Christoph Ableitinger Biomathematische Modelle im Unterricht
Christoph Ableitinger
Biomathematische Modelle im Unterricht Fachwissenschaftliche und didaktische Grundlagen mit Unterrichtsmaterialien STUDIUM
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Dr. Christoph Ableitinger Universität Duisburg-Essen Fakultät für Mathematik Campus Essen 45117 Essen
[email protected] 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Ulrike Schmickler-Hirzebruch Vieweg+Teubner Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.viewegteubner.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-8348-1364-0
Vorwort Das vorliegende Buch geht aus der Dissertation „Diskrete biomathematische Modelle im Schulunterricht“ hervor, die im Jahr 2008 an der Universität Wien entstanden ist. Es wurden wesentliche Teile überarbeitet bzw. neu konzipiert, um dem Werk den Charakter eines Lehrbuches zu verleihen. Das Buch richtet sich vor allem an Lehramtsstudierende1 des Fachs Mathematik sowie an Gymnasial- und Gesamtschullehrkräfte. Es werden aber eventuell auch Biologielehrkräfte, Mathematikdidaktiker und Mathematiker Interesse an dem Buch finden. Der Fokus der Arbeit ist aber explizit ein mathematikdidaktischer. Begriffe und Konzepte aus der Biologie werden nur so weit geklärt, wie es zum Verständnis des jeweiligen Kontextes bzw. zur Konzeption geeigneter mathematischer Modelle von Nöten ist. Das mathematische Niveau orientiert sich im Wesentlichen an jenem der Schulmathematik. Räuber-Beute-Modelle, Wachstumsprozesse und das SIR-Modell sind Themen, die in der Rubrik „Biomathematik“ in der mathematikdidaktischen Literatur an der einen oder anderen Stelle zu finden sind. Die Biomathematik bietet allerdings noch viele andere Einsatzmöglichkeiten für den Schulunterricht, und das nicht nur für die Sekundarstufe 2 oder für besonders leistungsstarke Schüler. Wenn man nämlich diskrete Modelle anstatt der in der Fachliteratur gebräuchlichen kontinuierlichen Modelle betrachtet, so genügen die mathematischen Kenntnisse aus der Sekundarstufe 1, um zumindest einen ersten sinnvollen Einblick in diese spannenden Anwendungen der Mathematik zu ermöglichen. Es soll Ziel dieser Arbeit sein, entsprechende Möglichkeiten aufzuzeigen und Chancen aus didaktischer Sicht daraus abzuleiten. Das Kapitel 1 gibt einen Einblick in die Welt der Biomathematik. Es werden die vier wesentlichen Teilgebiete vorgestellt, nämlich die Demographie, die mathematische Ökologie, die Epidemiologie und die Populationsgenetik. Neben einer allgemeinen Beschreibung der Teilgebiete werden jeweils auch kurze Episoden geschildert, die das Teilgebiet treffend beschreiben oder seine historische Entwicklung wesentlich beeinflusst haben. Dabei werden auch große Persönlichkeiten der Biomathematik in den Blick genommen. Zum Abschluss werden kurze Einblicke in die moderne Forschung und ein Überblick über die wichtigsten Begriffe gegeben, die auch im Schulunterricht verwendet werden sollen. Die Kapitel 2-4 stellen den mathematischen Kern der Arbeit dar. Hier werden schrittweise – angefangen von einfachen Einpopulationsmodellen bis hin zu komplexeren Mehrpopulationsmodellen – die in der Literatur gebräuchlichsten biomathematischen Modelle in ihrem „diskreten Kleid“ vorgestellt. Es wird dabei großer Wert auf die Interpretation der Modellgleichungen und auf einen verständigen Umgang mit den Modellen an sich gelegt. Am Ende jeder Modellbeschreibung finden sich Zusatzfragen, kurze Aufgaben oder Beispiele, die dem Leser zum Durcharbeiten und Vertiefen empfohlen werden. Zwischendurch gibt es mathematische Exkurse zur Klärung wichtiger Begriffe, Konzepte und Lösungsmethoden. In diesen Kapiteln wird der Grundstein für die Unterrichtsprojekte im dritten Teil des Buches gelegt. Das inner- bzw. außermathematische Potenzial der Biomathematik für den Schulunterricht 1 Es wird versucht, wo möglich geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen zu verwenden. Aus Gründen der Lesbarkeit
werden wir im Folgenden allerdings auf Formulierungen wie „Schülerinnen und Schüler“ verzichten und lediglich die allgemeine Bezeichnung „Schüler“ benutzen. Alle personenbezogenen Aussagen gelten – sofern nicht explizit anders formuliert – stets für Frauen und Männer gleichermaßen.
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wird in den Kapiteln 5 und 6 herauspräpariert. Eine wesentliche Rolle kommt dabei dem Konzept der Iteration zu, das den Schulunterricht von der Unter- bis zur Oberstufe wie ein roter Faden durchzieht. Diese fundamentale Idee des anwendungsorientierten Mathematikunterrichts ist auch der Schlüssel zur Arbeit mit diskreten biomathematischen Modellen. Wenngleich das Thema „Biomathematik“ in keinem Schulcurriculum explizit vorgeschlagen wird, so eignet es sich doch als Begleiter dieser Idee bzw. als authentischer Kontext für dynamische Prozesse und Systeme. Es bietet sich bei diesem Thema auch die Arbeit am Computer in natürlicher Weise an – Tabellenkalkulationen stellen ein ideales und für den Schulunterricht leicht zugängliches Werkzeug zur Behandlung diskreter Modelle dar. Außerdem sollen Modellierungstätigkeiten in einem biomathematischen Unterricht genauso Platz haben wie das Arbeiten mit unterschiedlichen Darstellungformen und das Aufzeigen sowie das bewusste Nutzen von Vernetzungen mathematischer Methoden. Alle diese Forderungen sind am Ende der einzelnen Teilabschnitte als Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte im dritten Teil des Buches formuliert. Schließlich werden in den Kapiteln 7-10 konkrete Unterrichtsvorschläge in Form von Projekten gemacht. Zu jedem der vier oben genannten Teilgebiete der Biomathematik wird ein direkt in den Unterricht übertragbarer Leitfaden mit konkreten Schüleraufgaben präsentiert. Dazu finden sich ausführliche, im Fließtext formulierte Lösungen, die einen Einsatz im Unterricht erleichtern sollen. Diese Vorschläge sind vor allem – aber nicht nur – für einen projektartigen Unterricht geeignet, bei dem die Schüler alleine bzw. in kleinen Gruppen an den Aufgaben arbeiten sollen. Zwischendurch werden immer wieder Hinweise und Bemerkungen didaktischer oder unterrichtspraktischer Natur gemacht. Es wurde versucht – sofern möglich und zugänglich – an realen biologischen Daten zu arbeiten, um den Unterrichtsprojekten einen authentischen und lebenspraktischen Charakter zu verleihen. Außerdem werden auflockernde, gleichzeitig aber mathematisch gehaltvolle Simulationen und Spiele für das Klassenzimmer vorgestellt, an denen die Schüler wichtige Mechanismen der mathematischen Modelle durch eigenes Tun kennenlernen sollen. Jedes der vier Kapitel endet mit einem für das jeweilige Teilgebiet repräsentativen biomathematischen Modell. Das Leslie-Modell, das Lotka-Volterra-Modell, das SIR-Modell und das Fisher-Wright-Modell sind auch in der Fachliteratur zentrale und das Fach charakterisierende mathematische Beschreibungen. Mein ausdrücklicher Dank gilt Prof. Karl Sigmund, Prof. Josef Hofbauer und Prof. Reinhard Bürger für die anregenden und für diese Arbeit inspirierenden Vorlesungen zur Biomathematik an der Universität Wien. Des weiteren möchte ich mich bei Prof. Hans Humenberger für die Betreuung der Dissertation, aus dem dieses Buch hervorgegangen ist, sowie fürs Korrekturlesen ganz herzlich bedanken. Außerdem bedanke ich mich bei ihm sowie bei Prof. Hans-Wolfgang Henn für die Ermutigung zur Publikation dieses Buches. Dagmar Melzig war mir beim Verarbeiten der Grafiken eine große Hilfe, wofür ich sehr dankbar bin. Vom Verlag Vieweg+Teubner möchte ich in erster Linie Ulrike Schmickler-Hirzebruch und Kathrin Labude meinen besten Dank für die befruchtende und reibungslose Zusammenarbeit aussprechen. Meiner Familie und meinen Freunden danke ich vor allem für ihre Geduld und ihr Verständnis, die die zeitaufwändige und manchmal aufreibende Arbeit an einem solchen Buch einfordert. Juliane Ott gilt mein besonderer Dank fürs Korrekturlesen und für ihre Halt gebende Begleitung. Essen im August 2010
Christoph Ableitinger
Inhaltsverzeichnis
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Biomathematische Modelle
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Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte 1.1 Demographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Episoden aus der Demographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Demographie und Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Mathematische Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Episoden aus der mathematischen Ökologie . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Mathematische Ökologie heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Episoden aus der Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Mathematische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Populationsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Episoden aus der Populationsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Aktuelle Forschung in der Populationsgenetik . . . . . . . . . . .
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Modelle mit einer Zustandsgröße 2.1 Grundlegende Modelle . . . . . . 2.1.1 Lineares Wachstum . . . . 2.1.2 Exponentielles Wachstum 2.1.3 Begrenztes Wachstum . . 2.1.4 Logistisches Wachstum . . 2.2 Weiterführende Modelle . . . . . 2.2.1 Schaefer’sches Modell . . 2.2.2 Gompertz-Modell . . . . . 2.2.3 Allee-Effekt 1 . . . . . . . 2.2.4 Allee Effekt 2 . . . . . . . 2.2.5 Mutationsmodell . . . . . 2.2.6 Fisher-Wright-Modell . .
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Modelle mit zwei Zustandsgrößen 61 3.1 Grundlegende Wechselwirkungsmodelle aus der Ökologie . . . . . . . . . . . . 61
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Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen 4.1 Erweiterungen von Modellen mit zwei Zustandsgrößen 4.1.1 Zwei Beutespezies und ein Räuber . . . . . . . 4.1.2 SIR-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Lesliemodell 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Komplexere Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Bevölkerungsdynamik . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Stein-Schere-Papier-Dynamik . . . . . . . . . 4.2.3 SI-Modell mit zwei unterschiedlichen Erregern 4.2.4 Lineare Nahrungskette . . . . . . . . . . . . .
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3.2
4
Inhaltsverzeichnis
3.1.1 Mutualismus . . . . . . . . . . . 3.1.2 Konkurrenz . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Räuber-Beute-Modell . . . . . . Modelle aus anderen Teilgebieten . . . . 3.2.1 Natürliche Insektenvernichtung . 3.2.2 Tourismus vs. Umweltattraktivität 3.2.3 SI-Modell 1 . . . . . . . . . . . . 3.2.4 SI-Modell 2 . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Lesliemodell 1 . . . . . . . . . .
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II Biomathematik als Unterrichtsinhalt 5
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Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht 5.1 Tabellenkalkulation als didaktisches Werkzeug . . . . . . . . . 5.2 Roter Faden Iteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Darstellungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Mathematisches Modellieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Außermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht 6.1 Alltagsnahe Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Systemdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Fächerübergreifender, anwendungsorientierter Unterricht . . . . . . . . . . . . .
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III Unterrichtsvorschläge 7
Unterrichtsprojekt zur Demographie 7.1 Einstieg und eine Einführung in Tabellenkalkulationen 7.2 Eine Verfeinerung des exponentiellen Modells . . . . . 7.3 Das Leslie-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Eine Erweiterung auf mehrere Altersklassen . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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IX
Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie 8.1 Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Mathematische Modellierung eines Räuber-Beute-Systems 8.3 Simulation in einer Tabellenkalkulation . . . . . . . . . . 8.4 Fixpunktüberlegungen am Räuber-Beute-Modell . . . . .
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Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie 9.1 Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Ein einfaches Modell wird experimentell untersucht 9.3 Relevanz von Kontakten . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Das SIR-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik 10.1 Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Mutation als zentraler Mechanismus . . . . . . . 10.3 Selektion als entscheidender Faktor der Evolution 10.4 Fixpunktüberlegungen am Fisher-Wright-Modell
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Anhang
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Literaturverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Teil I Biomathematische Modelle
1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte 1.1 Demographie Die Demographie befasst sich ganz allgemein mit der menschlichen Bevölkerung, ihrer Struktur und ihren Bewegungen. Kenngrößen, die in der Demographie häufig verwendet werden, sind z. B. die Geburten- und die Sterberate. Dabei ist natürlich darauf zu achten, dass diese Größen in unterschiedlichen Altersgruppen auch unterschiedliche Werte annehmen. Ebenso wie die Fertilität, also die mittlere Anzahl an Nachkommen pro Zeiteinheit und Frau. Und nicht nur vom Alter, auch von der geographischen Lage hängen diese Größen und damit auch die durchschnittliche Lebenserwartung bzw. die Gesamtzahl an Nachkommen pro Jahrgang ab. So genannte Alterspyramiden, also Darstellungen der Bevölkerungsstruktur nach Altersklassen, sehen demnach in unterschiedlichen Teilen der Welt auch qualitativ sehr verschieden aus. Zu den wichtigsten Werkzeugen in dieser Disziplin gehören zweifellos die Volkszählung bzw. andere statistische Erhebungen. Ab etwa 1850 wurden in Mitteleuropa erstmals detaillierte Aufzeichungen über Einwohner von Gemeinden durchgeführt, die es erlaubten, sinnvolle Aussagen über die oben genannten Größen zu machen. Fragestellungen, die in der Demographie nach wie vor sehr viel Aktualität besitzen, sind etwa jene nach dem Generationenvertrag, nach der langfristigen Entwicklung von Bevölkerungsstrukturen, nach der Geburtenkontrolle in manchen Teilen der Erde, wie auch nach der zunehmenden Migration. Wie wichtig diese Fragestellungen sind bzw. welch intensives Interesse die Politik, die Gesellschaft und die Wirtschaft an deren Beantwortung haben, zeigt die Fülle an statistischen Erhebungen1 , die jedes Jahr in diesem Bereich in Auftrag gegeben werden.
1.1.1 Episoden aus der Demographie Übervölkerungs- vs. Entvölkerungsangst Die Frage von Bevölkerungswachstum bzw. -rückgang ist seit jeher geprägt durch kontroverse Diskurse und unterschiedliche politische und gesellschaftliche Ziele. Im 18. Jahrhundert war die Meinung vorherrschend, eine große Bevölkerungszahl impliziere großen Wohlstand für das betreffende Land. Johann Peter Süßmilch, deutscher Mitbegründer der wissenschaftlichen Bevölkerungslehre, meinte 1741 sogar, dass die Bevölkerungsvermehrung die „Glückseligkeit eines Staates“ bedeute. Doch auch schon im 16. Jahrhundert wurde das wirtschaftliche Potenzial großer Bevölkerungen erkannt. Das kann man etwa in den sächsischen Münzschriften über den Münzstreit zwischen 1 Siehe
etwa im Internet: http://www.statistik.at, http://www.destatis.de, Links vom 01.07.2010.
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_1, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Abbildung 1.1: Thomas Robert Malthus (1766-1834)
katholischen Albertinern und evangelischen Ernestinern nachlesen2 : Denn wo viel Menschen da sind, da findet sich Absatz für die Waren, da kann der Adel aus seiner Viehzucht Gewinn ziehen, die Fische aus seinen Teichen verwerten, Weizen, Korn, Gerste und Hafer zu befriedigendem Preise verkaufen, da bekommt sein Holz, Stroh und Heu rechten Wert. [...] All diesen Segen verdanken wir der Menge der Menschen, welche um des Handels und des Bergbaus willen, in Anbetracht des hier herrschenden Friedens und der guten Münzzustände in diese Lande strömen. Auch Martin Luther äußert sich in seinen Schriften positiv über Kinderreichtum und plädiert für eine frühe Heirat. Gott würde schon für die Kinder sorgen, die er den Eheleuten schenkt. Neben der religiösen Bedeutung stand bei dem Wunsch nach großen Bevölkerungen aber sicher auch die Macht und der Reichtum im Blickpunkt der Herrscher. Große Bevölkerungen versprachen regen Handel, große Armeen und viel Arbeitskraft in der Landwirtschaft. Es wurden von unterschiedlichsten Menschen unterschiedlichster Völker Ideen entwickelt, wie denn eine Vergrößerung der Einwohnerzahl erreicht werden könne. Es wurden beispielsweise Vorschläge zur Eheförderung gemacht, Auswanderungsverbote durchgesetzt, steuerliche Anreize für die Einwohner geschaffen oder die Aufforderung zur Immigration ausgesprochen3 . Man war der Auffassung, dass mit wachsenden Bevölkerungen auch die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelproduktion in gleichem Maße wachsen würden. Der erste, der sich diesem „populationistischen Denken“ öffentlich entgegensetze, war der britische Ökonom Thomas Robert Malthus (siehe Abbildung 1.1). Ihn bezeichnete Karl Marx später als „meistgehassten Mann seiner Zeit“. Sein Denken und seine Theorie waren unpopulär, wenngleich Malthus vielfach 2 siehe 3 siehe
[Lot93, S. 6] z. B. [Lis07, S. 7]
1.1 Demographie
5
missverstanden und missinterpretiert wurde. So wurde im Deutschland des 19. Jahrhunderts die Übervölkerung gerade der armen, proletarischen Bevölkerung als Ursache für das Elend breiter Schichten verantwortlich gemacht4 . Thomas Robert Malthus zufolge gibt es zwei wesentliche Prinzipien, die ausschlaggebend für das Bevölkerungswachstum und den damit zusammenhängenden Wohlstand seien. Zum einen ist das die Annahme, dass sich menschliche Bevölkerungen einem Naturgesetz entsprechend exponentiell vermehrten. Dieses Grundgesetz liege sozusagen der Menschheit schon zugrunde. Andererseits vermehre sich das Nahrungsmittelangebot, das durch den Menschen erschlossen werden kann, nur linear5 . Er leitet daraus die notwendige Entstehung von Kriegen, Hunger und Elend ab, sofern der Mensch seinen Sexualtrieb nicht zügele. Diese Folgerung hat verständlicherweise bis heute Brisanz. Infolgedessen wurden beispielsweise in Deutschland und Österreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts staatliche Ehebeschränkungen rechtlich festgelegt. In Tirol waren diese teilweise bis 1921 gültig, in Bayern immerhin bis 1916. Damit behielt sich der Staat vor, die Eheschließung und die damit in Verbindung stehende Zeugung der Nachkommenschaft nach „beliebigen politischen Gesichtspunkten“ zu steuern. Allerdings gab es in dieser Zeit einen hohen Anteil an unehelichen Geburten, der diese Steuerung untergrub. Als Gegenposition wurde gerade von sozialistischen Gruppen die fortschreitende Armut nicht auf das relativ zur Bevölkerungsentwicklung langsame Wachstum des Nahrungsmittelangebotes zurückgeführt, sondern auf Störungen der ökonomischen Entwicklung. Elend sei Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Mängel6 . Auch in der heutigen Zeit ist das Spannungsfeld zwischen Übervölkerung und Entvölkerung ein brennendes weltpolitisches Thema. Während in Entwicklungs- und Schwellenländern die Geburtenraten meist sehr hoch liegen und das Platz- und Nahrungsmittelangebot sowie die medizinische Versorgung nicht ausreichend zur Verfügung stehen, haben industrialisierte Gesellschaften in Europa und Nordamerika eher mit einer Überalterung der Bevölkerung und den daraus resultierenden Problemen zu kämpfen. Volkszählungen Die Erhebung von Bevölkerungsdaten stellt die wichtigste Methode der Demographie dar. Insofern hat die Demographie auch eine lange Entwicklungsgeschichte. Bevölkerungsgrößen sowie Merkmale von Populationen wurden nämlich schon vor über 5 000 Jahren erhoben. Die erste belegte Volkszählung fand etwa 3800 v. Chr. im antiken Babylon statt. Auch im römischen Reich wurden regelmäßig Volkszählungen durchgeführt und entsprechende Steuerlisten angefertigt. Die berühmteste Erzählung in diesem Zusammenhang ist wohl die Weihnachtsgeschichte im Lukasevangelium (Kapitel 2, Verse 1-5): In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog 4 siehe
[Ehm04, S. 64] [Bir89, S. 56] 6 siehe [Ehm04, S. 67] 5 siehe
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Im Mittelalter gab es in Europa kaum verlässliche Volkszählungen. Und sogar noch im Jahr 1753 wurde im englischen Parlament ein Antrag auf eine Volkszählung abgelehnt7 . Ein solches Unternehmen würde „Englands Feinden dessen Schwäche bloßstellen, es wäre dem völligen Untergange der letzten Reste englischer Freiheit gleichbedeutend.“ Genaue Rückschlüsse über die Bevölkerungsgröße Englands zu diesem Zeitpunkt lassen sich auch heute nicht machen. Die Landbevölkerung Preußens wurde erstmals 1686 gezählt. In Österreich fand die erste „Seelenbeschreibung“ nach der Verwaltungsreform von Kaiserin Maria Theresia (siehe Abbildung 1.2) 1754 statt. In den USA wurde die Bevölkerungsgröße erstmals 1790 erfasst. 1903 wurde das U.S. Census Bureau gegründet, das seither alle 10 Jahre eine Volkszählung durchführt. In manchen Entwicklungsländern wurden die ersten Volkszählungen erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts abgehalten – beispielsweise gab es in Afghanistan die erste und gleichzeitig letzte Volkszählung im Jahr 1979. Eine Ursache für die Schwierigkeiten bei Volkszählungen in Entwicklungsländern – neben kriegspolitischen oder durch Naturkatastrophen ausgelösten – wurde oftmals dem Unwillen dieser Länder zugeschrieben, genaue Daten über die Bevölkerungsgröße zu haben. Je größer nämlich eine Bevölkerung geschätzt wird, desto kleiner ist das statistische Pro-Kopf-Einkommen und desto höhere Entwicklungshilfen werden zugesagt. Derartige Manipulationsmethoden sind aber unbestätigt und ließen sich in der heutigen Zeit ohnehin durch Kontrollen weitestgehend verhindern. Umgekehrt wurde auch den Kolonialmächten oftmals vorgeworfen, die Bevölkerungsanteile in den Kolonien manipuliert zu haben, wenn auf deren Grundlage die Berechnung der Parlamentssitze oder der Anteil der Beamtenschaft festgelegt werden sollte. International koordiniert wurden Volkszählungen erstmals durch den Statistischen Kongress 1872 in St. Petersburg. Dort wurden Empfehlungen ausgearbeitet, welche Art von Informationen bei einer Volkszählung abgefragt werden sollten. Dazu gehören etwa der Name, das Geschlecht und das Alter der Bewohner, der Zivilstand, das Religionsbekenntnis, die Sprache, die Alphabetisierungsrate und der Gesundheitszustand. Danach orientieren sich auch heute noch die Fragebögen bei Volkszählungen.
1.1.2 Wichtige Begriffe Wir werden im Folgenden die wichtigsten Begriffe aus dem Bereich der Demographie anführen, die auch in den mathematischen Modellen eine Rolle spielen werden: Geburten- und Sterberate: Den Quotienten aus der jährlichen Neugeburtenzahl durch die durchschnittliche Bevölkerungsgröße dieses Jahres nennt man Geburtenrate. Der Quotient aus der Anzahl der Todesfälle in einem Jahr durch die durchschnittliche Bevölkerungsgröße heißt Sterberate. Die Differenz aus Geburten- und Sterberate gibt an, mit welcher Rate die Bevölkerung wachsen (bzw. schrumpfen) würde, sofern man exponentielles Wachstum unterstellt. 7 siehe
[Kul28, S. 5]
1.1 Demographie
7
Abbildung 1.2: Kaiserin Maria Theresia (1717-1780)
Fertilität: Die Fertilitätsrate (oder auch Fruchtbarkeitsziffer) gibt an, wie viele Nachkommen ein weibliches Individuum (in einem gewissen Zeitraum, z. B. in einem Jahr oder einem ganzen Leben) durchschnittlich zur Welt bringt. Sie ist also ein Maß für die Reproduktionsfähigkeit einer Population. Altersklasse: Zur sachgemäßen Beantwortung politischer oder gesellschaftlicher Fragen ist es im Allgemeinen notwendig, nicht nur über die Entwicklung der Bevölkerungsgröße an sich, sondern auch über deren Zusammensetzung Bescheid zu wissen. Das Einteilen der Population in Altersklassen mit für sie spezifischen Sterbe- bzw. Fertilitätsraten erlaubt es, demographische Modelle für die zukünftige Entwicklung der Altersstruktur einer Bevölkerung zu erstellen. Migration: Für die Veränderung der Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung spielt natürlich auch die Migration, also sowohl die Zu- als auch die Abwanderung von Individuen eine wichtige Rolle. Wir können im vorliegenden Buch allerdings der Komplexität wegen nicht auf Modelle eingehen, die Migration berücksichtigen.
1.1.3 Demographie und Statistik In modernen Gesellschaften gibt es viele Entscheidungen zu treffen, die darauf beruhen, wie die Altersstruktur in der Bevölkerung aussieht und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickeln wird. Man muss beispielsweise entscheiden, welches Pensionsalter in einer Bevölkerung festgesetzt werden soll, um Generationengerechtigkeit zu schaffen. Es muss die Höhe des staatlichen
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Kindergeldes so ausverhandelt werden, dass der Anreiz zur Familiengründung bzw. -vergrößerung gerade so groß ist, dass es die Bevölkerungsentwicklung positiv beeinflusst. Es müssen Entscheidungen bezüglich der Neugründung bzw. Schließung von Schulen, Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kindergärten getroffen werden. Und auch Fragen zum Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes in Städten und Ländern werden von demographischen Daten maßgeblich beeinflusst. All diese Überlegungen und Abwägungen benötigen genaues Datenmaterial und möglichst gute Prognosen für zukünftige Entwicklungen. Es ist daher wenig verwunderlich, dass viele Länder Jahr für Jahr groß angelegte demographische Studien in Auftrag geben. So gibt es in Deutschland das Statistische Bundesamt, in Österreich die Statistik Austria, in der Schweiz das Bundesamt für Statistik und in den Vereinigten Staaten das berühmte, 12 000 Mitarbeiter beschäftigende U.S. Census Bureau, von deren Internetseiten eine Fülle an demographischen Informationen entnommen werden kann. Die Daten zur Bevölkerungsentwicklung, zur Arbeitsmarktsituation, zum Gesundheitswesen uvm. können in der Regel von jedermann kostenlos genutzt werden. Sie werden unter anderem dazu verwendet, mathematische Modelle zu entwickeln, auf deren Grundlage dann politische Entscheidungen getroffen werden können. Einen Einblick in Forschungsgebiete der mathematischen Demographie gibt [CK05]. Hier wird z. B. folgenden Fragen auf den Grund gegangen: „Wie viele Menschen haben jemals auf der Erde gelebt? Warum gibt es in modernen Bevölkerungen mehr Frauen als Männer? Welchen Einfluss haben Krankheiten auf die Demographie einer Bevölkerung? Wie verändert sich die durchschnittliche Haushaltsgröße? Welchen Einfluss haben diese Aspekte auf die Altersstruktur?“. Interessant ist auch die Sammlung historischer Aufsätze aus der mathematischen Demographie, die in [KS10] publiziert wurde.
1.2 Mathematische Ökologie Wissenschaftler auf diesem Gebiet haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen zweier oder mehrerer Populationen aufeinander sowie den Einfluss äußerer Kräfte auf diese Populationen zu beschreiben. Wichtige elementare Beispiele sind dabei etwa Räuber-Beute-Beziehungen, Symbiosen und Konkurrenzverhältnisse. Die mathematische Ökologie war aufgrund ihrer makroskopisch leicht wahrnehmbaren Größen jenes Teilgebiet der Biomathematik, das sich zeitlich gesehen am frühesten schon recht weit entwickeln konnte. Trotzdem sind die Resultate, vor allem was Interaktionen zwischen Spezies und das Denken in komplexen Systemen betrifft, auch heute noch von großem Interesse in der Forschung.
1.2.1 Episoden aus der mathematischen Ökologie Der Allee-Effekt Am 25.11.2007 titelte die Neue Züricher Zeitung mit „Väter verzweifelt gesucht“. Damit war nicht etwa der Mangel an menschlichen Vätern oder an Vaterfiguren in unserer Gesellschaft gemeint, sondern vielmehr das Schicksal von Eisbärweibchen, die in Zukunft eventuell keine
1.2 Mathematische Ökologie
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Partner zur Reproduktion mehr finden könnten. Der Eisbärenpopulation Kanadas mangelt es an männlichen Individuen, das Geschlechterverhältnis ist unnatürlich weit zugunsten der Weibchen verschoben. Zum Zeitpunkt der Messung durch ein kanadisch-deutsches Wissenschaftlerteam hatten zwar noch 99% der weiblichen Tiere eine realistische Chance auf einen Partner, allerdings könnte sich die Situation durch Jagd auf männliche Tiere in den nächsten Jahren verschärfen. Das Problem besteht darin, dass die Anzahl der männlichen Eisbären einen Schwellwert unterschreiten könnte, ab dem es kein Zurück mehr gibt. Dann würde nämlich der so genannte Allee-Effekt zuschlagen, der auf Dauer zum Aussterben der gesamten Eisbärenpopulation Kanadas führen könnte. Dieses Phänomen ist nach dem amerikanischen Ökologen und Zoologen Warder Clyde Allee benannt und besagt, dass eine zu geringe Bevölkerungsdichte in einem bestimmten Gebiet langfristig zum Aussterben der Spezies führen wird. Gründe für das Aussterben können Probleme bei der Partnersuche sein (wie beim Eisbären), aber auch Inzuchteffekte in Form von Anhäufungen schädlicher Allele im Genmaterial, reduzierte Effizienz bei der Jagd und Nahrungssuche (für die bei manchen Spezies idealerweise eine Gruppe von Tieren gebraucht wird) oder Probleme bei der Abwehr von Räubern und Konkurrenten. Ursachen dafür, dass die Populationsgröße überhaupt unter eine solche kritische Schwelle sinkt, können die Jagd des Menschen, klimatische Veränderungen oder auch die so genannte Lebensraumfragmentierung sein. Ein Beispiel für die letztgenannte Ursache wäre etwa der Bau von Straßen durch ein Waldgebiet. Dadurch würde der Lebensraum der Tiere in mehrere Teile fragmentiert, so dass es passieren kann, dass in jedem der Teile für sich nicht mehr genug Tiere vorhanden sind. Mathematische Modelle können nun beispielsweise dabei helfen, Fangquoten festzulegen, die das dauerhafte Überleben einer Spezies sichern. Das machen etwa die oben erwähnten deutschen und kanadischen Forscher8 für die Eisbärenpopulation Kanadas. Der Allee-Effekt tritt übrigens nicht nur bei Tieren, sondern auch bei Pflanzen auf. Beim deutschen Enzian etwa hat man beobachtet, dass die Anzahl der Samen pro Pflanze von der Populationsgröße – also der Anzahl der Pflanzen in einem bestimmten Gebiet – abhängt (siehe Abbildung 1.3). Räuber-Beute-Modelle Aus mathematischer Sicht war wohl Alfred James Lotka die erste große Persönlichkeit der mathematischen Ökologie. Der in Österreich-Ungarn geborene Amerikaner arbeitete etwa zwei Jahrzehnte an seinem 1925 publizierten Buch Elements of Physical Biology, in dem er vorwiegend physikalische und chemische Prinzipien auf biologische Sachverhalte umwälzte. Damit schuf er ein erstes Fundament für die theoretische Betrachtung biologischer Systeme. Er richtete dabei seinen Blick zuerst auf die Welt als Ganzes, betrachtete globale Themen wie den Wasserkreislauf, Nahrungsketten oder die Energieumwandlungen in biologischen Systemen. Ein kleines Kapitel war aber auch einem Zweipopulationsmodell, nämlich der Beziehung zwischen Räubern und Beutetieren gewidmet. Lotka behandelte dabei das interspezifische Verhältnis zwischen einem Wirtsorganismus und seinem Parasiten. Dieses Kapitel sollte, obwohl das Buch selbst nur 2 500 Mal verkauft wurde, in der Geschichte der mathematischen Ökologie noch häufig zitiert werden. Kurios ist, dass zeitgleich, aber unabhängig von Lotka, auch der Italiener Vito 8 siehe
[Mol09]
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Abbildung 1.3: Allee-Effekt beim deutschen Enzian: Samen pro Pflanze in Abhängigkeit von der Populationsgröße
Volterra genau dasselbe Räuber-Beute-Modell entwickelte und veröffentlichte. Vito Volterra, der zu dieser Zeit schon ein angesehener Mathematiker und Spezialist für Differentialgleichungen war, wurde durch seine Tochter Luisa und ihren Verlobten Umberto d’Ancona auf ein ökologisches Problem aufmerksam gemacht. D’Ancona war Marinebiologe und hatte Einsicht in die Marktstatistik der Fischhändler an der Adria. Ihm fiel auf, dass während der Jahre des ersten Weltkrieges, in denen der Fischfang fast gänzlich eingestellt wurde, die Bevölkerungszahlen einiger Raubfischarten sehr stark anstiegen, während ein solches Ansteigen bei den Beutefischen nicht zu sehen war. Volterra griff dieses Problem 1925 auf, schon ein Jahr später publizierte er in Nature eine mathematische Beschreibung der Wechselwirkungen von Spezies. Sein RäuberBeute-Modell konnte eine zufriedenstellende Erklärung für dieses zunächst eigenartige Phänomen liefern. Lotka reklamierte bei Nature, dass Volterras Arbeit in diesem Bereich viele Ähnlichkeiten mit seinem Buch aufwies. Er befürchtete, dass Volterra, der ja viel populärer war als er selbst, das Räuber-Beute-Modell als seine alleinige Erfindung ausgeben würde. Und tatsächlich wurde Volterra in den folgenden Jahren viel häufiger zitiert als Lotka. In der heutigen Literatur hat sich allerdings fairerweise zumeist die Bezeichnung Lotka-Volterra-Modell durchgesetzt. Dieses System aus zwei Differentialgleichungen betrachten wir in Abschnitt 3.1.3 ausführlich. Eine noch eigenartigere Beobachtung als die oben genannten Unregelmäßigkeiten in den Fischbeständen der Adria ließ sich übrigens auch durch dieses einfache Modell beschreiben. Die Hudson’s Bay Company, ein renommiertes kanadisches Fellhandelsunternehmen, machte im Zeitraum von 1843 bis 1935 genaue Aufzeichnungen darüber, wie viele Schneehasen- bzw. Luchsfelle von den Trappern der Insel Neufundland geliefert wurden. Diese Aufzeichnungen zeigten extreme Schwankungen, die man sich zunächst nicht erklären konnte (siehe Abbildung 1.4). Erst als man die Aufzeichnungen miteinander verglich und sie in Beziehung zueinander setzte, erkannte man, dass sich hier ein Räuber-Beute-System befand – und das nahezu in Rein-
1.2 Mathematische Ökologie
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Abbildung 1.4: Aufzeichnungen der Hudson’s Bay Company über die aus Neufundland gelieferten Schneehasen- und Luchsfelle im Zeitraum von 1843 bis 1935
kultur. Die Artenvielfalt auf der Insel Neufundland war begrenzt genug um annehmen zu dürfen, dass Schneehasen den Hauptbestandteil des Nahrungsangebotes für Luchse ausmachten und auch umgekehrt Schneehasen hauptsächlich durch Luchse bedroht und getötet wurden. Gibt es in einem Jahr also beispielsweise wenige Schneehasen, dann wird den Luchsen Nahrung fehlen, sie können sich weniger erfolgreich reproduzieren bzw. für den Nachwuchs sorgen, folglich wird auch ihre Populationsgröße langsam aber sicher abnehmen. Gibt es dann jedoch nur noch wenige Luchse, so fehlt den Schneehasen der natürliche Feind und sie können sich ungehindert vermehren. Dadurch wird das Futterangebot für die Luchse wieder besser, was zu einer Zunahme ihrer Bevölkerungsgröße führen wird. Das schließlich bewirkt abermals eine Dezimierung der Schneehasen und der Kreislauf beginnt von vorne. Genau diese Überlegungen stecken auch im Lotka-Volterra-Modell. Es geht von relativ schlichten Modellannahmen aus und bildet diesen Mechanismus der Abhängigkeit zweier Spezies in einem System einfach zu formulierender Differentialgleichungen ab. Und doch liefert es ein erstaunlich treffendes Ergebnis – seine Lösungskurven passen verblüffend gut zu den experimentell erhobenen Daten der Hudson’s Bay Company aus Abbildung 1.4. Insgesamt machte das Mut auf mehr und führte zu verstärkter mathematischer Forschung in der Ökologie und schließlich zur Etablierung mathematischer Modelle für die Beschreibung interagierender Spezies in der Tierwelt. Einen kleinen Wermutstropfen hat diese Episode aus der mathematischen Ökologie allerdings – die Echtheit bzw. der Ursprung der Daten aus Abbildung 1.4 wird bis heute angezweifelt9 . Nichtsdestoweniger scheint diese schöne Geschichte erzählenswert zu sein – auch im Schulunterricht. 9 siehe
[Son01]
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
1.2.2 Wichtige Begriffe Wenn man sich für das Zusammenleben zweier oder mehrerer Tierspezies interessiert, ist die Kenntnis grundlegender Mechanismen der in der Natur auftretenden Wechselwirkungsbeziehungen von Bedeutung. Hier die wichtigsten davon kurz umschrieben: Räuber-Beute-Systeme: Als Räuber-Beute-System bezeichnet man jenes Interaktionsmuster zwischen zwei Spezies, bei dem die erste (Wirt, Beutetier) einen positiven Einfluss auf die Bestandszahlen der zweiten Art (Parasit, Räuber), und umgekehrt die zweite Art einen negativen Einfluss auf die Bevölkerungsgröße der ersten Art hat. Im Allgemeinen zeigen sich bei solchen Systemen Oszillationen in den Bestandszahlen beider Tierpopulationen. Konkurrenzsysteme: Konkurrenz tritt bei Tieren auf, die prinzipiell auf das gleiche Nahrungsoder Lebensraumangebot angewiesen sind. Dabei unterscheidet man interspezifische Konkurrenz – also Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Spezies – von intraspezifischer Konkurrenz – also Konkurrenz um Futter oder Raum innerhalb der eigenen Spezies. Vielfach gibt es bei Konkurrenzsystemen Konstellationen, die zum gleichberechtigten Nebeneinander der interagierenden Tierpopulationen führen (siehe dazu Abschnitt 3.1.2). Symbiotische Beziehungen: Symbiose meint jenes Zusammenleben unterschiedlicher Spezies, das zu deren beiderseitigem Vorteil ist. Auch diese Form der Interaktion ist in der Natur sehr häufig anzutreffen. Allerdings können symbiotische Beziehungen unterschiedliche Intensität haben. Es gibt beispielsweise Symbiosen, die zwar für die einzelnen Spezies vorteilhaft, aber keineswegs lebensnotwendig sind. Umgekehrt gibt es aber auch extreme Abhängigkeitsverhältnisse, die bei Ausbleiben der einen Spezies zum Aussterben der anderen führen können. Auch Mischformen sind denkbar. Sigmoides Wachstum: Betrachtet man lediglich eine einzige Spezies und interessiert sich für deren Bevölkerungswachstum, so lässt sich dabei häufig so genanntes sigmoides Wachstum feststellen. Charakteristisch ist dabei der s-förmige Verlauf der Wachstumskurve (siehe Abbildung 2.5 zum logistischen Wachstum). Die Wachstumsgeschwindigkeit ist zu Beginn des Wachstumsprozesses klein, wächst bis zu einem Maximum und nimmt gegen Ende des Wachstums wieder kontinuierlich ab.
1.2.3 Mathematische Ökologie heute Wie man sich leicht vorstellen kann, bestehen reale Ökosysteme nicht nur aus zwei oder drei Tierspezies, die zueinander in Wechselwirkung stehen, sondern aus einer Vielzahl. Zwischen je zwei dieser Spezies herrscht dann eine eigene Art von Beziehung und Einflussnahme. Dass sich solch komplexe Systeme nicht mehr gut durch mathematische Gleichungen darstellen lassen, leuchtet ein. Zu wenig Informationen hat man über die Intensität der einzelnen Einflüsse, zu schwierig ist es abzuschätzen, welche Faktoren nur eine untergeordnete Rolle spielen. Außerdem hat man es selten mit abgeschlossenen Ökosystemen wie jenem auf der Insel Neufundland zu tun. Was aber tun in einer komplexen Welt, in der wir nun einmal leben? Die konkreten Arbeits-
1.2 Mathematische Ökologie
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Abbildung 1.5: Die letzte wild lebende Wandertaube wurde im Jahr 1900 abgeschossen, 1914 starb auch das letzte in Gefangenschaft lebende Exemplar
gebiete von mathematischen Ökologen sind jedenfalls vielfältig und nehmen im Laufe der Zeit eher zu als ab. Der Biomathematiker M OLNAR etwa nennt folgende Fragen, die ihn bei seiner Arbeit beschäftigen und die mit Hilfe der Mathematik zumindest teilweise beantwortet werden können:
Wie bekämpft man am besten Schädlinge? Wo sollen die Grenzen eines Nationalparks liegen? [...] Sollen Jäger junge oder alte Tiere schießen, Männchen oder Weibchen? Macht es Sinn, lokal ausgestorbene Arten wieder einzuführen? Und wenn ja, wie viele Tiere soll man freilassen? Und wo? [...] Welche Faktoren waren für das Aussterben der Wandertaube verantwortlich, die bis vor 100 Jahren als der häufigste Vogel der Welt galt?
Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Viele weitere Forschungsgebiete unterschiedlicher mathematischer Ökologen sind in [LHH83] beschrieben. Man darf sich von der mathematischen Ökologie umgekehrt aber auch keine Wunder und keine Allheilmittel erhoffen. Die angesprochene Komplexität natürlicher Systeme ermöglicht schon prinzipiell keine Entwicklung mathematischer Modelle, die alle relevanten Aspekte mit ins Kalkül nehmen könnten und so sichere Prognosen für die Zukunft einer Spezies erlauben würden. Modelle sind eben niemals umfassend und niemals genaue Abbilder der Wirklichkeit. Vielmehr werden Modelle meist für einen bestimmten Zweck, zur Beantwortung einer ganz konkreten Frage entwickelt. Es geht darum, ein adäquates, ein passendes Modell zu einem Sachverhalt zu finden, das einen Einblick in die Struktur des Systems und im besten Fall auch in seine zukünftige Entwicklung ermöglicht.
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Abbildung 1.6: Überzeichnete Darstellung der Miasmentheorie aus dem 19. Jahrhundert
1.3 Epidemiologie Die Epidemiologie setzt sich mit den Ursachen und der Ausbreitung übertragbarer Krankheiten auseinander. Erste Maßnahmen, Epidemien erfolgreich entgegenzutreten, gab es schon 1850. Mathematische Modelle wurden allerdings erst etwa 50 Jahre später entwickelt. Dabei hat man versucht Fragestellungen zu beantworten, die für die betroffenen Bevölkerungen der damaligen Zeit immens wichtig waren. Wann können sich Epidemien in Bevölkerungen dauerhaft durchsetzen? Wie kann das verhindert werden? Wie verlaufen Krankheiten und durch die Steuerung welcher Parameter lassen sich diese Entwicklungen verändern? Wie wirkungsvoll sind Impfungen? Auf viele dieser Fragen können heute mit Hilfe der Mathematik Antworten gegeben werden. Leider tauchen jedoch immer wieder neue Krankheitserreger auf, müssen neue Modelle für bisher unbekannte Seuchen gefunden werden. Man braucht nur das Interesse der Medien an diesem Thema zu verfolgen, um festzustellen, dass die Epidemiologie nichts an ihrer Wichtigkeit eingebüßt hat. Mathematik kann außerdem gerade bei so emotional diskutierten Themen wie Schweinegrippe, Vogelgrippe, SARS oder BSE10 zur notwendigen Versachlichung beitragen.
1.3.1 Episoden aus der Epidemiologie Die Cholera in London um 1850 Die wissenschaftlich akzeptierte Vorstellung über die Ausbreitung der Cholera war bis zum Jahre 1884 die so genannte Miasmentheorie. Der wichtigste Vertreter dieses Erklärungsmodells war der deutsche Hygieniker und Chemiker Max von Pettenkofer. Er war davon überzeugt, dass Cholera von einem Miasma ausginge, einer „Art Dunst, der wie Dampf aus der Erde steige und den Menschen infiziere“11 (siehe Abbilung 1.6). Diese Theorie, dass nämlich üble Dämpfe aus dem Boden kämen, veranlasste ihn sogar zu behaupten, dass beispielsweise Würzburg keinen Grund zur Beunruhigung vor einer Choleraepidemie zu haben bräuchte, weil die Stadt auf felsigem Grund und Boden erbaut sei. Pettenkofer meinte sogar: „Nach meiner Ansicht kann Würzburg 10 Ein
Beispiel für ein mathematisches Modell zur Beschreibung der Ausbreitung von BSE findet man z. B. in [KN03, S. 143–146]. 11 vgl. [Vas08, S. 113]
1.3 Epidemiologie
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Abbildung 1.7: Aufzeichnungen von John Snow (1813-1858) über die Häufung der Cholerafälle in der Nähe der Broad Street
seine Thore gastfreundlich den Choleraflüchtlingen öffnen, ohne besorgen zu müssen, eine Epidemie unter ihre Bewohner zu bringen“12 . In dieser Zeit waren geomedizinische Argumente generell sehr populäre Erklärungsmodelle für die Entstehung und die Ausbreitung von Epidemien. Während in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts die Cholera in London ihr Unwesen trieb und in mehreren Epidemien etwa 30 000 Menschen ihr Leben durch diese Seuche verloren, begann der englische Arzt John Snow an der Miasmentheorie zu zweifeln. Mit Hilfe genauer Aufzeichnungen über die Haushalte, in denen Cholerafälle aufgetreten waren, gelang es ihm, eine einzige Wasserpumpe in der Londoner Broad Street für eine Vielzahl der Cholerafälle verantwortlich zu machen (siehe Abbildung 1.7). Die Pumpe wurde außer Betrieb gesetzt, was erfreulicherweise zum Stillstand der Epidemie führte. In der Zwischenzeit wurde in London allerdings schon an einem neuen Kanalsystem gebaut. Das von Sir Joseph Bazalgette geplante13 und geleitete Bauprojekt sollte dem „Großen Gestank“ in London ein Ende machen. Man vermutete nämlich, dass die aus dem Abwasser entstehenden Gerüche und Dämpfe Schuld an der Verbreitung der Cholera seien. Wenn auch die Erklärung nicht ganz richtig war, so konnte doch die schrittweise Verbannung der Cholera aus London durch die Erneuerung des Abwassernetzes erreicht werden. 12 siehe
[Vas08, S. 114] Baubewilligung wurde ihm übrigens durch das englische Parlament fünfmal verweigert, ehe sich die Cholera zu einem solchen Problem entwickelt hatte, dass der Bau eines neuen Kanalnetzes der einzige Ausweg zu sein schien.
13 Die
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Abbildung 1.8: Graf Ferdinand de Lesseps (1805-1894)
Den Erreger der Cholera entdeckte 1884 der deutsche Mediziner und Mikrobiologe Robert Koch. Es wurde festgestellt, dass das Bakterium Vibrio cholerae über das Trinkwasser in den menschlichen Organismus gelangt und nach zwei- bis dreitägiger Inkubationszeit zur Erkrankung führt. Erst nach dieser Entdeckung konnte sinnvoll an mathematischen Modellen gearbeitet werden, die Rückschlüsse über den zukünftigen Verlauf der Krankheit und erfolgversprechende Präventionsmaßnahmen erlaubten. Eine Person allerdings blieb bei ihrer Meinung: Max von Pettenkofer bat 1892, als sich die Cholera gerade in Hamburg verbreitete, Robert Koch um eine Kultur des Erregers. Er wollte in einem Selbstversuch die Wirkungslosigkeit der Kochschen Theorie beweisen. Robert Kochs Schüler Georg Gaffky, ein Schüler Robert Kochs, ahnte, was Pettenkofer vorhatte und sandte ihm absichtlich nur eine schwache Erregerkultur. Pettenkofer kam mit schweren Durchfällen, aber immerhin mit dem Leben davon. Dieses nahm er sich allerdings einige Jahre später, als er sich in seiner Wohnung in München erschoss. Die Malaria beim Bau des Panamakanals Die Errichtung des Panamakanals war wohl das größte und prestigeträchtigste Bauprojekt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das Vorhaben wäre beinahe an einer unvorhersehbaren Problematik gescheitert, nämlich an der Ausbreitung von Malaria und Gelbfieber unter der Arbeitern. Den ersten Anlauf zum Bau eines 73 Kilometer langen Kanals, der den Atlantik mit dem Pazifik verbinden sollte, unternahmen die Franzosen 1881 unter der Führung von Graf Ferdinand de Lesseps (siehe Abbildung 1.8). Doch während der insgesamt achtjährigen Bauzeit starben etwa 22 000 Menschen an Malaria oder Gelbfieber14 . Da der Kanal durch Sumpfgebiet verlaufen sollte, vermutete man, dass Ungeziefer aus dem Dschungel an der Übertragung dieser Krankheiten Schuld sei. Man wusste sich zu dieser Zeit nicht anders zu helfen, als Wassereimer unter die Bettpfosten der Arbeiter zu stellen, um so die krabbelnden Tierchen von den Betten fernzuhalten. Dass gerade diese Wassergefäße ideale Brutstätten für Moskitos abgaben und diese Stechmücken 14 siehe
[Kel83, S. 1]
1.3 Epidemiologie
17
Abbildung 1.9: Carlos Juan Finlay (1833-1915)
wiederum Schuld an der Verbreitung der Malaria und des Gelbfiebers waren, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen. Lesseps und die Franzosen scheiterten mit ihrem Vorhaben. Neben Fehlern in der Planung und Ungereimtheiten in der Finanzierung war die Problematik dieser Epidemien sicher einer der Hauptgründe für die Einstellung des Bauprojekts. Im Jahr 1905 waren es die US-Amerikaner, die die Bauarbeiten am Panamakanal wieder aufnahmen. Der Ingenieur John Frank Stevens, der die Leitung der Arbeiten übernahm, war sich von Anfang an bewusst, dass das Projekt nur dann Erfolg haben würde, wenn man die Ausbreitung der Malaria in den Griff bekommen würde. Sein großer Vorteil war, dass zu diesem Zeitpunkt schon bekannt war, dass Malaria und Gelbfieber durch Moskitos übertragen werden15 . Durch die professionelle Unterstützung und Beratung des amerikanischen Armeearztes William Crawford Gorgas gelang es, die Brutstätten der Malariamücken durch Pestizide und das Austrocknen sumpfiger Gebiete zu zerstören. Außerdem wurden Desinfektionsmaßnahmen getroffen und ein tropisches Krankenhaus errichtet. Das alles hatte zur Folge, dass das Gelbfieber bis 1906 vollkommen aus dem Gebiet verschwand, während die Malaria zumindest sinnvoll eingedämmt werden konnte16 . Während der erfolgreichen amerikanischen Bauzeit 1905-1914 verstarben knapp 6 000 Arbeiter an Unfällen und Krankheiten, was natürlich eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem französischen Bauprojekt war. Mitverantwortlich für den Erfolg der Amerikaner war also die Entdeckung, dass die Erreger von Malaria und Gelbfieber durch Wirtstiere, nämlich Moskitos, übertragen werden. Schon 1881 vermutete der kubanische Arzt Carlos Juan Finlay (siehe Abbildung 1.9), dass das Gelbfiebervirus durch Stechmücken übertragen wird. Die Korrektheit dieser Hypothese wurde allerdings erst 1902 vom amerikanischen Mikrobiologen Walter Reed nachgewiesen. Damit war erstmals ein Beweis erbracht, dass eine Krankheit über Mücken von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Das hatte weitreichende Konsequenzen für die Bekämpfung dieser Krankheit und bot vor allem auch wichtige Grundlagen für die Erstellung von Modellen zur Übertragung derselben. 15 siehe 16 siehe
[Kel83, S. 11] [Kel83, S. 11]
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1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Abbildung 1.10: Alphonse Laveran (1845-1922)
Für die Verbreitung der Malaria hatte schon Hippokrates von Kos ca. 400 v. Chr. eine erste wichtige Beobachtung gemacht. Ihm fiel nämlich auf, dass sich die Krankheitsfälle vor allem in Sumpfgebieten häuften. Er führte das allerdings nicht auf das vermehrte Vorkommen von Mücken in solchen Gebieten zurück, sondern auf das abgestandene Sumpfwasser. Auch im 19. Jahrhundert glaubte man noch, Malaria verbreite sich durch die Luft – daher kommt übrigens auch der Name Malaria17 : mala aria ist die italienische Bezeichnung für „schlechte Luft“. Erst 1897 gelang es Sir Ronald Ross einen Zusammenhang zwischen dem Stich der Anophelesmücke und der Übertragung des Malariaerregers herzustellen. Beinahe sein ganzes Leben hatte Ross für die Bekämpfung der Malaria gearbeitet. Er bereiste zahlreiche Länder und Kriegsschauplätze, um mehr über diese Krankheit zu erfahren. Er wollte die Ursache für die Malariaepidemie und ihre rasche Ausbreitung entdecken. Letztlich fand er heraus, dass die Ansteckung mit Malaria immer über die besagte Anophelesmücke ablief. Dafür erhielt er 1902 den Medizinnobelpreis. Die Verleihung der Auszeichnung an Ross war aber lange Zeit umstritten, da angeblich auch schon der Franzose Alphonse Laveran – der Entdecker des Malariaerregers – diese Möglichkeit formuliert hatte18 . Laveran erhielt dann aber 1907 ebenfalls einen Medizinnobelpreis (siehe Abbildung 1.10). Ross entwickelte sogar ein mathematisches Modell zur Beschreibung der Verbreitung der Krankheit, das bis heute Grundlage für das Verständnis von Epidemien ist. Das Modell entspricht mathematisch gesehen genau dem Schaefer’schen Modell in Abschnitt 2.2.1.
1.3.2 Wichtige Begriffe Wir werden für die Arbeit an epidemiologischen Modellen einige Fachbegriffe benötigen, von denen wir hier die wichtigsten kurz umreißen: 17 siehe 18 siehe
[Vas08, S. 282] [Vas08, S. 283]
1.3 Epidemiologie
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Suszeptible: Das meint jene Personengruppe der Bevölkerung, die von der betrachteten Krankheit (noch) nicht betroffen, aber prinzipiell für die Krankheit empfänglich ist. Das lateinische Wort susceptibilitas bedeutet „Übernahmefähigkeit“. Normalerweise stellt diese Gruppe den Hauptanteil einer Bevölkerung dar. Infizierte: Gemeint sind hier alle von der Krankheit betroffenen Individuen. In der Epidemiologie wird meist noch zwischen Infizierten und Infektiösen unterschieden, also jenen, die die Krankheitserreger in sich tragen und jenen, die bei Kontakt mit anderen Menschen die Krankheit auch an diese übertragen können. Wir werden diese Feinheit in den später vorgestellten Modellen allerdings der Einfachheit halber ausblenden. Die Infektiosität ist ein Maß dafür, wie schwer oder leicht eine Krankheit übertragen wird. Lepra etwa besitzt eine geringe Infektiosität (es ist in der Regel also ein langer bzw. intensiver Kontakt zu Erkrankten für eine Übertragung nötig), während z. B. Ebola hochinfektiös ist. Removed: Die Gruppe der Removed setzt sich aus mehreren unterschiedlichen Personengruppen zusammen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie am Prozess der Weitergabe der Krankheit weder als aktiver, noch als passiver Part beteiligt sind. Beispiele sind geimpfte, unter Quarantäne stehende, immune oder auch tote Menschen. Inkubationszeit: Wird ein Organismus mit einem Virus infiziert, so zeigt die Krankheit ihre Auswirkungen erst einige Zeit später. Die Dauer von der Ansteckung bis zum erstmaligen Auftreten der Symptome nennt man Inkubationszeit. Diese kann je nach Krankheit einige Stunden oder auch einige Jahrzehnte betragen. Epidemie: Von einer Epidemie spricht man bei Infektionskrankheiten, solange die Anzahl der Neuerkrankungen zunimmt. Das wird im Allgemeinen nur eine gewisse Zeit lang der Fall sein. Geht die Anzahl der Neuerkrankungen wieder zurück, spricht man von Regression. Endemie: Mit dem Begriff Endemie bezeichnet man das dauerhafte, relativ konstante, jedoch im Unterschied zu anderen Regionen gehäufte Auftreten einer Krankheit in einem begrenzten Gebiet. Die Anzahl der Erkrankten bleibt dabei also im Wesentlichen konstant. Handelt es sich um eine überregionale, also länder- oder kontinentenübergreifende Ausbreitung, so spricht man von einer Pandemie.
