordentlichen Kunstbegriff haben, haben wir auch einen ordentlichen Naturbegriff, s"agte er. Erst wenn wir den Kunstbegriff richtig anwenden und also genießen können, können wir auch die Natur richtig anwenden und genießen." (A 34) Bernhards Auslöschungsprojekt möchte diesem "ordentlichen KunstbegrifF' das Wort reden. Es versucht, aus den Menschen, die sich selbst unmöglich geworden sind, Menschen zu machen, die sich und ihr Leben ertragen lernen, indem sie die Sinnlosigkeit ihres Daseins akzeptieren. So gesehen, kehrt Bernhard die Voraussetzungen, die in Goethes Roman angelegt sind, völlig um. Statt der Unerträglichkeit des Endlichen lehrt Bernhard die Unerträglichkeit des Unendlichen. Statt der Anschaulichkeit der unendlichen Natur bietet er die Unanschaulichkeit des Todes, fiir die die verstümmelte Leiche der toten Mutter steht, die mit dem Vater und dem Bruder in der Orangerie aufgebahrt liegt. Bernhard will gerade jene verstümmelten Menschen zeigen, über die Goethes Roman schweigen will, aber erzählen muß: das Kind, das im See ertrinkt, das Mädchen, das den sich selbst auferlegten Hungertod erleidet, den Freund, der ihr bis in den eigenen Tod nachtrauert. So ist Muraus Ziel die Erneuerung, die voraussetzen muß, daß "die Verstümmelte sichtbar" gemacht wird - eine apokalyptische AntiRomantik, die von der Virtualität des Todes im Leben ausgeht, um die Sehnsucht nach dem Tod zu beenden.
DetlefKremer OHNE ENDE
Virtuelle Apokalypse im zeitgenössischen Film: Godard - Greenaway - Kubrick - Lynch 1. Ästhetischer Weltuntergang
Die christliche Erwartung der Apokalypse ist selbst in den hartnäckigsten Kreisen der Zeugen Jehovas, sonst Fachleute in Fragen der genauen Ermittlung des Endes, in eine unendliche Verzögerung geraten. Visionen eines Endes dieser Welt, verbunden mit dem Sieg des Guten über das Böse und der endgültigen Etablierung des Paradieses aufErden, sind der bisweilen fröhlich, bisweilen katastrophisch gerahmten Vermutung gewichen, es werde immer so weiter gehen. Wenn im folgenden von apokalyptischen Spuren im Film gehandelt wird, dann geschieht dies im Rahmen der Rede von einer ästhetischen Apokalypse. Es handelt sich um eine hochgradig metaphorische Rede. Von ,Apokalyptik' läßt sich daher durchaus in diesem Sinne sprechen, ohne das tatsächliche Ende zu identifizieren oder gar als Parusie Christi zu bewerten. Wo die christliche Apokalypse eine breitere Akzeptanz eingebüßt hat, bietet sich die Kunst als virtueller Ersatz an. Man könnte von einer säkularisierten Apokalypse sprechen, muß aber ein geschichts- bzw. zeittheoretisches Argument darin hervorheben. Christlich apokalyptisches Denken ist vordergründig zwar auf ein Ende hin konzipiert ebenso wie die Genesis einen absoluten Anfang behauptet -, genauer betrachtet untersteht es aber der zyklischen Struktur eines vormodernen Zeitbewußtseins, das das Ende der Welt als Anfang des paradiesischen Neuen Jerusalems interpretiert. Mit der linearen Prozeß- und Fortschrittsstruktur einer beschleunigten modernen Zeiterfahrung seit etwa 1800 ist streng genommen weder ein Anfang im Sinne eines absoluten Ursprungs noch ein Ende der Geschichte vereinbar. Gewiß schärft das Fortschrittsmodell schnell auch den Blick fiir Krisen oder Katastrophen: Ein Ende aller Dinge und mithin ein apokalyptisches Datum steht aber ebenso außerhalb der Denkmöglichkeiten einer beschleunigten Prozeßstruktur der Geschichte wie die Konstruktion eines Ursprungs. Fortschrittsdenken erhält sein negatives Profil in Krisenhaftigkeit und Katastrophischem; apokalyptisches Endzeitbewußtsein bleibt ihm äußerlich und greift auf einen vormodernen Geschichtsbegriff zurück. Das Ende verfugt nurmehr über einen metaphorischen Status. Unter den Bedingungen eines modernen Zeitverständnisses ist jedes Ende nur ein vorläufiges Ende. Ein Ende im strikten Sinne ist nicht mehr denkbar. Apokalypse verwandelt sich in ein ästhetisches, virtuelles
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Modell. In einer zeittheoretischen Perspektive läßt sich moderne, Autonomie behauptende Kunst als dramatischer Ort einer vormodernen, immer aber durch eine interne semiotische Differenz ausgezeichnete Wiederholungs struktur begreifen. Für ein lineares Prozeßbewußtsein von Geschichte findet die Apokalypse etwas überspitzt formuliert - in der Kunst statt, und zwar in thematischer wie in formaler Hinsicht. In dieser Bewegung verliert die Apokalypse allerdings ihren begriffiichen und existentiellen Kern. In einem strengen Sinn ist die Apokalypse in der Moderne obsolet geworden: Katastrophe und Schrecken ja, aber ohne Ende. Ästhetische Inszenierungen der Apokalypse sichern die Doppelbewegung aus Untergangsvision und Auferstehung, wenn auch nur in einem säkularen und formalen Sinn. Bereits von ihren medialen Voraussetzungen her handelt es sich um eine verzögerte, verschobene und virtuelle Apokalypse, eine, die vollzogen wird, ohne stattzufinden, eine, die von der Zerstörung und vom Ende des Körpers und der Zeichen spricht und die Wiederauferstehung des ästhetischen Körpers verspricht. Am Offenbarungsgeschehen der apokalyptischen Untergangsvision nehmen die hier zu behandelnden Filme einerseits in diesem ästhetischen Sinne teil. In einer eher thematischen Hinsicht realisieren sie andererseits den Aspekt des Entschleierns bzw. Enthüllens, indem in der Katastrophe etwas sichtbar wird, das so vorher nicht zu sehen oder zu hören war. Derrida hat eine seiner apokalyptischen Interventionen mit der Etymologie des hebräischen gala , begonnen, das mit Apokalypse übersetzt wurde 1 : "Und es [gala'] scheint in der Tat apokalypsis zu besagen, das Entdecken, Enthüllen, der von der Sache gehobene Schleier: zunächst, wenn man so sagen kann, vom Geschlecht des Mannes und der Frau, aber auch von den Augen und den Ohren." Wo ap~kalyptische Visionen das Ende aller Dinge und die Auflösung aller Formen androhen, da sind virtuelle Evokationen der Apokalypse an bestimmte Formen zurückgebunden. Sie können über potentielle Formlosigkeit nur in einem bestimmten ästhetischen Format handeln, das notwendig mit einer Depotenzierung das apokalyptischen Schreckens einhergeht. In den hier angesprochenen Filmen wird Apokalyptisches zur Darstellung gebracht, indem es mit Spuren einer Ästhetik des Grotesken und Elementen filmischer Genres, etwa des Road Movie bei Lynch und Godard, versetzt wird. Daß dieses keineswegs die einzige Weise ist, Apokalyptisches im zeitgenössischen Film darstellbar zu machen, zeigen etwa der mystische Ernst, mit dem Andrej Tarkowskij oder Theo Angelopoulos darauf zielen, die filmischen Bewegungsbilder zum Stillstand zu bringen, oder die mythische Überpointierung des Kriegsschreckens in Francis
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Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ders., Apokalypse, Graz und Wien 1985, 14.