1.3.3 Mathematische Epidemiologie Es hat sich in den letzten etwa 100 Jahren eine eigene mathematische Disziplin, die Mathematische Epidemiologie entwickelt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Verlauf von Epidemien mathematisch zu beschreiben. Wichtige Forschungsziele sind dabei die Vorhersage von Krankheitsausbreitungen, das Definieren wichtiger Parameter zur Kennzeichnung von Epidemien (z. B. die Reproduktionsrate einer Epidemie19 ), das Anstellen von Modellrechnungen für die Wirksamkeit von Impfungen oder 19 siehe
[PSZ08, S. 23]
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Abbildung 1.11: Vorstellung aus dem 15. Jahrhundert: Gott straft die Menschheit mit Syphilis (Holzschnitt von Joseph Grünpeck, 1496)
anderen Präventionen und vieles mehr. Dabei hat die mathematische Epidemiologie schon große Erfolge feiern können. Wir werden in Abschnitt 4.1.2 ein relativ einfaches Modell behandeln, das aber viele Infektionskrankheiten zumindest qualitativ gut beschreiben kann. Gerade die vielen Epidemien der vergangenen Jahre20 – von denen man befürchtet hat, dass sie zu Pandemien werden könnten – haben gezeigt, dass es von großer Wichtigkeit ist, Vorhersagen machen und beispielsweise Empfehlungen für den Ankauf von Impfwirkstoffen geben zu können21 . Das geschieht im Allgemeinen durch das Erstellen unterschiedlicher Szenarien, die mit Hilfe mathematischer Modelle am Computer simuliert werden können. So gibt es beispielsweise heutzutage auch intensive Forschungen an mathematischen Modellen für die Ausbreitung des HI-Virus, von Malaria, Syphilis (siehe Abbildung 1.11) und vielen anderen übertragbaren Krankheiten. Man erhofft sich dadurch ein besseres Verständnis der Krankheiten und ihrer Übertragungsmechanismen.
1.4 Populationsgenetik Die Populationsgenetik beschäftigt sich unter anderem mit der Evolution von Erbanlagen. Zentrale Fragestellungen sind jene nach der Vererbung von Merkmalen oder der Veränderung des Erbgutes. Mechanismen, die dabei untersucht werden, sind etwa Selektion, Mutation, Rekombination, Drift oder Migration. Dieses Thema wurde und wird in der Gesellschaft, den Religionen, der Medizin und der Ethik sehr stark wahrgenommen und oftmals kontrovers diskutiert. Wie passen darwinistischer Zufall und gottgelenkte Evolution zusammen? Wie weit darf man bei der Genmanipulation gehen? In welchen Fällen sollen DNA-Analysen durchgeführt werden dürfen? All das sind Fragen, die vermutlich nie restlos geklärt werden können. Fakt ist allerdings, dass die Mathematik dieses Gebiet in unvergleichbarer Weise mitgeprägt und in den letzten Jahren 20 Zu
nennen sind hier etwa BSE, SARS, die Vogel- sowie die Schweinegrippe. das nicht immer optimal gelingt, haben die Vorbereitungen zur Eindämmung des H1N1-Virus Anfang des Jahres 2010 in Deutschland gezeigt.
21 Dass
1.4 Populationsgenetik
21
Abbildung 1.12: Gregor Mendel (1822-1884)
verstärkt unter Beschlag genommen hat. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms etwa wäre ohne die Methode der DNA-Sequenzierung völlig unmöglich gewesen. Und auch der medizinische Fortschritt hat durch das Verstehen der oben genannten Mechanismen sehr wesentlich unterstützt werden können.
1.4.1 Episoden aus der Populationsgenetik Ein Mönch als Vater der Genetik Er könnte als „Vater der Genetik“ bezeichnet werden. Der Augustinermönch Gregor Mendel hat durch seine Kreuzungsversuche an Erbsen grundlegende Arbeit geleistet, die Vererbung von Merkmalen an Nachkommen verständlich zu machen. Ihm selbst wurde der gebührende Ruhm allerdings zu Lebzeiten nicht zuteil, wenngleich er einige Monate vor seinem Tod 1884 formulierte22 : Wenn ich auch manch bittere Stunden in meinem Leben miterleben mußte, so muß ich doch dankbar anerkennen, daß die schönen, guten Stunden weitaus in der Überzahl waren. Mir haben meine wissenschaftlichen Arbeiten viel Befriedigung gebracht, und ich bin überzeugt, daß es nicht lange dauern wird, da die ganze Welt die Ergebnisse dieser Arbeit anerkennen wird. Warum konnte Mendel so sicher sein, etwas weltbewegendes entdeckt zu haben? Etwas, das die „ganze Welt“ interessieren könnte und müsste? Gregor Mendel wurde 1822 im damaligen Österreichisch-Schlesien als Johann Mendel geboren (der Name Gregor wurde ihm erst später als Ordensname zugefügt). Er wuchs in einer Bauernfamilie auf und sein Interesse an der Natur zeigte sich schon früh. So half er beispielsweise seinem Vater bei der Veredelung von Obstbäumen. In der Schule brachte er hervorragende Leistungen, wenngleich seine Familie große finanzielle Opfer für ihn bringen musste. Nach einer schweren Erkrankung seines Vaters musste Mendel als Sechzehnjähriger seinen Lebensunterhalt als Privatlehrer verdienen. Er klagte in der Folgezeit über „bittere Nahrungssorgen“, 22 zitiert
nach [Löt90, S. 22]
22
1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
die ihn schließlich 1843 dazu veranlassten, in das Augustiner-Stift St. Thomas in Altbrünn einzutreten. Das sollte seine Lebensgeschichte und das damit verbundene wissenschaftliche Werk nachhaltig beeinflussen – gleichzeitig verschwanden auch seine Nahrungssorgen und sein damit verbundener Gesundheitszustand verbesserte sich zusehends. Es stellte sich bald heraus, dass Mendel für seelsorgliche Arbeit nicht geeignet war. Er sei beim Anblick der Kranken und Leidenden von einer unüberwindlichen Scheu ergriffen worden und davon selbst in eine gefährliche Krankheit verfallen, berichtete der Abt des Stiftes Cyrill Napp dem Brünner Bischof23 . Er wurde deshalb von entsprechenden Pflichten entbunden und konnte sich so auf die botanische Arbeit konzentrieren24 . Napp erkannte Mendels Begabung im wissenschaftlichen Bereich und besorgte ihm eine Anstellung als Hilfslehrer am örtlichen Gymnasium. Außerdem setzte er sich für eine Aufnahme an der Universität Wien ein, Mendel allerdings scheiterte an der erforderlichen Aufnahmeprüfung. Er hatte sich auf diese Prüfung größtenteils im Selbststudium vorbereitet. Napp konnte in der Folge zumindest erreichen, dass Mendel in der Zeit von 1851-1853 als außerordentlicher Hörer Naturgeschichte und Physik studieren konnte25 . 1856 versuchte er sich erneut an der Aufnahmeprüfung, erkrankte jedoch während der Vorbereitungen aufs Examen und erlitt während der mündlichen Prüfung einen Nervenzusammenbruch26 . Er ließ schließlich endgültig von dem Versuch ab, an der Universität als ordentlicher Student aufgenommen zu werden. Stattdessen arbeitete er weiter als Hilfslehrer. 1853 begann seine wissenschaftliche Arbeit an Erbsenpflanzen. Zu einer Zeit also, in der noch nichts über Gene und Chromosomen bekannt war und zu der man klarerweise noch keine einheitliche Theorie darüber hatte, welche Mechanismen bei der Vererbung von Merkmalen eine Rolle spielen. Er besorgte sich insgesamt 34 verschiedene Erbsensorten, prüfte sie auf Erbreinheit und wählte schließlich 2 Jahre später 22 geeignete Sorten nach folgenden Kriterien aus27 : • Die Versuchspflanzen müssen notwendig konstant differierende Merkmale besitzen. • Die Hybriden (Mischlinge) derselben müssen während der Blütezeit vor der Einwirkung jedes fremdartigen Pollens geschützt sein oder leicht geschützt werden können. • Die Hybriden und ihre Nachkommen dürfen in den aufeinander folgenden Generationen keine merkliche Störung in der Fruchtbarkeit erleiden. Er wollte – nach eigenen Angaben – neue Farbenvarianten bei der künstlichen Befruchtung von Zierpflanzen erzielen28 . Vom Stift bekam er einen 35 mal 7 Meter großen Geländestreifen zur Verfügung gestellt, auf dem er seine Kreuzungsversuche durchführen konnte. Bis zur Beendigung seiner Forschung vergingen insgesamt 8 Jahre. Er publizierte seine Ergebnisse im Jahr 1866 mit großer Präzision und sorgfältig gewählten Formulierungen29 . Er beschrieb in seinem Artikel die durchgeführten Testreihen, die von ihm observierten Merkmale an den Erbsensamen, 23 siehe
[Löt90, S. 17] auch [Wei70, S. 7] 25 siehe [Wei70, S. 8] 26 siehe [Löt90, S. 20] 27 vgl. [Men66, S. 5] 28 siehe [Men66, S. 3] 29 siehe [Men66] 24 siehe
1.4 Populationsgenetik
23
Abbildung 1.13: Mendels Versuchsobjekt: Erbsenpflanze (Pisum)
-hülsen, -blüten und -pflanzen und stellte Hypothesen über deren Vererbung auf. Es ist bis heute faszinierend, mit welcher Genauigkeit seine Daten diese Hypothesen stützten. Leider fand seine Arbeit vorerst wenig Widerhall in der wissenschaftlichen Welt, sein Aufsatz wurde lediglich 500 Mal gedruckt. Erst einige Jahrzehnte später wurden seine Forschungsergebnisse wieder aufgegriffen und mit der 1904 formulierten Chromosomentheorie fruchtbar in Verbindung gesetzt. Die Uniformitätsregel, die Spaltungsregel und die Unabhängigkeitsregel werden bis heute als Mendel’sche Regeln bezeichnet und bilden nach wie vor die Basis der Genetik: • Uniformitätsregel: Ausgangspunkt sind zwei Individuen mit doppeltem Chromosomensatz (diploid), die sich in einem Merkmal unterscheiden, in dem sie beide reinerbig (homozygot) sind. Wir bezeichnen die beiden Allele am entsprechenden Genort des einen Individuums mit AA, jene des anderen Individuums mit aa. Werden diese beiden Individuen gekreuzt, so haben alle Nachkommen bezüglich dieses Merkmals dasselbe mischerbige Genmaterial Aa (denselben Genotyp) und damit auch dasselbe äußere Erscheinungsbild (denselben Phänotyp). • Spaltungsregel: Hier betrachten wir zwei Individuen, die bezüglich eines Merkmals dasselbe mischerbige Genmaterial Aa haben (heterozygot). Kreuzt man die beiden, so spalten sich die Nachkommen im Verhältnis 1 : 2 : 1 in jene mit Genotyp AA, Aa sowie aa auf. • Unabhängigkeitsregel: Beobachtet man gleichzeitig die Vererbung zweier Merkmale, so lässt sich Folgendes feststellen: die beiden Merkmale vererben sich unabhängig voneinander entsprechend der ersten beiden Regeln, solange die entsprechenden Gene auf unterschiedlichen Chromosomen sitzen.
24
1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Abbildung 1.14: Charles Darwin (1809-1882)
Mendel wurde 1868 Abt seines Augustiner-Stiftes und war fortan mit viel Verwaltungsarbeit konfrontiert. Seine botanische Arbeit beendete er 1871 komplett30 . Er beschäftigte sich in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit außer mit der Pflanzenkunde auch noch mit Bienen, arbeitete intensiv an Fragen der Meteorologie und des Klimas (die meisten seiner Publikationen stammen übrigens aus diesem Bereich), nahm Messungen des Grundwasserstandes vor und beschäftigte sich mit den Sonnenflecken. Mendel verstarb 1884 in Folge eines Nierenleidens in Brünn. Evolution – Veränderung, die die Welt veränderte Der britische Naturforscher Charles Darwin (siehe Abbildung 1.14) war keineswegs der erste Mensch, der die Idee der Evolution, also des Prinzips der Veränderung, auf Organismen übertrug. Er war auch nicht der erste, der nach einer Erklärung und Theorie für Evolutionsprozesse unterschiedlicher Spezies suchte. Und dennoch haben seine Beobachtungen und seine daraus gezogenen Konsequenzen die Welt in unvergleichbarer Weise verändert. Hier zunächst ein kurzer Abriss der Geschichte der Evolution vor Darwin. Thales von Milet äußerte als erste gesichterte Quelle schon etwa 600 v. Chr. den Gedanken, dass sich das Leben aus dem Wasser entwickelt habe, Anaximander (um 600-546 v. Chr.) war des weiteren der Auffassung, dass der Mensch aus dem Fisch hervorgegangen sei. Empedokles vertrat überhaupt eine aus heutiger Sicht eigenartige Meinung. Er ging davon aus, dass einzelne Körperteile geschaffen würden, umhertrieben und sich dann zu Organismen zusammenfügten. Daraus entstünden zunächst Mischformen von Lebewesen, erst später entwickelten sich auch nicht-hybride Lebewesen31 . Ein erster Erfolg solcher Theorien war, dass damit nicht mehr auf übernatürliche Erklärungsmodelle zurückgegriffen werden musste, sondern dass man begann, naturwissenschaftliche Be30 siehe 31 siehe
[Wei70, S. 11] [Wil09, S. 15]
1.4 Populationsgenetik
25
gründungen zu suchen. Diese Tradition wurde auch von Aristoteles und Platon fortgeführt und in besonderem Maß weiterentwickelt. Der Schweizer Naturwissenschaftler Charles Bonnet entwickelte im 18. Jahrhundert seine so genannte scala naturae, eine Stufenleiter der Natur. Er ordnete dabei unterschiedliche Teile der Natur – sowohl belebte als unbelebte – in einer linearen Kette an. Die Reihung reichte von den untersten Bausteinen wie Feuer, Luft und Wasser über Steine, Pflanzen schließlich zu den Tieren bis hinauf zum Menschen als oberstes Glied der Kette. Diese Vorstellung war zunächst nur als starre Anordnung, als Hierarchie gemeint und wurde erst später in einen Entwicklungsstrom umgedacht32 . Grund dafür war der feste Glaube an einen Fortschritt, der sich im 18. Jahrhundert entwickelt hatte. Durch die Erfolge der wissenschaftlichen Revolution war man zu der Überzeugung gelangt, dass sich alles „zum Besseren“ entwickelte – ein evolutionärer Denkansatz also. Wissenschaftler begannen in der Folge, Gedanken über die Veränderung von Tierarten und sogar über die Veränderlichkeit bzw. die Entwicklung des Menschen aus dem Affen zu formulieren. Viele von ihnen äußerten sich allerdings sehr vorsichtig – nicht zuletzt aus Angst vor der Kirche, die sich und ihre Lehren durch solche Theorien gefährdet sah. Den ersten ernstzunehmenden Versuch einer Evolutionstheorie, also einer Beschreibung von Ursachen und Mechansimen der Evolution, wagte der französische Botaniker und Zoologe JeanBaptiste de Lamarck um 1800. Er ging von der Veränderlichkeit der Arten aus, legte den unterschiedlichen Spezies aber auch unterschiedliche, einfachste Organismen zugrunde. Es war einer der wesentlichen Unterschiede zur späteren Darwin’schen Theorie, dass Lamarck nicht an eine gemeinsame Abstammung aller Arten glaubte. Und auch der Grund für die Veränderung einer Art wurde durch ihn anders erklärt als durch Darwin: Lebewesen strebten ihm zufolge nach Harmonie mit ihrer Umwelt. Wird diese Harmonie gestört, so müssten sich die Lebewesen diesen Veränderungen anpassen, ihre Gewohnheiten ändern. Dadurch verwendeten sie gewisse Körperteile oder Organe öfter, während sie andere vernachlässigten. Die häufiger gebrauchten entwickelten sich dadurch weiter, während die selten genutzten verkümmerten33 . Im Jahr 1809 wurde im englischen Shrewsbury der Naturforscher Charles Darwin geboren. Er war schon als Kind an der Natur, an Tieren und Pflanzen interessiert. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann mit einem Studium der Medizin an der Universität Edinburgh, in dem er auch von der Lamarck’schen Evolutionslehre hörte. Dieses Medizinstudium brach er später ab und sattelte auf Theologie an der Universität in Cambridge um. Er kam dort in Kontakt zu dem englischen Botaniker John Stevens Henslow, der ihn 1831 auf eine Forschungsreise mit dem Schiff HMS Beagle aufmerksam machte, für die noch ein junger Naturforscher für vorzunehmende Vermessungsarbeiten in Chile und Peru gesucht wurde (siehe Abbildung 1.15). Darwin nahm das Angebot an und sollte erst fünf Jahre später wieder nach England zurückkehren. Neben den Vermessungsarbeiten machte Darwin ausführliche Aufzeichnungen über seine Beobachtungen in der Flora und Fauna Südamerikas und sammelte unzählige Tier- und Pflanzenproben, die er in Spiritus konservierte. Die Arbeiten dauerten länger als erwartet, so dass Darwin schließlich erst am 18. September 1835 erstmals eine der Galápagosinseln betrat. Er wurde dort darauf aufmerksam gemacht, dass man die auf den Inseln lebenden Schildkröten anhand ihrer Panzer den einzelnen Inseln zuordnen konnte. Darwin schenkte dieser Tatsache und auch den später für 32 siehe 33 siehe
[Wil09, S. 19] [Wil09, S. 25]
26
1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
Abbildung 1.15: Charles Darwin nahm von 1831-1836 an einer Forschungsreise mit dem Segelschiff HMS Beagle teil
seine Theorie wichtigen Galápagosfinken aber noch keine Beachtung, er vermengte sogar seine auf den unterschiedlichen Inseln gesammelten Fundstücke und gab als Fundort nur allgemein die Galápagosinseln an. Erst ein Jahr später notierte er34 : Wenn ich diese Inseln in Sichtweite voneinander sehe, bewohnt von diesen Vögeln, die in ihrer Struktur nur leicht voneinander verschieden sind und denselben Platz in der Natur einnehmen, muss ich vermuten, dass sie Varietäten sind. [...] Solche Tatsachen würden die Stabilität der Arten unterminieren. Im Oktober 1836 kehrte Darwin von seiner Reise mit der HMS Beagle zurück, von der er in seiner Autobiografie behauptet, sie sei bei weitem das bedeutendste Erlebnis seines Lebens gewesen und habe seinen gesamten späteren Werdegang bestimmt. 1837 skizzierte Darwin erstmals einen Stammbaum des Lebens und äußerte damit die Vermutung einer gemeinsamen Abstammung aller Arten (siehe Abbildung 1.16). Bis zur Publikation seines Hauptwerkes On the Origin of Species 1859 sollten aber noch viele Jahre vergehen. Und beinahe wäre seine Arbeit durch ein Manuskript zunichte gemacht worden, das Darwin vom ebenfalls britischen Naturforscher Alfred Russell Wallace ein Jahr zuvor erhielt. Die nur wenige Seiten lange Abfassung enthielt im Wesentlichen die Kernideen der Darwin’schen Theorie, nämlich die Selektionstheorie (wenn auch bei Wallace nicht als solche bezeichnet). Darwin gestand seine „Niederlage“ sofort ein und bedauerte, dass man ihm zuvorgekommen war. Durch eine geschickte Fügung konnte allerdings erreicht werden, dass beide Arbeiten gemeinsam publiziert wurden35 . Die Kernidee der Darwin’schen Lehre und die Besonderheit seiner Arbeit war das Erklärungsmodell, das er für die Evolution der Arten verantwortlich machte. Als zentrale Mechanismen identifizierte er nämlich die natürliche, die künstliche und die sexuelle Selektion. Der „Kampf ums Überleben“ wurde zum geflügelten Wort, wenngleich Darwin im später formulierten und zu Unrecht nach ihm benannten Sozialdarwinismus, mit dem unter anderem Rassismus und Imperialismus eine Rechtfertigung fanden, missverstanden wurde. Seine Theorie der Evolution und Darwins spätere Arbeiten zur Abstammung des Menschen sollten weltweit das Bild des Menschen, sein Selbstverständnis und seine Sicht auf die Welt 34 siehe 35 siehe
[Sul82] [Wil09, S. 35]
1.4 Populationsgenetik
27
Abbildung 1.16: Unter der Bemerkung „I think“ skizzierte Darwin 1837 erstmals einen Stammbaum des Lebens
als Ganzes verändern. Seine Evolutionstheorie revolutionierte die Menschheitsgeschichte, nahm etwa Einfluss auf Gesellschaftstheorien, die Formulierung von Menschenrechten und Chancengleichheit für alle, die Stellung der Frau und die Erkenntnistheorie36 .
1.4.2 Wichtige Begriffe Gerade im Gebiet der Populationsgenetik gibt es viele wichtige Fachbegriffe zu klären. Für die später behandelten Modelle sind vor allem folgende notwendig: Gene: In jedem menschlichen Zellkern befinden sich lange, fadenförmige Moleküle, die so genannte DNA. Diese sind – vereinfacht gesagt – mit Proteinen in den so genannten Chromosomen verpackt. In ihnen ist die gesamte Erbinformation des Menschen auf chemischer Basis gespeichert. Längere Stücke dieser DNA bezeichnet man als Gene. Man versucht im Allgemeinen, Gene für unterschiedliche Merkmale identifizieren zu können. Allele: Gene können unterschiedliche Ausprägungsformen, so genannte Allele annehmen. Dabei gibt es je nach Gen unterschiedlich viele Allele. An jedem Genort treffen bei diploiden Bevölkerungen (also solchen mit doppeltem Chromosomensatz) nun zwei solcher Allele aufeinander. Das legt den so genannten Genotyp des Individuums fest. Je nachdem, wie diese beiden Allele miteinander wechselwirken (z. B. kann das eine Allel das andere dominieren), äußert sich der Genotyp im tatsächlich sichtbaren Merkmal, d. h. im Phänotyp des Individuums. Individuen mit zwei gleichen Allelen an einem bestimmten Genort bezeichnet man als homozygot (reinerbig), solche mit unterschiedlichen Allelen als heterozygot (mischerbig). Fitness: Fitness ist ein Begriff aus der Selektionstheorie. Er bezeichnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Individuum eines bestimmten Genotyps ins reproduktionsfähige Alter kommt 36 siehe
[Wil09, S. 39–41]
28
1 Teilgebiete der Biomathematik und ihre Bezüge zur Menschheitsgeschichte
und sich vermehren kann. Manchmal wird die Fitness auch über die Anzahl an Nachkommen modelliert, die ein bestimmter Genotyp durchschnittlich zu erwarten hat. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass Individuen mit besonders „gutem“ Erbmaterial dieses an möglichst viele Nachkommen weitergeben. Selektion: Mit Selektion wird der auf Darwin zurückgehende Mechanismus bezeichnet, der dafür sorgt, dass sich gut an die äußeren Umstände angepasste bzw. auch sexuell anziehende Individuen besser (sprich öfter) fortpflanzen können. Er bewirkt auf Dauer eine Auslese aufgrund des unterschiedlichen Fortpflanzungserfolgs der einzelnen Genotypen. Mutation: Mutation beschreibt die spontane, dauerhafte Veränderung des Erbmaterials und stellt somit einen wichtigen Mechanismus der Evolution dar. Erfolgreiche Mutationen werden sich eher dauerhaft in Populationen halten und weitervererben können als schlechte, die einen Selektionsnachteil haben.
1.4.3 Aktuelle Forschung in der Populationsgenetik Einer der größten Erfolge der Populationsgenetik war die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2000, fünf Jahre früher als durch die Forschungsorganisation HUGO (Human Genome Organization) geplant. Dabei wurde eine Reihe wichtiger Erkenntnisse gewonnen. Das menschliche Erbmaterial besteht aus etwa 3 Milliarden Basenpaaren, das entspricht der heutigen Forschung zufolge etwa 20 000 bis 40 000 Genen (ursprünglich rechnete man sogar mit über 100 000 Genen). Bei der Entschlüsselung wurde quasi die gesamte genetische Information des Menschen „ausbuchstabiert“. Das Alphabet besteht dabei aus nur vier unterschiedlichen „Buchstaben“, nämlich den Basen Adenin (A), Guanin (G), Thymin (T) und Cytosin (C), aus denen sich die DNA zusammensetzt. Damit hat man neue Türen für die Erforschung von Krankheiten und deren Vererbungsmechanismen geöffnet. Andererseits hat sich durch diese Entdeckungen aber auch die Hoffnung zerschlagen, dass ein Gen genau einer Krankheit entsprechen könnte. Und es hat sich herausgestellt, dass der Mensch nur unwesentlich mehr Gene besitzt als diverse Kleinlebewesen. Schließlich ist davon auszugehen, dass die menschlichen Gene komplexer sind – sie und ihre Weitergabe zu verstehen, wird Forschungsaufgabe der kommenden Jahre sein. Es hat sich dazu ein neuer Forschungszweig entwickelt, die so genannte Bioinformatik. Es gilt, die 3 Milliarden Buchstaben lange Kette lesen und verstehen zu lernen. Dazu werden mittlerweile Modelle aus der Physik und der Mathematik angewandt, die die grundlegenden Mechanismen des Aufbaus und der Weitergabe des Genmaterials beschreiben und erklären sollen. Ohne das Werkzeug der Mathematik würde man dem ungeheuren Datenmaterial völlig hilflos gegenüberstehen – mit ihm wird es dennoch lange Zeit dauern, fruchtbare Erkenntnisse für den Kampf gegen den Krebs oder andere Krankheiten gewinnen zu können.
2 Modelle mit einer Zustandsgröße In diesem und den folgenden beiden Kapiteln werden die wichtigsten biomathematischen Modelle in diskreter Form vorgestellt, die auch für den Einsatz im Schulunterricht geeignet sind. Dabei verstehen sich diese Abschnitte als fachmathematische Vorbereitung für Lehrer, die selbst Unterrichtseinheiten zu diesem Thema gestalten wollen. Es werden alle wichtigen Grundlagen erarbeitet, Aufgaben zum selbstständigen Durcharbeiten angeboten sowie Zusatzfragen zum Vertiefen des Verständnisses gestellt. An geeigneten Stellen werden Bemerkungen aus fachdidaktischer Sicht gemacht. Konkrete Ideen für Unterrichtseinheiten findet man in den Kapiteln 7-10.
2.1 Grundlegende Modelle 2.1.1 Lineares Wachstum Das Charakteristikum des linearen Wachstums ist die konstante absolute Zunahme d einer Größe Nt in einem Zeitschritt. Die Differenzengleichung lautet in diesem Fall Nt+1 = Nt + d.
(2.1)
Die Bezeichnung Differenzengleichung erklärt sich aus folgender Umformung: Nt+1 − Nt = d.
(2.2)
Man interessiert sich also für die Differenz aus den Werten Nt+1 und Nt , also die Zu- bzw. Abnahme der Größe innerhalb eines Zeitschrittes. Man nennt eine Darstellung wie in Gleichung (2.1) auch rekursives Bildungsgesetz der Folge Nt bzw. einfach Rekursionsformel. Exkurs zu expliziten Darstellungen dynamischer Prozesse Dynamische Prozesse wie das lineare Wachstum können nicht nur, wie in Gleichung (2.1) durch Rekursionsformeln festgelegt werden, sondern in manchen Fällen auch durch explizite Bildungsgesetze. Dabei muss man für die Berechnung von neuen Folgengliedern den Wert der vorhergehenden Folgenglieder nicht kennen, sondern es kann jedes Folgenglied Nt direkt aus dem Bildungsgesetz gewonnen werden, sofern der Startwert N0 und der Index t bekannt sind. Das ist ein wesentlicher Vorteil gegenüber der rekursiven Darstellung.
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_2, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
30
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
Beispiel 2.1 Zu der Rekursionformel Nt+1 = 0, 9 · Nt + 0, 3 lässt sich ein explizites Bildungsgesetz angeben. Dazu kann man sich zuerst durch schrittweises Anwenden der Rekursion Klarheit über die Struktur des allgemeinen Folgenglieds verschaffen: N0 N1
=
0, 9 · N0 + 0, 3
N2
=
0, 9 · N1 + 0, 3 = 0, 9 · (0, 9 · N0 + 0, 3) + 0, 3 =
=
0, 92 · N0 + 0, 3 · (0, 9 + 1)
=
0, 9 · N2 + 0, 3 = 0, 9 · (0, 92 · N0 + 0, 3 · (0, 9 + 1)) + 0, 3 =
=
0, 93 · N0 + 0, 3 · (0, 92 + 0, 9 + 1)
=
0, 9t · N0 + 0, 3 · (0, 9t−1 + 0, 9t−2 + . . . + 0, 9 + 1)
N3
(2.3)
.. . Nt
Durch Anwenden der Summenformel für endliche geometrische Reihen erhält man daraus: Nt = 0, 9t · N0 + 0, 3 ·
1 − 0, 9t = 0, 9t · N0 + 3 · (1 − 0, 9t ) 1 − 0, 9
(2.4)
Aus dieser expliziten Darstellung erkennt man z. B. auch sofort, dass sich die Folgenglieder für größer werdendes n dem Wert 3 beliebig nähern.
Der Vorteil des expliziten Bildungsgesetzes – das oft auch als Lösung der Rekursion bzw. der Differenzengleichung bezeichnet wird – gegenüber der Rekursionsformel ist offensichtlich. Es kann beispielsweise das tausendste Folgenglied in nur einem Schritt berechnet werden, während die rekursive Berechnung einen immensen Aufwand fordern würde. Allerdings gibt das explizite Bildungsgesetz weniger Auskunft über die Struktur des zugrunde liegenden dynamischen Systems. Die Rekursionsformel hingegen lässt viel eher erkennen, wie sich das System Schritt für Schritt entwickelt. Hier steckt gerade für den Schulunterricht großes Potenzial. Das Dahinterblicken und Verstehen des Prozesses kann viel eher durch die Beschreibung mittels Rekursionsformeln geschehen als durch die bloße Berechnung der Folgenglieder mit Hilfe des Bildungsgesetzes. Dieses birgt im Schulunterricht nämlich die Gefahr, als Black Box verwendet zu werden. Den Nachteil umgekehrt, den man sich bei der rekursiven Berechnung einhandelt – nämlich den immensen Rechenaufwand bei der Analyse des Langzeitverhaltens eines Systems – kann man allerdings leicht durch den sinnvollen Einsatz des Computers kompensieren. In vielen Fällen kann ein dynamischer Prozess sowohl durch ein rekursives als auch durch ein explizites Bildungsgesetz beschrieben werden. In den beiden Darstellungen steckt dann mathematisch gesehen die gleiche Information. Andererseits gibt es aber auch Folgen, die zwar rekursiv, aber nicht explizit dargestellt werden können. Das werden wir im Abschnitt 2.1.4 beim diskreten logistischen Wachstum sehen. Ende des Exkurses
Die Rekursion des linearen Wachstums wird, wie man leicht sieht, durch Nt = N0 +t ·d explizit gelöst. Die Folgenglieder liegen dabei entlang einer Geraden. Beispiele für lineares Wachstum
2.1 Grundlegende Modelle
31
Abbildung 2.1: Lineares Wachstum mit: N0 = 20; d = 3
in der Biologie sind etwa das Wachstum von Fingernägeln und Haaren, aber auch das Größenwachstum von Menschen, Tieren und Pflanzen kann in bestimmten zeitlichen Phasen gut dadurch angenähert werden. Mit einer Tabellenkalkulation kann man den Verlauf über mehrere Zeitschritte grafisch darstellen. Um ein Beispiel anzugeben, wählen wir etwa N0 = 20 als Startwert und d = 3 als Zuwachs pro Zeitschritt. In Abbildung 2.1 findet man einen entsprechenden Screenshot aus Excel, bei späteren Modellen sind aus Gründen besserer Druckqualität lediglich die Grafiken der Kurvenverläufe abgebildet. In dieser Grafik wurde bewusst die Gerade durch die einzelnen Datenpunkte gezeichnet, da bei den oben angegebenen Beispielen die Größe auch zwischen den betrachteten Zeitpunkten wächst. Die Steigung ist dabei gerade d (für d < 0 ergibt sich eine fallende Gerade und man spricht auch von linearer Abnahme). Man erkennt, dass es sich beim linearen Wachstum für d = 0 selbstverständlich um unbegrenztes Wachstum handelt. Lineares Wachstum kann also nicht zuletzt deswegen nur ein Modell für reale Prozesse sein. Lineare Zusammenhänge sind in der Biologie zwar selten, liefern aber in manchen Bereichen gute erste Approximationen für nichtlineare Zusammenhänge. Aufgabe 2.1 Das Wachstum einer Sonnenblume verläuft in den ersten 50 Tagen annähernd linear. Tabelle 2.1 gibt einige Messwerte aus diesem Zeitraum wieder1 . Zeichnen Sie diese Werte in ein geeignetes Koordinatensystem! Nähern Sie die Daten durch ein passendes lineares Wachstumsmodell an! Wie groß ist der durchschnittliche tägliche Zuwachs? Aufgabe 2.2 Bei Seefischen wurden von 1956 bis 1970 weltweit folgende Jahresfänge (in Millionen Tonnen) verzeichnet2 : 22,7; 22,8; 24,1; 26,8; 29,2; 32,2; 35,6; 36,4; 40,9; 39,6; 43,0; 45,9; 48,7; 47,2; 52,7. Stellen Sie die Messwerte in einem geeigneten Koordinatensystem dar! Nähern Sie die Daten durch ein passendes lineares Wachstumsmodell3 an! 1 vgl.
[Oli78], gerundet [Tim95] 3 Je nach Möglichkeit kann das durch eine Regressionsgerade oder einfach mittels Augenmaß unter Zuhilfenahme eines Tabellenkalkulationsprogramms erfolgen. 2 vgl.
32
2 Modelle mit einer Zustandsgröße Tabelle 2.1: Sonnenblumenwachstum
Zeit (in Tagen)
Höhe (in cm)
14 21 28 35 42 49
36 68 98 131 170 206
Tabelle 2.2: Lebenserwartung nach Geburtsjahr
Geburtsjahr
Lebenserwartung (in Jahren)
1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005
66,5 67,7 69,0 70,4 72,2 73,3 75,1 76,7
Aufgabe 2.3 Die Lebenserwartung der österreichischen Frauen ist in den letzten 35 Jahren um etwa 10 Lebensjahre angestiegen. Tabelle 2.2 gibt die Lebenserwartung der Geburtsjahrgänge von 1970 bis 2005 wieder4 . Zeichnen Sie die Messwerte in ein geeignetes Koordinatensystem! Kann man die Daten durch ein lineares Wachstumsmodell vernünftig annähern? Um wie viel steigt die Lebenserwartung durchschnittlich in einem Jahr? Wenn das Wachstum weiterhin so verlaufen würde, wie hoch wäre dann die Lebenserwartung der österreichsichen Frauen im Jahr 2050?
2.1.2 Exponentielles Wachstum Die Zunahme einer Größe ist zu Beginn eines biologischen Wachstumsprozesses oft proportional zum derzeitigen Bestand (Bakterienwachstum, Wachstum durch Zellteilung, Bevölkerungswachstum, . . . ). Dieser Zusammenhang wird mathematisch durch das exponentielle Wachstum beschrieben. Die zugehörige Rekursionsformel bzw. Differenzengleichung lautet Nt+1 = Nt · (1 + r),
(2.5)
wobei r in der Literatur häufig als Wachstumsrate und q = (1 + r) als Wachstumsfaktor bezeichnet wird. Nt = N0 · qt löst diese Differenzengleichung, wie man leicht einsieht. Neuerlich haben 4 Daten
aus dem Internet, Link vom 23.05.07: http://www.statsitik.at, gerundet
2.1 Grundlegende Modelle
33
900 800 700
Größe
600 500 400 300 200 100 0 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.2: Exponentielles Wachstum mit: N0 = 20; q = 1, 2
wir es mit unbegrenztem Wachstum zu tun (Zeitdiagramm siehe Abbildung 2.2). Bakterienkulturen etwa wachsen im Anfangsstadium tatsächlich annähernd exponentiell. Wird allerdings der Nährboden, auf dem sie gezüchtet werden, nicht ständig erneuert bzw. wird nicht genügend Platz für die Bakterien bereitgestellt, ist mit dem Wachstum aber irgendwann Schluss. Auch kommt noch der Effekt der Intoxikation hinzu, also der selbstständigen Vergiftung der Bakterien durch ihre eigenen Ausscheidungsprodukte5 . Die Differentialgleichung N (t) = q¯ · N(t) liefert das kontinuierliche Analogon zum oben betrachteten diskreten Modell. In welchem Zusammenhang das diskrete und das kontinuierliche Modell zueinander stehen, klärt der folgende Exkurs. Exkurs zu gewöhnlichen Differentialgleichungen und zur Diskretisierung von Modellen Gewöhnliche Differentialgleichungen sind Gleichungen, in denen sowohl eine Funktion x(t) als auch ihre Ableitungen x (t), x (t), . . . vorkommen. In der fachwissenschaftlichen Arbeit von Biomathematikern stellen sie die beliebtesten Werkzeuge zur Beschreibung kontinuierlicher Prozesse dar. Als Lösung einer Differentialgleichung bezeichnet man jene Funktion x(t), die die Differentialgleichung und gegebenenfalls eine Anfangsbedingung x(0) = c erfüllt. Nicht alle Differentialgleichungen sind lösbar, es gibt allerdings Kriterien, die es erlauben, ihre Lösbarkeit zu entscheiden. Die für die Schulmathematik relevanten Differentialgleichungen lassen sich meist mit der Methode der Trennung der Variablen lösen. Dabei handelt es sich um Differentialgleichungen der Form (2.6) g(x) · x = f (t). Sind G und F Stammfunktionen von g und f , so kann man schreiben: G(x) = F(t) +C 5 Der
(2.7)
Verlauf eines realistisch ablaufenden Bakterienwachstums und eine Beschreibung der dabei auftretenden Phasen ist in [D‘A39, S. 49] zu sehen.
34
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
Drückt man nun x explizit aus, so erhält man die Lösung x(t) = G−1 (F(t) +C).
(2.8)
Beispiel 2.2 Es soll jene Lösung der Differentialgleichung x2 · x = 2t + 3
(2.9)
gefunden werden, die die Anfangsbedingung x(0) = 2 erfüllt! Nach Suchen der Stammfunktionen erhalten wir x3 = t 2 + 3t +C (2.10) 3 und nach Umformung 3 x(t) = 3t 3 + 9t +C1 . (2.11) Wertet man nun an der Stelle t = 0 aus und setzt die Anfangsbedingung ein, so erhält man für C1 den Wert 8 und als Lösung der Differentialgleichung 3 x(t) = 3t 3 + 9t + 8. (2.12)
Leider kommt man in der Biomathematik mit solch einfachen Differentialgleichungen meist nicht aus, was eine Bearbeitung in der Schule nur schwer möglich macht. Es soll daher im Folgenden anhand eines Beispiels gezeigt werden, wie eine Differentialgleichung in eine Differenzengleichung umgewandelt werden kann, so dass sich am qualitativen Verlauf der Lösung nichts ändert. Man gewinnt dadurch eine Möglichkeit, ein kontinuierliches Modell so zu diskretisieren, dass es in der Schule sinnvoll bearbeitet werden kann. Als Beispiel soll das gerade betrachtete exponentielle Wachstum dienen, das in der Schule sowohl als kontinuierliches als auch als diskretes Modell behandelt wird. Meistens taucht das schrittweise exponentielle Wachstum in der Sekundarstufe 1 beim Thema Zinseszinsrechnung zum ersten Mal auf, während das stetige exponentielle Wachstum erst in der Sekundarstufe 2 vorkommt. An dieser Stelle wollen wir dennoch den umgekehrten Weg gehen und mit der Differentialgleichung x (t) = a¯ · x(t) (2.13) beginnen. Man kann diese Differentialgleichung auch mit Hilfe des Differentialquotienten anschreiben: x(t + Δt) − x(t) = a¯ · x(t) (2.14) lim Δt→0 Δt Als nächstes führen wir den Diskretisierungsschritt durch, indem wir auf der linken Seite den Grenzübergang nicht vornehmen, sondern ein fixes, wenn auch klein gewähltes Δt betrachten. Dies stellt natürlich nur eine Approximation dar, die aber für kleines Δt und nach Wahl einer „neuen“ Konstanten a immer noch „gut“ an das kontinuierliche Modell passt: x(t + Δt) − x(t) = a · x(t) Δt
(2.15)
Diese Gleichung lässt sich leicht zu x(t + Δt) = x(t) + Δt · a · x(t)
(2.16)
2.1 Grundlegende Modelle
35
Abbildung 2.3: Polygonzug als Näherungslösung einer Differentialgleichung
umformen. Definiert man nun xn := x(t), xn+1 := x(t + Δt) und r := Δt · a, so ergibt sich xn+1 = xn + r · xn = xn · (1 + r),
(2.17)
also genau die Rekursionsformel des diskreten exponentiellen Wachstums. Ganz allgemein nennt man diese Methode der Diskretisierung Euler’sches Polygonzugverfahren. Es dient in der Numerischen Mathematik dazu, gewöhnliche Differentialgleichungen der Form x (t) = f (x(t)) näherungsweise zu lösen. Dazu wählt man eine möglichst kleine Schrittweite Δt und berechnet rekursiv, ausgehend von einem Startwert x(t0 ) = x0 , mit Hilfe der Vorschrift xn+1 = xn + Δt · f (xn ) die Werte x1 , x2 , x3 , usw. Grafisch gesehen entspricht das einem Polygonzug (siehe Abbildung 2.3). Die Strecke zwischen xi und xi+1 hat dabei jeweils die Steigung k = f (xi ). Selbsverständlich macht man dabei in jedem Schritt einen Fehler gegenüber der kontinuierlichen Lösungskurve. Durch Verkleinerung der Schrittweite kann man diesen Fehler allerdings i. A. reduzieren. Das wiederum geht natürlich auf Kosten der Rechenzeit. Als weitere Verbesserung des Verfahrens könnte man zwei oder mehrere der schon vorher berechneten Werte heranziehen, um einen neuen Wert zu berechnen, anstatt nur auf den letzten Wert zurückgreifen. Zur vertieften Auseinandersetzung mit diesen so genannten Mehrschrittverfahren bzw. weiteren Verbesserungsmöglichkeiten des Euler’schen Polygonzugverfahrens wie etwa die Runge-Kutta-Verfahren sei auf S TREHMEL6 verwiesen. Ende des Exkurses Die nun angeführten Zusatzfragen in diesem und allen folgenden Abschnitten sollen weitere Anreize für die Beschäftigung mit den vorgestellten biomathematischen Modellen geben. Sie sind demnach nicht in dieser Form für den Schulunterricht gedacht, sondern sollen lediglich dem Leser dieses Lehrbuches Ausgangspunkte zur Vertiefung in das Thema aufzeigen. Sie sind 6 siehe
[Str95], vor allem Kapitel 2 und 4
36
2 Modelle mit einer Zustandsgröße Tabelle 2.3: Bevölkerungswachstum in den USA
Jahr
Bevölkerungsgröße (in Millionen)
1790 1800 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890
3,9 5,3 7,2 9,6 12,9 17,1 23,2 31,4 38,6 50,2 62,9
inhaltlich auch für den Unterricht interessant, müssen dann allerdings für die jeweilige Altersstufe adaptiert werden. Zusatzfragen 2.1 • In welchem Zeitraum verdoppelt sich jeweils der Wert der Größe? • Wie sieht der Verlauf für r < 0 aus? • Wie groß muss q gewählt werden, damit sich die betrachtete Größe innerhalb von 20 Zeitschritten verdoppelt? Ist dieser Wert abhängig vom Startwert N0 ? • Wie verändert sich N20 , wenn N0 verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht wird? Aufgabe 2.4 Die Bevölkerung der USA ist in den Jahren von 1790 bis 1890 annähernd exponentiell angewachsen, wie die Daten7 aus Tabelle 2.3 bestätigen: Wie müssten die Parameter im Modell des exponentiellen Wachstums gewählt werden, um die gegebenen Daten gut anzunähern? Verwenden Sie ein Tabellenkalkulationsprogramm, um experimentell passende Werte für die Parameter zu finden! Erlaubt dieses Modell Prognosen über das 1890 hinaus? Wie groß wäre die Bevölkerung der USA heute, wenn das Wachstum weiterhin so rasch verlaufen wäre? Aufgabe 2.5 Der jährliche Holzeinschlag, das ist das Volumen des in einem Jahr geschlägerten Waldes, ist im Burgenland in den letzten 45 Jahren annähernd exponentiell angestiegen. Stellen Sie die Daten8 aus Tabelle 2.4 in einer Grafik dar! Wie groß ist der jährliche Wachstumsfaktor ungefähr zu wählen, wenn man diese Datenpunkte durch exponentielles Wachstum beschreiben will? In welchem Zeitraum verdoppelt sich jeweils der Holzeinschlag nach diesem Modell? Wie lange wird es voraussichtlich noch dauern, bis der jährliche Holzeinschlag 2 Millionen Festmeter übersteigt? 7 aus 8 aus
[Tim95], gerundet dem Internet: Link vom 23.04.10: http://www.statistik.at, gerundet
2.1 Grundlegende Modelle
37 Tabelle 2.4: Holzeinschlag im Burgenland
Jahr
Holzeinschlag (in Tausend Festmeter)
1960 1970 1980 1990 2000 2005
279 316 298 393 560 704
2.1.3 Begrenztes Wachstum In der Natur gibt es aufgrund beschränkten Platz-, Nahrungs- oder Ressourcenangebots niemals unbegrenzte Wachstumsvorgänge. Mathematisch kann das etwa so modelliert werden, dass man eine gewisse konstante Kapazität K des Lebensraums annimmt und dass der Zuwachs pro Zeitschritt proportional zur derzeit noch verfügbaren Kapazität, also zu K − Nt ist. Daraus ergibt sich die Differenzengleichung Nt+1 = Nt + r · (K − Nt ). (2.18) Exkurs zu Fixpunkten Die Frage nach der Existenz von Fixpunkten ist im Zusammenhang mit dynamischen Prozessen eine sehr interessante und wichtige. Neben der Existenz lohnt es sich bei vielerlei Anwendungen auch zu analysieren, ob ein Fixpunkt anziehend oder abstoßend ist. Dadurch werden Aussagen über das Langzeitverhalten des betrachteten dynamischen Prozesses möglich. Beispielsweise interessiert man sich dafür, ob Populationsgrößen gegen eine fixe Kapazitätsgrenze streben oder ob sich der Medikamentenanteil im Blut bei einem gewünschten Wert einpendelt. Zur Stabilität von Fixpunkten aber dann in Abschnitt 2.2.3 etwas ausführlicher. Wir interessieren uns im Moment erst einmal nur für die Existenz von Fixpunkten: Einen Fixpunkt erhält man genau dann, wenn für einen Wert Nt die Beziehung Nt+1 = Nt gilt. Inhaltlich bedeutet das nichts anderes, als dass sich die Werte aufeinanderfolgender Folgenglieder nicht (mehr) ändern. Den Wert von Nt nennt man dann Fixpunkt. Erreicht ein dynamischer Prozess also einmal einen Fixpunkt, so verharrt er dort von diesem Zeitpunkt an. Beispiel 2.3 Die Rekursion Nt+1 = 0, 9 · Nt + 0, 3 hat den Fixpunkt 3. Er lässt sich mittels der Beziehung Nt+1 = Nt wie folgt berechnen:
Ende des Exkurses
Nt+1
=
Nt
0, 9 · Nt + 0, 3
=
Nt
0, 3
=
0, 1 · Nt
Nt
=
3
(2.19)
38
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
120 100
Größe
80 60 40 20 0 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.4: Begrenztes Wachstum mit: N0 = 20; r = 0, 2; K = 100 Tabelle 2.5: Säuglingssterblichkeit in Österreich
Jahr
Verstorbene im ersten Lebensjahr (auf 1000 Lebendgeborene)
1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005
26,0 20,2 14,2 11,1 7,8 5,4 4,8 4,2
Der einzige Fixpunkt des begrenzten Wachstumsmodells errechnet sich aus Nt+1 = Nt zu Nt = K. Die Lösung Nt = K − (K − N0 ) · (1 − r)t , die man leicht durch Einsetzen bestätigen kann, zeigt qualitativ denselben Verlauf wie in Abbildung 2.4. Zusatzfragen 2.2 • Was passiert, wenn man N0 ≥ K wählt? • Wie müsste die Differentialgleichung zu diesem Modell lauten? Aufgabe 2.6 Die Säuglingssterblichkeit ist in Österreich aufgrund des medizinischen Fortschrittes seit 1970 rasant zurückgegangen9 (siehe Tabelle 2.5). Stellen Sie die Daten grafisch dar! Finden Sie auf experimentellem Weg geeignete Parameter, um diesen Prozess durch ein begrenztes Wachstumsmodell darzustellen! Geben Sie anschließend auch ein entsprechendes exponentielles Modell an und vergleichen Sie die beiden Modelle! Welches beschreibt den Verlauf besser? In welcher Hinsicht? 9 Daten
aus dem Internet, Link vom 23.04.10: http://www.statistik.at, gerundet
2.1 Grundlegende Modelle
39
1,20 1,00
Größe
0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.5: Logistisches Wachstum mit: N0 = 0, 1; r = 0, 4; K = 1
2.1.4 Logistisches Wachstum Das logistische Wachstum ist ein sehr vielseitig einsetzbares Modell, das beispielsweise sowohl zur Beschreibung einer Bakterienkultur als auch einer menschlichen Bevölkerung herangezogen werden kann. Auch Pflanzenwachstum und Sättigungsvorgänge in der Wirtschaft (z. B. der Absatz eines neuen Produkts) und in der Gesellschaft (z. B. die Verbreitung eines Gerüchts) können damit modelliert werden. Das logistische Wachstum ist eine Verknüpfung des exponentiellen mit dem begrenzten Wachstum. Die schrittweise Zunahme ist nämlich einerseits proportional zum derzeitigen Bestand Nt und andererseits zum noch vorhandenen Freiraum K − Nt . Die daraus resultierende Differenzengleichung lautet demnach: Nt+1 = Nt + r · Nt · (K − Nt )
(2.20)
Für das diskrete logistische Wachstumsmodell kann leider keine exakte, explizite Lösung gefunden werden10 . Und auch die schrittweise berechnete Lösungsfolge verhält sich in Abhängigkeit vom Parameter r nicht immer „brav“. Um das zu untersuchen, setzen wir der Einfachheit halber K = 1 und N0 = 0, 1 und betrachten den Verlauf für unterschiedliche Werte von r. Für r < 1 ergibt sich das für viele Wachstumsprozesse gewünschte Verhalten, nämlich eine schrittweise Annäherung an die Kapazitätsgrenze K = 1 (siehe Abbildung 2.5). Man nennt den Verlauf dieser Kurve sigmoid. Im Anfangsstadium, also bei Nt K ähnelt das Wachstum dem exponentiellen, da dann K − Nt ≈ K und damit Nt+1 ≈ Nt · (1 + r · K) gilt. Bei Annäherung an die Kapazitätsgrenze, also bei Nt ≈ K wird das Wachstum wegen K − Nt ≈ 0 gebremst und verläuft qualitativ wie beim begrenzten Wachstum. Die Wachstumsgeschwindigkeit ist dann am größten, wenn das Produkt Nt · (K − Nt ) maximal wird, was bei Nt = K2 der Fall ist (siehe Abbildung 2.6). Vergrößert man r, so kommt es zu Oszillationen, die sich aber relativ rasch wieder beim Fixpunkt K = 1 einpendeln (Abbildung 2.7). Wählt man etwa r = 2, 2, so nähert sich der Verlauf periodischem 10 Man
kann allerdings zumindest eine Näherungslösung angeben: Nt ≈
K 1+ NK −1 (1−rK)t 0
40
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
⋅ −
Abbildung 2.6: Wachstumsterm des logistischen Wachstums 1,20 1,00
Größe
0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.7: Logistisches Wachstum mit: N0 = 0, 1; r = 1, 9; K = 1
Verhalten, wie man in Abbildung 2.8 sieht. Für noch größere Werte von r (etwa r = 2, 5) zeigt sich doppelt-periodisches Verhalten (siehe Abbildung 2.9). Zu solchen Periodenverdoppelungen kommt es bei Vergrößerung von r noch einige Male (Viererperiode, Achterperiode, . . . ), bis es schließlich für Werte von r ≈ 3 keine unterscheidbaren Perioden mehr gibt und es zu völlig unvorhersehbaren Schwankungen kommt, was wie in Abbildung 2.10 aussieht. Man nennt dieses Verhalten deterministisches Chaos. Dieser Begriff klingt bei erster Betrachtung paradox, lässt sich aber folgendermaßen erklären: Zwar ist durch die Festlegung des Startwertes N0 der spätere Verlauf der Lösungsfolge mathematisch eindeutig bestimmt (determiniert), allerdings hängt dieser Verlauf aber empfindlich von der Wahl des Anfangswertes (und daher natürlich auch von den Rundungen, die man nach jedem Schritt durchführt) ab und kann somit als chaotisch bezeichnet werden. Ändert man beispielsweise den Startwert von 0, 100 auf 0, 099 ab, so zeigt sich nach ei-
2.1 Grundlegende Modelle
41
1,40 1,20
Größe
1,00 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.8: Logistisches Wachstum mit: N0 = 0, 1; r = 2, 2; K = 1 1,40 1,20
Größe
1,00 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.9: Logistisches Wachstum mit: N0 = 0, 1; r = 2, 5; K = 1
nigen Zeitschritten ein völlig anderes Bild als zuvor (siehe Abbildung 2.11). Interessant ist auch, dass man beim Vergrößern des Parameters r Intervalle findet, in denen plötzlich wieder geordnetes, periodisches Verhalten auftritt. Beispielsweise gibt es sogar ein relativ großes Intervall für r, das Perioden der Länge 3 liefert. Ein guter Literaturverweis, der sich fast ausschließlich mit dem chaotischen Verhalten des logistischen Wachstums befasst, ist der Artikel von R EINARTZ11 . Im Alltag kommt man vor allem bei einem speziellen Thema mit chaotischem Verhalten in Kontakt, nämlich bei der Wettervorhersage. Das Wetter ist ein hochkomplexes System, das von unzähligen Parametern und Größen beeinflusst wird. Ändert sich eine dieser Ursachen, so kann das schon über kurze Zeitdauern zu völlig unprognostizierbaren Ergebnissen führen. Längerfristige 11 siehe
[RLG05]
42
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
1,40 1,20
Größe
1,00 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.10: Logistisches Wachstum mit: N0 = 0, 1; r = 3, 0; K = 1 1,40 1,20
Größe
1,00 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.11: Logistisches Wachstum mit: N0 = 0, 099; r = 3, 0; K = 1
Vorhersagen sind daher grundsätzlich nicht möglich. Und auch die Diskussion über den Klimawandel kann man in diesem Zusammenhang besser verstehen. Eingriffe des Menschen in den CO2 -Kreislauf der Erde können völlig unvorhersehbare Auswirkungen haben, leichte Änderungen der derzeitigen Bedingungen können zu unkontrollierbaren Folgen führen. R EINARTZ 12 etwa beklagt: „Tatsächlich aber wird auf der politischen, ökonomischen und sozialen Ebene häufig wegen kurzfristiger wirtschaftlicher Erwägungen linear entschieden“. Schnell gelangt man also von einem recht einfach anmutenden Bevölkerungsmodell zu einer tiefliegenden und in der Öffentlichkeit teils sehr kontrovers geführten Diskussion über komplexe Systeme – ein sehr fruchtbares Thema für fächerübergreifenden Unterricht. 12 siehe
[RLG05, S. 57]
2.1 Grundlegende Modelle
43 Tabelle 2.6: Bevölkerungswachstum in Österreich
Jahr
Bevölkerungsgröße (in Millionen)
Jahr
Bevölkerungsgröße (in Millionen)
1600 1700 1754 1780 1790 1800 1830
1,80 2,10 2,73 2,97 3,05 3,06 3,48
1857 1880 1910 1939 1971 1990 2000
4,08 4,96 6,65 6,65 7,49 7,68 8,01
Die logistische Gleichung wurde erstmals 1837 von Pierre François Verhulst formuliert und stellt historisch gesehen den Beginn eines neuen Forschungsgebietes dar, nämlich der mathematischen Chaostheorie. Eine gute Einführung in dieses Teilgebiet der Mathematik bietet das Werk von A RGYRIS, FAUST und H AASE 13 . Im Gegensatz zum diskreten Modell lässt sich die logistische Differentialgleichung N (t) = r¯ · N(t) · (K − N(t))
(2.21)
durch Trennen der Variablen exakt lösen: N(t) =
1+
K
K N0
− 1 · e−¯rKt
(2.22)
Zusatzfragen 2.3 • Was passiert in den einzelnen Fällen, wenn man N0 = K bzw. N0 > K wählt? • Was geschieht bei r > 3? • Wie sieht der Verlauf der Lösung im kontinuierlichen Fall aus? Verwenden Sie ein CAS! • Zeigen Sie durch Einsetzen die Richtigkeit der kontinuierlichen Lösung! Aufgabe 2.7 Beschreiben Sie das Wachstum der österreichischen Bevölkerung im Zeitraum von 1600 bis 2000 durch ein logistisches Modell mit N1600 = 1, 8 (in Millionen) und r = 0,003 5! Welcher Wert für K erscheint Ihnen sinnvoll? Vergleichen Sie die gewonnenen Werte mit den realen Daten14 aus Tabelle 2.6! In welchem Bereich passt Ihr Modell gut/schlecht an die realen Daten?
13 siehe 14 aus
[AFH94, logistisches Wachstum auf S. 365] dem Internet, Link vom 23.04.10: http://www.statistik.at, gerundet
44
2 Modelle mit einer Zustandsgröße Tabelle 2.7: Sonnenblumenwachstum vom 14. bis zum 84. Tag
Zeit (in Tagen)
Höhe (in cm)
14 21 28 35 42 49 56 63 70 77 84
36 68 98 131 170 206 228 247 251 254 255
Tabelle 2.8: Bevölkerungsgröße einer Drosophilapopulation
Zeit (in Tagen)
Bevölkerungsgröße
1 3 5 7 9 11
6 21 67 163 256 319
Aufgabe 2.8 Das Sonnenblumenwachstum in Aufgabe 2.1 beschäftigt sich lediglich mit dem Anfangsstadium dieses Prozesses. Selbstverständlich könnte die betrachtete Sonnenblume nicht für alle Zeiten auf diese Art weiterwachsen. Misst man die Höhe der Sonnenblume über den 50. Tag hinaus, so erhält man beispielsweise die Werte15 aus Tabelle 2.7. Zeichnen Sie die Messwerte in ein geeignetes Koordinatensystem! Nähern Sie die Daten durch ein logistisches Wachstumsmodell an! Wie könnte man „messen“, ob das Modell die realen Daten gut annähert? Aufgabe 2.9 Eine unter Laborbedingungen gezüchtete Fliegenpopulation (Drosophila) ist in den ersten Tagen wie in Tabelle 2.8 angewachsen16 . Vergleichen Sie das logistische Modell (N1 = 6, r = 0,002 55 und K = 317) mit den realen Daten! Wo liegen die Schwächen des logistischen Modells in diesem Beispiel? Könnte man diese Schwächen durch Verändern der drei Parameter beseitigen? 15 vgl. 16 vgl.
[Oli78], gerundet [Tim95, S. 94]
2.2 Weiterführende Modelle
45
80 70 60
Größe
50 40 30 20 10 0 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.12: Schaefer’sches Modell mit: N0 = 10; r = 0, 007; a = 0, 2; K = 100
2.2 Weiterführende Modelle 2.2.1 Schaefer’sches Modell Das Schaefer’sche Modell beschreibt das Wachstum einer logistisch wachsenden Bevölkerung, die unter Bejagung steht. Dabei wird davon ausgegangen, dass in jedem Zeitschritt ein fester relativer Anteil a der Bevölkerung durch Jagd getötet wird. Die Rekursion lautet dann also: Nt+1 = Nt + r · Nt · (K − Nt ) − a · Nt
(2.23)
Fixpunkte findet man bei Nt∗ = 0 und Nt∗ = K − ar , wobei der zweite nur für a < Kr einen biologisch relevanten, positiven Wert annimmt, d. h. wenn die Bejagung nicht zu groß ist (siehe Abbildung 2.12). Die Jäger könnten sich nun die Frage stellen, für welches a der dauerhafte Ertrag im Fixpunkt am größten ist. Das bedeutet, dass man die Größe a · Nt∗ maximieren möch2 te. a · Nt∗ = aK − ar stellt in Abhängigkeit von a eine Parabel mit den Nullstellen a = 0 und a = Kr dar, die ihren Scheitel und damit ihr Maximum bei amax = Kr 2 annimmt. Man sollte also den Bejagungsparameter a den natürlichen Parametern K und r dementsprechend anpassen, um möglichst großen dauerhaften Ertrag zu erzielen. Aufgabe 2.10 Es wird geschätzt, dass in einem gewissen Gebiet die Kapazität für Rehe mit K = 200 beschränkt ist und dass r = 0, 001 ist. • Was passiert mit der Rehpopulation auf lange Sicht, wenn in jedem Zeitschritt 15% der Rehe erlegt werden? • Wie hoch dürfte a maximal gewählt werden, um der Population ein dauerhaftes Überleben zu ermöglichen? • Wie müssten die Jäger den Parameter a optimal wählen? • Bei welcher Bevölkerungsgröße Nt ist für dieses optimale a die Wachstumsgeschwindigkeit der Rehpopulation maximal?
46
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
120 100
Größe
80 60 40 20 0 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.13: Gompertz-Modell mit: N0 = 5; r = 0, 04; K = 100
2.2.2 Gompertz-Modell Das nach dem Engländer Benjamin Gompertz benannte Modell, das schon 1825 erstmals publiziert wurde, zeigt ganz ähnliches Verhalten wie das erst später populär gewordene, aber weitaus bekanntere logistische Modell (siehe Abbildung 2.13). Im diskreten Fall treten bei Vergrößerung des Parameters r qualitativ gesehen dieselben Verläufe wie beim logistischen Wachstum auf. Das Modell wurde ursprünglich ebenfalls aus dem Modell des exponentiellen Wachstums entwickelt, indem es um eine Kapazitätsgrenze K erweitert wurde. K (2.24) Nt+1 = Nt + r · Nt · ln Nt Eine Anwendung der Rekursionsformel (2.24) besteht darin, das Wachstum von Bäumen in Forstbetrieben zu beschreiben17 . Zusatzfragen 2.4 • Wann ist in diesem Modell für r < 1 die Wachstumsgeschwindigkeit maximal? • Finden Sie Werte für r, bei denen sich periodisches, doppelt-periodisches oder chaotisches Verhalten zeigt? Wenn ja, geben Sie konkrete Werte für r an! • Wie lautet die Differentialgleichung zu diesem Modell?
2.2.3 Allee-Effekt 1 In der Natur kommt es häufig vor, dass eine gewisse Population nur dann überleben kann, wenn zumindest eine bestimmte Grenzzahl T an Individuen vorhanden ist18 . Dieses Phänomen ist nach 17 siehe 18 siehe
dazu etwa [Now02, S. 27–32] dazu etwa [Mur02, S. 71]
2.2 Weiterführende Modelle
47
120 100
Größe
80 60 40 20 0 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 2.14: Allee-Effekt 1 mit: N0 = 25; r = 0,005; K = 100; T = 20
dem amerikanischen Ökologen Warder Clyde Allee benannt worden und lässt sich dadurch erklären, dass Paarungen nur dann stattfinden können, wenn einander verschiedengeschlechtliche Tiere genügend oft „über den Weg laufen“ und sich in Folge paaren können. Ein anderer Grund kann etwa auch ein Inzuchteffekt aufgrund der kleinen Bevölkerungszahl sein, bei dem es zu einer Anhäufung schädlicher Allele im Genmaterial der Spezies kommt. Ist also N0 < T , so soll auch im Modell die Bevölkerung aussterben, d. h. der für das Wachstum zuständige Term soll negativ sein. Dies lässt sich durch Ersetzen des Terms Nt durch den Term Nt − T im logistischen Modell erreichen: Nt+1 = Nt + r · (Nt − T ) · (K − Nt ). (2.25) Dabei soll T < K vorausgesetzt werden, was inhaltlich völlig einsichtig ist. Wählt man beispielsweise T = 20 und N0 = 25, so kommt es zu einem sigmoiden Verlauf der Lösungsfolge (siehe Abbildung 2.14). Startet man allerdings mit einem Wert kleiner als T , also z. B. mit N0 = 19, so stirbt die Bevölkerung bereits nach einigen Zeitschritten aus, wie man in Abbildung 2.15 erkennt. Leider ergibt sich hier wieder eine recht unrealistische Situation, nämlich das Zustandekommen „negativer Bevölkerungszahlen“. Das lässt sich allerdings mit ein wenig Geschick beheben, wie man in Abschnitt 2.2.4 sehen kann. Hier lohnt es sich jedenfalls wieder, die Fixpunkte des Wachstumsprozesses wie in Abschnitt 2.1.3 zu berechnen: Nt
= Nt+1
Nt
= Nt + r · (Nt − T ) · (K − Nt )
0
(2.26)
= r · (Nt − T ) · (K − Nt ) (2.27)
Die letzte Gleichung ist genau dann erfüllt, wenn entweder Nt = T oder Nt = K gilt. Das sind also die beiden Fixpunkte der Rekursion. Ob der dynamische Prozess tatsächlich gegen einen
48
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
25 20 15
Größe
10 5 0 -5
0
2
4
6
8
10
12
-10 -15 -20
Zeitpunkt
Abbildung 2.15: Allee-Effekt 1 mit: N0 = 19; r = 0,005; K = 100; T = 20
dieser Fixpunkte konvergiert, kann mit ein wenig mehr Mathematik entschieden werden. Dazu folgt wieder ein kleiner Exkurs, der sich zuerst mit der grafischen Darstellung durch Spinnwebdiagramme und anschließend mit der Stabilitätsanalyse von Fixpunkten beschäftigt. Exkurs zu Spinnwebdiagrammen und zur Stabilität von Fixpunkten „Eine Iteration ist ein spezieller Algorithmus, bei dem wiederholt ‚dasselbe getan‘ wird.“ betonen H UMENBERGER und R EICHEL19 . Diese für die Mathematik typische Aktivität des Nacheinanderausführens derselben Tätigkeit kann auch grafisch sehr einprägsam dargestellt werden. In so genannten Spinnwebdiagrammen steckt großes didaktisches Potenzial, das auch schon in der Schule genutzt werden kann. Spinnwebdiagramme eignen sich zur grafischen Darstellung von Rekursionen 1. Ordnung. Das sind solche, die zur Berechnung eines Folgengliedes ausschließlich dessen Vorgänger benötigen. Man zeichnet dabei zu Beginn die Iterationsfunktion20 f (xn ) und die 1. Mediane in ein (xn , xn+1 )-Koordinatensystem ein. Danach startet man mit x0 auf der Abszisse und bestimmt x1 auf dem Grafen der Iterationsfunktion (siehe Abbildung 2.16). Den Wert von x1 überträgt man nun wieder auf die Abszisse, indem man ihn zuerst waagrecht auf die 1. Mediane projiziert. Der Wert von x2 lässt sich nun wieder am Grafen der Iterationsfunktion bestimmen, und so weiter (siehe Abbildung 2.17). Relevant ist also eigentlich immer nur der Streckenzug, der vertikal bis zum Funktionsgrafen läuft, danach horizontal bis zur 1. Mediane, danach wieder vertikal zum Funktionsgrafen und so fort. Im betrachteten Beispiel erkennt man, dass sich die Rekursion von unten monoton dem Fixpunkt x∗ nähert (siehe Abbildung 2.18). Konvergenz erhält man ganz 19 [HR95,
S. 200] ist jene Funktion, die einem Folgenglied das darauf folgende Folgenglied zuordnet. Beim soeben betrachteten Modell zum Allee-Effekt wäre die Iterationsfunktion also f (Nt ) = Nt + r · (Nt − T ) · (K − Nt ). Wir verwenden hier außerdem der größeren Allgemeinheit wegen die Bezeichnung xn für das Folgenglied und nicht die für Populationsgrößen übliche Notation Nt .
20 Das
2.2 Weiterführende Modelle
49
Abbildung 2.16: Erster Schritt im Spinnwebdiagramm
Abbildung 2.17: Zweiter Schritt im Spinnwebdiagramm
allgemein dann, wenn die Ableitung der Iterationsfunktion stetig und am Fixpunkt betragsmäßig kleiner als 1 ist und man nahe genug bei x∗ startet. Eine Begründung dafür lässt sich schon auf Schulniveau geben. Es gilt (2.28) xn+1 − x∗ = f (xn ) − f (x∗ ). Aus dem Mittelwertsatz der Differentialrechnung folgt f (xn ) − f (x∗ ) = (xn − x∗ ) · f (c)
(2.29)
für ein c zwischen xn und x∗ . Setzt man nun noch Beträge, so sieht man, dass |xn+1 − x∗ | = |xn − x∗ | · | f (c)|
(2.30)
ist. Laut Voraussetzung ist nun | f (x∗ )| < 1 und weil man nahe genug bei x∗ startet somit aus Stetigkeitsgründen auch | f (c)| < 1. Damit erhält man also das gewünschte Resultat, dass nämlich xn+1 näher bei x∗ liegt als xn . Einen exakten Beweis, der zusätzlich zeigt, dass die Abstände
50
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
Abbildung 2.18: Monotone Konvergenz zum Fixpunkt x∗
nicht nur kleiner werden, sondern sich sogar Null beliebig nähern (also für lokale Konvergenz) findet man bei K ELLEY und P ETERSON21 oder mit Hilfe des Banach’schen Fixpunktsatzes. Bei der Konvergenz bzw. Divergenz von Rekursionsfolgen gibt es qualitativ gesehen die vier unterschiedlichen Typen in Tabelle 2.9. Dabei muss f nicht notwendigerweise linear sein wie in den dort gezeigten Abbildungen. Man kann ja eine differenzierbare Funktion in jedem Punkt durch ihre Tangente näherungsweise approximieren und erhält daher zumindest in der Nähe des Fixpunktes eine zu einem der vier Fälle aus Tabelle 2.9 analoge Situation. Einen experimentellen Zugang für Schüler bietet Dynamische Geometrie Software22 . Damit lässt sich auf einfachem Wege jede beliebige Rekursionsfunktion analysieren. Beispielsweise kann der Startwert x0 durch den in solchen Programmen implementierten Zugmodus verändert werden, während sich der Streckenzug sofort mitverändert (siehe Abbildung 2.19). Auch kann auf diese Weise untersucht werden, welches Verhalten sich im Fall von zwei oder mehreren Fixpunkten zeigt. Auch für die Untersuchung der Stabilität von Systemen von Rekursionen gibt es eine mathematische Theorie. Für eine Vertiefung in dieses Thema empfehlen sich K ELLEY und P ETERSON23 sowie E LAYDI24 . Das würde für den Schulunterricht aber viel zu weit führen. Leider gibt es keine elementare Möglichkeit, das Langzeitverhalten von solchen Systemen von Rekursionen mathematisch exakt zu untersuchen25 . Ende des Exkurses
21 [KP91,
S. 175]
22 Ein kostenloses und sehr empfehlenswertes Produkt stellt das für den Schulgebrauch entwickelte Programm GeoGebra
dar. Download unter www.geogebra.org, Link vom 24.04.2010. Kapitel 5] 24 [Ela96, Kapitel 4] 25 Als Beispiel sei hier das Leslie-Modell erwähnt. Siehe dazu die Abschnitte 3.2.5 und 4.1.3. 23 [KP91,
2.2 Weiterführende Modelle
51
Tabelle 2.9: Die vier qualitativ unterschiedlichen Typen bei der Konvergenz bzw. Divergenz von Rekursionen
′ >
< ′ <
− < ′ <
′ < −
− + +
Abbildung 2.19: Spinnwebdiagramm für eine nicht lineare Iterationsfunktion
52
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
Wir können damit also die Stabilität der beiden Fixpunkte beim Modell des Allee-Effekts 1 aus Gleichung (2.25) untersuchen. Die zugehörige Iterationsfunktion ist f (Nt ) = Nt + r(Nt − t)(K − Nt ). Differenzieren liefert f (Nt ) = 1 + rK + rT − 2rNt . Jetzt setzen wir zuerst den Fixpunkt Nt = T in die erste Ableitung ein und erhalten: | f (T )| = |1 + rK − rT | = |1 + r(K − T )| > 1,
(2.31)
da K < T vorausgesetzt war. Der Fixpunkt Nt = T ist also lokal abstoßend, was wir auch schon aufgrund der Abbildung 2.15 vermuten durften. Setzen wir den zweiten Fixpunkt Nt = K in die erste Ableitung der Iterationsfunktion ein, so ergibt sich: | f (K)| = |1 + rT − rK| = |1 + r(T − K)| < 1,
(2.32)
solange r sehr klein gewählt wird (was für biologisch relevante Situationen der Fall ist). Dieser Fixpunkt ist dann lokal anziehend. Startet man mit der Bevölkerungsgröße in der Nähe von K, so wird der Prozess also zum Fixpunkt K konvergieren. Startet man in der Nähe von T , so wird sich der Prozess von dort wegbewegen – entweder wächst die Bevölkerung bis zum Fixpunkt K oder sie nimmt ab und stirbt in unserem Fall sogar aus (siehe die Abbildungen 2.14 und 2.15). Zusatzfragen 2.5 • Was passiert, wenn man in Gleichung (2.25) N0 = T wählt? • Kommt es auch hier bei Vergrößerung von r zu chaotischem Verhalten? • Zeigen Sie, dass der Wachstumsterm für Nt =
K+T 2
sein Maximum annimmt!
2.2.4 Allee Effekt 2 Ein anderer Zugang, dieses Phänomen zu modellieren besteht darin, von exponentieller Abnahme der Bevölkerung auszugehen. Das ist ja gerade jenes Verhalten, das man sich von dem Modell für kleine Bevölkerungszahlen erwartet – negative Populationszahlen sind dabei ausgeschlossen. Wir starten also mit: Nt+1 = Nt − a · Nt (2.33) Natürlich soll aber nun die Bevölkerung wachsen, wenn genügend geschlechtsreife Tiere vorhanden sind. Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass es in der Bevölkerung ein konstantes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Tieren gibt. Von Nt Tieren sollen also m · Nt männliche und w · Nt weibliche Exemplare vorhanden sein, wobei natürlich m + w = 1 gelten muss. Die Zahl der Geburten pro Zeiteinheit soll nun proportional zur Zahl der möglichen Paarungen in der Bevölkerung sein. Davon gibt es, wie man sich leicht überlegt, mNt · wNt viele. Jedes Männchen kann ja prinzipiell jedem einzelnen Weibchen über den Weg laufen, hätte also wNt Paarungsmöglichkeiten. Bei insgesamt mNt Männchen ergibt das die oben genannte Zahl. Natürlich führen nicht alle diese Paarungsmöglichkeiten tatsächlich zu Nachwuchs, sondern nur ein gewisser relativer Anteil r. Fasst man nun die Größe m · w · r zum Parameter b zusammen, so beschreibt der Term b · Nt2 gerade die Anzahl der Geburten im nächsten Zeitschritt. Nt+1 = Nt − a · Nt + b · Nt2
(2.34)
2.2 Weiterführende Modelle
53
140 120
Größe
100 80 60 40 20 0 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt
Abbildung 2.20: Allee-Effekt 2 mit: N0 = 45; a = 0, 05; b = 0,000 5
Nebenbei erwähnt: Dieses Modell erinnert bis jetzt sehr an das logistische Wachstumsmodell, das schon oben behandelt wurde. Der Unterschied liegt einzig in den vertauschten Vorzeichen der Terme. Während hier der lineare Teil des Wachstumsterms negativ ist und der quadratische Term positiv, war die Lage beim logistischen Modell gerade umgekehrt. Das äußert sich natürlich auch im Verlauf der Lösungskurve. Der Wachstumsterm −a · Nt + b · Nt2 beschreibt eine Parabel, die ihre Nullstellen bei Nt = 0 und Nt = ab hat. Dort liegen also die Fixpunkte des Wachstumsproa zesses. Der Scheitel der Parabel ist folglich bei Nt = 2b zu finden. Insgesamt gibt es damit drei qualitativ unterschiedliche Fälle. Betrachten wir zunächst den kritischen Fall von vorhin, also kleine Bevölkerungszahlen. Für a , im gezeigten Beispiel also N0 < 50, erhalten wir wie gewünscht den Verlauf in AbbilN0 < 2b a dung 2.20. Auch für 2b < N0 < ab , also hier 50 < N0 < 100, liefert das Modell brauchbare Ergeba nisse. Sobald Nt beim Wert 2b angelangt ist, ändert sich der qualitative Verlauf der Lösungskur26 ve. Ein „Wendepunkt“ analog zum logistischen Wachstumsmodell zeigt sich. Er kennzeichnet jenen Zeitpunkt, bei dem die Abnahme der Bevölkerungszahlen pro Zeitschritt am größten ist (siehe Abbildung 2.21). Allein für N0 > ab tritt ein Problem auf, das wir schon vom linearen oder exponentiellen Wachstum kennen – nämlich unbegrenztes Wachstum (siehe Abbildung 2.22). Offenbar lassen sich also die drei Eigenschaften Allee-Effekt, begrenztes Wachstum und Fixpunkt bei Nt = 0 in einer Rekursion der Form Nt+1 = Nt + a · Nt + b · Nt2 ,
(2.35)
wobei a, b ∈ R, nicht vereinbaren. Starten wir also noch einen letzten Versuch, die Rekursion zu verbessern, um alle diese Eigenschaften „unter einen Hut“ zu bringen. Diesmal – wie sich gleich herausstellen wird – mit Erfolg. Bis jetzt war die Anzahl der Geburten pro Zeitschritt direkt proportional zu Nt2 . Wir ersetzen nun die Proportionalitätskonstante b durch eine affin lineare Funktion in Nt , nämlich durch 26 Von
einem Wendepunkt kann man genau genommen nur im kontinuierlichen Differentialgleichungsmodell sprechen.
54
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
140 120
Größe
100 80 60 40 20 0 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt
Abbildung 2.21: Allee-Effekt 2 mit: N0 = 90; a = 0, 05; b = 0,000 5 200 180 160
Größe
140 120 100 80 60 40 20 0 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt
Abbildung 2.22: Allee-Effekt 2 mit: N0 = 101; a = 0, 05; b = 0,000 5
den Term b − c · Nt , um das Wachstum bei großen Bevölkerungszahlen abzuschwächen. Diesen Trick haben wir auch schon beim Übergang vom exponentiellen zum logistischen Wachstum angewandt. Die Rekursion lautet damit Nt+1 = Nt − a · Nt + (b − c · Nt ) · Nt2
(2.36)
Nt+1 = Nt − a · Nt + b · Nt2 − c · Nt3 .
(2.37)
oder vereinfacht Die√Nullstellen des Wachstumsterms −a · Nt + b · Nt2 − c · Nt3 liegen bei n1 = 0 und n2,3 = b± b2 −4ac . Die Nullstelle n1 sichert uns schon vorab eine der gewünschten Eigenschaften. Wir 2c müssen uns also nicht mehr mit negativen Werten für die Bevölkerungszahl herumschlagen. Es
2.2 Weiterführende Modelle
55
= = =
Abbildung 2.23: Keine positive Nullstelle des Wachstumsterms
ergeben sich drei unterschiedliche Fälle: 1. Fall: b2 − 4ac < 0 Hier sind die Nullstellen n2,3 nicht reell. Der Wachstumsterm ist für Nt > 0 immer negativ (siehe Abbildung 2.23). D. h. egal wie groß N0 ist, die Bevölkerung wird sich auf lange Sicht dem einzigen Fixpunkt Nt = 0 nähern und daher aussterben. 2. Fall: b2 − 4ac = 0 b , in unserem Beispiel n2,3 = 100 (siehe AbEs ergibt sich eine reelle Doppellösung n2,3 = 2c b b bildung 2.24). Startet man also bei N0 > 2c , so nähert man sich von oben dem Fixpunkt Nt = 2c b an, ist hingegen N0 < 2c , so stirbt die Bevölkerung wie oben asymptotisch aus. Diese beiden Szenarien sind in Abbildung 2.25 zu sehen. Einen Wendepunkt der Lösungskurve findet man, indem man die Nullstelle der zweiten Ableitung des Wachstumsterms berechnet. Diese liegt allb , in unserem Beispiel also bei Nt = 100 gemein bei Nt = 6c 3 . Es gibt für die Bevölkerung also hier keine Möglichkeit, sich zu vergrößern. Sie schrumpft, falls sie zu Beginn groß genug ist, auf b Nt = 2c und bleibt dann stabil auf diesem Wert oder sie stirbt sogar ganz aus, wenn N0 zu klein ist. Das ist selbstverständlich wieder unbrauchbar für unsere Betrachtungen. Deswegen nun zum interessanten Fall.
3. Fall: b2 − 4ac > 0 Die Nullstellen n2,3 sind nun reell und positiv. Der Wachstumsterm ist daher zwischen diesen beiden Nullstellen positiv, ansonsten negativ (siehe Abbildung 2.26). Damit ergeben sich je nach Startwert N0 drei unterschiedliche Szenarien, wie man in Abbildung 2.27 erkennt. Offensichtlich
56
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
= = =
Abbildung 2.24: Eine positive Nullstelle des Wachstumsterms 200 180 160
Größe
140 120 100 80 60 40 20 0 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt
Abbildung 2.25: Allee-Effekt 2 mit: a = 0, 25; b = 0,005; c = 0,000 025
ist es uns also gelungen, alle drei gewünschten Eigenschaften, nämlich Allee-Effekt, begrenztes Wachstum und Fixpunkt bei Nt = 0 zu erreichen. In den Intervallen [0, n2 ] und [n2 , n3 ] gibt es außerdem jeweils einen Wendepunkt, was leicht an den lokalen Extremstellen des Wachstumsterms zu sehen ist. Auch hier findet man also den „schönen“ sigmoiden Verlauf, der uns schon beim logistischen Wachstum begegnet ist. Wir haben bei unserer Vorgangsweise eigentlich zuerst die Forderungen formuliert, die wir an den Wachstumsprozess stellen, und erst im Nachhinein Schritt für Schritt daran gearbeitet, all das zu erfüllen. Das erinnert natürlich an die Umkehraufgaben der so genannten Kurvendiskussionen. Dieses Thema des Schulunterrichts könnte so durch einen sinnvollen Kontext motiviert und behandelt werden. Man könnte also etwa für eine bestimmte Population die Kapazitäts- und die minimale Überlebensgrenze und noch eine weitere Information etwa über die Lage eines Extre-
2.2 Weiterführende Modelle
57
= = =
Abbildung 2.26: Zwei positive Nullstellen des Wachstumsterms 200 180 160
Größe
140 120 100 80 60 40 20 0 0
10
20
30
40
50
60
Zeitpunkt
Abbildung 2.27: Allee-Effekt 2 mit: a = 0, 25; b = 0,005 2; c = 0,000 025
mums im Vorhinein angeben. Ziel ist es dann, nach einem geeigneten Wachstumsterm der Form aNt + bNt2 + cNt3 zu suchen. Was dabei aber nicht verloren gehen darf, ist die gründliche Interpretation der Terme in der fertigen Rekursionsformel. Erst im Nachhinein die Terme zu begründen spiegelt wohl nicht das gewünschte mathematische Modellieren wider, das eigentlich gefördert werden soll! Hat man allerdings wie wir die geeignete Form des Wachstumsterms einmal gefunden und aus realen oder fiktiven Daten die Kapazitäts- bzw. die minimale Überlebensgrenze ermittelt, spricht nichts dagegen, mit Hilfe einer Umkehraufgabe geeignete Konstanten a, b, c zu bestimmen. Das in diesem Abschnitt vorgestellte Modell hat lediglich die Funktion, den Verlauf einer Population zu beschreiben, bei der ein Allee-Effekt auftritt. Es gibt in der Literatur allerdings auch Modelle, die den Mechanismus dieses Effekts erklären und damit Werkzeuge an die Hand
58
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
1,00 0,90 0,80
Größe
0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt
Abbildung 2.28: Mutationsmodell mit: p0 = 0, 6; a = 0, 01; b = 0, 02
liefern, an den richtigen Parametern zu „schrauben“ und die richtigen Konsequenzen zu ziehen, um ein Aussterben der betrachteten Tierspezies zu verhindern27 .
2.2.5 Mutationsmodell Mutation ist einer der zentralen Mechanismen in der Evolution. Sie bezeichnet spontane28 , aber dauerhafte Veränderungen in den Keimzellen und die damit verbundene Änderung der in der DNA gespeicherten Information. Mutationen können bei der Reproduktion an die Nachkommen vererbt werden. In unserem Modell wollen wir der Einfachheit halber nur zwei unterschiedliche Ausprägungsformen, so genannte Allele eines Gens betrachten. Pro Generation mutiere ein bestimmter relativer Anteil a des Allels A1 in das Allel A2 und umgekehrt ein relativer Anteil b von A2 zu A1 . Wir bezeichnen a und b als Mutationsparameter. Die Entwicklung des relativen Anteils p des Allels A1 kann man also durch folgende Rekursion beschreiben: pt+1 = pt − apt + b(1 − pt ).
(2.38)
b , wie man leicht nachrechnen kann. Dieses Modell hat genau einen Fixpunkt, nämlich bei p = a+b Für a = 0 oder b = 0 ergibt sich Mutation nur in eine Richtung, eine Allelhäufigkeit wächst dann begrenzt, während die andere exponentiell sinkt (siehe Abbildung 2.28).
Aufgabe 2.11 Wie lange dauert es, bis das Allel A1 mit dem Mutationsparameter a = 2% eine relative Häufigkeit größer als 90% hat, wenn das Allel A2 den Mutationsparameter b = 20% hat und die Anfangshäufigkeit von Allel A1 lediglich p = 1% beträgt? Fertigen Sie eine Grafik mit einem Tabellenkalkulationsprogramm an! Wie müsste ein Modell mit drei Allelen aussehen, bei dem paarweise Mutationen stattfinden? Zeigen Sie, dass auch hier immer ein eindeutiger Fixpunkt existiert! 27 siehe
z. B. [MDLT08] können allerdings auch durch äußere Einflüsse wie Bestrahlung oder chemische Behandlung ausgelöst werden.
28 Mutationen
2.2 Weiterführende Modelle
59
Tabelle 2.10: Mittlere Anzahl an Nachkommen der jeweiligen Genotypen
Genotyp
mittlere Anzahl an Nachkommen
A1 A1 A1 A2 A2 A2
f 11 f 12 f 22
Tabelle 2.11: Relative Häufigkeiten der Genotypen in der nächsten Generation
Genotyp
relative Häufigkeit
A1 A1 A1 A2 A2 A2
p2 2p(1 − p) (1 − p)2
2.2.6 Fisher-Wright-Modell Das folgende Modell beschreibt die Selektion an einem Genort in einer diploiden Bevölkerung mit getrennten Generationen. Der Einfachheit halber kann ein Gen nur zwei unterschiedliche Ausprägungen A1 und A2 annehmen. Es gibt daher insgesamt 3 verschiedene Genotypen in dieser Bevölkerung, nämlich A1 A1 , A1 A2 und A2 A2 . Diese drei Typen sollen sich durch ihren Reproduktionserfolg, d. h. durch ihre mittlere Anzahl an Nachkommen unterscheiden29 (siehe Tabelle 2.10). Man nennt fi j auch Selektionsparameter oder Fitness des Genotyps Ai A j . Wofür man sich nun interessiert, ist etwa die Änderung der relativen Häufigkeit des Allels A1 in der Bevölkerung. Wir werden diese relative Häufigkeit von A1 mit p bezeichnen. Dann ergeben sich bei zufälliger Paarung für die relativen Häufigkeiten der Genotypen in der nächsten Generation die Berechnungen in Tabelle 2.11. Ein zufällig gezogenes Individuum gibt also durchschnittlich p2 f11 + p(1 − p) f12 Mal ein Gen mit der Ausprägung A1 an seine Nachfahren weiter. Damit ergibt sich schließlich für die relative Häufigkeit von A1 in der nächsten Generation: pt+1 =
pt2 f11 + pt (1 − pt ) f12 pt2 f11 + 2pt (1 − pt ) f12 + (1 − pt )2 f22
(2.39)
− f12 Die Fixpunkte p1 = 0, p2 = 1 und p3 = f11 +f22f22 −2 f 12 errechnen sich wiederum aus der Gleichung pt+1 = pt . Der letztgenannte Fixpunkt p3 liegt allerdings nur dann im relevanten Intervall [0, 1], wenn entweder f12 > f 11 und f12 > f22 oder f12 < f11 und f12 < f22 ist. Insgesamt ergeben sich also vier qualitativ unterschiedliche Verläufe, die intuitiv völlig klar sind (siehe Abbildung 2.29). In den Fällen, wo die Fitness des gemischten Genotyps zwischen den Fitnesswerten der reinen Genotypen liegt, setzt sich der stärkere reine Genotyp durch. Ist die Fitness des gemischten Genotyps größer als die Fitness der beiden reinen Typen, so strebt p gegen p3 , es bleiben also beide Ausprägungen A1 und A2 dauerhaft in der Bevölkerung erhalten. Hat jedoch der gemischte 29 Man
kann die Selektion statt über den Reproduktionserfolg auch über so genannte Überlebenswahrscheinlichkeiten modellieren. Dabei wird angenommen, dass unterschiedliche Genotypen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten das Erwachsenenalter, also das reproduktionsfähige Stadium erreichen. Das wird auch in den Unterrichtsmaterialien in Kapitel 10 so gemacht.
60
2 Modelle mit einer Zustandsgröße
Abbildung 2.29: Selektionsverläufe je nach Ordnung der Fitnesswerte
Genotyp den geringsten Reproduktionserfolg, so hängt es vom Startwert von p ab, welches Allel sich auf Dauer durchsetzen wird. Einen Beweis für dieses Resultat findet man im Buch von H OFBAUER und S IGMUND30 . Aufgabe 2.12 Wie viele Generationen dauert es, bis ein Defektgen (Allel A1 ) eine relative Häufigkeit kleiner als 1% hat, wenn der Genotyp A1 A1 Fitness f11 = 0, A1 A2 Fitness f 12 = 4 und A2 A2 Fitness f22 = 5 hat und die relative Häufigkeit zu Beginn p = 0, 2 ist? Fertigen Sie eine grafische Darstellung in einem Tabellenkalkulationsprogramm an und verändern Sie anschließend die Fitnesswerte so, dass sich das schadhafte Allel A1 mit einer relativen Häufigkeit von etwa 15% in der Bevölkerung halten kann! Aufgabe 2.13 Die Sichelzellanämie ist eine Erkrankung der roten Blutkörperchen, die sogar zum frühzeitigen Tod führen kann. Schuld ist ein krankhaftes Allel A1 , die Krankheit tritt allerdings nur bei A1 A1 Genotypen auf. Es zeigt sich, dass die relative Häufigkeit des Sichelzellallels bei Bevölkerungen in Malariagebieten höher ist als in anderen Gegenden. Versuchen Sie im Internet bzw. in Fachbüchern eine Begründung dafür zu finden! In manchen Gegenden Afrikas hat fast ein Drittel der Bevölkerung den gemischten Genotyp A1 A2 . Wie hoch ist in diesem Fall die relative Häufigkeit p des Allels A1 ? Wie viele Möglichkeiten gibt es dafür und welche davon ist die beste für die Bevölkerung? Aufgabe 2.14 Bei der schwachen Selektion gegen ein bestimmtes rezessives Allel A1 sind folgende Fitnesswerte bekannt: f11 = 0, 95, f12 = f22 = 1. Wie viele Generationen dauert es, bis die relative Häufigkeit des rezessiven Allels von p = 0, 4 auf p = 0, 3 gesunken ist? Wie lange würde dieselbe Forderung dauern, wenn man den Reproduktionserfolg des Genotyps A1 A1 komplett verhindern könnte?
30 siehe
[HS98, S. 240]
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen 3.1 Grundlegende Wechselwirkungsmodelle aus der Ökologie 3.1.1 Mutualismus Mutualismus bezeichnet vereinfacht gesagt das Zusammenleben verschiedener Spezies, die jeweils ohne die anderen lebensunfähig wären. Er stellt somit einen Spezialfall der Symbiose dar, bei der die einzelnen Arten zwar einen Nutzen aus solchen Partnerschaften ziehen, jedoch auch ohne sie überleben könnten. Symbiose ist ein in der Natur sehr häufig auftretendes Phänomen, Beispiele sind etwa das Zusammenleben von Seeanemonen und Einsiedlerkrebsen, von Ameisen und Blattläusen, die Kooperation von Krokodilen und Krokodilwächtern und viele mehr. Wir wollen uns hier auf Mutualismus zwischen zwei Arten beschränken. Jede Art profitiert also dann jeweils vom Vorhandensein der anderen Art und stirbt auf Dauer aus, wenn die andere Spezies nicht „greifbar“ ist. Ein einfaches mathematisches Modell zur Beschreibung von Mutualismus ist das folgende: Xt+1
= Xt − a · Xt + b · Xt ·Yt
Yt+1
= Yt − c ·Yt + d · Xt ·Yt
(3.1)
Dabei sind a, b, c, d > 0 Konstanten. An dieser Stelle sei ausdrücklich erwähnt, dass es für den Schulunterricht keinesfalls das Ziel sein soll, (Näherungs-)Lösungen für diese Gleichungen zu finden. Vielmehr soll es darum gehen, die vorkommenden Terme interpretieren und den Einfluss der Parameter verstehen zu lernen. Das kann konkret mit Hilfe von Tabellenkalkulationsprogrammen unterstützt werden. Diese erlauben, die Parameter zu variieren und somit Veränderungen und Abhängigkeiten sofort beobachtbar zu machen. Man erkennt im obigen Modell, dass beispielsweise die Folge Xt exponentiell fallen würde, wenn die andere Art nicht vorhanden wäre. Die Population würde also aussterben. Der Parameter a stellt dabei die Differenz aus Sterbeund Geburtenrate der X-Population dar. Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt für Yt . Ist jedoch Yt > 0, so profitiert die Spezies X im nächsten Zeitschritt davon und wächst um den Wert b·Xt ·Yt . Bei jedem Zusammentreffen der beiden Spezies profitieren die beiden voneinander. Die Größe Xt · Yt ist ein Maß dafür, wie häufig das passieren kann. Jedes Tier der Art X kann prinzipiell Yt verschiedenen Tieren der anderen Art begegnen, für alle Xt Tiere der einen Art sind das dann insgesamt Xt ·Yt mögliche Begegnungen. Abbildung 3.1 zeigt die typische Entwicklung eines mutualistischen Systems, die durchgezogene Linie gibt dabei den Verlauf von Xt , die gestrichelte Linie jenen von Yt wieder. In diesem Beispiel wachsen die Populationen auf lange Zeit gesehen wieder unbegrenzt, das Modell kann also realistisch gesehen wieder nur den Beginn eines natürlichen Prozesses gut beschreiben. Außerdem zeigt sich, dass es bei diesem Modell auch auf die Wahl der Startwerte ankommt, welchen C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_3, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
62
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
40 35
Y
30
Größe
25
X 20 15 10 5 0 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 3.1: Mutualismus mit: X0 = 8; Y0 = 15; a = 0, 1; b = 0, 01; c = 0, 2; d = 0, 02
Verlauf die Populationszahlen nehmen. Dazu zunächst ein kleiner Exkurs über Phasendiagramme, die einen solchen Überlick über die Verläufe zu unterschiedlichen Startwerten erlauben. Exkurs zu Phasendiagrammen Phasendiagramme müssen im Unterschied zu Zeitdiagrammen, wie wir sie bis jetzt verwendet haben, ohne eine Zeitachse auskommen. Sie bieten sich vor allem im Fall von zwei (oder drei) gekoppelten Rekursionen als Darstellungsmöglichkeit an. Dazu trägt man die eine Populationsgröße auf der x-Achse auf, die andere auf der y-Achse. Ein Punkt in diesem Koordinatensystem entspricht dann einem Wertepaar, das die Populationsgrößen der beiden Spezies zu einem bestimmten Zeitpunkt1 angibt. Der Vorteil dieser Darstellungsform liegt einerseits darin, dass ein eventueller Fixpunkt jetzt tatsächlich einem Punkt im Koordinatensystem entspricht (wie etwa der abstoßende Fixpunkt (10, 10) in Abbildung 3.2) und dass der Einfluss einer Größe auf die andere bzw. die gemeinsame Entwicklung über die Zeit in einer Kurve sichtbar werden. Ende des Exkurses Das Phasendiagramm in Abbildung 3.2 zeigt den Verlauf der Lösungskurven für verschiedene Startpunkte (X0 ,Y0 ). Es lässt erkennen, dass in dem betrachteten Beispiel der Punkt (Xt ,Yt ) = (10, 10) ein Fixpunkt des Systems ist und dass es auch Startwerte (X0 ,Y0 ) gibt, bei denen die Populationen nach einiger Zeit aussterben. Das passiert nämlich dann, wenn schon zu Beginn zu wenige Exemplare einer Art vorhanden waren. Das zugehörige kontinuierliche Modell wird durch das Differentialgleichungssystem X (t) = −a¯ · X(t) + b¯ · X(t) ·Y (t) Y (t) = −c¯ ·Y (t) + d¯ · X(t) ·Y (t) 1 Diesen
kann man allerdings im Phasendiagramm nicht ablesen – das ist der Nachteil von Phasendiagrammen.
(3.2)
3.1 Grundlegende Wechselwirkungsmodelle aus der Ökologie
63
Y 60 50 40 30 20 10
X 0 0
10
20
30
40
50
60
Abbildung 3.2: Mutualismus mit a = 0, 1, b = 0, 01, c = 0, 2 und d = 0, 02 für verschiedene Startwerte (X0 ,Y0 ); Fixpunkt bei (10, 10)
beschrieben. Wie man zumindest qualitative Aussagen über die Lösungen eines solchen Differentialgleichungssystems machen kann, werden wir in Abschnitt 3.1.3 sehen. Zusatzfragen 3.1 • Was verändert sich am Lösungsverlauf, wenn man statt exponentieller Abnahme (bei Abwesenheit der jeweils anderen Art) logistisches Wachstum für das Modell verwendet? • Lässt sich auch in diesem Fall ein Fixpunkt finden?
3.1.2 Konkurrenz Auch konkurrierende Systeme findet man in der Natur häufig vor. Ein Beispiel ist die Konkurrenz von Tierarten um das vorhandene Nahrungs- oder Platzangebot, wie etwa auf Küstenfelsen sesshafte Organismen, die einander überlagern, ersticken oder im Wachstum hindern2 . Das wohl einfachste und gleichzeitig interessanteste Modell zur Beschreibung eines solchen Sachverhaltes ist das Konkurrenzmodell von Lotka-Volterra3 . Das Modell lässt sich durch ein System von zwei Differenzengleichungen beschreiben: Xt+1
= Xt + a · Xt · (K1 − Xt ) − b · Xt ·Yt
Yt+1
= Yt + c ·Yt · (K2 −Yt ) − d · Xt ·Yt
(3.3)
Es geht also von logistischem Wachstum der beiden Spezies bei Abwesenheit der jeweils anderen Art aus. Die zusätzlichen Terme −b · Xt ·Yt bzw. −d · Xt ·Yt beschreiben die Dezimierung der Bevölkerungszahlen durch das Vorhandensein der jeweils anderen Spezies. Dass diese „Abnahmeterme“ proportional zum Produkt aus den beiden Bestandszahlen sind, kann folgendermaßen 2 vgl.
[D‘A39, S. 10] z. B. [Mur02, S. 94]
3 siehe
64
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
250
Y
Größe
200
150
100
50
X 0 0
5
10
15
20
25
Zeitpunkt
Abbildung 3.3: Konkurrenz mit: X0 = 80; Y0 = 50; K1 = 100; K2 = 200; a = 0, 001; b = 0, 005; c = 0, 002; d = 0, 005
plausibel gemacht werden: Je öfter Repräsentanten der beiden Spezies aufeinandertreffen, desto häufiger kommt es auch zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Xt ·Yt beschreibt aber gerade die Anzahl aller möglichen Begegnungen zwischen Tieren der beiden Arten. Es kann in diesem Modell etwa zu einem Verlauf der Lösungsfolgen wie in Abbildung 3.3 kommen. In diesem Fall stirbt die X-Bevölkerung nach einiger Zeit komplett aus, während sich die Y -Bevölkerung ihrer Kapazitätsgrenze K2 nähert. Allerdings hängt das langfristige Verhalten dieses Systems stark von der Wahl der Parameter a, b, c, d, K1 und K2 ab. Im Wesentlichen unterscheidet man drei qualitativ unterschiedliche Fälle: • Dominanz • Bistabilität • Stabile Koexistenz Um das zu sehen, interessiert man sich zuerst für jene Punkte (Xt ,Yt ) im Phasendiagramm, für die entweder Xt+1 = Xt , Yt+1 = Yt oder beides gilt. Suchen wir zunächst jene Punkte, die die erstgenannte Bedingung erfüllen. Klarerweise muss für diese gelten: a · K1 · Xt − a · Xt2 − b · Xt ·Yt = 0
(3.4)
Drückt man Yt explizit aus, so ergibt sich für Xt = 0 die Geradengleichung a a · K1 Yt = − · Xt + . b b
(3.5)
Führt man nun dasselbe für die Bedingung Yt+1 = Yt durch, so erkennt man, dass diese Punkte auf der Geraden c c · K2 Xt = − ·Yt + . (3.6) d d
3.1 Grundlegende Wechselwirkungsmodelle aus der Ökologie
65
Abbildung 3.4: Dominanz im Konkurrenzmodell
liegen. Die drei unterschiedlichen Fälle ergeben sich nun aus der Lage der beiden Geraden zueinander. 1. Fall: Dominanz Haben die beiden Geraden keinen Schnittpunkt im 1. Quadranten (der uns aus biologischen Gründen ja ausschließlich interessiert), so liegt in diesem Bereich eine Gerade immer oberhalb der anderen. Das sieht z. B. wie in Abbildung 3.4 aus. Die Pfeile deuten dabei an, in welche „Richtung“ sich die Lösungskurven bewegen. Betrachten wir etwa den Startpunkt des fett markierten Pfeils und bezeichnen ihn mit (Xt ,Yt ), so gilt klarerweise a a · K1 Yt > − · Xt + b b
(3.7)
und
c c · K2 Xt > − ·Yt + , d d da dieser Punkt ja rechts oberhalb der beiden Geraden liegt. Es folgt dann a a · K1 ) = Xt Xt+1 < Xt + a · Xt · (K1 − Xt ) − b · Xt · (− · Xt + b b sowie
(3.8)
(3.9)
c c · K2 (3.10) ) ·Yt = Yt , Yt+1 < Yt + c ·Yt · (K2 −Yt ) − d · (− ·Yt + d d also Xt+1 < Xt und Yt+1 < Yt . Die Richtungen der anderen Pfeile lassen sich ganz analog erklären.
66
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
Abbildung 3.5: Bistabilität im Konkurrenzmodell
Im gezeigten Fall ist also die X-Spezies dominant. Egal wo man startet, alle inneren Bahnen führen zum Fixpunkt (K1 , 0). Selbstverständlich gilt Analoges für den Fall, bei dem die andere Gerade oberhalb liegt. 2. Fall: Bistabilität Dieser Fall tritt auf, wenn es einen Schnittpunkt der beiden Geraden im 1. Quadranten gibt und dieser Schnittpunkt links unterhalb der gedachten Verbindungsstrecke von (K1 , 0) und (0, K2 ) liegt (siehe Abbildung 3.5). Hier hängt der langfristige Verlauf der Lösungskurve vom Startpunkt (X0 ,Y0 ) des Prozesses ab. Je nachdem, wie diese Startwerte gewählt werden, konvergiert die Lösungsfolge entweder zu (K1 , 0) oder zu (0, K2 ). Man nennt eine solche Situation bistabil. 3. Fall: Stabile Koexistenz In den beiden oben genannten Fällen stirbt jeweils eine Spezies mit Sicherheit aus. Das ist in der Natur aber zum Glück nur selten der Fall. Viel eher gibt es ein (mehr oder weniger) stabiles Gleichgewicht, das sich im Laufe der Zeit einstellt. Diesen Fall kann man durch das LotkaVolterra-Konkurrenzmodell gut beschreiben, wenn die beiden Geraden einen Schnittpunkt haben und dieser rechts oberhalb der gedachten Verbindungsstrecke von (K1 , 0) und (0, K2 ) liegt (siehe Abbildung 3.6). Alle inneren Bahnen streben zum Fixpunkt im Inneren, d. h. sobald es von jeder Spezies zumindest einige Tiere gibt (im Modell reicht sogar eines), konvergieren die Bevölkerungszahlen immer zu diesem Fixpunkt. Insbesondere auch dann, wenn das System durch Umwelteinflüsse kurzzeitig aus diesem Gleichgewicht gebracht wird. Man sagt, dass die Populationen stabil koexistieren. Die Zeitdiagramme in Abbildung 3.7 geben ein Beispiel für diesen Fall.
3.1 Grundlegende Wechselwirkungsmodelle aus der Ökologie
67
Abbildung 3.6: Stabile Koexistenz im Konkurrenzmodell
140
Y 120
Größe
100 80
X
60 40 20 0 0
10
20
30
40
Zeitpunkt
Abbildung 3.7: Konkurrenz mit: X0 = 80; Y0 = 50; K1 = 100; K2 = 200; a = 0, 005; b = 0, 0001; c = 0, 002; d = 0, 002
Zusatzfragen 3.2 • Wie sehen die Zeitdiagramme im Fall der Bistabilität qualitativ aus? Verwenden Sie eine Tabellenkalkulation zur Beantwortung dieser Frage! • Durch welche Differentialgleichungen wird das kontinuierliche Lotka-Volterra-Konkurrenzmodell beschrieben?
68
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
3.1.3 Räuber-Beute-Modell Einen Eckpunkt in der Geschichte der Biomathematik bzw. das wohl berühmteste biomathematische Modell überhaupt stellt das Räuber-Beute-System von Lotka-Volterra dar4 . Es beschreibt die Wechselwirkung zwischen einer Raub- und einer Beutetierart. In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass sich die Raubtiere ausschließlich von dieser einen Beutetierart ernähren und dass auch die Beutetiere nur von dieser einen Raubtierspezies gefressen werden. Wären also keine Raubtiere vorhanden, so könnten sich die Beutetiere ohne Hindernis vermehren, was im Modell durch das exponentielle Wachstum beschrieben wird. Bei Abwesenheit der Beutetiere würde wiederum die Anzahl der Raubtiere exponentiell zurückgehen. Bt+1
= Bt + a · Bt − b · Bt · Rt
Rt+1
= Rt − c · Rt + d · Bt · Rt
(3.11)
Diesmal kann das Produkt aus Raubtierzahl Rt und Beutetierzahl Bt sogar auf zwei Arten interpretiert werden: Zum einen beschreibt es wieder die Anzahl der möglichen Begegnungen zwischen Raub- und Beutetieren. Plausiblerweise ist die Abnahme der Beutetiere bzw. die Zunahme der Raubtiere im nächsten Zeitschritt von dieser Anzahl abhängig, im Modell sogar direkt proportional. Zum anderen könnte man den Ausdruck −b · Bt · Rt auch so interpretieren, dass jedes Raubtier in einem Zeitschritt einen gewissen Teil der Beutetiere erlegt, sagen wir b · Bt . Insgesamt werden dann natürlich in diesem Zeitschritt b · Bt · Rt Beutetiere erlegt und das ist genau der Abnahmeterm der Beutetiere im Modell. Umgekehrt erhöht sich natürlich die Fitness der Raubtiere durch jedes erlegte Beutetier und fördert somit die Reproduktion neuer Raubtiere. Trotz der Einfachheit des Modells ergeben sich hier auf den ersten Blick recht eigenartige Schwankungen (siehe Abbildung 3.8). Diese Schwankungen wurden experimentell zwar bei einigen Tierspezies nachgewiesen, allerdings erkannte man zunächst nicht, dass daran die Interaktion mit einer anderen Spezies schuld ist. Man dachte, dass äußere Umstände, wie etwa klimatische Veränderungen, der Sommerregen, Einflüsse des Menschen oder Ähnliches die Ursachen für solche Oszillationen seien. Später wurden diese Schwankungen bei Hasen- und Luchspopulationen, bei Räuber- und Beutefischen und auch bei Bakterienpopulationen im Labor gefunden, was schließlich zur Entwicklung von mathematischen Modellen zur Beschreibung dieser Interaktionen führte. Nachvollziehen lässt sich dieses Phänomen wie folgt: Gibt es zu einem Zeitpunkt gerade viele Beutetiere, so haben die Raubtiere genug zu fressen und können sich vermehren. Steigt dann aber die Anzahl der Raubtiere, werden sehr viele Beutetiere erlegt, was zu einem Rückgang der Beutetieranzahl führt. Die Raubtiere haben in der Folge nicht mehr genug Nahrung, was eine Dezimierung ihrer Anzahl zur Folge hat. Gibt es nur noch wenige Raubtiere, kann sich die Beutetierpopulation erholen und das Spiel beginnt von vorne. Wie sehr dieses Phänomen interessierte und wie viel daran geforscht wurde, lässt sich bei D‘A NCONA5 nachlesen. Erst die Ergebnisse des Lotka-Volterra-Modells konnten plausibel bestätigen, dass die Interaktion der beiden Spezies tatsächlich die wesentliche Erklärung für die Oszillationen liefert. 4 siehe 5 siehe
z. B. [Sch95, Kapitel 4.1.] [D‘A39, S. 13]
3.1 Grundlegende Wechselwirkungsmodelle aus der Ökologie
69
50
Räuber
45 40
Größe
35 30 25 20 15 10
Beute
5 0 0
20
40
60
80
100
120
140
Zeitpunkt
Abbildung 3.8: Räuber-Beute-Modell mit: B0 = 10; R0 = 5; a = 0, 1; b = 0, 01; c = 0, 2; d = 0, 02
Das ursprüngliche Lotka-Volterra-Modell wurde natürlich – wie in der Biomathematik üblich – durch Differentialgleichungen beschrieben. Es lässt sich leicht aus dem Differenzengleichungssystem (3.11) rekonstruieren: B (t) = a · B(t) − b · B(t) · R(t)
(3.12)
R (t) = −c · R(t) + d · B(t) · R(t) Wie schon vorher angekündigt, werden wir im folgenden Exkurs daran arbeiten, zumindest qualitative Aussagen über die Lösungen dieses Systems machen zu können. Klarerweise ist es nicht Ziel dieses Exkurses, eine Bearbeitung des kontinuierlichen Räuber-Beute-Modells auch für die Schule zu motivieren. Der Abschnitt soll vielmehr interessierten Lehrern als Hintergrundwissen dienen. Exkurs zum kontinuierlichen Räuber-Beute-Modell und seiner Lösung Die folgenden Ausführungen sind an das wunderbare, englischsprachige Buch [HS98] von H OFBAUER und S IGMUND angelehnt, das dem fortgeschrittenen Leser sehr empfohlen werden kann. Wir werden hier allerdings nur die dabei verwendete Idee darstellen und keine exakten Beweise geben. Für B(0) = 0 lässt sich das Gleichungssystem (3.12) reduzieren zu B (t) = 0
(3.13)
R (t) = −c · R(t), was bedeutet, dass die Beutepopulation konstant gleich Null bleibt, während die Raubtierpopulation exponentiell abnimmt. Analoges gilt für R(0) = 0: B (t) = a · B(t)
R (t) = 0.
(3.14)
70
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
Hier wächst die Beutepopulation exponentiell, während die Raubtierpopulation konstant gleich Null bleibt. In Abwesenheit der Beute stirbt also die Raubtierpopulation exponentiell aus, während sich in Abwesenheit der Raubtiere die Beutetiere unbedroht vermehren können. Nun kommen wir aber zum interessanten Fall B(0) > 0 und R(0) > 0. Wir können den einzigen Fixpunkt des Systems (3.11) berechnen, indem wir B (t) = 0 und R (t) = 0 setzen. Daraus ergibt sich – wie man leicht nachrechnet – der Fixpunkt (B, R) = ( dc , ab ) im ersten Quadranten. Um etwas über die Lösungen sagen zu können, die nicht gerade in diesem Fixpunkt starten, verwendet man folgenden Trick. Man definiert dazu die Funktion V (B(t), R(t)) := c log B(t) − dB(t) + a log R(t) − bR(t).
(3.15)
Diese Funktion beschreibt geometrisch gesprochen eine „Landschaft“ über der B-R-Ebene, die ihr Maximum gerade bei (B(t), R(t)) = ( dc , ab ) annimmt, also im oben berechneten Fixpunkt6 . Man kann außerdem zeigen, dass die Höhenschichtlinien von V geschlossene Bahnen um den Fixpunkt sind. Und genau das werden wir gleich ausnutzen. Wir berechnen zunächst die Ableitung von V nach t: ∂V (B, R) ∂t
c a B − dB + R − bR = B R c a (3.16) = B ( − d) + R ( − b) = B R c a = B(a − bR)( − d) + R(−c + dB)( − b) = 0. B R Dabei haben wir von der zweiten auf die dritte Zeile einfach die Beziehungen aus Gleichung (3.11) benutzt. Aus Gleichung (3.16) erkennen wir, dass die Funktion V entlang der Lösungskurven B(t) und R(t) konstant ist. Umgekehrt bedeutet das aber, dass die Lösungskurven gerade entlang von Höhenschichtlinien von V verlaufen, die – wie wir oben bemerkt haben – geschlossene Bahnen um den Fixpunkt sind. Damit haben wir also herausgefunden, dass im kontinuierlichen Räuber-Beute-Modell die Lösungen geschlossene Bahnen im Phasendiagramm liefern. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum diskreten Modell, bei dem die Amplituden der Oszillationen ja immer größer geworden sind (siehe Abbildung 3.8). Im kontinuierlichen Modell sind die Lösungen also exakt periodisch. =
Ende des Exkurses Zusatzfragen 3.3 • Kann man das Ansteigen der Amplituden im diskreten Modell aus Gleichung (3.11) unterbinden, indem man logistisches statt exponentielles Wachstum der Beutetiere verwendet? Experimentieren Sie! • Wie sieht das kontinuierliche Räuber-Beute-Modell aus? • Unter welchen Bedingungen stirbt eine der beiden Spezies aus? • Wie kann man erreichen, dass das System weniger schnell oszilliert, bzw. die Amplituden kleiner werden? Welche Parameter muss man wie verändern? 6 Das
lässt sich durch Differenzieren der Funktion V nach B(t) bzw. R(t) und Nullsetzen der Ableitung leicht nachrechnen.