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Ford Coppolas Apocalypse Now, dessen leitmotivischer Titelsong The End eben nicht das Ende meint, sondern nur das verschobene, immer wiederholbare Ende eines virtuellen Geschehens. Das "Grauen" - "the horror" - behält in der Schlußsequenz des Films das letzte Wort, keineswegs aber die im Titel versprochene Apokalypse. Beispiele fur Apokalyptisches an der thematischen Oberfläche finden sich bei David Lynch, Jean-Luc Godard, Peter Greenaway oder Stanley Kubrick allenthalben. Ganz zu Beginn der Autofahrt durch das Fegefeuer der amerikanischen Gegenwart in Wild at Heart (1990) schaltet Lula, die weibliche Hauptfigur, das Radio ein, um die passende Rockmusik fur ein Road-Movie zu finden. Welchen Kanal sie auch wählt, sie empfangt nur Horror-Botschaften aus einer kollabierenden Welt. In einem der hysterischen Anfalle, die den Film leitbildartig durchziehen, liefert Lula selbst den apokalyptischen Kommentar: "This is the night of the fucking living Dead!" In drei Schritten fuhrt die Autofahrt in die Enthüllung des sexuellen Körpers der Frau, die mit dem Tod des männlichen Helden und seiner phantastischen Neugeburt endet. Nach den apokalyptischen Botschaften des Autoradios geht die Fahrt durch den metaphorischen Geburtskanal der nächtlichen Autobahn unmittelbar in die Szenerie eines Verkehrsunfalls über. Bei Lynch sind häufig gerade solche Szenen besonders skandalös, in denen die Statik und unausweichliche Insistenz der Choreographie durch groteske Momente versetzt wird. In der nächtlichen Unfallszene umkreist eine tödlich verletzte junge Frau den grausigen Unfallort, um hysterisch das zu suchen, was angesichts des Todes das Unwichtigste ist: Haarspangen und Lippenstift. Die Sorge darum, daß die Mutter sie umbringen werde, wenn sie ihre Handtasche nicht finde, wird zum Skandal der Szene. In der inversen Logik des Grotesken ist es einsichtig, daß das Nebensächlichste zum Wichtigsten wird. Die dritte Station bezeichnet ein Motel in dem texanischen Ort Big Tuna. Lynch hat die gesamte Motel-Sequenz in einer alptraumhaften Atmosphäre gestaltet, die über diedurchgefuhrte Feuer-Metaphorik etwas vom Vorhof der Hölle erhält. Einem von grellen Popfarben gezeichneten und von bösen Buben, Freaks und monströs fetten Darstellerinnen eines Pornofilms bevölkerten Inferno entspricht der kryptische und obszöne Slang der Dialoge, die weniger Rede als Ausscheidung sind. In Reminiszenz an die Karnevalshölle der frühneuzeitlichen Groteske sind auch die apokalyptischen Sensationen Lynchs mit einer Komik versetzt, bei der man längst nicht sicher sein kann, ob diese Komik nicht den höchsten Grad von Grauen bezeichnet. In dieser Motel-Hölle findet die Enthüllung des weiblichen Körpers als Degradierung und Vergewaltigung statt. Sie ist in ihrer Dauer, Perfidität und Unausweichlichkeit kaum erträglich. Wiederholt nötigt der Vergewaltiger , Willem Dafoe als Bobby Peru, die Frau, in ihrem nach Erbrochenem stinkenden Motelzimmer, "Fuck me!" zu sagen, erst dann werde er gehen. Mit seinem ekligen, widerwärtig geöffneten Mund rückt er ihr ganz nahe auf den Leib, berührt sie gleichzeitig sexuell, bis Lulas gespreizte rechte
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Hand, ein weiteres Leitbild des Films, andeutet, daß ihr Widerstand gebrochen ist. Als sie sich mit einem kaum vernehmbaren "Fuck me!" unterwirft, löst der Peiniger sich abrupt von ihr, lacht und antwortet: "Some day I will, but I gotta get going." Die schrittweise Apokalypse des Liebespaares im Pop-Comic-Format endet, wenn der erschlagene Geliebte Lulas, Sailor, eine Art Purgatorium durchmacht und eine phantastische Neugeburt erlebt, die den Weg ebnet fiir die märchenhafte Vereinigung der Liebenden. Von einer monströsen Vergewaltigung des Frauenkörpers handelt auch Greenaways Film The Baby of Macon (1993). Ähnlich wie Lynch ist auch Greenaway von Francis Bacons Präsentation des menschlichen Körpers als eines beschädigten Moments in einem gewalttätigen, sexuellen Körperdrama inspiriert. 2 Der Film beginnt mit einer Totalen auf eine entfernte Figur, die zunächst als Zeichnung wahrgenommen und schließlich, bei der langsamen Annäherung der Kamera, als ausgezehrte, eklige Gestalt identifiziert wird. Die Kamerafahrt endet mit einem close-up aufKopfund Körper der Gestalt, die als apokalyptische Allegorie des Hungers auftritt. Die Kamera gibt einen Blick frei auf eine aufgesperrte, schwarze Mundhöhle, in der eine helle Zunge sich schwerfallig bewegt, um die Prophezeiung von Unheil zu artikulieren. Die Gestaltung des verdrehten, von Schwären und Ekzemen gezeichneten ekligen Leibes setzt sich im grotesken, nicht minder ekligen Zungenspiel fort, das auch die Rede als eine Körpergeburt einsichtig macht. Die Allegorie des Hungers, die nach Greenaways eigenen Worten "aus lauter Körperöffnungen zu bestehen scheint", verkündet Siechtum und Unfruchtbarkeit, als habe sie Kieselsteine im Mund. Jedes einzelne Wort wird unter Schwierigkeiten und Schmerzen geboren3 : "The crops are feeble, The animals barren, The orchards meagre, The grass is scorched, The water low. Men and women have ceased to play ... in bed ... Copulation is a serious bu.siness, ... and little results but sickness and sadness." Nachdem die Allegorie des Hungers ihre Prophezeiung gestammelt hat, stürzt sie in die Tiefe, aus der sie am Ende des Films noch einmal auftaucht, um ihre apokalyptische Vision zu wiederholen, und mithin die Vergewaltigung und Zerstörung des weiblichen, jungfräulichen Körpers, die im Zentrum des Filmgeschehens stehen, als apokalyptisches Szenario einsehbar zu machen. Die gewaltsame Öffnung des Frauenleibes in Greenaways Film enthüllt den katholischen Marien- und Jungfrauenkultus als patriarchales Machtdispositiv und als infame Kolonialisierung des weiblichen Körpers. Godard läßt die Apokalypse der bürgerlichen Zivilisation in seinem Film Weekend (1967) ganz beiläufig auf einem Wochenendausflug geschehen, den ein in die Jahre gekommenes Ehepaar unternimmt, um eine Erbschaft durch einen
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Vgl. ausführlicher DetlefKremer: D~formierte Körper- Gewalt und Groteske bei David Lynch und Francis Bacon, in: Kunst - Macht - Gewalt, hg. von Ralf Grimminger, München 2000, 209-229. Peter Greenaway: The Baby ifMdcon, Paris 1994,31.