3.2 Modelle aus anderen Teilgebieten
71
3.2 Modelle aus anderen Teilgebieten 3.2.1 Natürliche Insektenvernichtung Angenommen eine Insektenpopulation7 mit getrennten Generationen vermehre sich in jeder Generation auf das a-fache der vorherigen Generation. Wir wissen schon vom exponentiellen Wachstumsmodell, dass dann die Bevölkerung ausstirbt, wenn a < 1 gilt bzw. die Bevölkerung über alle Grenzen wächst, wenn a > 1 gilt. Der letzte Fall ist der nun interessante. Mit der Methode der Sterilen Insektentechnik gelingt es nämlich, ohne den Einsatz von Insektenvernichtungsmitteln das Wachstum der Insektenpopulation zu stoppen bzw. die Insektenpopulation in einem Gebiet sogar vollständig auszurotten. Diese Methode wird etwa dazu verwendet, um Fruchtfliegen in Obstanbaugebieten zu vernichten und könnte als mögliche Waffe gegen Malaria übertragende Stechmücken eingesetzt werden8 . Wenn die Anzahl der Weibchen in der Generation t mit Wt bezeichnet wird, dann gilt für die Anzahl der Weibchen eine Generation später die Beziehung Wt+1 = a ·Wt . Die Anzahl der Männchen in dieser neuen Generation Mt+1 ist genauso groß, weil bei den Nachkommen Männchen und Weibchen gleich wahrscheinlich sind. Wt+1
= a ·Wt
Mt+1
= a ·Wt
(3.17)
Dies würde wie gesagt zu exponentiellem Anwachsen der Bevölkerungszahlen führen. Im Folgenden wird ausgenutzt, dass sich die Weibchen der betrachteten Insektenpopulation nur einmal paaren. Führt man nun nämlich der Insektenpopulation eine sehr große Anzahl S an sterilen t , was genau dem Anteil der Männchen zu, so sinkt der Anteil der fertilen Paarungen auf MM t +S fertilen Männchen in der männlichen Population entspricht. Dadurch wird erreicht, dass die Anzahl der Weibchen bzw. die Anzahl der fertilen Männchen in der nächsten Generation gleich Mt Mt +S · a ·Wt ist, ehe abermals sterile Männchen zu dieser neuen Generation hinzugefügt werden. Es ergeben sich also folgende Rekursionen: Wt+1
=
Mt+1
=
Mt · a ·Wt Mt + S Mt · a ·Wt Mt + S
(3.18)
Da spätestens ab der 2. Generation die Anzahl der fertilen Männchen immer gleich der Anzahl der Weibchen ist, könnte man zur einfacheren mathematischen Beschreibung auch ein Modell mit nur einer Zustandsgröße verwenden. Sei also nun Xt = Mt = Wt , dann gilt: Xt+1 =
Xt X2 · a · Xt = a · t Xt + S Xt + S
(3.19)
Um die Fixpunkte dieser Rekursion zu berechnen, setzen wir abermals Xt+1 = Xt . Wir erhalten S als Lösungen Xt = 0 und Xt = a−1 . Wird S groß genug gewählt, d. h. werden genügend sterile Männchen pro Generation freigesetzt, dann hat auch dieser zweite Fixpunkt einen sehr großen Wert. Ist nun der Startwert W0 kleiner als jener Wert, so führt die beschriebene Methode zum Aussterben der Insektenpopulation (siehe Abbildung 3.9). 7 vgl. 8 s.
[Tim95, S. 19] im Internet, Link vom 04.05.2010: www.dradio.de/dlf/sendungen/forschak/533850/
72
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
600 500
Größe
400 300
Weibchen 200
fertile Männchen 100 0 0
5
10
15
20
-100
Zeitpunkt
Abbildung 3.9: Insektenvernichtung mit: M0 = W0 = 500; a = 5; S = 2010 Aufgabe 3.1 • Untersuchen Sie experimentell die Stabilität der beiden Fixpunkte! • Untersuchen Sie die Stabilität nun auch mit der Methode aus Abschnitt 2.2.3! • Was passiert, wenn man S < (a − 1) · Xt wählt? • Fertigen Sie ein Spinnwebdiagramm zum obigen Beispiel (a = 5, S = 2010) an!
3.2.2 Tourismus vs. Umweltattraktivität Entfernt man sich etwas von rein biologischen Situationen hin zu gesellschaftlichen Themen, öffnet sich erneut eine sehr große Bandbreite an möglichen Modellen. Man stelle sich z. B. folgende Situation vor9 : Ein idyllisches Dorf – sehr ruhig an einem See gelegen, die Umgebung bewaldet – plant aus finanziellen Gründen den Einstieg in den Tourismus. Sofort wird Kritik laut. Es wird befürchtet, dass der Tourismus die Gegend zerstören wird und dass dann ohnehin keine Touristen mehr kommen würden. Was bliebe, sei also zerstörte Natur und nur geringer finanzieller Profit. Die Bewohner des Dorfes interessieren sich also für folgende Fragen: • Wie stark wird sich die Attraktivität des Gebietes ändern? • Wie viele Urlauber „verträgt“ das neue Urlaubsziel? • Kommt es auf Dauer zu stabilen Besucherzahlen? Die Umweltattraktivität wird nun mit Ut bezeichnet. Sie soll ein Maß dafür sein, wie ruhig und sauber das Gebiet ist, wie schön das Dorf- und Landschaftsbild erscheint und wie gut die Luftqualität ist. Sie wird in Prozent angegeben, wobei ein Wert von 100% optimaler Umweltattraktivität entspricht, während 0% bedeutet, dass das Gebiet überhaupt nicht attraktiv ist. Die Touristenzahl zum Zeitpunkt t wird mit Tt bezeichnet. 9 vgl.
[Abl07, S. 9–10]
3.2 Modelle aus anderen Teilgebieten
73
120 100
Größe
80 60
Touristenzahl 40 20
Umweltattraktivität 0 0
20
40
60
80
100
120
140
Zeitpunkt
Abbildung 3.10: Tourismus vs. Umwelt mit: U0 = 100; T0 = 0; a = 0, 001; b = 0, 05; c = 0, 002; d = 0, 1
Wir gehen davon aus, dass sich die Umweltattraktivität beim Ausbleiben von Touristen logistisch verbessert, sich dem Wert 100% also von unten nähert. Die Touristenzahl andererseits wird exponentiell zurückgehen, wenn die Umweltattraktivität gleich Null ist. Natürlich wird die Umweltattraktivität abnehmen, wenn viele Touristen kommen. Das kann durch den Term −c ·Ut · Tt modelliert werden. Dabei wird berücksichtigt, dass diese Abnahme auch davon abhängt, wie hoch die Umweltattraktivität im Moment ist. Kleine Veränderungen in einer schönen, sauberen Umgebung werden viel eher als störend wahrgenommen, als dieselben Veränderungen in einer ohnehin unattraktiven Umgebung. Umgekehrt werden aber Touristen umso stärker angelockt, je höher die Umweltattraktivität gerade ist. Das entspricht im folgenden Modell dem Term +d ·Ut . Ut+1
= Ut + a ·Ut · (100 −Ut ) − c ·Ut · Tt
Tt+1
= Tt − b · Tt + d ·Ut
(3.20)
Hier lassen sich auf recht einfache Weise die Fixpunkte bestimmen. Aus der zweiten Differenzengleichung erhält man die Bedingung Tt = db Ut . Setzt man das in a ·Ut · (100 −Ut ) − c ·Ut · Tt = 0 ein, so erhält man die beiden Lösungen Ut = 0 und Ut = 100a cd . Der zweite Fixpunkt liegt daa+ b
bei immer im Intervall [0, 100]. Die zugehörigen Touristenzahlen ergeben sich zu Tt = 0 und 100ad Tt = ab+cd . Während also die Touristenzahl aufgrund des schönen Gebietes zu Beginn rasch wächst, nimmt die Umweltattraktivität rasant ab (siehe Abbildung 3.10). Das hat zur Folge, dass auch die Touristen wieder weniger gern in das Gebiet kommen, usw. Schließlich stellt sich ein Gleichgewicht ein, das der Umwelt im betrachteten Gebiet eine nicht gerade rosige Zukunft voraussagt. Zusatzfragen 3.4 • Untersuchen Sie experimentell die Stabilität der beiden Fixpunkte! • Wie müsste man die Parameter wählen, damit die Umweltattraktivität langfristig 50% nicht unterschreitet? Geben Sie ein Beispiel an!
74
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
1200 1000
Anzahl
800
Suszeptible 600 400
Infizierte
200 0 0
10
20
30
40
50
60
70
Zeitpunkt
Abbildung 3.11: SI-Modell 1 mit: S0 = 1000; I0 = 0; a = 0, 05; b = 0, 1
3.2.3 SI-Modell 1 Die Epidemiologie ist ein großes Teilgebiet der Biomathematik. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der Ausbreitung von Krankheiten in der menschlichen Bevölkerung. Viele der Modelle sind recht komplex und erfordern hohes mathematisches Verständnis. Es gibt allerdings auch hier Möglichkeiten für den Schulunterricht. Das wohl einfachste Modell geht dabei von einer fixen Populationsgröße N aus. Diese teilt sich in zwei Bevölkerungsgruppen, die so genannten Suszeptiblen St , die zwar noch gesund, aber prinzipiell für die Krankheit anfällig sind, und die Infizierten It , die bereits an der Krankheit leiden. Der Name des Modells ergibt sich also aus den Anfangsbuchstaben der beiden Populationen und ist auch in der Fachliteratur gebräuchlich. In jedem Zeitschritt steckt sich nun ein gewisser Prozentsatz a der Suszeptiblen mit der Krankheit an, während ein gewisser Anteil b von Infizierten wieder suszeptibel wird. St+1
= St − a · St + b · It
It+1
= It + a · St − b · It = N − St+1
(3.21)
Es stellt sich bei diesem Modell immer ein Gleichgewicht ein, das sich aus der Bedingung St+1 = b St zu St = a+b · N berechnet (siehe Abbildung 3.11). Zusatzfragen 3.5 • Was passiert, wenn a > b gewählt wird? • Wie sieht das analoge kontinuierliche Modell aus?
3.2.4 SI-Modell 2 Wir wollen das obige Modell noch etwas verbessern, indem wir nicht einfach annehmen, dass in jedem Zeitschritt ein gewisser Prozentsatz an gesunden Menschen erkrankt, sondern dass eine
3.2 Modelle aus anderen Teilgebieten
75
1200 1000
Anzahl
800
Suszeptible
600 400
Infizierte
200 0 0
50
100
150
200
250
Zeitpunkt
Abbildung 3.12: SI-Modell 2 mit: S0 = 990; I0 = 10; a = 0, 15; b = 0, 1
Ansteckung davon abhängig ist, ob ein Suszeptibler Kontakt mit einem Infizierten hat. Der Einfachheit halber soll ein gesunder Mensch in einem Zeitschritt mit durchschnittlich einem anderen Menschen Kontakt haben. Mit Wahrscheinlichkeit NIt ist das ein Infizierter. So ein Kontakt führe nun mit Wahrscheinlichkeit a zu einer tatsächlichen Ansteckung. Wie im obigen Modell soll pro Zeitschritt ein Anteil b der Infizierten wieder gesund werden. St+1 It+1
It + b · It N It = It + a · St · − b · It = N − St+1 N = St − a · St ·
(3.22)
Es zeigt sich hier ein etwas realistischeres, sigmoides Ansteigen der Anzahl an Infizierten (siehe Abbildung 3.12). Das Gleichgewicht berechnet sich in diesem Fall zu St = ba · N, solange a ≥ b gilt. Zusatzfragen 3.6 • Angenommen man stellt alle Infizierten unter Quarantäne, nachdem sich das Gleichgewicht eingestellt hat. Wie viele Zeitschritte dauert es dann, bis die Krankheit als „ausgestorben“ bezeichnet werden kann? • Was passiert in diesem Modell, wenn b > a gilt?
3.2.5 Lesliemodell 1 Lesliemodelle stellen eine eigene Klasse von Prozessen in der Demographie dar. Die Bevölkerung wird dabei in zwei oder mehrere gleich breite Altersklassen unterteilt. Jede Altersklasse hat für sie typische Geburtenraten fi und Überlebensraten si . Betrachtet man etwa ein Zwei-KlassenModell, so gibt die Überlebensrate s1 die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein Individuum aus der ersten Klasse überlebt und somit in die zweite Klasse übertreten wird. Der Zeitschritt von t auf
76
3 Modelle mit zwei Zustandsgrößen
700 600
Größe
500 400
Junge 300 200
Erwachsene
100 0 0
2
4
6
8
10
Zeitpunkt
Abbildung 3.13: Lesliemodell 1 mit: A0 = 200; B0 = 20; f1 = 0, 6; f2 = 2; s1 = 0, 25
t + 1 entspricht dabei genau der Altersklassenbreite. Es ergeben sich folgende Rekursionen für die Bevölkerungsgrößen in den beiden Altersklassen: At+1
=
Bt+1
= s1 · At
f1 · At + f2 · Bt
(3.23)
Dieses System kann man auch übersichtlich mit Hilfe einer Matrix darstellen:
At+1 Bt+1
=
f1 s1
f2 0
At · Bt
In der Leslietheorie ist dabei der Spektralradius der Lesliematrix mäßig größter Eigenwert, von zentraler Bedeutung.
(3.24) f1 s1
f2 0
, also ihr betrags-
√ 2 f +4 f s + f Bei diesem 2-Klassen-Modell lässt sich der Spektralradius leicht zu λ = 1 2 2 1 1 berechnen. Man kann zeigen, dass dieser Eigenwert genau den asymptotischen Wachstumsfaktoren der einzelnen Bevölkerungsklassen entspricht10 . Das soll bedeuten, dass sich die Bevölkerungszahlen in den Altersklassen der exponentiellen Kurve mit Wachstumsfaktor λ asymptotisch nähern. Man nennt die sich dabei einstellende Bevölkerungsverteilung stable stage distribution. Im Wesentlichen bestimmt also schon die Fertilitätsrate f 1 den Verlauf der Bevölkerungszahlen maßgeblich. Ist f1 > 1, dann wächst die Bevölkerung exponentiell. Bei f1 = 1 und f2 > 0 und s1 > 0 ebenfalls. Nur wenn f1 < 1 ist, hängt der qualitative Verlauf auch wesentlich von den anderen beiden Parametern ab. Eine unmittelbare Folgerung aus dem obigen Resultat ist, dass die Größe ABtt mit größer werdendem t gegen einen konstanten Wert strebt, d. h. dass die Proportionen der Alterklassen auf Dauer stabil bleiben (siehe Abbildung 3.13). 10 siehe
dazu etwa [Mol09, S. 29]
3.2 Modelle aus anderen Teilgebieten
77
Aufgabe 3.2 Wir teilen eine Insektenpopulation in zwei gleich breite Altersklassen ein. Diese sollen die Fertilitätsraten f1 = 1, 2 und f2 = 0, 4 haben. Finden Sie jene Wachstumsrate λ , die sich nach einiger Zeit asymptotisch einstellt, wenn die Überlebenswahrscheinlichkeit in der ersten Altersklasse s1 = 0, 1 ist! Welches Verhältnis stellt sich zwischen den Bevölkerungszahlen der ersten und zweiten Altersklasse auf Dauer ein? Versuchen Sie experimentell mit Hilfe des Computers herauszufinden, auf welchen Wert man f1 senken müsste, um stabile Bevölkerungszahlen zu erhalten!
4 Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen 4.1 Erweiterungen von Modellen mit zwei Zustandsgrößen 4.1.1 Zwei Beutespezies und ein Räuber Betrachten wir zunächst nur zwei Beutetierarten und vorerst noch keinen Räuber1 . Es wird dabei angenommen, dass eine Beutetierart logistisch wachse, wenn es die jeweils andere Beutetierspezies nicht gäbe. Leben beide Spezies nebeneinander, dann konkurrieren sie z. B. um eine gemeinsame Nahrungsquelle. Das entsprechende Differenzengleichungssystem sieht folgendermaßen aus: At+1
= At + a · At · (K1 − At ) − c · At · Bt
Bt+1
= Bt + b · Bt · (K2 − Bt ) − d · At · Bt
(4.1)
Die Anzahl der Beute-1-Tiere zum Zeitpunkt t wird dabei durch At beschrieben, während Bt die Anzahl der Beute-2-Tiere angibt. K1 und K2 sind die Kapazitätsgrenzen für die beiden Spezies. Durch die Terme −c · At · Bt und −d · At · Bt wird ausgedrückt, dass eine Spezies geschwächt bzw. dezimiert wird, wenn sie Nahrungsmittel gegen die andere Spezies verteidigen muss. Das ist aber immer genau dann nötig, wenn es zu Begegnungen zwischen Tieren der unterschiedlichen Arten kommt. Dadurch wird plausibel, dass die Abnahme durch Konkurrenz um eine gemeinsame Nahrungsquelle proportional zu At · Bt ist. Die zweite Spezies soll außerdem einen leichten Vorteil im Kampf um die Ressourcen haben, was im Modell gerade dann der Fall ist, wenn c > d gilt. Interessant ist dabei, dass sich ganz unabhängig von den Startwerten A0 und B0 nach einiger Zeit immer dasselbe Gleichgewicht in den Bestandszahlen einstellt, das sich mit Hilfe der Fixpunktgleichungen At+1 = At und Bt+1 = Bt zu A∗
=
B∗
=
b(aK1 − cK2 ) ab − cd a(bK2 − dK1 ) ab − cd
(4.2)
berechnet (siehe Abbildung 4.1). Das Modell wird allerdings jetzt durch eine Raubtierart erweitert, die sich ausschließlich von der Jagd auf die Beute-2-Tiere ernährt. In Abwesenheit von Beute-2 würde die Zahl der Räuber exponentiell abnehmen. Ct steht hier für die Anzahl der 1 vgl.
[Abl07, S. 7–9]
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_4, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
80
4 Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen
160 140
Beute 2 120
Größe
100
Beute 1 80 60 40 20 0 0
20
40
60
80
100
120
140
Zeitpunkt
Abbildung 4.1: Zwei Beutespezies mit: A0 = 50; B0 = 10; K1 = 150; K2 = 200; a = 0, 002; b = 0, 001; c = 0, 00082; d = 0, 00080 160
Beute 1
140 120
Größe
100 80 60
Beute 2
40 20
Räuber
0 0
50
100
150
200
Zeitpunkt
Abbildung 4.2: Zwei Beutespezies, ein Räuber mit: A0 = 50; B0 = 15; C0 = 10; K1 = 150; K2 = 200; a = 0, 002; b = 0, 001; c = 0, 00082; d = 0, 00080; e = 0, 1; f = 0, 002; g = 0, 0025
Raubtiere zum Zeitpunkt t: At+1
= At + a · At · (K1 − At ) − c · At · Bt
Bt+1
= Bt + b · Bt · (K2 − Bt ) − d · At · Bt − f · Bt ·Ct
Ct+1
= Ct − e ·Ct + g · Bt ·Ct
(4.3)
Der Verlauf sieht dann so aus wie in Abbildung 4.2. Man erkennt, dass sich zwischen Räuber und Beute-2 wieder qualitativ dieselben Schwankungen ergeben wie im einfachen Räuber-BeuteModell. Beute-1 profitiert immer dann von der Situation, wenn die Anzahl der Beute-2-Tiere gerade sehr niedrig ist. Das ursprüngliche biologische Gleichgewicht zwischen den Beutearten
4.1 Erweiterungen von Modellen mit zwei Zustandsgrößen
81
(ohne Räuber) wird also durch die Raubtiere zerstört. Es dauert in diesem Modell zeitlich gesehen schon wesentlich länger, bis sich ein neues Gleichgewicht einstellen kann. Zusatzfragen 4.1 • Was ändert sich an der Situation, wenn nun der Räuber auch Beute-1-Tiere frisst? • Wie müsste ein Modell mit zwei Räuberarten und einer Beuteart aussehen? Welchen Verlauf würden die Lösungskurven in diesem Modell nehmen? Aufgabe 4.1 Ein recht unerwartetes Ergebnis bringt folgende Situation: Herrscht zwischen zwei Spezies eine RäuberBeute-Beziehung und fügt man diesem System noch eine weitere Beutespezies zu2 , so entlastet das nicht – wie zu vermuten wäre – die erste Beutespezies, sondern es kann sogar das Aussterben einer der beiden Beutearten zur Folge haben. Versuchen Sie, diese Situation durch ein mathematisches Modell zu bestätigen und eine inhaltliche Begründung für dieses vorerst paradox erscheinende Ergebnis zu finden!
4.1.2 SIR-Modell Wir betrachten nun die Ausbreitung einer tödlichen Krankheit in einer Bevölkerung mit anfänglicher Populationsgröße N. Dazu erweitern wir das SI-Modell 2 um eine weitere Zustandsgröße Rt , die die Anzahl der an der Krankheit Verstorbenen zum Zeitpunkt t beschreibt3 . Im betrachteten Fall erliegt dabei in jedem Zeitschritt ein gewisser Prozentsatz c der Infizierten den Folgen der Krankheit. St+1 It+1 Rt+1
It + b · It N It = It + a · St · − b · It − c · It N = Rt + c · It = St − a · St ·
(4.4)
Auch hier stellt sich in Abhängigkeit von den Konstanten a, b und c ein stabiler Endzustand ein, wie man in Abbildung 4.3 erkennt. Man stellt fest, dass die Kurve der Infizierten ein lokales Maximum besitzt. Dieses kann man berechnen, indem man nach jenem Zeitpunkt sucht, bei dem It+1 = It ist. Das ist dann der Fall, wenn Na ·St = b+c und damit St = b+c a ·N gilt. Im Allgemeinen wird man nun versuchen, dieses Maximum relativ früh zu erreichen. Also dann, wenn St noch sehr groß ist. Durch Steuerung der Parameter a, b und c kann das beeinflusst werden. Für den Schulunterricht bieten sich an dieser Stelle Schieberegler an, mit denen man sofort beobachten kann, welchen Einfluss die Veränderung der Parameter auf den Endzustand des Systems hat, auf den es letzlich ankommt. Dieses einfache Epidemiemodell hat auch Ähnlichkeiten zu einigen soziologischen Phänomenen. Beispielsweise könnte man damit auch das Ausbreiten einer neuen Idee (beispielsweise die 2 Diese
dient dem Räuber ebenfalls als Nahrung, steht jedoch in keiner direkten Wechselwirkung zur ursprünglichen Beutespezies. 3 Die Bezeichnung R ergibt sich aus dem englischen Wort removed und kann allgemein auch die Zahl der immunen t oder unter Quarantäne gestellten Menschen einschließen.
82
4 Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen
1200 1000
Größe
800
Suszeptible
600 400
Removed
200
Infizierte 0 0
50
100
150
200
250
300
Zeitpunkt
Abbildung 4.3: SIR-Modell mit: S0 = 990; I0 = 10; R0 = 0; a = 0, 2; b = 0, 1; c = 0, 03
Methode der Psychoanalyse ausgehend vom einzigen „Infizierten“ Sigmund Freud, die Evolutionstheorie ausgehend von Charles Darwin oder das Christentum ausgehend von Jesus), von Gerüchten oder von neuen technologischen Erfindungen (z. B. die Verbreitung von I-Phones) modellieren. Die Genesung entspricht dann am ehesten dem Vergessen der neuen Idee, das Sterben entspricht dem Nicht-mehr-weitererzählen und das Geimpft-sein ist gleichzusetzen dem Nichtempfänglich-sein für die neue Idee. Eine Variante des SIR-Modells zur Beschreibung von Tollwut beim Rotfuchs und zugehörige reale Daten findet man bei N OWAK4 , ein etwas komplexeres Modell zur Ausbreitung des WestNil-Virus über Zwischenwirte bei W ONHAM et. al.5 Zusatzfragen 4.2 • Was passiert im obigen Beispiel, wenn durch die Verwendung eines neuen Medikaments die Genesungsrate b von 0, 10 auf 0, 11 angehoben werden kann? • Was geschieht langfristig gesehen, wenn die Sterblichkeitsrate c der Infizierten statt 0, 03 den Wert 0, 04 annimmt? Versuchen Sie, dieses Phänomen zu erklären! • In welcher Beziehung müssten die Parameter a, b und c zueinander stehen, damit das lokale Maximum von It nicht in den beobachteten Zeitraum t > 0 fällt? • Verändern Sie das Modell so, dass auch Impfungen von Suszeptiblen berücksichtigt werden! Was verändert das am globalen Verhalten des Systems?
4 siehe 5 siehe
[Now01, S. 61–78] [WdCBL10]
4.1 Erweiterungen von Modellen mit zwei Zustandsgrößen
83
1000
A
Größe
800
600
400
B 200
C D 0 0
5
10
15
20
Zeitpunkt
Abbildung 4.4: Lesliemodell 2 mit: A0 = 200; B0 = 300; C0 = 150; D0 = 100; f1 = 0; f2 = 0; f 3 = 3; f4 = 4; s1 = 0, 3; s2 = 0, 5; s3 = 0, 9
4.1.3 Lesliemodell 2 Auch für mehr als zwei Altersklassen gibt es beim Lesliemodell ganz analoge Erkenntnisse. Teilt man beispielsweise die betrachtete Bevölkerung in vier Altersklassen, so stellen sich auch hier auf Dauer konstante Verhältnisse der einzelnen Bevölkerungszahlen in den Altersklassen ein. Der Spektralradius der Lesliematrix gibt wieder den asymptotischen Wachstumsfaktor an, welcher allerdings nicht mehr so leicht zu bestimmen ist wie jener im 2-Klassen-Modell. Mit Hilfe des Computers kann man ihn allerdings sehr leicht näherungsweise experimentell bestimmen. Die fi sind nun wieder die Geburtenraten und die si die jeweiligen Überlebenswahrscheinlichkeiten in den einzelnen Alterklassen. At+1
=
f1 · At + f2 · Bt + f 3 ·Ct + f 4 · Dt
Bt+1
= s1 · At
Ct+1
= s2 · Bt
Dt+1
= s3 ·Ct
(4.5)
Dieses System kann man erneut übersichtlich mit Hilfe der Lesliematrix darstellen: ⎛
⎞ ⎛ At+1 f1 ⎜ Bt+1 ⎟ ⎜ s1 ⎜ ⎟ ⎜ ⎝ Ct+1 ⎠ = ⎝ 0 0 Dt+1
f2 0 s2 0
f3 0 0 s3
⎞ ⎛ At f4 ⎟ ⎜ 0 ⎟ ⎜ Bt · 0 ⎠ ⎝ Ct 0 Dt
⎞ ⎟ ⎟ ⎠
(4.6)
Wenn man nur die ersten Zeitschritte in diesem System betrachtet, lässt sich noch nicht prognostizieren, wie die weitere Entwicklung verlaufen wird (siehe Abbildung 4.4). Erst nach einiger Zeit stellen sich in der Gesamtbevölkerung die „richtigen Verhältnisse“ ein. Man erkennt dann,
84
4 Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen
1000
800
Größe
A 600
400
B 200
C D 0 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt
Abbildung 4.5: Lesliemodell 2 mit: A0 = 200; B0 = 300; C0 = 150; D0 = 100; f1 = 0; f2 = 0; f 3 = 3; f4 = 4; s1 = 0, 3; s2 = 0, 5; s3 = 0, 9 Tabelle 4.1: Altersklassen bei einer mehrjährigen Pflanze
Altersklasse
A
B
C
D
Geburtenrate f i Überlebenswahrscheinlichkeit si Startpopulation
0 0, 05 60000
0 0, 1 400
200 1, 0 150
50 0, 0 200
dass etwa im betrachteten Beispiel der Spektralradius der Lesliematrix, der das Langzeitverhalten der Population festlegt, kleiner als 1 ist (siehe Abbildung 4.5). Mit einem Computeralgebrasystem lässt sich der Spektralradius dieser Matrix – also ihr betragsmäßig größter Eigenwert – auch näherungsweise berechnen. Im vorliegenden Fall ergibt sich λ ≈ 0, 997, was die relativ langsame Abnahme der Bevölkerungszahlen in Abbildung 4.5 erklärt. Aufgabe 4.2 Implementieren Sie das Lesliemodell 2 in einem Tabellenkalkulationsprogramm entsprechend der Daten6 in Tabelle 4.1 für eine mehrjährige Pflanze. Untersuchen Sie das Langzeitverhalten dieser Bevölkerung! In welchem Verhältnis stehen die Bevölkerungszahlen der einzelnen Altersklassen zueinander? Berechnen Sie näherungsweise den Langzeitwachstumsfaktor, indem Sie die Bevölkerungszahlen zweier aufeinanderfolgender (später) Zeitpunkte dividieren! Vergleichen Sie diesen Wert mit dem Spektralradius der zugehörigen Lesliematrix (Computeralgebrasystem)! Aufgabe 4.3 Beim Bau von Dämmen am unteren Snake River im Columbia River Basin wurden Daten über eine ChinookLachs-Population erhoben7 . Die Überlebenswahrscheinlichkeiten und Geburtenraten vor der Störung durch den Staudamm können geschätzt werden durch die Angaben in Tabelle 4.2. Berechnen Sie den Langzeitwachstumsfaktor dieser Lachspopulation mit einem Computeralgebrasystem! Was passiert auf Dauer? Auf6 aus dem Internet: http://www-ui.informatik.uni-oldenburg.de/lehre/veranstaltungen, Link vom 17.07.2007, mittlerwei-
4.2 Komplexere Modelle
85
Tabelle 4.2: Daten über die Lachs-Population vor dem Dammbau
Altersklasse
A Eier
B 1-jährig
C 2-jährig
D 3-jährig
Geburtenrate fi Überlebenswahrscheinlichkeit si Startpopulation
0 0, 05 500
0 0, 3 50
20 0, 6 6
58 0 3
Tabelle 4.3: Daten über die Lachs-Population nach dem Dammbau
Altersklasse
A Eier
B 1-jährig
C 2-jährig
D 3-jährig
Geburtenrate fi Überlebenswahrscheinlichkeit si Startpopulation
0 0, 012 500
0 0, 87 50
5 0, 79 6
40 0 3
grund verschiedener Untersuchungen kann die Auswirkung des Staudammprojektes wie in Tabelle 4.3 abgeschätzt werden. Wie sehr wird das Staudammprojekt das Wachstum der Lachspopulation beeinflussen? Welche der folgenden Managementmaßnahmen könnte das Problem am besten lösen? • Die Überlebenswahrscheinlichkeit s1 der Eier wird auf 0, 02 erhöht. • Die Überlebenswahrscheinlichkeiten s2 und s3 können auf jeweils 0, 9 angehoben werden. • Beide Maßnahmen in schwächerer Form: s1 = 0, 016, s2 = 0, 88, s3 = 0, 85.
4.2 Komplexere Modelle 4.2.1 Bevölkerungsdynamik Die Beobachtung der Bevölkerungsentwicklung ist seit jeher ein zentrales Anliegen der Biomathematik. Dementsprechend viele Modelle gibt es für ihre Beschreibung. In diesem Abschnitt wollen wir die Bevölkerung ganz grob in drei Gruppen einteilen: At steht für die Anzahl der Unter-15-jährigen, Bt für die Anzahl der (reproduktiven) 15- bis 44-jährigen und Ct für die Anzahl der Über-44-jährigen, jeweils zum Zeitpunkt t (in Jahren). a, b und c bezeichnen die Sterberaten der einzelnen Gruppen in einem Jahr und f die Fertilität (= durchschnittliche Anzahl 1 der Kinder pro Frau) der Bevölkerung. Um das Modell zu vereinfachen, tritt jedes Jahr 15 der 1 Personen der 1. Altersklasse in die 2. Klasse und 30 der Personen der 2. Klasse in die 3. Klasse über. Das entspricht natürlich genau dem Kehrwert der Verweildauern in diesen Altersklassen. Des weiteren werden in einem Jahr 30f · B2t Kinder geboren, da es durchschnittlich B2t gebärfähige le entfernt 7 aus dem Internet: http://www-ui.informatik.uni-oldenburg.de/lehre/veranstaltungen, Link vom 17.07.2007, mittlerwei-
le entfernt
86
4 Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen
350 300 250
Größe
Über 44-jährige 200 150 100
15-44-jährige 50
Unter 15-jährige 0 0
50
100
150
200
250
300
Zeitpunkt
Abbildung 4.6: Bevölkerungsdynamik mit: A0 = 250; B0 = 280; C0 = 150; a = 0, 006; b = 0, 012; c = 0, 03; f = 2, 3
Frauen gibt, die jährlich durchschnittlich 30f Kinder bekommen. Für die Bevölkerungsgrößen der einzelnen Altersklassen ergeben sich demnach folgende Rekursionen: At+1 Bt+1 Ct+1
1 f Bt · − · At 30 2 15 1 1 · At − · Bt = Bt − b · Bt + 15 30 1 = Ct − c ·Ct + · Bt 30 = At − a · At +
(4.7)
Den Verlauf der Lösungen dieses Differenzengleichungssystems sieht man in Abbildung 4.6. Zusatzfragen 4.3 • Auf welchen Wert müsste die Fertilität f im obigen Beispiel angehoben werden, um dauerhaft stabile Bevölkerungszahlen zu garantieren? • Was passiert, wenn durch den medizinischen Fortschritt bzw. Unfallvermeidung die Sterberaten in den ersten beiden Klassen auf a = 0, 3% bzw. b = 0, 6% gesenkt werden könnten? • Wo liegen die Grenzen dieses Modells? Inwiefern ist es für die Beschreibung einer realen Bevölkerung geeignet?
4.2.2 Stein-Schere-Papier-Dynamik Auf den ersten Blick wird man sich wohl fragen, was denn dieses Kinderspiel mit Biomathematik zu tun habe. Tatsächlich scheint das Spiel, bei dem die Schere immer am Stein zerbricht, die Schere immer das Papier schneidet und das Papier immer den Stein umhüllt, durch seine Spielregeln schon völlig erklärt zu sein. Allerdings findet man solche zyklisch-dominanten Beziehungen auch in der Natur vor, beispielsweise bei bestimmten Bakterienkulturen. Manche der
4.2 Komplexere Modelle
87
1,00 0,90 0,80
Größe
0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00 0
50
100
150
200
250
300
Zeitpunkt
Abbildung 4.7: Stein-Schere-Papier mit: A0 = 0, 2; B0 = 0, 4; C0 = 0, 4; a = 0, 2
Bakterien produzieren Gift, um ihre Artgenossen zu schädigen, und das zugehörige Gegengift, um nicht selbst von den Artgenossen vergiftet zu werden. Den relativen Anteil dieser Bakterien zum Zeitpunkt t bezeichnen wir mit At . Ist At sehr hoch, wird es sich nicht mehr lohnen, das Gift zu produzieren. Es reicht dann also, nur das Gegengift zu besitzen. Es kann also die gesparte Energie für „Sinnvolleres“, wie etwa die eigene Reproduktion, verwendet werden. Bedienen sich sehr viele Bakterien dieser neuen Strategie, die wir mit Bt bezeichnen, wird aber auch das Produzieren des Gegengifts sinnlos, da ja quasi fast kein Gift mehr im Umlauf ist, vor dem man sich schützen müsste. Steigt allerdings dann der Anteil der „unproduktiven“ Bakterien Ct , die also weder Gift noch Gegengift produzieren, zahlt es sich wieder aus, Gift und somit auch Gegengift zu produzieren, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Und der Kreislauf beginnt von vorne. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Anpassung an eine andere Strategie zu modellieren. Wir wollen hier eine recht einfache Methode behandeln. Dabei soll der Reproduktionserfolg einer Bakterienart abhängig von der Zahl der erfolgreichen Begegnungen, also jener mit Überlegenheit über den Gegner, sein. Beispielsweise soll der Zuwachs von At in einem Zeitschritt proportional zu At ·Ct sein, während Ct in gleichem Maße abnimmt. At+1
= At + a · At ·Ct − a · At · Bt
Bt+1
= Bt + a · Bt · At − a · Bt ·Ct
Ct+1
= At + a ·Ct · Bt − a ·Ct · At
(4.8)
Es ergeben sich in diesem Modell wirklich die oben beschriebenen zyklischen Schwankungen. Je größer dabei der Wert von a ist, desto schneller gehen die Wechsel vor sich. Dabei fällt auf, dass sich die einzelnen Strategien mit der Zeit immer deutlicher und über längere Zeiträume durchsetzen, bevor sie durch die nächste abgelöst werden (siehe Abbildung 4.7). Das geht sogar so weit, dass eine Strategie einen Anteil sehr nahe an 100% erreicht, diesen Zustand dann für einige Zeit aufrecht erhalten kann, bis die nächste Strategie in diese Einheitsbevölkerung „eindringen“ kann und sich die Situation schlagartig ändert (siehe Abbildung 4.8). Dieses zyklische Verhalten hat man auch in der unbelebten Natur bei chemischen Prozessen experimentell nachweisen können8 . 8 siehe
dazu [Sch95, S. 131]
88
4 Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen
1,20 1,00
Größe
0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 250
300
350
400
450
500
550
600
Zeitpunkt
Abbildung 4.8: Stein-Schere-Papier mit: A0 = 0, 2; B0 = 0, 4; C0 = 0, 4; a = 0, 2 Zusatzfragen 4.4 • Wie sind die Grenzfälle a = 0 und a = 1 zu interpretieren und welche Auswirkungen auf die Zeitdiagramme ergeben sich? • Wie würde ein entsprechendes Modell für einen Zyklus aus vier Strategien aussehen? • Würden sich dabei ähnliche Verläufe der Zeitdiagramme zeigen?
4.2.3 SI-Modell mit zwei unterschiedlichen Erregern Das folgende Modell beschreibt den Verlauf einer tödlichen Krankheit, die von zwei unterschiedlichen Virentypen ausgelöst werden kann. Dabei unterscheiden sich die beiden Typen durch ihre „Aggressivität“. Die an Virus 1 erkrankten Personen werden mit It bezeichnet und haben eine Sterberate v (pro Zeitschritt), während die an Virus 2 Erkrankten mit Jt bezeichnet werden und eine Sterberate w haben. Das Wachstum der suszeptiblen Bevölkerung beschreiben wir mit dem begrenzten Wachstumsmodell und die Übertragung der Krankheit wie im SI-Modell 2: St+1
= St + a · (K − St ) − b · St · (It + Jt )
It+1
= It + b · It · St − v · It
Jt+1
= Jt + b · Jt · St − w · Jt
(4.9)
Wir wollen im Folgenden annehmen, dass das Virus 2 etwas aggressiver als das Virus 1 ist, d. h. dass die Sterberate w größer als die Sterberate v ist. Trotz der zu Beginn höheren Zahl an Virus-2 -Erkrankten hat das „schwächere“ Virus 1 auf Dauer die „besseren Karten“, wenn es ums Überleben in der Bevölkerung geht (siehe Abbildung 4.9). Betrachtet man die schrittweise Entwicklung des Quotienten JItt , so erhält man: Jt+1 1 + b · St − w Jt = · It+1 It 1 + b · St − v
(4.10)
4.2 Komplexere Modelle
89
700 600
S 500 400 300 200
I 100
J 0 0
100
200
300
400
500
600
Zeitpunkt
Abbildung 4.9: SI-Modell mit zwei Erregern mit: S0 = 400; I0 = 20; J0 = 100; a = 0, 01; b = 0, 0001; K = 1000; v = 0, 05; w = 0, 06
Da der obige Klammerausdruck wegen w > v und wegen St ≤ K (sofern S0 ≤ K) kleiner oder gleich 1+bK−w 1+bK−v < 1 ist, gilt: lim
Jt
t→∞ It
=0
(4.11)
Dieses vorerst paradox erscheinende Ergebnis lässt sich inhaltlich so erklären, dass die vom stärkeren Virus befallenen Menschen schneller sterben und daher das Virus nicht so lange an andere, gesunde Personen weitergeben können. Das führt auf Dauer zum Aussterben des Virus 2 in der Bevölkerung. Im verbleibenden SI-Modell stellt sich dann ein stationärer Zustand ein. Zusatzfragen 4.5 • Was geschieht, wenn v = w gilt? • Was passiert, wenn entweder v = 0 oder w = 0 ist? Was, wenn v = w = 0? • Stellt sich für alle Startwerte S0 derselbe stationäre Endzustand ein?
4.2.4 Lineare Nahrungskette Wir betrachten jetzt vier verschiedene Tierarten, die gemeinsam eine Nahrungskette bilden. Die „oberste“ Tierart A stellt den Räuber dar. Sie ernährt sich ausschließlich von der zweiten Tierart B, die ihrerseits wieder ausschließlich Jagd auf die Spezies C macht, welche sich schließlich nur von der untersten Beuteart D ernährt. Zusätzlich nehmen wir an, dass D logistisch wächst, während die Populationsgrößen der anderen Tierarten exponentiell fallen (jeweils bei Nichtvorhandensein aller anderen Arten). Übersetzt man diese Modellannahmen in Differenzengleichungen,
90
4 Modelle mit mehr als zwei Zustandsgrößen
45
D
40
Größe
35 30 25
C A B
20 15 10 0
200
400
600
800
1000
Zeitpunkt
Abbildung 4.10: Lineare Nahrungskette mit: A0 = 30; B0 = 20; C0 = 25; D0 = 35; K = 50; a1 = 0, 01; a2 = 0, 0005; b1 = 0, 01; b2 = 0, 001; b3 = 0, 0006; c1 = 0, 01; c2 = 0, 0012; c3 = 0, 002; d1 = 0, 0031; d2 = 0, 0012
so erhält man: At+1
= At − a1 · At + a2 · At · Bt
Bt+1
= Bt − b1 · Bt + b2 · Bt ·Ct − b3 · Bt · At
Ct+1
= Ct − c1 ·Ct + c2 ·Ct · Dt − c3 ·Ct · Bt
Dt+1
= Dt + d1 · Dt · (K − Dt ) − d3 · Dt ·Ct
(4.12)
Dieses recht einfache Modell kann schon erste Erklärungsversuche geben, wie es in der Natur, in der selbstverständlich Beziehungen zwischen Tierarten wesentlich komplexer und vielschichtiger sind, zu stabilen Populationsgrößen kommen kann. Schon D‘A NCONA9 formuliert: „Im allgemeinen werden die Beziehungen zwischen Pflanzen, herbivoren und carnivoren Tieren immer von ähnlicher Art sein, unbeschadet der Größe und Lebensweise der zusammenlebenden Organismen. In allen diesen Fällen wird sich schließlich ein gewisser Gleichgewichtszustand einstellen, der die Individuenzahl jeder Einzelart in gewissen Grenzen hält“ (siehe Abbildung 4.10). Auch kann man damit veranschaulichen, dass nach der Ausrottung einer Tierart (z. B. B) das ganze System aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Selbstverständlich stirbt dann nämlich auch die Raubtierart A nach einiger Zeit aus, aber auch die unterste Tierart D wird durch diese Veränderung drastisch dezimiert, da die Tierart C keinen natürlichen Feind mehr hat und sich so ungehindert auf die Jagd nach Beute machen kann (siehe Abbildung 4.11). Zusatzfragen 4.6 • Gibt es für jede (vernünftige) Wahl der Konstanten einen stabilen Endzustand wie oben? • Was passiert, wenn anstatt B die Tierart C ausgerottet wird? • Erweitern Sie das Modell um eine weitere Tierart! Gibt es auch dann noch stabile Verhältnisse? 9 siehe
[D‘A39, S. 9]
4.2 Komplexere Modelle
91
140 120
C
Größe
100 80 60 40
A 20
D 0 0
200
400
600
800
1000
Zeitpunkt
Abbildung 4.11: Lineare Nahrungskette mit: A0 = 30; B0 = 0; C0 = 25; D0 = 35; K = 50; a1 = 0, 01; a2 = 0, 0005; b1 = 0, 01; b2 = 0, 001; b3 = 0, 0006; c1 = 0, 01; c2 = 0, 0012; c3 = 0, 002; d1 = 0, 0031; d2 = 0, 0012
Abbildung 4.12: Nahrungskette in der Waldviertler Blockheide Aufgabe 4.4 Beim Lehrpfad in der Waldviertler Blockheide (Niederösterreich) findet man zahlreiche Tafeln, die auf dort funktionierende lineare Nahrungsketten hinweisen (siehe Abbildung 4.12). Modellieren Sie die Nahrungskette, die auf dem Bild angeführt ist! Schaffen Sie es in Ihrem Modell, dauerhaft stabile Bestandszahlen zu erreichen?
Teil II Biomathematik als Unterrichtsinhalt
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht Was ist guter Unterricht? Diese Frage beschäftigt nun schon viele Generationen von Menschen. In der Fülle der Vorschläge, die im Laufe der Zeit gemacht wurden, gilt es nun, sich zurechtzufinden und seinen eigenen Weg als Lehrer zu gehen. Lehrpläne und die Bildungspolitik unterliegen oftmals so genannten Wellen, die vielfach den derzeitigen Bedürfnissen und Zielen der zugrunde liegenden Gesellschaft entwachsen. Hier können in den letzten 50 Jahren etwa die Gesamtschulidee, die Lernzielidee, die Neue Mathematik der 1960er Jahre, der Einsatz des Computers im Unterricht, oder die Bildungsstandards genannt werden1 . Keine dieser Wellen kann für sich beanspruchen, das alleinige Fundament für guten Unterricht zu bieten2 . Sie alle können daher nicht als alleinige Lösung aller Bildungsfragen und schon gar nicht als Antwort auf die oben gestellte Frage herangezogen werden. B LUM und L EIß3 indes geben m. E. einen umfassenden und vor allem zeitlosen Katalog von Qualitätskriterien für den Mathematikunterricht an: 1. Fachlich gehaltvolle Unterrichtsgestaltung • Vielfältige Gelegenheiten zum Kompetenzerwerb • Vielfältige Vernetzungen 2. Kognitive Aktivierung der Schülerinnen und Schüler • Stimulation günstiger Eigenaktivitäten • Stimulationen von Reflexionen 3. Effektive und schülerorientierte Unterrichtsführung • Förderung der Selbstständigkeit wie auch der Kommunikation • Individuell angepasste Interventionen • Fehleroffenes Lernklima mit Trennung Lernen/Beurteilen • Klare Strukturierung und effektive Zeitnutzung durch Störungsprävention Es bleibt bei dieser Aufzählung genügend Freiraum für Interpretationen, subjektive Auslegungen und für individuelles Lehrverhalten. Und doch birgt sie eine gewisse Dringlichkeit und Verbindlichkeit. Dieses Kapitel beschäftigt sich nun mit der Frage, welche methodischen und didaktischen Möglichkeiten dem Gebiet der Biomathematik im Hinblick auf den Schulunterricht im Lichte 1 Vgl.
dazu [GR05, S. 282]. Scheitern der neuen Mathematik mit ihrem strengen Formalismus musste bereits eingestanden werden. 3 siehe [BL05a, S. 21] 2 Das
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_5, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
96
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Abbildung 5.1: Markierte Zelle C4 in einem Datenblatt
des obigen Kataloges innewohnen. Es wird dabei auf verschiedene Aspekte eingegangen, nicht zuletzt, um der Forderung F ISCHERs gerecht zu werden, die lautet4 : „Es wird Aufgabe jeder Fachdidaktik sein, für die jeweilige Wissenschaft ein einheitliches Bild zu entwerfen, das möglichst allen Facetten Rechnung trägt [...]“.
5.1 Tabellenkalkulation als didaktisches Werkzeug Das wohl nächstliegende und wichtigste Werkzeug zur Darstellung und Implementierung diskreter dynamischer Prozesse ist die Tabellenkalkulation (TK). Ein Datenblatt (spreadsheet) einer TK besteht dabei aus einer Matrix von Zellen, deren jeweilige Position in der Matrix durch eine Buchstaben-Ziffern-Kombination angegeben werden kann. So bedeutet die Bezeichnung A1 die Zelle links oben, während beispielsweise C4 die Zelle in der Spalte C und Zeile 4 meint (siehe Abbildung 5.1). Der Inhalt einer Zelle kann entweder ein Text, eine Zahl in unterschiedlichen Formatierungen oder eine Formel sein. Es gibt meist auch die Möglichkeit, schon im Programm implementierte Funktionen5 zu verwenden. Zahlen können in den Zellen auf „beliebig“ viele Stellen gerundet angegeben werden, was natürlich bei der ganzzahligen Ausgabe etwa von Populationszahlen sehr praktisch ist. R EICHEL schreibt6 : „Die wichtigste Programmeigenschaft von Tabellenkalkulationen ist aber, dass die einzelnen Felder des Datenblattes miteinander ‚kommunizieren‘ können, d. h. man kann in einem Feld auf die Inhalte von anderen Feldern zugreifen“. Das ermöglicht natürlich auch Rechenoperationen mit den Inhalten der einzelnen Zellen, deren Ergebnis in einer weiteren Zelle verwendet wird. Bei jeder Veränderung der Inhalte der verwendeten Zellen ändert sich automatisch das Ergebnis in der betrachteten Zelle mit. Gerade der iterative Charakter diskreter dynamischer Prozesse lässt sich auf recht einfache Weise in TK anschaulich und begreifbar machen. Umgekehrt ist das Thema Wachstumsprozesse oft (wenn überhaupt) das einzige, bei dem Schüler im Mathematikunterricht mit TK arbeiten. Es gibt deshalb auch nur wenig didaktische Literatur zum Einsatz von TK im Mathematikunter4 siehe
[Fis76, S. 185] gibt es eine reichhaltige Auswahl an mathematischen, statistischen und logischen Funktionen. 6 siehe [Rei93, S. 86] 5 Dabei
5.1 Tabellenkalkulation als didaktisches Werkzeug
97
Abbildung 5.2: Datenblatt nach Eingabe der Rekursionen
richt7 . Als gute Grundlage kann allerdings auf einen Aufsatz von W EIGAND8 sowie die anderen Artikel im selben Heft verwiesen werden. Bei der Bearbeitung diskreter dynamischer Prozesse treten in ganz natürlicher Weise Schwierigkeiten mit dem Rechenaufwand per Hand auf, die sich mit Hilfe von TK ganz einfach bewältigen lassen. Es können dabei Stärken dieser in der Regel sehr leicht bedienbaren Programme ausgenutzt werden. Das Eingeben von Daten in Zellen, das Verknüpfen von Zellen durch Formeln und das Übertragen dieser Formeln auf andere Zellen spielen dabei eine zentrale Rolle. Auch die grafische Darstellung von Daten einer Tabelle lässt sich mit einigen wenigen Schritten ausführen. Meist bringen Schüler schon genug Erfahrung mit TK in den Unterricht mit, und auch Lehrer sind mit dem Umgang ohnehin vertraut. Das stellt natürlich einen weiteren Vorteil dieses Werkzeuges dar. Beispiel 5.1 Die Handhabung von TK wird nun an einem konkreten Beispiel demonstriert. Die gängigen TK unterschiedlicher Softwareanbieter unterscheiden sich dabei nur unwesentlich. Wir betrachten das diskrete Lotka-Volterra-Modell: Ht+1 = 1, 05 · Ht − 0, 002 · Ht · Lt
(5.1)
Lt+1 = 0, 94 · Lt + 0, 001 · Ht · Lt Ht bezeichnet die Größe der Hasenpopulation und Lt die Größe der Luchspopulation. Die Startwerte legen wir mit H0 = 100 und L0 = 30 fest. Nach dem Eintragen dieser Startwerte H0 und L0 in die Zellen B2 und C2 sowie der Rekursionen in die Zellen B3 bzw. C3 sieht das Datenblatt wie in Abbildung 5.2 aus.
Selbstverständlich ist dabei zuerst ein wenig Syntax zu erlernen, etwa wie Formeln korrekt in die Zellen einzugeben sind. Allerdings bereitet das Schülern der Sekundarstufe I aus eigener Erfahrung kaum Schwierigkeiten. Die Formeln lassen sich anschließend durch „Hinunterziehen“ in die darunterliegenden Zellen übertragen. Dadurch werden die iterativen Berechnungen der 7 vgl.
[Lec02, S. 96] [Wei01, S. 16–27]
8 siehe
98
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Abbildung 5.3: Kopieren der Rekusionen in die darunterliegenden Zellen Zeitdiagramme
120 100 80 Hasen Luchse
60 40 20 0 0
50
100
150
200
250
Abbildung 5.4: Zeitdiagramme zum Lotka-Volterra-Modell
Hasen- und Luchszahlen automatisch ausgeführt, man erspart sich also das Eingeben per Hand (siehe Abbildung 5.3). TK eröffnen außerdem eine neue, sehr wesentliche und wertvolle Möglichkeit. W ITTMANN9 spricht von einer „nahezu grenzenlosen Verfügbarkeit von Diagrammen und Graphen“, welche dadurch natürlich vehement an Bedeutung im Mathematikunterricht gewinnen können. Alle verfügbaren TK können nämlich die eingegebenen Daten auf vielfältige Weise grafisch darstellen. Der Diagrammassistent hilft dabei, etwa die Zeitdiagramme oder das Phasendiagramm des obigen Modells zu plotten (siehe die Abbildungen 5.4 und 5.5). Selbstverständlich können TK in der Schulmathematik nicht nur zur Bearbeitung diskreter dynamischer Prozesse eingesetzt werden, sondern auch in sehr vielen anderen Bereichen, wie etwa in der Statistik, bei Funktionen oder in der Geometrie. N EUWIRTH und A RGANBRIGHT10 räumen der TK sogar eine Sonderstellung unter allen Computerprogrammen ein, indem sie formulieren: „Spreadsheets are similar to bicycles, while most other numerical programs are like cars. With spreadsheets, you can solve problems of reasonable 9 siehe 10 siehe
[Wit01, S. 40] [NA04, Prologue]
5.1 Tabellenkalkulation als didaktisches Werkzeug
99
Phasendiagramm 60
Luchszahl
50 40 30 20 10 0 0
20
40
60
80
100
120
Hasenzahl
Abbildung 5.5: Phasendiagramm zum Lotka-Volterra-Modell
complexity and size. You have to set up the model yourself, and while you are creating it you come to understand all the details of the modelling process.“ W EIGAND11 sieht vor allem drei wesentliche Eigenschaften von TK, die es im Schulunterricht zu nutzen gilt: die interaktive Zellverknüpfung, das Kopieren von Formeln sowie das Verwenden von logischen Verknüpfungen. Er erkennt im Einsatz des Computers im Unterricht neben dem praktischen Nutzen ein großes didaktisches Potenzial: „Medien und Werkzeuge werden im Mathematikunterricht zum einen eingesetzt, um Berechnungen effizienter durchzuführen und Problemlösungen einfacher zu erhalten, zum anderen und vor allem aber um das Verständnis mathematischer Begriffe und Regeln zu fördern und den Lernprozess typischer Arbeitsweisen wie Problemlösen, Beweisen und Argumentieren zu unterstützen“. Dazu bieten sich TK im Besonderen an, wie die folgende Zusammenschau der wichtigsten und didaktisch wertvollsten Möglichkeiten von TK zeigt: Rekursionen verstehen Bei Rekursionsformeln geht es darum, Schritt für Schritt weiterzugehen, aus bekannten Werten neue zu berechnen. Oft interessiert man sich dabei für viele tausende Folgenglieder, um das Langzeitverhalten des Systems beobachten zu können. Doch wann nimmt man sich schon die Zeit, wirklich schrittweise alle diese Folgenglieder zu berechnen – vor allem dann, wenn man ersatzweise auch ein explizites Bildungsgesetz zur Hand hat? Nun hat man aber mit TK die Gelegenheit, in das Wesen einer Rekursion förmlich einzutauchen, sie wirklich durchzuführen und dabei das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. Das haptisch geprägte Hinunterziehen der Rekursionsformel verdeutlicht außerdem, dass man beliebig viele Folgenglieder berechnen kann, ohne weitere kognitive Fähigkeiten einsetzen zu müssen. N EUWIRTH12 formuliert in sehr einfachen aber treffenden Worten: „In einer Tabellenkalkulation wird [...] klar, dass Rekursion 11 siehe 12 siehe
[Wei01] [Neu01, S. 52]
100
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Abbildung 5.6: Zellen mit Zuordnungspfeilen
eine Berechnungsmethode ist, die auf ‚die Zelle darüber‘ [...] Bezug nimmt. Durch diese graphische Repräsentation der Abhängigkeitsstruktur kann Rekursion wesentlich leichter zugänglich gemacht werden.“ Variablenbelegung TK bieten eine gute Visualisierungsmöglichkeit des Unterschiedes zwischen Variablennamen und Variablenwert. Jede Zelle am Datenblatt ist eindeutig mit einem Namen identifizierbar (z. B. C1), der Wert in der entsprechenden Zelle gibt den derzeitigen Wert der Variable an. Auch das Operieren mit Variablen kann veranschaulicht werden. Dazu dienen die Zuordnungspfeile13 , durch die das funktionale Denken unterstützt werden kann (siehe Abbildung 5.6). Darstellungsebenen Das direkte Nebeneinander dreier Darstellungsebenen ermöglicht paralleles Sehen, der Transfer von einer auf die anderen beiden Ebenen wird erleichtert. Formeln können in die Zellen eingegeben und auch in der Bearbeitungsleiste oberhalb des Datenblatts angezeigt werden, wenn die Zelle aktiv ist (symbolische Ebene). Das Ergebnis einer Formel wird in der entsprechenden Zelle angezeigt (numerische Ebene). Zu dieser Ebene gehört natürlich auch selbst eingegebenes, also nicht berechnetes Datenmaterial. Daten können – wie schon erwähnt – auf vielfältige Weise in TK dargestellt werden (grafische Ebene), dazu gehören etwa Punkt-, Linien-, Balken- und Säulendiagramme. Wird an den Daten oder Formeln etwas verändert, so ändern sich automatisch die anderen Darstellungen mit. Bewegt man den Cursor auf einen Datenpunkt im Diagramm, so erscheint der zugehörige Wert – eine weitere Vernetzung zwischen den Ebenen (siehe Abbildung 5.7). Diagramme Das Arbeiten mit Diagrammen in TK fördert auch den im täglichen Leben so wertvollen und unabdingbaren kritischen Umgang mit Diagrammen im Allgemeinen. Ohne großen Aufwand können Daten grafisch veranschaulicht, übliche bewusste Irreführungen (z. B. Strecken oder Stauchen von Achsen, Abschneiden von Achsen, Skalierungen) thematisiert und unterschiedliche Darstellungen derselben Daten verglichen werden. Das wäre natürlich mit Papier, Lineal und Bleistift ein sehr mühseliges Unterfangen. Außerdem hat man durch die Fülle an unterschiedlichen Diagrammtypen auch die Chance zu entscheiden, mit welcher dieser Möglichkeiten der 13 Diese
sind z. B. in Microsoft Excel unter Extras > Formelüberwachung aufrufbar.
5.1 Tabellenkalkulation als didaktisches Werkzeug
101
Abbildung 5.7: Informationen zu einem Datenpunkt im Diagramm
vorliegende Sachverhalt besonders gut visualisiert werden kann und ob es beispielsweise sinnvoll ist, die Datenpunkte zu verbinden oder sie vielleicht doch in diskreter Form nebeneinander zu plotten. Und das alles lässt sich mit ein paar wenigen Mausklicks erledigen und – was manchmal noch wichtiger ist – auch wieder entfernen oder korrigieren.
Dynamischer Aspekt Was passiert, wenn . . . ? Diese Frage lässt sich mit Hilfe von TK sehr schön anschaulich beantworten. Mit wenig Aufwand lässt sich ein Schieberegler14 in das Datenblatt einbauen, mit dem man den Wert einer Zelle variieren und die damit verbundenen Veränderungen sofort mitverfolgen kann. Dazu sind natürlich noch weitere Kompetenzen notwendig: Man muss etwa bei der Implementierung eines Schiebereglers das Intervall und die Schrittweite angeben. D. h. man sollte sich vorher Gedanken darüber machen, in welchem Bereich der betreffende Parameter sinnvollerweise liegen soll und wie fein die Veränderungen möglich sein sollen. Auch hier rückt wieder der funktionale Aspekt, die funktionale Abhängigkeit eines Wertes oder sogar mehrerer Werte von einem veränderbaren Parameter ins Zentrum.
Einblick in die Struktur Ein häufiger Nachteil von Computer-Lernprogrammen ist, dass sie quasi als Black Box verwendet werden. Man drückt ein Knöpfchen und irgendeine Reaktion wird dadurch hervorgerufen. Was aber passiert, was eigentlich dahinter steckt, geht dabei meist unter. Programmiersprachen auf der anderen Seite erfordern die Kenntnis der Syntax, welche aber nicht von heute auf morgen erlernt werden kann. TK bieten hier einen wertvollen Mittelweg. Die Struktur ist sehr klar, die zu erlernende Syntax hält sich in Grenzen, Berechnungen und Abhängigkeiten können mit Hilfe von Zuordnungspfeilen verfolgt und Fehler können sehr rasch entdeckt und korrigiert werden. 14 In
Excel heißen die Schieberegler Bildlaufleisten.
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5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Erweiterungsmöglichkeiten TK ermöglichen aufgrund ihres Wesens, ihrer Transparenz eine ganz natürliche Art der Differzierung. W ITTMANN15 unterscheidet dazu fünf Stufen möglicher Schüleraktivitäten: 1. Nutzung vom Lehrer vorgegebener Tabellen und Diagramme 2. Nachvollziehen der Funktionsweise vom Lehrer vorgegebener Tabellen und Diagramme 3. Verändern vorgegebener und Erstellen analoger Tabellen und Diagramme 4. Erstellen eigener Tabellen und Diagramme zur Lösung aufbereiteter Probleme 5. Erstellen eigener Tabellen und Diagramme als selbstständiges Problemlösen Die Möglichkeiten reichen also z. B. vom einfachen Bedienen und Betrachten eines vorgefertigten Applets (Black Box), über das Erkunden und Verstehen der Struktur und das eventuelle „Nachbauen“ des Applets bis hin zur Entwicklung eigener Ideen und Möglichkeiten für die adäquate Darstellung eines Sachverhaltes. Diese unterschiedlichen Kompetenzen können sowohl aufbauend von der 5. bis zur 12. (bzw. 13.) Klassenstufe geschult, als auch innerhalb einer Klasse zur Differenzierung verwendet werden. Jeder hat die Chance, seine eigene Stufe in dieser Taxonomie zu finden und entsprechend seiner Möglichkeiten auf unterschiedlichen Niveaus zu arbeiten. Fülle von Modelltypen TK eignen sich laut H ENNING und K EUNE16 für die folgenden Typen von Aufgaben. Man kann mit ihnen Modelle bearbeiten und darstellen, • bei denen große Datenmengen zum Tragen kommen, • bei denen systematisches Probieren hilfreich ist, • die auf Iteration aufbauen, • die zur Auswertung von Daten dienen, die funktionalen Zusammenhängen genügen. Biomathematische Modelle erfüllen sehr oft gleich alle vier dieser Voraussetzungen. Betrachten wir etwa das Beispiel der Bevölkerungsdynamik mit mehreren Altersklassen aus Abschnitt 4.2.1. Interessant ist jedenfalls das Langzeitverhalten eines solchen Systems. Daten über viele Jahre müssen gesammelt werden, um daraus ableiten zu können, ob ein entwickeltes Modell brauchbar ist (große Datenmenge). Um für dauerhaft stabile Bevölkerungszahlen in den einzelnen Altersklassen sorgen zu können, ist es sehr hilfreich, die steuerbaren Parameter, wie etwa die Geburtenrate oder eventuelle Migration, systematisch verändern zu können (systematisches Probieren). Auf den Aspekt der Iteration muss wohl nicht mehr genauer eingegangen werden, das ist ja gerade das Wesen der betrachteten diskreten Modelle. Funktionale Abhängigkeiten der einzelnen Altersklassen über die Geburten- bzw. Übergangsraten können direkt beobachtet und gesteuert werden. Schieberegler vereinfachen diese Aktivitäten (funktionale Zusammenhänge). 15 siehe 16 vgl.
[Wit01, S. 49] [HK01, S. 28–37]
5.1 Tabellenkalkulation als didaktisches Werkzeug
103
Abbildung 5.8: Methode der kleinsten Quadrate für ein exponentielles Modell
Methode der kleinsten Quadrate TK haben meist auch einen so genannten Solver eingebaut. Das ist ein Werkzeug, das zur Lösung von Optimierungsaufgaben eingesetzt werden kann. Will man den Wert einer Zelle minimieren oder maximieren, so ruft man einfach den Solver17 auf, gibt die Zielzelle und die veränderbaren Zellen an und lässt die TK unter eventuellen Nebenbedingungen optimieren. Im Kontext der Biomathematik bietet sich dieses Werkzeug natürlich zur Anpassung mathematischer Modelle an reale Daten an. Die optimalen Parameter N0 und q für ein exponentielles Wachstumsmodell Nt+1 = Nt · q findet man so quasi per Mausklick. Die kognitive Leistung der Schüler besteht nun darin, ein geeignetes Verfahren (etwa die Methode der kleinsten Quadrate) bzw. ein geeignetes Modell (hier exponentielles Wachstum) zu wählen. Ein gemeinsamer Plot der Daten mit der berechneten Kurve zeigt das Ergebnis (siehe Abbildung 5.8). Am Ende jedes Abschnittes dieses und des nächsten Kapitels werden Konsequenzen für die Konzeption eines Mathematikunterrichts gezogen, der sich in sinnvoller und authentischer Weise mit diskreten biomathematischen Modellen beschäftigen will. Auch die Unterrichtsvorschläge in den Kapiteln 7-10 sollen klarerweise sowohl das inner- wie auch das außermathematische Potenzial der Biomathematik für den Unterricht nutzbar machen. Daher formulieren wir folgende Forderungen, die sich auf die Gestaltung der Unterrichtsvorschläge durchgeschlagen haben. 17 In
Excel unter dem Menüpunkt Extras; muss zusätzlich zur Standardinstallation installiert werden.
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5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte Die Unterrichtsvorschläge sollen • Anreize liefern, Tabellenkalkulationen als Werkzeug zur Arbeit mit Rekursionen zu nutzen, • den Gebrauch von Schiebereglern in Tabellenkalkulationen begünstigen, um den dynamischen Aspekt der Modelle herauszustreichen und das Experimentieren mit Parametern und Anfangsbedingungen in den Modellen zu fördern, • das Verwenden unterschiedlicher Darstellungsformen forcieren und dabei die Stärke von Tabellenkalkulation zum raschen Generieren dieser Darstellungen nutzen.
5.2 Roter Faden Iteration Iterationen spielen in der Schulmathematik an sehr vielen Stellen eine zentrale Rolle. W EI GAND18 formuliert: „Iterationen kommen als iterative Denkstrukturen bereits in der Grundschule vor, werden in der Mittelstufe zum näherungsweisen Lösen von Gleichungen oder bei geometrischen Konstruktionen verwendet, und sie bilden in der Sekundarstufe 2 den Ausgangspunkt bei der Mathematisierung diskreter Problemstellungen in Form von rekursiv definierten Folgen oder Differenzengleichungen.“ In diesem Sinne erfüllen Iterationen die von B RUNER19 an Fundamentale Ideen gestellte Forderung des Spiralprinzips. Ein Begriff oder mathematisches Konzept soll dabei auf verschiedenen kognitiven und sprachlichen Niveaus immer wiederholt werden können, so dass dieser Begriff bzw. dieses Konzept wie ein roter Faden im gesamten Prozess des Wissenserwerbs zu finden ist. Auch bei H UMENBERGER und R EICHEL20 tritt das Konzept der Iteration als Fundamentale Idee der Angewandten Mathematik auf. Sie meinen sogar: „Der Beiname ‚Fundamental‘ zur Idee der Iteration ist also sicher nicht nur auf die Angewandte Mathematik zu beschränken, sondern ist eher als ‚universell‘ anzusehen“, da auch „Sonnenauf- und Untergänge, Feiertage im Jahr, regelmäßiges Besuchen bzw. Abhalten von Lehrveranstaltungen, immer wiederkehrende ‚Muster‘ usw.“ regelmäßig auftauchen und damit iterative Prozesse darstellen. Auch wenn das Wort Iteration (von lateinisch iterare, „wiederholen“) vielleicht im Schulunterricht als solches nicht auftauchen mag, kann schon allein das schlichte Zählen als intuitiviterativer Prozess aufgefasst werden. Iteratives Denken, sukzessives Wiederholen, spielt somit eine ganz zentrale Rolle für das Verständnis vieler mathematischer Konzepte, unter anderem auch für das Begründen und Beweisen (geometrische Beweise, Induktionsbeweise, . . . ). W EIGAND beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle der Iterationsbegriff im Hinblick auf das Verstehen der Begriffe Folge, Funktion, Algorithmus, Grenzwert und Konvergenz spielt. Für ihn lässt sich der Begriff Iteration nicht mathematisch definieren21 , vielmehr „charakterisiert der 18 siehe
[Wei89, S. 5] [Bru70, S. 27] 20 siehe [HR95, S. 200] 21 siehe [Wei89, S. 8] 19 siehe
5.2 Roter Faden Iteration
105
Iterationsbegriff Arbeits- und Denkweisen, die sich in wiederholenden Handlungen, Aktionen und Prozessen ausdrücken . . . “. Im vorliegenden Buch soll nun auch die Bedeutung von Iterationen als Hilfsmittel zur Betonung des dynamischen Aspekts biomathematischer Modelle herausgestrichen werden. Wachstumsprozesse etwa wurden erstmals durch Leonardo von Pisa (genannt Fibonacci) in seinem Werk liber abaci durch iterative Berechnung formuliert. Sein berühmtes Beispiel der Kaninchenvermehrung stellt noch heute den Beginn mancher Biomathematikvorlesungen dar. Für die Beschäftigung mit biomathematischen Modellen ist allerdings vor allem der Begriff der Iterationsfunktion von Bedeutung. Diese wird auf ein Folgenglied xn angewendet, um das nächste Folgenglied xn+1 zu berechnen. Es gilt also xn+1 = f (xn ). Dabei spielt für die Schule die affin lineare Funktion der Form f (x) = ax + b die zentrale Rolle. Beispiel 5.2 In Abhängigkeit von a, b und x0 ergeben sich bei Iteration der affin linearen Funktion f (x) = ax + b qualitativ unterschiedliche Verläufe der Iterationsfolge. Die für uns relevanten Fälle sind in Tabelle 5.1 aufgelistet.
Allein mit Hilfe dieses einen Typs von Iterationsfunktionen lassen sich also schon sehr viele unterschiedliche dynamische Prozesse beschreiben. Ein weiterer wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang, der auch in der Schule zur Anwendung kommt, ist jener der Rekursion. Rekursion (von lateinisch recurrere „zurücklaufen“) bedeutet in der Informatik das „Sich-selbst-aufrufen“ einer Funktion, es kommt also zu einer „Wiederholung durch Ineinanderschachtelung“. Im Bereich der Schulmathematik wird das Wort „Rekursion“ meist im Zusammenhang mit dem Begriff Rekursionsformel verwendet. Eigentlich wäre der Name Iterationsformel treffender, da hier der Vorwärtscharakter im Mittelpunkt steht, also das Berechnen des nächsten Wertes aus den schon bekannten. Eine Folge von Zahlen x0 , x1 , x2 , . . . wird dabei nämlich durch eine Gleichung der Form xn+1 = f (xn−k , . . . , xn ) festgelegt, wobei die Werte der Folgenglieder xn−k , . . . , xn bekannt sein müssen, um das nächste Folgenglied xn+1 berechnen zu können. Wir werden allerdings aus Gewohnheitsgründen den in der Schulliteratur gängigen Begriff der Rekursionsformel verwenden. Beispiel 5.3 Das lineare Wachstum (festgelegt durch die Rekursionsformel xn+1 = xn + d) und das exponentielle Wachstum (xn+1 = xn · q) verwenden nur das vorherige Folgenglied, wohingegen die Rekursionsformel xn+1 = xn + xn−1 der Fibonaccizahlen auf die letzten beiden Folgenglieder zurückgreift, um ein weiteres zu berechnen.
Die Beschäftigung mit iterativen Prozessen beginnt also schon in der Primarstufe und etwas expliziter in der Sekundarstufe I und findet in den einzelnen Schulstufen auf unterschiedlichen Niveaus statt. Oftmals ist aber dieser rote Faden Iteration nicht klar herausgearbeitet, den Schülern und manchmal auch den Lehrern nicht bewusst. Man beginnt mit der Zinseszinsrechnung, mit exponentiellen Wachstumsprozessen, behandelt später etwa die rekursive Darstellung von linearen Funktionen, bearbeitet das Thema Folgen und Grenzwerte, iterative Näherungsverfahren und arbeitet schließlich, wenn noch Zeit bleibt, auch im Feld der Differenzengleichungen. Diese behandelten Themen stehen häufig getrennt nebeneinander, ein gemeinsamer Kontext fehlt. Das Gebiet der Biomathematik könnte als ständiger Begleiter dieses roten Fadens fungieren, die erlernten Methoden fänden in ihm sinnvolle Anwendung. Damit könnte auf eine schon 1913 in
106
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht Tabelle 5.1: Affin lineare Iterationsfunktionen und ihre Verläufe
f (x) = x
f (x) = 0, 5x
f (x) = x + 1
f (x) = −x
f (x) = x − 2
f (x) = −2x
f (x) = 2x
f (x) = −0, 8x
einer Ansprache geäußerten Kritik W HITEHAEDs22 , wonach Schüler ratlos vor einer Unmenge von Einzelheiten stünden, die weder zu großen Ideen noch zu alltäglichem Denken eine Beziehung erkennen ließen, reagiert werden. Diese Kritik hat nicht an Aktualität verloren. 22 vgl.
[Whi62, S. 257–266]
5.2 Roter Faden Iteration
107
Der Erziehungswissenschafter B RUNER griff nicht zuletzt deshalb diesen Grundgedanken nach den großen Ideen eines Faches auf und gilt als Begründer eines „auf fundamentale Ideen gegründeten wissenschaftsorientierten Unterrichts“23 . Er fordert, den Schülern „ein Verständnis der Grundstruktur jeglichen Lehrgegenstandes zu vermitteln“. Bei S CHREIBER24 findet man statt des Begriffs fundamentale Ideen den Ausdruck universelle Leitideen, zu denen er in der Mathematik Algorithmus, Approximation, Funktion, Optimalität und Charakterisierung zählt. Er unterscheidet sie dabei von den universellen Begriffsbildungsverfahren, bei denen er die Rekursion, die Abstraktion und die Idealisierung nennt. Daraus lässt sich schon erahnen, welchen Beitrag diskrete biomathematische Modelle und die mathematische Modellierung auf unterschiedlichen Niveaus für das Kennenlernen und das Erlernen neuer Begriffe leisten können. Das Idealisieren realer Sachverhalte aus der Biologie und das Übersetzen in die Welt der Mathematik (in unserem Fall in rekursive Prozesse) sind ja gerade die zentralen Anliegen dieser Arbeit und meines Erachtens ein probates Mittel, die in den Lehrplänen geforderten Modellierungskompetenzen zu schulen. Auch wenn vielfach Kritik an der so genannten Verfrühung geübt wird (siehe etwa WAGEN scheint mir die Forderung B RUNERs26 im vorliegenden Fall berechtigt. Er spricht sich für frühes Kennenlernen von wichtigen Strukturen aus, welche die Mathematik charakterisieren. Konkret meint er, dass dazu eine Erweiterung von Gewohnheiten gehört (spezifischer Übergangstransfer) und nennt als Beispiel: „Haben wir erst einmal gelernt, Nägel einzuschlagen, können wir später leichter lernen, kleine Stifte einzuhämmern oder Holz abzuspanen“. Außerdem sollen ganz allgemeine Begriffe und Ideen erlernt werden, die für spätere Probleme als Basis verwendet werden können (nichtspezifischer Transfer). Er beruft sich dabei auf die Hypothese: „Jedes Kind kann auf jeder Entwicklungsstufe jeder Lehrgegenstand in einer intellektuell ehrlichen Form erfolgreich gelehrt werden.“27 SCHEIN 25 ),
Ein weiterer Grund für die Sinnhaftigkeit eines roten Fadens ist für B RUNER, dass Einzelheiten, die in strukturierte Form gebracht worden sind, nicht so leicht vergessen werden. Die in dieser Arbeit vorgestellten Unterrichtsmaterialien sind nicht zuletzt deswegen für Schüler beider Sekundarstufen ausgelegt, um der Forderung B RUNERs nach einer Curriculumspirale, also dem Immer-wieder-aufgreifen eines mathematischen Begriffes oder Prinzips auf unterschiedlichen Niveaus gerecht zu werden.
23 siehe
[Cla95, S. 155] [Sch79, S. 165–171] 25 siehe [Wag65, S. 135] 26 siehe [Bru70, S. 30] 27 siehe [Bru70, S. 44] 24 siehe
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5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Abbildung 5.9: Schematische Darstellung einer linearen Nahrungskette
Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte Die Unterrichtsvorschläge sollen • die herausragende Bedeutung von Iterationen in vielen Themen der Schulmathematik deutlich machen, • Biomathematik als verbindendes Element und ständigen Begleiter der Idee der Iteration herausstreichen, • das Schritt-für-Schritt-Denken bei den Schülern fördern und sie zum eigenständigen Aufstellen von Rekursionsformeln befähigen, • Iterationen als eines der wesentlichen Werkzeuge zur Darstellung zeitlicher Prozesse in der Natur erkennbar machen.
5.3 Darstellungsformen Diskrete dynamische Systeme zeichnen sich unter anderem auch durch die Möglichkeit aus, sie auf viele verschiedene Arten darstellen zu können. Dazu gehören schematische Darstellungen, die algebraische Darstellung mittels Rekursionsformel, Vektoren und Tabellen sowie Zeit- und Phasendiagramme. Dieser Abschnitt wird sich mit dem didaktischen Potenzial dieser Darstellungsformen beschäftigen. Schematische Darstellungen Steht man vor dem Problem, einen komplexen Sachverhalt strukturieren zu wollen, so beginnt man ganz automatisch damit, die Situation grafisch zu veranschaulichen. Vor allem dann, wenn die Zusammenhänge nicht linear, also in einer Ursache-Wirkungs-Kette dargestellt werden können, wie das etwa bei einer linearen Nahrungskette der Fall wäre. Aber selbst hier hilft ein Diagramm dabei, den Überblick zu bewahren (siehe Abbildung 5.9). Lässt man auch Verzweigungen zu, wie das Schüler28 gemacht haben, dann entstehen ohne Aufforderung solche schematischen Darstellungen wie in Abbildung 6.2 zu sehen. Und auch einem selbst liegt nichts näher, als eine schematische Darstellung als ersten Schritt zu skizzieren. Das Diagramm in Abbildung 5.10 ist etwa bei der Bearbeitung eines Modells für die Ausbreitung einer Grippe in einer Bevölkerung entstanden: Die Kreise stellen dabei disjunkte 28 Hier
waren das konkret Schüler der 10.-12. Schulstufe, die an einer Summer School der Fakultät für Mathematik der Universität Wien im Sommer 2007 teilgenommen haben.
5.3 Darstellungsformen
109
Abbildung 5.10: Schematische Darstellung der Ausbreitung einer Grippe
Teilmengen der Gesamtbevölkerung dar, Pfeile bezeichnen mögliche Übergänge zwischen den Personengruppen. In der didaktischen Literatur und in Schulbüchern findet man zu diesem Thema die Begriffe Flussdiagramm29 und Ursache-Wirkungsdiagramm30 . Selbst wenn in solchen Darstellungen großes didaktisches Potenzial steckt, wie O SSIMITZ zeigt, und auch der mathematische Gehalt teilweise sehr hoch ist31 , soll im vorliegenden Buch darauf nicht allzu großer Wert gelegt werden. Es wird vielmehr dafür eine Lanze gebrochen, dass Lehrer ihre Schüler dazu anhalten sollen, Sachverhalte in geeigenter Form übersichtlich darzustellen, bevor sie sich daran machen, Rekursionen aufzustellen oder gar den Computer zu Hilfe nehmen, wenn dieser noch gar nicht wirklich helfen kann. Was also bei älteren, begabten Schülern oder bei uns selbst ganz automatisch passiert, soll auch schon bei Schülern der Sekundarstufe 1 forciert werden und auf diese Weise fixer Bestandteil im Methodenrepertoire jedes Schülers werden. Rekursionsformel Die in der schematischen Darstellung gewonnenen Einsichten in die Zusammenhänge der betrachteten Größen müssen als nächstes in mathematische Form gegossen werden. Die Darstellung mittels einer oder mehrerer Rekursionsformeln bietet sich an. Schrittweise kann jedes Detail, jede einzelne Abhängigkeit, jeder Pfeil und jede Größe nacheinander dem Modell hinzugefügt werden. Der Überblick, den man sich vorher verschafft hat, garantiert nun, dass auch im mathematischen Modell, in der formalen Beschreibung nichts vergessen wird. Dieser Übersetzungsprozess setzt natürlich bei komplexen Zusammenhängen Vorwissen etwa über elementare Wachstumsprozesse oder über einfache Interaktionsmodelle voraus. 29 siehe
etwa [Oss03] B. [GRH07, S. 215] 31 Es werden beispielsweise Fluss- und Bestandsgrößen unterschieden, positive und negative Rückkopplungen thematisiert, usw. 30 z.
110
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Vektoren und Tabellen Definiert man Vektoren ganz algebraisch als mehrdimensionale Rechenzahlen, genauer gesagt als geordnete Zahlentupel32 , so bietet sich für das Thema Vektoren im Schulunterricht ein breites Anwendungsfeld, das bei der Definition als Äquivalenzklasse von Pfeilen verschlossen bleibt. Eine dieser Anwendungen sind die Zahlenpaare, -tripel bzw. -tupel (t, At , Bt , . . .) bei diskreten dynamischen Prozessen. Mit diesen Vektoren kann man natürlich auch rechnen: Führt man etwa die Subtraktion (t2 , At2 , Bt2 , . . .) − (t1 , At1 , Bt1 , . . .) aus, so erhält man neuerlich einen Vektor, der angibt, wie sich die Größen A, B, . . . im Zeitraum von t1 bis t2 verändert haben. Schreibt man alle diese Vektoren (t, At , Bt , . . .) untereinander, so gelangt man zur Darstellung in einer Tabelle. Sie ermöglicht, die Daten übersichtlich zu strukturieren und erleichtert auf diese Weise, Vergleiche unterschiedlicher Zeitpunkte bzw. auch unterschiedlicher Größen zum selben Zeitpunkt anzustellen. Zeit- und Phasendiagramme Die Schritt für Schritt berechneten und in einer Tabelle festgehaltenen Daten vermitteln für den ungeschulten Blick noch recht wenig Einsicht in das Langzeitverhalten des Systems. Auch die in der schematischen Darstellung aufgezeichneten Abhängigkeiten sind nun durch eine Unmenge an Zahlenwerten versteckt und nicht mehr auf einen Blick ersichtlich. Dem kann man durch die Darstellung in einem Zeit- oder Phasendiagramm Abhilfe verschaffen (siehe Abbildungen 5.4 und 5.5). Zusätzlich gewinnt man damit Einsichten, wie sich die oben genannten Abhängigkeiten auf Dauer auf die betrachteten Größen auswirken, welche der Spezies sich vielleicht durchsetzen und welche aussterben werden. Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte Die Unterrichtsvorschläge sollen • ein vielfältiges Nebeneinander von unterschiedlichen Darstellungsformen im Unterricht fördern, • Übersetzungsprozesse von einer Darstellung in eine andere anregen, • Vor- aber auch Nachteile bestimmter Darstellungsformen in bestimmten Situationen erkennbar machen.
5.4 Mathematisches Modellieren Das Thema Modellieren ist in der aktuellen fachdidaktischen Literatur und auch auf den bedeutenden fachdidaktischen Tagungen stets prominent vertreten und soll auch im Unterricht ein zentrales Anliegen sein. Was kennzeichnet eigentlich das Modellieren? Welche Tätigkeiten sind charakteristisch für den Prozess des Modellierens? Damit beschäftigt sich die Mathematikdidaktik schon seit nunmehr einigen Jahrzehnten. Was im Kern allen diesen Überlegungen gemeinsam 32 Das
machen z. B. M ALLE et. al. in ihrer Schulbuchreihe Mathematik verstehen, siehe [MRUK07].
5.4 Mathematisches Modellieren
111
Abbildung 5.11: Modellierungskreislauf nach B LUM und L EIß
ist, kann man durch einen so genannten Modellierungskreislauf darstellen. B LUM und L EIß33 schlagen z. B. die recht ausführliche Darstellung in Abbildung 5.11 vor. Die Pfeile stehen dabei für die Tätigkeiten Konstruieren/Verstehen (1), Vereinfachen/Strukturieren (2), Mathematisieren (3), Mathematisch arbeiten (4), Interpretieren (5), Validieren (6) und Darlegen/Erklären (7). Dieser und ähnlich konzipierte Modellierungskreisläufe sind normativ zu verstehen. Es wäre wünschenswert, wenn Modellierungsprozesse nach einem solchen Muster ablaufen würden und der Modellierungskreislauf bei Bedarf sogar mehrmals hintereinander durchlaufen würde. Es konnte jedoch empirisch bestätigt werden, dass dieses Wunschdenken im realen Modellierungsunterricht mit Schülern nicht erfüllt wird. Oft steht im Mathematikunterricht die vierte Tätigkeit – das Arbeiten im mathematischen Modell – im Vordergrund. Allerdings sollten auch alle anderen geschult werden, um der alten Forderung von M ALLE und R EICHEL34 : „Mathematikunterricht zielt unter anderem darauf ab, den Schülern ein ausgewogenes und angemessenes Bild von Mathematik und deren Verhältnis zur Realität zu vermitteln“ zu genügen. Authentisches mathematisches Modellieren kann dazu einen wesentlichen Beitrag liefern. Und dazu gehören neben den Tätigkeiten des Modellierungskreislaufes natürlich auch Überlegungen darüber, zu welchem Zweck ein Modell überhaupt erstellt wird. Es gibt beschreibende Modelle, erklärende Modelle, vorschreibende Modelle und Modelle, die prognostizieren35 . Das ist gerade auch in der Biomathematik eine wichtige Entscheidung, bevor man ein Modell erstellt. Schließlich kann ein Modell nicht alle diese Zwecke auf einmal erfüllen. Oft reicht es für eine Fragestellung in der Praxis aber ohnehin aus, mit einem dieser Modelltypen zu arbeiten. Einen wunderbaren Einblick in die Arbeitswelt eines Biomathematikers und seine Sicht auf das Modellieren und auf mathematische Modelle im Allgemeinen gibt M OLNAR36 . 33 Grafik
aus [BL05a, S. 19] [MRH96, S. 74] 35 siehe [Hen02, S. 6] 36 siehe [Mol09] 34 siehe
112
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Abbildung 5.12: Modellierungskreislauf nach B LUM (siehe [Blu96])
Selbstverständlich läuft in der Schule viel über die Leistungsbeurteilung. Sie ist also mit ein Grund, warum eben gerade die leicht zu beurteilenden Tätigkeiten im Unterricht oft zu sehr in den Vordergrund rücken. Und dazu gehört zweifellos das Operieren. M AAß37 schlägt daher einen Katalog vor, wie man auch bei der Beurteilung mathematischer Modellierung ausgewogen vorgehen kann. Die Auflistung • Bildung des Realmodells • mathematische Bearbeitung • Interpretation der Lösung • kritische Reflexion • Dokumentation des Vorgehens • zielgerichtetes Vorgehen solle den Schülern mit einer vorher festgelegten Gewichtung (Punktesystem) vorgelegt werden. So könne man also auch individuell Schwerpunkte für den Unterricht setzen, die die Schüler dann viel eher zur Kenntnis nehmen. L EUDERS38 spricht sich ebenfalls dafür aus, den Schülern die Vorgänge des Modellierungsprozesses bewusst zu machen, sie also auch mit Modellierungskreisläufen und den darin ausgewiesenen Tätigkeiten zu konfrontieren. Dazu eignen sich etwas „gröbere“ Darstellungen des Modellierungskreislaufs, wie etwa jener in Abbildung 5.12. Modellierungstätigkeiten finden im Unterricht sinnvollerweise oftmals in Gruppenarbeit statt, was manchmal Schwierigkeiten bei der Leistungsbeurteilung macht. Eine Möglichkeit Gruppenarbeit „fair“ zu beurteilen ist, der Schülergruppe eine Gesamtpunktezahl für ihre gemeinsame Arbeit zu geben und die Schüler selbst eine Aufteilung dieser Punktezahl unter den Gruppenmitgliedern vornehmen zu lassen. Sie haben selbst viel eher den Einblick, welcher Schüler wie viel zur gemeinsamen Arbeit beigetragen hat. Außerdem motiviert dieses System auch schon während der Arbeit mehr, als wenn man ohnehin von Anfang an weiß, dass jeder in der Gruppe die 37 [Maa05, 38 siehe
S. 21] etwa [Leu03]
5.4 Mathematisches Modellieren
113
gleiche Anzahl an Punkten oder die gleiche Note erhält. Allerdings setzt diese Methode natürlich eine gewisse Reife der Beurteilten voraus. M AAß sieht einen ganz besonderen Vorteil im Einsatz von Modellierungsaufgaben im Unterricht. Sie beklagt die hohen Schülerzahlen in deutschen Schulen, was eine Differenzierung innerhalb der Klasse im herkömmlichen Unterricht sehr schwer macht. Schließlich könne ein Lehrer ja nicht speziell maßgeschneiderte Aufgaben für jeden Schüler entwickeln, die seinem derzeitigen Niveau gerade angepasst sind. Bei Modellierungsaufgaben sei dagegen eine Binnendifferenzierung quasi schon „eingebaut“. Jeder Schüler bzw. jede Schülergruppe arbeitet auf ihrem Niveau, entscheidet selbst, wie komplex ihr Modell sein soll, welche Vereinfachungen gemacht werden und mit welchem mathematischen Werkzeug vorgegangen wird. M AAß spricht sich durchaus auch für leistungsheterogene Schülergruppen aus. Das fördere sowohl leistungsschwächere Schüler, die von den guten Mathematikern lernen können und umgekehrt werden auch Kompetenzen leistungsstärkerer Schüler beim Erklären und Betreuen der Schwächeren geschult. Zur Motivation der Schüler trägt aber natürlich auch bei, wenn man sie hin und wieder selbst die Gruppen einteilen lässt und – falls es mehrere Aufgaben gibt – die Schüler selbst die Probleme wählen lässt, die sie gerne bearbeiten wollen. Motivierend wirkt sich bei Gruppenarbeiten klarerweise eine abschließende Präsentation vor der ganzen Klasse mit anschließender Diskussion aus. Nachdem möglicherweise die einzelnen Schülergruppen unterschiedliche Probleme bearbeiten, sollten die Schüler also bei der Präsentation darauf achten, dass die Mitschüler sich eben noch nicht einen halben Tag oder sogar länger mit dem vorgestellten Problem beschäftigt haben. Es sollte daher auch die Möglichkeit geben, Fragen an die „Experten“ der jeweiligen Probleme zu stellen. Die Modellierungsidee ist nun schon keine absolute Neuheit mehr, trotzdem findet sie in den Schulunterricht nur langsam Einzug. Vielfach herrscht noch immer das Abarbeiten von klassischen „Schulbuchaufgaben“ vor. Auch BÜCHTER und L EUDERS39 beklagen: „Schüler gewinnen den Eindruck, die Mathematik selbst bestehe nur aus bestimmten Typen von Aufgaben, die ihnen nur in der Schule begegnen. Ein Einblick in einen authentischen Umgang mit Mathematik bleibt ihnen verwehrt.“ Selbstverständlich ist es ein zeitaufwändiger Prozess, bis Schüler tatsächlich in der Lage sind, selbstständig Probleme zu bearbeiten und zu lösen. Gerade deswegen ist es notwendig, früh damit zu beginnen. Ein erster Schritt auf diesem Weg kann etwa die didaktische Frage sein, wie sie A EBLI40 analysiert. Die Kritik am fragend-entwickelnden Unterrichtsverfahren, dass dabei nämlich paradoxerweise der Lehrer die Fragen stellt, obwohl er ja die Antwort selbst am besten kennt, kann er entschärfen. A EBLI vergleicht dazu die Situation im Unterricht mit einer Ausstellung oder Besichtigung. Auch dort fragen gerade die Sachkundigen und nicht etwa die Laien, die eben gar nicht wissen, was zu fragen angemessen wäre. Ähnlich ist es im Schulunterricht bei der Bearbeitung eines neuen Themas. Schüler müssen erst lernen, die richtigen Fragen zu finden und zu stellen. Der Lehrer soll an dieser Stelle als Initiator und Richtungsweiser fungieren. Auch B LUM und L EIß41 sehen die Aufgabe des Lehrers zwischen den beiden Extrempositionen des Durch-die-Wüste-laufen-lassens der Schüler und des Überdie-Hürde-tragens derselben. Fragen des Lehrers stellen eine subtile Art der Unterstützung dar. Die Fähigkeit, interessante Problemstellungen zu sehen und zu entscheiden, welche davon sich 39 siehe
[BL05b, S. 89] [Aeb61, S. 142] 41 siehe [BL05a, S. 21] 40 siehe
114
5 Innermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
mit den zur Verfügung stehenden Mitteln lösen lassen, muss sich erst langsam und schrittweise herausbilden. Die Unterrichtsmaterialien im dritten Teil des Buches spannen deshalb auch den Bogen von relativ strikt geleiteten Unterrichtsvorgaben inklusive Aufgaben bis hin zu sehr offen formulierten Modellierungsaufgaben. Modellieren erfordert ein gewisses Maß an Kreativität. Um ein reiches Potenzial an Ideen ausschöpfen zu können, bietet es sich an, die Schüler in kleinen Gruppen oder zumindest in Paaren arbeiten zu lassen. Außerdem kann auf diese Weise viel besser der folgenden Forderung H ENNs42 genüge getan werden: „Schüler sollen angeregt werden, selbst Fragen zu stellen, und sollen die eher induktiven Aspekte wie Probieren und Experimentieren, Verallgemeinern und Spezialisieren selbst erfahren. Und wie könnte das besser realisiert werden, als wenn man die Schüler selbst arbeiten lässt, sie gegenseitig Fragen stellen und Antworten finden lässt, am Computer experimentieren und Ergebnisse in abschließenden Präsentationen diskutieren lässt?“ Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte Die Unterrichtsvorschläge sollen • alle Tätigkeiten des Modellierungskreislaufs durch konkrete Aufgabenstellungen anregen, • Grenzen und Chancen von Modellen zur Erklärung und Beschreibung biologischer Vorgänge bzw. zum Erstellen von Prognosen aufzeigen, • kreatives, heuristisches und forschendes Arbeiten an Modellen fördern.
42 siehe
[Hen97, S. 7]
6 Außermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht 6.1 Alltagsnahe Tätigkeiten Diskrete Prozesse kommen im Leben sehr häufig vor. Alleine bedingt durch das bloße Abzählen werden viele Tätigkeiten schon zu diskreten Tätigkeiten. In vielen Fällen ist es auch notwendig und hilfreich, Prozesse, die von Natur aus eigentlich kontinuierlich sind, zu diskretisieren. Beispielsweise wird die Zeit in Stunden, Minuten, Sekunden gegliedert und die Erde in Längen- und Breitengrade unterteilt. Diskretisieren ist also ein fest verankerter Mechanismus im Denken des Menschen. Es liegt nahe, so zu denken. Damit in Zusammenhang steht natürlich das iterative Denken, das Weiterzählen, das andauernde Wiederholen von Tätigkeiten. H UMENBERGER und R EICHEL1 beschreiben das treffend mit den Worten: „Eine Iteration ist ein spezieller Algorithmus, bei dem wiederholt ‚dasselbe getan‘ wird.“ Auch solche Prozesse gibt es im Leben unzählig viele. Zeitlich etwa beim Feiern des alljährlichen Geburtstages oder beim täglichen Zähneputzen am Morgen und Abend, räumlich beim Wiederkehren eines Musters auf einer Tapete oder der Mittelstreifen auf einer Fahrbahn. Eines nach dem anderen, Schritt für Schritt – auch das sind also vertraute Bilder für die Schüler. Und gerade rekursiven Prozessen wohnt dieses Schema inne. Sie starten bei einem Wert und geben dann nacheinander Werte zu diskreten Zeitpunkten aus. Auch bei der Erhebung realer Daten muss man klarerweise auf diskrete Zeitschritte zurückgreifen. Bevölkerungszahlen werden etwa Jahr für Jahr erhoben und auch die Größe einer Bakterienpopulation wird in regelmäßigen Abständen geschätzt. Zur Beschreibung von Insektenpopulationen mit getrennten Generationen ist es ohnehin nicht sinnvoll, kontinuierliche Modelle zu verwenden. Die Chance, dieses intuitiv gefestigte Iterieren auch im Mathematikunterricht in den Mittelpunkt zu rücken, blieb in der Vergangenheit oft ungenutzt. Und nicht zu unrecht – der Rechenaufwand bei iterativen Prozessen wächst sehr schnell ins Unermessliche. Unter Zuhilfenahme des Computers muss man allerdings diese Gelegenheit nicht mehr verstreichen lassen. Es muss also nicht dabei bleiben, lediglich lineares oder exponentielles Wachstum zu bearbeiten, darüber hinaus können jetzt ohne großen Zeitaufwand viele weitere interessante Modelle unter die Lupe genommen werden. Der Mehraufwand besteht nur darin, geeignete Rekursionsformeln für bestimmte Zusammenhänge und Situationen zu finden – also gerade das Modellieren, das ja der interessanteste Part dieses Themas ist. Das Methodenrepertoire bleibt dabei ein übersichtliches. Und selbst das angesprochene Modellieren ist eine sehr vertraute Tätigkeit im alltäglichen Leben eines Menschen. Das Strukturieren eines Sachverhaltes wie z. B. das Entwerfen eines Zugfahrplanes, das Kategorisieren wie etwa das Einteilen von unterschiedlichen Tierarten in 1 siehe
[HR95, S. 200]
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_6, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
116
6 Außermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Gattungen, das Finden von kausalen Zusammenhängen und das Planen von Projekten wie beispielsweise beim Bauen eines Baumhauses sind Kompetenzen, die auch bei der mathematischen Modellierung zum Tragen kommen. Auch wenn die Arbeit an biomathematischen Modellen kein Problemlösen im eigentlichen Sinne darstellt, so ist der von P OLYA2 in vier Schritten beschriebene Problemlöseprozess doch eine Tätigkeit, die wir auch intuitiv aus dem Alltag kennen und eine Beschreibung dafür, wie wir im täglichen Leben zielorientiert mit Problemen umgehen können:
• • • •
das Verstehen des Problems das Aufstellen eines Plans das Ausführen des Plans der Rückblick
Betrachten wir diese vier Schritte nun anhand eines Beispiels aus der Demographie. Will man ein Modell für das Bevölkerungswachstum eines bestimmten Landes aufstellen, so muss man sich zuerst einen Überblick über vorhandene Daten machen, eventuell selbst recherchieren, die Daten verstehen und strukturieren und schließlich das Ziel der mathematischen Arbeit genau formulieren: „Was soll das Modell leisten?“ (Schritt 1). Als nächstes macht man sich Gedanken darüber, ob man sich bisherige Erfahrungen zu Nutze machen kann: „Habe ich ein ähnliches Problem schon einmal bearbeitet? Haben die vorliegenden Bevölkerungsdaten Ähnlichkeit mit einem mir bekannten Modell? Gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zu einem anderen Problem? Wenn nicht, kann ich eine neue Art finden, das Problem zu modellieren?“ Es gilt, eine Strategie auszuwählen, sich also für eine bestimmte Art und Form einer mathematischen Beschreibung der Situation zu entscheiden (Schritt 2). Die gewonnene Strategie wird nun Schritt für Schritt umgesetzt, konkret wird z. B. eine Rekursion bzw. ein Differenzengleichungssystem zur Beschreibung des Bevölkerungswachstums aufgestellt, in den Computer eingegeben, es wird operiert und dargestellt, es werden Ergebnisse produziert (Schritt 3). Am Ende wird versucht, rückblickend zu validieren, ob das Modell tatsächlich der realen Situation entspricht, ob es diese hinreichend gut beschreibt bzw. erklärt, ob die Ergebnisse angemessen und vertrauenswürdig sind. Gegebenenfalls kann die vorliegende Situation auch noch durch ein weiteres, anders angelegtes Modell beschrieben, können die Ergebnisse verglichen und so auf Plausibilität überprüft werden (Schritt 4).
2 [Pol49,
S. 18–37]
6.2 Systemdenken
117
Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte Die Unterrichtsvorschläge sollen • an intuitive Denk- und Handlungsmuster der Schüler anschließen und sie für die Arbeit an biomathematischen Modellen nutzbar machen, • sich mit Themen und Phänomenen beschäftigen, die die Schüler auch aus anderen Bereichen ihrer Lebenswelt interessieren (hier bieten sich vor allem biologische, gesellschaftspolitische oder medizinische Anknüpfungspunkte an), • das intuitiv-iterative Denken der Schüler zulassen und als Konsequenz den bei iterativen Prozessen entstehenden Rechenaufwand dem Computer überlassen.
6.2 Systemdenken Kausalität ist für den Menschen lebensnotwendig. Wir denken von Natur aus in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. K ANT meint in seiner Kritik der reinen Vernunft, dass dieser Grundgedanke zur inneren Struktur der Erkenntnis gehöre. Ohne ihn gäbe es keine Erkenntnis, man könne die Welt nicht verstehen. Der Mensch hat sich daran gewöhnt, die Ursache der für ihn interessanten Wirkungen zu suchen, um die Welt besser in den Griff zu bekommen. Beispielsweise ist das Treffen eines Tieres mit einem Pfeil die Ursache für dessen Tod, was wiederum dem Menschen Nahrung sichert. Nun laufen Vorgänge in der Welt aber nicht so elementar ab, wie im gerade beschriebenen Beispiel. Oftmals gibt es für eine Wirkung nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Ursachen. Auch laufen solche Prozesse nicht immer linear ab. Die Wirkung kann nämlich selbst wieder Einfluss auf ihre eigene Ursache haben, so genannte Rückkopplungen finden statt. Ein Impuls, der in das System eingeführt wird, durchläuft das System also nicht einmal linear, sondern induziert eine gewisse Eigendynamik. W INKELMANN3 formuliert: „Um in vernetzten Systemen sinnvoll operieren zu können, ist ein Denken notwendig, das über lineares Ursache-Wirkungs-Denken hinaus den System- und Netzcharakter ausdrücklich einbezieht.“ Oft wird in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dieser Systemcharakter nicht erkannt oder zu wenig beachtet. Themen wie Drogenhandel, Terrorismus, Flüchtlingsproblematik, Klimawandel, Globalisierung, Aufrüstung uvm. spielen sich in sehr komplexen Systemen ab. Eine Maßnahme von außen be-wirkt oftmals nicht nur eine einzige Konsequenz, sondern zieht eine ganze Reihe von Wirkungen nach sich, die wiederum Einfluss auf andere Teile des Systems oder ihre Ursache selbst nehmen. Die Maßnahme ihrerseits wird Teil des Systems, auf das sie wirkt (siehe Abbildung 6.1). Die Waffenaufrüstung eines Landes etwa zieht nach spieltheoretisch rational getroffenen Entscheidungen4 das Aufrüsten des befeindeten Landes nach sich, was wiederum das Aufrüstungsverhalten des ersten Landes beeinflusst, usw. Die Umweltwissenschaftlerin H ERGET5 fordert, zumindest ein Bewusstsein für komplexe Zusammenhänge in der Welt zu schaffen und kritisiert: „Menschen 3 siehe
[Win92, S. 47] [AHT08] 5 siehe [Her03, S. 4] 4 vgl.
118
6 Außermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Abbildung 6.1: Rückkopplung zwischen Ursache und Wirkung
[...] sind gewohnt, in einfachen, kausalen Zusammenhängen zu denken: Wir konzentrieren uns auf einzelne, für uns überschaubare Maßnahmen – die komplexen Wirkungen und Spätfolgen können wir meist nicht überblicken.“ Dabei sieht sie in der Komplexität mathematischer Modelle nicht unbedingt die Gefahr der Überforderung der Lernenden, sondern vielmehr eine Herausforderung, solange die Handlungsfähigkeit im Modell erhalten bleibt. So solle z. B. zumindest die numerische Lösbarkeit möglich bleiben. Es sei Aufgabe des Lehrers, während des Modellierungsprozesses darauf zu achten. Auch K LAFKI6 fordert, dass im Unterricht das Erwerben von Schlüsselqualifikationen im Zentrum stehen soll und dass Schlüsselprobleme wie die Umweltfrage, die Friedensproblematik und das Verhältnis der Kulturen, Geschlechter und Generationen zueinander in realistischer Weise thematisiert werden. „Wenn die Schule sich an der Wirklichkeit orientieren soll, wenn sie eine lebenswerte und lebbare Zukunft mit ermöglichen soll, so muss sie sich auch mit der Komplexität der Wirklichkeit auseinandersetzen.“ Ein wundervolles Beispiel aus der Biomathematik, bei dem Systemdenken notwendig ist, sind Räuber-Beute-Beziehungen. Die Jagd der Räuber dezimiert die Zahl der Beutetiere. Nun hat aber auch das allmähliche Aussterben der Beutetiere Einfluss auf die Jagd der Räuber – sie wird viel schwieriger sein und manchmal auch erfolglos enden. Was wiederum die Anzahl der Räuber senkt und das Wachstum der Beutetierpopulation fördert usw. Erst dieses systemische Denken hat die Erkenntnis ermöglicht, dass es dadurch zu Schwankungen in Tierpopulationen kommen kann. Davor hat man vergeblich versucht, diese Oszillationen durch äußere Ursachen zu beschreiben (klimatische Veränderungen, Sonnenfleckenschwankungen, usw.). Und das ist erst der Anfang. Natürliche Systeme bestehen nämlich nicht nur aus zwei Spezies, die konkurrieren, symbiotisch leben oder in einem Räuber-Beute-Verhältnis zueinander stehen. Viele andere Einflüsse wirken auf das System ein oder besser gesagt: sind Teil des Systems. Das erste Strukturieren einer Nahrungskette hat bei einer Schülergruppe von 16-18-jährigen die Darstellung in Abbildung 6.2 ergeben, was schon einen kleinen Einblick in die Komplexität natür6 siehe
[Kla96, S. 8]
6.2 Systemdenken
119
Abbildung 6.2: Schematische Darstellung einer natürlichen Nahrungskette durch Schüler
licher Systeme gibt. W INKELMANN7 bemerkt noch einen weiteren essentiellen Gesichtspunkt dynamischer Systeme. Er spricht die Kombination analytischer, qualitativer und numerischer Methoden an, die zwar in vielen anwendungsorientierten Gebieten der Fachwissenschaft zum täglichen Usus gehöre, jedoch im Schulunterricht selten vermittelt werde. Hier biete sich eine Chance für dynamische Systeme mit Differentialgleichungen aufgrund ihrer besonderen Natur. Wir können diese Chance m. E. auch auf diskrete dynamische Systeme ausweiten. Das Aufstellen der Rekursionen eines Differenzengleichungssystems erfordert im Grunde genommen dieselbe Denkleistung wie das Aufstellen von Differentialgleichungssystemen. Nachdem analytische Lösungen nur höchst selten gefunden werden können, bieten Differenzengleichungen ohnehin den einzigen gangbaren Weg, nämlich numerische Berechnungen anzustellen. Selbstverständlich kann es passieren, dass die Diskretisierung qualitativ andere Lösungskurven liefert als das kontinuierliche Differentialgleichungsmodell. Beispielsweise wächst die Amplitude der Schwingungen im diskreten Räuber-Beute-Modell, während sie im kontinuierlichen Fall konstant bleibt (siehe Abschnitt 3.1.3). Andererseits ist dies ein Anlass, die Exaktheit numerischer Methoden zum Thema im Schulunterricht der Sekundarstufe II zu machen. Zur qualitativen Analyse gehört natürlich auch, dass man beispielsweise beim logistischen Wachstum nicht nur darauf vertraut, dass die numerischen Lösungen immer zur Kapazitätsgrenze K streben – egal wo man startet – sondern dass man diesen Sachverhalt auch durch die Terme der Rekursion erklären kann. 7 siehe
[Win92]
120
6 Außermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Der Begriff Systemdenken ist ein sehr unterschiedlich verwendeter und meist nur vage formulierter. Auch der Wikipedia-Artikel8 zu diesem Begriff listet eine Vielzahl an typischen Eigenschaften des Systemdenkens auf. Prägnant definiert V ESTER9 den Begriff. Systematisch denke, wer natürliche, soziale, psychische und technische Strukturen und Prozesse nicht in verschiedene, voneinander getrennte Kausalketten zergliedert, sondern als Gefüge einer Vielzahl miteinander verknüpfter, in Wechselwirkung stehender Komponenten begreift. Der Mathematikunterricht kann nun dabei helfen, aus dem von K ANT beschriebenen Dilemma, nämlich dem evolutionär bedingten Ursache-Wirkungs-Denken, herauszukommen und das vernetzte Denken zu schulen. Klarerweise ist das seit der Erfindung des Computers viel einfacher geworden. Szenarien der Bevölkerungsentwicklung oder der Epidemiologie können simuliert werden, man muss nicht viele Jahre auf die Auswirkungen eines Fehlers warten, um ihn korrigieren zu können. Mathematische Modelle und die zugehörigen Computersimulationen sind zwar immer nur Abbild der Wirklichkeit, können aber durchaus Irrwege von vornherein aufzeigen, die man ohne sie erst viel später an ihren Folgen erkannt hätte.10 D ÖRNER11 zieht daraus sinngemäß die pädagogischen Konsequenzen, dass man im Unterricht möglichst viele vernetzte Systeme vorstellen, erkunden und diskutieren solle, Verhaltensmuster komplexer Systeme benennen und beschreiben und die Kooperation mit anderen Fächern anstreben solle. Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte Die Unterrichtsvorschläge sollen • das Tor zu komplexen, realen Sachverhalten öffnen und so die Scheu vor der Bearbeitung vielschichtiger Systeme im Unterricht nehmen, • die Komplexität natürlicher Phänomene erahnen lassen und so einen kleinen Einblick in Systeme und deren vielfältige Mechanismen geben, • Übersetzungsprozesse zwischen schematischen Darstellungen natürlicher Systeme und Systemen von Differenzengleichungen fördern, • dazu befähigen, auch alltägliche Phänomene und Prozesse nicht vorschnell in einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken.
6.3 Fächerübergreifender, anwendungsorientierter Unterricht Hat man die Gelegenheit, mit Nichtmathematikern darüber zu sprechen, dass man im Teilgebiet der Biomathematik arbeitet, zeigt sich meist auch Interesse an Inhaltlichem. Ob das daran liegt, dass das Präfix Bio gerade zum Modewort avanciert ist, oder ob sofort der Konnex zum meist beliebten Fach Biologie gezogen wird, sei dahingestellt. Jedenfalls besteht sehr oft reges Inter8 siehe
Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/Systemdenken, Link vom 23.04.2010 [Ves83] 10 Das war übrigens auch die Absicht des 1960 entwickelten MIT Beer Distribution Game, das mittlerweile zu einem Klassiker in der Managementausbildung geworden ist. 11 siehe [Dör89] 9 vgl.
6.3 Fächerübergreifender, anwendungsorientierter Unterricht
121
esse, wenn man in kurzen Worten erklärt, worum es in der Biomathematik geht – Entwicklung von Populationsgrößen, Ausbreitung von Epidemien, Vererbung von Merkmalen, usw. Es ist m. E. unbestritten, dass gerade das Interesse am Lerninhalt und die eigene fachliche Kompetenz die größte Motivation für das Lernen selbst darstellen. Diese so genannte primäre Motivation ist natürlich auch viel nachhaltiger als die sekundäre Motivation, die aus Streben nach Anerkennung, Erfolg, Verwertbarkeit des Wissens usw. entsteht12 . Das Grundinteresse an der Entwicklung der menschlichen Bevölkerung und ihrer Umwelt kann man natürlich auch im Schulunterricht ausnutzen. E NGEL13 schreibt: „Denkt man an das universelle Schauspiel von Geburt, Tod, Wachstum, Zerfall, Veränderung und Evolution, so ist es naheliegend, ein Modell für diesen faszinierenden Vorgang zu suchen.“ Fächerübergreifender Unterricht mit Biologie bietet sich an. Auch dem großen Interesse Jugendlicher an medizinischen Fragestellungen kann dabei teilweise Rechnung getragen werden. C LAUS14 formuliert sehr klar: „Die Orientierung ‚am Leben‘ oder an der Umwelt des Schülers lässt sich nicht in enger Beschränkung auf ein einzelnes Fach verwirklichen, sie erfordert fächerübergreifenden Unterricht“, und weiter: „Nicht die Entwicklung mathematischer Fähigkeiten ist das eigentliche Ziel, sondern die Einsicht in Probleme der sozialen Umwelt des Schülers.“ Gerade dabei entwickeln sich aber natürlich auch mathematische Fähigkeiten. Biomathematik ist selbstverständlich aus Anwendungen heraus entstanden und daher auch fest dort verankert. Die Frage „Wozu braucht man das?“ erübrigt sich also in den meisten Fällen. Gerade offene Fragen in den Naturwissenschaften haben dazu geführt, dass sich die Mathematik stets weiterentwickelt hat. Und auch umgekehrt hat die Mathematik dazu beigetragen, dass andere Disziplinen besser wissenschaftlich erforschbar wurden. Es hat also immer ein fruchtbarer Austausch zwischen der Mathematik und anderen Gebieten der Forschung stattgefunden. H ENN15 meint dazu: „Mathematik lebt und entwickelt sich gerade durch ihre Verbindungen mit der Wirklichkeit. Begriffe und Gegenstände der Mathematik sind stets aufgrund von inner- oder außermathematischen Fragestellungen, oft ausgehend vom Wunsch, die Natur besser zu verstehen, entstanden.“ B LUM 16 vermisst diese Verbindung allerdings in Lernsituationen: „Die ständig steigende Bedeutung von Mathematik in der Praxis hat sich nicht in entsprechender Weise beim Lehren und Lernen von Mathematik in Schule und Hochschule widergespiegelt“. Schon F REUDENTHAL 17 sah das ähnlich, indem er schrieb: „[...] wenn auch die Herkunft aus der Realität in unseren Vorlesungen meistens verschleiert wird und die Mathematik dann als in sich geschlossenes System erscheint, dessen Beziehungen zur Realität nur als zufällige a-posteriori-Anwendungen auftauchen.“. E NGEL18 plädiert für anwendungsorientierten Mathematikunterricht, wenn er sagt: „Der Schüler braucht eine Motivierung, ‚Mathematik zur Ehre des menschlichen Geistes‘ können nur ganz Wenige treiben.“. Beiträge, die zu einem fächerübergreifenden Unterricht von Seiten der Biologie geleistet werden könnten, sind etwa das Vorbereiten und Thematisieren von Begriffen aus dem Bereich der 12 vgl.