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Mord zu sichern und um sich gegenseitig umzubringen. Die Schichten der Zivilisation werden Stück um Stück so weit abgetragen, bis hinter ihrem Schleier der permanente Kampf aller gegen alle, Rassismus, Geldgier, Vergewaltigung und schließlich Kannibalismus zu Tage treten. Wie Lynch mit Wild at Heart hat auch Godard ein Road-Movie gedreht, aber er hat sich der krassen Inversion des Genres bedient. Der Wochenendausflug kommt sofort in einem unfallbedingten Stau zum Stillstand, den Godard in einer langen, ungeschnittenen Einstellung und einer quälend langsamen Kamerafahrt parallel zum Stau, untermalt mit einem nervenaufreibenden Hupkonzert, inszeniert hat. Außer einem ironischen Spiel mit den Farben der Autos und den unsinnigen Überholversuchen des Ehepaars gibt es hier wenig Abwechslung. Ähnliches gilt rur die weitere Fahrt durch eine katastrophische Unfall-, Gewalt- und Todeslandschaft, in der phantastische, aber historisch verbürgte Figuren die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft als Degradierung vor allem der Frau und ethnischer und sozialer Randgruppen aufrufen. Das Vorfahrtsrecht auf dieser hemmungslos aggressiven Fahrt regelt sich nach einer Sophistik, derzufolge deIjenige Vorfahrt hat, der männlich,jung, reich und schön ist. Anders als die übrigen hier genannten Regisseure treibt Godard seinen Film nach etwas mehr als der Hälfte selbst in die Katastrophe und mit ihm jeden möglichen Zuschauer. Er läßt die institutionelle Vereinbarung "SpielfiJm" buchstäblich und metaphorisch in die Leere laufen, indem er den Simulationszusammenhang des Films zerstört. Er verliert sich bewußt solange in einem schauspielerischen und dramaturgischen Dilettantismus sowie einer kannibalistischen und sexuellen Ekelinszenierung, bis rur den Zuschauer nurmehr Flucht aus dem nicht mehr schönen Schein der virtuellen Bilder möglich ist. Godards politische wie ästhetische Perspektive zielt darauf, Kino als Scheinwelt zu entschleiern und den Blick dafiir zu schärfen, daß in einer kapitalistischen Gesellschaft hinter dem Schleier der vermeintlich autonomen Werte nur Tauschwerte verborgen sind, daß die kapitalistische Warenwelt die Katastrophe aller Werte und Beziehungen bedeutet. Neben der Akzentuierung apokalyptischer Spuren zeichnen sich die bislang angefiihrten Beispiele bei aller Heterogenität durch ein mehr oder minder ausgeprägtes Maß an grotesker Pointierung aus. Wenn sich die Apokalypse formal als Aufhebung und Verkehrung bestehender weltlicher Verhältnisse begreifen läßt, dann liegt eine gewisse Affinität apokalyptischer Phantasie zu grotesker Komposition nahe, die ihr gesamtes Figurenarsenal um das Modell der Inversion gruppiert hat. Klaus Vondung, der eine umfangreiche Monographie über das Thema der Apokalypse in der deutschen Literatur geschrieben hat4 , ist die Nähe von Apokalyptik und Groteskem nicht entgangen. Er gründet sie auf die Ambivalenz
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Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, München 1988.
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von Schrecken und VergnügenS, die beiden eigen ist. Für das Zeitalter der atomaren Vernichtungsdrohung sieht er allerdings die Funktion des Grotesken an seine Grenzen gekommen6 : Auch das Stilmittel des Grotesken stößt bei diesem Gegenstand an Grenzen. Wenn die Vorstellung maßlosen Schreckens, die das Atomzeitalter aufgedrängt hat, die äußersten Möglichkeiten grotesker Gestaltung sucht, um Ausdruck zu finden, bricht die Funktion des Grotesken zusammen. [ ... ] An der Grenze seiner Möglichkeiten erweist sich das Groteske als hilflos.