[Cla95, S. 17] [Eng71, S. 8] 14 siehe [Cla95, S. 207] 15 siehe [Hen97, S. 6] 16 siehe [Blu88, S. 3] 17 siehe [Fre63, S. 302] 18 siehe [Eng71, S. 5] 13 siehe
122
6 Außermathematisches Potenzial der Biomathematik im Unterricht
Populationsgenetik. Vererbungsmechanismen müssen erklärt und Termini wie Allel oder Fitness müssen verstanden und ins Vokabular aufgenommen werden. In der Demographie gibt es Fachbegriffe wie Überlebenswahrscheinlichkeit, Geburtenrate oder Wachstumsrate, die auch im Fach Geographie und Wirtschaftskunde behandelt werden. Hier können also Synergien genutzt werden, indem man das Thema gemeinsam fächerübergreifend behandelt. C LAUS19 gibt jedoch zu bedenken, dass sehr oft organisatorische Schwierigkeiten fächerübergreifenden Unterricht blockieren können und meint, man könne ihn sinnvoll einschränken, „indem man die Kollegen anderer Fächer nur zu Rate zieht oder sie nur gelegentlich zum Unterricht einlädt.“ Auch können sich die Schüler Wissen selbstständig aus Büchern oder durch Internetrecherche aneignen. Selbst zur Erreichung von allgemeinen Erziehungszielen kann Biomathematik wertvoll beitragen. B IGALKE20 fordert etwa in seinem Katalog die „Erziehung zum Verständnis des Gleichgewichts zwischen ökologischen Systemen und der Technik.“. Gerade dieser Punkt soll ein Anliegen dieses neuen Themas im Schulunterricht sein. Es bieten sich Anknüpfungspunkte zu Themen wie Gentechnik, Eingriffe in natürliche Ökosysteme oder Beeinflussung der Altersstruktur einer Bevölkerung durch Regelungsmaßnahmen an, die im Unterricht diskutiert und mathematisch analysiert werden können. Es wäre schade, würde man diese Gelegenheit zum kritischen Diskutieren im Mathematikunterricht verstreichen lassen. Um Kritik vorwegzunehmen ist natürlich einzugestehen, dass die Modelle, die in der Praxis für solche Fragestellungen verwendet werden, viel komplexer sein müssen, als jene im Schulunterricht sein dürfen. Außerdem werden Entscheidungen oft nicht nur aus mathematisch-rationalen Gründen getroffen. Es spielen in diesen Gebieten natürlich auch oft politische, soziale und ethische Gründe eine wesentliche Rolle. Auch ist darauf hinzuweisen, dass Datenmaterial oft durch einander widersprechende Modelle gestützt werden kann. Die Bevölkerungsentwicklung der USA lässt sich beispielsweise mit dem logistischen Modell recht gut beschreiben – wenn man lediglich die in der Vergangenheit gesammelten Daten berücksichtigt. Will man jedoch Prognosen aus dem Modell ziehen, so bekommt man sehr unbefriedigende Lösungen. In diesem Fall liefert das Gompertz-Modell bessere Voraussagen und passt ebenso gut an die historischen Daten.21 Aber auch für Diskussionen in all diese Richtungen kann und soll im fächerübergreifenden Unterricht Platz sein. Vorschläge, im anwendungsorientierten Mathematikunterricht Themen aus Physik, Chemie, den Wirtschaftswissenschaften und Biologie fächerübergreifend zu behandeln, gibt es schon seit den 1970er Jahren. Beispielsweise schlägt E NGEL22 vor, Wachstums- und Zerfallsprozesse, Räuber-Beute-Systeme, Populationsentwicklung, usw. mit Differentialgleichungen in der Sekundarstufe II zu behandeln. Ein Zitat von C LAUS23 , umgelegt auf biomathematische Modelle, würde lauten: „Man lockt den Schüler nicht mit einer interessanten Anwendung an ein mathematisches Problem heran, zerrt ihn nicht von der Anwendung weg zur Mathematik, nein: man befasst sich wirklich mit der biologischen Situation und verwendet so viel an Mathematik, wie man zum Verständnis braucht.“ 19 siehe
[Cla95, S. 207] [Big76, S. 31] 21 vgl. dazu [Eng71, S. 25] 22 siehe [Eng71] 23 Vgl. [Cla95, S. 167]. Der kursiv geschriebene Teil ersetzt dabei das von CLAUS angesprochene Thema Brücken. 20 vgl.
6.3 Fächerübergreifender, anwendungsorientierter Unterricht
123
Aus diesem Grund kann man also sogar noch weiter gehen als E NGEL es getan hat und Biomathematik schon in der Sekundarstufe I zum Thema machen. Die Mathematik, die zum Verständnis reicht, lässt sich von 10-14-Jährigen bewältigen, wenn es sich nicht um Differentialgleichungen, sondern um diskrete Modelle handelt, für die der Autor dieses Buches plädiert. Um Missverständnisse zu vermeiden sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, dass es nicht Ziel sein soll, anwendungsorientierten oder projektorientierten fächerübergreifenden Unterricht als das alleinige Unterrichtskonzept darzustellen. Vielmehr soll herausgestrichen werden, dass neben anderen ebenso berechtigten Unterrichtskonzepten, wie dem wissenschaftlich- oder dem problemorientierten Unterricht der Vernachlässigung der beiden oben genannten Orientierungen im Schulunterricht entgegenzuwirken ist. Gründe für dieses Vernachlässigen suchen unter anderem H UMENBERGER24 und F ÖRSTER25 in entsprechenden Studien. Obwohl Anwendungsaufgaben für Schüler in der Beliebtheit auf Platz 1 rangieren, finden sie einige Ursachen, warum Anwendungen trotzdem nur wenig Raum im Schulunterricht haben. Zum einen seien die Lehrer vielfach nicht darin ausgebildet, geeignete Materialien seien zwar in der didaktischen Fachliteratur zu finden, erreichen aber nur selten die Lehrer. Der Vorbereitungsaufwand sei viel höher als bei herkömmlichem Unterricht, auch koste diese Art von Unterricht mehr Zeit, die ohnehin rar sei. Der Unterrichtsverlauf sei nicht so leicht planbar wie sonst. Konsequenzen daraus müssen wohl sein, anwendungsorientierte Themen verstärkt in die Lehreraus- und -fortbildung zu nehmen, höhere Verbindlichkeit in den Lehrplänen zu erreichen und eine Verbesserung des Informationsflusses für neue Materialen zu erwirken. Konsequenzen für die Konzeption der Unterrichtsprojekte Die Unterrichtsvorschläge sollen • durch anwendungsorientierte Kontexte motivierend auf die Schüler wirken, • umgekehrt durch die Beschäftigung mit biomathematischen Modellen auch das Grundinteresse an der Entwicklung der Menschheit und ihrer Umwelt fördern und festigen, • die Antwort auf die Frage nach dem Sinn und dem Nutzen von Mathematik um eine wesentliche Facette reicher machen, • Unterrichtsinhalte aus unterschiedlichen Fachgebieten (hier Mathematik und Biologie) vernetzen und damit die Disziplinen nicht getrennt voneinander stehen zu lassen.
24 siehe 25 siehe
[Hum97] [För02]
Teil III Unterrichtsvorschläge
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie Die Unterrichtsprojekte in diesem dritten Teil des Buches sind so angelegt, dass sie direkt im Unterricht eingesetzt werden können. Die Aufgaben sind für Schüler formuliert und verwenden deshalb das vertrauliche Du bzw. Ihr als Anrede. Die meisten Aufgaben können und sollen von Schülern alleine oder in kleinen Gruppen bearbeitet werden. Nach manchen Aufgaben ist es ratsam, die Lösung(en) in der Klasse zu besprechen, um ein erfolgreiches, kohärentes Weiterarbeiten zu sichern. Zu allen Aufgaben gibt es vollständige, im Fließtext formulierte Lösungen. Zwischendurch werden auch methodische, didaktische und unterrichtspraktische Hinweise gegeben. Zu vielen der entwickelten Modelle wird gefordert, sie in eine Tabellenkalkulation zu implementieren. Falls der Leser bzw. auch die Schüler Schwierigkeiten damit haben sollten, wird die Lektüre bzw. das Durcharbeiten des folgenden Abschnitts 7.1 empfohlen. Es wird anhand eines Einstiegs in das Unterrichtsprojekt zur Demographie erklärt, wie man Rekursionen mühelos in Tabellenkalkulationen eingeben kann, wie sich die Formeln auf andere Zellen übertragen lassen, wie man mit Tabellenkalkulation Zeitdiagramme plotten und die in den Modellen vorkommenden Parameter steuern kann. Der erste Abschnitt ist also mühelos auch von Schülern der Sekundarstufe 1 zu bewältigen. Die Abschnitte 7.2 und 7.3 eignen sich besser für einen Einsatz zu Beginn der Sekundarstufe 2. Hier kommen teilweise komplexere Überlegungen ins Spiel. Wird den Schülern bei den Aufgaben 7.8 und 7.10 Unterstützung seitens der Lehrkraft angeboten, lassen sich aber auch diese Abschnitte schon früher bearbeiten. Der Abschnitt 7.4 ist dann lediglich eine Erweiterung des Leslie-Modells auf mehrere Altersklassen und stellt als solche keine besondere Hürde mehr dar. Das Unterrichtsprojekt lässt sich – je nach Auswahl und Bearbeitungstiefe – im Zeitrahmen von 4 bis 8 Unterrichtsstunden behandeln.
7.1 Einstieg und eine Einführung in Tabellenkalkulationen Wir werden in diesem Abschnitt das wohl elementarste Wachstumsmodell behandeln, das allerdings schon als Grundlage für komplexere demographische Modelle herhalten wird. Das exponentielle Wachstum bildet aber auch die Basis für viele andere biomathematische Modelle, wie wir in den späteren Unterrichtsprojekten in den Kapiteln 8, 9 und 10 sehen werden. Wir starten dabei mit realen Daten der Entwicklung der Bevölkerungsgröße Wiens. Dass gerade Wien als Beispiel gewählt wurde, hängt mit der Herkunft des Autors zusammen. Für ein eventuelles Unterrichtsprojekt in Ihrer Schule kann aber auch jede beliebige andere Stadt – sofern genügend Daten zugänglich sind – ausgewählt werden.
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_7, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
128
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie Tabelle 7.1: Ungefähre Bevölkerungsentwicklung Wiens von 1810 bis 1910
Jahr
Bevölkerungsgröße
1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910
225 000 300 000 400 000 470 000 550 000 700 000 900 000 1 165 000 1 430 000 1 770 000 2 085 000
Abbildung 7.1: Eintragen der Daten in das Datenblatt einer Tabellenkalkulation Aufgabe 7.1 Gebt die Daten der Bevölkerungsentwicklung Wiens aus Tabelle 7.1 in ein leeres Datenblatt einer Tabellenkalkulation ein! Stellt die Daten anschließend mit Hilfe des Diagrammassistenten grafisch dar! Verwendet dazu den Diagrammtyp Punkt XY 1 !
Die Daten werden dazu einfach in die Zellen des Datenblatts eingetragen (siehe Abbildung 7.1). Es ist – auch im Hinblick auf spätere Modelle – ratsam, den einzelnen Spalten Überschriften zu geben und „normierte“ Zeitschritte t = 0, 1, 2, 3, . . . zu wählen. Das Jahr 1810 entspricht dann dem Zeitpunkt t = 0 und ein Zeitschritt bedeutet 10 Jahre. Die eingegebenen Daten können nun ganz einfach in einem Zeitdiagramm dargestellt werden. Dazu müssen sie zunächst mit 1 Das
sind die Bezeichnungen, die Microsoft Excel verwendet. Andere Tabellenkalkulationen benutzen allerdings ähnliche oder manchmal sogar übereinstimmende Bezeichnungen.
7.1 Einstieg und eine Einführung in Tabellenkalkulationen
129
Abbildung 7.2: Markieren der Daten und Betätigen des Diagrammassistenten (siehe Mauszeiger)
Abbildung 7.3: Auswählen des Diagrammtyps
der linken Maustaste markiert und anschließend muss der Button für den Diagrammassistenten betätigt werden (siehe Abbildung 7.2). Danach wählt man den Diagrammtyp Punkt XY und eine geeignete Verbindung der Datenpunkte (siehe Abbildung 7.3). Nun kann man noch Beschriftungen vornehmen oder man klickt sofort auf Fertigstellen, um das Resultat aus Abbildung 7.4 zu erhalten. Als nächsten Schritt werden wir die Daten aus Tabelle 7.1 durch ein mathematisches Modell beschreiben, um z. B. Aussagen über den zukünftigen Verlauf der Bevölkerungsentwicklung machen zu können.
130
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie
2500000
2000000
1500000
1000000
500000
0 0
2
4
6
8
10
12
Abbildung 7.4: Zeitdiagramm für die Entwicklung der Bevölkerung Wiens im Zeitraum von 1810 bis 1910
Aufgabe 7.2 Ihr werdet nun ein mathematisches Modell kennenlernen, das uns einen ersten Einblick erlaubt, wie das immer steilere Ansteigen der Kurve in Abbildung 7.4 beschrieben werden kann. Dieses Modell geht nämlich von der Annahme aus, dass die Bevölkerung in jedem Zeitschritt um einen bestimmten Prozentsatz a ihrer derzeitigen Größe wächst. • Wie kann man diese Annahme inhaltlich erklären? Warum ist sie plausibel? • Wie viele Personen kommen dieser Annahme folgend im Zeitschritt von t nach t + 1 dazu, wenn die Bevölkerungsgröße zum Zeitpunkt t gerade Nt ist? • Gebt eine Gleichung an, die aus der Bevölkerungsgröße Nt zum Zeitpunkt t die Bevölkerungsgröße zum Zeitpunkt t + 1 berechnet!
Die Annahme lässt sich so begründen: Man geht davon aus, dass die Anzahl der Geburten pro Individuum und Zeitschritt einen konstanten Wert hat. Die Geburtenzahl wird also proportional zur derzeitigen Bevölkerungsgröße Nt sein und kann z. B. durch den Term g · Nt modelliert werden. Den Parameter g nennt man bezeichnenderweise Geburtenrate. In jedem Zeitschritt sterben dann aber auch mehr Menschen, die Anzahl der Toten pro Zeitschritt wird also ebenfalls proportional zu Nt sein und kann durch den Term s·Nt beschrieben werden. Man nennt s die Sterberate der Bevölkerung. Insgesamt verändert sich die Bevölkerung um den Ausdruck g·Nt −s·Nt = (g−s)·Nt , also um eine Zahl, die proportional zur derzeitigen Bevölkerungsgröße ist. Ist g > s, so wächst die Bevölkerung exponentiell (wie offensichtlich in unserem Fall, siehe Abbildung 7.4), ist g < s, so nimmt sie exponentiell ab. Setzt man a := g − s, so führt uns das zu folgender Rekursion: Nt+1 = Nt + aNt = (1 + a) · Nt . Den Term (1 + a) nennt man den Wachstumsfaktor des exponentiellen Modells.
(7.1)
7.1 Einstieg und eine Einführung in Tabellenkalkulationen
131
Abbildung 7.5: Anlegen einer zusätzlichen Spalte sowie Eingabe des Parameters a Aufgabe 7.3 Implementiert die Rekursion aus Gleichung (7.1) in eine Tabellenkalkulation! • Startet beim Wert N0 = 225 000 und wählt zunächst a = 0, 12! • Was bedeutet der Wert a = 0, 12 inhaltlich? • Zeichnet nun auch das Zeitdiagramm zu den errechneten Daten in die gleiche Abbildung wie vorher! Passt die errechnete Kurve gut an die realen Bevölkerungsdaten Wiens? • Versucht, durch Ändern des Wertes von a die Kurve noch besser an die realen Daten anzupassen! Wie ist a zu wählen?
Wir legen zunächst eine neue Spalte für die Berechnung der Bevölkerungsgröße gemäß der Rekursion an und tragen N0 ein. Außerdem schreiben wir den Parameter a in eine freie Zelle und seinen Wert in die Nachbarzelle (siehe Abbildung 7.5). Jetzt legen wir für die Zelle, in die wir den Wert 0, 12 eingetragen haben, einen Namen fest, um später mit diesem Namen auf den Wert zugreifen zu können. Dazu markieren wir die Zelle mit dem Wert 0, 12 (in unserem Fall die Zelle E4) und wählen im Menüpunkt Einfügen den Unterpunkt Namen Definieren aus. Dort wird nun schon automatisch der Name a vorgeschlagen, wir müssen nur noch mit OK bestätigen. Als nächsten Schritt können wir die Rekursion in die Zelle C3 eingeben. Die Syntax dafür lautet: = (1 + a) C2. Nach Bestätigung mit Enter errechnet der Computer bereits die Bevölkerungsgröße N1 = 252 000. Wir brauchen die Rekursion jetzt aber nicht per Hand in jede der gewünschten Zellen tippen, sondern können die Formel ganz einfach in die darunter liegenden Zellen übertragen. Dazu markieren wir die Zelle C3, in der die Rekursion steht, und gehen mit dem Mauszeiger ans rechte untere Eck dieser Zelle. Es erscheint dann ein kleines schwarzes Kreuz (siehe Abbildung 7.6). Ein Doppelklick mit der linken Maustaste führt nun zum Übertragen des Rekursion und zum Berechnen der Bevölkerungsgrößen zu den Zeitpunkten t = 2 bis t = 10. Jetzt fehlt nur noch, diese nach dem Modell errechneten Daten in die Abbildung mit den realen Bevölkerungsdaten zu importieren. Dazu markieren wir die entsprechenden Daten und gehen mit dem Mauszeiger an den Rand des markierten Rechtecks. Es erscheint dann ein „Pfeilkreuz“ (siehe Abbildung 7.7). Mit gedrückter linker Maustaste kann man nun die Daten direkt in die Abbildung 7.4 ziehen. Das liefert eine Grafik wie in Abbildung 7.8. Die Wahl des Wertes a = 0, 12 bedeutet, dass pro 10-Jahres-Schritt die Bevölkerungsgröße um 12% wächst. Dieser
132
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie
Abbildung 7.6: Übertragen der Rekursion in die darunter liegenden Zellen
Abbildung 7.7: Markieren der Daten zum Importieren in die Grafik
Prozentsatz ist offensichtlich zu klein gewählt, um gut zu den realen Verhältnissen zu passen. Mit a ≈ 0, 25 passt das exponentielle Modell viel besser. Das kann leicht durch schrittweises Ändern des Parameterwertes in Zelle E4 herausgefunden werden. Aufgabe 7.4 In Tabelle 7.2 findet ihr Daten zur weiteren Entwicklung der Bevölkerungsgröße Wiens! Gebt auch diese Daten noch in euer Datenblatt ein und verlängert entsprechend auch die Berechnungen des exponentiellen Modells bis ins Jahr 2000! Nehmt diese neuen Daten auch mit in eure Abbildung auf!
Die neuen Daten werden nun wieder in das Datenblatt eingetragen, die Rekursion kann durch Markieren der Zelle C12 wie vorher auf die darunter liegenden Zellen übertragen werden (siehe Abbildung 7.9). Damit auch diese neu eingegebenen bzw. berechneten Daten in die Abbildung aufgenommen werden, klickt man mit der Maus auf die Kurven im Diagramm und vergrößert danach das dabei entstehende Rechteck im Datenbereich durch Hinunterziehen der rechten unteren Ecke. Danach sehen die Zeitdiagramme wie in Abbildung 7.10 aus. Mit diesen softwaretechnischen Fähigkeiten ausgestattet, kann man nun auch alle restlichen Unterrichtsprojekte bearbeiten. Es gäbe zusätzlich auch noch die Möglichkeit, Schieberegler zum Verändern der Parameter (also z. B. des Parameters a) einzubauen. Damit kann man den jeweiligen Parameterwert innerhalb eines vorgegebenen Intervalls in beliebiger Schrittweite verändern. Auf die technische Umsetzung wollen wir aber jetzt nicht weiter eingehen.
7.1 Einstieg und eine Einführung in Tabellenkalkulationen
133
2500000
2000000
1500000
1000000
500000
0 0
2
4
6
8
10
12
Abbildung 7.8: Gegenüberstellung der realen Bevölkerungsdaten Wiens (durchgezogene Kurve) mit den errechneten Werten (gestrichelte Kurve) nach Gleichung (7.1) Tabelle 7.2: Ungefähre Bevölkerungsentwicklung Wiens von 1920 bis 2000
Jahr
Bevölkerungsgröße
1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000
2 100 000 1 920 000 1 770 000 1 600 000 1 625 000 1 620 000 1 530 000 1 500 000 1 550 000
Aufgabe 7.5 Beantwortet folgende Fragen: • Wieso passt unser Modell nun nicht mehr zu den realen Daten? • Welche historischen Ursachen könnte das haben? • Wäre das Wachstum der Bevölkerung Wiens wohl ohne diese Ursachen wie durch das exponentielle Modell vorhergesagt verlaufen?
Die reale Bevölkerung wächst ab dem Jahr 1910 nicht mehr annähernd exponentiell. Die Hauptgründe dafür sind bestimmt die beiden Weltkriege, in denen die Bevölkerung Wiens nicht weiter
134
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie
Abbildung 7.9: Eintragen der Daten über den Zeitpunkt t = 10 hinaus 18000000 16000000 14000000 12000000 10000000 8000000 6000000 4000000 2000000 0 0
5
10
15
20
25
Abbildung 7.10: Gegenüberstellung der realen Bevölkerungsdaten Wiens (durchgezogene Kurve) mit den errechneten Werten (gestrichelte Kurve) nach Gleichung (7.1)
7.2 Eine Verfeinerung des exponentiellen Modells
135
zunehmen konnte. Allerdings wäre auch ohne diese tragischen Einschnitte das Bevölkerungswachstum nicht wie durch die gestrichelte Linie in Abbildung 7.10 prognostiziert verlaufen. Es ist einer der wesentlichen Nachteile des exponentiellen Wachstum, dass in diesem Modell die Bevölkerung unbeschränkt wachsen kann. Klarerweise muss das früher oder später mit dem realen Wachstum von Bevölkerungen unvereinbar werden, weil dieses durch äußere Umstände (Platzangebot, Nahrungs- und Ressourcenangebot, gesellschaftliche Veränderungen) gebremst wird. Das exponentielle Modell hätte für das Jahr 2000 eine Bevölkerungsgröße von knapp 16 000 000 vorausgesagt, wäre der Parameter a konstant beim Wert 0, 25 geblieben.
7.2 Eine Verfeinerung des exponentiellen Modells An dieser Stelle des Unterrichtsverlaufs böte sich eine Verbesserung des Modells in Richtung logistisches Modell (siehe Abschnitt 2.1.4) an. Dieser Weg wird in vielen Fach- und Schulbüchern vorgeschlagen und ist für viele reale Populationen sehr gut geeignet. Wir werden in diesem Unterrichtsprojekt dennoch einen anderen Weg beschreiten, und zwar einen, der auf die Altersstruktur der Bevölkerung Rücksicht nimmt. Wir werden am Ende bei dem in der Fachliteratur häufig beschriebenen Leslie-Modell landen. Aufgabe 7.6 Klarerweise war es etwas unrealistisch, exponentielles Wachstum für die Wiener Bevölkerung anzunehmen. Versucht, möglichst viele Argumente gegen das exponentielle Wachstum zu finden!
Es ist – abgesehen vom schon oben erwähnten unbegrenzten Wachstum – unrealistisch, dass sich der Wachstumsfaktor (1 + a) über die Zeit hinweg nicht ändert, sondern konstant bleibt. In realen Populationen wird der Parameter a nämlich vom Wohlstand, der politischen Situation, gesellschaftlichen Strömungen und vielem mehr abhängen. Ein weiteres Gegenargument liegt in der Altersstruktur der Bevölkerung begründet. Die Anzahl der Neugeburten wird nämlich im Allgemeinen nicht proportional zur gesamten Bevölkerungsgröße sein, sondern viel eher proportional zur Anzahl der reproduktionsfähigen Individuen in der Population. Leben also sehr viele alte Menschen bzw. Kinder in einer Bevölkerung, so wird auch die Geburtenrate niedriger ausfallen, als wenn es viele Menschen im mittleren Alter gibt. Genau auf diesen letztgenannten Punkt wollen wir jetzt eingehen. Wir werden zunächst unsere Modellannahmen verfeinern, indem wir die Bevölkerung in unterschiedliche Gruppen je nach ihrer Fruchtbarkeit (Fertilität) einteilen. Aufgabe 7.7 Teilt die Wiener Bevölkerung in unterschiedliche Altersgruppen ein! Das Kriterium dabei soll sein, wie wahrscheinlich es ist, dass Individuen der einzelnen Altersgruppen Nachkommen zeugen. Wo würdet ihr sinnvollerweise die Grenzen zwischen diesen Gruppen ziehen?
Für diese Einteilung können die Schüler selbstverständlich auch im Internet recherchieren. Man findet beispielsweise auf der Website der Statistik Austria2 Daten über die Anzahl der Lebendgeburten in Wien, gegliedert nach dem Alter der Mutter. Die Tabelle 7.3 soll vorerst nur als Hintergrundinformation für den Lehrer dienen, erst für die folgende Aufgabe 7.8 soll sie den 2 siehe
www.statistik.at, Link vom 09.06.2010
136
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie Tabelle 7.3: Mögliche Einteilung der weiblichen Bevölkerung Wiens in Altersklassen
Altersgruppe
Anzahl der Wienerinnen in dieser Altersgruppe 2009
Anzahl der Geburten in dieser Altersgruppe 2009
Anzahl der Mädchengeburten davon
A: 0-19 B: 20-39 C: 40-59 D: 60-79 E: 80-99
160 000 270 000 230 000 166 000 57 000
770 15 600 800 0 0
370 7 500 390 0 0
Schülern vorgelegt werden. Eine Einteilung in Altersklassen, wie sie Schüler selbst entwickeln könnten, sieht vielleicht folgendermaßen aus: • 0-19 Jahre: Die Wahrscheinlichkeit einer Geburt ist vernachlässigbar gering. • 20-39 Jahre: Die Wahrscheinlichkeit einer Geburt ist relativ groß. • über 40 Jahre: Die Wahrscheinlichkeit einer Geburt ist vernachlässigbar gering. Aufgabe 7.8 Wir betrachten jetzt vorerst nur zwei Altersgruppen, die jeweils genau 20 Jahre breit sein sollen. Außerdem betrachten wir nur Frauen. Die erste Altersgruppe bezeichnen wir mit At (also die 0- bis 19-jährigen Bewohnerinnen Wiens zum Zeitpunkt t), die zweite mit Bt (also die 20- bis 39-jährigen Bewohnerinnen). Der Zeitschritt von t auf t + 1 soll jetzt gleich 20 Jahre betragen, wobei wir t = 0 als Jahr 2009 festlegen. Versucht, folgende Fragen mit Hilfe von Tabelle 7.3 zumindest überschlagsmäßig zu beantworten! • Wie groß sind A0 und B0 ? • Wie viele Töchter bringt eine Frau aus Altersklasse A in einem Zeitschritt (also in 20 Jahren) durchschnittlich auf die Welt? • Wie viele Töchter bringt eine Frau aus Altersklasse B in einem Zeitschritt (also in 20 Jahren) durchschnittlich auf die Welt? • Diskutiert, inwiefern diese Berechnungen schwierig sind und schon prinzipiell nur Näherungswerte liefern können!
Die Startwerte A0 = 160 000 und B0 = 270 000 kann man direkt aus der Tabelle ablesen. Pro Jahr bringen Wiener Frauen der Altersklasse A 770 Kinder zur Welt, davon ca. 370 Mädchen. In zwanzig Jahren sind das also ungefähr 7 400 Mädchen. Nachdem dieser Altersklasse ungefähr 160 000 Frauen angehören, beträgt die durchschnittliche Anzahl an Mädchengeburten pro Frau 0, 05. Die Frauen aus Altersklasse B bringen jährlich etwa 15 600 Kinder zur Welt, davon ca. 7 500 Mädchen. In einem Zeitschritt (20 Jahre) sind das also ungefähr 150 000 Mädchen. Nachdem dieser Altersklasse ungefähr 270 000 Frauen angehören, beträgt die durchschnittliche Anzahl an Mädchengeburten pro Frau 0, 56. Wir nennen diese beiden Werte die (Töchter-)Fertilitätsraten und setzen sie für spätere Berechnungen als konstant voraus: fA = 0, 05, fB = 0, 56.
7.3 Das Leslie-Modell
137
Tabelle 7.4: Wahrscheinlichkeit, mit der eine im Jahr 2009 geborene Wienerin ein bestimmtes Alter erreichen wird (Quelle: www.statistik.at, Link vom 10.06.2010)
Alter
Wahrscheinlichkeit
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
100% 99,35% 99,18% 98,82% 98,37% 96,90% 93,18% 84,65% 66,80% 29,40%
Die in Tabelle 7.3 angegebenen Daten beziehen sich ausschließlich auf das Jahr 2009. Die Geburtenanzahl und damit die Fertilitätsraten können sich im Laufe der Zeit aber natürlich (drastisch) ändern. Außerdem handelt es sich bei den Daten ohnehin nur um ungefähre Werte – daraus eine konstante Fertilitätsrate ableiten zu wollen, ist also sicher mit Ungenauigkeiten verbunden. Aufgabe 7.9 Recherchiert im Internet, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine neugeborene Wienerin das 10., 20., 30., usw. Lebensjahr erreicht! Schätzt daraus, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Individuum aus Altersgruppe A in die Altersgruppe B gelangen kann!
Da die Individuen aus Altersgruppe A unterschiedliches Alter haben, ist es nicht ganz leicht, die Wahrscheinlichkeit sA dafür zu schätzen, dass ein beliebiges Individuum aus A auch die Gruppe B erreichen wird. Wir können allerdings grob sagen, dass diese Übergangswahrscheinlichkeit sA in etwa der Wahrscheinlichkeit entsprechen muss, mit der eine 10-jährige Wienerin das 30. Lebensjahr erreicht. Damit betrachten wir nämlich ein „repräsentatives“ Individuum der Altersklasse. Und diese Wahrscheinlichkeit p können wir aus den Daten in Tabelle 7.4 berechnen, die man auch im Internet findet. Es muss gelten: 99, 35% · p ≈ 98, 82%. Daraus können wir p ≈ 0, 99 berechnen. Wir setzen also für unser Modell sA = 0, 99 fest.
7.3 Das Leslie-Modell Aufgabe 7.10 Beantwortet folgende Fragen: • Wie groß werden A1 und B1 (also die Bevölkerungsgrößen im Jahr 2029) sein, wenn wir fA = 0, 05, fB = 0, 56 und sA = 0, 99 festlegen? • Gebt Rekursionsformeln an, mit denen man allgemein At+1 und Bt+1 aus At und Bt berechnen kann! • Warum beschäftigen wir uns in diesem Modell bisher nur mit Frauen?
138
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie
Abbildung 7.11: Implementieren des Leslie-Modells in eine Tabellenkalkulation
Es gilt: A1
=
fA · A0 + fB · B0 = 0, 05 · 160 000 + 0, 56 · 270 000 = 159 200
B1
= sA · A0 = 0, 99 · 160 000 = 158 400.
(7.2)
Die Individuen in Altersgruppe A zum Zeitpunkt t = 1 sind also gerade alle Neugeburten von Müttern der Altersgruppen A und B zum Zeitpunkt t = 0. Die Personen in Altersgruppe B zum Zeitpunkt t = 1 rekrutieren sich aus allen Überlebenden der Altersgruppe A zum Zeitpunkt t = 0. Analog gilt: At+1
=
fA · At + fB · Bt
Bt+1
= sA · At
(7.3)
Man nennt das Modell in Gleichungssystem (7.3) in der Literatur Leslie-Modell. Die ausschließliche Berücksichtigung der weiblichen Bevölkerung erleichtert das Denken im Modell, weil so jedes Individuum in den Gruppen A und B dieselben Voraussetzungen hat, also insbesondere gebärfähig ist. Die Population der Männer wird sich im Allgemeinen ähnlich verhalten wie jene der Frauen, da ja etwa 50% aller Geburten Söhne sind und auch die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den einzelnen Altersklassen für Männer nur etwas kleiner sind als jene für die Frauen. Aufgabe 7.11 Wir werden nun das Modell aus Gleichungssystem (7.3) mit Hilfe des Computers simulieren. • Implementiert das Modell in eine Tabellenkalkulation, indem ihr für jede der beiden Altersgruppen eine eigene Spalte anfertigt! Verwendet dazu die Parameterwerte aus Aufgabe 7.10! • Plottet danach auch die beiden Zeitdiagramme! • Diskutiert, ob es gerechtfertigt ist anzunehmen, dass sich die Parameterwerte fA , f B und sA über die Zeit nicht ändern!
Das Eingeben der Rekursionen erfolgt wie in Abschnitt 7.1 vorgeführt. Man erstellt zunächst eine Zeitspalte, eine Spalte für A und eine für B. Danach trägt man die Parameter in freie Zellen ein und legt passende Namen für sie fest. Zu guter Letzt gibt man die Rekursionen zum Zeitpunkt t = 1 ein und überträgt sie auf die darunter liegenden Zellen (siehe Abbildung 7.11). Die sich dabei ergebenden Zeitdiagramme sieht man in Abbildung 7.12. Man erkennt daran, dass die Bevölkerungsgrößen der beiden Altersgruppen annähernd exponentiell abnehmen. Das ließe sich sogar mathematisch beweisen, leider allerdings nicht auf Schulniveau. Die Gesamtbevölkerungsgröße
7.3 Das Leslie-Modell
139
300000
250000 Altersgruppe B 200000
150000
100000
50000 Altersgruppe A 0 0
5
10
15
20
Abbildung 7.12: Zeitdiagramme zum Leslie-Modell
nähert sich asymptotisch der Bevölkerungsgröße im exponentiellen Modell Nt+1 = (1 + a) · Nt . Ob die Bevölkerung wächst oder fällt, hängt dabei natürlich von den Parametern fA , fB und sA ab! Beim vorliegenden 2-Altersklassen-Modell√errechnet sich der entsprechende Wachstumsf +
f 2 +4 f s
B A A faktor im exponentiellen Modell zu 1 + a = A = 0, 77 (ohne Beweis). Plottet man 2 die Gesamtbevölkerung des Modells im Gleichungssystem (7.3) und das exponentielle Modell Nt+1 = 0, 77 · Nt in einer gemeinsamen Grafik, so erkennt man diese asymptotische Annäherung ganz deutlich (siehe Abbildung 7.13).
Aufgabe 7.12 Ihr habt nun Gelegenheit, noch ein wenig mit eurem Modell zu experimentieren. Beantwortet folgende Fragen, indem ihr die entsprechenden Parameter in eurem Tabellenkalkulations-Datenblatt verändert! • Wie müsste man die Fertilitätsrate fB anheben, um die dauerhafte Abnahme der Gesamtpopulation zu verhindern? • Wie müsste man fA verändern, um das zu erreichen? • Durch welche politischen oder gesellschaftlichen Maßnahmen könnte eine solche Veränderung gefördert werden?
Durch Ausprobieren erhält man, dass fB = 0, 96 oder größer gewählt werden muss, damit die Gesamtbevölkerung auf Dauer wächst. Belässt man f B beim Wert 0, 56, so müsste man fA mindestens auf den Wert 0, 45 anheben, um den gleichen Effekt zu erzielen. Interessant ist dabei, dass sich zu Beginn oszillierendes Verhalten zeigt, ehe sich die Bevölkerungsgröße wieder asymptotisch dem exponentiellen Verlauf annähert. Ein Anheben dieser Parameter könnte in der Realität evenutell durch finanzielle Anreize (Kindergeld), Ganztageskinderbetreuung, besseren Mutterschutz, oder Ähnliches bewirkt werden.
140
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie
450000 400000 350000 Exponentielles Modell
300000 250000 200000 150000 Leslie-Modell
100000 50000 0 0
5
10
15
20
Abbildung 7.13: Gegenüberstellung der Gesamtbevölkerung im Leslie-Modell bzw. im exponentiellen Modell
7.4 Eine Erweiterung auf mehrere Altersklassen Das bisherige Modell berücksichtigt ausschließlich die weibliche Bevölkerung Wiens, die jünger als 40 Jahre ist. Das Leslie-Modell lässt sich allerdings ohne großen Aufwand auch auf die männliche Bevölkerung bzw. auf mehrere Altersklassen verallgemeinern. Letztgenanntes wollen wir mit der nächsten Aufgabe anregen. Aufgabe 7.13 Ihr sollt nun das Modell auf insgesamt vier Altersklassen erweitern: Ct bezeichnet dabei die Anzahl der Wiener Frauen im Alter von 40 bis 59 Jahren und Dt jene im Alter von 60 bis 79 Jahre zum Zeitpunkt t. Schätzt wie vorher passende Parameter fC und fD (Fertilitätsraten in den beiden Altersklassen), sowie sB und sC (Übergangswahrscheinlichkeiten von B nach C bzw. von C nach D)! Nehmt dazu wieder die Tabellen 7.3 und 7.4 zu Hilfe!
Analog zu Aufgabe 7.8 können fC = 0, 03 und f D = 0 aus Tabelle 7.3 berechnet werden. Die Übergangswahrscheinlichkeiten kann man wieder aus den Daten in Tabelle 7.4 gewinnen. Es muss gelten: 98, 82% · sB = 96, 90% bzw. 96, 90% · sC = 84, 65%. Daraus erhält man sB = 0, 98 und sC = 0, 87. Die Rekursionen ergeben sich dann zu: At+1
=
fA · At + f B · Bt + fC ·Ct
Bt+1
= sA · At
Ct+1
= sB · Bt
Dt+1
= sC ·Ct .
(7.4)
7.4 Eine Erweiterung auf mehrere Altersklassen
141
300000
250000
200000
150000
100000
50000
0 0
5
10
15
20
Abbildung 7.14: Zeitdiagramme zum Leslie-Modell mit vier Altersklassen aus Gleichungssystem (7.4) (Legende: A: schwarz, B: dunkelgrau, C: mittelgrau, D: hellgrau) Aufgabe 7.14 Wir werden nun auch dieses Modell am Computer simulieren: • Implementiert das Modell aus Gleichungssystem (7.4) in eine Tabellenkalkulation! • Wie sieht die langfristige Entwicklung der Bevölkerungsgrößen der einzelnen Altersklassen aus? Was bedeutet das für die Wiener Bevölkerung, falls die Parameterwerte sich nicht verändern? • Auf welchen Wert müsste f B diesmal angehoben werden, um stabile Bevölkerungszahlen garantieren zu können?
Die Zeitdiagramme sieht man in Abbildung 7.14. Man erkennt daran wieder die Annäherung an die exponentielle Abnahme, wie schon beim 2-Klassen-Modell. Die Wiener Bevölkerung würde demnach also immer weiter schrumpfen, wenn die Parameter konstant blieben und keine anderen Effekte (Migration) auftreten würden. Eine Anhebung von fB auf den Wert 0, 94 würde bei gleichbleibenden anderen Parameterwerten zu stabilen Bevölkerungszahlen führen. Wieder treten zu Beginn des Prozesses Oszillationen auf, deren Amplituden sich im Laufe der Zeit aber verkleinern (siehe Abbildung 7.15). Selbstverständlich kann an dem in die Tabellenkalkulation implementierten Modell noch weiter experimentiert werden. Beispielsweise könnten noch weiterführende Aufgaben formuliert werden, die sich mit dem medizinischen Fortschritt auseinandersetzen, der etwa zu einer Erhöhung der Parameter sA , sB und sC führen könnte. Auch gehört es zur Modellvalidierung, über andere Einflüsse auf menschliche Bevölkerungen zu sprechen. Dazu gehören Themen wie Migration, Kriege, gesellschaftliche Veränderungen, neue Krankheiten, usw., die alle zu einer Beeinflussung der Modellparameter oder überhaupt zu einer notwendigen Verfeinerung oder gar Neukonzeption des Modells beitragen können.
142
7 Unterrichtsprojekt zur Demographie
300000
250000
200000
150000
100000
50000
0 0
5
10
15
20
Abbildung 7.15: Zeitdiagramme zum Leslie-Modell nach Anhebung des Parameters fB auf den Wert 0, 94 (A: schwarz, B: dunkelgrau, C: mittelgrau, D: hellgrau)
Schließlich kann man sich natürlich noch fragen, welchen Mehrwert das Leslie-Modell gegenüber dem exponentiellen Wachstumsmodell hat – schließlich nähern sich die Lösungskurven im Leslie-Modell entsprechenden exponentiellen Kurven beliebig genau an. Die Antwort liegt unter anderem darin, dass das Leslie-Modell auch Auskunft über die Altersstruktur einer Bevölkerung gibt. So kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt abgelesen werden, wie viele junge, erwachsene und alte Menschen es gibt. Damit lassen sich politische Entscheidungen, etwa das Pensions- oder Gesundheitssystem betreffend, sinnvoller beantworten. Außerdem bekommt man durch dieses Modell einen Einblick, warum Bevölkerungen in gewissen Stadien exponentiell wachsen oder schrumpfen. Das exponentielle Modell beschreibt diesen Sachverhalt nur, erklärt ihn aber nicht ausreichend.
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie Der folgende Unterrichtsvorschlag beschäftigt sich mit dem wohl berühmtesten Modell der mathematischen Ökologie, nämlich mit dem Räuber-Beute-Modell von Lotka-Volterra. Es gäbe viele andere Möglichkeiten, interessante Phänomene aus diesem Teilgebiet der Biomathematik für den Schulunterricht aufzubereiten. Schließlich haben wir uns aber doch dazu entschieden, dieses zentrale, phänomenologisch sehr interessante und auch von der mathematischen Bearbeitung her repräsentative Modell zu behandeln. Wir werden dabei den Bogen von der Erkundung des Phänomens bis hin zu einer mathematischen Beschreibung durch ein System von zwei Differenzengleichungen spannen. Es werden an vielen Stellen Gelegenheiten zum selbstständigen Arbeiten für die Schüler und für Modellierungstätigkeiten geschaffen. Der Abschnitt 8.1 ist für eine Bearbeitung sowohl in der Sekundarstufe 1 als auch in der Sekundarstufe 2 geeignet – ebenso der Abschnitt 8.2, sofern schon einfache Rekursionen im Unterricht behandelt wurden (z. B. im Rahmen der Zinsenrechnung). Hier findet sich auch ein Räuber-Beute-Spiel, an dem wichtige Mechanismen der Wechselwirkungen zwischen Raub- und Beutetieren erarbeitet werden können. Dieses Spiel ist vor allem für jüngere Schüler gut geeignet. Die Simulation in einer Tabellenkalkulation (Abschnitt 8.3) kann schließlich ebenfalls schon von Schülern der Sekundarstufe 1 durchgeführt werden. Die Fixpunktüberlegungen in Abschnitt 8.4 eignen sich besser für Schüler der Sekundarstufe 2. Je nach Auswahl und Bearbeitungstiefe sind 4 bis 8 Unterrichtsstunden einzuplanen.
8.1 Einstieg Zwei vorerst voneinander unabhängige Phänomene waren ausschlaggebend für die Entwicklung von Modellen für Räuber-Beute-Systeme. Zum einen war das die Beobachtung, dass nach dem Ersten Weltkrieg der Raubfischbestand in der Adria wesentlich höher war als in den Jahren davor, während der Beutefischbestand im Wesentlichen gleich blieb. Natürlich kann das teilweise durch den Krieg erklärt werden, wo die Fischerei verständlicherweise weitestgehend eingestellt war. Es blieb aber trotz dieser Erklärung offen, warum dieser Umstand die Raubfische viel stärker begünstigt hatte als die Beutefische1 . Das veranlasste unabhängig voneinander die beiden Mathematiker Alfred James Lotka und Vito Volterra zu einer mathematischen Beschreibung der Beziehung zwischen Räubern und Beutetieren. Das Ergebnis waren die so genannten Lotka-Volterra-Differentialgleichungen, die in der Folge sehr berühmt werden sollten. Mit diesem Modell konnte auch das zweite beobachtete Phänomen erklärt werden, nämlich die periodischen Schwankungen in den Luchs- bzw. Schneehasenpopulationen, die von der Hudson’s Bay Company im Zeitraum von 1843 bis 1935 aufgezeichnet wurden. Mit Hilfe dieser Daten steigen wir in den Unterrichtsvorschlag ein. 1 siehe
[HS98, S. 11]
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_8, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
144
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
Abbildung 8.1: Aufzeichnungen über die von der Insel Neufundland gelieferten Schneehasenfelle im Zeitraum von 1843 bis 1935 Aufgabe 8.1 Die Hudson’s Bay Company – eine kanadische Fellhandelsfirma – hat über einige Jahrzehnte Aufzeichnungen über die von der Insel Neufundland gelieferten Schneehasenfelle geführt. Diese Aufzeichnungen findet ihr in Abbildung 8.1. • Wie viele Schneehasenfelle wurden in den Jahren 1860, 1885 und 1920 ungefähr geliefert? Was macht das genaue Ablesen aus dem Diagramm hier so schwierig? • In welchen Jahren wurden besonders viele Hasen, in welchen Jahren auffallend wenige geliefert? Was fällt euch dabei auf? • Informiert euch z. B. im Internet über die Hudson’s Bay Company! Ist diese Firma eurer Meinung nach als Quelle für derartige Daten zuverlässig?
In der Abbildung 8.1 sieht man die Anzahl der Schneehasenfelle, die im Zeitraum von 1843 bis 1935 an die Hudson’s Bay Company geliefert wurden. Dabei ist die erste Achse die Zeitskala, die zweite Achse gibt die Anzahl der Felle an. 1860 wurden etwa 25 000, 1885 ungefähr 140 000 und 1920 etwa 65 000 Schneehasenfelle an die Hudson’s Bay Company geliefert. Das Ablesen wird dabei durch die sehr grobe Einteilung der Achsen erschwert. Besonders viele Schneehasenfelle gab es in den Jahren um 1855, 1863, 1875, 1885, 1893, 1903, 1910, 1922 und 1933. Es fällt dabei eine gewisse Regelmäßigkeit auf. Etwa alle 10 Jahre gibt es ein (lokales) Maximum in den Daten, dazwischen allerdings immer Jahre mit sehr geringen Lieferzahlen. Dieses Phänomen legt natürlich die Frage nach einer inhaltlichen Erklärung nahe. Wir werden diese mit Hilfe der nächsten Aufgabe vorbereiten, wenngleich die entscheidende Erklärung ohne die Kenntnis der gelieferten Luchsfelle an die Hudson’s Bay Company noch gar nicht gefunden werden kann. Wir gehen dabei sozusagen den historischen Weg der Entdeckung von Räuber-Beute-Beziehungen nach. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte man alle möglichen Faktoren für die Oszillationen in den Bestandszahlen verantwortlich, ehe man
8.1 Einstieg
145
den Zusammenhang zwischen Räubern und Beutetieren erkannte und mathematisch beschreiben konnte. Durch Recherchen im Internet findet man heraus, dass die Hudson’s Bay Company eine sehr alte (1670 gegründete), renommierte Firma ist, die übrigens auch heute noch existiert, wenn sie auch mittlerweile nicht mehr mit Fellen handelt. Die Echtheit der Daten ihrer Fellstatistik wird allerdings bis heute angezweifelt. Aufgabe 8.2 Die Schwankungen in den Daten aus Abbildung 8.1 hat schon die Wissenschaftler zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Erklärungsnotstand gebracht. Welche Ursachen könnte eurer Meinung nach dieses Phänomen haben? Warum fiel es den Jägern und Trappern auf Neufundland in manchen Jahren wohl so leicht, Hasen zu erlegen und die Felle an die Hudson’s Bay Company zu liefern? Und warum in anderen Jahren so schwer? Weshalb treten diese Schwankungen in einem so regelmäßigen 10-Jahres-Rhythmus auf?
Die Biologen sahen damals die Gründe für die Oszillationen häufig in klimatischen Veränderungen, in Einflüssen des Menschen auf das Ökosystem oder in noch größeren Zusammenhängen. Erst als man die Aufzeichnungen der gelieferten Schneehasenfelle mit jenen der von der Insel Neufundland gelieferten Luchsfelle verglich, bekam man die Chance auf ein tieferes Verständnis dieser Situation. Und diese Chance werden wir jetzt auch den Schülern geben. Aufgabe 8.3 Die Hudson’s Bay Company handelte nicht nur mit Schneehasenfellen, sondern bezog auch Luchsfelle von den besagten Trappern aus Neufundland. Die zugehörige Fangstatistik seht ihr in Abbildung 8.2. Auch hier erkennt man ähnliche Schwankungen. • In welchen Jahren wurden besonders viele Luchsfelle geliefert? Welche Parallelen erkennt ihr zu den Schneehasenfellen? • Stellt Vermutungen an, inwiefern die beiden Tierarten in Zusammenhang miteinander stehen könnten!
Man erkennt an Abbildung 8.2, dass die Maxima der Luchsfellzahlen jenen der Hasenfellzahlen immer um einige Jahre hinterherhinken. Der 10-Jahres-Rhythmus ist also auch bei den Luchsen zu finden. Spätestens hier erkennt man also einen Zusammenhang zwischen den Bestandszahlen der beiden Spezies und wird vermuten können, dass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Hasen und Luchsen besteht. Das äußert sich auf der Insel Neufundland dadurch, dass Hasen beinahe die einzige Nahrung für die Luchse sind und umgekehrt auch die Hasen im Wesentlichen nur den Luchs als natürlichen Feind haben. Plottet man beide Fangstatistiken in einer gemeinsamen Grafik, so kann man diesen Zusammenhang übrigens noch deutlicher machen (siehe Abbildung 8.3). Aufgabe 8.4 Mit dem Wissen, dass Hasen eine wichtige Nahrungsquelle für Luchse darstellen und umgekehrt Hasen fast ausschließlich von Luchsen gefressen werden, lassen sich die Schwankungen aus Abbildung 8.3 nun auch inhaltlich erklären. Ihr sollt das nun mit eigenen Worten versuchen. Startet z. B. mit „Wenn es in einem Jahr sehr wenige Schneehasen auf Neufundland gibt, dann haben die Luchse . . . “!
Wenn es in einem Jahr sehr wenige Schneehasen auf Neufundland gibt, dann haben die Luchse wenig zu fressen. Sie können ihren Nachwuchs nicht ordentlich mit Futter versorgen, die Sterberate wird ansteigen. Das führt also zu einer Dezimierung der Luchse, was umgekehrt wieder den Schneehasen zu Gute kommt. Ihnen fehlt jetzt der natürliche Feind, sie können sich quasi ungehindert vermehren. Viele Schneehasen bedeuten aber ein Futterparadies für die wenigen
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8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
Abbildung 8.2: Aufzeichnungen über die von der Insel Neufundland gelieferten Luchsfelle im Zeitraum von 1843 bis 1935
Abbildung 8.3: Gemeinsamer Plot der Schneehasen- und Luchsfelle
Luchse, die sich in der Folge wieder leichter vermehren können. Gibt es allerdings wieder viele Räuber im Ökosystem, führt das abermals zu einem Rückgang der Hasenpopulation und wir sind wieder am Beginn angelangt. Alleine dieser Zyklus beschreibt schon in groben Zügen die zuerst unerklärlichen Schwankungen aus Abbildung 8.3.
8.1 Einstieg
147
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Abbildung 8.4: Fiktive Zeitungsberichte zur Fellstatistik der Hudson’s Bay Company
Wir werden uns in Kürze zu einer mathematischen Beschreibung dieses Mechanismus wagen. Zuvor formulieren wir allerdings noch eine Aufgabe, die den Blick der Schüler für das Langzeitverhalten eines biologischen Systems weiten soll. Aufgabe 8.5 In Abbildung 8.4 findet ihr drei erfundene Zeitungsberichte, die auf die Fellstatistik der Hudson’s Bay Company Bezug nehmen. Dabei haben sich allerdings einige Fehler eingeschlichen. • Verfasse einen kurzen Leserbrief an eine der drei Zeitungen, in dem du kritisch auf ihren Zeitungsartikel eingehst! Welche Informationen stimmen deiner Meinung nach nicht? Was hat der Autor des Artikels missverstanden oder bewusst falsch dargestellt? • Wie ist es zu den Fehlern gekommen? Was wollten die drei Autoren mit den Artikeln erreichen? • Schreibe deine gewählte Zeitungsmeldung so um, dass die Informationen richtig sind!
Alle drei Meldungen werfen einen eher kurzfristigen Blick auf die Daten und ziehen demnach auch unzulässige Schlussfolgerungen für die zukünftige Entwicklung der Tierbestände.
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8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
Außerdem sind Fehler beim Ablesen der Daten passiert und es wurde von einem Rückgang von über 100% der Hasen berichtet, was natürlich Unsinn ist. Mit einem Detail haben wir uns bisher noch gar nicht beschäftigt. Dass nämlich in der Grafik der Hudson’s Bay Company lediglich Aussagen über die Anzahl der gelieferten Felle, also die Anzahl der getöteten Tiere gemacht werden. Genau genommen könnte es sein, dass die bei den Fellen beobachteten Schwankungen bei den lebenden Tieren gar nicht zu beobachten sind. Dass diese Annahme jedoch plausibel ist, soll die nächste Aufgabe klären. Aufgabe 8.6 Wir haben bisher immer von der Anzahl der an die Hudson’s Bay Company gelieferten Felle auf die Bestandszahlen der lebenden Tiere auf Neufundland rückgeschlossen. Ob das auch zulässig war, sollt ihr euch in dieser Aufgabe überlegen. • Die Diagramme der Hudson’s Bay Company (siehe Abbildung 8.3) zeigen eigentlich nur die Anzahl der gelieferten Felle, also der durch die Jäger getöteten Tiere, pro Jahr. Wir würden aber viel lieber etwas über die Anzahl der derzeit lebenden Luchse und Hasen erfahren. Versucht dazu die folgende Aussage zu begründen: „Je mehr Luchsfelle in einem Jahr von Neufundland an die Hudson’s Bay Company geliefert werden, desto mehr Luchse leben auch dort in diesem Jahr.“ Dasselbe kann man natürlich auch für die Hasen behaupten. • Das bedeutet, dass die Schwankungen, die wir in Abbildung 8.3 gesehen haben auch bei den lebenden Tieren auftreten. Begründet diese Aussage möglichst genau mit Hilfe der Abbildung. Denkt euch zum Beispiel, dass jährlich 10% der lebenden Luchse und 10% der lebenden Hasen den Pelzjägern zum Opfer fallen)! Wie würde dann eine entsprechende Abbildung für die lebenden Tiere aussehen? • Wie könnten näherungsweise direkte „Messungen“ der derzeitigen Tierbestände z. B. durch Zählen von Tierbauten in einem bestimmten Gebiet durchgeführt werden? Holt dazu (falls nötig) Informationen aus dem Internet ein! Formuliert eine sehr gründliche Anleitung für einen Jäger, der diese Messung vornehmen soll! Versetzt euch in seine Lage und überlegt, welche Fragen er zur Durchführung haben könnte! Versucht, diese in eurer Anleitung zu beantworten!
Es erscheint zumindest plausibel, dass die Pelzjäger in den Jahren großer Bestände erfolgreicher waren, als in Jahren mit sehr niedrigen Tierpopulationen und sich daraus ein (wenn auch nicht unbedingt wie in der zweiten Fragestellung erwähnter direkt proportionaler) Zusammenhang ableiten lässt. Die Abbildung für die lebenden Tiere würde in der im zweiten Aufgabenteil beschriebenen Situation genauso aussehen wie die der Tierfelle, allerdings wären die Zahlen auf der y-Achse mit dem Faktor 10 multipliziert. Die Anweisung an den Jäger könnte z. B. beinhalten, dass er nur ein kleines Gebiet nach Bauten durchsucht, von deren Anzahl er dann auf das gesamte Gebiet hochrechnen kann. Des weiteren müsste er einige Bauten genauer beobachten, um feststellen zu können, wie viele Tiere durchschnittlich in einem Bau leben. Andere Möglichkeiten zur direkten „Messung“, die auch in der Praxis eingesetzt werden, wären zum Beispiel die Beobachtung mittels nächtlicher Scheinwerfertaxationen oder die so genannte Fang- und Wiederfangmethode.
8.2 Mathematische Modellierung eines Räuber-Beute-Systems Wir werden nun gezielt auf die Erstellung eines mathematischen Modells hinarbeiten. Dazu gehört das Formulieren von Modellannahmen. Wir wollen herausfinden, welche Faktoren in dieser
8.2 Mathematische Modellierung eines Räuber-Beute-Systems
149
Abbildung 8.5: Entwicklung der Hasen- bzw. Luchspopulation bei jeweiliger Abwesenheit der anderen Spezies (Vorlage zu Aufgabe 8.7)
Räuber-Beute-Beziehung zwischen Hasen und Luchsen entscheidend sind und unbedingt in das Modell einfließen sollten und welche Faktoren eher nebensächlich für das System sind. Das Grundgerüst eines biomathematischen Modells mit mehr als einer Tierpopulation kann man häufig dadurch gewinnen, indem man sich die einzelnen Spezies zunächst einmal getrennt voneinander ansieht. Aufgabe 8.7 In dieser Aufgabe werden wir ein paar hypothetische Überlegungen anstellen, um ein wenig mehr über die Hasen- und die Luchspopulation und ihre Entwicklung zu erfahren. • Was meint ihr: Wie würde sich die Hasenpopulation entwickeln , wenn der Luchsbestand mit einem Schlag auf Null zurückgehen würde (zum Beispiel durch Ausrottung durch den Menschen)? • Wie würde sich umgekehrt die Luchspopulation entwickeln, wenn es keine Hasen auf Neufundland mehr gäbe? • Zeichnet zu euren Vermutungen passende Grafiken in die Abbildung 8.5, die den weiteren Verlauf der Populationen darstellen sollen (startet dabei z. B. mit H0 = 100 Hasen bzw. mit L0 = 30 Luchsen zum Zeitpunkt t = 0)!
Klarerweise sollte die Hasenzahl mit der Zeit monoton wachsen, wenn es keine Luchse und damit keinen natürlichen Feind gibt. Umgekehrt sollte die Zahl der Luchse monoton abnehmen, wenn die wichtigste Futterquelle fehlt. Wie diese Zu- bzw. Abnahme modelliert wird, soll den Schülern an dieser Stelle ohne Weiteres freigestellt sein. Um gemeinsames Weiterarbeiten am Modell zu ermöglichen, lohnt es sich allerdings, sich auf einen plausiblen Vorschlag zu einigen. Das klassische Lotka-Volterra-Modell verwendet hier exponentielles Wachstum im Falle der Hasen und exponentielle Abnahme für die Luchse (siehe Abbildung 8.6). Wir werden uns deshalb im Folgenden nach dieser Modellannahme richten, wenngleich auch andere Ansätze zu einem plausiblen Modell für die Räuber-Beute-Beziehung führen können. Was wir qualitativ überlegt
150
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
Abbildung 8.6: Entwicklung der Hasen- bzw. Luchspopulation bei jeweiliger Abwesenheit der anderen Spezies (mögliche Lösung zu Aufgabe 8.7)
haben, wollen wir jetzt in einer mathematischen Beschreibung konkret machen. Die folgende Aufgabe zielt auf die zu den Grafiken in Abbildung 8.6 passenden Rekursionsformeln ab. Aufgabe 8.8 Obwohl es natürlich viele Möglichkeiten gibt die Aufgabe 8.7 zu lösen, wollen wir uns jetzt einer speziellen Betrachtung zuwenden, mit der wir dann recht praktisch weiterarbeiten können. Wir werden also eine erste Vereinfachung machen und davon ausgehen, dass die Anzahl der Hasen exponentiell mit monatlichem Wachstumsfaktor 105% wachsen würde, wenn es keine Luchse gäbe, und dass die Anzahl der Luchse exponentiell mit monatlichem „Wachstumsfaktor“ 94% fallen würde, wenn es keine Hasen gäbe. • Gebt die zugehörigen Rekursionsformeln an und zeichnet den ungefähren Verlauf in die Koordinatensysteme aus Abbildung 8.5 (wieder gelte H0 = 100, L0 = 30)! • Warum wurde bei den Luchsen das Wort Wachstumsfaktor wohl unter Anführungszeichen gesetzt?
Die gesuchten Rekursionsformeln sind Ht+1
= 1, 05 · Ht
Lt+1
= 0, 94 · Lt .
(8.1)
Der Ausdruck Wachstumsfaktor ist bei der Luchspopulation nicht ganz passend, weil die Bevölkerungszahl in diesem Fall ja abnimmt. Wir werden aber aus Konsistenzgründen auch weiterhin bei dieser Bezeichnung bleiben. Wir haben mit den beiden Rekursionen in Gleichungssystem (8.1) bereits den Grundstein für das Lotka-Volterra-Modell gelegt. Der wichtigste Teil fehlt allerdings noch. Schließlich sollen sich die beiden Populationen ja gegenseitig beeinflussen. Ab jetzt soll es also sowohl Hasen als auch Luchse geben, beide Populationsgrößen seien also größer als Null. Zusätzlich zum „natürlichen“ Wachstum der Hasen bzw. dem Rückgang
8.2 Mathematische Modellierung eines Räuber-Beute-Systems
151
der Luchse (bei jeweiliger Abwesenheit der anderen Spezies) sollen sich die beiden Tierarten jetzt wie folgt gegenseitig beeinflussen: Die Luchse jagen die Hasen, was zur Folge hat, dass die Anzahl der Hasen zum Zeitpunkt t + 1 (also Ht+1 ) gegenüber Ht um einen bestimmten Betrag vermindert wird. Umgekehrt soll im gleichen Zeitschritt die Anzahl der Luchse um einen gewissen Betrag zunehmen. Wie groß diese Wechselwirkungsterme sind, wird im Allgemeinen davon abhängen, wie viele Hasen und Luchse es zum Zeitpunkt t gibt. Aufgabe 8.9 Wir wollen in dieser Aufgabe unser bisheriges Modell ein wenig erweitern. Und zwar interessieren wir uns nun dafür, wie viele Hasen in einem Zeitschritt (z. B. an einem Tag) von Luchsen getötet werden. Um diese Anzahl nimmt klarerweise die Bevölkerungszahl der Hasen in diesem Zeitschritt ab, wenn wir voraussetzen, dass es keine anderen Todesursachen für die Hasen gibt. Angenommen, ein einziger Luchs tötet im Zeitintervall [t,t + 1] einen relativen Anteil b aller Hasen (b ist klarerweise sehr klein). Beantwortet folgende Fragen: • Wie viele Hasen werden dann insgesamt im Zeitintervall [t,t + 1] getötet? • Wie müsste man daher die Rekursion (8.1) für die Hasen abändern? • Wie plausibel ist die Annahme überhaupt, dass jeder Luchs pro Zeitschritt einen bestimmten Anteil aller derzeit lebenden Hasen erlegt?
Die Antworten auf diese Aufgabe sind so etwas wie das Kernstück des Räuber-Beute-Modells, das wir in diesem Unterrichtsprojekt entwickeln werden. Wenn ein Luchs im Zeitintervall [t,t + 1] genau b · Ht Hasen erlegt, dann werden insgesamt natürlich b · Ht · Lt Hasen in diesem Zeitraum sterben. Die Rekursion lautet dann Ht+1 = 1, 05 · Ht − b · Ht · Lt .
(8.2)
Die Frage nach der Angemessenheit dieser Modellannahme ist natürlich nicht ganz klar zu beantworten. Einleuchtend scheint jedenfalls die Annahme, dass die Anzahl der getöteten Hasen pro Luchs und Zeitschritt desto größer sein wird, je größer der derzeitige Bestand an Hasen ist. Die einzelnen Luchse begegnen dann nämlich viel mehr Hasen und die Anzahl der erfolgreichen Jagdversuche wird demnach ebenfalls zunehmen. In der Proportionalitätsannahme steckt andererseits aber auch implizit, dass sich die Luchse bei der Jagd auf die Hasen nicht gegenseitig behindern. Innerspezifische Konkurrenz ist hier also nicht berücksichtigt. In der Realität wird der Anteil b selbstverständlich auch davon abhängen, wie viele Luchse es gibt, die sich auf die Jagd nach Hasen machen. Davon sehen wir aber im Moment bewusst ab – bei einer generell kleinen Luchspopulation wird dieser Effekt kaum eine Rolle spielen. Damit haben wir die Rekursion für die Hasenpopulation schon fertig modelliert, komplizierter wird das Lotka-Volterra-Modell schon nicht mehr. Jetzt bleibt noch, auch die Rekursion für die Luchse zu adaptieren. Ihr Wachstum wird davon abhängen, wie viele Hasen in einem Zeitschritt erlegt werden können. Das formulieren wir wieder als Schülertätigkeit.
152
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
Aufgabe 8.10 Luchse brauchen einerseits Nahrung für sich selbst, um gesund und bei Kräften zu bleiben. Andererseits müssen sie auch für ihren Nachwuchs sorgen. Je mehr Futter vorhanden ist, desto größer die Chance, alle Jungen durchzubringen. Das Wachstum der Luchspopulation hängt also davon ab, wie erfolgreich die Jagd auf die Hasen verläuft. • Versucht, die Rekursion für die Luchse um einen Term zu erweitern, der den eben beschriebenen Sachverhalt geeignet modelliert! • Wie plausibel ist die Tatsache, dass der Wachstumsterm der Luchse von der Zahl der erlegten Hasen abhängt? Gilt der Grundsatz „Je mehr Futter, desto größer das Wachstum der Luchspopulation“ uneingeschränkt?
Die einfachste Möglichkeit, einen geeigneten Term in die Rekursion einzubauen, ist abermals, Proportionalität zu unterstellen. Jeder getötete Hase bewirke eine durchschnittliche Zunahme der Luchspopulation um – sagen wir l Luchse (dabei kann und wird l normalerweise kleiner als 1 sein). Insgesamt werden pro Zeitschritt ja b · Ht · Lt Hasen erlegt, was also eine Zunahme der Luchspopulation um l · b · Ht · Lt in diesem Zeitschritt bedeutet. Fasst man l · b zu einem gemeinsamen Parameter d zusammen, so gilt: Lt+1 = 0, 94 · Lt + d · Ht · Lt .
(8.3)
Die Schüler könnten bei dieser Aufgabe natürlich auch auf andere Möglichkeiten einer plausiblen Modellierung kommen. An ihren Vorschlägen kann und soll natürlich konstruktiv weitergearbeitet werden. Das Lotka-Volterra-Modell ist natürlich nicht das einzige Modell, das zur Beschreibung der Oszillationen in Abbildung 8.3 herangezogen werden kann. Dass das Wachstum der Luchspopulation nicht uneingeschränkt proportional zur Anzahl der erbeuteten Hasen ist, bleibt unbestritten. Irgendwann wird auch bei den Luchsen ein Sättigungslevel erreicht sein, wo sich ein zusätzlich erlegter Hase nicht mehr positiv auf die Wachstumsrate der Luchspopulation auswirken wird. Insgesamt haben wir damit das fertige Räuber-Beute-Modell hergeleitet. Wenn wir anstatt der fest gewählten Wachstumsfaktoren 1, 05 und 0, 94 allgemein 1 + a bzw. 1 − c setzen (wobei a, c > 0, aber klein gelten soll), dann erhalten wir Ht+1
= (1 + a) · Ht − b · Ht · Lt
Lt+1
= (1 − c) · Lt + d · Ht · Lt ,
(8.4)
wobei a, b, c, d > 0 gilt. Bevor wir uns ansehen, ob die Lösungskurven dieser beiden gekoppelten Rekursionen tatsächlich die beobachteten Oszillationen beschreiben, fassen wir noch einmal zusammen, wie der entscheidende Term b · Ht · Lt zu interpretieren ist. Zusätzlich zur schon vorher formulierten geben wir auch noch eine zweite, ebenso plausible Interpretation.
8.2 Mathematische Modellierung eines Räuber-Beute-Systems
153
Interpretationen des Terms b · Ht · Lt im Räuber-Beute-Modell 1. Interpretation: Wir fragen uns, welche biologische Bedeutung der Ausdruck b · Ht · Lt in der Rekursion Ht+1 = (1 + a) · Ht − b · Ht · Lt hat, denn schließlich wurde das Modell ja erstellt, um einen Prozess in der Natur wenigstens näherungsweise zu beschreiben. Folgendes scheint einleuchtend: Je mehr Beutetiere vorhanden sind, desto mehr frisst jedes einzelne Raubtier. Man könnte also sagen, dass jeder Luchs einen gewissen (wenn auch in der Realität nur sehr geringen) relativen Anteil aller vorhandenen Beutetiere erlegt. Wir nennen diesen relativen Anteil jetzt b. Ein Raubtier verzehrt also im Zeitintervall [t,t + 1] genau b · Ht Beutetiere. Will man wissen, wie viele Hasen insgesamt von allen Lt vorhandenen Luchsen erlegt werden, so muss man b · Ht natürlich noch mit Lt multiplizieren und erhält damit, dass sich der Bestand der Beutetiere im laufenden Zeitschritt um b · Ht · Lt verringert. 2. Interpretation: Man kann diesen Term aber noch von einer anderen Seite her beleuchten. Es klingt plausibel zu sagen, dass es öfter zu Begegnungen zwischen Raub- und Beutetieren auf freier Wildbahn kommt, wenn es insgesamt mehr Tiere gibt. Beispiel: Nehmen wir an, es gibt zum Zeitpunkt t genau 100 Hasen und 20 Luchse in einem bestimmten Gebiet. Hase Nr.1 könnte also prinzipiell 20 verschiedenen Luchsen begegnen. Hase Nr.2 genauso. ... Das geht weiter bis zum Hasen Nr.100, der also auch 20 verschiedenen Raubtieren über den Weg laufen könnte. Insgesamt wären daher 100 · 20 verschiedene Begegnungen möglich. Wir haben also die Anzahl der Beutetiere mit jener der Raubtiere multipliziert, um auf dieses Resultat zu kommen (siehe Abbildung 8.7). Erstens kommt es aber im Normalfall innerhalb eines Monats sicher nicht zu allen diesen Begegnungen, sondern nur zu einigen wenigen. Die Hasen wollen ja solche Kontakte eher meiden, um nicht gefressen zu werden. Zweitens kommt es bei tatsächlichen Begegnungen nicht immer zum Tod des Beutetiers. Aus diesen beiden Gründen muss man diese Anzahl mit einem bestimmten Faktor b < 1 multiplizieren, um die Anzahl der getöteten Beutetiere zu erhalten. Wieder kommen unsere Überlegungen zu dem Schluss: Die Beutetierpopulation sinkt durch die Jagd der Raubtiere im laufenden Zeitschritt um b · Ht · Lt . Ein erstes Gespür dafür, dass das Räuber-Beute-Modell im Gleichungssystem (8.4) die Schwankungen in den Schneehasen- und Luchspopulationen beschreiben kann, lässt sich mit Hilfe des folgenden Spiels gewinnen. Es eignet sich für einen Einsatz im Unterricht und ist ohne großen Zeit- und Materialaufwand umsetzbar.
154
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
Abbildung 8.7: Grafik zur zweiten Interpretation des Terms b · Ht · Lt
Ein kleines Räuber-Beute-Spiel 4 Papier, Bleistift, Aktionskarten, Aufzeichnungsblätter (Vorlagen im Anhang) Es werden zwei 2er-Teams gebildet: ein Hasenteam, das mit 15 Hasen beginnt, und ein Luchseteam, das mit 5 Luchsen startet. Jedes Team legt sich einen Zettel für Nebenrechnungen und ein wie in Abbildung 8.8 gestaltetes Aufzeichnungsblatt bereit. Die Aktionskarten Hasen werden gemischt und als verdeckter Stapel für das Hasenteam bereit gelegt. Analog wird mit den Aktionskarten Luchse verfahren. Wir werden in diesem Spiel die Hudson’s Bay Company nachahmen und Aufzeichnungen über die Anzahl von Hasen und Luchsen machen. Dabei soll auch der Zufall ein wenig mitspielen. Die Aktionskarten entscheiden nämlich mit, wie viele Hasen pro Runde durch die Luchse gefressen werden. Zu Beginn jeder Spielrunde ziehen die „Hasen“ eine Aktionskarte vom HasenStapel und die „Luchse“ eine vom Luchs-Stapel. Danach werden die Anweisungen befolgt und die Ergebnisse in die Aufzeichnungsblätter eingetragen! Wenn das Hasenteam die Anweisungen „Wachstum: 40% des derzeitigen Hasenbestandes und Getötete Hasen: 2% des derzeitigen Produkts aus Hasen und Luchsen“ bekommt, so ist zu berechnen: 40% von 15 = 0, 4 · 15 = 6 2% von 15 · 5 = 0, 02 · 15 · 5 = 1, 5 ≈ 2
(8.5)
8.2 Mathematische Modellierung eines Räuber-Beute-Systems Aufzeichnungsblatt Hasen Monat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Anzahl 15
Zuwachs
Tote
155
Aufzeichnungsblatt Luchse Monat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Anzahl 5
Zuwachs
Tote
Abbildung 8.8: Aufzeichnungsblatt für das Räuber-Beute-Spiel (Vorlage)
Nach Rundung auf natürliche Zahlen kann man dann die Anzahl der Hasen in der nächsten Runde wie folgt berechnen: 15 + 6 − 2 = 19 Das Luchseteam geht analog vor, etwa: „Wachstum: 3% des derzeitigen Produkts aus Hasen und Luchsen und Tote Luchse: 20% des derzeitigen Luchsbestands“
3% von 15 · 5 = 0, 03 · 15 · 5 = 2, 25 ≈ 2
(8.6)
20% von 5 = 0, 2 · 5 = 1 Die Anzahl der Luchse in der nächsten Runde berechnet sich zu 5 + 2 − 1 = 6. Die Ergebnisse werden nun in die Aufzeichnungsblätter eingetragen (siehe Abbildung 8.9). In der nächsten Runde wird also mit 19 Hasen und 6 Luchsen weitergespielt. Das Spiel endet, wenn eine der beiden Tierarten ausgestorben ist (das heißt, wenn einer der Bestände Null oder sogar negativ wird), oder wenn mindestens 15 Runden gespielt sind. Ende der Spielbeschreibung
156
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie Aufzeichnungsblatt Hasen Monat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Anzahl 15 19
Zuwachs 6
Tote 2
Aufzeichnungsblatt Luchse Monat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Anzahl 5 6
Zuwachs 2
Tote 1
Abbildung 8.9: Aufzeichnungsblatt nach der ersten Spielrunde (Beispiel) Aufgabe 8.11 Im Räuber-Beute-Spiel werdet ihr nun genau die beiden Rekursionen aus dem Gleichungssystem (8.4) simulieren. • Spielt das Räuber-Beute-Spiel nach den angegebenen Spielregeln! • Fertigt ein Diagramm an, das sowohl den Verlauf der Hasenanzahl als auch jenen der Luchsanzahl im Laufe der Zeit zeigt! Auf der x-Achse soll 1 cm einem Monat entsprechen während auf der y-Achse die Anzahl der Tiere angegeben werden soll. Wählt eine geeignete Einteilung der y-Achse! • Präsentiert euer Diagramm der Klasse! • Sind die einzelnen Spiele ähnlich verlaufen? Was fällt euch auf und wie erklärt ihr es?
Die Hasen sterben bei diesem Spiel fast immer zuerst aus, vor allem dann, wenn sie anfänglich stark wachsen. Dazu kommt es, da die Bestandszahlen der Tiere zu Beginn eher gering sind. Das Produkt der beiden ist also auch eher klein, was zur Folge hat, dass die Hasen nur geringfügig dezimiert werden und dadurch ungehindert wachsen können, während die Luchse, deren Wachstum ja von diesem Produkt abhängt, weniger werden, da vorerst der negative Term dominiert. Durch den rasanten Anstieg der Hasenzahl ändert sich aber die Situation und das Produkt aus Hasenund Luchsanzahl wird rasch sehr groß. Die anfänglich gut gedeihende Hasenbevölkerung nimmt jetzt sehr rasch ab, während sich die Luchse in gleichem Maße erholen. Ein typischer Verlauf ist jener in Abbildung 8.10, bei dem die Hasen nach 13 Monaten aussterben. Dieses Spiel lässt sich natürlich auch mit dem Computer simulieren. Dabei lässt sich feststellen, dass die Hasenbevölkerung in etwa 80% der Fälle schon innerhalb der ersten 15 Monate ausstirbt. Aufgabe 8.12 Welche Parallele könnt ihr bei euren Spielverläufen zu den Aufzeichnungen der Hudson’s Bay Company aus Abbildung 8.3 erkennen?
Man erkennt an dem simplen und vor allem kurzen Verlauf in Abbildung 8.10 schon die Abhängigkeit wieder, die wir bei den Aufzeichnungen der Hudson’s Bay Company entdeckt haben.
8.3 Simulation in einer Tabellenkalkulation
157
Abbildung 8.10: Typischer Spielverlauf beim Räuber-Beute-Spiel
Relativ viele Hasen zu Beginn bewirken ein Anwachsen der Luchszahl, was schließlich zu einer Abnahme der Hasen führt. Danach sinkt klarerweise die Bevölkerungsgröße der Luchse, so dass sich in manchen Spielverläufen die Hasenpopulation sogar noch einmal erholen kann.
8.3 Simulation in einer Tabellenkalkulation Nachdem wir keine Möglichkeit haben, das Gleichungssystem (8.4) explizit zu lösen, entfaltet das Räuber-Beute-Modell sein wahres Potenzial erst in einer Simulation. Hier nutzen wir die Stärken eines Tabellenkalkulationsprogrammes, das zur Implementierung von Rekursionen ideal geeignet ist. Aufgabe 8.13 Simuliert das folgende Räuber-Beute-Modell mit Hilfe einer Tabellenkalkulation! Verwendet dazu folgende Annahmen: • H0 = 100 • F0 = 30 • Wachstumsfaktor Hasen: 105% (also a = 0, 05) • Wachstumsfaktor Luchse: 94% (also c = 0, 06) • Proportionalitätskonstante b = 0, 002 • Proportionalitätskonstante d = 0, 001 Stellt den Verlauf der Bestandszahlen der Hasen und Luchse über einen Zeitraum von 300 Zeitschritten in einem gemeinsamen Zeitdiagramm dar!
Die Eingabe der Rekursionen erfolgt wie in Abschnitt 7.1. Die sich dabei ergebenden Zeitdiagramme sieht man in Abbildung 8.11. Man erkennt, dass sich im Modell qualitativ ähnliche
158
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
140
Hasen 120
Größe
100 80 60 40 20
Luchse
0 0
50
100
150
200
250
300
Zeitpunkt
Abbildung 8.11: Zeitdiagramme des Räuber-Beute-Modells aus Aufgabe 9.3
Kurvenverläufe zeigen wie in den Aufzeichnungen der Hudson’s Bay Company. Das Erstaunliche daran ist zweifellos die einfache Gestalt der Rekursionen, die sich aus den relativ restriktiven Modellannahmen ergeben haben. Und doch passt dieses einfache Modell schon recht gut zu den realen Daten. Das Lotka-Volterra-Modell ist also ein typisches Beispiel für ein erklärendes Modell. Durch die Konstruktion des Modells bekommt man die Chance, zu einem tieferen Verständnis der Situation und des Wechselwirkungsmechanismus zwischen Hasen und Luchsen bzw. allgemein zwischen Beute- und Raubtierpopulationen zu kommen. Wir dürfen an dieser Stelle allerdings nicht vergessen, dass die beiden Spezies auf der Insel Neufundland relativ isoliert leben konnten, es gab beinahe keine weiteren Einflüsse (außer der Jagd des Menschen), die dieses Ökosystem mitbeeinflusst hätten. Insofern lässt sich dieses Modell nicht zur Beschreibung jedes beliebigen Räuber-Beute-Verhältnisses übertragen – den zugrunde liegenden Mechanismus bildet es aber sehr gut ab. In der folgenden Aufgabe sollen die Schüler Gelegenheit bekommen, ein wenig mit den Parametern in ihrem Tabellenkalkulationsmodell zu experimentieren, unterschiedliche Szenarien zu simulieren und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Aufgabe 8.14 Verändert nacheinander die in Aufgabe 9.3 angeführten Parameter Wachstumsfaktor Hasen und Wachstumsfaktor Luchse! Wie ändert sich der Verlauf der Diagramme dadurch jeweils? Formuliert zu beiden Parametern je mindestens eine „je-desto-Beziehung“ (z. B.: je größer der Wachstumsfaktor der Hasen ist, desto . . . )!
Falls die Schüler dazu in der Lage sind, Schieberegler in ihr Datenblatt einzubauen, mit denen die Parameter verändert werden können, so bietet sich hier eine ideale Gelegenheit. Das vereinfacht das Verändern der Parameter natürlich, ist allerdings nicht unbedingt erforderlich. Man kann folgende Beobachtungen anstellen: Je größer der Parameter Wachstumsfaktor Hasen wird, desto • mehr Schwankungen pro festgelegtem Zeitraum gibt es,
8.4 Fixpunktüberlegungen am Räuber-Beute-Modell
159
• kleiner ist die Amplitude (Unterschied zwischen Maximum und Minimum einer „Schwankung“) sowohl bei den Hasen als auch bei den Luchsen, • kleiner wird das Verhältnis aus durchschnittlicher Hasenzahl zu durchschnittlicher Luchszahl. Je größer der Parameter Wachstumsfaktor Luchse wird, desto • weniger Schwankungen pro festgelegtem Zeitraum gibt es, • größer wird die Amplitude bei den Luchsen und desto kleiner wird die Amplitude bei den Hasen, • größer wird das Verhältnis aus durchschnittlicher Hasenzahl zu durchschnittlicher Luchszahl.
8.4 Fixpunktüberlegungen am Räuber-Beute-Modell Eine Frage, die sich Biomathematiker immer stellen, ist jene nach den Fixpunkten eines dynamischen Prozesses. Diese Frage werden wir jetzt auch für das Räuber-Beute-Modell aus Gleichungssystem (8.4) beantworten. Aufgabe 8.15 Ihr sollt nun herausfinden, ob es Startwerte H0 und L0 gibt, für die die Schwankungen aus Abbildung 8.11 nicht auftreten! Dazu müsste also Ht+1 = Ht sowie Lt+1 = Lt für alle t gelten. Wieso? Setzt diese beiden Bedingungen in die Rekursionsformeln Ht+1 = 1, 05 · Ht − 0, 002 · Ht · Lt
(8.7)
Lt+1 = 0, 94 · Lt + 0, 001 · Ht · Lt
(8.8)
und ein und berechnet daraus Ht und Lt ! Falls es solche Werte Ht und Lt gibt, für die Ht+1 = Ht sowie Lt+1 = Lt gilt, nennt man (Ht , Lt ) einen Fixpunkt.
Setzen wir die beiden Bedingungen ein, so erhalten wir: Ht
= 1, 05 · Ht − 0, 002 · Ht · Lt
Lt
= 0, 94 · Lt + 0, 001 · Ht · Lt .
(8.9)
Daran erkennt man sofort, dass (Ht , Lt ) = (0, 0) ein solcher Fixpunkt ist. Klarerweise ist dieser Fixpunkt aber nicht sehr interessant, wir hätten es dann ja mit einer Situation ohne einen einzigen Hasen bzw. Luchs zu tun. Setzen wir also Ht = 0 und Lt = 0 voraus. Dann dürfen wir die erste Zeile im Gleichungssystem (8.9) durch Ht dividieren und die zweite Zeile durch Lt . 1
= 1, 05 − 0, 002 · Lt
1
= 0, 94 + 0, 001 · Ht
(8.10)
Daraus ergibt sich sofort (Ht , Lt ) = (60, 25). Das ist also der zweite, diesmal allerdings auch biologisch interessante Fixpunkt des Modells.
160
8 Unterrichtsprojekt zur mathematischen Ökologie
70
Hasen 60
Größe
50 40
Luchse
30 20 10 0 0
50
100
150
200
250
300
Zeitpunkt
Abbildung 8.12: Zeitdiagramme des Räuber-Beute-Modells für einen Startwert nahe beim Fixpunkt (60, 25) Aufgabe 8.16 Verändert nun in eurem Tabellenkalkulations-Datenblatt die Startwerte auf die Werte des Fixpunktes! Wie sehen die Diagramme nun aus? Betrachtet auch die Diagramme für Startwerte, die nahe am Fixpunkt liegen!
Gibt man exakt die Werte des Fixpunktes (60, 25) ein, so verändern sich die Bestandszahlen gar nicht. Das genau war ja auch die Intention bei der Suche nach Fixpunkten. Startet man in der Nähe des Fixpunktes, so haben die Schwankungen zumindest in der Anfangsphase nur sehr kleine Amplituden (siehe Abbildung 8.12). Mit Hilfe von Fixpunktüberlegungen kann man übrigens nun auch die zweite, im Einstieg des Unterrichtsprojektes erwähnte Beobachtung neben den Oszillationen in den Daten der Hudson’s Bay Company erklären. Das ist das Ziel der folgenden Aufgabe. Aufgabe 8.17 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden in der Adria Unregelmäßigkeiten in den Fischbeständen während des Krieges entdeckt. Dazu folgende kurze Anekdote: „Vito Volterra – ein zu dieser Zeit angesehener Mathematiker – wurde durch seine Tochter Luisa und ihren Verlobten Umberto d’Ancona auf ein ökologisches Problem aufmerksam gemacht. D’Ancona war Marinebiologe und hatte Einsicht in die Marktstatistik der Fischhändler an der Adria. Ihm fiel auf, dass während der Jahre des Ersten Weltkrieges, in denen der Fischfang fast gänzlich eingestellt wurde, die Bestandszahlen einiger Raubfischarten sehr stark anstiegen, während ein solches Ansteigen bei den Beutefischen nicht zu sehen war.“ Inwiefern könnte diese Geschichte etwas mit den Schwankungen in der Luchs- bzw. Hasenpopulation zu tun haben? Welche äußere Veränderung gab es in dieser Situation im Vergleich zur Situation auf Neufundland?
Es handelt sich hier offenbar ebenfalls um ein Räuber-Beute-System, diesmal eben zwischen Raub- und Beutefischen. Ein Unterschied scheint darin zu liegen, dass vor den Kriegsjahren Fischfang durch den Menschen stattgefunden hat, der während der Kriegsjahre ausgesetzt wurde. Diese Veränderung gab es während der Aufzeichnungen der Hudson’s Bay Company nicht – dort wurde ununterbrochen Jagd auf Schneehasen und Luchse gemacht. Aber was hat die Jagd des Menschen mit den veränderten Populationszahlen der Raub- bzw. Beutefische zu tun? Und warum sind die Raubfische durch diese Situation begünstigt worden, während die Beutefische
8.4 Fixpunktüberlegungen am Räuber-Beute-Modell
161
darunter litten, dass der Mensch seinen Fischfang während des Krieges einstellen musste? Immerhin wurden vor dem Krieg sowohl Beute- als auch Raubfische gefangen und während des Krieges weder Beute- noch Raubfische. Die neuartige Situation müsste doch beide Populationen analog betreffen. Aufgabe 8.18 Damit wir die Frage beantworten können, warum die Raubfischbestände anstiegen, während die Beutefischpopulation schrumpfte, brauchen wir eine kleine Vorbereitung. Berechnet analog zu Aufgabe 8.15 die Fixpunkte des allgemeinen Räuber-Beute-Modells Bt+1
=
Bt + a · Bt − b · Bt · Rt
Rt+1
=
Rt − c · Rt + d · Bt · Rt .
(8.11)
Welche Parameter im Modell könnten eine Rolle spielen bei der Frage, ob Fischfang durch den Menschen stattfindet?
Die Fixpunkte errechnen sie analog zu vorher, der interessante ergibt sich zu (Bt , Rt ) = ( dc , ab ). Den Fischfang durch den Menschen könnte man in den Parametern a und c versteckt sehen. Macht der Mensch nämlich Jagd auf die Beutefischpopulation, so wird sich dadurch die Wachstumsrate der Beutefische verringern (a würde also kleiner werden). Fischt der Mensch nach Raubfischen, so nimmt dadurch die Wachstumsrate der Raubfische ab (das erreicht man durch Vergrößerung von c, das ja ein negatives Vorzeichen hat). Aufgabe 8.19 Was verändert sich an den Werten des Fixpunktes (Bt , Rt ) = ( dc , ab ), wenn plötzlich kein Fischfang durch den Menschen mehr stattfindet?
Aus den Überlegungen von vorhin folgt, dass bei Einstellung des Fischfangs der Parameter a wächst, während der Parameter c sinkt. Die Parameter b und d (die ja die Wechselwirkung zwischen den Beute- und Raubfischen beschreiben) ändern sich nicht. Dadurch ergibt sich, dass der Fixpunktwert der Raubfische ab anstieg, während der Fixpunktwert der Beutefische dc während der Kriegsjahre paradoxerweise sinken musste. Die Aussage des Modells, das Volterra aufstellte, konnte die eigenartigen Beobachtungen also wunderbar erklären. Das liefert neben den Aufzeichnungen der Hudson’s Bay Company ein zweites Beispiel, an dem man die starke Aussagekraft dieses einfachen Modells erkennen kann.
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie In diesem Unterrichtsvorschlag wird ein epidemiologisches Projekt vorgestellt. Wir starten mit einer relativ saloppen Beschreibung einer ansteckenden Krankheit, simulieren später deren Ausbreitung durch ein Experiment im Klassenzimmer und versuchen daran Schritt für Schritt zu einem elaborierten Modell zu gelangen. Das Ziel wird das in der biomathematischen Literatur häufig zitierte SIR-Modell sein. Wir werden in diesem Projekt die grundlegenden Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen durchleuchten und so die wichtigsten Parameter zur Beschreibung einer Epidemie herausarbeiten. Während der Abschnitt 9.1 auch noch für Schüler der Klassenstufen 7 und 8 geeignet ist, benötigt man für die Abschnitte 9.2 bis 9.4 schon einen sicheren Umgang mit Rekursionen und algebraischen Umformungen. Das Unterrichtsprojekt – sofern in der Sekundarstufe 2 durchgeführt – sollte jedenfalls noch das in Abschnitt 9.4 vorgestellte SIR-Modell beinhalten, um einen umfassenden Eindruck über das Gebiet der Epidemiologie zu geben. Die Inhalte bauen schrittweise aufeinander auf und werden in der Unterrichtspraxis zwischen 5 und 8 Schulstunden in Anspruch nehmen.
9.1 Einstieg Im Unterricht kann ein Einstieg über die Thematisierung einer den Schülern bekannten Krankheit (z. B. Grippe) erfolgen. Das Thema kann aber auch über eine beliebige andere, direkt von Mensch zu Mensch übertragbare Krankheit aufgezogen werden. Krankheiten wie Malaria, die über Zwischenwirte (z. B. Mücken) übertragen werden, oder Krankheiten wie AIDS, bei der eine Aufteilung der Bevölkerung in unterschiedliche Personengruppen (z. B. homo- bzw. heterosexuelle Männer und Frauen) sinnvoll oder notwendig ist, eignen sich aufgrund ihrer Komplexität für einen ersten Kontakt mit der mathematischen Epidemiologie nicht. In den ersten Aufgaben gilt es zunächst, die wichtigsten Begriffe zu klären und sich einen Überblick über eventuelle Verbreitungsmechanismen der Krankheit zu verschaffen. Aufgabe 9.1 Wir betrachten eine Krankheit, die direkt über die Luft von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Diskutiert zunächst in kleinen Gruppen, welche unterschiedlichen Personengruppen es im Zusammenhang mit der von euch betrachteten Krankheit gibt! Sammelt danach eure Ergebnisse in der Klasse!
Zu den wichtigsten Personengruppen gehören mit Sicherheit die gesunden Menschen, die prinzipiell für die Krankheit empfänglich sind. Diese werden in der biomathematischen Literatur mit dem Begriff Suszeptible bezeichnet. Das lateinische Wort „susceptibilis“ bedeutet „fähig, etwas aufzunehmen“. Daneben sind jedenfalls noch die bereits Erkrankten zu nennen, die wir im C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_9, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
164
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
Abbildung 9.1: Schematische Darstellung der Übergänge zwischen Personengruppen bei einer ansteckenden Krankheit
Folgenden immer als Infizierte bezeichnen werden1 . Manchmal wird hier noch eine Unterteilung vorgenommen, je nachdem ob Infizierte auch infektiös sind, also die Krankheit auch an andere Personen weitergeben können. Wir werden diese Unterscheidung aber im Folgenden nicht berücksichtigen. Einfluss auf die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer ansteckenden Krankheit nehmen jedenfalls auch Impfungen. Insbesondere müsste man die Personengruppe der Geimpften ebenfalls mit ins Kalkül nehmen. Des weiteren kann es immunisierte Menschen geben, die z. B. an der Krankheit gelitten haben, jetzt aber wieder gesund sind. Schließlich könnte man noch unter Quarantäne gestellte Infizierte bzw. die an der Krankheit Verstorbenen mit ins Modell aufnehmen. Aufgabe 9.2 Fertigt eine Grafik an, die veranschaulicht, zwischen welchen Personengruppen im Laufe der Zeit Übergänge stattfinden können!
Eine entsprechende schematische Darstellung könnte wie in Abbildung 9.1 aussehen. Wir haben uns hier für ein Vier-Personengruppen-Modell entschieden, in dem Übergänge zwischen Suszeptiblen, Infizierten, Immunen und Toten stattfinden können. Beispielsweise kann es passieren, dass Suszeptible durch Ansteckung in die Gruppe der Infizierten wechseln. Umgekehrt können Infizierte wieder gesunden und vorerst in die Gruppe der Immunen wechseln, ehe sie von dort wieder zu den Suszeptiblen gelangen können. Bei der betrachteten Krankheit können schließlich auch Infizierte sterben, was durch den Pfeil von den Infizierten zu den Toten angedeutet ist. Bei den Schülern kann diese Grafik entsprechend anders aussehen, je nach betrachteter Krankheit, gewählten Personengruppen und getroffenen Annahmen. Es ist klar, dass ein entsprechendes mathematisches Modell zu diesem Realmodell für den Schulunterricht zu kompliziert wäre. Alle möglichen Übergänge sofort in Betracht zu ziehen, würde dazu führen, dass die Suche nach geeigneten Übergangsparametern zu komplex und das 1 Schüler
werden als Antwort auf diese Aufgabe vermutlich eher die Bezeichnungen Gesunde und Kranke nennen. Es kann im Unterricht natürlich auch damit weitergearbeitet werden
9.1 Einstieg
165
Abbildung 9.2: Zum Gleichungssystem (9.1) passende schematische Darstellung der Übergänge
Aufstellen der (vielen) Gleichungen zu unübersichtlich wäre. Wir starten daher bei einem zunächst recht einfachen Modell mit lediglich zwei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Betrachten wir etwa die Ausbreitung einer Grippe. Dabei soll es nur die beiden Bevölkerungsgruppen der Suszeptiblen und der Infizierten geben. Wie finden nun Übergänge zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen konkret statt, und wie kann das durch ein mathematisches Modell beschrieben werden? Aufgabe 9.3 Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass in jedem Zeitschritt (z. B. an einem Tag, in einer Woche, o. ä.) ein fixer Prozentsatz a an Suszeptiblen infiziert und dass umgekehrt in jedem Zeitschritt ein fixer Prozentsatz b an Infizierten gesund und wieder suszeptibel wird. Gib die zu diesen Annahmen passenden Rekursionen für St (Anzahl der Suszeptiblen zum Zeitpunkt t) und It (Anzahl der Infizierten zum Zeitpunkt t) an!
Die gesuchten Rekursionen lauten St+1
= St − aSt + bIt
It+1
= It + aSt − bIt .
(9.1)
Übergänge gibt es also nur zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen, wobei die Änderungsterme jeweils proportional zum derzeitigen Bestand an Suszeptiblen bzw. Infizierten ist (siehe Abbildung 9.2). Aufgabe 9.4 Diskutiert die Modellannahmen in Aufgabe 9.3! Inwiefern sind sie unrealistisch? Welche Aspekte der Realität wurden dabei ausgeblendet?
Zum einen ist die Beschränkung auf lediglich zwei Personengruppen eine sehr grobe Vereinfachung. Daraus ergibt sich nämlich auch, dass die Bevölkerungsgröße insgesamt konstant bleiben muss. Es werden also Neugeburten bzw. Todesfälle gar nicht mitmodelliert. Auch wird die Annahme einer konstanten Infektionsrate a bzw. einer konstanten Genesungsrate b realen Zusammenhängen nicht gerecht. Zu einer Verbesserung und Verfeinerung des Modells gäbe es jedenfalls noch jede Menge Bedarf. Für einen ersten Einstieg in das Thema und für das Vertrautwerden mit den Begriffen bzw. der Darstellung der zeitlichen Veränderung einer Epidemie ist das Gleichungssystem (9.1) andererseits aber ideal geeignet. Es blendet die Komplexität aus und konzentriert sich auf das Grundgerüst eines simplen mathematischen Modells, das den Kern späterer, präziserer Modelle darstellt.
166
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
1600 1400 1200
Suszeptible Anzahl
1000 800 600 400
Infizierte
200 0 0
10
20
30
40
50
60
70
Zeitpunkt
Abbildung 9.3: Zeitdiagramme zum Modell in Gleichungssystem (9.1) mit a = 0, 05 und b = 0, 1
9.2 Ein einfaches Modell wird experimentell untersucht In diesem zweiten Teil des Unterrichtsvorschlages liegt der Fokus nun auf der experimentellen Erforschung dieses ersten Modells. Als Hilfsmittel kommt hier eine Tabellenkalkulation zum Einsatz – ein Werkzeug, das einen flexiblen Umgang mit der Wahl der Parameter a und b zulässt. Aufgabe 9.5 Implementiert das Gleichungssystem (9.1) für eine Bevölkerung mit Bevölkerungsgröße N = 1 000 in eine Tabellenkalkulation! Startet dabei z. B. mit S0 = 1 500 und I0 = 0! • Wählt zunächst geeignete Konstanten a und b, so dass der Prozess eurer Ansicht nach realistisch verläuft! • Was passiert mit der Anzahl der Suszeptiblen bzw. Infizierten auf lange Sicht gesehen? • Warum ist es unrealistisch, dass sich trotz I0 = 0 die Epidemie in der Bevölkerung festsetzen kann?
Eine angemessene Wahl der Konstanten wird beispielsweise durch a = 0, 05 und b = 0, 1 erreicht. In einem Zeitschritt erkranken also 5% aller derzeit Suszeptiblen und es werden 10% aller Infizierten wieder gesund. Die entsprechenden Zeitdiagramme sehen wie in Abbildung 9.3 aus. Auf lange Sicht gesehen stellt sich also ein stationärer Zustand ein, die Anzahl der Suszeptiblen bzw. Infizierten ändert sich irgendwann nicht mehr. Man spricht in einem solchen Fall von einem (anziehenden) Fixpunkt des Gleichungssystems (9.1). Selbstverständlich ist es unrealistisch, dass sich trotz I0 = 0 Suszeptible mit der Krankheit infizieren können. Wir haben ja vorausgesetzt, dass die Krankheit ausschließlich von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Wenn aber keines der Individuen zu Beginn des Prozesses krank ist, dann kann die Krankheit klarerweise auch nicht ausbrechen. Aufgabe 9.6 Bedeutet das Ergebnis in Abbildung 9.3, dass es irgendwann keine Übergänge mehr zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, also zwischen Suszeptiblen und Infizierten gibt?
9.2 Ein einfaches Modell wird experimentell untersucht
167
60000
Suszeptible 50000
Anzahl
40000 30000 20000
Infizierte 10000 0 0
10
20
30
40
50
60
70
Zeitpunkt Abbildung 9.4: Zeitdiagramme zum Modell in Gleichungssystem (9.1) mit a = 0, 01 und b = 0, 09
Nein – es bedeutet nur, dass die Anzahl der Neuerkrankungen pro Zeitschritt gleich der Anzahl der Gesundungen in diesem Zeitschritt ist. Die Gesamtanzahl an Kranken bleibt zwar gleich, aber die konkreten Personen wechseln dabei. Die Arbeit in der mathematischen Epidemiologie verläuft normalerweise nicht so, wie wir das gerade gemacht haben. Es wird nicht zuerst ein Modell „ins Blaue hinein“ konstruiert und danach beobachtet, wie sich der Verlauf der Epidemie entwickelt. Vielmehr werden zuerst empirische Beobachtungen gemacht und aufgezeichnet und erst dann werden mit Hilfe mathematischer Modelle Erklärungen bzw. Beschreibungen des Epidemieverlaufs entwickelt. Eventuell ist es damit auch möglich, Prognosen für den zukünftigen Verlauf einer Epidemie abzuleiten. Aufgabe 9.7 Wir werden nun nicht so wie in Aufgabe 9.5 vorgehen, sondern umgekehrt. Angenommen wir kennen die Bevölkerungsgröße N = 50 000 und wissen, dass sich in dieser Population ein stationärer Zustand mit etwa S = 45 000 und I = 5 000 eingestellt hat. Versucht experimentell in einer Tabellenkalkulation herauszufinden, wie die Infektionsrate a bzw. die Genesungsrate b gewählt werden müssen, damit das Modell in Gleichungssystem (9.1) die vorliegende Situation beschreibt!
Für diese Aufgabe gibt es unendlich viele Lösungsmöglichkeiten. Es muss lediglich gelten: b a+b = 0, 9, wie wir in der Lösung zur folgenden Aufgabe sehen werden. Man kann zum Beispiel a = 0, 01 und b = 0, 09 wählen. Den Verlauf der Zeitdiagramme zu diesem Beispiel sieht man in Abbildung 9.4. Aufgabe 9.8 Wir werden uns nun überlegen, wie diese stationären Zustände aus den Abbildungen 9.3 und 9.4 auch rechnerisch bestätigt werden können. Sobald sich die Anzahl der Suszeptiblen nicht mehr ändert, gilt klarerweise St+1 = St . Setzt diese Beziehung in die Rekursion für die Suszeptiblen im Gleichungssystem (9.1) ein und findet heraus, wie groß die Anzahl der Suszeptiblen auf Dauer im stabilen Zustand ist!
168
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
Einsetzen von St+1 = St in die Rekursion St+1 = St − aSt + bIt ergibt: = St − aSt + bIt
St
(9.2)
= bIt .
aSt
Nutzt man nun aus, dass St + It = N für alle Zeitpunkte t gilt, dass also die Bevölkerungsgröße konstant bleibt, so erhält man: aSt St
= b(N − It ) b · N. = a+b
(9.3)
Aufgabe 9.9 Bestätigt nun die experimentell in der Tabellenkalkulation gewonnenen Ergebnisse aus den Abbildungen 9.3 und 9.4 mit Hilfe der eben entwickelten Formel! Findet ihr nun auch noch andere Lösungen zu Aufgabe 9.7?
Für die Zeitdiagramme in Abbildung 9.3 haben wir a = 0, 05 und b = 0, 1 gewählt. Außerdem b war n = 1 500. Berechnen wir den Fixpunkt S mit der Formel S = a+b · N, so erhalten wir den 0,1 Wert S = 0,05+0,1 · 1 500 = 1 000. Das ist genau das Ergebnis in der Abbildung 9.3. Und auch im Falle a = 0, 01, b = 0, 09 und N = 50 000 erhalten wir wie in Abbildung 9.4 0,09 · 50 000 = 45 000. experimentell nachgewiesen S = 0,01+0,09 b Mit Hilfe der Fixpunktformel S = a+b · N lassen sich jetzt noch beliebig viele weitere Lösungen zu Aufgabe 9.7 finden. Biologisch relevant sind die Lösungen aber nur, wenn a und b kleine positive Werte annehmen. An dieser Stelle kann man sich im Unterricht auch Gedanken über die Stabilität des Fixpunktes S machen. Aus den Abbildungen 9.3 und 9.4 gewinnt man jedenfalls schon den Eindruck, dass S anziehend ist. Will man die Stabilität von Fixpunkten mit den Schülern thematisieren und formal exakte Begründungen geben, eignet sich der Zugang aus Abschnitt 2.2.3 mittels Spinnwebdiagrammen und Differentialrechnung. Aufgabe 9.10 Welche Konsequenzen kann man aus der Kenntnis des Fixpunktes für die Ausbreitung der Krankheit in der Bevölkerung ziehen? Wie müsste man die Parameter a und b verändern, damit auf Dauer möglichst wenige Menschen mit der Krankheit infiziert bleiben? Wie kann man diese beiden Parameter in der Realität beeinflussen?
Hat man die Möglichkeit, sollte man klarerweise versuchen, b möglichst groß und a möglichst b klein zu machen. Dann wird nämlich der Ausdruck a+b sehr nahe an 1 liegen und man hätte insgesamt nur wenige Infizierte im stationären Zustand. Doch hat man auf diese Parameter überhaupt Einfluss? Es ist notwendig, sich Gedanken darüber zu machen, wie man diese Parameter zu interpretieren hat. b ist die Genesungsrate, kann also etwa durch Medikamente, Pflege, Schonung usw. angehoben werden. a ist die Infektionsrate, die durch Stärkung der Abwehrkräfte im Vorhinein bzw. durch Verhinderung von Kontakten zu Kranken gesenkt werden kann. Diese Parameter sind natürlich von Krankheit zu Krankheit unterschiedlich zu interpretieren. Sie hängen davon ab, auf welche Arten die Krankheit übertragen werden kann bzw. wie sich der Genesungsprozess im Einzelfall gestaltet.
9.3 Relevanz von Kontakten
169
9.3 Relevanz von Kontakten Was wir in der bisherigen Modellierung völlig außer Acht gelassen haben, ist die Tatsache, dass es in Wirklichkeit darauf ankommen wird, in welchem Ausmaß suszeptible mit infizierten Individuen in Kontakt treten. Ausschließlich bei solchen Kontakten soll ja laut der eingangs formulierten Voraussetzung die Krankheit übertragen werden. Das einfache Modell aus Gleichungssystem (9.1) konnte diesem Sachverhalt in keiner Weise Rechnung tragen. Ein interessanter und gleichzeitg einprägender Einstieg in diese Thematik kann in der Klasse über eine Simulation erfolgen, an der sich die Schüler selbst beteiligen sollen. Im Anschluss an eine solche Simulation, wie sie im Folgenden vorgeschlagen wird, können wichtige Mechansimen erkannt und in eine mathematische Beschreibung transferiert werden. Simulation einer Epidemie im Klassenzimmer 10 10 Zustandskärtchen, 10 Zufallskärtchen mit den Zahlen 1 bis 10, 1 Aufzeichnungsblatt (Vorlagen im Anhang), Bleistift, Würfel Es wird in einer Gruppe mit 10 Personen gearbeitet (notfalls können einige Schüler auch die Rolle zweier Spieler gleichzeitig einnehmen). Jeder Teilnehmer erhält ein Zustandskärtchen, das seinen derzeitigen Gesundheitszustand anzeigt. Auf der Vorderseite des Kärtchens steht z. B.: „Spieler Nr. 4 – suszeptibel“, auf der Rückseite: „Spieler Nr. 4 – infiziert“. Die Vorder- und Rückseiten der Kärtchen müssen vorher aus den Vorlagen ausgeschnitten und entsprechend zusammengeklebt werden. Die Spieler mit den Nummern 1 und 2 beginnen dabei im Zustand „infiziert“ und legen ihre Kärtchen mit der entsprechenden Seite nach oben vor sich ab. Alle anderen Spieler sind „suszeptibel“ und legen ihre Kärtchen mit dieser Seite nach oben vor sich ab. Wir werden nun eine Epidemie innerhalb dieser 10-Personen-Population durchführen, die darauf basiert, dass Infektionen nur bei Kontakt zwischen Infizierten und Suszeptiblen stattfinden. Eine Spielrunde beginnt mit dem Mischen der 10 verdeckt auf dem Tisch liegenden Zufallskärtchen. Danach werden zunächst zwei dieser Kärtchen gezogen und umgedreht. Die Spieler mit den entsprechenden Spielernummern treten nun gegeneinander an: Sind beide Spieler suszeptibel, so passiert gar nichts, die beiden haben Glück und bleiben auch in der nächsten Runde suszeptibel. Sind beide infiziert, so entscheidet sich nun, ob sie entweder gesund werden, infiziert bleiben oder gar an der Krankheit sterben und aus der Simulation ausscheiden. Dazu würfelt zuerst der eine Spieler. Zeigt der Würfel 1, so hat der Spieler zu wenig Kraft zum Weiterleben und scheidet tot aus. Bei den Augenzahlen 2 bis 5 bleibt der Spieler in der nächsten Runde infiziert. Würfelt er 6, so wird er wieder gesund und darf sein Zustandskärtchen umdrehen.
170
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
Ist hingegen ein Spieler suszeptibel und der andere infiziert, so entscheidet sich zunächst, ob der Suszeptible angesteckt wird. Dazu würfeln beide Spieler, wobei die höhere Augenzahl gewinnt. Ist der Suszeptible Sieger, so bleibt er auch in der nächsten Runde gesund. Gewinnt der Infizierte, so wird der Suszeptible infiziert und muss sein Zustandskärtchen umdrehen. Bei Gleichstand wird so lange weitergewürfelt, bis ein Sieger feststeht. Am Ende dieser Paarung muss jedenfalls der Infizierte nochmal würfeln, um zu entscheiden, ob er gesund wird (6), infiziert bleibt (2 bis 5) oder sogar stirbt (1). Dieses Prozedere wird nun auch noch mit den restlichen Zufallskärtchen fortgeführt, insgesamt gibt es also in der ersten Runde fünf solche Paarungen. Am Ende einer kompletten Spielrunde wird am Aufzeichnungsblatt vermerkt, welche Spieler suszeptibel, infiziert bzw. tot sind. Die nächste Runde beginnt nun wieder damit, die Zufallskärtchen aller noch lebenden Spieler zu mischen. Sollte eine ungerade Anzahl an Spielern am Leben sein, so passiert mit dem verbleibenden Spieler Folgendes: Ist er suszeptibel, so bleibt er es auch in der nächsten Runde. Ist er infiziert, so muss er würfeln, um zu entscheiden, ob er gesundet (6), infiziert bleibt (2 bis 5) oder stirbt (1). Muss in der ersten Runde Spieler Nr. 4 gegen Spieler Nr. 7 antreten, so passiert gar nichts. Beide sind suszeptibel und bleiben es auch. Tritt Spieler Nr. 1 gegen Spieler Nr. 8 an, so muss gewürfelt werden. Angenommen, der suszeptible Spieler Nr. 8 würfelt 4, der infizierte Spieler Nr. 1 würfelt die Zahl 5. Der Suszeptible verliert und muss sein Zustandskärtchen auf „infiziert“ drehen. Nun würfelt Spieler Nr. 1 nocheinmal, sagen wir die Zahl 1. Er stirbt dadurch und nimmt an der nächsten Runde nicht mehr teil. Usw. Das Aufzeichnungsblatt könnte nach der ersten Runde aussehen wie in Abbildung 9.5. Das Spiel endet entweder, wenn es keine Infizierten mehr gibt, wenn also die Epidemie vorüber ist, oder wenn 10 Runden gespielt sind. Ende der Simulationsbeschreibung
Aufgabe 9.11 Führt die oben beschriebene Simulation durch und fertigt eine Grafik an, die zeigt, wie sich die Epidemie in eurer kleinen Bevölkerung verbreitet! Wie viele Menschen haben die Epidemie schlussendlich gesund überlebt? Wie viele Runden hat eure Simulation gedauert?
Nachdem in dieser Simulation der Zufall eine wesentliche Rolle spielt, kann man den genauen Simulationsverlauf natürlich nicht voraussagen. Aus eigener Erfahrung kann aber gesagt werden, dass die Simulation manchmal schon nach wenigen Runden vorbei ist (siehe Abbildung 9.6), manchmal etwas länger dauert (siehe Abbildung 9.7) und in einigen Fällen sogar mehr als 20 Runden in Anspruch nehmen würde, wenn man nicht schon nach 10 Runden abbrechen würde. Es gibt auch Spielverläufe, bei denen die Anzahl der Suszeptiblen zwischendurch Null ist. Durch die Genesung von Infizierten kann sich dieser Wert allerdings auch wieder erhöhen.
9.3 Relevanz von Kontakten
171
Aufzeichnungsblatt: Epidemie im Klassenzimmer Spieler Nummer 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
0
I
I
S
S
S
S
S
S
S
S
1
X
I
I
S
S
S
S
I
S
S
Spielrunde
2 3 4 5 6 7 8 9 10
Abbildung 9.5: Beispiel für ein Aufzeichnungsblatt nach der ersten Simulationsrunde (S bedeutet „suszeptibel“, I bedeutet „infiziert“, X bedeutet „ausgeschieden“)
Wir wollen im Folgenden darauf abzielen, aus den Mechanismen dieser Simulation ein mathematisches Modell zu destillieren. Dabei soll es uns nicht um die komplexe Aufgabe gehen, ein stochastisches Modell zu entwickeln, das genau diese Simulation abbildet. Vielmehr generieren wir nun Schritt für Schritt ein deterministisches Modell, das die Ansteckung über Kontakte zwischen Suszeptiblen und Infizierten berücksichtigt. Aufgabe 9.12 Wir versuchen nun, wichtige Erkenntnisse aus der Simulation abzuleiten. • Zu welchen Zeitpunkten eurer Simulation ist es zu Neuansteckungen gekommen? • Was war die Voraussetzung für diese Neuansteckungen? • Wie könnte man diese Erkenntnis in ein mathematisches Modell ähnlich zu Gleichungssystem (9.1) einbauen?
Zu Neuansteckungen kann es nur dann kommen, wenn es zu Paarungen zwischen Suszeptiblen und Infizierten kommt. Solche Paarungen können nicht oder nur schwer zustande kommen, wenn es fast nur Suszeptible oder fast nur Infizierte gibt. D. h. umgekehrt, dass die Chance auf Neuansteckungen dann besonders groß sind, wenn beide Bevölkerungsgruppen solide in der Population vertreten sind.