Über eine bloße Behauptung geht diese Passage allerdings nicht hinaus. Das fehlende Argument wird durch eine Verallgemeinerung der Behauptung kaschiere: "Es scheint so zu sein, daß vor den Schrecken eines Atomkrieges die Ästhetik generell versagt, zumindest in diesem Sinn, daß eine unmittelbare Verarbeitung des Gegenstands keine Werke von ästhetischem Rang zeitigt. " Ohne weiter auf diese Diskussion einzugehen, sei immerhin Kubricks Dr. Strangelove} or How I Leamed to Stop Worrying and Love the Bomb (1964) als massiver Gegenbeweis angeführt. Kubrick bedient sich hier sehr weitgehend grotesker Komposition. Er verzeichnet das erhabene Pathos des atomaren Weltuntergangs in die Niederungen sexueller Körperlichkeit. Die finale Atomexplosion, die automatisch eine sogenannte "Weltuntergangsmaschine" in Gang setzt, erscheint als letztes phallisches Gehabe von verrückten, impotenten alten Männern. Ein gewisser Major Kong, Riesenaffe, apokalyptischer Reiter, texanischer Cowboy und Kindskopf in einer Figur, "reitet sein Baby", die mit obszöner Aufschrift versehene Bombe, in das vorgesehene russische Ziel namens "Laputa", was bekanntlich auf Deutsch "Hure" heißt. Zugleich spielt Kubrick darin auf eine paradigmatische Satire und Groteske vom Beginn des 18. Jahrhunderts an: Jonathan Swifts Gulliver}s Travels (1726), dessen drittes Buch von den verrückten Wissenschaftlern auf Laputa handelt, die jeden pragmatischen Alltagsverstand eingebüßt haben. Der Signifikanz der Namen ist das apokalyptische Drama von Anfang an eingeschrieben. Der Befehl, das Abschreckungsszenario mit einem amerikanischen Erstschlag auszusetzen, geht von einem Luftwaffengeneral namensJack T. Ripper aus. Aus Angst vor einer kommunistischen und femininen Weltverschwörung übertrifft er seinen historischen Namensvetter als Frauenmörder
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Vgl. Klaus Vondung: JJ Überall stinkt es nach Leichen « - Über die ästhetische Ambivalenz apokalyptischer Visionen, in: Schönheit und Schrecken - En.tsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuenMedien, hg. von Peter Gendolla und Carsten Zelle, Heidelberg 1990, 135: "Im Rahmen der spezifischen Ästhetik der Apokalypse vermag ein Stilmittel Lust zu erzeugen, das für die Apokalypse charakteristisch ist: das Stilmittel des Grotesken. Die erzeugte Lust ist von besonderer Art; sie ist Ausdruck der Funktion, die das Groteske im apokalyptischen Szenarium besitzt. Diese Lust ist ambivalent und verweist auf die grundsätzliche Ambivalenz der Ästhetisierung apokalyptischer Untergangsvisionen. " Ebd., 144.
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gewiß bei weitem. Sein phallisches Hantieren mit Zigarren und Maschinengewehren verbindet ihn mit dem Chef der Luftwaffe, der Turgidson, also Sohn des Geschwollenen, heißt. In einer Dreifachrolle - auch das selbstverständlich Funktion einer grotesken Irritation - verbindet Peter SeIlers einen gehbehinderten englischen Gastoffizier namens Mandrake - die aphrodisische Mandragora-Wurzel- mit dem kahlköpfigen amerikanischen Präsidenten mit Namen Muffiey als Anspielung auf ein Toupet aus weiblichem Schamhaar und dem gelähmten, deutschstämmigen Wissenschaftler Dr. Strangelove. An ihm exekutiert Kubrick auf dem dramaturgischen Höhepunkt des Films eine Strategie der Partialisierung des Körpers. Seine apokalyptische Vision von der Wiedergeburt der menschlichen Rasse in einem amerikanischen Bergwerksstollen wird gestisch versetzt durch seine in schwarzes Leder gehüllte rechte Hand, die sich wiederholt selbständig macht und zum Führergruß ausfährt. Berauscht von den sexuellen Möglichkeiten, die ein Verhältnis von einem Mann zu zehn Frauen untertags in Aussicht stellt, vervollständigt er die Erektion der rechten Hand - parallel zum Untergang der Weh - mit einer Ganzkörper-Erektion: "Mein Führer, ich kann gehen!" Die punktgenaue Simulation der Wirklichkeit macht den Film zum Medium schlechthin, Untergang und Auferstehung gleichzeitig zu verschieben und metaphorisch einzulösen. Kubricks Dr. Strangelove läßt einen Filmbetrachter Teilnehmer einer virtuellen apokalyptischen Reise sein, bietet den virtuellen Untergang und gleichzeitig ein Überleben und eine Wiedergeburt an. Zur Symphonie von Atomexplosionen intoniert die Sängerin Vera Lynn am Ende ein Wiedersehenslied: "We'llmeetagain, don'tknowwhere, don'tknowwhen, butIknow we'll meet again some sunny day."
11. Ästhetische Auferstehung Dieser Befund erlaubt es, den Zusammenhang von Ästhetik und Apokalypse von der Oberfläche des Thematischen zu lösen und formal tieferzulegen. Im virtuellen Raum des Films gelingt es, Weltuntergangs szenarien und der mit ihnen verknüpften gewalttätigen Auflösung wieder eine Form zu geben. Die atomare Apokalypse kann nicht Ereignis werden, weil, so Derrida, kein Publikum mehr da wäre, um es zu einem solchen zu machen. Die Apokalypse kann nur in der Kunst und nirgends mit so simulatorischer Überzeugunsgkraft wie im Film stattfinden. Jede ästhetische Inszenierung eines apokalyptischen Abgrunds bedarf, insofern sie Kunst ist, einer Form. Die Apokalypse wird im Kunstwerk auf eine ästhetische Funktion bezogen, die sie erneut in eine Ordnung und eine Wiederholungsstruktur -einfiigt. Über eine bestimmte Form der Darstellung ist sie immer wieder 7
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auf einen Grund gestellt, der als Widerlager der apokalyptischen Auflösung verstanden werden kann. Die apokalyptische Deformation wird durch eine bestimmte ästhetische Form ausbalanciert und erhält dadurch in einem virtuellen Sinne ihren Ereignischarakter. Wenn in der Apokalypse die Körperwelt zur Disposition steht, dann ist es einer der apokalyptischen Grundzüge des Films, das Ende des Körpers in einer Wiederauferstehung des Körpers aufZufangen. Das "Ende ohne ein Ende", von dem Derrida spricht, läßt sich auch und vor allem auf das Ende im Film beziehen8 : Es gibt nur die Apokalypse ohne Apokalypse. [... ] das ohne kennzeichnet eine interne und externe Katastrophe der Apokalypse, eine Umkehrung des Sinns, der nicht mit der verkündeten oder in den apokalyptischen Schriften beschriebenen Katastrophe zusammenfällt, ohne ihr jedoch fremd zu sein. Die Katastrophe wäre hier vielleicht die der Apokalypse selbst, ihre Einfaltung und ihr Ende, eine Geschlossenheit ohne Ende, ein Ende ohne Ende.
Das heißt nichts anderes, als daß Apokalypse auf den Status einer virtuellen Apokalypse zugeschnitten wurde, sofern sie je über einen anderen Status verfUgt hat. Wie Vondungvon einer "kupierten Apokalypse" zu sprechen 9 , trifft in religionssoziologischer Hinsicht vielleicht zu, in ästhetischem Zusammenhang fuhrt es in die Irre. Selbst wenn die Vision vom Untergang des Körpers nicht in einer paradiesischen Vision aufgefangen wird, bietet sich der Film insgesamt als simulatorische Wiederauferstehung des Körpers an. Greenaway hat die Apokalypse des Körpers, seinen Untergang und seine virtuelle Auferstehung als Bezeichnetes, in seinem vorletzten Film, The Pillow Book (1996), durchgespielt. Er handelt vom Körper, der erst durch Beschriftung zu einem erotischen, d.h. begehrenswerten Körper wird. Für das japanische Fotomodell N agiko Kiyohara kann sexuelle Lust sich nur einstellen, wenn der erwählte Liebhaber zugleich Kalligraph is.t, der ihr seine Liebe in formvollendeten Schriftzügen auf die nackte Haut schreibt. Die enge Verschleifung von Animation und Mortifikation im erotischen Blick auf den bezeichneten, tätowierten Körper fuhrt Greenaway aus, wenn das von kalligraphischer Hautschrift besessene Fotomodell ihren toten Liebhaber in ein Buch verwandelt, indem sie ihn beschriftet und anschließend begräbt. Der homosexuelle Verleger und Liebhaber des Toten läßt ihn später exhumieren, ihm die Haut abziehen und als Pergamentrolle archivieren. Der Körper verwandelt sich zurück in die Schriftrolle, aus der er nach sprachmagischen Vorstellungen einst geschaffen wurde, und überlebt als erotischer Fetisch des Verlegers. Gleichzeitig stellt der Körperschrift-Fetisch, der zum Pergament aufgerollte Körper des Liebhabers, die virtuelle Konstruktion und Konservierung des erotischen Körpers Derrida: Apokalyptischer Ton [Anm. 1],89.
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im bzw. als Film selbstreflexiv zur Schau. Der Film selbst und als ganzer ist die virtuelle Substitution des erotischen Körpers; er bezeichnet den Untergang und die Wiederauferstehung des Körpers in beliebiger Wiederholbarkeit, und zwar bei Greenaway in einem dreifachen medialen Arrangement: der Körper verschwindet in einer Schriftrolle, die ihrerseits in einer Filmrolle aufgeht. In umgekehrter Richtung: die Filmrolle simuliert einen beschrifteten Körper, der die Realität eines fleischlichen Körpers simuliert. lo
III. Anfong und Ende. Die Entschleierung des sexuellen Köpers Zwei Aspekte einer apokalyptischen Relation sind hier gleichsam eingeschlossen, die anfangs schon anstanden und auf die jetzt noch einmal einzugehen ist: die Inversion von Anfang und Ende sowie die Entschleierung des sexuellen Körpers. Wo Greenaway in The Pillow Book es bei der Häutung des Körpers beläßt, nimmt Lynch ein Sondieren dessen vor, was unter der Oberfläche verborgen ist. Lynchs Film-Sonde erkundet das Innere des seiner Haut entledigten sexuellen Körpers l1 . In Blue Velvet sind die Stationen von Jeffrey Beaumonts initiatorischer FilmReise wesentlich vom Skandal der Gewalttätigkeit des Sexuellen geprägt und vom noch größeren Skandal der Attraktivität anrüchiger sexueller Gewaltausübung. Im Zentrum seiner Reise in die tieferen Schichten des Begehrens liegt die Wohnung der verbotenen Frau. Den Weg dorthin beschreitet die Kamera wie ein Endoskop durch ein Labyrinth von dunklen unterirdischen Gängen und Röhren. Im durchgängig in ein rötlich-blauschimmerndes Halbdunkel getauchten Apartment kreuzen sich Spuren des Infernos mit denen des Allerheiligsten. Lynch hat dieses Initiationsdrama so offenkundig als Urszene im Freudschen Sinne eingerichtet, daß es zu kurzschlüssig wäre, den Film auf ein psychoanalytisches Motiv zu reduzieren. Interessanter ist die Art, wie Lynch diese Urszene entstellt und körperliche und virtuelle Gewalt in ein Spannungsverhältnis gebracht hat. Lynchs Familiendrama orientiert sich nicht an einer psychoanalytischen Rationalisierung, sondern an den unheimlichen Effekten des Sexuellen, die jenseits der Bilder keine andere Sprache erlauben. Gewiß, die Urszene läßt
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Vgl. Vondung: "Überall stinkt es nach Leichen" [Anm. 5], 134: "Die Apokalypse wurde kupiert." Vgl. auch Dietmar Kamper: Die kupierte Apokalypse - Eschatologie und Posthistoire, in: Ästhetik und Kommunikation 60 (1985), 83-90. Vgl. DetlefKremer: Arche und Apokalypse - Bild tmd Schrift in Peter GreenClways Filmen, in: Lesbarkeit der Kultur- Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann und Sigrid Weigel, München 2000,503-520. Im Hinblick auf Lynchs Aufbrechen der Oberfläche stellt Slavoj Zizek eine Beziehung zu Lacans Begriff des Realen her: "Die Oberfläche der Haut schließt also das Reale der Lebenssubstanz, ihr Pulsieren, aus: Eine der Definitionen rur das Lacansche Reale ist, daß es der gehäutete Körper, das Pulsieren des rohen Fleisches sei." (Slavoj Zizek: Metastasen des Genießens - David Lynch mit Lacan, in: "Kultur" und "Gemeinsinn", hg. von Jörg Huber und Alois M. Müller, Zürich 1994,63.)