172
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
10 9 Suszeptible 8 7 Anzahl
6 5 4 3
Infizierte
2 1 0 0
1
2
3
Spielrunde
Abbildung 9.6: Simulationsverlauf, der schon nach 2 Runden beendet ist
9 8
Suszeptible
7
Anzahl
6 5 4 3 Infizierte
2 1 0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
Spielrunde
Abbildung 9.7: Typischer Simulationsverlauf, der nach 7 Runden endet
Die Anzahl der möglichen Paarungen zwischen Suszeptiblen und Infizierten in einer realen Population wird also im Wesentlichen gerade dann besonders groß sein, wenn beide Bevölkerungsgruppen etwa gleich groß sind. Das kann man sich auch so überlegen: Ein Suszeptibler kann in einem Zeitschritt (also z. B. an einem Tag) prinzipiell jedem der It Infizierten begegnen. Ebenso ist es mit dem zweiten Suszeptiblen. Auch er kann prinzipiell jedem der Infizierten über den Weg laufen (siehe Abbildung 9.8). Insgesamt gibt es also genau
9.3 Relevanz von Kontakten
173
Abbildung 9.8: Grafik zur Interpretation des Terms St · It
St · It mögliche, unterschiedliche Begegnungen zwischen suszeptiblen und infizierten Individuen in einem Zeitschritt. Diese möglichen Begegnungen finden natürlich nicht alle statt. Auch in der Simulation war das so – dort wurde durch das Mischen und Ziehen der Zufallskärtchen bestimmt, welche Begegnungen tatsächlich stattfinden. In das Modell könnten wir das einfach dadurch aufnehmen, dass wir einen fixen Prozentsatz a1 aller möglichen Begegnungen tatsächlich passieren lassen. Im Allgemeinen wird also a1 sehr klein zu wählen sein. Und selbst, wenn es zu einer Begegnung zwischen einem Suszeptiblen und einem Infizierten kommt, wird die Krankheit nicht unbedingt übertragen. In der Simulation wurde das durch das „Würfel-Duell“ entschieden. Im mathematischen Modell können wir wieder einen fixen Prozentsatz a2 aller stattfindenden Begegnungen infektiös sein lassen. Insgesamt kann man also die Anzahl der Neuansteckungen in einem Zeitschritt durch den Term a1 · a2 · St · It = a · St · It (9.4) modellieren, wobei wir hier a := a1 · a2 gesetzt haben. Eventuell werden die Schüler – wenn man die offen formulierte Aufgabe 9.12 ernst nimmt – hier auch auf andere Ideen kommen. Dem ist selbstverständlich Raum zu geben. Mit passenden anderen Modellen kann im Anschluss ganz analog weiter verfahren werden. Es ist als Lehrkraft lediglich darauf zu achten, dass die Modelle einerseits inhaltlich sinnvoll interpretiert werden können und dass sie andererseits nicht zu komplex zum Weiterarbeiten sind. Aufgabe 9.13 Wie ist in der Simulation Gesundung passiert? Durch welchen Term könnte man diesen Effekt modellieren?
Diese Aufgabe ist etwas einfacher. Durch das Würfeln ist in der Simulation sichergestellt worden, dass pro Spielrunde im Mittel ein gewisser relativer Anteil b der Infizierten gesund und damit wieder suszeptibel geworden ist. Es liegt nahe, das auch im mathematischen Modell so zu machen. Der Term b · It beschreibt dann die Anzahl an Infizierten, die im vorliegenden Zeitschritt zu den Suszeptiblen wechseln. Hier verändert sich also nichts im Vergleich zu unserem ersten, einfachen Modell in Gleichungssystem (9.1).
174
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
Abbildung 9.9: Schematische Darstellung der Übergänge im Gleichungssystem (9.5) Aufgabe 9.14 Verwendet eure Überlegungen zu den Aufgaben 9.12 und 9.13, um Rekursionen für die Bevölkerungsgruppen der Suszeptiblen und Infizierten aufzustellen!
Die zu unseren Überlegungen passenden Gleichungen sehen so aus: St+1
= St − aSt It + bIt
It+1
= It + aSt It − bIt .
(9.5)
Eine schematische Darstellung, die die Übergänge zwischen den beiden Personengruppen nochmal deutlich macht, ist in Abbildung 9.9 zu sehen. Aufgabe 9.15 Implementiert das Modell in Gleichungssystem (9.5) in eine Tabellenkalkulation! Wählt z. B. S0 = 990, I0 = 10, a = 0,000 15, b = 0, 1! • Gibt es auch hier auf Dauer einen stationären Zustand? • Was ist der Unterschied zu den Lösungskurven in Abbildung 9.3? • Was passiert in diesem Modell, wenn man I0 = 0 setzt? • Warum muss a hier viel kleiner gewählt werden als b?
Abbildung 9.10 zeigt die Zeitdiagramme zum Modell in Gleichungssystem (9.5). Der Unterschied zu den Zeitdiagrammen unseres ersten Modells ist der s-förmige Verlauf, den die Lösungskurven in Abbildung 9.10 zeigen. Dieses Phänomen bildet die Wirklichkeit viel adäquater ab, da auch in realen Epidemien die Ansteckungen nicht so rapide beginnen, wie das in Abbildung 9.3 den Eindruck erweckt. Für I0 = 0 kommt es in diesem Modell erst gar nicht zum Ausbruch einer Epidemie. Das ist eine weitere wesentliche Verbesserung des ursprünglichen Modells in Gleichungssystem (9.1). Nachdem der Ausdruck St It als Produkt zweier Bevölkerungsgrößen sehr groß werden kann, muss a sehr klein gewählt werden, um realistische Neuansteckungszahlen pro Zeitschritt zu erhalten. b hingegen wird weiterhin nur mit einer Bevölkerungsgröße multipliziert. Aufgabe 9.16 Ihr sollt euch nun auch bei diesem Modell rechnerisch davon überzeugen, dass es einen Fixpunkt gibt. In Aufgabe 9.15 habt ihr das ja zumindest schon experimentell herausfinden können. • Bleibt auch in diesem Modell die Gesamtbevölkerungsgröße über die Zeit gesehen konstant? • Berechnet den Fixpunkt dieses Prozesses algebraisch, indem ihr wieder die Bedingung St+1 = St in die erste Rekursion des Gleichungssystems (9.5) einsetzt!
9.3 Relevanz von Kontakten
175
1200 1000
Anzahl
800
Suszeptible
600 400
Infizierte
200 0 0
50
100
150
200
250
Zeitpunkt
Abbildung 9.10: Zeitdiagramme zu Gleichungssystem (9.5) mit a = 0,000 1 und b = 0, 1
Die Bevölkerungsgröße bleibt auch hier konstant, da es schließlich nur Übergänge zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen gibt und wir keinen Tod und keine Neugeburten mitmodellieren. Setzen wir nun St+1 = St in die erste Rekursion des Gleichungssystems (9.5) ein, so erhalten wir: St aSt It
= St − aSt It + bIt
(9.6)
= bIt
Daraus erhalten wir diesmal sogar zwei Fixpunkte. Es tritt nämlich ein stationärer Zustand ein, wenn It = 0 ist. Das haben wir uns übrigens auch schon in Aufgabe 9.15 überlegt. Setzen wir also jetzt It = 0 voraus: aSt It aSt St
= bIt / : It = b b = a
(9.7)
0,1 Damit lässt sich auch das experimentelle Ergebnis aus Abbildung 9.10 bestätigen: S = 0,000 15 ≈ 667. Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht eigenartig, dass dieser Gleichgewichtszustand S scheinbar unabhängig von der Populationsgröße N ist. Tatsächlich ist allerdings schon die Wahl des Parameters a abhängig davon, wie groß die Population ist. Die Anzahl der möglichen Begegnungen zwischen Suszeptiblen und Infizierten wächst ja in Abhängigkeit von N sehr rasch, was bei der Berechnung der tatsächlichen Neuansteckungen durch den Parameter a kompensiert werden kann.
176
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
Abbildung 9.11: Übergänge zwischen den Bevölkerungsgruppen im SIR-Modell
9.4 Das SIR-Modell In diesem letzten Abschnitt des Unterrichtsvorschlages vollenden wir unser Modell zu einem Modell mit drei Bevölkerungsgruppen. Wir greifen dabei wieder auf unsere Erfahrungen aus der Simulation zurück. Aufgabe 9.17 In der Simulation hatten wir eigentlich sogar noch eine dritte Bevölkerungsgruppe. Welche? Wie könnte man Gleichungssystem (9.5) passend um diese dritte Personengruppe erweitern?
In der Simulation konnte man als Infizierter auch ausscheiden, wenn man die Augenzahl 1 gewürfelt hat. Man bezeichnet Menschen, die aus einem Epidemieprozess aus diversen Gründen „ausscheiden“ (z. B. Tod, Quarantäne, Impfung, etc.), in der Fachliteratur als Removed. Wir werden die entsprechende Bevölkerungsgröße zum Zeitpunkt t deshalb mit Rt bezeichnen. Das Zusammenfassen aller dieser Personen zu einer einzigen Gruppe ist deshalb vernünftig, weil sie alle keinen Einfluss mehr auf die Entwicklung der Suszeptiblen bzw. Infizierten haben. Der einzig neue Übergang soll nun jener von den Infizierten zu den Removed sein (siehe Abbildung 9.11). In der Simulation ist im Mittel ein Sechstel aller Infizierten pro Zeitschritt ausgeschieden. Es liegt also nahe, auch im mathematischen Modell wieder einen fixen Prozentsatz c anzunehmen. Das ist auch biologisch gesehen ein plausibler Ansatz und führt uns zu den Rekursionen von Gleichungssystem (9.8). St+1
= St − aSt It + bIt
It+1
= It + aSt It − bIt − cIt
Rt+1
(9.8)
= Rt + cIt
Zur leichteren Einprägsamkeit der Abkürzungen S, I und R nennt man Modelle dieser Gestalt SIR-Modelle.
9.4 Das SIR-Modell
177
1200 1000
Anzahl
800
Suszeptible
600 400
Removed
200
Infizierte 0 0
50
100
150
200
250
300
Zeitpunkt Abbildung 9.12: Zeitdiagramme zum SIR-Modell mit a = 0, 0002, b = 0, 1 und c = 0, 03 Aufgabe 9.18 Implementiert das SIR-Modell in eine Tabellenkalkulation! Wählt dazu a = 0,000 2, b = 0, 1, c = 0, 03, S0 = 990, I0 = 10 und R0 = 0! • Fertigt Zeitdiagramme für die drei Bevölkerungsgruppen an! • Erkennt ihr an den Zeitdiagrammen, warum man landläufig oft von einer „Grippewelle“ spricht? • Gibt es auch in diesem Modell einen stationären Endzustand? • Was genau passiert auf lange Sicht gesehen im Unterschied zu den bisherigen Modellen?
Die Zeitdiagramme kann man aus Abbildung 9.12 entnehmen. Die Form der Infizierten-Kurve legt den Begriff „Grippewelle“ nahe. Die Anzahl der Infizierten nimmt zu Beginn langsam zu, wächst sigmoid bis zu einem Maximum und nimmt dann wieder sigmoid ab. Schließlich konvergiert die Infiziertenzahl gegen Null. Diese Kurve hat also durchaus Ähnlichkeit mit jener Kurve, die wir bei der Simulation erhalten haben (siehe Abbildung 9.7). Auch in diesem Modell gibt es auf lange Sicht gesehen einen stabilen Zustand, allerdings ist dieser Zustand verbunden mit dem völligen Verschwinden von Infizierten, also mit dem Ende der Epidemie. Die Bevölkerungsgröße der Removed wächst monoton, aus dieser Gruppe kann man ja in unserem Modell nicht mehr ausscheiden. Aufgabe 9.19 Versucht, auch für dieses Modell den experimentell erhaltenen stationären Zustand algebraisch nachzuweisen, indem ihr die Beziehung St+1 = St in die erste Rekursion des Gleichungssystems (9.8) einsetzt! Überprüft, ob der algebraisch berechnete Wert zu den Ergebnissen aus Abbildung 9.12 passt!
An der Rekursion für die Suszeptiblen hat sich durch die Hinzunahme der Removed gar nichts geändert. Die Berechnung des Fixpunktes führt also wieder zum Ergebnis S = ba , solange I0 = 0
178
9 Unterrichtsprojekt zur Epidemiologie
0,1 gilt. In unserem Beispiel aus Aufgabe 9.18 wäre das also S = 0,0002 = 500. Das passt allerdings diesmal nicht zu unserem Ergebnis, das wir experimentell mit Hilfe der Tabellenkalkulation erhalten haben. In Abbildung 9.12 lässt sich für die stationäre Anzahl der Suszeptiblen der Wert S = 519 ablesen. Wie kann das sein? Die Antwort liegt darin begründet, dass die Anzahl der Infizierten bereits Null ist, bevor sich dieser Wert für S überhaupt einstellen kann. Auch in diesem Fall gilt ja St+1 = St . Es gibt dann nämlich keine Neuansteckungen mehr, die Anzahl der Suszeptiblen bleibt konstant. Was kann man nun tun, um den tatsächlichen Wert für S möglichst groß zu halten? Damit beschäftigt sich die letzte Aufgabe des Unterrichtsprojekts.
Aufgabe 9.20 Versucht, experimentell mit Hilfe eures in der Tabellenkalkulation implementieren Modells Folgendes herauszufinden: • Was passiert, wenn durch die Verwendung eines neuen Medikaments die Genesungsrate b von 0, 10 auf 0, 11 angehoben werden kann? • Was geschieht langfristig gesehen, wenn die Übergangsrate c statt 0, 3 den Wert 0, 4 annimmt? • Wie ist das dabei auftretende Phänomen zu erklären?
Sowohl die Erhöhung von b als auch das Anheben von c führen dazu, dass die Anzahl der Suszeptiblen auf lange Zeit gesehen steigt. Inhaltlich ist dabei bemerkenswert, dass bei sehr gefährlichen und in hohem Maße tödlichen Krankheiten – was ja gerade durch einen großen Wert für c ausgedrückt werden kann – am Ende weniger Leute mit der Krankheit infiziert sind. Das liegt eben genau daran, dass die Anzahl der im Moment Infizierten relevant für die Anzahl der Neuansteckungen ist. Ein „großes“ c dezimiert diese Anzahl. Schließlich können sich die Schüler im Unterricht noch damit beschäftigen, wie das Modell erweitert werden müsste, wenn man auch Impfungen von Suszeptiblen oder Immunität nach überstandener Krankheit berücksichtigen würde und welchen Einfluss das auf das Langzeitverhalten des Systems hätte. Das SIR-Modell dient dabei als grundlegendes Basismodell, das in viele verschiedene Richtungen noch weiter verfeinert und so Schritt für Schritt realistischer gemacht werden kann.
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik Der letzte Unterrichtsvorschlag schließlich beschäftigt sich mit den wichtigsten Basismodellen aus der Populationsgenetik. Nach einem Einstieg über grundlegende Mechanismen der Vererbung von Merkmalen (Mendel’sche Regeln) werden Schritt für Schritt mathematische Beschreibungen von Mutation und Selektion entwickelt. Die Abschnitte 10.1 und 10.2 sind auch schon für eine Bearbeitung ab Klassenstufe 7 geeignet, der Abschnitt 10.3 verwendet elementare Wahrscheinlichkeitsrechnung. Es kann auch der Abschnitt 10.2 über Mutation übersprungen und sofort mit Selektion im Abschnitt 10.3 begonnen werden. Der Abschnitt 10.4 ist eine Erweiterungsmöglichkeit, die sich mit Fixpunktüberlegungen am Fisher-Wright-Modell beschäftigt. Je nach Bearbeitungstiefe benötigt man 3 bis 8 Unterrichtsstunden. Nachdem beim Thema Populationsgenetik viele Fachbegriffe aus dem Bereich der Biologie benutzt werden, bietet sich gerade hier fächerübergreifender Unterricht an. Ein sicherer und verständiger Umgang mit den Fachtermini hält den Blick frei für die mathematischen Modelle und Konzepte, die in diesem Unterrichtsprojekt erarbeitet werden sollen.
10.1 Einstieg Ein Eckstein der Geschichte der Populationsgenetik war die Beobachtung, dass Nachkommen Aussehensmerkmale haben können, die weder beim Vater noch bei der Mutter zu sehen sind. Das verblüffte die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Es herrschte nämlich vielerorts die Theorie vor, dass bei der Vererbung die Merkmale von Vater und Mutter „gemischt“ auf die Nachkommen der Tochtergeneration übertragen werden. Diese Theorie konnte allerdings – unter anderem von Gregor Mendel – widerlegt werden.
Mendels Kreuzungsversuche an Erbsenpflanzen Der Augustinermönch Gregor Mendel (1822-1884) gilt als der Vater der Genetik. Ihm ist es mit Hilfe von gewöhnlichen Erbsenpflanzen gelungen, wesentliche Mechanismen der Vererbung von Merkmalen zu verstehen und zu erklären. Dazu verwendete er unterschiedliche Typen von Erbsenpflanzen und beobachtete die Gestalt und Farbe der Samen, die Gestalt und Farbe der Erbsenhülsen, die Farbe der Blüten, usw. Er konzentrierte sich dabei auf jene Merkmale, die nur zwei unterschiedliche Zustände annehmen konnten. Z. B. untersuchte er ausschließlich gelbe und grüne Erbsensamen.
C. Ableitinger, Biomathematische Modelle im Unterricht, DOI 10.1007/978-3-8348-9770-1_10, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
180
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik
Zu Beginn seiner Experimente züchtete er so genannte reinerbige Erbsenpflanzen. Er stellte also durch wiederholtes Kreuzen sicher, dass gewisse Erbsenpflanzen nur grüne Samen haben und auch bei deren Nachkommen nur noch grüne Erbsensamen zu finden sind. Ebenso züchtete er Erbsenpflanzen, die nur noch gelbe Samen hatten und dieses Merkmal auch an alle ihre Nachkommen weitergaben. Sobald dies sichergestellt war, kreuzte er nun die „grünsamigen“ Pflanzen mit den „gelbsamigen“. Eine erste verblüffende Entdeckung machte Mendel schon dabei – alle Nachkommen dieser Kreuzungsversuche (1. Tochtergeneration) hatten gelbe Samen, das „Grün“ war (fast) komplett verschwunden. Eine zweite, vielleicht noch überraschendere Entdeckung machte er, nachdem er die Pflanzen der 1. Tochtergeneration noch einmal miteinander kreuzte (2. Tochtergeneration). Aufgabe 10.1 Lest euch zuerst die Informationen im grauen Kasten durch! Dort ist von einer zweiten überraschenden Entdeckung die Rede. Diese Entdeckung sollt ihr nun selbst an den originalen Daten von Gregor Mendel nachvollziehen! Tabelle 10.1 gibt die Merkmale wieder, die Mendel an zehn Exemplaren der 2. Tochtergeneration seiner Erbsenpflanzen beobachtet und aufgezeichnet hat. Was fällt euch dabei auf? Welche Gemeinsamkeit haben die beiden Datenreihen?
Zunächst ist einmal überraschend, dass es in der 2. Tochtergeneration wieder grüne (und analog auch kantige) Erbsensamen gibt, die ja in der 1. Tochtergeneration nicht mehr sichtbar waren. Die Erbinformation „grün“ (bzw. „kantig“) ist also durch die zweimalige Kreuzung der Pflanzen nicht verloren gegangen. Dabei kommen bei einzelnen Pflanzen sowohl Samen mit dem einen als auch mit dem anderen Merkmal vor. Selbst innerhalb einer Erbsenhülse finden sich Samen aller Arten. Was an den Daten1 noch auffällt, ist das ungefähre Verhältnis 3 : 1 zwischen runden und kantigen bzw. zwischen gelben und grünen Samen. Bei den zehn Pflanzen aus Tabelle 10.1 ergeben sich die Verhältnisse 3, 33 : 1 sowie 2, 88 : 1. Aus seinen umfassenden Versuchsreihen gewinnt Mendel sogar die Verhältnisse 2, 96 : 1 zwischen rund und kantig bzw. 3, 01 : 1 zwischen gelb und grün. Diese Auffälligkeit konnte für ihn kein Zufall sein. Deshalb untersuchte er auch noch viele andere Merkmale an seinen Erbsenpflanzen und zeichnete seine Ergebnisse penibel genau auf. Aufgabe 10.2 Gregor Mendel hat auch noch andere Merkmale an seinen Pflanzen beobachtet. Entsprechende Daten findet ihr in Tabelle 10.2. Treffen eure Beobachtungen aus Aufgabe 10.1 auch auf diese Merkmale zu?
Auch bei den fünf Merkmalen in Tabelle 10.2 kann man leicht das ungefähre Verhältnis 3 : 1 zwischen den jeweils zwei möglichen Ausprägungen der Merkmale nachweisen. Dieses Verhältnis ist also in der Tat kein Zufall, sondern das Produkt festgelegter Vererbungsregeln. Und diesen Regeln war Gregor Mendel auf der Spur. Aufgabe 10.3 Findet im Internet oder in der Bibliothek Informationen über die Begriffe Gen, Allel, Chromosom, Genotyp, Phänotyp, homozygot und heterozygot! Beschreibt alle diese Begriffe kurz, aber umfassend!
Ein Gen ist vereinfacht gesprochen ein kurzer Abschnitt auf einem Chromosom, in dem gewisse Erbinformationen gespeichert sind. Chromosomen wiederum sind Bestandteile der Zellkerne 1 Die
Daten wurden aus dem Menschel’schen Originalwerk [Men66, S. 13] übernommen.
10.1 Einstieg
181
Tabelle 10.1: Merkmale der 2. Tochtergeneration der Mendel’schen Erbsenpflanzen: Samenform (rund kantig) und Samenfarbe (gelb-grün)
Pflanze 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Samenform rund kantig 45 27 24 19 32 26 88 22 28 25
12 8 7 10 11 6 24 10 6 7
Samenfarbe gelb grün 25 32 14 70 24 20 32 44 50 44
11 7 5 27 13 6 13 9 14 18
Tabelle 10.2: Merkmale der 2. Tochtergeneration der Mendel’schen Erbsenpflanzen: Blütenfarbe, Hülsengestalt, Hülsenfarbe, Blütenstellung und Achsenlänge
Merkmal Farbe der Blüten Gestalt der Hülsen Hülsenfarbe Blütenstellung Achsenlänge
Anzahl der beobachteten Pflanzen 929 1181 580 858 1064
Ausprägung 1
Ausprägung 2
violett: 705 gewölbt: 882 grün: 428 achsenständig: 651 lang: 787
weiß: 224 eingeschnürt: 299 gelb: 152 endständig: 207 kurz: 277
von Menschen, Tieren und Pflanzen. In ihnen ist (beinahe) das gesamte Erbmaterial eines Individuums gespeichert. Im Allgemeinen sind unterschiedliche Gene auch für unterschiedliche Merkmale zuständig. Gene können verschiedene Ausprägungen – so genannte Allele – besitzen. Das Gen für die Samenfarbe der Erbsen beispielsweise kann die beiden Allele „gelb“ und „grün“ annehmen. Es gibt allerdings auch Gene, die weit mehr unterschiedliche Ausprägungen haben können, man denke nur an die menschliche Augenfarbe oder Ähnliches. Menschen, Tiere, aber auch viele Pflanzenarten haben nicht nur einzelne Chromosomen, sondern zwei vollständige Chromosomensätze. So findet man etwa im menschlichen Zellkern 23 Chromosomenpaare. Ein Chromosomenpaar setzt sich dabei wiederum aus einem Chromosom des Vaters und einem Chromosom der Mutter zusammen, die das Individuum bei der Zeugung bekommen hat. Folglich besitzt das Individuum auch zwei Gene bezüglich jedes Merkmals, die natürlich auch unterschiedliche Ausprägungen haben können. Beispielsweise kann ein Mensch das Allel „grüne Augenfarbe“ vom Vater und das Allel „blaue Augenfarbe“ von der Mutter
182
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik
bekommen. Das nennt man den Genotyp eines Individuums. Im Genotyp ist also die vollständige Erbinformation zu einem Merkmal festgelegt. Über die Augenfarbe des Nachkommens macht das aber noch keine Aussage. Die hängt nämlich davon ab, welches Allel sich im Phänotyp durchsetzt, welches Merkmal also tatsächlich sichtbar wird. Es gibt dabei dominante Allele, die sich gegen rezessive durchsetzen, aber auch Fälle, bei denen beide Allele gleichberechtigt sind und eine Mischung der Merkmale zur Folge hat (z. B. blaugrüne Augen). Tritt im Genotyp zweimal dasselbe Allel auf (z. B. beide Male „grüne Augenfarbe“), so spricht man von einem homozygoten, bei zwei unterschiedlichen Allelen von einem heterozygoten Individuum (bzgl. des in Rede stehenden Merkmals). Aufgabe 10.4 Aus den Daten in den Tabellen 10.1 und 10.2 hat Mendel rückgeschlossen, dass für die Vererbung so genannte „Gene“ verantwortlich sein müssen, die im Falle der beobachteten Merkmale der Erbsenpflanzen nur zwei unterschiedliche Ausprägungen (Allele) haben können. Ein Gen bekommt die Pflanze von der Vater-, eines von der Mutterpflanze (diploide Bevölkerung). Wir werden uns diesen Mechanismus nun allgemein ansehen, um Mendels Ergebnisse besser verstehen zu können. Angenommen, es wird ein Individuum mit dem Genotyp AA (d. h. im Genotyp liegt zweimal dasselbe Allel A vor) mit einem Individuum vom Genotyp aa gekreuzt (gepaart). Welche Möglichkeiten gibt es dann für den Genotyp eines Nachkommens?
Nachdem ein Tochterindividuum vom einen Elternteil mit Sicherheit das Allel A bekommt und vom anderen das Allel a, kann im Genotyp nur Aa herauskommen. Jedes Individuum der 1. Tochtergeneration hat also denselben Genotyp Aa. Das hat rückblickend gesehen auch Mendel beobachtet – in der 1. Tochtergeneration seiner Erbsen hatten ja alle Pflanzen gelbe Samen. In diesem Fall war also offenbar das Allel „gelb“ dominant über das Allel „grün“, was die gelbe Farbe im Phänotyp erklärt. Aufgabe 10.5 Jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter und überlegen uns, was bei einer neuerlichen Paarung der Individuen der 1. Tochtergeneration untereinander geschieht. Welche Genotypen können dabei entstehen? Inwiefern kann man dadurch das vorher beobachtete Verhältnis 3 : 1 erklären?
Hat sowohl das Vater- als auch Mutterindividuum den Genotyp Aa, so gibt es bei den Nachkommen vier unterschiedliche Möglichkeiten: AA, Aa, aA und aa. Der erste Buchstabe steht dabei für das Allel vom Vaterindividuum, der zweite Buchstabe für jenes vom Mutterindividuum. Ist nun eines der beiden Allele dominant (z. B. das Allel A) und das andere rezessiv, so liefern die ersten drei Genotypen im Phänotyp dasselbe Erscheinungsbild, nämlich die Ausprägung A. Auch das hat Mendel beobachten können. Das Merkmal „gelber Samen“ ist bei den Erbsenpflanzen offensichtlich dominant, deshalb findet man in drei Viertel aller Fälle gelbe und nur in einem Viertel der Fälle grüne Samen, da auch die beiden Genotypen Aa und aA zu einer gelben Färbung der Samen führen. Es kann also passieren, dass ein Tochterindividuum ein Merkmal hat, das weder im Phänotyp des Vaters noch im Phänotyp der Mutter auftritt. Das rezessive Allel a kommt zwar in den Genotypen beider Elternteile vor, wird aber jeweils vom Allel A dominiert. Erst wenn bei einem Tochterindividuum zwei Allele a zusammentreffen, erscheint auch die Farbe „grün“ im Phänotyp. Zwei Erbsenpflanzen mit ausschließlich gelben Samen können also durchaus Nachkommen mit grünen Samen haben. Mendel hat es also geschafft, diese verblüffende Beobachtung auf ganz einfache Vererbungsgesetze zurückzuführen.
10.2 Mutation als zentraler Mechanismus
183
Mendel’sche Regeln Mendels Erkenntnisse lassen sich in drei kurzen Regeln zusammenfassen: • Uniformitätsregel: Ausgangspunkt sind zwei Individuen mit doppeltem Chromosomensatz (diploid), die sich in einem Merkmal unterscheiden, in dem sie beide reinerbig (homozygot) sind. Wir bezeichnen die beiden Allele am entsprechenden Genort des einen Individuums mit AA, jene des anderen Individuums mit aa. Werden diese beiden Individuen gekreuzt, so haben alle Nachkommen bezüglich dieses Merkmals dasselbe mischerbige Genmaterial Aa (denselben Genotyp) und damit auch dasselbe äußere Erscheinungsbild (denselben Phänotyp). • Spaltungsregel: Hier betrachten wir zwei Individuen, die bezüglich eines Merkmals dasselbe mischerbige Genmaterial Aa haben (heterozygot). Kreuzt man die beiden, so spalten sich die Nachkommen im Verhältnis 1 : 2 : 1 in jene mit Genotyp AA, Aa sowie aa auf. • Unabhängigkeitsregel: Beobachtet man gleichzeitig die Vererbung zweier Merkmale, so lässt sich Folgendes feststellen: Die beiden Merkmale vererben sich unabhängig voneinander, solange die entsprechenden Gene auf unterschiedlichen Chromosomen sitzen.
10.2 Mutation als zentraler Mechanismus Wir werden uns in diesem Abschnitt mit einem sehr wichtigen Mechanismus beschäftigen, der die Veränderung des Erbgutes betrifft, nämlich mit Mutation. Aufgabe 10.6 Mutation ist einer der wichtigsten Mechanismen zur Veränderung des Erbmaterials. Informiert euch im Internet über diesen Begriff! • Wie passiert Mutation? Wozu ist sie gut? • Welche Probleme kann sie hervorrufen? • Was ist Sichelzellanämie und inwiefern hat sie mit Mutation zu tun?
Mutation ist verantwortlich dafür, dass sich neue Ausprägungen von Genen entwickeln und sich Individuen so besser an ihre Lebensumstände anpassen können. Meistens laufen Mutationen spontan ab, manchmal werden sie aber auch durch äußere Umstände hervorgerufen. Sie dienen also im Allgemeinen der Weiterentwicklung und der Spezialisierung von Individuen, um ihnen bei der Nahrungssuche, bei der Reproduktion oder in der Konkurrenz mit anderen Individuen einen Vorteil zu verschaffen. Im Allgemeinen setzen sich „erfolgreiche“ Mutationen auf Dauer durch, während „erfolglose“ Mutationen wieder aus Populationen verschwinden (sollten). Zu den unerwünschten Mutationen gehören solche, die Krankheiten bei Menschen auslösen können. Ein Beispiel ist die so genannte Sichelzellanämie, eine durch Mutation ausgelöste Krankheit. Wie der Name schon andeutet, verändern dabei die roten Blutkörperchen ihre Gestalt in eine
184
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik
sichelartige Form und können so zur Verstopfung kleinerer Blutgefäße führen. Die Krankheit tritt nur beim homozygoten Genotyp auf – also wenn ein Individuum gleich zwei schadhafte Allele besitzt – und kann sogar zum Tod führen. Der heterozygote Genotyp zeigt keine Veränderung der Gestalt der roten Blutkörperchen, allerdings kann er klarerweise das schadhafte Allel an seine Nachkommen weitergeben. Diese haben dann erhöhtes Risiko, den homozygoten Genotyp zu bekommen und an Sichelzellanämie zu erkranken. In den USA ist man deshalb verpflichtet, sich vor der Eheschließung einem entsprechenden Test zu unterziehen. In der folgenden Aufgabe werden wir jetzt ein simples Modell zur Beschreibung von Mutationsvorgängen entwickeln. Aufgabe 10.7 Angenommen, ein Gen kann nur zwei unterschiedliche Allele A und B annehmen. A soll dabei das gesunde Allel bezeichnen und B das Sichelzellallel. Wir betrachten jetzt eine Bevölkerung mit konstanter Bevölkerungsgröße N (also ohne Geburten und Sterbefälle). In jedem Zeitschritt mutiere ein gewisser relativer Anteil a aller gesunden Allele in das Allel B und umgekehrt ein bestimmer relativer Anteil b aller Allele B in das Allel A. • Beschreibt die Entwicklung der Anzahl gesunder Allele in der Bevölkerung durch eine Rekursionsformel! • Diskutiert die getroffenen Modellannahmen! Welche davon sind realistisch, welche sind für eine reale Beschreibung des Sachverhaltes zu grob?
Um auf geeignete Rekursionen zu kommen, betrachten wir die Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt t. Im darauf folgenden Zeitschritt werden laut Voraussetzung a · At der insgesamt At A-Allele zu B-Allelen und umgekehrt b · Bt der insgesamt Bt = (2N − At ) B-Allele zu A-Allelen. Alles in allem gibt es ja 2N Allele in der gesamten Bevölkerung. Daraus ergeben sich folgende Gleichungen: At+1
= At − aAt + b(2N − At ) = At (1 − a − b) + 2bN
Bt+1
= bt + a(2N − Bt ) − bBt = Bt (1 − a − b) + 2aN
(10.1)
Nachdem sich die Gesamtanzahl der Allele nicht verändert, könnte man auch Bt+1 = 2N − At+1 schreiben. Die Modellannahme, dass die Bevölkerungsgröße konstant bleibt, kann natürlich nur über kurze Zeiträume die Realität beschreiben. Das ist offensichtlich eine Ungenauigkeit des Modells. Aber auch die Annahme konstanter Mutationsparameter a und b ist wenig realistisch, vor allem wenn man bedenkt, dass auch Umwelteinflüsse diese Parameter verändern können. Dennoch kann mit dem Modell das Grundprinzip der Mutation elementar beschrieben werden. Was dieses Modell für die weitere Entwicklung des schadhaften Allels B in der Bevölkerung voraussagt, werden wir in der nächsten Aufgabe diskutieren. Aufgabe 10.8 Implementiert die Rekursionsformel (10.1) in eine Tabellenkalkulation. Wählt dazu N = 1 000, a = 0, 01, b = 0, 04 und A0 = 1 900! Was passiert auf Dauer mit der Anzahl der gesunden bzw. kranken Allele?
Den zeitlichen Verlauf der Anzahl der gesunden bzw. kranken Allele sieht man in Abbildung 10.1. Man erkennt dabei, dass sich die Anzahl der gesunden Allele A von oben einem stabilen Wert von 1 600 nähert, während die Anzahl der kranken Allele von unten monoton dem Wert 400
10.2 Mutation als zentraler Mechanismus
185
2000
Anzahl der gesunden Allele
1800 1600 1400 1200 1000 800
Anzahl der kranken Allele
600 400 200 0 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt Abbildung 10.1: Zeitliche Veränderung der Anzahl der gesunden bzw. kranken Allele berechnet nach den Rekursionen in Gleichungssystem (10.1), Startwert A0 = 1 900
zustrebt. Würde in dieser Population also nur der Mechanismus der Mutation wirken, so könnte sich die Sichelzellanämie dauerhaft und stabil in den Genen der Bevölkerung festsetzen. Auch wenn A0 < 1 600 ist, strebt die Anzahl der gesunden Allele zum Wert 1 600 (siehe Abbildung 10.2). Mathematisch gesprochen ist der Wert (A, B) = (1 600, 400) ein (anziehender) Fixpunkt der Rekursion (10.1), was sich auch rechnerisch bestätigen lässt. Dazu formulieren wir folgende Aufgabe. Aufgabe 10.9 Wie ihr in der vorigen Aufgabe gesehen habt, ändern sich die Anzahlen der Allele irgendwann nicht mehr. Es gilt also At+1 ≈ At ab irgendeinem Zeitpunkt t. Welcher Wert ergibt sich für At , wenn man die Bedingung At+1 = At in die Rekursion einsetzt? Was bedeutet dieser Wert für den Prozess, der in Abbildung 10.1 dargestellt ist?
Einsetzen von At+1 = At in die Rekursion liefert: At+1 At At
= At (1 − a − b) + 2bN = At (1 − a − b) + 2bN 2bN 2 · 0, 04 · 1 000 = = = 1 600 a+b 0, 05
(10.2)
Wir erhalten auch rechnerisch den Fixpunkt A = 1 600, den wir schon in Abbildung 10.1 vermutet hatten. Es lässt sich auch sehr leicht nachprüfen, dass dieser Fixpunkt anziehend ist (siehe dazu die Theorie in Abschnitt 2.1.3). In der Biomathematik interessiert man sich aber jetzt nicht nur für eine bestimmte Bevölkerung oder einen ganz bestimmten Mutationsprozess, sondern ganz allgemein für die Veränderung der
186
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik
2000
Anzahl der gesunden Allele
1800 1600 1400 1200 1000 800
Anzahl der kranken Allele
600 400 200 0 0
20
40
60
80
100
Zeitpunkt Abbildung 10.2: Zeitliche Veränderung der Anzahl der gesunden bzw. kranken Allele berechnet nach den Gleichungen (10.1), Startwert A0 = 800
relativen Häufigkeit eines Allels in einer beliebigen Population. Wir werden in der nächsten Aufgabe also den Sprung von absoluten Häufigkeiten von Allelen hin zu relativen Häufigkeiten wagen, die uns im Folgenden größere Allgemeinheit ermöglichen. Aufgabe 10.10 In Aufgabe 10.7 habt ihr unter anderem eine Rekursionformel für die zeitliche Entwicklung der Allelhäufigkeit des gesunden Allels angegeben. Wie lautet eine entsprechende Rekursion für seine relative Häufigkeit?
In der ersten Rekursion des Gleichungssystems (10.1) sind einfach alle absoluten Häufigkeiten durch 2N, also durch die Gesamtzahl der Allele in der Bevölkerung, zu dividieren: At+1 At+1 2N Setzen wir jetzt pt :=
At 2N ,
= At (1 − a − b) + 2bN At = (1 − a − b) + b 2N
(10.3)
so ergibt sich als Rekursion für die relative Häufigkeit:
pt+1 = pt (1 − a − b) + b = pt − apt + b(1 − pt )
(10.4)
Das einfache Modell in Gleichung (10.4) bildet die Basis zur Beschreibung vieler Mutationsprozesse und ist in der biomathematischen Literatur unentbehrlich. Alleine durch dieses Modell können aber umgekehrt noch keine realistischen Aussagen über die Vererbung von Merkmalen oder Krankheiten gemacht werden. Dabei kommt neben einigen anderen noch ein sehr wichtiger Mechanismus ins Spiel. Die Rede ist von der Selektion, die beschreibt, wie sich unterschiedliche Genotypen in einer Bevölkerung durchsetzen und wie neue Mutationen es schaffen können, sich in Populationen zu etablieren.
10.3 Selektion als entscheidender Faktor der Evolution
187
10.3 Selektion als entscheidender Faktor der Evolution Wir verändern nun die im vorigen Abschnitt getroffenen Modellannahmen dahingehend, dass wir Vererbung von Merkmalen an Nachkommen zulassen wollen. Wir haben es im Folgenden also nicht mehr mit einer konstanten Bevölkerung zu tun, sondern betrachten auch Tod und Neugeburten. Der Einfachheit halber beschreiben wir unsere Bevölkerung aber durch ein Modell mit so genannten getrennten Generationen. Wir nehmen dazu an, dass die Elterngeneration bei der Geburt der Tochtergeneration stirbt, so dass zu jedem Zeitpunkt t jeweils nur eine Generation am Leben ist. Aufgabe 10.11 Wir betrachten nun ein Modell mit getrennten Generationen. Dabei soll die jeweils neue Generation heranwachsen, ein Teil davon soll das reproduktionsfähige Alter erreichen und schließlich selbst wieder Nachkommen zeugen können. Wir werden nun annehmen, dass kranke Individuen eine geringere Wahrscheinlichkeit haben, ins reproduktionsfähige Alter zu kommen bzw. sich zu reproduzieren als gesunde Individuen. Findet Gründe dafür, warum diese Annahme gerechtfertigt ist!
Es ist zunächst plausibel anzunehmen, dass kranke Individuen aufgrund ihrer Krankheit früher sterben können. Außerdem kommt hinzu, dass Individuen mit erblich übertragbaren Krankheiten diese eben auch an ihre Kinder weitergeben können. In manchen Fällen kann auch das auf lange Sicht zu einer geringeren Reproduktionsfähigkeit führen, wenn nämlich die erkrankten Kinder das reproduktionsfähige Alter nicht erreichen. Schließlich kann im Falle des Menschen auch eine bewusste Entscheidung zur Enthaltsamkeit getroffen werden, um eben schon von Vornherein eine Weitergabe des schadhaften Allels an etwaige Nachkommen zu vermeiden. Die gerade angesprochene Modellannahme, dass nämlich kranke Individuen ganz allgemein eine geringere Wahrscheinlichkeit haben, ins reproduktionsfähige Alter zu kommen bzw. sich zu vermehren, werden wir nun mathematisch modellieren. Aufgabe 10.12 Wir nennen das gesunde Allel ab sofort A1 und das krankhafte Sichelzellallel A2 . Die beiden Genotypen A1 A1 und A1 A2 (bzw. A2 A1 ) bezeichnen wir als gesund, weil sie die Krankheit nicht im Phänotyp haben und damit eben auch keine Beschwerden oder Folgen für ihr Lebensalter oder ihre Reproduktion zu erwarten haben. Nur der Genotyp A2 A2 leidet tatsächlich an der Anämie mit ihren Auswirkungen. Außerdem bezeichnen wir mit p0 die relative Häufigkeit des gesunden Allels A1 in der Bevölkerung der Elterngeneration (also zum Zeitpunkt t = 0). Mit welchen Wahrscheinlichkeiten würde ein Individuum der 1. Tochtergeneration (also zum Zeitpunkt t = 1) dann die Genotypen A1 A1 , A1 A2 bzw. A2 A2 haben?
Vom Vater bekommt das Individuum das Allel A1 mit Wahrscheinlichkeit p0 , von der Mutter ebenfalls, d. h. insgesamt kommt es mit Wahrscheinlichkeit p20 zum Genotyp A1 A1 . Analoge Überlegungen für die beiden anderen Genotypen liefern die Wahrscheinlichkeiten 2p0 (1 − p0 ) für A1 A2 und (1 − p0 )2 für A2 A2 (siehe Abbildung 10.3). Das betrachtete Individuum leidet also mit Wahrscheinlichkeit (1 − p0 )2 an Sichelzellanämie. Diese Ergebnisse halten wir der Übersichtlichkeit wegen in Tabelle 10.3 fest. In der nächsten Aufgabe bringen wir nun erstmals einen Selektionseffekt ins Spiel.
188
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik
Abbildung 10.3: Baumdiagramm zur Berechnung der Wahrscheinlichkeiten für die unterschiedlichen Genotypen Tabelle 10.3: Wahrscheinlichkeiten der drei Genotypen in der 1. Tochtergeneration
Genotyp
Phänotyp
Wahrscheinlichkeit
A1 A1 A1 A2 A2 A2
gesund gesund krank
p20 2p0 (1 − p0 ) (1 − p0 )2
Aufgabe 10.13 Wir wollen jetzt annehmen, dass sich ein Individuum nur dann gut weiterentwickeln kann, wenn es entweder den Genotyp A1 A1 oder den Genotyp A1 A2 hat. Es wird in diesem Fall also mit großer Wahrscheinlichkeit f11 bzw. f12 das Erwachsenenalter erreichen (im Fall der Sichelzellanämie kann man sogar davon ausgehen, dass f11 = f12 gilt, dass also beide Genotypen gleiche Überlebenschancen haben). Alleine für den Genotyp A2 A2 nehmen wir eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit f22 an, hier sterben also schon etliche Individuen, bevor sie ins reproduktionsfähige Alter kommen. Man nennt fi j Selektionsparameter oder Fitness des Genotyps Ai A j . Berechnet die relative Häufigkeit p1 , mit der das Allel A1 in der erwachsen gewordenen 1. Tochtergeneration vorkommt!
Mit Wahrscheinlichkeit p20 ist ein beliebig gewähltes Tochterindividuum vom Typ A1 A1 . Mit Wahrscheinlichkeit f 11 schafft es dann zusätzlich auch noch, ins Erwachsenenalter zu kommen. Insgesamt ergibt sich für diesen Fall eine Wahrscheinlichkeit von p20 · f11 . Analoge Überlegungen kann man auch für die anderen beiden Genotypen anstellen, die in Tabelle 10.4 zusammengefasst sind. Das hilft uns nun bei der Beantwortung der Frage, wie häufig das Allel A1 in dieser 1. Tochtergeneration im Erwachsenenalter auftreten wird. Um uns die Überlegungen einfacher zu machen, werden wir wieder den Umweg über absolute Häufigkeiten wählen. Wir nehmen dazu kurzfristig an, dass es in der 1. Tochtergeneration zu Beginn (also im Kindesalter) N Individuen gibt. Wie häufig finden wir dann das Allel A1 im Erwachsenenalter dieser 1. Tochtergeneration wieder? Beim Genotyp A1 A1 kommt A1 sogar zweimal vor, das ergibt schon einmal 2·N · p20 · f11 Stück. Das Allel A1 kommt aber auch im Genotyp A1 A2 vor, was zusätzlich noch N · 2p0 (1 − p0 ) · f 12 Stück liefert.
10.3 Selektion als entscheidender Faktor der Evolution
189
Tabelle 10.4: Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Genotypen, die zusätzlich noch die Entwicklung bis ins Erwachsenenalter schaffen
Genotyp
Wahrscheinlichkeit
A1 A1 A1 A2 A2 A2
p20 · f11 2p0 (1 − p0 ) · f12 (1 − p0 )2 · f22
Das Allel A2 kommt analog N · 2p0 (1 − p0 ) · f12 + 2 · N(1 − p0 )2 · f22 Mal vor. Insgesamt gibt es also unter den Erwachsenen der 1. Tochtergeneration 2N(p20 f11 + 2p0 (1 − p0 ) f12 + (1 − p0 )2 f 22 )
(10.5)
2N(p20 f11 + p0 (1 − p0 ) f12 )
(10.6)
Allele, von denen vom Typ A1 sind. Daraus ergibt sich für die relative Häufigkeit p1 =
p20 f11 + p0 (1 − p0 ) f12 . p20 f11 + 2p0 (1 − p0 ) f12 + (1 − p0 )2 f22
(10.7)
Diese Aufgabe ist mit Sicherheit die schwierigste in diesem Unterrichtsvorschlag. Es wird empfohlen, den Schülern geeignete Unterstützung anzubieten. Zentral ist etwa der Hinweis, zunächst mit absoluten Häufigkeiten zu rechnen und erst am Ende wieder die relative Häufigkeit des Allels A1 daraus zu gewinnen. Das fällt den Schülern aus eigener Unterrichtserfahrung wesentlich leichter als direkt im Bereich der relativen Häufigkeiten zu bleiben. Zur allgemeinen Rekursion für pt+1 ist es jetzt nur noch ein sehr kleiner Schritt. Aufgabe 10.14 Hat man nun p1 berechnet, kann man daraus analog p2 gewinnen, daraus wiederum p3 , usw. Gebt eine allgemeine Rekursionformel an, mit der man pt+1 aus pt berechnen kann!
Analog gilt: pt+1 =
pt2 f11 + pt (1 − pt ) f12 . 2 pt f11 + 2pt (1 − pt ) f12 + (1 − pt )2 f22
(10.8)
Die Gleichung (10.8) wird in der biomathematischen Literatur auch nach ihren Entwicklern als Fisher-Wright-Selektionsmodell bezeichnet. Sie gibt uns die Möglichkeit, die langfristige Entwicklung der Allelhäufigkeiten in der Bevölkerung zu studieren. Aufgabe 10.15 Unter „normalen Umständen“ wird bei der Sichelzellanämie f11 = f12 > f22 gelten ( f11 , f12 , f 22 ∈ [0, 1]). Implementiert das Fisher-Wright-Modell aus Gleichung (10.8) in eine Tabellenkalkulation! Wählt dazu p0 und geeignete Werte für f11 (= f12 ) bzw. f22 selbst! Was passiert mit der relativen Häufigkeit pt auf lange Sicht gesehen?
In Abbildung 10.4 sieht man die zeitliche Entwicklung der relativen Häufigkeit des Allels A1 in der Bevölkerung. Als Parameter wurden f11 = f12 = 0, 9 und f22 = 0, 5 gewählt, als Startwert
190
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik
1,20
Relative Häufigkeit
1,00 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 0
20
40
60
80
100
Generation Abbildung 10.4: Fisher-Wright-Modell mit f11 = f12 = 0, 9, f22 = 0, 5 und p0 = 0, 7
p0 = 0, 7. Man erkennt sofort, dass sich auf Dauer das gesunde Allel A1 aufgrund seines Selektionsvorteils in der Population durchsetzen wird, während die relative Häufigkeit des Sichelzellallels A2 gegen Null konvergiert. Dieses Szenario verheißt also Gutes für die Menschheit, nämlich dass irgendwann die Krankheit ganz zum Erliegen kommen wird. Dass das allerdings in realen Bevölkerungen nicht der Fall ist, dafür sorgen eben andere Mechanismen wie die Mutation. Während also Selektion zum Aussterben der Krankheit führen würde, treibt die Mutation die Verbreitung des schadhaften Allels in der Population voran. Insgesamt wird das Sichelzellallel zumindest mit kleinen relativen Häufigkeiten in der Bevölkerung bleiben, was man durch kombinierte Mutations-Selektions-Modelle auch mathematisch nachbilden könnte. Dass die Sichelzellanämie aber auch durch reine Selektionseffekte in einer Population Fuß fassen kann – und das in relativ großem Ausmaß – zeigt die Verbreitung der Krankheit in Afrika. Aufgabe 10.16 In Afrika ist die Malaria eine weitverbreitete Krankheit, die jährlich knapp eine Million Menschen das Leben kostet. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass der heterozygote Sichelzellgenotyp A1 A2 resistent gegen eine schwere, tödliche Form der Malaria ist. Inwiefern könnte diese Tatsache Einfluss auf die Selektionsparameter f11 , f12 und f 22 in der afrikanischen Bevölkerung haben?
Wir suchen jetzt eigentlich Selektionsparameter, die sowohl die Sichelzellanämie als auch die Malaria berücksichtigen. Am schlechtesten ist sicher wieder der Genotyp A2 A2 dran. Der zugehörige Selektionsparameter f22 wird also den kleinsten Wert annehmen. Der Genotyp A1 A1 ist nun zumindest anfällig für die Malaria, der Selektionsparameter f11 wird also diesmal auch kleiner sein als vorher. Einzig der zum Genotyp A1 A2 gehörige Fitnesswert f12 wird sich durch die in Aufgabe 10.16 beschriebene Tatsache nicht verändern. Individuen dieses Genotyps leiden nämlich nach wie vor nicht an der Anämie und können auch nicht an der tödlichen Malaria erkranken. Diese Erkenntnisse lassen wir jetzt in unser Modell einfließen.
10.4 Fixpunktüberlegungen am Fisher-Wright-Modell
191
1,00
Relative Häufigkeit
0,90 0,80 0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00 0
10
20
30
40
Generation Abbildung 10.5: Fisher-Wright-Modell mit f11 = 0, 6, f12 = 0, 9, f22 = 0, 45 und p0 = 0, 9 Aufgabe 10.17 Simuliert die Entwicklung der relativen Häufigkeit des Allels A1 in malariabedrohten Gebieten in einer Tabellenkalkulation! Wählt dazu geeignete Selektionsparameter und beobachtet die langfristige Entwicklung in diesem Modell! Forscht anschließend im Internet, ob euer Ergebnis tatsächlich mit den Beobachtungen in Afrika zusammenpassen!
Die Wahl der Parameter sollte jedenfalls der Ungleichung f12 > f11 > f22 genügen. In Abbildung 10.5 kann man die Konsequenz daraus ablesen. Bereits nach wenigen Generationen stellen sich stabile Verhältnisse ein, die eine dauerhafte relative Häufigkeit des Allels A1 von 60% voraussagen. Das Sichelzellallel kann sich also in einer malariabedrohten Region langfristig gesehen etablieren. Diese Modellprognose stimmt qualitativ gesehen genau mit den Beobachtungen in Afrika überein. Die Malariaresistenz des Genotyps A1 A2 ist der Grund dafür, dass sich dort die Sichelzellanämie nicht eindämmen lässt – ein wirklich verblüffendes, interessantes, aber auch erschreckendes Zusammenspiel zweier Krankheiten also. Den in der Simulation erhaltenen Fixpunkt p = 0, 6 kann man nun auch wieder rechnerisch bestätigen. Das werden wir in der nachfolgenden Aufgabe tun.
10.4 Fixpunktüberlegungen am Fisher-Wright-Modell Aufgabe 10.18 Ihr sollt nun wie in Aufgabe 10.9 eine allgemeine Formel für die Fixpunkte der Rekursion (10.8) angeben. Dazu setzt wieder die Fixpunktbedingung pt+1 = pt in die Rekursion ein!
Die nachfolgende Rechnung wird etwas langwierig, aber prinzipiell nicht schwierig. Wir starten also mit der Rekursion aus Gleichung (10.8) und setzen die Fixpunktbedingung ein. Um nicht
192
10 Unterrichtsprojekt zur Populationsgenetik
immer pt schreiben zu müssen, setzen wir kurzfristig p := pt . p=
p2 f 11 + p(1 − p) f12 . p2 f 11 + 2p(1 − p) f12 + (1 − p)2 f22
(10.9)
Multiplikation mit dem Nenner und Vereinfachung liefert: p3 f11 + 2p2 f12 − 2p3 f12 + p f22 − 2p2 f22 + p3 f22 = p2 f 11 + p f12 − p2 f12
(10.10)
⇐⇒ p3 ( f11 − 2 f 12 + f 22 ) + p2 (2 f12 − 2 f22 − f11 + f12 ) + p( f22 − f 12 ) = 0 Daraus können wir sofort den ersten, wenig interessanten Fixpunkt pˆ1 = 0 ablesen. Sei also im Folgenden p = 0. Dann können wir durch p dividieren und erhalten: p2 ( f11 − 2 f12 + f22 ) + p(3 f12 − 2 f22 − f 11 ) + f22 − f12 = 0
(10.11)
Das ist eine quadratische Gleichung in p, die wir mit der entsprechenden Lösungsformel lösen können. Unter der Wurzel fallen einige Terme weg, was schließlich zu folgendem Ausdruck führt:
2 −2f f + f2 2 f22 + f11 − 3 f 12 ± f12 11 12 11 pˆ2,3 = = (10.12) 2( f11 − 2 f12 + f 22 ) 2 f22 + f11 − 3 f 12 ± ( f11 − f12 ) = 2( f11 − 2 f12 + f22 ) Daraus ergeben sich pˆ2 =
2 f22 + f11 − 3 f12 + f 11 − f 12 2 f 22 + 2 f11 − 4 f12 = = 1, 2( f11 − 2 f12 + f 22 ) 2( f11 − 2 f12 + f22 )
(10.13)
also der zweite, wenig überraschende Fixpunkt und schließlich der interessante Fixpunkt pˆ3 =
2 f22 − 2 f12 f22 − f 12 2 f22 + f11 − 3 f12 + f 12 − f 11 = = . 2( f11 − 2 f12 + f 22 ) 2( f11 − 2 f12 + f22 ) f11 − 2 f12 + f22
(10.14)
Aufgabe 10.19 Wir werden nun ein paar allgemeine Aussagen über den interessanten Fixpunkt pˆ3 herleiten. • Überprüft, welchen Wert pˆ3 in den von euch gewählten Modellen in den Aufgaben 10.15 und 10.17 hat! Stimmen die Ergebnisse mit den Beobachtungen in der Tabellenkalkulation überein? • Hat pˆ3 für jede Wahl von f11 , f12 und f22 einen biologisch relevanten und auch inhaltlich interessanten Wert im Intervall (0, 1) oder findet ihr ein Gegenbeispiel? • Könnt ihr sogar angeben, in welchem Verhältnis f 11 , f12 und f22 zueinander stehen müssen, damit pˆ3 ∈ (0, 1) gilt?
In der Lösung zu Aufgabe 10.15 haben wir f 11 = f12 = 0, 9 und f 22 = 0, 5 gewählt. Daraus ergibt sich für den Fixpunkt pˆ3 pˆ3 =
−0, 4 0, 5 − 0, 9 = = 1, 0, 9 − 2 · 0, 9 + 0, 5 −0, 4
(10.15)
10.4 Fixpunktüberlegungen am Fisher-Wright-Modell
193
Abbildung 10.6: Selektionsverläufe je nach Ordnung der Fitnesswerte
was der Beobachtung in Abbildung 10.4 entspricht. In der Lösung zu Aufgabe 10.17 haben wir f11 = 0, 6, f12 = 0, 9 und f22 = 0, 45 gewählt. Hier ergibt sich also pˆ3 =
0, 45 − 0, 9 −0, 45 = = 0, 6. 0, 6 − 2 · 0, 9 + 0, 45 −0, 75
(10.16)
Auch diesen Wert haben wir durch die Tabellenkalkulation erhalten und in Abbildung 10.5 abgelesen. Um allgemeine Aussagen über den Fixpunkt pˆ3 gewinnen zu können, ist es zunächst zweckmäßig, ihn in der Form f22 − f12 (10.17) pˆ 3 = ( f11 − f12 ) + ( f22 − f 12 ) zu schreiben. Es ergeben sich in natürlicher Weise drei Fälle: 1. Fall: Falls f 22 > f12 , dann ist der Zähler in Gleichung (10.17) positiv. Damit dann 0