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sich rekonstruieren: der "Sohn", der sich der verbotenen "Mutter" im Allerheiligsten schon genähert hat, muß dem grausamen "Vater" weichen und Zeuge werden, wie dieser die "Mutter" sexuell mißbraucht. Gewiß ist diese Szene auch -von den abgeschnittenen Ohren bis hin zur Schere des Sadisten -von Kastrationsmotiven flankiert. Aber die psychoanalytische Übersetzung verfehlt oder verharmlost das Grauen der Bilder. Es sind eher die Entstellungen des psychoanalytischen Schemas, die die Faszination und Verstörung der Szenerie ausmachen: die Regression des sadistischen" Vaters" zu einem "Baby" , das mit einer entstellten Stimme zu "Mammi" kommen will, der erneute Wechsel der Stimmlage hin zur Rolle "Daddys", der einhergeht mit dem Überstülpen einer Hyperventilationsmaske für Asthmatiker. Mit dieser Maske hat der Sadist sich in ein hybrides insektenähnliches Monster verwandelt, das mit der Freudschen Urszene so wenig zu tun hat wie HannibalLecter aus Jonathan Demmes The Silence ofthe Lambs (1990) mit Norman Bates aus Alfred Hitchcocks Psycho (1960). Von ganz entscheidender Bedeutung fur diese Vergewaltigungs-Szene ist der Moment des Blicks, genauer gesagt des Sehens und Nicht-Gesehen-Werdens. Der sadistische Insektenmann mit dem Namen des Lincoln-Attentäters Booth besteht peinlich darauf, daß ihn das weibliche Objekt seines perversen Begehrens nicht ansieht. Sein perfides sexuelles Arrangement funktioniert nur, wenn er sein Objekt zu einem Bild virtualisiert hat, das über keinen eigenen Blick verfugt. Die eigentliche Gewalt und Macht geht vom Blick aus, vor allem dann, wenn er sich dem Blick des oder der Anderen entzogen hat, d.h. wenn ein voyeuristischer Blickkanal aufgebaut wird. Im Kern handelt es sich hier um eine BlickKonstellation, die komplex abgestuft ist. Verschiedene voyeuristische Positionen werden unterschieden, die ihren Ausgangs- und Endpunkt im Zuschauer des Films haben. Der Zuschauer beobachtet den initiatorischen Helden im Kleiderschrank und beobachtet mit ihm durch die Spalten der Lamellen den Sadisten, der sein sexuelles Objekt beobachtet. Sein ausdrückliches Begehren, nicht gesehen zu werden und damit sich selbst nicht als Monster bewußt werden zu müssen, dementiert der Film folglich gleich auf zwei Ebenen. Die einzige, die in dieser Blick-Konfiguration über keine eigene Perspektive verfugt, aber von allen zum sexuellen Blick-Objekt gemacht und damit im genauesten Sinne entschleiert und gehäutet wird, ist die Frau. Sie ist es, der im körperlichen wie im symbolischen Sinne Gewalt zugefügt wird. Sie wird weit stärker gedemütigt und degradiert als der von Frank Booth zusammengeschlagene und homosexuell markierte männliche Held. Nackt und völlig schutzlos wird sie von J effrey in eine Decke gewickelt und ins Hospital gebracht, bevor sie am Ende, wiederum in einer Art Neugeburt, mit ihrem entführten Sohn wieder vereinigt wird. J effrey selbst hat, nach seiner Initiation und nachdem er den Sadisten aus der voyeuristischen Position im Kleiderschrank heraus erschossen hat, die Männerrolle übernommen und läßt sich von seiner blonden Freundin aus dem Liegestuhl zum Essen rufen. Vorher hatte sich die Kamera aus
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dem Inneren des Körpers durchJeffreys Ohr zurückgezogen, durch das sie am Anfang des Films eine endoskopische Passage in die nächtliche, ebenso anziehende wie abstoßende gewalttätige Welt von "Deep River" - so der Name des Apartmenthauses - eröffnete. Bereits in seinem ersten Spielfilm Eraserhead (1977) hat Lynch die Inversion von Anfang und Ende als Apokalypse des sexuellen Körpers in einem weitgehend grotesken und monströsen Fonnular durchgefiihrt. Die Eingangssequenz spannt eine universale Konstellation auf, in der der Kopf des Helden Henry, dessen Haare ständig zu Berge stehen und dessen Augen staunend weit aufgerissen sind, über seine Kugelfonn mit einem Planeten zur bildlichen Deckung gebracht wird. Der Film beginnt damit, daß der menschliche Kopf und ein spenniumähnlicher Wunn in seinem Inneren in einer universalen Konfiguration gezeugt und anschließend durch einen allegorisierten Geburtskanal, zusammen mit dem Film selbst, geboren werden. Die Beziehung zwischen Henry und seiner phallischen Kopfgeburt, des, wenn man so sagen kann, grotesk verdrehten Christuskindes, bezeichnet die semiotische und dramatische Hauptlinie dieses Films. Die selbstreflexiv gewendete Geburt verspricht nicht nur eine groteske Ästhetik auf der Ebene der Figuration, sondern der Film als ganzer entwickelt sich als surrealer, phantastischer und grotesker Körper, der gewaltsam in Einzelteile zerfällt und nur zusammenwächst, um sofort wieder auseinanderzubrechen. In der sinistren Landschaft des Films hat Henry sich ein schwarzweiß gefliestes Traum-Theater geschaffen, auf dem eine im Nachspann so genannte "Frau im Heizkörper" ihre Auftritte hat. Innerhalb der bedrohlichen Welt des sexuellen Begehrens übernimmt die entstellte Heizkörperfrau die Rolle der asexuellen Gegenfrau. Zum Ende des Films hin verliert Henry hier vorübergehend seinen Kopf Henrys Kopfwird förmlich vom Rumpf gesprengt. Er fällt auf den Boden, wo er von Blut überschwemmt wird. Ursache des Kopfverlustes ist die neuerliche Geburt des bizarren Säuglings mit dem Greisenkopf, der vorher bereits zweimal, von Henry und seiner Freundin Mary X, geboren worden ist. Aus der Wunde reckt sich das bezahnte Etwas, das Henry in dieser Traumsequenz aus seinem eigenen Leib zum dritten Mal geboren hat und dasjetzt seine Stelle einnimmt. Während Henrys Kopf mit aufgerissenen Augen in der Blutlache liegt und seine Finger nervös auf einem Geländer spielen, erigiert aus seinem eigenen Rumpf der lange Hals des ekligen Monsters, das einem Gemälde von Francis Bacon entsprungen zu sein scheint. Mit dem Abplatzen des Kopfes und der Neugeburt des Monster-Babys ist die reversible Struktur der grotesken Ästhetik aber noch nicht beendet. Der Kreislauf des losgelösten metonymischen Kopfes ist noch nicht abgeschritten. Die Blutlache der fahrbaren Installation öffnet sich in einen Abgrund, in dessen Sog Henrys Kopfverschwindet. In letzter, das heißt in diesem Zusammenhang wohl apokalyptischer Hinsicht bezeichnet er den Ort, wo jede Sicherheit des Raumes und der Zeit verschwindet und wo dem Körper, gleichgültig ob im Akt
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der Geburt oder des Todes, Gewalt angetan wird. In semiotischer Hinsicht bezeichnet er den Ort der ständigen Metamorphose, wo jeder eindeutige Sinn entzogen wird. Henrys losgesprengter Kopffällt schließlich auf die Straße, wo er von einem Jungen aufgenommen und in eine Radiergummifabrik gebracht wird. Hier wird Henrys gelöschtes Haupt, wie es der Filmtitel verspricht; zu Radiergummis verarbeitet. Selbst also in Lynchs reduzierter, über weite Strecken aber noch bizarr-komischer Bestätigung des Zyklus von Geburt und Tod entsteht am Ende keine fröhliche Lebensbestätigung, sondern die negative Imagination eines Mediums der Auslöschung, sei es ein Radiergummi zur Tilgung der Schrift und Bilder - Henry ist immerhin von Beruf Drucker - oder ein magnetophonischer Löschkopf zur Auslöschung der Stimme. Kurz nach der Traumsequenz ist Henry wieder zusammengewachsen, um das monströse Baby der Mutter Mary X, auf dem er nach ihrem Verschwinden hängen geblieben ist, zu töten. Nicht nur der Name der Mutter spielt auf den christlichen Hintergrund von unkörperlicher Empfängnis und Kreuzigung an. Auch die Gestalt des Säuglings enthält eine Entstellung der christlichen Vorlage. Sie erinnert in der Tat, wie Georg Seeßlen vermutet, an einen "greisen Lammfötus"12, hinter dem das christliche Lamm durchschimmert, das zur Schlachtbank gefUhrt wird. Mit einer Schere durchtrennt Henry zunächst eine Mullbinde, mit der der hautlose Körper des Säuglings zusammengehalten wurde. Dann sticht er in den gehäuteten Körper, aus dem eine dünne Flüssigkeit spritzt und anschließend eine große Menge einer dickflüssigen, breiigen Masse quillt. Lynch hat diesen Vorgang wiederum an die Vorstellung der Öffnung des Leibes als einer Metamorphose und Neugeburt angelehnt. Die Häutung des Babys endet nämlich damit, daß die eklige Körpermasse den Raum überschwemmt. Gleichzeitig beginnt es unkontrolliert zu spucken, und sein langer Hals nimmt, unter heftigem Zucken und elektrischem Lichterflackern, monströse Ausmaße an. Nach der Häutung stirbt das Baby keineswegs, sondern transformiert sich in einen überlebensgroßen Phallus. Aus der versuchten "Kastration" folgt eine hyperbolische Erektion, die den scheuen Helden Henry förmlich an die Wand drängt. Zwischen Kastration und Erektion entwickelt Lynch den sexuellen Körper als einen gewalttätigen und fragmentarisierten. In dem Maße, wie er ohne Haut ist, fehlt ihm die äußere Grenze zur Welt. Als amorphe Masse hebt er die gewöhnliche Raumordnung auf und irritiert die Orientierung des Zuschauers in einer labyrinthartigen Fügung nachhaltig. Jede Kamerafahrt durch eine Röhre endet mit einer Öffnung, die erneut in eine Röhre fUhrt usw. Viel mehr als ein fortwährendes Oszillieren zwischen einem beweglichen Innen und einem ebenso beweglichen Außen bleibt dem Betrachter an Raumorientierung nicht. 12
Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme, Marburg 1997,33.
Virtuelle Apokalypse im zeitgenössischen Film
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Am Ende seiner Metamorphose ist das phallische Baby zu einer riesenhaften phantasmagorischen Gestalt aufgebläht, deren hyperbolischer Kopf wie am Anfang des Films planetarische Ausmaße annimmt. Parallel löst sich die Film-Welt, beobachtet von Henrys weit aufgesperrten Augen, in einer fur diesen Film untypischen schnellen Schnittfolge auf Der Planet zerbricht, öffnet aber am Ende einen weiteren Geburtskanal, bevor Henry sich mit seiner phantastischen Frau aus dem Heizkörper vereinigt, die, so eine Vermutung Anne]erslevs, den Zwang und die Gewalt des Geschlechtlichen überwinde und sie vor der Verfuhrung der lasziven Nachbarin schütze 13 . Immerhin ist sie es, die in ihrem Lied verspricht: "In heaven everything is fine." In Lynchs Bilderwelt verbirgt sich im Himmel aber nur eine neue Hölle, undjedes]enseits der Gewalt und des Sexuellen ist nur ein vorläufiges und flüchtiges und geht nahtlos wieder in ein Diesseits über. In Lost Highway (1996) hat Lynch die Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen nicht nur als phantastische Grenzaufhebung zwischen Ich und Welt, Wahn und Wirklichkeit ausgefuhrt. Er beschränkt sich auch keineswegs auf eine Inversion des topographischen und architektonischen Raums oder die reversible Einbindung der chronologischen Ordnung in eine Endlosschleife, derzufolge das Ende einen verschobenen Anfang bezeichnet14 . Die Pointe der Deformation von subjektiver Identität und kinematographischer Bildlogik in Lost Highway besteht darin, daß entlang des seit Wild at Heart eingefuhrten gelben Mittelstreifens der Autobahn Raum und Zeit in eine wechselseitige Verschiebung geraten. Innerhalb der Katastrophe des Saxophonspielers Fred Madison und seiner schizoiden Konvergenz mit demjüngeren Automechaniker Pete springt die Zeit über in den Raum, und der Raum löst sich in Zeit aufund umgekehrt. Am Anfang des Films - wenn man so noch sagen darf - befindet sich Fred im Inneren seines Hauses und hört über die Sprechanlage den Satz "Dick Laurent is dead", von einem unbekannten Außenstehenden gesprochen. Am Ende steht Fred außen und wiederholt den Satz wörtlich fur einen unbekannten Hörer im Inneren. Daß dieser Satz nur eine Variation des sexuellen Begehrens ist, dessen voyeuristischer Impuls als filmische Pornographie und symbolischer Tod des Phallus - der obszöne Kern des amerikanischen "Dick" - umgesetzt wird, bestätigt sich allgemein in der gesamten Handlung von Lost Highway und speziell darin, daß die gespaltene und reversible Person Fred/Pete wechselseitig erotische Konkurrenten tötet 15 . Innerhalb einer ausweglosen Möbiusschleife, die die Ordnung des Sexu13
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Vgl. Anne Jerslev: David Lynch - Mentale Landschqften, Wien 1996, 80ff. Vgl. Petra Kallweit: Anmerkungen zu Selbstrtiflexion und Selbstrtiffrenz in "Twin Peaks" und "Lost Highway", in: "A Strange World" - Das Universum des David Lynch, hg. von Eckhard Pabst, Kiel 1998, 222-224. Vgl. Didi Neidhart: From Blue Velvet Underground to Wild Mainstream - Zur Funktion der Popsongs in den Filmen "B/He Velvet", "Wild at Heart" und "Lost Highway", in: }JA Strange World" [Anm. 14],314.
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ellen markiert, steht der Tod des Phallus von Anfang an fest, nicht minder allerdings die Unvermeidlichkeit des Begehrens: die Ermordung der schwarzhaarigen Ehefrau bedeutet nicht ihr oder das Ende, sondern nur die Verschiebung zu einer weißblonden Darstellerin von pornographischen Filmen, die zwar als eine andere Rolle angelegt ist, aber von derselben Schauspielerin, Patricia Arquette, gespielt wird. Dies bezeichnet den virtuellen Aspekt der filmischen Apokalypse, als dessen Zentrum Lynchs Film das Sexuelle ebenso behandelt wie die übrigen hier skizzierten Filme des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Und daß die sexuelle Apokalypse im Raum des Virtuellen einem grundlegenden narzißtischen Impuls gehorcht, wird noch einmal klar, wenn man bedenkt, daß der Satz "Dick Laurent is dead" nur Teil eines endlosen Selbstgesprächs ist und daß Pete und Fred nur Masken einer Figur namens "Mystery Man" sind, die man wohl nicht zu sehr trivialisiert, wenn man sie seinerseits als Maskierung Lynchs sieht. Wenn man mit der Entschleierung des Sexuellen in Lynchs Filmen Apokalyptisches assoziieren will, so muß erneut der metaphorische Status dieser Zuordnung betont werden. Auch die Verschränkung von Raum und Zeit in Lost Highway und die Verkehrung von Anfang und Ende nach dem Modell einer Möbiusschleife entkommt nicht dem Zwang einer endlosen Wiederholung, einer Wiederholung jedoch, die keine vormoderne Zyklik und Identität restituiert, sondern die entlang einer beschleunigten und gerichteten Zeit der Modeme eine grundsätzliche, nicht hintergehbare Differenz bestätigt. Lynchs Filme stellen die Katastrophe des Sexuellen vor Augen, die eine immanente Implosion des Geschlechtlichen insofern darstellt, als sie kein Außen und kein Ende zuläßt.
Burkhard Meyer-Sickendiek DER UNTERGANG DES FETISCHISMUS
Zum biblischen Subtext zweier moderner Endzeiterzählungen: Heart of Darkness und Apocalypse Now Ein zentrales Thema der biblischen Erzählungen ist die Verkündigung des Bundes, den Gott im Alten Testament mit dem Volke Israels, im Neuen Testament mit allen Menschen schloß. Es ist dies ein Bund, der wie eine Ehe Ausschließlichkeit beansprucht und die Verehrung fremder Gottheiten unter Verbot stellt. Als Gegenleistung fur die Befreiung der Stämme Israels aus Ägypten fordert Gott von seinem Volk den Bruch mit einer religiösen Praxis, die noch von dessen eigenen Vorfahren kultiviert wurde: die Verehrung fremder Götter. 1 Darüber hinaus stellt der Bund zudem den Rückgriff auf innerweltliche Medien göttlicher Verehrung unter Strafe, wie dies durch das im zweiten Gebot formulierte Bilderverbot2 zum Ausdruck kommt. Markiert der Bruch mit dem Polytheismus die Differenz zu den Kultformen der Vorväter sowie der Ägypter, so unterscheidet das Bilderverbot die geforderte Gläubigkeit von der jener Völker, die vom Volke Israels im Zuge der Eroberung und Besiedlung Kanaans entdeckt werden 3 : Ihr habt unter den Ägyptern gelebt und seid dann durch das Gebiet fremder Völker gezogen, durch das euer Weg führte. Ihr habt die verabscheuenswerten Götzen all dieser Völker gesehen, Bilder aus Holz, Stein, Silber und Gold. Gebt acht, daß niemand unter euch, kein Mann und keine Frau, keine Sippe, kein Stamm, sich heute vom Herrn, unserem Gott, abwendet, um den Göttern dieser Völker zu dienen.
Daß die Selbstoffenbarungen Gottes gegenüber seinem Volk stets auch darin bestehen, die Einhaltung dieses Gebotes zu überprüfen, zeigt nicht nur die Lektüre des Deuteronomiums, in welchem die Unheilsgeschichte Israels am Leitfaden eines zunehmenden Götzendienstes entfaltet wird. Auch diejenigen biblischen Texte, die aus formalen und inhaltlichen Gründen als ,apokalyptisch' bezeichnet werden, beinhalten stets die Ächtung religiöser Untreue und bestrafen den Rückfall in anfanglichere Kultformen. Die "Strafe rur den
3
Vgl. Das BuchJosua 24,2; 24,14. Zitiert aus: Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht des Alten und des Neuen Testaments ohne die Spätschriften des Alten Testaments (Deuterokanonische Schriften/ Apokryphen), Stuttgart 1982. Das zweite Buch Mose 20,4. DasJiil?fte Buch Mose 29,15-17. Diese Passage läßt im übrigen den Ausdruck ,Bilderverbot' etwas problematisch erscheinen, da es sich angesichts der aufgeftihrten Materialien wie etwa Holz oder Stein wohl eher um das Verbot von Plastiken handelt.
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Burkhard Meyer-Sickendiek
Götzendienst der Israeliten" schildert Ezechiel4, die "Reinigung des Landes von Götzen und falschen Propheten" beschreibt der Prophet Sacharja S , und auch in der ,Musterapokalypse' , dem Buch Daniel, liegt der Grund fiir den Untergang König Belschazzars unter anderem im Preisen der Götzen aus Gold, Silber, Bronze, Eisen, Holz und Stein6 : "Dem Gott aher, der dein Leben in der Hand hat und dein ganzes Schicksal bestimmt, hast du die Ehre verweigert. " Die Ächtung des Götzendienstes findet sich aber auch in den neutestamentlichen Apokalypsen: Die in der Offenbarung an Johannes prophetisch beschworene "Zeit der Versuchung", welche "über die Erde kommen und alle Menschen auf die Probe stellen wird", sie ist nicht nur eine Zeit des Mordens, des Diebstahls und der Unzucht, sondern auch eine Zeit falscher Zauberei, in welcher die Menschen nicht aufhören, "die Dämonen und Götzen aus Gold, Silber, Bronze, Stein und Holz anzubeten, diese selbstgemachten Götter, die weder sehen noch hören noch gehen können'